h Naturwissenschaftliche Wochenschrift BEGRÜNDET VON H. POTONIE HERAUSGEGEBEN VON Prof. Dr. H. MIEHE IN BERLIN NEUE FOLGE. 19. BAND (DER GANZEN REIHE 35. BAND) JANUAR — DEZEMBER 1920 MIT 142 ABBILDUNGEN IM TEXT JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1920 Alle Rechte voibehalten. Register. I. Größere Originalartikel und Sammelberichte. Abrens, W.j „Magische Quadrate" und Planelenamulette. 465. Alverdes, F., Über Perlen und Perlen- bildung. 481. Czepa, A., Das Krebsproblem. 321. Collier, W. A. , Ein neues Verfahren zur Feststellung der Verwandtschaft im Tierreich. 566. Uexler, H. , über die Zulässigkeits- grenzen biologischer Analogien. 657. Erlenmeyer, E. , Die von asymmetri- schen Molekülen ausgehende Kraft, über optisch aktive Zimtsäure und asymme- trische Synthese. 753. Esmarch, F., Aufgaben und Ziele des praktischen Pflanzenschutzes. 215. Exner, F. M., Über natürliche Bewegun- gen in geraden und gewellten Linien. 385- fisch er, H. , Orthogenesis, Mutation, Auslese. 561. Fischer, H., Das Problem der Kohlen- säuredüngung. 177, 196. h i s c h e r , H., Die Stärke — Assimilations- produkt? 24. Franz, V., Zweckmäßigkeit und Vervoll- kommnung, Ausdrücke ästhetischen Ein- schlags für naturwissenschaftliche Tat- sächlichkeiten. 167. Freyberg, B. v. , Über oolilhische Ge- steine. 161. Frickhinger, G. W. , Vorschläge zu einem zeitgemäßen Ausbau der deutschen zoologischen Gärten. 680. F ritsch, K., Das Individuum im Pflan- zenreich. 609. F r i t s c h e , E., Fliegenlarven als Parasiten des Menschen. 506. ' (leißler, Fr. J. K., Erfahrung und Vor- i erfahrung mit Beobachtung an einem 1 Eichhörnchen. 65. (ierhardt, K., Dem Andenken an Ernst Stahl. 145. Gleisberg, W. , Mechanische Natur- erklärung und organische Zweckmäßig- keit. 400. Guenther.K., Wissenschaftlicher Natur- schutz. 193. Hase, A., Putzvorgang bei Lariophagus distinguendus. 81. Häufiler, E. P., Der derzeitige Stand ' der Vitaminfrage. 593. Heller, H. , W. Ostwalds F-orschungen zur P'arbenlehre. 129. Heller, H. , Zum Nomenklaturproblem in der anorganischen Chemie. 257. Hennig, Edw. , Bau und Werdegang j der Alpen. 337. ; Hi ntzel mann, U. , Übei" Giftspinnen. 801. . H o f f m a n n , P. , Urkundliches von und über Christian Conrad Sprengel. 692. Kathariner, L., Der menschliche Eier- stock-als endokrine Drüse. 392. Killermann, S., Die ersten Nachrichten und Bilder von der Kokospalme und dem Drachenbaum. 305. Killermann, S., Zur älteren Geschichte der Orchideen. 351. Killermann, S., Von einigen peruani- schen Neueinführungen in unseren Gär- ten um 1600. 369. Kranichfeld, H., Ein Lehrbuch der Philosophie für Naturforscher. 529. Kranz, W., Entstehung der Ozeane nach A. Wegener. 33. Kranz, W., Nachweis neuzeitlicher rela- tiver Senkungen in Bayern. 273. Krenkel, E. , Über den Bau der Insel- berge Ost-Afrikas. 373. Krieg, H. , Pigmentprobleme. 769. Kuhn, K., Die durchdringende Höhen- strahlung. 545. Kuhn, K., Isotope Elemente. 705, Lenk, E. , Die Ernährung der Wirbel- losen. 728. Lenz, Fr., Salzwasser und präanale Blut- kiemen der Chironomidenlarven. 87? L i n d n e r , H. , Unterirdische Flüsse und Bäche. 113. Lindner, H., Die Eishöhle im Tännen- gebirge bei Salzburg. 263. Lindner, H., Alpine Karrenfelder. 760. Lüer, H., Entstehen und Entwicklung der Denkformen. 17. March, A., Die Theorie der allgemeinen Relativität. 289. Marzell, H. , Über Alter und Herkunft deutscher Pflanzennamen. 64 1. Meirowsky, E. v. , Die angeborenen Muttermäler und die Färbung der mensch- lichen Haut im Lichte der Abstammungs- lehre. 433. Meißner, O. , Die Färbung der Laub- blätter und ihre Änderung im Laufe des Sommers. 518. Meyer, A., Die mechanistische Idee in der modernen Naturwissenschaft. 7S5. Mohr, E. , Über das Haaren in Fetzen bei einigen Säugetieren, besonders beim Moschusochsen. 737. Molisch, H. , Goethe, Darwin und die Spiraltendenz im Pflanzenreich. 625. Möller, W., Über den Atomkern. 804. Morstatt, H., Die Entwicklung der Pflanzenpatbologie und des Pflanzen- schutzes. S17. Mötefindt, H., Fünfzig Jahre Berliner Anthropologische Gesellschaft. 97. Nuß, W., Die Entstehung der bodenstän- digen Braunkohlenflöze. 59S. O eh 1er, R., Die Zukunft der Zelltheorie. 260. Ol bricht, R. , Verlauf des Eiszeitalters in Nordeuropa. 311. Patschovsky, N. , Zur Biologie und Physiologie der Schutzstoffe höherer Pflanzen. 497. Potonie, R., Die ältesten Landpflanzen. 822. Riess, M. , Der Gesang der Vögel und seine Darstellung in der Musik. 213. Riebesell, P., Die Bedeutung der ma- thematischen Statistik für die Natur- und Geisteswissenschaften. 513. Rudder, B. de. Die Grundlagen der Relativitätstheorie. 548. Schaxel, J. , Ernst Haeckel und die Biologie seiner Zeit. 49. Schenck, H. , Martin Schongauers Drachenbaum. 775. Scheu, E., Die Bedeutung der Schutt- untersuchung für die Erklärung der Landformen. 577. Schilling, F., Menotoxin, Menstruations- gift J 629. Schips, M., Zur Stammesgeschichle der Blütenblätter. 582. Schnurre, O. , Die Schwalben in der deutschen Urlandscbaft. 665. Schob, A., Die Bedeutung der Normung in der Industrie. 149- Schreber, K., Begriff und Zählung der Temperatur. 1. Schroeder, H., Die Pflanze im Wechsel der Jahreszeiten. 52. Schuster, J. , Die Dokumenten-Samm- lung Darmstaedter der Preuß. Staats- bibliothek usw. 707. Schwenk, Der Stand der Chemie der alkoholischen Gärung. 209. 38S4T) Register. Solereder, II., Über eine heterophylle philippinische Ameisenpflanze aus der Familie der Melastomalaceae, nebst Be- merkungen über das Auftreten von Amylodextrin-Körnern in den sog. Perl- drüsen. 689. Stahl, A., Die Grundlagen der Relati- viiätstheorie. 390. Stahl, E., Über die Pflanzenfamilie der Kakteen. 721' Termer, Fr., Über den Landbau im alten Mexico. 740. _ Weber, Fr., Phyletische Potenz. 673. Weber, Fr, Hormone im Pflanzenreich. 241. We inert, K., Über Bau und Bedeutung des ,, Wehrstachels" der Bienen und Wespen. 235. Weinland, R, Über die Wernersche Koordinalionslehre. 417, 449, 484. Wilhelmi, J., Entwicklung der ange- wandten Zoologie in Deutschland 1919. 102. van der Wölk, P. O. , Die Exkretion bei den Pflanzen. 645. Wulff, A. , Über die Wiederbelebung der Technik der Feuersteinbearbeitung. 737- .- Zum 70. Geburtstag Dr. Herrn, von Iherings. 6S2. II. Kleinere Originalmitteilungen. Andree, K., Die Autorschaft Beringers an der ,,Lilhographia Wirceburgensis". 295. Dahl, Fr., Sucht eine Radnetzspinne eine gefangene Biene durch Abbeißen der Fäden aus ihrem Netz zu befreien ? 173- Dietrich, Zur Organisation der Natur- wissenschaften in Frankreich und Belgien. II. Halb faß, W., Bemerkungen über den Wasserhaushalt der Erde. 221. Hoffmann, H., Die Begattung einer Nacktschneyke. 218. Johnsen, A., Wie würden Kristalle in milliardenfacher Vergrößerung aussehen ? 296. Neger, Über Goebels Buch ,,Die Ent- faltungsbewegungen der Pflanzen und deren teleologische Deutung". 174. III. Einzelberichte. A. Allgemeine Biologie, Zoologie, Anatomie, Vererbungslehre. Ahrcns, Th., Nationalpark der Vereinig- ten Sh aufgenommene Wärme mit Qh und die als nichtverwandelbar bei der kalten Temperatur ^^ abgegebene mit Qt und mit AL die im Umlauf aus Wärme erzeugte Arbeit, so daß nach dem Energiesatz Qh — Qk = AL ist, so erhalten wir aus dem Ausdruck für den Wirkungsgrad des Carnotschen Umlaufes: AL = Q,(l-e-''(''--^^)) = 0je + ''(''---'^'')-l) Lassen wir jetzt die Maschine den Umlauf umgekehrt vollziehen, also als Kältemaschine ar- beiten, so gibt der eben gefundene Ausdruck die Arbeit, welche nötig ist, um die Wärmemenge Qk von der Temperatur iJ-^ bis zur Temperatur i>h zu erwärmen. Wie oben angeführt entspricht dem Amontonschen Nullpunkt die natürliche Temperaturzahl — oo. Wollen wir von dieser Temperatur, wenn man so sagen darf, die Wärme- menge Qk bis auf die Blultemperalur erwärmen, N. F. XIX. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. so müssen wir in die letzte Gleichung ^b 'ür 1^1, und — oo für i^k setzen. Dann erhalten wir AL = oo. Es ibt also eine unendliche Arbeit nötig, um eine endliche Wärmemenge vom Amontonschen Nullpunkt bis zur Bluttempera- tur zu erwärmen. Mit anderen Worten: der Amontonssche Nullpunkt ist unerreichbar. Seit nun Linde durch die Erfindung seines Verfahrens der Luftverflüssigung die Technik der kalten Temperaturen geschaffen hat, ist man in der Erzeugung kalter Temperaturen so weit fort- geschritten, daß viele, denen dieser Beweis von der Unerreichbarkeit des Amontonschen Null- punktes nicht klar vor Augen liegt, hoffen, ihn in mehr oder weniger kurzer Zeit zu erreichen. Es ist deshalb jedenfalls von Bedeutung zu sehen, wieweit man da gekommen ist. Das läßt sich nur beantworten mit Benutzung der natürlichen Temperaturzählung. Ich will die Gradlänge so nehmen, wie sie sich oben aus der Einführung des Wirkungsgrades ^/,_, für den Carnotschen Umlauf ergab. Es bekommt dann der Siedepunkt des Heliums bei einem Druck von 2 mm Os. die Entfernung von — 8,075" von der Bluttempe- ratur, während die Sonnentemperatur um +4,275" und die heißeste, von Lummer bei seinen Ver- suchen zur Verflüssigung der Kohle erreichte um + 4 690" von der Blutiemperatur entfernt sind. Diese Zahlen werden anschaulicher, wenn man zur Fertigstellung der Gradlänge den Wirkungs- grad nicht V2 sondern 0,003116 setzt. Dieser Wirkungsgrad ist so eingerichtet, daß der Ab- stand des Siedepunktes des Wassers vom Schmelz- punkt des Eises 100" der natürlichen Zählung beträgt. Es hat dann 1" dieser natürlichen Zählung ungefähr denselben Wert wie i" der unrein thermo- dynamischen in der Nähe der Bluttemperatur, der uns durch den häufigen Gebrauch vertraut ist. Mit dieser Gradlänge werden die eben berechne- ten Zahlen in derselben Reihenfolge — 1794"; -)-95o" und -[-1042°. Aus diesen Zahlen kann man mehreres schließen : Ich mache zunächst auf das äußerliche aufmerksam. In der unrein thermodynamischen Zählung werden die Zahlen der kalten Temperaturen meist mit vielen Dezimalen angegeben, während die der warmen Temperaturen meist abgerundet erscheinen. Z. B. ist die Temperatur des unter 2 mm Qs siedenden Heliums 1,15", während die Sonnen- temperatur 6000" und die heißeste von Lummer erreichte 8000" ist. Dadurch wird der Anschein erweckt, als ob man die kalten Temperaturen mit viel größerer Sorgfalt mäße, als die warmen. Das ist aber eine Täuschung. In den kalten Tempe- raturen hat eben l" der unrein thermodynami- schen Zählung in bezug auf das Verhältnis von Arbeit zu Wärme, und auf dieses kommt es doch allein an, eine ganz andere Bedeutung wie in den warmen. In der natürlichen Zahlenreihe hat ein- führungsgemäß 1" im ganzen Temperaturbereich überall dieselbe Bedeutung. Deshalb werden in dieser Zählung diese äußersten Zahlen mit einer auch schon äußerlich als gleich erkennbaren Ge- nauigkeit angegeben. Man mißt die heißen Tem- peraturen mit derselben Sorgfalt wie die kalten. Wichtiger ist aber die zweite Folgerung. Wie eben gesagt, geben die Zahlen der natürlichen Temperatur sofort ein Maß für die Mindestarbeit, welche zu ihrer Erzeugung aufgewendet werden muß. Sie sind ja mit Hilfe eines Carnotschen LImlaufes eingeführt unter der Bedingung, daß dessen Wirkungsgrad im ganzen Temperatur- bereich überall derselbe sei. Das Verhältnis der zur Erreichung genannter äußersten Temperaturen aufgewendeten Arbeit ist also 1794: 1042, beide Zahlen von der Bluttemperatur aus gerechnet. Die wirklich aufgewendete Arbeit ist größer, da ja der Carnotsche Umlauf die Mindestarbeit gibt, und richtet sich nach dem angewandten Verfahren. Nehmen wir nun einmal an, was sicher in großen Grenzen zutreffen wird, daß die für die heißen Temperaturen aufgewandten Ar- beiten dieselben sind wie die bei den kalten, so muß man schließen, daß der Wirkungsgrad der benutzten Verfahren sich umgekehrt verhält wie diese Zahlen, d. h. die bei den heißen Tempera- turen angewendeten Verfahren sind viel ungünsti- ger als Lindes Luftverflüssigung. Die Technik steht also vor der Aufgabe, nach einem Ver- fahren zu suchen, welches gestattet, heiße Tem- peraturen mit derselben Wirtschaftlichkeit her- zustellen, mit der man jetzt kalte herstellen kann. Kleinere Mitteilungen. Zur Organisation der Naturwissenschaften in Frankreich und Belgien. Im Oktober 191 8 und Juli 1919 haben die wissenschaftlichen Akademien der Ententeländer in London und Brüssel Konfe- renzen abgehalten, zur internationalen Förderung und Organisation der Wissenschaften und ihrer Anwendungen — wie offiziell erklärt wurde — , in Wahrheit, um Deutschland zu boykottieren und auch wissenschaftlich zu ruinieren. Auf der Brüsseler Versammlung im Juli 1919 wurde ein „Internationaler Forschungsrat" (Conseil international de Recherches) geschaffen, über den der Mineraloge A. Lacroix, der ständige Se- kretär der Pariser Akademie im August berich- tete. Nach den von der Versammlung geneh- migten Statuten dieses „Rates" handelt es sich um ein großangelegtes Unternehmen, das die ge- samten geistigen Kräfte der alliierten und asso- ziierten Länder in Dutzenden von Organisationen und Hunderten von Kommissionen mit Hilfe der Akademien, „nationaler Forschungsräte" (Conseils nationaux de Recherches), „internationaler" Fach- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. I Vereinigungen , Konföderationen von Körper- schaften usw. und der Regierungjen zusammen- fassen und nutzbar machen soll. Es eriibrigt sich auf diese Statuten näher einiugehen; A. Lacroix bezeichnet in seinem Bericht, „jetzt nachdem das Haus fertig und der Eintritt den Deutschen und ihren Verbündeten verboten ist" als nächste Haupt- aufgabe, den geschaffenen weiten Rahmen auszu- füllen, wozu die Gelehrten der neutralen Staaten ebenfalls eingeladen sind. Es scheint, daß bisher nur die Chemiker in Verbindung mit der chemi- schen Großindustrie und ferner die Astronomen zu praktischer Arbeit organisiert sind, während die Geophysiker (im weitesten Sinne), die Bio- logen usw. mit ihren Organisationen noch zurück sind. Daß in Frankreich und Belgien die An- regungen der beiden Konferenzen überall auf fruchtbaren Boden gefallen sind und daß hier mit allen Mitteln darnach gestrebt wird, die Deutschen auszuschalten, geht aus verschiedenen Umständen hervor. So hat sich im Mai 1919 eine ,,Federa- tion frangaise des Socieies de Sciences naturelles" unter dem Vorsitz des Pariser Zoologen Ed. Perrier gebildet, die die Kräfte sämtlicher natur- wissenschaftlichen Gesellschaften vereinigen will in einer gemeinsamen Tat — zum Fortschritt der Naturwissenschaften, wie es heißt, in Wirklich- keit, wie aus den Verhandlungen hervorgeht, um Mittel ausfindig zu machen, wie die deutschen referierenden Zeitschriften der biologischen Wissen- schaften ersetzt werden könnten (remplacer les Centralblatt allemands). Eine Unterkomniission arbeitete eine lange Denkschrift aus, deren Schluß- ergebnisse von der konstitutiven Versammlung der genannten Federation gutgeheißen wurden. Es ist zunächst die Schaffung von £ großen Zeit- schriften („periodiques de documentation biblio- graphique") für Botanik, Anatomie und Embryo- logie, Zoologie, Biologie und Physiologie ins Auge gefaßt. Diese Zeitschriften sollen teils neuge- gründet werden , teils sollen schon vorhandene den neuen Zwecken angepaßt werden. Zur Aus- führung dieses großen Plans wurde Frankreich für zu klein erachtet und daher die Gründung eines ,,office bibliographique interalliee" beschlossen, wobei die Pariser Akademie vermitteln soll. tLs sei in diesem Zusammenhang erwähnt, daß die „Revue critique de Paleozoologie, deren Heraus- geber der Conchyliologe Cossmann ist, schon während des Krieges beschlossen hat, fürderhin keinerlei Veröffentlichungen von Angehörigen der Zentralmächte zu besprechen. Eine weitere Hauptaulgabe der Federation ist die Gesamt- inventur der Naturschätze Frankreichs. Hier ist vorerst ein „Olfice central faunistique" vorgesehen, das unverzüglich die Veröffentlichung der fran- zösischen Gesamtfauna in Angrift" nehmen soll. Weiter haben die französischen naturwissen- schaftlichen Provinzialmuseen sich zu einer „Asso- ciation des Museums" zusammengeschlossen und eine Zeitschrift „Musea" gegründet. Diese Ver- einigung will zunächst den Museen helfen, welche in den von den Deutschen besetzt gewesenen Gebieten liegen. Wieweit bereits die geologischen Wissen- schaften zusammengefaßt sind, darüber ist wenig Verlautbart. Bekannt ist, daß die belgische geo- logische Gesellschaft eine Zeitschrift herausgeben will (mit Unterstützung der Geologen der ver- bündeten und neutralen Völker), welche alle in der Welt erscheinenden geologischen Arbeiten mit Ausnahme der deutschen referieren wird. — Die geologischen Landesanstalten von Frankreich und Elsaß Lothringen sollen anschei- nend beide von jetzt ab nach preußischem Vor- bilde weiterarbeiten, wenigstens hat de Ma r ge r ie, den der unglückliche Ausgang des Krieges zum Direktor der geologischen Landesanstalt von Elsaß- Lothringen gemacht hat, seinen Landsleuten sehr geraten, das in Straßburg vorgefundene Gute bei- zubehalten bzw. rasch auf Frankreich zu über- tragen. Dietrich. Einzelberichte. Geographie. Über „die Antarktis und ihre Ver- eisung" faßt Erich von Drygalski in den Sitz.- Ber. d. bayr. Akad. d. Wissenschaften, math.-phys. Klasse, Jahrg. 1919, seine Untersuchungen zu- sammen. Der Kontinent liegt mit seinem massi- gen östlichen Teil auf der indischen Seite und endigt im Norden am südlichen Polarkreis. Daran setzt sich ein westlicher kleinerer Teil. Nach äußerer Form und nach dem geologischen Bau haben wir ein S[Megelbild von Südamerika vor uns. Die Antarktis hat andenähnliches, konti- nentales Faltengebirge, das alte Schollen von kontinentaler Größe und Entwicklung umfaßt. Die Vereisung ist gleichfalls kontinental. Ebenso weist das Klima, das Leben im Meer, der den Meeresboden bedeckende Schlamm kontinentale Züge auf. Die Größe der Antarktis, der um- gebende Schelf, steil zur Tiefsee abfallend, lassen selbst durch das Vorhandensein des Weddel- und Roßmeer an dem kontinentalen Charakter nicht zweifeln. Der Kontinent ist nach W. Br uc e 14,2 Millionen Quadratkilometer groß (2 X Australien, fast V-2 Afrika). Antarktis ist erfüllt mit Eis. Das tiefe Meer, in dem sich Meer und Schelfeis be- kämpfen, muß zur Subantarktis gerechnet werden. Das Antarktis-Eis besteht aus Inlandeis auf dem Lande, aus Schelfeis im flachen Meer und aus Treibeis im tiefen Meer. Dem Inlandeis wohnt eine Eigenbewegung inne. Das Schelfeis wird durch Gezeiten, Muten, Winde, nachdrängendes Inlandeis bewegt und das Treibeis wird hin und herbewegt. Das Inlandeis ist Schneeis, aus festen N. F. XIX. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 13 Niederschlägen entstanden, das in der Nähe eis- freier Gebiete Staubbeimischungen enthält. Die vielen enihaltenen Luftblasen inachen es leicht. Spalten, Bänderungen, IVloränen sind Folgen der Strömung. Die Spalten sind breit, die ßände- rungen eng, die Moränen klein. Das Eis wird sehr alt. Das Schelfeis ist Schneeis, abgestoßenes und aufgelöstes Inlandeis. Es kann auch im flachen Meere gebildet sein. Beide Schelfeisarten sind alt, sowohl Blaueis als auch Mürbeis. Das Treibeis besteht aus Schollen (Meereisbildungen) und Eisbergen (Inlandeisstücken). Diese drei Eisarten können nur in einem konti- nentalen Land in polarer Nähe gebildet sein. Er- wähnt wird das Inlandeis im Sommer wie im Winter auf den größten Höhen und in den Rand- gebieten. Es herrscht jedoch in der Ernährung keine Gleichmäßigkeit. Die Westantarktis zeigt Hänge eisfreien Landes und schneefreien Eises. Diese nicht ernährten Gebiete treten sowohl auf den hohen als auch in den niederen Teilen auf. Die Formen erinnern daran, daß selbst still ge- fallener Schnee zu Wehen zusammengefegt sein kann. Man muß so viel Nährmaterial für die Antarktis annehmen, daß es das übertrifft, was durch Winde verweht wird, durch Schmelzung und Verdunstung verschwindet. Am Haußberg fand Drygalski eine Be- wegungsschnelligkeit von 11,7 m im Monat, also 0,4 m am Tag. Landeinwärts nimmt die Be- wegung ab. Hier stimmt sie mit den Bewegungen der Alpengletscher in gleicher Stärke überein. Das Eis ist tief durchkältet. Die Umwandlung seiner inneren Struktur ist langsam vor sich ge- gangen. Manche Eisberge bestehen noch aus verkittetem Schnee. Es fehlt die sommerliche Erwärmung. Die Bewegung geht von den Gebieten der Aufschüttung nach den Gebieten des Schwundes. Drygalski vergleicht das Inlandeis mit einem Meer, in dem durch die verschiedene Verteilung des Schnees Strömungen erzeugt werden. Die Untergrundsformen sind auf Größe und Richtung der Strömung von Einfluß. Zwei größere Schwankungen sind bemerkenswert, ein großer allgemeinen Rück- gang und jüngere Oszillationen. Der allgemeine Rückzug geschah seit der Eiszeit am Haußberg, Inder Westantarktis, im Viktorialand. Drygalski faßt die Schelfeismassen als eine Folge des allge- meinen Rückganges auf. Oszillationserscheinungen sind an verschiedenen Stellen beobachtet worden. Die Eiszeit betraf gleichzeitig alle Länder der Erde. Sie hat in der Antarktis kein anderes Aus- sehen gehabt wie das heutige Inlandeis. Der einzige Unterschied ist der, daß zur Eiszeit damals zum Inlandeis noch das Schelfeis gehörte. Die Antarktis wird von Eisbildungen mit gemeinsamem Nähr- und Abflußgebiet beherrscht. Schneefall und Wind hat alles zu Inlandeis gemacht. Das Meer erzeugt erst die Grenzen zwischen Inlandeis, Schelfeis und Treibeis. Drygalski kommt zu folgendem Schema der Eismassen des Südens: Antarktis Antarktis Subantarktis Kontinent Schelfmeer Tiefsee Inlandeis Schelfeis Treibeis aufliegend gestützt schwimmend strömend geschoben getragen Innenschwund Außenschwund Außenschwund geschichtet geschichtet geschichtet Ernährung Stillstand Abnahme Spaltbildung Zerfall Zerfall Schnee- Eis Schnee-Eis Schnee-Eis salzfrei salzfrei salzarm geschlossen gesammelt aufgelöst Vereisung Verkittung Verfließung Brucheis Brucheis Breieis Gletscher Blaueis Stückeis Rudolf Hundt. Die Schäden, zu denen eine übertriebene Be- tonung der Geologie in der Geographie lührt, be- handeln W. Branca und Em. Kayser in Heft I — 4 des 71. Bandes der Berichte der deutschen geolog. Gesellschaft (19 19), in dem sie sich be- sonders gegen die geographische Betrachtungs- weise A. Pencks wenden. Die Geographie ist die Beschreibung der Erde. Statt des Ausdrucks Erdbeschreibung gebraucht man mit Vorliebe den Ausdruck Erdkunde, doch ist diese nach v. Richt- hofen zu allgemein. Zutreffender ist nach ihm die Bezeichnung Erdoberflächenkunde, weil die Erd- oberfläche das eigenste Forschungsgebiet der Geo- graphie ist. Seit Humboldt unterscheidet man wohl allgemein zwischen einem wesentlich be- schreibenden Hauptteil der Geographie, der Länder und Völkerkunde, und einem allgemeinen, der all- gemeinen oder physikalischen Geographie. Besonders durch den Einfluß A. v. Hu mboldts hat die naturwissenschaftliche über die historische Seite der Geographie das Übergewicht, mit v. Richthofe n den Höhepunkt erreicht. Trotz starker Betonung der Bedeutung der Geologie bestehen bei Richthofen zwischen den beiden Wissenschaften sehr wesentliche methodische Unter- schiede. Wenn sich auch beide mit der Erfor- schung der Erde beschäftigen, so ist doch die Art der Betrachtung bei beiden verschieden. Die Geographie soll die Erdoberfläche als etwas Gegebenes, die Geologie als etwas Ge- wordenes auffassen. Der Geologe sucht den heutigen Zustand aus dem Zustand früherer Erd- epochen zu erklären, während den Geographen diese nichts weiter angehen. Besonders kraß überwiegt die Geologie in Nordamerika, wo von ca. 90 „Hochschulen" nur 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. I 10 eine Professur für „Geographie" besitzen, dar- unter jedoch nur 2 eine solche für „wirkliche Geographie". Zu diesen gehört auch Davis, der seine bekannte geographische Methode auf geologischer Grundlage ausbildete. Diese Lehre hat indes in Europa nur geteilte Aufnahme ge- funden, begeisterte nur bei den Schülern A. Pencks und Brückners. Vor allem Penck verschiebt die Geographie immer mehr zur Geologie hin. „Pencks Hauptlebenswerk bildet die Erfor- schung der diluvialen Eiszeit und aller eiszeitlichen Erscheinungen, insbesondere die Lehre einer vier- maligen Vergletscherung .... Diese Arbeiten Pencks haben sich somit nicht auf eigentlichen geographischen sondern vielmehr geologischen Boden bewegt." Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind in neuerer Zeit namentlich von A. Heim und Deecke erschüttert worden. Deecke meint „das Eiszeitproblem n;uß unbedingt vom geologischen Standpunkt aus neu aufgerollt werden" um es von den Irrtümern, die durch das Unge- nügende der geographischen Forschungsart in geologischen Dingen entstanden sind, zu reinigen „. . . Pencks ganze Gliederung der Terrassen und des Lösses, auf die er seine Lehre von der viermaligen Vergletscherung der Alpen stützt, ist nach Deecke eine rein morphologische, zur Lösung einer geologischen Aufgabe ganz unzu- reichende Methode. Terrassen und Lösse lassen sich nur mit Hilfe von Leitfossilien, hier Säuge- tieren gliedern, dies aber kann nur der Geologe leisten, nicht der Geograph. ,,Es dürfte keinen Geologen geben, der diese Erklärung Deeckes nicht voll und ganz als richtig unterschreibt." „Die Pencksche Methode hat also in geo- logischen Fragen versagt und mußte versagen. Der Geograph ist ja kein Übermensch derart, daß er gleichzeitig zwei große Wissenschaften, die Geologie und die Geographie, beherrschen könnte. „Die Geographie hat sogar sehr viel mehr als andere Wissenschaften einen so riesenhaften Um- fang, betrachtet schon eine so übergroße Zahl der verschiedenartigsten Gebiete als zu ihr ge- hörig, daß gerade umgekehrt der Lehrstuhl der Geographie weit eher in eine große Anzahl von Lehrstühlen geteilt werden müßte, als daß der Geograph auch noch mehr oder weniger große Teile der Geologie in sein Gebiet einbeziehen könnte und dürfe. Es wird keiner Geologe da- durch, daß er in seiner Jugend Geologie studiert hat, er muß vielmehr dauernd nur in der Geo- logie gestanden haben, um mit Erfolg weiter ar- beiten zu können." Genau so der Geograph. Selbst Davis wendet sich gegen Penck (Ref. in Geogr. Review 1918 III, p. 240). „Man muß bedauerfi, daß der Direktor eines führenden geo- graphischen Instituts so viele Seiten seiner führen- den geographischen Zeitschritt einer anderen, schon blühenden Wissenschaft, der Geologie, zu- wendet, und nicht der Geographie, die es nötig hat und für die er beruflich verantwortlich ist." Es be- trifft dies eine „geographische" Arbeit von P. Gröber, der südliche Tien-Schan, in der 76 geologischen nur ganze 12 Seiten geographischen Inhalts gegenüberstehen ! Ein Grenzgebiet ist die Morphologie, hier interessieren den Geographen in der Hauptsache nur die äußeren Formen der Oberfläche, den Geo- logen der Aufbau nur soweit als er zur Erklärung der Formen herangezogen werden muß. Auch die Geophysik bedarf der Mitarbeit des Geologen. Die Verf beklagen es, daß auf manchen Hoch- schulen nach Penckschem Muster „geologische Geographen" herangezogen werden und meinen, die Pencksche Richtung der Geographie führe rückwärts zu nordamerikanischen Verhältnissen, wo es eine strenge Scheidung zwischen Geologie und Geographie nicht gäbe. Dies müsse zu schweren Übelständen führen, unter denen auch die Geologie zu leiden habe. Zum Schluß werden die Ausführungen zu- sammengefaßt : „Die historische Entwicklung der Erde gehört unweigerlich in das Gebiet der Geo- logie. Geologie ist Entwicklungsgeschichte der Erde, folglich auch der Erdoberfläche und ihrer Formen. Die Geographie ist die Kenntnis von der Erdoberfläche und deren Beziehungen zur Natur, zur Lebewelt und ganz besonders dem Menschen". Otto Christian Schmidt. Zoologie. Als Schulbeispiel für die Mimikry- hypothese gelten viele stechenden Hautflüglern in der Färbung gleichende ungeschützte Insekten, wie z.B. der Hornissenschwärmer (Trochilium apiforme L.) der Hummelschwärmer (Macroglossa bombylifor- misO.) u.a. Es wird debei vorausgesetzt, daß die stehenden Hymenopteren durch ihre Stichwaffe gegen ihre tierischen Feinde geschützt werden, und daß die Kopie durch ihre Ähnlichkeit mitdem Modell gleichfalls gegen feindliche Angriffe gefeit wäre. Speziell von den Spinnen wurde gesagt, daß sie eine Stechimme, die sich in ihr Netz verfangen hat, lieber durch Zerbeißen der Spinnfäden frei machten, statt sich der Gefahr eines Stichs aus- zusetzen. Nach Franz Heikertinger, Wien (Biol. Zentralblatt, Bd. 39, Nr. 8, 1919), ist dies durchaus nicht der P'all. H. ließ lebensfrische Bienen und Hummeln sich im Netz der Kreuz- spinne verstricken und sah, wie sie alsbald von derselben durch einen Biß in den Nacken getötet, in weitere Spinnfäden eingewickelt und schließlich von der Spinne ausgesaugt wurde. Auch die stärksten Akuleaten, wie die Holzbiene (Xylocopa violacea) überwältigt die Spinne ungescheut in dieser Weise. Nicht nur Netzspinnen, sondern auch die in Erdtrichtern hausenden Wolfsspinnen (Lycosidae) gehen unbedenklich eine in ihre Erd- trichter geratenen stechenden Hautflügler, etwa eine Erdhummel, an. Von den Ameisen, von denen gewisse tropische Arten gleichfalls stachelbewehrt smd, gilt dasselbe wie für die Immen. Die Behauptung, der Wehr- N. F. XIX. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 15 Stachel der Akuleaten wirke Spinnen gegenüber als Schutz, findet in Erfahrungstatsachen keine Be- stätigung und ist wissenschaftlich nicht zulässig. Damit ist zugleich erwiesen, daß eine „Nach- ahmung" von Wespen (Sphekoidie) den Spinnen gegenüber wirkungslos sein muß. Gleiches gilt für die in der heutigen Literatur eine besondere Rolle spielende (Myrmekoidie) oder Ameisennach- ahmung.') Kathariner. Chemie. Über die Konstitution des Argon bei tiefen Temperaturen gibt eine Untersuchung von F. Dolezalek (Zeitschr. f physik. Chemie •^"^.585; I9'9) interessante Aufschlüsse. G. Holst und L. Hamburger haben die Dampfdrucke von flüssigem Argon und flüssigen Gemischen von Argon und Stickstoff ermittelt. Wendet man auf die gefundenen Werte den Satz an, daß ,,der Partialdruck jeder Komponente über dem Gemisch gleich ist dem Sättigungsdruck der reinen flüssigen Komponente multipliziert mit der wahren mole- kularen Konzentration der Komponente in der Mischung", so ergibt sich, daß nicht nur die bei- den IVIolekülarten N., und Ar vorhanden sein können. Es muß vielmehr noch eine dritte auf- treten. Eines der beiden Elemente muß demnach eine Polymerisation erfahren. F"ür Stickstoff führt eine solche Annahme nicht zu Resultaten, die mit der Erfahrung übereinstimmen. Auch ist in früher untersuchten Gemischen von Sauerstoff und Stick- stoff bei tiefen Temperaturen keine Veränderung des Stickstoffmoleküls beobachtet worden. Da- gegen gibt die Annahm.e von Ar., - IVIolekülen Zahlenwerte, die mit den gemessenen durchaus ') Die Beobachtungen von F. Heikertinger über den Wert der Schutzfärbung in der Nachahmung stechender Immen gegenüber den Spinnen geben ein weiteres Beispiel für die Trugschlüsse, welche der Mimikryhypothese zugrunde liegen (s. Kathariner, Der Anthropormorphismus in der Zoologie, Nr. 44, 1917, S. 611 d. Bl.). Die Feststellung der Tatsache, daß den harmlosen In- sekten ihre Ähnlichkeit mit stachelbewehrten Hymenopteren nichts nützt, steht ganz in Übereinstimmung damit, daß letztere ja auch von gewissen Vogrlarten, den deshalb sog. Bienen- fressern unbedenklich verschlungen werden. Die Überein- stimmung in der Färbung zwischen beiden Insektengruppen darf um so weniger auf Schutzfärbung gedeutet werden, als ja auch manche Käfer, vor allem Necydalis, Molorchus mayor L. den selbst ungeschützten Schlupfwespen täuschend ähnlich sind. Der Ref. Übereinstimmen. Die Gleichgewichtskonstante der Reaktion 2 Ar —> Ar.j ergibt sich dann für die Temperatur von SSjii" absolut zu K = 0,20. Wofern das Resultat nicht etwa doch noch eine andere Deutung zuläßt, wäre damit der prinzipielle Unterschied zwischen Edel- gasen und anderen Gasen gefallen oder vielmehr als ein nur gradueller erkannt worden. Das Argon würde dann also auch Affinitätskräfte besitzen, deren Betätigung allerdings schon bei sehr nie- drigen Temperaturen unmerklich wird. Es muß dann aber auch prinzipiell als möglich erscheinen, bei tiefen Temperaturen chemische Verbindungen des Argon herzustellen. Scholich. Die Radiumforschung hat die Entdeckung der Isotopen Elemente gezeitigt, d. h. von Elementen, die bei — wenn ujrh nicht sehr stark — ver- schiedenem Atomgewicht doch chemisch völlig identisches Verhalten zeigen. Die Theorie hat noch eine bedeutsame Bestätigung dadurch er- fahren, daß es J. J. T h o m s o n gelungen ist, außer- halb der radioaktiven Reihen ein Element, das Neon, in zwei Isotope zu zerlegen.^) Dadurch hat die alte Pro utsche Hypothese von der Ganz- zahligkeit der Atomgewichte wieder neue Nahrung gewonnen. Die tatsächlich gefundenen Abweichun- gen könnten dann so erklärt werden, daß die Elemente, bei denen sie besteht, Mischungen von Isotopen sind.-) O. Stern und M. Volmer (Ann. d. Physik 59, 225; 1919) haben nun darauf- hin untersucht, ob insbesondere Sauerstoff und Wasserstoff als Isotopengemische aufgefaßt werden können. Sie haben zu diesem Zweck empfind- liche Diffusionsversuche für beide Gase angestellt, um so, ähnlich wie Thomson, eine Zerlegung herbeizuführen. Die Versuche sind jedoch durch- aus negativ verlaufen. Es kann danach die Pro ut- sche Hypothese nur dann noch aufrechterhalten werden, wenn man annimmt, daß die Abweichungen der Atomgewichte von den ganzen Zahlen durch den verschiedenen Energieinhalt der Atome be- dingt sind. Scholich. ') Siehe Naturw. Wochenschr. N. F. XV, S. 17 ff., 1916. ^) Vgl. z. B. E. Kohlweiler, Zeitschr. f. phys. Chem. 03, 3; 1918. Bücherbesprechungen. Schulz, Dr. Hugo, ord. Prof. und Geh. Med.-Rat, Direktor des pharmakologischen Instituts der Universität Greifswald, Vorlesungen über Wirkung und Anwendung der deut- schen Arzneipflanzen. Für Ärzte und Studierende. Leipzig 1919, Georg Thieme. Bei der Lektüre dieses in vieler Hinsicht inter- essanten Buches glaubt man sich in die gute alte Zeit der Kräuterbücher zurückversetzt und denkt an die alten Apotheker, die noch ihre Arznei- pflanzen kannten, in deren Stoß- und Kräuter- kammern die Drogen noch selbst geschnitten und gepulvert wurden und in deren Laboratorien ein bewegt- geruhiges Leben herrschte. — Der Verf schildert in seinen Vorlesungen so ziemlich alles, was an heimischen Arzneikräutern jemals offizineil oder obsolet gewesen ist, und er ver- sucht seinen Hörern auf Grund eingehender Stu- i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. I dien, Beobachtungen an sich, seinen Schülern und an Patienten — ganz unmodern und gegen alle Tablettentherapie — klar zu machen, daß der Kamillentee „immer noch ganz etwas anderes als lediglich heißes Wasser mit einigen gleichgültigen Pflanzenbestandteilen ist." Ja, er scheut sich nicht, die Homöopathen zu zitieren, wo er es für richtig hält; er nimmt sie ernst und ist infolge- dessen von seinen Widersachern schon selbst als Homöopath hingestellt worden. Diesen Gegnern sagt er mit Recht, daß es leicht sei, über Dinge zu reden „die man nicht selbst ausprobiert hat und lediglich vom hohen Pferd seines Privatwissens aus zu betrachten liebe". — Hier ist nicht der Ort, sich in Einzelheiten pharmakologischer Fragen zu ergehen und Ref. hält sich nicht zur Kritik berechtigt an der Anschauung des Verf. über die Wirkungsweise der Arzneimittel; aber als für weitere Kreise interessant mag darauf hingewiesen werden, daß der Verf seine Versuche unter dem Gesichtspunkt des „biologischen Grundgesetzes" an- gestellt hat, dessen Richtigkeit er für erwiesen hält. Was unter dem ,, biologischen Grundgesetz" verstanden wird, ist in dem Buche nicht gesagt; es wäre vielleicht angebracht gewesen, in einer Fußnote eine kurze Bemerkung darüber zu machen. Nach einer anderen Publikation des Verf ist das von Rud. Arndt aufgestellte Gesetz gemeint, das besagt: „Zu den wesentlichsten Eigenschaften des Protoplasmas gehört seine Reizbarkeit, die sich in größerer oder geringerer Beweglichkeit, wenn auch nur seiner kleinsten Bestandteile unter- einander, zu erkennen gibt. Und in bezug auf diese gilt nun durchaus: Schwache Reize fachen sie an, mittelstarke beschleunigen sie, starke hem- men und stärkste heben sie auf Aber individuell ist, was sich als einen schwachen, einen mittel- starken oder sog. stärksten Reiz wirksam zeigt." Der Verf. legt also allergrößten Wert auf die „richtige Abstufung des Arzneireizes für den ein- zelnen Fall", und er findet oft schon eine Wirkung bei erstaunlich niedriger Dosierung eines Arznei- mittels. Das große Gewicht, das in der Pharma- kologie gegenwärtig auf den Tierversuch gelegt wird, erklärt es, daß so manches Arzneimittel für wirkungslos gehalten wird, wenn am Tier keine Wirkung wahrgenommen werden kann. Verf fordert mit den Homöopathen, daß in erster Linie die Wirkung eines Arzneimittels auf den gesunden menschlichen Oiganismus festgestellt werden muß, wenn man wissen will, ob es thera- peutische Bedeutung haben kann, denn „der ledig- lich auf dem Versuche am tierischen Orgatiismus basierende Schematismus" hat für die ärztliche Praxis unerfreuliche Früchte getragen. — Die Er- fahrung lehrt, daß sich manche alte Hausmittel aller Schulweisheit entgegen hartnäckig großer Beliebtheit erfreuen, und es wäre immerhin wert- voll, wenn sich, angeregt durch das Studium des Schulzschen Buches, Ärzte und Pharmakologen etwas eingehender mit den heimischen Pflanzen beschäftigen würden. Es erscheint nicht ausge- schlossen, daß manche ausländische Droge, die noch lange ein teurer Einfuhrartikel sein wird, durch eine einheimische vollwertig ersetzt werden und auch von der wissenschaftlichen Medizin empfohlen werden kann. — Sicher unabhängig von der Lehre des Verf., sondern wohl infolge der Einfuhrschwierigkeiten ausländischer Drogen während des Krieges hat man auch von pharma- zeutischer Seite den einheimischen Arzneipflanzen mehr Beachtung geschenkt, und wenn die Be- strebungen der Hortusgesellschaft und die von manchen anderen Seiten angeregten Anbauver- suche von Arzneipflanzen Erfolg haben sollen, wird es notwendig sein, daß mehr als bisher das Interesse der Ärzte an der heimischen Plora wie- der wachgerufen wird, wozu die Schulzschen Vorlesungen hoffentlich beitragen werden. Für eine zweite Auflage möchte Ref. dem Verf. empfehlen , einige botanische Ungenauig- keiten zu berichtigen , z. B. wird das Terpentin in den Harzgängen abgeschieden und ist nicht im „Kambialsaft" vorhanden. Das befruchtete Ova- rium des Colchicum ist nicht in die zwiebelartige Wurzel eingebettet; die Colchicumknolle ist eine Sproßknolle und der unentwickelte Sproß, der die herbstliche Blüte ttägt, ist seillich mit der Mutterknolle verwachsen und selbst noch nicht knollig verdickt. Die Brennhaare der Brennessel sind einzellige Gebilde; sie enthalten als wirk- sames Gift nach Haberlandt einen enzymati- schen Körper. Das Gewebe , in das das Brenn- haar eingesenkt ist, ist keine Drüse, aus der die „Säure" austritt. Den Schluß des Werkes bilden ein So Seiten starkes Verzeichnis der im Volke üblichen Be- nennungen der Arzneipflanzen, ein Sachregister und ein therapeutisches Register. Das Verzeich- nis der Volksnamen ist besonders für Ärzte be- stimmt, die in ihrer Piaxis nicht kurzerhand an den Hausmitteln ihrer Patienten vorübergehen wollen, sondern denen „die Arzneitherapie noch mehr bedeutet wie das einfache Abschreiben von Rezepten aus irgendeinem Vademecum und das vertrauensvolle Hmnehmen durch die chemische Industrie empfohlener Präparate". Wächter. Inhalt: K. Schrcber, Hegriff und Zahlung der Temperatur. (I Abb.) S. I. — Kleinere Mitteilungen: Zur Organisation der Naturwissenschaften in Frankreich und Belgien. S. II. — Einzelberichte: E. v. Ürygalski, Die Antarktis und ihre Vereisung. S. 12. W. Branca und Em. Kayser, Die Schäden, zu denen eine übertriebene Betonung der Geo- logie in der (ieographie führt. S. 13. F. H ei k e r t i n g e r , Miinikryhypothese. S. 14. F. Dolezalek, Uie Konsti- )gie in uer vieograpnie lunri. o. 13. r. n ei k e r 1 1 n g e r , iviimiKrynypoinese. a. 14. r. L»oiezaieK, uie t*k.onsii- ition des Argon. S. 15. U. .Stern und M. Volmer, Sauerstoff und Wasserstoff als Isotopengemische. S. 15. — lücherbesprechungen; 11. Schulz, Vorlesungen über Wirkung und Anwendung der deutschen Arzneipflanzen. S. 16. tution d B Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, Invalidenslraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. - Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippen & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ig. Band ; ganzen Reihe 3s- Band. Sonntag, den ii. Januar 1920. Nummer 3. Das Entstehen und die Entwicklung der Denkformen.') [Nachdruck verboten.] Von Dr. He Das künstlerische und technische Gestalten der Altsteinzeit und der seitdem eingetretene Wandel im menschlichen Formen hat den Nachweis er- möglicht, daß der Mensch zuerst die Dinge dem Bilde nach und dann erst ihren stofflichen Eigen- schatten nach geordnet, d. h. erkannt hat. Die bisherige Annahme, daß die Erkenntnis- fähigkeit des Menschen gleichzeitig auf alle Wesens- eigenschaften der Dinge gerichtet sein kann, muß also mit allen darauf aufgebauten Schlüssen irr- tümlich sein. Als neue Grundlage des Denkens über die Geistesentwicklung des Menschen muß die Tat- sache anerkannt werden, daß der Mensch die Dinge zuerst nach der am meisten äußeren Wesens- eigenschaft ordnet und erst in folgenden größten Kulturzeitaltern die Dinge nach von Stufe zu Stufe mehr verborgenen, mehr innerlichen, wichtigsten Wesenseigenschaften erkennt. Das höchstmögliche Erkennen der Dinge nach einer wichtigsten Eigenschaft, wie Bild und Stoff muß notwendig die Voraussetzung für den Auf- bau einer bestimmten, darauf folgenden Stufe sein. Das bedeutet aber das Bestehen eines großen Erkenntnisplanes. Die natürliche Voraussetzung des Erkennens nach einem großen Plane ist dann: 1. Das Bestehen einer menschlichen Gesell- schaft. 2. Aufbau des Erkennens nach vorbestimmter Gesetzmäßigkeit. 3. Unbewußtes, gefühlsmäßiges Fortschreiten der Erkenntnis. 4. Beginn des Erkennens seit Bestehen der Gesellschaft. 5. Gleichartigkeit des Erkenntnisvorganges zu allen Zeiten. 6. Die naive Erkenntnis als Grundlage allen Fortschrittes. Wenn aber die Erkenntnisfähigkeit des Men- schen nur eine jeweils ganz bestimmt umgrenzte sein kann, muß notwendig auch der hier geltende Erkenntnisbegriff eine gewisse Beschränkung er- fahren. Als Erkenntnis kann hier nur Neuerkenntnis in Frage kommen. Jede Erkenntnis in diesem Sinne muß dann ganz bestimmte Erkenntnisse zur Voraussetzung haben, sonst würde ein gesetz- mäßiger Ablauf nicht möglich sein. Der erlebten Wirklichkeit bringt keine Erkennt- nis uns näher; die Wirklichkeit in ihrer unend- lichen Mannigfaltigkeit ist nicht vergleichbar, also nicht geistig erfaßbar. „Erkenntnis der Dinge" ist nur ein bildhafter Ausdruck. Die Erkenntnis ist nur auf Vielheiten gerichtet, die aus verschiedenen Einheiten bestehen. Der Mensch faßt im Erkennen mehr oder minder Verschiedenes, aber nach seiner Erinnerung Gleiches in VorstelUmgsbildern zusammen. Bilder, Begriffe, in denen Verschiedenes aber vom Menschen nicht Unterscheidbares vereinigt ist, können nur un- bestimmt sein; sie gelten aber dem Menschen als vollwertig bestimmt, als getreue Abbilder. Er- kennbar sind also nur Beziehungen, Eigenschaften von Dingen. Ein wahrgenommenes Ding erkennt man nicht ; man stellt nur fest, dal3 es mit seinen wahrgenommenen Eigenschaften bereits in die große Beziehungsreihe an entsprechender Stelle eingeordnet ist. Erkannt wird nur etwas, was bis dahin noch nicht erkannt ist. Erkannt wird nur die Be- ziehung von einem Neuen zu bereits Bekanntem. Erkannt wird alles nur einmal. Weil jede Erkenntnis ganz bestimmte Erkennt- nisse zur Voraussetzung hat, kann das Erkennen nur fortschreiten wie ein Bauwerk, bei dem ein Stein auf den anderen gefügt werden muß. Auch mit Benutzung aller irgend vorhandenen Hilfsmittel können nicht Erkenntnisse beliebiger Art gewonnen werden, vielmehr stets nur solche, die in unmittelbarem Anschluß an die gegebenen Grundlagen erreichbar sind. Durch das Fortschreiten des Erkennens werden gewonnene Wahrheiten nicht umgestoßen, sie er- halten nur einen immer reicheren Inhalt. Nur weil das Erkennen nach einem großen Plane unbewußt geschieht, ist der Mensch fähig, das Gesamtergebnis stets gegenwärtig zu erhalten. Das Bewußtwerden der gewiß bedeutsamen Tatsache, daß die erlebte Wirklichkeit nicht zu erkennen ist, alles Denken über unser Denken, alle Philosophie und alle Wissenschaft hat bisher die Richtung der Geistesentwicklung nicht aus ihrer Bahn zu drängen vermocht, und künftig kann es nicht anders sein. Die naive Erkenntnis ist die Grundlage alles Kulturgeschehens. Die Kultur muß stetig fort- schreiten dem Inhalte nach. Formen können „verfallen", sie können auch „Wiederaufleben", doch nur mit verändertem, notwendig fort- geschrittenem Inhalte. Aber es gibt auch Wandlung außerhalb des ') Vgl. Nr. 48 d. Naturw. Wochenschr. 1919 S. 700. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2 großen Planes, wenn Irrtümer die Grundlage von Scheinerkenntnissen bilden ; diese Frage soll hier zunächst nicht weiter verfolgt werden. Wenn es nun feststeht, daß allein die Geistes- entwicklung des IVIenschen allen geschichtlichen Wandel bestimmt — die klaren Beziehungen werden nachzuweisen sein — dann löst sich auch zwanglos die vielumstrittene Frage, ob Männer oder Massen die Geschichte gestaltet haben, da- hingehend, daß Persönlichkeiten die Menschheit führen, jedoch nicht in einem allein von ihren Geistesgaben abhängigen, willkürlichen Sinne, sondern innerhalb bestimmter, unüberschreitbarer Grenzen. Die Massen aber, die am empfanglichsten sind für gewonnene Geisteserrungenschaften, werden den fruchtbarsten Boden bilden für das Empor- wachsen der, trotz aller Bedingtheiten, führenden, schöpferischen Kräfte. Alle geistigen Fähigkeiten des Menschen würden umsonst sein, wenn ihm die Sprache nicht ge- geben wäre. Durch Worte, Begriffe allein wird ein Fortschreiten der Erkenntnis möglich; doch ohne Erkenntnis würde es keine Sprache geben; die Erkenntnis geht voraus. Alles was der Mensch zu denken und durch die Sprache auszudrücken vermag, muß abhängig sein von der erworbenen Erkenntnis der Dinge, und was nicht in Worte zu fassen ist, ist für den Menschen nicht vorhanden. Auch alles was Menschenhand ordnend bildet und schafft, muß zuvor gedacht und benennbar sein und kann ebensowenig dem Zufall oder der Willkür sein Entstehen verdanken. Die Erkenntnis ist also auch Grundlage jeglichen Gestaltens. Auf der Erkenntnis beruht alle Kultur im ein- fachsten und höchsten Sinne; sie ist nichts weiter, als vom Menschen sinnlich wahrnehmbar geformte Erkenntnis. Was auch immer in irgendwelchen Zeiten Menschen mit bescheidensten oder reichsten Mitteln gestaltet haben, ist Urkunde, die berichtet nicht nur von der Tatsache des äußeren menschlichen Daseins, sondern von allem, was ihren Geist be- wegt hat. Auch die scheinbar einfachsten, selbstverständ- lichsten Begriffe wie etwa hell, dunkel, warm, kalt, groß, klein, Mensch, Tier, Baum, Berg u. dgl. m. sind nicht durch Zufallserfahrung er- mittelt, oder haben sich nicht irgendwie plötzlich den Menschen in ihrer Bedeutung offenbart. Auch der unscheinbarste Begriff setzt unbewußt-plan- mäßige Geistesarbeit, setzt Erkenntnis voraus. Durch ungezählte Jahrtausende schon ist die Menschheit bemüht die Dinge der Welt zu er- gründen, doch obschon keine gewonnene Erkennt- nis verloren geht, liegt doch das Ziel in unend- licher Ferne. Die Menschheit wird fortschreiten auf dem Wege des Erkennens und immer neue, völlig unnahbare Erfolge erringen. Wenn das Gesetz auffindbar ist, nach dem die Erkenntnis verläuft, dann ist damit auch das Ent- wicklungsgesetz der Kultur ermittelt. Das Vorhandensein eines gesetzmäßigen Ab- laufes der Erkenntnis, einer Erkenntnisentwicklung bedeutet, daß jedes Fortschreiten mit zwingender Notwendigkeit, nur in bestimmtem Sinne ge- schehen kann, und das der erste Erkenntnis- schritt bereits den Keim für alle folgenden mit- enthält. Wie aber soll man sich die gewaltige Geistes- leistung der ersten Erkenntnistat, von einfachsten Menschen vollbracht, vorstellen ; wie ist der Be- ginn des Erkennens zu denken? Das Kunstschaffen läßt erkennen, daß die Bild- erkenntnis der Stofferkenntnis vorausgegangen ist. Die tägliche Erfahrung bestätigt, daß stets sich das „Äußere" vor dem „Inneren", das mehr Auf- fallende vor dem weniger Hervortretenden dem Gedächtnisse des Menschen einprägt. Je ungeübter ferner das Erinnerungs- oder Vergleichsvermögen des Menschen ist, um so weniger vermag er Unterschiede wahrzunehmen. Er nimmt auch da zuerst Gleichheit an, wo bei besserer Urteilsfähigkeit erhebliche Verschieden- heit sogleich bemerkt werden würde. Die am meisten hervortretende, allgemeinste Eigenschaft der Dinge, Uie Bildhaftigkeit, kann nur den Beginn des Erkennens ermöglicht haben. Wahrnehmungen sind solange für den Menschen bedeutungslos, als er nicht fähig ist, sie in Be- ziehung zu anderen Wahrnehmungen, deren er sich erinnert, zu bringen. Mit dem unbewußten Verknüpfen der zunächst zusammenhangslos wahr- genommenen Bilder, mit dem Erfassen der Gemeinsamkeit des Bildes an allen Dingen, der ganzen erlebten Wirklich- keit beginnt die Erkenntnis. Der erste Begriff, das erste inhaltreiche Wort, muß das gewonnene Vorstellungsbild der Welt kennzeichnen. Notwendig muß zuerst nur e i n Bild, d. h. ein in der Erinnerung, in der Vorstellung aller Men- schen gleiches Bild, Geltung gewinnen für alle die unendlich verschiedenen Dinge. Diese eine Eigenschaft, dieses eine Bild, dieser Begriff, dieses Wort, gewinnt Wirklichkeitsgeltung für jedes einzelne Ding, obschon es, wenn es sichtbar zu machen wäre, keine äußere Ähnlich- keit besitzen könnte, mit irgendetwas Wahr- nehmbaren. Der Mensch glaubt bereits mit dem ersten Erkenntnisschritte und damit für alle Folge „In- dividuen", d. h. die Wirklichkeit erkannt, zu haben. Die erste Erkenntnis des Weltbildes bedeutet einen umfassensten Zusammenschluß, der unmög- lich weiter zu steigern ist. Ein F"ortschreiten der Erkenntnis kann also nur durch Scheidung, durch Auflösen des Gesamtbildes in eine Höchstmenge von Bildeigenschaften erreichbar sein. Bild in der Bedeutung von Dingen muß so lange die Voraussetzung bilden für die weitere N. F. XIX. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 19 Erkenntnis, bis eine andere, höhere Erkennens- grundlage, bis also eine dem Bilde entsprechende andere wichtigste Wesenseigenschaft der Dinge aus einem Höchstmaße des Bilderkennens er- wächst. Das Fortschreiten der Erkenntnis beruht dann auf einem unbewußten Wahrnehmen der Bildver- schiedenheit bis dahin als formgleich angesehener Dinge, deren Bild dementsprechend durch Hinzu- fügen neu erkannter Bildeigenschaften in mehrere Bilder zerlegt wird. Dieselben, an sich unveränderlichen, in einem Bilde, in einem Begriffe, unter einem Namen in der Vorstellung zusammengefaßten Dinge werden durch den nächsten Erkenntnisschritt in mehrere voneinander abweichende Gruppen als Bilder, Be- griffe, Namen geschieden. Obschon also die Dinge, die der Mensch wahr- nimmt, stets die gleichen bleiben, gewinnt er doch das Bewußtsein, neue Dinge kennen zu lernen. Er bemerkt nicht, daß seine Erkenntnis nichts weiter als ein Umordnen ist. In den Anfängen der Entwicklung müssen die als formgleich betrachteten und zu einer Gruppe, d. h. in einem Bilde vereinigt vorgestellten Dinge, in höchstem Maße voneinander abweichen. Ein durch stete Beobachtung verfeinertes Ver- gleichsvermögen befähigt aber den Menschen, immer mehr Besonderheiten zu erkennen. Je mehr es also dem Menschen gelingt, die gefundenen Gruppenbilder immer wieder und wieder in neue Gruppenbilder zu gliedern, um so zahlreicher, um so enger begrenzt, also um so bestimmter gekennzeichnet müssen die neu ent- stehenden Bilder, Begriffe werden. Die Menge der als gleich angesehenen Dinge muß dann innerhalb jeder neuen Gruppe, jedes neuen Bildes geringer werden. Die Bildeigenschaften der umfassenderen, d. h. der übergeordneten Gruppen bleiben notwendig den in der Folge davon abgetrennten Gruppen ebenfalls angehörig; je begrenzter also die Gruppen werden, um so größer wird die Menge der damit verbundenen Bildeigenschaften, Merkmale, um so mehr wächst Inhalt und Bedeutung der Gruppen, also der immer neu erkannten Bildeigenschaften mit Dinggeltung. Notwendig müssen schließlich Gruppen ge- funden werden, die nicht weiter zu gliedern sind, weil weitere unterscheidende Bildeigenschaften nicht mehr erkennbar sind. Mit einer Höchstzahl von Gruppen kleinsten Umfanges muß dann eine höchste Menge von Bildeigenschaften verbunden vorgestellt werden. DasErkennen der Bildeigenschaften kleinster Gruppen von Dingen ist gleich- bedeutend mit der Erkenntnis der wesent- lichen Bildeigenschaften jedes Einzel- dinges. Das vom Allgemeinbilde ausgehende Ordnen erreicht also mit höchst besonderen Bildern einen Höhepunkt, der in gleicher Richtung nicht überschritten werden kann. Weitere Bilder kann der Mensch vorerst nicht mehr erkennen. Mit anderen Worten: nach dem bis dahin allein gültigen Maßstabe ist ein weiteres Ordnen der Bildeigenschaften nicht möglich, ein anderer Maß- stab muß gefunden werden. Einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Dinge ist vom Menschen im ersten, zweckmäßig als „an- steigend" zu bezeichnenden Erkenntnisabschnitte eine übersehbare Vielheit von Bildern als voll- gültiger Ersatz der Wirklichkeit gegenüber gestellt. Über das Verhältnis der im Ordnen gefundenen Bilder zu den darin vorgestellten Dingen würde, wenn die Bilder sichtbar gedacht werden, das folgende gelten. Je weniger verschiedenartig die Dinge werden, die in den einzelnen Bildern zu- sammengefaßt werden, je enger begrenzt also^die Gruppen werden, und je mehr sich die Entwick- lung dem Höhepunkt nähert, um so ähnlicher müssen die Bilder der Gruppe, der Art von Dingen, für die sie gelten, werden. Da aber mit den Bildern eine immer zu- nehmende Menge von Gruppeneigenschaften ver- bunden wird, und Gruppeneigenschaften, weil sie niemals zufälliger oder nebensächlicher Art sein können, im Gegensatz zu individuellen Eigen- schaften stehen, so müssen die Bilder von den Einzeldingen, für die sie ebenfalls gelten, in immer gesteigertem Maße abweichen. Auf der ersten „primitiven" Stufe des hier be- trachteten ansteigenden Erkenntnisabschnittes könnte man kaum von Art- keineswegs von In- dividualähnlichkeit der Vorstellungsbilder sprechen. Erst von einer, auf dem Wege von größter Art- unähnlichkeit zu größter Artähnlichkeit notwendig anzunehmenden mittleren Grenze ab, auf der zweiten Stufe, der des „gereiften" Empfindens, müssen die sichtbar gedachten Vorstellungsbilder Arten immer ähnlicher und gleich- zeitig den Einheiten derselben Arten immer unähnlicher werden. Die Höhepun ktsbilder sind also voll- kommenste Gattungsbilder, Typen. Den ansteigenden Entwicklungsabschnitt im ganzen kann man, dem Sprachgebrauche folgend deshalb als idealistisch bezeichnen. Als Voraussetzung für das Fortschreiten im ganzen ersten Erkenntnisabschnitte gilt unbewußt: Wirklichkeit ist Bild. Unter Bild kann zunächst nur die Vorstellung ganzer Dinge verstanden wer- den. Andere als ganze Dinge können den Men- schengeist bis zum Höhepunkte nicht beschäftigen. Denn von dem ersten allgemeinen Weltbilde, in dem notwendigerweise nur ganze Dinge zusammen- gefaßt sein können, können allein durch Anfügen unterscheidender Merkmale nur und immer wieder nur Bilder ganzer Dinge abgeschieden werden. So können auch in den Höhepunktbildern nur Gruppen von Ganzen zusammengefaßt sein. Auf dem Vorhandensein von Bildeigenschaften ganzer Dinge ist die Erkenntnis bis zum Höhe- punkte aufgebaut. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2 Denkt man sich die Entwicklung in gleicher Richtung nur um einen Schritt über den Höhe- punkt hinausgeführt, dann müssen notwendig die Bilder untereinander so ähnlich werden, daß sie nicht mehr unterscheidbar sein können, also alle gleich erscheinen. Das bedeutet aber eine Erkenntnis von Bild schlechthin, d. h. von der Wirklichkeit unab- hängigem Bilde. Die Voraussetzung, daß nur ganze Dinge im Bilde erfaßt werden können, wird damit überwunden. Es muß anderes geben, das ganzen Dingen gleich gilt und wie diese im Bilde erkannt werden kann. Wenn es die Aufgabe des ansteigenden Ab- schnittes ist, das Allgemeinbild bis zu den klein- sten Arten der darin vereinigten Ganzen zu ordnen, kann das Ziel des absteigenden, zweiten Erkennt- nisabschnittes des ganzen großen Zeitalters nur sein, die Arten bis zu den darin zusammengefaßten Einheiten zu zerlegen. Wird im ansteigenden Abschnitte von Stufe zu Stufe die Verschiedenheit der Bildeigenschaften ganzer Dinge, die als gleich angesehen werden, bis zu einem Höchstmaße ermittelt, so können im absteigenden Abschnitte von Stufe zu Stufe nur die gemeinsamen Bildeigenschaften von Dingen, die als verschieden gelten, festgestellt werden. Als gemeinsame Eigenschaft verschiedener Dinge kommen nur Teile in Frage. Teile erhalten also die Bedeutung selbständiger Ganzer und nehmen Wirklichkeitsgeltung an. Teile sind unendlich mannigfaltig, wie die Wirk- lichkeit, deshalb unvergleichbar und ohne weiteres nicht zu ordnen. Mit der Erkenntnis der Teilbarkeit der Ganzen, d. h. wieder mit einem äußersten Zusammen fassen, beginnt der zweite, absteigende Abschnitt des Zeit- alters. Das Fortschreiten der Erkenntnis geschieht dann ebenfalls wieder durch immer gesteigerte Gliederung der Teile. Die Bildeigenschaften weniger, allen Höhe- punktsbildern gemeinsamer Teile müssen zuerst erkannt werden. IVIan faßt sie in Begriffen, gibt ihnen Namen. Durch Abscheiden immer neuer Gemeinsam- keiten, immer neuer gemeinsamer Bildeigen- schaften, immer neuer Teile werden die zuerst gefundenen Teile immer wieder und wieder zer- legt, solange als Teile mit der Geltung selb- ständiger Ganzer erkannt werden können. Die zuerst erkannten, am stärksten hervor- tretenden, allen Höhepunktsbildern gemeinsamen Teile müssen notwendig wieder im höchsten IVIaße verschiedenes in der Vorstellung vereinigen. Man möge einmal annehmen, daß ein Oben und ein Unten als erste, allen Ganzen gemeinsame, fest begrenzte Teile erkannt und durch die Namen Kopf und Fuß gekennzeichnet seien, dann hätten also Menschen, Bäume, Berge oder beliebige andere Dinge trotz ihrer sonstigen Unvergleich- barkeit Kopf und Fuß in verständlicher Bestimmt- heit gemeinsam. Wird eine neue, den ersten Teilen im positi- ven oder negativen Sinne gemeinsame Bildeigen- schaft erkannt, so müssen sich neue Teile ergeben, die wiederum durch Namen bezeichnet werden. Je weiter die Erkenntnis fortschreitet, je mehr Gemeinsamkeiten ermittelt werden, um so ein- facher und um so ähnlicher müßten die er- kannten Teile werden, wenn sie sichtbar zu machen wären. Über ein Höchstmaß an Ähnlichkeit und Ein- fachheit hinaus können aber auch Teile nicht er- kennbar sein, ohne über die notwendige Voraus- setzung, für unterscheidbare, selbständige Ganze gelten zu können, hinaus zu gehen. Jeder Teil ist dann in den großen Erkenntnis- plan eingeordnet. Da jede Gemeinsamkeit, jeder Teil zur Eigen- schaft, zum Merkmale aller übergeordneten Teile und Ganzen wird, so muß schließlich zu der Höchstmenge verschiedener Bildeigenschaften, die bereits am Höhepunkte mit den Ganzen verbunden sind, am Abschlüsse des Bildzeitalter seine Höchst- menge von Gemeinsamkeiten, von Teilen hinzu- kommen. Ziel der Erkenntnis sind nur die der Wirklich- keit entsprechenden Ganzen, d. h. im ersten Kul- turzeitalter die Dingeinheiten in ihrer Eigenschaft als Bild. Teile an sich sind unwirklich, sie erhalten erst Bedeutung in Verknüpfung mit Ganzen. Die Erkenntnisse im ansteigenden Abschnitte haben also unmittelbare Beziehungen zur Wirk- lichkeit, während die Erkenntnisse nach dem Höhepunkte nur in mittelbarer Beziehung zu ihr stehen. Teile haben im Erkennen nur Allgemeinbe- deutung, erst durch das Verknüpfen mit bereits bekannten Ganzen erhalten sie Sonderbedeutung. Die Allgemeinbedeutung der Teile muß also das Ursprüngliche sein. Beispielsweise ist also nicht der Begriff Arm in bezug etwa auf den menschlichen Arm zuerst entstanden und in der Folge die Bezeichnung auf ähnliche Dinge übertragen ; die Allgemeinvorstel- lung von Arm schlechthin muß vorausbestanden haben. Die Erkenntnis der Teile geschieht, wie jedes Erkennen unbewußt; die Verknüpfung der Teile mit den bereits am Höhepunkte bekannten Ganzen ist ein Zusammenschließen, nicht aber ein Zer- gliedern. Nur das Zergliedern ist Erkennen und geschieht unbewußt; das Zusammenschließen geschieht bewußt und ist Aufgabe des Wissens. Je größer der Entwicklungsabstand der Er- kenntnis von der Höhezeit wird, um so umfassen- der muß deshalb die Aufgabe des bewußten Denkens zur Kennzeichnung der durch immer mehr Teile, Sondereigenschaften hervortretenden Einheiten werden. Denn je einfacher, ähnlicher und zahlreicher die Teilvorstellungen werden, um N. F. XIX. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. so mehr Bedeutung muß ihre Verknüpfung ge- winnen. Die Teile verlieren immer mehr an In- halt, aber die Ganzen gewinnen an Inhalt je mehr Teile erkannt werden. Weil im ansteigenden Abschnitte bis zum Höhepunkte nur Ganze erkannt werden, und jeder neue Begriff alle übergeordneten ohne weiteres mit umfaßt, also selbständigen Wert hat und eine Denkverbindung zur Vergangenheit keinen Ge- winn bringt, zwecklos ist, kann in diesem Ab- schnitte bewußtes Denken keine Rolle spielen. Das Gemütsleben, das Empfindungsleben be- herrscht deshalb das Verstandesleben. Nach dem Höhepunkte wird das Verhältnis umgekehrt. Das bewußte, verstandesmäßige Denken läßt im absteigenden Abschnitte das Wissen, die Wissenschaft zur Notwendigkeit werden. Unbewußtes und bewußtes Denken, Erkennt- nis und Wissenschaft gemeinsam führen zum eigentlichen Ziele des absteigenden Abschnittes: die Arten bis zu den darin zusammengefaßten Einheiten ihrem Äußeren, ihrem Bilde nach zu zerlegen. Am Schlüsse des Zeitalters hat der Mensch die Dinge dem Bilde nach, so- weit es möglich ist, in allen Einzel- heiten erkannt, und er vermag jetzt nicht nur Arten von Dingen zu unter- scheiden, auch innerhalb der Arten versteht er die Einzeldinge allgemein verständlich unterschiedlich zu kenn- zeichnen. Restlos ist die Erkenntnis der Bildeigenschaft der Dinge zwar nicht erreicht, denn ebenso wie im ansteigenden Abschnitte nur Gruppen ganzer Dinge in den Bildern zusammengefaßt werden, so können im absteigenden Abschnitte nur Grup- pen von Teilen in Bildern vereinigt sein. Auch die Teile sind nur dem Wesen nach, d. h. ihren für die Menschen der Zeit als wesentlich geltenden Eigenschaften nach erkennbar. Wenn die Allgemeineigenschaften der Teile zu Sondereigenschaften der Ganzen werden, so müssen diese, je mehr solcher Sondereigenschaften im Ver- laufe der absteigenden Entwicklung mit ihnen ver- bunden werden, den Einheiten für die sie gelten, immer ähnlicher werden, und schließlich soweit damit übereinstimmen, wie es durch die weitest- gehende Einsicht in das Wesen aller Bildteile er- reichbar ist. Müssen also die Bilder des Höhepunktes als Typen, als vollkommenste Gattungsbilder der Dinge, für die sie gelten, bezeichnet werden, so müssen die Bilder am Schlüsse des Bildzeitalters, wenn man sie sichtbar annimmt, als Bilder von Einheiten bezeichnet werden. Man darf deshalb den ganzen absteigenden Entwicklungsabschnitt als indivi- dualistisch bezeichnen. Durch die Erkenntnis der Einheit, des Individuums, wenn auch nur in seiner Eigenschaft als Bild, wird die Geistesleistung des ganzen Zeitalters gekrönt. Für den absteigenden Abschnitt gilt die Bild- haftigkeit als Voraussetzung des Teiles, der Form, der Form mit Dinggeltung. Die Erkenntnis der Teile ist deshalb an ein Höchstmaß an Ähnlichkeit und Einfachheit ge- bunden, über das hinaus eine Scheidung nicht mehr möglich ist. Der Schritt über die Grenze hinaus, die durch die gegebenen Voraussetzungen gezogen ist, muß zur Erkenntnis der Gleichheit aller Teile, zur Er- kenntnis von Form schlechthin führen. Damit steht der Mensch vor einer Frage, die seinen Geist während eines neuen größten Zeit- alters beschäftigt. Die Betrachtung der Geistesentwicklung im ersten Kulturzeitalter hat zu Ergebnissen geführt, die in kurzem Überblick noch einmal gekenn- zeichnet werden mögen. Die unendlich mannigfaltigen Dinge werden zuerst nach ihrer am meisten hervortretenden wichtigsten Wesenseigenschaft, der Bildhaftigkeit, die als das „Signum" des Zeitalters zweckmäßig zu bezeichnen ist, zu einer einzigen großen Gruppe, zu einem Vorstellungsbilde, unter einem Namen, einem Begriffe zusammengefaßt. Der Mensch glaubt jetzt bereits alle Dinge zu kennen, denn er kann sie bezeichnen, er besitzt sie im Worte, in der damit beginnenden Sprache, wenn auch für alle die unendlich verschiedenen Dinge nur der eine Name Geltung hat. Die Entwicklung schreitet fort durch das Er- kennen einer stärkst hervortretenden Bildver- schiedenheit der in der Vorstellung zu einer Gruppe vereinigten Dinge. Eine Teilung der ersten Gruppe, des ersten Vorstellungsbildes wird dadurch mög- lich. Anstatt mit einem Namen vermag dann der Mensch die Gesamtheit der Dinge mit zwei unter- scheidenden Namen zu benennen, die eigentlich nur die verschiedenen Bildeigenschaften bezeichnen. Der Mensch steht also den gleichen Dingen, wie am Anfange des Erkennens gegenüber. Doch weil er gelernt hat, sie trennend zu benennen, glaubt er neue Dinge zu sehen. Durch das Erkennen immer neuer Unterschiede, neuer Bildeigenschaften, werden die Gruppen in immer enger begrenzte aufgelöst, so lange bis weitere Bildeigenschaften, nicht mehr erkennbar sind, bis also am Ende des ansteigenden Ab- schnittes ein Höchstmaß von Gruppen kleinsten Umfanges unter eigenen Namen gewonnen ist. Weil dann notwendig jede im Ansteigen ge- fundene Gruppe die Bildeigenschaften aller über- geordneten Gruppen mitenthält, und weil nur Bildeigenschaften von ganzen Dingen in P'rage kommen können, wird an diesem Höhepunkte des Zeitalters das Wesen, d. h. das Wesentliche, das Nichtindividuelle, das Typische, die Idee der Dinge in ihrer Eigenschaft als Bild erkennbar. Die Gliederung in dem dann beginnenden, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2 absteigenden Abschnitte geschieht durch das Er- kennen gemeinsamer Bildeigenschaften. Gemeinsam können Dingen, die als verschieden angesehen werden, — andere können jetzt nicht in Frage kommen — nur Teile sein. Teile, also Vorstellungen gemeinsamer Bildeigenschaften, er- halten die Bedeutung von Ganzen, nehmen Wirk- lichkeitsgeltung an. Teile in diesem Sinne sind unendlich mannig- faltig wie die Wirklichkeit und deshalb unver- gleichbar. Aber mit der Erkenntnis der Teilbar- keit wird wieder ein äußerstes Zusammenfassen vollzogen. Die Erkenntnis der Teile muß mit der Bildung von wenigstens zwei Gruppen, zwei Begriffen, zwei Namen beginnen. Durch das Abscheiden von immer neuen Gemeinsamkeiten wächst wieder die Menge entstehender Gruppen immer neuer Teile bis zu einer Grenze, an der weitere Gemein- samkeiten nicht erkennbar sind. Weil jede neu erkannte Gruppe, alle neu er- kannten Teile, zugleich Eigenschaften aller über- geordneten Gruppen werden, so wird schließlich außer dem Höchstmaß an wesentlichen Eigen- schaften, ein Höchstmaß an Sondereigenschaften mit der Vielheit der Höhepunktsgruppen ver- knüpft. Die Bildeinheiten, die Einzeldinge in ihrer Eigenschaft als Bild, sind damit erkannt. Weil aber die Teile im fortschreitenden Erkennen immer gleichartiger werden, und weil die mit den Ganzen verknüpfbare Menge an Gemeinsamkeiten ein Höchstmaß erreicht, wird zugleich so weit das möglich ist, die „innere" Bildaligemeinheit der Dinge erschlossen. Das Erkenntnisziel des Zeitalters ist damit er- reicht. Ein neues Zeitalter mit einem anderen „Sig- num" muß beginnen, aber die Erkenntnis muß in gleichem Sinne verlaufen. Im zweiten größten Kulturzeitalter muß die Erkenntnis auf der erworbenen Grund- lage weiter geführt werden. Keine Wahrheit kann verloren gehen, sie kann nur ihren Gehalt ändern, der immer reicher werden wird. Als Form gilt im ersten Kulturzeitalter nur das Bild. Aufgabe des Erkennens im zweiten Zeitalter muß es sein, die von allem Gegenständ- lichen gelöste Form, die Form schlechthin zu erkennen. Form schlechthin ist nur zu denken in Verbindung mit einer Dingeigenschaft, die ohne an gegenständliches Bild gebunden zu sein, doch als F"orm und Wirklichkeit vorstellbar ist und damit Wirklichkeitsgeltung annehmen kann. Diese dem Rildzeitalter noch verhüllte, ob- schon auf Schritt und Tritt unbewußt wahr- genommene Dingeigenschaft, dieses wichtigste Wesensmal, dieses zweite Signum, ist die Stoff- vorstellung, kurz als „der Stoff", „die Substanz" oder „die Materie" bezeichnet. Ohne Zweifel müßten die Dinge ebenso wie nach dem Gesicht und Gefühl auch etwa nach dem Gerüche zu ordnen sein. Es ist aber kein Zweifel, daß die Stoffvorstellung die Mensch- heit im zweiten Kulturzeitalter im Denken ver- bunden hat. Die Stoffvorstellung ermöglicht den Menschen ein weiteres Unterscheiden, eine weitere Gliede- rung, ein weiteres Ordnen, Erkennen der' Dinge, der Wirklichkeit. Weil also Stofflichkeit ein Geformtsein vor- aussetzt, muß mit jeder neu erkannten Stoffeigen- schaft eine neue Formeigenschaft erfaßt werden. Mit dem Erkennen des Stoffes geht deshalb auch die Erkenntnis der Form, der Form im neuen Sinne, der Form schlechthin Hand in Hand. Form schlechthin ist nichts anderes als Bild der Stofflichkeit, also auch Bild mit Wirklich- keitsgeltung, doch ohne gegenständliche Bindung. Die Erkenntnis des Stoffes beginnt mit dem äußersten Zusammenfassen aller unendlich mannigfaltigen Stoff- eigenschaften in einem Vorstellungs - bilde, in einem Begriffe, unter einem Namen. Im weiteren Verlaufe des ansteigenden, idea- listischen Abschnittes wird das erste Vorstellungs- bild des Stoffes durch das Erkennen immer neuer Stoffeigenschaften, d. h. also immer neuer stoff- licher Dingeigenschaften, wie etwa schwer, leicht, biegsam, brüchig, hart, weich, flüssig, zergliedert. Es können zunächst wieder nur als unteilbar angesehene ,, ganze", körperlich greifbar gedachte Stoffe das menschliche Denken beschäftigen. Man lernt also mit dem Erkennen neuer Eigenschaften die ganzen Stoffe immer mehr durch eigene Namen, wie etwa Stein, Metall, Holz, Marmor, Kupfer u. dgl. m. unterscheiden. Wieder muß ein Höhepunkt erreicht werden, an dem eine Höchstzahl von Stoffeigenschaften, eine Höchstmenge engst begrenzter, d. h. nicht weiter unterscheidbarer Gruppen ganzer Stoffe erkannt wird. Das bedeutet wiederum, daß auf dieser Stufe die Stofflichkeit, also die Dinge in ihrer Eigen- schaft als Stoff, dem Wesentlichen, Nichtindivi- duellen, Typischen, der Stoffidee nach erkannt sind. Im absteigenden, individualistischen Abschnitte wird das den ganzen Stoffen Gemeinsame, d. h. die Teilbarkeit des Stoffes, Stoff schlechthin er- kannt. Stoff schlechthin ist Kraft oder Energie mit der Geltung von Stoff, ebenso wie Bild schlechthin Form mit Bildgeltung ist. Die durch äußerstes Zusammenfassen der Ge- meinsamkeiten zuerst gewonnene geringste Zahl von Gruppen wird durch das Erkennen immer neuer Gemeinsamkeiten, immer neuer Stoff- „Be- standteile", immer neuer Kräfte zergliedert bis ein Höchstmaß an Ähnlichkeit und Einfachheit, wie man annehmen muß, mit der „Atom"- Vorstellung erreicht ist. Damit sind auch die Stoffe, die Wirklichkeit, N. F. XIX. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 23 die Dinge in ihrer Eigenschaft als Stoff, im ganzen und allen Teilen, soweit es möglich ist, erkannt. Ergänzend ist folgendes dazu zu sagen. Im ansteigenden Abschnitte werden die Dinge in ihrer Stoffeigenschaft dem „Äußeren" nach erkannt. Man erkennt das Trennende, Unterscheidende der Stoffganzen. Das Empfinden beherrscht das ge- samte Geistesleben und Kulturgeschehen. Das formale Denken und Gestalten gibt dem Abschnitte seinen besonderen Ausdruck. Der ansteigende Abschnitt ist der eigentlich neu schöpferische, denn jedes Neue wächst an Inhalt und hat selbständigen Wert. Die Denk- beziehungen zur Vergangenheit, zu bereits geistig Erworbenem können keinen Gewinn bringen. Der Abschnitt ist deshalb ausschließlich vorwärts- schauend und weil das Zurückliegende als minder wertvoll gelten muß, unhistorisch, unwissenschaft- lich, unphilosophisch. An dem in diesem Sinne aufs höchste ge- steigerten Ende des ansteigenden Abschnittes, am idealistischen Höhepunkte des Zeitalters geschieht zugleich die Wandlung. Man erkennt das „Innere", das Gemeinsame, die Teile, das Individualistische des Stofflichen. Alles bewußte Denken und Schaffen geschieht in Abhängigkeit von den Vorstellungen der Höhe- zeit. Der ganze Abschnitt ist rückschauend; die Vergangenheit ist das „verlorene Paradies". Philo- sophie, Wissenschaft und historisches Denken ent- wickeln sich und wandeln sich mit dem stets unbe- wußt und unlenkbar fortschreitenden Erkennen. Geistesleben und Kulturformen werden durch das verstandesmäßige Denken beherrscht. Die Anordnung, das System, die Geschlossen- heit des Formens verleiht dem absteigenden Ab- schnitte sein Gepräge, seinen Wert. Das einzelne verliert an innerem Gehalte, je weiter die Ent- wicklung fortschreitet. In diesem Sinne wird der Abschluß des ganzen Zeitalters, der individualistische Höhepunkt erreicht. Ebenso wie das Ergebnis der Bilderkennt- nis, das Erkennen von Form schlechthin ist, muß der nächste Schritt über das äußerste Erkennen des Stoffes hinaus zur Erkenntnis von Kraft, von Energie schlechthin führen. Wie die mit der Stofferkenntnis Hand in Hand gehende Erkenntnis der Form schlecht- hin, also der Form mit Stoffgeltung zu denken ist, ergibt sich ohne weiteres aus der bisherigen Betrachtung. Form erhält Stoffgeltung, Geltung von Stoff, jeweils entsprechend der Stoffvorstellung der er- reichten Erkenntnisstufe, also unabhängig von einem Stoffe, an den die Form zufällig gebunden ist. Für die Stoffgeltung der Form ist es belang- los, ob es sich um ein Natur- oder Kunstgebilde, um lebende oder tote Form in irgendwelchem Stoffe handelt. Solange die Stoffvorstellung zu Beginn der Entwicklung an eine geringste Menge stärkst her- vortretender stofflicher Dingeigenschaften gebunden ist, können auch nur Formen gedacht und dar- gestellt werden, die ebenso einfach und so wenig mannigfaltig sind, wie die ersten Stoffvorstellungen. Je bestimmter, je enger begrenzt und mannig- faltiger die Stoffvorstellungen durch immer neu erkannte Eigenschaften werden, um so reicher und gehaltvoller wird auch das Formempfinden, das Formvorstellen und Formgestalten. Der Höhepunktserkenntnis entsprechend können nur Formen gedacht und gebildet werden, die den auf dieser Stufe ausschließlich vorstellbaren „voll- kommensten" Stoffeigenschaften, die dem Stoffe schlechthin entsprechen. Nicht ein Wille zu „stilisieren" führt am Ent- wicklungshöhepunkte zu künstlerischen Bildungen, die Individuen im höchsten Maße unähnlich und Arten im höchsten Maße ähnlich sind, die der Idee gemäß geformt sind. Die „Vollkommenheit" der Stoffvorstellung verhindert Formbildungen, die nicht an ein höchstes Gleichmaß aller mit dem Stoffe schlechthin verbunden gedachten mit- und gegeneinander wirkenden Kräfte zur Schau tragen. Das erworbene Erkenntnismaß muß zum Ausdruck kommen ebenso bei Abbildern von Dingen, wie bei freien Formschöpfungen. Und die Formen dieser Zeit müssen notwendig ebenso wie die Stoffvorstellungen ein Höchstmaß an In- halt, an Ausdrucksfähigkeit annehmen, weil auch sie die Inhalte alles früher Geschaffenen in sich vereinigen müssen. Mit dem beginnenden Erkennen der Teilbar- keit des Stoffes beginnt auch das individualisie- rende Formbilden, dessen Vielgestaltigkeit hier nur angedeutet werden soll. Der Erkenntnisentwicklung dieses Abschnittes entsprechend müssen entstehende Formen , d. h. Formeinheiten , die dem Erkenntnisstandpunkte gemäß, jeweils als selbständig gelten, immer ein- facher und ähnlicher werden, und an Ausdrucks- kraft und Inhalt bis zum äußersten Maße verlieren. Mit diesem Sinken des Formwertes ist aber notwendig verbunden ein Schaffen, daß zu höch- ster Ähnlichkeit mit Individuen und zu äußerstem Verknüpfen aller Teile untereinander führt. Über die Erkenntnisaufgaben des dritten größten Kulturzeitalters läßt sich bereits sagen, daß Energie schlechthin, d. h. von Stoff unabhängig vorzustellende Energie und vom Geständlichen und Stofflichen gelöste Form erkannt werden wird. Die Hauptaufgabe läßt sich jedoch noch nicht bezeichnen. Wenn die schon ausgesprochene Annahme zu- trifft, daß wir heute an der Wende vom Stoff- zeitalter zum dritten größten Kulturzeitalter stehen, dann haben wir, obschon kein erworbener Geistes- besitz verloren wird, doch die unzweifelhaft Jahr- hunderte umfassende Zeit des ersten Ringens um die Grundlagen einer neuen Kultur vor uns. Hervortreten muß das besonders in einem verhältnismäßig schnellen Lösen der äußeren Be- ziehungen zur Vergangenheit mit ihren tief in alle Lebensformen einschneidenden Wirkungen. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2 Doch auch auf solch eine Zeit sicherlich här- tester Prüfung der gesamten Kulturmenschheit folgt eine Blüte, die heller strahlen wird, als die, der wir am meisten nachgetrauert haben, der Gabe griechischen Geistes vor zweieinhalb Jahr- tausenden. Wie der große weltgeschichtliche Wandel der Menschheitskultur mit seinem bisher unerklärbar schwankenden Auf- und Niedergange aus den durch die Erkenntnis gegebenen Geistesgrund- lagen zwanglos zu deuten ist, wird weiter zu er- örtern sein. [Nachdruck verboten.] Die Stärke — Assimiiationsprodukt? Von Dr. Hugo Fischer. Die Frage mag manchen seltsam anmuten, der sich, gewissermaßen als den Anbeginn aller Pflanzen- physiologie, aus Vorlesungen oder Büchern den Satz eingeprägt hat: „Die Stärke ist das erste leicht nachweisbare Assimilationsprodukt". Dieser Satz rührt bekanntlich von Julius Sachs her, und er, wie jeder andere große oder kleine Pflanzen- physiologe von Beruf, wußte sehr wohl, was man sich dabei zu denken hat. Aber, die Sache hat zwei Seiten: man hat auch Schüler, und vor Lernenden ist es gut, alle Zweideutigkeiten pein- lichst zu vermeiden, weil nämlich — die Erfah- rung lehrt es tausendfältig — das Lernen bei viel zu vielen vorwiegend im Nachsprechen, nicht im Nachdenken besteht. Darum ist Klarheit immer gut. Das Stärkemehl ist ein Assimilationsprodukt, und ist auch wieder keines, wie man es eben nimmt; ein Gleichnis diene zur Erläuterung: Jedes Stück Brot verdanken wir der Land- wirtschaft. Andererseits darf der Bäcker das Brot als seiner Hände Werk in Anspruch nehmen. Und fragen wir der Entstehung genauer nach, so liegt zwischen der Tätigkeit des Ackersmannes, der das Getreide liefert, und der des Bäckers noch die Arbeit des Müllers, der das Getreide zu Mehl mahlt. Wollen wir also mit zuverlässiger Treue, wie sie der Wissenschaft geziemt, den Ent- wicklungsgang darstellen , so kann es nur in der Art geschehen: Landwirt — Getreide, Müller — Mehl, Bäcker — Brot. Danach ist es nicht korrekt, das Brot ohne weiteres als Produkt der Land- wirtchaft hinzustellen. So steht es auch um die Stärke als ,, Assimi- lationsprodukt". Mit dem Worte „Assimilation" bezeichnen Tier- und Pflanzenphysiologie nicht die gleichen Begriffe. Erstere versteht darunter die Umarbeitung der als Nahrung aufgenommenen organisch.en Substanzen zu denjenigen Stoffen, die dem Tierkörper aufbauen. In der Pflanzen- physiologie nennt man aber so den Vorgang, der in der Aufnahme anorganischer Stoffe, in erster Linie der atmosphärischen Kohlensäure, unter Mitwirkung der Chlorophyllkörper und des Lichtes, zu Kohlenhydraten besteht. Dem Brauche folgend, sei auch hier unter „Assimilation" ausschließlich die Kohlensäure-Assimilation ver- standen. Das wirklich erste Produkt, welches dabei aus Kohlendioxyd und Wasser entsteht, dürfte Form- aldehyd sein. Die alte, von Baeyer herrührende Hypothese hat in jüngerer Zeit eine kräftige Stütze erhalten durch die Arbeiten von Gräfe, in Be- richten d. deutsch. Botan. Ges , 27, 1909, 431 u. 29, 191 1, 19, weicherzeigte, daß der sonst giftige Formaldehyd aufgrüne Pflanzenteile im Licht viel weniger schädlich wirkt und von diesen wohl tatsächlich verarbeitet wird. Seine Umwandlung in Zucker braucht also gar nicht einmal besonders rasch zu geschehen. Daß aus Formaldehyd Zucker werden kann, ist schon länger bekannt: 6 CHOH^CgHjjO,,. So finden wir denn Trauben- oder Fruchtzucker, meist wohl den ersten, auch in den assimilations- tätigen Organen. Was wird aus ihm nun weiter? Der physiologische Bedarf der Pflanze umfaßt hauptsächlich drei Körpergruppen organischer Art: Eiweißverbindungen, Atemmaterial, Zell wan dstoffe. Die Eiweißkörper entstehen aus dem einfachen Zucker durch Anlagerung von Stickstoff, Schwefel usw. und durch Polymerisa- tion; z. T. sind sie die eigentlichen Träger des Lebens.^) — Als Atemmaterial dienen die ein- fachen Zucker selbst. — Die Zellulose, in verschie- denen Abarten das feste Gerüst der Pflanze bildend, entsteht durch Polymerisation und Kondensation ebenfalls aus den einfachen Zuckern. Für das Stärkemehl ist in diesen Grundtat- sachen des pflanzlichen Stoffwechsels kein Platz, es ist hier nur ein Gegenstand zweiten oder dritten Interesses. Wir können uns sehr wohl eine Pflanze vorstellen, die allen durch den Assimilationsvor- gang gewonnenen Zucker sofort teils veratmet, teils zu Eiweiß, teils in Zellulose umwandelt, teils wohl auch als Zucker oder Fett speichert, ohne jemals auch nur ein Molekül Stärke zu erzeugen. Die Stärkebildung stellt vielmehr eine Art „Sack- gasse" oder „Totes Gcleis" dar, die Stärke muß, um zu irgendetwas Verwendung zu finden, immer wieder erst in löslichen Zucker, aus dem sie ent- standen ist, zurückverwandelt werden. Abgesehen von der „Statolithen"- Wirkung nach Haberlandt und Nemec in Stärkescheiden und Wurzelhauben, hat der Pflanzenkörper keinerlei Verwendung für die Stärke als solche. Daß bei jener Wieder- auflösung des Stärkemehls zu Zucker Energie frei wird, wie neuerdings Janse (in Jahrb. f. wissensch. ') Beweis; alle Stoffe, welche Eiweiß ausfällen oder zer- stören, sind starke Gifte für lebende Zellen. N. F. XIX. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 25 Bot., 58, 1917, 221) ausführhcher begründet, ist eine Sache für sich, die an dem oben dargelegten Tatbestand nichts ändert (Freiwerden von Energie ist in noch weit höherem Grade gegeben bei der Rückverwandlung der Fette in Kohlenhydrat, weil Fette weit weniger Sauerstoff enthalten). Für den Assimilationsvorgang selbst ist also die Stärkebildung eigentlich ganz unwesentlich und entbehrlich. Wenn trotzdem in assimilieren- den Blättern in der Regel nach einiger Zeit Stärke- körnchen auftreten, so hat das seine besondere, längst bekannte Ursache: Bei reger Tätigkeit er- zeugt das Blatt weit mehr Zucker, als gleichzeitig abgeleitet oder sonst verbraucht werden kann ; dieser überschüssige Zucker müßte sich in den Blattzellen stärker anhäufen, als der osmotischen Wirkung wegen ertragen werden kann, ja, nach dem allgemeinen Gesetz, wonach Anhäufung der Reaktionsprodukte einen chemischen Vorgang ver- zögert oder zum Stillstand bringt, müßte die Assi- milationstätigkeit starke Einschränkung erfahren.') Davor schützen sich nun die Blattzellen, indem sie den Überschuß zu Stärke verdichten, die als unlöslich nun nicht mehr störend wirken kann. Wissenschaftlich einwandfrei ist also der Assi- milationsvorgang etwa so darzustellen: das wirk- lich erste Erzeugnis aus Chlorophyllapparat, Licht, Kohlensäure und Wasser ist höchst wahrscheinlich Formaldehyd, der sich alsbald zu einfachem Zucker verdichtet.-) Dieser im Blatt erzeugte Zucker wird fortdauernd, bei Tag und bei Nacht, durch Nerven und Blattstiel abgeleitet (wobei die Ge- schwindigkeit der Ableitung in hohem Grade von Licht und Temperatur beeinflußt wird), zum Teil wird er, der Zucker, auch schon unmittelbar weiter verwendet, so auch zur Atmung der Blattzellen. Nur wenn der nicht abgeleitete und nicht sonst verbrauchte Zucker eine gewisse, von Fall zu Fall wechselnde Konzentration übersteigt, findet im Blatt eine Verdichtung zu Stärke statt. Dieses Auftreten von Stärkekörnchen im Blatt gibt Ge- legenheit zu einigen sehr hübschen, aber leicht mißzuverstehenden (I) Vorlesungsversuchen (Jod- Ijrobe). Es wäre aber höchst verkehrt, die Stärke- bildung als wesentlich für den Assimilations- vorgang auffassen zu wollen. Wir können wohl jede Pflanze, die sonst regel- mäßig Stärke in ihren Chlorophyllkörnern erzeugt, durch Herabsetzung der Bedingungen (Lichtgenuß oder CO2 - Gehalt der umgebenden Luft — be- quemer das erstere) dazu bringen, daß sie eben noch genug assimiliert, um ihr Leben zu fristen, die Grenze der Stärkebildung im Blatt jedoch nicht mehr überschreitet. ') Um Blätter zu entstärken, indem man sie , etwa durch Verdunkelung oder Kohlensäureentzug, an weiterem Assimi- lieren hindert, bedarf es in der Regel mehrerer Tage , d. h., bei günstigen Assimilationsbedingungen speichert das Blatt mehr Stärke, als es in einem Tage weiter verarbeiten und ableiten kann. -) Nach den erwähnten Arbeiten von Gräfe scheint auch dabei das Licht mitzuwirken. Bezeichnet man die Stärke als Assimilations- produkt, so muß das nicht nur zu Mißverständ- nissen führen, sondern ruft sogar erfahrungsge- mäß wirklich solche hervor. Wiederholt habe ich die Probe darauf gemacht und immer wieder gefunden, daß Studierende fest überzeugt waren, Stärkebildung sei von der Assimilation überhaupt nicht zu trennen; wo im Blatt keine Stärkekörn- chen vorhanden seien, da sei eben auch nicht assi- miliert worden. Die gleiche irrige IMeinung ist mir wiederholt da aufgestoßen, wo Chemiker oder Zoophysiologen in Schriften allgemein physio- oder biologischer Art den Assimilationsvorgang behandeln. Aber selbst die Bücher von Fach- botanikern sind nicht frei davon. Ich habe hier nicht alle botanischen Lehr- und Handbücher zur Hand, eines aber könnte ich namhaft machen, das zu den anerkannten und gut empfohlenen ge- hört, und doch in seiner neuesten, erst vor wenigen Jahren erschienenen Auflage Assimilation und Stärkebildung noch restlos gleichsetzt, auch nicht mit einem Worte andeutend, daß die Pflanze auch assimilieren kann, ohne Stärke im Blatt zu bilden. Auch der Ausdruck ,,autochthone Stärke" wirkt irreführend, denn jedes Stärkekorn ist in der- selben Zelle entstanden, in der wir es sehen. Den Satz also : „Die Stärke ist das erste, leicht nachweisbare Assimilationsprodukt'', sollte man, unbeschadet der Tatsache, daß sein Vater, Julius Sachs, ein hervorragender Mann war, der sehr Vieles und sehr Bedeutendes für die Wissenschaft geleistet hat — jenen Satz sollte man getrost fallen lassen, oder doch, wenn man ihn schon aus geschichtlichen oder Pietätsrücksichten be- stehen lassen will, nie ohne die nötige Vor- beugung aussprechen, nie ohne den Hin- weis, daß Stärkebiidung im Blatt, zwar als Folge- erscheinung der Assimilation, erst dann ein- tritt, wenn die Menge der gebildeten Assimilate die Summe aus den gleichzeitig verbrauchten und abgeleiteten und den, in osmotisch wirkender Lösung, für die Zelle erträglichen Zuckermengen übersteigt. Daß diese Grenze bei manchen Pflanzen so hoch liegt, daß selbst unter normal günstigen Be- dingen Stärke im Blatt überhaupt nicht erzeugt wird, ist längst bekannt, es erübrigt sich, hier näher darauf einzugehen. Auch bei solchen Pflanzen, z. B. Narcissus-Arten , gelingt es aber, Stärke- bildung im Blatt hervorzurufen, wenn man bei hellem Licht den Kohlensäuregehalt der umgebenden Luft wesentlich über das Normalmaß, von etwa ^/^ bis ^/j Liter im Kubikmeter, steigert, also damit noch günstigere Assimilationsbedingungen schafft. Der Satz in Gräfes „Ernährungsphysiologischem Prak- tikum der höheren Pflanzen" (Berlin 1914), S. 1^6: „Viele Pflanzen (Liliaceae, Amaryllidaceae usw.) bilden bei der Assimilation überhaupt keine Stärke, sondern reduzierende Zucker", bedarf so- mit einer gewissen Einschränkung. Ganz den Tatsachen widersprechend ist es aber, wenn es a. a. O. weiter heißt: Compositae, Campanulaceae 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2 und einige andere bildeten „wohl ein Polysac- charid, aber niemals Stärke, sondern das Inulin, usw.". Schon Vöchting, in Sitzsber. Preuß. Akadem. d. Wiss., Physik.- Mathem. Klasse, 34, 1894, 705, hat in der Topinamburpflanze, Helian- thus tuberosus, sowohl in Blättern wie in der Stärkescheide Stärke nachgewiesen, und mir selbst ist aus meiner Inulinarbeit, in Ferd. Cohns Beitr. z. Biol. d. Pfl., 8, 1898, 53, kein Fall be- kannt, daß es bei einer Art der genannten beiden F"amilien anders wäre; selbst die Stolonen und die Knollen von Hei. tuberosus führen, wenigstens im Jugendzustand, eine richtige Stärkescheide, und ebenso ist die Blattstärke eine regelmäßige Er- scheinung. Nur in den Speicherorganen ge- nannter Familien tritt Inulin allein auf. Bei Galanthus nivalis und Leucoium vernum jedoch fand ich in den ruhenden Zwiebeln Inulin und Stärkemehl nebeneinander gespeichert. Ein paar Worte zum Schluß zur Klärung der Frage nach der Funktion der „Stärkescheide" ; über diese sind drei Theorien aufgestellt worden : Sachs: sie diene als Leitungsbahn für Kohlen- hydrate. Frank: die Stärke sei als Vorratsstoff für einen demnächst in unmittelbarer Nähe anzu- legenden Sklerenchymring angehäuft. Haberlandt: ihre Körner dienen, als „Stato- lithen", der Wahrnehmung der Schwerkraftrich- tung. Dafür, daß in der Stärkescheide mehr Kohlen- hydrate wandern, als im übrigen Parenchym, ist niemals ein Beweis erbracht worden, und daß aller Zucker in jeder Zelle als „transitorische" Stärke niedergeschlagen und wieder aufgelöst würde, wäre ein übermäßig umständliches Verfahren. Daß häufig — nicht immer — zunächst der Stärkescheide ein Sklerenchym entsteht, und um dieselbe Zeit in gleicher Höhe die Stärke ver- schwindet, ist Tatsache, die Verwendung dieser Stärke für diesen Bedarf also recht wahrscheinlich. Damit verträgt sich aber sehr gut auch die Stato- lithentheorie, für welche doch nun eine erdrückende Zahl von Beweisen sich gehäuft hat; dazu gehört mit die erwähnte Tatsache, daß auch die Inulin- pflanzen eine Stärkescheide besitzen — Inulin, als in Lösung, könnte diese Aufgabe nie erfüllen. Also: dem wachsenden Stengel dient die Stärke- scheide nach Haberlandt als Perzeptionsorgan, später wird die Stärke in der Regel aufgebraucht oder weitergeleitet, in vielen Fällen mag sie nach Frank zur Verstärkung der nächstgelegenen Hart- bastzellen dienen, nachdem diese Slengelregion ihr Wachstum eingestellt hat. Einzelberichte. Hydrobiologie. Seitdem man sich daran ge- wöhnt hat, ein Gewässer als einen Organismus im weiteren Sinne zu betrachten, ist man auch daran gegangen, die Methoden der exakten For- schung wie in der Physiologie des Einzelindivi- duums so auf das Leben in den Gewässern anzu- wenden. Die Planktonforschung hat uns in gerade- zu klassischer Weise gezeigt, wie es möglich ist, exakte Messungsmethoden auf das Gebiet einer Lebensgemeinschaft zu übertragen. Nun bezieht sich diese aber auf eine ganz bestimmte Region der Gewässer, auf die Region des freien Wassers. Außer dieser haben wir noch die Ufer- und die Bodenregion zu unterscheiden, die im „Stoffhaus- halt der Gewässer", wie die neuesten Forschungen unserer Hydrobiologen und Fischereibiologen ge- zeigt haben, eine mindestens ebensogroße, wenn nicht größere Rolle als das Plankton spielen, wenigstens soweit es sich um unsere Süßwasser- becken handelt. Im Anschluß an die schönen Er- gebnisse der quantitativen Planktonforschung sind nun verschiedene Forscher daran gegangen, auch für die Erforschung des Lebens in der Ufer- und in der Bodenregion quantitativ arbeitende Methoden auszusinnen. Wundsch teilt in einer Zusammen- stellung über neuere quantitative Methoden der hydrobiologischen P'orschung mit, welche Fort- schritte in letzter Zeit auf diesem Gebiet gemacht worden sind. (Sitzungsber. Ges. naturf Freunde Berlin, 1919, Nr. 3 — 4.) Zunächst behandelt er die in dieser Zeitschrift genügend besprochenen planktologischen Arbeitsmethoden unter Erwähnung der Netz- und Zentrifugenanwendung. Kurz er- wähnt wird auch die Bestimmung der Bakterien- zahl im Wasser auf den in der Bakteriologie üb- hchen Wegen, ein Gebiet, das leider in der Hy- drobiologie nur recht stiefmütterlich behandelt worden ist, letzthin aber von Minder in der theoretischen Wissenschaft und von anderen (z. B. Fischer und Referent) in der Fischereibiologie (Teichdüngung) bearbeitet wurde. Nicht Erwähnung findet die Methodik des sog. Kammerplanktons nach Kolkwitz, trotzdem diese in der Hand der erfahrenen Biologen be- sonders in der hygienischen Abwässerbeurteilung erhebliche Leistungen verspricht. Dagegen ist es besonders für den Theoretiker wichtig, darauf hingewiesen zu werden, inwieweit die Planktonforschung auch für die rein prakti- schen Zweige, die mit dem Wasser zu tun haben, von Bedeutung geworden ist. Es wird die Be- stimmung des Fischbestandes der Nordsee auf Grund der Menge der freischwimmenden Eier er- wähnt und die Beurteilung des Ertrages von Fischleichen nach dem Planktongehalt. Schwieriger als die quantitative Erfassung des Planktons ist die der Ufer- und Bodenorganismen. Entsprechend den Bedürfnissen der Fischereibio- logie und der Abwasserhygiene ging die Anregung hierzu von diesen im wesentlichen aus. Die drei- N. F. XrX. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 27 kantige Dredge für die Bodenfauna und der Pfahl- kratzer für die Uferfauna sind die beiden In- strumente, welche hier bisher vorwiegende An- wendung fanden. Schon seit langer Zeit sind beide vor allem in der Meeresforschung in An- wendung. Jedoch erst die Arbeiten von Sc hie - menz haben gezeigt, daß auch mit diesen an- scheinend sehr grob arbeitenden wissenschaftlichen Werkzeugen brauchbare quantitative Arbeiten ge- leistet werden können, wenn sie wohl auch nicht an die Exaktheit planktologischer Methoden heran- reichen (die aber, wenn wir an die Erscheinung der Schwarmbildung bei Planktonorganismen den- ken, durchaus nicht immer so sicher ist, wie sie vielfach hingestellt wird, d. Ref.). Wundsch ist allerdings der Ansicht, daß sich die Werte, die sich mit Dredge und Pfahlkratzer erreichen lassen, „den in der Limnoplanktologie gewonnenen vollkommen gleichberechtigt an die Seite stellen können". Bis zu einem gewissen Grade ist dies sicherlich der Fall, wie auch die weiteren Aus- führungen von Wundsch, die sich auf die Re- sultate, die an der Teichdüngungsversuchsstation Sachsenhausen gewonnen worden sind, stützen, erweisen. Es hat sich gezeigt, daß bei Anwen- dung der genannten Methodik zur Untersuchung der Boden- bzw. Uferfauna, die ja in flachen Teichen keinen allzu großen Unterschied aufweist, eine Beziehung zwischen dem Fischabwachs, der Planktonmenge und der Menge der Bodenfauna besteht, die eine gewisse Abhängigkeit von der Art der Düngung zeigt. Hierbei war nun erkenn- bar, daß „die Korrelation zwischen den für das Plankton gewonnenen Werten und dem Fischab- wachs keineswegs erheblicher ist als zwischen einer dieser beiden Abteilungen und den Zahlen für die ßodenfauna". Aus dieser gegenseitigen Übereinstimmung kann man einen Schluß auf eine bis zu einem gewissen Grade hinreichende Zuverlässigkeit ziehen. Ein zweites Kriterium der Methode bietet nach Wundsch folgende Überlegung bzw. Erfahrung. Neu mit Wasser bespannte Teiche weisen in der Regel eine höhere Fruchtbarkeit, die sich in der Menge der auftretenden Organismen äußert, auf als solche, die schon mehrere Jahre hindurch be- spannt wurden. Nun ergibt eine einfache Über- legung, daß diejenigen Organismen, die in einem Jahre mehrere Generationsfolgen haben, im ersten Jahre ihre Hauptentwicklung aufweisen müssen, während diejenigen, die nur eine Generation im Jahr bilden, die erhöhte Nährstoffmenge, die der noch nicht ausgelaugte Boden des Teiches bietet, in dem betreffenden Jahre der ersten Bespannung nicht dadurch ausnutzen können, daß sie eine er- höhte Individuenzahl in diesem Jahre bilden. Sie müssen theoretisch in den älteren, länger be- spannten Teichen in der Mehrzahl gegenüber den neu bespannten sein. In der Tat hat sich dies bei Anwendung der Pfahlkratzer-Methodik durch- aus bestätigen lassen. Weiterhin hat sich dann auch gezeigt, daß die aus der Arbeit mit diesem Instrument gewonnenen Jahreskurven bestimmter Organismen und Organis- mengruppen in der Form während der einzelnen Jahre übereinstimmen. Dies spricht ebenfalls für einen gewissen Wert der quantitativen Anwendung der Methode. Zum Schluß wird dann der Bodenschöpfer von Sven Ekman besprochen, der nach Art eines Greifbaggers eine bestimmte Bodenmenge aus der Tiefe heraufbringt, aus der dann die Or- ganismen ausgesiebt und gezählt werden können. Willer. Völkerkunde. Salzversorgung der Eingebore- nen Afrikas. Am Aufbau des menschlichen^Kör- pers sowie an seinen Lebensvorgängen nehmen verschiedene Salze teil. Das Kochsalz ist für die Gewebeflüssigkeiten — Blut, Lymphe usw. — charakteristisch. Eine wichtige Rolle spielt es auch im Verdauungsprozeß. Da das Salz lebens- notwendig ist, muß bei andauerndem absoluten Salzmangel der Tod eintreten. Deshalb ist das Salz einer der wichtigsten Bedarfsartikel der Völker. Besonders die ausschließlich oder vornehmlich von Vegetabilien lebenden Menschen haben ein starkes Bedürfnis nach Kochsalz, denn obwohl die pflanzlichen Nahrungsmittel in der Regel auch Natrium und Chlor enthalten, so ist doch die Menge dieser für die Erhaltung des Lebens wich- tigen Stoffe in den Pflanzen zu gering, um nicht einer besonderen Zufuhr von Salz zu bedürfen. Die animalischen Nahrungsmittel dagegen sind weit reicher an Natrium und Chlor, weshalb auch jene Völker, die tierische Produkte in ausgiebigem Maße genießen, den Zusatz von Salz zu ihren Speisen teilweise ganz entbehren können oder doch nicht so viel von diesem Zusatz brauchen als die vegetarischen Völker. Für den Erdteil Afrika ist die Salzversorgung ganz besonders wichtig, weil dort der größte Teil der Bevölkerung gewöhnlich von Pflanzen- kost lebt und weil in vielen Gebieten des Erdteils die Beschaffung von Salz erheblichen Schwierig- keiten begegnet, die erst durch die Einfuhr aus Europa nach und nach gemildert werden. Wie sich in Afrika die Salzerzeugung und der Salz- handel der Eingebornen gestalten, veranschaulicht Dr. A. Springer in dem Buch: „Die Salzver- sorgung der Eingebornen Afrikas vor der neuzeit- lichen europäischen Kolonisation",') in welchem er reichliches auf diesen Gegenstand bezügliches Material zusammengetragen hat. Überdies unter- richtet Springer über alle Fragen, die mit dem Salzbedürfnis der Afrikaner zusammenhängen, wie z. B. über die Einwirkung dieses Bedürfnisses auf die friedlichen und feindlichen Beziehungen der einzelnen Völker zueinander; über die Beeinflus- sung der Bevölkerungsdichtigkeit durch die Salz- ') Dresden 1918, Verlag von Zahn & Jaensch. (22j S. und I Karte.) 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2 gewinnung und den Salzhandel ; über das Salz als Geld und Steuerobjekt usw. Verschmäht wird in Afrika das Salz nur von den Masaikriegern. Andere Afrikaner nehmen aus verschiedenen Gründen nur wenig oder kein Salz als Würze der Speisen oder in fester Form zu sich, wie etwa viele Saharabewohner, bei wel- chen man sich übrigens wundern muß , daß sie die Salzmengen vertragen, die in dem Wasser der Wüstenquellen enthalten sind. Die Bewohner mancher Küstengebiete brauchen aus dem Grunde kein Salz, weil sie auf das brackige Grundwasser angewiesen sind, das sich aus der Vermischung des spärlichen Regenwassers mit dem vom Meere aus durchsickernden Meerwasser ergibt. So hat z. B. Tripolitanien außer dem in Zisternen ge- sammelten Regenwasser nur Brunnen mit bracki- gem Wasser zur Verfügung. Die Stämme, bei denen eine Zufuhr von Kochsalz im Trinkwasser nicht stattfindet, sind gezwungen, solches ihrem Körper auf andere Weise zuzuführen. Welche Mittel dabei angewendet werden, schildert Springer in seinem Buclie anschaulich. Es sei hier nur erwähnt, daß gewisse Hirtenvölker das Salz durch Rinderblut oder Rinderharn ersetzen. Die Stämme, die über reichliche Fleischnahrung verfügen, kön- nen das Salz ganz entbehren, doch kommt Fleisch als hauptsächliches Nahrungsmittel in Afrika nur ausnahmsweise in Betracht, da selbst bei den Vieh- züchtern das Schlachten von Rindern zum Zweck der Fleischbeschaffung nicht gebräuchlich ist. Springer vermutet, daß die Seltenheit von Fleischnahrung zusammen mit dem Mangel von Salz in Afrika der Hauptbeweggrund für den Kannibalismus war, wenn auch noch verschiedene sekundäre Beweggründe beim Entstehen und dem Fortbestand dieses Brauches mitgespielt haben mögen. Sehr auffallend ist jedenfalls, daß sich in Afrika das Gebiet des Bestands von Anthropo- phagie ungefähr mit dem Gebiet deckt, wo bisher so gut wie ausschließlich Pfianzenaschcnsalz vor- handen war und wo „Salzhunger" herrschte. Bei vielen Stämmen Innerafrikas wird dem Körper durch Fischnahrung reichlich Salz zugeführt. So liefern der Kongo und seine Zuflüsse den An- wohnern in gleicher Weise große Mengen Fische wie die Seen vom Tschadsee und Albertsee im Norden bis zum Ngamisee und Nyassasee im Süden. Wichtig sind auch die gedörrten und überdies zumeist gesalzenen Fische, die von der Küste aus in das Landesinnere wandern. Soweit die Salzerzeugung durch die Eingebornen in Betracht kam , stand bisher in Afrika wenig ganz reines Kochsalz zur Verfügung. Die Afri- kaner mußten und müssen sich teilweise noch heute mit recht geringwertigem Salz begnügen. An maritimen Salzlagern ist Afrika im all- gemeinen arm; sie sind auf die Atlasländer, die östliche Sahara, das Küstengebiet von West- Mauretanien und die zu Loando gehörige Land- schaft Quissama beschränkt. Als Ablagerungen früherer Wüsten- Salzseen existieren einige Steinsalz- lager in der westlichen Sahara. Frühere Wüsten, in denen das bei der Gesteinsverwitterung frei- werdende Salz nicht weggespült wurde, sondern in den sich neu bildenden Ablagerungen erhalten blieb, sind für die Salzversorgung bestimmter Teile Afrikas von Wichtigkeit. Das Vorhanden- sein alter Wüstenablagerungen äußert sich in Form von Solquellen an zahlreichen Stellen des Kongobeckens und seiner Randgebirge. Sie sind, sagt Springer, um so wichtiger, als diese Ge- biete sonst sehr salzarm sind. Solquellen sind ferner zahlreich in den Atlasländern, wo die mit den Steinsalzlagern in Berührung kommenden Wasseradern naturgemäß als in der Regel sehr starke Solquellen zutage treten. In den Atlas- ländern leitet man die Sole in flache Boden- vertiefungen, wo infolge der starken Verdunstung das Salz bald ausfällt. Im feuchten Kongobecken, wo die Sole in der Regel nur schwach salzhaltig ist, muß sie eingedampft werden. Oft speisen die Solquellen Sümpfe, die so zu Salzsümpfen werden. In der Trockenzeit verschwinden die Sümpfe zum Teil und man benutzt dann die zurückbleibende salzhaltige Erde zur Erzeugung von Salz; in anderen Fällen verwendet man die kochsalzreiche Asche der in den Salzsümpfen wachsenden Pflanzen zur Erzeugung einer Sole, die man nachher eindampft. In den abflußlosen Gebieten Afrikas sind überall Salzseen vorhanden, deren Salz verschiedenen Ursprunges ist. Entweder entstammt es Steinsalz- lagern, von wo es durch Flüsse weggeführt wird, oder es wird salzhaltigen Gesteinen durch die Niederschläge entnommen, oder es handelt sich um das bei jeder Gesteinsverwitterung freiwerdende Salz, das vom Regenwasser zusammengespült wird. Wenn die Salzseen in der regenlosen Zeit aus- trocknen , so bleibt eine Salzkruste, die nur ge- sammelt zu werden braucht. Sonst kommt es in der Trockenzeit zu starker Salzausscheidung am Rande, am Boden und an der Oberfläche des Sees. Das Seesalz ist minderwertig, denn die Salzseen enthalten neben Natriumchlorid in der Regel Natriumkarbonat (Soda) und Nitrat, dazu oft erhebliche Mengen Magnesiumsalze. In den Wüsten finden sich Salzanhäufungen überdies oft in den Tälern der Regenflüsse; manchmal über- zieht das Salz den Boden derselben in einer so starken Schicht, daß es nur gesammelt zu werden braucht. In den weiten Steppengebieten wird vielfach Salz durch Auslaugen aus salzhaltiger Erde ge- wonnen , das teils durch salzhaltige Quellen ge- liefert wird, teils durch die Pflanzenasche nach Steppengrasbränden oder an Seeufern durch an den Strand geworfene Wasserpflanzen. Dieses Salz wird als Erdsalz bezeichnet. In vielen Gebieten Afrikas muß zu der Asche von Pflanzen Zuflucht genommen werden, um daraus Salz zu bereiten. Die Eingeborenen greifen dabei nicht wahllos zu jeder Pflanze, sondern sie verwenden gewöhnlich Sumpf- und Wasser- N. F. XIX. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 29 gewächse, die sich mehr als andere Pflanzen durch Kochsalzgehalt auszeichnen. Die Asche solcher Pflanzen wird ausgelaugt und die Lauge dann eingedampft. Dabei entsteht Pflanzensalz. Die Asche gewisser Bäume wird gleichsfalls zur Salzerzeugung verwendet; dazu gehören z.B. der Schibutterbaum in Adamaua, die Borassuspalme und verschiedene Akazienarten. Als eine Abart des Pflanzensalzes ist das von manchen Stämmen aus der Asche von Rinder- oder Ziegenkot ge- wonnene Salz zu betrachten. Das Meer deckt ebenfalls einen großen Teil des afrikanischen Salzbedarfes. Das Meerwasser wird nur in einigen Küstengegenden unmittelbar benutzt. Weit wichtiger ist die Verwendung von Meersalz, das die Natur an vielen Flachküsten mit trockenem Klima selbst bildet. Wo das nicht geschieht, müssen die Eingebornen zur Salzsiederei schreiten, indem sie das Meerwasser der künst- lichen Verdunstung unterwerfen. Völlig natür- liche Seesalzbildung kommt hauptsächlich vor an der Nordküste Afrikas, an der Küste des Roten Meeres, an der Nord- und Ostküste des afrikani- schen Osthorns, an der Küste von Mozambique, an der Westküste Madagaskars, an der Westküste Afrikas vom Kap der guten Hoffnung bis an- nähernd zur Kongomündung und vom Kap Verde bis zur Straße von Gibraltar. Die Herstellung von Salz obliegt häufig aber nicht immer nur einem Geschlecht. Dort, wo die Arbeit fast allein auf den Schultern der Frau lastet, fällt auch die Salzgewinnung ihr zu. In bezug auf das Pflanzensalz stellt Springer fest, daß dort, wo es im Hausbetrieb zur Verwendung im eigenen Haushalt hergestellt wird, die Frauen dieses Salz gewinnen, während dort, wo Groß- betrieb herrscht und das Pflanzensalz für Handels- zwecke bereitet wird, die Gesamtheit der Männer eines Dorfes die Fabrikanten sind. Seesalz wird meist von Männern bereitet, doch ist dieses Ge- werbe in Ausnahmefällen auch Sache der Frauen. An vielen Orten hat sich die Salzfabrikation als Stammesindustrie entwickelt. In manchen Fällen kam es dabei zur Bildung von Pariastämmen. Viehzüchterstämme, denen jede nicht mit der Viehzucht zusammenhängende Arbeit ein Greuel ist, haben sich nicht nur Handwerkerstämme dienst- bar gemacht, sondern auch Stämme, die die Salz- erzeugung betreiben; so haben sich z. B. die Wangoni den bei Massassi ansässigen Salzarbeiter- stamm unterworfen , damit er sie mit Salz ver- sieht, und in der Oase Kauar, nördlich des Tschad- sees, sind die salzarbeitenden Tibbu-Dirku den eigentlichen Tibbu Untertan , von denen sie sich auch durch dunklere Hautfarbe unterscheiden. Die Pariabildung völlig durchgeführt findet man bei den an der Ostküste Madagaskars von Tamo- tave bis über die Mündung des Manandschara hinaus wohnenden Apanires, deren einzige Be- schäftigung die Salzgewinnung ist und die eine völlig verachtete Bevölkerung sind. Andere Salz- arbeiterstämme wieder erfreuen sich guten An- sehens und Wohlstandes. H. Fehlinger. Zoologie. Die morphologische Stellung der nordeuropäischen Reliktkrebse. In einer seiner trüheren Studien über die Relikte der nordrussi- schen und skandinavischen Binnengewässer ') hatte Sven Ekmann den Nachweis versucht, daß bei einem arktisch marinen Relikt, dem Spaltfußkrebs- chen (Kopepoden) Limnocalanus macrurus, die mit dem Reliktwerden verbundenen morphologi- schen Veränderungen, wie Wölbung der Kopf- kontur und Auftreten eines Stirnwinkels, durch Milieuänderung entstandene Neuerwerbungen sind, die erblich geworden sein müssen, durch Ver- änderung alter Erbeinheiten entstanden sind und sich proportional der Dauer des Süßwasserlebens gesteigert haben, ohne daß man dafür eine Selek- tion verantwortlich machen könne. Verschiedene örtliche Varietäten der Reliktformen hängen unter- einander nur durch die Stammform grimaldii des Eismeers zusammen. Im soeben erschienenen sechsten Beitrag über relikte Krustazeen -) werden auch die übrigen früher faunistisch erdgeschichtlich behandelten nord- europäischen Reliktkrebse morphologisch ge- würdigt. Die Ergebnisse führten weniger zu all- gemeinen Übereinstimmungen als vielmehr zur schärferen Präzisierung der Stellung der marinen Relikte zu ihren Stammformen in morphologischer Hinsicht. Dabei werden unter den „morphologischen Folgen des Reliktwerdens" nur die Umbildungen beim postglazialen Übergang vom Brackwasser- zum Süßwasserleben verstanden, da die vorange- gangene Anpassung der marinen Tiere aus Brack- wasser auch unabhängig vom Reliktwerden er- folgen konnte, nämlich in präglazialer Zeit, z. B. in den nordsibirischen langen und breiten Fluß- mündungen, die wenigstens in unseren Zeiten die umfangreichsten unter den arktischen Brackwasser- gebieten sind; ferner muß in spätglazialer Zeit das Ostseebecken zwar hervorragende Bedeutung für die Verbreitung der arktischen euryhalinen und Brackwassertiere gehabt haben; daß aber in ihm neue morphologische Brackwasserarten der Varietäten enstanden wären, dafür haben wir nach Ekmann keinen Beweis; die Relikte im Ost- seebecken seien vielmehr zweifellos Relikte des spätglazialen Eismeeres, und ihre morphologischen Pligentümlichkeiten seien nicht infolge der Ab- sperrung im Eismeer entstanden, sondern allem ') Internal. Revue der gesamten Hydrobiologie und Hy- drographie, Bd. V, VI und VIII, 1912 — 1917. Die Limno- calanusarbeit ist die in Bd. VI. ') Sven f;kmann: Studien über die marinen Relikte der nordeuropäischen Binnengewässer. VI. Die morphologi- schen Folgen des Reliktwerdens. Internationale Revue der gesamten Hydrobiologie und Hydrographie, Bd. VIII, Heft 5, 1919, S. 476 — 582. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2 Anschein nach schon weit früher in anderen arktischen Brackwassergebieten. Der Betrag der Umbildungen bei der An- passung vom Brackwasser ans Süßwasser war wie bei dem schon erwähnten Limnocalanus macrurus auch bei dem Isopoden Chiridothea entomon, einer großen IMeerasselart , erheblich; bei Mysis oculata relicta, einem auch in deutschen Binnen- seen vorkommenden und in sie ebenso wie die zwei anderen deutschen Reliktarten i) nach Samter und Weltner (1904) aus der Ostsee nach deren vollständiger Aussüßung flußaufwärts hineinge- wanderten 2 cm langen Schizopoden, der von der 2^/2 mm langen marinen M. oculata abstammt, dürften die Umbildungen beim Übergang zum Süßwasser gleich Null gewesen sein. Zwar wissen wir nicht bestimmt, wie die spätglaziale Brack- wasserform von Mysis oculata aussah, doch fand Olofsson auf Spitzbergen, daß schon die ge- ringe Herabsetzung des Salzgehaltes auf 27''/oi, die JVIysis oculata s. str. in die var. relicta verwandelt. Auch bei dem relikten bis 35 mm langen Süß- wasseramphipoden Gammaracanthus loricatus la- custris, dessen Brackwasserform wir gleichfalls nicht kennen, muß die Umbildung sehr klein, vielleicht unmerklich gewesen sein, da die Form sich selbst von der im Eismeer lebenden Salz- wasserform loricatus nur unbedeutend unterscheidet. Pontoporeia affinis endlich gleicht als im Süß- wasser lebende Reliktform innerhalb ihrer Varia- tionsgrenzen völlig ihrer Stammform in den arkti- schen Flußmündungen; Fallasea quadrispinosa kommt nach Verf. nicht in Betracht, weil sie nach dem Fehlen von marinen Verwandten, die als Stammform gelten könnten, und nach der heutigen Verbreitung ein ursprünglich lakustres Tier sei, das nach Einwanderung aus dem Süßwasser ins Brackwasser einwanderte, um alsdann in den durch Landhebung abgetrennten Buchten relikt zu werden. Verschiedenartig sind die Entwicklungs- richtungen, denen die Relikte in ihren Um- bildungen folgten. Bei diesem Vergleich können auch die ursprünglichen Salzwasserformen mit verwendet werden. Nur in der Herabsetzung der Körpergröße, die bei Chiridothea am erheblichsten ist und von ca. 1 1 cm Körperlänge (im Karibischen Meere) bis unter 6 cm (var. vet- terensis im Vätternsee, Schweden) herabging, stim- men alle relikten Krebse überein. Der Salzmangel dürfte die Hauptsache sein, doch scheint er durch andere Faktoren kompensiert werden zu können, da die Chiridothea des Ladogasees etwa ebenso groß ist wie die des Ostseebeckens. Bei Mysis gleicht die Morphologie der Relikt form dem Jugend zustand der Stammform, bei Chiridothea dagegen sind die Jungen der relikten entomon und der Stammform sibirica einander unähnlicher als die alten Tiere. Trotzdem ist wie bei Mysis auch bei Chiridothea die Relikten- bildung ein Rückgang zu phylogenetisch älteren Typen. Es sind nämlich die bei Ch. sibirica für das Jugendstadium charakteristischen langen rhombischen Seitenflügel der Thorakal- segmente und die gedrungenere Umrißform des Telsons nebst seiner Randbewehrung keine alten Eigenschaften, sondern Neuerwerbungen, da sie verwandten Formen fehlen. Es zeigt sich somit hier eine besonders starke Wirkung artumbilden- der Kräfte beim Jugendstadium, und bei der Re- liktform ist die Ontogenese wieder vereinfacht. Hiergegen treten bei Limnocalanus, wie oben ge- sagt, als Endresultat des Reliktwerdens völlig neue Eigenschaften auf V. Franz, Jena. Anatomische und Schalencharaktere von Lim- näen. *) Da die zwei sehr bekannten Schlamm - Schneckenarten Limnaea auricularia L. und ovata Drap, im Genfer See zum Teil scheinbar inein- ander übergehen und sich ebenso scheinbar, d. h. in den Schalencharakteren, dortigen Formen von Limnaea stagnalis angleichen, während sie an Örtlichkeiten mit gleichmäßigeren Lebensbedingun- gen stets leicht voneinander zu unterscheiden sind, war es der Mühe wert, neben diesen Feststel- lungen wieder einmal anatomische zu treffen. Roszkowski untersuchte den zur Artenunter- scheidung in der Konchyliologie so sehr geeig- neten Genitalapparat und fand den der auri- cularia aus dem Genfer See genau dem von auri- cularia-Stücken aus Polen gleichend, den der ovata aus dem Genfer See dem von polnischen Stücken sehr ähnlich, wenn auch mit gewissen Unter- schieden, so daß hier zwei Typen aufgestellt werden konnten, von denen bisher nur einer, der in den polnischen Stücken wiederkehrende, den früheren Untersuchern Eisig und Klotz vorge- legen zu haben scheint. Übrigens variiert die Muskulatur der Penistasche bei den Limnäen so hochgradig, daß nicht zwei Stücke einander gleichen. V. F"ranz, Jena. Chemie. Die künstliche Zerlegung des Stick- stoffs. Im Jahre 1903 beobachtete W. Ramsay die Bildung von Helium aus Radium und aus Radiumemanation und wies damit zum erstenmal nach, daß die Atome eines Elements nicht un- wandelbar sind und daß das Helium (Atom- gewicht 4) einen Baustein der radioaktiven Atome bildet. Vor 10 Jahren zeigte der bekannte Phy- siker E. Rutherford, daß die «-Strahlen radio- aktiver Stoffe rasch bewegte positiv elektrisch geladene Heliumatome sind und daß daher alle Elemente mit «-Strahlung eine Neubildung von Helium aufweisen. Die radioaktiven Stoffe haben ') Dies sind zwei Amphipoden (Fluhkrebse): Pontoporeia ') Waclaw Roszkowski, Note sur l'appareil geni- affinis, bis 11 mm lang, und Pallasea quadrispinosa, bis ig mm tal de Limnaea auricularia L. et Limnaea ovata Drap. Zoo- lang, logischer Anzeiger, Band 44, 1914, S. 175 — 179. N. F. XIX. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 31 die höchsten Atomgewichte [208 bis 238] aller bekannten Elemente und wir wissen, daß in dem noch unerforschten Bau ihrer Atome die Helium- kerne eine wichtige Rolle spielen. Neuerdings ist es Rutherford i) gelungen, den zu den leichtesten Elementen gehörigen Stick- stoff [Atomgewicht 14,01] künstlich zum Zerfall zu bringen und damit zum erstenmal das Atom eines leichten chemischen Elements ") zu zerlegen. Rutherford setzte den elementaren Stickstoff den raschen a Strahlen von Radium C aus und konnte von dem Stickstoffatom Wasserstoffteilchen absplittern. Wenn «-Strahlen von 15 bis 20 000 km Ge- schwindigkeit in der Sekunde auf einen Zinksulfid- kristall treffen, so erzeugt jedes einzelne auffallende «-Teilchen [= HeliumatomJ einen Lichtblitz [Szin- tillation], der mit einer Lupe gut beobachtet werden kann. Die a Strahlen eines radioaktiven Elementes haben eine bestimmte Geschwindigkeit, welche für das zerfallende Atom charakteristisch ist, und vermögen daher in der Luft ebenfalls eine ganz bestimmte Strecke zu durchdringen, welche die Reichweite der «-Strahlen heißt. E. IVIarsden fand im Jahre 1914, daß die «-Strahlen eines Röhrchens mit Radiumemanation in Wasserstoff von Atmosphärendruck eine Reichweite von 25 cm haben; vereinzelte Szintillationen auf dem Zink- sulfidschirm konnte er aber noch in einer Ent- fernung von über 80 cm von der Strahlungsquelle feststellen. Dies rührt davon her, daß ab und zu ein «Teilchen zentral auf einen Wasserstofifkern stößt und dabei seine Bewegungsenergie auf das leichte Wasserstoffteilchen überträgt. Wegen der 4 mal größeren Masse eines «-Heliumteilchens kann nach einer Berechnung von C. G. Darwin die Geschwindigkeit des getroffenen Wasserstoffatoms im günstigsten Fall 1,6 mal größer sein und die Reichweite eines solchen durch einen zentralen Stoß entstandenen raschen Wasserstoffteilchens sollte die Reichweite des ursprünglichen «-Teil- chens um das 4 fache übertreffen. Dies konnte Marsden in der Tat beobachten. Daß diese Strahlen mit großer Reichweite wirklich schnelle Wasserstoffkerne mit einfach positiver Ladung sind, hat Rutherford bei seinen neuen Versuchen durch Ablenkung dieser Teilchen im elektrischen und magnetischen Feld bewiesen. Rutherford hat damit die Masse und die elektrische Ladung eines einzelnen Wasser- stoffatoms bestimmt, was für einige physikalische Probleme von erheblicher Bedeutung ist. Nach unserem heutigen Wissen besteht ein Atom eines chemischen Elementes aus einem positiv el'ektrischen Kern von etwa iO~^' cm Durchmesser, um welchen negative Elektronen kreisen. Da die positive Kernladung eines Atoms, ') Phil. Mag. 37, 537 — 587 (1919) nach K. Fajans, Radio- aktivität S. 95 — loi (Sammlung Vieweg Heft 45). Braun- schweig 1919. '■') Zahlreiche frühere Versuche von R a m s a y erwiesen sich bei der Nachprüfung als unrichtig. welche dessen Hauptmasse ausmacht, auf einen so außerordenthch kleinen Raum konzentriert ist, so gehen die meisten «-Strahlen nur durch die äußeren Atomschichten der getroffenen Wasser- stoffteilchen hindurch. Nach Rutherford durch- queren 10' «-Teilchen auf ihrem Weg durch i cm Wasserstoffgas etwa 10'' Wasserstoffmoleküle, von denen nur eines zentral getroffen wird, so daß aus ihm ein Wasserstoffteilchen mit großer Reich- weite wird. E. Marsden und W. C. Lantsberry be- obachteten 191 5, daß «Strahlen auch beim Durch- gang durch sehr dünne Schichten wasserstoff- haltiger Substanzen z. B. Wachs WasserstofTteil- chen loszusplittern vermögen, welche dann als Strahlen mit großer Reichweite zur Beobachtung gelangen. Merkwürdigerweise fanden Marsden und Lantsberry auch bei Abwesenheit jeglicher Wasserstoffquelle an einem mit Radium C be- deckten Nickelblech schnelle WasserstofTteilchen mit großer Reichweite. Hier schien zum ersten- mal Wasserstoff neben HeUum als ein Bestandteil radioaktiver Atome aufzutreten. Rutherford wies das Vorkommen von Wasserstoffteilchen auch bei Radiumemanation und bei Radium A und Radium B nach. Er hält es aber für mög- lich, daß die Wasserstofi'teilchen nicht aus dem Innern der radioaktiven Atome stammen, sondern daß es sich vielleicht um Spuren von okkludiertem Wasserstoff handelt, welcher durch Erhitzen auf 1 50" nicht ganz vertrieben werden kann. Bei diesen Untersuchungen machte Ruther- ford die überraschende Beobachtung, daß die Wasserstoffteilchen eines mit Radium C bedeckten Bleches sehr viel zahlreicher werden, wenn der Raum zwischen dem Radium C und dem Zink- sulfidschirm mit Luft gefüllt ist, als wenn er luft- leer oder mit Kohlendioxyd oder Sauerstoff ge- füllt ist. Es muß also der Luftstickstoff sein, welcher die Vermehrung der raschen WasserstofT- strahlen bewirkt und tatsächlich wurde von Rutherford in reinem StickstofT eine um 25"/,, höhere Zahl der Szintillationen des Leuchtschirms gefunden. Die in Luft oder Stickstoff erzeugten Strahlen hatten wie die im Wasserstoffgas ent- standenen Wasserstoffstrahlen eine 4 mal größere Durchdringungsfahigkeit wie die erzeugenden «- Strahlen. Die Versuche wurden so angestellt, daß sich zwischen dem Radiumpräparat und dem Zinksul- fidschirm eine 3 cm lange Gasschicht befand. Die «Strahlen des Radium C wurden vollkommen durch dünne Metallfolien abgeschirmt, welche aber die raschen Wasserstoffstrahlen noch leicht durch- ließen. Die im Stickstofifgas beobachteten zahl- reichen schnellen Strahlen mit großer Reichweite müssen eine beträchtlich geringere Masse besitzen, als die sie erzeugenden «-Strahlen des Radium C und es ist Rutherford also wohl gelungen, das Stickstoffatom zum Zerfall zu bringen und mit Hilfe von «-Strahlen aus dem Kern des Stick- stoffs leichtere Teilchen herauszuschießen. Diese 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2 sind nach einem vorläufigen Versuch über die Größe ihrer Ablenkung im Magnetfeld und nach ihrer Reichweite Wasserstoffkerne. Wenn es sich nicht doch um unendlich ge- ringe Verunreinigungen mit Wasserstoff handelt — was unwahrscheinlich ist — dann ist hiermit zum erstenmal nachgewiesen, daß nicht nur die hochatomigen radioaktiven Elemente, sondern auch der zu den leichtesten gehörige Stickstoffkern aus einfacheren Bestandteilen zusammengesetzt ist. Ein Stickstoffteilchen mit dem Atomgewicht 14,01 besteht wohl aus 3 Heliumkernen von der JVIasse 4 und aus 2 Wasserstoff kernen von der Masse 2. Sauerstoff [Atomgewicht 16^4/4] und Kohlen- stoff [Atomgewicht 12^3X4], aus deren Ver- bindung keine Wasserstoffieüchen abgespalten werden konnten, bestehen wahrscheinlich nur aus Heliumkernen. Nach Rutherford bewirkt erst einer von lo'" Zusammenstößen der «Helium- teilchen mit Stickstoffmolekülen den Zerfall eines Stickstoftatoms, weil gerade der äußerst kleine Kern des Atoms von iO~'- cm Durchmesser ge- troffen werden muß, während der Durchmesser eines ganzen Atoms etwa 10^" cm beträgt. Die Rutherfordsche Entdeckung bedeutet die erste künstliche Zerlegung des Atoms eines chemischen Elements, da die radioaktiven Atome in einer ganz unbeeinflußbaren Weise von selbst zerfallen. Man wird nach Rutherfords Methode auch aus anderen Elementen Wasserstoffkerne ab- zuspalten versuchen, man wird den Atomrest des Stickstoffs nach der Lostrennung von Wasserstoff- kernen untersuchen und die Radiochemie eröffnet neue aussichtsreiche Bahnen, um in den zum Teil noch geheimnisvollen inneren Bau der Atome ein- zudringen. Rutherford hat uns der Erfüllung alter alchemistischer Träume näher gebracht und hat überraschend rasch an den «Strahlen die Vermutung bestätigt „daß es vielleicht noch ge- lingen wird nicht nur Durchquerungen von Atomen zu erzielen, sondern daß es bei dieser Gelegenheit unter Umständen auch zu einer Zertrümmerung des durchquerten Atoms kommen mag".^j K. Kuhn. Botanik. In den Mitteilungen der Anthropo- logischen Gesellschaft in Wien hat Hahn in An- schluß an die wertvolle Arbeit Engelbrechts über die Einführung des Roggens, von der Möte- findt in der Nr. 43 d. Ztschr. S. 629 ein ausführ- liches Referat gegeben hat, mit Zuziehung einer anderen Arbeit, die an der gleichen Stelle er- schien, eine immerhin neuartige Auffassung auf- gestellt. Sie würde uns für den von Engel- ') Naturw. Wuchenschr. XVI, S. 702 (19 17). brecht so wahrscheinlich gemachten Übergang des wilden Roggens aus Kleinasien, als Bei- mengung und Unkraut der Weizensaat und weiter- hin als Notnahrung in den wirtschaftlichen Anbau am schwarzen Meere sogar eine bestimmte ge- schichtliche Zeit festzuhalten erlauben. Walter Vogel, dem wir eine wertvolle Ge- schichte der deutschen Seeschiffahrt verdanken, hat aus einer bisher mißverstandenen Stelle des Berichtes Herodots über die Skythen die Folge- rung gezogen, daß damals unter griechischen Ein- fluß und auf Veranlassung griechischer Unter- nehmer ein kleiner Bruchteil der Skythen nach griechischem Muster pflügte und Weizen säte, aber nur für den Absatz an die Griechen, also zur Aus- fuhr und nicht etwa für den eigenen Bedarf. Dieser neue, damals ja jedenfalls noch nicht eigentlich bodenfeste Ackerbau der Skythen, meint nun Hahn, hätte sehr leicht die Veranlassung werden können, daß die kleinasiatische Form des wilden Roggens mit der griechischen Saat an die Küsten des europäischen Rußlands hinüber- wanderte, um dann den Weg in den Anbau einzuschlagen, den Engelbrecht als wissen- schaftlich gebildeter Landmann mit so großem Scharfsinn für mehr als eine, später wichtige Kulturpflanze als wahrscheinlich aufgestellt hat. Wichtig ist aber die Aufstellung Vogels, daß die damaligen Skythen, jenes interessante und durch die reichen Funde in seinem Gebiet wichtige Reitervolk des europäischen Südostens nicht im ganzen Umfang als Nomaden, d. h. als ein nur vom Ertrage seiner Herden lebendes Hirtenvolk anzusehen wäre, sondern nach der ausdrücklichen Feststellung und Einteilung Herodots in einem von ihm selbst deshalb als Landbauer yewQyol be- zeichneten Abteilung, sich durch die von Hahn neu aufgestellte Form, den Hackbau ernähr- ten, während ihre Volksgenossen, die Pflüger ccQOTfjQeg, den Weizen, den sie bauten, verkauften £7Ti /roi[at (oder wie Hahn meint gegen Wein? vertauschten). So wären die Skythen, dies typische Nomaden- und Reitervolk, das erste Beispiel dafür, daß diese von Hahn aus dem Verhalten der meisten Kul- turen in den ungeschichtlichen Außengebieien abgeleitete Form des Hackbaues sich an der Grenze des geschichtlichen Europas bis in unsere Frühzeit und darüber hinaus erhalten hatte und noch nicht durch die Pflugkultur verdrängt war. Es wirft das ein helles Schlaglicht auf die Zu- stände der Skythen, die zentralasiatischen Noma- dismus mit starken indogermanischen Einwir- kungen verbanden und daneben doch noch die ältere Bodenwirtschaft erhalten hatten. Inhalt: Herrn. Liier, Das Entstehen und die Entwicklung der Denkformen. S. 17. Hugo Fischer, Die Stärke — Assimilationsprodukt? S. 24. — Einzelberichte: Wund seh, Neuere quantitative Methoden der hydrobiologischen Korschung. S. 26. A. Springer, Salzversorgung der Eingeborenen Afrikas. S. 27. Sven Ekmann, Die morpho- logische Stellung der nordeuropäischen Reliktkrebse. S. 29. Koszkowski, Anatomische und Schalencharaktere von Lininäen. S. 30. W. Kamsay, Die künstliche Zerlegung des Stickstoffs. S. 31. Hahn, Einführung des Roggens. S. 32. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. I'ätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. ra. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; er ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den i8. Januar 1920. Nummer 3. Zur Entstehung der Ozeane nach A. Wegener, [Nachdruck verboten.] Von Dr. W. Kranz, Major a. D. In Nr. 40, 1919 der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift ') berichtet R i e m über die Hypo- these Alfred Wegeners vom Aufreißen der der riesigen atlantischen „Spalte", der Spalte des indischen Ozeans usw. Er tritt dieser Hypothese bei, hauptsächlich auf Grund einer neuen Be- arbeitung grönländischer Längenbestimmungen: ,,Sie zeigen zweifellos eine Bewegung Grönlands nach Westen." Ganz so zweifellos erscheint diese Bewegung nach dem Bericht in Nr. 28, 1919 dieser Zeit- schrift ■-) doch nicht. Voraussetzung dafür wäre, daß bei den einzelnen Messungen in den Jahren 1823, 1870 und 1906—08 tatsächlich keine Fehler begangen wurden. Da dies nicht vollkommen feststeht, kommt der genannte Bericht zu dem Schluß : „Eine Neuvermessung könnte die noch vorhandenen Zweifel wahrscheinlich beheben"; die Untersuchung als Ganzes sei mit einer sehr be- trächtlichen Unsicherheit behaftet, die berechneten Mittelwerte für die jährliche Trift Nordgrönlands nach Westen stimmten nicht sehr gut überein und diese westliche Bewegung sei noch nicht zweifels- frei bewiesen, wenn schon ihre Annahme eine wesentliche Stütze erhalten habe. Im übrigen hat bereits Sem per'') gezeigt, daß diese Beobach- tungen, vom geologischen Standpunkt betrachtet, für die Verschiebungstheorie Wegeners gleich- gültig sind, da niemand sagen kann, seit wie lange diese Veränderung statthat — vorausgesetzt, daß sie überhaupt stattfindet. Nach Sem per sind außerdem Horizontalverschiebungen solcher Größenordnung an Spaltenrändern nichts unge- wöhnliches, und zwischen Europa und Grönland ist Platz und Gelegenheit genug, die zu fordernden Spalten anzusiedeln. Niemand bestreitet Hori- zontalverschiebungen im Zusammenhang mit Ge- birgsfaltungen; sie beweisen also vorläufig nichts für eine Wanderung ganzer Kontinente. Sehr gewichtige Einwände gegen die Hypo- thesen Wegeners wurden von Geologen er- hoben, u. a. auch gegen die Grundlage dieser Lehre, die Isostasie, z. B. von Soergel*) und Deecke,^) sowie gegen die Anschauung von ') N. F. XVIII, S. 5S0— 582. 2) N. F. XVIII, S. 395 f. '') Semper, Was ist eine Arbeitshypothese. Centralblatt f. Mineralogie, Geologie und Paläontologie 1917, S. 146 — 163. *) Soergel, Die atlantische ,, Spalte", Kritische Bemer- kungen zu A. Wegeners Theorie von der Kontinentalverschie- bung. Monatsber. Deutsch. Geol. Gesellsch. 1916, S. 200 — 239; Das Problem der Permanenz der Ozeane und Konti- nente, Stuttgart 1917, S. 7. ^} Deecke, Über Meereslransgressionen und daran sich den Polwanderungen, so von Eckardt*) und Andree,') obwohl andere Geologen solche und ähnliche Bewegungen für möglich halten. **) Zahl- reiche Einwände gegen die Wegen ersehe Hypo- these selbst haben sodann Diener,") Soergel*) und Semper'') vom geologischen Standpunkt ausgesprochen : Diener begründet eingehend, daß wir bei Prüfung der von Wegener angenommenen Pro- zesse der Zerteilung und des Zusammenschubs von Kontinentalschollen an Hand der erdgeschicht- lichen Erfahrungen auf allen Seiten zu auffallenden Widersprüchen mit gesicherten Ergebnissen paläo- geographischer Forschung gelangen. Er betrachtet daher diese Hypothese, so bestechend sie auf den ersten Blick erscheinen möge, weil sie uns der Lösung disparater Probleme unter einem einheit- lichen Gesichtspunkt näher zu bringen scheint, doch nur als ein Spiel mit bloßen Möglichkeiten; es fehle ihr die Grundlage positiver Beweise. Nach Soergel enthält Wegeners Theorie von der Kontinentalverschiebung in den Prämissen und in ihren geophysikalischen Grundlagen so viel Hypothetisches, setzt sich mit so vielen Tatsachen und gesicherten Resultaten der Geologie in Wider- spruch, daß sie als endgültige oder auch nur vor- läufige Lösung nicht begrüßt werden kann. Er wies nach, daß die meisten von Wegener für die Spaltennatur des Atlantik den kontinentalen Randgebieten dieses Ozeans entnommenen geo- logischen Argumente eine Ausdeutung in diesem Sinne überhaupt nicht zulassen, sondern fast aus- schließlich gegen die neue Theorie sprechen; die anknüpfende Fragen. Zeitschr. Deutsch. Geol. Ges. 1916, S. 390 f. *) Eckardt, Wie ist die Lösung des Klimaproblems der permokarbonen Eiszeit möglich? Naturw. Wochenschr. 1918, S. 153 f.; Geol. Rundschau 1918, S. 35, 37, 40, 43, 44, 46; Über das Klima der diluvialen Eiszeit und der Interglazial- zeiten. Naturw. Wochenschr. 1918, S. 554, 562. ') Andree, Über die Bedingungen der Gebirgsbildung. Berlin 1914. Paläogeographie, das eigentliche Ziel wissen- schaftlicher Geologie, sowie ihre Grundlagen und Methoden. Naturw. Wochenschr. 1915, S. 600 ff. Alfred Wegeners Hypothese von der Horizontalverschiebung der Kontinental- schollen und das Permanenzproblem im Lichte der Paläo- geographie und dynamischen Geologie, Petermanns Geogr. Mitteil. 63. 1917, S. 50—53, 77—81. *) Dacque, Grundlagen und Methoden der Paläogeo- graphie. Jena 1915, S. 182. — Molengraaff, The coral reef problem and isostasy, Proc. Kon. Akad. Wetenschappen te Amsterdam 19, S. 610—627. — Schneider, Zur Frage über die Ursachen der geotektonischen Bewegungen. Geol. Rundschau 1917, S. I ff. ") Diener, Die Großfalten der Erdoberfläche. Mitt. K. K. Geogr. Ges. Wien 1915, Bd. 58, H. 7 u. 8. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XEX. Nr. 3 Auffassung der ost- und westatlantischen Konti- nentalränder als relativ junge Spaltenränder er- scheint demnach durchaus unbegründet, und wir erhalten ein gewaltiges Durcheinander von hypo- thetischen Strömungen, in denen von einem System, dessen Auffindung Wegen er erhofft, wirklich auch nicht eine Andeutung zu erkennen ist. Diesen IVIangel empfindet So er gel um so schwerer, als die Theorie auch sonst auf so überaus schwachen p-üßen steht. Er lehnt daher mit Recht die optimistische Auffassung Wege- ners ab, daß es nicht mehr möglich sei, an der prinzipiellen Richtigkeit dieser Theorie zu zweifeln. Sem per urteilt: Wenn man die geologische Be- gründung betrachtet, die W e g e n e r seiner Theorie zuteil werden ließ, so begreift man nicht, wie solche Unzulänglichkeit verkannt werden konnte. Er begründet das eingehend durch Einwände gegen Äußerungen Wegeners über tektonische Linien Amerikas, Europas und Afrikas sowie durch Analyse von dessen Beweisführung zur Lehre vom Sima, Sal, der Verteilung der Schwerkraft, Aus- dehnung und Dicke der Kontinentaltafeln usw., und ist der Ansicht, daß der Versuch, die Kon- tinentalverschiebungen und alle weiter damit in Zusammenhang gebrachten angeblichen Vorgänge durch Beobachtungen zu belegen, mit unzuläng- lichen Mitteln unternommen und völlig mißglückt ist. Sem per lehnt es daher rundweg ab, mit derart ungeheuerlichen Kontinentalverschiebungen nach einem Ausspruch Zittels „der Erde das Fell über die Ohren zu ziehen". Für die Tat- sachen, die Dacque, Molengraaff, Andree undSchaffer'") mit der WegenerschenTheorie wenigstens teilweise in Einklang finden, muß nach Semper eine andere Erklärung gesucht werden, solange diese Theorie als bloßes Phantasiespiel und ohne die unbedingt erforderlichen eigenen Beobachtungsgrundlagen dasteht. Auch E. Kayser lehnt sie in der neuesten Auflage seines Lehr- buchs der allgemeinen Geologie ab (1918, S. 979 ff.). Für die mangelnde Berücksichtigung dieser Einwände aus dem P'achgebiet der Geologie ist es bezeichnend, wenn Riem im eingangs ge- nannten Referat das Abschmelzen der (diluvialen) Eismassen und hiernach ein Wiederauftauchen entlasteter Kontinente ins Tertiär (!) verlegt. Ab- gesehen von einem derartigen Verstoß gegen geologische Grundbegriffe ' bleibt unverständlich, warum dann an den deutschen Nord- und Ostsee- küsten sowie in weiten Gebieten Norddeutsch- lands entsprechende nacheiszeitliche Hebungen fehlen, wenn die Entlastung vom Inlandeis solche ausgelöst haben soll. Dort lagen doch auch ge- waltige Eismassen, und die hypothetische soge- nannte „Ancylushebung" wäre ein schlechter Er- satz.") Ebensowenig ist die ,, unterirdische Kom- '") ^'s'- üben, Anm. 7 u. 8; Seh äff er, Grundzüge der allgemeinen Geologie. Leipzig und Wien 1915, S. 10 — 12. ") Vgl. das Referat von \V. Kegel über O. v. Lin- stow, Die diluviale Depre.ssion im norddeutschen Tiefland pensation des sichtbaren Massendefektes" im Gra- ben zwischen Schwarzwald und Vogesen ein Be- weis dafür, daß ,,das Sima schon in die Spalte von unten her eingedrungen" sei. Denn eine tektonische Zusammenpressung der abgesunkenen Massen im Rheintalgraben, z. T. unter angehäuftem jüngerem Deckmaterial, kann die Ursache solcher Kompensation sein, was tatsächlich bei der Dinkel- bergscholle, der Freiburger und Zaberner Bucht an den Rändern des Grabens der Fall zu sein scheint. ^-') Im übrigen entspricht die Schwere- verteilung dieser Gegend absolut nicht so sche- matisch der Theorie: Nach der Isostasielehre sollte man erwarten, unter den Randgebirgen Massendefekte, unter der Niederung bedeutenden Massenüberschuß zu finden. Statt dessen wurde im allgemeinen östlich vom Vogesenrand, also in der Rheinebene, nahezu ausgeglichene Schwere festgestellt, in den Vogesen, im südwestlichen Schwarzwald und mittleren Kaiserstuhl Massen- überschüsse, während andere Teile des Schwarz- waldes zu geringe Schwere aufweisen. '^) Da wir nun außerdem über „das Sima" im Rheintal- graben gar nichts Positives wissen, ist es reichlich genial und rein spekulativ, aus der angeblichen Schwerekompensation auf Eindringen dieses Sima in die Spalte zu schließen. Nach alledem brauchte es nicht aufzufallen, wenn die Naturwissenschaftliche Wochenschrift erst 1919 ihre Leser mit Wegeners Hypothesen bekannt gemacht hätte. Aber auch diese Annahme von Riem trifft nicht zu: Heft 50, 191 7 (N. F". Bd. 16, S. 702 — 706) brachte ein ausführliches Referat darüber von Dr. Ernst Kelhofer mit 3 Abbildungen. Nur muß jetzt auch der Stand- punkt der Geologie zu Wort kommen. Wir haben ferner gesehen, wie es mit der ,, unerwarteten Bestätigung" dieser neuen Erklärung von astro- nomischer Seite steht. Wer darauf noch Wert legt, der mag sich vergegenwärtigen, daß Be- obachtungsfehler auch bei geodätischen Messungen zu mehr oder weniger hochfiiegenden Theorien Veranlassung gaben, wie die Annahme einer rezenten Hebung der deutschen Ostsee- küste, ") oder von neuzeitlichen Schollenverschie- (Zeitschr. f. Gletscherkunde X. 3), Naturw. Wochenschr. 1919, S. 227 f. '■') D e e c k e , Die Resultate der Schweremessungen im südlichen Schwarzwald und in Elsaß-Lothringen im Vergleich mit dem geologischen Bau dieser Gebiete. Berichte d. Natur- forsch. GescUsch. zu Freiburg i. Er. XVIll, 1910. S. 57—65. '^) Deecke, a. a. O. 1910. — Haid, Die Schwerkraft in der Rheinebene und im Schwarzwald. Bericht 27. Ver- sammlung d. Oberrhein, geol. Ver. 1894. Die Schwerkraft im badischen Oberlande, Ber. Oberrhein, geol. Ver. 3S, 1905, S. 19; Bericht über die geodätischen Arbeiten in den Jahren 1903 — 06 in Baden, Sitz. -Ber. d. 15. General-Konferenz der Internat. Erdmessung, Leiden 1907. — Becker, Bericht über die in Elsaß-Lothringen 1900 — 1903 ausgeführten Schwere- messungen. Verband!, d. 14. allg. Konferenz d. Internat. Erdmessung, Kopenhagen 1903; Sitz.-Ber. d. 15. General- Konf. d. Intern. Erdm. 1907. — Niethammer, Methoden und neuere Ergebnisse der Schweremessungen. Fortschritte der Naturwiss. Forschung 1. 1910, S. 160 f., 165. '*) Hagen, Vergleichung der Wasserstände der Ostsee N. F. XIX. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 35 bungen auf einer tektonischen Bruchlinie südHch von Laufen im Salzachgebiet.'') Die betreffenden Geodäten waren von der Richtigkeit ihrer ersten Messungen sicherlich ebenso überzeugt, wie Koch an der preußischen Küste. Abh. Akad. Wiss. Berlin 1S77. — Seibt, Das Mittelwasser der Ostsee bei Swinemünde, I, 1881 ; II, 1890. — Westphal, Das Mittelwasser der Ostsee bei Travemünde usw. Veröffentl. K. Preuß. Geodät. Inst. Berlin 1900. — Seibt, Über selbsttätige Pegel und die Zusammen- gehörigkeit ihrer Aufzeichnungen mit Nivellements erster Ord- nung. VII. Internat. Schiffahrts-Kongreß, Brüssel 1S9S. '^) M. Schmidt, Ergänzungsmessungen zum Bayerischen Präzisions -Nivellement, I. 190S, 2. Nivellement der Linie Marktl-Freilassing zur Untersuchung einer Höhenstörung bei Lauten a. d. Salzach. Veröffentl. K. Bayer. Kommission f. d. Intern. Erdmessung, S. 21 — 46; Untersuchung regionaler und lokaler Bodensenkungen im Oberbayerischen Alpenvorland durch Feinnivellement. Sitz.-Ber. K. Bayr. Akad. Wiss. Math. Phys. Kl. München 1914, S. 79 — 90. von der Fehlerlosigkeit der obengenannten grön- ländischen Längenbestimmungen, sonst hätten sie ihre Veröffentlichungen zurückgehalten. IVIit Auf- deckung der Fehler bei jenen geodätischen Messungen brachen aber die darauf aufgebauten Hypothesen in sich zusammen, und man darf nur wünschen, daß auch von astronomischgeographi- scher Seite die erwähnten Längenbestimmungen vorurteilslos durch einwandfreie Neuvermessungen in längeren Zeiträumen nachgeprüft werden, bevor man auf solcher Grundlage gesicherte Erkennt- nisse der Geologie umzustoßen versucht. Jeden- falls spricht die bisherige Erdbebenarmut Grön- lands'") nicht für derartige Verschiebungen. '") Böggild, Grönland, Handbuch der regionalen Geo- logie IV. 2'. 1917, S. 5. Einzelberichte. Botanik. Einen „Kurzen Bericht über die in den letzten 10 Jahren von deutschen Botanikern unternommenen Forschungsexpeditionen nach Afrika und Papuasien" gibt Engler in seinen Botan. Jahrbüchern (LV, 4, 19 19). Von Expedi- tionen nach Westafrika werden die Reise C. Ledermanns nach Nordkamerun und Ada- maua (Nov. 1908 — Dez. 1909) und die drei Reisen J. Mildbraeds (1907/08, 1910/12, 1913'IS) er- wähnt. L ed er man ns Reise, über die sehr aus- führlich berichtet wird, half eine sehr empfind- liche Lücke in der Kenntnis der pflanzengeogra- phischen Verhältnisse des Kameruner Hinterlandes ausfüllen. Die mehr als 6000 Nummern enthaltende Sammlung enthält sehr viele genaue Aufzeich- nungen über das Vorkommen der einzelnen Pflanzen, so daß mit ihrer Benutzung eine gute Darstellung von der Zusammensetzung der einzelnen Forma- tionen gegeben werden kann. Auch konnte Ledermann in einigen Gegenden zur Regen- und zur Trockenzeit sammeln , so daß man so ein Bild des verschiedenartigen Aussehens einer Formation erhält. Ein besonders interessanter Fund war die Entdeckung der Aracee Remusatia vivipara Schott, im Urwaldgebiet von Jabasi; sie war vordem nur aus dem Himalaya bekannt. Die beiden ersten Reisen Mildbraeds voll- zogen sich im Rahmen der beiden Zentralafrika- expeditionen des Herzogs Adolf Friedrich zu Mecklenburg, ihre Ergebnisse sind bereits in den Publikationen der Expedition veröffentlicht worden. Besonders erwähnt sei deshalb nur die reiche Ausbeute an Meeresalgen, besonders Corallinaceen, von Annobon. Die dritte Reise war auf ca. i'/4 Jahr berechnet (Okt. 1913 — Jan. 1915). Zu- nächst wurde Togo besucht und darauf im Süd- kameruner Waldgebiet eine rege Sammeltätigkeit entfaltet. Von hier aus ging der Marsch nach Dendeng und Hamam a. Lom. Im Juni wurde Buar besucht, der Marsch nach Ngaundere ange- treten. Auf einer Exkursion im Ganghagebirge erfuhr Mildbraed den Ausbruch des Krieges, er kehrte um, gelangte im Dezember 1914 nach Garua und im Juni 191 5 bei der Einnahme dieses Ortes durch Franzosen in Gefangenschaft. Seine sehr ausführlichen Aufzeichnungen gelangten trotz des Kriegszustandes nach Deutschland und werden wenigstens für einen Teil der Expedition be- arbeitet werden können. Anfang Mai 1911 brach Hans Meyer nach Urundi und Ruanda in Ostafrika auf Seine 750 Nummern umfassende Sammlung enthält indes nur wenig Neues aus Ruanda und dem Kiwugebiet. Einige neue Arten wurden im Rugegewald ge- funden, die Sammlungen von Urundi und Ussumba sind eine sehr beträchtliche Erweiterung in der Kenntnis der ostafrikanischen Pflanzenwelt. Die Sammlung aus den Ussagarabergen ist sehr inter- essant, da das Gebiet nur sehr ungenügend be- kannt war. Eine bedeutende, mehr als 2700 Arten zählende Sammlung des nördlichen Nyassalandes, brachte ein leider verstorbenes Mitglied der Missionsstation Kijimbilla im Kondelande, Herr Stolz, zusammen. Sehr sorgfältige Aufzeichnungen ergänzen die in den Jahren 1900 — 191 2 angelegte Sammlung. Dr. v. Brehmer unternahm 191 3 eine Reise nach Uluguru die u. a. zur Auffindung einer bis- her unbekannten, hauptsächlich aus Glossopteris bestehenden fossilen Formation im Tonschiefer- lager der Baumsteppe im östlichen Vorlande führte. Zum Schluß gibt Engler einen ausführ- lichen Bericht seiner eigenen Bereisung Deutsch- Süd w est afrikas (1913), der sich fast unmittel- bar anschließenden Reise nach Peking und Tsingtau, nach Japan und Nordamerika zu einer von C o w I e s undClements geführten internationalen Botaniker- gesellschaft (Buxton). Von den Expeditionen nach Papuasien ist 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 3 nach Lau terbachs Reisen besonders die Gutta- percha- und Kautschuk-Expedition 1907 — 09 unter Schlechter zu erwähnen. Eine außerordent- lich reiche Ausbeute, besonders Orchideen (348 neue), wurde erzielt und viel zur Erforschung der Kaui, Finisterre und Toricelligebirge getan. IVlos- zowstci unternahm 1909 im Boot auf dem Mam- beramo eine Reise zum Van Reesgebirge, die botanische Ausbeute ging jedoch zum Teil ver- loren. L. Schnitze -Jena besuchte Guinea 1910. Große Ausbeute (6600 Nummern) hatte Stolle auf der Sepik-Expedition auf dem Kaiserin- Augusta- Fluß, an der auch Ledermann, der 191 3 — 14 selbst auf kurze Zeit Ponape und die Palauinseln bereiste, teilnahm. Otto Chr. Schmidt. Über einen Versuch, die in der sog. botani- schen Kammer, einem Nebenraum des Festsaales Thutmes 111. im Ammonstempel zu Karnak, dar- gestellten Pflanzen zu identifizieren, berichtet Schweinfurth in Englers Botan. Jahrb. LV, 5 (1919). Es finden sich 275 Pflanzendarstellungen, von denen jedoch nur 6 mit annähernder Sicher- heit genauer bestimmt werden konnten. Die Be- stimmung, die z. T. durch die sich in unbekannten Grenzen bewegende Stilisierung der dargestellten Arten erschwert wurde, erfolgte unter Heran- ziehung der botanischen Merkmale, der heutigen Flora und auf Grund pflanzengeographischer P^r- wägungen. Die 6 näher bestimmten Pflanzen sind Nym- phaea coerulea Sav., Punica granatum L., Arum italicum L., Dracunculus vulgaris Schott., Calenchoe deficiens Aschs. Schwfth.? und Iris spec. Arum italicum, im Mediterrangebiet weit ver- breitet, dürfte wohl unter Thutmes III. als Arznei- pflanze von den griechischen Inseln her eingeführt worden sein, ebenso Dracunculus vulgaris, bei deren Bestimmung wie bei Arum besonders die dargestellte Blattform maßgebend war. Das merkwürdigste aller Bilder ist eine nur einmal dargestellte Crassulacee, Calenchoe (citrina Schwfth. ?j, die im Hochlande von Abessynien und im Jemen ihre Heimat hat. Die Iris konnte infolge der Stilisierung nicht weiter bestimmt werden. Die Bilder dürften z. T.. nach natürlichen Vor- lagen, besonders da, wo, wie bei Iris, die Blüten perspektivisch dargestellt wurden, z. T. nach eigner Anschauung des Künstlers aus der Erinnerung oder nach Schilderungen von Reisenden u. a. an- gefertigt worden sein. Otto Chr. Schmidt. Vorgeschichte. Neue Pfahlbautenfunde. Im Steinhäuser Riedbei Schussenried ( W ü r t - temb. Donau kreis) war seit langem eine um- fangreiche Pfahlbaustation bekannt, die in P'achkrcisen wegen ihres auffallenden Reichtums an Tongcfäßen besondere Beachtung fand. Die erste Erforschung dieser Station hatte in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts der Oberförster Frank in die Wege geleitet, der darüber in einer besonderen Schrift (Lindau 1877) berichtete. Vier Jahrzehnte hindurch erschien die Fundstelle er- schöpft. Da traten wieder neue Funde hervor; sie gaben im Herbst dieses Jahres infolge des günstigen Wasserstandes zu einer neuen umfang- reichen Untersuchung Veranlassung, die von der urgeschichtlichen Sammlung der Universität Tü- bingen und dem Museum Vaterländischer Alter- tümer in Stuttgart gemeinsam unter der Leitung des Tübinger Universitätsprofessors Dr. Rudolf Robert Schmidt vorgenommen wurde. Diese Untersuchung führte laut einem Bericht im Schus- senrieder Boten vom 14. Oktober 19 19 zu überaus wertvollen Ergebnissen. In fast allen uns bisher bekannten Pfahlbauten waren lediglich die senkrechten Tragpfähle vom Unterbau erhalten. Reste der auf diesen Pfählen ruhenden Plattform oder gar des auf dieser Platt- form errichteten Hauses gehörten dagegen zu den größten Seltenheiten. Bei den neuen Schussen- rieder Ausgrabungen wurden jetzt nicht nur mehrere Hausgrundrisse ausgegraben, sondern dazu auch noch zahlreiche Anhaltspunkte für den Aufbau der Häuser selber gefunden. Unter einer heute 2 m und mehr mächtigen Torf- decke ließen sich rechteckige Hausgrundrisse auf einem Boden aus gespaltenen Baumstämmen, Brettern und Estrich, auf dem wiederholt neue Böden gelegt wurden, feststellen. Von Pfosten gestützt erhob sich darüber das 20 und mehr Quadratmeter umfassende Haus. Dieses Haus hatte einen überdeckten Vorraum und eine von Brettern umkleidete und mit Lehm ausgefugte Stube. Die Wände waren mit Birkenrinde ver- kleidet. Neben dem halbrunden Herd lag eine mit Birkenrinde gepolsterte Schlafstelle. Selbst von dem eingestürzten Dach mit seinem Bauwerk und der Rindenbekleidung waren zahlreiche Spuren erhalten. Bei diesen Ausgrabungen wurden zahlreiche Fundstücke aufgefunden. In dem Lehmboden des Hauses fanden sich Näpfe, Krüge und Vor- ratsgefäße aus Ton mit der charakteristischen geometrischen Verzierung der Schussenrieder Keramik, dazu Steinhämmer und Beile. Pfahlbau- weizen und Hirse bezeugen den Hackbau, Knochen vom Pfahlbaurind und vom Schwein die Viehzucht. Mitten im Ried wurde auf dem Grunde des alten Seebodens ein Einbaum von fast 9 m Länge aus- gegraben. Die neuen Ausgrabungen lieferten weiter die interessante Feststellung, daß die annähernd einen halben Quadratkilometer umfassende Fund- fläche des Steinhäuser Riedes nicht zu einer ein- heitlichen Siedlung gehörte, sondern daß sich zwei benachbarte Dörfer verschiedenen Alters in sie teilten. Die älteren Seebewohner waren ausgesprochene Pfahlbauern, die kleine Häuser- gruppen auf gemeinsamen Rosten im offenen See errichteten. Ihre Kulturreste liegen auf dem Grunde N. F. XIX. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 37 des Sees auf dem sog. Faulschlamm ; sie gehören der vollentwickelten jüngeren Steinzeit an, also etwa der Zeit um 3000 vor Chr. Geburt. Die spätere Siedlung erfolgte zu einer Zeit, als bereits die Torfbildung an den Ufern eingesetzt hatte. Die Häuser wurden jetzt nicht mehr mitten im See, sondern auf dem Torf errichtet. Diese jüngere Siedlung gehört dem Ende der jüngeren Steinzeit, also der Zeit um 2000 vor Chr. an. Es steht zu hofifen, daß die Ausgrabungen unter der bewährten Leitung noch weiter fortgesetzt werden ; möchten dabei weitere gleich interessante Feststellungen sich ergeben ! Wernigerode. Hugo Mötefindt. Zoologie. Arbeiten über bemerkenswerte Wirbeltierzähne. i. Eine Hypothese der Phylogenesis der Elefantenbackzähne. Aus der Entwicklung des Säugetierzahns mit seinen drei Bestandteilen Zahnbein oder Dentin, Schmelz oder Email und Zement, welch letzteres bei Huftieren die Falten des Schmelzes ausfüllt, beim Menschen aber nur die Zahnwurzel umkleidet, sei zunächst in Erinnerung gebracht, daß in früher Embryonalzeit von der Mundfläche aus längs der Kieferanlage eine ekto- dermale Epithelleiste in die Tiefe wuchert, die Zahnleiste oder Schmelzleiste. Sie bildet so viele Verdickungen, Schmelzkeime oder Schmelzorgane, als Zähne entstehen sollen, und unter diesen Schmelzorganen entstehen als emporwuchernde Zapfen (Papillen) des Bindegewebes Dentinkeime oder Zahnpapillen. Während die bindegewebige Abb. I. Entwicklungsstadium des Säugetierrahns. zf Zahnfurche, zl Zahnleiste, zl' unterster Teil der Zahnleiste, an welchem sich die Anlagen der Ersatzzähne bilden, zp Zahn- papiile, sm Schmelzmembran, sp Schmelzpulpa, se äußeres Epithel des Schmelzorgans, zs Zahnsäckchen, k knöcherne Zahnalveole. Aus O. Hertwig. Umgebung der ganzen Zahnanlage sich zum Zahn- säckchen verdichtet, scheidet die Zahnpapille an ihrer Oberfläche rundum das Dentin oder Zahn- bein ab, eine Abart des Knochengewebes, ihr Inneres aber wird zu der nach unten offenen, blut- und nervenreichen Höhle oder Pulpa des Zahns, dem sogenannten ,, Zahnnerven" der Zahn- heilkundigen; das Innere des Schmelzkeims wird vorübergehend zur schleimreichen Schmelzpulpa, während seine unterste Schicht zylindrischer Zellen, die Schmelzmembran, den Schmelz auf dem Dentin ablagert. Der Zahn wächst, verdrängt den Schmelzkeim, wird noch stellen- weise von Zement, einer sich ihm fest anlagern- den, aus dem Zahnsäckchen entstehenden Knoclien- masse, umkleidet und kommt zum Durchbruch. Die Backenzähne des Elefanten zeichnen sich nun bekanntlich aus durch ihre Größe, infolge deren immer nur höchstens zwei in jedem Kiefer tätig sein können, durch ihre Zusammensetzung aus vielen, durch Zement verbundenen Falten und durch dauernden, in der Richtung von hinten nach vorn erfolgenden Ersatz. Letzterer ist offen- bar lediglich die notwendige Folge der Größe, diese aber und die Struktureigentümlichkeit be- darf einer besonderen Erklärung. Hat der Zahn den Wert eines Zahnes oder mehrerer mit- einander verschmolzener? Rose nahm ersteres an, „indem zunächst mehrere Einzelzähne zu einer Zahnplatte und mehrere dieser Zahnplatten zu einem komplizierten Mahlzahn verwachsen." Und zwar sollten zunächst Digitellenpapillen angelegt werden, diese verschmelzen zu Piattenpapillen, und diese wachsen an ihren Wurzelenden zu- sammen. BoIk\) konnte nun die Frage zum ersten Male embryologisch prüfen, da ihm ein Elefantenfötus von 20 cm Stirnsteißlänge vorlag. Um die von Bolk entwickelte Ansicht über den Elefantenbackzahn zu verstehen, muß man zu- nächst wissen, daß Bolk in seinen früheren Ar- beiten jeglichen Säugetierzahn aus zwei Reptilien- zähnen, einem bukkalen und einem lingualen, zusammengesetzt sein ließ, hauptsächlich deshalb, weil er im Schmelzkeim ein diesen von vorn nach hinten durchsetzendes, eine Zweiteilung andeuten- des Septum, das „Schmelzseptum", gefunden hatte. Über den Elefantenzahn hatte nun Bolk schon früher die Ansicht geäußert, er entspreche einer Vielzahl von Reptilienzähnen und zwar einer „Zahnfamilie", worunter ein Zahn nebst allen denen, die, von der Zungenseite her nachrückend, ihn allmählich ersetzen, zu verstehen sind, es sei also die Fähigkeit des Zahnleistenrandes der Rep- tilien, viele Zahngenerationen entstehen zu lassen, beim Elefanten reaktiviert worden. Doch habe sich der Zahn um 90 Grad gedreht, und daher seien seine einzelnen Bestandteile, die oberfläch- lich als die Lamellen zum Ausdruck kommen, nicht in bukko lingualer Richtung angeordnet, son- dern in antero- posteriorer. Die Drehung, fügt Bolk diesmal hinzu, brauche man sich nicht als mechanischen Vorgang zu denken, bei welchem eine wirkliche Torsion statt- fände, sondern es könne dies als eine Umlagerung der Wachstumspotenzen vorgestellt werden. Als neue Gründe für diese Ansicht aber fanden sich an dem embryologischen Material unter anderem folgende als die hauptsächlichsten : Die Zahn- papillen oder Dentinkeime zeigten bereits eine ') L. Bolk, Ontogenetische Studien. 111. Zur Ontogenie des Elefantengebisses. 8", 38 Seiten, 22 Textabbildungen. Jena 1919, G. Fischer. 2,50 M. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 3 Anzahl Lamellen, doch nicht so viele wie beim fertigen Zahn, sondern noch eine geringere Zahl, sie müssen also noch wachsen, und dieses Wachs- tum der Zahnpapille, welches eben der vielmaligen Zahnbildung der Replilienzahnleiste entsprechen soll, kommt außer im vorläufigen Fehlen der hinteren Lamellen auch in der ungleichen, nach hinten zu noch zurückgebliebenen Breitenentwick- lung und Differenzierung des Zahnkeims zum Aus- druck. Am Schmelzorgan des hlefantenbackzahns fand sich entsprechendes : es wird nicht wie bei anderen Säugern in toto angelegt, noch vergrößert es sich durch intussuszeptionelles Wachstum, sondern sein hinterer Rand ist Wachstumsrand, von hier aus verlängert es sich durch appositio- nelles Wachstum. Noch wichtiger ist endlich, daß im Schmelzorgan jedem interlamellären Teil entsprechend sich ein Schmelzseptum entwickelt. Die Schmelzsepten des Elefantenzahns beweisen also durch ihre Vielzahl und ihre postero- anteriore Aufeinanderfolge gegenüber der Einzahl des das Schmelzorgan in eine bukkale und eine linguale Hälfte teilenden Schmelzseptums anderer Säuge- tiere die Vielteiligkeit und um 90 Grad gedrehte Stellung des Elefantenzahns. B o 1 k gestattet, daß ein schwieriger Punkt seiner Hypothese darin liegt, daß wir bei der Vorfahrenreihe der heutigen Elefanten nichts von einer solchen Drehung der genetischen Längsachse des Zahns sehen. Denn allgemein bekannt ist, daß die vorzeitlichen Mastodonten und Dinotherien noch Höckerzähne mit normalem Zahnwechsel besaßen. — Wie sich nun auch das zukünftige Urteil über die Bolksche Hypothese gestalten wird, in jedem Falle stellen seine tatsächlichen neuen Funde und die Erörterungen dazu ein Ma- terial dar, an dem spätere Bearbeiter des Problems nicht vorübergehen können. Eckzähne fehlen den Elefanten bekanntlich, ebenso den heutigen die unteren Schneidezähne, während die oberen in Zweizahl vorhanden und zu den mächtigen Hauern umgebildet sind, sich aber als Schneidezähne durch ihre Zugehörigkeit zum Zwischenkiefer erweisen , der bei jüngeren Schädeln noch deutlich vom Oberkiefer getrennt ist. Es sei nach Bolk noch erwähnt, daß sich auch bei dem Embryo keine Anlagen der unteren Schneidezähne fanden. 2. Die Zyklostomenzähne. Die phylo- genetische Stellung der Zyklostomen ist insofern umstritten, als diesen Tieren, wie Neunauge und Inger, von den einen die ursprüngliche Beschaffen- heit gegenüber den übrigen Wirbeltieren zuerkannt wird, wie sie in der üblichen Einreihung zwischen Amphioxus und Selachiern zum Ausdruck käme, während andere, namentlich neuerdings, die Zy- klostomen als Produkt weitgehender Degeneration auffassen. Mag auch vom gegenwärtigen Stand der Kenntnisse aus am wahrscheinlichsten er- scheinen, daß beides zusammen. Ursprünglichkeit und Degeneration, den Aufbau der Zyklostomen wie des Amphioxus, der uns dieselben Probleme vorlegt, erklären, so bedarf die Frage doch un- bedingt noch weiterer Klärung. Hierfür ist eine Arbeit aus dem Nachlaß von Hansen, der 1916 ein Opfer des Krieges wurde, wichtig. ^) Bekannt- lich sitzen im kieferlosen, trichterförmigen Maul der Zyklostomen kleine, spitzkegelige Hornzähne, die auch die Zunge bedecken. Sie bestehen aus verhornten Epithelzellen und liegen lebendem Epithel auf. Bei den Petromyzonten (Neunaugen) sind sie dauerndem Wechsel unterworfen (nur der Gabelzahn der Gattung Geotria der südlichen Halb- kugel soll persistieren), bei den Myxinoiden (Ingern) persistieren sie. Als Erklärung dieses Unterschiedes findet Hansen, daß nur bei den Myxinoiden (Myxine und Bdellostoma) das unter der Horn- kappe liegende sterniörmige Epithelgewebe mit Blutgefäßen versorgt ist, die es dauernd ernähren. Bei Petromyzon geht es mangels Ernährung zu- grunde, und die Hornkappe fällt ab, doch ist stets mindestens eine neue bereits unter den verloren gehenden Teilen gebildet. Einem Teil der Zähne von Petromyzon liegt ein zugespitzter Knorpelkern untet, anderen dafür nur eine Binde- gewebspapille. Ein eigentümliches Gebilde im Myxinoidenzahn gleicht dem Ersatzzahn von Petromyzon ungefähr hinsichtlich seiner Lage unter dem persistierenden Zahn und dem Stern- zellengewebe, ist aber ganz anders beschaffen: es ist der „Pokalzellenkegel", bestehend aus Epi- thel, und zwar in einzig dastehender Weise na- mentlich aus langen radiärgestellen etwas pokal- ähnlichen Zellen, die im Alter verhärten und da- mit in jenem Kegel ein Stützorgan sui generis erkennen lassen, das funktionell dem Knorpelkern von Petromyzonten zu vergleichen sein mag. In eine pulpaartige Höhle dieses Gebildes dringt Binde- gewebe ein. Während die Entwicklung der Zähne bei Petromyzon mit örtlicher glockenförmiger Ein- wucherung des Ektoderms ins Mesoderm (ähnlich wie in Abb. 2 a) beginnt, die von unten eine Bindegewebspapille aufnimmt, in gewisser Epithel- tiefe die kegelförmige Hornschicht bildet und diese nun hervorwächst, bilden sich die Zahn- reihen von Myxine aus einer sich einsenkenden Epithelleiste,'-) die sich an bestimmten Stellen, den 'Späteren einzelnen Zähnen entsprechend, in eigenartigster Weise umformt. Der Querschnitt zeigt nämlich zunächst die schon von Petromyzon erwähnte Glockenform mit von unten eindringen- der Bindegewebspapille, worauf oben, am „Hals" der Einsenkung, durch Epithelvermehrung über der „Glocke" sich eine zweite Glocke bildet. •') In dieser entsteht der kegelförmige Hornzahn '^ Heinrich Hansen, Anatomie und Entwicklung der Zyklostomenzähne unter Berücksichtigung ihrer phylogeneti- schen Stellung. Jenaische Zeitschrift Band 56, 1919, Heft i, Seite 85 bis u8. 4 Tafeln. '') ,, Epithel falte" im Original, doch ist offenbar eine solide Leiste geraeint, wie auch bei Petromyzon oflfenbar eine solide Einwucherung des Ektoderms gemeint ist statt ..Ein- stülpung". ^) Ausdrucksweise des Ref. N. F. XIX. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 39 (Abb. 2 a bis c), jene aber bildet sich zum Pokal- zellenhügel um, der sich in den Zahnkegel hinein- schiebt, während dieser nach außen vorbricht. Hornschicht und Pokalzellenhügel wachsen übri- gens bei den Myxinoiden bis ins Alter dauernd. erwähnt zunächst vom paläontologischen Material durchaus zutreffend, daß weder Archaeopteryx, die man, wenn ohne Federn, für ein Reptil halten würde, mit großer Wahrscheinlichkeit als der „Urvogel" hingestellt werden könne, noch für die anderen bisjetzt bekannten Zahnvögel, wie schon Fürbringer mit seiner umfassenden Sachkenntnis in dieser Frage hervorhob, der Nachweis einer direkten Abstammungslinie zu irgend- welchen lebenden Vögeln erbracht ist. Es dürften in der Kreidezeit neben Zahnvögeln auch schon un- bezahnte gelebt haben, nämlich solche, die uns nur in Bruchstücken des Skeletts bekannt geworden sind, und bei denen, falls sie Zähne be- sessen hätten, doch auffallen würde, daß solche sich nie an den Fund- stellen verstreut fanden. Unter den Flugsauriern schon finden sich be- zahnte wie unbezahnte, erstere nach Zittel zum Teil wahrscheinlich mit Hornschnabel. Daß die durch Kerben getrennten Papillen auf dem Kiefer — Ober- und Unterschnabel — neugeborener Papa- geien Zahnkeimen entsprächen, für Vergleicht man nun, mit Hansen, die er- diese Ansicht Geoftroy St. Hilaires und wähnte Epithelleiste von Myxine mit der Zahn- Cuviers, die damals (1820) noch nicht im Gegen- leiste der Selachier und Tetrapoden, zumal noch satz zueinander standen, ergibt Ihdes mikrosko- beim erwachsenen Myxinehornzahn die ihm un- pischer Befund nicht einmal eine Wahrscheinlich- mittelbar unterliegende Epithelzellenschicht (oberste keit; keine Spur von Zahnleiste, Dentinkeim und Schicht des Sternzellengewebes) an seinem stets Schmelzkeim, es sind nur scharfe Hornhöcker ins Epithel versenkten Rande sich auf seine Ober- von allerdings gebißähnlicher Funktion. — Oft seite verfolgen läßt und damit das Bild vom wird die Theorie Geoffroy St. Hilaires mit Umschlagsrand des Schmelzepithels der späteren von Elan chard sowie mit der von um die Schmelzpulpa bei der Zahn- Fraisse verwechselt. Blanchard hatte den Abb. 2. Zahnentwicklung von Myxine. Nach Hansen. anläge von Wirbeltieren wiederholt, so kann man darin wohl Übereinstimmungen mit der Entwicklung der echten Zähne der Wirbel- tiere finden und die Myxinoidenzähne als jungen Papageischnabel der Hornscheide entblößt und die Anwesenheit von kleinen dem Kiefer- knochen aufsitzenden Bindegewebszapfen festge- stellt, die den äußerlich sichtbaren Geoffroy- Zähne degenerierter gnathostomer Wir- sehen Hornhöckern nicht entsprechen, und die beltiere ansprechen. Was die Petromyzonten- zähne betrifft, so stimmt, bei fehlender Zahnleiste, nur der Entwicklungsbeginn des Zahns selbst mit Myxine überein. Die Homologisierung der Petromyzonzähne mit den Myxinezähnen erscheint Hansen bedenklich, weil letztere komplizierter sind, während Myxine im ganzen stärker rudi- mentiert ist als Petromyzon. — Dieses Bedenken er für echte Dentinzähne hielt. P'raisse hielt dieselben für Hornzähne, vergleichbar den La- mellen des Entenschnabels, da er die von Blan- chard als Dentin gedeutete Schicht richtig als verhornendes Epithel erkannte, das übrigens, wie Ihde feststellt, in den Hornschnabel kontinuier- lich übergeht. Da ferner ein Schmelzkeim nicht auffindbar, und da weiterhin die Resorption beim mag indessen insofern nicht so schwer wiegen, Schwinden der Zähne nicht wie in ähnlichen als die progressive Ausbildung gerade bei Haft- Fällen bei Säugetieren durch Tätigkeit der stets Organen im Parasitismus die Regel ist und somit auch bei Myxine nicht zu überraschen brauchte. 3. Giebt es Zahnanlagen bei den Vö- geln? Man hat solche gesucht, weil die rezenten Vögel die direkten Nachkommen der Zahnvögel seien, und hat sie zu finden gemeint. Ihde*) ') Ihde, Über angebliche Zahnanlagen bei Vögeln. Arch. f. mikr. Anat. Band 79, 191z, S. 247—276. leicht erkennbaren Odontoklasten erfolgt, kann Ihde auch diese Gebilde nicht für Zahnanlagen halten. Annehmbarer erscheinen ihm dagegen die Ausführungen Gardiners, der solche Pa- pillen nicht nur am Schnabel, sondern auch an Hufen studiert hat und ihnen an beiden Stellen die gleiche Funktion der ausgiebigeren Bildung neuer Hornzellen zuschreibt, während die Ver- gleichung der Gebilde mit den Lamellen des 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 3 Entenschnabels schon wegen der Lage unter dem Hornschiiabel kaum möglich ist. Wenn endlich die jüngste Rösesche Theorie ge- wisse bei Vogelembryonen auffindbare Epithelleisten auf dem Kiefer als Zahnleisten anspricht, so spricht hiergegen das Fehlen von Zahnanlagen an ihnen, ihre unverhältnismäßig große Breite, der Zeit- punkt ihres Auftretens, ihre Rückbildungsweise nicht durch Zerklüftung, sondern durch Sich-Aus- gleichen, endlich das Auftreten entsprechender Leisten am Gaumen. Alle diese Leisten dürften eine größere Festigkeit der Schnabeloberfläche während der weiter fortschreitenden Entwicklung bewirken. Nach alledem sind, entgegen einer verbreiteten Ansicht, rudimentäre Zahnanlagen bei Embryonen von Vögeln nicht vorhan- den. V. Franz (Jena). Aneriffslust von Waldkauzen - Eltern. Schon im Jahre 1915 haue Dr. Greppin in Solo- thurn von zwei Fällen berichtet, in denen durch Angriffe des Waldkauzes auf Nestplünderer den letzteren Augenverletzungen beigebracht wur- den. Von einem neuen Fall berichtete er kürz- lich (,,Der Ornithologische Beobachter". Nr. i vom Oktober 1919). Am 14. Mai 1919 wurde ein fünfzehnjähriger Knabe, der in der Nähe von Ried- holz (Solothurn, Schweiz) bei der mondhellen Nacht auf dem Ast eines Nußbaumes einen jungen Wald- kauz (Syrnium aluco L.) entdeckt hatte und den- selben mit Steinen bewarf, im Gesichte verletzt. Ein Altes mußte sich unbemerkt dem Knaben genähert haben, denn plötzlich verspürte er einen Luftdruck im Gesicht und einen heftigen Schmerz im rechten Auge. Mehrere Knaben haben hierauf das Kauzennest im Nußbaum ausgenommen ohne weiter belästigt zu werden. Der Verletzte mußte sich aber in ärztliche Behandlung begeben. Der Befund des rechten Auges war, daß im inneren oberen Abschnitte der Hornhaut eine durch- bohrende Lappenwunde bestand ; ein leichter Vor- fall, der abgetragen wurde, schien aus Glaskörper zu bestehen, die Regenbogenhaut war zerrissen, die Linse war mitbetroffen worden. Das Organ war stets stark gereizt, so daß von Anfang an befürchtet werden mußte, es könne der einge- tretenen Infektion nicht begegnet werden. Am 25. Juni mußte dann das Auge auch entfernt werden. — Der Waldkauz ist einer der wenigen Vögel, der sich gegen Störer seines Nestes und seiner Jungen mutig und angriffsweise zur Wehr setzt. Bekanntlich tun dies z. B. Steinadler nicht. Dabei scheint es der Vogel besonders auf das Gesicht und namentlich auch auf die Augen des Angegriffenen abgesehen zu haben. A. Hess. Über die Säugetierfauna Madagaskars veröffent- licht Dr. W. Kaudern im Arkiv för Zoologi (Utgivfet af K. Swenska Vetenskapsakademien, Stockholm, Bd. 9) eine Reihe von Arbeiten, die manches Neue über die Lebensweise, Organisation, die verwandtschaftlichen Beziehungen usw. der Objekte dieser an Merkwürdigkeiten so reichen „zoologischen Altertümerkammer" bieten. Die Arbeiten sind das Ergebnis zweier Reisen, die Kaudern in den Jahren 1906 — 1907 und 191 1 — 1912 nach Madagaskar unternahm, und die ihn hauptsächlich nach dem nordwestlichen Teil der Insel und nach der Ostküste zwischen Tama- tavn und Antongil Bay führten. Am meisten nehmen naturgemäß die Halbaffen des madagas- sischen Gebiets unser Interesse in Anspruch, von denen die Familie der Fingertiere (Chiromyidae) ausschließlich auf diese Insel beschränkt ist. Vom Aye-Aye (Chiromys [Daubentonia] madagasca- riensis Cuv.) gelang es Kaudern, 3 lebende und ein konserviertes Exemplar zu erwerben, ein Beweis, daß die Art durchaus noch nicht so selten ist, wie man nach den Berichten früherer Forscher annehmen konnte. Auch heute noch herrschen wie zu den Zeiten Sonnerats und Pollens bei den Eingebornen die schrecklichsten Vorstellungen hin- sichtlich des Chiromys. Kaudern benutzte das ihm zur Verfüguno- stehende Material, um die Anhangdrüsen der männ- lichen Geschlechtsorgane von Chiromys zu unter- suchen. Owen, Oudemans (1892), Zucker- kandl (1900), denen sich auch Disselhorst (1904) anschloß, hatten bei der Sektion der Sexual- organe von Chiromys von den akzessorischen Drüsen wohl die Gl. Cowperi und die Gl. prostaticae festgestellt, nicht aber die Gl. vesiculares. Durch das Fehlen dieser Drüsen sollte sich Chiromys sicher von den anderen Halbaffen unterscheiden. Kaudern zerlegte den Prostatateil des Urogeni- talkanals in eine Schnittserie und konnte dadurch einwandfrei das Vorhandensein der Gl. vesiculares nachweisen. In das Vas deferens leert sich un- mittelbar vor seiner Mündung in den Urogenital- kanal eine langgestreckte Blase, deren linke Seite bei dem untersuchten Exemplar bedeutend kräftiger als die rechte war und die F"orm einer langen, schmalen Birne hatte, während die rechte Seite nur einen unbedeutenden fingerähnlichen Schlauch darstellte. Da nach mehreren Autoren bei den Halbaffen die Gl. vesiculares direkt in den Uro- genitalkanal, bei Chiromys aber erst in die Vasa deferentia münden, so besteht hier noch ein Ge- gensatz, der sich aber, wie Verf. hofft, durch eine exakte Untersuchung der betr. Organe der Halb- affen wird beseitigen lassen. Ob sich die Gl. vesiculares bei Chiromys, die sicher stark rudimen- tär geworden sind, den Drüsen der Lemuridae oder Galagidae anschließen, läßt sich vorläufig nicht entscheiden. Von den Indrisiden kommen Propithecus verreauxi (typlcus) Grandid. und die Spielarten deckeni, coronatus und coquereli teil- weise recht häufig vor. Durch Vergleiche der Schädel- und Skelettmasse sowie durch eingehende Studien der Färbung der westmadagassischen Propithecusformen versucht Kaudern, die Ver- wandtschaft derselben zu ermitteln. N. F. XIX. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 41 Die bekannte Tatsache, daß sich die Propithecus- arten wie alle Indrisiden so schlecht in der Ge- fangenschaft halten, erklärt sich vielleicht aus der falschen Ernährung der Tiere. Sie ziehen unreife Früchte und vor allem harte Blätter, wie Kau- dern oft beobachtete, jeder andern Nahrung vor. Aus dem bunten Heer der Lemuren konnte der Forscher 9 Arten bzw. Spielarten erhalten. Durch Messungen ergab sich, daß Lemur mongoz recht deutlich von L. fulvus und L. rubriventer getrennt ist; daß dagegen erstere Art auch in gewissen Spielarten auftritt, hält der Forscher für wahr- scheinlich. Von den Chiropteren ist Pteropus (Edwardsi) rufus rufus Geoff, der Flugfuchs, am häufigsten. Er bevorzugt die Sattapalme, plündert aber häufig die Obstbäume der Eingebornen. Die Tiere besuchen gern in Scharen die blühenden Ceibabäume, von deren Knospen, jungen Früchten und ev. auch Blüten sie sich nähren. Kaudern hält es für ziemlich zweifellos, daß die Tiere, deren Kopf und Brust stets mit Blütenstaub ein- gepudert waren, neben den Honigvögeln (Cinnyris) und Schmetterlingen zur Bestäubung der Ceiba- blumen beitragen. Auch die großen Blüten der Adansoniaarten werden vielfach von Fledermäusen (Microchiroptera) nach Insekten abgesucht und sicher dabei bestäubt. Der Tanrek (Centetes ecaudatus) ist im nordwestlichen und östlichen Teil der Insel zur Regenzeit immer noch sehr gemein, ebenso wie Ericulus setosus; seltener scheint dagegen Hemicentetes semispinosus zu sein. Auch das größte Raubtier der Insel, die Fossa (Cryptoprocta ferox) , ist wahrscheinlich nirgends selten und als Hühnerdieb recht gefürchtet. Beim madagassischen Wildschwein (Potamochoerus larvatus) kommt Kaudern durch Messungen an Schädeln im Gegensatz zu Lönnberg zu dem Ergebnis, ohne jedoch die Frage endgültig ent- scheiden zu wollen, daß die Tiere einer einheit- lichen Rasse angehören. Von dem vor nicht sehr entlegener Zeit ausgestorbenen Flußpferd (Hippo- potamus spec), von dem ihm die Eingebornen die abenteuerlichsten Schilderungen gaben, fand der Autor mehrere Zähne, von einer Seekuh (Hali- core spec.) einige Skelettfragmente. Auch über die Zeit der Fortpflanzung der madagassischen Säugetiere hat Kaudern inter- essante und wichtige Beobachtungen gemacht. Es ist bekannt, daß sich in den Tropen mit sehr gleichmäßigem Klima die Tiere während des ganzen Jahres fortpflanzen; man kann also in allen Monaten Tiere bei der Brunst, Paarung und Ei- bzw. Jungenablage beobachten. Semon fand in dem gleichmäßig warmen Tieflandsgebiet von Java, Semper auf den Philippinen zu allen Zeiten des Jahres Tiere aus den verschiedensten Gruppen in geschlechtsreifem, fortpflanzungsfähigem Zu- stande.^) Ein solches gleichmäßiges Klima zeigt nur die Ostküste von Madagaskar; hier dauert die Regenzeit fast das ganze Jahr hindurch. An der ') Hesse-D oflein, Tierbau und Tierleben, Bd. 2. Westseite dagegen wechselt eine ausgeprägte Regenzeit (Sommer) mit einer Trockenzeit (Winter) ab. Bei den Halbaffen (Lemur und Lepidolemur) und auch bei Eupleres scheint sich nun die Fort- pflanzung nach den Jahreszeiten zu richten: Die Brunstzeit fällt in die Regenzeit oder an das Ende derselben (Sommer oder Herbst), die Weibchen sind während der Trockenzeit trächtig (Winter), die Jungen werden zu Anfang der Regenzeit (Frühling) geboren. Natürlich wird diese Periodi- zität nicht direkt durch die klimatischen Verände- rungen, sondern durch den dadurch hervorge- rufenen Futtervorrat bzw. -Mangel bedingt. Die Regenzeit bringt Pflanzen- und Insektenfressern Nahrung in reichlicher Menge. Lemur catta im südlichen Madagaskar, Avahis und die Propithecus- formen scheinen ein wenig von der Regel abzu- weichen, was sich bei ersterem durch das mehr trockene Klima der Heimat (Südmadagaskar), bei letzteren vielleicht als Anklänge an frühere Ver- hältnisse erklärt. Einige kleinere Formen schlafen auch während des Winters, nachdem sie in der Regenzeit genügende Mengen von Nahrung in der Form großer Fettablagerungen aufgespeichert haben; sie haben möglicherweise mehr als einen Wurf jährlich (Ericulus und Microcebus). Im all- gemeinen ist die F"ruchtbarkeit der madagassi- schen Säuger gering. D. O. Herr. Mimikry und Selektionstheorie. Der Begriff der Mimikry ist heute den meisten von der Schule her bekannt. In der Wissenschaft wird das Wort Mimikry vielfach nur auf die sog. „schützende Nachäffung" beschränkt, welche das Tier einem „beweglichen Gegenstande", also in der Hauptsache andern Tieren ähnlich sein läßt. Die „schützende Ähnlichkeit", welche die Erschei- nung eines Gegenstandes ohne Eigenbewegung vortäuscht, wird nicht zur Mimikry gerechnet. Wenn ein Tier z. B. einen Schmetterling nach- ahmt, würde es zu den Mimikrytieren oder Mime- tikern gerechnet. Kopiert es hingegen ein Blatt, so würde diese Erscheinung „schützende Ähnlich- keit'' sein. Diese Unterscheidung, die z. B. H. Ja- cob i in seinem Buche über „Mimikry und ver- wandte Erscheinungen" macht, wird von Study (Die Naturwissenschaften. VII. Jahrg. 1919) durch sehr interessante Beispiele als unhaltbar nach- gewiesen. Es gibt bei der Mimikry zahlreiche Übergänge, die eine Unterscheidung nach solchen Gesichtspunkten unmöglich machen. Wenn z. B. ein Schmetterling, der zweifellos zu den „beweg- lichen Gegenständen" gehört, im Zustande der Ruhe nachgeahmt wird, was sehr oft vorkommt, so paßt der Nachahmer in keine der beiden Kategorien. Ferner leben in Patagonien einige Spinnenarten, welche die Gewohnheit haben, sich bei Beunruhigung fallen zu lassen. Im Fallen gleichen sie dürren oder grünen Blättern. In beiden Phallen wird auch die Geschwindigkeit des Fallens genau nachgeahmt. In welche Kategorie 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 3 soll man nun diese Spinnen einordnen? Es gibt aber auch Erscheinungen, welche zeigen, daß die Beweglichkeit oder Unbeweglichkeit keinerlei Be- deutung bei der Nachahmung hat, daß sie des- halb auch nicht wohl als Einteilungsgrund an- genommen werden kann. Es gibt nämlich Fisch- arten, welche Seetang nachahmen. Der Seetang aber ist bald bewegt, bald in Ruhe, je nach dem Zustande des Wassers, in welchem er wächst. Da bei der Mimikry ein durchaus einheitliches Erscheinungsgebiet vorliegt, schlägt Study vor, eine Mimikry im weiteren und im engeren Sinne zu unterscheiden und die Nachahmung geschützter Tiere durch Tiere als eigentliche Mimikry zu bezeichnen. Die interessanteste Frage für den Forscher und für den Laien bei der Mimikry ist nun die Erklärung für das Zustandekommen dieser so merkwürdigen Erscheinung. Es gibt eine ganze Anzahl von solchen Erklärungen. Die beiden bekanntesten sind wohl der selektionistische Er- klärungsversuch, der die Ursache der schützenden Ähnlichkeiten in Auslese und Zuchtwahl sucht und die Konvergenztheorie, welche die Gleich- heiten auf Milieuwirkungen, also auf das Vor- kommen gemeinsamer Faktoren in den äußeren Bedingungen zurückführt. Kämmerer^) hat neuerdings für die sog. schützenden Ähnlichkeiten, also für die Mimikry im weiteren Sinne, noch als Erklärung eine „Imitationshypothese" aufgestellt. Z. B. soll ein Tier die Farbe seiner Umgebung annehmen durch „Austauschvorgänge (Imitations- prozesse) chemischer und morphischer Energie, die als Aktion und Reaktion zwischen Umgebungs- farbe und Körperfarbe in Erscheinung treten". Die meisten Biologen halten heute die Selektions- theorie nicht mehr für stichhaltig; sie sehen in der Mimikry ausschließlich Konvergenzerschei- nungen. Study untersucht nun die Mimikrytheorien an Hand eines sehr großen Materials auf ihre Richtigkeit. Er verfolgt dabei den weit über das beschränkte Gebiet der Mimikry hinausgehenden Gedanken, überhaupt die Leistungsfähigkeit der großen phylogenetischen Theorien, besonders des I.amarckismus und der Selektionstheorie, gegen- einander abzuwägen. Mit außerordentlichem Scharf- sinn wird die Unhaltbarkeit der lamarckistischen Theorie dargetan, der heute unter der Form des Mechanolamarckismus „die meisten deutschen Bio- logen (und Mediziner I) und fast alle Paläontologen anhängen sollen", wie Study sagt. Die bestehenden Einwände gegen die Selektionstheorie werden auf glänzende Weise mit einer Fülle ganz neuer Argu- mente widerlegt, die alte, vielumstrittene, schon aufgegebene Theorie steht heute von neuem ge- rechtfertigt da. Nur einige Gegenbeweise gegen die Konver- genztheorie seien hier herausgegriffen. Die Kon- vergenz führt die Mimikry auf die Gleichartigkeit ') Das Gesetz der Serie S. 218 If. der Lebensbedingungen zurück. Die Lebens- bedingungen der Mimikrytiere sind aber nun nicht gleichartiger, als die vieler anderer Tiere, die keine Ähnlichkeit untereinander erkennen lassen. Ferner sind die äußeren Bedingungen aber nun wirklich dieselben bei Männchen und Weibchen derselben Art und bei den verschiedenen Gestalten polymorpher Arten. Häufig entwickeln sich aus scheinbar identischen Raupen und Puppen ganz verschiedene Falter. Also vollkommenste Gleichheit der Lebensbedingungen, trotzdem keine Ähnlichkeit, sondern Unähnlichkeit. Die gleichen Lebensbedingungen können die Ursachen der Ähnlichkeiten nicht sein, wenn sie zugleich und gerade da, wo sie am vollkommensten erfüllt sind, die entgegengesetzte Wirkung der Unähn- lichkeit hervorbringen. Ebenso vernichtend für die Konvergenztheorie ist folgender Gedanke. Bei den Konvergenzen, die im Gefolge ähnlicher Lebensweise auftreten, ist die Gleichheit des Aus- sehens immer ein Nebenprodukt tiefer gehender Umgestaltungen. Die polymorphen Falter unter- scheiden sich voneinander nur im Aussehen. Es kommt nun vor, daß die verschiedenen Arten verschiedene Modelle nachahmen. Sie ko- pieren aber stets nur das Aussehen. Es findet also eine reine Anpassung an das Aussehen ohne jede tiefergehende Umgestaltung statt. Es ist erstaunlich, daß der Mathematiker Study, der geniale Verfasser der Geometrie der Dynamen, sich mit einer Arbeit von so grundlegender Be- deutung in die Biologie einführt. Zum Schlüsse möchte ich noch einige beson- ders interessante Fälle von Mimikry aus der Studyschen Arbeit anführen. Bat es hat ein Beispiel von Mimikry beobachtet, welches er das Erstaunlichste nennt, welches ihm je vorgekommen ist. Eine große Raupe glich in Aussehen und Benehmen derart einer kleinen Giftschlange, daß sie alle Einwohner des Dorfes, in dem Bat es damals wohnte, in Schrecken setzte. Neuerdings hat auch Tassl eine solche Raupe beobachtet, die zu einer anderen Familie gehörte. Sie trug das ungewöhnliche und auffällige Kleid einer ge- fürchteten Giftschlange, nämlich der schwarz, weiß und rot geringelten Korallenschlange der süd- amerikanischen Kordillere. Die Mimikry wendet sich meistens an den Gesichtssinn. Doch hat Wasmann bei Ameisengästen auch eine Tast- mimikry entdeckt, und es gibt auch bei gewissen Tieren eine Geruchsmimikry. Als Beispiel einer pflanzlichen Mimikry sei die Anpassung von Orchi- deen an das Gras, zwischen dem sie wuchsen, erwähnt. Eine Art ahmte mit ihren Blütenstengeln genau die Blütenstengel der großen Grasbüschel nach. Bei einer anderen Art waren die Blüten- stengel den Grashalmen täuschend ähnlich. Kam- merer teilt einen Fall von Mimikry bei Menschen mit. Negervölker hatten die P^arbe der Erde, auf der sie wohnten. Die Bongo hatten als Haut- farbe ein erdiges Rotbraun, entsprechend der roten Erde ihrer Heimat. Die Dinka waren schwarz N. F. XIX. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 43 wie der Alluvialboden, welchen sie bewohnten. Marianne Weber*) hat scherzhaft den männ- lich betonten Anzug der ersten weiblichen Stu- dierenden als IVlimikry bezeichnet, weil sie durch diese „schützende Ähnlichkeit" ihr ungewohntes Auftreten im Hörsaal möglichst verbergen wollten. Vaerting. Hydrobiologie. In München ist der Plan zur Errichtung einer neuen Forschungsanstalt im Inter- esse der Fischerei entstanden, die jedoch nach den bisher bekannt gewordenen Einzelheiten auch für die allgemeine Hydrobiologie von Bedeutung werden soll. Demoll, der als Nachfolger Hofers in Bayern die Leitung der Biologischen Versuchs- anstalt für Fischerei in München übernommen hat, hat diese Einrichtung angeregt (Allg. Fisch. Ztg., 24. Jahrg., Nr. 20). Die Anstalt soll am Boden- see erstehen und zwar ist als Sitz Langenargen gedacht, wo die bedeutendste Fischerniederlassung für die Feichenfischerei ist. Dort soll ein Unter- richtsraum und drei Laboratorien für zoologische, botanische und chemische Untersuchungen ent- stehen als vorläufige Einrichtung. Ein Motorboot soll für die Fahrten auf dem See angeschafft wer- den. Außer einem Direktorium und einem Kura- torium sind als Personal ein Leiter, ein zoologi- scher Assistent, ein botanischer und ein chemi- scher Assistent, sowie ein Leiter der daneben ein- zurichtenden Musterfischbrutanstalt vorgesehen. Diese Posten sind übrigens schon jetzt von ein- zelnen namhaft gemachten Herren besetzt, die ihre Tätigkeit zum Teil bisher ehrenamtlich aus- üben. Als Aufgaben der Anstalt werden folgende be- zeichnet : 1. Typisierung der Fanggeräte und Ausschal- tung unwirtschaftlicher Methoden. Nach der Mit- teilung läßt sich erwarten, daß mit weniger Netz- typen und Garnstärken in der Fischerei gearbeitet werden kann, als das bisher geschieht, so daß trotz der verschiedenartigen Gewässer für Süd- deutschland von der Anstalt eine Typisierung der Fanggeräte und Methoden in Angriff genommen werden soll. 2. Prüfung von Ersatzmitteln in der Konser- vierungstechnik der Fanggeräte. 3. Intensive Befischung uud ausreichende Be- schaffung von Nachwuchs. Hierunter fällt die Auf- zucht der verschiedenen Fischarten mit dem ge- ringsten Verlust, zu diesem Zweck soll die Brut- anstalt angelegt werden. Desgleichen gehört in den Kreis dieser Aufgaben die Erforschung der Bedingungen, von denen der Fang der einzelnen Arten abhängig ist, und die Fangweise der Nutz- fische selbst. Man hofft später Fangvorhersagen ermöglichen zu können. 4. Lehrtätigkeit. Hierunter sind besonders Fischereikurse zu verstehen zur fachgemäßen Aus- bildung des Nachwuchses des Fischergewerbes. ') Frauenfragen und Frauengedanken 1919. 5. Forschungstätigkeit. Neben den aus den angeführten Punkten sich ergebenden Arbeiten wird als besondere Aufgabe noch das Studium des Haushaltes des Bodensees, die gegenseitige Beeinflussung und Abhängigkeit der pflanzlichen und tierischen Bewohner voneinander angeführt. Vergleichend physiologische Arbeiten, morpho- logische, Vererbungs- und tier- wie pflanzengeo- graphische Studien, meteorologische wie hydro- graphische Beobachtungen werden geplant. Alles in allem ist die Anstalt als eine Er- gänzung der beiden norddeutschen Institute in Friedrichshagen und Plön gedacht. Wie man sieht, sind die Ziele, die sich die Anstalt stecken soll, mannigfach und weitreichend. Es bleibt zu hoffen, daß der Plan auch tatsächlich verwirklicht wird. Anscheinend ist ja, da ein solcher Plan zur Jetztzeit überhaupt auftauchen konnte, Bayerns finanzielle Lage eine bessere als Preußens, wo man eher geneigt ist, zurzeit wissen- schaftliche Institute eingehen zu lassen als neue zu gründen. Wird der Plan des Bodenseeinstitutes zur Wirklichkeit, so darf man wohl die Erwartung hegen, daß dann in dem Institut auch tatsächlich Wertvolles geleistet wird. Häufig sind die Ziele mancher schöner Institute, wie sich leider gezeigt hat, nicht im geringsten erreicht worden. Hoffen wir, daß es hiermit anders wird. Willer. Chemie. Über den gegenwärtigen Stand der aliphatischen Chemie verbreitete sich Richard Willstätter, der geniale Chlorophyllforscher, in einem Vortrage gelegentlich der Hauptver- sammlung des Vereins deutscher Chemiker zu Würzburg am 7. September 1919.') Die aliphati- sche Chemie, d. h. die Forschung, die sich mit den nichtringförmig konstituierten Kohlenstoffverbin- dungen befaßt, wurde seinerzeit infolge Kek ul es Benzolformel etwas vernachlässigt. Die neue Formel eröffnete so außerordentlich viele und neue Wege zur Kenntnis und zur Synthese der aromatischen Verbindungen, daß naturgemäß das Interesse für die vergleichsweise einfacheren und minder mannigfaltigen aliphatischen Stoffe nach- ließ. So wurden uns zwar zahlreiche kunstvolle Synthesen mittels der aromatischen Grundstoffe, Benzol, Naphthalin, Anthracen, beschert, vor allem fußt die Chemie der Teerfarben auf den an Kekules Formel sich anschließenden Unter- suchungen. Andererseits aber geriet die aliphati- sche Chemie in eine gewisse unverdiente minder- geachtete Stellung. Nur in Frankreich erfuhr sie durch die elegante Synthese mittels Magnesium- alkylverbindungen durch Grignard eine wichtige Förderung; in Deutschland wurde sie durch die Entdeckung der ahphatischen Diazoverbindungen durch Curtius bereichert. In neuer Zeit jedoch wendet sich das Augenmerk wieder mehr aliphati- schen Verbindungen zu. Der Grund liegt in dem ') Vgl. Zeitschr. f. angew. Chemie 32, S. 329, 1919. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. erhöhten Interesse an physiologischen Vor- gängen.' Diese sind im wesentlichen solche zwi- schen aliphatischen Stoffen. Es sei nur an die Kohlensäureassimilation der chlorophyllhaltigen Ge- wächse erinnert. Sie bildet gleichzeitig die Haupt- die schon Kutsch erow (1881) gelungene An- lagerung von Wasser mittels Katalysatoren. Aber erst kurz vor Kriegsausbruch entwickelte sich daraus eine ganz neue Industrie, deren Rückgrat die folgenden Gleichungen sind : CH -HS CH Acetylen H„0 CH.-C Acetaldehyd O^' + 0 CH.,.CH.,.OH Alkohol \0H Essigsäure CH.,-C^ quelle aliphatischen Materials, wohingegen die aromatischen Verbindungen zumeist künstlichen Ausgangsstoffen, wie dem Teer, entstammen. Als erstes Produkt der Kohlensäureassimilation ent- steht, wie die letzten Willst ätterschen For- schungen lehrten, der Aldehyd H-C<( , Form- \h aldehyd. Ihn findet man in kondensierter Form als Zucker, Stärke, Cellulose, Gummiarten usw. wieder. Die Pflanze selbst ist es, die alle diese und zahlreiche andere Substanzen in einer Reinheit darstellt, die im Gegensatz zu den erst durch uns veredelten Teerprodukten steht. Der Assimilation entgegen geht die pflanzliche Di ssi - milation, die ebenso wie jene gewöhnlich durch Kleinlebewesen bzw. durch von ihnen gebildete Katalysatoren (Enzyme) bedingt und uns zumeist in der Form der Gärung geläufig ist. Theoretisch sowohl wie praktisch wichtig ist es, daß man ge- wisse Gärungsprozesse in ihrem Verlauf genau kennen und damit in erwünschter Weise zu leiten gelernt hat. So stellte das Institut für Gärungs- gewerbe in Berlin mittels Bakterien Azeton aus Stärke her. Und für unsere Kriegführung von höchster Bedeutung war es, daß Connstein und Lud ecke die Alkoholgärung des Zuckers durch Sulfitzusätze so zu modifizieren wußten, daß das bislang nebenher gewonnene Glycerin zum Hauptprodukt wurde, ein Prozeß, den Neu - berg entgültig geklärt zu haben scheint. Produkte der pflanzlichen Assimilation sind auch, wenn auch im zersetzten Zustande, die Kohlen, die im wesentlichen aus den Holzkom- ponenten Cellulose und Lignin entstanden sind. Beider Konstitution ist noch unbekannt. Dagegen hat man es verstanden, der Kohle ihren Gehalt an aliphatischen Abbausubstanzen weitgehend zu entziehen. Pictet in Frankreich, Wheeler in England, vor allem aber Franz Frischer in Deutschland gelang dies mit Hilfe der Verkokung bei niederen Temperaturen und geringen Drucken. Man gewinnt so aus der Kohle unmittelbar alle Erzeugnisse der Petroleumindustrie. — Eine andere Veredlung aliphatischen Materials gelang in jüng- ster Zeit beim Acetylen. Nachdem seit den goer Jahren seine Darstellung im großen mittels elektrisch gewonnenen Calciumcarbids möglich war, verfolgten E r d m a n n und K ö t h n e r seit 1 898 Eine ähnliche Entwicklung hat das Äthylen CH., = CH.2 nicht aufzuweisen, doch ist es VV i 1 1 - stätter und Bommer geglückt, auch seine Oxydation durchzuführen. Man erhält daraus ^O Formaldehyd H-C<' , einen Stoff von schier \h unbegrenzter Verwendbarkeit, z. B. für die Ge- winnung von Kunstharz usw. Auch zu Zucker läßt er sich kondensieren, allerdings, meint Will - stätter, müssen wir diese Synthese der Pflanze überlassen, wir können sie lediglich durch gute Düngung und Kultur darin unterstützen. Die Systematik aliphatischer Verbindungen hat in letzter Zeit nicht grundsätzlich Neues auf- zuweisen. Nur die Homologen des Kohlenoxyds, dieKetene, die sich von dem Keten CH, = CO herleiten, sind dank Staudingers Arbeiten in ihrer großen Reaktionsfähigkeit näher bekannt geworden. Daneben wäre noch Gombergs Isolierung des Methyls — CH3 in Form des Triphenylmethyls und Söderbäcks Rhodan {SCN\, zu nennen. Die Synthese in der aliphatischen Chemie steht gleichfalls vor neuer Entwicklung. Wo hl er eröffnete sie mit der Harnstofifsynthese , W i 11 - statt er krönte sie mit der Darstellung von Co- cain und Atropin, also wichtiger Alkaloide, aus Zitronensäure. Und schon zeichnet der Forscher den Weg, den die künftige synthetische Chemie zu gehen haben wird. „Wir müssen uns mehr und mehr mit unserer Methodik den Bedingungen der lebenden Zelle nähern, wovon wir noch sehr weit entfernt sind", denn wir müssen mit weniger drastischen Mitteln, bei gewöhnlicher Temperatur, in wässerigen Medien und mit feinsten Katalysa- toren arbeiten lernen — gewiß ein hohes Ziel, aber „die organische Synthese hat den Objekten nach sehr Hohes erreicht, den Methoden nach viel zu wenig". Die Konstitution aliphatischer Verbin- dungen ist weniger großen Erklärungsschwierig- keiten ausgesetzt als die der aromatischen Reihe. Sie hat darum zurzeit wenig Probleme aufzuweisen. Einerseits sind es Tautomerien, wie die des so unendlich oft untersuchten Azetessigesters, anderer- seits die hochmolekularen Eiweiße, um deren Konstitutionserforschung man sich bemüht. Für letztere hat eine schöne Methode A. P i c t e t in der N. F. XIX. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 4S geschätzt. Tiefdruckdestillation entdeckt, die die komplizier- ten Verbindungen weitgehend intakt erhält. Zusammenfassend läßt Willstätter erkennen, daß „wir den künftigen Fortschritt durch Ver- tiefung unserer Betrachtungen der Affinitätsver- hältnisse, durch Annäherung an die Reaktions- bedingungen der lebenden Zelle, durch Verfeine- rung der IVlethodik zur Konstitutionsbestimmung, durch Eindringen in die Natur der Stoffe von kompliziertestem Bau erwarten", wobei Wissen- schaft und Industrie einander wechselseitig be- fruchten mögen. Hans Heller. Geologie. Die Quecksilberproduktion in Europa behandelt H. T r o e g e 1 in einem Aufsatz in „Metall und Erz", XVI, 19 19, Heft 11. An der vor dem Kriege durchschnittlich 4200 t betragen- den jährlichen Weltproduktion von Quecksilber ist Europa mit fast ^/5 beteiligt. Der Rest ent- fällt auf Kalifornien und Mexiko. Quecksilber ist also eins der wenigen Rohprodukte, für das Europa Ausfuhrland ist. Die drei europäischen Haupt- produzenten sind: Almaden, Idria und Abbadia San Salvatore (Toscana). Die Einzelproduktion vor dem Kriege zeigt die folgende Zusammen- stellung: 1912 1913 Almaden 1223 t wie 1912 ) Idria 763 „ 850 t / Abb. S. Salvatore 696 „ 766 „ (Amiata-Werk) Demnach ist die Produktion von Almaden etwa '^/^ so groß wie die der beiden anderen Werke zusammen. Der Metallgehalt der Queck- silbererze beträgt für Almaden 8 "/o , für Abbadia I "/(i (nach Abzug von 1 5 % Feuchtigkeit) , für Idria 0,7 — 0,8 %. Einige weitere kleine Werke in Spanien gewannen 19 12 270 t und in Kolter- bach in Ungarn wurden ebenfalls aus Fahlerzen einige Tonnen gewonnen. In Abbadia sind außer dem Amiata-Werk noch sechs weitere im Betrieb. Die Gesamtproduktion der italienischen Werke erreichte bereits 191 1 lOOOt und überflügelte die österreichische. Der Bergbau von Almaden ist 2000 Jahre alt. Die Lagerstätte ist jedoch noch keineswegs er- schöpft. In technischer Hinsicht ist die Art der Quecksilbergewinnung in Almaden heute äußerst rückständig und nur dem außerordentlich hohen Metallgehalt seiner Erze verdankt es Almaden, daß es mit den beiden anderen, technisch viel rationeller arbeitenden Werken konkurrieren kann. Die Metallverluste bei dem Almadener Betrieb sind derartig hoch, daß Werke mit einem Metallgehalt, wie ihn Idria und Abbadia haben, überhaupt daran zugrunde gehen müßten. Das Quecksilber von Almaden wird vertraglich von dem Bankhaus Rothschild in London abgenommen, das damit eine Vorzugsstellung im Handel genießt und preisangebend ist. Auch der Bergbau von Idria kann schon auf ein halbes Jahrtausend zurückblicken. Das Werk ist in technischer Hinsicht nach modernen Ge- sichtspunkten eingerichtet. Der Abbau der Erze hat bereits die 300 — 400 m Teufe erreicht. Das gewonnene Metall wurde bisher durch eine amtliche Verkaufsstelle in Wien abgesetzt. Jetzt dürfte wohl der südslawische Staat Anspruch auf das Werk machen. Der Betrieb von Abbadia ist, obwohl auch in der dortigen Gegend der Zinnoberbergbau auf uralte Zeiten zurückgeht, erst im Jahre 1897 von der Amiata - Aktiengesellschaft aufgenommen worden, einer Gründung mit vorwiegend deutschem Kapital, das vor dem Kriege noch mit 60 '^'/„ beteilgt und in der Verwaltung führend war. Auch dieses Werk ist technisch modern eingerichtet. Der Abbau der Erze ist hier besonders schwierig in- folge der tonigen Beschaffenheit des Muttergesteins der Lagerstätte, das einen Feuchtigkeitsgehalt von 15 "/o aufweist. In der Grube muß auf allen Sohlen das Streckennetz, soweit es in diesem Ton verläuft, in geschlossener Tunnelmauerung ausge- baut werden, die bei dem starken Gebirgsdruck drei- bis viermal erneuert werden muß. Die Amiata -Gesellschaft ließ vor dem Kriege ihre Produktion von einer deutschen Metallfirma ver- treiben. Für Deutschland ist in bezug auf den Queck- silbermarkt die durch den Krieg geschaffene neue Lage äußerst ungünstig. Keine der in Betrieb befindlichen Quecksilbergewinnungsstätten liegt auf deutschem Boden und der bisherige Einfluß deutschen Kapitals auf eine solche von bekannter Leistungsfähigkeit ist durch den Krieg ausgelöscht. Wir sind heute, nachdem wir mit Öster- reich zusammen über 40 "/o der Welt- produktion sicher verfügten, vom Quecksilber genau so abgeschnitten wie vom Platin. Dabei ist Deutschland das Hauptverbrauchsland für Quecksilber, von dem es vor dem Kriege fast lOOO t eingeführt hat bei nur 53 t Ausfuhr. Die Möglichkeit, den verlore- nen Einfluß wieder zu erringen , besteht nur in der Aussicht, auf deutsch-österreichischem Boden ein oder das andere bauwürdige Zinnobervorkom- men zu erschließen, welche Hoffnung jedoch nur recht wenig begründet ist, oder mit Quecksilber erzeugenden Ländern in ein wirtschaftliches Ver- hältnis zu kommen, das einen direkten Bezug so- wie möglichst eine Beteiligung deutschen Kapitals und deutscher Köpfe zuläßt. So verdienen z. B. die Quecksilbervorkommen in der östlichen Ukraine unsere Aufmerksamkeit. Ob der Anteil, den Europa bisher an der Welt- produktion von Quecksilber hatte, sich in Zukunft wird aufrechterhalten lassen, hängt von der Pro- duktion Kaliforniens, dem wichtigsten Produzenten außer Europa, ab. Während des Krieges ist die amerikanische Produktion stark gestiegen (19 17 1248 t, 191 8 1153 t), doch hatte sich diese schon einmal zu Beginn des Jahrhunderts auf dieser Höhe bewegt, um dann auf rund 700 t zu sinken. Mit 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 3 dem Zurückgehen der Kriegspreise wird darum vielleicht auch sie wieder auf den alten Stand herabgehen. Aber auch bei Idria und Abbadia wird möglicherweise ein Rückschlag in der Pro- duktion eintreten , da anzunehmen ist, daß Aus- und Vorrichiungsarbeiten in den Kriegsjahren mit dem Abbau nicht gleichen Schritt gehalten haben. F. H. Bücherbesprechungen. Roland, Dr. J. . Unsere Lebensmittel, ihr Wesen, ihre Veränderungen und Konservierung vorn ernährungs- physiologischen und volkswirt- schaftlichen Standpunkt gemeinfaßlich darge- stellt. Preisgekrönte Arbeit. Mit einer Ein- führung: wie können wir aus unseren Lebens- mitteln besseren Nutzen ziehen ? Eine Forde- rung der neuen Zeit von Geh. Regierungsrat Prof Dr. phil. et med. Theodor Paul in München. Zweite, unveränderte Auflage. Dres- den und Leipzig 191 8, Verlag von Theodor Steinkopff. Interessant an diesem lesenswerten Buche ist zunächst die Tatsache, daß es eine preisgekrönte Arbeit ist, die ihre Entstehung nicht dem Kriege verdankt, obwohl die F"ragestellung ,,Wie hebt man Nahrungs- und Genußmittel auf.'" für unsere Kriegswirtschaft bekanntlich von eminenter Be- deutung war. Wenn nun die erste, wie die zweite Auflage auch noch mitten im Kriege erschienen sind und die Gefahr für den Autor nahe gelegen hätte, sein Buch kriegsmäßig zu „frisieren" im Sinne jener vielen Schriften, die sich über unsere Leistungsfähigkeit auf dem Gebiete der Ernährung übertrieben optimistischen Illusionen hingaben, so muß anerkannt werden, daß der Verf. diese Klippe mit großem Geschick umschifft hat. Da- durch wird das Buch auch dann noch brauchbar sein und anregend wirken können, wenn im Laufe der Zeit die „Kriegsernährung" wieder einer „Friedensernährung" Platz gemacht haben wird. Die Erfahrung hat gelehrt, daß wir im Kriege trotz der Umwandlung der Blumen- in Gemüse- gärten, trotz aller Ersatzstoffe usw. nicht das Ziel erreicht haben, uns selbst ernähren zu können. Dafür fehlten alle Vorbedingungen. Prof. Paul, der das Roland sehe Buch einführt, sagt mit Recht, daß der mangelhafte Unterricht in den Naturwissenschaften auf unseren Schulen Schuld daran ist, wenn in weiten Kreisen über die ratio- nelle Ausnutzung unserer Nahrungsmittel eine erstaunliche Unkenntnis herrscht. Die Denk- richtung eines ganzen Volkes umzustellen, gelingt eben nicht so leicht, wie die Umstellung eines Friedensbetriebes in eine Munitionsfabrik. — Der Verf versucht in seinem Buche einen weiteren gebildeten Leserkreis mit dem Wesen, der Ver- änderung und Konservierung unserer Lebensmittel, wie es im Titel heißt, bekannt zu machen und wählt für diese Aufgabe die Form eines Lese- buches, nicht die eines Nachschlagewerkes für spezielle Zwecke. Daß in anderthalb Jahren eine zweite Auflage notwendig wurde, zeigt, daß dem Verf sein Experiment gelungen ist, ein größeres Publikum zu finden, das Zeit zum Lesen hat, was nach Ansicht des Ref nicht zum wenigsten an der äußerst geschickten Einteilung des Stoffes — von dem verständlichen und flüssigen Stil abge- sehen — liegt. Die Dreiteilung: Schicksale der Nahrungs- und Genußmittel innerhalb des mensch- lichen Organismus, Schicksale der Nahrungs- und Genußmittel außerhalb des Organismus und Schutz der Nahrungs- und Genußmittel vor schädlichen Veränderungen ist originell und übersichtlich. Ebenso wirken die Unterabteilungen im zweiten und dritten Teil, z. B. entspricht dem Kapitel „Veränderungen der Nahrungs- und Genuß- mittel durch Luft- und Lichteinwirkung im 2. Teil der Abschnitt „Schutz der Nahrungs- und Genuß- mittel vor schädlicher Luft- und Lichteinwirkung im 3. Teil usw. Nur durch diese klare Disposition war es möglich, die ungeheure Fälle von Tat Sachenmaterial zu verarbeiten, ohne im Lese Langeweile zu erzeugen. — Da in dem Buch vor nehmlich Wert auf das Prinzipielle der Physio logie, der Hygiene, der Nahrungsmittelchemie usw gelegt wird und das Lesen nicht durch Tabellen und Formelmaterial und durch allzu eingehende Behandlung von Spezialfragen erschwert wird, so würde Ref empfehlen, in einer dritten Auflage durch Literaturhinweise auch denjenigen Kreisen entgegenzukommen, die sich eingehender über die behandelte Materie unterrichten wollen, denn nach der „Einführung" Prof. Pauls wendet sich das Buch nicht nur an das gebildete Laienpublikum, sondern auch an angehende Nahrungsmittel- chemiker, Ärzte und Apotheker. In einem populären Buch ist es nicht zu ver- meiden und manchmal auch didaktisch richtig, daß wissenschaftlich strittige Fragen schon als gelöst betrachtet werden; aber immerhin ist ein zuviel auch hier vom Übel. So z. B. ist die Frage der intramolekularen Atmung, der Atmungs- enzyme und das Wesen der Pigmentbildung in ausgepreßten Pflanzensäften und herbstlich ver- färbten Blättern keineswegs so geklärt, wie es nach den Ausführungen des Verf erscheint; auch die Rolle der organ. Säuren im Stoffwechsel der Pflanzen ist noch ziemlich dunkel. Zu ganz falschen Vorstellungen gibt der Vergleich des tierischen Blutes mit den Pflanzensäften Anlaß; man kann den tierischen Blutgefäßen nicht die Zellsaft enthalten- den Parenchymzellen einer Kartoffel oder eines Apfels ohne weiteres als „Saftgefäße" gegenüber- stellen. Solche kleinen Ungenauigkeitcn auf einem N. F. XIX. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 47 Gebiete, das dem Verf ferner zu liegen scheint, und die leicht durch ein paar Federstriche abge- ändert werden können, beeinträchtigen nicht die Güte und Brauchbarkeit des Rolandschen Buches, dessen Lektüre wir allen Lesern der Naturwiss. Wochenschrift wärmstens empfehlen können. Wächter. Zell, Dr. Th. , Neue Tierbeobachtungen. Kosmos 19 19. Das Büchlein besteht aus einer Anzahl kleiner Aufsätze, in denen sich der Verf. an naheliegende, oft aber äußerst schwierig zu beantwortende Fragen heranwagt. Leider läßt sich Zell dabei so unwissenschaftliche und unhaltbare Gedanken- gänge und Schlußfolgerungen zuschulden kom- men, daß sie nicht mit Stillschweigen übergangen werden können. Wir verweilen gleich beim ersten Aufsatz: „Die Friedens färbe in der Tier- welt". Zell kommt da besonders auf den sog. „Spiegel", die bekannte weiße Stelle am hintersten Körperteile der Hirsche und Rehe und seine Be- deutung für andere Tiere, z. B. Hasen und wilde Kaninchen, zu sprechen und meint, diese kämen nach etwaiger Flucht wieder heran, wenn sie die weiße Farbe der Hirsche und Rehe erblickten, denn „Weiß ist eben die Friedenslarbe in der Tierwelt oder wenigstens die Beteuerung, daß man friedliche Absichten hegte." Zunächst — was sagt Zell an anderer Stelle seines Büchleins? (Seite 68): „Überhaupt dürfen wir die Tiere nicht vom Standpunkte menschlicher Verhältnisse aus betrachten." Man kann das wohl kaum in höherem Maße tun als es Zell in dem zweiten Teile des gesperrt gedruckten Satzes selbst getan hat. Oder glaubt Zell wirklich, daß Hirsche und Rehe sich des Besitzes der „F"riedensfarbe" und ihrer friedfertigen Absichten bewußt sind ? Denn das ist doch die Voraussetzung dafür, daß letztere anderen Tieren gegenüber „beteuert" (I) werden können. Das sachlich Unhaltbare dabei ist, daß das Weiß nur bei ganz bestimmter Stellung der Hirsche und Rehe von Hasen und Kaninchen wahrgenommen werden kann, wenn nämlich jene eine abgewandte Stellung einnehmen oder sich gar entfernen; dann dürfte aber die „Beteuerung" friedlicher Absichten auf selten der letzteren sehr überflüssig sein. Wie stark der Glaube Zells an die Bedeutung des Weiß ist, geht aus folgen- den auf Seite 12 stehenden Worten hervor: „Viel- leicht haben diese Räuber (wildernde Hunde und Katzen), die mit Vorliebe zur Nachtzeit jagen, da- durch einen Vorteil, daß sie häufig weiße Stellen haben. Ein Hase, der in der Nacht ein dunkles Geschöpf sieht, weiß, daß er einen Feind vor sich hat. Ein gescheckter Hund oder eine ge- scheckte Katze können ihn also zu einer unbe- gründeten Vertrauensseligkeit veranlassen." (I) Ganz unfaßbar aber wird die Sache, wenn Zell auf Seite 13 noch einmal zusammenfassend be- merkt: „Friede und Freundschaft werden also in der Tierwelt durch weiße Farben ausgedrückt" und dann fortfährt: „Vielleicht ist das nicht ohne Einfluß darauf gewesen, daß der Mensch bei den Parlamentären die weiße Farbe als Abzeichen ge- braucht." (? I) Mich wundert, daß Zell nicht auch noch meint, daß wir Menschen wahrschein- lich nur durch Erkenntnis der Bedeutung des Spiegels bei Hirschen und Rehen dazu gekommen sind, Weiß zum Symbol der Unschuld zu wählen. — Es ist wohl nicht nötig, näher auf die mehr oder weniger fantastischen Ausführungen Zells einzugehen. Derartiges sollte man einem so großen und nach gediegen er Belehrung verlangenden Leserkreise, wie es der des Kosmos ist, nicht bieten. Und nun noch ein paar Worte zum Aufsatz: „Warum hat der afrikanische Elefant so große Ohren?" Zell schreibt da auf Seite 46 : „Bekanntlich geschieht das „Wittern" .... durch künstliche Bewegung der Luft, damit die Duft- moleküle mit der Riechschleimhaut in Berührung kommen. Alle witternden Tiere müssen deshalb „schnüffeln". Bei einem Tiere, das in der Ebene lebt, ^) wo die Luft häufig regungslos ist, wird es naturgemäß von großem Vorteil sein, wenn die künstliche Bewegung der Luft in irgendeiner Weise vergrößert wird. Was kann da für den afrikani- schen Elefanten näher liegen, als zu diesem Zwecke seine Ohren zu benutzen? Sind sie nicht geborene Fächer? Die Ohren wurden bei dieser Benutzung immer größer, so daß sie heute als richtige Segel erscheinen." Es sei dazu kurz folgendes bemerkt : Erstens dürfte die Luft in den Ebenen Afrikas kaum häufiger regungslos sein als in den Wäldern Indiens. Zweitens täte der afrikanische Elefant wohl besser, wenn er, um zu wittern, den langen Rüssel nach den verschiedensten Richtungen be- wegte statt sich auf die Mitwirkung der Ohren zu verlassen, die noch dazu gerade beim Elefanten von dem Eingang zur Riechstelle sehr weit ent- fernt sind und daher mit ihrer Bewegung wohl nur eine geringe Wirkung hervorbringen können. Drittens erscheint mir die Bemerkung „die Ohren wurden bei dieser Benutzung immer größer" zum mindesten sehr gewagt. Aber es kommt noch anders: Zell fährt in seinen Betrachtungen fort: „Für ein Waldtier haben so große Ohren keinen Zweck, denn einmal ist der Wind im Walde nie- mals so regelmäßig wie in der Ebene, da er sich vielfach bricht." Ich meine, daß unter solchen Umständen die helfenden Organe erst recht ein- greifen müßten, um die Duftmoleküle zur Riech- stelle hinzuwedeln und daß infolgedessen der indische Elefant noch größere Ohren haben müßte als der afrikanische. Und nun folgt bei Zell der schier unglaubliche Satz : „Sodann aber fehlt für die Tätigkeit solcher Ohren im Walde der dazu nötige Raum." (1 1) Damit mag es genug sein der Beispiele für ') Ein solches ist nach Zell der afrikanische Elefant, während der indische als Waldtier bezeichnet wird. (Anm. des Verfassers.) Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 3 Zells Gedankengänge oder besser Gedanken- sprünge und für seine Logik! Es soll zugegeben werden, daß manche IVIen- schen besser „wittern" als andere, sofern sie den Zusammenhang dieser und jener Geschehnisse oder Tatsachen leichter und rascher ergründen und zu fassen vermögen als andere, aber mit dies- bezüglichen Leistungen bzw. Zweckriechereien, wie sie Zell fertig bringt, muß es endlich einmal aufhören. Wissenschaftlich sind sie auf keinen Fall, dagegen sehr gefährlich besonders für solche, die selbst nicht Meister der Denkkunst sind. Halbheit und Oberflächlichkeit des Urteils werden auf diese Weise in Reinkultur gezüchtet, statt ausgerottet. Ich weiß ferner sehr wohl, daß in der Wissen- schaft Vermutungen und Annahmen zulässig sind, und weiß auch aus eigner Erfahrung, daß „Irren menschlich" ist und daß selbst große Gelehrte einmal auf falsche Fährte geraten können ; aber soweit darf es nicht gehen, wie wir leider bei Zell beobachten müssen, durch den die Wissen- schaft in ernst denkenden Kreisen der Leser ge- radezu ins Lächerliche gezogen wird. Auf alle Fälle müßte gefördert werden, daß in Zukunft die Leser des Kosmos, zu denen ich mich übrigens selbst zähle, nicht mehr mit einer Kost wie der oben geschil- derten gespeist werden. Bernh. Hoffmann. Auerbach, F., DiegraphischeDarstellung. 2. Auflage mit 139 Abbildungen im Text. „Aus Natur und Geisteswelt" Bd. 437. Leipzig und Berlin 191 8, Verlag von B. G. Teubner. Preis geh. 1,20 M., geb. 1,50 M. und Teuerungs- zuschläge. Das vorliegende Heft der bekannten Teubner- schen Sammlung bringt, wie auf dem Titelblatt angegeben ist, eine allgemeinverständliche, durch zahlreiche Beispiele aus allen Gebieten der Wissen- schaft und Praxis erläuterte Einführung in den Sinn und den Gebrauch des heute ungemein häufig angewendeten Verfahrens der Darstellung von Versuchs- und Beobachtungstatsachen durch Kurven. Mit der Illustrationstechnik aber hat das Buch, wie man bei einer irrigen Auslegung des Titels vielleicht vermuten könnte, nichts zu tun. Das Thema ist sehr klar und verständlich und durchaus elementar behandelt ; auch setzt die Lektüre keine besondere Vorkenntnisse voraus, so daß für die kleine Schrift ein sehr weiter Kreis von Lesern in Betracht kommt. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Anregungen und Antworten, Der interessante Aufsatz von H. Marzell in Nr. 42 der Naturw. Woclienschr. über das Schellkraut und seine Kultur- geschichte gibt mir Veranlassung darauf hinzuweisen , daß über die pharmakologischen Wirkungen des Saftes von Cheli- donium majus bereits einiges bekannt ist. Zunächst findet sich im Lehrbuch der Pharmakologie von E. Poulsson, Leipzig 1909, eine kurze Angabe über Chelidoniumalkaloide auf Seite 71. Diese bilden hiernach in ihrer Wirkung ein Übergangsglied zwischen dem Strychnin und den Opium- alkaloiden gemeinsam mit den Hydrastisalkaloiden, jedoch den Opiumalkaloiden näherstehend als diese. Poulsson gibt an, daß wahrscheinlich 7 verschiedene Alkaloide in dem orangegelbcn Milchsaft enthalten sind, darunter das auch im Opium vorhandene Protopin und das Chelidonin. Hier findet sich auch die Angabe, daß man in letzter Zeit den wässerigen Extrakt des Chelidoniums gegen Krebs angewendet hat, wie es Marzell von der Gegend von Detmold erwähnt. Es hat sich aber gezeigt, daß dieser Extrakt keine heilende Wirkung hat, daß er höchstens eine schwache schmerzlindernde Eigen- schaft haben kann wegen seiner Verwandtschaft zum Morphin. Im Jahre 1892 hat H. Meyer über die Wirkung einiger Papaveraceenalkaloide berichtet (Archiv für experimentelle Pathol. und Pharmak. XXIX, 5 u. 6). Er beschreibt hier die Wirkung von 5 Alkaloiden, dem Chelidonin, « Homocheli- donin, j-i Homochelidonin , Sanguinarin und Chelerythrin. Auch er erwähnt die Ähnlichkeit mit dem Morphin , hebt als wichtigsten tjnterschied von diesem hervor, daß ihm die er- regende Wirkung auf das Zentralnervensystem so gut wie ganz fehlt. An und für sich ist ja diese Ähnlichkeit in der Wirkung nicht weiter verwunderlich , da ja die beiden Ur- sprungspflanztn der beiden Alkaloidgruppen zu den Papavera- ceen gehören. Das Opiumalkaloid Morphin stammt bekannt- lich von Papaver somniferum. Eine weitere mir bekannt gewordene .\rbeit über das Chelidonin stammt von Hanzlik (Zentralbl. für Physiol. Bd. .XXVllI, Nr. 10). Hier sind Untersuchungen beschrieben, die sich mit der Einwirkung des Chelidonins auf überlebende Organe mit überwiegend glatter Muskulatur beschäftigen. Die spontanen rhythmischen Bewegungen des Frosch- Ösophagus, Fundus des Magens und Pylorus des Magens, sowie des Kaninchendünndarmes und des Uterus des trächtigen Meer- schweinchens werden durch Chelidonin aufgehoben. Durch Adrenalin zur Kontraktion gebrachte periphere Arterien wer- den bei Durchspülung mit Chelidonin schnell erweitert, des- gleichen wird die durch Histamin bewirkte Kontraktur der Bronchialmuskulatur des Meerschweinchens durch dasselbe gelöst. Die Darmperistaltik beim lebenden Kaninchen wird durch intravenöse Injektion unterdrückt. Die Wirkungen des Pilokarpins, des Pituitrins, des Histamins und des Barium- chlorides werden am ausgeschnittenen überlebenden Organ aufgehoben. Hanzlik hat noch eine eingehendere Arbeit im Journ.al of Pharmacology and Experimental Therapeutik angekündigt. Mir ist nicht bekannt, ob diese inzwischen er- schienen ist. Willer. Inhalt: W. Kranz, Zur Entstehung der Ozeane nach A. Wegener. S. 33. — Einzelberichte: Engler, Bericht über die in den letzten 10 Jahren von deutschen Botanikern unternommenen Forschungsexpeditionen nach Afrika und Papuasien. S. 35. Schwein furth, Die in der sog. botanischen Kammer, im Ammonstempel zu Karnak, dargestellten Pflanzen. S. 36. R.R.Schmidt, Neue Pfahlbautenfunde. S. 36. L. Bolk, H.Hansen, Ihde, Arbeiten über bemerkenswerte Wirbeltierzähne. (2 Abb.) S. 37. Greppin, Angriffslust von Waldkauzen- Eltern. S. 40. W. Kaudern, Säugetierfauna Madagaskars. S. 40. Study, Mimikry und Selektionstheorie. S. 41. Demoll, Errichtung einer neuen Forschungs- anstalt im Interesse der Fischerei. S. 43. R. WiUstätter, Über den gegenwärtigen Stand der aliphatischen Chemie. S. 43. H. Troegel, Quecksilberproduktion. S. 45. — Bücberbesprechungen: J. Roland, Unsere Lebensmittel. S. 46. Th. Zell, Neue Tiorbeobachtuugen. S. 47. F. Auerbacü, Die graphische Darstellung. S. 4S. — An- regungen und Antworten : Die pharmakologischen Wirkungen des Saftes von Chclidonium majus. S. 48. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraßc 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Ba Sonntag, den 25. Januar 1920. Nummer 4. [Nachdruck verboten.] Ernst Haeckel und die Biologie seiner Zeit. Von Julius Schaxel. Ernst Haeckels Tod am 9. August 1919 hat ein vollendetes Leben erfüllt. Wohl waren im Greise noch Wünsche rege , die den Menschen über seine Grenzen hinaus in die Unsterblichkeit weisen und ohne deren Glauben wir keinen Tag hinbringen möchten ; aber, was an Anlagen unge- hindert zu entfalten und mit den gegebenen Mitteln zu schaffen war, ist geschehen und, als die Zeit um war, beendet worden. Ein ganzes Leben, eine volle Persönlichkeit zu überblicken ist selten. Noch sehr nahe den Ereignissen fällt freilich die Be- urteilung einseitig aus. Lediglich als Stufe des Aufstiegs zu umfassendem Überblick mag sie ge- wagt werden ; denn nur das Wirken des in hohem Alter Verschiedenen ist abgeschlossen, die Werke zeugen noch fort. Bei allen, immer aufs neue regen Zweifeln über die gültige Deutung von Haeckels Arbeit, steht ihr Einfluß auf die Geschichte der Lebenswissen- schaft fest. Eine Spanne und Seite ihrer Ent- wicklung, in der wir heute noch stehen, geht von ihr aus. Und auch außerhalb der Wissenschaft kann nur eine machtvolle Persönlichkeit die Geister so lebhaft bewegen wie Haeckel. Das Bild des Menschen und Werkes braucht als Hintergrund die Kenntnis der Zustände, in die Veranlagung mitgebracht, Bildung gewonnen, gearbeitet, gekämpft und geendet wurde. An den Geschicken der Wissenschaft nehmen wir vor allem teil, nur ferner der Kultur gedenkend, deren Frucht sie ist. l. Im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts steht im Mittelpunkt der Biologie die klassische Mor- phologie. Ihre Lehre vom Bauplan organischer Formen gibt wie kein Gedanke seit des Ari- stoteles Entelechie dem zum Aufbau fähigen Forscher reiche Arbeit. Wen immer Gesetzmäßig- keit in den Gestalten des Lebendigen aufzuspüren reizt, den fesselt wie Goethe die Idee von der Grundform. Naturphilosophischer Überschwang, bald aller logischen Ordnung bar, bereitet dem gedanklichen Ausbau ein rasches Ende. So wiegt in den Jahren 1830 bis 1860 die Mehrung des Tatsachenschatzes vor und auf anatomischem und embryologischem Gebiet werden große Ent- deckungen gemacht. Ernüchtert nach ausschweifen- der Spekulation läßt man das Gedankliche hinter dem Tatsächlichen zurücktreten. In Stille fahren die Empiriker fort den Ideen der Morphologie zu huldigen. Im Rausch der deutschen Naturphilosophie sucht der Geist Trost, nachdem ihn die politische Verödung, die den Freiheitskriegen folgt, von der unmittelbaren Wirklichkeit abweist. Der erneute Rückschlag nach 1848 gebiert aus ähnlichen Mo- tiven den Materialismus der Jahrhundertmitte. Freilich nicht in tiefen Gedanken gibt er sich aus, sondern ganz im Gefühlsmäßigen befangen werden aus radikaler Stimmung mit dem Ver- langen nach „Aufklärung" grobe „Wahrheiten" in die Menge geworfen. Der Materialismus hebt die eben neue Lehre Darwins auf sein Schild. Für die Prüfung ihrer Grundlagen und der Feinheiten ihres gedanklichen Gehalts bleibt keine Zeit. Der Absicht allge- meinen Ausgleichs, die nur verwischbare Unter- schiede gelten lassen will, ist die Lehre gerade recht, die den Menschen zu den Tieren stellt und ihn so dem materialistischen Aufklärer in die Hände gibt. Die Biologie ist von einem Tag auf den anderen keine Fachwissenschaft mehr, sondern ein Gegenstand der öffentlichen Meinung und zu Fragen der Weltanschauung, der Kirche und des Staates in Beziehung gebracht worden. Den Streit um die höchsten Dinge, der sich im deutschen Bürgertum mit Erbitterung abspielt, überholen .äußere Ereignisse. Die machtpolitische Festigung Preußens nach 1870 und bald darauf des Reiches haben einen unerhörten wirtschaft- lichen Aufschwung zur Folge. Rasch und leicht- erworbener Wohlstand in breiten Schichten, reiche Mittel des Staates kommen der Wissenschaft zu- gute. Bis in die neunziger Jahre läßt sich eine zwar erstaunlich schnelle, aber anscheinend ganz gesunde Entwicklung verfolgen, in der außer ge- wichtigen Einzeltaten namentlich die Menge guter Durchschnittsarbeit auffällt. Nicht als ob gegen die Jahrhundertwende und danach ein Stillstand oder eine Änderung der Richtung einträte, es wird im Gegenteil nicht minder Gutes noch reich- licher produziert; aber auch im gelehrten Stande werden die Erscheinungen bemerkbar, die die Kata- strophe des Krieges und seiner Folgen vorbereiten. Wir stehen noch unter der unmittelbaren Wirkung der Ereignisse. Die Beurteilung ihrer Ursachen birgt die Gefahr der Mißdeutung in solchem Maße in sich, daß vorläufiges Schweigen darüber ge- rechtfertigt ist. II. Geradsinniges, argloses Gemüt vereint mit großer Willenskraft, zäher Fleiß und unerschütter- liche Überzeugungstreue sind für Haeckel bei seinen nächsten und weiteren Vorfahren bereits erprobte Anlagen. Rasche Aufnahme und Hin- gabe am Beginn des Lebensweges, einmaliger, für so Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 4 immer ausschlaggebender Entscheid zeichnen da- her bald die Richtung eindeutig vor. Grenzenlos bleibt die Begeisterungsfahigkeit für alles, was in der Linie ihrer frühen Fesselung liegt. So leitet ein Forscher- und Denkerleben nicht zweifelnder Verstand, sondern zustimmungsfrohes Fühlen und Wünschen ein. Von innen und außen unbeirrt geht es weiter. Erste Eindrücke behalten dauernde Geltung. Nicht kritisches Bedenken, nicht stets aufs neue zögerndes Abwägen, sondern ein einmal Ja und immer wieder Ja bestimmen Ha eckeis Urteile. Mehr oder vielleicht auch anderes als nur Wissen- schaft liegt in jedem zur Lehre bestimmten Wort: werbende Verkündigung. Nach ernster stiller Jugend fast plötzlich gewonnen und entschieden, häuft eines starken und langen Lebens fruchtbare Arbeit alles, was sie an Leistung vermag, auf- und nebeneinander. Das Werk hat einen Sinn und ungeheure Breite. Gründlichkeit führt nicht zur Zergliederung ins Kleinste, sondern zu mög- lichst umfassender Ausnutzung der eingeschlagenen Betrachtungsweise. Dem Glauben muß, was immer es sei, sich fügen. Von ganzer Seele ergriffen achtet der Mensch nicht mehr Widerspruch und Einwand. Er reißt auch einmal Tatsachen mit sich fort, wie die Bewältigung der großen Auf- gabe ihn selbst. Der Behütung des Elternhauses entwachsen, kommt der junge Haeckel auf seinem Wege zur Wissenschaft in die gute Schule der Empiriker. Aber die Lehrer, die ihn beeinflussen, sind nicht die trockensten der damaligen Zeit, sondern jene, die den großen Geist der Morphologie weiter- führen oder teils noch naturphilosophisch bewegt, teils schon materialistisch werbend auf das Ge- müt wirken. Schon der Jüngling liest Schi ei - dens Pflanze und ihr Leben. Zwar ist Sc hl ei - den willentlich „Antirationalist"; aber, was bei den von ihm bekämpften Naturphilosophen alo- gisch-emotional bedingt und ausgeführt ist, hat er selber in vollem Maße. Auf den künftigen Forscher am nachhaltigsten wirkt außer K o e 1 1 i k e r und Leydig der ernste, tatsachenfreudige und tiefgründende Johannes Müller. In ihm ist noch die große Morphologie lebendig, die „Königin" der Wissenschaften vom Lebendigen, die durch Haeckel neue Gestalt gewinnen und weiteste Förderung erfahren sollte. Bei dem jungen Vir- chow spürt das leicht entflammte Gemüt ein- seitig die revolutionäre Gärung des Materialismus, den der Patholog selbst bald genug überwindet. Vorbereitet ist jetzt H a e c k e I s aufnahmefroher Sinn, aber noch nicht ausgefüllt. Da lernt er Darwins neu erschienene Entstehung der Arten kennen und über sein Lebenswerk ist entschieden. „Von Anfang an" ist er „von seiner grundlegen- den Wahrheit durchdrungen". Entwicklung ist ihm das „Zauberwort, durch das wir alle uns um- gebenden Rätsel lösen oder wenigstens auf den Weg ihrer Lösung kommen können". Bleiben noch Zweifel, so beseitigt sie die freilich ungleich viel ruhigere Zustimmung des Freundes Gegen- baur. Auch äußerlich erhält das Leben durch die Habilitation für Zoologie in Jena die end- gültige Wendung. Haeckel deutet Darwins Lehre nach der Art des deutschen Materialismus dieser Zeit. Er folgt keineswegs den Spuren des nüchternen Eng- länders, um dessen Theorien zu prüfen oder viel- leicht den vielen sich gleich ergebenden Teilauf- gaben seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Zwei Grundgedanken nimmt er auf: den Glauben an die Entwicklung aller jetzt lebenden Wesen aus einer oder wenigen Wurzeln und den Verzicht auf „übernatürliche", den unmittelbar zu beobach- tenden Erscheinungen übergeordnete Kräfte im organischen Geschehen. Davon geleitet geht er alsbald daran, mit dem, was er von seinen Lehrern gelernt, seiner Zeit entnommen und mit eigenen Augen in seinem Forschungsgebiet gesehen hat, sein Werk zu bauen. Das schmerzvolle Erlebnis des Verlustes seiner Gattin drängt ihn zu rast- loser Hingabe an die Arbeit. i866 erscheint die generelle Morphologie, in weniger als Jahresfrist geschrieben und gedruckt, ein gewaltiges Werk, durchaus einheitlich aber nur im äußeren Gefüge, doch nicht in den Quellen und nicht im Inhalt. Ein Ganzes ist es, soweit es die Persönlichkeit seines Schöpfers spiegelt, in seiner Kunst, nicht in seinem Stoff. Die generelle Morphologie ent- hält das Wesentliche, was Haeckel biotheoretisch und philosophisch zu sagen hat. Ihr folgen seine zahlreichen großen und kleinen Veröffentlichungen. Sie sind Ausführungen der ersten Anlagen, nach Gemeinverständlichkeit strebende Darstellungen und als Belege verwertete Tatsachensammlungen. In diesen birgt sich Haeckels zoologisch-systema- tische und entwicklungsgeschichtliche Arbeit, bei der er nie sein philosophisches Ziel aus den Augen verliert. Haeckels Wirken geht dauernd von Jena aus. Hier erreicht seine Lehrtätigkeit um die achtziger Jahre den Höhepunkt. Seine Auffassung, daß die Hauptaufgabe biologischer Forschung auf die Darstellung der Geschichte der Organismen hinauslaufe, ist in der Zoologie zur Herrschaft ge- langt. Wer immer ihr sich widmet, studiert einige Semester in Jena, das einen großen Teil der führenden Zoologen aller Länder zu seinen aka- demischen Bürgern zählt. Auch der Kampf um den biologisch erfrischten Materialismus, um die monistische Weltanschauung , wird unermüdlich trotz aller Wiederholung stets neu begeistert und begeisternd von hier aus geführt. Als er an Stärke abzunehmen droht, entfacht ihn um die Jahrhundertwende das Welträtselbuch aufs neue. Inzwischen ist mit Haeckels Werk die deut- sche Wissenschaft erstarkt. Zu ihren offiziellen Vertretern in mehr oder minder starker Opposition bleibt Haeckel von den eigenartigen Erschei- nungen der letzten kritischen Jahrzehnte verschont. Er ist ein freier, ungebeugter, unabhängiger Mann geblieben und Einflüssen nicht erlegen, die über N. F. XIX. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 51 viel kritischere Köpfe fast unbegreifUche Macht gewonnen haben. Erst die allerletzten Jahre, die Erschütterungen des Krieges, haben den von Alter geschwächten Geist widerspruchslos gehörten Äußerungen zustimmen lassen, die seinem bei aller Einseitigkeit geraden Sinn von Grund aus hätten zuwider sein müssen. Des Vaterlandes un- aufhaltsames Elend hat sein müdes Herz vollends gebrochen. III. Haeckels Vorliebe für das Anschauliche ver- anlaßt ihn bei eigener Betätigung seiner morpho- logischen Schulung mehr zur Sammlung und Ord- nung einzelner Formerscheinungen als zur Er- gründung des Wesens organischer Form. Die materialistische Richtung seines Philosophierens auf Darwins Anstoß hin ist der Vertiefung nicht günstig und drängt in die Breite. So ist Haeckels zoologisches Werk der überwiegenden Hauptsache nach Systematik, freilich Systematik neuer Art, zugleich verwoben mit Theorien, die zur Unter- stützung der veränderten Klassifikation ersonnen sind und die Brücken zu philosophischen Folge- rungen darstellen. Daß diese Folgerungen im Grunde die treibenden IVIotive der ganzen Unter- nehmung sind, verwundert niemand, der Wissen- schaft als etwas Menschliches zu betrachten ge- lernt hat, gewiß nicht den Kenner des besonderen Falles. Im Anschluß an die Ausführungen in der Generellen Morphologie entwirft Haeckel seine Übersicht der wichtigsten Zweige der Lebens- kunde, die durch ihre strenge Gliederung und terminologische Festigkeit nicht weniger als durch ihren reichen Inhalt überrascht. Mor- phologie und Physiologie stehen einander gegen- über und innerhalb dieses Rahmens treten neue Disziplinen auf. Zur Verwirklichung ge- langt das Programm aber nur einer Stelle, näm- lich da, wo zur Anatomie die Biogenie gefügt ist. Von Entwicklung wird vornehmlich gehandelt, allein nicht ihren Ursachen wird nachgegangen, sondern die Folge der Umbildungen in der Zeit dargestellt. Die Entwicklungsgeschichte gilt als das wirkliche Werden der Formen, das beschrieben werden soll im Hinblick auf das natürliche System der Organismen. Die Lebewesen sind so zu ordnen, wie sie entstanden sind. Es wird alles in das Problem zusammengedrängt, welche Zu- stände eine Form oder einer ihrer Teile im Laufe der geschichtlichen Entwicklung durchgemacht hat. Das ist die Grundfrage und der Sinn Haeckel scher Biologie, zugleich auch der immer vermittelnde Gedanke, den Menschen samt allem, was er treibt und ihn bewegt, in die Stufenfolge des Werdens aufzulösen, die ihn jeder Sonder- stellung beraubt. Alsbald sind die Gegenstände und ihre Be- nennungen, die Wissenschaft davon samt den Darstellungsmitteln, vollends die hingenommenen Axiome und ersonnenen Hypothesen und Theorien in den Dienst des historisch gedeuteten Entwick- lungsgedankens gestellt. Die Entwicklung wird bewirkt durch die zwei Grundeigenschaften der Lebewesen: die Anpas- sung, d. i. die Fähigkeit zur Veränderung unter äußeren Einflüssen, und die Vererbung, d. i. die Fähigkeit zur Erzeugung gleichgearteter Nach- kommen. Aus beider Wechselwirkung folgt unter Ausschluß jeder Zielstrebigkeit durch allmähliche Häufung in fortschreitender Steigerung der Mannig- faltigkeit die Formenfülle des Lebens. An seiner Wurzel vermitteln strukturlose Moneren im Vor- gang der Urzeugung den Übergang zum Leblosen. Vom Beginn des Lebens bis zur Gegenwart folgen sich unzählige Generationen, die Oniogenien, deren Summe die Stammesgeschichte, die Phylogenesis, ausmacht. Beide verbindet das biogenetische Grundgesetz, indem die individuale Entwicklung, durch die ihr voiausgehende Siammesentwicklung bedingt, sie im Auszuge wiederholt. An zwei Beispielen werden die Axiome erläutert. Die Gastraeatheorie zeigt, wie alle vielzelligen Tiere in der Keimform der Gastrula die Stammform der Gastraea durchlaufen. Die Anthropogenie entrollt die tierische Ahnenreihe des Menschen. Die Be- trachtung gipfelt in der Phylogenie als selbständiger Wissenschaft, die ,,den historischen Zusammenhang der stammverwandten Formengruppen Schritt für Schritt zu verfolgen und ihm im schematischen Bilde des Stammbaums einen Ausdruck zu geben" hat. Sie ist eine „historische Naturwissenschaft" mit den Urkunden der Paläontologie, Embryo- logie und Morphologie. Ihre Methode ist die Vergleichung. Haeckel hat von den Darwinschen An- regungen nur die Genealogie der Formen, die Klassifikation in historisch -genetischem Gewand, verwirklicht. Vom Entwicklungsgeschehen, vom Leben als beständiger Bewegung wird nicht ge- handelt. Unmittelbare Beobachtung, Analysis unterbleibt, kein Experiment wird angestellt, eigentliche Naturforschung nicht getrieben. Bis in die neunziger Jahre stehen Zoologie und Ana- tomie fast ganz im Banne der Aufgaben, die ihnen die Haeckel- Gegenbaursche Schule stellt. Vorwiegend morphologisch- entwicklungsgeschicht- liche Untersuchungen werden unternommen und jede, die auf Theorie Anspruch erhebt, kommt zur Aufstellung eines Stammbaums. Die Botanik geht ihre eigenen Wege. Auf die Dauer befriedigt das Verfahren nicht, das jeder erklärungsbedürftigen Erscheinung der Gegenwart einfachere Vorstufen in der Vergangen- heit zuweist. Erst mit der Einführung anderer Betrachtungsweisen werden innere Schwierigkeiten der Phylogenie offenbar, die in einer heftiger Polemik zugeneigten Zeit zwar teilweise auch schon geäußert, aber nicht gehört worden sind. Wenn die Forschung sich neue Ziele, die Wissenschaft anderen Inhalt sucht, bleibt den bio- logischen Kritikern keine Muße zur gerechten Ergründung bisheriger Leistung. Die Biologie hat 52 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 4 deswegen ein tragfähiges Gerüst geordneter Be- grifife nicht erhalten, sondern sich in eine bunte Unordnung heterogener Theorien aufgelöst. So muß es ausdrücklich betont werden, daß die reichen Tatsachen anatomischer, embryologischer, klassifikatorischer Art, die die besten Kräfte einer Zeitspanne, von der historisch genetischen Vor- stellung geleitet, angehäuft haben, mit dem Wan- del der Grundgedanken nicht verloren sind. Sie können jedenfalls neuer Ordnung eingefügt werden. Aber auch die Grundgedanken sind viel weniger, als in der Gegenwart manche glauben, erschüttert. Sie sind in Zweifel gezogen, weil ihnen von An- fang an zwar zustimmungsfroher Glaube, aber keine Rechtfertigung zuteil geworden ist. Ein gültiges Urteil ist noch gar nicht gesprochen. Vor allem wendet sich die Kritik gegen die im Zusammenhang mit der Entwicklungslehre ge- botene Naturphilosophie, die den Namen Monis- mus erhalten hat. Die Gegenwart will von so grober Metaphysik nichts mehr wissen, ohne die freilich, wie gezeigt ist, das ganze Theorem nie zustande gekommen wäre. Dem biologischen Historismus selbst wird seine Methodenlosigkeit vorgeworfen. Nachdem die Axiome einmal hin- gestellt und kühn einige Folgerungen gezogen sind, bleibt es fern vom eigentlichen Leben bei der schematischen Herstellung von Ahnenreihen und Stammbäumen. Über das Formale solcher Anordnung wird weder begründend noch ver- tiefend hinausgegangen. Man wiederholt, gleich- gültig welches Problem damit angegriffen wird, die geläufige Form. Die Brauchbarkeit des Stamm- baums zur Darstellung wahrer genetischer Zu- sammenhänge bestreitet sowohl die Genealogie als historische Hilfswissenschaft wie die moderne Genetik, die die Verwandtschaftsbeziehungen der Organismen experimentell untersucht. Gegenstand berechtigter Zweifel endlich sind die sogenannten Urkunden der Fhylogenie. Die klassische Morphologie hat in der Lehre von den Typen zeit- und ursachenlose Beziehungen zwischen Formen gesetzt um Gesetzmäßigkeit in die Mannig- faltigkeit der Erscheinungen zu bringen. Die Phylogenie übernimmt die vorgezeichneten Be- ziehungen , ändert die Terminologie und spricht von wirklicher Geschichte und Blutsverwandtschaft. Die alte Embryologie sagt im Anschluß an die idealistische Morphologie, daß bei der Formbildung die Verwirklichung des Typus in dem Maße vom Allgemeinen zum Besonderen fortschreitet, als die Idee im Körperlichen Ausdruck gewinnt. Im biogenetischen Grundgesetz liegt ohne grund- sätzliche Rechenschaftsablage die Umdeutung vor, die aus zeitlosem Zusammenhang, aus idealer Be- zugnahme Ursache und Wirkung macht. Die Paläontologie endlich soll die Aufstellungen der Phylogenetiker bewahrheiten. Je mehr ihr Tat- sachenschatz aber wächst, desto weniger scheint sie von einfachen Anfängen, gemeinsamen Ur- formen, verbindenden Übergängen, zunehmendem Fortschritt der Organisation in der Erdgeschichte zu berichten. Haeckel hat den reichen Bau seiner Wissen- schaft mit Macht in raschen Zügen entworfen und trotz vielen Widerspruchs die Besten seiner Zeit zur Mitarbeit gewonnen. Bald und lange steht das Werk in voller Blüte. Dann lenken neu er- schlossene Gebiete von der einseitigen Form- und Geschichtsbetrachtung ab. Zugleich finden Zweifel an ihrer Gültigkeit Gehör, die das Unterbleiben jeder Methodologie notwendig nach sich zieht. Wer den lührenden Gedanken der Lebenswissen- schaft nachgeht, wird deswegen an der großen Bedeutung H a e c k e 1 s nicht irre ; denn die Biologie sähe anders aus, hätte er sie nicht jahrzehntelang geführt. Da gilt es festzustellen, was ist, nicht zu werten. Wenig tiefes Philosophieren hat des Meisters wissenschaftliches Wirken immer begleitet und ihm eine außerwissenschaftliche Gefolgschaft eingetragen. Der Einblick in notwendige Zu- sammenhänge bewahrt auch hier vor Gering- schätzung. Haeckel hat als ein Mensch gelebt, der nach seinen Kräften alles gegeben hat. Seines Werkes Spuren bleiben der Wissenschaft immer- fort eingeprägt. Biographien von Ernst Haeckel liegen vor von \V. Boelsche, W. Breitenbach, W. May, C. Keller, A. Lang, H. Schmidt. Autobiographisches findet sich in dem Bericht über die Feier des 6o. Geburtstages von Ernst Haeckel am 17. Februar 1904 in Jena (nicht im Buch- handel). Ein von 1S55 bis 1914 reichendes Verzeichnis der Druckschriften Haeckels enthält Band I, S. 179 — 190 des Werkes ,,Was wir Ernst Haeckel verdanken", Leipzig 1914. Haeckels Wirken in der Biologiegeschichte stellt ganz kurz, aber treffend dar R. Burckhardt, Geschichte der Zoologie, Leipzig 1907 und ausführlicher, wenn auch in mancher Ilin- sicht bestreitbar, Em. Radi in Band II seiner Geschichte der biologischen Theorien, Leipzig 1909. Voreingenommen urteilt H. Schmidt, Geschichte der Entwicklungslehre, Leipzig 191S. Der Ergründung der gedanklichen Zusammen- hänge geht nach J. Seh ax el , Grundzüge der Theorienbildung in der Biologie, Jena 1919, und Abhandlungen zur theoreti- schen Biologie, Berlin seit 1919. Die gesamte, sehr große und zerstreute H a e c k e 1 - Literatur zu sammeln ist Aufgabe des H aeckel- Archivs in Jena. fNachdruck verboten.] Unter den in bestimmtem Rhythmus sich än- dernden Außenbedingungen nimmt der als Wechsel der Jahreszeiten bezeichnete Komplex für das Pflanzenleben auf dem größeren Teil der irdischen Die Pflanze im Wechsel der Jahreszeiten. Von H. Schroeder. Landfläche eine besondere Stellung ein. Nur während eines Teiles des Jahres erlauben Tempe- ratur oder Feuchtigkeit den Ablauf sämtlicher Lebenserscheinungen; in der übrigen Zeit müssen N. F. XIX. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 53 diese mangels zureichender Temperatur oder Feuchtigkeit stillstehen oder doch auf ein Geringst- maß eingeschränkt werden oder wenigstens ist das Eintreten dieser Notwendigkeit jederzeit im Bereich des Möglichen gelegen, muß also ertragen werden können. Mehr als das, in den meisten Ländern ist während der schlechten Jahreszeit mit Bedingungen zu rechnen, welche nicht allein die Lebenserscheinungen zum Stillstand bringen, son- dern die darüber hinaus das Leben der Pflanze gefährden. Damit sind die zu behandelnden Fragen ge- stellt; sie lauten: I. Auf welche Weise überstehen die höheren Pflanzen, auf die ich mich beschränke, die un- günstige Zeitperiode und 2. wie nutzen sie die günstige aus? Da ich mich im wesentlichen an heimatliche Verhältnisse halte, nenne ich ohne Rücksicht auf die astronomische Jahreseinteilung die gute Jahres- zeit (Vegetationsperiode) Sommer und die schlechte Winter. I. Der eigentlichen Themenbehandlung schicke ich einiges über Lebensdauer und Vegetations- weise der Pflanzen voraus. Man unterscheidet im Hinblick auf diese: 1. Gewächse, die während ihres individuellen Daseins nur einmal blühen und nachdem sie alle verfügbaren Nährstoffe zur Samenerzeugung ver- braucht haben mit der Fruchtreife, gewissermaßen erschöpft sterben (Hapaxanthische Pflanzen). 2. Arten, bei welchen das Einzelindividuum mehrmals bis vielmals blüht und fruchtet (P o 1 y - anthe Pflanzen). Die Hapaxanthen lassen sich in folgende Gruppen unterteilen: a) Die Ephemeren; sie durchlaufen ihren ganzen Entwicklungszyklus vom keimenden Samen bis zur fruchtenden Pflanze in wenigen Wochen. Aus der neuen Saat sproßt ohne Verzug eine zweite Generation, ihrerseits rasch fruchtend wie die erste, und so fort, so daß im Laufe eines Sommers mehrere kurzlebige Generationen ent- stehen und vergehen. (Beispiele: Stellaria media, Mercurialis annua, Senecio vulgaris.) b) Die annuellen Sommerpflanzen ge- brauchen zumeist etwas mehr Zeit zu ihrem Lebenszyklus, außerdem, und das unterscheidet sie im wesentlichen von den Ephemeren, keimen ihre reifen Samen selbst unter günstigen Beding- ungen nicht sofort nach der Trennung von der Mutterpflanze sondern erst nach dem Überstehen einer längeren oder kürzeren Ruhezeit ^) (Nach- ') An dieser Stelle, wie mehrmals im folgenden, ist zwi- schen Ruhe und Starre zu unterscheiden. Eine Pflanze oder ein Pflanzenorgan ist im Zustand der Starre, wenn das Fehlen zusagender Außenbedingungen oder deren Übermaß die Le- benserscheinungen unmöglich macht; sie ruht hingegen, wenn Entwicklung unterbleibt, obwohl sämtliche zu dieser notwen- digen Außenfaktoren in einem Ausmaße geboten sind , bei welchem das nicht ruhende Organ normalen Ablauf seiner reife). So kommt es, daß in jedem Sommer nur eine Generation erscheint. (Sommergetreide.) c) Die annuellenWinterpflanzen keimen bereits im Spätherbst, überwintern als bodennahe Keimpflänzchen , um im nächsten Sommer ihre Entwicklung zu vollenden. Sie vegetieren also gleich den annuellen Sommerpflanzen nicht länger als einen Sommer, nutzen denselben indes durch das Vorverlegen der Keimung etwas besser aus als jene. (Wintergetreide.) d) Im Gegensatz dazu gebrauchen dieBiennen zwei volle Sommer, im ersten erstarkt der Keim- ling und speichert Nahrungsstofi'e (Rübe), die im zweiten zusammen mit neu Erworbenem zur Fruchtbildung verbraucht werden. (Echium vul- gare, Daucus Carota und die in verschiedenen Spielarten kultivierte Beta vulgaris.) e) In selteneren Fällen benötigt das Individuum mehrere Jahre oder sogar Jahrzehnte bis es zur Fruchtreife schreitet. Am Ende dieser Frist blüht es und erschöpft sich gleich einer Ephemeren in der einmaligen Samenerzeugung. (Sagopalme, auch Agave.) Diese Einteilung ist, wie alle übrigen in die- sem Aufsatze, eine solche nach Typen. Sie zeigt deren charakteristisches Merkmal, das Vorkommen von Zwischengliedern, deren Zuordnung unter Umständen zweifelhaft sein kann. So führt von den annuellen Winterpflanzen eine geschlossene Kette von Zwischengliedern zu den typischen Biennen; sie wird von Arten gebil- det, die immer früher im Jahre keimen und daher in immer fortgeschritteneren Stadien in den Winter eintreten. Manchmal gehören Individuen derselben Art verschiedenen der aufgezählten Vegetationstypen an. So leben gewisse Acker- unkräuter (Centaurea Cyanus, Lithospermum ar- vense) bald — bei Aussaat mit Sommergetreide — als annuelle Sommerpflanzen und bald — beim Einbringen mit Wintergetreide — als annuelle Winterpflanzen. Andere Arten zeigen ohne jedes Zutun des Menschen das gleiche Verhalten (Ge- ranium Robertianum, Papaver dubium). Den Übergang zu Polyanthen vermitteln z. B. Malva silvestris oder Lolium perenne, Arten, bei welchen die Mehrzahl der Individuen öfter blüht, einzelne indes nach einmaligem Fruchten sterben. Nur wenige Male fruktifizieren bestimmte Helleborus-Arten usw. Die Regel bei Polyanthen ist jedoch häufigeres Fruchten. Demgemäß erreichen sie ein höheres Le- bensalter als die Hapaxanthen. Bei Bäumen rechnet man bekanntlich vielfach nach Jahrhunderten; bei Stauden können, wegen der Vergänglichkeit der markentragenden älteren Teile nur Mindestwerte genannt werden, aus diesen ergibt sich, daß eine Lebensfunktionen zeigt. Ein trocken aufbewahrter Same zum Beispiel ist trockenstarr, wenn er ins feuchte Keimbeet ver- setzt, sofort keimt, hingegen ruht er, wenn er alsdann wohl quillt, Wasser aufnimmt, im übrigen aber kein Zeichen der Keimung erkennen läßt, obwohl, was eigens festzustellen ist, sein Leben nicht erloschen ist. Vgl. im folgenden S. 54. 54 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 4 Jahrzehnte währende individuelle Lebensdauer sicherlich keine Seltenheit ist. Nicht wenige Polyanthe blühen bereits in dem Sommer, in welchem sie aus dem Samen erwuchsen, andere kommen erst nach Jahren so weit. Die Buche z. B. blüht in freiem Stande erstmalig mit 40 bis 50 Jahren, im Bestandschluß selten vor 60, oft erst mit 80 Jahren; die Eiche freistehend meist nicht vor dem 40. Jahre, im Bestand mit 80 bis 100 Jahren. Früher fruktifiziert die Kiefer, im Freien nach 15, im Bestand nach 30 bis 40 Jahren. Ebenso können bei Stauden Jahre bis zur Blühreife verstreichen. Da z. B. bei der Mai- blume der Keimling im ersten Lebensjahre über- haupt nicht über der Erde erscheint und da die unterirdischen Ausläufer nach gärtnerischer Er- fahrung erst im vierten Jahre blühen, wird man für die Keimpflanze eine Erstarkungsdauer von allerwenigstens 5 Jahren anzunehmen haben. Ist einmal die Blühreife erreicht, so blüht ent- weder das Individuum jedes Jahr, sei es den gan- zen Sommer hindurch (Rhamnus Frangula), sei es, was die Regel, zu bestimmtem Termin oder es folgen auf ein Jahr des Fruchtens ein oder mehrere Ruhejahre. ^) 2. Von den eingangs gestellten Fragen erheischt die erste eine Beschreibung der Einrichtungen, vermittels deren die verschiedenen soeben kurz charakterisierten Lebenstypen den Winter über- stehen. Dazu sind sie etwas umzugruppieren. Als erste erscheint eine Gruppe deren Ange- hörige ausschließlich als Samen überwintern, während die vegetativen Entwicklungsstadien völlig verschwinden. Hierher gehören die annuellen Sommerpfianzen und zahlreiche ephemere Arten, andere von diesen trotzen außerdem als ent- wickelte Pflanzen dem Winter. Bei der bekannten Widerstandsfähigkeit luft- trockener Samen, unter denen manche vorüber- gehend eine trockene Wärme von loo" C und mehr oder die Temperatur flüssiger Luft zu er- tragen vermögen, scheint damit die F"rage nach der Mechanik des Überwinterns dieser ersten Gruppe beantwortet. Näheres Zusehen ergibt jedoch, daß dem nicht so ist, sondern daß für kau- sale Betrachtung hier verschiedene Probleme zu lösen sind, worunter das in den letzten Jahren für die Holzgewächse eifrig umstrittene Problem der Ruhezustände. Schon die Vorgänge bei der Samenreife berühren es. Aus welchen Ursachen wird der Same bei Eintritt der Reife in allen seinen Teilen wasserarm , während er in vielen Fällen mit der turgeszenten Pflanze in organischer Verbindung steht und, wie sein Verhalten bei der Quellung zeigt, Wasser mit ziemlicher Kraft auf- nehmen kann f Dieses Problem wird besonders deutlich bei Polyanthen, da sie die Fruchtreife ') In dieser gedrängten Übersicht habe ich gewisse Schwie- rigkeiten, welche sich aus der Betrachtung der Sproßfolge und bei der Anwendung des Begriffes Individuum auf die höhere Pflanze ergeben, übergangen. Überleben. Aus diesen wähle ich darum ein Bei- spiel : die Rüster, welche früh im April blüht und im Mai bei vollem Laubschmuck ihre Samen ent- läßt. Man mag sich ferner der Beerenfrüchte er- innern , bei welchen inmitten des wasserreichen Fleisches der trockene Same entsteht. Der losgelöste Samen ist, wie erwähnt, in sehr vielen Fällen in der ersten Zeit keimungsunfähig, ohne daß der tiefere Grund dafür wie für das automatische Aufhören der Ruheperiode bestimmt angegeben werden kann. Das einzige, was hier mit Sicherheit bekannt ist, sind einige Mittel, die Ruheperiode aufzuheben oder richtiger abzukürzen. (Gewisse Anästhetika, Isolieren des Keimlings (Wundreiz?), Austrocknen bei Gerste, in anderen Fällen die Ruhe vertiefend, und Abkühlung (Frost)). Schließlich beschränkt sich die Resistenz der Samen im allgemeinen auf den lufttrockenen Zu- stand, mit der Wasseraufnahme pflegt sie zu ver- schwinden. Die Mehrzahl der in der Natur über- winternden Samen dürfte jedoch gequollen im oder auf dem Boden lagern. Zwei kurze Tabellen ^) mögen das Gesagte illustrieren. Sie enthalten zum Teil polyanthe Pflanzen, denn auch bei diesen müssen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle neben vege- tativen Stadien Samen den Winter überdauern, wenn anders die Art nicht früher oder später ver- schwinden soll. (Tabellen siehe Seite 55.) Die erste Tabelle lehrt, daß unter den ver- änderlichen Bedingungen der natürlichen Außen- welt Samenkeimung stattfindet, wo diese unter gleichmäßigen, nach unseren Begriffen günstigen, künstlichen Bedingungen jahrelang gänzlich unter- bleibt. Wurde nach 9 Jahren die künstliche Be- handlung aufgegeben und durch eine naturgemäße ersetzt, so keimte selbst nach dieser langen Frist ein erheblicher Prozentsatz des Saatgutes anzeigend, daß ein großer Teil der Individuen am Leben geblieben war und wirklich nur „geruht" hatte. Aus der zweiten Tabelle folgt, daß — aus bis heute unbekannten Ursachen — unter natürlichen Existenzbedingungen bei vielen Arten nicht alle Samen gleich im ersten Jahre aufgehen, sondern daß die Keimung sich jahrelang hinzieht. Ob das beobachtete Verhalten von Cynoglossum, die ersten Keimlinge im vierten Jahre, für diese Pflanze die Regel und ob es vielleicht sogar einem verbreiteteren Typ entspricht, wäre zu untersuchen. Die zweite Gruppe bilden Gewächse, bei welchen neben Samen vegetative Entwick- lungsstadien überwintern und, sofern die Pflanze nicht bereits im Keimungsjahre fruchtet, zur Erhaltung der Art überwintern müssen. Man kann hier in verschiedener Weise unter- teilen, etwa nach dein morphologischen Wert der überwinternden Organe, nach dem äußeren Ort ') Aus Dorph-Petersen, Jahresbericht d. Vereinigung für angewandte Botanik VIII (1910) 239. N. F. XIX. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 55 1. Wirkung der natürlichen (wechselnden) Außenbedingungen (Temperatur). Keimzahlen in Prozent der ausgelegten Samen: I. Jahr 2. 3- 4- 5- 6. 7- 8. 9. Jahr Summe : Galeopsis warmer Raum **) 2 O 0 o o o o o (34)* 2 (34)* Tetrahit natürliche Bedingungen 22 4 - 14 2 i8 i6 2 2 2 82 Primula w. R.** 0 0 0 0 0 o O O (46)* (46)* elatior nat. Bed. O lOO 100 Die Klammerwerte geben die Keimzahlen nach der Rückkehr zu natürlichen Bedingungen. ') 17—21» C. II. Verzögerung der Keimung unter natürlichen Existenzbedingungen. Keimzahlen in Prozent: I. Jahr 2. 3- 4- 5- 6. 7- 8. Jahrl Summe : Stellaria nemorum I 2 34 19 3 26 2 87 Sinapis arvensis 12 II 15 18 26 3 I 86 Cynoglossum officinale 0 0 0 0 52 10 13 7 82 des Überwinterns usw. Ohne mich in diesem Punkte auf Finessen einzulassen, unterscheide ich wie folgt: Ein erster Typ wäre dahin zu charakteri- sieren , daß oberirdische Teile überwin- tern, mögen sie verholzen oder krautig bleiben. Bei den Holzgewächsen sind die Anlagen für die Triebe des kommenden Jahres in den Knospen geborgen, die Nährstoffe in Zweigen, Ästen und im Stamm niedergelegt. Bei immer- grünen halten außerdem Blätter oder Nadeln aus, sie sind frosthart. Ihr gröberer und feinerer Bau zeigt ausnahmslos die für Schutz gegen starken Wasserverlust charakteristischen Eigentümlich- keiten. Das zeigt an, daß bei diesem Typus des Überwinterns, die lebenswichtigen Organe hoch über dem Erdboden an den Spitzen gestreckter Lichtsprosse, die Gefahr des Vertrocknens größer ist als die des Erfrierens. Demgemäß bewerte ich die Knospenhüllen und Ähnliches nicht als Kälteschutz, sondern als Mittel zum Herabsetzen der Transpiration. Wenn unverholzte oberirdische Teile perennieren, befinden sie sich in unmittelbarer Nähe des Bodens, so bei Rosettenstämmen oder Rasen bildenden Verbänden. Die annuellen Win- terpflanzen zeigen bei dem wenig vorgeschrittenen Entwicklungsstadium, in welchem sie in den Win- ter eintreten, die gleiche Eigentümlichkeit. Allmählicher Übergang führt weiter zu Ge- wächsen, deren oberirdische überwintern- den Teile, soweit sie für assimilatorische Tätig- keit im nächsten Sommer bestimmt sind, sich auf Knospen beschränken. Dabei mögen die Reservematerial führenden Teile über der Erde oder unter derselben lagern. Für ersteren Fall nenne ich die oberirdischen Zwiebeln von Andro- sace und Pinguicula-Arten. Weiterhin gelangt man immer Schritt für Schritt zu Pflanzen, die sich im Winter vollständig in den Schoß der E r d e zurückziehen und mit Zwiebeln, Knollen, Rhizomen und dergleichen aus- dauern. Auf der Grenze stehen Arten wie Lamium galeobdolon oder Adoxa moschatellina, deren kriechendem Stengelteil schon die Laubstreu des Waldes als Deckung genügt. Fehlt diese, so ver- laufen die Rhizome in den obersten Bodenschich- ten. Ebenso stehen die Endknospen senkrecht wachsender Rhizome (Convallaria majalis, Taraxa- cum officinale) dicht unter der Oberfläche. Andere Gewächse bevorzugen tiefere Lagen, die spezi- fisch verschieden und mehr oder weniger fest be- stimmt sind, wenn sie auch nach Bodenqualität und sonstigen Standortseigentümlichkeiten etwas wechseln. Es lassen sich Listen aufstellen, die entweder angeben, welche Pflanze in den ver- schiedenen Tiefenstufen anzutreffen sind oder die typische Tiefenzone der einzelnen Arten mit- teilen. Man findet z. B. die Rhizome von Paris qua- drifolia 2 — 5 cm unter der Erdoberfläche, Poly- gonatum multiflorum 4 — 7 cm. Arum maculatum 6 — 12 cm, die Knolle der Herbstzeitlosen (Colchi- cum autumnale) 10 — 16 cm und den Wurzel- stock von Asparagus officinalis erst in 20 — 40 cm Tiefe. Einige Besonderheiten dieser als Geophile be- 56 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 4 zeichneten ökologischen Pflanzengruppe seien mit- geteilt. Zum ersten, wie gelangen die unterirdischen Organe in die zusagende Tiefe? Keimt doch der Same auf oder unmittelbar unter der Oberfläche. Dieses Ziel wird auf verschiedenem Wege er- reicht, entweder wächst das aus dem Keimling hervorgehende unterirdische Glied selbständig ab- wärts oder es wird passiv hinabgezogen oder end- lich hinabgestoßen. Dabei kann es Jahre dauern bis die normale Tiefenzone erreicht wird. Der erste Typ ist bei vielen gestreckten Rhi- zomen verwirklicht, diese wachsen zuerst nicht horizontal sondern in einem Winkel nach unten, um erst nachdem sie in der zusagenden Tiefe an- gelangt, die Horizontallage einzunehmen (Poly- gonatum multiflorum). In ähnlicher Weise be- wegt sich Colchicum autumnale. Hier wird bei zu oberflächlicher Lokalisation die junge Knolle nicht, wie das sonst der Fall ist, neben der alten entwickelt, sondern sie wird seitlich bleibend nach unten geschoben. Wie die einige Jahre persi- stierenden Marken der Wurzelansätze erkennen lassen, sinkt auf diese Weise die Knolle in einem Jahre um i — i^ä cm und wird also im 15. — 20. Jahre oder noch später nach der Keimung die endgültige Tiefenstufe erreicht haben. Verpflanzt man ältere Knollen in höhere Lage, so streben sie in gleicher Weise nach abwärts, vielleicht mit etwas kleineren Schritten, was eine geringere Plastizität der älteren Pflanze anzeigte. Bei Arum maculatum verursachen nahe der, Rhizomspitze angeheftete Zugwurzeln das Ab steigen. Diese Zugwurzeln sind kräftige Wurzeln,' deren oberer Teil nachträglich, nachdem die Spitze im Boden den nötigen Halt gefunden hat, sich energisch (zuweilen um 50 '% und mehr) verkürzt. Das Rhizom von Arum kann auf diese Weise passiv im Jahre um 2 cm hinabgezogen werden. Zwiebeln dringen in vielen Fällen auf dieselbe Weise in den Boden. Einzigartig ist der Versenkungsmechanismus von Oxalis rubella, den Hildebrand beschrieben hat. An dem Keimling dieser Pflanze wird die Zwiebel in ihren ersten Anfängen oberirdisch in der Achsel der Kotyledonen angelegt, und erst im Verlauf der weiteren Entwicklung durch basale Streckung des Blattstieles innerhalb der Wurzel, deren inneren Gewebestrang vor sich herdrückend, nach abwärts geschoben, wobei die Basis der Kotyledonen, die zu einer oben und unten verengerten Scheide an- schwillt, das durch eine tonnenförmige Anschwel- lung des Stieles ausgefüllte Widerlager bietet. Schließlich gelangt die Zwiebelanlage in einen auf- geblasenen als Wasserspeicher bezeichneten Teil der Wurzel, erschöpft diesen und entwickelt sich in die- sem zur Zwiebel, die zuletzt diese Hülle sprengt.^) ') Bei Orchideen mil „gcslielter" ErneuerungsknoUe könnte außergewöhnliche Verlängerung des Stieles ein liinabstoßen bewirken. Nach Zciclinungen von Irmisch möclite ich glauben, daß dies bei jungen Pflanzen (Orchis militaris) tat- sachlich vorkommt. Man könnte diese Erscheinung vielleicht mit noch besserem Recht an den Fall von Colchicum anreihen. Ist die normale Tiefe erreicht, so treten diese Mechanismen bei horizontal wachsenden Rhizomen außer Funktion oder werden doch nur bei außer- gewöhnlichen Störungen wieder wirksam. Bei vertikal orientierten Wurzelstöcken, Taraxacum officinale, hebt der jährliche Zuwachs, so gering er bei dem Rosettenstamm sein mag, die End- knospe langsam empor. Dies wird von der Pflanze dadurch rückgängig gemacht, daß der Zug nach unten jedes Jahr aufs neue betätigt wird und die Zuwachsbewegung eben kompensiert. Auf diese Weise wird es erreicht, daß das obere Ende des Sprosses in situ bleibt, während das untere immer tiefer in den Boden sich einbohrt. Convallaria majalis entbehrt dieses Ausgleiches, so kommt es, daß bei ihr die Endknospe schließlich über dem Boden erscheint und früher oder später zugrunde geht. Seitliche unter der Erde kriechende Aus- läufer sorgen hier für Ersatz. Zuweilen wird unter natürlichen Bedingungen eine Aufwärtsbewegung der unterirdischen Organe von nöten sein, z. B. wenn die Tätigkeit von Würmern die überlagernde Bodenschicht ver- größert hat. Das Aufsteigen geschieht durch Rhizomkrümmung, durch Anlegen der neuen Uber- winterungsorgane in höherer Lage und Ähnliches. Aus dem Gesagten folgt, daß die Pflanze die Tiefenlage in irgendeiner Weise perzipieren muß. Ohne allgemein durchzudringen, wurde die An- sicht geäußert, daß diese Perzeption nur dann eintrete, wenn ein emporwachsender Sproß zur Oberfläche gelangt sei, dieser perzipiere und über- mittle den Reiz dem Rhizom. Dieser Gedanke, der im einzelnen verschieden ausgestaltet wurde, hat gewisse experimentelle Stützen erhalten, wäh- rend alle sonstigen Vermutungen bis heute einer solchen durchaus ermangeln. Es entwickelt sich bei vielen Geophilen der zum Leben und Funktionieren an der Luft be- stimmte Sproß oder die Blätter in dem Boden, sie müssen zuerst diesen, zuweilen auf eine längere Strecke, durchdringen ehe sie an die Oberfläche gelangen. Dabei wird auf verschiedene Weise für den Schutz der zarteren Teile gesorgt. Oft bilden die Blätter des Vorjahres oder deren Reste eine Scheide, in deren Innerem der neue Trieb empor wächst. In anderen Fällen ist der Blattstiel unterhalb des Ansatzes der häufig schon im Boden weit entwickelten Blättern im Bogen um 180" gekrümmt, so daß er es ist, der mit seiner Konvexseite, die Durchbruchsarbeit be- sorgt, während die zarteren Teile zusammengefaltet und mit nach oben gerichteter Basis nachgezogen werden (Anemone nemorosa). Bei Podophyllum emodi sind die Blätter wie der Bezug eines geschlosse- nen mit dem Griff abwärts getragenen Regen- schirmes um den Stiel zurückgeschlagen und der Stiel drängt mit einer noch später erkennbaren flach warzenförmigen Verdickung die Bodenteilchen aus- einander. Ist eine Blütenknospe vorhanden, so geht diese bereits im Boden den Blättern voran. Sie hat die Form einer gestauchten Lanzenspitze, N. F. XIX. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 57 die mit ihren Rändern knorpelig verwachsenen Kelcliblätter sind es, die in diesem Falle den Bodenwiderstand überwinden. Einem abweichen- den Typus gehört der Artgenosse der genannten Pflanze Podophyllum peltatum an. Hier bleibt der Trieb, solange er im Boden verweilt, umhüllt von einer Scheide spitziger Niederblätter, außer- dem steht die Blütenknospe tiefer als die Ansatz- stellen der Laubblätter, so daß diese einen zweiten schützenden Mantel um sie bilden. Ein andermal behüten dachziegelig angeordnete Laubblätter oder Niederblätter die Blütenknospe usw. Das führt schließlich zu den biologisch weniger interessanten Fällen, in welchen eine unentwickelte Knospe em- porgetragen wird, um sich erst nach Erreichen der Oberfläche zu entfalten. Keine der beschriebenen Einrichtungen gewährt Sicherheit dafür, daß die lebenswichtigen Organe der überwinternden Pflanzen jedem Frost entzogen bleiben. Die Vegetationspunkte im Inneren der Baumknospen sind zwar von mehreren Lagen schlechter Wärmeleiter umgeben, doch ist nicht zu bezweifeln, daß einigermaßen andauernder Frost ins Herz der Knospe dringt. Die Isolierung wird dies nur verzögern und die Temperaturübergänge mildern. Ebenso wirkt die Anlehnung an den Boden, sofern die Pflanzen von einer Schneedecke eingehüllt werden. Doch geht alsdann der Schutz weiter, da Schneebedeckung extreme Kältegrade selbst bei längerem Andauern fernhält. Fehlt die Schneedecke, so ist unter Umständen die Tempe- ratur-Amplitude in der Nähe des Bodens, welcher untertags die Einstrahlung auffängt und des Nachts der Ausstrahlung unterliegt, größer als in einigem Abstände von ihm, weil die Temperierung der Luft in den hier in Betracht kommenden Höhen in der Hauptsache durch die Vermittlung des Bodens erfolgt. Wie eine niemals ausbleibende Schneedecke und vollkommener als eine solche wirkt die Über- winterungsorgane überlagernde Erde. In größeren Tiefen kriechende Rhizome mögen durch sie tat- sächlich jahrelang von Frost gänzlich verschont bleiben. Ob es in Deutschland Arten gibt, deren Zwiebeln oder Rhizome ihm immer entgehen und, wenn er sie trifl't, ihm erliegen, will ich nicht untersuchen, weil sich gezeigt hat, daß der Gefrier- punkt des Wassers für das Erfrieren der Pflanzen nicht die grundsätzliche Bedeutung zukommt, die ihm in Laienkreisen vielfach beigelegt wird. Es gibt Gewächse, die bereits bei Temperaturen ober- halb von o'^ ,,erfiieren", und es gibt solche, die Eisbildung in ihren Geweben ertragen. Jede Art besitzt ein spezifisches Minimum, unter das sie nicht ungestraft abgekühlt werden darf Obgleich der Grund für diese ungleiche Empfindlichkeit unbekannt ist, wird nunmehr der Vorteil erkenn- bar, den Einrichtungen bieten, die ohne die Pflanze dem P'rost durchaus zu entziehen, diese vor ex- tremen Kältegraden schützen. In vielen Fällen werden die überwinternden Organe einer Pflanze resistenter sein als sommer- liche Entwicklungsstadien. Auch hier ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wahrscheinlich hängt die größere Widerstandsfähigkeit oft mit Verringerung des Wassergehaltes zusammen. Tat- sächlich fand Askenasy bei den Knospen der Süßkirsche ein Wassergehaltsminimum im Winter. Doch muß bei derartigen Bestimmungen viel die Genauigkeit beeinträchtigender Ballast mit in Kauf genommen werden und das wirkliche Verhalten des Vegetationspunktes und der entwicklungs- fähigen Anlagen bleibt zweifelhaft. Daher muß darauf verzichtet werden, das Cambium (Bildungs- gewebe) der Baumstämme in dieser Hinsicht zu untersuchen. Die toten Elemente überwiegen in diesen Stämmen in einer Weise, daß sie das Durchschnittsresultat, das allein gemessen werden kann, bestimmen. 3- Was die Ausnutzung der günstigen Jahreszeit anbelangt, so verfahren wohl die Pflanzen am ökonomischsten, welchen eine ausgesprochene, aus inneren Gründen vorgeschriebene Ruheperiode gänzlich fehlt. Niedere Temperatur unterbricht ihre Entwicklung, die bei Eintritt besserer Witte- rung auf dem gleichen Punkte, auf dem sie zum Stillstand gekommen war, wieder aufgenommen wird. So können selbst mitten im Winter ein- tretende wärmere Perioden ausgenutzt werden, wie das allbekannte Beispiel von Bellis perennis zeigt. Es erfordert dieser Typ Kälteresistenz sämtlicher Organe auf jedem Entwicklungsstadium. Diese reicht bei Bellis perennis in der Gegend von Petersburg nicht mehr aus und die Pflanze wird dort, ähnlich wie gewisse tropische Ge- wächse bei uns (Ricinus, Maurandia), in Wider- spruch zu ihrem Namen einjährig. Andere sind zäher und nach Kj eilmann findet man gerade im hohen Norden diesen Typus, welcher der kurzen Dauer des Sommers in jenen Breiten gut entspricht, häufiger. Als besonders auffallendes Beispiel beschreibt Kj ellmann Cochlearia fenes- trata, die in voller Blüte mit Knospen und Früch- ten aller Reifegrade überwinterte. Vielleicht wäre es logisch die annuellen Winter- pflanzen hierher zu stellen, wenn diese auch nur in einem bestimmten Entwicklungsstadium den Winter überstehen. Denn eine ausgesprochene winterliche Ruheperiode fehlt ihnen. Der Weizen zum Beispiel wächst nach Grisebach solange die Temperatur 6° C nicht unterschreitet, geschieht dies, so tritt Kältestarre ein. In Sizilien, wo dieses Minimum nicht erreicht wird, reift diese Frucht daher bereits im Mai. An Stelle der Ruhe im Winter tritt also hier eine solche im Sommer, eine Tatsache, auf welche ich noch zurückkommen werde, insofern als sie Rückschlüsse auf die Heimat einer Pflanze zuläßt. In den übrigen Fällen wirft die schlechte Jahres- zeit ihre Schatten voraus, die Ausnutzung der guten beeinträchtigend. Denn es müssen im Som- mer unter Aufwand von Material und Verlust von 58 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 4 Zeit Überwinterungsorgane angelegt und ausge- bildet werden. Das gilt schon für die Gewächse, die, verholzt oder nicht, ihr Laub im Winter be- halten, indes ihr Wachstum, lange ehe niedere Temperatur dazu zwingt, einstellen und die Triebe für das nächste Jahr in Ruheknospen einschließen. Wie zeitig im Sommer dieser Wachstumsstillstand erfolgt, zeigt das Beispiel der Kiefer, die in der Gegend von Gießen Anfang August den Knospen- schluß vollendet hat. Mehr Zeit verlieren die sommergrünen Hölzer, die sich erst im Laufe des Mai belauben und Ende Oktober wiederum kahl stehen, also vor und nach diesen Terminen nicht einmal assimilieren. Das Streckungswachstum währt bei ihnen weit kürzer, so bei der Buche nicht mehr als einen und einen halben Monat oft weniger. Die Knospen für den nächstjährigen Trieb hingegen gelangen in der Zeit von Mai bis Oktober zur Ausbildung. Wenn nun hier eine ziemlich weit entwickelte Knospe, die überdies günstig situiert ist und der reichlich Nährmaterial zur Verfügung steht, den Eintritt der guten Jahreszeit erwartet, so fehlen beide Vorzüge der annuellen Sommerpflanze. Im Samen, ihrem einzigen Überwinterungsorgan, ist ein verhältnismäßig einfacher Keimling vorhanden, der zuerst Wurzel fassen muß, der, wenn er sein geringes mütterliches Nährmaterial verzehrt hat, sich selber die Stoffe zum Körperaufbau erarbeiten muß und sich dabei vom Boden zu erheben hat. Es ist daher nicht verwunderlich, daß auf diese Weise vegetierende Pflanzen in Gegenden mit kurzem Sommer — hoher Norden, Hochgebirge — , fehlen oder sich auf einzelne kümmerliche Ver- treter beschränken. Berücksichtigt man allein den Frühling, so scheinen viele Geophile unübertrefflich. Lange bevor der Buchenwald sein Laub entfaltet, er- grünen und blühen die Geophilen seiner Boden- flora. Sie haben zum Teil bereits im Spätsommer ihre unterirdischen Knospen geöffnet, ihre Triebe bis nahe an die Oberfläche emporgestreckt und sowie die Sonne mit wärmeren Strahlen den Boden trifft, erfolgt der letzte Durchbruch und die fast fertigen Laubblätter sowie Blüten sind in kürzester Zeit entfaltet. Gagea lutea ebenso Leucojum vernum treiben im September Wurzeln, der Sproß verläßt die Knospe und gelangt während des Winters langsam zur Oberfläche. Auch Anemone nemorosa überwintert durchaus nicht, wie von vielen angenommen wird, mit geschlossener Knospe am Rhizom, vielmehr sind Blätter und blühreife Triebe weit aus dieser herausgetreten und warten in diesem Zustand wärmere Tage ab, um die oberste Bodenschicht zu durchstoßen. Verfolgt man das Schicksal der geophilen Früh- jahrspflanzen im Sommer, so sieht man, daß die oberirdischen Teile vieler derselben zeitig (Ane- mone, Eranthis im Juni, Ficaria verna schon im Mai) absterben. Gleichzeitig treten die unterirdi- schen Teile in eine Periode des Stillstatides, die bis zum Herbste dauert. Wo diese sommerliche Ruheperiode vorkommt, bewirkt sie, daß die Aus- nutzung der guten Jahreszeit ungeachtet der frühen Entwicklung eine unvollkommene bleibt. Da all diese verschiedenen Typen sowohl der individuellen Lebensdauer wie der Vegetations- weise und des Überwinlerns bei uns fortkommen, müssen sie unserem Klima „angepaßt" sein. Die unterschiede können darum nicht durch dieses verursacht sein. Das gilt gleicherweise für andere Klimate, jedes enthält die verschiedenen Typen nebeneinander. Doch überwiegen, was die Arten- zahl anbelangt, in den Tropen verhältnismäßig die Bäume, in den Subtropen die Annuellen, wäh- rend nach den Polen hin an oder unmittelbar unter der Erde ausdauernde Stauden in den Vor- dergrund treten. Letztere sind es, die in hohen Gebirgslagen oder hohen Breiten schließlich allein übrig bleiben, die demnach die strengste Winter- kälte bei kürzester Vegetationszeit auszuhalten vermögen. Klimatische Faktoren sind nicht die einzigen, die auf die Pflanze wirken. Verschiedenheiten der örtlichen Bedingungen, der Konkurrenzkampf zwischen den Arten und manches andere greift in steter Wechselwirkung hier ein. Auch ist die Pflanze selbst in ihrer biologischen Eigenart nicht allein ein Produkt der Gegenwart, sondern sie hat ihre Geschichte, auch dafür liefern die Geo- philen ein lehrreiches Beispiel. Dieser Typ findet sich vorwiegend in Gegen- den mit ausgesprochener Trockenperiode, man hat ihn darum als Anpassung an derartige Kli- mate oder Örtlichkeiten angesehen. Doch ge- deihen in Deutschland, also einem Lande mit stärkeren Niederschlägen im Sommer als im Winter, nicht wenige Geophile mit ausgesprochener Sommerruhe, zu der sicherlich nicht Trockenheit zwingt. Man erklärte dies bis vor kurzem ziem- lich allgemein damit, daß die geschilderte Vege- tationsweise es den geophilen Frühlingspflanzen des Sommerwaldes ermögliche, die warmen der Laubentfaltung vorausgehenden Tage auszunutzen, später schwäche das Laubdach das Licht zu sehr, als daß Assimilation möglich sei. Dieser Gedanke, der auf den ersten Blick etwas Bestechendes hat, befriedigt nicht ganz, denn andere gleichfalls sehr zeitig auftretende Geophile der Bodenflora des Buchenwaldes wie Mercurialis perennis halten den ganzen Sommer mit ihren oberirdischen Organen aus. Di eis bat in der letzten Zeit eine neue Erklärung versucht. Er erblickt in den geophilen mit Ruheperiode im Sommer, mit erzwungenem Stillstand (Starre) im Winter, Fremdlinge, einge- wandert aus Gegenden mit warmem Winter und ausgesprochener Sommerdürre. Während andere wie Mercurialis perennis, deren Ruhezeit mit dem Klima in Harmonie stehe, einheimisch seien. So sei die Verschiedenheit aus historischen Gründen zu verstehen. N. F. XIX. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 59 Einige Literatur: 1. Areschoug, Beiträge zur Biologie der geophilen Pflanzen. Acta Universitatis Lundensis. XXXI. 1895. (Wichtig für die Mechanik des Durchbrechens der Sprosse der Geo- philen durch den Boden.) 2. Askenasy, Über die jährliche Periode der Knospen. Botanische Zeitung 35 (1877) S. 793. 3. Di eis, Verhältnis von Rhythmik und Verbreitung bei den Perennen des europäischen Sommerwaldes. Berichte der deutsch, botan. Gesellschaft XXXVl (1918) S. 337. 4. Grisebach, Die Vegetation der Erde. II. Aufl. (1884). 5. Hildebrand, Die Lebensdauer und Vegetations- weise der Pflanzen, ihre Ursachen und ihre Entwicklung. Bot. Jahrbücher f. Systematik usw. 2 (18S2) 51. (Diese Abhandlung bildet die Grundlage für den Teil 1 meines Aufsatzes.) 6. Derselbe, Über die Keimlinge von Oxalis rubella und deren Verwandten. Bot. Zeitung 46 (1S88) 193. 7. Irmisch, Zur Morphologie der raonokotylischen Knollen- und Zwiebelgewächse. Berlin 1850. 8. Derselbe, Beiträge zur Biologie und Morphologie der Orchideen. Leipzig 1853. 9. Kj eil mann. Aus dem Leben der Polarpflanzen. Studien und Forschungen im hohen Norden, herausgegeben von Nordenskiöld. Deutsche Ausgabe (1885) S. 443. 10. Kirchner, Loew und Schröter, Lebensgeschichte der Blütenpflanzen Mitteleuropas. 11. Massart, Comment les plantes vivaces maintiennent leur niveau Souterrain. (Bull. d. Jardin bot. de I'etat ä Bru- xelles. vol. I (igo2 — 05) S. 113. 12. Derselbe, Comment les plantes vivaces sortent de terre au primtemps. Ebenda S. 143. 13. Mez, Neue Untersuchungen üb. das Erfrieren eisbe- ständiger Pflanzen. Flora 94 (1905) S. 89. 14. Molisch, Untersuchungen über das Erfrieren der Pflanzen. Jena 1897. (Bei beiden die ältere Literatur über ,, Erfrieren".) 15. Raunkiär, Comment les plantes geophytes ä rhi- zomes apprecient la profondeur oii se trouvent places leurs rhizomes. Oversigt Danske Videnskab. Selskabs Forhand- linger 1904, 329. 16. Derselbe, Types biologiques pour la geographie botanique. Ebenda 1905, S. 347. 17. Derselbe, Statistik der Lebensformen. Beihefte Botan. Centralblatt. XXVII. II. Abt. (1910) S. 171. 18. Rimbach, Eine Reihe grundlegender Abhandlungen über Geophile in den Berichten d. deutsch, botan. Gesell- schaft 14—17 (1896—99). 19. Derselbe, Die kontraktilen Wuizeln und ihre Tätig- keit. Beiträge zur wiss. Botanik (Fünfstück) 2. (1897) S. I. 20. Derselbe, Das Tiefenwachstum der Rhizome. Ebenda 3 (1898) 178. 21. Warming, Om Jordudlobere.' Danske Vidensk. Selsk. Skrifter. Naturvidensk. og mathem. Afd. 8. Reihe II. 6. 1918. 297. Einzelberichte. Technik. Graphit als Schmiermittel. Ein kom- paktes Stück natürlichen Graphits hinterläßt beim Anfassen einen deutlich fettigen Eindruck, wovon man sich leicht überzeugt, wenn man die Spitze eines möglichst weichen, d. h. graphitreichen „Blei- stifts" zwischen den Fingern reibt. Man kam des- halb bald auf den Gedanken, ob Graphit sich nicht geradezu als Schmiermittel in der Technik verwenden lasse. Die ersten Versuche fielen günstig aus, und heute ist Graphit ein sehr viel verwendetes Schmiermittel, das entweder als sol- ches oder in Verbindung mit den üblichen Ma- schinenölen in Anwendung ist. Als Schmiermittel, frei von Zusätzen irgendwelcher Art, wurde Graphit beispielsweise überall da verwendet, wo die fetten, tropfenden Öle infolge ihrer spezifischen Eigen- schaften ein Verderben der in den Maschinen bearbeiteten Waren hervorrufen könnten. Dies ist der Fall in Kakao- und Schokoladefabriken. Öle zur Schmierung können auch dann nicht ver- wendet waren, wenn die betreffenden Maschinen bei sehr niedriger Temperatur laufen müssen, was in manchen Kältewerken der Fall ist. Die Lager- schmierung würde alsdann eindicken und schließ- lich fest werden, hätte also ihren Zweck ver- loren. In solchen Fällen ist Graphit natürlich wohl- verwendbar. Jedoch stehen seinem allgemeinen Gebrauch gewisse Bedenken gegenüber. Jede Schmierung soll reibungsvermindernd wirken. Be- sitzen zwei aufeinander gleitende Flächen nicht Hochglanzpolitur, sondern Unebenheiten, wenn auch noch so feiner Struktur, so ist reinster Graphit am Platze. Er verteilt sich in die Vertiefungen und schafft somit glatte Oberflächen. An sich aber ist, wenn solche glatten Flächen vorliegen, Graphit nicht so reibungsvermindernd wie gutes Öl, wie Untersuchungen des Materialprüfungsamtes zeigten. Und dieser Nachteil steigert sich unter Umständen bei vielen natürlichen Graphitsorten sogar zum Schaden. Diese enthalten unter dem Mi- kroskop leicht feststellbare Quarzkristalle, die natür- lich durchaus nicht reibungsvermindernd wirken, sondern die Flächen angreifen, schrammen und langsam verderben. Es hängt mithin sehr von der physikalischen Beschaffenheit des Graphits ab, ob seine Verwendung zur Schmierung angängig er- scheint. Die bloß oberflächliche Prüfung durch Reiben zwischen den Fingern wie sie z. B. in Taschenlampenbatteriefabriken üblich ist, wo es ebenfalls auf „fettigen" Graphit ankommt, genügt für die in Rede stehenden Zwecke nicht. Neben der Aufgabe, möglichst reinen Graphit herzustellen, steht das weitere Problem, den Graphit in eine Form zu bringen, die ihn leicht in Mineralschmier- ölen zu verteilen und mit ihnen gemeinsam zu verwenden erlaubt. Beiden Anforderungen genügte ein Graphit, den der Amerikaner E. G. Acheson 1907 herstellte. Er benutzte künstlichen, damit von vornherein sandfreien Graphit und brachte ihn in außerordentlich feiner Form zur Verteilung in Wasser. Die so erhaltene kolloidale Suspension wurde mit gewissen Stabilisatoren versetzt, die ein Absetzen des darin verteilten Graphits ver- hinderten. Der so erha'tene sogenannte „defloc- culated graphite" erwies sich als gutes Schmier- mittel. Da er leicht Wasser verlor, so wurde dieses durch Öl ersetzt und es ergab sich der be- kannte O i 1 d a g graphit, der den Verbrauch an Schmiermaterial auf die Hälfte herabsetzte und 6o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 4 eine weit geringere Reibung als nichtgraphitierte Öle besaß. Später gelang es Hans Karplus -Berlin, auch den natürlichen Graphit mittels starker Oxyda- tionsmittel, wie Kaliumpermanganat, Perchlorate, Chromate usw. zu peptisieren, d. h. in so feiner Form in Wasser oder Öl zu verteilen, daß Schmier- kanäle, Nuten usw. nicht verstopft wurden. \) Seine Präparate kommen durch die Chem. Fabrik „List" von E. d e Haen in Seelze in den Handel, die ölige Suspension unter dem Namen ,,Kollag". Beide Graphitschmieröle, Oildag sowohl wie Kol- lag, haben in der Industrie weitgehende Verwen- dung gefunden, mit überwiegend günstigen Ergeb- nissen.-) Für ihre Verwendung kommen verschiedene Faktoren in Betracht, von denen im folgenden kurz die Rede sei. Zunächst handelt es sich um die Bestimmung der in den Suspensionen ent- haltenen Graphit menge. Je größer diese, um so größer die Ersparnis an Schmiermaterial, ein Umstand, der während des Krieges und jetzt nicht minder wichtig ist. Die erste Methode zur Gra- phitbestimmung stammt von H. Freundlich.^) Er brachte den Graphit durch Eisessig zum Aus- flocken und konnte ihn filtrieren, das Öl wurde in Benzol gelöst und der auf dem Filter verbliebene Graphit gewogen. Besser weil rascher und genauer ist die Methode vpn D. Holde, die im Material- prüfungsamt verwendet wird.'') Da die Größe der Graphitteilchen ultramikroskopisch ist und größten- teils unter 500 jutt liegt, so sind die Präparate rein kolloide Lösungen. Solchen entzieht man be- kanntlich ihre Teilchen durch adsorbierende Stoffe, wie Ton (bei der Wasserreinigung), Tierkohle (zum Entfärben), Weinasbest usw. Die Holde- sche Methode verwendet Füll er erde, die sämt- liche Graphitteilchen adsorbiert und nach Lösen adsorbierten Öles sofort gewogen werden kann. Mit ihrer Hilfe wurde gefunden, daß Oildagprä- parate einen recht wechselnden Gehalt an Graphit besitzen, während Kollag einen sehr beständigen Gehalt von etwa 17 "/o Graphit aufweist. Von sehr großer Bedeutung für die Verwen- dung ist ferner die Haltbarkeit der Graphit- oleosole. Hierüber sind die einander wider- sprechendsten Urteile laut geworden. Im allge- meinen glaubt man, daß der Graphit wie alle Kolloide durch den gelegentlichen schwachen Säuregehalt der Öle ausgeflockt werde und sich also absetze. Ein Absetzen ist aber natürlich un- erwünscht, beeinträchtigt es doch die Sicherheit und Gleichmäßigkeit der Öizuführung in hohem Grade. Wie Holde feststellte,'') vermögen aber außer den meist ganz fehlenden Säuren auch ge- wisse dünnflüssige Öle, die zum Verdünnen des ') D. R.P. 292 729. '-) vgl. Elektrochetn. Ztg. 24, S. 75 und Chem.-Techn. Wochenschr. 1918, S. I. ') Chem. Ztg. 40, S. 358, 1916. '1 Zeitschr. f. Elektrochemie 23, S. 116, 191 7. ») a. a. O. S. 118. kolloidalen Graphits dienen, ein Ausflocken her- vorzurufen. Die genaueren Ursachen hierfür sind noch unbekannt. Jedenfalls prüft man die Halt- barkeit der Graphitsole so, daß man sie nicht un- verdünnt, sondern mit dem später zur Schmierung kommenden Öl vermengt in einem Zylinder stehen läßt. Bei durchsichtigen Ölen kann man dann ein etwaiges Aiisflocken ohne weiteres beobachten, bei dunklen Ölen müssen Proben aus verschiedenen Höhen entnommen und Graphitbestimmungen in der oben geschilderten Weise gemacht werden. Es hat sich nun gezeigt, daß im allgemeinen zwar keine Beziehungen zwischen der Haltbarkeit der Graphitsole und der Zähigkeit der Verdün- nungsöle bestehen. Sehr schwere Maschinenöle jedoch setzen dem Ausfiocken des Graphits er- heblichen Widerstand entgegen. Für die Praxis heißt das: wenn dünnflüssige Öle eine geringere Haltbarkeit der Graphitschmiermittel bedingen, so ist vorteilhaft schweres Öl anzuwenden. Die Haltbarkeit wird steigen und Verstopfungen er- scheinen verringert. In neuester Zeit hat Walter Ostwald ein Verfahren ausgearbeitet, das einmal die Aufnahme- fähigkeit von Schmierölen und deren Ersatz für Graphit erhöht, und das weiterhin die Haltbarkeit durch gewisse Zusätze heraufsetzt.^) Dem ersten Zweck dient ein Zusatz alkalischer Mittel, vor- zugsweise von Magnesiumhydroxyd Mg(OH),. Hier- durch werden die sauren Bestandteile insbesondere der Teerfettöle aus Braunkohle neutralisiert, die infolge ungenügender Raffination meist darin vor- handen sind. Eine größere Haltbarkeit wird durch Zusatz von organischen Basen, wie Pyridin, Anilin usw. erzielt, die die kolloidfällenden Eigenschaften der Ersatzschmieröle besonders wirksam unter- drücken.-) Tatsächlich sind nach diesen Angaben präparierte Graphitöle jahrelang unverändert halt- bar, sowohl in großer Verdünnung wie auch in Verbindung mit konsistenten Schmiermitteln. In dieser Form hat sich der Graphit zumal in der Automobilindustrie vorzüglich bewährt. Hans Heller. Mineralogie. Tridymitkristalle in Glas be- handelt ein Aufsatz von N. L. B o w e n in „The American Mineralogist, IV, 19 19, S. 65". Vor einiger Zeit beschrieb Le Chatelier (Bull. soc. franc. min. 39, 150, 1916) ein teilweise entglastes Glas, in dem er radialfaserige Aggregate von Tridymitkristallen feststellen konnte. Das Glas entstammte einer Glashütte in Baccarat, Frank- reich, die infolge einer vorübergehenden Besetzung durch deutsche Truppen ihre Tätigkeit unter- brechen mußte. Die P^uer in den Schmelzöfen wurden jedoch weiter unterhalten , so daß die Schmelzflüsse etwa bei einer Temperatur von 800" 20 Tage lang, solange dauerte die Be- setzung, gehalten wurden. In diesem Glasfluß fand man die erwähnten Tridymitkristalle. ') D. R.P. 312 376. «) D. R.P. 312 937- N. F. XIX. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 6i Da diese Erscheinung nicht allzu häufig zu beobachten ist, war es von Interesse, als der Verf. in der Sammlung des Prof. W. Nicol ein Glas- stück fand, das in ganz ähnlicher Weise diese Er- scheinung zeigte. Das Stück soll aus den Corning Glass Works stammen und zeigte sphärolithähnliche Kristallaggregate. Die optische Untersuchung des aus einem dieser Aggregate hergestellten Pulvers unter dem Mikroskop ergab, daß man es mit Tridymit zu tun hatte. Der Brechungsindex des Glases wurde zu 1,56 gefunden, er würde dem eines leichten Flintglases entsprechen. In der Erörterung der Erscheinung stellt Le Chat euer mit Recht fest, daß der Tridymit bei der beobachteten Temperatur von etwas über 800" etwa die stabile Form des SiOj ist. Wenn er jedoch weiter geht und schließt, daß Tridymit die stabile Modifikation der Kieselsäure bei allen Temperaturen über dem Stabilitätsbereich des Quarzes sei, so übersieht er, daß bei Tempera- turen über 1470" der Cristobalit die stabile Modi- fikation der SiO.j ist. In einem gewöhnlichen, technischen Glase kann sich jedoch Cristobalit nicht ausscheiden, da sich diese bei der Tempe- ratur von über 1470'' wohl alle in einem Zustand befinden, in dem sich Kristalle irgendwelcher Art nicht ausscheiden können. Als metastabile Phase erscheint Cristobalit nicht selten in gewöhnlichen Gläsern auch bei niedrigeren Temperaturen, doch wandelt er sich in Tridymit um, falls das Glas längere Zeit bei dieser Temperatur gehalten wird. In Spezialgläsern, in denen die Ausscheidung von Kieselsäure bei Temperaturen über 1470" mög- lich ist, tritt immer Cristobalit bei diesen Tem- peraturen auf und ist unter diesen Bedingungen unbegrenzt haltbar. Dieser Umstand zeigt, daß Tridymit nur in dem Temperaturbereich von 870 — 1470" die beständige Modifikation ist, bei Temperaturen über 1470" aber der Cristobalit. F. H. Zoologie. Massenhaftes Auftreten des Buchen- spinners. In den Jahren 1915 und 1916 beobach- tete Dr. Anton Krausse bei Eberswalde ver- einzelt einige Imagines des Buchenspinners {Dasychira piidipunda L.), im Juli 191 5 fanden sich an einigen Stellen eine große Anzahl Falter, wenn auch nicht in einem solchen Maße, daß Krausse auf einen Kohlfraß hätte schließen müssen, wie ein solcher tatsächlich im Herbst in großer Ausdehnung eintrat (Zeitschrift f. Forst- u. Jagdwesen 51. Jahrg. 1919 S. 265 — 72). In erstaunlichen Massen waren die Raupen plötzlich vorhanden ; wie bei Eberswalde wurde ein Massen- auftreten des Buchenspinners auch aus der Ober- försterei Menz (Reg. - Bez. Potsdam) sowie von Freienwalde und von Rügen gemeldet. Daß der Rotschwanz auch andernorts in Deutschland im Jahre 1917 stark aufgetreten ist, darauf deuten zahlreiche einzelne Mitteilungen hin. Die Ursache des plötzlichen Anschwellens des Schädlings konnte nicht erkannt werden , jedoch , meint Krausse, könne für den Eberswalder Fall ein Einwandern nicht in Frage kommen. Daß ein gewisses Vorrücken der autochthonen Raupen in- des vorkommt, soll damit nicht geleugnet werden. Krausse beweist diese Behauptung mit der Be- obachtung, daß die Raupen allmählich bis in das Stadtinnere eindrangen. Farbenabtönungen der Raupen waren sehr zahlreich, besonders häufig waren die schwarzen Raupen. Die Raupen waren alle polyederkrank, gingen daran auch in den Zuchten Krausses alle ohne Ausnahme zugrunde. Die Raupen „wipfeln", d. h. sie streben nach den höchsten Ästen in den Bäumen. Besonders gegen Ende des F~raßes waren die Buchen- und Hain- buchenäste mit Raupenklumpen bedeckt. In den befallenen Buchenwäldern hörte man fortwährend Kot und Raupen von den Bäumen herabfallen. Massenhaft war der Boden weithin bedeckt mit charakteristischen Blattfragmenten, die von den Raupen ausgeschnitten waren. An manchen Stellen, wo die Raupen in besonders großer An- zahl vorhanden waren , waren auch diese am Boden liegenden Blattfragmente noch aufgefressen, ein Zeichen für die große Gefräßigkeit der Raupen. Massenhaft stiegen die Raupen auch auf Kiefern, ließen sich aber sofort wieder herabfallen, Kiefern- nadeln verschmähten sie stets. Die Nahrung wird recht schlecht ausgenützt, in den Exkrementen fanden sich ziemlich große Gewebeteile unverdaut. Eine interessante biologische Beobachtung machte Krausse: er fand quer über einen Weg von etwa 3 m Breite von einem Baume zum andern eine Raupenstraße, nach Art der bekannten Ameisenstraßen, auf ihr fluteten die Raupen nach beiden Richtungen in dichten Massen ständig in einer Breite von 20 mm hin und her, auch an den Bäumen kletterten die Raupen dicht gedrängt auf und ab. Die Rotschwanzraupen sind ob ihrer kurzen Haare, die einen Ausschlag verursachen sollen, gefürchtet. Krausse selbst blieb, wie er erwähnt, obwohl er sich Raupen auf Hand und Arm zerrieb, vollkommen unbelästigt. In der Oberförsterei Neureifen (bei Menz) dagegen mußte dieser Beschädigungen wegen die Arbeit in meh- reren befallenen Distrikten eingestellt werden. An natürlichen Feinden des Buchenspinners traf K r a u s s e den Puppenräuber Calosoma sycophanta L. und neben einigen kleineren Cara- biden noch Carabiis glabratus an. Vögel, die der Rotschwanzraupe nachgestellt hätten, fand Krausse nicht. H. W. Frickhinger. Über ein Massenauftreten der Schmeißfliege ( Calliphora vomitoria L.) berichtet Prof A 1 b r e c h t Hase in der Ztschr. f. angewandte Entomologie (Bd. V, S. 258 — 260). In einem Zimmer einer Baracke in Wilna fand Hase eine solche Un- menge von Zweiflüglern, daß sie das einzige vor- handene F"enster fast verdeckten. Hase betäubte die Fliegen mit Cyanwasserstoff und bestimmte 62 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 4 dann die abgesammelten Exemplare, wobei sich ergab, daß die überwiegende Mehrzahl über 2000 Exemplare Schmeißfliegen der Spezies Cal- liphora voiiiiforia L. waren, daneben fanden sich noch etwa 500 Individuen, der Gattung Oiicsia angehörig, wenige Stubenfliegen, Alttsca domestica (20 Stück) und i Wadenstecher {Stomoxys calcitrans) und einige wenige Exem- plare verschiedener anderer Fliegenarten. Da der Raum völlig abgeschlossen war, auch den Fliegen durchaus keine günstigen Ernährungsbedingungen bot (der Raum war völlig leer und gereinigt) ist eine Zuwanderung dieser stattlichen Zweiflügler- mengen nicht anzunehmen; es bleibt also nur die andere Möglichkeit, daß die Tiere an Ort und Stelle erbrütet worden sind, und da kein Abflug ins Freie ihnen mehr offen stand, mußte es eben zu dieser seltenen Massenansammlung kommen. Da in den Raum vorher Kartoffeln gelegt worden waren, ist wohl anzunehmen, daß in den Kartoffelmengen die Stammeltern des Fliegen- schwarmes, wie ihn Hase schildert, ihre Ent- wicklung durchgemacht haben. H. W. Frickhinger. Geologie. „Über die Entstehung der Insel- berge und Steilstufen, besonders in Afrika, und die Erhaltung ihrer Formen" verbreitete sich Fr. Behrend in den Monatsberichten d. deutsch. Geol. Gesellsch. 70. Bd. Inselberge sind aus den entlegensten Teilen der Erde bekannt geworden. Sie treten allein oder zu hunderten und tausenden auf. Am mei- sten sind sie in den Tropen und Subtropen zu Hause, wo subarides, sogar arides Klima zur Er- haltung ihrer Formen beiträgt. Viele Forscher haben versucht, dem Inselberg- problem nahezukommen. Behrend lehnt es ab, wie Passarge regional verbreitete Typen aus- zusondern. Benachbarte Berge können vollständig verschiedener Entstehung sein. Selbst ein und derselbe Berg kann gleichzeitig oder nacheinander verschiedene Kräfte an sich wirken sehen. Oft zeigen sich Inselberge in der Nähe von Steilrändern der Hochländer, von denen sie einst ein Teil waren. Erosion und tektonische Ur- sachen haben wohl bestimmend auf ihre erste Anlage gewirkt. Dabei kommt es auf eine „un- gleichmäßige Verteilung der erodierenden Kräfte" an. Als erste herauspräparierten Teile kommen wohl Härtlinge in Frage. Gesteinsklüftung, Störungen sind Angriffsflächen der Verwitterung. Stehengebliebene oder emporgequetschte Horste können zu Inselbergen werden. Mechanische und chemische Verwitterung tun ihren Teil längs der Klüfte. Die Abschuppung von Eruptivgesteinen und metamorphosierten Sedimenten wirkt form- erhaltend. Diese Wandverwitterung findet sich vorzugs- weise in Gebieten mit Gesteinen, die senkrechte Klüftung zeigen, wie es bei den afrikanischen Hochländern der Fall ist. In der Nähe des Hoch- landes haben die Inselberge noch dieselben steil- wandigen Hänge wie das Hauptplateau. Je weiter die Inselberge entfernt liegen, desto spitzkonischeres Aussehen bekommen diese Inselberge. Die Sand- steintafeln der Kundelungu- und Lubilasch- Schich- ten im Kongobecken und die Sandsteine von Tan- ganjika in Deutsch - Ostafrika zeigen dies sehr deutlich. Hier geschah die Abschnürung überall durch ungleichmäßige Verteilung von Erosion. Nicht so steilwandige Inselberge entstehen aus Hochländern, die Eruptivgesteine aufbauen. Die Ränder sind zerrissen. Erst landeinwärts tritt an der Hochfläche der Inselbergcharakter wieder auf. Letzte Bedingung zur Erzeugung dieser Formen ist ein arides oder subarides Steppenklima. Die Wassermassen der Regenzeiten tragen den Schutt an den Steilhängen fort, weit hinaus in die Ebene. Dabei können in Bildung begriffene Inselberge zu „umschütteten Bergen" werden. Wie lange schon des subaride Klima in Afrika vorhanden sein muß, das erhellt aus der Tatsache, daß die einst von Kreideschichten verhüllte Insel- berge des südlichen Küstenlandes von Deutsch- Ostafrika jetzt durch die Erosion wieder freigelegt werden. Wie an den Rändern der Inselberge in ver- stärktem Maßstabe Erosion und Verwitterung wirken, so tun sie es im kleinen an den Steil- rändern der Hochflächen. Die Steilränder wandern so ununterbrochen landeinwärts. Sie lassen oft nur die Inselberge als einzige Reste zurück. In flachliegenden Sedimenten schneidet sehr oft ein Fluß ein tiefes Bett ein, das oft nicht nur durch die Sedimente, sondern sogar noch in die kristallinen Schichten hinein geht. Das Klima er- laubt eine gute Wandverwitterung, so daß im Laufe der Zeit die Wände immer mehr vom Fluß- bett zurücktreten. Der Verwitterungsschutt wird fortgespült und man kommt leicht zu der An- schauung, als hätten Pluvialzeit oder tektonische Kräfte solche breiten Täler veranlaßt. Wenn ge- störte und gefaltete Sedimente, Eruptivgesteine scharf ausgeprägte Kluftsysteme aufweisen, kann es auch in diesen Gebieten zu ähnlichen Er- scheinungen kommen. Der „Upemba-Graben" scheint ein solches mächtiges Erosionstal zu sein. Steilstufen können auch an der Küste durch Erosionswirkungen des Meeres entstehen. Süd- afrika liefert hierzu typische Beispiele (Ostseite des Drakensberges). Tektonische Bewegungen können die Ent- stehung von Steilstufen einleiten, wie es bei großen Brüchen Ostafrikas der Fall zu sein scheint. NyassaGraben, Shire- und Urema-Graben sind von verschiedenen Forschern als tektonische Er- scheinungen, erkannt worden. Am Tanganjika- Graben hat Behrend Staffel brüche festgestellt. Aber weitaus die meisten Steilstufen und Gräben und Bruchstufen im Sinne von Obst und Has sert, ein Teil der Brüche von Ugogo, sind Erosionsge- bilde. Rudolf Hundt. N. F. XIX. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 63 Eine zusammenfassende Geologie der Kurischen Nehrung gibt HeßvonWichdorff in den Ab- handlungen der Preuß. geol. Landesanstalt, Neue Folge, Heft TT, 19 19. Die Forschungen des Verf. haben ergeben, daß die Anschauungen von E. Berendt nicht mehr zu halten sind, wonach die Entstehung der Kuri- schen Nehrung von zwei Hebungen und zwei Senkungen abhängig gemacht wird. Die neuen, gründlichen Untersuchungen Heß von Wich- dorf fs haben ergeben, daß ohne jede Hebung und Senkung, selbst unter den noch heute vor- handenen Wasserstandsbedingungen sich die Kuri- sche Nehrung bildete. In altalluvialer Zeit fand ein Einbruch der Ost- see statt. Zwischen der samländischen Steilküste und dem Memeler Höhenzug wurde der niedrig gelegene Geschiebemergelstrand überschwemmt. Die so entstandene Meeresbucht wurde im Osten begrenzt von Memel, Frökuls, Saugen, Heydekrug, Swaren, Rucken, Pogegen, Ragnit, Tilsit, im Süden von Tilsit, Schillgallen, Puskeppeln, Wilhelmsbruch, Mehlauken, Labiau, Steinort, Stombeck, Bledau, Kranz. Im Memeldelta wies diese Meeresbucht stellenweise eine Tiefe von 24 m auf. Im heutigen kurischen Haff verraten Tiefbohrungen bei Nidden, Perwalk, Schwarzort, Pillkoppen sogar eine Tiefe von 36,5 m. Die tieferen Erosionsstellen füllten sich mit kiesigen bis grobkörnigen Seesanden, sogar mit groben Ostseekiesen und größeren Strandgeröllen mit einer Ostsee-Muschelfauna, die Cardium edule, Tellina aufweist. Die ins Haff mündenden Flüsse machten durch die mitgebrachten Sinkstoffe die Meeresbucht immer flacher. Mächtige Süßwasserablagerungen (Haffsande und Hafifmergel), Faulschlammschichten mit Süßwasserschnecken und Süßwassermuscheln wechseln mit schwächeren Seesandablagerungen. Die Kranzer Ecke nach Sarkau zu, den Me- meler Höhenzug zwischen Holländer Mütze und Memel, die Geschiebemergelinsel von Kunzen- Rossitten ließen entlang der Uferströmungsrichtung langgezogene Sandablagerungen entstehen. So- wohl die Seesande der Ostsee als auch die Sand- und Schlickmassen, welche von den einmünden- den Flüssen mitgebracht wurden, setzten sich dort ab, wo sich ihre Wellen entlang der früheren alten Küste, der heutigen Nehrung trafen. An der alten_ Festlandsküste brachen sich auch die stärkeren Ostseewellen und entlang der alten Küste setzten sich unterirdische Küsten- und Strandwälle ab. Durch diese drei Ursachen: Brechen der Sturmwogen an der alten Festlands- küste, die Uferrandströmung, die Wechselwirkungen der Strömung der See und der einmündenden Flüsse entstand mit der Zeit der Unterbau der Kurischen Nehrung. Nur 3 — 16 m Seesand waren nötig, um den Unterbau der Nehrung bis zum Wasserspiegel zu erhöhen. Als das geschehen war, die Ostsee nach und nach anläßlich großer Stürme Küsten- und Strandwälle aufschüttete, die durch flächenhafte Ausbreitung des lockeren und trockenen Seesandes als Flugsand benutzt wurden, um eine Flugsand- ebene zu schaffen, die durch allmähliche Er- höhung zur heutigen Nehrungsplatte wurde, da kam es schließlich zur Herausbildung einzelner Sandberge und Dünenkuppen. Diese Dünen vermehrten sich in der Folgezeit. Sie wanderten hin und her bis sie als Parabel- dünen festen Fuß gefaßt hatten. Die Parabeldünen, ihre Dünentäler wurden nun Träger des Nehrungswaldes. Von hier aus verbreitete er sich über die ganze Nehrungsplatte. Schon vorher hatte die Pflanzenwelt den schüch- ternen Versuch gewagt, hier und da in der Flug- sandebene sich ausbreiten zu können. Nach Ab- schluß der Parabeldünenbildung war die ganze Kurische Nehrung mit einem einzigen Urwald be- deckt. Nadelschutt und Heidekraut erzeugten eine sehr wichtige Leitschicht in der Nehrungsgeschichte, eine tiefschwarze Rohhumus- oder Trockentorf- Schicht. In der jüngeren Steinzeit (vor etwa 4000 Jahren) kamen die ersten Menschen auf die Nehrung. In größerer Anzahl müssen sie nach den Funden steinzeitlicher Kultur auf der Kurischen Nehrung gelebt haben. Als erstes Tief hat das Kranzer-Tief bestanden, das nach und nach festes Land wurde. Dagegen brach die Ostsee im heutigen Memeler-Tief durch. Vielleicht haben beide Tiefs eine Zeitlang zu gleicher Zeit nebeneinander bestanden. Als im Jahre 1252 die Ordensburg und Stadt Memel gegründet wurde, da kannte man das Memeler Tief schon, aber das Kranzer Tief war schon verlandet. Um die Zeit des Siebenjährigen Krieges holzte man einen Teil des Nehrungswaldes ab. Wander- dünen entstanden, die nicht nur den Nehrungs- wald bis auf ein paar Reste vernichteten, sondern sieben Dörfer: Alt-Kunzen, Predin oder Freden, Neustadt, Neu-Pillkoppen, Karwaiten, Negeln, Alt- Negeln verschütteten. Erst seit 1870 geht man daran, durch syste- matische Wiederbewaldung der Dünen diese fest- zulegen. Man hatte schon um 1870 Versuche zur Festlegung gemacht. Bis jetzt hat man schon über die Hälfte der Dünen auf diese Weise befestigt. Rudolf Hundt. Geographie. Die Bedeutung mariner Boden- tiere für die Paläogeographie behandelt W.Küken - t h a 1 in Her. der Ges. Naturf Freunde, 19 19, Heft 5/6. Diskontinuierliche Verbreitung kann durch Trennung ursprünglich verbundener Gebiete und durch Verschleppung auf Treibholz, Sargassum, an Schiffen usw. erklärt werden. Bei einzelnen Gruppen ist bisher Verschleppung nicht festge- stellt worden. Zu diesen gehört die Gruppe der Oktokorallen, Tiere, die sich nach kurzer Larven- zeit im Plankton in der Ortsbewegung unfähigen Kolonien festsetzen. Sie sind in ihrer Tiefenver- 64 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 4 breitung an die Küstenlinien gebunden und fehlen im eigentlichen Abyssal (unter 3000 m) fast völlig. Paläontologische Urkunden sind nur sehr wenig bekannt. Bei der Ausbreitung spielen Meeresströmungen eine große Rolle. So können in Inselgebieten die Arten durch von den Gezeiten erzeugte Küsten- ströme wechselnder Richtung von einer Insel zur anderen transportiert werden. Noch wichtiger für die Verbreitung sind die großen Meeresströmungen, die z. T. auch Hochseeareal überqueren und die Larven in Siedlungsgebiete führen, die diese sonst nie erreicht hätten. Ein gutes Beispiel sind die Bermudas, die von 16 auf den Bahamas und West- indien vorkommenden Arten 15 aufweisen, deren Genus in Westindien gut ausgebildet ist. Sie sind durch den Antillen- und den sehr starken Floridastrom hierhergelangt. Auch andere Tier- gruppen, z. B. Aktinien und Ascidien wurden hierhergeschleppt. Daß sich eine ganze Anzahl von Arten hier nicht vorfindet, ist wohl mit der verschieden langen — 7 bis 8 Tage kaum über- schreitenden — Larvenzeit, den veränderten physi- kalischen oder ökologischen Bedingungen zu ver- einbaren. Andererseits können schmale Tiefsee- regionen nicht überbrückt werden, wenn es an geeigneten Meeresströmungen fehlt. Süd - Japan und der Malaiische Archipel haben 37 Stein- korallengattungen gemeinsam, die Philippinen nur 15 auch-malaiische Gattungen. Die Breite des Tiefseeareals, das überwunden werden kann, ist proportional dem Produkt aus der Dauer der Larvenzeit und der Stromschnel- ligkeit. Jedoch sind nicht alle Verbreitungstatsachen fossiler Bodentiere hierdurch erklärbar, diese können erst durch historische Betrachtung — auf die topographischen Verhältnisse der Vorzeit zurückgreifend — völlig geklärt werden. Die jetzt nur im Norden und der Subantarktis in Verbindung stehenden Becken des Atlantik und Indopazifik sind im Tertiär bis ins Pliozän durch eine mittelamerikanische und eine bis ins Miozän verfolgbare asiatisch-südeuropäische Meeresstraße verbunden gewesen. Die Benutzung der mittel- amerikanischen Straße ist sicher bei einigen das Litoral bewohnenden Gattungen der Gorgoniden. In mehreren Fällen ist eine Umwandlung der Arten, ja der Gattungen eingetreten. Die Ver- bindung beider Ozeane kann nur seicht gewesen sein, da sie den Formen größerer Tiefen das Durchwandern versagt hat. Es muß eine konti- nuierliche Strömung vom Pazifik in den Atlantik geherrscht haben, da nur in dieser Richtung eine Wanderung vor sich ging. Die starke Umwand- lung der Arten beweist, daß die Zeit seit dem Pliozän dazu gereicht hat. Die Benutzung der südeuropäisch - asiatischen Meeresstraße besonders von Caligorgia, Stachyodes und Calyptrophora, wie von Versluys behauptet wurde, ist nach neuen Forschungen zu verneinen. Unabhängig von dieser Meeresverbindung be- stand im Pleistozän eine Verbindung Rotes Meer — Mittelmeer über die Landenge von Suez. Die oft be- hauptete Verwandtschaft der Bodenfauna beider Ge- biete trifft für die Oktokorallen nicht zu. Vielmehr ist das Rote Meer von einer relativgeringen Anzahl von aus dem Indischen Ozean stammenden Arten besiedelt worden, während das Mittelmeer seine Oktokorallen größtenteils aus dem Atlantik er- halten hat. Die sich hauptsächlich auf die Verbreitung von Tieren und Pflanzen gründende Rekonstruktion ehemaliger Landbrücken ist noch sehr hypothetisch. Besonders bei der Verbreitung von Landtieren ist es oft fraglich, ob nicht nachträgliche Verschleppung in ein sonst unzugängliches Gebiet vorliegt. Dieser Zweifel fällt bei der Mehrzahl der marinen Boden- tiere fort, ihre Verbreitung muß an den Küsten- linien entlang erfolgt sein. Die Oktokorallen der europäischen und ost- amerikanischen Fauna weisen eine weitgehende Verwandtschaft auf. Da das Tiefseeareal, welches beide Gebiete trennt, zu breit ist um Überwandern zu gestatten, kommt nur eine ehemals existierende Küstenlinie in Betracht, die in der Südküste der Nordatlantis gegeben ist (nordatlant. Landbrücke). Für die Annahme einer bis ins Eozän reichen- den Landverbindung Afrikas mit Südamerika, der Archhelenis v. Iherings, spricht die Verbreitung mariner Bodentiere. Die nordpazifische Landver- bindung bestand bis ins Pleistozän hinein. Auch hier deckt ein Vergleich der Bodenfaunen Japans und Kaliforniens weitgehende Ähnlichkeit auf und spricht sehr zugunsten einer solchen Landbrücke. Der Richtung des Kuro Shio entsprechend muß die Einwanderung von Ostasien her erfolgt sein, was auch mit den Verbreitungstatsachen überein- stimmt. Das bis jetzt vorliegende Material reicht zwar nicht aus zum Beweise einer antarktischen und subantarktischen Landbrücke, gestattet jedoch den sicheren Schluß, daß diese bestanden haben müssen. Hier liefern vor allem die Gorgonarienfamilien Trumoidac und Isisidae wertvolles Material. Als Larventransportmittel kommen die sich von der Westwindtrift abzweigenden Strömungen in Be- tracht. Auch hier kann die Wanderung nur der Küste entlang erfolgt sein. Am stärksten sind antarktische Formen an der Südspitze Südamerikas, am schwächsten an der Südküste Afrikas vertreten. Die Südküste Australiens ist von der Antarktis besiedelt worden, von 7 hier vertretenen Arten kommen 5 auch in der Antarktis vor. S. Inhtilt: J. Schaxcl, Ernst Haeckel und die Biologie seiner Zeil. S. 49. II. Schroeder, Die Pflanze im Wechsel der Jahreszeiten. S. 52. — Einzelberichte: Graphit als Schmiermittel. S. 59. N. L. Bowen, Tridymitkristalle im Glas. S. 60. A. Krausse, Massenhaftes Auftreten des Buchenspinners. S. 61. A. Hase, Massenauftreten der Schmeiß- fliege. S. 61. Fr. Behrend, Die Entstehung der Inselberge und Steilstufen, besonders in Afrika, und die Erhaltung ihrer Formen. S. 62. Hefl von Wichdorff, Geologie der Kurischen Nehrung. S. 63. \V. Küken thal, Die Be- deutung mariner Bodentiere für die Paläogeographie. S. 63. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenslraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schcn Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. 11., Naumburg a. d. S, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den i. Februar 1920. Numnner 5. Erfahrung und Vorertahrung mit Beobachtung an einem Eichhörnchen. [Nachdruck verboten.] Von Fr. J. Kurt Geißler. Will man über den sog. Instinkt, die Erfahrung und Verstandestätigkeit eines Tieres Beobachtun- gen machen, so eignet sich dazu besonders ein Tier, welches seinesgleichen niemals zu sehen be- kommen hat, von der Geburt ab in Menschen- händen war, also seine tierischen Triebstäiigkeiten nicht der Nachahmung oder Belehrung von gleichartigen Tieren verdanken kann. Ich wohnte in einem schloßartigen Gebäude am Genfer See, welches mit einem großen Naturparke umgeben war. Im Juni 1915 brachte ein Knabe ein halbes, aus Stroh oder Gräsern roh verfertigtes Nest mit zwei ganz jungen, nackten Eichhörnchen. Er hatte es unter einer hohen Tanne des Parkes gefunden. Offenbar war es herabgefallen , die Jungen waren jedenfalls erst am vorhergehenden Tage geboren worden, sahen sehr häßlich aus, waren von winzigem, plumpem, nilpferdartigem Körper, erinnernd an ganz kleine nackte Kanin- chen oder Ratten. Das eine Tierchen starb bald darauf, bei dem Sturze hatte es wahrscheinlich unten gelegen und zu heftige Erschütterung er- halten. Das andere wurde aufgezogen. Die Haut der Tierchen ebenso wie die Halme des Nestes waren dicht besetzt von Flöhen, die aber nicht sprangen, sondern nur liefen, auch an den Händen der Menschen nicht sprangen. Wahrscheinlich gewöhnen sich diese in den Baumnestern leben- den, sonst den gewöhnlichen durchaus gleichenden Flöhe das Springen ab, ähnlich wie es sich Flöhe beim Flohzähmer durch Einsperren in eine flache kleine Schachtel abgewöhnen sollen, nachdem sie oft vergebens versucht und sich dabei gestoßen haben. Natürlich wird bei jenen Flöhen des Eich- hörnchens das Springen dadurch verloren gegangen sein, daß sich nur solche an den Baumtieren dauernd fortpflanzten, welche nicht Sätze machten, während die anderen herunterfielen. Vielleicht bringt auch die Gewohnheit, sich in dem Felle der herumspringenden Eichhörnchen festzuhalten, die Flöhe während ihres Lebens dahin nur geringe Sprünge zu machen und endlich nur zu kriechen. Kein einziger dieser zahlreichen Flöhe sprang, weitere Beobachtungen wurden an ihnen nicht gemacht. Das junge Eichhörnchen blieb drei Wochen lang blind , es wurde in Watte gesetzt und be- sonders gewärmt. Da es nicht selbst fressen wollte und ihm sonst nichts beizubringen war, kam ich auf den Gedanken ein Augentropfglas zu nehmen. Dieses wurde voll etwas verdünnter Kuhmilch gesogen; auf dem spitzen Ende der Glasröhre saß ein ganz dünnes Gummiröhrchen ; dasselbe wurde dem Tierchen in den Mund ge- steckt und dann durch Druck an dem Gummi- verschluß des anderen Glasrohrendes der Inhalt langsam entleert. Eine Lehrerin des Hauses nahm sich des Geschöpfchens mit Aufopferung an, stand in der Nacht mehrere Male auf, um es zu wärmen und mit Milch zu füttern. So gelang es das Tier heranzuziehen, es bekam allmählich ein behaartes Fell, verlor seine Mißgestalt, wurde lebhaft, sogar recht lebhaft. Es wurde zuerst nur im Zimmer gehalten und kam nicht in das Freie, es wäre dann auch sicher entlaufen. Da es sehr herum- sprang, wurde es, so lange man sich nicht damit beschäftigen konnte, in ein Bauer gesperrt, hergestellt aus vier zufällig vorhandenen drei- eckigen Gittern, die man pyramidenförmig zusam- menstellte und an den Kanten mit Draht verband. Hinein wurde ein Baumstämmchen mit Asten gestellt oder vielmehr an der Spitze der Pyramide inwendig aufgehängt; das Bauer war etwa manns- hoch. Das Eichhörnchen suchte oft daraus zu entkommen, so daß man keine Ritzen an den Seiten oder unten offen lassen konnte. Als Lager und Versteck diente ein Papierkorb mit Tüchern. Die Tücher ebenso wie Papier wurden viel zer- fetzt, anfangs auch der Korb stark zernagt. Die Pflegerin fing das Tier mit der Hand, hielt es oft an sich an der Bluse und streichelte es viel. Dieses Streicheln, besonders mit einem fortwäh- renden freundlichen Zureden, bewirkte, daß das Tier dann dort sich recht stille verhielt. Freilich begann es während der ersten zwei Lebensjahre sich sogleich in Bewegung zu setzen, um fortzu- laufen, wenn es nicht mehr gestreichelt wurde und man die es bedeckenden Hände entfernte. Von fremden Personen ließ es sich nicht halten, von mir eher, weil es mich nächst der Pflegerin am meisten sah und kennen lernte. Wollte eine andere Person es beim Herumlaufen nehmen, so biß es auch oft tüchtig zu, so daß Blut floß. Auch seine Pflegerin biß es ein paarmal, einst besonders heftig viermal dicht hintereinander in die Hand, so daß Wunden entstanden. Die Pflegerin ließ es aber trotzdem nicht los; es hatte offenbar ge- glaubt, daß dieselbe ihm eine Eßkastanie oder Haselnuß, welche das Eichhörnchen gerade fraß, fortnehmen wollte. Später biß es seine Pflegerin überhaupt niemals wieder. Wenn ich es nehmen wollte, so mußte ich darauf sehen, daß die Hand möglichst gleich über den Kopf kam, so daß es sich gefangen fühlte. Trotzdem kam es auch im dritten Jahre vor, daß es gelegentlich mich etwas biß, wenn ihm das Hinnehmen nicht gefiel. Die 66 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 5 Pflegerin konnte es stets nehmen, selbst wenn es mitten im Schlafe im Neste (Papierkorb mit Zeug) lag und wütend jede andere Person anbellte, welche es stören oder gar anfassen wollte. Wenn es an- geklammert an der Bluse der Pflegerin hängt, läßt es sich von fast jeder Person widerstandslos anfassen und streicheln, auch am Maule berühren, nicht aber in anderen Stellungen. Beim Herum- laufen kommt es bei bekannten Personen an die Hand heran, riecht zu, um zu merken, ob man etwas zu fressen hat, und entfernt sich wieder. In der ersten Lebenszeit begann es ganz so wie die Eichhörnchen im Freien Sprünge zu machen, natürlich von einem Möbelstück zum andern, hatte stets das Verlangen in die Höhe zu klettern, an den Gardinen hinauf, an einer mit Zeugtapete versehenen Wand und blieb gern längere Zeit oben. Auch hatte es ganz die Gewohnheiten der wilden Eichhörnchen, um den Stamm herumzu- laufen und rechts oder links hervorzuschauen. Nur benutzte es als Baumstamm meine Beine, lief auch an anderen sich ruhig verhaltenden, nament- lich weiblichen Personen herauf. Es spielte sehr gern, sprang bei Annäherung der Hand nach der anderen Seite und wartete, daß man es wieder neckte. So sprang es auch sehr gern um die Rücklehne von Polstersesseln herum und wartete darauf, daß man ihm bald von rechts, bald von links spielend rasch die Hand hinhielt. Auch ganz von selbst legte es sich auf den Rücken, er- faßte eine Gardinenschnur oder dergleichen mit dem Maule und balgte sich damit herum. Be- sonders liebte es, wenn man ein Handluch nahm, ihm hinhielt und neckisch immer emporzog, in- dem es das Tuch fassen wollte oder sich direkt daran hing. Diese Art zu spielen verlor sich mehr und mehr, doch gelegentlich spielt es auch jetzt noch, namentlich mit der Pflegerin. Die Personen lernt es ziemlich schnell zu unterscheiden und zwar durch das Sehen, wenn es sich auch dabei manchmal täuscht. Wenn man z. B. einen ungewohnten Anzuganhat, erkennt es wahrscheinlich nicht sogleich in einiger Entfernung oder ist sonst sehr verwundert. Das Geräusch der Schritte und der Stimme lernt es bald kennen und zeigt durch besondere Aufmerksamkeit (Männchenmachen, d. h. setzen auf die Hinterbeine mit Anlegen der Vorderbeine oder besser Hände an die Brust), daß es die Personen kennt, selbst wenn sie auf dem Flure oder in anderen Zimmern sprochen oder gehen. Fremden gegenüber ist es meist etwas scheu, wenn es nicht an der Pflegerin oder bei mir ist. Unruhige fremde Kinder liebt es gar nicht, verweigert bei deren Anwesenheit sogar sein LieblingsfuUer. Ungewohnte Geräusche ver- anlassen es in starre Haltung zu geraten. Wenn es zum Fenster hinaussehen kann, so sitzt es oft lange ganz wie erstarrt. Eulenschrei oder Schrei von Raubvögeln draußen setzen es in Schrecken oder Erstarren. Zuerst war es sehr empfindlich gegen allerlei Geräusche, fürchtete sich besonders vor dem Rauschen der Wasserleitung oder dem Summen einer Fliege. Allmählich aber lernte es das als gefahrlos kennen. Im dritten Jahre ließ es sich kaum noch stören, selbst wenn in der gleichen Stube Menschen sprechen oder musiziert, z. B. laut Klavier gespielt wird. Als eine große Zahl von Kindern in demselben Räume, in dem es sich befand und ruhig in seinem Körbchen lag, deklamierte, Klavier spielte usw., ließ es sich nicht beunruhigen ; als aber ein Knabe sehr falsch Geige spielte, verließ es erschreckt den Korb und kletterte auf die Gardine, um sich längere Zeit oben auf die Stange zu hocken und beobachtend herunter zu schauen. Daß es allmählich immer weniger emporkleiterte, hatte offenbar nicht etwa in Furcht vor der Höhe seinen Grund, sondern darin, daß es Erfahrungen machte. In einem sehr hohen Zimmer waren an die eine Wand Bäume gemalt. Obgleich es nie im Freien an Bäumen gewesen war, sprang es doch von der Gardine aus gegen diese Wand gerade nach der Stelle, wo ein Baum gemalt war, rutschte dann aber an der ganzen Wand herunter, was ihm offenbar sehr unangenehm war. Ferner wachsen im Laufe der Zeit seine Nägel ähnlich wie bei Stubenvögeln zu lang, so daß es bisweilen mit den gekrümmten Spitzen am Zeuge der Menschen oder an der Gardine hängen blieb. Dann suchte es sich los- zumachen, wurde sehr wild und konnte nur von bekannten Personen befreit werden. Es wurden ihm nun dann und wann von der Pflegerin die Nagelspitzen beschnitten. Das gab jedesmal ein großes Gewimmer, obgleich es offenbar keinen Schmerz verursacht. Zuerst mußte durch ein Tuch der Kopf etwas zugedeckt und die Pfote hervorgezogen werden, damit es nicht etwa biß. Dann ging es auch ohne das. Aber selbst wenn die Nägel alle beschnitten waren, was oft mit Unterbrechung geschah, wimmerte das Tierchen noch eine Weile weiter, ganz besonders, wenn man ebenfalls sein Beileid durch freundliches Zu- sprechen zu erkennen gab, oder wenn etwa ich dann herantrat, es streichelte und fragte: „hat man dir etwas getan ?" Es machte ihm offenbar Vergnügen sich noch einige Zeit bedauern zu lassen, was auch bei anderen Gelegenheiten vor- kam, wenn ihm irgendetwas nicht gefallen hatte. In den ersten anderthalb Jahren mußte man sich in acht nehmen , um nicht einmal durch die Sprünge des Tieres am Auge verletzt zu werden. Während es gewöhnlich nur bis auf die Schulter emporkletterte, sprang es mir doch einmal über den Kopf weg nach einer Wand und riß dabei die Brille mit herunter. Es merkt durch Erfah- rung, daß man so etwas nicht gern hat, und springt aus den oben genannten Gründen immer weniger. Im zweiten und dritten Lebensjahre kam es kaum noch in den Käfig, derselbe wurde ganz fortgetan, es lebt nun frei in der Wohnung. Aller- dings wird es von der Pflegerin in der Nacht in ein besonderes Zimmer getan, weil es den Schlaf stören würde, wenn es aufwacht und in der Nacht etwa einmal herauskommt, auch auf das Bett N. F. XIX. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 67 kommen würde. Dann aber am Tage wird es mit dem Körbchen oder in der Hand in ein anderes Zimmer gebracht und kennt die Zimmer ganz genau. Am meisten liebt es meine Arbeits- stube und betrachtet daselbst die Fensterbank als seine eigentliche Heimat. Wenn es in anderen Stuben ist, sucht es möglichst bald durch die Türen fortzulaufen, kennt den Weg zu meinem Arbeitszimmer von der dritten Stube aus genau, rennt dann meist direkt (sein Laufen ist ein kur- zes Galoppieren) bis an die Gardine des Arbeits- zimmers, klettert an derselben nur bis zur Höhe der Fensterbank empor und hält auf der Bank seine Mahlzeit. Die Fensterbank liebt es wohl auch darum besonders, weil es hinausschauen und zugleich das Zimmer gut übersehen kann. Die Lebensgewohnheit ist die folgende. Im ersten Lebensjahre sprang es im Bauer, fast stets in derselben Reihenfolge, mehrere Stunden lang wild herum. Jetzt macht es etwa zwei Stunden am Vormittage eine lustige Reise durch das Zim- mer oder durch mehrere Zimmer, scharrt meist einige Zeit auf der Schwelle des Arbeitszimmers, um in die danebenliegende Schlafstube zu gelangen. Wird dann geöffnet, galoppiert es auf dem Boden herum, hin und her, untersucht alle Ecken, liebt besonders die staubigen, sucht auch nach abge- fallenem Kalk oder lieber Gips, den es bisweilen frißt, nach toten Fliegen, die es gern frißt (niemals nimmt es lebende), klettert dann an einer Tisch- decke in die Höhe, untersucht alles, was auf dem Tische ist, springt, wenn der Tisch recht nahe am Fenster steht, auf die Fensterbänke, kriecht dort ganz besonders gern hinter Papier, Bretter oder Vorhänge, die zum Schutze gegen Wind oder Sonne da stehen. Dann versäumt es keinen Tag mit einem kleinen Sprung hinüber zu klettern auf einen Notenständer. Dort liegt in einem Fache zu oberst eine Pappe, auf welche etwas Zucker, Honig und Eingemachtes gestrichen ist. Dies ist seine Konditorei. Dort leckt es und nagt an der Pappe, liebt das etwas Eingetrock- nete mehr als das Frische, nagt auch gern von der Pappe mit ab. Während das Tier in der ersten Lebenszeit dies oder jenes etwas annagte, namentlich gern Papier im Papierkorbe zerriß, nagt es kaum noch an Möbeln außer wenn es sich bemerklich machen, etwa in eine. Stubentür oder einen Schrank hineinmöchte. Sein Nagebe- dürfnis deckt es vollständig durch das Aufraspeln von Zwetschenkernen, Haselnüssen usw. Dabei zeigt es die Neigung das in den Papierkorb (sein Bett) gelegte Zeug bisweilen zu zerreißen, um eine Art Nest auszufüttern, offenbar aus dem ange- borenen Triebe heraus Nester herzustellen. Zu dem Zwecke wurde auch Papier zerrissen. Wenn es schlafen will (und daß will es stets nach seiner Morgenbewegung, im Winter gewöhnlich den größten Teil des Tages) kriecht es je nach der Temperatur unter eine Decke ober unter mehrere (in seinem Korbe liegen verschiedene Zeugstücke übereinander), und macht sich durch Zerren mit den Vorderpfoten die Öffnungen zu, um versteckt zu liegen. Es läßt sich ungern stören, faucht jeden Störenden (mit Ausnahme der Pflegerin, der es selbst bei solcher Störung oft die Hand leckt) an, bellt und wimmert sogar, wenn man nur in die Nähe kommt, als wollte es sagen: „stör' mich nicht 1" Um zu fressen, kommt es noch einige Male heraus, wählt auch wohl noch einmal eine Zeit zum Herumlaufen, um in der Nacht meist tief zu schlafen. Dem Eichhörnchen stehen von Natur offenbar ziemlich viele Laute zur Verfügung, wenn man das auch selten im Freien hört. Kürzlich ver- nahm ich im Walde das recht heftige Schreien oder Bellen eines großen Eichhörnchens, das dicht neben mir an einem Stamme emporlief, offenbar durch mein Vorbeikommen gestört. Unser zahmes Eichhörnchen versteht unsere Sprache sehr gut, soweit man durch dieselbe Stimmungen ausdrückt. Es kommt nicht wie ein Hund auf den Ruf, wohl aber, wenn man ihm deutlich macht, daß es etwas Geliebtes zum Fressen bekommt. Es läuft, um Pressen zu erhalten, hinter bekannten Personen her, erhebt sich auch auf die Hinterbeine und streckt die Arme empor. Auch wenn ich in der Stube spazieren gehe, läuft es oft mit hin und her und kommt sogar vor die Füße, so daß man sich davor in acht nehmen muß, es zu treten. Das Tier wurde, als es noch nicht ein Jahr alt war, im Februar von dem Genfer See beim Umzüge nach Eisenach in Thüringen mitgenom- men und zwar in einer kleinen Kiste, die auf einer Seite mit Fliegendraht bespannt war. Unter- wegs oder im Hotel wurde es herausgenommen. Wir fürchteten zuerst, daß es aus Angst vor den Reisegeräuschen sterben könnte, aber es überstand die Reise recht gut. In Eisenach wurde es am Ende des zweiten Lebensjahres matt und schlaf- bedürftig, wir glaubten gar schon Alterserschei- nungen wahrzunehmen. Aber als es wieder reich- licheres zusagendes Futter (Haselnüsse und Buch- eckern) bekam, wurde es wieder lebhaft, fast wie in der ersten Jugend. Nur hat es sich das arge Springen zum Glück nicht wieder angewöhnt und klettert auch nur an bekannten Personen und mit Vorsicht und zierlicher Langsamkeit in die Höhe. So erinnert es mich gewöhnlich gegen 1 1 Uhr morgens an das Frühstück, wobei ich einige Zwet- schen (getrocknete blaue Pflaumen), gekocht zu mir nehme, indem es an meinem Bein herauf- klettert, auch bis auf den Schreibtisch will, sich aber meist schon auf den Knieen bemerklich macht. Dann nimmt es als ganz besonders ge- liebte Speise die Zwetschensteine in Empfang, meißelt sie auf (ein seitliches Loch) und holt mit Zunge und spitzen Zähnen den Keim heraus, be- freit diesen ebenso geschickt und schnell von der braunen Hülle und verzehrt kauend den Keim, um sofort nach einem zweiten zu betteln. Auch von der Fensterbank aus macht es reckende Be- wegungen mit Hals und Kopf, um Kerne zu be- 68 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 5 kommen, und kommt, wenn das nicht hilft, her- unter geklettert, um an mir heraufzusteigen. In der Nahrung ist es recht veränderlich. Es frißt besonders gern Haselnüsse, zeitweilig und ziemlich dauernd nimmt es Mandeln, die es sich aber lieber aufknacken läßt, ferner echte Kastanien, deren es bis 6 Stück an einem Morgen fressen kann, ferner rohe Mohrrüben, die es mit großen Ge- schick in die Hände nimmt, vielfach herumdreht und außenherum abfrißt; dazu mancherlei Grünes, Pilze, junge Blätter von Taraxacum officinale, tote Motten, Buttersiückchen, ferner gern Brot, frisches und altes, Zwieback, Zucker, Honig, Eingemachtes, auch frißt es bisweilen an Horngriffen. Bei allem zeigt es Neigung zum Wecnseln. Nur an den Keimen in den Zwetschenkernen scheint es dauernd sehr großes Wohlgefallen zu finden, sie schaden ihm so wenig wie die Mandeln, es kann zwölf Stück und mehr hintereinander verzehren. Als es im vierten Jahre reichlich Haselnüsse und Bucheckern bekam, nahm es ein halbes Jahr lang keine Zwetschenkerne. Es riecht die Speisen erst an und verweigert schlecht gewordene sehr ent- schieden. Überhaupt scheint es durch seine Trieb- vorsicht sehr gegen unrichtiges Fressen geschützt zu sein. Da es auch Gläser benagt, wenn Süßes z. B. Honig daran ist, muß man sich hüten ihm zersplittertes Glas nahe kommen zu lassen. Weil diese Beschreibung etwas ausführlich ge- worden ist, will ich auch noch über die Töne einiges angeben. Das Klavierspiel schien es recht gern zu haben und strebt oft danach auf die Tasten zu kommen, auch auf das blanke polierte Holz des Klaviers setzt es sich sehr gern, was allerdings wenig angenehm ist, da die Pfoten oft kleberig sind und es absolut keinen Begriff davon bekommt, daß man nicht überall naß machen oder Unrat (mauseartige Böhnchen) ver- lieren darf Besonders Wollzeug scheint es zu reizen, um zu urinieren, auch die Bluse der Pflegerin wird nicht verschont, das Schlafnest allerdings wird meist geschont. Plüsch usw. beschmutzt es gern. Das Eichhörnchen hat einige seltenere Laute; nämlich ein sonderbares Glucken oder Schnalzen, wie wir es mit der Zunge machen können. Offen- bar soll dies dienen ein Weibchen zu locken und geschieht auch nur gelegentlich unter Schwanz- wedeln. Ferner gibt es bisweilen stöhnende Töne von sich, die mich erst glauben ließen, es würde sterben oder ein Kind röchele, es sind aber offen- bar auch Liebeslaute. Es hat zwar nie ein frem- des Eichhörnchen gesehen, sucht aber offenbar dann und wann nach einem Weibcnen. Das Ge- schlechtssystem entwickelte sich stark und scheint das Tier auch in Unruhe zu versetzen, es kriecht auch bisweilen rutschend an dem Boden hin und gluckt, oder liegt beobachtend mit dem genannten stöhnenden Laute. Bisweilen auch gibt es einen förmlich vogelartigen singenden Ton von sich, besonders während des Schlafes. Überhaupt scheint es stark zu träumen, und dabei scheint der Vogelgesang eine Rolle zu spielen. Es hat, wahrscheinlich weil es ein Männchen ist, Vorliebe für das weibliche Geschlecht auch beim Menschen. Ich vermute, daß das Eichhörnchen, welches der Dichter Hebbel gezähmt hatte, und welches offenbar sanfter war als das unserige, ein Weib- chen gewesen ist. Auch unser Eichhörnchen ist nicht gern lange allein und freut sich, wenn einer von uns kommt, läuft uns auch wohl ent- gegen. Der Nahrungstrieb spielt gewiß eine große Rolle, indes auch der Spieltrieb und das Gesellig- keits- und Unterhaltungsbedürfnis. Wenn es sich im Spiegel sah, so versuchte es anfangs hinter den Spiegel zu kommen, vielleicht um zu diesem Eich- hörnchen zu gelangen. Unsere Versuche ein anderes, womöglich weibliches Eichhörnchen zu bekommen, sind vergeblich gewesen. So wie es die Laute des Menschen sehr gut danach versteht, ob man böse ist, etwas verbietet (z. B. aus der Ferne das Hinaufklettern an einem Tisch), so hat es auch selbst für verschiedene Gemütsbewegungen verschiedene Töne. Ein häufig angewendeter Laut der Gemütlichkeit ist Knux oder Knurx. Wenn es Speise, die es liebt, er- halten hat, lautet es „quucke, kuiucke". Beim Fressen einer erhaltenen Lieblingsspeise, besonders wenn es erst warten mußte, gibt es oft ein Kwucke- wuh von sich. Stört man es im Neste, so ent- stehen Laute wie bei einem sehr kleinen Hunde: uuiio, wotjehu, uiol uiol Wauo! Oder ein Fau- chen wie hhhwwuio, mit in der Mitte erhobener Tonhöhe. Bisweilen wird das Bellen zu einem Quieken. Laute der Befriedigung verlaufen wohl allmählich in ein häufiges u-u u-u-. Es klingt dann auch nicht selten wie Wasser, welches durch Lö- cher hindurch läuft, etwa wie das Murmeln einer Quelle. Die Farbe des Felles ist bei unserem Eich- hörnchen etwas weniger rot als bei den meisten hier in Eisenach in den Wäldern lebenden, die langen Schwanzhaare vergingen eine Zeitlang, so daß der Schwanz fast kahl wurde, kamen aber wieder, auch im April wird der Schwanz wieder kahler (er wurde im Spätherbst wieder schön). Die grauen unteren Winterhaare scheinen zu bleiben. Übrigens wechselte die Fellart bei diesem gefangenen Tiere nicht genau nach der Jahreszeit. Es wurde von der Pflegerin im zweiten Jahre bisweilen mit in den Garten genommen, fühlt sich aber da nicht besonders wohl, einmal versuchte es schnell auf den Zaun los laufend dem nahen Walde zuzueilen, wurde auf dem Zaune aber noch am Schwänze gefaßt. Als wir es später mit auf die Straße vor dem Hause nahmen, an der drüben unmittelbar Föhrenwald steht, lief es schleunigst wieder auf die Eingangstreppe, der Haustür zu. Auch an einen Baumstamm im Freien gesetzt, lief es nicht weiter in die Höhe, sondern kam gern wieder zur Pflegerin. In den dicht an das Haus stoßenden Gartenbeeten suchte es nach einem Kellerfenster, in welchem ein Glas zersprungen war, um hindurch in das Haus zu N. F. XIX. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. g'elangen. Ein neues Zimmer (ziemlich kühler Wintergarten) lernte es erst nach Wochen oder Monaten so lieben, so daß es dahin zurückrennt. Da man selten ein von Natur so scheues und wildes Tier wie das Eichhörnchen derartig zähmen wird, hat die vorstehende Beschreibung wohl Inter- esse, auch ist es besser sie voranzuschicken, ehe Betrachtungen über Erfahrung, angeborene Triebe und Nachdenken angestellt werden. Es ist be- sonders wichtig, daß das Eichhörnchen nicht wie der Hund oder das Pferd schon durch Abstam- mung ein an menschliche Nähe gewöhntes Tier ist, ferner daß unser Eichhörnchen nicht die ge- ringste Gelegenheit gehabt hat, die Gewohnheiten der wilden Stammesgenossen zu beobachten, auch vom Menschen keinerlei Anleitung zu seinen eigentümlichen Gewohnheiten erhaUen konnte. Die Neigungen zu bestimmten Lebensmitteln sind ohne Frage angeboren, auch die Vorsicht und der Wechsel dabei. Freilich hat unser Eich- hörnchen niemals die Keime der Tannenäpfel ge- fressen, niemals sich die Mühe gemacht, einen Tannenzapfen zu zerknabbern, was ja die wilden Eichhörnchen sehr viel tun sollen. Ihm standen eben ähnliche Nahrungsmittel bequemer zu Ge- bote, das Aufknabbern der großen harten Tannen- zapfen machte ihm offenbar unangenehme Schwierig- keiten, während es vor dem Zernagen fester Nuß- schalen selten zurückschreckt. Auch die Spitzen der Tannenzweige liebt es nicht und rührt sie kaum an. Wahrscheinlich fressen die wilden Eichhörnchen auch sehr oft Pilze und Waldkräuter. Auch unser Eichhörnchen geht bisweilen an Blatt- knospen von Laubholz. Auch im übrigen aber hat es seine Gewohnheiten offenbar ererbt. Die Art sich hinzusetzen, die Nahrungsmittel höchst lebhaft und geschickt zwischen die Daumenstum- mel zu klemmen und mit den langen Fingern zu umfassen, sie herum zu drehen, an passender ge- suchter Stelle aufzumeißeln, und zwar nur soweit es nötig ist, und ähnliches wendete es ganz wie von selbst an. Sehr sonderbar ist auch die an- geerbte Eigenschaft des Nestmachens, worin es freilich unser Eichhörnchen nicht weit brachte, weil ihm alles recht bequem zur Hand war. Es macht aber deutliche Unterschiede in Bereitung der Lagerstätte. Wenn es recht warm ist (unter der Fensterbank befindet sich der Heizkörper der Zentralheizung) legt es sich offen obenauf Wenn es kälter ist, kriecht er tiefer und bedeckt sich selbst sorgfältiger mit Tuch oder Papier. Obgleich nun aber stets für Futter gesorgt wurde, die Pflegerin in ihrer zärtlichen Besorgtheit ihm alles Mögliche zur Auswahl zum Fressen hinlegt, be- hält es doch ziemlich die anfangs sehr deutlich gezeigte angeborene Gewohnheit bei, sich Vorräte anzulegen. In den Stubenecken, eingehüllt in Fuß- felle, besonders aber in Schuhen und Stiefeln finden sich versteckte Nüsse (Haselnüsse, Wal- nüsse), Mandeln oder Kastanien, selten Zwetschen- kerne, weil es diese (im dritten Lebensjahre) fast stets alle auffrißt. Wenn es augenblicklich eine Speise nicht will (und es verschmäht sie oft, so- bald es hofft statt dessen gleich eine beliebtere Speise zu erhalten), bringt es sie in eine Ecke. Ist keine Ecke zum Verstecken vorhanden oder leicht zu erreichen , so legt es das Betreffende sonderbarerweise einfach hin, stößt mit der Schnauze vier bis fünfmal heftig darauf, scharrt dann mit beiden Händen in der Luft darauf los (als ob es Erde oder ein Tuch zum Zudecken da hätte), und geht hinterher befriedigt ab, obwohl die Speise dann ganz offen da liegen bleibt. Kann es in einen Schuh gelangen, so begibt es sich gewohn- heitsgemäß mit dem Kopfe voran hinein, über- schlägt sich, sc daß der weiße Bauch nach oben kommt, um so liegen zu bleiben, oder es versteckt eine Speise in der vorderen Ecke des Schuhes, geht zurück und schlägt mit den Händen ein paar- mal die Schnalle oder die offenen Lappen des Schuhes zusammen. Auch behält das Tier meistens einige Zeit im Gedächtnis, wo es etwas versteckt hat, und sucht diesen Ort am selben Tage oder später wieder auf. Freilich hat es die Sucht, über- haupt in allen Winkeln herumzuspüren. Sein Wesen ist etwas ziegenartig, auch beim Herum- laufen wendet sich das Tier oft hin und her, als ob es irgendeine Richtung auswählte, um dann eine Bewegung auszuführen. Ganz energisch zeigt es eine bestimmte Tätigkeit beim PVessen. Hat es eine Speise angefangen zu fressen, so läßt es sich auch nicht durch Nahebringen einer anderen beliebteren Speise davon abbringen, sondern frißt erst auf oder soweit, wie ihm gut dünkt. Während es etwas ihm Angenehmes, z. B. einen Zwetschenkern frißt, läßt es sich von einer bekannten Person, z. B. mir, eher anfassen als sonst. Zwar murrt es zuerst, ändert auch wohl den Platz, um in der Nähe sich wieder hinzusetzen, aber wenn die Hand am Rücken liegt, stützt es sich sogar dagegen und frißt weiter. Bisweilen wird es bei solcher Störung zornig und beißt. Es frißt übrigens in jeder Lage, selbst hängend an den Hinterzehen, auch in den Händen der Pflegerin auf dem Rücken liegend. Meist setzt es sich auf die Hinterbeine mit übergelegtem Schwänze, krumm aufrecht und nimmt die Speise zwischen die Hände. Der Schwanz, der gewiß beim weiten Springen in der Natur nützlich ist, wird sonst beim Schlafen be- nutzt, um sich darunter zu verstecken und damit zuzudecken. Beim Locken nach dem Weibchen wird er bisweilen wackelnd hin und herbewegt. Die Ohren stehen meistens in die Höhe, manch- mal nur eins, die Augen sind im Schlaf ganz oder zum Teil geschlossen, sind nicht beweglich, doch wird damit offenbar nach beiden Seiten beobachtet. Besonders empfindlich gegen Licht scheinen die Augen nicht zu sein, wenn auch die Dunkelheit zum Schlafen veranlaßt, nicht etwa umgekehrt wie bei den Haselmäusen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit angeben, daß ich in der nicht verletzenden, mit sich ver- engerndem Eingang versehenen Mausefalle drei Mäuse im Keller fing (im Winter), diese in ein 7° Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 5 zylinderförmiges Bauer setzte, das ich einfach aus einem großen Stücke ziemlich weitläufigen Gitters rund gebogen und oben und unten mit viereckigem Drahtstück versehen hatte. Die Tierchen machten sich in einer oben schwebenden weißen kleineren Kartonschachtel ein Nest zurecht, indem sie von unten am Gitter herauf oder an dem in der Mitte stehenden Bäumchen herauf Papier und trocknes breites Gras schleppten. Darin bringen sie den Tag zu, bessern oft aus, haben zwei Zugänge und begeben sich, gestört, in eine horizontal hängende Pappröhre, von der aus sie oft, alle drei dicht aufeinanderliegend, beobachten. Sie sind unten weißlich, haben rosa Schnauzen, kahle Schwänze und fressen keinen Speck usw., am liebsten Hasel- nüsse, Pudding oder Zwetschenkerne, auch rohe Graupen. Abends werden sie munter und klettern herab, um nach dem dann unten hineingestellten Futter zu sehen. Sie sind bald wenig scheu, aber, da nicht freilaufend , zu unseren Beobachtungen lange nicht so geeignet wie das zahme Eich- hörnchen. Es fragt sich nun, wie man das seelische Leben solchen Tieres beurteilen soll, und ob man daraus Schlüsse auch auf den Menschen machen darf In dieser Beziehung will ich einige Gedanken aus- führen. Ich habe ein längeres, mit der Schreibmaschine geschriebenes Manuskript vor mir, es liegen immer zwei gleichlautende Blätter aufeinander. Ich will sie trennen, so daß zwei einfache geordnete Manuskripte daliegen. Ich lege immer das erste Blatt auf eine Stelle, das zweite auf eine andere Stelle daneben. Nach wenigen Augenblicken be- ginnt die Tätigkeit mechanisch zu werden; ich blicke zwar noch nach der Numerierung der Seiten, um nichts zu überschlagen, aber ich lege schon mehr mit der Hand nach den beiden Stellen hin und fange an nebenbei etwas anderes zu denken. Dann kommt es vor, daß ich plötzlich das erste Blatt, statt auf die erste Stelle links, auf die zweite Stelle links lege und das gleichlautende zweite auf die erste Stelle links. Das ist kein wesent- licher P'ehler, wird aber von mir bemerkt, obgleich die Tätigkeit schon ziemlich mechanisch ist. Trotz solcher Ausnahmen geht die Tätigkeit im ganzen richtig und immer mehr mechanisch vor sich. Ein Nachsehen hinterher zeigt, daß es richtig ge- worden ist. Es kann, wie aus diesem zufälligen kleinen Beispiel hervorgeht, eine mit vollem Be- wußtsein (wenn ich diesen etwas verschwommenen Ausdruck gebrauchen darf) begonnene Tätigkeit allmählich und zwar oft sehr schnell bewußtloser werden. Das soll heißen, die Aufmerksamkeit ist nicht mehr allein darauf gerichtet. Auch das Ge- dächtnis nimmt an Tätigkeit schnell ab, so daß ich nicht mehr aus dem Gedächtnisse allein weiß, ob ich dieses oder jenes Blatt richtig gelegt habe, sondern mich davon nachträglich überzeugen muß. Es kommen hier schon verschiedene Grade, Stufen oder Intensitäten des Bewußtseins vor. Und zwar kann ich mich in Gedanken nebenher immer mehr mit anderem beschäftigen, während doch noch ein Schimmer des Aufpassens auf die Blätter vor- handen ist. Endlich wird die Tätigkeit der Hand so mechanisch, als wäre eine Art von Maschine eingerichtet worden. Dabei mag die Einarbeitung des Gehirns, die hier sehr rasch vor sich ging und auch nur für diese kurze Tätigkeit vorhält und vorhalten soll, eine Rolle spielen, die wir nebenbewußt, weniger bewußt, aber doch noch nicht etwa seelenlos nennen würden (um den Aus- druck unterbewußt nicht zu gebrauchen, der wie- der leicht den Anschein erregen kann, als ginge etwas plötzlich ganz und gar in ein Gegenteil über, als gebe es einen ganz plötzlichen Schritt innerhalb des Einzelseelischen vom Bewußtsein zum Unterbewußten). Denken wir nun an eine Tätigkeit der Beine, etwa das Gehen! Wenn man eine neue Gang- tätigkeit erlernt, etwa das Rollschuhlaufen oder das Schlittschuhlaufen, oder auch nur anfängt in gewissem Zeitmaße anders als gewöhnlich zu schreiten, so braucht man erst bewußten Willen und Aufmerksamkeit, bald aber hat man eine be- sondere Willensanstrengung nicht mehr nötig, es geht wie von selbst weiter. Die einzelnen Be- wegungen entschwinden aus der Aufmerksamkeit, auch die Erinnerung an die einzelnen Ausführungen wird matter, und schließlich treten sie gar nicht mehr so in das Bewußtsein, daß überhaupt eine deutliche Erinnerung möglich wäre. Ahnlich ist es bei der Erlernung einer Kunst, etwa beim Üben des Klavierspielens. Es wäre nicht möglich darin eine Virtuosität zu erlangen, wenn man jede Finger- bewegung mit seelisch bewußter Aufmerksamkeit verfolgen müßte. Man gibt mehr und mehr eine Art von noch gefühlter Anregung, das Übrige aber wird ohne seelich deutliches Bewußtsein be- sorgt. Zwar bemerkt man hier und da, auch falls man es nicht durch das Gehör beachtet, wenn man sich vergriffen hat, aber dieses Bemerken ist nicht mehr deutlich, man ist sich nicht mehr klar bewußt, warum gerade diese Ausnahme, dieses Fehlergreifen mehr bemerkt wird als das mecha- nisch ausgeführte Übrige. Ich will durch diese Beispiele, die sich ver- mehren lassen, nur andeuten, daß auch im täg- lichen Leben, selbst des älter werdenden Menschen immer wieder Tätigkeiten vorkommen, welche dem Gedächtnisse entschwinden, nicht mehr auf- merksam verfolgt werden, aber doch nicht aus aller Aufmerksamkeit, aus allem Bewußtsein ver- schwunden sind. Haben wir aber eine Tätigkeit sehr lange geübt, so wird sie derart bewußtlos, daß es schwer wird, sie überhaupt im einzelnen in die Aufmerksamkeit oder in das nachträgliche Gedächtnis hineinzubringen. Das zahme Eichhörnchen würde sich, ohne die Gewöhnung an den Menschen und die man- nigfaltige Erfahrung, die es während seines, nur bei Menschen zugebrachten Lebens macht, anders benehmen, als es dies jetzt tut. Wenn ein Eich- hörnchen, das in seinem Neste auf einem hohen N. F. XIX. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 71 Baume versteckt ist, ein verdächtiges Geräusch, etwa den Schrei der Eule hört, so wird es sehr beunruhigt. Wenn es am Boden sitzt und ein Mensch kommt vorbei, springt es auf, schreit wohl gar, läuft am Stamm in die Höhe, versteckt sich und beobachtet. Das zahme Eichhörnchen liegt auf der Fensterbank im Korbe und schläft oder schläft halb. Wenn es sehr fest schläft, scheint es eine gewöhnliche Annäherung ihm bekannter Menschen gar nicht zu bemerken. Ist es noch teilweise wach, hat es sich z. B. eben erst hinge- legt oder wird es durch ein Geräusch wieder ge- stört, so benimmt es sich trotzdem ganz anders, als es ein wildes Eichhörnchen tun würde. Es bleibt im Korbe ruhig liegen, aber es fängt ein wenig an zu wimmern oder zu fauchen, zuerst ganz sanft, genau als wollte es der ihr wohlbe- kannten Person, z. B. mir, nur sagen, ich solle es in Ruhe lassen, es schlafe ja. Hebt man dann das Tuch in die Höhe, womit es sich bedeckt hat, so wird das Jammern lauter oder geht gar in ein wütendes Fauchen über. Das geschieht auch, wenn die Pflegerin herankommt und es noch derartig müde ist, daß es nicht gleich bemerkt, wer kommt. Merkt es, daß die Hand der Pflegerin hineinfaßt, so gibt es keinen Laut von sich, leckt höchstens dieP'inger, während es mich bedrohen, eine fremde Person aber gewiß alsbald in die Finger beißen würde. Es springt aber nicht heraus und flüchtet nicht, wie es das wilde Eichhörnchen bei größerer Gefahr tun würde. Freilich wird die Störung sehr stark, verläßt auch das zahme die Lagerstätte. Wenn es mich etwas böse anschnarcht und ich halte einen Zwetschenstein hin, so kommt es mit der Schnauze näher, schimpft zwar noch weiter, nimmt aber den Kern und raspelt ihn auf Selten einmal zieht es sich dann zurück, ohne ihn ge- nommen zu haben, wird er aber mit dem Nuß- knacker aufgeknackt und es hört nur dieses Ge- räusch, so kommt es, wenn sein Schlaf nicht sehr fest ist, sogar heraus und nimmt den Keim hin, sein Fauchen geht meist in ein wohlgefälliges Knurren über, und es zieht sich entweder nach dem Aufessen wieder zurück oder kommt weiter heraus, um weiteres zu erbetteln. Man hat hier gewiß verschiedene Grade von Aufmerksamkeit und Bewußtsein vor sich. Zugleich aber mischt sich hinein die mannigfache Erfahrung, welche das Tier in seinem Leben gemacht hat. Selbst noch fast im Traume oder geradezu träumend, unterscheidet es die Personen, richtet sich danach mit seinem Verhalten, läßt überhaupt seine Er- fahrung gelten, die aus seinem kurzen Leben stammt. Dies ist in die Seele des Tieres bereits übergegangen, fast als wäre es ihm angeboren. Anstatt der Waldbäume kennt es die Beine des Menschen mit dem Zeuge, die Tische, die Tischdecken, die Gardinen und Gardinenstangen. Wenn es in der Stube herumhüpft , so macht es ganz ähnliche Geberden wie das ganz wilde. Es hält inne, untersucht das Nächstliegende, horcht, wendet oft den Kopf einmal nach rechts, einmal nach links. Welche Bewegung es endlich ausführt, wohin es läuft, das scheint durch Will- kür, durch einen angeborenen Trieb bestimmt zu werden, wie in der ersten Lebenszeit, aber es gehört bereits vieles Andere mit hinein, das nur durch die Erfahrung im Leben entstanden sein kann. Denn wenn es z. B. aus einer Stube in die gewohnte Arbeitsstube gelaufen ist, so bewegt es sich oft schnurstracks auf das Fenster zu, um an seinen beliebten Platz zu klettern. Oft aber auch macht es erst einige Bewegungen, macht einen Umweg, schnüffelt noch dies oder das an, aber trotzdem verfolgt es seinen Weg, den es ge- wohnt ist und landet ziemlich rasch an der Stelle auf der Fensterbank. Es ist dies etwas anderes, als wenn man es auf der Erde durch Hinhalten eines Brockens und den gewohnten Ruf des Lockens (wie: ei, ich habe aber etwas Schönes) herbeilockt. Dann kommt es oft rasch und direkt, riecht an, um zu fressen oder sofort verschmähend wieder fortzulaufen. Hier ist es bestimmt worden durch eine mit Aufmerksamkeit und augenblick- lich deutlichem Bewußtsein verbundene Willens- tätigkeit. Macht es aber seinen gewohnten Weg, wenn auch mit Umwegen, wird es gewiß nicht in derselben deutlichen Weise durch sein Ziel und seinen Willen bewußt bestimmt, sondern durch die Gewohnheit, welche aus der Erfahrung, den früheren Gefühlen und Vorstellungen veranlaßt wird. Ganz ähnlich machen wir Menschen es auch. Wir führen viele Tätigkeiten nur mit hal- bem Bewußtsein aus oder gar ohne Bewußtsein, ohne uns nachher das Getane deutlich in das Gedächtnis rufen zu können. Wir gehen den gewohnten Weg zur Tafel, zum Schreibtische, zum Bette und belasten uns nicht mit besonderer Anstrengung, haben im Gegenteile etwas anderes im bewußt denkenden Geiste. Ein großer Teil unserer Tätigkeit beruht auf einer vorhergehenden Erfahrung, deren wir uns überhaupt nicht mehr oder nur bei besonderem Willen bewußt werden. Wenn eine solche Erfahrung mit Übung lange andauert, so tritt auch die bewußte Erfahrung immer mehr zurück, es kommt uns vor, als sei das selbstverständlich, als sei es gar angeboren. Ein sehr geschickter, sehr eingeübter technisch ausübender Musikkünstler kann nicht mit dem- selben Maße gemessen werden wie etwa ein neu- schaffender Komponist. Eine andere Art von Tätigkeit geht bei beiden vor sich, wenigstens ist ein Teil der Tätigkeiten verschieden. Technisch würde man überhaupt nicht weit kommen, wenn man nicht imstande wäre, die Fähigkeit einzu- prägen, so daß sie mechanisch wird, d. h. nicht mehr dasselbe Maß geistiger Mühe verbraucht wie zu Anfang. Der ausübende Künstler kann immer mehr seine Aufmerksamkeit auf das Wich- tige verlegen, den Geist der Tondichtung wieder- zugeben suchen, indem er das technisch Erworbene, die Frucht auch der einzelnen Übung des be- treffenden Werkes, benutzt wie nebenher. Aber auch jeder schaffende Künstler braucht außer n Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. s seiner neuschaffenden Tätigkeit, seiner Einbildungs- kraft ein gut Teil von erworbener, fleißig in seine Gewalt gebrachter Tätigkeit. Bei dieser ist das Bewußtsein mehr und mehr zurückgetreten mit dem Gedächtnisse an die Entstehung und an das Einzelne. Nun sagt man wohl, das eigentliche Talent oder besser das Genie brächte die Fähig- keit mit sich wie etwas Angeborenes, was sich im Leben erst entwickelte, aber darin nicht ent- stände. Ich komme hiermit auf den Teil der Betrachtung, der sich mit der Vererbung beschäf- tigen muß. Das Eichhörnchen, wie überhaupt jedes Tier, besonders auch das niedrig stehende (z. B. die Seidenraupe) zeigt bei seinem Erwachen zum lebendigen Bewußtsein, bei seiner Heranreife aus dem Keim und Fötuszustande mitgegebene Eigen- schaften. Wir können hier nicht behaupten, daß etwa das Gehirn im Laufe des Lebens durch äußere Erfahrung und Übung diese mechanische Beschaffenheit angenommen hätte. Wenn das Gehirn eine pausende Beschaffenheit hat, so hat sich diese entwickelt ohne daß, oder obgleich oder zusammen damit, daß auch schon auf das junge Tier räumliche Erfahrungswirkungen stattfinden. Aber wir dürfen es ja nicht übersehen, daß eine große Ähnlichkeit vorhanden ist mit der mecha- nischen Tätigkeit, die wir entschieden unter Ein- fluß der Erfahrung, des Bewußtseins und des an- fänglich lebhaften, dann erlöschenden Gedächtnisses erwerben. Wie gesagt, finden im Laufe des Lebens durch Erfahrung und Weitergehen der übrigen, mehr bewußten und gewollten Hand- lungen Erwerbungen von Gewohnheiten, Sicher- heiten, Leistungsfähigkeiten statt, die bald er- scheinen wie mitgegeben. Dies sind wir zwar geneigt einer hergestellten Gehirnbeschaffenheit zuzuschreiben, doch kommen wir damit entschie- den nicht aus, selbst wenn wir einem Parallelis- mus des Seelischen und Räumlichen oder einem Monismus mit irgendwelchen Annahmen huldigen sollten. Schon das Ingangsetzen solcher Fähig- keiten bedarf eines Anstoßes, der aus jener Ge- hirnbeschaffenheit nicht genügend räumlich erklärt wird. Die Entstehung der Gehirnsbeschaffenheit bedarf noch weiterer Annahmen. Wenn wir aber gar beachten, wie ähnlich diese Vorkommnisse des Lebens den angegebenen Eigenschaften wer- den, so können wir noch viel weniger damit aus- kommen einfach ein solches Organ als genügende Erklärung herzunehmen. Im Zustande des Kei- mes, wobei doch die erbliche Übertragung statt- findet, ist jedenfalls ein so differenziertes Organ nicht vorhanden. Schweigen wir auch von den uns so unbekannten Vorgängen im äußerst Kleinen, so können wir doch soviel sagen, daß nicht ein- fach die im Leben erfahrungsgemäß hergestellte Beschaffenheit eines solchen Organes, wie sie ist, bei der Zeugung übertragen wird und immer wieder übertragen wird durch Generationen , auf Jahrtausende und Millionen von Jahren hin. Können wir hiernach wagen, uns das, was man Instinkt nennt, bei den Tieren etwas ähn- licher und begreiflicher vorzustellen, als es bisher gewöhnlich geschieht? Die Ähnlichkeit mit den im Leben erworbenen Fähigkeiten und dem Zu- rücktreten des Bewußten, dem Erlöschen der ein- zelnen Erinnerung ist sehr groß. Kommt es uns nicht oft vor, als hätten wir gewisse Fähigkeiten aus einem anderen, früheren Leben, die wir doch uns während des Lebens , etwa vor langer Zeit, in früher Jugend erworben haben ? Nicht selten wachen im Alter Erinnerungen, aber auch gewisse Fähigkeiten auf, die lange geruht haben. Wenn wir überhaupt eine lange unterlassene Tätigkeit, etwa das früher erlernte Schlittschuhlaufen, nach langer Zeit wieder versuchen, wird es uns zwar zunächst schwerer, aber keineswegs so schwer, als müßten wir es neu lernen, es bedarf, wenn wir überhaupt noch Muskelkräfte genug besitzen, nur der Überwindung einer gewissen Ungeschick- lichkeit, oder gar, wir sind sehr verwundert, daß wir das plötzlich wieder können. So können wir auch verwundert sein, wenn bei einem heran- wachsenden oder herangewachsenen Menschen ein Talent eigener Art auftritt, obgleich, wie gewöhn- lich bei Kindern, zunächst ihre Leistungen nur wie Nachahmungen aussehen. Die großen Dichter usw. haben zuerst auch nur sehr nachahmend ge- schaffen, aber es zeigen sich dann ihre besonderen Fähigkeiten. Ein niedrig stehendes Tier scheint genau mit Eintritt einer gewissen Entwicklung, z. B. der Verpuppung, die Eigenschaften zu haben und sofort mit großer Sicherheit ausführen zu können, welche ein höheres oder der Mensch nur nach besonderer Mühe und Übung im Leben er- reichen kann. Dafür können bekanntlich höhere Wesen mannigfachere Tätigkeiten erlernen oder ausüben, sind mehr fähig während des Lebens zu lernen und müssen auch mehr lernen, Aufmerk- samkeit, bewußtes Gedächtnis usw. anwenden, um zu leisten. Aber freilich auch wir höheren Wesen gründen unsere Fähigkeiten sehr stark auf Ange- borenes, was also herstammt aus Übungen der Eltern, Vorfahren bis zurück zu den andersartigen Wesen, aus denen sich unsere Art allmählich ent- wickelt hat. Dürfen wir wirklich den Tieren, etwa denen niederer Stufe, einfach Intelligenz in dem Sinne absprechen, in dem wir Erfahrungen benutzen und daraus Fähigkeiten zeigen und Tätigkeiten aus- üben ? Gibt es da überhaupt einen scharfen Schnitt? Zeigt das Eichhörnchen nicht auch oft genug ganz deutliche Überlegung? Da es nicht sprechen kann, benutzt es seine Töne offenbar sehr bald mit Absicht und gewisser Überlegung je nachdem, mit wem es gerade zu tun hat. Wenn Besuch kommt, ärgert es sich meist über die Störung. Als viele Personen im Zimmer waren, und es gezeigt wurde, auch auf dem Boden herum- laufen konnte, lief es oft auf die Schwelle der- jenigen Tür, die zum Nebenzimmer und von da in mein Arbeitszimmer führte, dann lief es wieder zu mir. Als das nicht half, kletterte es an mir N. F. XIX. Nr. s Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 73 herauf und setzte sich auf meine Schulter. Ich ließ es wieder hinunterlaufen; dann lief es wieder zur Tür, kehrte zu mir zurück, kletterte wieder empor. Und als das nichts half, kniff es mich schließlich zum ersten Male in seinem Leben oben in das Ohr, um sehr deutlich den Wunsch zu äußern, ich solle es forttragen und mit ihm in mein Arbeitszimmer gehen. Oft drückte es sein Verlangen zu fressen dadurch aus, daß es nach vergeblicher Anwendung seiner Sprache sanft in den Finger kniff, oft auch etwas fester, so daß durch die scharfen Zähne Blut hervorgerufen wurde. Aber das war keineswegs ein böser Biß zur Ver- teidigung, viel sanfter und nicht mit wütenden Tönen verbunden. Man kann unmöglich darin nur bewußdoses und gedankenloses Empfinden und Tun sehen. Die Tätigkeiten des Geistes solcher Tiere halten sich an die Ernährung und Ähnliches, aber dabei fehlt ein Überlegen durch- aus nicht. Nach vergeblichen Versuchen in früheren Jahren gelang es im vierten das Eichhörnchen dahin zu bringen, daß es beim Aufraspeln einer geschlossenen Nuß inne hielt, wenn man ihm eine geöffnete hinhielt, und diese lieber nahm, während es sich früher nie stören ließ. Um einen richtigen Begriff der Erfahrung zu gewinnen, wird man von Vorgängen sprechen, an welchen eine seelische Einheit in irgendeiner Weise teilnimmt. Was teilnehmen heißt, ist recht schwer zu sagen und erfordert tiefgehende philo- sophische Betrachtungen.*) Es wird von einer Erfahrung einer persönlichen lebenden Einheit ge- sprochen werden, also eines Wesens lebend von der Erzeugung an bis zum Tode, dann wenn die Erfahrung irgendwie in das einheitliche Bewußt- sein eintritt, in welchem Grade wir uns auch ein Bewußtsein vorstellen wollen. Dazu wird kommen die Annahme, daß eine Art von Erinnerung wenig- stens zuerst (wenn aus der einzelnen Erfahrung etwas Zusammenhängendes entsteht) auftritt, die auch nach Pausen des Vergessens neu erwachen kann. Man könnte von einer Vorerfahrung be- reits dann reden, wenn die Erinnerung längere Zeit ruht, also zeitweilig oder während des ganzen folgenden Lebens eine Erinnerung an die Einzel- heiten der Erfahrung nicht wieder auftritt. Doch dürfen wir wohl annehmen, daß ein lebendes, be- wußtes einheitliches Wesen imstande ist, gelegent- lich wenigstens einige Einzelheiten der früheren, innerhalb des Lebens gemachten Erfahrungen wie- der zu erleben oder wenigstens eine allgemeine Vorstellung, ein Allgemeingefühl zu erhalten da- von, daß die Erfahrung innerhalb des Lebens ge- macht ist. Im Gegensatze dazu werden wir bei solchen Handlungen, zu denen eine Art angeborener Trieb, sogar ein ganz bestimmter, ausgebildeter, bis in Einzelheiten sich erstreckender Trieb veranlaßt, sagen, daß dieser nicht verbunden ist mit einer Er- innerung bewußter Art an die Weise, in welcher die Erfahrungen gemacht worden sind. Daß aber Er- fahrungen, also Vorgänge, verbunden mit irgend- welchen einheitlichen Seelen, dazu gehören, das wird man nicht bestreiten. Man wird sogar an- nehmen, daß bei angeborenen Trieben, Talenten, im sog. Instinkte der Tiere sich Erfahrungen mehrerer Indi\/iduen früherer Zeit, sogar ganzer und zwar höchst langer Reihen zusammengetan haben. Dies Zusammentun hängt zusammen mit der Bildung einer seelischen neuen Einheit, wie sie die Erzeugung hervorbringt. Ich kann hier nicht auf weitere Gründe eingehen darüber, warum überhaupt wohl Erzeugung, das Altern und das Sterben nötig ist und muß auch dabei auf das genannte Buch verweisen.') Wollen wir mit Vorerfahrung eine Erfahrung bezeichnen, an die das lebende Einzelwesen inso- fern keine Erinnerung hat, als es sich der Um- stände und der Zeit nicht erinnern kann, in der die Erfahrungen gemacht sind, so werden wir natürlich diesen Begriff auch so weit fassen, daß diese Erfahrung gemacht sein kann von Vot fahren der jetzt lebenden Wesen. Es trifft dieser Aus- druck dann in vieler Beziehung den bisherigen Begriff „Instinkt". Wir werden uns Menschen danach auch einen Instinkt zuschreiben ; aber wir werden nicht ohne weiteres die menschliche Be- gabung derjenigen der Tiere oder vielmehr ihrem Instinkte gleichsetzen. Wir wissen erstens, daß der Mensch viel weniger ausgebildeten Instinkt, also nach unserer neuen Ausdrucksweise viel weniger Vorerfahrung mitbekommt, welche sich auf bestimmte einzelne Tätigkeit bezieht, und welche die Lebenstätigkeit des ererbenden Wesens ganz außerordentlich ausfüllt und wenig Raum läßt für sehr abweichende Erfahrungen und Tätig- keiten während des Lebens. Der Mensch und ähnlich die höher organisierten Tiere haben weniger direkt übertragene, aus der Vorerfahrung im ein- zelnen stammende Eigenschaften, sind darum zu- erst hilfloser, bis sie Anregung durch eigene Er- fahrungen im Leben erhalten haben, dabei aller- dings ebenfalls ganz stark sich stützen auf die Vorerfahrungen. Bei einem niedrig stehenden Tiere, daß sich auch nicht derartig wie der Mensch verschiedenen Verhältnissen anpassen kann, werden die Erfahrungen innerhalb seines organischen Einzeldaseins nicht sehr abweichen von den Er- fahrungen der Vorfahren, die es als Vorerfahrung übernommen hat. Es erfüllt seine Seele darum auch mit gar keinem oder nur geringem Zuwachs an Neuem und vererbt ziemlich dasselbe wie die Eltern. ') K. Geißler, Das System der Seinsgebiete, Grundlage einer umfassenden Philosophie. Verlag O. Hillmann. Leipzig 191g. 74 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. s Einzelberichte. Geologie. Glaziale und pseudoglaziale For- men im westlichen Kleinasien bescTireibt A. Philippson in der Zeitschr. f. Erdkunde zu Berlin (Nr. 5/6, 1919). Unzweifelhafte Gletscherspuren Westkleinasiens beschreibt Philippson von der Nordseite des Hochkammes des Mysischen Olymps (Keschisch- Dag). Auf der niederschlagsreichen Seite liegt eine ganze Reihe von Karen, auf deren Boden sich kleine Seen befinden. Der Boden der Kare liegt bei 2150 — 2250 ungefähr 300 m unter dem höchsten Gipfel. Die Schneegrenze muß dem- nach bei 2200 m gelegen haben. Die Frische der Moränen läßt auf die jüngste Eiszeit schließen. Westlich dieser Doppelkars liegen andere kar- ähnliche Erscheinungen, die bei einer Schnee- grenze von 1900 m der vorletzten Eiszeit zuge- hören. An niedrigeren Bergformen zeigten sich gla- zialverdächtige Formen, die wegen ihrer tiefen Lage Bedenken wachrufen. Auf der östlichen Seite des 2085 m hohen Egrigös-Dag liegen zwei muldenförmige Hochtäler in 1900 m Höhe. Sie wie der in 1700 m Höhe liegende Taltrichter am Ak-Dag bei Simav sind verdächtige Glazialerscheinungen. Im Serpentin- gebirge Sandras- Dag bemerkte Philippson drei Kare, die in ihrer Höhenlage der vorletzten Ver- eisung zugezählt werden könnten. Im mittleren Imolos-Gebirge treten breite, wannenförmige Täler auf, die Philippson zu folgendem Urteil veranlassen: „Der Anblick dieser Talformen, namentlich vom Gipfel des Bos-Dag aus, ist so charakteristisch glazial, daß ich trotz des Fehlens von Karen, Moränen, Rundhöckern nicht daran zweifeln würde, daß sie durch Gletscher, die vom Bos-Dag herabstiegen, wannenartig er- weitert und vertieft seien, wenn nicht ihre tiefe Lage und die sonstigen örtlichen Verhältnisse große Bedenken erregten." Wie diese Hochtäler von Tschavdal und Bosdagköi, so ist auch das Hoch- tal von Göldjük gestaltet. Im Innern Mysiens liegt der Schahankaja. Eins seiner Hochtäler, Kodjajaila hat ganz glaziales Gepräge mit Längs- dämmen, die man für Ufermoränen halten könnte. Man kann dies und die Hochtäler im mittleren Imolos-Gebirge nur erklären, wenn man eine Auf- wölbung und Schiefstellung der breiten Talböden annimmt. Die Erklärung durch eine Vergletsche- rung von einem gesunkenen Gebirge her trifft nicht zu. Scheinbare Kare und kleine Seen treten in den verschiedensten I eilen und in den verschieden- sten Höhenlagen auf. Hierher gehören der Karegöl am Kare Dag, der Karegöl am Jamenlar-Dag, der Karegöl bei Göseren zwischen Ulus-Dag und Alat- schem Dag, das karähnliche Gebilde am Karschak- Dag. Im Paralleltal des Eldisan ist ein solcher See (Karegöl) durch „Sackung und Rutschung des weichen Gesteins" entstanden. Am Uhar-Dag liegen drei Pseudokare. Philippson zweifelt auch an der glaziale Natur des von W. Penek an der Westseite des Kyraugas- Nordgipfels ange- gebenen Kar, in dem er eine Einsturzdeline sieht. Rudolf Hundt. Die Wirkungen der Friedensbedingungen auf die Erz- und Kohlenversorgung Deutschlands werden von Krusch in Heft 20 von Metall und Erz (1919) dargestellt. Wenn Oberschlesien durch Abstimmung uns verloren gehen sollte, dann müssen wir den Ver- lust sehr wichtiger Steinkohlen-, Blei-Zinkerz- lagerstätten und kleinerer Eisenerzvorkommern ver- schmerzen. Von dem großen Steinkohlengebiet gehört der größere Teil zu Preußen. Nur ein kleinerer Teil ist bis jetzt aufgeschlossen, während der größere Teil noch unbekannt ist. Man unterscheidet eine Rand- gruppe, eine Muldengruppe und an der Grenze beider die bis an die Oberfläche herankommen- den Sattelflöze, auf denen naturgemäß der Berg- bau zuerst umging. In diesen Sattelflözen ist ein bedeutender Kohlenvorrat vorhanden. 1913 wur- den in Deutschland 190 Millionen Tonnen Stein- kohle erzeugt, an denen Oberschlesien mit 43 Millionen Tonnen beteiligt war. Wir würden also 22,8 "/o unserer Steinkohlenproduktion verlieren. Auf dem internationalen Geologenkongreß in Stockholm wurde der Vorrat oberschlesischer Kohle bis 1000 m Tiefe auf 10,3 Milliarden Tonnen und von 1000 — 2000 m auf weitere 155,6 Mil- liarden Tonnen berechnet. Ganz Deutschland birgt über 409.9 Milliarden Tonnen. So würden also mit den 165,9 Milliarden Tonnen Steinkohlen 40 7n unserer Steinkohlenvorräte verloren gehen. Die Blei-Zinkerze Oberschlesiens liegen im Muschelkalk. Sie liegen für den Abbau äußerst günstig. Deutschland gewann 191 3 gegen 2,88 IVIillionen Tonnen Blei- Zinkerze, von denen 1,55 Millionen Tonnen aus Oberschlesien stammten. Wenn man den Metallinhalt in Betracht zieht, dann ergeben sich folgende Verhältnisse. Von den 304000 Tonnen Zink und looooo Tonnen Blei im Jahre lieferte Oberschlesien 203 000 Tonnen Zink und 50 ooo Tonnen Blei, das sind 66 "/„ der deutschen Blei-Zinkerzförderung und 50 "/o des ge- samten deutschen Bleiinhaltes. Die Eisenerze lagern im Keuper, Jura und im Tertiär. Man baut sie aber nur aus dem Tertiär ab. Es sind jährlich nur 140000 Tonnen. Das ist gegenüber der Gesamtproduktion von 28,6 Millionen Tonnen sehr wenig. An Vorräten liegen rund 4 Millionen Tonnen hier, die gegenüber den gewinnbaren Erzvorräten von 2,3 Milliarden Tonnen nur 0,17"/,, ausmachen. In der Provinz Posen liegt die fiskalische Saline Hohensalza, die im Jahre 1913 gegen 103924 cbm Sole gewonnen. Das private Bergwerk Hohen- N. F. XIX. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 75 salza förderte 213000 cbm Sole. Hohensaiza ge- winnt nur ^/jQ der deutschen Produktion. Brauntiohlen finden sich in Westpreußen und Posen, wo besonders unter dem pliozänen Flammenton miozäne Braunkohle erbohrt worden ist. Die spielen für das größere Deutschland wirtschaftlich keine Rolle, wenn man schätzungs- weise die durch Tagebau zu gewinnenden Braun- kohlen auf 14 Milliarden Tonnen schätzt. Auch die Tiefbaubraunkohlen werden die gleiche Summe ausmachen. Mit Eupen und Malmedy gehen i.ö"/,) des Zink- und 0,4 % des Bleiinhaltes verloren. Im Saargebiet liegt unser drittgrößter deutscher Steinkohlenbezirk. Im preußischen Anteil ist jetzt die Ausbeute am größten. 191 3 wurden im ge- samten Saarbrücker Bezirk 17 Millionen Tonnen Steinkohle gewonnen. Auf das engere Saargebiet kommen 12 Millionen Tonnen, das sind 6 "/o unser deutschen Förderung. Man schätzt die Vorräte Saarbrückens bis zu icoo m Tiefe auf 7,9, bis zu 2000 m auf 16,53 Milliarden Tonnen. Da kommen auf das preußisch Saarbrückner Gebiet -/g, auf Lothringen '/g des Anteils, das macht 3 % unserer deutschen Vorräte aus. Wie für den Osten die Steinkohle Oberschlesiens unentbehrlich ist, so ist es die Saarkohle für den Westen und Süden Deutschlands. Mit Elsaß- Lothringen sind uns vier Boden- schätze verloren gegangen : Minette, Steinkohlen, Erdöl, Kali. Die Minette bildet im unteren Dogger mehrere einfache Platten. Östlich von Verdun ist das Minettelager nicht mehr abbaufähig. 191 3 gewann man im Lothringer Minettebeziik 21 von 28 Mil- lionen Tonnen ganz Deutschlands. Wir verlieren so 71,7 % unseres Eisengehaltes. Von unsern Eisenvorräten gehen uns mit 1,77 Milliarden Tonnen 77,4 "lo verloren. An Steinkohlen weist Lothringen als Anteil am Saarbecken i "/„ des Gesamtvorrates von Deutschland auf. 1913 gewann man 3% der deutschen Produktion in Lothringen. Das Erdöl von Hagenau beschränkt sich auf die mitteloligozänen Sande aus Mergel, die bis in eine Tiefe von 450 m sich finden, aus denen das Ol in Schächten gewonnen wurde. 191 3 gewann man gegen 49000 Tonnen bei einer Gesamtaus- beute in Deutschland von 120 000 Tonnen. Mit dern Verlust des elsässischen Kali ist Deutschlands Monopolstellung zerbrochen. Wäh- rend die norddeutschen Vorkommen der Zech- steinformation angehören, liegen die elsässischen Kalisalze im Tertiär. Die elsässischen Kalisalz- lager bilden Platten, bestehen in der Regel nur aus Chlorkalium und Chlornatrium. Sie treten in zwei Lagern auf, einem oberen, das 0,8 — 1,5 m mächtig sich 430—660 m tief findet und einem unteren, das bis 5,5 m mächtig ist und 20 m tiefer liegt. 191 3 förderte man 452000 Tonnen, gegen 11,9 Millionen Tonnen Gesamtförderung, V23 der Produktion. Wenn man mit einer vollen Ent- wicklung des elsässischen Gebietes rechnet, dann kann man '/a der gesamten deutschen Höchst- förderung erzielen. Die elsässischen Salze sind den norddeutschen Salzen gegenüber arm, so daß das Ausland ohne unsere norddeutsche Vorkom- men nicht auskommen kann. Es ist erfreulich, zu hören, daß man in Baden bei Buggingen in einer Tiefe von 708 m Kali in ganz ansehnlicher Mächtigkeit von 4 m erbohrt hat. Rudolf Hundt. Geographie. Dem „Nordostrand des Thüringer Waldes" widmet Behrmann Inder Zeitschr. der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin (1919) eine be- achtenswerte Betrachtung. Der Nordostrand des Ihüringer Waldes bildet keine einheitliche Bruch- stufe wie der Nordharzrand. Die weite, ebene Rumpffläche des Schwarzagebietes ist ein Teil der Fastebene wie es auch der Frankenwald ist. Wenn man den Saalfelder Kulm mit 482 m und den Kesselberg bei Blankenburg mit 521 m be- trachtet, so sieht man, daß sich die Fastebene des Schwarzagebietes nach diesen Resten der Fastebene in der Thüringer Mulde hin fortsetzt, ohne daß eine Bruchstufe vorhanden ist. Nur Schrägstellung der Fastebene, die heute die Hoch- fläche darstellt, hat die Oberfläche des Thüringer Waldes erzeugt. Das nach der Fastebenenzeit eintretende Auswittern des weichen Zechsteins und Buntsandsteins bewirkte die Entstehung der Talung von Saalfeld nach Blankenburg. Wäre diese riesige Talung nicht vorhanden, dann könnte man vom Gebirge (der schräggestellten Fastebene) bis zur Fastebene in der Thüringer Mulde wan- dern, ohne große Höhenunterschiede zu merken. Nordwestlich von Gehren verläuft der Gebirgs- rand zickzackförmig. Bei Gehren springt eine Ecke zurück. Eine weite Talung greift weit ins Innere hinein. Behrmann vermutet hier die südliche Grenze des Thüringer Waldes. Von hier ab ändern sich Hochflächengestaltung, Gesteine und Gebirgsabfall. Eine kräftige Randzerteilung hat die schmale Hochfläche des Thüringer Waldes sehr zerschnitten. Die Höhen der erhalten ge- bliebenen Berge betragen im Innern 900 m, weiter 800 — 760 m. Am Gebirgsabfall findet sich ein Bruch, die Höhen der Hochfläche im Vorland betragen 530 m. Die Bruchstufe beträgt hier 250 m, weiter im Nordwesten bei Frankenhain 200 m. Bei Friedrichsroda und bei Eisenach ist Zerteilung des Gebirges und Ausräumung des Vorlandes so weit vorgeschritten, daß die Bruch- stufe nicht mehr deutlich zu erkennen ist. Den Übergang zwischen Bruchstufe und Schrägstellung findet Behrmann am Rand des Thüringer Waldes bei Ilmenau. Anhalte für seine Annahme findet er in den Formen der Ilmenauer Berge, im geringen Höhenunterschied zwischen Vorland und Gebirgsrand. Er nimmt in dieser Gegend eine Verbiegung an, die den Übergang !(> Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 5 zwischen Bruchstufe im Nordwesten und der Schrägstellung bildet. Rudolf Hundt. Physik. Über Blausäuredesinfektion und Blau- säurevergfiftung machie H. Fühner, der Königs- berger Pharmakologe, neue Mitteilungen. ') Danach wird das sehr giftige, aber ebenso wirksame Blausäure- gas bereits seit 1898 in Amerika zum Ausräuchern insbesondere von JVlühlen und großen Mehl- speichern, die von der indischen Mehlmotte (bLphestia Kuehniella) heimgesucht sind, benutzt.'-) Nachdem die Mehlmotte bereits 1877 mit ameri- kanischem Weizen in Deutschland eingeschleppt war, machte sich auch bei uns das Bedürfnis nach einen wirksamen Vertilgungsmiitel geltend. Die Motte verspinnt nicht allein das Mehl zu schleimi- gen Klumpen, sondern schadet auch unmittelbar durch Verstopfung und Verschmutzung der Ma- schinengänge, Röhren usw. Trotz dieser unter Umständen sehr lästigen Eigenschaften, und ob- wohl man die gute Wirkung der Blausäure kannte, hat man sich erst unter dem Druck des Krieges auch in Deutschland zur Blausäuiedesinfektion im großen Stile entschlossen. Im Jahre 191 7 räucher- ten, nachdem der Entomologe Escherich es mehrfach empfohlen hatte. Andres und Frick- hinger die ersten deutschen Mühlen mit Blau- säure aus, und zwar mit so gutem Ergebnis, daß seitdem viele weitere Betriebe in der gleichen Weise vergast wurden ^) Noch größere Wichtig- keit erlangte das Verfahren, als sich ergab, daß auch Läuse, Wanzen, Flöhe, Küchenschaben, Stechmücken (diese ganz besonders) usw. gegen Blausäuredesinfektion widerstandslos waren. Heute werden nicht nur Mühlen und andere landwirt- schaftliche Betriebe damit ausgeräuchert (durch den „Technischen Ausschuß für Schäd- lingsbekämpfung— Berlin"), sondern auch die Desinfektion im kleinen hat zu dem Radikal- mittel gegriffen. Es ist deshalb doppelt wertvoll, daß Fühner die Bedingungen der besten Wir- kung des Gases und die dabei zu beachtenden Vorsichtsmaßregeln einer eingehenden Nachprüfung unterzogen hat. Als Versuchsraum diente ein 42 •'/o Kubikmeter großes Zimmer, in dem aus 1,5 kg Natriumcyanid (billiger als das in Amerika meist verwendete Kaliumcyanid) und warmer verdünnter Schwefel- säure das Blausäuregas entwickelt wurde. Ob- wohl die Tür zum Versuchszimmer gut abgedichtet war, so merkte man doch schon nach wenigen Minuten an ihren Spalten deutlichen Blausäure- duft. Dieser wird in der ihm gewöhnlich zu- geschriebenen Qualität (,,bittermandelähnlich") üb- rigens zumeist nicht gerochen, sondern als kratzen- der Geschmack im Rachen wahrgenommen. Am anderen Tage waren alle im Desinfektionsraum untergebrachten Versuchstiere, wie Gartenameisen und weiße Mäuse, tot. Am meisten waren die Mäuse geschädigt. Auch waren Tiere, die sich in einem nicht gelüfteten aber ebenfalls gegen den Hauptraum gut abgedichteten Nebengelaß be- fanden, entweder tot oder bewußtlos. Dasselbe war der Fall bei Mäusen in einem Raum ober- halb des vergasten Zimmers. Das Gas war also, da es spezifisch leichter als Luft ist, zur Decke gestiegen und durch diese diffundiert. Nach 10 stündiger guter Lüftung blieben Mäuse im Versuchsraum unversehrt, Ameisen zeigten noch Lähmungserscheinungen. Noch nach tagelangem Lüften verspürte Fühner beim Aufenthalt im Versuchsraum Unwohlsein und Kopfschmerz. Die damit aufs neue erwiesene starke Giftigkeit der Blausäure gibt Fühner zu einer weiteren Dar- stellung ^) Anlaß, wobei auch die Behandlung von Vergiftungsfällen erläutert wird. Auch Fühner empfiehlt neben der Sauerstoffatmung die Eingabe von Natriumthiosulfat, das die Blausäure (HCN) in die ungiftige Rhodenwasserstoffsäure überführen soll. F. Flury und W. H eubner -) sind jedoch zu einem Fühners und Teich man ns ■') Ver- suchen widersprechenden Ergebnis bezüglich der Blausäurenentgiftung mit Thiosulfat gekommen. Sie hallen dessen Heilwirkung nur für partielle oder „stationäre" Vergiftung für erweisbar. In solchen Fällen aber sei das beste Gegenmittel nach wie vor Sauerstoffzufuhr. Eine eindeutige Klärung der Frage steht noch aus. H. Heller. Zoologie. Zweiflügler als Schädlinge am Gemüse. Eine Fliege als neuen Schädling am Blumenkohl konnte Dr. Friedr. Zacher feststellen. (Gartenflora 68. Jahrg. Heft 13/14.) Er erhielt einen Blumen- kohlkopf, der von zahlreichen feinen Fraßgängen durchzogen war. Sie begannen oben an den Ro- setten als haarfeine Kanäle, die von dort in der Richtung der Längsachse nach unten verliefen und dabei immer weiter wurden, bis sie schließlich ein Lumen von i mm Durchmesser aufwiesen. Verfärbungen des Gewebes waren kaum vorhanden. Nach wenigen Tagen kamen aus dem Strunk kleine, etwa 4 mm lange, kopflose Fliegenmaden hervor, die sich sehr bald an der oberflächlichen Schicht des Sandes in hellbraune Tönnchenpuppen verwandelten. Diese entließen in der Mitte des August die ersten Fliegen, die der Gattung Pliyto- iiiyza flavicuniis Fall, angehörten. Die Verbreitung dieser Fliege scheint ziemlich groß zu sein, ihre Larven wurden auch schon an Brennesseln ge- funden, wo sie im Mark der Stengel parasitieren. Dort verbleibt auch die Puppe während der Wintermonate, vom Frühjahr an schlüpfen dann die Imagines aus. Eine zweite Gemüsebeschädigung 1918. ') Pbarmazeutisclie Zentralhalle 60, S. 487 (Nr. 43, 1919). *) vgl. II. W. Frickhinger, Die Mehlmotte. München ■') s. u. a. Prometheus XXVIII, S. 745, 1917. 1919). ') a. a. O. S. 491 u. Deutsche med. Wochenschr. 1919. '') Biochemische Zeitschr. 95, S. 249, 1919. :•) vgl. Natw. Wochenschr. N. F. XVIII, S. 626 (Nr. 43, N. F. XIX. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. n konnte Zacher (ebenda) an Bohnenkeimlingen untersuchen. Sie scheint sich besonders dann ein- zustellen, wenn das Aufgehen der Bohnen in längere Regenperioden fällt. „Die Keimblätter der jungen Bohnenpflanzen weisen dann zahlreiche Fraßgänge auf, ebenso der Stengel; zumeist schließen sich Fäulnisprozesse an, an denen die Pflanzen dann zugrunde gehen". Und auch wenn die jungen Pflanzen weiterwachsen, haben sie nur einen schlechten Wuchs und zeigen bald ver- krüppelte Blätter. In den zerfressenen Keim- blättern und Stengeln fand Zacher Fliegenmaderi, die der von ihm früher schon beschriebenen Made der Schalottenfliegei' Clioriopliila tricJiodactyla Rond.) auffallend ähnlich waren. Wenn Zacher nun auch die Zucht bisher noch nicht geglückt ist, so schließt er doch, daß auch diese Maden die Schaloitenfliege ergeben werden, die dadurch wiederum als Schädling einer neuen Gemüseart erkannt worden ist. Bisher wurde die Schaloiten- fliege bereits als Schädling an Schalotten, Gurken- keimpflanzen, jungen Roggenpflanzen und Kar- toffeln, in den letzten beiden Fällen von Zacher selbst, beschrieben. H. W. Frickhinger. Zum Unterschied von Raben- und Nebelkrähe. Nachdem der Versuch unternommen worden ist, Raben- und Nebelkrähe {Corviis coroiic und C. corax) trotz ihrer ganz verschiedenen Färbung auf Grund biologischer Momente in eine Art zu- sammenzuziehen, tritt der als Ornithologe be- kannte Pfarrer Wilhelm Schuster-Rastatt da- für ein, daß gerade auf Grund des biologischen Verhaltens der beiden Vögel die beiden Arten getrennt werden müßten. (Berichte der Ober- hessischen Gesellschaft lür Natur- und Heilkunde zu Gießen N. F. naturwiss. Abt., Bd. 7 [1916 — 19] S. 20 1 — u.) Schuster, der in den beiden Ver- breitungsgebieten der Nebel- und Rabenkrähe längere Zeit lebte und beide Arten genau be- obachten konnte, stellt folgende biologische Unter- schiede fest: „Die Nebelkrähe liebt mehr Beeren- nahrung als die Rabenkrähe. Namentlich geht sie gelegentlich an die Beeren von Bäumen (wie z. B. an die Eberesche und die Vogelbeere). Auch die roten Beeren der Spargelbüsche nehmen sie an. Weiterhin sucht die Nebelkrähe mehr und lieber über Wasserflächen Beute als die Raben- krähe. Es handelt sich dabei aber nicht allein nur um Fischbeute, sondern auch um leblose Nahrung, Brotbrocken, Vegetabilien. Gar oft sieht man die Nebelkrähe über den Wasserrändern flacher Teiche Nahrung suchen, was die Raben- krähe nur sehr selten tut. Dieser Zug ist biolo- gisch sehr leicht zu erklären, da sich die Nebel- krähe ja weit mehr in wasserreichen Gegenden aufhält, wie die gemeine Krähe, also sich auch leichter an das Wasser gewöhnt, als diese. End- lich neigt die Nebelkrähe in auffallender Weise häufig zu Luftspielen, wie sie die Rabenkrähe viel sehener ausführt. Der Hang der Nebelkrähe zu Spielen kommt in der Weise zum Ausdruck, daß sie „auf exponierte Stellen, wie Baumspitzen oder Häusergiebel, hinab stößt, kurz vor dem Berühren umdreht und im Bogen wieder in die Luft steigt". H. W. Frickhinger. Biologie. Die Nationalparke der Vereinigten Staaten. Über die Zahl und Art der unter dem Namen „Nationalparke" bekannten amerikanischen Reservate ist man bei uns im allgemeinen nur mangelhaft unterrichtet. Dem entgegen zu arbeiten unternimmt Dr. Th. Ahrens in einer Schrift der Staatl. Stelle für Naturdenkmalpflege in Berlin. Es ist dies von besonderem Wert, weil die Ver- fechter der Schaffung von Naturschutzgebieten oder Naturschutzparken in Deutschland in ihren Auf- sätzen immer auf das Beispiel der Vereinigten Staaten verwiesen haben. Der Gedanke, ein durch natürliche Vorzüge oder Besonderheiten ausgezeichnetes Gelände in seiner Gesamtheit vor wirtschaftlicher Ausnutzung und Zerstörung zu schützen und im ursprünglichen Zustande zu erhalten, hat in den Vereinigten Staaten zuerst 1872 durch die Schaffung des „Yellow Stone Park" seine Verwirklichung ge- funden. Nach der Schaffung des Yellow Stone Parks vergingen 18 Jahre, bevor weitere Gebiete ursprünglicher Natur in gleicher Weise und zu gleichen Zwecken unter Schutz gestellt wurden. Im Jahre 1916 gab es dann 14 Nationalparke und 31 Naiionalmonumente. Ein Nationalpark wird dort durch Gesetzerlaß des Kongresses geschaffen und kann nur durch den Kongreß Gebietsver- änderung oder Aufhebung erlangen. Ein National- monument dagegen wird durch Proklamation des Präsidenten errichtet und kann nur durch dessen Proklamation verändert oder abgeschafft werden. Früher spielte die Propaganda eine so unter- geordnete Rolle, daß sogar die meisten Ameri- kaner wenig oder keine Ahnung von den Schön- heiten, der Ausdehnung und den Mannigfaltigkeiten ihrer Schutzgebiete hatten. Das hat sich geändert, und so besteht jetzt ein Bureau, das sich mit der Verbreitung aller die Schutzgebiete betreffenden Nachrichten befaßt. Auch sorgen die großen Eisenbahngesellschaften mehr und mehr dafür, daß man wenigstens bis an die Grenzen der haupt- sächlichen Gebiete herankommt. R. Potonie. Bücherbesprechungen. Lange, Willy, Gartengestaltung der Neu- zeit. Unter Mitwirkung für den Architektur- garten von Otto Stahn. Mit 309 Abb., 16 bunten Tafeln nach Lichtbildern in natür- lichen Farben. 11. — 13. Tausend. Vierte Aufl. Leipzig 1919. J. J. Weber. 7» Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 5 Als die erste Auflage dieses bekannten Buches erschienen war (vgl. Naturw. Wochenschr. 1907, S. 59), wurde der Autor von allen Seiten heftig befehdet, nicht nur von Architekten und anderen Künstlern, sondern auch von seinen engeren Fach- genossen, alles wegen eines neuen Gedankens: die natürlichen Pflanzengenossenschaften als künst- lerisches Motiv für die Gartengestaltung zu be- nutzen. Jetzt, da das elfte bis dreizehnte Tausend des Buches erscheint, haben sich die Gemüter be- ruhigt, die starke Persönlichkeit des Verfassers hat ihre Wirkung auf Freund und Feind nicht verfehlt, IVlißverständnisse sind aufgeklärt worden und die Gartengestaltung nach den Gedanken Willy Langes ist neben der Gartengestaltung nach Baugedanken längst als berechtigt anerkannt. In der neuen Auflage sind manche Kapitel erweitert, andere gekürzt und die Abbildungen sind, da der Text nicht mehr auf Kunstdruck- papier gedruckt worden ist, ans Ende des Buches gerückt worden. Eine sehr wertvolle Bereicherung hat das Buch durch zwei Seiten Text erfahren, auf denen „die fremdsprachlichen Ausdrücke in ihrer Bedeutung innerhalb dieses Buches" be- stimmt werden. Während die Termini technici in der natur- wissenschaftlichen Literatur wohl kaum jemals Veranlassung zu Mißverständnissen geben, be- gegnen wir in der Kunstliteratur und in den Schriften der sogenannten Geisteswissenschaftler ständig Wörtern, die von den Autoren in ganz verschiedenen Bedeutungen gebraucht werden, was zur Folge hat, daß in der Polemik fortwährend aneinander vorbeigeredet wird. Zu diesen Wörtern gehören auch ,, Kultur" und „Zivilisation". Seit dem Erscheinen von Chamberlains „Grund- lagen des neunzehnten Jahrhunderts" ist es Mode geworden, diese beiden Begriffe als koordiniert einander gegenüberzustellen, wodurch sehr viel Verwirrung angerichtet worden ist. Der Verfasser tut also Recht, wenn er sagt, was er unter Kultur und was er unter Zivilisation versteht. Lange definiert: Kultur = Geistesleben (nicht not- wendig an die Zivilisation gebunden, aber bis- weilen mit ihr verbunden). Unsere altnordischen Vorfahren besaßen bereits hohe „Kultur", aber wenig „Zivilisation". Zivilisation = verfeinerte äußere Lebensform (der Metischen in der Stadt, von civis = Stadtbewohner) (Gegensatz bis zu einem gewissen Grade a) Kultur, b) Natur). — Es seien dem Referenten dazu ein paar allgemeine Bemerkungen erlaubt, die nur in losem Zusammen- hange mit dem Buch stehen: Ich glaube, wir kämen weiter, wenn wir wieder zu der früher üblichen Anschauung zurückkehrten und den Be- griff Kultur im Gegensatz zu Natur gebrauchen. Jeder Gärtner und Landwirt spricht von einem Kulturboden im Gegensatz zum gewachsenen Boden, von Kulturpflanzen und -tieren im Gegen- satz zu den in der freien Natur lebenden Pflanzen und Tieren. Dementsprechend verstehen wir — nach einer Definition Müller-Lyers — unter Kultur „die Summe aller jener Fortschritte und Errungenschaften, die die menschliche Gesellschaft in materiellen und geistigen Dingen, im Wissen und Können, in Sitten und Gebräuchen, in ihren gesamten Lebensäußerungen seit ihren ersten An- fängen sich zugeeignet hatten". Das gesamte Kulturgebiet kann man einteilen in die Gruppen: Wirtschaft, Fortpflanzung, soziale Organisation als Unterbau und Sprache, Wissenschaft, religiöser und philosophischer Glaube, Moral, Recht und Kunst als Oberbau. Den verschiedenen Phasen menschlicher Kultur, von der der niederen Jäger (der untersten Stufe) bis zur Zivilisation (der obersten Stule) entspricht die Höhe der Entwick- lung der einzelnen Kulturgebiete. In bezug auf ihre Entwicklung muß man aber die einzelnen Gruppen des Gesamtkulturgebietes gesondert be- trachten; nur so gelangt man zum Verständnis der scheinbaren Widersprüche, die sich aus der rein historischen Betrachtungsweise ergeben. Ein Volk kann z. B. unter den Wirtschaftsformen längst verflossener Phasen leben, während es in bezug auf Kunst und Wissenschaft bereits die höchste Stufe erreicht hat. Dasselbe gilt für den Einzelmenschen, auch unserer Zeit. Jemand, der die höchste Stufe in bezug auf Kunst oder Wissen- schaft erreicht hat, kann in bezug auf Moral, Re- ligion oder Philosophie sich in einer früheren Phase bewegen; ein Großindustrieller, der den Geist moderner Technik und Naturwissenschaft erfaßt hat, kann in bezug auf Kunst ein Neger sein usw. Diese Beispiele lehren, daß es auch nicht damit getan ist, wenn wir den Begriff „Kul- tur" für den „Oberbau" und den Begriff „Zivili- sation" für den „Unterbau" der „soziologischen Funktionen" reservieren, wie das häufig geschieht. Es empfiehlt sich also doch wohl, wenn wir den Begriff „Zivilisation" so fassen, wie wir es früher taten, und wie es bei allen anderen zivilisierten Völkern geschieht, als höchste bisher erreichte Kulturstufe. Wächter. Neuburger, Albert, Die Technik des Alter- tums. Gr. 8", XVIII, 569 S. mit 676 Abbil- dungen. Leipzig, R. Voigtländer. Ungeb. 24 M., geb. 30 M. In dem stattlichen vorliegenden Bande versucht N. all das zusammenzufassen, was die wissenschaft- liche Forschung über die Technik des Altertums bisher erschlossen hat. Gewiß hat der Verlag sein Äußerstes getan, um das Werk in ein ent- sprechendes Gewand zu kleiden. Aber an dem Werk vermögen wir trotzdem keine Freude zu empfinden. Denn der Verfasser erwies sich der von ihm übernommenen Aufgabe in keiner Weise gewachsen. Die ganze Ausführung des Buches beeinflußt zunächst einmal unheilvoll ein Mißgriff in der Umgrenzung des Themas. N. beschränkte seine „Technik des Altertums" auf die Zeit voin Beginne der eigentlichen Geschichte bis zum Jahre 476 n. Chr.; dadurch schloß er von vorn- N. F. XIX. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 79 herein die vorgeschichtlichen Anfange der klassi- schen Länder des Altertums und die Vorge- schichte Europas von seinen Untersuchungen aus, obwohl alle einsichtigen Forscher längst erkannt haben, daß gerade die Wurzeln der ganzen Tech- nik in der vorgeschichtlichen Zeit liegen, und daß die späteren Zeiten nicht verstanden werden kön- nen, solange über die vorgeschichtlichen Anfänge keine Klarheit herrscht. N. selbst führt die von ihm gewählte Umgrenzung nicht einmal logisch durch, denn bei Ägypten werden die vordynasti- schen, also vorgeschichtlichen Zeiten immer mit behandelt, und für Griechenland werden auch die mykenischen Zeiten im weitgehendsten iVIaße herangezogen, die doch gewiß niemand als ge- schichtlich ansehen wird. Neuburgers Um- grenzung erweist sich also als ein fortwährender Widerspruch in sich selbst! Und aus diesem Widerspruch heraus entsteht dann ein völlig schiefes Bild ; Ägypten, Babylonien und Assyrien erstehen in breiter Ausführlichkeit, Nord- und Westeurojia dagegen, deren kulturelle Selbständigkeit in den letzten Jahrzehnten immer klarer erkannt worden ist, erscheinen in einem dunkelen Schattenriß. Man vergleiche einmal im Inhaltsverzeichnis die Stichwörter: Ägypten, Assyrien, Babylonien, und suche dann ein Stichwort Deutschland, Europa — man wird vergeblich danach blättern; lediglich unter dem Stichwort Germanen finden wir fünf einzelne Punkte aufgezählt, während Ägypten volle zwei Spalten von Einzelangaben umfaßt! Brauchen wir uns da eigentlich erst noch lange in Einzel- heiten der Ausführung zu verlieren? Sie gestallen unseren Eindruck von dem Werke doch nur noch unerfreulicher. So kündet N. zum Beispiel groß- artig an, daß die einschlägige Literatur tunlichst bis zur Gegenwart benutzt worden sei. Aber ver- geblich sucht man in den beigegebenen Literatur- nachweisen die von Kl inckow ström und Feld- haus herausgegebenen „Geschichtsblätter für Technik", das umfassende Handbuch von Feld- ha US „Die Technik der Vorzeit", die Arbeiten von Montelius und Olshausen zur Geschichte des Eisens, Hahns und Vogels Studien zur Ge- schichte der Schiffahrt, Theobai ds Arbeit über Bronzefarben im Altertum, Johls und Ephas Forschungen über Weben, meine eigene Abhand- lung zur Geschichte der Löttechnik im Altertum usw. Die Arbeiten sind nicht etwa nur in den Verzeichnissen aufzuführen vergessen, sie sind vielmehr überhaupt nicht benutzt. Infolgedessen gibt der Verfasser natürlich auch nicht den gegen- wärtigen Stand der F'orschung wieder, sondern Anschauungen, die bereits längst überwunden sind, — und diese Anschauungen werden noch dazu oft genug durch das eigene, gerade nicht allzuviel Sachkenntnis verratende Urteil des Ver- fassers getrübt. Ein Urteil über das Buch ergibt sich damit von selbst. Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt. Anregungen und Antworten. Erwägungen über die Aufgaben der „Arbeitsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen Körperschaften Deutschlands". Den Gedanken der Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen Körperschaften Deutschlands" (Naturw. Wochenschr. Nr. 44, 1919) habe ich mit Freuden begrüßt und verspreche mir auch viel von seiner Verwirklichung im Inter- esse der Förderung der Naturwissenschaften. Jedoch halte ich den von Zillig angegebenen Weg zur Vereinfachung der Übersicht über die naturwissenschaftliche Literatur aus verschiedenen Gründen nicht für erstrebenswert. Vorerst will ich meine Bedenken äuflern und dann auch meinerseits Reform- vorschläge unterhielten. Es ist leider zur Tatsache geworden, daß die vor dem Kriege bereits vereinzelt unterdrückte persönliche Eigenart (damals sprach man von Individualität) durch die in den letzten Jahren immer mehr betonte Forderung des Zusammen- schlusses gleicher Interessenten überstimmt wurde. Jeder ZusaramenschlulJ hat sein Gutes, aber nur so lange, als die Eigenart der Persönlichkeit auch noch zur Geltung kommen kann. In der Politik herrscht nur noch die Ansicht der Führer, die Wähler sind in den meisten Fällen kritiklos mit dem einverstanden, was die Fraktionsleitung für gut hält. Ein Autoritätsglaube dominiert jetzt auf fast allen Gebieten wie noch nie. Die Menschen werden allmählich nur noch zu Teilen einer Maschine, welche läuft, wie und wann es der Maschinenmeister will. Freiheit besteht, obwohl sie jeder im Munde führt, eigentlich nur noch in der Kunst und Wissen- schaft. Mit der von Zillig vorgeschlagenen Zentralisation der naturwissenschaftlichen Zeitschriften und besonders mit der Einsetzung der hierfür notwendigen Zentraljury würde der freien und unbeeinflußten Entwicklung der Naturwissenschaften die Grabschaufel in die Hand gedrückt. Wird je eine Jury zusammenkommen, die eine von einer anerkannten Größe" eingesandte Arbeit, selbst wenn sie ein- mal Alltägliches bietet, zurückweisen würde? Wird anderer- seits eine für ein regional begrenztes Gebiet interessante Ar- beit von der Jury immer auch der Aufnahme in die zentrali- sierte Zeitschrift würdig erachtet werden? Manche -Arbeit, deren Tragweite jetzt von der doch nicht unfehlbaren Jury nicht anerkannt wird, wird abgewiesen. Der Autor gibt sich vielleicht zufrieden, der Abdruck unterbleibt, weil die ein- sendende Körperschaft nicht auf eine außerordentliche Ver- öffentlichung besteht, und eine wertvolle Anregung ist von der Bildfläche verschwunden. Meines Erachtens würde der Friede nicht lange dauern ; über kurz oder lang bekämen wir den schönsten Parteihader in den Naturwissenschaften. Die Folge wäre, daß v/ir dann in Deutschland zwar eine Zentralzeitschrift für Naturwissenschaften hätten , die keine „Zentrale" wäre, weil sicherlich nicht alle Zeitschriften in ihr aufgehen werden, es würde aber vielleicht gar noch eine ,, juryfreie naturwissenschaftliche Zeitschrift" entstehen, manche Vereine würden sich, wie Zillig bereits andeutete, den Ab- druck der abgewiesenen Artikel unter erhöhten Kosten als außerordentliche Veröffentlichung erwirken, mitunter aber auch, falls ihre Einsendungen öfters abgewiesen werden, wieder zur eigenen Zeitschrift zurückkehren. Die neue Zentralzeitschrift soll nach Zillig in soviel Abteilungen erscheinen, als es naturwissenschaftliche Fächer gibt und da sich mehrere bereits bestehende Fachzeitschriften zum Ausbau als Abteilungszeitschrift der „Arbeitsgemeinschaft" eignen, sollen also mit anderen Worten alle Abhandlungen in den bisher bestehenden ,, Zentralblättern" und ähnlichen Zeitschriften zur Veröffentlichung gelangen. Welchen Umfang ein einziger Jahrgang der neuen Zentralzeitschrift (mit allen Abteilungen) erreichen wird, das kann man sich ungefähr vor- stellen. Wer ist aber imstande, sich das ganze Werk zu abonnieren? Nicht einmal alle naturwissenschaftlichen Vereine, selbst nicht die Mehrzahl derjenigen, welche jetzt eigene natur- 8o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 5 wissenschaftliche Zeitschriften herausgeben. In der Gesamt- ausgabe wird die Zentralzeitschrift nur in den gröfieren Biblio- theken gehalten werden, ist demnach gleichfalls mit einem Mausoleum vergleichbar. Auf einzelne Abteilungen werden abonnieren die naturwissenschaftlichen Institute der Universi- täten, Lyzeen u, ä. sowie Fachleute. Das Gros der Akade- miker und Freunde der Naturwissenschaften, welche sich nicht nur für ein Spezialfach, sondern außer für populärwissenschaft- liche Arbeiten auch noch für die naturwissenschaftliche Er- forschung der engeren Heimat interessieren , wird durch die Gründung der Zentralzeiischrifl der „Arbeitsgemeinschaft" in der Befriedigung seines Wissensdranges gehemmt sein. Denn mehrere Abteilungszeitschriflen werden sich wegen der hohen Kosten voraussichtlich nur die wenigsten halten können, durch Abonnement einer Abteilungszeitschrift aber werden nur immer mehr Fachleute herangezüchtet ; wer dem vorbeugen will, der wird eine der von den Verlagshandlungen heraus- gegebenen Zeitschriften zur Hand nehmen und dann wird zu guter Letzt dennoch „ein Verleger den Rahm abschöpfen". Manche der jetzt bestehenden Zeitschriften könnte sich mit einer anderen vereinigen, welche gleiche Ziele verfolgt. Als notwendig sind zu erachten vor allem reine Fachzeitschriften für jede Disziplin und falls diese bereits einen zu großen Um- fang angenommen hat, auch je eine Zeilschrift lür Spezial- forschungsgebiete. Jedoch ist zu vermeiden, daß zwei gleich- artige Zeitschriften bestehen. Ferner sind nötig hinsichtlich der Arbeiten von mehr regionalem Charakter die Zeitschriften größerer naturwissenschaftlicher Vereine und Gesellschaften, ferner einige Zeitschaften, in denen neben Originalarlikeln auch Neuerscheinungen in einer für Gebildete verständlichen Form besprochen werden. Mit Vorbedacht sage ich „einige Zeitschriften", damit diese durch die drohende Konkurrenz davon abgehalten werden Minderwertiges zu bieten. Die meisten groß angelegten fachwissenschafilichen Zeit- schriften, insbesondere die Zentralblätter, erachten es schon lange als ihre Aufgabe Neuerscheinungen ihres Spezialgebietes zu besprechen oder wenigstens zu benennen. In der Regel ist hierbei auch bemerkt, ob es sich um eine Originalarbeit handelt oder um ein Referat, Demonstration usw., außerdem kann man auch manchmal aus der Angabe der Seitenzahl auf die Art der Veröffentlichung schließen. Ich will nicht be- streiten, daß hierbei noch manche einschlägige Abhandlung übersehen wird, man darf sich eben nicht darauf beschränken nur ein Zenlralblatt oder ähnliches durchzublättern, sondern man muß in allen Zeitschriften suchen, in denen man Angaben über das betreffende Arbeitsgebiet erwarten kann. Selbst wenn alle naturwissenschaftlichen Abhandlungen in den Ab- teilungszeitschriften der ,, Arbeitsgemeinschaft" erscheinen wür- den, würde es nicht genügen, nur die Bände der betreffenden Abteilung in Betracht zu ziehen. Wer z. B. über ein Mineral arbeiten will, muß außer den Bänden der Abteilung Minera- logie auch die Bände über Kristallographie, Petrographie, Chemie, mitunter auch Zoologie und Botanik usw. einer Durchsicht unterziehen. Dieses Literatursuchen ist also durch die Schaffung einer Zentralzeitschrift, selbst wenn alle natur- wissenschaftliclien Zeitschriften in sie aufgt-hen würden, immer noch nicht genügend vereinfacht, eine weitgehendste Verein- fachung des Literatursuchens schwebte aber doch Zillig, wenn ich richtig verstanden habe, vor Augen. Die Nachteile der Gründung einer Zentralzeilschrift der Arbeitsgemeinschaft sind, wie ich ausgeführt habe, großer als die Vorteile , abge- sehen davon, daß der ganze mühevolle Apparat zwecklos wäre, wenn sich nicht alle Zeitschriften der Arbeitsgemeinschaft unterwerfen. Um jedoch dem Endzweck, der Vereinfachung des Lite- ratursuchens, näher zu kommen, schlage ich vor, die zu grün- dende „Arbeitsgemeinschafi" (oder besser wäre meines Er- achtens „Zweckverband") möge die bereits auf einigen Spezial- gebieten der Naturwissenschaften bestehenden Literalurnach- weisungen übernehmen, nach einheitlichen Gesichtspunkten ausbauen, für die noch nicht bearbeiteten Disziplinen solche Lileralurnachweisungen anfertigen, durch ständige Kontrolle und Durchsicht aller in Deutschland (und vielleicht auch im Ausland) erscheinenden naturwissenschaftlichen Zeitschriften die Nachweisungen ergänzen und periodisch veröff"entlichen. Auch auf die Erscheinungen früherer Jahre müßte planmäßig zurückgegriffen werden. Außerdem soll die Arbeitsgemein- schaft danach trachten, sämtliche naturwissenschaftlichen Zeit- schriften Deutschlands und eventuell des Auslandes zu er- halten. Die Organe der Arbeitsgemeinschaft wären dann in der Lage, auf Grund eigener Sichtung Anfragen von Mit- gliedern der an die Arbeitsgemeinschatt angeschlossenen Ver- eine und Gesellschaften vollauf gerecht zu werden. Auch Lehranstalten usw. sollten die Arbeitsgemeinschaft unterstützen, andererseits könnten deren Angehörige und Studierende sich Auskunft über benötigte Literatur bei der Arbeitsgemeinschaft erholen. Hinsichtlich der sonstigen Aufgaben der Arbeitsgemein- schaft stimme ich Zillig vollkommen bei. Durch bessere gegenseitige Förderung könnte die Leistungsfähigkeit manchen Vereins noch gesteigert werden. Wie steht es nun mit den Regiekosten für die Arbeits- gemeinschaft.^ Wäre es nicht möglich diese etwa durch An- schluß an bereits Bestehendes zu vermindern? Die Möglich- keit hierfür besteht wohl, doch will ich mit meinem Vorschlag solange nicht vor die Öffentlichkeit treten, bis ich weiß, welche Stellungnahme die betreffende Körperschaft hierzu einnimmt. Dr. Hch. Kirchner, Würzburg. Zu „Glühwürmchen in kalter Jahreszeit". Sechs mir von Entomologen zugegangene Antworten auf meine Anfrage in Nr. 18, 1919 dieser Zeitschrift besagen, daß die im fast er- wachsenen Zustande überwinternden Larven der in West- deutschland und Frankreich sehr häufigen Lampyris (Phausis) nocliluca bei geeigneter Witterung zu jeder Jahreszeit leuch- ten. Vgl. Naturw. Wochenschr. (N. F.) Bd. 3, S. 105. Franz. Literatur. Wegweiser durch die Arbeiten des Verbandes Deutscher Elektrotechniker (VDE.) Berlin 1919, J. Springer. 2 M. Weinland, Prof. Dr. K., Einführung in die Chemie der Komplexverbindungen in elementarer Darstellung. Mit 39 Abb. Stuttgart 1919, F. Enke. 36 M. Grubic, Dr., Universal-Kausalprozeß als unser oberstes Naturgesetz. Zagreb, L. Hartmann. Hansen, Prof. Dr. A., Goethes Morphologie (Meta- morphose der Pflanzen und Osieologie). Ein Beitrag zum sachlichen und philosophischen Verständnis und zur Kritik der morphologischen Begriffsbildung. Gießen 1919, A. Töpel- mann. 10 M. Henseling, R., Kleine Sternkunde. Stuttgart, Frankh- sche Verlagshandlung. 2,40 M. Koelsch, A., Das Erleben. Berlin 1919, S. Fischer. Morton, Dr. F., Wasserpflanzen. Mit 29 Bildern. Leip- zig, Tb. Thomas. Inhall: Fr. J. Kurt Geiß 1er, Erfahrung und Vorerfahrung mit Beobachtung an einem Eichhörnchen. S. 65. — Einzel- berichte: A. Philippson, Glaziale und pseudoglaziale Formen im westlichen Kleinasien. S. 74. Krusch, Die Wirkungen der Friedensbedingungen auf die Erz- und Kohlenversorgung Deutschlands. S. 74. Behrmann, Nordost- rand des Thüringer Waldes. S. 75. H. Fühner, Blausäuredesinfektion und Blausäurevergiflung. S. 76. Friedr. Zacher, Zweiflügler als Schädlinge am Gemüse. S. 76. W. Schuster, Unterschied von Raben- und Nebelkrähe. S. 77. Th. Ahrcns, Die Nationalparke der Vereinigten Staaten. S. 77. — Bücherbesprechungen: Willy Lange, Gartengestaltung der Neuzeit. S. 77. A. Neuburger, Die Technik des Altertums. S. 78. — Anregungen und Ant- worten: Erwägungen über die Aufgaben der ,, Arbeitsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen Körperschaften Deutsch- lands". S. 79 Glühwürmchen in kaller Jahreszeit. S.So. — Literatur: Liste. S. 80. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'scben Bucbdr. Lippert & Co. G. m, b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. fseue Folpe 19 Band ; ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 8. Februar 1920. Nummer 6. Über den Putzvorgang bei der Schlupfwespe Lariophagus distinguendus (Forst.). ^Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. Albrecht Hase (Jena) Berlin-Dahle Mit S Abbildungen. Seit längerer Zeit beschäftige ich mit der Schlupf- wespe Lariophagus distinguendus Forst. (Kurdj.) Zur Orientierung sei hier nur bemerkt, daß diese Form in der Jugend an den Larven des schwarzen Kornkäfers parasitiert. An anderer Stelle ^) habe ich weiteres über diese Schlupfwespe berichtet, verweise deshalb auf untenstehendes Zitat. Wenn man Lariophagus dist. beobachtet, so wird man direkt dazu gedrängt, auch der Putztätigkeit seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, da sich die Tiere sehr fleißig putzen. An der Hand einer Reihe von Abbildungen möchte ich deshalb darlegen, auf welche verschiedene Arten diese Schlupfwespe die Reinigung ihres Körpers vornimmt. Beobachtet man den Putz- vorgang nur einige Male, so scheint es zunächst, als ob keinerlei System in die verschiedenen Putz- handlungen zu bringen sei. Verfolgt man aber diese Vorgänge längere Zeit, so ergiebt sich, daß zwar eine reichhaltige, aber doch begrenzte Zahl verschiedener Handlungen immer wieder miteinan- der abwechseln, die im einzelnen darzulegen der Zweck meiner Ausführungen ist. Am einfachsten orientieren wir uns, wenn wir von der normalen Laufstellung des Tieres aus- gehen und bestimmte Bezeichnungen für die Lauf- extremitäten einführen (Abb. i). Es sind deshalb die 3 Beinpaare stets wie folgt bezeichnet: Die linken Beine mit i ; 3 ; 5, d. h. mit u n - geraden Zahlen; die rechten Beine mit 2; 4; 6, d. h. mit geraden Zahlen. ') A. Hase, Zur morphologischen u. biologischen Kennt- nis der Schlupfwespe Lariophagus distinguendus Forst, in Sitzungsber. d. Gesellschaft Naturforschender Freunde Berlin. 1920. Es hat demnach das vordere Beinpaar die Zahlbezeichnung 1 u. 2, das mittlere 3 u. 4, das letzte 5 u. 6. Die beigegebenen Abbildungen sind halb- schematisch. Die jeweils in Putztätigkeit befind- lichen Füße wurden in den Abb. 2 — 7 zur besseren Kenntlichmachung schwarz gehalten. In allen den Abbildungen, in welchen die schwarz gehaltenen Füße überkreuzt dargestellt wurden, soll an- gedeutet werden, daß in diesen Phallen die Beine gegenseitig geputzt werden. Als Putzinstrument werden alle 6 Beine benutzt, allerdings mit dem Unterschiede, daß in erster Linie i u. 2 sowie 5 u. 6 hierzu benutzt werden, während das mittlere Fußpaar beim Reinigungsakte eine mehr untergeordnete Rolle spielt. Zum Putzen sind die Füße gut eingerichtet. Ihre Beborst ung ist sehr dicht, besonders an Tar- sus und Tibia. Man findet dünnere, mehr faden- ähnliche und kurze, mehr borstenähnliche Gebilde engzusammengedrängt. Auch der Oberschenkel ist behaart. Der am Ende der Tibia stehende Sporn ist gezähnelt. Er ist in Gemeinschaft mit den distalen Fußteilen in erster Linie Putzorgan, in dem er beim Durchziehen der Antennen und beim gegenseitigen Reinigen der Beine zum Ge- genhalt der zu putzenden Körperteile dient. Nach dieser mehr einleitenden Bemerkungen gehe ich zum Thema selbst über. Um die Aus- führungen möglich übersichtlich zu gestalten zer- lege ich das Ganze in einige Unterabschnitte. I. Wann und wie lange Zeit putzt sich Lariophagus? Experimentell, und das ist für die systemati- sche Bearbeitung das Günstige, kann man die Tiere jederzeit zum Putzen veranlassen durch An- hauchen, Einstäuben (am einfachstea mit Mehl oder Kreide) oder Anfeuchten mittels eines feinen Pinsels. Sobald die Versuchstiere sich dann wie- der selbst überlassen sind, beginnen sie mit der Reinigung ihres Körpers; vornehmlich der Sinnes- apparate und dies sind in erster Linie Antennen, Augen, und Füße. Verschmutzungen, ähnlicher Art wie die künstlich hervorgerufenen, sind die Schlupfwespen aber ständig ausgesetzt, wenn sie zwischen den aufgeschichteten Getreidekörnern umherkriechen, um ihre Eier in die mit Korn- käferlarven besetzten Körner abzulegen. — Auch auf sonstige gröbere Störungen und Reize, wie 82 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 6 Stoßen, Schütteln, hin tritt der Putzvorganpf ein, worauf ich bereits in meiner anderen Arbeit hin- gewiesen habe. Interessant ist noch folgende Tat- sache: Lariophagus putzt sich auch auf Reize chemischer Natur hin ganz regelmäßig. Betäu- bungsmittel (d. h. Riechstoffe) aller Art bewirken in kürzester Zeit, daß die Tiere vornehmlich ihre Fühler zu putzen beginnen, derselbe Effekt tritt auf mäßige Wärmereize hin auf Diese Tatsache läßt einen gewissen Schluß auf die Bedeutung der strichförmigen Porenplatten zu, welche in großer Zahl an den Antennen zu finden sind Die Zeit, welche nötig ist, um den Körper zu reinigen, ist natürlich verschieden. Bei stärkerer Verunreinigung putzen die Tiere verhältnismäßig lang. Ich habe als Maximalfall eine Schlupfwespe beobachtet, die 4 Minuten lang sich ununter- brochen putzte, wobei der ganze Körper syste- matisch gereinigt wurde — dies geschah nach künstlicher Bestäubung. Ein anderes Tier putzte diese Teile putzt das Tier zunächst, um dann erst allmählich die übrigen Teile des Leibes zu reinigen. Drei Körperregionen läßt das Tier be- sonders feine Pflege angedeihen, es sind dies a) die Antennen, b) das Abdomen, c) die Flügel. Dazu möchte ich bemerken, daß bei Verunreinigung durch Staub, zunächst die Seiten des Abdomens (Stigmen !), bei Benetzung mit Wasser zuerst die Fühler gereinigt werden. Im letzteren Falle kleben diese leicht am Kopfe fest, was dem Tiere allem Anschein nach höchst unangenehm ist. Obige Reihenfolge ist natürlich nicht absolut starr, es kann z. B., je nach dem Grade der Beschmutzung, auch ein Fußpaar einmal zuerst geputzt werden. Allgemein ist festzustellen, daß unsere Schlupf- wespe seinen Körper etwa in folgender Reihen- folge putzt: I. Fühler, 2. P'lanken und Oberseite des Abdomens, 3. Flügel, 4. Kopf, 5. Oberseite des Thorax, 6. Unterseite des Abdomens, 7. Unter- seite des Thorax. — Ferner werden die Füße sich spontan 53 Sek. lang ohne Pause. Letztere werden nicht seilen zwischen die einzelnen Putz- handlungen eingeS' hoben. Wir können im allge- meinen folgendes feststellen: ist nur ein kleiner Körperteil reinigungsbedürftig, so dauert das Putzen V4 — '/.2 Minuten, bisweilen nur wenit;e Sekunden; ist jedoch „große Wäsche" von Nöten — man entschuldige den Vulgärausdruck — , dann dauern die Putzhandlungen einige Minuten lang. 2. Welche Körperteile putzt Lariopha- gus vornehmlich? Unschwer ist festzustellen: beim Reinigungs- akte werden bestimmte Körperteile bevorzugt, d. h. einer gegenseitigen oder einseitigen (durch Be- lecken und durch den Mundziehen) Reinigung unterzogen, wobei zunächst das erste, dann das letzte, schließlich das mittlere Beinpaar vorge- nommen werden. Einer Beobachtung sei noch gedacht! Wenn Lari[)phagus nach Bestäubung zu putzen beginnt, so dauert es nicht lang, daß die Pntzorgane selbst, besonders das P'ußpaar I u. 2 einer Reinigung bedürfen. In diesem Falle zieht das Tier die Beine durch den Mund. Auf die Art häuft sich bald oberhalb der Mandibeln ein Haufen Staub und Schmutz an, den die Schlupfwespe auf die Art entfernt, daß sie das Gesicht auf den Boden N. F. XIX. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 83 aufdrückt und durch wischende Bewegungen den Unrat beseitigt. Ist dies geschehen, so nehmen die eigentlichen Putzhandlungen ihren Fortgang. 3. Wie putzt sich Lariophagus? P\[ Daß sich typische und immer wiederkehlende Putzbewegungen feststellen lassen, sagte ich be- reits eingangs der Arbeit. Versuchen wir nun die Fülle der Erscheinungen aufzulösen 1 j Wir können zunächst 4 Haupt fälle unter- scheiden, diese sind: I. Das Tier putzt mit einem Bein allein, II. „ „ „ „zwei Beinen gleichzeitig ni. „ „ „ „ drei IV. „ „ „ „vier ,, „ Putzen mit mehr als 4 Beinen zugleich ist un- p i möglich aus Gründen der Statik, das Tier würde ja umfallen; oder es müßte sich im Liegen putzen, und das kommt nicht vor. Zu Hauptfall I. DasTier putzt mit einemBein allein (Abb. 2). Es sind Möglichkeiten zu unterscheiden, aus denen sich 6 verschiedene Stellungen ergeben : 1. es werden die Putzorgane, d. h. die Füße selbst geputzt (Abb. 2; A i, 2); 2. es wird der Körper geputzt (Abb. 2 ; B i — 4). Zu I. Putzt Lariophagus nur einen F'uß, so ist dies dem Tier nur möglich, wenn es ihm bedeckt. r\A Dabei ist festzustellen, daß nur das erste Bein- paar I u. 2 einer Reinigung auf diese Art unter- zogen wird, die übrigen Paare 3 u. 4 sowie 5 u. 6 nicht. Das Belecken kann entsprechend der bilateralen Symmetrie bald rechts-, bald links- beinig erfolgen. Nicht beobachtet habe ich den Fall, daß Bein i u. 2 zugleich beleckt worden wären. In dem diesbezüglichen Zeichnungen ver- suchte ich es dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß ich den betreffenden Fuß zwischen die An- tennen legte. Zu 2. Putzt Lariophagus nur mit einem Fuß Co den Körper, so sind 4 Möglichkeiten vorhanden (Abb. 2; Bi— 4): a) es putzt mit i; b) es putzt mit 2; c) es putzt mit 5 ; d) es putzt mit 6. Geputzt werden unter Zuhilfenahme nur eines Beines: der Kopf, die Brust oben und unten, die / Flügel, das Abdomen an den Seiten und oben. Zu Hauptfall IL DasTier putzt mit 2 Beinen zugleich (Abb. 3 u. 4). Es sind wieder 2 Möglichkeiten vorhanden, die aber diesmal 14 verschiedene Stellungen ergeben : 1. es werden 2 Füße gegenseitig geputzt (Abb. 3; A, B, C); 2. es wird der Körper geputzt (Abb. 4; A, Zu I. In diesem Falle kann stattfinden ein gegenseitiges Putzen: a) der hintereinander liegenden Füße Abb. 4. 84 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 6 I mit 3 (Abb. 3; Ai); 2 mit 4 (Abb. 3; A 2) ; 3 mit 5 (Abb. 3; B 1); 4 mit 6 (Abb. 3; B2); b) der gegenseitig liegenden Füße I mit 2 (Abb. 3; C i); 5 mit 0 (Abb. 3; C 2j. Larinphagus verfügt also über 4 Möglichkeiten zwei Füße gegenseitig zu reinigen, wobei 6 ver- schiedene Stellungen zustande kommen können. Zu beachten ist, daß das mittlere Beinpaar sich nicht gegenseitig putzt, es werden die nach vorn bzw. nach hinten zu liegenden Extremitäten zu Hilfe genommen zur Reinigung. Zu 2. Wir stellen fest, ein Putzen unter Zu- sammenarbeiten von a) nebeneinander liegenden Reinen und zwar 5 mit 6 (Abb. 4; A i) I mit 2 (Abb. 4; A2); b) hintereinander liegenden Beinen und zwar: a) verschiedenseitig i mit 6 (Abb. 4; Rl); 2 mit 5 (Abb. 4; ^ einseitig 1 mit 5 (Abb. 4; C i) 2 mit 6 (Abb. 4; C2); 3 mit 5 (Abb. 4; Di); 4 mit 6 (Abb. 4; D 2). Selten wurde von obigen Kombinationen i mit 5 sowie 2 mit 6 beobachtet, sehr häufig dagegen I mit 2 und 5 mit 6. Geputzt werden vermittels zweier Füße: der Kopt, besonders die Antennen, welche nur mit i u. 2 gesäubert werden, ferner der Rumpf, oben und unten, das Abdomen und die Flügel beider- seitig, letzteres vornehmlich unter der Zusammen- arbeit von 5 u. 6. Allgemein läßt sich sagen, die Kopf- (inkl. Antennen ) Reinigung wird in Stel- lung Abb. 4; A2 u. Abb. 8 a. — Die Säuberung der Flügel und des Abdomens in Stellung Abb. 4 ; Ai; Abb. 4; Di, 2 u. Abb. 8b vorgenommen, während bei den übrigen schematisch angedeuteten Stellungen bald die vorderen, bald die hinteren Körperpartien gebürstet werden. Dabei ist es der Schlupfwese möglich mit Fuß 5 oder 6 bis zum Kopf vorzugreifen, wie entsprechend Fuß i oder 2 weit nach rückwärts auslangen kann. Zu Haupt fall III. DasTier putzt mit 3 Reinen zugleich (Abb. 5 u. 6). Wir können wiederum 2 Möglich- keiten feststellen, die aber in diesem Falle 18 ver- schiedene Stellungen zulassen. 1. Es werden 2 Reine gegenseitig geputzt und das dritte dient zur Körperreinigung. 2. Es werden alle 3 Reine zur Säuberung des Körpers herangezogen. Zu I. In diesem Falle sind folgende Kombi- nationen tatsächlich zu beobachten: a) gegenseitig werden geputzt i u. b) d) e) 0 g) h) i) k) 1) m) I u. 3 während 2 U. 4 I u. 2 „ I u. 2 S u- 6 S u. 6 4 u. 6 3 u. 5 I u. 3 2 U. 4 4 u. 6 3 u- 5 2 den Körper reinigt (Abb. I „ „ „ (Abb. 5 „ „ „ (Abb. 6 „ „ „ (Abb. 1 „ „ „ (Abb. 2 „ „ „ (Abb. 1 „ „ „ (Abb. 2 „ „ „ (Abb. 6 „ „ „ (Abb. 5 ., „ „ (Abb. 5 „ „ „ (Abb. 6 „ „ „ (Abb. A I) A 2) B I) R 2) B 3) B 4) B S) R 6) R 6) R 8) C I) C2) Man stelle folgende Kombinationen gegenüber: 1 u. 3 nebst 2; sowie 4 u. 6 nebst 5 (Abb. S; A i u. C i) 2 u. 4 „ I ; „ 3 u. 5 „ 6 (Abb. 5 ; A 2 u. C 2) Sie entsprechen sich insofern, als in diesen 4 Fällen drei zusammenliegende Reine am Putzakt betei- ligt sind, ein Umstand, dfer sonst nicht nochmals be- obachtet werden kann. — Der einzelne Fuß, welcher für die Körperreinigung in den unter a — m Stel- lungen freibleibt, säubert in erster Linie den Kopf (außer den Antennen), den Thorax oben, die Flügeluberseite und die Flanken des Abdoinens. Zu 2. Folgende Stellungen sind beobacht- bar: aa) das Tier putzt mit i sowie mit 5 u. 6 (Abb. 6; A l) bb) „ „ „ , „2 „ „ 5 u. 6 (Abb. 6; A 2) cc) dd) ee) ff) I u. 2 (Abb. 6; R l) 1 u. 2 (.Abb. 6; R 2) 4 u. ö (Abb. 6; C i) 3 u. 5 (Abb. 6; C 2) Geputzt werden vermittels dreier Beine in den unten, sowie die Planken des Abdomens; in den Fällen aa und bb. Rücken des Thorax, sowie Phallen ee und ff die Oberseite des Thorax, der P'lügel und Abdomen allseitig; in den Phallen cc Kojjf, das Abdomen an den Flanken und und dd die P"uhler, der Kopf, der Thorax oben und unten. N. F. XIX. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 85 Zu Haupt fall IV. DasTier putzt mit 4Beinen zugleich (Abb. 7). Es sind in diesem Falle 2 verschie- dene Stellungen möglich. Da das mittlere Fußpaar unbeteiligt bleibt, so sind nur folgende Kombinationen feststellbar: 1. I u. 2 putzen den Körper, 5 u. 6 putzen sich gegenseitig (Abb. 7; i), 2. I u. 2 putzen sich gegenseitig, 5 u. 6 putzen den Körper (Abb. 7; 2). Es geht aus i. und 2., die ich der Einfachheit halber zusammen bespreche, hervor, daß, wenn die Schlupfwespe mit 4 Beinen zugleich putzt, und für sich höchst unsicher auf ihren beiden mittleren Beinen und sie stützt sich dabei leicht auf die Spitze des Abdomens auf, um nicht um- zufallen. — Diese Putzstellungen sah ich nicht oft und nur nach sehr starker Verschmutzung, auch wird sie nur kurze Zeit beibehalten. Allgemein läßt sich mit Rücksicht auf den Fall IV sagen, daß die gleichzeitige Heranziehung von 4 Putz- organen, für das Tier keinen wesentlichen Vorteil hat, da die einzelnen Putzaktionen zu sehr be- schränkt sind. Die meisten P"reiheiten in dieser Hinsicht bleiben dem Tier, wenn es mit 2 oder 3 Füßen zugleich putzt. Abb. 5. immer zwei davon sich gegenseitig säubern. Da nun I und 5, sowie 2 und 6 sich nicht gegen- seitig reinigen, so tritt eine Beschränkung der an und für sich theoretisch möglichen Fälle ein. Wir können diese Tatsache folgendermaßen erklären, es ist dem Tier anscheinend nur möglich sich mit 4 Füßen zu^lfich zu putzen, wenn von den 2 Paaren eines nach vorn, das andere nach rück- wärts putzt. Dabei steht die Wespe schon an Oberblicken wir die Resultate, welche sich aus I bis IV ergeben! Es konnte festgestellt werden, daß beim Putzen mit nur einem Fuß 6 ver- schiedene Stellungen möglich sind, bei dem mit zwei Beinen aber 14, bei dem mit drei sogar 18 und bei dem mit vier nur 2. Im ganzen ver- fügt also Lariophagus über 30 ver- schiedene Möglichkeiten das Putzge- schäft zu erledigen, wobei allerdings durch Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 6 die einzelnen Handlungen teilweise ganz dieselben Effekte erzielt werden. Verwirrend wirkt zunächst bei der Beobachtung, daß bald die eine, bald die andere Putzhandlung Stellungen tatsächlich beobachten konnte im Laufe längerer diesbezüglicher Versuche. 4. Spezielle und Einzelbeobachtungen. Um das in vorhergehenden Zeilen entworfene Bild von den Putzvorgängen noch mehr abzu- runden, will ich in dem letzten Abschnitte auf ge- wisse Besonderheiten hinweisen und auch das Ver- halten einiger Versuchstiere kurz darlegen. Zwei haibschematische Zeichnungen (Abb. 8 a und b) sollen zur Veranschaulichung dienen. Wie die Reinigung des Körpers vor sich geht, ist aus den 30 verschiedenen, bildlich dargestellten Möglichkeiten wohl zur Genüge klar geworden. Unschwer ist zu entnehmen, daß die Schlupfwespe bisweilen ganz unglaubliche Stellungen annimmt, um das Putzgeschäft zu erledigen. Es kommt noch folgender Umstand hinzu: die Tieie putzen sich nicht bloß beim Stand auf horizontaler Unter- lage, nein auch in vertikaler oder gar überhängen- der Stellung; wobei es gleichgültig ist, ob der Kopf nach oben oder unten gerichtet ist. Größere Putzhandlungen werden allerdings vornehmlich bei Stand auf horizontaler Unterlage ausgeführt. Was soeben gesagt wurde gilt in erster Linie von den Stellungen, bei welchen der Körper nur auf 3 Beinen ruht (Abb. 5 u. 6). — Doch auch beim Reinigungsakte mit 2 Füßen kommen seltsame Stellungen zustande, zwei Proben soll die Figur 8 wiedergeben. Fast immer ist zu beobachten, wie Lariophagus den Körper bei intensiverer Säube- rung schräg stellt. Putzt sie mit den vorderen Extremitäten i u. 2 z. B. die Antennen, so wird die in Abb. 8 a wiedergegebene Stellung sehr häufig angenom.men. Den Fühler, welcher nicht gerade in Bearbeitung ist, steckt das Tier schräg nach oben. Ist der eine wieder in sauberen Zu- stand versetzt, dann wird der andere mittels der Füße I u. 2 eingeholt und ebenso gründlich be- arbeitet wie sein Gegenstück. Sonderbare Haltungen werden oft beim Flügel- putzen eingenommen. Man kann unterscheiden erstens ein Flügelreinigen, wobei diese in der einsetzt, wodurch zunächst eine'Systemlosigkeit zu herrschen scheint. Andere als die vorstehend er- läuterten und schematisch dargestellten Putzvor- gänge wurden von mir bis jetzt nicht beobachtet; wobei ich bemerke, daß ich die beschriebenen Normallage bleiben und nur von den Füßen 5 u. 6 auf der Oberseite und unter leichtem Anheben auch an der Unterscheide gebürstet werden. Zweitens ist eine „große" P"lügelreinigung festzu- stellen; in diesem Falle klappt die Schlupfwespe N. F. XIX. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 87 beide Fliigelpaare narh unten und drückt den Hinterleib, durch die Fiügelebene hindurch, mög- lichst hoch nach oben, unter gleichzeitiger Senkung des Kopfes (Abb. 8 b). Es bleiben Vorder- und Hinterflügel dabei entweder aufeinander liegen — wie im dargestellten Falle — oder sie werden einzeln ausgeschwungen und jeder für sich oben und unten kräftig bearbeitet. Um diese Körper- haltung überhaupt einnehmen zu können stelzt sich unser Tier auf dem vorderen und mittleren Beinpaar in die Höhe. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme: durch das Hochstelzen des Körpers und Heben der hinteren Partie will die Schlupfwespe vermeiden, daß die Flügelspitzen auf den Boden aufstoßen und dadurch wieder be- schmutzt werden. Zum Schluß sei von 3 Versuchstieren die voll- ständige „Toilette" angeführt, wie sie in lücken- loser F"olge vor sich ging und zwar von einem Individuum, welches sich spontan putzte, von einem zweiten, welches künstlich bestäubt wurde und einem dritten, das ich mit Wasser benetzte. Weibchen A. Putztätigkeit setzt spontan ein. I. Putzen von i u. 3 gegenseitig bei Schräg- gegenseitig bei Schräg- gegenseitig bei Schräg- stellung, 2. Putzen von 4 u. Stellung, 3. Putzen von i u. Stellung, 4. Putzen des Abdomens mit 4 u. 6 an den Seiten und oben unter leichtem Aufheben der Flügel, 5. Putzen von 2 u. 4 gegenseitig bei Schräg- stellung, 6. Putzen des Kopfes mit i u. 2, 7. Putzen des Abdomens mit 5 u. 6 auf der Unterseite bei Schrägstellung, 8. Putzen des Kopfes mit i u. 5, 9. Putzen des Rückens mit 5, 10. Putzen des Kopfes mit 5, 11. Putzen von 3 u. 5 gegenseitig bei Schräg- stellung. Weibchen B. Putztätigkeit setzt nach Bestäuben ein. I. Putzen von 5 u- 6 gegenseitig. 2. Putzen von 2 durch belecken, 3. Putzen von 4 u. 6 gegenseitig, 4. Putzen von 5 u. 6 gegenseitig, 5. Putzen der Flügelunterseite mit 5 unter leichtem Anheben, 6. Putzen der F"lügelunterseite und des Abdo- mens mit 5 u. 6, 7. Putzen von 5 u. 6 gegenseitig, 8. Putzen von 4 u. 6 gegenseitig, 9 Putzen von 5 u. 6 gegenseitig, 10. Putzen des Abdomens an den Seiten und oben mit 5 u. 6, 11. Putzen von 5 u. 6 gegenseitig, 12. Putzen des Abdomens und der Flügel oben und unten mit 5 "• 6, 13. Putzen von 3 u. 5 gegenseitig. Weibchen C. Putzlätigkeit setzt nach Anfeuchten ein. 1. Putzen der Fühler mit i u. 2, 2. Putzen des Rückens mit i, 3. Putzen des Rückens mit 2, 4. Putzen der Flügeloberseite mit 6, 5. Putzen des Rückens, dann der Flügelober- seite mit 5 u. 6, 6. Putzen des Kopfes mit 6, 7. Putzen des Rückens mit 6, 8. Putzen der Flügel oben und unten mit 5 u. 6. Dies mag genügen. Es wäre ein leichtes diese 3 Beispiele um viele zu vermehren. Doch da wir das Typische bei verschiedenen Putzhand- lungen bereits hervorgehoben und zusammenge- stellt haben, so sind weitere Einzelheiten nicht am Platze. Betont sei nur noch, daß die Tiere, wie aus A bis C hervorgeht , auch den Putzor- ganen selbst große Sorgfalt angedeihen lassen. Es ist dies ganz erklärlich, denn eine Reinigung des Körpers kann nur dann vorgenommen werden, wenn die Puizapparate selbst in sauberem Zu- stande sind. Ich schließe die Ausführungen unter dem Hin- weis, daß das Verhalten dieser Schlupfwespe uns noch manches Rätsel zu lösen aufgibt. Die Schwierigkeiten beginnen ja erst, nachdem wir den Komplex der Erscheinungen aufrollten und der eingehenden Analyse zugänglich machten. Salzwasser und präanale Blutkienien der Chironomus-Larven. Von Dr. Fr. Lenz. (Aus der Hydrobiologischen Anstalt der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft zu Plön, Holstein.) [Nachdruck verboten.] Mit 4 Abbildungen. Die zur Aufnahme der Atemluft dienenden und Perlidenlarven), oder ob die Stigmen sich am äußeren Organe von Wasserinsekten und im Wasser Grunde eines zum Anbohren der Luftleitungs- lebender Insektenlarven und -puppen weisen man- nigfache Form auf. Ob sie sich als blättchen- oder büschelförmige Körperanhänge darstellen, die eine möglichst innige Vereinigung der sie durchziehenden Tracheenkapillaren mit dem um- gebenden Wasser vermitteln sollen (Ephemeriden- bahnen von Wasserpflanzen eigens geformten Apparates befinden (Larve des Wasserkäfers Do- nacia): alle diese Vorrichtungen zeigen eine meist physikalisch begründete Apassung an die Eigenart des jeweiligen Lebensraumes. Nicht immer aller- dings liegt die Zweckmäßigkeit so klar und ein- 88 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 6 deutig zutage wie in den eben erwähnten Fällen. Für die 2 Paar schlauchförmigen Gebilde des vor- letzten Segmentes gewisser Chironoiniden- (Zuck- mücken) Larven hat. Pause ^j den Nachweis er- bracht, daß sie im Verein mit den Anhängen des letzten Segmentes, den sogenannten Analschläuchen, im Dienste des Gasaustausches stehen. Bestimmte morphologische Differenzierungen und Beob- achtungen über Diffusionsvorgänge lassen sogar darauf schließen, daß sich die Atmung überhaupt beschränkt auf die beiden genannten Organe. Während die Analschläuche allen Chironomiden- Larven zukommen, finden wir die präanalen Blut- kiemen oder Tubuli — wie Pause sie nennt — nur bei den das Schmutzwasser als Aufenthaltsort bevorzugenden Formen der Gattung Onroiiouius (Abb. i). Es liegt auf der Hand, daß eine größere zur Atmung präformierte Hautfläche besser als eine kleinere befähigt ist, solchem Schmutzwasser das Minimum von darin enthaltenem Sauerstoff — bei O — I "/q Oj leben darin noch Üiironomus- Larven ! ^) — zu entziehen. schlauche rückgebildet, d. h. in ihrer Ausbildung ganz oder teilweise unterdrückt und gehemmt wurden. Thienemann erwähnt zwar in seiner Arbeit über die Salzwasser-Chironomiden ') aus- drücklich mehrere Salzwasserarten mit blutkiemen- tragenden Larven, aber diese Tatsache läßt sich bei näherem Zusehen leicht in Einklang bringen mit der oben ausgesprochenem Annahme. Von den als „kiementragend" bezeichneten Larven be- sitzen 2. Arten, Chirouotmis halophiliis Kieffer und Chironomus bicoriiuhis Kieffer nur je ein normal ausgebildetes Paar Schläuche , während das zweite — vordere • — Paar nur klein, also nicht ganz zur Ausbildung gelangt ist (Abb. 2 u. 3). Eine einzige Art, Chironoimis lialocharcs Kieffer, hat 2 Paar normale Blutkiemen. Wir dürften nun kaum fehl gehen mit der Annahme, daß bei ersteren beiden Arten die Rückbildung sich im Anfangsstadium befindet, da die Verpflanzung ins Salzwasser wohl jüngeren Datums ist. Von Ch. Iialopküus Kieff. sind mehr- mals Larven gesammelt worden (vgl. Thiene- Abb. Larve von Chironomus Thummi. (15 fach vergr.) Bei der morphologisch-systematischen Bearbei- tung der Larven und Puppen der als „Chironoiuus- Gruppe" zusammengefaßten Gattungen ^) fiel mir die eigenartige Einwirkung eines chemischen Faktors auf die Ausbildung jener Blutkiemen- schläuche auf: Salzgehalt des Wassers wirkt rück- bildend auf sie ein. Das von mir bei der ge- nannten Arbeit untersuchte Material ist gesammelt und gezüchtet von Herrn Prof. Dr. A. Thiene- mann. In besonders vielen Arten ist die oben- erwähnte Gattung Chironomus vertreten ; ihre Larven und Puppen zeichnen sich durch eine bis ins Einzelne gehende Übereinstimmung aus. Um so sonderbarer erscheint es, daß bei einigen Arten das hauptsächlichste Gattungsmerkmal der Larven, die Blutkiemenschläuche, entweder fehlt oder eine teilweise Rückbildung erfahren hat bei vollkommen normaler typischer 6'////'(3«(7W//'i'-Ausbildung der übrigen Larvenmerkmale. Alle Larven, bei denen es der Fall ist, leben im Salzwasser. Also liegt der Schluß nahe, daß infolge der Einwirkung des Lebensraumes — d. h. des seine Eigenart be- stimmenden chemischen Faktors — die Kiemen- ') Johannes Pause, Beiträge zur Biologie und Physio' logie der Larven von Chironoitiits gregarhts, — Inaug.-Diss- Zool. Jahrb. Bd. 36, Abt. f. allg. Zool. u. Physiol. Jena 1918. S. 33, So— 82. '') Vgl. Th i enem'an n, A., Beiträge z. Kenntnis d. vpestf. Süßwasser- C/r/>i'«cOT/a'irH. XXXVII. Jahresber. d. W. Prov.- Ver. f. W. u. K. Münster i. W. 1908/09, S. 30—36. ') Die Arbeit erscheint demnächst im Archiv für Hydro- biologie. Abb. 2. Hinlerende der Larve von Chironomus halofihilus. (40 fach vergr.) mann 191 5, S. 450); alle zeigen das Merkmal mit Ausnahme derjenigen, die aus dem „reinen Süß- wasser des Güörtpotts, eines kleinen VViesengrabens bei Münster i. W.", stammen. Diese letzteren Larven sind im Besitz von 2 Paar normal langen Blutkiemenschläuchen. Ihre Imagines bestimmte Prof Kieffer-Bitsch als eine Varietät von Chiro- noniiis halopltilus. Daß Kieffer die Imagines zweier Formen, deren Larven sich in einem doch ') Thienemann, A., Zur Kenntnis der Salzwasser- t7i/ro- tiomiden. — Arch. f. Hydrob. u. PI. Suppl.-Bd. II. 1915, S. 450—451. N. F. XIX. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. recht wesentUch erscheinenden Merkmal unter- scheiden, so nahe zusammenstellt, d. h. als Varie- täten ein und derselben Art bezeichnet und über- haupt alle jene Salzwasserformen, deren Larven eines der wichtigsten Gattungsdiagnostika nur in reduzierter Form oder — wie wir unten sehen werden — gar nicht besitzen, ohne weiteres als CIiiroi!oiiiiis-.\T\tn bestimmt, gibt uns eine wich- tige Handhabe zur Beurteilung jenes Larven- charakteristikums. Wir haben damit einen Be- weis mehr datür, daß die mangelhafte Ausbildung der Tubuli bzw. ihr Fehlen bei Salzwasserarten kein Merkmal von phylogenetischer Bedeutung darstellt, sondern daß wir es hier zu tun haben mit einer Formbildung gewissermaßen zweiten Grades, die sekundär unter dem Einfluß der äußeren Lebensbedingungen entstanden ist. Die Zugehörigkeit zu den übrigen C/iiroiioniiis-Vormtn, vor allem auch soweit sie sich im Imaginalstadium ausspricht, bleibt davon unberührt. Etwaige Ver- änderungen gewisser Charakteristika der Imago, Schmutzwasser enthaltenden Tümpel der näheren Umgebung gelebt hat. Als typische Form im Sinne des behandelten Problems ist wohl die Larve von Chiroiioinus saliuariits Kieff. anzusprechen. Ihr fehlen — bei gleichzeitiger Übereinstimmung in allen Einzelheiten mit den Larven vom Thmiimi- Typus ^) — die präanalen Blutkiemen vollkommen (Abb. 4). Wir hätten es also gemäß der oben vertretenen Ansicht hier mit einer Cliironoiiiiis- Art zu tun, deren Larven und Puppen bereits seit Generalionen im Salzwasser leben, deren Imagines also immer — wenigstens einige von ihnen — ihre Laichschnüre in jenen Salztümpel ablegen. Thienemann vermerkt auch (S. 451), daß die Art das ganze Jahr hindurch — in irgendeinem Entwicklungsstadium — an der Fundstelle vor- handen war. Die .übrigen — nach Thienemann S. 451 — bei einigen anderen Autoren erwähnten Fälle von Auftreten roter Chiro)iouuis-\j&.x\i^n im Salzwasser bieten zu wenig Handhabe für irgend- eine Feststellung zur Lösung der Frage. Nur die ' Abb. 3. Hinterende der Larve von Ch, (35 fach vergr.) hervorgerufen durch den Aufenthalt von Larven und Puppen im einseitigen Lebensmilieu, mögen vorhanden sein; immerhin scheinen sie gering- fügiger Natur oder doch wenigstens nicht von größerer Tragweite als andere Artunterscheidungs- merkmale zu sein. Das Vorhandensein von 2 Paar normalen Tubuli bei den Larven von Chironomus halochares Kieff läßt nur eine Erklärung zu im Sinne unserer Lösung des Problems: die Rückbildung der Blut- kiemen hat noch gar nicht begonnen, da die Larven der Art erst seit kurzer Zeit vielleicht gar in erster Generation im Salzwasser leben. Und in der Tat erweist die Fundnotiz Thien emanns (S. 451) die Richtigkeit dieser Vermutung. Er erwähnt darin, daß die am 26. Mai 191 2 in einem Salztümpel in Sassendorf gesammelten Larven am 7. Mai 191 2 noch nicht vorhanden waren; nur eine Chironomus-Laichschnur ist an letzterem Tage beobachtet. Es liegt auf der Hand anzunehmen, daß die Laichschnur von einem Weibchen stammt, das selbst als Larve und Puppe in einem Süß- bzw. Abb. 4. Hinterende der Larve von Chironomus saliiia (35 fach vergr.) „marinen kiemenlosen CInroiioinus-V.2iXven aus dem Material des Kopenhagener Museums", die auch mir für meine Untersuchungen zur Verfügung standen, liefern eine schöne Bestätigung der „Salz- wasserhypothese". Sie weisen neben ihrer Kiemen- losigkeit ausgesprochenen C/iiroiioiiiiis-(Zha.rakier auf. Das gleiche gilt für die Larve, die Gadeau de Kerville (1898) fälschlich der Gattung Z^ac^- locladius zuordnete, die aber Potthast (1914, S. 367) richtig als Cliironomus identifizierte. Von den letztgenannten Larven sind weder Puppen noch Imagines bekannt. Für unseren Zweck indes genügt es, daß ihr allgemeiner Habitus und der Bau der Mundteile im besonderen sie als Oiironomiis- Larven legitimiert, denen in Übereinstimmung mit anderen im Salzwasser lebenden Larven der gleichen Gattung die Tubuli fehlen. So bieten sie uns ein einwandfreies Argument für den Satz von der Salzwassereinwirkung. Und nun noch ein letztes Belegbeispiel: Im Mageninhalt von einigen Exem- plaren des Schlei- Schnäpels {Coregoniis lavarehis forma baltica Thienemann) aus dem brakigen Wasser der Schlei fanden sich einzelne Oiiroiw- w/zj-Larven; so beschädigt sie waren, ich konnte doch noch feststellen, daß auch hier die für Oi. ') TAiimmt-GTuppe = artenreichste Gruppe der Gattung Chironomus (in der Puppen-Larven-Systematik). 90 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 6 halopldlus und Ch. hicorniitus charakteristischen ungleichmäßig langen TubuH vorhanden waren. Der Salzgehalt der Schlei ist ein relativ geringer; er schwankt etwa zwischen ^^ "/o ^^^ ^ "/o- Eine allgemeine vergleichende Betrachtung der ver- schiedenen Konzentration des Salzgehaltes der in Frage kommenden Tümpel gibt uns über das „Wie" und „Warum" dieser Beeinflussung der Form- bildung durch einen chemischen Faktor keinerlei Aufschluß. Im Gegenteil, sie scheint uns zu Widersprüchen zu führen: der Salzgehalt des Wassers, in dem die kiementragende Larve von Ol. halocJiares lebt, beträgt nach Thienemann (S. 450) 59 408 g pro Liter also etwa 6 "/(,, während die kiemenlose Larve von Oi. salinarius in einer Konzentration von nur 2"/,, (21 g pro Liter) ge- funden wurde. Es wäre zu weit gegangen, wollten wir daraufhin dem Grade des Salzgehaltes, der Konzentration, jegliche Bedeutung für das Problem absprechen. Sicher ist es nicht einerlei, ob der Salzgehalt ein sehr starker — natürlich inner- halb der Grenzen, die hinsichtlich der Existenz- fähigkeit der Larven in solchem Wasser gelten ^) — oder ein geringer ist. Vermutlich wird in ersterem Falle der Vorgang beschleunigt. Jeden- falls aber ist — mag die Salzkonzentration stark oder schwach sein — stets eine gewisse Zeit er- forderlich, bis die Einwirkung des äußeren chemi- schen Faktors auf den Bildungstrieb sich gegen den Widerstand der inneren Entwicklungsgesetz- mäßigkeit durchgesetzt hat, d. h. der Erfolg wird erst nach einer gewissen Anzahl von Generationen in die Erscheinung treten. Es ist bezeichnend, daß von allen Chirono- miden-Larven gerade diejenigen in Salzwasser von erheblicher Konzentration zu leben vermögen, die auch dem organisch stark verschmutzten Wasser gegenüber eine große Anpassungsbreite zeigen (Thiene mann S. 454). Von den 12 Gattungen der Clnro)W}nus-Qix\x\>\>& sind bis jetzt einzig und allein Vertreter der Gattung Oiiroiioiii/is im Salz- wasser gefunden worden, einer Gattung also, deren Angehörige zum weitaus größten Teil das Schmutz- wasser als Aufenthaltsort bevorzugen. Während die Larven dieser Art sonst unter den extremsten Lebensbedingungen anscheinend in ihrem äußeren Bau unverändert bleiben, bedingt das Salzwasser die oben besprochene spezifische Anpassung. „An- passung" ist vielleicht schon zu viel gesagt, denn nicht jede durch äußere Einflüsse hervorgerufene Formveränderung muß notwendigerweise eine An- passung sein. Wenigstens erscheint es angebracht, diese Bezeichnung nicht eher anzuwenden, als bis durch eine einleuchtende Erklärung die besondere Zweckmäßigkeit der in Frage kommenden Um- bildung bzw. Neu- oder Rückbildung erwiesen ist. Mag dieser Beweis für unseren Fall erbracht sein ') A. Thienemann, Zur Kenntnis der Salzwasser Chi- ronomiitdi und Karl Rhode, Üher 'I' f ti d i pcdi d en und deren Beziehungen zum Chemismus des Wassers. Ing..Diss. Münster i. W. Dtsche. Enlomolog. Ztschr. 1912. oder nicht, eines erscheint mir außer Zweifel : zwischen dem Fehlen bzw. der Rückbildung der Kiemenschläuche und dem Salzgehalt des Wassers besteht ein direkter kausaler Zusammenhang. Viel- leicht haben wir es hier zu tim mit einem Vor- gang ähnlich dem von Sven Ekman*) für ver- schiedene relikte Krebse beschriebenen. Es handelt sich in dem einen hier in F"rage kommenden Fall um die als Abart von Mysi's ocidata bezeichnete Mysis relicta von Sven Ekman (1913, S. 5 40), auch Mysis oailata forma relicta (Loven) ge- nannt. Diese im Süßwasser — oder auch Brack- wasser — gefundene Form ist nach den Unter- suchungen verschiedener Autoren aus der im Meere lebenden genannten Hauptart M. ocidata durch gewisse morphologische Veränderungen, die sich unter dem Einfluß des Salzmangels beim Reliktwerden vollzogen, entstanden; „sie sind offenbar Resultate einer Miiicuveränderung, sie sind dadurch zustande gekommen, daß süßes Wasser allmählich das salzige ersetzt hat" (Sven Ekman S. 545). Für einen anderen relikten Krebs, den Copepodcn Liiiinocalaniis macriiriis hat derselbe Autor „den Nachweis versucht, daß die morphologischen Umbildungen, welche mit dem Reliktwerden verknüpft sind und welche zweifelsohne erblich sind, sich proportional der Dauer des Süßwasserlebens gesteigert haben, und zwar ohne daß man dafür eine Selektion verant- wortlich machen kann" (Sven Ekman 1919, S. 477). Die Vergleichsmomente mit unseren Salzwasser- Oiironoinidai liegen klar zutage: in beiden Fällen bewirkt eine Milieuveränderung eine Umbildung ganz bestimmter Körperteile, in ganz bestimmter Weise, nur in verschie- denem Grade. Bei den von Sven Ekman untersuchten Formen ist es der Salzmangel, der die Veränderung der Form beim Relikt- werden, also t?eim Übergang vom Salz- ins Süßwasser, hervorruft. Umgekehrt ist es für die Cliironomidcn-Lar\r&n beim Übergang vom Süß- zum Salzwasser — etwa durch die erstmalige Eiablage in letzteres — der Salzgehalt des Wassers, der als neu zu den Lebensbedingungen der betr. Art hinzugekommener Faktor die morphologische Veränderung bewirkt. Der Versuch, tiefer in das Wesen des Vorganges einzudringen, bringt uns eine weitere Parallele zwischen den Reliktenkrebsen und unseren Oiironotniden\^a.rven des Salzwassers nahe. Für Aiysis relicta hat G. O. Sars zuerst den Gedanken ausgesprochen, „daß diejenigen Merk- male, welche fonna relicta von M. ocidata unter- scheiden, dadurch zustande gekommen sind, daß erstgenannte in ihrer Entwicklung gehemmt worden ist." Das gleiche gilt wohl auch für unseren Fall. Wenn wir einerseits von den Paus eschen Be- obachtungen (S. 23 — 27) über das sprungweise Auftreten und Wachstum der Tubuli im Ent- wicklungsgang des Individuums ausgehen und ') Studien über die marinen Relikte der norddeutschen Binnengewässer. — Internat. Revue 1913 u. 1919- N. F. XIX. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 91 andererseits die durch verschiedene Überlegungen gestützte Annahme machen, daß die Blutkiemen- losigkeit bei den Chironomiden-Larven das Ur- sprüngliche sei, dürfen wir wohl auch hier bei unseren Salzwasser-Chironomiden von einer durch den äußeren chemischen Faktor bewirkten Hem- mung bzw. dem frühzeitigen Abschluß der larvalen Entwicklung auf einem früheren oniogeneti- schen und phylogenetischen Entwicklungsstadium sprechen. Freilich ist das Problem noch weit da- von entfernt, durch obige Gedankengänge gelöst zu sein ; es ist zunächst einmal aufgerollt. Weitere Aufschlüsse über die Frage dürfte einerseits die morphologisch-systematische Bearbeitung der ma- rinen Chironomiden, sowie die genaue sich über mehrere Jahre ausdehnende Beobachtung der in Frage kommenden Salzwassertümpel des Binnen- landes, andererseits aber auch die experimentelle Behandlung des Gegenstandes im Laboratorium bringen. Einzelberichte. Chemie. (2 Abb.) Sind zwei Stoffe im festen und flüssigen Zustand unbegrenzt miteinander mischbar, so findet man bei der Abkühlung irgend- eines flüssigen Gemisches der beiden Kompo- nenten ein Temperaturintervall, in dem die Flüssigkeit mit IVIischkristallen von anderer Zu- sammensetzung im Gleichgewicht steht, wie be- reits früher an dieser Stelle ausgeführt worden ist.^) In der beigegebenen Abb. i ist für das System Brom-Jod das Schmelzdiagramm gezeich- net, wie es Meerum Terwogl^) festgestellt hat. Die obere voll ausgezogene Kurve gibt je- Konzentration Abb. I. weils den Beginn, die untere, durchbrochene das Ende der Kristallisation an. Es zeigt sich dabei die eigenartige Erscheinung, daß die beiden Kur- ven sich in der Mitte des Diagramms einander wieder nähern bis fast zur völligen Berührung. Ob eine solche wirklich stattfindet, ließ sich ex- perimentell mit Sicherheit nicht entscheiden, er- schien aber sehr wahrscheinlich. Es würde dies darauf hindeuten, daß hier eine Verbindung auf- tritt, der die Formel BrJ zukommt, und die mit ihren beiden Komponenten in allen Verhältnissen mischbar ist. Um die Existenz dieser Verbindung festzustellen, haben nun H. R. Kruyt und W. D. Heldermann (Zeitschr. f. phys. Chemie 93, 89) auch noch das Verhalten der gasförmigen Gemische mit in die Untersuchung einbezogen. Nach der Gibbsschen Phasenregel ist es für einen reinen Stoff nur bei einer einzigen Tempe- '■) Naturw. Wochenschr. N. F. XVIII, S. 250 (1919). ^) Dissert. Amsterdam 1904, Zeitschr. f. anorg. Ch. 47, 203 (1905). ratur und einem einzigen , dazugehörigen Druck möglich, daß alle drei Phasen des Stoffes, die feste, die flüssige und die gasförmige miteinander im Gleichgewicht stehen. Sind jedoch zwei Stoffe vorhanden, so besitzt das Gemisch noch einen Freiheitsgrad mehr, d. h. im räumlichen Konzen- trations-Druck-Temperatur-Diagramm gibt es für jede Phase eine Kurve, längs der sie mit zwei anderen im Gleichgewicht steht. In Abb. 2 sind die Projektionen der Drei- phasenkurven auf die Druck Temperatur- und die Temperatur- Konzentrationsebene für das System Brom-Jod gezeichnet, wie sie von Kruyt und 1° 90» 100° 110°Temp. Heldermann gefunden wurden. A und A' geben Druck und Temperatur für den Dreiphasen- punkt des reinen Brom. Die drei miteinander im Gleichgewicht stehenden Phasen haben natürlich die gleiche chemische Zusammensetzung, da ja nur ein Stoff vorhanden ist. Anders wird dies im binären System, wie das Schaubild lehrt. Im unteren Teil des Diagramms sind auf der verti- 92 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 6 kalen Achse zwischen Br und J die Konzentra- tionen in Atomprozenten aufgetragen, auf der horizontalen Achse die Temperaturen. Will man nun die Zusammensetzung der drei miteinander im Gleichgewicht befindlichen Phasen bei irgend- einer Temperatur feststellen, so zieht man das Lot auf der Temperatur- Achse. Der Schnittpunkt desselben mit der oberen gestrichelten Linie gibt die Zusammensetzung des Dampfes, der mit der Mittel- kurve die der Flüssigkeit und mit der unteren Linie die Konzentration der IVlischkristalle. Damit aber nun die drei so gekennzeichneten Phasen neben- einander bestehen können, ist nicht nur die an- genommene Temperatur, sondern auch ein ganz bestimmter Druck erforderlich. Dieser ist aus dem oberen Teil des Diagramms zu ersehen, wenn man das Lot auf der Temperaturachse verlängert bis zum Schnitt mit der dort eingezeichneten Kurve. Nach früheren theoretischen und experimen- tellen Untersuchungen von Kruyt') gehört zu einem System aus zwei Stoffen, die eine konti- nuierliche Reihe von Mischkristallen ohne singu- lären Punkt bilden, ein Diagramm, in dem die in Abb. 2 zwischen A und M, bzw. zwischen A' und M' gelegenen Teile den ganzen Konzentra- tionsbereich ausfüllen. Insbesondere war es cha- rakteristisch, daß die Druckkurve ein Maximum zeigt für ein Gemisch der beiden Komponenten. War also der Punkt Mj in Abb. i ein singulärer Punkt, existierte wirklich eine Verbindung BrJ, so mußte das System Br — J in zwei binäre Teil- systeme Br — BrJ und BrJ — J zerfallen , und von diesen mußte jedes ein Maximum der Dreiphasen- Kurve im Druck Temperatur-Diagramm aul weisen. Wie Abb. 2 zeigt, ist dies tatsächlich der P'all. Die Existenz der Verbindung BrJ kann damit als endgültig festgestellt gelten. Es ist dies insofern besonders interessant, als es bisher die einzige Ausnahme von der Tam manschen Regel ist, nach der benachbarte Elemente einer und der- selben Vertikalreihe des periodischen Systems im engeren Sinne keine Verbindung miteinander ein- gehen. Andererseits war aber auch nach der Abeggschen Ansicht über die Wertigkeit die Ausnahme gerade bei diesem Elementenpaar am ersten zu erwarten. Scliolich. Pflanzenkrankheiten. Wie dem praktischen Landwirt schon seit langem bekannt ist, wird das Getreide je nach der Sorte in verschiedenem Grade von Rost befallen. Welche Sorten als widerstands- fähig, welche als mehr oder minder anfällig zu betrachten sind, ist in zahlreichen Anbauversuchen geprüft worden. Dabei hat man aber manche Punkte außer Acht gelassen, die für eine richtige Bewertung der Rostempfänglichkeit wesentlich sind. Zunächst muß man die verschiedenen Rost- arten (Schwarz-, Braun-, Gelb , Kronenrost usw.) gesondert bewerten; denn ein und dieselbe Sorte ') H. R. Kruyl, Ztschr. f. phys. Chemie 70, 657 (1912). kann sich den verschiedenen Rostarten gegenüber ganz verschieden verhalten; eine Rostempfänglich- keit oder -unempfänglichkeit schlechthin gibt es nicht. Ferner ist zu beachten, daß für die Stärke des jeweiligen Rostbefalles äußere Faktoren (Klima, Witterung) von großer Bedeutung sind; sie wirken direkt oder indirekt auf die Entwicklung des Pilzes ein, letzteres, indem sie das Wachstum der Nährpflanze und damit ihre Disposition für den Pilz beeinflussen. Die zu prüfenden Sorten müssen also unter gleichen Bedingungen angebaut, und die Versuche mehrere Jahre lang und an ver- schiedenen Orten durchgeführt werden. Endlich ist es, wie zuerst Gaßn er festgestellt hat, durch- aus nicht gleichgültig, in welchem Entwicklungs- stadium sich die Getreidepflanze bei der Infektion befindet ; im Laufe der Vegetationsperiode kann die Rostempfänglichkeit zuweilen bedeutenden Schwankungen unterliegen. Bei der Beurteilung der Sorten dürfen darum nur gleiche Entwicklungs- stadien in Vergleich gesetzt werden , oder der Rostbefall muß während des ganzen Jahres dauernd kontrolliert werden. Alle diese, bisher kaum beachteten Gesichts- punkte hat Gaßn er (Cbl. f. Hakt., 2. Abt. IL, S. 185 — 243, 19 19) bei seinen in Südamerika ge- sammelten Beobachtungen über die Rostempfäng- lichkeit der Getreidesorten berücksichtigt. Sie verdienen deshalb besondere Beachtung. Von den bekannten Rostarten kommen im La- Plata- Gebiet nur Piicciiiia graminis, P. triticina, P. coromfcra und P. maydts vor. Geprüft wurden einheimische und aus Deutschland eingeführte Sorten von Gerste, Hafer, Weizen und Mais. Die Versuchsergebnisse sind kurz folgende: 1. Bei der Gerste, die in Südamerika nur von P. «■raiiniiis befallen wird, spielt die Sorten- frage keine Rolle. Alle Sorten zeigten, gleiches Entwicklungsstadium vorausgesetzt, gleich starken Rostbefall. 2. Auf dem Hafer treten P. graviinis und P. corouifera auf. Die untersuchten mitteleuro- päischen Sorten (Typus „Beseler 11") und süd- amerikanischen Sorten (Typus ,, Uruguayhafer" verhalten sich den beiden Rostarten gegenüber gegensätzlich. Erstere werden von P. corouifera äußerst stark, von P. grauiuiis fast gar nicht be- fallen; letztere dagegen sind gegen P. coromfcra wenig, gegen P. graminis ziemlich stark anfällig. 3. Weizen wird im La Plata -Gebiet von P. friticina und P. graiiiiiiis befallen. Gegen beide Arten sind die deutschen Winterweizen im allgemeinen weniger widerstandsfähig als die deutschen Sommerweizen; die anfänglich deut- lichen Unterschiede verwischen sich allerdings auf späteren Entwicklungsstadien. Diese Gesetz- mäßigkeit gilt für die südamerikanischen Sorten lücht ; denn unter ihnen fand sich einer- seits ein für P. triliciua sehr anfälliger Sommer- weizen, andererseits ein wenig anfälliger Winter- weizen. 4. Beim Mais erwiesen sich die Sorten mit N. F. XIX. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 93 kürzester Vegetationsperiode, also früher Reife als die rostanfälligsten, die Sorten mit später Reife als ungleich widerstandsfähiger. Worauf die verschiedene Rostempfänglichkeit der einzelnen Sorten beruht, ist eine Frage, die sich einstweilen noch nicht befriedigend beant- worten läßt. Man hat bei den immunen Sorten vielfach morphologische Schutzeinrichtungen (ver- dickte Epidermiszellen, Haare u. dgl.) vermutet. Nach Gaßner ist aber die Ursache in erster Linie in der Beschaffenheit des Zellinhalts zu suchen. Zum Zustandekommen einer Infektion ist nämlich sowohl das Eindringen des Pilzes in die Nährpflanze als auch seine Fähigkeit, sich auf Kosten der befallenen Pflanze zu ernähren, er- forderlich. Es lassen sich nicht selten Fälle be- obachten, in denen der Rostpilz wohl ein(1ringt, dann aber nicht die geeigneten Ernährungsbe- dingungen findet und — olt unter Erzeugung von bräunlichen Flecken — abstirbt. Die Immunität gewisser Sorten wird von manchen Forschern auf die Bildung von spezifischen Schutzstoffen (Antitoxinen) zurückgeführt, von andern auf Besonderheiten in der chemischen Zusammen- setzung der Pflanze, die einem Gedeihen des Pilzes nicht günstig sind. Nach Gaßner ist die Antitoxinhypothese bisher unbewiesen. Da- gegen hat Kirchner vor kurzem gezeigt, daß zwei rostanfällige Sorten durch höheren Zucker- und geringeren Säuregehalt, zwei rostfeste Sorten andererseits durch geringen Zucker- und höheren Säuregehalt ausgezeichnet waren. Wenn diese Ergebnisse auch nicht verallgemeinert werden dürfen, so zeigen sie doch, daß bei der Rost- empfänglichkeit Ernähr ungs- und Stoff- wechselvorgänge der Wirtspflanze die entscheidende Rolle spielen. Dr. Esmarch (Bonn), Bücherbesprechungen. Holle, H. G., Allgemeine Biologie als Grundlage für Weltanschauung und Lebensführung. 8". 282 S. München, Leh- manns Verlag. 7 M. Aus dem von den altgermanischen Ahnen er- erbten Naturgefühl heraus müsse unser Volk, durch das Schicksal des Weltkriegs dazu erweckt, bio- logisch denken lernen und das mechanische Denken überwinden, meint Holle. Deshelb schrieb er dieses Buch. Das Grundgesetz des Lebens sei das Streben, die Statten, an denen die Möglichkeit des Lebens besteht, mit der größtmöglichen Menge Leben wirklich auszufüllen. Der Unterschied der Arten ist gegeben durch die verschiedene Lage des biologischen Gleichgewichts. Vergesellschaf- tung und Organisation ist dasselbe. Das Kenn- zeichen des lebenden „Wirkbaues" liegt darin, daß jeder Teil nur für die Gesamtheit wirkt und von ihr die genau hierzu nötige Nahrung erhält. Sehr unvollkommen sind in diesem Sinne Pflanzenver- eine, wie eine Wiese, vollkommen der Bienen- staat. Entgegen wirkt — beim Menschen — In- dividualismus nebst Parteipolitik. Das Ichbewußt- sein macht beim Menschen den Kommunismus der Insektenstaaten unmöglich. Der Staat ist ohne die Grundlage des Volkstums, weil der biologische Lebenszweck fehlt, nicht denkbar. Die erbliche Monarchie eines in Sonderzucht der Herrscher- tugenden sich fortpflanzenden Edelgeschlechts unter Mitwirkung einer geeigneten Volksvertretung kann schwer durch letztere allein ersetzt werden, da dies die Verantwortung vermindert und Eifersüchteleien der Parteihäupter vergrößert. „Auch im Völker- leben wie im Naturleben schafft der Geist den Körper, nicht umgekehrt." Das Deutschtum hat sich durch den Krieg als die höchste Art des Volkstums herausgestellt. „Das lebt, wofür man stirbt." „Die Erkenntnis, daß der Einzelne nicht Zweck, sondern Mittel des Lebens ist, das Bewußtsein der daraus fließenden Verantwortung ist geeignet, dem im Unbewußten wirkenden ,, kategorischen Impe- rativ" seinen sicheren biologischen Bewußtseins- inhalt zu geben, also die Ethik zu begründen." Vorstehende Sätze, mehr oder weniger wörtlich dem Buche entnommen, mögen ungefähr andeuten, was man in diesem noch weiterhin finden könne. Das rein Naturwissenschaftliche steht durchaus auf der Höhe; manches könnte allerdings Wider- spruch erfahren, so der vitalistische, nahezu psy- chovitalistische Grundgedanke oder, um etwas Einzelnes zu erwähnen, die vom Verfasser ange- nommene, neuerdings wohl als zu weitgehend er- kannte Lehre von der Kontinuität des Keimplas- mas. Dies schadet allerdings dem Ganzen und dem Ziel des Verfassers nur insofern, als diese Bestand- teile Ballast sind: muß denn alles, was nach des Verfassers Standpunkt zur Allgemeinen Biologie gehört, erwähnt werden, um daraus Lehren für den Menschen zu ziehen ? Der Unterschied zwi- schen Menschen- und Tierstaat, welch letzterer sonst oft als so vorbildlich hingestellt wird, ist dagegen vortrefflich erfaßt; Beachtung verdienen fernerhin besonders etwa die Ausführungen über Mann und Weib — das Weib hat -/g der Arbeits- kraft und Lohnansprüche des Mannes — oder der Gedanke „die Anpassung der Lebewesen an die Schädlichkeiten der Natur geht so weit, daß deren Ausbleiben als neue Schädlichkeit wirkt". Viel Anregendes enthalten auch die Schluß- ausführungen über Unterrichtsfragen. Aus ihnen geht hervor, daß der Verfasser Oberlehrer in na- turwissenschaftlichen Fächern ist. Er wünscht das Lateinische verwendet zur grammatischen Schulung, weil hierzu die deutsche Muttersprache zu gut ist, im übrigen will er jeden Unterrichtsgegenstand, 94 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 6 selbst Religion, nicht als Wissensstoff, sondern, durch eine biologische Art der Behandlung, um des höheren persönlichkeitsbildenden Erziehungs- zweckes gelehrt wissen ; was zwar kein neuer Wunsch, aber gewiß wieder einmal hervor- hebenswert ist, sei es wegen der Betonung des Wissens in den Lehrplänen, sei es wegen der außerhalb der Schule herrschenden, oft zu sehr nur aufs Praktische gerichteten Ansichten. Die Philosophie — wird bei dieser Gelegenheit er- wähnt — könne nur dann zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vermitteln, wenn sie mit der mechanischen Auffassung des Lebens gebrochen habe. Von der überaus schwierigen, neuerdings öfter denn je aufgeworfenen Frage, ob und inwieweit überhaupt die Kenntnis des Biologischen den Menschen zum Höheren führen könne, ist der Ver- fasser nicht angekränkelt. Ich dächte, man muß ihm zugeben, daß er manche Naturlehren vortreff- lich anwendet und andererseits an der richtigen Stelle halt macht; letzteres z. B. da, wo er die Ethik und den kategorischen Imperativ als natur- wissenschaftlich „begründet" hinstellt, aber auf ihren Inhalt nicht näher eingeht, oder wo er — ganz am Schlüsse — auf die Ableitung von ein- zelnen Moralvorschriften verzichtet, Religiosität aber als Angelegenheit des Einzelnen hinstellt, auf die verzichten könne, wem sie nicht liegt. Man kann dem Buche nur wünschen, daß es seinen Leserkreis findet. Konnte auch nicht ver- schwiegen werden, daß es etwas in die Breite geht, so ist es doch für heutige Verhältnisse nicht kostspielig und wird viele Anregungen dem Freund der Naturwissenschaften sowie jedermann bieten. Vom Verfasser aber möchte man hoffen, daß er inzwischen nicht verabsäume, auch im Blätterwald noch recht oft für diese oder jene von seinen vielen guten Ideen einzutreten. V. Franz, Jena. Ilberg, G., Geisteskrankheiten, II. Auflage, Leipzig und Berlin 1918, B. G. Teubner, 151. Bd. der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt". Liegt das Bedürfnis vor, gebildete Laien über das Wesen der Geisteskrankheiten zu unterrichten? Der Verf. denkt im besonderen an Lehrer und Erzieher, Richter und Verwaltungsbeamte, Geist- liche, Offiziere, Gefängnisbeamte usw., Leute, „denen schon für ihren Beruf einige Kenntnis von den Geisteskrankheiten unentbehrlich sein müßte". „Aber auch Gelehrte, Künstler und Gebildete jeden Standes sollten sich der großen Bedeutung der Psychiatrie nicht entziehen". Verf. denkt da- zu an die Psychiatrie im Dienste der Rassen- hygiene, ferner an ihre soziale Bedeutung. Man wird sich den Argumenten nicht verschließen können und darum obige Frage im allgemeinen bejahen. Ist es darum nötig, wie Verf. es tut, so- zusagen ein kurzgefaßtes Lehrbuch der ganzen Psychiatric zu geben ? Diese F"rage aber vermag ich nicht ohne weiteres zu bejahen. Die Darstel- lung der einzelnen Krankheiten ist zwar ausge- zeichnet und wird von vielen mit dem größten Interesse gelesen werden, und selbst Studierende der Medizin und Arzte werden viel daraus schöp- fen können ; aber der Laie wird kaum darin lernen, was er brauchte. Er wird selbst versucht werden, spezielle Diagnosen zu stellen, mancher an sich selbst, er wird Gespenster dort sehen, wo sie nicht sind, kurzum, er wird zu einem oberfläch- lichen Herumtappen verführt werden. Er soll offenbar lernen, einen Blick für abnorme Geistes- zustände, bzw. ein Verständnis dafür zu gewinnen, um den Arzt, wo es nottut, so schnell wie mög- lich heranzuziehen. Um diesen Zweck zu erfüllen, wäre m. E. eine weit ausführlichere Darstellung der allgemeinen auf Kosten der speziellen Psychiatrie am Platze, sodann eine genauere Darstellung gerade der Zwischenstufen und derjenigen Kapitel, die oben angedeutet wurden. Wenn ich mir als Nicht- psychiater ein derartiges sachliches Urteil erlaube, so mag das verwunderlich erscheinen. Aber das Buch ist ja gerade für Nichtfachleute geschrieben. Ich muß andererseits gestehen, daß ich das Buch mit dem größten Genuß gelesen und meine ver- blaßten Kenntnisse der Geisteskrankheiten darin nicht unwesentlich rehabilitiert habe. Und so darf ich auch hoffen, daß trotz meiner Einwen- dungen recht viele Leser Nutzen daraus ziehen. Hübschmann (Leipzig). Schumburg, W. , Die Tuberkulose, ihr Wesen, ihre Verbreitung, Ursache, Verhütung und Heilung. III. Auflage. Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. 47. Bd. der Sammlung ,,Aus Natur und Geisteswelt". Über das Wesen der Tuberkulose und ihre Bedeutung als Voikskrankheit sollte jeder Ge- bildete Bescheid wissen. Wer es noch nicht tut, schaffe sich dieses Büchlein an und lese es genau durch. Er findet alles Wissenswerte in klarer Form darin. Das Büchlein ist schon zu gut ein- geführt, als daß man noch nötig hätte, seine Vor- züge von neuem zu betonen. Die Gesamtanlage und Ausführung ist mustergültig. Und doch ist der Kritiker gezwungen, an dieser Neuauflage einen Anstoß zu nehmen. Warum wurden die Statistiken der letzten Jahre nicht gebracht? Der Krieg und die Blockade haben uns, was die Tuberkulosekraiikheit betrifft , auf eine derartig abschüssige Bahn gebracht, daß der Optimismus des Verfassers zunächst ganz bedeutend gedämpft werden muß. Das mögen sich die Leser des Büchleins immerhin merken. Vielleicht ist der Verfasser und der Verlag imstande, einen dahin gehenden Nachtrag zu dieser dritten Auflage zu liefern; die vierte Auflage würde die Aufklärung zu spät bringen. Hübschmann (Leipzig). Trömmer, E., Hypnotismus und Suggestion. 111. Auflage. Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. 199. Bd. der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt". N. F. XIX. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 95 Daß der Hypnotismus heute ein Zweig der medizinischen Wissenschaft ist und nicht etwa auf dunklem Aberglauben beruht, daß er zu dem Rüstzeug jedes Nervenarztes wie jede andere Sug- gestionsmethode gehört, darüber wird jeder Ein- sichtige mit dem Verfasser einig sein. Es ist nur die Frage, ob diese Wissenschaft zur Populari- sierung reif ist, und umgekehrt, ob das PubHkum für die gemeinverständlich vorgetragenen Ergeb- nisse dieser Wissenschaft reif ist. Der Beweis dafür wird nicht gegeben durch die Tatsache, daß das Büchlein schon in dritter Auflage erscheint. Das könnte auch auf dem Hunger nach Sensation beruhen und dann vielleicht nicht, wie der Ver- fasser will, ein „Zeugnis für das Tiefenbedürfnis deutschen Geistes" sein. Das sind die Vorfragen, die sich der Kritiker stellen muß. Nun wird man aber beim Lesen des Büchleins davon überzeugt, daß kaum die Gefahr besteht, es könnte unbe- dachten Lesern gefährlich werden. Im Gegenteil, es wird die Aufklärung in einer Form gegeben, die nur nützen kann. Wer etwa daraus ein „Wunder- doktor" zu werden lernen wollte, wird nicht auf seine Kosten kommen. Der Verfasser hält sich durchweg mehr an die Erklärung der eigenartigen Erscheinungen der Hypnose und zeigt klar die Wege, wie man zu einem natürlichen Verständnis der Dinge auf naturwissenschaftlicher Grundlage zu gelangen vermag. So lernen wir, daß die Hypnose in das große Gebiet der Suggestion hineingehört, die auch sonst im Seelenleben des Menschen eine große Rolle spielt. In kurzen Umrissen wird dann auch die Beziehung der Suggestion zu allen möglichen Äußerungen des menschlichen Lebens erörtert (Psychologie, Geistes- störung, Heilkunde, Kurpfuscherei, Verbrechen, Liebe, Mystik, Kunst, Erziehung, Krieg). — Im ganzen kann man sagen, daß der Verfasser seiner Aufgabe, einen Überblick über den derzeitigen Stand der Wissenschaft von Hypnose und Sug- gestion zu geben, in sehr geschickter Weise ge- recht geworden ist. Einige Verwirrung könnten vielleicht nur die Ausführungen über Stigmati- sation und die kurzen Worte über Telepathie an- richten; die ersteren werden kaum bei dem Laien das richtige Verständnis finden. Diese kleinen Aussetzungen mögen nur dazu dienen, das günstige Gesamturteil über das Buchlein zu bestätigen. Hubschmann (Leipzig). Stempell, W., Leitfaden für das mikro- skopisch-zoologische Praktikum. 2. Aufl., 105 S. mit 86 Abb. im Text. Jena 1919, Verlag von G. Fischer. Preis: brosch. 7 M., geb. 9 M. Stempells vor neun Jahren erschienener „Leitfaden" liegt in zweiter, vermehrter und ver- besserter Auflage vor. Im Gegensatz zu dem im gleichen Verlage erschienenen „Leitfaden für das zoologische Praktikum" von Kükenthal werden in dem Buche Stempells die Objekte nur in- soweit behandelt, wie sie sich mikroskopisch unter- suchen lassen, und während Kükenthal auch eine genaue Beschreibung der einzelnen Objekte gibt, beschränkt sich Stempell fast ganz auf technische Anweisungen. Kükenthals „Leit- faden" ist für den Anfänger ein ausgezeichnetes Buch, der Leitfaden Stempells ist mehr für den bestimmt, der sich bereits praktisch mit den Grundtatsachen der Zoologie vertraut gemacht hat und nunmehr die einzelnen Gruppen mikro- skopisch genauer studieren will. Auf eine kurze Anleitung zum Gebrauche des Mikroskops folgen 25 Praktika, in denen die Objekte nach dem zoo- logischen System, beginnend mit den Protozoen, durchgenommen werden. Kurze Notizen orientie- ren jedesmal darüber, wie man sich die Objekte verschaffen kann und was jede Form Besonderes bietet. Ausführlich wird dann die Konservierung und die weitere Bearbeitung des Materials, das Einbetten, Schneiden, Färben usw., besprochen. Jedem Praktikum sind mehrere Abbildungen bei- gegeben, die die herzustellenden Präparate ver- anschaulichen. Diese Abbildungen sind sämtlich nach Mikrophotogrammen hergestellt. Über den Wert solcher Mikrophotogramme in einem Leitfaden wie dem vorliegenden kann man verschiedener Meinung sein. Gewiß sind die Abbildungen in dem Stempelischen Buche teilweise sehr gut, ein nicht geringer Teil der Mikrophotogramme aber wäre m. E. besser durch gute Zeichnungen ersetzt worden. In einem Praktikum kann nicht genug darauf hingewiesen werden, daß es nicht genügt, die Präparate herzu stellen, sie müssen dann auch genau studiert werden, und das wieder kann nur geschehen, wenn der Praktikant das, was er sieht, zeichnet. Die Mikrophoto- gramme leiten den Praktikanten nicht dazu an; sie vermögen nur in wenigen Fällen alles das wiederzugeben, was das Präparat zeigt, und so geben sie häufig dem Praktikanten ein ganz fal- sches Bild dessen, was er sehen soll. Eine gute Zeichnung würde da wesentlich bessere Dienste leisten. Nachtsheim. Prietze, Herrn. Alb., Natur und Volkstum. Eine Anregung zur F"orschung für jedermann. Als Manuskript gedruckt. 53 S. Lüneburg 1919, V. Stormsche Buchdruckerei. Gegenüber der allgemein verbreiteten An- schauung von einer dauernden Verschlechterung der Rasse weist P. auf die Tatsache hin, daß sich innerhalb unseres Volkes von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart eine ganze Reihe von Stammestypen erhalten haben. Offensichtlich steht das räumliche Nebeneinander dieser einzelnen Stämme mit der Beständigkeit der Formen in der Zeit in Beziehung. Wenn die Grenzen zwischen den Stämmen verschwindende waren, kann auch von einer Beständigkeit in der Zeit nicht die Rede sein, eins ist vielmehr durch das andere bedingt. Wenn wir Beständigkeit als Grundgesetz der einzelnen Systeme annehmen, aus denen sich die menschliche Gestalt aufbaut, können wir diese 96 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 6 Beständigkeit der Stammesart mit der Verschie- denheit der einzelnen Menschen vereinen. Sind die Systeme gleichen Herkommens, so bleibt auch die ganze Menschenform. Da Gleichartigkeit in diesem Falle dasselbe ist wie Reinheit, so haben wir dann einen reinen Stamm vor uns. Diese reinen Stämme bilden wiederum die Grundelemente, aus denen sich Volk und Rasse aufbauen. Wenn sich demnach die Stämme rein erhalten haben, so gilt dasselbe natürlich auch von Volk und Rasse. Der Verfasser will mit seiner Schrift zur geistigen Erneuerung der Gegenwart beitragen ; der Deutsche soll wiederum Liebe zu seinem Volke finden. F. versucht es, diese Liebe zum Volke und zur Heimat zu wecken. Zahlreiche fein- sinnige Beobachtungen und tiefgründige Gedanken besitzen jedoch mehr als Augenblickswert, und lassen auch die in der Schrift ihren stillen Genuß finden, die an den Tagesbestrebungen achtlos vorübergehen. Wernigerode a. H. H. Mötefindt. Anregungen und Antworten. Eine „Arbeitsgemeinschaft der naturwissenschaftliclien Körperschaften Deutschlands" bringt der ,, Naturwissenschaft- liche Verein Würzburg" unter Bezugnahme auf den diesbezüg- lichen Vorschlag Zilligs in Nr. 44 der Naturw. Wochen- schrift Jihrg. 1919 mit nachfolgenden Leitsätzen in Vor- schlag: 1. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Körper- schaften werden, soweit dies noch nicht geschieh! , von den bloß die Mitglieder interessierenden geschäftlichen Berichten usw. unbedingt abgetrennt. 2. Wissenschaftliche Veröffentlichungen von allgemei- nem Interesse erscheinen nicht mehr in den Sammelorganen der Körperschaften, sondern in den (für jede Unterdisziplin besonders ausgewählten) bereits vorhandenen Fachzeitschriften von Fachvereinigungen oder, wenn solche nicht bestehen, des Buchhandels. Mit diesen Fachorganen werden wegen laufen- der Aufnahme solcher Arbeiten und wegen Lieferung von Sonderdrucken an die einsendenden Körperschaften durch die „Arbeitsgemeinschaft" dauernde Vereinbarungen getroffen. Die Herkunft derartiger Abhandlungen wird durch den Untertitel : ,,Aus der .... (Rörperschaft)" ersichtlich gemacht. 3. Die Körperschaften bringen in ihren bestehenden Sammelorganen nur ,, regionale" Arbeiten, d. h. solche, welche über das von der Körperschaft zu bearbeitende Gebiet han- deln, also kein allgemeines Interesse in ganz Deutschland beanspruchen. 4. Über das von jeder naturwissenschaftlichen Körper- schaft zu bearbeitende Gebiet werden besondere Vereinbarun- gen getroffen. 5. Um eine bessere Übersichtlichkeit der vorhandenen Sammelorgane zu erzielen, einigen sich die Körperschaften eines politisch oder natürlich abgegrenzten Gebietes nach Vor- schlägen der ,, Arbeitsgemeinschaft" auf das beste bisherige Sammelorgan, das in einzeln abonnierbare Unterabteilungen mit einheiilichem Inhalt (Botanik, Zoologie, Geologie) zerlegt wird. Soweit bereits derartige ,, regionale" Organe für ein- zelne Disziplinen bestehen, werden sie zur Veröffentlichung der einschlägigen Arbeiten über das Gebiet herangezogen. 6. Die Körperschaften sind mehr als bisher bestrebt, die Herausgabe guter selbständiger Arbeiten , welche unter den heutigen Verliältnissen nicht erscheinen könnten , zu unter- stützen. 7. Die ,, Arbeitsgemeinschaft" organisiert die Veröffent- lichungen der ihr angeschlossenen Körperschaften nach obigen Richtlinien und steht den Körperschaften durch Bildung eines Ausschusses von Fachleuten mit wissenschaftlicher Beratung jederzeit zur Verfügung. Der „Arbeitsgemeinschaft" können sich also auch alle die naturwissenschaftlichen Körperschaften anschließen, welche keine eigenen Veröffentlichungen heraus- geben oder unter den heutigen Verhältnissen dazu nicht mehr in der Lage sind. 8. Die Arbeitsgemeinschaft unterhält eine Geschäftsstelle mit folgenden Aufgaben : a) Sammlung der gesamten naturwissenschaftlichen Lite- ratur insbesondere aller in den Organen der Körperschaften bisher zerstreuten Arbeiten nach Disziplinen und Unter- abteilungen ; b) Auskunfterteilung über naturwissenschaftliche Ver- öffentlichungen irgendeiner gewünschten Richtung gegen be- stimmte Gebühren. Nennung der bereits vorhandenen , aber wenig bekannten Literaturzusammenstellungen irgendeines Spezialgebietes ; c) leihweise Überlassung schwer erlangbarer Arbeiten über irgendein Gebiet in Sonderdrucken aus der anzulegenden Sonderdrucksammlung gegen bestimmte Gebühren; d) Vermittlung des Ausiausches einerseits der Gesellschafts- schriften , auch der ausländischen, andererseits der von den Büchereien der Körperschaften als doppelt oder überzählig gemeldeten Bücher und Schriften, Sammlungsgegenstände (bei Körperschaften, welche Museen unterhalten) usw. ; e) Bekanntgabe der von Forschern eingereichten Wünsche hinsichtlich naturwissenschaftlicher Feststellungen (z. B. des Vorkommens einer Pflanze, eines Tieres usw. in dem einer Körperschaft für regionale Bearbeitung zugewiesenen Gebiet); f) Vermittlung des .\ustauschs von Vortragenden. 9. Die ,, Arbeitsgemeinschaft" hält nach Bedarf Tagungen ab, auf welchen Fragen der Organisation naturwissenschaft- licher Arbeit usw. besprochen werden. 10. Die Kosten für die Geschäftsstelle, wie für die Durch- führung der Organisation werden durch Beiträge der ange- schlossenen Körperschaften bestritten, indem diese für jedes ihrer Mitglieder jährlich einen kleinen Betrag an die Geschäfts- stelle abführen. 11. Die genaue Form der Leitsätze, wie die Satzungen der „Arbeitsgemeinschaft" werden von den Körperschaften endgültig festgelegt, die innerhalb eines Vierteljahres nach Veröffentlichung vorstehender Leitsätze ihre Bereitwilligkeit für die Schaffung einer derartigen Organisation (durch Mit- teilung an den „Naturwissenschaftlichen Verein Würzburg") bekunden. Illlmlt: Albrecht Hase, Über den Putzvorgang bei der Schlupfwespe Lariophagus dislinguendus (Forst.). (8 Abb.) S. 81. Fr. Lenz, Salzwasser und präanale Blutkiemen der Chironomus-Larven. (4 Abb.) S. 87. — Einzelberichte: Meerum Terwogt, Das System Brom-Jod. (2 Abb.) S. 91. Gaßner, Rostempfänglichkeit. S. 92. — Bücherbesprechungen: H. G. Holle, Allgemeine Biologie als Grundlage für Weltanschauung und Lebensführung. S. 93. G. Ilberg, Ge- schlechtskrankheiten. S. 94. W. Schumburg, Die Tuberkulose, ihr Wesen, ihre Verbreitung, Ursache, Verhütung und Heilung. S. 94. E. Trömmer, Hypnotismus und Suggestion. S. 94. W. St em pell, Leitfaden für das mikro- skopisch-zoologische Praktikum. S. 95. Alb. Herm. Prietze, Natur und Volkstum. S. 95. — Anregungen und Antworten: „Arbeitsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen Körperschaften Deutschlands". S. 96. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue FolRe 19. Band: der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 15. Februar 1920. Nummer 7. Fünfzig Jahre Berliner Anthropologische Gesellschaft. [Nachdruck verboten.] Von HugO MÖtefindt, Am 29. November dieses Jahres feiert die Berliner Gesellschaft für Anthropolo- gie, Ethnologie und Urgeschichte ihr fünfzigjähriges Bestehen. Ein jeder, der sich mit einer von den drei von dieser Gesell- schaft gepflegten Disziplinen näher beschäftigt hat, kennt auch wenigstens den Namen dieser Gesellschaft. In unserem Vaterlande , in ganz Europa überhaupt, gibt es gewiß nur sehr wenige gelehrte Gesellschaften, die mit der Entwicklung der von ihnen gepflegten Wissensgebiete gleich eng verwachsen sind, die die Entwicklung ihrer Arbeitsgebiete in der gleichen Weise fruchtbringend gefördert haben, wie die genannte Berliner Ge- sellschaft die drei Gebiete der Anthropologie, Eth- nologie und Urgeschichte. So dürfte denn auch an dieser Stelle eine kurze Würdigung der Ge- sellschaft, ihrer Geschichte und ihrer Bedeutung, nicht unangebracht erscheinen. Für unsere Gegenwart, die in der ganzen Forschung die Neigung zu einer Spezialisierung der Arbeitsgebiete erkennen läßt, erscheint es zu- nächst unverständlich, wie gerade diese drei Ar- beitsgebiete, die auf den ersten Blick doch nur sehr wenig miteinander gemein haben, sich zu- sammengefunden haben. Selbst in den Reihen der Wissenschaft hat es in den letzten Jahrzehnten nicht an Stimmen gefehlt, die eine Aulteilung der Gesellschaft auf die einzelnen Arbeitsgebiete forderten und den alten Zusammenschluß für einen Hemmschuh in der weiteren Entwicklung der Einzelgebiete ansahen. So mag denn zunächst einmal ein Überblick über die Geschichte dieser Einzeldisziplinen zeigen, weshalb sich gerade diese drei Gebiete zusam- mengeschlossen haben; dieser Überblick wird uns dann gleichzeitig mitten in die Ge- schichte der Berliner Gesellschaft hineinführen. Schon im Altertum war die Erkenntnis ver- breitet, daß vor der geschichtlichen Zeit eine solche läge, über die der Historiker nichts aus- zusagen vermöchte. Was ein Dichter wie He- siod in den Bildern von den drei menschlichen Zeitaltern, einem goldenen, einem silbernen und einem eisernen auszudrücken versuchte, faßte ein anderer besonders erleuchteter Kopf, der Dichter Lukretius, zu jenen drei Zeiten zusammen, die noch heute im Dreiperiodensystem die Grundlage der ganzen urgeschichtlichen Forschung bilden : die Steinzeit, Bronzezeit und Eisenzeit. Aber nur zu bald gerieten diese Forschungen wie- der in Vergessenheit. Erst der beginnende Hu- manismus nimmt sie wieder auf, aber der Aber- Wernigerode a. H. glaube der Zeit verhindert eine freie Entfaltung der Forschung gerade auf diesem Gebiete. Erst mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts erfolgt der Umschwung. In dem Geschlecht, welches nach der Wiedergeburt des deutschen Volkes, nach den Freiheitskriegen herangewachsen, war das Selbst- bewußtsein, der nationale Stolz wieder rege ge- worden. Die Literatur hatte den Blick rückwärts gelenkt, in die Zeiten der Größe und der IVIacht der Nation. IVlan war sich wieder bewußt ge- worden, daß Deutschland eine ruhmvolle Ge- schichte hatte, daß das deutsche Volk, indem es dem Siegeszug der Römer durch die Welt ein Ziel gesetzt, den Ansturm der Araber mit eiserner Hand zurückgeworfen und die Angriffe der Mon- golen und der Tartaren an seiner Brust zerschellen ließ, das Geschick Europas als eines in Kultur selbständigen Erdteils entschieden hatte. Aus diesen großen Erinnerungen heraus erwuchs die Freude, sich mit der Vergangenheit zu beschäfti- gen und dem Ursprung der germanischen Stämme und ihrer Entwicklung nachzugehen. So kam man wieder zu der in den Gräbern niedergelegten Hinterlassenschaft, erkannte deren Bedeutung für diese Fragen und begann deshalb, sich intensiv mit ihnen zu befassen. Fürsten, Ministerien, Aka- demien, Gelehrte und Gebildete wetteiferten mit- einander, die Altertümer ihrer Heimat aus dem kühlen Schoß der Erde zu fördern, nach Maßgabe der verschiedenen Kräfte zu beleuchten und für den Kreis der strengwissenschaftlichen Forschung zu gewinnen. Ihren eigentlichen Ausdruck fanden diese Bestrebungen in den vielen damals ge- gründeten Vereinen, die sich mit Feuereifer der vorgeschichtlichen Forschung hingaben. Als dis bekanntesten derartigen Vereine mögen der 1817 gegründete Unstrutverein für vaterländische Alter- tümer in Geschichte und Kunst, der 1819 ge- gründete Thüringisch-sächsische Verein für Er- forschung der vaterländischen Denkmäler (in dem der Unstrutverein 1820 aufging), der Verein für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, gegründet 1835, und der 1836 gegründete alt- märkische Verein für vaterländische Geschichte genannt werden. All diesen lokalen Bestrebungen fehlte zunächst jeglicher Zusammenschluß. Erst 1852 erstand der Gesamtverein aller deutschen Geschichtsvereine; in diesem Vereine fanden sich auch die Urgeschichtsforscher zusammen, und eine Zeitlang schien es so, als ob dieser Verein den Mittelpunkt all der Bestrebungen zur Aufhellung der Urzeit bilden würde. Diese Hoffnungen wur- den durch die Gründung des römisch-germani- 98 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 7 sehen Zentralmuseums in Mainz bestärkt. Daß diese Hoffnungen sich dann später nicht erfüllt haben, beeinträchtigt die in Mainz und im Gesamtverein für unsere deutsche Urgeschichte geleisteten Ar- beiten keineswegs. Den Mittelpunkt für die Forschung konnte in jenen Jahren nicht ein Museum bilden, sondern lediglich eine Gesellschaft ; aber auch nicht eine Gesellschaft wie die des Gesamtvereins, die sich alle Jahr nur einmal zu gemeinsamer Arbeit vereinte, sondern eine Gesellschaft, die sich in regelmäßigen Zusammenkünften zusammenfand und unter der Leitung einer großzügigen, hoch- begabten und organisatorisch veranlagten Persön- lichkeit stand. Zur selben Zeit, in der die Urgeschichte sich zu entfalten begann, traten auch die anderen Ge- biete in die Arena. Zunächst einmal die An- thropologie. Ihre ersten Anfänge liegen gleich- falls im Altertum. Dazu kamen späterhin neue, aber vergebliche Ansätze im i6. Jahrh. Die eigent- liche Grundlage wurde jedoch erst im i8. Jahrh. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. gelegent- lich der Wiederaufrichtung und des weiteren Aus- baus der Anatomie geschaffen. Nicht mit Unrecht wird des öfteren das Erscheinen von Blumen- bachs Inauguraldissertation „De generis humani varietatis nativis" (1775 ; deutsch unter dem Titel „Über die natürlichen Verschiedenheiten im Men- schengeschlecht" 1798) als Geburtsstunde der neueren wissenschaftlichen Anthropologie be- zeichnet. Die Anthropologie hatte in jenen Jahren noch keinerlei Zusammenschluß gefunden. Genau so stand es mit dem dritten Gebiet, der Ethno- logie. Altertum und Mittelalter haben sich mit den Sitten und Gebräuchen der Naturvölker ihres Ge- sichtskreises nicht wissenschaftlich vergleichend, sondern im besten Falle flüchtig beschreibend ab- gegeben. Erst im 18. Jahrh. wurde das anders. Die großen Seefahrer wie Kapitän Cook und Reinhold Forster u. a. m. berichteten ein- gehend über die Bevölkerung der von ihnen be- suchten fremden Erdteile, über ihre Sitten und Gebräuche. Von ihnen übernahmen die Philo- sophen Montesquieu, Rousseau, Voltaire ihre An- regungen, und durch diese erwachte das Inter- esse in Deutschland. Herder und Schiller sind die ersten, die sich hier mit der Völker- kunde beschäftigten. Dann kam Wilhelm von Humboldt, den man mit Recht als den ersten eigentlichen Ethnologen bezeichnen kann. Mit ihm beginnt in Deutschland jene Ära, die mit den Namen Bastian, Ratzel, Theodor Waitz, Oskar Peschel, Georg Gerland u. a. m. verknüpft ist. An Berührungen zwischen allen drei Arbeitsgebieten fehlte es von Anfang an nicht. Der Anthropologe suchte Anschluß an den Prä- historiker, weil dieser bei seinen Grabungen Skelette und Schädel zutage förderte, die für den Anthropologen kostbares Arbeitsmaterial bil- deten, und aus diesem gemeinsamen Sammeln er- gab sich ein gemeinsames Hand-in-Hand-Arbeiten. Auch der Ethnologe und der Prähistoriker waren längst in nähere Berührung zueinander getreten. Was der Prähistoriker nur als Hinterlassenschaft einer längst vergangenen Zeit feststellen konnte, wie die Pfahlbauten, den Gebrauch der Steinge- räte usw., konnte der Ethnologe noch in fernen Erdteilen mit eigenen Augen beobachten und mit dem vergleichen, was der Prähistoriker aus seinen Funden erschlossen hatte. Da kamen die Entdeckungen der ersten Spuren des diluvialen Menschen; sie er- regten naturgemäß das größte Aufsehen in der wissenschaftlichen Welt. An der Erforschung dieser Funde waren alle drei Disziplinen in glei- cher Weise interessiert; in gemeinsamer Arbeit wurden all die Fragen erörtert, die durch diese Entdeckungen nahe gelegt waren. Und so halfen dann diese Entdeckungen die Verbindung her- stellen, die bereits seit langem in der Luft gelegen hatte. Schon waren in London, Paris, Madrid und anderen Stätten des Auslandes Gesell- schaften gegründet, die das Studium der Anthropologie zu ihrer Aufgabe machten und eigene Zeitschriften veröffentlichten. Nur Deutschland verhielt sich den neuen Strömungen gegenüber noch gleichgültig. Zwar bestand innerhalb der Gesellschaft für Erdkunde schon längere Zeit eine freie Ver- einigung von Anthropologen und Geographen, welche aber nicht in der Öffentlichkeit hervortrat. Da erließ 1869 die Sektion für Anthropo- logie, Ethnologie u nd Urgeschichte der Naturforscherversammlung zu Inns- bruck aufVirchows Anregung einen Auf- ruf zur Gründung einer Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urge- schichte. Diesem Aufruf leisteten die weitesten Kreise Folge, so daß im November des jahres die erste Sitzung der Gesellschaft statt- finden konnte. Am 11. Dez. 1869 fand dann die erste wissenschaftliche Sitzung statt, über die ein kurzer Bericht gedruckt vorliegt (Zeitschr. f Ethnologie i, 1869. S. 480). Ein Überblick über die Entwicklung der Gesellschaft während der ersten fünf- zig Jahre ihres Bestehens mag die Antwort auf die Frage geben, ob dieser Zusammenschluß der drei Gebiete im Interesse der Wissenschaft lag oder nicht. Dreierlei Ziele hatte sich die junge Ber- liner Gesellschaft von vornherein gesetzt: durch rege Vereinstätigkeit die Forschung zu fördern und das Interesse für sie vertiefen zu helfen, eine Zeitschrift zu schaffen, in der die Forscher aller drei Gebiete in der gleichen Weise zu Worte kommen sollten, und wissenschaftliche Unternehmungen auf allen drei Gebieten in jeder Weise zu unterstützen und zu fördern. Gleich im ersten Jahre ihres Bestehens wurde die Gesellschaft auf eine harte Probe gestellt. Der Krieg 1870/71 führte viele ihrer Mitglieder ins Feld; N. F. XDC. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 99 zu einer Einstellung der Sitzungen der Gesellschaft ist es jedoch nicht gekommen. Regelmäßig fanden jahraus, jahrein zehn ordentlicheSitzungen statt; dazu kamen immer noch eine ganze Anzahl von Sonder- sitzungen, gemeinsamen Besichtigungen, Vorlüh- rungen u. dgl. Wie sehr es der Gesellschaft gelungen ist, durch diese Veranstaltungen ihre Mitglieder zu fesseln, zeigt ein Blick auf die Mit- gliederverzeichnisse. Ende 1872 finden wir 180 ordentliche und 41 korrespondierende Mitglieder verzeichnet; heute umfaßt die Gesell- schaft 959 ordentliche und 104 korrespondierende Mitglieder. Die Sitzungen selber standen in erster Linie unter dem Emfluß der überragenden Persönlichkeit von Rudolf Virchow (* 13. 10. 1821, •j- 5. 9. 1902). Virchow war der erste Vor- sitzende der Gesellschaft, in statutengemäßem Turnus hat er dies Amt bis an sein Lebensende geführt; dazu war er von 1892 an ihr Ehrenvor- sitzender. War Virchow in Berlin anwesend, so nahm er auch an den Sitzungen teil, und es ver- ging dann kein Abend, an dem er nicht aus der Fülle seines Wissens selbst vortrug oder zu den Vorträgen anderer Bemerkungen ergänzender oder kritischer Art hinzufügte. Wer einmal die alten Jahrgänge der Verhandlungen durchblättert, findet dabei wohl keine Frage, in die Virchow nicht irgendwie selber eingegriffen hat, zu der er nicht irgendwie Stellung nahm. Virchow war wohl der letzte Forscher, der alle drei Diszi- plinen der Gesellschaft gleichmäßig beherrschte, auf allen dreien selber arbeitete und die Forschung vorwärts führte. Bald berichtete er in den Sitzungen der Gesellschaft über Ausgrabungen, die er selbst irgendwo in Deutschland vorgenommen hatte, oder nahm kritisch zu irgendwelchen neuen Funden Stellung; bald legte er eine Serie von neuen Schädeln vor, die ihm irgendeiner seiner alten Schüler in treuer Dankbarkeit gesandt hatte; bald berichtete er über die Ergebnisse einer neuen ethnologischen Forschungsreise; bald erzählte er von seinen eigenen weiten Reisen, oder von dem Besuch irgendeines internationalen Kongresses. So ward er auf allen drei Gebieten der anerkannte Meister. An ihn wandten sich deshalb alle die- jenigen, welche neue Funde gemacht oder neue Beobachtungen gesammelt hatten. Auf der ganzen Erde fanden sich seine Verehrer und Schüler, aus allen Weltteilen und Himmelsgegenden flössen ihm immer wieder zahlreiche neue wissenschaft- liche Mitteilungen und interessante Gegenstände zu, von denen er alles Geeignete der Gesellschaft vorlegte. Virchow verstand es aber auch wie kein zweiter, seiner großen Schülerschar auf der Universität Interesse für die von der Gesellschaft gepflegten Disziplinen einzuflößen, immer neue persönliche Verbindungen mit in- und ausländi- schen Forschern anzuknüpfen und schon besiehende Bande zu befestigen, und immer neue Mitglieder für die Gesellschaft heranzuziehen, dabei dann auch dort diesen, dort jenen auf besondere Aufgaben aufmerksam zu machen, dabei jedem neue Bahnen weisend. So bleiben die ersten drei Jahrzehnte der Gesellschaft für alle Zeiten auf das engste mit dem Namen Virchow verknüpft. Neben Virchow standen Männer wie Ba- stian, Lissauer, Voß, Beyrich, Reiß, Hart- mann. Nach Virchows Tode übernahm Waldeyer die Leitung der Gesellschaft. Er so- wohl wie seine Nachfolger: Lissa u er , von den Steinen, Hans Virchow, Seier, Schuch- hardt, haben die Gesellschaft im alten Geiste fortgeführt; sie haben das Erbe Rudolf Virchows nicht nur wahren, sondern auch mehren helfen, und es ist wesentlich ihr Werk, wenn die Gesell- schaft trotz der mannigfachen Stürme und der schweren Verhältnisse der Gegenwart heute fest verankert dasteht und mit den besten Hoffnungen in die zweiten ,, Fünfzig" hineingeht. Die besten Zeugen von der fruchtbringenden, unermüdlichen Arbeit der Berliner anthropologi- schen Gesellschaft während der ersten fünfzig Jahre sind wohl die stattlichen Bände ihrer Ver- öffentlichungen, die allein eine kleine Biblio- thek für sich bilden. 1869 hatten Bastian und Hartmann die „Zeitschrift für Ethnologie und ihre Hilfswissenschaften als Lehre vom Menschen in seinen Beziehungen zur Natur und zur Geschichte" begründet. Diese Zeitschrift wurde von der neugegründeten Gesellschaft übernommen; sie führt fortan den vereinfachten Titel „Zeitschrift für Ethnologie" mit dem Zusatz „Organ der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte"; gleichzeitig trat Rudolf Virchow mit in den Herausgeberausschuß ein. Von 1880 zeichnen als Herausgeber Hartmann, Virch ow und Voß, von 18S2 an Bastian, Hartmann, Virchow und Voß, von 1893 an Bastian, Virchow und Voß, von 1898 an Bartels, Virchow und Voß; seit 1902 werden die Namen der Herausgeber auf dem Titelblatt nicht mehr genannt, die Leitung der Zeitschrift mit allen da- mit verbundenen Sorgen und Mühen wird seitdem von dem jeweiligen Vorsitzenden ausgeübt. In der „Zeitschrift für Ethnologie" wurden von 1869 an die Sitzungsberichte der Gesellschaft in kurz gefaßter Form abgedruckt. Aber nur allzubald stellte sich das Bedürfnis heraus, diese Sitzungs- berichte in ausführlicher Form bekannt zu geben, und die Gesellschaft entschloß sich dazu, die Sitzungsberichte der Zeitschrift zu einem be- sonderen Heft zusammenzustellen und besonders zu paginieren. Aus dem ersten schmächtigen Heft (1871) erwuchs sehr schnell eine zweite stattliche Zeitschrift, die „Ver handl ungen der Berliner anthropologische Gesellschaft" (seit 1872), deren Redaktion zuerst mit der der „Zeitschrift für Ethnologie" gleichzeitig geleitet wurde, dann übernahm sie von 1877 R. Virch o w allein. Wie umfaiigreich die Veiöffentlichungen der Gesell- schaft sich gleich in den ersten Jahren gestalteten, zeigt ein Blick auf die stattliche Bändereihe der beiden Zeitschriften. 1869 umfaßte die Zeitschrift Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 7 für Ethnologie 480 Seiten, 1870 wieder 480 Seiten, 1871 412 Seiten, 1872 392 Seiten; dazu kamen dann noch 1871 144 Seiten „Verhandlungen", 1S72 waren es bereits 296 Seiten usw. Zu diesen bei- den Zeitschriften wurde noch eine ganze Reihe von umfangreicheren Abhandlungen, wie die von Schwein furth über „die linguistischen Ergeb- nisse einer Reise nach Zentralafrika" (1873), von Hartmann über „die Nigritier" ( 1 876), von W e i s - bach über „Körpermessungen verschiedener IVIen- schenrassen" (1878) u.a.m. in besonderen Ergän- zungsheften herausgegeben. Zur Erleichterung der Benutzung beider Zeitschriftenserien wurden außer- dem zwei stattliche Registerbände geschaffen. Zur besonderen, eingehenderen Pflege der Urge- schichte wurde im Jahre 1890 eine dritte Zeit- schriftenserie, die „Nachrichten über deut- sche Altertumsfunde" gegründet. Als Heraus- geber dieser Serie zeichneten von 1890 — 1901 R. Virchow und Voß, von 1902 — 1904 Voß allein. AufLissauers Veranlassung entschloß sich die Gesellschaft 1903 dazu, ihre VeröfTent- lichungen zu einer einheitlichen Zeitschrift zusam- menzuziehen. Das Erscheinen der Verhandlungen und der Nachrichten wurde fortan eingestellt, die Sitzungsberichte und die Fundberichte erschienen laufend wieder in der Zeitschrift für Ethnologie selber, die dadurch an Umfang erheblich zunahm; einige Jahresbände erreichen den stattlichen Um- von 1200 Seiten, dazu kommen dann noch all die kostbaren (und kostspieligen) Tafeln und Ab- bildungen. Von diesem Grundsatz der Vereinheit- lichung ist die Gesellschaft jedoch bereits 1909 wieder abgewichen. Seitdem erscheint eine ge- meinsam mit der Generalverwaltung der königl. Museen usw. herausgegebene „Prähistorische Zeitschrift", deren Leitung Schuckhardt, Schumacher und Seger übernommen haben. Die dritte große Aufgabe, die sich die Gesell- schaft bei ihrer Gründung gestellt hatte, zielte auf Förderung und weitgehende Unter- stützung jeglicher wissenschaftlicher Forschung auf den drei in Frage kommenden Disziplinen ab. Was die Gesellschaft in dieser Beziehung geleistet hat, läßt sich hier in Kürze nur sehr schwer wiedergeben. Wiederum war es Virchow, dessen zielbewußter Leitung es zu verdanken ist, daß die Gesellschaft ihre Kräfte in den ersten Jahren nicht zersplitterte, sondern zu- nächst das ins Auge faßte, was der Forschung am meisten nottat: die Schaffung eines Mu- seums für Völkerkunde in der Reichs- hauptstadt. Auf wiederholte Eingaben der Ge- sellschaft hin wurde 1873 des Museum für Völker- kunde gegründet, das gleichzeitig die vorgeschicht- lichen Sammlungen, die bisher im Schlosse Mon- bijou aufbewahrt gewesen waren, mit in sich auf- nehmen sollte. Aber noch mehr als ein Jahrzehnt ging darüber hin, bis endlich 18S6 das Museum in dem zentralen Bau in der Nähe des Potsdamer Bahnhofes eröffnet werden konnte. Einfach un- übersehbar ist die Zahl dessen, was die Gesell- schaft zur Ausgestaltung der Sammlungen dieses Museums beigetragen hat. An der wissenschaftlichen Verarbeitung der Sammlungen hat die Gesellschaft gleichfalls den regsten Anteil genommen. Um diesen innigen Zusammenhang zwischen der Gesellschaft und dem Museum enger zu gestalten, wurden der Gesell- schaft in dem Museumsgebäude von der General- verwaltung der königl. Museen eigene Räume zur Aufstellung ihrer Bibliothek usw. zugewiesen. Ohne Zweifel hat dieser Zusammenhang für die Weiter- entwicklung des Museums sowohl wie der Ge- sellschaft die schönsten Früchte getragen. Ein besonderes Verdienst um die vorgeschicht- liche Forschung erwarb sich die Gesellschaft durch die Veranstaltung jener großartigen Ausstel- lung von u rgeschich tlichen Fu nden aus ganz Deutschland, die unter dem Protekto- rate des damaligen Kronprinzen Friedrich im August 1880 zu Berlin veranstaltet wurde. Für die vorgeschichtliche Forschung ergab sich daraus ein neuer Aufschwung. Der umfangreiche Katalog der Ausstellung (A. Voß, Katalog der Ausstel- lung prähistorischer und anthropologischer Funde Deutschlands. Berlin 1880. 619 S. Nachtrag da- zu. Ebendort 1880. LXXIX u. 48 S.) sowie das wertvolle „Prähistorische Album" bilden noch heute unentbehrliche Hilfsmittel für jeden Urge- schichtsforscher. Wenn diese beiden großen Aufgaben in den ersten zehn Jahren des Bestehens der Gesellschaft auch im Vordergrunde ihres Interesses standen, so wurde daneben auch schon in jenen Jahren zahl- reiche Forschungsreisende von der Gesell- schaft in jeder Weise unterstützt und mit ihrer Hilfe wiederum Erwerbungen für das Museum durchgeführt. Von dem Augenblick an, in dem die Gesellschaft durch die Eröffnung des Museums freie Hand erhalten hatte, ließ sie sich die Förde- rung derartiger Unternehmungen ganz besonders angelegen sein. So wurde von der Gesellschaft in den Jahren 1898/99 jene Expedition unter der Leitung von Be Ick und Lehmann-Haupt nach Armenien ausgeführt, die für unsere Kenntnisse des alten Orients die wertvollsten Be- reicherungen heimbrachte. Auch an den großen Grabungen im Orient beteiligte sich die Ge- sellschaft mit demselben Interesse, mit dem sie die Grabungen in Deutschland selbst in jeder Weise förderte und ermöglichte. Die Unterstützung dieser zahlreichen und z. T. großzügigen Unternehmungen wurde der Ge- sellschaft selber erst dadurch ermöglicht, daß RudolfVirchow eine ihm 1881 anläßlich seines 60 jährigen Geburtstages überwiesene Stiftung von 80000 Mark der Gesellschaft zur Förderung der drei von ihr gepflegten Disziplinen unter dem Namen einer Rudolf- Virchow-Stiftung überwies. Geschickte, großzügige Verwaltung hat mit den Mitteln dieser Stiftung, die übrigens noch mehrmals (so 1891 anläßlich des 70 jährigen Ge- burtstages des Altmeisters u. a. m.) erheblich ver- N. F. XDC. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. mehrt worden ist, manche Forschung und manche Untersuchung ermöglicht, die sonst, ohne diese finanzielle Hilfe, einfach nicht zustande gekom- men wären. Nicht ungenannt bleiben dürfen schließlich die Kommissionen, die in engster Verbindung mit der Schwestergesellschaft, der 1870 gegrün- deten Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zur Förderung ver- schiedener Aufgaben aufgestellt worden sind. Durch diese Kommissionen hat die Gesellschaft selber aktiv in die Forschung eingegriffen und z. T. hervorragende Erfolge gezeitigt. Von derartigen Kommissionen mögen hier diejenige für die Haut- und Haarfarbenstatistik und die noch heute be- stehende für prähistorische Typenkarten genannt werden. Schließlich hat die Gesellschaft auch noch eine lebhafte Sammeltätigkeit entfaltet, an der wir nicht achtlos vorüber gehen dürfen. Den wertvollsten Besitz, den sich die Gesellschaft auf diese Weise geschaffen hat, bildet wohl die anthropologi- sche Sammlung. Im seltsamen Gegensatz zu der auf allen anderen Gebieten entfalteten eifrigen Sammeltätigkeit ist bisher weder das Reich noch der preußische Staat zu bewegen gewesen, auf dem Gebiete der Anthropologie eine eigene Samm- lung anzulegen. Deshalb hat sich die Gesellschaft gerde dieses Gebietes mit besonderem Eifer an- genommen und in fünfzigjähriger Tätigkeit eine Sammlung zusammen gebracht, die gegenwärtig in Deutschland vollkommen unerreicht dasteht. Die Sammlung wird jetzt im Museum für Völker- kunde aufbewahrt; die schlechten Raumverhält- nisse dieses Museums gestatteten es bisher leider nicht, sie allgemein zugänglich zu machen. Ethno- logische und prähistorische Sammlungen besitzt die Gesellschaft nicht, sondern gibt alle ihr zu- gehende Sachen aus diesen beiden Gebieten statutengemäß an das Museum für Völkerkunde ab. Wohl aber sind noch zwei Sammlungen zu nennen, die für die Forscher unentbehrliches Rüst- zeug enthalten. Einmal eine große Biblioth ek, die im königl. Museum für Völkerkunde zur freien Benutzung der MitgHeder der Gesellschaft aufge- stellt ist. Diese Bibliothek, die heute rund 14000 Bücher und 5000 Broschüren umfaßt, ist muster- gültig geordnet. In ihr ist wohl all das vorhan- den, was über die drei Gebiete überhaupt gedruckt erschien. Wer da weiß, wie schwach z.B. selbst die Staatliche Bibliothek in Berlin mit prähistori- scher Literatur versehen ist, der kann den Wert dieser Bibliothek nicht hoch genug einschätzen. Die zweite Sammlung umfaßt Photo- graphien aus dem Gebiet der Anthro- pologie, Ethnologie und Urgeschichte. Besonders sind die anthropologischen Bestände ein unschätzbares Material für den Forscher. Zu- erst aus gelegentlichen Geschenken hervor- gegangen, hat die Gesellschaft diesen Besitz dann systematisch zu mehren begonnen, indem sie allen Reisenden, die von ihr ausgesandt wur- den, die Verpflichtung mitgab, Photographien zu sammeln. Auf diese Weise ist ein Bestand von rund 16000 Stück zustande gekommen, der gleichfalls mustergültig geordnet ist. — Dieser Überblick über bie Geschichte und die Bedeutung der BerHner anthropologischen Gesell- schaft gibt wohl selbst die beste Antwort auf jene eingangs erwähnte Frage, ob die Verbindung der drei Gebiete Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte zu einer einheitlichen Gesellschaft zweckmäßig war oder nicht. Auch heute noch hat die Gesellschaft ohne jeden Zweifel ihre volle Berech- tigung. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß neben ihr kein Raum für Spezialgesellschaften der einzelnen Forschungsgebiete übrig bleibt. Naturgemäß kann eine derartige umfassende und vielseitige Gesellschaft jedes Einzelgebiet nicht in der Weise beackern, wie es im Interesse der Forschung erforderlich ist. Spezialgesellschaften haben deshalb von vornherein auch einen Anspruch auf Berechtigung, und werden auch der Gesell- schaft selber zu einer gewissen Entlastung will- kommen sein. Die Verhältnisse drängen heute leider viel zu sehr auf eine Spezialisierung hinaus. Für die einzelnen Forscher ist es heutzutage ein- fach unmöglich, auf zweien von den drei genannten Gebieten erfolgreich zu arbeiten. Jedes einzelne Gebiet ist schon an und für sich so umfassend, daß es sich von einem einzelnen Forscher sehr schwer übersehen läßt. Heute liegt bei einer Vereinigung von zwei Gebieten in einer Person die Gefahr nahe, auf einem, wenn nicht gar auf beiden Gebieten ein Anfänger zu bleiben. Diese und ähnliche Gründe, die sich gegen die Ver- einigung der drei Gebiete in einer Gesellschaft ins Feld führen lassen, wollen wir durchaus nicht verkennen. Aber auf der anderen Seite läßt sich hinwiederum nicht leugnen, wie viel gemeinsame Berührungspunkte sie aufweisen, und gewiß auch nicht bestreiten, daß eine gemeinsame Arbeit nicht nur sehr viele Anregungen schafft, sondern daß daraus auch sehr viel positive Arbeit hervor- geht. Das schönste Beispiel bietet uns doch gerade die Gesellschaft selbst in ihrer Entwick- lung bis auf unsere Tage. Wir wünschen ihr deshalb an ihrem Festtage im Interesse der For- schung eine gesundeWeiterentwicklung im Virchowschen Geiste! Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 7 Über die Eutwickluns Von Prof. Dr [Nachdruck verboten.] In meinem Büchlein „Die angewandte Zoologie als wirtschaftlicher, medizinisch- hygienischer und kultureller Faktor", das im Herbst 1918 zum Ab- schluß kam, habe ich den Versuch gemacht, das gesamte Gebiet der praktischen Zoologie nach seinen Leistungen und Aufgaben zur Anschauung zu bringen, nachdem bis dahin nur eine, mir da- mals leider unbekannte kurze Übersicht hierüber seitens Dr. G. Wülker (Naturw. Wochenschr., I916) vorlag. Das Jahr 1919 hat nun — im ganzen unabhängig von den veränderten politi- schen Verhältnissen Deutschlands — auf vielen Gebieten der angewandten Zoologie in organisatorischer Hinsicht bezüglich Forschung und Praxis mancherlei Wand- lungen und Fortschritte gebracht, über die im folgenden — soweit das auf beschränktem Räume möglich ist — berichtet werden soll. In erster Linie ist hier als generell bedeutungs- voll die Anfang des Jahres erfolgte Eröffnung des unter Leitung des um die Entwicklung der prakti- schen Entomologie hochverdienten Prof K. Esche- rich, stehenden „Forschungsinstitutes für ange- wandte Zoologie" in IVlünchen zu nennen. Damit ist die angewandte Zoologie in Praxis zum ersten- mal als eigner, einheitlicher Wissen';zweig in Er- scheinung getreten. Im gleichen Zeichen steht die in Rostock (seitens Dr. K. Friederichs) erfolgte erste Habilitation für „angewandte Zoo- logie" an einer Universität Deutschlands. Dem von praktischen Zoologen mehrfach geäußerten Wunsche, daß die theoretische Zoologie auch praktisch wichtige Tiere in den Kreis ihrer Unter- suchungen einbeziehen möchte, scheint neuerdings häufiger entsprochen worden zu sein. Schließlich ist hinsichtlich der Leistungen der Zoologie im Kriege die schöne, freilich nich ganz vollständige Übersicht von Dr. G. Wülker (in: B. Schmid, Technick und Erfindung im Weltkrieg, Leipzig und München, 1919) zu erwähnen. Das die Landtiere betreffende Teilgebiet der Wirtschaftszoologie hat durch die erste, für die Bekämpfung von Vorratsschädlingen bestimmte und von dem um die Mehlmottenbekämpfung ver- dienten Zoologen Dr. H. W. Frickhinger ge- leitete Abteilung des Münchener Forschungsin- stitutes eine wertvolle Stärkung erfahren. Das im Dienste der Schädlingsbekämpfung im Kriege zu großer Bedeutung gelangte Cyanwasserstoffver- fahren wurde bisher durch den dem preußischen Kriegsministerium angegliederten „Technischen Ausschuß für Schädlingsbekämpfung" (Tasch) an- gewandt. Februar 19 19 ist der „Techn. Ausschuß für Schädlingsbekämpfung" in die wissenschaftlich geleitete „Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbe- kämpfung m. b. H." zu Berlin übergegangen, welche durch Erlaß des Reichswirtschaftsminisiers für die der angewandten Zoologie in Deutschland im Jahre 1919. J. Wilhelmi, Berlin-Dahlem. (l. I. 1920.) alleinige praktische Anwendung des Cyanwasser- stoff-Verfahrens für Deutschland ermächtigt ist. Außer ihr sind lediglich Heeres- und Marinebe- hörden sowie wissenschaftliche Institute noch be- rechtigt, mit dem genannten Verfahren zu arbeiten. Als besondere Forschungsstelle für dieses Ver- fahren sowie für die wissenschaftliche Durcharbei- tung der im Kriege mit Gasbehandlung gemachten Erfahrungen wurde an dem „Kaiser Wilhelm-In- stitut für physikalische Chemie und Elektrochemie" in Berlin Dahlem eine „pharmakologisch-zoo- logische Abteilung" begründet und dem um die Läuse- und Wanzenbekämpfung verdienten Jenen- ser Zoologen Prof. Hase übertragen. Die zur „Biologischen Anstalt für Forst- und Landwirt- schaft" gehörige „Station für Reblausbekämpfung" in Villers l'Orme bei Metz wurde nach Naum- burg a. S. verlegt. Die schon 1918 an dem Kaiser Wilhelm Institut für Biologie in Berlin-Dahlem be- gründete und von Prof M. Hartmann und Dr. L. Armbruster geleitete „Forschungstelle für Bienenbiologie und Bienenzüchtung" hat eine rege Tätigkeit entfaltet, auf die bei der Vielgestaltig- keit der Bienenprobleme hier näher einzugehen zu weit führen würde. Die unter Beteiligung der genannten Bienenforschungsteile am 17. und 18. März 1919 im preußischen Landwirtschafts ministerium erfolgte Beratung von Bienenfragen, über die ein umfangreicher Verhandlungsbericht vorliegt, führte zur Wahl einer Kommission, die später (Juli) als staatlicher „Ausschuß für Bienen- kunde" in P^unktion getreten ist und sich den systematischen Ausbau der Bienenforschung zum Ziele gesetzt hat. Von der durch Dr. Arm- brust er geleiteten „Bücherei für Bienenkunde", in der umfangreichere Arbeiten über Bienen ver öffentlicht werden sollen, liegt Band I : Arm- bruster, Bienenzüchtungskunde, i. Teil, Ver- such der Anwendung wissenschaftlicher Verer- bungslehren auf die Züchtgung eines Nutztieres" vor. Ebenso liegen bereits die ersten Hefte des von Dr. L. Armbruster in Verbindung mit dem bekannten Bienenforscher Prof v. Buttel-Ree- p e n begründeten ,, Archivs für Bienenkunde" vor. Neben dem seit 1 1 Jahren über eine Bienenfor- schungsstelle verfügenden zoologischen Universi- tätsinstitut zu Erlangen hat nunmehr auch das zoologische Universitätsinstitut zu Jena die über- haupt unter allen Gebieten der angewandten Zoo- logie noch am häufigsten Berücksichtigung in der theoretischen Zoologie findende Bienenkunde als Lehr- und Forschungsgebiet in Angriff genommen. Vür die I'örderung unserer Kenntnis von der Bio- logie der „Nonne" wurde dem Assistenten des Landwirtschaftlichen Institutes der Universität Halle von der preußischen „Akademie der Wissen- schaften" in Berlin eine Subvention von I200 M. N. F. XIX. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 103 überwiesen. Die erste deutsche forstentomologi- sche Feldstation trat zum Zwecke der Bekämpfung des Kiefernspinners im Stadtforst von Guben (von der Stadt mit 12 000 M. subventioniert) unter Lei- tung von Prof. Dr. Hase, Berlin-Dahlem und Dr. K. Kröche, Halle a. S., in Funktion. Zu er- wähnen sind ferner die nunmehr zur Veröffent- lichung gekommenen Arbeiten deutscher praktisch- zoologischer Organisationen im Kolonialgebiet und in befreundetem Ausland, nämlich die auf Grund der in Anatolien und Syrien während der Jahre 1916 und 1917 gesammelten Erfahrungen von Reg. Rat K. Bücher unter Mitwirkung von Dr. V. Bauer, Dr. G. Bredemann, Dr. E. Fickendey, Dr. W. La Baume und J. Loag herausgegebene umfang- und inhaltsreiche Be- arbeitung der „Heuschreckenplage und ihrer Be- kämpfung" und der von Dr. K. Friederichs, früherem Zoologen bei dem Kaiserlichen Gouver- nement in Samoa, an das Reichskolonialamt er- stattete und als „Habilitationsschrift für angewandte Zoologie" veröffentlichte Bericht über „Nashorn- käfer als Schädlinge der Kokospalme" — Kränze auf das Grab unserer Kolonien und unserer Orient- politik. Vermerkt sei in diesem Zusammenhange auch die erst jetzt erfolgte glückliche Heimkehr des Regierungszoologen von Deutsch-Südwestafrika Dr. E. Reichenow. Das Jagdwesen wurde als wirtschaftswissenschaftliches Gebiet gefördert durch die Begründung einer „Gesellschaft für Jagdkunde", welche die vor einer Reihe von Jahren von der „Deutschen Jägerzeitung" in Berlin-Zehlendorf ins Leben gerufene „Anstalt für Jagdkunde" weiter ausgestalten will. Die ehrenamtliche Geschäfts- führung des Unternehmens hat Geh. Rat St rose, Mitglied des Reichsgesundheitsamtes, übernommen; ferner bürgen weidmännische Autoritäten und jagd- kundlich bewanderte Zoologen — ich nenne nur Geh. Rat Heck, Direktor des Berliner Zoologi- schen Gartens, und den bekannten Jagdschrift- steller Fritz Bley — für den Ernst, mit dem die Aufgabe in Angriff genommen wird. Eine „Süddeutsche Vogelwarte" wurde mit Sitz in Stutt- gart unter Leitung des durch seine populärwissen- schaftlichen Arbeiten bekannten Zoologen Dr. C. Floericke begründet. Ihr Programm umfaßt umfangreiche biologische Aufgaben. Auch für Konstanz, das sich durch seine Lage am Bodensee für Vogelzugstudien wohl eignet, ist eine Vogel- warte in Verbindung mit einer biologischen Sta- tion in Vorschlag gebracht worden, worauf ich noch im Zusammenhange mit der wasserwirtschaft- lichen Zoologie zu sprechen kommen werde. Ein neues deutsches Vogelschutzgebiet ist im Bereich der Kerspetalsperre auf Anregung des Düssel- dorfer Regierungspräsidenten Dr. Kruse durch die Stadt Barmen gesichert worden. Auch die Freunde der im Weltkriege vielfach gestörten Bestrebungen des Naturschutzes sind rege am Ausbau ihrer Organisationen. Erwähnt sei, daß ein deutscher Mittelgebirgspark auf der schwäbischen Alp als Ergänzung der bestehenden Naturschutzparke des Alpen- und Heidelandes in Vorschlag gebracht worden ist. Unter mancherlei Plänen und Anregungen zur Ausgestaltung von Forschungsgebieten der land- wirtschaftlichen Zoologie weiteren Sinnes ist in erster Linie die von Prof. Dem oll, München, befürwortete Begründung eines „Forschungsin- stitutes für Pelztierzüchtung" im bayerischen Ge- birge als aussichtsreich zu erwähnen. Kaum weniger groß als auf dem Gebiete der landwirtschaftlichen Zoologie sind die Neuerungen in der freilich nicht so vielseitigen wasserwirt- schaftlichen Zoologie. Unsere, hauptsächlich prakti- schen Zwecken (Meeresfischerei, Vogelzugstudien) dienende „Biologische Station" auf Helgoland, die durch den Krieg außer Funktion gesetzt war, hat ihre Tätigkeit im Jahre 1919 wieder aufgenommen. Neugegründet worden ist eine biologische Meeres- station in Büsum (Holstein), die in ihr Programm ebenfalls praktische Aufgaben aufgenommen hat. Die Gestaltung der deutschen Meeresfischerei läßt sich infolge der sich hier noch besonders be- merkbar machenden Nachwirkungen des Krieges einstweilen nicht übersehen. Zur Hebung des sehr entwicklungsfähigen deutschen Anteiles an der Nordseefischerei sind mancherlei Vorbereitungen getroffen worden. Unter anderem ist die Be- gründung eines Institutes für Seefischerei mit staat- licher Unterstützung in Geestemünde, dem größten deutschen Fischereihafen, vorgesehen. Nutzbar- machung des nach den Friedensbedingungen zu schleifenden Helgoländer Kriegshafens für die früher als aussichtslos aufgegebene Hummerzucht ist von Dr. Hagmeier, Helgoland, in Vorschlag ge- bracht worden. Wertvoll erscheint auch die Be- gründung einer dem Jenenser Zoologen Dr. E. Hirsch übertragenen und wohl nur vorläufig dem Reichskommissar für Fischversorgung untergeord- neten Organisation zur Entwicklung der deutschen Miesmuschel- und Austernzucht. Durch eine auf wissenschaftlichen Grundlagen aufgebaute Mies- muschelkultivierung würden wir in verhältnismäßig kurzer Zeit uns von jedem Import freimachen können. Bemerkt sei hierzu, daß der Import an Mies- muscheln vor dem Kriege schon etwa 60000 Zentner betrug und daß der deutsche Miesmuschelkonsum sich im Kriege so gehoben hai, daß man die Miesmuschel bereits als deutsches Volksnahrungs- mittel ansprechen kann. Zur Förderung der Binnenfischerei ist von Prof. D e m o 1 1 , München, dem bewährten Nach- folger Hofers, ein beachtenswerter Vorschlag zur Begründung einer Anstalt für Fischereiunter- suchungen in Langenargen (Württemberg) am Bodensee, unserem größten deutschen Binnenge- wässer, gemacht worden, und die Vorarbeiten wurden genannten Ortes in Verbindung mit Dr. V.Bauer, bisher Fischereidirektor der türkischen Staatsschuldenverwaltung in Konstantinopel, be- reits in Angriff genommen. Ziele der Anstalt sind : Vereinheitlichung der Plschfangmethoden und der Netze, Ermöglichung der Aufzucht mit 104 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 7 geringstem Verlust (unter Angliederung einer Brut- anstalt), Ermittlung eines für den Fischfang (speziell Feichenfang) verwendbaren biologischen Indikators, sowie Lehr- und Forschungstätigkeit. Diesem Unternehmen gegenüber ist der verdiente Hydro- biologe Prof. Lauterborn, Karlsruhe, mit einer schon älteren, aber infolge der politischen Um- wälzung nicht weiter bekannt gewordenen Denk- schrift erneut hervorgetreten, in der er für die Errichtung einer biologischen Station in Konstanz eintritt. Die Aufgaben derselben sieht er einer- seits, in rein wissenschaftlicher Hinsicht, in der Vollendung der hydrobiologischen Untersuchung des Sees und in dem Studium der Vogelwelt, insbesondere in der Erforschung des Vogelzuges, andererseits, in wirtschaftswissenschaftlicher Hin- sicht in der Förderung der Fischereibiologie und der wasserhygienischen Überwachung des Boden- sees, aus dem ja eine Reihe von Städten ihr Trink- wjisser entnimmt; schließlich soll die Station auch als Lehranstalt dienen. Es ist zu wünschen, daß für die Pläne der beiden Forscher eine mittlere Linie als Einigung gefunden wird. Erwähnt sei hier, im Zusammenhang mit den fischereibiolo- gischen Stationen, die zu Ehren des zu früh ver- storbenen iVlünchener Ichthyologen Prof. Hofer erfolgte Benennung der Teich wirt^chaftlichen Station in Wielenbarh als ,, Hofer Institut". Gegen das Vordringen der als Fischereischädling und über- haupt als Wasserwirtschaftsschädling nicht zu unter- schätzenden Bisamratte in Deutschland ist eine Organisation durch zuständige Stellen, nämlich die Zool. Abteilung der Agrikulturbotanischen An- stalt, München (Dr. Kor ff), Forstakademie in Tharandt (Prof. Schwangart) und Biologische Anstalt für Land- und Forstwirtschaft, Berlin- Dahlem (Geh.- Rat Röhrig) in Angriff genom- men worden. Als neue fischereiwirtschaftliche Zeitung ist der „Berliner Fischmarkt" zu nennen. Zu erwähnen ist auch der vielfach im Gange befindliche genossenschaftliche Zusammenschluß in der Fischerei, ferner die Begründung von Teich- gütern (Musterwirtschaften), z. B. in Mittelfranken nach den Vorschlägen von Dr. W. Koch (Ans- pach). Mannigfach sind auch die verwaltungs- technischen Neuerungen, speziell in Preußen, z. B. durch Berufung eines Fischereizoologen (Dr. Seidel) in das preußische Landwirtschaftsministerium als Hilfsarbeiter und Landesoberfischmeister, ferner die Neubesetzung von fünf Oberfischmeisterstellen durch die aus dem früheren „Institut für Binnen- fischerei" in Friedrichshagen, nunmehrigen „Landes- anstalt für Fischerei" hervorgegangenen Fischerei- Zoologen Dr. Quiel, Dr. Germers hausen, Dr. med. et phil. Willer, Dr. Törlitz und Priv.- Doz. Dr. Wundsch. Neubesetzt sind ferner ver- schiedene hydrobiologische Stellen, so z. B. die seit mehreren Jahren vakante Stelle des Hydro- biologen am Bremer staatlichen hygienischen In- stitut, ferner die ein Jahr lang unbesetzt gebliebene Stelle des staatlichen Fischereiinspektors in Cux- haven (Kap. M e i n k e n). Unbesetzt ist noch eine wissenschaftliche Assistentenstelle des deutschen Seefischereivereins, Berlin. Nicht unvermerkt dürfen aber mancherlei Er- scheinungen in der wasserwirtschaftlichen Zoologie bleiben, die einen Rückschritt bedeuten, so der Verlust der deutschen Aalzuchtanstalt in Epney (England), die vor dem Kriege jährlich viele Mil- lionen junger Aale nach Deutschland sandte, ferner der Verlust der Versuchsanlage für Abwasser- reinigung durch Fischteiche (H ofersches System) in Straßburg i. E., fernerauch der Verlust der 1918 unter deutscher Leitung (Dr. V. Bauer) er- standenen „Fischereibiologischen Station" der tür- kischen Staatsschuldenverwaltung in Konstanti- nopel. Auch in der medizinischen und veterinärmedi- zinischen Zoologie, also dem die Tiere als Ge- sundheitsschädlinge des Menschen und der Warm- blüter betreffenden Gebiet, sowie in der hygieni- schen Zoologie, also dem die Bekämpfung der Krankheitserreger und Überträger des Menschen und der Warmblüter betreffenden Gebiet, sind verschiedene Neuerungen erfolgt. Zunächst sind die schon erwähnten, in wirtschaftlicher und hy- gienischer Hinsicht gleich wichtigen Stellen für Forschung und Praxis der gastechnischen Schäd- lingsbekämpfung, nämlich die pharmakologisch- zoologische Abteilung des Kaiser Wilhelm-Institutes in Berlin-Dahlem sowie die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung in Berlin zu nennen. Die Anwendung der Gastechnik zur Bekämpfung von Hautparasiten hat infolge der bei Kriegsende bestehenden starken Ausbreitung der Räude große wirtschaftliche und veterinärhygienische Bedeutung angenommen. Die Ausarbeitung exakter Metho- den verdanken wir Dr. W. Nöller, Hamburg, der seine Erfahrungen über ,,die Behandlung der Pferderäude mit Schwefeldioxyd" nunmehr (R. Schötz, Berlin 1919) zusammenfassend veröffent- licht hat. Der Malariabekämpfung widmet sich die unter Leitung des schon während des Krieges mit der Steckmüchenbekämpfung beschäftigten Zoologen Dr' F.Eckstein stehende zweite Ab- teilung des Münchener Forschungsinstitutes für angewandte Zoologie, welche bereits begonnen hat, die Verbreitung der Anopheles- Mücke in Bayern zu ermitteln. Am Berliner Zoologischen Museum ist eine „Zentralstelle für stechende Insekten" be- gründet und dem namhaften Arthropoden Syste- matiker Dr. Ender 1 ein unterstellt worden. Hier erfolgt nunmehr die wissenschaftliche Bearbeitung dieser biologischen Insektengruppe in syst ematischer Hinsicht; auch die Bestimmung eingesandten Materiales wird ausgeführt. Im übrigen muß die Entwicklung der medizinischen und hygienischen Zoologie noch immer als unzureichend bezeichnet werden. Bezüglich Änderungen in der Besetzung der Stellen ist zu erwähnen, daß der im Kriege um die Stechmückenforschung verdiente, nunmehr aus Straßburg i. E. vertriebene Zoologe Prof. Dr. med. Breßlau in das Georg Speyerhaus in Frankfurt a. M. als medizinischer Zoologe einge- N. F. XIX. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 105 treten ist, ferner daß die bisher von Dr. G.Wülker bekleidete zoologische Stelle am Institut für Krebs- forschung in Heidelberg noch unbesetzt ist. Eben- falls noch unbesetzt ist die Stelle des um die Trypanosomenforschung verdienten plötzlich ver- storbenen Frankfurter Zoologen Dr. E. Teich- mann, Leiter der biologischen Abteilung des städtischen hygienischen Instituts der Universität Frankfurt. Noch immer unbesetzt scheint ferner am Hamburger Institut für Tropenhygiene die Stelle zu sein, die einst der namhafteste medi- zinische Zoologe, Schaudinn, bekleidete. Schließ- lich sei erwähnt, daß der zu Anfang des Krieges auf einer Forschungsreise in Deutsch- Ostafrika be- griffene Leiter der Protozoenabteilung des Reichs- gesundheitsamtes, Geh.- Rat Schuberg, nach mehrjähriger Gefangenschaft nunmehr glücklich zurückgekehrt ist. Wenn der vorstehende Bericht vielleicht in mancher Hinsicht noch unvollständig ist, so muß ich auf die Schwierigkeit der Orientierung über die zahlreichen in Praxis meist ohne gegenseitigen Zusammenhang gepflegten Einzelgebiete hinweisen. Über die wissenschaftlichen Leistungen der ange- wandten Zoologie im einzelnen zu berichten, würde zu weit führen. Zum Schluß gebe ich im Interesse der jüngeren Zoologen eine Übersicht über die in Deutschland bestehenden Anstalten mit wissenschaftlichen Stellen für angewandte Zoologie, deren Zusammenstellung in meinem eingangs genannten Büchlein zunächst lückenhaft ausgefallen war. I. Wirtschaftliche Zoologie: A. Vorwiegend wasserwirtschaftliche Zoologie. 1. Preuß. biologische Anstalt, Helgoland. 2. Laboratorium der preuß. Kommission zur Erforschung deutscher Meere im Interesse der Fischerei, Kiel. 3. Laboratorium des deutschen Seefischereivereins, Berlin. 4. Fischereibiologische Abteilung des preuß. Institutes und Museums für Meereskunde, Berlin. 5. Muschelwirtschaftsstelle bei dem Reichskommissar für Fischerei, Berlin. 6. Zoologische Station, Büsum (Holstein). 7. Preuß. Landesanstalt für Fischerei (früher: Institut für Binnenfischerei), Friedrichshagen bei Berlin. 8. Hydrobiologische Anstalt der Kaiser Wilhelm Gesell- schaft, Plön (nur z. T. Fischereibiologie pflegend). 9. Hydrobiologische Abteilung des Nat. Museums , Ham- burg. 10. Fischereibiologische Abteilung d. Nat. Museums, Ham- burg. 11. Bayer, biologische Versuchsstation, München. 12. Hofer-Institut, Wielenbach, Teichwirtschaftliche Ver- suchsanstalt (früher: bayer. teichwirtschaftliche Versuchs- anstalt zu Wielenbach). 13. Hydrobiologische Abteilung der Landwirtschaftlichen Versuchsstation, Münster i. W. 14. Teichwirtschaftliche Versuchsstation, Sachsenhausen- Oranienburg. 15. Teichwirtschaftliche Versuchsstation derLandwirlschafts- kammer für die Provinz Schlesien in Trachenberg bei Breslau. 16. Anstalt für Fischereiuntersuchungen, Langenargen am Bodensee (Württemberg). 17. Teichwirtschaftliche Versuchsstation der Landwirlschafts- kammer für die Provinz Hannover in Wahrenholz bei Hannover. Ferner: Stellen der preuß. Oberfischmeister in Friedrichshagen, Königsberg, Kiel usw. , ferner der Kreisfischerei-Sach- verstäadigen in Bayern usw. B. Vorwiegend landwirtschaftliche Zoologie in weiterem Sinne: 18. Zoologisches Institut der Landwirtschaftlichen Hoch- schule, Berlin. 19. Zoologisches Institut der Landwirtschaftlichen Akademie, Bonn- Poppeisdorf. 20. Zoologisches Institut der Technischen Hochschule, Stutt gart und der Landwirtschaftlichen Hochschule ir Hohenheim bei Stuttgart. 20 a. Haustiergarten, bzw. Abteilung für Tierzucht des Land wirtschaftlichen Instituts der Universität, Halle a. S. 21. Zoologisches Institut der Technischen Hochschule Karlsruhe. 22. Zoologisches Institut der Tierärztlichen Hochschule Hannover. 23. Zoologisches Institut der Tierärztlichen Hochschule München. 24. Zoologisches Institut der Forstakademie, Eberswalde. 25. Zoologisches Institut der Forstakademie, Münden (Hannover). 26. Zoologisches Institut der Forstakademie, Tharandt. 27. Zoologisches Institut der Forstakademie, Aschaffenburg. 28. Biologische (Reichs-)Anstalt für Land- und Forstwirt- schaft, Berlin-Dahlem; mit Untersuchungs- und Be- ratungsstelle für Bienenkrankheiten. 2g. Forschungsinstitut für angewandte Zoologie, München. 30. Institut für Vererbungsforschung der Landwirtschaft- lichen Hochschule zu Berlin, Potsdam. 31. Zoologische Abteilung des Kaiser Wilhelm - Institutes für Landwirtschaft, bisher Bromberg (Ort der Ver- legung noch unbestimmt). 32. Station für Reblausbekämpfung, Naumburg a. S. (vor 1919 in Villers l'Orme bei Metz, zur Biol. Anstalt für Land- und Forstwirtschaft gehörig). 33. Staatliche Reblausbekämpfung, Metternich bei Coblenz. 34. Preufl. Lehranstalt für Wein-, Obst- und Gartenbau, Geisenheim a. Rh. 35. Bayer. Lehr- und Versuchsanstalt für Obst- und Wein- bau, Neustadt a. d. Haardt (mit zoologischer Abteilung). 36. Bayerische Obst- und Gartenbauschule, Veitshöchheim bei Würzburg. 37. Bayer, forstliche Versuchsanstalt (mit zoologischer Ab- teilung), München. 38. Forstentomologischc Feldstation, z. Zt. Guben. 3g. Pflanzenschutzstation, Hamburg. 40. Phytopathologisches Institut, Wageningen. 41. Pflanzenschutzstation der Akademie Bonn-Poppelsdorf. 42. Organisation für Pflanzenschutz, Braunschweig. 43. Zoologische Abteilung der Agrikulturbotanischen An- stalt, München. 44. Pharmakologisch - zoologische Abteilung des Kaiser Wilhelm- Institutes für physikalische Chemie und Elektro- chemie, Berlin-Dahlem. 45. Ausschuß zur Bekämpfung der Dasselfliegcnplage, Berlin. 46. Bienenwirtschaftlichc Anlage für öffentl. Lehrzwecke an der Gärtnerlehranstalt, Berlin-Dahlem. (Vgl. auch Nr. 28.) 47. Bayer. Anstalt für Bienenzucht, Erlangen. 48. Forschungsstelle für Bienenzucht und Bienenbiologie, am Kaiser Wilhelm-Institut für Biologie, Berlin-Dahlem. 4g. Institut für Jagdkunde, Berlin-Zehlendorf. 50. Vogelwarte der Ornithologischen Gesellschaft, Rossitten. 51. Vogelwarte der Biologischen Anstalt, Helgoland. 52. Süddeutsche Vogelwarte E. V. Sitz Stuttgart. 53. Siaatliche Stelle für Naturdenkmalpflcge, Berlin. 54. Staatlich autorisierte Versuchs- und Musterstation für Vogelschutz, Seebach bei Langensalza. II. Medizinische, bzw. hygienische Zoologie: 55. Reichsgesundheitsamt, Berlin und Berlin-Dahlem, mit Protozoen-Laboratorium der Bakteriologischen Abteilung in Berlin-Dahlem. 56. Preufl. Institut für Infektionskrankheiten ,, Robert Koch", Berlin, io6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 7 57. Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten, Hamburg. 58. Preuß. Landesanstalt für Wasserhygiene (mit biologi- scher Abteilung), Berlin-Dahlem. 59. Georg Speyer-Haus, Frankfurt a. M. 60. Biologische Abteilung des (städtischen) Hygienischen Institutes der Universität Frankfurt a. M. bl. Institut für Krebsforschung, Heidelberg. 62. Staatliches hygienisches Institut (mit hydrobiologischer Abteilung), Bremen. III. Kulturelle Zoologie: 63. Zoologischer Garten, mit Aquarium, Berlin. 64. Zoologischer Garten, mit Aquarium, Frankfurt a. M. 65. Zoologischer Garten, mit Aquarium, Hamburg.] 66. Tierpark Stellingen bei Hamburg. 67. Zoologischer Garten, Leipzig. 6S. Zoologischer Garten, Breslau. 69. Zoologischer Garten, Königsberg. 70. Zoologischer Garten, Halle. 71. Zoologischer Garten, Köln. 72. Zoologischer Garten, Dresden. 73. Zoologischer Garten, Hannover. 74. Zoologischer Garten, Münster i. W. Einzelberichte. Zoologie. Vorkommen der Sumpfschildkröte am Niederrhein. Die neulich hier (Naturwissen- schaftliche Wochenschrift 1919, Nr. 35) erwähnten Angaben über das Vorkommen von Emys orbi- cularis in Nordostfrankreich und Holland legten die Frage nahe, ob jedes Schildkrötenvor- kommen im westlich des Stromgebiets der Elbe gelegenen Deutschland auf Verbreitung durch den Menschen zurückgeführt werden dürfe. In dieser Hinsicht ist nun bemerkenswert, daß am Niederrhein sich die Sumpfschildkröte verhältnis- mäßig oft findet — es werden die Orte Eversloh an der rheinisch westfälischen Grenze, Mors, Blugu, Schaephuysen und Rheurdt und andere genannt — und, nach Funden seit 25 Jahren, dort offen- bar natürliche Lebensbedingungen hat. Unter anderem wird folgendes mitgeteilt: „Nachdem die Kreisbahn Mors — Hoerstgen gebaut worden ist, haben Eisenbahnbeamte verschiedentlich Sumpf- schildkröten in dem Bruchgelände westwärts der Vluyner Staatswaldung aufgelesen, das durch einen Wasserlauf mit den Niepkuhlen, die sich zwischen Krefeld und Mors erstrecken, in Verbindung steht. Die Tiere wollten den Eisenbahnkörper kreuzen, waren über die erste Schiene gepurzelt und konnten dann die zweite nicht übersteigen." Da auch Testudo graeca am Niederrhein hin und wieder gefangen wird, welche Art dort sicher nicht heimisch ist, sondern stets Tierliebhabern entlaufen sein muß, mag auch Emys vielleicht durch den Menschen dorthin — und damit nur in ein einst, und zwar noch nach der Eiszeit, von ihr bewohntes Gebiet, gebracht worden sein; jedenfalls steht unbedingt fest, daß sie sich dort vermehrt, da im Juni 1919 in einem Garten bei Mors einige Junge, eben erst dem Ei ent- schlüpfte Tiere gefunden wurden. Ein anderer Bericht handelt vom neuerdings beobachteten Vorkommen der Sumpfschildkröte bei Neidenburg in Masuren, was nichts Neues, aber bei einer gefähr- deten Tierart immerhin bemerkenswert ist. (Blätter für Aquarien- und Terrarienkunde Jahrgang 30, Nr. 23, I. Dezember 1919.) V. Franz. Tiefenschnecken des Genfer Sees und ihre Abstammungsverhältnisse. Mit i Abbildung. In fast allen den zahlreichen Fällen, wo man sich bei Land- und Süßwasserschnecken zur Aufstellung von Varietäten oder „Formen" neben der Haupt- form als der häufigsten und hinsichtlich ihrer Gestalt eine zentrale Stellung einnehmenden ge- nötigt sieht, fehlt es bisher an dem Nachweis durch Züchtung, daß diese Formen ineinander übergehen. Dieser Nachweis ist zwar für die Systematik auch meist insofern nicht nötig, als die fertig gefundenen Formenreihen meist den Übergang aufs deutlichste vor Augen führen und somit Zweifel über die Artzugehörigkeit nicht bestehen, zumal die Arten selbst allermeist scharf umgrenzt sind. Die Tiefenschnecken des Genfer Sees jedoch, Limnaea profunda Cless.,- L. foreli Cless., L. yungi Piaget und L. abyssi- cola Brot, hatte L. Piaget mangels bekannter Oben ; Limnaea ovata ; links Tiefenform , rechts aus Tiefen- form gezüchtete Aquarienform. Unten: Limnaea palustris; links und rechts wie oben. .Nach Schaustücken im Phylet. Museum, Jena, gesammelt und photographiert von Roszkowski. Übergänge von Uferformen her als gegenwärtig gute Arten hinstellen können, die sich allerdings aus Oberflächenformen entwickelt hätten. Da- gegen hatte W. Roszkowski nach Schalen- kennzeichen und Anatomie die drei erstgenannten zu der allbekannten Limnaea (Gulnaria) ovata Drap, gestellt, von der sie allerdings durch Klein- heit, Zartheit und eine manchmal aufs stärkste an Zwergformen von L. palustris erinnernde Schlankeit abweichen, und L. abyssicola zu der bekannten Limnaea (Limnophysa) palustris Müll. Zuchtversuche bestätigten dies nun durchaus. Zwei aufeinanderfolgende, von einer N. F. XDC. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 107 L. yungi aus 100 m Tiefe stammende Genera- tionen, im Aquarium unter verschiedenen Tem- peratur- und Ernährungsbedingungen aufgezogen, wurden teils zu der typischen L. ovata, teils zu L. foreli, welche Bestimmungen von dem Ver- treter der anderen IVIeinung, L. Piaget, im un- wissentlichen Versuch bestätigt wurden. Der gleiche Züchtungsversuch gelang an L. abyssi- cola, auch sie wurde unter beträchtlicher Zunahme an Größe, Schalenstärke, Bauchigkeit und Farb- stoffgehalt des Gehäuses im Aquarium zu deut- lichen L. palustris, wenn auch immerhin von ge- ringer Größe. Es sei nicht verschwiegen, daß trotzdem Piaget, laut Roszko wski, an seiner Meinung festhält: ihm scheine es natürlich, daß eine Tiefenform im Aquarium sich bedeutend umändere. Für ungekünstelte Betrachtung dürfte indessen nach Obigem die Artzugehörigkeit der genannten Tiefenformen feststehen. Rosz- kowskis Belegstücke wurden im Phyletischen IVIuseum in Jena aufgestellt.^) V. Franz. Im entomologischen Verein der Stadt Bern hielt am 10. Dezember v. J. Herr Oberst K. Vor- brodt einen hochinteressanten Vortrag über Schmetterlinge der Schneestufe schweizerischer Hochgebirge. In klarer Weise führte der Vortragende u. a. aus, daß von der heute bekannten Schmetterlings- fauna der Schweiz, die nach seinem Werk „Die Schmetterlinge der Schweiz" 55 Familien mit 31 1 1 Arten umfaßt, als wirklich nivale Arten für die Schneestufe nur 11 Familien mit 32 Arten übrig blieben. Wie rasch die Abnahme der Artenzahl sein kann, geht daraus hervor, daß, wenn man z. B. von IVIörel im Rhonetal, wo noch ca. 2coo Arten von Schmetterlingen gezählt werden können, die sich aus subtropischen, mediterranen, kontinentalen und endemischen Formen zusammensetzen, nach einigen Stunden Wanderung, 2000 m höher, kaum mehr als ein Prozent der Artenzahl der Ausgangs- stufe antreffen wird, und zwar aus arktischen Formen bestehend. Sehr eingehend befaßte sich der Vortragende mit der verschiedenen Höhe der Schneegrenze und ihre Wirkungen auf die Flora und Fauna und wies nach, daß es sehr schwierig sei, die nivalen Schmetterlinge scharf abzugrenzen, da natürlich Falter in die Höhenlagen hinaufgetrieben werden können (sogar auf dem Mont-Blanc-Gipfel fand man lebendige Schmetterlinge), ohne daß sie dort dauernd leben können. Kathariner. Der braune Bär (Ursus arctus L.) ist in der letzten Zeit so selten in den Schweizeralpen fest- gestellt worden, daß man ihn bereits aus der Fauna helvetica streichen zu müssen hätte glauben ') W. Roszkowski, A propos des Limnees de la faune profonde du lac Lcman. Zool. Anz. Bd. 43, 191 3, Nr. 2, S. 88—90. können, trotzdem mehrfach in den letzten Jahren von Grenzbesetzungstruppen Spuren desselben ge- funden und auch das Tier selbst beobachtet wor- den sein sollte. Für den Naturfreund um so er- freulicher ist es zu hören, daß in Graubünden in mindestens zwei Revieren im Sommer 1919 sein Vorkommen mit aller Sicherheit konstatiert wurde. Im Bernerbund (Nr. 514) heißt es: ,,Im ,Freien Rätier' weist Dr. Ch. Tarnutze r auf Grund von exakten Zeugenaussagen nach, daß im Sommer 1919 nicht nur in mindestens zwei Revieren des Engadins deutliche Anzeichen eines Bären entdeckt worden sind, sondern im östlichen Grenzgebiet sogar ein Bär mit zwei Jungen tat- sächlich auf bündnerischem Boden bemerkt wor- den ist." Kathariner. Anthropologie. Die Biologie und Pathologie des Nachwuchses bei den Naturvölkern in den eliemaligen deutschen Schutzgebieten behandelt auf Grund vieljähriger Erfahrungen L. Külz im Beiheft 3 des 23. Bandes des „Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene" (Leipzig, J. A. Barth, 14M.). Er zeigt, daß die Bewertung und Aufzucht des Kindes bei den Naturvölkern in vieler Beziehung eine an- dere ist als bei den Kulturvölkern. Von großer Be- deutung ist. daß bei jenen Reflex und Instinkt gegen die innere Überlegung vorwiegen; man kann sagen, sie tun, was sie nicht lassen können. Da die unwillkürlichen Bewußtseinsvorgänge viel ein- facher sind als die willkürlichen, so verlaufen die psychischen Äußerungen der Naturmenschen viel übereinstimmender, schematischer, als bei uns, weshalb auch die Ähnlichkeit der einzelnen Wesen in ihrem Fühlen und Handeln weit größer ist. Diese Einförmigkeit im Lebenslauf des Naturvolkes wird noch durch die Herrschaft der Stammes- sitten verstärkt, die mit um so größerem Zwange auf ihm lastet, je tiefer es in der Entwicklung steht. Das triebmäßige Handein und die Stam- messitten sind die Zügel, in denen normalerweise das Leben der Naturmenschen verläuft; dafür, daß sie trotzdem nicht auf geradem Wege vorwärts kommen, sorgt das schwere Hindernis der Ab- hängigkeit von den Naturkräften. Die ganze Denkart solcher Menschen führt zu einer ver- hältnismäßig geringen Wertschätzung des Lebens, die sich auch auf das Kind erstreckt. Deshalb trifft man sehr häufig Fruchtabtreibung und Kindes- mord neben liebevoller Pflege der am Leben bleibenden Kinder. Über Tötung oder Lebenbleiben entscheiden gewöhnlich Stammessitten; oft wird auch triebartig gehandelt. Jene verlangen viel- fach die Beseitigung des Neugeborenen, indem sie in buntem Wechsel bald dieses bald jenes Merk- mal als böses Anzeichen gelten lassen. Regel ist dabei nur, daß alle außergewöhnlichen Eigen- schaften des Neugeborenen ihm am ehesten ver- hängnisvoll werden. Was fremdartig erscheint, wird als feindlich betrachtet, als Gefahr für die anderen. In den ehemaligen deutschen Kolonien io8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 7 fand K ü 1 z durchweg den Brauch der Tötung mißbildeter kleiner Kinder. Solche angeborene Leiden dagegen, die man nicht schon während der ersten Lebenszeit den Kindern anmerkt, ent- liehen der Ausmerzung und man trifft deshalb beispielsweise Taubstummheit und Schwachsinn häufig an. Die Ausmerzung der mißbildeten kleinen Kinder ist rassenhygienisch zweckdienlich, doch wird das keineswegs erstrebt. Gegenüber der durch Stammessitten oder Kult gebotenen Kindestötung steht der Kindermord im Affekt. Es kommt dabei in Betracht, daß die Affekte der Naturmenschen im allgemeinen nicht nur stärker sind und rascher ablaufen als beim Europäer, sondern sie trüben oder verengen durch ihre Stärke auch leichter das Bewußtsein vorübergehend. Gar nicht selten drängt sich dem ärztlichen Be- obachter die Vermutung auf, daß sich das Nerven- system vieler Naturmenschen im Zustande krank- haft gesteigerter Empfindlichkeit gegen äußere Reize befindet, sei es infolge schlechter Ernährung oder schwächender chronischer Krankheiten wie Malaria, Wurmkrankheit usw. Augenblicksstim- mungen, z. B. Rachsucht einer Mutter gegen ihren Ehegatten, oder umgekehrt eines Vaters gegen seine Frau, mögen einem Kinde das Todesurteil bringen. Hemmungen durch bewußte sittliche Normen, die ihm seine Unlustgefühle überwinden ließen, kennt der Naturmensch nicht. Überdies treten verschiedene Einflüsse der Umwelt als Feinde des kindlichen Lebens auf, so die unzu- reichende oder mangelnde Aufspeicherung von Nahrung für schlechte Zeiten, die zu periodischen Hungersnöten und großer Kindersterblichkeit An- laß gibt. Viel umfangreicher als durch Kindesmord ist die Lebensvernichtung durch Fruchtabtreibung, die wohl, in Anbetracht ihrer Allverbreitung, an verschiedenen Stellen der Erde aus gleichen An- lässen aufgekommen ist. Die Frauen haben wahr- scheinlich ihre Möglichkeit durch die Beobachtung herausgefunden , daß Überanstrengung , Unfälle, Mißhandlung usw. zu Schwangerschaftsunter- brechung führen. Auch die durch Giftwirkung hervorgerufenen Frühgeburten können wir unge- zwungen aus der Rationalisierung ungewollter entsprechender Effekte herleiten. Eine große Rolle spielen bei der Fruchtabtreibung die Kon- flikte zwischen Nahrungs- und Elterntrieb, sowie der Wunsch nach Verheimlichung unrechtmäßigen Verkehrs, die Scheu vor den Mutterpflichten usw. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß überall dort, wo unsere Kultur einigermaßen Eingang gefunden hat, die Fruchtabtreibung zu-, der Kindesmord jedoch abnimmt. Diese Zunahme beruht meist einseitig auf dem Willen der Frau. Der Aufzucht der Kinder der Naturvölker günstig ist, daß sie mit ganz verschwindend weniger Ausnahmen an der Brust gestillt werden. Die Stilldauer ist noch dazu meist recht lange. Schon sehr frühzeitig wird allerdings neben der Muttermilch andere Nahrung gegeben, die nicht immer bekömmlich ist. Nützlich ist dieses Ver- fahren im Hinblick darauf, daß das Kind nach Absetzen von der Mutterbrust bereits an die pflanzliche Nahrung gewöhnt ist, die bei den meisten Naturvölkern fast ausschließlich genossen wird. Im späteren Alter sind die Kinder dadurch gefährdet, daß sie den ganzen Tag über auf Nah- rung angewiesen sind, welche die Natur ihnen bietet, denn die erwachsenen Farbigen pflegen die Hauptmahlzeit auf den Abend zu verlegen. Dem Hervorgehen eines kräftigen und gesun- den Nachwuchses abträglich ist die bei den Natur- völkern zum Teil übliche Kinderehe, wie auch die Überanstrengung der Frauen bei der F"eldarbeit, beim Lastentragen usw., weil viele Fehl- und Frühgeburten die Folge davon sind. Die Wartung der Kinder ist sehr verbesserungsbedürftig; ganz im argen liegt namentlich die Behandlung und Pflege der kranken Kinder. Was als Heilkunde gilt, führt in der Regel nur zu größerer Gesund- heitsschädigung und oft wird durch die Kranken- behandlung selbst der Tod verursacht. In ge- wissen Teilen Melanesiens führen die Mütter an ihren kleinen Kindern Schädeltrepanation nicht nur dann aus, wenn sie vermuten, daß eine Krank- heit ihren Sitz im Schädel hat, sondern auch zum Schutze gegen alle möglichen Leiden. Kinderkrankheiten sind ungemein häufig. Külz sagt, so seltsam es klingen mag bei der noch herrschenden irrigen Ansicht von dem vor- züglichen Gesundheitszustand der Naturmenschen, daß es nur ausnahmsweise ein gesundes Neger- kind gibt. Die am weitesten verbreitete endemi- sche Krankheit des Kindesalters ist in den tropi- schen Ländern die Malaria. Hat sie ein Land einmal besetzt, so entgeht ihr kaum eines der Kinder, es fragt sich nur, wie lange sie von ihr gequält werden. Meist ist sie eine Krankheit des Kindesalters in dem Sinne, daß dieses ganz von ihr ausgefüllt wird. Vom zartesten Säuglingsalter ab sucht sie in mehrmals jährlich sich wieder- holenden oft wochenlang anhaltenden Attacken das Kind heim, bis sich diese im Laufe der Jahre mehr und mehr abschwächen und im zweiten Lebensjahrzehnt aufhören. Dabei wird aber keine wirkliche Immunität erreicht, sondern ledig- lich die Symptomlosigkeit der Infektion. (In vielen tropischen Gebieten, wie z. B. im Ama- zonastiefland und in Ostindien, haben auch er- wachsene Eingeborene häufig an Malariaattacken zu leiden.) Ob die Malariatodesfälle, wie Külz meint, einen Auslese- und Anpassungsfaktor dar- stellen, indem sie mehr Schwächlinge als kräftige Kinder betreffen, möchte der Referent bezweifeln ; denn wenn Anpassung bewirkt würde, müßte die Gefährdung der Eingebornen durch die Krankheit stark abgenommen haben. Das ist aber allem Anschein nach nicht der Fall. Der Herrschafts- bereich der Wurmkrankheit ( Ankylostomiasis) ist kaum enger als derjenige der Malaria, aber ihre gesundheitliche Gefahr ist geringer, da nur ein Teil aller Infizierten wirklich als Wurmkranke N. F. XIX. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 109 zu gelten haben, während die meisten nur Wurm- träger sind, d. h. keinen nennenswerten Schaden von ihren Parasiten haben. Die Krankheit ver- schont zwar kein Lebensalter, doch lastet ihr Schwergewicht auf dem Kindesalter. Eine andere allgemein verbreitete Kinderkrankheit ist die Frambösie, ein in seinem Erreger und Verlauf der Syphilis außerordentlich ähnelndes, jedoch nach der gutartigen Seite abweichendes Leiden, das extragenital zumeist während des Kindesalters erworben wird. Die Frambösie zeigt gleich der Lues Früh- und Spätformen. Je älter das Stadium, um so schwieriger ist die Unterscheidung der bei- den Krankheiten. Salvarsan ist ein nie versagen- des Heilmittel, aber auch vor seiner Anwendung verursachte die Frambösie keine große Kinder- sterblichkeit. Stark bedroht wird dagegen der Nachwuchs der Eingebornen in unseren früheren Kolonien durch die Tuberkulose. Besonders in der Südsee richtet diese Krankheit arge Ver- heerungen an. Weit häufiger als in gemäßigten Klimaten sind in den Tropen durch tierische oder pflanzliche Parasiten verursachte Hautleiden; sie können zu dauerndem Funktionsausfall der Haut und infolge davon zu schweren anämischen Zuständen Anlaß geben. Weit ernster sind die tropischen Ulcerationen; namentlich auf Neuguinea fällt ein hoher Prozentsatz kindlicher Leben den weit verbreiteten Beingeschwüren zum Opfer. Ungemein groß ist die Zahl der Kindes- leben, die an Erkrankungen des Darmes zugrunde gehen. K ü 1 z geht auch den Schädigungen nach, welche der Kulturwandel der Eingeborenen in den tropischen Ländern durch Berührung mit Europäern sowie zugewanderten Farbigen anderer Rassen zur Folge hat. Von großem Interesse sind überdies des Verfassers statistische Unter- suchungen über Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit und Aufzucht von Kindern; sie bilden einen wichtigen Beitrag zur Lösung der Frage, ob die jetzigen Naturvölker erhalten bleiben oder aus- sterben werden. H. Fehlinser. Eine Studie über die Gestalt der Augenhöhle beim Menschen und den Anthropoiden und ihre Bedeutung (ür die Frage nach der Beziehung zwischen IVIenschen- und Affenschädel ver- öffentlicht L. Bolck in den Verhandlungen der kgl. Akademie der Wissenschaften zu Amsterdam, 2. Sektion, Teil 20, Nr. 5. Der Au- tor vergleicht die Topographie der Augenhöhle des Menschen und der Menschenaffen bei jugend- lichen und erwachsenen Individuen, denn es gilt ihm die Beantwortung der Frage, ob in bezug auf seine Orbitalgegend beim Menschen fötale oder infantile Verhältnisse persistieren, welche bei den übrigen Primaten, besonders seinen nächsten Ver- wandten, nur vorübergehend bestehen. Bei Ver- gleichen des Gesichtsschädels von Menschen und Menschenaffen ist es üblich, sich auf die beiden meist augenfälligen Merkmale zu beschränken, nämlich die Abwesenheit einer Schnauze und die Stirnwölbung als charakteristische Merkmale des menschlichen Antlitzes. Aber es ist zu fragen, ob die gleichen Abweichungen schon in dem frühen Entwicklungszuständen bestehen. Wenn man die bezeichnenden Unterschiede von Men- schen- und Menschenaffenschädel in ihrer Ent- stehung begreifen will, darf man den Vergleich jedenfalls nicht auf fertige Formen beschränken. Ziehen wir z. B. einen Augenblick den Gorilla- schädel mit seinem gewaltig entwickelten Torus supraorbitalis zum Vergleich heran. Äußerungen wie diese: „Mit seiner Bestialität hat der Mensch auch seinen Torus supraorbitalis verloren", sind lange Zeit beliebt gewesen, und nicht allein in Schriften populärer Art. Aber welchen Beweis besitzen wir denn, wendet B. ein, daß je der Stammvater des Menschen eine ähnlich gebaute Orbitalgegend wie der Gorilla besessen hat ? Kann es sich in dieser Hinsicht nicht um beim Gorilla spezifisch entwickelte Verhältnisse handeln, die unter dem Einfluß von Faktoren entstanden, welche niemals in der menschlichen Ahnenreihe Geltung erlangten ? In einer vorangehenden Studie über den Pri- matenschädel hat B. das Unzulängliche und Un- richtige der Vergleichung fertiger Formen als Grundlage für Schlußfolgerungen entwicklungsge- schichtlicher Natur beweisen können. Es handelte sich dort ') um das Foramen magnum (Hinter- hauptsloch). Der allgemeinen und wohl auf der Hand liegenden Meinung gegenüber, daß beim Menschen infolge des aufrechten Ganges das Foramen magnum an der Schädelbasis nach vorn gewandert sein sollte, konnte B. feststellen, daß die Beziehung eine andere war, nämlich, daß die veränderte Statik des Rumpfes das Foramen ma- gnum hinderte, sich occipitalwärts zu verschieben. Der aufrechte Gang fixierte beim Menschen on- togenetische, bei den übrigen Primaten vorüber- gehende Zustände. Die primäre Bewegung des Foramen magnum, welche ein wesentliches Ge- schehen in der embryonalen Entwicklung des Säu- gerschädels darstellt, ist eine Wanderung in occi- pitaler Richtung. Die ontogenetisch primäre Lagerung des Foramen magnum bei den Primaten ist nicht am occipitalen Schädelpol, sondern an der Schädelbasis. Dieses Beispiel zeigt, daß man bei dem Versuch, den Bau des Menschenschädels zu begreifen, nicht ausschließlich fertige Formen vergleichen darf. Die eingehende Untersuchung der Orbita setzt uns instand, uns über die genetische Beziehung des Menschenschädels zu jenem der Anthropoiden eine bestimmte Auffassung zu bilden. Vor allem gilt es, die Stellung der Augenhöhle als Ganzes im Gesichtsskelett zu vergleichen. Dabei stellt •) L. Bolk, Über Lagerung, Verschiebung und Neigung des Foramen magnum am Schädel der Primaten. Zeitschr. f. Morph, u. Anthr. Bd. XVII, 1915. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 7 sich heraus, daß man die Anthropoidenschädel nicht als primitiv jenem des Menschen gegen- über stellen darf, denn der menschliche Schädel unterscheidet sich von dem der Anthropomorphen durch Persistenz fötaler Merkmale. So ist z. B. das Bestehenbleiben der Schädelnähte beim Men- schen, nachdem der Schädel erwachsen ist, nichts anderes als Persistenz einer jugendlichen oder fötalen Eigenschaft; die Struktur der Schädelbasis beim Menschen ist eine persistierende fötale Struk- tur, und auch der Gesichtsschädel des Menschen ist, obgleich Spezialisiertes hinzutritt, der Haupt- sache nach eine fixierte fötale Form. Ein Vergleich der Augenhöhlen beim Men- schen und bei den Menschenaffen ergibt beispiels- weise, daß bei letzteren die Nasenhöhle nicht oder nur sehr wenig zwischen den Augenhöhlen empor- steigt, während sie beim Menschen mehr zwischen diesen liegt. Die Entwicklung kann so vor sich gegangen sein, daß beim Menschen das Dach der Nasenhöhle auf ein höheres Niveau oder die Or- bitae niedriger zu liegen gekommen sind. Bolk meint, letzterer Vorstellung den Vorzug geben zu dürfen. Denn nicht nur läßt sich schwierig ein Anlaß ausfindig machen, welcher eine Ausdehnung der Nasenhöhle nach oben zu bewirken imstande wäre, sondern für die zweite Möglichkeit sind wichtige Gründe anzuführen. Die Senkung der Augenhöhlen nach unten (so daß sie mehr neben die Nasenhöhle zu liegen kamen) bedeutete eine mehr horizontale Stellung der orbitalen Längsachse, das ist eine Stellung mehr senkrecht zur Körper- achse. Und bei dem aufrechten Gang des Men- schen ist eine derartigeStellung der Or- bitalachsen, welche natürlich auch die Augenachse und dadurch die Blickrich - tung beeinflußte, gewiß als ein Vorteil zu betrachten. Als zweiter F'aktor, der in gleicher Richtung wirksam war, darf die starke Entfaltung des Fron- talhirns genannt werden. Bei den Anthropo- morphen liegt der größte Teil der Orbitalhöhle seitlich und vor der Schädelhöhle. Beim Men- schen dagegen hat das Gehirn und folglich auch die Schädelhöhle sich weiter nach vorn und seit- lich über die Augenhöhlen ausgedehnt. Es sind letztere durch diese kräftige Entfaltung gleichsam nach unten gedrückt worden. Die Abweichung von der menschlichen Form der Stellung von Augen- und Nasenhöhlen ist beim Orang am größten und beim Schimpansen am geringsten. Der Raum zwischen den Orbitae wird bei Orang durch die Schädelhöhle, bei Gorilla und Schimpanse dagegen durch den gewaltig ent- wickelten Sinus frontalis eingenommen. Es gibt aber beim letztgenannten Genus auch Individuen ohne Sinus, bei welchen dessen Stelle durch eine sehr poröse Knochenmasse eingenommen wird. Diese Verschiedenheit ist so zu erklären, daß bei Schimpanse und besonders bei Gorilla die Orbitae weiter vor die Schädelhöhle gerückt sind. Die verschiedene Lagerung der Augenhöhlen zur Nasenhöhle ist von wesentlichem Einfluß für die ganze Gestaltung des Gesichtsskeletts, das beim Menschen niedriger und breiter ist als bei den Anthropomorphen. Durch die Senkung der Augenhöhlen wurde beim Menschen z. B. der obere Teil der Kieferhöhle verdrängt, sie wurde niedriger und ihre Öffnung liegt unmittelbar unter dem Boden der Augenhöhlen, bei den Menschen- affen dagegen liegt sie in ansehnlicher Entfernung von diesen. Erwähnt muß werden, daß die Lagebeziehungen zwischen den Orbitae und der Nasenhöhle bei den Affen nicht die für Säugetiere überhaupt primiti- ven darstellen. Denn bei den übrigen Ordnungen der Säuger liegt das Geruchsorgan wohl meistens zwischen den Augenhöhlen. Dieser Zustand ist gewiß der ursprüngliche. Dennoch bestehen prin- zipielle Unterschiede zwischen demselben und jenem beim Menschen. Bei niederen Säugern liegen, wie Bolk an dem Beispiel von Felis par- dalus zeigt, die Augenhöhlen fast ganz vor der Schädelhöhle; vor der Schädelhöhle findet die Riechkammer ihre Stelle und vor dieser wieder die Luftkammer (Regio respiratoria). Die ver- schiedenen Räumlichkeiten folgen in horizontaler Richtung aufeinander, beim Menschen dagegen in vertikaler. Es kann deshalb der Zustand beim Menschen nicht von jenem bei den niederen Säu- gern abgeleitet werden, sondern er ist nur ver- ständlich in Verbindung mit dem bei den übrigen Primaten bestehenden Zustand. Die Senkung der Augenhöhlen hat auch das Vorkommen des vorderen Teiles des Hirnschädels begünstigt. Es ist üblich die Stirnwölbung des Menschen auf die kräftige Entwicklung des Ge- hirns zurückzuführen. Zweifelsohne kommt diesem Faktor eine Bedeutung zu ; die einfache Über- legung, daß durchschnittlich beim Menschen ein mehr voluminöses Gehirn mit größerer Stirn- wölbung verknüpft ist, darf schon als auf der Hand liegender Beweis angeführt werden. Bolk meint aber, daß die Stirnwölbung des Menschen nicht ausschließlich durch die genannte Ursache bedingt wurde, sondern daß die tiefere Stellung der Orbitae dazu mit beigetragen hat. Eine Vergleichung der Augenhöhlenwände führt zu dem PIrgebnis, daß die Augenhöhlen der Menschenaffen mehr vor der Schädelhöhle liegen. Am weitesten nach vorn liegt die Orbita bei Gorilla, weniger bei Schimpanse, am wenigsten bei Orang. Die Umrandung der Augenhöhlen ist infolge dieser Lageverschiedenheiten bei den Menschenaffen ganz anders beschaffen als beim Menschen. In bezug auf das Augenhöhlendach ist hervorzuheben, daß es bei den Anthropoiden nicht homolog mit jenem des Menschen ist, es wird zum gröl3ten Teil von einer Bildung herge- stellt, welche dem Menschen fehlt. Wenn man der Ursache der Entstehung der starken Über- augenwülste bei den Menschenaffen nachgehen will, darf man nicht vergessen, daß deren Ent- wicklung nur eine Teilerscheinung eines allge- N. F. XK. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. meineren Vorgangs ist, denn das Auswachsen der Augenhöhlenscheidewand nach vorn und die Ver- längerung der Seitenwände in gleicher Richtung sind die weiteren Teilerscheinungen dieses Vor- gangs. Nun hat man öfters die gewaltige Ent- wicklung dieses vorderen Anbaues am Hirnschädel der Anthropoiden auf die enorme Entwicklung der Kaumuskulatur zurückgeführt. Aber wenn man den ganzen Umbildungsprozeß betrachtet, dann erscheint Zweifel an der Richtigkeit dieser Erklärung wohl berechtigt. Denn das Wesent- liche des Geschehens darf man doch nicht sehen in der Vergrößeiung der Schädeloberfläche als Folge der mächtigen Entfaltung der IVIuskulatur, sondern in der Verlagerung der Orbitalhöhle als Ganzes. Man darf sagen, die Augenhöhlen der Menschenaffen sind weiter nach vorn auf den Gesichtsschädel verschoben, sie sind mehr vor die Schädelhöhle gerückt. Vielleicht ist diese Abänderung infolge davon entstanden, daß die Zunahme des Gesichtsschädels der Anthro- poiden im Laufe ihrer Entwicklung aus kleineren Formen erheblich stärker war als die Zunahme des Hirnschädels. Werden Schädel infantiler und erwachsener Menschenaffen verglichen, so wird offenbar, daß die Lagerung der Augenhöhlen am erwachsenen Schädel nicht eine primäre ist , sondern eine sekundäre, das Resultat der sehr einseitig vor sich gehenden Vergrößerung der Orbitalhöhle als Teil- erscheinung des allgemeinen Wachstumsmodus des Schädels. Beim infantilen Wesen sind die Augen- höhlen mehr intracranial gelagert, sie sind nicht so nach vorne gerückt wie beim Erwachsenen. Die Entstehung des Unterschieds darf man sich allerdings nicht als Wanderung der Augenhöhlen als eines Ganzen nach vorn vorstellen. Ihr Hinter- grund, das Foramen opticum, ist als nahezu un- veränderlich zu denken ; die Verschiebung kommt eigentlich zustande, indem Verlängerung aus- schließlich nach vorn stattfindet. Wo somit der Eingang zur Orbita sich immer mehr von dem Hintergrunde entfernt, muß notwendig das Auge dieser Bewegung folgen. Es bekommt dadurch die Orbitalhöhle des Erwachsenen eine mehr aus- gezogene kegelförmige Gestalt als beim Anthro- poidenkinde, ja es ist sogar der hintere Teil der Orbita des alten Individuums kanalförmig ausge- zogen. Im Gegensatz hierzu kommen beim Men- schen nach der Geburt fast keine Änderungen in der Gestaltung der knöchernen Augenumrandung vor, die fötalen Verhältnisse werden im allge- meinen beibehalten. Dieser Vergleich bestätigt die Tatsache, daß die Kinderschädel der Anthro- poiden dem Kinderschädel des Menschen viel ähnlicher sind als die ausgewachsenen Formen untereinander. Mit anderen Worten kann man es auch derart ausdrücken, dem Anthropoiden- schädel gegenüber behält der Menschenschädel seine infantile Form bei, ja in der Beziehung zwischen Augenhöhlen und Schädelhöhlen sind es sogar fötale Verhältnisse, welche bestehen bleiben. Bei niederen Affen, wie Siamang und Hylobates, fand B o I k in bezug auf die Lage von Augen- und Nasenhöhle mehr Übereinstimmung mit den Menschen als bei den Anthropoiden. Auch darin stimmt Siamang mit dem Menschen über- ein, daß die vorgeburtliche intracranielle Lage- rung der Augenhöfilen beibehalten bleibt. Stim- men in topographischer Beziehung die Orbitae der Siamang prinzipiell mit jenen des Menschen überein, so weicht dieser Affe in einem anderen Punkt sehr stark vom Menschen ab, nämlich in dem Wachstumsmodus seiner Augenhöhlenscheide- wand, die hauptsächlich in occipitaler Richtung sich verlängert. Dadurch verliert der Siamang- schädel seine infantilen Formmerkmale in einer Weise, die derjenigen der Anthropoiden entgegen- gesetzt ist. Die Untersuchungen Bolks machen es gewiß, daß man sich den Schädel des anfänglichen Men- schen nicht dem Anthropoidenschädel sehr ähnlich vorstellen darf Das gilt besonders hinsichtlich des Überaugenvorbaues. Nur die aprioristische Anschauung, daß der Menschenschädel in seiner Form vom Anthropoidenschädel abgeleitet werden müsse, hat zur Ansicht geführt, daß auch die menschlichen Vorfahren einen solchen Vorbau am Schädel besessen haben müssen. Wäre solches der Fall, dann sollte man eine Divergenz in der individuellen Entwicklung des Menschen und der Affen in dem Sinne erwarten, daß die mensch- lichen Merkmale in der Regio orbitalis erst sekun- där sich ausbildeten. Doch gerade das Gegenteil ist zu konstatieren. Nicht die menschlichen Merk- male werden sekundär erreicht, sondern jene def Anthropoiden bilden sich allmählich im Laufe der individuellen Entwicklung aus. Wenn man in Betracht zieht, daß die jugendlichen Schädel der Anthropoiden Verhältnisse aufweisen, welche beim Menschen bleibend erhalten sind, dann hat die Vorstellung mehr Berechtigung an sich, daß die Anthropoiden menschliche Merkmale verloren haben. Die divergierende Entwicklungslinie muß man somit nicht in der Ahnenreihe des Menschen, sondern in jener der Anthropoiden suchen. H. Fehlinger. Anregungen und Antworten. Herrn Dr. R. K. — Tatraflora. Das wichtigste neuere menden Phanerogamen und Gefäfikryptogamen, Leipzig 1891 Werk über die Flora der Tatra ist: Ernst Sagorski (Ed. Kummer); antiq. etwa 9 — 10 M. Der erste Teil bringt und Gustav Schneider, Flora der Zentralkarpathen mit eine Flora der hohen Tatra nach Standorten, der zweite die spezieller Berücksichtigung der in der hohen Tatra vorkom- systematische Übersicht. Aus den letzten Jahren wäre dann Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 7 noch zu nennen: H. Za pal o w i c z , Conspectus Florae Gali- ciae criticus I — 111, Krakau 1906 — 191 1, worin der galizisclie Anteil der Karpaihen berücksichtigt ist; das Werk, von dem 191 q aucli ein 4. Teil erschienen sein soll, ist in polnischer Sprache mit lateinischen Diagnosen geschrieben und enthält viele neue Formen. Einzelarbeiten finden sich aufgezählt in dem für die Flora der Karpathen unentbehrlichen Werke von F. Pax, Grundzüge der Pflanzenverbreitung in den Karpathen, 2 Bände, 189S u. 1908 (Bd. 2 u. 10 von Engler u. Drude, Vegetation der Erde, Leipzig, Wilhelm Engelmann ; etwa 30 M.) ; darin sind natürlich auch besondere Abschnitte der Tatra ge- widmet. H. Harms. Arbeitsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen Körper- schaften Deutschlands. Eine Zusammenstellung aller die Paläontologie berücksichtigenden neu erscheinenden Arbeiten ist in der ,, Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Ver- erbungslehre" Verlag Gebr. Borntraeger, Berlin, enthalten. Diese Übersicht wird seit 1908 zweimal im Jahre geboten. Außer der paläontologischen Literatur werden in einem be- sonderen Verzeichnis auch alle Arbeiten aufgeführt, die auf Abstammungs- und Vererbungslehre in Zoologie und Botanik Bezug haben. E. Stehn, Bonn. „Mutationsfrage". Antwort an Herrn M. J. Sir ks. Herr M. J. Sirks hat sich gewundert, daß ich meinen Aufsatz „Neue Beiträge zur Mutationsfrage", welchen ich tatsächlich in etwas abgeänderter Form auch auf holländisch veröffent- lichte, den Lesern der Wochenschrift geboten habe. Das ist mir nun wieder unverständlich. Die meisten Leser der Wochenschrift dürften nicht-holländische, gebildete Laien sein, die weder von der .Arbeit von deVries noch von derjenigen van der Wolks jemals gehört haben würden, falls nicht die Wochenschrift ihnen darüber etwas gebracht hätte. Eine holländisch geschriebene Mitteilung existiert für sie sozusagen nicht, und deshalb entschloß ich mich gleich, das, was ich zu sagen hatte, auch in deutscher Sprache in der Wochenschrift erscheinen zu lassen. Herr Sirks möchte besonders nicht unterlassen, „die Leser vor einer so übertriebenen Würdigung der V. d. Wölk sehen Arbeit zu warnen", wie ich sie gegeben haben soll. Die Leser können aber überzeugt sein, daß ich nichts anderes tat, als kurz und sachlich referieren, was in der Arbeit enthalten ist, und werden solches auch bewahrheitet finden, wenn sie, wie selbstverständlich immer empfehlenswert, die Arbeit selbst zur Hand nehmen wollen. Die Sache ist wohl die, daß Herr Sirks, blind für die Tatsache, daß nahe- zu die ganze Welt den Grundsatz der de Vri es sehen Mutationstheorie, ') ,,daß die Eigenschaften der Organismen aus scharf voneinander unterschiedenen Einheiten aufgebaut sind", und damit zu gleicher Zeit die von de Vri es zueist wieder verteidigte Konstanz der Arten und folglich auch eine Evolution durch Mutation (nebst Bastardierung 1) vollständig anerkennt, immer, sobald nur das Wort Mutation genannt wird, Feuer und Flamme zu speien anfängt. Darf man Herrn Sirks in aller Freundschaft einen gemütlichen Rat geben? Eine Kritik hat im allgemeinen nur Wert, wenn sie stammt aus der Feder eines erfahrenen Forschers, der durch eigene Untersuchungen die Wissenschaft mit manch neuem Funde bereicherte! Das hat Herr Sirks jedoch bis jetzt nicht, so- gar seine Dissertationsarbeit war literarischer Natur, und er möge deshalb mal selbst an die Arbeit gehen, anstatt andere zu kritisieren und uns mit seinen vorläufig doch bedeutungs- losen Kritiken zu langweilen! Prof. Dr. Theo. J. Stomps. ') Siehe die Einleitung der ,, Mutationstheorie". Literatur. Chowvin, Dr. A. N. , Experimentelle Untersuchungen auf dem Gebiet des räumlichen Hellsehens. Nach dem russ. Original bearbeitet und herausgeg. von Dr. A. v. Schrenck- Notzing. München 1919, E. Reinhardt. 3 M. Schlaf, Job., Die Erde — nicht die Sonne. Drei- länderverlag. Friedrichs, Dr. K. , Studien über Nashornkäfer als Schädlinge der Kokospalme. Mit 20 Tafeln und I Karte. Berlin 1919, P. Parey. 12 M. Plüß, Dr. B., Unsere Getreidearten und Feldblumen. 4. u. 5. verb. Aufl. Mit 265 Bildern. Freiburg i. Br.,"Herder. 5,20 M. — — , Unsere Bäume und Sträucher. 8. u. 9. verb. Aufl. Mit 156 Bildern. Ebenda. 3,20 M. Grabmayr, Dr. K. v., Süd-Tirol. Land und Leute vom Brenner bis zur Salurner Klause. Berlin 1919, Ullstein & Co. Pirquet, Prof. Dr. Cl., System der Ernährung. 3. Teil; Nemküche. Berlin 191 9, J. Springer. 11 M. Oppenheimer, Prof. Dr. C. , Grundrisse der Physio- logie für Studierende und .\rzte. 2. Aufl. I.Teil: Biochemie. Leipzig 1919, G. Thieme. 20 M. Holle, Prof. Dr. H. G., Allgemeine Biologie als Grund- lage für Weltanschauung, Lebensführung und Politik. Mün- chen 1919, J. F. Lehmann. 7 M. Hopfen, Dr. O. H., Unser Nachwuchs und seine Aus- lese. Ebenda. 2 M. Kisch, Dr. B. , Fachausdrücke der physikalischen Che- mie. Ein Wörterbuch. Berlin 1919, J. Springer. 5,30 M. Archiv für Bienenkunde. Herausgeg. von Dr. L. Arm- bruster. I. Jahrg. 2. u. 3. Heft. Leipzig-Berlin, Th. Fischer. 3, bzw. 2 M. Roth, Dr. A. , Die Vegetation des Walenseegebietes. Zürich 1919, Rascher & Co. 3,50 Fr. Brockmann-Jerosch, Dr. H., Baumgrenze und Kliraa- charakter. Ebenda. 8 Fr. Veröffentlichungen des Deutschen Observatoriums Ebel- tofthafen- Spitzbergen. Herausgegeben ^von H. Hergesell, Lindenberg. Heft i — 7. Druck von Fr. Vieweg \ Sohn in Braunschweig. Abhandlungen zur theoretischen Biologie herausgegeben von Prof. Dr. J. Schaxel. Heft I : Über die Darstellung all- gemeiner Biologie. Berlin 1919, Gebr. Borntraeger. Fricke, Dr. H. , Eine neue und einfache Deutung der Schwerkraft und eine anschauliche Erklärung der Physik des Raumes. Wolfenbüttel 1919, Heckners Verlag. Mach, Ernst, Die Leitgedanken meiner naturwissen- schaftlichen Erkenntnislehre und ihre -■Aufnahme durch die Zeitgenossen. Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe. Zwei Aufsätze. Leipzig 1919, J. A. Barth. 2 M. Riemann, B., Über die Hypothesen, die der Geometrie zugrunde liegen. Neu herausgegeben und erläutert von H. Weyl. Berlin 1919, J. Springer. 5,60 M. March, Dr. A., Theorie und Strahlung und der Quanten. Mit'56 Figuren. Leipzig 1919, J. A. Barth. 12 M. Lipp, A., Lehrbuch der Chemie und Mineralogie. Neu- bearbeitet von Prof. Dr. Rubenbauer. Stuttgart und Berlin 1918, Fr. Grub. Philosophische Propädeutik im Anschluß an Probleme der Einzelwissenschaften unter Mitwirkung von Goldbeck, Grüner, Hoffmann, Lorentz, Messer herausgegeben von G. Lambeck. Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. 5 M. Das Gymnasium und die neue Zeit. Fürsprachen und Forderungen für seine Erhallung und seine Zukunft. Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. 4,50 M. Inhalt: Hugo Mötefindt, Fünfzig Jahre Berliner -Anthropologische Gesellschaft. S. 97. J. Wilhelmi, Über die Ent- wicklung der angewandten Zoologie in Deutschland im Jahre 1919. S. 102. — Einzelbericbte : Vorkommen der Sumpfschildkröte am Niederrhein. S. 106. W. Roszkowski, Tiefenschnecken des Genfer Sees und ihre Abstam- mungsverhältnisse. (I Abb.) S. 106. K. Vorbrodt, Schmetterlinge der Schneestufe schweizerischer Hochgebirge. S. 107. Ch. Tarnutzer, Der braune Bär (Ursus arctus L.) in den Schweizeralpen. S. 107. L. Külz, Die Biologie und Patho- logie des Nachwuchses bei den Naturvölkern. S. I07. L. Bolck, Augenhöhle beim Menschen und den Anthropoiden. S. 109. — Anregungen und Antworten: Tatraflora. S. Iil. Arbeitsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen Körper- schaften Deuischlands. S. 112. Mutationsfrage. S. 112. — Literatur: Liste. S. 112. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ig. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 22. Februar 1920. Nummer 8- Unterirdische Flüsse und Bäche. Von Dr. Hugo Lindner, Nürnberg. [Nachdruck verboten.] Mit 2 Abbildungen, I Die Mythologie der alten Griechen ist ent- schieden durch die dortigen geographischen Ver- hältnisse beeinflußt worden. Gehört doch ein großer Teil Nordgriechenlands zu den Karst- gebieten , d. h. zu jenen Kalk- oder Dolomit- landschaften, welche die eigenartigen Phänomene der Verkarstung aufweisen. Wie der Name sagt, finden sich diese Erscheinungen in klassi- scher Ausbildung im Karstgebirge, in jenem Ge- birgszuge, der als südöstliche Fortsetzung der Juli- schen Alpen zwischen Save und Isonzo durch Krain zieht und sich in den Dinarischen Alpen durch Bosnien und die Herzegowina nach Griechen- land fortsetzt. Die Sage vom Styx ist sicherlich auf einen bruchstückweise beobachteten unter- irdischen Fluß zurückzuführen und wenn nach Bursian Prosymnos dem Dionysos bei der Quelle Amymone den Eingang zur Unterwelt ge- zeigt haben soll, so wird die Erklärung in ähn- licher Weise zu geben sein. Die Sauglöcher (slawisch Ponore genannt), in denen die zuerst oberirdisch fließenden Flüsse zur Tiefe absinken, nennt man in Griechenland Katavothren, und solche Sauglöcher finden sich auch häufig in Seen, wie in demjenigen von Pheneos und Stymphalos,^) von Kopais in Böotien und in dem berühmten Zirknitzer, See in Innerkrain, dem lugea palus der Römer, welcher beinahe vierzig solcher Ponore aufweist. Man wußte schon im Altertum, daß verschwindende Flüsse nach längerem oder kürzerem unterirdischen Laufe wieder auftauchen können, und man fabelte sogar davon, daß manche von ihnen ihren Lauf untermeerisch fortsetzten, worauf sie im Binnenlande irgendwo als neuer Fluß wieder auftauchen würden. Erzählte man sich doch vom Mäander, der bei Milet in Klein- asien ins Meer mündet, daß er in Griechenland, also in einer Entfernung von etwa 400 Kilometern, als Asopus zutage trete; der Nil sollte in gleicher Weise als Inopus, der Alpheus auf dem Peloponnes als Arethusaquelle hervorbrechen. Besonders auf- fällig war jedoch seit altersher der Timavo, wel- cher nordwestlich von Triest in die Adria mündet, nachdem er kurz zuvor, nahe Monfalcone, den zerklüfteten Karstkalken entsprungen und zwar in einer Breite, daß er sogleich mit Schiffen befahren werden kann. Von diesem „Timavus" berichtet Plinius in seiner Historia naturalis im dritten ') Der Stymphalische See liegt in Arkadien, und der Sage nach soll Herakles dort die Stymphaliden erlegt haben, gefräßige Raubvögel, welche eherne Flügel und Federn be- sitzen sollten, die sie als Pfeile herabsandten. Profil und 2 Kärtchen. Buche die Fabel, daß er unterirdisch mit dem Ister, der heutigen Donau, in Verbindung siehe, woher denn auch der Name Istrien stamme. Selbst bis in die neueste Zeit ist des Fabu- lierens kein Ende, und besonders der abergläubi- sche Sinn der slowenischen und kroatischen Be- völkerung der Karstgebiete er findet immer neue Märchen, oder sammelt auch eifrig alle sensatio- nellen Beobachtungen, um sie entsprechend aus- zuschmücken. So erzählt man sich von der Vracna jama, dem Teufelsloche unweit Planina in Krain, daß vor Zeiten ein Mädchen mit einem Ochsen- paar hineingestürzt sei. Das Joch der verunglückten Tiere mit dem darumgeschlungenen Kopftuch des Mädchens soll alsdann bei Oberlaibach wieder vom Laibachflusse aufgeschwemmt worden sein. Der Sinn der ganzen Erzählung läuft darauf hin- aus, daß man sich seit alters bemühte, einen Zu- sammenhang zwischen der bei Adelsberg in einer Spalte der dortigen berühmten Grotte ') versinken- den Poik und dem Unzflusse sowie der Laibach herzustellen. Die Poik entspringt westlich des Krainer Schneeberges, fließt zunächst auf Kalk- boden, wo sie während der trockenen Jahres- zeit versiegt und betritt südlich von Adelsberg den undurchlässigen Flysch, bis sie dann nach einem oberflächlichen Laufe von etwa 25 km in der Adelberger Grotte verschwindet. In einer Ent- fernung von 7 km Luftlinie bricht bei Planina in der Kleinhäusler Grotte ein ansehnlicher Fluß hervor, der den Namen Unz führt, aus dem Mühl- tale einen klaren Bach aufnimmt und sich nach weiteren 10 km am felsigen Abhang des Beckens von Planina unter starkem Gurgeln in zahlreichen Sauglöchern des F"lußbettes verliert, bis der letzte Wasserfaden in einem Ponore unterhalb einer Fels- wand versinkt, um dann bei Oberlaibach als Lai- bachfluß wieder zutage zu treten und durch das Laibacher Moor der Save zuzuströmen. Lange Zeit war man hier auf Vermutungen angewiesen und der altehrwürdige Seh midi klagt noch, daß man trotz aller Anstrengungen noch nicht dahin gelangt sei, auch nur einen einzigen unterirdischen Wasserlauf vollständig kennen zu lernen. Von den Versuchen, die man bei Adelsberg mit in die Poik geworfenen Korkkugeln angestellt hatte, ge- steht er: „Alles, was man über das Hervorkommen von hineingeworfenen schwimmenden Körpern spricht, halte ich lür Fabel." Kerne einzige der ') Vgl. A. Schmidl, Die Grotten und Höhlen von Adelsberg, Lueg, Planina und Laas. Wien 1854, S. 159 ff. 114 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 8 250 Kugeln sei in der Kleinhäusler Grotte wieder aufgetaucht, da sie durch die gleich Vorhängen unter den Wasserspiegel herabreichenden Fels- wände abgefangen worden seien. Im Jahre igo6 konnte v. Knebel mitteilen, daß die Poik auf zwei Drittel ihrer Länge bereits bekannt sei, da die störenden Siphone ') umgangen worden wären. Dies war besonders dem verdienstvollen französi- schen Höhlenforscher Martel zu verdanken, der von der Poik aus bis zur Ottoker Grotte vorge- drungen war. Eine ähnliche Sage wie die oben berichtete erzählt sich das Landvolk von der Kacna jama,-) dem Schlangenschlund bei Divaca, auf dessen Grunde man die bei St. Canzian über 25 Kas- kaden in die Tiefe stürzende Reka vermutete, die schließlich im „See des Todes" verschwindet. Auch in diesen Abgrund soll ein Ochsengespann ge- stürzt sein, das am Timavo wieder zutage ge- kommen sei, was einer unterirdischen Reise von 35 — 40 km (Luftlinie) entsprochen haben müßte. Zur wissenschaftlichen Feststellung des Zusammen- hanges schüttete Doria 1891 das intensiv grün färbende Fluorescein in die Rekahöhlen bei St. Canzian, konnte aber keine Spur von Grünfärbung am Timavo bemerken. Später wurde ihm freilich der Vorwurf gemacht, er habe nicht lange genug beobachtet, da das Flußwasser gezwungen sei, unterirdisch große Umwege zurückzulegen. Es wurden dann auch im Jahre 1907 von Vort- mann und Timeus neuerdings Färbeversuche mit dem spektralanalytisch sehr leicht nachzu- weisenden Lithiumchlorür vorgenommen; beträcht- liche Mengen dieses Salzes wurden am 23. Dez. bei St. Canzian in die Reka geworfen, aber erst nach vier Tagen begannen die Kontrollen am Timavo und den benachbarten Quellen, welche dort in großer Anzahl in der Nähe der Küste dem Kalkfels entspringen. Das Merkwürdige war nun, daß sich schwache Spuren einer Lithium- führung überall wahrnehmen ließen, dagegen ein einheitliches Wiederauftreten der verschwundenen Salzmengen nicht zu beobachten war. Offenbar verteilt sich das Rekawasser unterirdisch nach Art des normalen Grundwassers über die ganze Fläche, sammelt sich schließlich wieder in größeren Kalk- spalten zu einheitlicheren Gerinnen und bricht dann in Form von zahlreichen Quellen aus dem Felsen hervor. Daß es sich nicht um einen ge- schlossen fortfließenden Höhlenfluß Reka-Timavo handeln kann, geht übrigens schon daraus hervor, daß an der Timavoquelle rund 25 mal soviel Wasser zutage tritt, als oberhalb in den Reka- höhlen zur Tiefe sinkt. Ein weiteres berühmt gewordenes Beispiel eines „unterirdischen Flusses" ist die bei Immen- dingen versickernde Donau. Man vermutete ') Unter einem Siphon versteht man ein erst nach unten führendes und dann wieder in die Höhe steigendes, also voll- kommen mit Wasser erfülltes Stück eines unterirdischen Flusses. '•') K. Müller, Die Kacna jama im Karst bei Divaca; Z. d. ö. Alpenver. 31, 1900, S. 97. längst, daß die gesamte verschwundene Wasser- menge nach rund 60 Stunden als Aach wieder hervorbreche und dem Rhein zufließe. Auch hier war die Sa^e geschäftig; erzählte man sich doch, daß eine Ente von Immendingen aus die unter- irdische Wasserfahrt angetreten habe und an der Aachquelle fröhlich schnatternd hervorgekommen sei. ^) Durch Einschüttung einer Probe Fluores- cein wies Knop''^) im Jahre 1875 nach, daß tat- sächlich zwischen der Donau und dem Oberrhein eine derartige Wasserverbin'dung besteht, so daß der Rhein unter Umständen der Donau geradezu das Wasser entzieht, welches dann statt dem Schwarzen Meer zuzueilen, sich in den Atlanti- schen Ozean ergießt. Später wurden diese Ver- suche mit Kochsalz wiederholt, wobei sich weiter- hin herausstellte, daß die bei Immendingen ver- schwundene Wassermenge durch unterirdische Zuflüsse um 30 hl in der Sekunde vermehrt wird; ihre durchschnittliche sekundliche Gesamtwasser- menge beträgt 70 hl. Die örtlichen Verhältnisse liegen so: Etwa eine halbe Stunde unterhalb Immendingen tritt die Donau auf der linken Seite nahe an den hochliegenden Bahnkörper; hier ver- liert sich der Fluß, besonders zur Trockenzeit, in den Spalten seines Bettes, welches vom Malm- kalke unterlagert wird. Die Aach entspringt nordöstlich beim Dorfe gleichen Namens als größte Quelle Deutschlands. Sie bricht als an- sehnliches Flüßchen aus einem Felsenkessel her- vor und treibt balcj darauf mehrere Mühlen und eine Fabrik. Die Aachquelle steigt senkrecht, unter ersichtlichem Druck, aus mehreren Kalk- steinspalten empor, so daß sie bei hohem Wasser- stande der Donau einen niedlichen Sprudel bildet. Die Quelle liegt in einer Meereshöhe von rund 500 m, die Versinkstelle bei Immendingen da- gegen etwa 160 m höher. Die größere Wasser- fülle der Quelle ist auf Kosten der Niederschläge zu setzen, welche auf das vielleicht loooo ha große Hochplateau südlich Immendingen fallen. Nach kurzem Laufe wendet sich die Aach östlich und mündet unweit Radolfzell in den Untersee, dessen Wasser dann durch den Rhein abgeführt wird. Wie bereits erwähnt, braucht das Wasser beträchtliche Zeit, um die in Luftlinie nur 13 km messende unterirdische Strecke zurückzulegen, so daß man hier wiederum auf zahlreiche Umwege schließen muß. Die Salzführung konnte beispiels- weise erst nach 32 Stunden nachgewiesen werden; sie erreichte ihren Höhepunkt nach 60 Stunden, während nach 92 Stunden das Aachwasser wieder salzfrei war. Man kann den Sachverhalt aber ') Bezeichnend ist, daß es auch hier eine Parallelfabel gibt, und zwar aus dem kleinen Karstgebiete der Fränkischen Schweiz, von welchem später zu handeln sein wird. Eine in dem großen F.rdtrichter zwischen Göüweinstein und Leutzdtut versunkene Ente sei an den Slempferniühlquellen wieder zu- tage geschwommen — ob tot oder lebendig, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Daß es sich hier, um mit v. Knebel zu sprechen, auf alle Fälle um zwei „Rnten" handelt, ist klar. '') Knop, Neues Jahrbuch f. Mineral. 187^, S. Q42; 1S78, S. 350. N. F. XK. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. IIS auch so erklären, daß das bei Immendingen ver- sickernde Donauwasser zuerst in beträchtliche Tiefe abstürzt und dann mit Grundwassergeschwin- digkeit langsam der Quelle zuströmt, wo es viel- leicht durch einen undurchlässigen Lehmriegel etwas gestaut und dann mit größerer Kraft in die Höhe gepreßt wird. v. Knebel erklärt in seiner „Höhlenkunde" ^) die langsame Geschwin- digkeit des unterirdischen Wasserlaufes damit, daß er durch zahlreiche Wasserfälle aufgehalten werde; G r u n d ^) hingegen macht die vielfache Verästelung der Grundwasseradern , in die das versalzene Fluß- Malm Abb. I a. Die Donauversickerung zwischen Immendingen und Tuttlingen. Die punktierte Grenze umschliefit das Kalkgebiet des weißen Jura. bar machte. Dieser Unterschied wäre vielleicht aus der verschiedenen Wasserführung in den ein- zelnen Jahren zwanglos zu erklären. In den letzten vierzig Jahren hat die Wasserversickerung immer weitere Fortschritte gemacht; früher war eine voll- ständige zeitweise Trockenlegung des Donaubettes unterhalb Immendingen selten, während nunmehr alljährlich fast 6 Monate vollkommenes Versickern eintritt. Die Folge ist natürlich eine Überfülle Pegnitz ^alnbronn Abb. 2. Die Bifurkation des Pegnitzflusses bei der Rösch- mühle südlich Pegnitz. Der Hauptarm umfließt den ,, Wasser- berg", einen Riegel aus Malmkalk (Werkkalk) , während der Seitenarm ihn unterirdisch durchquert, um alsdann in Form einer Vauclusequelle wieder zutage zu treten und sich mit dem Hauptarm zu vereinigen. Abb. I b. Längsschnitt durch die Flußtäler der Brege, Donau, Aach und des Rheins. Donauversickerung; v Quellen; Unterirdische Wasserstrecke nach Grunds Auffassung; dieselbe nach v. Knebels Anschauung. Wasser erst übergehen müsse, dafür verantwortlich. Im Jahre 1905 wurde übrigens ein zweiter Versuch mit Fluorescein angestellt, wobei sich die Färbung erst nach 75 Stunden an der Aachquelle bemerk- ') W. V. Knebel, Höhlenkunde mit Berücksichtigung 4es Karstphänomens. Die Wissenschaft. Braunschweig 1906, S. 56. *) A. Grund, Beiträge zur Morphologie d. Dinarischen Gebirges. Pencks geogr. Abhandl. 9, 1910, S. 165. von Wasser im Aachgebiete, und es ist durchaus wahrscheinlich, daß nach Verlauf eines ent- sprechenden Zeitraumes der Oberlauf der Donau vollkommen zum Bodensee und hiermit zum Rheine abfließen wird. Die diesbezüglichen Verhältnisse sind aus Abb. I a u. b zu entnehmen. Ein anderes, ebenfalls in Deutschland liegendes Versinken eines Flusses ist dasjenige der Pegnitz gleich unterhalb des Städtchens gleichen Namens. ii6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 8 Wenn freilich der Deutschamerikaner Seh oepf) berichtet, daß die jugendliche Pegnitz für eine kurze Strecke im Kalkboden verschwinde, und wenn dies seiiher immer wieder in allen Lehrbüchern wiederholt wird, so entspricht diese Art der Dar- stellung nicht dem wahren Sachverhalt. Der Fluß selbst umfließt nämlich einen Querriegel aus Werk- kalk (IVIalm ß), der sich ihm in den Weg stellt, und nur eine kleine Abzweigung in der Größe eines etwa i ^j m breiten Baches stürzt sich in der Röschmühle, 0,5 km südlich Pegnitz, in die Spalten dieses sog. „Wasserberges", um nach einem unterirdischen Laufe von einigen hundert Metern, durch zahlreiche verborgene Quellen verstärkt, wieder ans Tageslicht zu treten und etwa 20 m weiter in den Hauptfluß einzumünden. Das Ge- fälle des unterirdischen Flußlaufes muß somit etwas größer sein als das des oberirdischen. Der Austritt an dem Südhang des Wasserberges erfolgt aus einer Höhle , in die man einige Meter weit hineinwaten kann, während dann un- zugängliche Spalten ein weiteres Vordringen un- möglich machen. Es handelt sich hier also um ein hübsches Beispiel für eine Pseudoquelle oder Vauclusequelle, wie sie im Karste so häufig sind. Aus Abb. 2 sind die Verhältnisse des Pegnitzver- schwindens ersichtlich. Für das Verständnis dieser Erscheinung ist von Bedeutung, daß die Richtung des unterirdischen Flußstückes parallel läuft mit der Richtung der großen Verwerfungsspalte, welche hier von NW nach SO die Juraschichten durch- schneidet, so daß Dolomit neben Werkkalk lagert. Nach Gümbel") sollen neben dem Hauptsprung noch mehrere mit ihm parallel laufende Spalten das Pegnitzer Gebiet durchziehen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß der unterirdische Seitenarm einer solchen gefolgt ist und durch Erosion hieraus sein Bett gestaltet hat. Ein weiteres Beispiel für einen, wenn auch sehr bescheidenen unterirdischen Flußlauf im Jura bildet der Höhlenbach des Laubentales.'^) Dieses Trockental liegt 2 — 3 Wegstunden südöstlich von Weißenburg, eingeschnitten wiederum in den Werk- kalk des weißen Jura. Im ganzen Tale trifft; man nur periodische, d. h. zur Regenzeit fließende Quellen, die sogenannten Koppbrunnen.'') In der trockenen Jahreszeit versiegen alle diese Quellen und erst weiter unterhalb der Stelle, wo die F"ahr- straße Weißenburg-Ruppertsbuch das Laubental schneidet, findet sich bei der Einmündungssteile des Pfaft'entales eine ausdauernde Quelle, aus welcher der Schambach entspringt, der seinen Lauf in süd- westlicher Richtung, am Dorfe Sufl'ersheim vorbei, zur Allmühl nimmt. Beim Forsthaus Laubental, ') Schoepf, Beyträge z. mineralog. Kenntnis des östl. Theils von Nordamerilsa u. seiner Gebiirge. Erlangen 17S7, S. 102. '■') Vgl, G um bei, Geognost. Beschr. d. Frank. Alb; Kassel 1891, S. 628. ^1 Vgl. hierzu H. Lindner, Karsthydrographische Stu- dien im Laubenlal ; Natur u. Kultur, 1919, Oktoberheft. ■•) ,, Aufkoppen" bedeutet in fränkischer Mundart soviel v^ie aufstoßen. welches in der Nähe der Weißenburger Straße liegt, fand man bei den Ausschachtungsarbeiten, die man einer billigen und zweckmäßigen Wasser- versorgung des Forsthauses wegen vornahm, im Sommer 1908 in einer Tiefe von 8—9 m unter der Talsohle, etwa 1 5 m nordwestlich vom Schachte entfernt, einen trotz der außergewöhnlichen Trockenheit der vergangenen Wochen stark strömenden Bach. Er führte 20 — 25 Sekundenliter, kam aus nördlicher Richtung und war vom Schacht aus durch einen niedrigen, mit Tropfsteinbildungen ausgekleideten Gang zu erreichen. Der Bach strömt in westlicher Richtung, gegen Suffersheim, unterirdisch weiter und scheint in nicht zu großer Entfernung über einen Felsriegel abzustürzen, wie aus dem donnernden Geräusch zu schließen war, das aus dem Bett hervordrang. Möglicherweise ergießt sich der Höhlenbach in einen größeren Hohlraum, dessen Sohle der wasserundurchlässige Ornatenton des Doggers bilden dürfte; denn be- kanntlich verursacht diese Schicht im Jura einen Hauptwasserhorizont, auf dem sich die durch die überlagernden zerklüfteten Dolomite und Kalke sickernden Wassermassen ansammeln.') Beachtens- wert ist, daß der Ornatenton an der Schambachquelle zutage ausstreicht, wodurch denn auch die Aus- dauer dieser Quelle während der trockenen Jahreszeit zur Genüge erklärt ist; ferner fließen die Quellen, welche beim Orte Suffersheim am Steil- hang der 60 m hoch abstürzenden Werkkalke zu- tage treten, auf dem gleichen Wasserhorizont. Die Talsohle des Laubentales dagegen liegt, wie schon erwähnt, beim Forsthause rund 10 m über dem Ornatenton, so daß sich kein dauernder ober- irdischer Abfluß bilden kann. Die Niederschlags- wässer sickern hier in die Klüfte des Jurakalkes ein und bleiben über der undurchlässigen Unter- lage in den Spalten des Gesteins stehen, bilden also hier eine Art Grundwasserspiegel, welcher natürlich je nach der Regenmenge steigt und fällt. Die Schwankungen eines solchen Karsiwassers -) müssen beträchtlicher sein als die des normalen Grundwassers in einem Kies- oder Schotterfelde, da die Kalkklüfte an Volumen weit hinter den Hohlräumen zwischen Schotter zurückstehen. Mit der Zeit werden dann einige Haupiklüfte die Wasserzirkulation an sich ziehen, während das übrige Netz der Karstwasseradern gleichsam die unterirdischen Zuflüsse darstellt. Eine solche Hauptsammelader mag auch der Höhlenbach beim Forsthause darstellen, welcher dann, möglicher- weise durch die Kalkklüfte zu zahlreichen Gabe- lungen veranlaßt, an den Suffersheimer Quellen wieder zutage tritt. Ahnlich liegen die Ver- ') Vgl. Loth. Reuter, Das Bayrische Jura-Gebiet; Internat. Zeitschr. f. Wasser- Versorgung, 1916, S. 17. *) Die vielumstrittene „Karslwasser - Hypothese" wurde von dem Wiener Geographen A. Grund aufgestellt und gegen die zahlreichen heftigen Angriffe standhaft verteidigt. Vgl. A. Grund, Die Karsthydrographie, Pencks Geogr. Abhandl. 7, 1906 u. „Beiträge z. Morphol. d. Dinar. Gebirges", ebenda 9, 19 10. N. F. XIX. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 117 hältnisse bei den vielgenannten Stempfermühl- quellen im Wiesenttale. ^) Zwei derselben treten als ansehnliche Bäche am Fuße des von der Gößweinsteiner Hochfläche steil abfallenden Dolo- mithanges hervor. Sie sind nunmehr künstlich ge- faßt und münden in ein kleines Bassin, aus dessen Grunde eine dritte in Form eines Ouelltopfes auf- steigt. Auch hier würden wir durch einen ge- eigneten Schacht möglicherweise auf unterirdische Bäche stoßen, welche die Hauptsammeladern für das in den Dolomitklüften niedersinkende Wasser bilden. Bezeichnend für die Wasserarmut der Gößweinsteiner Hochfläche ist die Tatsache, daß nunmehr zwecks geregelter Wasserversorgung das Trinkwasser aus den Stempfermühlquellen durch ein von ihnen betriebenes Pumpwerk wieder nach dem Plateau emporgetrieben und auf der Burg in einem Reservoir gesammelt wird, so daß man jetzt im Orte überall Leitungswasser entnehmen kann. In früherer Zeit, als die Erosion die Flußtäler noch nicht bis zu den undurchlässigen Schichten eingeschnitten hatte, mögen unterirdische Flüsse im Fränkischen Jura weit häufiger gewesen sein. Will doch N eise hl'-) die dortige Talbildung z. T. so erklären, daß durch unterirdische Erosion ein beträchtliches Flußbett ausgestaltet worden sei, natürlich in Anlehnung an tektonische Leitlinien, bis dann allmählich die Decken dieser Gewölbe einstürzten, wodurch das Höhlenbett zutage kam. Daß dieser Vorgang im kleinen auftrat, mag zu- gegeben werden, wenngleich man sich bewußt bleiben muß, daß die Hauptarbeit bei der Tal- bildung doch der oberirdischen Erosion zuzu- schreiben sein wird. Ein hübsches Beispiel für einen Höhlenfluß, welcher eine der prächtigsten Tropfsteinhöhlen geschaffen hat, bildet das jetzt leider ausgetrocknete unterirdische Flußbett in der etwa 300 m langen Binghöhle bei Streit- berg, und wer die Fränkische Schweiz je begangen, der kennt an den Gehängen der Täler und selbst an den Dolomitklötzen, welche überall der Hoch- fläche aufgesetzt sind, genugsam jene oft kreis- runden Löcher, welche bisweilen ein Gefälle in das Innere des Berges besitzen, manchmal aber nach dem nächsten Tale geneigt sind, und ganz ') Am II. April 1919 maß ich an den beiden horizontal austretenden Stempfermühlquellen eine Wassertiefe von 40,5 bzw. 54,7 cm und eine Breite von 59 bzw. 99 cm; dies ent- spricht einem Querschnitt von zusammen 0,78 qm. Die Ge- schwindigkeit, mit der die Wasser hervorschießen, ist bedeu- tend. Man nannte solche wasserreichen Quellen nach dem Beispiele des Sorgues im Vauclusetale bei Avignon ,,Vaucluse* quellen", bezeichnete also damit ursprünglich wasserreiche Quellen. Grund hat diese Nomenklatur, nicht gerade mit Glück, geändert, indem er unter „Vauclusequellen" im Gegen- satz zu ,, Karstquellen" alle ausdauernd fließenden Wässer be- zeichnet, ohne Rücksicht auf die Wassermenge, die in ihnen zutage tritt. Günther hat den Namen ,,PseudoqueUen" vor- geschlagen, welcher dartun will, daß es sich um zutage tre- tende unterirdische Bäche handle. ^) A. Neischl, Die Höhlen d. Fränkischen Schweiz u. ihre Bedeutung für die Entstehung der dortigen Täler; Er- langen 1903. die Form von Röhren haben. Auch hier dürfte es sich um Strecken ehemaliger unterirdischer Wasserläufe handeln, wie die in die Länge ge- zogene Gestalt dieser sog. „Gehängehöhlen" dar- tut. Die Querschnitte sind häufig fast kreisrund und ihre jetzigen Eingänge entstanden infolge der Ausbildung größerer Täler, welche die unterirdi- schen Bette anschnitten, so daß sie nun an deren Hängen zutage treten. Wird ein Kalk- oder Dolomitklotz, welcher von solchen Röhren durchbohrt ist, von beiden Seiten her senkrecht zum Querschnitt der unter- irdischen Wasserzüge abgetragen, dann mögen wohl Formen auftreten, wie sie in Abb. 3 zu sehen sind. Hier bemerken wir die Überreste von dreien in kurzen Abständen nebeneinander hinziehenden Abb. 3. Überreste ehemaliger Höhlenbachbetten in einem freistehenden Doloraitfelsen nördlich Tüchersfeld. Man be- achte die eigenartig zerfressene Oberfläche des Gesteins I ehemaligen Bachbetten. Man findet sie, wenn man einen Rundmarsch in nördlicher Richtung um Tüchersfeld antritt, in einem freistehenden Dolomitfelsen. Beachtenswert ist hier auch die gänzlich zerfressene Oberfläche des Gesteines, wie sie für die dortige Dolomitverwitterung cha- rakteristisch ist. Ob dagegen das berühmte Quackenschloß südlich Engelhardtsberg auf die erodierende Tätigkeit eines unterirdischen Baches zurückzuführen ist, dürfte zweifelhaft sein. Wie man aus Abb. 4 ersehen mag, handelt es sich hier um eine dom- oder kuppeiförmige Wölbung, durch welche man vollkommen hindurchblicken kann. Im Hintergrunde freilich bemerkt man wiederum zwei Öffnungen, welche den Tüchersfeldener Löchern ii8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 8 ähneln. Man darf indessen nicht vergessen, daß im Karste die abenteuerlichsten Verwitterungs- formen auch durch die bloß auflösende Wirkung von kohlensäurehaltigem Wasser *) zustande kom- men, wie denn auch Gümbel") von den Schwammkalken (Malm d) berichtet, daß sie bei der Verwitterung zahlreiche große, mit Höhlungen durchzogene Blöcke liefern, welche den Knochen gewaltiger Tiere nicht unähnlich seien. Man könnte andererseits aber auch die domförmige Ge- stalt des Quackenschlosses in Einklang bringen mit einer Entstehung durch einen ehemals unter- Abb. 4. Das „Quackenschloß" bei Engelhardsberg. Die doraartige Wölbung steht nach zwei Seiten offen, so dai3 man hindurchblicken kann. Im Hintergrunde bemerkt man die Hänge des Wiesenttales. Das Ganze stellt möglicherweise°den Rest eines unterirdischen Flußbettes dar. irdischen Wasserlauf; denn nach Kraus") bilden sich domartige Weitungen dort, wo sich Stau- wässer in einem Höhlenflußbette ansammeln, wo- bei dann auch die chemisch lösende Tätigkeit der Wässer zur Geltung kommt. Immer aber, so meint Kraus, komme dem fließenden Wasser bei der Höhlenbildung ein größerer Anteil zu als dem ') Kohlensaurer Kalk ist zwar auch in reinem Wasser, aber nur in sehr geringer Menge löslich. In kohlensäure- haltigera Wasser (atmosphärische Kohlensäure, Vegetation I) aber ist er leichter löslicli, da er sich in doppeltkohlensauren Kalk verwandelt. Ebenso verhält es sich mit dem Dolomit, einem Gemisch von kohlensaurem Kalk und kohlensaurem Magnesium. ^) v. Gümbel, a. a. O. S. 107. ") F. Kraus, Höhlenkunde; Wien 1894, S. 66. Stagnierenden; das eigentliche Ausscheuerungs- material seien die vom Hochwasser mitgerissenen großen Mengen von Sedimenten und die zahlreichen Felstrümmer. Auch wenn man von der Annahme eines allgemeinen Grundwassers im Karste, welches über undurchlässigen Schichten (z. B. dem Orna- tentone des Doggers) in den Kalkklüften steht, überzeugt ist, so kann man doch mit Cvijic') und anderen Vertretern der älteren Anschauung die weitverzweigten Höhlengänge als die ver- lassenen Bette ehemaliger Höhlenflüsse betrachten, die nunmehr, wie beispielsweise die Poik in der Adelsberger Grotte, sich in die Tiefe gegraben haben, oder anderswo oberirdisch fließen. Denn wie Grund sehr treffend bemerkt, muß man zwischen der Tätigkeit des Karstwassers und der des zu diesem absinkenden Sickerwassers scharf unt-erscheiden. In jüngeren Stadien fließen die unterirdischen Bäche inmitten der Sickerwasser- zirkulation oft hoch über dem Karstwasserspiegel dahin, bis es ihnen bei fortschreitender Ausreifung des betreffenden Karstes gelingt, ihr Bett bis zum Karstwasser zu vertiefen. Einige interessante karsthydrographische Phä- nomene weisen auch unsere Alpen auf So be- sitzt der am Fuße des gewaltigen „Steinernen Meeres"-) in einer Höhe von 1601 m in den Berchtesgadener Alpen liegende Funtensee einen dröhnenden unterirdischen Abfluß, der vermutlich zu dem 135 m tiefer liegenden Grünsee hinab- stürzt. Des unheimlichen Getöses wegen wurde dieses Phänomen von den Älplern mit dem Namen „Teufelsmühle" belegt. Die beiden Seen liegen in Luftlinie nur 1,2 km voneinander entfernt, das Gefälle muß deshalb rund lo"/,, betragen. Wei- terhin vermutet man, daß der Grünsee seinerseits zu dem etwa 4 km entfernten Obersee entwässert, der bekanntlich den hinteren, überaus malerisch gelegenen Talschluß des Königssees bildet. Da der Höhenunterschied hier rund 800 m beträgt, so würde das Gefälle 20 "/„ ausmachen, woraus zu entnehmen ist, daß dieses einen ansehnlichen Betrag erreichen kann, und die unterirdischen Bäche in steilen Spalten von Stufe zu Stufe stürzen, bis sie das Niveau des Karstwasserspiegels erreicht haben, welcher dann mit geringem Gefälle dem Austritt zueilt. Letzteres beträgt nach den Berech- ') J. Cviyic, Das Karstphänomen; Pencks geogr. Ab- handl. 5, 1896, S. 257. ^) Das „Steinerne Meer" stellt eines der wild zerrissenen Karrenfelder dar, wie sie sich in den nördlichen Kalkalpen häutig finden, so z. B. im Wilden Kaiser, am Unters- berg bei Bcrchtesgadcn, als sog. ,, Gottesackerplateau" auf dem Hohen Ifen im Bregenzer Wald und im Dachstein- und Prielstock. In der Erklärung der Karren oder Schratten nach ihrer Entstehung stehen sich vor allem zwei Auffassungen gegenüber: die eine will der chemischen Verwitterung, die andere der mechanischen Erosion das Wort reden. Wie viel- fach, so dürfen wir auch hier eine Kombinationswirkung dieser beiden Faktoren annehmen und müssen noch die Beteiligung der Vegetation sowie die glaziale Vorbereitung des bctrelTen- den Bodens in Betracht ziehen. (Vgl. M. Eckert, Das Gottesackcrplateau in der Gebirgsgruppe des Hohen Ifen. Z. d. ö. Alpenver. 1900, S. 52 ff.) N. F. XIX. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 119 nungen, welche Krebs ^) in Istrien anstellte, durchschnittlich etwa o, iß^/g. Hoffer, der die hydrographischen Verhältnisse der nördlichen Kalk- alpen eingehend studierte, hegte früher -) die An- sicht, daß vom Grünsee zum Ober- und Königs- see ein Karstwasserspiegel hinabziehe , widerruft aber später ^) diese Anschauung unter dem Ein- fluß der Katzerschen Arbeit,^) welche der alten Röhrentheorie das Wort redet. Auch vom Königs- see nahm man früher an, daß er unterirdisch durch das Kuchler Loch zum Gollinger Wasserfall ent- wässere, was aber durch den negativen Ausfall späterer Färbeversuche als unhaltbar erkannt wurde (vgl. A. Penck, Das Land Berchtesgaden, Z. d. ö. Alpenver. 1885, S. 242J. Wenden wir uns nun den Allgäuer Alpen zu, so können wir in dem ausgezeichneten Werke Förderreuthers^) über manch interessante Erscheinung nachschlagen. Im Sturmannsloch bei Obermaiselstein (unweit Oberstdorf) gelangt man durch die Klüfte des Schrattenkalkes schließlich an einen unterirdischen Wassertümpel, der durch ein Bächlein in die Tiefe entwässert. Wahrschein- lich fließt dieses durch eine heberartig gebogene Spalte in die benachbarte Fallbachhöhle, in der sich wiederum ein kleiner See vorfindet, dessen Wasserspiegel zeitweilig steigt und fällt. Schließ- lich tritt das Wasser in mehreren verschieden hoch gelegenen Quellen unterhalb der letztgenannten Höhle zutage. Je höher nun der Grundwasser- stand, desto höher gelegene Quellen treten in Tätigkeit, und es kann vorkommen, daß das Wasser sogar aus der Fallbachhöhle selbst austritt. Hier scheint es sich um ein periodisches Ansteigen und Absinken eines Karstwasserspiegels im Schrattenkalk des Schwarzenberges zu handeln. Der Eingangsstollen des Sturmannsloches erweist sich übrigens als ein ehemaliges Höhlenflußbett, das nunmehr trocken gelegt ist, da die Wasser sich neue Wege in der Tiefe ausgenagt haben. Die „Wildenmühle" am Großen Wilden im Joch- bachtale verdankt ihren Namen einem unterirdi- schen Wasserlaufe, dessen Getöse sich in einer gewissen Entfernung wie das Klappern einer Mühle anhört. Das Hölloch in der Nähe des bereits ge- nannten, an Karsterscheinungen so reichen Gottes- ackerplateaus stürzt einige hundert Meter senkrecht in die Tiefe des Berg^ ab. Es ist an seinem Grunde mit Wasser angefüllt und stellt wohl einen Sammelschlund für die in den benachbarten Spalten zirkulierenden Wässer dar. Bezeichnend ist, daß weiter unten am Ausgang des Mahdertales eine Vauclusequelle auftritt, wie wir sie aus der ') N. K r e b s , Morpbogenet. Skizzen aus Istrien ; 34. Jahres- bericht d. Staatsoberrealsch. in Triest 1904, VI. -) M. Hoffer, Unterirdisch entwässerte Gebiete in den nördl. Kalkalpen I; Mitt. geogr. Ges. Wien 1906, S. 465— 493. '■') Derselbe, Unterirdisch entwässerte Gebiete in den nördl. Kalkalpen II; Mitt. geogr. Ges. Wien 1909, S. 228 ff. *) F. Katzer, Karst u. Karsthydrographie; Zur Kunde der Balkanhalbinsel, herausgeg. v. C. Patsch, Serajewo 1909. ^) M. Förderrcuther, Die Allgäuer Alpen, Land und Leute. Kempten u. München 1907, S. 31 ff. Fränkischen Schweiz bereits kennen ; ihre Wasser- fülle ist so beträchtlich, daß sie in früheren Jahren sogleich eine Schneidsäge betreiben konnte. Auch der Toserbach bei Luxnach im Lechtale, der aus drei nahe beisammen gelegenen Quellen entspringt, setzt kurz nach seinem Ursprung eine Sägemühle in Bewegung, hört jedoch während der kalten Jahreszeit auf zu fließen. Weiter oben im Seekar befindet sich ein oberirdisch abflußloser See, der mit dem Toserbache in Verbindung stehen mag, während seiner Gefrierdauer jedoch kein Wasser an diesen abgibt. ^) Bei Thalkirchdorf entspringt der Hungerbach, der ganz unerwartet, in allen möglichen Jahreszeiten, zu fließen beginnt, merk- würdigerweise gerade zur Trockenzeit. Ob es sich hier um ein unterirdisches Reservoir handelt, das sich von Zeit zu Zeit füllt und dann überläuft, ob möglicherweise Verstopfungen irgendeines Zuflußkanals eine Rolle spielen, ist bei der völli- gen Regellosigkeit nicht annähernd zu bestimmen. Vielleicht würden exakte Beobachtungen über die Niederschlagsverhältnisse und über Schneeschmelze des betreffenden Gebietes, vor allem aber Analy- sen dieses eigentümlichen Quellwassers auf seinen Gehalt an gelösten und suspendierten Stoffen zu einer Erklärung verhelfen. Wenn man den Namen „Hungerbach" auf die Erfahrung zurückführen will, daß bisher immer eine Teuerung eintrat, wenn der Bach im Frühjahr erschien und beson- ders heftig floß, so ist darauf aufmerksam zu machen , daß man mit den Worten „Hunger- quellen" oder „Hungerbrunnen" in den Karstge- bieten einfach solche Quellen belegt, die zeit- weilig zu fließen aufhören.") Bemerkenswert ist, daß die vordem genannten Karsterscheinungen im Kalk- oder Dolomitgebiete liegen, so das Stur- mannsloch und das Hölloch in Schrattenkalk der unteren Kreide, die Wildenmühle im Hauptdolomit des Keupers. Der regellose Hungerbach hingegen entspringt der älteren Süßwassermolasse des Öli- gocäns, so daß der Schluß nahe liegt, daß es sich hier überhaupt um kein Karstphänomen handelt. Wenden wir unseren Blick von den bescheide- neren Verhältnissen unserer Heimat wieder dem großen dinarischen ^) Karstgebiete zu , so wäre vielleicht noch des Ponikvabaches zu gedenken, welcher bei Sije in Mittelbosnien entspringt. In ') A. Spie hier, Das Lechtal. Zeitschr. d. ö. Alpenver. 1883, S. 265. '') Allerdings herrscht in der Fränkischen Schweiz, wie K.Brückner (Die Fränkische Schweiz und ihr Vorland; Wunsiedel 1912 — 14, S. 15) miUeilt, unter der Bevölkerung ebenfalls der uralte Aberglaube, das Überlaufen eines Hunger- brunnens kündige eine Teuerung an, so dafi die vorsichtigen Nürnberger in früheren Zeiten alljährlich einen Boten nach Königsfeld geschickt hätten, um nachsehen zu lassen, ob der „Hohe Bronn" schon laufe. Möglicherweise liegt diesem Aber- glauben eine Umdeutung des ehemaligen Sinnes der Bezeich- nungen „Hungerquelle" oder ,, Hungerbach" zugrunde, welche ursprünglich nichts weiter besagten, als daß die Quelle mit ihrem Wasser geize. ä) Nach Sueß nennt man die südöstlichen Ausläufer der Alpen die „Dinariden-' ; sie ziehen durch Krain, Bosnien, die Herzegowina, Griechenland und über Kreta nach Kleinasien. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 8 2,5 km Entfernung befindet sich ein Ponor, in welchen dereinst ein spielendes Kind eine Holz- schüssel gleiten ließ , die nach einigen Stunden im Ponikvabach wieder zum Vorschein kam. Die Vracquelle bei Buna in der Nähe von Mostar (Herzegowina) schwemmt Buchenblätter auf, die nur aus entfernter Gegend stammen können und die Quellen unweit Parenzo bringen bei Regen- güssen das Laub einer Buchenart an den Tag, die auf der ganzen istrischen Platte nirgends vor- kommt. Ein merkwürdiges Schicksal hat auch die auf dem Vucevaplateau südlich der Narenta- quelle entspringende Musica, welche im Becken (Polje) von Gacka alsbald wieder verschwindet, um ihren Lauf unterirdisch fortzusetzen, möghcher- weise im Wasserlauf des südwestlich davon ge- legenen Frftnicopolje wieder auftaucht, wiederum versickert und als Trebinjcica im Popovopolje (Pfaffenfeld) nochmals zutage tritt, um alsdann endgültig unterzutauchen. Ihr schließltcher Aus- tritt erfolgt unter dem Meeresspiegel als sogenannte submarine Quelle, vermutlich im Meerbusen von Slano, von dessen Grunde zur Regenzeit (im Frühjahr und Herbst) die Wasser mit solcher Gewalt emporsprudeln, daß die Schiffer den ent- stehenden Wellen ängstlich ausweichen. Solche submarinen Quellen sind an der adriatischen Küste ziemlich häufig, und viele der versinkenden Flüsse, deren oberirdischer Abfluß zum Meere nirgends gefunden werden kann, mögen auf diese Weise ihr Ende finden. Einige Worte seien hier auch dem merkwür- digen Zirknitzer See gewidmet, dem lugea palus der Römer. Bei einer Länge von etwa 10 km und einer Breite von I — 2 km erreicht er eine Maximaltiefe von 8 m, ist demnach als ein seich- ter See zu bezeichnen. Wenn früher von ihm die Mär ging, daß man auf seinem Grunde nach Umständen fischen, pflügen, säen , ernten und jagen könne, so ist dies dahin zu berichtigen, daß der Seegrund nur ganz ausnahmsweise trocken liegt, wie es in den Jahren 1834/35 der Fall war. Nikodemus Frischlin (1547 — 1590), wei- land Schulrektor in Laibach, preist in einer latei- nischen Ode den Zirknitzer See also: .... „Mit der entstiegenen Flut taucht auf der Fische Ge- wimmel; Bunt am Scheitel geschmückt, kehrt auch die Ente zurück. Wo du im Sommer geschaut schlankleibiger Ziegen Gedränge, Streicht im Winter der Fisch über das nasse Gefild ; Wo dem Vogel das Netz, dem wandernden, stellte der Finkler, Treibt bedächtig den Kahn jetzo der Fischer dahin. . . ." Auch sonst wurde an dem Phänomen des Zirknitzer Sees viel mit Hebern, kommunizieren- den Röhren und unterirdischen Reservoirs herum- gedcutelt, so bei dem gelehrten Jesuiten Atha- nasius Kircher(iöOi — 1680) in seinem „Mun- dus subierraneus", bei dem trefflichen Weichard Freiherrn von Valvasor in seinem „Die Ehre des Herlzogthums Krain" (Laibach 1689) betitelten Werke, und wir dürfen es dem öster- reichischen Hof- Kammerrat Franz Anton v. Steinberg ^) sowie dem nüchterner denken- den Tobias Gruber'-) Dank wissen , daß sie einiges Licht in diese Verhältnisse gebracht. Der Zirknitzer See ist rings von hohen Kalk- steinwänden umgeben, so daß sein Becken keinen sichtbaren Ausgang besitzt. Fast 40 Ponore ent- ziehen, besonders bei hohem Wasserstande, dem See das Wasser, welches im Laibach- und Unz- tale wieder zum Vorschein kommt. Vor allem dürfte ein Teil des Quellwassers, welches aus dem Mühlbachtale der Unz zustrebt, dem Zirk- nitzer See entstammen, so daß wir in den zwischen- liegenden Kalkklötzen zahlreiche unterirdische Kanäle vermuten dürfen. Die verschiedenen Wasser- stände jedoch werden heute am besten mit der Grundschen Karstwasserhypothese zu erklären sein. Wenn der Stand des Karstwasserspiegels in den umgebenden Kalkmassen mit der Jahres- zeit, unter Umständen auch mit trockenen und feuchteren Jahresreihen steigt oder fällt, so muß sich auch der Seespiegel dementsprechend ein- stellen. Ähnliches läßt sich auch an anderen Karstseen beobachten, z. B. am Cepicsee in Istrien, südlich des Monte Maggiore, dessen Wasser- stand bisweilen so niedrig ist, daß beim Kahn- fahren die Ruder im Schlamme stecken bleiben. Die Möglichkeit des Vorhandenseins größerer unterirdischer Kanäle zwischen dem Zirknitzer See und den umliegenden Tälern soll hiermit, wie bereits erwähnt, keineswegs bestritten werden. Es wäre nun noch der unterirdischen Flüsse im belgischen Kohlenkalk und in den französischen Ardennen zu gedenken; Namen wie Bramabiau, Betharram, Bournillon, Han - sur - Lesse haben in dieser Hinsicht, vor allem durch Martels For- schungen, eine gewisse Berühmtheit gewonnen. Erinnern wir uns noch, daß auch auf Kuba, wie Dierks berichtet ,. zahllose versickernde Bäche und Flüsse auftreten und daß nach Mirandes Schilderung in Tongking ein unterirdischer F"luß, der Songnang, eine Reihe von Höhlen durch- strömt, so wissen wir, daß Gebiete mit Karst- charakter und somit auch mit unterirdischen Wasserläufen über die ganze Erde verstreut sind. Daß nicht jedes Versickern ein Karstphänomen darstellt, sei an dem Beispiel des Oybaches bei Oberstdorf gezeigt. ^) Aus dem Winkel, welcher von der Höfats, dem Rauh- Eck und dem Großen und Kleinen Wilden gebildet wird, entspringt durch Vereinigung des Schartenbaches, der Ab- flüsse des Loch-Gern und der Ouellbäche am SO-Hang der Höfats der Stuibenbach, welcher in Höhe 1259 die bekannten drei Wasserfälle bildet, die in einem Kessel zusammenstürzen. Kurz darauf empfängt der Stuiben von rechts ein Wild- wasser aus dem Gaisbachtobel, welches sein Ein- zugsgebiet im Bockkar, zwischen Himmelhorn ') Gründliche Nachricht \'on dem in Inner-Crain liegenden Czirknizer See. Graz 1761. '') Briefe hydrographischen und physikalischen Inhalts aus Krain. Wien 1781. ^j Vgl. auch M. Förderreuther, a. a. O., S. 36. N. F. XIX. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. und Himmeleck, besitzt. Einen Kilometer weiter abwärts stürzt der Lauf bach , wiederum auf der rechten Seite, aus dem Winkel zwischen Schochen, Lauf bacher • Eck und Schneck hervor, während kurz zuvor aus dem Rauhenhalstobel von links, aus den Schneemulden des NO Hanges der Höfats, ein temporärer Zufluß herbeieilt. Bei der Lauf- bachstiege ist somit der Stuibenbach, nach einem Laufe von beiläufig 4 km Luftlinie, ein ansehn- liches Wässerlein geworden , welches in seinem mit Geröll und größeren Felsbrocken reichlich besäten Bette munter rauschend dahinfließt und den Namen Oybach trägt. Ich besuchte diesen imposanten, von den zerrissenen Felswänden der Höfats, der beiden Wilden , des Himmelshorns und des Schneck umschlossenen Talschluß am 23. August. Es war wochenlang schön und trocken gewesen, nur die Nacht vom 21. zum 22. August hatte ein kräftiges Gewitter gebracht, welches sich mit Regenschauern den 22. August über fortsetzte. Einen knappen Kilometer unter- halb der Einmündung des Laufbaches hörte der Oybach plötzlich auf zu fließen, etwa bei Punkt 1048,2 der Generalstabskarte. ') Der Bach verliert zuerst an Geschwindigkeit, das vor- her so kräftige Rauschen ist beinahe verstummt, und es bilden sich im GeröUe des Bachbettes einige Lachen, an deren talabwärtigem Ende das Wasser zwischen die Steine rieselt, ohne daß irgendein besonderer Abzugskanal zu bemerken wäre. Nunmehr findet sich im Bette keine Spur von Wasser mehr bis zu einem Punkte, der etwa 3Y2 km weiter abwärts liegt. Somit lag das Bachbett trocken von der Stelle, wo die, damals versiegten, Wildbäche aus „den Rinnen" am Süd- hang des Schochen einmünden, bis zu dem Punkte kurz unterhalb der Abzweigung des Fußweges von der Fahrstraße, welche in 900 m Höhe um den Kühberg herumzieht. Hier bildet das Bach- bett mehrere Krümmungen und verstärkt sein Gefälle beträchtlich. Die großen Felstrümmer nehmen mehr und mehr zu, es scheint eine Muhre sich über das Bett ergossen zu haben. An dieser Stelle trat der Oybach wieder zutage und zwar in zwei Quellachen, welche durch einen das Bachbett in zwei Teile schneidenden Geröllstreifen voneinander getrennt waren. Bereits oberhalb der südlicher gelegenen Quelle waren einige Wassertümpel zu bemerken, die aber keinen Ab- fluß besaßen, bis dann schließlich das Wasser mit ') Karte des topogr. Bureaus d. b. Generalstabes, I : 50000, Blatt Sonthofen West, 1907. Auf dieser Karte liegen Ver- sicker- und Austrittsstelle näher beisammen I mäßiger Geschwindigkeit aus dem Geröll zutage trat, ebenso geräuschlos, wie es weiter oben ver- schwunden war. Die beiden Quellbäche ver- einigten sich nach ganz kurzem Laufe und als- bald war wieder ein rauschender, ansehnlicher Wasserlauf vorhanden, dessen beträchtliche Wasser- menge nur durch weiteren Zufluß von unten, aus dem Geröll des Bettes heraus, erklärt werden kann. Die Unterlage des Flußbettes wird etwa vom Stuiben- fall abwärts aus Hauptdolomit (alpiner Keuper) gebildet, der ja an und für sich der Verkarstung zu- gänglich wäre. Allein es dürfte sich hier doch wohl nur um ein Versickern in dem mächtig aufgehäuften GeröUe des Bettes handeln, das be- sonders unterhalb der Brücke über den Oybach in solcher Höhe liegt, daß der Bach in seiner Tiefe vollkommen versinkt, um dann schließlich an seinem Fuße wieder auszutreten. Offenbar verschieben sich Versicker- und Wiederaustritts- stelle gegeneinander entsprechend der Jahreszeit und Niederschlagsmenge; sie rücken in der trocke- nen Periode auseinander, in der feuchten zusam- men, wobei eine Einwirkung seitens des Grund- wasserspiegels freilich wahrscheinlich ist. Ein ähnliches Vorkommen findet sich im Leitzachtal zwischen Bayerisch Zell und Landl. Im Sommer verschwindet die Leitzach auf eine Strecke von etwa 4 — 5 km im Geröll des Bettes; auch die Stockerseen sind zu dieser Zeit vertrocknet.*) Die hier behandelten Erscheinungen stellen nur einen kleinen Ausschnitt aus dem an merk- würdigen und schwer erklärbaren Phänomenen so reichen Gebiete der Karsthydrographie dar.^) Immerhin mögen sie gezeigt haben, welche haupt- sächlichsten Theorien sich um dieses Thema grup- pieren und wie reizvoll die Lösung der betreffen- den strittigen Fragen ist. Können wir hierbei doch anregende Wanderungen durch die ver- schiedensten Gebiete unseres deutschen Vater- landes antreten, die außer der wissenschaftlichen Erkenntnis auch sonst genug Wertvolles dem bieten, welcher Auge, Ohr und Empfindung hier- für mitbringt. ') Während ich .diese Zeilen in Druck gab , sind vom Verein für Höhlenkunde in Österreich Nachrichten über die Erforschung einer Riesen-Eishöhle im Täuengebirge bei Salz- burg eingelaufen. Man konnte dort einen durchschnittlich zo m hohen und 30 m breiten Stollen in 2,5 km Länge bis zu einem Deckeneinbruch verfolgen. Auch hier haben wir wohl das Bett eines ehemaligen riesigen unterirdischen Flusses vor uns. ^) Vgl. hierzu die demnächst erscheinende zusammen- fassende Arbeit: H. Lindner, Kritische Erörterung der älte- ren und neueren Hypothesen über die Karsthydrographie. Einzelberichte. Geographie. Strömungen an der Süd- und Ost- küste des baltischen Meeres untersucht R. Brück- mann in den „Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde", 22. Bd., Heft I (1919). Die Er- forschung der Strömungsverhältnisse an unserer Küste ist von großer wirtschaftlicher und geo- graphisch-geologischer Bedeutung. Es liegt bis jetzt wenig Beobachtungsmaterial vor und der Ver- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 8 fasser hat in seinen Windtabellen 55000 Notie- rungen benutzt, um die für seine Forschungen nötigen Summen der westlichen Winde in Pro- zenten zu erhalten. Sie betrug im Jahre 1909 43,4 "/o, 1910 40,1 %, 191 1 44,1 "/o. I9>2 46,3 %. 191 3 47,6 "!„. Das ergibt als Jahresdurchschnitt für westliche Winde 45,1 "/„. Um die Strömungs- richtung der Küstenoberflächenströme festzulegen, bediente Verf. sich der Flaschenposten. Er setzte im Herbst 191 2 und Frühjahr 1913 zusammen 116 Flaschen an zehn Stellen zwischen Colberg und Cranz und der Südspitze bei Memel aus. 57,8 "/o der ausgesetzten Flaschen erhielt er zu- rück. Ganz unterschiedlich sind die Zeiten und Räume, die von den Flaschen gebraucht und durchschwömmen wurden. Eine bei Colberg ausgesetzte Flasche braucht bis nach Niederbartau in Kurland 115 Tage (500 km), während bei Stolpmünde eine dort dem Wasser übergebene Flasche nach 10 Tagen erst aufgefunden wurde, ohne daß sie sich von ihrem Aussetzungsort ent- fernt hätte. Vier der Haschen schwammen nach Ösel (430 — 450 km). Dazu brauchten sie einzeln 33-55 Tage. 90 " (I alier aufgefundenen Flaschen sind nach Norden und Osten getrieben worden. Dieses Ergebnis berechtigt zu der Annahme, daß der Küstenstrom vorherrschend nach Osten ge- richtet ist. Und da an der pommerschen, west- und ostpreußischen Küste durchschnittlich jährlich 45,1 "/o westliche Winde wehen, müssen sie die Ursache der Strom Versetzung sein. Nach Brück- mann „fließen die Wassermassen, den herrschen- den Westwinden folgend, nach Osten, werden zuweilen durch starke Winde aus entgegengesetzter Richtung aufgehalten und aus ihrer Bahn gedrängt, folgen aber wieder ihrem gewöhnlichen Lauf, sobald die Stärke der entgegengesetzten Winde nachläßt. Sonach können wir mit Fug und Recht von einem samländischen Küstenstrom sprechen, der dauernd an der Küste entlang zieht". Die vom Verf. angestellten Strommessungen ergeben ähnliche Beobachtungen wie die, welche man schon kannte. Die gefundene Durchschnitts- ziffer ist 13,5 cm/sec. Die Neben- oder Meerströrne sind in diesem Beobachtungsgebiet noch unbekannt. Aus der Versandung des Hafens von Neukuhren schließt Brückmann, daß sich an der Vanger Spitze ein Nebenstrom vom Hauptstrom abzweigt, der die abgeschlossene Bucht mit Sand erfüllt. Weiter vermutet er solche Seenströme an der Brüster- orter Spitze am Werke. Geinitz hat berechnet, daß der Landverlust an der mecklenburgischen Küste (210 km) 300000 cbm beträgt. Nach des Verf. Unter- suchungen macht er an der 70 km langen sam- ländischen Küste I Million cbm aus. Das sind Sandmassen, die der See als Opfer gewährt wer- den. Dazu kommen die Schwemmstoffe einmün- dender Gewässer. Brückmann zeigt, daß inner- halb der 10 m-Linie die Ansammlung der Sand- massen vor sich geht. Die nach dem östlichen Teil der Ostsee getragenen Sandmassen werden an drei Stellen von Danzig bis zum Rigaischen Meerbusen abgelagert. Die erste beginnt hinter Großbruch südlich von Pillau und reicht fast bis Brüsterort. Die zweite Stelle liegt auf der brei- testen Stelle der Kuhrischen Nehrung, bei Rossitten. Die Sandbankbildung innerhalb der 40 m-Linie läßt den Verf. den Schluß tun, daß es nicht außerhalb der Möglichkeit liegt, „daß starke Winde das Ostseewasser in den meisten Teilen bis zum Grunde bewegen." Rudolf Hundt. Geologie. Über Erdbrände gibt F. Herrmann in den Monatsberichten d. deutschen Geol. Gesell- schaft (1919) eine zusammenfassende Darstellung dieser Erscheinung, die auf Selbstentzündung von Stein- und Braunkohlen, von bituminösen Schiefern entweder auf künstlicher (Bergbau) oder natürlicher Ursache beruht. Schwefelkiesreiche Dictyonemaschiefer Estlands gerieten 1908 durch Selbstentzündung in Brand, dadurch wird bewiesen , daß nicht allein Kohlen diese Erdbrände entstehen lassen können. Ob künstliche oder natürliche Entstehung vorliegt, das hat keinen Einfluß auf die dabei entstehen- den Mineralneubildungen. Bei Dudweiler ist ein durch Bergbau entstan- dener Erdbrand zu verzeichnen, bei dem das Aus- gehende des Blücherflözes brennt. Bei Planitz in Sachsen kennt man, wohl durch gleiche Ursachen hervorgerufen, einen Erdbrand seit dem 15. Jahr- hundert. Der Porzellanjaspis von GroßAlmerode ist eine Erdbrandbildung alluvialen Alters. Bei Zittau sind mehrere Berge aus solchem Porzellan- jaspis aufgebaut, die man ebenfalls für solche Erdbrandgesteine hält. In Oberschlesien sind an vorhistorischen Erdbränden die bei Hindenburg und Kattowitz bekannt. Das nordwestböhmische Braunkohlengebiet ist das größte Erdbrandgebiet Mitteleuropas. Die Brände stammen schon aus dem Diluvium und Herrmann rechnet auch die Erscheinungen bei Zittau in diese Zeit hinein. Herrmann beobachtete in Kohlengruben Serbiens ausgedehnte Erdbrandspuren, die an Kohlen aus der Kreide und aus dem Tertiär häufig waren. Als Gründe der Selbstentzündung läßt er gelten : Hoher Schwefelkiesgehalt, gestörte Lagerung, Klima (Wechsel von Regen und erheb- licher Erwärmung). Die bituminösen tertiären Schiefer und Kohlen von Aleksinac sind an der Hand der Brandspuren zu verfolgen. Bei Vina sind die Kohlen der Kreide auf 500 — lOOO m hin verbrannt. Sie veränderten die anliegenden Gesteine nicht nur, sondern verkokten sogar die Nachbarkohle. An den jungtertiären Braunkohlen (Ligniten) des Kostalacer Höhenrückens finden sich Erdbrandspuren in den überlagernden Tonen, die fast ziegelartig geworden sind. Nach Herr- mann entstanden hier die Erdbrände zwischen dem jüngeren Diluvium und der Ablagerung der Belvedereschollens ohne Zutun des Menschen. Die Erdbrände sind geologisch selbständige N. F. XIX. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 123 Bildungen. Sie kommen überall da zustande, wo stark bituminöse oder kausiobiolithische Gesteine der Einwirkung der Atmosphäre ausgesetzt sind, ehe Verwitterungsdecken die Schichten überlagern. In Sachsen und Böhmen gewinnen die Erdbrand- gesteine geologisch- morphologische Bedeutung, in Serbien dienten sie zur Aufsuchung und Verfolgung von Kohlenflözen. Die Erdbranderscheinung findet sich nicht nur in den obengenannten Gebieten. Sie ist auch aus Frankreich, England, Rumänien, Grönland und Amerika bekannt. Rudolf Hundt. Mit „Endmoränen in Niederschlesien" macht uns K. Keil hack im Jahrb. d. Preuß. Geol. Landesanstalt (Bd. XXXIX, Teil i, Heft i) be- kannt, die bis jetzt unbekannt waren. Zur süd- lichsten, äußersten Randlage der letzten Inlandeis- lage rechnet Keil hack folgenden Endmoränen- zug; Christianstadt am Bober über Freystadt, Neustädtel, Queritz, Raudten bei Koben zur Oder. Rechts der Oder sind die Fortsetzungen vielleicht auf den Meßtischblättern Gimmel und Guhrau zu suchen. Die Militscher Endmoräne gehört wohl auch daher. Dieser Endmoränenzug bildet nach der Anschauung Keilhacks die Portsetzung des Endmoränenzuges des Fläming und des Nieder- lausitzer Grenzwalls. Zwischen Chistianstadt und Freystadt besteht diese Endmoräne aus steilen Blockwällen. Norddeutschland hat im Bereich der letzten Vereisung nur zwei durchgehende Endmoränenzüge mit Blockpackungen aufzuweisen : die baltische Endmoräne im Norden und die Fläming Endmoräne im Süden. Keil hack unterscheidet westlich der Oder sieben Endm.oränenzüge der vorletzten Eiszeit. 1. Sprottau — Primkenau — Kotzenau — Lerchen- born— Polkwitz — Thiemendorf. 2. Liegnitz— Neumarkt— (?) Deutsch-Lissa. 3. Hermannsdorf — Jauer — Gütschdorf. 4. Striegau— Königszell — Schmellwitz — Klein- Bielau — Zobten. 5. Freiburg — Schweidnitz — Gröditz — Taupadel. 6. Reichenbach — Bertholdsdorf 7. Ein von Olbricht bekannt gegebener, aber nicht näher dargestellter Endmoränen- zug in der Richtung von Brieg auf Münster- berg. Nicht in den Verlauf dieser sieben Züge lassen sich einschalten 8. die Endmoränen zwischen Bolkenhain und Steinau, 9. die von Falkenhein — Hockenau — Gröditzberg — Kaiserswaldau. Rudolf Hundt. Die Ostgrenze der norwegischen Diluvial- geschiebe in Norddeutschland legt J. Korn in seiner gleichnamigen Arbeit im Jahrb. d. Preuß. Geol. Landesanstalt (Bd. XXXIX, Teil i, Heft i) von neuem fest. Schon früher sind von Peter- sen dazu Beobachtungen veröffentlicht worden. Er zieht die Ostgrenze der aus dem Kristiania- gebiet stammenden Geschiebe an der Ostgrenze Mecklenburgs entlang, die in ihrer Verlängerung Dresden berühren würde. Milthers zieht diese Ostgrenze der Kristianiageschiebe weiter westlich. Sie schneidet den Zusammenfluß von Saale und Elster westlich von Leipzig. Nach in der Mark Brandenburg gefundenen Rhombenporphyren ist die Grenze von Korn weiter nach Osten verlegt worden. Solche Geschiebe fanden sich im Osten bei Berlin Westend, Fürstenwalde a. d. Spree, bei Nicken nördlich von Züllichau und ganz im Süden bei Teutschenthal unweit von Halle. Laurvikite aus dem Kristianiagebiet fanden sich bei Fürsten- walde a. d. Spree und Tönsbergit bei Senftenberg. Eläolithsyenite, Glimmersyenite rücken die Grenze ebenfalls weiter nach Osten. So legt Korn die Grenze nun so fest: Rostock, Neu Strelitz, Süd- rand des Oder - Warthe - Bruches, nördlich von Zinke, östlich von Seh wiebus Züllichau. Vielleicht hat ein norwegischer Gletscher von der Eibbucht her nach Südosten, einen Vorstoß unternommen. Vielleicht aber hat das Inlandeis beim Vorwärts- dringen die vorhanden gewesenen norwegischen Geschiebe Pommerns und Ostmecklenburgs so weit fortgeschoben, daß jetzt nichts mehr vor- handen ist. Rudolf Hundt. Über Phosphatvorkommen in Westpreußen faßt A. Jentzsch seine Untersuchungen, die sich über Jahrzehnte erstrecken , im Jahrb. d. Preuß. Geol. Landesanstalt (Bd. XXXIX, Teil i, Heft i) zusammen. Die Phosphatknollen kommen in der Oberen Kreide und den marinen Grünsanden und Grünerden des Unteroligozäns vor, gehäuft an den Schichtengrenzen zwischen Kreide und Unter- oligozän. Schon Berendt wies auf eine Ver- breitung zwischen Grodno in Litauen und Born- holm hin. Das Miozän ist frei von Phosphat- knollen. Mehrere Horizonte im Oligozän und in der Kreide weisen diese Phosphate auf In Pommern enthält der Gault bei Greifswald schon diese Knollen. 1897 erbohrte man den ältesten phosphatreichen Horizont der ostpreußischen Kreide bei Tilsit. Die Bank, in der so reichlich Phosphate lagern, liegt mehr als 100 m unter den samländischen Mucronatenbänken. Die Tiefe ver- bietet einen Abbau. Bei Grodno kennt man zwei Fundorte für Phosphate in der Mucronatenkreide. Ost- und Westpreußens . Bohrlöcher haben das Vorkommen von Phosphaten in den obersten Schichten der Kreide verraten. Auch als Ge- schiebe (cenomane Sandsteine und „harte Kreide") finden sich kleine Konkretionen von Phosphoriten. Die oligozänen Phosphatknollen zeigen sich da gehäuft, wo das Oligozän das Mindestmaß seiner Mächtigkeit erreicht. Von Danzig bis Dirschau ist das gesamte P'undgebiet der Phosphate in dünnen Bänken des Oligozäns verbreitet. Dieses 700 qkm große Gebiet weist phosphorithaltige Bänke von 0,5 — i m Mächtigkeit auf Auf einen 124 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 8 Quadratkilometer rechnet Jentzsch lOO kg Phosphoritknollen. Das ergäbe für das gesamte westpreiißische Phosphoritgebiet mit Ausnahme der unaufgeschlossenen Gebiete "jo Millionen Tonnen Phosphorite. Sie können aber leider nicht abgebaut werden, da sie 70 m unter dem Meeresspiegel liegen und von wasserhaltigen Schichten des Alluviums, Diluviums und Miozäns überlagert werden. Nun können aber solche phosphoritführende Schollen auch mitten im Di- luvium vorkommen. (Strinitten in Ostpreußen, westlich der Eisenbahn Dirschau ■ Danzig.) In der Umgebung von Danzig gibt es solche Schollen bei Nenkau und Schüddelkau. Zum Abbau nach vorherigen Schürfversuchen empfiehlt Jentzsch eine Schollengruppe bei Preust und Sobbowitz. Die Knollen enthalten im Mittel von acht Analysen 25,60 % Phosphorsäure. Für unsere Landwirtschaft besteht ein Bedarf für Phosphor. Und Jentzsch empfiehlt einen Abbau im Klempin- Uhlkauer-, Kladauer- und Kleschkauer-Gebiet. Rudolf Hundt. Zoologie. Der Münchener Ophthalmologe C. Heß hat sich bekanntlich mit Eifer bemüht, die biologische Bedeutung der Färbung des leben- den Tiers zu ermitteln, um die Richtigkeit seiner auf Beobachtungen fußenden Ergebnisse experi- mentell nachzuprüfen. Er vertritt die Auffassung, daß alle wirbellosen Tiere und von den Wirbel- tieren die im Wasser lebenden, also auch die Fische total farbenblind sind. Auch in seiner neuesten Arbeit über Gesichts- feld, Silberglanz und Sehqualitäten der Fische und über die Lichtverteilung im Wasser (Zeitschr. f. Biologie, Bd. 70, 1919) vertritt er nachdrücklich diesen Standpunkt. In seiner Zusammenfassung sagt H. : „Das unokulare Gesichtsfeld der Fische zeigt nach allen Richtungen beträchtlich größere Aus- dehnung als das des Menschen. Es erstreckt sich in der Horizontalen wie in der Vertikalen über 180° oder noch etwas mehr. Damit erledigt sich die von zoologischer Seite vertretene Annahme, die Fische sähen die Wasseroberfläche nur unter einem Winkel, bei dem die Erscheinung der To- talreflexion auftritt, hätten also nach oben hin ein sehr eingeschränktes Gesichtsfeld. Das Zustandekommen eines so ausgedehnten Gesichtsfeldes wird durch das Zusammenwirken dreier Faktoren ermöglicht. Vortreten eines Seg- mentes der kugeligen Linse durch die Pupille in die vordere Kammer. Vorrücken der Netzhaut bis dicht an die Iriswurzel, an einen angenähert senkrecht unter bzw. über der Linsenmitte ge- legenen Punkt des Auges. Starke Zunahme des Brechungsindex von der Rinde zum Kern der Linse. Damit ist auch die Erklärung für die charakte- ristische Verschiedenheit der Form des Fischauges von jener der übrigen Wirbeltieraugen gefunden. Diese Umstände ermöglichen unter anderem auch, daß die F'ische nicht nur gerade nach vorn, vor der Schnauze, sondern auch angenähert senkrecht über ihren Kopien in einigem Abstände befind- liche Gegenstände binokular wahrnehmen können. Im Gegensatz zu den Lufttieren finden wir bei vielen Fischen die Körperoberfläche gleich- zeitig in zwei verschiedenen Weisen der Umge- bung angepaßt; einmal die Anpassung an den Untergrund zum Schutze gegen von oben kom- mende, dann die Anpassung an das helle Himmels- licht zum Schutze gegen von unten blickende Gegner. Die Anpassung an das direkte Himmels- licht, die wir nur bei Wassertieren finden, erfolgt bei Fischen durch Entwicklung des Silberglanzes an den Flanken ; nur durch eine solche spiegelnde Vorrichtung kann die Körperoberfläche für ein im Wasser von unten blickendes Auge dem hellen Himmelslichte einigermaßen ähnlich werden. Die ' von zoologischer Seite vertretene Annahme, nach welcher der Silberglanz der Fische eine Anpassung an die aus der Tiefe kommenden und an der Wasseroberfläche total reflektierten Strahlen sein sollte, ist unhaltbar. Die Annahme, daß ein im Wasser schweben- der Organismus Licht von allen Seiten, auch von unten her, in ungefähr gleicher Stärke erhalte, läßt sich mit Hilfe der von mir angegebenen photometrischen Methoden leicht widerlegen; die einschlägigen Fragen können damit leicht auch messend verfolgt werden. Es werden neue Me- thoden beschrieben, um den Einfluß der Wasser- farbe auf die bunten Färbungen der Wassertiere zu zeigen; sie lehren die Irrigkeit der physikali- schen Voraussetzungen, auf welche sich die herr- schende Lehre von der Bedeutung der bimten Farben der Fische gründet. Der Lichtsinn bei Süßwasserfischen wird teils mit einer besonders einfachen Vorrichtung zur Benutzung farbiger Papierflächen, teils mit Hilfe der von mir entwickelten pupilloskopischen Me- thoden erneuter messender Untersuchung unter- zogen, es läßt sich so, durch Bezugnahme auf die pupillomotorischen Werte der betreffenden farbigen Reizlichter für das Menschenauge, auch auf diesem Wege die totale Farbenblindheit der F'ische, und zwar objektiv nachweisen und insbesondere auch das Fehlen eines Purkinj eschen Phänomens fest- stellen." Zunächst bespricht H. das Gesichtsfeld der Fische. „Die große Bedeutung eines möglichst großen Gesichtsfelds für die Tiere spricht sich in mannigfachen Einrichtungen aus. So ist z. B. bei Chamäleon das Auge, welches größtenteils durch das kreisförmige Augenlid bedeckt wird, außer- ordentlich beweglich. Das der Nachtraubvögel ist besonders groß und die Augenkeile des zusammen- gesetzten Auges der Gliederfüßler bildet einen Kugelabschnitt, wodurch ein möglichst großes Ge- sichtsfeld beherrscht wird; bei den Krebsen mit beweglichen Stielaugen wird es noch weiter ver- größert. N. F. XIX. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 125 Bei den Fischen liegen die Verhältnisse zu- nächst weniger übersichtlich. Der Kopf ist hier fast unbeweglich, und auch die Augen zeigen bei manchen Arten nur eine verhältnismäßig geringe Beweglichkeit; außerdem fällt die Brechung der Strahlen an der Hornhaut unter Wasser so gut wie vollständig weg, so daß wohl der Anschein entstehen kann, als hätten die Fische nur ein sehr beschränktes Gesichtsfeld. In der Tat wird in der Zoologie angenommen, letzteres sei für Fische nach oben hin so sehr eingeschränkt, daß sie die Wasseroberfläche nur in einem Winkel sähen, bei dem die Erscheinung der Totalreflexion eintritt. Dieser Grenzwinkel der totalen Reflexion beträgt für Luft und Süßwasser 48", 47"; der Fisch soll also nach jener Annahme die Wasseroberfläche im allgemeinen nur unter einem Winkel von mehr als 48" sehen, die über seinem Kopfe befindliche Wassermasse wäre bei normaler Stellung des Fisches in einer Ausdehnung von über 97" für ihn unsichtbar." Durch Untersuchungen mit dem Augenspiegel in der Dunkelkammer ermittelte er, daß bei un- veränderter Stellung Licht von oben in einer Ent- fernung von 50 cm gleichzeitig die Netzhaut beider Augen triffst, und daß binokulares Sehen nach oben bis etwa '/., m möglich ist. Auch für von unten und von hinten her einfallende Licht- strahlen in dasselbe gilt Entsprechendes, so daß das Gesichtsfeld bei senkrechter Stellung des Auges ca. 180" beherrscht. Dem entsprachen mit lebenden Fischen angestellte Versuche. Jedenfalls meint H., daß entgegen der bisherigen irrigen Annahme das Gesichtsfeld der Fische viel größer sei, als jenes des Menschen. Für letzteres erstreckt sich das unokulare Ge- sichtsfeld von der Augenachse nach außen um ca. 90", nach innen um ca. 50", nach oben um ca. 40", nach unten um ca. 65"; für das Fischauge aber erstreckt es sich von der gerade nach außen verlaufend gedachten Augenachse um mehr als 90", nach vorn und nach oben, um nahezu 90" nach unten und um jedenfalls nicht viel weniger als 90" nach rückwärts. Während beim Menschen der vordere Scheitel- punkt der Linse annähernd in der Pupillenebene liegt, ragt er beim Fischauge mehr oder weniger weit in die vordere Augenkammer hervor, woraus gleichfalls eine erhebliche Vergrößerung des Ge- sichtsfelds sich ergibt. Außerdem ist der Brechungs- index der Linse des Fischauges viel größer als beim Menschen; der Index der Kernmitte beim Menschen beträgt nämlich =1,41 bis 1,42 gegen- über 1,51 bei den Fischen. Dazu kommt weiter, daß der lichtempfindliche Teil der Netzhaut viel weiter nach vorn, nämlich bis zum Ursprung der Iris reicht, während er beim Menschen schon nach vorn etwa in einer Ebene aufhört, welche mit dem Äquator der Linse zusammenfällt. Die Vergrößerung des Gesichtsfeldes bei den Fischen wird also durch drei Faktoren bewirkt, einmal das Vortreten der Linse aus der Pupillenebene, 2. die starke Zunahme des Brechungsindex von der Rinde nach dem Kerne der Fischlinse, 3. das Vorrücken der Netzhaut bis zu einer angenähert senkrecht unter bzw. über der Linsenmitte ge- legenen Stelle der Augenwand. Aus dem Ge- sagten erklärt sich die Formverschiedenheit des Fischauges und des Auges von in der Luft sehen- den Wirbeltieren. Der Silberglanz auf Bauch und Flanken ist als eine Schutzfärbung aufzufassen. Die in der Luft lebenden Tiere sind Feinden ausgesetzt, welche sie von oben erspähen. So sind die Bewohner des Nordens größtenteils weiß, wie schneebedeckte Erde, die Tiere der Wüste sandfarbig, usw. Meistens ist die Rückenseite der Umgebung angepaßt gefärbt, die der Erde zuge- kehrte Unterseite weiß. Bei Fischen liegen die Verhältnisse ganz anders, sie sind Angriffen aus- gesetzt, die gewöhnlich von Feinden ausgehen, welche sie von unten oder von der Seite her wahrnehmen, während eine Übereinstimmung in der Färbung mit jener des Himmels für sie als Schutzfärbung in Betracht kommt. Derselbe Glanz ihres Körpers bedingt eine solche durch Zurück- werfen des vom Grund des Gewässers reflektierten Himmelslichts. Die Grundfische, etwa die breit- gedrückte Scholle, bedürfen als Schutzfärbung nur die dunklere Farbe der Rückenseite, während die helle Bauchseite dem Grund zugekehrt ist; ein freischwebender Fisch dagegen hat als Hinter- grund den hellen Himmel. Nur die Grundfische kehren ihrem von oben kommenden Feinde die mit dem Grund übereinstimmend gefärbte Rücken- seite zu. Bei den in der Luft lebenden Tieren findet sich Entsprechendes nur bei den schweben- den Insekten mit durchsichtigen glashellen Flügeln und ihr wiederum entsprechen im Wasser flot- tierende Tiere wie die Flügelschnecken. Daß auch die Flanken der Fische spiegelglänzend sind, statt einfach weiß, ist gleichfalls unter dem Gesichts- punkt der Schutzfärbung zu verstehen. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie groß der Unterschied zwischen der Helligkeit des direkten Himmelslichts und jener einer hell- beleuchteten weißen Fläche ist, stelle man z. B. einen ebenen Spiegel in der Nähe des Fensters horizontal so auf, daß sich der helle Himmel in ihm spiegelt. Daneben lege man eine mattweiße Fläche, z. B. einen weißen Karton so, daß für den von oben blickenden Beschauer Karton und gespiegelte Himmelsfläche unmittelbar aneinander grenzen. Der weiße Karton erscheint jetzt neben dem hellweiß erscheinenden Himmelslichte grau und sehr viel weniger hell als letzteres. Wären also die Flanken eines Fisches nur weiß, aber nicht spiegelnd, so müßten sie einem anderen, von unten blickenden Fische auf dem hellen Grunde des Himmels viel dunkler als dieser erscheinen und dementsprechend leicht sichtbar werden." Heß führt im Zusammenhang damit die F"est- stellung an, welche er am Auge gewisser pela- gischer Ringelwürmer, der Alciopiden, gemacht hat. „Letztere sind lebhaft schwimmende, fast glas- 126 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 8 klare, etwa lo bis 20 cm lange marine Würmer, an welchen, abgesehen von sehr kleinen Pünkt- chen an den Seiten der einzelnen Körpersegmente, nur die durchschnittlich ungefähr i mm großen, hochentwickelten, angenähert kugeligen Augen durch größeren Pigmentreichtum auffällig sichtbar sind. An diesen fand ich nun die im allgemeinen nach vorn unten außen gerichtete Vorderfläche von vielen feinen silberglänzenden Streifen über- zogen, während die nach oben und hinten oben gerichteten Teile der Augenoberfläche tief dunkel erscheine, da hier die durchsichtige Augenhülle das braune Pigment des Augeninnern durchschim- mern läßt. Jene Silberstreifen wurden von zoolo- gischer Seite für Muskeln gehalten; die Irrigkeit dieser Annahme konnte ich durch elektrische Reizung des lebenden bzw. überlebenden Auges dartun: Die Streifen zeigen keine Spur von Kon- traktilität, während ich an der Unterseite des Auges eine kleine Ausbuchtung der weichen Augen- hülle von Muskelfasern überzogen fand, deren Zu- sammenziehung bei elektrischer Reizung vermittels des von mir aufgedeckten Mechanismus die Nahe- akkommodation durch Vorrücken der Linse her- beiführt." Kathariner. Meteorologie. Wird ein Gas so ausgedehnt, daß es dabei weder Wärme aufnehmen noch ab- geben kann, so wird diese adiabatische Zustands- änderung von dem Poisson sehen Gesetz be- herrscht, das wir für die Betrachtung der atmo- sphärischen Bewegung zweckmäßig in die Form kleiden : -pk . pk-i := Const, wo T die absolute Temperatur, p der Druck und k = '' das Verhältnis der spezifischen Wärmen des Gases bei konstantem Druck und konstantem Volumen (für Luft also etwa = 1,4) bezeichnen. Bewegt sich also z. B. in der Atmosphäre eine Luftmasse aufwärts, so nimmt wegen der Druck- verminderung auch die Temperatur ab, und zwar bei trockener Luft auf je 100 m etwa um i" C. Besteht nun in der Atmosphäre bereits ein Tem- peraturgradient nach der Höhe von — i " auf 100 m, so wird die gedachte Luftmasse in jeder Höhe sich mit ihrer Umgebung im Gleichgewicht be- finden. Ist der herrschende Temperaturgradient aber geringer, z. B. — 0,5" pro 100 m, so wird die emporgehobene Luft kälter, also auch spezi- fisch schwerer sein als ihre Umgebung. Sie wird mithin versuchen, in die ursprüngliche Lage zurück- zusinken. Die Schichtung der Atmosphäre ist in diesem Falle also stabil, während im ersten Fall indifferentes Gleichgewicht herrschte. Beträgt der Temperaturgradient aber etwa — 1,5" auf 100 m, so wird die bewegte Luftmasse nach einem Aufstieg von 100 m um 0,5" wärmer, demnach leichter sein als die Umgebung. Sie wird nun von selbst weiter und weiter steigen. Die Lage- rung der Atmosphäre ist jetzt labil. Können solche labilen Schichtungen überhaupt auftreten ? Zweifellos ! Jedem örtlichen Sommer- gewitter geht eine Überhitzung der untersten Luftschichten infolge der starken Einstrahlung voran, die einen überadiabatischen Temperatur- gradienten erzeugt. Der Umsturz der Luftmassen zur Einstellung des stabilen Gleichgewichts ruft dann das Gewitter hervor. Aber nicht nur vor- übergehend treten solche labilen Luftschichtungen auf, wie B. Wiese') und C. Forch-j gezeigt haben. Sie können auch längere Zeit über großen Flächen bestehen. Besonders im Hinblick auf die Beobachtungen des letztgenannten Autors, die in der ungarischen Tiefebene gemacht wurden, sind nun von F. M. Exner (Met. Zeitschr. 36, 249, 1919) Untersuchungen über die Gründe für das Anhalten solcher labilen Zustände unternommen worden. Nach den Ergebnissen der Drachen- aufstiege in Szent Andras bei Temesvar in den Jahren 1916 und 191 7 beträgt dort während der warmen Jahreszeit die Temperaturabnahme in den untersten 500 bis looo m der Atmosphäre nor- malerweise des Nachmittags im Mittel 1,3 bis 1,5* auf 100 m. Der adiabatische Temperaturgang ist also erheblich überschritten. Warum findet trotz- dem kein Umsturz in der Atmosphäre statt f Für die Erklärung ist von Wichtigkeit, daß solche labilen Zustände fast regelmäßig dort beobachtet werden, wo die Sonne ausgedehnte wasserlose Ebenen erhitzen kann. Hier fehlt dann das große auslösende Moment für die Wiedereinstellung des stabilen Gleichgewichts. Im bergigen Gelände dagegen können die längs der Erhebungen auf- steigenden Luftströme den Umsturz der Atmo- sphäre einleiten. In der Tat deuten die Beobach- tungen darauf hin, daß große Böen und Gewitter immer vom Rande des Gebietes mit labiler Schichtung ausgehen, dort, wo die Isobaren in der freien Atmosphäre eine erhebliche Neigung gegen die Horizontale zeigen. Über der ausge- dehnten Ebene werden aber die Isobarenflächen überall gleichmäßig gehoben sein. Für längere Zeit könnte sich nun aber doch ein labiles Gleichgewicht statisch nicht erhalten. Es muß deshalb wohl zurückzuführen sein auf einen stationären Bewegungszustand. Dies ist in der Tat möglich. Betrachtet man nämlich in der Nähe des Bodens ein aus der Gleichgewichtslage gebrachtes Teilchen der überadiabatischen Atmo- sphäre, so ergeben die dynamischen Grund- gleichungen, daß seine Beschleunigung anfangs außerordentlich klein ist und erst ganz allmählich zunimmt. So würde ein Teilchen, das durch einen Windstoß etwa um lO m in die Höhe ge- führt worden ist, von dort im Laufe der ersten Minute nur etwa i bis 2 m weiter steigen. Diese langsame Bewegung wird aber sicher nun nicht adiabatisch vor sich gehen, sondern es wird ein Temperaturaustausch zwischen dem aufsteigenden ') H. Wiese, Met. Zeitschr. SC, 22, 1919. *) C. Forch, Met. Zeitschr 36, 197, 1919. N. F. XIX. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 127 Luftvolumen und der Umgebung stattfinden. Andererseits wird die als Ersatz von oben herab- gesunkene kältere Luft Gelegenheit gehabt haben, sich an dem überhitzten Boden zu erwärmen. So wird auf diese Weise der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt, ehe noch eine wesentliche Be- wegung zur Ausbildung gekommen ist. Diese Betrachtung gilt natürlich nur, wenn die Vertikal- konvektion in kleinen Luftmengen vor sich geht, die einen raschen Temperaturausgleich zulassen ; man denke etwa an die Luftschlieren über einer erhitzten Wiese. In diesem Falle kann sich also die labile Temperaturschichtung als Folge einer stationären Bewegung erhalten. Sind dagegen an einer Berglehne erst einmal größere Luftmassen in Bewegung geraten, so ist diese nicht mehr aufzuhalten und die Umschichtung der Luft geht vollständig vor sich. Scholich. Bücherbesprechungen. Schaxel, Julius, Grundzüge der Theorien- bildung in der Biologie. 221 Seiten. Jena 1919, Verlag von G. Fischer. — Preis geh. 10 M. Die gegenwärtige Biologie befindet sich nach Schaxel in einer „Krisis". Dem Biologen ist nicht wie dem Physiker oder Chemiker die Mög- lichkeit gegeben, die Ergebnisse seiner Wissen- schaft systematisch zu ordnen, es fehlt der Bio- logie die Methode. Eine allgemeine und eine theoretische Biologie gibt es nicht, wir haben eine unüberbiickbare und unbefriedigende Vieldeutig- keit und Ungleichartigkeit biologischer Theorien vor uns. Diese Heterogeneität biologischer Pro- bleme und Theorien zu beleuchten, ist Zweck der vorliegenden Schrift, der Verfasser will einen Überblick geben über die bunte Mannigfaltigkeit der Lehren. Dabei begnügt er sich mit einer kurzen Charakterisierung der wichtigsten biologi- schen Theorien und ihrer geschichtlichen Bildung. Er strebt keine Vollständigkeit an , vielfach be- schränkt er sich auf kurze Hinweise, er will nur anregen und weitere, eingehendere, kritisch-histo- rische Arbeiten vorbereiten. „Den Erörterungen", heißt es im Vorwort, „liegt jede Bewertung fern. Sie sind lediglich Feststellungen, die leidenschafts- losem Prüfen entspringen. Nicht persönliche Über- zeugungen sollen zur Geltung gebracht, sondern ein gegenseitiges Abwägen der herrschenden Gedankengebilde versucht werden. Die Kritik beschränkt sich auf die Hervorhebung in den Lehren selbst liegender Unstimmigkeiten." Das bedeutet indessen nicht, daß der Verfasser rein deskriptiv bleibt und auf eine persönliche Stellung- nahme gänzlich verzichtet. Im Gegenteil, gerade die persönliche Behandlung, die Schaxel den Problemen zuteil werden läßt, ist es, die uns das Werk so wertvoll erscheinen läßt. Auch wer in manchem oder gar in vielem andere Anschauun- gen vertritt als der Verfasser, wird den äußerst scharfsinnigen und stets geistreichen Ausfüh- rungen mit Interesse folgen, und man bedauert bisweilen, daß manche Fragen nur sehr apho- ristisch behandelt werden. Der Zweck des Buches, Anregungen zu bieten, wird jedenfalls vollauf erreicht. Freilich kann seine Lektüre nur solchen empfohlen werden, die mit den großen Problemen und Theorien der Biologie bereits ver- traut sind, eine Einführung in das Gebiet ist es nicht. Wer aber nach Vertiefung seines Wissens strebt, der wird das Buch nicht unbefriedigt aus der Hand legen, und von diesem Gesichtspunkte aus möchte man ihm eine weite Verbreitung wünschen. Es würde den Rahmen dieser Besprechung überschreiten, wollten wir auf den reichen Inhalt des Buches im einzelnen eingehen. Eine kurze Charakteristik der einzelnen Kapitel möge ge- nügen. In den ersten fünf Kapiteln werden die Hauptrichtungen der Biologie erörtert: Darwinis- mus, Phylogenie, Entwicklungsmechanik, Physio- logie und Neovitalismus. Beim Darwinismus sieht Schaxel den größten Fehler darin, daß Ur- sachenforschung, Geschichtsbeschreibung und Werturteil unbegründet verbunden sind. Beim weiteren Ausbau der Lehre Darwins traten, insbesondere durch die mit „werbender Verkün- digung" vorgetragenen Lehren Haeckels, phylo- genetische Spekulationen in den Vordergrund, jede theoretische Betrachtung gipfelte in Stammes- geschichte. Das Wesen der Phylogenie wird da- hin zusammengefaßt, daß in ihr die geschichtliche Auffassung der Lebewesen einseitig übertrieben wird, andere Gedanken werden als minder wichtig betrachtet, ja sogar bekämpft. „So viel auch von Entwicklung die Rede ist, vom Leben als be- ständiger Bewegung wird nichts gelehrt", die Entwicklung bleibt „schematische Geschichte ohne eigene Methode und fern vom eigentlichen Leben". Im dritten Kapitel erfährt neben der Entwicklungs- mechanik im engeren Sinne, deren großer Wert für die Biologie in der Einführung des planvollen Experiments in das Gebiet der Formbildung liegt, die Vererbungslehre besondere Berücksichtigung. Gerade die anscheinend in schönster Blüte stehende Vererbungswissenschaft bietet in ihrer gegenwär- tigen Lage nach Schaxel eines der deutlichsten Anzeichen der Krisis dar. Es „stellen sich Widersprüche heraus zu den Theoremen, die Anlaß zu ihrem Betriebe gegeben haben. Sie tritt zu ihren Voraussetzungen in Gegensatz." Darwi- nistische wie lamarckistische Grundgedanken lehnt die „exakte Erblichkeitslehre" ab oder verhält sich doch wenigstens ihnen gegenüber äußerst skeptisch, und einer unserer bedeutendsten Genetiker, Jo- hannsen, kommt zu dem Schluß, daß es eine 128 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 8 zeitgemäße Theorie der Evolution nicht gibt. „So möchte es scheinen", heißt es bei Schaxel weiter, „daß das Denken, das fünfzig Jahre lang große Gebiete der Biologie beherrscht hat, nur eine vorübergehende Episode gewesen ist. Ich sehe in dieser Resignation mehr ein Anzeichen für die gegenwärtige Krisis der Wissenschaft als einen endgültigen Verzicht. Es macht sich eben die Reaktion geltend auf das aller methodologischen Besinnung bare Spekulieren, das man nicht einmal ungehemmt nennen kann, denn es kam aus mannig- fachen Abhängigkeiten nicht heraus." Die in der Zoologie sich mehrenden Bestrebungen, der Phy- siologie einen breileren Raum zu gewähren — den sie in der von morphologischem Denken nie so stark beherrschten Botanik längst einnimmt — , weisen ebenfalls auf die Krisis der Wissenschaft hin. Im Kapitel „Neovitalismus" werden neben den Lehren von der Anpassung hauptsächlich die Lehren Drieschs behandelt, in dem Schaxel „den einzigen Biologen neuester Zeit sieht, der vom Grund aus darstellt, was die Wissenschaft vom Leben und ihr Gegenstand ist". Das sechste Kapitel ist der Betrachtung der verschiedenen Grundauffassungen des Lebens ge- widmet. Schaxel unterscheidet drei wesentliche Grundauffassungen, denen er, um nicht „durch Erinnerung an geläufige Vorstellungen die darge- legte Beurteilung in unerwünschter Weise vorweg- zunehmen", neue Benennungen gibt. Die „ener- getische" Grundauffassung sieht in der lebendigen Welt nur einen Teil der ihr völlig wesensgleichen Gesamtnatur. Sie ist, meint Schaxel, „unab- wendbar an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gelangt". Die „historische" Grundauffassung be- trachtet die Lebewesen als geschichtliche Gebilde, die durch Umbildung allmählich das geworden sind, was sie heute sind. Was Schaxel im zweiten Kapitel bereits über die historische Auf- fassung der Lebewesen gesagt hatte, führt er hier weiter aus. Seine Kritik ist vor allem auf die Unterlassungen dieser Auffassung gerichtet; das Fehlen einer methodischen Begründung hat Zweifel an der Berechtigung und überhaupt der Möglich- keit historischer Biologie laut werden lassen. Nach der „organismischen" Grundauffassung sind die Lebe- wesen Naturdinge besonderer Art. Diese Auf- fassung stellt „der Forschung ein Hemmnis in den Weg, das sie gerne vergißt. Das Wesen des Lebens hat vor aller Forschung durch Intuition aus der Gefühlssphäre des Betrachters Erledigung gefunden." Was den Standpunkt Schaxels selbst anbetrifft, so sagt er an anderer Stelle, er teile die Ansicht von Roux undBarfurth, daß im gegenwärtigen Stadium des Wissens bzw. Nichtwissens keine Partei behaupten dürfe, ihre Auffassung sei die allein richtige, es handele sich hier eben um noch Unbekanntes, Dunkles, das wir erst aufzuhellen haben. Schaxel will, wie bereits einleitend gesagt wurde, sein Werk als eine Anregung und Vor- arbeit zu weiteren kritisch- historischen Studien betrachtet wissen. Inzwischen hat er, wie zum Schluße noch erwähnt sei, für derartige Studien eine besondere Sammelstätte geschaffen in Form der von ihm herausgegebenen „Abhandlungen zur theoretischen Biologie". Nachtsheim. Aus Natur und Geisteswelt. Teubner, Leipzig und Berlin. Nr. 542: V. Tornius, Die Baltischen Provinzen 3. Aufl. 1918. Nr. 614: Sten Konow, Indien 1917. Nr. 700: J. Öhquist, Finnland 1919. Diese drei Bändchen sind von guten Kennern verfaßt und vermitteln wertvolle Kenntnisse über die betr. Länder; bei allen drei Darstellungen ver- mißt man aber eine ordentliche Beschreibung der Landesnatur, und die Forderung moderner Länder- kunde nach ursächlicher Verknüpfung des Wirt- schaftslebens mit den natürlichen Bedingungen hätte hier ein dankbares F~eld der Betätigung ge- habt. Darüber können uns die breiten historischen Darstellungen bei Tornius, die weit über das zum Verständnis der heutigen Verhältnisse Nötige hin- ausgehen, oder die reichlichen wirtschaftlichen Ein- zelheiten bei Öhquist nicht hinweghelfen. Her- vorzuheben ist die rein objektive Auffassung der indischen Verhältnisse, die Sten Konow trotz aller Strömungen des Weltkrieges sich gewahrt hat. Nr. 211 : F. Frech, Allgemeine Geologie. V. Steinkohle, Wüsten u. Klima der Vorzeit 3. Aufl. 1918. Nr. 174: W. Langenbeck, Englands Weltmacht in ihrer Entwicklung vom 17. Jahrhundert bis auf unsere Tage. 3. Aufl. 1919. Unverändert in 3. Auflage erschienen, werden diese beiden ausgezeichneten ßändchenauch weiter- hin einen dankbaren Leserkreis finden. Scheu. Literatur. Le Blanc, Prof. Dr. M. , Lehrbuch der Elektrochemie. 7. verm. Aufl. Mit 33 Abbildga. Leipzig 1920, O. Leiner. 16 M. Vom Altertum zur Gegenwart. Die Kulturzusammenhange in den Hauptepochen und in den Hauptgebieten. Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. 9 M. Flusse und Bäche. (4 Abb.) S. 113. — Einzelberichte: R. Brückmann, Strö- es baltischen Meeres. S. 121. F. Herrmann, Über Erdbrände. S. 122. K. Keil- lulltilt: Hugo Lindner, Unterirdische niungen an der Süd- und Ostküste des l,«....,^«..« .-. ^. ■- . u- i, ■ m ,^ hack, Endmoränen in Niederschlcsien. S. 123. J. Korn, Die Ostgrenze der norwegischen D.luvjalgeschiebe mNord- deulschland. S. 123. A. Jentzsch, Über Phosphalvorkommen in Westpreufien. S. 123. C. Heß Lber Gesichtsfeld, Silberglanz und Sehqualitäten der Fische und über die Lichtverteilung im Wasser. S. 124. F. M. Exner, Labile Lutt- schichtungen. S. 120. - Bücherbesprechungen: Julius Schaxel, Grundzüge der Theorienbildung in der Bio- logie. S. 127. Aus Natur und Gcisteswelt. S. 128. — Literatur: Liste. S. I2S^ Manuskripte und Zuschriften Verden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 29. Februar 1920. Nummer 9. Wilhelm Ostwalds Forschungen zur Farbenlehre. Von Hans Heller. [Nachdruck verboten.] Mit 2 Abbildungen. Die Forschungen W i 1 h e 1 m Ostwalds, von keit des Forschers eine Gefahr: es werden not- denen im folgenden ein Abriß gegeben sein soll, wendigerweise auch solche Gebiete der neuen verdanken im wesentlichen praktischen Bedürf- Lehre dargestellt, deren experimentelle Grund- nissen von Industrie und Gewerbe ihr Dasein, legung noch viel zu wünschen übrig läßt und in Seit langem schon besteht in den Kreisen aller denen somit nicht immer genügend beglaubigte Farbchemiker und -physiker und weiterhin der- Schlüsse und Ergebnisse vorgetragen werden jenigen Leute, die in einer oder anderer Weise müssen. Ganz abgesehen davon, daß schon jetzt, dauernd mit Farben und farbigen Objekten zu tun nach kürzester Zeit, eine an sich natürliche, aber haben, der Wunsch nach einer eindeutigen und leicht verwirrende Entwicklung gewisser An- exakien Bezeichnung der Farben, die frei von den schauungen des Forschers merkbar ist, wofür als bisher gebräuchlichen Willkürlichkeiten wäre und beiläufiges Beispiel die deutsche Benennung für eine rationelle Nomenklatur etwa nach Art des „orange" vermerkt sei, die 1918 als „gold" (VIII, Zentimeter - Gramm - Sekunden - Systems ermög- S. 22)-), 1919 als „kress" erscheint (IX). Nach lichte. Eine solche exakte Farbbenennung diesen mit aller nötigen Bescheidenheit vor der setzt aber offenbar die Notwendigkeit voraus, das, Gesamtleistung gemachten Vorbehalten sei in die was wir „Farbe" nennen, eindeutig definieren und Darstellung eingetreten. zahlenmäßig fassen zu können. Denn Exaktheit, ja Wissenschaft im eigentlichen Sinne beginnt hier erst dann wirksam zu werden, wenn sie sich auf Maß und Zahl beziehen kann, also auf ob- jektiv gefundene und reproduzierbare Daten. Es hat darum nicht an Versuchen recht mannig- faltiger Art gemangelt, Farbtöne zu „messen" und zu bezeichnen.') Nachhaltige Erfolge sind allen in dieser Richtung zielenden praktischen Arbeiten nicht beschieden gewesen, aus Gründen, die sich aus dem Nachstehenden ergeben werden. Das Ostwald geht von praktischen Gesichts- punkten aus. Experimentelle Arbeiten sind darum reichlich mitgeteilt. Doch haben sie grundsätz- lich neues über die Theorie des Lichtes, die für eine Lehre von den Farben, den Kindern des Lichts, ja wesentlich ist, nicht gebracht. „Das Licht ist eine der vielen Formen der Energie und ist daher aller allgemeinen Eigenschaften teil- haftig, welche diesen universellen Wesen zukom- men" (IX, S. i). Späterhin wird dann die im Licht auftretende Energie mit der Bewegung elektro- Problem blieb also ofilen. Eingehend erörtert wurde magnetischer Wellen identifiziert, also die jetzt es seit 1911 u.a. auch im Deutschen Werk- bund, und anläßlich der Kölner Schaustellung dieser Vereinigung wurde es einem Manne zur erneuten und wie man hoffte erfolgreichen Be- arbeitung überantwortet, der dann freilich nicht nur den Erwartungen, sondern gewissermaßen sich selbst übertraf. Im Verfolg seiner Arbeiten näm- lich kam Wilhelm Ostwald, der Physiko- übliche Theorie beibehalten, ohne daß versucht würde, zahlenmäßige Beziehungen zu den anderen Energieformen festzustellen. Dieser Umstand er- staunt zunächst in einem System, das sich zahlen- mäßig begründen möchte. Es ist Ostwalds erstes großes Verdienst, die Farbenlehre jener Unsicherheit entrückt und ihre sachlich gerecht- fertigte Stellung im System der Wissenschaften Chemiker und Nobelpreisträger, zu überraschenden allgemein bestimmt zu haben. Nach ihm ist die und so aussichtsreichen Ergebnissen, daß man ihm wohl beipflichten muß, wenn er eine neue, die quantitative Periode der Farbenlehre für erschlossen glaubt. Noch stehen wir erst am Anfang. Doch darf man um so eher eine zusammenfassende Dar- stellung der Ostwaldschen Arbeiten zu geben versuchen, als der Forscher selbst in seiner nur zu begreiflichen Entdeckerfreude und mit der ihm altgewohnten Energie in Gefahr ist, dem Fern- stehenden den Überblick über das Geleistete da- durch zu rauben, daß eine Bewältigung der Ost- waldschen Schriften zur Farbenlehre schon rein quantitativ eine Aufgabe bedeutet. Und auch sachlich liegt in der schriftstellerischen Fruchtbar- ') Zusammenstellung der FuSnoten am Schlufi dieser Ab- handlung. Farbenlehre ein Teil der Psychologie. Alle anderen Wissenschaften, denen man sie unter- ordnen zu dürfen glaubte, vor allem die Physik, dienen ihr lediglich als Hilfswissenschaften. Be- reits Ewald Hering,'') mit dem Ostwald überhaupt zahlreiche Berührungspunkte hat, wies auf diesen Charakter der Farbenlehre hin. Wesent- lich nämlich ist immer der psychische Ein- druck der Farbigkeit; er bliebe unberührt von jeglicher Meinung, die die Energieform „Licht" näher bestimmen wollte; er bleibt ungetrübt auch von der chemischen Natur des Stoffes, der den farbigen Eindruck veranlaßt. Das psychische Er- lebnis der Farbe steht sonach im Mittelpunkt, alles andere, was zu diesem Akt verhilft, rückt in eine zwar notwendige aber fernere Verknüpfung damit. I30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XTX. Nr. 9 „Farbe" heißt somit bei Ostwald stets und ganz eindeutig der psychische Eindruck. Farbe ist eine Empfindung. Die Nelke ,,ist" darum auch nicht „rot", sondern vermag lediglich die Farbe, d. h. den Eindruck ,,Rot" in uns zu er- regen. Was man gemeinhin als Farbe zu be- zeichnen pflegt, sind Far bst o f fe; und ,, Farben" als Malmittel heißen zweckmäßig Tünchen in einer umfassenderen Bedeutung des Wortes als bisher. Die Farben, d. h. nunmehr also die ge- hirnlichen Vorgänge, die sich uns als Farben manifestieren, sind die Grundtatsachen alles dessen, was wir sehen. Betrachten wir die nächste Um- welt, so nehmen wir lediglich eine Folge von Farben auf. Und die „Formen", die man da- neben als Elemente gesichtlicher Wahrnehmung bezeichnet, sind in der Tat nur das Ergebnis schroffer Übergänge verschiedener Farben inein- ander, aus denen wir den Begriff der Linie und weiterhin den der von solchen eingeschlossenen Fläche abstrahieren. Ist also am psychologischen Charakter der Farbe nicht zu zweifeln, so muß notwendig die gesamte Farbenlehre auf diese psy- cho physische Grundlage bezogen werden. In der Tat kommen bereits im Anfang der Ostwald- schen Forschungen alle physikalischen Definitionen, wie Wellenlängen usw., nur als Hilfsmittel zur Verwendung (vgl. III). Eine eingehende Analyse der Farbempfindungen liefert hierzu nun ebenso wichtige wie merk- würdige Beiträge. Grundlegend hierfür ist zu- nächst ein Versuch von Ewald Hering, der bei seiner Bedeutung für die Ostwaldsche Lehre beschrit-ben und nachdrücklich zur Wiederholung empfohlen werden muß. Ein Stück zitronengelb gefärbtes Papier wird horizontal auf den Tisch ins Licht gelegt und durch eine etwa 2 cm große Kreisöffnung in einem Stück undurchsichtigen weißen Papiers, in etwa 20 cm Entfernung darüber gehalten, so betrachtet, daß die gelbe Fläche nur durch die Öffnung in der weißen Fläche zu sehen, im übrigen aber durch diese verdeckt ist. Hält man das weiße Papier horizontal, so erscheint der gelbe Kreis inmitten in seiner gewöhnlichen Farbe. Dreht man es nunmehr dem Licht zu, so nimmt seine Helligkeit infolge der größeren Beleuchtung immer mehr zu und es erscheint wachsend, ,, weißer" als vorher. Das Gelb inmitten jedoch wird zu- nehmend trüber, olivgrün und erscheint bei für das Weiß günstigster Beleuchtung nur mehr als ein grünlichgelbes Grau. Dreht man umgekehrt das weiße Papier vom Licht ab, so daß seine Be- leuchtung mehr und mehr sinkt, so erscheint das Gelb in stetig größerer Leuchtkraft, die man bei gelben Pigmenten ansonst nicht beobachtet. Schließlich glaubt man ein glühendes Gelb in nahezu schwarzer Umgebung vor sich zu sehen. — Der Parallel versuch von Ostwald ist gleich einfach. Man blickt in ein innen geschwärztes Rohr, dessen dem Auge abgewendetes Ende mit irgendeinem tiefgefärbten Gelatinescheibchen (zweckmäßig ein ebenfalls gelbes „Filter") ver- schlossen ist. Es erscheint di^ Farbe in einer völlig lichtlosen, also neutralen Umgebung. Durch Wenden des Rohres vom hellen Fenster bis nach den dunkelsten Zimmerteilen vermag man nun die Intensität des durch das Farbfilter ins Auge ge- langenden Lichtes sehr stark zu verändern. Wie immer aber auch die objektive Stärke eben dieses Lichtes sei, der gesehene Farbton bleibt stets der gleiche. Niemals gelingt es, irgendwelche Über- gangstöne von z. B. Hellrot über Dunkelrot, Grau- rot, Rotschwarz nach Schwarz zu erblicken. Diese beiden Versuche nun stellen Typen dar für die beiden großen Hauptgebiete der gesamten Farb- welt, die Ostwald die der „bezogenen" und „u n bez o gen en" Farben nennt. Im ersten Falle erscheint bei gleichbleibender Lichtstärke eine Farbe in einer stetig anderen Umgebung. Ob- wohl wir den objrktiven Farbton, nämlich Gelb im angeführten Beispiel, wissen, vermögen wir uns niemals von dem Zwang zu befreien, den der Eindruck der jenes Gelb umgebenden Fläche auf uns macht. Mit anderen Worten: wir be- ziehen den Farbton ständig und notwendig auf die Umgebung, in der er uns entgegentritt. Ein solches Beziehen ist im zweiten Versuch unmög- lich. Da die „Umgebung" des Farbfilters weg- fällt infolge ihrer Schwärze, d. h. des Fehlens irgendwelchen Lichteindrucks, so findet nur ein Aufnehmen des Farbtones als solchen statt. Bei allen möglichen Lichtstärken (von Lichtlosigkeit und benachbarter Lichtschwäche abgesehen) er- scheint der Farbto n stets gleich, ungeändert. Es ergibt sich somit der Schluß, daß die bezogenen Farben eine weit größere Mannigfaltigkeit besitzen als die bezugfreien Farben Die letzten aber haben noch die weitere Eigenschaft, daß sie im gewöhnlichen Leben nahezu gar nicht vorkommen, sondern fast ausschließlich in optischen Apparaten beobachtet werden. Diese scheinen alle Farben in besonderer Eindeutigkeit und Reinheit darzu- bieten, und es ist nur zu verständlich, daß in ihnen die Mehrzahl der auf die bisherige Farbenlehre bezüglichen Untersuchungen vorgenommen wurde. Der Erfolg, vielmehr Mißerfolg dieser, soweit sie in ihren Ergebnissen auf die Körperfarben über- tragen wurden, wird nunmehr verständlich. Erst seit Ostwalds grundsätzlicher Kennzeichnung der unbezogenen Faiben als solcher, die in der Natur, vor allem auch in Gemälden, Ausfärbungen usw. nicht vorzukommen pflegen, und ihrer Scheidung ■*) von den bezogenen Farben war der Neubau möglich (I, S. 324). Rückschauend weiß man jetzt Goethes hartnäckiges Verweilen bei den Erscheinungen im vollen Tageslicht und seine Mißachtung optischer Apparate zu würdigen (vgl. XI) ohne dabei zu vergessen, daß sie ihrerseits das Kind mit dem Bade ausschütten machten. Wie in der Tat die Ostwaldsche Lehre von den bezogenen Farben die Klärung bisher gerade- zu für unlösbar gehaltener Verhältnisse ermöglicht, wird aus der weiteren Analyse der Körperfarben noch deutlicher hervorgehen. N. F. XIX. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 131 Die Körperfarben sind bekanntermaßen eine unmittelbare Folge des Auftreffens von ,, weißem" Tages- oder künstlichem Licht auf die Gegen- stände. Wird das auffallende Licht infolge der glatten Oberfläche dieser einsinnig orientiert zu- rückgeworfen, ohne daß an seiner Zusammen- setzung etwas geändert wird, so sprechen wir von Spiegelung. Bei rauhen Oberflächen geschieht die Rückwerfung in mehreren Richtungen, die Spiegelung macht der „diffusen Reflexion" oder (nach Hering) Remission Platz. Hierbei sind nun zwei äußerste Fälle, denkbar: entweder wird die gesamte Lichtmenge remittiert, dann er- scheint der Stoß" weiß, oder sie wird völlig verschluckt (absorbiert), dann nennen wir ihn schwarz. Zwischen beiden Möglichkeiten liegt nun die Reihe der Fälle, in denen mehr oder minder große Teilbeträge des Lichtes verschluckt werden und die uns die verschiedenen Grau empfinden lassen. Kennt man nun den Absolut- wert des einen Endes dieser „Graureihe", näm- lich der Weiße, so kann man alle Grautöne zahlenmäßig ausdrücken durch den Bruchteil des von ihnen jeweils remittierten Lichtes, den man photometrisch ja leicht ermitteln kann. Freilich ist nun jener Absolutwert des Weiß (Albedo) noch nicht genau bekannt. Ostwald fand je- doch, daß ein Aufstrich von gefälltem Barium- sulfat (BaS04) ihm näher kommt als alle anderen weißen Tünchen. Gut definiert hingegen ist das absolute Schwarz, das man seit Kirch hoff in einem innen geschwärzten Kasten mit sehr kleiner Öffnung verwirklichen kann. Somit ist für prak- tische Zwecke (und auf solche kam es in erster Linie an) die Reihe Schwarz Weiß mit den ver- schiedenen Graustufen einer messenden Behand- lung zugänglich. Ist die absolute Weißen i, so stellen alle Stufen der Graureihe, die man auch als die der u nbu nten Farben betrachten darf, Bruchteile jenes Wertes dar, der nach Schwarz hin sich der Null nähert. Eine quantitative Be- zeichnung jeder unbunten Farbe (d. h. Grau) würde demnach damit gegeben sein, daß sie den Zahlwert des Verhältnisses von auffallendem Licht remittiertem Licht der immer ein echter Bruch sein wird, nennt.*) Hierbei ist jedoch zu beachten, daß die Reihe der absoluten Grauwerte, d. h. derjenigen, die gleiche Abstände ihrer Helligkeit aufweisen, eine arithmetische Reihe bildet. Die Psychologie aber weiß seit Fechner, daß wir gleiche Stufen der Helligkeit dann empfinden, wenn konstante Ver- hältnisse je zweier aufeinander folgender P'arb- töne vorliegen. Die für unser Auge „normale" Graureihe ist dementsprechend nicht eine in arithmetischer, sondern in geometrischer Progres- sion fortschreitende, m. a. W. die absoluten Hellig- keiten bilden eine logarithmische Reihe. P'ür die Praxis schaltet man anstelle der Helligkeitszahlen zweckmäßig Buchstaben ein. Eine so gewonnene, für unser Auge gleichmäßig abgestufte „Grauleiter" hat dann ein Aussehen wie: 100 79 63 50 40 32 25 20 a b c d e f g h.... wobei die Zahlen die Helligkeit, d. h. den Grauton, die Buchstaben sein Kennzeichen bedeuten. 100 = absolutes Weiß. Für diese Entwicklung ist sehr sorgfältig fest- zuhalten, daß es sich stets um Remissions Ver- hältnisse handelt. Es ist demnach nur eine logische Konsequenz, daß für bezogene Farben auch Schwarz eine vollgültige F"arbe (immer als psychologischer Eindruck zu verstehen I) ist, obwohl die bisherige Farbenlehre davon nichts wissen will und es ja in der Tat widersinnig scheint, von Farbe zu reden wo ihre kausale Voraussetzung, das Licht, fehlt. Und doch be- steht Ost walds Aussage zu Recht. Schwarz = Abwesenheit von Licht ist eine Beziehung, die nur für unbezogene Farben gilt. Erinnert man sich des oben skizzierten Versuches mit der Dunkelröhre, so wird man bemerken, daß das Schwarzerlebnis damit nur möglich ist für den Grenzfall, daß überhaupt kein Licht in die Röhre eintritt. Niemals aber vermag man damit eine Mischung des jeweils vorgelegten bunten Filter- farbions mit einer Abwandlung des Schwarz nach Weiß, d. h. mit irgendeinem Grau zu erzielen 1 Während im strengen Unterschied dazu eine Grau- komponente beim Versuch Herings, der den bezogenen Farben zugrunde liegt, eintrat, ob- wohl die absolute Beleuchtung, d. h. die Licht- menge, unverändert blieb. Unbezogene Fa''ben lassen sich mithin nach zwei Richtungen vari- ieren: nach Farbton und nach der Helligkeit. Schwarz als ein Bestandteil ihres Eindruckes fehlt völlig. Bezogene Farben hingegen haben drei Veränderliche: Farbton, Helligkeit und das, was man gemeinhin als Reinheit zu bezeichnen pflegt, was wir nunmehr als den Graugehalt erkannt R. .W haben. Graphisch dargestellt liegen alle Abge- leiteten einer unbezogenen F"arbe in einer Geraden, die von dem Farbton und Weiß (denn Weiß, d. h. Licht aller Wellenlängen, bedingt ja die „Hellig- keit") begrenzt ist (Abb. i). Hingegen umfaßt 132 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 9 die Abkömmlinge eines bezogenen Farbtones eine Fläche, und zwar ein (gleichseitiges) Dreieck, an dessen Ecken Farbton, Weiß und Schwarz liegen (Abb. 2). Die näheren Verhältnisse darzustellen ist hier nicht der Ort. Es könnte immer auch nur unbeholfener geschehen als Ostwald selbst es getan hat (vgl. VIII). Dagegen ist schon aus den wenigen grundsätzlichen Erwägungen ersicht- lich, aus welchen Bestimmungsstücken eine quan- titative Farbbezeichnung der bunten Farben sich zusammensetzt. Die Aufgabe, eine Farbe zu messen, die bisher für Körperfarben für unlös- bar gehalten wurde, ist damit überhaupt erst klar gestellt, womit ein weiterer Beweis dafür geliefert ist, daß es in der Wissenschaft immer auf die richtige Fragestellung ankommt, wenn man zu positiven Ergebnissen zu gelangen hofft. Die Aufgabe bezogene Farben zu messen erfordert nämlich lediglich die Ermittlung des reinen Farb- tones R , des Weißanteils W und des Schwarz- gehaltes S, für den man sich merken muß , daß er nicht Abwesenheit von Licht, sondern den Bruchteil weißen Lichtes den der betreffende far- bige Aufstrich verschluckt, bedeutet. Jene drei Anteile also stellen die Einheit der Farbe dar; mathematisch ausgedrückt ist R + W + S=i. Die Bestimmung der drei Variabein kann hier natürlich nur im Prinzip dargestellt werden. Denkt man sich irgendeinen farbigen Gegenstand, z. B. ein Laubblatt, ein Stück einfarbigen Tuches vor- liegend , so geschieht seine „Chromometrie" fol- gendermaßen. Der Gegenstand wird durch die gesamte Ausdehnung eines hinreichend langen und hellen Spektrums, das man auf einer Wand entworfen haben mag, geführt. Alsdann wird in den Bereichen der verschiedenen Wellen- längen jeweils ein anderer Bruchteil des auf den farbigen Gegenstand fallenden Lichtes zurück- geworfen. Denn die Bunt he it aller Gegenstände beruht ja darauf, daß sie gewisse Wellenlängen des weißen Lichtes absorbieren. Fällt nun Licht einer bzw. einiger nahe benachbarter Wellenlängen auf den Gegenstand, so wird es vollkommen zu- rückgeworfen, wenn seine Farbe mit der des Gegenstandes übereinstimmt, vollkommen verschluckt aber, wenn es sich um die Er- gänzungs oder Komplementärfarbe handelt. Ein durch das Spektrum geführter farbiger Körper erscheint dementsprechend im Bereich der Wellen- länge, die seiner Eigenfarbe entspricht, am hell- sten, im Lichte seiner Ergänzungsfarbe am dunkelsten. Er würde im ersten Falle gleich reinem Weiß erscheinen, wenn es sich um einen absolut reinen oder ,, gesättigten" Farbton handelte. Wenn man also seine Remission mit der des ab- soluten Weiß") vergleicht, so hat man ein Maß für den Anteil nichtremittierten Lichtes, d. h. für seinen Schwarzgehalt S. Denn die beobach- tete Helligkeit H, besteht aus dem farbigen An- teil R, der im homogenen Licht ja unvermindert zurückgegeben wird, und dem weißen Anteil W im farblosen Licht, das der farbige Gegenstand zurückwirft. Hl = R + W, also, da R + W + S = 1, so ist S == I — Hl. An der Stelle aber, da der farbige Gegenstand am dunkelsten erscheint, rührt seine Helligkeit (die wiederum durch Vergleich mit der des ab- soluten Weiß im selben Gebiet gemessen werden kann) nur vom ursprünglichen Weißgehalt her. Denn der Anteil reiner Farbe R wird völlig ver- schluckt und der Schwarzanteil S remittiert auch hier nichts. Die an der dunkelsten Stelle ge- messene Helligkeit Hj ergibt also unmittelbar den Weißgehalt W. H2=W. Wir bekommen also durch Substitution R + H„ 4- (i — Hj) = I oder R = H' — Hj. (Vgl. IV, S. 132.) Der farbige Anteil in jeder Körperfarbe oder ihre Reinheit läßt sich mithin durch zwei photo- metrische Messungen und eine einfache Rechnung bestimmen. Praktisch verwendet man an Stelle des Spektrums farbige Filter, die nur enge Ge- biete des Spektrums durchlassen und, wie die Ergebnisse zeigen, genauer sind. Die Entdeckung der Reinheitsmessung ist der wichtigste Fortschritt der Farbenlehre. Denn diese Messung ist absolut, d. h. sie ist weder von der Stärke des benutzten Lichtes noch von der Empfindlichkeit des Auges abhängig, da ja stets unter gleichen Verhältnissen gemessen wird. Man kann also jetzt jedes Pigment durch eine Dreizahl von Ziffern so bezeichnen, daß es immer und unter allen Umständen innerhalb der erfahrungs- gemäß recht kleinen Fehlergrenzen reproduzierbar ist. Die Bedeutung dieser Tatsache für die ge- samte Wissenschaft, Technik und Kunst, soweit sie mit Farben zu tun haben, bedarf keiner Er- örterung. Nur zweier Umstände darf noch Er- wähnung geschehen. Einmal der Tatsache, daß wir mit Pigmenten mehr Farbtöne zu erzeugen vermögen als das Spektrum aulweist. Das Spek- trum ist bekanntlich eine geschlossene Farbton- reihe mit Rot und Veil (statt Violett) als Grenz- farben. Wir kennen jedoch in Körperfarben auch die Farbtöne, die in die spektrale Lücke ge- hören, die rotveilen und Purpurtöne. Deren Be- stimmung ist offenbar nicht ganz eindeutig, da die spektralen Grenzgebiete psychologisch zwar sehr ähnlich, physikalisch jedoch denkbar unähn- lichst sind. Hier ist darum eine doppelte Messung nötig, deren Fehler naturgemäß etwas größer als gewöhnlich sind (IX, S. 198). Sodann ist bekannt, in wie hohem Grade der Farbeindruck von Pig- menten von der Oberflächenbeschaffen- heit abhängig ist. Ostwalds Mes-^ungen be- ziehen sich daher zunächst auf matte Oberflächen. Es muß späteren Forschungen vorbehalten bleiben, hier eine Weiterentwicklung zu erzielen. Ganz neuerdings ist eine Messung des Glanzes zu- N. F. XIX. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 133 nächst unbunter photographischer Papiere bereits durchgeführt worden.') Die absolute Reinheitsmessung der Farben hat Ergebnisse von seltener Fruchtbarkeit gezeitigt. Zunächst nach der uns hier in erster Linie inter- essierenden theoretischen Seite der Farbenlehre. Im allgemeinen ist man der Meinung, daß eine reine oder gesättigte Körperfarbe durch homo- genes Licht, d. h. Licht einer Wellenlänge er- zeugt werde. Der erste Einwand, der, soweit meine Erfahrungen reichen, gegen Ostwalds Messung des reinen Farbtones gemacht zu werden pflegt, ist darum, daß jeder gesättigte Farbton ja doch durch eine bestimmte Wellenlänge bzw. Schwingungszahl definiert sei. Es ist nun von größter Wichtigkeit und Ost walds weiteres hohes Verdienst, daß er die Gleichsetzung von gesättigten Körperfarben mit spektralreinen Tönen für falsch erklärt. Diese überraschende Erkenntnis wird deutlich, wenn man sich folgende Verhältnisse klar macht. Die gesättigtsten und reinsten Aufstriche, die wir kennen, sind die mittels gelber Tünchen. Ihre Vergleichung mit dem hell- sten Weiß (gefülltes Bariumsulfat) unter denselben Beleuchtungsverhältnissen ergibt, daß ihre Hellig- keit 80 — 90 Hundertteile von der des Weiß be- trägt. Betrachtet man andererseits das Spektrum weißen Lichtes, so erkennt man ohne weiteres, daß das reine Gelb einen nur ganz schmalen Ausschnitt darin einnimmt. Schon geringe Ände- rungen der Wellenlänge führen zu den Nachbar- tönen Kreß (-Orange) und Grün. Es leuchtet darum ohne weiteres ein , daß die Helligkeit weißen Lichtes nicht zu 80—90 v. H. aus Gelb bestehen kann.*) Die reinsten Farben, die wir natürlich kennen, an Blumen, Schmetterlingsflügeln u. a., können darum unmöglich von homo- genem oder auch nur von Licht nahe benach- barter Wellenlängen hervorgerufen sein. In der Tat erweist die spektrale Zerlegung solcher Pig- mente, daß zu ihrem Zustandekommen nicht eine oder wenige Wellenlängen, sondern minde- stens die Hälfte des Spektrums not- wendig ist. Das Chromgelb, das die Reichs- postwagen früher als Anstrich trugen, besteht nicht aus spektralreinem Gelb, sondern die gesamte rote, gelbe, grüne Seite des Spektrums ist zu seinem F"arbeindruck nötig und wird von ihm remittiert wie von reinem Weiß ! Bei der F-Linie erst, also zwischen den Wellenlängen 480 — 490, hört die Remission ziemlich unvermittelt auf. Diese übri- gens schon früher beobachtete Tatsache wieder- holt sich nun mit großer Bestimmtheit bei allen reingelben Pigmenten, unabhängig von der chemi- schen Natur, im festen wie gelösten Zustande. Doch möchte ich Ost walds Schluß: „es darf also als eine experimentelle Tatsache angesehen werden, daß alle reingelben Farben . . . dasselbe Spek- trum haben" (IX, S. 123) nicht völlig bestimmen. Immerhin, an seiner allgemeinen Richtigkeit ist kein Zweifel. Und von größerer Tragweite noch ist Ostwalds Lehre, die sich auf einen weiteren Umstand gründet. Die Grenze der Gelb- remission liegt bei Wellenlänge 490, Blaugrün. Dieses ist nun die Gegenfarbe des äußersten Rot. Ostwald stellt darum die These auf, daß zum Zustandekommen eines jeden gesättig- ten Farbtones (einer Vollfarbe) alle Licht- arten zwischen zwei Gegenfarben (ein Farbenhalb) nötig sind. Soweit seine eigenen Messungen reichen, bewahrheitet sich diese An- nahme. Beispielsweise wird die Begrenzung bei dem sehr schönen, d. h. gesättigten Bengalrosa durch die Wellenlängen 480 und 590 — Gelb und Ublau (Ultramarin) — , also wiederum durch Gegenfarben gebildet. Der Farbton stellt immer den Gipfelpunkt eines Farbenhalb, den sog. ,, chro- matischen Schwerpunkt" dar. Es ist sehr er- wünscht, daß diese Verhältnisse von anderer Seite geprüft werden. Praktisch wichtig wird die Lehre vom Farbenhalb in erster Linie dadurch, daß der chromatische Schwerpunkt durch eine ganz be- stimmte Wellenlänge gekennzeichnet ist, woraus sich eine einfache Kennzeichnung der Vollfarben durch diese ermöglicht. Das ist für die rationelle Farb- bezeichnuiig auf Grund des Farbkreises wichtig. Damit kommen wir endlich zu dem Ergebnis Ost waldscher Arbeiten, das die Veranlassung zu seinen Untersuchungen gewesen ist und dessen Vollendung ein einzigartiges Maß von experimen- teller und begrifflicher Arbeit darstellt, nunmehr jedoch ein unvergängliches Mal seiner Leistungen ist. Der Farbkreis ist die Ordnung der Farb- töne, wie sie sich aus der Folge psychischer Farb- eindrücke ohne weitere theoretische Erwägungen ergibt. Im Gegensatz zum Spektrum kennt die damit gewonnene Reihe weder Anfang noch Ende (s. o.). Ein Kreis wird zu ihrer Darstellung be- nutzt, weil er das einfachste Bild einer geschlossenen geometrischen Reihe ist. Auf ihm verteilt finden sich in psychisch gleichförmigen Abstufungen alle reinen Farbtöne. Zwei Einwände treten hier auf. Kann tatsächlich die Gesamtheit der reinen Farben durch eine begrenzte Zahl dargestellt werden, stellen sie nicht vielmehr eine stetig fort- laufende unendliche Mannigfaltigkeit dar? Und ferner: gibt es reine, d. h. gesättigte Farbtöne? Der erste Punkt erledigt sich dadurch, daß unsere Unterscheidungsfähigkeit nahe benachbarter Farben nicht unbegrenzt groß ist. Unter einen gewissen Schwellenwert hinab hört die Scheidungsmöglich- keit für unser Auge auf. Obwohl ein sehr emp- findliches Auge 300 — 500 Farbtöne zu unter- scheiden vermag (V, S. 26), genügen (ür allge- meine Zwecke 100 Farbtöne vollkommen, um die gesamte Mannigfaltigkeit der reinen Farbenreihe mit noch großer Genauigkeit darzustellen. Ihre Reihenfolge ist die gleiche wie im Spektrum, von Gelb über Kreß, Rot, Veil, Ublau, Eisblau (das grün- liche Blau von Gletscherspalten), Seegrün, Laub- grün nach Gelb zurück. Allerdings: reine Farb- töne, wie sie definitionsstreng nötig sind, gibt es unter den uns zugänglichen Pigmenten nicht. Da man die Reinheit jedoch auch im trübsten Auf- 134 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 9 strich messen kann, so dürfen offenbar auch un- gesättigte Pigmente zur Anwendung kommen, wo- bei die reinstmöglichen zweckmäßig den Vorzug haben. Ostwald hat die rein technisch bereits gewallige Arbeit der Sichtung der gebräuchlichen Pigmente unternommen und die als brauchbarst befundenen P'arben zu einem hundertteiligen Kreise zusammengestellt. Und ferner sind zu jedem Farbton noch alle Abwandlungen, d. h. optische IVlischungen mit der Graureihe, d. h. mit Schwarz und Weiß in den verschiedensten Stärke- graden möglich. Auch für diese Abkömmlinge der reinen Farbtöne gibt Ostwald eine nach Tausende zählende Sammlung von Beispielen. Sie sind nebst dem Farbkreis in seinem Farbenatlas (XII) niedergelegt, in abgekürzter Form auch im „Farbkörper" (XIII). Diese beiden Werke stellen die ersten Veröffentlichungen dar, auf grund deren immer und wo auch es sei Farben zahlenmäßig, d. h. quantitativ zu bezeichnen sind. Diese Mög- lichkeit beruht darauf, daß sämtliche abgebildeten Farbtöne auf dem oben angedeuteten Wege der absoluten Messung gekennzeichnet wurden. Im- merhin konnten aus der riesengroßen Zahl der uns bekannten bunten Pigmente natürlich nur Stichproben gegeben werden. Sie genügen je- doch den meisten Zwecken. Voraussetzung ist dabei nur, daß die grundlegenden Messungen ein- wandfrei sind. Die Anordnung des Farbkreises, vor allem auch die Zuordnung der Zahlen für die reinen Farbtöne ist offenbar willkürlich. An den Anfang setzt Ostwald mit oo das reine Gelb, da es am hellsten, also leicht auffindbar ist. Punkt 25 entspricht dem Zinnoberrot, 50 einem leicht rötlichen Ultramarinblau, 75 einem Blaugrün der Wellenlänge 490, der die Ergänzungsfarbe des spektralen Rot ist. Interessant sind die Beziehungen des auf rein psychologischen Erwägungen festgelegten Farbkreises zum Spektrum. Zunächst fehlt, wie schon erwähnt, diesem die Reihe der Purpurtöne, die die Punkte 25 bis 46, also etwa ^/j des Kreises umfassen. Für den Teil jedoch, dem Spektralgebiete, also homogene Lichter, ent- sprechen, bestehen keine einfachen Beziehungen, was auch nicht erwartet werden kann , da der Farbkreis auf Erwägungen unabhängig von spek- tralen Verhältnissen beruht.") Das Spektrum ent- spricht im Gegensatz hierzu durchaus nicht einer psychologisch gleichstufigen Reihe. Bei unbe- fangener Betrachtung nämlich zerfällt es in drei große Hauptgebiete: Rot, Grün und Ublau. In ihnen entspricht einer Änderung der Wellenlänge eine nur geringe Änderung des Farbtones. Ost- w a 1 d nennt sie die unempfindlichen Gebiete im Gegensatz zu den beiden dazwischenliegenden empfindlichen Gebieten des Eisblau Blaugrün und des Gelb Kress, wo eine große Anzahl P"arb- töne auf engem Raum zusammengedrängt ist. Da der Farbkreis überall psychologische Gleichstufig- keit aufweist, so überrascht dementsprechend sein Bild zunächst. Dem in Aussicht stehenden psy- chologischen Teil der „Farbenlehre" ist es vorbe- halten, eine eingehende Theorie der in Rede stehenden Erscheinungen zu geben. Alsdann wird auch ein weiteres Problem erörtert werden, das der metameren Farben, d.h. solcher, die trotz verschiedener Zusammensetzung vollständig gleiches Aussehen haben. Zunächst genügt die Feststellung, daß sich jedem Farbton des in Pig- menten hergestellten Kreises (mit Ausnahme der „Lücke") eine bestimmte Wellenlänge der ent- sprechenden Spekiralfarbe zuordnen läßt (IV, S. 222). Damit ist auch der Farbkreis absolut festgelegt. Seine Herstellung hat eine Menge weiterer Probleme gezeitigt, die hier wenigstens angedeutet sein sollen. Es ergaben sich da große Verschieden- heiten in der Möglichkeit, weitgehend gesättigte Aufstriche zu erzielen. Bei bunten Farben näm- lich kann man den Weißgehalt selten kleiner als 3 oder 4 V. H. machen, während der Schwarzge- halt auch bei als sehr rein erlebten Farben 10 bis 40 Hundertteile beträgt. Es besteht ein tief- gehender Unterschied in dieser Beziehung bei den Farben beiderseits der Punkte 38 und 88 des Farbkreises. Während man bei den gelbgrünen, gelben Kressen und roten Tönen oft 90 proz. Rein- heiten erzielen kann, gelingt das bei den veilen bis seegrünen Farben nie. Man kommt hier bis zu höchstens 60 Hundertteilen. Technische Un- zulänglichkeiten sind hierbei nicht verantwortlich zu machen. Vielmehr sind physiologisch-psycho- logische Verhältnisse maßgebend, die den natür- lichen Schwarzgehalt bestimmend sein lassen. Die wesentlichen Verschiedenheiten des Schwarzgehalts in den beiden Farbtongruppen drücken sich seit langem darin aus, daß wir sie als die Gruppen der warmen und kalten Farben empfinden und benennen.^") Erst seit Ostwald vermag man diesen Bezeichnungen eine sachliche Begrün- dung zu geben, derart, daß bei Farben gleichen Wertes („Valör" im maltechnischen Sprachge- brauch) die kalten P'arben ein Drittel des reinen Anteils R durch Schwarz ersetzt enthalten. Doch hängt die Kaltwirkung auch stark von der Ober- flächenbeschaffenheit ab. So erschienen mir bei- spielsweise blaue Lasuren auf Gemälden von Memling und Pourbus in Brügge weit weniger kalt als etwa gleiche Blaus neuzeitlicher matter Pastellbilder. Damit gelangen wir abschließend auf eine letzte Bereicherung unserer Erkenntnis im Gebiet der F"arblehre, auf die exakte Grundlegung ästhetischer Farbenbeziehungen. „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen, Und haben sich, eh' man es denkt, gefunden." Mit diesem Dichterwort leitet Ostwald seine Untersuchungen zur Harmonie der Farben ein. Schon frühzeitig (VII, S. 45) bemerkt er, daß (den akustischen Verhältnissen, die im übrigen mit den optischen nicht das geringste zu tun haben!"), analog) jeder gesetzmäßige Zusammenhang von Farbtönen eine „Harmonie" bewirken könne. In N. F. XIX. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 135 der Tat, liest man die Ableitungen des Forschers, betrachtet man vor allem die Tafeln des Farb- körpers (XIII), die von überwältigender Schönheit und — Überzeugungskraft sind, so glaubt man Ostwald gern, daß die quantitative Farbenlehre nun endlich auch eine wissenschaftlich ge- gründete Farbenharmonielehre gebracht habe. Die Verheißungen dieses Schrittes sind groß. Sie werden um so fühlbarer, wenn man sich den blühenden Leichtsinn vergegenwärtigt, mit dem durch keine wirkliche Kenntnis der ob- waltenden Verhältnisse beschwerte Ästhetiker dem Problem der Farbenharmonie zu nahen pflegen, wovon mir eben ein neues abschreckendes Bei- spiel vorliegt.'") Näheres Eingehen liegt nicht im Rahmen dieses Aufsatzes. Nur sei betont, daß die Ostwaldschen Folgerungen ihre Rich- tigkeit bereits in der Praxis erweisen. In der IVlalereiabteilung der Staatlichen Porzellan- manufaktur zu Meißen wird mit dem Farben- atlas gearbeitet und zwar, wie der Leiter der Ab- teilung, Prof. Achte nhagen, sagt, gelangt man rasch und sicher zu Harmonien, „die jeder Kritik standhalten" (XX). Hiedurch ist besser als durch weitschweifige Ausführungen die grundsätzliche Richtigkeit des Ostwaldschen Gedankengangs erwiesen und sind manchmal nicht eben sehr verständnisvolle Kritiken '^) erledigt, wie sie natur- gemäß leicht sind bei einem System von dem Umfang und der Mannigfaltigkeit des Ostwald- schen. Schon die vollendeten, d. h. in den Um- rissen festgelegten Teile lassen erkennen, daß mit Ostwalds Forschungen in der Tat ein neuer erfolgversprechender Abschnitt in der Entwicklung der Farbenlehre eröffnet ist. Einzelne Fragen daraus können bei gegebener Gelegenheit viel- leicht einmal erörtert werden. Literatur. Zur Einführung am geeignetsten sind die „Fibel" (VII) sowie XXII; die „S-hule" (XIV) bringt ausführlicli den praldischen technischen Lehrgang, der zum vollen Verständnis außerordent- lich beizutragen vermag. Die experimentellen Grundlagen der Farbenlehre finden sich in VI; VIII und IX sind die in der be- kannten klaren Darstellung geschriebenen bisher vollendeten Teile der auf 5 Bände berechneten ,, Farbenlehre". XVI ist ein lehrreicher Scherz, XVll und XXI bringen praktische An- ordnungsbei-ipiele, XIX ist eine zusammenfassende Darstellung. I. Wilhelm Ostwald, Neue Forschungen zur Farben- lehre. Physikal. Zeitschr. XVII, S. 322 u. 352. 19 16. II. — , Die wissenschaftl. Grundlagen zum rationellen Farbatlas. Milteilgn. d. Deutsch. Werkbundes Nr. 5, S. 18. 1916. III. — , Leitsätze zur Herstellg. eines rationellen Farb- atlas. Zeitschr. f. angewandte Chemie 28. I., S. 182. 1915 (in mehreren Zeitschriften erschienen). IV. — , Das absolute System der Farben. Zeitschr. f. physikalische Chemie 91, S. 129; 1916 u. 92, S. 222; 1918. V. — , Über Analyse und Synthese der Farben. Vortrag auf der Hauptversammlg. d. Vereins Deutscher Chemiker zu Leipzig 1916. Zeitschr. f. angewandte Chemie 30, S. 25, 1917. VL — , Beiträge zur Farbenlehre. Abhandlgn. d. Sachs. Gesellschaft d. Wissenschaften 34, S. 471, I9I7- VII. — , Die Farbenfibel, 2. — 3. Aufl. Leipzig, Verlag Unesma G.m.b.H. 1917. VIII. — , Die Falbenlehre. I.Buch: Mathetische Farben- lehre, 129 S. m. 33 Fig. Leipz'g, Verlag Unesma, 1918. IX. — , Die Farbenlehre. II Buch: Physikalische Farben- lehre. 259 S. m. 64 Fig. Leipzig, Verlag Unesma, 1919. X. — , Die Harmonie der Farben. 48 S. mit 22 Fig. Leipzig 1918. XI. — , Goethe, Schopenhauer u. d. Farbenlehre. I45 S. Leipzig 1918. XII. — , Der Farbenatlas. 2500 Farben m. Beschreibung u. 14 Melkblättern. 103 Tafeln. Leipzig 1918. XIII. — , Der Farbkörper u. seine Anwendung z. Herstellg. farbiger Harmonien. 12 Tafeln u. Te.'it m. 9 Fig. Leipzig 1919. XIV. — , Die Farbschule. Eine Anleitung zur praktischen Erlernung der Farbenlehre. Mit 6 Tafeln. Leipzig 1919. XV. — , Die Grundlagen der Farbkunde und der Farb- kunst. Vortrag auf d. Versammig. d. D. Weikbundes 1919 zu Stuttgart. Chemiker-Zeitg. 43, S. 681, 1919 (Nr. 122). XVI. — , Die Farbenorgel. Prometheus Nr. 1555. XXX, S. 36s, 1919 (Nr. 46). XVII. Otto Meißner, Colorimetrische Messungen nach der Ostwaldskala Physikal. Zeiischr. 20, S. 83, 1919. XVIII. Ders. , Zur Ostwaldschen Farbenlehre. Physik. Zeitschr. 20, S. 210, 344 f., 1919- XIX. Hans Heller, Neue Forschungen zur Farbenlehre. Prometheus Nr. 1528 u. 1529. XXX, S. 145 u. 153 1919. X.\. A. Achtenhagen, Praktische Anwendung des Farbenatlas. Mitteilgn. d. D. Werkbundes 1919, Nr. I, S. 14. XXI. Otto Meißner, Die Ostwaldsche Farbenlehre nebst Beispielen ihrer Anwendung. Die Umschau 23, S. 561. 1919 (Nr. 36). XXII. Wilh. Ostwald, Einführung in die Farbenlehre. 174 S. m. 3 Tafeln u. 17 Abbildgn. Leipzig, Ph. Reclam, 19J9. (Hierin weitere Literaturanzeigen). Fußnoten. ') Vgl. Paul Krais, Kritische Übersicht über die vor- handenen praktischen Vorschläge zur Systematik und Messung der Farbtöne. Zeitschr. f. angew. Chemie 27. I., S. 25, 1914. ■^) Diese eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf die am Schluß gegebene Literaturzusammenstellung. Anführung aller Quellennotizen von Fall zu Fall würde unübersichtlich und platzraubend sein. ') Ewald Hering, Die Lehre vom Lichtsinn. Leipzig 1905/11. (Hauptwerk). *) In XIX, S. 146 ist versehentlich Hering als Urheber dieser Unterscheidung bezeichnet, doch stammen von ihm nur grundlegende Versuche der geschilderten Art her. Eine wei- tere Versuchsanordnung findet sich IX., S. 48. ^) Die praktische Messung dieses Verhältnisses geschieht am bequ'-msten in einem von Ostwald konstruierten Halb- schattenphotometer : vgl. IX, S. 80. '^) Praktisch : mit der eines gemessenen Grau der oben abgeleiteten ,, Grauleiter". ') Karl Kieser, Zeitschr. f. angew. Chemie 32, S. 357, 1919. *) Gelb beträgt lediglich 5,4 v. H. weißen Lichtes (O. N. Rood, Colour, S. 41. London 1910). *) Seine nähere Konsliuktion siehe: VIII, S. 66. 10) Nach Meißner (XVII) auch datin, daß die Kultur- sprachen für Mischungen der warmen („hellen") Farben mit Schwarz eigene Bezeichnungen (im Deutschen: Braun) haben, während kaltfarbige Mischungen mit Schwarz durch Suffixe bezeichnet werden, z. B. dunkelblau, dunkelgrün usw. ") siehe z. B. W. Ostwald, Töne und Farben. Prome- theus Nr. 1570 (XXXI, Nr. 9) 1919, S. 69. '2) H. B. Brand, Der Akkord- und Quintenzirkel in Farben und Tönen. München 1914, Lindauersche Buchhdig. 'ä) Z.B. von G. Zerr, Farben Zeitung 22, S. 3Ö4, 1917 und von E. König, Zeitschr. f. angew. Chemie 1917, S. 53. 136 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 9 Einzelberichte. Zoologie. Knickschwänzigkeit und Stummel- schwänzi|/keit bei Haussäugetieren. Vor einigen Jahren traten in P 1 a t e sehen Mäusezuchten Mäuse mit Knickschwänzen auf Abb. i verdeutlicht das Aussehen dieser Knickschwänze bei maximaler Aus- bildung der Eigentümlichkeit. Die Knickschwänze erwiesen sich als erblich, was auf eine tiefere, im Organismus selbst liegende Ursache hinweist, an- statt, wie man zuerst annehmen könnte, auf äußere gewaltsame Einwirkung in frühen Embryonal- stadien. Die Vererbungsversuche lassen den Schluß ziehen, daß die Mißbildung in den vier weißen Ausgangsrnäusen bereits latent vorhanden war und plötzlich sichtbar wurde, als ein neuer endogener Reiz — vielleicht Rassenreiz der Rot- äugigen und Gelbfarbigen — hinzukam; auch verstärkt die Zugehörigkeit zum weiblichen Ge- schlecht die Disposition zur Knickschwänzigkeit. Je stärker die Aszendenz belastet, um so zahl- reicher treten Knickschwänzige wieder auf. Die Knickschwänzigkeit mendelt nicht, sondern vererbt sich ungefähr intermediär (L. Pia te, Vererbungs- lehre und Deszendenztheorie. Festschr. f. R. Hertwig 1910, Bd. II, S. 578). Ernst Plank') stellte zunächst die anato- mische Ursache der Knickschwanzbildungen fest und fand an den Knickungsstellen mehr oder weniger starke einseitige Verschmelzung zweier aufeinanderfolgender Schwan z- wirbel. Um festzustellen, ob solche Synostose etwa jedesmal nach vorangehenden entzündlichen Prozessen eintritt oder, wie wegen der Vererbbar- keit wahrscheinlicher, angeboren ist, wurden im Uterus konservierte Embryonen untersucht : sie zeigten in einzelnen Zwischenwirbelscheiben bereits Knorpelbrücken, womit der kongenitale Ursprung der Mißbildung feststeht. Da an sonstigen Mißbildungen des Mäuse- schwanzes bisher nur gelegentliche Stummel- schwänzigkeit bekannt ist, eine Eigentümlich- ') E. Plank, Die Knickschwänze der Mäuse. Arch. f. Entwicklungsmechanik Bd. 43, 1917. keit, die auch bei Hunden und Katzen nicht selten vererbbar vorkommt, wurde auch die Stummelschwänzigkeit der Hauskatze — ein ehe- mals irrigerweise im Zusammenhang mit künst- licher Kupierung als Vererbung des Erworbenen erörtertes Problem — in die Untersuchung ge- zogen, zumal sich eine gewisse Ähnlichkeit zwi- schen der Mäuseknickschwanzwirbelsäule und der Stummelschwanzwirbelsäule an Hunden und Katzen nach Berg, Bonnet und Hennel zeigte. Das untersuchte stummelschwänzige Kätzchen stammte von einer Mutter mit durchaus normalem Schwanz, auch die Großmutter war normal , ebenso die zwei Geschwister des Kätz- chens. „Die Stummelschwanzwirbelsäule dieser Autoren stellt nämlich nach Beschreibung und Abbildung in vielen Fällen gleichzeitig eine Knickschwanzwirbelsäule dar", obwohl äußerlich davon nichts bemerkbar. Vgl. Abb. 2, die das Schwanzende eines Stummelschwanzkätzchens nach Entfernung der Haut zeigt, mit den Knick- stellen a bis g. Alle Präparate von Maus und Katze wurden außer makroskopisch auch genau mikroskopisch untersucht. Knickschwänzigkeit und Stummelschwänzigkeit sind demnach „verschiedene Stufen eines und des- selben Wirbelverschmelzungs- und Schwanzreduk- tionsvorgangs, der sich unter Beteiligung der Zwischenwirbel mit Einschluß der Epiphysen und Wachstumszonen in einer durchaus gleichartigen und charakteristischen Weise abspielt. Dieser Verwachsungsprozeß führt zur Verwachsung zweier (Mäuse) oder mehrerer (Katzen und Hunde) be- nachbarter Wirbel", „in weit vorgeschrittenen Fällen auch zu beträchtlicher Verkürzung und Reduktion der Wirbel selbst". Die Knickbildung ist also nur von symptomatischer Bedeutung. V. Franz (Jena). Allen Trypanosomen nebst verwandten Flagel- laten kommt ein im Hinterende gelegenes kleines rundliches oder stabförmiges Korn, der Blepharo- plast, zu. Über dieses Gebilde und seine Be- ziehungen zum Zellkern gibt eine Arbeit von J. H. Schnurmans Stekhoven jun. ') einige neue Aufschlüsse. Was die Teilung des Zellkerns selbst betrifft, so betrachtet sie Verf nach seinen Untersuchungen an Trypanosoma brucei, dem Erreger der Tsetsekrankheit der Huftiere, als eine „typisch promitotische", wie sie allen Tieren dieser Gruppen zukomme: im Kern tritt ein Binnenkörper oder Karyosom auf. Aus ihm tritt ein Korn, auch Randkörper genannt, heraus und teilt sich hanteiförmig, während das anwesende Chromatin des Kerns, ohne daß Chromosomen aufträten, eine Äquatorialplatte bildet, die sich ') J. H. Schnurmans Stekhoven jun., Die Teilung von Trypanosoma brucei Flimmer und Bradford. Archiv für Protistenkunde Bd. 40, Heft 2, S. 158 — l8o. 2 Tafeln. N. F. XIX. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 137 teilt, und deren Tochterplatten mit den an den Teilungspolen befindlichen nunmehr zwei Rand- körpern verbacken. Nach Auftreten einer Scheide- wand bauen sich die zwei neuen Kerne auf. Der Blepharoplast liegt stets an der Wand eines Bläschens im Hinderende des Zelleibs und teilt sich durch einfache Durchschnürung. Daß der Blepharoplast, wie öfter angenommen , ein zweiter , hauptsächlich lokomotorischer Kern sei, nimmt Verf. nicht an, weil er sich nicht (wie behauptet wurde) mitotisch teile, und weil er manchen Stämmen fehlt. Er sei vielmehr wahr- scheinlich ein Sinneszentrum, das die Geißel zu ihren Bewegungen herausfordere. In der Wand des Blepharoplastenbläschens liegt nämlich auch immer das Basalkorn der Geißel, das sich bei der Zellteilung gleichfalls amitotisch teilt, worauf der eine Abkömmling seine Geißel behält, der andere eine neue durch Auswachsen bildet. ') Öfter ist eine faserige Verbindung zwischen dem Basalkorn und dem Blepharoplasten erkennbar. Die Be- wegung der Geißel nimmt ihren Anfang stets an deren Basis, somit auch in der Nähe des Blepharo- plasten. Wie sich hierin Stämme mit fehlendem Blepharoplasten verhalten, steht leider nicht fest. Vielleicht sei der Blepharoplast "auch als Stütz- organ des Geißelapparats zu betrachten. Jeden- falls bilden nach des Verf. Meinung Blepharoplast, Basalkorn, Geißel und undulierende Membran — letztere verbindet den Zelleib mit der Geißel, so- weit diese jenem entlangzieht — ein einheitliches Organ, für das sich bestimmte Beziehungen zum Zellkern nicht erweisen lassen. Es ist vielleicht nicht überflüssig, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß auch für die Basalkörner anderer Geißeln oder Flimmer- haare v^eder die öfter angenommene Herkunft aus dem Kern noch ihre Identität mit Centro- somen auf mikroskopischem Wege direkt erweis- bar ist. Bestenfalls könnten hier also phylogene- tische Hypothesen in diesem Sinne gewagt wer- den, während in den gegenwärtig vor uns liegen- den Objekten in funktioneller Hinsicht diese Ge- bilde jedes für sich dastehen. V. Franz (Jena). Chemie. Zur Tautomerie der Phenole liefern W.Fuchs und B. Eisner einen neuen Beitrag.^) — Diese Tautomerie ist besonders eingehend studiert am Phloroglucin. Dieses , ein Tri- oxy-benzol (Formel I) erscheint nach der Syn- these A. V. Baeyers'*) als ein Tri-keto- hexa- methylen (II), also nicht mehr als Benzolderivat. Zahlreiche Arbeiten, vor allem eine solche von Heller und Langkopf, ^) haben gezeigt, daß ') Die Angaben einiger Autoren, dai3 die Geiflel sich der Länge nach teile, wird als auf Täuschung beruhend hingestellt. *) Berichte d. Deutsch. Chem. Gesellsch. 52, S. 2281; 1919 (Heft n, 13. XII,). ') Berichte d. Deutsch. Chem. Gesellsch. 18, S. 3458. •*) Berichte d. Deutsch. Chem. Gesellsch. 42, S. 2738 und Langkopf, Dissertation. Leipzig 1909. Ho-zy^ OH I das Phloroglucin in der Tat in 2 tautomeren For- men reagieren kann. Der Fall ist deshalb beson- ders eigentümlich, daß nur durch intramolekulare Verschiebung der drei HAtome ein Abkömmling vom Benzol CgHg in einen solchen desHexa- methylens CgHjj übergeht. — Die Arbeit von Fuchs und Eisner weist nun diesen Übergang, also die Tautomerie, noch auch für das Hydrochinon, daß in nachstehen- den Formen entweder als Di-oxy-benzol (I) oder als Diketo-tetrahydrobenzol (II) auftritt OH O I I n Der Nachweis geschah mit Hilfe der Anlage- rung von Natriumhydrosulfit NaHSOg , dem üb- lichen Reagenz auf Ketogruppen. Nach den ge- gebenen Formeln waren zwei solcher Anlagerungs- verbindungen an die sauerstoffhaltigen Gruppen zu erwarten; daneben eine dritte Additionsver- bindung an die in II vorhandene Doppelbindung von der Formel HO. ^SOoNa H, NaSO,-^ H l-H v^\s Diese letzte Verbindung entsteht nun in der Tat bei sehr langem Erhitzen von Hydrochinon mit Natriumhydrosulfit. (10 g Hydroch. wurden mit 100 g Bisulfitlauge unter täglich mehrmaligem Erneuern von Schwefeldioxyd 14 Tage und Nächte ununterbrochen erhitzt.) Beim Erkalten fällt eine farblose kristallinische Substanz von der Zusam- mensetzung QHgSgOjjNag, von viel schwächerer Reduktionskraft als sie das Hydrochinon besitzt, aus. Nach der Formel sollte sie die Eigenschaften eines Mono- sulfonsäuresalzes besitzen, d. h. nur eine der angelagerten SO., Na-Gruppen sollte fest gebunden sein, während die beiden andern in der üblichen Weise durch Säuren leicht abgespalten werden könnten unter SchwefeldioxydEntwicklung. Merkwürdigerweise tritt eine solche Entwicklung nur in Spuren auf, die Verbindung ist also als Tri- sulfonsäure aufzufassen, bzw. als das Natrium- salz der Dioxy — i. 4. — hexamethylen- 138 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 9 trisulfonsäure — i. 2. 4., deren Darstellung ebenfalls gelang. Die Richtigkeit der Formulie- rung konnte bewiesen werden durch die Oxyda- tion, die erwartungsgemäß zu einer gesättigten aliphatischen Säure, nämlich der Bernstein- säure, führe. Das Benzolderivat muß also auch hiernach in ein gesättigtes Homologes, in ein Hexahydroderivat, übergegangen sein. Die für die Übergangsreaktionen zwischen Benzol- und Hexamethylenabkömmlingen inter- essante Arbeit vermag fernerhin gewisse Unklar- heiten der Literatur über die Zersetzung des Hydrochinons aufzuklären. Der in der Photo- graphie in größtem Umfange als Reduktions- (Entwickler)mittel benutzte Stoff erleidet in der käuflichen Lösung merkwürdige Veränderungen. U. a. hat Pinnow eingehende Studien darüber gemacht, in deren Verlauf er zu recht gezwungenen Annahmen über den Verlauf der Selbstzersetzung gekommen ist. Man kann sich diesen Vorgang, das „Altern" der Hydrochinon- Entwickler, einfacher nunmehr so vorstellen: Infolge des langen Stehens tritt die durch Erwärmen rasch verlaufende Um- setzung des Hydrochinons mit dem in der Lösung befindlichen Natriumbisulfit zwar langsam, aber schließlich doch vollständig ein. Es entstehen erst die Mono-, dann Di- und Trisulfonsäuren des Hydrochinons, wobei durch den Sauerstoff der Luft das ursprüngliche Dihydroprodukt in Hydro- chinonsulfonsäure verwandelt wird. Diese ihrer- seits reagiert in der Ketoform, was zur Disulfon- säure führen muß, die durch Umlagerung schließ- lich das beschriebene Hexamethylenderivat bildet. Dessen nur schwach reduzierende Eigenschaften sind also die Ursache für die langsamere Ent- wicklungsfähigkeit aller Entwickler. Für diese praktisch bedeutungsvollen Vorgänge sowohl wie für das alte und noch immer unge- klärte Benzolproblem liefert die Fuchs-Elsner- sche Arbeit einen belangvollen Beitrag. H. Heller. Die Entdeckung des freien Rhodans und aus- gedehnte Untersuchungen darüber beschreibt Erick Söderbäck in den Annalend. Chemie Bd. 419, S. 217 (9. Dez. 1919). Rund hundert Jahre seit der Formulierung der Sulfocyanide als Verbindungen des Radikals „Rhodan" SCN sind also vergangen, bis es dem schwedischen Forscher gelang, das Rhodan als gut gekennzeichnetes chemisches Individuum frei darzustellen und es damit aus dem Bereich rein begrifflichen Vor- handenseins in den realen Bestehens zu rücken. Söderbäcks Arbeit hat eine über den Einzel- fall hinausgehende Bedeutung. Zeigt sie doch, daß Atomgruppierungen, die als Einheit reagieren und von uns darum als solche auch formuliert werden, in der Tat diese ihnen zunächst nur phä- nomenologisch zugewiesene Sonderstellung auch außerhalb des Reaktionsmechanismus, d. h. eben „frei", bewähren. Zumeist sind es nur experimen- telle Schwierigkeiten, die die Isolierung von Radi- kalen labilen Charakters erschweren bzw. ver- wehren. Söderbäcks Arbeit selbst ist nur der Schlußstein einer langen Reihe von Versuchen, solcher Schwierigkeiten beim Rhodan Herr zu werden. 1829 bereits versuchte Liebig die Freidar- stellung des Rhodans. Der zugrundeliegende Ge- dankengang war einfach. So wie Chlor das weniger stark negative Brom aus seinen Salzen zu ver- drängen vermag, so daß dieses frei wird, glaubte Liebig das den Halogenen äußerst ähnlich re- agierende Rhodan durch Chlor aus Rhodaniden in Freiheit setzen zu können, also z. B. aus Blei- rhodanid Pb SCNU im Sinne der Formel Pb(SCN)2 -j- CI2 = PbCU + (SCN)^. Liebigs Versuche ergaben, daß zwar eine Zersetzung des Rhodanids eintrat, das Rhodan selbst aber konnte nicht erhalten werden. Auch zahlreichen anderen Forschern mißlang seine Dar- stellung. Doch war man immerhin auf den rich- tigen Weg gekommen. 1861 fand Linnema nn, daß sich in Äther gelöstes Jod mit Silberrhodanid umsetzt nach der Gleichung: J, + 2 Ag(SCN) = 2 Ag J -f 2 SCN. Aber das anfangs zweifellos entstandene Rhodan war anscheinend nicht beständig, es konnte nicht isoliert werden. Dennoch schlug Söderbäck den gleichen Weg ein. Zunächst konnte er feststellen, daß die ätherische Jodlösung durch Schütteln mit Silber- rhodanid augenblicklich entfärbt und dieses in das gelbe Silberjodid verwandelt wurde. Die Lösung enthielt dann wirklich freiesRhodan gelöst, denn sie gab alle dem Rhodan eigentümlichen Reaktionen, so die bekannte tiefrote F"ärbung von Eisenrhodanid, als sie mit Eisenpulver geschüttelt wurde. Die gleiche Umsetzung, die also zum ge- lösten freien Rhodan führt, gelang in den ver- schiedensten Lösungsmitteln, am besten jedoch in Chloroformlösung. Statt des Jods wurden auch Brom und Chlor zum Freimachen des Rho- dans benutzt, ebenfalls mit Erfolg, so daß Liebigs Versuche als aus richtigen Überlegungen hervor- gegangen dargetan sind. Immer aber hatte man nun erst die Lösung des Rhodans. Die Auf- gabe war, es daraus auf zweckmäßige Weise rein zu gewinnen. Der einfachste Weg, das Lösungs- mittel zu verdampfen, ließ ein dickes gelbes Ol zurück, das außerordentlich unbeständig war und bei gelindem Erwärmen alsbald verpuffte; ein gelber Qualm stieg auf und ein ziegelroter Stoff blieb als lockeres Pulver zurück. Zufällig aber wurde beobachtet, daß durch Abkühlung einer Rhodanlösung jenes Öl sich recht gut abschied, und damit war der Weg zur Darstellung des Rho- dans in kristallisierten Zustande gefunden. Aus einer in oben skizzierter Weise mittels Brom hergestellten Lösung von Rhodan in Schwefel- kohlenstoff ließ sich das freie Rhodan durch Ab- kühlen auf — 70" in Form kleiner weißer Kristalle abscheiden. Sie konnten in der Kälte abfiltriert und näher gekennzeichnet werden. Die N. F. XrX. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 139 Analyse ergab die Formel SCN, es lag also in der Tat das Radikal Rhodan vor. Sein Schmelzpunkt wurde zu — 3° ge- funden, doch läßt sich die Substanz beträchtlich unterkühlen ohne zu erstarren. In seinem chemi- schen Verhalten steht das Rhodan dem Jod am nächsten. Seine Lösungen geben mit Metallen die bekannten Rhodanide. In Gegenwart von Wasser oxydiert es stark, zerfällt es doch da- mit u. a. zu Schwefelsäure. Da wir hierin eine Valenzbetätigung des Schwefels zu 6 annehmen, diese im Rhodan selbst aber nur 2 sein dürfte, so ist also der Zerfall des Rhodans mit einer starken Streuung der Valenzfelder verknüpft.*) Dies wird einleuchtend, wenn man sich gegen- wärtig hält, daß die Struktur des Rhodans auf Grund seiner leichten und glatten Bildungsweise aus — S — C — r N angenommen werden muß. Rho- dan hat also Nitrilstruktur. Das geht auch daraus hervor, daß das gelöste zweifach molekulare Rhodan (SCN).^ mit Salzsäure Anlagerungsverbin- dungen, wie z. B. (SCNjjj • 2 HCl, bildet. Inter- essant ist, daß dieser Verbindung eine ring- förmige Struktur zugesprochen werden muß, nämlich > CK s s I I Cv /C=NH H Auf diesen Umstand gründet Söderbäck weit- tragende Spekulationen von Bedeutung allgemeiner Art, auf die hier jedoch nur hingewiesen sei. H. Heller. Über eine eigenartige Verfälschung von Blei- mennige berichtet R. Cohn in der Chem.-Zeilg., 43. Jahrg., 1919, S. 905. Die vorliegende Probe der zu untersuchenden Mennige erschien nach dem oberflächlichen Augenschein zunächst keines- wegs verdächtig. Aber das Verhalten der Probe beim Erhitzen sowie gegenüber der Behandlung mit Salz- oder Satpetersäure brachte zunächst den Beweis, daß zumindestens keine reine Mennige vorlag. Der hierbei verbleibende Rückstand er- wies sich als Bariumsulfat. Derartige Verfälschun- gen von Mennige sind keineswegs selten und nicht neu. Das Besondere des vorliegenden Falles beruht darauf, daß, wie die weitere Untersuchung zeigte, Mennige überhaupt nicht vorhanden war, ebensowenig eine andere Bleiverbindung. Viel- mehr stellte die Probe lediglich Schwerspat dar, der durch einen Teerfarbstoff, wahrscheinlich Eosin, orangerot gefärbt worden war. Dieser „Mennige Ersatz" kann natürlich in keiner Weise in bezug auf seine technischen Eigenschaften die Mennige ersetzen. F. H. Astronomie. Vom Mars. Man wird sich er- innern, wie im Jahre 1909 dieser Planet so auf- fallend hell sichtbar war, so daß sein rotes Licht ihn deutlich von allen Sternen des Himmels unter- schied. Nun beginnt der Planet wieder in günstigere Beobachtungslagen zu kommen, denn wir nähern uns rasch einem neuen Zeitpunkt, an dem der Planet noch günstiger steht als im Jahre 1909. Er wird dies Jahr vom März bis in den Juni hinein leicht sichtbar sein, und kommt uns in den nächsten Jahren noch näher. Während seine größte Annäherung dies Jahr auf den 28. April fallt mit einem Abstand von 0,583 astro- nomischen Einheiten und einem scheinbaren Durch- messer von 16,0" sind diese Werte für 1922 Juni 18: 0,453 u"d 20,5". Dann kommt das Jahr der günstigsten Sichtbarkeit, da sind die Daten 1924, August 23, die Entfernung 0,373 und der Durchmesser 25 Sekunden. Das ist noch günsti- ger, wie im Jahre 1909, damals betrug die Ent- fernung etwas mehr, nämlich 0,389 und der Durch- messer dementsprechend weniger, nur 24 Sekunden. Auch die Helligkeit nimmt stark zu, setzt man sie für dies Jahr gleich 3, dann ist sie das nächste Jahr 6 und im Jahre 1924 sogar 10, das ist die größte vorkommende Leuchtstärke. Es ist zu hofTen, daß die instrumenteilen Fortschritte sowie die der photographischen Technik uns dann in diesem Jahre neue Aufschlüsse über die Erschei- nungen auf dem Planeten geben werden, insbe- sondere werden sie zeigen, inwieweit die zurzeit beste Marserklärung, die von Adrian Baumann, allen Beobachtungen genügt. Riem. Über Venusbeobachtungen wird berichtet, daß Nelson am 11. Juni 1919 einen Polarfleck be- obachtet habe, ähnlich denen auf dem Mars, und zwar leuchtend weiß, so wie der Mondkrater Aristarch. Um dieselbe Zeit will Flammarion dasselbe beobachtet haben und Nor lind sogar noch einen Südpolfleck von dem gewaltigen Durchmesser von 40 Grad. Solche Beobachtungen scheinen nicht vereinzelt zu sein, da Flammarion auch im Sommer 1914 ein gleiches berichtet. Trotzdem muß zur Vorsicht gemahnt werden, da nach allgemeiner Ansicht dieser Planet von einer sehr dichten Wolkendecke umgeben ist, die uns den Anblick der Oberflache des Planeten unmög- lich macht. Dies geht hervor aus den direkten Beobachtungen, aus dem sehr hohen Licht reflexions- vermögen dieser Hülle und aus den Erscheinungen bei einem Venusvorübergang vor der Sonnen- scheibe, die in dem Auftreten eines hellen Saumes um den dunklen Planeten bestehen. Riem. Botanik. Neues von der Mistel. Bekanntlich ') Vgl- ijD's chemische Valenz in heutig. Auffassg." und Verf. in Naturw. Wochenschr. N. F. 18, S. 273 (1919. Nr. 20). sind drei Mistelrassen bekannt, die Laubholz-, die Kiefern- und die Tannenmistel, von denen ge- gewöhnlich keine auf die Wirtsbäume der anderen übergeht, wenn auch vereinzelte Erfahrungen zeigen, 140 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 9 daß ausnahmsweise ein solcher Obergang vor- kommen kann. Neuerdings hat nun Hein rieh er versucht, durch Kreuzung zwischen Laubholz- und Nadelholzmistel Samen zu erhalten, um festzu- stellen, wie sich dieser bei der Keimung auf Laub- und auf Nadelholz verhalte. Zu diesem Zwecke wurden die Blüten einer weiblichen Weißdorn- mistel mit Pollen einer Tannenmistel bestäubt. Dabei war Sorge getragen worden, daß andere Bestäubung durch Insekten nicht stattfinden konnte. Dies geschah durch Umhüllung der weiblichen Pflanze mit einem Beutel aus Stramin, einem Ge- webe von ^/j — I qmm großen Maschen, durch welche die als Bestäuber der IVIistel angegebenen Bienen und Fliegen nicht hindurchgelangen können. Zur Kontrolle war ein anderer, nicht künstlich be- stäubter weiblicher Mistelbusch auf dem Weiß- dorn großenteils ohne Hülle gelassen und nur einer seiner Äste gesackt worden, und außerdem war eine männliche Weißdornrnistel vorhanden; alle übrigen Büsche waren entfernt worden. Bei diesem Versuche zeigte sich nun, daß innerhalb der Straminbeutel nicht nur an dem künstlich be- stäubten, sondern auch an dem zweiten Mistel- busch Beeren entstanden, freilich hier in weit ge- ringerer Zahl als an dem nicht gesackten Teile des Busches. Dies schien darauf schließen zu lassen, daß durch den Wind Blütenstaub in die Beutel geführt war und die Bestäubung vollzogen hatte. Bei einem weiteren Versuch mit einer männlichen und zwei weiblichen Misteln auf einem Apfelbäum- chen, wobei auf die künstliche Bestäubung verzichtet und die eine weibliche Pflanze gesackt, die andere freigelassen wurde, entstanden wiederum auch an der gesackten Mistel einige Beeren. Heinricher schließt hieraus, daß bei der Mistel tatsächlich neben der Bestäubung durch Insekten auch eine solche durch den Wind stattfinde. Ein gleiches gibt er auch für die Zwergmistel (Arceuthobium oxycedri) an. Die von den früheren Beobachtern behauptete Nektarausscheidung in den weiblichen Blüten von Viscum album konnte Verf. nicht nachweisen, auch vermochte er nicht das Vor- handensein einer Nektariendrüse festzustellen. Er ist daher der Ansicht, daß die Mistel (wie auch Arceuthobium) den Insekten nur Pollen darbiete, und findet hierfür eine Stiitze in einer Angabe Kirchners, der die Bienen nur an männlichen Mistelbüschen beobachtete. Indessen gibt Hein- richer zu, daß die weniger intelligenten eigent- lichen Bestäuber, nämlich die von Kirchner festgestellten Fliegen der Gattungen Pollenia und Spilogaster, auch die weiblichen Mistelpflanzen absuchen. Er betrachtet die zweifache Art der Bestäubung angesichts der frühen Blütezeit der Mistel, in der oft Witterungsumschlag das Insekten- leben stark zurückdrängt, als sehr zwäckmäßig und als die Ursache des regelmäßigen Fruchtens der Pflanze. Jedoch müssen weitere Versuche und Beobachtungen abgewartet werden, ehe ein abschließendes Urteil über die Bestäubungsver- hältnisse bei der Mistel abgegeben werden kann. Die Erreichung des ursprünglichen Ziels, das Heinricher bei seinem ersten Versuch im Auge hatte, schien durch die festgestellte Möglichkeit der Windbestäubung in Frage gestellt. Denn es war ja möglich, daß auf einige der an dem ge- gesackten Busche befindlichen Blüten, die künst- lich bestäubt worden waren, durch Luftströmungen Pollen von der männlichen Weißdornmistel ge- langt war und daß die entstandenen 44 Beeren keine Bastardfrüchte, die doch erzielt werden sollten, darstellten. Indessen wurden doch die beabsichtigten Keimversuche in der Weise ausge- führt, daß 30 Samen auf die obersten Äste einer entgipfelten jungen Tanne und 14 Samen auf ein junges Apfelbäumchen (da der Apfelbaum der empfänglichste Wirt für die Laubholzmistel ist) übertragen wurden. Das Ergebnis war völlig ne- gativ; aus keinem einzigen Samen erwuchs, wenn auch einige keimten, eine Mistelpflanze. Gerade hieraus schließt Heinricher, daß tatsächlich Bastardsamen vorlagen, da ein so gänzliches Fehl- schlagen der Mistelerziehung namentlich auf dem Apfelbaume bei seinen außerordentlich zahlreichen früheren Keimversuchen niemals beobachtet wor- den war. Er nimmt an, daß an dem völligen Versagen auf dem Apfelbaum das „Bastardblut" der Keime schuld sei und daß die Einwirkung des Tannenpollens auch keine Samen hervorgebracht habe, die zur Besiedlung der Tanne geeignet waren. Auch hier sind, wie Verf. hervorhebt, weitere Ver- suche erwünscht. (Flora N. F. Bd. 11, 1919, S. 155 bis 167. Berichte der Deutschen Botanischen Ge- sellschaft, Bd. 37, 1919, S. 392 — 398). F. Moewes. Anthropologie. Ausbildung von Lokalformen der Anthropoiden und des Menschen. PaulMat- s c h i e hat im Laufe der Zeit für eine große Zahl von Säugetieren nachgewiesen, daß bei jeder über ein weites Gebiet verbreiteten Art innerhalb der Teilgebiete voneinander deutlich verschiedene Lokal- formen vorkommen. Zuletzt zeigte er an dem Beispiel des Schimpansen, daß dies auch für die Anthropoiden gilt ') und wenn das zutrifft, muß es notwendigerweise auch für den primiti- ven Menschen angenommen werden. Matschie fand zwischen den einzelnen Lokalformen des Schimpansen Unterschiede, die bisher nicht ge- hörig beachtet wurden. Sehr groß ist die Varia- bilität der Armlänge. Es ist nicht richtig, wenn in der jüngsten Auflage von Brehms Tierleben (Säugetiere, IV, S. 648) gesagt wird „Die Arme des Schimpansen reichen bloß bis gerade über Knie hinaus". Die Armlänge ist in Wirklichkeit bei den verschiedenen Formen dieses Menschen- afi'en sehr verschieden. Es gibt Schimpansen, deren Vordergliedmaßen so lang sind wie bei manchen Orang Utans. P"erner wird bei B r e h m behauptet, daß Ober- und Unterarm bei den Schim- ') Zeitschrift für Ethnologie, 51. Jahrgang, S. 62 ff. N. F. XIX. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 141 pansen gleich lang seien. Auch dies ist nicht allgemein richtig. In Kamerun lebt z. B. eine Form, deren Oberarm 3 cm länger als der Unter- arm ist. Das Gorillaohr soll kleiner als das Schim- pansenohr sein. Das ist nicht immer der Fall. Es gibt Schimpansen, deren Ohren 85 mm lang sind und solche, bei denen die Ohren nur 40 mm Länge haben. In Kamerun kommt aber ein Gorilla vor, dessen Ohren schon bei ganz jungen Tieren 42 mm lang sind. Verschiedene Körper- merkmale von Schimpansen zeigen Ähnlichkeiten mit entsprechenden Merkmalen bei anderen An- thropoiden, woher es kommt, daß z. B. jüngere und weibliche Gorillas leicht mit älteren Schim- pansen verwechselt werden können. Matschie beschreibt eine ganze Anzahl von Lokalformen des Schimpansen und gibt ihre Ver- breitungsgebiete an. Er glaubt feststellen zu können, daß nirgends mehrere dieser Formen in dem- selben Gebiete leben; nur an der Grenze zweier Verbreitungsbezirke findet man zwei von ihnen nebeneinander. Für die Annahme, daß es mehrere dieselben Gebiete bewohnende, voneinander ver- schiedene Schimpansen gibt, fehlt vorläufig jeder Beweis. Als allgemein gültig wird der Satz auf- gestellt, daß nur dort, wo nach Vernichtung der ursprünglichen Tierwelt, durch Überschwem- mungen oder andere dem Bestände verderbliche Veränderungen, später aus der Nachbarschaft eine Wiederbcsiedlung stattgefunden hat, Arten, die sich sonst gebietsweise vertreten, nebeneinander leben können, vorausgesetzt, daß sie verschiedenes Gelände in Anspruch nehmen. Die eingewander- ten Formen behalten aber ihre ursprünglichen Merkmale und verändern die für ihre Art be- zeichnenden Eigentümlichkeiten ihres Knochen- baues, ihrer Gestalt und ihrer Färbung keines- wegs. Ähnliches sagt M., muß auch für den Menschen gelten, weil der Mensch zu den Säuge- tieren gehört. Allerdings werden derartige Fest- stellungen auf dem Gebiete der Menschenkunde sehr erschwert durch die in vielen Gegenden seit längerer oder kürzerer Zeit eingetretene Blut- mischung, die durch Völkerwanderungen und Ein- dringen einzelner fremder Einwanderer verursacht worden ist. In Verbindung mit den Darlegungen Mat- sch i e s weist Hans Virchow (Zeitschr. f. Ethn., 51. Jahrg, S. 82 — 84) daraufhin, daß das Schlag- wort geprägt wurde, der Mensch habe sein Klima selbst geschaffen und habe sich dadurch von den Einflüssen der Umwelt unabhängig gemacht. Man kann dies in gewissem Sinne gelten lassen, meint V., obwohl neuere anthropologische Erfahrungen, z. B. an der nordamerikanischen Bevölkerung, auf die Möglichkeit hinweisen, daß durch bestimmte Lebensbedingungen der Typus geändert werde. ^) Aber irgendwann auf einer früheren Stufe seines Daseins muß doch der Mensch so kulturlos ge- wesen sein, daß er sich eben sein Klima noch nicht geschaffen hatte und ebenso wie die Tier- welt den Einflüssen der Umwelt unterworfen war. Wann dieser Zustand aufgehört hat, wissen wir nicht genau. Früher glaubte man, daß der Mensch der Eiszeit in Europa sich noch auf ihm befunden habe. Seitdem sich aber herausgestellt hat, daß er mannigfaches Steingerät anfertigte, daß er sich im Besitze des Feuers befand, und namentlich, daß er eine erstaunliche Höhe künstlerischer Dar- stellung erlangt hatte, darf man annehmen, daß er noch manches andere kannte, wovon sich keine Spuren erhalten haben: Fellbearbeitung, Flecht- werk u. a. Er hatte sich also auch schon bis zu einem gewissen Grade von der Umwelt frei ge- macht. Aber auf einer noch früheren Stufe muß die Abhängigkeit von dieser bestanden haben, und damals muß es zur Ausbildung lokaler oder re- gionärer Verschiedenheiten gekommen sein, ge- rade so gut, wie bei Anthropoiden und anderen Säugetieren, und diese Verschiedenheiten müssen durch Vererbung auf die Nachkommen überge- gangen sein. Die Beobachtungen über Veränderung der Körperformen bei den Nachkommen von Ein- wanderern in Nordamerika, auf die V. kurz bezug nimmt, scheinen aber darauf hinzudeuten, daß die Entstehung neuer Lokalformen des Menschen nicht nur in der kulturlosen Vorzeit, vor der Beherr- schung der Naturkräfte möglich war, sondern daß diese Möglichkeit auch noch in der Gegenwart fortbesteht. H. Fehlinger. Physiologie. Über das Schicksal der Blau- säure im Körper scheinen Untersuchungen von L. C h e 1 1 e erstmalig und endgültig Aufklärung zu verschaffen.^) Bisher wußte die gesamte Lite- ratur über die Toxikologie der Blausäure (HCN) nur zu berichten, daß diese als solche im physio- logischen Organismus verschwindet. Gewöhnlich glaubte man, daß sie in Kohlensäure (H^COg) und Ammoniak (NHg) verwandelt werde. Aber dieser Vorgang der durch Wasser bewirkten Um- setzung der Blausäure geht erfahrungsgemäß äußerst langsam vor sich. Der französische For- scher suchte deshalb nach einer anderen Ursache. Er ging davon aus, daß die Umsetzung der Blau- säure mit Schwefel zu Rhodanwasserstoffsäure (HCN -f S — > HCNS) bekanntlich sehr leicht und rasch verläuft. Da nun andererseits bei der Ver- dauung bzw. Verwesung zahlreiche einfache Schwefelverbindungen (z. B. H.^S) auftreten, so lag der Schluß nahe, daß diese die Umwand- lung der Blausäure verursachen (eine Anwendung dieser Umsetzung zur Blausäureentgiftung ist hier bereits mitgeteilt worden.") Versuche im Reagenzglase mit Blut als Lösungs- medium bestätigten obige Vermutung im vollen Umfang. Überzeugender noch wird die Chelle- ' Vgl. Nat. W., 1913, S. 353 — 356. ') Comptes rendus de l'Acad. Krangaise 169, S. 726 (Nr. 27 V. 27. X. 1919) und S. 852 (Nr. 19 v. lo. XI. 1919)- "j Naturw. Wochenschr. N. F. 18, S. 626 (Nr. 43, 1919). 142 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 9 sehe These durch seine Untersuchung eines mit Blausäure vergifteten Organismus selbst. Er ver- giftete einen 13 kg schweren Hund mit 80 mg reiner Blausäure. Der Tod trat nach etwa 10 Minuten ein. Alsbald wurde das Tier seziert und die einzelnen Teile in sterilen Gefäßen sich selbst überlassen. Die Temperatur betrug etwa 20 — 25". In mehreren Intervallen wurden alsdann die einzelnen Organe auf ihren Gehalt an Blau- säure untersucht. Das Ergebnis erhellt am über- sichtlichsten aus folgender der Originalabhandlung entnommenen Tabelle: Milligramme in i kg des Organs: Rhodanwasser- von Blausäure stoffsäure (Blut 6,2 — '■ Jl^ I Lunge 6,75 - Tötung (Leber 0,0 - (Blut 0,0 12,98 s To^ I Lunge „ 35.45 S- Tag Kopf „ 11,8 iLeber „ o „ (Blut 0,0 12,98 30- ^ 3g) Lunge „ 34,22 60. Tag Lunge „ 34,22 Diese sehr lehrreiche Übersicht beweist zu- nächst, daß die Blausäure als solche restlos verschwindet, was im übrigen von allen For- schern anerkannt wird. Sodann aber ist ersicht- lich, daß statt dessen schon nach kurzer Zeit Rhodan wasserstoffsäu re auftritt. Diese kann nur aus der Blausäure entstanden sein, denn zum Vergleich ohne Blausäuregaben getötete Tiere ließen keine Spur davon erkennen. Ferner aber läßt sich aus den Zahlen errechnen, daß nicht die gesamte Blausäure in Rhodanwasserstoff über- geht, sondern stets nur ein ganz bestimmter Bruch- teil. Der Um wandl ungs Vorgang ist also umkehrbar. Damit sind gleichzeitig die in einzelnen Fällen beobachteten Vergiftungsfälle durch die im allgemeinen als „ungiftig" bezeichnete Rhodanwasserstoffsäure erklärt. Denn ein Teil dieser muß sich ja stets in die höchst schädliche Blausäure zurückverwandeln. H. Heller. Bticherbesprechungen. Koelsch, A., Das Erleben. Berlin 1919, S. Fischer, 389 S. Die Verwandlungen des Lebens. Zürich 1919, Rascher & Co., 94 S. Gegenstand der Biologie ist das Leben. Es ist mir auf zweierlei Art eingehender Betrachtung zu- gänglich : ich kenne das Leben erstens aus der Quelle, die mir eigentlich und eindringlich, wenn auch nicht charakterisierend, so doch unmittelbar nahe- bringt, wo, was und wie Leben ist: mein eigenes Erleben, mein „innerer Sinn", mein ,,Lebensgetühl", das intentionale Kontinuum des eigenen Ich. Es besteht die intuitive Lebensansicht „Leben ist meines Wesens", die nicht in objektivierenden Bezeichungen auseinandersetzt, aus welchen Teilen eine Gesamtheit zustandekommt, in die sie dar- stellend zerlegt werden kann. Es wird im Gegen- teil die Einheit, das Ganze und das Wissen davon unmittelbar und unzerlegbar; geboten. Zweitens begegnet mir das Lebendige als Er- scheinung der mich umgebenden Natur. Lebendige Naturgegenstände sind Objekt der Betrachtung. Beobachtung und Versuch sammeln Erfahrungen über die Bestandteile zusammengesetzter Gebilde und über die Zerlegung des Geschehens in zu- sammenwirkende Einzelereignisse. Die beiden Quellen der Lebenserkenntnis ent- sprechen der Spaltung des Erlebnisstromes in Subjekt und Objekt, hier angewandt auf Ich und Natur. In strenger Scheidung steht das Ergebnis der Spaltung sich gegenüber als verstehende Psy- chologie auf der einen und als Wissenschaft von der raum zeitlichen Natur auf der anderen Seite. Immer wieder als Zwischenreich erscheint die Biologie, wie sie auch in der Tat älter als die wissenschaftsbegründend durchgeführte Sonderung ist. Meist freilich, in den letzten Jahrzehnten und in der Gegenwart, geht biologisches Meinen solcher Art bei mangelnder Selbstbesinnung ohne klares Urteil über Bedeutung und Folgen des Unter- nehmens vor sich. Der Betrachter vermag das Leben nicht mit den Ausdrücken der Körperwelt als Objekt der ihn umgebenden Natur erschöpfend zu beschreiben. Zur befriedigenden Kennzeich- nung muß er dem Lebendigen ein Innensein zu- schreiben, das er nach dem Bilde der nur aus eigenem Erleben bekannten Strebungen des handelnden Ich formt. Allerorts tragen die biologischen Theorien Elemente unterschiedlicher Herkunft in sich. Die psychische Komponente subjektiven Ursprungs wird im Psycholamarckismus betont. Auf ihr ruht H. ßergsons intuitiver Biologismus. Als selb- ständiges Werk begrifflichen Ausbaus mit Angabe der Richtlinien, was es aus Gründen der Logik zu sein habe, steht hier auch H. Drieschs kate- gorische Lehre der autonomen Biologie.') Im Zwischenreich der „Lebensbekundungen von wesentlich seelenhafter Natur", d. h. in' der Wieder- vereinigung der ursprünglich freilich einheitlichen, nun aber einmal geschiedenen Reiche der Seele und der Natur bewegt sich die „aktivistische Lehre vom Leben" von Adolf Koelsch. Auf sie soll hier hingewiesen, nicht ausführlich darüber ge- ') Über die Elemente des biologischen Denkens siehe: J.Schaxcl, Grundzüge der Theorienbildung in der Biologie, Jena 1919 (2. Aufl. in Vorbereitung) und Über die Darstellung allgemeiner Biologie, Heft I der Abhandlungen zur theoreti- schen Biologie, Berlin 1919. N. F. XIX. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 143 handelt werden. In kurzen Worten läßt sich so- wieso nicht erzählen, was Koelsch in seinem oft recht persönlichen, der von ihm gern getadelten Gelehrtensprache fremden Stil zur temperament- vollen Verteidigung seines Standpunktes aus- führt. „Während die Maschine lediglich ein Gewor- denes und ein Seiendes ist, ist der Organismus dieses beides und ein Werdender zugleich, ein Prozessus, ein Fortschritt." Dieses Fortgehen von einem Zustand zum andern geschieht auf Grund des Lebensgefühls. Es besagt: „Ich bin Geschehnis, bin Bewegnis, bin es immer und überall. Indem es das ist, ist es sogleich die ur- sprünglichste und einfachste Art, wie jeder sich selber gegeben erscheint; es gibt keine vertrautere und gewissere Art der Selbstinnewerdung als diese". Was von Mensch, Tier, Pflanze und Ein- zeller der Physiolog (der Mechanist I) nicht weiß, ist verwoben mit dem Lebensgefühl, in dem innerer Sinn und Außenwelt zusammenfließen zum Erlebnis. „Erlebtwerden heißt in Be- ziehung gebracht werden zum Lebensgefühl und dadurch hereingezogen werden in das, was einem Teilnehmenden, einer Totalität, einer abgeschlos- senen Einheit und für sich seienden Welt, einer Person, einem Individuum angehört. . . Erleben: das ist, wie wenn ein Schoß sich öffnet, in den ein Same hineingelegt wird. Wie die Frucht, die sich in dem Schoß aus dem Samen entwickelt, nichts anderes ist als der Ausdruck der Weise, wie die Aufnahme des Samens im Schöße erfolgt ist, so ist auch das subjektive Erlebnis Ausdruck der Weise des Empfangs, die jenem hineingelegten Reizgeschehen in der Tiefe des Lebensgttuhls bereitet wurde. Es ist also durchaus ein Pro- dukt ions Vorgang, ein Schöpfungsakt, der im Erlebnisprozeß sich vollzieht. Der physio- logische Reiz wird vernichtet wie der Same, und an seiner Stelle tritt etwas Neues auf: das Er- lebnis, das einer hat." Eingehend mit Beispielen wird das Verhalten der Tiere behandelt. Es ist nicht ausschließlich abhängig von den Geboten der Art, von den er- erbten Wegweisungen des Handelns, von den gesammelten Erlebnisrückständen des unermeß- lichen Vorweltgeschehens, sondern zugleich un- mittelbar bestimmt vom Erlebnis, das jedem Ge- schöpf persönlich aufgeht im Verkehr mit jener Gebildewelt, die in jedem Augenblick Gegenwart ist in seinem Leben. So werden in den Erleb- nissen des Einzelnen die Bedingungen des Variierens gesehen, indem aber nicht nur die Objekte der Außenwelt, sondern auch der eigene Körper Umwelt der Seele ist. Was für die Tiere gilt, wird auch bei den Pflanzen und Einzellern gefunden. Erlebnisse wirken sich in Veränderungen (Va- riationen) der Verhaltungsvorgänge aus. So ist Leben immerwährende Schöpfung. Aus der gleichen Quelle strömt die schöpferische Kraft der Gestallungsvorgänge. Tatsachen der Formbildung und Vererbung werden in diesem Sinne gedeutet. In Koelschs Biologie verdichtet sich Natur und Seele im Erleben. Das begreifen heißt für ihn das Leben erfassen. Mechanisten und Paral- lelisten werden mit gewürzten Reden bedacht, Methodologen und Logiker als leere Formalisten gering geschätzt. Die Stärke des Werkes liegt in seiner suggestiven Kraft. Auf die Kritik aller Einzelheiten möchte ich . verzichten und nur zweierlei als Empiriker und als Theoretiker sagen. Wem Erscheinungen des Verhaltens und Ge- staltens vertraute Gegenstände täglichen Beobach- tens und Versuchens sind, für den verlieren sie ihre ungewissen Wunder. Die organischen Leis- tungen sind weniger mannigfaltig, als die ersten Entdecker einer gewissen Epoche in Gegenwirkung zum schematisierenden Materialismus geglaubt haben und es in die geläufige Darstellung seitdem übergegangen ist. Die „Tatsachen" bedürfen erst der Sichtung, Reinigung und Ordnung. Die ruhige Forschung braucht noch einige Zeit unge- störter Arbeit. Die Bestimmung der Erscheinungen ist Auf- gabe der Forschung. Welchem Bereich des Den- kens die Begriffe der Darstellung des Seins und Werdens zu entnehmen sind, wird im voraus nicht entschieden. Nur wo die Bestimmung überhaupt gefährdet erscheint, ergibt sich die Notwendigkeit des Einspruchs. In der Biologie des Erlebens ist diese Gefahr zum mindesten in die Nähe ge- rückt. Ist wirklich Wahl ein Merkmal des Er- lebens (,,daß es andere im Wollen und Werten macht und daß es den zwangvoll Müssenden zum Rang eines planvoll Könnenden emporhebt" .... Koelsch, Erleben, S. 88), so taucht das Problem der Freiheit auf Frei im strengen Sinne heißt durch Nichts bestimmt. Aufhebung der Bestim- mung bedeutet Vernichtung des Feldes objektiver Wissenschaft, die ihres Gegenstandes beraubt ist. Julius Schaxel. Henseling, R., Kleine Sternkunde. 109 S. Kosmos Stuttgart 19 19, Franckhsche Verlags- handlung. Unter den zahlreichen kleinen populären Astro- nomien vielleicht die beste, die an der Hand zahl- reicher Abbildungen und einer Sternkarte aus dem großen Gebiet der Sternkunde überall das interessanteste gibt, in einer Weise, die die Liebe des Verfassers zur Sache zeigt und dadurch be- sonders anregend wirkt. Der Verfasser hat das Büchlein auf Wunsch der zahlreichen Benutzer seines alljährlichen Sternbüchleins geschrieben, und nicht nur diesen damit einen großen Dienst erwiesen, sondern sicher auch vielen andern Lesern, die ohne Vorkenntnisse hier in die Wissenschaft von den Sternen eingeführt werden und zur Mit- arbeit mit einfachen Mitteln angeregt. Der billige Preis von 2,40 M. erleichert die Anschaffung des gut ausgestatteten Werkes. Riem. 144 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 9 Anregungen und Antworten. Aufruf. Zu wissenschaftlichen Versuchen suche ich eine Misteldiossel, Turdus viscivorus, zu erwerben; aber keinen alten Stubenvogel, der Mistelbeeren nicht mehr annimmt, weil er an anderes Futter gewöhnt ist. Der Vogelfang im Krammetsvogelherd dürfte Gelegenheit bieten, Misteldrosseln unversehrt zu fangen. München, Amalienstr. 52. Prof. v. Tubeuf. Aus dem Kreise der Leser sind dem Herausgeber mehrere Zuschriften zugegangen, in denen gegen gewisse Stellen des Aufsatzes des Herrn Prof. Dr. A. Hansen (Giel3en): Die ,, Lebenswege" H. St. Chamberlains und die Naturwissen- schaft (Naturw. Wochenschr. Ijd. 18, S. 681) Einspruch er- hoben wird. Die Zuschriften wenden sich im allgemeinen nicht gegen das sachliche Ziel des Aufsatzes, nämlich gegen die Kritik der wissenschaftlich-botanischen Tätigkeit Cham- berlains, sondern gegen ihre zugespitzte Form und nament- lich dagegen, daß Herr Hansen auch die politische Haltung Chamberlains mit wenigen, aber scharfen Worten geifielte. Ganz besonders hat der Satz auf S. 683, 2. Sp. o., „Wenn die Engländer immer „Schuldige" vor ihr Tribunal laden wollten, sollten sie ihren Landsmann Cbamberlain nicht vergessen" Entrüstung erregt. Der Herausgeber sieht sich veranlaßt, hierzu zu bemerken, daß selbstverständlich nur die Autoren für den Inhalt der Beiträge verantwortlich sind. Er bedauert es aber, daß er nicht rechtzeitig genug auf jene politischen Exkurse aufmerksam wurde, um sie, die in ihrer Kürze mancherlei Mißdeutungen ausgesetzt sind, dem Autor zur Streichung zu empfehlen. Be- sonders gilt dies für den oben zitierten Satz. Wie er aufzu- fassen ist und aus welcher Überzeugung heraus er niederge- schrieben wurde, darüber geben die folgenden Stellen aus einem Schreiben des Herrn Hansen an den Herausgeber Aufklärung, die er mit freundlicher Erlaubnis des Herrn Hansen den Lesern mitteilen möchte. Herr Hansen schreibt u. a. : ,,Ganz überflüssig war dieser Vergleich (d. h. die Einbeziehung der politischen Schriflstellerei Chamber- lains in den Aufsatz. Der Herausgeber) nicht. Cbamber- lain wurde für seine Zeitungsartikel und Kriegsbriefe das hohe für unsere heldenhaften Verteidiger gegründete Ehren- zeichen zuerkannt. Seine Anhänger verstiegen sich zu der öffentlichen Aufforderung eines pekuniären ,, Nationaldanks" (für einen ,, Ausländer" ! I. Diese unglaubliche Verirrung meinte ich mit dem ,, gewichtigen Beispiel", das ich nicht anführte, um nicht politisch zu erscheinen.) Unter gänzlichem Absehen davon, daß es auch deutsche Männer gibt, wurde er als Sprecher und Bannerträger vaterländischen Geistes in den Himmel gehoben. Er nahm diesen Kultus mit englischem Gleichmut an. Es war zu erwarten , daß manche Leute be- haupten würden , die wissenschaftlichen Mängel würden von seinen politischen Leistungen mehr als zugedeckt. Wo sind die Früchte seiner Zeitungsartikel und Kriigsbriefe?" — „Bei reinen Absichten hätte er uns als Engländer vor der Gefähr- lichkeit dieses Gegners warnen sollen, statt zu seiner Miß- achtung aufzustacheln. Ich glaubte, die auf tiefster Stufe der Vernunft (besser Unvernunft) stehende Absicht der Entente, die ptlichttreuesten und edelsten deutschen Männer vor ein Gericht von Ausländern zu schleppen, nicht schärfer geißeln zu können, als durch einen Seitenblick auf das Treiben des Herrn Cbamberlain. Meine Schuld ist es nicht, wenn ein Leser diese Ironisierung für Ernst nimmt und seine Gefühle dadurch gekränkt findet, daß man einer jeder Logik und jedem Rechtsgefühl hohnsprechenden Absicht wieder mit Hohn begegnet." Erwähnt sei schließlich noch , daß der Aufsatz auch leb- hafte Zustimmung bei zahlreichen namhaften Naturforschern, Philosophen und anderen Gelehrten gefunden hat. Miehe. S. in Ü. — In der Technik der Telegraphie und Tele- phonie spielt das Problem der Verstärkung von Stromschwan- kungen zur Erhöhung der Empfindlichkeit der Nachrichten- übertragung in den letzten Jahren, insbesondere auch infolge der Bedürfnisse der Kriegführung, eine große Rolle. Einen Vorschlag hierzu erhielt R. v. Lieben bereits im Jahre 1906 in Deutschland patentiert (Patentschrift Nr. 179 807, Klasse 21g, Gruppe 4). Die zu verstärkenden Stromschwankungen werden durch die Spule eines Elektromagneten geleitet, zwischen dessen Polen ein begrenztes Kathodenstrahlbündel einer Glühkathoden- röhre hindurchgeht. Dieses wird vom Magnetfeld nahe pro- portional der Stärke seines Spulenstroms abgelenkt und zwar um so mehr, je geringer die Geschwindigkeit der Strahlen ist. Wird nun der Kathodenstrahl zu einem Teil eines zweiten Stromkreises gemacht, so entstehen auch in diesem genau synchrone Stromschwankungen, und Herr v. Lieben glaubt, daß diese bei genügender Intensität des Kathodenstrahls we- sentlich stärker werden könnten als diejenigen des erregenden Stroms. Wenn diese Erwartung, wie der Unterzeichnete durch eingehende im Auftrag der Heeresleitung ausgeführte Unter- suchungen erkannt hat, auch nicht in dem erhofften Umfang realisierbar ist, so besitzt der Vorschlag doch, insbesondere gegenüber der ausländischen Literatur, eine große Bedeutung insofern, als er offenbar zum erstenmal auf die Verwendung der Kathodenröhre zu genanntem Zweck hinweist. A. Becker. Literatur. Stutzer, Prof. Dr. O., Geologisches Kartieren und Pro- spektieren. Berlin 1919, Gebr. Borntraeger. Walther, Prof. Dr. Job., Allgemeine Paläontologie. Geologische Fragen in biologischer Betrachtung. I. Teil: Die Fossilien als Einschlüsse der Gesteine. Berlin 1919, Gebr. Borntraeger. 12 M. Ostwald, Wilhelm, Einführung in die Farbenlehre. Bd. 26 der „Bücher der Naturwissenschaft". Leipzig I9>9i Ph. Reclara. Frisch, Prof. Dr. Karl v., Über den Geruchssinn der Biene und seine blütenbiologische Bedeutung. Mit 14 Text- abbildungen. Jena 1919, G. Fischer. 22,50 M. Jensen, Prof. Dr. Paul, Erleben und Erkennen. Aka- demische Rede. Jena 1919, G. F'ischer. 3 M. Stempel, Prof Dr. W., Leitfaden für das mikrosko- pisch-zoologische Praktikum. 2. Aufl. Mit 86 Textabbildgn. Jena 1919, G. Fischer. 7 M. Mieleitner, K., Die technisch wichtigen MineralstoflTe. Übersicht ihres Vorkommens und ihrer Entstehung. Mit 9 Textabbildungen. München und Berlin 1919, K. Ülden- bourg. 15,00 M. luliult: Hans Heller, Wilhelm Üstwalds Forschungen zur Farbenlehre. (2 Abb.) S. 129. — Binzelbericbte : E. Plank, Knickschwänzigkeit und Stummelschwänzigkeit bei Haussäugetieren. (2 Abb.) S. 136. J. H. Schnurmans Steck- hoven jun.. Der Blepharoplast. S. 136. VV. Fuchs und B. Eisner, Zur Tautomerie der Phenole. S. 137. Erick Söderbäck, Die Entdeckung des freien Rhodans. S. 138. R. Cohn, Über eine eigenartige Verfälschung von Blei- mennige. S. 139. Adrian Baumann, Vom Mars. S. 139. Nelson, Venusbeobachtungen. S. 139. Heinricher, Neues von der Mistel. S. 139. Paul Matschie, Ausbildung von Lokalformen der Anthropoiden und des Menschen. S. 140. L. CheUe, Über das Schicksal der Blausäure im Körper. S. 141, — Bücherbesprechungen: A. Koelsch, Das Erleben. — Die Verwandlungen des Lebens. S. 142. R. Henseling, Kleine Sternkunde. S. 143. — Anregungen und Antworten: Aufruf S. 144. Die ,, Lebenswege" H. St. Chamberlains. S. 144. Verstärkungen von Stromschwan- kungen. S. 144. — Literatur: Liste. S. 144. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band ; der ganzen Reihe 35. Ba Sonntag, den 7. März 1920. Nummer 10. Dem Andenken an Ernst Stahl. INachJruck verboten. 1 Von Dr. Karl Am 22. November 1919 hatte Jenas hohe Schule das Andenken an ihren am 9. August verstorbenen Meister Ernst Häckel in einer ernsten Feier geehrt. Wenige Wochen später stand sie wieder trauernd an dem frischen Grabe eines ihrer Großen: am 3. Dezember ist Ernst Stahl dem treuen Freunde und langjährigen Weggenossen in die Ewigkeit gefolgt. War sein Wirken auch nicht von jener ausgebreiteten Öffentlichkeit wie das Häckels, so hat er doch nicht weniger tief gegraben. Eine bei seinem Eintritt in die wissenschaftliche Laufbahn noch auf dem schwankenden Boden der Spekulation stehende Sonderforschung, die Biologie der Pflanzen, hat er mit zielsicherer, klarer Methode in der festen Grundlage exakter Beobachtung verankert und eine andere, die Ökologie, über- haupt erst neu geschaffen. So bleibt auch sein Name unvergessen in der Geschichte seiner Wissenschaft und der Universität, an der er sie so ruhmvoll vertreten hat. Am 21. Juni 1848 wurde Christian Ernst Stahl als drittes von 5 Kindern eines Kauf- manns in Schiltigheim im Elsaß geboren. Im nahen Straßburg besuchte er das Gymnasium und fand dort in den allwöchentlichen Vorträgen und Exkursionen des hochbegabten Naturwissen- schaftlers Wilhelm Seh im per, des Vaters des bekannten Pflanzengeographen A. F. W. Schimper, frühzeitig die entscheidende An- regung für seine ganze spätere Entwicklung, üort wurde der Sechzehnjährige bereits mit den Grundlehren Darwins vertraut und auf den naturwissenschaftlichen Exkursionen darauf hin- gewiesen, die Lebewesen als in allmählicher An- passung an ihre lebendige und tote Umwelt ge- worden zu betrachten. So wandte er sich dort nach bestandenem Baccalaureatsexamen dem Studium der Naturwissenschaften zu. In der Bo- tanik war Millardet sein Lehrer, der sich um die Einführung der amerikanischen Rebe in Deutschland verdient gemacht hat und nament- lich als Erfinder der Bordeauxbrühe bekannt ist, mit der noch heute die schädlichen Pilze des Weinstocks (Oidium Tuckeri und Peronospora viticola) am wirksamsten bekämpft werden. Als nach dem Kriege 1870/71 Straßburg deutsch wurde, wandte sich Stahl auf sein Anraten nach Halle, wo damals de Bary seine berühmten Untersuchungen über die F'ortpflanzung der Pilze machte. Als dieser im folgenden Jahre nach Straßburg berufen wurde, begleitete ihn sein Schüler dorthin und promovierte 1873 mit der Gtrhardt, Jena. Dissertation „Entwicklungsgeschichte und Ana- tomie der Lentizellen". Bei dem 2. führenden Botaniker der damaligen Zeit, Julius Sachs in Würzburg (der 3. war Hofmeister in Tübingen), habilitierte er sich mit der Arbeit „Über die ge- schlechtliche Fortpflanzung der Collemaceen". 1880 kam er zum 3. Male, einem Ruf als Extra- ordinarius folgend, nach Straßburg, übernahm aber schon 1881 die durch Eduard Stras- burgers Berufung nach Bonn freigewordene ordentliche Professur an der Universität Jena. Ihr ist er auch treu geblieben, als ihm später der Münchener Lehrstuhl angeboten wurde. Den bescheidenen, allem Äußerlichen abholden Mann, der auch äußere Ehren, wie den Geheimrats- titel, abgelehnt hat, erfüllte eine unüberwindliche Scheu vor dem Wirken in der weiteren (Öffentlich- keit, wie dies auch die akademischen Amter des Rektors und Dekans erfordert hätten. Er hat sie da- her niemals verwaltet. Um so mehr haben ihn die Ehrungen erfreut, die ihm bei verschiedenen Ge- legenheiten, zuletzt anläßlich seines 70. Geburts- tags am 21. Juni 1918, von selten gelehrter Körperschaften und durch seine Freunde und Schüler zuteil wurden. Diese Anerkennung seiner Lebensarbeit in weiten Fachkreisen hat ihn hoch- beglückt. Wenn Stahl gerne von seiner wissenschaft- lichen Tätigkeit sagte: „Meine Lebensarbeit ist selbst eine Anpassung an die Umwelt gewesen ; die räumliche Enge meines Instituts und seine bescheidenen Mittel haben mich frühzeitig zu um so eifrigerem Studium der freien Natur ge- bracht" , so ist das gewiß nicht wörtlich zu nehmen. Er hat selbst oft betont, einen wie nachhaltigen Eindruck gerade Schimpers zu- sammenschauende Naturbetrachtung auf ihn ge- macht habe, und wie dessen Ausflüge, die weniger darauf ausgingen, nur die Kenntnis der vor- kommenden Arten zu erweitern, als vielmehr das Verständnis für die durch Boden, Klima und die mannigfachen anderen Einflüsse bedingte Eigenart in der Zusammensetzung eines bestimmten Florengebiets zu bilden und daraus weiter an der einzelnen Pflanze Bau und F"unktion der Organe zu begreifen, die Fragen in ihm — frei- lich völlig selbständig — geweckt haben, deren Lösung später die Hauptaufgabe seiner Forschung geworden ist. Dazu kam eme innere ihm eigen- tümliche Abneigung gegen umfangreiche Appa- raturen und umständliche Untersuchungsmethoden, denen er um so eher entraten zu können glaubte, als sie in seiner eigenen .Studentenzeit noch so 146 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XlX. Nr. 10 gut wie gar nicht entwickelt waren.') Als ihm de Bary vorschlug, die geschlechtliche Fort- pflanzung der Flechten, über die man noch gar nichts wußte, zu studieren, griff er daher nicht durch Zufall, sondern mit der bewußten Über- legung zu den Collemaceen, daß hier wegen der gallertartigen Beschaffenheit des Thallus am ehesten ein deutliches und klares Bild zu er- warten sei. Daß er gleich vom ersten Gang die geeignete Spezies heimbrachte und schon in den ersten Schnitten seinem Lehrer Carpogone und Spermogonien zeigen konnte, bezeichnete er, als später durch die Untersuchungen namentlich von E. B a u r auch weniger einfach liegende Fälle bekannt wurden , als einen besonders glücklichen Zufall. Dieselbe Eleganz in der Ein- fachheit und Sicherheit der Methodenentwicklung kennzeichnet auch alle seine späteren Arbeiten. Ein Blatt Filtrierpapier, getränkt mit einem Tropfen Kobaltchlorürlösung ist fast das einzige Hilfsmittel bei der Feststellung einer ganzen Fülle wertvollster Beobachtungen gewesen. Und hierbei hat er sich wiederum einer IVIethode be- dient, die auch in den anderen naturwissenschaft- lichen Sondergebieten so viel Erfolg gebracht hat , das ist der Vergleich , in seinem Fall der biologische Vergleich. Auf ihn als wichtigstes Forschungsmittel hat er immer von neuem hin- gewiesen. In seiner letzten Arbeit sagt er darüber folgendes : „Der Vergleich extremer Fälle , wo die Unterschiede am schärfsten zutage treten, verspricht hier, wie auch in anderen Fällen, am ehesten Erfolg und läßt erhoften, daß die hierbei gewonnenen Gesichtspunkte das Verständnis auch in weniger ausgeprägten Fällen ermöglicht werden", und führt als Beispiel seine Behand- lung des Mykorhizenproblems an: ,,dort hat die vergleichende Betrachtung der Gewächse mit stets verpilzten Wurzeln (Botrychium, Orchideen, Gentiana, Polygala) mit mykorhizenfreien Pflanzen (Polypodiaceen, Equiseten, Cyperaceen, Cruciferen, Caryophyllaceen) es ermöglicht, die Frage nach dem Sinn der Mykorhizcnbildung schärfer zu stellen und dahin zu beantworten, daß es auf den Erwerb der Nährsalze oder ihrer Ver- arbeitungsprodukte ankomme, den die nicht mykotrophen Gewächse selbständig besorgen, während die Mykorhizenpflanzen in mehr oder weniger hohem Grade auf die Hilfe von Pilzen angewiesen sind" . . .'-) Diese Vergleichspunkte waren freilich nicht einfach aufzugreifen. Aber hier zeigt sich eigcnt- ') Stahls praktische Ausbildung in der Zoologie hat sich im wesentlichen auf die Anfertigung eines einzigen Nervenpräparats am Weißfisch beschränkt. — Die Einrichtung der Praktika, die wir heute allenthalben, z. T. sogar schon in den Schulen finden, und die in ihnen geübte Methode ist erst eine Schöpfung der damaligen Zeit, auf anatomischem Gebiet namentlich durch St ras b urg er, auf physiologischem durch Sachs und später Pfeffer fast aus dem Nichts her- ausgcschafTen. ') Stahl, Zur Physiologie und Biologie der Exkrete. Elora 1919, Bd. 13, N. F. S. 89. lieh Stahls feine Beobachtungsgabe, mit der sich ein durch sein enges und inniges Zusammen- leben mit der Natur entwickelter Spürsinn ver- band, der ihn auch da Probleme sehen ließ, wo sie nicht offen zutage traten, und wo an ihnen nicht nur der Durchschnittsverstand als an selbst- verständlichen Erfahrungstatsachen achtlos vor- überging. Vielleicht in keiner seiner Arbeiten ist dies sinnfälliger zum Ausdruck gekommen als in seiner schönen Untersuchung über die Bedeutung der grünen Farbe der Laubblätter. In diesem Zusammenhang müssen auch die Reisen, die Stahl gemacht hat, als von ganz besonderer Bedeutung für seine Forschungs- richtung erwähnt werden. Sie führten ihn an die Küsten Skandinaviens, auf die Gipfel der Alpen und in die trockenen Klimate der Mittel- meerländer. Wie Marksteine stehen in seinem Leben die weiten Forschungsreisen nach Algerien, nach Java und Mexiko. Aus ihnen hat er die Anregung zu seinen großen Arbeiten empfangen, die seiner reifsten Schaffensperiode angehören. Es sind dies die Arbeiten: „Über die sog. Kom- paßpflanzen", 1881; „Pflanzen und Schnecken", i8S8; „Regenfall und Blattgestalt", 1893; „Über bunte Laubblätter", 1896; „Über Pflanzenschlaf und verwandte Erscheinungen", 1897; „Mexi- kanische Kakteen-, Agaven- und Bronuliaceen- vegetation" (Karsten und Stahl); „Mexikanische Nadelhölzer und Xerophyten" (Stahl), 1903, 1904. Über die Bedeutung solcher Reisen äußerte er sich in ungefähr folgender Weise: „Das tägliche Sehen der Umgebung, in der man aufgewachsen ist, macht den Blick stumpf für ihre Eigentüm- lichkeiten. Die Fragen, die sie uns stellt, er- ledigt man als Kind mit kindlichem Verstand und kindlicher Erfahrung. Mit der Häufigkeit des Erlebnisses verliert dann die Erscheinung an Interesse, indem sie schließlich als der weiteren Auflösung nicht mehr bedürftig hingenommen wird. Dagegen sieht man nun mit erwachsenen Augen unter anderen Himmelsstrichen bei völlig anderen Lebensbedingungen eine von der bisher gesehenen weit verschiedene Vegetation, die .Wunder einer fremden Welt". Da kommt wieder das Fragen. Und nach der Antwort sucht diesmal ein erwachsener Verstand und eine vielfach gebildete Erfahrung." Da sah er in der warmen und feuchten Atmosphäre des tropischen Regenwaldes riesige, oft eigenartig gestaltete Blätter sich entfalten, hier langausgezogene Spitzen an den Spreiten, dort ihre samtartige Oberfläche, neben der grünen Farbe häufig rote Flecken oder weißglänzende Silberspiegel, an den Blattstielen dicke Gelenkpolster, nun auch in der Heimat, in abgeschwächter Form zwar, ähnliche Erscheinungen und damit wiederum Unterschiede, die zu einer Fülle neuer Fragestellungen Anlaß gaben. Aber auch für Stahl war mit der Frage nicht gleich die Antwort gegeben. So klar und selbstverständlich klingt heute die große Mehr- N. F. XIX. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. H7 zahl seiner Forschungsergebnisse, dai3 man ihnen die harte, mühsame und oft entsagungsvolle Gedankenarbeit nicht ansieht, die nur ein leiden- schaftlich fragender Forscherdrang zu Ende führen konnte. Mehr als lO Jahre hat ihn nach eigener Angabe die Frage bewegt, die er oft, namentlich mit dem Jenaer Physiologen Bieder- mann erörtert habe: „es muß doch einen Sinn haben, daß die Laubblätter grün und nicht ebenso so häufig gelb und rot und blau und braun oder gar schwarz sind I" Da seien die ausgezeichneten Arbeiten Engelmanns über den Sinn der braunen und roten Farbe der Meeresalgen er- schienen; und das Erlebnis eines farbenprächtigen Sonnenuntergangs auf dem Rigi habe dem Pro- blem die entscheidende Fragestellung gegeben : ,,Wie ist die grüne Farbe als eine Anpassung an bestimmte Strahlen des Himmelslichtes zu ver- stehen?" Eingehende physikalische Studien über Qualität und Intensität des Lichts und seiner Veränderung beim Durchgang durch die Atmo- sphäre leiteten die weitere Arbeit ein. Dann folgten physiologische Untersuchungen. Und aus dem Ganzen entstand die schon erwähnte Schrift „Laubfarbe und Himmelslicht" 1906 und die größere „Zur Biologie des Chlorophylls, Laub- farbe und Himmelslicht, Vergilbung und Etiole- menl" 1909. Dies Beispiel charakterisiert überhaupt Stahls Arbeitsweise. Mit genialem Blick, in intuitiver Eingebung wird das Problem als solches erkannt. In unermüdlicher Arbeit werden sodann die Thesen zu seiner Erklärung gestellt, geprüft, für richtig befunden oder verworfen. Erst nach- dem er es dann wissenschaftlich erschöpft und durchgearbeitet hat, wird es der Öffentlichkeit übergeben. Von da ab ist es für ihn , soweit nicht neue, tiefer dringende Gesichtspunkte auf- tauchen, erledigt. Niemals hat er die Feder aufgenommen, seine Anschauung zu verteidigen. So blieben die teilweise persönlich gefärbten, scharfen Angriffe Brefelds gegen seine Flechten- untersuchungen unerwidert. Ausgehend von dem Gedanken, daß man selbst nicht mehr objektiv sein könne gegenüber eigenen Anschauungen, überließ er sie dem Kampf der Meinungen in der Überzeugung, daß das, was dauernden Be- stand habe, ohnehin sich durchsetzen werde. Und er hat Recht gehabt. Trotz der Heftigkeit der Bre fei d 'sehen Angriffe hat sich die Richtig- keit seiner Ansicht über die Sexualität der Flechten bestätigt; sie gehört heute zu dem un- bestrittenen Tatsachenbestand der Botanik. Die hier erwiesene Genauigkeit und Zuverlässigkeit seiner Untersuchungen erhellt übrigens auch aus der Tatsache, auf die Detmer schon hingewiesen hat, daß die in seiner Doktorarbeit gegebene Auffassung über Bau und Funktion der Lenti- cellen keine wesentliche Verbesserung mehr er- fahren und , für eine Dissertation eine gewiß seltene Auszeichnung, Aufnahme in allen Lehr- büchern gefunden hat. In seiner Grundanschauung stand Stahl auf dem Boden der Deszendenztheorie im Sinne von Darwins Selektionslehre. In der sicheren Er- kenntnis ihres Werts als eines heuristischen Prinzips ist er nicht müde geworden, die Forde- rung ihrer Anwendung gegenüber den sie ganz oder teilweise ablehnenden Stimmen immer von neuem zu stellen. So sagt er einmal: „Auf dem Boden der von Darwin begründeten An- schauung stehend betrachten wir die pflanzlichen Organismen als geworden unter dem auslesenden Einfluß der Umwelt. Viele Möglichkeiten der aus unbekannten Ursachen sich abspielenden Entwicklung mögen vorhanden gewesen sein, zur Weiterbildung gelangten aber diejenigen Eigen- schaften, welche ihren Trägern die Erhaltung im Kampf ums Dasein ermöglichten. Jeder Natur- forscher gibt heute zu, daß Blumen ohne die sie bestäubenden Insekten, mechanische Schutz- mittel ohne pflanzenfressende Tiere sich nicht ausgebildet hätten. Vor den Grundtatsachen der Gestaltung, vor dem gleich dieser der natür- lichen Zuchtwahl unterworfenen Chemismus, wie er sich in dem Organismus vollzieht , macht jedoch noch heute die Mehrzahl der Biologen, nicht zum Vorteil des Verständnisses, halt. Man betrachtet sie einfach als gegeben, einer bio- logischen Betrachtung weder fähig, noch be- dürftig, obschon nicht zu verkennen sein dürfte, daß eine allseitig befriedigende Einsicht in das Wesen eines Organismus nur auf Grundlage der sich gegenseitig ergänzenden physiologischen und biologischen Betrachtungsweisen erhofft werden kann."') Gerade Stahls Arbeiten sind der glänzendste Beweis für die außerordentliche Fruchtbarkeit der teleologischen Betrachtungs- weise. Daß er dabei jener öden Zweckmäßigkeits- schnüffelei, die uns die Lektüre namentlich popu- lärer Darstellungen biologischer und ökologischer Fragen oft so unerträglich macht, immer fern geblieben ist, brauchte nicht erwähnt zu werden, wenn nicht auch seine Untersuchungen mehrfach diese Entstellung durch unklare Köpfe erfahren hätten, über die er sich weidlich geärgert hat. Im Gegenteil hat er Weismanns Auffassung, der er sich sonst in vielen Punkten angeschlossen hat, hinsichtlich der „Allmacht der Natur- züchtung" als der Kritik der Tatsachen nicht standhaltend abgelehnt. So bezeichnet er selbst, um nur ein Beispiel zu nennen, die braune Farbe der im Innern der Gewebe verborgenen Skleren- chymfasern der Farne, die gelbe vieler sklero- tischer Zellen, auch das gelegentliche Auftreten roter Farbstoffe im Zellsaft der verschiedensten Pflanzenzellen als eine bedeutungslose Begleit- erscheinung von nach anderer Seite wichtigen Eigenschaften.-) Können wir Stahl somit einen Anhänger ') Stahl, Zur Biologie d. Chlorophylls usw. Jena 1909, S. 3. ^) Stahl, Bunte Blätter, Annales du iardin bot. d. Buitenzorg 1896, S. 138. 148 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. lo des Biomechanismus nennen, der im Gegensatz zum Vitahsmus alle zweckmäßigen Erscheinungen an den Organismen für komplex, also für auf- lösbar, aber nicht für elementare Phänomene hält, so muß doch einschränkend bemerkt werden, daß er ihn nur im methodischen Sinne als Forschungsprinzip teilt. Als Weltanschauung lehnt er ihn wie jedes andere philosophische System als nicht genügend begründet ab. Darum ist er auch der naturphilosophischen Lehre Hack eis, dessen überragende Bedeutung für die Entwicklung der Abstammungslehre und ihr verwandter Gebiete er nie aus den Augen ver- loren hat, stets fremd geblieben. Mit feinem Humor erzählte er, wie an den , Referierabenden', die alle 14 Tage einen auserlesenen Kreis Natur- wissenschaftler zu wissenschaftlicher Aussprache und geselligem Beisammensein jeweils im Hause eines Kollegen versammelten, Häckel nament- lich zum Verdruß Ernst Abbes immer wieder nach den Eigenschaften des Weltäthers fragte, in der Hoffnung, in ihm einen wichtigen Baustein für sein Weltsystem zu besitzen, und wie er gar nicht einsehen wollte, daß diesem nur die immer- hin höchst wertvolle Bedeutung einer Arbeits- hypothese , nicht aber eines existenten Dinges beizumessen sei. Seiner äußerst vorsichtigen und immer streng kritischen Denkweise entsprach es durchaus, daß Stahl gegenüber allen meta- physischen Systemen den Standpunkt des Agno- stikers vertrat, indem er von ihnen sagte : „Sie gehen über die Schranken sicherer Erkenntnis weit hinaus und schlagen den Geist in Fesseln." In herzlicher Dankbarkeit gedenken zahlreiche Schüler des trefflichen Lehrers. Stahls Vor- trag war nicht leicht, oft stockend und durch die IVliiteilung einer Pulle von Einzelbeobachtungen, deren inneren Zusammenhang namentlich die jungen Semester in der Vorlesung über „Allge- meine Botanik" nicht immer erkannten, zuweilen verwirrend. Ein um so größerer Genuß war es für den Fortgeschrittenen , seinem ureigensten Kolleg über „Ausgewählte Kapitel aus der Geo- graphie und Biologie der Pflanzen" zu folgen. Hier schöpfte er aus dem ganzen, großen Reich- tum seiner eigenen Erfahrung, hier besprach er unter Anführung zahlreicher Beobachtungen die PIrgebnisse seiner eigenen Forschung, hier führte er auch mit beredten Worten den Hörer in die Wunderwelt fremder Erdteile, die er mit so be- sonders aufnahmefähigem Geist geschaut. Allen Bitten seiner Freunde und Schüler, dieses wert- volle Material der Öffentlichkeit zu übergeben, hat er widerstanden. Die schriftstellerische Tätigkeit war ihm unbehaglich. So ist zu be- fürchten, daß dies große Material der Allgemein- iieit verloren geht. In den praktischen pbungen war es sein Bestreben, schon den Anfänger zu möglichst großer Selbständigkeit zu erziehen. Dies Verfahren ermöglichte ihm zugleich, früh- zeitig sich ein Urteil über die Befähigung des einzelnen zu bilden und so nur die als Doktoran- den anzunehmen, die den oft durchaus nicht leichten Themen für die Dissertation gewachsen schienen. Es kam so nur selten vor, daß einer nach mühevoller, semesterlangen Arbelt das ge- stellte Problem ungelöst wieder beiseite legen mußte. Mit wachem Interesse und fast sicht- barer eigener Spannung folgte er dafür den Arbeiten seiner Schüler, durch Mitteilung eigener Beobachtung anregend, durch Fragen und Ein- wände immer wieder zu sorgfältiger Kritik mahnend. Wahre Feststunden waren die Gänge mit ihm durch den botanischen Garten, dessen Pflege er seine ganze Liebe schenkte. Immer von neuem überraschte er hier durch die Originalität seiner Gedanken. Der frühe Morgen und der späte Nachmittag — Zeiten, in denen ihn kein Be- sucher störte — waren vornehmlich die Stunden, in denen er seine Beobachtungen sammelte. Seine besondere Sorge galt den Fremdlingen in Jenas Flora, von denen er viele zum Schmerz der eingefleischten Pflanzengeographen heimisch gemacht hat. In den Warmhäusern gedieh unter seiner und des von ihm hochgeschätzten Garten- inspektors Rettig kundiger Pflege eine reiche Auswahl jener merkwürdigen Tropenpflanzen, über die er so fesselnd zu berichten wußte. Daß unter den Kriegsverhältnissen namentlich nach Rettigs Tode auch der (iarten schwer litt, war ihm ein schmerzliches Erlebnis. Um so größer war seine Befriedigung, daß es ihm noch in aller- letzter Zeit vergönnt war, durch die Anstellung eines neuen Inspektors diese ihm wichtige An- gelegenheit selbst zu regeln. Als Mensch war Stahl von seinen Kollegen und Schülern wegen seines feinen und vornehm- schlichten Wesens hochgeachtet. Eine herzliche Freundschaft verband ihn mit seinem engeren Fachgenossen Detmer. Mit warmem Mitgefühl hat er an dem Ergehen seiner Mitmenschen teil- genommen und in der Stille manche Not ge- lindert. Mit rührender Sorge sind namentlich seine Gedanken den im P'elde stehenden Freunden und Schülern gefolgt ; und als in der Heimat die Not ums tägliche Brot immer drückender wurde, hat er in unermüdlicher Belehrung auf die Schätze hingewiesen, die die Natur freiwillig bot. Stahl verfügte über eine selten reiche und feine allgemeine Bildung, durch die er weit über den Rahmen der P"ach Wissenschaft hinaus an- regend auf seine Umgebung gewirkt hat. An all die feinen Gedanken zu erinnern , die er über Literatur, Kunst, Philosophie und namentlich die von ihm so besonders geliebte Musik geäußert hat, fehlt der Raum. Als bezeichnend mag nur erwähnt werden, daß er dem Schriftsteller Hermann Hesse aus P^reudc über die schöne Schilderung eines Wolkenhimmels seine Arbeit „Laubfarbe und Himmelslicht" geschenkt hat. Nach einem an Arbeit und Erfolgen reichen N. F. XIX. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. ■49 Leben ist Stahl trotz seiner 71 Jahre doch nicht als ein Müder geschieden. Wenn nunmehr auch seine noch im Sommer 191Q erschienene Arbeit „Zur Physiologie und Biologie der Exkrete" als der Abschluß seines Forschens gelten kann, besonders da in ihr auch der größere Teil seiner früheren Arbeiten unter einem neuen , weit- schauenden Gesichtspunkte zusammengefaßt er- scheint, so stand er doch noch miiten im Schaffen an neuen Aufgaben, als ihn die tückische Krank- heit befiel. Für die Wissenschaft bedeutet gerade deshalb sein Tod einen schweren Verlust. Die Bedeutung der Norniuug iu der Industrie. [Nachdruck verboteQ.J Das Bestreben, gleichen oder ähnlichen Zwecken dienende Gegenstände in gleichen Formen und Abmessungen herzustellen, entspricht geistiger und materieller Ökonomie. Schon in den Uranfängen des Handwerks ist dieses Streben bemerkbar und ist zweifellos wesentlich an der Ausbildung der verschiedenen Zeitaltern eigen- tümlichen „Stile" beteiligt. Zunächst war die Formgebung sich wiederholender Stücke nach Maß und Gestalt Sache jedes einzelnen Hand- werkers, und so konnte im Rahmen des allge- mein üblichen Stiles jeder Handwerker noch in gewissem Sinne seinen eigenen Stil ausbilden. Diese Verhältnisse änderten sich naturgemäß mit der Entwicklung industrieller Verhältnisse. An die Stelle der Handarbeit trat die schablonen- mäßige maschinelle Herstellung. Während im Handwerk eine sehr gute Übereinstimmung, wiederholt nach demselben Muster durch Hand- arbeit hergestellter Stücke, außerordentliche Mühe bereitete, wurde durch maschinelle Herstellung eine so große Gleichmäßigkeit erzielt, daß man z. B. bei fabrikmäßig gefertigten Gegenständen des Kunst-„Gewerbes" absichtlich etwas unregel- mäßige Formung wählt, um handwerkliche Einzelherstellung vorzutäuschen; nur darf der Käufer nicht ein zweites Exemplar sehen, das dann die durch „Handarbeit" erzeugte Unregel- mäßigkeit an genau der gleichen Stelle zeigt 1 Die maschinelle Massenherstellung häufig ge- brauchter Stücke (wie z. B. Stifte, Bolzen, Schrauben) hat naturgemäß eine wesentliche Verringerung der Gestehungskosten zur Folge. Ihren vollen Wert erhält die Massenherstellung gleichartiger Stücke aber erst unter dem Gesichts- punkte der Austauschbarkeit; d. h. die einzelnen Stücke aus verschiedenen Massen- anfertigungen müssen so große Übereinstimmung untereinander aufweisen, daß ein Stück durch ein beliebiges anderes ersetzt werden kann, es muß also z. B. bei Schrauben bestimmter Größe jeder Bolzen in jede Mutter dieses Solldurch- messers passen. Bei Schrauben spielt bekannt- lich außer dem Durchmesser auch noch die Steigung und Form der Gewindegänge für die Austauschbarkeit eine ausschlaggebende Rolle. Dies führte gerade bei Schrauben schon früh zur „Normalisierung", d. h. Festsetzung einer be- schränkten Anzahl von verschiedenen Größen in zweckmäßigen Abstufungen. Zunächst ging da- von Ingenieur A. Schob. mit jedes Werk für seinen eigenen Bedarf un- abhängig von anderen Werken vor. Sehr bald machte sich jedoch, je mehr auch eine Speziali- sierung in der Technik sich entwickelte und die Anfertigung von Schrauben zum Teil ausschließ- liche Aufgabe einzelner Spezialfabriken wurde, mit Erfolg das Bestreben geltend, wenigstens die gebräuchlichsten Schraubengrößen einheitlich her- zustellen. Das verbreiteste Gewindesystem, selbst in Ländern, die sonst das metrische Maßsystem angenommen haben, ist das englische, auf dem Zollsystem aufgebaute Whitworth- Gewinde. Trotz der sehr weiten Verbreitung dieses Gewinde- systems verwenden doch auch heute noch viele Firmen ein eigenes „Spezialgewinde". Diese Eigen- brödelei geschieht vielfach in der engherzigen Absicht, den Bezug selbst so einfacher Ersatzteile wie Schrauben von einer anderen Firma unmög- lich zu machen. Dadurch ergibt sich eine Zer- rissenheit selbst bei technisch ganz einfachen Konstruktionen, die sich besonders im Kriege außerordentlich nachteilig bemerkbar gemacht hat. Beispielsweise war es sehr häufig unmög- lich, an einem schadhaft gewordenen Automobil einer Firma A eine Verbindungsschraube oder ein Kettenglied zu ersetzen, wenn zufällig nur Ersatzteile einer Firma B zur Verfügung standen. Ganz ähnlich war die Vielgestaltigkeit in den Abmessungen der Automobilbereifungen. Unter- schiede im Durchmesser der Felgen von nur wenigen Millimetern bei verschiedenen Wagen- typen machten umfangreiche Lager an Ersatz- bereifungen notwendig. Unter dem Druck der Kriegsnotwendigkeiten sind gerade auf letzterem Gebiete schon wesentliche Vereinheitlichungen geschaffen worden, und die Erkenntnis, daß eine solche Zerrissenheit wie sie vor dem Kriege hin- sichtlich immer wiederkehrender Konstruktions- teile bestand, nicht nur für die Kriegswirtschaft, sondern auch für die PViedenswirtschaft beseitigt werden muß, hat zu den heutigen Normungs- arbeiten geführt. Es ist als besonders bedeutungs- voll dabei zu beachten , daß solche Normungs- bestrebungen auch im feindlichen Auslande ein- gesetzt haben , weil dort das gleiche Bedürfnis, selbst nach dem siegreichen Kriege, besteht. Das Hauptziel der Normalisierung ist Steige- rung der Wirtschaftlichkeit der Industrie. So einfach dieses Problem oberflächlich betrachtet erscheint, so schwierig ist es in der praktischen 150 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 10 Durchführung. Es handelt sich dabei nicht nur um die Frage: Wie wird normalisiert, sondern sehr wesentlich auch darum: Was wird normali- siert. Beide Fragen greifen ineinander, und die falsche Wahl der zu normalisierenden Gegen- stände sowie der Art der Normalisierung kann leicht größeren wirtschaftlichen Schaden als Nutzen stiften. Es darf nicht vergessen werden, daß die Einführung von allgemeinen Normen viele Werke zu einer wesenthchen Umstellung ihrer Fabrikation auf diese neuen Normen zwingt und damit erheblichen Aufwand für Neube- schaffungen an Werkzeugen und Meßinstrumenten verursacht. Dazu kommt, daß wenn nach Normen gearbeitet wird, manches Stück durch kleine Ab- weichungen von den festgelegten Maßen „Aus- schuß" wird, das durch entsprechende Anpassung des Gegenstückes (beispielsweise Zapfen und Lagerschale) bisher noch verwendet werden konnte. Die Anforderungen, die an die Genauig- keit eines Konstruktionsteiles gestellt werden müssen , sind außerordentlich verschieden. Das Gewinde eines Schraubentriebes für ein astro- nomisches oder geodätisches Instrument muß mit der größtmöglichen Präzision gearbeitet werden, während eine Befestigungsschraube für eine landwirtschaftliche Maschine oder eine Bau- konstruktion natürlich sehr viel roher gearbeitet sein kann; hier auch nur annähernde Genauig- keit wie für den ersterwähnten F"all vorschreiben zu wollen, wäre sinnlose Verschwendung. Ähn- lich liegen die Verhältnisse bei anderen Teilen, wie Stiften , Bolzen sog. Faconeisen usw. Je größere Anforderungen man an die Genauigkeit eines Teiles stellen muß, um so teurer wird die Fabrikation, insbesondere auch durch die höheren Anschaffungs- und Unterhaltungskosten der Werk- zeuge und Meßinstrumente, wie auch durch die größere Zahl der als unbrauchbar („Ausschuß") bei der Fabrikation ausfallenden Stücke. Zum besseren Verständnis dieser Verhältnisse sei hier kurz auf die Meßtechnik bei der Fabrika- tion genormter Stücke hingewiesen. Durch keine noch so vollkommenen Werkzeuge und Maschinen kann erreicht werden , daß bei der Herstellung irgendeines Stückes mit absoluter Genauigkeit das Sollmaß eingehalten , wird. Es kommen stets mehr oder weniger große Abweichungen vor. Je nach dem Grade der Genauigkeit, mit dem ein Konstruktionsglied zu seinem Gegen- stücke passen muß (man unterscheidet u. a. Grob-, Schlicht-, F"einpassung), kann man mehr oder weniger große Abweichungen von diesem Sollmaß zulassen, ohne daß ein Stück als „Aus- schuß" verworfen werden muß. Es ist aber außerordentlich wichtig, daß die Messungen bei der Herstellung und Abnahme tunlichst frei von der sehr schwankenden subjektiven Geschicklich- keit des Messenden ausgeführt werden. Deshalb verwendet man bei der Herstellung auswechsel- barer Teile, sowie bei der Massenfabrikation mit Vorliebe sog. „Grenzlehren". Unter „Lehre" ver- steht man (abgesehen von den verstellbaren Schrauben- oder Schiebelehren) eine unverstell- bare Meßvorrichtung, die also nur für ein be- stimmtes Maß brauchbar ist. Die Grenzlehre enthält nun, zu einem Meßwerkzeug vereinigt, für ein Sollmaß zwei ,, Grenzmaße", d. h. das größere der beiden Maße stellt das zulässige Größtmaß, das kleinere das zulässige Mindestmaß dar. Eine „Rachenlehre" (zur Messung von Außenmaßen bestimmt) beispielsweise für 50 mm Solldurchmesser, bei höchst zulässiger Ab- weichung + 0,1 mm, wird also auf der einen Seite 50,1 mm auf der anderen 49,9 mm messen. Die praktische Anwendung solcher Grenzlehre gestaltet sich nun einfach so, daß die größere Öffnung sich ohne Zwang über das gefertigte Stück schieben lassen soll, während die kleinere noch nicht darüber gehen darf. Läßt sich keine der beiden Offnungen darüber schieben, so ist das Stück Ausschuß, weil es zu groß ist, gehen beide darüber, so ist es Ausschuß , weil es zu klein ist. Da wie gesagt diese Lehren unver- stellbar sind, ist für jede herzustellende Größe ein Lehrenpaar erforderlich. Sollen die Lehren ihren Zweck wirklich erfüllen , so müssen sie natürlich sehr genau gearbeitet sein; die im obigen Beispiel zugelassenen Abweichungen sind für Feinpassungen noch viel zu groß. Es leuchtet also ohne weiteres ein, daß solche Lehren sehr teuer sind. Schon die Rücksicht auf die An- schaffungs- und Erneuerungskosten der Lehren veranlaßt bei der F'estsetzung von Normen Be- schränkung auf möglichst wenige Größen. Auf der anderen Seite haben zu große Abstände der einzelnen Glieder einer Normungsreihe (Schrauben, Bolzen, Formeisen, Drähte usw.) wieder Material- verschwendung und ungeschickte Konstruktionen zur Folge, wenn man nämlich mit einer be- stimmten Größe in Rücksicht auf die Sicherheit der Konstruktion nicht mehr auskommt und nun die nächste Größe wählen muß, die aber bei zu grober Abstufung gleich wieder viel zu groß für den gerade vorliegenden Zweck ist. Schon diese kurze Betrachtung zeigt, daß ob- wohl eine weitgehende , zweckentsprechend aus- gebaute Normung großen wirtschaftlichen Nutzen zu bringen berufen ist, sie jedoch mit teilweise bedeutenden Opfern seitens der Industrie erkauft werden muß, und daß bei nicht sachgemäßem Ausbau auch großer Schaden gestiftet werden kann. Überdies bestehen außer dem oben er- wähnten Schraubensystem auch auf anderen Ge- bieten durch freie Vereinbarung der beteiligten Industrien bereits eine ganze Reihe von Normen. Beispielsweise kann man Walzeisenprofile nicht in beliebigen Formen und Abmessungen beziehen, was die Walzwerke zwingen würde, ein riesiges Lager an teuren Profilwalzen zu halten, sondern Flach- , Winkel- , I-Eisen usw. werden in einer beschränkten Zahl von Größen hergestellt, die sich für praktische Zwecke bewährt haben. Immerhin wird auch hier eine durchgreifende N. F. XIX. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 151 Prüfung noch manche Vereinfachung bringen können. Die Fabrikation der Kugellager, die in immer steigendem Maße an Stelle der alten Gleit- lager Verwendung finden, hat auch bereits zur Ausbildung feststehender Formen und Ab- messungen geführt. Es kann jedoch hier um so weniger das ganze Gebiet, auf das die Normungs- bestrebungen sich erstrecken, dargelegt werden, als die ganze Entwicklung sich durchaus noch im Fluß befindet. Es sei nur erwähnt, daß sich die Normungsbestrebungen nicht nur auf das Gebiet der Maschinen-, Werkzeug-, Elektro- Industrie usw. erstrecken, sondern auch auf das Bau- wesen usw. Es liegen bereits u. a. ausgearbeitete Normenblätter vor für die einheitliche Herstellung von Blendrahmenfenstern für Kleinwohnungen. Sehr wichtig ist, daß eine Normung sich nicht nur auf Form und Abmessungen erstreckt, sondern auch auf das für die Herstellung zur Verwendung kommende Material. An Konstruk- tionsteile für Automobile oder Flugzeuge müssen im Interesse der Gewichtsersparnis bedeutend höhere Anforderungen hinsichtlich der Festigkeit gestellt werden als bei vielen anderen Konstruk- tionen. Allgemein nun aber etwa für Schrauben, Bolzen usw. Material von höchster Festigkeit zu wählen , wäre wieder gänzlich unwirtschaftlich. Also auch hinsichtlich der Materialien ist eine sinngemäße Normung sehr wohl am Platze und auch notwendig, wobei verursacht werden muß, Verwechselungen von Stücken gleicher Ab- messungen aber aus verschiedenen äußerlich nicht ohne weiteres unterscheidbaren Materialien vorzubeugen. In den Normungsarbeiten kommt das natür- liche Entwicklungsstreben der Technik nach Ver- einfachung und Zusammenfassung zum Ausdruck. Die Industrie eines Landes (oder falls später „Weltnormen" verwirklicht werden sollten, die Industrie der ganzen Welt) soll gewissermaßen zu einer großen Werkstatt mit einheitlich inein- ander greifenden Unterabteilungen ausgebaut werden. Eine weitere Folge wird eine immer stärkere Spezialisierung der Werke und die zu- nehmende Typisierung ganzer Konstruktionen sein. Auf diesem Gebiete ist Amerika teilweise schon weit vorangeschritten ; es gibt dort große Werke, die jahrelang nichts weiter bauen, als einen einzigen Typ einer Maschine, beispielsweise einer Bohrmaschine. Es erheben sich aber bereits Stimmen, die vor einem „Normalisierungstaumel" warnen. So- weit die Abneigung gegen einheitliche Normen lediglich engherziger Eigenbrödelei entspringt, ist sie mit aller Schärfe zu bekämpfen. Wir stehen hier in einer natürlichen Entwicklung, die niemand aufzuhalten vermag, die aber doch große Gefahren in sich birgt , für die Technik selbst und für die in ihr beschäftigten Menschen. Es ist einmal das treffende Wort geprägt worden : Unsere Kultur drohe am Übermaß der mecha- nischen Hilfsmittel zugrunde zu gehen. Eine fortschreitende Normalisierung und insbesondere Spezialisierung und Typisierung, so folgerichtig sie unter dem Gesichtspunkte der Ökonomie gegenwärtig auch sein mögen , bringt aber Schabionisierung und damit die Gefahr der Er- starrung, des Chinesentums auf seiner heutigen Stufe, mit sich. Solche Erstarrung hat sich be- reits einmal im Ausgange des Mittelalters viel- fach im zünftigen Handwerk gezeigt. So wurde beispielsweise in der Zunft der Nürnberger Brillenmacher ein Jahrhundert lang immer das- selbe Gesellenstück gefertigt, eine Brillenfassung in sinnlos verschnörkelter, für den wirklichen Gebrauch ganz ungeeigneter Form. In der heutigen Industrie sind schon Millionen von Arbeitern dazu verdammt, immer und immer wieder dieselbe eintönige, engbegrenzte Arbeit mechanisch auszuführen. Die eigene geistige Tätigkeit ist auf ein Minimum herabgedrückt und handwerkliche Geschicklichkeit oft ganz ent- behrlich. Diese Entwicklung wird sich immer mehr verschärfen. Damit wird die Arbeit immer mehr ausschließlich Mittel zum Verdienst, und ihr hoher ethischer Wert als Selbstzweck, ge- tragen von echter innerer Freude an der Arbeit, geht immer mehr verloren. Dieser Einfluß der industriellen Entwicklung muß paralysiert werden, soll ein großer Teil der Menschheit nicht inner- lich immer mehr verarmen — ein schwieriges aber dankbares Problem für alle, die den Wert des Lebens in der Ausbreitung und Vertiefung wahrer Kultur sehen. Einzelberichte. Astronomie. Die Einsteinsche Hypothese und die Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919. Nach Meldungen der Tagespresse soll anfangs November in London bei einer Sitzung der astro- nomischen Gesellschaft Dy so n, der Direktor der Sternwarte Greenwich den Bericht über die Er- gebnisse der Beobachtung der Sonnenfinsternis in Brasilien und an der Westküste Afrikas gegeben und hierbei erklärt haben, daß die bei dieser Ge- legenheit aufgenommenen Aufnahmen der Umge- bung der Sonne den endgültigen Beweis geliefert hätten, daß die Einst einsehe Relativitätstheorie richtig sei. Es sei das seit Newton die größte Entdeckung und die hervorragendste Leistung des menschlichen Geistes. Wenn das wirklich so wäre, dann müßte freilich aller Widerspruch gegen diese Theorie verstummen, von der Oliver Lodge bei eben dieser Sitzung gesagt hat, daß noch kein Mensch bisher sagen konnte, was diese Theorie eigentlich wäre. Ehe man sich ein endgültiges 152 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. lo Urteil bilden kann, ob diese Theorien wirklich durch jene Beobachtungen bestätigt sind, müßte man diese zunächst kennen, sie sind aber bisher noch nicht in der wissenschaftlichen Presse ver- öffentlicht worden. Vielleicht kommt das noch. Es handelt sich um folgendes. Nach Einstein soll ein Lichtstrahl, der durch das Gravitations- feld eines Fixsternes geht, hier abgelenkt werden. Wenn wir also bei einer totalen Sonnenfinsternis die nähere Umgebung der Sonne auf die Platte bringen, und dasselbe tun, wenn die Sonne nicht mehr dort steht, dann müßten die Sterne quer über die Sonne gemessen, andere gegenseitige Entfernungen zeigen. Der Betrag ist sehr gering, noch nicht 2" am Sonnenrande, und schon in ge- ringer Entfernung davon verschwindend. Nun sollen also die gemessenen Platten tatsächlich diese Unterschiede zeigen. Können die aber nicht auch anders erklärt werden? Die Aufnahme kann keine Momentaufnahme sein, da es sich gerade um die schwachen Sterne handelt, die erscheinen sollen. Infolgedessen wird die Erwärmung der Luft in der Richtung auf die Sonne einen sehr störenden Einfluß ausüben, der sich im Zittern der Luft und also in einer Unscharfe der Bilder kundtut. So- dann geht der Lichtstrahl gerade durch die Sonnen- atmosphäre hindurch, durch die Korona, die zwar sehr dünn ist, aber bei einem Wege von etwa einer Million km doch auf den Lichtstrahl ab- lenkend wirken muß. Zudem haben sich nach den Berichten wolkige Massen an der Sonne ge- zeigt, die auch im gleichen Sinne wirken müssen. Es kann also so leicht noch gar keine Rede da- von sein, daß diese neue Anschauungsweise, die die ganze Welt in eine mathematische Gleichung aufzulösen droht, nun etwa bewiesen sei. Es möchte schwer halten, zu zeigen, daß die Ab- lenkung des Lichtstrahles nur diesem und keinem der anderen Gründe zu verdanken ist. Jedenfalls scheint die praktische Astronomie sich allgemein den E i n st ein sehen Anschauungen gegenüber ablehnend zu verhalten, und ihre angeblichen Be- weismittel auf andere Gründe zurückzuführen. Zu- nächst muß Dyson die Beobachtungen selber veröffentlichen und sie der Diskussion unterbreiten. Riem. Geographie. In der Münchener Anthropo- logischen Gesellschaft berichtete in der letzten Sitzung im Jahre 1919 Dr. Stresemann über seine geographischen und völkerkundlichen For- schungen aut der Ifisel Ceram (Ostindien), die l8 200qkm umfaßt und verhältniBmäßig schwach bevölkert ist; ihre Einwohnerzahl beträgt etwa 120000. Die Küstenlandschaften werden zum Teil von Mangrovenwäldem eingenommen, zum anderen Teil sind sie unter Kultur; es herrschen Sagopalmen- und Kokospalmenpflanzungen vor. Weiter nach dem Innern vordringend kamen Stresemann und seine Begleiter in eine weite, hier und da mit Büschen bestandene Grassteppe, in der es nur wenige menschliche Siedelungen gibt. Auf die Steppe folgt ein dichter tropischer Regenwald, in dem der Kasuar haust. Dieser Wald erfüllt die Insel bis in ihre höchsten Er- hebungen, wenn er auch, je höher die Forscher im Gebirge vordrangen , um so niedriger wurde. Bezeichnend ist hier der Reichtum an Moosen und Farnen. Die höchste Erhebung der Insel wurde mit 3010 Metern festgestellt. Die Be- steigung dieses Gipfels mit ihren ermüdenden Gratwanderungen erforderte alpine Erfahrungen. Die meisten Eingeborenen wohnen an der Küste, das Binnenland ist äußerst schwach be- siedelt. Wie fast überall in Indonesien, sind auch auf Ceram zwei Menschenrassen zu unterscheiden, eine große straffhaarige und hellhäutige des Westens und eine kleine kraushaarige und dunkle des Ostens, die in vielen Körpermerkmalen den kleinwüchsigen Papua ähnlich ist; sie steht kul- turell weit hinter dem hellhäutigen straffhaarigen Menschenschlag zurück. Die Kleidung besteht zumeist nur aus einem Lendenschurz. Die Frauen pflegen weit verbreitet die Korbflechterei und Weberei, während die Männer der Jagd obliegen. Als Jagdwild kommen der Hirsch und das Schwein vornehmlich in Betracht, die beide wohl eingeführt sind. Daneben wird noch ein Beuteltier, Kuskus genannt (Phalanga orientalis), viel gejagt. Als Haustiere sind Hund und Huhn weit verbreitet. Ziegen- und Rinderzucht ist unbekannt, auch Pferde gibt es auf Ceram nicht. Die geistigen Fähigkeiten der hellfarbigen Bewohner Cerams schätzt Dr. Stresemann hoch ein. H. P'ehlinger. Paläontologie. ,, Stammgarben" nennt O. Wilkens in der Zeitschr. f. induktive Abstam- mungs- und Vererbungslehre (Bd. XX, 1919) die Darstellungen genetischer Beziehungen innerhalb einer Tiergruppe, deren hypothetische Vereinigungs- linien nach unten sehr schnell sich vereinigen, während sich aus dem überlieferten Material eine parallele Entwicklung von getrennten Stämmen erkennen läßt. Wenn man das Hypothetische dieser genetischen Zusammenstellungen wegläßt, dann ,, werden einzelne parallel nebeneinander geordnete Stämme von einem Bande gemeinsamer Merkmale umschlungen, wie die Halme einer Garbe von dem Strohseil zusammengehalten wer- den". Die Paläontologie kann die Geschichte der Lebewesen nur bis zum Kambrium zurückverfolgen. Die kambrische Fauna — Wilkens schließt die vorkambrische Fauna in seinen Betrachtungen aus — ist schon relativ hoch entwickelt. Radiolarieii, Foraminiferen , Spongien , Medusen, Würmer, Brachiopoden, Muscheln, Schnecken, Krebse weisen schon im Kambrium die wesentlichen Eigen- schaften ihrer Vertreter der Jetztzeit auf Diese Stammanfänge stehen schon im Kambrium, ohne Übergänge zu zeigen, nebeneinander. N. F. XIX. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 153 Nach dem Walcottschen Stammbaum der Brachiopoden treten diese im Unterkambrium als drei große getrennte Gruppen auf. Die Stamm- form ist vorkambrisch und hypothetisch. In genetische Beziehung werden keine Arten, sondern Gattungen und FamiUen gesetzt. Es muß eine plötzliche Variation der Urform eingetreten sein, deren Varianten sich nebeneinander weiter ent- wickelt haben. Jackson hat 1912 eine Phylogenie der See- igel veröffentlicht. Die unterschiedenen Ordnun- gen stehen nebeneinander, sind nur durch die Stammform Bothriocidaris untereinander verwandt. Auch bei diesem Seeigelstammbaum zeigt sich eine hypothetische Stammform, ein plötzliches Variieren und ein Nebeneinander einzelner Ent- wicklungszweige. Dieselben Erscheinungen treten uns an dem Stammbaum der Insekten nach Handlirsch entgegen. Und echließlich gehören hierher auch die Schildkrötenstammbäume von Hay. Wilkens gibt auch eine Erklärung dieser „Stammgarben". Als erste führt er eine „explo- sive Entwicklung in deren rein hypothetischem Teil" an, der sich eine parallele Entwicklung ein- zelner Reihen anschließt. Nach einer zweiten Erklärungsweise müßte man nach den hypotheti- schen Formen hin ein sehr langsames Zusammen- gehen der einzelnen Stämme annehmen. Dennoch käme eine Verzweigung der Brachiopoden ins Präkambrium, die der Seeigel ins Silur, der Schild- kröten ins Paläozoikum. Man kann aber mit Wilkens auch annehmen, daß eine Unabhängig- keit zahlreicher einzelner Stämme in ihrer Ent- wicklung besteht. So ist die Entwicklung der Organismen nicht baumartig seit dem Kambrium erfolgt, sondern ist auf einzelnen Linien vor sich gegangen. Rudolf Hundt. Chemie. Über die Analogie der Wolken- und Niederschlagsbildung mit chemischen Vorgängen sprach kürzlich Prof. Schmauss in der Mün- chener Pharmazeutischen Gesellschaft.^) Man kann die Luft als eine gasförmige Lösung von kolloidalem Charakter betrachten. Die Luft als solche, d. h. das Gemisch von Sauerstoff, Stick- stoff usw., ist das Lösungs- oder Dispersionsmittel, während die darin verteilten Stoffe, deren Teilchen- größe oberhalb molekularer Dimensionen liegt, das Dispersoid darstellen. Den aus der allge- meinen Chemie geläufigen Lösungsformen ent- sprechen demnach verschiedene Formen kolloidaler Luftlösungen (oder Ärosole), die alle als ge- meinsamen Bestandteil eine gasförmige Phase, eben die Luft, besitzen. Beispiele für das Ärosol Gas -|- F"est, d. h. für Luft mit darin kolloidal verteiltem festen Stoff, sind Rauch, kosmischer Staub und die Zirrus- Wolken. Alle weisen neben der gasförmigen Phase (Luft) eine feste Phase auf. ') Sitzg. V. 31. X. igig; vgl. Referat in Chemiker-Ztg. 43, S. 884, 1919. die für die Zirrus-Wolken aus feinsten Eiskristallen besteht. Arosole vom Typus Gas -f- Flüssig stellen der Nebel und die Mehrzahl der Wolken- bildungen dar. In jedem F"all hat man es zu tun mit der gasförmigen Luft und darin verteilten feinsten Flüssigkeitsmengen. Ein Ärosol aus zwei Gasphasen wird schließlich gebildet von den dissoziierten Gasender Atmosphäre, die als Kon- densationskerne für die Niederschlagsbildung besonders wirksam sind. Diese Auffassung findet ihre Bestätigung darin, daß die Luft die meisten Eigenschaften der kol- loiden Lösungen aufweist. Als deren charakte- ristischste gilt das Tynd all -Phänomen, d. h. die Sichtbarkeit eines Lichtkegels in einem Medium, dessen Lösungsgrad nicht bis zur molekularen Größe herabgegangen ist, das also noch Teilchen von übermolekularem Durchmesser dispergiert ent- hält. Das Phänomen tritt atmosphärisch auf bei starkem Feuchtigkeitsgehalt der Luft im sog. „Wasserziehen der Sonne", wobei einzelne Sonnen- strahlenbüschel als trübe Streifen gegen dunkleren Hintergrund erscheinen. Und das Himmelsblau ist eine Opaleszenzerscheinung, die durch unendlich vielfache Brechung des Lichtes an at- mosphärischen Dispersoiden hervorgerufen wird, entsprechend der Opaleszenz, z. B. eines feinsten Niederschlages von Silberchlorid in Wasser. Auch hierbei ist die Größe der Silberchloridteilchen be- trächtlicher als von molekularer Ordnung, ohne jedoch hinzureichen, zu der für echte Suspensionen nötigen Stufe vorzuschreiten. Am wichtigsten je- doch ist, daß auch die Luft die Eigenschaften der Elektrophorese, d. i. die Bewegung kolloid verteilter Teilchen unter Einfluß des elektrischen Stromes, zeigt. Hierauf gründen sich die von Sir O. Lodge betriebenen Versuche, den zumal für England ungemein häufigen und lästigen Nebel zu bekämpfen, wobei man sich freilich des Umfangs der zu bewegenden kolloidalen Teilchen- dispersion, die ja ganze Landflächen bedeckt, be- wußt werden muß, um das zunächst Aussichtlose solcher Versuche zu erkennen. Die Analogie atmasphärischei und chemischer Zustände und Vorgänge führt zu einer Reihe recht einleuchtender Erklärungen atmosphärischer Er- scheinungen, die es erlauben, geradezu von einer Identität zwischen beiden Gebieten hinsichtlich der Kausalität ihrer Phänomene zu reden. So wird das Schweben der Wolken sehr viel verständlicher als nach älteren Anschauungen auf Grund der Annahme, das die Bestandteile der Wolken infolge ihrer elektrischen Ladung und Kleinheit am Herabsinken gehindert werden. Als Vergleich mit einem System zweier flüssiger Phasen mag die Milch dienen, in der die suspendierten Fettkügelchen ebenfalls infolge ihrer Kleinheit und Oberflächenspannung am Absitzen verhindert sind. Der Koagulation solcher Emulsionskolloide würde alsdann die atmosphärische Niederschlags- bildung entsprechen, die bisher noch recht viel Rätsel aufgibt. Um sie zu veranlassen, müssen 154 Naturwlssenschaitliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. lo zahlreiche Wolkenelemente zusammentreten. Hier- durch wird die Teilchengröße erhöht, eine Suspen- sion wird unmöglich und ein ,. Absitzen", vulgo Regen, tritt ein. — Auch die oft beobachtbare etagenweise Schichtung schmaler Wolkenbarren wird auf kolloidchemischem Wege erklärbar. Sie ist eine vergröberte Wiederholung der sog. Liese- gangschen Ringe.') Steht nach diesen glücklichen Erklärungsmög- lichkeiten eine starke Beeinflußung der Meteoro- logie durch chemische Anschauungen für die Zu- kunft außer Frage, so wird gleichzeitig das Ziel der Wetterbeeinflussung in greifbare Nähe geführt. . So wie für chemische Vorgänge mag man auch für meteorologische Erscheinungen ge- wisse Katalysatoren finden, die, beispielsweise, atmosphärische Feuchtigkeit in gewünschten Um- fange beliebig niederschlagen lassen. So. beobach- tete Oberltn. Diemer im Mai 1919 bei einem Höhenfluge in klarer Luft, daß durch die Aus- puffgase seines Motors eine „richtige" Zirrus- Wolke ausgebildet wurde; eine Erscheinung, die Ref im Felde ebenfalls zu beobachten Gelegenheit hatte. H. Heller. Geologie. Den „alten und jungen Saumtiefen" widmet H. S t i 1 1 e in den Nachrichten der K. Ge- sellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, mathe- matisch physikalische Klasse (1919), Betrachtungen. Unter Saumtiefen versteht Stille die Tiefsee- gräben. Frühere Forscher faßten die Tiefseegräben als „Verwerfungserscheinungen im großen Stile" auf. Von den 22 von Krümmel 1907 bekannt gegebenen Gräben entfallen 16 auf die westliche Peripherie des pazifischen Ozeans. Im indischen und im atlantischen Ozean sind diese Gräben seltener. Schon Sueß weist darauf hin, daß es auch fossile Tiefseegräben gibt, die er von den F'altenzügen tertiärer Gebirge als langgezogene Täler und Tiefen erkannt, z. B. Tal des Ouadal- quivir im Norden der Betischen Cordillere, Persi- scher Meerbusen und Niederung des Euphrat und Tigris vor den Zagrosketten, südliches Vorland des Himalaja. Am Nordrande des varistischarmori- kanischen Bogens von Schlesien über Westfalen, Rheinland, Belgien, Südengland und Irland sind Vortiefen in oberkarbonischer Zeit vorhanden ge- wesen. Bei den rezenten Vortiefen liegt das Vor- land unter dem Meeresspiegel, während bei den fossilen Vortiefen das festländische Vorland eine tektonische „Masse" darstellt. Stille sieht darin zwischen beiden Vortiefen eine Analogie, „daß Zonen besonders tiefer Absenkung den Rand von Gebirgsbögen — bzw. von Inselbögen, die als Gebirgsbögen zu deuten sind — begleiten". Wenn man die Entstehung der alten Vortiefen verfolgt, ergibt sich, i. eine ältere Nordwärtsfal- tung von Süden der späteren Vortiefe zwischen Unterkarbon und unterem Oberkarbon, 2. eine ') Vgl. „Liesegangsche Ringe" vom Verf., Prometheus 30, S. 409, 1919 (Nr. 52). Vortiefenzeit, in der sich am Nordrande des älteren Gebirges die Einsenkung und die Ausfüllung dieser Einsenkung vollzog zwischen unteren und mittleren Oberkarbon, 3, die jüngere Nordwärtsfaltung, die im mittleren Oberkarbon die Vortiefe mit ergriff. Diese aus der Betrachtung der Vortiefen von dem varistisch-armorikanischen Gebirge gewonnenen Ergebnisse bestätigen sich an den Vortiefen der Alpen. Stille kommt zu dem Schlüsse, daß die fos- silen Vortiefen Zonen „bruchloser und säkularer (epirogenetischen) Absenkung am Außenrande prä- existierender Gebirgsbögen" sind. Während des Einsinkens ruhen die orogenetischen Vorgänge. Eine jüngere orogenetische Phase bewirkte ein Vorwandern der Faltung. Sie ging in und über der Vortiefe hinaus vor sich. Von der Bogenform des Gebirgsbogens erhielt die Vorliefe ihre Bogen- form. So sind die rezenten Vortiefen ebenfalls keine tektonischen Gräben, sondern Zonen geosynklinalen Charakters in der Peripherie der sich säkular senkenden ozeanischen Räume. Die zuerst vor- handen gewesene Gebirgskette kennt während der Entstehung der Vortiefen keine orogenetischen Vorgänge. Auch bei den rezenten Vortiefen ist die Bogenform — soweit sie überhaupt vorhanden ist — von der Bogenform der Gebirgskette be- einflußt. , Diese Analogie nach Vorkommen und Ent- stehen rezenter und fossiler Vortiefen bezieht sich auf solche, die in der Nähe von Gebirgsketten liegen. Nun gibt es aber auch Vortiefen, die nicht im Zusammenhang mit Rändern von Kontinenten und Gebirgen gebracht werden können. Dahin gehören die südamerikanischen Vortiefen, die Stille „Rücktiefen" nennen möchte. Für ihre Entstehung sind wohl dieselben Annahmen wie die bei den Vortiefen berechtigt. Weil allen diesen Gräben wahrscheinlich gleiche Entstehung zuge- schrieben werden muß, schlägt Stille für alle diese Erscheinungen den Oberbegriff „Saumtiefe" vor. l;i Aus der Lage der Saumtiefen neben Gebirgs- und Inselzügen folgt der Schluß, daß sie als Folge einer undatorischen Nahwirkung stabilerer Zonen aufzufassen sind. Rudolf Hundt. Über Hauptformen der Orogenese und ihre Verknüpfung bericlitet Hans Stille in den „Nachrichten von der K. Gesellschaft der Wissen- schaften zu Göttingen, Mathematisch- physikalische Klasse 19 18". Von Stille werden vier Hauptgruppen oro- genetischer Gebilde unterschieden: Das Decken- gebirge (weite Teile der Alpen), das F'altengebirge (Schweizer Jura), das Bruchfaltengebirge (saxoni- sche Faltung in Mittel- und Nordwestdeutschland), das Blockgebirge (Great Basin zwischen Sierra Newada und den Rocky Mountains (östliche Rand- zone der rheinischen Masse), diese Haupttypen N. F. XIX. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 155 treten nicht überall rein auf, sondern es besteht eine Verknüpfung zwischen ihnen durch Zwischen- formen. Zwischen Decken- und Faltengebirgen sind in den großen Überschiebungen des belgi- schen Kohlenreviers Übergangsformen vorhanden. In den oberkarbonischaldyadischen Schichten des Saar -Nahe- Gebietes tritt uns nach Stille eine Zwischenform zwischen Falten- und Bruchfalten- gebirge entgegen. Auch räumliche Verknüpfung stellt sich ein, wenn die Tektonik in ihrem Fort- streichen Änderungen erfährt. Orogenesen sind episodische Ereignisse zwi- schen langen anorogenetischen Zeiten, in denen epirogenetische Bewegungen vor sich gehen. Stille stellt sein „orogenetisches Zeitgesetz'' auf, daß „alle Gebirgsbildung, auch die des Bruch- falten- und Blockgebirges an verhältnismäßig wenige und zeitlich eng begrenzte Phasen von erdweiter Bedeutung gebunden ist". Der Orogenese steht die Epirogenese gegen- über, die eine ,, Vertikalbewegung unter ganz schwacher, aber anhaltender Verbiegung oder, wohl richtiger gesagt, eine Vertikalbewegung in- folge einer derartigen „Faltung größter Amplitude" ist". Früher prägte Stille für diese Erscheinung den Begriff Undation gegenüber den Undulationen der orogenetischen Zeiten. Mit Orogenese haben auch die atektonischen Dislokationen nichts zu tun, die sich zeigen in Schollenabsetzungen an Talhängen, in Haken- bildungen an Talhängen, in Faltungen plastischerer Gesteinsmassen an Talhängen infolge Gehänge- gleitungen, in subaquatischen Rutschungen, in Gletscherwirkungen auf dem Untergrund, in Ein- brüchen über Auslaugungsräumen, in den Wirkun- gen lakkolithischer Veränderung. Die Altersbestimmung eines orogenetischen Gebirgsbildungsvorganges kann unmittelbar er- folgen, wenn nach der Orogenese die Sedimen- tation wieder einsetzt, mittelbar dann, wenn die Zeitfestlegung im Vergleich mit anderen Verhält- nissen gewonnen wird. Wie die orogenetischen Vorgänge an bestimmte Zeiten der Erdgeschichte geknüpft sind, so steht auch fest, daß gleichzeitig die verschiedenen Gebirgstypen entstanden sind. Bei allen diesen Vorgängen fanden allein aufwärts gerichtete Bodenbewegungen statt. Diese Auf- wärtsbewegung ist immer auf den ozeanischen Spiegel bezogen. In diesen orogenetischen Vorgängen spielt die Verwerfung nur die Rolle einer Erscheinung der Orogenese. Sie sind „Begleiterscheinungen einer Aufwärtsbewegung gegenüber dem ozeanischen Spiegel". An einen Einbruch der Meere glaubt Stille nicht. Es sind nach ihm bruchlose Ein- senkungen, denn „alle Abwärtsbewegung, gemessen am ozeanischen Spiegel, erfolgt — soweit es sich nicht um „Rückbrüche" handelt — bruchlos". Nach Stille kann man keine Unterscheidung zwischen tangentialer Gebirgsbildung, die zur Ent- stehung von Faltengebirgen und einer aufwärts gerichteten Gebirgsbildung, die zur Schaffung von Schollengebirgen führt, treffen. Das verbietet sich, weil Übergangsformen vorhanden sind und alle Formen der Gebirgsbildung, auch des Bruch- falten- und Blockgebirges durch Heraushebung der Gesteinsmassen entstanden sind. Rudolf Hundt. Technik. Die technische Bedeutung der Öl- schiefer Deutschlands beleuchtet eine Arbeit von Axel Schmidt.') Während des Krieges und in der rohstoffarmen Zeit darauf litt vor allem die Seifenindustrie an Fettmangel. Dem wurde bis zu einem gewissen Grade durch Ersatzmittel abgeholfen. Als solche dienten zunächst die bei der Braunkohlendestillation anfallenden Mittelöle, soweit sie nicht anderen ebenfalls wichtigen Zwecken dienstbar gemacht werden. Sodann aber lieferten einen zur Seifenherstellung sehr geeigne- ten Fettersatz die aus bituminösen Gesteinen er- hältlichen Rohöle, auf deren diesbezügliche Ver- wendung zuerst A. Sauer aufmerksam gemacht hat. Solche Gesteine finden sich vorwiegend im unteren Lias in Gestalt der Öl- oder Posidonien- schiefer. Ihre Verarbeitung auf das jetzt mehr denn je wertvolle Öl dürfte recht aussichtsreich sein, wenn sie in größerem Maßstabe vorgenommen wird. Ölschiefer finden sich in Deutschland außer in Braunschweig und Hannover hauptsäch- lich in Baden und Württemberg. Hier beträgt ihre Mächtigkeit etwa 4 m, steigt in Baden auf 10, um bei Reutlingen sogar 15 — 18 m zu er- reichen. Infolgedessen sind die Ausbeuteversuche hier schon älteren Datums. So bestanden bei Reutlingen schon 1855 und 1880 Ölschieferin- dustrien. Für die Gewinnung der Schieferöle macht sich eine etwas abgeänderte Apparatur der Schwelan- lagen nötig. Zwei süddeutsche Firmen arbeiten mit rotierenden Retorten in kontinuierlichem Be- trieb.'") Der Schiefer wird oben laufend zuge- führt, während des Durchgangs durch die Trom- mel steigend erhitzt und am anderen Ende abge- führt, während die entstehenden Dämpfe in der üblichen Weise abgesaugt werden. Gegenüber den bisherigen (liegenden oder stehenden) Öfen findet hierbei eine wirtschaftlichere Ausnutzung des Materials statt. Da Schiefer ein schlechter Wärmeleiter ist, so geschah seine Vergasung in der bisher nötigen großen Schichtdicke unvoll- kommen, oder aber sie ließ sich restlos nur durch hohe Wärmegrade, also stärkere Ofenabnutzung bewirken. Die Ausnutzungsmöglichkeiten der Ölschiefer erhellen deutlich aus einer Darstellung von G. v. Doepp,^) die die technische Verwendung der ') Seife 4. S. 94; 1919. Vgl. auch W. Stadler, „Pe- troleum" 14. S. 217; 1919 und Naturw. Wochenschr. N. F. XVIII, S. 677 (Nr. 46, 1919). ■■') D.R.P. 303803. ') Zeitschr. f. Dampfkessel u. Maschinenbetrieb 42. S. 273. 1919. 156 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. lo baltischen Ölschiefer zum Gegenstand hat. Die dortigen Lager zeichnen sich durch ihre riesige Ausdehnung längs der gesamten baltischen Küste bis nach St. Petersburg hin, sowie durch ihre teil- weise große Mächtigkeit aus. Ihren Ursprung verdanken diese sog. Kuckerschen Schiefer Meeralgen. Bei der Destillation ergab i kg Schiefer etwa 275 1 Gas mit einem mittleren Heizwert von 4900 WE. und einen Koks mit im höchst- falle 30 V. H. brennbaren Anteilen. Noch bessere Ergebnisse hatte die Tieftemperaturverkokung. Sie lieferte neben lOO 1 Gas von 9500 WE. Heizwert ein Rohöl, das in drei Fraktionen gespalten wer- den konnte, deren erste beiden unserem Photogen und Solaröl entsprachen. Auch die Asche findet vorteilhafte Verwertung. Man führt den Schiefer gepulvert in Drehöfen ein. Die entstehende Asche ist alsdann staubfein und bildet mit Kalk gemischt das Rohmaterial zur Zementdarstellung. In diesem Zusammenhang sei der wichtigen, infolge der gestörten Beziehungen zu Finnland jedoch bei uns ziemlich unbeachtet gebliebenen Arbeiten von Ossian Aschan (Helsingfors) über die pyrogene Zerlegung von Erdölrückständen ge- dacht.') Asch ans Untersuchungen, die seit 1910 ausgeführt wurden, hatten das Ziel, brauchbare und billige Rohstofife zur künstlichen Kautschuk- darstellung zu gewinnen. Solche sind vor allem Isopren und Butadien. Es gelang nun, nennens- werte Mengen an diesen Stoffen bei der Zerset- zung der russischen Erdölrückstände (Masut) zu gewinnen, neben Olgas, Benzol und Toluol in großen Anteilen. Jetzt werden diese in außer- ordentlich großen Mengen anfallenden Rückstände zum weitaus größten Teil verfeuert. Man wird sich nach Aschans Ergebnissen jedoch ent- schließen müssen, sie der weitaus wirtschaftlicheren Verkokung zu unterziehen, was bei dem Reich- tum Rußlands an anderweitigen Brennstoffen mög- lich ist und gleichzeitig eine ergiebige und billige Quelle des Icostbaren Kautschukrohmaterials er- schließen würde. H. Heller. Physiologie. Die von M. v. Frey ") mitgeteilten Versuche über die zur eben merklichen Druckemp- findung erforderlichen Energiemengen lehren, daß das günstigste, d. h. den geringsten Energieaufwand erfordernde Verfahren zur Erregung der Druck- nerven in der Bewegung der zugehörigen Haare besteht. Für einzelne Nervenenden der Hand und des Unterarmes kann hierbei der ') l'inska Vetenskaps Societctcn 61. Nr. 7. S. 1. 1919- Vgl. jedoch G. Brunis Äußerungen in Giornale di Chimica Induslriale (Ref. Chemiker-Ztg. 44, II. S. 27. 1920). Bruni h.Hlt das deutsche Verfahren der Kautschuksynthese für allein erfolgversprechend. '') M. V. Frey, Über die zur ebenmerklichen l'^rrcguug des Drucksinns erforderlichen Energiemengen. Zeitschr. f. Uiülogic, lid. 70, Heft ()— 8, 1919, S. 333—347. Schwellenwert als etwa "-„, Erg ') angenommen werden, während bereits die Wirkung von ' ,,^m Erg auf das sich biegende Haar genügt, um eine kleine Deformation der Kutis zu veranlassen. Wird da- gegen die Reizung durch Stoß gegen den Druckpunkt herbeigeführt, so bedarf es etwa der 20- bzw. 200 fachen Energiemenge. „Die hohe Wirksamkeit der ersteren Reizgebung ist dadurch bedingt, daß das als Hebel dienende Haar den Reiz unmittelbar ins Innere der Haut an den Ort des Nervenendes weiterleitet, so daß ein erheb- licher Teil der aufgewendeten Reizenergie zur Er- regung verwertbar wird. Die Haare sind, abge- sehen von ihren sonstigen F"unktionen, wesentliche Bestandteile der rezeptorischen Einrichtungen des Drucksinns. Sie spielen für die Konzentration der Reizenergie auf eine kleine Fläche eine ähn- liche Rolle, wie im Auge der dioptrische Apparat oder im Ohr Trommelfell und Gehörknöchel." Bei Reizung ohne Vermittelung der Haare (nach Abtragung derselben) sind kleinflächige Reize wirksamer als großflächige, da bei letzteren ein Teil der Reizenergie zur Deformation von nervenfreien Flächenelementen der Haut aufge- wendet werden muß. Doch kann am Daumen- ballen als einer Stelle mit großer Dichte der Nervenenden durch nervöse Verstärkung der Mehr- aufwand wieder eingespart werden. Während die kleinste Wärmemenge, deren Entziehung erregt, erst rund i Erg beträgt (nach L. F. Barker), ist die absolute Empfindlichkeit des Drucksinns gegenüber der des Ohres und Auges, wo Reize bis herab zu 5,10"'" bzw. 1,3 bis 2,610^'" Erg wirksam gefunden worden sind, als stumpf zu bezeichnen. Offenbar würde bei Arbeit und Kampf und bei der gleichzeitigen reiz- gebenden Wirkung neben der reizempfangenden eine hohe Druckempfindlichkeit störend wirken. Üb- rigens ist die Empfindlichkeit des Ohrs bei tiefen Tönen gegenüber derjenigen bei hohen, für welche obige Zahl gilt, lOO bis 10 000 Millionen mal ge- ringer und kommt damit derjenigen des Druck- sinns wesentlich näher. Bekanntlich ist die Netzhaut des Auges an ihren verschiedenen Stellen von sehr verschiedener Empfindlichkeit; dasselbe würde für die Corti- sche Membran des Ohres gelten, wenn man mit H e 1 m h o 1 1 z (Resonanztheorie) deren verschiedene Teile als auf verschiedene Tonhöhen ansprechend betrachtet. Hiergegen ist der Drucksinn, zumal ohne Vermittelung der Haare, über die ganze Hautoberfläche in außerordentHch gleichmäßiger Stärke verbreitet. V. Franz. ') I Erg oder I absolute Arbeitseinheit im C-G-S-Systcm ist die Arbeit, die den Angriffspunkt einer Dyne entgegen deren Richtung um I cm verschiebt. 1 Dyne ist die Kraft, welche einer Gramm-Masse in einer Sekunde einen Geschwin- digkeitszuwachs von 1 cm in der Sekunde erteilt, = Gravitationseinheit. 98 1 N. F. XIX. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 15/ Büclierbesprechungen. Schlaf, Johannes, Die Erde — nicht die Sonne; das geozentrische Weltbild. 22 Fig. im Text, 133 S. München 1919, Drei- länderverlag. Ein Buch dieser Art zu besprechen, gehört zu den unerfreulichsten Aufgaben, die aber geleistet werden müssen, da die Wissenschaft sich um ihrer selbst willen solchen Angriffen gegenüber zur Wehr setzen muß, wie sie hier der als Belletrist bekannte Dichter sich leistet, obwohl ihm schon früher ganz ähnliche Versuche schlecht bekommen sind, und nicht recht einzusehen ist, wer gerade ihn dazu berufen hat, die Astronomie vop an- geblich falschen Bahnen abzulenken. Es handelt sich um nichts Geringeres, als gegen Köpern i- kus und Kepler wieder die P>de in den Mittel- punkt der Welt zu setzen, sie allein soll die Eigen- schaft haben, sich um ihre Achse zu drehen, wäh- rend alle anderen Körper durch einen Wirbel um sie herum bewegt werden. Man faßt sich an den Kopf, ob man wirklich gedrucktes noch lesen und verstehen kann. Aber es ist wirklich so, und noch viel erstaunlicher als dies ist die Methode, wie dies bewiesen wird. Schlaf schreibt wört- lich: Es handelt sich um das sogenannte Sonnen- fleckenphänomen, um jene höchst auffallende Er- scheinung, daß so gut wie alle Sonnenflecke auf einem bestimmten Gebiet der Sonnenfläche ent- stehen: Nämlich so gut wie alle großen Flecke auf uns abgewendeter Seite der Sonne, so gut wie alle auf erdzugewandter Seite entstehenden Flecke aber auf der Osthälfte der letzteren. Durch diese Erscheinung war aber jede Rotation des Sonnenkörpers um seine Achse in der unzwei- deutigsten Weise sofort ausgeschlossen und ver- bot die Annahme einer solchen sich endgültig. Soweit Schlaf Nimmt man nun das statistische Material her, so findet man, daß sich von 100 Flecken 41 auf der sichtbaren und 59 auf der abgewandten Seite bilden, und daß von den ver- gehenden 42 ",„ auf der unsichtbaren Seite liegen, auf der sichtbaren 58 "/„■ Wenn man aber be- denkt, daß von der sichtbaren Seite die ganze Randpartie abzutrennen ist, die uns wegen ihrer .starken scheinbaren Verkürzung am Kugelrand sowie wegen der Undurchsichtigkeit der hier sehr hohen Sonnenatmosphäre nicht beobachtbar ist, so bekommt man ungefähr das Verhältnis von 50 "/„ zu 50 '',„ heraus. Ferner ist das Über- gewicht der östlichen Hälfte nur etwa 10 — 20"/,, nach Zahl und Ausdehnung. So sieht man, wie das Phänomen in der ihm von S c h 1 a f gegebenen Fassung sehr stark übertrieben ist, um nicht von Fälschung zu reden, da wir Schlaf die notwen- dige geometrische Anschauungsfähigkeit nicht zu- trauen. Nun behauptet Schlaf ferner, daß er seit Herbst 1913 mit Fachmännern sich über dieses Phänomen in einer öffentlichen Erörterung befinde, und daß die F"achwissenschaft jede Mög- lichkeit, dies Phänomen heliozentrisch zu erklären, preisgegeben habe, daß also die kopernikanische Anschauung endgültig gefallen sei. Seh war z- schild ist leider nicht mehr unter den Lebenden, so daß er sich nicht selbst gegen diese Verun- ehrung seines Andenkens wehren kann. Epstein wird die Antwort schon nicht schuldig bleiben und Plassmann druckt in seiner Zeitschrift, Mitt. der V. A. P. Dez. 1919 den Brief an Schlaf ab und bezeichnet dessen Vorgehen als bewußte vollkommen unzweideutige Fälschung. Denn diese Erscheinung ist längst in befriedigender Weise erklärt worden, zunächst von Epstein aus meteorologischen Gründen und sodann durch Puiseux. Dieser findet, daß hinsichtlich ihrer Sonnenentfernung und ihrer Massen Venus und Jupiter gleichen und etwa doppelt so großen Ein- fluß haben wie Erde und Merkur, während die andern Planeten nicht in Betracht kommen. Wenn man nun für eine ganze 1 1 jährige Sonnenflecken- periode nicht nur die Stellung der Erde zu den Fleckengruppen in Rechnung zieht, sondern auch die der anderen drei Planeten , dann verliert das Phänomen alles sonderbare. Der Grund der Fleckenbildung liegt in der Sonne, aber den Rhythmus des Auftretens geben die Planeten an. Auf eine derartige Bearbeitung ist natürlich Schlaf nie gekommen, konnte es auch nicht, da ihm sowohl naturwissenschaftliche Methoden, wie das statistische Material fehlen. Um so belustigen- der ist dann all der Unsinn, der aus dieser, wie eine Seifenblase zerplatzten Voraussetzung ent- sprungen ist. Seine positiven astronomischen Kenntnisse sind trotz des in diesem Buche unter- nommenen Versuches, diese Wissenschaft zu re- formieren, betrübend gering. Nach ihm gibt es keinen Beweis der Bewegung der Erde im Räume. Daß nach dem übrigens von ihm anerkannten Doppl ersehen Prinzip Küstner durch Be- obachtung der Verschiebung der Spektrallinien gemessen hat, wie sich die tCrde in den verschie- denen Monaten auf immer andere Sterne zu be- wegt, so daß die elliptische Bahn sehr genau herauskam , so genau , daß die beschleunigenden Wirkungen der störenden Planeten sich deutlich in den Messungen zeigten, ist Herrn Schlaf ganz unbekannt, aber nichts desto weniger doch wahr. Nach dieser verunglückten Zertrümmerung unseres astronomischen Gebäudes baut nun Schlaf ein neues auf. Der Kosmos ist endlich von runder geschlossener Beschaffenheit, er ist ein allgemeiner sich um die Polachse drehender Wirbel. Dieser dreht sich nach der Mitte hin immer schneller, am schnellsten in der Mitte, wo die Erde als einziger Weltkörper infolgedessen eine Achsendrehung hat, auch der dichteste und schwerste Körper geworden ist. Und die Gravi- tation ist die Kraft des Wirbels in bezug auf die Körper. Auf S. 35 finden wir die erstaunliche Tatsache verzeichnet, daß Körper mit starrer 158 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. lo Oberfläche nicht rotieren, so Mond, Venus und Merkur. Dabei kann man die Rotation des Mon- des innerhalb eines Monats um seine Achse schon einem Kinde klar machen. Im Gegensatz zu diesen Körpern sollen nun Sonne, Mars, Jupiter usw. eine bewegliche Oberfläche haben, und später werden wir belehrt, daß der Mars eine prall elasti- sche, im übrigen sehr flexible Haut über die innere Marssubstanz habe, die eine Umdrehung zeigt, so daß also Mars wegen des Sonnenflecken- phänomens sich nicht dreht, wohl aber seine Oberhaut infolge der Wirkung des kosmischen Wirbels. Diese Proben dürften genügen, uns von der tiefsinnigen Naturerkenntnis zu überzeugen, die in diesem Werke niedergelegt ist. Aber Schlaf hat auch Philosophie studiert, freilich wohl jene üble Sorte, die einst ein Philo- soph definierte als den Mißbrauch einer eigens für diesen Zweck geschaffenen Terminologie. Denn wir lesen staunend auf S. 41 — 45 folgende Weisheiten. „Da außerhalb des Kosmos weder Körper noch Ausdehnung mehr vorhanden ist, so gibt es außerhalb des Kosmos nichts, und es kann von irgendwelchem räumlichen Jenseits des Kos- mos keine Rede sein, sondern nur noch von dem Ausdehnungslosen. Das Ausdehnungslose aber ist gleichbedeutend mit dem mathematischen Punkt. Da nun aber mit dem geschlossen end- lichen Kosmos das Ausdehnungslose, der Punkt, als wirklich existierend ganz unmittelbar gegeben ist, der Punkt aber seinem ausdehnungslosen Wesen nach jede Ausdehnung schlechterdings ausschließt, so kann das offenbar nur besagen, daß Ausdeh- nung, daß Kosmos als solche überhaupt nicht vorhanden sind, sondern nur das punktuell Un- endliche. Außer dem Punkt ist unmittelbar nur gegeben das Selbstgefühl , das Sichansichselbst- fühlen lebendiger Wesenheit. Dann aber muß der Kosmos als solcher angesehen werden als der Inhalt bzw. die Modalität des Sichansichselbst- fühlens lebendiger punktueller Wesenheit." Und Schlaf vergißt nicht, nach diesem Erguß seinen entsetzten Lesern einzuschärfen, S. 44: „Das alles ist die durchaus unvermeidliche, die zwingendste Konsequenz der unerläßlich gewordenen, von der Wissenschaft selbst nunmehr ermittelten ge- schlossenen Endlichkeit des Kosmos und zugleich der unmittelbaren geozentrischen Konsequenz des Sonnenfleckenphänomens." Der Inhalt der übrigen 80 Seiten ist ent- sprechend, und es ist schade um Zeit und Papier, zumal in diesen Zeiten. Das ganze aber läßt sich wohl am einfachsten bezeichnen, um einen höchst aktuellen Ausdruck zu benutzen, als literarischen Bolschewismus, der zerstören und niederreißen will, ohne die P"ähigkeit, etwas Besseres an dessen Stelle zu setzen. Riem. Fricke, H., Eine neue und einfache Dcu- tungder Schwerkraft und eine an- schauliche Erklärung der Physik des Raumes. 137 S. Wolfenbüttel 1919, Heckners Verlag. Die Geschichte der Physik der letzten Jahr- zehnte hat abwechselnd Abschnitte, in denen der Äther die wichtigste Rolle spielte und solche, in denen er wie gegenwärtig durch Loren tz, Planck und Einstein als abgeschafft zu be- trachten ist. Daß das aber nicht die Meinung aller Physiker ist, beweist dieses Büchlein, auf dessen Fülle an neuen Gedanken eindringlich auf- merksam gemacht werden soll. Fricke geht auf eine Äußerung von Helmholtz zurück, daß der Äther sich wegen der Lichtschwingungen wie ein fester Körper verhalte, daß dies aber mit der Bewegung der Himmelskörper im Widerspruch stehe. Dem gegenüber muß nun zugegeben werden , daß auch Flüssigkeiten Transversal- schwingungen machen können, wenn sie innere Reibung besitzen. Es ist aber bekannt, daß Flüssig- keiten und Gase sich infolge der inneren Reibung im ersten Augenblick wie feste Körper verhalten. Wenn man also den Äther als Flüssigkeit mit innerer Reibung ansehen könnte, dann wäre der Helm- holtzsche Einwand hinfällig. Dies tut nun Fricke, und kommt dadurch zu einer ganz neuen Auffassung der Physik überhaupt. Er findet, daß die Beziehungen zwischen elektrischer und magneti- scher Kraft genau denen zwischen Strömungen und Wiibeln einer mit innerer Reibung behafteten Flüssigkeit entsprechen. So ist ihm daher der ganze Magnetismus nichts anderes als die innere Reibung des Äthers. Nun ist freilich diese innere Reibung nicht unmittelbar an der Materie zu spüren, da eben die Planeten sich widerstandslos im Räume bewegen. Dem gegenüber hat schon Lord Kelvin in einer Wirbeltheorie die Auffas- sung begründet, die Materie sei nur eine Strö- mungsfigur oder Wirbel im Äther, dessen ganze Masse sich in dauernder unzerstörbarer Bewegung befindet, dann aber sind die Planeten nur sicht- bar gewordene Teile einer im allgemeinen nicht wahrnehmbaren Ätherbewegung. Diese Ätherbe- wegung entspricht nun ganz der des fließenden Wassers, über die Rümelin eingehende Studien gemacht hat, und gezeigt, daß ruhig fließendes Wasser sich ganz ähnlich bewegt, wie Maxwell das elektromagnetische Kraftfeld beschreibt und wie Mie ein Modell des elektrischen Stromes her- stellt. So leiten sich die Grundbegriffe Kraft und Stoff aus einer gemeinsamen Urbewegung des Äthers ab, und man gelangt zu Erkenntnissen, die über die bisherigen Prinzipien der Physik hinausführen. Dies neue Weltbild beweist sich nun zunächst am Problem der Schwere. Nach einer Bemerkung von Lord Kelvin, daß die Formeln der Anziehung und der Wärmeleitung genau übereinstimmen, hat Fricke diesem Ge- danken nachgeforscht, und die verblüffende Tat- sache festgestellt, daß eine Proportionalität zwi- schen Schwerkraft und Temperatur auf den Körpern des Planetensystems existiert. Danach würde also die Sonne ihre Energie als Schwerkraft empfangen N. F. XIX. Nr. lO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 159 und als leuchtende und strahlende Energie wieder ausgeben, und auf diese Weise dauernd dieselbe Temperatur haben, womit der Satz von der En- tropie erledigt sein würde. Ebenso merkwürdig ist eine andere Folgerung. Je heißer ein Stern ist, um so mehr von der einströmenden Schwere- energie setzt er in Wärme um, er wird gewisser- maßen gebremst, und in der Tat ist es eine be- kannte Tatsache, daß die heißesten Sterne die sich am langsamsten bewegenden sind. Sehr einleuchtend ist es, wie sich Fr icke mit der Relativitätstheorie auseinander setzt. Zwischen Äther und gleichförmig bewegter Materie besteht eine Harmonie, eine Vorstellung, aus der sich alle Beobachtungen erklären lassen, für die man das Relativitätsprinzip heranzieht. Dieses bedeutet nur die Aufgabe der Sonderstellung des Äthers. Denn die verwickelten Berechnungen von Lorentz kommen zuletzt auf die Forderung einer allge- meinen Relativität aller Formen, Massen und Kräfte und der damit verbundenen elektromagneti- schen Erscheinungen heraus, alles Dinge, die sich offenbar viel anschaulicher als Bewegungen des Äthers deuten lassen. Dieser überall gleichmäßig mit Lichtgewindigkeit fließende Äther ist mit dem Räume gleichbedeutend. Er fließt, und das gleich- mäßige F'ließen des Raumes ist die Zeit. Das ist die anschauliche Deutung der Ein steinschen Theorie. Es würde nun zu weit führen, noch auf all die Anwendungen auf Astronomie, Geophysik und Meteorologie einzugehen, das ist in dem Werke selber nachzulesen. Der Verf. ist auch überzeugt, mit seiner Anschauungsweise sowohl die Bewegung des Merkursperihels, wie der Ab- lenkung des Lichtstrahls im Gravitationsfelde der Sonne erklären zu können, die beiden Parade- stücke der Ein steinschen Gravitationslehre, die übrigens beide nicht unbezweifelt geblieben sind. Riem. Wilckens, O., Allgemeine Gebirgskunde. 154 S. mit 115 Abb. Jena 1919, G. Uscher. Brosch. 10 M., geb. 12,50 M. Das Buch richtet sich nach Darstellungsart ersicht- lich an einen weiteren Leserkreis. Es soll in sehr kurzen Zügen einen Überblick über alle die Vor- gänge und Erscheinungen geographischer und geo- logischer Art bieten, die unter den Begriff des Gebirges im weitesten Sinne und der Gebirgs- bildung fallen. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Es konnten daher auch nicht alle Ansprüche auf gewisse geologische Vorschulung beiseite gelassen werden. Andererseits verbot der Umfang den mannigfachen, oft äußerst schwierigen Problemen des Gesamtgebiets in einige Tiefe zu folgen. Ein gewisses Schwergewicht ist offenbar — ähnlich wie in Schaffers „Allgemeiner Geologie" — auf Erklärung der als Mittel zum Zweck ge- schaffenen Terminologie gelegt worden, vielleicht ohne in allen Fällen darüber hinaus die eigent- lichen Ziele der gegenwärtigen Forschungsperiode aufweisen zu können. Das Bestreben, in erster Linie Tatsachen zu bieten, Kenntnisse zu ver- mitteln, ist gewiß berechtigt. Aber wer ent- scheidet in der Wissenschaft, wieweit unsere Vor- stellungen berehs Tatsachen entsprechen ? Gerade dem weniger Eingeweihten gegenüber sollten solche Grenzen besonders vorsichtig abgesteckt werden. In dem etwas eingehender behandelten, besonders schwierigen Kapitel der Alpentektonik scheint mir dieser Forderung nicht Genüge getan. Das schwere Ringen um die Erkenntnis, die un- absehbar sich auftürmenden Hindernisse, die sich auf allen Wegen der Forschung in den Weg stellen, erst noch überwunden sein wollen und wie eine Hydra immer neue Gegner gebären, hätten wohl hier und da eine tiefergreifende Andeutung verdient. Die unlösbare Verquickung der Pro- bleme des Deckenbaus mit Stratigraphie, Petro- graphie und anderen Gebieten allgemeiner Geo- logie hat kein Echo gefunden; die neueste Phase der Forschung und ihier Ergebnisse bleibt damit unerwähnt. Daß sich der Verfasser mit dem Begriff der Zerrungsgebirge garnicht auseinandersetzt, könnte in diesem weitgespannten Rahmen auffallen, scheint mir aber kein Fehler zu sein. Um so mehr wird jedes Eingehen auf die mancherlei neuen An- regungen Stilles selbst im Literaturverzeichnis vermißt. Auch in Einzelheiten wären nicht wenige Ein- wendungen möglich, doch wird in solchen Dingen immer viel von subjektiven Meinungsverschieden- heiten abhängen. So sei hier nur Weniges heraus- gegriffen : An der Disposition fällt unter anderen auf, daß das ohnehin weitgespannte Thema noch mit einem Hinweis auf die Baumaterialien der Erdkräfte über- haupt und mit den Wirkungen der Abtragungs- vorgänge auf die verschiedenen Strukturen be- lastet wird, ferner daß die komplizierteren Fal- tungsgebirge den Schollengebirgen vorangestellt werden, wenn sie denn überhaupt getrennt wer- den sollen und können. Die Bezeichnung „Gebirge" ist wohl begriff- lich am einfachsten vom Standpunkte des Berg- manns zu erfassen. Nur so kann vom Kohlen-, Anhydritgebirge aus der Ausdruck auf jene, Mine- ralien oft besonders reichlich „bergenden" Schwell- formen der Erdoberfläche übertragen worden sein und damit wieder der geographisch gewordene Begriff eine geologische Färbung erhalten haben. Die Übertragung des Ausdrucks „Dislokation" auf ein fertiges tektonisches Gebilde (statt eines Vorgangs) ist offenbar eine Ungenauigkeit, deren Aufnahme sich hätte von selbst verbieten sollen, selbst wenn und soweit sie als üblich hingestellt werden kann. Kaum minder unberechtigt will die Beschränkung Dislokation auf orogenetische Massen- bewegungen erscheinen. Auch die Definition der „Fastebene" trifft m. E. nicht voll das Wesen der Sache. Den Lakkolithen wird im ganzen kaum ihr Recht, wenn sie mit 1 1 Zeilen abgetan werden. i6o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. lo Daß aus einem Graben nie ein Berg würde, ist eine in dieser knappen Fassung schwer verständ- liche Behauptung, wenn man an den Leuchten- burger- oder Hohenzollerngraben denkt. Wenn das schwäbische Stufenland aus nur drei Stufen (Keuper, Lias, Malm) bestehend dargestellt wird, so ist das eine sehr weitgehende Stilisierung. Der sehr geringe Betrag des Einfallens in diesem Falle kann an sich unmöglich schon einen Beweis für dislozierte Lagerung abgeben. Ebensowenig dürfte schräges Einfallen einer Verwerfung ohne ge- nauere Ausführungen als Hinweis auf Dehnungs- vorgänge hingestellt werden. Bezüglich der südafrikanischen Gebirge wäre zu bemerken, daß das Alter der Hauptsache nach spätjurassisch, nicht paläozoisch ist und daß eher Scharung vorliegt, als eine trapezoidale Anordnung, wie sie hier geschildert wird. Anerkennung verdient vor allem eine glück- liche Auswahl der illustrativen Beigaben. Hennig. Riemann, B., Über die Hypothesen, wel- che der Geometrie zugrunde liegen. Neu herausgegeben und erläutert von H. Weyl. Berlin 19 19, J. Springer. 5,60 M. Die berühmte, für die moderne Raumanschau- ung epochemachende Arbeit R i e m a n n s ist hier neu herausgegeben worden und mit zahlreichen Erläuterungen versehen, die auf die neuere Lite- ratur bezug nehmen, und deren Beziehungen zu Riemann darlegen. Vor allem wichtig ist der aufgezeigte Nachweis, wie die Riemannschen Gedanken ihre letzte Vollendung im Relativitäts- prinzip von Einstein gefunden haben, so daß alle, die diese Anschauungsweise zu verstehen sich bemühen, notwendig auf die durch Riemann hier gelegten Grundlagen zurückgehen müssen. Riem. Brückmann, R., Strömungen an der Süd- und Ostküste des baltischen Meeres. Forsch, z. deutschen Landes- und Volkskunde XXII, I. Mit 5 Abb. u. i Tafel, 59 S., davon 33 S. Tabellen. Stuttgart 19 19. Aus direkten Strommessungen und mit Hilfe von Flaschenposten hat Verf. eine östliche Strom- versetzung festgestellt. Da in den Jahren 1909 bis 1913 durchschnittlich 45,1 •','„ aller Winde aus dem Westen kamen, ist der Zusammenhang zwi- schen Westwind und Strömung erwiesen. Die Strömung ihrerseits ruft eine kräftige östliche Sandwanderung hervor, die bis 40 m Tiefe noch zu erkennen ist. Scheu. Anregungen und Antworten Mit Simroth ■habe ich das Achtet auf Tannenhäher Erscheinen starker Tannenhäberzüge (in den Wintern soge- nannter Tannenhäherjahrc) mit den Sonnenfleckenperioden in Zusammenhang gebracht. Dieser Zusammenhang war vorhan- den in den Tannenhäherjahren 1908, 1896/97, 1883 — 85, 1S74, 1864, 1856/57, 1844, 1S36, 1S25, 1814, 1S02, 1793, 1782, 1771, 1760, 1754 (vgl- meine Untersuchung; ,, Die Feststellung der Zugperioden des sibirischen Tannenhähers und Simroths Pendulationstheorie" im „Zoologischen Anzeiger" Bd. XXXIII, Nr. 26 vom 19. Januar 1909, Herausgeber Universitätsprofossor Dr. K orschelt- Marburg). 1919 war wieder ein Sonnen- fleckenjahr. Bereits hat aus dem Schmetterlingsreich H. Cor- u eisen in Herne häufigeres Vorkommen von selteneren Fal- lern sowohl für 1919 wie 1908 gemeldet (Colias edusa im Wesergebirge, Hoplilis milhauseri) und der Herausgeber der Entomologischen Zeitschrift bemerkt dazu, Gleiches gelte vom lluchenkamel (Stauropus fagi) für Frankfurt a. M. Nach wissenschaftlicher Berechnung müßten nun in diesem Winter die Tannenhäher der weiten sibirischen Wälder in verstärktem Maße bei uns auftreten (skandinavische Bergfinken sah ich schon Ende Oktober). Ich bitte darauf zu achten und ge- gebenenfalls in dieser Zeitschrift „Hals zu geben". RaslaU i. B., Bahnhofstr. 7. Wilhelm Schuster. Literatur. Wilckens, Prof. Dr. O. , Allgemeine Gebirgskunde. Mit 115 Abbild. Jena 1919, G. Fischer. lo M. Fr icke, Dr. \V., Schutzmaßnahmen bei bakteriologischen und serologischen Arbeiten. Mit 41 Textabbildungen. Jena 1919, G. Fischer. 4 M, Ho ff mann, P. , Die Blütenbiologie der Kompositen. Beiheft zur Zeitschrift ,, Lehrerfortbildung". Leipzig - Prag Annahof-Wien 1919, A. Haase. 1.35 M. Passarge, S., Grundlagen der Landschaftskunde. Ein Lehrbuch und eine Anleitung zu landschaflskundlicher For- schung und Darstellung. Bd. I. Beschreibende Landschafts- kunde. Mit 83 Textabb. und i8 Tafeln. Hamburg 1919, L. Friedrichsen. 16,50 M. Dacque, Dr. E., Geologie. 1. Teil: Allgemeine Geo- logie. Mit 75 Abbildungen. Sammlung Göschen. Oettli, D. M., Versuch emit lebenden Bakterien. Eine Anleitung zum selbständigen Arbeiten mit Bakterien und an- deren Kleinpilzen für den naturwissenschaftlichen .Arbeitsunter- richt und den Naturfreund. Stuttgart 1919, Frankhsche Ver- lagsbuchhandlung. 3,60 M. Driesch, H., Der Begriff der organischen Form. Berlin igig, Gebr. Borntraeger. 5,60 M. Illlmit: Karl Gerhardt, Dem Andenken an Ernst Stahl. S. 145. A. Schob, Die Bedeutung der Normung in der Industrie. S. 149. — Einzelbericbte : Dyson, Die Einsteinsche Hypothese und die Sonnenfinsternis vom 29. Mai 1919. .S. 151. Stresemann, Geographische und völkerkundliche Forschungen auf der Insel Ceram (Ost- indien). S. 152. O. Wilkens, ,, Stammgarben". S. 152. Sclimauss, Analogie der Wolken- und Niederschlags- bildung mit chemischen Vorgängen. S. 153. H. Stille, Alte und junge Saumtiefen. S. 154. Hans Stille, Über Hauptformen der Orogenese und ihre Verknüpfung. S. 154. Axel Schmidt, Die technische Bedeutung der Ölschiefer. S. 155. M. V. Frey, Die zur eben merklichen Druckempfindung erforderlichen Energiemengen. S. 150. — Bücher- besprecbungen: Johannes Schlaf, Die Erde — nicht die Sonne; das geozentrische Weltbild. 8.157- ^^- Ericke, Eine neue und einfache Deutung der Schwerkraft und eine anschauliche Erklärung der Physik des Raumes. S. 158. (). Wilckens, Allgemeine Gebirgskunde. S. 159. B. Riemann, Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu- grunde liegen. S. 160. R. Brückmann, Strömungen an der Süd- und OslkUste des baltischen Meeres. S. 160. — Anregungen und Antworten: Achtet auf Tannenhäher. S. 160. — Literatur : Liste. S. 160. Manuskrifite und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert Sc Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue FoIrc ig. Band; der ganzen Reihe 35. Ban Sonntag, den 14. März 1920. Nummer 11. Über oolithische Gesteine, 1 Dr. B. V. Freyberg. Mit 4 Abbildungen. derartig struierter Konkretionen in die Oolithe eine Abgrenzung der Begriffe „Oolith" und „Kon- kretion" unmöglich gemacht wird. Im Sediment entstandene Konkretionen, ganz gleich welcher Struktur, dürfen nicht mit zu den Oolithen ge- rechnet werden. Man wird demnach zweckmäßig unter Oolithen nur solche Gesteine verstehen, die sich aus eiförmig- runden Körnchen („Ooiden") zusammensetzen, welche in freier Bewegung im Wasser durch rein anorganische chemische Abscheidung um einen beliebigen Ke rn herum entstehen und demgemäß Es gibt wenige Probleme der Sedimentpetro- graphie, die zu allen Zeiten so eingehend diskutiert worden sind, wie die Frage nach der Bildung von Oolithen. In allen Formationen treten Oolithe auf, und wenn über deren Entstehung immer neue Theorien aufgestellt wurden und nie Einig- keit erzielt werden konnte, so liegt das einmal daran, daß nur wenige Stellen bekannt sind, an denen sich vor unseren Augen echte Oolithe bilden, und zweitens daran, daß alle Gebilde, die in Form und Au.ssehen an Oolithe erinnerten, zu ihnen gereclinet wurden, auch wenn sie nachweis- lich auf verschiedenstem Wege entstanden waren. Oft wurde dann noch vom Autor eine ihm ge- rade bekannte Entstehungsursache solcher Gebilde ursprünglich einen radial faserigen verallgemeinert, und so brauchen wir uns nicht oder konzentrisch-schaligen Aufbau zu wundern, wenn die merkwürdigsten Ansichten besitzen. Daß dabei Mikroorganismen, die sich über die Entstehung von Oolithen bekanntgegeben zufällig an ein in Bildung begriffenes Ooid an- wurden und die Verwirrung vergrößerten. setzen, mit umkrustet werden, bedarf keiner be- Das ganze Oolithproblem ist demnach im sonderen Ausführung. Sie beeinflussen den Vor- wesentlichen gelöst, wenn es gelingt, den Begriff gang in keiner Weise, genau zu bestimmen, und zwar nicht nach der y^-^ Qolithe entstehen können, das hat uns Struktur der Gesteine, sondern nach ihrer Genese. Man darf nicht alle ähnlich aussehenden Gebilde als ,, Oolith" zusammenfassen und nach ihren Ent- stehungsursachen fragen , sondern muß von der Entstehung ausgehen und danach über die Zu- gehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu den Oolithen entscheiden. Wenn z. B. Rot hpletz die Oolithe als Produkte kalkabscheidender Algen hin- stellt, so hätte er recht, wenn Kalkalgen zu den Oolithen gerechnet würden. Da dies nicht üblich ist, so handelt es sich in solchen Fällen nicht um Oolithe, sondern um Kalkalgen. Es sollen in die vorliegende Betrachtung alle die als Oolith be- schriebenen Bildungen nicht mit einbezogen werden, deren Entstehung mit Sicherheit auf die aktive Tätigkeit von Organismen zurückgeführt werden kann. Wir haben in solchen Fällen lediglich die von den betreffenden Organismen abgeschiedenen Hartgebilde vor uns. Als wesentliche Merkmale werden für Oolithe angeführt : Eirunde bis kugelige Form , radial- faseriger oder konzentrischschaliger Aufbau der Ooide. Solche Form und Struktur kann sich auch bei rein anorganischer Entstehung auf ver- schiedenem Wege bilden. Häufig ist beides bei Konkretionen, die im Sediment entstehen. Schon Gaub^) weist darauf hin, daß bei Einbeziehung ') Gaub, Die jurassischen Oolithe der schwäbischen Alb. Diss. Tübingen 1910. Linck^) im Experiment gezeigt. Da „der Ge- halt des Seewassers an Calciumkarbonat im all- gemeinen unterhalb der Grenze der Löslichkeit bleibt" , so folgert L i n c k daraus , daß eine direkte Abscheidung von Calciumkarbonat im allgemeinen wie von Oolithen im besonderen nur durch lokal gegebene Umstände vor sich gehen kann. In scharfsinniger Weise führt er die Bildung von ausgedehnten Kalkablage- rungen darauf zurück, daß „in durch Organismen reich bevölkerten Meeren das aus dem Eiweiß stammende Natriumkarbonat, das von Stoff- wechsel- und Fäulnisprodukten herrührende Ammoniumkarbonat die Abscheidung von Cal- ciumkarbonat aus dem Calciumsulfat auf anorga- nischem Wege bedingt". Für zahlreiche Kalke wird dies zutreffen, doch muß die Entstehung völlig fossilleerer Gesteine, wie z. B. des Wellen- kalkes, auf andere Ursachen zurückgeführt werden.-) Daß aber die von Linck geschilderte Aus- scheidung in der Natur meist zur Bildung von Oolithen führt, kann weder durch Beispiele aus der Gegenwart noch durch fossile Ablage- rungen belegt werden. Denn Oolithablagerungen ') Neues Jahrb. f. Mineralogie usw. 1903, XVI, Beilagen- Band. 2) Vgl. V. Freyberg, Der Aufbau des unteren Wellen- kalkes im Thüringer Becken. Neues Jahrb. f. Mineralogie usw., im Erscheinen. 102 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. II im offenen Meer, wie sie sich dann nach L i n c k ^) bilden müßten, sind aus heutigen Meeren nicht bekannt, und daß man die fossilen Ooliihe sämt- lich als Flachsee- und Strandbildungen auffassen kann, soll noch erläutert werden. Heute bilden sich Oolilhe nur unter lokal gegebenen Um- ständen, die „eine direkte Abscheidung von Cal- ciumkarbonat aus dem Meere ermöglichen.-) Welche Faktoren dabei maßgebend sind, läßt sich besonders gut an den von Joh. Walther ^) mehrfach ^beschriebenen Oolithen von Suez studieren. [^? Abb. I. Oolith von Suez mit Foraminiferen. Diese Oolithe sind zum größten Teil noch unverfestigte Sande, die sich aus 0,3—0,5 mm großen gelbglänzenden glatten Ooiden zusammen- setzen. Die Ooide sind vermischt mit den Schalen und Schalenbruchstücken einer Fauna, die besonders durch Foraminiferen (Peneroplis, Biloculina, Spiroculina), Schnecken und Muscheln vertreten wird (Abb. i). Die Reste rühren durchweg von Flachwasserformen her , wie das bei der Entstehung des Gesteins am flachen Strand nicht anders zu erwarten ist. In dem von der heißen Wüstensonne bestrahlten Wasser Abb. 3. Oolilh von Suez, Konzentrisch-schalige Struktur. Abb. 2. Oolith von Suez. Schnecke als Kern. ') a. a. O. S. 510. ^) Eine Zusammenstellung rezenter Oolithvorkommen fin- det sich in der erwähnten Arbeit von Gaub. 3) Joh. Walther, Die Korallenriffe der Sinaihalbinsel. Abb. d. Kgl. Sachs. Ges. d. Wissensch. 1888. Lilhogenesis der Gegenwart. Jena 1894. Das Gesetz der Wüstenbildung. Leipzig 1912. Für Überlassung des Materials zur mikrosko- pischen Untersuchung spreche ich Herrn Geheimrat Walther auch hier meinen besten Dank aus. Abb. 4. Oolith von Suez. Intetferenzkreuz unter gekreuzten Nicols. Übersteigt der Gehalt an CaCO^ die Grenze der Löslichkeit, und es fällt als Aragonit aus. Durch die Wellenbewegung werden Mineralkörnchen, Schalen oder Schalenbruchstücke von Organismen in dauernder Bewegung erhalten, und diese dienen als Ansatzpunkt. Dabei werden Ooide mit dichten Kernen rascher ihre Schwebefähig- N. F. XIX. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 163 keit verlieren als solche, denen lufterfüllte Ge- häuse von Schnecken (Abb. 2) oder Foraminiferen als Ansatz gedient haben. Die Folge davon ist wieder, daß die Größe der Ooide abhängig ist von ihrem spezifischen Gewicht. Daß die An- lagerung des CaCOg rhythmisch unterbrochen wurde, ist im Dünnschliff leicht an der konzen- trischen Struktur zu erkennen (Abb. 3). Eine radiale Anordnung feinster Kristallnädelchen er- scheint erst unter gekreuzten Nicols. Da dann nämlich nur die Kristalle auslöschen, die den Nicolhauptschnitten parallel liegen, die übrigen aber hell bleiben , erhalten wir ein Interferenz- kreuz, das uns die bei gewöhnlichem Licht auch unter stärkster Vergrößerung nicht erkennbare radiale Struktur mit Sicherheit nachweist (Abb. 4). Fassen wir nun alle Merkmale zusammen, die für rezente Oolithablagerungen charakteristisch sind, die aber nicht sämtlich an jeder Ablagerung vorhanden zu sein brauchen , so ergibt sich folgendes Bild : 1. Die Oolithe bilden sich in aridem Klima am 'flachen Strand, und zwar häufig in unmittel- barer Nähe von Korallenriffen. 2. Die Schichtung ist meist gut. Wird der Oolithsand durch Winde landeinwärts getrieben und zu Dünen angehäuft, so zeigt das Gestein auch Diagonalschichtung. 3. Bei Suez wechsellagern die Oolithsande mit fossil reichen, auf chemischem Wege ent- standenen Kalksteinen , grauen Letten und lito- ralen Sandsteinen.') 4. Die dem Sand beigemengte Fauna setzt sich vorwiegend aus kleinen Arten oder Jugend- formen zusammen. Sie ist eine typische Flach- wasserfauna. Eingestreut finden sich Bänke der vom Meer ausgeworfenen Reste, die oft nach Gattungen und Arten getrennt sind. Joh. Walther beobachtete am roten Meer Flächen, die von kleinen Cerithien übersät waren, an anderen Stellen waren Muschelbänke ent- standen , in denen Maktra besonders hervortrat, und häufig waren Säume, die sich ausschließlich aus Foraminiferen zusammensetzten.'^) Diese Ab- lagerungen scheinen von denselben Gesetzmäßig- keiten beherrscht zu werden, die Joh. Weigelt^) von der Nordsee beschrieben hat. 5. Für rezente Oolithe ist das reichliche Auf- treten von Foraminiferen überaus charakteristisch. Ihre Schalen finden sich dem Sand beigemengt, dienen aber auch ganz oder in Bruchstücken als Kern für die Ooide. 6. Im Innern der Ooide findet sich regelmäßig ein fremder Kern. Wenn für die fossilen und rezenten Oolithe eine gleiche Entstehungsweise angenommen werden soll, so müssen diese Merkmale auch bei fossilen Oolithen nachzuweisen sein. Das soll im folgenden versucht werden mit der Beschränkung, daß ausschließlich deutsche Vorkommen berück- sichtigt werden, da nur diese auf Grund eigener Anschauung besprochen werden können. Die ältesten Oolithe treten uns im Unter- silur Ostthüringens und des Fichtelgebirges ent- gegen. Es sind die bekannten Thuringit- und Chamositlager. Über ihre Genese läßt sich wenig aussagen. Die Tonschiefer und Quarzite dieser Stufe enthalten wie die dazwischenliegen- den Erze fast keine Fossilien. Aus dem spär- lichen Auftreten von Orthis äff. Lindstroemi Linnarsson lassen sich keine Schlüsse ziehen. Die Herkunft des Eisengehalts ist noch eine strittige Frage. Loretz leitet ihn von den Diabaseruptionen ab, die sich damals im Vogt- land, F'ichtelgebirge und Böhmen ereigneten. Dafür würde auch der chemische und minera- logische Befund sprechen, wie er näher ausein- andersetzt. Zalinski''^) wendet dagegen ein, daß die Erze in Thüringen niemals mit vulka- nischen Tuffen zusammen auftreten (in Böhmen ist das nachgewiesen I). Sein Einwurf kann nicht stichhaltig sein. Denn die eisenhaltigen Quellen, die als Folge der vulkanischen Erscheinungen ins Leben treten, brauchen nicht in unmittel- barer Nähe der Eruptivmassen zu entspringen. Der mikroskopische Befund erweist jedenfalls das Gestein als echten Oolith. Im Innern der Ooide findet sich ein Kern , um den sich die Masse mit konzentrischer Struktur herumlegt. Wenn Zalinski schreibt, daß ,, niemals auch nur eine Anlage zu radialfaseriger Struktur" vor- handen ist, so ist das unrichtig. Denn die Ooide zeigen das Webbsky'sche Interferenzkreuz. Zalinski spricht selbst von einer „Tendenz zu radialer Auslöschung". Für die Oolithe des Zechsteins läßt sich mit Sicherheit eine Entstehung in flachem Wasser nachweisen. Oolithische Gesteine dieser Forma- tion finden sich in der Umgebung von Gera. Liebe"') weist darauf hin, daß eine sehr große Verschiedenheit zweifellos gleichzeitig ent- standener Sedimente auf geringe Entfernung hin erkennbar ist. Diese Faciesverschiedenheit kann sich nur in flachem Wasser herausbilden und deutet an , daß sich die Küste nicht weit von hier befunden hat. Auch die Verteilung der Bryozoenriffe spricht dafür. Die Oolithe treten in der Rauchwacke des mittleren Zechsteins auf. Nach der Beschreibung von Loretz'') bestehen sie teilweise aus einem Aggregat verschieden orientierter Kristalle und scheinen ihre ursprüng- liche Struktur demnach durch ähnliche Um- kristallisationsvorgänge verloren zu haben, wie es von Oolithen jüngerer Formationen bekannt ist. ') Job. Walther, Gesetz der Wüstenbildung S. 286. 2) a. a. O. S. 282, 283, 285. 2) Weigelt, Geologie und Nordseefauna. Steinbruch 1919, Heft 33—36- *) Jahrbucii der Kgl. Preuß. Geolog. Landesanstalt 1SS4. -) Neues Jahrb. f. Mineralogie usw. 1904, Xl.\. Beil. -Bd. ^] Der Zechstein des Fürstentums Gera. Zeitschr. d. d. geolog. Gesellsch. 1855. *) Einige Kalksteine u. Dolomite d. Zechsteiuformatio;!. Ebenda 1879. i64 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 1 1 Zum Teil besitzen sie aber auch eine aus- gezeichnete konzentrische Struktur. Die Oolith- bank geht in eine JVluschelbreccie über. Die Fossilien (Mytilus, Gervillia, Area, Avicula, Trochus, Turbonilla) sind Formen, die auch heute noch flaches Wasser bevorzugen. Die Exemplare sind klein, was bei dem an Lösungen stark gesättigten Wasser nicht zu verwundern ist. Loretz hebt hervor, daß sich in der Nähe ßryozoenriffe finden und daß häufig auch eine Überkrustung der Riff- verzweigungen stattgefunden hat. Diese Beob- achtung gewinnt besondere Bedeutung, wenn wir damit vergleichen, was Darwin über die Bildung kalkiger Gesteine an der Küste von Ascension mitteilt. „An verschiedenen Stellen des Meeresstrandes finden sich ungeheure An- häufungen von kleinen, gut abgerundeten Stück- chen von Muscheln und Korallen , dazwischen einige wenige vulkanische Bruchstücke eingestreut. In den kompaktesten Varietäten kann man deut- lich sehen, daß jedes einzelne abgerundete Stück- chen von Muscheln und vulkanischem Gestein in eine Schale von durchsichtigem kohlensaurem Kalk eingehüllt ist. Die zwischen den P'lut- grenzen liegenden Felsen werden, wo sich der kalkige Sand anhäuft und die Strömungen herum- biegen, von einer kalkigen Inkrustation über- zogen. Es läßt sich nicht daran zweifeln, daß die Bewegung und Aufstörung der ungeheuren Anhäufung kalkiger Teilchen eine so bedeutende Schwängerung der Meereswellen mit kohlen- saurem Kalk verursacht , daß sie denselben an den ersten Gegenstand niederlegen, welchen sie benetzen." ") Die Kalkausscheidung vollzieht sich hier auf rein anorganischem Wege. Den gleichen Prozeß müssen wir bei der Überkrustung der Riffverzweigungen im Zechstein und bei der Oolithbildung annehmen. Im unteren Buntsandstein des östlichen und südöstlichen Harzvorlandes sind oolithische Kalkbänke von wechselnder Zahl und Mächtigkeit weit verbreitet, die unter dem Namen Rogen - Steinbänke bekannt sind. Außer den radial und konzentrisch struierten Ooiden treten stock- förmige Massen auf, Stromatoide, die eine gleiche Struktur wie die Ooide besitzen, die sich aber durch ihre Größe und ihr einseitiges Wachstum, das sie als krusten- und stockähnliche Gebilde erscheinen läßt, von ihnen unterscheiden. Beide wurden von Kalkowsky^) für das Produkt tiefstehender kalkabscheidender Pflanzen gehalten. Als Hauptgrund für seine Ansicht führt er an, daß die iür den Aufbau der Ooide und Stroma- toide charakteristischen Strukturkegel nicht auf anorganischem Wege entstehen können. Diese Begründung entkräftet Reis.') Er weist nach, ') Liebe, .Neues Jahrb. f. Mineralogie usw. 1S53, 8.709. ') Darwin, Geologische Hcobachtungen über die vul- kanischen Inseln, drittes Kapitel, Ascension. ^) Oolith und Stromatolith im norddeutschen Buntsand- stein. Zeitschr. d. deutsch, geolog. Gcsellsch. 1908, S. 68. ■*) Neues Jahrb. f. Mineralogie 190S, II, S. II4. daß zwischen dieser Kegelstruktur und der Struktur der ,, Tutenmergelkristallisation" kein Unterschied besteht als der eine, daß „letztere innerhalb eines fertig abgesetzten, mit Lösungen geschwängerten Tones außerordentlich langsam mit ziemlich gleichmäßigem Toneinschluß kristalli- sierten, erstere an der Sedimentationsgrenze (z. T. in suspendiertem Bodensatz) ungleich rascher in gehäufter und in stetig gestörter Kalkausscheidung, unter ungleichmäßigem Ein- schluß des sinkenden Tones hineinwuchsen, wo- bei natürlich die morphologische Ausgestaltung etwas reichlicher wurde." Danach erscheint die rein anorganische Entstehung der Rogensteine nicht mehr so unmöglich, wie dies Kalkowsky darstellt, zumal er seine Schlüsse einzig aus der Stiuktur gezogen hat und selbst zugibt, daß „in den Ooiden von organischer Substanz, von organischer Struktur selbst nichts mehr vor- handen" ist. Die äußeren Bedingungen für an- organische Entstehung waren zweifellos gegeben. In den flachen, in ihrer Lage sich leicht ver- schiebenden und häufig hier verschwindenden, dort neu entstehenden Seebecken der Buntsand- steinwüste, deren Grenzen sich oft überschnitten und dadurch eine von Ort zu Ort wechselnde Folge der im Wasser entstehenden Sediment- bänke erzeugten, in diesen Wasserbecken, deren Ablagerungen je nach der längeren oder kürzeren Wasserbedeckung größere oder geringere Mächtig- keit erreichten, war die durch den hohen Ver- dunstungsgrad bedingte Konzentration so hoch, daß die Voraussetzung zur Bildung chemischer Sedimente vorhanden gewesen sein muß. Wir können zum Vergleich vielleicht die Oolithe heranziehen, die sich im Gebiet der Makarikari am Rande der Kalahari in dem von Kalkowsky') beschriebenen Salzpelit gebildet haben. Sie be- sitzen ebenfalls eine radiale und konzentrisch- schalige Struktur und einen fremden Kern. Kalkowsky hat die gleichen Erscheinungen festgestellt, die für die Rogensteine charakteristisch sind. Die häufige Halbierung der Ooide führt er auf Auskristallisation von Salzen zurück. Bei Auflösung der Ooide in verdünnter Salzsäure bleibt genau wie bei den Ooiden der Rogen- steine ein Tongerüst übrig. Für die Annahme, daß die Ooide vegetabilischen Ursprungs sind, bringt Kalkowsky keine Belege. Die Ooide liegen zusammen mit Sand- und Kalkstaub- körnchen in dem Salzpelit, der ein Gemenge aus chemisch ausgeschiedenen Salzen und ein- gewehtem Ton darstellt. Der Muschelkalk hat sich in einem flachen Meere mit vielen Untiefen und Bodenschwellen gebildet, und wir müssen von vornherein ein reichliches Auftreten oolithischer Gesteine er- warten. Diese Annahme wird durch die Tat- sachen bestätigt. Richard Wagner, der aus- gezeichnete Kenner des Thüringer Muschelkalks, Isis igoi. N. F. XIX. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 165 hat bei Jena eine große Zahl oolithischer Bänke festgestellt, die sich besonders im unteren Muschel- kalk häufen und im oberen Muschelkalk an Zahl abnehmen. Die Nodosenschichten sind ja in tieferem Wasser entstanden. Die wichtigsten oolithischen Bänke des Wellenkalkes sind die „Oolithbänke" und „Schaum- kalkbänke." Die Oolithbänke wurden vom Verfasser bereits an anderer Stelle eingehender behandelt, es seien daher nur die wichtigsten Er- gebnisse mitgeteilt. Für die Bildung der Oolithe am flachen Strand spricht eine Reihe von Tat- sachen. Bei Querfurt sind die Bänke diagonal geschichtet. Bei Kallmerode am Dün konnten Ausfüllungen von Trockenrissen in ihnen nach- gewiesen werden. An zahlreichen Stellen finden sich darin Fossilschalen, die durch den Wellen- schlag zerbrochen sind. Die Fauna ist eine Flachseefauna. Foraminiferen (Ammodiscus, Nodo- saria) sind nicht selten. Gerolle können so zahl- reich werden, daß Konglomeratbänke entstehen. So ist die Oolithbank bei Friedrichslohre an der Hainleite durch eine Konglomeratbank von 1,35 m Mächtigkeit vertreten. Die Ooide sind durchweg umkristallisiert und bestehen aus einem Aggregat verschieden orientierter Kalkspatkristalle. Da der Kern der Ooide mit umkristallisiert ist, läßt er sich heute nicht mehr erkennen. Gleiche Aus- bildung besitzen die Ooide der Terebratelbänke. Aus dem oberen Wellenkalk des Ohmgebirges ist eine oolithische Bank bekannt geworden, deren Ooide gleichzeitig radialen und konzen- trischen Aufbau besitzen. Die Form und Größe ist verschieden und hängt ab von der Natur der Kerne, die immer in Gestalt von Fossilresten, Calcitstückchen oder auch kleiner Schnecken und Foraminiferen vorhanden sind. Die Ähnlichkeit mit den Oolithen von Suez ist überraschend groß. Die Schaumkalkbänke zeigen manche Übereinstimmung mit den Oolithbänken. Die Fauna ist außerordentlich reichhaltig. Kon- glomeratische Einlagerungen finden sich fast überall. Ausgezeichnete Diagonalschichtung hat Frantzen abgebildet. Die Ooide sind ebenfalls umkristallisiert, doch ist ein innerer Kern (Calcit- körner, Gastropodenschalen, Foraminiferen, Tro- chiten) noch häufig zu erkennen, ebenso ein zonarer Aufbau.^) Durch Auslaugung der Ooide wird das Gestein porös , woher es seinen Namen hat. Oolithe aus dem mittleren Muschel- kalk sind durch V. H o h e n s t e i n -') bekannt geworden. Unser Binnenmeer wurde damals unter dem Einfluß der Wüstensonne so stark ein- gedampft, daß sich Salzlager bildeten. Die che- mische Ausscheidung von Kalk und Dolomit ist ') Krech, Beitrag zur Kenntnis der oolithischen Gesteine des Muschelkalks um Jena. Jahrb. d. Kgl. Preufi. Geol. Lan- desanstalt 1909, I, S. 95. ') Der mittlere Muschelkalk und untere Trochitenkalk am östl. Schwarzwaldrand. Geologisch-paläontologische Abhandl. Jena 1912. daher leicht verständlich. In der oberen Ab- teilung des mittleren Muschelkalks in Württem- berg finden sich oolithische Kalke, Dolomite und Hornsteine. Eine oolithische Hornsteinbank führt zahlreiche flache GeröUe, die aus dem unmittel- bar Liegenden stammen und zum Teil bereits ab- gerollte Oolithe darstellen. Die Fauna läßt eben- falls auf flaches Wasser schließen, Foraminiferen (Hyperammina suevica) sind häufig. Die Kerne der Ooide sind meist Fossilreste, oft Fora- miniferen ; die Struktur ist konzentrisch-schalig oder radialfaserig. Die Verkieselung hält Hohen stein für sekundär. Aus dem oberen Muschelkalk sind Oolithe schon lange bekannt, und zwar aus seiner unteren Abteilung, dem Trochitenkalk. Die Ooide zeigen einen radial konzentrischen Aufbau, woraus Krech die Folgerung zieht, daß sie nicht ursprünglich aus Aragonit, sondern von An- fang an aus Calcit bestanden haben. Ihre Form ist unregelmäßig und deutlich abhängig von ihren Ansatzkernen (Calcitstückchen, Fossilresten, Fora- miniferen , sogar Ooidfragmenten). Die Bildung am flachen Strand wird durch Trockenrisse, die Hohenstein gefunden hat, erwiesen. Der Jura ist diejenige Formation, die am reichhaltigsten Oolithe führt. Außerordentlich gut sind die schwäbischen jurassischen Oolithe bekannt geworden durch die eingehenden Untersuchungen von Gaub. ') Für unsere Be- trachtung sind besonders folgende Punkte von Wichtigkeit : Die Kalkoolithe des oberen Malm besitzen konzentrisch-schalige Struktur um einen Kern, meist einen Organismenrest, herum, und feinste Radialstruktur, wie aus dem Interferenzkreuz bei gekreuzten Nicols hervorgeht. Sie stehen in engem Zusammenhang mit Korallenriffen und Breccienbildungen, die nach Schmierer'-) eine Folge der eintretenden Verlandung des Gebietes sind. Schwieriger liegen die Verhältnisse bei den Eisenoolithen des oberen Dogger. In der Grundmasse der Gesteine herrscht oft organischer Detritus vor, der manchmal zersetzt und daher schwer zu erkennen ist. Häufig sind Echinodermen- breccien. Besonders fällt das Auftreten von Foraminiferen auf, unter denen Opthalmidium oolithicum eine maßgebende Rolle spielt. Die Ooide sind oft erfüllt davon. Die Oolithe bildeten sich in einer ausgedehnten Flachsee , und zwar ursprünglich als Calcitoolithe. Der Eisengehalt ist nicht primär, auch nicht metasomatisch, sondern metathetisch durch Zersetzung des den Sedimenten reichlich beigemengten Pyrits. Die Bedingungen, die Linck für eine Kaikabscheidung aus dem Meerwasser fordert , waren gegeben : Reichtum an Organismen, aus deren Eiweiß stammendes Natriumkarbonat und von Stoffwechsel- und Fäulnisprodukten herrührendes Ammonium- 1) a. a. O. '■') Zeitschr. d. deutsch, geolog. Gesellschaft 1902. i66 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. II karbonat. Die Kalkausscheidung knüpft sich g^ern an Körnchen, die die Wellen in Bewegung er- halten; an dieselben Körnchen, die auch von Mikroorganismen mit Vorliebe als Ansatzpunkt benutzt werden. So kommt es, daß die Opthal- midien immer wieder überkrustet wurden und sich im Innern der Ooide finden. Ihre Beteili- gung am Aufbau derselben ist demnach eine rein passive. Gaub's Ansichten über die Ent- stehung der strandnahen Chamositoolithe der Murchisonae-Schichten sind von besonderem Interesse und lassen sich vielleicht auch auf die gleichen Gesteine Ostthüringens übertragen. Er hält sie ebenfalls für Calcitoolithe, die unter Zer- setzung des im Sediment enthaltenen Pyrits in Brauneisenoolithe umgewandelt wurden. Als durch die unmittelbar folgenden Senkungsvorgänge die Sedimente in tieferes Wasser gelangt waren, voll- zog sich „unter dem Einfluß des marinen Grund- wassers die diagenetische Umsetzung des Braun- eisens in das Silikat". Gaub gibt damit die erste einleuchtende Erklärung für die Entstehung von Eisensilikatoolithen. Große Übereinstimmung mit den schwäbischen Eisenoolilhen zeigen die Minetteerze von Lothringen, die dem unteren Dogger angehören. Auch ihre Genese müssen wir uns ähnlich vor- stellen. Eine von verschiedenen Autoren ange- nommene primäre Entstehung der Eisenoolithe ist schon aus dem von Joh. Walther') ange- führten Grunde unwahrscheinlich, daß auch eine Vererzung der in den Sedimenten enthaltenen Fossilien stattgefunden hat. Auch der Lias Norddeutschlands führt oolithische Eisenerze. Am bedeutendsten ist das Vorkommen von Harzburg. Hier besitzen die Ooide eine konzentrisch-schalige Struktur und einen Kern, der sich als Brauneisenstein erweist. Dessen klastische Natur geht aus seinem Umriß hervor. Auch zwischen den Ooiden finden sich größere und kleinere Stücken von Brauneisen. Wir haben demnach aufgearbeitete ältere Sedi- mente vor uns, deren schwerste Bestandteile als Erzsande an bestimmten Stellen angereichert wurden. Die sekundäre Lagerstätte derselben wird erwiesen durch das Vorkommen von Fossilien, die älteren Stufen zugehören. ^) Die feineren Erzkörnchen dienten als Ansatzpunkte bei der Oolithbildung. Daß die Ooide sich so- fort als Eisenooide bildeten, ist unwahrscheinlich. Denn es ist nicht anzunehmen, daß die mit ihnen vorkommende normale F'auna in einem an Eisen- salzen gesättigten Wasser gedeihen konnte. Das Eisenlager erlangt ferner nur eine Längserstreckung von 3 km und geht in Kalkstein über. Die Um- wandlung der im Bereich der Eisensteinkonglo- merate liegenden Oolithe in Eisenoolithe muß daher als nachträglich angesehen werden. Die Fossilschalen waren demselben Vorgang unter- worfen. ') Lithogencsis der Gegenwart S. 709. ') Erläuterung zu Blatt Harzburg. Am bekanntesten und verbreitetsten ist aber im nordwestlichen Deutschland der Korallen- oolith. In neuerer Zeit sind immer mehr Be- weise für Hebungen und Senkungen, Regressionen und Transgressionen im oberen Jura geliefert worden, und wir müssen daher von vornherein Strand- und Flachwassersedimente in wechselnder Folge erwarten. Solche lassen sich auch tat- sächlich nachweisen. Brandungskonglomerate sind im Korallenoolith von Ahlem, nordwestlich Hannover, beschrieben worden.') Es finden sich darin abgerollte Kalkgeoden, vermischt mit Phos- phoriten älterer Juraschichten und Fossilien aus schwarzem und braunem Jura. Die bankweise eingelagerten Korallen sind nicht bodenständig, sondern in der Brandung abgerollt und auf zweiter Lagerstätte angehäuft. In den dicht darunter- liegenden Heersumer Schichten sind die Ooolithe kurz nach ihrer Ablagerung wieder aufgearbeitet und in ein Konglomerat umgewandelt worden. Es deutet dies auf rasche Verfestigung der Oolithsande, einen Vorgang, den wir auch bei Suez beobachten können. Am Kahlberg bei Echte-) findet sich in der Zone des Korallen- ooliths Diagonalschichtung, darüber Konglomerat- bänke. Diagonalschichtung beobachtete Dubbers auch am Hils. Am Langenberg (Oker) werden die oolithischen Kalke konglomeratisch, bei Greene am Hils gehen sie in eine Muschelbreccie von Schalen der Exogyra veniformis Gldf. über. Be- zeichnend für den raschen Wechsel der Ablage- rungsbedingungen ist das Völkser Transgressions- konglomerat bei Völksen am Deister, eine bis 4 m mächtige Mergelbank mit zahlreichen Ge- rollen und Fossiltrümmern, deren stratigraphische Stellung von Schöndorf'*) geklärt worden ist. Maßgebend für den Bildungsraum ist aber vor allem auch die Fauna. Der Reichtum an Riff- korallen, den schon Roemer^) so anschaulich geschildert hat, deutet auf Nähe der Küste. Die große Individuenzahl von Cidariden, das Auf- treten von Formen wie Ostrea, Gervillia, Litho- domus, Trigonia, Pholadomya; Turbo, Natica; Serpula sind Beweise für flaches Wasser. Ganze Bänke sind erfüllt von den Stacheln von Cidaris florigemma. Die Schalen zerfielen nach dem Tode des Tieres durch den Rhythmus der Wellen- bewegung in ihre Elemente, die widerstands- fähigen Stacheln wurden aufgehäuft und die Schalenteile zu organischem Sand zerrieben. Un- verletzte Gehäuse sind selten und nur durch Zu- fall erhalten. Auf die Nähe des Festlandes und vegetationsreicher Inseln läßt das häufige Vor- kommen eingeschwemmter und verkohlter Pflanzen- reste schließen. 1874. 1836. ') Hoyer, Jahrb. d. Kgl. Preuß. Geol. Landesanst. 1903. *) Smith, ebenda 1S91. ä) Brauns, Der obere Jura im nordwrstl. Deutschland. *) 7. Jaliresbericht d. niedersächs. geolog Vereins 1914. •^) Roentier. Versteinerungen d. nordd. Oolithcngebirges. N. F. XIX. Nr. II Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 167 Der KorallenooUth, der am Hils, Ith, Süntel, an der Weserkette die beherrschenden Höhen bildet, keilt nach Westen allmählich aus und wird von Lübbecke (Wiehengebirge) an vertreten durch einen an Pflanzenresten reichen Quarzit. In der westlichen Weserkette wird das Gestein eisenschüssig. An der Porta wurden die Eisen- flöze schon lange abgebaut. Heute geht der Bergbau vor allem bei Kleinenbremen um. Wo die Flöze auskeilen, gehen sie in Kalkoolithe über. Wir haben also linsenförmige Lager vor uns. Wiese') hält den Eisengehalt für primär. Dagegen sprechen verschiedene Beobachtungen. Ein mikroskopischer Vergleich des Eisenooliths und Kalkooliths ergibt vollkommene Überein- stimmung beider. Auch die Eisenooide besitzen noch einen hohen Kalkgehalt. Die Ooide haben konzentrischschalige Struktur um einen Fremd- körper herum, der durch Organismen, meist aber durch Quarzkörnchen dargestellt wird. Nach Einecke-Köhler-) findet eine allmähliche Anreicherung des Eisengehaltes statt in der Rich- tung auf das Innere der Flöze. Gleiche Ver- hältnisse kennen wir z. B. aus den Eisenerzlagern im Zechstein von Kamsdorf bei Saalfeld, deren metasomatische Natur Beyschlag^) nachge- wiesen hat. Eisenhaltige Quellen sind aus der Umgegend der Weserkette bekannt. Der Eisen- gehalt der Quellen von Oeynhausen ist nicht un- bedeutend, und so erscheint eine metasomatische Entstehung der Eisenlager wahrscheinlich. Die jüngsten Oolithe gehören dem Tertiär an. Durch die vorbildlichen Untersuchungen von Reis*) sind die Eocänablagerungen von Kressenberg am nördlichen Alpenrand, die mehrere Eisenoolithflöze enthalten, bekannt geworden. Nach seinen bis ins Kleinste gehen- den Beschreibungen läßt sich von den Bildungs- umständen folgendes Bild entwerfen : Die Sandsteine, Schieferletten, Mergel und Kalkbänke, mit denen die Oolithbänke wechsel- lagern, zeigen alle Merkmale einer Ablagerung im Litoralgebiet. Sie lehnen sich an eine Küste an, die mit einer vorgelagerten Barre die nörd- liche Begrenzung des Eocänmeeres darstellte. ') Zeitschr. f. prakt. Geologie 1903. ^) Eisenerzvorräte des deutschen Reiches. Arch. f. Lager- stättenforschung Heft I. ') Die Erzlagerstätten der Umgebung von Kamsdorf in Thüringen. Jahrb. d. Kgl. VreuB. Geolog. Landesanstalt 1888. *) Geognostische Jahreshefte 1S95, 1897. Eine Abnahme der Fossilien von Nord nach Süd. also mit der Entfernung von deren litoralem Wohnort ist deutlich wahrnehmbar. Die Fauna selbst kann ihrer Zusammensetzung und indivi- duellen Eigenart nach nur im Küstengebiet ge- lebt haben. Bemerkenswert ist der Reichtum an Foraminiferen und Echiniden , an großen dick- schaligen Muscheln und Schnecken. Formen wie Ostrea, Cardium, Pholadomya, Strombus giganteus, Teredo sind ungemein charakteristisch. Einge- schwemmt finden sich Pflanzenreste, die sich so- gar zu kleinen Kohlenflözen angereichert haben. Die Einbettung der Organismen vollzog sich in bewegtem Wasser. Eingeschaltete Kalkbänke sind aus Schalendetritus hervorgegangen. Eine Auslese der Nummuliten nach Größe und Ge- wicht läßt sich auf den Einfluß von Ebbe und Flut zurückführen, wie ihn We igelt*) be- schrieben hat. Die „starken Strömungen", als deren Wirkung Reis die „Ansammlungsstreifen" der Fauna ansieht, sind wohl ebenfalls die Ge- zeitenströme. Geringe Bodenschwankungen be- wirkten eine mehrmalige Aufarbeitung und Um- lagerung eben erst gebildeter Sedimente. So liegen auch die Eisenoolithe zum größten Teil nicht mehr auf primärer Lagerstätte. Sie bildeten sich ursprünglich im engsten Uferbereich des Kontinents. Nach Reis durch gleichzeitige tektonische Störungen, vielleicht aber auch unter dem Einfluß der Gezeiten ist derselbe Küsten- strich abwechselnd Sedimentations- und Ab- tragungsgebiet. Die Ooide bildeten sich, wie Reis einwandfrei feststellen konnte, von vorn- herein als Eisenooide. Dieser Ausnahmefall setzt ganz lokal gegebene Bedingungen voraus, und er sucht sie wiederum in gleichzeitigen tektonischen Ereignissen. Das Gebiet der Erzbildung sieht er für ein Zentrum der tektonischen Bewegung an, und daraus schließt er auf das Vorhandensein eisenhaltiger heißer Quellen, die die Erz- und Oolithbildung verursacht haben sollen. — Rückblickend können wir feststellen, daß für alle oolithischen Gesteine Deutschlands genügend Hinweise für eine Entstehung auf rein anorga- nischem Wege vorhanden sind und daß sich keine zwingenden Beweise für eine Abscheidung durch Organismen erbringen lassen. Sämtliche Oolithe bildeten sich im flachen, bewegten Wasser. >) a. a. O. Zweckmäßigkeit uud VervoUkominuuiiü;, Ausdrücke ästhetisclien Eiusclilags für naturwisseuscliaftliche Tatsächliclikeiten. [Nachdruck vertrottn.] Von Prof. V. Franz, Jena. Es wurde in dieser Zeitschrift unlängst der Zweckmäßigkeitsbegriff behandelt und versucht, ihm Neues abzugewinnen und das Wesen der Zweckmäßigkeit klarer als bisher zu erfassen.') Es dürfte daher auch eine Darlegung des- jenigen Standpunktes in dieser und einer ähn- ') E. Dennert, Zweckmäßigkeit oder NutzmäSigkcit? Nalurw. Wochenschr. 1918, Heft 29, S. 415—417. K. C. Rothe, Zweckmäßigkeit oder Nutzmäßigkeit f Ebenda, Heft 45, S. 648. i68 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. II liehen Frage nicht unwillkommen sein, zu welchem ich durch langes Nachdenken , einst ausgehend von der Auffassung, daß die Zweckmäßigkeit nicht dem Organischen eigentümlich und die Ver- vollkommnung ein Unding sei, gekommen bin, und den ich anderwärts in anderem Zusammenhange begründe.') Es sei gleich vorweg ausgesprochen, daß ich die Lösung des Zweckmäßigkeits- sowie des in neuerer Zeit weniger oft behandelten, aber im all- gemeinen vom Zoologen und Botaniker doch als ein Problem der Organismenkunde betrachteten Vervollkommnungsproblems zum Teil in Betrach- tungen aus dem Gebiet der Ästhetik suche; wor- aus ich aber keineswegs folgere, daß der Organis- menforscher sich die Ausdrücke „Zweckmäßigkeit" und „Vervollkommnung" versagen müßte, sondern zugestehe, daß „Zweckmäßigkeit" für ,,Dauerfahig- keit" beibehalten werden darf; für das Wort „Ver- vollkommnung" meine ich einen ihm zugrunde liegenden , bisher nicht mit der gegenwärtig er- reichbaren Schärfe erfaßten, rein naturwissenschaft- lichen Inhalt zu finden. Auch sei sofort zugegeben, daß die im Folgen- den darzulegenden Ansichten darüber nicht etwas durchaus Neues sein wollen. Hingeführt wurde ich zu ihnen zum Teil durch Heinrich Rickerts Buch ,,Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Be- griffsbildung", 2. Aufl., Tübingen 191 3. In diesem Werke führt Ricke rt unter anderem aus, worin das Wesen der Werte bestehe — Werte gelten insofern, als wenn nicht alle, so doch viele Men- schen in gewissen Dingen gleich urteilen — und betont weiterhin, daß die Naturwissenschaft von Werten nichts zu wissen habe, also das Ange- paßte oder Zweckmäßige, zur Daseinserhaltung Befähigte nicht dem Vollkommenen gleichsetzen dürfe. Den Begriff des Zweckes müsse die Natur- wissenschaft zwar beibehalten, um überhaupt noch von Organismen und deren Entwicklung reden zu können, er dürfe aber unter keinen Umständen ein Wertbegriff sein (S. 549, 550). Während also solche Betrachtungen mich auf die IVIitvvirkung von Wertvorstellungen bei der Bildung einiger geläufiger biologischer Ausdrücke hinführten, wobei Rickert jedoch einen wert- freien Zweckmäßigkeitsbegriff für möglich hält, findet Plate sogar schon in dem biologischen Begriff der Anpassung ein mit ihm verbundenes Werturteil. Daß wir von Anpassung nur bei Lebewesen sprechen, erklärt Plate damit (Selek- tionsprinzip und Probleme der Artbildung, 4. Aufl., '9'3> S. 38, 39 1, ,,daß wir mit dem Begriff der Anpassung ein Werturteil verbinden. Der lebende Zustand erscheint uns höher, wertvoller als der tote, während es für anorganische Körper gleich- gültig ist, in welcher Weise die chemischen und physikalischen Kräfte auf sie einwirken, ob der ') „Probiologie und Organisationsstulcn" wird in den von Schaxel herausgegebenen ,, Abhandlungen zur theoretischen Biologie" bei Geljrüder Bornträger erscheinen. ursprüngliche Gleichgewichtszustand erhalten bleibt oder in einen anderen übergeht, oder ob Atome zu dieser oder jener Verbindung zusammentreten." Daß ich dieser Meinung durchaus beipflichte, wird sich sogleich daraus ergeben, daß ich für das Zu- standekommen des biologischen Zweckmäßigkeits- begriffes keine andere Erklärung gebe als diese. Es sei nur noch zunächst erwähnt, daß ich es zwar stets gekünstelt finden würde, von anorgani- scher Zweckmäßigkeit zu sprechen, während der Begriff der Anpassung im Anorganischen unter Umständen nicht ganz unstatthaft erscheinen könnte. Wir könnten z. B. in Anlehnung an Ausführungen von Walt her den Granit als unserem Klima besser „angepaßt" bezeichnen als den Porphyr. Tun wir das jedoch, so ist mit dieser Ausdrucks- v/eise gleichfalls das Werturteil verbunden, wel- ches die feste Gesteinsmasse höher bewertet als ihre Verwitterungsprodukte. Was nun die organische Zweckmäßigkeit betrifft, so sind sich alle Biologen mit Ausnahme der vitaiistisch denkenden darüber einig, daß dieser Begriff keinen teleologischen Inhalt hat; wir schreiben der Gesamtnatur oder auch nur der organischen nicht Zwecke zu. Es sind sich ferner fast alle mit Ausnahme etwaiger Psychovitalisten darüber einig, daß der Begriff keinen psychologi- schen Inhalt hat. Mag auch dann und wann einmal ein Tier bewußt oder instinktiv das Zweck- mäßige suchen, z.B., wie das D o f 1 ei n einst vom nicht-psychovitalistischen Standpunkte aus beson- ders für Heuschrecken und Eidechsen nach seinen Beobachtungen auf Martinique als wahrscheinlich hinstellte,') die Umgebung von geeigneter Farbe aufsuchen, und mag es damit sogar sich in ge- eigneten Reflexen und in deren körperlicher Grund- lage bestärken ; im allgemeinen versagt die Argumentation, die Zweckmäßigkeit bestehe vom Standpunkt der Organismen, bei näherem Zusehen durchaus, denn die Absicht, zu leben und sich durch Generationen zu erhalten, könnten wir viel- leicht Tieren teilweise nachsagen, aber keineswegs den ebenso zweckmäßigen Pflanzen. Aus diesem Grunde pflichte ich auch nicht Dennert bei, der ,, Zweckmäßigkeil" durch „Nutzmäßigkeit" er- setzen möchte, sondern fände darin keine Ver- besserung. „Zweckmäßige" Eigenschaften „nützen" der Pflanze nur unter der Voraussetzung, daß wir einen ,, Vorteil" oder „Nutzen" in der Er- haltung des Organismus erblicken, während an sich der Untergang einer Pflanze kein Schade ist. Mit dem „wir erblicken" dürfte tatsächlich das Rätsel der scheinbaren Zweckmäßigkeit sich restlos lösen, und damit ist schon fast alles hier- über zu Sagende ausgesprochen. Uns erscheint ') Doflein, Über Schutzanpassung durch Ähnlichkeit. Biol. Zentralbl. 28, 190S. Doflein spricht nicht von be- wußten , sondern instinktiven Leistungen und verallgemeinert seine Ansicht hauptsächlich auf Wirbeltiere und Arthropoden. ,,Das Tier ist mit Hilfe seiner psychischen Fähigkeiten selber der Züchter, der die Art vervollkommnet." N. F. XIX. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 169 die Erhaltung einer Pflanze oder eines Tieres das „Bessere", sie läuft unseren Gefühlen weniger zu- wider als der Untergang, weil wir je nach den Bestandteilen unseres Werturteils und dem Grade der Bewußtheit derselben in einem Organismus ein entferntes Ebenbild unserer selbst oder eine unsere Sinne anziehende und versammelode Ge- stalt, eine Einheit, ein „Individuum" erbücken, dem wir den Vorzug geben gegenüber dem Anorgani- schen, zumal wenn wir Organismenforscher sind und als solche die Kompliziertheit der Gestalt und des in sie zusammengefaßten Lebensprozesses zu würdigen wissen. Die Frage nach dem „Wesen" der Zweck- mäßigkeit beantwortet sich also für den, dem es nicht genügt, daß Zweckmäßigkeit soviel wie Dauerfähigkeit heißt, nur noch dahin, daß ,,Z w e c k - mäßigkeit" ein Ausdruck von ästheti- schem Einschlag für die Dau er fähigkeit der Organismen als höchst komplizier- ter, zu Individuen in sich abgeschlos- sener Gebilde ist. Daraufhin nun kein Puritanismus, der den Aus- druck Zweckmäßigkeit aus der Sprache der Bio- logie ausmerzen wollte 1 Im Gegenteil. Nicht nur dürfte das Beispiel des gleichfalls ästhetischen Einschlags im Anpassungsbegriff andeuten, daß wir mit solcher Sprachreinigung eine unvollend- bare Arbeit beginnen würden, zumal vermutlich sich noch anderweitigen Wort- und Begriffsbil- dungen der Naturwissenschaft Ähnliches, wenn auch in weniger starkem Maße, beigemischt finden würde, wenn man danach suchte; nicht nur hat sich bisher kein besserer Ausdruck als „Zweck- mäßigkeit" für den unter ihm verstandenen natur- wissenschaftlichen Begriff, die Dauerfähigkeit so komplizierter Individuen, wie wir sie nur aus dem Organismenreiche kennen, gefunden; vielmehr scheint es mir Etwas in der phylogenetischen Entwicklung zu geben, für das sich gleichfalls bis- her keine bessere Bezeichnung findet als eine gleichfalls metaphorische, dem Sprachgebrauch des Ästhetischen entlehnte, und zwar der Ausdruck „V ervollkommnun g". Daß es etwas Derartiges in der stammesge- schichtlichen Entwicklung gibt, fühlte man be- kanntlich lange vor Darwin. Darwin fühlte richtig, daß sein Selektionsprinzip die Begründung für die Vervollkommnung enthalte, trennte aber in seinen einschlägigen Erörterungen im vierten Kapitel der „Entstehung der Arten" diesen Be- griff durchaus nicht scharf von dem der Erlangung von „Vorteilen", die natürlich gleichfalls durch das Selektionsprinzip erklärt wird und dasjenige dar- stellt, was wir die Entstehung der Zweckmäßigkeit zu nennen pflegen. Daß aber unter Vervollkommnung etwas An- deres verstanden werden kann und verstanden wird als die Entstehung und etwa Zunahme der Zweckmäßigkeit, etwas, was sich hiermit nur teil- weise deckt, ergibt sich daraus, daß wir die Rück- differenzierung, wie sie zumal beim Übergang zur festsitzenden Lebensweise oder zum Schmarotzer- tum als etwas durchaus Zweckmäßiges eintritt, nicht unter den Begriff der Vervollkommnung fassen, ebensowenig die einseitige Differenzierung oder Spezialisation, obschon auch sie, z. B. bei zahlreichen Vertretern der Tiefseefische, nur zweck- mäßig ist. Es ist also einerseits nicht jede Erlangung von Zweckmäßigkeit zugleich Vervollkommnung, andererseits gehört mehr dazu, und zwar etwas bestimmtes Morphologisches. Auch die morphologische Seite vom Inhalt des Vervollkommnungsbegriffs, ja diese wohl haupt- sächlich, fühlte man schon lange vor Darwin. So faßte Goethe es in folgende Worte, bei denen für unsere Frage nicht in Betracht kommt, ob Goethe wirklich an einen Entwicklungsvorgang glaubte und oder ihn nur an Formenreihen im Geiste vor sich sah : „Je unvollkommener das Ge- schöpf ist, desto mehr sind diese Teile einander gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommner das Geschöpf wird, desto unäh nlicher werden die Teile ein- ander. In jenem Falle ist das Ganze den Teilen mehr oder weniger gleich, in diesem das Ganze den Teilen unähnlich. Je ähnlicher die Teile einander sind, desto weniger sind sie einander subordiniert. Die Subordination der Teile deutet auf ein vollkommneres Geschöpf." (Im Kapitel „Die Absicht wird eingeleitet" der „Mor- phologie".) Darwin möchte als Maßslab des durch die Vervollkommnung herbeigeführten Fort- schritts der Organisation für die meisten Fälle denjenigen Karl Ernst vonBaers als den besten erachten, nämlich den „der Differenzie- rung der Teile eines und desselben organischen Wesens — in erwachsenem Zustande, wie ich (D.) geneigt wäre, hinzuzufügen — und ihrer Speziali- sierung für verschiedene Funktionen oder, wie Milne Edwards es ausdrücken würde, der Voll- ständigkeit der physiologischen Arbeitsteilung". Man beachte, daß dieser nur „auf die meisten Fälle" anwendbare Maßstab nicht die Zentralisation oder, wie Goethe dafür sagte, die Subordination mit umfaßt, wohl aber einseitige Differenzierungen mit umfassen würde. In beiderlei Hinsicht hat offenbar Goethe treffender geurteilt, ebenso später Hae ekel, der in der „Generellen Morphologie" in einer Anzahl umständlicher Thesen den Diffe- renzierungs- und den Zentralisationsgrad als Kriterien der „Organisationshöhe" oder „Voll- kommenheit" hinstellte. In neuerer Zeit ist der Vervollkommungs- begriff weniger erörtert und gegen den mitunter erhobenen Vorwurf, er sei teleologisch oder an- drozentrisch, nur selten verteidigt worden. Gleich- wohl weiß man, daß er nicht als abgetan gilt.') ') S Chips behandelt den Vervollkommnungsbegriff zwi- schen den Zeilen, wenn er in seinem Aufsalz „Die Idee vom Typus und ihre Bedeutung für Morphologie und Syste- matik" in dieser Zeitschrift IQ15, Heft 29, Seite 407, von der Ausbildung eines Entwicklungstypus spricht, ,, welche alle Teile 170 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. II Wir wollen nun versuchen, ihn im folgenden möglichst scharf zu definieren. Zunächst möchten wir uns darüber einig sein, daß zwar in den fundamentalen Lebensbetäti- gungen sowie in den fundamentalen Eigen- schaften der lebenden Materie, insbesondere in deren zelliger Struktur, alle Organismen auf gleicher Organisationsstufe stehen, wobei ich vereinfachte Kernstrukturen bei Einzellern am ehesten als sekundäre Rürkbildungserscheinungen deuten möchte, daß aber ebenso deutliche Ab- stufungen der Organisation in der Gestal- tung bestehen, weshalb die Einteilung der Or- ganismen in höhere und niedere ein Vorrecht der Morphologie ist. Ein Organismus ist um so höher organisiert, je weiter' er in seiner Gestalt — nicht nur im erwachsenen Zustande — sich entfernt von einer vorstellbaren Ausgangsform, die bei vollem Besitz der fundamentalen Lebens- eigenschaften keinerlei gestaltliche Differenzierung hätte. „Höher" ist dabei zunächst vollständig wertfrei gedacht, nur in dem Sinne, wie die Zwei eine höhere Zahl ist als die Eins. Eine biologisch ökologische, keineswegs eine im eigentlichen Sinne physiologische Betrachtungs- weise muß hineinspielen, wenn man auszumachen sucht, was zu dem Werturteil der Vollkommen- heit führe. Denn wie gesagt, wird darunter sowohl etwas Biologisch Ökologisch- Darwinistisches verstanden, was mit der Zweckmäßigkeit oft, aber nicht immer zusammenfällt, als auch etwas Morpho- logisches. Das Morphologische dürfte bereits klar erkannt sein, denn wenn man sich Ausdrücke aus der Ästhetik wie „harmonische Ausbildung" ver- sagt, wird man es kaum in bessere Worte fassen können, als Goethe es tat, oder als Haeckel mit den Worten „Differenzierung und Zentralisation". Das Biologische jedoch ist weder schlecht- hin übereinstimmend mit Zweckmäßigkeit, noch scheinen mir die Darwinschen Worte das Wesentliche zu treffen : „Alle Physiologen geben zu, daß die Spezialisierung der Organe, insofern sie in diesem Zustande ihre Funktionen besser eines Organismus, ohne irgendeinen zu bevorzugen oder zu beeinlrächligen, zu einem harmonisch ausgeglichenen Ganzen vereinigt. Wahllos sehen wir die Natur immer neue Entwick- lungsmöglichkeilen verwirklichen; der Kalolog der ausgestor- benen Formen ist überreich an Monstrositäten, die dadurch zustande gekommen sind, daß irgendein Organ auf Kosten der übrigen sich einseitig ausbildi-te, bis an dessen Hyper- trophie die ganze Entwicklungsreihe uniergehen muflte. Eine Vergleichung z. B. der ausgeslorbenen Wirbeltierformen mit den heute lebenden zeigt unverkennbar die Entwicklung in der Richtung immer besser ausgeglichener Proportionalität, die aber nicht von den einzelnen Formen, sondern von ihrem Ent- wicklungstypus erreicht wird. So ist die Idee vom Typus immer lebenskräftig und fruchtbar und für die Festsetzung der Entwicklungsgesetze nicht zu entbehren. Bewußt oder unbewußt fußen auf ihr alle Bestrebungen nach gefestigten Resultaten in Morphologie und Systematik." — Meine Absicht ist es, dasjenige Naturwissenschaftlich • Tatsächliche ausfindig zu machen, was dieser Idee zugrunde liegt. verrichten, ein Vorteil für jedes Wesen ist, und daher die Anhäufung von Variationen , die zur Spezialisierung hinneigen, das Ziel der natürlichen Zuchtwahl". Dies wäre vielmehr die biolo- gische Bedeutung der bloßen oder einseitigen Differenzierung oder Speziali sation, nicht der ,, Vervollkommnung", während Darwin es zur Begründung der Vervollkommnung ver- wenden will. Während nun zunehmende Kompliziertheit bekanntlich, z. B. im Menschenleben, oft die Da- seinsbedingungen einschränkt und dies ins- besondere im Falle der Spezialisation der Fall ist, dürfte für gewisse zahlreiche Fälle im Organismen- reiche zunehmende Kompliziertheit eine An- passung an erweiterte Daseinsbedingungen darstellen, zumal dann, wenn der Kampf ums Dasein für eine Organismenform wesentlich ein Kampf mit einer Vielzahl von anderen Organis- men, gleichviel ob ein mehr offensiv oder defen- tiv geführter, ist, wenn also die zahlreichen anderen Organismen der gleichen Örtlichkeit im allgemeinen einen wesentlicheren Faktor der „Außenwelt" für den einen Organismus darstellen als das Anorganische. Dieser Fall ist natürlich ein überaus häufiger, seitdem die ungeheuere Überproduktion an Nachkommen erfolgt. Durch Anpassung an diesen verschärften Kampf ums Dasein müssen die Organismen oftenbar eine allgemeine Sicherstellung erfahren und ge- wappnet werden für vielerlei Ereignisse, auch solche von nicht vorher erlebter Art. Dadurch kommen sie zum Gleichgewicht mit anderen Organismenarten, und beim weiteren Wirken der Auslese kommen die überlebenden Arten zum Übergewicht über die gleichzeitig aussterbenden oder doch an Zahl zurückgehenden. Nur wo Tiere sich dem Kampf ums Dasein mit einer Vielzahl von Organismen stark ent- ziehen, wie im Schmarotzertum oder bei Erobe- rung eines neuen Lebensraums oder bei einseitiger Veranlagung eines Organismus zu Exzessiv- bildungen, die zweckmäßig verwendet werden, kann es zur Spezialisation durch bloße Differen- zierung oder durch Rückbildung kommen. Anderenfalls aber dürfte „Differenzierung und Zentralisation" oder das, was wir an Morphologischem unter Vervollkommnung ver- stehen, eintreten und mithin das Mittel darstellen zur Erlangung des Übetgewichts im Kampf ums Dasein, so daß die Erlangung des Über- gewichts über andere Organismen im Kampf ums Dasein den Inhalt dessen treffen würde, was auf biologischem, ökologischem, darwinistischem Gebiete den als Vervollkommnung angesprochenen Fällen eigen ist. Es braucht wohl kaum noch betont zu werden, daß dies ein engerer Begriff ist als Zweckmäßigkeit schlechthin, eben das, was die Fälle zweckmäßiger Spezialisation nicht mit umfaßt. Daß Zunahme an Differenzierung und Zen- N. F. XIX. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 171 tralisation in der Regel mit Erlangung des Über- gewichts im Kampf ums Dasein zusammen fallen dürfte, dafür seien einige Beispiele angeführt. Die Plazentalier erlangten mit der Tertiärzeit das Übergewicht über die Aplazentalier, insbesondere über die Beuteltiere. Daß die Beuteltiere an all- gemeiner Differenzierung den Plazentaliern nach- stehen, mag wenig offenkundig sein, es zeigt sich aber z. B. am Auge in einer besonders einfachen, noch ganz kompakten, einfach radiärstreifigen Akkommodationsmuskulatur bei Trichosurus und demnächst wohl Macropus, nicht minder am Bau des Augenlids und dem Ausbildungsgrad der Meibomschen Drüsen, und solcher gewiß wesent- licher Unterschiede würden sich wahrscheinlich noch zahlreiche finden. Als eine niedrigere Stufe der Zentralisation kann ebensowohl das einfachere Gehirn der Beuteltiere — Fehlen des Großhirnbalkens — wie ihre Didelphie gegenüber der Monodelphie der Plazentalier und die noch periphere Ernährung der Jungen gelten. — Die Vögel erlangten im Mesozoikum das Übergewicht über die Flugsaurier, oder, falls ein wesentlicher Kampf ums Dasein zwischen beiden nicht statt- gefunden hat, so erlangten die Vögel doch heute viel größeren Artenreichtum als einst die Flugrep- tilien. Daß sie in allen Stücken komplizierter sind, ist offenkundig und bekannt. Daß ihr Körper- skelett mehr „zentralisiert" genannt werden kann als dasjenige der Flugsaurier, dürfte zumal durch die Reduktion peripherer Flügel- und Schwanz- skeletteile sinnfällig sein. — Unter jenen Fischen, die in Goodrichs anscheinend sehr gut phylo- genetisch durchgearbeitetem System die Osteich- thyes heißen , den Dipnoern , Ganoiden und Teleostiern , haben alle ursprünglicheren und im ganzen einfacher beschaffenen , nämlich die Di- pnoer, Ganoiden und unter den Teleostiern die Elopidae und Albulidae, ihre Blütezeit längst hinter sich und ragen nur mit wenigen Arten als ,, lebende Fossilien" in die Gegenwart hinein aus einer Vor- zeit, in der sie nach den Fossilfunden viel zahlreicher waren. Stärker differenziert gewordene Gruppen, denen man denn auch mit Rücksicht auf die kom- pliziertere Beschaffenheit zentraler Organe, wie Darmtraktus, Gehirn, mehr Zentralisation nach sagen kann, haben ihren Platz im Lebensraum eingenommen. Nur eine Familie ist trotz sehr ursprünglicher Organisation noch heute artenreich, die Mormyridae, und zwar dank vielen einzig da- stehenden Spezialisationen , die in eigenartigen Hautsinnesorganen , einem riesigen Cerebellum (auch eine Art Zentralisation !), in elektrischen Organen und anderem mehr bestehen. — Als Ur- heimat der Hydrozoen dürfte das Litoral des Meeres zu betrachten sein, wo diese Tiere heute in größtem Artenreichtum leben. Die vermutlich ursprünglichste Gattung jedoch, die sehr einfache Hydra, findet sich dort nicht und könnte wahr- scheinlich schon längst nicht mehr existieren, wenn sie sich nicht das Süßwasser erobert hätte, ein schwer zu eroberndes Gebiet, in welches die komplizierter werdenden Mitbewohner nicht folg- ten. — Ähnlich glaube ich in der Pflanzenkunde das Verhältnis der Koniferen zu den Laubhölzern beurteilen zu dürfen. Jene, die ursprünglicheren, einfacheren, gehören ja hauptsächlich der gemäßig- ten Zone an und sind insbesondere durchaus herrschend an der Grenze gegen den ewigen Schnee, während im wärmeren Klima ihnen die jüngeren und im ganzen komplizierteren Laubbäume längst den Vorrang streitig gemacht haben. Ver- gleicht man dabei die Angiospermenblüte mit der Gymnospermenblüte, so kann man jene auch un- streitig stärker ,, zentralisiert" nennen, worauf übrigens auch v. Nägel i 1884 bei seinem Ge- setz der „Vereinigung" hinwies; auch die Blüten- stände „zentralisieren" sich allmählich. Was die großen Hauptstufen des Metaphyten- und Metazoenreiches betrifft, dort die Thallo- phyten, Gefäßkryptogamen, Gymnospermen und Angiospermen, hier die Zölenteraten, die echor- daten Zölomaten und die Chordaten, so ist die Zunahme an Differenzierung und teilweise an Zentralisation für alle vier Stufen des Metaphyten- reichs zweifellos, und ein zunehmendes Über- gewicht im Kampf ums Dasein dürfte man wenig- stens an den zwei oberen Stufen daraus ablesen, daß in jeder die Baumgewächse diejenigen der vorangehenden in der Erdgeschichte mehr oder weniger verdrängt haben. Aus den Hauptstufen des Metazoenreiches ist dagegen der biologi- sche Inhalt des Vervollkommnungsbegriffes wohl nicht abzulesen , denn daß die Zölomaten die Zölenteraten verdrängt hätten oder von den Chordaten verdrängt worden wären , dürfte bis jetzt weder aus der Paläontologie noch aus ander- weitigen Anzeichen deutlich sein, während deut- lich an ihnen das Morphologische ist; ist doch das Wesentliche an ihnen, die Meso- dermbildung und später, bei den Chordaten, die Bildung des Neuralrohrs, nichts anderes als Ver- lagerung von Bestandteilen nach innen oder „Zentralisation". Zunehmende allgemeine Diffe- renzierung ist bei den Zölomaten gegenüber den Zölenteraten gleichfalls wohl zweifellos; weniger rückhaltlos kann man sich hierüber bei dem Ver- hältnis der Chordaten zu den echordaten Zölo- maten aussprechen, zumal hier die Gefahr der androzentrischen Beurteilung, die den Menschen als Maßstab nähme, vorliegt. Wenn demnach die erwähnten Hauptstufen des Organismenreiches auch nicht sämtlich mit gleicher Deutlichkeit das Entwicklungsgesetz er- kennen lassen, das wir zuvor an spezielleren Fällen ableiteten , so dürfte doch auch bei ihnen dasselbe Entwicklungsgesetz bestehen und nur bis heutigentags für uns noch teilweise etwas verschleiert sein, sei es aus äußeren Gründen oder aus dem Grunde, daß es sich denn doch hier und da in etwas verschiedener Weise betätigen mag. Dieses Ent wicklu n gsgesetz sei nochmals dahin zusammengefaßt, daß im Kampf ums Da- sein, soweit es ein offensiver oder defensiver Kampf 172 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. II mit zahlreichen anderen Organismen ist, das Übergewicht über die anderen Organ is- men des gleichen Lebensraums erlangt wird durch Zunahme an Differenzie- rung und Zentralisation. Eine ursächliche Begründung für das Zusammenfallen von ,, Differenzierung und Zentrali- sation" im Morphologischen mit „Erlangung des Übergewichts über die Mitorganismen" im Öko- logischen dürfte sich wenigstens gleichsam von ferne darin erkennen lassen, daß Differenzierung ohne Zentralisation ihrem Wesen nach sehr leicht zur partiellen oder einseitigen Differen- zierung oder Spezialisation führt, die die Daseinsbedingungen einengt, während im Falle gleichzeitiger Zentralisation des Organismus die Differenzierung als solche in gewissen Grenzen gehalten, die Organisation immer wieder auf eine Einheitlichkeit oder gewisse Vereinfachung ge- bracht wird, was der Einengung der Daseins bedingungen vorbeugt und hierdurch wenigstens die Vorbedingung für die Erlangung des allge- meinen Übergewichts darstellt. Genauer analy- sieren können wir einstweilen das wahrscheinlich gegenseitige Bedingtsein des Morphologischen und des Ökologischen nicht, welches jedenfalls keine Selbstverständlichkeit darstellt — so wenig wie seine beiden Bestandteile. Für diese ebenso bestimmte Art von allmäh- licher Umgestaltung wie gleichzeitiger Neubefähi- gung, die meistens, aber nicht immer statthat und das Beständigere in der Phylogenesis darstellt gegenüber der die Daseinsbedingungen einschrän- kenden und vermutlich deshalb den Fortschritten in der Erdentwicklung nicht dauernd gewachsenen Spezialisation, empfiehlt sich gewiß ein bestimmter Ausdruck. Nun ist der Ausdruck ,, Vervollkomm- nung" schon längst im Brauch für ,, Differenzierung und Zentralisation", zugleich für das damit, wie man fühlte, verbundene Zweckmäßige. Also behalten wir für beides zusammen den Ausdruck Vervollkommnung bei. Um so mehr empfiehlt sich das, als der Aus- druck Vollkommenheit in seinem ursprüng- lichen Sinne nicht nur auf Gestalten ange- wendet gerade das bezeichnet, was auch in der Tier- und Pflanzenmorphologie darunter verstan- den wird, eine wohlgefällige, harmonische Aus- gestaltung der Teile und Abstufung vom Innern nach außen, sondern auch im Menschenleben das Vollkommenheitsideal, wo immer es vorge- schwebt hat, nicht in der vorzüglichsten einseitigen Anpassung an bestimmte Leistungen oder in der Spezialisation besteht, sondern in harmonischer Ausbildung an Körper und Geist, in der damit zu erlangenden Anpassung an den allgemeinen Kampf ums Dasein und, möglichst, in der Ge- winnung eines Übergewichts in diesem. Darum darf in der Organismenkunde „Ver- vollkommnung" genannt werden, was ursprünglich beim Menschen und an menschlichen Werken so ge- nannt wurde und im Organismenreiche wiederkehrt. Gewiß ist der Ausdruck eigentlich unnaturwissen- schaftlich und zwar in erster Linie dem Ästheti- schen angehörig, denn ein ästhetisches Werturteil liegt sowohl dem Begriff der vollkommenen Gestalt zugrunde — für Goethe war es selbst an Organis- men großenteils ein rein ästhetischer Begriff ohne Bezugnahme auf Zweckmäßigkeit — als auch dem des vollkommenen Menschen, den der Grieche den y.cilov y.ctyct&ör, den Schönen und Tüchtigen nannte. Ein praktisches Werturteil spricht zweifellos mit, nicht nur in der Würdigung des „Tüchtigen" am Menschen, sondern auch bald stärker, bald schwächer in der Erkenntnis einer gewissen Dauerfähigkeit ,, vollkommener", harmo- nisch in sich ausgeglichener Gestalten im Anorgani- schen, in Werken der Technik und schließlich — an Organismen. Dieses praktische Werturteil dürfte indessen vom ästhetischen kaum scharf zu trennen sein, sondern letzteres dürfte mehr oder weniger auf jenem beruhen, sich an ihm herangebildet haben, und jenes kommt mit diesem bei der Dauerfähig- keit oder Zweckmäßigkeit von harmonisch in sich ausgeglichenen Organismengestalten wiederum überein. Sowenig nun wie beim Zweckmäßigkeitsbegriff brauchen wir uns beim Vervollkommnungsbegriff an dem ästhetischen Einschlag zu stoßen. Teleo- logisch ist auch dieser Begriff keineswegs, son- dern er bezeichnet etwas Naturwissenschaftliches mit einer Metapher aus der Ästhetik. „Vervollkommnung" ist ein geeig- neter Ausdruck ursprünglich ästheti- schen Inhalts für Erlangung des Über- gewichts über andere Organismen des gleichen Daseinsraumes unter Diffe- renzierung und Zentralisation. Der Vervollkommnung steht die Spez ialisa- tion gegenüber als Anpassung an bestimmte, enge Daseinsbedingungen, die meist durch ein- seitige oder partielle Differenzierung, mitunter mehr durch Rückdifferenzierung erfolgt. Kaum nötig, noch zu erwähnen, daß beiden Begriffen für viele Fälle etwas Relatives anhaftet. Fassen wir z. B. die Chamäleons als hoch spe- zialisierte Saurier auf, was sie ja zweifellos nach ihrer ganzen Organisation sowie nach ihren ein- geschränkten Daseinsbedingungen — Baumtiere der Tropen — gegenüber den Eidechsen als bäum- und erdbewohnenden Tieren viel größerer Verbreitung und Artenzahl sind, so könnte doch eine Art unter ihnen die verhältnismäßig ,, voll- kommenste" sein. Und sollte das in diesem Falle, bei einer gewissen Neigung zu unzweckmäßig bleibenden Exzessivbildungen in dieser Tiergruppe, die verhältnismäßig einfachste, ursprünglichste Spezies sein , so scheint die Sache bei den Mor- myriden anders zu liegen : schwer kann man sich dem Eindruck entziehen, daß unter diesen afrika- nischen Süßwasserfischen die Gattung Mormyrus, mit starker, aber ebenmäßiger und nicht über- triebener Ausbildung der in der Familie so häu- figen abnorm verlängerten und herabgebogenen N. F. XIX. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 173 Schnauze und mit — soweit bisher bekannt — größtem Cerebellum, einen „vollkommeneren" Mor- myridentypus darstellt als z. B. Marcusenius, der noch etwa ein Zyprinidenmaul und ein weniger stark vergrößertes Cerebellum besitzt. Und nicht nur in ihren Spezialisierungen, sondern auch durch diese erreichen die Mormyriden eine ge- wisse relative Vollkommenheit, da ihre Sonder- bildungen in großer Vielzahl vorhanden und hochgradig organisch miteinander verbunden sind : die Kopfform, die Hautsinnesorgane, welche vor- zugsweise die Schnauze bedecken , das riesige Kleinhirn, die eigenartige Motilität, die elektrischen Organe. In der Tat können die Mormyriden in demselben Süßwassermilieu artenreich leben wie z. B. die Zypriniden. So greifen Spezialisation und Vervollkommnung tatsächlich und begrifflich ineinander über und sind doch in erster Näherung aufs schärfste voneinander zu unterscheiden. Kleinere Mitteilungen. Sucht eine Radnetzspinne eine gefangene Biene zu gelangen. — Das fortgesetzte Beobachten mag mühsam sein. Aber das Resultat ist glänzend; durch Abbeißen der F"äden aus ihrem Netz zu denn wer auch nur einmal das Ausbessern eines teilweise zerstörten Netzes beobachtet hat, ist für alle Zukunft von der noch immer fast krankhaft verbreiteten Ansicht geheilt, daß Tiere, wie die Spinnen es sind, bei ihren Instinkthandlungen maschinenartig arbeiten. Am leichtesten gelingt befreien ? In Nr. i des gegenwärtigen Jahrganges diese^Zeitschrift wird auf S. 14 f. mitgeteilt, daß Heikertinger auf Grund seiner Beobachtungen diese Frage verneinend beantwortet. — Vielleicht interessiert es die Leser der Zeitschrift, über diesen Punkt von einem Spezialkenner der Gruppe etwas ^^^ Experiment, wenn man, während die Spinne Näheres zu erfahren. bei Herstellung eines neuen Netzes noch an dem Die Erforschung der Lebensweise der Tiere letzten, inneren Teil der klebrigen Spirale tätig und ganz besonders auch der Spinnen ist äußerst j^^^ vorsichtig einen Sektor des Netzes entfernt, schwierig. Um das zu beweisen, sei nur darauf Y)\e Spinne wird dadurch zunächst etwas einge- hingewiesen , daß auch einer unserer vorzüglich- schüchtert, geht aber, wenn man mit der nötigen sten Spinnenbeobachter A. Menge sich einmal Vorsicht vorging, nach kurzer Zeit wieder an die gründlich geirrt hat. Menge bestreitet auf Grund Arbeit und ersetzt nun zunächst das Fehlende, um seiner langjährigen Beobachtungen an Spinnen ^^^^^ ^jj^ g^j^^e Arbeit abzuschließen. — Für der- ganz entschieden, daß Aristoteles, wenn er artige Beobachtungen am besten geeignet ist eine behaupte, die Spinne bessere ihr beschädigtes Radnetzspinne, die in den Winkeln unserer Fenster Radnetz aus, im Rechte sei. — Und doch hat in diesem Punkte nicht Menge, sondern der alte Aristoteles recht. Ich gehe zunächst auf diesen Punkt etwas näher ein, weil er mit der obigen Frage in enger Beziehung steht. — Sehr ihre natürlichen Lebensbedingungen findet, wie Zilin x-iiotata. Man kann diese Spinne ungestört in seinem Zimmer beobachten und genau über- wachen, wieviel sie spinnt und wieviel sie frißt. ') Genau dasselbe , was für die Ausbesserung oft beobachtete ich selbst das Ausbessern des ^^^^^ Netzes gilt, gilt auch für den hier in Frage Netzes bei einer weitverbreiteten Tropenspinne kommenden Punkt. Sehen wir zunächst von den- Aranca (Epcira) tlicisii. Aber auch bei unseren jgnigen Spinnenarten ab, welche Bienen in allen einheimischen Radnetzspinnen kann man das Aus- päUen leicht bewältigen können , indem sie die- bessern unschwer beobachten. Voraussetzung ist sgjben vorsichtig in dichte Gespinstfäden ein- nur, daß zwei notwendige Vorbedingungen erfüllt wickeln und ihnen meist erst dann den schnell sind. Erstens darf das vorhandene Netz nicht tödlich wirkenden Biß beibringen, so darf einer- soweit zerstört sein, daß sich das Ausbessern ^^j^g ^j^ Spinne, bei der man das Abbeißen der nicht mehr lohnt. Vor allen Dingen müssen die päden beobachten will, nicht zu lange gefastet noch vorhandenen Teile in ihrer natürlichen Lage haben. Sie greift dann jedes Insekt, das ins Netz verblieben, also nicht zu sehr verzerrt sein. Auch gerät, auch eine Biene, '-) an und sucht sie zu be- darf die Klebrigkeit der Fäden noch nicht, etwa wältigen. Freilich greift sie eine Biene stets viel durch Staub und anhaftende Fremdkörper, gelitten vorsichtiger an als eine gewöhnliche Fliege von haben. Zweitens muß die Spinne nur wenig gleicher Größe. Hat man schon länger mit seiner Spinnstoff zur Verfügung haben. Sie muß also Spinne experimentiert, so erkennt man das sofort, schon viel gesponnen haben bei geringer Ernäh- £jj^ ^^^-jj ^ur einigermaßen geübter Beobachter rung. — Wenn nach menschlichem Ermessen diese beiden Bedingungen vollkommen gegeben sind, ist man allerdings noch keineswegs sicher, ob die Spinne nicht etwa anders urteilt und statt auszubessern, das Netz nach Zerstörung des alten neu herstellt. Man muß in solchen Phallen des- halb mehrere Tiere tagelang, ja wochenlang be- obachten, um zu einem durchaus sichern Resultat wird also keinen Äugenblick darüber in Zweifel ') Ich muß hier des weileren auf meine Arbeit in; Viertel- jahrsschrift für wissenschaftl. Philosophie Bd. 9, 1S85, S. i62ff. verweisen, in welcher Teile meiner Beobachtungsreihen ver- öffentlicht sind. '-) Bei kleinen Spinnen experimentiert man natürlich mit entsprechend kleinen Bienenarten, weil grofie Bienen das Netz sofort zerstören würden. 174 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. II bleiben, daß die Spinne das gefährliche Beutetier von dem ungefährlichen unterscheidet. Die Biene entgeht ihr deshalb auch viel öfter als selbst eine größere und kräftigere Fliege. — Die Spinne, bei der man das Abbeißen der Fäden beobachten will , darf aber auch nicht zu gut genährt sein. Dann fängt sie nur noch Fliegen, um sie als Vorrat aufzuheben, während sie die Biene ungehindert ihr Netz zerstören läßt und es gar nicht wagt, sich ihr zu nähern. — Nur eine Spinne, die mäßig gut ernährt ist, eignet sich also für die genannte Beobachtung und zwar besonders kurz nach Herstellung eines neuen Netzes, weil ihr dann besonders daran liegen muß, das Netz vor dem völligen Zerreißen durch die Biene zu schützen. Um möglichst sicher das Abbeißen der Fäden beobachten zu können, tut man allerdings auch hier wohl, mit mehreren Spinnen gleichzeitig zu experimentieren, da es nicht immer gelingt alle Vorbedingungen zu er- füllen, und da das Abbeißen auch nur einen Augenblick in Anspruch nimmt und leicht über- sehen wird. Aus dem bisher Mitgeteilten ergibt sich mit aller Sicherheit, daß Bienen den Spinnen durch- schnittlich weit weniger zum Opfer fallen als Fliegen. Wenn sich also der Nachweis erbringen läßt, daß Spinnen sich durch die Bienenähnlichkeit bei Fliegen täuschen lassen , so ist damit auch die Mimikrytheorie bewiesen, da nach logischem Er- messen die Bienenähnlichkeit sich dann im Laufe langer Zeiträume infolge der Naturauslese immer weiter steigern muß 1 Der genannte Nachweis ist aber erbracht worden. Ich konnte, wie man aus meiner genannten Arbeit ersehen wird, durch Experimente zeigen, daß sich die Spinnen bienen- ähnlichen Fliegen gegenüber genau ebenso ver- halten wie den Bienen gegenüber und konnte durch Experimente auch den eventuellen Einwand ausschliei3en, daß vielleicht der Geruch dabei eine Rolle spiele. Gewöhnliche Fliegen wurden näm- lich auch dann von den Spinnen sofort ergriffen, wenn sie mit Terpentinöl betupft waren, obgleich der Geruch des Terpentinöls, wie Experimente zeigten, den Spinnen äußerst unangenehm ist. Sie ließen denn auch mit Terpentinöl betupfte Fliegen schleunigst wieder frei. — Meine Be- obachtungen gingen damals in referierende Zeitschriften und in die Tagespresse über, und Carus Sterne machte ausdrücklich auf die Bedeutung dieser Beobachtungen aufmerksam. Aber alles das ist wieder in Vergessenheit ge- raten, und Forscher wie Heikertinger suchen mit unzureichenden Beobachtungen etwas zu be- weisen, was längst durch sorgfaltige Beobachtun- gen widerlegt ist. — Daß die Beobachtung der Lebensweise immer noch so sehr im argen liegt, ist nicht zu verwundern. Gibt es doch weder ein ausführliches Lehrbuch auf diesem Gebiete noch Einführungskurse an den Universitäten. Jeder Anfänger muß sich mühsam selbst ein- führen und alle die Fehler durchmachen, die auch seine Vorgänger durchgemacht haben. In diesen Anfängerfehlern steckt immer noch Heiker- tinger. Wer gleich eine engere Gruppe von Erscheinungen gründlich vornimmt, ringt sich schneller durch. Die allernotwendigsten Winke findet der angehende Beobachter in meiner kleinen ,, Anleitung zu zoologischen Beobachtungen" (Leip- zig 1910), die wenigstens den Vorteil hat, daß sie billig ist und auch von den Unbemitteltsten erworben werden kann. In aller Kürze möchte ich hier auch auf die Ameisen ähnlichkeit bei Spinnen eingehen. Auch da will Heikertinger etwas beweisen, was längst widerlegt ist. Der Grundfehler, von dem er da in seiner Beweisführung ausgeht, ist der, daß er die gefährlichen Ameisen nicht von den harmlosen unterscheidet. Er spricht immer allge- mein von Ameisen. Es gibt aber Ameisen , die völlig harmlos sind und die deshalb auch von vielen Vögeln gefressen werden , z. B. vom Wendehals fast ausschließlich, und andere Arten, die sogar dem Menschen sehr unangenehm sein können und die von fast allen Vögeln gemieden werden , während des Sommers sogar von allen. Den letzteren aber — und das muß gleich stutzig machen — gleichen stets die ameisen- ähnlichen Spinnen. So gleicht unsere Alynna- rachne (SaÜicus) formicaria, die an warmen, trockenen sonnigen Orten, besonders im Juni zu finden ist und beispielsweise auf Heia bei Danzig und auf Rotenfels an der Nahe zahlreich vor- kommt, der Waldameise. Aber nicht nur in der Gestalt gleicht sie ihr, sondern — und das muß noch mehr stutzig machen — auch in ihren Be- wegungen. Ihre Vorderbeine streckt sie vor, wie die Ameise ihre F'ühler. Es gehört wirklich ein hohes Maß von Wunderglauben dazu, wenn man sich mit Heikertinger auf den mittelalter- lichen Standpunkt stellen will, daß das alles Zufall sei. — Aber das Wunder geht noch weiter. Es kehrt in allen Spinnenordnungen wieder, sogar in einer Ordnung, in der man es am allerwenigsten erwarten sollte, in der Ordnung der Krabben- spinnen, die sich sonst doch gerade, im Gegensatz zu den Ameisen, durch breiten Körper auszeichnen. — Also auch bei der Ameisenähnlichkeit sprechen alle Tatsachen gegen Heikertinger. — Ich gehe nicht weiter auf Einzelheiten ein, verweise vielmehr auf ein ausführliches Kapitel „Täuschende Ähnlichkeit" in meiner Schrift „Vergleichende Physiologie und Morphologie der Spinnentiere unter besonderer Berücksichtigung der Lebens- weise" (Jena 1913, S. 79— 93) und auf einen Auf- satz, den ich an die Zeitschrift ,,Aus der Heimat" abgeschickt habe: „Farbe und Form im Kampf ums Dasein". FV. Dahl. Die Entfaltungsbewegungen der Pflanzen und deren teleologische Deutung. Unter dem obigen Titel erschien vor kurzem im Verlag von G. F'ischer, Jena ein Buch von K. von Goebel, das die Aufmerksamkeit aller N. F. XIX. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. '75 botanisch interessierten Kreise auf sich ziehen muß.') Es ist gedacht als Ergänzungsband zu des gleichen Verf bekanntem, kürzlich in zweiter Auflage er- schienenemWerk : „Die Organographie der Pflanzen". Ursprünglich war beabsichtigt, daß die Ent- faltungsbewegungen ein besonderes Kapitel der zweiten Auflage der Organographie füllen sollten. Inzwischen nahmen die eigenen Untersuchungen Goebels einen derartigen Umfang an, daß der Raum eines Kapitels weit überschritten worden wäre und eine besondere Darstellung der zu zahl- reichen Organbildungen in engem Zusammenhang stehenden Entfaltungsbewegungen gerechtfertigt erschien. Auf diese Weise ist der stattliche uns vorliegende Band entstanden, der auf 480 Seiten mit 239 Textabbildungen die Gesamtheit der Entfaltungsbewegungen historisch, vergleichend- morphologisch und entwicklungs-mechanisch be- handelt. Ich möchte im Nachfolgenden versuchen, die Leser dieser Zeitschrift mit einigen Gedanken- gängen dieses hochbedeutenden Werks vertraut zu machen, um so zu erreichen, daß dieselben das Buch selbst zur Hand nehmen und sich in dasselbe vertiefen. Sie werden eine unerschöpf- liche Fülle von Anregungen daraus ziehen. Gerade die Entfaltungsbewegungcn der Pflanzen haben mehr als irgend welche anderen Entwick- lungsvorgänge zu teleologischen Deutungen an- geregt, und dies gibt Goebel Veranlassung, in der Einleitung (S. i — 22) zunächst ganz allgemein und historisch die Frage zu behandeln: „wes- halb uns die teleologische Betrachtungsweise so sehr im Blut liegt, daß wir glücklich sind, sie irgendwie auch wissenschaftlich rechtfertigen zu können". Ausgehend von den ältesten Versuchen finaler Deutungen — die namentlich bei den Reizbe- wegungen der Sensitiven (Mimosa u. a.) und den Schlafbewegungen psychologisch waren und erst später das Lebensinteresse der Pflanze selbst in den Vordergrund rückten — kommt der Verf. zu dem Ergebnis, daß es sich in allen Fällen um einen tiefeingewurzelten, unbewußten Anthropo- morphismus handelt. Für eine Reihe von Fällen wird die Irrtüm- lichkeit der teleologischen Deutung nachgewiesen und dargelegt, daß gewisse Reizbewegungen völlig nutzlos also der finalen Deutung überhaupt nicht zugänglich sind, z. B. die traumatonastischen Krüm- mungen verletzte Wurzelspitzen, die chemonasti- schen Bewegungen der Blätter von Callisia repois in einer durch Leuchtgas verunreinigten Atmo- sphäre (nach Wächter), Epi- und Hyponastien der Blätter von Sciiipervivum und Galaiühiis bei vollkommenem Lichtausschluß und viele andere. Zahlreiche dieser unter dem Einfluß äußerer Lebensfaktoren erfolgenden und zunächst durch- aus nutzlosen Bewegungen und Bildungsvorgänge können aber nachträglich doch eine gewisse Be- ') Preis 44 Mk. deutung erlangen, wenn sie in einem für die Pflanze wertvollen Sinn ..ausgenutzt" werden. Als Beispiele solcher auf „Ausnutzung" vor- handener Eigenschaften beruhender Anpassungen werden angeführt: Die durch Schwinden des Wassergewebes entstehenden Hohlräume in den knollenförmigen Achen der sog. myrmecophilen Pflanzen (wobei allerdings der Nutzen, der der Pflanze aus der Besiedelung jener Hohlräume durch Ameisen erwächst, keineswegs einwandfrei sicher- gestellt ist), die kleistogamen Blüten (die Hem- mungsbildungen darstellen und höchstens sekundär der Pflanze von Nutzen sein können, wenn die Samenbildung in den chasmogamen Blüten unter- bleibt) u. a. Goebel mißt dieser Ausnutzung vorhandener (eventuell latenter) Eigenschaften für das Zustande- kommen von „Anpassungen" eine sehr große Be- deutung bei und meint, daß sie eine weit größere Rolle spielt als die Summation kleiner vorteil- hafter Variationen, durch welche man sich nach der Selektionslehre die Anpassungen entstanden vorstellt. Er selbst faßt die Tendenz des vor- liegenden Werkes in folgende Leitsätze zusammen, die wir hier wörtlich wiedergeben : 1. Die teleologische Betrachtung hat vielfach auf Irrwege geführt. 2. Es gibt auch nutzlose Bewegungen. 3. Vielfach kommt das Prinzip der Ausnutzung in Betracht. 4. Die Darwinistische Begründung der Mannig- faltigkeit der Anpassungen reicht nicht aus und zwar aus folgenden Gründen : a) weil das Prinzip der „Ausnutzung" und das Vorhandensein von durch die Struktur — im weitesten Sinn — gegebenen F"ähigkeiten vielfach an Stelle des „Variismus" zu treten hat, b) weil die Entwicklung verwickelter „An- passungen", welche doch schließlich nur dasselbe erreichen wie andere viel einfachere Einrichtungen nur verständlich ist, wenn wir annehmen, daß die phylogenetische Entwicklung eine zwangsläufige, durch die innere Beschaffenheit der einzelnen Gruppen bedingte war, zwangsläufig aber nicht durch Anhäufung richtungsloser nützlicher Varia- tionen, sondern dadurch, daß die Richtung der Formbildung durch die Beschaffenheit der be- treffenden Pflanzengruppen gegeben war, und die Selektion nur direkt unzweckmäßige Glieder dieser Reihe ausmerzte.*! Goebel hat diese Auffassung schon in einem seiner ersten größeren Werke (Pflanzenbiologische Schilderungen I. 1889) vertreten und beklagt sich darüber, daß sie wenig Beachtung gefunden habe. ,,Für ihn sei sie ein Postulat, ohne das die Mannig- faltigkeit der Anpassungen unverständlich sei." ') Es sei dem Ref. gestaltet, darauf hinzuweisen, daß er den gleichen Gedanken in ähnlicher Fassung in seinem Buch: Die Biologie der Pflanzen auf experim. Grundlage 1913t ^uf S. 641, bei Gelegenheit der Schilderung der komplizierten und doch so wenig leistungsfähigen Blüten gewisser Orchideen zum Ausdruck brachte. 176 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. II Und in der Tat: wem ist noch nicht aufgefallen, auf wie unendlich vielen Wegen von den ver- schiedenen Pflanzenarten ein und dasselbe (schein- bare) Ziel erreicht wird. Bei jeder Anpassung könnte gesagt werden: „es geht so, es ginge aber auch anders". Goebel gibt diesem Gedanken drastischen Ausdruck, indem er an den Kopf seines Buches als Motto den Ausspruch Mohammeds setzt : „Das Paradies hat tausend Tore". In den einzelnen Kapiteln werden nun unter Anführung zahlreicher Beispiele aus den verschiedensten Ab- teilungen des Pflanzenreiches beliandelt: I. Die Art der Entfaltung z. ß. Mützen- und Fensterblüten, Entfaltung durch ungleiches Wachs- tum, durch Turgordrehung. Passive und Aktive Gelenke, Schwellkörper usw. II. Entfaltungsbewegungen der Sprosse (Nuta- tionen) und zwar vegetative Sprosse, Inflores- zenzen, Fruchtstiele. III. Blattentfaltungen, z. B. Vertikalstellungen, Laubausschuttung, und ähnliches. IV. Entfaltungsdrehungen, Resupinationen an Blättern, Drehsprosse, Drehblüten, und Drehfrüchte. V. Resupination der Blüten, bei verschiedenen Pflanzenfamilien. VI. Entfaltungsfolge; bes. bei Infloreszenzen und Blüten, in Zusammenhang damit die Erschei- nungen der Protandrie und Proterogynie. VII. Entfaltungs- und Reizbewegungen in Blü- ten, Reizbare Narben und Staubblätter, Pollenaus- schleuderung bei windblütigen Pflanzen. VIII. Die Sensitiven, Beziehungen zur Wasser- ökonomie, Reizleitung usw. IX. Die Schlafbewcgungen, einerseits durch Wachstumsvorgänge, andererseits bei Gelenk- pflanzen, Beziehungen zu den Standortverhält- nissen usw. In all diesen Fällen, die hier nur ganz bei- läufig angedeutet werden können, wird der Nach- weis geliefert, daß die Bewegungsvorgänge ihre Ursache in der spezifischen Struktur (Asymmetrie, Dorsiventralität usw.) haben und ursprünglich nur im Dienst der Entfaltung und der Erhaltung der Entfaltungsstellung stehen. Es lag nahe, d. h. die anthropomorphe Betrachtung der Naturvorgänge führte dazu, diese — oft sehr auffälligen — Be- wegungen in gewissem Sinn, teleologisch zu deuten; aber für die meisten derartigen Deutungen fällt es bei objektiver Betrachtung der .Sachlage schwer, sichere Beweise zu erbringen, oder wenn doch, wird man höchstens von Ausnutzung eines ge- gebenen Verhältnisses, nicht aber von einer allmäh- lich herangezüchteten Anpassung sprechen können. Als ein besonders anschauliches Beispiel mag die Resupination der Blüten angeführt werden. Die teleologische Deutung, die man hier der Re- supination zu geben suchte, läßt sich nicht auf- recht erhalten. Eine durchgreifende Beziehung zur Fremdbestäubung kann schon deshalb nicht vorhanden sein, weil auch Blüten die regelmäßig Selbstbestäubung zeigen, resupiniert sein können. Es liegt also eine Entfaltungsbewegung dorsiven- traler Blüten vor, die unter Umständen vorteilhaft sein kann (dadurch, daß den Pollenüberträgern die Arbeit erleichtert wird), aber dies nicht sein muß. Aus dem wenigen, was hier mitgeteilt wurde, dürfte zur Genüge hervorgehen, welch tiefe Ein- blicke in die Welt des organischen Geschehens das neue Goebel sehe Werk vermittelt, indem es uns neue Wege zeigt, die sich fernhalten von den wenig befriedigenden Gedankengängen der Darwin sehen Zufallstheorie ebenso wie von der mystischen Richtung des L a m a rc k sehen Vervollkommnungsprinzips. In Bezug auf die Darstellung des verarbeiteten Stoffes sei noch rühmend hervorgehoben, daß ein ungeheueres Material von — vielfach neuen — Beobachtungen angeführt wird. Kaum weniger bewundernswert ist, wie der Verf. in einzelnen Kapiteln (z. B. die Sensitiven) fertig brachte, in überaus anregender Weise die ältere und älteste Literatur — welche Vertiefung in uns heute fern- liegende und größtenteils vergessene naturwissen- schaftliche Schriften gehörte dazu I — herein zu beziehen. Er versteht es dabei meisterhaft, die etwas spröde Materie hie und da durch witzige Randbemerkungen schmackhaft zu maclien, z. B. wenn er aus dem Werk von Clusius (1608) über die „Herbae vivae" Biophytum und Mi- mosa zitiert: „ein gewisser Philosoph in Malabar sei über dem zu großen Eifer, die Natur dieser Pflanze (Mimosa) zu ergründen, verrückt gewor- den" und hinzufügt: „Der Unglückliche ist aber zum Lohne von fast jedem mittelalterlichen bo- tanischen Schriftsteller erwähnt und dadurch da- mals bekannter geworden als jetzt die meisten Autoren, die, ohne Verlust ihres Verstandes, sich mit „Sensitiven" befaßt haben." Die Ausstattung des Buches in Druck und Ab- bildungen genügt, wie bei der Organographie, trotz der z. Zt. bestehenden Schwierigkeiten im Druckereibetrieb, den verwöhntesten Ansprüchen. Es sei mir schließlich gestattet, auf einen kleinen Mangel, der freilich nur äußerlich ist, aber doch störend wirkt, liinzuweisen, nämlich daß an verschiedenen Stellen die Paragraphenüberschrif- ten aus Versehen wegelassen wurden, z. B. auf S. 30 (Darwinismus und Teleologie), S. 153 (Rück- blick), S. 178 (Teleologische Deutung der Ver- tikaistellung), S. 293 (Zusammenfassung), S. 474 (Die teleologische Deutung der Sclilafbewegungen). Neger. IiiIihH: B. V. Krcyberg, Über oolithische Gesteine. (4 Abb.) S. 161. V. Franz, Zweckmäßigkeit und Vervollkomm- nung, Ausdrücke ästhetisclien Einschlags für naturwissenschaftliche Tatsächlichkeiten. S. 167. — Kleinere Mitteilungen : Fr. Dahl, Sucht eine Radnetzspinne eine gefangene Biene durch Abbeißen der Fäden aus ihrem Netz zu befreien? S. 173. Neger, Über Goebcls Buch ,, Die Entfaltungsbewcgungen der Pflanzen und deren teleologische Deutung". S. 174. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 21. März 1920. Nummer 13. [Narhdrnrk verboten.] Das Problem der Kohlensäuredüiigung. Von Dr. Hugo Fischer, Essen a. R. Mit 1 Abbildung im Text. ,,Des Ritters Lied .d Weise, sie fand ich neu, nsre (jleise, schritt er doch fest und ..Hans Sachs'' in ,,Die Meistersinge n Niirnbe Kohlenhydrate, F'ette und Eiweiß- körper sind die wichtigsten chemischen Ver- bindungen im Stoffwechsel der Pflanzen wie der Tiere. Von den Fetten können wir für unsere heutigen Betrachtungen fast ganz absehen; sie entstehen aus Kohlenhydraten, spielen im Organis- mus nur die Rolle von Speicherstoffen, und wer- den vor weiterer Verwendung erst wieder in Kohlen- hydrate zurückverwandelt. Fette allein kann auch der tierische Organismus aus den beiden anderen Stoffklassen erzeugen, Kohlenhydrate und tiweiß- körper entstehen primär nur in der Pflanze. Darum ist das Tierreich nicht imstande sich allein zu ernähren, es ist ganz auf die Pflanzenernährung angewiesen. Das war schon dem Verf des ersten Buches Mosis bekannt: Die Pflanzen mußten vor den Tieren erschaffen sein. Auch die Eiweißstoffe bildet die Pflanze erst mittelbar, durch Anlagerung von Stickstoff, Schwefel, Phosphor usw. an die Kohlenhydrate, welche ihrerseits die ersten, aus anorgani- schem Material erzeugten organischen Verbindungen sind. Aus Eiweißstoffen baut sich die lebende Substanz der Zellen auf. Die Kohlenhydrate dienen als Betriebsmaterial der Atmung als Quelle der Lebensenergie, als Zellulose bilden sie die schützende Außenhaut der Zellen und das feste Gerüst der Pflanzen. Die Entdeckung, daß grüne Pflanzenteile im Licht die Kohlensäure der Luft zer- legen, den Kohlenstoff zurückbehalten, den Sauerstoff ausscheiden, geht bis auf das Jahr 1779 zurück, wo Ingen-Housz diese Beobachtung machte. Später 1798, durch Saus - sure bestätigt') und vertieft, mutete doch die Tatsache, daß die Pflanze ihren wichtigsten Bau- stoff, den Kohlenstoff, aus der Luft gewinnt, so fremdartig an, daß sich bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts die „Hum ustheorie" erhalten konnte, nach welcher die Pflanzen den Humus- teilchen im Boden ihren Kohlenstoffbedarf ent- nehmen sollten. Erst den Forschungen des Che- mikers Liebig, des Pflanzenphysiologen Sachs und A. gelang es, der richtigen Anschauung durch beweisende Experimente endgültig zum Siege zu verhelfen. Des erstgenannten epochemachendes ') Eine recht klare kurze geschichtliche Darstellung gibt A. Gehring im Prometheus 31, 1919, 1. und grundlegendes Werk erschien 1840: „Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie." Neben seinem Hauptverdienst, der Mineraldüngung der Felder die rechten Wege zu weisen, ist leider das IiUeresse, das er auch der Kohlensäureversorgung der Pflanzen ent- gegenbrachte (er hat auch, wie sein Zeitgenosse Boussingault, eine Reihe von Versuchen über die Bodenkohlensäure angestellt), nachmals stark und dauernd in Vergessenheit geraten. Die Tatsache, daß die Pflanze au s d er Luft und nicht aus dem Boden ihren Kohlenstoff be- darf deckt, hat man arg mißverstanden und nach der Humuskohlensäure überhaupt nicht mehr gefragt; nun ist aber nicht zu leugnen, daß gerade eben dem Boden , der Zersetzung organischer Stoffe durch Bodenbakterien und Pilze, eine große Menge Kohlensäure entströmt. Schon 1837 schrieb Albrecht Thaer, der „Vater der rationellen Landwirtschaft", die Worte; „Durch die Erzeugung von kohlensaurem Gas wirkt der Boden wahr- scheinlich auf die Vegetation, besonders wenn das Kraut der Pflanzen die Oberfläche stark bedeckt, und dadurch die zu schnelle Entweichung der mit entwickeltem kohlensaurem Gas angefüllten Luft- schicht verhindert. Der Humus ist diejenige Sub- stanz, welche den Pflanzen die Nahrung gibt. Die Kraft oder der Reichtum des Bodens hängt von ihm ab." Selbstverständlich darf man nun diese Sätze auch nicht im Sinne der Humustheorie dahin mißverstehen, daß die Pflanze mit den Wurzeln kohlenstoffhaltige Verbindungen aus dem Humus aufnehme. Das geschieht vielleicht bei den mit Wurzelpilz, Mykorrhiza, versehenen Pflanzen in geringem Grade, bei den anderen über- haupt nicht oder doch so wenig, daß es für die Kohlenstoffernährung überhaupt nicht in Frage kommt, m. a. W., die grüne Pflanze muß rettungs- los verhungern, wenn sie nicht in Luft und Licht normal assimilieren kann. Auch die häufig wie- derkehrende Annahme, daß die Wurzeln im Boden- wasser gelöste Kohlensäure aufnehmen, welche der Assimilation diene, ist abzuweisen, weil be- wiesen ist, daß die Wurzeln vielmehr bestand ig Kohlensäure ausscheiden. Kann somit die grüne Pflanze der normalen Kohlensäureassimilation nicht entbehren, so wird die Bedeutung dieses Vorganges in noch helleres Licht gerückt durch die Erwägung, daß die Kohlenhydrate im Stoffwech.sel der Pflanze t'j Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 12 den Anstoß zur Blütenbildung geben. Auf diesen Zusammenhang wurde ich seinerzeit durch folgende Betrachtungen hingelenkt: Nach alter, tausendfältiger Erfahrung kommt die Pflanze schlecht oder gar nicht zur Blühreife, wenn sie ungenügend beleuchtet ist; ein gewisser „Li cht gen uß" (der Ausdruck stammt von Wiesner, doch ohne Beziehung zu der hier er- örterten F'rage) ist nötig, den blühbaren Zustand hervorzurufen. Die werdenden Blüten verbrau- chen aber, durch Atmung, eine große IVlenge von Kohlenhydraten, wenn es dabei auch nicht immer zu fühlbarer Erwärmung kommt, wie in den Kolben von Arum-Arten. Andererseits kann man die Blühwilligkeit fördern durch Ein- schränkung der Bodenernährung, wie die Gärtner tun, wenn sie ihren Pflanzen die Wurzeln beschneiden, sie in kleine Töpfe mit nährstoff- armer Erde setzen und möglichst wenig begießen, um so erfahrungsgemäß die Biühwilligkeit anzu- regen. So kam ich zu der Überzeugung, die ich zum erstenmal im Dezember 1898 öffentlich aus- gesprochen, nachdem ich sie jahrelang zuvor er- wogen, daß ,,die ausgiebigere Kohlensto ff- Assim ilatio n dasj enige IVIom ent ist, das in erster Linie die Blütenbildung be- günstigt".') Später habe ich die hier zutage tretende Gesetzmäßigkeit in folgender Form zum Ausdruck gebracht: 1. Bedingungen, welche die Lufternährung för- dern, begünstigen die Blüienbildung auf Kosten der vegetativen Entwicklung. 2. Bedingungen, welche die Bodenernährung begünstigen, beeinträchtigen die Blütenbildung zu- gunsten der vegetativen Entwicklung. 3. Herabsetzung der Lufternährung schädigt die Blühwilligkeit zugunsten der vegetativen Ent- wicklung. 4. Herabsetzung der Bodenernährung fördert die Blühwilligkeit und beeinträchtigt die vegeta- tive Entwicklung. Unter „Lufiernährung" ist die Kohlensäurever- sorgung zu verstehen, unter „Bodenernährung" die Zufuhr von Wasser und mineralischen Nähr- stoffen. Da Satz 1 dahin mißverstanden worden ist, als schädige eine Kohlensäurezufuhr die vegetative Entwicklung, betone ich schon hier, daß das nicht der Fall ist, daß vielmehr rechtzeitig in Behandlung genommene Pflanzen erst sich kräftiger entwickeln, mehr Grün- masse erzeugen, dann aber früher und aus- giebiger blühen als die unbehandelten Kontrol- pflanzen. Es ist vielleicht von Interesse darauf hinzu- weisen, daß die Grundtatsachen dieser Blüten- bildungstheorie schon Goethe bekannt waren. In seiner berühmten 1 790 verfaßten ,, Metamor- phose der Pflanzen" spürt man deutlich, wie ') So gedruckt in Sitzber. Niederrhein Ges., iN'aturw. Abtlg., Bonn 1901, S. 36. das bloße beschreibende Ordnen der Erschei- nungen ihm nicht genügte, wie sein Forschergeist nach deren Ursachen suchte 1 Freilich, diese klar zu erkennen, dazu war nur wirklich damals die Zeit noch nicht reif (NB. ein oft mißbrauchtes Wort!). Seine physiologischen Ansichten waren noch recht unklar, obwohl ihm die Entdeckung von I n g e n • H o u s z (s. o.) bekannt war. So schreibt er in § 26: „Man hat sich durch Erfah- rungen unterrichtet, daß die Blätter verschiedene Luftarten ein.saugen, und sie mit den in ihrem Inneren enthaltenen Feuchtigkeiten verbinden, auch bleibt wohl kein Zweifel übrig, daß sie diese ver- feinerten Säfte wieder in den Stengel zurückbringen und die Au.sbildung der in ihrer Nähe liegenden Augen vorzüglich fördern;" und § 39: „Wir haben gesehen, daß der Kelch durch verfeinerte Säfte, welche nach und nach in der Pflanze sich erzeugen, hervorgebracht werde, und so ist er nun wieder zum Organe einer künftigen weiteren Verfeinerung bestimmt." Hier schimmert doch die Ahnung durch, daß eine gewisse Tätigkeit der Blätter der Blütenbildung vorangehen müsse; nur daß es sich dabei um Erzeugung wichtigster Bau- und Betriebsstoffe handelt, war damals noch unbekannt. Wichtig ist auch § 30: „Man hat bemerkt, daß häufige Nahrung den Blütenstand einer Pflanze verhindere, mäßige ja kärgliche Nahrung ihn beschleunige." Da mit „Nahrung" hier nur „Bodenernährung" ge- meint sein kann, so deckt sich dieser Aus- spruch ganz genau mit dem 2. und 4. der oben aufgestellten Leitsätze. An anderer Stelle, in ,, Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung" von 1820') schreibt Goethe: „Man gedenke der Sagopalme, welche, wie der Baum gegen die Blüte vorrückt, in seinem Stamm ein Pulver mani- festiert; deshalb er abgehauen, das Mehl geknetet und zu dem nahrhaftesten Mittel bereitet wird ; sobald die Blüte vorüber, ist dieses Mehl gleich- falls verschwunden." Da haben wir deutlich den Verbrauch der Assimilate für die Blüten- bildungl Unsere auf verhältnismäßig einfache Zustände des Stoffwechsels zurückgehende Theorie der Blütenbildung hatte einen langen schweren Kampf auszufechten mit der zwar nur mäßig begründeten, aber doch fest verankerten Hypothese der „Blüten- bildenden Stoffe" von J. Sachs. Aus Ver- suchsergebnissen, die er namentlich unter Aus- schluß der ultravioletten Strahlen (in doppelwandigen Glasglocken, deren Zwischenraum mit einer gesättigten Lösung von schwefelsaurem Chinin gefüllt war) erhalten hatte, schloß er, daß im ultravioletten Licht besondere Stoffe gebildet würden, welche, in geringster Menge vorhanden und „nach Art der P'ermente wirkend", den Blütenansatz veranlassen, gleichzeitig aber (Vergleich mit der Formbildung der Kristalle 1) auch die Gestalt der Blüienteile bedingen sollten. ') Hessesche Gesamtausgabe, 38. Bd. S. 91. N. F. XIX. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 179 Weiterhin sollten auch Mißbildungen von mancherlei Art dadurch erklärt werden, daß solche formgebende Stoffe sich verirrt und am unrechten Ort ihre Wirkung geäußert hätten. Auf die Einwände gegen die Sachssche Hypothese will ich hier nicht näher eingehen, ich verweise auf die Schriften von Vöchting(i) und H. Fischer (i); nur ein Punkt sei hier be- tont: den Versuch w. o. hat Klebs (2) nachge- prüft und gefunden, daß die Chininlösung im Licht sich sehr bald trübt, und daß es nur Lichtmangel ist, der dann unter den Glocken die Blühwilligkeit beeinträchtigt; erneuerte er regel- mäßig nach wenigen Tagen die Lösung, so trat, trotz Ausschlusses des ultravioletten Lichtes, die von Sachs beobachtete Wirkung nicht ein, die Chininlösung wirkte wie klares Wasser. Nach neueren Mitteilungen von Schanz (i) soll Aus- schluß jener Strahlen eine günstige Wirkung auf das Pflanzenwachstum ausüben. Es sind das Fragen, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Bis in die neuere Zeit ist versucht worden, die „Blütenbildenden Stoffe" zu retten. Mathiszig(i) veröffentlicht Beobachtungen an Sempervivum, wonach blühreife Rosetten diesen Zustand auch auf die durch Knospung erzeugten Tochterrosetten übertragen, und macht „Wuchsenzyme" dafür ver- antwortlich, die sich ziemlich mit obigem Begriff decken sollen. An den sehr lebhaften Stoff- wechselvorgängen der Blütenbildung sind gewiß auch Enzyme beteiligt, aber deren Auftreten oder Ausbleiben muß doch auch seine natürlichen Be- dingungen haben, und die Frage nach diesen können wir z. Zt. nicht anders beantworten als mit dem Hinweis auf unsere 4 Leitsätze (s. o.). Also, ob mit oder ohne Wuchsenzyme — die Tatsache steht fest, daß ein gewisses Über- wiegen der Luft- über die Bodener- nährung (einschl. der Wasserversor- gung), der ausschlaggebende Faktor für den Übergang zur Blühreife ist, m. a. W., der Quotient, den wir etwa L : B schreiben können, wirkt steigend zugunsten, lallend zu Ungunsten der Blühwilligkeit. Im Einzelfall mögen verwickeitere Beziehungen mit hineinspielen, wie auch in der Vererbung solche beobachtet sind ; diese sind schwierig auf die Mendel sehe Grundregel zurückzuführen, aber sie ändern nichts an der Grundregel! Nun hat sich gezeigt, daß innerhalb dessen, was „Bodenernährung" umfaßt, neben dem Wasser der Stickstoff eine für uns sehr wesentliche Rolle spielt; reichliche N-Düngung ist es besonders, welche die vegetative Entwicklung be- günstigt und die Blüten bildung hinaus- schiebt, wir können also statt L : B auch schreiben ; C : N. Der Phosphor scheint umgekehrt die Blüh- barkeit zu fördern. Daß bei der Alge Vaucheria Beigabe von Kohlenhydraten zur Nährlösung die geschlechtliche Fortpflanzung beschleunige, hat Klebs (i) schon 1896 nachgewiesen. Benecke(i) berichtet den umgekehrten, aber gleichgerichteten Fall von ande- ren Algen bei Stickstoffmangel, und Loew (2) die gleiche Wirkung des Stickstoffentzuges bei Blütenpflanzen. Auch die Sporenbildung der Hefe wird durch Kohlenhydrate und durch Stickstoffmangel gefördert! In (3) führt Klebs sehr anschaulich aus, wie die selbstverständliche Steigerung der Assimilation infolge ver- mehrter Blättermasse (meist auch infolge steigenden Sonnenstandes) bei gleichzeitiger Abnahme der noch aufnehmbaren Nährsalze den blüh- baren Zustand herbeiführt.^) Hier ist auch des R i n g e 1 n s und der „Frucht- gürtel" in der Obstzucht erwähnt: das Durch- schneiden oder Zusammenquetschen der Leitungs- bahnen außerhalb des Holzkörpers bewirkt eine Stauung der nach unten ableitenden Nahrungs- stoffe, die ja vorwiegend aus Kohlenhydraten bestehen, und deren Anhäufung treibt zu reicheren Blühen und F"ruchten. Es leidet aber durch solche Maßnahmen die Wurzelbildung, der Baum muß sich eher erschöpfen, aber: die reicheren Ernten sind zunächst da. Aus solchen Erwägungen ergab sich mir früh- zeitig der Schluß, daß, wenn Blühieife durch man- gelnde Bodenernährung hervorgerufen werden kann, sie auch durch Förderung der Luft er- nähr ung zu erreichen sein müsse. Daß Steige- rung des Licht faktors hier nicht viel helfen würde, war von vornherein klar, denn Licht strömt den Pflanzen (abgesehen von der Herbst- und Winterzeit im Glashaus) in Menge zu, so daß selbst das Blätterdach eines Waldes bestenfalls nur einige Prozent der ihm zugestrahlten Sonnen- energie auszunützen vermag (vgl. auch den weiter unten angeführten Ausspruch von Pfeffer), an Kohlensäure enthält die Luft aber recht wenig; die Angaben schwanken zwischen 0,2 — 0,33 vom Tausend, d. i. Vö— Vs ccm im Liter, oder '/g — Vs Liter im Kubikmeter.') Es war von vorherein an- zunehmen , daß unter geeigneten sonstigen Be- dingungen mit Steigerung der Kohlensäure- zufuhr Erfolge zu erzielen sein müßten, und daß diese Art der Behandlung den Pflanzen besser zusagen müsse als der gewaltsame Entzug von Wasser und Nährsalzen. Die Landwirtschaft kennt seit lange das von L i e b i g begründete „G esetz des Minimum s". Auf die verschiedenen Anfechtungen und Modifi- kationen dieses Gesetzes aus neuerer Zeit soll hier nicht eingegangen werden. Fest steht aber, daß eine Pflanze nicht normal, bzw. nicht bis zur Höchsternte sich ent- wickeln kann, wenn auch nur eine der notwendigen Wachstumsbedingungen in unzureichendem Grade verwirklicht ist. Dieses Gesetz hat man in Theorie und Praxis auf die Bodenernährung tausendfach angewandt ') In der letzten vor seinem Tode veröffentlichten Arbeit (5) unterscheidet K 1 eb s drei Stufen: I. Erreichung des blüh- reifen Zustandes — 2. Blütenansalz — 3. Blütenentfallung. -) Ausführlich bearbeitet bei Rein au (l). i8o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 12 (namentlich der Wasserfaktor ist ja für das Ge- deihen der Pflanzungen auch von größter Wichtig- keit), an die Kohlensäure hat jahrzehntelang kein IVIensch gedacht. Auf welch zähen Wieder- stand dieser Gedanke noch heute stößt, geht aus der neuesten (iS.) Auflage von 1919 der von der Deutschen La ndwirtschafts-Gesellschaft herausgegebenen ,,Düngerfibel" hervor: dort wäre Gelegenheit genug, von der Wichtigkeit der Kohlensäureversorgung der Kulturpflanzen zu sprechen — kein Wort davon im ganzen Buchl — Überaus bezeichnend ist auch folgen- des: Die D. L. G. hatte ein Freisausschreiben ver- kündet für anschauliche Darstellung des „Geseizfs vom Minimum"; das Ergebnis hat M. f4 offmann in Arbeiten d. D. L. G. Heft 245, Anhang, 1913, berichiet. Von den 53 Einsendern erwähnen 44 des COj überhaupt nicht, bei den 9 übrigen steht sie unter den Wachstumsfaktoren 2. oder 3. Grades, als wichtigsten Pflanzenbaustoff nennt sie keinerl Dabei macht der Kohlenstoff mehr als die Hälfte von Trockengewicht der Pflanze aus, gegen rund 5 — 8 v. H., die auf die Nährsalze, ein- schließlich der entbehrlichen, Na und Ch, entfallen. Beobachtungen über die Steigerung der Assimilation durch vermehrten COo - Gehalt der umgebenden Luft lagen seit älterer Zeit vor; vgl. Godlewski (i) und die sehr schönen Ar- beiten von Kreusler (i — 4). Solche Unter- suchungen beschränkten sich jedoch auf abge- schnittene Blätter oder Zweige und auf eine Versuchsdauer von Stunden, höch- stens von früh bis abends. Es war eine völlig neue Fragestellung: was wird aus der Pflanze, die man monatelange unter gleichen Bedingungen hält? Darüber hat jahrelang eine recht schiefe Auffassung gegolten , hervor- gerufen durch eine Arbeit von Brown und Escombe (2), welche bei ihren Versuchspflanzen schlechtere Entwicklung und geringere Blütiwillig- keil fanden. Wie das kam, geht aus der gleich- zeitig veröffentlichten Arbeit von Farmer und Chandler (1) hervor, welche jene Versuchs- pflanzen näher, auch anatomisch, bearbeiteten : hier steht die oft übersehene Bemerkung, daß die Pflanzen stets bei gedämpftem Licht') ge- standen hatten — daher die schlechte Ausnützung der höheren Kohlensäuregaben, die in nahezu allen späteren Versuchen Anderer von günstiger Wirkung waren. Auch steht es bei Pfeffer (i, S. 316) zu lesen, daß Pflanzen mit etwas mehr CO., „schneller wachsen". Weiter ist der Gedanke nicht ausgeführt als in der Rich- tung auf die Frage, ob die gewaltige Anhäufung von Kohlenstoff in den Steinkohlenflözen ') Demoussy (l) führt die Mißerfolge auf HCl-Dämpfe zurück, die sich bei Entwicklung des COj aus Kalkstein und Salzsäure gebildet hätten, und Bornemann (5) stimmt ihm zu. Ich habe bei solchem Verfahren niemals schädliche Wirkungen beobachtet, wenn ich die Vorsicht gebrauchte, den Kalkstein zuvor mit Wasser zu übergießen und die rohe Salzsäure vorher mit gleichem Raumteil Wasser zu verdünnen. auf einen höheren COj - Reichtum der damaligen Atmosphäre zurückzufuhren sei. Das ist oft be- hauptet worden, ist möglich, aber nicht be- wiesen. Bekannt ist ja, daß vulkanische Erschei- nungen mit Abgabe von CO.^ verbunden sind; solche müßten sich, in Rücksicht auf den raschen Verbrauch durch die Vegetation, sehr oft und Jahrtausende hindurch wiederholt haben. Ob solche Annahme notwendig, sei dahingestellt. Sicher ist — das geht aus dem anatomischen Bau der Steinkohlenpflanzen und aus anderen Umständen hervor — daß jene Vegetation vorwie- gend in Sümpfen wuchs, also niemals an Wassermangel litt; nehmen wir ein tropi- sches Klima hinzu, so folgt der Schluß, daß eine wesentliche Erhöhung des CO.^-Gehaltes der Luft nicht mit Notwendigkeit angenommen wer- den muß, zumal wir auch über die Zeit, welche der Anhäufung jener mächtigen Lager zur Ver- fügungstand, keine bestimmteren Angaben machen können. — Die Meinung, höhere Kohlensäuregabe sei den Pflanzen schädlich, war ja eigentlich längst wider- legt durch die Erfahrungen der Mistbeet- kultur. Daß die Pflanzen hier besonders gut gedeihen (wenn nicht Fehler begangen werden), war lange bekannt; nicht minder, daß der ver- wendete Dünger neben Wärme beträchtliche Mengen Kohlensäure abgibt. Es ist aber auch klar , daß Wärme ohne entsprechende Assimilationsbedingungen die Pflanzen nur zu rascherem Aufbrauch derAssi- milate anreizen, sie „treiben", aber zu- gleich erschöpfen müßte. Es ist eine alte gärtnerische Erfahrung, daß das für jede Art aus- geprobte Temperatur-Optimum nicht ohne Scha- den für die Pflanzen überschritten werden darf, wenn die höhere Wärme der Heizung ent- stammt; daß aber einige Grade mehr nicht scha- den, wenn die Sonnenbestrahlung es tut! So ist denn auch nicht zu zweifeln, daß die Er- folge der Mistbeetkultur ganz wesentlich mit auf der CO., -Wirkung beruhen; um so seltsamer war es, daß man noch in neuerer Zeit den Satz lesen konnte (vorwiegend wohl auf die Arbeit von Brown und Eskombe gestützt), daß „der Normalgehalt der Atmosphäre von rund 0,3 "/„„ das Optimum für die Pflanzenentwicklung" dar- stellen solle! Der Satz bei Pfeffer (i) S. 315: so folgt daraus, daß die normale Kohlen- säurezufuhr die Arbeitsfähigkeit eines gut beleuch- teten Chloroplasten nicht voll zu befriedigen ver- mag" fordert ja geradezu heraus, dem Gedanken weiter in Richtung auf Ernährung und Ge- deihen der ganzen Pflanze nachzugehen. Nach dem, was jetzt über die Frage erarbeitet ist, kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß auch die guten Erfolge der Moorkultur, namentlich an „Blattpflanzen", d. h. Gemüse und Kartoffeln im Gegensatz zu Getreide, ganz vor- wiegend der günstigen Kohlensäure Versorgung zu danken sind. Und ebendarauf kommen wir N. F. XIX. Nr. 12 •Naturwissenschaftliche Wochenschrift. hinaus, wenn wir fragen, worauf die guten Er- fahrungen beruhen, die man in der Moorkultur und mit Gründüngung gerade durch Beigabe einer ganz geringen Menge von Stall- dünger gemacht hat: mit letzterem führt man dem Boden Zel Istoff spaltende Bakterien zu, bewirkt also eine lebhaftere COa-Abscheidung. Eine beachtenswerte Arbeit hat neuerdings Reinau (i) (2) veröffentlicht; auf Grund von Be- rechnungen, die Brown und Escombe (3) — s.a. Blackman — aufgestellt haben, kommt er zu der Meinung, daß der übliche CO.j-Gehalt der Atmosphäre gar nicht diejenige Menge sei, die den Pflanzen für die Assimilation zurVerfügung steht, sondern vielmehr den Rest darstelle, den sie unter den herrschenden mittleren Bedingungen nicht mehr auszunützen fähig seien I Er schließt das aus dem CO.,-Druck im Innern des Blattes, wie Brown ihn berechnet hat. Seine Anschauung wird noch weiterer kritischer Durch- arbeitung bedürfen. Wenn sie ganz zutreffend wäre, so müßte ein einsam stehender Baum von etlicher Höhe zum mindesten in den oberen Teilen der Krone von der Assimilationstätigkeit so gut wie ausgeschlossen sein. Übrigens haben schon zuvor Klein und Reinau (i) gefunden, daß bei windstillem Sonnenwetter über einem Kohl- feld ein CO.^- Gehalt der Luft nicht mehr nach- weisbar war. Es hat nun freilich den Anschein — vgl. B o r n e m a n n (4) — , als ob der Wind der Assimilation ganz besonders entgegen sei, wäh- rend man wohl vielfach gemeint hat und noch meint, je rascher die Lufterneuerung, desto besser sei die Pflanze mit Kohlensäure versorgt. Letz- tere Meinung scheint aber nicht zuzutreffen, jeden- falls ist schon eine mittlere Windgeschwindigkeit vielmal größer als die Diffusionsgeschwindigkeit der CO.j-Molekeln vor den Spaltöffnungen. Somit könnte die Ansicht von Reinau „unter den herrschenden mittleren Bedingungen" doch viel- leicht das Richtige treffen. Das wäre dann aber eine Mahnung mehr, der Kohlensäure- versorgung unserer Nutzpflanzen alle erdenklich e Au fmerksamkeit zu schen- ke nl Ganz gewiß hat Reinau damit Recht, daß es mehr auf den verhältnismäßigen COg-Gehalt der Luft ankommt, und daß der Hin- weis auf die ungeheuren Mengen von CO., im ganzen Luftorgan der Erde von minderem Wert ist. Denn schon bei Kreusler (i) finden wir den Nachweis, daß aus 60 Litern Luft mit 0,2 "/„ CO, mehr assimiliert wurde als aus 120 Litern Luft mit 0,1 "/„ COj. Also die relative Menge gibt den Erfolg! — Zu dem Verhältnis von Wind und Windstille wäre auch ein Satz aus Schneidewind (i,S. 22) zu beachten, wonach für organi sehe Düngung, in Rücksicht auf den daraus aufsteigenden Kohlen- säurestrom, solche Pflanzen „welche mit ihren Blättern den Ackerboden bedecken", besonders dankbar sind, mehr als Getreide; zwischen letz- terem, das leuchtet ein, bläst der Wind fast un- gehindert durch, unter dem Blätterdach eines gut bestandenen Kartoffel- oder Rübenackers ist die Luftbewegung stark verlangsamt. — Den wirklich recht naheliegenden Gedanken einer „Kohlensäuiedüngung" hat m. W. zuerst Tschaplowitz (1) ausgesprochen,') ohne in der Lage zu sein, ihn ausführen zu können. Die ersten veröffentlichten Versuche aus neuerer Zeit stammen von Demoussy (l, 2, 3); dieser konnte beträchtliche Ertragssteigerungen an verschieden- artigen Versuchspflanzen, bei einigen auch früheren Eintritt der Blüte (vgl. oben) feststellen; eine seiner Arbeiten (2) erstreckt sich auch auf die Frage, ob und wie Humuskohlensäure ausgenützt werde; das Ergebnis war bejahend 1 Diese Ar- beiten waren seitens der deutschen Botanik mit Stillschweigen übergangen und auch mir bis Sommer 1912 unbekannt geblieben. Nach jahrelangen vergeblichen Bemühungen und schweren Enttäuschungen konnte ich Ostern 191 1 endlich an die experimentelle Ausführung des Gedankens herantreten, freilich unter recht eingeengten Bedingungen. Es stand mir eine kleine Abteilung eines Glashauses im Dahlem er Botanischen Garten zur Verfügung; dort stellte ich 4 Glaskästen von je 0,5 qm Fläche und 0,33 cbm Rauminhalt auf, in welchen nun die Versuche begannen. Als CO.j-Quelle diente mir zuerst die Stahl flasche mit verdichteter Kohlensäure, dann Schalen mit Kalkstein, dem täglich eine entsprechende Menge i : i verdünn- ter Salzsäure aufgegossen wurde (starke Säure ist natürlich zu vermeiden); später in größeren Räumen, versuchte ich auch mit Erfolg Ab- brennen von Spiritus, nachdem ich mich überzeugt, daß die Dämpfe der zur Denaturierung gebrauchten „Pyridinbasen" keine schädliche Wir- kung auf Pflanzen ausübten. Gegeben wurden anfangs auf Vs cbm: 0,3 1, i 1, 2 1 Kohlensäure- gas. Das geschah morgens in möglichst hellem Licht; nach i- bis 2 stündiger Einwirkung wurden die Glaskästen geöffnet. Gleich die ersten Versuchsreihen ') Der erste, der Pflanzen unter höherem COj-Gehalt der umgebenden Luft wachsen ließ, scheint Perceval, vor iSoo, gewesen zu sein, welchen Saussure, Recherches chimiques sur la Vegetation, 1804, anführt. Die Versuche von S. selbst erstrecken sich nur auf die Frage, wie enorm hohe, von reichlich 8 Volumprozent beginnende CO.2 - Gaben auf die Pflanzen wirken ; im Licht gediehen die so behandelten Pflan- zen besser als bei normaler Luft, aber auch besser als bei noch höheren CO^-Mengen. Im Dunkeln waren auch die 8 "/q schädlich. Später hat Montemartini ähnliche Versuche veröffentlicht, ohne nähere Angabe zitiert bei Lopriore in Pringsh. Jahrb. f. wiss. Bot. 28, 1895, 539- <^s wurde die Wirkung einer 4 — 7 — 22 % COo enthaltenden Luft auf junge Pflänzchen von Kapuzinerkresse, Spinat, Erbse untersucht. Überall wirkten die 7 und 22 v. H. schädlich ; ob die 4 v. H. besser gewirkt haben als normale Luft, erfährt man nicht. Die höheren Kohlensäuregehalte bewirkten aber tielgreifende anatomische Änderungen in den neu entstehenden Blättern, starke Zunahme dei Palissaden- und Verminderung und Ver- dichtung (Verkleinerung der Zwischenräume) dis Schwamm- gewebes. Irgendwelche Nutzanwendung haben alle diese älteren Arbeiten nicht gefunden I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 12 brachten sichtbaren Erfolg (vgl. H. Fischer (3) u. (6). Die Pflanzen waren mög- lichst gleichmäßig ausgesucht, meist verfuhr ich so, daß ich die best- und die geringst- entwickelten ausschaltete und nur die mittleren für den Ver- such verwendete; wo kleine Unterschiede nicht zu vermeiden waren, kam stets die bessere Pflanze in Reihe ,,ungedüngt". Priiiuila obconica, Fiiclisia hybrida, Pclargom'iivi ::oiialc fielen bei kräftigerem Wuchs durch früheres bzw. stärkeres Blühen auf; von den Pel argo n i en waren die 9 -(-Pflan- zen ^) nach 40 Tagen in voller Blüte, an den — Pflanzen waren eben ganz junge Knospen sicht- bar! An anderen Arten wurden die Gewichts- verhältnisse der hart am Boden abgeschnittenen Pflanzen bestimmt: j\/ii/iiilus Intens nach 25 Tagen 100:141; Nicotiana tabacum nach 39 Tagen 100 : 160, Coletts hybridus nach 41 Tagen 100 : 225. Spätere Versuche ergaben für: Sdiizanthus piiiimfus nach 24 Tagen 100 : 230, Selaginella Am 16. Juni wurden gezählt: im — Kasten 2, in den -f Kästen (ohne die schon abgefallenen!) 31 bzw. 34 Blüten. — An diesen Gurkenpflanzen wurde noch eine weitere, in doppelter Hinsicht wichtige Beobachtung gemacht: die -j-Pflanzen litten weit weniger als die ■ — Pflanzen von Ungeziefer ; in diesem Falle war es llirips, ähnliches ist von Anderen an Blattläusen und Erdflöhen festgestellt worden. — Trotz des höheren Aufwandes für die Blüten- büdung ergab die Bestimmung der Trocken- gewichte ein Verhältnis von 100: 197 bzw. lOO : 203. Auf weitere Mitteilung von Einzelheiten will ich verzichten, muß aber betonen, daß, wie zuvor Demoussy, so auch Klein u. Reinau (i) und Kisselew(i) zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen sind; letzterer konnte sogar, an Im- patiens balsa/nma, ein Gewichtsverhältnis von 100: 430 feststellen. Bisher war nur von einer CO.jBehandlung bis sp. 100 : 133, TropacoliDii iiiaius nach 59 Tagen zur Blütenentfaltung die Rede, Pflanzen bis zur 100 : 252, Corcopsis tiiictoria nach 59 Tagen 100 313. Letztere zwei Arten hatten schon bei recht schwachem Lichtgenuß, vom 6. Okt. bis 4. Dez. im Versuch gestanden. Am 11. Febr. 1912 ein- gestellte Reseda odorata war in den -|- Kästen am 22., 28., 30. IMärz, 9., 10., 14. April in Blüte, im — Kasten noch nicht am 16. April, als der Versuch abgebrochen wurde. Am 20. Mai, 5 Wochen nach der Aussaat, wurden junge Frucht- und Sa rnenreife heranzuziehen, war in den kleinen Glashäuschen kaum möglich. Im Sommer 191 3 wurden mir jedoch in einem ge- kammerten Glashaus der Biologischen An- stalt zu Dahlem zwei Zellen von etwa 2,5 X 2,5 m Fläche und entsprechender Höhe einge- räumt, und hier machte ich auch einen Versuch mit Tomaten, an welchen sich nun auch an den Früchten der Einfluß des CO., zeigte: ge- bei täglich i 1 — ^/g 1— 0,0 1 CO, -Zugabe, blühten am Es 9- 10. 11. 12. .3.| .4-1 :5.| 16. 17- 18. Juni 1 1 I 1 3 4 5 5 6 8 8 1 8 8 Pflanzen Vnl I S 7 8 8 8 8 '8 ., — I 2 3 '4 Gurken pflanzen in 3 der Kästen eingestellt, erntet wurden 2,4:4,4 kg, d. i. iOO:183, und die -{-Früchte waren je einige Tage früher reif, unter übrigens nicht sehr günstigen Lichtverhält- nissen. Unter freilich recht ungünstigen Bedingungen konnte ich im Frühjahr 1913 auch einen Versuch im Freiland anstellen, und zwar mit Spinat, dessen Ernte ein Verhältnis von 100:112 ergab — nicht eben viel Unterschied, aber es war der erste Versuch, und ich konnte nur kurze Zeit des Tages mich ihm wid- men. Ein zweiter Versuch mit Si- napis alba wurde durch Raupenfraß (Erdeule) schwer geschädigt, an den unverletzten Pflanzen war aber die erhöhte Blühwilligkeit des -j-Beetes sehr auffallend: 51 gegen 16 blü- hende Pflanzen, d. i. lOO : 319. Ganz allgemein, mit verschwin- denden Ausnahmen, ist somit fest- gestellt, daß die Kohlensäurebehand- lung auf Entwicklung, Blühen und Fruchten der Pflanzen durchaus günstig wirkt : I. Die erzeugte Pflanzen- masse steigt auf das iVa^i 2- Otkonna crassifolia, — und 4-Pflanje, letztere weit kräftiger bis Über 4fache;') entwickelt und reicher blühend; vom 15. Mai bis 15. Sept. im vergleichenden Versuch. Kaiser-Wilhelm-Institut Bromberg 1916. ') ich bezeichne mit CO.j behandelte als als — Pflanzen. unbehandelte ^) Berkowski (l) glaubt an mit COj behandelten Pflanzen Etiolement {Vergei- lung wie bei Lichtmangcl) beobachtet zu haben; es ist aber schon früher von Teodorcso (l) festgestellt, daß gerade unter Kohlensiiuremangel gehaltene Pflanzen, bei normaler N. F. XIX. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 183 2. die Blütenbildung wird beschleu- nigt; bei Pflanzen, die in etlichen Monaten nach der Aussaat bzw. nach der Stecklingsvermehrung blühreif werden, genügt eine Behandlung von 6 bis 8 Wochen, um die Blüte um i — 2 Wochen früher zu erhalten ; 3. die Blütenbildung ist reicher, die Blüten auch größer und lebhafter ge- färbt; 4. der Fruchtansatz ist reichlicher; 5 die -j-Pflanzen sind widerstandsfähiger gegen Schädlinge; 6. was bisher noch nicht erwähnt : in einem F"all ist es mir auch gelungen, Hybriden von verminderter Fruchtbarkeit durch CO.,- Zufuhr zu reicherem Samenansatz zu bringen. Seit Ostern 191 1 züchte ich interessante TVf/ißfc/w;« - Bastarde (vgl. Gartenflora 62, 1913, 27b), an denen ich schon in jenen Glaskästen Beobachtungen in genannter Richtung machte; später betrieb ich diese in zwei Glashauszellen des Kaiser-Wilhelm-Institutes zu Brom- berg weiter. Obwohl ich in der CO^,-Zelle ge- rade mehrere Stöcke untergebracht hatte, an deren Samenertrag in Rücksicht auf die Nachzucht mir besonders viel gelegen war, die aber hartnäckig steril blieben, stellte sich, auf gleiche Pflanzenzahl berechnet, das Verhältnis der geernteten Samen wie 100 : 139. Die Aussicht, mittels besserer CO.,- Ernährung wenig fruchtbare Bastardpflanzen zum reicheren Samenansatz anzuregen, dürfte für die Vielen, die auf züchterischem Gebiete arbeiten, von großer Bedeutung werden. P"reilich gibt es, wie schon betont, auch eine hartnäckige Sterilität, welche zu überwinden bisher noch nicht gelungen ist : außer genannten noch bei Nicutiaiia iabacum >c süvcstris, welche in meinen Versuchen entweder auch ohne CO., -Gaben normal fruchtbar, oder (in 2 von 15 Stöcken) auch mittels CO,, nicht zum Ansetzen zu bewegen waren. Eine Gartenpflanze hat übrigens bisher auch mit Blühen und Fruchten auf CO., Zufuhr schlecht reagiert, das ist die Levkoie, AlattJiiola annua, nach Beobachtungen vonKisselew (i) und von mir. Ob das nur an den Versuchsbedingungen gelegen hat, oder der Pflanze eigentümlich ist, bleibt noch festzustellen. Ersteres ist nicht ausge- schlossen : mit Tropaeoliuii und Phaseolus (Busch- bohne) hat Ewert (i) keine Ertragssteigerung er- ziehlt, ich habe an ersterer schon 1911, an Bohnen hier in Horst I9i9sehr gute Ergebnisse gesehen. Waren also die an den Pflanzen gemachten Belichtung übrigens, jene Erscheinung zeigen, die also bei B. wohl eine andere Ursache gehabt haben muß. — Daß man das ,, bessere Wachstum" der Prianzen nicht nur nach dem Längen- maß bestimmen kann, ist ja selbstverständlich; hier kann nur das Gewicht maßgebend sein, oder die Längen- bei gleichzeitiger Dickenmessung. Borneraann (5), S. 38 — 43, hat wiederholt an -|-Pflanzen unter Glas ein viel gedrungene- res Wachstum festgestellt als selbst bei Freilandpflanzen, während unter Glas gehaltene —Pflanzen, ohne CO.^-Zufuhr, aber auch ohne COj-Abschluß, das größte Längenwachstum zeigten, ohne aber darum „besser" entwickelt zu sein. Erfahrungen durchaus zufriedenstellend, so waren die nach außen hin um so trüber; das mußte ich erfahren, wie lehrreich und lebenswahr der Text der „Meister sin g^er" ist, wenigstens in seinem ersten Akt. Sapknti sat. Bisher war nur von künstlichen CO.,Quellen die Rede, denen man nachgesagt hat, sie seien für die Praxis zu teuer, auch nur für Zucht unter Glas geeignet; letzteres ist zum Teil zuzugeben, ersteres aber für wertvollere Erzeugnisse jedenfalls unrichtig. Nach meinen 1912 aufgestellten Be- rechnungen würde, bei Abbrennen von gewöhn- lichem Spiritus, mit einem monatlichen Aufwand von nur 4,20 Mark, in einem Glashaus von 6X. 20 m schon ein guter Erfolg sicher gewesen sein; Petroleum stellte sich noch etwas billiger, wobei der größere verhältnismäßige Kohtenstofifgehalt gegenüber dem Spiritus mit ins Gewicht fällt. Nun verfügen aber Landwirtschaft und Garten- bau über eine natürliche CO.2 Quelle, die längst bekannt und vielfach angewandt, nur eben als CO.j-Quelle noch meist unbekannt und nicht nach Gebühr gewürdigt ist, das ist jede Art or- ganischer Düngung, die als Stallmist, Gründünger, Kompost, Moorerde, Teich- schlamm usw. dem Boden einverleibt, einschl. der im Boden verbleibenden Wurzelrückstände allmählicher Zersetzung verfällt, durch Bakterien und niedere Pilze allmählich minerali^iert wird und dabei, neben der Aufschließung der Boden- nährstoffe, jenen langsam fließenden Kohlensäurestrom erzeugt, dessen Nützlich- keit für den Pflanzenwuchs schon Thaer bekannt war (s. o. ; vgl. auch Naturw. Wochenschr. N. F. 6. Bd., 1907, 481), jetzt aber erst wieder von neuem bekannt werden muß. Jahrzehntelang hat man Stallmist und Grün- dung vielleicht auch noch nach der „physikali- schen Bodenverbesserung", sonst aber ausschließlich nur nach ihrem Gehalt an Stickstoff bewertet. Früher baute man — vgl. Bornemann (5) S. 87 — vielfach raschwachsende Nicht-Leguminosen zur Gründüngung; seit Hell ri egel 1886 und 88 die SiickstofTsammlung in den Knöllchen nachgewiesen hatte, kamen jene aus der Mode und wurden nur noch Leguminosen zum Unterpflügen gebaut. Und nun verfiel man in den großen Trugschluß: weil die Schmetterlingsblütler ihren Stickstoff aus der Luft holen, also keinen solchen im Boden benötigen, und ,,weil Stallmist nur als Stick- stoffdünger Wert hat", so brauchen die Le- guminosen keinen Stalldünger! Dadurch sind aber auch die Erträge wichtiger Nahrungspflanzen, wie Erbsen, Bohnen, Linsen, zurückgegangen, und wegen der minderen Erträge hat der Anbau dieser Früchte nachgelassen, sehr zum Schaden unserer Eiweißernährung! Für geeignete COj-Zufuhr sind Leguminosen ebensowohl dank- bar wie andere Pflanzen. Die mittlere Stufe jener Zersetzungen^'organi scher Massen bilden die Humusstoffe, die dem Ackerboden und Gartenland von unschätz- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 12 barem Werte sind, der in einem Satz gar nicht erschöpfend dargestellt werden kann. Als O u eil- st offe (Kolloide) verbessern sie die wasser- haltende Kraft der zu leichten Böden, lockern aber die schweren Lehmböden, weil sie in sich quellen und schrumpfen, im Gegensatz zum Lehm, der beim Trockenwerden in feste Klumpen zer- reißt: weder die Risse noch die Klumpen sind den Pflanzenwurzeln zuträglich. Als Ouellstoffe sind die Humuskörper aber auch fähig, wie die minerali- schen Kolloide, die wertvollen Bodensalze zu absorbieren und vor Auswaschung zu schützen. Eine gewisse Erwärmung des Bodens wird ihnen auch zugeschrieben. Sehr wertvoll ist ferner die Feststellung, wonach ein humusreicher Boden auch mit seinem Stickstoff sparsamer wirtschaftet als ein humusarmer Boden, was gutenteils mit der nachweislichen Begünstigung der Stickstoff sammelnden Bakterien, einschl. der Knöll- chenbakterien der Leguminosen, zusammenhängt.^) Gute Stickstoffversorgung fördert aber wieder die Biättermasse in ihrer Entwicklung, steigert also dadurch mittelbar die Assimilationstätigkeit, be- wirkt eine höhere Ausnützung der vorhandenen Kohlensäure. Dazu kommt nun noch die Förderung des Pflanzengedeihens durch die COg - Ab- gab e. Diese ist als A t m u n g s - , also Lebens- vorgang der niederen Organismen von Außen- bedingungen, namentlich der Temperat u r, der F"euchtigkeit und der Durchlüftung ab- hängig. Insofern kommt uns nun die Natur ent- gegen, als bei warmem, trockenem, sonnigem Wetter, das zugleich der Assimilationstätigkeit am günstigsten ist (vgl. u.), die CO.^-Entwick- ') O. Drude, Ökologie der Pflanzen, Braunschw. 1913, zitiert aus H. Euler, Grundlagen und Ergebnisse der Pflan- zenchemie, Braunschw. 1909, 3. Tl , S. 12g einige Sätze ; dort heißt es: ,,In der Regel sind auch erfahrungsgemäß die Hu- musablagerungen um so stickstoffreicher, je älter sie sind (P. E. Müller u. Fr. Weis: Det forstl. Forsoegswesen II, S. 286, Kopenhagen 1908). An keiner der beiden Stellen ist aber der so naheliegende Gedanke, den Humus auch als CO.j.- Quelle zu bewerten, angedeudet ! lung reichlicher vor sich geht, während sie bei feucht-kühlem Wetter schon durch die Tempera- turverminderung herabgesetzt wird, desgl., wenn der durchnäßte Boden den Luftaustausch hemmt, wobei mehr organische Säuren als CO., entstehen; auch hält das reichlichere Bodenwasser mehr CO» in Lösung zurück. Übrigens dürfte die Wintersaat schon bei Temperaturen nahe über o" zu einer wenn auch geringen Assimilation fähig sein. Erhöhte Wärme fördert aber die Ableitung der Assimi- late, und ohne diese wäre auch die Assimilations- tätigkeit enger begrenzt. Bei mäßigem Humusreich- tum soll ein Hektar Land im Jahre 5000 — 8000 kg CO., an die Atmosphäre abgeben, d. s. umge- rechnet 1364 — 2182 kg Kohlenstoff; da die Pflanze an Kohlenstoff gut 50 "/o vom Trockengewicht enthält, und dieses etwa '/s — V? vom Frischge- wicht ausmacht, so entsprechen jene 5000 bis 8000 kg CO.,, voll ausgenützt, 2700 — 4300 kg trockener oder 1 3 500—30000 kg frischer Pffanzen- masse. Angesichts solch segensreicher Eigenschaften des Humus, ist es verständlich, wenn Landwirt- schaft und Gartenbau trotz aller Erfolge der Kunst- düngung, doch niemals auf den Stallmist, Kom- post usw. verzichtet haben, ohne seine beste Tugend zu ahnen. Kunstdünger, der übrigens bei einseitiger Anwendung bindige Böden verschlämmt — wenigstens gilt das von Salpeter-, Ammoniak-, Kali- und Natronsalzen — , kann eben dem Acker jene Eigenschaften niemals geben, die man durch organische Düngung erzielt. Und nicht nur i. e. S. organische Abfälle kommen in Betracht, selbst Kohlenstaub und Ruß werden von Bodenbakterien „gefressen" und in Kohlendioxyd verwandelt. Mit Kohlenstaubdüngung hat z. B. Mewes (i, 2) gute Ergebnisse erzielt, freilich in dem Irrtum, als werde das CO2 durch die Wurzeln aufgenommen. — Ob mit oder ohne Kohlensäure, darüber sind sich alle einig, daß die gerühmte „alte Kraft" des Bodens nichts anderes ist als sein Vorrat an Humusstoffen. (Schluß folgt.) Einzelberichte. Paläontologie. Vom Bau und Leben der Trilobiten. I. Das Schwimmen. Darüber teilt unsinder„Senken- bergiana" (Bd. i, Nr. 6, 1919) Rud. Richter seine aus eingehenden Studien gewannenen Be- obachtungen mit. Nach von St äff und Reck sollen Agnostus, Illaenus, Phacops, Bronteus durch Rückstoß, durch Zusammenklappen von Kopf und Schwanz sich im Wasser schwimmend bewegt haben. Richter hält die Kopf- und Schwanz- schilder der Trilobiten für schlechte Rückstoß- ruder. Von der Kugelform mancher Trilobiten glaubt Richter ebenfalls nicht, daß sie die Rückstoßbewegungen beim Schwimmen befördert hätte. Zur Erzeugung der Rücksloßbewegun- gen sind Muskelmassen nötig, die den Tri- lobiten fehlen. Die Einrichtungen am Körper- bau der Trilobiten, die für eine Begünstigung des Rückstoßschwimmens sprechen würden, fehlen nicht nur, sondern es treten Körpergebilde auf, die sogar ein Hindernis beim Rückstoß- schwimmen darstellen. Von allen Arthropoden, die den Trilobiten ähnlich gebaut sind, schwimmt keiner anders wie mit den Beinen rudernd, bei gestrecktem Körper, vorwärts. An ein Wricken oder Schrauben des Schwanzschildes, wie es Dollo für Deiphon annimmt, ist auch nicht zu denken, doch gibt Richter „unterstützende Be- wegungen des Trilobitenschwanzes nach unten" zu. Triarthrus Becki, Trinucleus concentricus, Ca- lymmene senaria, Ceraurus pleurexanthemus be- N. F. XIX. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. i85 saßen Schwimmfüße und schwammen mit diesen rudernd, ausgestreckt, nach vorn. Für Richter steht es fest: „Alle Trilobiten besaßen als Anlage * an jedem Segment des Rumpfes (und teilweise des Schwanzes) ein paar Schwimmfüße und hatten von vornherein die Fähigkeit, sich durch deren Rudertätigkeit schwimmend nach vorn zu be- wegen." Die Trilobiten konnten sowohl in der Rücken- wie auch in der Bauchlage schwimmen. Lange Ausdauer beim Schwimmen haben sie nicht gehabt. Der flache, breite Bau ihres Körpers, die geringe Muskulatur machten die Trilobiten nur zu vorübergehenden Schwimmern. Die meiste Zeit werden die Trilobiten auf dem Grunde des Meeres gelebt, geruht, Schutz gesucht haben. Nur Platz- wechsel, Wanderungen, wurden schwimmend vor- genommen. Wenn auch im Grunde der Körperbauplan aller Trilobiten derselbe ist, so bestehen aber doch kleinere Unterschiede in der Panzerform, die man herangezogen hat, um die Schwimmfähigkeit der Trilobiten zu spezifizieren. Richter macht dar- auf aufmerksam, daß alle Versuche, aus der Panzerform das Schwimmvermögen der Beine für bestimmte Trilobiten zu verneinen, mißglückt sind. Die Größe des Schwanzes weist nicht auf eine Bevorzugung des Schwimmens vor dem Kriechen hin. Auch die Verschiedenheit in der Augenstellung liefert zu dieser Bevorzugung keinen Beitrag. Die Scheibengestalt vieler Trilobiten ist so wenig ein Beweis gegen das Schwimmver- mögen wie die stärkere Wölbung des Panzers ein Beweis gegen Wühlen im Schlamm oder gegen Kriechen ist. Dagegen lassen sich die langen Panzeranhänge gut als Anzeichen eines Lebens im Wasser deuten. So findet Richter eine Anzahl Einrichtungen, die dazu dienen, das Gleichgewicht beim unbe- wegten Trilobiten aufrecht zu erhalten. Das durch den schweren Kopf gestörte Gleichgewicht am Trilobiten wird durch verschiedene Ausbildungen am Trilobitenkörper ausgeglichen. So ist der Schwanz die gegebene Vorrichtung, diese Auf- gabe zu erfüllen. Stacheln am Schwanz oder aus Thoraxelementen hervorgegangene Endstacheln — wodurch das Pygidium vollständig ersetzt wird — sind zur Erhöhung dieses Ausgleiches vorzüglich geschaffen. Statische Bedeutung haben die hnks und rechts ausgebildeten Wangenhörner. Die P"ührung beim Schwimmen der Trilobiten wird von den Unter- und Oberseiten der Trilobiten, die abgeflacht sind, bewerkstelligt. Wangenhörner und andere wagrechte Gebilde dienen denselben Zwecken. Steuerorgane des Trilobitenkörpers waren die Nackenhörner, Kopf- und Schwanzfläche. Die Seitenrichtung wurde von den Beinen be- einflußt. Von Richter wurden am Bau des Trilobiten- körpers sogenannte „Schwebeeinrichtungen" er- kannt, die nicht etwa ein Stehen im Wasser her- vorrufen konnten, sondern dazu da waren, eine Verzögerung beim Sinken des Trilobitenkörpers eintreten zu lassen. Diese Fallschirmwirkung wird durch breitflächigen Körperbau erreicht. Bei Acidaspis radiata und A. mira findet sich eine Zerschleißung des Panzers in mediane Stacheln, die eine Reibung beim Sinken des Trilobiten her- vorrufen. Durch den Besitz der Schwebemöglich- keit konnten sich die Trilobiten dem oberflächen- fernen Plankton einmischen. Dabei erinnert Richter aber daran, daß man die Schwebefähig- keit der Trilobiten keineswegs überschätzen soll, wie es v. St äff und Reck getan haben. Rudolf Hundt. Geologie. Die Herkunft der kristallinen Grund- gebirgs-Gerölle in den Basalttuffen der Schwäbi- schen Alb behandelt M. Bräuhäuser in einer anregenden Arbeit, die in den Jahresheften des Vereins für vaterl. Naturkunde in Württemberg, 74 Jahrg. 1918, S. 212 — 272 erschienen ist. Bereits im 18. Jahrhundert haben die Basalt- tuffe der Kirchheimer, Uracher und Nürtinger Gegend das Interesse der Naturforscher erregt, welches bis auf den heutigen Tag nicht erlahmt ist, ja seit dem Erscheinen der Brancaschen Arbeit 1894/95 (Schwabens 125 Vulkan-Embryonen und deren tufferfüllte Ausbruchsröhren, das größte Maargebiet der Erde) beträchtlich zugenommen hat. Besondere Aufmerksamkeit haben stets die Einschlüsse anderer Gesteine in den Basalttuffen hervorgerufen. Neben Bruchstücken der umge- benden Juraschichten finden sich solche geologisch älteren, aber auch solche geologisch jüngeren Alters. Mancherlei interessante Betrachtungen haben sich an letztere angeknüpft, so z. B. über die stattgehabte Abtragung der betreffenden Jura- schichten und die Rückverlegung des Albtraufes. Die geologisch älteren Gesteine geben Zeug- nis von ihrem in der Tiefe stattfindenden Durch- streichen. Es konnte das Grundgebirge, das Rot- liegende, der Buntsandstein, IWuschelkalk und Keuper festgestellt werden. Die ältesten Gesteinseinschlüsse sind die kristal- linen Grundgebirgsgesteine, welche von Anfang an ganz besondere Beachtung von selten der Sammler gefunden haben. Während die triadi- schen und jurassisch en Gesteine (Sandsteine, Schiefer, Kalke, Mergel) fast ausnahmslos in Form eckiget, scharfkantiger oder platt iger Bruchstücke vorliegen, sind die kristallinen Grundgebirgsgerölle zumeist wohlge- rundet, also einmal von fließendem Wasser be- wegt und dabei abgerollt worden. Manche von ihnen zeigen Windschliff (Windkanter), einige so- gar eine auf dieselbe Ursache zurückzuführende glänzende Rinde. Die kristallinen Grundgebirgsge- steine der Uracher Gegend hat man früher als Florianite zusammengefaßt. Durch die Unter- suchungen von H. Schwarz wurden auf diesem engen Räume zahlreiche und sehr verschieden- artige kristalline Gesteine festgestellt. Ihre aus- i86 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 12 nahmslose Rundung läßt sich nur so erklären, daß sie schon so gerundet waren, ehe sie durch die Gewalt der Eruptionen aus der Tiefe nach oben geschleudert wurden. Die kristallinen Ge- steine entstammen somit nicht dem anstehenden Grundgebirge des sehr eng umgrenzten eigenen Untergrundes der Tuffgänge, sondern sie sind be- reits als Gerolle einem in der Tiefe den dortigen Schichten angehörenden Geröllbett entnommen. Dadurch erklärt sich auch die große Mannigfaltig- keit in der Gesteinszusammensetzung der Ge- schiebe, welche einem Geröllbett mit größerem Einzugsgebiet angehören. Als Einzugsgebiet kommt die aus kristallinen Gesteinen, besonders Gneisen bestehende Vindelizische Land- masse in Betracht, die von der Karbonzeit ab das germanische Gebiet von dem Miitelmeerge- biet getrennt hat. Diese Landmasse trug das Vindelizische Gebirge, von welchem schon im Rotliegenden und zur Zechsteinzeit, dann vor allem in der Triaszeit Schuttmassen, Gerolle und Sande, aber auch feinste Schwemmassen ins germanische Ge- biet hinausgetragen wurden. Die kristallinen Gerolle der Albtufife geben somit einen guten Einblick in die Gesteinszusam- mensetzung des tiefliegenden Grundgebirges zwi- schen Albtrauf und den Alpen. Dieses einst hoch- liegende Gebiet ist im Laufe der Zeiten tief ein- gesunken. Der Geröllstrom gehört dem Ober-Rot- liegenden an. Dafür sprechen die Windkanter, dann vor allem ihre räumliche Verteilung inner- halb eines schmalen Geländestreifens, der von Süd- west nach Nordost, vom Eninger zum Nürtinger Gebiet führt. Dieselbe Lage und Richtung be- sitzen auch die Rotliegend- Mulden des Schwarz- waldes. Ihre östliche Fortsetzung wurde durch die Steinkohlenbohrungen im Oberen Neckartal erwiesen. Die morphologischen Verhältnisse der vor- triadischen Landoberfläche, die wir im Schwarz- wald leicht beobachten können, setzen sich auch nach Osten fort. Tiefe Täler in westlicher Streichrichtung durchfurchten das Vorland. Sie ver- liefen parallel mit den Faltenzügen des Gneises, der Verbandsgrenze Granit-Gijeis, sowie mit dem Verlaufe der Schwarzwälder Granitporphyrgänge. Die als Tiefengesteine erstarrt gewesenen Granite von präkarbonischem Alter lagen bereits wieder zutage und lieferten Gerolle. Die gesteinskundiich vielgestaltige Beschaffen- heit der einzelnen GeröUe gibt einige Anhalts- punkte für Vermutungen über den Bau des Grund- gebirges zwischen Schwarzwald, Miltelschwaben, Ries, Böhmerwald einerseits und den Hochalpen andererseits. Neben dem Granit finden sich ver- schiedene Gneise. Ihre Gesteinsbeschaffenheit weicht merklich von derjenigen der Schwarzwald- gesteine ab und zeigt Anklänge an alpine Ge- steine und an solche des Grundgebirges des Böhmerwaldes. Sie kamen aber weder von da noch von dort, sondern sie sind eine Auslese aus einem Geröllstrom, dessen Einzugsgebiet zwischen dem Albtrauf und der Achse des Vindelizischen Gebirges zu denken ist. V. Hohenstein, Halle. Über rechts- und linksläufige Seen veröffent- licht A. Jentzsch in den Abhandl. d. Preuß. Geol. Landesanstalt (N. F. Heft 83) neue Be- obachtungen. Durch den auf den See wirkenden Wind wird unter ihm ein Aufsteigen der Tiefenwasser erreicht, während am entgegengesetzten Ufer ein Hinab- drücken des Oberflächenwassers eintritt. Es läßt sich also auf der Oberfläche eine Strömung mit dem Winde und in mäßiger Tiefe eine entgegen- gesetzte Strömung beobachten. Diese Strömungen erzeugen eine Komponente, die sich als Ufer- strömung bemerkbar macht. Ihr verdankt man eine Verschiebung von Sand und Schlamm. Es kann eine Steigerung der Wirkungen ein- treten, sobald durch zeitlich aufeinanderfolgende Winde gleichsinnig gerichtete Kreisläufe erzeugt werden. Der als Komponente hervorgerufene horizontale Kreislauf kann entweder mit oder dem Uhrzeiger entgegengesetzt sich bewegen, ist also entweder rechtsläufig oder linksläufig. Windstärke und Wassertiefe erzeugen die ver- schieden großen Durchmesser der Stromkreise. Tiefe und rundliche Seen haben einen einheit- lichen Stromkreis, während an langen, flachen Seen Teilschwingungen mit kleineren Durch- messern erzeugt werden , die Einkerbungen am Ufer, Barrenbildungen, Haken und Hakenpaare erzeugen. Schließlich kommt es zur Bildung von Seebrücken und zur Selbstteilung der Seen selbst. Durch Uferströmungen können auch Mündun- gen kleiner Zuflüsse abgelenkt werden , wie es Jentzsch' vom Mittleren See bei Liebenau im Kreise Tuchel und vom Tegernsee in Bayern er- wähnt. Rudolf Hundt. Dem „Krater von Sali auf Ösel" widmet von Linstow im Zentralblatt f. Min., Geol. u. Pal. (1919) eine bemerkenswerte Untersuchung. Der ungefähr in der Mitte der Insel liegende Krater macht sich als geschlossener, kreisrunder Wall von 6 m Höhe bemerkbar. Umstanden ist er von einem Laubwald. Der Wall umschließt eine trichterförmige Einsenkung, die von einem kleinen See erfüllt ist. Die Ränder des Trichters zeigen am Gestein deutlich, daß sie nach oben verbogen sind. Diesem Krater fehlt jede Spur eines vulkani- schen Gesteins. Das anstehende Gestein und die Brocken und Blöcke, die den Wall aufbauen, sind Kalksteine. Wie dieser Hauptkrater sind vier Nebenkrater gebaut, denen aber der kreis- förmige Wall fehlt. Sie verteilen sich auf eine Fläche, die kleiner als 1 qkm ist. Sie liegen N. F. XIX. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 187 zwischen 17 und 20 m über dem Meeresspiegel. Eine Anzahl kleinerer Vertiefungen sind verdächtig, auch zu diesen Kratererscheinungen zu gehören. Von Linstow führt die Entstehung dieser sicheren Krater auf ein Durchschlagen von Gasen zurück, die sich aus den in der Tiefe sich finden- den Diktyonemaschiefer bildeten und die durch die auflagernden Kalksteinschichten zusammen- gepreßt wurden. Nun zieht sich durch die Mitte der Insel Ösel ein von Nordwesten nach Südosten gerichteter Sattel, unter dessen First eine An- sammlung von Gasen stattfinden konnte. Zuerst brach wohl bei Sali die Hauptmasse des ange- stauten Gases durch. Durch die Erschütterung mußte es geschehen, daß auch die Umgebung gelockert wurde und sofort war Gelegenheit geschaffen, daß auch in kleineren Kanälen das übrige Gas ausströmen konnte. Von Linstow nimmt 180 — 200 m als Tiefe an, aus der die Gasmassen nach oben strebten. Die Zer- setzung des Diktyonemaschiefers durch von der Luft und der Bergfeuchtigkeit bedingten Ver- witterung des Markasits hat schon im Paläozoikum begonnen. Die Kalke, die sich auflagerten, waren so verfestigt, daß sie kein Gas hindurchließen. Bis zum Diluvium waren sie so angewachsen, daß ein Durchbruch geschah. Der Krater von Sali gleicht als Explosions- krater den Gasmaaren Württembergs, der Auvergne, Islands. Spalten in der Erdkruste sind nicht zu beobachten, Rudolf Hundt. M^orphologischen Problemen in Unterfranken geht Norbert Krebs in der Zeitschr. f. Erd- kunde z. Berlin (19 19), S. 307 — 335 nach. Nach den Untersuchungen von Krebs ist die unterfränkische Landoberfläche keine wirkliche Ebene, sondern er erkannte „einzelne Wellen, die langgestreckte Ein- und Aufbiegungen darstellen". Das Vorhandensein einer Rumpffläche ist schon von A. Penck, W. Gümbel, Reis und Schuster erkannt worden. Eine Muldenzone in der Rumpffläche ist zwischen Karlstadt und Binsfeld an der Werra, am Main bei Hafenlohr und Marktheidenfeld (280 m) vorhanden. Dieser Mulde folgt die Antiklinale des Wolkenberges (355 m), des Gramschatzer Waldes. Man kann diese Welle von südsüdwestlicher bis nordnordösllicher Rich- tung vom östlichen Odenwald aus der Gegend von Walldürn über das Taubertal bei Gamburg, Üttingen und Roßbrunn am Albach, Thüngers- heim am Main bis Arnstein an der Werra ver- folgen. Durch diese Antiklinale tritt mitten im Muschelkalkgebiet Buntsandstein und Röt zutage. Ostlich liegt an der Pleischach wieder eine Mulde und westlich von Volkach fließt der Main in einer geringen Aufwölbungszone. Man kann eine Zunahme der Höhen und ein Breiterwerden der Wellen nach Südwesten hin feststellen. Spessart und Odenwald, der Maindurchbruch unterhalb von Wertheim eingeschlossen, sind eine einheitliche Hebungszone, desgleichen die Anti- klinale Walldürn — Thüngersheim — Arnstein und ein Streifen vom Bauland über Gießhügl bei Würzburg zum Main bei Volkach und Gaibach hin. Die dazu gehörigen Synklinalen sind die von Marktheidenfeld — Thüngen, an der Pleischach, am Fuße des Steigerwaldes. Sie verlaufen von Süd- west nach Nordwest und von Südsüdwest nach Nordnordost. Im östlichen Teil schneiden herzy- nisch gerichtete Antiklinalen und Bruchlinien diese Mulden und flachen Sättel. So zerschneidet die Antiklinale von Wipfeld über Gaibach gegen Abts- wind und Kastell die Schweinfurt — Kitzinger Mulde in zwei Becken. Manche Mulden treffen mit Syn- klinalen der Schichten und manche Sättel mit Antiklinalen in den Schichten zusammen. Aber ebensooft besteht auch keine Übereinstimmung zwischen Schichtensattel oder Schichtenmulde und Verbiegung der Rumpffläche. Die Verbiegungen der Rumpffläche sind nach Krebs ein posthumer Akt der großen saxoni- schen Krustenbewegung. Viele der Gesteinswel- lungen sind ,, Nachklänge tektonischer Kräfte, die jünger sind als die Landoberfläche". In der Rhön und dem hessischen Landrücken fällt die präoligozäne Landoberfläche Philip pis und die allgemeine Landobei fläche zusammen. Gegen Osten hin kann man die allgemeine Land- oberfläche und die präoligozäne Landoberfläche deutlich auseinanderhalten. Es liegen zwar Eben- heiten hier übereinander, die höhere präbasaltische und die jüngere postbasaltische. Die ältere prä- basaltische Ebenheit ist stärker gestört wie die postbasaltische Ebenheit. Die unterfränkische Rumpffläche entspricht der postbasaltischen, ist also postuntermiozän. Es ist jedoch bei der Ver- folgung der niedrigen Terrassen im Fulda- und Saalegebiet und deren Beziehung zum Pliozän von Fulda und Ostheim der Schluß nahe, daß die Ebenheit präoberpliozän ist. Die Wasserscheiden treffen oft mit Auf- biegungswellen zusammen, wie es deutlich die Main-Werra-Scheide zeigt. Der Main bestand aus verschiedenen Einzelstrecken: ,,Schweinfurter Main", „Bamberger Main", „Würzburger Main". Ob der „Schweinfurter Main" damals schon zum Rheingebiet gehörte, ist noch nicht erwiesen. Der „Bamberger Main" gehörte durch die RezatAlt- mühl zum Donausystem. Durch eine nachträg- liche Hebung des südlichen Teiles der unter- fränkischen Platte wurde der einst nach Süden fließende ,, Würzburger Main" umgekehrt. Durch eine nach Süden stattgefundene Entwässerung würde die Anlage des Flußknotens bei Gemünden verständlich werden, die in keiner Muldenzone wie der Schweinfurter liegt. Im Gemündener Fluß- knoten kann man sich eine Vereinigung der Sinn, der Schondra-Saale, des Siedersbach sehr gut vor- stellen. Die Ar'nsteiner Werra und ihre rechten Nebenflüsse führen zum „Würzburger Main" hin. Als sich der Saalelauf verlängerte, verlor der Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 12 „Schweinfurter Main" seine Nebenflüsse im Quell- gebiet. Der Untermain zapfte den „Würzburger Main" an. Ob das nördlich oder südlich von Lahn geschah, weiß man nicht recht. Rudolf Hundt. Der Wassergehalt der Kohlen. Die P'euchtig- keit frisch geförderter Kohle, d. h. ihre Gruben- feuchtigkeit, ist schwankend. Braunkohle kann im grubenfeuchten Zustande 40 — 60 "/o^ Torf so- gar bis 80 "/(, Wasser enthalten. Beim Bestimmen des Wassergehaltes einer Kohle muß dieses Schwanken ausgeschaltet werden. Die Bestimmung des Wassergehaltes einer Kohle wird daher immer an luft- und staubtrockener Kohle vorgenommen, d.h. an einer Kohle, die bei 105" C getrocknet ist. Der Wassergehalt der verschiedenen Kohlen- arten ist in trockenem Zustande verschieden groß. Es hat sich gezeigt, daß der Wassergehalt am größten ist bei den Wasserstoff- und sauer- stoffreichsten und am geringsten bei den Wasser- stoff- und sauerstoffärmsten Kohlen. Er ist dem- nach höher bei den jüngeren als bei den älteren Kohlen. Bei Braunkohlen kann er bis über 20 "/q betragen. Bei Steinkohlen beträgt er 2 bis 7,5 %. In vielen größeren Kohlenbecken kann man eine Abnahme des Wassergehaltes der Kohlen nach der Tiefe zu feststellen. So haben z. B. in Westfalen die gasreichen Kohlen der hangenden F"löze immer einen höheren Wassergehalt als die tiefer liegenden mageren Kohlen. Es würde dies ein Beispiel im kleinen für eine Abnahme des Wassergehaltes bei Zunahme des Alters sein. — Kohle besitzt die Fähigkeit, aus feuchter Luft Wasser aufzunehmen. Man bezeichnet dies als die Hygroskopizität der Kohle. Diese Fähigkeit ist auf die Kolloidnatur der Kohle zurückzuführen. So vermag gepulverte und bei 105" völlig ausgetrocknete Braunkohle schon im Laufe eines Tages aus mit Feuchtigkeit gesättigter Luft die beim Erhitzen bis 105 " entwichene Feuchtigkeit zum allergrößten Teil wieder aufzu- nehmen. Die Menge der so aufgenommenen Feuchtigkeit wird bei Braunkohle niemals weniger als 10 %, häufig aber mehr als das Doppelte be- tragen. Eine Abhängigkeit der Wasseraufnahme- fähigkeit von der Textur der Kohle ist bei Braun- kohle nachgewiesen. So vermag erdige Braun- kohle in der Regel 18 — 24**/,), lignitische nur etwa 13 "/o und sehr dichte pechkohlenartige Braunkohle zuweilen etwas weniger aufzunehmen. Ist die Hygroskopizität einer Kohle sehr gering, wie z. B. bei Anthraziten, so macht sich dies oft unangenehm bemerkbar, wenn man zur Verhütung von Kohlenstaubexplosionen die Kohlenstöße mit Wasser besprengt. Das Wasser erfüllt dann oft nicht seinen Zweck. Statt den Kohlenstaub zu durchdringen, bleibt es vielmehr zu Kugeln ge- ballt auf dem Kohlenstaub liegen. Der Wassergehalt der Kohle verhindert immer die Ausnutzung des ganzen Heizwertes der Kohle dadurch, daß es bei der Verbrennung verdampft. Die Verdampfung erfolgt unter Verbrauch von Wärme. So verbraucht jedes Prozent Wasser rund 6 Wärmeeinheiten beim Verbrennen von I kg Kohle. Bei Brennstoffen von hohem Wasser- gehalt , wie bei Torf und Braunkohle, wird die volle Ausnutzung des Heizwertes durch den Wassergehalt der Kohle daher verhindert. Dr. O. Stutzer, Prof. a. d. Bergakademie Freiberg i. S. Literatur: Hinrichsen u. Taczak, Die Chemie der Kohle. Leipzig 1916. — O. Stutzer, Kohle (Allgemeine Kohlengeologie). Verlag Gebr. Borntraeger, Berlin 1914. Anthropologie. Über die Anthropologie des nordöstlichen Neuguinea, der Gegend zwischen der Küste und dem Sepikfluß, berichtet Richard Thurnwald in der Zeitschrift für Ethnologie (Bd. 49. S. 147 — 174). Nördlich vom Flußlauf bis an den Südabhang des Küstengebirges erstreckt sich bis über den 143. Meridian hinaus ein mit hohem Gras bestandenes Steppengebiet, das außer- ordentlich stark bevölkert ist. Weiter westlich ist die Besiedlung nicht so dicht, aber sie kann noch als verhältnismäßig stark bezeichnet werden, besonders am unteren Häuserfluß, am mittleren Nord-, Sand- und Gelbfluß und auch am oberen Grünfluß. Von den südlichen Nebenflüssen weist der Töpferfluß noch eine zahlreiche Bevölkerung auf, während der Bergfluß arm an Menschen ist. Was die körperliche Eigenart der besuchten Stämme betrifft, so ist vor allem eine auffallende Erscheinung hervorzuheben. Das ist der Zwerg- wuchs. Dieser tritt besonders in zwei Gebieten hervor, die Th. kennen lernte, nämlich im Step- pengebiet und im Bereich des Ouellbeckens des Sepikflusses. Man darf diese Bevölkerungen je- doch nicht als durchweg zwerghaft auffassen. Der Prozentsatz an Pygmäen ist erheblich, variiert aber von Dorf zu Dorf Immer kommen neben sehr kleinen Leuten (von unter 140 cm) mittel- große Personen vor. Daß der Zwergwuchs hier rassenmäßig begründet sein muß, geht nicht nur aus diesem Zusammenvorkommen mit Groß- wüchsigen hervor, sondern auch aus der verhältnis- mäßig guten Ernährung von den überaus reichlich und besonders sorgfältig angelegten Pflanzungen. Degeneration durch Unterernährung ist nicht denk- bar. Daß es sich um echten Zwergwuchs handelt, ersieht man aus den normalen Körperproportionen. Der Zwergwuchs muß bei einer gewissen Zahl von Leuten hereditär verankert sein. Ein erdrückend großer Prozentsatz von Pygmäen war im dicht- besiedelten Ouellbecken vorhanden. Obwohl na- türlich scheu, machten aber diese Leute, die übrigens das Haar mit Harz zu zwei langen Zöpfen ausgezogen trugen, einen durchaus intel- ligenten Eindruck. Dasselbe kann auch von den Pygmäen der anderen Landstriche gesagt werden. Th. meint, das Vorkommen solcher kleinwüchsiger N. F. XK. Nr. i2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Stämme, das ja noch von verschiedenen weiteren Gegenden NeuGuineas gemeldet wird und auch von großen melanesischen Inseln her bekannt ist, dürfte mehr und mehr die Annahme stützen, daß wir es in diesen Fällen mit richtigen Pygmäen- stämmen, oder doch mit von Pygmäen stark durch- setzten Stämmen zu tun haben, die wir als Ver- treter einer alten pygmäenhaften Rasse betrach- ten können, in die später andere Elemente mehr oder weniger zahlreich eingedrungen sind. Wahr- scheinlich werden wir auch annehmen dürfen, daß diese Zwergstämme ursprünglich die Spra- chen redeten, die wir heute als „papuanisch" be- zeichnen, während wir den eingewanderten Ele- menten das „Melanesische" als Sprache zuzu- schreiben haben. Eine andere bemerkenswerte Erscheinung ist der Albinismus. Th. traf ihn an vielen Orten des oberen Flußgebiets, besonders an den Ufern des Oktober-, Grün-, Nord- und Sandflusses, sowie auch des Hauptstromes an. Mitunter ist er unter einer erheblichen Anzahl von Personen einer Siedlung verbreitet. Anfangs glaubte Th., er hätte mit Leuten zu tun, die infolge der Ringwurmkrank- heit sich gehäutet haben und eine hellere Haut- farbe vortäuschen. Dann verfiel er, als er an einzelnen Stellen auf eine größere Anzahl von Personen mit nicht nur auffallend heller Haut- farbe, sondern auch mit braunem Kopf- und Bart- haar stieß, in das entgegengesetzte Extrem und dachte an den Einschlag irgendeiner hellen ma- laiischen Rasse; denn die Hautfarbe erinnert etwa an die von hellen Mikronesiern. Allein diese Ver- mutung konnte deshalb nicht aufrecht erhalten werden, weil die fraglichen Personen, abgesehen von ihrer Pigmentierung, völlig mit dem Typ der übrigen Siedlungsgenossen und der Eingeborenen der Nachbarbezirke übereinstimmten. Die Ab- weichung bezog sich allein auf Haut- und Haar- färbung und ein helleres Braun der Augen. Ex- tremer Albinismus lag allerdings nicht vor, aber „gemäßigter". Es bleibt kein Zweifel, daß man es in den erwähnten Fällen mit hereditärer Nei- gung zu gemäßigtem Albinismus zu tun hat, und diese Neigung wird natürlich noch besonders durch die verhältnismäßig starke Inzucht ausgeprägt, die eine Folge der Heiratsordnungen ist. Dadurch kann es vorkommen, daß an einzelnen Stellen die albinotischen Individuen einmal in besonderer IVIenge in Erscheinung treten. Das Ineinander- Heiraten einer verhältnismäßig eng begrenzten Zahl von Menschen trägt auch zu der Ausbildung der Lokaltypen bei. Bei längerem Aufenthalt wird man bald die Erfahrung machen, daß man z. B. die Typen vom Dörfer- fluß von denen des Töpferflusses, und da wieder die Charakteristik der Leute vom Unterlauf von denen des Oberlaufs bald so unterscheiden kann, daß man in der Mehrzahl der Fälle richtig den Herkunftsbezirk eines Mannes errät. Dabei handelt es sich natürlich nicht allein um Rassentypen, sondern mehr um „nationale" Typen. Darunter versteht Th. eine Gruppe von Charakteristika, die nicht allein durch die hereditäre somatische Be- schaffenheit, sondern auch durch traditionelle Ge- bräuche, z. B. bei den Jünglingsweihen, oder durch Muskelübung in bestimmten Waffen (Bogen oder Pfeilschleuder), oder mit gewissen Geräten, wie dem Grabstock, oder in anderen Fertigkeiten, in- dividuell in der ganzen Kulturgruppe des Bezirks erworben werden. In völkerpsychologischer Beziehung ist be- merkenswert, daß man im Sepikstromgebiet, so- weit die Menge materieller Kulturgüter in Be- tracht kommt, zwei große Zonen unterscheiden kaim, ein westliches und ein östliches. Abge- sehen von allen anderen Abweichungen möchte Th. das westliche als armes, das östliche als reiches Gebiet bezeichnen. Der Osten besitzt formenreich ausgebildete Töpferei, hoch ent- wickelten und kunstvollen Haus- und Kanubau, außer Pfeil und Bogen noch Speer, Keule und Hacke, ferner Schnitzerei, Malerei usw. Im Westen fehlt das alles. Somalisch stimmt damit im Westen ein im allgemeinen schwächlich gebauter, im Osten ein weitaus kräftigerer Menschenschlag am Ufer des Stromes überein. Auch sprachlich sind die beiden Zonen getrennt. Ihrem Wort- schatz nach muß man aber beide zu dem papuani- sehen Sprachstamm rechnen. Auffallend ist die Eigenart des am Mittellauf des Sepikstroms ge- sprochenen Idioms, bei dem nach melanesischer Art die Endungen fehlen, und das auch mit der an der Küste und auf Walis heimischen Sprache verwandt zu sein scheint. Das Gebiet des armen Kulturbesitzes greift ferner auf die südlichen Aus- läufer des ganzen Zentralgebirges über. Es ist überhaupt vJh-nehmlich in den Bergen, aber auch im Küstengebirge, daheim. Wir können anneh- men, daß die minder widerstandsfähigen, schwä- cheren Elemente unter den Stämmen eben in minder ergiebige Gegenden abgedrängt wurden. Beachtung verdienen die Ergebnisse, zu denen Th. hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen Landesnatur und Rasse einerseits und der Ver- breitung und Gestaltung gewisser Kulturgüter andererseits kommt. Aus Raumgründen müssen wir uns versagen, auf sie näher einzugehen. H. Fehlineer. Hygiene. Über Hygiene des Bodens hat Prof. Dr. A. Gärtner eine wertvolle Abhandlung zu Weyls Handbuch der Hygiene beigetragen. (VI u. 104 S. mit 20 Abb., Leipzig 1919, J. A. Barth.) Prof. G. gibt eine Übersicht der physi- kalischen und chemischen Verhältnisse des Bodens, der Bodentemperatur und -feuchtigkeit, des Grundwassers und der Grundluft ; überdies unter- richtet er über Verunreinigung des Bodens, Bodenbakterien und den Einfluß des Bodens auf Entstehung und Verbreitung von Krankheiten. In bezug hierauf haben sich die Anschauungen im Laufe der Zeit stark geändert. Bevor man igo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX, Nr. 12 wußte, daß die übertragbaren Krankheiten durch Kleinlebewesen hervorgerufen werden, brachte man ihre Entstehung und Verbreitung mit Fäulnis- vorgängen in Verbindung, und da sich diese fast nur auf und in dem Boden abspielen , wurde er für die Seuchenentstehung verantwortlich gemacht. Vor allem die „miasmatischen" Krankheiten wur- den auf den Boden zurückgeführt, sodann die „miasmatischkontagiösen", die vermeintlich nicht nur durch ein „IVliasma", sondern auch durch direkte Übertragung zu übermitteln waren. Mit der Entdeckung der Bakterien wurden die wirk- lichen Ursachen der Infektionskrankheiten bekannt, die Forschung wurde auf eine sichere Grundlage gestellt und die Folge war, daß von dem früher hoch eingeschätzten Einfluß des Bodens auf die Seuchen nur sehr wenig übrig blieb. Ganz ohne Einfluß auf die Volksgesundheit ist freilich die Bodenbeschaffenheit nicht. G. zeigt, daß der Boden für eine Reihe von Krankheiten direkt oder indirekt von erheblicher Bedeutung ist, daß man sogar in gewissem Sinne von einer örtlichen Disposition des Bodens tür gewisse Krankheiten reden kann. So darf der Boden als Vermittler von Cholera und Typhus nicht unterschätzt wer- den, wenn sich auch die Übertragung dieser Krankheiten durch den Boden ganz anders ab- spielt, als man in der Zeit der IVliasmentheorie glaubte. Deutliche Beziehungen zum Boden be- stehen bei Tetanus und anklingenden Wund- krankheiten, Rauschbrand, malignem Odem, Gas- phlegmone, sowie bei Milzbrand; die Erreger dieser Krankheiten befinden sich im Boden und von dort gehen sie gewöhnlich auf den Menschen über. Bei einigen anderen Krankheiten sind ent- ferntere Beziehungen zum Boden nachweisbar. Abgesehen von unmittelbarer Krankheitsverbrei- tung sind gewisse Verhältnisse des Bodens im- stande, die Bedingungen der Volksgesundheit ungünstig zu gestalten. Ob ein Boden als gesund oder ungesund zu bezeichnen ist, hängt haupt- sächlich vom Grad seiner Feuchtigkeit und seiner Verunreinigung ab. Aufgabe der Bodenhygiene ist es, Mittel zur gesundheitlichen Autbesserung feuchten oder verschmutzten Bodens zu finden und anzuwenden. Sie hat besonders auf dem Lande noch ein weites Feld .der Betätigung; wohl kann ein Bauernhof nicht aussehen wie ein frisch gedeckter Tisch, aber eine größere Reinlichkeit als jetzt besteht, kann und muß erreicht wer- den mit Hinsicht auf das wirtschaftliche und ge- sundheitliche Interesse. Die Darlegungen Prof. Gärtners verdienen allgemeine Beachtung. H. Fehlinger. Mineralogie. Ein wohlfeiler Platindrahtersatz zur Bezeugung von Flammenfärbung. Der Mangel an Plaim und sem inlolgcdessen ungeheuerlich hoher Preisstand in Deutschland zwingt zu äußerster Spar- samkeit bei der Verwendung des kostbaren Materials bei chemischen oder physikalischen Operationen und zum Suchen nach geeigneten Ersatzmitteln. Über ein solches wohlfeiles und geeignetes Ersatzmittel für Platindraht bei der Erzeugung von Flammen- färbung berichtet A. Ehringhaus im Zentralbl. f. Min., Geol. u. Pal. 1919, S. 192. Um Salz- lösungen auf Flammenfärbung zu prüfen, tränkt man einen mehrfach schmalgefalteten Streifen reinen Filtrierpapiers mit dieser Lösung und bringt ihn dann in gleicher Weise wie den Platindraht in die Bunsenflamme. Bei der Untersuchung fester, unlöslicher Salze streut man diese auf den vorher mit Salzsäure getränkten Streifen. Man erhält in beiden F"ällen eine gute, reine Flammen- färbung. Die gleiche Methode kann auch zur Er- zeugung von monochromatischen Dauerflammen angewandt werden. Man taucht das eine Ende eines Filtrierpapierstreifens in ein mit der betref- fenden Salzlösung gefülltes Schälchen dauernd ein und führt das andere Ende in die Bunsenflamme ein. Ein leichtes Verkohlen des Papierstreifens schadet nichts, da sich bald eine Salzkruste bildet, die infolge ihrer Porosität immer frische Lösung ansaugt. F. H. Kohlendioxydgas im Woevre-Ton. Ein wissen- schaftlich recht interessantes Auftreten von nicht unbedeutenden Mengen von Kohlendioxyd be- obachtete E. Hentze (Centralbl. f. Min., Geol. u. Pal. 19 19, S. 188) im Jahre 191 7. In einer Baugrube nordwestlich von Etain, die am Hange eines ganz aus Woevre-Ton bestehenden Hügels angelegt wurde, trat plötzlich eine große Menge Gas auf, das sich bei der Untersuchung als Kohlen- dioxyd erwies. Nachdem die Baugrube einige Tage stillgelegen hatte und gründlich durchlüftet worden war, war von dem Gas keine Spur mehr vorhanden. Bei der Weiterarbeit in der Grube trat von Zeit zu Zeit bis zu einer Tiefe von 6 m dieselbe Erscheinung erneut auf. Die Be- obachtungsstelle liegt im mittleren Teil des Woevre-Tons, der, an und für sich tief lavendel- blau, hier durch Verwitterung bis zu einer Tiefe von 2 — 3 m intensiv gelb und rostbraun gefärbt ist und nach der Tiefe zu allmählich in den lavendelblauen Ton übergeht. Sowohl die gelbe Verwitterungsschicht als auch die obersten Schich- ten des blauen Tons sind, von oben nach unten an Menge abnehmend, durchsetzt mit schwebend eingelagerten Gipskristallen und Kristallgruppen,. Auch läßt sich ein geringer, nach der Tiefe zu- nehmender Kalkgehalt nachweisen. Auf Grund dieser Beobachtungen und der Tatsache, daß der unverwitterte Ton seine lavendelblaue Farbe einem Gehalt an Schwefelkies verdankt, kommt der Verf. zu folgender Erklärung des Auftretens des Kohlendioxydes: durch die langsam vom Tage eindringenden Wässer verwittert der Schwefel- kies des Tons unter Bildung von Eisenoxydhydrat und freier Schwefelsäure. Diese zersetzt den vor dem Prozeß in größerer Menge vorhandenen kohlensauren Kalk unter Bildung von Gips und N. F. XIX. Nr. 12 Naturwissenschaftliche Woch enschrift. 191 freiem Kohlendioxyd. Die Bergfeuchtigkeit reicht nicht aus, um alles gebildetes Kohlendioxyd zu lösen, und so sammeln sich mehr oder weniger große Mengen des Gases in Spalten und Hohl- räumen an. Ob es zu einer Bildung von Kalzium- bikarbonat kommt, konnte nicht beobachtet wer- den. Wird eine solche Sammelstelle angestochen, so entweicht naturgemäß das unter Druck stehende Gas. Die Abnahme der Menge der Gipskristalle mit der Abnahme der Verwitterung sowie das Gebundensein des Gases an die Zone fortschreiten- der Verwitterung bekräftigen diese Anschauung und weisen darauf hin , daß der Prozeß des Schwefelkieszerfalls und der Gips- und Kohlen- dioxydentstehung noch heute fortdauert und mit der Verwitterung fortschreitet. In unverwiitertem Ton sind ähnliche Erscheinungen noch nicht be- obachtet worden. Auch an anderen Stellen Nord- frankreichs sind bei Erdarbeiten „Stickgase" hin- dernd aufgetreten. F. H. Meteorologie. An der Seeküste ist zuweilen bei geeigneter Wetterlage über dem normalen Horizont noch ein zweiter sichtbar. A. v. Brunn (Met. Ztschr. 36, 325, 1919) hat das Problem mathematisch untersucht. Er ist zu dem Ergeb- nis gekommen, daß die doppelte Kimm dann auftritt, wenn zwischen der warmen Luft am Lande und der kalten auf dem Meere sich ein Gleich- gewichtszustand an einer, ansteigenden Küste herausbildet, der über dem Abhang eine abnorme Verteilung der Dichte der Luft zur Folge hat. Es ergibt sich das überraschende Resultat, daß eigentlich drei Sichtgrenzen auftreten müssen. Zu dem genannten oberen Horizont gehört noch eine untere Grenze, derart daß gewissermaßen in der Luft schwebend noch ein Streifen Meeres sichtbar wird. Die Theorie ergibt aber auch, daß diese letzte Grenzlinie nur verwaschen auftreten kann, so daß ein deutlicher Übergang vom Meer zum Himmel nicht sichtbar ist. Nebenher wird noch die Frage aufgeworfen, unter welcher Bedingung der Lichtstrahl gerade an der Oberfläche entlang gleiten würde. Dies ist der Fall bei einer Temperaturzunahme von 1,16" auf je 10 m Höhe. Solche Temperatur- umkehrungen treten auf dem Lande zuweilen, je- doch wohl nur nachts auf, so daß die Erschei- nung kaum beobachtet wird. Auf dem Meere kommen dagegen solche Fälle abnorm großer Sichtweite häufiger war. Scholich. Ein neues Hilfsmittel zur Wettervorhersage. Den Konvergenz- und Divergenzlinien in den Stromlinienkarten kommt eine große Bedeutung für die Gestaltung des Wetters zu, und es ist gelungen, das Gesetz für die Fortbewegung dieser Linien abzuleiten. Es besagt, daß für einen Beobachter mit dem Wind im Rücken eine Konvergenzlinie nach rechts, die andere nach links wandert mit mathemalisch berechenbarer Geschwindigkeit. In letzter Zeit machten nun Bjerknes und seine Mitarbeiter (das „Wetter" 1919, S. 165) die wichtige Entdeckung, daß „eine normale Zyklone, die nicht stationär ist, regel- mäßig zwei charakteristische Konvergenzlinien aufweist". Die eine heißt die „Böenlinie" und kennzeichnet den Übergang zur Rückseite der Depression, häufig erkennbar durch böenartige Erscheinungen. Die Böenlinie liegt auf der rechten Seite der Zyklone und trifft rückwärtskommend in der Mitte der Zyklone fast senkrecht deren Bahnlinie. Die bisher unbekannte zweite Kon- vergenzlinie liegt ebenfalls auf der rechten Depres- sionsseite und strebt in einem Bogen von vorn- her dem Depressionszentrum zu und schmiegt sich eng der Zyklonenbahnlinie an. Bjerknes nennt diese Konvergenzlinie „Kurs"- oder „Lenk- linie", denn an ihr läßt sich, nach Windbeobach- tungen gezeichnet und richtig bis ins Zyklonen- zentrum hineingeführt, dessen Bewegungstendenz ablesen. Bei einer herannahenden Depression suche man also eine Konvergenzlinie auf das Kartenblatt zu bekommen und hat dann zu be- achten, daß I. vor oder rechts der Böenlinie warme, hinter oder Imks derselben kalte Luft liegt, 2. rechts der Lenklinie niedrige, links von ihr höhere Temperaturen anzutreffen sind. Ferner hat 3. die Böenlinie Regen in ihrem Gefolge, d. h. links, die Lenklinie aber 4. die Niederschläge auf der rechten Seite. Dr. Bl. Bücherbesprechimgen. Bell, Fr., Sternglaube und Sterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie (Aus Natur und Geisteswelt Nr. 638) iio S. 2. Aufl. Leipzig und Berlin 1919. Der Umstand, daß dies Büchlein wenig ver- ändert binnen Jahresfrist in zweiter Auflage er- scheinen kann, beweist, wie groß das Bedürfnis ist, sich in die Kultur und Geisteswelt der von Babylon her beeinflußten Antike hineinzudenken, deren Einflüsse ja bis in die Gegenwart fortwirken, und wie andererseits eben diese Einflüsse sich gegenwärtig in einem Aufleben astrologischer Lehren kundtun, deren Anhänger in diesem Buche Beweise für die Richtigkeit ihrer Anschauungen suchen. Diese kommen freilich nicht auf ihre Kosten, da der auf diesem Gebiete überaus be- wanderte Verf. zwar einen sehr wertvollen Über- blick über das ungeheure Material seit den älte- sten Zeiten gibt, unterstützt durch zahlreiche Bil- der und Karten, andererseits aber die unzulässige Vermengung des phantasievollen Spiels der Stern- sage und Dichtung mit streng erweisbarer Natur- 192 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 12 erkenntnis scharf zurückweist. In systematischer Weise behandelt die kleine Schrift im ersten, von Karl Bezold geschriebenen Kapitel die Astro- logie der Babylonier, bei denen diese Weltan- schauung ihren Ursprung genommen hat, dann die Entwicklung auf klassischem Boden, den Griechen, Ägyptern und Römern, dann ihre Ent- wicklung bis in die Gegenwart, wobei ihr Kampf mit dem Christentum in seinen widersprechenden Phasen besonders interessant ist. Die nächsten Kapitel behandeln die astrologischen Elemente des Himmelsbildes, die Methoden der Sterndeutung und den Sinn der Astrologie. Es wäre erfreulich, wenn das Studium dieses Werkes die modernen Anhänger der Astrologie zur Erkenntnis ihrer Irr- tümer bringen würde, da unsere astronomischen Erkenntnisse uns den wahren Zusammenhang der Bewegungen der Gestirne gezeigt haben, und so die Unsinnigkeit einleuchtet, das Geschick der IVIenschen nach den Keplerschen Gesetzen zu berechnen. Riem. Passarge, S. , Die Grundlagen der Land - schaftskunde. Ein Lehrbuch und eine Anleitung zu landschaftskundlicher Forschung und Darstellung. Bd. I: Beschreibende Land- schaftskunde. 2IO S. mit 83 Abb. im Text und 31 Abb. auf 18 Tafeln. Hamburg 1919, L. Friedrichsen & Co. Die Landschaftskunde steht zwischen der all- gemeinen Erdkunde und der Länderkunde, sie soll die Kenntnis des „Raumes und seines Inhalts" vermitteln, in welchem das Leben der Tierwelt und der Menschheit sich abspielt. Die reichen Beobachtungserfahrungen des Verf. spiegeln sich fast auf jeder Seite, und mit vielfach neuer Ter- minologie, die jeden erklärenden Inhalt absichtlich vermeidet, wird die Fülle des Stoffes gemeistert. Das Ziel ist eine planvolle Landschaftszergliederung, die sich auf die Erscheinungen der Lufthülle, die feste Erdoberfläche, das Wasser, die Pflanzendecke, die Tierwelt und den Menschen erstreckt. Sie soll das planmäßige Sammeln von einem brauch- baren Beobachtungsmaterial selbst dem Nicht- fachmann ermöglichen ; die ganze Einteilung fußt deshalb auf äußerlichen ins Auge fallenden Merk- malen. Die im Landschaftsbild auftretenden Er- scheinungen werden in ihre Elemente zerlegt, welche sich dann zu Gruppen vereinigen; diese schließen sich endlich zu Gebieten und Gürteln zusammen. Die Grundformen der Erhebungen der Landober- fläche sind Gipfelberge, Tafel-, Kamm-, Wall- oder Ringberge. In Vergesellschaftung entstehen die Gruppenformen der Gipfelberge, der Kamm- bergreihe, der Tafelbergreihe. Bei den Tälern werden die Grundformen mit Kerb-, Sohlen- und Muldentälern bezeichnet, je nach der Entwicklung eines Talbodens und der Steilheit der Gehänge. Doch sind diese reinen Grundformen selten in der Natur anzutreffen, meist treten sie längs eines Tales zu Gruppenformen zusammen , indem Tal- weitungen mit Talengen wechseln. Einen etwas weiteren Begriff als das Tal stellt der Talgraben dar, eine Hohlform mit mindestens einem Aus- gang, die aber nicht mit der Wasserscheide zu- sammenzufallen braucht, sondern von mehreren Flüssen durchzogen werden kann. Auch für den Talgraben werden eine Anzahl Grundformen auf- gestellt, er kann fingerförmige, ovale, hufeisen- förmige Gestalt haben. Die Talgräben vereinigen sich zu Gruppenformen in den Talgrabensystemen, die keulenförmige, ovale, rutenförmige Gestalt haben können. Aus Gruppenformen setzen sich die Formengebiete der Flachländer, Tafelländer, Kettengebirgsländer, Inselbergländer und Massen- gebirgstafelländer zusammen. Die regionale An- ordnung dieser Formengebiete führt dann zu den Formengürteln der Erdoberfläche. Auch die Er- scheinungen der Küste werden nach Grundformen, Gruppentormen, Formengebiete und Formengürtel zergliedert und denselben Gedankengang finden wir bei der Behandlung der Pflanzendecke, wo die Darstellung von der Form der Einzelpflanze zu den Pflanzenvereinen (Gehölze und Fluren) führt und dann die Verbreitung der Pflanzendecke in der Landschaft nach Flächengürtel und Höhen- stufen betrachtet wird. Ein kurzes Kapitel ist der Tierwelt und ein größeres dem Menschen und seinen Werken gewidmet, während Ausführungen über ästhetische Landschaftsbeschreibung und über landschaftskundliche Darstellung nebst einem An- hang über Kartenlesen das inhaltsreiche Werk abschließen, dem bald ein zweiter erklärender Teil (Bd. II— IV), dem man mit besonderem Interesse entgegensehen wird, folgen soll. Scheu. Literatur. Exner, Prof. Dr. M. , Vorlesungen über die physikali- schen Grundlagen der Naturwissenschaften. Wien 1919, F. Deuticke. 28 M. Inhalt: Hugo Fischer, Das Problem der Kohlensäuredüngung, (l Abb.) S. 177. — Einzelberichte: R u d. Richter, Vom Bau und Leben der Trilobiten. S. 184. M. Bräuhäuser, Die Herkunft der kristallinen Grundgebirgs-Geröile in den liasalttuffen der Schwäbischen Alb. S. 185. A. Jentzsch, Über rechts- und linksläufige Seen. S. 1S6. v.Lin- stow, Der Krater von Sali auf Öiel. S. 186. Norbert Krebs, Morphologische Probleme in Unterfrauken. S. 187. O. Stutzer, Der Wassergehalt der Kohlen. S. 188. Richard Thurnwald, Anthropologie des nordöstlichen Neu- guinea. S. 188. A. Gärtner, Hygiene des Bodens. S. 189. A. F. hringhaus, Ein wohlfeiler Platindrahtersatz zur Erzeugung von Flamnienfärbung. S. 190. E. Hentze, Kohlendio.\ydgas im Woevre-Ton. S. 190. A. v. Brunn, Die doppelte Kimm. S. 191. Bjerknes, Ein neues Hilfsmittel zur Wettervorhersage. S. 191. — Bücher- besprechungen; Fr. BoU, Sternglaube und Sterndeutung. S. 191. S. Passarge, Die Grundlagen der Landschafts- kunde. S. 192. — Literatur: Liste. S. 192. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 28. März 1920. Nummer 13. Der wissenschaftliche Naturschutz. [Nachdruck verboten.] Von Konrad Guenther (Uni Man hat den Organismus als einen Körper mit der Harmonie der Teile in der Idee des Ganzen zu bezeichnen versucht. Und in der Tat hat ge- rade in den letzten Jahrzehnten die Wissenschaft ein großes Material zusammengebracht, welches zeigt, wie die Teile des Körpers miteinander zu- sammenhängen und wie manchmal ein Körperteil durch einen ganz entfernten in seiner Entwicklung beeinflußt wird. Die Schilddrüse hat Beziehungen zur Tätigkeit des Gehirnes; durch ihre Entfernung tritt geistige Verblödung ein. Die inneren Ge- schlechtsorgane, insbesondere die Keimdrüsen, be- einflußen die Ausbildung der sog. sekundären Ge- schlechtsorgane, wie des Bartes und der tiefen Stimme. Es ist gelungen, bei Meerschweinchen einem Männchen durch Eierstöcke die Hoden zu ersetzen und beim Weibchen die entsprechende Operation zu machen. Das Weibchen bekam nun nicht nur die äußeren Merkmale des Männchens, sondern auch sein streitsüchtigeres Gebahren und seine Fortpflanzungsinstinkte, und beim Weibchen verhielt es sich entsprechend. Man weiß heute ferner, daß nicht nur die einzelnen Abschnitte des Darmsystems sich nacheinander zu der ihnen eigentümlichen Behandlung der vorübergleitenden Speise reizen, sondern daß die Darmtätigkeit auch durch seelische Erschütterungen, durch Muskel- bewegungen und Beeinflußung aller möglichen Körperorgane abgeändert werden kann. Aus diesen Erkenntnissen hat die praktische Medizin ihre Folgerungen gezogen. In früheren Zeiten suchte man nur das erkrankte Organ zu kurieren oder Krankheiten durch Arzneien auszu- treiben. Heute behandelt man das leidende Organ nicht mehr für sich allein, man sucht zu seiner Heilung den ganzen Körper heranzuziehen und kräftigt oft an ganz anderer Stelle. Das erste Streben des Arztes ist, dem Körper wieder die Kraft des Organismus wiederzugeben, dann schaltet er von sich aus die Krankheit aus seinem Ge- triebe aus; eine solche Heilung ist immer die beste und dauerndste. Ein gesunder Körper läßt Krankheiten auch nicht so leicht in sich ein- dringen, und gesund ist er, wenn alle seine Teile in Harmonie unter der Leitung des Ganzen arbeiten. Nun, gerade so wie der Körper im kleinen, ist auch die Natur im großen ein Organismus. Ihre Pflege liegt im Kulturstaat der Forst- und Landwirtschaft ob. Hier muß nun gesagt werden, daß die Landwirtschaft im großen und ganzen noch auf jenem veralteten Standpunkt der früheren Medi- zin stehen geblieben ist. Sie bekämpft auch heute v.-Pi'of. in Freiburg i. B.). noch die Schädlinge und Krankheiten der Kul- turen fast ausschlielSlich mit Giften und Medika- menten. Dadurch hat sie aber das Selbstregulie- rungsvermögen der Pflanzen und Tiere außer Kraft gesetzt und geschädigt. Denn diese ver- lernten es nun, sich gegen schädliche Einflüsse selbst zu schützen und unterlagen, sobald einmal jene Apothekermittel nicht angewendet werden konnten, um so leichter. Die einzelne Kultur- pflanze wurde eben nur für sich behandelt, wie früher der einzelne Körperteil vom Arzt. Man sehe sich z. B. die Rebberge an. Da gibt es über- haupt nur Reben, und alle Maßregeln beziehen sich auf die eine Pflanze. Da ist es kein Wunder, daß die Reben immer mehr erkranken und weni- ger tragen, und man von ihrer „Altersschwäche" spricht. Das ist aber erst der Anfang des Weges nach abwärts. Hier muß also Änderung geschafifen und der Standpunkt geändert werden. Und wie man in der Medizin von Körperprophylaxe spricht, könnten wir hier von Naturprophylaxe reden. Das wäre aber einfach Naturschutz. Da nun unter Naturschutz bisher hauptsächlich Naturpflege oder Naturdenkmalpflege betrieben wurde, nenne ich diesen Teil des Naturschutzes im Hinblick auf seine wissenschaftlichen Arbeitsweisen und Ziele den wissenschaftlichen Naturschutz.^) Ich muß nun als nächstes nachweisen, daß die Natur in der Tat ein Organismus ist, in dem jeder Teil in Wechselbeziehungen zu den anderen steht. Dieser Beweis aber kann gegeben werden. Es war Darwin, der in weitem Umfange die Lehre begründete, daß jedes Tier, jede Pflanze nicht für sich allein zu betrachten sei, wolle man ihre Eigen- arten verstehen. Sie alle hätten vielmehr ihre Merkmale als Anpassungen an die Lebensbe- dingungen erhalten und diese seien es, die jene verständlich machten. So erkläre sich die weiße Farbe der Polartiere als Anpassung an die F"arbe des Schnees, sie verstecke die Beutetiere vor den Feinden und mache den Raubtieren ein un- beobachtetes Heranschleichen an das Opfer mög- lich. Das alles ist ja bekannt. Zu den Lebens- bedingungen gehören aber nicht nur Klima und Bodenbeschaffenheit, sondern die ganze Umwelt mit all den Tieren und Pflanzen, die mit jenem Wesen zusammenleben. An vielen Beispielen hat Darwin gezeigt, ') Erstmalig ist das Arbeitsgebiet des wissenschaftlichen Naturschutzes aufgestellt in meinem Buch „Der Naturschutz" Stuttgart, II. Tausend 1919, wo auch die anderen Teile des Naturschutzes abgehandelt sind. 194 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 13 wie der Bestand eines Lebewesens von dem der anderen abhängig ist. So wird der Klee durch Hummeln befruchtet, diese Tiere übertragen den männlichen Zeugungstoff oder Pollen auf die weib- liche Empfängnisstelle, so daß nun Samen ange- setzt werden kann. Die Hummeln bauen aber ihre Nester in der Erde, wo sie häufig von Mäusen, nicht nur um des Honigs, sondern auch um der fetten Hummellarven willen zerstört werden. Die IVIäuse werden ihrerseits von Eulen, Bussarden, Turmfalken, Wieseln, Füchsen verfolgt. Je stärker sich also die letzteren Tiere vermehren können, um so mehr werden sie Mäuse vertilgen können, um so weniger werden diese Hummelnester zer- stören, um so besser wird der Klee durch die nun zahlreicheren Hummeln befruchtet werden. Der Samenansatz des Klees hängt also mit dem Bestand von jenen Raubvögeln und -tieren zu- sammen. Das ist aber nur eine Linie, die wir gezogen haben, in Wirklichkeit handelt es sich um ein ganzes Netzwerk. Denn die Raubtiere haben auch noch andere Beutetiere außer Mäusen. Da- zu nisten die Eulen in Baumhöhlen, die ihnen von Spechten gezimmert werden, sind also in ihrer Vermehrungsfähigkeit von diesen abhängig, die wieder in ihrer Nahrung auf baumzerstörende Insekten angewiesen sind. Und die Mäuse fressen nicht nur Hummeln, sondern auch Getreide. Die Nachbarschaft von diesem wird also auch auf den Klee einwirken. Die Hummeln wieder besuchen Blüten aller Art, jede Blumenpflanze hat aber wieder ein besonderes Insekt, das von ihr lebt, und so könnten wir noch lange all den mannig- fachen Fäden nachgehen, die von jedem Tier nach vielen Richtungen verlaufen. Wenn aber ein Lebewesen in Anpassung an alle Organismen seiner Umgebung seine Eigen- arten erhalten hat und im Wechselspiel mit seiner Umwelt aufgewachsen ist, dann ist es natürlich, daß es nur gesund bleiben kann, wenn ihm dieses Wechselspiel erhalten bleibt. Es muß ihm einen Ruck geben, wenn einer der P'äden, der von ihm zu einem anderen Tier verläuft, plötzlich abge- rissen wird, weil das Tier ausgerottet wird. Wollen wir also einen Organismus gesund erhalten, so müssen wir nicht nur auf ihn selbst, sondern auch auf seine Umwelt achten. In einzelnen Stücken ist denn auch schon die Wahrheit dieses Satzes durchgedrungen. Denn man hat Erfahrungen darüber gemacht, daß ein- seitige Eingriffe in die Natur Schäden, oft an ganz unvcrmuter Stelle, zeigen. Zunächst trat das bei Einbürgerungen fremder Tiere hervor. Man wollte bei uns die Bisamratte Nordamerikas einbürgern, ein seines Pelzes wegen wertvolles und in seiner Heimat dazu unschädliches Tier. Die Bisamratte wurde denn auch nach Böhmen gebracht, sie hielt sich in der neuen Heimat ausgezeichnet und ver- mehrte sich. Aber bald machte sie sich durch ihre Wühlarbeiten im höchsten Grade schädlich, und dabei mißlang gerade der Zweck ihrer Plin- bürgerung. Ihr Fell wurde struppig und minder- wertig, verlor Dichtigkeit und Glanz. Und heute sucht man mit allen Kräften den Fremdling wie- der zu vernichten, der aber dessen ungeachtet sich weiter vermehrt und nun schon in Bayern und Sachsen eingewandert ist. Der Mungo oder das indische Ichneumon, in Indien ein Ratten- und Schlangentöler, wurde nach Australien gebracht, entwickelte sich aber hier zum Geflügelfresser. Der in Nordamerika einge- brachte Spatz hat sich bis zum stillen Ozean ver- breitet und verdrängt die einheimischen Vögel. Kurz, wir sehen, ein Tier, das aus seinen natür- lichen Bedingungen gerissen wird, kommt aus dem Gleichgewicht und verändert sich. Und es geht entweder zugrunde, oder seine Vermehrung, in der Heimat durch natürliche Feinde gehemmt, wächst ins Grenzenlose. In einer Gegend Deutschlands wollte man die Kleinvögel vermehren und tötete alle Sperber, in denen man die Feinde der Singvögel witterte. Der Erfolg war der entgegengesetzte, die Vögel nahmen ab, statt zu. Der Grund dafür war, daß sich nun die Eichelhäher ungestört vermehren konnten, die der Sperber hauptsächlich schlug, und die die Nester der Kleinvögel ausnehmen. Auch die Raubtiere und Raubvögel sind eben dem Naturganzen eingepaßt und können nicht be- liebig entfernt werden. Sie sind es, denen zu- erst die Kränklichen und Schwachen zur Beute fallen. Dadurch werden die anderen vor An- steckung und Degeneration bewahrt. Wo es ge- nügend Raubtiere gibt, bleibt der Wildbestand frisch und gesund. In Afrika erkennt man eine wildreiche Steppe geradezu an der Anwesenheit der Löwen, und ich selbst habe in Ceylon mitten im Urwald einen Teich gefunden, über den Eis- vögel und Fischadler flogen, in dessen Röhricht Reiher stelzten, während über den Wasserspiegel Krokodile zogen. Trotz der Anwesenheit aller dieser Fischfeinde wimmelte es in dem Teich von Fischen I Je künstlicher die Verhältnisse werden, um so mehr treten Krankheiten auf, und die meisten Krankheiten haben der Mensch selbst und seine Haustiere, denen natürliche P"einde fehlen. Auch unser Wild beginnt schon zu degenerieren, und in manchen Jagdgebieten hat man wieder Füchse eingeführt und denn auch beobachtet, daß die Hasenseuchen seitdem zurückgingen. Ein Teil des wissenschaftlichen Naturschutzes hat sich bei uns bereits durchgerungen. Das ist der Vogelschutz. Man hat erprobt, daß die in- sektenfressenden Vögel sowohl den Wald, als auch die Obstgärten von Insektenschädlingen reinigen, und daß Holz- und Obsterträge um so besser werden, je mehr Vögel die Gegend bevölkern. Es gibt aber außer den Vögeln auch noch andere Tiere, die unsere Kulturpflanzen, von ihren Fein- den befreien. So stechen Schlupfwespen und Raupenfliegen Raupen an, sie versenken ihre Eier in die unglücklichen Tiere, die dann von den aus- N. F. XIX. Nr. 13 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 195 schlüpfenden Larven von innen heraus verzehrt werden. Laufkäfer fressen allerlei schädliches Ge- würm. Marienkäfer ernähren sich als Larven und als Käfer von Läusen, und man hat in Nord- amerika und auf Hawaii mit Erfolg die kleinen Tierchen zu züchten versucht. Besonders gegen die Schildläuse waren die Käfer gut zu gebrauchen. Versuche haben ergeben, daß ein Käfer täglich bis zu 213 Läuse vertilgen kann. Aber mit allen solchen Versuchen hat man die Aufgabe immer nur zum Teil angegriffen. Die Erkenntnis, daß das wahre Heilmittel nur die Lösung des Ganzen sein kann, fehlt noch. Auch der Vogelschutz hat lange Zeit allein die sog. nützlichen Vögel geschützt. Diese Bezeichnung ist aber nur insofern berechtigt, als unsere Kultur es mit sich bringt, daß wir nicht wie in der Natur ein buntes Vielerlei auf unseren Äckern und im Walde pflanzen, sondern nur wenige oder gar nur eine Art, eben die betreffende Nutzpflanze. Bei einem derartigen Überwiegen einer Pflanze müssen natürlich auch die Tiere, deren Nahrung sie bildet, also die Schädlinge der Pflanze, sich besonders vermehren, befinden sie sich doch in einem wahren Schlaraffenland. Und um sie in Schranken zu halten, bedarf es auch einer größeren Zahl ihrer Feinde, als es „natürlich" ist. Darum ist es in unseren Kulturen in der Tat angebracht, gewisse Tiere in einer so starken Zahl heranzu- züchten, wie sie in der freien Natur nicht vor- kommt. Es ergibt sich also nun als Aufgabe für den wissenschaftlichen Naturschutz, unter Zugrunde- legung der Verhältnisse, wie sie die heutige Kul- tur braucht, zu untersuchen, wie der Naturorganis- mus überall da, wo er erschüttert ist, wieder her- gestellt werden kann. Der Naturschutz hat fest- zustellen, wie sich unsere Kulturpflanzen in ein buntes Netzwerk verschiedener Organismen ein- passen lassen, so daß sie wieder Wirkungen nach vielen Richtungen ausüben und von anderen Wirkungen selbst getroffen werden. Welches sind die den heutigen Pflanzen und Tieren notwendigen Lebensbedingungen und Mitorganismen ? Be- obachtung und Experiment müssen hier die Glie- der der Lebensgemeinschaften feststellen, die in gemeinsamem Wirken Feld und Wiese, Wald und Wasserfauna gesund erhalten. Es wird sich bei solchen Untersuchungen herausstellen, welche Or- ganismen fehlen oder in zu geringer Zahl vor- handen sind. Und wieder wird Beobachtung und Experiment zu zeigen haben, wie diese Pflanzen oder Tiere wieder eingeführt und vermehrt wer- den können, worauf dann endlich die Wirkungen der neuen Verhältnisse studiert werden können. Und wenn durch die Kultur ein Lebewesen in seiner Entwicklung gestört, oder gar eine ganze Lebensgemeinschaft ausgeschlossen wird, so ist zu untersuchen, wie diese vernichtenden Wirkungen der Kultur abgeleitet werden können, ohne daß den Forderungen von Forst- und Landwirtschaft in den Weg getreten wird. Oder wenn der Wasser- bau durch Einschluß der Flüsse zwischen kahle, schnurgerade Dämme der Überschwemmungsgefahr zwar steuert, dem ganzen Tierleben aber und be- sonders auch den wertvollen Fischen den Aufent- halt im Wasser verleidet, so lassen sich vielleicht durch Anlegung kleiner bewachsener Seitenbuch- ten Zufluchtsstätten und Entwicklungsherde für die der Fischzucht wichtige Kleintierwelt schaffen. Durch solche Gedanken wird sich überhaupt die Arbeit des wissenschaftlichen Naturschutzes leiten lassen müssen. In der freien Natur würde ein bestimmtes Gebiet eine gewisse Anzahl darauf verstreuter Tiere und Pflanzen enthalten. Wenn aber dieses Gebiet durch die Kultur erschlossen wird, dann muß seine Hauptfläche dem Anbau von Kulturpflanzen dienen. Nur wenige Stellen werden für freie Natur übrig bleiben. In diesen müssen jetzt Konzentrationsherde des Tierlebens geschaffen werden, die im großen und ganzen ebensoviel Tieren zur Entwicklung dienen, wie früher das ganze Gebiet. Ist das erreicht, so werden die Tiere von den Herden aus ihre regulierende Tätigkeit über die ganze Fläche ausüben, und die Kulturpflanzen werden somit in den Organismus einer vielseitigen Natur einbezogen. In den B er lepsch sehen Nistgehölzen haben wir bereits Beispiele solcher Konzentraiionsherde für die Vögel. Diese Nistgehölze tragen nämlich viel mehr Nester als sich im gewöhnlichen Buschwerk finden. In unserem Beispiel müßte also darauf abgesehen werden, daß soviel Nistgehölze geschaffen werden, als notwendig sind, um sämtliche Vermehrungs- plätze, die vorher das ganze Gebiet hatte, aufzu- nehmen. Ist es so unsere Aufgabe, die alternden Kul- turen mit der Verjüngungsquelle der Natur zu be- fruchten, so muß diese Arbeit im Einvernehmen mit Forst und Landwirtschaft, Plscherei, Wasser- bau, Städte- und Gemeindewesen ausgeführt wer- den. Es wird das eine erfreuliche und segens- reiche Tätigkeit werden. Der wissenschaftliche Naturschutz ist somit zugleich angewandte Wissen- schaft; er wird immer die Freude haben, durch das Experiment die Durchführbarkeit seiner Vor- schläge dartun zu können. Da aber alle seine Maßregeln auf sorgfältigem Studium der Lebens- bedingungen der Organismen beruhen, so trägt er als echte Wissenschaft auch dazu bei, die Er- kenntnis des Menschen zu vermehren. Noch fehlt dem wissenschaftlichen Naturschutz eine Arbeitstätte. Eine solche wäre am besten einer unserer Hochschulen anzuschließen. Hier müßten in einem Institut die Versuche ausge- arbeitet und Schüler herausgezogen werden. In einer Sammlung sollten die Resultate des Natur- schutzes dem Publikum veranschaulicht werden, während zu Versuchen in freier Natur Landslücke zur Verfügung stehen sollten. Die Anstalt könnte zugleich auch die Naturdenkmalpflege und den belehrenden Naturschutz aufnehmen und durch Kurse und Vorträge außer Studierenden, Förstern, Landwirten usw. das ganze Publikum über die 196 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 13 Bedeutung des Naturschutzes und den Erfolg seiner Ergebnisse belehren. Denn auf Verständ- nis der Bevölkerung ist der Naturschutz in allen seinen Teilen angewiesen. ^) Wenn aber der wissenschaftliche Naturschutz mit seiner Arbeit, die Natur wieder zu einem reichen und harmonischen Organismus zu machen, durchdringt, wird es auch leichter werden, Natur- freude zu verbreiten. Denn nur eine blühende Natur voll wechselnder Gestalten und unerschöpf- licher Mannigfaltigkeit kann Freude erwecken. ') Seit Kriegsende habe ich mit dem Versuch angefangen, aus der Freiburger städtischen Sammlung für Naturkunde ein solches Institut heraus zu entwickeln. Liegt doch in ihrer Reichhaltigkeit ihr Wesen be- gründet. Jeder Spaziergang muß eine Fülle von Eindrücken bringen, neues bieten, frische Auf- schlüsse geben I Dann wird er zum Genuß, und erfrischt und bereichert kehrt man heim. Das Ziel ist, einerseits unsere Natur zu erhalten, andererseits unser Volk zu lehren, sich an ihr zu erfreuen. Denn gerade in unserer schweren Zeit ist die Natur vielerorts das einzige, was ge- blieben und was jedem immer und überall ohne Kosten zugänglich ist. Da aber Naturliebe die Wurzel der Heimatliebe ist, ist der Naturschutz eine der wichtigsten Bestrebungen, unser Volk wieder neu zu kräftigen und fest mit seinem Boden zu verankern. Das Problem der Kolileiisiiiiredüngung. Von Dr. Hugo Fischer, Essen a. R. [Nachdruck verboten.) Mit 1 Abbildung im Text. (Schluß.) Nun erwächst aber für Praktiker und Theore- bodens liegt nicht nur am Mangel an wasser- tiker jeglichen Pflanzenbaues die Aufgabe, dahin haltender Kraft und am leichten Ausgewaschen- zu streben, alle Art von organischem Dünger werden der Mineralstofife , sondern auch an der gerade ebenso zu verwenden, daß der daraus ungünstig raschen Zersetzung der CO, liefern- aufsteigende Kohlensäurestrom möglichst un- den Humusstoffe. Hier sei an die erfolgreichen mittelbar den Blättern der Kulturge- Versuche von G erlach -Bromberg erinnert, Sand wachse zugeführt werde. Schon seit Jahren durch Auffahren von Lehm dauernd zu verbessern ; habe ich die wohl und lange erwogene Über- dauernd, weil ja die Tonerde von den Pflanzen Zeugung vertreten: zu behaupten, daß der nicht dem Boden entzogen wird, höchstens in Kohlensäuregehalt der gewöhnlichen ganz geringem Grade. Luft für den Pflanzenwuchs voll aus- Die hochwichtige Frage der Unkräuter- reiche, ist genau ebenso richtig oder bekämpf ung erscheint in hellerem Licht, wenn falsch, wie der Satz, daß unsere Böden wir außer dem Wettbewerb um Wasser und schon von selbst genug Stickstoff, Phosphor, Kali, Kalk enthalten, eine Düngung mit diesen also überflüssig sei! — und daß bald die Zeit kommen müsse, wo man der Kohlensäuredüng- ung nicht minderes Interesse dar- bringen werde als der Stickstoffver- Bodensalze auch den um die Kohlensäure mit in Betracht ziehen. Das Behacken und Behäufeln der Kul- turen ist nicht nur ein Mittel, Luft in den Boden zu bringen, sondern wirkt, wie jede Bearbeitung desselben, steigernd auf die CO.j-Entbindung. Im Laboratoriumsversuch gibt ein frisch durchge- sorgung! Bcrnemann (4, 5) hat sehr gute mischter Boden in der ersten Woche ein Viel- Ergebnisse dadurch erhalten, daß er halbverrotteten faches an CO.^ ab als in den folgenden Wochen. — Stallmist als Kopfdü ng un g zwischen die Pflan- Das „Totpflügen" beruht auf einer übertrieben zen brachte; ein ganz „unerhörtes" Verfahren, raschen Zersetzung und damit Vergeudung der denn bisher düngte man nur vor der Saat, oft Humusstoffe. schon im Herbst zuvor. Auch den Kompost, der In Forstkulturen liegt die obere Grenze nach alter Vorschrift drei Jahre liegen mußte, der Produktionsmöglichkeit vielfach in der CO2- ehe man ihn verwenden durfte, wird man nach Versorgung begründet. Der Wert der Wald- dem Gesichtspunkt besserer CO., - Ausnützung streu ist zweifellos vorwiegend der einer Kohlen- behandeln müssen, desgleichen die Gründüngung, säurequelle. deren Wert nicht bloß in der N-Sammlung durch Auch die Obstbäume bedürfen einer CO,- die Hülsenfruchter liegt; denn von günstiger Wir- reichen Atmosphäre; wenn Obstgärtner über kimg ist auch der Weiße Senf, bei welchem eine Minderernten infolge von „Unterkulturen" berich- Bindung von Luftstickstoff nicht in Frage kommt. — ten, so liegt das sicherlich zum größten Teil daran. Man wird sich trotz allen Sträubens doch daran daß die Bodenluft, von den den Boden bedeckeh- gewöhnen müssen, eine ganze Reihe wichtigster den Gewächsen sozusagen in bezug auf CO., ab- Fragcn jeglicher Pflanzenkultur auch von dem gesiebt, an die Baumkronen herantritt, wobei der Gesichtspunkt der CO„-Versorgung aus zu be- Mitbewerb um Wasser und Nährsalze natürlich trachten : auch mitbeteiligt ist, die Obsternte herabzudrücken. Die Unfruchtbarkeit dürrren Sand- Doch die hier berührten Einzelfragen treten N. F. XIX. Nr. 13 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 197 an Wichtigkeit noch weit zurück gegenüber der großen Frage, wie sämtliche Maßnahmen der Düngung und der Bodenbearbeitung fortan werden umgestaltet werden müssen — so- weit sie sich nicht schon unbewußt dem ange- paßt haben — , um möglichst viel der wertvollen Humuskohlensäure den Pflanzen zu der Zeit zu- zuführen, wann sie dieselbe am besten verwerten können. Bornemann (5) bringt zumal im letzten Abschnitt eine Fülle wertvollster Mitteilungen und Anregungen dazu. Wir können diese Frage nicht verlassen, ohne in Kürze der Kalk w irkun g zu gedenken. Kalk begünstigt ungemein die Bakterien des Bodens; es gelang mir (2) nachzuweisen, daß mäßiges Kalken die Zahl der auf Platten angehenden Keime im Laufe einiger Wochen auf das 50- bis 100 fache ansteigen läßt. Damit ist eine stärkere Umsetzung organischer Stoffe, unter CO.,-Abschei- dung, notwendig verbunden. Im Boden entstehen leicht, namentlich bei Luftabschluß, Gärungen und als deren Produkt organische Säuren , deren An- häufung den Bakterien sowohl wie auch den Pflanzenwurzeln schädlich wäre. Kohlensaurer Kalk stumpft die Säuren ab, unter Freiwerden von CO.3, die organischen Kalksalze dienen aber den Bakterien zur Nahrung, welche sie wieder in kohlensauren Kalk umsetzen , so daß das Spiel von neuem beginnen kann. Kalk im Boden wirkt aber auch der Verschlammung entgegen (s. o.), indem er die Teilchengröße der Tonpartikel- chen vermehrt, sie in Klümpchen zusammenballen läßt, und so die nützliche „Krümelstruktur" erzeugt. — In gleichem Sinne wirkt auch der „milde" Humus, während „saurer" Humus, wie die oben genannten Salze, die Teilchengröße ver- mindert. Wie der Kalk, so wird namentlich auch Phos- phor, der ein wichtiger Bakteriennährstoff ist, die Vermehrung der Bodenmikroben und damit die Zersetzung der organischen Substanz und die Abgabe von Kohlensäure bedeutend fördern, wie das auch Stickstoff und Kali, in leicht aufnehm- barer Form gegeben, tun. Darauf beruht die Erfahrung, daß Höchsterträge immer nur bei zweckmäßiger Verwendung organischer und anorganischer Düngung erzielt worden sind; vgl. Bornemann (5) S. 89. — Übrigens wird ein humusreicher Boden einer Stickstoffdüngung am ehesten entbehren können wegen der (vgl. oben) Tätigkeit der N sammelnden Bakterien. Selbstverständlich ist die Verwertung der Humuskohlensäure nicht nur im Freiland, sondern auch im Glas hause von bester Wirkung; Verwendung von stark humoser Erde bei wieder- holtem LImtopfen ist ja in der Blumengärtnerei bestens bewährt und seit lange eingeführt ; in der Gurkenzucht ist sie nicht minder wichtigste Be- dingung des Erfolges. Am stärksten wird ja die COg -Anreicherung dann sein, wenn der ganze Boden des Hauses stark organisch gedüngt ist, das gibt mehr aus, als mit Blumenerde gefüllte Töpfe. Will man zu Topfpflanzen noch besonders CO., entwickeln, so kann man sich des Verfahrens bedienen, mit dem auf mein Anraten hin Ferd. Fischer (i) in seiner Gärtnerei in VViesbaden- Aukamm beste Erfolge mit Cyclamen und Begonien erzielt hat: unter den Töpfen eine 10 cm dicke Schicht von Torf, mit gepulvertem Kalk untermischt und durch etwas frischen Kuh- dung mit Zellstoff spaltenden Bakterien infiziert. Günstige Erfahrungen hat weiter Obergärtner Winter (i) namentlich mit Orchideen gemacht, denen er CO, aus Salzsäure und Kalk entwickelte; der bekannte Orchideenzüchter Beyrodt, Marien- felde b. Berlin, hat, leider nur vorübergehend, auf meine Veranlassung in einem seiner Häuser CO., durch Abbrennen von Spiritus entwickelt; an den langsam wachsenden Orchideen war in der kurzen Zeit nicht viel verändert, die Usambara-Veilchen, Saiiüpaulia ionautlia, blühten aber im -j-Hause früher und weit üppiger als die — Pflanzen. Billige Kohlensäure kann uns auch das Tier- reich liefern. So machte s. Z. Gardeners Chronicle (i. J. 191 2 od. 191 3) den Vorschlag, im Glashaus eine Kuh aufzustellen, die täglich große COa-Mengen ausatmet, wozu noch die CO.j- Entwicklung aus den Exkrementen des Tieres hinzukommt. G. A. Eichler, zitiert nach Bornemann (5), hat in eigener Art, wenn auch unbewußt, den Gedanken verwirklicht : Erdachte, die warme Luft eines Viehstalls zur Erwärmung eines Glashauses zu verwenden und zugleich sauer- stoffreiche Luft aus dem Gewächshaus dem Stalle zuzuführen. Die Lage des Gehöftes an einem Berghange machte es möglich, das Gewächshaus, von 14,5 m Länge, 3,5 m Breite, 2,2 m lichter Höhe, dicht hinter dem Kuhstall in solcher Höhe am Berge zu errichten, daß dessen Fußboden etwas höher als die Decke des Stalles zu liegen kam. Beide Gebäude wurden nun durch einen Rohrkanal verbunden, durch den die Luft zirkuliert. Infolge des Höhenunterschiedes strömt die warme Luft des Stalles andauernd in das Gewächshaus über und erzeugt hier eine beständige mittlere Temperatur von 11 — 13" R.; strahlt gleichzeitig die Sonne auf das Gewächshaus, so steigt die Temperatur bis auf 27 — 28° R. Die Kosten der Anlage betrugen rund 500 M., von welchem Kapital eine hohe Rente erwartet wird, da das Pflanzenwachstum im Hause ein sehr üppiges ist. Es folgen Angaben über das ganz vortreffliche und zeitlich geförderte Gedeihen von Gurken, Spinat, Salat und wieder Gurken. E. meinte, daß das Ammoniak der Stalluft den Pflanzen Nutzen bringe; es kann aber keine Frage sein, wie auch Neger bei einer Besprechung im „Kosmos" 1 9 1 7, 240, betont, daß die Atmungs- kohlensäure (NB. der Tiere und der Dünger- bakterien) das Pflanzenwachstum so mächtig ge- fördert hat. Auch die Gärungskohlensäure, nebenbei ein von schädlichen Beimengungen ohne weiteres reines Produkt, könnte für Pflanzenkulturen ver- igS Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 13 wandt werden; der Direktor des Berliner Gärungs- institutes, Delbrück, brachte der Sache leb- haftes Interesse entgegen, leider ist er verstorben, ehe er an die Ausführung herantreten konnte. Es stehen aber noch von anderer Seite ganz gewaltige Mengen von C0„ zur Verfügung: in den Abgasen der Industrie. Überall, wo Kohlen, Koks, Kohlenwasserstoffe oder ähnliches verfeuert werden, ist ja Kohlendioxyd das End- produkt. Um welche Massen es sich dabei handelt, sei an der Tatsache klargemacht, daß ein kleiner Hochofen täglich soviel Kohlenstoff verbrennt, als einer Kartoffelernte von 30000 Zentnern entspricht; große Hoch- öfen haben den 3- bis 4 fachen Tagesverbrauch. Nun ist ja selbstverständlich nur mit einem ganz kleinen Bruchteil wirklicher Ausnutzung zu rech- nen; auch ist von vornherein klar, daß die Aus- nützung im Glashaus wesentlich höher sein muß als im freien Lande. Die Abgase bedürfen, ehe man sie an die Pflanzen heranläßt, natürlich einer gewissen Reini- gung. Schweflige Säure, ein schlimmer Feind aller Vegetation, ist bei Kohlenfeuerung stets vor- handen (Steinkohle enthält etwa i % S), sie muß also, etwa durch Überleiten über Kalk, unbedingt entfernt werden; bei Verwendung von Koks, wie im Hochofenbetrieb erforderlich, ist sie nicht mehr zu fürchten, weil durch das Glühen der Schwefel ausgetrieben ist. Die Hochofengase ent- halten noch viel Staub, Kohlenwasserstoffe und Kohlenoxyd. Erstere beiden können mit- tels Durchleiten durch Wasser und durch Stoff- schläuche entfernt werden. Das Kohlenoxyd, durch unvollkommene Verbrennung entstanden, wird z. T. schon im Betrieb weiter zu CO« verbrannt, um damit die Luft vorzuwärmen, bevor sie in den Hochofen eintritt; seine möglichst vollständige Umwandlung in COj ist anzustreben, weil CO für die Pflanzen zwar unschädlich, aber auch u n - nütz ist,^) für die Menschen aber bei längerem Einatmen giftig wirkt. Auf Betreiben von Dr. ing. F. Riedel (vgl. I, 2, 3) und auf Grund eines ihm erteilten Paten- tes ist im Sommer 1917 von der Deutsch- Luxemburgischen Bergwerks- und Hüt- ten-A.-G., dank dem besonderen Interesse, das Generaldirektor Vogler der Sache entgegen- brachte, bei dem Hochofenwerk zu H o r s t a. d. Ruhr eine Anlage zur Verwertung der Abgase ') Ob sich damit die Anschauung verträgt, wonach CO eine Zwischenstufe beim Assimilatiunsvorgang sein soll, ist noch eine offene Frage; eigentlich müßte ja, wenn sie richtig ist, die Pflanze CO besser verwerten können als CO2 Da- gegen ist durch V. Gräfe (Ber. Deutsch. Bot. Ges., 27, 1909, 431 und "2!), 1911, 19) bekannt, daß grüne Pflanzenteile in Licht den giftigen l'o r m e 1 d e h y d , IICOH, nicht nur in einiger Menge veitragen, sondern wahrscheinlich auch assi- milieren, eine wesentliche Stütze der v. Baey ersehen Hy- pothese, die schon längst den Kormaldeliyd als Zwischenstufe der COo- Assimilation betrachtete. Damit wäre aber auch CO als Zwischenstufe noch nicht erledigt. Kine ausfUhrliclie Dar- stellung der Assimilationshypothesen s. belli. Schroeder (l). errichtet worden, an welcher seit Frühjahr 1918 auch ich tätig bin. Die schon 191 7 angestellten Vorversuche gaben günstige Erfolge, die zum Weitergehen auf dem beschrittenen Wege ermutigten. Zuerst waren 1917, durch ein Querhaus verbunden, 3 Glashäuser von 25 X 6 m errichtet worden, gegenüber, an der anderen Seite des Querhauses, wurden, i. S. 191 8, 3 eben- solche von 40X6 m, je in der Mitte durch eine Glaswand mit Schiebetür getrennt, angebaut, so daß jetzt 1170 qm unter Glas sind. Vor und hinter der Glashausanlage ist Freiland von etwas mehr als i ha hergerichtet; um etwa 5 Min. ent- fernt, in der Ruhrniederung, steht Land von etwa 3 ha zur Verfügung. Von ersterem ist der Teil vor den Glashäusern („Vorland") für „unbegaste" Kontroiversuche bestimmt; der größere Teil, hinter den Häusern („Oberland"), ist schachbrett- artig auf je 12 m gefeldert durch ein System von Zementrohren von 10 cm Weite, durch welche das Feld „begast" wird. Im „Unterland" liegt unterirdisch das starke Hauptrohr, von dem blatt- rippenähnlich die dem Boden aufliegenden Seiten- rohre, rechts auf je 25 m, links auf 50 m Ab- stand auslaufen. Gleiche Rohre, je 2, liegen in den Häusern. Durch einen großen Ventilator wird das kohlensäurereiche Gas in die Rohre ge- drückt, aus denen es durch schwach fingerdicke Löcher mit hörbarem Geräusch ausströmt. Leider ist der CO.^-Gehalt der Abgase sehr schwankend, von unter i bis über 5 v. H. Daß im Freien die Kohlensäure nicht sofort in die Luft geht, läßt sich bei einigermaßen kühler Witterung vor Augen führen, indem man den Gasstrom mit Wasserdampf anreichert : dieser gibt dann an der Luft einen Nebel, den man auf längere Strecken flach über den Boden, in etwa 50cm Höhe hinziehen sieht. Anfeuchten des Gasstromes ist auch darum empfehlenswert, weil der trockene Hauch auf Pflanzen, an denen er andauernd vorüberstreicht, ungünstig wirkt, nament- lich manche Blüten scheinen dafür empfindlich zu sein. Für exakt vergleichende Versuche ist leider Boden und Klima nicht hervorragend geeignet. Vorland und Oberland sind alter Schlackenboden, erst durch Auffahren von Ackererde für Kulturen hergerichtet; alte Erfahrung besagt, daß ein „roher" Boden erst nach mehrjähriger Düngung und Bearbeitung zum normalen Ackerland umge- wandelt werden kann. Das Oberland liegt zudem frei und ungeschützt den hierlands häufigen und starken West- und Südvvestwinden ausgesetzt, was viele Pflanzen an sich nicht gut vertragen können und was überdies (s. o.) die Ausnützungsmöglich- keit der CO.^ stark beeinträchtigen dürfte. Bor-, nemann (5) schreibt S. 56 zu der F"rage: „Es liegt deshalb die Vermutung nahe, daß steigende Luftbewegung die Assimilation nicht fördert, son- dern im Gegenteil hemmt." Vgl. dazu, was eben- dort, S. 106, über die Vorzüge des Wind- schutzes gesagt ist. — Das auffallend feuchte, N. F. XIX. Nr. 13 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 199 regnerische, nebelreiche Klima ^} trägt auch nicht gerade zum Gedeihen der Pflanzen bei. — Das Unterland ist Ackerboden, zuvor in Kultur ge- wesen, aber nicht einheitlich, teils ungenügend, teils nicht sachgemäß gedüngt und bearbeitet, also als Versuchsfeld im'richtigen Sinne auch erst nach etlichen Jahren brauchbar. Diese Umstände sind für Bewertung der nach- folgend angeführten Ergebnisse in Betracht zu ziehen, namentlich die ungeschützte Lage des be- gasten Oberlandes zu der geschützten des unbe- gasten Vorlandes, denn unter günstigeren Um- ständen wären auch die Resultate ohne Zweifel günstiger. Versuche mit Kartoffeln haben wesentliche Ertragssteigerungen ergeben, im Höchstfalle, der freilich noch nicht verallgemeinert werden darf, besonders wegen der kleinen Anbaufläche, war das Verhältnis I00:4'21; die beiderseits größten Knollen wogen 180 bzw. 320 g. Auf einer Fläche von 200 qm erntete ich 1918, trotzdem die Witterung ungünstig, die Begasung erst am 19. Juli eröffnet, und das Feld nicht mit Stallmist, nur mineralisch gedüngt war, 490 kg Knollen; nach R e m y (in Landw. Kalender von Mentzel- Lengercke) ist der normale Ertrag 100 bis 240 kg auf 100 qm; die obere Grenze ist also, trotz der ungünstigen Bedingungen, eben noch überschritten. Die Landwirte der Umgegend hatten durch- schnittlich kaum die Hälfte dieses Ertrages. Dazu sei noch bemerkt, daß wiederholte Luftanalysen (nach dem Fetten k of ersehen Verfahren) an sich schon, ohne Begasung, das Doppelte bis Dreifache des Durchschnittsgehaltes an COo er- gaben, wonach also unsere — Pflanzen, wie alle Felder, Wälder und Gärten der Umgegend, wohl des ganzen Industriegebietes, einer schon wesent- lich mit Kohlensäure angereicherten Luft sich er- freuen ! In diesem Jahre erntete ich von Man- gold, £efa vulgaris, Saat am I4. 4., — am 18.6. Verh. 100:170, am 29.7. Verh. iOo:146, Summe beider Ernten = lOO: 152,5; von Zuckerrüben, Saat 14. 4., Ernte 3. 11., Verh. 100 : 152,3. Von 7 verschiedenen Sorten Soja erhielt ich Zahlen von 100:115 bis 100 : 308, an Lupiuus tcymis 100: 252. Dabei ist in Rechnung zu setzen, zu- mal bei den Rüben, daß die Begasung schon im August mangelhaft war und im September ganz aufhörte ! In den Glashäusern wurden schon seit 1917 Tomaten gezogen, zwei der Häuser stan- den unter genauem Vergleich. Das Verhältnis der Ernten, — und -{-, stand 191 7 im Verh. 100: 275, 1918, wo der Ertrag durch Pilzbefall ') Regenarm war Iqi8 und 1919 eigentlich nur der Mai und Anfang Juni, also die allerungeeignetste Zeit 1 ,,Mai kütil und naß füllt dem Bauer Scheuer und Faß", weil der Mai die Hauptwachslumszeit ist; können sich die Pflanzen in dieser Zeit nicht recht entwickeln, dann ist die Ernte und be- sonders jeder Pflanzenversuch empfindlich beeinträchtigt, weil sie zur Blühreife gelangen, ehe sie sich vegetativ kräftig ent- falten konnten. {Cladosponiim lycopersici) gestört war, ioo:200; 1919 stand das Verhältnis in den ersten 3 Wochen der Ernte, bis Anfang August, 100 : 367; dann traten Störungen, besonders in der CO., -Lieferung des Hochofens, ein, so daß die Gesamternte bis Ende September sich auf 100 : 147 stellte; im Lauf des September wurde der Hochofen über- haupt ausgeblasen. Die beiden IVIittelhäuser waren 1919 mit Gurken bepflanzt, die sich ungemein üppig ent- wickelten, Blätter bis über 45cm! Ein Vergleich — gegen -f war nicht beabsichtigt, nur war in dem 40 m-Haus die hintere Hälfte anfangs unbe- gast geblieben. Durch die Schiebetür drang aber doch soviel C0„ herüber, daß die ersten 2 bis 3 Pflanzen jeder Reihe sich ganz auffallend im Wachstum gegen die übrigen geför- dert zeigten; und das geschah, obwohl in den Gurkenhäusern an sich schon , wegen der stark humosen Pflanzenet de, eine sehr CO., -reiche Luft, von 0,3 % und darüber, herrschte. Auffallend war auch, besonders an den To- matenpflanzen, eine viel dunklere, tief blaugrüne Färbung der Blätter an den -j-Pflanzen, eine Färbung, die ganz sicher nicht krankhaft, sondern vielmehr ein Zeichen üppigen Gedeihens war. Ähnliches ist auch schon früher, vgl. Klein und Rein au (i) und H. Fischer (5) beobachtet worden. Erwähnt sei noch ein Versuch mit Busch- bohnen, Phaseollis vidgai'is: von den am 23. i. in Töpfe gesäten Pflanzen wurden im -|-Haus vom 25. 3. ab die schnittreifen Früchte geerntet, während die — Reihe sich eben erst zum Blühen anschickte. — Hier ist also erneut der Beweis erbracht, daß sich mit einer zweckentsprechenden Anwendung der Kohlensäuredüngung sehr bedeutende Erfolge erzielen lassen, denen gegenüber die Unkosten nicht schwer ins Gewicht fallen. Die guten Ergebnisse wurden aber fernerhin erzielt bei recht ungünstigen Außen- bedingungen, und obwohl wir mit allen diesen Dingen — leider I — noch sehr in den Anfängen sind; noch werden vielerlei Versuche zu machen und Erfahrungen zu sammeln sein, ehe wir mit der Kohlensäure so „rationell" düngen können wie mit N, P, K, Ca, Mg; mit diesen hat ja auch erst viel experimentiert werden müssen , ehe die rechten Erfolge da waren. — Meine Schuld ist es nicht, daß wir nicht, namentlich auch hinsicht- lich der Humuskohlensäure, schon vor 10 Jahren so weit waren wie wir heute sind! Wir wissen jetzt, es geht, wir wissen aber noch nicht, wie es am besten geht; wüßten wir das, so würden wir wohl noch höhere Ernten herausholen. Mit der Verwendung der CO.2 für Pflanzen- ernährung ist ein weiteres wichtiges Glied in die Kette der Abfallverwertungen eingefügt, die im Wirtschaftsleben eine so mächtige Rolle spielt ; ich erinnere hier nur an drei hochwichtige Pflanzen- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 13 dünger, die vormals als wertloser Abfall ungenützt umherlagen: das seh we feisaure A mm o niak der Gasfabriken und Kokereien, das Thomas- phosphat der Eisenhütten, die Kalisalze (,, Abraumsalze") der Steinsalzbergwerke. Ihnen fügt sich die CO2 der Abgase an. Nächst den Hochöfen dürften als CO., Quellen besonders die Kalköfen in Frage kommen, deren Tätigkeit ja im Austreiben des Kohlendioxyds besteht. — Gerade für die praktische Ausnützung der Seite ist noch eine Fülle von Einzelfragen zu bearbeiten, bezüglich deren z. T. schon einige Erfahrungen vorliegen, welche aber noch sehr beträchtlich er- weitert und vertieft werden müssen. 1. Welche Pflanzenarten bzw. Sorten sind besonders, welche weniger für CO.,-Zufuhr dankbar? Der Satz, daß der durchschnittliche Gehalt der Luft das Best maß für den Pflanzen- wuchs darstelle, ist ja gewiß (vgl. o.) nicht richtig — gilt er für manche Pflanzen (Levkoien ?) vielleicht doch? In der Kultur ist dabei wohl zu unterscheiden, ob eine gewisse COj-Menge für normalesGedeihen oder für eine Höchst- er n t e ausreicht ! 2. Gibt es Pflanzen, welche für eine größere oder für eine geringere CO.,-Gabe besonders dankbar sind? Wie will jede einzelne Art bzw. Sorte behandelt sein, um Höchstertrag zu geben? 3. Welche Arten von COo -Quellen kommen außer den Abgasen der Industrie und der Humus- kohlensäure, für praktische, rentable Verwendung und von P^all zu Fall in Betracht? 4. Woran liegt es, daß bestimmte Pflanzen in einem Versuch guten, in einem andern Miß- erfolg ergeben haben? Was muß man tun, um Mißerfolge zu vermeiden? 5. Für welche Pflanzen, und unter welchen sonstigen Umständen, soll man täglich von Morgen bis Abend, für welche halbtägig — besser vor- oder nachmittags — , oder stundenweise, oder Tag um Tag Kohlen- säure geben ? — Vor Jahren las ich von einem Versuch, in welchem Kani nc he n, die nur jeden 2. Tag Futter bekamen, mehr an Gewicht zu- nahmen als die täglich gefütterten. Kommt ähn- liches auch bei Pflanzen vor? 6. Lassen sich mit Erfolg im deutschen Klima solche Pflanzen heranziehen, die sich wegen zu langer Vegetationsdauer und darum später Samenenreife bisher nicht in der Kultur ein- bürgern konnten? Unter Glas ist Verfrühung der Blühreife ja sehr oft nachgewiesen worden ; wenn unsere Versuche im F"reiland bisher keine ein- wandfreien Ergebnisse zeigten, so lag das wohl an der Ungunst von Klima und Wetter. 7. Bestehen bei den Pflanzenarten und -Sorten Unterschiede insofern, daß sie in verschiedenen Lebensaltern und Entwicklungsstufen (Ruhezeiten natürlich ausgeschlossen) für CO„- Düngung verschieden dankbar sind und verschie- den behandelt sein wollen ? 8. Wie wirkt vorübergehende CO._,-Be- handlung auf Pflanzen, die nachher wieder der gewöhnlichen Luft ausgesetzt werden ? Löbner(i) hat an Rhododendron und Rosa ein nach- maliges Überholtwerden und Zurückbleiben der -j-Pflanzen durch die — Pflanzen beobachtet; ich konnte an anderen Objekten, Lachica sativa und Kicofiaiia fabaciiiii ein gleiches nicht feststellen, der Vorsprung der -[-Pflanzen blieb, nachdem beide Reihen durcheinander gepflanzt waren, be- stehen! Auch Klein und Reinau (i) haben keine schädliche Nachwirkung be- obachtet. 9. Wie stellt sich die verhältnismäßige Ausnützung der gebotenen CO., bei ver- schiedenen Pflanzen, in verschiedenen Altersstufen, bei verschiedenen CO.,-Gaben, unter verschiedenen Ernährungs- und sonstigen Außenbedingungen? 10. Wie wirkt auf diese Ausnutzung die Wit- terung ein: Wind — Windstille; Sonnenschein — zerstreutes Licht; Wärme — Kühle; Feuchtig- keit — Trockenheit ? Von der wahrscheinlichen Förderung durch windstilles, warmtrockenes Wetter war schon die Rede. Zu groß darf die Trocken- heit wohl nicht werden, denn dann schließen sich die Spaltöfi'nungen und der Gasaustausch hört auf. Niedere Sommertemperatur muß der CO.^-Aus- nützung hinderlich sein, denn sie beeinträchtigt unmittelbar den Assimilationsvorgang, der ja als Lebenserscheinung sehr von der Temperatur ab- hängt, und sie hemmt ihn mittelbar, weil die Ab- leitung der Kohlenhydrate aus den Blättern ver- langsamt wird. Es ist aber ein allgemeingültiger Satz, vgl. H. Fischer (9), daß Ableitung oder Anhäufung der Reaktionsprodukte den Reaktions- verlauf beschleunigen bzw. verzögern muß. Noch fast ganz unbekannt ist die Wirkung der Luft- elektrizität auf das Pflanzenwachstum über- haupt und auf den Assimilationsvorgang im be- sonderen. Warmes Sommerwetter begüngstigt die Gewitterbildung, wie jedes Kind weiß — sollten wohl elektrische Erscheinungen an dem Gasaustausch der Blätter mit der Außen- luft tätig mitwirken? — Die bisherigen For- schungen über „E lektrokult ur" sind ja recht kläglich verlaufen — warum ? 11. Wie groß ist der Ausnutzungsfaktor für COj bei — quantitativ und qualitativ — ver- schieden er Mineraldüngung, und umgekehrt die Ausnutzung der einzelnen lebens- notwendigen Grundstoffe bei COj-Zufuhr? Nach dem „Gesetz des Minimums" dürfen wir an- nehmen, daß die besser mit CO., ernährte Pflanze auch die Bodensalze besser ausnutzen wird, daß sie Düngegaben nicht nur vertragen, sondern mit höchsten Erträgen lohnen wird, die bisher als übernormal galten, weil sie mangels aus- reichender CO.,-Mengen (diese im Minimum!) nicht ausgenutzt werden konnten. Die bisher vorliegen- den Versuchsergebnisse reichen bei weitem nicht aus, regen aber zur Fortführung an ! 12. Wie wirkt COo Düngung auf den Wasser- haushalt der Pflanze? Nach Kisselew (i) N. F. XIX. Nr. 13 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. war die Transpiration der -{-Pflanzen verhält- nismäßig herabgesetzt, im ganzen natürlich höher, weil die -(-Pflanzen üppiger entwickelt waren als die — Pflanzen. Auch solcher Ver- suche müssen noch viel mehr durchgeführt werden. Wie ungeheuer wichtig gerade die Wasser frage für den Assimilationsvorgang ist, geht schon aus Beobachtungen von K reusler (i) hervor: „Ein die Assimilation auf das einschneidendste be- rührender Faktor ist der Wassergehalt der Blätter. Etwa durch stärkere Verdunstung veranlaßte Ver- minderung des Feuchtigkeitsgrades kann, lange bevor die Pflanze sichtbarlich welkt, unter Um- ständen schon dazu führen, daß die Assimilation bei bester Belichtung fast gänzlich sistiert wird, bzw. daß deren Effekt mit dem der Atmung nur notdürftig sich ausgleicht. Mit dem (rechtzeitigen) Ersatz des Wassers kehrt auch die Assimilations- kraft zurück. — In trockener Luft assimilieren die Pflanzen daher erheblich schwächer als in feuchter, sofern nicht der Verdunstungsverlust sich un- mittelbar wieder decken kann. Der Stillstand der Vegetation bei andauernd trockenem Wetter scheint großenteils hierdurch bedingt." — Dazu möchte ich nur noch bemerken, dal3 K reusler mit abgeschnittenen Zweigen oder Blät- tern gearbeitet hat; bei im Land einge- wurzelten Pflanzen wird Wassermangel so leicht nicht eintreten, solange der Boden nicht stark ausgetrocknet ist und solange die Wurzeln normal tätig sind. 13. Ist bei CO.,-Düngung die gleiche Fläche imstande, eine größere Zahl an Pflanzen zu tragen ? Findet die Pflanzdichte vielleicht ihre Grenze in erster Linie durch den Wett b e we rb um die Kohlensäure? Dieser gegenüber ist das Licht auch bei trübem Himmel noch stark im Maximum. Wichtig ist natürlich für diese Frage, daß das Wasser nicht im Minimum sei. 14. Wirkt die CO.j-Zufuhr, und wie wirkt sie, auf die Wurzelbildung an Sämlingen und Stecklingen? Daß zuviel CO.^ im Boden den Wurzeln schadet, wohl durch Einschränkung der Atemtätigkeit, ist bekannt, z. B. durch Kosso- witsch. Bot. Ztg. 50, 1892, 702. Weiteres s. bei Bornemann (5), wo namentlich auch auf die schädliche Wirkung der Verkrustung des Bodens hingewiesen ist, welche den Austritt der sich anhäufenden Bodenkohlensäure verhindert. B. zieht aus seinen Beobachtungen die sehr be- herzigenswerte Folgerung, Dünger, der als CO.,- Quelle wirken soll, möglichst oberflächlich, nicht in tieferen Bodenschichten unterzubringen. 15. Wird der Gehalt der Pflanzen an wich- tigen Nährstoffen, an Kohlenhydraten, F"ett, Eiweiß, oder die Ausbeute an nutzbaren Fasern, gesteigert, und bis zu welchem Grade? Borne- mann hat (nach brieflicher Mitteilung) in Zucker- rüben einen um mehr als i % höheren Zucker- gehalt erzielt! 16. Bewirkt die CO., -Düngung in Arznei- und Drogenpflanzen einen höheren Gehalt an wirksamen Stoffen ': 17. Hat die CO.,-Behandlung einen Einfluß auf die Nachkommenschaft? Natürlich darf man nicht erwarten, sofort eine neue Rasse mit wert- volleren erblichen Eigenschaften zu erhalten ! Mög- lich wäre zweierlei: eine ,,Nach wirkun g", die zwar') nicht weiter vererblich wäre, aber doch dem so gewonnenen Saatgut einen Vorsprung gewähren würde (daß „besser ernährte" Pflanzen bessere Nachzucht geben, dürfte kaum anzu- zweifeln sein ; warum nicht auch, wenn mit CO., besser ernährt L^) — oder es könnte durch die CO., -Versorgung häufiger zur Erzeugung erb- licher Abweichungen, Mutationen, kommen, unter welchen der Züchter die vorteilhaften aus- lesen würde. Irgendwoher müssen solche Muta- tionen kommen, die Erfahrungen der Domesti- kation weisen deutlich darauf hin, daß bessere Ernährung ganz wesentlich anregend dahin wirkt. Vielleicht hat an der Veiänderung des Pflanzenkleides der Erde von Urzeiten her ein Schwanken des Kohlensäuregehaltes der Atmo- sphäre in diesem Sinne mitgewirkt. — Dem sei, wie ihm wolle, für die Pflanzenzüchtung ist schon viel gewonnen, wenn es gelingt, durch CO.,- Düngung wertvolles Saatgut stärker zu vermehren. Dem Züchter werden sich auch die Aufwendungen ganz besonders sicher bezahlt machen, weil die Erträge seiner Felder so viel höher bewertet werden als die Erzeugnisse der allgemeinen Land- wirtschaft. Selbstverständlich ist, daß von gut, d. h. auch organisch gedüngtem Boden herstam- mende Hochzuchten auch wieder solchen Boden, der ausreichende CO., -Versorgung gewährleistet, verlangen werden, um ihre guten Eigen- schaften voll zu entfalten. 18. Die Frage, ob an wenig fruchtbaren Hy- briden durch CO., -Zufuhr mehr Samenansatz zu erzielen ist, bietet für Vererbungs- und Züchtungs- arbeiten hohes Interesse. 19. Kann bei C0.2-Düngung in der lichtarmen Winterzeit mit Erfolg künstliches Licht an- gewandt werden? Versuche u. a. von v. Siemens, liegen vor, es waren auch Erfolge da, die aber wohl weit größer hätten sein können, wenn Licht und Kohlensäure zusammen wirktenl 20. Gilt es als allgemeine Regel, daß mit CO., behandelte Pflanzen widerstandsfähiger gegen Schädlinge sind? Einige positive Be- obachtungen liegen vor (s. o.); ihnen steht, nicht widersprechend, sondern ergänzend, die Erfahrung gegenüber, daß mit Stickstoff überdüngte Pflanzen gegen Schädlinge weniger wider- standsfähig sind. Auch hier also wirken CO.3- und N- Ernährung einander entgegen — zweifellos aber am besten, wenn sie gegeneinander ausge- glichen- sind. 21. Wie stellen sich alle die erörterten Fragen ') Vgl. E. Baur, Einführung in die experimentelle Ver- erbungslehre, 2. Aufl., Berlin 1914, 50. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 13 bei zweckmäßiger Ausnutzung auch der natür- lichen CO., - Quellen, evtl. unter gleich- zeitiger Benutzung von zugeführter und von Humuskohlensäure } IVIan sieht, der Fragen gibt es genug. „Fragen wollen Antwort haben." Langsam, sehr langsam bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß doch etwas an der Sache sei, von der man lange hat gar nichts wissen wollen. Es ist jetzt die Frage, wie lange Deutschland noch daraufwarten soll, bis die für die Volksernährung keineswegs unwichtige Kohlensäurefrage die Würdigung und die Bearbeitung findet, die sie verdient, und bis der daraus entspringende Nutzen der Allge- meinheit zugute kommen soll. Auch der „reinen" Wissenschaft drängt sich ein Heer von Fragen auf, die mittels der neuzeitlichen Methodik, worin namentlich Willstätter zum Bahnbrecher geworden ist, zu erschließen sein werden. Jetzt aber kommt es dringender auf nutzbare Er- gebnisse an. In den wichtigsten Einzelfragen tappen wir ja noch im Dunkeln — wir könnten weiter sein ! — es kann kein Zweifel herrschen, daß, wie in vielen anderen Fällen geschehen ist, planvolle und unbefangene Versuchstätigkeit in viel kürzerer Zeit die nötige Klar- heit schaffen wird als das bloße Probieren. So wünschenswert es ist, daß die Kohlensäure- frage an recht vielen Stellen untersucht werde, unabweislich ist die Forderung nach einer eige- nen Forschungsstätte in günstiger Lage, die nur berufen sein müßte, nach den Regeln und Methoden der Wissenschaft, aber stets in Rück- sicht auf die praktische Ausnutzung, das wichtige Problem durchzuarbeiten. Viel zu wenigen Land Wirten und Gärtnern ist es bewußt, daß ihr ganzer Beruf nichts anderes ist als angewandte Kenntnis der Natur, ihrer Kräfte, ihrer Gesetze, ihrer Pro- dukte. So ist denn noch sehr viel zu tun übrig, die einschlägige Forschung zu verbreitern und zu vertiefen, und dann vor allem, die gewon- nenen Ergebnisse dieser Forschung in vollem Umfange nutzbar zu machen, denn erst muß man eine Kenntnis haben, ehe man sie anwenden kann. Die Ernährungsschwierigkeiten der letzten Jahre reden da eine sehr deutliche Sprache • — obwohl ich natürlich nicht behaupte, daß sie im Obigen allein ihre Ursache hatten. Es wird zuweilen ein Wort Friedrichs des Großen zitiert, das aber ursprünglich auf Jonathan Swift („Gullivers Reisen") zurückgeht, des Sinnes: „wer es fertig bringe, daß an Stelle einer Kornähre deren zwei wachsen, habe sich um sein Volk ein größeres Verdienst erworben als die ganze Zunft der Staatsmänner". Die deutsche Wissenschaft hat das vollbracht, die Äcker tragen heut weit mehr als das Doppelte wie vordem. Nur — die Anerkennung ist bis- her ausgeblieben. Literatur. a) Allgemeines. J. V. Liebig (1) Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie. Braunschweig 1840; 9. Aufl. (Zöller) 1S76. \V. Pfefler (l) Pflanzenphysiologie, 1, 1897. F. Schanz (l) Ber. D. Bot. Ges. 36, 1918, 619. W. Seh neide wind (l), Die Ernährung der landw. Kulturpflanzen. Berlin 1915, 2. Aufl., 1917. Wiesner (l) Der LichtgenuS der Pflanzen. Leipzig 1907. b) Kohlensäureassimilation. Blackman (l) Unit. St. Dep. Agric. Exper. Stat. 6, 1S95, (2) Ann. of Botany 19, 1905, 281. Bl. u. Matthaei (i) Proced. Roy. Soc. 76, 1905, 402. Bl. u. Smith (1) ebd. 83, 1911. (2) ebd., 2. Mittig. H. T. Brown u. F. Escombe (l) Philos. Transact. B 193, 1900, 223. (3) Proc. Roy. Soc. II, 76, 1905, 29. H. Fischer (9) Ber. D. Bot Ges. 37, 1919. 281. E. Godlewski (l) Arb. Bot. Inst. Würzburg, 1, 3. H., 1873, 343- r. Kreusler (l) — (4) Landw. Jahrbücher 1-1, 1S85, 913; 16, 1887, 711; 17, 1888, 161; 19, 1890, 649. Matthaei (l) Philos. Transact. Roy. Soc. 197, 1904, 47. J. W. Moll (l) Landw. Jahrbuch. 6, 1877, 327. H. Schroeder (1) Die Hypothesen über die chemischen Vorgänge bei der Kohlensäureassimilalion. Jena 19 17. Thoday (i) u. (2) Proccd. Roy. Soc. Si, 1910. R. Willstätter u. A. St oll (l) Unters, ü. d. Assimi- lation d. Kohlensäure. Berlin 1918. c) Be]dingungen der Blütenbildung. W. Benecke (l) Bot. Ztg. 56, 1898, 83. (2) ebd., 64, 1906, 97. H. Fischer (l) Flora 94, 1905, 478. G. Klebs (l) Die Bedingungen d. Fortpflanzung b. Algen u. Pilzen, Jena 1S96, 96 fl". (2) Ber. Deutsch. Bot. Ges. 18, 1900, (201). (3) Heidelberg. Akad. d. Wiss., B, 1913, 11. 5. (4) Handwörterb. d. Naturwiss., 4, Jena 1914, 288 fl'. (5) Sliihl- festschrift, Jena 1918, 128. O. Loew (l) Flora 94, 1905, 124. (2) ebd. 324. H. Mathissig (l) Über einige selbststerile Blüten. Diss. Königsberg 1913. H. Vöchting (l) Jahrb. wiss. Bot. 25, 1893, ■• d) Kohlensäuredüngung einschließlich Ilunius- kohlensäure. R. Albert (1) Ztschr. Forst- u. Jagdwesen 44, 1912 u. 45, i9«3- W. Berkowski (l) Gartenwelt 17, 1913. 707- (2) Um- schau 21, 1917, 190. F. Bornemann (i) Mitteilgn. D. L. G. 28, 1913. 443- (2) ebd. 29, 1914, 208. (3) Dtsch. Landw. Presse 44, 1917. (4) Mitt. D. L. G. 34, 1919, 2S3. (5) Kohlensäure und Pflanzen- wachstum. Berlin 1920. H. Brown und F. Escombe (2) Proc. Roy. Soc. 70, 1902, 397. E. Demoussy (i) Comptes rend. Acad. Paris 136, 1903, 325. (2) ebd. 138, 1904, 291. (3) ebd. 139, 1904, 883. R. Ewert (l) Gartenflora 65, 1916, 185 u. 208. J. B. Farmer und S. E. Chandler (l) Froc. Roy. Soc. (0, 1902, 413. F. Fischer (l) Möllers D. Gärt.-Ztg. 29, 1914, 326. H. Fischer (2) D. Landw. Versuchsstat. 70, 1909, 335. {3) Gartenflora 61, 1912, 229 u. 336. (4) 111. Landw. Ztg. 33, 19'3. 63. (5) II. Jahresber. Vergg. Angew. Bot., 1913, I. (6) Garlenflora 63, 1914, 125- (7) Fühliogs Landw. Ztg. 65, 1916, 228. (8) Centralbl. Bakt. IL, 48, 1918, 515. (10) An- gew. Bot. 1, 1919, 138. M. Gerlach (i) Mittlgn. D. L. G., 34, 1919. 54 "• 77- R. Hartnauer (l) Handelsbl. f. d. d. Gartenbau 1919, 42. B. Heinze (l) Mitteilgn. D. L. G. 31, 1916- Kissclew (l) Beihefte Bot. Centralbl. I, 32, 1914. 86. R. Klein u. E. Reinau (l) Chemik.-Ztg. 38, 1914. 125- H. Krantz (1) Grünmist. Als Manuskr. gedruckt um 1912. N. F. XIX. Nr. 13 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 303 M. Löbner (l) MöU. D. Gärtn.-Ztg. 28, 1913. 434- R. Mewes (l) Ztschr. Säuerst, u. Stickst. 1, 1909, 133. (2) ebd. 5, 1913. 269. E. Reinau (l) Chemik.-Ztg. 43, 1919, 449, 469, 489, 509, 524. {2) Kohlensäure und Pflanzen. Halle a. S. 1920. E. Reinau und R. Klein (l) Gartenwelt IS, I9I4. F. Riedel (l) Tonindustr.-Ztg. 43, 1919, 607, 619. (2) Mitt. D. L. G., 34, 1919. 427, 451, 467. (3) Stahl u. Eisen 30, 191 9, 1497. E. G. Teodoresco (l) Compt. rend. Acad. Paris 127, 1898, 335- Tschaplowitz (l) Moll. D. Gärtn.-Ztg. 3, 18S8. E. Winter (i) Gartenflora 62, 1913, 402. E. Wollny (i) D. Landw. Versuchsstat. 2.5, 18S0, 373. Einzelberichte. Zoologie. Bisjetzt wußte man nichts Näheres von der Lebensweise der Raupen der Bläulinge (Lycae- nidae), außer daß sie auf Schmetterlingsblütlern (Papilionaceen) vorkommen. Im Werke „Die Raupen der Großschmetterlinge Europas" von Dr. Ernst Hofmann, Stuttgart 1893 heißt es von Lycaena arion D. : „Die Raupe soll an Thy- mus serpyllum leben, doch fehlen bis jetzt die näheren Angaben. Der Schmetterling fliegt häu- fig an den Orten, an welchen die Nahrungspflanze seiner Raupe wächst." Und in Seits „Die Großschmetterlinge der Erde" heißt es von den Raupen der Lycaeniden : „Die Raupen sind assel- oder schneckenförmig, kurz, breit, etwas abgeplattet, oval mit in die ersten Ringe zurückziehbarem Kopfe; sie sind glatt oder mit feinen Wärzchen oder Härchen be- deckt. Auf dem elften Ringe sitzt bei machen Arten eine Drüse, die Süßigkeit absondert und damit Ameisen herbeilockt, welche dann bei der Raupe verbleiben und sie gegen Parasiten be- schützen sollen (Ameisengarde); man hat aber auch Arten entdeckt, wo die Raupe als Haustier bei den Ameisen eingeschleppt wird und sich in den Ameisennestern verpuppt. Weiter kennt man Raupen von Lycaeniden, welche sich von Insekten nähren. In unserem Klima überwintern die mei- sten Lycaeniden im Ei- oder Larvenstadium." Lycaena alcon und L. euphemus leben auf den Gentianaarten und Sanguisorba officinalis, aber wie in (La Symbiose des Fourmis et des chenilles de Lycaena, Charles Obe rthür Comptes ren- dus de l'academie de Paris Tome 169 Nr. 23) ausgeführt wird, verschmähen die Raupen nach einiger Zeit die Pflanzennahrung, auf der das Weib- chen die Eier abgelegt hatte. Oberthür und Harold Powell sahen die Raupen von L. alcon neben den frischen Blättern der Pflanze verhungern. Nach C h ap m a n und Froa wk werden die Raupen von Ameisen in ihr Nest verschleppt und ernähren sich von Ameisenbrut. Sie brachten deshalb in einer zum Züchten geeigneten Schachtel die halbver- hungerten Raupen in ein Ameisennest und fanden, daß die Raupen sich erholten, während die Ameisennymphen aufhörten sich zu verpuppen und schließlich zugrunde gingen. Ihrer Ansicht nach waren die Raupen durch Hungern zu ge- schwächt um die starke Haut der Ameisencocons zu durchbeißen. Sie setzten nun jungen noch kräftigen Raupen aus Gentianablüten , als sie nicht mehr fressen wollten, Ameisenb'rut vor; gleichzeitig wurde mit einem Scalpel die Larve angeritzt, so daß die Lymphflüssigkeit aus- trat, woran sich die Raupen tüchtig labten. Dieses Verfahren wurde 2 Wochen lang mit 2 Mahlzeiten täglich fortgesetzt. Aber offenbar war dies nicht die natürliche Ernährungsart, da man ja mit dem Scalpel nachhelfen mußte. Da aber die Raupen vom Herbst den Winter über bis zum Frühjahr im Ameisennest eingeschlossen waren, mußten offenbar die noch unverpuppten Larven zur Nahrung gedient haben. Im Juni fan- den sie wohlerhaltene Raupen in einem Ameisen- nest, das seit dem vorigen Herbst im guten Zu- stande erhalten worden war. Es wurde auch eine Ameise beobachtet, die eine Raupe in das Nest schleppte, wo sie sich verpuppte und ein Schmetterling ausschlüpfte. Wie sei es nun zu erklären, daß die Ameise die Raupe in ihr Nest schleppte, wo sie ihre eigenen Larven vernichtete ? Es sei daran zu denken, daß die Ameisen als Feinschmecker die Art von Honig liebten, welchen die Raupen absonderten; dies wurde bestätigt, als man die Raupe einer Bläulingsart ab ovo bis zum Falter sich in einer Glastube entwickeln ließ. Und zwar wurde dies beobachtet bei L. armori- cana, Oberth. In einer anderen Glasröhre wurden die Ameisen gehalten, für welche die Raupen IVIelkkühe waren. Zweimal täglich wurden die Ameisen zu den Raupen zugelassen und zugleich kleine Pflanzen von Ulex europaeus zugesetzt, welche der Raupe sonst zur Nahrung dienten. Sofort sah man die Ameisen an den Honigröhren der Raupen lecken. Alle Versuche wurden durch Dr. T. A. Chapman, welcher lebende Raupen geschickt hatte, nachgeprüft. Ende Juli 1918 schlüpfte der Falter im künstlichen Ameisennest, worin die Raupe seit September 191 7 einge- schlossen war. Die Ameisen hatten sich also schnell an die Raupe eines Falters angepaßt, den weder sie selbst noch ihre Eltern gesehen hatten. Es lag eine sehr alte, von ihren Vorfahren ererbte Eigentümlichkeit vor, da die Enziane früher in der F"lora Englands vorkamen. Die Verf. wollten ihre Versuche auf L. euphemus aus- dehnen, eine L. alcon verwandte Art. Im Juli 1919 fand Powell einen frischausgeschlüpften P"alter von L. euphemus auf einem Ameisennest; die leere Puppe blieb im Nest zurück. Das Weib- chen legte seine Eier im Juli auf Sanguisorba officinalis ab; die ausschlüpfenden Larven bohrten sich in die Blüten ein, an deren Staubfäden fres- 204 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 13 send, verließen dann die Blüte und ließen sich, den Kopf in den Prothorax eingezogen, in ein Ameisennest schleppen. Dies alles geschah sehr rasch. Eine Eigentümlichkeit der Räupchen be- steht in dem sorgfälligen mehrmaligen Auslecken der Kapuze der Ameisenlarven. Gelegentlich der Beleuchtung eines Ameisen- nestes sah man, wie bisweilen die Raupen zum Transportieren von den Ameisen so fest erfaßt wurden, daß sie verletzt wurden und häufig zu- grunde gingen. Die Beobachtungen wurden an- gestellt an L. euphemus, deren Larven anfangs vegetarisch lebten, um dann in das Ameisennest eingesetzt zu werden, wo sie die Larven der Ameisen fraßen, während die Raupen von den Ameisen selbst beleckt wurden ; geradeso war es bei L. armoricana. Kathariner. Das Wohngebiet der Vögel. Im allgemeinen stellen wir uns die Vögel als leicht bewegliche Tiere vor, die dank ihrem ausgezeichneten Flug- vermögen nicht so an die Erde und einen eng- begrenzten Bezirk gebunden sind wie die Vier- füßer. Die weiten, sich bei manchen Arten über große Strecken des Erdballs erstreckenden Wande- rn ngen und die täglich zu beobachtende Flüch- tigkeit der Vögel legt den Gedanken nahe, daß diese leichtbeschwingten Tiere eigentlich „erhaben über den Raum" sind. Diese Auffassung liegt wohl auch der Theorie zugrunde, daß das dauernde Wandern der Vögel das Ursprüngliche sei, der „Vogelzug" sich also nicht aus der Ortsbeständig- keit entwickelt habe, sondern umgekehrt die um- herziehenden Vogelscharen nacli und nach das Wandern eingestellt haben, ein Vorgang, der sich jetzt noch vollziehen würde und bei den sog. „Stand"- Vögeln schon zum Abschluß gelangt ist. Dieser Ansicht widerspricht aber neben der Ab- stammung derVögel von weniger flug- gewandten Sauriern besonders die Fort- flanzungs weise, die die Vögel minde- stens zu einer zeitweiligen Seßhaftig- keit zwingt: es muß ein Nest gebaut, die Eier gelegt und bebrütet, die ausschlüpfenden Jungen bis zum Ausfliegen und meist noch länger ge- füttert werden, alles Lebensgewohnheiten, die an das Nest, das Brutgebiet gebunden sind. Zur Fortpflanzungszeit ist ein Nomadisieren schon wegen des notwendigen Brütens unmöglich und wird es immer gewesen sein, also ist der Vogel- zug einst außerhalb der Brutzeit entstanden, be- dingt durch klimatische Verhältnisse, und kann wieder verschwinden, wenn etwaige Klimaände- rungen sich stärker erweisen als der durch viele Geschlechter vererbte Zug-„Trieb", während die Ortsbeständigkeit der Vögel mit ihrer weitgehen- den Brutpflege immer bestehen bleiben wird, so- lange es eben überhaupt Vögel gibt, die ihre Eier ausbrüten. Die Möglichkeit eines ununter- brochenen Wanderlebens hätten daher nur Brut- schmarotzer, die ihre Eier in fremde Nester legen und von anderen Arten ausbrüten lassen; der Brutparasitismus ist aber wie alles Schmarotzer- tum eine Anpassungserscheinung, die nicht ur- sprünglich ist, und hat andere, während der Fort- pflanzungszeit seßhafte, ihr Gelege ausbrütende Vögel zur Voraussetzung. — Der im Frühjahr aus Afrika kommende Zugvogel, der Tage und Wochen gereist ist, kehrt in sein heimatliches Brut ge- biet zurück, er paart sich, baut sein Nest, legt und bebrütet die Eier und zieht seine Jungen groß ; das Zigeunerleben hat aufgehört. Das Brut- gebiet, in dem der Vogel jetzt bleibt, ist kleiner, als man gewöhnlich sich vorstellt. In der Zeit- schrift „Wild und Hund" (1919, Nr. 5) behandehe Dr. St. die Größe des Wohngebietes der Vögel, und ich muß ihm recht geben, wenn er für die Raubvögel das größte Wohngebiet annimmt. Besonders Adler und Falken durchstreifen auf ihren Jagdzügen vom Horst aus weite Strecken, viel weniger weit entfernen sich schon Bussarde, Krähen, Wildtauben und die Sumpf- und Wasser- vögel vom Brutplatz. Ein Beweis für das große Jagdrevier der Raubvögel ist auch der Umstand, daß selbst bei recht seltenen Arten der eine von einem Brutpaar abgeschossene Gatte sehr schnell durch einen neuen Ehegespons ersetzt wird ; das wäre nicht möglich, wenn nicht diese Vögel sehr weite Gebiete durchstreifen würden. — Von den Singvögeln räumt St. den Schwalben den größ- ten Flugbezirk ein, hätte aber als Beispiel dafür unter den Sängern noch den Star anführen sollen. Beim Star und anderen Höhlenbrütern steht die Größe des Wohn- und Jagdgebietes mit der Tatsache im Zusammenhang, daß diese Vögel z.T. einzeln, z. T. inKolonien zusammen nisten. Die gesellig brütenden Stare fliegen ziemlich weit vom Brutplatz weg, um auf ent- fernten Wiesen und Feldern ihre Nahrung zu suchen ; die Meisen, Rotschwänzchen und Fliegen- schnäpper dulden ebenso wie die meisten „hVei- brüter" in der Nähe ihres Nistplatzes kein zweites Paar ihrer eigenen Art; denn bei ihnen liegt das Jagdrevier unmittelbar um den Brutort herum, direkt beim Nest suchen sie ihre Insektennahrung und lassen schon aus Futterneid keine Artge- nossen sich an ihrem Nistplatz, der zugleich Wohn- und Jagdgebiet ist, ansiedeln. (Deshalb ist es auch verkehrt, mehrere Nistkästen für diese Arten dicht nebeneinander zu hängen, während umgekehrt Stare gerne in einer ganzen Anzahl von Paaren an demselben Baum oder Hausgiebel nisten, worauf schon der bekannte Vorkämpfer des Vogelschutzes F"rhr. von Berlepsch (See- bach) hingewiesen hat.) Wie die Stare im allgemeinen nicht unmittel- bar unter ihrem Brutbaum nach Nahrung suchen, so jagen auch die Raubvögel meist nur in einiger Entfernung vom Horst. Man hat die Erscheinung, daß Raubwild und Raubvögel in der Nähe vom Bau und Horst nicht reißen und schlagen, verschieden zu erklären \er- sucht. Während die einen sagten, die Räuber N. F. XIX. Nr. 13 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 205 wollten nicht durch das Rauben an ihrem Wohn- ort den Bau oder Horst verraten oder schonten die Tiere ihrer nächsten Umgebung des- halb, weil sie aus deren Lock- und Warn- rufen Nutzen zögen, meinten andere, die Tiere der Nachbarschaft blieben verschont, weil sie den Räubern ganz vertraut und bekannt sind. Wer öfters Beobachtungen an Raubvogelhorsten gemacht und gesehen hat, mit welcher Schnellig- keit und doch Vorsicht sich die Vögel ihrem Nest nähern und es wieder verlassen, dem wird es auch klar sein, daß der Raubvogel bei diesem so schnellen und vorsichtigen An- und Abflug nicht die zum Schlagen von Beute nötige „G emütsruh e" hat. Des- halb können dicht neben Sperbern und Falken friedlich und ungestört Wildtauben, Drosseln, Meisen u. a. Singvögel brüten, deshalb ge- fährdet auch der Fuchs nicht die in seinem Bau sich einquartierende Brandgans, und aus dem- selben Grunde fügt der Schleierkauz, der sich oft in bewohnten Taubenschlägen häuslich einrichtet, den rechtmäßigen Bewohnern dieser Behausung kein Leid zu, sondern brütet einträchtig neben der „sanften" Haustaube. Marburg a. L. Werner Sunkel. Das Ausschlüpfen des Schmetterlings aus der Puppe. Am nächsten liegt es beim Aus- schlüpfen des Schmetterlings aus der Puppe an eine von innen heraus wirkende Kraft zu denken. Daß dieselbe aber von keinem dem ausschlüpfenden Schmetterling eigenen Werk- zeug ausgeübt wurde, zeigt schon die innere Oberfläche der leeren Hülse, die uns jede Spur einer solchen Tätigkeit vermissen läßt; außerdem wäre ja auch ein solches Werkzeug vor dem Ausschlüpfen noch weich und unbrauchbar, weil das Chitin erst in der Luft erhärtet. Dagegen klafft die Puppenhülse entlang den schon an der vollen Puppe sichtbaren Nähten auseinander; es war offenbar eine auf das Ganze einwirkende Kraft, welche die Puppe zum Platzen brachte. Eine Volumenzunahme des Inhalts durch Auf- nahme geformter Stoffe findet nicht statt; eben- sowenig eine hinreichende Erwärmung des Inhalts, welche seine Ausdehnung bewirkte. Ungehinderten Zutritt hat dagegen die umgebende Luft, deren Druck mit dem Atmosphärendruck schwankt. Ist der Binnendruck größer als der Atmosphären- druck, so muß er die Puppenhülle sprengen. A. Pictet untersuchte, wie sich die wechseln- den Schwankungen des Luftdrucks bei Schmetter- lingspuppen äußern. (Influence de la pression atmospherique sur le developpement des lepido- pteres par Arnold Pictet. Archives des sciences physiques et naturelles, Tome 44 1918.) Während einer Reihe von Jahren fand er, daß das Ausschlüpfen der weitaus meisten Puppen mit einem Fallen des Barometers zusammentraf, und daß eine Steigerung des Binnendrucks zur Sprengung der Hülle eine notwendige Voraussetzung für das Ausschlüpfen der verpuppten Tiere bildet. Zahl- reiche Versuche zeigten, daß für das Ausschlüpfen des Insekts ein Sinken des äußern Luftdrucks nötig ist. Schon einige Zeit vor dem Ausschlüpfen der Puppe verrät sich dieses durch gewisse Zeichen: Verschieben der Hinterleibsringe und, namentlich bei den Tagfaltern , ein immer deut- licheres Sichtbarwerden des Flügelmusters, bis schließlich die Puppenhülle platzt. Äußere Ver- hältnisse nun können die Puppenruhe abkürzen oder verlängern. Wenn auch die Raupen ganz gleichartig gehalten wurden, schwankt die Zeit des Ausschlüpfens um i, 2 oder 3 Tage. Seit 1907 bis heute hätte er sowohl Versuche mit einer sehr großen Zahl von Puppen angestellt, als auch die barometrischen Messungen seinen Untersuchungen zugrunde gelegt, um zu ermitteln, ob zwischen dem Ausschlüpfen der Puppen und dem Luftdruck ein Zusammenhang bestände. In der Tat wäre dies in sehr ausgesprochener Weise der Fall. Erhöhter Luftdruck während der ganzen Zeit oder in der zweiten Hälfte der Puppenruhe kann diese um ^/. bis ^/n, verlängern; wenn das Tier zu lange zurückgehalten wird, geht es in der Puppe zugrunde. Sinkt der Luftdruck entweder während der ganzen Zeit der Puppenruhe oder gegen das Ende hin, wird das Ausschlüpfen be- schleunigt. Versuchsergebnisse und Beobachtungen stimmten überein , so daß der Schluß berechtigt wäre, das Ausschlüpfen werde durch niedrigen Barometerstand veranlaßt. In der Tat wäre es in 9ii33 "!(, iTiit niedrigem Barometerstand zusammen- gefallen. Wenn man Tag für Tag den Barometer- stand kontrollierte, sähe man, daß beim Steigen des Barometers fast nichts oder wenig ausschlüpfte, während bei sinkendem Luftdruck fortgesetzt die Zahl der ausschlüpfenden Puppen wachse, um das Maximum bei ganz tiefem Barometerstand zu er- reichen. Ein Sinken um i mm Quecksilber hätte genügt, daß alle dazu bereiten Tiere ausschlüpften. Steigender Luftdruck halte den zum Ausschlüpfen bereiten Falter 2, 3 und bis 4 Tage zurück, bis das Barometer wieder fällt. Daraus erklärt sich die befremdliche Erscheinung, daß man bisweilen einen zum Ausschlüpfen fertigen Falter in der Puppe tot findet. Wenn man Puppen aus dem Tiefland ins Gebirge bringt, bewirkt der sinkende Luftdruck das Ausschlüpfen von vielen; umge- kehrt werden die Falter beim Herabsteigen durch den steigenden Luftdruck in der Puppe zurück- gehalten. Kathariner. Das vornehmste Wild der afrikanischen Tropen, der Elephant (Elephas africanus Blbch.), scheint von der Ausrottung, namentlich infolge der rück- sichtslosen Verfolgung durch die Elfenbeinjäger, bedroht zu sein. So liest man in der New Yorker „Science" folgendes : Es wird dort mit Bedauern festgestellt, daß kürzlich im Zululande der letzte Elephant getötet 2o6 Naturwissenscliaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 13 worden sei. Auch in Rhodesia und in Transvaal ist der Elephant ebenfalls auf dem Aussterbeetat angelangt. Einige wenige Exemplare halten sich noch in der Kapkolonie auf im sogenannten „Addo Bush Forest". Dieser Busch hat eine Oberfläche von 6000 Hektaren und ist fast ohne Wasser. Vor etlichen Jahren beherbergte der Addo- Busch noch eine Elephantenherde von 150 bis 200 Köpfen. Da die Tiere ziemlichen Schaden in den Kulturen anrichteten, wurden sie nach und nach abgeschossen. Nun wird von einigen eng- lischen Tierfreunden der Vorschlag gemacht, die Überlebenden in einer umhegten Reservation, deren Umzäunung allein eine Ausgabe von 500000 Fr. erfordert, zu halten. Kathariner. Vermehrung des Wolfes. Der Wolf (Canis lupus L.) hat sich in den letzten Jahren in Lapp- land ungeheuer vermehrt und tritt im Winter 1919 — 20 in solcher Menge auf, daß er den Renntierheerden bedeutenden Schaden zufügt und Hunderte der dort so wertvollen Tiere zerreißt. Auch zeigt er keine Scheu mehr vor dem Men- schen und wagt sich sogar in die Dörfer. Die Regierung sah sich veranlaßt, das Schußgeld für den erwachsenen Wolf auf 100 Kronen und 50 Kronen für das aus dem Bau genommene Junge festzusetzen. Kathariner. Bücherbesprechungen. Fricke, Dr. W., Schutzmaßnahmen bei bak- teriologischen und serologischen Ar- beiten. Mit 41 Textabbildungen. Jena 1919, G. Fischer. 4 M. Das bakteriologische und das ihm in mancher Hinsicht ähnliche serologische Arbeiten erfordert eine Menge wichtiger Handgriffe und Vorschriften. Sie sind nicht nur notwendig für die Sauberkeit und damit für den Erfolg des Arbeitens überhaupt, sondern auch insofern besonders bedeutungsvoll, als ihre Unkenntnis bei dem Umgang mit patho- genen Bakterien gefährliche Folgen haben kann. Jeder, der praktische Übungen in Bakteriologie abhält, weiß, wie viel Mühe und fortgesetzte Er- mahnungen notwendig sind, um den Praktikanten zum sauberen Arbeiten und zur Vorsicht zu er- ziehen. Das vorliegende Büchlein kann ihn in diesem Bestreben auf das wirkungsvollste unter- stützen. Der Verf. hat, offenbar aus reicher Praxis heraus, in knapper und anschaulicher Form alles zusammengestellt, was an Schutzmaßnahmen im serologischen und bakteriologischen Laboratorium in Betracht kommt. Er erörtert unter diesem Gesichtswinkel die Kleidung, Infektionspforten und -quellen, die verschiedenen Arten der Sterilisation und Desinfektion, das Umimpfen, die Behandlung zerbrochener Kulturröhrchen , den Umgang mit Plattenkulturen, die Herstellung von Dauerpräpa- raten, die Einatmungsgefahr, das Pipettieren, Vor- schriften für die Dienerschaft, Operationen und Sektionen von Versuchstieren, Beseitigung infek- tiöser Reste, Hiegengefahr, Essen und Rauchen usw. Das Wichtigste ist durch lehrreiche Abbil- dungen veranschaulicht. Das kleine Heft sei allen Ärzten und bakteriologischen Praktikanten sowie dem Hilfspersonal in bakteriologischen Labora- torien aufs wärmste empfohlen. Für andere Kreise kommt es nicht in Betracht. Es ist immer wie- der davor zu warnen, daß nicht gründlichst vor- gebildete bzw. angeleitete Personen sich aus Lieb- haberei mit pathogenen Bakterien befassen. Miehe. Oppenheimer, C. und Weifi;, O., Grundriß der Physiologie für Studierende und Ärzte. I. Teil: Biochemie von C. Oppen- heimer. Leipzig 191 9, Georg Thieme. . Das vorliegende Buch gliedert sich in zwei Hauptteile, einen „systematischen", der auf etwa 250 Seiten einen Grundriß der physiologischen Chemie enthält, und in einen etwas kürzeren „analytisch physiologischen Teil", der die chemi- sche P'unktion der Gewebe und des Organismus behandelt. Das Buch ist klar und sachlich ge- schrieben und gibt einen sehr guten Überblick über den gegenwärtigen Stand der biochemischen Forschung. Als Lehrbuch der Physiologie speziell für den Mediziner der ersten Semester scheint dem Referenten diese erste Hälfte des Werkes weniger geeignet, weil der eigentlich physiologi- sche Teil bei der relativ breiten Anlage der ersten, rein chemischen Kapitel so kurz gehalten werden mußte, daß er dem Studenten kaum alles bieten kann, was er sich an Kenntnissen aus dem Gebiete der vegetativen Funktionen für seine ärzt- liche Vorbildung aneignen muß. Andererseits bedarf es wohl kaum der Erwähnung, wie wünschenswert es wäre, wenn dieses, so wie ähn- liche Werke eine möglichst große Verbreitung bei Ärzten und älteren Medizinern fände. Brücke (Innsbruck). Exner, F., Vorlesungen über die physi- kalischen Grundlagen der Natur- wissenschaften. 714 Seiten. Wien 1919, F. Deuticke. Das vorliegende Werk des Wiener Physikers behandelt in der Form anregend geschriebener Vorlesungen fast das gesamte Gebiet der Physik unter völligem Ausschlüsse der physikalischen Methodik. Es wird deshalb als Lehrbuch für den Anfänger in den naturwissenschaftlichen Diszi- plinen nicht ohne weiteres zu verwenden sein, wohl aber wird es eine willkommene Lektüre für jeden bilden, der sich in erster Linie theo- N. F. XIX. Nr. I- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 207 retisch mit den aligemeinen physikalischen Ge- setzen vertraut machen will, die allen Natur- wissenschaften zugrunde liegen. Das Buch ver- mittelt gewissermaßen jene physikalische Allge- meinbildung, über die jeder Naturwissenschaftler verfügen sollte, dessen Interesse über die ganz speziellen Probleme seines eigenen Faches hinaus- geht. Von diesem Standpunkte aus sind auch die Exkurse des Verfassers in die Gebiete der Psychologie und Erkenntnistheorie zu begreifen, wenn man ihnen vielleicht auch nicht immer ohne Widerspruch folgen kann. An Vorkenntnissen setzt das Werk kaum mehr voraus, als die Mittelschule bietet. Brücke (Innsbruck) Hesse, A. und Grossmann, H. , Englands Handelskrieg und die chemische In- dustrie. Dritter Band: Dokumente über die Kali-, Stickstoff- und Superphosphat Industrie, herausgegeben von A. Hesse, H. Gross- mann und W. A. Roth. Sonderausgabe aus der Sammlung chemischer und chemischtech- nischer Vorträge" von Ahrens-Herz, Bd. XXV, Heft 8 bis 12. IV -j- 204 Seiten in gr. 8". Stuttgart 19 19, Verlag von Ferdinand Enke. Preis geh. 12,50 M. Über den Charakter und die Bedeutung der Hesse- Grossmann sehen Veröffentlichungen über den Handelskrieg der Entente gegen unser Vaterland ist in dieser Zeitschrift bereits nach Erscheinen des ersten und des zweiten Bandes (Naturw. Wochenschr. N. F. Bd. 15, S. 173 und N. F. Bd. 16, S. 493) berichtet worden. Der vorliegende Band, der sich in der Hauptsache mit der Kali-, Stickstoff- und Superphosphat- Industrie befaßt, schließt sich den beiden ersten Bänden an und bedarf so keiner besonderen Kennzeichnung mehr. Nur sei darauf hingewiesen, daß der sehr inter- essante Gegenstand auch heute noch, trotzdem der „Frieden" geschlossen ist, volle Aktualität be- sitzt, denn der Friedensschluß hat nur eine poli- tische Bedeutung, der ,, Wirtschaftskrieg" geht im wesentlichen weiter. Wenn man früher sagte, der Krieg sei nur eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, so kann man jetzt sagen, dieser F"rieden ist nur eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Daher haben die Hesse- Grossmannschen Veröffentlichungen auch heute noch unmittelbare Bedeutung, und es wird noch lange dauern, bis sie nur noch ein histori- sches Interesse besitzen. Berlin- Dahlem. Werner Mecklenburg. Oettli, Dr. M., Versuche mit lebenden Bakterien. Stuttgart 19 19, Frankhsche Ver- lagshandlung. 3,60 M. Die Beschäftigung mit Bakterien ist außer- ordentlich reizvoll und lehrreich dazu, weil sie mit vielen allgemein -wichtigen physiologischen und biologischen Tatsachen bekannt macht und zu Sorgfalt und scharfem Beobachten erzieht. Bakteriologische Übungen und Studien gehören deshalb seit langem zum Bestände des pflanzen- physiologischen Universitätsunterrichts; ist doch die allgemeine Bakteriologie gerade von Botanikern begründet und kräftig gefördert worden. Der Verf. versucht nun auch eine Anzahl bakteriologi- scher und verwandter Themen in den naturwissen- schaftlichen Arbeitsunterricht der Schulen einzu- führen. Das Büchlein ist mit Lust und Liebe geschrieben, es verrät auch überall Sachkenntnis, so daß sich wohl, Umsicht und natürliches Ge- schick vorausgesetzt, danach arbeiten läßt. Frei- lich werden Lehrer und Schüler trotz der Anlei- tungen oft genug Mißerfolge erleben, denn gerade bakteriologisches Arbeiten setzt ganz besondere naturwissenschaftliche Kenntnisse und eingehende Erfahrung voraus. Sehr wichtig ist es, wenn der Verf. überall an natürliche bakteriologische Vor- gänge im Haushalt und in der Natur anknüpft. Beim Durchblättern fielen mir folgende Mängel auf. Die Leuchtbakterien verlangen eine Kohlen- stoffquelle, am besten ist i '% Glyzerin. Die Herstellung geeigneter Verdünnungen beim ge- wöhnlichen Plattenguß und namentlich beim Zählen finde ich nicht erörtert. Gasentwickelnde Kulturen (z. B. Zellulosevergärer, Buttersäurekulturen) sind nicht durch Gashahn, sondern durch ein unter Wasser mündendes Gasableitungsrohr zu schließen. Die Abbildung 33 steht auf dem Kopf. Miehe. Anregungen und Antworten. Zu der Notiz von Kathariner über die IMimikryhypo- these (Naturw. Wochenschr. N. F. XIX. (1920) Nr. I, 14 — 15) seien einige laienhafte Beobachtungen mitgeteilt, die geeignet sind, die Allgemeingültigkeit der Angabe, daß die stechenden Hymenopteren von den Netzspinnen ungehindert erbeutet werden, in Frage zu stellen. Ich habe mehrmals gesehen, wenn eine kleine Wespe oder eine fliegende Ameise in ein Spinnennetz geraten war, daß die Spinne augenblicklich aus ihrem Schlupfwinkel hervorschoß und auf ihre Beute zueilte, als ob es eine harmlose Fliege wäre, wie sie dann aber, in einer Entfernung von etwa i — 2 cm von ihr angelangt, plötz- lich stoppte, ,,rechtsumkehil" machte und fluchtartig den Rückzug antrat ; ja, der Schreck schien zuweilen so nachhaltig zu wirken, daß sich die Spinne, auch wenn Fliegen in ihr Netz praktiziert wurden, längere Zeit nicht mehr aus ihrem Schlupfwinkel hervorwagte. Ich habe mir die Sache stets so zurecütgelegt, daß die Spinne durch den Geruch der stechen- den Insekten (Ameisensäure!) rechtzeitig gewarnt und abge- schreckt werde. Daß der Gesichtssinn dabei keine Rolle spielt, und daß die betreffende Netzspinnenart blind ist, scheint mir einwandsfrei u. a. aus folgender Einzelbeobachtung hervorzu- gehen: Eine langbeinige Mücke war in ein Spinnennetz ge- raten. Die (verhältnismäßig kleine) Spinne schoß sofort auf die Beute los, packte ein Bein und begann es einzuspinnen. Inzwischen riß sich die Mücke unter Hinterlassung des be- treffenden Beines los und gewann das Weite; die Spinne aber schien dies nicht innezuwerden, sondern fuhr unverdrossen und emsig mit dem Einspinnen des Beines fort, was sie zweifellos 208 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 13 nicht getan hätte, wenn sie die Flucht des Beutetieres bemerkt hätte. Diese widersprechenden Angaben über das Verhalten der Spinnen gegenüber den stechenden Hymenopteren ei klären sich vielleicht aus den verschiedenen Lebensgewohnheiten der einzelnen Arten; leider bin ich nicht in der Lage, über die Gattungs- und Artzugehörigkeit der von mir beobachteten Tiere Angaben zu machen. — Die Schlußfolgerung zu Un- gunsten der Mimikryhypothese bleibt jedoch unverändert be- stehen und erhält sogar eine neue und wesentliche Stütze: wenn die Netzspinnen blind sind und die durch eine Slich- walTe geschützten Beutetiere nur mit Hilfe des Geruchssinnes erkennen, dann ist die optische Wespenähnlichkeit für die un- geschützten Formen völlig wertlos. A. Thellung (Zürich). Herrn Dr. A. G. — In erster Linie kann zwar kein Tier ohne Wasser bestehen. Man hat jedoch berechnet, daß Lar- ven von Callidium sanguineum, die in Brennholz zu leben ver- mögen, schließlich mehr Wasser enthalten, als das gefressene Holz ihnen zu liefern vermag. Grandis und Muzio meinen, daß dabei Wasser durch Verbrennen von Zellulose im Stoff- wechsel gewonnen wird. Sieb er und Melalnikow weisen nach, daß bei der Bienenmotte Galleria raelonella eine gewisse trockene Ernährungsart nur dann ausreicht, wenn man ihr entweder Wasser oder Wachs zusetzt. Im letzteren Falle werde das notwendige Wasser aus dem Wachs auf chemischem Wege gewonnen. Bei Wirbeltieren soll im Hunger Wasser- gewinnung durch Oxydation der Nahrung und der Körper- substanzen festgestellt sein. Nach diesen Angaben ist also das Wasser bis zu gewissem Grade ersetzbar, was die wasserlose Ernährung der Holzfresser erklären kann. Ähnlich wäre über die Ernährung durch Hörn oder Wolle zu denken, obschon den Haaren und selbst der Fabrikwolle gewöhnlich Fett- und Eiweißreste noch beigemengt sind oder darin enthalten zu sein pflegen. Übrigens ist der Darm an sich wohl meist zur Zelluloscassimilation nicht befähigt, sondern er vollzieht diese bei holzfressenden Insekten vermutlich unter Mitwirkung symbiontischer Mikroorganismen, also Bakterien. — Näheres in Jordan, Vergleichende Physiologie wirbelloser Tiere. Jena 1913. Franz. Vom Daumenflügelchen. Von Dr. V. Franz erschien ein Aufsatz ,,Die Funktion des Daumens am Vorderflügel" in der Naturw. Wochenschr. 191S, S. 200 — 202, worin er nachwies, daß diese Flügelchen, jedenfalls von den Tagraubvögeln, beim Erreichen des Zieles und beim Niederstürzen oder Stoßen ge- spreizt werden und dabei sichtbar werden. Offenbar wird dadurch die Oberfläche der Flügel vergrößert oder die Rich- tung besser geleitet. Der Aufsatz wird auch von einer Photo von R. Moore, eine Cirais aeruginosiis L. oder Rohrweihe vorstellend, begleitet, der mit Beute am Horst anfliegt. Das Bild ist Meer warth -Söffe Is Lebensbildern aus der Tier- welt entnommen. Vor kurzem begegnete auch ich einer Photo, welche ebenfalls sehr deutlich die gespreizten Daumenflügelchen sehen läßt. Sie kommt vor in Percy R. Lowe, Our Common Sea Birds 1917, und stellt eine Stila bassanns L. vor. Der Autor sagt aber nichts von diesen Organen. Man sieht gegen die Unterseite des Vogels. Auch besitze ich in der Sammlung nach der Natur ge- nommener Photos der Höheren Bürgerschule eine vom Horst abfliegende I'andiou haliaetus /.., einem deutschen Werke ent- nommen, leider ohne nähere Angabe. Mau sieht die Unter- seite des am weitesten gespreizten linken Flügels, und daran, obwohl undeutlich, den nach vorn gewendeten Daumenflügel. Ferner finde ich in der Zeitschrift De Levende Natuur, XIII, S. 221, April 1909, eine Abbildung, eine Waldohreule, Otiis otus L., vorstellend, in verteidigender Stellung, auf dem Rücken liegend, die Fangen zum Angreifen bereit, die Flügel halb ausgeschlagen, und die Daumenflügelchen vollständig gespreizt. Arnhem (Holland). Dr. A. C. Oudemans. Literatur. Mitteilungen der Preußischen Hauptstelle für den natur- wissenschaftlichen Unterricht. Heft I : Musterverzeichnis von Einrichtungen und Lehrmitteln für den physikalischen Unter- richt. Heft 2 : Beiträge zum erdkundlichen Unterricht. Leipzig 1919, Quelle & Meyer. Jahrbuch der Elektrotechnik, herausgegeben von Dr. Karl Strecker. 7. Jahrg. München und Berlin '19, R. Oldenbourg. 24,40 M. Voigtländers Quellenbücher. Leipzig, R. Voigtländer. Klengel, Prof. Dr. Fr., Die Entdeckung des Generations- wechsels der Tiere. I M. Dannemann,Fr., Die Entdeckung der Elektrizität. I M. Boehm, Dr. E. , Die Lehre vom Erdmagnetismus, be- gründet von William Gilbert So Pf. Noll, Dr. A., Die „Lebenskraft" in den Schiiflen der Vitalisten und ihrer Gegner. 80 Pf. G eitel, M., Die Geschichte der Dampfmaschine bis James Watt. 1,20 M. Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig und Berlin, B. G. Teubner. Jedes Bändchen 1,60 M. Lorenz, Dr. H., Einführung in die Technik. Hegemann, E. , Die Ausgleichungsrechnung nach der Methode der kleinsten Quadrate. Bardeleben, Prof. Dr. Karl v.. Die Anatomie des Men- schen. 11. Das Skelett. 111. Muskel- und Gefäßsystem. 3. Aufl. IV. Nervensystem und Sinnesorgane. 2. Aufl. Lindow, Dr. M., Integralrechnung unter Berücksichtigung der praktischen .Anwendung in der Technik mit zahl- reichen Beispielen. 2. Aufl. Suckow, Fr., Die Landmessung. Rolhe, Prof. Dr. R. , Darstellende Geometrie des Ge- ländes. Leipzig und Berlin '19, B. G. Teubner. Bräu er, Prof. Dr. P., lonentheorie. Ebenda. 1 M. Rusch, Fr., Beobachtung des Himmels mit einfachen Instrumenten. 2. Aufl. Ebenda. I M. Domo, Prof. Dr. C, Physik der Sonnen- und Himmels- strahlung. Braunschweig '19, F. Vicweg. 6 M. Valentin er, Prof. Dr. S., Die Grundlagen der Quanten- theorie. 2. Aufl. Ebenda. 3,60 M. Bley, Fr., Vom wehrhaften Raubwilde. Sieben Tier- geschichten. 4. Aufl. Leipzig '19, R. Voigtländer. Dcnnert, Prof. Dr. E., Der Staat als lebendiger Orga- nismus. Halle '20, E. Ed. Müller. 4,50 M. Löns, H. , Wasserjungfern. 10. Aufl. Leipzig '19, R. Voigtländer. 3,50 M. Laßwitz, K. , Empfundenes und Erkanntes. Aus dem Nachlaß. Leipzig, Elischer. 6,50 M. Win tele r, Dr. F., Die heutige industrielle Elektro- chemie. Zürich '19, Rascher & Co. 1,70 Fr. Illlialt: Konrad Guenther, Der wissenschaftliche Naturschutz. S. 193. Hugo Fischer, Das Problem der Kohlen- säuredUngung. (l Abb.) (Schluß.) S. 196. — Einzelberichte: Ernst Hof mann, Lebensweise der Raupen der Bläu- linge (Lycaenidae). S. 203. Werner Sunkel, Das Wohngebiet der Vögel. S. 204. A. Pictet, Das Ausschlüpfen des Schmetterlmgs aus der Puppe. S. 205. Der Elephant (F.lephas africanus Blbch.) von der Ausrottung bedroht. S. 205. Vermehrung des Wolfes. S. 206. — Bücherbesprechungen: W. Fricke, Schutzmaßnahmen bei bakteriologischen und serologischen Arbeiten. S. 206. C. Oppenheim er und O. Weiß, Grundriß der Physiologie für Studierende und Ärzte. S. 206. F. Exner, Vorlesungen über die physikalischen Grundlagen der Naturwissenschaften. S. 206. A. Hesse und H. Grossmann, Englands Handelskrieg und die chemische Industrie. S. 207. M. Oettli, Versuche mit lebenden Bakterien. S. 207. — Anregungen und Antworten: Mimikryhypothese. S. 207. Wasserlose Ernährung der Holzfresser. S. 20S. Vom Daumeurtügclchen. S. 20S. — Literatur: Liste. S. 2oS. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folee ig. Band; ■ ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 4. April 1920. Nummer 14. Der Stand der Chemie der alkoholischen Gärung. [Nachdruck verboten.] Während die Gärungsvorgänge selbst und ihre Anwendung zur Gewinnung berauschender Ge- tränke seit unvordenklichen Zeiten bekannt sind, ist das wichtigste Gärungsendprodukt, der Alko- hol, in reiner Form erst der neueren Zeit bekannt geworden. Nach Lippmann^) dürfte er erst im 1 1. Jahrhundert, wahrscheinlich in Italien, ent- deckt worden sein. Der Name Alkohol (arabisch = sehr feines Pulver) wurde im 16. Jahrhundert von Paracelsus eingeführt, dürfte aber erst seit Lavoisier zu allgemeiner Aufnahme gekom- men sein. Erst mit der wachsenden Bedeutung der Chemie als Wissenschaft ergab sich auch das Bedürfnis, für die technisch so geläufigen Erscheinungen der alkoholischen Gärung theoretische Grundlagen auf- zustellen. Mitscherlich nahm eine Kontakt- wirkung der Hefe auf den Zucker an, die von der Oberfläche der Hefe ausgehen sollte, ebenso wie etwa an der Oberfläche von Platinschwamm Wein- geist zu Essigsäure verbrennt. Berzelius sprach der Hefe eine katalytische Kraft zu, die den Zer- fall des Zuckers herbeiführen sollte. Liebig stellte fest, daß die alkoholische Gärung zu einer Reihe gleichartiger Erscheinungen gehört, die durch sehr leicht zerfallende stickstoffhaltige Stoffe, die P'ermente, hervorgerufen werden. Diese Fermente sollten die Eigentümlichkeit haben, daß die Zersetzung ihrer Moleküle sich sehr leicht auf benachbarte andersartige Moleküle überträgt und diese zum Zerfall bringt, etwa so wie z. B. das in Salpetersäure unlösliche Platin durch die Legierung mit Silber in Salpetersäure löslich wird. Knapp vor Aufstellung dieser sog. mecha- nistischen Theorie von Lieb ig führten die Untersuchungen von Cagniard de Latour, Schwann und K ü t z i n g zur Kennzeichnung der Hefe als eines niedrig organisierten pflanzenartigen Lebewesens. Durch Pasteur wurde die Ansicht begründet, daß der Zucker eine wichtige Rolle in der Lebenstätigkeit der Hefe spiele, und daß wir in den Gärungsendprodukten nur etwa die Abfallprodukte dieser Prozesse vor uns haben (vitalistische Theorie der Gärung). Einen ganz neuen Impuls von außerordentlicher Wirkung erhielt die Lehre von den chemischen Erscheinungen bei der Gärung durch die im Jahre 1897 gemachte Beobachtung Buchners, daß der Preßsaft der Hefe, obgleich frei von organi- Von Dr. Schwenk. ^) Lippmann, Vorträge und Abhandlungen 1913, Bd. 2, S. 203. sierter Substanz, also von Zellen, imstande ist, die Zuckergärung durchzuführen, unter den gleichen Bedingungen und mit dem gleichen Endergebnis, wie die Hefe selbst. Damit war nachgewiesen, daß es ein, zwar von der Hefezelle erzeugtes, aber nicht an sie gebundenes Ferment ist — Buchner nannte es Zyanase — das die Gärung hervor- ruft, ebenso wie das schon vorher in der Hefe gefundene Ferment Invertase die Zerlegung des Rohrzuckers in Traubenzucker und Frucht- zucker bewirkt. Darüber aber, wie das Hefenferment aus dem Traubenzucker Alkohol und Kohlensäure macht, war nichts bekannt, als die schon von Lavoisier im Jahre 18 15 veröffentlichte Tatsache, daß der Zerfall des Zuckers nach der Gleichung: i) QHj^Og^aCO., + 2C0H6OH erfolgt. Durch diese Gleichung stellt sich die alkoholische Gärung selbst als ein Teilvorgang des Prozesses dar, den man als den Kohlehydrat- stoffwechsel der Zelle bezeichnen kann und der mit der völligen Verbrennung der Kohlenhydrate zu Kohlensäure endet. 2) QHijOß + 6 Oo = 6 CO., + 6 H,,0. Aber der Zerfall des verhältnismäßig kom- pliziert gebauten Zuckermoleküls in die einfacher gebauten Moleküle von Alkohol und Kohlensäure drängt die Annahme auf, daß auch der Weg vom Zucker zu diesen Endprodukten der Gärung kein einfacher ist. C. Neuberg hatte es sich seit langem zur Aufgabe gemacht, die einzelnen Stufen dieses Abbaues festzustellen und die Produkte aufzusuchen, die sich als Zwischenprodukte bilden müssen. Verschiedene schon bekannte Tatsachen wiesen daraufhin, daß der Weg aus der Sechskohlenstoff- reihe des Zuckers zum Alkohol über Körper der DreikohlenstoffVeihe führen dürfte. So lassen sich die Hexosen (Zucker der Sechskohlensioffreihe) in die Milchsäure CoHgOg überführen. Weiter konnte E. Fischer, ausgehend von den Triosen (Drei- kohlenstoffzucker) z. B. Glyzerose (Glyzerinaldehyd CjHßOa, die Hexosen synthetisch gewinnen. Bei bakteriellen Prozessen, sowie bei ungenügender Sauerstoffzufuhr bei der Verbrennung im Tier- körper wird leicht aus dem Zucker Milchsäure ge- bildet. Ebenso baut der tierische Körper umge- kehrt aus Glyzerin und Glyzerose leicht Trauben- zucker auf. Durch verschiedene Untersuchungen war die allerdings in neuerer Zeit nicht mehr bestätigte Tatsache gefunden worden, daß die beiden Zucker aus der DreikohlenstoffVeihe Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 14 CH,.OH CHOH >H und CH,OH CO CHoOH 'O Glyzerinaldehyd Dioxyazeton, wenn auch schwer, zur Gärung zu bringen sind. Man war also durchaus berechtigt zu der An- nahme, daß des Rätsels Lösung in der Dreikohlen- stoffreihe zu suchen sei. Wie so oft, half auch hier ein Zufall auf den rechten Weg. Als C. Neuberg einmal Azeton mit Wasserstoffsuperoxyd oxydierte, um so Dioxy- azeton zu gewinnen, und die erhaltene Lösung der Einwirkung der Hefe unterwarf, zeigte sie eine beim Dioxyazeton noch nicht beobachtete, kräftige Gärung. Die sorgfältige Untersuchung der Reaktionslösung führte dann zur Feststellung, daß sich durch Oxydation des Azetons gar kein Dioxyazeton, sondern Brenzt raubensäure CH3 CHo CO oder COH I I COOH COOH gebildet hatte. ^) Dieser glückliche Versuch zeigte, daß die der Dreikohlenstoffreihe angehörige Brenz- traubensäure leicht unter dem Einfluß der Hefe unter Abspaltung von Kohlensäure zerfällt. Als zweites Spaltstück ließ sich Azetaldehyd nach- weisen, so daß der Zerfall der Brenztraubensäure dargestellt werden konnte durch die Gleichung 3) CHa.CO-COOH^CH.COH + CO.,. Das Azetaldehyd steht aber dem neben der Kohlensäure bei der alkoholischen Gärung ent- stehenden zweiten Spaltstück des Zuckers, dem Alkohol, chemisch sehr nahe. Geht doch der Aldehyd leicht durch Aufnahme von Wasserstoff in Alkohol über, eine Reaktion, die, wie wir noch sehen werden, ebenfalls von der Hefe geleistet werden kann. Mit der Brenztraubensäure war nach langem Suchen ein Körper gefunden, von dem einfache, im Wirkungsbereiche der Hefe liegende Reak- tionen zu denselben Endprodukten führen, wie sie bei der alkoholischen Gärung auftreten. Sollte die Vermutung tatsächlich gerechtfertigt sein, daß der Zerfall der Brenztraubensäure eine Rolle beim Abbau des Zuckers durch die Hefe spielt, so mußten zwei richtige Punkte aufgeklärt werden. Der erste ist der, ob und wie sich tat- sächlich Brenztraubensäure aus dem Zucker bildet, der zweite der Nachweis, daß auch bei der Zuckergärung, ebenso wie bei der Brenztrauben- säuregärung neben der in beiden Fällen nachge- wiesenen Kohlensäure auch Azetaldehyd als Zwischenstufe bei der Alkoholbildung zu beobach- ten ist. Was den ersten Punkt angeht, so ist bisher die Mühe vergebens gewesen. Es ist bisher nicht gelungen, in einwandfreier Weise im Gärexperi- ment Brenztraubensäure als Abbaustufe des Zuckers aufzufinden. Die während des Krieges veröffent- lichten .'\ngaben zweier französischer Forscher F e rn b a c h und S c h o e n konnten von N e u b e r g , nicht bestätigt werden, und die von ihnen ange- führten Tatsachen lassen vermuten, daß sie einer Täuschung zum Opfer gefallen sind. Wenn auch keine experimentellen Beweise dafür vorliegen, daß sich Brenztraubensäure aus dem Zucker bei der Gärung bildet, so ist doch diese Bildung durchaus im Bereich des Wahr- scheinlichen. Die schon vorhin als Abbauprodukt des Zuckers häufig erscheinende Milchsäure könnte durch Oxydation in Brenztraubensäure übergehen, und auch Glyzerinaldehyd sowie Methylglyoxal, beides Produkte, die in Brenztraubensäure über- gehen können, lassen sich leicht aus dem Zucker- molekül herleiten. Vom biologischen Standpunkte ist es wichtig auf die glatte Vergärbarkeit und die weitgehende Ungifiigkeit der Brenztrauben- säure gegenüber der Hefe hinzuweisen. Wenn nach dem Angeführten das Dunkel, das die Bildung der Brenztraubensäure aus dem Zucker verhüllt, noch nicht genügend aufgehellt erscheint, so ist dafür der Weg von dieser Säure zu den Endprodukten der alkoholischen Gärung durch die schönen Arbeiten Neubergs in um so helleres Licht gerückt worden. Die durch ihn gefundenen Tatsachen erlauben es in ihrer eleganten und folgerichtigen Entwicklung, sie als Stütze der ex- perimentell noch nicht bewiesenen Bildung der Brenztraubensäure aus dem Zucker anzusehen. Die Brenztraubensäure muß im allgemeinen als eine recht beständige Substanz bezeichnet werden. Die Abspaltung von Kohlensäure aus ihr kann der Chemiker erst bei verhältnismäßig hoher Temperatur erzielen. Um so bemerkens- werter ist deshalb die Leichtigkeit, mit welcher in dem oben angeführten Neubergschen Ver- such die Hefe bei gewöhnlicher Temperatur diesen Prozeß durchführt. Man muß dabei an den eigen- artigen Einfluß der Enzyme (Fermente) auf ge- wisse sonst schwer durchführbare Vorgänge den- ken, und tatsächlich gelang es Neuberg bald zu zeigen, daß die Hefe einen Stoff enthalten muß, der Brenztraubensäure leicht zur Gärung bringt, Zucker aber unberührt läßt. Weitere Tatsachen drängten zur Annahme, daß das Enzym der alkoholischen Gärung nicht einheitlich ist, sondern sich aus einem Komplex von Enzymen zusam- mensetzt, deren eines auf die Aufgabe einge- stellt ist, Brenztraubensäure in Azetaldehyd und Kohlensäure zu zerlegen. Dieses Enzym nannte Neuberg Karbox ylase, und bald fand er die überraschende Tatsache, daß durch die Karboxy- lase nicht nur die Brenztraubensäure, sondern alle darauf untersuchten Säuren der Formel R. CO -COOH, die «-Ketokarbonsäuren unter Kohlensäureabspal- tung, zerlegt werden. Als zweites Spaltstück ließ Neuberg u. Mitarbeiter, Bioch. Z. igii — 1912. N. F. XIX. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. sich immer der um ein C-Atom ärmere Aldehyd nachweisen. Schließlich gelang es Neuberg, das Enzym aus der Hefe, wenn auch noch durch neutrale Körper verunreinigt, abzuscheiden. In der Karboxylase war zum ersten Male ein Enzym bekanntgeworden, das die Bindung zwi- schen zwei C-Atomen zu zerreißen imstande ist, während alle anderen Fermente, entweder wie die Fettspalter Kohlenstoff- Sauerstoff- oder wie die Eiweißpalter Kohlenstoff- Stickstoff bindungen auflösen. Überall, wo eine Zerlegung von Zucker statt- findet, ließ sich auch Karboxylase nachweisen, eine Tatsache, die darauf hindeutet, daß dieses Enzym eine wichtige Rolle, bei der Zerlegung des Zuckers spielt. Es stimmt damit überein, daß die Zer- legung der Brenztraubensäure etwa 2000 mal so schnell vor sich geht wie die Zuckergärung, was ja von einer Teilreaktion zu erwarten war. Bei der alkoholischen Gärung war bisher noch niemals Azetaldehyd in größeren Mengen gefunden worden. Man mußte deshalb in folgerichtiger Vertretung der Brenztraubensäurehypothese an- nehmen, daß der als Zwischenprodukt bei der normalen Gärung entstehende Aldehyd gleich weiter zu Alkohol reduziert wird. Im Jahre 191 1 fanden nun Li ntn er u. Liebig, i) daß arbeitende Hefe das Furfurol (den Aldehyd des Furans) leicht zu dem entsprechenden Alkohol, dem P'ur- furalkohol, reduziert. Neuberg, der die Trag- weite dieser wichtigen Reaktion gleich erkannte, übertrug sie auf andere Aldehyde und konnte feststellen, daß diese stets leicht in die zuge- hörigen Alkohole übergeführt wurden; ja die Reduktionskraft der Hefe erwies sich auch als geeignet, die Reduktion anderer, der Hefe völlig fremder Stoffe durchzuführen, wie z. B. der aro- matischen Nitrokörper, der Disulfide u. a. m. Diese Untersuchungen klärten auch die Rolle einiger Nebenprodukte der alkoholischen Gärung auf, mit denen man lange Zeit nichts anzufangen wußte. Im Jahre 1909 hatte F. Ehrlich") fest- gestellt, daß die Aminosäuren des Eiweißes bei der Gärung nach dem folgenden Schema zer- fallen : R-CHNH^.COOH + H.,0 -> R-OH^OH + CO., + NH3 und daß so die sog. Fuselöle entstehen. Neubergs Feststellungen erlaubten es, diesen Prozeß näher aufzuklären, und man darf annehmen, daß zuerst unter Abspaltung von NH., (Ammoniak), das die Hefe zum Aufbau ihrer Eiweißsubstanz verwendet, aus den Aminosäuren «Ketokarbon- säuren entstehen, 4) R-CH-NH^.COOH + O^R-CO-COOH + NHa die unter dem Einfluß der Hefe der Spaltung durch die Karboxylase anheimfallen. Die so ent- ') Z. f. physiol. Chemie 191 1, ^) Biochem. Z. 1906, 11, 52. stehenden Aldehyde werden gleich von der Hefe zu Alkoholen reduziert, und die Gesamtheit dieser aus den Aminosäuren entstehenden Alkohole bildet das Fuselöl. Mit dieser Erklärung der Bildungs- weise stimmt es überein, daß man durch Zufügung von Aminosäuren zum Gärgemisch leicht eine be- deutende Vermehrung der Menge des Fuselöles herbeiführen kann.') Wir haben schon darauf hingewiesen, daß es bisher nicht gelungen ist, die Brenztraubensäure als Zwischenprodukt der alkoholischen Gärung zu fassen. Umso glücklicher warNeuberg bei der Aufsuchung der Abbaustufen der Brenztrauben- säure. Er ging dabei von der Überlegung aus, daß es möglich sein müßte, durch Zusätze die bei der natürlichen Gärung unter dem Einflüsse der Hefenenzyme eintretenden Prozesse so aus ihrem gewöhnlichen Wege abzulenken, daß ein Abfangen der sich dabei bildenden Zwischenprodukte ein- treten könnte. Als solche Zusätze wählte er in erster Linie schwach alkalisch reagierende Sub- stanzen, in Anlehnung an eine von ihm schon früher festgestellte merkwürdige Einwirkung sol- cher Stoffe auf die Zuckerarten. Sie fuhren näm- lich schon bei geringer Konzentration, also unter gemäßigten Bedingungen, zur Bildung eines Körpers der Dreikohlenstoffreihe, der in sehr naher Be- ziehung insbesondere zur Brenztraubensäure steht. Dieser Körper ist das CH3 CH, I II " CO oder COH I I CHO CHO Methylglyoxal. Durch Oxydation geht es in Brenztraubensäure über und durch Aufnahme der Elemente des Wassers in den Glyzerinaldehyd, einen Zucker der Dreikohlenstoffreihe, der, wie wir schon gesehen haben, frühzeitig mit der Gärung in Verbindung gebracht worden war. Die Voraussetzungen Neubergs bestätigten sich bald. Als er nämlich die Gärung bei einem Zusatz von sog. neutralen Sulfit (das aber tatsäch- lich alkalisch reagiert) vor sich gehen ließ, zeigte es sich, daß zwar wie sonst bei Gärungen Kohlen- säure und Alkohol entstanden, aber in bedeutend geringeren Mengen als sonst bei normalem Ver- lauf. Dagegen ließ sich aber bald feststellen, daß die ausgegorene Maische große Mengen Azet- aldehyd in Form der Bisulfitverbindung enthielt. Damit war endlich der Azetaldehyd als Zwi- schenprodukt bei der alkoholischen Gärung nach- gewiesen und der Brenztraubensäurehypothese eine wichtige Stütze gegeben. Die höchste Menge Aldehyd, die so erhalten wurde, betrug 17,95 "/o des angewandten Zuckergewichtes. Zu einer Wer- ') Nach Neuberg u. Ringer (Biochem. Z. 1915, 71, 226) entsteht auch die als Nebeoprodukt der Gärung stets vorhandene Bernsteinsäure auf einem ähnlichen Weg aus einem Eiweiflabbauprodukt, der Glutaminsäure. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 14 Hing dieser Zahl gelangen wir, wenn wir uns die Gleichung betrachten, die den Bildungsvorgang des Aldehyds aus dem Zucker darstellt. Während nach der La voisi ersehen Gleichung 51% Al- kohol und 49 "/o Kohlensäure entstehen, zeigt uns die neue Reaktion folgendes Bild.^) 5) QH,,0« = C0., + CH3CH0 + {^'^«JH, 180 44 44 92 Trauben- Kohlen- zucker säure Azetaldehyd ? Es müßten also 24,4 "/(, vom Zuckergewicht an Azetaldehyd entstehen. Die vorhin angegebene Zahl zeigt uns, daß 73,45 "0 der theoretisch ge- forderten Menge auch wirklich aufgefunden wurden. Daß nicht die volle theoretische Zahl erreicht werden konnte, hängt damit zusammen, daß neben den durch den Sulfitzusatz verursachten Prozessen noch immer zum kleineren Teil die normalen Gärungsvorgänge nebenbei ablaufen und dadurch der Festhaltung des Aldehyds eine Grenze ge- setzt wird. Nach der N eub er g sehen Annahme wird der bei der normalen Gärung ebenfalls als Zwischen- stufe entstehende Azetaldehyd gleich weiter zum Alkohol reduziert; 6) CH3CHO + H., = CH3CH3OH Azet Wasser- aldehyd Stoff Alkohol. Der für diese Reduktion sonst aufgewendete Wasserstoff ließ sich bei der Sulfitgärung nicht nachweisen. Er mußte also anderweitig ver- wendet worden sein. Für die Herleitung der Brenztraubensäure und damit des Azetaldehyds ist nur die eine Hälfte des Zuckermoleküls nötig, und die Überlegung lag nicht ferne, daß der ver- fügbar werdende Wasserstoff von der zweiten Zuckerhälfte aufgenommen werde. Eine ein- gehende Untersuchung der Sulfitgärungsmaischen ergab die bedeutungsvolle Tatsache, daß größere Mengen von Glyzerin aufgefunden wurden, so daß die oben angeführte Gleichung für die Sulfitgärung die Form annehmen mußte: QHi^O« = CO2 + CH3CHO 1 80 44 44 Zucker Kohlensäure Azetaldehyd + CH20H.CHOH.CH20H 92 _ Glyzerin. Über die Vorstufe des Glyzerins wissen wir nichts Näheres. Schon in seinem 191 3 veröffent- lichten Gärungsschema hatte Neuberg-) auf die Möglichkeit hingewiesen, daß dem schon erwähnten Methylglyoxal eine wichtige Rolle unter den Zwischenprodukten der Gärung zukomme. Einerseits läßt sich das Zuckermolekül aufgebaut denken aus zwei Molekülen Methylglyoxal, anderer- seits ist der Übergang von diesem zur Brenz- traubensäure, wie wir schon hervorgehoben haben, leicht verständlich. Die Bildung des Glyzerins aus dem Methylglyoxal ist aber auch im Bereich des Möglichen. Durch Wasseraufnahme könnte es in Glyzerinaldehyd übergehen, und dieses gibt durch Aufnahme von Wasserstoff das Glyzerin. Der letzte Vorgang, die Reduktion des Glyzerin- aldehyds zum Glyzerin, wäre dann die Aufgabe, die bei der Sulfitgärung dem Wasserstoff zufällt, der bei der normalen Gärung den Azetaldehyd zu Alkohol reduziert. Wenn die theoretischen Voraussetzungen zutrafen, so mußten die entstehenden Stoffe in der Maischen in dem Verhältnis anzutreffen sein, wie es die zuletzt gegebene Gleichung verlangt. Nach dieser mußte sich etwa doppelt so viel Glyzerin bilden als Azetaldehyd, und dieses Gewichtsverhältnis fanden Neuberg u. Reinfurth') fast genau, denn sie konnten feststellen, daß bis zu 35,06 "/^ Glyzerin vom Zuckergewicht entstanden waren, während, wie schon oben bemerkt, an Azetaldehyd 17,95 "/„ gefunden wurde. Die theoretischen Voraussetzungen waren also durch das Experiment in jeder Weise bestätigt worden und hatten gleichzeitig gezeigt, daß das bei der normalen Gärung stets bis zu etwa 3 ",0 vom Zuckergewicht entstehende Glyzerin wahr- scheinlich nicht, wie man bisher meistens annahm, aus dem Fett oder den Eiweißkörpern der Hefe entsteht, sondern aus dem Zucker als Nebenpro- dukt der Gärung. Einen ganz anderen Verlauf des Gärvorganges konnten Neuberg u. Hirsch") feststellen, als sie die Gärung unter Zusatz von doppelt kohlen- sauren Natron (Natriumbikarbonat) ablaufen ließen. Auch in diesem F'alle wurde Azetaldehyd in der Maische aufgefunden. Aber nach einiger Zeit ver- schwand er wieder und die Untersuchung der schließlich erhaltenen ausgegorenen Maische er- gab die Gegenwart von nur geringen Mengen Aldehyd. Dagegen konnten größere Mengen Gly- zerin und vor allem Essigsäure nachgewiesen werden. Die Essigsäure konnte aber nicht durch Oxydation aus dem Alkohol oder dem Azet- aldehyd entstanden sein, da der ganze Vorgang unter Ausschluß des Sauerstoffs vor sich geht. Neuberg nimmt an, daß sich die Essigsäure zwar aus dem Azetaldehyd bildet, aber nicht durch Oxydation, sondern in der folgenden Weise : ^) ') Die unter die Kormeln gestellten Zahlen sind die Mole- kulargewichte und geben in dieser wie in den folgenden Gleichungen die Gewichismengen der reagierenden und der entstehenden Stoffe. ') Abderhalden, Handbuch d. Biochemie, Ergänzungs- band 1913, S. 569. ') Biochem. Z. 1919, 92, 234. '■') Biochem. Z. 1919, 90, 175. ■') Auf einer ähnlichen Umwandlung des Methylglyoxals dürfte nach Neuberg auch die Bildung der Milchsäure, eines anderen Nebenprodukts der alkoholischen Gärung, beruhen. CH3 UH3 Methylglyoxal CO + II. -> CHOH Milchsäure N. F. XIX. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 213 CH3CHO H„ CHsCHoOH Alkohol + r = CH3CHO 0 CH3COOH Essigsäure Azetaldehyd Wasser Die Gärungsgleichung nimmt in diesem Fall die folgende Form an : 2 C^HioOe + H„0 = 2 CgHgOs + 2 CO., 36Ö 18 184 88 Zucker Wasser Glyzerin Kohlen- säure + CH.,CH,OH + CH3COOH 46 60 Alkohol Essigsäure Es muß etwa dreimal so viel Glyzerin als Essig- säure entstehen. Auch dieses Verhältnis könnte in allen Stadien der Gärung bestätigt werden. Die im Vorangehenden besprochenen Unter- suchungen ermöglichen es, die von Lavoisier angegebene Gärungsgleichung zu vertiefen. Sie nimmt dann die folgende Form an: I. V2QH,.,0« = CH3COCOOH + H, Zucker Brenztraubensäure Wasserstoff II. CHgCOCOOH = CH3CHO + CO., Brenztraubensäure Azetaldehyd Kohlensäure III. CH3CHO + H., ^ CH^CaOH Azetaldehyd Wasserstoff Alkohol Die Entstehung der Nebenprodukte Glyzerin, Bernsteinsäure, Essigsäure, Milchsäure, sowie der Fuselöle ist denjenigen Reaktionen zu verdanken, die bei der Sulfit- oder der Bikarbonatgärung zu Hauptreaktionen werden, sonst aber nur eine ge- ringfügige Rolle spielen. Schließlich sei noch bemerkt, daß die hier behandelten Reaktionen neuerdings auch industriell verwertet werden. Ohne daß die oben besprochenen Arbeiten Neubergs ihnen be- kannt gewesen wären, haben Connstein u. Lud ecke (Be- richte d. d. ehem. Ges. 1919) Versuche unternommen, um die Ausbeute an Glyzerin bei der Alkoholgärung durch Zusatz von Salzen zu erhöhen, und so dem bei den Mittelmächten während des Krieges herrschenden Glyzerinmangel zu begegnen. Es gelang ihnen, im Großbetrieb bei Zusatz von Natriumsulfit zur Maische 20 — 25 ^/^ Glyzerin vom Gewichte des Zuckers zu ge- winnen. Auch in Amerika, wo dieser Erfolg der deutschen Chemiker bekanntgeworden war, wurden ähnliche Erfahrungen bei der Gärung unter Zusatz von Bikarbonat gemacht. Die Ausbeuten an Glyzerin waren aber viel geringer als die in Deutschland erhaltenen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß die Herstel- lung des Spiritus aus den bei der Papierfabrikation abfallen- den Sulfitlaugen ebenfalls durch Gärung einer sultithaltigen Maische erfolgt. Der entstehende Sprit enthält immer kleinere Mengen Aldehyd, deren Herkunft durch die oben behandelten Vorgänge erklärt werden muß. Der Gesang der Vögel iiud seine Darstellung in der Musik. Von Dr. Margot Riess. [Nachdruck verboten.] Das Phänomen des Vogelgesanges hat nicht nur den P'achzoologen, sondern auch Forscher be- schäftigt, die den sonstigen Erscheinungen der organischen Natur fremder gegenüberstehen. Denn es bietet ja sowohl vom tierpsychologischen als vom biologischen, vererbungswissenschaftlichen und rein musikalischen Standpunkte aus eine Fülle interessanter Probleme, die alle mehr oder weniger ineinandergreifen. Um das Phänomen in seiner ganzen Bedeutung zu fassen, ist zuvor auch kurz auf die anatomischen Grundlagen ein- zugehen, die diese Erscheinung bedingen. Was das Stimmorgan der Vögel von dem aller übrigen Wirbeltiere in so auffallender Weise unterscheidet, ist die Existenz eines zweiten Kehlkopfes, des sog. Syrinx, der allgemein als Neuerwerbung in der Reihe der Vögel aufgefaßt wird, wenn sich auch schon bei einigen Reptilien, nämlich Schild- kröten, ein etwas ähnliches Verhalten zeigt. Der Larynx, das dem Kehlkopf der anderen Wirbel- tiere homologe Organ, der an der gewöhnlichen Stelle hinter der Zunge am Boden der Mundhöhle gelegen ist, macht einen durchaus rudimentären Eindruck; er ist, da er der Stimmbänder entbehrt, keiner Lauterzeugung fähig und dient nur als Passage für die Respirationsluft. Der Syrinx da- gegen stellt eine bewegliche, unter der Herrschaft einer oft äußerst komplizierten Mtiskulatur stehende Verbindung der obersten Broiichialringe dar und hat die Aufgabe, elastische, schwingungsfähige, Membranen zu spannen, bzw. zu entspannen. Wichtig ist ferner seine Lage an der Gabelungs- stelle der Trachea in die Bronchien, da dadurch die lange Trachea mit ihren glatten, festen und dabei elastischen Wandungen nach Art des An- satzrohres von Musikinstrum.enten tonerhöhend- oder- vertiefend wirken kann und als solches auch an der Klangfarbe der hervorgebrachten Töne mit- beteiligt ist. Der sexuelle Dimorphismus äußert sich anatomisch darin, daß beim Weibchen das Stimmorgan auf einem weniger differenzierten Zu- stand in der Entwicklung stehen geblieben ist: es besitzt ein geringeres Volumen, einen primiti- veren Bau der Skelettstücke und schwächere Muskulatur, zeigt also vornehmlich graduelle Unter- schiede, wodurch an sich nur die verschiedene Tonfülle der Geschlechter erklärbar ist. Aus der Tatsache nun, daß der eigentliche Gesang doch meist überhaupt den Männchen vorbehalten ist, ferner aus der Beobachtung, daß die Differenzie- rung der Syrinxmuskulatur nicht, wie man an- nehmen könnte, der Modulationsfähigkeit der Stimme unbedingt proportional ist — es zeigen z. B. die stimmbegabten drosselartigen Vögel eine weniger weitgehende Differenzierung als die raben- artigen — ergibt sich, daß hinsichtlich des spezi- fischen Ausbildungsgrades des Gesanges noch an- dere Momente eine ausschlaggebende Rolle spielen müssen, und hier kommen nun — abgesehen von untergeordneten weiteren anatomischen Merk- 214 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 14 malen — vorwiegend psychische Eigenschaften zur Geltung. Die tierpsychologische Seite des Problems des Vogelgesanges hat seit Darwin eine Reihe von Forschern beschäftigt, und es stehen sich noch heute verschiedene Theorien gegenüber, die dem Versuche dienen, die Er- scheinung ihren genetischen oder momentanen Ursachen nach zu erklären. Daß der Gesang der Vögel mit ihrem sexuellen Leben in innigstem Zusammenhange steht, geht schon aus der allbe- kannten Tatsache hervor, daß die Hauptperiode des Singens mit der Zeit der Paarung zusammen- fällt, und daß kastrierte Vögel ihre Singfähigkeit meist mehr oder weniger verlieren. Ferner zeigt es sich, daß auffallende lockende Farben und aus- gebildeter Gesang meist kompensatorisch für- einander eintreten ; so sind die vollkommensten Sänger, wie Nachtigallen und Sprosser, unschein- bar gefärbt, und die Singfähigkeit der farben- prächtigen Tropenvögel reicht nach dem Urteil der meisten Beobachter gewöhnlich nicht an- nähernd an die unserer heimischen Sänger heran. Auch ist vielfach darauf hingewiesen worden, daß der Gesang eine Rolle beim Zustandekommen der geschlechtlichen Erregung vor der eigentlichen Paarung spielt. So ist es naheliegend, den Ge- sang der Vögel aus dem Lock- bzw. Paarungsruf abzuleiten und mit Darwin anzunehmen, die Ausbildung desselben zu mehr oder weniger voll- kommenem Gesänge wäre auf sexuelle Auslese zurückzuführen. Die Beobachtung aber, daß viele Vögel ihren Gesang auch über die Paarungszeit hinaus fortsetzen — man kennt Sommer , Herbst- und Wintergesang — daß ferner die Vögel auch in der Einsamkeit singen, ohne Rücksicht darauf, ob sie von anderen Vögeln gehört werden oder nicht, weist auf die Notwendigkeit hin, noch andere treibende Ursachen für die Entstehung bzw. Ent- wicklung des Gesanges zu suchen, die über den biologischen Zweck der Arterhaltung hinausragen. So vertritt z. B. Spencer die Auffassung, daß der Gesang der Vögel keine Bewerbungserschei- nung darstelle, sondern lediglich Ausdruck eines Spieltriebes sei, der aus überströmender Lebens- energie des Tieres entspringt, eine Ansicht, in der wohl der Einfluß Schillers erkennbar ist, der den Ursprung der ästhetischen Gefühle aus dem Spieltrieb herleitet. Andere Forscher, die sich der Spenc ersehen Auffassung anschlössen, wie z. B. Groß, haben ferner noch das Moment der Vor- und Einübung als wichtig bei dem spielenden Gesänge hervorgehoben. Denn, wenn auch eine Vererbung des Singinstinktes vor- handen ist, so ist es doch nicht anzunehmen, daß ein Vogel von vornherein befähigt ist, den für seine Art typischen, oft so vollkommenen Gesang anzustimmen, und so gewinnt das spielende, durch Kraftüberschuß motivierte Singen außer der Bedeutung als Befriedigung eines allgemeinen Tätigkeitsdranges noch den Sinn der allmählichen Erlernung des eigentlichen Gesanges und der Aus- bildung der Stimme. Jedenfalls gilt von den ver- schiedenen Theorien, von denen die eine mehr die Macht der ererbten Instinkte, die andere die der erworbenen Fähigkeiten betont, daß wohl keine für sich allein ausreicht, sondern daß sich die Ansichten der verschiedenen Forscher ergänzen müssen, um die Harmonie zwischen biologischer und psychologischer Bedeutung, die hier zutage tritt, zu begreifen. Was nun den Gesang der Vögel auch für den Musiker zu einem anziehenden Problem macht, ist die ganz überraschende Übereinstimmung der Elemente, aus denen er sich aufbaut, mit denen der menschlichen Tonkunst. Abgesehen von der mannigfaltigen Ausdrucksmöglichkeit einer Vogel- kehle lassen sich in den Liedern der besten Sänger wie der Singdrosseln, Nachtigallen, Sprosser direkte Gesetzmäßigkeiten von Intervallbildung, Rhythmi- sierung, Tempo und Dynamik nachweisen und in unserem Notensystem zum Ausdruck bringen. Natürlich ist dabei in Betracht zu ziehen, daß die Bestimmung der Weisen einerseits durch unser künstliches Tonsystem erschwert wird, andererseits durch die sehr hohe Stimmlage, in der sich der Gesang der meisten Vögel bewegt (es ist gewöhn- lich die dreigestrichene Oktave), sowie den raschen Wechsel der Klangfarbe und die Untermischung mit unreinen Tönen. Trotzdem ist es vielfach Musikern gelungen, einzelne Motive oder auch ganze Gesänge von Vögeln nicht nur in Noten- schrift zu verdeutlichen, sondern auch klar er- kennbar in ihren Kompositionen zu verwerten. Das Nächstliegende war, die sich in einfachen Intervallen bewegenden Rufe des Kuckucks und Pirols darzustellen, die ja auch (besonders der Kuckucksrut) seit dem Sommerkanon des Mönchs Fornsete vom i^. Jahrhundert in zahllosen Kom- positionen verwendet worden sind, wobei interessant ist, daß sich nicht alle Komponisten an die ab- steigende große oder kleineTerz der zweigestrichenen Oktave gehalten haben, in der der Kuckucksruf für gewöhnlich erklingt. L^berhaupt gilt wohl von den meisten Vogelstimmen, die in Kompositionen Verwertung gefunden haben, daß sie von den Komponisten ganz bewußt verändert worden sind, um sie dem jeweiligen Charakter der Stelle des Musikstückes anzupassen, und daß es auf ein direktes Nachahmen der Naturstimmen wohl den wenigsten Musikern ankam. So hat Beethoven im 2. Satz seiner Pastorale außer den fraglos wiederzuerkennenden, durch Holzblasinstrumente dargestellten Stimmen von Nachtigall, Wachtel und Kuckuck auch in freier Weise das ausdrucks- volle Motiv des Rotkehlchens verwendet, das hier weniger an den eigentlichen Intervallen als viel- mehr der Richtung ihrer Aufeinanderfolge, ihrer relativ engen Lage und dem charakteristischen Rhythmus wiederzuerkennen ist. Auch die Triolen der Kohlmeise im 3. Satz hat Beethoven in toinnalerischer Absicht verwendet, die später auch von Brückner im 1. Satz seiner Romantischen Symphonie in sehr freier Weise, aber doch wieder- erkennbar, dargestellt wurden. Eine mehr realistische N. F. XIX. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 215 Darstelhing von Vogelstimmen gestattet natur- gemäß das Gebiet der Oper, und so finden wir ja auch die beriihmteste Verwertung von Stimmen der Vögel in der Musik bei Wagner, der im 2. Akt des Siegfried dem Gesang der Waldvögel eine bedeutende Rolle zuerteilt : durch Flöte, Oboe und Klarinette werden hier fünf Vogelmotive mit größter Naturwahrheit dargestellt, die sich dabei aufs vollkommenste der Stimmung der ganzen Szene anpassen : es sind die wohlcharakterisierten Stimmen von Pirol, Goldammer, Baumpieper, Nachtigall und vor allem der Schwarzamsel. — Die Zahl der Beispiele, die zeigen, daß Musiker von jeher ein offenes Ohr für die musikalische Schönheit einzelner Vogelstimmen hatten und sie in ihren Kompositionen, sei es in allgemein ton- malerischer Absicht oder zur Illustration be- stimmter Szenen verwendet haben, ließe sich natürlich noch häufen, es sei hier nur an die Namen Löwe, Schubert, Weber, Haydn erinnert. Auf einem anderen Blatt dagegen stehen die Fälle, in denen es sich um ganz unbewußte Assoziationen handelt, die den Künstlern bei der Entstehung ihrer Kompositionen gekommen sein mögen; hier (wie es vielfach geschieht) nach Nachahmungstendenzen zu spüren, wo gar keine vorliegen, ist unangebracht. So ist es gewiß ver- fehlt, in solch einer genialen Konzeption wie dem Anfangsmotiv der C-MoUSymphonie von Beet- hoven, das nach seinen eigenen Worten das an die Pforte pochende Schicksal verdeutlichen soll, die Wiedergabe einer Vogelstimme erkennen zu wollen, wenn auch die rhythmische Ähnlichkeit mit dem Gartenammermotiv besteht, ebenso wie es sinnlos ist, bei Mozarts Bevorzugung der Terzgänge jedesmal bei ganz entferntem geistigen Inhalt den Kuckucksruf heraushören zu wollen. Überhaupt ist ja die Frage nach der Verwendung der Vogelstimmen in der menschlichen Tonkunst von untergeordneter Bedeutung gegenüber den großen Gesichtspunkten, die sich aus der Be- trachtung] des Phänomens des Vogelgesanges an sich ergeben. Man kann diesem ja auch einen gewissen künstlerischen Eigenwert zuerkennen, sofern man jede Betätigung, die über die zweck- haften Bedürfnisse der Kreatur hinausreicht, künstlerisch nennen will — ohne daß man deshalb so weit zu gehen braucht, der vielfach vertretenen Ansicht beizustimmen, die nun die Wurzeln auch der menschlichen Kunst in das Tierreich verlegt wissen will. [Flachdruck verboten/ Äufgabeu uud Ziele des praktischen Pflanzeuschutzes. Von Dr. F. Esmarch-Bonn. Daß unsere Haustiere von manchen mehr oder weniger gefährlichen Krankheiten befallen werden können und darum eine sachgemäße Tierpflege und gegebenenfalls die Inanspruchnahme des Tier- arztes nötig ist, ist auch dem, den natürlichen Verhältnissen entwöhnten Großstädter bekannt. der Rheinprovinz infolge des starken Brandbefalles um ungefähr 30 000 t herabgesetzt; das entspricht einem Verlust von ca. 15 Millionen Mark. Im ganzen kann der der deutschen Landwirt- schaft durch Pflanzenkrankheiten zu- gefügte Schaden auf jährlich i — 2Milli- Nicht so allgemein bekannt dagegen ist es, daß arden Mark (nach heutigem Geldwert) geschätzt auch unsere Kulturpflanzen ihre Krankheiten werden. haben, und doch ist die volkswirtschaftliche Be- deutung der Pflanzenkrankheiten nicht geringer als die der Tierkrankheiten. Wir finden solche Krankheiten bei fast allen unseren Kulturpflanzen. So haben wir z. B. beim Ge- treide Brand, Rost, Schneeschimmel und andere Pilzkrankheiten, ferner Fritfliegen- und Nematoden- befall, bei der Kartoffel Krautfäule, Schwarz- beinigkeit, Krebs, Blattrollkrankheit, beim Obst Derartige Verluste fallen heutzutage besonders schwer ins Gewicht. Vor dem Kriege konnte Deutschland einen großen Teil seines Lebens- mittelbedarfs durch Einfuhr aus dem Auslande decken. Jetzt ist das nicht mehr oder jedenfalls nicht in demselben Maße möglich, weil einerseits die deutsche Valuta einen außerordentlich niedrigen Stand hat, und andererseits die Transportmöglich- keiten beschränkt sind. Deutschland ist vielmehr den Polsterschimmel (Monilia), Grind oder Schorf im wesentlichen darauf angewiesen, seine Be- (Fusicladium), sowie Schädigungen durch Raupen, Blattläuse, Blutlaus usw., beim Wein den Mehl- tau, Traubenwickler, Reblaus u. a. Weiter gehört der durch Vogelfraß, Mäuse, Schnecken an ver- schiedenen Pflanzen hervorgerufene Schaden hier- her. Mit der einen oder anderen von diesen Krankheiten hat wohl jeder Landwirt oder Garten- besitzer schon unliebsame Bekanntschaft gemacht. Nur wenige aber dürften sich darüber klar sein, wie groß der gesamte durch Pflanzenkrankheiten und Schädlinge bewirkte Ernteausfall ist. So wurde im vorigen Jahre z. B. die Weizenernte in völkerung durch inländische Produktion zu er- nähren. Damit erwächst für die deutsche Land- wirtschaft die Aufgabe, dem Boden weit höhere Erträge abzugewinnen als bisher. Zum Teil wird dies durch intensivere Bewirtschaftung zu erreichen sein, die ja während der Kriegsjahre aus Mangel an Arbeitskräften, Düngemitteln usw. nicht immer möglich war. Vor allem aber müssen die Krankheiten und Schädlinge unserer Kulturpflanzen energisch bekämpft werden. Im Grunde ist diese Forderung nicht neu. 2l6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 14 Sie ist bereits in den 80 er Jahren von weit- blickenden Volkswirtschaftlern erhoben worden, und seit 20 Jahren versucht der Pflanzenschutz, sie durchzuführen. Diese Bestrebungen haben aber bisher nicht die Anerkennung gefunden, auf die sie nach ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung An- spruch haben. Sowohl weite Kreise der Landwirt- schaft als auch maßgebende Regierungsstellen stehen ihnen teilnahmlos oder ablehnend gegen- über. Auch unter den Lesern dieser Zeitschrift dürfte es viele geben, die von dem Pflanzenschutz nur eine recht unbestimmte Vorstellung haben. Es soll daher meine Aufgabe sein, sie im folgenden kurz mit den Aufgaben und Zielen des Pflanzen- schutzes bekannt zu machen. Eine erfolgreiche Bekämpfung der Pflanzen- krankheiten ist nur möglich, wenn ihre Ursachen und Entwicklungsbedingungen bekannt sind. Diese Grundlage zu schaffen, ist Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung, der Phyto- pathologie. Das erste deutsche Forschungs- institut dieser Art war die Biologische Reichsanstalt für Land- und Forstwirt- schaft in Berlin-Dahlem, die 1897 be- gründet wurde. 10 Jahre später entstand das Kaiser- Wilhel m -I nsti tu t für Landwirt- schaft in Bromberg mit einer besonderen Abteilung für Pflanzenkrankheiten. Weitere, aus- schließlich der Phytopathologie dienende For- schungsinstitute sind seitdem nicht errichtet worden. Es gibt aber eine Reihe von Anstalten, die neben anderen wissenschaftlichen oder praktischen Aufgaben auch die Erforschung der Pflanzenkrankheiten in den Bereich ihrer Tätigkeit gezogen haben, so z. B. die Agtikulturbotanische Anstalt in IVlünchen, die Württembergische Landesanstalt für Pflanzenschutz in Hohen- heim, die Landwirtschaftliche Versuchsanstalt Augustenberg (Baden), die Pflanzenschutzstelle der Landwirtschaftlichen Hochschule in Bonn u.a. Die Zahl der phytopathologischen Forschungs- institute ist also nicht groß, sie entspricht jeden- falls bei weitem nicht der Bedeutung und Zahl der zu lösenden Aufgaben. Wie bescheiden unsere Einrichtungen sind, sieht man besonders deutlich, wenn man einen Blick auf andere Länder wirft. Besonders die Vereinigten Staaten sind uns in dieser Beziehung weit voraus. Amerika besitzt eine ganze Anzahl von Instituten, die nur für die Erforschung der Pflanzenkrankheiten bestimmt sind. Sie werden vom Staate reichlich unterstützt und konnten daher sowohl der Wissenschaft als auch der Praxis bereits hervorragende Dienste leisten. Der praktische Amerikaner hat eben die volkswirtschaftliche Bedeutung des Pflanzenschutzes richtig eingeschätzt und ihn von vornherein groß- zügig organisiert. Auch während der Kriegsjahre ist dort keine Stockung in dem fortschreitenden Ausbau des Pflanzenschutzes eingetreten. Aber selbst kleinere Länder wie Dänemark, Schwe- den, Holland sind uns auf diesem Gebiete vorausgeeilt. Das ergibt sich u. a. daraus, daß diese Länder schon seit längerer Zeit Profes- suren für Phytopathologie eingerichtet haben, die bei uns immer noch fehlen. Es wird somit in Deutschland nur an wenigen Stätten an der Erforschung der Pflanzenkrankheiten gearbeitet, und eine Vermehrung ihrer Zahl gehört zu den dringendsten Aufgaben der nächsten Zukunft. Trotzdem sind auf diesem Gebiete Leistungen vollbracht worden, die sich den Leistungen der ausländischen Fachgenossen würdig an die Seite stellen. Die wichtigsten Pflanzenkrankheiten sind uns heute in ihren Ursachen und Entwicklungsbe- dingungen bekannt. Auf dieser Grundlage sind dann in fruchtbarem Zusammenarbeiten mit der Praxis die Mittel zu ihrer Bekämpfung erprobt worden. Im Vordergrund des Interesses standen von jeher die Krankheiten unserer landwirschaft- lichen Kulturpflanzen, und hier können wir in der Mehrzahl der Fälle Bekämpfungsmittel an- geben, die bei richtiger und rechtzeitiger An- wendung stets von Erfolg sind. Wir unterscheiden eine direkte Bekämpfung der Krankheitserreger und Schädlinge durch mechanische oder chemische Mittel und eine indirekte durch Durchführung gewisser Vorbeugungsmaßnahmen. So läßt sich der Brand des Getreides durch Beizen des Saatgutes mit Formalin, Heißwasser oder Uspulun, der sog. falsche Mehltau des Weins durch Bespritzen mit Kupferkalkbrühe, der echte Mehltau durch Schwefeln, die Blutlaus durch Abkratzen der Stämme und Bepinseln mit Karbolineum, die Raupen und Maden an Obst- bäumen durch Uraniagrün bzw. Anlegen von Leimringen, die Mäuse durch Strychningetreide, Typhuskulturen, Schwefelkohlenstoff bekämpfen, und andererseits dem Auftreten gewisser Ge- treidefliegen durch Innehalten bestimmter Saatzeiten, dem Rost des Getreides und dem Krebs der Kartoffel durch Anbau widerstands- fähiger Sorten, der Krautfäule und Schwarzbeinigkeit durch sorgfältige Auf- bewahrung und Auswahl der Pflanzkartoffeln vorbeugen. Die Wirksamkeit dieser Mittel ist vielfach, auch in der Praxis, erprobt; sie werden aber bis jetzt nur von einem Teil der Landwirte angewandt. Da ist es kein Wunder, daß der Gesundheitszustand und damit der Ernteertrag unserer Kulturpflanzen noch viel zu wünschen übrig läßt ; ja im Vergleich zu früheren Zeiten hat sich beides eher verschlechtert als verbessert, weil die hochgezüchteten neueren Sorten in stärkerem Grade für Krankheiten empfänglich sind als die ursprünglichen „Landsorten". Auf diesem Gebiete Wandel zu schaffen ist die Aufgabe, die sich der praktische Pflanzen- schutz gestellt hat. Er will die Kenntnis der l'flanzenkrankheiten und ihrer Bedeutung in weiteste Kreise tragen und überall auf Anwendung der erprobten Bekämpfungsmittel hinwirken. Die Organisation des praktischen Pflanzenschutzes, die bereits vor Jahren von der Deutschen Landwirt- N. F. XIX. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 217 Schaftsgesellschaft eingeleitet und später von der Biologischen Reichsanstalt in Dahlem fortgesetzt wurde, steht bei uns noch immer in den An- fängen, da es an den nötigen Mitteln zu ihrem Ausbau fehlte. Auch auf diesem Gebiete ist ein weiterer Ausbau dringendes Erfordernis. In ihrer heutigen Gestalt baut sich die Pflanzenschutzorganisation auf den Auskunfts- stellen auf, die über das ganze Reich verteilt sind und ein hier mehr, dort weniger dichtes Netz bilden. In der Regel liegen sie in der Hand der Direktoren der landwirtschaftlichen Winter- schulen, die mit Vertrauensmännern in den ein- zelnen Gemeinden zusammenarbeiten. Diese Auskunftsstellen haben eine doppelte Aufgabe. Sie sollen einerseits die Verbreitung der wichtigsten Krankheiten und die Größe des von diesen angerichteten Schadens statistisch auf- nehmen, sowie Beobachtungen über die Einflüsse sammeln, von denen beides abhängig ist, anderer- seits aber sollen sie die Landwirte in allen, den Pflanzenschutz betreffenden Fragen beraten. Wo also der Landwirt oder Gartenbesitzer irgend- welche Krankheiten und Schäden an seinen Kulturpflanzen bemerkt, braucht er sich nur an die nächste Auskunftsstelle zu wenden, um sach- gemäßen Rat zu bekommen. Leider wird von dieser Einrichtung noch viel zu wenig Gebrauch gemacht. Die Auskunftsstellen sind innerhalb der Einzel- staaten bzw. der Provinzen zusammengeschlossen und einer Hau ptst eile für Pflanzenschutz unterstellt. Den Hauptstellen liegt es ob, die Tätigkeit der Auskunftsstellen zu beaufsichtigen und die von ihnen gesammelten Erfahrungen zu- sammenzufassen. Vor allem aber sollen sie für eine weitgehende Aufklärung der landwirt- schaftlichen Bevölkerung über die Not- wendigkeit des Pflanzenschutzes Sorge tragen. Diesem Zwecke dienen Vorträge in den landwirt- schaftlichen Vereinen, Verbreitung von Flugblättern, Bedienung der Presse mit einschlägigen IVIittei- lungen, Veranstaltung von Demonstrationsver- suchen. Zweifellos ist dadurch manches erreicht worden. Aber vielfach steht der Landwirt trotz- dem dem Pflanzenschutz mißtrauisch gegenüber. Dieses Mißtrauen hat häufig seinen Grund darin, daß der Landwirt bei einem ersten Versuch, eine bei ihm auftretende Pflanzenkrankheit zu be- kämpfen, keinen Erfolg hatte, weil er sich eines, von der Industrie angepriesenen minderwertigen Mittels bediente. Daraus ergibt sich als weitere Aufgabe der Hauptstellen, die in den Handel ge- brachten Pflanzenschutzmittel auf ihre Eignung zu prüfen und unter ständiger Kon- trolle zu halten und den Landwirten nur solche Mittel zu empfehlen, deren Wirksamkeit feststeht. Aber die Empfehlung allein tut es nicht; um das Mißtrauen der Landbevölkerung zu verstreuen ist es nötig, ihnen die Wirkung der Bekämpfungsmittel und die Art und Weise ihrer Anwendung praktisch vorzuführen. Zu diesem Zwecke hat die Hauptstelle in Bonn im letzten Jahre eine nach- ahmenswerte neue Einrichtung getroffen. Sie hat eine Anzahl von Pflanzen Schutztechnikern ausgebildet. Jedem derselben ist ein größerer Bezirk zugewiesen, den er bereist, um die Landwirte in den einzelnen Gemeinden in der eben genannten Weise praktisch aufzuklären. Er zeigt ihnen z. B., wie das Getreide gegen Brand gebeizt wird, wie die Obst- bäume vor Raupenfraß zu schützen sind, wie die Kupferkalkbrühe herzustellen und zu verspritzen ist, wie man die Mäusebekämpfungsmittel an- wendet usw. Nach den bisherigen Erfahrungen kommt diese Einrichtung zweifellos einem Be- dürfnis entgegen. Die Landwirte haben so Ge- legenheit, sich von der Wirksamkeit der emp- fohlenen Bekämpfungsmaßnahmen mit eigenen Augen zu überzeugen und gewinnen dadurch einen Anreiz, sie gegebenenfalls selbst anzuwenden. Ein schlagender Beweis für den Erfolg in der Rhein- provinz ist die Tatsache, daß im vergangenen Jahre die Handelsgesellschaft ländlicher Genossen- schaften, die eine besondere Abteilung für den Vertrieb der Pflanzenschutzmittel eingerichtet hat, in wenigen Monaten einen Umsatz von 30000 M. erzielte. Damit ist die Richtung gegeben, in welcher die Pflanzenschutzorganisation ausgebaut werden muß, wenn sie den erhöhten Anforderungen der Gegenwart genügen soll. Es muß dahin gestrebt werden, in jeder Gemeinde einen Ver- trauensmann zu gewinnen, der mit dem Pflanzenschutz in gleicher Weise vertraut ist wie die Techniker und die Aufgabe haben soll, wenn dort Pflanzenkrankheiten auftreten, die Bekämpfung entweder selbst in die Hand zu nehmen oder ihre Durchführung zu beaufsichtigen. Auf dieser Grundlage wird die Aufklärungsarbeit ohne Zweifel eine größere praktische Wirksamkeit er- zielen können. Sehr wichtig ist ferner die Kontrolle des Handels mit Pflanzenschutzmitteln. So lange deren Verkauf dem freien Handel über- lassen bleibt, wird der Landwirt immer Gefahr laufen, übervorteilt zu werden, da manche Firmen unbrauchbare oder minderwertige Mittel und Apparate anbieten. Um diesem Übelstande ab- zuhelfen, hat in der Rheinprovinz die Handels- gesellschaft ländlicher Genossenschaften eine Zen- tralstelle in Bonn eingerichtet, die den Ein- und Verkauf in ständiger Fühlung mit der Pflanzen- schutzstelle durchführt. In Württemberg hat die Landesanstalt für Pflanzenschutz den Vertrieb selbst in die Hand genommen. Auf diese oder ähnliche Weise muß den Landwirten die Gewähr geboten werden , daß sie nur wirklich einwand- freie und preiswerte Mittel bekommen. Wenn die Pflanzenschutzorganisation l'in^ der beschriebenen Weise ausgebaut wird, bleibt es immer noch dem Belieben des einzelnen' Land- wirtes überlassen, ob er die gebotenen Bekämp- fungsmaßnahmen zur Ausführung bringen will Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 14 oder nicht. Bei dem großen Schaden, den die Pflanzenkrankheiten unter Umständen der Allge- meinheit zufügen, wird es sich in manchen Fällen nicht umgehen lassen, einengewissen Zwang anzuwenden. Das gilt namentlich dann, wenn eine wirksame Bekämpfung des Schadens nur durch gleichzeitiges Vorgehen aller Landwirte in einer Gemeinde möglich ist. Es sei z. B. daran erinnert, daß, wenn in einer Gegend die Mäuseplage überhand nimmt, die An- wendung der erprobten Mittel keinen Erfolg ver- spricht, wenn sie nur von einzelnen Land- wirten durchgeführt wird; denn es besteht hier immer die Gefahr,, daß von benachbarten Grund- stücken, auf denen keine Bekämpfung stattfand, neue Schädlinge zuwandern. Es ist daher mit Genugtuung zu begrüßen, daß der Bundesrat am 30. August 191 7 eine Verordnung erlassen hat, die es jedem Bundesstaat ermöglicht Pflanzen- schutzmaßnahmen zwangsweise durchzuführen. Von dieser Verordnung hat z. B. Württemberg bei der Bekämpfung des Steinbrandes im Jahre 1917 Gebrauch gemacht. Die Gemeinden waren danach gezwungen, Einrichtungen zu gemein- schaftlichem Beizen zu treffen und Beizmeister an- zustellen. Die Beizmittel wurden von der Landes- anstalt nach Maßgabe der Anbaufläche verteilt. Die Mittel sowohl wie die Beizmeister wurden von der Gemeinde bezahlt. Die einzelnen hatten also keinerlei Ausgaben und empfanden daher den Zwang nicht als solchen. Auf diese Weise wurde erreicht, daß sämtliches Saatgetreide ge- beizt und im nächsten Jahre keinerlei Schaden durch Brand beobachtet wurde. Der in die Augen springende Erfolg hat die meisten Gemein- den veranlaßt, die Einrichtung nach Aufhebung des Beizzwanges freiwillig weiterzuführen. In ähn- licher Weise haben die Behörden schon lange die Bekämpfung der Reblauskrankheit unter staatliche Aufsicht gestellt. Auch gegen den Kartoffelkäfer ist bei seinem jüngsten Auf- treten in Stade (1914) von Staats wegen vorge- gangen, und seit dem 18. Februar 191 8 besteht beispielsweise in der Rheinprovinz eine Verord- nung, nach welcher jedes Auftreten des Kartof- felkrebses der Polizei anzumelden ist, damit diese die nötigen Bekämpfungsmaßnahmen in die Wege leitet. Derartige staatliche Zwangsmittel sind, wie gesagt, in manchen F"ällen nicht zu ver- meiden. Im allgemeinen aber muß es das Be- streben des Pflanzenschutzes sein, ohne solche aus- zukommen, und die Landwirte von seiner Not- wendigkeit in dem Maße zu überzeugen, daß sie die Schutzmaßnahmen freiwillig an- wenden. Je mehr die Kenntnis der Pflanzen- krankheiten und ihrer Bekämpfung zum Gemein- gut der Landwirtschaft treibenden Bevölkerung wird, desto mehr wird auch dieses Ziel erreicht werden. Eines aber ist dabei unbedingt notwendig, daß nämlich der Pflanzenschutz in weit höherem Maß als bisher von Reich und Staat unterstützt wird. Die Mittel, mit denen die jetzige Organisation geschaffen ist, sind zum größten Teil von Landwirtschaftskammern, landw. Vereinen und Kreisvertretungen zur Ver- fügung gestellt worden. Es ist klar, daß auf diese Weise ein großzügiger Ausbau der Organisation nicht erreicht werden kann. Dazu ist vielmehr die Hilfe des Staates unumgänglich. Die prakti- schen Amerikaner haben längst eingesehen, daß es verkehrt ist, an einem Ende, nämlich bei der Ausgestaltung des Pflanzenschutzes einige Hundert- tausende zu sparen und auf der anderen Seite durch Pflanzenkrankheiten Millionen zu verlieren. Mögen auch unsere maßgebenden Stel- len zu dieser Erkenntnis kommen und dem Pflanzenschutz diejenige Unter- stützung gewähren, die zur Sicherung unserer Volksernährung heute unbe- dingt nötig ist. Kleinere Mitteilungen Die Begattung einer Nacktschnecke. Mit 5 Abbildungen. In der Naturw. Wochenschrift Jahrg. 191 7, Nr. 7 findet sich ein Artikel: „Ein Beitrag zur Begattungsfrage der Schnecken" von Dr. A. Zimmermann. Der Verfasser schreibt mit Recht : „Der Kopulationsvorgang bei den ver- schiedenen Schneckenarten ist im großen und ganzen noch so wenig aufgeklärt . . . ." und bringt dann eine recht interessante Gelegenheitsbeobach- tung über eine solche Kopulation mit mehreren Skizzen. Ein Vergleich mit farbigen Tafeln aus Brehms Tierleben läßt ihn eine Limax- oder Arionart vermuten. Ich hatte nun Gelegenheit anläßlich entwicklungsgeschichtlichcr Untersuch- ungen über Limax maximus Kopulationsvorgänge bei dieser Art zu beobachten, und angeregt durch diesen Artikel habe ich mich in der Literatur umgesehen und glaube daher zu dem Zimmer- mannschen Bericht einige Ergänzungen bringen zu können. Zunächst was die von Zimmermann be- obachtete Art anlangt, so bieten die Skizzen kaum Anhaltspunkte zur nachträglichen Bestimmung. Dennoch kann es sich nach der Beschreibung des Kopulationsvorganges nur um Limax spec. han- deln. Die Begattung von Arion konnte ich selbst beobachten: diese vollzieht sich aber auf ganz andere Weise. Doch auch die Spezies läßt sich mit ziemlicher Sicherheit feststellen, und zwar wird es sich um Limax maximus handeln. Die Be- gründung dieser Annahme möchte ich am Schluß erst bringen. N. F. XIX. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 219 Es hat nun in neuester Zeit K. Fischer die Begattung bei Limax rnaximus sehr genau unter- sucht und sehr gute BHtzHchtaufnahmen dazu ge- geben. Das lebhafte Umherkriechen am Boden und am Stamm aufwärts in der merkwürdigen Stellung zueinander, der Kopf des zweiten Tieres dicht am Schwanzende des ersten, bezeichnet Fischer als „Vorspiel", das oft 2 Stunden und länger dauert. An einem Seitenast angekommen beginnt das lebhafte Umeinanderkriechen , das „Liebesspiel". Dabei sind die Atemlöcher weit geöffnet und der Riickenschild buckelartig aufge- bauscht. Unablässig belecken sich die beiden Partner und verzehren gegenseitig den Schleim. Die Schleimabsonderung ist außerordentlich stark und an solchen Schleimplätzen konnte man oft am folgenden Morgen den Ort einer in der vor- hergehenden Nacht stattgehabten Begattung er- kennen. Eine immer mehr zunehmende Erregung erfaßt die Tiere. Die Fori der Geschlechtsappa- rate weiten sich, und die Fenes werden als erbsen- große weiße Felder sichtbar. Jetzt beginnt der eigentliche „Begattungsakt". Die Tiere umschlingen sich. Oft nun bleiben beide Schnecken während der folgenden Vorgänge mit ihren Schwanzspitzen fest am Ast verankert. Oft aber verlieren sie auch durch die dauernden, ruckartigen Bewegun- gen den Halt und hängen dann, wie es Zimmer- mann beobachtete, an einem ziemlich dicken Schleimfaden. Die Umschlingungen werden immer enger. „Etwa V2 Minute nach völliger Umschlin- gung der Körper treten unter heftiger krampf- artiger Bewegung der Köpfe die Penes zuerst etwa '/., cm hervor, um dann auf einmal mit voller Gewalt als zwei senkrecht nach unten hängende, korkzieherartige, prallgefüllte wurstartige Schläuche hervorzuschießen" (Fischer). Beide Penes winden sich nunmehr auch spiralig umein- ander. Den nun folgenden Augenblick bezeichnet Zimmermann als den schönsten, aber auch gleichzeitig als das Stadium, was sich am schwer- sten mit dem Stift festhalten ließ, zumal noch die rotierenden Bewegungen des engverschlungenen Schneckenpaares am Schleimfaden die Beobachtung sehr erschwerten. Fischer schreibt hierzu : „Den im Ruhezustand im Penis gelegenen, dem ausge- stülpten Begattungsorgan natürlicherweise aber außen ansitzende, mit starker Muskulatur ausge- kleideten Kamm sah man nun in voller Tätig- keit. . . Der letzte, sich in das Coecum erstreckende Teil dieses Kammes" hatte ,, jetzt die Gestalt großer Lappen angenommen, die bei dem fort- währenden schnellen Rotieren der Ruten den An- blick eines Propellers boten. Nach dem Hervor- treten des Samenpaketes legen sich die Kamm- lappen fest an den übrigen Teil der Penisspirale an." Die von Zimmermann beobachteten lampenschirmartigen Schleier stellen meiner An- sicht nach die Hautkämme der Penes dar, die mit einer Schleimschicht überzogen tatsächlich schimmernden Schleiern gleichen. Ich werde weiter unten noch einmal zu diesem Punkte kommen. Kurz danach verkürzen sich die Penes. Konn- ten sich die Schnecken am Ast halten, so werden gewöhnlich erst die Körperschlingen gelöst, ehe die Penes getrennt werden. Am Schleimfaden hängend, müssen natürlich erst die Ruten getrennt werden. Daß endlich der Schleimfaden von der einen der beiden Schnecken verschluckt wird, konnte auch Fischer beobachten. Abb. I. Geschlechlsapparat von Limax rnaximus. c = Coecum. ei = Eiweißdrüse, p == Penis. pr = Penisretraktor. v = Receptaculum. spod = Spermovidukt. vd = Vas deferens. fd = Zwitterdrüse. fg ^= Zwittergang. Abb. 2. Quersclinitt durch den Penis (halbschematisch). hk = Hautkanim. vd = Vas deferens. Die Beobachtungen Zimmermanns stim- men also mit den Untersuchungen Fischers ziemlich genau überein. Interessant aber wäre es vielleicht nun einige anatomische Ergänzungen zu geben, wie es Fischer sehr genau tat. Zu Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 14 diesem Zweck dürfte es wohl nötig sein, vorerst einmal ein Begattungsorgan im Ruhezustand zu betrachten. Atab. i zeigt die einzelnen Teile des Geschlechtsapparates. Hier kommt nur der männ- liche Ausführgang in Betracht. Der Zwittergang (fg) nimmt an seinem distalen Ende die Eiweiß- drüse (ei) auf und geht dann über in den wesent- lich breiteren Spermovidukt (spod.), der die Wege für männliche und weibliche Geschlechtsprodukte in Form zweier miteinander kommunizierender Halbrinnen umschließt. Nur im distalsten Teil erfolgt eine völlige Trennung in Spermatodukt und Ovidukt. Der erstere geht dann mit jäher Verschmälerung über in das Vas deferens, das am Penis ') hinaufzieht bis fast zu dessen Ende. Das Lumen des Penis erstreckt sich noch etwas über die Einmündungsstelle des Vas deferens und die Infektion des Penisretraktors hinaus fort in das sogenannte Coecum. Der Penis stellt nun keineswegs ein einfach hohles Rohr dar. Von der einen Seite springt eine ziemlich umfangreiche Falte, der Hautkamm, in das Lumen vor (Abb. 2). Seine größte IVIächtigkeit zeigt er im Coecum, um sich allmählich nach der Ausmündung zu zu ver- lieren. Wie sich nun die Ausstülpung vollzieht, zeigt im Schema Abb. 3. Am besten kann man sich diesen Vorgang vorstellen, wenn man einen zu- nächst eingestülpten Handschuhfinger wieder in Abb. 3. Schema der Ausstülpung des Penis (nach Fischer), a) Penis noch völlig eingestülpt. b) Penis im Stadium der Ausstülpung, c) Penis völlig ausgestülpt, pr = Penisretraktor. spm = Sperniamassc. vd == Vas deferens. die normale Stellung bringen will. Es ist nun klar, daß der Hautkamm, der vorher das Lumen des Penis erfüllte, im ausgestülpten Zustand die- sem außen aufsitzt (Abb. 4). Die von Zimmer- mann beobachteten Schleier (siehe seine Abb. 6) sind nun, wie ich schon oben erwähnte, eben die beiden Hautkämme. Beide Penes sind spiralig gewunden, und es kann so durchaus der Eindruck von mehreren Etagen hervorgerufen werden. Das Schleimsäckchen aber stellt die Spermamasse, das Samenpaket, dar. Die Übertragung der Samen- massen hier zu schildern, würde mich zu weit führen, und muß ich Interessenten auf Fischers Untersuchungen verweisen. Gleichwohl glaube ich, daß diese wenigen Bemerkungen im Zusam- menhang mit den recht guten Skizzen Zimmer- manns eine Vorstellung geben von den inter- essanten Vorgängen der Kopulation. Abb. 4. Querschnitt durch den ausgestülpten Penis (schema- tisiert nach Fischer), hk = Hautkamm, p = Penis, pr = Penisretraktor. spm = Spermamasse. vd = Vas deferens. ') Die Bezeichnung Penis ist genau genommen unrichtig und müßte richtiger Penisscheide heißen, da eine Glans fehlt. Gleichwohl will ich die herkömmliche Bezeichnung beibe- halten. Abb. 5. Skizze einer Begattung bei Arion empiricorum. Zum Schluß möchte ich aber noch eine kurze Erklärung geben, weshalb ich mit solch einer Sicherheit annehme, daß Zimmermann Limax maximus beobachtet hat. Genauer hier auf die verschiedenen Begattungen bei Schnecken einzu- gehen, verbietet der Raum, und behalte ich mir dies für eine spätere Behandlung vor. Arion spec. muß von vornherein ausscheiden, schon allein mit Rücksicht auf den anatomischen Bau seines Ge- schlechtsapparates. Ein I'enis fehlt ja vollkommen, eine Ausstülpung weiblicher Gänge wäre völlig zwecklos, also könnte nur das Atrium ausgestülpt werden — daß tatsächlich eine Ausstülpung statt- findet, ist sicher, wie ich selbst es mehrfach be- obachten konnte — . Das Atrium ist aber viel zu kurz, um ein derartiges Schauspiel bieten zu können, wie es Zimmermann beobachtete. Endlich aber bleiben Arionarten stets am Boden und winden sich nie derart umeinander. Abb. 5 stellt eine Skizze dar, die ich gelegentlich einer zufälligen Beobachtung der Begattung bei Arion machte, und zeigt die für Arion charakteristische Begattungsstellung. N. F. XIX. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Es könnten nun aber andere Limaxarten in Frage kommen. Limax coerulans Bielz. ist eine ungarisch - siebenbürgische Art, Limax nyctelius eine algerische. Beide scheiden also aus. L. ar- borum fehlt ein innerer Hautkamm des Penis. Eine Kopula wurde noch nicht beobachtet. Allein schon das Fehlen des Hautkammes läßt auch diese Art ausscheiden. Von L. variegatus wurde noch keine Kopulation beobachtet, aber Simroth schreibt hierzu : „Bei der Kopula dringt der Penis höchstwahrscheinlich, ganz anders als beim maxi- mus, in den Ovidukt bis zum Receptacuhim ein." Er kommt zu dieser Vermutung auf Grund von Untersuchungen am Genitalapparat kurz nach der Begattung. Ein Zweifel besteht eigentlich nur zwischen L. maximus und L. tenellus. Eine Ko- pula wurde für tenellus noch nicht beschrieben. Der Bau des Geschlechtsapparates aber gleicht dem von maximus sehr, auch ist der Hautkamm des Penis vorhanden. Gleichwohl möchte ich L. tenellus ausscheiden seiner Kleinheil wegen, wenigstens im Gegensatz zu Limax maximus. Zimmermann hätte dann sicherlich eher die Möglichkeit angenommen, einen Agriolimax, dem L. tenellus in der Größe fast gleichkommt, be- obachtet zu haben , wenngleich auch bei Agrio- limax die Begattung ganz anders und der eines Arion ganz ähnlich verläuft. Ich möchte also als bestimmt annehmen, daß Zimmermann einen Limax maximus beobachtet hat. Dr. H. Hoffmann. Literatur. Fischer, K.. Die Begattung bei Limax maximus. Jen. Zeitschr. f. Naturw. Bd. 55, 1917. Simroth, H., Versuch einer Naturgeschichte der deut- schen Nacktschnecken und ihrer europäischen Verwandten. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 42, 18S5. Bemerkungen über den Wasserhaushalt der Erde, insbesondere Deutschlands. In einem in Nr. 38, N. F. 13. Band (20. September 1914) dieser Zeitschrift abgedruckten Aufsatz „Vom Wasserhaushalt der Erde" nahm ich Bezug anf die grundlegenden Arbeiten von H. Keller, welche neues Licht auf das dunkle Kapitel der Bilanz des Wasserhaushaltes der Erde warfen und vor allem eine wesentliche Berichtigung resp. Erweiterung der Aufstellungen von Brückner über dieses Thema bedeuteten. Die außergewöhnliche Trocken- heit unserer Gegenden im Frühjahr und tief in den Juni hinein während des verflossenen Jahres, welche nun schon zum viertenmal hintereinander sich wiederholt — im Wetterdienstbezirk Magde- burg betrug die Regenmenge vom Mai des Jahres 1910 — 19 durchschnittlich 29 mm gegen 55 im Jahrzehnt 1890—99 — , hat wegen ihrer schwer- wiegenden wirtschaftlichen Folgen aufs neue die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Wasserhaus- halt unseres Planeten und in Sonderheit Mittel- europas gelenkt, und es ist vielfach die Frage auf- geworfen worden, wie denn ein so abnorm geringer Niederschlag auf längere Zeit — im Mai in Magdeburg 5 mm — , in unseren Breitenkreisen zu erklären sei. Diese Frage beantwortet sich nur im Rahmen des Gesamtwasserhaushaltes der Erde. Bekannt ist die Annahme, daß von den Niederschlägen auf dem Festlande im ganzen etwa Va durch Meeres- dampfzufuhr, -/g durch Landverdunstung gedeckt wird. Selbstverständlich erleidet diese Annahme zahlreich namhafte Modifikationen, die sich teils auf die Bodenkonfiguration des Landes, teils auf die Verteilung der Luftdruckschwankungen zurück- führen lassen. Ich bin in jenem Artikel auch auf diesen Punkt näher eingegangen, kann ihn also hier nicht ausführlich erörtern, nur so viel wieder- holen, daß in unserem engen Vaterland die Früh- jahr- und Sommerniederschläge, die ja der Menge nach durchaus überwiegen, in der Hauptsache durch Landverdunstung, die Herbst- und Winter- niederschläge dagegen, die eigentlichen sog. Land- regen, durch Meeresdampfzufuhr gedeckt werden, und daß im ganzen die Landverdunstung im Osten eine etwas größere Rolle spielt als im Westen und Süden. Obwohl die Meereszufuhr im ganzen hinter der Landverdunstung prozentualiter zurück- steht, können Niederschläge auf dem Festlande nur in sehr beschränktem Umfang erfolgen, wenn erstere infolge ungünstiger Luftdruckverhältnisse auf längere Zeit ausbleiben. Diese fundamentale Wahrheit folgt ganz ein- fach aus der Betrachtung der Menge des in der Atmosphäre in Dampfform festgehaltenen Wassers. Nach einer zuerst von Süring aufgestellten, von V. Hann weiter entwickelten Formel läßt sich die in einer Luftsäule von i qm Querschnitt und h km Höhe enthalten Wassermenge, nach der Formel berechnen Wi,=: 2,i7do(i — 10 /kg, (i) wo dg die Wasserdampfmenge in g bedeutet, die ein cbm Luft in der Erdoberfläche enthält. Setzt man für h die Höhe der Atmosphäre, oder, was praktisch auf das gleiche hinauskommt, h = 00, so nimmt obige Formel die einfache Form an Wh=2,i7dokg. Svante Arrheniushat in seinem Lehrbuch der kosmischen Physik den Wert von d„ für die Zehngradzonen der nördlichen und südlichen Halb- kugel sowohl für das ganze Jahr, wie für die Winter- und Sommermonate einzeln berechnet. Dehnt man diese Berechnung für die ganze Erd- oberfläche aus, so gelangt man zu dem Resultat, daß das Wassergehalt der ganzen Atmosphäre auf 12300 cbkm anzusehen ist. Der Kondensation dieses Wasser- dampfes auf einmal würde eine mittlere Nieder- schlagshöhe von nur 24,2 mm entsprechen. Da aber der jährliche Niederschlag der Erde insge- samt auf 465 000 cbkm angenommen wird, diese Zahl aber 38 mal größer ist als jene, so folgt, daß im Durchschnitt der Umsatz des in der Atmo- sphäre durch Meeres- oder Landverdunstung aufge- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 14 nommenen Wasserdampfes etwa 38 mal im Jahre er- folgen muß, also etwa nur 9 — 10 Tage in Anspruch nehmen kann. Diese Zahlen haben natürlich für ein bestimmtes Gebiet auf der Erde keine irgend- welche wesentliche Bedeutung, sie müssen viel- mehr den klimatischen Verhältnissen angepaßt werden. Für die Atmosphäre, die sich über dem Deutschen Reich befindet, wobei ich in diesem Augenblick die Verhältnisse vor dem Versailler Frieden im Auge habe, käme rein rechnerisch, da Deutschland etwa den looo. Teil der Erdober- fläche umfaßt, etwa 12 cbkm Wasser in Frage. Arrhenius gibt aber in seiner Tabelle als Wert für dfi auf der Nordhalbkugel in der 60." — 50." Zone für das Jahr 4,9, in der 50." — 40." Zone 7 g an, und da Deutschland ungefähr in seiner Mitte durch den 50. Breitengrad durchschnitten wird, so kann etwa 6 g als die für dasselbe zukommende Zahl angesehen werden, wonach die über Deutschland liegende Atmosphäre im Laufe eines Jahres etwa nur 7 cbkm Wasser enthält, entsprechend einer Niederschlagsmenge von nur 12 mm, also etwa der Hälfte des oben berechneten Durchschnitts. Diese Zahl bedarf jedoch noch einer weiteren Reduktion. Die Niederschlagsbildung vollzieht sich in der Hauptsache, wenigstens in unseren Breiten, in den unteren Luftschichten bis zu einer Höhe von etwa 2500 m, also bleibt auch der Kreislauf des Wassers auf diese Schichten be- schränkt. Setzt man in obige Formel (i) für h diesen Wert an, so ergibt sich, daß der mittlere Wassergehalt der Atmosphäre bis zur Höhe von 2500 m nur etwa -/g des Gcsamtinhaltes, also nur etwa 8000 cbkm beträgt, der über Deutschland befindliche demnach nur etwa 5 cbkm Wasser enthält, entsprechend etwa 8 mm Niederschlag, falls er auf einmal zur Kondensation gelangte. Versagt also die Zufuhr am Meer nur auf einige Zeit, so reicht der Eigenvorrat der Atmosphäre an Wasser nur für 8 mm Niederschlag, also für eine äußerst geringe Regenmenge. Nun ist frei- lich auf einen Ersatz durch Verdunstung an der Landoberfläche zu rechnen, aber eine einfache Überlegung zeigt, daß er, wenn durch un- günstige Windverhältnisse veranlaßt, eine längere Trockenheit eingetreten ist, nicht von Bedeu- tung sein kann. Die Wasserflächen des festen Landes, die Seen, Teiche, Flüsse und Moore Deutschlands, die allein eine reichliche Verdun- stung von etwa 2,5 mm pro Tag liefern könnten, umfassen höchstens 12 000 qkm, liefern also in 2 Monaten 1 50 mm Niederschlag, die etwa 1,8 cbkm Wasser entsprechen; dagegen kann man für das übrige Land, den unbebauten Boden eingerechnet, unter den obwaltenden Umständen kaum mehr als 0,5 mm tägliche Verdunstung rechnen, so daß das Gesamtmaß der Verdunstung Deutschlands ohne Einhilfe des Ozeans innerhalb der beiden Monate April und Mai auf höchstens 18 cbkm Wasser veranschlagen darf, also auf etwas mehr als das Doppelte der in der Atmosphäre aufge- hobenen Wassermasse. Da ist freilich kein Wun- der, wenn auf weite Strecken hin der monatliche Niederschlag auf 10 mm und darunter sinken konnte, da man ja auch mit dem Umstände rech- nen muß, daß ein Teil der Landverdunstungs- mengen bei ungünstigem Winde auf das Welt- meer hinaus verjagt wird. Wie verhältnismäßig dürftig der Wasserumsatz in Deutschland in solchen Zeiten sich gestaltet, erkennt man am besten daraus, wenn man ihn mit den Grundwasserschichten deutscher Ströme vergleicht. Allein im Oberrheintal zwi- schen Basel und Bingen wird bei vorsichtiger Schätzung das alljährlich im Umsatz be- griffene Grundwasser, das durch Hochwasser im Untergrund aufgestaut wird , bei Mittel- und Niederwasserstand des Rheins langsam wieder zurückgeht, auf 7 cbkm geschätzt, also auf mehr als der gesamte Wasserinhalt der deutschen At- mosphäre während eines Jahres, während die gesamte Mächtigkeit der wasserführenden Schichten des Oberrheintals auf rund loo cbkm veranschlagt wird. Die stillen Reserven spielen also schon rein äußerlich im Großhandel der Wasserhaushaltung eine sehr bedeutende Rolle, geben einerseits den Menschen das angenehme Gefühl, eine wirksame Hilfe in der Not zu besitzen, gemahnen ihn aber auch andererseits, sie auch nur für solche Zeiten in Gebrauch zu nehmen, damit sich dieser überaus wichtige Schatz nicht zur unrechten Zeit entleere. Prof. Dr. W. Halbfaß-Jena. Bücherbesprechungen. Disper, Peter, Theorie der Entwicklung der Kometen aus den Prinzipien der Gravitation. 29 S. Montabaur 1919, Willy Kalb. 3 M. Der offenbar ernst gemeinte Versuch, dem Komelenproblem näher zu kommen, ist an der Unzulänglichkeit der dem Verfasser zu Gebote stehenden mathematischen und physikalischen Mittel vollständig gescheitert, so daß dies dünne Heftchen trotz des enormen Preises nur Unklar- heiten und F"alschheiten enthält, ohne zur Lösung des Problems nur das geringste beizutragen. Riem. Das Pflanzenreich. Herausgegeben von A. Eng- ler. IV. 105. O. E. Schulz, Cruciferae- Brassiceae, Pars I. Mit 248 Einzelbildern. Leip- zig '9'9> W. Engelmann. 67,20 M. In diesem Heft des bedeutenden Werkes be- ginnt O. E. Schulz die Darstellung der Brassi- N. F. XIX. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 223 ceen, und zwar werden in diesem ersten Teil die Subtribus der Brassicineae und der Raphaninae, d. h. also die Gattungen behandelt, die sich um die Genera Brassica und Raphanus gruppieren. Bekanntlich gehören hierher eine Anzahl sehr wichtiger Kulturpflanzen, so daß dies Heft auch ein über den engeren Kreis der Systematiker hinausgehendes Interesse beanspruchen kann. Der Verf. schildert z. B. sehr sorgfältig die Herkunft der Kulturgewächse, die mannigfaltigen Kultur- rassen des Kohls, des Rapses, der Rüben usw. und gibt damit einen wissenschaftlich erschöpfen- den Überblick über die außerordentlich große Formenschar, die die Kollektivspezies Brassica oleracea und B. campestris zusammensetzen. Miehe. Nernst, W. und Schoenflie§, A., Einführung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften. Mit 86 Textfiguren. 9. verm. und verb. Aufl. iVIünchen und Berlin 19 19, Th. Oldenbourg. 17 M. Das Buch ist so allgemein bekannt und ge- schätzt, daß wir uns hier darauf beschränken können, das Erscheinen der neuen, durchgearbei- teten Auflage anzuzeigen, und höchstens solche, die es nicht kennen sollten, darauf hinzuweisen, daß es den Studierenden der Naturwissenschaften, namentlich den Chemikern, die Infinitesimalrech- nung in knapper, auf ihre besonderen Bedürfnisse zugeschnittener Form vermitteln will. Es bedeutet aber auch für den Mathematiker durch die An- wendung der höheren Analysis auf naturwissen- schaftliche Probleme eine wertvolle und vor allem belebende Ergänzung zur rein mathematischen Literatur. Miehe. Henrich, Ferdinand, Der Gang der quali- tativen Analyse. Für Chemiker und Phar- mazeuten bearbeitet. IV -|- 42 S. mit 4 Abb. im Text. Berlin 1919, Verlag von Julius Springer. Preis geh. 2,80 IVl. und Teuerungszuschlag. Ein Praktikum für die qualitative Analyse, wie sie überall in den chemischen Hochschullabora- torien in vielen verschiedenen Arten im Gebrauch sind, sorgfältig und sauber bearbeitet — das ist bei dem an der Universität Erlangen wirkenden bekannten Verfasser nicht anders zu erwarten — und daher Interessenten zu empfehlen. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Schuchardt, G. , Die technische Gewin- nung von Stickstoff, Ammoniak und schwefelsaurem Ammonium nebst einer Übersicht der deutschen Patente. Sonderaus- gabe aus der „Sammlung chemischer und che- misch-technischer Vorträge" von Ahrens- Herz, Bd. XXV, Heft 7. 48 Seiten in gr. 8° mit 13 Abbildungen im Text. Stuttgart 1919, Verlag von Fei dinand Enke. Preis geh. 2,50 M. In der vorliegenden kleinen Schrift, die schon im Jahre 1916 gedruckt worden ist, damals aber von der Zensur nicht zur Veröffentlichung zuge- lassen worden ist, werden die Verfahren zur Ge- winnung von elementarem Stickstoff, von Ammo- niak und Ammoniumsulfat unter besonderer Be- rücksichtigung der Patentliteratur in kurzer Dar- stellung besprochen. Etwas ausführlicher wird nur die Gewinnung des Ammoniaks aus dem Leuchtgase sowie die Gewinnung von Ammonium- sulfat behandelt. Für die Leser der Naturwissen- schaftlichen Wochenschrift hat das — etwas ein- seitige — Büchlein nur ein beschränktes Interesse. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Rinne, F., Gesteinskunde. 5., vollständig durchgearbeitete Auflage, sowie: Ders., Einführung in die kristallographi- sche Formenlehre und Anleitung zu kristallographisch-optischen, sowie röntgenologischen Untersuchungen. Dritte Auflage. Leipzig 1919, Jänecke. Beide Werke haben längst ihren Platz und ihr Publikum. Sie bedürfen keiner neuen Empfehlung. Bietet doch die Gesteinskunde auch einen Über- blick über Mineralogie und Allgemeine Geologie. Die auf Kriegsschauplätzen neu gewonnenen Er- fahrungen des als Militärgeologe tätig gewesenen Verfassers machen sich allenthalben bei der Be- reicherung der neuen Auflage bemerkbar. In der Kristallographie ist vor allem der Laueschen Aufhellung der Feinstruktur der Kristalle durch die Beugung der Röntgenstrahlen die nötige Be- achtung geschenkt, die unseren Horizont ungeahnt erweitert hat. Hennig. Henseling, Robert, Sternbüchlein für 1920. 80 S. mit 42 Abb. und einer Sterntafel. Stutt- gart, Franckhsche Buchhandlung. Brosch. 2,40 M. Unter allen Führern durch den Sternhimmel für ein bestimmtes Jahr ist dies alljährlich er- scheinende kleine Werk das bei weitem beste. Mit großer Liebe zur Sache geschrieben, gibt es für jeden Monat alles an , was irgend den be- obachtenden Liebhaber mit oder ohne Instrumente interessieren könnte. Ein für jeden Monat gezeich- netes Kärtchen gibt auch den Ort der Planeten an, und erleichtert so deren Auffinden ungemein. Dazwischen Illustrationen aller Art. Sehr wert- voll ist die tabellarische Übersicht der Himmels- erscheinungen auf einem Blatt, die mit einem Blick alles zeigt, was in einem Monat zu erwarten ist. Die Angaben der Planeten von 10 zu 10 Tagen nach Rektaszension und Deklination ist für viele Zwecke erwünscht und ausführlich genug; ebenso die Angaben der Verfinsterungen der Jupitermonde und der Sternschnuppenkalender. So wird das Büchlein jedes Jahr verbessert, so daß ihm weiteste Verbreitung sicher sein kann. Riem. Stutzer, O., Geologisches Kartieren und Prospektieren. Berlin 1919, Verlag Gebr, Borntraeger. 124 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 14 Das Werk behandelt das geologische Kartieren, mehr anhangsweise das Prospektieren. Nach einem Überblick über den Inhalt einer geologischen Karte wird das Detailkartieren (Ausrüstung, Aufsuchen geologischer Grenzlinien, Anfertigen der Feld- karte und der geologischen Karte); das Kartieren in geologisch wenig erforschten Gegenden (Samm- lung von Auskünften , Verbesserung der Karten- unterlage, Kartieren durch Profilaufnahme); die geologische Aufnahme eines Reiseweges und schließlich die Grubenaufnahme (Arbeiten in der Grube, Lösung montan-geologischer Fragen durch Berechnung und Zeichnung) besprochen. Das handliche kurz gefaßte Werk ist praktisch gut zu gebrauchen und für seine Zwecke wohl zu emp- fehlen. Krenkel. Anregungen und Antworten. Die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft zu Frankfurt a. M., die in ihren ,, Abhandlungen" (bis Band 37 erschienen) größere wissenschaftliche Arbeiten mit Tafeln ver- öffentlicht und in ihrem ,, Bericht" (bis 49. Jahrgang erschienen) eine naturwissenschaftliche illustrierte Zeitschrift herausgibt, die in gemeinverständlicher Weise über Neuaufstellungen im Senckcnbergischen Museum, über die Natur des IVlainzer Beckens und des Taunus, sowie über Reisen und Forschungen berichtet, fügt dazu eine neue Zeitschrift ,,Senckenbergiana". Die ,,Senckenbergiana", von welchen der erste Band be- reits abgeschlossen vorliegt, bringen in raschester Veröffent- lichung kurze wissenschaftliche Arbeiten aus dem Museum der S. N. G. und aus ihren naturwissenschaftlichen Universitäts- instituten. (Arbeitsgebiet: Zoologie, Geologie — Paläontologie, Mineralogie — Petrographie — Lagerstättenkunde usw.) Jähr- lich 15 Bogen in 8" mit zahlreichen Textfiguren. Bezugspreis 18 M. Anfragen an die Senckenbergische .\aturforschende Gesellschalt Frankfurt a. M., Viktoria-Allee 7. Hydrobiologische Kurse am Bodensee. Vom 15 — 30. Mai werden am Institut für Seenforschung und Seenbewirtschaftung in Langenargen von Dr. Bauer und Dr. Nienburg zwang- lose Kurse über das Tier- und Pflanzenleben im Bodensee abgehalten. Außer einem Beitrag von 5 M. zur Deckung der direkten tJnkosten wird kein Honorar erhoben, aber erwartet, daß die Teilnehmer an den wissenschaftlichen Beobachtungen und Sammlungen des Instituts mitwirken. Vor- ausgesetzt wird eine gründliche Vorbildung im Mikroskopieren und in der Anfertigung einfacher mikroskopischer Präparate. Mikroskop und Besteck müssen mitgebracht werden. Objekt- träger, Deckgläser, Sammelgläser und die gewöhnlichen Re- agentien werden vorrätig gehalten und können zum Einkaufs- preise bezogen werden. Unterkunft und Verpflegung finden die Teilnehmer zu besonderen Bedingungen im Gasthaus Späth. Anfragen und Anmeldungen sind zu richten an den Leiter des Instituts Dr. V. Bauer in Langenargen. Literatur. Kahn, Dr. Fr., Die Zelle. Stuttgart '19, Kosmos-Verlag. Piderit, Dr. Th., Mimik und Physiognomik. Detmold '19, Meyer. Schröter, Dr. Johann Coaz, Ein Nachruf. Zürich '19, Rascher & Co. I Fr. Mordziol, C., Allgemeine Naturgeschichte, ein notwen- diges Unterrichtsfach für höhere Schule und Universität. Hamburg-BraunschweigBerlin '19, G. Westermann. 1,35 M. Wasmann, E. , Haeckels Monismus eine Kulturgefahr. 4. verm. Aufl. der Schrift ,, Ernst Haeckels Kulturarbeit". Freiburg i. Br. '19, Herder. 3 M. Arnold, Prof. Dr. K., Repetitorium der Chemie mit be- sonderer Berücksichtigung der für die Medizin wichtigen Ver- bindungen sowie des Deutschen Arzneibuches und anderer Pharmakopoen namentlich zum Gebrauch für Mediziner und Pharmazeuten. 15. verb. Aufl. Leipzig '19, L. Voß. i7,6oM. Karl Kräpelins Einführung in die Biologie zum Ge- brauch an höheren Schulen und zum Selbstunterricht. Be- arbeitet von Prof. Dr. C. Schäfer. Leipzig und Berlin '19, B. G. Teubner. 4,60 M. Stäger, Dr. R., Erlebnisse mit Insekten. Zürich '19, Rascher & Co. 2 Fr. Nölke, Dr. Fr., Das Problem der Entwicklung unseres Planetensystems. Eine kritische Studie. 2. völlig umgearbeitete Aufl. Berlin '19, J. Springer. 28 M. Miehe, Prof. Dr. H., Taschenbuch der Botanik. I.Teil: Morphologie, Anatomie, Fortpflanzung, Entwicklungsgeschichte, Physiologie. 2. Aufl. Mit 29S Abbild. Leipzig '19, W. Klink- hardt. S M. Fehlinger, H., Zwiegestalt der Geschlechter beim Men- schen. Leipzig und Würzburg '19, C. Kabitzsch. 4 M. Penck, Prof. Dr. Wa. , Grundzüge der Geologie des Bosporus. Berlin '19, E. S. Mittler. 10 M. Runge, Prof. Dr. C , Graphische Methoden. 2. Aufl. Leipzig-Berlin '19, B. G. Teubner. 4,80 M. Grundriß der Physiologie. 2. Teil: Biophysik von Prof Dr. O. Weiß. • Leipzig '19, G. Thieme. iq M. Bley, Fr., Von freiem Hochlandwilde. Acht Tierge- schichten. Leipzig, R. Voigtländer. 5 M. Li Uro WS Atlas des gestirnten Himmels der Astronomie. Taschenausgabe. Berlin '20, 6 M. Salomon, Prof. Dr. W., Die Grundlagen der prakti- schen Anwendung der Geologie. Mit 10 Textfiguren. Stutt- gart '19, E. Schweizerbart. 2 M. Dvornikovic, Dr. VI., Die beiden Grundtypen des Philosophierens Berlin '18, L. Simion Nachf. 2,50 M. N ernst, W. und S c h o e n f 1 i es , A., Einführung in die mathemalische Behandlung der Naturwissenschaften. 9. verm. u. verb, Aufl. Mit 86 Textfiguren. München und Berlin '19, R. Oldenbourg. 17 M. für Freunde F. Dummler. lulialt : Schwenk, Der Stand der Chemie der alkoholischen Gärung. S. 209. Margot Riess, Der Gesang der Vögel und seine Darstellung in der Musik. S. 213. F. Esmarch, Aufgaben und Ziele des praktischen Pflanzenschutzes. S. 215. — Kleinere Mitteilungen: A. Zimmermann, Die Begattung einer Nacktschnecke. (5 Abb.) S. 218. W. Halbfaß, Bemerkungen über den Wasserhaushalt der Erde, insbesondere Deutschlands. S. 221. — Bücher- besprechungen: Peter Disper, Theorie der Entwicklung der Kometen aus den Prinzipien der Gravitation. S. 222. Das Pflanzenreich. S. 222. W. Nernst und A. Schoen fließ, Einführung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften. S. 223. Ferdinand Henrich, Der Gang der qualitativen Analyse. S. 223. G. Schuchardt, Die technische Gewinnung von Stickstoff, Ammoniak und schwefelsaurem Ammonium. S. 223. F. Rinne, Gesteins- kunde. Ders., Einführung in die kristallographische Formenlehre und Anleitung zu kristallographisch-optischen sowie röntgenologischen Untersuchungen. S. 223. Robert Ilenseling, Sternbüchlein für 1920. S. 223. O. Stutzer, Geologisches Kartieren und Prospektieren. S. 223. — Anregungen und Antworten: ,,Senckenbergiina". S. 224. Hydrobiologische Kurse am Bodensee. S. 224. — Literatur: Liste. S. 224. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den ii. April 1920. Nummer 15. Über Bau und Bedeutung des „Wehrstachela" der Bienen und Wespen. Von Dr. Hans Weinert. [Nachdruck verboten.) Mit I3 Abbild Den Anlaß zur vorliegenden Arbeit gab die so häufig gehörte Ansicht, daß eine Biene sterben muß, wenn sie sticht. Es soll also allgemein bei Bienen und Wespen der Gebrauch ihres natürlichen „Wehrstachels" (Aculeus) den Tod des Trägers herbeiführen. In diesem so schlechthin ausge- sprochenen Gedanken liegt so viel Gedanken- losigkeit, daß man sich wundern muß, ihm so oft zu begegnen ; denn er ist durchaus nicht nur auf Laienkreise beschränkt, auch in der Literatur, besonders der volkstümlich-wissenschaftlichen, ist er vielfach vertreten. Oder es werden Unter- schiede zwischen Biene und Wespe angeführt, die gar nicht vorhanden oder falsch gedeutet sind. Heymons in Brehms Tierleben, übergeht diese Frage und schreibt nur, daß der Stich für den Men- schen sehr schmerzhaft, für Insekten tödlich ist. Bei Haake-Kuhnert im „Tierleben der Erde" wird berichtet von den Bienenarbeiterinnen, „die gleich der Königin mit einem beim Stich gewöhnlich in der Wunde zurückbleibenden und dadurch den Tod des Tieres herbeiführenden Stachel versehen sind". Marshall schreibt gar in den „Tieren der Erde": „Eine Biene kann nur einen Stich aus- teilen, bei diesem bricht ihr Stachel ab und bleibt in der Wunde, denn er ist mit Widerhaken ver- sehen. Die Biene stirbt darauf." Und: „da der Wespenstachel glatt ist, bricht er durch den Stich nicht ab, und die Wespe geht durch diesen nicht zugrund." Die Verbreitung dieses Glaubens ist demnach erklärlich. Es ist aber doch merkwürdig, daß dieser Satz so ohne jeden Erklärungsversuch aufgestellt wird. Es muß doch die Frage auftauchen, wie so etwas Widersinniges in der Natur vorkommen kann. Denn wollen wir auch die Richtigkeit der Behauptung zunächst einmal nicht weiter unter- suchen, so steht doch jedenfalls fest, daß ein Mensch, der von einer Biene gestochen worden ist, in der Regel den abgerissenen — nicht ab- gebrochenen 1 — Stachelapparat mit Darmteilen des Tieres in der Haut behält. Wie kommt das Insekt zu einer Waffe, die zwar sehr gut trifft, aber beim Gebrauch den Besitzer zugleich selbst tötet 1 Wie ist die Vererbung entwicklungsge- schichtlich überhaupt möglich gewesen, da doch jedes Individuum, das einmal gestochen hatte, von der Fortpflanzung ausgeschlossen gewesen wärel So sollten die vorliegenden Untersuchungen zunächst feststellen, was an dem Volksglauben über den Bienenstachel Wahres bleibt, und wie er sich dann mit den Gesetzen der Entwicklung und ungen im Text. Vererbung in Einklang bringen läßt. Die hierzu notwendigen anatomischen Untersuchungen und Nachprüfungen ergaben aber mancherlei neue Tatsachen, die für den Aufbau und die Ver- wendung des eigentlichen Stachels von Bedeutung sind. Über dieses Thema liegt ja eine große Literatur vor, die aber nicht leicht zu beschaffen ist und vielfach widersprechende Angaben enthält. Die meisten Angaben stammen noch aus dem vorigen Jahrhundert; die neueren beschäftigen sich mehr mit der Anatomie und Ontogenese des ganzen Stachelapparates als mit der Morphologie und dem Gebrauch der eigentlich stechenden Teile. Daher finden sich auch über die Stech- borsten, welche die Widerhaken und damit den Kern des Rätsels tragen, nur sehr wenig Angaben und fast durchweg sehr ungenaue Abbildungen. Das Problem über das Steckenbleiben und Ab- reißen des Wehrstafchels bleibt somit selbst ohne Erörterung. Um hieiüber Erfahrungen von Augenzeugen zu haben, wurde durch den Kosmos (Franck'scher Verlag Stuttgart) eine Umfrage an Bienenzüchter und andere Beobachter gerichtet. Daraus ergaben sich folgende Behauptungen : 1. jede Biene, die sticht, verliert ihren Stachel und muß daran sterben, 2. nur in elastischer Haut bleibt der Bienen- stachel stecken und führt den Tod des Tieres herbei; aus dem Chitinpanzer anderer Gliedertiere wird der Stachel unbeschädigt wieder herausgezogen, 3. eine Biene, die nach dem Stich ihren Stachel verloren hat, stirbt dadurch überhaupt nicht, 4. der Bienenstachel wird — von ganz dringenden Ausnahmen abgesehen — gar nicht als „Wehrstachel" gebraucht. Damit war also nicht viel gewonnen. Die entwicklungsgeschichtliche Zoologie lehrte, daß der Wehrstachel der Immen wohl in elastischer Haut der Menschen und überhaupt der höheren Wirbeltiere stecken bliebe, aber aus der festen Chitinhülle anderer Gliedertiere, — gegen die er wahrscheinlich doch zuerst gebraucht worden wäre — wieder herausgezogen werden könnte. Das rein Tatsächliche dieser Ansicht muß auch nach den eigenen Versuchen und den gewichtigsten Mitteilungen auf die Umfrage (v. Buttel-Reepen, M. Ritter) als das Richtige gelten. Ausnahmen kommen natürlich auch hier vor und sind er- klärlich, wenn man bedenkt, daß der Hakenstachel nach dem Durchdringen des Chitinpanzers elastische 226 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 15 Weichteile treffen kann, die ihn ebenso festhalten wie Menschenhaut, oder daß er zwischen zwei Chitin- ringen hängen bleibt. Prof. v. Bu tt el-Reepen teilte mir aus seinen langjährigen Beobachtungen aber nur einen solchen Fall mit, und Prof. Schilling (Marienburg) berichtet durch Lehrer Nußbaum von einem Totenkopfschwärmer, der von Bienen erstochen und dessen Körper von Bienenstacheln gespickt war. Möglich sind solche Fälle also immerhin ; und die Frage, warum die Widerhaken überhaupt vorhanden sind, bleibt bestehen, auch wenn sie im allgemeinen nichts schaden ! Die Annahme, daß das Steckenbleiben der Stechborsten durch die Beschaffenheit des Chitins selbst bewirkt werden könne, ist wohl höchst unwahrscheinlich. Die Arbeit von Dr. W. Hass über die Struktur des Chitins zeigt zwar, daß auch der feste Haut- panzer durch verschiedene nach allen Richtungen verlaufende Lamellen weicher Schichten unter- brochen ist. Aber diese weichen Partien sind so dünn und liegen so fest zwischen verhornten Lamellen, daß die Haken des Immenstachels hieran beim Zurückziehen keinen Widerstand finden können. Die unter 4. geäußerte Meinung, daß die Bienen eigentlich überhaupt den Stachel nicht zur Wehr gebrauchen, soll noch besprochen werden ; es ist jedenfalls doch nicht von der Hand zu weisen, daß schon ungezählte Immen durch ihren eigenen Stich zugrunde gegangen sind, nur weil ihr Stachel so „unpraktisch" mit Wider- haken versehen war. Versuche mit lebenden Tieren. Bei den widersprechenden Angaben lag es nun nahe, den Vorgang des Stechens am lebenden Tier zu beobachten. Als Versuchstiere dienten Honigbiene (Apis mellifica) und gemeine Wespe (Vespa vul- garis). Sie wurden mit der Pinzette festgehalten und durch Druck veranlaßt, in einen über die andere Hand straff gespannten Lederhandschuh zu stechen. Das war durchaus nicht immer so leicht; häufig waren die Immen kaum zum Stechen zu bewegen. Während manche wütend um sich stachen, waren bei anderen alle Be- mühungen nur auf das Loskommen gerichtet. Bei den Bienen saß fast immer nach dem Stich der Stachel sofort fest, und nach den geringsten Anstrengungen, oft schon im Augenblick nach dem Einstechen, riß sich das Tier den Darmkanal aus dem Leib und zog an der Angel so lange, bis der Darm irgendwo abriß. Nach dieser furcht- baren Verletzung war das Insekt natürlich nicht sofort tot; Kopf und Bruststück allein — ohne Hinterleib — können ja noch lange leben ; so flogen oder krochen die Tiere auch ohne Darm fort. Trotzdem muß die auf S. 225 unter 3. an- geführte Behauptung (von Dr Ritter v. Krasicki, im Kosmos, Stuttgart, 1916 S. 220), daß die Biene nach Verlust des Stachels am Leben bleibt, als unmöglich gelten. Ohne Darm ist das wohl aus- geschlossen. Es ist ja bekannt, daß bei der Nervenversorgung jedes Gliedes der lod nicht sofort erfolgt — auch der Stachel allein sticht ja, wie auch bei diesen Versuchen immer zu sehen war, noch weiter, solange nur das letzte Hinter- leibsganglion daran bleibt: und das ist wohl immer der Fall. So werden die Immen natürlich auch ohne Darm fortfliegen, wenn sie es ohne Hinterleib können. An eine Erneuerung des Darmes ist aber — bei einem ausgewachsenen Insekt ! — nicht zu denken. Im günstigsten Falle werden die Bienen ohne Darm solange leben, wie sie ohne Nahrung auskommen können. Ver- suche mit gefangenen Tieren werden darüber keinen genauen Aufschluß geben können, weil sie sich in der Gefangenschaft überhaupt nicht gut halten. Bei den verletzten Immen werden die wahrscheinlich am längsten leben können, die beim Abreißen des Stachelapparates am wenigsten vom Darm mit verloren haben. Jedenfalls war unter den vielen von mir untersuchten Stücken nicht ein einziges, das keinen Stachel mehr besaß; und ich möchte behaupten, daß es solche in der Natur auch nicht gibt; zumal die schwere Verletzung beim Ausreißen der Hinterleibsorgane auch Bakterien Angriffspunkte geben muß. Leicht wird auch durch das Zerreißen der langen faden- förmigen Giftdrüse Eigenvergiftung eintreten mit demselben Erfolge, wie wenn die Biene von einer anderen erstochen worden wäre. In diesem Sinne müßte also der Verlust des Stachels mit dem Tode gleichbedeutend sein; es ist ausgeschlossen, auf diesem Wege die Zweckmäßigkeit des Apparates retten zu wollen. Die Wespen verhalten sich bei den gleichen Versuchen etwas anders als die Bienen. Sie sind im allgemeinen wohl leichter zum Stechen zu bringen; nach dem Stich aber blieb der Stachel mindestens in der Hälfte aller Fälle nicht dauernd hängen. Nach einigem, ruckweisen Ziehen waren viele Tiere schon wieder frei, oder — was häufiger geschah, und das war der auffallendste Gegensatz zu den Bienen — sie mühten sich längere Zeit ab, den Stachel herauszubekommen, sie zogen mit größter Kraftanstrengung, drehten sich um die Verankerung im Kreise herum, so daß dabei fast der ganze Stachelapparat zum Vorschein kam, nicht aber der Darm. Bei der Minderzahl der Versuchstiere riß dann — aber erst nach langen Anstrengungen — auch der Darm mit los und wurde, wie bei den Bienen, bis zu seiner ganzen Länge ausgezogen. Dieselben Resultate ergaben sich, wenn die Immen in andere Gegenstände stachen wie Seide, Leinwand, Papier u. dgl. Die Bienen waren immer leichter gefangen und dann nicht so wie die Wespen imstande, ohne Herausreißen des Darmes loszukommen. Zu beachten ist aber, daß auf glattem, festem Papier bei beiden der Stachel stets abglitt ; auch war es mir nicht möglich, die Tiere dazu zu bringen, sich gegenseitig zu stechen. Immer rutschte der Stachel auf dem harten Chitinpanzer aus. Daß die Stechborsten auch Chitin durchbohren können, zeigen ja die oben N. F. XIX. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 22; erwähnten Ausnahmen ; sicher ist aber hierzu ein wohl abgemessenes, senkrechtes Aufsetzen not- wendig, so wie es auch die Mordwespen u. a. beim Überwältigen ihrer Beutetiere tun. Dies wird u. a. bestätigt, durch Angaben von M. Ritt er und C. Weygandt, nach denen Bienen, wenn sie sich gegenseitig stechen (z. B. gegen fremde Raubbienen), den Stachel oben zwischen dem dritten und vierten Hinterleibssegment ein- bohren. Dort sei das Einstichsloch, aus dem die stechende Biene ihren Stachel unbeschadet zurück- ziehen kann, stets sichtbar. Sticht ein Tier aber blindlings auf ein anderes ein, so wird der Stachel, nicht so leicht den Panzer des anderen durch- dringen können. Vielleicht ist auch dieser Um- stand für die Frage, ob der Stachel im eigent- lichen Sinne „Wehrstachel" ist, von Bedeutung. Worin liegt nun der Grund für das verschiedene Verhalten der Bienen und Wespen ? Die Tatsache selbst ist ja schon im allgemeinen bekannt gewesen; sie wird sogar häufig dahin übertrieben oder ver- allgemeinert, daß der Wespenstachel niemals nach dem Stich abrisse. Aber es sind mir doch ge- nügend Fälle bekannt geworden, wo auch dieser in der Haut stecken geblieben war. Für den Unterschied wird meistens eine Ver- schiedenheit in den Widerhaken der Stechborsten verantwortlich gemacht, sogar mit der Behauptung, der Wespenstachel sei überhaupt glatt. Tatsäch- lich hatten auch solche Wespen, die bei den Ver- suchen nach dem Stich immer wieder leicht los- kamen, einige Häkchen weniger; es mag auch der geringe Unterschied, den die Widerhaken bei Bienen und Wespen aufweisen (vgl. die Abb. 6 bis 11), zur leichteren Befreiung beitragen; sicher spricht auch der Umstand etwas mit, daß bei der Wespe die Stachelrinne glatt ist, während auch sie bei der Biene sechs Widerhäkchen trägt. Aber im allgemeinen wird es nicht so schwerwiegend sein, ob das Tier mit 26 oder mit 20 kleinen Häkchen gefangen ist, oder ob es noch einige weniger sind; denn auch bei den Bienen ist die Zahl nicht immer feststehend. Die Anstrengungen, die die Versuchstiere machten, um freizukommen, nötigten vielmehr zu der Annahme, daß die Wespe in ihren inneren Organen fester gebaut ist als die Biene, daß be- sonders der Stachelapparat mit den letzten Ab- dominalringen, im Hinterleib fester angehängt ist. Bienen konnten niemals an dem festhängenden Stachel kräftig ziehen, ohne sich den Darm aus dem Leibe zu reißen, während die Wespen in der Mehrzahl der Fälle ungestraft die größten An- strengungen machen konnten. Anatomie des Stachelapparates. Nach den geschilderten Versuchen mußte nun der Stechapparat anatomisch untersucht werden, dazu sei zunächst ein kurzer Überblick über die vorhandene Literatur und eine Verständigung über Bezeichnungen gegeben. Schon seit langer Zeit hat der Bienenstachel zu mikroskopischen Untersuchungen angeregt. Bereits 1738 ist Swammerdamm entzückt ge- wesen über den feinen Aufbau dieses Organs. Wie hätte er die Schöpfung erst preisen müssen, wenn es ihm möglich gewesen wäre, seine Be- obachtungen mit besseren Instrumenten noch ge- nauer durchzuführen. Die Lage des Stechapparates am Hinterleibs- ende gibt häufig zu Irrtümern in den Bezeich- nungen Anlaß; ich schließe mich daher einigen älteren Autoren an, daß ein für allemal die Aus- drücke „hinten" und „vorn", „rechts" und „links", „oben" und „unten" für den Stachel in derselben Weise angewandt seien wie für das lebende Tier. Dann liegt die Stachelspitze also sowohl beim ganzen Insekt als beim Stachel „hinten" (abdo- minal gerichtet); die Giftblase liegt „vorn" (apikal gerichtet) ; „unten" liegen die Stechborsten, „oben" die Schiene. Der Hinterleib hat äußerlich sechs sichtbare Ringe, je aus einem Rücken- und einem Bauch- segment gebildet; der ganze Stachelapparat mit dem letzten Abdominalglied, dem After, liegt im Inneren, vor der äußerlich sichtbaren Hinterleibs- öffnung unter dem 6. Hinterleibsgliede. (Zur Orientierung die Abb. i nach den Angaben Abb. I. Orienlierungsbild zur Lage des Stachelapparates im Hinterleib (nach Zander 11. Kahlenberg). 4. R.S., 5. R.S., 6. R.S. = 4., 5., 6. Rückensegment; B.S. = Bauchsegment. 7. R.S. = 7. Rückensegment. A = After = 9. Hinterleibssegment. (^u.Pl. = iiuadratische Platte; O.Pl. = oblonge Platte. St.T. = Stacheltaster (Stachelscheide). Sch.R. = Schienenrinne. W. ^ Winkelstück. St.b. = Stechborsten. St.Sch. = Stechborstenschenkel. oben der ganze Hinterleib. Zanders.) Der Stechapparat besteht i. aus den anheftenden und motorischen Teilen, nämlich dem 7. Rückensegment, den beiden quadratischen Plat- ten — aus dem 8. Rückensegment gebildet — und den beiden oblongen Platten, die aus dem entsprechenden 8. Bauchsegment entstehen. Aus dem 7. Bauchsegment gehen die Bögen der Schiene, die Schenkel der Stechborsten, die Gabel und Winkelstücke hervor. Dazu kommen noch die 228 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 15 beiden Stachelscheiden, die ich lieber als „Stachel- taster" bezeichnen möchte, da sie — weichhäutig und mit Haaren besetzt — wahrscheinlich mehr zum Fühlen dienen, als daß sie den ohnehin schon harten Stachelteilen noch als „Scheide" besonderen Schutz gewähren können. Ferner gehören hierzu die Stachelmuskeln, das letzte Hinterleibsganglion mit Nerven und Tracheen. Den 2. Teil des Apparates bilden die stechen- den Organe, (also der eigentliche Stachel), be- stehend aus der Stachelrinne oder Schiene (auch Schienenrinne) und den beiden darunter gleiten- den Stechborsten; alles aus dem 8. Bauchsegment entstanden. Als 3. Teil käme der Giftapparat, bestehend aus der doppelten Giftdrüse mit Ausführungsgang und der Giftblase, die Ameisensäure absondert. Dazu kommt noch die akzessorische Drüse (oder Schmierdrüse) mit einem schwach alkalischen Sekret, auf deren noch zweifelhafte Bedeutung hier nicht weiter eingegangen werden kann. Schließlich bildet der 9. Hinterleibsring mit Rücken- und Bauchsegment den After. Da die vorliegende Arbeit das Steckenbleiben die beiden Stechborsten vorgeschoben. An deren Unterseite wieder, dicht hinter der Spitze bei A, tritt der Gifttropfen heraus. Die Schiene wie die Stechborsten zeigen die verhängnisvollen Wider- haken. Dies zur allgemeinen Orientierung. Anatomische Untersuchungen. Die Schienenrinne. Die Schienen- oder Stachelrinne ist der am härtesten chitinisierte Teil des ganzen Stachel- apparates; sie ist eine doppelwandige Halbröhre, im Körper so gelagert, daß die offene Seite nach unten zeigt. Drei Teile lassen sich an ihr unter- scheiden, am vorderen (apikalen) Ende die beiden Schienenbögen und die zwischen ihnen liegende Gabel; davon nach hinten anschließend der auf- getriebene Schienenkolben, der in den 3. Teil, den geraden Schienenschaft, nach hinten übergeht; und zwar allmählich bei der Wespe, deutlicher abgesetzt bei der Biene. An den beiden unteren Rändern der Stachelrinne ziehen sich die beiden Schienenleisten hin (Abb. 12), die als Gleit- schiene für die Stechborsten eigentlich überhaupt allein den Namen „Schienen" verdienen. Abb. 2. Hinlerleibsende der Biene mit hervorgeslrecktem SUiclicl. Über der Slachelrinne die beiden mit Haaren besetzten .Stachelscheiden (oder Stacheltaster). Die Schiene hinten mit den drei Deckschuppen der rechten Seite; vor jeder eine Aus- führungspore , die auch am ganzen sichtbaren Teil der Schiene zu sehen sind. Unter der Schienenrinne die beiden ganz vorgeschobenen Stechborslen ; die linke, die etwas weiter hervorragt, überdeckt mit ihrer Deckenlamclle die rechte. An dieser die normale Zahl von lo Widerhaken; hinter jedem die Oftnungspore eines Seitenkanälchens. Zwischen beiden Stech- borsten der Giftkanal, der durch die Bodenlamellen dicht vor der .Spitze der Borsten ausmundet (bei A.). des Stachels nach dem Stich erklären wollte, wur- den besonders die stechenden Teile untersucht. Die übrigen ergaben bei der Durchsicht die in der Literatur (Kräpel in, Kahlenberg, Zander u. a.) genannten Stücke und die bekannte Anord- nung. Die Untersuchung des eigentlichen Stachels ergab aber mancherlei neue Tatsachen, die so- wohl für die Bedeutung des Organes wie auch über den Vorgang des Giftabflusses neue Ver- mutungen geben. Abb. 2 zeigt das Hinlerleibsende der Biene mit herausgesteckter Schiene, über ihr ragen etwas die Stacheltaster hervor, an ihrer Unterseite sind Durch die doppelten Wände, die im bauchigen Vorderteil allerdings sehr dicht aneinander liegen, ist die Stachelrinne selbst, abgesehen von ihrer halbzylindrischen Form, eine geschlossene Röhre. Entstanden aus zwei Zapfen des Bauchsegmentes vom 8. Hinterleibsring ist sie, wie der ganze Stachelapparat, ursprünglich auch ein paariges Gebilde, das erst nachträglich verwachsen ist. Der Hohlraum in ihr schließt sich vorn durch die aneinanderliegenden Wände, er ist am weite- sten an der Übergangsstelle des Kolbens in den Schaft und endet schließlich blind an der Schienen- spitze (s. Abb. 3). An den unteren, außenliegen- N. F. XIX. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. den Rändern der Stachelrinne tritt dieser Hohl- raum aber durch seine Kanäle und Poren frei nach außen ; besonders zahlreich sind sie an der weitesten Stelle der Höhlung, also am Übergangj in den schlanken Endteil. Bei der Biene sind die letzten Poren von drei Paar Haken, die ich hier lieber „Deckschuppen" nennen möchte, überdeckt. Bei der Hummel sind es nach Kräpelin zwei Paar „Höckerchen". Damit gleicht die Schienen- rinne in ihrem Aufbau — besonders bei der Biene mit den sechs Deckhäkchen — vollkommen den Stechborsten, zumal sie auch ursprünglich doppelt angelegt wird und erst später zu der einen Rinne verwächst, wobei dann die beiden Hohlräume in einen einzigen übergehen. Abb. 3. Stachelriiine der Biene. Mikroskopisches Bild, demnach rechts und links, oben und unten \ertauscht. Im Bild ist der Schienenkolben von links her bis zur Mitte ■ |uer durchschnitten, dann Längsschnitt bis zum Beginne des Schienenschafics, dieser wieder in der rechten Hälfte quer- geschnitten. Man sieht die doppelten Wände der Stachelrinnc; in den Hohlraum treten zu beiden Seiten Tracheen ein. (Tr.) Bei V. der Vorhof im Schienenkolben, in den sich das Gift aus der Blase ergießt. An der rechten Seite des Schienen- schaftes die .Ausführungsporen, die drei letzten von den Deck- schuppen (D.Sch) überdeckt. An beiden Rändern laufen die feingezähnten Glcitschienen (Seh.) entlang. Die Innnenw.ind der Stachelrinne ist — ebenso wie bei den Stechborsten — dünner als die Außenwand und schmiegt sich nach vorn (apikal) immer enger der Außenwand an. ist. Der dicke I lals der Giftblase, sowie die dünnen Ausführungsgänge der Schmierdrüse, enden zwischen den Schienenbögen in den vorderen Teil des Kolbens, der hier nach vorn hin durch eine elastische Membran abgeschlossen ist. So ergießen sich die breiten Sekrete (nach Kahlen- bergs Mitteilung sagt Carle t, daß die Ameisen- säure der Giftblase erst vermischt mit dem schwach alkalischen Sekrete der Schmierdrüse die Gift- wirkung zustande brächte) in den weiten, unten offenen Halbkanal des Schienenkolbens; den Ver- schluß nach unten hin bilden die eng aneinander- liegenden Stechborsten mit ihren „Bodenlamellen", über die an der betr. Stelle (S. 231) Genaueres zu sagen ist. Ähnlich — von den bisher noch nicht beschriebenen „Lamellen" an den Stech- borsten abgesehen — beschreibt es bereits Krä- pelin, doch ist bei ihm nicht ganz klar, wie der weitere Verlauf des Giftblasenhalses im Kolben gemeint ist; besonders da er einen Unterschied bei der Wespe findet. Hier soll der Giftblasen- hals zunächst selbstständig durch den Kolben weitergehen und sich erst am Schienenschaft öffnen. Dadurch verlöre aber der Schienenschaft seinen Hohlraum, in dem die Tracheen liegen, und die Sekrete könnten durch die Poren der äußeren Schienenwand austreten. Allerdings ragt wohl .'\bb. 4. Seitenansicht der Stachelrinnc von der Biene B. (in richtiger Lage). Vor dem Kolben die Giftblase G mit Giftblasenhals. Hinten die drei Deckhäkchen der rechten Seite. Die äußere Wand von Poren durchbohrt. Diese Homologie mit den Stechborsten wird noch dadurch verstärkt, daß auch in die Schienen- rinne, vorn an den Schienenbögen links und rechts, Tracheen eintreten, die genau wie bei den Stech- borsten fast bis zur Spitze fortlaufen und dort — immer dünner werdend — allmählich enden. Die feinen Poren in der äußeren Rinnenwand ent- sprechen ganz genau den später zu beschreiben- den Poren in den Borsten. Durch den Umstand, daß die Deckhäkchen über den äußersten Poren an der Schienenspitze bei der Wespe fehlen, kommt es vielleicht, daß der Stachel derselben so häufig als glatt geschil- dert wird und damit das seltenere Steckenbleiben nach dem Stich erklärt wird. Unverständlich ist es aber, wie bei Sollmann auch die Schiene der Biene als spiegelglatt bezeichnet werden kann. Hier wäre noch hervorzuheben, daß der Hohl- raum in der Stachelrinne ebensowenig wie die Kanäle in den Stechborsten mit dem Giftabfluß etwas zu tun hat; das Gift gelangt überhaupt nicht in diesen Raum — wie früher vielfach be- hauptet wurde — -, in dem die Tracheen liegen und der von so zahlreichen Poren durchlöchert .\bb. ^. Dasselbe bei der Wespe W. Die Schienenspitze ist nicht gezähnt. bei der Wespe der Giftblasenhals weiter in den Kolben hinein und ist infolge der helleren F'är- bung der Kolbenwände auch deutlicher von außen zusehen, die Ameisensäure ergießt sich aber ge- nau wie bei der Biene auch hier in den weiten Kolbenraum, der nach unten durch die Stech- borstenlamellen geschlossen wird. Bis zur Mitte der Stachelrinne fließt die Gift- flüssigkeit also in einer Röhre, deren Wände und Decke die innere Chitinhaut des Schienenkolbens bildet, während der Boden durch die beiden mit ihren Bodenlamellen übereinandergreifenden Stech- borsten gebildet wird. Die bauchige Erweiterung des Kolbens mag als Ansammlungsraum für die .Sekrete dienen, in den die Muskeln, die den ganzen Gifldrüsengang und die Giftblase umkleiden, das 230 Naturwissenschaftliche .Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. IS Gift hineinpressen. Der Kolbenraum wirkt dann als Vorhof und ermöglicht ein dauerndes und gleichmäßiges Ausströmen der Flüssigkeit. Auf den Unterschied, den der stark abgesetzte Schienen- kolben der Biene zu dem allmählich in den Schaft übergehenden Kolben der Wespe zeigt (Abb. 4 u. S), soll noch später zurückgekommen werden. Der hintere Teil der Stachelrinne, der eigent- liche, beim Stechen mit hervorgestoßene Schaft hat nun — im Gegensatz zu den bisherigen Be- schreibungen — mit der Weiterleitung des Giftes direkt nichts mehr zu tun. Er dient vor allen Dingen der Führung der Stechborsten, denn diese übernehmen nun an der Stelle, wo der Kolben in den Schienenschaft übergeht, allein die Bildung des Giftganges (S. 231); von hier ab können sie ja beim Vorschieben über das Ende der Stachel- rinne herausragen. Die Giftflüssigkeit würde also, wenn sie noch weiter zwischen Stachelrinne und Stechborsten flösse, bereits an der Spitze des Schienenschaftes austreten müssen; dann wäre das weitere sägeartige Vorschieben der Stech- borsten überhaupt zwecklos, der Giftkanal hätte ja keine Wände und keine Decke mehr. Über- dies tritt der Tropfen an der Unterseite der Stech- borsten aus (Abb. 2) und nicht über ihnen. Eine kleine morphologische Abweichung bei verschiedenen Immenarten zeigt die Schienen- spitze; ich möchte ihr zwar im Gebrauch keine Bedeutung beimessen, aber für die Systematik kann sie von Wichtigkeit sein. Bei der Biene ist sie abgerundet, bei der Wespe ausgebuchtet (Abb. 12 u. 8), so daß sie zwei abgerundete Spitzen hat; bei anderen Wespengattungen z. B. PoUistes, ist sie einfach zugespitzt. Sicherlich ließen sich hier für verschiedene Spezies bestimmte Formen feststellen ; hier brauchte wenig Wert darauf ge- legt zu werden. Auch an den eigentlichen (xleitschienen, die an den beiden Rändern der Stachelrinne entlang laufen, ist bisher eine Feinheit übersehen worden. Sie sind beiderseits mit zarten, gegenständigen Zähnchen versehen, die in der Schieberichtung nach hinten zur Stachelspitze zeigen. Sie müssen auf die sie umgreifenden Gleitrillen der Stech- borsten bremsend und festigend beim Vorschieben wirken. Diesen Zähnchert entsprechen an den Stechborsten — um die Homologie auch bis ins Kleinste zu vervollständigen — ebenso gerichtete und angeordnete Zähnchen in den Gleitrillen (Abb. 12). Die Stechborsten. An den Stechborsten unterscheidet man den vorderen gebogenen Teil als Schenkel (aus dem Bauchsegment des 7. Hinterleibsringes entstanden) und den geraden Teil (Bildung des 8. Bauch- segementes); dieser ist in der vorderen Hälfte glatt und trägt an der hinteren, die abdominal gerichtet die äußerste Spitze des ganzen Stachels bildet, die bekannten Widerhaken. Die Stech- borsten sind in ihrer ganzen Länge, bis auf die äußerste massive Spitze, hohl; vorn, wo sie auf den Schienenbögen aufliegen, treten Tracheen in den Hohlraum ein und laufen — wie in der Stachel- rinne — bis fast zur Spitze hin durch, indem sie allmählich immer feiner und enger werden. Wie bekannt tragen die Borsten bei der Biene im vorderen glatten Teil je ein „elastisches Plättchen", das in den kolbenartig erweiterten Teil der Stachelrinne hineinragt. Sicher wird ihm die be- schriebene Bedeutung zukommen, beim Vorschie- ben der Stachelborsten federnd zu bremsen. Bei den Wespen fehlen die Plättchen und die Schie- nenrinne ist dementsprechend auch nicht so kol- benförmig erweitert wie bei der Biene. Die elastischen Plättchen sitzen nicht, wie man es auf vielen Abbildungen (Sollmann) findet, den Widerhaken gegenüber, sondern sind gegen diese nur um 90" gedreht, so daß sie beim sitzenden Insekt senkrecht nach oben zeigen, während die Widerhaken in wagerechter Ebene liegend nach außen zeigen. Durch die Plättchen wird die mikroskopische Untersuchung der Stechborsten sehr erschwert, weil diese auf dem Objektträger sich immer platt hin- legen und dadurch die Haken nach oben richten. Diese „Widerhaken" an der hinteren Hälfte der Stechborsten veranlassen also das Stecken- bleiben des Stachels nach dem Stich in elastisch- zähe Substrate und führen danach den Tod des betreffenden Insektes herbei. Die meisten Autoren (Kräpelin u. a.) geben ihre Zahl als konstant an ; das ist aber keineswegs der Fall. Bei der Biene sind es zwar mit großer Regel- mäßigkeit zehn, dann ist aber der vorderste (kopf- wärts gerichtete) nur als kleines Zäckchen vor- handen. Ihre Zahl kann aber auch sogar an den beiden Borsten ein- und desselben Tieres ver- schieden sein (s. Abb. 6). Bei der Wespe sind es eher weniger als iO, oft 9 oder 8; Hummeln und Hornissen haben noch weniger, etwa 6. Die leichte Variabilität in der Anzahl der Haken wird für ihre Deutung später von Wichtigkeit sein. Diese äußere Morphologie der Stechborsten war im allgemeinen bekannt; auffällig ist es schon, daß so viele 'ältere Forscher nicht bemerkt haben, daß der Hohlraum in den Borsten immer hinter den „Widerhaken" durch feine Poren nach außen mündet. Nur Kräpelin schreibt darüber kurz, ohne weiter darauf einzugehen, und Fenger erwähnt es zwar anfangs, leugnet es später aber wieder. Der Kanal in den Borsten ist in ihrer nach vorn liegenden, also der Stachelspitze abgewandten, Hälfte verhältnismäßig breit. Das Lumen ist etwa 3—4 mal so weit als die Dicke der Wand. An der Stelle aber, wo die Borsten beim weitesten Vorschieben das Ende der Stachelrinne überragen — das ist etwa in der Mitte ihres geraden Teiles wird der Hohlraum plötzlich enger, so daß nun die Außenwand ebenso stark wird wie das N. F. XIX. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. :=3i Lumen; und nun zweigen sich bald von diesem nach der äußeren Seite feine Kanäle ab, die schräg nach hinten — der Stachelspitze zu — gerichtet in feinen Poren nach außen münden. Nur die gerade Fortsetzung des Hauptkanales, die also die Borstenspitze durchbohren müßte, endet kurz vor der Spitze blind, so daß diese selbst massiv und widerstandsfähig bleibt. Die Zahl der Seiten- kanäle schwankt, sie ent- spricht ungefähr der An- zahl der „Widerhaken"; denn es ist ganz gewiß kein Zufall, daß die Ausmündungsstelle der Kanälchen jedesmal von einem solchen Haken überdeckt wird ; höchstens an der äußersten Spitze können ein oder zwei Poren unbedeckt bleiben (Abb. 6 u. 8). Dieses ÜberdeckenderÖffnungen ist so auffällig, auch trotz der gelegentlichen Aus- Abb. 6. Die beiden Stecli- borsten der Wespe (Vespa vulgaris) von unten gesehen. Verengerung des Kanales und Verstärkung der Wände im hinteren Teil ; von dort an treten die beiden Decken- lamellen (D.L ) auf, während die beiden Bodenlamellen (B.L.) an der ganzen Stech- borste entlang laufen ; die linke B.L. des Tieres trägt dicht vor der Spitze den Ausschnitt (A.), aus dem der Gifttropfen austritt. An der Oberseite der Borsten die Gleitrille (Gl.). Die Stechborsten sind etwas auseinandergelegt ; die rechte zeigt die normale Zahl von 10 Widerhaken, hinter jedem mündet ein Seitenkanulchen nach außen; die linke Borste (desselben Tieres) hat nur 9 Haken ; eine Pore vor der Spitze mündet frei. Abb. 7. Spitze der beiden Stechborsten von der Biene, von unten gesehen. Bei A. Ausschnitt für den Gift- tropfen ; die schmalen Bodenlamellen (B.L ) über- decken sich und bilden dadurch den Bodenabschluß für den Giftkaual. Rechts (linke Borste!) normale .\nordnung der Widerhaken und Seitenkanäle ; links (rechte Borste) fehlt der letzte Kanal vor der Spitze. nähme an der Borstenspitze, daß darüber noch mehr zu sagen ist, und es ist merkwürdig, daß in früheren Arbeiten nicht schon darauf eingegangen ist. Hinzu kommt noch, daß ja auch an der Stachelrinne der Biene die gleiche Anordnung zu sehen ist. Und noch etwas anderes ist ganz übersehen worden, obwohl es gerade für das Ausfließen des Giftes von hoher Bedeutung ist. Die Borsten, die an der Unterseite der Stachelrinne auf den Schienen gleitend hängen, sind auf ihrer beim sitzen- den Tiere nach unten gewandten Seite der ganzen Länge nach mit je einer schmalen Lamelle be- kleidet, die ich als „Bodenlamelle" (Lameila in- ferior) bezeichnen möchte. Denn sie bilden beide zusammen den Boden des Giftkanals im Stachel. Sie greifen übereinander und geben dadurch erst dem Giftkanal nach unten einen guten Abschluß, der das Auslaufen des Giftes verhindert. Das einfache Aneinanderliegen der beiden Borsten, wie es früher beschrieben wurde, hätte das sicher nicht vermocht, besonders da dieselben auch noch abwechselnd vor und zurückgeschoben werden. Durch die Verengerung des Hohlraumes in der hinteren Hälfte der Borste wird auch diese selbst dünner, und dadurch wird in diesem Teile auch die Bodenlamelle breiter, denn ihr äußerster Rand läuft geradlinig weiter (Abb. 6). Die Stechborsten treten hier, besonders bei der Wespe, auch da- durch, daß sie nicht mehr so umfangreich sind, weiter auseinander, so daß nun ohne die Boden- lamellen der weitere Giftabfluß überhaupt nicht möglich wäre. Erst dicht vor der Stechborsten- spitze, also am Ende des ganzen „Stachels", weichen die beiden Bodenlamellen bei der Biene mit einer sanften Ausbuchtung auseinander, die als Ausflußstelle für das Gift dient ; bei der Wespe trägt die Bodenlamelle der linken Stechborste einen halbkreisförmigen Ausschnitt zu demselben Zwecke (Abb. 7 u. 8). Außer dieser „Bodenlamelle" trägt aber jede Stechborste noch einen Hautsaum; dieser läuft aber nicht an der ganzen Borste entlang, sondern nur an der hinteren Hälfte, eben von der Stelle ab, wo die Borste dünner wird und beim Vor- schieben über die Stachelrinne herausragen kann — und das ist sehr wichtig für die Bedeutung, die ich den Lamellen zuschreibe. Diese Haut- säume liegen den Bodenlamellen gegenüber an der oberen Kante der Stechborsten und schmiegen sich, auch wäeder übereinandergreifend, der un- teren Wand des Schienenschaftes an. Daher möchte ich sie als „Schienenlamellen" bezeichnen oder auch als „Deckenlamellen" (Lamella superior), da sie im Gegensatz zu den Bodenlamellen nun die Decke des Giftkanals bilden. Und zwar liegt die Lamelle der rechten Borste direkt an der Unterseite der Stachelrinne, die der linken Borste schmiegt sich im Inneren des Giftkanals von unten an die rechte Deckenlamelle an, so daß beide nach oben hin einen doppelten Verschluß bilden. Im vorderen Teile der Stechborsten, der >32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 15 niemals die Stachelrinne überragen kann, fehlen diese Deckenlamellen ; hier wären sie nicht nur überflüssig, da ja der Stachelrinnenkolben die Decke bildet, sondern sie wären auch störend, da sie den Kolbenhohlraum abschließen und den Giftabschluß hindern würden. Sie sind, be- sonders die linke, in ihrer ganzen Länge eben- so breit wie die Stech- borsten selbst. Da beide Paare gegenseitig über- einandergreifen, bilden sie einen für Flüssigkeit genügend verschlossenen Kanal, dessen Boden und Decke also von den Lamellen gebildet wird, und als dessen Seiten- wände die Stechborsten selbst dienen (Abb. 9). Bei einigen Autoren (z. B. Fenger) findet sich die Behauptung, die Stechborsten enthielten zwei parallel in ihnen verlaufende Hohlkanäle, einen engen und einen weiten. Der enge ist der wirklich vorhandene, der andere entsteht schein- Abb. 8. Die Spitze des Wespenstachels. Mikro- skopisches Bild, rechts und links vertauscht ; Ansicht von unten. Die linke Borste trägt in der Boden- lamelle (B.L.) den Ausschnitt (A.) als Austrittsstelle für das Gift, die Deckenlamellen (D.L.) liegen an der Unterseile der Stachelrinne, zwischen B.L. und D.L. der Giftkanal (G). In die Hohlräume der Siechborsten und der Stachelrinne treten Tracheen ein, deren Enden hier sicht- bar sind. Auf der Stachel- rinne die beiden Gleit- schienen (Gl.) mit den nach hinten gerichteten Zähncheo. In der oberen, starken Wand der Schienenrinne sind zwei Poren getroffen ; die ge- schweifte punktierte Linie in der Mitte des Bildes ist die Spitze der Stachelrinne, die durch die Borsten hin- durchscheint. Poren und Widerhaken der linken Borste sind unnormal an der Spitze. Abb. 9. Plastisches Bild von der Spitze des Wespen- stachels. Alle Chitinteile sind undurchsichtig gezeich- net. Krklärung ergibt sich aus Abb. 8. Natürliche Lage von unten gesehen. Abb. lü. SL-hienenspitze der Biene von oben gesehen ; die rechte Stechborste hängt noch darunter und ragt an beiden Seiten darüber hinaus. Man sieht an ihr die gezähnte Gleitrille ; die an der Schiene anliegende Deckenlamelle (D.L.) und die schmalere Bodenlamelle (B.L.). In der Schiene ist der Holil- raura zu sehen und die letz- ten Seitenkanälchen mit Poren; über diesen 3 Paar Deckhaken. Abb. II. Die Spitze der anderen, linken Stechborste von der Biene ; von oben ge- sehen. Oben liegt die ge- zähnte Gleitrille und die Deckenlamelle (D.L), unten die schmalere P.odenlanielle (B.L.). Widerhaken und Seitenkanälchen mit Poren in normaler Anordnung. Abb. 12. Die Spitje der Stachclrinne von der Biene; ohne Stechborsten von unten gesehen. An den Rändern die beiden gezähnten Gleit- schienen, auf denen die Stechborsten gleiten. .\bb. 13. Spitze der linken Stechborste von einer Polistes-Art. Ansicht von unten. Die Widerhaken dachziegclartig an den Seiten übergreifend. Die Boden- lamelle (B.L.) mit dem .Ausschnitt und die breite Deckeulamclle (D.L.) ähn- lich wie bei Vespa vulgaris. N. F. XIX. Nr. IS Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 233 bar dadurch, daß sich die Ränder der Boden- und Deckenlamelle aneinanderlegen und so bei einzeln herauspräparierten Borsten einen zweiten weiteren und dünnwandigen Kanal vortäuschen. Auf diese Weise mag wohl die manchmal gelesene Meinung entstanden sein, daß das Gift durch die Stechborsten selbst abflösse. Auch in anderer Weise können die Lamellen die mikroskopische Beobachtung stören; sie breiten sich auf dem Objektträger aus und bringen dadurch die Borste in eine Lage, bei der die Widerhaken nach oben stehen und dadurch sowohl selbst der Beobachtung entgehen als auch besonders die Ausführungsporen der Seitenkanälchen verdecken. Den Schienen der Stachelrinne entsprechend haben die Stechborsten in ihrer ganzen Länge die bekannten Gleitrillen; daß auch diese ähnlich wie die Schienen selbst zahlreiche der Spitze zu- gewandte Zähnchen tragen, ist bereits erwähnt. Sie stehen sich in gleichen Abständen gegenüber und ermöglichen einen festeren Zusammenhang zwischen Schiene und Rille. Es mag hier bereits darauf hingewiesen werden, wie fein ausgebildete Organe die Stechborsten wie auch die Stachelrinne sind, die durchaus nicht den Eindruck rudimentärer Überbleibsel erwecken. Der Giftabfluß. Wenn auch an den betreffenden Stellen über den Giftabschluß schon gesprochen wurde, so mag er doch hier noch einmal kurz im Zusammenhange dargestellt sein, da er doch weiteres Interesse beansprucht und durch die vorigen Darlegungen etwas anders als bisher beschrieben werden muß. Der Giftkanal wird also nicht in seiner ganzen Länge oben und seitlich durch die Stachelrinne und unten durch die Stechborsten gebildet. Dann müßte ja das Gift bereits an der Spitze der Stachelrinne, über den Stechborsten austreten. Das weitere Vorstoßen der Borsten, das so man- chem Tiere verhängnisvoll wird, wäre dann ganz sinnlos, denn es genügte ja dann das Einbohren des Stachels mit der Stachelrinne, die aber selbst meistens wieder zu dick dafür wäre. Nach dem Austritt aus dem Giftblasenhals ergießt sich die Flüssigkeit in den Kolben, resp. den weiteren Teil der Stachelrinne, nach unten hin durch die beiden übereinandergreifenden Bodenlamellen der Stechborsten am Auslaufen verhindert. Am Ende des Kolbens, also auf der hinteren Hälfte der Rinne, übernehmen die Stech- borsten selbständig die Bildung der Giftröhre (Abb. 9) ; hier greifen an der Oberseite die beiden Schienen- oder Deckenlamellen breit übereinander, an der Unterseite bilden wie bisher die durch das Dünnerwerden der Borsten ebenfalls breit- gewordenen Bodenlamellen den Bodenabschluß. Werden so die Stechborsten soweit wie möglich, also etwa bis zur halben Länge ihres geraden Teiles, vorgeschoben, so bilden sie auch dann noch einen für das Gift genügend verschlossenen Kanal. An der Unterseite desselben, dicht vor der Spitze, durch die Bodenlamellen in der beschriebenen Weise (Abb. 6 — 9) freigelassen, liegt die Austrittsöffnung für den Gifttropfen, der durch das abwechselnde, sägeartige Vorstoßen der Borsten bis zu dieser Öffnung mit fortgeleitel werden mag. Schlußfolgerungen. Nach diesen dargelegten anatomischen Unter- suchungen mag nun noch eine Erörterung der mutmaßlichen Bedeutung des „Wehrstachels (Aculeus)" angefügt sein. Wenn es auch oft ein undankbares Beginnen ist, den „sicheren Boden der Erfahrung" zu verlassen, so kommt man doch ohne Denken und logische Schlußfolgerungen auch nicht aus. Die volkstümliche Meinung, daß die Biene nach dem Stich sterben muß und somit von der Natur eine sehr unpraktische Waffe erhalten hat, braucht nicht widerlegt zu werden. Aber auch die Ansicht, daß nur in elastischer Haut der Stachel dem Besitzer gefährlich wird, gibt noch keine Erklärung dafür, daß die verhängnisvollen „Widerhaken" überhaupt vorhanden sind. Wenn der Chitinpanzer eines anderen Gliedertieres im allgemeinen auch nicht schädlich ist, so nützen doch auch gegen ihn angewandt die Stachelhaken nichts. Es wäre auch in diesem Falle viel natür- licher, wenn sie nicht vorhanden wären; dann wären auch etwaige Unglücksfälle, wie sie ein- gangs erwähnt wurden, ausgeschlossen. Außerdem haben (n. Literatur) verschiedene Familien der Stechwespen (Apocrita), z. B. Wegwespen (Pompi- lidae), Goldwespen (Chrysididae), Gallwespen (Cynistidae), gar keine Haken und andere nur wenige und stumpfe, wie Schlupfwespen (Ichneu- monidae) Grab- und Mordwespen (Sphegididae, Crabronidae) ; alles Insekten, die gewohnheits- mäßig ihren Stachel zum Stechen in feste Gegen- stände, z. T. ausschließlich gegen andere Chitin- tiere gebrauchen. Es wäre also nur verständlich, wenn der „Wehrstachel" der echten Faltenwespen (Vcspidae) auch glatt und hakenlos wäre. Daß über dieses Problem nicht noch mehr nachgedacht ist, liegt sicher mit daran, daß man bei dem mit Widerhaken besetzten Giftstachel der Immen un- willkürlich an vergiftete Pfeile denkt, bei denen natürlich die Widerhaken ihren Zweck haben. Um der Frage näher zu kommen, muß man auf die Stammesgeschichte der Immen eingehen. Ihre Vorfahren sind ja mit ziemlicher Sicherheit bekannt, und damit ist auch die Entstehung des Stachels erklärt. Danach sind die „Wehrstachel- wespen" (Aculeata) Nachkommen der „Legebohrer- wespen" (Terebrantia), und der „Wehrstachel" selbst ist demnach aus dem „Legebohrer" hervorgegangen. Dieser wird zum Einbohren der Eier in Holz, Blätter oder andere Pflanzenteile, später auch in Kerbtiere und deren Larven gebraucht ; und die „Widerhaken". haben ihren bestimmten Zweck, da sie beim Einbohren als „Sägezähne" wirken; des- halb sind hier auch häufig die Haken sogar 234 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 15 doppelt gezähnt (Enslin), ähnlich wie bei besonders starken Stein- oder Metallsägen. Man betrachte sich auch nur einmal genauer die Stechborsten der Biene und Wespe! Auch hier sind die Haken vielmehr Sägezähne als Widerhaken, denn sie ragen nicht über den geschlossenen Umriß der Borste heraus, sondern scheinen vielmehr dadurch entstanden zu sein, daß der an dieser Seite gerade und scharfe Rand der Stechborste eingekerbt ist. Nimmt man noch die sägeartige Bewegung beim Vorschieben der Borste hinzu, so könnte man sich wohl mit dieser Beantwortung der F"rage zufrieden geben. Das Gift des jetzigen Wehr- stachels könnte dann sehr wohl von den Vor- fahren, bei denen es zur Gallbildung u. dgl. gedient hat, mit überkommen sein. Danach ist also der Wehrstachel (Aculeus) einfach der alte Legebohrer (Terebra), der sich in seiner Gestalt wenig ver- ändert hat. Aber gerade diese NichtVeränderung, das Beibehalten der Zähne an den Stechborsten, gibt doch zu denken, wenn es auch Gründe genug gibt, die es erklärlich scheinen lassen. So wird gesagt, bei der Wehr gegen andere Insekten sei ja der Stachel nicht so gefährlich, gegen Tiere oder Menschen mit elastischer Haut würde er nur in Ausnahmefällen angewandt und sei ja auch gegen diese nicht geschaffen. Das ist sicher richtig, erklärt aber nicht, warum trotzdem die Widerhaken nicht abgeschafft worden sind, was doch ■ — wie später ausgeführt wird — sicher keine Schwierigkeiten gemacht hätte. Ferner wird an- geführt, der gelegentliche Tod einer Biene durch Stachelverlust sei bei der großen Zahl der In- dividuen keine Gefahr für die Erhaltung der Art. Wie steht es dann aber bei den schwächeren Staaten (z. B. bei den meisten Hummeln und Hornissen) und gar bei Einzelbienen? Und schließ- lich gehört hierher die Ansicht vieler Bienen- beobachter (Pfarrer Gerstun g u. a.), daß die Tiere ohne Not von ihrem Stachel zur Wehr überhaupt keinen Gebrauch machen — auch nicht in der „Drohnenschlacht". Auch hierüber ist noch zu sprechen; es unterliegt aber doch keinem Zweifel, daß besonders Wespen sehr wohl zum Angriff unter Umständen leicht gereizt werden können. Fälle wie der, wo Jungen mit Stöcken in ein Erdwespennest (Vespa vulgaris) gestoßen hatten und dadurch nicht nur sich selbst, sondern auch anderen in der Nähe befindlichen, aber ganz unbeteiligten Personen zu Wespenstichen verholfen hatten (n. Dr. Herberg, Potsdam), werden vielfach bekannt sein. Nach den Angaben von Brehm, Kräpelin, V. Buttel-Reepen u. a. würde sich der mut- maßliche Stammbaum der Bienen und Wespen etwa so darstellen : Stammbaum der Hautflügler (Hymenoptera). Urholzwespen (Pseudosiricidae) I Holz- und Schwertwespen (Siricidae) (mit Legebolirer, wenig stumpfe Häljciien) I Blattwespen (Tenthredinidae) (viele, häufig doppelt gesägte Zähne) I Schlupfwespen (Ichneumonidae) (Legebohrer auch als Giftstachel gebraucht, wenig stumpfe Häkchen) I Grabwespen (Sphegidae, Crabronidae) (sechs kleine Haken an jeder Stechborstc) ^oberer Jurakalk Solnhofer Schiefer! Wegwespen (Pompilidae) (keine Haken) Echte Faltenwespen (Vespidae) !, Vespinae Polistes Wespe (Vespa) (10 Haken) \Urbienen (Proapinae) I Einzelbienen Staatenbienen Hummel (Bombus) (6 Haken) [OligocänJ Meliponiae (stachellos) LMiocUn] Apis adamitica I Honigbiene (Apis mellifica) (10 Haken) Der Wert solcher Stammbäume ist ja immer noch eine Streitfrage. Im allgemeinen aber und in großen Zügen, wie er hier wiedergegeben ist unter P'ortlassung aller P'amilien, die hier nicht interessieren, wird er doch wohl als richtig hin- zunehmen sein. Die Ausbildung der Stechborsten, mit besonderer Berücksichtigung der Widerhaken, ist mit angegeben; denn darum handelt es sich ja hier in erster Linie. So ergibt sich nun folgendes, die Angaben der Literatur als richtig vorausgesetzt: Die Holzwespen haben Legebohrer mit wenigen, stumpfen Häkchen; bei ihren Nachkommen, den N. F. XIX. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 235 Blattwespen, sind dann die Stachel — nicht zur Wehr oder zum Angriff befähigt — , mit Säge- zähnen, häufig sogar mit doppelten, zum Ansägen der Blätter ausgerüstet. Die auf sie folgenden Schlupfwespen können ihre mit wenigen stumpfen Häkchen besetzten Stechborsten als sehr brauch- baren Giftstachel anwenden. Ihre Nachkommen, die Grabwespen, haben je sechs kleine Haken an den Borsten; und leitet man nun von ihnen unsere heutigen Bienen und Wespen her, so findet man bei diesen neben der höchsten Ausbildung des Widerhakenstachels auch die verschiedensten Abänderungen bis zu ganz stachellosen Formen. Die Wegwespen sollen überhaupt keine Wider- haken, also glatte Stechborsten haben, die echten Wespen haben in wechselnder Zahl 8 — 10 Haken an jedem Stilett, und zwar in sehr gut ausgeführter Form, denen der Bienen durchaus ähnlich. Unter den staatenbildenden Bienen haben die Hummeln sechs Paar Widerhaken, die Meliponinae des Oli- gocäns sind gar stachellos und unsere Honigbiene hat schließlich den am stärksten bewehrten Stachel von allen, je lO Widerhaken an jeder Stechborste und 6 an der Spitze der Stachelrinne. Hiernach ist es doch schon ausgeschlossen, den Wehrstachel unserer Bienen einfach als ein Überbleibsel des Blattwespenbohrers hinzustellen. Vielleicht ist es auch kein Zufall oder das bloße Ergebnis gleichmäßiger Vererbung, daß Bienen- und Wespenstachel so ähnlich aussehen. Nach dem Stammbaum schieben sich in ihre Ahnen- reihe Zwischenglieder ein, die gar keinen Stachel haben ! Das legt doch die Vermutung nahe, daß die Stachelausbildung bei beiden in Anpassung an gleiche Lebensverhältnisse unabhängig vonein- ander erworben ist, anstatt als Erbgut vergangener Zeiten lediglich erhalten zu sein. Auch nach meinen Untersuchungen kann ich nicht glauben, daß sich der Stachel — der doch als „Wehrstachel" immer unpraktisch bleibt — so unverändert erhalten hätte, selbst wenn der Stammbaum grundfalsch sein sollte und alle Ab- änderungen anderer Wespenstachel für ihn ohne Belang sein sollten. In den langen Zeiträumen, die den Hautflüglern vom Jura her zur Verfügung standen, hätten sie sicher Zeit gehabt, ein Wehr- organ praktischer auszugestalten, zumal es doch — wie die Untersuchungen zeigen — auf ein paar Häkchen mehr oder weniger an den Stech- borsten gar nicht ankommt. Wenn selbst bei einem Individuum die Zahl der Zähne unregelmäßig sein und bei mehreren so leicht variieren kann, dann hätten diese verhängnisvollen Widerhaken sicher auch leicht ganz verschwinden können, wenn dies der Art zuträglicher gewesen wäre. Bei Betrachtung der Stachelborsten hat man auch durchaus nicht den Eindruck, ein atavistisches oder sonstwie überflüssig vererbtes Organ vor sich zu haben. Das Ganze ist im Gegenteil bis in die kleinsten Einzelheiten mit solcher P'einheit durchgearbeitet, daß man hier nur an ein wohl ausgebildetes, seinem Zwecke entsprechendes Instrument glauben kann. Und wenn man anderer- seits — was doch auch sicher richtig zu sein scheint — das Stechen zur Wehr nur als Aus- nahme auffassen muß, dann würde der zwischen den Lamellen so wohl geleitete Giftabfluß, die feine Durchbohrung der Schiene und Borsten, die so gleichmäßig ausgebildeten Zähne nicht zweck- los oder nur für solche Ausnahmefälle erhalten sein. Viel eher ist die Annahme berechtigt, daß gerade die Widerhaken in steigender Entwicklung immer besser ausgebildet worden sind. Die stechenden Teile sowie das Stechen selbst müssen jedenfalls auch heute noch ihre wohlbegründete Bedeutung haben; wenn sie im Funktionswechsel aus dem Säge- und Legebohrer der Tenthrediniden ent- standen sind, so haben sie sicli dabei auch trotz- dem ihrem jetzigen Gebrauche angepaßt. Bei allen Erklärungen sind bisher viel zu wenig die Höhlungen in der Schienenrinne wie in den Borsten und die Ausführungskanäle mit den Poren beachtet worden. Es wurde schon erwähnt, daß es unmöglich Zufall sein kann, daß die Poren jedesmal von einem Häkchen überdeckt sind. Nur an der äußersten Spitze, wo die Kanälchen schon ganz fein sind, kann es vorkommen, daß die Poren frei liegen, und sehr häufig fehlt dann hier gerade der Haken, so daß deren Zahl dann auch variiert. Die Biene überdeckt ja sogar die äußersten Ausführungsgänge der Stachelschiene mit Haken. Und es ist wohl bemerkenswert, daß hier, wo mehr Platz vorhanden ist als auf den dünnen Stechborsten, die Widerhaken eigentlich keine ,, Haken" mehr sind, sondern spitze Schüpp- chen. Zum Vergleich damit sei Abb. 13 beige- fügt, die Borste einer Polistes- Art ; hier sieht man, daß die Ränder der Zähne — ähnlich wie an der Schienenrinne der Biene — an den Seiten der Stechborsten herablaufen und damit ganz deut- lich über den Poren ein schützendes Dach bilden. Und das ist auch an den ,, Widerhaken" bei Biene und Wespe zu erkennen (Abb. 2), wenn auch die Schärfe des Borstenrandes keine sehr große Ver- breiterung zuläßt. Liegt aber eine solche Stechborste im Wasser- oder Glyzerintropfen auf dem Objektträger, so sieht man deutlich, daß die Flüssigkeit nicht bis in die äußersten Ecken unter den Häkchen vor- dringt, sondern von den Poren der Seitenkanälchen ferngehalten wird. Und darin muß ich nach allem Gesagten den Zweck dieser Haken erblicken. Daß Schienenrinne und Stechborsten in bezug auf die Kanäle gleichgebaut sind, war schon erwähnt; in beiden ist nun deutlich zu sehen, daß Tracheen in diese Hohlräume eintreten und, immer enger werdend, fast bis zur Spitze hinaufreichen. Das läßt darauf schließen, daß durch die Stachelschiene und die Stechborsten Luft geblasen werden kann. Nun weiß man von der Biene, daß sie, bevor sie eine honiggefüllte Wabe zudeckelt, noch einmal in die Honigmasse hineinsticht und einen Tropfen Ameisensäure aus ihrer Giftblase hineinspritzt, wodurch der Honig haltbar werden und den 236 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 15 scharfen Geruch bekommen soll. Es liegt nahe, daß andere Stechwespen mit ihren Speichervor- räten ähnlich verfahren; und es ist sehr wohl möglich, daß hierbei ein Durchblasen des Stachels mit Luft für das Ausfließen der Giftflüssigkeit von großer Wichtigkeit ist, sei es, um dem Tropfen das Ausfließen in die zähe Masse überhaupt erst zu ermöglichen oder ihn zu zerstäuben. Es ist ferner bekannt, daß Bienen ihren Stock besonders in der Trachtzeit mit dem Duft der Ameisensäure durchlüften , indem sie sich unter das Flugloch setzen und unter starkem Flügelschlägen den herausgesteckten Stachel mit einem Gifttropfen an der Spitze emporhalten. (Vgl. Grüner im Kosmos — Stuttgart 1919 S. 1 17; hier aberaus Un- kenntnis der Stachelanatomie nicht die richtige Deutung.) Die Sägezähnchen können den Tropfen nicht besonders festhalten, wie dort behauptet wird, aber durch Heben und Senken der Flügel werden die Bienen Euft in die Tracheenräume pumpen, die beim Austritt aus den Poren an .Stachelrinne und Stechborsten allerdings den Gifttropfen zerstäuben kann. Und dabei sind dann die „unpraktischen Widerhaken" wohl unentbehr- lich : sie halten die äußerst feinen Poren der Seitenkanälchen frei. Es wird ferner erklärlicher, daß die ,, Deckhaken" — wie man sie nun wohl besser nennen möchte — nur an der hinteren Hälfte der Stechborsten sich befinden, nur soweit diese beim Stich über die Stachelschiene herausragen und in die Nahrungsmasse gewöhnlich eintauchen oder vom Gifttropfen selbst bedeckt werden. Auch die der Wespe noch überlegene Ausbildung bei der Biene, die nicht nur stärkere Deckhaken an den Stechborsten aufweist, sondern auch noch die Spitze der Stachelrinne damit versieht, wird verständlich bei der Lebensweise dieser höchst- entwickelten Staatenimmen. Jedenfalls müssen die Ausführungsporen in den Stechborsten irgend- welche, aber sehr wichtige, Bedeutung haben, da sie auch bei der nicht in dem Maße wie die Bienen sammelnden, sicher aber nicht aufspeichern- den Wespen vorhanden sind. Der natürliche Ge- brauch des Stachels wird ohne die offenen Seiten- kanälchen in Stachelrinne und Borsten nicht mög- lich sein. Dann wären also die Haken keine „unpraktischen Widerhaken"., die in widersinniger Weise nur zur Vernichtung ihres eigenen Besitzers da sind, sie wären auch keine überflüssigen Säge- zähne, da ihnen diese Bedeutung schon längst nicht mehr zukommt, und eine Abänderung der Stachclteile im Laufe der Zeit sehr wohl möglich gewesen wäre ; sondern sie hätten die Bedeutung von „Deckschuppen" oder „Deckhäkchen", welche die Ausführungsporen der feinen Hohlkanäle in den stechenden Teilen des Stachelapparates frei halten müssen. Das würde auch die Frage nach den bekannten Mimikryerscheinungen der Bienen und Wespen nachahmenden Insekten (wie Hornissenschwärmer u.a.) berühren. J. 11. Fabre berichtet über viele Versuche, in denen verschiedene Stechimmen, z. B. Honigbienen und auch die stärksten Holzbienen (Hylocapa violacea), von Spinnen, sogar den kleinen Krabbenspinnen (Thomisus onustus u. rotundatus), getötet wurden, ohne daß die In- sekten von ihrem Stachel zur Wehr Gebrauch machten. Das würde zu den obigen Ausführungen passen, durch die ja auch die genannten Mimikry- liypothesen nicht gestützt werden. Man darf aber auch hier nicht voreilig schließen;') P"abre, der ja den Immenstachel lediglich als Wehrstachel auffaßt, schreibt auch, daß die Spinnen die be- wehrten Insekten nur dann anfielen, wenn sie dieselben durch einen plötzlichen Biß in das Nackenganglion töten könnten, daß sie sich aber nie auf einen Kampf mit ihnen einließen, aus wohlbegründeter P\ircht vor ihrem Stachel, wie Fabre meint. Er hat aber nie gesehen, daß die Immen an einen Kampf denken. Zur restlosen Klärung aller hier angezogenen Fragen wäre es wohl nötig, die Bedeutung der Kanäle und Poren in den eigentlichen Stachel- teilen durch Versuche sicher festzustellen, viel- leicht am besten dadurch, daß man den Stachel beim Stechen in Nahrungsmasse — etwa Honig — mikroskopisch beobachtete. Ich wüßte vor- läufig nicht, wie man das möglich machen könnte; aber das scheint mir doch sicher zu sein, daß der Stachel der Bienen und Wespen weder ein über- flüssig gewordenes Überbleibsel noch ein wider- sinniges Selbstmordinstrument, sondern eine für die Lebensweise dieser Insekten durchaus not- wendige Einrichtung ist, deren für einen beson- deren Zweck geschafi'ene Ausbildung solche Be- deutung hat, daß auch der dadurch gelegentlich herbeigeführte Tod eines Individuums mit in den Kauf genommen werden muß. Die Bezeichnung „Wehrstachel" würde allerdings damit in Sinn und Bedeutung nicht zutreffend sein. ') Vgl. Kathariaer in der Naturw. Wochenschr. Hell 1. 1920, S. 14 u. Heikcrtinger, Biolog. Zeutralbl. Bd. 8, 1919. Verzeichnis der im Text angeführten Spezialarbeiteu. A. Soll mann, ,,Der Bienenstachel". Zeitschrift für vvissensch. Zoologie 1S63. Dr. Fenger, „Anatomie und Physiologie des Giftappa- rates bei den Hymenopteren". Troschels Archiv Jahrg. 29, Band V, 1863. K. Kraepelin, „Untersuchungen über den Bau, Mecha- nismus und Entwicklung des Stachels der bienenartigen Tiere". Zeitschrift für wissensch. Zoologie 1873. II. Dewitz, ,,Übcr Bau und Entwicklung des Stachels der Hymenopteren". Zeitschrift für wissensch. Zoologie 1875. H. Kahlenberg, „Über Entwicklung des Slachelappa- ratcs, der Geschlechtsorgane und des Uarmkanals bei der Honigbiene". Dissertation. Erlangen 1895. E. Zander, „Beiträge zur Morphologie des Stachel- apparates der Hymenopteren". Zeilschrift für wissensch. Zoologie 1899. Sajo, „Die Honigbiene". Franckh- Verlag, Stuttgart 1909. Dr. E. Enslin, „Die Tenthredinoidea Mitteleuropas". Beihefte der deutschen Entomologischen Gesellschaft 1912 — 1917. J. II. Fabre, ,, Bilder aus der Insektenwelt" (Souvenirs Entomologiques). Franckh-Verlag, Stuttgart I914. Dr. W. Haß, „Über die Struktur des Chitins bei Arthro- poden". Veit, Leipzig 1916. N. F. XIX. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 23; Einzelberichte. Geologie. Über spät- und postglaziale lakustrine und fluviatile .-Xblagerungen in der Wyhraniederung bei Lobstädt und Borna und die Chronologie der Postglazialzeit Mitteleuropas hat H. A. Weber (als Lt. d. R. am 6. 7. 191 6 bei Berny en San- terre fürs Vaterland gestorben) eine interessante Arbeit hinterlassen, welche in den Abh. Nat. Ver. Bremen 1918, Bd. XXIX, H. i, erschienen ist. Über der tertiären Braunkohle, deren Ober- fläche durch Eisdruck gestaucht und wellig ab- gehobelt ist , lagert Geschiebelehm und darüber diluviale Schotler und Sande von unregelmäßiger Oberfläche. In die Schotter sind mehrere schmale rinnenartige Becken eingeschnitten , die mit all- mählicher Vertiefung senkrecht zur Wyhra ver- laufen. Diese Becken wurden von Mudden und ganzpflanzigen Torfarten erfüllt und eingeebnet. Das südliche Becken, das am besten aufgeschlossen war, zeigt einen mannigfaltigen Bau und besitzt eine Mächtigkeit von 4 m bzw. eine Breite von 44 m. Über den Moorbildungen lagert Aulehm, der die heutige Talsohle des Wyhratales bildet. Eine eingehende Bearbeitung haben vor allem die Moorbildungen gefunden. Sie sind entstanden, als die Wyhra sich mit einer breiten und tiefen Furche in die älteren Diluvialbildungen einge- graben und diese wieder mit mächtigen Schotter- massen ausgefüllt hatte. Dann trat ein Stillstand bzw. eine starke Abschwächung in der Auf- häufungstätigkeit der Wyhra ein. Die Hoch- wasser gelangten nicht mehr zu den Becken, in denen nunmehr die Moorbildung sich ganz unge- stört vollziehen konnte. Folgendes Profil zeigt die Schichtfolge des südlichsten der 3 Becken: Aulehm . . . . Fluß- ablagerungen Obere Lebermudde Waldtorf .... 0,2-0,25 11 Obere Torfmudde . . . 0,60 ,, Moor- bildungen 4 m Untere Lebermudde Untere Torfmudde . • ■ 0,45 .. . . 0,10 ,, Schwarze Schicht . Schotterterrasse 0,15 — 0,20 „ . . 6-7 „ Diluvium Ubergangs- bildung Fluß- ablagerung Diluvi u m 1. Schwär zeSchicht: schwarz, fettglänzend, hauptsächlich von Braunkohlentrümmern her- rührend. 2. Kalkmudde: gelblich bis gelbgrau, fein- sandig und stark kalkhaltig; 12 Arten Süß- wasserschnecken und I Landschneckenart; Holzgewächse (Birke und Föhre) fehlen. 3. Untere Torfmudde: ungeschichtet, schokoladebraun, schwachsandig, einzelne Pflanzenreste; Pinus und Bctula fehlen. Die unteren 3 dem Diluvium zugerechneten Schichten entstanden in einem einige Meter tiefen Teich, in welchem sich eine Anzahl von Wasser- und Sumpfpflanzen bei einem reichen Tierleben (Mollusken, Ostrakoden, Planarien, Oligochaeten) entfalten konnte. Zuletzt bildete sich eine stär- kere Ufervegetation aus, bis schließlich der Teich wahrscheinlich von Seggenwiesen und Torfablage- rungen umgeben wurde. Während der ganzen Zeit fehlten in der näheren und weiteren Um- gebung pollenliefernde Bäume, wie Birken und Föhren. Die P'auna und Flora paßt recht gut zu der mitteleuropäisch-glazialen, so daß die 3 unteren lakustrinen Schichten des südlichen Beckens noch zum Diluvium, die darüber folgen- den zum Alluvium gerechnet wurden. Alluvium. 4. Untere Lebermudde: braungelb, blätt- rig, nach oben in Torfmudde übergehend. Charakteristisch ist das Vorkommen der Weißbirke, speziell der für rauhere Lagen bezeichnenden Haarbirke, ebenso die Zwerg- birke und der Bastard zwischen beiden. Das Florenelement ist das des subarktischen Birkenwaldes. 5. Hypnumtorf: braun, dünnlamellig bis blättrig, außer Hypnum giganteum und inter- medium reichlich Föhren- und Birkenpollen, sowie Früchte von Betula (besonders B. nana). 6. Ob. Torfmudde: kalkfrei, ungeschichtet, dunkelbraun; überwiegend Pollen von Pinus silvestris, zum ersten Male Pollen von Picea, Quercus, Alnus. Die obere Torfmudde ge- hört der Föhrenzeit an und leitet zur Eichenzeit über. 7. Waldtorf: fest, nicht sehr braun, haupt- sächlich aus 2 — 3 cm großen Holzstückchen bestehend, autochthone Bildung; F"öhren- waldungen noch vorherrschend ; Eichen- und F'ichtenpollen wurden nicht angetroffen. 8. Ob. Lebermudde: braungelb, gallertig, lederig (trocken: licht und fest); Eiche vor- herrschender Waldbaum, Föhre zurückge- gangen, Fichte fehlend. 9. Tonmudde: hellgrau bis grünlichscheckig, durch Oxydation rostrot, unten eine scharfe Grenze bildend, nach oben unscharf in den Aulehm übergehend, Bildung in fließendem Wasser, fortgeschrittene Eichenzeit. Rückblickend läßt sich sagen, daß nach Ab- lagerung der Schotter der Grundwasserstand sehr niedrig war und die Wyhra vermutlich nur zeit- weise Wasser führte. Das Klima war sehr trocken, offenbar vom Charakter der Steppen. Charakte- ristisch ist die vollständige Abwesenheit blütenstauberzeugender Bäume. Wahrscheinlich war die Temperatur lange Zeit sehr niedrig, min- 238 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 15 destens so lange, daß sich eine 2 m starke Schicht von Kalkmudde samt der sie überlagernden Torf- mudde absetzen konnte. Mit der Ablagerung der unteren Lebermudde treten die ersten nachweisbaren Bäume auf und zwar Haarbirken , welche später von der Föhre verdrängt wurden, die in 3 Schichten häufig ist. Um die Mitte dieser Zeit machte sich die Eiche stärker bemerkbar, vorübergehend auch die Fichte. Das Grundwasser der Niederung begann langsam zu steigen, bedingt durch das allmähliche F"euchter- werden des Klimas. Mit der oberen Lebermudde setzte die Eichenherrschaft ein. Die ganze Tal- ebene bedeckte sich mit sumpfigen Erlen- und Eichenwäldern. Ein rasches Ansteigen vernichtete die Wälder und führte zur Ablagerung der Ton- mudde und darüber des 4 m mächtigen Aulehms. In der Wyhraniederung zwischen Borria und Lobstädt konnte somit durch H. A. Weber derselbe Entwicklungsgang der Baumflora während der Postglazialzeit festgestellt werden, wie ihn Steenstrup für Dänemark, Nathorst, Anders- so n für Schweden, Holmboe für Norwegen, C. A. Weber und v. Fischer-Benzon für das norddeutsche Tiefland festgestellt haben. Der Entwicklungsgang der Flora dürfte nicht allein für die Gegend südlich von Leipzig, sondern wahrscheinlich auch für ganz Mitteldeutschland Geltung haben. Weitere Untersuchungen zur Prüfung dessen waren geplant, besonders auch zur Feststellung der Buchenzeit, die in den unter- suchten Schichten nicht nachzuweisen war. Die Beziehungen zu klimatischen und geologi- schen Erscheinungen der Postglazialzeit in Skan- dinavien und Norddeutschland behandelt das 3. Kapitel, während das Schlußkapitel die Wan- derungen einiger der wichtigsten Waldbäume in Deutschland und Skandinavien während der Post- glazialzeit schildert. Die nichtglazialen Vegetations- gürtel konnten sich erst in dem Maße ausbilden, als das Eis zurückwich. Die Haarbirke dürfte in Mitteldeutschland bereits zu einer Zeit aufgetreten sein, als an Stelle der Ostsee das Yoldiameer be- stand und ebenso die Föhre in der Gegend süd- lich von Leipzig, als in Schonen die Dryasflora lebte. Zur selben Zeit, wo im nördlichen Mittel- europa die Hauptwaldbaumärten noch gürtelweise getrennt erscheinen, sind bereits in einem ge- wissen Teile Süddeutschlands alle mehr oder weniger reichlich zusammen vorgekommen. Es würde zu weit führen, all die vielen Beobachtun- gen über das Auftreten der einzelnen Waldbaum- arten in den einzelnen Gegenden von Deutsch- land und Skandinavien einzeln aufzuführen. Jammerschade ist es um den so früh der Wissenschaft entrissenen jungen Gelehrten, der das Zeug zu mancher schönen Arbeit gehabt hätte. V. Ilohenstein, Halle a.S. Über die „Erdgeschichte und Bodengestaltung Schleswig-Holsteins" berichtet W. Wolff in dem gleichnamigen Werke, dem eine Übersichtskarte der geologischen Landschaftsgliederung des Landes im Maßstabe i : i 000 000 beigegeben ist. Schleswig-Holstein ist junges Land, dem erst die allerjüngsten Perioden der Erdgeschichte Eiszeit und Nacheiszeit — das Gepräge gegeben haben. Es würde zusammen mit einem großen Teile Norddeutschlands und fast ganz Dänemark Meeresboden sein, wenn nicht in beiden Perioden sein Aufbau so sehr erhöht worden wäre. Unter dem jungen Boden liegt aber ein älterer Unter- grund ganz anderer Art verborgen, aus festem Gestein und versunkenem Boden, der die Brücke von den mitteldeutschen Gebirgen nach Skandi- navien bildet. Der Segeberger Gipsberg erhebt sich mitten im Lande als Wahrzeichen dieses Untergrundes. Als einsame Grundgebirgsinsel ragt auch das steilwandige Helgoland aus dem Meere, die Verbindung zwischen den deutschen und den englischen Gesteinen herstellend. Der „versunkene Gebirgsuntergrund" besteht aus Zechstein, Buntsandstein, Muschelkalk, Jura, Kreide und Tertiär. Zum Zechstein gehört der klotzige Gips von Langenfeld bei Altona, der schon erwähnte Gipsberg bei Segeberg, in dessen Umgebung mächtige Salzlager in 100 bis 150 m Tiefe erreicht wurden; ferner die roten Letten mit Gips- und Steinsalzbrocken von Lieth, die bis zu 1330 m Tiefe nicht durchsunken wurden. In gewissem Zusammenhange mit Salzlagern mögen die Erdölvorkommnisse von Hemmingstedt stehen. Zum Buntsandstein gehört die schräg gegen Süd- westen emporgerichtete Tafel von Helgoland, die wahrscheinlich von einer Erhebung des Salz- gebirges getragen und von großen Verwerfungen umgrenzt wird. Der Rückgang ihrer Küsten durch die nagende Brandung wird auf 5 m im Jahr- hundert geschätzt. Im Norden und Nordosten wird die Insel in gewisser Entfernung von einem Muschelkalkriff begleitet, das sich auch unter einen Teile der „Düne" erstreckt. Für das Vor- kommen von Jura finden sich Anzeichen im öst- lichen Stormarn und in Lauenburg in den zahl- reichen Jurageschieben. Die Kreideformation ist bei Helgoland und südlich von Itzehoe ent- wickelt. Sie bildet fast überall den festen Sockel des Landes in gewisser, aber sehr wechselnder Tiefe. Im Tertiär lagern sich mächtige marine Tone ab. Im älteren Tertiär finden sich Spuren vulkanischer Tätigkeit in zahlreichen dünnen Tuff- schichten. Im mittleren Tertiär bildeten sich Braunkohlenflöze. Die „oberen Boden formationen" um- fassen Eiszeit und Alluvium. Von der ersten Vereisung besitzt man wenig sichere Anzeichen, so in der Gegend von Hamburg- Altona. Die erste warme Interglazialzeit führte die ältere dilu- viale Nordsee herein. Mit der zweiten Vereisung kam die tiefste klimatische Erniedrigung und das höchste Maß der Eiswirkung. Eine gewaltige Grundmoräne bis zu 90 m Dicke wurde über das Land gebreitet. Das Inlandeis bewegte sich von Nordosten nach Südwesten. Die zweite milde N. F. XIX. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. '-S9 Interglazialzeit gestattete die Bildung von Torf- lagern. An anderen Stellen bildeten sich Süß- wasserablagerungen. Die jüngere diluviale Nord- see nahm von einigen Teilen des Landes Besitz. Die dritte letzte Vereisung hatte einen anderen Charakter als die Hauptvereisung. Sie entwickelte sich zu einem reinen Ostseegletscher, der der damals neu gebildeten Ostseemulde südwärts folgte. Endmoränenzüge beweisen seine größte Ausdehnung. Die junge Grundmoränenlandschaft des Ostens des Landes, die Fördetäler und Rinnenseen, Wall- berge und Zungenbecken, die großen Vorsand- ebenen in der schleswig-holsteinischen Heide, der Elburstrom, der Lübecker Eissee, die alte Geest des Westens werden als Ausgestaltung des Landes durch die Eiszeit beschrieben. Die Nacheiszeit bringt als wichtigste Merkmale die Neubesiedelung der eisfreien Strecken durch Tier- und Pflanzenwelt. Die Verwitterung ergriff den Boden. Die Seen verlandeten. Moore ent- standen. Bedeutende Veränderungen machten sich nach und nach im Bereiche von Nord- und Ostseeküsten geltend. Die Landsenkung, die viele Jahrtausende umfaßte, kam um etwa das Jahr 1000 unserer Zeitrechnung zum Stillstand. Seitdem bildete sich durch gemeinsame An- schwemmung von Meer und Flüssen das breite Marschvorland. Weitere Kapitel enthalten Angaben über den Ackerboden, die nutzbaren Bodenschätze und die Grundwasserverhältnisse des Landes. Krenkel. Mineralogie. Im Zentralbl. f. Min., Geol. u. Pal. 1919, S. 190, beschreibt K. Schlossmacher ein Verfahren zur Herrichtung von schiefrigen und locke- ren Gesteinen zum Dünnschleifen, das jedoch, wie E. Wulf in g in einer späteren Notiz (Zentralbl. 19 19, S. 288) mitteilt, nicht von Schlossmacher, sondern von E. W ü 1 f i n g herrührt. Beim Schleifen von lockeren und schiefrigen Gesteinen kommt es darauf an, die reichlichen und so verderblichen Lücken zwischen den einzelnen Gesteinspartikeln Wasserbad möglichst gleichmäßig mit Kanadabalsam auszu- füllen, was nicht durch einfaches Eintauchen und Erhitzen, sondern nur durch systematisches Er- setzen der Luft in diesen Hohlräumen durch Kanadabalsam zu erreichen ist, und zwar mit solchem, der keine Blasen mehr beim Erhitzen wirft. Deshalb muß der Balsam erst entsprechend vorbereitet werden. Durch Erhitzen und Ab- saugen der entweichenden Gase. Dies geschieht mit Hilfe der in der Abb. schematisch wieder- gegebenen Apparatur, die zugleich auch zur end- gültigen Präparation des Gesteinssplitters dient. D.er Kanadabalsam wird in solchen Mengen, daß auch größere Gesteinssplitter untersucht werden können, in einen Glaskolben R gefüllt und unter gleichzeitigem Absaugen mit der Saugpumpe auf dem Wasserbad erhitzt. Gibt der Balsam auch bei stärkerem Erhitzen keine Blasen mehr, so ist er genügend vorbereitet. Aus Sicherheitsgründen ist die Zwischenschaltung einer Wulffschen Flasche zwischen Saugpumpe und Kolben zu empfehlen. Den mit Balsam zu tränkenden Ge- steinssplitter bringt man nach gehöriger Reinigung und Trocknung durch die mit einem Gummi- stopfen verschließbare seitliche Öffnung des Kol- bens in den Stutzen S und nach luftdichtem Ab- schluß werden Wasserbad und Saugpumpe in Be- trieb gesetzt. Dadurch wird die in den Zwischen- räumen des Splitters sitzende Luft einigermaßen ausgetrieben und der Balsam gleichzeitig erwärmt. Ist die nötige Dünnflüssigkeit des Balsams er- reicht, so stürzt man den Splitter durch leichtes Kippen des Kolbens R aus dem Stutzen S in den Balsam. Sobald das gelinde Aufschäumen des Splitters aufgehört hat, ist die Durchtränkung be- endet und der Splitter kann nach Abstellen der Saugpumpe mit einer Pinzette herausgefischt werden. Der Kanadabalsam verbleibt in der Röhre für weitere Präparationen und kann von Zeit zu Zeit aufgefüllt werden. F. H. Physiologie. Gewöhnung von Mikroorganismen an Gifte. Effront wies 1891 nach, daß an Flußsäure gewöhnte Hefe das eindringende Fluor in CaFlj festlegt und unwirksam macht: in der Asche von an Fluorammonium gewöhnter Hefe war viel mehr Kalk nachzuweisen als in normaler Hefe derselben Herkunft. Die Formaldehydgewöhnung der Hefe beruht nach demselben Autor auf einer Zerstörung des Gifts durch die Zellen. Ähnlich bei schwef- liger Säure, während bei der Kupfergewöhnung von Penicillium glaucum die Zellwand für das Kupfer undurchgängig ward. Bei Protozoen ist die Gewöhnbarkeit an Sublimat, Chinin, Arsen, Antimon, Quecksilber und Kupfer bekannt, nebst dem Arzneifestwerden der Trypanosomen. Bei Paramaecium caudatum fand Neuschlosz') anfangs eine hochgradige Empfindlichkeit gegen Chinin, der Schwellenwert war ungefähr i : lOOOOO, der die Paramäzien in etwa 2 Stunden tötete. ') S. Neuschlosz, Untersuchungen über die Gewöh- nung an Gifte, I : Das Wesen der Chininfestigkeit bei Proto- zoen. Pflügers Archiv f. d. ges. Physiologie Bd. 176, 1919, S. 223—235. 240 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 15 Zur Gewöhnung an Chinin heß Verf. nun die Paramäzien folgende Chininskala durchlaufen: I : 10 000 000, I : 5000000, I : 3 000 000, i : 2 000 000, 1 : I 500000, I : I 000000, I : 800000, I : 500000, I : 300000, I : 20QOOO, I : 150000, i : looooo, I : 80000, 1 : 50000, I : 40000, i : 30000, I : 20000, I : 15000, I : loooo. Von etwa 1 : 100 000 aufwärts wurde bei jeder Steige- rung der Konzentration eine vorübergehende ,, De- pression" beobachtet, bestehend in verminderter ßewegungsgeschwindigkeit und Teilungsintensität für einige Stunden oder, besonders bei den höhe- ren Konzentrationen, für einige Tage. Ein Ab- sterben ließ sich gänzlich vermeiden. Bei i : 10000 scheint die Grenze der Anpassungsfähig- keit zu liegen, denn höhere Konzentrationen wur- den nicht auf die Dauer ohne Schaden ertragen. Durch gleichzeitiges Hinzufügen geringer, an sich unschädlicher IVIengen von Arsen (NagClSOa) läßt sich die Chininfestigkeit der Paramäzien brechen und die ursprüngliche Chininempfindlich- keit wiederherstellen. Was das Wesen der Chiningewöhnung be- trifft, so zeigten die darauf gerichteten Versuche, daß die Chininkonzentration der Flüssigkeit, in welcher an Chinin gewöhnte Paramäzien sich befunden haben, im Durchschnitt um 80 "/„ ab- nimmt, während normale nichtgewöhnte Para- mäzien die Chininkonzentration unbeeinflußt lassen. Da es ferner auf keine Weise gelang, das Chinin aus den toten und abzentrifugierten Para- mäzienleibern wiederzugewinnen, muß geschlossen werden, daß die gefestigten Paramäzien die Fähig- keit erlangt haben, das Chinin zu zerstören. Normale Paramäzien ließen diese Fähigkeit nur in sehr geringem Maße erkennen. Als IVIittel der Chininzerstörung ist in erster Linie die Bildung von Abwehrfermenten anzunehmen. Unter diesen physiologisch und gegebenenfalls auch ökologisch wichtigen Ergebnissen ist die Aufhebung der Chininfestigkeit und Chinin- zerstörungsfähigkeit durch die geringfügigen, an sich unschädlichen Mengen von Arsen besonders merkwürdig als eine ganz elektive Wirkung. Da vom Arsen bereits eine Hemmung von Dissimila- tionsprozessen, namentlich Oxydationen, der Zelle bekannt ist, dürfte auch die Hemmung der Chinin- zerstörung bei den Paramäzien als eine Beein- flussung des Dissimilationsvermögens zu deuten sein. V. Franz, Jena. Literatur. Bauer, Dr. G., Die Helmholtzsche Wirbeltheorie für Ingenieure. München und Berlin 'ig, R. Oldenbourg. 16,40 IVl. Schaefer, Prof. Dr. Cl., Die Prinzipe der Dynamik. Berlin und Leipzig '19, W. de Gruyter. 8,50 M. Barth el, Dr. E. , Polargcometrie. Mit 23 Figuren. Ebenda '19. 4,50 M. Das Pllanzenreich. Herausgegeben von A. Engler (IV, 105). Cruciferac-Brassiceae. Pars 1. Von O. E. Schulz. Mit 248 Bildern. Leipzig 'lg, M. Engelmann. 67,20 M. Schmitt, C. und Stadler, H. , Die Vogelsprache. Stuttgart '19, Franckhsche Verlagshandlung. 3,60 M. Ferienbuch für Jungen, Raschers Jugendbücher. Bd. I/II. Herausgegeben von Hanns Günther (W. de Haas). Mit 107 Abb. im Text und 13 Tafeln. Zürich '18, Rascher & Co. Verlag. 3,50 Fr. Oettli, Max, Das Forscherbuch, Anregungen zu Be- obachtungen und Versuchen. Raschers Jugendbücher. Bd. 4. Mit zahlreichen Federzeichnungen von Heinr. Meyer und einer farbigen Beilage. Zürich '19, Rascher >S; Co. ca. 5 Fr. Plüß, B., Unsere Beerengewächse, Bestimmung und Be- schreibung der einheimischen Beerenkräuter und Beerenhölzer, nebst Anhang : Unsere Giftpflanzen. 3. verb. Aufl. Mit 126 Bildern. Freiburg i. Br. , Herdersche Verlagsbuchhandlung. Geb. 5,20 M. Koelsch, Adolf, Verwandlungen des Lebens. Aus Natur und Technik. Herausgeg. von Hanns Günther. Zürich '19, Rascher & Co. 2 M. Bein, Willy, Der Stein der Weisen und die Kunst Gold zu machen. Mit 10 .^bb. Voigtländers Quellenbücher Bd. 88. Leipzig, R. Voigtlünder. 1,20 M. Neuburger, Albert, Fleisch- oder Pflanzenkost- Justus Liebig über Nahrung, Ernährung, Zubereitung und Zu- sammensetzung der Speisen und Getränke. Voigtländers Quellenbücher Bd. 85. Leipzig, R. Voigtländer. I M. Lehmann, H. , Die Kinematographie. 2. Aufl. Aus Natur und Geisteswelt 358. Leipzig- Berlin, B. G. Teubner. Zahn, Fritz, Gartenlust und -leben von alters her bis in unsere Zeit. Naturwissenschaftliche Bibliothek für Jugend und Volk. Leipzig '19, Quelle & Meyer. 2,50 M. Janke, Hans, Schopenhauer im Lichte des Relativis- mus. Vortrag, gehalten in der Schopenhauergesellschaft. Berlin, 24. April 1918. Leipzig, Max Spohr (Ferd. Spohr). 1,50 M. Wünsche, O., Die Pflanzen Sachsens und der angren- zenden Gegenden. II., neubearbeitete Aufl., herausgegeben von Prof. Dr. L. Schorler. Mit 793 Textabbildungen. Leip- zig und Berlin '19, B. G. Teubner. 7 M. .Schmidt, Dr. C. W., Grundriß der Zoologie. Für Studierende der Naturwissenschaften und der Medizin zum Gebrauch bei Vorlesungen und praktischen Übungen. Mit 308 Abbildungen. Ebenda 7 M. Kohlrausch, Friedrich, Kleiner Leitfaden der prak- tischen Physik. 3. Aufl. , neubearbeitet von Prof. Dr. H. Scholl. Mit 165 Textabbildungen. Ebenda. 10 M. Grimsehl, E. , Lehrbuch der Physik. Zum Gebrauch beim Unterricht, bei akademischen Vorlesungen und zum Selbststudium. 1. Band : Mechanik, Wärmelehre, Akustik und Optik. 4. vermehrte und verbesserte .Aufl , herausgegeben von Prof. Dr. M. Hillers und Prof. Dr. H. Starke. Ebenda. 16,50 M. Naturdenkmäler. Vorträge und Aufsätze. Bd. 3, Heft 21; Dr. Giannoni, Naturschutz und Verkehr; Heft 22: Dr. Th. .\hrens, Die Nationalparke der Vereinigten Staaten. Berlin 'ig. Gebr. Borntraeger. Illlialt: Hans Weinert, Über Bau und Bedeutung des „Wehrstachels" der Bienen und Wespen. (13 Abb.) S. 225. — Einzelberichte: II. A. Weber, Über spät- und postglaziale lakustrine und fluviatile Ablagerungen in der Wyhra- niedcrung bei Lobstädt und Borna und die Chronologie der Postglazialzeit Mitteleuropas. S. 237. W. Wolff, „Erd- geschichte und Bodengestaltung Schleswig-Holsteins". S. 238. K. Schlossmacher, Verfahren zur Herrichtung von schiefrigen und lockeren Gesteinen zum Dünnschleifen, (i Abb.) S. 239. Neuschlosz, Gewöhnung von Mikroorga- nismen un Gifte. S. 239. — Literatur: Liste. S. 240. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den i8. April 1920. Nummer 16. [Nachdruck verboten.] Hormone im Pflanzenreiche. Von Dr. Friedl Weber (Graz). l'^s ist erst das Lebe das Einzelne im Verbundenen wirkt. Erhard Buschbeck 1920. „Alle Eigentümlichkeiten der Organismen be- ruhen auf einem Prinzipe, welches man als das der inneren Ordnung und Harmonie oder Enhar- monie bezeichnen kann" (Wiesner). Je größer die Verschiedenartigkeit der Teile eines Organis- mus, je vielseitiger die Arbeitsteilung und Diffe- renzierung, um so komplizierter und rätselhafter erscheint uns die Realisation seiner inneren Har- monie, das zweckentsprechende Zusammenwirken seiner Organe und um so mehr drängt sich die Frage vor nach dem wie des Zustandekommens dieser Enharmonie. Das Problem der inneren Ordnung besteht aber auch schon bei der einzelnen Zelle und für den einzelligen Organismus; nur scheint es hier verständlicher und weniger rätselhaft. Harmoni- sche Beziehungen müssen jedenfalls auch zwischen den Teilen jeder einzelnen Zelle walten. Von solchen intrazellulären Beziehungen sind am häu- figsten erörtert diejenigen zwischen Kern und Zytoplasma, neuestens auch zwischen Nukleolen und Kern; sie kommen schon in bezug auf die Größen- und Massenverhältnisse als Kernplasma- relation (R. H e r t w i g) Nukleolarkernrelation, Zell- volumen-Kernoberflächenrelation (O. Hartmann 1919) zum Ausdruck. Diese Größenrelationen sind im übrigen nur das messend leicht faßbare Zeichen in ihrem Wesen noch keineswegs be- stimmt erkannter physikochemischer intrazellulärer Beziehungen. Die rein chemische Relation, der Stoffwechsel zwischen Kern und Plasma, wird heute meist als Diffusionsvorgang aufgefaßt. Die Diffusion gelöster Stoffe soll durch die Kernmem- bran hindurch erfolgen. D erschau (1915) ist anderer Ansicht; er bestreitet die Existenz einer Kernmembran und beschreibt den Austritt unge- löster Substanz aus dem Zellkern in das Proto- plasma. Derartige Stoffwanderungen aus dem Kern heraus konnte er gut an lebenden, künstlich isolierten Pflanzenzellen studieren; geeignetes Ma- terial sind Blattzellen einer Wasserpflanze : EicJi- honiia crassipes ; sie lassen sich durch Zerzupfen leicht aus dem Gewebsverbande isolieren. Einige Tage nach dieser Operation tritt lokales Dicken- wachstum der Membran der isolierten Zellen ein, und zwar dort, wo die Trennung aus den Gewebsverbande und demnach auch eine Zerreißung der Plasma- verbindungen stattgefunden hat. „Der Kern rückt in eine Lage, in der er ungefähr gleich weit ent- fernt von den zwei oder drei Wundstellen der Zellmembran sich befindet und führt auf den . . . oxychromatischen Bahnen die basichromatischen Tröpfchen nach den Wundstellen hin ab. Dies geschieht so lange, bis diese verschlossen sind. Das Resultat sind sohlenartige Verdickungen über den Wundstellen. Der Kern gibt den größten Teil, wenn nicht alles basichromatische Material für diesen Zweck her und speichert kaum noch Methylgrün." Hier ist also die Wanderung chemischer Send- und Hilfsboten direkt verfolgt und die von Haber- land t schon lange postulierte Beteiligung des Zellkerns am Zustandekommen von Verdickungen der Membran beobachtet. Diese neuen ') Tat- sachen erinnern an ältere Angaben Cratos (1896), der an den Schaumwabenwänden pflanzlicher Proto- plasten das Herumgleiten Wäschen- oder körnchen- artiger Zellorganoide gesehen hat; er nannte diese Zellorgane, denen er große Bedeutung zusprach, Physoden. Die Physoden gleiten lebhaft an den Plasmalamellen umher; sie sind die „Transport- organe, die Trabanten" des Lamellensystems, um- lagern oft den Kern scharenweise und treten mit ihm in regen Stoffaustausch. Wenn auch diese Darstellung und Deutung Cratos vieles Phan- tastische enthält, so hätte sie doch kaum verdient ganz in Vergessenheit zu versinken. In der Regel ist jedenfalls innerhalb der Zelle von einer Wanderung chemischer Sendboten direkt nichts zu sehen, die stofflichen oder andersartigen Beziehungen zwischen den Zellorganen können nur indirekt erschlossen werden. Bei vielzelligen Organismen ist die gangbarste Methode um die Beziehungen der einzelnen Organe untereinander aufzudecken : das Studium der Ausfallserschei- nungen oder Restitutionsvorgänge nach operativer Entfernung oder Außerfunktionsetzung eines be- stimmten Teiles. Bei der Kleinheit der Einzel- zelle stößt das Messer des Operateurs auf Schwie- rigkeiten. Doch gibt es hier andere Methoden, die dasselbe leisten und anwendbar sind. Vor allem starke Plasmolyse; durch sie gelingt es zellkernfreie, lebende Plasmapartien zu erzielen und ihr weiteres Verhalten zu studieren. Ein anderer theoretisch viel versprechender, praktisch noch kaum verwerteter Weg liegt in Tschacho- t i n s mikroskopischer Strahienstichmethode ( 1 9 1 2) : Durch Anwendung von konzentriertem ultravio- ') Die frühere Literatur über die „Ausgabe von unge- lösten Körperchen" aus dem Kerne findet sich erörtert bei Nemec 1910, Problem der Befruchtungsvorgänge. 242 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i6 letten Licht, das in Form eines überaus feinen Strahlenkegels auf die Zelle geworfen wird, ge- lingt es, lokal eine Tötung bestimmter Plasma- partien oder des Zellkerns zu erzielen. Es ließen sich dann Folgen von Korrelationsstörungen ver- folgen. Bei einzelligen Organismen beschränken sich die Beziehungen keineswegs auf die Teile ihres eigenen Zelleibes; Wechselwirkungen finden auch statt zwischen artgleichen und artverschiedenen JVIit- bewohnern desselben Substrates. Die chemische Be- einflussung der niederen Organismen durcheinander besteht keineswegs nur in der sehr verbreiteten Produktion entwicklungshemmender Stoft'wechsel- produkte, es werden auch wachstumsfördernde Stoffe bisweilen in das Kulturmedium ausgeschie- den (Küster 1909). Vielleicht entstammen die in der englischen Literatur der letzten Jahre häu- fig erwähnten „Auximone" dem pflanzlichen Stoff- wechsel von Mikroorganismen. Es sind dies ihrer chemischen Natur nach unbekannte, hitzebeständige Stoffe; sie sollen in geringster Menge, ohne eigentliche Nährstoffe zu sein, das Gedeihen ver- schiedener Pflanzen fördern ja sogar für diese — wie die Vitamine für die Tiere — unentbehrlich sein. Von besonderem Interesse würden Stoffe sein, die man als Autoauximone bezeichnen könnte. Nach neuesten Untersuchungen von Abder- halden und Schaumann (191 8) produziert die Hefe Substanzen, die die Wirksamkeit ihrer eigenen Fermente erheblich steigert. Es handelt sich dabei wohl kaum um gewöhnliche chemische Förderer von Enzymwirkungen (Zymoexcitatoren), sondern um Substanzen eigener Art; diese be- sitzen die Fähigkeit an Stoffwechselerkrankungen leidende Tiere (Tauben) zu heilen und sind daher wohl als Vitamine zu bezeichnen. Die Pflanzen stellen offenbar derartige Stoffe für ihre eigenen Zwecke her zur Regulierung intra- bzw. inter- zellulärer Beziehungen. Nicht nur die Wachstumsintensität, auch die Form der Mikroorganismen, wird häufig durch chemische Beeinflussung untereinander verändert. Die Involutionsformen — die übrigens heute nicht mehr ausschließlich als Degenerationserschei- nungen aufgefaßt werden — sind derartige Che- momorphosen. Die Einzelligen vermögen also durch Stoffe unbekannter Natur einerseits die Beziehungen der Teile der eigenen Zelle zu regeln, andererseits durch Vermittlung der gemeinsamen Umwelt auf andere Zellen einzuwirken. Es ist von vornherein wahrscheinlich, daß auch in den Zellen der höheren Organismen ähnliche Stoffe zur Aus- bildung gelangen. Da hier aber die meisten Zellen nicht direkt an das Außenmedium grenzen, sondern an Nachbarzellen, mit denen sie in Ge- weben und Organen gemeinsames Leben ver- bindet, müssen diese Zellen der höheren Organismen und ihre Komplexe sich durch die nunmehr zu inneren Sekreten gewordenen Ausscheidungsstoffe gegenseitig beeinflussen. Schon bei wenigzelligen Organismen, bei denen die einzelnen Zellen als gleichgestaltete und -be- fähigte Komponenten in ziemlich losem Verbände stehen, findet eine derartige Beeinflussung der Elementarorgane untereinander statt. Isoliert man durch Plasmolyse die Protoplasten der Zellen gewisser mariner Algen, so liefern nach Mi ehe die basalen Pole aller einzelnen Protoplasten wurzelähnliche Gebilde, während in der intakten Alge die Enharmonie dadurch zum Ausdruck kommt, daß nur ein einziges Rhizoid an der Basis der Gesamtpflanze sich bildet und die übrigen Zellen an der Betätigung ihres polaren Triebes behindert werden. Bei derartigen mikroskopisch kleinen, äußerlich undifferenzierten Organismen könnte die korrelative Beeinflussung der unmittelbar aneinander grenzen- den Zellkomponenten wenigstens im Prinzipe ver- ständlich erscheinen. Wie aber soll die Korrelation erfolgen bei Individuen größerer Dimension mit mannigfaltiger Arbeitsteilung ihrer hochdifferen- zierten Organe. Gewiß tritt da eine Erschwerung der Korrelation ein und das Problem erst in voller Schärfe zutage. Für den tierischen und menschlichen Organismus ist das harmonische Zusammenwirken der Organe natürlich längst bekannt und die Frage, wie es zustande kommt, oft aufgeworfen. Die Vermittlerrolle können am besten Einrichtungen übernehmen, die sich einerseits in alle einzelnen Organe erstrecken und andererseits sich wieder in einer gemeinsamen Zentrale vereinigen. Es war daher naheliegend, im Nervensystem einen Mechanismus zu sehen, der die Korrelationen vermittelt und kontrolliert: der consensus partium sollte auf nervösem oder neuralem Wege zu- stande kommen. In den letzten Jahrzehnten aber — etwa seit den Untersuchungen Brown Sequards 1S89 — kehrt man wieder zu der älteren Lehre von der humoralen Organkorrelation zurück; diese wollte die Korrelationen durch Vermittlung der Leibessäfte (humores) aufgefaßt wissen. Die Lehre von der inneren Sekretion fand ihre Begründung und wurde immer weiter ausgebaut. Sie nimmt folgendes an : „Im Tier- körper besteht eine chemische Korrelation, indem jedes Organ, jedes Gewebe, ja jede Zelle des Organismus durch den eigenen Chemismus, durch spezifische Sekretionsprodukte unter Vermittlung des zirkulierenden Blutes, auf die übrigen Teile einen Einfluß ausüben kann" (Biedl). Bayliss und Starling haben für diese Stoffe, welche zwischen den Körperteilen vermitteln, den Namen Hormone [uQi.idcij = erregen) vorgeschlagen ; andere Ausdrücke dafür sind: Reiz- oder Be- einflussungsstoffe, Träger chemischer F"ern- wirkungen, chemische Boten. Organe, welche Hormone liefern heißen innersekretorische oder Beeinflussungsorgane. Es scheinen alle tierischen Organe eine innere Sekretion zu besitzen, viele aber gewissermaßen nur nebenbei als natürliche Folge ihres sonstigen Stoffwechsels. Hormone N. F. XIX. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 243 die auf diese Weise Zustandekommen, werden als Parhormone den echten gegenübergestellt; letztere werden in bestimmten Organen, sozusagen in be- stimmter Absicht, gebildet, „um" an entfernten ebenfalls bestimmten Organen besondere Wirkungen zu erfüllen. Der Wirkungsweise nach können die Hormone mit Biedl in zwei Gruppen geschieden werden. I. Morphogenetische Hormone beeinflussen die Entwicklung und den Bau der mit ihnen korrelativ verknüpften Organe; sie wirken nicht nur im ausgebildeten Organismus, sondern ganz besonders während der Entwicklung, solange das Wachstum des Körpers noch nicht abgeschlossen ist. 2. Funktionelle Hormone hemmen oder steigern die Leistungen der entfernten Organe. Wichtig ist schließlich der Unterschied zwischen den sog. Verbrauchssekreten und den Hormonen. Der Zucker der aus dem Zentraldepot, dem Glykogenspeicher, der Leber in die Blut- und Lympfbahn gelangt und zu den Verbrauchstätten, den verschiedenen arbeitenden Muskelgruppen transportiert wird, ist kein Hormon, denn er wirkt nicht spezifisch auf irgendein anderes Organ, sondern kann in prinzipiell gleicher Weise von allen Organen zum Energiegewinn oder Auf- bau verbraucht werden. Die Hormone dagegen üben nur auf die Art und Weise der Verwendung der in den inneren Organen bereits angesammelten Stoffe und Energien ein Einfluß. Für den Tierkörper ist das Problem der Korrelation der Teile — insofern es sich um die Art des Vermittlers und den Vermittlungsweg dabei handelt — für einzelne Fälle wenigstens gelöst. Wie steht es in dieser Hinsicht mit dem Pflanzenkörper und zwar mit dem Organismus der höheren vielzelligen Pflanzen.? Wichtige Voraussetzungen der Möglichkeit einer ähnhchen Korrelationsvermittlung fehlen, nämlich ein Analogon der Blutbahn und ein solches des Nervensystems. Vielleicht findet bei den höheren Pflanzen überhaupt gar keine gegenseitige Beeinflussung der Teile statt?! Diese haben bei der Pflanze eine viel größere Selbständigkeit und Unabhängigkeit voneinander als beim Tier; die pflanzliche Organisation ist weniger zentralisiert als die tierische. Trotzdem wäre es falsch, die Pflanzen aufzufassen als ein Haufen isolierter Bau- steine, einen Baum als ein Konglomerat völlig selbständiger Individuen. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat man sich durchgerungen zum Erkennen der Pflanze als einheitlich lebenden Organismus, als geschlossene physiologische Ein- heit (Fitting 191 7). Erst relativ spät neigte sich den Korrelations- erscheinungen im Pflanzenreiche das wissenschaft- liche Interesse zu. Die grundlegenden Arbeiten auf diesem Gebiete stammen von Vöchting 1878 und von Goebel 1880. Bei Goebel findet sich auch der Begriff Korrelation — und zwar Korre- lation des Wachstums — zuerst exakt gefaßt. Schon damals hatte Vöchting das Postulat aus- gesprochen, der gesamte protoplasmatische Inhalt aller Zellen einer Pflanze müsse wie eine ein- heitliche Plasmamasse zu betrachten sein. Diese Annahme wurde bestätigt durch die Entdeckung der Plasmaverbindungen durch den Czernowitzer Botaniker Tan gl 1879. Nunmehr wußte man: die Protoplasten einer Pflanze sind durch die Zell- wände keineswegs vollständig voneinander isoliert. Die Entdeckung der Plasmodesmen hat jedenfalls ein wichtiges Hindernis für die Auffassung der Pflanze als physiologische Einheit beseitigt, wenn auch vielleicht nach neuester Erkenntnis die plasmatische Kontinuität für das Zusammenarbeiten räumlich getrennter Teile in mancher Beziehung nicht un- erläßlich ist. War aber einmal die Pflanze als physiologische Einheit sowie das Tier erkannt, so müßte sich immer mehr die Frage aufdrängen : „Worauf be- ruhen denn diese geheimnisvollen engen Wechsel- beziehungen zwischen den Teilen; welches ist ihre Mechanik, wodurch und auf welchen Bahnen werden sie im Pflanzenkörper vermittelt." Fit- ting 1917. Ein erster Versuch, auf botanischem Gebiete sich darüber Klarheit zu verschaffen, hat ganz ähnliche Vorstellungen entwickelt, wie sie heute in der Lehre von der inneren Sekretion zum Aus- druck kommen und zwar schon zu einer Zeit, in der von Hormonen in der Tierphysiologie noch keine Rede war. 1880 entwickelte Sachs in dem oft zitierten Aufsatze über Stoff und Form der Pflanzenorgane seine Theorie von den organbildenden Sub- stanzen ; obwohl von den verschiedensten Seiten angegriffen, hat er an ihr auch in späteren Ver- öffentlichungen festgehalten und sie immer wieder durch Experimente zu stützen gesucht. Der Zweck des genannten Aufsatzes war zunächst, die bis dahin rein beschreibende Morphologie „in die Reihe der echten Naturwissenschaften einzuführen", das Prinzip der Kausalität auch auf die Pflanzen- formen anzuwenden. Sachs greift Anschauungen auf der Botanik des 18. Jahrhunderts, die ähnlich wie die damalige Medizin den Säften und der Saftbe- wegung im Organismus auch der Pflanze eine große Rolle zuschrieb. Ein Vertreter der Wissenschaft dieser Zeit Duhamel sagt von den zweierlei ange- nommenen Säften, daß derjenige, dem die Auf- gabe der Wurzelbildung zukomme, die Neigung besitze abzusteigen, derjenige, welcher die Sproß- bildung besorgen soll, aufzusteigen. „Legt man das in Duhamels Sätzen enthaltene Prinzip weiteren Beobachtungen zugrunde, so ergibt sich zunächst, daß es sich nicht bloß um spezifisch wurzelbildende und spezifisch sproßbildende Stoffe handeln kann, daß wir vielmehr ebensoviele spezifische Bildungsstoffe werden annehmen müssen, als verschiedene Organformen an einer Pflanze zu unterscheiden sind." Unter diesen organbildenden Stoffen spielt in der Sachsschen ^44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i6 Darlegung eine besondere Rolle die Lehre von den blütenbildenden Substanzen. Schon bei seinen Untersuchungen über das Etiolement (1863) sah er sich zur Annahme ge- nötigt, daß unter dem Einfluß intensiven Lichtes gewisse eigenartige Bildungsstoffe in den Laub- blättern erzeugt werden, welche spezifisch zur Blütenbildung geeignet sind; diese Substanzen sollen entweder in den überwinternden Reserve- stoffbehältern aufbewahrt oder bei Sommer- pflanzen aus den assimilierenden Laubblättern direkt den Vegetationspunkten zugeführt werden. Während Pflanzen mit überwinternden Reserve- stoffbehältern wie Hyazinthen, Tulpen, Iris im Frühjahr ganz im Finstern normale Blüten bilden können, vermögen dies Pflanzen ohne solche Speicherorgane wie Kapuzinerkresse, Kürbis, Mohn nicht; diese fahren aber im Finstern fort, vegetative Organe zu bilden, etiolierte Stammteile und Blätter, deren Masse gewiß hinreichen würde, einige neue Blüten hervorzubringen, wenn es eben nur auf die Quantität der Bildungssubstanz und nicht auf ihre besondere Qualität ankäme. „Es fehlt derartigen ganz ins Finstere gestellten Pflan- zen nicht an organisierbarem Stoff überhaupt, sondern speziell an denjenigen Substanzen und Kräften, welche zur Blütenbildung speziell geeignet sind." Beläßt man aber den basalen Teil solcher Pflanzen am Licht, führt nur den Gipfel in den Dunkelkasten, so bildet der Sproß dort Blüten aus, da ihm von selten der am Licht befindlichen Blätter die blütenbildenden Stoffe zufließen. Blattstecklinge von blühreifen Begonien liefern in kurzer Zeit — ohne daß erst viele neue Blätter gebildet würden — Blütenstände, Blattstecklinge von Begonien aber, die noch weit entfernt sind von der Blütezeit, schreiten erst spät, nachdem sie vorerst zahlreiche neue Blätter entwickelt haben, zur Blütenbildung; diese letzteren als Stecklinge verwendeten Blätter enthielten eben noch keine blütenbildenden Stoffe. Der Einwand lag nahe, daß es sich bei der Entstehung der blütenbildenden Stoffe in den Laubblätlern im Licht gar nicht um spezifisch wirkende Substanzen handle, sondern um die ge- wöhnlichen Produkte der Kohlensäure- Assimilation, vor allem um Stärke und Zucker. Dem hält Sachs besonders das Ergebnis von ihm später (1883) angestellter Experimente entgegen. Er zog Kapuzinerkresse in einem Lichte, das eine Schicht Chininlösung passieren mußte und dem dadurch die ultravioletten Strahlen fehlten. Die Pflanzen brachten es in diesem Lichte nicht zur Blütenbildung, Stöcke derselben Art aber, die in bezug auf den übrigen Lichtgenuß ungünstiger situiert und daher mangelhafter ernährt waren, blühten reichlich.') Das ultraviolette Licht spielt ') Die Beweiskraft dieser Versuche hat Klebs (1900) nuf Grund eigener Experimente angezweifelt. Jedenfalls aber übt das ultraviolette Licht auf die Pflanzen einen starken formativen Einfluß aus (Schanz 1919). Beim Edelweiß treten unter Ausschluß des ultravioletten Lichtes kleinere ,, Blüten" auf. bei der CO.j- Assimilation keine Rolle. Die För- derung der Blütenbildung durch dasselbe kommt also zustande durch die von ihm bewirkte Er- zeugung spezifischer blütenbildender Stofte. Unter diesem Ausdruck, bemerkt Sachs verstehe, „icli nicht etwa die ganze Stoffmasse (Eiv\eisstoffe, Kohlehydrate, Fette, Farbstoffe usw.), aus denen eine fertige Blüte oder selbst eine junge Knospe be- steht. Vielmehr nehme ich an, daß äußerst geringe Quantitäten einer oder verschiedener Substanzen (chemischer Verbindungen) in den Blättern ent- stehen, die es bewirken, daß die den Vegetations- punkten ohnehin zuströmenden allbekannten Bau- stoffe die Form von Blüten annehmen. Diese blütenbildenden Stoffe können ähnlich wie Fer- mente auf größere Massen plastischer Substanzen einwirken, während ihre eigene Quantität ver- schwindend klein ist." Noch später (1S93), als es sich ihm darum handelt, die Tatsache zu erklären, daß die Blüten vorwiegend der Tummelplatz monströser Vor- gänge sind, äußert sich Sachs über die blüten- bildenden Stoffe folgendermaßen : Differente Mole- küle, die ganz verschiedene Organbildungen an- regen, können in ein und dieselbe primordiale Anlage einwandern und so bewirken, daß z. B. an einem Karpell Antheren, an einer Anthere Samenknospen, ja selbst an einer Samenknospe Pollenkörner entstehen." Diese Stellen sollten dartun, daß die auf botanischem Gebiete entstandene Sachssche Theorie große Ähnlichkeit besitzt mit dem heutigen medizinischen Lehrgebäude der inneren Sekretion und Hormonwirkung. Driesch meint allerdings (1901), es sei klar, ,,daß die organbildenden Stoffe von Sachs recht wesentlich andere Dinge wären, als die problema- tischen Stoffe der problematischen Secretion in- terne: von dem letzteren will man wissen, daß sie von Organen produziert werden, die ersteren würden für Organe da sein." Während die übrige Kritik der organbildenden Stoffe von selten Driesch s von großem Interesse ist, erscheint diese Unterscheidung gekünstelt. Die fclxistenz der organ- speziell der blüten- bildenden Stoffe ist keineswegs sichergestellt. Die Sachssche Theorie wurde vielmehr fast einmütig abgelehnt, die Beweiskraft seiner Argumente und Experimente angezweifelt, ja zum Teil widerlegt.') Zu den Gegnern von Sachs gehören hierin vor allem Vöchting, Pfeffer, Klebs, Loew, P^ischer u. a. Besonders unter dem Einfluß der eleganten Versuche des zu früh gestorbenen Beherrschers der pflanzlichen Form, Klebs ist heute eine andere Ansicht über die Bedingungen der Blütenbildung herrschend geworden. Nicht Stoffe spezifischer Qualität, sondern das Erreichen eines bestimmten Ernährungszustandes die Quan- ') Dagegen sieht sich Herbst (1895) „einfach gezwungen, die Sachssche Theorie (der organbildcnden Stoffe überhaupt) in ihren allgemeinen Zügen als ziemlich gesichertes Gut der Wissenschaft zu betrachten". N. F. XIX. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 345 tität der gewöhnlichen Nahrungsstoffe, das Über- wiegen der Kohlehydrate gegenüber den Nähr- salzen sollen zur Blütenbildung führen. Auch wenn diese neue Theorie der Blüten- bildung den Tatsachen restlos entspricht, wäre damit gegen das Vorkommen von Hormonen und innerer Sekretion im Pflanzenreiche und ihre Be- deutung für das Zustandekommen anderer Kor- relationsfälle nicht viel ausgesagt. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß sich erst vor einigen Jahren wieder eine Stimme zugunsten der blütenbildenden Stoffe selbst erhoben hat. Scinperviviini fiinkii hat wie die Hauswurz- arten überhaupt die Fähigkeit an zahlreichen Aus- läufern Nebenrosetten zu bilden. Diese sekun- dären Tochterblaitrosetten werden normalerweise erst in 3 — 4 Jahren nach ihrer Anlegung blüh- reif. Mathiszig (191 3) hat den Blütenstand der Mutterpflanze, die m.it den jungen Neben- rosetten noch in Verbindung stand, abgeschnitten. Die Mutterpflanze geht daraufhin allmählich zu- grunde; dafür bilden sich noch im ersten Jahr der Entwicklung der Tochterrosetten an diesen Blüten aus, also um 3 — 4 Jahre vorzeitig, während bei ungestörtem Abblühen der Mutterinfloreszenz die Seitenrosetten ausnahmslos in diesem Jahre steril bleiben. „Dieses kann zweierlei verschiedene Ursachen haben: entweder nehmen die Tochter- rosetten durch die nicht unterbrochenen Ausläufer- brücken, die von der Mutterpflanze nicht mehr verwertete Nahrungssubstanz auf; oder diese Nah- rungssubstanz ist für die weitere Förderung der Tochterrosetten unwesentlich, dagegen ist eine Uberwanderung der hypothetischen Bildungsstoffe, die in der Mutierpflanze angenommen werden müssen, in den Tochterpflanzen aber nicht vor- handen sind, für die Erscheinung des vorzeitigen Blühens wesentlich bestimmend. Bisher ist die Frage nach der vorhandenen oder fehlenden Spe- zifität der Bildungsstofte noch völlig unentscheid- bar. Sie kann aber durch folgendes Experiment einer Lösung zugeführt werden: Sind die blüten- bildenden Stoffe nur Nahrungsstoffe, so muß es für die Weiterentwicklung der Tochterrosetten gleichgültig sein, woher die reichere Ernährung stammt. Es muß sich die Abgabe der Nahrung experimentell ersetzen lassen durch reichere Er- nährung der Tochterpflanze selbst." Mathiszig "kultivierte die Tochterpflanzen bei sehr verschiedenen Lichtintensitäten. Die schwach belichteten Pflanzen schienen unterer- nährt, sie blieben kleiner und wogen auch leichter. Trotzdem zeigten die hellgehaltenen, gut ernährten nicht mehr blühende Schäfte als die schlecht er- nährten. Mathiszig zieht daraus den Schluß, „daß nicht quantitative, die Ernährung betreffende Verhältnisse die vorzeitige Blütenbildung der Tochterrosetten bei Kappung des Muttertriebes bedingen, sondern daß dafür spezifische blüten- bildende in der Mutterpflanze vorhandene und auf die Tochterpflanze überfließende Stoffe — Wuchs- enzyme — allein die Erklärung liefern können." Für völlig entscheidend und eindeutig wird man auch diese interessanten Versuche kaum gelten lassen. Es fehlt der Beweis, daß es sich bei dem Aussaugen der Mutterpflanze tatsächlich um das Abströmen spezifischer Stoffe handelt. Es könnte doch dabei eine Änderung des Kon- zentrationsverhältnisses zwischen organischen und anorganischen Substanzen in den Tochterrosetten eintreten, entweder indem diesen von selten des Wurzelsystems der geköpften Mutterpflanze reich- lich Nährsalze zufließen oder aber indem — wenigstens in der ersten Zeit nach der Kappung — die Mutterpflanze umgekehrt den Tochter- pflanzen Substanzen entzieht. Exakte Beweise sind hier eben schwer zu er- bringen. Es ließe sich versuchen die Methoden der Tierphysiologie anzuwenden: in diesem spe- ziellen Falle also, die isolierten sekundären Rosetten durch Organextrakte aus der Infloreszenz der Mutterpflanze zur vorzeitigen Blütenbildung zu bringen. Ein negativer Ausfall würde übrigens nicht die Existenz blütenbildender Stoffe wieder- legen; denn, i. könnte bei der Herstellung des Organextraktes die Natur und Fähigkeit derartiger Stoffe verändert und vernichtet werden, und 2. müßte es fraglich bleiben, ob die Pflanze diese Stoffe überhaupt von außen aufzunehmen vermag. Ein Analogon der intravenösen oder per os Ein- führung gibt es eben nicht. Immerhin wurde die Methode des Organ- extraktes auch bei Pflanzen in Anwendung ge- bracht. Zunächst sei auf eine Arbeit von Maze hingewiesen, die eine innere Sekretion der Blätter ergeben hat. Maze studiert schon seit langem die Bleichsucht der Pflanzen, eine Erkrankung, deren Verursachung in vielen Fällen noch nicht klar gelegt ist, jedenfalls aber verschiedener Art sein kann. Eine spezielle Form ist die toxische Chlo- rose, wie sie bei seiner Hauptversuchspflanze, dem Mais, auftritt. Es ergab sich nun folgendes: Wird Extrakt aus Parenchymzellen gesunder Maisblätter oder aber werden Flüssigkeitstropfen, die aus den Spitzen gesunder Blätter hervortreten auf kranke mißfarbige Blätter gebracht, so ergrünen und ge- sunden diese nachdem sie den Blattextrakt oder die Guttationstropfen der gesunden Pflanzen resor- biert haben. Der Blattextrakt resp. das Gutta- tions-„ Wasser" entgiften also die toxischen Sub- stanzen, welche die Chlorose bedingen und machen überdies noch die geheilten Pflanzen immun gegen fernere Erkrankung. Die Zellen des Maisblattes enthalten und sezernieren demnach Preventivsub- stanzen gegen Intoxikationen und zwar ver- schiedener Art. Maze meint, diese Befähigung zu innerer Sekretion sei keine Spezialität des Maises sondern eine allgemeine Eigenschaft der Pflanzen, welche die natürliche Resistenz der Zellen gegen Vergiftungen und parasitäre Erkrankungen be- wirkt. Die Witterungsverhältnisse, das Licht üben einen großen Einfluß auf diese innere Sekretion und auf die Wirksamkeit des Sekretes aus. Schönes Wetter steigert sie, und der Überfluß der produ- 246 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 16 zierten Substanz ergießt sich mit dem Guttations- wasser nach außen. Bedeckter Himmel, regneri- sche Tage vermindern ihre Aktivität, ja die Pre- ventivsubstanzen können dann ganz aus dem Zell- saft verschwinden. Auch hier würde — wie bei der hypotheti- schen Entstehung der blütenbildenden Substanzen — das Licht in den Blättern eine innere Sekre- tion fördern. Eine Nachprüfung dieser auffallen- den Erscheinung wäre jedenfalls erwünscht. Um Hormone handelt es sich aber bei diesen in den Blattextrakten enthaltenen Schutzsubstanzen nicht, da sie anscheinend keine irgendwie spezifische Wirkung auf die anderen Pflanzenteile ausüben. Um ein typisches Hormon würde es sich da- gegen bei der Substanz handeln mit der Dopo- scheg-Uhlär (1911) formative organbildende Wirkung erzielen konnte. Wacker hatte 1885 beobachtet, daß Blätter von Begonia discolor im Herbst als Stecklinge ausgelegt, Knöllchen bilden, während sie, im Sommer gesteckt, Laubsprosse und keine Knöll- chen regenerieren. Später erhielt G o e b e 1 mit einer anderen Versuchspflanze ein ähnliches Re- sultat, und er äußerte die Ansicht, daß die Knollen- bildung bedingt werde durch eine in den Blättern entstehende, sich gegen den Herbst zu besonders anreichernde Verbindung, „die man mitBeyerink als ein — Wuchsenzym — bezeichnen könnte." ') Goebel wies auch auf die Möglichkeit hin, „daß wir solche Wuchsenzyme wirklich werden ge- winnen können." Hier knüpft Doposcheg- Uhlär an. Seine Versuchspflanze war Gcsnera graciosa, sein Plan, aus im Herbst gesammelten Knöllchen dieser Pflanze ein hypothetisches knöll- chenbildendes „Enzym" auszuziehen und mit diesem im darauffolgenden Sommer Blätter zur Knöll- chen- anstatt Sproßbildung zu veranlassen. Ende November wurden 6^(\f//(^T(?-Knöllchen mit Quarz- sand zerrieben und dem Organbrei 50% Glyzerin zugesetzt, in der Annahme, daß das Enzym darin in Lösung gehe. Hierauf wurde die Mischung filtriert und das Filtrat über Winter im Exsik- kator aufbewahrt. Im Juni des nächsten Jahres wurde die Glyzerinlösung mit Alkohol gefällt, der Filterrückstand vom Alkohol durch Verdampfen befreit und im Wasser gelöst. Dieses Enzym- wasser erhielten frisch abgeschnittene Gesnera- Blätter, teils injiziert, teils von der Schnittfläche aus zur Aufnahme dargeboten. Das Ergebnis war, ') Beyerink hatte sich 1888 über die Entstehung von Gallen dahin geäußert, daß eine von den Gallcnerregern sezernierte spezifische Proteinsubstanz, die wie ein enzymati- scher Körper wirkt, die stollliche Reizursache der Gallen sei ; für solche physiologisch charakterisierte Substanzen schlägt er den Namen „Wuchsenzyme" vor. Hier kann auf diese mit unserem Thema sachlich und historisch in Beziehung stehende Theorie der Gallenbildung nicht eingegangen werden. Die einschlägige Literatur findet sich behandelt bei Küster, Die Gallen der Pflanzen 191 1 und bei W. Magnus, Die Entstehung der Ptlanzengallen 1914; letztere Arbeit enthält eine recht vollständige, kritische Erörterung der botanischen llormonliteratur. daß 88 "/(, Blätter auf diese Behandlung mit der Bildung von Zwiebelknöllchen reagierten, „zu einer Zeit, da die nicht behandelten Kontrollstecklinge ausnahmslos nur Laubsprosse gebildet hatten." Magnus (1914) der der Hormonfrage im Pflanzen- reiche sehr skeptisch gegenübersteht, meint: wenn sich dieser von Doposcheg beschriebene Fall bestätigen ließe, würde es sich dabei tatsächlich um eine qualitative Beeinflussung pflanzlicher Or- ganbildung durch bestimmte organbildende Stoffe handeln. „Leider liegt bisher nur eine Versuchs- reihe vor, und es fehlt vor allem die Kontrolle, ob nicht eine Injizierung von Wasser allein gleiche Unterschiede zwischen injizierten und nichtinji- zierten hervorgerufen hätte." Ein anderer Ein- wand von Reuber geht dahin, daß zum Nach- weis eines knollenbildenden Stoffes der ent- sprechende Kontrollversuch mit einer aus som- merlichen noch nicht knöUchenbildenden Pflanzen gewonnenen Lösung fehlt. Bei Doposchegs Experiment handelt es sich um einen Stoff, der mit der für Enzym- darstellung gebräuchlichen Methode gewonnen wurde. Dagegen haben von P'itting (1909/10) mit größter Exaktheit durchgeführte Versuche den un- zweifelhaften Nachweis erbracht, daß Stoffe nicht enzymatischer Natur aus Pflanzenteilen extrahier- bar sind, die auf andere I'flanzenteile gestaltenden Einfluß ausüben. Diese Versuche Fittings stellen den ersten und bisher auch einzigen ein- wandfreien Nachweis dar von spezifischen Reiz- stoffen, die eine chemische Korrelation im Pflanzen- reiche bedingen. Fitting schlägt auch als erster 1910 vor, den tierphysiologischen Terminus ,, Hormon" auch für die Pflanzen zu verwenden. Bei den Experimenten Fittings handelt es sich um folgendes: Die Blüten der meisten Pflanzen entledigen sich bald nach erfolgter Bestäubung ihres Schau- apparates; die Blütenblätter fallen ab, die Staub- gefäße schrumpfen und sterben, der F"ruchtknoten schwillt an, es bildet sich die Frucht. Es ist naheliegend, anzunehmen, daß diese Postflorations- vorgänge in korrelativem Zusammenhange stehen mit der Bestäubung, Befruchtung und Embryo- bildung. Dafür spricht schon, daß die Frucht- bildung in der Regel ohne Befruchtung unterbleibt; Bei manchen Pflanzen, so bei vielen Orchideen, wird das Abblühen beträchtlich verzögert, die Blüte- dauer verlängert, wenn die Bestäubung ausbleibt; ist sie dagegen erfolgt, dann welken die Blüten- blätter rasch und zwar ganz gleichgültig, ob die Blüten vor der Bestäubung sich eben erst geöffnet haben oder schon lange vergeblich auf den Insektenbesuch gewartet hatten. Bei manchen Orchideen gehen nach der Bestäubung an den Blütenteilen eigenartige Veränderungen vor sich : Das Perianth ergrünt, das Gynosteinium oder Säulchen schwillt auffällig an. Fitting suchte zu ermitteln, welche Faktoren die einzelnen Post- florationserscheinungen auslösen. Es ergab sich N. F. XIX. Nr. 10 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 247 das überraschende Resultat, daß schon u n gekeimter, ja das abgetöteter Pollen die Blütendauer der Orchideen verkürzt, eine Schließung der Narbe, Verschwellung des Säulchens und sogar der Fruchtknotenwand bewirkt; und zwar werden diese Veränderungen alle von der belegten Narbe aus veranlaßt. Aber nicht nur der lebende oder tote Folien vermag diese korrelativen Vorgänge auszulösen, sondern auch Stoffe vermögen dies, die aus ihm durch kochendes Wasser extrahierbar sind. Weitere Untersuchungen sollten die Natur dieser Reizstoffe ermitteln ; sie lassen sich auch durch kaltes Wasser aus den lebenden Pollen- massen lösen, so daß man annehmen muß, die wirksamen Substanzen befinden sich gar nicht in den Pollenkörnern, sondern haften nur deren Oberfläche an ; die Stoffe sind nicht einheitlicher Natur; die eine Gruppe von ihnen ist in Alkohol nicht fällbar; sie bewirkt Abkürzung der Blüten- dauer und Schwellung des Säulchens, die andere in Alkohol fällbare nur Verkürzung der Blütezeit. Die wirksamen Stoffe sind bloß ein kleiner Teil der in Wasser in Lösung gehenden Substanzen; sie sind nicht fettes oder ätherisches Ol, nicht Kohlehydrate, Glykoside, Gerb- oder Eiweißstoffe und vor allem jedenfalls keine Enzyme; sie sind hitzebeständige organische, anscheinend stick- stoffreie Verbindungen, eine nähere Klärung ihrer chemischen Natur war noch nicht möglich. Der ganze Korrelationsprozeß in der Blütenregion der Orchideen weist weitgehende Ähnlichkeit mit tierischer Hormonwirkung auf: Der Reizstoff, der ebenso wie die tierischen Hormone nicht enzymatischer Natur ist, kommt nur innerhalb der Antheren vor (spezifisches Beeinflussungsorgan) und die Wirkung auf die anderen Blütenteile ist eine spezifische : Vergrünen des Perianths, Schwel- lung der Fruchtknotenwand. Die Reizstoffe ent- stehen nicht in den beeinflußten Organen selbst, sondern in räumlich relativ weit davon entfernten und auch nach der Belegung der Narbe mit dem hormonhaltigen Pollen ist eine unmittelbare Be- rührung der Reizstoffe mit den zu beeinflussenden Teilen nicht möglich ; der „Reiz" muß vielmehr einen relativ langen Weg von der Narbe bis zu den Blütenblättern zurücklegen. Ob diese Reiz- leitung durch Diffusionswanderung des Reizstoffes selbst erfolgt oder aber, ob die in dem Perzeptions- organ in der Narbe erfolgte Erregung zu dem Reaktionsorgan, dem Perianth, geleitet wird, ist unentschieden. In letzterem Falle wäre ein nicht unwesentlicher Unterschied mit der Übermittlungs- weise der Hormonwirkung im tierischen Organis- mus gegeben. Auf die allgemeine Wirksamkeit von Hormonen bei der Korrelationsvermittlung, innerhalb des einzelnen Pflanzenorganismus, dürfen aus dieser Analyse der Postfloraiionserscheinungen nicht allzu weitgehende Schlüsse gezogen werden. Fitting hat nämlich gezeigt, daß auch Ver- wundungen der Narbe ähnliche Vorgänge im Bereiche der Blüte auszulösen vermögen, wie der arteigene Pollen und seine Reizstoffe: analoges bewirken ebenso artfremder Pollen und in einem Falle gallenerzeugende Insekten. Es sind dem- nach nicht nur die spezifischen selbstproduzierten Hormone, sondern ebenso andere (wohl auch chemische) Reize zur Auslösung derartiger Chemomorphosen befähigt. [Der Pollen kommt als eine Art Fremdkörper auf die Narbe, und es handelt sich hier also um eine ähnliche gegenseitige Beeinflussung, wie sie beim symbiotischen oder parisitischen Zusammen- leben verschiedener pflanzlicher Organismen, z. B. der Flechtenkomponenten Alge und Pilz, erfolgt. Ein prinzipieller Unterschied gegenüber den Korrelationen zwischen den Teilen eines einzelnen Organismus liegt aber nicht vor,^) kann doch z. B. die Wurzel als in symbiotisch parasitischem Ver- hältnis mit dem assimilierenden Achsenteil stehend aufgefaßt werden und verschmelzen ebenso Sproß- reis und Unterlage zu einer physiologischen Ein- heit, bei der chemische Beziehungen der Kompo- nenten naturgemäß vorkommen müssen und auch mit Sicherheit nachgewiesen wurden. Es ist also wohl berechtigt, bei der Beeinflussung der Orchideen- blüte durch die individueneigenen oder -fremden Pollenmassen, von einer Hormonwirkung zu sprechen; dagegen ist (mit Magnus), abzulehnen der Vorschlag Armstrongs (1910/11), alle an- hydrophilen Substanzen Hormone zu nennen, welche die Fähigkeit besitzen, Membrane zu durchdringen, die Aktivität der Zelle zu erhöhen und den normalen Ablauf der dort sich abspielenden IVozesse zu beschleunigen. Armstrong rech- net dazu Stoffe wie Toluol, Ammoniak, Äther, Chloroform, überhaupt wohl alle Gifte oder Reiz- stoffe, die in kleinen Mengen den Stoffwechsel beschleunigen. Er glaubt sich dazu berechtigt, weil Starling die (vom tierischen Körper pro- duzierte) Kohlensäure zu den Hormonen rechnet. Armstrong gegenüber wird aber gewiß mit Vorteil als unerläßliches Kriterium eines Hormons die spezifische Produktion desselben von selten des lebenden Organismus zu betrachten sein.] Auch bei anderen Pflanzen als bei Orchideen dürften derartige chemische Korrelationen in der Rlütenregion vorkommen. Massart hat für Kürbisse gefunden, daß nach Auftragen zerriebener Pollenkörner auf die Narbe eine geringe Schwel- lung des Fruchtknotens erfolgt. Wenn nach Fitting der Pollen der Malvenart Hibiscus bei Orchideen Postflorationserscheinungen auslöst, so wird ihm ähnliche Wirkung vielleicht auch auf die eigene Art zukommen. Schon Gärtner 1844 war es bekannt, daß ') Vgl. auch die Auffassung von der Fruchtbildung der l'hanerogamen, wie sie z. ß. bei Herbst zum Ausdruck kommt; Das Anwachsen und die spezifische Ausbildung der verschiedenen Fruchthüllen wird also durch den sich ent- wickelnden Embryo ausgelöst, und es ist nicht unwahrschein- lich, daß spezifische bei der F.ntwicklung des Keimlings ge- bildete Stoffe, welche die Zellwände auf größere Distanzen zu durchdringen vermögen, hierbei eine große Rolle spielen. Ähnlichkeit der Entwicklung der Frucht mit der Gallenbildung. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i6 bei einer Anzahl von Pflanzen die Lebensdauer der Korolle durch eine erfolgreiche Bestäubung verkürzt wird. Gärtner sucht dies dadurch zu erklären, daß bei der Befruchtung der Zug der Nahrungssäfte von ihr abgezogen wird. Goebel weist auf die andere Erklärungsmöglichkeit hin : Es können bei den durch die Befruchtung ein- geleiteten Stoffwechselprozessen auch Produkte entstehen, welche desorganisierend auf die Blumen- krone einwirken. Fitting hat bei seinen Unter- suchungen über die vorzeitige Entblätterung der Blüten (191 1) wahrscheinlich gemacht, daß es sich dabei nicht um einfache Desorganisations- erscheinungen handelt, sondern um eine Ent- wicklungsrichtungsumschaltung, um ein vorzeitiges Auslösen einer autonomerweise erst später ein- setzenden Lebensphase. Bei Gcraiiiuui. pyrciiaicuin entblättern sich die Blüten nach der Bestäubung überaus schnell oft schon nach einer Stunde. Wird bei EroJiinii Jllaiicscan' ä&r Gn^tl mit einer Pinzette gequetscht, so stellt sich ebenfalls raschestens Blütenblattfall ein; der „Reiz" muß bei der mit oberständigen Fruchtknoten ausgestatteten Reiherschnabelblüte „irgendwie durch den Fruchtknoten hindurch bis zu den Basen der Fetalen geleitet werden". Bei der Komposite Filago arvensis befinden sich im Zentrum des Blütenköpfchens einige Zwitterblüten, und diese sind umgeben von weib- lichen Blüten mit unscheinbarer Blumenkrone. Den Grift'eln der weiblichen Blüten fehlen die Fegehaare, welche dagegen in den Zwitterblüten gut entwickelt sind. Diese Haare entstehen ver- hältnismäßig spät. „Ihre Entwicklung ist wahr- scheinlich bedingt durch Vorgänge, die sich in den Staubblättern abspielen, vielleicht durch bestimmte Stoffwechselprodukte (Hormone), welche als Reiz wirken." Goebel 191 3. Es ist nicht anzunehmen, daß Hormonwir- kungen im Pflanzenreiche, insofern sie tatsächlich stattfinden, auf die Blütenregion beschränkt sein würden. Aus neuen wertvollen Untersuchungen Haberlandts über die Physiologie der Zell- teilung geht anscheinend hervor, daß die Bildung eines sog. „Zellteilungsstoffes" von Seiten der Gefaßbündel eine sehr verbreitete, vielleicht ganz allgemeine Erscheinung ist. An einzelnen künstlich isolierten Zellen höherer Pflanzen treten — wie Haberlandt 1902 gezeigt hatte — in der Regel keine Zellteilungen mehr auf. Ausgehend von diesen älteren Versuchen stellte sich Haberlandt 1913 die Fragen, wie klein die Gewebestückchen sein können, um noch die bei der Wundkorkbildung üblichen Zellteilungen zu erfahren ') und ob dazu in den kultivierten Zellkomplexen ganz bestimmte Gewebearten ver- treten sein müssen. Das Hauptversuchsobjekt war zunächst die Kartoffelknolle. Aus ihr wurden ') Schneider Orclli (1911, Zentralbl. f. Baktcr. 30, II. Abt.) hat bereits beschrieben , dafi 2 mm hohe Kartoffel- Stückchen — wenn auch nur 4 — 6 Zcllagen voriianden sind — noch die liefiihigung zur Wundheilung besitzen. tafelförmige Stückchen herausgeschnitten in einer Dicke von 0,25 — 0,5 mm und einer Länge und Breite von i — 5 mm; derartige Gewebsfragmente enthalten 100 — 150 Speicherzellen; sie wurden in schwach angefeuchteten Petrischalen in Kultur genommen. In solchen Gewebeplättchen aus dem gefäßbündelarmen Markteile der Kartoffel „treten Zellteilungen fast ausnahmslos nur dann auf, wenn sie ein Leitbündelfragment enthalten; dasselbe braucht keine Wasserleitungsröhren zu besitzen, es genügt, wenn es aus Leptom, d. h. aus Sieb- röhren mit ihren Geleitzellen, besteht". In diesem kleinen Stückchen aus der Kartoffelknolle erfolgen also nur dann Zellteihmgen, wenn außer dem Wundreiz noch ein vom Leptom des Gefäßbündels ausgehender Reiz auf die Zellen einwirkt. Werden auf bündellose Gewebeplättchen bündelhaltige gelegt und zwar mittels einer Agarschicht an- einander geklebt, dann treten auch in den bündel- freien F"ragmenten Teilungen auf. Das spricht dafür, daß aus dem Leptom durch die Agarschicht ein Reizstoff in die bündellosen Plättchen hinüber diffundiert. Haberlandt läßt es noch unent- schieden, ob es sich dabei um ein Wuchsenzym im Sinne Beyerinks oder um einen anders ge- arteten Reizstoff handelt, der den tierischen Hor- monen an die Seite zu stellen wäre. Haberlandt hat dann, und ebenso sein Schüler Lamprecht an verschiedenem Pflanzenmaterial — besonders geeignet erwiesen sich Blattlamellen — weitere Versuche angestellt, die den ersten Befund voll- auf bestätigt haben, daß von den Gefäßbündeln und zwar dem Leptom ein Reizstoff ausgeschieden wird, der in Kombination mit den Wundreiz Zell- teilung bewirkt (Zellteilungsstoff). In allen bisher erörterten Phallen handelt es sich um (hypothetische) Reizstoffe, die im positiven Sinne, entwicklungsfördernd, — erregend wirken. Es kommen aber bei Pflanzen ebenso auch Korre- lationen vor, die auf Entwicklungshemmu ng zu beruhen scheinen. Diese müßten auf negativ wirkende Hormone, auf „Hemmungsstoffe" zurück- zuführen sein , falls derartige korrelative Ent- wicklungshemmungen tatsächlich durch den Ein- fluß spezifischer Stoffe zustande kommen sollten. Gerade bei den Entwicklungshemmungen liegen andere Erklärungsmöglichkeiten näher und sind auch heute die herrschenden. Schon der einfache korrelative Wasserentzug von selten stärker transpirierender Organe soll nach Wiesner hemmend auf das Wachstum anderer Organe einwirken. Auf diese Weise soll u. a. das regel- mäßige alljährlich im Frühjahr zu beobachtende Absterben der Endtriebe und Zweigspitzen mancher Holzgewächse, z. B. der Linde, zustande kommen. Nach anderen Autoren handelt es sich dabei, sowie in ähnlichen Phallen, weniger um bloßen Wasserentzug als um einen Kampf um organische und anorganische Nährstoffe (Goebel, Klebs). Dagegen faßt Errera (1905) folgende schon lange bekannte Erscheinung als durch spezifische N. F. XIX. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 249 Hemmungsstoffe bzw. deren Wegfall bedingt auf. Wird bei der Fichte der Gipfeltrieb entfernt oder auch nur geknickt oder verdunkelt, so erhebt sich einer der Seitentriebe und ersetzt den Haupttrieb. Bei ^iraitcnria führt die Entgipfelung nicht zur Aufrichtung eines ausgebildeten Seitentriebes, da- für wird der entfernte Haupttrieb substituiert durch Knospen, die sich an den Seitentrieben neu ent- wickeln und negativ geotropisches Wachstum auf- weisen. Errera stellt sich vor, daß der Gipfel- trieb „wie ein Tyrann" den unter ihn stehenden Seitenzweigen sich aufzurichten verbietet, obgleich sie das Bestreben dazu besitzen; erst nach seinem Tode oder seiner Schwächung erheben die ver- sklavten Seitentriebe das Haupt. Diese Vorherr- schaft übt der Haupttrieb aus durch Hemmungs- reize (excitations inhibitoires). So die bilderreiche Vorstellung Frreras. Das Aufrichten der Koniferen-Seitenzweige kann auch als geotropischer Stimmungswechsel aufgefaßt werden; das reizphysiologische Ver- halten der Pflanzen besonders gegenüber Licht- und Schwerkraftswirkung erfährt nicht selten an- scheinend korrelativ bedingte Umstimmungen. Die Knospen der IVIohnblüten werden in aufrechter Stellung angelegt; ihre Stiele fangen dann aber bald zu nicken an, schließlich richten sie sich vor dem Aufblühen wieder auf. Man spricht von geotropischem Stimmungswechsel. Vöchting hat bewiesen, daß bei Entfernung der Knospe die Umstimmung nicht eintritt. Es konnte sogar der Teil der Knospe festgestellt werden, der die Um- stimmung bewirkt : es sind die Samenknospen. War bei der operativen Entfernung der übrigen Blütenteile nur ein kleines Stück des Frucht- knotens mit den jungen Samen belassen, so traten im Stiel die normalen Umstimmungen ein. Prings- heim (191 2) meint, für diesen Fall sei es „wohl das wahrscheinlichste, daß die Samenknospen in einer bestimmten Periode ihrer Entwicklung einen Stoff absondern, der sich im Pflanzengewebe ver- breitet und die Umwandlung des negativen Geo- tropismus in positiven bewirkt. Rätsel blieben freilich auch dann noch genug, wenn sich diese Vermutung einer — inneren Sekretion — bei Pflanzen experimentell bestätigen ließe." Da der- artige Umstimmungen speziell an Blüten- und Fruchtstielen (Linaria) in nicht geringer Zahl be- kannt sind [Literatur bei Miehe 1902I, so ließe sich vielleicht doch ein geeignetes Objekt zur experimentellen Bearbeitung dieser Frage aus- findig machen. Die Crassulaceen Gattung BryopliyUitin und speziell die Arten calyciuuiii und cniialiim sind zu Korrelationsstudien sehr geeignet und schon oft verwendet worden. BryopJiyUiivi besitzt fleischige Blätter; in den Kerben des Blattrandes bilden sich frühzeitig Sproßanlagen; diese entwickeln sich aber nicht weiter, solange die Blätter mit der IVIutter- pflanze in Verbindung stehen; wird aber diese Verbindung gelöst oder unterbrochen, so tritt Weiterentwicklung der Sproßanlage ein; dazu genügt eine Durchschneidung des aus dem Blatt in den Stamm übertretenden Gefäßbündels. Es fragt sich, ob das maßgebende dabei die Unter- brechung der Wasserleitungsbahnen ist oder aber der das Baumaterial leitenden Elemente. Goebel hat verschiedene Versuche angestellt, um diese P"rage zu entscheiden. Auf das komplizierte Bryophylbiiii Phänomen kann hier nicht einge- gangen werden ; es bestehen verwickelte Korrela- tionen besonders auch zwischen Sproß- und Wurzel- bildung an den Blättern. Es sei nur darauf ver- wiesen, daß sich neuestens J. Loeb in einer Reihe von Arbeiten mit der V?/'_)'(//>//)'/////y/-Regeneration beschäftigt hat. Loeb nimmt an, daß a flow of certain (possibly specific) substances . . . from the places where the dormant buds are ready to grow, or the prevention of such a flow toward these dormant buds stattfinde. Goebel, der die Arbeit Loebs kritisch bespricht, bemerkt dazu, daß die „substances" und ihr Fluß nur Bilder sind. In den Ergebnissen weiterer Experimente will Loeb (1916) seine Annahme von dem Zu- strömen spezifischer Substanzen, die das Wachs- tum von Wurzeln und Sprossen an den Blatt- kerben verhindern, bestätigt finden. Überhaupt sollen spezielle in der Pflanze strömende Stoffe für die Phänomene von Wachstum und Ruhe der Zellen von großer Bedeutung sein (Loeb, 191 5» Science 41). Trotz zahlloser Experimente ist auch heute noch das „Netz von Korrelationsbedingungen" bei Bryopliylliim der Aufklärung bedürftig, noch ebenso wie dies Goebel 1908 betont hat. Und wäre auch der Nachweis von spezifisch wirksamen Reiz- oder Hemmungsstoffen - — Hor- monen — in diesem sowie den anderen Fällen mit völliger Sicherheit erbracht, so wäre damit erst ein geringer Teil des Problems der Korrela- tion und Harmonie der pflanzlichen Organismen damit gelöst. Es bleibt zu erforschen oder doch näher zu präzisieren der Ort der inneren Sekretion. Ob es spezielle Beeinflussungsorgane mit innerer Hor- monsekretion entsprechend den tierischen Drüsen ohne Ausführungsgänge bei den Pflanzen über- haupt gibt, ist fraglich, meist wird es sich wohl nur darum handeln, daß irgendwelche Zellgruppen als Produkte oder Nebenprodukte ihres Stoff- wechsels Reizstoffe — Parhormone — als Neben- funktion liefern; immerhin wäre zu untersuchen, ob irgendwelche Zellen eine besondere Befähigung zur inneren Sekretion besitzen, z. B. welche Zellen des Blattes die von Maze angenommenen Preven- tivsubstanzen liefern. Über die Bildungsstätte des Zellteilungsstoffes hat sich Haberlandt folgende Vorstellung gemacht: Es liegt nahe anzunehmen, daß die Geleitzellen oder die sie bei den Gefäß- kryptogamen vertretenden Zellzüge Organe einer inneren Sekretion sind, die den hypothetischen Zellteilungsstoff und vielleicht auch noch andere Reizstoffe (Hormone) bilden. Dafür spricht der Plasmareichtum dieser Zellen, die mit ihren großen 250 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i6 Kernen in mancher Hinsicht an den Bau pflanz- licher Sekretzellen erinnern. Ebenso dringend der Beantwortung harrt die Frage nach dem Weg, nach den Bahnen, die die eventuellen Beeinflussungsstoffe wandern oder wandern könnten. Fitting betont, daß man sich in der Hormonfrage besonders vor Analogie- schlüssen vom Tier auf die Pflanze hüten müsse „weil der Pflanze ein dem Blut- und Lymphge- fäßen entsprechendes Zirkulationsorgan fehlt" und im gleichen Sinne äußert sich Küster: „Bei einem Vergleich der im Tier- und Pflanzenkörper für die Hormone realisierten Wirkungsmöglichkeiten wird zu beachten sein, daß in jenem die Blut- bahnen eine Verbreitung der Hormone im ganzen Organismus herbeiführen, während im Pflanzen- körper die Verbreitung erheblich langsamer vor sich geht; es darf deshalb erwartet werden, daß im Pfianzenkörper die Hormone auch ortsbestim- mende Wirkungen werden entwickeln können." ') Letzteres wäre wohl auch dann möglich, wenn — wie Fitting annimmt — in der Pflanze die Hormone eher als in leicht diffusibler in nicht oder schwer diffusibler Form vorkommen. Haber- land t dagegen stellt sich vor, daß ein genügend rascher Transport der Hormone im Siebröhren-, vielleicht auch im Milchröhrensystem, ganz gut möglich wäre. In die Siebröhren würden die Hormone aus ihren angrenzenden Bildungsstätten den Geleitzellen gelangen und zwar durch die mit Plasmodesmen versehenen Schließhäute der Tüpfel; letztere sind ja an den Trennungswänden zwischen Geleitzellen und Siebröhren reichlich vorhanden. In den Siebröhren aber würde die Weiterleitung der Reizstoffe „auf große Entfernungen hin" statt- finden. Die Frage nach den Bahnen korrelativer Be- einflussung wurde auch schon früher und oft ven- tiliert, sie existiert ja in gleicher Weise für For- scher, die keine spezifischen Beeinflussungsstoffe annehmen, sich die Korrelationen vielmehr durch Ernährungseinflüsse im weitesten Sinne des Wortes verursacht denken. Wir haben gehört, daß Duhamel die Wurzel und Sproß bildenden Substanzen mit dem ab- und aufsteigenden „Säfte"strom wandern läßt, wie ja überhaupt die Botanik früherer Zeit geneigt war, in den Pflanzen ein dem tierischen Gefäßsystem analoges Leitungssystem anzunehmen. In neuerer Zeit wurde von verschiedenen Autoren auf ex- perimentellem Wege erwiesen : Unterbrechung der Gefäßbündelleitungsbahnen stört die korrelative Beeinflussung von Pflanzenteilen untereinander; im Auftreten von Regenerationen und Ersatzfunk- tionen zeigt sich dies. Vöchting hat festge- stellt, daß in vielen Fällen eine Unterbrechung des Rindenteils des Gefäßbündels allein (Ringe- lung) zur Vereitlung der korrelativen Wechsel- beziehung genügt; diese wurde demnach durch ') Nach Fischel können auch im tierischen Organismus Hormone durch DilTusion in die (jewcbc übertragen werden. Arch. f. Entw. -Mechanik 1916. den der Hauptsache nach wasserleitenden Holz- teil nicht übermittelbar sein. Dagegen bewies Nordhausen (1907» an Wurzeln, daß eine Störung von Holzelementen genügt, um Ersatz- tätigkeit auszulösen. Die Nord hau senschen Befunde sind deshalb wertvoll, weil es sich bei seinen Verwundungen der Wurzeln keineswegs um eine erhebliche Unterbrechung wichtiger Wasser- leitungsbahnen gehandelt haben kann. Nord- hausen schließt daraus: Bei der Aufhebung der Korrelation spielen nicht Ernährungsstörungen die ausschlaggebende Rolle und demnach auch nicht bloß quantitative Einflüsse beim Zustandekommen derselben; sondern die normalerweise bestehen- den Korrelationen müssen durch „spezifische Hemmungsreize" bedingt sein; zur Übermittlung derselben sei eben die Kontinuität gewisser Zell- reihen des Holzteils erforderlich. Ähnliche Ver- suche hatte vorher N e m e c durchgeführt mit dem Ergebnis: Die Kontinuität und Unversehrt- heit des Pericambiums, d. i. der den Zentral Zylinder umgebenden Schicht ist zur Korrelations- übermittlung erforderlich. Errera suchte für die Korrelationen, die zwischen Haupt- und Seiten- trieben der Koniferen bestehen, zu ergründen, auf welchem Weg sie vermittelt werden. Bei der Fichte und anderen Nadelhölzern soll der Hem- mungsreiz im Holz geleitet werden, da bei einer Ringelung des Gipfeltriebes also einer Unter- brechung der Kontinuität der Rinde keine Auf- richtung der Seitenäste erfolgt. Nach Errera kämen im Holz aber nicht die toten wassertrans- portierenden Röhren, sondern nur lebende Zellen als leitendes Gewebe für den Hemmungsreiz in Betracht. Bei Araucaria genügt die Ringelung, um den Einfluß des Gipfels auszuschalten, die Transmission der excitation inhibitoire scheint hier also in der Rinde zu erfolgen. M i e h e suchte die Leitungsbahnen zu präzi- sieren, auf denen die korrelative Beeinflussung des (jeotropismus von ihm studierter Gelenkpflanzen [Tradrscivifid] erfolgt. Er hatte festgestellt, daß zwischen der embryonalen Zone eines höheren Knotens und der Krümmung des folgenden Ge- webes eine Beziehung besteht „daß also die Fort- leitung eines Einflusses von einem Knoten zum nächsten stattfinden muß". Werden in ver- schiedener Höhe des Stengels an gegenüberstehen- den P^lanken Einschnitte angebracht, die tiefer eindringen als die Mittellinie, so erweisen sich die Beziehungen zwischen den zwei Knoten gestört. Mi ehe schließt daraus, daß die Fortleitung der korrelativen Reize auf geraden Bahnen erfolgt und nicht etwa um die Ecke. Weitere operative Eingriffe am Internodium lassen es wahrschein- lich sein, daß die Gefäßbündel als Korrelations- bahnen fungieren. Mi ehe steht übrigens für diesen P"all auf dem Standpunkt, daß diese Be- ziehungen nicht durch spezifische Korrelations- trägcr, Reizstoffe, sondern durch quantitative Ver- schiebungen in der Zuleitung der gewöhnlichen Nährsubstanzen vermittelt werden. N. F. XIX. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 551 •Allen diesen Vorstellungen über die Art und Weise und die Bahnen desWanderns der spezifischen oder nicht spezifischen Stoffe, die die Korrelationen ermög- lichen, ist gemeinsam die Annahme einer durch Diffu- sion durch die Zell wände hindurch unter even- tueller Benutzung von Zellfusionen (Gefäßen, Sieb- röhren) erfolgenden Transmission. Anderer Art ist die Vorstellung, welche zur Korrelationsüber- mittlung auch bei Pflanzen „nervöse" oder denen entsprechende plasmatische Bahnen in Anspruch nimmt. So denkt Mc Callum, daß die Kor- relationsreizübertragung unter der Mitwirkung der Plasmaverbindungen erfolge; dafür würde sprechen, daß Lokalanästhesie durch Äther, die Leitung unterbrechen soll. Nach Isaburo-Nagai macht Plasmolyse dadurch die gegenseitige Ausübung eines Hemmungsreizes unmöglich, weil dabei eine Zerreißung der Plasmodesmen erfolgt. Haber- land t will jetzt (191 9) die Wirkung der Plas- molyse auf die Farnprothalliumzellen, die nach erfolgter Plasmolyse neue Zellteilungen und Adventivsproßbildung vornehmen, durch Erhöhung der Konzentration des in den Zellen bereits vor- handenen Zellteilungshormons erklären. Seine frühere Auffassung (1902), daß isolierte Zellen ihr unterbrochenes Wachstum deshalb weiter fort- setzen, weil der seitens der Gesamtpflanze aus- gehende Hemmungsreiz nach der Isolierung weg- fällt, hat wohl mehr Wahrscheinlichkeit für sich. Die Ausübung des Hemmungsreizes wird eben zur Unmöglichkeit, wenn die Plasmodesmen durch Zerzupfen der Zellen oder durch Plasmolyse zer- rissen werden. Auch Nemec denkt an Beziehungs- übertragung durch reizleitende plasmatische Struk- turen; diese dürften jedoch in der von ihm an- genommenen spezifischen Ausbildung nicht vor- kommen. Haberlandt stellt sich vor, daß das Zellteilungshormon mit Hilfe der Plasmodesmen in die Siebröhren gelangt, und daß diese auch sonst die Bahnen darstellen, auf denen sich innere Reize fortpflanzen, „wie sie bei der gegenseitigen Beeinflussung der verschiedenen Gewebe und Or- gane des Pflanzenkörpers zur Geltung kommen". Auch der Einfluß des Zellkerns auf die Mem- branbildung wird anscheinend durch Plasmodesmen von Zelle zu Zelle vermittelt, wenigstens hat Townsend gezeigt, daß der Kern von Haarzellen in der Nachbarzelle kernlose Plasmamassen zur Membranbildung veranlassen kann, solange die Verbindung mit Plasmodesmen intakt ist.^) Dem Wesen nach dürfte nach Pfeffer (1904, p. 225) die Reizleitung durch die Plasmafäden erzielt werden: i. durch die Übermittlung eines be- stimmten Reizstoffes, 2. durch die Übermittlung von lebenden Plasmateilen oder 3. durch die Port- pflanzung irgendeines physikalisch chemischen Prozesses. Wir betreten hiermit aber schon ganz das Gebiet ') Auch intrazellular also in ein und derselben Zelle be- einflußt der Kern das Plasma ,, vielleicht auf stofflichem Wege durch Ausscheidung gewisser Substanzen (Reizstoffe, Hormone, Enzyme)" Haberlandt 1918. der Reizphysiologie. Korrelationen beruhen zweifel- los häufig auf typischen Reizverkettungen. Aberdiese Reizverkettungen müssen — wie schon aus obiger Dreiteilung der Reizleitungsweise ersichtlich — nicht immer durch Hormonwirkung zustande kommen. Fitting will nur solche Reizstoffe bei den Pflanzen Hormone nennen, welche Entwicklungs- vorgänge, also formative Reizreaktionen, auslösen. Die Unterscheidung zwischen formativen und anderen besonders den Bewegungsreizen gründet sich zum Teil wohl auch darauf, daß bisher die Vorstellung besteht, die Reizleitungsweise dieser Reizarten sei verschieden. Bei vielen formativen Reizen und sonstigen Korrelationsübertragungen überhaupt wandern die Reizanlässe, die Reizstoffe selbst. Bei der Reizfortpflanzung der Bewegungs- erscheinungen bewirkenden Reize erfolgt dagegen eine Ausbreitung und Leitung von Erregungszu- ständen des Protoplasmas, also die Fortpflanzung von Wirkungen des Reizanlasses oder von Ver- änderungen, die durch den primären Reizerfolg, die Perzeption, bedingt sind. Zu derartiger Unter- scheidung wäre folgendes zu bemerken : Selbst in der Tierphysiologie — der früher alle Organ- korrelation für nervös galt — neigt man heute dem anderen Extrem zu, sogar die nervösen Be- ziehungen als chemisch vermittelt zu betrachten. Bei der Pflanze verwischen sich vielleicht die Grenzen zwischen „neuraler" und „humoraler", zwischen „plasmatischer" und „osmotischer" Reiz- leitung noch wesentlich mehr. In der Pflanzen- physiologie kann man sich der Auffassung, daß typische Reizleitungsvorgänge ,,wohl sicher auch chemische Prozeße sind, aber besonderer Art" (Fitting) um so weniger verschließen, als ja spezifische nervöse Reizleitungsbahnen den Pflanzen fehlen, die experimentelle Beweisführung, daß die Plasmaverbindungen als Bahnen der Reizleitung dienen, kaum zu erbringen ist und die Funktion der Plasmodesmen ebenso oft auch in der Stoff- wie in der Reizleitung gesucht wird. Vor allem aber stützen neue bedeutsame Unter- suchungen von Boysen-Jensen, A. Paäl und von P. Stark die Ansicht, daß es sich bei der Kor- relationsvermittlung und tropistischen Reizleitung in gleicherweise um Diffusionsvorgänge handelt. Wird einem Haferkeimling die Spitze ') in einer Länge von 3 — 4 mm abgeschnitten, mit Gelatine an der früheren Stelle wieder angeklebt, der Spitzenteil allein einseitig beleuchtet, so erfolgt eine positive phototropische Krümmung im un- belichteten basalen Teil des Keimlings, also im wesentlichen genau so als ob die Spitze im nor- malen Gewebsverbande mit dem basalen Teil stünde. Der phototropische „Reiz" kann dem- nach über eine Schnittfläche hinweg geleitet werden und zwar auch dann, wenn eine bis zu 0,1 mm dicke Gelatineschicht zwischen der oberen ') Die Keimlingsspitze des Hafers ist bekanntlich die sog. Koleoptile oder Keimblattscheide , ein zylindrisches, ge- schlossenes, innen hohles Organ, das die eigentliche Knospe umschliefit. 252 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i6 Perzeptions- und der unteren Reaktionszone (eben zwischen den Schnittflächen) eingeschaltet ist. „Zu einer phototropischen Reizübertragung ist somit eine intakte Verbindung von Zellen und von Plasma nicht nötig." Der phototropische Reiz kann auch durch einen leblosen fremden Körper, durch Gelatine, geleitet werden. ,,Das Wesen der Reizleitung innerhalb der Gelatine- schicht kann wohl in nichts anderem als in einer Diffusion von wasserlöslichen Stoffen bestehen." Es ist wohl kaum anders möglich, „als daß die Reizleitung auch durch die lebenden Zellen haupt- sächlich in einer Diffusion und zwar der gleichen Stoffe wie durch die Gelatine, besteht". Damit war ein wichtiger Baustein gelegt zu einer aussichtsreichen Theorie des Phototropismus überhaupt. Ein weiteres wichtiges Glied dazu bilden P a ;i 1 s Versuche über die sog. Wund- krümmungen. Wird die Spitze von Haferkeim- lingen einseitig eingeschnitten, verletzt, so treten in der Reaktionszone positive, das heißt nach der Wundseite hin gerichtete, Krümmungen auf Die Ursache davon hat man bisher in der Verwundung selbst, im Wundreiz, vermutet. Padl hat nun höchst interessante Versuche angestellt, die gegen diese Deutung sprechen: Ein querer einseitiger Einschnitt an der Keimlingsspitze verursacht keine Wundkrümmung, wenn er mit Gelatine gefüllt wird, dagegen eine positive Krümmung, wenn er klaffend ohne Gelatinefüllung bleibt. Keine Krüm- mung tritt auch auf, wenn die Wundränder nach dem Ouereinschnitt sich wieder schließen können, d. h. unmittelbar aufeinander zu liegen kommen. Einseitig an der Spitze angebrachte Längs- schnitte haben ebenfalls in der Regel keine Krümmung zur Folge. Verwundungen ohne Störung der Diffusionsmöglichkeit über die Wunde hinweg bewirken also keine „Wund- krümmungen". Paal stellt sich nun folgendes vor: „Damit das Wachstum allseitig gleichmäßig verläuft, also keine Krümmung eintritt, ist eine allseitig gleich- mäßige, wenn auch nicht normale Verbindung von Spitze und Wachstumszone miteinander not- wendig. In der Spitze hat ein Regulationszentrum für das Wachstum seinen Sitz. Es wird dort ein Stoff (oder Stoffgemisch) gebildet und innerlich ausgeschieden, der nach allen Seiten gleichmäßig verteilt im lebenden Gewebe basalwärts wandert. Kommt er in die Wachstumszone, so erregt er dort das Wachstum und zwar in ringsherum gleichem Maße. Daher ist das ungestörte Wachs- tum an allen Seiten gleich schnell verlaufend und das Organ wächst gerade. Wird aber das Wan- dern dieses Korrelationsträgers gehemmt oder gänzlich verhindert, so nimmt das Wachstum ab oder bleibt stehen. Wird das Wandern des Korrelationsträgers nur an der einen Seite gestört, so ist die Folge davon eine Wachstumsverminde- rung an der betreffenden Seite, somit eine Krümmung des Organs nach der affizierten (z. B. eingeschnittenen) Seite hin. Die korrelative Be- einflussung des Keimlingswachstums würde also von dem Gewebe an seiner Spitze ausgehen, dieses Gewebe würde die besondere Befähigung zur inneren Sekretion eines wachstumsfördernden Stoffes, eines Autoauximons, besitzen, wie ja auch Haberlandt den Vegetationsspitzen besonders die F'ähigkeit zur Bildung des Zellteilungsstoffes zuspricht. Durch obige Annahme ergibt sich für Paäl auch die Möglichkeit folgender theoretischer Vorstellung über das Zustandekommen des Photo- tropismus : Der an der Keimlingsspitze entstehende, die Wachstumsregulation bewirkende Korrelations- träger wird „bei Belichtung der Spitze in seiner Entstehung gestört oder photochemisch zersetzt oder in seiner Wanderung etwa durch eine Änderung des Plasmas gehemmt und zwar an der besser beleuchteten Seite in stärkerem Maße. Die Folge davon müßte freilich eine Wachstums- abnahme an der betreffenden Seite, also eine Krümmung nach der Lichtquelle hin sein, ähnlich, als würde die betreffende Regulationsstörung durch eine Verwundung hervorgerufen. So wäre der Träger der Wachstumskorrelation zugleich Ver- mittler der phototropischen Reizleitung." Für den Verwundungs- und Berührungsreiz bei Graskeimlingen konnte 19 19 auch Stark eine Reizleitung über die Schnittfläche hinweg konstatieren. Starks Versuche legen ebenso wie die Paals die Vermutung nahe, „daß durch den Reiz auf der gereizten Flanke bestimmte Um- setzungen erzeugt werden, und daß die Reiztrans- mission auf der Diffusion gewisser Stofte von der Spitze nach dem Stumpf beruht". Schließlich hat neuestens J. Loeb die mögliche Identität der geotropisch wirksamen Substanzen mit Hor- monen erörtert. Erinnern wir uns an die Diffusion der Zellteilungshormons durch die Agarschicht über die Schnittfläche hinweg bei den Versuchen . Haberlandts, so tritt die Analogie zwischen „Reiz"leitung und Korrelationsübertragung deut- lich zutage. Die Wirkungsmöglichkeiten der Hormone im Pflanzenreiche würden sich also auch auf das Gebiet der eigentlichen Reizphysio- logie erstrecken. Selbst wenn alle erörterten Teilfragen schon gelöst : die Existenz pflanzlicher Hormone sicher erwiesen, ihre chemische Natur erkannt, die Be- einflussungsorgane gefunden, die Leitungsbahnen festgestellt wären, auch dann stünde die Wissen- schaft erst am Anfang des Verstehens der Korre- lation und inneren Harmonie. Herbst hat betont, daß aus der Wirkung der organbildenden Stoffe noch nichts gefolgert werden könne auf ihre Wirkungsweise. Das ist es ja auch, was mit Recht der Sachs 'sehen Theorie vorgeworfen würde und wird ; sie umschreibt nur, verschiebt das Problem. Die Art und Weise der Wirkung organbildender und sonstiger Hormone auf die lebende Substanzkonstellation ist völlig unbekannt; wie diese Stoffe hemmenden, fördernden Einfluß ausüben oder gar formativ verändernd wirken, davon wissen wir kaum etwas. N. F. XIX. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 253 Selbstverständlich ist ferner, daß das ganze Heer der Korrelationen, daß die gegenseitige Verkettung und Abhängigkeit der Organe der Pflanzen und des Protoplasten, daß die unerläßliche Selbststeuerung des Gesamtgetriebes und der Partialfunktionen nicht alle auf gleiche Weise durch Hormonwirkung Zustandekommen und er- klärt werden können. Pfeffer hat wiederholt zur Veranschaulichung des selbstregulatorischen Lebensgetriebes das Bild einer „vielseitig arbeiten- den chemischen Fabrik" gebraucht. Dieses Bild gibt wenigstens eine entfernte Vorstellung von der Komplikation des inneren Getriebes und der Zusammenhänge im Organismus und der un- geheuren Schwierigkeit des kausalen Verstehens. Aber das Problem der Korrelation hat neben der kausalen auch noch eine finale Seite. Alle Korrelationen müssen so erfolgen, daß die — nach Driesch dreifache — Harmonie des Organismus gewährleistet wird. „Das harmonische System ist zugleich auch ein zweckmäßiges; denn seine ein- zelnen Glieder stehen nicht nur zueinander in kausalen Zusammenhängen, sondern auch im Ver- hältnis von Mittel und Zweck, also in Zweck- verbänden" (O. Hertwig 1916). Der Darwi- nismus hat das Zustandekommen der äußeren Zweckmäßigkeit durch den Kampf ums Dasein erklären wollen, die innere Harmonie durch den Kampf der Teile im Organismus. Wirkungen dieser unhaltbaren Kampfeslehre sind an den Er- klärungsversuchen pflanzlicher Korrelationen nach- zuweisen: Immer wieder wird auf das Kampf- prinzip rekurriert, der Kampf um verschiedene Lebensnotwendigkeiten, der ja gewiß ein treiben- der Faktor ist, soll alles erklären : Kampf um Wasser und Kampf um Licht, Kampf um Raum und Kampf um Nahrung. Ein anderer Gesichts- punkt dagegen kommt in der Bezeichnung der funktionellen Abhängigkeit der Zellen voneinander als „Altruismus der Zellen" zum Ausdruck (Hanse- mann). Harmonie kann nicht durch Kampf er- reicht werden, sondern nur durch Zusammen- arbeiten miteinander und Anpassung aneinander, durch Vermittlung und Verständigung.*) Eines der Verständigungsmittel sind vielleicht die Hormone. Wenn die Theorie der Hormon- ') Vgl. hierzu die Ablehnung der Darwinschen Karapfes- lehre und speziell des Kampfes der Teile im Organismus durch O. Hertwig 191Ö, Das Werden der Organismen. ,, Arbeits- teilung mit ihren Folgeerscheinungen (Differenzierung und Korrelation) setzt keinen Kampf voraus. Wo sie stattfindet, gibt es weder Sieger noch Besiegte; vielmehr ziehen die arbeitsteilig gewordenen lebenden Einheiten niederer und höherer Ordnung aus der Teilung der Arbeit gleichermaßen Nutzen, und noch mehr das Ganze, deren Teile sie sind." korrelation im Pflanzenreiche einen wertvollen Kern enthält, wird sie auch unter den Botanikern bald mehr Anhänger finden, denn „jede wirkliche Botschaft bringt sich die Empfänger schon mit". Buschbeck 1920. Literatur. Armstrong, 1911, The tunction ofHormones in regulating metabolism. Annais of Botany 2.5. Derschau, 1915, Der Austritt ungelöster Substanz aus dem Zellkerne. Archiv f. Zellforschung 14. D o p OS ch eg - Uhlar, 1911, Studien über die Regeneration u. Polarität der Pflanzen. Flora N. F. 2. Driesch, 1901, Die organischen Regulationen. Errera, 1905, Conflits de prcseance et excitations inhibitoires chez les vegelaux. Fitting, 1909, Die Beeinflussung der Orchideenblüten usw. Zeitschr. f. Botanik 1. 1910, Weitere entwicklungsphysiologische Untersuchungen; ebenda 2. 1909, Entwicklungsphysiologische Probleme der Fruchtbil- dung. Biolog. Zenlralbl. 2i). 1917, Die Pflanze als lebender Organismus. Goebel, 1913, Organographie I. Bd. 2. Aufl. 1916, Zu J. Loebs Untersuchungen über Regenera.tion bei Bryophyllum. Biolog. Zentralbl. 36. Haberlandt, 1913, /14, /19, Zur Physiologie der Zellteilung. I., 2., 3. Mitteil. Sitz.-I5er. preuß. Akad. der Wissen- schaften. Hartmann, 1919, Über das Verhalten der Zell-, Kern- und Nukleolengröße usw. Archiv f. Zellforschung, 1.5. Herbst, 1895, Die formativen Reize bei Pflanzen. Biolog. Zentralbl. 15, S. 725. Klebs, 1913, Fortpflanzung der Pflanzen. Physiologie. Hand- wörterbuch d. Naturwiss. 4. Küster, 1909, Über chemische Beeinflussung der Organismen durcheinander. 1916, Pathologische Pflanzenanatomie, 2. Aufl. Lamprecht, 1919, Über die Kultur und Transplantation kleiner Blattstückchen. Beiträge z. allgem. Botanik. Bd. 1. Loeb, 19 15, Rules and mechanism of inhibiton and corre- lation in the Regeneration of Bryophylhim calycipum. Botan. Gaz. 60. 1916, Further experiments on correlation of growth in Bryo- phyllum; ebenda 62. 1918, Chemical basis of correlation; ebenda 65. 1917, The Chemical basis of regeneration and geotropism. Science N. S. 46. 1916, On the assoziation and possible identity of rootfor- ming and geotropic substances or hormones ; ebenda 44. IVIathiszig, 1913, Über einige selbststerile Blüten. Beiträge zur Kenntnis der Korrelationen. Mazc, 1916, Chlorose toxique du mais, la secretion interne et la resistance naturelle des vegetaux. Compt. rend. soc. Biolog. 79. Mez und Mathiszig, 191 4, Zur Frage der Wuchsenzyme. Beiträge zur Biologie d. Pfl. 12. Miehe, 1902, Über korrelative Beeinflussung einiger Gelenk- pflanzen. Jahrb. f. wiss. Botanik 37. Nordhausen, 1907, Über Richtung und Wachstum der Seitenwuizeln; ebenda 44. Paäl, 1918, Über phototropische Reizleitung. Ebenda 58. Sachs, 1880, Stoft' und Form der Pllanzenorgane. Stark, 1919, Über traumatrop. u. haptotrop. Reizleitungs- vorgänge. Ber. deutsch, bot. Ges. 37. Bücherbesprechungen. Walther, Johannes, Allgemeine Paläonto- Einschlüsse der Gesteine". Das Werk ist, logie. Berlin 1919, Gebrüder Bornträger. nach dem Inhalt des ersten Teiles zu urteilen. Der erste Teil behandelt „die Fossilien als wohl weniger das, was man unter einer AUge- 254 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i6 meinen Paläontologie schlechthin erwarten würde. Vielmehr gibt der Untertitel „Geologische Fragen in biologischer Betrachtung" erst eine deutlichere Richtlinie über das, was JohannesWaltherals „erste Grundsteine" einer Allgemeinen Paläontologie zur Darstellung bringen will, wie er denn ja auch als Geologe durchaus von der biologischen Wissenschaft ausgegangen ist. Allgemeine Paläontologie definiert J. Walther späterhin selbst als „den umfassenden sinnge- mäßen Titel für die vielseitigen Fragen über das Leben der Vorzeit. Was man neuerdings unter den Namen Paläobioiogie, Paläoklimatologie, Paläogeographie und Paläoaktologie zusammenge- faßt hat, sind Teilgebiete, deren Einordnung in den Rahmen der allgemeinen Paläontologie aus den folgenden Abschnitten ersichtlich sein wird." Was das Werk vor allem lesenswert macht, ist die reiche persönliche Anschauung, die der Verfasser auf seinen Reisen sammeln konnte und nun häufig zur Erläuterung seiner Ansichten heran- führt. Gutes und Beachtenswertes steht neben anderem, was in der ausführlichen Erörterung längst und überall bekannter Dinge fast ermüdend wirkt oder die Kritik herausfordert. Das Vorwort bezeichnet als Endziel des Werkes: „Es soll das letzte Ziel dieses Buches sein, nicht allein das kleine Gebiet, das man neuer- dings als Paläobioiogie bezeichnet, sondern die Gesamtheit der biologischen Ursachen geologi- scher Vorgänge übersichtlich zu betrachten, und durch beständige Hinweise auf die kausalen Wech- selbeziehungen der heutigen Vorgänge einer poly- dynamischen Analyse des Naturgeschehens die Wege zu bahnen." (Polydynamische Naturauf- fassung steht im Gegensatz zur monodynamischen, die die wesentlichen und begleitenden Erschei- nungen eines geologischen Vorganges, so der Eis- zeit, durch eine einzige, folgerichtig durchgeführte Kausalreihe zu erklären sucht.) — Gewiß nicht unberechtigt ist der Hinweis, daß die „Trümmer- gesteine" („Sedimentgesteine" scheinen verpönt zu sein) trotz ihrer großen Wichtigkeit in vielen geologischen Darstellungen sehr kümmerlich be- handelt werden. — Daß paläogeographische Karten „eigentlich nur die Verbreitung von kiemen- tragenden Tieren . . . wiedergeben", trifft nicht zu. — Leider noch immer sehr beherzigenswert sind die Schlußsätze des Vorwortes: „Dieses letzte und schwierigste Problem der Biologie (nämlich das der Entwicklung im Laufe der geologischen Zeiträume) ist bisher fast ausschließlich von Bo- tanikern und Zoologen auf anatomischem, onto- logischem oder experimentellem Wege untersucht worden. Wertvolle und wichtige Erfolge haben ihre Arbeit gekrönt, aber man darf darüber nicht übersehen, daß es sich doch im Grunde genom- men um ein Problem handelt, das man eindeutig nur an der Hand chronologisch geord- neter Tatsachen lösen kann. Ebenso wie man nur geologisch entscheiden kann, ob die Ganoiden älter sind als die Knochenfische, so kann auch eine endgültige Lösung der allgemeinen Frage nach dem Wandel des Lebens im Laufe der Vergangenheit nur auf geologischem Wege gefunden werden." Die einzelnen Kapitel behandeln: die Begriffe Fossil und Rezent. Als älteste paläontolo- gische Sammlung wird ein Grab der jüngeren Bronzezeit angesehen mit einer Urne von 56 Arten unteroligozäner Fossilien; die Unterscheidung ein- zelner Arten soll Zeugnis ablegen von dem formen- sicheren Beobachtungsvermögen des Sammlers. Das Kapitel Aufschluß und Fundort bringt eine eigenartige Unterscheidung der Ge- steine in die zwei Hauptgruppen der aufge- lagerten und eingelagerten Gesteine und weiter nach ihrem Ursprungsmaterial in Trüm- mergesteine, Niederschläge, Magma- gesteine. Letztere drei sind massig oder ge- schichtet, und nur an „Gewebe, Umriß und Gefüge" ist ihre Entstehung zu beurteilen. Ge- webe ist der mit bloßem Auge sichtbare oder mikroskopische Aufbau aus einzelnen Teilchen; er ist bedingt durch Bildungsmaterial und Bil- dungsumstände. So wird ein „klastisches" Trüm- mergestein unterschieden. Es scheint mir, nebenbei bemerkt, daß an Verdeutschungsversuchen oft des nötigen zu viel getan ist. Für die wohl eingebürgerten Begriffe ein sehr dehnbares „Gewebe" einzuführen, liegt kein Grund vor. Eine Konkretion als „Schwiele" zu verdeutschen, ist Geschmacksache. Das nette Lößkindel ist nun eine kalkige Schwiele ge- worden ! Das Kapitel über Schichtung verwirft die Begriffe „Massen- und Schichtgesteine" als un- richtig. Das über die Deltaschichtung und ihre verkehrte Anwendung Gesagte ist auch nach meinen Beobachtungen völlig richtig. Dafür wird „Strudelschichtung" vorgeschlagen. Kraterschich- tung entsteht bei der Bildung vulkanischer Ring- berge durch ausgeworfene Aschen. Die unter- meerische Gleitung wird auf innere Molekularbe- wegungen zurückgeführt. Daß Beobachtungen über die Mächtigkeit sedimentärer Gesteine für viele Fragen von großer Wichtigkeit sind, wird mit Recht betont. Was aber soll der zweite Teil des folgenden Satzes: „Eine geologische Karte, auf der nicht jedes einzelne ausgeschiedene Glied nach seiner wirklichen gemessenen Mächtigkeit angegeben wird, trägt den Stempel der Ungenauigkeit an sich; denn es ist ausgeschlossen, daß der kartie- rende Geologe die Grenze eines Gesteins auf dem Kartenblatt bis auf 10 m genau einträgt, wenn er nicht bis auf 5 m genau weiß, wie mächtig die betreffende Gesteinsschicht ist." Hier liegt ein schwerer sachlicher Irrtum vor. Weiter werden behandelt: die zeitliche Ordnung der Gesteine; Bedeutung der Fossilien („eine nur systematisch angeordnete paläontologische Sammlung mit Ausschluß rezenter Arten ist eben so unvollständig als wenn man in N. F. XIX. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 255 einem zoologiscliem Museum die tropischen Tiere .... für sich allein systematisch anordnen würde" ist eine bisher fast überall noch nicht beachtete dringende Forderung!); Fossilreichtum, Faziesfossilien, Leitfossilien. In dem letzteren Kapitel wird versucht, eine schärfere Umgrenzung der bisher nach Relieben angewen- deten Ausdrücke Schicht, Stufe, Etage, Glied, Bank, Horizont zu geben. Stufe soll „auf die lithologischen Unterschiede der sich überlagern- den Gesteine" beschränkt werden. „Glied" ist eine paläontologische Unterscheidung; es wird durch „Gliederungsfossilien" gekennzeichnet. Die Fehlerquellen der systematischen Geologie werden beleuchtet, die Wichtigkeit des Artbegriffs für die stratigraphische Trennung oder Verknüpfung der Schichtenglieder hervorgehoben. Die Dauer fossilien, wie Lingula, Discina, Nucula, Leda, Capulus lassen die Unzerstörbarkeit des Lebens erkennen, die ebenso auffällig ist wie der beständige Wechsel seiner äußeren Erschei- nungsformen. Die Formationsgrenzen entsprechen den Zeiten eines tiefgreifenden Faunenwechsels; jede Formation umschließt in sich eine, durch eine einheitliche Fauna und Flora bezeichnete Zeit der Erdgeschichte. Für die Erklärung scharfer Forma- tionsgrenzen fällt die Katastrophentheorie aus, aber eine biologisch eindeutige Erklärung ist keineswegs einfach. Die untere Grenze der Fossil führung fällt ins Unterkambrium; ältere Faunen, die vor- ausgesetzt werden müssen, sind zerstört worden. Die Lücken der paläontologischen Über- lieferung sind am größten bei den festländischen Tieren und Pflanzen, am kleinsten bei den wirbel- losen Meerestieren. Die überlieferte lückenvolle Lebewelt der Vorzeit ist unvergleichlich formen- reicher als ihre rezenten Nachkommen. Die schmerzlichste Lücke ist das Fehlen vorkambri- scher Formenkreise. Große Lücken werden durch organische Gesteine gebildet, so Kohlengesteine, organische Massenkalke. Die methodische Unter- suchung ermöglicht es, das zufällig Fehlende zu ergänzen und das notwendig Fehlende auszu- schalten. Kapitel über Problematika, die fossile Flora, Fährten und Spuren folgen. Die Hart- g e b ! 1 d e sind geformte Sekrete, ausgeschieden durch bestimmte Zellgruppen nach eigenartigen physiologischen Gesetzen. Für viele Organismen bleiben diese organischen Sekrete die einzigen Stützgewebe, andere scheiden außerdem Mineral- stoffe zu deren Verstärkung aus. Von den vielen im Wasser gelösten oder löslichen Stoffen werden hierzu nur Kieselsäure, Kalkkarbonat, Kalkphosphat, Magnesiumkarbonat und Strontiumsulfat in größeren Mengen verwendet. Auffallend ist die Unab- hängigkeit der Kieselsäureausscheidung von der vorhandenen Kieselsäuremenge. Sehr wichtig ist, daß die chemische Zusammensetzung der Hart- gebilde in bestimmten Gruppen seit dem Kam- brium unverändert dieselbe geblieben ist, daß hier also Vererbungsgesetze von derselben Macht herrschen wie beim Bau der Organe. Die durch gleiche chemische Beschaffenheit ihrer Skelette ausgezeichneten Formen waren einstmals Bewoh- ner eines in sich geschlossenen Wasserbeckens, in dem zum Beispiel Kalk in solchen Mengen vorhanden war, daß die Lebewelt diesen bei der Herstellung von Hartgebilden bevorzugte. Diese Urmeere mit ihrer Fauna flössen später in das älteste gemeinsame Weltmeer zusammen; eine energische Auslese fand dabei statt. Die nachträglichen Veränderungen der F"ossilien (Diagenese) mitsamt denen der ein- schließenden Gesteine werden an vielen Beispielen erläutert. Das Rostrum der Belemniten wird als ursprünglich hornig angesprochen; es wurde erst durch Diagenese hart und schwer. Die organischen Gesteine bilden eine Reihe, die beginnt mit etwa 1 5 ";„ fossiler Reste in ihrer Masse und allmählig hinüber leitet zu so versteinerungsreichen, festländischen, limnischen oder marinen F'elsarten, daß 50—95 % der Masse aus Tier- und Pflanzenresten bestehen. Organische Gesteine im engsten Sinne sind Kohle und che- misch reiner Kalk. Diese sind nicht zu den Niederschlägen, sondern zu den Trümmergesteinen zu stellen. Ein Gestein erscheint um so fossil- ärmer, je größeren Anteil fossile Hartgebilde an ihm nehmen. In der Gegenwart entstehen auf organischem Wege kohlensaurer Kalk durch kalk- abscheidende Pflanzen und Tiere, phosphorsaurer Kalk in den Schalen von Brachiopoden und den Skeletten der Wirbeltiere, kohlensaure Magnesia, Kieselsäure, Schwefel, Eisenverbindungen, Glau- konit (vielleicht ein organischer Prozeß posthumer Natur), Schwefelsaures Strontium, Kohle (Gemenge von C, H, N, O, S). Betrachtungen über die Entstehung der Kohlen- und Kalksteine schließen das inhaltreiche Werk. Krenkel. Abel, Othenio, Die Stämme der Wirbel- tiere. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger, Berlin-Leipzig 19 19. Pflicht jedes Wissenszweiges ist es, von seinen Methoden, Problemen und Ergebnissen zeitweilig die Umwelt, vor allem die Schwesterwissenschaften zusammenhängend zu unterrichten. Geschieht es nicht, so beklage sich das betreffende Fach nicht zu sehr über Vernachlässigung und Mangel an Berücksichtigung. Die Spezialisierung ist längst zu weit gediehen, als daß jene Nachbardisziplinen das aus eigener Kraft zu ersetzen vermöchten. Wer die Aufgabe übernimmt, verpflichtet seine Fachgenossen insgesamt zu Dank. Die Paläontologie ist augenblicklich in dieser Lage, dankbar sein zu können. Zittel und Neumayr haben dereinst in sehr verschiedener Weise, doch beide mit außerordentlichem Er- folge, das Amt auf sich genommen. Jetzt hat der Wiener Paläontologe Abel gleichen Dank und >S6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i6 Ruhm erworben. Wie jene Vorgänger schnell internationale Bedeutung gewannen, dürfte auch das soeben bei der „Vereinigung wissen- schaftlicher Verleger" in Berlin und Leip- zig erschienene Buch „Die Stämme der Wirbel- tiere" von O. Abel allen Versuchen der Feinde spotten die deutsche Literatur zu ignorieren und damit eine erste wichtige Bresche in die Wahn- sinnsfront verblendeten Gelehrtentums legen. Dann wird der Dank ein doppelter sein. Paläontologie gilt ja noch allzu vielfach als die „Wissenschaft des Unvollkommenen". Sie ist es auch in einem ähnlichen Sinne, wie etwa die methodisch kaum abgrenzbare Archäologie. Sie ist aber ebensowenig, wie jene, deswegen selber als Unvollkommenes außer acht zu lassen. Von dem Maße der Lückenhaftigkeit der paläontologi- schen Überlieferung herrschen geradezu abenteuer- liche Vorstellungen selbst in biologischen Kreisen, die sich damit einer ihrer wesentlichsten Stützen berauben. Was wir tatsächlich heute schon über- sehen an Funden zur Gesamtorganisation der fossilen Wirbeltiere, findet sich in Abels Buch in eindringlichster Weise zusammengestellt. Die Zoologie wird dadurch geradezu in ihrem Gehalt vervielfacht. Abweichend von Zittels gleichfalls erst kürz- lich neu aufgelegtem streng registrierend ange- legten und auf möglichste Vollständigkeit im Auf- zählen der systematischen Einheiten bis zu Arten herab ausgehendem Kompendium, findet sich hier der Stoff in fortlaufendem Texte dargestellt und von Gattungen stets nur eine Auswahl etwa gleichwertiger, besonders wichtiger Typen aufge- führt. So gewinnt das Werk einen ganz anderen Wert als wirkliches Lehrbuch (nicht nur für den „Studierenden" im engeren Sinne), ohne dabei das schöne Zitte Ische stets auf der Höhe der Zeit gehaltene Nachschlagewerk in seiner Bedeu- tung im geringsten zu schädigen. Eine ungeheuere Arbeit ist geleistet. Nicht der Umfang kann das beweisen : über 900 Seiten mit 669 Textfiguren. Es genügt anzuführen, daß von den letzteren der Autor selbst mehrere Hundert gezeichnet oder nach bestehenden Vorlagen neu gezeichnet hat. Die Illustration erhält dadurch einen überaus einheitlichen Zug und die treffliche Art der Zeichnung bietet dem Leser fast durch- weg Rekonstruktives, so dem Verständnis zumal des Fernerstehenden bestens vorarbeitend. Dazu kommen bis ins Einzelne sorgfältigst durchgeführte Erläuterungen. Textanordnung und Illustrations- verteilung können vorbildlich genannt werden. Kurzum schon die Technik des Ganzen verlangt Bewunderung. Die gesamte Darstellung steht aber ferner unter dem Einfluß einer auf den verschiedensten Gebieten der Wirbeltier-Paläontologie durch eigene Forschungen bewanderten und selbständigen Schaffenskraft und -freudigkeit. Fern von nur kompilatorischem Wesen enthält die Arbeit eine Fülle gedanklicher Anregungen, ohne sich deshalb ins Theoretische zu verlieren. Vielmehr ist der Pluß der Darstellung sehr lebendig und die Er- fahrungstatsache herrscht durchaus. Die Literatur ist bis zur Gegenwart sehr vollständig und zuver- lässig angeführt und zwar nicht in Form eines allgemeinen Registers, sondern stets da, wo sie vonnöten ist, als Fußnoten. Dagegen finden sich mehrere ausführliche Namenregister am Schluß und einige sehr dankenswerte Tabellen eingangs. Glückliche Ergänzung bieten einige wertvolle Kapitel über die Morphologie und Zusammen- setzung des Wirbeltierskeletts überhaupt. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Es ist alles in allem etwas völlig Neues ge- schaffen. Das Papier ist der Zeitnot entsprechend des Inhalts nicht recht würdig, der Preis des Buches (geheftet 56 M., geb. 62 M.) bedauerlich hoch, aber angesichts des inneren Wertes durchaus nicht als unangemessen zu bezeichnen. Hennig. Literatur. Lecher, Prof. Dr. E. , Lehrbuch der Physik für Medi- ziner, Biologen und Psychologen. Mit 501 Abbildungen. Ebenda 10 M. Potonies Lehrbuch der Paläobotanik. 2. umgearbeitete Aufl. von Prof. Dr. M. Gothan. I. Lieferung. Berlin, Gebr. Borntraeger. 14 M. Mitteilungen der Preußischen Hauptstelle für den natur- wissenschaftlichen Unterricht. Heft 3; Beiträge zum geologi- schen und mineralogischen Unterricht. Leipzig '19, Quelle & Meyer. 6 M. Rinne, Prof. Dr. F., Gesteinskunde. Für Studierende der Naturwissenschaft, Forstkunde und Landwirtschaft, Bau- ingenieure, Architekten und Bergingenieure. 5. vollständig durchgearbeitete Auflage. Mit 493 Textabbildungen. Leipzig '20, M. Jänecke. Rinne, Prof. Dr. F., Einführung in die kristallographische Formenlehre und elementare Anleitung zu kristallographisch- optischen sowie röntgcnographischen Untersuchungen. Mit 460 Textabbildungen. Ebenda. Meyer, Th., Arzneipflanzenkultur und Kräuterhandel. Rationelle Züchtung, Behandlung und Verwertung der in Deutschland zu zielienden Arznei- und Gewürzpflanzen. Eine Anleitung für Apotheker, Landwirte und Gärtner. 3. verb. Aufl. Mit 21 Textabbildungen. Berlin '19, J.Springer. 10 M. Dittler, Prof. Dr. R. , Stereoskopisches Sehen und Messen. Antrittsvorlesung. Leipzig '19, J. .'\. Barth. 3 M. Henseling, R., Sternbuchleiu für das Jahr 1920. Mit einer zweifarbigen Planetentafel und 42 Bildern. Stuttgart '20, Kosmos-Verlag. 2,40 M. Fuchs, Dr. Fr., Grundriß der Funkentelegraphie in ge- meinverständlicher Darstellung. II. Aufl. München u. Berlin '20, R. Oldenbourg. 2,75 M. Ried 1er, A., Wirklichkeitsblinde in Wissenschaft und Technik. Berlin '19, J. Springer. 5 M. Inhalt: Friedl Weber, Hormone im Pflanzenreiche. S. 241. — Bücherbesprechungen: Johannes Walther, Allge- meine Paläontologie. S. 253. Othenio Abel, Die Stämme der Wirbeltiere. S. 255. — Literatur: Liste. S. 256. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folffe 19. Band; er ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 25. April 1920. Nummer IT. Zum Nomenklaturproblem in der anorganischen Chemie. [Nachdruck verboten.] Mit der wachsenden Kenntnis chemischer Ver- bindungen trat schon frühzeitig die Notwendigkeit auf, in die Unzahl der aufgefundenen Stoffe Über- sicht dadurch zu bringen, daß jeder Stoff seinen Individualnamen erhielt, daß aber zum gleichen Verbindungstypus gehörige Verbindungen auch analoge Bezeichnungen bekamen. Während diese Typisierung der Namengebung in der organischen Chemie verhältnismäßig leicht gelang und in der Genfer internationalen Nomenklatur ein im wesentlichen sehr brauchbares Schema er- halten hat, ist dies für die anorganischen Verbindungen nicht in gleichem Maße der Fall gewesen. Der Grund hierfür liegt vorzugsweise darin, daß die anorganischen Stoffe infolge ihres Alters in vielen Fällen Trivialnamen aufwiesen, von denen sich freizumachen nicht leicht war, und daß späterhin eine einheitliche Nomenklatur im- mer nur auf Grund der jeweils bekannten Ver- bindungstypen geschaffen wurde, so daß mit der jeweiligen Erweiterung unserer Kenntnisse das bisherige Schema zu eng wurde und neue Aus- drucksmöglichkeiten gesucht werden mußten. In- folgedessen bietet die anorganische Chemie in der Nomenklatur ihrer Verbindungen das Bild größter Willkür und Unübersichtlichkeit, das jedem Che- miker Schwierigkeiten macht und darüber hinaus vor allem dem Nichtfachmann und dem Anfänger im chemischen Studium zuweilen geradezu Rätsel aufgibt. Im folgenden soll der heutige Stand des Problems, wie diesem Chaos der anorganischen Nomenklatur Abhilfe zu schaffen sei, kurz darge- legt werden. Die Ausführungen wenden sich an die breitesten chemisch irgendwie interessierten Kreise, vor allem auch der Lehrerschaft, in der Hoffnung, daß die in jüngster Zeit versuchte Lösung der Frage allgemein bekannt und wirksam werde. Die Hauptschwierigkeit in der anorganischen Nomenklatur liegt, wie überall bei chemischer Namengebung, in dem Umstand, daß wissenschaft- liche und historisch oder sonstwie begründete Trivialnamen durcheinander geworfen werden. Der gleiche Stoff HgS wird als Schwefelqueck- silber, Quecksilbersulfid, Mercurisulfid, pharma- zeutisch als Hydrargyrum sulfuratum bezeichnet, und G. H. Martin,^) der die Willkür zum Prinzip erhoben wissen möchte, bringt sogar „Schwefelmercurid" in Vorschlag, da dieser Name ebenso logisch wie alle anderen sei. Ganz abge- sehen von dem Unfug zu glauben, daß eine hoch- Von Hans Heller. ') Chemical News 108, S. 191, 1913. entwickelte Wissenschaft ohne fest und eindeutig bestimmte Namen auf die Dauer möglich sei, hat mit Recht R. Stein') darauf hingewiesen, daß die geschichtliche Entwicklung eine Ent- scheidung ermöglicht, die jegliche Willkür ver- bietet und als sehr wohl „unlogisch" kennzeichnet. Immer nämlich hat logischerweise der Name des Metalls dem des Nichtmetalls voranzustehen; nicht Schwefelquecksilber, sondern Quecksilber- sulfid m u ß es heißen. Diesen ersten Grundsatz haben darum auch A. Rosenheim u. J. Kop- pe l,'-j die Herausgeber der Zeitschrift für an- organische und allgemeine Chemie, zu dem ihren gemacht und ihn dahin erweitert, daß stets der elektropositi vere Bestandteil in einer Verbin- dung voran SU stehen habe. Also nur Natrium- chlorid ist zu sagen (und zu schreiben 1), nicht Chlornatrium. Dementsprechend steht in Ver- bindungen zweier elektronegativer Bestandteile der am schwächsten elektronegative Anteil voran, z. B. „Schwefelchlorid". — Eine weitere Unklar- heit ist dadurch bedingt, daß unsere deutschen Bezeichnungen oft ein ganz unglückliches Gemisch von Silben und Suffixen aller möglichen Sprach- bestandteile darstellen. Ein Name wie „dithion- saures Barium" verbindet das dem Griechischen entnommene ^tiov mit dem deutschen Begriff „Säure" und fügt daran das ebenfalls griechische Lehnwort „Barium" mit lateinischer Endung I Man darf füglich anstreben, daß solcher Sprachver- lotterung allmählich ein Ende gemacht wird. Rosenheim und Koppel^) in ihrer für die Nomenklaturfrage wichtigen Abhandlung sprechen deshalb den weiteren Grundsatz aus, in allen Fällen, wo das möglich ist, deutsche Namen zu ver- wenden, d. h. also Elementen wie Kupfer, Queck- silber usw. auch in ihren Verbindungen diese deutschen Namen zu belassen. Nicht von Cupro- und Mercuriverbindungen , sondern von Kupfer- bzw. Quecksilberverbindungen soll künftig die Rede sein. Man wird diesem Vorschlag nur vollen Beifall zollen können. Die Chemiker Frankreichs haben sich nie des im übrigen internationalen Namens „Nitrogenium" für „Stick- stoff" bedient, sondern gebrauchten ihr „azote", schrieben daher auch nicht N, sondern Az als Symbol. Und seit dem Kriege ist es in Frank- reich guter Ton, nicht ,, Beryllium", sondern aus- schließlich „Glucinium" zu sagen. Aber auch •) Zeitschr. f. physikal. u. ehem. Unterricht 30, S. 195, 1917. ^) Zeitschr. f. anorgan. Chemie ; Vorwort z. General- register I — 50 und Chemiker-Zeitung 33, S. loi, igog. ') a. a. O. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 17 sonst gebrauchen die außerdeutschen Länder keineswegs die latinisierten Namen, wie etwa Kalium und Natrium, sondern durchweg z. B. Sodium und Potassium. Es liegt somit kein Grund vor, daß wir in Deutschland nicht unsere deutschen Bezeichnungen gebrauchen. Sie sind allgemein sofort verständUch; und nachdem man uns von der internationalen Zu- Umschreibungen, also die Einheitlichkeit stören- den Willkürlichkeiten gezwungen war. 1902 be- reits machte deshalb Alfred Werner^) den Vorschlag, das alte Schema zu verlassen und sämtliche möglichen Valenzstufen einheitlich zu subsummieren. Nach Werner sollte jeder Wertigkeit eine für alle Elemente gleiche Endung zugeordnet werden und zwar der Einwertigkeit . . . . -a, (z. B. HgCl Mercur-a-chlorid) Zweiwertigkeit . . . . -o, (z. B. MoCl, Molybd-o-chlorid) Dreiwertigkeit . . . . -i, (z. B. VdClg Vanad-i-chlorid) usw. usw. Achtwertigkeit . . . .-en, z. B. OsO^ Osmium- en-oxdy). sammenarbeit ausschließen zu wollen scheint,') ist für uns ein Grund mehr vorhanden, unsere Sprache auch in chemischen Namen durchzu- setzen. Selbstverständlich wird man sich solcher geläufigen und deutsch nur unbestimmt auszu- drückender Silben, wie Hydro-, Oxy- usw. auch fernerhin bedienen. Die Bezeichnung mit durchweg deutschen Namen der Elemente auch in ihren Verbindungen scheint nun allerdings eine Schwierigkeit zu schaffen bei Verbindungen der Elemente mit wechselnder Wertigkeit. So kennen wir Stoffe der empirischen Zusammensetzung FeCU und FeClg, und es war unbedingt eine einfache Regel der neueren Nomenklatur, diese Verbin- dungen als Ferro- und Ferrichlorid zu unter- scheiden. Zwar ließe sich denken, statt dessen Eisenchlorür und Eisenchlorid zu sagen und damit die älteren Namen wieder aufzunehmen. Aber alsdann würde sich (von anderen Gründen zu schweigen) die weitere Frage erheben, wie die entsprechenden Ionen Fe " " und Fe • ' • zu be- nennen wären. In der Tat macht die wechselnde Wertigkeit vieler Metalle der eindeutigen Syste- matik erhebliche Schwierigkeiten. Elemente wie das Mangan, das zwei- bis siebenwertig auftritt, scheinen geradezu zu verlangen, daß im Namen ihrer Verbindungen zwar das gemeinsame Mangan, gleichzeitig aber auch die jeweilige Stufe der Valenzbetätigung vorkomme. Die ältere Nomen- klatur pflegte im allgemeinen lediglich zwei Wertigkeitsstufen zu unterscheiden, der Regel ge- mäß, daß zumeist eben nur zwei solcher Ver- bindungsreihen auftreten. Die niedere Wertigkeit wurde durch das Suffix-0, die höhere durch an- gehängtes-! bezeichnet, z. B. Mercuro-, Mercuri-, Stanno-, Stanni-Verbindungen, bzw. Ionen. Dieses Schema mußte versagen, sobald mehr als zwei Wertigkeitsstufen auftraten, wobei man alsbald zu ') Vgl. hierzu die Kundgebungen feindlicher wissenschaft- licher Akademien und Gesellschaften 1 Für die Chemie ins- besondere folgenreich ist der Ausschluß Deutschlands aus der Internationalen Atomgewichts - Kommission. Deutschland wird also eine andere Tabelle der Atomgewichte be- nutzen als seine Gegner. Wir brauchen uns darum nicht zu beunruhigen. Siehe hierzu: W. Üstwald, Wissenschafts- krieg nach dem Weltkrieg. Pharmazeutische Zeitung 1919, Nr. 96. lerncr Chemiker-Zeitung 1919, Nr. 39. Werners Vorschlag drang nicht durch. Die Unterscheidungsmöglichkeit war zu gering, dem Nichtfachmann wäre das System zu schwierig ge- wesen, und außer nicht gerade wohlklingenden Wortbildungen ") wäre es in der Übergangszeit zu höchst unliebsamen Verwechselungen gekom- men, denen man sich naturgemäß nur höchst un- gern ausgesetzt hätte. (Dagegen ist Werners Nomenklatur der außerordentlich mannigfaltigen anorganischen Komplexverbindungen heute allgemein anerkannt und gebräuchlich.) Rosen- heim und Koppel beschritten einen ganz ab- weichenden Weg. Die Wertigkeit als solche ließen sie unberücksichtigt und drückten im Namen der Verbindung lediglich die Komponenten aus sowie die Indices ihrer Atome. Ein Stoff wie Fe.,Og erhielt demnach die Bezeichnung 2Eisen- 3 oxyd. Denn 2 Atome Eisen sind mit 3 Oxyd- (Sauerstoff)atomen verbunden. Diese Nomenklatur hat mancherlei Widerspruch erfahren,'') aber sie muß bei eingehender Prüfung doch als sehr wohl verwendbar bezeichnet werden. Ihre Vorzüge sind, daß jede Verbindung eindeutig gekenn- zeichnet ist (Isomerien kommen in der anorgani- schen Chemie nur verschwindend wenig vor), daß diese Kennzeichnung allgemein verständlich ist, daß das Nebeneinander deutscher und anderer Namensbestandteile aufhört, und daß in Registern alle Verbindungen desselben Elementes unter diesen zu finden sind. Für die Registrierung an- organischer Verbindungen ist die Rosenheim- Koppeische Nomenklatur denn auch vorwiegend in Anwendung gekommen, vor allem in der Zeit- schrift f. anorgan. Chemie, dann aber auch in K. A. Hofmanns großem und wichtigem Lexikon anorganischer Verbindungen. So groß der Fortschritt jener neuen Nomen- klatur auch ist: Ent gültig ist er nicht. Denn ') Vgl. Zeitschr. f. anorgan. Chem. 32, S. 10, 1902; A. Werner, Neuere Anschauungen auf d. Gebiete d. anorgan. Chemie. Braunschweig, Vieweg. -) Der Wohllaut von wissenschaftlichen Ausdrücken ist nicht zu unterschätzen. Vom Ästhetischen abgesehen, prägen sich angenehm sprechbare Worte dem Gedächtnis weit besser ein als ungewöhnliche Bildungen, ein Umstand, der der Gen- fer Nomenklatur Schwierigkeiten verursacht und jeder Hilfssp räche sich widersetzt. ■') Vgl. insbes. Chemiker-Zeitg. 33 (1909) und 34 (igio)- N. F. XIX. Nr. \^ Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 2Sy jene Namen bezeichnen offenbar nur das alier- gröbste Material einer jeden Verbindung, eben ihre atomisch- stöchiometrische Zusammensetzung. Bei dieser Äußerlichkeit bleiben sie stehen. Ins- besondere der Schüler verlangt jedoch mehr von einer Bezeichnung. Sie soll nicht nur stöchio- metrische, sondern auch Strukturverhältnisse wenig- stens in erster Annäherung zum Ausdruck bringen. Diese Verhältnisse sind nun bestimmt durch die Wertigkeit der Elemente, und es ist notwendig, die Wertigkeit wieder mit zur Darstellung zu bringen. Ihre Angabe gestattet alsdann, bei den oft erheblichen Unterschieden im reaktiven Ver- halten der verschiedenen Wertigkeitsstufen des gleichen Elementes, sofort einen Schluß auf die allgemeine Natur der entsprechenden Stoffe. Alfred Stock schuf dann eine weitere Nomen- klatur, die obige Forderungen berücksichtigt. Seine Namengebung ist erstmalig angewendet in dem vorzüglichen Lehrbuch der anorgani- schen Chemie von K. A. Hof mann,') sie zeichnet sich durch große Klarheit und allgemeine Anwendbarkeit aus. Es ist dringend zu wünschen, daß sie mählich Allgemeingut der anorganischen Chemiker würde, damit endlich die langersehnte Einheitlichkeit und Deutlichkeit in der Nomen- klatur erreicht wird. Nach A. Stock wird jede Verbindung analog der Rose nh eim- Koppeischen Formulierung mit deutschen Namen der Elemente bezeichnet so, daß die Wertigkeit durch eine dem Namen des Elementes in Klammern beigefügte Zahl ausge- drückt wird. Eisenoxyd FcOg würde somit heißen: Eisen(3)-oxyd, d. h. also ein Oxyd des dreiwertigen Eisens; ganz entsprechend heißt FegO^ : Eisen(2, 3)-oxyd, denn es ist ein Oxyd von zwei- und dreiwertigen Eisen. Gelesen werden diese Namen: Eisen-drei-oxyd, Eisen-zwei-drei-oxyd usw., was keinerlei Schwierigkeiten macht und auch logisch einwandfrei ist, denn die Aussage des Namens bezieht sich nacheinander auf das elektropositive Element, das (vgl. oben !) immer voransteht, auf dessen Wertigkeit und schließlich auf das, womit es kraft dieser Wertigkeit ver- bunden ist. Verwechslungen sind kaum möglich, wohl aber erleichtern jene Namen die Formulie- rung der Verbindungen sowie der chemischen Umsetzungen bedeutend. Es bedarf bei den Stockschen Namen keiner Überlegung mehr was z. B. Mercurochlorid besagen soll, Quecksilber(i)- chlorid ist sofort verständlich. Die gedankliche Einfachheit dieser Namengebung erübrigt eine weitere Erläuterung. Ein paar Beispiele seien noch angeführt: FeSO^ : Eisen(2)-sulfat (bisher Ferrosulfat), PbO,, : Blei(4)-oxyd (bisher fäl schlich Bleisuper- oxyd), PtCl^ : Flatin(4)-chlorid (bisher Platinchlorid). Es ist imSinne einer übersieh tlichen Nomenklatur der anorganischen Stoffe auf das lebhafteste anzustreben, daß die Literatur, vor allem aber die Lehr- bücher der Chemie für Schulen wie für Studierende die Stock-Hofmannsche Bezeichnungsweise ausschließlich ver- wenden, alle andere Namen aber, vor allem Bezeichnungen des sogenannten praktischen Lebens, streng vermeiden ! Im Anschluß hieran sei nunmehr noch einiger Ausdrücke Erwähnung getan, deren durchgehende Anwendung erwünscht, ja zum Teil notwendig ist. Die Vorschläge hierzu stammen ebenfalls teilweise von Stock. ') Es empfiehlt sich, der Kürze wegen „Peroxyd" statt „Superoxyd" zu sagen. Vor allem aber gebührt jener Name nur Stoffen mit wirklich peroxydischem Charakter, d. h. Entwicklung von HjOo (Hydroperoxyd) mit Wasser oder Säuren, wie BaO.,. MnO.j und PbO.2 sind den Peroxyden nur stöchiometrisch gleich, sie sind chemisch keineswegs Per- oxyde, sondern Oxyde der vierwertigen Ver- bindungsstufe jener Elemente, heißen also Mangan (4)-oxyd und Blei(4)-oxyd. — So wie wir Chlorid, Phosphid usw. sagen, muß es auch heißen „Carbid" und „Hydrid", nicht aber „Carbür" in Anlehnung an das Fran- zösche. Also Calciumcar b i d , Palladiumhy d r i d. — Das unschöne Wort „Emulsion" sollte tun- lichst aus der Literatur und dem Sprachgebrauch verschwinden. Wir besitzen dafür das kürzere, deutsche, also verständlichere Wort „M i 1 c h", das die entsprechende Erscheinung viel deutlicher kennzeichnet. Der Vorschlag hierzu geht aus von Wilhelm Ost wald. -) Von ihm auch stammt der Hinweis auf eine krasse Unklarheit in der Nomenklatur der Antimonsäure n.^) Diese ist selbst in dem genannten und sonst sehr präzisen Lehrbuch von Hof mann nicht ge- schwunden, wo HSbOj auf S. 270 als „antimonige", S. 271 als „metaantimonige" Säure bezeichnet ist. Der letzte Name ist richtig. — Erhebliche Un- sicherheit besteht ferner in der Nomenklatur der Schwefel- und Phosphorsäuren. Auf Einzelheiten soll nicht eingegangen werden, nur einige P"älle seine erwähnt. Das in der Photo- graphie vielverwandte K.,S,,05 heißt daselbst „Kaliummetabisulfit"; ein höchst unglücklicher Name, der zweckmäßig in „Kaliumpyrosulfit" abgeändert wird. H.jSOj, die von Caro entdeckte „Sulfo- monopersäure", trägt diesen Namen ebenfalls nicht mit Glück. F. Ficht er und J. Mülle r*) weisen mit Recht darauf hin, daß die Bezeichnung der Salze dieser wie auch der „Phosphormonopersäure" eine Umschreibung verlangt, zweifellos eine Unbequemlichkeit, die zu Verwechslungen führen ') K. A. Hofmann, Lehrbuch der anorganischen Che- mie. 2. Aufl. Braunschweig 1919, Vieweg, s. bes. S. 239. ') Zeitschr. f. angewandte Chemie 32, I, S. 373, 1919. *j W. Ostwald, Grundriß d. allgem. Chemie. IV. Aufl. Leipzig 1909, S. 535. ^ W. Ostwald, Grundlinien d. anorganischen Chemie. 111. Aufl. Leipzig 1912, S. 752. *) Helvetica chim. Acta I, S. 305, 191S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 17 kann. Schließlich muß mit allem Nachdruck auf eine reinliche Unterscheidung der Bezeichnungen von H.iS.iO^ und H.jSoOg hingewiesen werden. Die erste Säure heißt nach dem Entdecker ihrer Kon- stitution, A. Bernthsen,') nach v. Wagner und Roscoe, denen auch Stock und K. A. Hof mann folgen, „u ntersch weflige Säure", die H.iSjOg dagegen „Thioschwefelsäure". Nur so ist zu vermeiden, daß in der Benennung der Salze Unklarheiten und Verwechslungen auf- treten mit Namen anderer schwefelsaurer Salze. Die Salze der H2S2O4 heißen „Hyposulfite", die der H.jSoOg „Thiosulfate". Die Silbe „Thio"hat hier Da- seinsberechtigung, da sieallein eine kurze Bezeichnung ermöglicht; HjS.^Og ist eben H.,S04 (Schwefel- säure), in der ein O durch S (Thion) ersetzt ist. Die Schule und die chemische Technik gebrauchen jene Namen leider keinegswegs einheitlich und sinngemäß. Na.,S.,0.5, Natriumthiosulfat, heißt gewöhnlich „unterschwefligsaures Natron". Das ist in doppelter Hinsicht bedauerlich, einmal der Säure, dann aber des „Natron" wegen. Selbst- verständlich muß es „Natrium" heißen. Auch hier ist strengste Sprachsauberkeit eine Forderung des Tages, ja der Logik. Aber immer wieder hört und liest man von „kohlensaurem Kalk" und ähn- lichem Unfug. Unfug auch ist es, den Begriff und Namen „Hydroxyd" mit denen des „Hydrats" zu ver- mengen. Stoffe, wie Ni(OH).,, F'e(OH)., usw. sind unbedingt Hydroxyde, also als Nickel (2)-hydroxyd bzw. Eisen (3)-hydroxyd zu bezeichnen. Der Name „Hydrat" dafür ist nicht nur verwirrend, sondern falsch ; noch übler aber ist die Bezeichnung „Oxydhydrat" — eine hinreichende Begründung dieses dem Nichtfachmann immer rätselhaften Begriffes und Wortes fehlt durchaus. Dennoch mögen viele Verf sich nicht davon trennen, so H. Biltz in seiner „experimentellen Ein- führ u ng".') Eines letzten sei noch gedacht: bei allen dem lateinischen Wortschatz entnommenen oder ent- lehnten Namen sollte die lateinische Schreibweise beibehalten werden. Es ist falsch „Kalzium" statt „Calcium" zu schreiben; dem Symbol Ca ent- spricht im übrigen nur das letzte Wort, abgesehen davon, daß „Kalzium" die Gefahr eines Fehl- druckes (Kalium) in sich birgt. Ebenso muß es „Cadmium" und „Silicium" heißen. Unberücksichtigt gelassen soll neben manchen anderen Fragen auch die sein, wie die pharma- zeutische Nomenklatur, die von Absonderlich- keiten, Schwierigkeiten, ja selbst Falschem durch- setzt ist, derjenigen der anorganischen Stoffe im wissenschaitlichen Gebrauch anzugleichen wäre. Diese Frage ist schwer und liegt außerhalb des hier berücksichtigten Gebietes, das lediglich wissen- schaftlich ■ systematische Namen umfaßt. In ihm jedoch ist eine rationelle Nomenklatur auf Grund der vorstehenden Darlegungen sehr wohl möglich. Jeder mit der Bezeichnung chemischer Verbin- dungen irgendwie Beschäftigte sollte sich ihrer folgerichtig bedienen , damit das erstrebte Ziel einer einheitlichen Nomenklatur wenigstens für Deutschland seiner Verwirklichung nahe komme. Eine internationale Nomenklatur in Ost- walds Sinne'-) dürfte, wenn überhaupt jemals, erst in ferner Zeit zur Durchführung gelangen. ') Annalen d. Chemie 2oS, S. 163, 1881. ') Heinr. Biltz, Experim. Einführg. in d. Anorgan. Chemie. Leipzig. ^) S. Zeitschr. f. physik. Chemie 76, S. i, 19 10. [Nachuruck verboten.] Die Zukunft der Zelltheorie. Von Dr. Rud. Oehler, Frankfurt a. M. Man kann über die Zukunft der Zelltheorie nichts aussagen, wenn man sich über deren Wert und Wesen in Vergangenheit und Gegenwart nicht klar geworden ist. , Die Zelltheorie ist befähigt eine allgemeine Theorie des Lebens zu sein. Sie begann bei Schwann und Schieiden 1 837 — 1839 als eine rein morphologische Theorie vom Gefachbau der Pflanzen und Tiere. Mit dem Augenblicke aber, da man unter Zelle nicht mehr das Gefach sondern seinen lebenden Inhalt verstand, wurde die Zell- theorie eine Theorie vom zusammengesetzten Bau der großen Tiere und Pflanzen. Das fällt zu- sammen mit dem Zeitpunkt, da man die Ent- stehung der Zelle nicht aus feinsten Körnelungen der Säfte, sondern durch Zellteilung erkannte. Der Satz „Omnis cellula e cellula" wurde 1855 von Remak geprägt. Damit ist die Zelltheorie zu einer allgemeinen Theorie des Lebens erhoben, besagend : die Lebewesen bestehen aus kleinen Unterlebewesen von einfachem Bau und Verhalten. Dieselben werden Zellen genannt. Die Zelltheorie behauptet die Zerlegbarkeit der Tiere und Pflanzen in Zellen. Sie behauptet das selbständige Leben dieser Zellen. Sie widerspricht damit der alten Lehre von der unteilbaren Einheit der Lebewesen. Sie sieht im Lebewesen ein Dividuum, nicht ein Individum. Sie schließt sich an die ältere Lehre von der Eigenreizbarkeit der Organe an (H a 1 1 e r 1756). Denn indem die gesonderte Reizbarkeit der Einzelteile der Lebekörper gezeigt wurde, eine Reizbarkeit die besteht, auch wenn der Teil vom Gesamtkörper abgetrennt ist, wurde die Selbständigkeit der Teile gelehrt, und damit die mögliche Aufteilung des Lebewesens in mehrere sonderreizbare Stücke wenigstens grundsätzlich angenommen. Was Haller von den Muskeln und Nerven, vom Herzen und Darm lehrte, daß N. F. XIX. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 261 sie überlebende und vom Gesamtkörper ab- trennbare gesonderte Reizbarkeit haben, das lehrt die Zelllheorie von den Zellen, indem sie diesen gesondertes Eigenleben, nämlich eigenmächtiges Wachstum und Teilung, also gesonderte Zucht- barkeit zuerkennt. Die Zerlegung in viele eigen- lebende, eigenwachsende, eigenreizbare Teile ist das Eigene der Zelltheorie wie der Reizphysio- logie- Kommt dazu die Überzeugung, daß die reiz- bare, teilungswachende Zelle der Sitz des Lebens ist, daß im Körper der Zelle das gesamte Leben der Zelle haftet und mit ihm gefaßt, bearbeitet und gemessen werden kann. Alles Ablehnungen der abstrakten Lebenstheorien, nach denen das Leben als begriffliche Satzung oder gar als sagen- hafter Geist und Seele über dem Lebekörper schwebt und sein Gebaren leitet. Die Zelltheorie ist eben die Theorie des die Zellen bearbeitenden Experimentalforschers, im Gegensatz zur abstrakten Individuentheorie, welche die Theorie des rein deskriptiven Systematikers ist. Für den Experimentator ist die Zelle der Sitz, der faßbare Körper und das Maß des Lebens. Leben im Sinne der Zelltheorie heißt: eine Zelle sein; heißt die Reizbarkeit, das Wachstum, die Wiederherstellung und die fortgehende Teilung in gleichgearteie Körper aufweisen, wie sie eine Zelle zeigt. Durch alle diese Aussagen von der Zelle und vom Leben rückt die Zelltheorie von den vitalisti- schen Lehren der Individuenbiologie, von den Lebensgeistern, Lebenssäften und Lebenskräften ab und schließt sich an die Lehre von der Zu- sammensetzung der Lebewesen aus kleinen ein- fachen Körpern an. Sie nähert sich den vom Experimentatorsinn getragenen Korpuskular- und Maschinentheorie, die in allen Naturgebilden und so auch in den Lebewesen nichts anderes als ein Bewegungsspiel feinster Körperchen sehen will. Und doch besteht ein Unterschied auch gegen die Maschinentheorie des Lebens; denn diese be- hauptet die Urzeugung. Die Zelltheorie aber mit ihrem „Omnis cellula e cellula" lehnt die Ur- zeugung ab. Sie befaßt sich nicht mit dem Über- gang des Unorganischen in das Organische. Wie aus Mineralien Zellen entstehen, darüber spricht sie nicht. Sie bleibt vorerst im Biologischen und lehrt die Zerlegbarkeit und experimentelle Teil- bearbeitbarkeit der Lebewesen. Sie erkennt an, daß die Lebensgebilde geschichtliche Gebilde sind und einen uralten geschichtlichen Zusammenhang aufweisen. Die Zellen sind Erbgut. Das im Gegensatz zu den physikalisch und chemisch er- forschten Vorgängen, welche ungeschichtlich, über- lieferungslos ablaufen, jederzeit von neuem ange- setzt werden können; ja meist sogar künstlich umgekehrt werden und gemessen werden können. Die Lebensvorgänge sind eben wie v. Pro- wazek im Anscliluß an Joh. Müller betont Umlaufsvorgänge : nämlich Wachstums- und Tei- lungsumläufe; oder Zerfalls- und Wiederherstel- lungsumläufe. Und gerade die Zelle zeigt uns den Umlauf der Lebensformen und Lebensarten anschaulicher als die Betrachtung der großen Tiere und Pflanzen. Auch da ist ein stetiger Um- lauf und eine stetige Wiederholung der Lebens- formen sichtbar. Denn aus dem Großlebewesen teilt sich der Keim ab; er wächst zum Reifege- bilde gleich seinem Vorfahren heran und teilt nun selber wieder wachstumsfähige Keime ab. Dieser Umlauf vom Keim zum keimliefernden Reifestück ist bei der Zelle so viel einfacher und anschaulicher, weil bei der Zellteilung gewöhn- lich nur eine Zweiteilung erfolgt und weil der Keim oder die Jungzelle der Reifezelle so ähnlich ist. Der Umlauf von der Teilung zum Wachs- tum; vom Wachstum zur Teilung usw. hat, zu- mal wenn es sich um äußerst kleine Zellen handelt, bei denen ein feiner Innenbau nicht nachweisbar ist, etwas so regelmäßiges; daß er an die Regel- haftigkeit mechanischer, astronomischer und phy- sikalischer Vorgänge anklingt. Diese Vorgänge sind meßbar und berechenbar. Trotz dem Satze vom historischen Zusammenhang alles Lebenden, der den Unterschied von physikalisch-chemischem und biologischem Geschehen hochhält, trotz der Einsicht, daß die Vorgänge der Physik und Chemie Ablaufvorgänge sind, die der Biologie aber Um- läufe darstellen, führt uns die Zellehre bei den Mikroben zu Lebensumläufen von mathematischer Regelhaftigkeit und nähert so das Gebiet des sonst so eigensinnig launenhaften Lebens dem der meßbaren und berechenbaren Gebiet der Physik, Chemie und Kosmologie. Man sollte meinen, daß darum allgemein der Vorteil eingesehen würde, den es gebracht hat bei der Betrachtung der Lebewesen auf die Unier- instanz der Zellen überzugehen und Zellbiologie zu lehren statt Individualbiologie. Das ist aber keineswegs der Fall. Gegenüber einem Virchow, der die Pathologie auf das Leben der Zelle grün- dete, sind unfreundliche, ablehnende Stimmen gegen die Zelltheorie laut geworden. De Bary prägte den Satz: die Pflanze bildet Zellen, nicht umgekehrt. Und Bunge behauptet: es nützt nichts, die Betrachtung des Lebens auf die Zellen und Kleinlebewesen zu verlegen, denn die Kleinlebewesen sind ebenso rätselhaft, ebenso unerklärt, ebenso verwickelt wie die großen Tiere und Pflanzen. Wer so spricht, von dem ist eine Weiterführung, ein fernerer Ausbau der Zelltheorie nicht zu erwarten. Nach alledem : bei diesen Leistungen, bei diesen Ablehnungen: wie mag sich die Zukunft der Zell- theorie gestalten ? Wird sie sich den Mechanisten anschlie(3en und die Zelle in physikalisch-chemische Kleinkörper zerlegen? Oder wird sie auch ferner biologisch bleiben — ich meine biologisch ex- perimentell, indem sie die Zelle in einfacher lebende, gesondert behandelbare, versetzbare Zelleszellen oder Zellsplitter zerlegt ? Mir scheint der letzte Weg verlockend. Die Versuche, das Teilungswachstum, die 202 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 17 Wiederherstellung nach Reizerregung und die Vererbung unserer Zellen unmittelbar aus chemisch- physikalischen Molekularvorgängen abzuleiten, scheinen mir verfrüht. Besser man stellt sie zu- rück, überträgt sie auf die Unterstufe der teilungs- wachsenden Zellsplitter und die reizbaren sich wiederherstellenden Gewebskleinteile. Vorerst ist noch genug Arbeit, das Zusammenspiel der Zell- splitter bei Kern- und Zellteilung, bei Konjuga- tion, bei Gewebswucherung und Rückbildung klar zu legen. Diese darzustellen ist Aufgabe der künftigen, erweiterten, zur Zelleszell-Lehre fortge- schrittenen Theorie. Die künftige Zelltheorie hat darzulegen, wie die Zellsplitter das Zelleben aus- führen. Sie hat zu zeigen, wie die verwickelten Vorgänge an Zelle und Gewebe aus dem Zu- sammenspiel der kleinen, einfacher lebenden Zell- splitter erfolgen. Künftigen, ferneren Erwägungen bleibt es dann vorbehalten auch die Zellsplitter in noch kleinere, noch einfachere begabte Körper zu zerlegen, bis der Anschluß an die Moleküle und Atome der Physik und Chemie erreicht ist. Zum Teil hat diese Zerlegung in Zellsplitter schon eingesetzt. Was ist Weismanns Ver- erbungstheorie anderes als eine Zerlegung des Zellkernes in erbbegabte Kleinteile. Man lese Nachtsheims Bericht über die Forschungen Morgans betreffend die erbtragenden Chromo- somenteile bei Drosophila (diese Wochenschrift 1919), um zu erkennen, wie weitgehend die Zer- legung der Kernschleifen in genau abgrenzbare, bestimmt begabte, haftbare und versetzbare Unter- abteilungen fortgeschritten ist. Die Zerlegung der Keimzelle in erbtragende Kernsplitter ist im Gange. Fraglich ist nur die Stellung des Zelleibes bei dieser Zerlegung. Folgt der Zelleib der Zerlegung der Kernsplitter, oder gibt es auch selbständig lebende Kleinteile des Plasma, die unabhängig vom Kern wachsen, sich teilen, erregt werden und sich erholen. Meist wird dem Kern eine leitende, herrschende Stelle im Zellhaushalt zugesprochen. Am ent- schiedensten in Vererbungsfragen. Hier gilt meist der Kern als der Bestimmer, das Plasma als das untergebene Gefolge. Gerade die Chromo- somentheorie der Vererbung ist auf diesen Ge- danken aufgebaut, und je stolzer deren Erfolge sind, um so ärmer und lebloser erscheint das Zellplasma. Der Kern wird Determinant, das Plasma haltloses Gefolge. Das ist nun eine Auf- fassung, die sich in unwillkommener Weise der vitalistische Determinantenlehre nähert und dem Gedanken der Zusammenarbeit widerspricht, also gegen den Geist der Zelltheorie, gegen die geson- derte örtliche Reizbarkeit der Lebensteile und gegen den Symbiontencharakter der Zellsplitter geht. Wenn Plasma und Kern Arbeitsstellen der Zelle sind, so arbeiten sie zusammen, und ihr Zusammenspiel ist das Zelleben. Von einem Herren- und Dienerverhältnis kann nicht die Rede sein, bei der erwiesenen gegenseitigen Abhängig- keit. Plasma und Kern sind Symbionten. Und wenn der Kern in Kernsplitter zerlegt wird, so ist es billig auch dem Plasma dasselbe zuzuge- stehen, wenn auch da die Zerlegung in Stränge und Körner weniger leicht färberisch zu verfolgen ist. Das Plasma zeigt Wachstum und Teilung wie der Kern. Seine Kleinteile haben somit offenbar selbständiges, eigenes Teilungswachstum, welches die Plasmateilung vorbereitet. Zumal bei den zu Nerven- und Muskel- und Bindegewebe ausgebil- deten Plasmateilen lassen sich Kleinteile von Faser- und Körnerform nachweisen, welche bei Hyper- trophie und Atrophie deutliche Eigenregungen von Wachstum und Teilungsvermehrung aufweisen; Regungen, die fern von aller Kernbeteiligung er- folgen. Also auch das Plasma ist gleich dem Kern in seinen Kleinteilen als teilungswachsend und eigenreizbar zu denken. Die ganze Zelle ist als ein Komplex von Kern- und Plasmasplittern zu verstehen, dessen Zusammenspiel die Gesamt- arbeit der Zelle ausmacht. Das ist die erweiterte zur Lehre von den Zelleszellen fortgeschrittene Zelltheorie. Altmann in seiner Granuartheorie und B ü t s c h 1 i wie Rhumbler in der Schaumtheorie des Plasma haben in dem Sinne gesprochen. Was fehlt, ist nur der genaue färberische Nach- weis der Kleinteile — Körner oder Waben — und die Erfassung ihres Teilungswachstums. Hier ist noch an die Chloroplasten der grünen Pflanzenzellen zu erinnern. Sie sind Zelleinlage- rungen, die eigenes Wachstum, eigene Teilung haben. Mit dem Kern haben sie nichts zu tun. Gehen sie bei der Zellteilung verloren, wie Ter- nez bei Euglenien verfolgt hat, so kommen sie nie wieder. Hier sehen wir einen Zellsplitter von verfolgbarer Größe in seiner selbständigen Symbiontenart kommen und gehen. Ein sieht- ■ barer Beleg für den Symbiontenbau der Zelle aus eigenlebenden Zellsplittern. Wenn wir so das Großlebewesen in Zellen, die Zelle in Zellsplitter auflösen, kommen wir zu einem Stufenbau des Belebten, ähnlich wie die Mathematik Stufen der Gleichungen, der Krümmungen und Stufen des Unendlichen kennt. Immer ist die Baumasse der einen Stufe Baustein der folgenden. Abbauend kommen wir bei den Lebewesen dann zu einer untersten Stufe der Belebung: zu den Elementar- lebewesen. Sie sind so klein und so einfach, daß ihre Zerlegung in Unterkörper nicht mehr Lebekörper sondern physikalisch chemische Mole- küle darstellen. Sie sind die kleinsten Körper, die noch Teilungswachstum, Reizbarkeit und Er- holung zeigen. Sie sind vorerst nur auszudenken, nicht aufzuzeigen. Da aber zeigt sich der Unter- schied der körperlich-praktischen Zellthcorie gegen die unhandlich-abstrakte Vitalistentheorie. Die Zelltheorie erkennt die Berechtigung von meßbar großen Elementarorganismen an. Die Vitalisten hingegen leugnen die Teilbarkeit und Stufung des Belebten; sie leugnen darum auch die Elementar- organismen von bestimmter meßbarer Größe. P"ür sie ist der kleinste Bruchteil der Zelle immer noch N. F. XIX. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 263 gleich wunderbar, gleich verwickelt, gleich begabt und lebendig wie die ganze Zelle und das ganze Lebewesen. Die unbelebten Körper, ja die be- stehen nach der Vitalistentheorie aus unbelebten Kleinkörpern von meßbarer Größe. Aber die Lebewesen sind auch im kleinsten Unterteil noch voll belebt, so wie die krumme Linie auch im kleinsten Teilstück noch krumm ist. Höchstens ein Teilchen von unendlicher Kleinheit könnte als Element betrachtet werden. Die Lehre von der unendlichen Kleinheit, von der ausdehnungslosen Größe der vitalistischen Elementarorganismen hat zum Satze geführt : die Lebewesen wachsen durch Intussuszeption, die Nichtlebekörper durch Appo- sition. Intussuszeption — so schwer zu sprechen wie zu denken — ist unkörperliches, schatten- haftes Wachstum. Hier zeigt sich der unkörper- liche Zug der Vitalisten und Individualbiologie. Sie handelt von den Lebewesen, wie wenn sie nur Schatten, nur Erscheinungen, nur Formen ohne Körper, ohne Schwere, ohne Greifbarkeit wären. Die Zelltheorie dagegen ist Korpuskular- theorie. Auch die kleinsten Lebensteile haben ihre feste Größe, und wenn sie unbelebte Nährstoffe auf- nehmen, so geschieht es durch Anlagerung der physikalisch-chemischen Moleküle an die biologisch begabten Ek mcntarlebekörperchen. Letzteres aber, das Wie des Überganges von unbelebter in belebte IVIasse, ist nicht mehr Zelltheorie, sondern Lehre von den Elementarorganismen. Die Zelltheorie führt zur Annahme von meß- baren Elementarorganismen, sie behandelt aber deren Getriebe und Verhältnis zu den physikalisch- chemisch begabten Kleinkörpern nicht. Sie bleibt im Biologischen. Die Frage der Urzeugung und die Frage des Überganges von unbelebter in be- lebte Masse überweist sie der Biophysik und Biochemie, welche über Entstehung und Wachs- tum und Zerfall der Elementarorganismen in Moleküle Auskunft geben mag. So hält die Zelltheorie zwischen den Extremen der reinen Mechanisten und den unbedingten Vitalisten die gemäßigte Mitte. Das ihr Wert und ihre Zukunft. [Nachdruck verboten.. Die Eishöhle im Tüniiengebirge bei Salzburg. Von Dr. Hugo Lindner, Nürnberg. Vor kurzem war an dieser Stelle ausführhch die Rede von den unterirdischen Flüssen und Bächen, welche man so häufig in allen Karst- gebieten antreffen kann.^) In einer kurzen An- merkung wies ich bereits auf die neu entdeckte Eishöhle im Tännengebirge bei Salzburg hin, die, wenn man den ersten Meldungen Glauben schen- ken darf, alle bisher bekannten sowohl durch ihre gewaltigen Ausmaße als auch durch die Pracht ihrer Eisgebilde weit in den Schatten stellt. Schon seit langem kennt man die Erscheinung der Eishöhlen aus den verschiedensten Gebieten, und alle Freunde einer unterirdischen Gebirgswelt hatten ihnen von jeher warme Anteilnahme ent- gegengebracht. Wenn man vom Kolowratsattel auf dem Untersberge durch den Nebelgraben hinabsteigt, gelangt man auf einem bequemen Pfad zu der seit Jahrzehnten bekannten Kolowrat- Eishöhle, die in einer Höhe von 1391 m liegt. Auf einer festen Treppe gelangt man über Eis und Fels in die 34 m hohe, über 100 m lange und bis zu 40 m breite Höhle, welche von den schönsten Eisgebilden starrt, und in deren Hinter- grund ein mächtiger Eiskegel emporragt, dessen Begehung nur mit großer Vorsicht möglich ist. Eine zweite Eishöhle liegt ganz in der Nähe; man steigt vom Hochthron herab und stößt in einer Meereshöhe von 1689 m auf den sog. Eis- keller, dessen Boden von gefrorenem Schmelz- wasser bedeckt wird. Von anderen I-^ishöhlen seien nur die Skeresorahöhle im Bihargebirge und ') Vgl. meinen Aufsatz „Unterirdische Flüsse und Bäche". Diese Zeitschrift 1920, Nr. 8. die Dobschauer Eishöhle, beide in Ungarn liegend, genannt. '^) Die Bezeichnung Eishöhle besagt nicht das Geringste über die Entstehung dieser Gebilde, sondern will nur dartun, daß es sich um solche Höhlen handelt, welche das ganze Jahr über mit Eis erfüllt sind. Das Vorhandensein von Eishöhlen ist beschränkt auf jene Gegenden, welche in der kalten Jahreszeit eine Lufttemperatur von o" oder darunter aufweisen. Die zur Eisbildung nötige Kälte muß nämlich von außen kommen, da das Erdinnere (wir sehen hier vom Gebiete der Tundren in Nordsibirien und Nordkanada ab) Temperaturen von über o" aufweist. Ferner ist unerläßliche Vorbedingung, daß die Winterkälte in solchen Höhlen gleichsam aufgespeichert wird. Diese Möglichkeit ist dann gegeben, wenn die Höhle eine nach unten geschlossene, sackförmige Gestalt aufweist, so daß ihr Eingang einen kleineren Querschnitt besitzt als ihr Ende. Dabei ist es gleichgültig, ob die Höhle senkrecht ins Erdinnere abstürzt, oder aber allmählich, jedoch mit Gefälle nach unten, in den Berg hineinzieht. Wesentlich ist nur, daß am Grunde der Höhle keine allzu- großen Spalten ansetzen, die irgendwo mit der ') Eine mit bekannter Meisterschaft verfaßte Übersicht des ganzen Problems findet man in Günthers Geophysik (Bd. II, S. 754IT. ; Stuttgart 1899). Er erwähnt, daß nach Seh wal bes (Über Eishöhlen und Eislöcher usw., Berlin 1886 und Mitt. Sekt. Höhlenk. öst. Tourenklubs 18S7, Nr. 2 — 3) und Kuggers (Eishöhlen und Windröhren I, Salzburg 1891) Zusammen- stellung bis zum Jahre 1S91 bereits 117 Eishöhlen bekannt waren. Vgl. auch H. Gramer, Eishöhlen- und Windröhren- studien, Wien 1899 und F. Kraus, Höhlenkunde S. 2071!., Wien 1894. 204 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XLX. Nr. 17 Außenluft in Verbindung stehen, weil sodann eine weitgehende Ventilation stattfindet, wie es in den meisten Höhlen der Fall ist. Durch diesen Luftzug treten die im Innern lagernden Luft- schichten in Austausch mit den während des Sommers beträchtlich wärmeren, welche über Tag lagern, so daß der letzte Rest der Winterkälte rasch entfernt wird. Da die Kalke und Dolomite, in welche die Höhlen eingesenkt sind, fast stets von zahlreichen Spalten und Klüften durchschwärmt werden, ist das Vorkommen von Eishöhlen von vornherein ziemlich beschränkt. Liegen dagegen die oben geschilderten Verhältnisse vor, so sinkt die spezifisch schwerere Winterluft zur Tiefe, ver- drängt allmählich die leichtere warme Luft und füllt so nach und nach die Höhle vollkommen aus. Der umgekehrte Austausch kann nur viel langsamer vonstatten gehen, eben wegen des höheren spezifischen Gewichtes der kälteren Luft- schichten und außerdem wegen des geringen Querschnittes am Höhleneingang, wodurch eine langsame Vermischung(Diffusion) der verschiedenen Luftarten ebenfalls so gut wie wirkungslos wird. Die mittlere Jahrestemperatur solcher Eishöhlen liegt bei i" C. Höher steigt sie, selbst durch Zudringen der Erdwärme, nur selten. Denn ein- mal wirkt das gebildete Eis, welches die Höhlen- wände überkrustet, als Isoliermantel, und dann ist zum Schmelzen des Eises eine beträchtliche Schmelzwärme nötig, welche bekanntlich für das Kilogramm 80 Kalorien beträgt. Beim Verdunsten des Schmelzwassers wird von neuem Wärme ver- braucht, die sog. Verdunslungswärme, so daß durch alle diese Vorgänge die Höhlentemperatur wiederum sinkt. Bis so in wechselseitiger Temperaturerhöhung und -Erniedrigung ein be- trächtlicher Teil des Eises aufgetaut wäre, ist aber der Winter wieder da, um so eher, als die meisten dieser Höhlen in höheren Regionen liegen. Das Endergebnis ist, daß sie während des ganzen Jahres im Schmucke der gefrorenen Zapfen pran- gen. Aus dem hier Geschilderten wird verständ- lich sein, warum in den Höhlen des Frankenjura keine dauernden Eisgebilde aufgefunden wurden. Die Kalke und Dolomite, um die es sich hier handelt (meist finden sich die Höhlen im Franken- dolomit, Malm f), sind hochgradig geklüftet, die Ventilation ist deshalb ausgezeichnet und wird noch erhöht durch das Vorhandensein der zahl- reichen Windlöcher oder Einsturzdolinen,') die ') Der Ausdruck Doline stammt vom slowenischen dol = Tal uud besagt soviel wie Tälchen. Bis heute ist noch keine Einigung in der Anwendung dieser Bezeichnung erzielt worden. Die älteren ,, Einsturztheoretiker" wie Tietze und Ami Boue vertraten die Ansicht, daß alle Dolinen Einsturz- erscheinungen von Kalkgewölbcn darstellen sollten; Mojsi- sovics trebnt die Dolinen als Einsturzgebilde von den durch die chemische Auslaugung des Gesteins entstandenen Karst- trichtern; Neischel trennt die Erdtrichter von den Schacht förmigen Dolinen oder Einsturztrichtern ; Penck endlich faßt unter diesen Begriff alle Sammeltrichter, die das Regenwasser zur Tiefe führen, ohne Rücksicht auf ihre Größe und Ent- stehung. Wir wollen den Begriff Doline hier rein morpho- logisch auffassen. trichterförmig von der Erdoberfläche zur Tiefe führen. Des weiteren kommt in Betracht, daß die Kalk- und Dolomitschichten des Frankenjura keine beträchtliche Dicke erreichen, so daß die Höhlen meist dicht unter der Oberfläche liegen, wodurch dem Regenwasser Gelegenheit geboten ist, verhältnismäßig rasch durchzusickern, und auch der Einfluß der Sonnenbestrahlung noch wirksam sein wird. ') Was nun die Entstehung der für Eisgebilde be- sonders günstigen Sackhöhlen anlangt, so mag darauf hingewiesen sein, daß die senkrecht zur Tiefe führenden wohl nichts anderes darstellen als erweiterte Klüfte und Spalten. Das Regen- wasser drang, beladen mit Kohlensäure, auf einem Gesteinsriß zur Tiefe, löste den Kalk oder Dolo- mit in Form von doppeltkohlensaurem Calcium und Magnesium auf, und erweiterte den anfäng- lich engen Spalt so, daß nun auch die mechanisch erodierende Kraft der Tageswässer zur Geltung kommen konnte. Eine andere Möglichkeit der Entstehung ist die, daß sich zunächst unterirdisch eine Höhlung bildete (ebenfalls infolge der Aus- waschung und Auflösung des Gesteins), deren Decke dünner und dünner wurde, bis sie schließ- lich einstürzte. Tatsächlich finden sich auf dem Grunde der Vertikalhöhlen häufig diese Decken- trümmer in Form von Schutthaufen. Die Ent- stehung der mit Gefälle in den Berg führenden Höhlen dagegen wird in der Mehrzahl der Fälle auf die Tätigkeit eines früheren unterirdischen Flusses zurückzuführen sein, welcher in späteren Zeiten sein Bett verließ, indem er auf den Spalten zur Tiefe wanderte oder auch, infolge der Ver- änderung der oberirdischen Bewässerung, gänz- lich versiegte. Bezeichnen wir die Höhle im Tännengebirge als das verlassene Bett eines solchen Urweltstromes, so werden wir aufs Höchste er- staunt sein über die gewaltigen Ausmaße der unterirdischen Räume. Dem Verein für Höhlen- kunde in Österreich, Sektion Salzburg, ist es in 45 -stündiger angestrengtester Arbeit gelungen, 2V.J km weit in das Innere des aus Triaskalken und -Dolomiten bestehenden Gebirgsstockes einzudringen; die bisher vorgenommenen Ver- messungen des Hauptstollens ergaben eine durch- schnittliche Breite von 30 m und eine durch- schnittliche Wölbungshöhe von 20 m. Jedoch sind domartige Ausweitungen von 200 m Breite und 50 m Höhe keine Seltenheit, desgleichen riesige Seitengänge, Kamine und Nebenhallen, so daß die Größenverhältnisse dieser unterirdischen Räume denen der Rekahöhlen '-) bei St. Canzian in Krain und der bisher bekannten Strecken der Poik-Unz ') Aus dem Schweizer Jura dagegen kennt man mehrere Eishöhlen, wie diejenige von La Baume oder Grotte von Besancon (vgl. Günther, a. a. O. S. 756). ') Die Rekahallen haben eine Wölbungshöhe von 60 bis 70 m. In ihnen versinkt der Fluß am Fuße der senkrechten Wände in einem mit Reisig verstopften Kanal, wobei der 13 m tiefe „See des Todes" einem weiteren Vordringen ein Ende setzt (vgl. F. Müller, Die Kacna jama im Karst bei Divaca; Z. d. ö. Alp.-Ver. 1900, S. 97). N. F. XIX. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 265 bei Adelsberg ebenbürtig sein dürften. Diese ge- waltigen Leistungen des ehemaligen Unterwelts- stromes dürfen nicht überraschen. Man braucht sich nicht vorzustellen, daß er das ganze Jahr in gleicher Mächtigkeit durch die unterirdischen Räume brauste. Die größten Leistungen wurden sicher zu Zeiten besonders hohen Wasserstandes vollbracht, vor allem zur Zeit der Schneeschmelze — eine Erscheinung, die sich ja auch an den oberirdischen Alpenflüssen wiederfindet, welche zur trockenen Jahreszeit nur klägliche Wasserfäden darstellen, die sich mit Mühe in ihrem Bette auf- recht erhalten oder gar, wie der Oybach bei Oberstdorf und die Leitzach zwischen Bayrisch- Zell und Landl, in ihrem eigenen Gerolle ver- sickern. Bei Hochwasser dagegen führen die tobenden Wasser Steine und sonstiges Scheuerungs- material mit sich, welches besonders da, wo Deckeneinbrüche oder verstopfte Abflußkanäle die Flut stauen, in wirbelnde Bewegung gerät, und so jene domartigen Wölbungen auskolkt, deren Dimensionen jedem erstmaligen Besucher ge- waltig imponieren. Derartige mächtige Hallen wurden nach den neuesten Berichten auch in der Schallenlauer Höhle in Württemberg entdeckt, wo es der dortigen „Höhlenvereinigung" gelungen ist, 120 m tief unter die Erdoberfläche vorzu- dringen. Es sei mir gestattet, hier nochmals auf das Beispiel der Binghöhle bei Streitberg in der Fränkischen Schweiz hinzuweisen , welche sich mit Sicherheit als das noch in 300 m Länge vor- handene Bett eines ehemaligen unterirdischen Flusses ansprechen läßt. Schon der majestätischen Ausmaße wegen wird sich ein Besuch der Eishöhle im Tännen- gebirge empfehlen. Was aber nun die Eisge- bilde anlangt, welche dort mit ihrer starren Pracht die Höhlenwände schmücken, so dürften sie von unerreichter Großartigkeit sein. Der Eindringling sieht sich überall umgeben von hohen Eiswällen, von gewaltigen Eisvorhängen und riesigen Kristall- zapfen. Sogar von einem unterirdischen Gletscher wird hier und da gesprochen, und wenn man auch den ersten Zeitungsmeldungen mit einer gewissen Reserve gegenüberstehen wird, so ist immerhin daraus zu entnehmen, daß der Ein- druck, den die unterirdischen Forscher mitge- bracht haben, überwältigend war. Einen be- sonderen Schmuck bilden die zahlreichen unter- irdischen zugefrorenen Seen, auf denen, wenn man den Berichten Glauben schenken darf wohl 300 Personen ungestört Schlittschuhlaufen können. Leider setzte vorerst ein Deckeneinbruch dem weiteren Vordringen der unerschrockenen Forscher ein Ende, welche mit verbesserter Ausrüstung ein zweites Mal vorgedrungen waren. Ein wilder Höhlensturm hatte ihnen an einer längeren Strecke schwer zu schaffen gemacht ; trotzdem wurden die nötigen Vermessungen allenthalben angestellt. Selbstverständlich mußten alle die zahlreichen Nebenhallen und Seitenstollen fürs erste unbe- obachtet bleiben, und es wird noch manche Über- raschung bevorstehen, wenn es in weiteren Vor- stößen gelingen mag, allenthalben bis ans Ende vorzudringen. In Salzburg wurde bereits eine Gesellschaft gegründet, welche die Eishöhle im Tännengebirge für den Touristenverkehr zugänglich machen will. Unter anderem wird dort der Bau eines ge- räumigen Schutzhauses geplant. Hoffentlich haben sich die Verkehrsverhältnisse bis zum Sommer dieses Jahres nicht derart verschlechtert, daß wir in Deutschland von dem Besuche dieser Sehens- würdigkeit Abstand nehmen müssen. Der geo- graphisch interessierte Wanderer möge dann nicht versäumen, gleichzeitig die Untersberger Eishöhlen zu besichtigen und, falls es seine Zeit und Aus- rüstung zuläßt, den in den Berchtesgadener Alpen liegenden Funtensee mit seinem dröhnenden unterirdischen Abfluß, den berühmten GoUinger Wasserfall sowie die großartigen Karrenfelder des Steinernen Meeres in Augenschein zu nehmen — alles Erscheinungen, welche dem Karstphänomen zuzuzählen sind, und welche ich in dem eingangs erwähnten Aufsatze eingehend beschrieben habe. Einzelberichte. Zoologie. Die stammesgeschichtliche Ent- wicklung der Vögel. ') Mit 2 Abbildungen. Über eine, man darf wohl sagen, ungewöhnlich gründ- liche, obschon keineswegs sehr tief in die Anato- mie oder gar in die Mikroskopie hineingehende phylogenetische Untersuchung soll im folgenden berichtet werden. Sie behandelt die „Diastataxie" des Vogelflügels, und es mußte mit der phylo- genetischen und ursächlichen Erklärung dieser merkwürdigen Eigentümlichkeit vieler Vogelflügel ') Nach Hans Steiner (Zürich), Das Problem der Diastataxie des Vogelflügels. Jenaische Zeitschrift Band 45, 1917/19, Seite 221 bis 496. 49 Textfiguren. 2 Tafeln. auch die Entstehung der Vogelfedern selbst, die Entstehung und allmähliche Umwandlung des ganzen Vogelflügels und schließlich überhaupt die Phylogenesis der Vögel behandelt werden. Die Betrachtungen dürften manche umstrittene Frage in einleuchtender Weise klären, der neueren, ana- tomisch - phylogenetisch begründeten Vögelsyste- matik, so wenig sie die zunächst sinnfälligen Merk- male berücksichtigen kann, neue Freunde zuführen und weitere Verbesserungen des Systems vorbe- reiten. Ich will dem Gedankengang und den Frage- stellungen Hans Steiners nicht Schritt für Schritt folgen, sondern darstellen, wie sich nach 266 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 17 Steiner die Vögel aus Reptilien über Archae- opteryx entwickelt haben. Da handelt es sich zunächst um die Frage: wie entstanden die Federn? Während eine ver- breitete Ansicht besagen will, die Nestdunenfedern stellten das primitive Federkleid der Vorfahren der heutigen Vögel dar und seien als Schutz- vorrichtung gegen die Kälte entstanden, führt Steiner aus, jegliche Feder habe ursprünglich dem Flug gedient, „das Federkleid ist das eigent- liche Flugorgan des Vogels". Es sei, zumal ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Haar- und Federanlage (bei Ablehnung der Maurerschen Ableitung der Haare von Hautsinnesorganen) nicht nachzuweisen , unverständlich , warum sich die komplizierte Dunenfeder zum Wärmeschutz hätte entwickeln sollen, wenn bei Säugetieren das ein- fachere Haar derselben Aufgabe genügt. Vielmehr überall wo die Feder heute nur dem Wärme- schutz dient, wird sie haarähnlich: so nicht nur beim neugeborenen Vogel die Nestdunen, sondern auch die F'edern der flugunfähigen Flachbrust- vögel oder Ratitae, wie Strauße und Kiwis, die ja zweifellos von Kielbrüstigen (Carinatae) abzu- leiten sind. Zu den Anpassungen der Feder an die Flugfunktion gehört nach du Bois Rey- mond, 1902, der viereckige Querschnitt des Schaftes aller größeren Federn, da er, nach unten vorspringend , dem Verbiegen nach oben Wider- stand leistet; in noch viel höherem Grade sind die Querschnitte der vom Schaft abgehenden Strahlen als auf der hohen Kante stehende Streben geformt. Diese Erscheinungen kehren nun aber auch bei den Dunenfedern und Nestdunen wieder und zeigen somit eine ehemalige Verwertung auch dieser Federn für den Flug an ; ebenso kehren unter anderem jene Wimpern und Häkchen, mit denen bei Konturfedern die „Radien", die Seiten- äste der Äste, jeder den nächstvorderen umgreifen, und die als die höchsten Differenzierungsgebilde der Vogelfeder gelten, rudimentär nicht nur an den Halbdunen der Ratiten, sondern gelegentlich auch an echten und Nestdunen — bei Numida, Mergus — wieder. Und zwischen Dunen und Konturfedern lassen sich alle llbergangsformen feststellen. Die Ontogenie lehrt ferner, daß die Erstlingsdunen die Spitzen der späteren ersten definitiven Federgeneration sind. Hiernach seien die erwähnten und andere Übereinstimmungen zwischen Konturfedern und Nestdunen verständ- lich: jede Feder war ursprünglich ein Flugorgan, zumal als erster Entstehungsort von Federn am Vogelkörper, mit Nopcsa 1907, die Vorder- extremität zu gelten habe, und diese Ansicht noch dadurch erhärtet scheine, daß Steiner eine zu- erst an Schwungfedern beschriebene Widerhaken- einrichtung zur Befestigung der Häkchen rudimen- tär und funktionslos auch an den Konturfedern des Rumpfes nachweist. Was nun die Ableitung der Feder von der Reptilienschuppe betrifft, so zieht Steiner hier- bei den Afterschaft, eine sehr häufig oder, wie er meint, mindestens rudimentär immer nachweisbare kleinere Nebenfeder der Kontur- federn, mit in Betracht, die schon viel beschrieben, aber noch nie versuchsweise erklärt worden ist. Der Afterschaft ist „die ventrale oder innere Hälfte der zweigespaltenen Feder" (Gadow), zumal After- und Hauptschaft gemeinsam einer und der- selben in der Haut steckenden Spule aufsitzen. Deshalb kann die heutige Konturfeder nicht einer ganzen Schuppe homolog sein , sondern bloß deren oberer Hälfte, während der Afterschaft der unteren Hälfte entspricht. Dies führt zur Ablei- tung der Konturfeder und somit nunmehr jeg- licher Feder von gekielten Reptilienschuppen, indem zur Erzielung der Flug- oder zunächst Fallschirmwirkung sich die Schuppen des Rep- tilienarmes stark verflachten und verbreiterten, jene Kielbildung aber sich verstärkte, um zunächst die Biegungsfestigkeit zu erhöhen: sie stellte die erste Anlage des Federschaftes dar und differen- zierte sich in ein lamellenartiges Gebilde; auch auf der Unterseite trat zur Festigung der unteren Hornschichtlage der Schuppen ein Kiel auf, die erste Anlage des Afterschaftes. So leitete sich also, vermutet Steiner, die Entstehung von Federn mit Nebenfedern (Afterschaft) ein, worauf zur geringeren Behinderung der Flugfähigkeit die Haupt- feder bedeutend überwiegende Entwicklung erfuhr. Nach zahlreichen Untersuchungen über die Abstammung der Vögel von Reptilien stehen die verwandtschaftlichen Beziehungen der Vögel zu Dinosauriern fest, doch können wir heute nicht mehr die hochentwickelten bipeden Dinosaurier des Jura und der Kreide als Vorfahren der Vögel ansprechen, obwohl sie gerade die meisten vogel- ähnlichen Anpassungen aufweisen , sondern müssen beide von einer gemeinsamen älteren Sauriergruppe, wahrscheinlich den Diaptosauriern, ableiten, jedenfalls von Tieren, die baumbewohnend und kletterfüßig waren, fünfzehig mit je vierter längster Zehe, von horizontal schiebender Fort- bewegung, doch auch sehr gut befähigt zum Springen. Die Springfähigkeit führte zu einer Verlängerung des vorher kürzesten Fußabschnittes, der Metatarsalia , die zugleich teilweise fest mit- einander verwuchsen, und zur Reduktion der fünften Zehe als Annäherungen an die Organi- sation der Vögel, zugleich zum Nutzwert einer P'allschirmwirkung, die durch die seitliche Ver- längerung der Schuppen erzielt wurde. Eine hypothetische „Proavis" dieser Art stellt Abb. i nach Steiner dar. Diese Umwandlung der Reptilienschuppe in die definitive Konturfeder mag weit rascher erfolgt sein, als gewöhnlich ange- nommen wird : da die Wurzel zahlreicher Reptilien- ordnungen und mit ihnen der Vögel innerhalb des alttriassischen Formenkreises der Parasuchier zu liegen scheint, muß die Differenzierung der Schuppe zur Feder in der Zeit des Jura erfolgt sein, wo Archaeopteryx, im oberen Jura, „in jeder Hinsicht schon vollkommen das Federkleid heutiger Vögel besaß" (s. u.). N. F. XIX. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 267 Leitet man nun im Sinne vorstehender Er- örterungen die Flügelbefiederung von der Be- schuppung eines Reptilienarmes ab, so findet man nicht nur Übereinstimmungen in der Reihen- anordnung der größeren Schuppen, Schilder und Abb. I. Hypothetische „Proavis", nach Steiner noch nicht Archaeopteryx. Ouerreihe von Deckfedern vorhanden ist. Der aktive Flügelschlag, meint Steiner, führte zur Ent- stehung der definitiven echten Federn sowie zur Aufrichtung des Körpers; Flügelschlag und Auf- richtung des Körpers verlangten, daß die Vorder- extremität angezogen werden könne, und gestaltete das Handgelenk so um, daß die Hand gegen die Ulna (Elle) weit seitwärts bis zum Winkel von (80" gedreht werden konnte. Dadurch wurden die im Winkel des veränderten Gelenks gelegenen Seh jppen oder Federn des Unterarms proximal- wäits (körperwärts) verschoben: dies betraf die ersten sechs Armschwingen, die übrigen verblieben in ihrer Lage. Die sechste Schwungfeder lag also gerade an der Übergangsstelle zwischen den sich verschiebenden und den am Ort verbleiben- den und fiel daher als überzählig fort. Daher fehlt sie in allen ursprünglicheren Typen heute. Die Fehlende wird aber heute als die fünfte gezählt, denn die endgültige Ausbildung des Handgelenks bewirkte auch eine Reduktion der ersten Arm- schwinge, weil diese störend gerade im Hand- gelenk lag. Sie wurde zum sog. „Carpal re- mex", einer bei fast allen Vögeln vorhandenen, dicht neben der nunmehr ersten Armschwinge meist parallel zu ihr inserierten und oft mehr oder weniger fest mit ihr verbundenen kurzen Feder mit einer Deckfeder (vgl. Abb. 2); sie wurde schon von Degen, 1894, in dieser Weise erklärt und ist heule noch bei Tauben, Eulen, Möwen mit der nunmehrigen ersten Armschwinge durch eine dünne Hautfalte, die direkte Fort- setzung der Flugmembran des Unterarms, ver- bunden. Interkulare 5 Reihe Rand- federn Carpale Deckfeder „Carpal remex" Afterflugel kleine \ mittlere I Deckfedern grol3e I Handschwingen Armschwingen Abb. 2. Schematische Darstellung eines diastata.\ischen oder aquintokubitalen Vogeltlügcls (Ente). sonstigen Harthöcker bei vielen Reptilien mit der Anordnung der Federn beim Vogel, sondern auch eine Erklärung für die sog. „Diastat axie" oder den „Aquintokubitalismus" vieler Vogel- flügel, eine merkwürdige, häufige und jedem Kenner des Vogelgefieders schon aufgefallene Erscheinung, die darin besteht, daß die fünfte Armschwinge — vom Handgelenk (Flügel- buuggelenk) aus gezählt, fehlt, wie sich (vgl. Abb. 2) in diesen Fällen darin zeigt, daß die ihr zugehörige Die Aufrichtung des Körpers muß ferner auch zur Ausbildung sonstiger Vogelmerkmale geführt haben, vor allem zur typischen Hinterextremität mit Zangenfuß und Tarsometatarsalknochen , zur spezielleren Konfiguration des Beckens mit nach hinten gewendetem Schambein (im Gegensatz zu den Dinosauriern), zur Verlängerung der Hals- region mit Umwandlung der amphizölen Wirbel in heterozöle. Auf diesem Stadium der Entwicklung stand 268 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 17 die uns in zwei fossilen Stücken überkommene Archaeopteryx. Steiner weist nach, daß der Archaeopteryxflügel diastataxisch war , und daß der „Carpal remex" noch eine durchaus funktionierende erste Armschwinge war, doch be- reits von verminderter Größe. Die Zahl der Schwingen stimmte mit derjenigen der heutigen Vögel wohl einigermaßen überein. Der Unter- arm ist aber noch kürzer als der Oberarm , um- gekehrt wie bei den meisten heutigen diastataxi- schen Vögeln. Die noch stark bekrallte Hand kann zugleich noch zum Klettern gedient haben, wahrscheinlicher aber war eine solche Doppel- funktion wegen des reichen Federbesatzes nicht mehr möglich, und vielleicht wurden die Krallen wie bei Pterosauriern und heute bei Flattersäuge- tieren zum Anklammern beim Anfliegen ge- braucht. In seiner Befiederung aber ist der Ar- chaeopteryxflügel die direkte phylogenetische Vorstufe des heutigen Vogelflügels und liefert den paläonlologischen Beweis, daß bei den heuti- gen Vögeln die Diastataxie etwas Ursprünglicheres ist als die Eutaxie, wo diese vorkommt. Wenn hiermit die stark monophyletische Annahme angedeutet ist, daß alle heutigen Vögel von Archaeopteryx herstammen könnten, so be- kennt sich Steiner auch in seinen weiteren Dar- legungen zu einer solchen Annahme durchaus. Ja nicht einmal von Archaeopteryx, sondern sogar erst von einem späteren Nachfahren dieses Wesens, der sich, was die Flügel betriff"!, von den heutigen Vogelflügeln aus rekonstruieren läßt, dürften alle heutigen Vögel abstammen. Dieses Urbild oder der „Primitivflügel" weicht allerdings bedeutend ab von dem bei Wiedersheim, Fürbringer, Gadow u. a. angenommenen, welche sich die Urform des Flügels mit zahlreichen primitiven Federn gleich- mäßig bedeckt dachten, aus ihr die verschiedenen Flügel durch zunehmende Reduktion der Federn- zahl ableiteten und daher den Strauß (16 — 18 Handschwingen) und die Pinguine, als Vögel mit den zahlreichsten Schwingen, für die primitivsten Vögel ansahen und einen Anschluß an Archae- opteryx, mit höchstens 7 Handschwingen , nicht herzustellen vermochten. Da Steiner bei Archae- opteryx lediglich eine primitivere Ausbildung des Flügels gegenüber dem der rezenten Vögel findet, möchte er auch die geringe Zahl der Hand- schwingen als ein p r i m i t i v e s Merkmal ansehen. Die Übereinstimmung aller heutigen Vögel im Flügel jedoch, mindestens 10 Handschwingen, Synostosierung der Metacarpalia usw., lasse von einem späteren, höheren Entwicklungsstadium als Archaeopteryx alle heutigen Vögel ableiten, das aus Archaeopteryx hervorging durch Verbesserung des Flugvermögens unter Verlegung des Haupt- teils der funktionellen Beanspruchung vom Unter- arm auf die Hand nebst Streckung des ganzen F"lügels und Vermehrung der Handschwingen. Dabei führten die terminalsten H.andschwingen zur Reduktion der Fingerendglieder; im Hand- gelenk aber erfolgte fortschreitende Verkümme- rung der bisherigen ersten Armschwinge zum sog. „Carpal remex". Einen so beschaffenen Flügel also mit etwa 11 Hand- und 15 — 20 Arm- schwingen, distataxisch und mit wohlausgebildetem ,, carpal remex", der größer war als seine Deck- feder und mit der nunmehrigen ersten Hand- schwinge wohl durch die erwähnte dünne Haut- falte verbunden, denkt sich Steiner als Aus- gangsform für alle heutigen I'lügel und legt ihm ferner mit Rücksicht auf die heutigen primitivsten F"lügelformen u. a. folgende Eigenschaften bei: Von den Deckfedern, deren wir heute oben und unten je eine Reihe „große" und „mittlere" und mehrere Reihen ,, kleine" zählen, waren mindestens drei bis vier Reihen „kleiner" Deckfedern vor- handen, an der Hand außerdem sämtliche oberen „mittleren" Deckfedern (zu jeder Schwinge eine), und an der Unterseite zwei Reihen Deckfedern, „mittlere" und „große", beide bereits wie heute ,,aversae", d.h. ihre morphologische Oberseite gegen den Flügel kehrend, weil embryonal auf der Oberseite des Flügels angelegt und erst später durch das alles überholende Wachstum der Schwungfedern auf die Unterseite rückend. IVIitt- lere Deckfedern sind an der Handunterseite nur sechs vorhanden, was an die Sechszahl der Hand- schwingen bei Archaeopteryx gemahnt. Der Daumen oder Afterflügel trug vier Schwingen, wie heute noch zumeist. Die Proportionen dürf- ten 80 : 100 : 85 (Oberarm : Unterarm : Hand) be- tragen haben bei einer Länge des Ellenknochens (Ulna) von ca. 12 Wirbeleinheiten und einer Armschwingenlänge von 150 "/„ der Ellenlänge. Denn diese Verhältnisse etwa finden sich bei zahlreichen heutigen Vögeln in ganz verschiedenen Formenkreisen und zwar jeweils den primitivsten Typen. Bei Archaeopteryx dürfte es, im Hinblick auf den langen, breitbefiederten Schwanz, nur zu einem Fallschi rmflug und einem unbeholfenen Flattern gekommen sein. Der „Primitivflügel" ist demnach ein vervollkommneter Fallschirm- und Flatterflügel. Er findet sich verwirklicht bei primitiven Steganopodes, Ciconiae und Anseres, Linicolae, Gruiformes, Galliformes, Psittaciformes, Coraciidae, Alcedinidae, Striges und dem fossilen Ichthyornis. Vom Fallschirmflug kommt es zum Segel- flug unter Erreichung der Verhältnisse 90 — 120: 100: 85 — 120 bei einer Ulnalänge von 14 Wirbel- einheiten und verkürzten Armschwingen (unter 100 " ,1 der Ulnalänge) bei Colymbi-, Procellarii-, Anseriformis, Steganopodes und Lari, von hier aus einerseits zum Schwebe flügel, der die Tragfläche durch Verlängerung der Schwungfedern zu vermehren sucht (90: 100: 70, Ulna = 14 — 16 Wirbeleinheiten, Armschwingen länger als Ulna) bei Ciconiae, Phoenicopteri, Palamedea (Wehr- vogel), Falconiformes, Gruinae, Otididae, anderer- seits zum Gleit flügel, der die Tragfläche durch enorme Verlängerung der einzelnen Flügelteile N. F. XIX. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 269 vermehren will (70 — lOO : lOO : 70, Ulnalänge = 20 Wirbel, Armschwingenlänge = 50 "/„ der Ulna- länge) bei den Diomedinae und Fregatinae. Vervollkommnung des Flatterflugs dagegen führt zum Rüde rflügel (80:100:75, Ulna nur 8 Wirbel lang, Armschwingenlänge = 200 "/„ der Ulnalänge), und dieser Flügel wird aus einem diastataxischen zu einem eutaxischen, mit nicht mehr fehlender fünfter Armschwinge; Bei- spiele: eutaxische Coraciiformes , Pici, primitive Passeres. Bei vorwiegend terrikoler Lebensweise wird durch gleichzeitige Körpergrößenzunahme dieser Flügel klein (Ulna nur 7 Wirbel lang, Humerus : Ulna : Manus = lio : 100 : 90, Arm- schwingen 250 "/d der Ulnalänge, eutaxisch) bei eutaxischen Grui- , Tinami- und Galliformes, Opisthocomi und Cuculi. Die Vervollkommnung von Segel- und Ruder- flug zugleich aber stellt die dritte Entwicklungs- möglichkeit dar und führt zum Schwalben- flügel (70: 100: 120, Ulna = 6— 8 Wirbel, Arm- schwingen 200 "/fi der Ulnalänge); er entwickelt sich aus dem Primitivflügel bei Psittaci, Capri- mulgi und Cypseli, aus dem Segelflügel bei Laro- Limicolae, Pterocles und Columbae, aus dem Ruderflügel bei Passeres. Er führt zur Eutaxie. Ein letzter, aberranter, entweder direkt aus dem Primitivflügel oder aus primitivem Schwalben- flügel entstandener Flügel endlich ist der Schwirr- flügel der Kolibris: 100: 100: 300, Ulna = 4 Wir- bel lang, Armschwingen = 300 "/o der Ulna lang, bleibt diastataxisch. Im ganzen fügt sich der Fürbringersche Stammbaum der Vögel am besten den hier ge- stellten Anforderungen. Im Spezielleren jedoch empfiehlt sich die Einteilung Gadows in drei große Formenkreise : der erste Kreis, die Colymbo- Pelargomorphae (Taucher, Pinguine, Sturmvögel, Storchvögel, Gänse- und Falkenvögel), hat sich ausschließlich zum Segelflügel und seinen Modi- fikationen hin entwickelt, der zweite, Alectoro- morphae nebst Cuculiformes, (Steißhühner, Hühner-, Kranich- und Regenpfeifervögel nebst den Kuk- kucksvögeln) zu einem schwach ausgebildeten Schwalbenflügel, dann aber zum entgegengesetzten Endziel, zu einem sekundären Flatterflügel, der dritte, die Coraciomorphae (Rakenvögel [das sind besonders Raken, Eisvögel, Bienenfresser, Hopfe, Eulen, Nachtschwalben, Segler, Kolibris, Pfefi"er- fresser und Spechte] und Sperlingsvögel), strebt neben dem Schwalbenflügel hauptsächlich dem Ruderflügel zu. Alle drei Kreise knüpfen aber mit einigen Vertretern noch an den Primitivflügel an, und insbesondere die Coraciomorphae reichen — gegen Fürbringer und Gadow — in ihren Wurzeln, den Striges, mindestens ebensoweit zu- rück wie irgendein anderer. Ja Steiner möchte sogar den Mittelpunkt sämtlicher Formen, den Fürbringer bei den Laro - Limicolae suchte, innerhalb der primitivsten Coraciiformes verlegen, da deren baumbewohnende Lebensweise gegen- über allen anderen Gruppen das Ursprünglichere erscheint. Zu Beginn einer jeden der oben genannten Entwicklungsrichtungen stehen Formen mit den sechs ursprünglichen mittleren Deckfedern der Unterseite. Sehr bald erfolgt dann ihre Reduktion bis auf eine, die erste, die einheitlich erhalten bleibt. Auf dieser Entwicklungsstufe bleibt der Segelflügel stehen. Beim eigentlichen Ruderflügel (Coraciiformes) kommt es einheitlich zur Reduk- tion der großen Unterflügeldeckfedern, der dann (Pici, einzelne Passeres) auch die Reduktion der ersten dieser Federn folgt, um mit dem vollstän- digen Schwund der großen Unterflügeldeckfedern (Wiedehopf) ihren Abschluß zu finden. Beim sekundären Flatterflügel (Galli-, Opisthocomi-, Cuculiformes) erfolgt Reduktion der mittleren Unterarmdeckfedern. Im Schwalbenflügel ist die gleiche Tendenz wie im Ruderflügel kenntlich (eutaxische Tauben, Cypseli). In den oben genannten Entwicklungsreihen ist, wie eine Tabelle lehrt, ebenso deutlich die allmähliche Umgestaltung der Flügelbefiederung, zumal durch zunehmendes Schwinden von unteren „aversen" Deckfedern zu den zweifellos höheren Formen hin zu verfolgen wie das Eintreten der Eutaxie lediglich auf höheren Entwicklungs- stufen. Somit stellt die Diastataxie eins der primitivsten Merkmale des Vogelflügels dar, und so unschein- bar und völlig bedeutungslos sie gegenwärtig er- scheint, gestattet sie einen merkwürdig weit zurück- reichenden Blick in die Phylogenie der Vögel. Noch unzweideutiger als das Merkmal der Feder selbst fordert sie „die direkte Abstammung der Vögel von einer einzigen Vorfahrenform". „Da- mit liefert sie aber auch eines der schönsten Bei- spiele für unsere allgemeinen Ansichten über die Entstehung ganzer Tierklassen überhaupt." Habe ich im Vorstehenden die Ansichten des Verfassers gekürzt wiedergegeben , ihre Prüfung der späteren Forschung überlassend , so mag ein Zweifel bezüglich der im letzten Satz ausge- sprochenen Verallgemeinerung nicht unter- drückt werden: ob alle Tierklassen in solcher Weise monophyletisch entstanden sind, dürfte doch noch fraglich sein, wie denn wenigstens Ab- teilungen niederen Grades in vielen E'ällen sicher- lich polyphyletischer Herkunft sind. Was aber gerade die Vögel betrifft, so hat ihre mono- phyletische Ableitung viel Ansprechendes, da selten eine Tierklasse so einheitlich erscheint wie diese, und zudem in dem biologischen Moment des Erwerbs des Flugvermögens durch Befiederung sehr wohl etwas gefunden werden kann, was ganz neue Daseins- und Wettbewerbsmöglichkeiten entwickelte und mithin die schnelle Eroberung zahlreicher Daseinsräume unter verhältnismäßig geringen Spezialanpassungen gestattete. V. Franz, Jena. 270 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 17 Zoologie. Als einen Rückblick auf die Un- gezieferbekämpfung im Kriege können wir heute den Vortrag auffassen, den der während des Krieges mit der wissenschaftlichen Leitung dieser Aufgabe betraut gewesene Zoologe Professor Albrecht Hase im September 1918 hielt.') Wie auf vielen Gebieten, sagt Hase, war auch auf diesem der Krieg ein unerbittlicher Lehr- meister, und zwar hier in dem Sinne, daß er uns auf unsere Rückständigkeit hinwies. Diese zeigte sich namentlich im Anfang der Läusebekämpfung. In dem Kampf gegen die Kleiderlaus näm- lich, der an 250 Millionen Mark verschlang und dafür eine allgemeine Verlausung und die Einschleppung von Seuchen verhütete, unter- scheidet Hase drei Perioden, und die erste war die der prophylaktischen Abwehrversuche mit Geruchstoffen (Läusemitteln), die zahlreich im Handel angeboten wurden, aber ganz wertlos oder gar schädlich waren. Die zweite Periode war die des Darnpfdesinfektions- und des Heißluft- oder „Backofen"verfahrens. Am zweckmäßigsten wurden beide kombiniert ange- wendet, da das erstere, übrigens kompliziertere, durch Temperaturen von 115 bis iio". C Gummi- und Ledersachen schädigen würde, das letztere aber, mit 60 bis 70" C, Versengungsgefahr und Feuersgefahr bei Zelluloidwaren und Feuerzeugen mit sich bringt und bei dichter Packung der Kleider nicht genügend wirkt. Auch wurde statt der Heißluft zeitweilig Schwefelung angewendet. ') Albrecht Hase, Die Bekämpfung der Läuse, Wan- zen und anderer Parasiten; insbesondere die Belcämpfung mittels Blausäure. Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für angewandte Entomologie auf der zweiten Mitglieder- versammlung zu München 1918 (Berlin, Paul Parey, 1919), Seite 88 bis 105. Da wiederholte Behandlung mit diesen Verfahren immerhin die Kleidungsstücke schädigte und das Heißluftverfahren zudem im Brennmaterialien- verbrauch unökonomisch war, kam in der dritten Periode, etwa seit Herbst 1917, die Blausäure- methode hinzu, die nur bei niederen Tempe- raturen und zu dicht gepackten Kleidungsstücken versagte. Blausäure war auch für abdichtbare Wohnräume zur Entlausung verwendbar. Da- gegen fand sich keine endgültige Methode, Kopf- und Kleiderläuse nebst Eiern aus den Körper- haaren zu entfernen, da Scheren auf die ver- schiedensten Schwierigkeiten stößt. ^) Für die Bekämpfung der Bettwanze erwies sich Blausäuredurchgasung als durchaus genügend. Für die Bekämpfung von Fliegen und Mücken wurde Blausäure- sowie Zyannatrium- lösung verschiedentlich versucht und empfohlen. Die Bekämpfung der Flöhe bei starker Floh- plage ist, da alle Stadien des Hunde- und Men- schenflohes am Boden leben, das schwierigste Kapitel. Endgültige Versuchsergebnisse liegen nicht vor. Die Räudeplage der Pferde hat nächst der Läuseplage die größten finanziellen Opfer ge- kostet, etwa 50 Millionen Mark. Versuche mit Schmiermitteln und mit Blausäure waren vergeb- lich ; letztere durchdrang die Haut der Pferde und richtete die Tiere zugrunde. Zum Erfolg führte schließlich die Anwendung von Schwefeldioxydgas in Gaszellen , die das Eindringen des Gases in die Atmungsorgane des Pferdes verhüten. V. Franz, Jena. ') In der Diskussion empfahl Stabsarzt Schöppler hierfür Sublimatlösung I : 100, die den gewünschten Erfolg bringe. Bücherbesprechungen. Abhandlungen zur theoretischen Biologie, herausgegeben von Dr. Julius Schaxel, Prof. a. d. Univ. Jena. Berlin, Gebrüder Borntraeger. Heft i: Julius Schaxel, Über die Dar- stellung allgemeiner Biologie. 61 Seiten in gr. 8». Preis 3 M. Die „Abhandlungen zur theoretischen Biologie" sollen als aufeinanderfolgende zwanglose Hefte erscheinen, die gesetzmäßige Ordnung in die Biologie bringen sollen. Es ist das entschieden ein wichtiges Unternehmen. Findet man doch noch heute in biologischen Abhandlungen und Lehrbüchern häufig Unsicherheit, ob die Theorien als Gesetze, Regeln oder Prinzipien zu betrachten seien, und das hat natürlich eine unrichtige Hand- habung zur Folge. Wohl als der erste Biologe hat Ref in seinem Buche über den Darwinismus (1904) den Versuch gemacht, mit der methodo- logischen Untersuchung, wie sie in den Reihen der Philosophen üblich ist, an die biologischen Lehren heranzutreten. Nun findet dieser Versuch eine umfassende, planmäßige Fortführung. Schaxels einführendes Heft gibt einen sehr lesenswerten Überblick über das Anzustrebende. Die Forderung ist Selbstbesinnung auf die Ordnungsgrundsätze, mit denen der Stoff bewältigt wird. In folgendem wird nun gezeigt, wie un- gleichartig der Stoff und die Lehren der Biologie sind. Eine kurze historische Übersicht, in der wir nur das Mittelalter höher gewertet wünschten, zeigt, wie sich die Biologie als Wissenschaft herausbildete. Eine gewisse Unsicherheit, so wird dann bei der Darlegung des Stoffes gezeigt, bringt schon der Umstand mit sich, daß das Leben von dem Untersuchenden an sich selbst und an den Er- scheinungen der Außenwelt studiert werden kann. Der Verf. zeigt dann die verschiedenen Grund- auffassungen vom Leben, und führt dann bei der Durchsicht der Handbücher, Lehrbücher und Ab- handlungen durch, wie wenig darin von einem N. F. XIX. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 271 System der Wissenschaft zu spüren ist. Ungleich- wertiges wird gleichgestellt, vieles wiederholt, auch die Kürze oder Länge der Behandlung des ein- zelnen Abschnitts erfolgt nicht mit innerer Not- wendigkeit. Um praktischBestehendesaufzunehmen, wird von durchgreifender Ordnung abgesehen, und oft wird sich mit Weglassungen geholfen. Verf. gibt zum Schluß einen Plan der Systemati- sierung. In ihm ordnet er das Organismische in zwei Erscheinungsgruppen des Lebens, erstens im Nacheinander der Einzelwesen, dessen ver- knüpfendes Band die Fortpflanzung ist, und im Beieinander, das durch die Geschlechtlichkeit ver- knüpft wird. Man wird die systematische Be- deutung dieser Einteilung zugeben. Heft 2: Richard Kroner, Das Problem der historischen Biologie. 35 Seiten Preis 3,20 M. K r 0 n e r tritt an die Biologie vom Standpunkt des Philosophen und Logikers aus heran. Auf den Darlegungen Rickerts fußend, scheidet er die Begriffe des Naturwissenschaftlichen und Historischen. Ersterer gilt von dem, was überall und immer vorhanden ist, letzterer von dem, was nur einmal in Zeit und Raum sich vollzogen hat. Im ersten Absatz wird nun der historische Begriff abgehandelt, im zweiten wird von ihm gesprochen, soweit er in die Naturwissenschaft eindringt. Am Beispiel der Geologie wird gezeigt, daß die Natur- wissenschaft die Erkenntnis des absolut Einmaligen und Individuellen nicht anstrebt; auch die Erd- geschichte ist nur der zufalligen Wirklichkeit nach einmalig, im Prinzip kommt für die Geologie auch hier nur das Typische in Frage, was bei der Ent- wicklung anderer Himmelskörper sich ebenso ab- spielen würde, und was auf verschiedenen Punkten der Erde in gleicher Weise verläuft. Erst in der Biologie — und das behandelt das dritte Kapitel — ändert sich die Sachlage. Nach K r o n e r ist der Organismus die Idee eines Ganzen, dessen Teile durch diese Idee bestimmt sind. Diese Idee des Ganzen ist etwas Besonderes, das wie durch eine Wertbeziehung ein Sinnvolles wird. Das aber sind Betrachtungsweisen, die der histori- schen Wissenschaft entsprechen, und so führt die Organismenbildung auf den Weg zur historischen Begriffsbildung. Die Darlegung Krön er s, die zum Schluß auch auf die Deszendenztheorie ein- geht, ist folgerichtig und zeigt dem Biologen Ausblicke von seiner Wissenschaft in ihm sonst fernliegende Gebiete hinüber. Freilich setzt Kroner das Organismusproblem als mechanistisch unlösbar voraus. Die Entscheidung dieser Grund- frage muß wo anders geholt werden. Heft 3: Hans Driesch, Der Begriff der organischen Form. 1919. 83 Seiten. Preis 5,60 M. Dieses Heft wird als eine kurz gefaßte Ein- führung in die Ansichten von Driesch ganz besonders willkommen sein. Es gibt in der Tat auf knappen Raum sehr viel. Der Organismus wird in die Natur eingeordnet, und es werden Kategorien der Form, der Mannigfaltigkeit, des Geschehens aufgestellt, um dann den besonderen Fall des Organismus zu untersuchen. Interessant ist der Abschnitt über die Systematik. Driesch meint, es sei eine besonders „glückliche" Tatsache, daß sich die organischen Formen nach Gruppen ordnen ließen, doch wird das durch ihre Ver- wandtschaft erklärt, und es war das Verdienst der Deszendenztheorie, dem System das wissenschaft- liche Fundament zu geben. Sehr lesenswert ist der Abschnitt über das „Medium", in dem sich der Organismus befindet und zu dem er in Be- ziehungen tritt. Die Bedeutung dieser Umwelt tritt in der Tat gerade heute wieder sehr hervor, besonders auch die Beziehung eines Teiles des Organismus zu den anderen, was Driesch rezi- prokes Medium nennt. Bei dem Kapitel über die Eigenschaften wird über das Ganze und seine Teile, eben die Eigenschaften gesprochen. Hier kommen Drieschs Gedankengänge den indischen nahe, man wird lebhaft an die P'rage des Buddha erinnert, was denn eigentlich ein Wagen sei, wo man doch nur seine Teile nenne und nur sie wesentlich seien. Aber Driesch kehrt nun in seine Wege zurück, er fragt, ob der Organismus nicht als Ganzes Eigenschaften hätte, die seine Ureigenschaften wären und kommt dann immer weiter in seine Theorie von der Eigengesetzlichkeit des Lebens hinein. F"reilich lassen sich seine Be- weise dafür, daß die Organismen mit Maschinen nicht verglichen werden können, immer noch mit dem Hinweis auf die niedersten Lebewesen, die von Dingen der leblosen Welt nicht prinzipiell sich unterscheiden, entkräften. Driesch legt der Entwicklung der Organismenwelt seine „Entelechie" als treibende Kraft zugrunde. Auch in diesem Buch ist das Wirken dieser Entelechie der Kern- punkt. „Die eigentliche Substanz der organischen Form ist unsere Entelechie," sagt er zum Schluß, „sie ist die Form, das Eidos im aristotelischen Sinne ; das sichtbar geformte ist nur ihr vergängliches Wirkungsprodukt in die Materie hinein". Driesch fragt dann, warum sich wohl die Entelechie mit der Materie einlasse, und warum sie nicht in starrer Reinheit bleibe, was sie ist. Warum wolle das Wirkliche realisiert sein, etwa um von sich selbst zu wissen ? Man möchte auch hier mit den alten Indern antworten und auf die Vorstellung von der Weltseele hinweisen, deren Unseligkeit darin bestehen soll, immer schaffen zu müssen, bis ihre Formen die Ursache erkennen und jene von ihrem Zirkel der Schöpfungen befreien. Ob Driesch wohl einmal seine Lehre in jener alten Weisheit aufgehen lassen wird ? Dem Ref. scheint's, als ob er sehr nahe daran ist. K. Guenther. 272 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 17 Anregungen und Antworten. Angewandte Zoologie. Die Angaben bezüglich der Korst- akaderaie Eberswalde in der W ilh elmi sehen Arbeit in Nr. 7 der Naturw. Wochenschr. N. F. XIX. sind unrichtig. Seit dem I. April 1914 bestehen an unserer Akademie zwei selbständige ordentliche zoologische Professuren und dementsprechend zwei voneinander unabhängige, mit eigenen Etats, Assistentenstellen usw. ausgestattete Institute ; 1. Zoologisches Museum. 2. Zoologisches Laboratorium. Die beiden Professoren sind gleichzeitig Dirigenten je einer zoologischen Abteilung der Hauptstation des forstlichen Versuchswesens in Preufien. Am zoologischen Museum sind zwei Forstbeamte, am zoologischen Laboratorium ein älterer, promovierter Berufs- zoologe (der u. a. durch seine langjährigen Arbeiten über die Fauna Sardiniens und zahlreiche andere, vorwiegend entomo- logische Arbeiten bekannte Dr. A. B. Krausse) als Assistenten angestellt. Unrichtig ist ferner die Angabe über das Kaiser-Wilhelm- Institut in Bromberg. Leider ist der Zoologe (ich bekleidete die Stellung eines solchen dort bis Februar 1914) nicht Leiter einer eigenen Abteilung. Der Zoologe ist dort als Assistent bei der Abteilung für Pflanzenkrankheiten untergebracht. Nicht einmal die Stellung des ersten Assistenten ist dort grundsätzlich dem Zoologen vorbehalten. Der Leiter der Ab- teilung ist ein nur oberflächlich botanisch-, zoologisch gar nicht geschulter Landwirt. Im Interesse der wissenschaft- lichen Leistungen wäre hier eine Reform dringend erwünscht. Wenn schon die Stelle eines besonderen Abteilungsleiters ge- spart werden soll, — unter den heutigen Verhältnissen be- greiflicherweise muß — , sollte man einen zoologischen Assi- stenten dem Direktor des Gesamtinslitutes direkt unterordnen. Eine diesem Herrn in solcher Weise unterstellte Saatzucht- abteilung hat Hervorragendes geleistet. Prof. Dr. Wolff. Giftwirkungen bei eßbaren Pilzen. Vorübergehenden Schweißausbruch, geringe Magenbeschwerden und leichtes Schwindelgefühl stellt Herr Oskar Prochnow (Naturw. Wochenschr. N. F. XVIIl. Nr. 48) nach reichlichem Genuß von yyicholoma saponaceinit^ Paxilhts invohäits und P. atroto- mentosiis fest. Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, daß ich ähnliche und zwar mitunter recht heftige Erscheinungen jedesmal nach dem Genuß von gar nicht übermäßig großen Mengen der Psaiiiota-Anen , also der echten Champignons, verspüre. Ich habe stets gern in Deutschland Ps. arveiisis, Ps. carnpestris und andere Psallioten gesammelt und gekauft, in Südamerika (Uruguay wie Brasilien) habe ich Ps. platensis viel gesammelt und mit Behagen, meist in gebratenem Zu- stande, verspeist, stets habe ich aber bald nach dem Genuß die oben bezeichneten Erscheinungen verspürt. Paxillus- Arten (Krämplinge) hingegen, die ich alljährlich mit meiner Familie in großer Menge verzehre, haben bei uns nie Be- schwerden verursacht, ebensowenig wie die übrigen etwa 20 Arten unserer Flora, die wir für die Küche sammeln. Meine Frau und meine Kinder verspüren übrigens keinerlei Erscheinungen nach dem Genuß der Champignons. Die ein- zelnen Menschen scheinen also verschieden zu reagieren. Ich möchte aber deshalb nicht gewisse Pilze nur als ,, be- dingt genießbar" bezeichnen. Eher soll man ganz allgemein vor dem allzu reichlichen Pilzgenuß, womöglich ohne Zuspeisen, warnen, vor allem auch vor dem zweimaligen Pilzgenuß am gleichen Tage, etwa mittags als Suppe und abends als Haupt- gericht oder umgekehrt, wodurch ja auch das Gift der Mor- chel besonders wirksam werden kann. Herter. Mutationsfrage. Antwort an Herrn Prof. Stomps. Ich habe, glaube ich, in meiner Warnung gegen den Enthusiasmus des Herrn Prof. Stomps für die Arbeit van der Wolks, die Sache ganz unpersönlich gehalten und nur aus kritisch- wissenschaftlichen Gründen eine objektive Beurteilung dieser Arbeit empfohlen; Herr Prof. Stomps erachtet es besser, ,,in aller Freundschaft" seiner Antwort, welche nichts Säch- liches enthält, einen persönlichen .Angriff mitzugeben, welcher, wie ihm wohl bekannt ist oder doch bekannt sein sollte, durchaus unberechtigt ist. Ich will ihm auf diesem uner- wünschten Wege nicht folgen und lieber warten, wie die Zukunft über die Bedeutung der gewiß sehr langweiligen Kritik derartiger Arbeiten urteilen wird. Daß dafür, wie in der Vererbungslehre und in Evolutionsfragen ganz allgemein, Geduld notwendig erste Bedingung ist, ist vielleicht Herrn Prof. Stomps unbekannt oder doch unbegreiflich; ich meine, sonst würde er nicht versuchen, aus einer wildwachsenden fremdbestäubenden Pflanze, wie Oenothera biennis, in einer Generation eine „reine Linie" herzustellen, oder eine wild- wachsende gelbe Ligustrumpflanze uns als Ligustrum vulgare ,,mutatio ebbingense" aufdrängen zu wollen. Derartige Be- weise, sowie die van der Wölk sehe Arbeit, sind zur Muta- tionsfrage doch eher schädigend als fördernd. M. J. Sirks. Unsere Leser, welche die demnächst in zwangloser Folge erscheinenden Mitteilungen des Reichsforstwirtschaftsrates zu beziehen wünschen, würden diese bei dem Kommissionsverlag J. Neumann in Neudamm zu bestellen haben. Da weder die Zahl noch die Stärke der einzelnen Hefte vorauszube- stimmen ist, soll der nach den Selbstkosten des Reichsforst- wirtschaftsrates für jede Nummer besonders bemessene Bezugs- preis am Jahresschluß bezahlt werden. Die Aufforderung dazu soll in der letzten Jahresnummer der „Mitteilungen des R.-F.-W..R." ergehen. Literatur. Reinau, Dr. E., Kohlensäure und Pflanzen. Ein Beitrag zur Kohlenstoffdüngung der Pflanzen und ein Versuch zu einer geophysischen Pflanzenphysiologie. Halle '20, M. Knapp. 16,40 M. Boas, Prof. Dr. J. E. V., Lehrbuch der Zoologie. 8. verm. u. verb. Aufl. Mit 683 Textabbildungen. Jena '20, G. Fischer. 36 M. Abel, Prof. Dr. O., Die Stämme der Wirbeltiere. Mit 669 Textfiguren. Berlin u. Leipzig '19, M. de Gruyter & Co. 56 M. Harms, Prof. Dr. M., Die Seidenraupenzucht in Vene- tien, zugleich ein Beitrag zur Schlafkrankheit und einer neuen Trypanosomidenkrankheit der Seidenraupen. Mit 12 Text- abbildungen und 20 Tafeln. Jena 20, G. Fischer. 12 M. Röseler, Prof. Dr. P. und Lamprecht, Studienrat IL, Leitfaden für Biologische Übungen. Zoologischer Teil. Mit 155 Textfiguren. Berlin '19, J. Springer. 6,80 M. Schönichen, Prof. Dr. W., Die Biologie in der neuen Erziehung. Leipzig '19, Quelle ^: Meyer. 2,40 M. Kühn, J., Der beste Staat. Die Kunst des Herrschens und Regierens. Stuttgart '19, Franckhsche Verlagshandlung. 3,60 M. Demoll, Prof. Dr. R., Das Abwasserfischteichverfahren. München '20, Fr. J. Völler. lulialt: Hans Heller, Zum Nomenklaturproblem in der anorganischen Chemie. S. 257. Rud. Dehler, Die Zukunft der Zelltheorie. S. 260. Hugo Lindner, Die Eishöhle im Tännengebirge bei Salzburg. S. 263 — Einzelberichte: Hans Steiner, Die stammesgeschichtliche Entwicklung der Vögel. (2 Abb.) S. 265. .Albrecht Hase, Rückblick auf die Ungezieferbekämpfung im Kriege. S. 270. — Bücherbesprechungen: .Abhandlungen zur theoretischen Biologie. S. 270. — Anregungen und Antworten: Angewandte Zoologie. S. 272. Giftwirkungen bei eßbaren Pilzen. S. 272. Mutationsfragc. S. 272. Mitteilungen des Keichsforstwirtschaflsamtes. S. 272. — Literatur: Liste. S. 272. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 5r ganzen Rei Band: .35- Ba Sonntag, den 2. Mai 1920. Nummer 18. Nachweis neuzeitlicher relativer Senkungen in Bayern. Von Major a. D. Dr. W. Kranz, Stuttgart. Mit I Abbildung im Te.xt. [Nachdruck verboten. 1 Der Nachweis rezenter Schollenbewegungen wird bekanntlich am genauesten durch Fein- nivellements erbracht. Man geht dabei am sichersten von der Mittellage des Meeresspiegels aus, in der Annahme, daß sich diese Fläche gegenwärtig nicht verändert,^) oder doch wenn überhaupt, nur so außerordentlich langsam, daß es für den vorliegenden Zweck praktisch ohne Bedeutung ist. Das bekannteste Beispiel solcher Nachweise ist wohl der einer rezenten Landhebung Skandinaviens,'^) deren Nivellement an der West- küste Schwedens vom „Tangrande" ausging, dem horizontalen Rande der höchsten Anhaftpunkte von Fiicus vesüulosKS an den Uferfelsen; er nimmt eme konstante Lage im Verhältnis zum Mitielwasserniveau ein. Dort errechnete man eine jährliche Landhebung von 0,22 bis 0,59 cm nach Beobachtungen zwischen 1847 und 1909. In Preußen und Indien ist man seit langem zur Ver- bindung von Nivellements mit einwandfreien lang- jährigen Wasserstandsbeobachtungen an Pegeln übergegangen. ■') Anderwärts war ein solcher An- schluß noch nicht möglich, weil zwischen den Ketten oder Schleifen der Nivellements und den Pegeln verbindende Einwägungen fehlten. Man mußte sich dort mit der Feststellung relativer Hebungen, Senkungen oder Bodenruhe begnügen. So fand Burrard durch Nivellierungen, daß Teile der südlichen Kette des Himalaja durch ein Erd- beben 1905 einige dm über ihre Umgebung ge- hoben wurden: Die submontane Zwischenstation Dehra Dun (683 m ü. M.) lag nach diesem „Fal- tungsbeben" 40 cm höher, als vorher, gemessen an der Lage der nördlich davon gelegenen Hoch- station Mussooree (21 10 m) und der südlichen Ebene (Saharanpur).*) ') W. Kranz, Hebung oder Senkung des Meeresspiegels? Neues Jahrbuch f. Mineralogie, Geologie und Paläontologie Beil.-Bd. XXVIII, 1909, S. 574-610. •■') Vgl. u. a. C. G. Kineman, Verhandl. d. 16. Allg. Konferenz d. Internat. Erdmessung 1909. Verlag Reimer, Berlin 1910, S. 300. — W. Kranz, a.a.O. S. 598. — Vgl. ferner E. Hammer, Dauernde Höhenänderungen von Fest- punkten im Gebiet des Erdbebens von Messina am 28. De- zember 1908, Peterraanns Mitteil. 1912, I, S. 319. ') Vgl. u. a. W. Seibt, Über selbsttätige Pegel und die Zusammengehörigkeit ihrer Aufzeichnungen mit Nivellements erster Ordnung. VII. Internat. Schiffahrts-Kongreß Brüssel 1898. — Veröffentlichungen des Bureaus für die Hauptnivelle- ments und Wasserstandsbeobachtungen im Preuß. Ministerium der öffentlichen Arbeiten, in den Abb. der Akad. d. Wissen- schaften Berlin. Veröffentl. d. Preufl. Geodät. Instituts Berlin usw., seit 1877. — S. G. Burrard, Levelling of Precision in India, 1858 — 1909; Petermanns Mitteilungen 1912, II, S. 290 f. *) Verhandl. 16. Allg. Konf. Internat. Erdmessung I910, S. 120 f., 210. — Burrard a. a. O., Peterm. Mitt. a. a. O. Entsprechende relative Bodenbewegungen sind durch die langjährigen Arbeiten des o. Professors der Technischen Hochschule in München, Herrn Dr. h. c. Max Schmidt, in Bayern festgestellt worden. Wie sorgfältig und wissenschaftlich ein- wandfrei dabei verfahren wurde, beweisen die Zweifel, die Schmidt selbst infolge der Möglich- keit von Beobachtungsfehlern hegte. ^) 1893 war das rechtsrheinische Präzisions-Nivel- lement von Bayern abgeschlossen worden. Bei Er- gänzungsmessungen in den Jahren 1904 und 1905") wurde auf der 64 km langen Hauptnetzlinie Marktl — Freilassing (vgl. die Abb.) zwischen den in 14 km Abstand gelegenen Höhenmarken I. Ord- nung bei Laufen a. d. Salzach und bei Freilas- sing ein um 84,7 mm größerer Höhenunterschied gefunden, als bei dem erstmaligen Nivellement dieser Strecke 1887. Diese Abweichung ließ sich zunächst durch eine Anhäufung zufälliger und systematischer Nivellierfehler nicht erklären. Im Jahre 1906 wurde deshalb die Linie Marktl — Frei- lassing nochmals in beiden Richtungen mit be- sonderer Sorgfalt nivelliert und dabei die Senkung der Höhenmarke bei Laufen sowie aller weiterer nördlich in derselben Linie gelegenen Höhen- marken bestätigt gefunden. Auch der Höhen- unterschied der beiden Linienendpunkte war 1906 um 73,8 mm größer als 1S87. Ebenso hatte ein dreimaliges Nivellement 1904 und 1905 zwischen Laufen und Freilassing den Höhenunterschied dieser Punkte um 90,5 mm größer als bisher er- geben. Man vermutete sonach, daß zwischen den Jahren 1887 und 1905 einige km S von Laufen eine tektonische Störung eingetreten sei, wie solche auch aus der Bodenseegegend durch Nivel- lements nachgewiesen waren. ^) Nach v. Am- ^) Sie veranlaßten meine diesbezügliche Bemerkung in Naiurw. Wochenschr. 1920, S. 34 f., welche durch die mir nachträglich bekannt gewordenen, hier referierten Veröffent- lichungen Seh midts 1919 gegenstandslos wird, soweit Laufen in Frage kommt, ") M. Schmidt, Ergänzungsmessungen zum Bayerischen Präzisions -Nivellement, Heft I. Veröffentl. d. Bayr. Komm, f. d. Internat. Erdmessung, München 1908, S. 2 1 ff. — Ver- handl. l6. .'Mlg. Konf. Internat. Erdmessung 1910, S. 147 f. ') C. Regelmann, Erdbebenherde und Herdlinien in Südwestdeutsrhland. Jahreshette d. Vereins f. vaterländische Naturk. in Württemberg, 1907, S. 165; Neuzeitliche Schollen- verschiebungen der Erdkruste im Bodenseegebiet. Berichte über d. Versamml. des Oberrhein. Geol. Vereins 40, 1907, S. II — 17. — Comm. geod. Suisse proc. verb. 1898, S. 23. — J. Hilfiker, Untersuchung der Höhenverhältnisse der Schweiz im Auftrag der Abteilung für Landestopographie des Schweiz. Militärdepartements. Bern 1902, S. 22 f., 75. — M. Haid, Untersuchung der Senkung des Bodenseepegels zu Konstanz, Karlsruhe 1891. — M. Schmidt, a. a. O. S. 42. 274 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. iS mon zieht etwa 2^/2 km S von Laufen eine große tektonische Linie durch, längs welcher die Flysch- gesteine des Alpenzuges an Molasse und jüngeren Tertiärschichten abstoßen, vgl. die Abbildung. In diesem Gebiet sind noch besondere Komplika- tionen vorhanden; außer anderen Störungslinien läßt sich eine Hauptabbruchsrichtung mit nörd- lichem Senkungsfeld annehmen.**) Nach O. Reis könnten die Niveauverschiebungen dort als eine Fortdauer von Bewegungen mit Emporhebungen im Flyschgebiet gelten, oder als Eigenbewegungeri der IVIolasse; auf Senkungsbewegungen noch in glazialer und postglazialer Zeit wiesen manche Seebecken hin, die als ältere „versunkene" Alpen- täler gedeutet würden.") In den nächsten Jahren entstanden Zweifel an der Richtigkeit dieser Beobachtungen. Die Drei- eckspunkte Watzmann und Rettenstein hatten sich zwischen 1903 und 1906 anscheinend um einige dm verschoben, es konnten tektonische oder meteorologisch-optische Vorgänge und Einflüsse vorliegen. Kleine Verschiebungen der obersten, steil einfallenden Gesteinsschichten des Berggipfels durch Erderschütterungen kamen als Ursache für eine Lageänderung des Hauptdreieckspunktes Watzmann in Frage, aber auch eine nur scheinbare Punktverschiebung infolge der sog. Seitenrefraktion, also Beobachtungsfehlerquellen. '") Die große Zunahme der Höhenabweichungen gerade an der Stelle, wo die Nivellementslinie in der Nähe von Laufen durch die genannte tektoni- sche Slörungslinie überquert wird, blieb auffällig; Refraktionsfehler waren hier nicht zu fürchten. Aber auf der gleichen Störungslinie sind damals weiter westlich, wo sie ein Nivellement zwischen Freilassing und Traunstein überquerte, keine Höhenänderungen nachzuweisen gewesen. Damit schien bestätigt, daß regionale Höhenstörungen fehlten. Schließlich ergab eine Verbindung be- nachbarter österreichischer mit den bayerischen Messungsergebnissen die Möglichkeit, daß die Höhenunterschiede zwischen Marktl und Freilassing von zufälligen Beobachtungsfehlern herrührten, so daß M.Schmidt selbst 1914 die 1908 festgelegte „vermeintliche" Höhenstörung bei Laufen als einen Beobachtungsfehler des im Jahre 1887 ausgeführ- ten Nivellements deutete.") Bestätigt schien dies in gewissem Sinne durch die Feststellung, daß in München 4 gemessene Punkte im Jahre 191 5 unveränderte Höhenlage gegenüber 1872 zeigten, während sich geringe Senkungen am Nordturm der F"rauenkirchc in München auf Kanalisations- ") M. Schmidt, a. a. O. S. 41, zit. v. Amnion. •) M. Schmidt, Untersuchung regionaler und lokaler Bodensenkungen im oberbayerischen Alpenvorland durch Feinnivellement. Sitzungsberichte der K. Bayer. Akad. der Wissensch. Math. -phys. Klasse. München 1914, S. 81 f., zit. Reis. '") M. Schmidt, Neuberechnung des Anschlusses der südbayerischen Dreieckskette an die österreichische Triangu- lierung bei Salzburg und scheinbare Verschiebung der Haupt- drcicckspunkte Watzmann und Rettenstein. Sitzungsber. Bayr. Akad. Wiss, Math. phys. Kl. München 1912, S. 191—208. ") Sitzungsberichte a. a. O. 1914, S. 71— go. arbeiten bzw. Rutschungen in einem schlamm- erfüllten alten Stadtgraben zurückführen ließen, auf dem die Kirche steht.'-) Die Ausdehnung der geodätischen Unter- suchungen während des Weltkrieges über das bayerische Alpenvorland zwischen Isar, Inn und Salzach bis zum Jahre 191 8 hat dann aber die vorgenannten Zweifel beseitigt und darüber hinaus zum Nachweis '^) umfangreicher (relativer) „neu- zeitlicher Bodensenkungen geführt, die offenbar tektonischerArt sind und sich östlich von München bis zur Salzach auf rund 100 km Längen- und 50 km Q u e r - ausdehnung erstrecken" (vgl. die Abbildung). Wenn man die Höhenlage der zuverlässigen Punkte, welche in geschlossener Schleife innerhalb der Stadt München gemessen wurden („Münchener Stadtschleife"), als ungeändert betrachtet — +0 der Abbildung — , so macht sich nach Osten hin eine Abnahme der Höhen bei den Punkten be- merkbar, welche früher und wiederholt neuerdings einnivelliert wurden. ,,Isokatabasen" verbinden in Abständen von je 10 mm Höhenunterschied die Punkte mit ungefähr gleicher relativer Senkung und lassen eine von SW nach NO absinkende Mulde erkennen, deren Südrand dem nördlichen Alpenrand annähernd parallel verläuft. Die Mulde hat deutlich „varistische" Richtung, entsprechend dem Donau-Abbruch nördlich von ihr. Auch an dem Sprung bei Laufen, der jetzt mit 82,8 mm die stärkste relative Absenkung zeigt, darf nicht mehr gezweifelt werden. Bei der regionalen Weite der Bewegungen kommen wohl nur tektonische Ursachen in Frage; Setzungen unverfestigter jüngerer Massen sind zwar nicht ausgeschlossen, werden aber kaum ein so großzügiges und einheitliches Bild hervor- rufen. Hinsichtlich der geologisch-tektonischen Grundlagen dieser Erscheinungen vermutet Reis' ') eine Beziehung zwischen der Muldenachse der rezenten Senkung und entweder Muldensenkungen des Untergrundes im oberbayrischen Oligozän- bereich oder, was etwas wahrscheinlicher sei, Be- wegungen an einer älteren Abbruchlinie, deren Senkungen sich durch das Oligozän und Miozän hindurch nach der Oberfläche fortgepflanzt hätten. Er weist auf Grenzlinien im Alpenbau hin, die ähnlich der gegenwärtigen Senkungsachsenlinie verlaufen. Da die jetzige Muldenachse etwa 20 km N von einer in den Obermiozänschichten des Inn- Salzachgebiets beobachteten Muldenlinie verläuft, hält Reis eine Bezugnahme zwischen diesen beiden nicht für statthaft; vielleicht hat sich aber die obermiozäne Senkung jetzt nur etwas nach N verschoben, sie wäre dann in das Gebiet der oligozänen Senkung gewissermaßen zurückgekehrt. '-) M.Schmidt, Senkungserscheinungen an der Frauen- kirche in München und Lageänderung von Hauptdreiecks- punkten in Südbayern. Sitzungsber. Bayr. Akad. Wissensch. Math. -phys. Kl. 191 5, S. 329 — 354. '^} M. Schmidt, Ergänzungsmessungen zum bayerischen Präzisionsnivellement, Heft 2. Verölfentl. Bayr. Komm. Internat. F.rdmessung 1919. N. F. XIX. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 2/5 Von den Einzelheiten dieser Grundlagen bleibt also noch manches aufzuklären, ebenso wie die großen Ursachen der Bewegungen. E. Kayser^^) faßt sie als Nachklänge alter tektonischer Senkungs- erscheinungen in der alpinen Geosynklinale auf und möchte sie (nach C. Regelmann) auf einen rezenten Tangentialdruck der Alpen auf die Tertiärmulde des nördlichen Alpenvor- landes zurückführen. Ich hatte seinerzeit mehrfach darzutun versucht, daß man das nörd- liche Alpenvorland als ein großes Schollenland aulfassen kann, welches etwa seit Beginn des Mesozoikums in bald stärkerer, bald schwächerer sinkender Bewegung und nur vorübergehend in lebhaften Streit der Meinungen geführt, wohl haupt- sächlich deshalb, weil ihre Grundlage, die Erd- kontraktion, vielfach angezweifelt und im allge- meinen ein gleichbleibender Meeresspiegel wie jetzt so auch in früheren Jahrmillionen angenom- men wird, obwohl auch für diese Anschauung keine positiven Beweise vorliegen. Die Mehrzahl der Geologen, Geographen und Geophysiker ar- beitet aber gegenwärtig lieber mit Isostasie, ab- soluten Hebungen und Senkungen, ganz flachen Aufwölbungen und Muldenbildungen; viele ver- werfen die Kontraktionslehre mehr oder weniger bis völlig. Ich habe diese F"ragen eifrig verfolgt, die Literatur darüber ist aber so ungeheuer an- Ka I k 1 0 n e. 10 5 0 Isokatabasen, nach Max Sehn 10 %0 äOKm idt, München. Tiefenzahlen in mm. Ruhe beharrt, im Gefolge der Erkaltung und Zu- sammenziehung der Erde. Als Voraussetzung da- für nahm ich ein meist sehr langsames, nur in Revolutionszeiten der Erde beschleunigtes eustati- sches Sinken des Meeresspiegels seit Urzeiten an, gleichfalls im Gefolge der Erdkontraktion. Die Senkung des Alpenvorlandes und die Aufpressung der Alpen stehen nach dieser Theorie in enger Beziehung zueinander, das süddeutsche Senkungs- gebiet würde danach im allgemeinen unter- schiebend auf das Alpenland gewirkt haben, dessen Falten oder Decken sich teilweise darüber weg schoben.^'') Meine Anschauungen haben zu einem ") E. Kayser, Lehrb. d. AUg. Geologie, I, igiS, S. 950 bis 953. '^) W. Kranz, Geologische Geschichte der weiteren Umgebung von Ulm a. D., Jahresh. Nat. Württ. 1905, S. 176 bis 203; Erwägungen über das nördliche Alpenvorland usw., ebenda 1906, S. 106^112; Hebungen oder Senkungen in Massengebirgen? Centralbl. f. Mineral., Geol. u. Paläontologie gewachsen, die Meinungen widersprechen sich großenteils so vollständig, daß es schwierig wenn nicht unmöglich sein dürfte, einen einigermaßen vollständigen Überblick darüber zu geben oder gar sich ein sicheres Urteil zu bilden. Für zwingend halte ich die Einwände gegen die Kon- traktionstheorie und alle darauf fußenden An- schauungen nicht, aber es muß zugegeben wer- den, daß man je nach der persönlichen Denk- 1907, S. 494 — 49S; Bemerkungen zur 7. Auflage der geolo- gischen Übersichtskarte von Württemberg, Baden, Elsaß usw., ebenda 1908, S. 617 f., 651 — 659; Weitere Bemerkungen zur geol. Übersichtskarte Südwestdeutschlands, ebenda 1910, S. 83 bis 90, 115 — 121; Erwiderung an Herrn C. Regelmann ebenda 191 1, S. 29 — 32; Über Vulkanismus und Tektonik, Neues Jahrbuch f. Min., Geol. u. Pal. Beil.-Bd. XXXI, 1911 S. 746 — 771 ; Über Zusammenschub und Senkungen in Horst gebirgen, Zentralbl. f. Min. usw. 1911, S. 264 — 26S, 352 — 356 382 — 387; Die Keilberger Randspalte, Geognostische Jahres üefte 1911, S. 259 — 262; Die Überschiebung bei Str.aubing, ebenda 1912, S. 229 — 235. 276 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 18 weise zu anderen Deutungen gelangen kann. Des- halb ist es vorläufig unsicher, die neuzeitlichen Bewegungen vor dem nördlichen Alpenrand als eine Fortsetzung uraller Senkungstendenz dieses ganzen Gebiets zu deuten, wiewohl ich das für möglich halte. Es ist ja vor allem auch un- bekannt, wann diese jetzigen Bewegungen be- gonnen haben, und noch unsicher, ob es sich überhaupt um absolute Senkungen — in bezug auf den heutigen minieren Meeresspiegel — handelt. Diesen Nachweis könnte nur der genaue, vollkommen sichere Anschluß des bayrischen Nivellements an langjährige Küstenpegelbeobach- tungen erbringen."') Herr Prof. M. Schmidt- München teilie mir kürzlich dazu mit, daß ihm „neuere, in den letzten Jahrzehnten ausgeführte Nivellementsverbindungen zwischen Küstenpunkien und Höhenpunkten des bayrischen Voralpengebiets, welche zum Nachweis a bsol u t er Senkungen in diesem Gebiet dienen könnten, nicht bekannt sind. Die zur Vergleichung der Mittelwasserhöhen von Ostsee, Nordsee, atlantischem Ozean und Mittel- meer im geodätischen Institut in Berlin ausge- führten Nivellementsausgleichungen sind schon im Jahre 1891 veröffentlicht. Auch die österreichi- schen Nivellements zwischen Triest und Salzburg sind größtenteils schon 40 Jahre alt". Es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch die „Münchener Stadtschleife" keineswegs an abso- luten Festpunkten gemessen wurde, obwohl sie im Vergleich mit dem weiter östlich gelegenen Gebiet unbeweglich erschien („i o" der Abb.). Wenn schon kaum anzunehmen ist, daß sich München gehoben hat, so muß doch bis zum Be- weise des Gegenteils wenigstens mit dieser Mög- lichkeit gerechnet und nur von relativen Senkungen östlich München gesprochen werden, zumal nach der (oben) kurz skizzierten Theorie das nördliche Alpenvorland von alters her labil sein könnte. Darauf weisen auch Massendefekte am Nordfuß der Alpen und Erdbeben im nördlichen Alpenvorland hin.'") Wichtig erscheint ferner ein Anschluß des bayrischen Nivellements an das schwäbisch-fränki- sche Stufenland der Alb und an die alten Massen des Schwarzwaldes und Böhmerwaldes, zur Fest- stellung, ob die alten Eckpfeiler der süddeutschen Tafel gegenwärtig auch in meßbarer Bewegung sind oder nicht, und wie sich das Zwischenland dazu verhält. Einwägungen auf einer Linie Böb- lingen— Bebenhausen — Lustnau in Württemberg in den Jahren 1902, 1907 und 1913 haben keine '") Ein Anschluß an das „Präzisions-Nivcllcment in der Österreichisch-Ungarischfn Monarchie" (II. Fubl. f. d. internal. Erdmessung, Astronom. -Geodät. Arbeiten des K. u. K. Militär- Geograph. Instit. Wien, Kd. Vlll, 1896J genügt dazu nicht, vgl. M. Schmidt, a. a. ü. 1914, S. Sg. Ebensowenig ge- nügt dazu ein Anschluß an die älteren, zu topographischen Zwecken ausgelührten Nivellements, vgl. Egerer, Feststellung von Veränderungen der Erdobertläche usw., Schwäbische Chronik Nr. 558 vom 29. November 1911. '■) C. Regelmann, Jahrcsh.Nat.Wurtt.i907, S. 169 ff., 173. — M. Haid, Die Schwerkraft im badischen Oberlande, Ber. Versamml. Oberrhein. Geol. Ver. Bd. 38, 1905, S. 19 — 24. — V. Sterneck, Die Schwerkraft in den Alpen, Mitteil. K. «. K. Mil.-Geogr. Inst. Wien XI u. XII, 1891 u. 1892. ■ beträchtlichen Höhenverschiebungen infolge des Nov'ember 191 1 beginnenden Erdbebenschwarms ergeben. Dagegen ist angedeutet, wenn auch nicht ganz erwiesen, daß sich die südliche Hälfte der Linie Böblingen^ — Lustnau zwischen 1907 und 191 3 um 1 — 1 '/.> cm relativ gesenkt hat, was auch dort langsame regionale Senkungen vermuten lassen könnte.'*) Nivellements der Linie Kniebis — He- chingen—Stockach in den Jahren 1905, 1909/10 und 1913 haben gleichfalls keine beträchtlichen Höhenänderungen infolge der süddeutschen, 191 1 beginnenden Erdbeben gezeigt; geringe Schwan- kungen von -)- 10,8 bis — 6 mm in bezug auf die Punkte Kniebis und Gammertingen könnten relative Hebungen und Senkungen andeuten, die sich vielleicht mit tektonischen Einzelzügen der Gegend (z. B. dem Freudenstädter Graben) bzw. mit Beschädigung von Festmarken erklären ließen, soweit die Messungsergebnisse frei von systemati- schen Fehlern sind, die sich der Kenntnis ent- ziehen.'"} Wenn R. Lais'") daraus und „aus rein geologischen Gründen" „für den Schwarz- wald eine Tendenz zum Emporsteigen" folgert, absolute Hebungen als wahrscheinlich und Be- ziehungen zwischen den Höhenabweichungen der Nivellements sowie dem Gebirgsbau annimmt, auch ,,wo die Tektonik jetzt noch nicht aufge- klärt ist", so geht das m. E. viel zu weit. Weist doch auch nach der angeblichen Erdbebenursache dieser noch unerwiesenen Höhenverschiebungen -") gerade das Epizentralgebiet des Erdbebens auf der Nivellementslinie zwischen Hechingen und Sigmaringen die geringsten Abweichungen auf, und der Schwarzwald selbst wurde durch das Erd- beben fast gar nicht beeinflußt. Lais' unerwiesene Annahme nur drehender Bewegungen der Erd- kruste '') im Epizentralgebiet kann das Fehlen von Höhenstörungen dort nicht ersetzen, soweit es sich darum handelt, ob absolute Höhenänderungen tatsächlich vorliegen oder nicht. Diese Frage bleibt dort vorläufig ungeklärt, abgesehen davon, daß drehende Bewegungen in jedem Einzelfall nachzuweisen bleiben, wie das z. B. kürzlich A. Tornquist beim Erdbeben von Rann a. d. Save (191 7) durchgeführt hat.'-') ") E. Hammer, Einwägung von Festpunkten an der Linie Böblingen — Lustnau, Jahresh. Nat. Württ. 1906, S. II3 — • 188; Zwei Wiederholungen der Einwägung (19021 von Fest- punkten an der Linie Böblingen — Lustnau, ausgeführt in den Jahren 1907 und 1913, Württ. Jahrbüchern f. Statistik u. Landes- kunde Jg. 1914, 11, Stuttgart 1915, S. 244 — 268. '"j Egerer, a.a.O. 1911. Egerer, Höhenänderungen infolge des süddeutschen Erdbebens vom 16. November 1911. Schwäbische Chronik Nr. 277 vom 18. Juni 1914. — Gegen- überstellung der Ergebnisse zweier, von der Trigonometrischen .\bleilung der Kgl. Preuß. Landesaufnahme auf der Linie Alexanderschanze — Stockach ausgeführten Nivellements; dazu Bemerkungen von K. Lais; Gerlands Beiträge zur Geophysik XIU, 1914, KI. Mitteilungen, S. 139 — 152. '">) Vgl. dazu Egerer, a. a. O. 1914. — F. Dobler, Wodurch werden die scheinbar beobachteten Bodenbewegun- gen im Dotn>telter Gebiet veranlaßt? Jahresh. Nat. Württ. 1914, S. 255 — 268. '-') Tornquist, Das Erdbeben von Rann a. d. Save vom 29. Jänner 1917, Ak. Wiss. Wien Math.-nat. Kl., Mitteil, d. Erdbeben-Komm. N. F. 52 Wien 1919, S. Uff. — Naturw. Wochenschr. 1919, S. 446 f. (F. E. Suess). N. F. XIX. Nr. 18 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 277 Einzelberichte. Zoologie. Falz-Feins Reservate in Taurien. Die Kunde von dem Tierparadies Askania nova in der taurischen Steppe nördlich der Halbinsel Krim ist schon zu manchem Zoologen und Tier- liebhaber gedrungen, während über die dortigen Reservate zur Erhaltung der Steppenflora erst viel weniger bekannt geworden ist. Über beides erhält man nähere Kenntnis durch den ,, Bericht über die Falz- Fein- Sitzung in der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Preußen, Berlin, am I. Februar 1919', in Band IV, Heft 3 der „Beiträge zur Naturdenkmatpflege", herausgegeben von H. Conwenlz (Berlin 19 19, Verlag von Gebrüder Borntraeger), mit Beiträgen von H. Conwentz, Friedrich v. Falz-Fein, Eng- ler, Seh weinfurth, Matschie, Heck, Hein rot h und Baumgartner. Seit 1890 besteht dicht bei Askania nova ein 70 Deßjätinen ') großer Tiergarten und eine 68 Deßjälinen große umzäunte Tiersteppe, und seit JVlitte der neunziger Jahre bestehen als Steppenschutzgebiete, in denen die Stfppe nicht gemäht und somit die Pflanzen- und Tier- welt in ihrer Ursprünglichkeit erhalten wird, in Askania nova westlich 160 Deßjätinen und östlich 500 Deßjätinen, nebst einem großen botanischen Garten von 60 Deßjätinen beim Herrenhause, der zum Teil als Steppenfläche belassen, größtenteils aber parkartig eingerichtet ist. Über die Ent- wicklung der Idee dieser Reservate sowie dieser selbst und über die Persönlichkeit des russischen Großgrundbesitzers Fr. Falz-Fein bringt am angegebenen Orte zunächst H. Conwentz nähere IVlitieilungen großenteils nach Eindrücken einer Reise, die dorthin führte. Von der Fahrt von Chorli, nördlich der Krim am Ufer des Schwarzen IVleeres gelegen, nach Askania nova mit flinken Pferden durch die gleichmäßig ebene Steppe sei erwähnt, daß der Anblick dieser Steppe nur hier und da unterbrochen wird durch vorgeschicht- liche, zum Teil noch uneröfifnete Grabhügel , die ursprünglich mit bearbeiteten Steinfiguren gekrönt waren, menschliche Figuren in groben Umrissen darstellend. Solche Steinfiguren sind von dort aus ostwärts nach Asien, nordwestwärts aber bis Altpreußen verbreitet '■^j und die Stadt Bartenstein in Ostpreußen leitet ihren Namen von dem „Bartel", einer noch vorhandenen bärtigen Stein- figur, ab. Wasser, Bäume, Sträucher und sonstige Steine fehlen jener Nogaischen Steppe zwischen Dnjepr und Asowschem Meer. Im Küstengebiet herrscht im allgemeinen die Artemisiasteppe wie auf der ganzen Krim, weiter im Innern die Stipa- steppe mit Siipa pennata, capillata, Lessingiana und zahlreichen schönblütigen Gewächsen. Erwähnt werden : Tulipa Gesneriana, Iris pumila. Amygda- lus nana, Euphorbia Gerardiana, Eryngium cam- ') I Defijätine = l'/n ha. ^) Weigel, Archiv für Anthropologie XXI, 1892. Er- wähnt nach Conwentz. pestre, E. planum, Trinia hispida, Statice tatarica, Salvia silvestris, Verba'^cum phoeniceum, Pyre- thrum achilleifolium. Paeonia fehlt. Beim Guts- haus Preobraschenka führen besondere IVlaschinen das Wasser aus der Tiefe empor, Kanäle durch- ziehen überall den großen Park. Askania nova, eine 18 18 zur Schafzucht angelegte deutsche Kolonie, wurde 1856 von der in der Nähe an- sässigen, aus Chemnitz stammenden Familie Fein angekauft und gelangte unter ihr zu hoher land- wirtschaftlicher Blüte. Der jetzige Besitzer dieser und arderer in der Nähe gelegener Güter, Frie- drich V. Falz-Fein, legte die Reservate an, wobei er für das Tierreservat Anregungen ver- wertete, die er namentlich in Paris den unausge- führt gebliebenen Plänen Albert Geoffroy St. Hilaires und dem Berliner Zoologischen Garten, unter Leitung Hecks stehend, entnahm. Artesische Brunnen und Kanäle bewässern den Tiergarten in der Steppe. Was die Gründe zur Anlage der Steppen- reservate betrifft, so fügt Falz- Fein noch hinzu, daß die Steppe sich durch fortschreitende Bearbeitung ständig verengte und durch ausgiebige Bewirtschaftung, Abweidung und Grasmähen aus dem früheren Gleichgewicht herausgebracht wurde. Der Gedanke des Pflanzen- und Tierschutzes kam hier erst später hinzu. An einer früher mit Wagen befahrenen, 5 Werst '^) breiten Strecke, die ur- sprünglich — in den achtziger Jahren — als Reservat ausersehen war, wollte sich der Gras- wuchs nicht wieder ersetzen. Daher wurden später an anderen Stellen, teils im Stipagebiet, teils in abflußloser, muldenförmiger, nach Nieder- schlägen sumpfiger und sumpfpflanzenreicher, zu anderer Zeit aber fast nur Triticum repens tragen- der Niederung die zwei Steppenreservate angelegt. Zu ihrer genauen botanischen Durchforschung hat es bis kurz vor dem Kriege an einem stän- digen Beobachter gefehlt. Der Krieg und die Revolution unterbrachen die Fortlührung der schließlich begonnenen Untersuchungen. Es wurde aber festgestellt, daß infolge des Schutzes der Steppenvegetation sich deren Zu- sammensetzung änderte. Viele Pflanzen siedelten sich in größerem Maße an, und die Pflanzen ge- deihen üppiger, da die abgestorbene Vegetation den Boden vor dem Austrocknen schützt. — Von der heimischen Tierwelt werden Hasen durch die Reservate stark angezogen, Rebhühner und der dort auf der Erde nistende Steppenadler nebst Feldlerche und Kalenderlerche stellen sich in Massen ein; Trappen und Zwergtrappen aber kümmern sich um die Reservate wenig. Der Steppenadler lebte einst von Zieseln, die jetzt fast vollständig ausgerottet sind; jetzt bilden Hasen seine Nahrung. Die Stipasteppe hat im Frühjahr durch die ') I Werst = i'/i5 km. 278 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 18 blühende Stipa pennata das Aussehen eines wogen- den Silberwassers. Im Herbst dominiert Stipa capillata, die auch im Winter der Steppe das Gepräge verleiht. Anderweitige Pflanzen, die erwähnt werden, sind Tulpen, Salvia, Adonis; diese hat Engler auch in der Artemisiasteppe bei Simferopol auf der Krim gesehen. Die Päonie fehlt in Askania nova, während sie in einem Reservat bei Elisabethfeld, 150 km nördlich Askania nova, zu Hause ist. Tulpen und Päonien scheinen sich auszuschließen. Die Steppenreservate sind rundherum von Steppe umgeben, die als Heuschlag dient, wäh- rend benachbartes Ackerland die Vegetation durch Staubbildung und Unkrautsamen beeinflussen würde. ^) Die Tierparke in Askania nova wurden angelegt wegen des Rückgangs an Steppenvögeln und an Wildpferden seit der in den achtziger Jahren begonnenen Bearbeitung und Beackerung der Steppe. Leider wurde das letzte Wildpferd schon 1876 getötet. Es handelt sich nicht um dieselbe Form wie das in Zentralasien noch vor- kommende Przewalskipferd, sondern um eine leich- tere Rasse, hochläufiger, kleinköpfiger, mäusegrau und nicht isabellfarben wie das Przewalskipferd, mit stärkerem Aalstrich , sehr ähnlich dem auf einer in Petersburg befindlichen szythtischen sil- bernen Vase dargestellten Pferd , welches dort von Szythen gebändigt wird, die in ihrer Kleidung an die bis in die letzte Zeit in den Steppen an- sässig gewesenen mongolischen Nogaier erinnern. -) Als tierische Bewohner des Tierparks erwähnt Conwentz in seinem Reisebericht Antilopen, Mufflons, Hirsche, Zebras, verschiedene Strauß- arten. Falz-P'ein berichtet eingehend über die Beschaffung von Wildpferden aus Asien. Nach mehreren Mißerfolgen — es wurden Wildfohlen gefangen, die von zahmen Stuten gesäugt wurden, nachdem sie mit den Häuten der getöteten zah- men Fohlen bedeckt waren — trafen im Herbst 1899 vier Stutenfohlen in Askania nova ein. 1900 folgte ein Hengst und 1903 und 1904 noch weitere 5 Stück, Stuten und Hengste von einer anderen, aus bergigeren Gegenden stammenden Varietät. 28 Stück wurden inzwischen im Jahre 1900 von Hagenbeck für den Tiergarten in Hamburg ange- kauft. Am ausführlichsten schildert Matschie in „Anlage b" das anziehende Tierleben in Askania nova. Man glaubt, in einem Märchenlande zu sein. Auf den ersten Blick sah Matschie zahl- reiche gelbe Kanarienvögel in voller Freiheit und ') Ich übergehe hier die anschließenden MiUeilungen Conwentz' und Falz-Feins über anderweitige Steppen- schutzgebiete in Rußland und in Deutschland (Westpreußen, Brandenburg, l'ommern, Posenj sowie Deutsch-Österreich. '•') Falz-Fein erwähnt, eine sehr gute Abbildung des ausgerotteten russischen Wildpferdes von Kretschmer finde sich in den älteren Ausgaben von Brehms Tierleben; in den neueren sei sie weggelassen. Es kann hier nur die in der neuesten Auflage tatsächlich fehlende Abbildung des Tarpan gemeint sein, die allerdings von Specht herrührt. einen Wiedehopf; alsdann : Zebras, Lamas, einen Steinbock, Altai-Hirsche und Rothirsche, zahl- reiche Elenantilopen, Nilgau -Antilopen, Gnus, Mähnenschafe, Mufflons, Känguruhs, Muntjaks, Gazellen, Pampashasen, Großtrappen, Jungfern- kraniche, Flamingos, Rosenkakadus, Sonnenvögel, Lachtauben, Schopftauben, Purpurhühner, Schopf- wachteln, prächtige P'asanen, Brachvögel, Kiebitze, .•\uer- und Birkhühner, Schwimmvögel der ver- schiedensten Arten und noch zahlreiche andere. Diese Angaben beziehen sich allerdings auf den Tiergarten, nicht auf das eigentliche Wildreservat, und die meisten der erwähnten Huftiere kamen ,,aus den Ställen"; die Vögel jedoch leben offen- bar vollständig frei im Gezweig oder an den Gewässern. Im Wildreservat begegnet man in- dessen Ähnlichem : außer verschiedenen Straußarten weiden dort, nach Arten getrennt, besonders zahl- reiche Hirsch- und Antilopenherden, anderwärts Rehe und Damhirsche, dazwischen wimmelt es von Fasanen und Zierenten , Nachtigallen und Sprossern nebst anderen Singvögeln und Bienen- fressern. Aufmerksamkeit verdienen Kreuzungen zwischen Wisent, Bison und Steppenrindern, über deren Gestalt und Arbeitsfähigkeit Falz -Fein Genaueres mitteilt. Im Frühjahr sieht man große Mengen von Springmäusen und Zieselmäusen, und Milliarden von Lerchen verdunkeln beinahe die Luft. Auf die Frage , wie es möglich gewesen sei, die Tiere an das Steppenreservat zu fesseln , er- widerte Falz -Fein, manchen Vögeln, nament- lich solchen, die zur Zucht verwendet werden sollen, werden die Flügel beschnitten. Die Nach- kommenschaft wird dann für gewöhnlich dort heimisch, selbst Zugvögel verzichten auf die Wanderung und verbleiben jahraus jahrein, höch- stens machen sie gelegentlich Ausflüge. Bei un- wirtlichem Wetter finden sie in zwei Vogelstuben Schutz. — Wie schon erwähnt wurde, ist die ca. 70 ha große „Tiersteppe" eingezäunt. Als sich jedoch verschiedene Tierarten stark vermehrt hatten, wurden Antilopen, Wildschafe, Hirsche, Zebras und Wildpferde auch außerhalb der Um- zäunung unter Obhut eines berittenen Hirten durchaus im Freien auf die Weide geführt. Heinroth bemerkt dazu noch, Askania nova sei das Helgoland der Steppe in bezug auf den Vogelzug: das Wasser und der Baumbestand ziehen die Vögel an, so daß sie zu Tausenden in das Pflanzengewirr einfallen. Ringversuche ergaben, daß der Zug dort nicht so rein westlicli ist wie bei uns, sondern zum Teil genau nord- südlich. F a 1 z - F e i n ist während des Krieges, trotz Anfeindungen, die er als Russe deutscher Ab- stammung erfuhr, auf seinen Gütern verblieben, bis ihm dies nach Ausbruch der Revolution un- möglich wurde. Askania nova wurde unter der Bolschewistenherrschaft nicht der Aufteilung unter- worfen, sondern enteignet und zum Nationalgut erklärt. Der frühere Besitzer, vollständig ausge- N. F. XIX. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 279 schaltet, hörte auf, das Gut mit Mitteln zu ver- sehen, es folgten Zwistigkeiten zwischen den Arbeitern und Beamten, Räuberbanden fielen über das Gut her. Da kamen in einer Nacht die Deutschen als Erretter. Unter dem Schutz des deutschen Militärs herrschten geordnete Verhält- nisse. Nach dem Abzug der Deutschen kamen wie- der trübe Verhältnisse. F. Baumgartner konnte unter dem 20. Oktober 1918 noch mit- teilen, daß Askania bis dahin bis auf den Verlust von Pferden und Gerät und manche Lücke im Tierpark glimpflich davongekommen sei. Was aber weiterhin geworden sein mag, ist unbekannt, und das Schlimmste ist zu befürchten. V. Franz (Jena). Verbreitung der Tuberkulose unter den Tieren. Die Zahl der tuberkulösen Rinder ist in Deutschland seit dem Jahre 1904 dauernd gewachsen. Am häufigsten ist sie verbreitet, wie Dr. Seifert, Etzdorf (Sachsen), nach seinen statistischen Untersuchungen in der Tierärztlichen Rundschau ausführt, in Sachsen, Sachsen - Alten- burg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg -Strelitz. In Sachsen hat die Seuche während des Krieges etwas abgenommen, weil infolge starker Inanspruchnahme durch die Viehablieferungen die tuberkulösen Tiere nach Möglichkeit abgestoßen wurden. In den Kultur- staaten der Erde ist die Tuberkulose unter den Rindern ziemlich häufig in Schweden, Dänemark, Deutschland, der Schweiz, F"rankreich, Belgien, England und den Niederlanden. Frei dagegen von Tuberkulose sind die Rinder in den Polar- gegenden, die Steppenrinder und das Inselvieh. Das Vorkommen der Tuberkulose unter den Rindern steht im engen Zusammenhang mit der Entwicklung eines intensiven Wirtschaftsbetriebes und der Aufgabe der naturgemäßen Lebensweise der Rinder, weil dadurch die Infektionsmöglich- keit wächst. Nach der Tuberkulose des Rindes ist die des Schweines wegen ihres verhältnis- mäßig häufigen Vorkommens von größerer wirt- schaftlicher Bedeutung. Sie hängt innig mit der des Rindes zusammen, weil das tuberkulöse Rind die wichtigste Quelle der Infektionsmöglichkeit für das Schwein darstellt. In Deutschland ist sie am häufigsten vorhanden in Sachsen, Prov. Sachsen, Braunschweig, in Sachsen-Altenburg und Mecklen- burg. Die Verbreitung der Tuberkulose bei Schaf, Ziege, Pferd und Esel steht weit hinter der von Rind und Schwein zurück. Bei den kleinen Haustieren ist sie ebenfalls ziemlich selten, noch am häufigsten bei der Katze. Fast nicht vorhanden ist die Tuberkulose — und diese erneute Feststellung Seiferts ist besonders inter- essant — bei den auf freier Wildbahn lebenden Säugetieren. In der Gefangenschaft dagegen kann sie bei den verschiedensten Arten auftreten. An der Spitze steht hier die Tuberkulose bei den Affen, ferner findet man noch öfter Tuberkulose bei den Raub-, Huf- und Nagetieren, bei den übrigen Ordnungen liegen nur Einzelfälle vor. Unter dem Geflügel ist die Tuberkulose ziem- lich stark verbreitet. Von dem Hausgeflügel wer- den die Hühnervögel öfter mit Tuberkulose behaftet gefunden als die Wasservögel Gans und Ente, oft genug ist epidemisches Auftreten be- obachtet worden. In zoologischen Gärten erkran- ken vor allem die Papageien, Hühner- und Raubvögel, weniger häufig die Sing- und Wasservögel an Tuberkulose. Bei den übrigen Wirbeltieren ist noch Tuberkulose zur Beobachtung gelangt bei Schlangen, Schildkröten, Fröschen und Fischen. Im Vergleich zur Verbreitung der Tuberkulose unter den Haus- tieren ist freilich in allen diesen Ordnungen das Auftreten der Seuche ein recht geringes. Die Unmöglichkeit einer völlig naturgemäßen Lebens- weise im Verein mit der Anspannung aller Kräfte zum Zwecke der höchsten wirtschaftlichen Aus- nutzung hat hier eine Schwäche des Tierorganis- mus bewirkt, die eine große Empfänglichkeit für die Tuberkuloseinjektion im Gefolge hat. H. W. Frickhinger. Zur Phylogenie der Korallen oder Anthozoen. (Mit 3 Abbildungen im Text.) Die Anthozoa oder Korallentiere werden bekanntlich einge- teilt in die Tetracorallia, Hexacorallia und Octo- corallia, unter denen die erstgenannten nur aus dem Paläozoikum bekannt sind. Und es dürfte allgemein bekannt sein, daß diese vier- strahlig erscheinenden ausgestorbenen Tetracorallia oder „Rugosa" sich durch ihre Embryonalentwick- lung als mit den lebenden mehrstrahligen Hexa- corallia verwandt erweisen, worüber eine bekannte schematische Abbildung von Carruther Auf- schluß gibt (Abb. i). Vom Habitus der Rugosen Abb. 1. Entstehung der Septen bei den Rugosen. I, 2, 3 Primärsepten, a, b, c Sekundärsepten. h Haupt- septum, g Gegenseptum, s Seitensepten. Nach Carruther. sei noch erwähnt, daß sie stets einzeln lebten und oft kegelig-becherförmig, noch öfter zugleich horn- förmig gekrümmt erscheinen, so daß man eine konvexe „Dorsal"- und eine konkave „Ventral- seite" unterscheiden kann, siehe z. B. Abb. 2. Unsere Kenntnisse über die Verwandtschafts- beziehungen zwischen ihnen und den lebenden 28o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i8 Hexakorallen sowie Oktokorallen erscheinen be- deutend vertieft nach einer Arbeit von Gerth.^) Abb. 2. Folycoelia pro- funda Germ. Zechstein Gera. Nat. Gr. Nach R o e m e r. Abb. 3. Calceola salindana Lam. Devon. Gerolstein. Eifel. Nat. Größe. Wie nach Abb. i die ersten kalkigen S e p - ten der Tetracorallia, so treten bei den Hexacorallia auch die ersten weichen „Mesen- terien" nicht zyklisch an mehreren Stellen zu- gleich, sondern paarweise nacheinander auf, wodurch von vornherein eine sich später mehr verwischende Bilaterie bemerkbar wird. Dabei kommt übrigens vorübergehend ein achtzähliges Stadium zustande, das bei manchen Formen durch nur schwache Entwicklung der beiden folgenden Mesenterienpaäre dauernd festgehalten wird und hierdurch eine Verwandtschaft auch mit den zeit- lebens achtzählig bleibenden Oktokorallen oder Alcyonarien verrät. Meist treten bei den Hexakorallen aber nacheinander zwölf Mesen- terien auf, deren Muskelfahnen durch ihre Lage wieder die besagte Bilaterie verdeutlichen. Als- dann entsteht zwischen je zwei Mesenterien ein kalkiges Septum, und diese Septen entstehen zyklisch, d. h. alle zugleich. Die weiteren weichen Mesenterien entstehen alsdann in der Regel gleich- falls zyklisch. Das Nacheinanderauftreten der ersten Mesen- terien bei den Hexakorallen und die Sechszählig- keit ihrer Septen, die allerdings zyklisch auftreten, sind also ursprüngliche Merkmale der Hexakorallen, und der Erklärung bedarf nur noch, daß bei den Tetrakorallen die weiteren oder Metasepten nur in vier von den sechs Interseptalräumen entstehen. Dies beruht nun nach Yakowlew (1910) auf der Art des Anwachsens der paläozoi- schen Korallen: sie sind seitlich von der Spitze angeheftet, während die rezenten Formen in der Regel mit der Spitze aufgewachsen sind, die sogar breit, fußartig abgeplattet zu sein pflegt. Besaß die Larve — fügt Gerth hinzu — bei den paläozoischen Formen an ihrem aboralen ') H. Gerth, Über die Entwicklung des Septalapparates bei den paläozoischen Rugosen und bei lebenden Korallen. Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre, Band 21, Heft 4, 1919, S. aoi — 215. Ende bereits eine kleine becherförmige Protothek, wie Bernard 1904 einen solchen ursprünglichen Epithekbecher auch an der lebenden Gattung Alveopara fand, so konnte sie nur schwer die Anheftung gerade mit der Spitze bewirken, „son- dern leichter und fester wird sie an einer der Seitenflächen des Protothekbechers erfolgen". Während bei den meisten lebenden Formen die Larve sich mit dem aboralen Ende festsetzt, dieses sich zur Fußscheibe verbreitert und zwischen ihr und der Unterlage sich das zyklisch-hexamere Skelett bildet, wurde, wie Verf. meint, bei den Tetrakorallen nach Entstehung der zwölf Primär- septen in dem seitlich angehefteten Protothek- becher die Wand des Bechers infolge der Anhef- tung abgeplattet, statt des runden Querschnitts trat ein halbkreisförmiger auf, mit abgeplatteter Dorsal- und runder Ventralseite, was, obwohl auf eine winzig kleine Anheftungsstelle beschränkt, die Einschaltung von Septen in nur vier Interseptal- räumen hervorgerufen habe. Bei Halophragma und Calceola (Abb. 3) bleibt die Dorsalseite, auch wenn sie der Unterlage nicht mehr angeheftet ist, abgeplattet. Auch bei gewissen lebenden Hexakorallen kann es zur Einschaltung neuer Metasepten statt zyklisch nur an bestimmter Stelle und zwar ventral kommen; dies führt bei Madrepora und Porites zur Teilung des Schlundrohrs in der Me- dianebene. Das wäre ein gewisses Analogon zu der Eigentümlichkeit der paläozoischen Formen. Ähnliches kehrt an den späteren Mesenterien einiger skelettloser Hexaktinien (Seerosen), und zwar bei Zoanthiden und Cerianthiden, wieder, die vielleicht zum Teil Nachkommen skelettlos gewordener Tetrakorallen sind. Die fiederförmige Anlage der Septen ist auch bei den Tetrakorallen nur eine vorübergehende Erscheinung. Die Ektosepten treten zyklisch in allen Interseptalräumen auf. Bei den Cyatho- phylliden, der größten Familie, ist Fiederförmig- keit auf die allerersten Entwicklungsstadien be- schränkt; unter den späteren, zyklisch gebildeten Septen wechselt immer ein größeres mit einem kleineren, jüngeren ab. Solche Differenzierung erreichen auch die jüngeren paläozoischen Korallen mit dauernd fiederförmiger Anordnung auf ver- schiedene Weise, wobei auch Unregelmäßigkeiten auftreten. Die Bedeutung der Septalgrube oder -furche, einer meist das dorsale Medianseptum aufnehmenden Furche im Kelchboden der Tetra- korallen, sucht Verf. darin, dem Wimperepilhel- band am Mesenterienrande — welches bei den rezenten Oktokorallen vorhanden ist — größere Bewegungsfreiheit zu geben. Da auch bei Hexa- korallen das dorsale Mesenterienpaar gelegent- lich abweichend ausgebildet ist, scheint in der Septalgrube wiederum ein die Verwandtschaft der drei Ordnungen bezeugendes Moment zu liegen. Wir müssen noch erwähnen, daß Gerth mit N. F. XIX. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. seiner vorstehend referierten Arbeit zugleich der kühnen Hypothese Jaek eis entgegentritt, die die Anthozoen von metamer gegliederten Tierformen ableitet (die beiden Enden der Pianulalarve der Anthozoen sollen sich beim Festheften U-förmig aufbiegen und aus der Verschmelzung ihres ovalen und aboralen Poles soll das Schlundrohr entstanden sein). Auch sei noch erwähnt, daß außer der viel- leicht sogar etwas gekünstelt erscheinenden ent- wicklungsmechanischen Erklärung der Vierteilig- keit der Tetracorallia hier ähnliche biologische Erwägungen Raum finden, wie sie Stechow für die Bilaterie von Branchiocerianthus anstellte: er- leichtertes Abfließen des Leichen- und Detritus- regens. Sicher sind obige Betrachtungen sehr wertvoll, so unerklärt auch die primäre bilaterale Symmetrie der gesamten Anthozoen noch bleibt. Prof. V. Franz (Jena). Anthropologie. Die Anthropologie der Phi- lippinen-Inseln behandelt L. R. Sullivan im I. Teil des 3. Bandes der „Anthropological Papers of the American Museum of Natural History" (New York 1919)- Er geht dovon aus, daß über- all in Indonesien in anthropologischer Beziehung eine gewisse Schichtung der Bevölkerung zu be- obachten ist. Im Innern der verschiedenen Inseln leben sog. Wildenstämme, die allseitig von Völker- schaften mit höherer Kultur umgeben werden. Dazu kommt noch auf manchen Inseln in den entlegensten Berggegenden ein kleinwüchsiger oder ausgesprochen zwerghafter Menschenschlag, der auf den Philippinen als Negritorasse bezeichnet wird. Die Nigrito sind die ältesten nachweis- baren Bewohner der Philippinen; aber anderwärts in Ostasien hat ein den indischen Drawida ver- wandter Rassentypus (Sakai, Senoi, Taola, Weda) als älteste Bevölkerung zu gelten. Von den Ne- grito abgesehen, unterscheidet Sullivan unter den Eingeborenen der Philippinen zwei Rassen- typen: Einen indonesischen und einen malayischen Typus. Als wichtigste Kennzeichen beider wer- den auf Grund einer Sichtung alles vorhandenen Materials folgende angeführt: Indonesischer Malayischer Typus ,, .. ... Durchschnittt , Korperlange 156 cm 160 cm TT straff od. wellig, . „ , Haare ■ j u sttan, schwarz schwarz od. brauQ Längenbreitenverhältnis des Kopfes meist unter 82 81 u. darüber ., 1 u • verhältnismäßig Nase kurz breii , , " schmal Längenbreitenverhältnis der Nase über S7 unter 88 Die Mongolenfalte am Auge, die Hautfalte, welche die Tränenkarunkel verdeckt, ist bei dem malayischen Typus häufig, bei dem indonesischen aber selten. Im allgemeinen überwiegt bei den kulturarmen Inlandsiämmen der indonesische, bei den Stämmen mit verhältnismäßig reicher Kultur der malayische Typus. Es ist nicht daran zu denken, daß der indonesische Typus etwa ein Kreuzungsprodukt von Malayen und Negrito sei, weil nach dem jetzigen Stande der Vererbungs- forschung die Kreuzung zweier Rassen keine ein- heitliche konstante Zwischenform ergeben kann. H. Fehlinger. Geographie. Die Landesnatur des patagoni- schen Kordülerengebietes und die Möglichkeiten seiner Besiedlung behandelt Hans Steffen in dem Werke „Westpatagonien". (Zwei Bände, Berlin 1919, Dietrich Reimer.) Die natürliche Landschaft Westpatagonien umfaßt die Kordiller-en südlich von der deutlich ausgeprägten Tiefenlinie, welche von Llanquihue-, Todos los Santos- und Nahuelhuapi-See gebildet wird. Im Osten schließt die patagonische Steppentafel an. Im schärfsten Gegensatz zu der ermüdenden Gleichmäßigkeit dieses Tafellandes herrscht in Westpatagonien die reichste Abwechslung in der Oberflächengestaltung. Die Gebirgszüge, von denen viele typischen Mit- telgebirgscharakter tragen, andere aber auch rein ,, alpine" Formen zeigen, werden von zahlreichen, in den westlichen Teilen unter den Meeresspiegel getauchten, auf dem Festlande von Fluß und Seeiälern eingenommenen Senken durchschnitten und umrandet. Diese Zerstückelung des Gebirgs- ganzen durch kreuz und quer ziehende tiefe Tal- furchen ergibt sich bei näherer Betrachtung als einer gewissen Regelmäßigkeit unterworfen, inso- fern in den vorherrschenden Richtungen der Haupt- talzüge — sowohl der unter- als der übermeeri- schen — ein sehr bemerkenswerter Parallelismus zutage tritt. So wird für das ganze Gebiet eine Art rost- oder gitterförmigen Baues bedingt; es erscheint in eine Reihe von Gebirgsblöcken zwi- schen ungefähr rechtwinklig aufeinandertrefi"enden Tallinien zerlegt, von denen die meisten den hauptsächlich in NW— SO und ONO— WSW ver- laufenden Durchgangstälern angehören, während andere, die besonders am westlichen und östlichen Rande hervortreten, der allgemeinen Längsachse des Gebirgssystems entsprechend aufweite Strecken im meridionaler Richtung verfolgt werden können. Ohne den dichten Mantel der Vegetation, der die Täler und Bergflanken einhüllt, würde man es hiernach mit einen leicht zugänglichen und an vielen Stellen mühelos zu durchquerenden Gebirgs- lande zu tun haben. Von Westen nach Osten ist deutlich die eigentliche Kordilleren Zone von der Übergangs- zone zur Steppenregion zu unterscheiden. Im Be- reiche der Kordilleren-Zone erheben sich die Berg- hänge meist in schroffen Abstufungen aus dem Meere oder den Talböden, überall sieht man, dem trogförmigen Charakter der Täler entsprechend, jähe Abstürze, steile Wände, an denen zuweilen kaum die Vegetation Wurzel fassen kann. Die Niederschläge sind sehr ausgiebig, sie betragen Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i8 vielfach über 3 m im Jahr. Der immergrüne Laubwald beherrscht durchaus die Physiognomie der Landschaft, wenn es auch nicht ganz richtig ist, wie es zuweilen heißt, daß derselbe alle Ge- ländeformen vom Meeresniveau bis an den ewigen Schnee überzieht. Abgesehen von den immerhin beschränkten P'lächen, die der Mensch durch Axt oder Feuer der Waldbedeckung entzogen hat, gibt es in den Tälern ausgedehnte Strecken, auf denen der Wald durch Sumpfmoore und Wiesen ver- drängt wird ; am Meeresstrande und an den Fluß- rändern ziehen sich vielfach waldfreie, freilich meist nur schmale Ufersäume entlang. Ebenes Land, das für den Ackerbau in Betracht kommen könnte, findet sich nur an vereinzelten Strecken der Kontinentalküsten und im Mündungsgebiet der Hauptströme ; auch erlaubt das kühlfeuchte Klima nur eine beschränkte Zahl von Feldfrüchten in größerem Maßstabe zu ziehen. Die Hauptbe schäftigung der Siedler in der westlichen Längs zone unseres Gebietes ist Waldarbeit. Sie um faßt die Rodung des Urwaldes um Raum für Ge höfte und Felder zu schaffen, sowie die Gewin nung der Nutzhölzer in den benachbarten Wäldern Von großer wirtschaftlicher Bedeutung ist der Reichtum der Küstengewässer an Fischen und eß baren Muscheltieren (Mariscos). Sehr häufig sieh man in den kleinen Buchten am Strande die pri mitiven Fischerhütten und Fangzäune (Corrales oder man trifft kleine Gesellschaften von Chiloten die sich der Arbeit des Muschelsammelns widmen Von den Inseln an der patagonischen West küste ist bloß Chiloe besiedlungsfähig. Die süd- lich anschließenden Chonoslnseln sind durch das I'^ehlen von Strandebenen und überhaupt ebenem Niederland ausgezeichnet. Steil erheben sich überall die Uferfelsen aus großen Meerestiefen, auch Sand- und Schlammbänke sind in den Kanälen fast ganz unbekannt. Dagegen bedrohen den Schiffer untermeerische Felsriffe, die freilich meist durch das ihnen angewachsene Sargasso- kraut gekennzeichnet werden. Östlich einer Grenzlinie, die im einzelnen na- türlich einen sehr gewundenen Verlauf nimmt, je nachdem sie über Gebirge, Täler, Seen, Flüsse usw. hinzieht, liegt die subandine oder Über- gangsregion, die auf einen in W — ORichtung selten mehr als 25 km breiten Landstreifen be- schränkt ist. In der Oberflächengestalt dieser langen Strecke macht sich vielfach eine ausge- sprochene Längstalbildung geltend, doch ist in manchen Breitenlagen (44" — 4;") die Längstal- bildung ganz verwischt, und ost-westlich gerichtete Becken treten an ihre Stelle. In diesem suban- dinen Gebiet wurden jährliche Niederschlagshöhen von kaum 400 bis nahezu i lOO mm aufgezeichnet; mindestens in den nördlichen Stationen ist ein winterliches Maximum deutlich erkennbar. Die leniperaturunterschiede sind erheblich größer als in der küstennahen (jebirgsregion und an die Stelle der immergrünen Laubholzarten treten blattwerfende Arten ; daneben tritt im Norden Libocedrus chilensis waldbildend auf. Das Unter- holz wird lichter, so daß die Wälder ein park- artiges Aussehen bekommen und breite Flächen Grasland schieben sich zwischen sie ein. Steffen ist der Ansicht, daß diese subandine Region für das Eindringen der menschlichen Kultur günstige Bedingungen bietet, daß hier eine verhältnismäßig starke Besiedlung möglich ist, besonders im Ge- biet des Nahuelhuapi-Sees im Norden sowie in den Tälern der Flüsse Futaleufu und Carrenleufu, ebenso wie im äußersten Süden, wo es an der Magellanstraße sehr gute Weideländereien gibt. Der Ackerbau ist selbst in den Flußiälern des nördlichen Westpatagonien nur in ganz beschränk- tem Umfange möglich; an den Zuflüssen des Rio Cisnes und Rio Aisen im mittleren Westpatagonien kommt er kaum mehr in Betracht. Beispielsweise in bezug auf das Tal des Coihaikeflusses, eines Zuflusses des Aisen, sagt Steffen, daß zwar die Weideverhältnisse sehr günstig sind, besonders in den oberen Talabschnitten, wo die Terrassen der Gehänge und teilweise auch die Niederungen weit und breit von vorzüglichem Futtergras be- deckt sind. Aber der Winterschnee beeinträch- tigt die Brauchbarkeit des Tales für landwirt- schaftliche Zwecke erheblich. Die Durchfeuchtung des meist weichen Bodens durch Regen und Schnee ist sowohl auf den offenen Pampaflächen wie im Buchenwald ganz außerordentlich und bringt auf geneigten Halden ein breiartiges Zerfließen des Bodens und in den kleinen Senken und Mulden Morast- und Sumpfbildungen hervor, die das Gelände monatelang unpassierbar machen. Den Übergang der subandinen Region zur Hochfläche der Pampas bezeichnet im allgemeinen das Aufhören des Waldwuchses. Z. B. im oberen Cisnertal liegen an der Grenze beider Regionen im Talgrunde Wäldchen von Nothofagus antarctica inselförmig inmitten weiter Grasflächen und sumpfiger Wiesen (Nadis). Die letzteren, die sich oft kilometerweit in den flachen Bodenmulden ausdehnen, bilden einen wesentlichen Bestandteil des Landschaftsbildes. Meist liegen sie abseits vom P'luß, nach dem Rande des Tales zu, durch niedrige, vom Eis der Glazialzeit gerundbuckelte Felshöcker und kurze Rücken gegen die übrige Talfläche abgegrenzt. Ihre Ränder, ebenso wie die Ufer der kleinen Wasserrisse, die den Boden durchkreuzen, werden gewöhnlich von einer zu unentwirrbaren Dickichten verwobenen Busch- vegetation von niedrigen Buchengestrüpp (Noth. antarctica), Dornsträuchern usw. eingefaßt. Im übrigen wird das Tal von festem Pampaboden mit kleinen Flußgeröllen eingenommen, der von Festuca- und Mulinumgräsern bestanden ist; hin und wieder erscheinen auch weiche lehmigtonige Strecken, seltener reiner Sandboden. Steigt man an den Berglehnen höher hinan, so triftt man stellenweise in etwa 800 Meter Meereshöhe noch ziemlich ausgedehnte Hochwaldgürtel, und zwar dem deutschen offenen Buchenwald ähnliche Be- stände. Diese obere, leicht zu passierende, mit N. F. XIX. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. ^83 vielen kleinen Waldwiesen geschmückte Buchen- zoiie ist der Lieblingsaufeiithalt der Huemule (Gabelhirsche). Wo die ostpatagonische Steppentafel beginnt, sind nur noch am Rande der kleinen oft im Ge- röll versiegenden Rinnsale noch Gebüsche von zwerghaftem Nothofagus antarctica und dornige Sträucher zu finden. Man hat Mühe, sagt Steffen, das nötige Brennholz für ein Lager aufzutreiben. Selten verirrt sich ein Huemul bis in diese stei- nigen Flächen hinaus, dagegen erscheinen wie mit einem Schlage Charaktertiere der patagonischen Pampa, Guanakos und Strauße; auch kreuzt man gelegentlich die in dem harten Pampaboden oft nur schwach ausgeprägten Fährten einheimischer Jäger und trifft alte Lagerplätze mit Strecken ver- brannten Pampagrases. Überall auf der Steppentafel herrscht die größte Eintönigkeit in den Geländeformen wie in der Vegetation und im Tierleben; doch die Luft ist trocken und von einer Klarheit und Durchsichtig- keit, die den aus dem düsteren Regenwald des westlichen Hochgebirges kommenden Wanderer immer aufs neue entzückt. Wer sich die patago- nische Pampa als ein wogendes grünes Grasmeer vorstellt, würde in der Wirklichkeit eine arge Enttäuschung erleben; alles ist wie in einen gelben und gelb-grauen Mantel gehüllt, nur die Flecken, wo etwas Wasser im Grunde fließt, und die ver- sumpften kleinen Niederungen (Mallines, Banados) machen sich schon von weitem durch ihre dunk- lere grüne Färbung bemerkbar. Zuweilen glaubt man in weiter Ferne die blaue Fläche eines großen Sees zu erkennen, gewöhnlich aber han- delt es sich dabei um Fata morgana-Erscheinungen, die den Unkundigen, der ihnen nachgehen wollte, in die offene Steppe hinauslocken würden. Stef- fens prächtige Schilderungen werden jedem Freunde der geographischen Wissenschaft will- kommen sein. H. Fehlinger. Geologie. In Nr. 44 der „Braunkohle" 1920 (Verlag von Wilhelm Knapp in Halle a. S.) ist ein Aufsatz von Berginspektor T h. T e u m e r über „Die Bildung der Braunkohlenflöze im Senften- berger Revier" erschienen, dessen Inhalt ich im folgenden wiedergeben möchte. Ich erlaube mir dabei die Freiheit, die Gedanken dieser Arbeit in etwas verallgemeinerter Form darzustellen, um dadurch ihren Wert zu beleuchten. Zunächst sind die Schwierigkeiten und die scharfe Stellung des Problems einmal in das rechte Licht gerückt. Die älteren Theorien über die Entstehung der Braun- und Steinkohle gefielen sich nur allzusehr darin, immer wieder zu betonen, daß zur Braun- und Steinkohlenzeit eine gewaltige Produktion von Pflanzenmaterial stattfand. Man redete zu gern von dem üppigen Pflanzenwuchs jener Perioden der Erdgeschichte und spürte den Ur- sachen nach, die ihn veranlassen könnten. Hier- bei vergaß man ganz und gar, daß hier nicht der Kernpunkt der F"rage lag. Erst in neuerer Zeit wies man nachdrücklich darauf hin, daß es mit der Produktion gewaltiger I'flanzenmassen nicht gemacht sei, sondern daß die Frage vielmehr darauf hinauslaufe, wie es möglich war, daß diese Massen vor Verwesung und Vermoderung ge- schützt wurden und durch einen Vertorfungsprozeß erhalten blieben. Diejenige Stätte, wo in der Gegenwart die bedeutendsten Pflanzenmassen erzeugt werden, ist unstreitig der tropische Regenwald, der überall dort in der heißen Zone das Pflanzenkleid der Erde bildet, wo tropisches Klima herrscht, dessen wesentliche Eigenschaften dauernde große Feuchtig- keit und bedeutende Wärmegrade sind. So ge- waltig nun aber auch die Pflanzenmasse ist, die dort Jahr für Jahr erzeugt wird, so lebhaft sind die Kräfte bei der Arbeit, die sie wieder zerstören. Der für die Tropen in dieser Hinsicht charakte- ristische Zersetzungsvorgang ist die Verwesung, die unter Mitwirkung von Organismen zu einer Pflanzensubstanzzerstörung führt, bei der keine festen Zersetzungsprodukte in bedeutenderer An- häufung übrigbleiben. Dieses Beispiel zeigt so recht, wie es gar nicht darauf ankommt, ob viel l'flanzenmaterial erzeugt wird, sondern darauf, ob Bedingungen vorhanden sind, die eine Erhaltung der Pflanzensubstanz in bedeutenderem Umfange gewährleisten. Auch der Wald der gemäßigten Zonen ist zwar ein guter Produzent von Pflanzensubstanz, aber auch hier fällt die Hauptmasse der Zerstörung anheim. Hier findet ein Vermoderungsprozeß statt, bei dem allerdings festes Material übrigbleibt. Es kann hier im Laufe sehr langer Zeit zur Bildung einer wenig mächtigen Humusschicht kommen, eine bedeutende Anhäufung von toter Pflanzen- substanz ist aber auch hier völlig ausgeschlossen. Wir kennen alle diese schwarze Humus- oder Moder- schicht, die wir meist als Waldboden, Humus- boden oder Muttererde bezeichnen, dem der Boden ein gut Teil seiner Fruchtbarkeit verdankt. Man hat diesen Humus früher für die eigentliche Nahrung der Pflanzen gehalten. Wenn auch dieser Humus eine starke Anreicherung an toter Pflanzensubstanz zeigt, so ist er doch keine dem Torf und den braunkohlenartigen Bildungen gleichwertige Masse. Im getrockneten Zustand ist er eine bröckelige, erdige Substanz, deren Eigenschaften von denen der anderen kohleartigen Bildungen erheblich ab- weichen. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Trockentorf, der sich auf schlecht durchlüfteten! Boden in Gegenden mit großer Luftfeuchtigkeit bildet. Die einzigen Stätten, die einen Vortorfungs- prozeß der abgestorbenen Pflanzensubstanz mög- lich machen, sind die Wiesen- und Hochmoore. Hier wächst die Pflanzenmasse teilweise im Wasser und die tote Substanz ertrinkt gleichsam ständig, um dann vor Verwesung und Vermoderung ge- schützt, unter Wasser einen Vertorfungsprozeß Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. i8 durchzumachen. Erlensumpfwälder und Sumpf- zypressenwälder führen dagegen in der Gegenwart zu keinen nennenswerten Anhäufungen von Pflan- zensubstanz. Nachdem man einmal erkannt hatte, daß Anthrazitkohle, Steinkohle, Braunkohle und Torf in gewissem Sinne verwandte Bildungen sind, konnte der einzig gangbare Weg, der zu einem Einblick in die Entstehung der Stein- und Braun- kohle führt, nur der sein, daß man die Bedingungen des Vertorfungsprozesses, der sich noch heute vor unseren Augen abspielt, genau studiert. IVlan ge- langte auf diesem Wege zu mancher begründeteren Einsicht über Dinge, die früher oft Gegenstand erbitterter Meinungskämpfe gewesen waren. So verlockend aber dieses Verfahren auf den ersten Blick erscheinen mag, so ist doch bei dem end- gültigen Vergleich der geologischen Vorgänge von Gegenwart und Vergangenheit stets äußerst kritische Vorsicht geboten. Durch unpassende Vergleiche der Flözbildung mit dem heutigen Prozeß der Torfanhäufung ist so manches schiefe und selbst vollständig verkehrte Bild dieses Vor- ganges entworfen worden. Durch langjährige Beobachtungen im Nieder- lausitzer Braunkohlenrevier der Senftenberger Gegend ist man zu der Überzeugung gelangt, daß sich jeder Vergleich eines Braunkohlenwaldmoors mit einem Wiesen- oder Hochmoor von selbst verbietet. Eine der auffälligsten Erscheinungen in den großen Tagebauen dieses Reviers sind die Sumpfzypressenhorizonte. Sie werden von ge- waltigen unter Erhaltung der Form und Holz- struktur vertorften Wurzelstümpfen von Sumpf- zypressen und Mammutbäumen gebildet, die uns immer wieder daran erinnern, daß sie dort ge- wachsen sind, wo sie noch heute aufrecht stehen. Sie werden für immer die Hauptzeugen für die Bodenständigkeit der Braunkohlenflöze dieses Reviers bilden. An dieser Stelle sei mir eine Abschweifung auf das Gebiet der Steinkohlenbildung \erlaubt, die in der Teumerschen Arbeit nicht enthalten ist. DieseStubben erinnernunsan die sog. Stigmarien, die aus den Steinkohlenflözen bekannt sind. In diesen Steinkreuzen hat man bekanntlich die unterirdischen Stützorgane der im Steinkohlenwald wachsenden Sigel- und Schuppenbäume erkannt. Sie zeigen ebenso wie die Stubbenhorizonte im Braunkohlenflöz durch ihr charakteristisches, ver- gesellschaftetes Auftreten in ganz bestimmten Sohlen, einen ehemaligen Waldboden an. Fünfzig bis hundert dieser Waldböden hat man in den Schichten der Steinkohlenformation übereinander- lagernd in den Flözen angetrofien, zwischen denen dann die Schichten des flözleeren Sandsteins oder Tonschiefers lagern. Diese Lagerungsverhältnisse haben dann zu der Einsicht geführt, daß nicht nur der Gesamt- komplex der Schichten in einem Senkungsfeld entstanden ist, sondern daß auch ein Steinkohlen- flöz selber, wie wenig mächtig auch viele sind, niemals auf einem festen (stabilen) Boden entstehen kann. Diese Einsicht kann die neuere Auffassung nicht nachdrücklich genug betonen. Gewiß, den ständigen Wechsel von Land und Wasser, indem bei Wasserbedeckung flözleerer Sandstein, Kohlen- kalk oder Tonschiefer, nach Verlandung dagegen eine tote Pflanzenmasse zur Ablagerung kam, hat man stets durch eine Senkung des Gebiets erklärt. Allein die Forderung, daß zur Flözbildung eben- falls ein dauerndes AlDsinken des Bodens erforderlich ist, kann die neuere Auffassung nicht scharf genug betonen. Aus den einleitenden Betrachtungen geht zur Genüge hervor, daß in einem Braun- oder Stein- kohlenwald die gewaltige Pflanzenmasse, die dort erzeugt wird, ebenso der Zerstörung anheimTallen muß, wie im tropischen Regenwald oder einem Sumpfwald der Gegenwart. Zu dieser Folgerung werden wir um so mehr gedrängt, weil der Tropen- charakter der Steinkohlenpflanzen als verbürgt gelten kann. Diese Annahme gilt aber nur für den Fall, daß der Boden stabil ist, also keine Gebietssenkung eintritt. Treten aber Gebiets- senkungen auf, so ist Gelegenheit gegeben, daß die tote Pflanzenmasse dauernd im Wasser ertrinkt und so vor Verwesung und Vermoderung geschützt wird, um jetzt unter Wasser einen Vertorfungs- prozeß durchzumachen, der zu einer Flözbildung führen muß. Ich erblicke den hohen Wert der neueren Forschungen über die Entstehung der Braunkohle im Senftenberger Revier darin, daß hier eine Forschungsmethode der Neuzeit fortgesetzt wird, die weitgehende Erfolge verspricht. Genau so wie der einzig sichere Weg, der zur Erklärung der Braunkohlenflözbildung führt, nur der sein konnte, daß wir die rezenten Moore erforschten, so muß der Beantwortung der Frage, wie unsere Steinkohlenflöze entstanden sind, ein genaues Studium der Braunkohlenflöze vorausgehen. Jene Stubbenhorizonte können uns mehr aus vergangenen Tagen erzählen, weil Wurzelstümpfe und Stämme nicht versteinert, sondern noch als verhältnismäßig gut erhaltene Holzmasse vorliegen, und weil ihre Form uns mehr verrät, wie die versteinerten Wurzelstöcke der Sigel- und Schuppenbäume der Steinkohlenzeit. Die kritische Musterung der Stubbenhorizonte im Senftenberger Revier hat die auffallende Tat- sache ergeben, daß die Stubben ein und desselben Horizonts alle gleichhoch sind. Ferner hat sich gezeigt, daß die Stämme, die zwischen den Stubben liegen, einen auffallend guten Erhaltungszustand der Holzmasse zeigen. Die höchsten Stubben sind im allgemeinen nicht höher als 2 Meter. Unter und über diesen Horizonten liegt erdig-stückige Braunkohle, die man auch wohltreff'end als homo- gene Braunkohle bezeichnen kann. Es ist klar, daß diese Stubbenhorizonte eine Episode bei der Flözbildung darstellen, denn es muß ausdrücklich festgestellt werden, daß die Stubben im allgemeinen in ausgesprochenen Sohlen (Horizonten) vorkommen. N. F. XIX. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 285 Auf Grund dieses Beobachtungsmaterials ist man dann zu folgender Theorie der Braunkohlen- flözbildung im Senftenberger Revier gelangt. Auf einem säkular sinkenden Boden wuchs ein Sumpfzypressen waldmoor; durch eine plötzliche (instantane) Senkung, deren Betrag in keinem Einzelfalle mehr als 2 Meter betrug, ertrank dieser Wald durch ein scheinbares Steigen des Grund- wasserspiegels (tatsächlich blieb dieser stehen, während der Boden sank). Selbst ein Baurn wie die Sumpfzypresse vertrug eine derartige Über- flutung nicht; die Bäume starben ab und die Stämme faulten dort, wo der Wasserspiegel stand, alle in ein und demselben Niveau ab. Diese fielen ins Wasser und waren so mitsamt den Stubben vor Verwesung und Vermoderung geschützt. Das flache Seebecken vertorfte sehr bald und nach eingetretener Verlandung konnte ein neuer Sumpf- zypressenwald wachsen. Durch weiteres langsames Sinken ertrank das Pflanzenmaterial, das er erzeugte, ständig im Wasser, aber die Vermoderung war doch noch so intensiv, daß nur eine Vertorfung unter völliger Zerstörung der Form stattfinden konnte. Auf diese Weise konnte ein solches Waldmoor ein Flöz mit erdig- stückiger Braunkohle erzeugen, das jede beliebige Mächtigkeit erlangen konnte. In einer solchen Kohlenmasse brauchen wir nirgends erkennbare Reste von Sumpfzypressen zu entdecken. Die neuere Theorie vertritt grundsätzlich den Standpunkt, daß die gesamten Flöze im Senften- berger Revier von Sumpfzypressenwaldwuchs er- zeugt wurden. Nur dann, wenn eine plötzliche instantane Senkung erfolgte (bis zu 2 Meter), konnte ein Stubbenhorizont entstehen. Trat dagegen eine instantane Senkung von größerem Betrage ein, so hörte die Flözbildung auf, da jetzt Sande und Tone in einem tieferen Seebecken zum Ab- satz kamen. Ich bin der Ansicht, daß diese Theorie manches Streiflicht auf die Entstehung der Steinkohlenflöze wirft, und daß ein gut Teil der Unterschiede der Braunkohlen durch die Eigentümlichkeit des Senkungsvorganges erklärt werden kann. — Sollte nicht die Entstehung von erdig- stückiger, bröckelig- mulmiger Braunkohle, die Ausbildung von Schwel- und Blätterkohlen in engstem Zusammenhang mit derartigen Senkungen stehen? W. Nuß. Die varistischen Züge im geologischen Bau Mitteldeutschlands als Beitrag zur Kenntnis der Struktur und Paläogeographie des zentralen Deutschlands behandelt Th. Brandes im Neuen Jahrbuch f. Min., Geol. und Paläontologie (Bd. XLIII, Seite igo— 250). Geheimrat Pompeckj hat diese nachgelassene Arbeit Brandes', der im Wellkriege fiel, jetzt herausgegeben. Der Verf. spürt dem Gedanken nach, ob dem heute so bunt erscheinenden mitteldeutschen Bau nicht ein alter, im Laufe der erdgeschichtlichen Entwicklung tek- tonisch wie paläogeographisch sich ständig wieder Geltung verschaffender Plan zugrunde liegt. Die orogenetischen Vorgänge Mitteldeutschlands sind : die varistische Gebirgsbildung im jüngeren Paläo- zoikum; eine vorkambrische Krustenbewegung Böhmens, die kaledonische Faltung im Obersilur, die präsiderische F"altung Denckmanns und seine Scholleneinbrüche im tieferen Mitteldevon des Siegener Landes. Auffallende Spuren hat nur die varistische Faltung hinterlassen, und wenn man die Faltungen Denckmanns im Siegener Lande mit zu den kaledonischen Ereignissen rechnet, dann kommt man nach Brandes zu folgenden Stadien varistischer Gebirgsbildung: 1. Die Vorläufer der Faltung an der Wende vom Devon und Karbon und im Eokarbon, welche in der Transgression der Cypridinen- schiefer und in den verschiedenen Kulm- transgressionen zum Ausdruck kommen. 2. Die Hauptfaltung, welche für Mitteldeutsch- land frühneokarbonisch zu datieren ist. In ihr wurde das in Rede stehende Gebiet dem Meere entzogen und in Falten gelegt. Als Begleit- und Folgeerscheinung beginnen die Intrusionen von Eruptivgesteinen. 3. Die jungvaristischen Faltungserscheinungen im jüngeren Karbon und Rotliegenden, welche ebenfalls mit dem Aufdringen von Eruptivgesteinen verbunden sind. Nach der varistischen Faltung bilden sich im Bereich des Tethys weiterhin im tieferen Wasser Gesteine. Im mittleren Deutschland bilden sich vom Neokarbon bis zum Hauptkeuper kohle- und salzführende Festlands- und Binnen- (bzw. Rand-)meerablagerungen, im Rhät bis Tertiär die marinen Flachseesedimente (mit sehr seltenen Binnenseesedimenteinschaltungen). Im „erzgebirgischen Becken" bietet sich Ge- legenheit, die festländischen Ablagerungen zu studieren. Dazu gehören das Steinkohlengebiet Lugau - Ölsnitz und das Steinkohlengebiet von Zwickau. Der Verf. kommt zu der Ansicht, daß die Steinkohlenablagerungen des erzgebirgischen Beckens primär allochthone Bildungen sind, denn die Kohlenflöze schneiden scharf gegen ihre Unter- lage ab, es ist kein Vegetationsboden unter den Flözen vorhanden, in den hangenden Zwischen- mitteln zeigen sich selten aufrechtstehende Stämme. Im Innern der Flöze beobachtet man diskordante Parallelstruktur. Die Kohle ist deutlich geschichtet. Das Pflanzenmaterial ist schon sortiert eingelagert worden und in verschiedenen Horizonten kommen sprungweise dieselben Pflanzenarten vor. Durch Annahme allochthoner Entstehung der Stein- kohlenlager werden auch fazielle Verschieden- heiten im Lugau-Ölsnitzer Steinkohlenbezirk er- klärt, alsda sind : Anschwellen der Zwischenmittel an der Peripherie der Ablagerung, größte Mäch- tigkeit und Reinheit der Flöze im Zentrum und ihr Zerschlagen am Ufer. Im rhythmischen Ein- schalten der Zwischenmittel zwischen die Kohlen macht sich das ruckweise Auslösen epirogeneti- scher Vorgänge bemerkbar. Zeitweise eingetretene 286 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XEX. Nr. 18 Trockenperioden erklären das Vorhandensein ein- zelner aufrecht stehender Baumstämme und der Stegocephalenspuren. Über eine Verbindung des Lugauer und Zwickauer Beckens ist noch nichts bekannt. Die anorganischen Bausteine der Geo- synklinale sind der Abtragungsschutt reich von Quarzadern durchzogener tonigschiefrigerGesteine. An Lebensspuren finden sich einzelne Krebse, ein- geschwemmte Arachnoiden- und Insektenresle, dann die Fährten von Stegocephalen. Es sind in Sapropeliten Spuren niederer Pflanzenwelt vor- handen. Von den mittleren Saarbrückener bis zum Beginn der Ottweiler Zeit bildet die Gegend von LugauÖIsnitz ein flaches Becken zwischen zwei Gebirgsschwellen, in denen sich analog dem lang- samen Einsinken der Depression die Sedimente absetzen. Im Erzgebirge fehlen die Sedimente der Ottweiler und Cuseler Stufe. Zur Rotliegendenzeit wurde die Sedimentation neu belebt, der Nordrand, das Granulitgebirge hob sich , das Becken sank ein. Das Erodieren hat auf dem Granulitgebirge auch in der Ottweiler und Cuseler Zeit nicht geruht, nur wurden die Erosionsprodukte durch Flüsse nach Norden ver- frachtet. Der von Brandes angenommene mä- andrierende Fluß führte durch das Hochgebirgs- becken, wahrscheinlich durch die Pforte von Crimmitschau oder jenseits Teichwolframsdorf- Ronneburg bei Gera in die mitteldeutsche Sammel- mulde. Durch die Hebung des Granulitgebirges, durch die fortgesetzte Senkung der Mulde wurde die Pforte bei Crimmitschau teilweise geschlossen, zum Überlauf gestaltet, so daß in dem „flachen Berglandsee" der Niederschlag der rotliegenden Konglomerate mit eingelagerten Kalk- und Dolo- mitlagen vor sich gehen konnte. Die rote Farbe ist durch Wassertransport nicht verloren gegangen. Der durch Solquellen nachgewiesene Salzgehalt verminderte die Tierwelt. In der erzgebirgischen Geosynklinale ist ein selbständiger Sedimentations- raum vorhanden gewesen mit einem Sinken des Raumes im Norden, einem Heben im Süden. P^s sind vier Sedimentationslücken vorhanden, denn es fehlen die Sedimente der Waldenburger Stufe, der Ottweiler - Cuseler Stufe , der Tholeyer Stufe, des unteren und mittleren Zechsteins. In die epirogenetischen fortdauernden Vorgänge schalten sich nur zwei orogenetische Ereignisse ein. Die nordwestlich verlaufenden Verwerfungen dieser Erzgebirgssynklinale sind älter wie die mittlere Lebacher Zeit, in der die rotliegenden Plruptivergüsse vor sich gingen. Vielleicht hat man aber sogar schon mit kulmischen, oder früh- und spätneolXi ^X, I ÖX2 0X2 tlX^s ^iXg __ ^)X^ ()X^ _ öxi öxk öxj öxk öxi öxk ttxj äxk 3) (i,k== 1,2, 3,4) so erhalten wir giidx, - + 2 gl., dxjdxo + 2 gl, dx,dx3 + 2 g, 4 dxi dx^ + g.,., dx, - -f . . . = o oder abgekürzt geschrieben: .-^ gik dxi dxk = o. Diese Gleichung drückt das Gesetz der Licht- ausbreitung in bezug auf das System K aus; für die git haben wir uns dabei für jeden Raum-Zeitpunkt die Werte eingesetzt zu denken, die sich aus den Gleichungen 3) ergeben. Da die g;y_ von Punkt zu Punkt andere Werte haben, so erkennt man, daß die Bahn des Lichtes, beurteilt vom System K aus, eine gekrümmte Linie ist, deren Verlauf an jeder Stelle durch die Werte der gik bestimmt wird. Diese Größen gj^, deren Gesamtheit als Pundamen- taltensor bezeichnet wird, charakterisieren für jede Stelle XjXjX^Xj den ßewegungszustand des aus- gezeichneten Systems K„ relativ zu K und be- stimmen daher das Verhalten der Körper und den Ablauf der elektromagnetischen Vorgänge in bezug auf das System der XjX.jXgXi. Daher besteht das Hauptproblem der Relativitätstheorie darin, unter Zugrundelegung eines beliebigen Koordinatensystems K aus der ge- gebenen Verteilung der Energie (Materie) für j e d e S t e 1 1 e Xj x, Xg x^ d i e W e r t e gik des Funtameiitaltensors abzuleiten. Da die gik den Bewegungszustand des Systems K relativ zum ausgezeichneten System Kq kenn- zeichnen, so bestimmen sie nach dem Frühern auch das Gravitationsfeld, in welchem ein Beob- achter, der die Bewegungen der Körper auf das System K bezieht, sich zu befinden glaubt. Indem Einstein unter Zugrundelegung eines beliebigen Koordinatensystems die g,k aus der Verteilung der Energie mit Hilfe bestimmter, durch Probieren gefundener Differentialgleichungen für jeden Punkt des Raumes berechnete, fand er für die Gravitation ein Gesetz, das in erster Näherung mit dem Newtonschen Attraktionsgesetz übereinstimmt, in zweiter Näherung aber davon um einen Ausdruck abweicht, der die bisher rätselhafte, von Leverrier entdeckte Drehung der Merkur- bahn (um 43" pro Jahrhundert) erklärt. Ein- stein findet darin einen überzeugenden Beweis für die physikalische Richtigkeit seiner Theorie; doch mag erwähnt werden, daß S e e 1 i g e r die Perihelbewegung der Merkurbahn in durchaus plausibler Weise aus der Wirkung eines um die Sonne gelagerten Staubringes hat erklären können. Bei oberflächlichem Studium der Einst ein- schen Theorie kann leicht der Eindruck entstehen, als ob der Unterschied gegen die Newton sehe Auffassung, wenn man von dem eben erwähnten Korrekturglied zum Gravitationsgesetz absieht, nur in einer verschiedenen Ausdrucksweise bestünde. Statt zu sagen, daß sich die Körper mit einer bestimmten Kraft gegenseitig anziehen, spricht Einstein von ausgezeichneten Bezugssystemen, die sich für jede Stelle des Raumes aus der Ver- teilung der Massen bestimmen. Die Tatsache, daß zwei gravitierende Massen sich beschleunigt ein- ander nähern, beschreibt Einstein dahin, daß die Masse i am Orte der Masse 2 ein ausgezeichnetes System K^ bestimmt, das sich beschleunigt gegen I bewegt und in bezug auf das der Trägheitssatz gilt. Es könnte scheinen, als ob mit dieser Auf- fassung nur eine umständliche Formulierung des Newtonschen Attraktionsgesetzes gewonnen sei. Aber die gik der Einst einschen Theorie be- stimmen nicht bloß das Gravitationsfeld, sondern regeln den Ablauf eines jeden physikalischen Vor- ganges, sei er nun mechanischer oder elektro- magnetischer oder optischer Art, ihre Bedeutung ist also im Gegensatz zu der des Newtonschen Gravitationspotentials eine universelle. Es kommt dazu, daß nach Einstein für die Gravitation nicht bloß die Materie im üblichen Sinne des Wortes, sondern alle Energie maßgebend ist, ein Umstand, der freilich keine merkliche Abweichung von Newton bedingt, weil weitaus der größte Teil der vorhandenen Energie (als innere Atom- energie) die materielle Masse der Körper bildet. 5. Da nach der allgemeinen Relativitätstheorie jedem Volumelement der Raum-Zeitmannigfaltigkeit sein besonderes Galileisches Bezugssystem zu- kommt, so ist es nicht möglich, die Gesamtheit der Vorgänge auf ein ausgezeichnetes Koordina- tensystem zu beziehen. Denn wie immer wir auch das System wählen wollten, es könnte doch niemals für alle Teile des Raumes zugleich ein Galileisches sein. So gibt es z. B. kein System, das für alle Teile des Sonnensystems Galileisch wäre, weil wir durch keine Wahl des Bezugs- 294 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 19 Systems an allen Stellen des Sonnensystems die Gravitation zum Verschwinden bringen können. Wenn gleichwohl Kopernikus und Kepler die Planetenbewegungen auf ein System beziehen, das in der Sonne ruht, so empfiehlt sich diese Wahl des Bezugssystems lediglich durch dessen Zweckmäßigkeit; die Bewegungen der Planeten lassen sich nämlich am einfachsten beschreiben, wenn man ein in der Sonne ruhendes Koordinaten- system zugrunde legt. Keineswegs aber hat dieses System vor irgendeinem andern, das sich etwa mit unserer Erde bewegt, physikalisch etwas vor- aus und die ptolemäische Weltanschauung ist da- her physikalisch nicht weniger richtig als die des Kopernikus. Da es kein allgemein ausge- zeichnetes Koordinatensystem gibt, so muß es prinzipiell ganz gleichgültig sein, auf welches System wir die Bewegungen der Planeten be- ziehen. Und dasselbe gilt für alle physkalischen Vorgänge, mögen sie nun mechanischer oder elektromagnetischer Natur sein; sobald wir über einen gewissen, im allgemeinen unendlich kleinen Bereich hinausgehen, hat keines der möglichen Bezugssysteme vor einem anderen etwas voraus. Einstein fordert daher, daß die Gleichungen, durch welche wir die Vorgänge beschreiben, be- liebigen Koordinatentransformationen gegenüber kovariant sein müssen, worunter gemeint ist, daß der Sinn der Gleichungen nicht, wie etwa der des Newton sehen Trägheitssatzes, an die Bezug- nahme auf ein bestimmtes Koordinatensystem ge- bunden sein darf. 6. Kehren wir nun wieder ins unendlich Kleine zurück, um jetzt solche Systeme K zu betrachten, die relativ zum ausgezeichneten K„ in geradlinig gleichförmiger Bewegung sind. Rotierende und beschleunigte Systeme haben wir schon unter- sucht und gefunden, daß in bezug auf sie das Feld einer Scheinkraft auftritt und das Trägheitsaxiom nicht gilt. Dagegen muß dieses Axiom, da es bezüglich K,, gilt, auch bezüglich eines jeden Systems K gelten, das sich relativ zu K,, gerad- linig gleichförmig bewegt. Denn ist die Bewe- gung eines Körpers, auf den keine Kraft einwirkt, bezüglich K^ eine geradlin'g gleichförmige, so ist sie es auch in bezug auf jedes der Systeme K, d. h. aber, alle diese Systeme sind wie K^ Gali- leisch und diesem System mechanisch gleichwertig. Die Aussage der Relativitätstheorie, daß "jedem Volumelenient sein besonderes Koordinatensystem K|| zukommt, muß daher dahin verstanden werden, daß in rein mechanischer Hinsicht dieses System durch jedes andere K ersetzt werden kann, das sich relativ zu Kg geradlinig gleichförmig bewegt. Doch scheinen die Systeme sich optisch von- einander zu unterscheiden; denn wenn das Licht, von Kf, aus beurteilt, sich nach allen Seiten mit gleicher Geschwindigkeit ausbreitet, so kann dieses Gesetz für keines der Systeme K gelten, da von K aus beurteilt die Geschwindigkeit des Lichtes in der Bewegungsrichtung des Systems kleiner sein muß als in der entgegengesetzten Richtung. Aber hier greift nun das spezielle Theorem der Relativität ein, wonach sich zwei gerad- linig gleichförmig gegeneinander bewegte Systeme weder mechanisch noch elektromagnetisch (optisch) voneinander unterscheiden, wenn nur die Koordi- naten x'y'z't' des Systems K denen des Systems Kfiixyzt in passender Weise (durch die sog. Lorentztransformation) zugeordnet werden. Die Zuordnung muß, wenn wir voraussetzen, daß die Achsen der beiden Systeme einander parallel sind und K sich gegen K^ mit der Geschwindigkeit V in der Richtung der gemeinsamen x- Achse be- wegt, nach den Gleichungen erfolgen: X — vt Y^ ■ y, z' ^ z, t' : 1/ V' Bezieht der mit K bewegte Beobachter die Erscheinungen auf das System der x'y'z't', so folgen, wie sich beweisen läßt, die beobachteten elektromagnetischen Vorgänge denselben Gesetzen, die auch ein in K,, ruhender Beobachter feststellt, der sich der Koordinaten xyzt bedient; die Theorie postuliert, daß dieser Satz auch für die mechanischen Vorgänge gilt. Dadurch werden die Systeme K und K^ einander vollkommen gleichwertig; die mit den Systemen bewegten Beobachter könnten sich, wenn sie miteinander in einen Meinungsaustausch treten würden, nicht darüber einig werden, wer von ihnen das ,, rich- tige" Koordinatensystem benutzt. Denn da Raum und Zeit nicht etwas Absolutes sind, sondern die Einordnung des Geschehens in das Raumzeitschema nach Gesichtspunkten erfolgt, die den beobachte- ten Erscheinungen entnommen werden, ist die Wahl der Koordinaten x'y'z't' für einen Beobach- ter in K eine ebenso zwangläufige wie die der Größen xyzt für einen Beobachter in K,,. Aus der Lorentztransformation folgt, daß die Länge eines Stabes, wenn sie von einem gegen den Stab bewegten Bezugssystem aus beurteilt wird, in der Bewegungsrichtung verkürzt erscheint. Ist 1 die Länge eines Stabes für einen mit dem Stab bewegten Beobachter A, 1' die Länge des- selben Stabes für einen Beobachter B, der sich gegen A mit der Geschwindigkeit v bewegt, so ist 1/7- l' = l Auch die Zeiten stimmen für die beiden Beobachter nicht überein ; wenn A an einer mit ihm bewegten Uhr für die Dauer eines Vorganges die Zeit t abliest, so gibt B für die- selbe Zeit t' F-^; d. h. für B preht die Uhr des A nach. Dieses eigentümliche Ver- hallen von bewegten Maßstäben und Uhren be- dingt, daß in einem rotierenden oder be- schleunigten Koordinatensystem K die gewöhnliche Euklidische Geometrie keine Gültigkeit mehr hat. Betrachten wir, um das einzusehen, den Fall eines Systems N. F. XrX. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 295 K, das relativ zu dem für den betrachteten Raum ausgezeichneten System Kg in Rotation ist. In der xy Ebene von K, das um die z- Achse rotie- ren möge, sei ein Kreis gezeichnet, dessen Mittel- punkt im Koordinatenursprung liegt und ein mit K bewegter Beobachter gehe nun daran, mit Hilfe eines Maßstabes das Verhältnis des Kreis- umfanges zum Halbmesser festzustellen. Während ein in K^, ruhender Beobachter für dieses Ver- hältnis die Zahl 2 /r findet, ergibt sich für den anderen eine größere Zahl, weil der benutzte, mit K bewegte Maßstab sich verkürzt, sobald er tan- gential zum Kreis gelegt wird, dagegen in der Richtung des Radius seine richtige Länge behält, da er in dieser Lage senkrecht zu seiner Länge bewegt wird und die Verkürzung nur in der Be- wegungsrichtung auftritt. Für den Beobachter in K gelten also die Sätze der Euklidischen Geo- metrie nicht, der Raum verhält sich für ihn so, als ob er gekrüm m t wäre; denn die geometri- schen Erfahrungen, die der Beobachter mit Hilfe seines Maßstabes macht, sind ähnlich denen eines flächenhaften vernunftbegabten Wesens, das auf einer Kugelfläche lebt und daher für das Maß- verhältnis von Kreisumfang und Radius ebenfalls eine Zahl findet, die von 2 yi verschieden ist. Auch die Uhren zeigen im System K ein merkwürdiges Verhalten; stellt der Beobachter eine Uhr im Koordinatenursprung, eine andere gleichbeschaffene auf der Kreisperipherie auf, so geht die zweite zufolge ihrer Bewegung gegen die erste, die in Ruhe ist, nach. Es ist also gar nicht möglich, in bezug auf K eine einheitliche Zeit zu definie- ren. Und Entsprechendes gilt für ein System K, das relativ zu Kg sich geradlinig beschleunigt be- wegt und daher einem Beobachter in K ein Kraft- feld vortäuscht ; die Euklidische Geometrie gilt immer nur in bezug auf das ausge- zeichnete System K,,: in bezug auf jedes andere System zeigt der Raum eine Krümmung, währendsich die Zeit nicht mehr einheitlich definieren läßt. Die Krümmung des Raumes ist abhängig vom Be- wegungszustand des zugrunde gelegten Systems K gegenüber K,,, wird also durch eben dieselben Größen gi^ bestimmt, welche das relativ zu K be- stehende Gravitationsfeld festlegen. 8. Wenn wir nun zur Beschreibung des Naturgeschehens die Gesamtheit der Vor- gänge auf ein Koordinatensystem K be- ziehen, so ist nach dem Vorhergehenden klar, daß diese Koordinaten nicht in der üblichen Weise (wie in einem ebenen Raum) mit Hilfe eines Maßstabes und einer Uhr gelegt werden können. Hat doch der Raum von K aus beurteilt, an jeder Stelle eine andere Krümmung, während die Uhr den Gang ändert, wenn man sie von einer Stelle des Raumes an eine andere schafft. Es fragt sich daher, welche Größen man unter diesen Umständen als Koordinaten XjXoXgX^ zu betrachten hat. Vor eine ähnliche Frage sah sich bereits Gau ß gestellt, als er auf gekrümmten Flächen Koordinaten definieren wollte; er löste die Schwierigkeit, indem er sich die Fläche mit einem Netz von zwei Kurvenscharen überzogen dachte und jeder Kurve eine Zahl zuordnete; dann läßt sich die Lage eines Flächenpunktes kennzeichnen durch die Zahlen u und v der Kurven, die sich im Funkte schneiden. In ent- sprechender Weise nun wird die Festlegung der Koordinaten x^XjX.jX, in bezug auf das System K vor sich gehen müssen. Die Punkte der vier- dimensionalen Raum-Zeitmannigfaltigkeit lassen sich nicht anders charakterisieren als durch die Zahlen x-jX^x^x^ von vier dreidimensionalen Räu- men, die den betrachteten Punkt gemeinsam haben. Damit verlieren freilich Raum- und Zeitkoordinaten alle physikalische Gegenständlichkeit, da die Wahl der Raumscharen, die zur Kennzeichnung der Punkte dienen, eine vollkommen willkürliche ist. Aber dies bedeutet nur scheinbar eine Schwierigkeit. Denn alle Beschreibung der Natur geht letzten Endes aus auf die Feststellung von Koinzidenzen, seien es nun solche zwischen Maßstäben und materiellen Punkten oder zwischen Uhrzeigern und Ziffer- blattpunkten. Die gesamte Physik enthält nichts, was sich nicht auf derartige Koinzidenzen zurück- führen ließe. Da sich nun die Koinzidenz zweier Punktereignisse dadurch anzeigt, daß den beiden Raum-Zeitpunkten dieselben Koordinaten XiX^x^Xi zukommen, so ist zur Beschreibung des Natur- geschehens jedes Koordinatensystem geeignet, das jedem Raum-Zeitpunkt eindeutig vier Werte von Größen XjXoXgX^ zuoidnet, unabhängig davon, ob diesen Größen eine selbständige Bedeutung zu- kommt oder nicht. Kleinere Mitteilungen. Die Autorschaft Beringers an der „Litho- graphia Wirceburgensis". Meine kurze Mitteilung zur Geschichte der Geologie in dieser Wochenschrift, N. F. Bd. XVI. 1917, S. 719—721 hat mehr Interesse gefunden, als ich erwartet hatte, und ich bin daher heute in der Lage einiges Weitere, vor allem über die „Lithographia Wirce- burgensis" und ihren Autor mitzuteilen. Ich stütze mich hierbei einerseits auf freundliche briefliche Notizen zweier Kollegen, der Herren Fr. Klockmann in Aachen und J o h. W a 1 1 h e r in Halle a. S., sowie auf Auskünfte, die mir auf meine Bitte der Direktor der Königsberger Uni- versitätsbibliothek, Herr Geh. Rat Dr. Schulze, freundlichst erteilte, anderseits aber auf eine Antiquariatsnotiz. Ich hatte in der zitierten Mitteilung gesagt, daß das Buch, welches in seiner zweiten Auflage von 1767 den Namen Beringers als Verf. trägt, nach dem Wortlaut des Titelblattes der i. Aus- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 19 gäbe die Doktordissertation des Georg Ludwig Hu eher darstelle, und hinzugefügt: „Wenn damit nun die Autorschaft Beringers selbst künftig in Wegfall zu kommen hat, so ist derselbe natürlich doch nicht gleichzeitig von der Verant- wottung für Inhalt und Herausgabe des Werkes freigesprochen : denn noch mehr als heute dürften in damaligen Zeiten die Dissertationen die An- schauungen der anregenden Professoren wieder- gegeben haben." Nach den mir jetzt zur Ver- fügung stehenden Informationen muß indessen B e r i n g e r doch noch mehr mit der Verantwortung für das Werk belastet werden, als schon in diesen meinen Sätzen zum Ausdruck kam. Das Antiquariat Dultz & Co. in München fügte in seinem Katalog 31 dem Angebot eines Exem- plares der i. Auflage des Werkes (für 80 M. !) folgende uns hier interessierenden Sätze bei: „Beringers Kollege, Professor von Eckart, und ein gewisser Rodrich" [„Rodrick", wie Klockmann schreibt, war nach den früheren Ermittlungen dieses Forschers Jesuit und ebenfalls Kollege von Beringer] „hatten aus Kalkstein- platten künstliche Petrefakten der Tier- und Pflanzenwelt, ja sogar der Astronomie entlehnte, verfertigt, die sie dann den seine fränkische Heimat schwärmerisch liebenden Professor Beringer auf einem Berge bei Eibelstadt finden ließen. Spät genug entdeckte er den Betrug und kaufte alle Exemplare, deren er habhaft werden konnte, zurück. Nach seinem Tode wurden die Exem- plare an einen Buchhändler verkauft, der sie dann mit einem neuen Titel versah. Nur Exemplare der vorliegenden Originalausgabe sind gesucht." Die Frage nun, ob die in Frankfurt und Leip- zig 1767 erschienene, neue ,, Auf läge" wirklich ein Neudruck war oder aber nur die von Berin- ger aufgekauften und dann nicht vernichteten (wie von Zittel angab), sondern mit einem neuen Titelblatt versehenen Exemplare des Erst- druckes (der, wie ich nachträglich feststellte, in seiner ursprünglichen Form in noch mehreren deutschen Bibliotheken vorhanden ist) umfaßt, ist wohl dadurch im letzteren Sinne entschieden, daß, wie auch Joh. Walther in seiner .Allgemeinen Paläonto- logie" (I. Teil. Berlin. Gebr. Borntraeger 1919) S. 5 angibt, kleine Satzfehler beiden „Auflagen" in gleicher Weise anhaften. Im übrigen mag noch hinzugefügt werden, daß Beringer seine „Figuren- steine" nicht etwa als Überreste früherer Lebewesen, sondern als Naturspiele betrachtete, über die er sich ebenso freute, wie „die beiden Söhne einer armen Witwe", die ihm ihre Funde aus den Würzburger Weinbergen herbeibrachten (Walt her a. a. O.). Was aber schließlich die Verantwortlichkeit Beringers für den Inhalt der in der ersten Ausgabe als Dissertation des Georg Ludwig Hueber aus Würzburg gedruckten „Lithographia Wirceburgensis" betrifft, so muß Beringer aller- dings doch mehr belastet werden, als ich früher angenommen hatte. Denn, worauf mich die beiden oben genannten Kollegen übereinstimmend aufmerksam machten, noch bis etwa 1800 wurden vielfach die Kandidaten an deutschen Universitäten promoviert, wenn sie die Kosten für den Druck einer wissenschaftlichen V^eröffentlichung ihres Professors trugen, der selbst zur Tragung derselben meist nicht in der Lage war, während sie sich selbst häufig nur durch eine öffentliche Disputation über diesen Gegenstand beteiligten. Daher auch der nicht seltene F"all, daß Buch- händler etwaige Neudrucke solcher Arbeiten mit vereinfachtem Titelblatt unter Nennung des „Präsiden" als Autor auflegten. Ohne Zweifel trifft diese Deutung auch auf die ,, Lithographia Wirceburgensis" zu. Diejenigen Leser aber, die sich weiter für diese Dinge interessieren, möchte ich auf eine für die deutsche Universitätsgeschichte überhaupt wichtige Arbeit von Dr. Ewald Hörn hinweisen („Die Disputationen und Promotionen an den deutschen Universitäten vornehmlich seit dem 16. Jahrhundert. Mit einem Anhang enthaltend ein Verzeichnis aller ehemaligen und gegenwärtigen deutschen Universitäten." Beihefte zum Zentral- blatt für Bibliothekswesen. Bd. IV. Heft 1 1. Leip- zig, Otto Harrassowitz 1893), auf die mich Geh. Rat Schulze freundlichst aufmerksam machte. Wenn aber Karl A. von Zittel bei Abfassung seiner ausgezeichneten „Geschichte der Geologie und Paläontologie" die erste Ausgabe der ..Litho- graphia Wirceburgensis" wirklich vorgelegen haben sollte, was ich seinerzeit bezweifeln zu müssen glaubte, so bleibt es doch mindestens sehr auf- fällig, daß er den uns heute sehr eigenartig an- mutenden Brauch jener Zeit bei allen seinen Lesern als bekannt vorausgesetzt haben müßte. Allerdings führen die Bibliotheken, denen es ja aber nur um Katalogisierung ankommt, die Disser- tationen aus der Zeit vor 1800 durchweg, ohne Rücksicht auf die wirkliche Autorschaft, unter dem Namen des „Präsiden"; aber dieser Brauch kann u. E. füglich für ja ganz anderen Zwecken dienende wissenschaftliche Darstellungen nicht in Betracht kommen ; sagt doch auch Ewald Hörn (a. a. O. S. 71) in diesem Sinne: „Zitiert man literarisch eine alte Universitätsschrift, so muß man im allgemeinen beide Namen geben . . . ". Prof. Dr. K. Andree, Königsberg i. Pr. Wie würden Kristalle in milliardenfacher Ver- größerung aussehen? Die Frage, wie weit der Mensch „ins Innere der Natur" eindringen könne, wurde von Dichtern, Philosophen und Natur- forschern aller Zeiten sehr verschieden beantwortet. Heraklil, Gassendi und Leibniz äußerten sich ebenso wenig zuversichtlich wie der Biologe und Poet Albrecht von Haller in der be- kannten oben angedeuteten Strophe. Goethe, der diesem Verse mehrmals heftig widersprach, sagt an anderer Stelle wiederum pessimistisch, daß „sich Natur des Schleiers nicht berauben" lasse und sogar am lichten Tage geheimnisvoll sei. — Im Grunde handelt es sich um das er- kenntnisiheoretische Problem, ob auch die über N. F. XIX. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 297 das sinnlich Gegebene hinausgehenden natur- wissenschaftlichen Begriffe „Kraft", „Masse", „Atom" usw. als Bestandteile der Natur bezeichnet werden dürfen. Jedenfalls aber sind wir infolge der Gren- zen unserer Anschauung auf solche Begriffsbildung angewiesen, wenn wir die Erscheinungen der Sinnenwelt in einen möglichst einfachen Zusam- menhang bringen, d. h. sie „erklären" wollen. Ein Stäbchen, dessen Länge kürzer als ein zehntausendstel Millimeter ist, können wir auch mit den stärksten mikroskopischen Vergrößerungen nicht wahrnehmen, weil, wie die Optik lehrt, die Wellenlängen des (sichtbaren) Lichtes größer als jener Betrag sind. -Trotzdem operiert die Ge- dankenwerkstatt der Physik und Chemie mit Atomen, deren Durchmesser selbst ein millionstel Millimeter nicht erreichen. Ein chemisches Ele- ment, etwa ein Diamantkristall oder ein Stück Eisen, besteht — immer im Rahmen jener Be- griffsbildung — aus gleichartigen Atomen , eine chemische Verbindung aus zwei oder mehr Atom- arten; so setzt sich z. B. ein Kochsalzkristall aus Chloratomen und aus Natriumatomen zusammen. Es gibt also ebenso viele Atomarten, als es che- mische Elemente (Grundstoffe) gibt, und zwar wahrscheinlicherweise 92 ; von diesen 92 Elementen hat man bisher 87 wirklich entdeckt, während die wahrscheinliche Existenz von 5 weiteren wiederum aus einer bestimmten physikalischen Begriffsbildung heraus folgt. Auf solchen theore- tischen Wegen findet man auch die Gewichte oder richtiger die Massen der verschiedenen Atome. So wiegt, wie unser Physiker und zwei- maliger Nobelpreisträger Max Planck ermittelte, ein Atom des Elementes Wasserstoff etwa i ' ., Quadriliiontel Gramm ; jedes der Kohlenstoffatome, wie sie die Diamantkristalle aufbauen, wiegt 1 2 mal so viel, ein Natriumatom 23 mal so viel, ein Chloratom 35' ..mal so viel als ein Wasserstoff- atom. Da ein Diamant von der Größe eines Kubikzentimenters eine Masse von ungefähr i8 Karat oder 3'/.2 Gramm besitzt, so enthält er etwa Vö Quadrillion Kohlenstoffatome. Wie sind nun aber die Atcme in den Kri- stallen überhaupt und in dieser oder jener Kristall- art (Diamant, Kochsalz, Bergkristall usf.) speziell angeordnet? Hätte man die speziellen Atom- gruppierungen einer Anzahl von Kristallarten irgendwie ermittelt, so könnte man vielleicht durch einen Induktionsschluß ein allgemeines Gesetz für die Atomlagerung der Kristalle ge- winnen. Die geschichtliche Entwicklung dieses Forschungszweiges nahm jedoch einen anderen Verlauf. Zunächst wurde nämlich deduktiv aus einem bereits lange bekannten Kristallgesetz der atomistische Aufbau oder die „Struktur" der Kristalle generell hergeleitet. Aus dem von dem Abbe Rene-Juste Hauy im Jahre 1784 ent- deckten morphologischen Grundgesetz der Kristalle konnten nämlich der deutsche Mathematiker A. Schoen flies und der russische (soeben ver- storbene) Mineraloge E. V. Fedorow unabhängig voneinander im Jahre 1891 die mathematische Schlußfolgerung ziehen , daß in der gesamten Kristallwelt nur 230 Gattungen von Strukturen möglich sind, deren jede freilich wieder verschie- dene Arten aufweisen kann. Für jeden gegebenen Kristall kommen nur wenige durch seine Sym- metrie bestimmte Strukturgattungen in Betracht. Ich will eine besonders einfache jener Struktur- möglichkeiten herausgreifen und in folgender Weise veranschaulichen. Denken Sie sich gewöhnliche Backsteine oder Ziegelsteine, die bekannthch ungleichseitige recht- winklige Parallelpipeda darstellen, in großer An- zahl lückenlos aufeinander, nebeneinander und hintereinander gepackt derart, daß jedesmal 8 Backsteine mit je einer ihrer 8 Ecken in einem Punkte zusammenstoßen ; setzen Sie in jeden sol- chen Punkt ein Atom derart, daß alle diese Atome einer einzigen Atomart angehören und überdies sämtlich einander parallel sind, und setzen ferner in den Schwerpunkt jedes Backsteins je ein Atom eines anderen chemischen Elements, so daß auch diese Atome unter sich parallel sind. Entfernen Sie nunmehr diese Backsteine, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan, so haben Sie eine struktur- theoretisch mögliche Atomgruppierung eines Kri- stalles, der aus gleichen Atommengen zweier chemischer Elemente besteht, aufgebaut und zwar so, wie. sie uns bei milliardenfacher Ver- größerung erscheinen würde, falls eine solche möglich wäre; da die kürzeste Kante eines Backsteins etwa 6 cm lang ist, so würden die in den beiden Endpunkten dieser Kante be- findlichen 2 Atome „in Wirklichkeit" einen Ab- stand von nicht ganz ein zehnmilliontel Millimeter besitzen; das wäre die kleinste aller Atomdistanzen des soeben fingierten Kristalles. Jedes dieser Kristallatome hat man sich nach moderner Auffassung als ein kleines Planetensystem vorzustellen, indem um einen positiv -elektrisch geladenen ,, Atomkern" eine Anzahl von ,, Elek- tronen", das sind negativ - elektrische Partikeln, in geschlossenen Bahnen kreisen ; hierbei besitzt jede Atomart eine ihr eigentümliche Elektronen- menge, die für die 92 verschiedenen chemischen Elemente die Zahlenreihe von 1 bis 92 durchläuft. Die Durchmesser jener Elektronenbahnen betragen etwa ein hundertmilliontel bis ein zehnmilliontel Millimeter, in unserm vergrößerten Kristallmodell also einige Millimeter bis einige Zentimeter. Nachdem die allgemeine Theorie be- reits 1891 zu einem gewissen Abschluß gelangt war, galt es eine Methode zu ersinnen, welche es ermöglicht, für eine beliebige gegebene Kristallart die Atomanordnung zu ermitteln. Diese konnte möglicherweise aus irgendwelchen physikalischen Eigenschaften des betreft'enden Kristalle«;, etwa aus seinen Elastizitätskonstanten, berechnet, möglicherweise aber auch durch eine experimentelle, also empirische Untersuchung ermittelt werden. Der deutsche Physiker Max von Laue hat im Jahre 1912 ein geeignetes Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 19 Experimentalverfahren ausfindig gemacht und hierfür den Nobelpreis erhalten. Diese iMethode ergab sich aus dem Gedanken, daß eine Atom- anordnung, wie die von der obigen Theorie für Kristalle vorausgesagte, auf Röntgenstrahlen wie ein sog. ,, Beugungsgitter" wirken müsse, weil Atomabstände von der oben erwähnten Größe sehr annähernd gleich der hypothetischen Wellen- länge der Röntgenstrahlen sei. Indem sich die von Laue im Geiste geschauten Beugungs- erscheinungen in der Tat einstellen, wenn Röntgen- strahlen auf einen Kristall auftrafen, gelang es den Engländern W. H. Bragg und W. L. Bragg seit 191 3 durch einen glücklichen Zufall und einen geistreichen Einfall die Wellenlängen von Röntgen- strahlen mittels eines solchen „Kristallgitters" und zugleich umgekehrt die Atomabstände dieses Kristallgitters mittels jener Strahlen zu messen. Die sodann an einer ganzen Reihe von Kristall- arten ermittelten Strukturen liegen völlig inner- halb des Rahmens, den die oben erwähnte Theorie 20 Jahre vorher geliefert hatte — ein glänzendes Beispiel theoretischer Prophezeiung! Prof Dr. Arrien Johnsen (Kiel). Einzelberichte. Zoologie. Bingelkraut vergiftungen bei Haustieren. Die beiden Arten des Hingelkrauts, die in Deutsch- land als giftig bekannt sind, das einjährige und das ausdauernde Bingelkraut {McrcuriaUs auiiiia L. und M. pcrciiiiis L.), enthalten chemisch, wie Dr. J. A. Hotfmann, Bad Ziegenhals in Schlesien, in der „Deutschen landwirtschaftlichen Presse" ausführt, das iVIerkurialin, einen bitteren abführenden Stoff, ferner Methylamin, Trimethyl- amin, ein flüchtiges ätherisches Öl und Indigorot. Äußerlich zeigt sich dieser chemische Gehalt darin, daß die Bingelkräuter unangenehm und scharf riechen und bitter schmecken. Während die An- sichten über die Giftigkeit des Bingelkrauts für den Menschen noch weit auseinandergehen, steht es fest, daß bei Tieren Bingelkrautvergiftungen vorkommen. Meist ist das einjährige Bingelkraut die Ursache der Vergiftung, die bisher bei Pfer- den, Rindern, Schafen, Ziegen und Schweinen festgestellt werden konnte. ' Die Symptome der Vergiftung äußern sich, wie Hoff- mann nach seinen eigenen, während des Welt- krieges als Oberveterinär an Pferden gesammelten Erfahrungen berichtet, als PVeßunlust, Koliken, Nierenreizungen, Gelbsucht und Herzschwäche. Die Pferde konnten mit einer einzigen Ausnahme alle wieder hergestellt werden. Hoffmann glaubt nicht, daß sich die Vergiftungen auf der Weide ereignen, wo wäiilerische Tiere, wenigstens Pferde, das Unkraut wegen seines scharfen Ge- ruches und bitteren Geschmackes instinktmäßig stehen lassen, sondern er nimmt vielmehr an, daß sie eher im Stalle vor sich gehen, wenn das Bingelkraut versehentlich mit anderem Grünfutter oder Heu gereicht wird. Wenn nun auch die Trocknung die Giftigkeit der Pflanze mildert, so kann die Pflanze doch noch nach '/., Jahr giftig sein. Nicht alle Tiere aber sind für die Gift- pflanzen in gleicher Weise empfänglich; es finden sich, sagt Hoffmann nach seinen Erfahrungen, bei Vergiftungsfällen stets einige Tiere, die von dem Bingelkraut, das andere Tiere des Stalles krank machte, gefressen haben und trotzdem nicht krank geworden sind; andererseits gibt es empfindliche Tiere, die schon nach Aufnahme ganz geringer Mengen des Krautes erkranken. H. W. Frickhinger. Geologie. „Die Braunkohlenvorräte des Frei- staates Sachsen" berechnet Kurt Pietzsch in Nr. 45 der „Braunkohle" (i. 20). Im Freistaate Sachsen liegen die wirtschaftlich wichtigsten Braun- kohlenlager im Nordwesten in der Leipziger Ge- gend und im Osten in der Zittauer Gegend. Das nordwestsächsische Braunkohlengebiet (Leipzig-Borna) steht im Zusammenhange mit dem Halleschen, dem Meuselwitzer, dem Zeitzer Bezirk. Man stellte diese Ablagerung ins Unteroligozän, erhofft aber von dem bei Bohlen geplanten neuen staatlichen Tagebau Aufklärung über diese noch nicht genügend gestützte Annahme. Paläonto- logische Funde in der Braunkohle sind nötig, um zu sicheren Schlüssen zu kommen. Darum richtet der Verf. die Bitte an alle Werksbeamten des nordwestsächsischen Reviers, von solchen Funden möglichst schnell Nachricht an die Geologische Landesuntersuchung in Leipzig gelangen zu lassen. In diesem Bezirk unterscheidet man ein Oberflöz und darunter ein Hauptflöz. Bohrungen haben noch ein stellenweis 10 — 15 m mächtiges Unter- flöz nachgewiesen. Nach Pietzsch macht dieses in manchen Bohrungen fehlende F'löz einen durch- aus selbständigen Eindruck. Von großer Bestän- digkeit ist das Hauptflöz mit einer durchschnitt- lichen Mächtigkeit von 12 m. Manchmal spalten oder lösen sich von dem Hauptflöz zwei oder mehrere Plözteile ab. Im Zuge Leipen — Mede- witzsch — Russen und Pautzsch — Michelwitz — Methewitz — Saasdorf schalten sich taube Zonen ein. Das Hauptflöz ist hauptsächlich autochthoner Entstehung. Holzige Pflanzen fehlen und moos- artige und krautige Pflanzen haben an der Ent- stehung der stückigen und erdigen Braunkohle Anteil. Nur kleinere Teile des Hauptflözes sind primär allochthon. Das Oberflöz ist im Mittel 5 m mächtig, nicht durchgehend und nicht so weit verbreitet. Nach Etzold ist es sekundär allochthoncr Entstehung. In Nordwestsachsen werden gegen 900 Quadrat- kilometer von alttertiären Braunkohlenbildungen bedeckt. Aufbuckelungen teilen die Braunkohlen- formation in einzelne Becken ein. Südwestlich von Leipzig liegt mit 45 Quadratkilometern Fläche das größte dieser einzelnen Gebiete. Kranzartig N. F. XIX. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 299 um dieses große Becken liegen eine IVIenge klei- nere, die zu kleineren Betrieben Veranlassung gegeben haben. Großbetrieb kann nur im Borna: Leipziger Revier aufrecht erhalten werden. Die miozänen schwachen Braunkohlen Leipzigs weisen nach der Lausitz. Hier müssen die von subsudetischen Braunkohlenablagerungen herüber- reichenden Vorkommen noch genauer untersucht werden. ' Bei Zeisholz und Klein-Saubernitz hat man bis zu 10 Flöze mit einer Kohlenmächtigkeit von 26 — 36, stellenweise sogar 61 m nachge- wiesen. Bemerkenswerte Vorräte liegen auch bei Bernsdorf, Piskowitz, Puschwitz. Östlich der Elbe liegt das wichtige Zittauer Becken. Hier hat man Braunkohlenflöze mit zu- sammen 75, sogar 100 m Mächtigkeit gefunden. Die größten Kohlenmächtigkeiten im Zittauer Becken liegen von Türchau über Gießmannsdorf nach Zittau hin. Gegenüber dem Becken von Bergdorf ist es selbständig, wenn es auch mit diesem zusammen in der nordöstlichen Forsetzung der nordböhmischen Senkungszone als Äquivalent der Braunkohlenbecken von Brüx, Dux und Ober- leutersdorf liegt. Pietzsch hält das Zittauer Braunkohlenbecken in der Hauptsache für primär allochthon und nur gewisse Flözteile für auto- chthon. Nicht von großer wirtschaftlicher Bedeutung sind die oberoligozänen Braunkohlenvorkommen von Seilhennersdorf und Warnsdorf. Pietzsch hat nun im Jahre 1918 die Brauti- kohlenvorräte ganz Sachsens errechnet. Dabei hat er die unter Orten, Straßen, Eisenbahnen und Flüssen gelegenen Kohlenmengen , die ungefähr ein Fünftel der in nachstehender Übersicht als sicher nachgewiesenen Vorräte ausmacht, nicht berücksichtigt. Westlich östlich Ganz der Elbe der Elbe Sachsen in Müh arden Kubikmetern I. Sicher nachgewiesene Vorräte : in Tagebaugebieten 2,319 0,877 3.I9Ü in Gebieten für unter- irdischen Abbau 0,998 0,030 I,03S Zusammen 3.317 0,907 4,224 2. Wahrscheinlich ge- winnbare Vorräte rd. 3,000 0,170 3, '7° Gewinnbare Gesamtvorräte 1 .Anfang 191S rd. 6,317 [ i>077 7.394 Rudolf H undt. Chemie. Die Oxydation von Kohlenwasser- stoffen, insbesondere des Paraffins, gelang C. Kelber auf recht elegante Weise, worüber er in den Berichten d. deutsch. Chem. Gesellschaft 53, S. 66, 1920 (Heft i) berichtet. Die Methode von Kelber ist um so höher zu bewerten, als sie ein seit langem bearbeitetes Problem sehr erfolgreich gelöst zu haben scheint. Zwar ist be- kannt, daß die beim Erhitzen von Paraffin an der Luft eintretende Bräunung auf eine Sauerstoff- absorption zurückgeführt werden muß. Aber fast alle Versuche, durch Oxydation des Paraffins zu wertvollen Karbonsäuren zu gelangen, scheiterten bisher, bzw. waren sie zu kostspielig, um zu prak- tischer Bedeutung zu gelangen. So sei an eine Arbeit von Bergmann (Zeitschr. f. angewandte Chemie 31, S. 69, 191b) erinnert, der nach wochen- langem (!) Durchleiten von Luft durch auf 130 — i':;5'' erhitztes Paraffin eine braune, salbenähnliche Substanz erhielt, die in der Tat eine Anzahl höhermolekularer F'ettsäuren aufwies, zum größten Teil jedoch unverseifbar war. Kelber griff den Gedanken Bergmanns von neuem auf, benutzte jedoch den Kunstgriff, die Oxydation durch Katalysatoren zu be- schleunigen. Als solche kamen, wie sich zeigte, in erster Linie Mangan Verbindungen in Frage, also leicht zugängliche und billige Stoffe. Mit ihrer Hilfe gelang nunmehr die O.xydation glait und vollständig. Angewandt wurden u. a. Mangan- oxydul, Manganoxyd usw., aber auch Edelmetalle hatten eine entsprechende Wirkung. Höchst überraschend war dabei nun, daß zur Oxyda- tion bereits elementarer Sauerstoff ge- nügt. Und bei geeigneter Versuchsanordnung waren sogar besondere Katalysatoren überflüssig ! Das endgültige Oxydationsverfahren gestaltet sich wie folgt : In einem Reaktionsgefäß, zweckmäßig einem eisernen Behälter, wird Paraffin auf 150" erhitzt und mit geringen Mengen einer Manganverbindung versetzt, hierauf mit Sauerstoff innig durchgerührt. Alsbald setzt lebhafte Reaktion ein, die die Tem- peratur auf über 200" steigert, so daß unter Um- ständen gekühlt werden muß. Nach 4 —5 Stunden ist die Oxydation beendet. Es ergibt sich ein Reaktionsprodukt von gelblicher Farbe, schmalz- artiger Beschaffenheit und dem Duft der Fett- säuren des Kokosöls. Die Ausbeute beträgt 90 bis 100 V. H. Etwa die Hälfte davon findet sich als wässrig - öliges Destillat. Der salbenartige Rückstand besteht aus hochmolekularen Fettsäuren mit allen ihren vorteilhaften und zumal jetzt ge- schätzten Eigenschaften, von denen vor allem die hohe Schaumkraft ihrer Alkalisalze hervor- zuheben ist. Im Destillat findet sich neben Azeton die ganze Reihe niederer F'ettsäuren , wie Ameisen-, Essig-, Butter- und Valeriansäure , daneben ein gelbes Leichtöl. Die große Wichtigkeit der Reaktion braucht nicht erörtert zu werden, nur sei darauf hinge- wiesen, daß keineswegs nur Paraffin der Oxyda- tion nach Kelber zugänglich ist. Auch Vaseline, Mineralöldestillate, solche aus Braunkohlenteer, 300 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 19 ferner Schwerbenzine lassen sich oxydieren, viel- fach durch bloßes Verspritzen in auf 150" erhitzten Sauerstoff. Die Reaktionsprodukte wechseln naturgemäß je nach der Natur des Ausgangs- stoffes, doch sind höhere Fettsäuren immer an- zutreffen. Paraffin usw. sind Produkte aus Kohle, die genannten hochmolekularen Fettsäuren ander- seits Bestandteile unserer Speisefette, so daß : — kraß ausgedrückt — durch die Methode K e 1 b e r s ein unmittelbarer Weg gefunden ist, aus Kohle Butter herzustellen. H. Heller. Bücherbesprechungen. Beiträge zum geologischen und mineralo- gischen Unterricht. Heft 3 der Mitteilungen der Preußischen Hauptstelle für den naturwissen- schaftlichen Unterricht. Leipzig 1919, Quelle u. Meyer. Geh. 6 M. Die preußischen höheren Schulen haben seit 19 18 einen bedeutsamen Gewinn zu verzeichnen. Ein Ministerialerlaß vom Anfang dieses Jahres ordnete eine stärkere Berücksichtigung der Geo- logie und Mineralogie in ihrem Lehrplan an (Deut- sches Philologenblatt 1918, S. 23). Wohlgemerkt ohne dafür eine besondere Lehrstunde einzufügen. Vielmehr sollten die zahlreichen bestehenden mit Geologie in Fühlung stehenden Lehrfächer sich gleichermaßen den Wink zu Nutze machen. Eine Mehrbelastung ist also ebenso glücklich vermieden wie eine Einführung auf Kosten anderer Wissens- gebiete. Dafür aber wird dringlichst die Ergänzung durch Anschauungsunterricht im PVeien in Gestalt von Lehrausflügen schon von der Sexta an verlangt. Der Erlaß sanktioniert zum Teil wohl nur, was sich durch glücklichere Vorbildung eines Teils der Lehrer längst angebahnt hatte. \\'er nur einiger- maßen mit dem Stoffe vertraut ist, kann in Erd- kunde, Biologie usw. an der Geologie, in Chemie an der Mineralogie gar nicht vorübergehen. Nach dem Gesetz der Wechselwirkung wird die Ver- fügung aber wieder auf die Vorbildung des Lehr- körpers den glücklichsten Einfluß haben. Eine systematischere Behandlung ist angebahnt. Geo- logie und Mineralogie sind endlich auch in Preußen selbständiges Prüfungsfach im Staats- examen geworden, von der Chemie gelöst. Wie die Astronomie die Unendlichkeit des Raumes, so verkörpert die Geologie gleichsam die Ewigkeit der Zeit. Der hohe bildende Wert, den allein diese Anregung enthält, wird also nunmehr der ganzen heranwachsenden Jugend zugänglich ge- macht. Die Besonderheit der Methodik, die sich aus der Verteilung des Stoffes auf mehrere naturkund- liche P'ächer ergibt, verlangte natürlich alsbald ein Durchdenken und Erproben aucli der tech- nischen Seite der Forderung. Mit Eifer und Geschick hat sich die Preußische Hauptstelle für den naturwissenschaftlichen Unterricht dieser Auf- gabe unterzogen. Das lehrt der in vorliegendem Hefte erstattete Bericht. Fischer, Hucke (Verf. eines geologischen Wanderbüchleins für die Mark Brandenburg) und R ein -Düsseldorf berichten auri eigener Erfahrung über die Methoden und Möglich- keiten geologischer Lehrausflüge. Wenn hierbei die verschiedenartigsten Handhabungen dieses Lehrmittels zutage treten, so ist das ganz gewiß kein Übelstand. In Zielsetzung und Wegrichtung ist individueller Vorbildung, Veranlagung, ört- lichen Mannigfaltigkeiten der allerweiteste Spiel- raum gegönnt. Schneider gibt Kenntnis vom Sachinhalt einer Reihe von Ausflügen, die in den Sommern 1917 und 1918 unter seiner Leitung im Auftrage der Hauptstelle stattfanden, und deren Teilnehmer eben die Lehrer waren, in deren Händen fortan der geologische Unterricht liegen soll. Eine Reihe hervorragend schöner Photographien von Auf- schlüssen, die von Berlin aus erreichbar sind und doch einen beträchtlichen Reichturn an Lehrstoff enthalten, sind am Schluß des Heftes beigefügt, das so selbst ein kurzer Exkursionsführer wird. Urbahn beschäftigt sich speziell mit der Verteilung des Stoffes auf die verschiedenen Nachbardisziplinen. Schulz und Böttger legen ein warmes Wort ein für die Fortbildung des Lehrers in der Mineralogie. Auf den reichen Inhalt im einzelnen ein- zugehen, ist hier nicht der Ort. Der Gesamt- eindruck haftet: Es weht frischer Wind auch in dem Lande, das von Natur über weite Strecken hin von sich aus nicht so leicht auf das schöne Studium lenkt wie der Westen und Süden unseres Vaterlandes. Und dieser Wind — ist älter als die Revolution ! Hennig. Janke, Dr. Hans, Schopenhauer im Lichte des Relativismus. Vortrag, gehalten in der Schopenhauergesellschaft Berlin 24. April 1918. Leipzig, Verlag Max Spohr (Ferd. Spohr). Es hat immer etwas Verlockendes, Gedanken der Gegenwart in den Schriften verehrter, alter Meister nachzuspüren, aber auch etwas Mißliches, denn es wird stets dem subjektiven Ermessen vorbehalten sein, zu beurteilen, inwieweit wirklich Parallelen oder Übereinstimmungen vorhanden sind, und es wird selten der Fall sein , daß man andere von seiner Meinung überzeugen kann. Das lehrt z. B. der Streit um Herder und Goethe; ob man sie wirklich als Vorläufer Darwins und Goethe als Vorläufer der mo- dernen Morphologen betrachten kann, wird ob- jektiv nie entschieden werden können. — Man kann ohne weiteres zugeben , daß man durch Schopenhauer an manche moderne Probleme N. F. XIX. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 301 erinnert wird, aber wenn man ihn geradezu als Vorläufer des Relativismus betrachten soll, wie der Verf. meint, so kann man ihn auch als Vor- läufer der Frau Curie ansehen, wenn er in einem Brief an Frauenstädt die Unvergänglichkeit der chemischen Elemente für sehr problematisch hält. „Unzerstörbar ist bloß die Materie, die ohne Form, folglich bloß gedacht, nicht ange- schaut wird. Sie allein ist die Substanz, deren Quantum nicht vermehrt, noch vermindert wer- den kann" im Gegensatz zum Stoff, der Materie, die mit der Form verbunden ist. Oder wenn Schopenhauer sagt: „welche Fackel wir auch anzünden, und welchen Raum sie erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht um- grenzt bleiben", so könnte man sagen, er sei der Vorläufer Du Bois-Reymonds gewesen. — Die Darstellung, die der Verf. in knappen Um- rissen von der Lehre Schopenhauers gibt, ist recht anschaulich, und es ist immer höchst erfreu- lich, wenn von naturwissenschaftlicher Seite auf einen Mann hingewiesen wird, der, wie Deussen sagt, die Natur der Dinge freier, tiefer, klarer und umfassender erkannt hat als irgendein anderer. Darum wirkt auch die Darstellung der Schopen- hau ersehen Lehre durch den Verf. klarer als seine Darstellung des Relativismus, was auch deswegen leicht erklärlich ist, weil der Verf. hier die Anschauungen Vieler und seine eigenen Ge- danken zu einer Einheit verarbeiten mußte. Es kann hier nicht auf Einzelheiten eingegangen wer- den; jedenfalls werden sich auf Grund der inter- essanten Ausführungen des Verf. manche seiner Hörer und Leser, auch wenn sie dem Kreis der Schopenhauergesellschaft angehören oder ihm nahestehen, bewogen fühlen, sich mit den mo- dernen Naturphilosophen etwas zu beschäftigen. Es wäre darum angebracht gewesen , wenn der Leser auf die einschlägige Literatur hingewiesen worden wäre. So sind keine Schriften von Mach, Ostwald, Wundt, Verworn, Roux usw. angeführt, obwohl die ersten beiden genannt werden und vom psychophysischen Parallelismus und Konditionismus die Rede ist. Schopenhauer selbst war übrigens der Ansicht, daß seine Philosophie durch Fortschritte in den Naturwissenschaften nicht modifiziert wer- den könne, „selbst wenn das Oxygen zersetzt und das Einhorn entdeckt würde". Dann wäre seine Philosophie Physik und keine Metaphysik. Wächter. Zahn, F., Gartenbaudirektor, Abteilungsvorsteher an der Gärtnerlehranstalt zu Berlin-Dahlem, Gartenlust und -Leben von alters her bis in unsere Zeit. Naturwissenschaftliche Bibliothek für Jugend und Volk. Herausge- geben von Konrad Höller und Dr. Georg Ulmer. 163 S. Verlag von Quelle u. Meyer in Leipzig. Geb. 2,50 M. Das vorliegende Buch wird vielen eine Freude sein und manchen anregen, sein Dach, seinen kleinen Hof oder sein Laubenland zu einem be- haglichen Aufenthaltsort zu gestalten. Das Buch zeichnet sich besonders durch die äußerst prak- tischen Winke aus, die der Verf. der reiferen Jugend und dem in Gartendingen noch unreifen Alter gibt, so daß jeder an der Hand der nach praktischen Gesichtspunkten angeordneten Pflanzen- verzeichnisse in der Lage sein wird, sich eine „erweiterte Wohnung" zu schaffen. Ganz beson- ders werden die technischen Anweisungen ge- fallen, die man sonst nicht in Gartenbüchern findet: der Bau einer Laube, die Behandlung des Daches, bevor man es zu einem Garten macht, die Herstellung der Blumenkästen usw. — Ein- geleitet wird das Büchlein durch einen kurzen Abriß der Geschichte der Gartenkunst bis etwa zum englischen Garten und seines Niedergangs. Die modernen Streitfragen werden nicht erörtert. Der Verf. versucht die Gestaltung der Gärten in Beziehung der Psychologie der Gestalter zu bringen, was in manchen Fällen sicher ein frucht- barer Gedanke ist. Der Verf. erklärt z. B. die künstlich verschnittenen Bäume wie überhaupt den Stil Lenotres aus dem absolutistischen Geist der Zeit Ludwig XIV. „Jeder Baum, jeder Strauch, jede Pflanze darf nur die Form annehmen, die sie haben soll Die Schere sorgt dafür, daß kein Zweig der Krone über die ihm zuge- billigte Grenzlinie hinauswächst." Es ist dem Ref. unbekannt, ob das eine in Kreisen der Garten- künstler allgemein anerkannte Meinung ist; jeden- falls berührt es widerspruchvoll, wenn an einer anderen Stelle „der strenge Schnitt" der Bäume bei den Holländern auf deren Hang zur Ordnungs- liebe und J.Kleinlichkeit" zurückgeführt wird. — Von den Abbildungen kommen einige wie z. B. die Yucca filamentosa selbst auf dem Kriegs- papier ausgezeichnet heraus, aber die Mehrzahl der Autotypien lehrt doch, daß es unter den heutigen Verhältnissen vorzuziehen ist, Strich- zeichnungen zu verwenden, die ohne Raster repro- duziert werden können. Daß das Werkchen dem Zier- und nicht dem Nutzgarten gewidmet ist, wird allen denen willkommen sein, die fünf Jahre lang nur Kohl und Rüben bauen mußten, und die sich allmählich wieder nach Blumen sehnen. Wächter. Wünsche, O., Die Pflanzen Sachsens und der angrenzenden Gegenden. Eine An- leitung zu ihrer Kenntnis. 11., neubearb. Aufl. Herausgegeben von Prof. Dr. Bernhard Schorler. Mit einem Bildnis O. Wunsches und 793 Abb. im Text. Leipzig und Beriin 1919, Verlag von B. G. Teubner. Preis 7 M. u. Teuerungszuschlag. — — , Die verbreit eisten Pflanzen Deutschlands, ein Übungsbuch für den naturwissenschaftlichen Unterricht. 7. Auflage. Herausgegeben von Prof. Dr. Bernhard S chorler. Mit 621 Abb. im Text. Leipzig 302 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 19 und Berlin 1919, Verlag von B. G. Teubner. Preis 4 M. und Teuerungszuschlag. Wer jemals Gelegenheit hatte, Anfänger nacli den verschiedenen „Floren" bestimmen zu lassen, wird immer gefunden haben, daß „der Wünsche" sich großer Beliebtheit erfreute. Besonders zu begrüßen ist in beiden Büchern die Vermehrung der kleinen, nicht nur instruktiven , sondern zum Teil auch künstlerisch vollendeten Abbildungen, die mit geringsten Mitteln immer das wesentliche zum Auscdruck bringen. P'ür den ,, kleinen Wünsche" würde es sich doch vielleicht empfehlen, im Vorwort, wenn nicht auf dem Titel, das in Betracht kommende Florengebiet etwas genauer zu präzisieren. Man findet im Text als Standort häufig Süddeutsch- land angegeben, aber in München z. B. ist das Buch nicht zu verwenden; es fehlen Primula fari- nosa, Andromeda, Arctostaphylos uva ursi, Apo- seris foetida und wohl noch andere, die dort in nächster Umgebung stellenweise recht häufig sind. Der Einband des zweiten Buches ist recht mangelhaft, hoffentlich ist das Rezensionsexemplar nur eine Ausnahme; denn kein Buch bedarf eines solideren Einbandes als eine Exkursionsflora. Trotz dem Leim- und Kleistermangel muß das erwähnt werden. Bei der Preisangabe ist gerade bei Büchern, die weite Verbreitung finden sollen, notwendig, daß der tatsächliche Preis angegeben wird. Es wird höchste Zeit, daß der Kriegs- aufschlag, der ja doch keine vorübergehende Er- scheinung mehr ist, endlich beseitigt wird, und daß wieder geordnete Verhältnisse im Buchhandel eintreten. Wächter. Plü§, Dr. Benjamin, Reallehrer a. D. in Basel, Unsere Bäume und Sträucher. Anleitung zum Bestimmen unserer Bäume und Sträucher nach ihrem Laube. Nebst Blüten- und Knospen- tabellen. 8. u. 9. verb. Aufl. Mit 156 Bildern. Freiburg i. B. 1919, Herdersche Verlagshand- lung. Geb. 3,20 M. — — , Unsere Getreidearten und Feld- blumen. Bestimmung und Beschreibung un- serer Getreidepflanzen mit Übersicht und Be- schreibung der wichtigeren Futtergewächse, P'eld- und Wiesenblumen. 4. u. 5. verb. Aufl. Mit 265 Bildern. Ebenda.' Geb. 5,20 M. — — , Unsere Beerengewächse. Bestim- mung und Beschreibung der einheimischen Beerenkräuter und Beerenhölzer, nebst Anhang: Unsere Giftpflanzen. 3. verb. Aufl. Mit 126 Bildern. Ebenda. Geb. 5,20 M. — — , Unsere Gebirgsblumen. 2. verb. Aufl. Mit 268 Bildern. Ebenda. 7,50 M. Die Plüßschen Bücher, die sich zunehmender Verbreitung erfreuen, sind allen denen zu emp- fehlen, die als vollständige Laien auf ihren Spazier- gängen die Namen der Pflanzen finden wollen. Sie werden meist ohne Schwierigkeit zum Ziel kommen, und wenn sie über die bestimmten Pflanzen mehr als den Namen wissen wollen, so finden sie in den Büchern weitere Auskunft und Anregung. Ref. hat konstatieren können, daß gerade diejenigen, die bisher nach dem Vorgang Heinrich Heines die Blumen nur in wohl- riechende und nicht duftende einteilten, am leich- testen den Namen auffanden ; ein Beweis für die geschickte und praktische Anordnung der Be- siimmungsschlüssel, die keinerlei Rücksicht auf Wissenschaftlichkeit nimmt. Über den didakti- schen Wert dieser Art ist man verschiedener Meinung, aber die Erfahrung lehrt, daß Kinder wie Erwachsene allzu leicht ermüden, wenn sie beim Bestimmen von Pflanzen nicht rasche Er- folge haben. Wer allerdings sammeln und sich eingehender und ernster mit der Floristik be- schäftigen will, muß natürlich zu umfassenderen „Floren" greifen, schon aus dem Grunde, weil er nicht sämtliche Spezialbücher des Verf. mit sich herumschleppen kann. — Jedenfalls sind die Bücher geeignet, die Freude an der Pflanzenwelt zu wecken, sie seien vor allem den vielen Sommer- frischlern empfohlen, die bislang nur Blumen ab- rupften, um sie nach Beendigung des Spazier- gangs fortzuwerfen. Wächter. Hegi, Dr. G., Alpenflora. .Die verbreitetsten Alpenpflanzen von Bayern, Osterreich und der Schweiz. Mit 22 1 farbigen Abbildungen auf 30 Tafeln. Vierte, verbesserte Auflage. Mün- chen 1919, J. F. Lehmanns Verlag. 7,50 M. Hegis Alpenflora erscheint hier nach ver- hältnismäßig kurzer Zeit in vierter Auflage; ein Zeichen, daß das Buch den Ansprüchen des Alpenwanderers genügt, der mit einem Blick eine ihm auffallende Pflanze identifizieren und das Wichtigste über ihre Lebensweise und Verbreitung in knappen Worten zusammengefaßt finden will. Sonst noch etwas zum Lobe dieses prächtigen und außerordentlich billigen Buches zu sagen, ist überflüssig. Wie zuverlässig und lebenswahr Hegis Abbildungen sind, weiß jeder Pflanzen- freund von seiner „Illustrierten Flora von Mittel- europa" her, zu der die erste Auflage der Alpen- flora seinerzeit einen Vorläufer bildete. Nienburg. Harries, C. D., Untersuchungen über die natürlichen und künstlichen Kaut- schukarten. Mit 9 Texifiguren. Berlin 1919, J. Springer. 26,40 M. Der Verf. hat in diesem Bande seine eigenen, sehr erfolgreichen Arbeiten über Kautschuk mit den Untersuchungen anderer Forscher zu einer zusammenfassenden , kritischen Darstellung der Chemie des Kautschuks vereinigt, die für den Chemiker und Techniker von großem Interesse ist, aber auch den Pflanzenphysiologen angeht, da in einem kurzen Abschnitt auch die Entstehung des Kautschuks in der Pflanze sowie die Form erörtert wird, in der er im Milchsaft auftritt. Im ersten Teile werden die Ergebnisse der Versuche mitgeteilt, durch chemische Eingrifi'e zu einem N. F. XIX. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 30.^ Verständnis des Aufbaus der natürlichen Kaut- schukarten zu gelangen. Hier ist auch Gutta- percha, eine vom Kautschuk nur physikalisch ver- schiedene Substanz, berücksichtigt. Ein folgender Abschnitt ist den bekannten Versuchen des Verf. gewidmet, aus Isopren und Butadien künstlichen Kautschuk aufzubauen. Verf nimmt in einer historisch - kritischen Auseinandersetzung nach- drücklich das Verdienst für sich in Anspruch, als erster eine sichere Methode zur Darstellung künst- lichen Kautschuks veröffentlicht zu haben, und weist die russischen und englischen Prioritäts- ansprüche als unberechtigt ab. In einem kurzen dritten Abschnitte werden die Konstituiionsformeln des Kautschuks und seiner Homologen erörtert. Der Schlußteil bringt neben den eingangs er- wähnten pflanzenphysiologischen Untersuchungen eine Darstellung der wissenschaftlichen Grund- lagen, auf die sich die Erkennung künstlicher Kautschuke bei der technischen Kautschukanalyse aufbaut. In einem „Ausblick" äußert sich Har- ries über die Zukunft der künstlichen Kautschuke bzw. über das Ziel weiterer Forschung etwa folgendermaßen. Künstliche Kautschuke können mit den natürlichen nur dann in erfolgreichen Wettbewerb treten, wenn sich jene für besondere Zwecke besser eignen als diese. Man solle also das einzigartige Polymerisationsvermögen des Butadiens, des Isoprens und des /:? y-Dimethylbuta- diens weiter nach Kräften zur Entfaltung zu bringen versuchen. Daneben sei die kolloid- chemische Seite des Problems gegenüber der rein synthetischen nicht zu vernachlässigen, da der technische Wert des Kautschuks wahrschein- lich auch von der Teilchengröße, also von dem Dispersitätsgrade abhänge. Auch die Veredlung des natürlichen Kautschuks durch geeignete che- mische Umwandlung sei nicht aus dem Auge zu verlieren. Miehe. Lassar-Cohn, Prof. Dr., Einführung in die Chemie in leichtfaßlicher Form. 5. verbesserte Auflage. X u. 304 Seiten mit 60 Abbildungen im Text. Leipzig und Hamburg 1919, Verlag von Leopold Voß. Preis geb. 1 1 M. und Teuerungszuschlag. Die nunmehr schon in fünfter Auflage er- schienene „Einführung in die Chemie in leicht- faßlicher Form" von Lassar-Cohn ist aus Vor- lesungen hervorgegangen, die der bekannte Königs- berger Chemiker im Beginn der Volkshochschul- bewegung in Deutschland zum ersten Male im Anfange der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Königsberg und später auch in München vor einem weiteren Kreise von Zuhörern gehalten hat, und trägt daher ihren eigenen, von dem der eigentlichen Lehrbücher der Chemie für Studierende abweichenden Charakter. Sie soll die Leser nicht nach Art eines Lehrbuches in die anorganische, organische oder analytische Chemie einführen, ihre Aufgabe ist vielmehr, ihnen „eine Übersicht über das ganze Gebiet der Chemie zu gewähren, ihnen einen Überblick über die geisti- gen Errungenschaften der Chemie zu geben, die • — in ihren P'rfolgen und Schlüssen von allge- meinstem Interesse — doch nicht über das (ic- biet der ,, Scheidekunst" hinausgehen, und ihnen ein Verständnis für das gesamte Wollen der Chemie zu erschließen". Diese seine Aufgabe hat das Buch in seiner ersten Auflage in geradezu musterhafter Weise erfüllt, und auch in der jetzt vorliegenden fünften Auflage dürfte es von allen denen , die einen ersten Einblick in die Chemie zu gewinnen wünschen, mit großem Nutzen ge- lesen werden. Eines aber läßt sich nicht ver- kennen : Seit der Veröffentlichung der ersten Auf- lage hat die Chemie so gewaltige Fortschritte ge- macht, daß das Buch ihnen trotz der in den späteren Auflagen gemachten Hinzufügungen und Ergänzungen nicht ganz hat folgen können, das Buch scheint dem kritischen Beurteiler nicht mehr ganz modern, es fängt an, das Schicksal vieler guter Bücher zu teilen, d. h. von der fortschreiten- den Wissenschaft überholt zu werden. Heute zeigen sich erst die ersten Spuren dieses Alterungs- prozesses, bald aber werden sich die jetzt erst angedeuteten Runzeln vertiefen, und dann möge — das ist der Wunsch des Berichterstatters — das schöne Lassar- Cohnsche Buch, anstatt in neuer Auflage zu erscheinen, durch ein neues Werk von gleichem Werte ersetzt werden I Berlin-Dahlem. Werner Meckler bürg. Fraenkel, Adolf, Einleitung in die Mengen- lehre. Eine gemeinverständliche Einführung in das Reich der unendlichen Größen. VI und 156 Seiten mit 10 Abbildungen im Text. Berlin 1919, Verlag von Julius Springer. Preis geh. 10 M. und Teuerungszuschläge. Die neuere Mathematik hat bei dem Versuche, in den praktisch so wichtigen Begriff der unend- lichen Größen auch theoretisch tiefer einzudringen, ein vollkommen neues und umfangreiches, an die Erkenntnistheorie grenzendes Forschungsgebiet erschlossen, die von dem im Jahre 1918 in hohem Alter verstorbenen Halleschen Mathematiker Georg Cantor begründete „Mengenlehre". Die Beschäftigung mit diesem äußerst interessanten, reizvollen und auch ungemein wichtigen Ge- biete erfordert die P^ähigkeit zu scharfem, logi- schen Denken, setzt aber besondere, über die Schulweisheit des Gymnasiasten hinausgehende, mathematische Kenntnisse nicht voraus. So konnte denn auch der als Privatdozent an der Universität Marburg wirkende Verfasser, der offen- bar eine sehr bemerkenswerte Lehrbefähigung besitzt, „Kriegskameraden (Nichtmathematikern) gelegentlich öde Stunden im P"elde durch PJin- führung in die Gedankengänge der Mengenlehre verkürzen", und wenn er die Darlegungen, die er seinen Kriegskameraden gegeben hat, nunmehr in Buchform veröffentlicht hat, so wird ihm ein weiter Kreis von Lesern für seine Arbeit dankbar sein. Denn das vorliegende Buch ist wirklich gut, 304 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 19 weil es ein ungemein wichtiges Teilgebiet des menschlichen Strebens zur Erkenntnis in ausge- zeichnet 'klarer und doch gründlicher Weise be- handelt und die sachlichen Schwierigkeiten, die die' Mengenlehre heute noch bietet, nicht ver- tuscht, sondern deutlich hervorhebt und erläutert. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Löns, H., Wasserjungfern. Geschichten von Sommerboten und Sonnenkindern. 10. Aufl. Leipzig 1919, R. Voigtländer. 3,50 M. Das schon in 10. Aufl. vorliegende Buch von Hermann Löns zeigt alle die Vorzüge seiner Darstellungskunst. Selten finden sich starkes Naturgefühl, scharfe, auch das kleinste erfassende Beobachtungsgabe und dichterische Gestaltungs- kraft so vereint wie bei ihm. Hier sind die Ge- wässer, die Tümpel, Teiche der Schauplatz der Schilderungen. Ihre außerordentliche Anschaulich- keit und Treue läßt in dem Naturfreunde die Jugendzeit wieder aufsteigen, jene Tage, da er im Pflanzenwuchs des Ufers hockend, hineinschaute in das gläserne Wunderreich, über das die Li- bellen schössen. Diese sind es hauptsächlich, die Löns nicht müde wird zu schildern. Miehc. Anregungen und Antworten. In Nr. 5 (Nalurw. Wochenschr. IX) S. 77 referiert Herr Dr. Frick hinger eine Arbeit von Wilhelm Schuster über ,,den Unterschied von Raben- und Xebelkrähe". Obwohl ich kein Orniihologe bin und meine diesbezüglichen Kennt- nisse recht bescheiden sind, seien mir dennoch einige Bemer- kungen gestattet. Schuster will beide Krähenarten ,, gerade auf Grund des biologischen Verhaltens der beiden Vögel" getrennt wissen. Bemerkenswert scheint mir an seinen Aus- führungen, wie er das biologische Verhalten kenn- zeichnet. Zunächst durch die Nahrungswahl : die geschieht bei der Nebelkrähe oft an bzw. über Gewässern, bei der Rabenkrähe sehr selten. Schuster selbst erklärt diesen Unterschied ,, biologisch sehr leicht" dadurch, dafl die Nebel- krähe in überwiegend wasserreichen Gegenden lebt ,,also sich auch leichter an das Wasser gewöhnt". Sic! Es ist mir un- verständlich, wie alsdann aus solchem unterschiedlichen Ver- halten bei der Nahrungswahl ein — biologischer Unter- schied gefolgert werden kann 1 Wenn der gleiche V^ogel seine Nahrung das einemal vorwiegend zu Lande, also auf bequeme Weise, erlangen, das anderemal vorwiegend in Gewässern finden kann, so ist es offenbar ein logisches Postulat, daß er die Nahrung je nach den Umständen eben an ganz verschie- denen Orten auch sucht. Im Norden, wo die Winter lang sind, die Nahrung zu Lande also knapp zu sein pflegt, ist die Nebelkrähe einfach zur Nahrungssuche in den vergleichsweise nahrungsreichen Gewässern gezwungen. Sieht man sie doch sogar im Treibeis nach den darin häufig mitgeführten Speise- resten suchen. Daß sie es ,, lieber" tut als die Rabenkrähe, wie Schuster sich ausdrückt, ist damit nicht im Entferule- sten bewiesen. Aber gerade das ,, Liebertun", sofern von solchem Anthroposophismus hier Gebrauch gemacht werden darf, wäre das biologisch Unterscheidende! Denn das be- ruht stets auf funktionellem Anderssein, nicht auf Ver- schiedenheiten der Lebenshaltung, die die Umstände erzwingen. Von der Farbe abgesehen, bilden Raben- und Nebel- krähe biologisch unbedingt eine Einheit. Ihre morpho- logisch-anatomischen Unterschiede sind m. W. verschwindend gering, vor allem aber paaren sich beide Krähen, wo sie nebeneinander leben, miteinaivder, und zwar paaren sie sich fruchtbar. Das beweist doch deutlich ihre organo- logische Einheit. Die einander so ähnlichen Nonnen- und Sumpfmeisen paaren sich angeblich nie fruchtbar. Erst auf solchen biologischen Erscheinungen aber kann man endgültige Schlußfolgerungen aufbauen, nicht auf Anpassungserscheinun- gen, deren Auswertung in der Art Sehnst ers mit Bi olo gie wenig mehr zu tun hat. Hans Heller. Literatur. Ziehen, Prof. Dr. Th., Lehrbuch der Logik auf posi- tivistischer Grundlage mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik. Bonn '20, A. Marcus u. E Weber. 47,50 M. Schaffer, Prof. Dr. J. , Vorlesungen über H'stologie und Histogenese. Mit 589 Abbildungen. Leipzig '20, M. Engelmann. 44,80 M. Biologische Arbeit. Heft 7 : Wie untersuche ich einen Pflanzenverein f Von M. Kästner. 2,40 M. ; Heft 8: Das Herbarium. Von Dr. E. Beyer-Biedenkopf. 0,85 M. ; Heft g: Der innere Bau der Hausmaus. Von H. Stridde. l,i;o M.; Heft 10: Handhabung und Pflege des Mikroskops. Von M. Voigt. 1,80 M. Freiburg i. Br., Tli. Fischer. Oettli, Dr. M. , Schulversuche über die Verdauung. Freiburg i. Br. '19, Th. Fischer. 1,20 M. Kist ner, Prof. Dr. A. , Geschichte der Physik I u. II. 2. verb. Aufl. Sammlung Göschen. Hoffmeister, C, Planetenbüchlein für das Jahr 1920. Mit 2 Tafeln. Stuttgart '20, Frankhsche Verlagshandlung. Hensel, K., Farben, Farbensehen. Frankhsche Verlags- handlung, Stuttgart. 3 M. Sammlung Göschen. Lang, Prof. Dr. R., Experimental- physik I. Neger, Prof. Dr. F. W., Die Nadelhölzer. Jeder Band 2,40 M. Plüß, Dr. B., Unsere Gebirgsblumen. 2. verb. Aufl., mit 268 Bildern. Freiburg i. Br. '20, Herdersche Verlags- handlung. 7,50 M. Mo lisch, Prof. Dr. H., Pfla der Gärtnerei. 3. neubearb. Aufl. '20. G. Fischer. 20 M. Pl-ibram, Prof. Dr. E. , De vorm. Kralschen Sammlung von Mikroorganismen. Mit einem Titelbild und 17 Abbild, auf 5 Tafeln. Wien '19. zenphysiologie als Theorie Mit 145 Textabbild. Jena gegenwärtige Bestand der IllllHlt: A. March, Die Theorie der allgemeinen Relativität, (i Abb.) S. 289. — Kleinere Mitteilungen: K. Andrue, Die Autorschaft Beringers an der ,,Lithogrophia W'irceburgensis". S. 295. A. Johnsen, Wie würden Kristalle in milliardenfacher Vergrößerung aussehen? S. 296. — Einzelberichte: J. A. Hoffmann, Bingelkrautvergiftungen bei Haustieren. S. 29S. Kurt Pietzsch, Die Braunkohlenvorräte des Freistaates Sachsen. S. 298. C. Kelber, Oxy- dation von Kohlenwasserstoffen. S. 299. — Bücherbesprechungen: Beiträge zum geologischen und mineralogischen Unterricht. S. 300. Hans Janke, Schopenhauer im Lichte des Relativismus. S 300. F. Zahn, Gattenlust und -Leben von alters her bis in unsere Zeit. S. 301. O. Wünsche, Die Pflanzen Sachsens und der angrenzenden Gegenden. Die verbreitetstcn Pflanzen Deutschlands. S. 30I. Benjamin l'lüß, Unsere Bäume und Sträucher. Unsere Getreide- arten und Feldblumen. Unsere Beerengewächse. Unsere Gebirgsblumen. S. 302. G. Hcgi, Alpenflora. S. 302. C. D. Harri es, Untersuchungen über die natürlichen und küntlichen Kautschukarten. S. 302. Lassar-Cohn, Ein- führung in die Chemie. S. 303. Adolf Fraenkel, Einleitung in die Mengenlehre. S. 303. H. Löns, Wasserjungfern. S. 304. — Anregungen und Antworten: Unterschied von Raben- und Nebelkrähe. S. 304. — Literatur: Liste. S. 304. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. IL Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. 0. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folffe 19 der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den i6. Mai igao. Nummer 30. Die ersten^ Nachrichten und Bilder von der Kokospahue und vom Drachenbaum. [Nachdruck verboten.l Von Prof. Dr. Seb. Killermann, Regensburg. Mit I Abbildung. Im Anschluß an frühere Arbeiten über die Ge- schichte der Pflanzen möchte ich hier zwei exoti- sche Gewächse besprechen, die schon frühzeitig das Interesse der Menschen erregten. Wie wir sehen werden, sind gerade deutsche Seefahrer, Gelehrte und Künstler an der ersten Beschreibung und Darstellung der beiden Bäume in hervor- ragendem Maße beteiligt gewesen. I. Kokospalme (Cocos nucifera L.). — Die Heimat dieser zwischen den Wendekreisen weit verbreiteten und wichtigen Palme ist nicht ganz sicher gestellt. De Candolle^) entschied sich für den indischen Archipel. Die Ausbreitung nach China, Ceylon und dem kontinentalen Indien geht nach ihm nicht weiter als 3 — 4000 Jahre zurück ; die durch das Meer an den Küsten Amerikas und Afrikas bewirkten Wanderungen datieren, wie er bemerkt, vielleicht aus älteren Zeiten. In neuerer Zeit traten besonders F.W. Neger") und Cook und mit ihnen Fr. S t u hlma n n ') für den ameri- kanischen Ursprung dieser Nutzpalme ein, deren Verwandte alle in der Neuen Welt zuhause sind. „Die Heimat", sagen die ersteren, „ist vermutlich das andine Gebiet von Kolumbia, wo Cieza de Leon und später A. v. Humboldt im oberen Tale des Magdalenen-Stromes, etwa loo Meilen vom Meere entfernt, wiederholt Kokospalmen an- trafen". Die Verbreitung der Kokospalme wird meist auf Meeresströmungen zurückgeführt (so schon von Darwin, dann auch von Stuhlmann a. a. O. S. 24). Doch ist dies nach anderen *) fraglich ; denn die Nuß, obwohl für das Schwimmen ein- gerichtet, verliert im Wasser bald ihre Keimkraft, ist sehr empfindlich gegen Hitze und Feuchtig- keit, fault leicht und bedarf sehr der Pflege. Kokospalmen sind ein untrügliches Zeichen dafür, daß eine Insel bewohnt ist oder es wenigstens bis vor kurzem noch war (Neger). In seiner Arbeit spricht O. F. C o o k ^) den Gedanken aus, daß die Kokospalme gleich der ') Der Ursprung der Cullurptlanzen. Übers, v. Goeze (Leipzig 18S4) S. 552. ^) Über Ursprung, Geschichte und Verbreitung der Kokos- palme. Globus Bd. 82 (1902) S. 91. ^} Beiträge zur Kulturgeschichte von Ostafrika (Berlin, Reimer 1909) S. 16 ff. u. 858. *) Vgl. A. Engler, Entwicklungsgeschichte der Pflanzen- welt II. Bd. (Leipzig 18S2) S. iSsf. '■) Contr. U. S. Nat. Herbarium Vol. VII (1901) Nr. 2 (nach Stuhl mann a. a. O., S. 246 Anm.). sicher amerikanischen Batate und anderen Ge- wächsen schon in vorhistorischer Zeit von Amerika nach den polynesischen und malayischen Inseln gebracht wurde und zwar durch den Menschen. Es wäre hier also die Wanderung den entgegen- gesetzten Weg gegangen, den sonst die Kultur- pflanzen in früheren Zeiten gemacht haben. Zu bemerken ist noch, daß eine Anpflanzung des durchaus tropischen Baumes in Europa selbst an der Riviera im Freien zu keinem Erfolg geführt hat.i) Bekannt wurde den Kulturvölkern des Abend- landes zuerst natürlich nur die auffallend geformte und große Frucht; sie bekam von ihrer Herkunft den Namen nux indica (d. h. indische Nuß). Apollonius von Thyana, ein neupythagoreischer Philosoph des i. Jahrh., Verehrer des Sonnen- gottes, soll die erste Nachricht von dieser Nuß, die er in Hindustan gesehen, nach dem Okzident gebracht haben.-) Die erste genauere Darstellung der Kokos- palme, die anscheinend auf Autopsie beruht, gibt Kosmas Indikopleustes (d. h. Indienfahrer)'), Mönch in einem Sinaikloster, der vorher Kauf- mann in Alexandrien war und als solcher nach Arabien und Ostafrika, wohl aber nicht nach Indien kam. Er schrieb um die Jahre 547 — 549 n. Chr. (unter Kaiser Justinian) ein geographisches Werk „Christliche Ortskunde" (Christiana Topo- graphia),^) eine in der Hauptsache etwas phan- tastische Arbeit, aber im Nebenwerk nach K r u m - bacher nicht ohne Bedeutung. Kommen doch hier zum erstenmal Schilderungen von einigen afrikanischen und indischen Tieren und Pflanzen vor : Giraffe, Flußpferd, Pfeffer, Kokospalme usw. Das Buch ist in einer aus dem 9. Jahrhundert stam- menden vatikanischen Handschrift auch illu- striert auf uns gekommen. Das Kapitel von der Kokospalme, das uns hier näher angeht, ist mit A r g e 1 1 i a überschrieben und lautet : ^) „Ein anderer Baum (vorher war vom ') Strasburger, Ed., Streifzüge an der Riviera, 2. Aufl. S. 34- -) Nach Ch. Pickering, Chronological history of Planis (Boston 1879) S. 428. ^) Vgl. K. Krumbacher, Geschichte der byzantini- schen Litteratur von Justinian bis zum Ende des oströmischen Reiches (527 — 1453). 2. Aufl. (München 1897) S. 412 f. ■*) Migne Patrologia Ser. graeca tom. 88; Paris 1864. ^) TÖ de äX}.o Ttoi' doyeXlUor iojc liöi' lEyo^tiit'cof, tovt- ioTi itüv fisydlcav xa^vaiv rwv 'h'Sixiäv. HaQaXkdTTei Sk Tov ^oiriKO-i ovSev^ ttIi^v ÖTi Tskstöreodr Ion y.al ir i^ye« 3o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 20 Pfeffer die Rede) ist der Träger der Argellien, d. i. der großen indischen Nüsse. Er unterscheidet sich in nichts von einer Dattelpalme, nur daß er höher, dichter und mit größeren Zweigen ausge- stattet ist. Eine andere Frucht bringt er nicht hervor, als zwei oder drei Kolben und ebenso- viele Argellien. Der Geschmack derselben ist gar mild und süß, wie der von jungen Nüssen. An- fangs ist sie voll von sehr süßschmeckendem Wasser, das anstatt Wein den Indiern zum Ge- tränke dient. Diese außerordentliche süße Flüssig- keit wird rhonchosura genannt. In dem gepflück- ten und sich haltenden Argellion pappt sie mit der Zeit an der Schale ; das innere Wasser aber bleibt flüssig, bis es auch selbst schwindet. Wird es längere Zeit aufbewahrt, so gerinnt auch der Kern und wird ranzig und kann nicht mehr gegessen werden." Es handelt sich hier, wie man sogleich er- kennt, um die sog. Kokosmilch und ihren Ge- brauch im frischen Zustande. Der Name Argel- lion ist nicht anders als das gräzisierte Sanskrit- wort naryal, narikal (s. Stuhl mann a. a. O. S. i8); rhonchorura dürfte vielleicht mit den Wörtern orraqua und sura, die Garcia (s. u.) anführt, zusammenhängen. iVligne bringt auf einer späteren Seite (Sp. 469—470) auch reine rohe Abbildung unserer Palme mit der Überschrift „Karia indika" (d. h. indische Nüsse); es ist ein hochstämmiger Baum mit anscheinend gefiederten Blättern, die in einem ScJiopf beisammen stehen ; zu beiden Seiten hängen an ziemlich langen Stielen je drei große nußähn- liche Früchte herab. Ich denke, daß das Bild eine Kopie der Abbildung in dem bezeichneten vatikanischen Kodex ist (den ich bisher noch nicht eingesehen habe). Bei Isidor von Sevilla finde ich keinen Hin- weis auf die Kokosnuß. Vielfach aber sprechen von ihr die arabischen Schriftsteller ^) jener fernen Zeit, dann dürften auch die Chroniken und Reise- berichte der italienischen Handelsstädte und Kauf- leute manches enthalten. Albertus Magnus (f 1280) weiß nur eini- ges über die Nuß zu erzählen; er nennt sie nux indica (L. de vegetabilibus VI § 152).-) „Und bei ihr", sagte er,") „ist besser die neue, die von x«f if nd/ec xat sv toH ßaiocs. Ov ßd)J.Et Se xn^iTZÖt'p si ///} Svo ^ T^ia ojidüia dnö r^twi' d^yelKuor, ^'Kotl äs 7} yevoti yXvxsta ndvv xai r^deTa, wä rct xd^i'a rä '/ktOQd. 'E^ ^i!'/J}-o fiEV Tov vSaros ye^ei yXvxioü ndvv^ ä&ep xai e^ aincöv nivov' oiv OL ^Ivdoi dv7l oifov, Aeyejai öe jd Ttti'ö/iiEvov ^Poyxo- oov(ia fjSv Tzdpv. T()vyiö/iefov de xal na^afievov avrd tö dQyE}Xior^ nriypvTai rö vä(o^> ai)iov^ xarä n^Aßaatv ro tn't 70 boTQaxov avroüj xal fiertt ib vSo)^ slg tö fiEOOv äTTrjxjor^ /iiex(Hi; örov xrti ai'jd cxA/tt//. Edr (ie y.at ttXeov naon/tsirr, layyitEt ö y.annb^ ai'tov ö TiETTtjytos, xiü ov Svi-azai et t ßii(i>!)ijpnt. (Migne 1. c. Tom. 88, Sp. 442, 445.) ') Pickering (a. a. O. S. 428) nennt Ebn Wahab, Abn Zaid, Rhazcs, Haly Abbas, Aviccnna und Meme. ^) Jessen C, edit. Berolini 1S67 S. 416. ^) Est autem adhuc nux, quae vocatur indica. Et in illa melior est recens, vehementis albedinis; et illa in se habet aquam, quae cum non invenitur in ea, Signum est, quod est außerordentlicher Weiße ist (gegenüber der Hasel- nuß, die er vorher behandelte); und sie hat in sich Wasser; wenn es nicht in ihr gefunden wird, ist es ein Zeichen, daß sie alt ist. Doch ist die Schale schwarz und der Kern ist in sie einge- hüllt wie die Kerne anderer Nüsse. Sie ist nicht von schlechter Nährkraft, wohl schwer für den Magen, schadet aber wenig" usw. Die Beschrei- bung ist (nach Jessen) aus Avicenna über- nommen. Marco Polo sah auf seiner berühmten asia- tischen Reise (I. Buch, i8. Kap.) um 1270 in Or- mus am persischen Meerbusen Schiffstaue, die aus Kokosfasern gefertigt waren. ^) In der Zeit der großen Entdeckungen werden die Kenntnisse über den Träger der vielbewunder- ten Früchte genauer. Wohl einer der ersten Be- richte über die tropischen Palmbäume findet sich in Balthasar Sprengers Indienfahrt 1 505/06.'-) Von Ostafrika erzählt dieser von Vils bei Füssen am Lech gebürtige, in Diensten der Welser stehende Kaufmann: Es „ist vil feldts darin mit fruchten von Bonen und Erweissen (Erbsen). Es wachsen auch Palmitenbaum darin, da von hat das Volck Wein, Essigk, Ole, Wasser, Nuß, Honig, Zucker usw. Vnd haben von diessez bäum wol sechtzeherley frucht vnd ander wunderbarliche Dinge, die mir alle zu offenbaren vertrußlich vnd zu lange, weil daruf ging zu beschreiben". Wenn auch die Kokosnuß nicht ausdrücklich genannt wird, dürfen wir sie wohl unter diesen Palmen vermuten. Der Holzschnitt im Original der Reisebeschreibung stellt allerdings keine Palme, sondern einen Laubbaum vor mit einzelnen runden Früchten. In dem etwa gleichzeitigen Bericht von Hans Mayr, der als königlicher Handelsagent die- selbe Reise mitmachte, werden Kokosnüsse aus- drücklich genannt: „Die Palmen tragen hier (Ostafrika) keine Dat- teln; es gibt hier solche, die Wein geben, wovon sie auch Essig machen. Und diese geben keine Kokosnüsse, sondern das sind die Früchte der anderen. Diese Kokosnüsse sind so groß wie gute Melonen, sie haben eine dicke F'aserhülle, aus der sie all ihre Stricke machen, und innen haben sie eine Frucht wie ein großer Tannenzapfen ; sie wird '/a Schoppen Flüssigkeit enthalten, die an- genehm zu trinken ist; ist die Flüssigkeit heraus, dann bricht man sie auf und ißt sie; innen hat sie den Geschmack von Nüssen, die nicht ganz antiqua. Tarnen testa eius est nigra, et nucleus eins est in- volutus in tela sicut et nuclei aliarum nucuni. ... Et est non mali nulrimenti, sed gravis stomacho : sed parum nocet. Et äuget coituni, et alias raullas habet opcrationes. L. c. ') H. Lehmke, Die Reisen des Venezianers M. Polo im 13. Jahrh. (Hamburg 1907) S. 103. ^) Kr. Schulze, B. Springers Indienfahrt 1505 — 06 mit Neudruck seiner ,, Meerfahrt" vom Jahre 1509. Straßburg 1902 S. 49. Vgl. Kr. Hümmerich, Quellen und Untersuchungen zur Kahrt der ersten Deutschen nach dem portugiesischen In- dien 1505 — 06. .Ablidl. der K. Bayer. Akd. d. Wiss. phil.- histor. Kl. X.\.\ Bd. 3. .Xbhdlg. (München 1918) S. 113. N. F. XIX. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 307 reif sind. Und solche Kokosnüsse trocknen sie und gewinnen daraus Öl in reichlicher Fülle." ') Eine zweite genauere Nachricht über die Ko- kospalmen bringt Pigafetta,-) der mit Magellan gerade vor 400 Jahren (1519 — 21) die Welt um- segelte. Die „Cocosnüsse" schreibt er, „sind Früchte von einer Art Palmenbaum, der den Ein- wohnern (auf den Inseln der Südsce) ihr Brot, ihren Wein, ihr Öl und ihren Essig gewährt. Um den Wein zu erhalten, machen sie in der äußeren Spitze des Palmenbaums einen bis auf das Mark gehenden Einschnitt, aus welchem ein Saft, der dem weißen Most gleicht, aber ein wenig säuer- lich ist, tropfenweise herausdringt. Um diesen Saft aufzufangen, befestigt man Röhren einer Schilfart, die so dick wie ein Bein sind (Bambus), an dem Baum, und leert sie täglich zweimal morgens und abends aus. Die Frucht dieses Palmbaums ist so dick wie der Kopf eines Men- schen, zuweilen noch größer. Die erste Rinde des Baums ist grün und zwei Finger dick : sie ist aus Fasern zusammengesetzt, die die Einwohner zu Seilen verarbeiten, an welchen sie ihre Barken befestigen. Dann findet man eine zweite Rinde, welche härter und dicker als die Nußschale ist. Diese Rinde verbrennen sie und benutzen die Asche. Im Innern ist ein weißes, ohngefähr finger- dickes Mark enthalten, welches zu Fleisch und Fisch, wie Brot, gegessen wird. Im Mittelpunkt dieses Marks sowohl als der Nuß trifft man einen klaren, süßen und stärkenden Saft an. Wenn man diesen Saft in ein Gefäß gegossen hat und ihn ruhig stehen läßt, verdickt er sich und be- kommt die Dichtheit eines Apfels. Um das Öl zu erhalten, läßt man das Mark der Nuß mit ihrem Safte faulen (d. h. gären); dann siedet man diese Mischung und erhält dadurch ein Öl, das so dick wie Butter ist. — Den Essig bekömmt man, wenn der Saft ruhig stehen bleibt und der Sonne aus- gesetzt wird, wodurch er zu einer Säure über- geht, die ihn dem Essig von weißem Weine ähn- lich macht. Wir bereiteten auch ein Getränk, das der Ziegenmilch ähnlich war, indem wir das Mark zerrieben, es in seinem eigenen Safte ein- weichten und dann durch ein leinenes Tuch drückten. Die Cocosbäume sind dem Palm- bäumen ähnlich, welche Datteln tragen; aber die Stämme der letztern haben nicht so viele Knoten, ohne doch glatt zu sein. Von zwei Cocosbäumen, wovon eine Woche um die andere der eine an- gebohrt, der andere ruhig gelassen wird, damit nicht das beständige Abzapfen des Safts sie ver- derbe, kann eine Familie von zehn Personen leben. Man versicherte uns, daß ein Cocosbaum ein Jahr- hundert alt werde." Ebenso sprechen auch die ersten Entdecker und Eroberer des amerikanischen Kontinentes von dieser Palme. Columbus sah Kokosnüsse auf seiner 4. Reise in Zentralamerika (nach Picke- ring a. a. O. S. 428). Oviedo spricht von sol- chen Palmen, die in der Provinz des Kaziken Chimam auf der pazifischen Seite des Isthmus wuchsen. Petrus de Cieza de Leon, der 1532 bis 50 Südamerika bereiste, und andere Schriftsteller fanden den Baum weit verbreitet. Über die indischen Kokospalmen handeln in jener Zeit besonders die portugiesischen und spanischen Arzte Garcia ab Horto*) und Christophorus a Costa, ^) deren Werke von Clusius 1593 in lat. Übersetzung herausgegeben wurden. Die Abhandlungen sind interessant und wissenschaftlich gehalten und auch illustriert mit Holzschnitten. Die Frucht heißt bei ihnen bereits Coccus; der Name wird auf das portugiesische Wort Coquo, das Affe oder Larve bedeutet, zurückgeführt, weil die Nuß wegen der drei Öffnungen einem Affen- kopf ähnlich sehe. Der Baum ") selbst sei groß und schön, habe Palmenblätter und Blüten wie die von der (Edel-) Kastanie . . . wachse gerne auf sandigem Boden am Meeresstrand . . . die Nüsse werden eingepflanzt und die jungen Bäum- chen verpflanzt; in wenigen Jahren wachsen sie heran und bringen bei guter Pflege bald Früchte. Im Winter müsse man sie mit Asche oder Mist zudecken, im Sommer begießen; besser wachsen sie, wenn man sie an den Häusern entlang pflanzt, da sie an Schmutz und Kot Freude zu haben scheinen. Es wird dann die große Verwendbar- keit des Holzes, der Blätter und der Nüsse dar- getan, deren Kern im getrockneten Zustand Copra*) heiße und zur Ölgewinnung wertvoll sei. Ich will diese Stellen nicht ausführlich wiedergeben, da wir darüber schon aus Pigafetta einiges er- fahren haben. Auch die große seltene Maldiviennuß (wohl Lodoicea) wird vorgeführt und bezüglich der Maldivieninseln der (moderne) Gedanke erwogen, ob sie nicht die Reste eines versunkenen Konti- nentes wären. Clusius gibt dann auf Grund eigener Erfahrungen einige Anmerkungen dazu, daß er aus Antwerpen große Palmenblätter er- ') Hummer ich a. a. O. S. 139. Aus dem Portugiesi- schen übersetzt. ") Anton Pigafettas Beschreibung der von Magellan unternommenen ersten Reise um die Welt. (Übersetzung, Gotha, bei Justus Perthes iSoi) S. 71 u. 72. ') Aromatum et Simplicium aliquot medicamentorum apud Indos nascentium historia etc. . . . Carole Clusio; 4 edit. (Antverpiae 1593) pag. 102 — III. ") Aromatum et medic. in Orientali India nascentium Über etc. Car. Clusii opera; 2. edit. (ebendort) pag. 261 bis 265. ä) Arbor est vastae magnitudinis, foliis Palmae aut Arun- dini similibus, aliquantulum tamen latioribus : flore Castaneae. Gaudet arenoso solo et mari vicino . . . Seruntur ipsae nuces, ex quibus enatae plantae transplantantur: et paucis annis adolescunt et fructiferae liunt, praesertim si diligenter colantur. Nam hieme, cinere aut stercore conspergi volunt, aestate aqua rigari: laetiores tamen evadunt, si secus aedificia pangantur, quia videntur sordibus et luto gaudere, (L. c. pag. 104.) ■•) Das Wort, das hier zum erstenmal erscheint, wird von Yule und Burnell, Hobson-Jobson ; a glossary of coUo- quial anglo-indian phrases etc. (London Murray 1903) S. 253 von indischen Wörtern mit ähnlichem Glcichklang abgeleitet (s. Stuhlmann a. a. O, S. 21 Anm.). 308 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 20 halten, in Lissabon Schalen der Maldiviennuß ge- sehen usw. 2. Drachenbaum (Dracaena Draco L). — Dieser ebenfalls zu den Monokotylen aber mehr in die Nähe der Liliaceen zu stellende Baumtypus hat ein beschränktes Verbreitungsgebiet: Sokotra, Kanarische Inseln und die gegenüberliegenden Ecken des afrikanischen Kontinents. Der Drachen- baum wächst wie ein dikotyles Holzgewächs in die Dicke; er wird gegen 20 m hoch und erreicht ein hohes Alter.') Die Äste strahlen mehr weniger von einem Punkte aus, sind gabelig verzweigt, eigentümlich verdickt (gewulstet) und tragen Schöpfe von über I m langen schwertförmigen Blättern. Man unter- scheidet jetzt 4 Arten: Dr. Draco L. auf den Kanarischen Inseln, Cinnabari Balf. f. auf Sokotra, Ombel Kotschy et Peyr. in Nubien und schizantha Bak. im Somaliland.-') Aus der Rinde schwitzt von selbst oder durch Wunden ein Harz, das sich blutrot färbt (Drachenblut) und zu Lackarbeiten u. a. brauchbar ist. Erwähnt wird das Drachenblut als „indischer" Zinnober (gummi Cinnabari) bereits bei Dios- corides und Flavius Arrianus, einem griechi- schen Schriftsteller, der unter Kaiser Hadrian Konsul und Statthalter von Kappadokien war. In seinem Berichte über die Umschiffung Arabiens (Anabasis Alexandru) heißt es: „Der sog. indische Zinnober (Kinnabari) wird auf der Insel des Dios- kurides (d. i. Sokotra) von Bäumen, aus denen er tröpfelt, gesammelt." ^) Der Baum selbst aber wird von den Alten nicht genauer beschrieben. Das bei S trabe (IV 5. 6)^) erwähnte Gewächs, das in Gades (dem heutigen Cadix) mit ellen- langen, nur 4- fingerbreiten, dolchförmigen Blättern und zur Erde geneigten Blättern wachsen soll, kann wohl nicht als Drachenbaum angesprochen werden. Überhaupt scheint die westliche Quelle für diese Droge erst mit der Entdeckung der kanarischen Inseln (1341) erschlossen worden zu sein. C. Clusius ist der erste Botaniker, der dem seltenen Baum in seiner Pflanzengeschichte Spaniens'') eine eingehende Beschreibung widmet. Er hatte das Gewächs im Jahre 1564 während seines Aufenthaltes in Lissabon hinter dem Kloster der hl. Jungfrau zur Gnade (Divae Virgini Sacrum ä Gratia) zum erstenmal gesehen.") Der etwa acht Handbreiten dicke (also schon ziemlich alte) ') Ein auf Teneriffa bis zum Jahre 1868 stehendes Ex- emplar wurde auf 5000 Jahre geschätzt; vgl. Leunis-Lud- wig, Synopsis II. Bd. S. 801. Das Alter wird vielfach zu hoch angegeben; vgl, R. v. Wettstein a. a. O. ") Vgl. R. V. Wettstein bei Karsten und Schenk, Vegetationsbilder 111. R. Heft 5 (Jena, Fischer). ^) Nach L. Reinhardt Kulturgeschichte der Nutz])flanzen II. rsd. S. 143. ■*) Vgl. Pickering a. a. O. S. 442. •'') Caroli Clusii ;\lreb. rariorum aliquot stirpium per Ilispaniam observatarum historia .... Antverpiae 1576 p. II — 15. Abb. p. 12. *) In Helem bei Lissabon wachsen nach meiner Beobach- tung (April 1909) heute noch Drachenbäume im Freien. Baum wurde von den Mönchen nicht beachtet und war ihnen unbekannt; sie behaupteten, daß er weder Blüten noch Früchte trage, was sich aber im nächsten Jahre als unrichtig erwies, da Clusius von einem Freunde einen von eben diesem Baum abgerissenen Zweig erhielt. Das Stück war etwa fußlang und mit vielen trauben- artig gestellten Früchten besetzt; die Farbe dieser gelblich, der Geschmack säuerlich, die Größe un- gefähr die einer Kirsche. Die Früchte wachsen wahrscheinlich auf der Höhe der Krone gleich denen der Dattelpalme; eine Spatha (wie bei der letzteren) wurde von Clusius nicht beobachtet. „Der Drache", schreibt Clusius weiter,') „(einen besseren Namen finde ich nicht), ist ein stolzer Baum, einer Pinie ähnlich von Ferne ge- sehen; ebenso gleich und immer grün sind die Zweige. Der Stamm ist dick, 8 oder 9 zwei- ellenlange, gleiche und nackte Äste tragend ; diese spalten sich in der Krone und endigen mit weiteren je drei oder vier ellenlangen oder wenig größeren Ästen von Armsdicke, auch nackt und blattlos; sie tragen oben Köpfe voll von ellenlangen Blättern, von der Breite eines größeren Daumens, in der Mitte dicker und mit hervorragenden Rippen wie die Schwertlilienblätter, an den Seiten zarter und rötlich, ganz wie ein Dolch, und immergrün; sie entstehen wie bei der Aloe und Iris, eines das andere umfassend. Der Stamm ist sehr rauh, bricht in vielen Ritzen auf; aus ihm fließt in den heißen Hundstagen ein Saft hervor, der sich zu einer roten Träne verdichtet — Drachenblut genannt, weshalb ich den Baum Drachen heiße. Der Stamm ist fest und nimmt schwerlich das Eisen an, weil er gleichsam aus kreuz und quer laufenden Fasern besteht; aber die Äste sind, da sie von vielem Safte strotzen, leicht zu brechen". Illustriert ist das Kapitel bei Clusius (L. c. pag. 12) mit einem etwas schematisch gehaltenen, aber anschaulichen Holzschnitt. Auch der spargel- ähnliche Fruchtstand ') ist beigegeben — ein Beweis, daß dieser Botaniker das Gewächs nach *) Est vero Draco (etenim aplius nomen non invenio) procera arbor, Pinum procul intuentibus referens, adeo aeijua- les, semperque viretites sunt rami. Huius truncus crassus, octo aut novem bicubilales ramos, aequales et nudos sustinens; hi rursus in sumrao finduntur, et in alios ternos aut quaternos ramos cubitales aut pauIo ampliores, brachialisque crassitu- dinis desinunt, nudos item et sine foliis, qui in summo gestant capita plena cubitalium foliorum, maiusculi pollicis latitudine, in medio densiorum et eminentiore i|uodam modo Costa, ut sunt Iridis folia, tenuium vero et rubentiura in late- ribus, quae mucroncm plane repracsentani, semperque vircnt : nascuntur vero ea Aloes aut Iridis modo, altero alterum om- plexante. Truncus perquam scabcr est, muliisque rimis de- hiscens, ex quo per Caniculae aestus humor emanat, qui in rubram lacrymam densatus, Sanguis Draconis appellatur, ob quam sane causam, ipsam arborem Draconcm nuncupavi. Materia trunci firma est, ferrumque difficulter adraittit, i|uod veluti tibris transvcrsim et oblique excurrentibus constet: at rami, cum multo succo praegnantes sint, satis facile caedi Iiossunl. L. c. p. II — 12. ') Eine neuere Abb. von Dracaena Draco bei R. v. Wett- stein, Handbuch der syst. Botanik 2. Aufl. S. 794, gibt keine Darstellung vom Blüten- oder Fruchtstand. N. F. XIX. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 309 jeder Richtung studierte und die Verwandtschaft mit Aloe, Iris u. dgl erkannte. Von dem oben zitierten Christophorus a Costa herausgegeben von Clusius/) hören wir Interessantes über die Frucht dieses Baumes und ihre Aussaat. „Vor einigen Tagen," heißt es,'-) „brachte der Bischof von Carthago aus der Neuen Welt die Frucht des sog. Drachenbaums. Sie ist bewundernswert; denn wenn man die Haut abzieht, erscheint sofort der kleine Drache (offen- bar der Embryo), mit solcher Kunst von der Natur geschaffen, daß man glauben möchte, er sei von irgendeinem Künstler aus Marmor gebildet worden, mit langem Halse, offenem Munde, das Rückgrat mit Stacheln besetzt, mit langem Schwanz und Füßen." Von dieser Frucht hat ohne Zweifel der Baum seinen Namen erhalten und der Saft, der beim Einschnitt aus ihm fließt usw. Dann berichtet Clusius in der Anmer- kung, daß man in der Gärtnerei von Jo. de Boisot in Brüssel P'rüchte vom Drachenbaum, die der k. Gärtner in Madrid Fr. de Hollebecque ge- sendet hatte, anbaute. Die Pflanzen trugen aber nur Blätter, ähnlich denen der Iris, und gingen im darauffolgenden Winter ein. Einen früheren Bericht über den kanarischen Drachenbaum bringt, wie schon Clusius (a. a. O. S. 14) hervorhebt, der Venetianer Aloisius Cadamustus^) (de Cada Mosto), der von 1432 bis 15 II lebte und in den Jahren 1455/56 die kanarischen Inseln und die Westküste von Afrika bereiste. Er sah auf Madeira weite Zuckerrohrplantagen, Getreidefelder, Weingärten und Waldungen, und als eigenartige Pflanzen jener Inseln bezeichnet er die P'ärberflechte und den Drachenbaum. „Auf der Insel Porto Santo,') gibt es das Drachenblut, d. i. der Saft eines Baumes; zu ge- wisser Zeit verwundet man die Bäume mit einem Messer; dann lassen sie im folgenden Jahre aus den Wundstellen ein Harz ausschwitzen, das, in Kesseln gekocht und zersetzt, blutig wird, das sog. Drachenblut. Der Baum bringt im März eine ') Aromatum et Medic. in ÜrieDtali India nascent. lib. Car. Clusii opera 2. edit. (Antvcrpiae 1593) p. 367 — 368. '-) Attulit ante paucos dies ex novi orbis continenti, Epis- copus Carthaginiensis Iructum arboris, ex qua manat lacryma illa quam Sanguinem Draconis vocant. Est autem hie fructus admirandus : nam sublata qua in tegitur pelle, illico dracunculus apparet, tanto artificio a na- tura fabricatus, ut a peritissimo aliquo artifice e marmore sculptus videatur, coUo oblongo, ore hiante, spina aculeis horrida, cauda oblonga et pedibus conspicuis (L. c. p. 367 bis 368. ') Vgl. Rackl, Die Reisen des Venetianers Aloise da Ca da Mosto an der Westküste Afrikas. Nürnberg 1898. ■•) ,,In insula Portus Sancti (una haec est ex Canarii's) est Sanguis Draconis, qui lacryma est arboris: nam State anni tempore arbores ferro sauciant ; quae ubi sunt incisae, anno sequente gummi emittant per incisiones, quod ahenis decoc- tum et defecatum, sanguis elficitur quem appellant Draconis. Eius arbor producit fructum Cerasi instar mense Martio, gustu eximium, coloris Veneti" (d. h. des venetianischen Meeres). Liber Navigationum Cadamusti Cap. 4 (nach Clusius a. a O. S. 14). kirschenähnliche Frucht hervor mit ausgezeich- netem Geschmack und grünlicher Farbe." Der Saft des Baumes, das Drachenblut, spielte, wie gesagt, als Droge (für Zahnweh) und als Lackmittel in der Malerei in früheren Zeiten eine bedeutende Rolle.^) Genannt wird als Verbrauchsstelle besonders Nürnberg, von W e i n m a n n ') z. B. : ,,sonsten wird das Drachenblut, sehr zu Malerei gebraucht, und wird in Nürnberg, allwo gar schöne und unver- gleichliche Künste damit getrieben werden, jähr- lich eine große Quantität davon verthan; wie der Nürbergische Materialist Marxius (S. i8o, i8i) be- zeuget. Absonderlich braucht man denselben zu der sog. Lack-Kunst, nicht weniger brauchen es auch die Glas- Mahler, indem es dem Glas eine schöne blutrote F"arbe giebet". 3. Bilder. — Sehen wir uns nach älteren Darstellungen dieser auffälligen tropischen Bäume um, so finden wir solche sogar in der Kunst, und zwar in der deutschen Malerei um 1500, also lange vor Clusius. Es handelt sich um Bilder aus der Hand des Augsburger Malers Hans B u r g k - mair, ferner Schongauers und Dürers. Wie ich an anderer Stelle^) ausführlicher dar- gelegt, führt uns H. Burgkmair (Johannesaltar, München, Alte Pinakothek Nr. 222) auf die Insel Patmos in eine etwas phantastische südliche Land- schaft: im Hintergrunde die schneebedeckten Alpen, vorne drei Palmen und verschiedene andere Ge- wächse, so Feigenstrauch, Oleaster? Quitte, Weiß- dorn, Lorbeerseidelbast (?), Aloe — ein buntes Durcheinander von ausländischen und einheimischen Pflanzen (s. Abb.). Ebenso verhält es sich mit der Tierwelt, in der besonders die Vögel vertreten sind : Meisen, Distelfink, Gartenrotschwanz, Wiede- hopf, Seidenschwanz, Perlhuhn, Papagei u. a. m. Die drei Bäume, die uns vor allem interessieren, sind links die Kokospalme, in der Mitte die Dattelpalme (?) und rechts der Drachenbaum. Die erstere zeigt deutlich gefiederte Blätter und einige große, braune, dreikantige Früchte. Die zweite Palme scheint mir weniger gelungen zu sein. Am Drachenbaum sehen wir den glatten Stamm, die charakteristischen wulstigen Äste und die schwertförmigen, spitzzulaufenden, langen, in Büscheln stehenden Blätter. Das Werk entstand 1518 in Augsburg und kam später unter Kurfürst Maximilian I. von Bayern in dessen berühmte Kunstsammlung. Es wurde im 17. Jahrhundert übermalt und ist vor einigen Jahren restauriert worden.'') Einige Sachen, ') Als Ersatz dafür scheint früher auch eine Euphorbia- Art -verwendet worden zu sein, s. die Abb. im Herbarius von Dinckmut Ulm (1487) unter ,,Trackenplut-sanguis draconis". Auch eine Rumex-Art wurde als Drachenblut angesprochen. -J Thytanthoza Iconographia Regensburg 1738. I. Bd. S. 13. ^) S. Killermann, H, Burgkmairs Johannisaltar in der Münchener A. Pinakothek und die auf ihm dargestellte Natur. Natur und Kultur XI (1913 — 14) München, Völler) S. 26S u. f. ■") ^'gl- ^^ ■ Gräff, Die V\iederherstellung des Johannes- altars von Burgkmair in der Alten Pinakothek. Monatsh. f, Kunstw. IV (191 1) S. 442—447. 3IO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 20 so der Hase ergaben sich als spätere Zutaten; aber die Hauptsache, die uns hier beschäftigt, die drei Bäume stammen sicher von Burgk- mairs eigener Hand. In Augsburg besaß man infolge der Handelsbe- beziehungen der Fugger und Welser (sei es zu Indien oder zu Venezuela) bereits um die Wende des 15. Abb. I. II.*^ Burgkmair, Jobannes auf Patmos (Ölgemälde von 15 iS, München, Alte Pinakothek). Vor der Restauration. Link.i Kokospalme, rechts Drachenbaum. Jahrhunderts eine gute Kenntnis der tropischen Pflanzenwelt.') Burgkmair hat auch die rohen Sprengerschen Skizzen zu einer Reihe von Holz- schnitten verarbeitet, die sich im Frh. v. Welserschen Besitz befinden sollen.-) Wie sehr Augsburg in solcher Beziehung voranging, ersehen wir auch aus einer Notiz Gesners (1561),'^) wonach er ') Jakob Fugger (f 1525) .hatte vor dem Barfüi3ertor in Augsburg einen Prachtgarten anlegen lassen mit ,,ainem Lusthaus und mit vielen scheuen wasserwerclien, mit allerlei welschen fruchten", ferner im Zwinger innerhalb des Stadt- grabens ,,vil schener Weinreben pflanzen vnnd Andere Bemb erziglen (Bäume erziehen) lassen". Vgl. Aloys Geiger, Jakob Fugger (1459 — 1525), eine kulturhistorische Skizze (Regensburg, Manz 1S95) S. 78. ') K. .Mut her. Die deutsche Biicherillustration der I iothik und Frührenaissunce, München 18SS S. 131. ^) De Mortis Germaniae; .Anhang zu V. Cordi Historia plantarum 1561 S. 27OV. das getrocknete Blatt einer indischen Palme (Indicae Palmae folium) mit fast zwei Fuß Länge aus Augsburg vom Apotheker Joh. B. Hofstetter zum Geschenk erhalten hatte. Der Drachenbaum war vorher schon von zwei anderen deutschen Meistern, M. Schongauer (t 1491) und A. Dürer (f 1528), in Bildern „Die Flucht nach Ägypten" verewigt worden. Schongauer stammte aus Augsburg und mag auf ähnlichem Wege wie Burgkmaier zur Kenntnis des ausländischen Baumes gelangt sein. Bei dem D ürerschen Holzschnitt,') der 15045 entstanden ist, handelt es sich um eine Umarbeitung des Schongauerschen Stiches.'-) Der Drachenbaum erscheint hier auf der rechten Seite etwas im Hintergrund, erkennbar an den wulstigen Asten und den Blätterbüscheln; der Stamm freilich ist etwas knorrig verdreht und erscheint mir weniger gelungen. Der Baum linker Hand ist eine Dattel- palme; in dem „ägyptischen" Walde sind ver- schiedene Florenelemente, auch Buchen und wilder Weinstock bunt durcheinander gemischt. Das Interesse dieser Künstler gerade an dem Drachen- baum mag auf mystischen Beziehungen (apoka- lyptischer Drache), vielleicht auch auf dem Werte der Droge, die wie schon erwähnt, in Nürnberg (und Augsburg) viel gebraucht wurde, beruhen. Ich möchte in diesem Zusammenhange noch kurz auf einen anderen deutschen IVIaler, den wir neben Dürer haben, Matthias Grüne- wald hinweisen. .Auf einem der Flügelbilder zu seinem gewaltigen Isenheimer Altar ^) sehen wir in der VValdwüste, in der die Einsiedler Antonius und Paulus sich treffen, ebenfalls eine Palme: nach dem schuppigen Stamm und den gefiederten Blättern die Dattelpalme. Das Werk stammt aus den Jahren 1509 — 11. So ging vor 400 Jahren durch die deutsche Kultur und Kunst ein Sehnen nach den warmen Ländern des Südens mit ihren reichen Natur- schätzen, so stark, daß die Künstler in der Darstel- lung derselben den Wissenschaftlern vorauseilten. Kein Volk der Erde hat, wie die Kulturgeschichte der Pflanzen beweist, solchen Sinn und so viel Liebe zur Natur, heimische wie fremde, besessen. Sollte dieser Drang nach den Palmen des Südens uns für immer verwehrt sein ? ') Vgl. S. Killcrmann, A. Dürers Pflanzen- und Ticr- zcichnungen und ihre Bedeutung für die Naturgeschichte (Strasburg 19 lo) S. 32 u. f. '') Reproduktion bei Obernetter, München. ■') Kolmar, Museum. Während der Kriegsjahre (bis Ende 1919) in München A. Pinakothek; soll jetzt nach Ameiika verkauft werden. Eine genauere Darstellung der von Grüne- wald gemalten Pflanzen und Tiere wird in der Zeitschrift ,, Natur und Kultur" von mir erscheinen. N. F. XIX. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3" [Nachdiuck verboten.] Der Verlauf des Eiszeitalters iu Nordeuropa. Von Dr. K. Olbricht. Mit 2 Abbildungen. Wenn ein Diluvialforscher von der Bedeutung Gagels, der noch 1909 schrieb: „ganz offen- sichllich hat sich der Lauf der Ereignisse im nord- deutschen Diluvium erheblich anders abge- spielt als in den Alpen" zehn Jahre später erklärt, daß es sich bei der außerordentlich weiten Ver- breitung der interglazialen Verwitterungsrinden nicht um „belanglose Analogien" handeln kann, sondern um „zeitlich und genetisch idente Vor- gänge und Wirkungen", die nach ihm in Nord- deutschland und auf „beiden Seiten der Alpen" in derselben Weise aufgetreten sind; wenn ein Kenner des amerikanischen Diluviums wie Le- verett auf die frappierende Ähnlichkeit der dilu- vialen Ablagerungen und Formen in Nordamerika und Europa hinwies, wenn endlich Steinmann im Löß Argentiniens dieselben Verwitterungser- scheinungen wie in dem Europas fand, so er- kennen wir hieraus, daß eine Parallelisierung der eiszeitlichen Ablagerungen unser Wissen von den Klimaschwankungen dieser Zeit nur fördern kann, da in den einzelnen Gebieten infolge der Ab- tragungsvorgänge nicht selten große Schichtkom- plexe entfernt sein können, deren Nichtberück- sichtigung uns ein lückenhaftes Bild gibt. Gerade die Gewinnung eines lückenlosen Bildes ist für die Eiszeit besonders wichtig, da in ihren Ab- lagerungen die Spuren des Menschen auftreten, dessen Werdegang nur durch möglichst voll- ständige Klarlegung der eiszeitlichen Klimaver- hältnisse genauer verstanden werden kann. Forschungen in den heutigen Gletschergebieten sind vor allem in den Alpen, in Island, in Grön- land und in der Antarktis vorgenommen worden und gestatten uns einen klaren Einblick in den Werdegang der diluvialen Ablagerungen. Bei jedem Gletscher unterscheiden wir ein Abtra- gungsgebiet (Exarationszone), aus der er große Gesteinsmengen abhobelt, um sie im Ablage- rungsgebiet aufzuhäufen. Vom Eise rund ge- schliffene länglichovale Rundhöcker — als Schären unter das Wasser getaucht — langgestreckte die Richtung des Eises angebende Rinnenseen, sich teilweise zu größeren Seen vereinigend, sind das Hauptkennzeichen der Exarationszone, die im nordeuropäischen Vereisungsgebiet den größten Teil Skandinaviens und Finnlands umfaßt, in breitem Gürtel vom Ablagerungsgebiet umsäumt. Der Gletscher transportiert den abgehobelten Gesteins- schutt als Grundmoräne in seinen unteren Schich- ten, wobei vielfach kilometerlange Schollen abge- hobelt sind. Diese kennen wir vor allem aus dem Gebiete des baltischen Höhenrückens; der Gollenberg bei Köslin, die Kreidekalke bei Stettin und sogar ein Teil der Rügener Kreidefelsen sind nach den Ergebnissen der Bohrungen solche „wurzellosen" Schollen. Unter dem Eise bewegen sich große Schmelz- wasserströme in viele Kilometer langen Tunnels. In ihnen abgelagerte Kiese und Sande beim Vor- rücken der Gletscher häufig gestaucht bilden die langen Rücken der Asar (Öser) und vielleicht auch einen Teil der langovalen Drumlins, die teilweise wohl auch eine Abart der Rundhöcker sind. Dem Eisrande entquellen gewaltige Schmelzwässer und bauen die Sandr auf, deren Entstellung wir schön im südlichen Island beobachten können. Als Vor- schüttsande bilden sie den Hauptbestandteil der diluvialen Schichten. Vielfach finden wir in ihnen Bändertone eingeschaltet als Ablagerungen lokaler Mulden, dazu auch Schichtungen die auf Wanderdünen hinweisen, die wahrscheinlich den besonders im Winter von den Inlandeisdecken wehenden föhnartigen Winden — Beobachtungen i. d. Antarktis — ihre Entstehung verdanken. Schmilzt das Eis ab — man vermeidet heute den irreführenden Namen Rückzug, da wohl der Eisrand abschmilzt, das Eis selbst aber immer vor- rückt — , so bleiben die Grundmoränen als Ge- schiebemergelflächen liegen und lokal halten sich zwischen ihnen auch tote Eisschollen, die bei ihrem späteren Schmelzen Einsackungen der darüber lagernden Moränenlehme bedingen. So erklärt man heute die eigentümlichen kesselartigen Solle, die zu vielen Tausenden das Charakteristikum jüngerer Glaziallandschaften sind. Lokal wurde das milde warme Klima der Abschmelzzeit, in der die Eisdecken zumeist verdunsteten, von Kälte- rückschlägen unterbrochen. Bei solchen entstanden durch lokale Vorstöße die meist durch Auf- stauchung gebildeten Wälle der Endmoränen mit ihren vorgelagerten Sandrebenen. Hinter ihnen wurde dann die weit ebene Grundmoränenland- schaft zu der reizvollen von langgestreckten Seen und Drumlinsch wärmen unterbrochenen kuppi- gen Grundmoränenlandschaft umgeformt, die meist das Hinterland von Moränenwällen bildet. Schmilzt das Eis später über der Exarationsland- schaft ab, entstehen natürlich auf dieser auch die subglazialen Formen der Asar. Moränenwälle in solchen Gebieten weisen dann eben- falls wieder auf Kälterückschläge hin. Die bisher betrachteten Ablagerungen ent- stehen teils am Grunde des Gletschers (subglaziale), teils an dessem Rande unter Mitwirkung des Was- sers (fluvioglaziale). Wir haben jedoch schon die Eiswinde erwähnt. Diesen verdankt, wie die wichtigen Forschungen Sorg eis wohl über- zeugend dargelegt haben, eine dritte Gruppe von Ablagerungen ihre Entstehung, die Löße. Sie bildeten sich durch die großen Winde, die von den Inlandeisdecken herunterwehten und aus den Moränen und Sauden den Staub hinwegtrugen, ihn weiter außerhalb als Löß niedersetzend, der 3'2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 20 sich allmählich bildete, zwischendurch in der Luft ein wenig oxydierte und dadurch seine gelbe charakteristische Farbe erhielt. Auf diese Ent- stehung weisen nicht nur seine Verbreitung in langen Gürteln am Rande der ehemaligen Eisdecken, sondern auch sein Aufbau und die unter ihm ge- fundenen Steinsohlen mit den windgeschliffenen Dreikantern. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß alle Löße im Anschluß an Inlandeisdecken ent- standen. Die chinesischen z. B. werden noch heute aus dem Staub aufgebaut, den die Monsune aus den Sandwüsten der Mongolei verfrachten, und auch am Rande der übrigen großen Wüsten finden wir häufig Lößstaub. Aber wohl die größere Hälfte der Löße entstand am Rande von Inland- eisdecken während der Eiszeiten (äologlaziale Bildungen). Die älteren Lößtheorien, welche die Entstehung in Zwischeneiszeiten verlegten — hiergegen spre- chen auch die hocharktischen im Löß gefundenen Säuger, wie Mammut, Moschusochse, Lemming, Rentier, Elch usw. — sowie die Staubecken- theorie haben heute nur noch historischen Wert. Wie wir später sehen werden, konnte schon ein Eis von der Ausdehnung des baltischen Löß er- zeugen, und es ist wahrscheinlich, daß in den älte- ren Eiszeiten sich schon in früheren Stadien Löße bildeten, die später von denselben Eisdecken über- schritten wurden. Hierbei wurden die Löße z. T. mit Sanden und Moränen verknetet, z. T. nur um- gelagert. So entstanden wohl die in Farbe und Körnung so stark an die Löße erinnernden M e r - gel San de, die ihre verschiedene Gestaltung der mannigfaltigen Durchmischung mit fremden Be- standteilen verdanken. Umgelagerte Löße sind wohl auch die ausgedehnten Ablagerungen der Aulehme. Bezeichnet man das Diluvium treffend als die „Brotformation" der Erde, so gilt dies in erhöhter Bedeutung vom Löß, dem idealen Boden für Weizen, Mais und Zuckerrüben. Zwischen den glazialen Ablagerungen lagern an vielen Stellen Torfschichten, Süßwasserkalke, Kieselgurschichten und Tone mit marinen Mol- lusken, die man als Interglazialschichten bezeichnet. Vereinzelte Forscher suchen sie noch heute durch lokale Schwankungen am Rande der eiszeitlichen Inlandeisdecken zu erklären, wogegen nicht nur ihre Mächtigkeit, die häufig den ge- samten in der annähernd 30000 Jahre dauernden Postglazialzeit gebildeten gleichartigen Sedimenten nicht nachsteht, sondern auch die in ihnen ge- fundenen Reste von Tieren und Pflanzen, die sich mit einem nahen Eisrand nicht vertragen und stellenweise sogar auf ein Klima hinweisen, wel- ches sogar wärmer wie das heutige war. Doch viel wichtiger sind die erst im letzten Jahrzehnt in Deutschland aufgefundenen und noch heute von vielen Forschern (G e i n i t z) nicht beachteten bis zu 20 m mächtigen zwischen frischen kalk- reichen glazialen Schichten lagernden Verwitte- rungsrinden, die nicht nur windgeschliffene Geschiebe und Andeutungen von Wüstenlackbil- dung enthalten, sondern auch außerordentlich reich an Eisenoxyden und -hydroxyden sind, so auf ein warmes Klima zur Zeit ihrer Entstehung hinweisend. In der Postglazialzeit haben sich solche Verwitterungsrinden nicht mehr gebildet. Außer diesen Interglazialschichten hat man in den letzten Jahren Tone und Torfe mit arktischer Flora und F"auna gefunden, die sich in geringer Mächtigkeit vor allem zwischen die Moränen der jüngsten Vereisung schieben und als „Intersta- dialbildungen" bezeichnet werden. Sie ent- standen während lokaler Schwankungen der Gletscher und sind uns besonders aus der Um- gebung von Lübeck und der masurischen Seen- platte bekannt geworden. Haben wir für die Dauer der Interglaziale Zehntausende von Jahren anzunehmen, können wir die Dauer der Inter- stadiale auf Grund der Mächtigkeit der in ihnen gebildeten Schichten etwa ein Jahrtausend an- nehmen. Penck und Brückner in ihrem monumen- talen Werke ,,die Alpen im Eiszeitalter" gaben zuerst die Gliederung des alpinen Diluviums, deren Erhaltungszustand insofern ein idealer ist, als in ein sich allmählich hebendes Gebirge die den norddeutschen Sandrn entsprechenden Schotter sich zu mehreren ineinander geschachtel- ten Terrassen ausbildeten und so leicht unter- schieden werden konnten. Das Pencksche System ist stark angefeindet worden, doch haben gerade in den letzten Jahren publizierte völlig unparteiische Nachprüfungen seine Richtigkeit er- wiesen, so daß es als ein Prüfstein für jedes Parallelisierungssystem betrachtet werden muß. Penck unterscheidet die Ablagerungen von vier Vereisungen, die er nach Alpenflüssen Günz, Mindel, Riß und Wurm nennt, wobei letzteres in die eigentliche Würmeiszeit und den Bühlvor- stoß zerfällt. In den zwischenliegenden Intergla- zialzeiten verwitterten die Ablagerungen dieser Vereisungen; in den bei den älteren zu 50 — 60m mächtigem z. T. leuchtend roten Feretto, in der dritten 10 — 15 m mächtig z. T. auch noch reich an Eisenausscheidungen, zuletzt nur wenig (meist etwa I — 2 m). Die Formen der älteren Vereisun- gen sind „greisenhaft" und durch die Wirkung der Atmosphärilien verwischt (Altmoränen), die der jüngeren frisch und reich an Kleiiiformen, Seen und Moränenwällen (Jungmoränen). Im Bühlsta- dium scheinen besonders — wie auch in Nord- amerika — ausgedehnte Schwärme von Drumlins entstanden zu sein. Wie wir aus den Beobachtungen in den Alpen wissen, war die Günzvereisung an Ausdehnung etwa der Würmvereisung gleichwertig, reichte aber im nordischen Vereisungsgebiet vielleicht weniger weit, da zu Beginn der Eiszeit erst die Hebungen Skandinaviens begannen. Deshalb ist die An- nahme sehr wahrscheinlich, daß die Ablagerungen dieser ältesten Eiszeit zum größten Teil in das Exarationsgebiet der zweiten Hauptvereisung ge- rieten und von dieser aufgearbeitet wurden. Nur N. F. XrX. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 313 ein günstiger Zufall dürfte uns also bei Tiefboh- rungen Reste dieser Vereisung finden lassen, für deren Vorhandensein auch die unterste mit einer roten Laimenrinde bedeckte Schicht des älteren Löß spricht, die wir aus einigen Stellen Süd- deutschlands kennen. Die zweite Mindelvereisung (die erste Eis- zeit der norddeutschen Geologen) stellt sich im- mer mehr als die Hauptvereisung heraus. Ihre gewaltigen Grundmoränen, die besonders Keil- hack aus der Niederlausitz beschrieb, reichten bis zur Grenze der nordischen Findlinge. Am weitesten schob sich das Eis in dem rheinischen Flachlande und in Rußland südwärts, in Mittel- deutschland staute es sich an den Mittelgebirgen und sein Rand ist hier ein erzwungener. Es läßt sich errechnen, daß beim Nichtvorhandensein dieser Gebirgsschwelle, die in ihrer Wirkung ähnlich den Appalachen ist, die Eisdecken bis Mannheim und Regensburg gereicht hätten I Die beiden großen Eisloben, welche die bisherigen Karten im Dnjester- und Dongebiet zeigen, habe ich weggelassen, da es sich hier nur um fluvio- glaziale Sande handelt, die schon außerhalb des Eisrandes liegen. Das Exarationsgebiet dieser gewaltigen Vereisung, deren Gletscher an F'läche und Volumen die der letzten (Wurm) Vereisung um das Dreifache übertrafen, reichte wahrschein- lich weit nach Norddeutschland und schuf viel- leicht die von L i n s t o w beschriebene diluviale Depression, die in großen Zügen das Stettiner Haff und die Danziger Bucht nachformt und bei seiner Begrenzung ganz sicher nicht tektonisch ist. Der am Rande sich bildende periglaziale Trocken- raum war über 500 km breit und in ihm lagerte sich die untere Abteilung des älteren Löß ab, der sich durch ganz Ungarn bis Odessa verfolgen läßt und auch in Mitteldeutschland nach den F"orschungen von Wüst und Seh u mach er weit verbreitet ist. Als die Gletscher abschmolzen, •ließen sie eine seenreiche Grundmoränenlandschaft zurück, in der sich die Schichten mit Paludina dilu- viana ablagerten und weiter nördlich flutete in die „diluviale Depression" ein einer vergrößerten Ostsee entsprechendes Meer bis in die Thorner Gegend, die stellenweise über lOO m mächtigen „Lauenburger Tone" absetzend. Schon dies weist auf eine lange Dauer dieser Mindelrißinterglazial- zeit (unteres Interglazial der nord. Geologen) hin. In ihr bildeten sich nicht nur die großen bis i m langen Lößkindel des älteren Löß, sondern auch die ihn bedeckende rote Laimenrinde , die Brücker an der Donau von Wien bis zur Save- mündung verfolgen konnte, und die bis 20 m mächtigen ferettisierten Verwitterungsrinden. Wie meine Forschungen der Görlitzer Gegend zeigen, sind diese dunkelbraun entwickelt, die in ihnen liegenden Geschiebe stark zersetzt und zerfallen, die Feuersteine z. T. lederbraun bis dunkelrot patiniert und manche Schotter zu einem stein- harten Konglomerat verkittet, das sich auch bei Münden (s. d. Deister) fand. Dazu kommen aus- gedehnte Manganrinden, die auf warmes trockenes Klima hinweisen. Interessant sind vor allem die Ablagerungen von Ingramsdorf in Schlesien und die der niederrheinischen Tegelenstufe. In ersteren finden wir den tartarischen Ahorn, der heute die Karpathenmauer nicht mehr überschreitet, in letzte- Abb. I. Die dick ausgezogene Linie (2) bezeichnet den äuOersten Eisrand zur Zeit der Hauptvereisung (Mindel), die punlitierte Fortsetzung den Rand, den das Eis ereicht hätte, wenn es nicht am Rande der Mittelgebirge gestaut wäre. Die periglaziale Lößzone ist punktiert, die Eiswinde durch Pfeile angedeutet und zur Orientierung der Karpathenbogen eingezeichnet. Durch Schraffierung ist das Gebiet der Altmoränen (greisen- hatte Formen mit eisenschüssiger Verwitterung gekennzeichnet, wobei der Rand der dritten Vereisung aus IWangel an Beob- achtungen noch nicht eingezeichnet werden konnte. Die ge- kreuzelten Linien bezeichnen die beiden Phasen der vierten Vereisung (Wurm und Baltischer Vorstoß), am Sädrande der Ostsee ist gestrichelt die Südgrenze der diluvialen Depression (nach V. Linston) eingezeichnet. Der Südrand der skandi- navischen postglazialen Hebungszone ist durchgehend aus- gezogen, das Maximum der Hebung im Bottnischen Meer- busen (-j- 230 m) besonders markiert. Die Rinnenseen (ge- strichelt) und die Schärenküsten (punktiert) sind Kennzeichen de-i Abtragungsgebietes, dessen wichtigste Moränenwälle als Wellenlinien dargestellt sind ; die als strichpunktierte Linie einge- zeichnete Eisscheide zeigt, daß das Maximum der Eismächtig- keit nicht überall mit dem Hochgebirgskamm zusammenfiel. Abb. 2. Das etwa vom Niederrhein bis Schonen reichende Profil ist aus dem Text ohne weiteres verständlich. Die wahrschein- liche Ausdehnung der meist abgetragenen Ablagerungen der ersten (Günz.) Eiszeit ist punktiert, die eisenschüssigen Verwitterungsrinden über den älteren Lößen und altdiluvischen Ablagerungen durch senkrechte Schraffierung angedeutet. Die Lage der Eis 'ecke beim Baltischen Vorstoß und die zugehörigen Eiswinde sind gestrichelt (4a). Das Profil zeigt eindrucksvoll, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, an einer Stelle Ablage- rungen aller Vereisungen zu finden. Die Kurve (links oben) zeigt den wahrscheinlichen Verlauf der Eiszeit, wobei ein Millimeter etwa 10 000 Jahre bedeuten mag. 314 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 20 ren die Magnolie, die im tertiären Braunkohlenwalde noch weit verbreitet war und noch heute in den warmen Golfstaaten der Union wächst, bei uns als Zierpflanze wieder eingeführt. Hieraus ersehen wir, daß sie sich dann noch als Reste der tertiären Flora im südlichen Europa erhalten haben, die in der Folgezeit wieder nach Norden zurückwandern konnten, aber in der folgenden Eiszeit offenbar vernichtet wurden. Das ist die Riß ve reisu ng (zweite Eiszeit der norddeutschen Geologen). Ihre Grenzen sind noch nicht überall festge- stellt. Während die älteste Vereisung sich noch bis SüQOStengland erstreckte und bei Norwich gewaltige meist aus gestauter Kreide aufgebaute Moränenwälle schuf, hat sie England nicht mehr erreicht. Wohl aber reichte sie bis zum Nieder- rhein und preßte hier die rostbraun verwitterten Schichten der Hochterrasse in der Gegend von Krefeld bis Cleve zu hohen Endmoränen auf. Im Leinegebiet flutete das Eis bis Alfeld und erreichte bei Hameln noch die Weser, im Saalegebiet bis Naumburg. Auch Oberschlesien war damals nach den Beobachtungen Michaels noch mit Eis über- deckt, weiter östlich auch ein Teil Wolhyniens; doch fehlen hier noch genaue Angaben, ebenso wie im übrigen Rußland. Die Rißvereisung häufte gewaltige Moränen auf, die z. T. mit tertiären Schichten verfaltet, einen großen Höhenrücken aufbauen, der sich von der südlichen Lüneburger Heide über den Fläming bis zu den Talbritzer Hügeln erstreckt, von mir als Präbaltischer Höhenrücken bezeichnet. Er entstand wahrscheinlich bei einem lokalen Vor- stoß während der Abschmelzphase und wies eine seenreiche Grundmoränenlandschaft auf, in deren Senken sich die bekannten Kieselgur- und Süß- wasserkalklager der Lüneburger Heide und ihrer reichen Fauna und Flora bilden, die auf klimati- sche Verhältnisse hinweist, die den heutigen etwa glichen. Ein noch älterer Vorstoß wird durch den gewaltigen von Wegener im Münsterlande aufgefundenen Moränenwall markiert, dem weiter östlich die großen Moränenwälle von Münder (im S. des Deister) und in Schlesien der erst 191 3 aufgefundene Moränenwall entspricht, der sich in einem großen Bogen von Ottmachau (ö. Neiße) bis Brieg verfolgen läßt. Besonders wichtig sind aus dieser Zeit die Interglazialfunde von Hernö- sand (250 km nördlich von Stockholm 1), die durch einen Zufall in der Exarationslandschaft erhalten sind und zeigen, daß damals im mittleren Nord- land dasselbe Klima wie heute herrschte. Dies widerlegt endgültig die immer noch von den Monoglazialistcn vertretene Ansicht, daß die Interglaziale nur während lokaler Schwankungen entstanden, aber über Skandinavien sich ein großes Inlandeis erhielt. Auch die Ablagerungen der Rißvereisung, an deren Rande die obere Schicht des älteren Löß abgelagert wurde, verwitterten eisenschüssig, und es entstanden nicht nur rote Lehmzonen (Laimenzonen) über dem älteren Löß, sondern auch bis 20 m mächtige ferettisierte und nur nesterweise verkittete Verwitterungsrinden , die in großem Umfange auch unter den Ablage- rungen der jüngeren Würmvereisung erbohrt wurden. Die noch im vorhergehenden Interglazial bestehende Depression war damals schon von Moränen ausgefüllt. Die bisher betrachteten stark mit Löß über- kleideten Gebiete bilden auch in Nordeuropa das Gebiet der ferettisierten Altmoränen mit stark verwaschenen Landschaftsformen, in denen nament- lich alle Kleinformen, wie Asar, Drumlins und Solle fehlen. Diese kennzeichnen das Gebiet der der Würm- vereisung entsprechenden Jungmoränen, die im W. die Weser nicht mehr überschreiten, im Saalegebiet bis in die Gegend von Halle, in Schlesien bis an die Bartschsenke und in Polen bis an den Bug reichen, mit gewaltigen vorge- lagerten Sandrn, die teilweise mit großen Bögen von Endmoränen verknüpft sind, deren genaue Lage jedoch heute noch nicht in allen Einzel- heiten feststeht. Die äußerste Zone der Jung- moränen ist eben, erst weiter nördlich stellen sich durch lokale Vorstöße entstandene Seenlandschaf- ten von Moränenwällen umkränzt ein. Das sind die Seenplatten Südbrandenburgs und Posens. Am Rande dieser Würmvereisung entstand der jüngere Löß, der meist wenig verlehmt ist, keine roten Laimendecken mehr aufweist, und dessen Löß- kindel nur wenige Zentimeter lang werden. Im allgemeinen sind die Jungmoränen nur bis höch- stens 4 m verwittert, wobei keine Ferettisierung mehr auftritt. Am mächtigsten entwickelt sind die Jungmoränen im baltischen Höhenrücken, der zumeist aus ihnen aufgebaut wird und seine eigent- liche Ausbildung einem auf eine größere Abschmclz- phase (masurisches Interstadial 1) folgenden Eisvor- stoß verdankt, dessen Südgrenze nur im Westen feststeht, wo vor holsteinischen Moränenwällen großartige Sandr entwickelt sind. Weiterhin scheint er die Täler der Warthe und Netze nicht mehr überschritten zu haben, und an seinem Rande entstand als Abflußrinne seiner Schmelzwässer das bekannte Thorn-Eberswalder Urstromtal. Auch Lößbildung setzte wieder ein und schuf im Fläming, der Lüneburger Heide und in der Börde Löße, die an Mächtigkeit i m nicht überschreiten und meist sehr sandig sind, so daß man sie als Feinsande und Flottlehme bezeichnet. Besonders wichtig sind diese Ablagerungen aus der Lüneburger Heide. Dort liegen sie einmal in einem etwa 20 m tief in die Jungmoränen eingeschnittenen Erosionstal und sind sodann merkwürdig streifenartig ver- breitet. Wie ich feststellen konnte, ist das nicht die ursprüngliche Verbreitung, sondern eine nach- trägliche, indem die Westwinde des rezenten Klimas die unter anderen Windverhältnissen ent- standenen Löße wieder auf großen — heute viel- fach von Windschliffen bedeckten — Flächen ab- trugen. Aber auch für die übrigen mitteleuropäi- schen Löße gilt es und ist in allen Einzelheiten N. F. XIX. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 315 zu erweisen, daß sie nur Überbleibsel einst ausgedehnter — ebenfalls durch die Ver- breitung von WindschlilTen — Bildungen dar- stellen, nur im trokneren und den Westwinden weniger ausgesetzten östlichen Gebiet sind die Löße im alten Umfange erhalten. Viele Einzelheiten weisen also darauf hin, daß die Moränen desbaltischenVorstoßes etwas jünger sind wie die südlichen Jungmoränen. Sie sind weniger tief verwittert (etwa 1,8 m), in ihrem Hinterlandc haben sich in großem Umfange Drumlins und Asarzüge erhalten, und auch die Terrassen machen einen frischeren Eindruck. So kommt es, daß die Mehrzahl der Geologen jetzt die baltischen Moränen mit Bühl parallelisiert, und selbst der Geograph Braun (Greifswald), der noch 1910 diese damals von mir zuerst aufgestellte Parallelisierung „für völlig willkürlich und unhalt- bar" erklärte, schloß sich ihr schon einige Jahre später an. Mit dem baltischen Vorstoße setzt die Abschmelzphase ein, und von dem Augenblick, in dem das Eis über die Ostsee abgeschmolzen war, beginnt die Post glazial zeit, deren Chro- nologie für uns besonders wichtig ist, da in ihr der Mensch in großem Umfange Nordeuropa zu besiedeln begann. Trotz der großen EüUe der gerade in den letzten Jahren erschienenen skandinavischen Arbeiten sehen wir doch in vielen Einzelheiten noch un- klar. Verfolgen wir zuerst die Ereigni.sse in Skan- dinavien. Nach dem Abschmelzen der Eisdecken flutete das Meer über das Land, das damals so tief lag, daß der Süden Schwedens eine Insel bildete und über die Newaseen (Ladoga, Onega) das Wasser bis zum Eismeer flutete. Es entstanden die hoch- arktischen Joldiatone. Ein neuer Vorstoß schuf die mittelschwedischen Endmoränen, die sich auch in Südfinnland und der Umgebung von Christiania finden (hier Räer genannt), teilweise die Joldien- tone aufpressend. Das ist wahrscheinlich das Gschnitzstadium der Alpen , nicht Bühl, wie Machatschech annimmt. Von nun an schmolz das Eis schnell ab und bildete zwischen der Eis- scheide und dem Hochgebirgskamm ausgedehnte Stauseen, wie wir sie auch aus dem Gebiete der Lübeker, Stettiner und Danziger Bucht kennen, die als Jungenbecken des baltischen Vorstoßes entstanden. Größere und jüngere durch längere Moränen- wälle gekennzeichnete Eisrandlagen haben sich bisher in Skandinavien nicht auffinden lassen, doch deuten Einzelheiten auf den Karten daraufhin. Nunmehr hob sich das Land, und die Ostsee wurde ein Binnenmeer. In dieser An cylusz ei t herrschte wahrscheinlich ein trockenes, warmes Klima, die boreale Zeit der skandinavischen Geo- logen. Teilweise in Zusammenhang mit der jetzt einsetzenden Litorinasenkung, in der durch die Auster angedeutetes salzhaltiges Wasser weit in die südliche Ostsee drang, wurde das Klima kühler und regenreicher, wobei wohl auch die Gletscher wieder weiter vorstießen (Daunstadium der Alpen?). Wieder hebt sich das Land, und es beginnt die große warme Periode, in der die Haselnuß viel weiter nach Norden reichte und die Bronzekultur aufblüte. Das ist die subboreale Zeit, die wieder von einer kühleren Zeit abgelöst wird, die erst einige Jahrhunderte nach Christus einsetzt und in der die Gletscher bei ihrem Vor- stoß Moränenwälle schufen, die beim Swartisen etwa einen Kilometer vor dem rezenten Gletscher- rand liegen. Daraus schließt man, daß diese subatlantische Zeit (Tribulaun der Alpen?) heute wieder von einer wärmeren Periode abgelöst wird. Seit der Eiszeit hat sich Skandinavien um mindestens 240 m gehoben, und zwar liegt das Hebungsmaximum in der Mitte des Bottnischen Meerbusens. Die Gründe hierfür sind unklar. Die eine Ansicht führt sie auf eine Neuaufwölbung des P'ennoskandischen Schildes infolge tek- tonischer Ursachen zurück, eine andere Gruppe von Forschern auf isostatische Vorgänge, als Aus- gleich für die Entlastung durch das Inland- e i s und die gewaltigen durch dasselbe abgetragenen Gesteinsmassen. Für letztere scheint auch die ovale Form der Hebungszone zu sprechen, so wie ihr Maximum in der Nähe der Gebiete, wo das Inlandeis wahrscheinlich seine größte Mächtig- keit erreichte. Dafür spricht endlich, daß auch in den anderen großen diluvialen Vereisungsge- bieten große Senkungserscheinungen während der Vereisung (F'jorde in Nordamerika, Südchile der Antarktis und auf der Südinsel Neuseelands) durch postglaziale noch heute andauernde Hebungen abgelöst wurden. Viel schwieriger ist es, die Postglazialzeit in Norddeutschland zu gliedern, da dieses immer landfest war, und nur wenige bisher noch kaum beachtete Ablagerungen, wie die in großen Schutt- kegeln sich fortsetzenden Talsandterrassen der Flüsse der Lüneburger Heide, die über Flott- lehmen lagern, in ihrer Deutung noch sehr um- stritten sind. Auch die Moore sind nicht brauch- bar, da sie in den älteren Trockenzeiten wahr- scheinlich ganz austrockneten und ihr Material ausgeblasen wurde. Soweit wir bis jetzt feststellen können, scheint es sich um drei postglaziale Trockenperioden zu handeln, die in Irlands Mooren, die immer in der Nähe der regenreichen Küste lagen, auch als die Nordsee landfest war, durch drei Baumstubbenhorizonte repräsentiert werden. Die erste dieser Zeiten entspricht offenbar der borealen Periode, in ihr wurden, wie die For- schungen Keilhacks zu zeigen scheinen, durch Westwinde die großen Inlanddünen in ihren Grundformen festgelegt und stellenweise bis zu 30 m Höhe aufgetürmt. In einer zweiten feuchten Zeit, die der subatlantischen Periode entspricht überwucbsen diese Dünen, um von neuem trocken gelegt zu werden, wobei lokale Überwehungen eintraten, die im Gegensatz zu den älteren Braun- dünen Gelbdünen schufen. In dieser Trockenzeit blute wahrscheinlich der üppige Ackerbau des 316 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 20 älteren Jungneolithikums, der auf warme Sommer hinweist (Bandkeramik). Wieder wurde das Klima regenreicher und schuf den älteren Sphagnetum- torf, über dem sich in der Bronzezeit der Grenz- horizont bildete, dem eine lokale neue Über- wehung der Dünen entspricht, die z. B. auf der Schwedenschanze bei Breslau eine ältere Siedlung mit mehreren Dezimetern Flugsand überschüttete. Wie die wichtigen soeben erschienenen P'or- schungen Hahnes über Moorleichen zeigen, dauerte die Bildung des Grenzhorizontes bis in das dritte nachchristliche Jahrhundert, worauf sich in der Folgezeit (subatlantische Zeit) der obere Sphagnetumtorf bildete. Schon die letzten Bemerkungen zeigen die Bedeutung der eiszeitlichen Klimaschwankungen für die Chronologie der Menschen und machen im Gegensatz zu den für ältere Erdperioden genügenden relativen Zeitbestimmungen auch ab- solute notwendig. Auch diesem höchsten Ziel sind wir näher gerückt. Die glänzenden Forschungen de Geers und seiner Schüler haben ergeben, daß die in Schweden während der Abschmelzzeit entstandenen Bändertone ihre Struktur dem Wechsel der Jahreszeiten verdanken (ähnlich den Jahresringen der Bäume, und durch Messung gelang es ihm nachzuweisen, daß das Eis, um von Schonen bis zur Eisscheide abzuschmelzen, annähernd 12 000 Jahre gebrauchte, wobei das Tempo des Abschmelzens immer schneller wurde. Das hängt nicht nur mit dem immer wärmer wer- denden Klima zusammen, sondern auch mit der immer kleineren abschmelzenden Eiskalotte. Seit der Bildung der Baltischen Endmoräne mögen etwa 25000 Jahre vergangen sein, dem Maximum der Würmeiszeit etwa 33000, wozu noch 8000 Jahre kommen, in denen keine größere Inland- eismasse mehr bestand. Besonders interessant ist es nun, daß wir seit einigen Jahren eine ge- naue Bestimmung des Alters der Niagarafälle besitzen, die sich auf Moränen entwickelten, die dem Baltischen Vorstoß entsprechen. Das Alter dieser Fälle wird auf 30000 bis 35000 Jahre geschätzt, was auffallend gut mit dein 25000 -\- 8000 Jahren für Norddcutschland übereinstimmt. Wir können aber auch weiter gehen. Gebrauchte das Eis der Würmvereisung etwa 33000 Jahre zum Abschmelzen, so wird es eine ähnliche Zeit gedauert haben, bis es seinen Maximalstand erreichte und wir erhalten als Zeit der Würmvereisung etwa 70000 Jahre, in denen naturgemäß die zweite Hälfte der vorhergehenden Interglazialzeit enthalten ist. Führen wir unter Berücksichtigung der Ausdehnung der Eiskalotten diese Berechnung auch für die älteren Vereisungen aus, so erhalten wir für die Rißeiszeit etwa 130000 Jahre, für Mindel 170 000, für Günz etwa 50000, zusammen annähernd 400000 Jahre, worin die Interglazialzeiten eingeschlossen sind. Die Berechnung ist unter der Voraussetzung gemacht, daß auf das Abschmelzen der Gletscher der älteren Vereisung, wobei einige Teile Skandina- viens vergletschert bleiben, sofort das Vorrücken der jüngeren Vereisung erfolgt. Es ist jedoch schon angedeutet, daß das Klima der älteren Interglazialzeiten wärmer und trockener als heute war, wodurch die Gesamtzeit noch verlängert wird. Aber 500 000 Jahre mögen wohl nach dem objektiven Stande unserer Forschung den Maximal- wert für die Zeit darstellen, innerhalb derer der Mensch zu seiner heutigen Höhe sich entwickelte, trotz seiner hohen Kultur das tierische in seinem Wesen gerade in diesen Zeiten nicht ableugnend! Wichtigste Literatur (seit 1909). Gagel, Beweise für eine mehrfache Vereisung Nord- deutschlands (Geol. Rundschau 1913). Hahne, Die geol. Lagerung der Moorleichen (Halle 19 18). Högbom, tennoskandia (Handbuch der regionalen Geologie). Keilhak, Die grolSen Dünengebiete Norddeutschlands (Geol. Gesellschaft 1917). Keil hak, Das glaziale Diluvium der mittleren Nieder- lande (Geol. Landesanstalt 1915). Ulbricht, Die Einteilung und Verbreitung der glazialen Ablagerungen in Norddeutschland (Geol. Cefltralblatt 191 1). Ulbricht, Grundlinien einer Landeskunde der Lüne- burger Heide, Kap. 3 und 1 1 (Forschungen zur deutschen Landeskunde). Schulz, Geschichte der phancrogamen Flora Mittel- deutschlands (Halle 1914). So r gel, Löfle, Eiszeiten und paläolithische Kulturen (G. Fischer 1919). Wahnsch a f f e , Oberflächengestaltung des norddeutschen Flachlandes (1909). Wcrth, Das Eiszeitalter (Sammlung Göschen). Wüst. Gliederung der Löße Thüringens (Centrallblatt f. Min. 1909). Einzelberichte. Geographie. Das Somalland , die Osthalb- insel Afrikas, umfaßt etwa 7S0000 qkm , wovon auf den italienischen Kolonialbesitz 370000 qkm, auf das abessinische Somalland 211 000, auf das britische Somalschutzgebiet 176000 und auf das französische Gebiet 21000 qkm entfallen. Der italienische Anteil ist nach G. K. Rein („Abes- sinicn", eine Landeskunde, Bd. 2, Berlin 1919) fast zur Gänze Wüste und Steppe, wo fließendes Wasser in der Regel mangelt. Abessinisch- Somalland, am Oberlauf des Schebeli und Juba, ist an wirtschaftlichen Hilfsquellen reicher und auch dichter bevölkert als das italienische Kolonialgebiet. Von der Küste des Golfes von Aden steigt das Land in Terrassen zu einer breiten Hochfläche an, die bis an den Fuß des Granitstocks von Harar (Abessinien) heranreicht. Die Terrassen sind in geringer Meereshöhe über- einander gelagert urid haben im allgemeinen die Lage einer nach Nordosten geneigten schiefen N. F. XIX. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 317 Ebene, über welche einzelne Berge und Berg- gruppen zuHöhen von 700 — looom emporragen. Wälder sind nicht vorhanden, dafür aber ausge- dehnte Büsche. Im britischen und abessinischen Somalland sind die Talkessel im vulkanischen Gebiet recht fruchtbar; sie sind die eigentlichen Weidebezirke. Überall, wo es fließendes Wasser gibt, zaubert es reichlichen Pflanzenwuchs hervor; aber in solche Gegenden kommt man selten. Die Trockentäler, welche die Hochfläche durch- ziehen, vereinigen sich schließlich zum Wadi No- gal, der auf seinem Wege zum Indischen Ozean nur strichweise Wasser führt. Doch sind recht ansehnliche Grundwasserströme vorhanden, welche für Kulturzwecke nutzbar gemacht werden können. Überdies wäre es möglich, die bedeutenden ober- flächlich abfließenden Regenmengen zu sammeln und aufzuspeichern. Zwischen dem Wadi Nogal und dem Jubflusse liegt die weite innere Ebene des Somallandes, die im allgemeinen ohne fließen- des Wasser ist: die Hawija. Am besten bewässert ist die zu Abessinien gehörige Landschaft Ogaden am mittleren und oberen W. Schebeli, doch gibt es auch hier noch unfruchtbare Strecken, die nur bei Überwindung großer Schwierigkeiten der Landwirtschaft dienstbar zu machen sind. Der Boden wird im Binnenlande vorwiegend von alt- kristallinischen Gesteinen und teilweise von höhlen- reichem Kalkstein gebildet, wie z. B. am oberen W. Schebeli, wo es ausgedehnte Weiden und gutes Kulturland gibt, auf dem Durra und Mais gepflanzt werden. Den Fluß begleiten Palmen und Feigenbäume. Weiter gegen Westen, im Arusiland, wechseln Getreidefelder mit Wiesen und Wäldern. Im Klima der Länder am Golf von Aden macht sich der Einfluß der großen asiatischen Landmasse fühlbar. Die Nordostwinde , die im Winterhalbjahr vorherrschen, bringen der Küste spärlichen Regen, während das Somalhochland die meisten Niederschläge vom IVIärz bis August erhält, zur Zeit des Südwestmonsun, der im Mai , und Juni am heftigsten ist. Die größte Hitze und Trockenheit herrscht vom Juli bis Oktober. Die Trockenheit ist im Somalland weit größer als an den afrikanischen Küsten des Roten Meeres; dort beträgt die durchschnittliche Niederschlags- höhe in Suakin 217 cm, in Massaua 183 cm, ver- glichen mit 60 cm in Berbera. Die ungeheuren Wärmemengen, welche die wasserarmen Gebirge und Sandebenen zu beiden Seiten des Golfs von Aden und des Roten Meeres ausstrahlen, werden durch keine Vegetationstätigkeit gebunden, denn die Küstenlandschaften sind durchweg öde und kahl. Wirtschaftlich besser nutzbar zu machen ist das Binnenland. Vorläufig sind freilich die Aus- sichten, daß die europäischen Kolonialmächte an die kulturelle Hebung des Somallandes gehen, recht gering, um so mehr, als die Somal, obzwar sie ein in bezug auf natürliche geistige Fähigkeiten gut veranlagtes Volk sind, wenig Lust zeigen, den fremden Herren als Arbeiter zu dienen. Sowohl Engländer wie Franzosen haben sich lediglich aus politischen und militärischen Gründen an der afrikanischen Seite des Golfs von Aden festgesetzt. Den Engländern dient diese Küste zusammen mit der Insel Perim und dem Protektorat Aden zur Sicherung ihrer Beherrschung des Weges nach Indien. Überdies führen wichtige Handelsstraßen aus dem Binnenland nach der britischen Somal- küste. Sie haben aber seit dem Bau der franzö- sisch-abessinischen Eisenbahn von Dschibuti nach Adis- Abeba den größten Teil des Verkehrs ver- loren. Ehedem war Zeila der Hafen der wichtigen Handelsstadt Harar in Abessinien und ein Mittel- punkt des Sklavenhandels, doch hat es in jüngster Zeit seine Bedeutung nahezu ganz verloren, da es im Wettbewerb mit dem französischen Dschibuti nicht bestehen kann. Berbera verdankt seine Entwicklung zu einem Handelsplatz seinem großen und vor allen Winden gesicherten Hafen, der überhaupt der einzige zwischen Zeila und Ras Hafun ist. Die Warenverladung ist wegen der seichten Ufer etwas mühsam. Diesem Übelstand wird sich aber durch Herstellung geeigneter An- lagen leicht abhelfen lassen. Durch den Bahnbau hat die Bucht von Tadschura alle anderen Häfen an der afrikani- schen Küste des Golfs von Aden weit in den Hintergrund gedrängt, und es ist wahrscheinlich, daß sie dauernd den Vorrang behalten wird, schon weil sie das natürliche Eingangstor nach Abessinien bildet. Die breite Bucht von Tad- schura dringt etwa lOO km weit in das Land hinein und vermag der größten Zahl von Schiften Schutz zu gewähren. Dazu kommt, daß die öst- lichen Haupttäler Abessiniens sich sämtlich in der Richtung auf diese Bucht öffnen, ein Vorteil, welcher denn auch bald von den Franzosen aus- genutzt wurde. Außer der Landschaft Obok umfaßt das fran- zösische Somalprotektorat das Sultanat von Tad- schura, das Gubbetel Karab und die Somalküste mit Dschibuti. Das innere Gebiet ist den Ange- hörigen anderer Staaten verboten , weshalb die Franzosen dort eine bevorzugte Stellung einneh- men; dasselbe trifft für das Somalland bis Harar und in westlicher Richtung für die Galla- und Danakil-Länder bis nach Schoa zu. Trotzdem hat der Deutsche G. K. Rein diese Länder im Auftrage der französischen Regierung durchzogen, einmal im Jahre 1910 — I9ii,das zweite Mal 1913. Im ganzen Hinterland wirkt die Autorität des Kaisers von Abessinien, dem dort die Aufgabe zufällt, im Einvernehmen mit den französischen Behörden für die Sicherheit der Karawanen zu sorgen. Der italienische Teil des Somallandes ist bis- her noch wenig bekannt; er ist auch wirtschaft- lich noch schlechter gestellt als die weiter west- lich gelegenen Landschaften. Seit vielen Jahrhunderten kamen arabische 3i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 20 Einwanderer ins Somalland, und zwar nicht nur nach den Küstengebieten, sondern sie drangen weit ins Binnenland ein. Das Ergebnis der Ver- mischung mit den Eingeborenen ist eine Bastard- rasse zwischen Hamiten und Semiten, die Somal. Da die hamitischen Galla in der Überzahl vor- handen waren, stehen ihnen die Somal körperlich und kulturell näher als den Arabern. Im ge- samten politischen und wirtschaftlichen Leben der Somal und Galla finden sich viele Berührungs- punkte, während die Anklänge an die arabische Kultur im allgemeinen nicht sehr bedeutend sind. Die Vermischung ist anscheinend in den Land- schaften um Berbera am weitesten fortge- schritten, denn es haben sich von hier aus die größeren Somalfamilien radienförmig nach Westen, Süden und Osten abgezweigt. Der Ein- fluß der Ägypter und Griechen, welche nur des Handelns wegen die Südgestade des Golfs von Aden besuchten, war gewiß kein weitreichender und nachhaltiger, sie vermischten sich mit der einheimischen Bevölkerung nicht in nennenswertem Maße und teilten ihr auch nicht viel von ihrer Kultur mit. Der mit dem antiken Faltenwurf viel Ähnlichkeit besitzende Faltenwurf des baum- wollenen Somalmantels ist etwas rein Zufälliges und gipfelt darin, daß sich ein längeres Stück Baumwollenzeug, wenn es den Körper vollständig einhüllen soll, eben nicht praktischer falten läßt, als es die Alten taten und die Somal heute tun. Die persische Herrschaft war kurz und wenig befestigt, die Eroberer traten zur Masse des Volks in keine näheren Beziehungen. Bei keinem Somal- stamme hat sich die Überlieferung einer größeren persischen Einwanderung erhalten.^) Im Wohngebiete der Somal verstreut haben sich Reste von Negervölkern erhalten, die sozial untergeordnet, ja man kann sagen, verachtet sind. Manche dieser Pariavölker sprechen auch eine von dem Somal verschiedene Sprache. Das Vordringen der Somal nach Süden und das Zurückdrängen der Galla dauert bis in die Gegenwart an. Die Somal sind durchweg Muselmanen. Ihr Temperament ist wenig erregbar, aber die meisten Leute zeichnen sich durch Intelligenz und sonstige geistige Fähigkeiten aus; in dieser Beziehung scheinen sie die meisten Naturvölker zu über- ragen. Den kargen Ertragsverhältnissen des Bodens entsprechen Ernährung und Lebensweise. An der Küste besteht die Kost aus Durra, indischem Reis, und persischen Datteln, welch letztere als Leckerbissen gelten. Fleischkost ist teuer und selten. Als Getränke dienen Wasser und Milch. Unter den Haustieren steht im Somal- lande, sowohl an der Küste wie im Innern , das Pferd obenan; dazu kommen das Fettschwanz- schaf, das Buckelrind, das Kamel, die Ziege, der Esel und Maulesel. Hühner werden nicht ge- halten. H. Fehlinger. ') Paulitschke, Ethn. u. Anlhr. der Somal usw. S. 3 f. Zoologie. Neues vom Specht. Daß der Specht auch in den Gebäuden Schaden zufügen kann, dafür gibt Wold. Trütznerin den „Mitteilungen über die Vogel weit" (i8. Jahrgang 1919/20, Heft I — 2 S. 22) einen Beweis: an einem strengen Wintertag durchwanderte Trützner ein einsames Dorf, und er vernahm vom Kirchturm herab ein andauerndes Klopfen. Dieses rührte von einem Buntspecht her, der mit seinem spitzen Schnabel eifrig das Dach bearbeitete. Zwar flogen keine Holzspäne seitwärts, wie bei seiner Zimmermanns- arbeit im Walde, bald rutschte aber eine Schiefer- platte unter lautem Geräusche herab auf den Boden. Der Schaden, den der Specht dadurch verursachte, veranlaßte die Gemeinde, den lästigen Dachdecker abzuschießen. H. W. Frickhinger. Zur Verbreitung der Schildkröte während der vorgeschichtlichen Zeit. E. Schrader hatte in seinem Buche „Sprachvergleichung und Urge- schichte" (3. Aufl. Jena 1907. S. 227) darauf hinge- wiesen, daß sich für die Schildkröte nur bei den Grie- chen und Slawen übereinstimmende Namen finden. Nach Schrader gingen diese Namen dort sicher- lich in die indogermanische Urzeit zurück, und dementsprechend sei dann auch die Kenntnis dieses Tieres für die Indogermanen vorauszusetzen. Heute lebe die Schildkröte aber nur in südlichen Ländern ; deshalb ergebe der Nachweis der Schild- kröte bei den Indogermanen gleichzeitig ein wert- volles Zeugnis dafür, daß als Heimat der Indo- germanen das nördlichste Mitteleuropa nicht in Betracht kommen könne, sondern lediglich ein südliches Gebiet, nach Schrader Südrußland. Diese Ausführungen Schraders hatten viel- fach Zustimmung gefunden; es fehhe sogar nicht an Forschern, die auf Grund dieses Schrader- schen Nachweises noch weiter gehen zu können meinten. So vertrat C lassen in seinem Buche „Die Völker Europas zur jüngeren Steinzeit" (Stuttgart 191 2. S. 22) die Meinung, daß die Ger- manen und Kelten das alte indogermanische Wort für die Schildkröte in späterer Zeit verloren hätten ; diese gaben später dem Tiere einen neuen, künstlich gebildeten Namen. Weil das alte indogermanische Wort bei ihnen verloren gegangen sei, müßten diese beiden Stämme von südlichen, schildkröten- reichen Gebieten nach nördlichen, schildkröten- freien abgewandert sein und hier das Wort auf- gegeben haben. Gegen all diese an den indogermanischen Nachweis der Schildkröte geknüpften Theorien hat zuerst Georg Wilke in einer Abhandlung über „die Herkunft der Kelten, Germanen und lllyrier" (Mannus IX, 1918. S. i ff.) Stellung ge- nommen. Wilke wies hier darauf hin, daß die Schildkröte selbst wiederholt schon in älteren vorgeschichtlichen Stationen nachgewiesen worden N. F. XIX. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 319 ist (Böhmen, Schlesien, Provinz Sachsen, Mecklen- burg, Dänemark, Südschweden, Frankreich), und schloß daraus umgekehrt wie Classen, daß die Schildkröte nach dem großen Klimasturz um 800 V. Chr. (vgl. Mannus IV, 191 2. S. 418) das nördliche Europa verlassen habe; dann hätte für die zurückbleibende Bevölkerung nach ihrem Ver- schwinden keine Veranlassung mehr vorgelegen, das Wort noch fernerhin beizubehalten. In einem Nachtrage zu seiner Abhandlung bemerkt W i 1 k e (a. a. O. S. 54), daß ihn der Herausgeber des Mannus, GustafKossinna, darauf aufmerksam gemacht habe, daß die Schildkröte auch heute noch in weiten Gebieten Norddeutschlands ange- troffen werde. Prof. F e 1 i x - Leipzig habe ihm diese Angabe bestätigt. Wenn die Schildkröte bei diesem Vorkommen im allgemeinen nur ver- einzelt angetroffen werde und überall ein seltenes Tier sei, so handele es sich doch keineswegs um ausgesetzte oder zufällig dahingelangte Tiere. Diese Angaben veranlaßten Wilke zu einer Be- richtigung seiner Hypothese. Wilke dachte sich jetzt die Sache derart, daß die Schildkröte bei dem großen Klimasturz nicht vollständig abge- wandert sei, sondern nur so selten wurde, daß sie für das wirtschaftliche und religiöse Leben ihre einstige Bedeutung verlor. In demselben Heft des Mannus hat Kossinna eine eingehende Besprechung des Schrader- schen Werkes veröffentlicht (Mannus IX, 1918. S. HO ff.), in der er sich auch eingehend mit der Seh raderschen Theorie über die Bedeutung der Schildkröte für die Frage nach der Heimat der Indogermanen auseinandersetzt (S. 114/5). Kos- sinna weist auf die Forschungen von Conwentz hin, nach denen die Sumpfschildkröte (Emys orbicularis L.) in Ostpreußen, Westpreußen, Posen, Schlesien, Pommern, Brandenburg, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, in der Altmark, Braunschweig, Hannover und über Ostpreußen hinaus noch in Kurland verbreitet sei (Amtliche Berichte des westpreußischen Provinzialmuseums zu Danzig 29, 1909. S. 15 ff., 30, 1910. S. 44 — 60). Flurnamen bezeugten das Vorkommen des Tieres bis ins 14. Jahrhundert zurück; es komme heute haupt- sächlich in Altwassern und verlandenden Seen vor und sei wie der Biber und die Wassernuß eine im Rückgang begriffene Art. In urgeschicht- licher Zeit, vor allem in der älteren Bronzezeit, aber auch in der jüngeren Steinzeit, sowohl in ihrem älteren wie in ihrem jüngeren Ab- schnitt, werde das Tier zweifellos weit stärker aufgetreten sein, wie die Verhältnisse in Däne- mark und Schweden bezeugten. Abgesehen davon weist Kossinna auch sonst das Verfehlte der Schraderschen Ansicht zurück. In Skandina- vien, dem Heimatlande der Indogermanen, sei die Schildkröte sowohl subfossil wie in den ältesten Muschelhaufen der Litorinaperiode und der An- cyluszeit nachzuweisen. Außerdem weist Kos- sinna darauf hin, daß Schrader mit seiner Angabe gegen seine eigenen Leitsätze verstößt. Mußten nicht die Nordindogermanen, sobald sie Norddeutschland besetzten, ein Wort für Schild- kröte schaffen ? Im selben Heft des Mannus haben Josef Kern und Gustav Kossinna über ,, Kröten- darstellungen auf neolithischen Gefäßen" berichtet (Mannus IX, 1918. S. 35 — 70). Auf Gefäßen der bandkeramischen Kulturgruppe finden sich des öfteren Darstellungen eines frosch- oder kröten- ähnlichen Tieres; im Verlaufe der weiteren Ent- wicklung wird dieses Tiergebilde ornamental aus- gestaltet und schließlich zu einem ganz ver- waschenen schematischen Ornament. Kern deutet diese Tierformen auf einen Frosch oder Kröte, und weist zu ihrer Erklärung auf die Rolle hin, die diese Tiere noch heute im Brauch und Glauben des Volkes einnehmen. Vielleicht habe das Tier bereits in der Urzeit dieselbe Bedeutung gehabt. Kurze Zeit vor den Kossinna- Wilk eschen Ausführungen war eine Arbeit des schwedischen Gelehrten C. Kurck erschienen: „Den Forntida Utbredningen af Kärrsköldpadden (Emys orbicu- laris L.) i Sverige, Danmark och ängränsande Länder" (Lund 191 7, 124 S.). Kurck gibt die heutige ungefähre Nordgrenze der Sumpfschild- kröte wie folgt an : Von Nantes nach Limoges — Lyon — Turin — Venedig — Graz — Belgrad — in nordöstlich verlaufendem Bogen nach Großwardein — in nordwestlich laufendem Bogen nach Brunn — • Krakau — Dresden — Breslau — Frankfurt a. O. — Stettin — Königsberg i. Br. — Dünaburg — von da in fast gerader Linie über Smolensk nach Oren- burg am Uralfluß. Nach Kurcks Auffassung ist die Schildkröte in der Ancyluszeit nach Däne- mark und Schweden eingewandert. Wann sie dort wieder ausgestorben ist, läßt sich gegen- wärtig noch nicht feststellen. Sicher ist ihr Vor- kommen noch während der Ganggräberzeit auf Langeland. Wahrscheinlich hat aber die Schild- kröte noch nach dem Ende der Steinzeit — viel- leicht noch in der ausgesprochenen Bronzezeit in Dänemark und Schweden fortgelebt. Die Haupt- ursache des Aussterbens der Sumpfschildkröte in Schweden und Dänemark hat man wohl in dem Hindernisse zu suchen, das die postglaziale Wärme- abnahme der Fortentwicklung der Eier in den Weg gelegt hat. Im nächsten Jahrgang des Mannus ist M. M. Lienau auf das Thema noch einmal zurück- gekommen. Lienau veröffentlicht dort (Mannus X, 1919. S. 212 ff.) zwei Tongefäße aus einem Gräberfelde der frühesten Eisenzeit, d. h. aus der Zeit um 800 v. Chr. von Kliestow, Kreis Lebus, bei Frankfurt a. O. Beide Gefäße stellen nach Lienau Schildkröten dar; an dieser Deutung zu zweifeln, liegt wohl kein Grund vor. Lienau weist gleichzeitig aus Schlesien einige Gefäße der Lausitzer Kulturgruppe nach, die gleichfalls Schildkröten darstellen. Bei Frankfurt a. O. kommt die Schildkröte heute noch vor und ist dort nicht 320 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 20 gerade sehen. Ihr Nachweis für die urgeschicht- Hche Zeit ist also doppelt interessant. In ähnlicher Weise werden sich voraussicht- lich noch mehr Beispiele für die Verbreitung der Schildkröte finden. Die Geschichte der an den indogermanischen Nachweis der Schildkröte ge- knüpften Theorien verdient besondere Beachtung, weil hier einmal deutlich zutage tritt, inwieweit die prähistorische Forschung schon heute in der Lage ist, mit dem Zoologen in tiergeographischen Fragen Hand in Hand zu arbeiten. Hugo Mötefindt. Bücherbesprechimgen. Rinne, Fr., Gesteinskunde. Für Studierende der Naturwissenschaft, Forstkunde und Land- wirtschaft, Bauingenieure, Architekten und Berg- ingenieure. 5. Aufl. 4". VII und 356 S. mit 493 Textabbildgn. Leipzig 1920, Max Jaenecke. Geb. 24 M. Unter den modernen „Gesteinskunden" nimmt das Rinne 'sehe Buch seit seinem ersten Er- scheinen eine eigene Stellung ein, die es auch mit dieser Neuauflage behaupten wird. Ge- schrieben insbesondere für „Jünger der Natur- wissenschaften, eingeschlossen die der Geographie", kann es Lehrenden wie Lernenden nicht genug empfohlen werden, da es in seiner steten Rück- sichtnahme auf die Geologie für die vielen so trocken erscheinende Wissenschaft der Petrogra- phie, die ja auch für die Praktiker verschiedenster Richtung große Bedeutung besitzt, Interesse zu wecken versteht, welcher Zweck auch durch die zahlreichen, typischen und ausgezeichneten Abbil- dungen — meist Originale — erreicht wird. Gegen die 4. Auflage ist der Text um 20 S., die Zahl der Textabbildungen um 42 vermehrt worden. Es erübrigt sich, in dieser Zeitschrift auf weitere Einzelheiten einzugehen, zumal auch die 191 4 erschienene 4. Auflage eingehend be- ■ sprochen wurde. K. Andree. Ost wald, Wolfgang, DieWelt dervernach- lässigten Dimensionen. Eine Einführung in die moderne Kolloidchemie mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendungen. 3. Aufl. XII u. 222 Seiten in 8" mit 33 Abbildungen im Text und 6 Tafeln. Dresden u. Leipzig 19 19, Verlag von Theodor Steinkopff. Preis geb. 9 M. Das vorliegende Buch, dessen Verfasser gegen- wärtig wohl einer der in weiteren Kreisen be- kanntesten KoUoidchcmiker Deutschlands ist, gibt in leichter, gefälliger Darstellungsweise eine Über- sicht über die Kolloidchemie und ihre Anwendun- gen und wird auch in der schon vier Jahre nach der ersten Auflage erschienenen dritten Auflage von den Vielen gern gelesen werden, die sich einen Einblick in die Kolloidchemie verschaffen wollen. Entsprechend dem heutigen Entwicklungs- stande der Kolloidchemie überwiegt auch in dem Buche die qualitative Betrachtungsweise, vielleicht aber wäre es trotzdem richtiger gewesen, quanti- tative Gesichtspunkte etwas stärker in den Vorder- grund zu stellen, denn quantitative Gesichtspunkte sind vorhanden, und auf ihrer Entwicklung beruht die Zukunft der Kolloidchemie. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Dannemann, F., Die Entdeckung der Elek- trizität. Band 75 von „Voigtländers Ouellen- bücher". 108 Seiten mit 25 Abbildungen. Leipzig, R. Voigtländers Verlag. Die kleine Schrift will einen elementaren Überblick geben über die geschichtliche Entwick- lung unserer Kenntnis von den elektrischen Er- scheinungen. Sie bringt hierzu eine Reihe aus- gewählter Selbstberichte der großen Bahnbrecher auf dem Gebiet, die sie durch kurze Anmerkungen ergänzt und durch vermittelnde Erläuterungen in Verbindung bringt. Von den Beobachtungen der ältesten Zeit führt sie über Franklin, Äpinus,GaIvani,Volta,Davy, Oersted, Ampere, Seebeck zu F"araday, Maxwell und Hertz. Die mehr auf das Quantitative ge- richteten grundlegenden Untersuchungen von Coulomb, W. Weber u. a. bleiben leider un- berücksichtigt. Daß mit der Erwähnung der „elektrischen Strahlen" auch die neueste Kenntnis berücksichtigt wird, sei hervorgehoben. Hierfür wäre allerdings statt der nicht ganz zutreffenden Einreihung unter die „Strahlen elektrischer Kraft" ein besonderes Kapitel und wohl auch etwas größere Ausführlichkeit ratsam gewesen. A. Becker-. Berichtigung zu Naturw. Wochenschrift 1920, Nr. r6, S. 254, Artikel „Krenkel'' : Auf S. 254 in Nr. 16 muß es statt des versehentlich stehen gebliebenen Druckfehlers „Schwiele" richtig „Schwuele" heißen. Illlinit: Scb. Killermann, Die ersten Nachrichten und Bilder von der Kokospalme und vom Drachenbaum. (t Abb.) S. 305. R. Ulbricht, Der Verlauf des Eiszeitalters in Nordeuropa. (2 Abb.) S. 311. — Einzelberichte: G. K. Kein, Somalland. S. 316. Wold. Trülzner, Neues vom Specht. S. 3r8. Zur Verbreitung der Schildkröte wäh- rend der vorgeschichtlichen Zeit. 8.318. — Bücherbesprecbungen: Kr. Rinne, Gesteinskunde. S. 320. Wolfgang Ost wald, Die Welt der vernachlässigten Dimensionen. S. 320. F. Dannemann, Die Entdeckung der Elektrizität. S. 320. — Berichtigung. S. 320. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Sonntag, den 23. Mai 1920. 1 Nummer 31. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe ^15. Band, Das Krebsproblem. [Machdruck verboten.] Von Dr. phil. et Wenn wir die Errungenschaften auf dem großen Gebiete der Naturwissenschaften im aligemeinen und der Medizin im besonderen überschauen, so müssen wir nicht nur die ganz enorme Größe der geleisteten Arbeit bestaunen, sondern auch die gewaltige Fülle neuerlangter Kenntnisse be- wundern, die vor allem die Heilkunde durch die Klärung des Wesens der Infektionskrankheiten hat Riesenschritte nach vorwärts machen lassen. Das ganze große Gebiet der Bakteriologie, der Serologie und inneren Sekretion, die neuen Heilmethoden mit Röntgenstrahlen und Radium haben unseren Gesichtskreis erweitert und lassen uns heute so manche Unverständlichkeiten von früher mit klarem, erkennenden Auge verstehen. Ganz neue Wege wurden eröffnet, deren Ende nicht abzusehen ist, und die uns noch so manche Überraschung bringen werden. Nur ein Problem bietet dem forschenden Menschengeiste trotz aller aufgewendeten Mühe und großer Kosten, trotz der angestrengten Tätigkeit so vieler hervorragender Arbeiter noch immer einen schier unüberwindlichen Widerstand, die Frage nach der Ursache, dem Wesen und der Heilbarkeit des Krebses. Wohl haben die Unter- suchungen eine Fülle interessanter Ergebnisse ge- zeitigt, aber den Grundfragen sind wir nicht viel näher gekommen. Und gerade diese Krankheit ist wegen ihrer Häufigkeit und Unheilbarkeit — denn die tat- sächlich geheilten F"älle stehen ja in keinem Ver- hältnis zu den Opfern, die die heimtückische Er- krankung jährlich fordert — wie wenig andere Krankheiten eine schwere Geisel des Menschen- geschlechtes, um so mehr, da sie nach neueren Untersuchungen trotz der bedeutend besseren hygienischen Verhältnisse im Zunehmen begriffen sein soll. Die Krebskrankheit ist wohl so alt als die Menschheit selbst; jedenfalls war sie bereits den Alten wohl bekannt und Aulus Cornelius Celsus (30 V. Ch. bis 38 n. Ch.) gibt zur Heilung des Lippenkrebses als einzige Methode die Operation an. Der Krebs ist eben keine seltene Erkrankung; er ist in den allermeisten Fällen eine sehr auffällige, und wenn er nicht ganz versteckt im Körper bleibt, eine leicht erkennbare Krankheit. Er bietet, was wir von vielen Erkrankungen nicht behaupten können, ein deutlich anatomisch greifbares Substrat, « und schon die Alten haben deshalb verschiedene Formen des Krebses unterscheiden können. Was die Krebskrankheit zu einem Problem macht, ist die bis heute eigentlich immer noch ungeklärte med. Alois Czepa. Frage: wieso kommt es überhaupt zum .Ausbruch der Krankheit, was sind ihre Ursachen? Denn da Kfc .ikheiten sich immer leichter verhüten als heilen lassen, ist die Lösung dieser Frage für die Medizin und für die Menschheit überhaupt von der allergrößten Bedeutung, um so mehr, da sich fast alle Heilmethoden bis dato als ohnmächtig erwiesen haben; also auch die Heilung der Krankheit ist ein Problem, das nicht geringere Schwierigkeiten zu seiner Überwindung bietet. Die zahlreichen Institute, die in allen Weltteilen der Erforschung der Krebskrankheit gewidmet sind, und in denen von allen Kulturnationen an der Lösung dieser beiden Fragen gearbeitet wird, haben nun in den letzten Jahren so viel Tatsachen- material zusammengetragen, daß es sich verlohnt, eine Umschau zu halten und die heutigen An- schauungen, Kenntnisse und Methoden in einer kurzen Übersicht darzustellen. Bevor wir aber mit dem eigentlichen Problem beginnen, soll zum besseren Verständnis eine kurze Erklärung des Wesens der Krebskrankheit vorausgeschickt werden. Der Krebs ist eine Geschwulst, ein Wachstums- prozeß von autonomem Charakter, das heißt also, er richtet sich nicht wie das übrige VV'achstum des Körpers nach den Bedürfnissen des Organismus, sondern zeigt eine selbständige Existenz, reiht sich nicht in die Stoffwechselvorgänge des Organismus planmäßig ein, sondern wächst im Gegensatz zum Gesamtkörper rücksichtslos nach eigenen Gesetzen weiter, leistet für den Organismus selbst nichts, trotzdem er die Säfte, die er zur Ernährung braucht, vom Organismus nimmt, und tötet schließlich. Er schmarotzt also wie ein Parasit am Organis- mus. Die Geschwulst besteht wie die Organe des Körpers aus Zellen und zwar aus solchen, die die Geschwulst stützen, die gewissermaßen ihre Grundsubstanz bilden, und die vom Körper selbst zum Aufbau der Geschwulst geliefert werden und hauptsächlich bindegewebiger Natur sind, also von einer Art und Konstruktion, wie sie der Körper viel- fach als Stützsubstanz und Auskleidung benutzt, und zweitens aus Zellen, die in ein und demselben Falle fast gleich sind, sich aber von den übrigen Zellen des Organismus durch ihre geringe Differen- zierung unterscheiden, den eigentlichen Geschwulst- zellen. Sie sind das Wesentliche der Krebs- geschwulst. Die Krebszelle ist etwas anderes als die Körperzelle, sie ist etwas Fremdes. Sie gleicht noch am ehesten den embryonalen Zellen, denen man das Unfertige noch ansieht, und aus denen 322 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 21 sich dann die vielen Zellformen des er- wachsenen Organismus entwickeln. Die Krebs- zelle bleibt immer auf dem Stadium des Unfertigen stehen, sie ist unreif. Ohne eine weitere Ausbildung zu zeigen, vermehren sich diese Zellen ins Unendliche und eilen dabei sehr oft dem Wachstum der Stützsubstanz voraus, so daß weiche Geschwülste resultieren. Kann die Stützsubstanz aber Schritt halten, so ist das Wachstum ein viel langsameres und die Ge- schwulst ist derb und hart. Die Geschwulst kommt bei ihrem Wachil.um sehr bald mit ihrer Umgebung in Konflikt, die sie am Ausdehnen hindert. Die Krebszelle ver- drängt aber die Organe ihrer Umgebung nicht, sondern dringt in die Gewebszellen ein, kriecht in den Lymphbahnen vor, bringt dort die Zellen des Organismus zum Absterben und Auflösen und füllt den dadurch freiwerdenden Raum mit ihren eigenen Massen. Die Krebsgeschwulst ersetzt also die Organe ihrer Umgebung durch ein für den Körper untaugliches Gewebe. Wie in einer Frucht ein kleiner Fäulnisherd sich ausbreitet, gesundes Gewebe vernichtet, es sich assimiliert, so ähnlich schreitet der Krebs vor. Das rasche Wachstum der Geschwulst läßt, wie schon erwähnt, dem Stützgewebe meist sehr wenig Zeit zu seiner Ausbildung, und die vom Organismus beigestellten Blutgefäße, die in die Geschwulst hineinwachsen, können keine größeren Stämme ausbilden, sondern bleiben immer klein und lösen sich schon nach kurzem Verlaufe in Kapillaren auf. Die Folge ist eine ungenügende Blutversorgung vor allem der zentralen ältesten Partien und damit ein Absterben, Zerfallen und Verfaulen dieser Geschwulstteile. Dazu kommt noch, daß die Krebszelle an und für sich kurz- lebig ist und schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit abstirbt. So entstehen die nicht heilenden, ekelhaften, widerlich riechenden Geschwüre der Krebsgeschwulst, die dem unglücklichen Träger, falls sie oberflächlich gelagert sind, das Leben zur Üual machen, und auch bei einem hoffnungs- losen Falle den Arzt zwingen, die kranke Partie zu entfernen, um den Patienten von dem schreck- lichen Gerüche und nie versiegenden Eiterstrome zu befreien. Die Krebsgeschwulst beschränkt sich aber nicht darauf, von einem Punkte mächtig nach außen zu wachsen, sondern sie sendet bald auf dem Wege der Lymphbahnen Keime aus, die irgendwo im Körper festen F'uß fassen und zu einer neuen Krebsgeschwulst werden, die oft die IVIuttergeschwulst an Größe bedeutend übertrifft. Diese Bildung von Tochtergeschwülsten, Meta- stasen nennt sie die Wissenschaft, ist bei dem aktiven Vordringen der Krebszelle leicht erklärlich. Die Zellen kommen in den Säftestrom und werden in den Körper verschleppt. Daß bei dem Vor- dringen der Keime in den Lymphbahnen zuerst die in diesen Bahnen eingeschalteten Lymph- drüsen vom Krebs ergriffen werden, ist bei der Funktion dieser Gebilde, gewissermaßen als Filter zu dienen, natürlich. Weniger verständlich ist, daß sich die Keime gern in Schwesterorganen lokalisieren wie z. B. in beiden Eierstöcken, oder daß Krebse mancher Organe oder Körperstellen mit Vorliebe in bestimmte Organe Metastasen entsenden, wie die Krebse der Schilddrüsen in die Knochen. Wir müssen, wenn wir nicht eine Art chemischer Anlockung als Ursache dieser Lokali- sation annehmen wollen, eine besondere Eigenschaft der Krebszelle, gerade in diesen Organen die Körperzellen leichter zu zerstören und hier festen F'uß zu fassen, oder aber eine besondere Schwäche gerade dieser Körperstellen gegenüber den Ein- dringlingen dafür verantwortlich machen. Denn gewisse Organe wie die Muskeln bleiben von Metastasen fast immer verschont. Bei dieser Art des Wachstums der Krebsge- schwulst ist es erklärlich, daß nur die vollständige Entfernung aller Krebszellen eine Heilung herbei- führen kann. Bleiben bei einer Operation an irgendeiner Stelle einige Zellen zurück, so werden sie nach einiger Zeit wieder zu einer neuen Ge- schwulst heranwachsen. Man spricht in einem solchen Falle von Rezidivbildung und das Auf- treten einer Geschwulst in der Narbe kurze Zeit nach der Operation ist ein Beweis für diese Er- klärung. Ein solches Rezidiv kann aber erst Monate ja Jahre nachher an der alten oder an einer neuen Stelle auftreten ; dann muß man wohl von einer Neuerkrankung in einem besonders dazu neigen- den Individuum sprechen. Der Krebs ist eine Krankheit des mittleren Lebensalters, des 4. und 5. Dezenniums, befällt Kinder so gut wie niemals und jugendliche Indi- viduen in den seltensten Fällen. Er kommt heim- lich wie ein Dieb, macht anfangs keine oder nur geringe Beschwerden und setzt mit den heftigsten Schmerzen meist erst dann ein, wenn er schon weit fortgeschritten ist; die Kranken werden auf ihr Leiden erst aufmerksam, wenn es für eine ge- eignete Behandlung meist zu spät ist. Wenn wir die wenigen bisher geheilten Fälle außer Betracht stellen, so führt die Krebskrank- heit ausnahmslos zum Tode. Sie dauert immer einige Monate bis mehrere Jahre. Da die Krebsgeschwulst Organe des Körpers zerstört und dadurch ihrer eigentlichen Bestim- mung entzieht, schafft sie im Haushalte des Or- ganismus eine Disharmonie, die um so stärker sein muß, je wichtiger die betreffenden Organe für den Haushalt des Organismus sind. Wenn der Magen und die Leber von Krebsmassen zerstört sind, so wird uns der unausbleibliche Tod des Individums verständlich erscheinen, weil er unfähig zu jed- weder Nahrungsaufnahme und Verarbeitung an Entkräftung zugrunde gehen muß. Anders liegt die Sache bei krebsiger Erkrankung von nicht direkt der Ernährung dienenden Organen; auch hier erfolgt nach einiger Zeit der Tod, nachdem hochgradige Abmagerung des Individuums und Verfall der Kräfte vorhergegangen war. Die N. F. XIX. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 323 Krebszellen nehmen eben nicht bloß Nahrungsstoffe für sich vom Körper auf, sondern geben auch wie alle Zellen des Körpers ihre Stoffwechselprodukte in den Säftestrom des Organismus ab. Und ent- sprechend ihrer in Art und Wachstum körperfremden Natur sind auch ihre Stoffwechselprodukte anders geartet; sie passen nicht in das normale Gefüge, sondern wirken wie ein Gift. Bald kommt es zu einer starken Schädigung des Blutes und der blutbilden- den Organe, zu einer immer stärker werdenden Blutarmut, zu einer Abmagerung, die die höchsten Grade erreichen kann, zu einem vollständigen Ver- siegen des Appetites, zur Unmöglichkeit der Nah- rungsaufnahme und zu völliger Entkräftung. Unter dem Bilde der schweren chronischen Vergiftung tritt dann der Tod ein, der nur mit dem Ver- löschen eines ganz schwach flackernden Flämmchens verglichen werden kann. — Daß diese auffällige und häufige, dabei so un- vermutet, fast grundlos auftretende Krankheit den ständig nach Ursachen und Erklärung forschenden Menschengeist seit jeher beschäftigen mußte, ist erklärlich, und unzählig ist die Zahl der Erklä- rungsversuche, die zu allen Zeiten gegeben wur- den und die sich immer als unrichtig und nicht stichhaltig erwiesen haben. Das Volk hat sich immer die Krebskrankheit als Folge irgendeiner Verletzung vorgestellt und ist auch heute noch dieser Ansicht, und der Er- krankte wird gewissenhaft seine Erinnerungen durchsuchen, ob er sich nicht doch einmal an dieser Stelle angestoßen, gequetscht, verbrannt oder sonst irgendwie beschädigt hat. Man weiß es aus Erfahrung und kann die Bestätigung all- täglich am eigenen Leibe erfahren, daß ein ver- letzter Körperteil anschwillt. Was ist da näher liegend als auch lür die Krebsgeschwulst, die ja auch als scheinbar harmlose Geschwulst beginnt, dieselbe Erklärung heranzuziehen. Und da in jedem Volksglauben, mag er auch noch so ver- schroben sein, irgendwo ein Körnchen Wahrheit steckt, das auf genaue Beobachtung zurückzuführen ist, ist auch dieser Erklärungsversuch für einen Teil der Krebserkrankungen teilweise zutreffend. Es ist eine Tatsache, daß Personen, die lange Zeit bestimmten Schädigungen ausgesetzt sind, leicht an den ständig gereizten Körperpartien am Krebs erkranken. Bekannt ist der Krebs der Unterlippe bei Pfeifenrauchern, besonders bei sol- chen, die fast den ganzen Tag die Pfeife nicht aus dem Munde nehmen. Paraffin- und Steinkohlen- teerarbeiter , Schornsteinfeger und Arsenikesser erkranken gern an krebsiger Entartung der Haut. Bei Arbeitern in Anilin- und Naphtholfabriken findet sich häufig Krebs der Harnblase. Metall- dreher, Zigarrenarbeiter und Bergleute zeigen häu- fig den sonst eher seltenen Lungenkrebs. An Mundhöhlenkrebs erkranken die Betelnuß kauen- den Frauen Ceylons und Indiens, an Krebs der Bauchwand die Einwohner von Kaschmir, die sich beim Tragen der Kohlenkörbe am Bauche scheuern. Krebse des Darmkanales entstehen mit Vorliebe dort, wo der Transport der Kotmassen ein Hinder- nis findet, wie an den beiden Knickungsstellen des Dickdarms in der Leber- und in der Milzgegend; Gallensteine und Krebs der Gallenblase sind oft miteinander vergesellschaftet. Gewebe, die chronisch entzündlich verändert sind, neigen, wie man schon seit langem weiß, zu krebsiger Ent- artung, wie das Magengeschwür, chronische Ek- zeme der Haut und eine Erkrankung erst jüng- sten Datums, die entzündlichen Hautveränderungen, die der unvorsichtige Umgang mit Röntgen- strahlen mit sich bringt. Selbst der kritischste Zweifler wird diesen Zu- sammenhang bestehen lassen müssen, er ist zu auffallend und zu oft beobachtet. Aber er klärt nicht die Entstehung des Krebses. Denn diese Schädigungen treffen viele Menschen, aber nur bei einem Bruchteil von ihnen kommt es zur krebsigen Erkrankung. Wir können nur sagen, daß sie Gelegenheitsursachen sind, daß ihnen eine auslösende Wirkung zukommt, daß aber die Ursache für die Erkrankung wo anders stecken muß. Versuche, die man in dieser Richtung an Tieren anstellte — denn Gott sei Dank kommt der Krebs auch bei Tieren vor, vor allem bei den für das Experiment leicht erhältlichen und gut züchtbaren Mäusen und Ratten — haben kein eindeutiges Resultat ergeben ; einigen Forschern gelang es, durch Injektion von in Öl gelösten Fettfarbstoffen wie Scharlachrot, Sudanrot, also Farbstoffen, die sich in ihren Verbindungen in letzter Linie aus dem Benzol resp. Naphthol herleiten, krebsähnliche Wucherungen zu erzeugen, aber die Fälle sind vereinzelt und die Ergebnisse derart gering, daß man bisher auf diesem Wege nicht weiter gekommen ist. Und hätten diese Ver- suche auch ein positives Resultat gezeitigt, so hätte man nur eine Bestätigung durch das Ex- periment für die an und für sich schon zahlreichen Beobachtungen, aber noch immer keine Erklärung für die eigentliche Entstehungsursache des Krebses, für das Entstehen der eigentlich körperfremden Krebszelle mit ihrem ungeheueren Wachstums- drang. Denn man kann sich nicht vorstellen, daß irgendeine Schädigung imstande ist, eine Körper- zelle so zu verändern, daß sie solche Eigenschaften annimmt, wie sie uns die Krebszelle zeigt. Denn es muß nicht nur der Chemismus der Körperzelle verändert sein, sondern auch der ihrer Umgebung und des ganzen Organismus. Bestechend war die Erklärung, daß irgendein Parasit die Ursache der Krebskrankheit ist, um so mehr, da sie selbst wie ein Parasit am Organismus schmarotzt. Und als man als Ursache der Infektions- krankheiten die Bakterien erkannte und fand, daß auch so viele Krankheiten, die man früher gar nicht für Infektionskrankheiten hielt, sondern wie die Lungenentzündung in die Gruppe der sog. Erkältungskrankheiten einreihte, infektiöser Natur sind, war man natürlich nicht im Zweifel, daß 324 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 21 auch der Krebs irgendein Bakterium als Erreger habe. Unzählig sind die Entdeckungen, die man damals machte ; in allen Ländern fanden Gelehrte und Ungelehrte den so sehnsüchtig gesuchten krebserregenden Bazillus. Natürlich finden sich in den geschwürig zerfallenen Krebspartien die verschiedensten Bakterien in großer Menge, aber keines hat mit der Krankheit selbst etwas zu tun, sondern alle leben und vermehren sich dort, weil die abgestorbene organische Substanz ein ausge- zeichneter Nährboden ist. Wenn auch beim menschlichen Krebs nichts für die infektiöse Natur der Erkrankung spricht, wäre diese Auffassung nicht von vornherein glatt von der Hand zu weisen. Die Beobachtungen bei den Tieren und die Experimente des Laboratori- ums sind für sie eine Stütze. Bei Tieren kann der Krebs endemisch auftreten, das heißt, er befällt die Tiere ein und desselben Stalles, Ortes oder Landstriches; er wird nicht dorthin verschleppt, sondern ist dort gewissermaßen zu Hause. Solche endemische Krebse sind die Augenliderkrebse der Rinder, die Schilddrüsenkrebse der Fische und Ratten ; Krebse finden sich bei Mäusen, die der- selben Zucht entstammen, aus demselben Käfig sind oder in ein und demselben Hause gefangen wurden. Der dänische Forscher Fibig er konnte zeigen, daß in der Magengeschwulst der Ratte, die dem menschlichen Magenkrebs sehr nahe steht, kleine Fadenwürmer (Nematoden) zu finden sind, die durch die Küchenschabe (Periplaneta) als Zwischenwirt in den Magen der Ratte gelangen. Er konnte nun durch Einbringen von Küchen- schaben, die mit den Nematoden gefüttert waren, bei gesunden Ratten Magenkrebs erzeugen. Jensen beobachtete, daß englische Mäuse, welche in den gleichen Käfigen und unter den gleichen Bedingungen lebten wie dänische Mäuse, spontan an Krebs erkrankten, während die dänischen Mäuse geschwulstfrei blieben. Er sah auch, daß spontan an Krebs erkrankte Mäuse Junge warfen, die ebenfalls an Krebs erkrankten. Aber alle diese Tatsachen lassen sich auch erklären, wenn man annimmt, daß eben bestimmte, ungekannte Schädigungen die auslösenden Ur- sachen sind. Und wenn es sich auch wirklich um Parasiten handelt, so dürften sie nicht die spezifische Ursache des Krebses sein, sondern ebenfalls nur Schädigungen setzen, auf deren Boden dann aus irgendeinem Grunde der Krebs ent- steht. Auch Bodenbeschaffenheit, stagnierende Ge- wässer, Klima hat man mit der Krebsentstehung in Zusammenhang gebracht, und nicht so ganz mit Unrecht. Denn sie scheinen so wie beim menschlichen Kröpfe eine Rolle zu spielen. Es gibt Gegenden, wo der Krebs sehr selten ist, und solche, wo er sehr häufig auftritt. Und Leute der krebsfreien Gegend gehen ihres Schutzes ver- lustig, wenn sie in eine Krebsgegend übersiedeln. Auch bei dem endemischen Auftreten der tierischen Krebse dürften örtliche Ursachen und nicht Parasiten eine große Rolle spielen. Die Schilddrüsenkrebse der Forellen (Salmoniden), die in einem ganzen Wasserlaufe endemisch auftreten, finden sich vor allem bei künstlich gezüchteten Forellen und dürften die Folge einer ungeeigneten Ernährung sein. Für die infektiöse Natur des menschlichen Krebses gibt es gar keinen Beweis, und sein Auf- treten, seine Entstehung und sein Verlauf sprechen absolut dagegen. Das gleichzeitige Er- kranken der Ehegatten an Krebs läßt sich in Anbetracht seiner Seltenheit viel ungezwungener durch die Häufigkeit der Erkrankung als zufälliges Zusammentreffen erklären. Wir kommen also von den äußeren Ursachen immer wieder auf die inneren Ursachen zurück, die im Menschen selbst wirksam sind, und die wir als Disposition bezeichnen können, wenn uns ein Name dafür genügt, wofür uns die Erklärung fehlt. Da alle die bisher genanntenUrsachen bei weitem nicht bei allen, sondern nur bei einzelnen zur Er- klärung herangezogen werden können, für viele Krebsentstehungen überhaupt keine Ursache zu fin- den ist, so muß in dem Organismus des Erkrankten selbst der eigentliche Grund hierfür zu suchen und zu finden sein. Der schon eingangs als embryonal bezeichnete Charakter der Krebszelle, sowie der Umstand, daß aus Mißbildungen wie Muttermalen, aus persistierenden embryonalen Gebilden wie Kiemenspalten oder nicht vollentwickelten Or- ganen, die gewissermaßen auf embryonaler Stufe stehen geblieben sind, häufig Krebse entstehen, hat den Gedanken aufkommen lassen, daß im Körper bei seiner Entwicklung embryonale Zellen zurückgeblieben sind, die, ohne Verwendung ge- funden zu haben, untätig fortlebten, bis sie ein Reiz trifft, z. B. einer von den vorher erwähnten, und sie zu dem ungeheueren Wachstum anregt, das uns als Krebs imponiert. Die Vorstellung, daß Zellen mit embryonalem Charakter im Körper versprengt weiterleben, wäre nicht so unmöglich, aber absolut unerklärlich wäre die Wandlung der embryonalen Körperzelle, die ein normales Wachs- tum hat, zu der Krebszelle mit dem ungehemmten Wachstum, das alle Grenzen überschreitet. Dieser Sprung ist so groß, daß es für den Zwang, den wir da unserer Vernunft auferlegen müssen, nicht erst der Annahme einer versprengten embryonalen Zelle bedarf Denn wenn dieser Sprung einer embryonalen Zelle möglich ist, die immer über kurz oder lang zu einer normalen Körperzelle wird, warum soll er nicht auch einer normalen Körperzelle möglich sein. Man kann sich nicht vorstellen, daß ein Reiz imstande sein soll, eine embryonale Zelle, die immer ein normales or- ganisches Gebilde von bestimmtem Wachstum er- zeugt, zu schrankenlosem Wachstum zu erregen und ihr die Fähigkeit, ein Organ zu bilden, zu nehmen. Auch die Versuche haben ein negatives Re- sultat ergeben. Das Überimpfen von embryonalem N. F. XIX. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 325 Gewebe auf lebende Tiere, sowie das Einpflanzen von zu Brei verarbeiteten Embryonen hat wohl geschwulstartige Gebilde gezeitigt, in denen sich Knochen, Muskeln, Zähne, Haare usw. haben nachweisen lassen, deren Wachstum aber nach einer ganz bestimmten Zeit und erreichter Größe aufhörte; von irgend einem schrankenlosen Wachstum, von einer Krebsgeschwulst keine Rede. Man kann mit vollem Rechte sagen, daß es bisher mit einiger Sicherheit oder Regelmäßigkeit noch nicht gelungen ist, sei es durch mechanische oder chemische Reize, durch experimentelle Zell- oder Gewebsverlagerungen, durch Übertragung von Bakterien oder tierischer Parasiten einen Krebs zu erzeugen. Was man erzielte, waren entzünd- liche Wucherungen, atypische Gebilde, aber allen fehlte vor allem das Eigenartige der Krebs- geschwulst, das dauernde, schrankenlose, selb- ständige Wachstum. Aber die große Zahl von Experimenten hatte doch einen ungeheuren Wert, weil sie uns das Wesen der Krebsgeschwulst wenigstens teilweise verständlicher machte und Tatsachen aufdeckte, die uns früher vollkommen fremd waren. Wenn es auch noch nicht gelungen ist, einen Krebs direkt zu erzeugen, so gelang es doch, bereits vorhandene Krebse an andere Körperstellen und auf andere Individuen zu verpflanzen, und damit ist auch die Gelegenheit gegeben, die Wachstumsbedingungen der Krebsgeschwulst und ihre Biologie genauer zu studieren. Die Übertragung, oder sagen wir besser die Überpflanzung des Krebses, gelingt bei weitem nicht immer. Grundbedingung ist, daß lebende Geschwulstzellen übertragen werden. Abgestorbene sind ungeeignet. Und die Angaben von Rons, der mit einem zellfreien Filtrat von einem Sarkom des Huhnes die Geschwulst übertragen haben will, bedürfen noch einer kritischen Nachprüfung. Alle Krebsformen sind nicht gleichgut über- tragbar, manche lassen sich überhaupt nicht über- tragen. Das beste Experimentiermaterial ist der Mäusekrebs, sehr schlecht übertragbar ist der menschliche Krebs. Seine Übertragung ist ver- sucht worden, aber sie gelang nur auf den gleichen Menschen, nicht aber auf einen anderen IVIenschen, noch weniger auf ein Tier, auch nicht auf den Affen. Damit ist die Furcht vor der Ansteckungsgefahr des Krebses als unsinnig erwiesen, wenn sie nicht schon die Beob- achtungen der Jahrhunderte als unbegründet gezeigt hätte. Die Geschwulstübertragung gelingt am leichtesten auf dem gleichen Tier und bei vielen Krebsformen auf Tiere der gleichen Zucht, Rasse oder Art; niemals aber auf artverschiedene Tiere. Bei den Krebsübertragungen sind nun sehr bemerkenswerte Tatsachen festgestellt worden. Der Organismus besitzt eine natürliche Festigkeit gegen den Krebs, die nach der Menge und der Art der Einbringung des Impfmaterials, nach den Rassenunterschieden, nach der Herkunft, Haltung und Ernährung der Versuchstiere wechselt. Auf jungen Tieren gelingt die Impfung besser als auf alten. Mäusekrebs, auf Ratten verpflanzt, hält sich ungefähr eine Woche und bildet sich dann zurück; wird er aber in einer gewissen Zeit auf die Maus zurückgebracht, so entwickelt er sich auf ihr weiter. Weiße Mäuse und graue Mäuse zeigen gegenüber ein und derselben Geschwulst verschiede- nes Verhalten, ja auch weiße Mäuse verschiedener Gegenden, wie z. B. Mäuse aus Paris und Kopen- hagen. Man kann dieses verschiedene Verhalten oft dadurch ausgleichen, daß man die Tiere längere Zeit an einem Ort leben und sich an die neue Umgebung anpassen läßt und sie vor allem besonders ernährt. Haltung und Ernährung spielen gewiß eine große Rolle. Aber auch die Festigkeit der Krebsgeschwulst selbst, ihre Eigenschaft , schnell oder langsam zu wachsen, mit einem Worte ihre Lebensenergie, ihre Virulenz, ist nicht in allen Fällen gleich; sie läßt sich ändern, verstärken und abschwächen. Ehrlich konnte die Wuchskraft und Über- pflanzungsfähigkeit des Mäusekrebses derart steigern, daß jede Impfung haften blieb, indem er die am raschesten wachsenden Geschwülste immer auf neue Tiere übertrug. Und wenn man den Krebs vor der Abimpfung auf ein anderes Tier chemisch physikalischen Eingriffen unterwirft, so kann man die Virulenz der Krebszellen sehr stark vermindern. Auch die Festigkeit der Tiere gegen die Impfung kann man künstlich erhöhen und ver- mindern, man kann die Tiere sogar immunisieren. Es gibt eine natürlich erworbene Geschwulst- immunität, die nach der Spontanheilung einer spontan aufgetretenen Geschwulst einsetzt. Die künstlich erworbene Krebsimmunität ist eine aktive, das heißt der Körper muß sich den Schutzstoff oder die Abwehrkräfte gegen die Ge- schwulst selbst bereiten. Man erzeugt sie durch Behandlung der Tiere mit arteigenen, eventuell abgeschwächten Krebszellen. Eine passive Immu- nisierung der Tiere, indem man ihnen z. B. das Serum von aktiv immunisierten Tieren einspritzt, gelingt nicht. Das Wesen der Krebsimmunität ist bei weitem noch nicht genügend aufgeklärt ; ein spezifischer Antikörper, ein Gegengilt gegen den Krebs, ist in dem Blute der aktiv immu- nisierten Tiere nicht nachgewiesen worden. Junge, von immunen Müttern, sind gegen die Impfung genau so empfindlich wie Junge von nicht immunen. Die Krebsimmunität ist überhaupt etwas anderes als die Bakterienimmunität; sie unterscheidet sich von ihr ganz wesentlich. Die Krebsimmunität hält Wochen und Monate an, ist aber nur durch Behandlung mit lebendem Geschwulstmaterial zu erreichen. Gegen Bakterien kann man auch mit totem Material immunisieren. Die Impfungen gegen Typhus und Cholera, die Behandlung mit Tuberkulin sind solche Immuni- sierungen mit toten Bakterien oder mit ihren Extrak- 326 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 21 ten und zwar' aktive Immunisierungen, da der Körper gezwungen wird, gegen die in ihn eingebrachten Bakterienleiber vorzugehen, sie aufzulösen und gegen die in ihnen enthaltenen Gifte Gegengifte zu erzeugen. Die Bakterienimmunität ist streng spezifisch. Individuen, die mit Typhusbazillen immunisiert wurden, sind nur gegen Typhusbazillen immun ; in ihrem Blute kreisen nur die ganz auf sie ab- gestimmten Gegengifte. Die Krebsimmunität hat nicht einen ausgesprochen spezifischen Charakter. Es muß zur Behajidlung der Tiere nur arteigenes Geschwulstmaterial verwendet werden. Die Geschwulstform ist weniger wichtig. So gelingt es, mit einer nicht krebsigen Geschwulst gegen Krebs und umgekehrt zu immunisieren. Eine Erklärung für das Wesen der Krebs- immunität gibt am ehesten die Ansicht Ehrlichs, der die Behauptung aufstellte, daß zum Wachs- tum sowohl gewöhnliche als auch spezifische Nährstoffe notwendig sind. Sind in einem Tiere diese spezifischen Nährstoffe nicht vorhanden, dann wird eine Impfung nicht gelingen, das Tier besitzt eine natürliche Festigkeit. Um diese spezifischen Nährstoffe kämpfen Körperzelle und Krebszelle, die stärkere reißt diese Nährstoffe an sich. Die Vergrößerung und Verringerung der Virulenz der Krebszelle und die Vermehrung und Verminderung der Festigkeit des Organismus gegen die Impfung ist nur eine Verstärkung und VerringerungderAnziehungskraftdieser spezifischen Nährstoffe. Diese Theorie würde auch die Tatsache erklären, daß in Gegenwart großer, rasch wach- sender Geschwülste Nachimpfungen nicht oder nur sehr schlecht haften, daß sie aber sofort an- gehen, wenn die große Geschwulst entfernt wird. Auch beim Menschen finden wir, daß Metastasen erst nach einiger Zeit des Bestehens der Mutter- geschwulst oder gelegentlich ihrer operativen Entfernung auftreten. Solange die Körperzellen noch die Kraft haben, die spezifischen Nährstofi^e an sich zu reißen, kann sich der Krebs nicht so ausdehnen, und Tochtergeschwülste finden keine Nahrung. Erst wenn die Körperzellen im Kampfe unterliegen oder die alles verzehrende Mutter- geschwulst entfernt ist, können andere Keime mit ihrem Wachstum beginnen. Die Ansicht EhrlichS ist natürlich keine Erklärung im strengen Sinne, sie ist eine Arbeits- hypothese, die uns die Vorgänge im Organismus vorstellbar macht, und mit deren Hilfe man weiter suchen kann. Auf alle halle sind im Organismus Schutzkräfte vorhanden, die sich gegen die Krebs- zellen stellen und ihre Verbreitung im Körper zu veriiinderii suchen, die aber in dem Kampfe fast immer unterliegen. Im Kampfe gegen die Krebs- zelle I Wenigstens sind sie dann schon immer im Rückzuge begriffen, wenn wir mit unseren Mitteln das Vorhandensein von Krebszellen konstatiert haben. Gegen die fertige Krebszelle sind sie augenscheinlich machtlos, wenn sie sich auch noch so sehr wehren. Die Krebszelle muß aber einmal im Körper entstehen. Wie sie entsteht und woraus sie entsteht, wissen wir noch nicht, wir kennen nur das fertige Produkt. Wahr- scheinlich ist die Hauptaufgabe der Schutzkräfte, gegen die entstehende, von uns noch nicht ge- kannte Krebszelle vorzugehen, und wir wissen gar nicht, ob es ihr nicht sehr oft gelingt, diese Entstehung zu vereiteln. Daß der Körper niclit ohne Schutz gegen die Krebszellen ist, haben verschiedene Beobachtungen gezeigt. So konnte man in den verschiedensten Krebsgeschwülsten unter Stellen des frischesten Wachstums Stellen finden, an denen unverkennbar Heilungsvorgänge vorhanden waren. Es konnte festgestellt werden, daß das Gewebe der Bauch- speicheldrüse zugesetzte Krebszellen in der Eprouvette zerstört und verdaut. Die ganze Leber besitzt ein Ferment, das Krebsgewebe zer- stört, das aber in der Leber von am Krebs ge- storbenen Menschen und Tieren vermißt wird. Das gleiche gilt vom Blute. Wenn man normales Serum mit Krebszellen in der Eprouvette zusammen bringt und das Gemisch im Brutschrank einige Zeit stehen läßt, so werden die Krebszellen vom Serum zerstört. Das Serum eines Krebskranken besitzt diese Eigenschaften nicht mehr. Prof. Freund hat nun nachgewiesen, daß der Unterschied der beiden Sera im folgenden besteht. Das normale Serum besitzt eine in Äther lösliche Fettsäure , die auf Krebszellen zerstörend wirkt und die dem Serum des Krebskranken fehlt. Zu diesem Minus kommt aber noch ein Plus. Das Serum des Krebskranken besitzt noch eine Sub- stanz (Nukleoglobulin), das die Krebszellen gegen das normale Serum schützt, das sogar imstande ist, die zugesetzte Krebszellen zerstörende Fett- säure zu paralysieren. Diese die Krebszellen schützende Eigenschaft besitzt das Serum der Krebskranken noch lange Jahre nach einer Operation, die die gesamte Krebsgeschwulst entfernt hat, und so wird auch das Entstehen der Rezidive verständlich. Zerreibt man normales Gewebe, das man grob vom Blute gereinigt hat, in 0,85 proz., sog. physio- logischer Kochsalzlösung, so erhält man nach dem Filtrieren Extrakte, die Krebszellen, wenn man jene auf sie in der Eprouvette einwirken läßt, stark zer- stören, während sie normale Gewebszellen fast gar nicht angreifen. Macht man aber aus den Geweben, in denen beim Krebskranken der Krebs gesessen hat, Extrakte, so zerstören sie die Krebszellen nicht, sie machen sogar ein zugesetztes Normalserum, das doch sonst für sich allein Krebszellen sehr stark zerstört, vollkommen unwirksam. Freund untersuchte nun weiter; er stellte aus dem Gewebe eines alten Unterschenkel- geschwürs, das ja bekanntlich ungemein chronisch verläuft und auf dessen Basis sich manchmal ein Krebs entwickelt, Extrakte her und fand, daß diese Extrakte nicht imstande waren, Krebszellen auf- N. F. XIX. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 327 zulösen. Sie verhielten sich also in dieser Be- ziehung wie Extrakte aus Geweben, in denen der Krebs gesessen hat. Doch zeigten sie diesen gegenüber doch einen wesentlichen Unterschied; sie konnten die Krebszellen gegen das zugesetzte Normalserum nicht schützen. Es fehlte diesem chronisch entzündlichen Gewebe die die Krebs- zellen zerstörende Fettsäure, sie besaßen aber noch nicht die Substanzen, die diese Säure paralysieren. Interessant ist, daß dieses Verhalten nur die mit dem freien Auge als chronisch entzündlich verändert kenntlichen Partien der Haut zeigten, daß gegen den Rand zu diese Reaktion geringer wurde, das angrenzend normale Gewebe aber bereits normale Eigenschaften besaß. Ähnliche Ergebnisse zeitigten die Unter- suchungen beim chronischen Magengeschwür und bei noch anderen Krankheiten. Die chronisch entzündlichen Vorgänge scheinen in den Geweben die die Krebszellen zerstörende Fettsäure zu verbrauchen oder zu zerstören, bil- den also an diesen Stellen sehr gefährdete Punkte, Lücken in dem Verteidigungswall. Allerdings muß an diesen Stellen noch kein Krebs ent- stehen, es fehlt dazu noch das Wichtigste, nämlich die Substanz, die die Krebszellen vor den Normal- serum schützt, das pathologische Nukleoglobulin.^) Wir sehen also heute schon ein Stück weiter. Der Krebs entsteht nicht sofort durch irgendwelche Einflüsse, sondern zwischen Organzelle und Krebszelle liegt ein ziemlicher Weg des Über- ganges. Durch irgendwelche Ursachen entsteht aus der Organzelle die Krebszelle, und gegen diesen Werde- gang lehnt sich der Körper mit aller Macht auf und nutzt die ihm von der Natur gegebenen Schutzvor- richtungen weidlich aus. Wir müssen also bei der Krebskrankheit zwei Stadien unterscheiden; das erste, das vorkrebsige Stadium, in dem sich aus der Körperzelle die Krebszelle entwickelt. Hierfür gibt es wahrscheinlich viele Ursachen und alle die früher angeführten, auf einem großen Er- fahrungsmaterial fußenden Beobachtungen dürften dabei eine Rolle spielen. Allerdings ist uns der ganze Weg noch bei weitem nicht bekannt und der eigentliche Hauptsprung ist uns noch immer volkommen fremd. Ist aber einmal die Krebszelle entstanden, dann tritt die Krankheit in das zweite Stadium ; die Krebszelle ist mit selbständigen Eigenschaften begabt und wächst nun weiter auf Kosten des Organismus als Parasit und richtet den Wirt zugrunde durch ihre anders geartete Lebensweise, durch ihre anders gearteten Stoff- wechselprodukte. Und damit kommen wir noch einmal auf die bereits eingangs gestreifte Frage zurück, warum der Krebs eigentlich so bösartig ist, warum er unweigerlich zum Tode führen muß. ') Freund konnte die Krebsrellen zerstörende Fettsäure aus dem Normalserum isolieren, und zwar gewann er aus ca. 5 Liter Pferdeserum ca. o, i g Substanz. Sie ist sehr labil. Denn die Funktionsstörung der durch den Krebs vernichteten Organe, die Blutungen infolge des geschwürigen Zerfalles und die Störungen in der Nahrungsaufnahme reichen zur Erklärung aller Fälle von Krebskachexie nicht aus, besonders wenn diese schon frühzeitig bei noch ganz kleinen Geschwülsten einsetzt. Wir haben da angegeben, daß die von den Krebszellen erzeugten Stoff- wechselprodukte die Ursache sind, weil sie dem Organismus gegenüber als Gift wirken. Jede Zelle im Organismus besitzt die Fähigkeit, Eiweiß abzubauen und dies in einer Form, die dem Organismus zuträglich, das heißt, für die er angepaßt ist. Die Substanzen, mit deren Hilfe der Abbau erfolgt, sind Fermente, sie treten nur nach Bedarf in Wirksamkeit; nur in der toten Zelle rufen sie die Auflösung der Zelle hervor. Diese Autolyse ist bei den Krebszellen sehr ge- steigert, ja die F'ermente der Krebszellen bauen auch das Eiweiß der anderen Organe wie Lunge und Leber ab. Und dabei erfolgt der Abbau ganz atypisch, in einer ganz anderen Form, als sie sonst im Organismus stattfindet. Die Krebszelle entwickelt eine ganz abnorme Tätigkeit, und was von der größten Bedeutung ist, der abnorme Abbau beschränkt sich nicht bloß auf die Krebs- geschwulst, sondern verbreitet sich im ganzen Organismus. Auch in den von der Krebsgeschwulst verschonten Organen tritt die abnorme Ferment- wirkung auf Die Entartung der Fermentwirkung führt zum atypischen Abbau der Eiweißkörper und der übrigen Baustoffe in der Krebszelle, der atypische Abbau zu Störungen im Abbau und Stoffwechsel im ganzen Organismus, diese wieder zu Änderungen der normalen Blutmischung, und so zieht eine Störung die andere nach sich und die Folge ist eine Summe von Schäden, die den Körper binnen kurzem zu einer Ruine macht. Diese veränderte Reaktion des Organismus macht auch das Auftreten von Metastasen und Rezidiven verständlicher. Der Organismus ist ge- wissermaßen schon auf die Krebszelle eingestellt. Darum ist die Krebskrankheit auch so bösartig, und zeigt keine Neigung zur Heilung. Es sind wohl Fälle bekannt, daß die Krebs- krankheit von selbst verschwand und der Kranke genaß, aber die Fälle sind so spärlich, daß man getrost sagen kann, daß ohne Behandlung der Krebs unbedingt zum Tode führt. Und mit der Behandlung? Unzählig sind die Mittel, die man zur Heilung des Krebses angab und versuchte. Die vielen Volksmittel, die man im Laufe der Zeiten als Heilmittel an dem armen Kranken anwendete, und die Unzahl von Ge- heimmitteln, mit denen Kurpfuscher den Er- krankten wohl nicht die Krankheit, dafür aber um so mehr das Geld abnahmen, können wir hier wohl übergehen. Die meisten von ihnen sind doch ohne irgendwelche Begründung meist nur im guten Glauben angewendet worden, daß ein Kraut, das unser Herrgott wachsen läßt, doch zu etwas nütze sein muß, und daß doch gegen den 328 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 21 Krebs zumindest ein Kräutlein gewachsen sein müsse, wenn es schon keines gegen den Tod gäbe. Die ernsten Arzte der Alten haben als einziges Mittel gegen die böse Krankheit die Operation angegeben, und dieses Mittel hat sich bis heute seinen Platz bewahrt und steht immer noch an erster Stelle. Natürlich hat man hier nicht nur bloß technisch viel dazu gelernt. Früher be- schränkte man sich darauf, die erkrankte Partie aus dem Organismus zu entfernen, und es ist eigentlich zum Staunen, daß man mit dieser primitiven Methode verhältnismäßig ganz gute Resultate erzielte, wie die Statistiken beweisen. Diese Resultate sind ein großer Trost ; sind sie doch ein Zeichen dafür, daß der Körper sich doch noch selbst helfen kann, wenn man ihn bei seinem Kampfe unterstützt. Denn nach unseren heutigen Kenntnissen war die frühere Methode absolut ungenügend. Der Krebs setzt, wie wir •ja erfuhren, Metastasen, die zu neuen Geschwül- sten auswachsen. Läßt man also eine solche Metastase im Körper, so hat man wohl die Haupt- geschwulst entfernt, aber den Organismus nicht von der Krankheit befreit, da die Metastase in absehbarer Zeit das alte Bild machen wird. Heute muß der Chirurg nicht bloß die Hauptgeschwulst entfernen, sondern auch die Metastasen, das heißt, wenn dies im Bereiche der Möglichkeit liegt. Da der Krebs zuerst die Lymphdrüsen erfaßt, die in das Lymphgefäßsystem des Bezirkes, in dem der Krebs sitzt, eingeschaltet sind, so werden diese Drüsen, an denen man die krebsige Ent- artung meist leicht kennt, stets mit entfernt. Erst wenn der Krebs schon älter ist, hat die Aussaat der Keime die Lymphdrüsen der Nachbarschaft überschritten und die Metastasen sitzen bereits in den verschiedensten Organen, ohne für den Chirurgen deutlich zu werden, oder wenn schon, ohne für ihn erreichbar zu sein. In einem sol- chen Falle ist die Operation fast immer wertlos. Die Operation kann also den Krebs heilen, wenn er noch nicht im Körper verbreitet ist, wenn er also noch nicht zu alt ist. Da aber der Krebs fast immer schleichend kommt und selten zu Beginn schon solche Schmerzen und Be- schwerden macht, daß die Kranken bei dem Arzte Hilfe suchen, ist die Zahl der zur Opera- tion ungeeigneten Krebsfälle eine sehr große. Man darf daher mit der Operation als Heil- mittel nicht zufrieden sein, sondern muß ein anderes suchen, um so mehr, da ja auch nicht alle operierten Fälle dauernd geheilt werden, sondern leider häufig genug rezidiv werden, und weil die Operation meist kein leichter Eingriff ist, von dem viele Kranke zurückschrecken und den auch einige nicht vertragen. Man liat viele Mittel probiert. So fand man, daß die Erreger des Rotlaufes die Krebszellen töten, wenn sie in sie eindringen. Der Organismus löst dann die getöteten Zellen auf. Man brauchte also nur beim Krebskranken künstlich einen Rotlauf erzeugen, um den Krebs zu vernichten. Da man die den Rotlauf erregen- den Streptokokken rein züchten kann, braucht man den Kranken mit ihnen nur zu impfen, um einen Rotlauf hervorzurufen. Leider hat man aber die so erzeugte Krankheit nicht in der Hand, und die Streptokokkeninfektion ist an und für sich eine schwere Erkrankung, und da man nicht weiß, wieweit die Infektion gehen wird, so hieße es den Teufel mit Beelzebub austreiben, wollte man den Krebs durch den Rotlauf vernichten. Dieses Mittel ist also, wenn es nicht gelingt, die Infektion nur so weit gehen zu lassen, daß der Krebs abgetötet wird, ohne daß der Organismus an der Infektion zugrunde geht oder schwer Schaden leidet, abso- lut unbrauchbar. Die Möglichkeit, das zu er- reichen, ist nicht ausgeschlossen. Wir haben ge- lernt, die Bakterien so abzuschwächen, daß die durch sie erzeugte Krankheit von dem Organis- mus mit Leichtigkeit ertragen wird, der Organis- mus aber alle die Vorteile gewinnt, vor allem die Immunität, als ob er eine regelrechte Krankheit durchgemacht hätte. Dieser Vorgang wird ja bei der Pockenschutzimpfung heute mit Erfolg durch- geführt. Aber es ist nicht bestimmt, ob durch eine geringe Infektion die Krebszellen abgetötet werden. Derzeit hat diese Methode sehr wenig Aussichten auf Erfolg und wird auch nirgends angewendet. Man hat durch verschiedene in den Organis- mus eingebrachte Präparate die Krebszellen zu vernichten versucht. Jod, Arsen, das von Mosettig-Moorhof eingeführte Methylenblau haben sich bei der genaueren Prüfung nicht be- währt. Die von Wassermann versuchte Eosin- Selen- Verbindung tötet wohl Krebszellen ab, aber ihre Anwendung ist ungemein gefährlich, weil sich die Dosis sehr schwer abschätzen läßt. Denn die Dosis, die zur Vernichtung der Krebszellen not- wendig ist, ist nicht viel kleiner als die für den Organismus tödliche Menge; und da die einzelnen Individuen auf die gleiche Menge ein und des- selben Präparates verschieden reagieren, könnte man vorher niemals wissen, ob man nicht bereits die tödliche Dosis gibt oder eine Dosis, die den Krebs- zellen noch nicht schadet. Solche Mittel haben wohl ein theoretisches Interesse, können aber in der Praxis niemals Anwendung finden. Nun hat aber in den letzten Jahrzehnten eine neue Behandlung in die Praxis Eingang gefunden, eine Behandlung, die bereits der bisher geübten Operation starke Konkurrenz zu machen beginnt und die nach den jüngsten Erfolgen scheinbar berufen ist, das Heilmittel gegen die Krebskrank- heit zu werden, das ist die Behandlung mit Röntgen- und Radiumstrahlen. Beide Strahlen- arten in ihrem Wesen und ihrer Wirkung ähnlich, zeigen doch gewaltige Unterschiede, und es hat den Anschein, daß in dem Kampfe um die Vor- herrschaft die Röntgenstrahlen den Sieg davon tragen werden, nicht nur weil das Radium wegen seines seltenen Vorkommens und des hierdurch bedingten enorm hohen Preises wohl nie den N. F. XIX. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 329 Weg in die weite Praxis finden wird, während heute bereits die Zahl der in Betrieb befindlichen Röntgenapparate eine sehr große ist, sondern auch weil die Röntgenstrahlen (in gewissen Grenzen allerdings) in beliebiger Menge und Stärke erzeugt werden können und eine vielfäl- tigere Verwendungsmöglichkeit voraushaben. Die Röntgenstrahlen bewirken eine Erkrankung jeder lebenden Zelle, die je nach der Menge der von der Zelle absorbierten Strahlen und der Empfindlichkeit der Zelle mehr oder weniger heftig ist. Ist die Erkrankung nur gering, so er- holt sich die Zelle wieder, war sie heftiger, so bleibt die Zelle dauernd geschädigt, und bei einer bestimmten Stärke tritt der Tod der Zellen ein. Alle lebenden Zellen sind für Röntgenstrahlen empfindlich, aber je nach ihrer Art verschieden. Setzen wir ein Gewebe dem Einfluß des Röntgenlichtes aus, so werden die empfindlichsten Zellen sterben, vorausgesetzt, daß die Dauer der Bestrahlung und die Stärke der Strahlen groß genug waren, die weniger empfindlichen werden erkranken, sich aber wieder erholen und die am wenigsten empfindlichen werden überhaupt keine Reaktion erkennen lassen. Es treffen also die Röntgenstrahlen gewissermaßen im Organismus eine Auslese, und dadurch sind sie für die Heil- kunde als Behandlungsmittel geeignet, vorausge- setzt, daß gerade die Zellen, die man treffen will, für die Strahlen hoch empfindlich sind. Die zahlreichen Versuche haben nun ergeben, daß die Röntgenstrahlen um so intensiver auf die Zellen wirken, je größer die reproduzierende Fähigkeit der Zellen ist, d. h. je tätiger die Zellen sind, ferner je weniger differenziert sie sind, je weniger also ihre Form und Funktion definitiv festgelegt ist. Ruhende Zellen, wie z. B. die Knorpel- und die Knochenzellen sind fast un- empfindlich gegen die Strahlen im Verhältnis zu den tätigsten Zellen im Organismus, den die Samenfäden liefernden Zellen der Hoden und die reifenden Eier der Eierstöcke. Deshalb sind auch junge Zellen viel empfindlicher als alte, die ihre Wachstumstätigkeit bereits stark eingeschränkt haben. Die spezialisierten Zellen des Organismus, wie die Muskelzellen, Nerven- und Drüsenzellen, und die roten Blutkörperchen sind sehr wenig empfindlich, dagegen weisen die noch wenig differenzierten Zellen der verschiedenen Keim- schichten, wie die der Haarpapille und der Haut starke Empfindlichkeit auf. Aus dem geht hervor, daß die Krebszelle zu den hoch empfindlichen Zellen gehören muß. Denn sie ist enorm reproduktiv und ist sehr wenig differenziert. Tatsächlich werden die Krebs- zellen auch durch die Röntgenstrahlen zum Ab- sterben gebracht. Wie wir uns die Wirkungsart der Röntgen- strahlen auf die Zelle vorstellen sollen, ist noch völlig unklar. Die Strahlen wirken auf den Kern, der seine Fähigkeit zur Teilung verliert, und auf das Protoplasma, das seinen Zustand ändert, wie man an gefärbten Präparaten deutlich erkennen kann. Die Zellen gehen entweder sofort zugrunde oder leben weiter, bis sie ihre Lebensdauer er- reicht haben, die ja fast immer sehr kurz ist; da sie durch die Bestrahlung ihre Vermehrungsfähig- keit verloren haben , kommt es über kurz oder lang ebenfalls zu einem Verschwinden der be- strahlten Zellgruppe. Es gehen in der Zelle gewiß chemische Ver- änderungen vor sich, die sich aber vorläufig noch vollständig unserer Kenntnis entziehen. Diese Veränderungen setzen gewiß schon während der Bestrahlung ein, deutlich werden sie aber meist erst in ca. 14 Tagen. Da die Krebszellen nun stark röntgenempfind- lich sind, so müßte die Behandlung der Krebs- krankheit sehr einfach und sicher sein, wenn etwa die Möglichkeit, die Krebszellen zu treffen, so ein- fach wäre. Für oberflächlich auf der Haut ge- legene Krebszellen ist die Behandlung auch ein- fach genug; doch weitaus die Mehrzahl der Krebs- zellen sitzt in der Tiefe des Organismus und ist zumindest von der Haut bedeckt. Da aber die Wirkung der Röntgenstrahlen immer schwächer werden muß, je tiefer sie in den Organismus ein- dringen, weil ja die Zellen die Strahlen absorbieren, ist es schwer, die nötige Menge von Strahlen bis zu den Krebszellen zu schicken, ohne die Haut, die ja ebenfalls eine stark röntgenempfindliche Zellschicht enthält, zu schädigen. Außerdem wirkt eine geringe Menge von Strahlen als Wachs- tumsanreiz, ruft also das gerade Gegenteil von dem hervor, was man zu erreichen beabsichtigte. Als man in den Anfängen der Röntgenbehand- lung diese Gefahren noch nicht kannte, hat man nicht geheilt, sondern den Kranken schwer ge- schädigt, weil man seine Krebszellen zum Wachsen anregte, dafür die gesunde Haut stark schädigte und auf ihr Geschwüre erzeugte, die, weil man gerade die das Wachstum der Haut unterhaltende Zellschicht vernichtet hatte, gar keine Neigung zur Heilung zeigten. Man lernte aber bald diese Gefahren der Haut- beschädigung zu umgehen, indem man verschiedene Hautteile als Eintrittspforten in den Organismus wählte , die tiefsitzenden Krebsgeschwülste also von verschiedenen Seiten bestrahlte. Man gab durch jede Hautpartie nur soviel Strahlen, als sie, ohne zu erkranken, vertragen konnte und erreichte dadurch, daß man so viel Schüsse auf den Krebs abgab, sie eine tödliche Dosis für die Krebszellen darstellten, vorausgesetzt, daß sie nicht zu tief saßen. Denn trotz aller Bemühungen, die Strahlen so zu gestalten, daß sie in genügender Stärke in die Tiefe dringen, trotz häufiger Bestrahlungen, die man nach vier Wochen wiederholte, da sich nach dieser Zeit die erkrankten weniger empfindlichen Zellen erholt haben, war der Erfolg bei tief sitzen- den Krebsen ein sehr geringer. Die Zahl der Eintrittspforten läßt sich schon aus räumlichen 33° Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 21 Gründen nicht beliebig ausdehnen, außerdem ist die Menge der vom Organismus aufgenommenen Strahlen, auch wenn sie nicht in die Tiefe dran- gen, nicht gleichgültig. Die Röntgenbehandlung schien also eine Zeit lang bestimmt, das Los der übrigen Krebsbehand- lungsmethoden teilen zu sollen. Man hatte zwar behauptet, daß die Durch- dringungsstufe der Röntgenstrahlen von ihrer Geschwindigkeit, und diese wiederum von der Stromspannung abhänge, mit der die Röhren betrieben werden, aber die technischen Schwierig- keiten, einen Apparat zu konstruieren, der eine bedeutend höhere Spannung als die gebräuchlichere erzeugte, waren sehr groß und stießen sich vor allem an der Isolierung der sekundären Spule des Induktorapparates, die bei der normalen Bauart ungeheure Dimensionen hätte annehmen müssen, wenn man den Apparat für die geforderte Höhe von 200 ooo Volt Endspannung der sekundären Spule hätte bauen wollen. Diese Schwierigkeiten sind nun durch sinn- reiche Erfindungen überwunden, und die Röntgen- behandlung hat neue Wege vor sich, die sie mit den besten Erfolgen bereits beschritten hat. Die Ergebnisse der Bestrahlungen sind bisher sehr zufriedenstellend. Krebse, die man früher für absolut unrettbar verloren glaubte, sind durch die Röntgenbehandlung bereits geheilt worden, und wenn man sich überlegt, daß die Heilerfolge an solchen Krebsen erzielt wurden, die für eine Operation bereits ungeeignet waren, so muß man sie doppelt so hoch anschlagen. Denn so- lange eine neue Methode noch nicht vollständig ihren Wert erwiesen hat, darf man eine altbe- währte nicht verlassen. Darum operiert man heute noch alle Fälle von Krebsgeschwulst, wenn die Untersuchung sie als zur Operation noch ge- eignet befunden hat und unterwirft sie nachträg- lich noch der Röntgenbehandlung, um etwa zurück- gebliebene Keime auf diesem Wege zu vernichten. Ist der Fall aber schon soweit vorgeschritten, daß eine Operation nicht mehr Heilung bringen kann, wird er sofort mit Röntgenstrahlen be- handelt. Die erzielten Erfolge sind so ermutigend, daß wir wirklich alle Hoffnung haben, auf diesem Wege der Krankheit Herr zu werden, wenn es uns nicht gelingen sollte, die Entstehung der Krankheit verhüten zu lernen. Gewiß gibt es heute noch einen großen Prozentsatz von Krebs- kranken, die mit den jetzigen Methoden nicht mehr geheilt werden können. Aber die Hoffnung ist nicht übertrieben, daß auch er sich noch stark verringern wird. Ganz verschwinden wird er nie. Denn wir haben schon viele Krankheiten ver- stehen und behandeln gelernt, und doch raften sie immer noch eine Anzahl von Menschen dahin. Wenn der Organismus schon zu stark geschwächt ist, kommt jede Behandlung zu spät. Der Mensch stirbt dann letzten Endes nicht mehr an der Krankheit, sondern an der durch sie erzeugten Schwäche. Mit einem gewissen Prozentsatz wer- den wir immer rechnen müssen, und wir wollen auch nicht mehr. Unser Streben kann nur sein, der Krebskrankheit das unheimliche Odium der Unheilbarkeit zu nehmen. Das ist uns zum Teil bereits gelungen, und wir sind auf dem besten Wege, ihr dieses Attribut ganz zu rauben, das Krebsproblem seines Problemcharakters zu ent- blößen. Einzelberichte. Zoologie. Die Heuschreckenplage und ihre Bekämpfung. Heuschreckenplagen sind im os- manischen Reiche eine ständige Erscheinung, die zwar für die Bewohner der befallenen Landesteile eine harte Prüfung bedeuten, aber auf die gesamte Wirtschaftslage des Reiches, nur einen verhältnis- mäßig geringen Einfluß ausüben. Im Kriege, wo die Türkei ihren Nahrungsmittelbedarf nicht aus dem Auslande decken und infolgs der erschwerten Verkehrsverhältnisse den geschädigten Provinzen aus dem Überschuß anderer Landesteile keine Hilfe bringen konnte, drohten die Heuschrecken eine Katastrophe herbeizuführen. Seit 1915 waren große Peile des türkischen Reiches derartig von Heuschrecken befallen, daß ein bedeutender Teil der Ernte vollständig vernichtet wurde. So wurden im Jahre 191 5 Nahrungsmittel im Werte von mehr als 100 Millionen Mark (unter Zugrunde- legung von Friedenspreisen) von den Heuschrecken aufgefressen; unter Berücksichtigung der Kriegslage sind die entstandenen Verluste überhaupt nicht in Geld auszudrücken. Es waren zwei Arten von Heuschrecken, die in so ungeheuren Mengen auf- traten : die sog. marokkanische Heuschrecke (Stauro- notus maroccanus) und die ägyptische Wander- heuschrecke (Schistocerca peregrina). Als die Stauronotusplage schon die Grenzen der großen Getreidereservoire des türkischen Reiches, die Landschaften von Konia, Afiun-Karahissar, Kutahia und Eskischehir, erreicht hatte, entschloß sich die türkische Regierung, die Bekämpfungsmaßnahmen mit Hilte einer über das ganze Land verbreiteten Organisation energisch zu fördern. Mit der Durch- führung der notwendigen Arbeiten wurde H. Buch er beauftragt, der die von ihm und seinen Mitarbeitern während der Jahre 1916 und 191 7 in Anatolien und Syrien gesammelten Erfahrungen zu einem anschaulichen Bilde der Heuschrecken- plage in der Türkei vereinigt.') ') H.- Bücher, Die Heuschreckenplage und ihre Be- kämpfung. Auf Grund der in Anatolien und Syrien während der Jahre 1916 und 1917 gesammelten Erfahrungen dargestellt. N. F. XIX. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 331 Unter den mechanischen Bekämpfungsmitteln erwies sich das Hacken und Pflügen der Brutstätten als eine sehr erfolgreiche Methode zur Vernichtung der Eier. Doch können diese Kampfmittel auf steinigem Boden nicht angewandt werden, auch nicht auf gutem Weidegelände, da hier die Be- arbeitung des Bodens mehr Schaden als Nutzen stiften würde. Auf solchem Gelände muß man sich auf die Bekämpfung der Larven und Imagines beschränken. Die von der einheimischen Bevöl- kerung seit alter Zeit angewandten Treibeverfahren, die sämtlich darauf beruhen, daß man die Larven auf engem Raum zusammentreibt, um sie dort zu vernichten, lassen sich nur gegen kleinere Heu- schreckenschwärme anwenden und sind meist nur unvollkommen in ihrer Wirkung. Sehr gute Er- fahrungen hat man während der Jahre 1916 und 191 7 mit der sog. Zinkmethode gemacht, die in geschickter Weise den Wandertrieb von Stauro- notus maroccanus ausnützt: Quer zur Wander- richtung eines Heuschreckenzuges wird aus Zink- platten eine etwa 30 m hohe Wand errichtet, über welche die Heuschrecken nicht hinwegspringen können. Die Tiere versuchen nun seitlich aus- zuweichen und laufen an der Zinkwand entlang. Wenn man in gewissen Zwischenräumen längs der Zinkwand Fanggruben auswirft und Vor- kehrungen trifft, daß die in die Gruben fallenden Heuschrecken nicht mehr entweichen können, so ist man imstande, den ganzen Zug fast restlos einzufaneen und zu vernichten. Zinkwände werden schon seit langer Zeit in verschiedenen Ländern zur Heuschreckenbekämpfung verwendet; ihre Anwendung in Kleinasien und Syrien ist daher an sich nichts Neues. Neu ist dagegen der Ge- danke, die Zinkwand in der beschriebenen Weise selbsttätig wirken zu lassen, während man bisher die Zinkwände benützte, um die Heuschrecken dagegen zu treiben. Die wichtigste Vorbedingung für die volle Ausnützung der Zinkmethode, deren Technik ausführlich beschrieben wird, ist eine zuverlässige Berichterstattung über das Auftreten der Heuschreckenzüge, über ihre Ausdehnung, über die dem bebauten Gelände drohende Gefahr, und die daraus sich ergebende mehr oder weniger große Dringlichkeit der Bekämpfung. Von sonstigen mechanischen Methoden zur Vernichtung von Larven und geflügelten Heuschrecken kommen Fangnetze in Betracht, die von Kindern bedient werden können. An trüben Tagen, wenn die Heuschrecken sich ruhig verhalten und fast alle anderen Methoden versagen, kann man Viehherden über die befallenen Gebiete treiben, welche die Heuschrecken zertrampeln. Auch die Hilfe des Feuers hat man bei der Heuschreckenbekämpfung in mannigfacher Weise in Anspruch genommen. In Strohhaufen oder Bündel dürrer Zweige ziehen sich die Heuschrecken gern während der Nacht zurück; am Morgen werden die Haufen dann an- Mit 1 1 Karten, 33 Textabbildungen und 20 Tafeln. In Zeitschr. f. angew. Entora. Bd. 5 Beiheft I, 1918. S. I — 274. gezündet. Die Erfahrungen, die in Anatolien mit diesem Verfahren gemacht wurden, sind nicht sehr ermutigend, da ein großer Teil der Larven sich durch die Flucht zu retten vermag. Mehr Aus- sicht auf Erfolg bietet die Bekämpfung durch Petroleum- Flammenwerfer; doch konnten mit Rücksicht auf die Schwierigkeit der Material- beschaffung nur bescheidene Erfahrungen mit dieser Methode gesammelt werden, die ein end- gültiges Urteil nicht zulassen. Unter den chemischen Bekämpfungsmitteln haben wir Kontaktgifte und innerlich wirkende Gifte zu unterscheiden. Die gebräuchlichsten Kontaktgifte bestehen aus Emulsionen von Petroleum oder Rohöl in Lösungen von Kaliseife oder auch aus reinen Seifenlösungen. Die Flüssigkeit wird mit Druck- spritzen oder Gießkannen mit feiner Brause über die Heuschrecken verspritzt und überzieht sie mit einer feinen Haut. Obwohl schon eine 2 "/g ige Seifenlösung genügt, um junge Larven sicher zu töten, kann das Verfahren für Anatolien nicht empfohlen werden. Da jedes einzelne Tier von der Lösung getroffen werden muß, entgeht ein großer Teil des Schwarms der Vernichtung. Auch ist die Anwendungsmöglichkeit dieses Verfahrens be- schränkt. Von innerlich wirkenden Giften kommen im Kampf gegen die Heuschrecken fast ausschließ- lich arsenigsaures Natrium und Schweinfurter Grün beziehungsweise dessen verbesserte Form ,, Urania" in Betracht. Auf Gelände mit spärlicher Vegetation kann man sich eines Köders (Luzerne, KIeie,Mist,Sägemehl) bedienen, den man mit „Urania" tränkt. Sonst bespritzt man die Pflanzen zwischen den Heuschreckenschwärmen mit einer Suspension von „Urania". Die biologischen Abwehrmaßregeln bestehen darin, I'einde der Heuschrecken aus der Pflanzen- und Tierwelt künstlich heranzuziehen, und der Bekämpfung dienstbar zu machen. Die Bemühungen, Bakterien und Pilze für die Ver- nichtung der Heuschrecken zu benützen, sind bis- her gescheitert und scheinen auch für die Zu- kunft wenig Aussicht auf Erfolg zu haben. Da- gegen bietet die höhere Pflanzenwelt in den holz- bildenden Gewächsen die Möglichkeit, die Heu- schreckengefahr abzuschwächen. Geschlossene Waldbestände stellen für die Laren ein undurch- dringliches Hindernis dar und schränken die Exi- stenzmöglichkeiten der Heuschrecken ein. Ein Waldgürtel, dessen Schaffung freilich die Arbeit von Generationen erfordert, würde daher einen sicheren Schutz für die Kulturebenen gegen Einfälle der Orthopteren bilden. Von verschiedenen Seiten wurde empfohlen , die Kulturen zum Schutze gegen Heuschrecken mit solchen Pflanzen zu um- säumen, die wie Delphinium und Ricinus, den Schädlingen widerlich oder giftig sind. Doch darf man sich von einer derartigen Maßnahme keine allzu große Wirkung versprechen. Bei der ge- ringen Breite der Schutzstreifen würden diese von den Heuschrecken schnell durchquert werden. Auch durch Anbau widerstandsfähiger Pflanzen kann man der Heuschreckenplage begegnen. Von 33: Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 21 diesem Standpunkte aus würde die Kartofifelkultur zu fördern sein, deren unterirdische Knollen dem Angriffe entzogen sind. Beim Getreide spielt die Begrannung eine gewisse Rolle. Da die Grannen häufig zuerst abgenagt werden, bleiben bisweilen die Körner verschont. Auch der Hirsebau ist in den von Heuschrecken befallenen Gegenden Ana- toliens von der türkischen Regierung mit Recht gefördert worden ; denn die Hirse wird wegen ihrer kurzen Vegetationsperiode sehr spät ausge- sät und kann daher von den Heuschrecken nicht in gleichem IVIaße wie andere Kulturpflanzen ge- schädigt werden. Von der Teilnahme des Ge- flügels (Hühner, Truthühner, Perlhühner, Enten) an dem Kampf gegen die Heuschrecken kann man sich schwerlich eine durchgreifende Hilfe ver- sprechen. Während der Bekämpfungsperiode 1916/17 wurden in Anatolien nicht weniger als 7,5 Mill. kg Eierpakete von Stauronotus maroccanus einge- sammelt; die Frage nach der IVIöglichkeit ihrer technischen Verwertung erscheint daher durchaus berechtigt. Aus den Eiern kann ein Fett von hellgelber Farbe und butterartiger Konsistenz aus- gezogen werden, dessen Verwendung als Speise- fett möglich erscheint. Bei der Extraktion der gesamten Pakete wird ein ranziges, bisweilen braun gefärbtes Fett gewonnen, das nur noch für die Seifenfabrikation brauchbar ist. Doch er- scheint eine derartige Fettgewinnung aus wirt- schaftlichen Gründen als aussichtslos. Auch als Futtermittel enthalten die Eierpakete zu wenig wertvolle Bestandteile, um einen weiten Transport zu vertragen; sie können daher nur dem örtlichen Gebrauch als Futter für Geflügel dienen, da es eine Schweinehaltung in Anatolien nicht gibt. Die getrockneten Imagines stellen ein P'utter von hohem Nährwert dar, und die Larven werden mit gutem Erfolge von den anatolischen Bauern als Düngemittel verwendet. F. Pax (Breslau). Zweckmäßiges in der Kolibrifärbung. — Die Eisvogelfärbung als Schutzfarbe. Eine wichtige Arbeit von Becher^) handelt über eine IVIerk- würdigkeit im Gefieder der Kolibris. Sie er- klärt allerdings kaum die F"arbenpracht dieser Vögel, obwohl darauf hingewiesen wird, daß bei den nächsten Verwandten der Kolibris, den Seg- lern, die als Stammgruppc der Kolibris gelten können, auch ein leichter grünlicher Metall- schimmer nicht fehlt, wie denn ein farbiger Metall- schimmer auch Krähen und dem Star eigen ist. In erster Linie aber beachtet Becher das Nega- tiv der F"arbenpracht, die Unscheinbarkeit der Flügelfärbung bei den Kolibris, eine bei ihnen sehr verbreitete und biologisch noch keines- ') Siegfried Becher: Klilgelfärbung der Kolibris und geschlechtliche Zuchtwahl. Anatomische Hefte, Bd. 57, Heft 171—17.-?, 1919. S. 447—482. wegs gewürdigte Erscheinung. Die Erklärung derselben findet sich in dem eigenartigen Schwirr- flug der Kolibris, in welchem die Vögel bei un- sichtbaren Flügeln wie Schwärmerschmetter- linge an ein und derselben Stelle verharren, um dann plötzlich pfeilgleich weiterzuschießen und anderwärts ihren Schwirrflug fortzusetzen. Die Farbenpracht, die ja an und für sich auf die weib- lichen Vögel wirken muß, da durch Farbenpracht und Glanz vor allem die männlichen Kolibris aus- gezeichnet sind, während die Weibchen im all- gemeinen stumpfe und unscheinbare Farben tragen, hätte an den Flügeln keinen Zweck. Becher rechnet also durchaus mit der Wirkung der ge- schlechtlichen Zuchtwahl und fügt weiter hinzu, daß nach übereinstimmenden Berichten die Werbung der Männchen um die Weibchen und die Schaustellung der männlichen Schönheiten bei den Kolibris nur im Fluge geschieht, wie nach Vor- stehendem zu erwarten; auch sei sehr wahrschein- lich eine Überzahl der Männchen die Regel, und Kämpfe der Männchen, offenbar aus F^ifersucht oder Nebenbuhlerei, sah man während der Brut- zeit stark gesteigert. Ausnahmen von der Regel jedoch, daß die Flügelspreite unscheinbar gefärbt ist, „bestätigen die Regel". Denn nur zwei Arten mit bunten Flügeln, Eulampis jugularis und Pterophanes temmincki, lassen sich namhaft machen, und diese gehören zu den Gattungen mit ungewöhnlich breiten Flügeln , bei ihnen könnte man schon aus diesem Grunde eine ab- weichende Flugweise annehmen — wie auch bei Schmetterlingen der schmalflügelige Schwärmer den Schwirrflug übt, der breitflügelige Tagfalter aber mehr den Segelflug. In der Tat ist bei einer Kolibriart mit breiten Flügeln, dem Riesenkolibri, Patagona gigas, eine abweichende und viel vom Flügel zeigende Flugweise nachgewiesen, die auch anderen Arten seiner Familie eigen sein soll; ein deutlicher Hinweis, warum Eulampis jugularis glänzend grüne und Pterophanes temmincki leuchtend hellblaue Flügelspreiten im männlichen Geschlecht brauchen könne. Übrigens haben die jungen Männchen, wie für letztere Art feststeht, die bunte P'ärbung der Flügel noch nicht, ein Anzeichen mehr für die Bedeutung des Merkmals im Sinne der geschlechtlichen Zuchtwahl und zu- gleich ein Beispiel des Rekapitulatioiisgesetzes. Offenbar ist bei diesen beiden Arten die Flügel- färbung von der Schulter aus nach außen vorge- schritten, hat also den Weg von der weniger zu der schneller bewegten Körperstelle genommen ; denn noch hat sie bei beiden die äußerste Flügel- spitze nicht erreicht, sondern diese ist noch grau ; und wo bei anderen Arten Spuren von Schwingen- färbung deutlicher auftreten, ist sie nahe der Schulter am stärksten und nimmt von dort im ganzen nach außen ab. Sofern Hypothesen nach ihren Früchten zu bewerten sind, ist mit diesen Ausführungen die Lehre Darwins von der geschlechtlichen Zucht- wahl, die bisher mehr theoretische Kritik als N. F. XIX. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 333 positive Bereicherung erfahren hat, an dem in Rede stehenden Beispiel Schritt für Schritt be- stätigt worden. Jede andere Erklärung (Zentri- fugalkraft, direkte Wirkung des Schwirrfluges) wäre in der Tat bisher gekünstelt, obschon es stets berechtigt wäre, neben der darwinistischen eine entwicklungsmechanische Erklärung zu suchen, die, wenn gefunden, jene nicht aufhebt. Der Ge- danke der geschlechtlichen Zuchtwahl, der ja auch sonst in allen Stücken die größere „Schönheit" der männlichen Tiere erklärt, ist offenbar berechtigt, wenn ich nun auch nicht folgern möchte, die für uns so schönen Kolibris verfügten über ein an Schönheitsempfinden reicheres Innenleben als andere Vögel, sondern für sie der Glanz und die Farben in erster Linie ,, Merkzeichen" sind und zur Annahme eines Schön- heitsempfindens wenigstens nicht in höherem Grade zwingen als zum Beispiel das vom Braun des Weibchens auflallend abstechende Schwarz des Männchens bei unserer Gartenamsel. Im Zusammenhang mit diesen Ausführungen über die Färbung der Kolibris sei erwähnt, welche recht einleuchtende biologische Erklärung von der Färbung unseres Eisvogels Otto Hermann 1897 gab.') Denn es dürfte diese Mitteilung bis- her kaum beachtet worden sein; es ist vielmehr nur soviel in jedermanns Munde, daß der Eis- vogel der einzige kolibrigleich glänzende Vogel in unserer Fauna ist, und nicht einmal das ist allgemein bekannt, daß die Unterseite des Eis- vogels sich durch sehr lebhaftes Rostrot von der teils blauen, teils grünen Oberseite abhebt. Ein Jagderlebnis aus dem Jahr 1851 brachte Her- mann auf folgende Erklärung: ,,Die Farbe und der Schnitt der dürren Buchenblätter sind genau jene der Unterseite des Eisvogels und, wenn der tote Eisvogel mit dem Bauche nach oben liegt und schwimmt und denselben ins Wasser ge- fallene, dürre Buchenblätter umgeben, bedeutet dies täuschenden Form- und Farben-Mimikrismus.'-) Der zweite Teil ist der Mimikrismus des Eisvogels von der Rückenseite her. Von oben betrachtet, verschwindet der Eisvogel beinahe vollkommen im Grün des Gewässers und in der Spiegelung desselben. Auf der Spitze eines weit hervor- ragenden, dürren Astes lauernd, erscheint er von unten dem Fische in Form und .Farbe als dürres Blatt, was durch den dürren Ast begründet ist; von oben täuscht seine grüne Farbe den Sperber, auf den er ja nicht achten kann, weil seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Beute, die kleinen Fische, konzentriert sein muß. Und hier sehe ich noch davon ab, daß der Vogel von oben auch einem grünen Blatt ähnelt." Es dürfte hiermit zum ersten Male die Fär- *) Otto Hermann: Über den Mimikrismus. ,,A([uila" 1897. — Herr Dr. Eckard t in Essen halte die Freund- lichkeit, mich auf diese Arbeit aufmerksam zu machen. ■^J Streng genommen wäre der Ausdruck „Mimikri" nur für die Nachahmung gefürchteter Tiere seitens harmloser zu verwenden. V. bung des Eisvogels als Schutzfärbung erklärt sein, und die Erklärung scheint, was die Rücken- seite des Vogels betrifft, voll zu genügen, und was die Bauchseite betrifft, höchstens ein wenig zu speziell ausgefallen zu sein. V. F"ranz, Jena. Mineralogie. Einen neuen Beitrag zur Frage der Herkunft der Tektite gibt J. Bayer in den Mitt. d. Wiener Geol. Gesellsch., XI, 191 8 (er- schienen Wien 1919), S. 248 — 251. Dreierlei Möglichkeiten sind bisher in der Frage der Her- kunft der Tektite diskutiert woiden, einmal die Auffassung, daß sie natürlichen, irdischen, zweitens daß sie kosmischen Ursprungs seien und schließ- lich drittens die Auffassung der Tektite als Kunst- produkte. In einer zusammenfassenden Arbeit über das Tektitproblem ') lehnt der leider so früh verstorbene Meteoritenforscher Berwerth die beiden erstgenannten Auffassungen als zurzeit noch nicht genügend bewiesen ab und neigt der dritten Auffassung zu, dabei die Urgeschichts- forschung auffordernd, zu dem Problem Stellung zu nehmen, während F. E. Süß in einer das gleiche Thema behandelnden Arbeit -) an dei kosmischen Herkunft der Tektite festhält. Der Aufforderung Berwerths, die Urgeschichts- forschung möge zu dem Problem Stellung nehmen, konnte der Verf. nachkommen, da ihm der Zufall die ältesten, geologisch genau datierbaren und außerdem vom Menschen bearbeiteten Moldavite in die Hände gespielt hat. Diese wurden gefun- den gelegentlich der großen, systematischen Gra- bungen im Löß bei Willendorf an der Donau und zwar in der obersten (9.) Kulturschicht, die auch die berühmte „Venus von Willendorf enthielt, und in der zweitnächsten Kulturschicht (der 7.). Die Stücke der 9. Schicht waren 3 kleine Ab- splisse von flaschengrüner Farbe, sie enthielten kleine Blasen und zeigten kleine Partien einer unregelmäßigen, rauhen Oberfläche. Das Stück der 7. Schicht ist ein ganz gleichartiger, von beiden Seiten bearbeiteter Abspliß. War bei den Stücken der 9. Schicht, obwohl sie unter augen- scheinlich ganz ungestörtem Löß lagen, die Mög- lichkeit, daß es sich um Fremdkörper handelte, nicht ganz von der Hand zu weisen, so unterlag es nach dem Fund in der 7. Schicht, die unter der ganz ungestörten 8. und 9. liegt, keinem Zweifel mehr, daß die Stücke insgesamt dem Aurignacien von altersher angehören. Die Molda- vitnatur wurde durch Berwerths undKoech- lins Untersuchung zweifelsfrei festgestellt. Be- züglich der Herkunft der Tektite kommt der Verf. zu dem Schluß, daß es sich um keine Kunst- produkte handeln kann. Schon zur Aurignac-Zeit wurden die Moldavite — die Fundstücke stammen ') Fortschtitte der Mineralogie usw., herausgegeben von G. Link, Jena 1916, S. 288 und Centralbl. f. Mineral, usw. 1917, S. 240—254. '') Centralbl. f. Mineral, usv. 1916, S. 569 — 578. 334 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 21 zweifellos aus dem böhmischen oder mährischen Fundgebiet — vom Menschen als Gestein be- trachtet, die ihm bei seiner Vorliebe, bunte, auf- fällige Dinge zu sammeln, wegen ihrer Farbe und Durchsichtigkeit auffielen und die er ebenso wie andere Gesteine auf Spaltbarkeit prüfte. Nach Bayers Ansicht kann also der Aurignac- IVIensch der Erzeuger nicht gewesen sein. Will man die Moldavite als Kunstprodukt annehmen, müßte man daher auf eine noch ältere Kultur- periode zurückgreifen. Nun ist es aber zuminde- stens für die prähistorische Zeit bei uns in Mittel- europa ganz ausgeschlossen, daß der Mensch Temperaturen hervorzubringen imstande war, die zur Schmelzung dieser Gläser erforderlich sind, nämlich 1400" und mehr. Auch ist noch viele Jahrtausende nach der Aurignac-Zeit noch nicht einmal die Töpferei bekannt und die ersten Gläser (Perlen) erscheinen erst in der Hallstattperiode, und zwar in einer der heutigen ganz ähnlichen Zusammensetzung. Die künstliche Herstellung der Moldavite ist damit wohl ausgeschlossen. Auch für die übrigen Tektite, die Billitonite, Australite und Queenstonite lehnt der Verf. die Auffassung als Kunstprodukt ab, denn wenn sie nach Berwerth die Reste einer in einer weit zurückliegenden Urzeit bestandenen Kulturepoche wären, so müßte sich doch auch wie in Europa ihr Steingerät mit erhalten haben. Das ist aber nicht der Fall. Die Tektitfrage scheidet demnach nach des Verf. Meinung als historisches Problem aus. F. H. Astronomie. Veränderungen auf dem Planeten Jupiter. Das P'ernrohrbild des Planeten Jupiter erhält sein Gepräge durch eine Anzahl dunkler und heller Streifen, die parallel dem Äquator des Planeten verlaufen. Die Äquatorzone selbst ist meist hell, nördlich und südlich von ihr finden sich die auffälligsten dunklen Zonen, und in höheren Breiten begegnet man einigen weniger auffälligen Streifen, die zu den gleichförmig dunklen Polarzonen überleiten. Die Farbe der hellen Streifen ist weiß bis hellgelb oder bräun- lichgelb, die der dunklen meist sepiabraun. Diese Gebilde gehören zweifellos nicht der Oberfläche des Planeten selbst an, sondern schweben in seiner Atmosphäre, sind also wolkenförmiger Natur. Das beweist schon der Umstand, daß sie ziemlich rasch veränderlich sind. Diese Veränderungen zeigen sich sowohl im allgemeinen Anblick der Streifen, ihrer Zusammensetzung, Breite und Färbung, als auch im Erscheinen besonderer heller oder tiefdunkler Flecken von meist scharfer Be- grenzung. Ein besonders großer ovaler Fleck er- schien auf der Südhalbkugel des Planeten im Jahre 1878 und ist unter dem Namen „großer roter Fleck" bekannt. Vielleicht ist er als ein gewaltiger Ausbruch glühender Dämpfe und zäh- flüssiger Massen aus dem Innern des auch an seiner Oberfläche noch nicht ganz erkalteten großen Planeten zu deuten. Die Stelle, an der sich der inzwischen stark abgeblaßte, große rote Fleck ehemals befand, ist in den letzten Jahren immer noch erkennbar gewesen. Seit einigen Monaten sind nun auf der Oberfläche des Jupiter Veränderungen eingetreten, wie man sie seit 30 Jahren im gleichen Umfang nicht mehr beobachtet hat. Die Umgestaltung betrifft besonders den breiten Südstreifen, der nunmehr in kleinen Fern- rohren gar nicht als solcher erkennbar ist. In größeren Instrumenten sieht man an seiner Stelle ein Gewirr von hellen und dunklen Flecken und Streifen, und auch die Gegend des großen roten I'lecks scheint durch diese Neubildungen ganz verändert zu sein. Die Äquatorzone ist bei weitem nicht mehr so hellglänzend, als sie noch vor wenigen Jahren war. Der nördliche Streifen ist zwar noch als tiefbraunes Band erhalten, weist aber in seinem Aufbau bemerkenswerte Besonder- heiten auf. An seinem Nordrande erscheinen regelmäßig gestaltete, längliche dunkle Flecken mit hellen Kernen, sowie die weißglänzenden ovalen sog. Eierflecken. Erstere hält Prof. Graff- Bergedorf, der in Nr. 5041 der Astronomischen Nachrichten über seine Beobachtungen des Plane- ten berichtet, für Gebilde, die ihrer Natur nach durchaus dem großen roten P'leck von 1878 ent- sprechen. Graf f fügt seiner Mitteilung auch eine Zeichnung des Nordstreifens nach Beobachtungen vom 17. Februar 1920 bei. In der gleichen Aus- gabe der Astronomischen Nachrichten beschreibt der Privatastronom P'auth -Landstuhl seine Wahr- nehmungen auf Jupiter. Einem Kenner des Planeten werden die Veränderungen seines An- blicks bereits bei Benutzung eines dreizöUigen I'ernrohrs sofort auffallen. C. H. Bücherbesprechungen. Weinschenk, E., Das Polarisationsmikro- skop. 4. verb. Aufl. VIII u. 172 S. 189 Abb. gr. 8". Freiburg i. B. 1919, Herdersche Verlags- handlung. Geb. 9 M. Ohne die im allgemeinen bewährte Anordnung des Stoffes dieses früher unter dem Titel „An- leitung zum Gebrauch des Polarisationsmikroskops" erschienenen Buches zu stören, ist der Text an zahlreichen Stellen verbessert, was besonders der klaren Darstellung der optischen Verhältnisse zu- gute gekommen ist, zumal hier mit Unterstützung von Dr. B. Sandkühler eine Reihe neuer schematischer Abbildungen eingeschaltet worden sind. Damit ist das handliche Buch noch mehr geeignet geworden, den .Anfanger die Schwierig- keiten der Kristalloptik überwinden zu lassen, N. F. XIX. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 335 wird aber auch den Geübteren unter den Petro- graphen und Mineralogen der zuverlässige Führer bleiben, wie bisher. Der Preis des noch friedens- mäßig ausgestatteten Buches darf ein für heutige Verhältnisse mäßiger genannt werden, was im Interesse der weiten Verbreitung auch unter den Studierenden sehr zu begrüßen ist. K. Andree. March, A., Theorie der Strahlung und der Quanten. 182 Seiten mit 36 Figuren im Text. Leipzig 1919, J. A. Barth. — Geh. 12 M. Das vorliegende Werk gibt eine außerordent- lich durchsichtige theoretische Darstellung der Entwicklung und des Ausbaus des Quantenbegrififs und der bisherigen wichtigsten Ergebnisse seiner Anwendung in der Physik. Die beiden ersten Abschnitte enthalten die Theorie der Wärmestrahlung in enger Anlehnung an das bekannte Plancksche Lehrbuch. Im 3. Abschnitt wird im wesentlichen die Quanten- theorie der spezifischen Wärme behandelt, wie sie vornehmlich von Einstein, Nernst- Lindemann und Debye entwickelt worden ist. Der 4. Abschnitt behandelt mit großer Klar- heit die Quantentheorie der Spektrallinien, wie sie durch die Bohrsche Theorie der Balmer- serie begründet, durch die Sommer fei dsche Theorie der F'einstruktur weiterentwickelt und durch Epstein und Schwarzschild auf die Theorie des Starkefifekts ausgedehnt worden ist. Im 5. Abschnitt wird schließlich noch kurz die Beziehung der Quantentheorie zur Thermodynamik betrachtet. Wer mit den Grundlagen der Differential- rechnung vertraut ist, wird vom Studium des Buchs für das Verständnis der bedeutungsvollen quantentheoretischen Fragen zweifellos reichen Gewinn haben. A. Becker. Pfibram, Prof. Dr. E. , Der gegenwärtige Bestand der vorm. Krälschen Samm- lung von Mikroorganismen. Mit einem Titelbilde und 17 Abbildungen auf 5 Tafeln. Wien 1919. Die Freunde der weitbekannten, von F. Kral gegründeten Sammlung lebender Mikroorganismen werden durch das Erscheinen dieses Inventariums freudig überrascht sein. Zeigt es sich doch, daß das hochverdienstliche Werk des verstorbenen Gründers auch in dieser Zeit der Nöte nicht unter- gegangen ist, sondern, wie ein Blick in das vor- liegende Verzeichnis lehrt, lebendig und lebens- fähig geblieben ist. Der Hauptteil wird ausge- füllt durch eine nach praktischen Gesichtspunkten angeordnete Aufzählung der vorhandenen Rein- kulturen von Pilzen und Bakterien, sie ist auch in wissenschaftlicher Hinsicht insofern sehr schätzens- wert, als bei jeder Art Synonyme und Literatur angegeben sind. Daran schließt sich eine Preis- liste, aus der man ersieht, daß außer den leben- den Reinkulturen von dem Institut *) auch Museal - dauerkulturen, mikroskopische Präparate, Mikro- photogramme, mikrophotographische Wandtafeln, Diapositive und Nährböden in den Handel ge- bracht werden. Ein Sach- und Autorenverzeichnis macht den Schluß dieser Publikation, auf die alle bakteriologischen und mykologischen Laboratorien aufmerksam gemacht seien. Miehe. Valentiner, S., Die Grundlagen der Quan- tentheorie in elementarer Darstel- lung. Zweite, erweiterte Auflage. Heft 15 der ,, Sammlung Vieweg". 92 Seiten mit 8 Ab- bildungen. Braunschweig 1919, F. Vieweg & Sohn. — Geh. 3,60 M. und Teuerungszuschlag. Die treffliche Darstellung der Quantentheorie, auf die wir an früheier Stelle (diese Zeitschrift N. F. Bd. XIV, S. 431, 191 5) eingehend hinge- wiesen haben, erfährt in der vorliegenden Neu- auflage durch die Berücksichtigung des in den letzten Jahren erfolgten Ausbaus der Theorie eine wertvolle Ergänzung. Verf. hat insbesondere die Untersuchungen über die Ausdehnung der Quanten- theorie auf Systeme von mehreren Freiheitsgraden und über die Theorie der Spektrallinien und Röntgenspektren neu aufgenommen. Dem Leser wird damit ein vollständiger und überaus klarer Überblick über den gegenwärtigen Stand der quantentheoretischen Forschung geboten. A. Becker. Kisch, Dr. Bruno, Fachausdrücke der phy- sikalischen Chemie. 78 Seiten in kl. 8". Berlin 1919, Verlag von Julius Springer. Preis gut brosch. 5,30 M. Das vorliegende kleine Buch bringt — in alphabetischer Reihenfolge — eine Reihe von Fachausdrücken der physikalischen Chemie, ins- besondere solche, die für Studierende der Medizin, Ärzte und Biologen von Interesse sind. Auswahl und Behandlung des Stoffes erscheinen nicht immer glücklich. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Lecher, Prof. Dr. E., Lehrbuch der Physik für Mediziner, Biologen und Psycho- logen. Mit 501 Textabbildungen. 3., verb. Aufl. Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. 10 M. Das früher (vgl. Bd. 17, S. 223) in seiner zweiten Auflage gewürdigte Buch ist nach zwei Jahren abermals neu aufgelegt worden und liefert damit einen deutlichen Beweis seiner Beliebtheit. In fortlaufend numerierten, kleinen Absätzen wer- den unter übersichtlich hervorgehobenen Stich- worten die für den Mediziner und Biologen wich- tigsten physikalischen Tatsachen in knapper Form dargestellt, wobei stets auf die biologischen Be- ziehungen hingewiesen wird. Miehe. ') F. Krals Bakteriolog. Museum. Wien I.\/3, Zimmer- manogasse 3. 336 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 21 Anregungen und Antworten. Das Maikäferproblem harrt noch immer der Lösung. Das Märchen, daß die bchaltjahre und die Maikäferflugjahre immer zusammenfallen , ist zwar längst abgetan, es fehlt aber noch immer an hinreichenden Unterlagen für die Erforschung der Ursachen der gesetzmäßigen Wiederkehr der Maikäferschwärme und der örtlichen Unterschiede in der Aufeinanderfolge der der Maikäferjahre. Da der gewöhnliche Feldmaikäfer zu seiner Entwicklung drei bis vier Jahre braucht, während der etwas kleinere Waldmaikäfer erst nach vier oder fünf Jahren fertig entwickelt ist, wird dort, wo nur eine der beiden Arten auftritt, im allgemeinen mit einer in gleichmäßigen Zwischen- räumen erfolgenden Wiederkehr der Schwarmjahre zu rechnen sein. Vielfach pflegen aber neben regelmäßig wiederkehren- den starken Hauplflugjahren ebenso regelmäßige schwächere Zwischenflugjahre derselben Käferart aufzutreten. Sie sind auf das Vorhandensein zahlenmäßig schwächerer Käferstämme, sogenannter Nebenstämme zurückzuführen, deren Entwicklung neben dem des eigentlichen Ilauptstammes in den Zwischen- jahren erfolgt. Die Verhältnisse lassen sich noch schwerer überblicken, wenn in einer Gegend beide Käferarten neben- einander vorkommen. Je nachdem, ob dann beide .Arten gleich oder verschieden stark auftreten und ihre Entwicklungs- dauer durch die örtlichen klimatischen Verhältnisse beeinflußt worden ist, kommt es dann zu Haupt- und Nebenflugjahren, deren Aufeinanderfolge die gewohnte Regelmäßigkeit der Wiederkehr häufig ganz vermissen läßt. Ungewöhnliche Klimaschwankungen vermögen das Bild noch weiter zu ver- wirren, so daß es auch zum völligen Ausfall dieses erwarteten Hauptflugjahres kommen kann. Wird der so geschwäclite Hauptstamm dann noch durch den Kannibalismus der älteren Engerlinge gegenüber ihren jüngeren Artgenossen zum Neben- stamm herabgedrückt, so bildet sich leicht ein bisheriger Nebenstamm, der auch durch frühreife Individuen jüngerer und Nachzügler älterer Stämme der Zwischenjahre verstärkt werden kann, zum neuen Hauptstamm aus. Der alte Zyklus der Flugjahre wird so durch einen neuen ersetzt. Auch die Talsache, daß die Maikäfer in manchen Gebieten auffallend selten sind oder ganz fehlen, läßt auf den großen Einfluß der klimatischen Verhältnisse schließen. Die Klarlegung aller dieser Verhältnisse ist nicht nur wissenschaftlich, sondern vor allem praktisch von größler Bedeutung. Die Biologische Rei c h s anst al t für Land- und Forstwirtschaft in Berlin-Dahlem hat nunmehr zu diesem Zwecke umfangreiche Erhebungen in Aussicht genommen, für deren Durchführung sie der Unterstützung weitester Kreise be- darf. .\lle Naturfreunde werden dringend gebeten, ihre Be- obachtungen mitzuteilen. Besondere Fragebogen werden von der oben bezeichneten Anstalt auf Wunsch jedermann kostenfrei zugestellt. Die Rücksendung der Antworten kann als ,, portopflichtige Dienstsache'' unfrankiert erfolgen und würde bis Ende Juli erbeten werden. Die deutsche Zentralstelle für Erdbebenforschung, die sich früher in Straflburg i. E. befand, hat seit Mai vorigen Jahres ihren Sitz nach Je n a (Sternwarte) verlegt. Wie bisher, so hofft sie auch jetzt wieder auf rege Unterstützuiig von seifen weitester Bevölkerungskreise durch Sammeln und Zusendung von Erdbcbcnnachrichten. Erwünscht ist zunächst die Be- obachtung jedes Erdbebens, auch der schwächsten F>schütte- rung, nach Ort, Zeit und sämtlichen irgendwie wahrnehmbaren Wirkungen. Auch diesbezügliche Ausschnitte aus den Lokal- blättern sind von Wert. Da ferner die Chronik aller in Deutschland aufgetretenen Erdbeben für die Zeit bis ein- schließlich des verflossenen Jahrhunderts noch manche Lücken aufweist, so wendet sich die Zentralstelle an alle diejenigen, die Gelegenheit haben alte Chroniken, Kirchenbücher, Zeit- schriften und sonstige Werke einzusehen, mit der Bitte, etwa aufgefundene Notizen über stattgehabte Erdbeben abschriftlich mit Quellenangabe hierher mitzuteilen. Durch diese meist kleine Mühe können noch manche verborgene Tatsachen ans Tageslicht gebracht werden, da erfahrungsgemäß gerade Orts- chroniken und Kirchenbücher in dieser Hinsicht wichtige, aber nur wenigen zugängliche Fundgruben bilden. Für jede, auch die bescheidenste Mitteilung darf der Einsender auf den Dank der Zentralstelle rechnen. Wenn sie auf den ersten Blick auch noch so unbedeutend erscheinen mag, so kann sie doch das wichtige fehlende Glied einer Kette sein. Unter Umständen ist es schon von Bedeutung, zu erfahren, daß in diesem oder jenem Ort überhaupt schon einmal ein Erdbeben verspürt worden ist. Ganz besonders wertvoll sind Erdbeben- nachrichten aus Nord-, Mittel-, Ost- und Südostdeutschland, weil diese Gegenden nur recht selten von Erderschütterungen betroffen zu werden pflegen und deshalb, zum Teil mit Un- recht, als erdbebenlos angesehen werden. In seinem, dem Andenken an Ernst Stahl gewidmeten Aufsatz in Nr. lo dies. Zeitschr. behauptet Dr. Karl Ger- hardt (auf Seite 145), daß mit der Bordeau.xbrühe ,,noch heute die schädlichen Pilze des Weinstocks (Oidium Tuckeri und Peronospora viticola) am wirksamsten bekämpft werden**. Diese Behauptung ist nicht zutrefTend. Die Bordeauxbrühe ist nur gegen Peronospora, den sog. ,, falschen" Mehltau, wirksam. Gegen Oidium, den echten Mehltau, wendet man schon lange und mit Erfolg das Schwefeln an. Übri. gens tritt der letztere Pilz viel seltener in solchem Umfange auf, daß der Wein empfindlich geschädigt wird. Dr. F. Esmarch, Pflanzenschutzstelle Bonp. Ich bedaure, in meinem Aufsatz über das Buch von Chamberlain in einigen Sätzen die Politik gestreift zu haben, was nicht zur Sache gehörte. Auf Wunsch der Re- daktion hätte ich gern die Sätze gestrichen. Jetzt kann ich sie nur auf diesem Wege annullieren. Prof. Dr. A. Hansen. Literatur. Pauli, Dr. R., Über psychische Gesetzmäßigkeit, ins- besondere über das Webersche Gesetz. Mit 42 Textabbildun- gen. Jena '20, G. Fischer. 6 M. Molisch, Prof. Dr. H., Populäre biologische Vorträge. Mit 63 Textabbildungen. Jena '20, G. Fischer. 16 M. Uhle, H., Laien-Latein. Gotha '20, F.A.Perthes. 5 M. D o f 1 e i n , Prof. Dr. F., Die Fortpflanzung, die Schwanger- schaft und das Gebären der Säugetiere. 2. verb. u. verm. Aufl. Mit 38 Textabbild. Jena '20, G. Fischer. 5,50 M. Sieben, H., Einführung in die botanische Mikrotechnik. 2. verm. u. verb. Aufl. Mit 22 Textabb. Jena '20, G.Fischer. 5 M. Schwalbe, Prof. Dr. E., Vorlesungen über Geschichte der Medizin. 3. unigearb. Aufl. Jena '20, G. Fischer. 16 M. Inhalt: Alois Czepa, Das Krebsproblem. S. 321. — Einzelberichte: H. Bücher, Die Heuschreckenplage und ihre Bekämpfung. S. 330. Becher, Zweckmäßiges in der Kolibrifärbung. — Die Eisvogelfärbung als Schutzfarbe. S. 332. J Bayer, Beitrag zur Fr.ige der Herkunft der Tektite. S 333. Fauth, Veränderungen auf dem Planeten Jupiter. S- 334- — Bücherbesprechungen: E. Weinschenk, Das Polarisationsmikroskop. S. 334. A. March, Theorie der Strahlung und der Quanten. S. 335. E. Pribram, Der gegenwärtige Bestand der vorm. Kralschen Sammlung von Mikroorganismen. S. 335. S. Valentiner, Die Grundlagen der Quantentheorie in elementarer Darstellung. S. 335. Bruno Kisch, Fachausdrucke der physikalischen Chemie. S. 335. E. Lecher, Lehrbuch der Physik für Mediziner, Biologen und Psychologen. S. 335. — Anregungen und Antworten : Maikäferproblem. S. 336. Die deutsche Zentral- stelle für l';rdbebenforschung. S. 336. Bordeauxbrühe. S. 336. Erklärung von Prof. Dr. A. Hansen. S. 336. — L.iteratur : Liste. S. 336. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. IL Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. ü. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ig. Band; er ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 6. Juni igao. Nummer ?J3/33. Bau und Werdegang der Alpen. I. Den Leserkreis dieser Zeitschrift habe ich be- reits in zwei früheren Beiträgen ') mit dem giganti- schen und fast dramatischen Ringen um die Er- kenntnis der Alpen und der Kettengebirge iiber- haupt bekannt zu machen gesucht, soweit das in gedrängter Darstellung möglich ist. Die Erhaben- heit des Gegenstandes muß ja nicht nur auf den Fachmann besondere Reize ausüben, sondern darf auch einer allgemeineren Teilnahme gewärtig sein. Darüber hinaus aber gewinnt die Beschäftigung mit dem Fragenkomplex, den die Entstehung de'r Hochgebirge darbietet, weitestreichende Bedeutung: Wie in einem Brennspiegel vereinigt sich hier die Mehrzahl aller geologischen Probleme überhaupt ja sie erfahren hier eine scharfe Beleuchtung! eine Steigerung, die nach entsprechender Milde- rung auch die Zustände und Vorgänge im ganzen übrigen Erdball neu verstehen lehrt. In der Glut des hier entfachten Forschungseifers wird unsere ganze geologische Weltanschauung geschmiedet oder doch neu geformt. Ist doch das Alpengebirge selbst nur ein seines Erschließungsgrades wegen besonders geeigneter aber willkürlich herausgegriffener Bruchteil der beiden geophysikalisch bedeutsamsten Zonen der Erdoberfläche. Vom Atlasgebirge über Apennin und Alpen setzen sich die Gebirgsketten ohne wesentliche Unterbrechungen im Karpathen-Balkan- Krim-Kaukasuszuge bzw. südlich über Dinari- den— Griechische Halbinsel— Kreta— Taurus nach Osten fort in die riesigen Hochgebirgsmassen des südlichen Asiens, schwingen sich dann über den indonesischen Afchipel hinweg nach Neuguinea und Neuseeland, wobei sie mit einem zweiten ganz ahnlich beschaffenen größten Kreise der Erde der gefalteten Umrandung des Stillen Ozeans (ostasiatische Inselbögen — westamerikanische Kordilleren u. a.) eine Verschmelzung komplizier- ter Natur eingehen. Was also die Erfahrung in einem Teile dieses untrennbaren Ganzen lehrt, wird in wesentlichsten Zügen auch als Eigenheit jener erdumspannenden Zonen gelten dürfen. Unter ihrem Banne aber steht weithin das Vorland zu beiden Seiten. Als Schwächezonen wird man sie ansprechen dürfen trotz der ungeheuren Kräfte, die sich hier auswirken und weitreichenden Einfluß ausüben. ') ,,Die Tektonik der Alpen; ein Beitrag zur Entwicklungs- geschichte geologischer Anschauungen", Jahrg. 1908 Nr 23 ":?4(S-353— 358 u- 369—377) und „Neues aus der Geophysik (Alpen)", Jahrg. 1913, Nr. 28, S. 437—440. Von Prof. Dr. Edw. Hennig, Tübingen. Von jeher sind sie besonders regsam und nach- giebig und haben daher nicht nur während der gewaltigen Faltungsparoxysmen im Tertiär sondern mindestens seit dem Ausgange des Paläo- zoikums eine durchaus eigene Geschichte zu ver- zeichnen, der Gestaltung der Erdoberfläche meist das Gepräge gegeben. Was heut als Hochge- birge aufragt, ist seinem wesentlichsten Zuge nach ein breitgespannter Senkungstrog, eine sog. Geo- synkhnale. Gewaltige Massen von Sedimentge- steinen besonderen Charakters konnten in diesem größtenteils unter Meeresbedeckung gelegenen Sammelbecken zusammengetragen werden. Fal- tung und Aufwölbung erscheinen heut in gewissem Sinne nur als Reaktionen. So ergibt sich zunächst auch für ein allge- meines Weltbild ein sehr weitgreifender Gewinn • Ein ungeheures Maß von Plastizität wohnt selbst dem härtesten Gestein und der Erdkruste im großen inne. An Stelle der majestätischen Ewig- keitsruhe, die der kurzlebige Mensch im Hochge- birge zu verspüren meint, tritt eine nicht minder imposante Gestaltungskraft von zunächst kaum faßbarer Größenordnung. Wie das 19. Jahrhundert das starre Ewigkeits-Bestehen der Linneschen Arten widerlegte, die organische Welt sich uns plastisch und immer bildsamer vor allem durch die Erfahrungen der Paläontologie gestaltete, wie das 20. Jahrhundert einen Entwicklungsprozeß selbst für die scheinbar letzten anorganischen Bausteine des Weltgebäudes, die Atome, hinzufügte zu dem, was Kant-Laplace über das unge- heure Werden der größesten Einheiten des Him- melsraumes schon vordem gelehrt hatten, so ist das Bekanntwerden mit der Alpentektonik ein wahres Erlebnis für jeden, der über die engsten Grenzen des Gegenstandes hinausschaut und seinen Standpunkt in der Strömung der Zeiten zu er- fassen trachtet. Die ganze Natur des Weltalls ge- winnt Leben! Geradezu fortgerissen fühlte sich die Wissen- schaft weit über ihre Vorstellungen und Erwar- tungen hinaus, als das neuzeitliche Bild vom Bau des Alpengebirges sich aus der unendlichen Fülle kleinster Mosaiksteinchen emsiger Forscherarbeit zusammenzusetzen begann. Es konnte nicht fehlen daß man sich fragte, ob die Steinchen und ihre Zusammensetzung nicht fehlerhaft seien. Es war und ist nicht bloßer Mangel an Beweglichkeit des Geistes, was namhafte Mitarbeiter immer wieder zu Vertretern des Widerspruchs gegen die un- heimlich geschwinde Fortentwicklung unserer An- schauungen werden ließ. 33« Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 Aus den Fältekingen und Faltungen der Ge- steine, die im Hochgebirge so vielfach klar zutage liegen, wurden Großfalten, die sich über Kilo- meter und Meilen erstreckten und erst einer, ge- naueren Verfolgung im Gelände sich zum Staunen der Entdecker selbst erschlossen (z. B. die sog. Glarner Doppelfalte). Als dann aber nach und nach die vollen Konsequenzen der Beobachtung gezogen werden mußten, ergab sich, daß auch damit das Maß bei weitem nicht ausgeschöpft war. Aus den Riesenfalten und Oberschiebungen wurden wurzellos auf fremder jüngerer Unterlage ruhende Schubmassen und Überfalten-Decken, die reißend schnell immer gewaltigere Komplexität annahmen. Bis schließlich die gesamte nördliche Kalkalpenzone den stürmischsten Jüngern der neuen Lehre von Süden her über die Alpen ge- wandert zu sein schienen 1 Man muß sich vor Augen halten, wie tief dem Menschen die alte Anschauung der vulkanischen Erhebung der Berge im Blute steckt, um zu be- greifen, wie schwer selbst ernster Wissenschaft die fast kopernikanisch zu nennende Umstellung werden durfte, die in der Vorstellung liegt, daß mächtige Gebirgsmassive nicht mehr aus dem heutigen Untergrunde emporgetürmt, sondern von oben her (natürlich nicht etwa durch die Luft) darauf gesenkt worden seien I Wer sich dann noch in die Schwierigkeiten aller Art ') hineinzudenken vermag und versucht, die der Beobachtung und der Synthese des Ge- schauten, einer Spezialkartierung oder aufnähme im Hochgebirge entgegenstehen, wird leicht zu der Ansicht gelangen können, daß die Fülle er- forderlicher Kombinationen auch die Fehlergrenzen zu weit werden lasse, um so umstürzenden Er- gebnissen wirklich volle Vertrauenswürdigkeit zu gewährleisten. Auf die keineswegs in allen Fällen sicher zu ziehende Grenze zwischen Hypotheti- schem und Tatsächlichem in unserem Wissen habe ich in diesem Zusammenhange früher bereits hin- gewiesen. Von ihrer Absteckung aber hängt es ab, wieweit der einzelne glaubt in diesem stürmi- schen Entwicklungsschritt mitgehen zu dürfen. Da tat sich dann in meiner damaligen Bericht- erstattung ein weiterer interessanter Gegensatz national-psychologischer Natur auf: Wir sind in Deutschland nicht kleinlich genug, um nach dem inzwischen Geschehenen nun etwa leugnen zu wollen, wie das treibende Element in der Ent- wicklung der Alpentektonik eine französische Schwungkraft der Ideenverbindung war. Höchstens ist leider seither Anlaß nochmals und stärker zu betonen, daß der Anteil des germanischen Ele- ments (Deutsch-Schweiz, Deutschland, Osterreich) von anderer Art, aber nicht geringerem Werte gewesen ist, wenn auf ihn in der Hauptsache eine oft geniale Verankerung der Hypothesen auf ') Lugeon hat darüber in seinem Aufnahmebericht von 1919 einige bescheidene Angaben gemacht, die aber natürlich nur einen schwachen Abglanz der Wirklichkeit zu bieten ver- mögen. Wirklichkeitsboden, nicht etwa nur Kärrnerarbeit entfiel. Eine gegenseitige Befruchtung und Er- gänzung hat hier herrliche Blüten getrieben. Wir haben alle Ursache, der Schweiz, die im Kriege in so vielfältiger Beziehung Schäden und Leiden zu beseitigen mit bestem Erfolge bemüht war, auch dafür noch ganz besonders zu danken, daß wenigstens in Ihren Grenzen jener fruchtbare Kontakt zweier Kulturwelten nicht einen Augen- blick unterbrochen gewesen ist. Nicht allein ein Gefühl der Erleichterung und des Dankes freilich, sondern auch des Neides darf uns überkommen, wenn wir lückblickend auf die Jahre des Welten- zusammenstoßes sehen, wie hier in der Erschei- nungen Flucht auch für die Wissenschaft ein ruhender Pol blieb, welche Fülle prächtigster Ar- beit ungestört dort geleistet werden konnte, während das andere Ende des Alpengebirges von Kämpfen so viel traurigerer Natur erfüllt war. Sicherlich : die äußeren Umstände sind es nicht allein, die die Bedingungen für solches Schaffen abgaben. Eine wundervolle Begeisterung zur Sache und tiefste Liebe zum Vaterlande und seiner ge- heimnisvollen Bergwelt hat die schweizerische Geologengeneration der Gegenwart beflügelt. Um aber einen wichtigen prinzipiellen Erfolg vorwegzunehmen: Nach etwa loojährigem heißen Bemühen scheint in der Tat im Augenblick eine Stelle im Aufstieg der Alpengeologie erreicht zu sein, wo zwar neue weiteste Ausblicke in noch größere Höhen sich eröffnen und weiter locken, wo aber doch auch einmal ein Aufatmen und Er- holen möglich ist; endlich einmal fühlt man einigermaßen sicheren Grund unter den Füßen, während bisher die Wenn und Aber den kriti- schen Geist zu ersticken drohten, keine Ruhe auf- kommen ließen. Die Lehre vom Deckenbau der Alpen ist, wie ich seinerzeit auseinandersetzte, 1884 durch Bert r and gezeugt, 1902 durch Lugeon ans Licht gebracht, im Jahre 1905 aus dem Stadium der Hypothese in das der Theorie durch C. Schmidt und die Schule A Ib. Heims über- geführt worden. Der Deckenbau der Alpen ist nunmehr aber eine Erfahrungstat- sache geworden! Rastlose, auf tüchtigster umfassender Vor- kenntnis gegründete F"orscherarbeit hat uns dazu verholfen. So seien auch aus der großen Fülle wenigstens einige hervorragende Namen mit den betreffenden Hauptarbeitsgebieten dankbar ge- nannt : Spitz und Dyren fürt h : Unterengadiner Do- lomiten. Trümpy: Westliches Rhätikon. Alb. Heim mit Arnold Heim, Marie Ge- rosch, Ernst Blumer: Monographie des Säntis-Stocks. Arnold Heim und ( ) b e r h o I z e r : Ostschweiz, besonders Glarner und St. Galler Alpen (Monographie der Cinirfirsten-Mattstock- Gruppel) Zyndel: Mittelbünden. N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 339 R. Staub: Bernina Oberengadin (Graubünden). W. Staub: Windgällen-Scheerhorn-Gebiet. Blumenthal: Calanda Stock, Ringel Segnes- Gruppe. A r b e n z : Uri- Rotstock, Engelberg - Meiringen- Sarnersee. Tobler und Buxtorf: Vierwaldstätter See. Niggli: Gotthard-Aar-Massiv. Argand: Penninische Zone (Wallis-, Tessin- und Bündner Massiv). L u g e o n : Wildhorn - Wildstrubel - Balmenhorn- Gruppe, Gemmi. Preiswerk: Piora ObertessinMaggia- Gebiet. Die Prachtausstattung der ,, Beiträge zur geo- logischen Karte der Schweiz (Materiaux pour la carte geol. de la Suisse)" mit zahlreichen Karten und Profilen in Buntdruck ist eine technische Kulturtat für sich, an der Altmeister Heims großes praktisches Talent ebenfalls beträchtlichen Anteil haben dürfte. Nicht der Spezialisation') war es vor- behalten die höchsten Triumphe zu er- ringen, sondern die breitestmögliche Basis ha: sich allein als fähig erwiesen die höchst aufge- spitzte Pyramide des wissenschaftlichen Gebäude ; zu tragen. Der Deckenbau ist zwar der Hauptsache naci\ wie sich nun klarer mindestens schon für be stimmte Gebiete übersehen läßt, das Werk be- sonders stürmischen Zusammenschubs während gewisser Abschnitte des Tertiärs, aber er ist nicht verständlich ohne Beachtung einleitender Vor- gänge, die jetzt rückwärts bis ans Ende des Paläo- zoikums verfolgt werden können. Karbone und tertiäre P'altung erscheinen geradezu als nur be- sonders starke Glieder einer in sich zusammen- hängenden praktisch ununterbrochenen Kette von Ereignissen tektonischer Natur. Damit kann ich wieder anknüpfen an fiühere Darstellung, ,,daß die Gebirgserhebung nicht das Ergebnis einer Schematischer Gesamti|uerschnitt der Schweizer AlpeD, nach Alb. Heil (aus Kayser, Lehrb. d. Geol. Teil 1). IL Ein konzentrischer Angriff ist es gewesen, dem sich die nun eroberte Stellung schließlich ergeben mußte. Ich habe in meinem erstgenannten Auf- satz die Aufmerksamkeit darauf zu lenken gesucht, wie der Anstoß zu dem Siegeslaufe moderner alpentektonischer Vorstellungen nicht eigentlich speziell von den Faltenbiegungen der Gesteine ausging, sondern von der Stratigraphie, von den Faziesdiskrepanzen besonders der „Klippen"-Zone, wie dann aber zeitweilig die Tektoniker, zumal französische, sich glaubten von diesem Mutter- boden lösen zu können. Ein solcher Geistesflug allein mußte zum Ikarusfluge werden. Die Heran- ziehung einer bis in alle Einzelheiten und letzte Feinheiten der Gesteinsverhältnisse und Fossil- führung eindringenden Stratigraphie und Paläon- tologie hat die letzte Phase vorbereitet und einge- leitet. Mineralogisch petrographische Detailarbeit mußte ihr Fähnlein zum Endkampfe stellen. Die Entwicklung morphologisch - morphogenetischer Methoden hat zu ihrem Teile beigetragen. Die Tektonik ist gleichsam das Dach, das von diesen Pfeilern erst getragen wird. Aber doch ist die Förderung keineswegs einseitig, sondern in Wechselwirkung sich steigernd, ständig ineinander- greifend, kaum mehr voneinander trennbar, haben alle diese geologischen und verwandten Disziplinen in vereintem Ansturm die gesamte geologische Geschichte des Alpenkörpers um ein wichtiges Stück fördern müssen und können. Auch das ist von hoher prinzipieller Bedeutung: einzigen fest umgrenzten geologischen Periode war, sondern sich seit langen Zeiten ständig, wenn auch mit wechselnder Lebhaftigkeit abspielte, nie ganz geruht hat und auch heute nicht ruht". Sehr bemerkenswert ist, daß gerade S t i 1 1 e , ■') dem für die deutschen Mittelgebirge der Anstoß zur Ausfüllung der vermeintlichen tektonischen Ruhe- pausen zu danken war, in neueren Arbeiten einer nur periodischen orogenetischen Belebung der Erdkruste und längeren anorogenetischen Zeit- räumen das Wort redet und sich damit in offen- baren Widerspruch setzt zu dem, was die Plr- forschung des Alpenwunders uns über dessen Stetig- keit eröffnet. Jedenfalls werden die mancherlei einstigen Unstimmigkeiten in der stratigraphischen Datierung der Entstehung des Alpengebirges nun- mehr durch Vereinigung zu einem Gesamtbilde von höherer Warte aus hinfällig. Es ist hauptsächlich Argands Verdienst, einzelne Züge der alpinen „Embryotektonik" des Mesozoikum erstmals klar herausgearbeitet zu haben. R. Staub griff die Methode mit Begeiste- rung auf und entwickelte sie mit Arn. Heim ') Damit soll kein Argument gegen die Trennung der Disziplinen etwa in Lehrstühlen, Zeitschriften u. dgl. vorge- bracht werden, in der ja jetzt beispielsweise München für Deutschland vorangegangen ist, wohl aber liegt eine äußerst dringliche Mahnung darin, bei solchem Beginnen nicht die Fühlung verloren gehen zu lassen. Getrennt marschieren, ohne vereint zu schlagen, ist bloße Selbstschwächung. '■=) Über Hauptformen der Orogenese und ihre Ver- knüpfung. Nachr. K. Ges. d. Wiss. Göttingen, math.-phys. Kl. igiS, S. 10. 54Ö Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 22/23 für die Ostschweiz weiter. Sie ist rein strati- graphischer Natur: das Chaos der Alpenfaitungen, Zerreißungen, Auswalzungen, Einwicklungen, Auf- arbeitungen und passiven Verschleppungen, Durch- brechungen, Aufrichtungen wird immer giganti- scher, je tiefer wir eindringen. Und doch ist uns nun ein Ariadnefaden schon an die Hand gegeben, vermögen wir hindurchzusehen. Wunderbar ist es, wie die scheinbare Regellosigkeit, deren natür- licher ,, Erklärung" man sich schon als einer Er- löserin in die Arme zu werfen im Begriffe war (vgl. die früheren Ausführungen über Lach manns Hypothesen), sich wieder in Klarheit auflöst, so- bald das Zauberwort gefunden ist. Wo die Ge- setzmäßigkeit zu fehlen scheint, kann ja nur eine UnvoUkommenheit unserer geistigen Schöpferkraft die Schuld tragen, deren Werk eben die Gesetze sind. Die Lösung kam hier aus dem Vergleich der IVIeerestiefen, unter denen die Sedimente des Mesozoikum sich gebildet haben, bzw. der Fazies überhaupt. An den Stirnen der Faltendecken fanden sich neritische, also küstennahe Flach- wasserabsätze, wenn nicht gar außerhalb des Meeresraumes entstandene Schuttmassen. Gegen die Wurzelregion der Decken zu stellen sich Bil- dungen immer tieferen Wassers, immer größerer Küstenferne ein, und zwar, wo vollkommene liegende Falten vorliegen, auf der Bauchseite, um mich so auszudrücken, nicht nur meist in fazieller Abart, sondern auch oft schon auf vergleichs- weise kürzere Erstreckung hin. Das läßt sich durch die ganze Reihe der Formationen verfolgen natürlich in all der Mannigfaltigkeit der Abwand- lungen, die der Natur zu Gebote stehen.') Damit ist aber ein doppelter Anker geworfen. Denn einmal besagt das: daß in allen ent- sprechenden P'ormationen Schwellen am Meeres- grunde oder zum Teil gar über den Meeresspiegel sich erhoben, beiderseits deren Vertiefung statt- fand; daß das Gefälle auf der Nordseite (als der nunmehrigen „Bauchseite" entsprechend) steiler zu sein pflegte; daß all diese Höhendifferenzen und Gefällsverhältnissse durch lange Zeiträume hin trotz fortschreitender mächtiger Sedimentation nicht ausgeglichen wurden, sondern sich immer wieder behaupteten; daß also die Schwellen nicht nur morphologischer Natur wären , sondern wirklich lebendige Schwellformen bedeuteten und ihre Bei- behaltung eben nur einer embryonalen Tektonik zu verdanken gewesen sein kann ; daß sie gegen Norden zu schon frühzeitig eine einseitige Neigung erfuhren und da sie dauernd war, also dorthin zu wandern sich anschickten; daß auf solche Weise die Schwellen schließlich zu Stirnen liegender Falten werden konnten und mußten. Zweitens aber ergeben all diese gesetzmäßigen Übereinstimmungen, daß dann auch die Prämisse der ') Die Stein mannsche Parallelisicrung von tcktonischen und Faziesgrenzen erlebt also, wenn auch in recht abweichen- der Korm, eine späte Rechtfertigung. ganzen Schlußfolgerungen gerechtfertigt ist, nämlich daß wir mit Recht von der Annahme jener großen liegenden Falten als derzeitigen Zustandes ausgingen I „Was früher unverständlich, ja den Postulaten der neuen Lehre direkt entgegengesetzt erschien, wirkt heute mit als bescheidenes Ornament am großen Deckengebäude", sagt Staub,') voller Befriedigung nach solchem ersten Anstieg zurückschauend in eine noch von Nebeln überlagerte Tiefe. Es ist menschlich begreiflich, wenn noch immer nicht erlahmender Widerspruch ihm als „Unverstand und Beschränktheit" erscheinen wollen. In der Tat ist die Dissonanz hart und schrill, wenn Heritsch') noch 1915 ausführliche Diskussionen über „die Bauformel der österreichischen Alpen" mit den Worten abschließt: „Die Lehre vom einseitigen Schub in den Alpen, welche durch die Deckentheorie ihre schärfste Betonung fand, ist eben doch unvereinbar mit dem Bau der Alpen." Lebling schwingt sich noch in eben diesem Augenblick gar zu Worten des Spottes auf („Er- findung von Tauern- und ähnlichen Fenstern, also eine Einführung von Modeerzeugnissen in die Wissenschaft") wie sie des öfteren schon besonders aus Wien der neuen Lehre sich entgegengestellt, aber bisher noch stets den kürzeren gezogen haben. Hummel erklärt sich auch durch die jüngste Schweizer Literatur noch nicht überzeugt. Am standhaftesten wohl hat sich Mylius ge- sträubt den neuen Gedankengängen zu folgen. Der starke Widerstand der ostalpinen Schulen ist weit entfernt davon, schon gebrochen zu sein. Er erhält natürlich aus den gegenüber den West- alpen ganz abweichenden regionalen Verhältnissen der dortigen Bergwelt starke Nahrung. Es kann aber noch heut wie zur Zeit meiner ersten Über- sicht von einem Versagen der Schardt-Lugeon- schen Theorie in den Ostalpen keine Rede sein ; Uhlig hat die Schwierigkeiten, die den Über- tragungsversuchen gegenüberstehen und auch seiner Darstellung noch so sehr hypothetischen Charakter aufdrängten, klar dargelegt. Vor allem ist eine geringere Erhebung des ganzen Zuges daran schuld. Denn nun ist die Unterlage der ostalpinen Decken nur sehr sporadisch, zusammen- hanglos und viel weniger tiefschürfendaufgeschlossen als in der Schweiz, wo wir tief in den Sockel hineinschauen. Wohl hat ferner die Arbeit bis zum Kriege keineswegs geruht, aber es ist nicht mehr als selbstverständlich, und ein Blick auf das Literaturverzeichnis belehrt schon darüber, daß bei dem atemlosen Tempo schon wenige Jahre den Schweizer Fachgenossen zu einem schwer wieder einzuholenden Vorsprunge verhelfen haben. Die „Verschluckungstheorie" von Ampferer und ') Über das Längsprolil Graubündens, 1919, S. 297. So haben die mächtigen Faltenverzahnungen des Simplon, die bei Erschließung durch den Tunnelbau so gewaltiges Aufsehen erregten, heut nur noch den Werl unbedeutenderer Ausstül- pungen der St. Bernhard-Decke. '') Die österreichischen und deutschen Alpen. Handb. reg. Geol. 1915, S. 132. N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 341 Hammer beispielsweise wird doch auch an Hand der neuen Methodik einer Überprüfung sich zu unterziehen haben. Heim definiert Ver- wandtschaft und Verschiedenheit der Ost- und Westalpen in dem während der Niederschrift dieser Zeilen erscheinenden neuesten Hefte seiner „Geologie der Schweiz" (II, i) kurz dahin: „Im öst- lichen Alpenbogen ist dieoberflächliche Ausdehnung größer, das bewegte Volumen aber eher geringer. Die Dislokationsmetamorphose ist viel schwächer . . . Aber Ost- und Westalpen bedeuten nur verschiedene Schubdecken desselben Gebirges in verschiedener Entblößung." III. Daß die Ostalpen nicht nur eine Fortsetzung der Schweizer Gebirgsketten seien, sondern als eine höhere Decke jene dachziegelartig schief überlagern, ist ja frühzeitig erkannt worden. Nur über die Natur der heutigen Abgrenzung (tek- tonisch oder erosiv) und die Schubrichtung (ob von O oder von S) können sich die Geologen beider Lager noch immer nicht einigen. Um so be- merkenswerter erscheint es, daß eine andere Streitfrage, die nach dem Verhältnis und der Abgrenzung von eigentlichem Alpenkörper und Dinariden neuerdings einer Lösung entgegen- strebt, die beiden Parteien gerecht werden zu können scheint. Aus folgerichtiger Entwicklung der Anschauungen über die Zusammengehörigkeit verschiedener Deckensysteme gelangt nämlich Staub ^) zu dem überraschenden Ergebnis: „Die ob erostalpine Decke liegt als ein Stück Dinariden auf den Alpen." Damit wird aber Heritsch-j gerechtfertigt, wenn er gleich- sam als Sprecher des gegnerischen Lagers erklärte: „Ich halte wie viele, vielleicht die Mehrzahl ost- alpiner Geologen, die Ostalpen für einen Körper, zu welchem als sehr integrierender Bestandteil auch die Südalpen gehören. Ich bin daher gegen eine Trennung in Alpiden und Dinariden." Die Nomenklatur der Decken, Schubmassen und Uberfalten ist ja ganz naturgemäß an die teklonische Auffassung stark gebunden und durch sie beeinflußt. Daher war es so schwer, Einigung in diesem scheinbar rein formalen Punkte zu er- zielen, worauf bereits früher hingewiesen wurde. Damit wird auch eine nicht ganz unwesentliche Abänderung erst verständlich, die sich in dieser Beziehung letzthin vollzogen hat: Man unterschied nach einer ersten Phase neben dem tiefsten in sich gleichfalls gefalteten Autochthon auf Schweizer Boden eine Reihe größerer, den Wurzelregionen nach einheitlicher Serien von Deckmassiven, die einander in kom- plizierter Weise von S nach N und, wie schon betont, zugleich von O nach W überlagern, in S und O also gleichfalls in autochthones Gebirge übergehen können. Stark stilisiert läßt sich diese ') Tektonik der südöstl. Schweizeralpen 1916, S. 38. -) Handb. region. Geol. 1915, Literatur - Anmerkungen, S. 199. ^S 6^ -a 342 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 p ^ ^ Gliederung etwa in nebenstehendem Schema dar- 1 S :3 3 1 a stellen: ? -1 'a ^ ^ »; - !S a (Siehe Abb. 3 Seite 341.) Die weiteren Analysen, hauptsächlich von seilen Staubs haben nun ursprüngliche Zusammen- hänge der sog. Lepontinischen Decken mit den lieferen unterostalpinen und der höchsten penni- ■o^J,"! -M^^ '<^ «^ - nischen ') Decke erkennen lassen. Sie sind also ^ 5 _2 Q M ^ % gleichsam nur als regionale „teklonische Fazies" "ü " ° anzusprechen und gehen in jenen auf. Damit Q '^ -' ' -^ rücken nunmehr die penninischen Decken zwischen j^^oa cg-^2'2 noo .a ^ S helvetische und ostalpine ein, soweit die nicht sehr ; g 3:h ^gSg>^ °^i|.S iil -z"^ ausgedehnten Berührungspunkte eine ähnliche i 3':^ 3 c.H5^'°>' a > o"^ >£ dB tektonische Rangordnung noch gestatten. Die i'-'^(5Ni(£jau N«,.2'^ S S< Rothpletzschen Benennungen haben in der ,^^^^__!1^[3 ^ ^ Literatur weichen müssen. Die gegenseitigen Q S " D. Ja ^ Lage- und Namenbeziehungen mögen aus neben- i £ Q a^ a^ a stehender Tabelle hervorgehen. Fine eigene erguner |j a ^ o > ■« ^ J" „Deckenstratigraphie" hat sich, wie man sieht, •g '^ la ^ "' M ;s . längst herausgebildet mit allem Drum und Dran ^ X'" o £ ^ der Farallelisierungen und Synonymik. .-^ -^ ^ Dabei ist nur erneut hervorzuheben, daß es ^ ^ O Q S sich um ein Gesamtschema handelt, das nicht in 1; .g ^ = -3 ■£ allen seinen Teilen überall in der Natur auffindbar sein g -2 g . 'S ^ "^ kann. Es gilt auch nur für die Schweiz. Um eins -ig jj ^ S 'S g -2- der anschaulich bekanntesten und großzügig-klarsten E oP »^ i ^- .S S Beispiele herauszugreifen, tauchen am Vierwald- •g j ^ ^ a .Q ° stätter See bei Brunnen die aus Gesamtmesozoikum '^. S I g o V aufgebauten Klippen der Mythen '-') von oben her "^ £ g ,. g "^ als letzte Reste einer exotischen „Klippendecke" |~ ^j 3 £■ Q auf tertiären Flysch herab. Unter denselben sticht mit ganz anderer Fazies die Kreide der Drusberg- Decke ein. Längs des Urner-Sees, auf ^ rt S ■ '^ "3 d^ " ^^^ Axenstraße wandernd, sehen wir durch sie 2J- . ^ Q^ -i^ .ig-^ die hier nächsttiefere Axen Decke überwölbt. Was ~ ^^ n« ""2 aber jenseits Brunnens an der Rigi-Hochfluh mit 1 entgegengesetztem Fallen abermals in anderer J_ 3 •= .5 ^ & Kreidefazies auftaucht, muß der verschleppte ■^~ V II " .S Stirnteil einer noch tieferen Decke sein und wohl ^^■^ -^ "i der Glarner (nicht im Rothpletzschen Sinne) ■^ ^ " " V 5 —^ -, . g-^ - ; : :Q^ p r : ^^ Schubmasse entsprechen. Bewegen wir uns nun 3_o : : :: r"" j)^ 1, ^'^ Q .i g parallel den Alpenketten nach ONO, so schwindet u°. ^°.aS= = --S'" £, -J. a ■^ ^''^ Drusberg-Decke im gleichen Maße, wie erst "•"^M -SSjE'?' ■.§S^..g g S^? .G ^"i die Räderten-, dann die Wiggis-Säntis-Decke sich o- 1 äs-s , rt 'll -o' I -S -5 S ^. -S S. 2 .| -S J -i 3 a I S ^ an ihrer Basis allmählich entwickeln, von win- S" rt «öi^S^ °3r53>S.°|i5r'-?,^i3-in^Snn'^ zigen Ausstülpungen der Unterseite anfangend bis ._^ — — zu den machtig entwickelten, in sich selbst wieder j,; -g .s ^Q aus ganzen Faltenbüscheln aufgebauten Berg- '°Si S '^ massiven der Churfirsten- und Säntisgruppen. ^ ^. tfl Q ;I Schon daraus geht hervor, wie kompliziert im einzelnen die Beziehungen zwischen Fazies und F'altenstirn sich gestalten müssen, von denen oben die Rede war. Wenn dort gleichsam der Ver- such gemacht wurde, mit wenigen angesichts der Großartigkeit der Phänomene zweifellos unzu- reichenden Worten das Knochengerippe heraus- zuschälen, so darf eben h'leisch und Blut darüber 5 g JJ g ') Nicht zu verwechseln mit der pieninischen Kuppen- de -^ '^ "3 Zone der Karpathen. c^ _> 2 2) Ihnen entsprechen noch Schynstock, Buochser- und " Sl-iuferhorn, üiswilerstock und die ,, exotischen Blöcke" im Klysch. ^ O z ^ ^< o. y — • <-r ■0 a > 0 Q p 73 0. K N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 343 Abb. 4. Sclicmalisches Sammelprofil der östlichen Schweizeralpen (nach Staub, Heilr. geol. K. der Schweiz ig'?)- Autochthone Zentral- massive (Aar-Gotthard) 1:-=^-^^ Helvetische Decken ^^^^^ Kristalline Kerne di □ ninischen Decken I Mob Flyscb llolasst llargnade (Scbamser Margna) cum und Tertiär der e. Schuppenrej;ion CD Kristalline Kerne (Sella bis Campo) X \ n Sedimente: Err-Sella-Decke " I J (ARnelli. Kalknis.' Chablais- S lluriilluli-lirL.icie) Be a-De,ke (Alv, Sulz Iluh, Klippen- Decke) iP üinariden Die terli; S pm Languard- u. C „ fci^J (Sassalbo, Lisch po-Decke la. Nappe Prealpes) nicht vergessen werden. Wäre die Sachlage so einfach klar, so hätte sich der Gang der Erkenntnis wohl in ruhigeren Bahnen abspielen können und wäre kürzer gewesen. Es sei nur noch das eine hervorgehoben; Wenn durch lange Zeiten hin die Hebungswellen sich nordwärts vorschoben, wie das oben dargelegt wurde, so mußten Meetesteile, die vorher tieferen Räumen angehört hatten, in ihren Bereich ge- zogen werden, wohl gar verlanden. So ist in der Tat des öfteren ein gesetzmäßiger Sedimentations- zyklus erkennbar (Transgression, Inundation, Re- gression, Emersion bei Arbenz 1919), wenn wir die unmittelbar einander überlagernden Ge- steinspartien mehrerer Schichtglieder ins Auge fassen. Was innerhalb einer Schicht seitlich an- einandergrenzenden Faziesbezirken entspricht, folgt hier zehlich in gleich allmählichem Übergang auf- einander. Arn. Heim M vergleicht diese nachbar- lichen Beziehungen treffend mit der organischen Zusammengehörigkeit im tierischen Körper und entnimmt dem die mindestens theoretische Möglichkeit einer Rekonstruktion des noch nicht zusammen geschobenen Erdbodens für alle ein- zelnen Phasen: „Ohne Berücksichtigung der Deckenabwicklung erhalten wir ein völlig zer- stückeltes Faziesprofil, wie es nach dem Gesetz von der Korrelation de r Fazies unmöglich entstanden sein kann, so wenig wie ein Tier mit Schwanzwirbeln am Hals." Wir müssen uns nur immer wieder klarmachen, welch ungeheuerliches Maß von Verknetung, Um- formung, Zerstörung bei ber Aufrichtung der x'Mpen Platz gegriffen hat, um die schier unüber- windlichen Schwierigkeiten nachträglicher Analyse ') Abwicklung und Fazieszusammcuhang 1916, S. 475. wahrzunehmen. Nicht nur das: die Zielsteckung selber für die Erforschung verlangt Gewaltiges. Die deduktive Darlegung der Vorgänge, die zum heutigen Zustand geführt haben, mag leicht ein- leuchten, der einmal gebahnte Weg sich rück- wärts zum Ausgangspunkt verhältnismäßig un- schwer zurücklegen lassen. Mir war und ist es in diesen Berichten aber auch darum zu tun, die Aufmerksamkeit auf die Bergeslasten zu lenken, die bei der induktiven Pionierarbeit zu beseitigen waren und heute der Hauptsache nach als über- wunden zu gelten haben. Was folgt, ist Ausbau im einzelnen, wahrlich kein unbedeutender 1 IV. Rekonstruktion früherer Zustände des Alpen- gebietes heißt Ausglättung, Faltenabwicklung. Die kann nun, das ist eine bedeutsame Kompli- kation gegen allererste Erwartung , nicht mehr einfach tür das ganze Alpengebirge der Breite nach in dem Sinne geschehen, daß nur ein vor- tertiärer und nachtertiärer Zustand miteinander auf das Maß des Zusammenschubs hin verglichen werden.') Denn im Beginn des Tertiärs war durch embryonale Tektonik schon eine an- sehnliche Raumverkürzung erreicht. Es muß also jede einzelne Schicht oder doch Formation für sich „entwickelt" werden. Es ergibt sich, daß das Maß der Komprimierung überhaupt danach ganz anders und weniger leicht zu bewerten ist: jede nächstjüngere Schicht legte sich bereits in verkürztem Räume an, machte also einen gewissen Teil des ganzen Tangentialschubes nicht mehr mit. Jedenfalls geben uns aber neritische, grob- klastische, kontinentale Sedimente, ja selbst Ver- ') Alb. Heim berechnet es neuerdings zu 200 — 300 km. 344 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 landungsperioden zu verdankende Schichtlücken oder Mächtigkeitsschwunde die Sattelerhebungen der betreffenden Zeit an. Aus den Antiklinalen sind die späteren I'altendecken erwachsen, während die Mulden den vielfach ausgequetschten Mulden- kernen der liegenden Falten entsprechen, also tektonisch allmählich durch hineingewanderte Schubmassen ausgefüllt sind. Nun bestehen ja aber die Faltenserien aus ein- zelnen Deckenmassen, die in sich zu Untergliedern weiter aufgelöst werden können. Der Bau im großen findet sein Widerspiel in kleineren Zügen. Ebenso lassen sich des öfteren entsprechend auch die fossil gewordenen , tektonisch nur modifizierten Ge- antiklinalen und Geosynklinalen als durch Spezial- mulden bzw. -sättel verschiedenster Größenord- nung bereits ursprünglich geteilt und gegliedert erkennen (z. B. ostalpine Decken). Es ist ver- ständlich, daß die Feinwellung erst allmählich, vorübergehend, in Einzelheiten wechselvoll hinzu- trat, und nur die Hauptelemente Dauertypen dar- stellen. Noch mehr: jene ältesten und Dauerelemente zeigen sich bereits im Perm ; es sind diejenigen, die der karbonischen ') Faltungsperiode ihr Dasein verdankten und nach dem Ausklingen jener Maximalphase die stellenweise ungeheuren Schutt- massen des Verrucano, die paläozoische Ver- tretung der Nagelfluh, lieferten. Granite, die jünger als Karbon, aber älter als Trias sind, fanden nachweislich die Synklinalen bereits vor. In eben jener Zeit setzt ja auch ungefähr die Ausgestaltung des Thetys-Meeres ein, jener Riesengeosynklinale zwischen Festlandsmassen im Norden und Süden, aus der der Alpenzug insgesamt gleichsam als Umstülpung hervorgegangen ist.'") Es liegt auf der Hand, daß die — wenn auch ungleiche — Verteilung der Vorgänge auf große Zeiträume bis zu gewissem Grade dem mechanischen Verständnis der erstaunlichen Phänomene entgegen- kommt. Nicht nur wird wenigstens ein Teil der wirksamen Kräfte damit aus der noch immer gigantischen Summe der zur tertiären Hauptperiode tätigen abgespalten, auch das Maß des Zusammen- schubs erfährt für Einzelformationen eine gewisse Milderung. Und in ihm mußte ja noch 191 3 ein ganz wesentliches Hindernis für die Aner- kennung der Deckenlehre erblickt werden (vgl. meine damalige Besprechung des Erklärungsver- suches von L a c h m a n n). Freilich auch heut ') Bedauerlicherweise hat die ganze schweizerische Schule aus der französischen Literatur nunmehr den Ausdruck „herzynisch" für unser varistisch-armorikanisch, d. h. allgemein karhonisch-tektonisch übernommen, während er im Deutschen sonst eine grundsätzlich andere Streichrichtung der Tertiärzeil kennzeichnet und diesem Gebrauch auch die Priorität zu- kommen dürtte. '') Es darf nicht verschwiegen werden, daß der westlichste Teil des alten Mittelmeer- Vorgängers jüngeren Datums (Jura) sein muß. Während des Perm und der Trias fehlen ozeanische Marin-Sedimente vor allem im Zuge des Atlas. Die Auffaltung hat Gebiete ergriffen, die damals „germanischen" Charakter trugen, hat also auch Fremdartiges einbeziehen können. können wir uns nicht einbilden schon des Geheim- nisses Herr geworden zu sein. Mit Recht sagt Alb. Heim,^) dem die frühesten Errungen- schaften auf dem Gebiete zu danken sind: ,,Die Theorie, d. h. die wirkliche mechanische Erklärung der Vorgänge und ihrer Ursachen, wird erst viel später aus noch vermehrten, vertieften und über die ganze Erde ausgebreiteten Beobachtungen all- mählich sich ableiten lassen. Darüber lassen wir besser erst die kommenden Generationen reden." Nur in der Fragestellung möchte ich mich Stille '-) anschließen, der weniger an ein aktives Über- quellen der Falten auf das nördliche Vorland ge- dacht wissen will als an ein nach Süden ge- richtetes Untertauchen und Einbohren des letzteren, also an Unterschiebung statt Überschiebung, um den kaum mehr als definitionstechnischen Gegen- satz mit einer älteren Formulierung kurz zum Aus- druck zu bringen. Läßt sich auch beim jetzigen Stand der Dinge von einem räumlich und zeitlich allgemein gültigen Maße des Zusammenschubs der Alpen theoretisch nicht mehr reden, so ist dafür doch durch die mächtig geförderte Spezialarbeit die noch vor nicht zu langer Zeit herrschende Unsicherheit der möglichen Vorstellungen im einzelnen beseitigt. Arn. Heim ging von Kreideablagerungen der Zone Säntis-Vältis-Fläscherberg aus. Hier sind früher um 55 km südlicher als der entgegengesetzte Endpunkt gelegene Massen heut um 10 km nörd- licher als jener zu finden, was einer Verlagerung von 65 km entspricht. Die Bildung penninischer Decken entspricht nach Argand etwa einer Massenwanderung von 70 — 90 km. Die Trias der oberostalpinen Decke aber ist nach Alb. Heim gar durch eine Überschiebung von 150 — 160 km vom dinaridischen Alpcnsüdrand bis an ihren Nordfuß im Bayrischen verfrachtet worden ! Im letzteren Falle befinden wir uns wieder auf unsichererem Boden, denn die Berechnung kann natürlich nur in der Richtung der Massenver- schiebung erfolgen, die eben hier noch umstritten bleibt. Die gewaltige Umbiegung des westschweize- aischen Alpenkörpers gegen den Apennin zu (die übrigens in den ostalpir.en Faltenbogen, wie Arbenz sie 191 3 darstellt, nicht ohne Parallele ist!) muß ja entschieden mechanische Bedingungen von besonderer Art bergen. Ich pflichte Stille in dem genannten Standpunkte vor allem aus dem Grunde bei, weil ein allseitiges Ausstrahlen des Faltenschubs aus dem kürzeren Innenbogen schon aus Gründen der Massenfrage mir ganz unvorstellbar ist. Obendrein aber besteht ja dort jetzt der Massenüberschuß ! A 1 b. H e i m ■') bietet eine ausgezeichnete Kartenübersicht dieser sehr beachtenswerten Verhältnisse. Ein Einzwängen von außen her auf dieses Zentrum zu scheint mir ') 1919, S. 16- — 17. '■^i 1919, S. 33 t'ulinote. ') Geol. d. Schweiz 19 19 11 1, S. 52, Taf. I. N. F. XrX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 345 allen Schrumpfungsvorgängen wesentlich besser zu entsprechen. In den relativen Lagebeziehungen wird durch solche Umstellung des Blicks ja gar nichts geändert. Die alten kristallinen Massive im Norden (Zentralfrankreich, Vogesen-Schwarz- wald, Böhmen) hätten nur nicht stauend dem ViÄii^ Abb. 5. Embryonales Stadium des Faltenbaus nach Argand (Ecl. geol. Helv. 1916). Andrangsich entgegengestemmt, wieSueß wollte, sondern das nachgiebige Objekt gleichsam ein- gespannt und stärker eingebeult. In den Ostalpen aber hätte entgegen dem ringförmigen Schraub- stock des Westens ein wahrhaft einseitiger Schub, ^) nämlich von N her gewirkt. Dementsprechend muß „die oberflächliche Ausdehnung größer, das bewegte Volumen geringer, die Dislokationsmeta- morphose viel schwächer" (Alb. Heim) sein, das wilde Quellen und Ausweichen der Falten der so viel ruhigeren, mehr schuppenförmigen Lagerung Platz machen. Die Schweiz wäre ihrerseits durch die Einkesselung vom Westen her unter das ostalpine Massiv eingeklemmt worden und damit der „O- W-Schub" der bayrisch-österreichischen Schule, wenigstens relativ betrachtet, in seinem scheinbar absurden Verhalten begründet. Das Maß aber der Bewegung darf dann natürlich nicht in S-N- Richtung, d. h. aus der Flanke abgelesen werden ! Ein derartiges „Wandern" (nicht etwa im Sinne Wegen ers!) des nördlichen Kontinentalblocks gegen die Geosynklinale würde m. E. noch manches verständlicher erscheinen lassen; so z.B. die epi- rogenetische Emporwölbung, die ja mit der Faltung innig zusammenhängt und wohl den Hauptanteil an der Bildung eines „Hoch"gebirges für sich beanspruchen darf, die vor allem auch weite Nachbargebiete mit betroffen hat (Trockenlegungen ') Der Druck ist natürlich immer doppelseitig, erzeugt den Gegendruck selbst. der Mittelmeergebiete mit ihrer Bedeutung für die Tertiärfauna); so die Massenauflockerung in den zusammengeschobenen Partien selbst; so einen welligen F'altenwurf des Alpenkörpers auch in seiner Längserstreckung, wie er jetzt auf Schweizer Gebiet so ausgezeichnet bekannt geworden ist. Die Deckenmassen selbst nämlich senken sich von gewissen gemein- samen Querachsen des Gebirges aus seitlich, d. h. nach Ost und West ab. In den Achsen kommen ganz entsprechend den liegendsten Schich- ten eines Gewölbes die tektonisch tiefsten Decken zum Vorschein, stechen aber in den Quersynklinalen unter die nächsthöheren , hier in größerem Umfange noch erhalten gebliebenen Decken allmählich ein, um schließlich ganz zu verschwinden. Umgekehrt verlieren sich die syn- klinal noch wohl erhaltenen „han- genden" Massen gegen die Quersättel hin. — Das gilt von den letzten verstreut liegenden exotischen Blök- ken der Klippenregion gegenüber den ausgedehnten schwimmenden Prealpes romandes so gut wie von allen übrigen. Nach Staub (19 19) lassen sich die nebenstehenden Querachsen und -Synklinalen bereits deutlich ablesen, wobei für sein Arbeitsgebiet Graubünden bereits weiterreichende Scheidungen ermöglicht wurden. (Tabelle siehe S. 346.) Die Tessiner Achse zielt beispielsweise vom Lago Maggiore über Aar- und Gotthard-Massiv auf den Schwarzwald hin. Es mag hier die Frage außer Betracht bleiben, inwiefern letzterer dabei passiv oder aktiv beteiligt zu denken ist, aber der Hinweis darauf ist unvermeidlich, daß von der Stellungnahme zu ihr außerordentlich viel für die Auffassung der geologischen Geschicke Südwest- deutschlands abhängt, ja daß die Geologie des ganzen Mitteleuropa auf seine Beziehungen und Parallelen zu den nunmehr großenteils schon so wohlbekannten Vorgängen des Alpengebirges etwa während des Mesozoikums und Tertiärs nachzu- prüfen ist. Befinden wir uns nur im Ausstrahlungs- gebiet jener aktiven Zone oder melden sich wenigstens Rückwirkungen der dortigen Leb- haftigkeit in unseren Trans- und Regressionen mitsamt ihren tektonischen Begleiterscheinungen an? Müssen nicht schließlich auch die großen Bewegungen jenseits der Geosynklinale im Zu- sammenhange mit den Einzelphasen des Alpen- körpers betrachtet werden, wie die eozänen Gebirgserhebungen im Roten-Meer- Gebiet und Atlas? Doch genug der Abschweifung! Vor den Sattellinien liegen als Nagelfluh die von ihnen frühzeitig abgewaschenen Gesteinsmassen. West- 346 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 Prealpes-Depression Tessiner Kulmination Bündener Depression Depression Westbündens j Achsenverbiegung Misox rail ' „ bis Querfalte Splügen I Querfaltenzone Muretto-Rhäzüns Vettis-Landaza- Kulmination Depression Ostbündens (Silvretta) I Teilwölbung Val Bever-Surlej Teildepression Bernina I Querfaltenzone Rhätikon {Falknis- Scesaplana) , im südl. Bünden durch andere ersetzt. Unterengadiner Kulmination Oetztaler Depression mit Querfaltenzonen Piz Lad und Endkopf Tauern-Kulmination lieh der Tessiner Kulmination wäre noch die Tiefenlinie zu nennen, in die der Hauptkörper der Klippendecke, die Prcalpes romandes gebettet sind, in die hinein aber auch innerhalb des Alpen- gebirges Deckenmassen vorgestoßen zu sein scheinen. Es besteht nämlich verschiedentlich begründeter Verdacht und nach dem Gesagten müßte es ja geradezu theoretisch erwartet werden, daß auch die Querfaltung, so schwach sie ist, schon frühzeitig angelegt wurde, so daß die Faltendecken auf ihrer Wanderung Hindernisse (Kammlinien) bzw. Gleitbahnen (iVIulden) bereits vorfanden und dementsprechende An- passungen der Ausdehnung aufweisen können. Die stauenden Massive, d. h. die autochthonen, sind großenteils sogar Überbleibsel der karbonen Gebirgsbildung, die somit noch in Einzelheiten der jüngeren Faltungsphasen gestaltend eingreift. Auch die Bündener Tiefenlinie macht sich vor der Hauptfaltung schon deutlich bemerkbar. Ist sie doch selbst heut morphologisch durch die Ent- wässerungshauptader des Rheintals gekennzeichnet und erscheint in der Bodenseesenke geradezu noch lebendig. Ihren besonderen fossilen Ausdruck findet sie aber in der Verbreitung der „Bündener Schie- fer". Diese umfassen als eine bathyale Vertretung größere Teile des Mesozoikums (besonders er- kennbar wurde der Lias), aber auch noch Alttertiär (wenigstens in zeitlicher Umgrenzung ähnlich wie der „Flysch" im Alpenvorlande, der auch schon un- mittelbar identifiziert wurde). Im Vormesozoikum nennt man derartige Phyllite, die mit Marmoren wechseln können, Casannaschiefer. Ein gemein- sam umfassender Name ist Glanzschiefer (schistes lustrcs). In dieser dynamometamorphen Form (Glimmerphyllite, Granathornfelse) ziehen ent- sprechende Paragesteine als Absätze einstiger Längssynklinalen weithin durch die zentralen Alpen. Das schmale Band bleibt in einiger Entfernung südlich des Vorderrhein- und Rhonetals, letzteres nur an der Strecke Brig — Visp am Ausgang des Simplontunnels berührend und von diesem in Gestalt schmälster in (jneißfalten eingequetschter Sedi- mentstreifen angefahren. Vom Lukmanierpaß über das schöne Piora-Tal und Airolo hinweg verfolgt man sie leicht auf der prächtigen Über- sichtskarte der Schweiz in 1:500000 bis in ihre Fortsetzung am Südfuße des Mt. Blanc-Massivs hinein. Sie gehören vornehmlich der untersten und obersten Penninischen Decke ') an, als bathyale Absätze also wieder mehr den Wurzelregionen des Gesamtkomplexes. Um so interessanter ist daher das Vorstoßen dieser Tiefenfazies nach N in einem Querzuge (Chur-PrättigauGegend). In der östlich anschließenden Unterengadiner Kulminationszone bricht dieses tektonisch hier schon tiefe Bauelement in dem mit Recht be- rühmten „Fenster" des Inntals bei Nauders durch seine altkristalline ostalpine Decken - Auflagerung zur heutigen Oberfläche hindurch. Ist auch die Querfaltung der Intensität nach unendlich winzig gegenüber dem Deckenbau, so sieht man doch, wie zwei Strukturprinzipien einander gitterförmig '-) durchdringen und an dem Wechsel in der Zusammensetzung des uns heut zugäng- lichen Erdstreifens starken Anteil nehmen. Ihre gegenseitigen Altersbeziehungen komplizieren natürlich das Gesamtbild noch weiter. Die früh- zeitige Anlage der Bündener Depression bringt in die mühsam erkannten Gesetzmäßigkeiten der Faziesverteilung ein neues Element der Unsicher- heit, ist aber gerade daraus auch wieder erst ab- leitbar. V. Das relative Alter der Decken untereinander hat sich gleichfalls als weniger schematisch-ein- fach herausgestellt, als die ersten Erkenntnisse voraussetzten. Es liegt nicht mehr so, daß stets die höherliegende Decke die jüngere ist, sondern ') Die Sedimente der „helvetischen Decken" vermitteln nicht nur der Fazies nach zwischen jenen und der auto- chthonen ,, helvetischen Fazies" der nördlichen Zone, sondern stammen tatsächlich aus einem Entstehungsraum, der heut auf Wallis und Vorder-Kheintal zusammengedrängt, einstmals die nördlich und südlich angrenzenden Gebiete viel weiter von- einander schied, aber doch auch verband. '^) Ein Miniaturabbild wäre das ja gar nicht seltene um- laufende Streichen, für das unsere deutschen Mittelgebirge, vor allem aber das Um- und Vorland des Harzes so ausge- zeichnete Beispiele bieten. N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 347 es gibt neben den dorsalen auch basale Aus- stülpungen, die sich selbständig weiter entwickeln konnten. Das Thema der „Einwicklungen", d. h. Verknetungen einer Schubmasse durch eine andere (z. B. Wildflysch-Klippendecke durch helvetische) knüpft hieran. Arbenz (191 3) findet essehr wahr- scheinlich, daß „auch in der Schweiz die ostalpinen Decken wesentlich älter sind als die helvetischen". In gewissen Zusammenhang damit zu bringen wäre ferner die Steilstellung mancher Wurzelregio- nen. Ursprünglich dachte man ja wohl gar an an- fangs steil aufstrebende Falten, deren Stirnteile sich dann nach Norden umgelegt haben sollten. Ein Gefühl der Unmöglichkeit solchen Vorgangs dürfte dabei aber niemand losgeworden sein. Denn ab- gesehen von dem so regelmäßigen Überkippen nach einer Seite, dem man durch Hilfshypothesen hätte näher kommen können, wäre dafür ein ge- wisser mechanischer Spielraum erforderlich, während ja doch anerkanntermaßen die erstaun- liche, im wesentlichsten bruchlose Umformung der Gesteine nur unter einem allseitig-lückenlosen Überdruck sich vollziehen konnte. Es ist wieder besonders Argand der Nachweis zu danken, daß die Steilstellung der Wurzeln eine ganz sekundäre Folge allerletzter Störungen darstellt. Von hinten her wurden sie durch Rückenstöße im Zusammen- hange mit Senkungen des Hinterlandes eingeknickt. Der ganze bereits fertige Bau quoll gleichsam eine Strecke weit zurück. Die südwärts gerichteten Rückstaufalten des Dinaridenzuges könnte man als Steigerung dieses Vorganges auffassen, der sich unter dem Gesichtswinkel des NS Schubes nur als eine durch Schollenbruch variierte gleich- sinnige Endphase darstellen würde. Wenn Bruchbildung neben Quer- und Längs- faltung des Alpenkörpers eine zwar überall von kleinsten Beispielen bis zu riesenhaften Zerreißungen und Verwerfungen sich einstellende, doch aber im Gesamtbauplan der Alpen nur untergeordnete Form der Erdkrustenbewegungen ist, so tritt als vierte für Bildung der uns vor Augen stehenden Gebirgsformen, d. h. für den Ablauf des Zerfalls und der Abtragung außerordentlich bedeutsame die epeirogenetische hinzu. Es kann ja gar nicht fehlen, daß im Verlaufe dieser krampfartigen Zu- sammenziehungen der Erdhaut, bei Verkürzungen, die sich selbst für die Größenordnung des Erdmeri- dians bemerkbar machen , der Erdball auf weitere Umgebung hinaus Deformationen erleidet. Die Geo- logie ganz Deutschlands muß, wie gesagt, unter ihrem Einflüsse verstanden werden mit all dem Auf und Ab der Küsten- und Meeresverlagerungen. Sie allein können schon die Bezeichnung: „säkulare" Hebungen und Senkungen rechtfertigen. Auch sie vollziehen sich durch alle Zeiten hin nahezu ohne Pause. \) Es geht kaum an, mit Stille ^) Ihr Einfluß auf die präglazialen Oberfiächenformen der .Mpen, auf den Erosionsgrad nicht nur des Wassers, son- dern auch der Gletscher wird schon vielfältig erkennbar. Der glazialklimatische Rhythmus selber könnte durch sie (minde- stens lokal und wechselnd) aufs stärkste beeintlufit sein. zwischen epeirogenetischen und orogenetischen Perioden unterscheiden zu wollen, wo innigster Kausalzusammenhang zu erwarten steht und viel- leicht in Einzelheiten durch künftige Forschung noch vollends deutlich werden wird. Zum mechanischen Verständnis des Decken- baus dürfte es erforderlich sein, von der derzeitigen Erhebung des Hochgebirges zu abstrahieren, statt sie gar unmittelbar auf seine Rechnung zu setzen.') Faltung dieses Ausmaßes ist wohl für das Erdganze ein durchaus oberflächlicher Vorgang, vollzieht sich aber von unserem menschlichen Gesichtspunkte aus doch in beträchtlicher Tiefe. Dabei ist nicht nur an die heut entfernten sehr erheblichen Ge- steinsmassen zu denken, mit denen wir unsere Luft- sättel in Alpenprofilen auszukleiden haben, sondern auch an die relative Höhenlage. Die neuen Erkennt- nisse sagen uns ja, was früher verschiedentlich be- reits vermutet wurde (vgl. Tornquist), daß sich die embryonalen Anfänge am Grunde des Meeres abspielten, und auch die nun bekannten Maximal- zeiten der Alpenverfaltung sahen den Fuß des aufstrebenden Gebirges noch allseitig umspült. Erst während der letzten von Argand so treff- lich unterschiedenen Nachzuckungen zieht sich das Meer aus dem schweizerisch bayrischen, endlich auch der österreichisch-ungarischen Becken lang- sam zurück : ein fertiges ,, Gebirge" taucht ohne weitere Paroxysmen des Faltenschubs zu majestäti- scher Höhe langsam auf, mannigfaltigen Erosions- zyklen Raum und Leben gebend. Es ist selbstverständlich, daß die Einzelphasen des Werdens regional begrenzte Bedeutung haben. Andere Teile des Gebirgszuges können, ja müssen andere Laufzeiten aufweisen. Es bestehen Ver- dachtsgründe, den Vorgängen in den Ostalpen im ganzen etwas höheres Alter zuzusprechen (Heritsch 1912), mindestens schon stärkere Ver- landungskomplexe während der Kreide vorauszu- setzen. Je größer die räumliche Entfernung, desto stärker können solche Interferenzen sich zur Geltung bringen. Ja wir sind geradezu in der Lage, das für mesozoische und tertiäre Zeit auf Schweizer Gebiet geforderte hypothetische Bild heut an anderen Stellen der Geosynklinale lebend anzutreffen. Besonders gern wurden die Faltenzüge und Inselgirlanden des indonesischen Archipels als rezentes Vergleichsstück herange- zogen. In Inseln aufgelöst oder vielmehr aus solchen vielleicht erst allmählich zusammen- wachsend liegen hier in noch jugendlichem Stadium die mannigfachen Bedingungen klar zutage, unter denen neritische und bathyale, marine und kon- tinentale, sedimentäre und vulkanische Gesteine vor weiteren Zusammenschüben und endgültigem Auftauchen sich bilden und auch z. T. bereits wieder zergehen. Die Faltung ist dort gegen Süden gerichtet, auf den australischen Festlands- block zu. Die mehrfach hintereinander ange- ') Auch Arldt hält die beiden Komponenten in seiner „Paläorographie" (1919) nicht genügend auseinander. 348 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 ordneten, freilich nicht streng schematisch überall gleichbleibenden Züge von Antiklinalen und Syn- klinalen, die mancherlei Ausnahmefälle und Ab- weichungen, das Auf und Ab in der Längser- streckung, alles das ist da und wieder mit neuen persönlichen Noten ausgestattet. Zeiten eines intensiven Vulkanismus sind unserem heut in dieser Beziehung völlig friedlichen Alpen- gebirge bekanntlich keineswegs fremd gewesen. Es ist nur an die berühmt gewordenen Ergüsse des Triasvulkans von Predazzo in Südtirol, an den ver- schleppten und so modellartig eingefalteten permi- schen Ouarzporphyr der Windgälle, gleiche Ge- steine des oberitalienischen Seengebiets und viele andere Vorkommnisse verschiedener Formationen zu erinnern. Die mittel- bis jungmesozoischen Schiefer der oberen penninischen und unterost- alpinen Decken sind von Grünsteinen aller Art durchsetzt, deren Altersstellung (Eocän ?) nicht völlig gesichert erscheint. Sehr anschaulich zeich- net dagegen Staub ^) ein den heutigen Sunda- inseln etwa entsprechendes Eruptionsstadium für das Perm der südöstlichen Schweizeralpen. Zu den Eruptionen treten die Intrusionen. Tiefengesteine sind uns überhaupt nur zugänglich, wenn sie fossil geworden und durch Abtragung des Daches oberflächlich freigelegt sind. Meist kennen wir sie nur aus dem Paläozoikum, weil die kurze Zeit des Neozoikum für so tiefgreifende Erosionsarbeit normalerweise nicht ausgereicht hat. Die gewaltigen Hebungsgebiete der 1 loch- gebirge machen auch darin eine Ausnahme. Jenes triassische Eruptionszentrum von Predazzo ver- dankt eben den dort erkennbaren Beziehungen verschiedenartigster Tiefen- und Ergußgesteine zu- einander seinen Ruf Selbst das Tertiär und zwar besonders junges Tertiär (Miocän) der süd- lichen Alpen aber kennt bekanntlich noch Intru- sivgranite. Die Tonalite von Adamello, das DisgraziaMassiv und andere (Tessin-, Veltlin- und Bergell-Gebiete) sind Beispiele dafür. Das letztere verdient Erwähnung wegen seiner Lagebeziehungen (Durchschmelzung) zu der bereits fertig vor- gefundenen Adula-, Tambo-, Suretta- und Rhäti- schen Decke nahe den Wurzeln.-) Es ist klar, daß Störungen dieser Art oder solche, die durch Erosionszerschneidung über dem Meere aufge- stiegener Partien sich noch in all die Faltungs- vorgänge einschalteten, sie wohl gar endgültig unterbrachen, mindestens aber nachhaltig beein- flußten. Auch die Kontaktmetamorphosen kommen also in Betracht neben den dynamischen Veränderungen der Gesteine beim Verknetungs- und Verschlep- pungsprozeß. Selbst diese zwei Umwandlungsarten können einander sozusagen noch überschneiden, indem beide ein und denselben Gesteinskomplex ') 1917, Taf. III, Fig. 4. '■') Prächtig dargestellt in Heim, Geol. d. Schweiz 1920. Vgl. die ausgezeichneten Darlegungen Cloos' über den Platzaustausch des Krcngo - Granits in Deutsch -Südwestafrika und andere afrikanische Intrusions-Massive. nacheinander und abwechselnd betrafen. Es ist kein Wunder, wenn die ganze Schweiz noch nie ein Fossil geliefert hat, das älter wäre als Karbon ! Eine Erscheinung, die ohne die neue historisch weitgehend spezialisierte Betrachtung der Faltungs- vorgänge, ohne Berücksichtigung der Embryonal- tektonik unbegreiflich scheinen müßte, ist die Tat- sache, daß sich, ganz allgemein gesagt, einiger- maßen gesetzmäßig der Grad der Dynamometa- morphose mit dem stratigraphischen Alter der Gesteine progressiv steigert. Bei nur einmaliger junger Faltung hätten naturgemäß alle Forma- tionen gleichermaßen betroffen werden müssen. Die prätriassischen Erstarrungsgesteine aller Art sind daher nicht immer sicher voneinander und von den alten gleich stark umkristallisierten Sedi- menten mehr zu trennen. VI. Überdenken wir die Zahl der am Bau der Alpen mitwirkenden F~aktoren und die unabseh- bare Fülle ihrer Kombinationsmöglichkeiten, so zeigt sich klar, daß die Skizzierung einer Ge- schichte der Alpen nur möglich ist, wenn von manchem Wissenswerten rechts und links am Wege der Blick gewaltsam fortgelenkt wird. Sie ist m. E. überhaupt noch nicht möglich in den Ost- alpen, wo die stratigraphische Methode der Ver- folgung einer Embryonaltektonik trotz früherer wichtiger Errungenschaften (Fjorde der Gosau- Kreide und Ahnliches) infolge der gewaltsamen Unteibrechung den jüngsten entscheidenden Schrit- ten der Schweizer Fachgenossen nicht zu folgen vermochte. Eine trefi liehe bildliche Darstellung der Vorgänge vom Ausgang des Mittelkarbon bis zum Abschluß der tertiären, feingegliederten Gebirgsbildung hat für die Westalpen erstmals Argand 1916 in 12 Pro- filen zu geben versucht. Staub übertrug 1917 diese Veranschaulichung auf das Penniiükum und die südlich angrenzende „unterostalpine" Region, indem er in 9 Profilen Mittelkarbon bis Malm darstellt. Eine wundervoll bis in die Ein- zelheiten der Hauptfaltung von Oberkreide bis Miozän eindringende tabellarische Schilderung schließt sich an. W'ir sehen da, nicht anders als in deutschen Mittelgebirgen, zur Zeit des Karbons Spuren inten- siver Faltungen, die aber nichts Außergewöhnliches an sich haben. Diesarmorikanische Gebirge vergeht trotz nachfolgender Bewegungen, während vor- übergehend die permische Periode mächtiger Vul- kantätigkeit Laven und Tuffe entstehen läßt. Auch jene Feueressen ersterben und werden wie- der eingeebnet. Bis zum Beginn des Mesozoikums haben hiernach die Alpen keinen wesentlichen eigenen Zug zu verzeichnen, denn dies ist allent- halben in Mitteleuropa der Gang der Ereignisse. Die Mecresbedeckung ist einfach der Ausdruck wenig tieferer Lage. Aber darin deutet sich nun eben die Senkungstendenz der Geosynklinale doch schon an. N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 349 Zwischen dem indo-afrikanischen Festlandsblock im Süden und einem europäischen Rest des Kar- bonlandes im Norden hat sich die ThctysRinne angelegt. In ihr erwacht jetzt die stärkere Leben- digkeit gegenüber den Randzonen. Eine Zahl von längsgestreckten Becken und nur z. T. unter- meerischen Rücken sind als letzte Unebenheilen Wechselwirkungen steigern einander die Kräfte ins Ungeheure. Das Oligozän sieht den Höhe- punkt des Paroxysmus. Der Riesenbruch des Rheintalgrabens in der bisher nur ganz leicht auf- gewölbten südwestlichen Juratafel ist die Antwort auf die Überspannung. IMächtige Schuttmassen häufen sich als oberoligozäne Nagelfluh (vgl. Rigi) Abb. 6, Embryonales Stadium^des Zusammenschubs, rekonstruiert (nach Staub 1917). 13 13 7 Abb. 7. Profil der Alpen in der insubrischen Dislokationsphase, nach E. Argand (aus Heim, Geologie der Schweiz, Bd. II, i). 1 autochthone Massive. • 6 Dent Blanche-Decke. 2 u. 3 untere penninische 7 helvetische Decken. Deckenmassive. 8 Klippendecken. 4 St. Bernhards- Decke. 9 Molasseland. 5 Mte. Rosa-Decke. 10 Keltenjura. 11 autochthones Seen- gebirge. 12 Diuaridenzone. 13 Lage der ostalpinen Decken. des karbonisch angelegten Untergrunds übrig ge- blieben. Nur erst in einzeln aufleuchtenden, zeit- lich weit getrennten Absätzen erblicken wir eine Steigerung dieses Reliefs statt weiterer Aus- löschung: Langsam scheinen die Schwellen zu kriechen, über die nördlich vorgelagerten Tiefen hin- wegzustreben. Liegende Falten strecken ihre Stirnen dem Norden zu. Langgestreckte Archi- pelgirlanden tauchen auf Das Bild der süd- lichen ins Meer hinaustretenden Anden mit seinem Gewirr von Inseln und Wasserstraßen, dem engen Beieinander flachen und tiefen Gewässers und allen dadurch gegebenen Abwandlungen der Lebensbedingungen mag hier zuweilen erreicht sein. Im südlichsten Teile setzt zuerst ein schnelleres Tempo ein. Um die Wende von Mesozoikum und Neozoikum sehen wir im afrikanischen Kon- tinent gesteigerte Aufwölbungen, Erhebungen, Zer- reißungen, z. T. von vulkanischen Eruptionen be- gleitet. Zugleich werden die höheren ostalpinen Deckmassen angelegt, deren Wurzeln das südliche Epikontinentalgebiet liefert. Das ganze „ostalpine", d. h. dinarische Land kommt über Penninikum zu liegen. Natürlich bleibt der übrige nördlichere Komplex auch jetzt und jetzt erst recht nicht unberührt. Schneller und schneller wird das Tempo. In vor den Deckenstirnen, wo sie am höchsten auf- ragen. Letzte Stöße pressen sie auf die eigenen Zerfallsprodukte in Überschiebungen hinauf. Im Untermiozän ist der Gigantenbau im großen voll- endet, Ossa auf Pelion getürmt in einem Maße, das alle dichterische Phantasie weit hinter sich läßt. Jetzt aber senkt sich das Rückland im Süden, die flachliegenden Wurzeln der Deckmassen er- halten eine Steilstellung, ja sie quellen „rückwärts" über, werden eingeknickt. Das Mittelmiozän (helvetische Stufe) ist eine Zeit des Eintauchens, das sich ja bis auf den Rücken des Albkörpers hinauf bemerkbar macht. Die obere Meeres- molasse greift randlich über die untere (mittel- oligozäne) hinaus, welch letztere in Gestalt der Glarner Fischschiefer noch alle Merkmale der Ge- birgsmetamorphose durch Streckung, die wesent- lichen Eigenschaften eines Phyllits anzunehmen gezwungen war. Jetzt stoßen im Süden auch die jüngsten Intrusivmassive von unten her in das wilde Faltengewirr hinein. Die pontische Übergangsstufe von Miozän zu Pliozän bedeutet mindestens für die Westalpen noch einmal ein Pressen und Drängen, ohne noch zu bedeutsamen Verschiebungen führen zu können. Nur ein Emportragen über den Meeresspiegel wird eingeleitet, das sich nach einer kurzen rückläufigen Bewegung der Piacenza-Stufe seit dem Mittel- 350 Naturwissenschattliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 pliozän (Asti-Stufe) fortsetzt, während die Erosion in riesenhafter Zerstörung dafür sorgt, daß auch die Berge nicht in den Himmel wachsen und eine klimatische Depression dem neuen Gebirge schließlich den Eismantel überwirft. Argand und Staub unterscheiden im ein- zelnen folgende Phasen der tektonischen Haupt- periode, wobei es sich zunächst wieder nicht um zeitlich schon endgültig fixierte, vorerst relative Altersfolgen handelt und Parallelisierungen auf größere Entfernungen hin entsprechend nur vor- läufigen Charakter tragen können: unsere Kenntnis vom Mechanismus d. Intrusionen I. Teil. Abh. k. k. geolog. Reichsanslalt 21. 1908 Hammer: Die Ortlergruppe u. der Ciavalatsch-Kamm Jahrb. k. k. geolog. Reichsans'alt. 1909 E. Sueß: D. Antlitz der Erde. Bd. III, 2. Teil. Wien Leipzig. ,, Wilckens; Über d. Existenz einer höheren Über Schiebungsdecke in der sog. Sedimenthülle d Adula-Massivs. Zeitschr. deutsch, geol. Ges. ,, E. Haug; Les geosynclinaux de la chaine alpine pen danl les temps secondaires. C. R. Ac. Sc. ,, Uhlig: Der Deckenbau der Ostalpen. Mitt. geol. Ges Wien V. 1910 J. Kön igsbe rg e r: Geolog. Karte d. Aarmassivs, Er- laut. Freiburg i. B. P ' Insubrische Phase Miozän Früh- ) ob. < Mt. Rosa Phase mitll. 1 Dent Blanche-Phase Oligozän [ Mt. Blanc-Phase unt. Letzte Phasen der Oberkreide-Eozän Embryo-Tektonik Adriatiscbe Senkungsphase ') Spät-Penninische Phase (nebst helvetischer Phase) Unterostalpine Schlußphase) (Ein Wicklungsphase) Fiüh-Penninischc Phase Oberostalpine Hauptphase = Silvretta-Phase ICampo-Phase Languard-Phase Hauptphase 1 Bernina- ,, I Err- Ostalpine Vorphase Westalpen (Argand) Ostalpine Region (nicht Ostalpen !) ') Zeiten der Senkung zwischen den Hebungsphasen würden wohl geeigneter als Zwischenphasen bezeichnet. Problemstellungen für weitere intensive For- scherarbeit sind in diesen Entwürfen in reichstem Maße enthalten. In der Erkenntnis der Alpen - tektonik hat selbst eine neue Epoche begonnen. Fortsetzung des Verzeichnisses wichtiger Literatur zur Tektonik der Alpen (vgl. diese Zeitschr. 190S, S. 374—377). 1905 Lugeon-Argand: Sur les grandes nappes de recou- vrement de la zone du Piemont. C. R. Acad. Sc. (15. Mai.) „ P. Termier: Les Alpes entrc le Brenner et la Valtel- line. Bull. soc. geol. Fr. 1906 Termier: La Synthese geologique des Alpes. Lüttich. (S. 29.) ,, E. Argand: Sur la tectonique du massif de la dent Blanche. Compt. rend. Acad. sc. (26. Febr.). „ Schardt; Die modernen Anschauungen über den Bau und die Entstehung des Alpengebirgcs. Verh. Schweiz. Naturfursch. Ges. St. Gallen. „ Alb-Heim: Ein Profil am S.-Rand d. Alpen, d. Plio- zänfjord d. Breggia- Schlucht. Viertcljahrsschr. Na- turf. Ges. Zürich. ,, W. V. Seydlitz: Geolog. Untersuchungen im östlichen Rhätikon. Ber. naturf. Ges. Freiburg i. Br. XVI. 1907 Termier: Sur la necessitc d'une nouvelle Interpreta- tion de la tectonique des Alpes tranco-italiennes Bull. soc. geol. Fr. 4ser., VII, S. 174 — 1S9. „ Schmidt, Bu.\torf, Preiswerk: Führer z. d. geol. Exkurs. Schweizerbart-Stuttgart. 1908 C. Schmidt, II. Preiswerk: Erläut. z. geolog. Karte d. Simplongruppe. Francke-Bern. „ Salomon: D. Adaraellogruppe, ein alpines Zentral- massiv u. seine Bedeutung f. d; Gebirgsbildung u. 1910 Arn. Heim: Monogr. d. Churtirslen-Mattstockgruppe. Teil I (Atlas). Beitr. geol. Karte Schw. N. F. .\X. „ Oberholzer-Arn. Heim: Geologische Karte der Glarner .Mpen. Spezialkarte 50 (l : 50000). 1911 E. Argand: Les nappes de recouvremenl des Alpes Pennines et leur prolongements structuraux Mater. Carte geol. Suisse, Neue Folge 31. „ E. Argand: Comptes Geologiques dans les Aloes occidentalcs. Mater. Carte geol. N. F. 27, Spezial- karte 64. „ P. .\rbenz: Der Gebirgsbau der Zentralschweiz. Viertcl- jahrsschr. d. naturf. Ges. Zürich. „ M. Blumenthal; Tektonik der Ringel-Segnesgruppe. Diss. Zürich. Beitr. geol. K. Schw. N. F. Lief. 33. ,, Alb. Heim: Geolog. Karte der Schweiz I : 500000. II. Aufl. Schweiz, geol. Kommission. Francke- Bern. ,, W. Staub: Geolog. Beschreibung der Gebirge zwischen Schächental u. Maderanertal im Kanton Uri. Beitr. geol. K. d. Schw. N. F. 3z. 1911 Am pfer er- Hammer: Geolog. Querschnitt durch die Oslalpen v. .^llgäu bis zum Gardasee. Jahrb. k. k. geol. Reichsanstalt 61. „ Alb. Heim; Beob. aus d. Wurzelregion d. Glarner Fallen (helvet. Decken). „Beiträge" Lief. 31. 1912 M. Blumen thal: Der Calanda. Beitr. geol. Karte d. Schweiz. N. F. 32. ,, P. Arbenz: Der Gebirgsbau der Zentralschweiz. Verh. Schweiz. Naturforsch. Ges. 95. Jahresvers. Altdorf. II. S. 95 — 122. Sauerländer u. Co., .Aarau. ,, E. Arc'and: Phases de deformalion des grands plis couchcs de la zone pennique. Bull. soc. vand. (21 II). H. Mylius: Geolog. Forschungen an der Grenze zwi- schen Ost- und Westalpcn. München. „ W. Deecke; Die alpine Geosynklinale. Neu. Jahrb. f. Min. usw. Bd. 33, S. 831— S58. N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 351 E. Argand: Sur la segmentation tectonique des Alpes occidentales. Ebenda Bd. 48, S. 345 — 356. E. Argand; Encore sur les phases. . . Ebenda (6 III) u. 3 weitere Arbeilen. Ebenda. K o b e r : Untersuch, üb. d. Aufbau der Voralpen am Rande d. Wiener Beckens. Mitt. geol. Ges. Wien IV, S. 63—116. Cornelius: Üb. d. rhät. Decke im Oberengadin und d. südl. benachbarten Gegenden. Zentralbl. f. Min., Geol., Paläont. S. 632. Zyndel: Über d. Gebirgsbau Mittelbündens. Beitr. z. geol. Karte d. Schweiz. N. F. 41. Heritsch: D. Alter der Deckenschübe in den Ost- alpen. Sitz.-Ber. k. Akad. Wiss. Wien. Bd. CXXI, Abt. I. Paule ke: Führer z. geol. E.xkursionen in Graubünden. Geol. Rundschau. Termier-Boussac; Le massif cristallin ligure. Bull, soc. geol. Fr. 4 ser. tome XII, S. 272 — 311. P. Arbenz: Die Faltenbogen d. Zentral- u. Ustschweiz. Vierteljahrsschr. Naturf. Ges. Zürich, S. 15 — 34. Raßmuss: Kretaz. Gebirgsbildg. in den s. Alpen. Zeit- schrift deutsch, geol. Ges. Spitz-Dyrenfurth: Die Triaszone am Bernina -Paß (Piz Alv) u. im östl. Puschlav (Sassalbo). Verh. k. k. geol. Reichsanstalt, S. 403. Freudenberg: Der Trias- Gneis-Kontakt am Ostrande d. Adula-Massivs. Neues Jahrb. Min., Geolog., Pal., Beil.-Bd. 36. Krebs: Länderkunde der österr. Alpen. Stuttgart. C. Diener: Bau u. Bild der österr. Alpen. Wien. Alb. Heim: Ein Profil am Südrand der Alpen, d. Pliozän d. Breggia-Schlucht. Vierteljahrsschr. Naturf. Ges. Zürich. M. Lugeon: Les Hautes Alpes Calcaires entre la Li- zerne et Kander Mater, pour la Carte geol. Suisse. N. F. XXX. Niggli. Staub: Neue Beobachtungen aus d. Grenz- gebiet zw. Gotth.- u. Aar-Massiv. Beitr. geol. K. d. Schweiz. N. F. 45. Fr. Heritsch: Verzeichnis d. geol. Literatur d. österr. Alpen. Leoben. Haniel: Geol. Führer durch d. Allgäuer Alpeu südl. V. Oberstdorf (m. Karte). München, Piloty u. Loehle. Kober: Alpen u. Dinariden. Geol. Rundschau Bd. V, H. 3, S. 175 — 204. Kober: Die Bewegungsrichtune der al[)inen Decken- gebirge des Miltelmeers. Peterm. Mitt. S. 250. R. Staub: Zur Tektonik d. Bernina-Geb. Vierteljahrsschr. Naturf. Ges. Zürich. Lugeon: L'origine des Alpes Vaudoises. Echo des Alpes. Nr. 2. Ampferer: Über den Bau der westlichen Lechtaler Alpen. Jahrb. k. k. geol. Reichsanstalt Bd. 64, S. 307—326. Cornelius: Zur Kenntnis d. Wurzelregion im unteren Veltlin. Neues Jahrb. f. Min., Geol., Pal., Beil.- Bd. XL, S. 253—363, Taf. III— IV. Spitz-Dyrjenfurth: Monographie der Engadiner Dolo- miten zw. Schuls, Scaut u. d. Stilfserjoch. Beitr. z. geol. Karte d. Schw. N. F. 44. M. Lugeon: Sur quelques consequenses de la pre- sence de lames cristallines dans le soubasseraent de la Zone du Niesen. 19 15 M. Lugeon: La limite alpino-dinarique dans les envi- rons du massif de l'.^damello. C. r. Ac. sc. t. 160. ,, Fr. Heritsch: Die österreichischen und deutschen Alpen bis zur alpino-dinarischen Grenze (Ostalpen). Handbuch region. Geol. Bd. II, 5. Abt. A. 191b E. Argand: Sur l'arc des Alpes occidentales. Eclogae geol. helvet. Bd. .\IV. ,, Arn. Heim: Üb. Abwicklung u. Fazieszusammenbang in d. Decken d. nördl. Schweizeralpen. Viertel- jahrsschr. d. Naturf. Gesellsch. Zürich, Jahrg. 61, S. 474—487. „ Arn. Heim: Die Transgressionen der Trias u, d. Jura in d. nördl. Schweizeralpen. Ecl. geol. Helv. Bd. XIV. ,, R. Staub: Zur Tektonik d. südösll. Schweizeralpen. Beitr. z. geol. Karte d. Schweiz. N. F. 46. ,, R. Staub: Tekton. Studien im östl. Berninageb. Viertel- jahrsschr. Naturf. Gesellsch. Zürich, S. 324 — 404. ,, Mylius: Ein geol. Profil vom Säntis zu den Berga- masker Alpen. Neues Jahrb. f. Min., Geol., Pal., Beil.-Bd. 41. ,, Mylius: Über Analogieerscheinungen im Bau alpiner Gebirge, insbes. beim Wendelstein u. Wetterstein. Mitt. oberrh. geol. Ver. N. F. Bd. 6. ,, D. Trümpy: Geol. Untersuchungen im westl. Rhäti- kon. Beitr. geol. Karte d. Schweiz. N. F. 46. 1917 Arn. Heim: Monogr. d. Churfirsten-Mattstock-Gruppe IV (Tektonik). Beitr. z. geol. Karte d. Schweiz. N. F. 20. ,, R. Staub: Über Faziesverteilung u. Orogenese in den südöstl. Schweizer Alpen. Beitr. geol. Karte der Schweiz. N. F. 46. 1918 H. Preiswerk:' Geol. Beschreibung d. Leponlin. Alpen, Teil II. Beitr. geol. Karte d. Schweiz. Lief. 26. ,, E. Kayser: Lehrbuch der Geologie, Teil 1 (5. Aufl.), S. 890—897. ,, L. J. Krige: Petrograph. Untersuch, in Val Piora und Umgebung Elogae geol. helv. S. 519 — 654 m. geol. Karte u. Profilen. 1919 R. Staub: Über d. Längsprofil Graubündens. Heim- Festschr. S. 295 — 335. ,, P. Arbenz: Probleme der Sedimentation und ihre Be- ziehungen z. Gebirgsbildung in d. Alpen. Heim- Festschrift. Vierteljahrsschr. d. Naturf. Ges. Zürich, S. 246—275. ,, W. V. Seydlitz: Die Grenze zwischen Ost- und West- alpen. Jenaische Zeitschr. f. Naturw. Bd. 56 (N. F'. 47), S. 6— 12. ,, H. Stille: Alte und junge Saumtiefen. Nachrichten K. Ges. d. Wissensch. Göttingen, math.-phys. Kl. S. 1—36. ' ,, K.Hummel: Theoretisches zur Faziesverteilung in den Alpen. Zeitschr. deutsch, geol. Ges. Bd. 71, (Mon.- B.), S. 114 — 132. ,, Th. Arldt: Handbuch der Paläogeographie. Bd. II, Erster Teil (III. Paläorographie), S. 700. ,, .^ 1 b. Heim: Geologie der Schweiz Bd. II, Lief. I. (Dritter Hauptteil: Die Schweizeralpen.) Tauchnitz- Leipzig. [Einen wesentlichen Teil der Literatur machte mir Herr Prof. Dr. Niggli zugänglich, dem ich dafür wie für die An- regung, mich dem reizvollen Stoff wieder zuzuwenden, herz- lich Dank schulde.] [Nachdruck verboten.] Zur älteren Geschichte der Orchideen. Von Prof. Dr. Seb. Killermann, Regensburg. Meine Absicht geht nicht dahin, über die Ge- schichte der Einführung der Orchideen ') in unseren ') Vgl. L. Reinhardt, Kulturgeschichte der Nutzpflan- zen 2. Bd. (München 191 ij S. 494 ff. Gärten zu schreiben, sondern die ältesten Nach- richten und Kenntnisse über die einheimischen Arten vorzuführen, die meines Wissens noch nicht jj recht durchgearbeitet wurden. V. Hehn, De 352 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XEK. Nr. 22,23 Candolle und andere Werke lassen uns in dieser Frage im Stiche. Vor allem scheinen die Orchideen das Interesse der Chinesen erregt zu haben. In ihren uralten Liedern werden diese Pflanzen bereits besungen, so in einem von IVl e i S h e n g j 140 vor Chr.) stammenden Frühlingsgedicht:') Im warmen Frühlingssonnenschein Erblüh'n die Orchideen, Die, wenn der Winter bricht herein, Noch voll in Blüte stehen. Vom F"rühling bis zur Winterszeit, Alltäglich, jede Stunde Sprießt auch in mir mein altes Leid, Brennt meine Herzenswunde. In einem noch älteren Gedichte heißt es: Die Blüte der Angelica, an Ufern und im Tal- grund Las ich und wob aus Herbstes O rchi d e e n mir den Gürtel. Th. Loesener bemerkt in seiner kürzlich er- schienenen Arbeit über „die Pflanzenwelt des Kiautschou-Gebietes",''^) daß die Orchideen in Chinas Flora eine nicht unbedeutende Rolle spielen, kann aber für das genannte Gebiet nur 6 Arten anführen. Die auffälligsten und schönsten sind eine Habenaria und Cypripedium Art. Unsere gemeine Orchis- Gattung ist gar nicht vertreten. Außer den Chinesen interessierten sich die Griechen für diese Pflanzengruppe. Es war aber bei ihnen weniger ein idealer Beweggrund maß- gebend — ich glaube nicht, das jemals die Orchi- deen wegen ihrer Schönheit in der griechischen Literatur besungen worden sind — sondern der Gebrauch der Knollen als Nahrung und libidinöses Reizmittel. Der sog. Salep, der aus den ge- trockneten und zerriebenen Knollen bereitet wird, ist heute noch in Griechenland, wie in der Türkei und in Persien beliebt, besonders zum Frühstück. Nach den Beobachtungen von Murray'') ist der Salep, da er ein geringes Gewicht besitzt und leicht aufzubewahren ist, ein sehr brauchbares Nahrungsmittel auf Seereisen und längeren mili- tärischen Unternehmungen. Eine Unze pulveri- sierten Saleps und eine Unze Pleischgelee, auf- gelöst in vier Liter Wasser, genügen für einen Mann für 24 Stunden, und drei Pfund von jeder Substanz reichen für ihn auf ein ganzes Monat. Der Salep wird in verschiedener Art nutzbar ge- macht und sogar in Schokoladetafeln gebracht, um diese nahrhafter zu gestallen. Diosc orides *) (um 60 n. Chr.) behandelt ') Vgl. W. Grube, Geschichte der chinesischen Litera- tur (Leipzig 1902) S. 224 u. 177. -) Beihefte zum botan. Zentralbl., Bd. XXXVII, 2. Abt. (Dresden 1919) Heft i, S. 23 u. 105. '■') Bei M i g n e , Dictionnaire de botanique chreticnne (Paris 1860) Sp. 1030 — 1032. Vgl. ferner L e u n is- K r an k , -Synopsis 11. Bd. S. 758 u. f. ■*) Vgl. Well mann M., Ped. Diosc. de materia medica (Berolini 1907) II. Bd. S. 13(-) — 138; ferner die Pariser Aus- gabe von 1 S49 (.Vrn. Birkmann) mit lat. Übersetzung, S. iSs bis 18b. " im 3. Buche seines bekannten Werkes (§ 126 bis 128) vier Orchideen: Orchis i. oder cynosorchis, Orchis 2. oder serapias, dann Satyrium und Saty- rium erythronium. Die erste hat am Boden liegende, ziemlich schmale und glatte Blätter, einen unge- fähr spannlangen Schaft, purpurne Blüten und zwei längliche, olivenähnliche Knollen. Diese werden gegessen und sollen, der größere, wenn Männer sie essen, Knabengeburten, der kleinere, wenn die Frauen solche essen, das andere Ge- schlecht hervorrufen usw. Die Art wächst nach unserem Autor an felsigen und sandigen Orten. Die zweite Art hat porreähnliche, aber breitere und feistere Blätter, einen handlangen Stengel und vollpurpurne Blüten. Sie wird sehr viel ange- wendet, besonders für Geschwülste u. dgl. Sonst gilt das gleiche wie von voriger. Satyrium be- sitzt drei lilienähnliche und rote Blätter, daher auch Dreiblatt (trifolium) genannt; der Stengel ist vorderarmslang; die Blüten sind lilienartig und weiß; der Knollen ist apfelgroß, braun innen wie ein Ei und weiß, von süßem Geschmack; er wird mit Wein für libidinöse Zwecke verwendet, wie auch die nächste Art. Satyrium erythronium ist rot; die Rinde der Wurzel ist zart, fuchsrot, innen aber weiß und von süßem Geschmack. Die Pflanze wächst auf bergigen und sonnigen Stellen. Welche Orchideenarten damit gemeint sind, läßt sich aus der kurzen Beschreibung natürlich schwer herauslesen. Fr aas denkt vor allem an Orchis morio L., die in Griechenland an Vor- bergen, am Pindus auf Gebirgswiesen häufig vor- kommt; ihre Knollen werden samt denen von mascula, coriophora mit Vorliebe gesammelt, ge- trocknet und gemahlen, dann mit Wasser und Honig gekocht als Frühstück getrunken. Die zweite Orchis wäre nach Fr aas die Art undu- latifolia Bir. Das Satyrium will er auf Aceras anthropophora Br. beziehen, die auf höheren Ge- birge an schattigen Orten nicht selten sei. Die Pflanze S. erythronium wäre gar keine Orchidee, sondern P'ritiilaria pyrenaica. Weitere Orchideen seien lonchitis (Diosc. III 151, Pariser Ausg. 161) und agrostis oder gramen parnasaicum (ebenda IV 32). Was alte Abbildungen dieser Di ose u ri d es - Pflanzen betrifft, so kommt hier besonders der um 700 entstandene sog. Codex Neapolitanus ') in Betracht; in dem größeren Cod. Constantinopol. scheinen die betreffenden Blätter herausgeschnitten zu sein. Auch Codex Chigianus (in Rom) und Parisianus (Paris) bringen (schlechtere) Bilder. Im genannten Neapolitanus (fol. 133 und 134) sind vier Orchideen dargestellt. Die Figuren für satyrium und sat. erythronium sind ziemlich gleich : ein Stengel mit einzelnen grünen, fast gegen- ständigen Blättern, zwei eiförmigen Knollen, so- wie spornlosen, ophrysartigen Blüten; diese stehen vom Stengel weit ab und sind bei der ersteren ') Wien, ehem. Hof- und Staatsbibliothek. Suppl. graec 28. Der Kodex soll jetzt nach Italien verschleppt worden sein. N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 353 violett, bei der letzteren rosenrot gehalten. Ich denke an Ophrys atrata Lindl. (bei Reichenbach Nr. 100) oder aranifera und fuciflora (bei Schulze taf. 28 b) oder irgendeine südeuropäische Ophrys. Zwischen diesen beiden steht eine Orchidee (satirion heteron) mit gelben, scheinbar gespornten Blüten und zwei eiförmigen Knollen; es könnte hier Orchis provincialis Balb. gemeint sein (bei Schulze t. 15). Eine vierte Abbildung zu sara- pias (satirion) läßt sich wegen der lockergestellten, blaßroten gespornten Blüten, der sehr langen Blätter und eiförmigen Knollen vielleicht auf Orchis palustris Jacqu. beziehen. Die Bilder im römischen Dioscurides sieht O. Penzig') als Orchis und Ophrysarten an, das für lonchitis ebenfalls als eine Orchis. Im Neapolit. finden sich für letztere zwei Figuren : die gelbe Schwertlilie und eine zwiebelähnliche Pflanze mit blaugrauen Blumen und zwei Knollen, die wohl eine Orchidee sein dürfte. Die oben zuletzt ge- nannte agrostis wird nur im Pariser Kodex mit einem unkenntlichen Bilde bedacht ; E. Bonnet") will allerdings Orchis mascula oder papilionacea herausfinden. Nach einer Zusammenstellung von Leunis^) wären den Alten hauptsächlich sechs Arten be- kannt gewesen : Orchis morio und simia (orchis und orchis hetera Diosc), Aceras anthropomorplia (satyrion Diosc), Limodorum abortivum (orchis Theophr.), Serapias lingua (lonchitis Diosc.) und Epipactis grandiflora (gramen parnasaicum Diosc). Die beschriebenen Abbildungen geben für eine so weitgehende Unterscheidung der Alten in ihrer Kenntnis der Orchideen keinen Beleg. Albertus Magnus'') spricht im 6. Buche seiner Pflanzengeschichte an zwei Stellen von Orchideen (§ 454 und § 458 und 459). „Satiria", sagt er,'') ,,ist ein Kraut, das lanzettförmige, schwarzpunktierte Blätter hat; der Stiel erhebt sich darüber, ist schlank und trägt am oberen Ende eine hyazinthfarbige Blume, wobei viele Blüten miteinander vereinigt sind. Sie hat eine in zwei Knoten geteilte Wurzel, die ungefähr Kürbiskernen gleichen, nur kleiner sind. Die größere und vollere ist geschlechtlich sehr reizend, die andere bewirkt das Gegenteil, und darum heißt die Pflanze satiria". C. Jessen hält die Art, welche Albertus im Auge hat, für Orchis mascula L. Die Deutung scheint richtiger zu sein, als die Annahme von L. F u c h s und Dodonaeus ') Contribuzioni alla storia della botanica (Mediolani 1905) p. 246, 253—272. -) Janus VIII (Harlem 1903) fasc. 4 — 6. ') Synopsis der Pflanzenkunde 3. Aufl. II. Bd. S. 75S *) De Vegetabilibus libriVII. Edil. orit. von C. Jessen, Berolini 1867 S. 571 und 572 u. f. *) Satiria est herba, quae folia habet fere sicut lanceola, sed sunt guttata nigris guttis; et stipitem suum altius erigit, qui tarnen est gracilis ; et in ipso stipite prof'ert florem iacinc- tinum, occupantem superiorem partem stipitis eius , ita quod multi flores eius simul sunt. Radicem habet inferius divisam in duos nodulos, qui sunt grana Cucurbitae nisi quod sunt breviora. Et maior et plenior ex illis cxcilat multum venerem ; alter autem impedit eam ; et ideo eliam satiria vocatur (§ 454). (s. u.), die Piatanthera oder eine Orchis mit ge- teilten Knollen hinter dem Satyrion vermuteten. Dann behandelt Albertus (§ 458 und 459) den Testiculus vulpis und canis des Avicenna; er betrachtet sie als Abarten der Satiria, atif deren Beschreibung er hinweist. Es werden die ge- schlechtlichen Wirkungen des Genusses der Knollen nach Avicenna beschrieben und besonders be- tont, daß der größere die Erzeugung eines männ- lichen Fötus, der kleinere die eines weiblichen begünstige.^) Jessen denkt hier besonders an die Art Orchis militaris L. ; aber eine genauere Beschreibung fehlt, wie gesagt. In der sonstigen Literatur unseres Mittelalters scheinen die Orchideen zu fehlen; weder Konrad von Megenberg noch Fisch e r - B e n zo n in seiner altdeutschen Gartenflora tun ihrer Er- wähnung. Bei den ältesten Pflanzenvätern ist die Zahl der dargestellten Orchideen eine geringe. O. Brun- fels'-) (1530) z. B. bringt fol. 103 die Stendel- wurtz = Orchis militaris?; fol. 1O4 Knabenkraut (Satyrion mas) = Orchis mascula.?; Ragwurtz (Cynosorchis) = Orchis morio?; fol. 105 ohne Namen ^^ Ophrys aranifera; Satyrion odoriferum = Spiranthes autumnalis (sehr gut); und fol. 106 Satyrion femina = Gymnadenia spec. In dem Büchlein Herbarium imagines vivae ^) mit der Jahreszahl 1535 (ad calcem) erscheint bloß (Bl. 31) Satirion, Stendelkraut in einem schlechten, unbestimmbaren Holzschnitt. L. Fuchs ^) (1554) unterscheidet ungefähr II Orchideen in 5 Gattungen und gibt damit im ganzen die Grundlage zur jetzigen Einteilung: a) Knabenkräuter (Cap. 210): 1. Breyt Kn. mennle t. 312 = Orchis militaris L.; 2. Schmal ,, „ 1.313= „ mascula L.? 3.Kn. weibledas. größer t. 314== ,, morio L.; 4. „ „ „ mittel t. 315^ „ ustulata L. ; 5. „ ,, ,, kleinere t. 3 16= „ morio L. b) Zweybiatt Cap. 214, t. 321 = Listera ovata R. Br. c) Ragwurtz Cap. 211: I. Ragwurtz mennle t. 317 ^Orchis morio L. R. weible t. 3 18 = Ophrys apifera Huds. d) Stendelwurtz Cap. 270 ; t. 405 = Piatanthera bifolia Rchb. e) Creutzblumen ^) Cap 271: 1. Cr. mennle t. 416 = Gymnadenia conopsea; 2. Cr. weible t 417= Orchis maculata L. Die Abbildungen (farbige Holzschnitte) sind ') Et si ante cuitum mas sumat majorem testem, id, quod concipitur ex coitu, fit frequentius masculus ; si autem femina sumat minorem et concipiat, quod conceptum est, fit magis femina. 2) Herbarium etc. Argentorati, apud Fr. Schottum 1530- ') Gedruckt in Frankfurt bei Chr. Egenolphus. Aus der Bibliothek von C. d e Flatt Nr. 959. Die Abbildungen sind zum größten Teil mit dem 1540 im gleichen Verlag erschienenen Kräuterbuch von Theod. Dorsten identisch. ') New Kreuterbuch usw, Basel, Isengrin 1543. '') Der Name kommt nach L. Fuchs davon her, weil diese Pflanzen gern in der sog. Kreuzwoche (d. i. um Christi Himmelfahrt) blühen. 354 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 geradezu herrlich, Knollen, Blätter und Blüten aufs genaueste gemalt und die Arten so leicht bestimmbar. Da Orchis morio nicht weniger als dreimal erscheint, schrumpft die Zahl der Arten auf 9 zusammen. Über den Standort und andere Verhältnisse der Pflanzen, die offenbar aus der Gegend um Tübingen stammen, erfahren wir nicht viel. Von der Orchisgruppe bemerkt L.Fuchs, daß sie gern ,,in sandigem grund auff bergen und in wisen" wächst, die Ragwurz „in starkem grund und in wisen", die Stendelwurz „auff den bergigen wisen und an orten, so an der sonnen gelegen sind", die „Creutzblumen endlich auff den graßechten bergen". Man kann daraus schließen, daß die zuletzt (t.417) besprochene und abgebildete Pflanze Orchis maculata L. (und nicht latifolia) ist. C. Gesner (1561) ') redet zum erstenmal vom Frauenschuh, den L. Fuchs noch nicht erwähnt, als von einer Gartenpflanze unter der Bezeichnung „Alismatis pulchra species", die Listera ovata L. heißt er „Alisma seu Damasonium bifolium". Dazu kamen bei ihm noch zwei neue: Herminium Monorchis R. Br. (als Satyrii species, Monorchin differin ? und die erste alpine Orchidee Nigritella nigra Rb. (als Satyrium basilicum alpinum). Matthiolus-) (1565) bildet (S. S/gf.) eine größere Anzahl von Orchideen ab; wir erkennen darunter besonders eine lockerblütige Orchis, vielleicht laxiflora Lmk. oder palustris Jacqu. (als Terticulus spec. II); dann Orchis mascula und militaris (als Test. spec. IV und V); Piatanthera bifolia und Serapias spec. (als Test. spec. III); ferner eine Gymnadenia und Nigritella (als Palma Christi ^) major und minor), beide mit handförmig geteilten Knollen. Zum Kapitel Ophris bringt er (S. 1225) das Bild von Listera ovata, die er nach den Blättern mit Veratrum album vergleicht. Bei dem belgischen Botaniker R. Dodonaeus*) (1569) finden wir auf II guten Holzschnitten 10 verschiedene Orchideen dargestellt; Orchis militaris (als Cynosorchis altera S. 210), „ mascula (als Testiculus Morionis mas S. 214), „ Morio L.(„ „ „ feminaS. 215), „ latifolia ( „ Satyrium basilicum alterumS.226), ,, maculata („ „ „ ,, S. 228); Himantoglossum hircinutn Spr. (als Tragorchis Testic. hircinus (S. 217); Piatanthera bifolia (als Orchis Serapias primus S. 219 und Pseudoorchis, bifolium S. 231); Ophris aranifera (als Orchis Serapias secundusS. 220), ,, muscifera( ,, „ „ tertius S. 222); Spiranthes autumnalis (als Orchis odoratus S. 224). ^) Vgl. K. Wein, Deutschlands Giirtenpflanzen um die Mitte des 16. Jahrh. Beih. z. bot. Cent.albl. Bd. XXXI (1913). Abt. II S. 483. ■^) Commentarii in 6 libros Dioscoridis. Fol. Venetiis Valgrisiana 1565. ') Der seltsame Name bezieht sich ursprünglich auf Ricinus communis. Vgl. Imtii. Low, Aramäische Pflanzennamen (Leipzig, Engolmann 1881I S. 29S ; auch L. Fuchs 1. c. Cap. 128; Wunder- oder Crcützbaum. In dem oben genannten Büchlein Herbarum imagines von 1635 taucht Senccio vulgaris unter dieser Bezeichnung auf. *) Florum etc. histuria. Altera Kditio. Antverpiae 1569. Als neue Art tritt uns hier besonders die Bocks-Riemenzunge entgegen, die Dodonaeus offenbar in Belgien selbst, wo sie heute noch nach A. Thielens') an einzelnen Stellen vor- kommt, gesehen hat. Bemerkenswert ist die Auf- fassung von Orchis mascula, die ihren Namen bis jetzt behalten, deren Gegenstück die Morio wäre, und dann die Aufstellung von zwei Ophrydeen. Dodonaeus faßt sie ausdrücklich als Verwandte und Insektenpflanzen auf: flos unius papilionem, alterius fucum, tertii muscam refert, wobei er bei der ersteren Piatanthera bifolia im Auge hat. Spiranthes, die schon Brunfels entdeckt hatte, wird als sehr duftend hingestellt und das schon hervorgehobene Himantoglossum- als Aphrodi- siacum gepriesen.-) Bei Listera ovata bezweifelt Dodonaeus die Zugehörigkeit zu den Orchideen, da sie keine Knollen habe. In einem späteren Werk unseres Autors (1583) ^) erscheinen als weitere Neuheiten : Ophrys apifera Huds. (Serapias secundus maior mit purpurnen Perigonblättern Fol. 238 Nr. 381) und Orchis incarnata L. (Satyrium Basilicum mas Fol. 24O Nr. 386), wie mir scheint. Diese letzte Art ist mehr aus dem Habitus (unteres Laubblatt kürzer als die übrigen und Blüten purpurn) zu erschließen; Standortsangaben fehlen. In diesem Werk finden sich noch drei Orchideen und zwar m. E. in ihren ersten Abbildungen: Frauenschuh (Cypripedilum Calceolus L.) als „Cal- ceolus Marianus" fol. 180 und 282 (zweimal), Epipactis latifolia All. als Helleborine f. 380 (Nr. 597) und Neottia Nidus(avis Rieh, als Neottia, avis nidus, „Vogelsnest" fol. 544 (Nr. 809). Vom Frauenschuh weiß unser Autor, daß er in den schweizer und oberösterreichischen Bergen wild vorkommt; die zweite Orchidee erscheint ihm germerähnlich; Neottia wird, wie leicht verständlich ist, mit anderen Schmarotzern (Fichtenspargel und Orobanche) zusammengeworfen. Lobelius*) 1576), ein anderer belgischer Pflanzenvater, beobachtete das schon von Gesner genannte Herminium Monorchis (Orchis minor Leodiensis) besonders auf den Hügeln bei Lüttich (collibus agri Leodiensis gaudet). Nach SprengeP) hätte er bereits Sturmia Loeselii entdeckt; doch kann ich in dem mir vorliegenden Werke des Lobelius diese Art nicht finden. C. Clusius") (1583) führt in seiner österreich- ungarischen Flora*) sieben Orchideenarten vor, ') Les Orchidces de la Belgique etc. (Gand 1875) S. 40,41. '') „Nostra aetas omnium Orchium bulbis, ad Venerem excilandam utitur ; et pharmacopaei compositionibus eo facien- tibus indifferenter quosvis udmiscent: praestantiores tarnen sunt Tragorchios bulbi. Assumendi autem non sunt ambo bulbi, sed durior, plenior, ac succi plushabens: flaccidior ac rugosior minus aut non idoneus est (S. 226). •') Stirpium historiae Pemptades sex sive libri XXX Fol. Antverpiae 1583. *) Nova Stirpium observationes (Antverpiae l576)pag.9obis. ^) Geschichte der Botanik i. Bd. S. 316. ") C. Clusii etc. Stirpium per Pannoniam. Austriam etc. observ. historia. .-antverpiae 1583. N. F. XEX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 355 davon zwei in Holzschnitten. Das Bild Orchis pannonica IV (S. 236) stellt wohl Orchis triden- tata Scop., das 2. Orchis VII (S. 240) Orchis sambucina L. vor. Von seiner Orchis pann. IV sagt er (S. 238), daß die Blüten klein, die Lippen derselben weißlich, purpurn getüpfelt und schwachriechendseien; gefunden wurde sie am Fuße des Berges Clesenfeld oberhalb Neu- burg (Neapolis) und sehr viel in kurzem Grase auf Berghängen oberhalb Radaun, Medeling, Baden und vielen anderen etwas trockenen Stellen bei Wien. Die zweite abgebildete Art hat nach Clusius (241) weißliche (exalbidus) stark nach Hollunder riechende Blüten und handförmig ge- teilte Knollen. Er fand die Pflanze im Leytener Tal unterhalb Manderstorf und in anderen Tälern Niederösterreichs, auch in der Nähe von Wien und zwar schon im April. Die übrigen Orchideen werden von Clusius bloß beschrieben und mit folgenden Namen belegt: I 1 Orchis latifolia maxima gefunden bei Greben zwischen der Drau und Save Mai 1579; 2 Orchis latifolia altera bei Manderstorf; II „ flore rubro elegantissimo bei Greben, wie bei Löwen in Belgien ; III „ obscure purpurea wohlriechend, findet sich bei Rab usw. IV „ galeapurpureaisttridentataScop.(s.ob.) V „ colore vario, purpurn, weiß, scheint O. morio L. zu sein; kommt nach dem Autor bei Wien und auch bei London auf den Wiesen allenthalben vor. Eine Form bei London hat purpurne stinkende Blüten; es scheint hier coriophora L. gemeint zu sein. VI Orchis pusilla pallida odorata = Herminium monorchis R. Bz. Die Pflanze besitzt kleine grünliche nach Moschus duftende Blüten und nur einen erbsengroßen Knollen. Clusius fand sie im Juni auf dem Hügel nächst Klosterneuburg. VII Orchis serapias ist sambucina L. (s. ob.) Weiter spricht Clusius (S. 241) noch in einem eigenen Kapitel (XXVII) vom „Limodorum Austria- cum" ; die Pflanze wird nicht abgebildet, ist aber wohl, da der ganze Stengel als sattpurpurn oder violett bezeichnet wird, Epipactis abortiva Wettst. oder Limodorum abortivum Sw. Clusius be- obachtete sie nur einmal in den Bergen oberhalb Baden bei Wien. Endlich erscheint (S. 272) das Bild des schon bei Gesner erwähnten Frauenschuhs unter der Überschrift Pseudodamasonium. Die Pflanze wird ausführlich beschrieben unter der vulgären Be- zeichnung „Marienschuh", „unser frawen schuh". Als Fundorte werden genannt: Waldstellen bei Bruterstorf, Klosterneuburg, Entzerstorf und be- sonders Nemethwywar in Ungarn, dann auch viele Orte in Deutschland, wie Clusius von seinen Freunden hörte. Auch weiße und ganz purpurne Varietäten wurden bereits beobachtet, die letztere in den Bergen bei Innsbruck von M. Lobelius. Jo. Camerarius') fügt (S. in) zu den be- kannten zwei neue Arten : Orchis radice repente (t. 35)= Goodyera repens R. Br. und eine sehr wohlriechende alpine Form, wohl Gymnadenia nigra (Nigritella angustifoHa). Die Goodyera, die er sehr gut abbildet, fand er auf dem Moritzberg bei Hersbruck, zwei Meilen von der Stadt (Nürnberg?) an etwas feuchten Stellen."-') Camerarius pflanzte diese Art auch in seinen Garten, wo sie aber aus- bleichte und die Blätter ihre Feuchtigkeit verloren. Bevor wir über das 16. Jahrhundert hinaustreten, wäre noch auf Italien ein Blick zu werfen. Nach Saccardo^) werden auch dort die Orchideen erst um die Mitte dieses Jahrhunderts bekannt; sehr früh bei Cibo (1532) erscheint die auffallend schöne OphrysBertolonii und zwei Jahrzehnte später bei (M i c h i e 1 1553) der FVauenschuh (Cypripedilum Calceolus). Durante(i585) bringt Listera ovata (unter dem Namen Ophrys) und eine Orchisart zur Abbildung. In dem Härder sehen Herbar, das zwischen 1576 — 1594 angelegt wurde und sich jetzt in der Münchener Staatsbibliothek befindet, sind nach M. SchinnerP) folgende Orchideen als Exsik- katen vorhanden: Cephalanthera alba (Crantz) Sim. fol. 6i^, als Damasonium I ; „ rubra Rieh, fol 62^ Wunderblume ; Cypripedilum Calceolus L. fol. 6i\ als Damasonium not(h)um, Calceolus Mariae, Crepida Sacerdotis und Sackpfeift'; Epipactis atropurpurea Raf. fol. 62 und 62^^, als Damasonium IV und V; Orchis purpurea Huds. fol. 261"^, als Satyrion malus, masculus, Stendelwurtz; „ latifolia L. fol. 26 1^ als Sat. majoris femina; „ militaris L. fol. 262 als Satyrion alter; ain ander Stendelwurtz; „ ustulata L. fol. 263 als Satyrion Etiopicum ; das Rot- edel Stendelwürtzlie; „ morio L. fol. 263, als Floß (flos) sacerdotis, Pfaffe-blum ; coriophora L. fol. 264, als Auicula Multi- plex; Ophrys Arachnites Scop. fol. 262"^, Facies Leonis, Lewenangesicht ; Ophrys sphegodes Miller ? fol. 264^, Auicula simplex; Piatanthera bifolia (L.)Rb. fol. 262^, Cynosorchis: Weiß Stendelwurtz ; Gymnadenia conopsea R. Br. fol. 262 und 264^, Satyrion Basilicon, wohlriechend Stendelwurtz; und Palma Chri(cti); Herminium Monorchis L. fol. 263, als Satyrion mininum, weys edel Stendelwürtzlin; ') Hortus raedicus etc. Francofurti 1588. -) Mons est S. Mauritii dictus, via qua itur Hcrespruccum, duobus milliaribus ab urbe distans, in cuius humidioribus partibus plures huius plantae differentiae reperiuntur (p. lll). ') Cronologia della Flora Italiana (Padova 1909) S. 59. *] Ein neues deutsches Herbarium aus dem XVI. Jahr- hundert. Herichte der bayer. bot. Gesellschaft. Bd. XIII. (München 1912) S. 207 — 254. 356 Naturwissenschaft) iche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 22/23 Neottia Nidus avis L. fol. 264, als Palida mors, Todten blum. Das Herbar wurde in Überkingen bei Ulm, wo Hier. Härder (f 161 3) Schulmeister war, gefertigt; die Pflanzen dürften der Hauptsache nach aus der dortigen Gegend stammen. Wie obige Liste zeigt, sind die meisten (16) unserer gewöhnlichen Orchideen aufgelegt : nur die Sumpf- arten, Ophrys muscifera, die sonst häufige Listera ovata, Goodyera, Spiranthes, die mehr im Gebirge vorkommende Coralliorrhiza vermissen wir. Einige Pflanzen mögen im Laufe der vielen Jahrhunderte zugrunde gegangen sein, wie auch Schinnerl bemerkt, daß gerade die Orchideengruppe sich schlecht erhalten hat. Interessant ist, daß der P'rauenschuh als eine bekannte (notum) Orchidee hingestellt und die Spinnenorchis mit einem Löwengesicht verglichen wird. Das von Dr. Casp. Ratzenberger 1598 aufgelegte, jetzt in der Bibliothek zu Gotha be- findliche Herbar enthält nach G. Zahn') etwa ein dutzend Orchideen; Orchis mascula L. (Gr. Knaben Kr.), — militaris. L. (Bocks Hoedtlein, Veyll W., G. Rag W. Menle), Cephalanthera ensifolia Rieh. (Mildt Nießw.), — pallens Rieh. (Wildt breytbl. N.), Himantoglossum hircinum Spr. (Knaben Kr., Bockshandl., Veyll W.), Gymnadenia conopsea R. Br. (Rag. Weible, Bergk Knaben W., Kreutzblomen usw.), — odoratissima Rieh. (Waldt Hendtl.) Piatanthera bifoliaRchb. (P'uchs Hoedtlein), Spiranthes autumnalis Rieh. (Wohlriechent Knaben- wurtzell, Zahnw.), Listera ovata R. Br. (Zweiblatt), Neottia Nidus avis Rieh., Cypripedilum Calceolus (Unser lieben Frawen Schuch). Die Pflanzen kommen nicht aus Thüringen allein, sondern wur- den auf verschiedenen Reisen gesammelt oder rühren von Geschenken und Zusendungen her. Im Hortus Eystettensis (1613) sind die in Bayern und um Eichstätt selbst vorkommen- den Orchideen fast alle bereits abgebildet. Nach J. Schwertschlager") erscheinen daselbst 17 Arten in 9 Gattungen : Orchis bifolia L. (= Piatan- thera bifolia), coriophora L., fusca Jacq., incarnata L., latifolia L., maculata L., militaris L., ustulata L. ; Ophrys arachnites Rb. ; Nigritella angustifolia Rieh., Neottia nidusavis Rieh., Gymnadenia conopsea R. Br., Goodyera repens R. Br., Epipactis latifolia All., palustris Crtz., Cypripedilum Calceo- lus L., Coralliorrhiza innata R. Br. Die letzt genannte Art scheint hier zum ersten- mal als eigene Pflanze erkannt zu sein; sie wird als eine Zahn würz (Dentaria radice coralloide) aufgefaßt; Epipactis wird bereits mit diesem Namen und als Nieskraut eingeführt. Ausländische Orchideen sind in dem genannten Gartenwerke nicht zu finden, ebensowenig auch ') Das Herbar des Dr. ('. Katienberger (159S) in der Herzoglichen Bibliothek zu (iotha. Mitteilg. des Thüringi- schen botan. Vereins N. K. XVI Heft (Weimar 1901) S. 50 bis 121, bes. S. 106. ') Der botanische Garten der Fürstbischöfe von Kichstätt. Daselbst Lyzealprogramni 1S90. S. 45 und 108. in dem 1641 für gärtnerische Zwecke aufgelegten Florilegium.'j Suchen wir in der nichtbotanischen Literatur jener Zeit nach weiteren Zeugnissen hinsichtlich unserer Pflanzen, so wäre vor allem Shake- speare anzuführen. Nach H. S c h e 1 e n z '■) ver- bergen sich hinter den „long purples"- und „dead mens finger"-Pflanzen in Ophelias Kranz purpur- rote Orchideen mit ihren fingerförmigen Knollen. Sie werden wegen der erotischen Beziehungen nicht ausdrücklich genannt. Der bekannte Jesuit A t h. K i r c h e r =') (f 1680) schnitt bereits im 17. Jahrhundert die Frage an, woher die Orchideen, besonders Ophrydeen ihre seltsam phantastischen F"ormen hätten — eine Frage, die heute noch nicht befriedigend gelöst ist. Er glaubt allen Ernstes den Aussagen der Hirten, wonach die hauptsächlich auf Viehweiden erscheinenden Pflanzen aus dem „überflüssigen Samen" der Weidetiere, der sich mit der Erde vermische, entstanden seien ; daher auch wieder die Kraft, die Wollust zu erwecken, die in diesen Knollen zutage komme. Wein mann selbst, mit dem wir ins 18. Jahr- hundert treten, hält diese Ansicht Kirchers für nicht recht glaubhaft, wundert sich aber auch über die bei dieser Pflanzengruppe so merkwürdigen Blüten, die einem „Butter- Vogel, Affen, Eidechs, Papilion und Fliege" gleichen. Er weiß zum Schluß (S. 475) keine andere Erklärung als diese; Es sei hier eine Schwierigkeit, die nicht recht zu be- heben sei . . „das bekannte vocabulum ignorantiae, welches man so gern gebrauchet, nämlich lusus naturae, ist von solcher Art, daß man nicht eigent- lich weiß, was man davon sagen solle". .abgebildet sind bei Wein mann fast alle ein- heimischen Orchideen, auch die Cephalanthera- und Epipactis-Arten, diese letzteren unter dem Namen Helleborine mit Cypripedilum, Veratrum ver- einigt (Nr. 567 und 568). Von ausländischen Arten finde ich bei ihm nur eine von Tourne- fort aus Kreta mitgebrachte großblütige purpurne Ophrys (Nr. "jd"] Orchis cretica maxima). In der Kunst sind die Orchideen früher merk- würdigerweise sehr wenig für Blumenstücke ver- wendet worden ; hatte man eine geheime Scheu vor ihnen oder noch keinen Blick für ihre eigent- liche Schönheit ? Bei den holländischen Blumen- malern, die sich nicht genug tun können in der Darstellung von Tulpen, Hyazinthen und Rosen, fahnden wir vergebens nach Orchideen. Nur bei Hoefnagel'') (1592) und in dem sog. Gebet- ') Klorilegium renovatum et auctum. Prostat Krancofurti apud Matth. Merianum 164I Fol. '^) Pflanzensynibolik bei Shakespeare (Zeitschr, des V. f. Volkskunde in Berlin 19IÜ Heft 2 S. lyOf.) Hier auch ver- schiedene andere Quellenangaben. ') Nach Weinmann, l'hytanthoza-Iconographia Text- band Kegensburg 1737-1745 •■'"l- 409- ■*) An-hetypa Studiai|Ui- l'alris Georgii Uoefnagelii Jacobus F. etc. Francfurti ad Moenuni 1592 Kupferstiche: pars I 7. N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 357 buch Albrechts V. von Bayern ^) (München Staats- bibl. Cod. lat. Nr. 236 — 40) begegnen wir dem Frauenschuh, ferner einer Nigritella- und Gymna- denia-Art (?), die aufs feinste gemalt sind. Einer der wenigen Meister, der dann in späterer Zeit der Orchideenscliönheit seinen Pinsel weiht, ist C. W. Hamilton (um 1670 — 1754), tätig in Augsburg. Auf seinen Stilleben sehen wir zu unserer Freude prachtvolle Darstellungen von Ophrys muscifera (Darmstadt, Gemäldegalerie Nr. 455) und Ophrys aranifera (Aschaffenburg, Galerie Nr. 125). Die ersten ausländischen Orchideen, die in unsere Gärten gelangten, waren nach G r. Kraus '-') das nordamerikanische Cypripcdilum specta- ') Vgl. meine Arbeit: Die Miniaturen im Gebetbuche Albrechts V. usw. (Str.ißburg 191 1) Taf. XXIII u. XXVI A. "^) Die Geschichte der Bevölkerung der bot. Gärten. Der Bot. Garten der Univers. Halle 2. Heft (Leipzig, Engclmann 1894) S. 153. bile (Cornut 1635), dann die westindische Brassavola nodosa, die Vanilla und Calopogon pul- chellus. Am eifrigsten bemühte sich nach dem genannten Autor um diese herrlichen Blumen R o y e n , der Direktor des Leydener Gartens ( 1 640). Mit welchen Schwierigkeiten die Einführung dieser für unser Klima zu zarten Gebilde ist, ersehen wir z. B. aus dem Berichte der Prinzessin Therese von Bayern,') die in den brasilianischen Tropen gegen 100 Stück Orchideen sammeln ließ, von denen aber infolge des Transportes in der kalten Jahreszeit alle bis auf 10 Stück zugrunde gingen. Die Gewinnung mancher der feineren und selteneren Arten hat Menschenleben gefordert und über manche dieser zarten Blumen könnte eine blutige Tragödie geschrieben werden.') ') Meine Reise in den brasilianischen Tropen (Berlin 1897) S. 499 u. 500. '} ^g'- ''^ä weiteren Reinhardt 1. c. Einzelberichte. Vorgeschichte. Beziehungen der Natur- denkmalpflege zur Vorgeschichte und Volkskunde. Der Preußische Staat hat sich noch immer nicht dazu entschließen können, zum Schutz der vor- geschichtlichen sowohl wie der volkskundlichen Denkmäler eine ähnliche Organisation zu schaffen, wie sie die Naturdenkmäler in der staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege besitzen. Es ist um so erfreulicher, daß der amtliche Leiter der letzteren Stelle, H. Conwentz, sich eingehend für den Schutz der Denkmäler der beiden erst- genannten Gebiete interessiert und soweit irgend angängig, die ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Organisationen beiden Gebieten mit zugute kommen läßt. Wie die Naturdenkmalpflege nicht selten Gelegenheit hat, bei ihren Maßnahmen auch Denkmäler von vorgeschichtlicher bzw. volkskund- licher Bedeutung unter ihre Obhut zu nehmen, wie umgekehrt der Schutz solcher Gegenstände des öfteren die Erhaltung von Denkmälern der Natur in sich schließt, darüber hat Conwentz selber im Juni 1919 der Berliner anthropologischen Gesellschaft ausführlich berichtet (vgl. jetzt Zeit- schrift für Ethnologie 51, 1919. S. 31 — 60). Da seine Ausführungen das Interesse der weitesten Kreise verdienen , geben wir im folgenden aus ihnen einen Auszug. Die Naturschutzgebiete Deutschlands, wie der Lüneburger Naturschutzpark bei Wilsede, das Plagefenn und der Plagesee, der Federsee, die Garchinger Heide im Bezirk Freising und das kleine pfälzische Schutzgebiet von Dannstedt bei Ludwigshafen, schließen in ihre Gebiete auch prähistorische F'undstellen ein, die dadurch gleich- falls wie die Naturdenkmäler vor Zerstörung und Vernichtung geschützt sind. Hier treffen also die Naturdenkmäler mit den vorgeschichtlichen Denk- mälern often zusammen. Der gleichen Erscheinung begegnen wir auch des öfteren bei den Burg- w allen, die überdies auch noch vielfach von landschaftlicher Bedeutung sind. So befindet sich z. B. bei Wensöwen, Kr. Oletzko, ein alter Eiben- bestand an und auf einem alten Burgwall; da die Eiben hier sehr selten sind, wurde zur Erhaltung des Bestandes das ganze Terrain vom Kreise Oletzko angekauft und dadurch wurde auch der Burgwall geschützt. Die gleichen Verhältnisse finden wir auch bei den Höhlen wieder. Die Kakus- oder Kartsteinhöhle bei Eiserfey in der Eifel, die in Gefahr stand, von dem Besitzer durch Anlage eines Steinbruches vernichtet zu werden, und deshalb von dem Kreise Schieiden aufgekauft wurde, ist nicht nur ein bemerkenswertes Natur- denkmal, sondern hat auch als vorgeschichtliche Fundstätte eine hervorragende Bedeutung. Naturwissenschaft und Vorgeschichtsforschung reichen sich ferner über den megalithischen Gräbern und anderen Steindenkmälern, die in grauer Vorzeit errichtet worden sind , die Hand. Viele von diesen Denkmälern hat man im Laufe der Zeit in Ausnützung des wertvollen Steinmaterials zertrümmert; aber eine Anzahl ist, namentlich in Schleswig-Holstein und Hannover, von Gemeinde, Provinz oder Staat geschützt wor- den. Andere harren noch der schützenden Hand, die sie für alle Zukunft vor der Zerstörung be- wahren soll, wenn auch manche wegen ihrer Lage und sonstiger günstiger Verhältnisse zunächst nicht gefährdet erscheinen. Als Ganzes sind sie Denkmäler der Vorgeschichte, ihre Bestandteile aber stellen als Zeugen der Eiszeit auch Natur- denkmäler dar. Dazu kommt ihr Wert als wir- kungsvolle Teile des Landschaftsbildes, die das Gemüt des Beschauers mit Staunen und Ehrfurcht 358 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 erfüllen. Werden sie auf breiterer Fläche geschützt, ~, so kann damit zugleich ein Stück des Bodens mit|jj seiner ursprünglichen Vegetation erhalten bleiben. •]'■ Der Schutz einzelner im Gelände liegender'^! Findlinge, die aus der großen Menge der i)| einstmals über die norddeutsche Tiefebene ver- 'j streut gewesenen erratischen Blöcke übrig geblie- j ben sind, sollte nicht nur dem Naturforscher, son- ' dern auch dem Prähistoriker und Volkskundler ' am Herzen liegen. Einige dieser Steine haben als Deckplatten für Gräber gedient, und zahllos sind die Sagen, die sich an die Steine knüpfen und teilweise bis in die Heidenzeit zurückreichen. Selbst anstehende Felsen verdienen aus den- selben Gründen Schutz. So die Teufelsmauer bei Blankenburg a. H. , jenes abenteuerlich gestaltete Gebilde aus senonem Sandstein, die sich schroff aus der Ebene erheben und geologisch wie land- schaftlich ein ausgezeichnetes Naturdenkmal sind, wie sie auch als Gegenstand der Volkssage beson- dere Beachtung verdienen ; dank des verständnis- vollen Vorgehens der Behörden sind sie jetzt für alle Zeiten geschützt. Als Denkmäler der Natur und der Vorzeit sind auch viele alte Bäume jahrhundertelang geschont worden. Aber leider haben sich auch bei den Bäumen die materiellen Interessen nur allzu häufig stärker erwiesen als alle Wertschätzung aus idealen Gründen, und mancher alte Recke der Baumwelt ist der Gewinnsucht zum Opfer gefallen. Gewisse Holzarten freilich, die wir ihres verminderten Vorkommens wegen auch als Natur- denkmäler anzusehen haben, werden nicht zum wenigsten durch das Volk selbst geschädigt oder in ihrem Bestände bedroht, indem ihr Laub zu festlichen Ausschmückungen, zum Kränzebinden und ähnlichen Zwecken massenhaft begehrt wird. Das betrifft hauptsächlich die Eibe (Taxus bac- cata), die Hülse oder Stechpalme (Hex aquifolium) und den Wacholder (Juniperus communis). Die Eibe ist schon in vorgeschichtlicher Zeit, wo sie noch häufig und weit verbreitet war, von besonderer Bedeutung gewesen. In den Museen zu Stockholm, Christiania und Kopenhagen prüfte Conwentz einmal alle vorhandenen Holzreste prähistorischer Fundstücke. Von im ganzen 61 prähistorischen Holzgeräten bestanden dabei 50 aus Eibenholz. Diese Gegenstände waren nicht etwa aus dem Süden importiert, sondern nach dem Urteil der nordischen Archäologen durchweg einheimischen Ursprungs; das ist besonders für Dänemark bemerkenswert, da dort diese Holzart heute nur noch an einer einzigen Stelle vorkommt. Auch in Deutschland erweisen sich viele vorge- schichtlichen Fundstücke als aus Eibenholz ge- fertigt; allgemeiner bekannt ist die große Bedeu- tung, die das Eibenholz zur Anfertigung von Bogen besaß. Heute ist die Eibe in Deutschland ein ganz seltener Baum. Darum werden sowohl Prähistoriker wie auch Volkskundler es stets dank- bar empfinden, wenn die Eibe, die in der Ver- gangenheit eine so große Rolle spielte, noch an einigen Stellen in urwüchsigem Zustand erhalten .wird. ) Die Hülse oder Stechpalme ist „eine der beliebtesten Volkspflanzen, so beliebt, daß ihre gänzliche Ausrottung befürchtet werden muß, wenn sie nicht allenthalben geschützt wird, so volkstümlich, daß sie schon aus diesem Grunde als Naturdenkmal anzusehen ist". Von Natur kommt die Hülse in Deutschland hauptsächlich im Westen vor; überall sind die Hülsenbestände jedoch arg eingeengt und immerwährend bedrängt, so daß von den Behörden wiederholt zur Scho- nung dieser botanisch wie volkskundlich gleich interessanten Holzart aufgefordert worden ist. Der Wacholder, der namentlich das Land- schaftsbild der Heide stark beeinflußt, der Ma- chandelbaum des Märchens, die Frau Krane wit oder Karwandel oder Kodich der Volkssprache, ist im Hannoverschen wie auch anderwärts stark bedroht und im Rückgange begriffen. Alle diese Holzarten, die sich der Naturdenk- malpflege erfreuen, nehmen abgesehen von ihrem ästhetischen Werte auch durch ihre Bedeutung im Volksleben das lebhafteste Interesse der volks- kundlichen Kreise in Anspruch. Die gleiche Teil- nahme dürfen wir auch wohl für den altberühmten Baumschmarotzer, die Mistel, voraussetzen, die in manchen Gegenden Deutschlands fast ausge- rottet ist. Auch die Linde, die ja mehr als irgendein anderer Baum durch Sage, Lied und Sitte mit unserem Volksleben verknüpft ist, ver- schwindet als urwüchsige, bestandbildende Holzart aus unseren Wäldern immer mehr und mehr. Sollte es da nicht vom Standpunkt der Volks- kunde wünschenswert erscheinen, daß die letzten Reste der Lindenhaine erhalten bleiben? Eine besondere Erwähnung verdienen von schätzens- werten Einzelbäumen noch die sog. Beute- kiefern, welche angesichts ihrer Größenverhält- nisse Naturdenkmäler sind , aber auch als letzte Zeugen einer alten und veralteten Form der Bienenwirtschaft volkskundliches Interesse bean- spruchen. Auch manche krautartigen Pflanzen bieten Beispiele von Naturdenkmälern, die zu- gleich als Denkmäler früherer Kulturperioden be- merkenswert sind. So z. B. die Wassernuß, deren Früchte uns bereits in den Pfahlbauten be- gegnen, die heute jedoch im Aussterben begriffen ist; botanisches und prähistorisches Interesse er- heischen hier gemeinsam, daß die Pflanze an den wenigen Stellen, wo sie noch in ursprünglichem Zustande vorkommt, als Naturdenkmal erhalten wird. Zu den Naturdenkmälern, die des Schutzes bedürfen, zählen ebenso auch einige Tierarten, die durch lebhafte Verfolgung oder natürliche Ein- wirkungen, besonders unier dem Einfluß der Bodenkultur, abgenommen haben und ohne F"ür- sorge der gänzlichen Vernichtung entgegengehen würden. Hierunter finden sich auch einzelne, die geeignet sind, vor- und frühgeschichtliche bzw. N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 359 volkskundliche Erinnerungen zu wecken. So z. B. der Biber, der heute in Deutschland nur in einem kleinen Gebiet an der Elbe vorkommt, früher aber häufig und weitverbreitet gewesen ist, wie die fossilen und vorgeschichtlichen Funde wie auch die zahlreichen Orts-, Flur- und Gewäs- sernamen, die von ihm hergenommen sind, be- zeugen. Wie schon früher der Ur oder Auer- ochs, ist auch der Wisent längst aus Deutsch- land verschwunden. In der Altsteinzeit waren beide Hauptjagdtiere; im Nibelungenlied werden sie zusammen mit dem heute nur noch in Ost- preußen vorkommenden Elch und dem rätsel- haften „Scheich" als Beutetiere Siegfrieds genannt. Auch der Bär, mit dessen Reißzähnen sich der IVIensch der Vorzeit schmückte und der die Phantasie des Volkes so sehr beschäftigt hat, ist aus Deutsch- land gewichen. Von Vogelarten, deren Bestand gefährdet ist, kommt hier im Frage der Rabe, der Vogel Odins, und der Uhu, dessen Ruf im nächtlichen Wald zur Entstehung der Sage vom wilden Jäger beigetragen hat. Beide gehören heute in Deutschland zu den größten Seltenheiten und werden amtlich geschont. Einer stärkeren Gefährdung ist jetzt auch der Hausstorch, unser PVeund Adebar, ausgesetzt. In manchen Gegenden, wo er früher häufig war, ist er ver- mindert oder gar nicht mehr vorhanden ; er ist eine so markante, echt deutsche und vom Bilde der deutschen Ebene und des deutschen Bauernhauses untrennbare Erscheinung, daß es ein unersetz- licher Verlust wäre, wenn er aus dem deutschen Landschaftsbilde ganz verschwinden sollte. All diese Beispiele lassen Wechselbezie- hungen man nigfac her Art zwischen der Naturdenkmalpflege, der Vorgeschichte und der Volkskunde erkennen. Die große Mannigfaltigkeit dieser Beziehungen legt dabei wohl den Gedanken nahe, daß auch im Bereich der Verwaltung und Gesetzgebung auf diesen drei Gebieten ein einheitliches Zusammengehen und ein verständiges Hand-in-Hand-arbeiten an- gebracht wäre. In diesem Sinne macht C o n - wentz eine Reihe von wertvollen Vorschlägen, die die Beachtung der in Frage kommenden In- stanzen verdienen. Nachdem endlich im Jahre 1914 die preußische Regierung ein Ausgrabungs- gesetz erlassen hat, das gleichmäßig den Inter- essen der Vorgeschichte und der Naturkunde zu- gute kommt, sollte sie auch nicht mehr länger den vorgeschichtlichen Denkmälern jene Schutz- organisation vorenthalten, deren sich die Natur- denkmäler nun bereits seit Jahren durch die staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege zu er- freuen haben. Das Bedürfnis dazu ist unabweis- bar. Es kann sich für die Regierung lediglich noch darum handeln, zwischen der Neuschaffung einer Stelle für vorgeschichtlichen und volkskund- lichen Denkmälerschutz neben der bereits be- stehenden Stelle für Naturdenkmalpflege oder der Erweiterung und Neuorganisation der letzteren Stelle für alle drei Gebiete zu wählen. Mögen die feinsinnigen und vielseitigen Anregungen des auch um die vorgeschichtliche Forschung hochver- dienten gegenwärtigen Leiters der staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege nicht ungehört ver- hallen! Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt. Spliß. In der Wiener Prähistorischen Zeit- schrift IV, 1917. S. 24 hatte Moritz Hörnes den Versuch unternommen, an Stelle des in der Alt- steinzeitforschung so viel gebrauchten Fachaus- druckes Retusche zwei Verdeutschungen, „Dengelung" und ,,Muschelung" einzuführen. Diese Verdeutschungsvorschläge waren keineswegs ledig- lich durch die Bestrebungen auf Ausmerzung der Fremdwörter veranlaßt. Auch innerhalb des Französischen sind gegen „retouche" und „retoucher" ernste Bedenken geltend gemacht. Eine ganze Reihe von französischen Gelehrten ist immer wieder in den Fehler verfallen, jede Hieb- spur an einem geschlagenen Steinwerkzeug als „retouche" zu bezeichnen. Daß dies geschieht, ist aber begreiflich. Denn wenn wir von feiner oder grober, von Flächen- oder Randretusche sprechen, liegt uns in der Regel die Frage ganz fern, ob es sich dabei um eine zweite Arbeitsstufe handelt oder nicht. Wir denken nur an die Art der Bearbeitung. Und Hörnes selbst wollte doch schon den Ausdruck „Retusche" wenigstens auch für solche Fälle gelten lassen, wo die erste halbfertige Form künstlich nicht hergestellt, sondern durch die Natur gegeben war. Aber wird es, nach- dem die Bearbeitung die alten natürlichen Flächen mehr oder weniger beseitigt hat, nicht vielfach ganz unmöglich sein, zu sagen, wo die Natur so vorgearbeitet hat und wo nicht? Und bezeichnet ,, retoucher" nicht „wieder berühren, zum zweitenmal in Arbeit nehmen" durch den Menschen? Und arbeitet dieser da, wo ihm die Natur nicht vorge- arbeitet hat, immer in zwei Arbeitsstufen ? Wurden nicht auch viele Sachen in einer ohne erkennbaren Absatz allmählich vom gröbsten bis zum feinsten fortschreitenden Arbeit sozusagen in einem Zuge hergestellt ? Es ist also wirklich am Platze, nach einem anderen Ausdruck Umschau zu halten, wenn wir von der Bearbeitung der Feuersteingeräte und der verschiedenen Arten ihrer Bearbeitung sprechen wollen. Die bisher vorgeschlagenen Ersatzworte befriedigen aber nicht. Für die Bezeichnung der Randretusche hatte man nach V i r c h o w s Vorgange das Wort „D e n g e 1 u n g" eingeführt. Mit Dengeln verbinden wir aber immer die feste Vorstellung des Hämmerns und Klopfens. Die Randretusche ist aber gar nicht durch Hämmern oder Klopfen zustande gekommen; also ist das Wort Dengelung zur Bezeichnung dieser Arbeit sehr ungeeignet. Für P'lächenretusche hatte Hörnes das Wort „Muschel ung" vor- geschlagen. Aber die für die „Muschelung" charakteristische muschelige Art des Bruches tritt 36o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 immer um so weniger in Erscheinung, je feiner die Arbeit ist. Am wenigsten tritt sie auf bei sauber gearbeiteten Feuersteinpfeilspitzen, bei denen alle größeren Unebenheiten der Oberfläche durch Abspalten zahlreicher kleinerer Schüppchen beseitigt sind. Am meisten dagegen bei grob- geformten Stücken, etwa für den Schliff vorbereiteten Flintäxten, gerade dort also, wo wir am wenigsten von Retusche zu sprechen gewöhnt waren. Auch geht es nicht gut an, Rand- und Flächenretusche durch ganz verschiedene Ausdrücke streng aus- einander zu halten, weil sich dünne parallele Abhebungen oft vom Rande aus weit über die Fläche eines Steingeräts hinziehen, das dadurch stellenweise das Aussehen eines geschälten Apfels annimmt. Einen neuen Verdeutschungsvorschlag bietet jetzt der hervorragende Germanist der Wiener Universität Rudolf Much in seinem Aufsatz ,, Spliß" in derselben Zeitschrift (VI, 1919. S. i — 5). Much bringt als Ersatz für retouche das Wort Spliß, für retoucher spleißen in Vorschlag. Für beide Worte spricht sehr vieles. Spliß und spleißen werden heute nicht mehr viel gebraucht, in manchen Gegenden sind sie vielleicht kaum noch bekannt; sie lassen sich also, mit neuem Inhalt erfüllt, für die Sprache wieder nutzbar machen. Als Splisse sind schon immer die ab- getrennten Späne, Splitter und Schüppchen be- zeichnet; aber auch die Abspaltung selbst und ihr Ergebnis am bearbeiteten Gegenstand können wir als Spliß oder Spleißung bezeichnen, dement- sprechend also von grobem und feinem, vom steilen und flachen Spliß, vom Schlag- und Druckspliß, vom Rand- und h'lächenspliß reden. Auch gegen eine Adjektivbildung wie grobsplissig, feinsplissig dürfte kein Einwand erhoben werden. Much wendet sich gleichzeitig auch noch gegen einen anderen Fachausdruck, gegen die Bezeichnung „geschlagene Steingeräte". Auch diese Bezeichnung wird sehr oft sinngemäß falsch verwendet, wenn man sich gar nicht im klaren darüber ist, ob die Steingeräte wirklich durch ein Schlag- und nicht vielmehr durch ein Druckverfahren hergestellt sind. Es fehlte da wirklich an einem bezeichnenden Worte. Wer sollte uns aber nun hindern, von „gesplissenen Stein- geräten" zu sprechen? Die ganze Periode, die wir ,,Zeit der geschlagenen Steingeräte" zu nennen gewöhnt sind, ist ja eigentlich eine „Periode der gesplissenen Steingeräte", in der zuerst Schlag- spliß alleinherrschend ist, dann zugleich mit feineren Formen Druckspliß sich einbürgert. Ob es überhaupt passend ist, von einer Zeit der geschlagenen oder, wie wir dafür sagen wollen, gesplissenen und einer Zeit der geschliffenen Stein- geräte zu sprechen, ist eine Frage für sich, die über den Gegenstand unserer Betrachtung hinaus- reicht. PIs sei nur nebenher bemerkt, daß durch das Schleifen die ältere Arbeitsweise nicht ver- drängt wird. Bei der dem Schliff vorausgehenden Vorarbeit ist sie noch immer in Übung, und ge- wisse Steinsachen, wie Messer, Sägen, Schaber, Bohrer, Dolche, Speer- und Pfeilspitzen sind be- kanntlich niemals geschliffen worden; ja bei einem Teil von ihnen und erst in der jüngeren Steinzeit zeigt sich die Kunst des Drucksplisses in ihrer höchsten Vollendung. Aber schließlich wird auch in der Bronzezeit noch Stein, in der Eisenzeit noch Bronze verwendet, die Benennung erfolgt eben nach dem Neuen und Kennzeichnenden. Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt. Geologie. Bei der Wichtigkeit, die die nutz- baren Bodenschätze der Balkanländer für die künftige wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands besitzen, sind Mitteilungen über diese Lagerstätten, wie sie W. Hammer in Beiträgen zur Geologie und Lagerstättenkunde der Merdita in Albanien gibt, von Interesse (Mitt. d. Wiener Geolog. Gesellsch. XI. Bd. S. 167 — 192, Wien 1919). Zusammen mit O. Ampferer unternahm der Verf. 191 7 eine eingehende Untersuchung der Schwefelkieslagerstätten in der Merdita, von denen zuerst Baron Nopcsa und später H. Vetters Kunde gebracht hatten. Diese Lagerstätten kommen in dem Gebirgsstocke der Munella, an ihren südlichen und westlichen Seitenkämmen, zutage und erstrecken sich, soweit ihre Verbreitung bis jetzt untersucht wurde, vom Tal des Fani- vogel im Süden bis zum Tal von Kodrakece im Norden. Die Merdita, nach Nopcsa eine der drei tektonisch und stratigraphisch charakterisierten Einheiten im nördlichen Albanien, ist ausgezeichnet durch die überwältigende Entfaltung der Eruptiva. Diese Eruptivmassen lassen sich deutlich in zwei Gruppen einteilen: einerseits Gabbro und Peridotit- serpentin und verwandte Tiefengesteine basischen Charakters, andererseits mächtige Folgen von Ergußgesteinen basischer (Diabase, Porphyrite) als auch saurer (Ouarzporphyre) Art. Dazu treten noch Ablagerungen tuffiger Natur. Über die Eruptivgesteine transgrediert unmittelbar die Kreide. A. Die Gabbro-Peridotitgruppe. Eine mächtige Peridotit-, bzw. Serpentin- und Gabbromasse von mindestens 40 — 50 km Längen- und 10 km Breitenausdehnung nimmt den ganzen westlichen Teil der Merdita ein. Eine zweite kleinere, vorwiegend aus Gabbro bestehende Masse tritt bei Orosi und südwestlich davon auf. Die Massive können in Verbindung mit der serbisch-bosnischen Serpentinzone gebracht werden. Die Serpentine und die damit ver- bundenen Eruptivgesteine werden in Albanien von Nopcsa für jurassisch erklärt. Ampferer und der Verf. konnten auf ihrer Reise keine ent- scheidenden Stellen für eine Altersbestimmung der dortigen Serpentine finden. B. Schichtreihe der Ergußgesteine. Vom Tal des Faiii maz bis zur Kreidekappe der Munella und von l^linisti bis Strungai am Ober- N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 361 lauf des kleinen Fani werden durchgehends die Ergußgesteine und deren Tuffe angetroffen. Der größere Teil derselben sind Diorite (.? Ref.) und feinkörnige bis dichte Porphyrite. Häufig be- gegnet man auch Quarzporphyren und Quarz- porphyriten. Neben diesen mehr sauren Gesteinen kommen Zonen dichter, dunkelgrüner Gesteine von diabasischem Habitus vor, bzw. Melaphyre, die sehr häufig Mandelsteintextur besitzen und mit tuffigen Bänken vergesellschaftet sind. Ver- schiedene Anzeigen sprechen dafür, daß die Schichtfolge durch Übereinanderschuppung parallel zu den Schichtbänken vervielfältigt ist. In bezug auf das Alter ist zu bemerken, daß die ganze große Schichtfolge der Ergußgesteine älter ist als die Kreide, in deren Transgressions- konglomeraten die erwähnten Gesteine als Ge- rolle vorkommen. C. Die Kreideformation. Infolge der hohen Schneedeckekoniiten an den Ablagerungen der Kreide nur wenig neue Beobachtungen gemacht werden. Die Auflagerung ist im allgemeinen eine vollkommen flache. Hingewiesen sei auf das Vorkommen von Kohle, auch aufgefundene Stücke von Bitumen entstammen wohl diesen Schichten. Die glänzend schwarze, muschlig brechende Kohle steht in der Gegend der Cafa Logut ober Musta an. Die Analyse ergab unter anderem 76,01 "'/f, Kohlenstoff, 1,70% verbrenn- lichen Schwefel und 3,40 "/j, Asche. Der Heizwert beträgt 7330 Kalorien. Wenn auch die Aus- dehnung des Vorkommens wahrscheinlich keine bedeutende ist, so kann -sie doch vermöge ihrer besonders guten Beschaffenheit für den örtlichen Bedarf im Falle einer Ausnützung der Erzlager von Nutzen werden. Die Erzlagerstätten. Hauptsächlich in der Zone der Melaphyre, aber auch in anderen Teilen der Ergußgesteine tritt Schwefelkies in größeren Mengen auf Er erfüllt das Gestein als Imprägnation oder durchsetzt es als Adern. Die Imprägnationen breiten sich in linsenförmigen Räumen parallel zur Schichtung aus und sind meist sehr feinkörnig. Die Linsen erreichen eine Ausdehnung im Streichen von i km, die Mächtigkeit kann bis zu 100 m betragen. Die Adern wechseln in ihrer Stärke von Millimeterdünne bis zu Dezimeterbreite. Sie folgen meist den Querklüften, daneben aber auch den Schichtfugen. Bei lebhafterer Durch- dringung entwickelt sich ein dichtes, allseitiges Netz von Adern, die umschlossenen Gesteinsstücke sind stark imprägniert. Eine scharfe Trennung zwischen Adern und Imprägnationen gibt es nicht, Übergänge leiten von den einen zu den anderen. Die Adern sind in der Regel ganz von Pyrit ein- genommen, nur selten erscheint etwas Quarz als Gangart. Treten freie Pyritkristalle auf, so geschieht dies in der, Form des Pyritoeders. Der Hauptaufschluß von C. Barit ergab einen Erz- gehalt von 24 "/o der gesamten Gesteinsmasse, der Seh we felgehalt des Pyrites von diesem Fundort beträgt 49 — 5i",o- Von Beimengungen anderer Metalle ist der Pyrit fast vollständig frei. Gold, Silber, Nickel fehlen gänzlich, Arsen ist in Spuren, Kupfer in zwei Fällen bis zu 1,04 "/q, sonst auch nur in Spuren vorhanden. Die außerordentliche Einförmigkeit und Reinheit ist also ein Kennzeichen der Schwefelkieslager in der Merdita, sie ähneln darin dem Schwefelkies- lager von Saint Bei in Frankreich. Ein eigent- licher „Eiserner Hut" hat sich nur in geringem Ausmaß gebildet. Die Erzvorkommen konnten nachgewiesen werden vom kleinen Fanifluß bis in das Tal von Kodra-Kece nordwestlich der Munella, einem Gebiet von rund 17 km Länge und 3 — 5 km Breite, innerhalb dessen sie durch eine erzarme Region zwischen Plaska und Musta in zwei Gruppen getrennt werden. Sie sind im wesent- lichen in einer Hasptzone angeordnet, doch kommen auch unter- und oberhalb derselben nicht unbedeutende Lager vor. Bezüglich der Entstehung der Lagerstätten spricht gegen eine syngenetische durch Ab- scheidung aus dem Magma einmal der Umstand, daß quer zur Schichtung Gänge auftreten, sodann der, daß sie nicht an eine Gesteinsart gebunden sind. Wir kennen Lager aus allen Eruptiv- gesteinen, die vorhin genannt worden und auch aus tuffogenen Schichten. Schließlich ist auch die Form der Lagerstätte nicht die einer mag- matischen Abscheidung oder eines Absatzes in Tuffen. Sie hat vielmehr das Aussehen von Kiesbreccien, wie sie ähnlich in den norwegischen Lagerstätten gefunden werden. Ein Durch- ' schneiden älterer Erzadern durch jüngere ist nicht zu beobachten. Das sowohl im einzelnen Vorkommen als auch in der Gesamtheit der Lagerstätten ganz gleichförmig entwickelte Ader- netz ist das Produkt einer einmaligen Durch- dringung. Diese und noch weitere, hier nicht angeführte Gründe, führen den Verf. zu dem Schluß, den Absatz der albanischen Kiese mehr als einen pneumatolytischen Vorgang aufzufassen, statt als Erstarrung aus einem sulfidischen Magma. Pneumatolytische Leitmineralien fehlen allerdings. Da in der transgredierenden Kreidebedeckung nirgends Spuren von Vererzung bisher gefunden wurden, kann man jedenfalls mit Nopcsa an- nehmen, daß die Erzablagerung vorkretazisches Alter besitzt. Außer den Pyritlagerstätten wurden noch solche von Eisen, Mangan und Kupfer beobachtet, die jedoch von ganz untergeordneter Bedeutung sind. F. H. Über die in Deutschland nachweisbaren Reste des unveränderten Bitburger Eisens berichtet R. Brauns im Centralbl. f. Min. usw. 1920, S. i — 9. Durch die Untersuchung des bei F"orsbach ge- fallenen Meteorsteins wurde der Verf. veranlaßt, 362 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 den Resten und der Beschaffenheit des unver- ändert gebUebenen Bitburger Eisens nachzuspüren, soweit solche in Deutschland nachzuweisen waren. Im Jahre 1802 war bei einem Wegebau an der Albacher Mühle bei Bitburg i. d. Eifel eine ge- waltige Eisenmasse zutage gekommen, deren Natur und Wert als Meteoreisen seinerzeit nicht erkannt wurde. Nachdem sie den Besitzer mehrmals ge- wechselt hatte, erstand sie der Besitzer des Plu- wiger Hammers bei Trier, der es einschmelzen ließ. Beim Schmieden der umgeschmolzenen Masse soll dieselbe jedoch wie Sand auseinander geflogen sein, darauf wurde das Ganze in den Kanal einer ehemaligen Schneidemühle vergraben und Stücke in Vertiefungen des Hofraumes des Hammers geworfen. Nur dem Umstände, daß einige wißbegierige Männer von dem unveränder- ten Eisen einige kleine Stücke abschlugen und aufbewahrten, ist es zu verdanken, daß nachträg- lich die wahre Natur des Eisens richtig erkannt werden konnte. Zu diesen gehörte der ameri- kanische Ingenieuroffizier Gib b s der das mit ge- nommene Stück in Amerika untersuchte und mit aller Bestimmtheit als Meteoreisen erkannte (1814), und der Appellationsgerichtsrat Seippel in Trier, dessen Stück später an Dr. Schmitz, Kreis- physikus in Hillesheim, kam, der noch ein weiteres Stück in seinen Besitz hatte. Von diesen ge- langte das ehemalig Seippelsche Stück an das Gymnasium zu Trier, das andere an die Univer- sitätssamtnlung Berlin. Ein kleines Stück von dem letztgenannten kam durch Tausch 1840 nach Wien. Das Stück in Trier, über das Part seh 1840 eine kurze Mitteilung veröffentlichte, ist zurzeit nicht mehr auffindbar. Ob das kostbare Stück- chen an einem Besucher einen Liebhaber ge- funden hat, mag dahingestellt bleiben, es ist zur- zeit als verloren zu buchen. Das Stück der Berliner Sammlung hat zuletzt Klein be- schrieben. Das Äußere des Stückes ist zackig- hackig und recht frisch. Silikate sind nur wenig wahrnehmbar. Die Größe der angeschliffenen Mäche ist 15 — 11 mm, das Gewicht des Stückes '0>3S g- Die Trias ist nach der Neuuntersuchung des Verf. vollständig und deutlich entwickelt, Schreibersit ist in einzelnen Körnchen, Eisensilikat nur wenig wahrnehmbar. Das von Berlin nach Wien gekommene Stück gleicht dem Berliner völlig. Das Bitburger Eisen der Tübinger Sammlung ist von dem Berliner recht verschieden. Von der Trias ist nur Balken- und Fülleisen vor- handen, die Balken sind höchstens halb so breit und sehr kurz, hellgrau, glänzend, das Fülleisen dunkelgrau, matt. Körniges Silikat, anscheinend Olivin, ist mehrfach vorhanden. Das Tübinger Stück ist dadurch besonders wertvoll, daß es zweifellos von dem Stück stammt, das Gibbs abgeschlagen hatte. Mit diesem Tübinger Stück ist nun ein zweites Stück der Wiener Sammlung völlig identisch, das von Brezina und Cohen abgebildet wird, und dessen Zugehörigkeit zum Bitburger Eisen von den beiden Autoren offen- gelassen wurde. Die gleiche Struktur mit dem Tübinger Stück, das zweifellos Bitburg entstammt, beseitigt nun auch für dieses Stück jeden Zweifel an der gleichen Herkunft. Somit ergibt sich, daß das Bitburger Eisen große Schwankungen in seinem inneren Bau aufweist. Gemeinsam aber haben sie den feinen oktaedrischen Bau und das nur spärliche Vorhandensein von Eisensilikaten. Es existiert nun noch ein weiteres Eisen in dem Städtischen Museum in Bremen, das bis- her ebenfalls zu Bitburg gerechnet wurde. Das jetzt 10,9 g wiegende Stück erwies sich bei der Untersuchung durch den Verf als ein körniges Eisen. Ätzlinien, die vielleicht als Neumann- sche Linien angesprochen werden könnten, sind äußerst fein und verschleiert. Schreibersit, viel- leicht auch Cohenit, tritt mehrfach auf. Olivin konnte nicht nachgewiesen werden. Bei der großen Verschiedenheit, die das Bitburger Eisen aufweist, ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß auch das Bremer Stück zu Bit- burg gehört. Eine weitere Bestätigung, die sich nur durch Prüfung der in Amerika befindlichen Stücke jenes Eisens erbringen ließe, wäre not- wendig. Die Frage, ob etwa eine Verwechslung und irrtümliche Bestimmung des zweifellos nicht umgeschmolzenen Bremer Stückes vorliegt, konnten die weiteren Nachforschungen des Verf. nicht endgültig entscheiden, jedenfalls wird man gut tun, das Bremer Eisen so lange nicht als zu Bit- burg gehörend anzuführen, bis nicht ein sicherer Nachweis dafür erbracht ist. Somit sind in Deutschland nur zwei Stücke des unveränderten Bitburger Eisens, „der größten europäischen Eisenmasse meteorischen Ursprungs", nachweisbar, das 10,35 g schweren Stück der Berliner und das 2,5 g schwere Stück der Tübinger Sammlung, beide in ihrer Beschaffen- heit sehr bemerkenswert verschieden. F. H. Anthropologie. Mit 1 Abbildung. Im „Ameri- can Journal of Genetics" (Bd. 10, Heft 9) geben D. Fairschild, C H. Danforth, H. H. Wil- der und F. A. Woods die hauptsächlichen Er- gebnisse einer Erhebung über Zwillinge wieder, die einige hundert Personen umfaßte. Der Grad der Ähnlichkeit der Zwillinge ist sehr verschieden. Besonders beachtenswert sind aber jene Fälle, in welchen nahezu vollständige Übereinstimmung von Zwillingspaaren in körperlicher und geistiger Hin- sicht besteht (vgl. die Abb.). Es handelt sich dabei wahrscheinlich um sog. „identische Zwillinge", die aus einem und demselben befruchteten Ei hervorgingen, während andere Zwillinge von ver- schiedenen ungefähr gleichzeitig befruchteten Eiern stammen. W i e die Teilung eines befruchteten Eies vor sich geht und die Entstehung zweier Embryonen aus demselben ermöglicht, ist noch nicht aufgeklärt. Die vorliegenden Ergebnisse aber beweisen deutlich, daß bei den identischen N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 363 Zwillingen die Entstehung aus derselben Erb- masse eine weit größere Rolle im Leben spielt als die Einwirkung verschieden gearteter Umwelt- einflüsse, welche weder die körperliche Erschei- nung noch die geistige Beschaffenheit der identi- schen Zwillingspaare wesentlich zu verändern im- stande sind. In der Regel aber trennen sich solche nicht gern voneinander, sie sind sich weit anhänglicher als sonstige Geschwister. Hervor- zuheben ist, daß bei manchen Zwillingspaaren gleichgerichtete Schwankungen des Körperge- wichts vorkommen, ebenso gleiche Neigung zu Krankheiten. In einem Fall wurde angegeben, daß Zwillingsschwestern häufig gleichzeitig von derselben Person dasselbe träumen, auch wenn sie sich an verschiedenen Orten aufhalten. An- scheinend ziemlich oft kommt es vor, daß sich identische Zwillinge in Gedanken miteinander be- fassen und sich zu gleicher Zeit Briefe schreiben. Im aligemeinen ist bei allen Zwillingen der Grad der Ähnlichkeit der verschiedenen körper- lichen und geistigen Merkmale ungefähr derselbe. Im Fall biovularer Zwillinge entspricht die beider- seitige Ähnlichkeit im Durchschnitt der Ähnlich- keit anderer Geschwister. Bei den einzelnen Paaren bestehen wegen der vielfachen Kombina- tionsmöglichkeiten der elterlichen Anlagen sehr große Abweichungen des Ähnlichkeitsgrades. Danforth berechnet, daß bei der gegenwärtigen Volkszahl und Geburtenhäufigkeit in den Ver- einigten Staaten vielleicht einmal alle acht Jahre biovulare Zwillinge aus gleichzusammengesetztem Keimplasma entstehen könnten. Die Ähnlichkeit biovularer Zwillinge fällt wegen der Gleich- allrigkeit mehr auf als die Ähnlichkeit sonsti- ger Geschwister. Größere Ähnlichkeit besteht nur scheinbar. Wenn zwei einander sehr ähnliche Kinder in mehrjährigem Abstand ge- boren werden, wird ihre Ähnlichkeit nur allzu- leicht nicht richtig eingeschätzt, weil sie nicht in gleichem Alter verglichen werden können, und es ist doch zweifellos, daß mit dem Alter starke Veränderungen in körperlicher wie geistiger Be- ziehung stattfinden können. Warum aber sind sich Zwillinge, die aus dem gleichen befruchteten Ei stammen, nicht völlig gleich? Die Erklärung hierfür gibt ein Hin- weis auf die wohlbekannte Ungleichmäßigkeit der beiden Körperhälften aller Menschen. In Amerika wurden photographische Aufnahmen bekannter Persönlichkeiten in der Weise reproduziert, daß einmal zwei rechte, dann wieder zwei linke Ge- sichtshälften zusammenkamen, und das Ergebnis war derart, daß zwischen beiden Bildern kaum so viel Ähnlichkeit bestand, wie gewöhnlich zwischen identischen Zwillingen. Wir kennen nicht die Ursachen der Asymmetrie der beiden Körperhälften, aber es ist doch anzunehmen, daß dieselben ebenso wirksam sein müssen, wenn in- folge Spaltung des befruchteten Eies zwei Per- sonen daraus entstehen. Allem Anschein nach ist bei eineiigen Zwillingen die Asymmetrie der beiden Körperhälften im Durchschnitt geringer als bei anderen Menschen. Bemerkenswert ist die weitgehende Übereinstimmung des Hautlinien- systems der Innenflächen der Hände und der Fußsohlen bei identischen Zwillingen, wie man sie sonst bei Geschwistern niemals antrifft. Sie ist einer der sichersten Beweise der Entstehung aus demselben Keimplasma. Die Figuren, welche die Hautlinien bilden, sind bei identischen Zwillingsgeschwistern in der Regel gleich, un- gleich aber ist di_e Zahl der daran beteilig- ten Linien. Überdies war zu beobachten, daß die Figuren an der rechten und linken Hand wie auch am rechten und linken Fuß bei diesen Zwillingen mehr als sonst sich gleichen, so daß alle vier in Betracht kommenden Hände oder Füße im Grunde dasselbe Bild zeigen. H. Fehlinger. Zoologie. Die Stechmücken (Culicidae) durch- laufen bekanntlich eine Metamorphose, indem ihre Larve und Puppe im Wasser lebt , obschon sie wie das fertige Tier, die Imago, durch Tracheen atmen. Eine Art, die Pleberschnake Anopheles maculipennis, beherbergt den Erreger des Wechsel- fiebers, Hämamöba malariae, ein Sporozoen, wel- ches sich an der äußeren Darmwand encystiert und durch Sporogonie eine große Zahl (bis 10 000) Keime erzeugt; diese wandern in die Speichel- drüsen der Schnake um bei einem neuen Stich in das Blut des Gestochenen verimpft zu werden. Die Kontinuität des Malariafiebers wird also da- 364 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 durch bedingt, daß sein Erreger in einer Ano- phelesmücke überwintert. Unter diesem Gesichtspunkte hat eine Prüfung der Frage, in welchem Stadium die Überwinterung der Stechmücken geschieht, besonderes Interesse. Nach Fritz Eckstein (Biolog. Centralbl. Nr. 12, 1918) gehen die IVIännchen der meisten Arten im Herbst zugrunde; die Puppen dagegen schlüpfen in den letzten Herbsttagen aus, Eier, Larven und Weibchen vermögen zu überwintern. In welchem Zustande die Überwinterung stattfindet, darin be- stehen jedoch bei den einzelnen Arten Verschieden- heiten; eine jede Schnake scheint im allgemeinen nur in einer für sie charakteristischen Entwicklungs- form den Winter zu überdauern. Nach Schnei- der überwintern als Imagines: Anopheles maculi- pennis, Culiseta annulata , Culex pipiens und Culex territans; bei Culicada vexans nimmt er die Überwinterung im Imaginalzustand für wahr- scheinlich an. Als Larven überwintern A. bifur- catus und nigripes, als Eier Aedes cinereus, Culi- cada cantans, morsitans und nemorosa; für Culi- cada annulipes, lateralis, ornata und stictica finden sich keine bestimmte Angaben. Als Imago über- wintern Culex pipiens und Culiseta annulata, A. maculipennis, bifurcatus und nigripes, sowie Culi- cada vexans. Larvenüberwinterung wird für Culi- cada nemorosa und A. bifurcatus angegeben. In der Umgebung von Straßburg wurde gelegent- lich Untersuchungen zur Bekämpfung der Stech- mückenplage folgendes festgestellt: Anoplieles maculipennis Meig. über- wintert nur als Imago, und zwar nur Weibchen; vereinzelte , Mitte November gefundene Larven gingen im Aquarium im ungeheizten Zimmer während des Winters zugrunde. Das überwinternde Weibchen findet man nur an ganz trockenen zug- freien Örtlichkeiten. Bei Straßburg ist es sehr häufig, da gegen große Kälte sehr resistent, in Kellern, Schuppen, Festungswerken, oft sogar in den Nischen und Mauerwinkeln neben Toren. Das Licht dagegen scheint keine ausschlaggebende Rolle zu spielen; das Tier findet sich an hellen wie an dunklen Stellen gleich häufig. Schon im Februar stechen die Weibchen nach einem Aufent- halt von wenigen Stunden im warmen Zimmer. Im Preien suchen sie mit Vorliebe nach der Überwinterung Ställe auf, um sich vor der Ei- ablage mit Blut zu füllen. A. bifurcatus L. überwintert ausnahmslos als Larve, die auf dem Grunde von Wasserlöchern zwischen abgefallenem Laub zu finden ist. Die Larven von A. nigripes Staeger findet man namentlich, in Gesellschalt mit A. ornata, in kleinen Wassermengen, etwa in hohlen Bäumen, die oft so voll Mulm stecken, daß man bei ober- flächlicher Betrachtung kein Wasser sieht. Als Larve kann diese Art aber nicht überwintern, da solche Wasserstellen entweder ganz austrocknen oder bis auf den Grund zufrieren, und da auch keine Eier gefunden wurden, muß wohl die Imago den Winter überdauern. Culex pipiens und Culiseta annulata Meig. findet man oft zu Hunderttausenden eng nebeneinandersitzend in Kellern, Schuppen, Höhlen und Festungswerken. Im Gegensatz zu A. macu- lipennis suchen sie zwar windgeschützte aber feuchte Stellen zur Überwinterung auf. Von Culiseta glaphyroptera Schiner überwintert das Weibchen; Culex territans Walk, überwintert eben- falls als Imago und wohl hauptsächlich die Weib- chen. Culicella morsitans Theob. als Larve, man findet sie am Grund unter abgefallenem Laub von Wassertümpeln, auch unter einer Eisdecke bei nur 3,5*' C Wassertemperatur; bei Plintritt warmer Witterung kommen die Larven an die Oberfläche, wo sie im Vorfrühling mit Branchio- poden (Branchipus stagnalis) zusammengefunden werden. Die Larve von Mansonia Richiardii lebt, abweichend von allen übrigen Stechmückenlarven, am Grunde von tiefen Gewässern im Pflanzen- dickicht; zur Atmung steigen die Larven wie auch die Puppen n i e zur Oberfläche. Als Ei überwintern sämtliche bei Straßburg gefundene Aedines-Arten : Aedes cinerus Meig., Culicada nemorosa Meig., nigrina n. sp., diversa Theob., lateralis Meig., ornata Meig., dorsalis Meig., vexans Meig. und cantans Meig. Aus dem Gesagten geht hervor, daß nur ein kleiner Teil der Schnaken als Imagines über- wintert. Beim Vorkommen verschiedener Arten von Stechmücken ist die Fieberschnake Anopheles maculipennis von der gewöhnlichen Stechschnake, Culex pipiens, dadurch zu unterscheiden, daß sie im Gegensatz zur letzteren Art nur durchaus trockene Örtlichkeiten zur Überwinterung wählt. Kathariner. Turmfalken als Opfer elektrischer Stark- stromleitungen. In der Zeitschrift „Der Waldrapp", dem Organ der Salzburger Vogelschutzstation, er- zählt Ed. Paul Tratz von mehreren Fällen, in denen Turmfalken [Qrc/iiicis tiiniuucidiis) Stark- stromleitungen zum Opfer fielen. Es handelte sich bei den Beobachtungen von Tratz um eine elektrische Leitung, die westlich der Ortschaft A n i f über P'elder führt, unter der in i Tage 1 1 tote junge Turmfalken und später noch vereinzelt einige Exemplare gefunden wurden. Als be- merkenswert erwähnt Tratz den Umstand, daß sich die meisten dieser Vögel in gutem Gefieder- und Körperzustand befanden, während die Knochen der Beine sich als auffallend spröde erwiesen, so daß ein kaum merklicher Druck dieselben unterhalb der Ferse brechen ließ. H. W. PVickhinger. Neuere Untersuchungen über das Schaftrypa- nosoma. Die jedem Schafbesitzer und Schäfer wohlbekannte Schaflausfliege [Mclophagus N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 365 oviints L.), meist gemeinhin „Schaflaus" genannt, ist in Deutschland in jeder Schafherde in größerer oder geringerer Zahl zu finden. Sie zeigt in ihrem Darme fast stets die von Pfeiffer 1905 zuerst beschriebenen und von Flu 1908 Crithidia inelvpliai^ia getauften Protozoen aus der Klasse der Flagellaten, welche große Ähnlichkeit mit Trypanosomenentwicklungsformen zeigen. Über den schon längst vermuteten, bisher aber noch unbewiesenen Zusammenhang zwischen der weiten Verbreitung des Schaftrypanosomas und der Schaf- laus stellte Dr. W. Nöller vom Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten in Hamburg an einigen Schafherden in Thüringen Untersuchungen an, deren Befunde er in der „Deutschen Tierärztlichen Wochenschrift" veröffentlicht (1919 Nr. 39). Da die Schaflausfliegen auch im Winter auf Schafen und Lämmern vorkommen, so muß eine Infektion der im Winter geborenen Lämmer schon vor Eintritt der Stechfliegenperiode erfolgen. Die Untersuchungen ergaben von einer Herde von 35 mit Schaf lausen stark behafteten Schafen bei 1 7 Tieren eine Infektion mit Schaftrypanosomen. Diese Herde enthielt unter 5 Schafen im Alter von 8—10 Jahren und 5 Jährlingen je 4 infizierte Individuen, und unter 25 Lämmern 9 infizierte Individuen. Die Befunde Nöllers berechtigen demnach zu dem Schlüsse, daß in schaflausreichen Herden die erwachsenen Schafe nach ihrer überwiegenden Mehrheit von Schaftrypanosomen befallen sind, und daß auch schon ein beträchtlicher Prozentsatz der Lämmer, die noch keine Stechfliegenperiode überstanden haben, mit den Parasiten infiziert sind. Die Er- gebnisse der Nöllerschen Studien engen die Frage nach dem Überträger der Parasiten immer mehr auf die Schaflausfliege ein, um so mehr, als die Möglichkeit der Stallinfektion durch den Waden- stecher {Siüinoxys calcitrajis L), der als Stall- stechfliege die Lämmer zu Beginn des Weide- ganges bereits stechen kann, aus dem Grunde wegfällt, weil in dessen Magen und Darm das an hohe Temperaturen angepaßte Schaftryponosoma schwer die nötige Temperatur zu seiner Ent- wicklung finden dürfte. H. W. Frickhinger. Völkerkunde. Ein schätzenswerter Beitrag zur Völkerkunde Mikronesiens ist Wilhelm Müllers Beschreibung der Eingebornen der Japinsel (Karolinen),') die weder Flüsse noch größere Bäche hat. Dort, wo die kleinen Wässerchen ins Meer fließen, ist das Riff nicht gewachsen und sieben Einlasse gestatten die Annäherung ans Land. Die ganze Insel ist mit Ausnahme des äußersten Südens stark gewellt, aber eigentliche Berge besitzt sie nicht. Die höchste Erhebung beträgt wenig über 150 m. Die Vegetation gliedert sich in die Mangrovenzone, den Strand- ') Ergebnisse der Südsee-Expedition der Hamburgischen wissenschaftlichen Stiftung ; II. Ethnographie. B. Mikronesien, Bd. 2: „Jap",_ I. u. 2. Teil (Hamburg, Friederichsen & Co.). wuchs, das Kulturland und die mit losen Pandanus- beständen durchsetzte Grassavanne. Die Tier- welt ist ärmlich. Außer Ratten, Mäusen, Hunden, Schweinen und den erst in jüngster Zeit einge- führten Katzen kommt noch der fliegende Hund vor; von Vögeln gibt es 24 Arten, überwiegend Seevögel. Unter den Reptilien verdient der bis 3 m lang werdende Hydrosaurus marmoratus Ervyähnung. Nutztiere haben die Eingeborenen nicht. Die Bevölkerung ist ein wohlgebauter hell- brauner Menschenschlag von ziemlicher Körper- größe. Sozial zerfällt das Volk in Freie und Un- freie. Es ist zweifelhaft, ob dieser Klassenschei- dung ein ursprünglicher Rassenunterschied zu- grunde liegt. M. sagt: Heute bestehen jedenfalls keine Merkmale, welche nicht auf die härtere Arbeitstätigkeit und die schlechtere fischärmere Ernährungsweise der Hörigen zurückgeführt wer- den können. „Semitische" Typen — denen man auch in Melanesien, besonders auf Papua, häufig begegnet — gibt es unter den Angehörigen bei- der Klassen. Sowohl den Polynesiern wie den Malaien gegenüber stellen die Japleute einen be- sonderen somatischen Typ dar. Der ostwärts vordringende Strom der Malaien fand schon im östlichen Indonesien eine dunkle Bevölkerung vor, mit der er sich wahrscheinlich wenig vermischt haben wird, solange er nur die Küsten bewohnte. Diese verhältnismäßig unvermischten Malaien wanderten über Mikronesien fort und be- siedelten die p olynesisch e Inselwelt. „Daß die Nachdrängenden immer mehr von dem Blut der altindonesischen dunklen, kraushaarigen Bevölke- rung in ihren Adern hatten, daß die Mikronesier nach Westen hin (wo sich die spätesten Ein- wanderer niederließen) immer unpolynesischer aussehend werden, ist daher ganz erklärlich und auch mit den kulturellen Tatsachen gut ver- einbar." Die Bevölkerungszahl geht langsam zurück, ohne daß sichtliche Gründe dafür bestehen, na- mentlich Alkohol und geschlechtliche Ausschwei- fungen können daran nicht schuld sein. Eine syphilisähnliche Krankheit ist jedoch anscheinend sehr weit verbreitet und auch die Dysenterie hat viele Opfer gefordert. Der Kulturwandel infolge der europäischen Kolonisation (der nun die ja- panische folgen soll) hat die Erhaltungsbedingungen der Japleute sicher ebenfalls nachteilig betroffen. Die Urteile, welche über den Charakter der Ein- geborenen vorliegen, sind stark widersprechend. Nach den Eindrücken, die M. empfing, scheinen die schlechten Seiten vorzuwiegen; namentlich Faulheit und Unzuverlässigkeitsind hervorstechende Eigentümlichkeiten, wozu oft auch P'rechheit kommt. Gestohlen wird, wo Gelegenheit sich bietet. Andererseits gibt es vorzugsweise unter den älteren Leuten ganz anständige Charaktere. M. schildert ausführlich die Kultur der Jap- insulaner, nämlich Kleidung, Nahrung, Gewerbe und Handel, Haus- und Dorfanlagen, das Kanu, 366 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 Waffen und Kriegführung, Spiele, Gesellschaft und Familie, Wissenschaft, Religion und Zauberei. Aus dem Abschnitt über die Wissenschaft der Japleute sei hervorgehoben, daß diese den Tag und die Nacht in 14 Abschnitte von ungleicher Länge einteilen. Die Tage eines Mondmonats haben nicht, wie auf den Zentralkarolinen, jeder einen Namen, sondern der Mondmonat wird in zehn Abschnitte gegliedert. Kalendersystem und Kultus der Vegetationsdämonen hängen eng mit- einander zusammen. Die Zeitrechnung beruht auf der abwechselnden Aufeinanderfolge von zwei verschieden langen Jahren zu zwölf und drei- zehn Monden. Durch den Schaltmond soll offen- bar das Jahr mit dem Sonnenjahr in Einklang gebracht werden.') Große Sternkenner sind die Japleute nicht. Die dauernde Beobachtung des gestirnten Himmels hat die Bewohner der Karolinen, wie viele andere primitive Meeresanwohner, zur Ausbildung eines nautischen Systems geführt, das die Grundlage ihrer Fahrten von Insel zu Insel geworden ist. Nach Jap scheint nur die Kunde von dem fertig ausgebildeten System gedrungen zu sein, schöpfe- rischen Anteit an seinem Ausbau hat es nicht ge- habt. So wertvoll erscheint aber der Besitz dieser Kenntnisse, daß ihm göttlicher Ursprung zuge- schrieben wird. Ob die Japbewohner jemals eigene 'j Vgl. „Die Zahl 13", Naturw. Wochenschr., Nr. 46, 1919. Kenntnisse in der Schiffahrtskunst besessen haben, in der Weise, daß eine gewisse Überlieferung und Schule sich auf der Insel selbst durch die Ge- schlechterfolgen fortpflanzte, erscheint M. durch- aus zweifelhaft. Selbst die Fahrten um Steingeld nach Pälau scheint man vielfach mit fremden Kapitänen ausgeführt zu haben. Die Vertraut- heit mit dem Meere hat aber dazu geführt, jedem kleinen Abschnitt desselben seinen eigenen Namen zu geben. Von den Strömungsverhältnissen, welche in den Meeren herrschen, hat man merk- würdige Vorstellungen. Man unterscheidet eine W-Strömung und eine OStrömung, die mit dem Winde wechseln und ihm entgegen fließen. Außer- dem gibt es auch noch eine belanglose S-Strö- mung und eine N-Strömung. Zu den Kennt- nissen, die ein Kapitän für seine Fahrten nötig hat, gehört auch die Wetterkunde, die sich zu einigen Axiomen verdichtet hat, welche in bezug auf Qualität mit unseren Bauernregeln sehr starke Ähnlichkeit haben. Doch erst die Zauberkraft, meint man, lasse den Kapitän über die Gefahren der Seereise siegreich werden. Verschlagungen sind häufig. Sie haben den geographischen Hori- zont des Japvolkes stark erweitert. — Der zweite Teil von M.s Japwerk enthält Erzählungen und Gesänge der Japleute, die vortreffliche Einblicke in deren Geistesleben gewähren und für die völ- kerpsychologische Forschung von größtem Werte sind. H. Fehlinger. Bücherbesprechungen. Schlick, M., Raum und Zeit in dergegen- wärtigen Physik. Zur Einführung in das Verständnis der Relativitäts- und Gravitations- iheorie. Zweite, stark vermehrte Aufl. 85 S. Berlin 1919, J. Springer. — Geh. 5,70 M. Die zweite Auflage dieser klaren Schrift, auf die wir anläßlich ihres erstmaligen Erscheinens vor kaum zwei Jahren (diese Zeitschr. N. F. Bd. XVII, S. 258, 191 8) hinweisen konnten, hat gegen die erste durch Einfügung zweier neuer Kapitel eine wertvolle Erweiterung erfahren. Das erste ergänzt die im wesentlichen der allge- meinen Relativitätstheorie gewidmeten Ausfüh- rungen durch eine kurze Darstellung der spe- ziellen Theorie, deren Kenntnis beim Leser früher vorausgesetzt war. Daß die Schrift auf diese Weise als Einführung in den gesamten Ge- dankenkreis der Relativitätstheorie benutzbar wird, erhöht zweifellos ihren Einfluß in weiteren Kreisen. Das zweite Kapitel fügt der Betrachtung die jüngste bedeutsame Leistung Einsteins hinzu, durch welche der Bau des Kosmos, die Endlich- keit der Welt aus der allgemeinen Theorie her- geleitet wird. Wer insbesondere vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus nach der Bedeutung der E i n - ste in sehen P'orschung fragt, wird die vorliegende Darstellung namentlich in ihrer vervollständigten Form mit hoher Befriedigung lesen. A. Becker. Prelinger, O., Die Photographie, ihre wissenschaftlichen Grundlagen und ihre Anwen- dung. Bd. 414 der Sammlung wissenschaftlich- gemeinverständlicher Darstellungen „Aus Natur und Geisteswelt". IL verbesserte Auflage, 120 Seiten kl. 8" mit 64 Abbildungen im Text. Leipzig u. Berlin 19 19, Verlag von B. G. Teubner. Preis geh. 1,20 M., geb. 1,50 M. u. Teuerungs- zuschläge. Das vorliegende Büchlein bringt eine Über- sicht über die wissenschaftlichen und technischen Grundlagen der pliotographischen Kunst und er- weckt so bei dem Leser Verständnis für die außerordentlich interessanten Vorgänge, die sich vom Augenblicke der Belichtung der Platte an bis zur Darstellung des fertigen Bildes abspielen und für jeden Photographen von Interesse sind. Es kann sowohl nach Auswahl des Stoffes als auch nach Art der Darstellung empfohlen werden. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Bavink, B., H^inführung i n d ie al 1 ge m e in e Chemie. Aus Natur und Geisteswelt (Samm- N. F. XIX. Nr. 22/23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 367 lung wissenschaftlich-gemeinverständHcher Dar- stellungen) Bd. 582, 110 Seiten, kl. 8", mit 24 Abbildungen im Text. Leipzig und Berlin 1919, Druck und Verlag von B. G. Teubner. — Preis geh. 1,20 M., geb. 1,50 M. u. Teuerungszuschläge. Das Büchlein, dessen erste Auflage in der Natur w. Wochenschr. Bd. 16, S. 512 (191 7) an- gezeigt worden ist, hat sich, wie das schon nach zwei Jahren erforderlich gewordene Erscheinen der zweiten Auflage beweist, in der Praxis wohl be- • währt, und so werden auch die Leser der neuen Auflage in ihr das finden, was das Büchlein zu bringen verspricht: eine kurze, knappe, leicht ver- ständliche und ganz elementar gehaltene Einfüh- rung in die Grundtatsachen und Grundlehren der modernen theoretischen Chemie. Berlin-Dahlem. Werner IVIecklenburg. Köhn, P., Elektrische Kraftübertragung. Zweite Auflage. i?4 Seiten mit 13.3 Abbil- dungen im Text. 424. Bändchen von ,,Aus Natur und Geisteswelt". Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. — Kart. 1,60 M. und Teuerungszuschlag. Das vorliegende Bändchen will den Leser in gemeinverständlicher Weise mit den physikalischen Grundlagen und technischen Hilfsmitteln der elek- trischen Energieübertragung bekannt machen. In diesem Sinne werden besonders die Wirkungs- weise, die Konstruktion und die spezielle Anwen- dung der Dynamomaschinen, Elektromotoren und Transformatoren besprochen. Die bei der Kürze der Darstellung gebotene Beschränkung auf das Wesentliche hat Verf. mit großem Geschick und durchweg unter voller Wahrung der wissenschaft- lichen Strenge durchgeführt, so daß wir die Schrift warm empfehlen können. A. Becker. Boehm, E. , William Gilbert begründet die Lehre vom Erdmagnetismus 1600. Band 84 von „Voigtländers Ouellenbücher". 69 Seiten mit 14 Abbildungen. Leipzig, R. Voigtländers Verlag. Das vorliegende Bändchen gibt weiteren Kreisen eine wertvolle Gelegenheit, sich an der Hand ge- schichtlichen Materials zuverlässig über die eigent- liche Begründung der Lehre vom Magnetismus durch Gilbert zu unterrichten. Es bringt zu diesem Zweck nach einer kurzen geschichtlichen Einleitung über die Vorgänger Gilberts eine Auswahl von Kapiteln aus dem Werk des letz- teren, das selbst in der Literatur schwer zugäng- lich ist. Daß der Verlag in solcher Weise die Kenntnis der Quellen unseres Wissens vermittelt, wird allerseits Anerkennung finden. A. Becker. Grubic, Dusan , Universal-Kausalprozeß als unser oberstes Naturgesetz. 415 S. mit 12 Abb. im Text und 2 Beilagen. Zagreb, Kommissionsverlag der kgl. Universitätsbuch- handlung L. Hartman. Verf. sucht vom erkenntnistheoretischen Stand- punkt aus nach dem ordnenden Prinzip im an- organischen und organischen Weltgeschehen. Alle Erscheinungen oder Dinge betrachtet er als „tem- poräre Stabilisation des Kausalprozesses", unter dem die Verbindung von Ursache und Wirkung verstanden wird. Das Wesen dieses Universal- Kausalprozesses untersucht er sehr ausführlich im allgemeinen, in der anorganischen Natur und mit bezug auf den Bau des Weltganzen. Dem besse- ren Verständnis der Darlegungen wäre eine wesent- liche Kürzung wohl dienlich gewesen. A. Becker. Anregungen und Antworten. Ober alte Gallenabbildungen. — Die Zuschriften, welche mir meine in Nr. 52 der Naturw. Wochenschr. (1919, S. 766 ff.) veröffenllichten Bemerkungen über einige frühe Darstellungen europäischer Eichengallen eingetragen haben, lassen erliennen, daß meine Deutung der im ,,Defensorium inviolatae virgini- tatis Mariae" (1471) enthaltenen Bilder bei manchen Lesern Zweifel wachgerufen hat. Man weist mich darauf hin, daß der von dem alten Illustrator abgebildete Baum unmöglich eine Eiche darstellen könne, und daß die von mir genannten Gallen zwar traubenähnliche Gruppen bilden, aber kaum je- mals Trauben von der im Bilde dargestellten Form. Einwände dieser und ähnlicher Art gehen offenbar von der Voraus- setzung aus, daß der alte Illustrator nach der Natur gezeichnet habe. Diese Annahme ist aber nicht zutreffend : das genannte Werk bildet ja Dinge ab, die — nach der Überzeugung des Autors — nur einmal als besonders wunderbare Erscheinung sich gezeigt haben, und noch dazu eine ganze Reihe von solchen, die — wie wir heute wissen — niemals zu beobach- ten gewesen sein können. Der Illustrator zeichnet auch in dem uns besonders interessanten Falle nicht nach dem Natur- objekt, sondern macht ein Bild zu dem ihm vorgelegten Te.xt. Freilich hätte er die Eiche ein gut Teil naturgetreuer bilden können; aber das Interesse der Zeichner und Maler an Natur- Ireue, an Genauigkeit der Wiedergabe war auch im 15. Jahr- hundeit noch keineswegs so selbstverständlich wie späterhin. Man vergleiche hierfür z.B. Brinckmann, Baumstilisierun- gen in der mittelalterlichen Malerei (Straßburg 1906). Auch die Annahme, daß der Zeichner nach einer Rebe seine Zeich- nung angeffrtigt, oder daß — wie die Zweige seines Gewächses anzudeuten scheinen — eine Bogenrebe ihm vorgelegen habe, ist zum mindesten zweifelhaft, da die von ihm den Zweigen gegebene Form Linien wiederholt, die wir von sehr zalilreichen Weiken der mittelalterlichen dekorativen Kunst her kennen. Wer aber die Ähnlichkeit der dargestellten Pflanze mit Vitis trotz diesen Erklärungen für zu sinnfällig hält, um in den Darstellungen des Defensorium Beziefiungen zu Eichengallen finden zu können, möge sich an eine andere Bilderfolge ähn- lichen Schlages halten, z. B. an die von Schlosser (Zur Kenntnis der künstlerischen Überlieferung. Jahrb. d. Kunst- samml. d. Allerh. Kaiserhauses. Wien 1902, Bd. 23, p. 279 und Tab. XX) veröffentlichte: Hier ist ein Baum dargestellt, der in der Bildung seines Stammes und den Blättern seiner Krone als Darstellung eines Eichenbaumes genügen dürfte, und der nur mit seinen wunderbaren Trauben noch dem Reb- stock gleicht. Küster. Typhon oder Teifun. Kaum ein Jahr zieht vorüber, ohne daß von entsetzlichen Sturmfluten berichtet wird, die, zumeist an der Küste Chinas, unsagbares Elend hervorrufen, Tausen- den von Menschen ein grausiges frühes Ende bereiten und 368 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 22/23 Millionen von Werten vernichten. In meiner, allerdings etliche sechzig Jahre zurückliegenden Jugend nannte man ihre Ur- sachen (Wirbelstürnie, Zyklone) Typ hone. Nach ganz be- stimmten Regeln sausen sie zur Herbstzeit über den großen Ozean dahin, wühlen ihn bis in seine Tiefen auf und bringen über seine Küsten unerhörtes Verderben, gegen das man sich nachgerade etwas bergen kann, seitdem insonderheit unser Dove auf Grund unzähliger Beobachtungen der Seefahrer ihre Eigenart festgestellt hat. Das Wort Typhon verschwand nach und nach, und an seine Stelle trat die Bezeichnung Teifun. Sie scheint, darf man sich auf die landläufigen Nachschlagebücher verlassen, die herrschende geworden zu sein. Vor Jahren schon maclite ich meine Zweifel an der Berechtigung des Worts geltend. Nichtsdestoweniger be- richten immer wieder unsere Tagesblütler von Teifunen, die zumeist das Land der Hauptvertreter des gelben Menschen- schlages und die sie bespülenden Meere verheerten. Was hat es mit dem Namen auf sich? In der antiken Sagenwelt war Typ hos oder Typhon ein ungeheures gott- menschlich gedachtes Wesen, das, dem obersten der Götter Zeus Untertan, alles verwüstende Sturmwinde über die Erde dahinbrausen ließ und glühenden Dampf und versengendes Feuer. Typhos glich , ja er war vielleicht nachgebildet dem ebenso menschlich gedachten, unter die Götter versetzten tückischen roten Seth der Ägypter, der um die Menschheit zu züchtigen, wie ein Glutwind über die Erde rast, die Kreatur mordet, und alles, was eben noch grünte und blühte, versengt, vernichtet. Aus diesem Sturmdämon ward schon zu römischer Zeit ein Sturmwind selbst. Nach Plinius zog er in reißendem Wirbel, alles, was er in seinem Wege antraf, zerstörend, von Ort zu Ort. Besonders den Seefahrern war er gefährlich. Er zerbrach ihnen die Segelstangen, ja die ganzen Fahrzeuge. Man könnte ihn, der nie von Nordwesten her weht, wie l'Iinius weiter, für die geltenden Anschauungen über seine F'igenarl und die allgemeine der Heilweise ,, Contraria con- trariis" äußerst bezeichnend, erzählt, leicht dadurch unschädlich machen, daß ,,man ihm Essig entgegenspritzte, dessen Natur sehr kühl wäre". Es ist wohl unzweifelhaft, daß das Altertum von Osten her durch kühne Seefahrer von den entsetzlichen Stürmen ge- hört hatte, die die Gewässer, welche die Gestade der Seriker, unser jetziges China, bespülten, zum wilden Tosen brachten und auch das Land in unsäglicher Art verwüsteten, und daß sie, ganz wie andere, ihre Einbildungskraft erregenden und unerklärlichen, übersinnlichen Naturerscheinungen sich die Stürme als Machtäußerungen von der Menschheit günstig oder ungünstig gesinnten gottähnlichen oder von der Gottheit mit übernatürlichen Kräften begabten Hilfs- und Nebengöltern vorstellten und in diesem Falle die Namen der Ursache für die Wirkung einsetzten. Solche Weisheit übernahm eine spätere Zeit von ihnen. Shakespeare tischt allerdings, wie er auch an anderen Stellen mit der Genauigkeit seiner An- gaben etwas leichtfertig ist, auf, daß es zu trojanischer Zeit schon Hurrikans gab, die den Typhonen in der Tat ähnlich, in Wahrheit erst nach der Entdeckung von Amerika bei uns bekannt geworden sind , er kennt aber den Widersacher Ju- piters und des Sturmgewaltigen, die Menschheit bedrohende Brut und durfte auf gleiche Kenntnis bei seinen Zeitgenossen rechnen. Am Anfang des XIX. Jahrhunderts nennt das große ,,Dictionnaire des sciences naturelles" den ,,Ouragan (so form- ten die Franzosen das karibische Wort Hurrikan ihrer Zunge bequem um) violent, qui s'eleve dans les mers des Indes et de la Chine" Typhon, und das physikalische Lexikon von Gehler, das Goethe als Kriegsberichterstatter sogar auf seiner Reise nach Frankreich im Jahre 1792 mit hatte, leitet den Namen jener Stürme von dem Riesen Typhon ab. Die Ansicht war und blieb die herrschende bis etwa in die 70 er Jahre. Da erst kam Teifun, gesprochen wie geschrieben auf, wie mir zweifellos scheint, der dank unserem dem „Re- alen" zustrebenden Vorbildungswechsel, dank noch mehr viel- leicht dem immer größer werdenden Einfluß, den das seebe- fahrende Inselvolk jenseits des Kanals immer mehr auf uns ausübte, und am allermeisten vielleicht, dank der geradezu schimpflichen Ausländerei, deren der deutsche Michel, trotz- dem er im französischen Kriege Olegenheit genug gehabt hätte, seines Vetters verwandtschaftliche F^igenart kennen zu lernen, sich schuldig machte. In jener Zeit sprach man, weil es feiner war und den Schein tiefgründiger englischer Bildung erweckte, vom Keh statt vom Kai (in Hamburg gibt es noch die Kajenl), vom Peilot statt, wie es bei dem vermutlich deutschen Wort wenn nicht richtiger so doch keineswegs un- richtig ist. vom Pilot und vom Teifun. Während man aber die erstgenannten Worte wenigstens noch englisch schrieb, schrieb man den Windnamen, wie man ihn sprach und zeigte damit sein ebenso fadenscheiniges reales wie humanistisches Wissen. Die Entschuldigung, man hätte das Wort, dem Klange nach nicht unglaubhaft, für chinesisch gehalten, weist die Überlegung zurück, daß es so gesprochen etwa Tefan hätte englisch geschrieben werden müssen. Hier und da findet sich noch in englischen Bücliern die Angabe, daß der ,, violent whiriwind" Typhoon chinesischen oder Japaner Ursprungs sei, eigentlich Ta fang oder Ta fung, d. h. großer Wind bedeute, und es wird nur auf die auffällige Ähnlichkeit zwi- schen dem gedachten chinesischen Worte und dem des (eng- lisch ausgesprochenen!) griechischen für den Sturmgott und seinem Winde hingewiesen. Man dachte vielleicht an die Möglichkeit, daß in Wahrheit die im allgemeinen als uralt angesehene östliche Kultur sich auf die, nicht spätere, sondern noch frühere antike stützt. Wie dem auch sei ! Wir stützen unser Wissen auf die letztere. Wir haben keineswegs Grund, einen Wechsel eintreten zu lassen. Was ich eingangs sagte, was auch in Frankreich angenommen und in England noch nicht durchweg als unzuverlässig abgetan ist, scheint so ein- leuchtend, daß es zum wenigsten überlegt werden sollte, oh die Gewohnheit unserer F'eldgrauen (und der Welt allgemein', Gehörtes nach eigenen Schreibgewohnheilen zu schreiben. Geschriebenes nach eigener Art auszusprechen, nicht zur Regel erhoben werden soll. Es gäbe dann in der Tat keinen Tei- fun von englischen Gnaden, sondern nur einen, aul weit ältere Ahnen zurückblickenden Typhon! Hermann Schelenz, Cassel. Literatur. Pädagogischer Jahresbericht vereinigt mit Pädagogischer Jahresschau für 1916/17. Leipzig '19, F. Brandsletter und B. G. Teubner. 19,40 M. Wiegner, Prof. Dr. G. und Stephan, Prof. Dipl.- Ing. P., Lehr- und Aufgabenbuch der Physik. I. Teil: All- gemeine Eigenschaften der Körper, Mechanik. Leipzig-Berlin '20, B. G. Teubner. 5,60 M. Hilz, P., Die Natur, eine Auferstehung zu Gott, dem Geist. 4,30 M. Illlialt: E d w. Hennig, Bau und Werdegang der Alpen. (7 Abb.) S. 337. S. K iU er man n. Zur älteren Geschichte der Orchideen. S. 351. — Einzelberichte: H. Conwentz. Beziehungen der Naturdenkmalpflege zur Vorgeschichte und Volkskunde. S. 357. R. Much, Spliß. S. 359. W. Hammer, Beiträge zur Geologie und Lagerslätlenkunde der Merdita in Albanien. S. 360. R. Brauns, Die in Deutschland nachweisbaren Reste des unveränderten Bitburger Eisens. S. 361. Fairschild, Danforth, Wilder und Woods, Erhebungen über Zwillinge. (1 Abb.) S. 362. F". Eckstein, Überwinterung der Stechmücken. S. 363. Ed. P. Tratz, Turmfalken als Opfer elektrischer Starkstrom- leitungen. S. 364. W. Nölier, Neuere Untersuchungen über das Schaftrypanosoma. S. 364. W. Müller, Einge- borne der Japinsel. S. 365. — Bücherbesprechungen: M. Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. S. 366. O. Prelinger, Die Photographie. S. 360. B. Bavink, Einführung in die allgemeine Chemie. S. 366. P. Köhn, Elektrische Kraftübertragung. S. 367. E. Boehm, William Gilbert begründet die Lehre vom Erdmagne- tismus 1600. S. 367. Dusan Grubic, Universal-Kausalprozeß als unser oberstes Natuigesetz. S. 367. — Anregungen und Antworten: Über alte Gallenabbildungen. S. 367. Typhon oder Teifun. S. 368. — Literatur: Liste. S. 36S. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band: der ganzen Reibe 35. Ba Sonntag, den 13. Juni 1920. Nummer 24. [Nachuruck verboten.] Von einigen peruanischen Neueinführungen in unseren Gärten um 1600. Von Piof. Dr. S. Killermann, Regensburg. Über die verschiedenen Neueinf^ührungen von Zier- und Nutzpflanzen, die im Laufe des 16. Jahr- hunderts aus Amerika in unseren Gärien statt- fanden, war hier ') schon einmal die Rede. Im vorüegenden Artikel sollen besonders drei einst mals und z. T. auch jetzt noch beliebte Blumen, die hauptsächlich aus Peru stammen, einer neuen historischen Untersuchung unterworfen werden.-) I. Die Sonnenblume (Helianthus annuus L.) war im amerikanischen Kulturkreise von alters- her bekannt;^) in Europa erscheint sie nicht gleich nach der Entdeckung, sondern erst um das Jahr 1567, in Italien 1568 nach Saccardo.*) Der belgische Botaniker R. Dodonaeus bringt im Anhang zu seinem Pflanzenbuche, •^) der laut der Nachschrift 1567 beendigt war, einen sehr guten Holzschnitt von der genannten Pflanze mit der Überschrift Chrysanthemum Peruvianum (S. 307). Er hatte das seltene Bild von einer Dame Christina Bertolfia und diese von ihrem Gemahl, dem kgl. Rat Joachim Hopper, aus Spanien zu- gesendet bekommen. Nach der Beschreibung des Dodonaeus ist das „Chrysanthemum Peruvianum" eine einjährige, aber sehr groß werdende Pflanze. Sie soll in Peru und einigen anderen Provinzen Amerikas gefunden werden. Im kgl. Garten zu Madrid an- gesät, wuchs sie bis 24 Puß hoch und trieb einen ganz geraden Stengel von Armsdicke, sehr breite Blätter und eine chrysanthemumähnliche Blume, aber von gewaltiger Größe. Der mittlere Durch- messer derselben oder Kreis überschritt einen Fuß an Breite bis zu 2 oder 3 Unzen {= ^/i2 des Ganzen); die einzelnen Randbläiter sind den Blüten einer größeren Purpurlilie ähnlich, aber größer und von goldgelber Farbe. Man heißt sie indianische Sonne, weil sie Sonnenstrahlen ähn- lich erscheint.^) ') Vgl. meinen Artikel in Nat. Wochenschr. N. F. VIII (1909) Nr. 13. ') Vgl. Kraus Gr., Die Geschichte der Bevölkerung der bot. Gärten. Bot. Garten der Univ. Halle. II. Heft (Leip- zig 1894) S. 83 — 155 besonders S. 86 f. *) Vgl. Pickering, Chronological History of Plants (Boston 1879) S. 749, der auf Humboldt IV 9 und de Ery (Hariots Erzählung von Roanoke) verweist. ■*) Cronolagia della Flora Italiana (Padova 1909) S. 298. ") Florum et coronariarum odoratumque nonnuUarum herbarum historia, R. Dodouaeo Mechliniensi Medico autore. Antverpiae Plantini 1569. Epilogus pag. 302 — 308. ^) Est autem Chrysanthemum Perunianura annua quidem, sed admodum procera stirps : flos pulcher et insolutae magni- Dodonaeus sah die Pflanze auch lebend in dem Garten des Joh. Brancio, der sich mit der Zucht von Zierpflanzen sehr viel beschäftigte (wie es scheint in Mecheln selbst). Sie erreichte da- selbst nur eine Höhe von lo — ii Fuß und hatte bei Winterbeginn einen Ansatz zur Blüte. In Padua war sie viel schöner gediehen, mit Höhe von 40 Fuß und einer vollen Blüte, aber ohne reife Samen, wie Cortusus dem Autor mit- teilte. Man bemühte sich natürlich sofort, die Eigen- schaften der Pflanze zu erkunden. Cortusus fand, daß die jungen abgeschabten Blätter mit Salz und Öl zubereitet ein gutes Gemüse geben, ebenso die Hüllblätter, ja sogar besser seien als die Arteschoken; auch als geschlechtliches Reiz- mittel seien sie verwendbar.^) Der Gehalt der Samen an Ol, weswegen wir die Pflanze jetzt schätzen, scheint damals noch nicht erkannt ge- wesen zu sein. Weinmann ^) (um 174O) weiß jedoch bereits, daß die Sonnenblume „viel Ol und Feuchtigkeit, aber wenig Salz führe" und be- merkt, daß man die Samen in Virginien zum Brotbacken und zu Suppen für die Kinder ge- brauche. In unseren Gärten war die Sonnenblume an- fangs hauptsächlich Zierpflanze. „Wird in Deutsch- land", schreibt Tabernaemontanus (fol. 1147),^) „in vielen Lustgärten gepflanzt und sind gar ge- mein geworden, blüht etwas langsam im Sommer." Das in seiner Art großartige Gewächs be- geisterte Dichter und Künstler in jener Zeit. Ein hübsches Gedicht widmete ihr z. B. ein Rhein- tudinis. In Peru, aliisque quibusdam Americae provinciis repertum fertur. Saturn Madridii apud Hispanos in horto Regio, ad pedes usque 24. adolevit: caulem promit rectum brachii crassitudine: folia latissima: florem Chrysanthemo aliquatenus forma similem, sed amplissimum. Medius siquidem eins discus sive orbis pedem latitudine ad duas aut tres un- cias excessit, singula vero ipsum oibiculariter ambientia folia, fioris Lilii purpurei maioris quodammodo similia, sed maiora, vuri luteo colore. Solem indianum, quod Solis modo radiatus aideatur, appellant . . (1. c. pag. 305 u. 308). ^) Nam pediculos foliorum teneros adhuc, pilisque derasis, in craticula decoctos, sale oleoque prius praepaiatos, esui salves et perquam gratos esse, evidenti e.xperimento cognovit, et similiter ipsos quibus floris folia semenqae insident calyces : quos et ipsius Cinarae conis sive capitibus delicatiores sal- vioresque in cibo esse scribit, et non minus, verum amplius, TToö^ -la atf'QO^iijia, ad quae plurimum possunt, facere (1. c. pag. 308). *) Phytanthoza-Jconographia II. Bd. S. 161. ") New. voUkommenlich Kreuterhuch ed. Bauhin. Basel 1664. 370 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. M. F. XIX. Nr. 24 pfälzer aus Germersheim Joannes Posthius,') das ich der Seltenheit halber hierher setze: Flos solis.'^) Flores flos supero quod unus omnes 'Amplitudine et elegantia, alto Nee non stipite, cjuodque Solis almi Semper suspicio sequorque lumen ; Dignum a Sole mihi dedere nomen Qui Machaönia sedent cathedra. Sed quae vis mihi, quaeve sit potestas, Haud notum satis est adhuc iisdem. In laefis tarnen interim viretis Seror, lumina ut otiosa pascam. Joannes Posthius, Germershemius M. D. F. Was künstlerische Darstellungen der so deko- rativ wirkenden Pflanze betrifft, so kenne ich augen- blickUch nur zwei. Anton v. Dyck hat sich selbst auf einem Porträt") (um 1632 — 40) in der Hand mit einer Sonnenblume dargestellt, die offenbar „die Sonne der Hofgunst" bedeuten soll. Ferner sieht man sie in einem Wasserglase auf dem kleinen Gemälde „Die Seifenbläser" ^) von Fr. von Mieris (1663). Zwei andere Arten, sind Helianthus tuberosus, genannt Topinambur, und multiflorus. Erstere ist nach Saccardo (a. a. O.) in Italien um 160G (Garten Farnese in Rom) nachweisbar, letztere um 1660. Bei Lobelius'') (1576) sehe ich neben der beschriebenen Art H. annuus auch eine kleinere mit rübenförmigen Wurzeln unter dem Namen Solis flos minor abgebildet; ich halte sie für H. tuberosus. 2. Die Wunderblume (Mirabilis Jalapa L.) taucht um dieselbe Zeit wie die Sonnenrose in den Gärten Europas auf. Diese Nyctaginee, welche wegen des Farbenwechsels ihrer Blumen das Aufsehen erregte, scheint nach Pickering (a. a. O. S. 820 f.) ebenfalls schon lange vor der Entdeckung Amerikas beachtet worden zu sein. Sie hieß in iVIexiko Quamoclit und wird jetzt Zypressenrebe (Cypress vine) genannt, wegen der Ähnlichkeit der Blätter mit Taxodium distichum. Bald kam die Pflanze nach den Philippinen und Indien, wo sie wegen ihrer Wurzel (falsche Jalapp) kultiviert wird und einen eigenen Sanskritnamen besitzen soll (Roxburgh und Pidd).") In Europa reden von dieser Zierpflanze zuerst ') Der Mann war Arzt, Dichtfer und Philosoph, hielt sich auch im Ausland (Italien, Südfrankreich und Antwerpen) auf, lebte von 1537 — 1597. (Nach Joch er, Gelehrtenlexikon.) ') Bei Clusius Atreb. Aromatum etc. historia. Garcia ab Horto IV ed. Antverpiae 1593 pag. 403. ^) London, Slg. Herzog von Westminster, und Gotha, Museum Nr. 72 (viell. Kopie). Abb. bei Emil Schaeffer, Klassiker der Kunst XIII Bd. {A. von Dyck) Nr. 401. *) Haag, Gemäldegalerie Nr. 106. Abb. bei K. Voll, Meisterwerke im Haag S. 54. ■>) Plantarum etc. historia Observ. (Antverpiae 1576) pag. 322. ") Ich kann diese Angabe augenblicklich nicht nach- kontrollieren. Fr. Stuhlmann, der die Pflanze auf Java in bedeutenden Mengen sah, führt die indischen Namen gulabas, gula-bashi, abasi an (Beiträge zur Kulturgeschichte Ostafrikas S. 449). Caesalpinus und Cl usi us.') Der letztere er- hielt anfangs des Jahres 1580 von J. Camera- rius nach Wien gesendete Samen, aus denen in der Gartenerde zwei Pflanzen hervorgingen; sie fingen im September zu blühen an, wurden aber durch plötzlich eintretenden Frost zugrunde ge- richtet. Camerarius selbst erhielt mehrere Pflanzen, die zwar Blumen, aber auch infolge j'ener Kälte keine Früchte trugen. Die Pflanze, von Clusius als Jasminum Mexi- canum bezeichnet, gleicht nach seiner Beschrei- bung der Circea Lutetiana, wenn sie aus dem Boden kommt, trägt dann tabak- oder winden- ähnliche Blumen. Sie leuchten im feinsten Pur- pur, zuweilen auch gelb oder blaß, manchmal auch weiß und glänzen oft mit zweierlei Farben zugleich : entweder purpurn in der Mitte oder ge- streift oder auf zarteste gespritzt; riechen ange- nehm . . . ; sind aber sehr hinfällig und ziehen sich sofort nach Mittag wie Windenblumen zu- sammen . . . die Frucht gleicht einer Myrtenbeere, an Größe. Nach der Abbildung, die eine ästige Pflanze mit gehäuften Blüten und ziemlich langgestielten Blättern zeigt, scheint die Art Mirabilis longiflora L. vorzuliegen. „Diese fremde und so feine Pflanze wurde von mir", erzählt Clusius weiter, „nicht vor dem Jahr 1580 gesehen. Den Samen hatte Camerarius aus Italien bekommen unter dem Namen Jasminum Indicum oder Mexicanum ... In Belgien, wo sie erfreulicherweise bei einigen Pflanzenfreunden in diesem und vorigen Jahre wuchs, wird sie Sola- num odoriferum genannt, in Spanien Maravillas de Peru d. h. peruanische Wunderblume, wegen des ausgezeichneten F"arbenwechsels. So viel ich indessen an den vielen Blumen in H. Scholiers Garten bei Antwerpen und in dem der vornehmen Dame Hopers Witwe in Köln gesehen, die ein- zelnen Stöcke trugen entweder ganz rote oder rot und weißlich gemischte". Noch interessanter ist die folgende Schilderung, die einen deutschen Garten betrifft: „Die Pflanzen aber, die ich hernach im Jahre 1581 ungefähr anfangs Okt. in dem herrlichen Garten des Land- grafen von Hessen zu Cassel gesehen habe, fand ich von wunderbarem Farbenwechsel. Denn wenn eine einzige auch hundert und mehr Blumen an einem Tag hervorbrachte, nicht eine (außer wenn ganz purpurn oder weißlich) war der anderen gleich; sondern alle unterschieden sich voneinander durch die verschiedenen Farben- mischungen, indem manchmal die purpurne mitten durch die Blume geht, dann zwei purpurne und weißliche Streifen sie ganz teilen, oder auch die Blumen mit großen oder kleinen purpurnen Flecken in verschiedener Lage und Mischung völlig gesprenkelt erscheinen. Am anderen Tage ') C. Clusii Atreb. aliquot notae in Garciae Aroma- tum historiam (Antverpiae 1582) p. 13 — 16; ferner Rariorum alic]uot Stirpium historia (Antverpiae 1583) p. 395 — 401. N. F. XIX. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 371 (sie sind nämlich sehr hinfällig, gleichsam ephemer, indem sie meist zu Mittag besonders infolge der Hitze sich zusammenziehen und welken) war die selbe Mannigfaltigkeit in den frisch entstandenen Blüten zu beobachten; wenn man sie mit vorher abgerissenen und zwischen Papierblätter einge- legten vergleicht, wird man den Farbenunterschied bemerken. Am dritten und an den folgenden Tagen das gleiche, so daß diese ausgezeichnete Veränderung mich sehr bewegte und zur höchsten Bewunderung hinriß." ') Auch das hält der sonst nüchterne Forscher für bewundernswert, daß aus ein und demselben Samen eine solche Farben- buntheit der Blüten hervorgeht. In dem anderen Buche sowie auch in dem 1601 erschienenen Sammelwerk -) wird das Kapitel über die Wunderblume unter dem Namen „Hachal indi" von C 1 u s i u s nochmals bearbeitet. Es seien das Pflanzen, sagt er, die jetzt fast in jedem Garten wegen ihrer Schönheit gehalten werden. Er bildet hier neben der oben vorgeführten Art eine zweite ab mit dem Titel Admirabilis Peruana albo flore (wahrscheinlich nur die weiße Form von Mirabilis Jalapa L.). Clusius hielt die Pflanze nicht für ausdauernd, erfuhr aber vom Gärtner des Herzogs von Württemberg Seb. Vol- marius, daß, als er im Herbste (1582) einige Zweige (zu Herbarzwecken) abschnitt, im folgen- den Frühjahr daran Blätter und Blüten erschienen. Interessant ist auch die Angabe, daß diese Blumen damals bei den Wiener Mädchen Mode waren (Mulierculae Viennenses, apud quas nunc in deli- ciis est) und „Gescheket indianische Blumen" ge- heißen wurden. Für Italien ist die Wunderblume um diese Zeit belegt durch Exemplare in dem Herzoglichen Herbar von Este,^) das um 1570 — 1600 geschaffen wurde. Nach Florenz soll die Pflanze um 1587 unter dem Großherzog Franz gekommen sein. Man nannte sie Gelsomini brachettoni di lanzo, d. h. Landsknechtshosen = Jasmin. Auch Ratzen- ') At quas postea hoc codcm anno 15S1 circiler Cal. Octobr. in JUmi. Principis Wilhelmi Landgravii Hassiae et c. amplissimo et cultissimo horto Cassellis vidi, mira varietate colores mutare deprehendi. Nam licet unica planta centenos aut plures Acres uno die interdum proferret, ne unus quidem (praeter eos qui aut toti purpurei, aut pallidi erant) alteri similis erat: sed oranes colorum (tametsi purpureo et pallido constantium) varia mixtura inter se diiTerebant ; cum nonnum- quam purpura medium quasi tiorem secaret, nonnumquam alterni, modo purpurei, modo pallidi radii totum distinguerent, aut interdum magnis modo e.xiguis purpurantibus maculis vario situ et raistura toti flores aspergerentur. Altere die (nam ut diximus, caduci admodum sunt, et quodammodo ephemeri, imo plerumque ä meridie, praesertim per aestus, contrahunlur et flaccescunt) non minor in floribus recens enatis conspicitur varietas et tamen siquis cum pridie decerptis, et inter Chartas repositis conferat, colorum situ ab iis discrepare animadver- teret. Tertio itidem die et subsequentibus similiter; ut insi- gnis ista rautalio magnopere me commoveret et in summam admirationem raperel" (L. c. pag. 16). ^) C. Clusii, Rariorum Planlarum historia (Antverpiae 1601) lib. V fol. SS— 90. ') Vgl. J. Camus ed O. Penzig, Illustrazione del Ducale Erbario Estense (Modena 1885) S. 29. bergers ') Herbar vom Jahre 1 598 (Gotha Biblio- thek) enthält unsere Pflanze mit den üblichen Bezeichnungen. Wie sich die schöne Blume bald das Bürger- recht in besseren Gärten errang, ersehen wir aus den öfteren Darstellungen, die ihr der Feinmaler G. Hoefnagel aus Antwerpen widmete. Wir fitiden sie in dem Prachtwerk, dem sog. Wiener Missale (ehem. Hofbibliothek, Handschriften Nr. 1784), das in Innsbruck in der Zeit von 1582 bis 1 590 geschrieben und gemalt wurde, im I. Teil fol. 85 ; dann in einem Schriftmusterbuch,'-) das Hoefnagel in Verbindung mit Bocskay heraus- gab (S. 32). In dem Kupferstichwerk, das Hoef- nagels Sohn 1 592 herausgab, erscheint die Wunder- blume mit dem Spruche: Ipsa dies aperiti con- ficit ipsa dies. Endlich wäre noch hinzuweisen auf die ganz in Ho ef nagelscher Art gehalten Abb. im sog. Gebetbuch Albrechts V. von Bayern (München, Staatsbibl. Cod. lat. 2364O).*) G. Hoef- nagel ist der eigentliche Maler dieser Mode- blume gewesen. Der Hortus Eystettensis (161 3) bildet unter den Herbstpflanzen Ordo 2 fol. 3 und 4 zwei Wunderblumen ab (Mirabilis Jalapa L. und dicho- toma L.).') Die Bezeichnungen sind: Jasminum indicum seu flos mirabilis peruanus, gescheckte indianische Blumen. Von unserer Zierpflanze spricht noch Wein- mann (III. Bd. S. 390 fif.) mit großer Begeiste- rung; er führt als Vulgärnamen von ihr auf „Schweitzer- Hosen, Nacht Schatten, Rabella Spani- scher Anstrich" und bemerkt nach einer ein- gehenden Beschreibung, daß sie aus Peru und Mexiko stammende Pflanze „jetzo sehr häuffig fast in allen curieusen Gärten" gehalten werden. Zum Schlüsse wird die Frage, ob hier die echte Jalap- Wurzel vorliege, angeschnitten und als Hauptgebrauch derselben hingestellt, „daß sie alle überflüßige Feuchtigkeiten aus dem mensch- lichen Cörper abführe". Sogar eine Schlange sei aus eines Menschen Leib durch sie abgetrieben worden. 3. Passionsblume (Passiflora spec). — Eine eigenartige Zier- und auch Nutzflanze, von der die saftigen Beeren in den Tropen gerne zur Er- frischung genommen werden, hat uns Amerika mit der Passionsblume gebracht. Der Name be- •) Vgl. G. Hahn, das Herbar des D. C. Ratzenberger usw. Mitt. des Thüring. bot. V. N. F. XVI. (Weimar 1901) S. 50 u. f., besonders 102. ■-) Mira Calligraphiae monumenta pictoriae patientiae diligentissima indicia ab. anno 1562 — 1596. Früher im Be- sitze des Hrn. Fritz Gans in Frankfurt a. M. Eingesehen von mir 1912. *) Archetypa Studiaque Patris Georgii Hoefnagelii Jacobus F. ; genio duce ab ipso scalpta omnibus philorausis amic D. : ac perbenigne communicat. Francofurti ad Moene- um 1592. *) Vgl. meine Arbeit „Die Miniaturen usw." (Slraßburg Heitz 191 1) t. 26. '') Nach J. Schwertschlager, Der bot. Garten der Fürstbischöfe von Eichslätt. (Daselbst 1890) S. 82 u. 83. 572 Naturwissenscha ftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 24 zieht sich auf die seksame Ausbildung der Blüte/ j indem nämlich zwischen Korolle und Androeceuni (Staubblättern) eine aus dem Rezeptakulum (Blütenboden) entspringende sog. Corona auftritt; sie besteht aus einfachen, häufig aus mehreren Kreisen fadenförmiger oder blätterartigen Bilduii gen (Effigurationen Harms) und ist oft schön gefärbt. Der Fruchtknoten ist meist hochgestellt auf einem sog. Gynophor und besetzt mit 3 — 5 Narben. In der Corona oder dem Fadenkranz sah man die Dornenkrone Christi, im gestielten Frucht- knoten den Kelch, in den 5 (rotgefärbten) Staub- kölbchen die Wunden, in den 3 Narben die Nägel, in den drei lappigen Blättern die Lanze, in den Ranken die Geißeln und in der weißen Farbe der Blume die Unschuld des Erlösers versinnbildet. Über die Geschichte dieser Zierpflanze haben bereits Asa Gray und J. H. Trumbull'-j einiges geschrieben. Danach wird sie zum erstenmal für Peru genannt von Petrus de Cieza de Leon um 1550, der da schreibt:^) Amplam istam vallem de Lile dictam, in qua oppidum Call, mediam secat flumen, cuius ripae abundant fructibus eins loci , inter quos grati admodum saporis et iucundi odoris est Granadilla nun- cupatus". Einige Arten (P. incarnata und edulis) welche eßbare Früchte haben, wurden schon in der vorkolumbischen Zeit in Peru, Mexiko, Vir- ginien, hier unter dem Namen maracock von den Indianern kultiviert und gegessen. Bei den Pflanzenvätern taucht die Pflanze mit der soeben angeführten Bezeichnung Granadilla in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. auf Der Sevillaner Arzt Monardes^) sagt, daß sie in dem gebirgigen Teile Perus vorkommt und von den Spaniern wegen ihrer Ähnlichkeit mit einem Granatapfel so genannt wird. „Die Pflanze,"') welche diese P'rucht trägt, ist dem Efeu gleich, kriecht und wächst in derselben Weise an jedem Ort. Sie besitzt im fruchtbeladenen Zustand ein schönes Aussehen wegen ihrer Weite, und hat eine der weißen Rose ähnliche Blume, in deren ') Näheres s. bei H. Harms in Engler-Prantl., Nat. Pflzf. III. Teil Abt. 6a S. 69 ff. 2) American Journal of Science XXVI (New Haven 1883) S. 129 — 130. ^1 Historia Peruana I. pats cap. 28 (nach Clusius s. u.). *) Simplicium Mcdicamentorum ex novo orbe delatorum etc. Nie. Monardes — C. Clusius (Antverpiae 1582) S. 16 — 17. (Anhang zu der Pflanzengeschichte Österreich- Ungarns.) In der 2. Ausgabe (ebendort 1593) S. 423—24, (Anhang zum Werk ; Aromatum et Simplicium . . . Medic. apud Indos nasc. bist.). '') Planta hunc fructum ferens Hederae similis est, eodemque modo repit et scandit quocumque loco ponatur. Elegans est cum fructu onusta conspicilur, propter eius amplitudinem, florem habet albae rosae persi- milem, in cuius foliis aliquae velut passionis christi figurae delineatae conspiciuntur, quas magna diligenlia istic ])ictas existimes, eam ob causam elegantissimus est flos: Iructus ipse sunt granatula iam dicta, quae matura acidulo liquore abun- dant et semine plena sunt: aperiuntur ut ova et liquor ille cum magna voluptate sorbctur cum ab Indis tum ab Hispanis: nee etiam si multos sorbeasuUam ventriculi gravedinem sentis, sed potius alvum cmnlliri. Herba rara est, quae duntaxat uno in loco invenitur . . . (L. c.) Blättern man gleichsam die Leidenswerkzeuge Christi scheinbar mit großem Fleiße abgezeichnet sieht; daher ist die Blüte so elegant. Die Früchte sind kleine Granatäpfel, wie gesagt, die reif voll sind von einem säuerlichen Saft und von Samen- körnern; sie werden geöfifnet wie Eier') und der Saft wird mit großem Wohlbehagen geschlürft sowohl von den Indianern vAe von den Spaniern ; selbst wenn man sehr viele genießt, spürt man keine Leibschmerzen, sondern eher eine Er- weichung. Die Pflanze ist selten, da sie nur an einem Ort gefunden wird ..." Die rote und blaue Passionsblume sind bald nach 1600, erstere in Bologna 1609-') und letztere in Florenz i6iO'') als Zierpflanzen nachweisbar; P. edulis taucht nach Asa Gray und Trum- bull 16 19 im Garten der Farnese in Rom auf*) und zwar unter ihrem indianischen Namen mara- cot. Der jetzige Name Passiflora, der durch Monardes (s. ob.) schon vorbereitet ist, soll von dem Jesuiten Ferrari, der ein Buch über Blumenpflege (De florum cultura) 1633 schrieb, stammen. Wie wir leicht denken können, erfreute sich das Gewächs wegen der seltsamen Blume in geistlichen Kreisen großer Beliebtheit. Um die Verbreitung dieser Zierpflanze, als welche sie in Europa nur in Betracht kommen kann, haben sich offenbar die Missionäre sehr bemüht. Im Blumenbuche des Joh. Theod. de Bry (vom Jahre 1614)') heißt es, daß sie im August 16 12 im Garten des Joh. Robin, Kgl. Gärtners von Frankreich, blühte; sie sei von einem Maler namens Anglus abgebildet und von vielen Reli- giösen, besonders Kapuzinern bewundert worden. Robin behauptet, daß ihm die Pflanze von der „Insel" Canada gebracht worden sei. Unter- schrieben ist der Bericht von N. Descamps, Botaniker der Königin Regentin. Die Beschreibung •*) ist etwas schwer verständ- ') Auch Stuhlmann, Beiträge zur Kulturgeschichte Ostafrikas (Berlin 1909) S. 114, bemerkt, daß man in Ost- afrika die Frucht von der (eingeführten) P.assillora edulis gerne ißt, indem man die Kuppe abschneidet und den Inhalt auslöffelt. '') Nach L e u n i s Synopsis des Pflanzenreiches. II. Bd. S. 223. -') Saccardo, Cronologia S. 83. ■') T. Aldinus, rariorum Plant, horti Farnesiani bist. Roma 1625 p. 49 — 59. ^') Abdruck im Florilegium renovatum et auctum. Franco- furti Matth. Merlan 1641. Fol. 81. ") Flos Passionalis sive Grenadille ex Indi. Floruit niense Augusto Anni 1612 in horto Johannis Kobini, Herbarii Regiae Majest. in Gallia, vidique depictum ii quodam, qui vocatur Anglus : conspectus est a multis Religiosis, praesertim Capu- cinis et aliis : aförmat autem Rohinus sibi allatam ex Insula Canada. N. Descamps herborisla de la Roine Regente. Capita (clavorum instar) in summitate viridia sunt; cauli- culi Superiores cum umbilico et parte inferiore media exal- bido virescunt, sanguineis inspersi punctulis. Folia 5 exterius luteo, interius albo colore ; quorum cauliculi in totum virides sunt, inspersi ibidem sanguineis punctis. Circulus umbilico proximus cum reliquis staminulis ut et flammulis purpureo- violaceis. Majora 10 folia alba; laciniae eorum ut et aculei, viridi colore. Stria huius alae, cum nervis, rubescit (L. c. fol. 8:). N. F. XIX. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 373 lieh; wir entnehmen aus ihr, daß der Frucht- knoten grün, die oberen Stielchen mit dem Blüten- boden weißgrünlich und blutrot getüpfelt sind. Die 5 Blätter (Kelch?) seien außen gelb, innen weißlich; ihre Stiele im ganzen grün, aber ebenso blutrot gesprenkelt; der Fadenkranz (corona) mit den Staubfäden (?) und Blättchen purpurviolett; größere lo Blätter weiß; ihre Zipfel wie Stacheln grün; der Streifen dieses Flügels mit den Nerven rötlich. Nach der Abbildung zu schließen, welche linealische Nebenblätter und hochgestellte Drüsen an den Blattstielen zeigt, dürfte es sich um die in Nordamerika heimische, ziemlich harte P. incarnata L. handeln. In deutschen Gärten z. B. im EicHstätter (Hor- tus Eystettensis) oder in Regensburg (Garten des Oberndorff) ist die Passionsblume zu Anfang des 17. Jahrhunderts noch nicht nachweisbar. Wein- mann (1740) kennt sie ganz genau (a. a. O. II. Bd. S. 189); er stellt sie zu Clematis und bildet die rote und blaue Art ab. Nach ihm dient die Pflanze, wie wir oben schon vernommen haben, als Magen- und Purgiermiltel. Künstlerische Abbildungen der interessanten Zierpflanze sind selbst bei den holländischen Blumenmalern, die uns oft ganze Büsche von Neu- heiten und Lieblingen in den damaligen Gärten vorstellen, ziemlich selten. Zu nennen sind Rachel Ruysch (1664 — 1750) mit ihrem Blumenstrauß (München A. Pinakothek Nr. 657) und Jan v. Huysum (1C82 — 1749) mit ähnlichen Stücken (Nürnberg, Germ. Mus. Nr. 366, 414). [Nachdruck verboten.] Über den Bau der lusel berge Ost- Afrikas. Von Prof. Dr. E. Krenkel, Leipzig. Mit 3 Abbildungen. Über die Inselberge der tropischen und sub- tropischen Klimate isi viel geschrieben, über ihre Entstehung häufig gestritten worden. Eine statt- liche Reihe von „Typen" von Inselbergen wurde aufgestellt, die sich durch gewisse Eigen- tümlichkeiten unterscheiden sollen, so die auf- bauenden Gesteine, ihre geologische Vergangen- heit, die bildenden Kräfte, ferner durch ihre Ge- bundenheit an räumlich mehr oder weniger be- schränkte Verbreitungsgebiete. Die Prägung dieser Typen eilte der sachlich eindringenden Beobach- tung weit voraus. War die Theorie fruchtbar im Typenbau, so war die Beobachtung der Formen der Inselberge an Ort und Stelle desto genüg- samer. Um die Geschichte eines Inselberges er- klären zu können, bedarf es vorerst der Unter- suchung seines Aufbaues, die diesem ohne theo- retische Voreingenommenheit näher tritt. Ich habe im Jahre 1914 und 191 5 in Deutsch- Ostafrika reichlich Gelegenheit gehabt, Inselberge zu sehen, und mich bemüht, sie zu untersuchen, soweit dies trotz des militärischen Dienstes mög- lich war. Diese Studien reihen sich denen an, die ich früher in BritischOstafrika anzustellen Ge- legenheit hatte. Das Innere Deutsch-Ostafrikas wird von einem ausgedehnten Gran-itareal eingenommen, das roh auf 40 — 45 OOO qkm Flächeninhalt geschätzt werden kann, also dreimal so groß wie Sachsen ist. Im östlichen Randgebiet dieses Granitareals, dem hier einzelne Schollen kristalliner meta- morpher Gesteine archäischen Alters eingelagert sind, liegt die Landschaft Ugogo mit ihren Gras- und Buschsteppen. Sie wird im Osten von dem Ugogogrenzgebirge, einem Horst aus Granit und kristallinen Schiefern, begrenzt, an das sich südwärts das Rub eh o gebirg e anschließt, im Westen aber von den sich nach Süden zu allmäh- lich in der Kisigoschwelle verflachenden Staffel- brüchen der östlichen der beiden großen Bruch- zonen Ostafrikas umschnitten, die in diesem Ab- schnitt von mir als „T u r u b r uc hs t ufe" be- zeichnet worden ist. ') Diese östliche und west- ') Krenkel, Zur Geologie des zentralen Ostafrika ; Geol. Rundschau igio, Bd. I, S. 207, 268. — Krenkel, Die ost- afrikanische Bruchzone; Naturw. Wochenschr. 1913, S. 7. — O. E. Meyer, Die Brüche von Deutsch-Ostafrika, besonders der Landschaft Ugogo ; Neues Jahrbuch f. Min., Beil.-Bd. 38, S. S05. — Obst, Das abflußlose Rumpfschollenland im nordöstlichen Deutsch-Ostafrika I ; Mitteil. d. Geogr. Ges. Hamburg Bd. 29, 1915. — Krenkel, Bericht über eine Forschungsreise in Deutsch-Ostafrika; Ber. d. Math.-Phys. Klasse d. Sachs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, 71. Bd., S. 193. Die großen, über weite Räume aushaltenden Steilstufen Oslafrikas sind tektonischer Entstehung. Darauf weisen, um einen von mir beobachteten F'all zu erwähnen , klar die Lagerungsverhältnisse hin, die sich an der Turuhruchstufe in Ugogo, an deren unterer Staffel zwischen Makutupora und Saranda zeigen. Deckenförmig ausgebreitete jungvulkanische Ergußgesteine werden hier von ostwärts einfallenden Ver- werfungen durchsetzt, die im Streichen der Turuhruchstufe liegen. Der nahe der Oberkante der unteren Bruchstaffel ge- legene Teil der Decke ist an einer Verwerfung in ein tieferes Niveau abgesunken und bildet nun ein kleines, dem Haupt- abbruch angelagertes Plateau — also ganz ähnliche Lagerungs- verhältnisse, wie ich sie immer und immer wieder in ausge- zeichneten Aufschlüssen im Bereiche des ,, Großen Ostafrikani- schen Grabens" beobachten konnte. In der oberen Staffel finden sich tektonische Störungen sowohl im Gf'anit, so Nei- gungsbreccien , wie in den jungen Effusivgesteinen. (Vgl. darüber auch Krenkel, Vulkanologische Beobachtungen im Beri'iche der TanganjikaBahn in Deulsch-Ostafrika ; Zeitschr. f Vulkanologie, Bd. 5, S. 85). Die tektonische Entstehung der Steilstufen zu betonen, könnte überflüssig erscheinen. Doch hat vor kurzem F. Beh- rend (Ober die Entstehung der Inselberge und Steilslufen, besonders in Afrika, und die Erhaltung ihrer Formen, Zeitschr. d. Deutsch. Geol. Ges. Bd. 70, Monatsber. S. 154) die An- sicht geäußert, daß diese Stufen in der Hauptsache erosive Gebilde seien. Seine Ausführungen gipfeln in dem Schluß- satze: ,,Ein großer Teil der bisher aus morphologischen Gründen als lektonisch angesehene Steilstufen dürfte sich bei exakter Forschung als reine Erosionsformen erweisen." Ob- gleich der Nachweis der tektonischen Entstehung von Steil- stulen in einem Gebiete kristalliner Gesteine nicht immer 374 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 24 liehe, fast lückenlose Bergumrahmung des Landes, sich im Norden vor dem Hochlande Ussandaui zusammenschließend, steigt eindruclhlöcken jeder Größe un- regelmäß'g übersäten Mittelhänge des Berges, die das P'ußgestell als zweites Stockwerk im Bau des Berges überhöhen und ein schmales Band innerhalb des breiten des Fußes bilden, zeigen eine erheblich stärkere Neigung ihrer Flan- ken. Rote Erden fehlen auf ihnen, mit örtlich ganz verschiedenen Ausnahmen, fast völlig. Grau- sandige Verwilterungsböden, locker, grusig, auch schuttig, herrschen vor, die alle Vertiefungen zwischen den Granitblöcken ausfüllen. Die Gra- nitblöcke der Mittelhänge greifen in ununter- brochenem Zuge bis auf die Roterden des Fuß- gestells über, als Reste der ursprünglich ausge- dehnteren, nun zerfallenden Masse des Berges. Einzelne Blöcke mögen nicht mehr dort liegen, wo sie aus ihrer Muttermasse herauswitterten, sondern von den Gipfelfelsen des Mlimua herab- gestürzt sein. Doch treten solche Bergsturzblöcke hinter den ortsständig ausgewitterten zurück. Wilde Felsenmeere finden sich an den beiden niedrigen, schmalen Enden der Längsachse des Berges. Besonders das Südostende des Mlimua zeigt mächtige, schon von Dodoma aus deut- lich sichtbare Felsblöcke, sicher keine Bergsturz- massen. Die Bewachsung der Mittelhänge ist sehr dicht. Dornbusch tritt auf ihnen zurück. Laubbusch mit eingestreuten hochstämmigen Bäumen gewinnt die Oberhand und hält bis an die Gipfelregion an. Die Mittelhänge des Mlimua zeigen eine Zwei- teilung in ein nordwestliches und ein südöstliches Stück, die durch einen ganz seichten Paßein- schnitt hervorgerufen wird. Das erstere trägt den Hauptgipfel, das letztere dagegen den niedrigeren Südostgipfel. Dieser ist von denu- dierenden Kräften bereits soweit angegriffen, daß ihm der dritte und Gipfelabschnitt im Aufbau des Typus der Inselberge, dem der Mlimua an- gehört, schon völlig genommen ist. Die Gipfelregion des Mlimua endlich zeigt mächtige, mit prallen, glatten, an den Ecken ab- gerundeten Wänden fast senkrecht aufsteigende Granitmassen. In scharfem Gefällsknick streben sie über den gut ersteigbaren Mittel- hängen empor, wie ein unbildsamer harter Stempel, der mit starker Gewalt tief in weichen Siegellack eingedrückt wurde. Sie sind es, die dem Berge trotz seiner geringen Raumbedeckung und trotz seiner nur geringen Erhebung über die Um- gebung, etwas Trotziges und Unnahbares ver- leihen, wie denn auch die obersten Gipfelstrecken ohne künstliche Hilfsmittel nicht ersteiglich sind. Diese eigentlichen Gipfelklötze fehlen dem zwei- ten Gipfel des Mlimua, wie schon erwähnt, be- reits vollkommen. Nur ein einziger, recht unan- sehnlicher Granitblock auf diesem weist darauf hin, daß früher auch hier mächtige Felswände in die Höhe ragten, und sich über den Paßeinschnitt hinweg mit dem Hauptgipfel zu einer einzigen langen Flucht von hohen Granitwänden ver- banden. Die Wände der Gipfelregion setzen in ver- schiedener Höhenlage auf den Mittelhängen auf Meist ohne jeden Übergang, doch auch von N. F. XIX. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 377 kleinen mageren Schutthalden jüngster Zeit um- säumt, entspringen sie aus jenen. Die Gipfel- wände reichen dort am tiefsten in die Mittel- hänge hinab, wo die fein verzweigten Enden der Gegen wasserrillen den Verwitterungsmantel des Berges auf das Fußgestell hinab und in die umgebenden Ebenen hinaus befördern. In diesen Qaelltrichtern wird der Verwitterungsmantel des Berges, der ihn auf allen Seiten lückenlos um- zieht, zu tiefen Narben nischenartig eingeschnitten. Hier kämpfen denudierende und erodierende Kräfte scharf gegeneinander: doch die Erosion behält gegenwärtig vor allem eindringlich in den Ausräumungsnischen die Oberhand, trotz der ge- ringen Zeitspanne, die ihr im ganzen Jahre zum Abtransport der ständig entstehenden Verwitte- rungsprodukte gegeben ist. Eine gewisse Umlagerung im Verwitterungs- mantel des Mlimua tritt auch dadurch ein, daß seine feinen und groben Bestandteile langsam hangabwärts wandern. Der mittelkörnige, graue Granit des Gipfels zeigt die an allen Graniten Ugogos erkennbaren, auch sonst wohlbekannten Verwiiterungserscheinungen. So senkrechte, meist in zwei Richtungen aufeinander stehende oder dichtkugelschalige Zerreißung großer Blöcke von vielen Tausenden Kubikmeter Inhalt in kleinere, in ihrem früheren Zusammen- hang aber noch wohl erkennbare Trümmer. Fer- ner kugelschalige Abspaltung der Blöcke, dem Grade nach verschieden zwischen millimeter- dünnen Abschuppungsblättchen und mehreren Zentimetern dicke Platten; flache Einriefung durch über die glatten Wände herabrinnendes Regenwasser. Ebenso zeigt sich Wannenbil- dung auf ebenen Oberflächen; die Wannen sind mit Gesteinsgrus und vom Winde herbeigeführten feinen Sand ganz oder zum Teil ausgefüllt, ja zu- gedeckt. Diese lockeren Füllmassen mögen, vom Winde umgetrieben — in Ugogo herrschen fast täglich, besonders gegen Abend, starke Winde — in gewissem Umfange zu ihrer Ausweitung bei- tragen. Viel seltener ist die Bildung von rund- lichen Auswitterungslöchern an senkrechten glat- ten Wänden. Ein sehr gutes Beispiel für diese Lochauswitterung findet sich an einer wohl 1 5 m hohen senkrechten Wand der obersten öst- lichen Gipfelpartie. Diese Wand besteht aus einem glimmerarmen Biotitgranit, der zahlreiche basische Einschlüsse führt. In diesen ist ein 20 cm tiefes Loch von rundlich-ovalem Umriß einge- wittert. Das Loch ist innen ebenmäßig und glatt, sein Rand zur Felswand leicht ausgezackt. Seine Länge beträgt 70 cm. Die Vertiefung — ähn- liche wurden auch an anderen granitischen Insel- bergen beobachtet — dürfte nur auf Auswitte- rung des Granits zurückzuführen sein; Auswitte- rung eines Einschlusses dürfte nicht in Frage kommen. Die obersten Gipfelfelsen zerfallen bereits, als Zeichen unaufhaltsam fortschreitender weiterer Auflösung des Berges, in zwei, durch einen brei- ten, Nord Süd gerichteten Einschnitt geteilte Massen. Die westliche zeigt glatte, abgerundete nur von wenigen schmalen Rissen durchsetzte Großblöcke, die östliche stärkeren Zerfall in Kleinblöcke. Sie ist auch durch einen im Inneren emporziehenden Kamin ersteigbar. Der Mlimua als Inselberg baut sich also aus drei, gut zu scheidenden und genetisch wich- tigen Zonen auf: dem Fußgestell, den Mittel- hängen und der Gipfelregion. Sie ziehen sich in- einander geschachtelt und übereinander getürmt als langgestreckte Schalen um den Gipfel. Das Fußgestell erhebt sich ganz allmählich mit sanf- tem Winkel aus dem Umland ; ihm setzt sich mit stärkerem Anstieg das Mittelgehänge auf; dieses krönt mit scharfem Gefällsknick die Gipfel- region. Auf keiner Seite aber des Berges tritt Abb. 3. Verschiedene Formen von Inselbergen in Ugogo, Deutsch-Ostafrika. Von oben nach unten: I. Inselberg aus Biotitgranit mit schmalen steilen Mittelhängen und niedriger Gipfelregion. 2. Inselberg aus hellgrauem Biotitgranit mit links sanft geböschtem breiten, rechts schmalem steilen INIittelgehänge und tief herabreichender massiger Gipfel- region. 3. Inselberg aus Biotitgranit, bereits stark erniedrigt, am Gipfel nur einzelne isolierte Granitblöcke. 4. Inselberg aus plattigem Gneisgranit mit hornartigem Gipfel: Mittelhänge stufenartig ansteigend. Weiß: Verwittnrungsmantel, Grau- und Roterden des Fufi- gestells ; punktiert; anstehendes Gestein. der Fall ein, daß aus dem Steppenboden ohne Verbindungsglied die steilen Gipfelfelsen auf- steigen. Die Tatsache, daß vom Umland zum Gipfel eines Inselberges sich Übergangs gl ied er ein- schalten, verdient, so natürlich begründet sie auch ist, hervorgehoben zu werden. Profile, wie sie gezeichnet wurden, die einen Inselberg aus seinem Umland mit rechtem Winkel unvermittelt an- steigen lassen, entsprechen für die granitenen 378 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 24 Inselberge Ugogos und des Granitgebietes Deutsch- Ostafrikas nirgends, um hier vom Einzelfall auf die Summe der Beobachtungen zu schließen, dem tatsächlichen Bau dieser Berge. Der sie umhül- lende gefällsausgleichende Mantel ihrer eigenen Verwitterungsmassen ist ein nicht auszuschalten- des Glied ihres Werdens. Ein Verwitterungs- mantel fehlt nur dann, wo vereinzelt liegende größere Blöcke, die den Namen eines Berges nicht mehr verdienen, von einem solchen aus besonde- ren Umständen vollkommen befreit wurden. Die unterschiedenen Höhenzonen stellen zu- gleich drei miteinander verknüpfte Stadien der Abtragung dar. Die zeitlich am weite- sten zurückgehende Abtragung arbeitet am Fuß- gestell; hier liegt die große Menge der fein- und mittelkörnigen Verwitterungs- und Abschläm- mungserden. Weniger lang wurden die Mittel- hänge angegriffen, an denen grober und gröbster Gesteinsschutt vorherrscht. Am kürzesten wirkt die Verwitterung in den felsigen Gipfelpartien, wo die Denudation den anstehenden Granit heute sehr intensiv benagt. Wie der Klotz des Mlimua bei Dodoma sind im Grunde — mit kleinen Abweichungen in der Fülle der Erscheinungen, mögen diese nun die Aus- dehnung der drei Höhenzonen und das gegen- seitige Verhältnis ihrer Massen, die Neigung des Winkels, mit dem sie aufeinander stoßen, be- treffen — alle höheren Inselberge Ugogos auf- gebaut, mag man den Nkwita bei Makutupora vor der Turubruchstufe, den Sakari bei Meiameia, den Kongolo in Nordugogo und andere unter- suchen. Den niedrigeren Inselbergen, als den vorgeschritteneren Abtragungsstadien, fehlen die felsigen hohen Gipfelpartien, oder sie tragen nur noch ein paar, auf sie zurückdeutende Felsblöcke über den Miltelhängen. Das Endstadium, das den Namen Insel berg gar nicht mehr verdient, stellt nur mehr flache blockbestreute oder sogar blocklose Rücken aus lockeren Verwitterungs- massen dar. Zwischen allen dreien bestehen naturgemäß vermittelnde Glieder. Die Inselberge in ihrem allmählichen Kleinerwerden bis hinab zu unscheinbaren Resten zeigen, daß sie alle den gleichen Weg der Entwicklung gegangen sind. Der in allen Vorkommnissen auf eine Ur- form zurückführbare Bau der Inselberge der Granitgebiete Deutsch- Ostafrikas zeigt, daß in ihnen ein weit verbreiteter gesetzmäßiger Typus vorliegt. Nach Schilderungen und Photo- graphien läßt er sich, um nur diese zu nennen, südwärts weit in das portugiesische Mozambique verfolgen, nordwärts bis in den Sudan. Ver- änderte klimatische Verhältnisse werden Abwei- chungen geringen Grades von diesem Haupttypus unterscheiden lassen ; dazu sind aber noch ein- gehende Untersuchungen nötig. Innerhalb der Gneisgranit- und Gneisgebiete Ostafrikas ist der- selbe Bautypus vorherrschend, mit kleinen Sonder- heiten, die in der Eigenart des Gesteins be- gründet liegen. Einzelberichte. Vorgeschichte. Die ältere Steinzeit in Un- garn. Über das Paläolithikum Ungarns berichtet in einer größeren zusammenfassenden Arbeit der Budapester Forscher Eugen Hillebrand in der Wiener prähistorischen Zeitschrift VI, 19 19. S. 14 — 40. Bis vor einem Jahrzehnt etwa war über das Paläolithikum Ungarns noch nichts be- kannt. Die ungarischen Fachkreise zweifelten selber daran, daß der diluviale Mensch auch Un- garn bewohnt habe, und suchten nach Gründen, um diese auffällige Erscheinung zu erklären; so sollten z. B. die geologischen Verhältnisse des diluvialen Ungarn für den Aufenthalt des diluvialen Menschen ungeeignet gewesen sein u. a. m. Die Fachkreise waren von der Richtigkeit derartiger Anschauungen so stark überzeugt, daß viele Paläolithfunde einfach nicht erkannt wurden. So wies z. B. bereits im Jahre 1879 ein Mittelschul- lehrer namens Samuel Roth auf eine Höhle bei Kassa hin, in der er Spuren des diluvialen Menschen gefunden haben wollte. Zur Nach- prüfung seiner Funde wurde eine Kommission aus mehreren ungarischen Forschern gebildet ; diese erklärte die Beobachtungen Roths als nicht einwandfrei und bezweifelte das dilu\iale Alter der Kultur.schicht. Mit diesem Urteil wurde die - Angelegenheit erledigt. Im Jahre 1916 in der von Roth untersuchten Höhle vorgenommene Ausgrabungen ergaben dagegen, daß Roths Beobachtungen zu \ollem Recht bestanden, — • daß vielmehr die Kommission sich in ihrem Ur- teil geirrt hatte. Erst 1891 kam die Frage nach dem diluvialen Menschen in Ungarn wieder in Fluß. Durch Zufall wurde ein P'austkeil entdeckt, der von Otto Herman sofort für ein diluviales Gerät erklärt wurde. Mehrere Geologen bezwei- felten das diluviale Alter des F"undes. Es ent- spann sich eine überaus heftige Polemik. Otto Herman hielt an seiner Auffassung fest. Zur endgültigen Entscheidung der Frage regte er die Durchforschung der Höhlen des benachbarten Bükkgebirges an. Mit dieser Durchforschung wurde der ungarische Landesgeologe Ottokar Kadic beauftragt. K ad ic durchforschte mehrere Höhlen in der Umgebung der Ortschaft Hamor, und bald waren seine Probegrabungen von Erfolg gekrönt. Seitdem werden die Höhlenforschungen in Ungarn systematisch fortgesetzt und sind immer von neuen Erfolgen begleitet. Die Forschungen werden von dem ungarischen geologischen Institut, dem ungarischen Nationalmuseum und dem Mis- kolczcr Museum auf das lebhafteste unterstützt. N. F. XIX. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 379 Aus dem C h e 1 1 e e n und Acheuleen fehlen bislang noch sichere Funde. Wohl sind in diese Kulturstufen zwei Fundstellen (Miskolcz und Kor- lath) eingereiht worden, aber nach Hillebrand ist diese Datierung keineswegs gesichert. Bei dem Funde von Miskolcz n-öchte ich eine Datie- rung in das Acheuleen doch nicht ganz so ohne weiteres zurückgewiesen wissen, wenn ich selber auch zu einem endgültigen Urteil lediglich auf Grund der Abbildung nicht kommen kann. Die P'unde von Korlath sind dagegen sicher früh- neolithisch. Das Fehlen des Chelleens und Acheu- leens versucht Hillebrand damit zu erklären, daß die Kulturreste dieser beiden Stufen bis jetzt fast ausnahmslos in Freisiedelungen und nicht in Höhlen gefunden sind, daß aber in Ungarn in Freisiedelungen noch sehr wenig geforscht wor- den sei. Aber auch aus dem Alt- und Hoch- mousterien fehlt bislang aus Ungarn jede Spur. Dieses Fehlen ist auf jeden Fall weit schwerer zu erklären. IVIan könnte an die Mög- lichkeit denken , daß die ungarischen Höhlen in dieser Zeit noch nicht ausgebildet waren, und daß die entsprechenden Täler erst später erodiert wurden; diese Annahme scheint jedoch unbe- gründet zu sein. So bleibt nur die Möglichkeit der Erklärung übrig, daß Ungarn im Mousterien noch so wenig vom Menschen besiedelt war, daß die Spuren seiner Siedlung der Forschung bis heute noch entgangen sind. Erst aus dem Spät- mousterien ist eine Fundstätte bekannt, die einen unter freiem Himmel liegenden Wohnplatz des Menschen darstellt. Das Aurignacien ist durch einige prächtige Höhlenfunde vertreten, außerdem liegen auch eine große Anzahl von Aurignacienartefakten aus Freisiedelungen aus der Gegend von Brasso vor. Solutreen funde sind außerordentlich zahlreich. Sie verdienen unsere vollste Beachtung, weil sich hier die stufen- weise Entwicklung des Solutreens aufs deutlichste verfolgen läßt. Hillebrand glaubt ein eigenes Protosolutreen erkennen zu können; ja er geht sogar so weit, bereits heute Ungarn als ein wichtiges Kulturzentrum während des Proto- solutreens und des Solutreens hinzustellen und es nicht für ausgeschlossen anzusehen , daß auch die westeuropäische Solutreenkultur von Ungarn ausgegangen sei. Das ist sicherlich in der gewiß gut gemeinten Begeisterung für seine Funde etwas reichlich übers Ziel geschos- sen. Seine Aufstellung eines Protosolutreens scheint jedoch nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen zu sein. Nach Hillebrand cha- rakterisiert sich diese Stufe durch das Vorherrschen von kleinen, plumpen, noch roh bearbeiteten Spitzen, die an degenerierte Faustkeile erinnern, durch das absolute Fehlen der formvollendeten Lanzenspitzen; außerdem kommen noch atypische Spätaurignacienformen , rundherum retuschierte Klingen und atypische Bogenstichel vereinzelt vor. Diese Protosolutreenformen finden sich in mehreren Fundstellen auf ein großes Gebiet Ungarns zertreut, einige Male auch von Hoch- solutreenformen überlagert. Außerdem finden sich diese Formen z. B. in der Szeletahöhle in einem Schichtenkomplex von mehreren Metern Mächtigkeit. Das Solutreen ist gleichfalls sehr reich vertreten. Interessant ist zu beobachten, wie es in einigen Punkten von dem europäischen Solutreen abzuweichen scheint. So zeigen z. B. die Lanzenspitzen keine Lorbeerblattform, sondern sind fast ausnahmslos am unteren Rande abge- rundet. Außerdem ist die Flächenbearbeitung anders. Die von den abgepreßten Splittern er- zeugten Flächen reihen sich nicht von links nach rechts nebeneinander an, sondern sind unregel- mäßig verteilt, so wie man das an den altpaläo- lithischen F"austkeilformen beobachten kann. Nach den bisherigen Forschungsergebnissen scheint das ungarische Solutreen drei Entwicklungsstadien durchgemacht zu haben, i. Ein Stadium, wo unvollendete und formvollendete Lanzenspitzen noch vermengt vorkommen. 2. Ein Stadium mit nur formvollendeten Lanzenspitzen. 3. Ein Sta- dium mit ausgesucht kleinen, degenerierten Lan- zenspitzen, die durch flüchtige Oberflächenbearbei- tung ausgezeichnet sind. Das Magdalenien entspricht in typologischer Hinsicht fast vollstän- dig dem westeuropäischen Formenkreise, nur mit dem Unterschiede, daß das ungarische Magdalenien viel ärmer an Formen ist. Daneben finden sich aber auch hier Belege für die künstlerische Be- tätigung der Magdalenienmenschen in einem kleinen, verzierten Knochenstäbchen und einem verzierten Amulett aus Elfenbein. Eine Stufen- einteilung des Magdaleniens ist zurzeit noch nicht möglich. Nur das Vorkommen oder Fehlen des Höhlenbären ermöglicht die Einteilung in ein älteres Magdalenien mit Höhlenbären und ein jüngeres schon ohne Höhlenbären. Während des Magdaleniens scheint Ungarn bereits längst nicht mehr so dicht besiedelt gewesen zu sein wie im Solutreen. Die Magalenienkulturreste finden sich überall nur in geringer Anzahl, und waren fast immer mit großen Mengen von Mikrofauna ver- mischt, — ein Beweis dafür, daß der Mensch die Höhlen nur vorübergehend aufsuchte, und daß dieselben in erster Linie der Aufenthaltsort der Raubvögel waren, die ihre Beute dort ungestört verzehrten und die Knochen der kleinen Beute- tiere in großen Mengen anhäuften. Kulturreste der letzten paläolithischen Stufe des Asilien fehlen bis jetzt aus Ungarn; wenn es überhaupt vorhanden gewesen sein sollte, so könnte es nach Hillebrand nur von ganz untergeordneter Be- deutung gewesen sein. So reich und bedeutend die bisher erzielten Resultate vom archäologischen Standpunkt aus sind, so ärmlich sind bis heute die anthropo- logischen Ergebnisse. Bisher wurde nur ein Kinderskelett aus dem Magdalenien, ein Zahn- fragment aus dem Protosolutreen und mehrere Fingerglieder aus dem Magdalenien entdeckt. All diese F'unde sind zu unbedeutend und zu fragmen- 38o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 24 tarisch, um uns eine genaue Vorstellung über die anthropologischen Verhältnisse des Diluvial- menschen zu gestatten. Auf jeden Fall zeigt uns die H i 1 1 e b r a n d - sehe Zusammenfassung, daß Ungarn mit seinen nach Tausenden zählenden Höhlen eine wahrlich unerschöpfliche Quelle prähistorischer Schätze darstellt, und daß unsere Kenntnis über das ost- europäische Paläolithikum jedenfalls noch durch manche interessante Entdeckung aus dem Gebiete Ungarns bereichert werden wird. Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt. Völkerpsychologie. Anfange der staatlichen Organisation bei den Australnegern. Die staat- lichen Zustände sind in psychologischer Hinsicht eines der interessantesten Gebiete der vergleichen- den Völkerkunde, sie bringen recht deutlich die Besonderheiten der seelischen Verfassung der Völker zum Ausdruck. Höchst einfache politische Verhältnisse bestehen bei den Australiern; sie hat Alfred Knabenhaus zum Gegenstand einer Studie gemacht,^) aus deren höchst beach- tenswerten Ergebnissen einiges hervorgehoben werden soll. Vor allem fällt bei den Australiern die große Gleichförmigkeit der politischen Ein- richtungen auf, obwohl auch die Kultur dieses Zweiges der Menschheit nicht einheitlich ist, da festgestellt werden konnte, daß hier ein älterer nicht mehr näher analysierbarer australisch-tas- manischer Kulturkomplex von zwei jüngeren Kul- turen melanesischer Herkunft überlagert wird, die zurzeit den Kontinent beherrschen. Wenn trotz aller fremden Infiltrationen gerade innerhalb der- jenigen Kulturgüter, die allgemein einen bestim- menden Einfluß auf die Gestaltung der staatlichen Zustände auszuüben pflegen, ein auffälliger Grad von Gleichartigkeit und Übereinstimmung besteht, so muß dabei unbedingt mit der stark nivel- lierenden Wirkung der geographischen Umwelt gerechnet werden. Wir finden auch überall denselben Wirtschaftstypus : die uralte mit Jagd und Fischerei gemischte Sammelwirtschaft. An keiner Stelle — selbst nicht in den besser bewässerten und klimatisch begünstigten Rand- landschaften des Südostens, Nordens und Westens — ist der Australier dauernd seßhaft geworden oder zu irgend einer Form der Bodenbestellung übergegangen. Die Gleichartigkeit der Umwelt macht es erklärlich, daß auch die Art und Weise des Zusammenschlusses der Bevölkerung zu dauernden Lebensgemeinschaften im Grunde allenthalben die gleiche ist. Wohl unterscheidet man einzelne Stämme mit besonderem Gebiet und gemeinsamer Sprache, aber sie sind niemals festgeschlossene und nach außen solidarische Körperschaften, wie etwa die nordamerikanischen Stämme, sondern sie zerfallen stets in eine ganze ') Studien zur Ethnologie und Soziologie, Heft 2: Die politische Organisation bei den australischen Eingeborenen. Berlin-Leipzig 1919. Ver. wissensch. Verleger. Anzahl Lokalgruppen oder Grüppchen. Diese Lokalgruppen erfreuen sich einer großen Unab- hängigkeit nach außen; sie sind eigentlich die einzigen über die Familie und Sippe hinausgehen- den konstanten Lebensgemeinschaften. Ihre Klein- heit entspricht den dürftigen Nahrungsquellen. Das geht schon daraus hervor, daß in den von der Natur begünstigten geographischen Bezirken die Eingeborenen einst in viel dichteren Beständen und numerisch stärkeren Verbänden zusammen- lebten als es in den Steppen und Wüsten der Fall ist, wo sich die Australier bis in die Gegen- wart erhielten. Knabenhaus' Untersuchung über die gesell- schaftliche Struktur der australischen Gemein- wesen führte zu der Erkenntnis, daß von einer weitgehenden sozialen und politischen Differenzie- rung keine Rede sein kann. Ihre Verbände sind schon aus natürlichen Gründen, wegen der Nah- rungsbeschaffung in dem unwirtlichen Lande, zu Kleinheit und Schwäche verurteilt. Die dünne Besiedlung schließt auch fast jede Reibungsmög- lichkeit zwischen den einzelnen Gruppen aus, und somit gebricht es hier an der Hauptursache zu allen namhaften gesellschaftlichen und politischen Ungleichheiten, nämlich am Krieg. Es kommen zwar Feindseligkeiten vor, doch haben sie keine kollektiven Ziele, sondern sie erschöpfen sich in Raub- und Überfallshandlungen. Vor allem kämpft der Australier niemals um Landgewinn. Die natürlichen Ungleichheiten des Geschlechts und Alters kommen überall und stets zur Geltung, der überragende Einfluß der alten Männer ist un- bestreitbar. Überdies zeichnen sich manche Per- sonen durch besondere natürliche Fähigkeiten vor der Masse ihrer Gruppengenossen aus, sie werden zu Häuptlingen und Zauberern. Die letzteren z. B. müssen nicht nur mit den Über- lieferungen und der Moral der Gemeinschaft gut vertraut sein, sondern auch mit der Pflanzen- und Tierwelt, den Giften, den Wettererscheinungen usw. Das .^.usfindigmachen von Dieben, Mördern und anderen Missetätern, das ihnen obliegt, er- fordert eine besondere Menschenkenntnis; zum Zweck von Ausreden ist eine rasche Kombina- tionsgabe unerläßlich, und die Heil- und Geister- praxis benötigt häufig noch allerlei Taschen- spielerkünste, das Bauchreden und andere Ge- schicklichkeiten. — Als Organe der „Staatsge- walt" kommen neben den Häuptlingen die Räte der Ältesten in Betracht. Nirgends aber können Häuptling und Rat der Gruppe ihren Willen ein- fach diktieren und nirgends besteht das Recht des Stärkeren. Lokale Abweichungen in der Aus- gestaltung der politischen Organisation sind wohl in der Hauptsache auf besondere Umweltwirkungen zurückzuführen. Aber sie können auch anders bedingt sein, wie das Beispiel des Dieristammes beweist, wo es lediglich Kraft der überragenden Begabung und Entschlußkraft eines einzelnen zu einer für Australien ganz außergewöhnlichen Machtkonzentration gekommen ist. Hieraus spricht N. F. XrX. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 381 offenbar die allgemeine soziologisch psychologi- sche Tatsache, daß auf tieferen Organisations- stufen, wo der Staat sich gewissermaßen erst im Keime regt und feste politische Einrichtungen noch großenteils fehlen, der Initiative einzelner talentierter Persönlichkeiten noch ein schier un- beschränkter Spielraum offen steht. Zusammenfassend stellt Knabenhaus schließ- lich fest, daß — im Gegensatz zur Meinung Wilhelm Wundts und anderer Völkerpsycho- logen — den Australiern der Besitz einer staat- lichen Ordnung nicht abgesprochen werden darf, wenn man diesen Begriff nicht auf gewisse hoch- entwickelte Formen beschränken will. Nicht ihre losen Stammesverbände, wohl aber die in diesen enthaltenen territorial und auch anderweitig völlig autonomen Lokalgruppen weisen, wenn auch erst schwach ausgeprägt, bereits alle wesentlichen Merkmale der politischen Organisation auf, sie sind Anfänge der Staatsbildung. Zugleich wird festgestellt, daß staatliche Organisationen nicht unter allen Umständen Ergebnisse größerer histo- risch-kriegerischer Ereignisse und ihrer Begleit- erscheinungen sein müssen, sondern daß sie ohne Krieg und Klassenscheidung entstehen können; denn das ist bei den Australiern zu beobachten. H. Fehlinger. Geographie. Die Palauinseln (Westkarolinen) beschreibt A. Krämer in den Ergebnissen der Südsee-Expedition der hamburgischen wissen- schaftlichen Stiftung (2. Abt., Reihe B, Bd. 3, I. Heft). Der Südteil der Inselgruppe besteht aus gehobenem Kalk, der Nordteil ist vulkanisch. Auch im Südosten von Palau, in Melanesien, ist der gehobene Riffkalk weit verbreitet. Die all- gemeinen Kennzeichen des Kalkgebietes sind Steile und Zerrissenheit, eigenartige bizarre For- men, während das vulkanische Land mehr wellig und ausgeebnet ist. Beide unterscheidet auch die weiße und rötliche Farbe des Gesteins, aber die Kalkfelsen sind immer mit Wald dicht überzogen, so daß sich der Fels nur an Steilabstürzen zeigt. Das vulkanische Land hat wohl ebenfalls viel Wald, daneben aber zahlreiche Ödflächen mit niederem Gewächs, das den roten Lateritboden durchschimmern läßt. Ein besonderes Merk- zeichen des Kalkgebietes ist noch die Höhlen- bildung; daneben kommen Hohlkehlen, weit ver- breitet vor. Im Bereich von 2 m Höhe wird bei Springzeit der Fels weggefressen. Unten bleibt ein nach außen abschüssiger Fuß stehen. Der Überhang flieht mehr oder weniger geradlinig nach außen und oben. Überall, wo die Dünung des Ozeans durch das vorliegende Riff aufgehoben oder doch abgeschwächt ist, findet man Hohl- kehlen in schöner Ausbildung. Durch die Bran- dung wird sie zerstört. Über Temperatur und Windverhältnisse wur- den noch keine dauernden Beobachtungen ange- stellt. Die während vieler Jahre auf der früheren deutschen Regierungsstation ausgeführten Regen- messungen zeigen eine für die Tropen regel- mäßige Regenmenge. Gewitter sind in der Mon- sunzeit häufig, schwere Taifune fehlen. Auf der großen Nordinsel Babldaob bildet der Ngdorokfluß einen ungefähr i km langen See, den einzigen der Inselgruppe. Es gibt hier auch nur einen Wasserfall, der bei Gurdmau über eine etwa 25 m hohe überragende Felskanzel von 30 m Breite herabfällt. Auf den Hügeln der Palauinseln bildet die Kannenträgerpflanze (Nepenthes phyllamphora) weite Rasen ; in den schönen Kannen (die manch- mal bis Handlänge erreichen) hält sich Wasser, in dem stets Insektenleichen zu finden sind. Neben diesen Pflanzen trifft man in den wald- losen Flächen Melastomengebüsch, dann die weit verbreitete rosablühende Orchidee Spathoglottis, die blaue Lilie Dionella ensifolia and die blaue Oldenlandia. Daneben gibt es viele kleine Kräu- ter und Gräser. Stellenweise dringen die Man- groven weit ins Land hinein, freilich nur soweit das Gezeitenwasser 1 eicht. Sandstrand kommt nur an wenigen Stellen der Küsten vor. H. Fehlinger. Zoologie. Vom Arbeitsplan der deutsch- österreichischen Vogelschutzstation in Salzburg. Öm die Mitte des voriges Jahres wurde in Salz- burg das Ornithologische Institut verbunden mit einer Vogelstation ins Leben gerufen, das, obwohl während der vergangenen Monate in recht unzu- länglichen Räumlichkeiten untergebracht, schon viel ersprießliche Arbeit geleistet hat. Durch das Entgegenkommen des Salzburger Bürger- meisters Max Ott und der Verwaltung der hof- ärarischen Güter wurde dem Institut nun ein passendes Heim in dem ehemaligen Jagd- schlößchen Hellbrunn überlassen. Noch im Laufe dieses Frühjahres soll das Institut dort- hin übersiedeln. Über die Ziele der Vogelschutzstation ent- nehmen wir den Ausführungen des jetzigen Leiters Ed. Paul Tratz in dem Organ des Instituts, der Zeitschrift „Der Waldrapp":^) das Streben der österreichischen Regierung, den im alten Österreich gröblich vernachlässigten Vogelschutz auf eine neue und wissen- schaftliche Grundlage zu stellen, soll die Station aufs tatkräftigste fördern. „Ein gründ- liches Erforschen der mit dem Leben der Vögel zusammenhängenden Umstände und eingehende Untersuchungen der kausalen Wechselbeziehungen der Vogelwelt zu unserer Land- und Forstwirt- schaft soll einsetzen und daraufhin ein großzügi- ger natürlicher Vogelschutz in die Wege geleitet werden." Infolgedessen bezeichnet Tratz als eine der ersten Aufgaben der Vogelschutzstation, auf Grund der bereits vodiegenden Beobachtungen, >) I. Jahrg. 1919, Nr. 2, S. 6 — 8. 3«: Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 24 für jede einzelne Vogelart Verbreitungs- karten und Listen über bestimmte bio- logische Momente anzufertigen. Die Ver- breitungskarten sollen den Zweck haben, über das Maß des Vorkommens des betreffenden Vogels zu unterrichten, um vor allen ein übersichtliches Bild zu einer wirtschaftlichen Bewertung des- selben zu bekommen. Dabei wird es sich bei den meisten in die Wagschale fallenden Arten zeigen, daß wir heute noch gar nicht einmal ein klares und abschließendes Wissen über die Verbrei- tung der gewöhnlichsten Vögel besitzen. Der erste diesbezügliche Versuch, nämlich die Anfertigung von Verbreitungskarten der drei Krähenarten (Raben-, Nebel- und Saatkrähe), scheiterte nahezu vollkommen. Die bisherigen faunistischen For- schungen reichen zu einer solchen Arbeit bei weitem nicht aus. Hier muß vor allem eine lokal faunistische Forschung einsetzen, der sich die Station in systematischer Weise für Deutsch-Österreich insbesondere der Alpenländer unterziehen soll. In der Hauptsache wird es sich dabei naturgemäß um eine übersichtliche Dar- stellung der Nahrungsstoffe und -Verhältnisse han- deln und zwar, soweit es möglich ist, nach Jahres- zeit, nach erkennbaren äußeren Einflüssen, even- tuell nach Alter und Geschlecht, geordnet. Nach Fertigstellung aller dieser wissenschaftlichen Vor- arbeiten wird an eine übersichtliche, tunlichst graphische Darstellung der Ergebnisse geschritten, um eine Schlußfolgerung für die Praxis zu ermöglichen und Vorschläge für etwaige Vorkehrungen daran schließen zu können. Wie schon aus diesen wenigen Zeilen ersichtlich ist, bedingen solche Untersuchungen die Mitarbeit zahlreicher Beobachter. Daher wird die Station vor allem danach trachten müssen, in allen Teilen Deutsch - Österreichs und dessen Grenzgebieten ständige ornithologisch geschulte Beobachter sich zu verpflichten. Als einen weiteren Programmpunkt stellt T r a t z die Ausstellung von Gutachten in allen den Vogelschutz betreffenden Angelegenheiten auf. Sie werden sich so- wohl auf den Nutzen oder Schaden als auch auf Krankheitserscheinungen, soweit sie die wild lebende Vogelwelt betreffen, beziehen. Auch die Beratung der Landesbehö'rden in Vogelschutz- angelegenheiten ist eine der Aufgaben des Instituts. Als einen weiteren besonders wichtigen Punkt des Programmes der Station betrachtet Tratz das Erproben von sogenannten künst- lichen Vogelschutzbehelfen. Es wird sich dabei darum handeln, die in den letzten Jahren so zahlreich auf den Markt und zur An- preisung gelangten Nisthöhlen, Nisturnen und Nistkästen auf ihre Verwendbarkeit zu erproben und die diesbezüglichen Wahrnehmungen bekannt zu geben, sowie gleichzeitig festzustellen, ob deren Einführung wünschenswert, notwendig, überflüssig oder gar schädlich ist. Propaganda für irgend- welche derartige Geräte zu treiben, lehnt Tratz natürlich von vornherein ab, nur eine Erprobung kann hier die Aufgabe des Instituts sein, mit dem Ziele, vom Standpunkt der Forschung und des Vogel- bzw. Naturschutzes aus wahrheitsgetreue Urteile darüber abzugeben und gegebenenfalls eigene Versuche, Verbesserungen usw., anzustellen. Das gleiche gilt für die Anlage sogenannter Vogelschutzhölzer, Winterfütterungsmethoden usw. Außerdem plant die Station, Kurse über allgemeinen und speziellen Vogel- schutz abzuhalten. Bei den ersteren wird es sich darum handeln, leichtverständliche, vor allem für Land- und Forstwirte bestimmte Vorträge über die Bedeutung der Vogelwelt für unsere Bodenbewirtschaftung zu halten und auf die von Laien nicht sofort erkennbaren Zusammenhänge zwischen Pflanzenwelt und Vögel hinzuweisen, bzw. das Zusammenwirken von Vogel-, Insekten- und Pflanzenwelt darzulegen. Ähnliches ist für Naturfreunde und die Jugend in Aussicht genom- men. Bei den speziellen Vogelschutzkursen kommt es darauf an, den Gärtnern, Land- und Forst- wirten Mittel und Wege zu zeigen, wie es mög- lich ist, ein vogelarmes Gebiet zu beleben, sei es durch Schaffung von Brutgelegenheiten im ganzen Terrain , oder durch Anlage von kleinen Reser- vaten, Vogelinseln, Schutzgehölzen, Hecken usw. Als eine besonders zweckdienliche, allgemeine Einführung in die Elemente des Vogelschutzes wird im neu zu errichtenden Museum des Instituts eine Vogels ch u tzsammlung errichtet wer- den. Die Aufgabe derselben wird es sein, alle bisherigen Methoden und Behelfe, deren sich die Vogelschutzbestrebungen bedienen, teils in Mo- dellen und Bildern, teils in Originalobjekten dem Beschauer vor Augen zu führen. Ferner sollen große übersichtliche , tabellarische und schemati- sche Darstellungen, die mit derartigen Hilfsmitteln erzielten Ergebnisse zeigen. Dabei soll auch die Gelegenheit ergriffen werden, durch gute Bilder Einblicke in das wechselvolle Leben und Treiben großer Vogelkolonien, die bereits unter Schutz gestellt sind oder dies verdienten, zu gewähren. Gute Präparate besonders zu schützender, ver- einzelt lebender Vogelarten, nebst Abbildungen der Örtlichkeiten ihres Aufenthaltes, mögen weiter- hin das ihre dazu beitragen, manche dieser schon selten gewordenen Vögel schützen zu helfen. P^benso will Tratz mit ähnlichen didaktischen Mitteln eine den wahren Verhältnissen entspre- chende Darlegung über das zu Speise- und Putz- werken betriebene Massenmorden der Vögel bieten. Die Besucher sollen erfahren, auf welch grausame und rücksichtslose Weise die Natur und ihre freien Wesen insbesondere für die selbst- süchtigen Putzgelüste des Kulturmenschen nutzbar gemacht werden. Gerade diese letzteren Dar- stellungen werden ihre Aufgaben voll erfüllen: nämlich die Menschen, namentlich die dabei in erster Linie betroffene Frauenwelt, darauf auf- merksam zu machen, welche barbarische Quälung und Schändung sie durch ihre Putzsucht der N. F. XIX. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 383 wildlebenden V'ogelwelt häufig verursachen. Im Anblick derartiger Erscheinungen werden sie, so wollen wir hoffen, wenigstens zum großen Teil, vor weiteren Anschaffungen solchen mit Blut und Jammer getünchten Schmuckes abstehen und Er- satz suchen und finden in menschlicher Kunst. Die im vorstehenden, nach den Ausführungen von Tratz dargelegten Ziele der neubegründeten Salzburger Vogelschutzstation dürfen als die ein- wandfrei umrissenen Ziele eines Deutschen Orni- thologischen Institutes bezeichnet werden. Aus diesem Grunde verdienen sie wohl, da sie im allgemeinen die Bestrebungen des Vogelschutzes so trefflich veranschaulichen , einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgegeben zu werden. Dr. H. W. Frickhinger. Bücherbesprechiingen. Arnold, Prof. Dr. K. , Repetitorium der Chemie. 15. verb. u. erg. Aufl. mit 32 Text- abbildgn. Leipzig 191 9, L. Voß. 17,60 M. Der „Arnold" ist den Praktikanten in chemi- schen Laboratorien ein altbekannter und bewährter Freund. Seine handliche Form , die allerdings gegen früher etwas größer geworden ist, die klare, übersichtliche Anordnung des Stoffes, die knappe und doch hinreichend erschöpfende Dar- stellung machen ihn zu einem vorzüglichen Nach- schlage- und Hilfsbuch beim chemischen Arbeiten sowohl als auch bei den Vorlesungen. Nament- lich ist das Buch für den IVIediziner und Pharma- zeuten nützlich, da auf die medizinisch wichtigen Verbindungen sowie auf die Pharmakopoen be- sondere Rücksicht genommen ist. Die hohe Zahl der Auflagen legt das beste Zeugnis für die Brauchbarkeit des „Repetitoriums" ab, daß auch in seiner neuesten Gestalt wiederum sorgfältig auf den modernen Stand des Wissens gebracht wurde. Miehe. Arndt, Kurt, Elektrochemie. Bd. 234 der Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Monographien ,,Aus Natur und Geisteswelt". II. Auflage. 106 Seiten in kl. 8" mit 37 Ab- bildungen im Text. Leipzig und Berlin 1919, Verlag von B. G. Teubner. Preis geh. 1,20 M., geb. 1,50 M. und Teuerungszuschläge. In dem vorliegenden Büchlein gibt der be- kannte Verfasser eine für weitere Kreise bestimmte, klare und verständliche Übersicht über die wissen- schaftlichen Grundlagen und die technischen An- wendungen der Elektrochemie. Das Büchlein ist in jeder Hinsicht zu empfehlen. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Molisch, Prof Dr. H., Pflanzenphysiologie alsTheorie derGärtnerei. Für Botaniker, Gärtner, Landwirte, Forstleute und Pflanzen- freunde. 3., neubearb. Aufl. Mit 145 Text- abbildungen. Jena 1920, G. Plscher. 20 M. Die ersten beiden Auflagen sind eingehend in der Naturw. Wochenschr. gewürdigt worden (vgl. N. F. Bd. 1 5, S. 35 1 und N. F. Bd. 18, S. 478), so daß es diesmal genügen dürfte, alle Garten- und Pflanzen- liebhaber darauf aufmerksam zu machen, daß hier ein vortreffliches Buch vorliegt. Die neue Auf- lage unterscheidet sich von der vorigen haupt- sächlich durch ein Kapitel über fleischfressende Pflanzen sowie weiterhin durch eine Reihe von Einschaltungen. Miehe. Dittler, R., Stereoskopisches Sehen und Messen. 36 S. Leipzig 1919, J. A. Barth. In dieser dem Andenken Ewald Herings gewidmeten Antrittsvorlesung entwickelt der Verf. die Lehre von der Tiefenlokalisation im Sinne der Hering'schen Theorie und skizziert die Ver- wendung der binokularen Tiefenwahrnehmung für moderne stereoskopische Meßmethoden. Die Darstellung ist so klar, daß die vorliegende Rede — trotz ihres für den Laien relativ schwer ver- ständlichen Themas — jedem als erste Einführung in die Probleme des optischen Raumsinnes warm empfohlen werden kann. Brücke (Innsbruck). Wei§, O., Grundriß der Physiologie. II. Teil: Biophysik. 454 S. Mit 170 Textabb. u. I färb. Taf. Leipzig 1919, G. Thieme. Das vorliegende Werk bildet mit der hier schon besprochenen Biochemie von C. Oppen- heimer ein kurzgefaßtes Lehrbuch der gesamten Physiologie des Menschen, das wohl speziell dem Studenten der Medizin gute Dienste leisten wird. Da das Buch schon jetzt seinem Umfange und seiner Ausstattung nach über den üblichen Repe- titorien steht, wäre es nach Ansicht des Ref. zu begrüßen , wenn es in einer neuen Auflage zu einem vollständigeren Lehrbuche der Physiologie erweitert würde. Brücke (Innsbruck). Anregungen und Antworten. In dem Aufsatz , .Zweckmäßigkeit und Vervollkommnung, XIX (1920) Nr. II, 167 — 173) nehme ich an dem Satz (S. 168) Ausdrücke ästhetischen Einschlags für naturwissenschaftliche Anstoß ;„.... während der Begriff der Anpassung im An- ^\~".. VT^^T-r -7 ' 1. Vr rT' /TTtV ^Tt — c i ICT^ organischen unter Umständen nicht ganz unstatthaft erscheinen TatsachUchkeUen" von V.Franz (Naturw. Wochenschr. N. F. J^^^^ ^.^ ^^^^^^^ ^ 3 .^ Anlehnung an Ausführungen 384 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. M von Walther den Granit als unserem Klima besser (ange- paßt» bezeichnen als den Porphyr." Die hier vorgenommene Verwendung des Ausdrucks «angepaßt» erscheint mir von dem landläufigen Sprachgebrauch der Naturforscher zu sehr abweichend. Wir verstehen doch unter dem Zustand des Angepaßtseins oder dem Vorgang der Anpassung (beide Be- griffe unter dem etwas unklaren und zweideutigen Ausdruck „Anpassung" schlechtweg zusammengefaßt) eine nützliche (vulgo „zweckmäßige") Ausgestaltung oder Änderung der Eigenschaften eines Organismus, veranlaßt durch die besonderen Verhältnisse oder Ände- rungen in der Umwelt. Die Lebensbedingungen wirken teils direkt gestaltend auf das (reaktionsfähige) Individuum ein (Licht- und Schattenformen innerhalb der gleichen Art; Licht- und Schattenblätter an verschiedenen Teilen des glei- chen Baumindividuums), teils im Laufe von Generationen in- direkt selektiv durch die Förderung der (aus inneren Ursachen, infolge richtungsloser Variation) bestangepaßlen Formen und durch die Ausmerzung der weniger günstig oder schädlich orga- nisierten Individuen (und damit auch ihrer mit gleichsinnigen Entwicklungstendenzen begabten Nachkommenschaft). Bei eruptiven Tiefen- und Ganggesteinen aber ist doch nicht wohl einzusehen, wie die physikalisch-chemischen Bedingungen an der Erdoberfläche, an die das Gestein später vielleicht ge- langen wird, irgendwie einen direkten oder selektiven Einfluß auf den Chemismus und die übrige Beschafienheit des Gesteins zur Zeil seiner Bildung ausüben soll. Man wird also, wenn man an dem anthropozentrischen W^erturteil, welches die feste Gesteinsmasse höher einschätzt als ihre Verwitterungsprodukte, festhalten will , nur sagen können , daß der Granit für unser Klima günstiger konstituiert (organisiert?) ist als der Por- phyr. A. Thellung (Zürich). Literatur. Koppe, Geh. Studienrat M. , Die Bahnen der beweg- lichen Gestirne im Jahre 1920. Eine astronomische Tafel nebst Erklärung. Berlin '19, J Springer. 2,40 M. Dingler, Dr. H., Die Grundlagen der Physik. Synthe- tische Prinzipien der mathematischen Naturphilosophie. Leip- zig u. Berlin '19, W. de Gruyter & Co. II M. Hertwig, O. und G., Allgemeine Biologie. 5. verb. u. erweiterte Aufl. Mit 484 Textabbild. Jena '20, G. Fischer. 45 M. Meyer, Prof. Dr. A., Morphologische und physiologische Analyse der Zelle der Pflanzen und Tiere. I. Teil. Mit 205 Textabbild. Jena '20, G. Fischer. 38 M. SoUa, Dr. R. F., Holzgewächse zur Winterszeit. An- leitung zum Bestimmen entlaubter Holzgewächse. Mit 50 Textabbild. Freiburg i. Br. '20, Th. Fischer. 2,40 M. Rnzicka, Prof. Dr. VI., Restitution und Vererbung. Experimenteller, kritischer und synthetischer Beitrag zur Frage des Determinationsproblems. Berlin '19, J. Springer. 10 M. Link, Prof. Dr. G. , Grundriß der Kristallographie. 4. verb. Aufl. Mit 486 Textfig. und 3 farbigen Tafeln. Jena '20, G. Fischer. 21 M. Otto, Dr. P. , Erfinderfibel. Stuttgart '20, Deutsche Verlagsanstalt. 16 M, Lampert, Prof. Dr. K., Das Leben der Binnengewässer. 3., verm., vom Verf. noch selbst besorgte Auflage. Nach dessen Tode herausgegeben und durchgesehen von Prof. Dr. R. Lauterborn. I. Lieferung. Leipzig, Chr. H. Tauchnitz. 2 M. Jacobi, Prof. Dr. A., Tiergeographie. 2. umgearb. Aufl. Sammlung Göschen. 2,40 M. Winkler, Prof. Dr. H., Verbreitung und Ursache der Parthenogenesis im Pflanzen- und Tierreiche. Jena '20, G. F'ischer. 18 M. Dahl, Prof. Dr. Fr., Der sozialdemokratische Staat im Lichte der Darwin-Weismannschen Lehre. Mit 9 Textabbild. Ebenda. 3 M. Dun gern, Prof. Dr. E. Frhr. von, Dynamische Welt- anschauung. Ebenda. 3 M. Reinke, Prof. Dr. Joh., Die schaffende Natur. Mit Bezugnahme auf Schopenhauer und Bergson. Leipzig '19, Quelle & Meyer. 4 M. Ott, Dr. E., Neuere Untersuchungen über Laktone (1907 bis 1915). Stuttgart '20, F. Enke. 2,50 M. Franz, Prof. Dr. V., Ursprüngliches in der warmblütigen Tierwelt des Kriegsgebietes. Berlin '19, Gebr. Bornträger. Di eis, H. , Antike Technik. Sieben Vorträge. 2. er- weiterte Auflage. Mit 78 Abbildungen, 18 Tafeln und einem Titelbilde, Leipzig und Berlin '20, B. G. Teubner. II M. Classen, A., Handbuch der analytischen Chemie. I.Teil. Qualitative Analyse. 7. umgearbeitete und vermehrte Auflage. Stuttgart '19, F. Enke. 20 M. Sammlung Göschen. Berlin und Leipzig, M. de Gruyter & Co. Jeder Band 2,40 M. Neger, Prof. Dr. F. M., Die Nadelhölzer und übrigen Gymnospermen. Mit 81 Abbild., 5 Tabellen und 4 Karten. 2. verb. Aufl. Lang, Prof. Dr. R., Experimentalphysik. III. Wärme- lehre. Mit 55 Textfiguren. Jäger, Prof. Dr. G., Theoretische Physik. I. Mit 24 Figuren. Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig und Berlin , B. G. Teubner. Jeder Band 1,60 M. Krische, Dr. P. , Agrikulturchemie. 2. verb. Aufl. Mit 21 Textabb. Grebe, Prof. Dr. L,, Spektroskopie. 2. Aufl. Mit 68 Figuren. Teich mann, Dr. E. , Befruchtung und Vererbung. 3. Aufl. Mit 13 Textabb. Günther, Prof. Dr. S., Das Zeitalter der Entdeckun- gen. 4. Aufl. Mit 1 Weltkarte. Möller, Dr. J., Nautik. Mit 64 Textfig. u. I Seekarte. Börnstein, R. , Sichtbare und unsichtbare Strahlen. 3., neubearbeitete Aufl. von Prof. Dr. E. Regener. Mit 71 Textabb. Prölß, O. , Graphisches Rechnen. Mit 164 Textfig. Kuhnt, P., Unsere Kohlen. 2. verb. Aufl. Mit 4 Textabb. u. I Tafel. Nickel, K., Die menschliche Sprache. Mit 4 Abb. Bortkiewicz, Prof. Dr. L. v., Bevölkerungswesen. Stemplinger, Prof. Dr. E. und Lamer, Prof. Dr. H., Deutschtum und Antike. Mit I Tafel. Miethe, Prof. Dr. A., Die Selbstherstellung eines Spiegel- teleskops. Mit I Titelbild. Stuttgart '20, F'rankhsche Ver- lagshandlung. 4,80 M. Geiger, H. und Mako wer, Vv'., Meßmethoden auf dem Gebiete der Radioaktivität. Mit öl Abb. Braunschweig '20, Fr. Vieweg u. Sohn. lo M. Solla, Dr. R. F., Holzgewächse zur Winterszeit. An- leitung zum Bestimmen entlaubter Holzgewächse. Mit 50 Textabbildungen. F'reiburg i. Br. '20, Th. Fischer. 2,40 M. Rebel, Dr. K., Streunutzung, insbesondere im bayrischen Staatswald Dießen. München '20, Jos. C. Hüber. 16 M. Inbalt: S. Killermann, Von einigen peruanischen Neueinführungen in unseren Gärten um Itjoo. S. 369. E. Krenkel, Über den Bau der Inselberge Ost-Afrikas. (3 Abb) S. 373. — Einzelberichte: E. Hillebrand, Die ältere Steinzeit in Ungarn. S. 378. A. Knabenhaus, Anfänge der staatlichen Organisation bei den Australnegern. S. 3S0. A. Krämer, Palauinseln. S. 38 1. Ed. Paul Tratz, Vom .Arbeitsplan der deutsch-österreichischen Vogelschutzstation in Salzburg. S. 381. — Bücherbesprechungen: K.Arnold, Repetitorium der Chemie. S. 383. K. Arndt, Elektro- chemie. S. 383. H. Molisch, Pflanzenphysiologie als Theorie der Gärtnerei. S. 3S3. R. Dittler, Stereoskopi- sches Sehen und Messen. S. 383. O. Weiß, Grundriß der Physiologie. S. 3S3. — Anregungen und Antworten: Zweckmäßigkeit und Vervollkommnung, Ausdrücke ästhetischen Einschlags für naturwissenschaftliche Tatsächlichkeiten. S. 3S3. — Literatur: Liste. S. 384 Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge iq. Band; sr ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 20. Juni 1920. Nummer 35. Über natürliche Bewegungen in geraden und gewellten Linien. Von Felix M. Exner. [Nachdruck verboten.] Mit 3 Abbildungen im Text. Nach einem im Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse Wien gehaltenen Vortrage. Der Titel dieses Aufsatzes erscheint vielleicht beim ersten Lesen recht unverständlich. Was soll die Betrachtung von Bewegungen in geraden und gewellten Linien bedeuten ? Gehören die beiden irgendwie zusammen ? Hat es überhaupt einen Zweck, Bewegungen in so allgemeiner Weise zu besprechen ? In der Tat liegt es näher, eine einzelne Be- wegung in der Natur zu studieren, und die Natur- wissenschaften haben sich ja auch an Einzeler- scheinungen herangebildet. Aber gerade das- jenige, was sich in vielem wieder findet, erweckt unser Interesse; und so wollen wir heute eine Sache besprechen, die sich wie ein roter Faden durch eine Reihe sehr verschiedener Bewegungs- arten hinzieht. Jeder von uns hat wohl schon, sei es mit Entrüstung, sei es mit Heiterkeit, einem Betrunkenen zugesehen, der schwankend nach Hause strebt. Hat unser Mann genügend Bewegungsfreiheit, wie etwa auf offener Landstraße, so bewegt er sich in der bekannten Zickzacklinie. Wir haben hier ein einfaches Beispiel für die Bewegungsform, die ich heute besprechen will. Der Betrunkene hat das Bestreben, den geraden Weg nach Hause zu wandeln; sein gestörter Gleichgewichtssinn be- wirkt ein Abweichen von diesem Wege nach links und rechts. Taumelt er gerade nach links, so entsteht in ihm der Wille, in die richtige Bahn zurückzugelangen; er zwingt sich also, nach rechts zu gehen, schwankt dabei aber über die mittlere Linie hinaus auf die rechte Seite, um nun wieder nach links zu taumeln. So wiederholt sich das Pendeln um die direkte Bewegungsrichtung, den idealen Weg, der dem Willen des Wanderers entsprechen würde. Die Trägheit des Kör- pers, dessen Widerstand gegen sein völliges Erfüllen der Willensimpulse, ist es, was die Schwankungen hervorruft, und je größer dieser Widerstand ist, je stärker der Rausch ist, desto größer werden die unbeherrschten Elongationen nach links und rechts sein. Wir wollen unser triviales Beispiel verallge- meinern. Eine Kraft zieht einen Körper auf ein Ziel hin. Durch irgendwelche kleine Hindernisse wird derselbe ein wenig aus der Richtung aufs Ziel abgelenkt. Was wird die Folge sein? Der Körper wird sich im Zickzack, in gewellter oder geschlängelter Linie, auf das Ziel zu be- wegen. Dies wäre nun von keiner sonderlichen Be- deutung, wenn nicht solche Bewegungen so häufig und in so mannigfaltigem Gewände vorkämen. In der Tat haben ja sehr viele Bewegungen in der Natur irgendein Ziel vor sich — ich erinnere beispielsweise an den Eisenbahnzug, den Fluß, die fallenden Herbstblätter. Und da kann gleich gesagt werden, daß keine solche Bewegung in idealer Weise direkt auf das Ziel los geht, sondern daß jede in gewellter Bahn erfolgt; denn es finden sich immer irgendwelche, wenn auch sehr geringe Ursachen, die eine erstmalige Abweichung des Körpers aus der direkten Richtung hervor- rufen. Diese Abweichung hat dann infolge der Trägheit der Masse eine andere nach der ent- gegengesetzten Seite zur Folge, diese wieder eine neue auf die erste Seite usw. Physikalisch können wir die Sache in folgender Weise ausdrücken. Wenn eine Kraft auf eine Masse wirkt und diese sich trotzdem nicht beschleunigt bewegt, so müssen Widerstände der Bewegung entgegen- arbeiten. Diese Widerstände sind in der Natur stets vorhanden und niemals ganz regelmäßig ver- teilt, sondern zeigen Unsymmetrien. Infolgedessen wird die bewegte Masse sich jenen Weg aus- suchen, auf dem der Widerstand am geringsten ist. Durch die Krümmung der Bahn entstehen nun aber Zentrifugalkräfte. Der Weg des gering- sten Widerstandes wird also nicht eingehalten, sondern eine durch die Trägheit der Masse modi- fizierte Bahn ausgebildet. Es folgt also daraus : Bewegungen von Körpern in geraden Linien gibt es, genau genommen, nicht; die Bewegungslinien sind stets geschlängelt. Der Grad der Abweichungen von der geraden Bahn hängt von den Umständen ab. Je schwächer die Richtung gebende Kraft im Verhältnis zur Träg- heit des Körpers ist und je unregelmäßiger die Widerstände gegen die Bewegung verteilt wird, desto mehr wird sich die gewellte Linie von der geraden unterscheiden. Man kann das auch anders ausdrücken. Die Wahrscheinlichkeit einer gerad- linigen Bewegung ist ungeheuer klein gegen die einer geschlängelten. Denn der geringste Anstoß genügt, um aus der ersten die letztere zu erzeugen. Wir wollen nun einige dieser Bewegungsarten näher besprechen und dazu neue Beispiele aus der unbelebten Natur wählen. Hier gibt nur die Mechanik ein Mittel an die Hand, die Kräfte und 386 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 25 ihre Wirkungen einwandfrei zu bestimmen. Bei der belebten Natur tritt die Willenskraft hinzu, für die noch kein Maß angegeben ist. Jedermann weiß, daß es im letzten Wagen eines Eisenbahnzuges mitunter nicht angenehm zu fahren ist; er kann viel stärker rütteln als die übrigen. Dies rührt von kleinen Unregelmäßig- keiten der Schienen her, welche den Wagen aus seiner geraden Bahn reißen. Er gerät dabei in Schwingungen nach links und rechts, ähnlich wie ein Uhrpendel ; er hat eine gewisse Schwin- gungsdauer, die unter anderem von seiner Ge- schwindigkeit abhängt. Die Schwingungen wer- den nun besonders heftig, wenn der schwere Körper vermöge seiner Trägheit und der ihn vor- wärts ziehenden Kraft zufällig gerade in solchen Intervallen nach links und rechts pendelt, in wel- chen auch die Schienen Ausbuchtungen besitzen. Ganz etwas Ähnliches beobachten wir, wenn wir ein Boot an längerem Seil an ein anderes an- hängen und dasselbe durchs Wasser ziehen; es pendelt hin und her, ja, wenn es groß ist gegen das geruderte vordere Boot, so kann es das letztere beständig aus seiner Richtung reißen und für den Steuermann sehr störend sein. Um allzu große Elongationen nach links und rechts zu verhindern, werden daher Anhängeboote und ebenso Anhänge- wagen meist recht kurz befestigt. Ein Wagen, von Pferden gezogen, scheint in gerader Linie zu fahren. Doch sind auch hier Wellen vorhanden, wenn auch sehr kurze. Sie werden deutlicher, wenn die Pferde ihr Tempo beschleunigen ; und geht das Gespann durch, so entsteht das bekannte Schleudern des Wagens nach links und rechts, die gewöhnliche Ursache des Umwerfens. Die meisten Menschen glauben, daß sie ge- radeaus gehen können. Aber man zeichne sich nur einmal eine 10 m lange gerade Linie auf die Straße und gehe auf ihr ohne besondere Vorsicht hin; dann wird man finden, daß man unwillkür- lich nach links und rechts von ihr abweicht. Diese Tatsache prägt sich aufs Deutlichste in der Form der Fußpfade aus, die ohne Richtschnur und Wegmacher nur durch häufiges Gehen auf der- selben Bahn entstehen. Ein geradliniger Wiesen- pfad ist etwas ganz Unnatürliches, jeder Wiesen- pfad ist geschlängelt; und zwar sind seine Aus- buchtungen nicht allein durch die Terrainverhält- nisse bestimmt, sondern auch durch die Schwin- gungsdauer des gehenden Menschen. Unwillkür- lich biegt der Fußgänger, durch eine kleine Ter- rainschwierigkeit aus seiner Richtung gebracht, in einem Bogen von ganz bestimmter Länge in die ursprüngliche Richtung zurück. Bei diesem Bogen ist der nötige Kraftaufwand, um die alte Bahn wieder aufzunehmen, der geringste, er wird daher unwillkürlich eingeschlagen, jeder andere Weg wäre mit Unlust verbunden. Bei der Form eines Wiesenpfades spielt also die Gangart und das Gewicht des Menschen mit. Man überzeugt sich leicht von der Richtigkeit dieser Anschauung, wenn man die Wahl zwischen einem künstlich angelegten geraden und einem natürlich ent- standenen geschJängelten Wege hat oder auch, wenn man mit dem Fahrrade einen geschlängel- ten Fußweg fahren muß ; seine Bögen passen nicht zur Bewegung auf dem Rade, sie sind zu kurz. Die obigen Beispiele betrafen Bewegungen fester Körper in der horizontalen Ebene. Es gibt auch solche in der vertikalen Richtung, wo dann die bewegende Kraft die Schwerkraft ist. Hierher gehört in erster Linie der vertikale Fall. Im leeren Raum, etwa in der luftleer gepumpten Glasröhre, sieht man bekanntlich alle Körper direkt nach abwärts fallen. In der Luft gilt dies nur mehr für schwerere Körper, leichte Körper, wie Papierschnitzel oder Blätter, flattern bekanntlich in unregelmäßigen Bahnen durch die Luft herab. Am einfachsten wird die Bewegung bei einem läng- lichen Blatt Papier. Es sinkt, indem es nach links und rechts in der bekannten Weise hin- und her- schwankt. Man kann dieses Fallen näher ver- folgen. Lassen wir das Blatt zunächst möglichst horizontal im Zimmer nahe der Decke los. Es beginnt zu sinken, erfährt aber sogleich einen namhaften Luftwiderstand auf seiner Unterfläche; dieser wird niemals ganz gleichmäßig wirken, vielmehr werden kleine Unregelmäßigkeiten zur Folge haben, daß das Blatt sich in einer Richtung aus der horizontalen neigt. Sofort wird es dann in dieser Richtung aus der Vertikalen in bogen- förmigem Flug ausweichen, wobei es sich nicht nur wieder' horizontal stellt, sondern über die horizontale Lage hinaus hebt; die Folge ist dann ein Abgleiten nach der anderen Seite usw. Kleine Unregelmäßigkeiten in der Anfangslage oder in der Gewichtsverteilung bedingen also infolge des Luftwiderstandes die schwankende Bewegung. Die größte in der freien Natur regelmäßig wirkende Kraft, die Schwerkraft, führt noch zu vielen anderen schwankenden Bewegungen, z. B. beim Fall auf schiefer Ebene. Wer einigemale auf einer Rodelbahn mit dem Schlitten zu Tal gefahren ist, wird bemerkt haben, daß die Bahn, je mehr sie ausgefahren wird, um so hügeliger wird, daß der Schlitten immer mehr Hopser macht, bis es schließlich, wenn kein Neuschnee fällt, aufhört ein Vergnügen zu sein, über die bucklige Bahn herab zu rodeln. Wir haben hier wieder die gewellte Bewegungs- linie; sie bildet sich aus der geradlinigen heraus, je länger wir die Bewegung fortsetzen, weil die Rodelbahn allmählich die Form annimmt, bei wel- cher sie die geringsten Veränderungen erfährt, eine Art Gleichgewichtsform. Die Bahn des ge- ringsten Widerstandes wird so abgeschliften, daß sie mit der Trägheitsbewegung vereinbar ist. Die Beweglichkeit des Schnees hat nämlich zur Folge, daß er vom Rodelschlitten am stärksten dort weg- gerissen wird, wo die F"ahrgeschwindigkeit am größten ist, also wo zufällig eine steile Stelle in der ursprünglichen Bahn war; dagegen wird der Schnee dort zusammengeschoben, wo die Ge- N. F. XIX. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 387 schwindigkeit am geringsten ist; so wird die steile Stelle noch steiler, die Fläche noch flacher und es entstehen die Buckel, welche alimählich die Rodelbahn unbenutzbar machen. Natürlich kommt auch hier die Schwingung des Schlittens noch auf- und abwärts' in Betracht. Der eine Schlitten wird eine größere Schwingungsdauer haben als der andere, also werden sich durch den ersten die Abstände der Buckeln größer gestalten als durch den zweiten. Die Rodelbahn muß mithin um so länger benutzbar bleiben, je verschiedener die Schlitten sind, welche sie befahren. Wir haben hier einen Fall, wo die voraus- gehenden schwingenden Bewegungen die folgen- den verstärken, wo die Wirkung der Bewegungen aufgestapelt wird. Der Schnee zeichnet die früheren Ereignisse auf und macht sie uns durch die Akkumulation deutlich sichtbar. Wir werden ähnliche Verhältnisse später in größerem Maß- stab finden. Ganz analog mit der Form der Schneefläche auf der Rodelbahn ist die der Wellen im Flusse. Hier handelt es sich wieder um den Fall auf der schiefen Ebene, aber nicht um den Fall fester Körper, sondern um den von Flüssigkeiten. Wir kommen zu jenen Bewegungsformen, von denen wir den Namen für die oben besprochenen ge- nommen haben, zu den Wellen des Wassers. Genau genommen gehören nur die Wellen auf strömendem Wasser hierher, wie sie etwa in Bächen oder kleineren Flüssen mit steinigem Boden vorkommen. Hier gibt z. B. eine stärkere Unebenheit des Grundes, ein Felsblock, zu einer Er- hebung des Wasserspiegels Veranlassung, die dann nach abwärts von einer Senkung und weiter noch von mehreren Wellen gefolgt ist. Das in Wellen strömende Wasser gleicht hier ganz der Schnee- oberfläche auf der Rodelbahn. Da der Stein ruht, so ruht auch die Wellenform, zum Unterschied von den JVIeereswellen, bei welchen die Wasser- teilchen nicht fließen, sondern nach Durchlaufen einer Ellipse oder eines Kreises wieder an ihren Ausgangspunkt zurückkehren. Hier bewegte sich die Wellenform weiter, die Bewegung des Meer- wassers paßt also nicht in unsere Betrachtung. Hiergegen brauchen wir nur auf die Ursache der Meereswellen, den Wind zurückzugehen, um so- gleich wieder die Bewegung in gewellten Linien zu finden. Die Luft strömt wesentlich horizontal über das Meer. Die Bewegung bleibt aber nicht genau geradlinig, sondern es entstehen Aus- und Einbuchtungen in der Vertikalen, und die Grenz- fläche zwischen Luft und Wasser muß gleichfalls diese Formen annehmen; es entstehen die Meeres- wellen. Diese gewellten Formen sind wieder weitaus wahrscheinlicher als die ebene Fläche, weil die geringste Aus- oder Einbuchtung zu einer Erhöhung oder Vertiefung der Grenzfläche führt, und zwar infolge der Zentrifugalkraft, die jede Ausbiegung zu vergrößern bestrebt ist. Ähnliche Wellen kann man beobachten, wenn zwei Luftschichten verschiedener Dichte über- einander liegen und die obere sich bewegt ; wird die untere durch Nebelbildung sichtbar, so kann man bei günstigem Standpunkte die Wellen im Nebelmeere von oben erblicken. Der große Phy- siker Helm hol tz hat die streifenförmigen Wol- ken, die wie einzelne Röllchen nebeneinander- liegen, auf diese Weise erklärt. Die obere wärmere Luftschichte strömt über die untere kalte, aber nicht in geraden Bahnen, sondern in gewellter Form ; auch die untere kältere Luft- schichte nimmt diese Form an, so daß die Grenz- fläche zwischen beiden gewellt ist. Wo die kalte Luft in die Ausbuchtung der Grenzfläche nach oben gehoben wird, da kühlt sie sich ab und bildet Wolken, wo sie hinabgedrückt wird, da fehlen sie und so wird die Wellenform sichtbar. Es ist aber gar nicht nötig, daß die untere Masse durchaus eine Flüssigkeit sei. Auch wenn sie aus leicht beweglichen festen Teilchen besteht, wie etwa Sand oder Schnee, kann der darüber- streichende Wind Wellenformen auf ihr erzeugen. Ich erinnere in dieser Beziehung an die Sand- dünen, die wellenförmigen Berge und Täler im Sand, die durch den Wind entstehen und sich sogar allmählich in der Windrichtung fortwälzen. Auch im kleinen Maßstab kann man diese Wellen beobachten, wenn der Wind über Sand oder leich- ten Schnee hinweht; es bilden sich dann Kräuse- lungen, die oft nur einige Zentimeter voneinander abstehen. Bei den zuletzt betrachteten Bewegungen, den Luftwellen über Wasser, Schnee oder Sand haben wir es natürlich nicht mehr mit dem Fall auf schiefer Ebene zu tun, die Arbeit zur Erzeugung der Wellen wird also nicht direkt von der Schwerkraft geleistet, sondern von der leben- digen Kraft der Luftbewegung. Doch ist dies für unsere Betrachtung gleichgültig; es ist nur erforderlich, daß die mittlere Bewegung in einer Richtung trotz des Energieverbrauches durch Reibung und Wellenbildung auf irgendeine Weise erhalten werde. Schließlich kennen wir noch eine sehr hübsche gewellte Bewegung, bei welcher wieder der Fall auf schiefer Ebene gegeben ist, nämlich den sich schlängelnden Flußlauf, den Mäander. Ein jeder natürliche Bach eilt seinem Ziel nicht auf gerader Bahn, sondern in Schlangenlinien zu, auch bei Flüssen und Strömen findet man äußert selten gerade Strecken, überall treten Bogen und Win- dungen auf, selbst in der Ebene, wo weder Ge- birge noch Hügel den Lauf des F"lusses zu be- stimmen scheinen. Wirklich gerade Wasserläufe findet man nur bei künstlich gegrabenen oder regulierten Flüssen und Bächen. Der Fall des Wassers auf der schiefen Ebene des Flußbettes geht nicht ohne Reibung vor sich, das Wasser erleidet vielmehr dabei so große Widerstände, daß seine Geschwindigkeit, statt flußabwärts zuzunehmen, meist wesentlich ab- nimmt. Ohne Reibung würde z. B. Donauwasser, das von 200 m Seehöhe, wie wir sie in Wien 388 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 25 annähernd besitzen, auf schiefer Ebene ins Schwarze Meer fließt, dort im Meeresniveau mit einer Geschwindigkeit von etwa 60 m/sec an- kommen; in Wirklichkeit wird dieselbe um i bis 2 m/sec betragen. Die ganze Fallenergie des Donaustromes, die imstande wäre, ungeheure Maschinenkraft zu liefern, wird also Stunde für Stunde und Jahr um Jahr im Flußbett verbraucht, und zwar offenbar auf Abschleifen des Bettes, auf Zerkleinern und Transport der Geschiebe. Be- denkt man dies, so ist es einleuchtend, daß das fließende Wasser mit seinem Bette in engster Be- ziehung steht und daß eine fortwährende gegen- seitige Anpassung zwischen Wasser und festem Material stattfindet. Auch beim Verständnis des Mäander ist dieser Gesichtspunkt festzuhalten. Die geschlängelten Formen des Flußlaufes sind nichts Festes, Dauerndes, sondern stets in Umwandlungen begriffen und stehen in genauen Beziehungen zur Geschwindig- keit des Wassers, zu seiner Breite und Tiefe. Legt man einen geradlinigen Wasserlauf in leicht erodierbarem Material, etwa lehmigem Sand, an und läßt das Wasser schief zu jener Rinne Strömung flußabwärts getragen werden. Wenn die Mäander sich einmal ausgebildet haben, so tritt doch noch kein Ruhezustand ein ; denn mit zunehmender Breite des Mäandertales scheinen auch die Schwingungen und damit die Bögen länger zu werden, auch können die Einbuchtungen Abb. I. A KiiiiluLUtrlle, B-C-D Flufllauf. An der .Strecke 1 — 2, 3 — -4, 5 — 6 sind die alten gradlinigen Ufer sichtbar. I — B — 2, 3 — C — 4, 5 — D — 6 sind Sandbänke. einfließen, so kann man nach kurzer Zeit be- obachten, wie das Wasser das der Einlaufstelle gegenüberliegende Ufer anzunagen beginnt. Es bildet sich ein Bogen, der durch die Zentrifugal- kraft des Wassers bald verbreitert wird, wie dies das folgende Bild eines Laboratoriumsversuches zeigt (Abb. i). Das Wasser, welches aus dem entstandenen Bogen in den geraden Lauf einfließt, wird nun an das entgegengesetzte Ufer geworfen und beginnt hier seine erodierende Tätigkeit, bis an dieser Stelle ein zweiter Bogen nach der anderen Seite entstanden ist; und so geht es fort. Zu- gleich vertieft sich durch Erosion das Flußbett, und es entstehen dort Sandbänke, wo früher, im geraden Laufe, das Wasser floß (siehe Abb. i bei Bei). Es läßt sich zeigen, daß die Wasser- bewegung nach rechts und links so vor sich geht, wie in einer Wanne von der Breite des Mäander- gürtels; das Wasser schwingt in stehenden Wellen, quer zum Flußlauf, die durch die gleichzeitige breiter und breiter werden, so daß-Abschnürungen derselben und tote Arme entstehen, wie das z. B. die Donau häufig zeigt, namentlich im unteren Laufe. In der Natur spielt auch der wechselnde Wasserstand eine Rolle; niedriges Wasser sucht andere Mäander auszubilden als hohes, so daß auch infolge ungleicher Wasserhöhe stets neue Veränderungen das Leben des Flusses kenn- zeichnen. Wie groß die Rolle der geschlängelten Bewegung ge- genüber der geradlinigen ist, geht daraus hervor, daß selbst die die Flußläufe begleitenden Bergformationen jenen Einfluß zeigen. Eine Höhenlinie an einem Talhang verläuft nicht geradlinig, sondern ist gleich- falls geschlängelt wie der Fluß in der Tiefe, wohl weil der letztere im Laufe langer Zeit die Form seines Laufes in den Boden gegraben und so zur Bildung abwechselnd vorsprin- gender Berge Anlaß gegeben hat. In Abb. 2 ist versucht, dies in einer Skizze darzu- Abb. 3. Stellen, während Abb. 3 die zugehörigen Isohypsen beiderseits vom Flusse A B schematisch wieder- gibt. Dieser fließt in einem flachen Talbecken, in welchem abwechselnd am rechten und linken Ufer halbmondförmige ebene Sandbänke oder Ge- röllhalden aufeinander folgen. Die vorspringen- den Ausläufer der das Tal begleitenden Berg- N. F. XIX. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 389 rücken C D und E F~ greifen naturgemäß ab- wechselnd ineinander, wie die Schraffen dies er- kennen lassen. Infolge dieser Bergformationen verlaufen auch die Straßen in Flußtälern meist geschlängelt. Ähnlich wie das Wasser im Fluß- bett nicht geradlinig zu strömen pflegt, so scheint auch die Luft über die Erdoberfläche sich häufig in gewellten Linien zu bewegen. Bekanntlich beschreiben frei bewegliche Körper, die auf der Erde in horizontale Bewegung ver- setzt werden, infolge von deren Achsendrehung krumme Bahnen, und zwar sind letztere auf der nördlichen Halbkugel nach rechts gekrümmt. Es ist so, als würde eine Kraft die Körper aus ihrer geraden Bahn ziehen, man spricht daher von der „ablenkenden Kraft der Erdrotation". Wenn nun Luft aus einem Gebiet hohen Luftdruckes sich gegen ein Gebiet niedrigeren Druckes in Be- wegung setzt, so rückt die ablenkende Kraft auf sie derart ein, daß schließlich die Luft senkrecht zum Druckgefälle strömt und dieses sich mit der ablenkenden Kraft ausgleicht. Wir könnten also hier eine geradlinige Luftbewegung haben. Nun wird aber wieder jede £;eringste Ursache einer Ab- weichung aus dieser Bewegungsrichtung zu einer wellenförmigen Bewegungslinie führen, von ver- wandter Gestalt, wie sie die vertikalen Luftwellen hatten, nur von viel größerer Wellenlänge. IVIan hat solche Wellen auf den Wetterkarten ange- deutet gefunden. Der Abstand der Bogen von- einander, die Wellenlänge, beträgt mehrere hundert Kilometer. Bei einer Ausbuchtung nach rechts wirkt auf die bewegten Luftmassen eine Fliehkraft nach rechts, bei einer Ausbuchtung nach links eine solche nach links. Infolgedessen sind mit den Ausbuchtungen auch die entsprechenden Unterschiede in der Luftdruckverteilung verbunden, so daß in den Ausbuchtungen der Wellenlinien gegen die Seite tiefen Druckes hin der Luftdruck höher ist als in den Einbuchtungen. Bei der westöstlichen Zirkulation der Luft auf der Erde in unseren Breiten scheinen sich nun auch die Wellenformen, somit die Druckunterschiede von Westen nach Osten zu verschieben. Das Wechseln des höheren mit dem tieferen Druck kann also zum Teil durch die wellenförmige Bewegung der Luft verursacht sein. Einen Fingerzeig hierfür bietet die Erfahrungstegel, nach welcher dort, wo an einem Tage ein gegen Norden sich erstrecken- der Keil hohen Druckes liegt, dort am nächsten Tage umgekehrt ein Tiefdruckausläufer gegen Süden zu finden ist. Vermutlich wird diese Wellenform der westöstlichen Luftbewegung zum Teil durch die normale Luftdruckverteilung auf unserer Halbkugel immer wieder erzeugt; wir haben im Winter auf den Kontinenten hohen, auf den Meeren tiefen Druck, wenigstens in höheren Breiten. Freilich wissen wir von diesen Verhält- nissen noch zu wenig, um uns näher darauf ein- zulassen. Die bisher betrachteten wellenartigen Bewe- gungslinien verliefen alle mehr oder weniger in einer Ebene. Eine ganz frei bewegliche Masse könnte aber Abweichungen aus ihrer mittleren Bewegungslinie nach allen Richtungen in einer Ebene senkrecht zu jener Linie zeigen. Hierdurch entstände keine einfache Wellenform, sondern eine unregelmäßig gewundene Kurve, die sich um eine zentrale Gerade irgendwie herumwindet. Die Be- wegungen eines Wasserteilchens in einem Flusse oder eines Luftteilchens in der freien Atmosphäre dürften in solchen Kurven erfolgen; man nennt solche Bewegungen „ambulante", und es ist eine eigentümliche Tatsache, daß in einem Wasser- gerinne, etwa in einer Röhre, das Wasser nur bei äußerst langsamer Bewegung geradlinig strömt, daß es aber bei größerer Geschwindigkeit regel- mäßig in verschlungenen Bahnen sich bewegt, die sich ins einzelne nicht näher verfolgen lassen. Man erkennt diese Verschlingungen daran, daß die Wassermasse in kurzer Zeit schon sich mit der umgebenden Masse aufs innigste vermischt, wie sich durch Färbung eines Teiles des Wassers leicht feststellen läßt. Es ist wohl sehr wahrscheinlich, daß wir es hier mit ähnlichen Bewegungen zu tun haben wie oben. Die geringsten Unregelmäßigkeiten lenken ein Teilchen aus seinen geradlinigen Bahnen ab, und es kehrt nicht wieder in dieselbe zurück, sondern folgt dem Gerinne in gewundenen un- regelmäßigen Kurven. Dies hat auch zur Folge, daß die mittlere Strömungsgeschwindigkeit und die Ausflußmenge bei dieser ambulanten Bewe- gung geringer ist, als man bei dem herrschenden Gefälle erwarten sollte , ein Umstand, der in der Hydrotechnik allgemein bekannt ist. Die Theorie der Flüssigkeitsbewegungen, die sog. klassische Hydrodynamik, ist nicht imstande, die ver- schlungenen Bahnen zu verfolgen, sondern muß gerade Bahnen annehmen, sie versagt infolge- dessen bei der zahlenmäßigen Berechnung vieler Probleme der Flüssigkeitsbewegungen. Ahnliche turbulente Bewegungen zeigen auch die Winde in der Atmosphäre. Sie sind im all- gemeinen schwächer als man nach den vorhan- denen Kräften erwarten sollte, weil ein großer Teil der Bewegungsenergie in den turbulenten Bewegungen verloren geht. Wir müßten ohne die letzteren viel heftigere Winde auf der Erde haben. Die Abweichung der Bewegung von der geraden Linie spielt also auch praktisch eine be- deutende Rolle. Wir haben unseren allgemeinen Gesichtspunkt von der gewellten Bewegungslinie auf zahlreiche Vorgänge in der Natur anwenden können. Aber diese eigentümliche Erscheinung gilt nicht nur in der Körperwelt. Jedes Streben nach einem be- stimmten Ziel kennt die Schwankungen nach links und rechts, die Geisteswelt scheint dem gleichen Prinzip Untertan zu sein. Der wellenförmige Ver- lauf der geistigen Entwicklung des einzelnen Men- schen gehört ebenso hierher, wie der analoge Verlauf in der Geschichte der Menschheit über- 390 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2: haupt. Geisteskultur, Sitte, Politik, sie alle zeigen wellenförmigen Gang, und die Abweichungen sind um so stärker, je geringer die vorwärtstreibenden Kräfte, je größer die geistige Trägheit oder die Charakterschwäche. Doch sind wir von einer Physik der geistigen Ereignisse noch zu weit ent- fernt, als daß wir diese Dinge weiter verfolgen könnten. [Nachdruck verboten.] Die Grundlageii der Relativitätstheorie. VoQ Dr. Alfred Stahl, Berlin. Die Relativitätstheorie geht von der Annahme aus, daß zwischen dem Relativitätsprinzip und dem Additionstheorem der Geschwindigkeiten eine Unstimmigkeit besteht. Wenn sich das Licht relativ zur Erde mit der Geschwindigkeit c fort- pflanzt, so würde nämlich die Geschwindigkeit des Lichtes relativ zu einem mit der Geschwindig- keit w in der Richtung des Lichtstrahles fahren- den Eisenbahnzuge gleich c — w sein (Additions- theorem). Das Relativitätsprinzip aber, das auf Erfahrungen gestützt ist, behauptet, daß relativ zu allen gleichförmig und geradlinig bewegten (Trägheits-) Systemen die Naturgesetze sich in gleicher Weise abspielen, daß demnach auch z. B. die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichtes in jedem Trägheitssystem (also auch für den fahren- den Zug) dieselbe (c) ist ohne Rücksicht auf die Bewegungsgeschwindigkeit des Systems. Für diese Annahme spricht u. a. der Umstand, daß die Lichtgeschwindigkeit relativ zur Erde — welch letztere man ja für kurze Zeiträume als ein Trägheits- system betrachten kann — stets zu 300000 km/sec. festgestellt wird, obwohl die Bewegungsgeschwin- digkeit der Erde im Laufe des Jahres wechselt. Es spielt also keine Rolle, ob sich die Erde mit 30 oder etwa mit 30 000 km Geschwindigkeit be- wegt, die Lichtgeschwindigkeit relativ zur Erde wird stets zu 300000 km/sec. ermittelt werden. Diese angebliche Unstimmigkeit des Relativi- tätsprinzips mit dem Additionstheorem der Ge- schwindigkeiten bildet eine wesentliche Grundlage der Relativitätstheorie, denn die Theorie sucht ja gerade in erster Linie für diese Unstimmigkeit eine Lösung. Bei näherer Betrachtung ergibt sich indessen, daß die scheinbare Unstimmigkeit tat- sächlich gar nicht besteht. Denn der Lichtstrahl bewegt sich in dem angeführten Beispiel gar nicht in dem Trägheitssystem des Eisenbahnzuges, son- dern in dem der Erde, das Relativitätsprinzip kann daher für den Zug gar keine Anwendung finden. Ein Beispiel mag dies erläutern. Nach dem Relativitätsprinzip muß naturgemäß auch die Aus- breitung des Schalles für alle Trägheitssysteme, sofern sie überhaupt mit Luft erfüllt sind, dieselbe sein. Die Geschwindigkeit des Schalles in der Luft ist bekanntlich = rund 333 m/sec. Nehmen wir nun an, ein Eisenbahnzug von 333 m Länge, den wir uns der Einfachheit halber als eine ge- rade Röhre vorstellen wollen, bewege sich mit einer Geschwindigkeit von 333 m relativ zur Erde. Am Ende dieses Zuges, doch innerhalb desselben. werde in einem bestimmten Zeitpunkte eine Pistole abgeschossen. Dann wird der Lokomotiv- führer den Schall gerade nach i Sekunde ver- nehmen. Er wird also mit Recht den Schluß ziehen, daß die Relativgeschwindigkeit des Schalles zum Zuge =333 m/sec. ist, also genau so groß, als wenn man den Versuch in einem relativ zur Erde ruhenden Zuge anstellen würde. — Nehmen wir dagegen an, der Pistolenschütze sitze am Ende des Zuges auf dem Dache desselben und gebe von hier aus den Schuß ab, so wird offen- bar der Lokomotivführer den Schall überhaupt nicht vernehmen, da er sich ja mit Schallge- schwindigkeit dem Schall vorausbewegt. Er würde also in diesem Falle schließen, daß die Schallge- schwindigkeit relativ zum Zuge =^ O ist, wie es auch dem Additionstheorem entspricht. Welches ist nun der grundlegende Unterschied zwischen den beiden beschriebenen Versuchen? Im ersten Falle pflanzt sich der Schall oft'enbar im Raumsystem des Zuges fort, deshalb gilt auch für dieses des Relativitätsprinzip, im zweiten Falle dagegen pflanzt sich der Schall außerhalb des Zugraumes, also im Raumsystem der Erde fort, deshalb kann hier natürlich das Relativitätsprinzip nur in bezug auf die Erde (auf die es in der Tat auch zutrifft), nicht aber in bezug auf den Eisenbahnzug zur Anwendung ge- langen. Denn es behauptet ja nur, daß sich die Naturgesetze in, d. h. innerhalb aller Träg- heitssysteme gleich abspielen. Die gleichen Erwägungen gelten auch für das oben erwähnte Beispiel des Lichtstrahles. Wenn sich der Lichtstrahl innerhalb des fahrenden Zuges fortpflanzen würde, so würde sich seine Geschwindigkeit relativ zum Zuge stets zu 300 coo km/sec. ergeben. Pflanzt er sich dagegen außerhalb des Zuges fort, so bewegt er sich im Raumsystem der Erde und kann daher — nach dem Relativitätsprinzip — naturgemäß nur relativ zu dieser die Geschwindigkeit c = 300000 km/sec. haben. Der Fehler, den die Relativitätstheorie be- geht, liegt also m. E. in einer falschen Auslegung bzw. Anwendung des Relativitätsprinzipes. In Wahrheit besteht eine Unstimmigkeit zwi- schen Relativitätsprinzip und Additionstheorem nicht. Dann liegt aber auch gar kein Bedürf- nis nach der Relativitätstheorie vor, zumal diese mit den Anschauungen der klassischen Physik im Widerspruch steht. . Die Relativitätstheorie findet die Erklärung | N. F. XIX. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 391 der angebHchen Unstimmigkeit — also unter falscher Voraussetzung — in der Relativierung der Zeit und der räumlichen Maße. Zur Veran- schaulichung der Relativität der Zeit, insbesondere der Gleichzeitigkeit, wird folgendes Beispiel ge- wählt. An einem Bahndamm, über den ein gleich- förmig bewegter Eisenbahnzug fährt, schlagen — vom Bahndamm aus beurteilt — gleichzeitig 2 Blitze an 2 weitentfernten Punkten des Dammes ein. Ein genau mitten zwischen den beiden Ein- schlagspunkten am Bahndamm stehender Be- obachter nimmt also beide Blitzschläge gleichzeitig wahr. Ein Beobachter im Zuge dagegen muß infolge der Relativbewegung des Zuges zum Bahn- damm den einen Blitzschlag früher wahrnehmen als den anderen, für ihn erscheinen also beide Blitzschläge nicht gleichzeitig. Ist durch diese Überlegung der Begriff der Gleichzeitigkeit — und damit der Zeit überhaupt — wirklich relativiert? Vom Standpunkte der Logik keineswegs 1 Denn es darf nicht etwa gleichzeitige Wahrnehmung mit gleichzeitigem Geschehen verwechselt werden. Überdies bietet das Beispiel auch denselben Angriffspunkt wie das vorhin erwähnte Beispiel vom Lichtstrahl und fahrenden Zuge. Nehmen wir einmal an, der Zug sei sehr lang, und die Blitze schlagen nicht nur in den Bahndamm ein, sondern zugleich auch in die entsprechenden Teile des Zuges. Dann würde nicht nur der Beobachter am Bahndamm, sondern auch der im Zuge die Blitzschläge gleichzeitig wahrnehmen. Denn dann würden sich die von den Blitzen ausgehenden Lichtstrahlen in beiden Raumsystemen, der Erde sowohl wie des Zuges, bewegen, und zwar — entsprechend dem Rela- tivitätsprinzip — mit der gleichen Relativge- schwindigkeit c. In diesem Falle ist fraglos die auf optischer Grundlage ermittelte Zeit für beide (bewegten) Systeme dieselbe, also nicht relativ. Im anderen Falle (d. h. wenn die Blitze nur in den Bahndamm einschlagen) würde der Beobachter einen Trugschluß begehen, wenn er etwa aus ungleichzeitiger Wahrnehmung stets auch auf un- gleichzeitige Ereignisse schließen wollte. Denn er würde vergessen, daß er in diesem Falle das Relativitäisprinzip auf den fahrenden Zug nicht anwenden könnte, sondern nur auf die Erde, in deren Raum sich das Licht bewegt. Mißt man also die Zeit nach optischen Metho- den, so muß man dieser Messung Verhältnisse des eigenen Raumsystemes zugrunde legen, um mit dem Relativitätsprinzip übereinstimmende Resultate zu erhalten, anderenfalls kommt das Additionstheorem zur Geltung und muß bei der Beurteilung der Messungen berücksichtigt werden. Der Angriff der Relativitätstheorie auf die absolute Zeit ist daher m. E. als mißglückt zu betrachten. Ebenso verhält es sich natur- gemäß bezüglich der räumlichen Maßstäbe, ihre Relativierung beruht auf denselben Trugschlüssen. Denn wenn die Zeit t nicht relativ ist, c aber innerhalb aller Trägheitssysteme gleich ist, so muß auch s = et stets gleich sein. In der für die Relativitätstheorie maßgebenden Lorentz-Transformation ist daher x^ = x und t^ ^ t zu setzen, woraus dann die allein richtige Galilei-Transformation hervorgeht. Zu welchen logisch widersinnigen Betrach- tungen die Lorentz-Transformation im übrigen führen muß, mag aus folgendem Beispiel ersehen werden. Berechnet man dieselbe nämlich nicht für das Licht, sondern z. B. für den Schall, nach dem wir ja auch Längen und Zeiten messen können und für den die Transformation nach dem Relativitätsprinzip in gleicher Weise giltig sein muß wie für das Licht — naturgemäß nur für Luft enthaltende Systemräume — , so wäre eine größere Geschwindigkeit als c = 333 m/sec. mit der Gleichung unvereinbar. Wenn man daraus schließen wollte, daß es größere Geschwindig- keiten in der Natur nicht gibt, so wäre das natür- lich ein leicht widerlegbarer F"ehlschluß. Die Relativitätstheorie geht indessen — freilich unter Zugrundelegung der für Lichtgeschwindigkeit be- rechneten Lorentz-Transformation — diesen Weg. Sie kann sich allerdings darauf berufen, daß wir größere Geschwindigkeiten als die des Lichtes zurzeit nicht kennen (wenn wir sie auch denken können) , immerhin bleibt die Einsetzung der Lichtgeschwindigkeit etwas Willkürliches, und der daraus gezogene Schluß, daß es in der Natur keine größeren Geschwindigkeiten geben könne als die des Lichtes, wäre zum mindesten sehr zweifelhaft — abgesehen davon, daß er nicht eigentlich aus der Lorentz-Transformation folgt, sondern vielmehr bereits als versteckte Voraus- setzung in diese hineingewebt ist. — Er fällt naturgemäß — als jeder Begründung entbehrend — mit der Lorentz Transformation selbst, deren Voraussetzungen ja — wie gezeigt — nicht zu- treffen und die daher wieder der Galilei-Trans- formation der klassischen und allein richtigen Mechanik weichen muß. Da sich bereits die Grundlagen der Relativi- tätstheorie als falsch erwiesen haben, erübrigt es sich, des weiteren den Aufbau der Theorie zu verfolgen. Mag dieselbe auch auf manche, bisher noch ungeklärte Frage eine scheinbar befriedigende Antwort geben: sie ist auf Trugschlüssen aufge- baut und daher für die Wissenschaft unannehm- bar. 392 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2 5 Der menschliche Eierstock als endokrine Drüse. [Nachdruck »frboien.l Von Prof. Dr. phil. et med. L. Bevor die von RudolphVirchow begründete Zellularpathologie allgemeinen Eingang in die medizinische Wissenschaft gefunden hatte, d. h. bis etwa in die 60 iger Jahre des vorigen Jahr- hunderts, führte man alle Krankheitserscheinungen auf eine anormale Zusammensetzung, Entmischung oder Dyskrasie der Körpersäfte zurück. Bis in die neueste Zeit ist dieser leitende Grundgedanke der Humoralpathologie niemals ganz aus dem medizinischen Denken verschwunden. Für seine Verbreitung in der Volksmedizin zeugen ja die heute noch gebräuchlichen Ausdrücke „gesunde und kranke Säfte". In den letzten Jahrzehnten aber gewann diese Anschauungsweise eine stets steigende Beachtung. Durch die Entdeckung neuer Tatsachen wurden wir belehrt, daß wich- tigste Lebenserscheinungen durch dem Säftestrom beigemischte Produkte drüsenartiger Zellkomplexe, ohne besonderen Ausführungsgang „endokrine" Drüsen, durch sog. Hormone, bewirkt werden. Zu den Organen, welche neben ihrer Hauptauf- gabe noch den Zweck haben, sog. Parhormone (Gley) zu bilden und dem Säftestrom des Kör- pers beizumischen, gehören die Keimdrüsen. Sie bringen nicht nur die Fortpflanzungszellen, Samen- und Eizellen, hervor, sondern ihre inneren Sekrete, Parhormone, bedingen das Erscheinen der sekun- dären Geschlechtsmerkmale. Während nun aber die interstitiellen Zellen, das Interstitium, der männlichen Keimdrüse sich auch morphologisch als „Pubertätsdrüse" abgrenzen lassen, ist dies beim weiblichen Interstitium weniger der Fall. Die interstitiellen Zellen liegen vielmehr hier zwischen den Bindegewebszellen des Stromas zer- streut. Über die hohe Bedeutung der inneren Sekrete des Ovariums belehrt uns: Otto v. Franque, Innere Sekretion des Eierstocks (Bio- logisches Zentralblatt Nr. 5 1919). Die Frage nach der Ursache der alle 4 Wochen erfolgenden Blutung aus der Gebärmutter, der Monatsregel (Menstruation), hat im Laufe der Zeit verschiedenartige Beantwortung gefunden. In den letzten Jahrzehnten genoß die geistreiche Hypothese des Physiologen Pflüger allgemeine Verbreitung. Nach ihr wirkte die mit dem Heran- reifen des EifoUikels verbundene Drucksteigerung im Eierstock als Reiz auf die Nervenendigungen in demselben. Diese Nervenreize wurden nach dem Rückenmark geleitet und dort in einem Nervenzentrum aufgespeichert; dort summierten sie sich allmählich, bis sie auf das Gefäßzentrum übersprangen. Die Gefäßnerven verursachten dann eine Erweiterung der Blutgefäße und Hyper- ämie der Schleimhaut des Uterus, bis die feinen Haargefäße derselben zerrissen, was die Menstrual- blutung zur Folge hätte. Zugleich würde durch Bersten eines Graafschen P"ollikels ein befruch- tungsfähiges Ei frei. Auch wußte man schon Kathariner, Freiburg (Schweiz). lange, daß die regelmäßige Menstruation vom normalen Zustand des Ovariums abhängt. Er- krankte es oder wurde es operativ entfernt, so stellte sich dieselbe Veränderung der sekundären Geschlechtsmerkmale ein, wie beim normalen Aufhören der Geschlechtstätigkeit (Menopause). Alles spricht dafür, daß das interstitielle Gewebe des Ovariums ein inneres Sekret in den Säfte- strom liefert. Einen neuen Beweis dafür bildet folgende Beobachtung: Einem 23jährigen Mädchen wurde wegen Kystoma multioculare pseudomu- cinosum das rechte Ovarium exstirpiert; während es bis zum 20. Jahre kräftig und gesund war und keinerlei auffallende Erscheinung gezeigt hatte, veränderte sich nun sein Habitus ganz merk- würdig. Ein kräftiger Schnurr- und Vollbart sproßte hervor, auch die übrige Behaarung war männlich, die Brustdrüsen degenerierten und die Stimme wurde tiefer. Die inneren Genitalien waren nor- mal, die äußeren zeigten eine starke Entwicklung der Clitoris, eine auch sonst bei Hermaphrotitis- mus häufige Erscheinung. Mikroskopisch zeigte sich das linke Ovarium normal. Will man kein zufälliges Zusammentreffen annehmen, so stimmt der Befund für die Ansicht Hai bans, nach der beim Embryo die Keimdrüse hermaphroditisch angelegt ist und das Interstitium der Keimdrüse die Entwicklung der heterologen ^) sekundären Geschlechtsmerkmale verhindert. Im vorliegen- den Fall wären die männlichen Symptome durch die innere Sekretion des Ovariums unterdrückt worden und kamen, erst zur Ausbildung, nachdem der eine Eierstock operativ entfernt worden war. Die dadurch erfolgte quantitative Herabsetzung der inneren Sekretion des Ovariums genügte, um noch am Ende des zweiten Jahrzehnts die herm- aphrotitische Anlage zum Ausdruck kommen zu lassen. „Doch ist hervorzuheben, daß der Bericht über den Zustand vor der Geschwulstbildung nicht auf zuverlässiger ärztlicher Beobachtung be- ruht, ferner, daß die vollständige Ausbildung des weiblichen Körpers erst im 24. Lebensjahr erfolgt, und daß die Entwicklung der stärkeren Behaarung auch beim Manne erst nach erreichter Ge- schlechtsreife und später eintritt." Ist jedoch der Körper vollständig ausgebildet, äußert sich die Entfernung der Keimdrüsen nicht in einer Um- stimmung der sekundären Geschlechtsmerkmale. „Alle dahin gehenden Berichte gehören in das Reich der Fabel und beruhen auf oberflächlicher Beobachtung, besonders auf der Nichtbeachtung schon vorher vorhandener heterosexueller Merk- male." ') Homolog lieißen diejenigen sekundären Gcschleclits- merliinale, welche normalerweise bei der betreffenden Keim- drüse auftreten, heterolog jene des anderen Geschlechts. .So ist z. B. der Weiberbart und die Fistelstimme eines männ- lichen Individuums heterolog. N. F. XIX. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 393 Als Beispiel aus dem Tierreich wird die Hahnenfedrigkeit kastrierter Hennen angeführt. Nach Seilheim aber ist die Kastration der Hühner fast nie eine vollständige und andererseits werden ja auch kastrierte Hähne nicht hennen- ähnlich. Einen Beweis für die innere Sekretion des Eierstocks erbrachte zuerst Halb an (1899), als er nämlich die Eierstöcke eines kastrierten Pavians demselben an anderer Körperstelle ein- heilte, worauf wieder regelmäßige Menstruation eintrat. Beim Menschen in therapeutischer Ab- sicht vorgenommene auto- oder homoioplastische Transplantationen ^) entsprachen vollkommen der aus dem Tierversuch gewonnenen Auffassung des Ovariums, als eines Organs mit innerer Sekretion. Auch die Ausfallerscheinungen, welche sonst nach Aufhören der Menstruation so häufig sind (An- fälle von Herzklopfen, Schwindel, Blutandrang zum Kopf, Angstgefühle, heftige Schweißausbrüche, Störungen des Schlafes und viele andere nervöse Er- scheinungen) blieben aus. Nach Operationen treten diese Symptome stärker in Erscheinung, als bei der normalen Menopause; hier hatte nämlich der Organismus Zeit, sich im Verlauf von Monaten allmählich auf den Wegfall der inneren Sekretion des Ovariums einzustellen. Da die Ausfaller- ') Unter Transpl.intation versteht man die Überpflanzung lebenden Gewebes an eine Stelle des Körpers, wo solches zugrunde ging. Das Transplantat muß dort anheilen und die Funktion des verloren gegangenen Teils übelnehmen. Am leichtesten gelingt die autoplastische Transplantation, wo Geber und Empfänger dasselbe Individuum sind. So wurden z. B. nach Entfernung von Knochengewebe bei Kiefer- operationen oder bei Trepanation des Schädels mit Über- pflanzung von lebender Knochenhaut desselben Menschen, die nach ihrer Anheilung wieder Knochengewebe bildete, gute Resultate erzielt. Verhältnismäßig gleich gelingt auch die homoioplastische Transplantation. Bei dieser sind Geber und Empfänger gleichartig und nur individuell verschieden. Sie wird in der Medizin besonders häufig nach ausgedehnten Hautverbrennungen ausgeführt, wo die Haut eines anderen Menschen zur Deckung des entstandenen De- fekts benutzt wird. Am schwersten gelingt die Transplanta- tion zwischen zwei verschiedenen Arten und zwar sind die Schwierigkeiten um so gröl3er, je weiter entfernt in verwandt- schaftlicher Beziehung beide Lebewesen zueinander stehen. Die heteroplastische Transplantation von Tier auf Mensch gelingt in keinem Fall. Alle Versuche z. B., die man in den letzten Jahren vornahm, zerstörte Knochen und Gelenke durch die Überflanzung der entsprechenden Teile menschenähnlicher Affen zu ersetzen, fielen negativ aus. Die Transplantate konnten nur vorübergehend zur Stütze und als Leitbahn dienen ; nach eingetretener Regeneration und all- mählicher Isolierung wurden sie gänzlich resorbiert, aber nie in den Organismus als lebender Teil übernommen. Das für die Transplantation bezüglich der größeren oder geringeren Übertragungsmöglichkeit Gesagte gilt nicht nur für die Überpflanzung geformter Gewebsbestandteile, sondern anch für die Körpersäfte. Dieselben, namentlich die Blut- flüssigkeit, werden bei der Transfusion in die Blutgefäße ein- geführt, entweder um die durch Blutverlust gesunkene HTüssig- keitsmenge zu ergänzen oder um in ihr enthaltene Heilkörper, wie bei der Impfung, dem Säftestrom beizumischen. Man hat im Laufe des Krieges z. B. Pferde, deren Serum mit dem Menschenserum nahezu übereinstimmt, mit dem Starrkrampf- bazillus infiziert und das Serum, welches nun das Gegen- gift gegen den Starrkrampf bildete, zum Schutz gegen eine Infektion, also in prophylaktischer Absicht dem Menschen injiziert. scheinungen sich um so energischer geltend machen, wenn sich das Nervensystem in einem labilen Zustand befindet, wie es heutzutage meist der Fall ist, sucht man bei Operationen das Ova- rium möglichst zu erhalten. Denn es hat sich gezeigt, daß ein ganz kleiner Rest normalen Eier- stockgewebes genügt, um die Ausfallerscheinungen zu vermeiden. Dies ist aber nicht möglich bei malignen Geschwülsten und eitriger Einschmelzung beider Ovarien. Während man früher bei lebens- gefährlichen Blutungen aus dem Uterus die Eier- stöcke entfernte, läßt man sie heutzutage nach Möglichkeit zurück und rezesiert lieber den Uterus. Wenn die sezernierenden Teile des Eierstocks durch Bestrahlung zerstört werden mußten, so daß wie beim Klimakterium die innere Sekretion nur nach und nach erlosch, so waren, wie bei diesem, die Ausfallerscheinungen weniger heftig und konnten durch Darreichung innerer Mittel be- kämpft werden. Im Falle radikaler Kastration wurde 1899 vonGlass durch Überpflanzung des gesunden Ovariums einer 17 jährigen Patientin das Ausbleiben von Ausfallerscheinungen bei einer operierten 29 jährigen Frau erzielt. Ein noch eingreifenderes Resultat hatte Morris, der einer 21jährigen Frau, welcher nach einer durch Infektion veranlaßten Frühgeburt beide Ovarien aus- geräumt worden waren, die Eierstöcke einer anderen Frau überpflanzte; nach ihrer Einheilung kehrte nicht nur regelmäßige Periode wieder, sondern die Patientin wurde sogar schwanger und gebar ein lebendes Kind. Dieser einzig dastehende aus Amerika gemeldete Fall stieß indessen auf schwer- wiegende Zweifel, die um so berechtigter er- scheinen, als im Tierexperiment homoioplastisch überpflanzte Eierstöcke nach spätestens 2 Jahren der Degeneration verfielen. Man glaubt, daß Teile der eigenen Eierstöcke in funktionsfähigem Zustand zurückgelassen wurden. Es wird über noch mehrere Fälle in der medizinischen Literatur berichtet, wo nach Über- pflanzung von Ovarien an Stelle der exstirpierten ursprünglichen Ovarien die sekundären Geschlechts- merkmale (Vergrößerung des Uterus und der Mamma, Eintritt der Menses usw.) wieder auf- traten. Alles spricht dafür, daß das Ovarium zu- gleich auch eine Drüse mit innerer Sekretion ist. in Fällen übermäßiger Blutung, bei denen sich weder in der Gebärmutter selbst noch in den Eierstöcken und Eileitern eine anatomische Anor- malität finden läßt, muß man auf funktionelle Störungen schließen, die auf einer Hyper- oder Dysfunktion in der inneren Sekretion der Ovarien beruhen müssen. Operationen blieben in solchen Fällen erfolglos, indem die periodischen Blutungen nach kurzer Zeit in demselben oder sogar in noch erhöhtem Maße wiederkehrten. Anfangs verkleinerten sich die überpflanzten O^/arien, um aber nach Wiederherstellung der Gefäßverbindung abermals zu hypertrophieren. Daß dem Säftestrom die Sekrete des Ovariums regelmäßig zugeführt werden, ergibt sich daraus, 394 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 25 daß nach Überpflanzung derselben infolge Kno- chenerweichung die osteomalakischen Erschei- nungen sich in kurzer Zeit wieder einstellen. Nur eine radikale Kastration führt zum Ziel. Der reichlichere ätiologisch noch nicht eindeutig er- gründete erhöhte Fettansatz der weiblichen Ka- straten hängt vielleicht gleichfalls mit einer inneren Sekretion der Ovarien zusammen. Er wird auch auf eine verminderte Oxydation bei der herab- gesetzten Bewegung zurückgeführt. Während er aber bei ungefähr der Hälfte der Matronen ein- tritt, zeichnet sich die andere Hälfte durch eine mit zunehmendem Alter steigende IVIagerkeit aus. Cristofoletti fand im Tierversuch, daß bei Wegfall der Ovarien eine andere Drüse mit innerer Sekretion und zwar die Nebenniere mehr und mehr an Bedeutung gewinnt; diese bildet das Adrenalin, welches blutdrucksteigernd wirkt, also gefäßverengernd im Gegensatz zum Ovarialsekret. Beide Blutdrüsen wirken antagonistisch und die Symptome nach eingetretenem Klimakterium, wie Schwindel, Blutwallungen usw., sind wahrschein- lich einem Wegfall des Ovarialsekrets zuzuschrei- ben. Auf einer pathologischen, oder im Laufe der normalen Entwicklung eingetretenen Störung des Gleichgewichts im Verhältnis zweier anta- gonistisch wirkender Blutdrüsen, wie Schilddrüse, Nebenniere, Eierstock, Nebenschilddrüse, Hypo- physe usw., beruht wahrscheinlich eine Reihe krankhafter Störungen. Es gelang in solchen Fällen Schikele durch Einverleibung des Preß- saftes aus frischen Ovarien mildernd einzuwirken. Außer aus den Ovarien konnte das wirksame Prinzip auch aus der Uterusschleimhaut, nicht aber aus anderen Organen gewonnen werden. Die menstruelle Blutung wäre so zu erklären, daß das Ovarialsekret die Gefäße der Uterusschleim- haut steigend so lange erweitert, bis die Haarge- fäße bersten. Die auch im Menstrualblut nach- zuweisenden Körper, welche nach Aufhören der Menstruation im Blut fehlen, scheinen in den Follikelzellen der Primordialeier ihren Ursprung zu haben. Ihre gefäßerweiternde Wirkung kommt nach Injektion in die Blutbahn in einer Schwel- lung der Nasen- und Rachenschleimhaut, sowie der Bindehaut des Auges und in einer Hyperämie und Hypertrophie der Genitalien zum Ausdruck. Einige Verbindungen wurden schon chemisch rein dargestellt und zu Heilzwecken verwandt. Da sie aber vom Tier stammen, also aus artfremdem Material gewonnen werden, ist der Erfolg zwei- felhaft. Einen erheblichen Einfluß hat das Ovarial- sekret auf die Knochenbildung; bei kastrierten jungen Individuen bleiben die Epyphysenfugen der Röhrenknochen länger offen, woraus sich das abnorme Längenwachstum der Gliedmaßen er- klärt, weil dasselbe mit der Verknöcherung der Epiphysenfugen abgeschlossen ist. Ebenso bleibt auch die knöcherne Verbindung der Deckknochen des Schädels längere Zeit aus. Von Kuh, Schaf und Hündin ist das Länger- werden der Gliedmaßenknochen seit langem be- kannt. Das Kleinerbleiben infolge einer verfrüh- ten Ablagerung von Kalksalzen im Knochen wurde in einem Versuch von Taniguchi nach- gewiesen; er überpflanzte einem weiblichen Kanin- chen zu seinen schon vorhandenen Ovarien noch zwei weitere Eierstöcke eines schwesterlichen Tieres und fand ein auffallendes Kleinerbleiben. Wenn der Befund auch nicht ganz eindeutig ist, scheint doch vieles dafür zu sprechen, daß das Ovarialsekret eine Verminderung des Gehalts der Körpersäfte an Knochensalzen durch erhöhte Ab- scheidung von Phosphor, Kalk und Magnesia her- beiführt. Darauf beruht auch die in 87 % der Fälle erfolgreiche Behandlung der Knochener- weichung durch Kastration. Bei dieser Krank- heit schwinden die Kalksalze der Knochen, welche leicht krumm und brüchig werden. Für die Ge- burtshilfe ist es von hohem Interesse, daß die Knochenerweichung namentlich bei schwangeren Frauen auftritt, was eine Deformierung des Beckens veranlaßt. Nach Fehlings Annahme beruht die Osteomalakie darauf daß durch eine Erkrankung des Eierstocks die Nervenendigungen gereizt werden, der Nervenreiz die Blutgefäße im Knochen erweitert und so einer erhöhten Resorp- tion von dessen Grundsubstanz führt; andere Forscher wiederum nehmen eine Hypertrophie des Eierstocks an, jedenfalls eine Hyperfunktion des von ihm gebildeten Hormons. Die klinischen Erfahrungen schienen aber nach F. nicht für diese Annahme zu sprechen. Außerdem wären bei ihr die Eierstöcke in der Regel nicht vergrößert, sondern im Gegenteil oft verkleinert und ver- kümmert. Andererseits fehlt die Osteomalakie bei der Blasenmole und einer malignen Geschwulst, dem Chorioepitthelium malignum, welche beide mit einer ungeheuren Vermehrung des inter- stitiellen Gewebes verbunden wären. Auf Grund seiner eigenen Beobachtungen spricht sich F. dagegen aus, daß bei der Osteo- malakie eine Hyperfunktion des Ovarialhormons ätiologisch in Frage käme. Er meint, es wäre auch an eine Hyperfunktion der Nebenniere zu denken. Wenn wir uns errinnerten, daß die Ovarialextrakte eine gefäßerweiternde Wirkung haben, das Adrenalin eine gefäßverengernde, so könnten wir ihren entgegengesetzten Einfluß auf die osteomalakischen Knochen wohl verstehen und eine Störung in der normalen Wechsel- wirkung zwischen beiden, vielleicht auch noch anderer endokriner Drüsen könnte sehr wohl Ur- sache der Osteomalakie sein. Daß die Entfernung der Ovarien bei Osteomalakie Heilung bringt, könnte seine Ursache darin haben, daß nach Wegfall ihrer Hormone andere in ihrer Wirkung herabgesetzte zur Knochenbildung nötige Blut- drüsen wieder entsprechende Wirkungen ausübten und diese sich im höheren Grad geltend machen könnten. Ihre primäre Ursache brauchte durchaus nicht in den Ovarien selbst zu liegen. Daß aber die Ovarialsekrete ätiologisch für die Osteomalakie N. F. XEX. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 395 nicht in Betracht käme, meint F., ginge daraus hervor, daß er gerade zur Zeit des Höhepunktes der Osteomalakie, nämlich am Ende der Schwan- gerschaft, nach Kaiserschnitt die Eierstöcke fast atrophiert gefunden hätte. Auch ihre regionale Verteilung spräche dafür, daß sie durch IVIangel an Mineralsalzen verursacht würde. In manchen Seitentälern des Rheins wäre sie geradezu ende- misch, häufig im Olonatal bei Mailand und in Japan, wogegen sie in der norddeutschen Tief- ebene fast so gut wie unbekannt wäre. Bei Tieren könnte die Osteomalakie experimentell hervorge- rufen werden, so durch Fütterung von Kühen mit Heu, das arm wäre an phosphorsauren Kalksalzen. Als Quelle der inneren Sekretion des Eier- stocks kommen im wesentlichen in Betracht der FoUikelapparat und seine Abkömmlinge, das Corpus luteum und die aus der Theka interna geplatzter und nicht geplatzter Follikel hervor- gehenden Thekaluteinzellen, deren Gesamtheit man neuerdings als interstitielle Eierstockdrüse oder Pubertätsdrüse bezeichnet hat. Von inneren Sekreten des Eierstocks sollen im Graafschen Follikel Körper gebildet werden, welche die Menstruation auslösen, und andererseits im Corpus luteum solche, welche den Monatsfluß zum Stehen bringen. Einzelberichte. Zoologie. Dressurversuche zum Geruchsinn der Honigbiene. Es dürfte schon weiten Kreisen bekannt sein, daß K.v. Frisch nach zahlreichen Versuchen sowohl den Fischen als auch den Bienen Farbensinn nachsagt. Die Frage des Farbensinns der Tiere war ein neues Problem, seitdem vor etwa einem Jahrzehnt C. v. Heß darauf aufmerksam gemacht hatte, daß alle frühe- ren Angaben über F~arbenunterscheidungsvermögen von Tieren ebenso trügerisch sind wie die nicht seltene Angabe oder Meinung eines Farbenblinden, er könne Farben unterscheiden. Er unterscheidet nämlich z.B. Grün von Rot am verschiedenen Hellig- keitswert dieser beiden Farben und wird sich des fehlenden Farbensinns nicht bewußt. Durch Vergleich des Verhaltens der Tiere gegenüber P'arben mit ihrem Verhalten gegenüber grauen Tönen von entsprechendem Helligkeitswert konnte v. Heß genaue Angaben über den Umfang des wirklichen Farbenunterscheidungsvermögen bei Reptilien, Vögeln und Säugetieren machen. Für Fische und Wirbellose bestreitet v. Heß in zahl- reichen Arbeiten den Farbensinn, meist weil er findet, daß für diese Tiere die farblosen Hellig- keitswerte im Spektrum ebenso verteilt und am größten im Gelbgrün sind, wie beim total farben- blinden Menschen. Auch erwähnte v. Heß für Krebse verschiedenster Art, daß ihnen das Pur- kinjesche Phänomen, die Verschiebung des Helligkeitsmaximums des Spektrums nach Blau hin im Falle Herabsetzung der Lichtstärke des gesamten Spektrums, fehle. Da beim Menschen das Purkinjesche Phänomen nur dem Farben- blinden fehlt, seien auch die Krebse farbenblind. Letztere beiden Begründungen konnte man für nicht ausreichend halten. Inzwischen hat v. Frisch das Problem in zahlreichen Versuchen, namentlich Dressurversuchen, wie ja solche nicht nur bei Wirbeltieren möglich sind, mit den v. Heß sehen Methoden aufgegriffen und auch bei Fischen und Bienen Farbensinn als das Vermögen, verschiedene Farben auch bei gleichem Helligkeitswert vonein- ander zu unterscheiden, vorgefunden. Hiergegen hat V. Heß bekanntlich seinen Standpunkt stets aufrechterhalten. Nachdem nun v. Frisch mit seinen Ermitt- lungen an Bienen zu dem Ergebnis gekommen war, daß die alte Sprengeische Lehre von der Be- deutung der Blumenfarben für den Insektenbesuch — fast nur bunte Blüten werden durch Insekten befruchtet, unscheinbare meist durch den Wind — nicht widerlegt sei, fragte er sich weiter, ob außer der Farbe noch anderes für die Honigbiene, unsere wichtigste Blütenbestäuberin, die Blüten kennzeichnen mag. Es zeigte sich, daß die Bienen es leicht und sicher lernten, Formen voneinan- der zu unterscheiden und als Merkzeichen zu ver- werten, falls die Formen mit Blütenformen eine gewisse Ähnlichkeit hatten. Sie versagten aber vollständig vor geometrischen Figuren: ein Qua- drat von einem Dreieck zu unterscheiden, lernten sie nicht. ') Die nächste sich aufdrängende Frage war nun die nach dem Geruchsinn der Biene und seiner Bedeutung für den Blumenbesuch. Auf diesem Gebiet ermittelte v. Frisch etwa seit 1914 folgen- des. ■') Nicht alle Versuche aus der umfangreichen Arbeit, aber vielleicht die wichtigsten können im folgenden kurz besprochen werden. An und für sich liegt die Annahme, daß auch der D u ft die Bienen anlocke, ja nahe; und blüten- biologische Beobachtungen, sagt v. Frisch, scheinen diese gleichfalls bereits Sprengeische Auffassung zu bestätigen, experimentell liegen aber bisher weder Beweise dafür noch genauere Feststellungen darüber vor. Um zu prüfen, ob die Biene es lernt, „Duft" und „P"utter" zu assoziieren, wurde versucht, sie auf bestimmte Düfte, z. B. auf Akazienduft, zu dressieren. Dies gelang, und zwar meist schon ') Der Farbensinn und Formensinn der Biene. Zool. Jahrb., Abt. f. allgem. Zool., Bd. 35, 1914, H. i u. 2, S. I — 18S. '^) Über den Geruchsinn der Biene und seine blutenbio- logische Bedeutung. Ebenda, Bd. 37, igig, 238 S. Auch separat erschienen bei G. Fischer in Jena. 396 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 25 in 2 Stunden. Sie wurden zunächst durch Honig angelockt, und zwar an den Besuch von Kästchen mit Flugloch gewöhnt, in welchem sich je ein Napf mit Honig sowie Akazienduft befand. Nach Entfernung des Honigs fanden sie bald das nun- mehr stattdessen gebotene, duftlose Zuckerwasser, und es entwickelte sich immer mehr ein regel- mäßiger Verkehr zwischen dem Bienenstand und den akazienduftumgebenden Futternäpfen, während daneben befindliche ebensolche Kästchen, aber ohne Duft und ohne Zuckerwasser, natürlich nicht besucht wurden. Nach einigen Stunden und nachdem zur Vermeidung der Dressur auf einen bestimmten Ort die gegenseitige Lage der Kästchen häufig verändert worden war, wurden sämtliche Kästchen — es waren je zwei mit und ohne Duft und Zuckerwasser verwendet — durch ebensoviele neue, noch unbenutzte ersetzt, eins mit Akazienduft, die anderen drei ohne diesen, und alle vier ohne Zuckerwasser. Von da an flogen die Bienen auch bei jeglichem Platzwechsel der Kästchen nur noch zu dem nach Akazien- blüten duftenden Kästchen. Die verschiedenartigen Riechstofife für diesen und die folgenden Versuche bestanden meist nicht in Blüten selbst, da solche mitunter, zumal nach dem Pflücken, die Qualität des Duftes ändern, sondern zum Teil in Paraffinöl, welches nach Be- streuung mit Blumen kalt oder erwärmt deren Duft annimmt („enfleurage ä froid" oder „a chaud"), zum Teil in durch Destillation gewonnenen äthe- aischen Ölen aus dem Handel. Weiterhin wurden die an Akazienduft gewöhn- ten Bienen daraufhin geprüft, ob sie nun auch auf anderweitige Düfte reagieren. Sie verhielten sich gegenüber Kästchen mit Rosen- und Lavendel- duft ebenso teilnahmslos wie gegen duftlose. Dieses somit festgestellte Unterscheidungsvermögen für Düfte dürfte dazu beitragen, daß eine Biene auf der Wiese immer für lange Zeit Blüten einer und derselben Art besucht, was der Blütenbefruch- tung durch das Insekt zugute kommt. Nachdem in einem anderen Falle die Bienen in oben beschriebener Weise auf den Duft von Messina- Pomeranzenschalenöl dressiert worden waren, wurden ihnen daneben 46 andere Düfte in ebensolchen Kästchen geboten. Jetzt wider- fuhren den Bienen doch Verwechslungen. Denn jetzt wurde zwar das gewohntgewordene Messina- Pomeranzenschalenöl von den meisten Bienen aufgesucht, daneben aber auch Cedratöl, Berga- motlöl, Spanisch Pomeranzenschalenöl, viel schwä- cher und offenkundig bedenklicher Spiköl, Orangen- blütenduft und 19 weitere Düfte. 22 Düfte er- hielten keinen Besuch. Also nur gewisse Düfte wurden von den Bienen mit dem des Pomeranzen- schalenöls häufig verwechselt, und zwar diejenigen, die diesem auch für menschliches Geruchsempfin- den sehr ähnlich sind. Da ein geübter Parfümeur auch die beiden Pomeranzenschalenöle sicher unterscheidet, darf man sich von dem Geruchsinn der Biene immerhin keine übertriebene Vorstel- lungen machen. Wie weitere Versuche ergaben, wurden Stoffe, die für den IVIenschen zwar sehr ähnlich duften, obwohl sie in ihrer chemischen Zusammensetzung wesentlich voneinander unterschieden sind, bis zu gewissem Grade auch von den Bienen miteinander verwechselt. Doch besteht keine völlige Über- einstimmung mit dem Geruchsinn des Menschen. So wurden Mirbanöl (Nitrobenzol) und Bhter- mandelöl bei frischer Beschaffenheit des letzteren hochgradig miteinander verwechselt, zwei auch für den Menschen etwas ähnliche, aber unschwer unterscheidbare Gerüche, während Isobutylbenzoat und Salizylsäureamylester, für den Untersucher im unwissentlichen Versuch nicht trennbar, von den Bienen merklich unterschieden wurden. Para- und Metakresolmethyläther, die bei gleicher che- mischer Zusammensetzung nur durch die Grup- pierung der Atome im Molekül verschieden sind, duften für Mensch wie Biene verschieden. Denn das Kästchen mit dem Dressurduft Parakresol- methyläther wurde durchschnittlich Jamal so stark besucht wie das mit Metakresolmethyläther und 87 mal so stark wie 5 Kästchen mit anderen Duftstoffen. Es mag bemerkt sein, daß gegen Ende der Versuchsdauer, also nach längerer Dressurdauer, die Unterscheidung deutlicher war als anfangs. Auf Tuberosenduft dressierte Bienen konnten diesen, auch wenn er mit Jasminduft vermischt wurde, herausriechen, allerdings nicht mehr beim Mischungsverhältnis Tuberose -|- Jasmin =1:5. Auch hiernach wird die Biene den Duft einer bestimmten Blütenart auf der Wiese nur aus der Nähe verwerten können. Lysolgestank hat für die Bienen etwas Ab- stoßendes; er wird vom Imker verwendet, um Bienen irgendwo zu vertreiben. Trotzdem konnten sie auf Lysolgeruch dressiert werden, wenn man ihn in der oben beschriebenen Weise in Verbin- dung mit Zuckerwasser darbot. Alsdann um- schwärmten sie sogar den Untersucher, der das Lysolfläschchen in der Hand trug; gleichwohl zeigten sie deutlich, wie unangenehm ihnen der Geruch war; denn während sie bei der Dressur auf einen Blütenduft sich in aller Ruhe mit Zucker- wasser in den Kästchen vollsogen, kamen sie aus dem Lysolkästchen stets schnell wieder heraus, und die Außenwand dieses Kästchens war be- deckt mit Bienen, die sich putzten und lüfteten. Je schwächer das Kästchen mit Lysol beschickt war, um so weniger widerlich war es den Bienen, denn um so eifriger wurde es besucht. Hiernach kann man Blütendüfte nicht unbedingt als Lock- mittel für die Bienen betrachten, unbedingt aber als Merkzeichen. Immerhin dürfte z. B. der weit- hin getragene Duft einer Lindenallee die Bienen auch anlocken. Fast noch merkwürdiger ist das Ergebnis mit Skatol, das starken Fäkalgeruch hat: es hat für die Bienen nichts Abstoßendes, aber es war über- N. F. XIX. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 39; haupt kaum möglich , sie auf diesen Geruch zu dressieren. Hieraus darf man nicht folgern , daß sie ihn überhaupt nicht wahrnehmen, denn es zeigte sich, daß sie reinen Orangenblütenduft sehr wohl von einem Gemisch von ebensoviel Orangen- blütenduft mit Skatolgeruch unterscheiden lernen. Wenn vielmehr eine positive Dressur auf Skatol- und übrigens ebenso Patchouligeruch nicht mög- lich ist, so muß das daran liegen, daß der Skatolgeruch nicht in den Rahmen der Gerüche paßt, die den Bienen seitGe- nerationen gewohnt, und deren Erler- nung ihnen vererbt ist. Es ist das ein ähnlicher Fall wie bei der Unfähigkeit, zwischen Quadrat und Dreieck unterscheiden zu lernen. Bei immer weiter fortschreitender Verdünnung von Düften zeigte sich soviel, daß die Grenze der Wahrnehmbarkeit für die Bienen ungefähr dieselbe ist wie für den Menschen, und zwar gleichviel , ob auf einen sehr starken oder einen bereits verdünnten Duft dressiert worden war. Man hat die Vermutung aufgestellt, daß jene seltenen Blütenarten, die, obwohl duftlos, von Bienen viel besucht werden, für sie duften mögen. Für die Blüte des wilden Weins, der Heidelbeere und roten Johannisbeere ist es nach v. Frischs Versuchen zu verneinen. Wurden die Bienen auf Duft und Farbe zu- gleich dressiert, z. B. durch Fütterung in einem Kästchen mit Resedaduft und mit blauer Vorder- seite, so gingen sie hernach zögernd sowohl an ein dufiloses, blaues als auch an ein duftendes ohne Blau. Der Duft hatte zwar im ganzen mehr Überzeugungskraft als die Farbe, dagegen wirkte die Farbe auf viel größere Entfernung: die Bienen flogen zuerst gegen die Farbe, dann schienen sie das Fehlen des Duftes zu merken und schlüpften teils trotzdem in das P'arbkästchen, die meisten aber suchten weiter, bis sie das duftspendende Flugloch fanden. Nach diesen Angaben kann man den Genich- sinn der Biene vollständiger beurteilen als zuvor. Im ganzen ist er von dem des Menschen nicht allzu verschieden. Alle diese Feststellungen sind unstreitig sehr anziehende Beiträge zur Sinnesphysiologie ; die- jenigen mit Lysol und mit Skatol aber bezeichnet V. Frisch mit Recht als einen „Beitrag zur Psy- chologie' der Biene".' Wie gesagt, sind die Angaben des Verfassers in vorstehenden Zeilen nicht vollzählig wieder- gegeben worden, und es ist nicht wenig zu be- grüßen, daß die Verlagshandlung diese wichtige Arbeit auch gesondert herausgibt. V. Franz, Jena. Wildaussetzungen in der Schweiz. Im Anschluß an den Bericht über Wiedereinbürgerung des Steinbocks in den Schweizer Alpen (Naturwiss. Wochenschr. 1919, S. 769) verdienen noch weitere Wildaussetzungen, die ebenfalls von dem St. Galler Wildpark St. Peter und Paul ausgingen, Erwähnung, da sie nach den bisherigen Erfolgen zu schließen, als gelungen betrachtet werden dürfen. Es betrifft dies zunächst den europäi- schen Mufflon ( Ovis i/itisiiiioii S c h r e b.), der früher in Europa so häufig war, daß in einer ein- zigen Jagd mehrere hundert Stück erbeutet wur- den. Seit dem 18. Jahrhundert im Zurückgehen begriffen, findet er sich nur noch in den Bergen von Korsika und Sardinien auf ca. 2000 m Höhe und gilt als schwer zu erlegendes Wild. Vom St. Galler Wildpark aus wurden nun mehrere Exemplare auf dem Tößberg (1155 m, an der Grenze zwischen den Kantonen Zürich und St. Gallen) ausgesetzt, welche sich bereits vermehrten. Das gleiche gilt von den Sikahir sehen {Psaid- axt's sika l'emm. Schi.; Heimat: Mandschurei, Nordchina, Japan), welche am Fuße des Säntis, auf der Potersalp (1200 — 1650 m) und auf der Schwägalp (iioo — 1400 m) ausgesetzt wurden. Damhirsche {Dama darna L.) wurden am Hirschberg (1178 m) bei Appenzell freigelassen; sie wurden bereits im Rheintal beobachtet. Es besteht die Absicht, das Calfeisental , d. h. den oberen Teil des Taminatales, welches sich von 950—1750 m 12 km weit erstreckt, mit Edel- hirschen zu beleben; da das Tal ziemlich abge- legen ist, dürfte der Versuch gelingen. M. Schips, Zürich. Gegenwärtige Verbreitung des medizinischen Blutegels, Hirudo medicinalis, in Deutschland. Der freilebend meist prachtvoll gefärbte, große Hirudo medicinalis ist in Deutschland infolge der ehemals starken medizinischen Verwendung dieses Tieres stark zurückgegangen. In den „Blättern für Aquarienkunde", 1920, Heft 4, werden indessen zahlreichere Fundorte als die zwei im neuen „Brehm" angeführten erwähnt: als neu zunächst die „Plisweiher", ein alter Mainarm bei Enkheim unweit Frankfurt a. M., sowie Usingen im Taunus und eine Stelle im Vogelberg; ferner: Hautsee in Thüringen (vor ca. 25 Jahren); bei Leipzig (1908 — 09); bei Pirna; amChiemsee; bei Geestemünde. Literaturangaben an angegebener Stelle. Ich darf vielleicht hinzufügen, daß mir der Egel in den Eisweihern bei Enkheim unweit Frankfurt a. M. schon vor 8 Jahren bekannt wurde und mir dort zum ersten Male freilebend begegnete, worüber ich auch in der Frankfurter Zeitung vom 3. Juli 1912 Mitteilung machte, allerdings ohne damals über den Rückgang der Art in Deutschland unter- richtet zu sein. Die Tiere saugten sich in großer Zahl an meinen entblößten Beinen fest und nötig- ten mich zum Rückzug. V. Franz, Jena. Verbreitung des Bergmolches, Triton alpestris, im norddeutschen Plach- und Hügellande. Freunde des deutschen Tierlebens möchte ich auch darauf 398 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 25 aufmerksam machen, daß Heft 2, 1920, der „Blätter für Aquarienkunde" (Verlag J. E. G. Wegener, Stuttgart) eine Übersicht über die Verbreitung von Triton alpestris im norddeutschen Flachlande, aus der Feder von Dr. W. Wol t erst orf f, bringt. Der in den Alpen bis 2500 m hoch steigende Molch, der an Größe in der Mitte zwi- schen Triton taeniatus und cristatus steht und an Farbenpracht beide übertrifft und kaltes stehendes Wasser benötigt, hat nicht wenige Fundorte auch im Flachlande , in letzterem jedoch keine östlich der Elbe. V. Franz, Jena. Bakteriologie. Über die bakteriziden Eigen- schaften frischer Kuhmilch hat Walter Meier (Beitrag zur Kenntnis der bakteriziden Eigen- schaften frischermolkener Kuhmilch. Dissertation. Landwirtschaftl.-bakteriologisches Institut der Eidg. Techn. Hochschule in Zürich, 1919) bemerkens- werte Untersuchungen veröffentlicht. M. geht von der Tatsache aus, daß auf Grund der früheren Versuche die Frage nach dem Vorhandensein bakterizider Eigenschaften frischer Kuhmilch nicht übereinstimmend, sondern bald bejahend, bald verneinend beantwortet wurde; es rührt dies jedenfalls daher, daß scheinbar unbedeutende Unterschiede in der Versuchsanstellung (z. B. in bezug auf die Tierrasse, die Art der Fütterung, die Art der Milchgewinnung, die Beschaffenheit der Melkgefäße) das Ergebnis wesentlich beein- flussen können. In den Versuchen Meiers zeigte frischermolkene Kuhmilch in allen Fällen ausge- sprochen bakterizide Eigenschaften und zwar waren sie um so deutlicher, je reiner (aseptisch) die Milch gewonnen wurde. Tiefe Aufbewahrungs- temperatur (14" C) wirkte hemmend auf die keim- tötenden Kräfte, während diese durch höhere Temperaturen (bis 37" C) in ihrer Wirksamkeit begünstigt wurden; die scheinbar größere Keim- abnahme bzw. Keimhemmung bei niedriger Tem- peratur ist nicht auf die bakterizid wirkenden Stoffe der Milch, sondern auf die hemmende Wir- kung der Kälte zurückzuführen. Die Untersuchung der Veränderungen in der qualitativen Zusammen- setzung der Bakterienflora während der bakteri- ziden Phase ergab, daß die reinlich (aseptisch) ermolkene Milch sofort nach dem Melken fast nur Kokken enthielt, welche sich durch Färbstoff- produktion auszeichneten , sonst aber die Milch kaum veränderten ; ferner fanden sich in einigen Fällen noch kugelige Sproßpilze und alkalibildende Kurzstäbchen. Bei niedriger Temperatur ver- mehrten sich besonders die Angehörigen der Gruppe des Bactcriiiin ßiiorcscciis Flügge, bei höheren Temperaturen die alkalibildenden Stäb- chen und gegen das Ende der bakteriziden Phase Bacillus iiicsciilcricns Flügge und Bacillus luy- cuidcs Flügge. • — Als Ursache der Bakterizidie der Milch sind nach M. gewisse in frischer Milch vorhandene, durch Hitze zerstörbare Stoffe anzu- nehmen, während die chemisch -physikalische Be- schaffenheit der Milch (Veränderungen des osmo- tischen Druckes, des Säuregehaltes usw.) nicht in Betracht kommen. — Besonders wertvoll wird die Arbeit dadurch, daß M. in bezug auf die Untersuchungstechnik detaillierte Angaben macht, mit deren Hilfe eindeutige Resultate sicher er- halten werden können. M. Schips, Zürich. Vorgeschichte. Über „die Pflanzenreste aus den Pfahlbauten am Alpenquai in Zürich und von Wollishofen, sowie einer interglazialen Torfprobe von Niederweningen (Zürich)' berichtet E. Neu- weiler in der Vierteljahrsschrift der Naturfor- schenden Gesellschaft in Zürich (64. Jahrg., 1919, S. 617 — 648). Bei den Ausbaggerungen im Zürich- see vor der neuen Tonhalle in Zürich in den Jahren 1915 — 1916 wurden Pfahlbauten gefunden; die Sämereien, Hölzer und anderen pflanzlichen Reste wurden dem Botanischen Museum der Universität Zürich übergeben und hier von Dr. Neu weil er bestimmt. Das Alter der Siedlung fällt in die Bronzezeit und in den Anfang der älteren Eisenzeit. Die pflanzlichen Reste sind sehr mannigfaltig und gehören sehr verschiedenen Pflanzen an ; die meisten sind verkohlt und mit Kohlestücken und anderen Verbrennungsresten vermengt, ein Zeichen, daß der Pfahlbau am Alpenquai, wie viele andere, durch F'euer zerstört worden ist. — Die Reichhaltigkeit der pflanzlichen Reste geht vor allem daraus hervor, daß in ihnen über 30 Pflanzen für das Schweizerische Prähisto- rikum zum erstenmal nachgewiesen sind. Die meisten davon, so z. B. die Arten, die zu den Gattungen Rumex, Polygonum, Geraniuin, Eu- pliurbia, He der a, Lamium, Siac/iys, Plautago, Scabiosa, Centaurea u. a. gehören, waren jeden- falls Unkräuter; von anderen dagegen kommen Samen so reichlich vor, daß man nicht an ein zufälliges Hineingeraten in die Töpfe glauben kann, sondern annehmen muß, daß sie jedenfalls zu irgendwelchen Zwecken verwendet worden sind. So finden sich z. B. Früchte der Hunds- petersilie [Aetimsa Cyiiapium L.) in mehr als einem Drittel der Töpfe; wozu diese giftige Pflanze verwendet wurde, ist nicht verständlich; möglich, daß sie als heilkräftig galt; der Acker- salat [Valcriaut'lla doitata Pollich) wird als Ge- müse verwendet worden sein. Unter den Kultur- pflanzen sind für die Ostschvi-eiz neu Triticum Spclta L. und Vicia Faba L. Der Spelz ist das in den Pflanzenresten weitaus am häufigsten vor- kommende Getreide; diese Tatsache ist deshalb sehr auffallend, weil aus der Schweiz bisher nur spärliche bronzezeitliche Spelzreste bekannt sind, nämlich diejenigen, welche Oswald Heer (1866) in den Pfahlbauten der Petersinsel (Bielersee) auf- fand, und welche also in das westschweizerische Gebiet gehören. Buschan (1895) hat sogar geglaubt, den He er sehen Fund in Zweifel ziehen zu müssen, so daß die prähistorische Kultur des R F. XIX. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 399 Spelzgetreides für Mitteleuropa überhaupt nicht nachgewiesen wäre. Mit Hilfe der Linguistik ist diese Frage schwer zu entscheiden, weil die klassischen Getreidenamen sich nur ausnahms- weise identifizieren lassen. Das spätlateinische Wort „spelta" findet sich frühestens im Edictum Diocletiani (301), in welchem Höchstpreise für Lebensmittel festgesetzt sind; es ist ein germani- sches Lehnwort (gleichbedeutend etwa mit „Spalt- frucht") und war den Römern jedenfalls durch den Handel mit germanischen Völkern bekannt geworden. Nach diesen Züricher Funden wird man wohl eine Kontinuität der Spelzkultur in der Schweiz von der Bronzezeit bis heute an- nehmen müssen; die vielverbreitete Ansicht, daß unsere Kulturpflanzen aus dem Osten stammen, ist jedenfalls nicht allgemein richtig. — Von Vü/a Faba L. liegt die var. Ci'ltica nana Heer in einer länglichen und in einer kugeligen P^orm vor; die Samen, welche für ostschweizerische Pfahlbauten hier zum erstenmal nachgewiesen sind, zeigen etwas größere Maße als die aus den bronzezeitlichen Siedlungen der Westschweiz (Petersinsel , Mörigen , Montelier, Concise). Da ihre Kultur hier an das Ende der Bronzezeit fällt, ist eine Einführung aus der Westschweiz nicht ausgeschlossen. Unter den Nadelhölzern hat die Weißtanne {Abies alba Miller) am meisten Relikte geliefert, vorwiegend Artefakte (z. B. Schachtel, Pfeile usw.), im ganzen 24 Reste. Auffallend ist das Vor- kommen der F"ichte (= Rottanne, Picea excclsa (Lam. u. DC.) Link), von welcher 4 Holzproben vorliegen. Zur Bronzezeit war nämlich die Fichte im Schweizerischen Mittelland selten, da sie mit dem Zurückweichen der Gletscher diesen in die höheren Gegenden gefolgt war; sie ist erst nach der Römerzeit vom Menschen wieder in größeren Beständen angebaut worden. Sofern es sich nicht um angeschwemmte Stücke handelt, liegen hier die ältesten bekannt gewordenen Spuren des Wiederauftauchens der Fichte im Schweizerischen Mittellande vor. — Als Bauholz dienten in erster Linie Eiche, Erle und Esche, daneben Buche, Weide, Pappel und Birke; zum Schnitzen wurde mit Vorliebe Ahorn verwendet. Unerklärlich scheint das Fehlen der Eibe {Taxus baccata L.), deren Holz für Bögen sehr beliebt war, und welche sich bis heute auf dem benachbarten Uetliberg erhalten hat. M. Schips, Zürich. Bücherbesprechungen. Grimsehl, E., Lehrbuch der Physik. Zum Gebrauche beim Unterricht, bei akademischen Vorlesungen und zum Selbststudium. L Band : Mechanik, Wärmelehre, Akustik und Optik. Vierte, vermehrte und verbesserte Auf- lage. Herausgegeben von W. H i 1 1 e r s unter Mitarbeit von H. Starke. lOii Seiten mit 1049 Figuren im Text, 10 Figuren auf 2 farbi- gen Tafeln und i Titelbild. Leipzig und Berlin 1920, B. G. Teubner. Geh. 16,50 M. Das Gr im seh Ische Werk hat dank seiner großen Vorzüge, auf die Ref bereits bei Gelegen- heit des Erscheinens seiner dritten Auflage aus- führlich hat hinweisen können (diese Zeitschr. N. F. Bd. XVI, S. 279, 191 7) soviel Anerkennung und Nachfrage gefunden, daß die Zahl der er- forderlichen Neuauflagen in raschem Steigen be- griffen ist. Infolge seiner ursprünglichen vortreft- lichen Gesamtanlage, der Sorgfalt, Präzision und unübertrefflichen Anschaulichkeit der Darstellung und dem erfolgreich durchgeführten Bestreben der Herausgeber und Mitarbeiter, mit dem Fortschritt der Wissenschaft gleichen Schritt zu halten, ist es zweifellos eines der besten neueren Lehrbücher der Experimentalphysik sowohl zum Selbststudium als für den Unterricht an Mittel- und Hoch- schulen. Auch die vorliegende Neuauflage zeigt in weitem Umfang die fortgesetzt verbessernde und ergänzende Hand. Neu aufgenommen wurde ins- besondere der Gedankeninhalt der Relativitäts- und der Quantentheorie. Die neueren Erfolge im Ausbau der Molekulartheorie kommen in er- weiterten Betrachtungen über die spezifische Wärme im Sinne der kinetischen Wärmetheorie und in einer kurzen Behandlung der Brown- schen Bewegung zum Ausdruck. Damit im Zu- sammenhang werden die Kapitel über den zweiten Hauptsatz der Wärmetheorie neu bearbeitet und das Maxwellsche Geschwindigkeitsverteilungs- gesetz hergeleitet. Dafür smd einige Abschnitte, vor allem solche rein oder vorwiegend mathematischen Inhalts, in denen die Elemente der Differentialrechnung be- handelt wurden, wesentlich gekürzt worden. „Da- für war die Überlegung maßgebend, daß eine Beschäftigung mit der Physik, wenn sie sich nicht auf ganz elementare Betrachtungen beschränken soll, entweder die Kenntnis dieser Elemente vor- aussetzen muß oder doch verlangt, daß während des physikalischen Studiums auch diese Kennt- nisse (besonders) erworben werden." Dieser Auf- fassung muß ohne weiteres beigepflichtet werden. Der Gebrauch der höheren Mathematik erfolgt überdies durchweg in so durchsichtiger, an- schaulicher Weise, daß er selbst beim Anfänger kaum ernstere Schwierigkeiten verursacht, während er andererseits dem Fortgeschrittenen zeigt, in welch hohem Maße auch weniger einfache quan- titative Beziehungen durch anschaulich begründete mathematische Entwicklung der elementaren Be- schreibung zugänglich werden. Hinzuweisen ist schließlich noch auf die außer- ordentliche Zahl teils origineller und durchweg 40Ü Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 25 instruktiver Abbildungen, die die Gedächtnisarbeit des Lernenden wesentlich zu reduzieren vermögen. A. Becker. Kohlrausch, F., Kleiner Leitfaden der praktischen Physik. Dritte Auflage, neu- bearbeitet von H. Scholl. 324 Seiten mit 165 Abbildungen im Text. Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. — Geb. 10 M. Der wachsende Umfang der physikalischen IVIeßmethoden und ihrer Bedeutung in allen Ge- bieten der reinen und angewandten Naturwissen- schaften tritt deutlich in den Wandlungen hervor, die der „Kohlrausch" in den letzten Jahren ge- nommen hat. Der ,, große Kohlrausch" ist zu einem umfassenden Lehrbuch der praktischen Physik geworden, während für geringere Ansprüche der ,, kleine Kohlrausch" erstand. Da aber auch die Anforderungen an den letzteren sich neuer- dings gesteigert haben , erscheint er in der vor- liegenden, von Scholl vortrefflich bearbeiteten Neuauflage in wesentlich erweiterter Form. Er will nicht mehr nur dem Anfängerunterricht dienen, sondern auch für die spätere Zeit, in der das Erlernte Anwendung finden soll, ein Berater blei- ben. Er berücksichtigt in diesem Sinne die wesent- lichen Bedürfnisse derjenigen, für die ein gewisses Maß praktisch - physikalischen Könnens im allge- meinen ausreicht , um sie instand zu setzen, in ihren Sondergebieten physikalische Arbeiten und Messungen auszuführen , also etwa der Pharma- zeuten , Mediziner , Chemiker , Lehramtsanwärter und Techniker. Besondere Betonung haben die Fragen erfahren, die den Mediziner interessieren. Zur Erhöhung des Verständnisses wurde die knappe Sprache Kohlrauschs durch eine etwas breitere {Behandlung zu mildern versucht. Daß der Bearbeiter hierin nicht zu weit gegangen ist, ist zu begrüßen. Von großem Vorteil für den Benutzer ist es aber jedenfalls, daß den einzelnen Abschnitten in größerem Umfang als bisher Vor- bemerkungen vorangestellt worden sind , welche die zugrunde liegenden physikalischen Tatsachen und Gesetze in kurzer Form ausdrücken. Im übrigen sind die bekannten großen Vorzüge des alten Kohlrausch, wie es sich von selbst versteht, voll erhalten geblieben. A. Becker. Mie, G., DasWesen derMaterie. L Mole- küle, und Atome. 4. Auflage. 122 Seiten mit 25 Figuren im Text. 58. Bändchen von „Aus Natur und Geisteswelt". Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. — Kart. 1,60 M. und Teuerungszuschlag. Die vierte Auflage der bekannten, gemeinver- ständlichen Mi eschen Schrift „Moleküle, Atome, Weltäther" bringt eine durch den Fortschritt der Kenntnis des behandelten Gebiets wünschenswert gewordene Verteilung der Darstellung auf zwei getrennte Bändchen. Das vorHegende erste Bänd- chen enthält eine vorzügliche Zusammenfassung aller wesentlichen auf die Molekularstruktur der Materie hinweisenden Erscheinungen und der Möglichkeiten, die Folgerungen der Molekular- theorie nach den verschiedensten Richtungen hin zu prüfen. Die anregende Darstellung gibt weite- ren Kreisen einen vortrefflichen Einblick in die tiefen inneren Zusammerhänge im physikalischen Weltgeschehen und die wissenschaftlichen Metho- den zu ihrer Erforschung. A. Becker. Simon Newcombs Astronomie für jeder- mann. Eine allgemeinverständliche Darstel- lung der Erscheinungen des Himmels. Nach der Übersetzung von F. Gläser bearbeitet von Prof. Dr. R. Schorr und Prof. Dr. K. Graff. Mit einem Titelbild, 3 Tafeln, 3 Sternkarten und 79 Textabbildungen, 3. Aufl. Jena 1920. 9 M. Dieses Buch des 1909 verstorbenen ausge- zeichneten amerikanischen Astronomen gehört zu den besten populären Büchern, die wir haben. Es ist mit einer bewundernswürdigen Klarheit und Einfachheit geschrieben, die jedem auch schwie- rigere Dinge nahe zu bringen vermögen. Dabei begnügt sich die Darstellung nicht damit, die fertigen Ergebnisse der Wissenschaft in erzählen- der Weise wiederzugeben, sondern sie erörtert überall auch die Wege, die zu den Ergebnissen führten, und läßt den Leser an der Entwicklung astronomischer Gedanken, Hypothesen und Vor- stellungen teilnehmen. Das Buch kann insofern geradezu als ein Beispiel für gute populäre Lite- ratur bezeichnet werden, die nicht nur unter- halten und schlechtweg belehren, sondern auch erzieherisch auf den Geist einwirken und Achtung vor wissenschaftlicher Arbeit erwecken soll. Die an der Hamburger Sternwarte wirkenden deut- schen Herausgeber haben den Text den heimi- schen Verhältnissen etwas angepaßt und im übrigen in dieser dritten Auflage alles getan, um das Buch auf der Höhe zu halten. Papier und Druck sind ausgezeichnet. Miehe. Inlialt: Felix M. Exner, Über natürliche Bewegungen in geraden und gewellten Linien. (3 Abb.) S. 3S5. Alfred Stahl, Die Grundlagen der Relativitätstheorie. S. 390. L. Kathariner, Der menschliche Eierstock als endokrine Drüse. S. 392. — Binzelberichte : K. v. Frisch, Dressurversuche zum Gerucbsinn der Honigbiene. S. 395. Wild- aussetzungen in der Schweiz. S. 397. Gegenwärtige Verbreitung des medizinischen Blutegels, Hirudo medicinalis, in Deutschland. S. 397. W. W olt er st or ff ,. Verbreitung des Hergmolches, Triton alpestris, im norddeutschen Flach- und Hügellande. S. 397. Walter Meier, Bakterizide Eigenschaften frischer Kuhmilch. S. 398. E. Neuweiler, Die Ptlanzcnreste aus den Pfahlbauten. S. 398. — Bücherbesprechungen: E. Grimsehl, Lehrbuch der Physik. S. 399. F. Kohlrausch, Kleiner Leitfaden der praktischen Physik. S. 400. G. Mie, Das Wesen der Materie. I. Moleküle und Atome. S. 400. Simon Newcombs Astronomie für jedermann. S. 400. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. PL Miehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Fätz'tcben Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 27. Juni 1920. Nummer 26. Mechanische Naturerklärimg und organische Zweckmäßigkeit. [Nachdruck verboten." Von Walther Gleisberg, Proskau, Oberschle Zu den fundamentalen Problemen der Biologie gehören die Teilprobleme, die unter dem Sammel- begriff der Xerophytie zusammengefaßt werden. Als einige der grundlegenden Probleme der Pflanzengestaltung sind sie bereits nach verschie- denen Richtungen beleuchtet und gestatten mit- hin einen Einblick in die Fragestellungen der Biologie. Der Begriff der xerophilen Pflanzen in seiner ursprünglichen Fassung bezog sich auf Ge- wächse, bei denen Vorrichtungen zur Herabsetzung der Transpiration und zur Steigerung der Ab- sorption eine Zusammenfassung und ein Fest- halten des für die Lebensfunktionen benötigten Wassers ermöglichen. Damit waren die genannten Vorrichtungen unter einen gemeinsamen Gesichts- punkt gestellt, der eine Ziel- und Zweck- setzung bedeutete, damit waren sie, als im Dienste der Gesamtpflanze und des Ineinander- greifens ihrer Lebensfunktionen stehend, dem Prinzip der Erhaltung dieses Lebens in bestimmt gerichteter Weise untergeordnet und wurden zu Strukturprototypen. So wurde es möglich, beim Auffinden derselben Strukturen und Bauverhält- nisse an neu untersuchten Gewächsen auf Lebens- verhältnisse der betreffenden Pflanzen zu schließen, die in der Notwendigkeit der Wasserspeicherung gipfelten, und danach die betreffenden Pflanzen der biologischen Gruppe der Xerophyten unter- zuordnen. Das Problem wird klarer an der Hand eines Beispiels: der Eigentümlichkeit der ökologischen Verhältnisse, die sich z. B. in einem Teile Austra- liens in großer Lufttrockenheit äußert, sind die Vegetationsverhältnisse angemessen, ebenso jede Pflanze in ihrer Sondergestaltung. Die Blätter von Eucalyptus giganteus, der in dieser Umge- bung lebt, weisen neben anderen in gleichem Sinne gewerteten Erscheinungen eine dicke Epi- dermis und Kutikula auf. Die Dicke dieser Haut- elemente, in die vorher erwähnte Beziehung zu den ökologischen Bedingungen gesetzt, macht sie zum Transpirationsschutz. Sie werden damit zu zweckmäßigen Organen der Pflanze, und alle der- artigen Organe zusammengefaßt, machen die Pflanze zu einem in sich zweckmäßigen Gebilde. Dicke Epidermis als Struktureigentümlichkeit tritt nun auch bei anderen Pflanzenblättern auf, so bei der zur Mangroveformation gehörigen Sonneratia acida. Die ökologischen Verhältnisse der sum- pfigen Strandzone mit ihrem salzdurchtränkten Boden und ihrer dauernden Feuchtigkeit sind er- heblich anders und doch dieses Strukturelement, das nach Analogie zu Eucalyptus auf Xerophytie schließen läßtl Und tatsächlich behält die Struk- tur der Epidermis einen gleichgerichteten Wert. Die Transpiration muß trotz der wasserdampf- geschwängerten Luft herabgesetzt werden, weil die Salzkonzentration des Bodens die Absorption erschwert und daher die Pflanze das zur Aus- übung ihrer Lebensfunktionen benötigte Wasser ohne einen Transpirationsschutz nicht erhalten würde. Damit wird die dicke Epidermis auch hier zu einem Zweckgebilde. In beiden erwähn- ten Fällen stellt sie eine Anpassung der Pflanze an verschiedenartige Lebensverhältnisse dar, die jedoch den Lebensprozeß gleichsinnig beein- flussen. Dasselbe biologische Problem im Lichte einer anderen Fragestellung der Biologie 1 Die ökologi- schen Verhältnisse sind ein System physikali- scher und chemischer Bedingungen. Mit diesen korrespondierend laufen in der Pflanze Vorgänge ab, die Reaktionen auf die Umweltver- hältnisse darstellen. Die Vorgänge bedürfen im einzelnen noch weiterer Aufklärung, sind aber physikalischer und chemischer Natur. So führt z. B. stärkere Saftkonzentration in der Pflanze, hervorgerufen durch trockene Luft der Umgebung — Fall: Eucalyptus — oder durch stärkere Salz- konzentration im Boden — Fall: Sonneratia — , wie für einige Fälle bereits experimentell erwiesen, zu einer Abgabe von Stoffen, einer Art Aus- scheidung und Ablagerung an oder in der äußeren Hautschicht, deren Eintritt, zeitlich nicht merk- lich abgesetzt, in dauernder Wechselwirkung zu den Außenbedingungen erfolgt und dadurch ein Gebilde schafft, das anders strukturiert ist und sein muß als ein entsprechendes, das in Wechsel- wirkung mit anderen Außenbedingungen und auch nicht unter genau denselben chemischen und physikalischen Innenbedingungen wie vorher entstanden ist. Völlige Kenntnis der Außenwelt in ihren physikalischen und chemischen Teiler- scheinungen, ferner völlige Kenntnis des Mechanis- mus und Chemismus sämtlicher Vorgänge in dem Pflanzengebilde und endlich völlige Kenntnis der kausalen Beziehungen der Außenweltsbedingungen zu der jeweiligen mechanischen und chemischen Konstellation im Pflanzenkörper werden voraus- sichtlich zur Erfassung aller der Bedingtheiten führen, die in ihrer Gesamtheit jedes pflanzliche Gebilde ausmachen. Die ersten Schritte auf die- sem Wege sind gemacht. Beide Fragestellungen der Biologie sind alt, die eine ist die teleologische, die andere die mechanisch- kausale. Die eine sucht für jedes Ge- 462 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 26 bilde einen Zweck, die andere ergründet die ur- sächlichen Zusammenhänge. So alt beide sind, so alt ist der Kampf der Meinungen um sie. In den Zeiten der griechischen Philosophen, in denen Biologie untrennbar mit Philosophie verknüpft war, gab es bereits diese beiden Lager. Die Trennung der Disziplinen ergab ein doppeltes Ausfechten des Für und Wider: im Biologischen und Philosophi- schen, daneben die mehr oder minder glückliche Verquickung des biologischen und philosophischen Herantretens an die F"ragen. In diesem Kampfe wurde bald die kausale, bald die teleologische Fragestellung einseitig betont, bald auch mannig- fachen Kompromissen das Wort geredet. Hier sollen die beiden Probleme : mechanische Naturerklärung und organische Zweckmäßigkeit vom philosophischen Standpunkte unter Berück- sichtigung der biologischen und allgemein-natur- wissenschaftlichen Erkenntnisse kritisch beleuchtet werden. Dabei wird an einen Philosophen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts angeknüpft und im Anschluß an seine Anschauungen das Problem entwickelt. Otto Liebmann sagt zu Beginn seiner Ab- handlung „Idee und Entelechie",^) es würde sich zeigen, „daß beide Zentralbegriffe" — eben die Begriffe der Idee und der Entelechie — „mitten in der heutigen Naturauffassung unter veränderten Namen und von vielen unerkannt ruhig weiter- existieren, und daß ihre Differenz, wenn auch bis- her ungeschlichtet, so doch keineswegs unschlicht- bar ist". Er stellt damit die beiden wesentlichen Differenzpunkte des Piatonismus und des Aristo- telismus in den Vordergrund seiner Betrachtung und mißt an ihrem V\'ert oder Unwert durch ihre Verknüpfung mit dem zu seiner Zeit — der ersten nachdarwinschen Epoche — besonders hefti- gen Streit um das Selektionsprinzip den Geltungs- bereich der mechanisch-kausalen, bzw. der Zweck- mäßigkeitsauffassung. Er gelangt zu einer Zweiteilung der Einzel- disziplinen der Naturwissenschaft: einerseits der „Mechanik, Physik, Chemie" und der ,,auf unor- ganische Prozesse reduzierbaren" Vorgänge „inner- halb der belebten Natur", andererseits der eigent- lichen Lebensvorgänge, zu denen er Embryoent- wicklung, Zeugung, Vererbung, Tendenz zur Variation und Adaptation rechnet. Jene läßt er von einem System von Gesetzen beherrscht wer- den, die er mit der gesetzhaften — nicht der metaphysischen — Seite der Ideen als über den Erscheinungen stehend identifiziert, diese von einem Etwas, das wesensgleich der aristotelischen Ente- lechie sich in den Erscheinungen auswirke. Das Gezwungene dieser Einteilung, die die Vorgänge der organischen Natur prinzipiell trennt, wird klar, wenn der Gedanke, der oberflächlich betrachtet 1899. ') Otto Liebmann, Gedanken und Tatsachen, Bd. I, ansprechend ist, von der Definition der Begriffe bis zu ihrer Anwendung auf die Beispiele der Natur verfolgt wird. Es zeigt sich nämlich dabei ein rohes, teilweise verworrenes Gebäude, in dem keineswegs eine Schlichtung der in der Auffassung vom Lebenden sich bekämpfenden Probleme er- reicht wird. Zunächst einige Begriffsbestimmungen! Die mechanische Naturauffassung basiert auf dem Beurteilungsprinzip der Kau- salität, d. h. auf dem Gedanken der Ursache- Wirkung- Gesetzlichkeit im Ablauf der Naturvor- gänge, speziell der physikalischen und chemischen Gesetzlichkeit. Sie sucht das gesamte Naturge- schehen in physikalische und chemische Gesetz- lichkeit aufzulösen, macht damit auch nicht vor dem Lebenden Halt. Sie lehnt jede Analyse ab, die andere als physikalische und chemische Ele- mente in die Kausalreihe einstellen will, ferner auch jedes Prinzip, das geeignet wäre, den Kausal- nexus zu durchbrechen, also auch Begriffe wie „Bildungstrieb des Organismus" und „Lebenskraft" als kausalen Gesetzen nicht unterworfene Regula- toren des Ablaufs der Lebensvorgänge. Wenn die mechanische Naturauffassung von dem Organis- mus als von einem mechanischen Problem spricht, so meint sie, daß er durch physikalische und chemische Gesetzlichkeit restlos bestimmt ist, sagt also nichts über ihn aus als den Kausalnexus. Nun ist es freilich richtig, daß Biologie, wie über- haupt Naturwissenschaft, ohne den Kausalge- danken nicht denkbar ist, aber wenn die mecha- nische Naturauffassung meint, der Organismus sei allein durch physikalische und chemische Gesetz- lichkeit bestimmt, anderes als der Kausalnexus könne über ihn nicht ausgesagt werden, so steht dem die Anschauung anderer Biologen gegen- über, die in dem Begriff des Organismus noch etwas anderes finden. Dieser Auffassung vom Lebenden ist der Organismus ein System von funk- tionierenden Organen. Das bedarf näherer Beleuchtung: Jeder Körperteil steht einerseits in Beziehung — dieser Begriff wird später näher erörtert werden — zur Außenwelt, andererseits zum Ganzen des Systems, wobei diese Beziehung unmittelbar oder mittelbar über andere System- elemente hinweg statthaben kann. Ist diese Doppel- beziehung eines Körperteils, seine Funktion, er- kannt, so wird er zweckmäßig genannt. Die Funktion wird im Dienste des Ganzen, also zweck- gerichtet gedacht. Im Hinblick auf diese Funk- tion ist der Körperteil ein funktionierendes Ge- bilde, ein Organ. Je mannigfaltigere Beziehungen zwischen Organ und Außenwelt einerseits und Organ und System andererseits erkannt sind, für um so zweckmäßiger wird das Organ angesehen. Ist das System der funktionierenden Organe als Ganzes und in seiner Beziehung zur Außenwelt erkannt, dann wird der Organismus zweckmäßig genannt. An den Begriffen des Organs und des Organismus haftet der Gedanke des Zweckmäßigen. N. F. XIX. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 403 Während die mechanische Naturerklärung allein mit der kausalen Gesetzlichkeit auszukommen meint, gibt es eine krasse teleologische Auffassung, die nur die Zweckbeziehung im Organischen gelten läßt, nicht. Der Teleologe läßt den Kausatnexus in seinem Recht, setzt aber als Vitalist, Psycho- Vitalist und wie die Richtungen heißen mögen, dorthin, wo augenblicklich scheinbar der Bereich des Kausalnexus aufhört, in scheinbar kausaler Folgerichtigkeit ein Agens, das für das Unerklärte ver- antwortlich gemacht wird, und nennt es „organischen Bildungstrieb", „Lebenskraft" oder ähnlich. Lieb- manns Entelechie fällt hierunter. Dadurch ist der Kausalgedanke in den Dienst eines Etwas ge- stellt, das mit dem Mechanisch-Kausalen nicht vereinbar ist, und damit eine Vermischung des kausalen und teleologischen Gedankens eingetreten, auf Grund deren jene teleologischen Richtungen mit ihrer scheinbaren Folgerichtigkeit den An- spruch der Gültigkeit erheben. Liebmann ist mit Plato und Aristo- teles, deren Idee und Entelechie ein unbestritten teleologisches Element haben, einer Meinung, aller- dings mit der Einschränkung, daß der Fortschritt der Wissenschaft die teleologische Sphäre zu- gunsten der kausalen einschränken wird. Diese restlose Auflösung der teleologischen Sphäre in kausale Beziehungen ist ihm offenbar für das Anorganische schon so weit gediehen, daß er seine Beispiele für das Bestehen von Zweck- mäßigem in der Natur nur aus der Organismen- welt wählt. Unter den Ideen versteht er die Gesetze der Mechanik, Physik usw. und sagt, daß sie Gesetze seien, „die das in seiner Art Vollkommene, das Zweckmäßige gebieten". Demgegenüber stehen die Enielechien, „die das Zweckmäßige anstreben und womöglich realisieren". Beide Begriffe ver- schwimmen in ihrer Auswirkung, sind nur ver- schieden in dem mystischen Mittel, durch das jenes „Zweckmäßige" erreicht wird. Einerseits sind Liebmann „die den Naturlauf regulierenden Gesetze, die im Naturlauf zusammenwirkenden tätigen Substanzen" so geartet, ,,daß daraus die bewunderungswürdige Zweckmäßigkeit normaler Naturprodukte resultieren muß', andererseits sucht er ein teleologisches Etwas zu ergründen, das neben diesen „regulierenden Gesetzen" und neben den „tätigen Substanzen" die mystische Ursache der organischen Zweckmäßigkeit ist, im Gegensalz zur anorganischen, die ihm durch diese Gesetze und Substanzen genügend geklärt erscheint, und nennt es mit Aristoteles „Entelechie". Wo ist nun der Ort dieser mystischen Ente- lechie? Dort wo das Rätselhafte in der Natur be- ginnt. Wo ist das aber strenggenommen f — Nebenbei sei die Frage aufgeworfen, ob solche Gedankengänge auf anderen Gebieten der Natur- wissenschaft, in der Chemie, der Kristallographie, der Gravitation, Akustik, Optik und so fort nicht ebenfalls einem Rätselhaften begegnen. — Der verschwommene Gedanke des „organischen Bil- dungstriebes" in der Organismenwelt wird ersetzt durch den nicht minder verschwommenen der Entelechie, der auch ein asylum ignorantiae dar- stellt. Es ist zweifelhaft, ob Liebmann der subtile Entelechie- Begriff des Aristoteles vorschwebt, wenn er von Darwin sagt, er wäre Teleologe der aristotelischen Richtung. Mit dieser Auf- fassung von dem Darwinschen Selektionsge- danken, als setze er ein der Entelechie ähnliches Etwas voraus, müßte ein für allemal aufgeräumt werden. Darwin hat zwar mit Bewußtsein eine teleologische Anschauungsform auf alles Lebende angewandt, tritt aber damit nicht für die Immanenz einer Entelechie ein, die überhaupt nur ganz ver- schwommen als der Entwicklung immanent ge- dacht werden kann. Darwin setzt den Zweck- gedanken keineswegs beiseite, es liegt ihm aber fern, entelechistische Bildungstriebe zu suchen, im Gegenteil sucht er die Entstehung des Zweckmäßigen in einer, wenn man will, „mechanischen" Kausalreihe darzutun. An anderer Stelle gerät der Entelechiebegriff in Kollision mit dem Begriff der Individualität, speziell der „individuellen Abgeschlossenheit des Seelenlebens". Diese soll für die Entelechie sprechen. Als wenn es, weil eine Individualität besteht, Entelechie geben und umgekehrt mit der Entelechie die Individualität fallen müßte. Das Individuum ist einerseits ein abgeschlossenes Ganze, das allgemeinen Gesetzen unterliegt, an- dererseits stehen seine Elemente, die eine bestimmt umschriebene Kombination darstellen, in eindeu- tiger Relation zueinander und zum Ganzen und eben dieses eigentümliche System von Relationen macht das Individuelle aus. Eine Melodie z. B., die im weiteren Sinne des Wortes eine Indivi- dualität darstellt, ist allgemeinen akustischen und musikalischen Gesetzlichkeiten unterworfen und ihre Elemente — Töne, Klänge — stehen in be- stimmten Relationen zueinander und zum Ganzen. Die Vitalisten setzen dorthin, wo die Auflösung in Ursache Wirkung-Gesetzlichkeit noch nicht ein- gesetzt hat — es bleibt ihnen also noch ein weites Feld — , die Lebenskraft als mystische Ur- sache im Gegensatz zum chemischen und physi- kalischen Kausalnexus. Liebmann hält die Lebenskraft von vornherein für erledigt, weil sie „im Leeren" schwebt, weil ihr das „diese Kraft ausübende Subjekt" fehlt. Das ist kein Argument gegen die Lebenskraft. Es würde mehr von ihr verlangen als von der Anziehungs- oder der mag- netischen Kraft verlangt werden kann. Ebenso- wenig wie es ein Subjekt zu der Anziehungs- und der magnetischen Kraft gibt, kann dieses für die Lebenskraft gefordert werden. I Dieser Vergleich fordert zu einer Definition der Lebenskraft heraus, die sie in die Reihe der bekannten Naturkräfte stellt. Die Gravitations- „kraft" ist die Gravitationsgesetzlichktit. So hier: Lebenskraft ist die Gesamtheit der Lebensgesetzlichkeiten. Damit verliert die 404 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 26 Lebenskraft aber auch ihren mystischen Hinter- grund und wird exakter Forschung zugänglich. So wird der Lebenskraft und allen verwandten Scheinbegriffen in ihrer mystischen Anwendung in den verschiedenen teleologischen Richtungen und gleichfalls Liebmanns Entelechie der Boden schrittweise abgerungen, wenn man sich nicht, was besser wäre, entschließen kann, mit allen diesen qualitates occultae gründlich und aus prin- zipiellen Gründen aufzuräumen. Teilt nun auch die „organische Zweckmäßig- keit" das Schicksal jener Scheinbegriffe ? Keines- wegs! Denn Zweckmäßigkeit kann und muß eine Definition erhalten, die sie von jenen quali- tates occultae auf das entschiedenste trennt. Sie sei an der Hand eines Beispiels dargelegt: Betrachtet man zwei chemische Vorgänge neben- einander: Die Bildung von gewissen Kristallen im Pflanzenkörper, ihre Auflösung und Neubildung je nach den Konzentrationsverhältnissen im Zell- saft, andererseits das Ausfallen von Kristallen in einer Lösung nach Zufügen einer schwachen Säure, Auflösung der Kristalle und Neubildung je nach Anreicherung von starker oder schwacher Säure und Base im Reagenzglas, dann ist das Auffinden der kausalen Glieder bei beiden Vor- gängen schon ziemlich weit gediehen. Man sieht allerdings klarer bei dem anorganisch chemischen als bei dem Vorgang im Pflanzenkörper. Der Teleologe gibt diesem letzteren einen besonderen Sinn : in dem Kristall besitzt die Pflanze ein Mittel zur Turgorregulierung. Woher die Zweckbetrachtung, welcher Sinn kann ihr vernünftigerweise beigelegt werden? Nicht etwa deshalb legen wir an den Vorgang im Pflanzenkörper noch einen anderen als den kau- salen Maßstab an, weil er gegenüber dem im Reagenzglase kausal noch nicht völlig aufge- klärt ist. Sondern der Zweckgedanke ist ein Ordnungsprinzip des denkenden Be- wußtseins. Kraft dieses Prinzips wird die Kri- stallbildung mit allen kausal sich daraus ergeben- den Wirkungen einem größeren Ganzen von Er- scheinungen eingeordnet, der Einzelvorgang dem System, das in seiner Gesamtheit den Organismus darstellt. Das Ordnungsprinzip dieses Systembe- begriffs ist der Zweckgedanke. Der isolierte Einzel- vorgang stellt nichts als eine Kausalreihe dar; diese bleibt unter allen Umständen bestehen; aber in den Zusammenhang eines größeren abgeschlosse- nen Ganzen gebracht, als Element eines Systems von Einzelvorgängen, die wechselseitig Ursache und Wirkung füreinander sind, ist der Einzelvor- gang die zweckmäßige Handlung des Organs, das gerade so und nicht anders handelt, damit das System bestehen kann. In diesem Zusammen- hange ist der chemisch-physikalische Vorgang die zweckgerichtete „Funktion" des seinem Zwecke dienenden „Organs" und das System ein zweck- mäßiger „Organismus". Man wende kurz den Blick vom Lebenden hinweg und nehme sich vor — und es wird nicht schwer fallen — , um sich das Gesagte zu ver- deutlichen, etwa einen Teich mit allen seinen chemischen und physikalischen Verhältnissen, seiner Flora und Fauna, kurz mit allem, was den Teich in seiner Gesamtheit ausmacht, oder etwa unser Sonnensystem, die physikalischen, chemi- schen, floristischen, faunistischen Zustände der Erde mit einbegriffen, als Organismen höherer Ordnung anzusehen 1 Die Eigenschaft des Wassers, sein spez. Gewicht von -|-4'' abwärts an wieder zu verringern, wird zum zweckgerichteten Vorgang, der es zuwege bringt, daß ein Ausfrieren des Teiches verhindert wird, der seinen Teil dazu bei- trägt, daß der Teich, so wie er ist, weiter bestehen kann und nicht vom lebenden in den toten Zu- stand übergeht. Und im Sonnensystem hat die zur Ekliptik geneigte Erdachse die P'unktion er- erhalten, für den Wechsel der Jahreszeiten auf der Erde zu sorgen und damit den Status quo auf ihr zu erhalten. Die mannigfaltigen Beziehungen — man er- innere sich an die zu Beginn gegebenen Defini- tionen von Organ und Organismus im noch un- kritischen teleologischen Gedankengange — , die zwischen den Größen : Außenbedingungen, Organe und Organismus in allen bereits erfahrenen und als möglich denkbaren Richtungen und Kombina- tionen statthaben können, sind kausaler, vielleicht rein mechanischer, vielleicht psychophysischer — was der Spezialforschung zur Entscheidung unter- stehen wird — , aber jedenfalls kausaler Natur. Im Zusammenhange des Zwecksystems sind diese Beziehungen zweckgerichtet. Je weiter die kau- sale Forschung fortgeschritten ist, desto mannig- faltiger sind die Beziehungen. Daher ist es rich- tig, daß „je mehr man ins Minuziöse geht, desto größer die Erkenntnis von der genialen Natur- technik" ist. Die kausale Forschung ver- drängt nicht die teleologischeSynthese, sondern gibt ihr immer neuen Stoff, je vollkommener sie wird. Der Gedanke eines Systems setzt den Ge- danken einer Gliederung in Elemente voraus. Auch psychisch scheint notwendige Voraussetzung für die Zweckbetrachtung das Erkennen einer Gliederung zu sein, eine wenn auch oft nur rohe Analyse, der die Zweckbetrachtung als Synthese folgt. Die erste rohe Analyse und das Auftauchen eines Zweckgedankens wird im psychischen Fort- gang wissenschaftlichen Denkens dem Aufsuchen der Kausalbeziehungen oftmals den Weg weisen, sowie andererseits fortgeschrittene Kausalforschung der Zwecksynthese immer neuen Stoff liefern wird. Dennoch aber sind Kausalbeziehungen und Zweckzusammenhänge begrifflich völlig unabhängig voneinander und behalten unabhängig voneinander ihre Gültigkeit, mögen sie auch im psychischen Geschehen einander wechselseitig bedingen. Es ist zwar notwendig, daß an das Zweckbe- trachtete der Maßstab der Kausalität gelegt wird, aber es ist falsch, nach Feststellung der kausalen N. F. XIX. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 405 Beziehung, nach Auffinden der chemischen und physik-alischen Gesetzlichkeit die Zweckbetrachtung als etwas Überlebtes abstoßen z¥i wollen und den aufgefundenen Kausalnexus als das einzige Ziel biologischer Forschung anzusprechen. Sehr wohl kann der Zweckzusammenhang revidiert werden, je feiner die kausale Naturanalyse ist, aber — und das sei erneut hervorgehoben — er behält seine Gültigkeit neben und mit dem Kausalzusammen- hang. Wo Zweckmäßigkeit gedacht wird, — und sie wird nicht nur im Organischen gedacht, sondern auch die anderen ^sIaturwissenschaften weisen Spuren von Zweckbetrachtung auf, — da ist mit ihr zu rechnen. Aber sie muß begrifflich streng umschrieben und darf nicht ein Tummelplatz un- klarer Gedankengänge und mystischer Scheinbe- griffe sein! Wenn gesagt worden ist, daß der Organismus sich nicht erschöpft in physikalischer und chemischer Gesetzlichkeit, so gehört positiv hierzu : ein weiteres ist die Zweckmäßigkeit. Es sei noch einmal auf die eingangs erörterte Frage der Xerophytie hingewiesen. Die Mecha- nisten lassen nur die Ergründung der ursächlichen Zusammenhänge, der Entstehungsursachen der Xerophyten Merkmale als wissenschaftlich gelten. Die Teleologen weisen zwar die kausale Betrach- tungsweise nicht von der Hand, aber — und das unterscheidet sie von der hier dargelegten Auf- fassung des Zweckgedankens als eines Ordnungs- prinzips — sie setzen in den Ablauf der Lebens- vorgänge dorthin, wo physikalische und chemische Gesetzlichkeit nicht aufgefunden worden ist, be- sonders dorthin, wo die eigentlichen Lebensfunk- tionen nicht oder noch nicht in den Rahmen physikalischer und chemischer Gesetze passen, wo ein Neues aufzutreten scheint, das zwar ohne Kausalität nicht auskommt, das aber durch physi- kalischen und chemischen Kausalnexus, die Grund- pfeiler der Natur, bisher nicht erschöpft ist, ein Etwas, das bald als „Entelechie", bald als „Lebens- kraft" und mannigfache andere mehr oder minder mystische, unklare Bezeichnungen eine Rolle spielt und • — was gleichfalls wichtig ist — als der or- ganischen Wirklichkeit immanent für die orga- nische Zweckmäßigkeit verantwortlich gemacht wird. Nur noch einige Worte den Vitalisten und ihrer Lebenskraft! Vorher war Lebenskraft als der Inbegriff aller Lebensgesetzlichkeiten definiert worden. Ist nun der Organismus durch kausale Gesetzlichkeiten nicht völlig erschöpft, sondern gehört noch der Begriff des Zwecksystems dazu als Gegenstand gleichfalls wissenschaftlicher For- schung, so muß auch diese andere Seite des Be- griffs Organismus in der Definition der Lebens- kraft wiederkehren. Es wäre ihr etwa folgende Fassung zu geben: Lebenskraft ist ein Sy- stem aller Lebensgesetzlichkeiten; das Ordnungsprinzip dieses Systems ist der Gedanke des Zweckes. Welcher Art die Lebensgesetzlichkeiten sind, entscheidet die Spezialwissenschaft. Trotzdem sei hier kurz im Anschluß an den Liebmann- schen Gedanken, daß den Atomen neben den chemischen und physikalischen Kräften „latent bleibende Individualkräfie" innewohnen , die erst ,,bei Gelegenheit des Zusammenseins im Organis- mus" freiwerden, angeknüpft. Vom chemischen Standpunkte aus wäre dieses durchaus denkbar, etwa in dem Sinne, daß, wie man sich die Kon- stellation der Atome im Molekül für Vorgänge der organischen Chemie verantwortlich denkt, etwas Entsprechendes bei den Stoffen im leben- den Körper vorliegt. Dann aber verlören die — um mit Liebmann zu reden — latent blei- benden Individualkräfie ihren geheimnisvollen Beigeschmack und wären Gegenstand chemischer P'orschung. Wir befänden uns dann im Lebenden auf einem dritten Gebiet der Chemie, der „Bio- chemie", die nicht als eine Abzweigung der orga- nischen anzusehen wäre, sondern mit der orga- nischen und anorganischen in einem Dreiecks- konnex stehend betrachtet werden müßte: ebenso wie die organische Chemie in ihrer Gesetzlichkeit der anorganischen nicht widerspricht, sogar in Einklang mit ihr gesetzt werden kann, ja in kon- tinuierlichem Zusammenhang mit ihr steht, so würde das Gleiche von diesem eventuellen Gebiet der „Biochemie" gegenüber der organischen und anorganischen gelten. Dann wäre es auch klar, daß die sog. „gleichen Ursachen", „folglich auch die im Pflanzen- oder Tierkörper vereinigten Wasserstoff-, Sauerstoff-, Kohlenstoff-, Stickstoff- und Phosphoratome innerhalb des lebendigen Organismus" nicht dieselben Wirkungen wie außer- halb hervorbringen können. Kurz sei noch daran erinnert — das kann zur Verdeutlichung der Auffassung des Zweckgedankens als eines Ordnungsprinzips dienen ! — , daß der Organismus, der in sich zweckmäßig ist, auch einem äußeren Zwecke dienen kann. Dieser äußere Zweck wird zum inneren, sobald ich den Organismus in das System eines Organismus höherer Ordnung einordne. Damit hängt die Schwierigkeit zusammen, die Zellkolonie scharf vom Metazoon oder Metaphyten zu trennen. Wenn bisher der Begriff „zweckmäßig" als Ganzes betrachtet worden ist, darf nicht vergessen werden, daß er zwei Gedanken in sich schließt: Den des Zweckes und den des Gemäßseins. Das ist für eine eingehende Betrachtung der Tat- sachen der spezifischen Lebensvorgänge von großer Bedeutung. Worauf ist es zurückzuführen, daß das Organ seinem Zwecke „gemäß" be- schaffen ist ? Die Beschaffenheit des Organs stellt im Kausalnexus die Ursache seiner Tätigkeit dar. Wäre das Organ anders beschaffen, dann wäre die sich daraus kausal ergebende Wirkung eine andere. Im Hinblick auf das Zwecksystem ist die sich aus der Beschaffenheit des Organs ergebende Wirkung seine Funktion. Ich lege dem Organ keine andere Funktion bei als der aus seiner Be- schaffenheit sich ergebenden Wirkung entspricht. 4o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 26 So wie die Ursache der Wirkung gemäß ist, so muß unter dem Gesichtspunkte des Zwecksystems die Beschaffenheit des Organs seiner zweckgerichteten Funktion gemäß sein. Dort, wo die aus der Beschaffenheit des Or- gans sich ergebende Wirkung durch die Kausal- forschung noch nicht aufgeklärt ist, kann weder ein Zweck noch ein dem Zwecke Gemäßsein ge- setzt werden ■ — Beispiel: Zirbeldrüse — , nicht selten sogar der Gedanke des Zweckwidrigen sich ergeben — Beispiel: Rachendrüsen. Rückschauend sei nochmals auf das Beispiel der Xerophytie verwiesen und auf die eigenartige Folge der Zweckbetrachtung, aus gewissen Struk- turelementen stets denselben Zweck herauszulesen und dadurch diese Elemente von vornherein in einem bestimmten Sinne zweckgerichtet zu be- trachten. Als man bei Untersuchung von Sumpf- gewächsen, also Pflanzen eines Standorts, der zu- nächst in keiner Weise für die Notwendigkeit eines Transpirationsschutzes zu sprechen scheint, die dicke Epidermis neben anderen ,, Xerophyten" Merkmalen fand, wurde doch nicht an der „Xero- phyten" Bedeutung der Merkmale gerührt, ein- fach in der Voraussetzung, daß sich auch dieser Fall würde einordnen lassen. Hierdurch erweist sich die große Bedeutung der Zweckmäßigkeit als Prinzip der Ordnung für die Naturwissenschaft, speziell die Ökologie. Die Frage nach den Bedingungen, die einen „Transpirationsschutz" bei den bestimmten Sumpf- gewächsen hervorrufen, ist eine kausale Frage, die vollkommen unabhängig neben der teleologi- schen einhergeht und eine andere Seite der Bio- logie darstellt. Ob nun die austrocknende Wir- kung der ständigen Luftbewegung über dem Sumpfe, ob die Nährstoffarmut oder anderes die besonderen Merkmale hervorgerufen hat, wird ein- gehende Kenntnis der bestimmten Gewächse und eingehende Kenntnis der Umweltfaktoren erweisen, das ist Sache der Kausalforschung; daß die Pflanzen und ihre Organe zweckmäßig sind, ist Sache der Zweckbetrachtung. Auf diesem Boden liegt die Schlichtung der Probleme, die Liebmann in die altgriechischen Begriffe der Idee und Entelechie faßt, auf diesem Boden auch die Schlichtung des Gegensatzes, der sich durch falsche Auffassung von der organischen Zweckmäßigkeit zwischen ihr und der mechani- schen Naturerklärung als zweier einander aus- schließender wissenschaftlicher Fragestellungen herausgebildet hat. Einzelberichte. Geologie. Die Glassande von Hohenbocka und ihre Stellung im Miozän der Lau'^itz behandelt K. Keil hack m den Monatsber. d. deutsch. Geol. Gesellsch. 71. Bd. 1919. Der bis nach Rußland, Polen, Ungarn, Nordamerika versandte Glassand, aus dem völlig farblose Gläser gefertigt werden können, findet sich am südwestlichen Abhang des Koschenberges im südlichen Teil der Provinz Brandenburg, an dem Kreuzungspunkt der Eisen- bahnen Falkenberg — Kohlfurt und Lübbenau — Kamenz. Von da geht der Zug weiter bis zum Dorfe Guteborn. Hier ist der Glassand zu einem Ouarzsandstein verkittet. Das Liegende der Glas- sande und die Stellung im Lau.siizer Miozänprofil war nicht sicher. Erst neuere Aufschlüsse brach- ten Klarheit. Man hat erkannt, daß die Glas- sande ins Liegende der älteren Braunkohle ge- hören. Für die Entstehung der Glassande ist es wichtig, zu wissen, daß ihre Verbreitung an das Auftreten älteren Gebirgsuntergrundes gebunden ist. So liegen die Glassandgruben bei Hosena am Koschenberg, der aus Kulmgrauwacke, Granit und Diabas aufgebaut ist, die Grube „Erika" wenig nördlich vom Kulm und Granit bei Schwarz- kollm. Bei Guteborn hat man älteres Gebirge wiederholt durch Bohrungen nachgewiesen. Diese Zone älterer Gesteine ist nach Süden hin von dem gleichen Auftreten älterer Gesteine bei Wittichenau und Kamenz durch eine Senke ge- trennt, in der mächtige Braunkohlenflöze liegen. Man kann nach Keil hack die Glassande als Uferbildungen auffassen, die sich am Rande eines Binnensees niederschlugen. In den tieferen Teilen des Binnensees lagerten sich mit den aus dem im Süden Sachsens gelegenen Granitgebieten her- beigeführten Kaolinmassen Glassande ab. Der Wind trennte die Glimmerbläitchen von den gleich- förmigen Quarzkörnern ab. Das Süßwasserbecken hat gegen 75 — 100 km ostwestliche und gegen 50 km nordsüdliche Aus- dehnung gehabt. Aus dem sächsischen Granit- gebiete wurden feine Quarzsande und Kaolin- massen eingeführt. An den Ufern waren Winde tätig, die Glassande auszusondern. Schließlich stockte die Kaolinzufuhr. Die weitere Ausfüllung geschah durch Glimmersande und schließlich große Mengen von kolloidalen bituminösen Stoffen. Nach der Zuschüttung des Beckens ent- wickelte sich ein Waldmoor, aus dem das Unter- flöz hervorging. Nun senkte sich das Becken um gegen 60 m. Kohlenletten wurden abgelagert. Dann legten sich darauf helle, bitumenfreie Glim- mersande. Ein zweites Mal wurde das Becken ausgefüllt und eine Waldmoorvegetation erzeugte das mächtigere Oberflöz. Nun trat zum dritten Male, diesmal aber nur in geringem Maßstabe, eine Senkung ein. Das flache Gebiet wurde von P"lüssen durchströmt, die grobe Sande und feine Kiese befördern konnten. In den Überschwem- mungsgebieten dieser Gewässer entstanden aus N. F. XIX. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 407 der tonigen Trübe die massigen, weißen Flaschen- tone. Schiefertone schlugen sich in den Alt- wässern der Flüsse und flachen Seen nieder. In ihnen ist die prächtige Flora des Lausitzer Mio- zäns enthalten. Rudolf Hundt. Untersuchungen über den Beginn der großen Kreidetransgression in Deutschland veröffentlicht Ö. von Linstow im Jahrbuch d. Preuß. Geol. Landesanstalt (Bd. XXXIX, Teil II, Heft i). An der Hand von Beobachtungen aus ganz Deutschland zeigt O. von Linstow, daß sich vom westlichen Ober-Gaultmeer nach Osten hin eine gewaltige Meerestransgression zur Kreidezeit vollzog, deren Weg und Richtung von einer Land- senkung gewiesen wurde. Mecklenburg, Pommern, Brandenburg, Posen werden vom Meer bedeckt. Die Transgressionsschicht sind Quarzsande und Quarzkiese. Im Westen ist der Übergang von Gault zur Tourtia ohne Transgressionen vor sich gegangen, aber im Osten sind die großen Trans- gressionsflächen vorhanden. Das TourtiaMeer des Westens ist etwas größeren Umfanges wie das küstenferne Meer der Ober-Gault-Zeit. Zur Zeit des Tourtia-Meeres setzt eine neueTrans- gression nach Süden, Osten und Norden hin ein. Nach Süden hin ist sie am großflächigsten. In Westfalen sind diese Transgressionsabsätze als Essener Grünsande, auf dem Eichsfelde als glau- konitische Sande mit Hornsteinkrallen, südöstlich von Dresden bis hinein nach Schlesien und Böhmen als cenomene Quadersandsteine erhalten. Dieses Meer besaß Verbindung mit den Regensburger Cenomanmeeren, nicht aber mit dem der Alpen. Durch die Schichten der Greifswalder Oie wird bewiesen, daß sich die Gault-Transgression noch zur Tourtia- Zeit fortgesetzt hat, daß aber die untercenomane Transgression vor Bornholm halt machte, da die Aranger Grünsande Transgressions- gebilde der mittleren CenomanZeit sind. In der jüngsten Cenoman Zeit fand die Transgression auch in Schlesien (Löwenberg, Oppeln, Leobschütz) Boden. Bis hinein nach Polen finden wir von dieser Transgression Spuren. Die Sandmengen, welche die Transgressions- gebilde (Quarzsande, Sandsteine, Konglomerate) aufbauen, stammen von der Zerstörung der Granite, Gneise des Erzgebirges, der Lausitzer Granitplatte in der Festlandzeit während der Neocom-Gault- Zeit. Für Schlesien lieferten die zersetzten Granite des Iser- und Riesengebirges Material. Westfalens Transgressionsgebilde bauen sich aus dem Ver- witterungsprodukt der Gangquarze und Quarzite aus dem Devon des Niederrheinischen Schiefer- gebirges auf Die Gault-Kiese und Gault-Sande Pommerns und Posens stammen nach O. von Linstow aus dem Norden, von wo sie durch Flüsse der Neocom- und älteren Gaultzeit von Bornholm, Schonen aus Graniten, Nexö Gesteinen nach Süden getragen wurden. Aus der Art der Auflagerung der Transgressionsgebilde im Elb- sandsteingebirge und bei Regensburg kommt man zu dem Schluß, daß die Senkung zur älteren Cenoman- Zeit, die der Transgression ja den Weg wies, „ziemlich rasch" erfolgt sein muß. Nicht nur auf Deutschland beschränkt sich die cenomane Transgression, sondern sie ist auch im übrigen Europa, in Asien, Afrika, Nord- und Süd- Amerika nachgewiesen worden. In Rußland blieb nur der nördliche Teil verschont. In Deutsch- land bestand nur ganz vorübergehend eine Verbindung zwischen germanischer und alpiner Kreide. Die cenomane Kreidetransgression löst sich in verschiedene Perioden auf, die sich vom Oberen Gault angefangen auf den Zeitraum bis zum Oberen Cenoman verteilen. Dies war aber nicht die weitflächigste Kreidetransgression. Erst zur Zeit der Ablagerung der senonen Mucronaten- kreide setzte die ein. Ihre Herrschaft währte nur kurze Zeit, denn sofort setzten Regressionen darauf ein. Rudolf Hundt. Den Blockfeldern im östlichen Vogelsberg widmet Hermann L. F. Meyer-Harrasso- witz in den Berichten über die Vers. d. Nieder- rheinischen geologischen Vereins für 1918 ein- gehende Untersuchungen. Manche deutsche Mittelgebirge weisen Blockfelder auf, die auf eine Klimaerniedrigung hinweisen. Im östlichen Vogels- berg sind sie bis an die Buntsandsteingrenze ver- breitet. Die Blöcke sind in Höhen von 300 — 700 m vorhanden. Im Oberwald finden sich Blockfelder am Teufstein und westlich des Hoher- ortskopfes. Im westlichen Vogelsberg sollen sie nach dem Verf auch vorhanden gewesen sein. Dort sind sie nachträglich der mächtig einsetzen- den Zertalung anheimgefallen. Sie konnten sich dort nicht halten, weil die Zertalung und jüngere tektonische Einbrüche der Erhaltung feindlich waren. Im östlichen Vogelsberg dagegen konnten sie bis heute vorhanden bleiben, weil sich hier eine Abtragungsfläche mit einer mittleren Höhe von 450 — 550 m ausgebildet hat. Ehemals ist die Verbreitung der Blockfelder im östlichen Vogelsberg gleichmäßig gewesen. Viel ist durch die Kultur zerstört worden. Nur der die einzelnen Blockfelder bedeckende Wald hat viele vor ihrem Untergang gerettet. Am be- kanntesten sind die Blockfelder bei Ilbeshausen, bei Traiges unweit Eichelhain. Zum Studium empfiehlt Meyer-Harrassowitz eine „kurze Exkursion von Ilbeshausen über das Felsenmeer zu beiden Seiten der Straße und dann entlang der Straße nach Langenhain bis zu den Gombels- wiesen östlich des Ortes. Selbst eine Bahnfahrt von Lauterbach über Oberseemen nach Gedera zeigt schon vom Zuge aus zahlreiche charakteristi- sche Stellen". Der Verf unterscheidet „Block- meere" und „Blockfelder" und versteht unter Blockmeere die an ihrem Ursprungsort liegenden Blockmassen, während Blockfelder durch Tjäle Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 26 gewanderte Blöcke darstellen. Von den Hängen gleiten die Blöcke in die Täler herab und häufen sich dort an (westlich des Hoherortskopfes, bei Langenhain, Ilheshausen, Lauterbach). Es können auch in den Tälern kurze Blockströme entstehen. Die diluviale Temperaturerniedrigung bewirkte ein Abspalten von Blöcken durch Frostverwitte- rung und die Tjäle übernahm den Transport auf den flachen Hängen nach unten. Meyer- Harrassowitz kommt zu verschiedenen be- deutungsvollen Schlüssen. Da die Tjäle nur ein- treten kann, wenn längere Zeit des Jahres hindurch eine Temperatur unter o" herrscht, so muß im Vogelsberg in der Diluvialzeit die Temperatur- erniedrigung über 5 — 6" hinausgegangen sein. Bodenfrieren tritt nur in größerem Umfang ein, wenn eine Abnahme der Temperatur in Verbin- dung mit der Abnahme der Niederschläge eintritt. Rudolf Hundt. Über die morphologische Bedeutung der Grund wasseraustntie hat Th. Wegner in der Zeitschr. d. deuisch. Geol. Gesellsch. 71. Bd., 19 19, die ersten Beobachtungen angestellt. Nach ihm sind alle Stellen Grundwasseraustritte, wo Grund- wasser aus dem Gestein austritt. Seine Beobach- tungen erstrecken sich auf künstlich hervorgeru- fene Grundwasseraustritte in Drainagegräben im Kreide- und Geschiebemergel des Münsterschen Plateaus und in einem Aufschluß der Rheinischen Sandwerke beim Block Sythen der Bahnstrecke Haltern — Recklinghausen. Dadurch ergab sich, daß durch austretendes Grundwasser aus dem angeschnittenen Grundwasserhorizont mechanisch Bodenteilchen herausgedrückt werden, die mit der Zeit kanalartige Unterminierungen bilden und zu- sammenbrechend Stufen bilden und Schollen- abwanderung erzeugen. Es ist eine subterrane Verlagerung der Bodenteilchen vorhanden und ein Abtransport an der Austrittsstelle. Weitere Beobachtungen sind von ihm an den Tertiär- quellen in Ostgalizien bei Czortkow, in Diluvial- quellen am ostgalizischen Karpathenvorlande zwi- schen Stanislau und Halicz-Kaluß, bei Czazow, westlich Burztym , bei Ruda, bei Kohlscheid bei Aachen, südlich Czernowitz, im Untermarchtal bei Ulm gemacht worden. ' Es findet in lockeren sandigen und sandig-tonigen Ablagerungen durch die Grundwasserbewegung eine subterrane Mate- rialverlagerung statt. In der Nähe der Quell- austritte entsteht eine weitmaschige „Sicker- packung". Dadurch erklärt es sich, daß fein- körniges Material größere Wassermengen zur Quelle abgeben kann. Am Quellaustritt entsteht durch Bodenteilchcnwandern ein Kanal. Die Decke bricht ein. Schollen rutschen ab und es entsteht eine QucUnische, die durch fortgesetzte subterrane Erosion rückwärts in den Hang wandert. Schließlich wird das Hangende des Grundwasser- horizontes unterminiert. Die abbrechenden Schollen wandern nach dem erodierenden Bach. Beim Ver- weilen des Quellaustrittes an gleicher Stelle wäh- rend längerer Zeit erzeugt die rückwärtsschreitende subterrane Erosion eine talartige Ouellnische, aus der kurze Seitentäler entstehen können. Mehrere Quellaustritte an einem Gehänge über einer Quell- zone können zur Entstehung einer Stufe führen. Die subterrane Erosion tritt dann erst so recht in Erscheinung, wenn ein artesisch gespannter Grund- wasserhorizont von der Flußerosion angeschnitten wird. Rudolf Hundt. Vom Bau und Leben der Trilobiten II, der Aufenthalt auf dem Boden. Der Schutz. Die Er- nährung. Es werden m dieser Arbeit von Rud. Richter in Bd. II der „Senckenbergiana" (1920) die Untersuchungen über die Trilobiten fortge- setzt. Beim Kriechen auf dem Boden kommt nach Richters Anschauung kein ,, Fortstacheln" wie bei Limulus in Frage, sondern ihre Bewegung auf dem Boden war ein vielbeiniges Kriechen denn es standen (entgegen Limulus) eine Menge Kriechfüße zur Verfügung. Es ist auch in den Trilobitenfährten bis jetzt ein in der mittleren Rinnenspur eine sonst doch durch das „Fort- stacheln" erzeugte Unterbrechung bemerkt wor- den. Den „Schlammschuhen" spricht Richter auch die zugewiesene Bedeutung ab. Auch die mit Wangenhörnern versehenen Trilobiten krochen „mit vom Boden aufgehobenem Körper". Alle Trilobiten krochen auf den Schreitästen ihrer Spaltfüße. Unter dem Wühlen der Trilobiten im Schlamm darf man sich keineswegs ein Maul- wurfswühlen vorstellen, sondern „ein oberfläch- liches Aufwühlen des Bodens, oft mehr ein Fur- chenscharren". Trinucleus ist der Typus eines solchen Schlammwühlers. In der Ruhestellung werden sich wohl die meisten Trilobiten einge- scharrt haben. Die stark bestachelten Vertreter wie Lichas haben durch Anpressen ihres Körpers an den Boden oder im Algengewirr ihre gesuchte Ruhe gefunden. Die in der selbstgescharrten Grube liegenden Trilobiten ließen sich mit einer dünnen, P'orm und Farbe ihres Körpers ver- wischenden Sandschicht überdecken. Dieses Deckungssuchen bezeichnet Richter mit dem Ausdruck „Maskieren". Viele Trilobiten wühlten auch von obenher den Meeresgrund auf, um Nah- rung zu suchen. Glatte Trilobitenformen ver- schwanden ganz im Schlamm, ohne sich aber in der Tiefe zu verlieren. Einrollfähige Trilobiten haben sich weder in der Ruhe, noch beim Nah- rungssuchen mit einer Sedimentlast bedeckt. Beim Ruhen befand sich die Bauchseite unten. Wenn man auch bei TrentonFalls von 1160 ein- gebetteten Panzern iiio in der Rückenlage ge- funden hat, so erklärt Richter dies als nach- trägliche mechanische Erscheinung. Wie jede sinkende Schale mit der konvexen Seite nach unten zu liegen kommt, so geschah es auch hier und nachträglich konnten selbst ganz geringe Wasserbewegungen in der Bauchlage befindliche N. F. XIX. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 409 Reste in die Rückenlage umlagern. Als Schlaf- und Ruhestellung kann man wohl die gestreckte Lage häufiger annehmen wie die gerollte, die bei Harpes vielleicht gebräuchlicher war. Bei einer Beunruhigung wurde durch Reflexbewegungen ein Einrollen erzeugt, das zum Schutz gegen Gefahren diente. Im freien Wasser konnte bei nahender Gefahr ebenfalls ein Einrollen stattfinden (Phacops, Bronteus). Als Rollkugeln sanken unangreifbar mit vermindertem Widerstand die Körper zu Boden. Schutzmittel lernen wir im Einrollungsvermögen der Trilobiten kennen. Den Stacheln und Hörnern müssen wir gleichfalls die Bedeutung des Schutzes beilegen. Durch kleine Stacheln schon ist eine Versteifung des Panzers angebahnt worden. Die Stacheln vergrößern das Tier und bilden so einen Schutz gegen Verschlucktwerden (Harpes). Bei Lichas (Enarges) Mephisto Rud. und E. Richter sind dem Auge besondere Hörner und Stacheln zum Schutze entstanden. Manche, einem Panzer- teile angehörenden Stacheln dienen dem Schutze eines anderen Körperteiles. Oftmals kommen die „Schutzstacheln" erst in der Schreckstellung zur Wirkung, wenn das Tier sich eingerollt hat (Cry- phaeus punctatus Stein., Cyphaspis ceratophthal- mus Goldf.). Oftmals stellt sich bei verschiedenen Stämmen gleichzeitig eine Stachelentwicklung ein. Ob in den einzelnen Fällen Orthogenese oder Reaktionserscheinung vorliegt, läßt sich nicht ohne weiteres entscheiden. Man hat nach Funden, besonders bei Tri- nucleus, geschlossen, daß die Trilobiten Schlamm- fresser waren. Man weiß aber, daß die Crusta- ceen von heute zu verschiedenen Zeiten ganz verschiedene Nahrung zu sich nehmen. Richter sieht in Pflanzenmulm und tierischen Resten die Hauptnahrung der Trilobiten. „Im allgemeinen gingen aber die Trilobiten gewiß auch an Orga- nismen und nicht nur an abgestorbene, jeder Art und Größe heran, ohne von der Hinfälligkeit ihrer Mundwerkzeuge ernstlich behindert gewesen zu sein." Von einem großen Teil der Trilobiten wurde die Nahrung auf dem Boden oder in der obersten Schlammschicht gesucht. Scharrgeräte besaßen sie in Spitzen, Schaufeln, Rechen, Pflug- scharen. Richter legt solchen Trilobitenformen den Namen: „Straßenkehrer des Meeres" bei. Rudolf Hundt. Zoologie. Über die Vielseitigkeit der Nebelkrähe. Anwohner eines größeren Gewässers werden bei der Nebelkrähe eigentümliche Fähigkeiten entdecken. Mit den Lachmöwen betreibt sie die Säuberung der Gewässer von schwimmenden Kadavern von Fischen und anderem Getier, von allen treibenden Stoffen, die nur genießbar sind. Nicht selten sieht man sie es den Möwen gleichtun und direkt auf die Wasserfläche niedergehen. Daß die Nebelkrähe allen Brüten gefährlicher ist wie jeder Räuber, weiß jetzt wohl jeder Naturbeobachter. Aber auch die Tiere wissen es und attackieren die nach den leckeren Eiern lüsternen Plünderer heftig. Sie wiesen immer einen Moment zu er- spähen, wo der Vogel das Gelege verläßt. Ein Entennest wurde, während ich eine halbe Stunde fortblieb, bis auf 2 Eier geleert, den Kiebitz- und Brachvogelgelegen werden sie sehr gefährlich, überhaupt allen Vogelarten, die gesellig brüten. Wenn der Mensch eine Fischreiherkolonie betritt, erheben sich wohl die Reiher, verschmitzte Nebel- krähen aber kommen herbei und plündern. Selbst vor dem Gelege des Königs der Lüfte, des See- adlers, schrecken sie nicht zurück. HansBreh- mer, der auf dem Kinoanstand saß, weiß davon zu berichten. Nur durch seine Abwehr wurde das Gelege des Adlers gerettet. Die Nebelkrähen sind wahre Nutznießer der menschlichen Kultur sowohl wie seiner Unkultur. Im Kriege haben sie nicht gedarbt. Die Nebelkrähe ist vielleicht eine der wenigen Arten, die der Mensch schonungs- los kurzhalten darf, ohne die Naturgesetze zu ver- letzen. An stürmischen Tagen liebt es die Nebel- krähe, Flugspiele aufzuführen. Vor meinem Fen- ster im Museum stoßen sie stundenlang auf spitze Punkte der Gebäude, überschlagen sich und ge- bärden sich wie trunken. Die „Psychologie der Nebelkrähe" dürfte das interessanteste Vogelbuch werden. Sind schon die Rabenvögel an und für sich hochentwickelte, geistig hervorragende Ge- schöpfe, die Nebelkrähe ist es in ganz besonderem Maße. An einem Wintertage sah ich eine Nebel- krähe fortwährend in der Luft auf und ab stoßen. Was tat sie? Sie fing riesige Schneeflocken auf, mit denen sie wohl, — es herrschte Frost — ihren Durst löschen wollte. Bei uns brütet die Nebel- krähe mit Vorliebe auf einzelnen Wiesenbäumen. Da das Odertal oft bis in den April unter Wasser steht, hat sie von selten eines Menschen nichts zu fürchten. Paul Robien, Stettin. Bücherbesprechungen. Brockmann-Jerosch, Priv.-Doz. Dr. H., Baum- grenze und Klimacharakter. Mit einer farbigen Karte, 4 Tafeln und 18 Textfiguren. Zürich 1919. Rascher u. Co. 8 Fr. Der Verf. dieser anregenden und lehrreichen Studie geht aus von der Betrachtung der Baum- grenze in den Alpen, indem er die merkwürdige Tatsache untersucht, daß die Baumgrenze in den zentralen Ketten des Gebirges höher hinaufragt, als in den Randpartien. An der Hand von mete- orologischen Daten, die in der Schweiz in hin- reichender Ausdehnung zur Verfügung stehen, weist er nach, daß die einzelnen klimatischen Faktoren für sich keine eindeutige Beziehung zum 410 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 26 Verlauf der Baumgrenze erkennen lassen. Weder der Wind also, noch die Niederschläge, noch die Luftfeuchtigl-- J- auffinden lassen, so die spiegelbildisomeren Metall- ammoniakverbindungen. Endlich hat sich aus der K.L. eine neue Theorie der Hydrolyse, der Basen und Säuren er- geben. Wie oben bemerkt, entwickelte Werner die neue Lehre am Studium der Molekülverbindungen und zwar an dem der Metallammoniakverbindungen (in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts). Die moderne Elektrochemie nimmt bekannt- lich bei den Salzen, Säuren und Basen, kurz allen Stoffen, die Elektrolyte sind, also den Strom ') Im folgenden in K.L. abgekürzt. einen alle diese, einander scheinbar fernstehenden Verbindungen umfassenden, einheitlichen Gesichts- ') Alfred Werner, geb. am 22. Dezember 1866 in Mülhausen im Elsaß. Seit 1893 Vorstand des Chemischen Laboratoriums der Universität Zürich. Gest. 15. Novbr. 1919. Die erste seiner grundlegenden Arbeiten betrifft die räumliche Anordnung der Atome in stickstoff- haltigen Molekülen (Oximen) und stammt aus dem Jahre 1890 (Inaug.-Diss. Zürich). Die zweite, „Beiträge zur Theorie der Affinität und Valenz", veröffentlichte er in der Vierteljahrsschrift der Züricher naturforschenden Gesellschaft im Jahre 1891 , die dritte, ,, Beitrag zur Konstitution anorganischer Verbindungen*' aus dem Jahre 1892, findet sich in der Zeitschrift für anorganische Chemie 3, 267. 1893. 1° <1^'' letzteren entwickelte er die hier zu besprechende Koordinationslehre. 4i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 27 leiten, in wässeriger Lösung eine Spaltung in Kation und Anion an. Hierbei macht die Be- antwortung der Frage, wie das Kation und Anion, also die Spaltstücke, zusammengesetzt sind, bei den einfachen Salzen keine Schwierigkeit. Die Metallatome (mit elektrischer Ladung) bilden je- weils das Kation, der übrige Teil des Salzes ist dann das Anion: + !- + -+- K NO3, K OH, H ClUj. Welches sind aber die Spaltstücke bei den Molekül- verbindungen? Schon W. Hittorf hatte (von 1853 an) bei seinen Untersuchungen über die Wanderung der Ionen gefunden, daß bei den Salzen der Platinchloridchlorwasserstoffsäure, z. K. dem Kaliumsalz, PiCIi.2K:CI oder [PlCl„]Ko, der in eckige Klammern gesetzte Teil des Mole- küls das Anion vorstellt. Indessen hat erst Werner dies namentlich bei den Metallam- moniakverbindungen in systematischer Weise untersucht und für jede Verbindung festgestellt. Hierdurch gewann er die Kenntnis der Gesetze, welche die Zusammensetzung der Spaltstücke be- herrschen, woraus sich weiterhin die neuen An- schauungen ergaben. Wir wollen dies an den hauptsächlichsten Typen betrachten. Leitet man Luft durch eine mit Ammonium- chlorid und Ammoniak versetzte Lösung von Kobaltochlorid, so wird das zweiwertige Kobalt dreiwertig, und aus der entstandenen Lösung läßt sich neben anderen Kobalt-ammoniak- verbindungen ein orangegelbe Kristalle bildendes Salz abscheiden. Die wässerige Lösung desselben gibt bei längerem Kochen mit Lauge schwarzes Kobaltioxyd, CooOg, woraus hervorgeht, daß das Kobalt in diesem Salze dreiwertig ist. Die Zu- sammensetzung der Verbindung entspricht der Formel CoCla-öNHj. Man nennt sieHexammin-kobalti-chlorid.') Über die Zusammensetzung der Ionen, die dieses Salz in wässeriger Lösung bildet, gibt sein Ver- halten in analytischer und präparativer Hinsicht, sowie die Bestimmung der elektrischen Leitfähig- keit Aufschluß. Die wässerige Lösung der Ver- bindung reagiert neutral und schmeckt salzig, aber keineswegs metallisch oder ammoniakalisch, wie man wohl meinen könnte. Kalilauge bewirkt bei gewöhnlicher Temperatur keine Fällung, erst beim Kochen (s. o.). Schwefelammonium zersetzt unter Bildung von schwarzem Schwefelkobalt. Fügt man Silbernitrat zur wässerigen Lösung, so wird sogleich das gesamte Chlor gefällt; filtriert man das Silberchlorid ab und läßt das Filtrat ver- dampfen, so kristallisiert ein gleichfalls orange- gelbes Salz aus, das an Stelle der 3 Chloratome 3 Salpetersäurereste enthält: Co(N03)3.6Nll,,. ') ammin wird mit 2 m geschrieben, um Verwechslungen mit organischen Aminen zu vermeiden. Die älteren Chemiker nannten das Salz der F'arbe wegen Luteo-kobalt-chlorid. Diese vollständige Fällbarkeit des Chlors betonen wir besonders, da wir später Salze kennen lernen werden, deren Chloratome durch Silbernitrat nur teilweise oder gar nicht niedergeschlagen werden, übergießt man das Salz mit konzentrierter Schwefelsäure, so entweicht, wie bei den gewöhn- lichen Metallchloriden, Chlorwasserstoff unter Auf- schäumen, und aus der erhaltenen Lösung scheidet sich eine orangegelbe Verbindung aus, die an Stelle der 3 Chloratome die äquivalente Menge Schwefelsäure enthält. Ammoniak wird der Ver bindung hierbei nicht entrissen, wie man erwarten könnte. Das wesentliche ist demnach, daß man die 3 Chloratome durch andere Säurereste ersetzen kann, ohne daß der andere Teil des Moleküls in Mitleidenschaft gezogen wird. Die 3 Chloratome spielen also die Rolle des Anions in dem Salze. Das Kation muß hiernach aus dem Kobaltatom im Verein mit den 6 Molekülen Ammoniak be- stehen, oder anders ausgedrückt, das Salz stellt das Chlorid der Base [Co(NH3)„](OH)3 vor, wie Kaliumchlorid das Chlorid der Base Kaliumhydroxyd : KOH > KCl. Man muß es daher folgendermaßen formulieren: [Co(NH3),]Cl3, wobei wir das aus mehreren Bestandteilen ge- bildete Ion, in diesem Falle das Kation, in eckige Klammern setzen. Das Salz zerfällt also hiernach in wässeriger Lösung in 4 Jonen. Dies muß in der elektrischen Leitfähigkeit zum Ausdruck kommen. Die folgende Liste enthält die Werte der elektrischen Leitfähig- keit jLi (Mole in 1 Wasser) bei 25" für 4-, 5-, 3- und 2 ionige Salze : Vierionige Verbindungen : III [Co(NH3'„]Cl3 AICI3 [Fe(CN)6]K3 128 346 342 372 2=;6 383 371 397 512 412 393 418 1024 432 413 435 Künfionige Ve rbindungen : 11 [FelCN),]K, [PtiNH3)„JCl, 128 432 — 256 477 433 512 520 485 1024 558 523 Dreiionige Verbindungen Zweiiönige Verbindungen KaClj KjSOj NaCl ICCIO3 AgNOj 224 24I) 237 257 248 20=; 2ÖO 273 113 122 I2Ü i2i; I2S 120 130 127 "31 Wie man sieht, liegen die Werte in der Nähe von solchen, die unzweifelhaft in 4 Ionen zerfallende Salze, wie Aluminiumchlorid, Kaliumferricyanid aufweisen und entfernen sich weit von denjenigen, die 5-, 3- oder 2 ionigen Salzen entsprechen. Aus N. F. XIX. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 419 der elektrischen Leitfähigkeit muß daher derselbe Schluß gezogen werden, wie aus dem chemischen Verhalten des Salzes. Das Ergebnis ist, daß in der Verbindung ein eigentümlich gebautes Kation enthalten ist; der- artige zusammengesetzte Kationen nennt man komplexe Kationen. Auf welche Weise sind aber die 6 Moleküle Ammoniak an das Kobaltatom gebunden ? Hier bieht Werner die Wirkung einer neuen Art von Valenzen, die er Nebenvalenzen nennt. Diese werden einerseits vom Kobaltatom, andererseits vom Stickstoffatom der Ammoniakmoleküle ent- wickelt. Man bezeichnet derartige Nebenvalenzen durch eine gestrichelte Linie H,N.., ■NH3 ■NH3 ■NH, Die Nebenvalenzen werden in der Regel nur von Atomen geäußert, die ihre Hauptvalenzen bereits abgesättigt haben. Im obigen Falle hat das Kobaltatom seine 3 Hauptvalenzen durch die 3 Chloratome im Anion befriedigt, das Stickstoff- atom durch die 3 Wasserstoffatome. Die Zahl der Nebenvalenzen, die ein Atom äußern kann, hat eine ganz bestimmte obere Grenze. Das Stickstoffatom im Ammoniak und allen Derivaten desselben kann nie mehr als eine Nebenvalenz entwickeln. Beim dreiwertigen Kobaltatom ist die oberste Grenze für Nebenvalenzen 6, eine höhere Zahl kommt nicht vor, wohl aber niedrigere, nämlich 5, 4 und 3. Es ist also wie bei den Hauptvalenzen, bei denen es auch eine obere Grenze gibt. Man hat der Vorstellung von den Neben- valenzen den Vorwurf der Willkür gemacht, in- sofern man so viele Nebenvalenzen als vorhanden annehme, als eben nötig seien. Aber das logische Verfahren ist bei der Theorie der Hauptvalenzen dasselbe, man sieht den Kohlenstoff als vierwertig an, weil im Methan 4 Wasserstoff'atome an das Kohlenstoffatom gebunden sind, das Chlor im Chlorwasserstoff als einwertig, weil ein Chloratom ein Wasserstoftatom an sich kettet. Das Hexamminkobalti- Chlorid ist somit, um alles zusammenzufassen, dadurch charakterisiert, daß es einerseits ein Kation enth'ält, welches aus dem Kobaltatom und den 6 Ammoniakmolekülen besteht, und daß andererseits sämtliche Chlor- atome in wässeriger Lösung als Ionen auftreten. Ammoniakreichere Verbindungen kommen nicht vor. Außerdem nehmen wir noch davon Kennt- nis, daß dieses Salz der Typus einer überaus ver- breiteten Verbindungsform ist. Wir gehen nunmehr zur Beschreibung einer Kobaltammoniakverbindung über, die, wie die erste aus einer ammoniakalischen, durch Luft oder anderswie oxydierten Kobaltosalzlösung zur Ab- scheidung gebracht werden kann. Sie ist violett - rot-purpurrot ') und enthält auf i Atom drei- ') Wegen dieser Farbe wurde die Verbindung früher Purpureo-kobalt-chlorid genannt. 1000 26t. wertigen Kobalts wiederum 3 Chloratome, aber nur 5 Moleküle Ammoniak: CoCIj-sNH;,. Während dieses Salz sich gegen Kalilauge und Schwefelammonium wie das vorhergehende ver- hält, findet man bei der Untersuchung über die Ionisation der s Chloratome einen wesentlichen Unterschied. Fügt man nämlich zur wässerigen Lösung Silbernitrat im Überschuß, so wird eine Menge Silberchlorid gefällt, die nur 2 Chloratomen entspricht. Das dritte sitzt sehr fest, man muß längere Zeit mit Silbernitrat kochen, um auch dieses zu fällen. Übergießt man das Salz mit konzentrierter Schwefelsäure, so entweicht wiederum Chlorwasserstoff, aber nur 2 Chloratome werden durch die äquivalente Menge Schwefelsäure er- setzt, das dritte wird nicht entfernt. Ebenso werden bei der Behandlung mit konzentrierter Salpetersäure nur 2 Chloratome beseitigt, das dritte wird nicht angegriffen: CoCl(SO J 5 NH;, ; Coa(N03), • 5 NHj. Von den 3 Chloratomen verhalten sich hiernach 2 als Ionen, das dritte aber nicht. Bestimmt man die elektrische Leitfähigkeit der wässerigen Lösung, so ist sie um etwa 100 Einheiten kleiner, als die des Hexammin-kobaltichlorides (S. 4 18), sie ent- spricht derjenigen eines in 3 Ionen zerfallenden Salzes, wie Baryumchlorid oder Kaliumsulfat (S. 418): ( 250 500 236 249 Aus alledem geht hervor, daß das Anion dieses Salzes von 2 Chloratomen gebildet wird, daß aber das Kation aus dem Kobaltatom, den 5 Molekülen .Ammoniak und einem Chloratom besteht: CoP^)^]cu. Das Charakteristische an diesem Salz ist die nichtionogene Bindung des einen Chloratoms. Man ist gewöhnt, daß in der wässerigen Lösung der Metallchloride das Chlor durch Silbernitrat gefällt wird, gerade die Metallchloride sind ihrer guten elektrolytischen Leitfähigkeit zufolge weitgehend ionisiert. Eine Ausnahme macht das Quecksilber- chlorid, das eine sehr kleine Leitfähigkeit besitzt, und aus dessen wässeriger Lösung Silbernitrat nicht das gesamte Chlor fällt. Andererseits wird bekanntlich aus einer alkoholischen Lösung von Chloroform kein Silberchlorid gefällt. Im Purpureo-kobaltchlorid sind also die 3 Chloratome in verschiedener Weise ge- bunden. Dies macht Werner durch die Vor- stellung verständlich, daß direkt an das Metall- atom gebundene Chloratome (oder Säurereste) in wässeriger Lösung nicht als Ionen auftreten, daß dies vielmehr nur bei Chloratomen (Säureresten) der Fall ist, die indirekt gebunden sind. Diese in- direkte Bindung kommt dadurch zustande, daß in erster Sphäre um das Metallatom, das man Zentralatom') nennt, herum neutrale Mole- ') Im folgenden als Z .\. bezeichnet. 42Ü Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 1^ kille wie Ammoniak und zahlreiche andere Ver- bindungen, von denen wir hier nur das Wasser nennen (s. u. S. 424), in bestimmter Zahl sich be- finden. Dadurch werden die Säurereste vom Metallatom weg in die zweite Sphäre abgedrängt. Nur Säurereste, die in dieser Weise gebunden sind, verhalten sich in wässeriger Lösung als Ionen. Beim Hexamminkobalti chlorid (S. 418) befinden sich alle 3 Chloratome in indirekter Bindung. Bei wasserfreien Salzen, wie Kalium- und Calcium- chlorid, lagern sich Wassermoleküle beim Lösungs- vorgang ein. Eine genauere Vorstellung über das Wesen der indirekten Bindung kann man sich vorläufig nicht machen. Man muß annehmen, daß die in zweiter Sphäre sich befindenden Säurereste nicht mit einem bestimmten Atom des Komplexes, etwa dem Z.A., verbunden sind, sondern irgend- wie mit dem ganzen komplexen Kation. Indessen bleibt natürlich die Grundwertigkeit des Z.A. be- stehen, im Falle des Purpureokobaltchlorids werden von den 3 Valenzen des Kobaltatoms 2 durch die ionogenen Chloratome, eines durch das nichtionogene, innerkomplexe Chloratom abge- sättigt. Der jetzige Name des Purpureo-kobaltchlorids ist Chloro-pentammin-kobaltichlorid. Säurereste, die direkt gebunden sind, werden durch den Vokal o beendigt. Dieses Salz ist ein Typus der großen M o n a - cido-peiitammin-gruppe. Wir erwähnen von diesen die dunkelvioletten Bromo-, die grünen Jodo-, die gelben Nitro- und die roten Nitrato- pentamminsalze. Wir gehen nunmehr zur nächsten Gruppe über. Aus einer Lösung von Kobaltochlorid, die mit viel Ammoniumcarbonat und Ammoniak versetzt ist, läßt sich, nachdem wiederum Luft behufs Überführung des zweiwertigen in dreiwertiges Kobalt hindurchgeleitet wurde, eine in carmoisinroten Tafeln kristallisierende Ver- bindung abscheiden , welche auf i Atom drei- wertiges Kobalt I Atom Chlor, i Kohlensäure- rest und 4 Moleküle Ammoniak enthält: CoCHC03)-4NH3. Die wässerige Lösung dieses Salzes gibt mit Silbernitrat sogleich eine Fällung von Silber- chlorid, nicht aber mit Calcium- oder Baryum- chlorid eine solche des betreffenden Carbonates, wenigstens nicht bei gewöhnlicher Temperatur. An die Stelle des Chlors läßt sich auch der Rest der Salpetersäure und der der Schwefelsäure in äquivalenter Menge einführen. In diesen Salzen ist der Kohlensäurerest iiichtionogen enthalten, also in erster Sphäre gebunden, während das Chloratom (der Salpetersäurerest usw.) in zweiter Sphäre ionogen sich befindet: Das Salz ist hiernach in wässeriger Lösung nur in 2 Ionen gespalten. Dies zeigt sich auch bei der elektrischen Leitfähigkeit, welche beim Nitrat beträgt V 128 256 512 1024 ," 90 92 94 96 Die Werte liegen in der Nähe derjenigen von in 2 Ionen gespaltenen Salzen, wie Natriumchlorid usw. S. 4i); (ce(S0,)J'j;[+I2ll,0; [AgJilK,. weißlich rot farblos Verbindungen mit der K.Z. 3. I I |Ag(NH3)3lCl; [CulCsHsNlslCl; fCu(S: C(NH,,),,)3jCl ; grünlichgelb farblos [Na(H.,0)3]CH3COO ; |Na(H.,0)3l,|FetCN)J [(JuChjJILiiHaU)^ granatrot [Li(CH30H)3]CI; [JAg3j(N03),; farblos I [AgCIsJCsj ; farblos |Hgj3]K^); |Hg(^;^'-^|K+H,X.; farblos I IV I fCOajMej; [SnSjJMe,; gelb LN03)I1^); ICIO3JII; [B03]H3; LSbS3lAg3. • Proustit Verbindungen mit der K.Z. 2. |Ag(.NH3)2js; [Li(H.,0).,lCl(Br)(J)(CH3CU0j; K(C„H.,OH)„]CH3CüO ; HBr.2 H^O = 1H( -.OH„)„!Br; I I I [K(FH),]C„H3SU3; [Cu(Ag)(AuXCN),jK; [JCI^JCs; farblos orangefarbig II I III Hg|_SO.;),,|K.,.ll.,0; |NO„]Me^); [A10,]oMg; [KeSoJCu; Spmell Kupferkies II II [HgS,]K,; IPbO^JAg,. farblos braun Verbindungen mit der K.Z. I . Monohydrate der Alkalimetallsalzc; [K(C8H,,(OH), l,2jHCiMi; II • I " [Kef -NOllPOill; [C10|H-'»); [AuS]Na + 4H2O. braun farblos VerbinJungen mit der K.Z. 5? fCufNHaiJSOi; [CdJJCs,; iHg^I^Icsa; [SbFJCsj ; I 'I blaßviolett Vll [Cu(NO,,),]K3 ; |J05]Ag3. schwarzgrün schwarz Verbindungen mit der K.Z. 7 ? Von den Sulfaten zweiwertiger Metalle mit 7 Mol. Wasser war schon oben S. 425 die Rede. Die Verbindungen wie SiFi-3NH^F und NbF,.,.2KF könnten zwar Anionen der Zusammensetzung |SiF7](NH,)3 und |NbF,]K2 mit der K.Z. 7 der Z.A. enthalten, aber Werner hält es für wahrscheinlicher, daß diesen Verbindungen komplexe Kationen zugrunde liegen ; |si(^'^f3|p. UC^/Hf- Verbindungen mit der K.Z. 8. Oktaquo-kationen wurden oben S. 425 genannt. *) ') Diese Verbindung besitzt die Zusammensetzung des wasserfreien Eisenammoniakalauns , haben aber eine ganz andere Konstitution, insofern jener ein Bishexaquokation ent- halt (S. 425). '-') Diese Verbindung ist in Neßlers und Sacchses Reagens enthalten. ■') Über die Sauerstoffsäuren als Koordinationsverbindun- gen s. später. *) Die Salze zweiwertiger Schwermetalle, wie Nickel, Kupfer, Mangan usw. mit Säuren höheren Molekulargewichts N. F. XIX. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 427 IV |Mo(CN), gelb IV |W(CN)f,JKi gelb I W(CN),]K3 + 2,5 H,,Ü. Verbindungen mit höheren K.Z. a I s S. D;ifi man die Hydrate mit 12 Mol. HjO auf Zentralatomc mit der K.Z. 6 zurückführt, indem man Doppelmolekülc Wasser annimmt, wurde oben S.425 erwähnt. Verbindungen mit 15llr,t), wie AlBrj- 15 H;,0, enthalten wohl auch 6 Doppel- mol. Wasser, wie das Aluminiuraatom häufig, und die drei noch übrigen Wassermoleküle können wie das siebente Wasser- molekül in den Vitriolen gebunden sein (S. 425). Komplexe Anionen mit einer höheren K.Z als 8 wurden bis jetzt nicht beobachtet. Höhere K.Z. sind aber nicht von vornherein aus- zuschließen, da es auch Verbindungen erster Ordnung mit hohen Zahlen von Atomen gibt, wie die kristallisierten Mer- ouride der Alkali- und Erdalkalimetalle: l'g,,K; Hg,.,K; Hgi(,K; Hgi^Ba ; IlgisBa; HguB^i- 4. Anorganische Isomerien. Wie wenden uns nunmehr den anorganischen Isomerien zu , deren Klärung man so gut wie vollständig der Koordinationslehre verdankt, und von den die schönsten auf Grund von ihr ent- deckt wurden. I. Salziso merie. Die zwischen Nitroäthan und Athyl- nitrit bestehende Isomerie kann bei anorgani- schen Verbindungen nur dann beobachtet werden, wenn der Salpetrigsäurerest direkt (nichtionogen) im Komplex gebunden ist. Tatsächlich kennt man von der Monacido-pentammingruppe mit einem Salpetrigsäurerest im Kat- ion zwei Formen, nämlich eine braungelbe, sehr beständige Reihe und eine chamoisrote, leicht in die braungelbe übergehende Reihe. Man sieht die chamoisroten Salze wegen der roten Farbe als Nitritosalze an , da durch Sauerstoff an das Kobaltatom gebundene iVIoleküle oder Säurereste in der Regel rote Farbe bewirken, vgl. das gelbe Hexammin- und das rote Aquo-pentammin-kobalti- chlorid. Die braungelbe Reihe ist demgemäß als Nitroreihe, die chamoisrote als Nitritoreihc anzu- sehen ; I^JNH,), I., . I,-. (NHJ, 1. Xnt \, ^NO.^ I I ^O - N = 0| Werner nennt diese Isomerie Salzisomerie. Sie tritt auch auf bei den Komplexen mit 2 Sal- petrigsäureresten und 4 Mol. Ammoniak, bzw. 2 Mol. Athylendiamin, es gibt eine Dinitro- und eine Dinitrito-tetramminreihe, bzw. -diäthylen- diaminreihe : und Hexacido-anion bilden, können Isomere fol- gender Art vorkommen : III III [Co(NH3)„][Cr(CN)e| und [Cr(NH3)4Co(CN),J. Hexamin-kobalti-hexacyano- Hexammin-chromi-hexacyano- chromiat kobaltiat Hierher gehören ferner Isomere wie : NH-jOH-PCaij und NH3-PO3H3. Hydroxylamin- Amnionium- hypophosphit phosphil 3. Ionisation sisomerie. Wenn der in komplexen Kationen direkt ge- bundene Säurerest verschieden ist von dem das Anion bildenden, kann durch Vertauschung dieser beiden eine Isomerie zustande kommen, z. B. JNH3U „(NHjU (ONOij P'(NC.,J "1 ONÖ '„ 2. Koordination sisomerie. Wenn zwei Metalle dasselbe Hexammin-kation (Benzoesäure, ;3-Naphthalinsulfonsäure) nehmen bei — 2o" 8 Mol. Ammoniak auf, welche mit dem Metallatom verbunden sind, Fr. Ephraim. ') en = symmetrisches Athylendiamin, CHjNH.^ CH,NH, |CO(-;)JSO. Bromo-pentammin- kobaltisulfat Co'"^,°'5|s04 und I td [co(-g-.|Br; Sulfato-pentammin- kobalti-bromid c?n "' Cl (beide grün) Chloro-pentaquo- chromisulfat SuIfato-pentac|uo- chromichlurid In den ersten Fällen ist das Brom bzw. Chlor, in ilen zweiten der Schwefelsäurerest nichtionogen gebunden. 4. Polymerie. Dieser Fall liegt beim T r i n i t r o - 1 r i a m m i n - kobalt vor, von dem es 9 Polymere gibt. Zweifach Polymere des Trinitro - triammin- kobaltes sind die Salze des eis- und trans-Dinitro- tetrammin-kobaltikations 'j mit der Tetranitro- diamminkobaltisäure (S. 422): |--'{NÖ:!:l|'^°ffi):l=^«^"<^^^'-3NH3). Hier verbindet sich ein Molekül einer einsäurigen Base mit einem Molekül einer einbasischen Säure. Ein dreifach Polymeres ist das Salz des zwei- säurigen Nitro-pentammin-kations derselben Säure: Ein vierfach Polymeres ist das Salz des drei- säurigen Hexamminkobaltikations : iCo(NH,,V' |co||;^|"|^J»|^=4(Co(NU,)3-3NH3). Noch weitere Polymere des Trinitro- triammin- kobalts sind die Salze derselben Kationen mit der dreibasischen Hexanitro kobaltisäure (S. 422): fCo(NH3)e] [Co(NO.,)e] = 2(Co(iSO,)3 -aNH^), (NH." "Not Co^ Co' (NHj), (NO2), [Co(N02V]j = 5(Co(NO,,)3-3NH3) [ColNOj)«] - 4(Co(NO,;)3-3NH3i. Es gibt hiernach 3 zweifach Polymere, 3 vierfach Polymere, 1 dreifach und ein fünffach Polymeres des Trinitro triamminkobalts. 5. Hydratisomerie. Diese Isomerie spielt bei den Chromisalz- ') eis, Irans bedeutet eine Isomerie, s. unten S. 42S. 428 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 27 [CriHoOieja violett hydraten eine große Rolle, sie beruht auf der verschiedenen Bindung des Wassers im Molekül. Man kennt z. B. 3 isomere Chromchlorid- hexahydrate, denen folgende Konstitution zu- kommt: Cr'"^'j*''>|cio + H.,0 ; |cr("^P^*]ci -f 2H.O. grün grün Das erste ist das gewöhnliche violette, das letzte das gewöhnliche grüne Chromchlorid-hexahydrat. Während im ersteren alle 3 Chloratome sogleich durch Silbernitrat gefällt werden, wird im letzteren durch Silbernitrat in salpetersaurer Lösung so- gleich nur I Chloratom abgeschieden. Außer- dem verflüchtigen sich bei dem letzteren Salz 2 Moleküle Wasser leicht über Schwefelsäure, nicht bei dem ersteren. Man kennt ferner 4 isomere Chromchlorid- sulfate: fcr(H,ü,J^^j |cr("^'j''^|sO, + H,0; Ic/^'^^^Hc [Cr(H,0),](SO,)Jcr("(,f''*| grün 2H,0. Das erste steht zu den beiden nächsten im Ver- hältnis der Hydratisomerie, das zweite und dritte sind untereinander ionisationsisomer. Das vierte ist ein Polymeres. 6. Cis-, trans-Isomerie. Bei der Diacido-tetrammingruppe tritt eine eigentümliche Isomerie auf. Man kennt von den Dinitro-tetrammin-kobaltisalzen (S. 420) 2 Reihen, eine gelbbraune und eine orange- gelbe. Die ersteren wurden früher Fla vosalze, die letzteren Croceosalze genannt. Dieselben beiden Reihen gibt es auch bei den Dinitro-dien- salzen.') Daß es sich nicht um Salzisomerie (S. 427) handeln kann, geht daraus hervor, daß man auch 2 Dinitritoreihen darstellen kann, näm- lich eine rotbraune und eine gelbrote. Aber auch von den Dichloro-tetrammin- und den Dichloro-diensalzen gibt es 2 Reihen, nämlich eine grüne und eine violette (Praseo- und Violeosalze). Ferner kennt man 2 isomere Reihen von Chloro-nitro- und Chloro-bromodiensalzen. Außerdem tritt diese Isomerie auch auf bei der Monacido-penlammin- und bei der Hexammin- gruppe, wenn neben 2 Molekülen .^thylendiamin 2 andere Moleküle oder ein solches und ein Säurerest im Komplex sich befinden : ^H,0).J er., '(nh;),| CoHjO x.^. OII I l^; C0NH3 L ci Endlich ist dieselbe Isomerie bei Chrom- ammoniak-verbin düngen aufgefunden wor- den, sowie bei gewissen Verbindimgen desvier- wertigen Platins, nämlich den Nichtelektro- lyten vom Typus des Tetrachloro-diamminplatins (S. 421). Die Vorstellung vom Wesen dieser Isomerie muß folgende Tatsachen umfassen: 1. Die Isomerie wurde nur bei Komplexen mit der K.Z. 6 des Z.A. beobachtet. 2. Die Isomerie wurde niemals bei Karbonato- oder Oxalato tetrammin- oder dien-salzen aufge- funden; von diesen gibt es stets nur eine Reihe. 3. Die Isomerie wurde bei den Diacido- tetramminsalzen bei beliebigen einbasischen Säure- resten und bei den Dienverbindungen außerdem auch dann beobachtet, wenn neben den beiden Molekülen Äthylendiamin 2 Moleküle Wasser oder Ammoniak oder ein Molekül von diesen und ein Säurerest im komplexen Kation sich befinden. 4. Es wurden bis jetzt nie mehr als 2 Isomere aufgefunden. 5. Die Isomerie tritt nicht nur beim drei- wertigen Kobalt, sondern auch beim dreiwertigen Chrom und beim vierwertigen Platin auf. 6. Es gibt jeweils nur eine Monacido- und Hexamminreihe. 7. Wenn man die Isomerie räumlich deutet, müssen die daraus zu ziehenden Folgerungen sich verwirklichen lassen. Man könnte es für möglich halten, die Isomerie von einer Anordnung in der Ebene abzuleiten, indem man vom Z.A. 6 symmetrische Strahlen ausgehen läßt: ') en ^ Äthylendiamin. So würde sich erklären, daß es nur eine Hexam- minverbindung und nur eine Monacido-pentam- minverbindung gibt, aber es müßten wie beim Benzol 3 Disubstitutionsverbindungen bestehen. Da aber nie mehr als zwei beobachtet wurden, kann diese Anordnung nicht in Frage kommen; sie würde auch die später zu besprechende Spiegel- bildisomerie nicht erklären können. Dagegen wird die Seite 421 erwähnte Vorstel- lung von Werner, daß die vom Z.A. ge- bundenen Glieder, ganze Moleküle oder Säure- reste, die Ecken eines um jenes beschriebenen Oktaeders besetzen, allen obigen Forderungen ge- recht, und die nach ihr in gewissen Fällen zu er- wartenden Spiegelbildisomerien mit optischer Aktivität konnte Werner tatsächlich darstellen. An den beiden schematisch gezeichneten Okta- edern ist leicht zu sehen, daß 2 Isomere bestehen müssen, wenn an den Ecken 4 Moleküle Am- moniak und 2 Säurereste sich befinden. Die letzteren, in der Abb. mit B bezeichnet, können entweder in Kantenstellung oder in Axialstellung N. F. XIX. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 429 sich befinden. Die Ammoniakmoleküle sind durch A gekennzeichnet: '(1) As)^ B, 'iäj ^5) [(2) "it, ^(3) V« "ka "«•; < 7.V ■ üdi'r izSteUiinif tjcuts - oder IS Stellung Abb. 3. Man nennt die Kantenstellung eis oder 1,2 Stel- lung, die Axialstellung trans- oder 1,6 Stellung. Aus der Abb. ist ersichtlich, daß die Isomerie auch auftreten muß, wenn an die Stelle der Säurereste 2 vom Ammoniak verschiedene, ganze Molekühle treten. Aber die Isomerie muß auch bestehen, wenn statt der 4 Moleküle Ammoniak 2 Moleküle Äthyl- endiamin 4 K.Stellen besetzen : eis -oderl/^SteÜuju/ Worts- 0(hTl,tiStelhuuf Abb. 4. Sie muß ferner auch bei komplexen Anionen und Nichtelektrolyten auftreten, und sie wurde auch tatsächlich bei beiden beobachtet. Ferner ist sie unabhängig von der Wertigkeit des Z.A., wenn dieses nur die K.Z. 6 besitzt. Wie oben ausgeführt, kennt man sie mit Sicher- heit vom dreiwertigen Kobalt und Chrom, sowie vom vierwertigen Platin. Aber auch beim zwei- wertigen Eisen und Kobalt gibt es Isomere, die wahrscheinlich so zu deuten sind. Wir müssen nun eine Erklärung dafür finden, daß es stets nur eine Carbonato- oder Oxalato- form gibt. Sie ergibt sich auf Grund des Okta- ederschemas durch die Annahme, daß diese Säure- reste, die wie das Äthylendiamin 2 K.St. ein- nehmen, stets nur 2 benachbarte Ecken besetzen können, also in Kantenstellung (i, 2) stehen. ■4y Ac) Abb. 5. Diese Annahme hat sich bis in die letzten Folge- rungen bewährt, man darf sich also auf sie bei anderen Überlegungen stützen. Auf ihr beruht auch die Feststellung, welcher der beiden Isomeren eis- oder trans-Stellung zukommt, d. h. die Kon- figuration der Reihen. Da aus den Carbonato - tetrammin -Verbin- dungen die gelbbraune Flavoreihe entsteht, ent- halten die Flavosalze die beiden Nitroreste in cis- Stellung und die Croceosalze müsset! zur Trans- reihe gehören: [ "\ 1 Carbonalo-tetramminsalz 0,N cis-(l,2)-Dinitro- tetramminsalz (Flavosalz) O2N p (NHjlj (HjNja NO._, trans-(l,6)-Dinitro- tetramminsalz (Croceosalz). Von den grünen und violetten Dichloro-tetram- min- und -diensalzen kommt der violetten Reihe cisStellung der beiden Chloratome zu, da die violetten Salze aus den entsprechenden Carbonato- salzen entstehen. Die grünen sind demnach Trans- verbindungen. Beim Austausch von Bestandteilen des Kom- plexes bleibt man in der Regel bei derselben Konfiguration, aber doch nicht stets; es gibt Fälle, bei denen man von einer Konfiguration mehr oder weniger vollständig zur anderen gelangt, indessen läßt sich das jeweils feststellen. Diese Erscheinung entspricht dem als Walde nscher Umkehrung bezeichneten Übergang einer optisch aktiven Kohlenstoffverbindung in die ent- gegengesetzt drehende Form (z. B. 1-Chlorbern- steinsäure in d Äpfelsäure). (Fortsetzung folgt.) Bücherbesprechungen. Vom Altertum zur Gegenwart. Die Kultur- zusammenhänge in den Haupiepochen und auf den Hauptgebieten. Skizzen von ¥. Boll, A. C u r t i u s . . . (noch 24 weitere Autoren). VIII und 308 Seiten. Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. — Preis nicht gebunden 9 M. Das von E. Norden (Professor der klass. Philologie an der Universität Berlin) herausgegebene Buch dankt seine Entstehung einem sehr glück- lichen Gedanken des Verlegers, den wir nicht besser als mit den folgenden, dem „Geleitwort" entnommenen Worten näher bezeichnen können: „Durch Darlegung sowohl der großen allgemeinen Kulturzusammenhänge als auch der auf den ein- 430 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 27 zelnen Gebieten bestehenden will das Buch die Einheit der geistigen Welt aufzeigen, als die sich die Entwicklung vom .Altertum über Mittelalter und Renaissance bis zur Gegenwart dem in die Tiefe dringenden Blick darstellt." Demzufolge zerfällt es im wesentlichen in eine Reihe selbständiger Einzelbetrachtungen, für deren Zuverlässigkeit bereits die Namen der Verfasser — meist Universitätslehrer — Bürgschaft leisten. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich nur ein Teil des Werks mit dem naturwissenschaft- lichen Gebiet befaßt — mit Einrechnung von Mathematik, Medizin und Technik übrigens doch annähernd ein Drittel. Es ist immer wieder er- staunlich und lange noch nicht allgemein genug bekannt und gewürdigt, in wie hohem Maße die Griechen — denn es handelt sich wesentlich um diese und nicht um die Römer — der modernen Naturwissenschaft vorgearbeitet haben. Ich sage vorgearbeitet; denn wenn zur Naturwissenschaft im modernen Sinne Erfahrung, Denken und Ex- periment gehören , so muß zugegeben werden, daß den Alten das letztere, nach Goethe sogar der Sinn dafür, abgeht. Innerhalb des von ihnen Geleisteten aber waren sie erstaunlich, angefangen von der Philosophie: „Das philosophische Denken tat keinen Schritt, ohne nach den ähnlichen, nur noch einfacheren Problemstellungen der Antike zurückzublicken", über die Mathematik, von der man nicht besonders zu reden braucht, da selbst jedem Schüler Namen wie Euklid, Pythagoras, Archimedes geläufig sind, bis in die einzelnen Zweige der Naturwissenschaft hinein. Natürlich handelt es sich dabei nicht um die moderne Fülle des Materials, sondern um die Grundsätze der geistigen Organisation, Belebung, Eingliederung, sowie die überraschende Menge von fruchtbaren Gedanken, oder bisweilen auch nur Ahnungen, die aber doch lebendig blieben und oft genug bei Beginn der Neuzeit zur Wiederanknüpfung dienten. So gibt es sehr merkwürdige und doch unleugbare Beziehungen zwischen Kopernikus und — Plato, um nur ein Beispiel zu nennen. Von der Zoologie des Aristoteles heißt es, daß sie ,,in Hinsicht auf philosophische Begründung der wissenschaftlichen Prinzipien für die Biologie und deren Eingliederung in die Allgemeinwissenschafi" den modernen Werken über diesen Gegenstand überlegen sei. Und so könnte noch lange fort- gefahren werden, wenn man auf Einzelheiten ein- gehen wollte. Es ist kein Zufall, daß ein solches Buch in einem Augenblick erscheint, in dem die Frage, was das klassische Altertum vor allem in unserer .Schule fortan zu bedeuten oder nicht zu bedeuten haben solle, von neuem so lebhaft die Gemüter beschäftigt. An sich ist die hVage ja keineswegs neu, aber seit der Revolution ist sie doch in eine andere Phase getreten, da bei der Neigung zum Andersmachen nur um des Andersmachens halber, die Gefahr vorliegen könnte, daß der Zusammen- hang mit der Antike völlig preisgegeben würde. Nun würde er sich zweifellos bei wiederkehrender Besonnenheit alsbald wiederherstellen, der Schaden wäre also vorübergehender Art. Trotzdem wäre sehr wünschenswert, wenn er vermieden werden könnte. Dazu aber kann nichts'' besser beitragen, als die Kenntnisse und Erkenntnisse, die aus einem Buche wie dem vorliegenden zu gewinnen sind, dessen Lektüre auch in den Kapiteln, die für unsere Betrachtung nicht in Frage kamen, einem jeden Gebildeten angelegentlich empfohlen werden kann. Nicht etwa „zurück", sondern „weiter im Sinne Piatons und der Antike" soll der Wahl- spruch sein, wie es hübsch in dem pädagogischen Aufsatze des Buches heißt. Wie sehr wir, um schließlich einen höheren Gesichtspunkt anzudeuten, in Zeiten wie denen, denen wir entgegengehen, es nötig haben, gerade zur wahren Entfaltung unseres innersten Wesens als Deutsche, in einer lebendig zeugenden, nicht buchmäßig toten Beziehung zum Hellenentum zu bleiben, und nicht nur zu bleiben, sondern sie erst recht zu pflegen und zu vertiefen, das mögen die am Schlüsse des Geleitworts angeführten Worte Wilamowitz' und manches Kapitel des Buches selbst jedem Leser eindringlich zu Gemüte führen. v. Wasielewski. Arrhenius, Svante, Der Lebenslauf der Planeten. Nach der 4. Aufl. der schwedi- schen Originalausgabe übersetzt von Dr. B. Finkelstein. Mit 28 Abbildungen, Leipzig 1919, Akademische Verlagsgesellschaft. Der bekannte Chemiker hat schon mehrmals vom Standpunkte seiner Wissenschaft aus und oft in sehr origineller und anregender Weise Stellung zu kosmogonischen Fragen genommen. In diesem Buche, das nach der 4. schwedischen Auflage übersetzt ist, behandelt er das Schicksal der Planeten, indem er die astronomischen und kosmochemi- schen Tatsachen zu einer zusammenhängenden Gesamtvorstellung über E^ntstehung, Entwicklung und Endzustand der Planeten vereinigt. Dabei knüpft er häufig an irdische Verhältnisse an, die, in diesen allgemeinen Zusammenhang gestellt, eine neue und fesselnde Beleuchtung erfahren, wie das z. B. bei der Erörterung der klimatischen Bedeu- tung des Wasserdampfes der Fall ist. Ausführ- licher wird vor allem der Mars behandelt, dem- nächst Merkur, Mond, Venus. Bemerkenswert sind auch die zahli eichen kulturhistorischen Aus- einandersetzungen, namentlich im ersten Kapitel, das den Ursprung der Sternanbetung behandelt. Meist aus Vorträgen hervorgegangen, hat die Darstel- lung den Vorzug einer anschaulichen und flüssigen Form, die die Lektüre des Buches zu einem Ge- nuß macht. Auch die Ausstattung ist zu loben. Miehe. Philosophische Propädeutik im Anschluß an Probleme der Einzelwissenschaften. Unter Mit- wirkung von Gymn. - Prof. Dr. G o 1 d b e c k , Studienrat Dr. M. Grüner, Oberlehrer Dr. E. N. F. XIX. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 431 Hoffmann, Geh. Studienrat Gymn.-Dir. Dr. P. Loren tz, Univ.-Prof. Dr. A. IVIesser her- ausgegeben von G. Lambeck, Geh. und Ober- regierungsrat. — Leipzig und Berlin 1919, Ver- lag von B. G. Teubner. Preis geh. 5 M. Die Frage, ob und in welchem Umfange der Unterricht an unseren höheren Schulen mit einer Einführung in die Philosophie zu krönen sei, meldet sich seit nunmehr schon einer beträcht- lichen Reihe von Jahren immer wieder aufs neue. Sie ist zweifellos eine derjenigen Fragen, die bei den zu erwartenden Umgestaltungen des Bildungs- wesens mit am notwendigsten eine Beantwortung fordern. Die Wichtigkeit einer philosophischen Vertiehmg der einzelnen Wissensfächer wie der Gesamtbildung kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Im Grunde kann die P'rage gar nicht sein, ob eine philosophische Propädeutik den jungen Köpfen, die die Geistesarbeiter der nächsten Generation zu stellen haben, not tue, sondern nur, ob sie in die ohnehin schon überlastete Prima oder vielleicht besser in unausweichlicher Form etwa als Zwangskolleg und integrierender Teil des abschließenden Examens den studentischen Lebens- und Lernjahren einzugliedern sei. Die philo- sophische Vertiefung selbst ist ebenso notwendig wie natürlich, denn in gewissem Sinne kann eine jede Wissenschaft als ein besonderer Weg zur Philosophie betrachtet werden, der, wenn man ernst und lange genug auf ihm fortschreitet, von selbst zu ihr hinführt. Und jedenfalls wird die zu erhoffende wachsende und zeugende Kraft solcher Plinsicht unter den stärksten Faktoren sein, die uns aus den Flachheiten einseitig ausgearteter Fachstudien wieder in die Höhe bringen sollen. Womit selbstredend nichts gegen die Spezialstudien und -arbeiten als solche gesagt sein soll, sondern nur gegen den Anspruch ihrer alleinigen Bedeutung. Das vorliegende Buch gewinnt ein besonderes Interesse dadurch, daß es nach Angabe des Her- ausgebers das erste sein dürfte, dem das „okkasio- nalistische Prinzip" (der Ausdruck stammt von Vaihinger) in dieser Angelegenheit zugrunde liegt. Das heißt, daß keine systematisch gegliederte und zusammenhängende Behandlung des Gesamtstoffes geboten , sondern das Einzelfach selbst (Mathe- matik, Biologie, Literatur usw.) über die Grenz- linie hinweggeleitet wird, hinter der es Gegen- stand philosophischer Betrachtung wird. Lücken und Untimmigkeiten sind die hierbei zunächst zu erwartenden IVIängel, doch lassen sich diese bei planmäßigem Zusammenarbeiten teils ausgleichen, teils auch kommt es weder auf Vollständigkeit noch auf straften Zusammenschluß gerade bei der philosophischen Propädeutik unbedingt an. Denn, wie schon Kant einmal die Stellung gerade des Anfängers treffend und scharf bezeichnete: unsere Primaner oder Studenten sollen nicht Philosophie, sondern philosophieren lernen. Und dazu taugt die ins Philosophische fortgeführte Einzeldisziplin besser als alles andere. Auch ist keineswegs gemeint, daß der Inhalt des gesamten Buches schulmäßig durchgenommen werden soll. Der Lehrer wird auswählen ; wenn er es vermag, auch selbständig in dieser oder jener Richtung über den dargebotenen Stoff hinausgehen können. Nicht weniger kann der privaten Tätigkeit philo- sophisch erst einmal angeregter Jünglinge manches überlassen bleiben, nicht ohne gelegentliche Kon- trolle. Die behandelten Stoffe sind: Mathematik und Physik (Goldbeck), Biologie (Grüner), Ge- schichte (Lambeck), Deutsche Literatur (L o r e n t z), Antike (Hoff mann). Angehängt ist ein kurzer Überblick über die Philosophie (Messer), der beabsichtigt, die notwendige, absichtlich ab- schließend gedachte Gesamtorientierung zu geben. Die Einzeldarstellungen sind sämtlich, soweit Ref sie prüfen und beurteilen konnte, gründlich und inhaltreich. So kann das Buch auch älteren Semestern, denen um eine private Einführung in philosophische Probleme auf Grund einer ver- tieften Betrachtung von Einzeldisziplinen gelegen ist, zur Lektüre empfohlen werden. Da es aber zunächst für ältere Schüler gedacht ist, könnte auffallen, daß unter den behandelten Gebieten die Religion fehlt. Man wird sich kaum durch eine Erwägung , daß philosophische Erörterung dem Christentum der jungen Leute Abbruch tun möchte, von ihrer Aufnahme haben abhalten lassen. Wenig- stens wäre ein solches Bedenken unzutreffend; denn unsere intellektuelle Jugend ist, wozu immer sie sich auch später entwickeln mag, mit 20 Jahren entweder atheistisch oder doch gewiß nicht positiv christlich gesonnen. Unter diesen Umständen könnte philosophische Besinnung gerade auf dem religiösen Gebiet, einem klugen und mit den Seelenzuständen junger Leute bekannten Pädagogen anvertraut, recht wohltätig wirken. Wir wünschen dem Buche und der Sache, der es zu dienen bestimmt ist, von Herzen Erfolg. Es handelt sich um Großes. V. Wasielewski. Diels, Hermann, Antike Technik. Sieben Vorlesungen. 2., erweiterte Aufl. Mit 78 Ab- bildungen, 18 Tafeln und einem Titelbilde. Leipzig und Berlin 1920, B. G. Teubner. 11 M. Das hübsche Buch, das wir früher bereits etwas eingehender kennzeichneten (vgl. Naturw. Wochen- schrift N.F. Bd. XIV, S.668) liegt jetzt in der zweiten Auflage vor. Sie ist gegenüber der ersten haupt- sächlich durch Anfügung eines Kapitels über die antike Uhr erweitert worden. Es sei noch ein- mal darauf hingewiesen, wie reizvoll es ist, das griechische Altertum von einer Seite her kennen zu lernen, die weniger allgemein bekannt, gleich- wohl aber zu seinem vollen Verständnis unerläß- lich ist. Zeigt sie uns doch die merkwürdig universelle Begabung der Griechen. F"ür die ge- rechte Würdigung des Bildungswertes des griechi- schen Kulturbesitzes ist diese eindringliche F"est- stellung insofern von Bedeutung, als sie zeigt, daß sich das technische und das philosophischästhe- 432 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 27 tische Kulturelement nicht auszuschließen brauchen ; beide können aus derselben Quelle fließen, stehen zum mindesten nicht im Gegensatz zueinander. Woraus die Anhänger des humanistischen Bil- dungsideales mit gutem Grunde die Folgerung ziehen können, daß auch für unsere heutige Er- ziehung das antike Geistesleben, das sich in einer so allgemeinen Weise betätigte, seine hohe mensch- liche Bedeutung nicht verloren hat. Miehe. Laf;witz, Kurd, Empfundenes und Erkanntes. Aus dem Nachlasse. Leipzig 1919, Verlag von B. Elischer Nachfl. Preis 6,50 IVI. Freunde und Kenner des verewigten Dichter- l'hilosophen werden gern in diesem Bande dem vielseitig und feingebildeten Geiste wieder begegnen, der ihnen in seinen — trotz Jules Verne — durch- aus eigenartigen phantastischen Romanen und ge- haltvollen philosophischen Schriften unverwechsel- bar und unvergeßbar bereits nahesteht. Dagegen wäre es weniger wünschenswert, mit diesem ge- sammelten Nachlaßbande die Bekanntschaft mit Laßwitz zu eröffnen, da die in ihm enthaltenen Aufsätze und Märchenskizzen erst an den eigent- lichen Werken des liebenswürdigen reichbegabten Schriftstellers richtig eingeschätzt werden können. So gewinnen etwa die beiden Beiträge — ein IVIärchen und ein Aufsatz — die sich mit dem Mars beschäftigen, ein ganz anderes Gesicht für den, der Laßwitz' Marsroman ,,Auf zwei Planeten" kennt. Dieser Roman wird übrigens unter den gleichartigen Werken des Dichters, wie die Absatz- zahlen zeigen, derartig bevorzugt, daß es angebracht erscheint, seine Freunde auf die weit weniger be- kannten Romane „Aspira" und besonders „Sternen- tau" (vielleicht das beste von allen) hinzuweisen. Der Band enthält eine stattliche Reihe von Gedichten, unter denen ich einen kleinen Roman in einer Reihe von Elegien (23) als besonders geglückt hervorheben möchte. Sie atmen teil- weise, und nicht nur in der Form, Goethe'schen Geist. So sicher die Prosaerzählung auf phan- tastisch-wissenschaftlicher Grundlage das gewiesene Feld des Poeten Laßwitz war, so besteht er doch ehrenvoll auch auf dem Gebiete der Reime und Rhythmen. Etwa ein Sechstel des Bandes wird von einer Schilderung des Menschen, Forschers und Dichters Laßwitz aus der Feder Hans Lindau's ein- genommen, die in ihrer liebevollen Einfühlung und verständnisreich abwägenden Bewertung nicht das Schlechteste in dem Buch ist und sehr wohl eine Erwähnung auf dem Titelblatte verdient hätte. V. Wasielewski. Giannoni, Dr., Naturschutz und Verkehr. Heft 21 der „Naturdenkmäler". Berlin 1919, Gebr. Borntraeger. Natur und Verkehr geraten oft in einen Gegen- satz, indem der Verkehr Eingriffe in die natür- liche Beschaffenheit der Erdoberfläche herbeiführt. Der Verf. unternimmt es in diesem Hefte, diese gegensätzlichen Beziehungen klar herauszuarbeiten und einen Ausgleich zwischen den Tendenzen des Naturschutzes und den berechtigten wirtschaft- lichen Interessen anzubahnen. Er ist durchaus kein Eiferer, der diese letzteren in einseitiger Überschätzung der Naturerhaltungsbestrebungen zurückzudrängen versucht, er rechnet klug mit ihrer unangreifbaren Position, erkennt auch ihre Berechtigung an , versucht aber an der Hand naturwissenschafdicher und ästhetischer Grund- sätze der umgestaltenden Einwirkung überflüssige Härten und Roheiten zu nehmen, die gleicher- weise das Naturgefühl wie den gebildeten Ge- schmack verletzen. Die bei aller methodischen Gründlichkeit frisch und unterhaltend geschrie- benen Auseinandersetzungen seien Behörden, Or- ganisationen des Natur- und Heimatschutzes sowie des Fremdenverkehrs, Erbauern von Eisenbahnen, Brücken, Straßen, Gast- und Landhäusern usw. und nicht zum wenigsten allen Naturfreunden angelegentlichst empfohlen. Miehe. Littrows Atlas des gestirnten Himmels für Freunde der Astronomie. Taschen- ausgabe; mit einer Einleitung von Prof. Dr. I. Plassmann. 41 S. und 17 Tafeln. Berlin 1920, Dümmler. Preis kart. 6 M. Eine sehe willkommene Gabe für jeden Lieb- haberastronomen. Nach einer klaren Einführung in die Grundbegriffe der Astronomie und Be- sprechung der mit bloßem Auge sichtbaren Vor- gänge, Sterne und Sternbilder folgen die Karten, die neu gezeichnet sind, bezogen auf 1900, also noch mehrere Jahrzehnte brauchbar. Sie ent- halten alle Sterne bis zur 4. Größe, von den schwächeren nur eine Auswahl. Die Bezeichnungen der Sterne sind deutlich zu lesen, was für die Angabe von Sternbedeckungen wichtig ist. Zur Einführung in die Kenntnis der Planeten sind deren Orte für 1920,21 gegeben. Die Beigabe der Mondkarte ist sehr dankenswert für die vielen Besitzer kleiner Instrumente, und es ist nur zu bedauern, daß wir keine neue, ungefähr auf diesen Maßstab gezeichnete Mondkarte haben, in der die charakteristischen Gebilde deutlicher hervorträten. Das kleine Format erlaubt es, den Atlas auf Wanderungen in der Tasche bei sich zu führen. Riem. IiiIihK: K. Wcinland, Über die Wernersche Koordinationslehre. (12 Abb.) S. 417. — Bücherbesprechungen: Vom .Altertum zur Gegenwart. S. 429. S v. Arrhenius, Der Lebenslauf der Planeten. S. 430. Philosophische Propä- deutik. S. 430. H. Diels, Antike Technik. S. 431. K. Laß witz, Kmpfuudenes und Erkanntes. S. 432. Giannoni, Naturschutz und Verkehr. S. 432. Littrows Atlas des gestirnten Himmels für Freunde der Astronomie. S. 432. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der (i. Pätz'«chen Bucbdr. l.ippcrt & Co. G.m.b.H.. Naumburg :». d. S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ig. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den ii. Juli 1920. Nummer 28. Die angeborenen Muttermäler und die Färbung der menschlichen Haut im Lichte der Abstammungslehre.') [Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. med. E. Meirowsky, Köln a. Rh. Mit 69 Abbildungen. Aus dem großen Gebiete der Dermatosen möchte ich heute eine Gruppe von Hautverände- rungen herausnehmen, die zwar bisher als Krank- heiten angesehen worden sind, jedoch nicht als solche gelten können. Es sind dies die ange- borenen Muttermäler, die sog. Naevi. Man versteht unter ihnen nach Unna alle hereditär veranlagten, zu verschiedenen Zeiten des Lebens sichtbar werdenden, durch Farbe oder Form der Oberfläche auffallenden, diffusen oder umschriebe- nen Anomalien der Haut. Was die Farbe an- betrifft, so handelt es sich meist um braune, durch Pigmentvermehrung bedingte Maler oder um Feuermäler, die der Volksmund als Weinflecke bezeichnet, oder um Hornmäler, Schweiß-, Talgdrüsen- und Haarmäler. Immer findet sich ein Überschuß einer oder mehrerer die Haut zusammensetzender Bausteine; mitunter handelt es sich auch um ein Fehlen eines Gewebsbestandteils z. B. des Pigments beim Naevus depigmentosus. Meist sind es kleinere Gebilde ; häufig nehmen sie — wie die behaarten und pigmentierten Riesenmäler, die sog. Tierfell- Naevi — große Partien des Körpers ein und treten halbseitig oder in einem bei allen Formen stets wiederkehrenden System von Linien auf. E*s ist ferner bemerkenswert, daß bei ausgedehn- ten Naevi, die beide Körperhälften befallen haben, Bezirke der einen Seite ergriffen sind, während die entsprechenden der anderen Seite frei blei- ben. Es besteht also zweifellos ein eigenartiges System, zu dem die Anlage der Naevi in Be- ziehung zu bringen ist. Über die Ursache der Naevusbildung herrschte so völlige Unklarheit, daß ein amerikanischer Autor dieses Gebiet als das dunkelste Afrika der Dermatologie bezeichnet hat. Nachdem man um alle nur denkbaren linien- förmig angeordneten Systeme der Haut, wie die Nerven, die Haare, das Blutgefäß-, das Lymph- gefäßsystem , die angebliche Metamerie der Haut, die Druck- und anderen Hypothesen zur Erklärung der rätselhaften Erscheinung der Haut- naevi herangezogen hatte, bin ich auf Grund einer vererbungswissenschaftlichen Analyse der Haut zu einer einheitlichen Erklärung gekommen, in- dem ich sie als Zustandsveränderungen des Keimplasmas definiert habe.'") Was ver- stehen wir unter Keimplasma? Unter Keim- ') Antrittsvorlesung anläßlich der Habilitation als Privat- dozent. ') E. Meirowsky, Über die Ursachen der kongenitalen Mißbildungen der Haut. Verl. Braumüller, Wien 1919. plasma verstehen wir die Anlagemasse zum neuen Individuum, die beim Zeugungsakt aus der Verschmelzung der männlichen Samen- mit der weiblichen Eizelle entstanden ist. Um zur Klarheit über die Frage zu kommen, wie wir uns das Keimplasma zusammengesetzt denken müssen, möchte ich zunächst einige Ergebnisse aus der Tierzüchtung und der Mendelforschung anführen. Beide haben uns gelehrt, daß wir uns das Keimplasma aus einer großen Anzahl klein- ster Körperchen, den Erbeinheiten — den sog. Genen — zusammengesetzt denken müssen, die un- sichtbar sind, jedoch in Wirklichkeit wie die Atome vorhanden sein müssen, da man mit ihnen wie mit feststehenden Begriffen operieren kann. Ich will versuchen, dies an einem Beispiel zu erläutern : Es gibt in England zwei Familien, bei denen sich jetzt schon sechs Generationen hindurch eine weiße Haarlocke mitten in dunklen Haaren forlvererbt. Diese Pigmentlosigkeit der Haare setzt sich auf die Stirn weiter fort und führt zu dem gleichen Bilde, das wir bei wil- den und gezähmten Tieren so häufig finden und als Blesse zu bezeichnen pflegen. Wenn nun ein solcher Mensch mit einer Blesse diese seine Eigen- schaft auf seine Nachkommen fortvererbt, so muß doch in seinem Keimplasma irgend etwas, irgend- ein Faktor, irgend eine Ursache vorhanden sein, die gerade nur an dieser Stelle wiederum die gleiche Veränderung der Pigmentlosig- keit hervorruft. Die Ursache der Bildung der weißen Haarlocke liegt also in einer Ver- änderung des Keimplasmas. Es läßt sich nun zeigen, daß jede kleinste Stelle des Körpers in bezug auf ihre Zusammensetzung aus den ein- zelnen Gewebsbestandteilen keimplasmatisch an- gelegt ist, so daß nach Weismann die ganze Keimessubstanz aus einer Anzahl von Erbeinheiten besteht, deren es so viele geben muß, als es selbständige und erb- lich variable Bezirke im fertigen Or- ganismus gibt, seine sämtlichen Ent- wicklungsstadien mit eingeschlossen. Wenn sie diesem Gedankengange gefolgt sind, so wird es ihnen klar werden, warum ein Tier- züchter in beliebiger Weise die Organe eines Tieres durch Züchtung verändern kann. Die Länge der Haare, die Dicke der Haare, die Kräuse- lung des Haares, seine seidenartige Beschaffenheit, ja das völlige Fehlen von Haaren kann durch Züchtung jederzeit bei Tieren experimentell her- vorgerufen werden. Aber auch die Größe der 434 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 28 Tiere, ihre geistige Beschaffenheit, die Festigkeit ihrer Knochen und viele andere Eigenschaften sind durch Züchtung veränderbar, und die Ur- sachen für alle diese Veränderungen können nur in der Anlagemasse des neuen Indi- viduums liegen, die aus der Verschmelzung der Fi- und der Samenzelle hervorgegangen ist. Im Keimplasma liegt das größte Mysterium des Lebens, und nur mit tiefer Bewunderung vor der Größe der geheimnisvollen Einrichtungen der Natur kann man daran denken, daß in diesen häufig nur mit dem Mikroskop sichtbaren Ge- bilden jede kleinste Stelle des zukünftigen Körpers, seine äußere Form, ja sein geistiger Inhalt ange- legt ist, und daß hier die Entwicklung aus diesem einzelligen Gebilde zum Milliardenzellenstaat des fertigen Körpers mit der Sicherheit und Regel- mäßigkeit einer Präzisionsuhr abläuft. Wenn man also auch die letzten Ursachen der Außeneigenschaften eines Individuums im Keim- plasma nicht sehen kann, so sind sie doch sicherlich vorhanden, und ein richtiger Züchter kann mit ihnen wie mit einem feststehenden chemischen Begriff arbeiten. So hat Baur z. B. in den letzten Jahren mit besonderem Erfolg das Gartenlöwenmäulchen analysiert und viele hunderte von Rassen gezüchtet. Alle diese Rassen stellen, obwohl sie eine ganz unübersehbare Fülle von Färbungen, Blüten- und Wuchsformen zeigen, im- mer wieder andere Kombinationen einer großen Zahl mendelnder Grundunter- schiede oder Erbeinheiten (Gene) dar. Auf Grund der genauen Kenntnis der Erbeinheiten, der sog. Gene des Gartenlöwenmäulchens ist Baur ganz ähnlich wie ein Chemiker, der sich aus wenigen Grundstoffen eine ungeheure Zahl von Verbindungen herstellen kann, mit Hilfe eines kleinen Satzes von Pflanzen imstande, jede ge- wünschte Rasse jederzeit zu züchten oder für jede Kreuzung vorauszusagen, wie die P'ilialgeneration F, aussehen und was alles aus F, heraus- mendeln muß. Die Gene, die Erbeinheiten, die kleinsten Bestandteile des Keimplasmas lassen sich nach O. Hertwig folgendermassen charakteri- sieren: Die Gene sind im Keim die uns unsichtbaren, mehr oder minder selb- ständigen Faktoren für die zahlreichen Eigenschaften, aus denen sich das Bild des entwickelten Organismus zusam- mensetzt. Das Vorhandensein oder F"ehlen bestimmter Gene im Keim hat zur notwendigen P'olge, daß die uns sichtbaren Eigenschaften und Merkmale einer Pflanze oder eines Tieres in be- stimmter Weise verändert werden. Was nicht durch Erbeinheiten, Gene, indem Keim angelegt ist, kannauch später im fertigen Geschöpf nicht realisiert werden. Ich glaube nun das Wesen der angeborenen Muttermäler durch die Annahme erklärt zu haben, daß im Kcimplasma die Gene für die ein- zelnen Bestandteile derHaut entweder zum Fehlen oder zum überschüssigen Wachstum der zugehörigen Außen- eigenschaften geführt haben. Sie sehen also, daß Pflanzen, Tiere und Menschen, alles Lebende schon in seiner zukünftigen Gestaltung fertig ist, sobald die Anlagemasse zum neuen Individuum geschaffen ist. Mit vollem Recht konnte daher Goethe am Schlüsse seiner be- kannten Sentenz, in der er seine Eigenschaften auf Vererbung zum Teil von seinem Vater, zum Teil von seiner Mutter, zum Teil von seinen (Troß- eltern her zurückführt, die Zusammensetzung der Erbmasse vorahnend fragen: ,,Sind nun die Elemente nicht aus dem Komplex zu trennen, Was ist denn an dem ganzen Wicht original zu nennen?" Diese Annahme, daß im Keimplasma die letzten Ursachen der Naevusbildung zu suchen sind, führt uns nun zu der wichtigen Frage, ob wir auch die Gesetze des Keimplasmas auf die Naevi zur Anwendung bringen können. Eine der Eigenschaften des Keimplasmas ist nach dem Begründer dieser Hypothese, nach dem Zoologen Weismann, die sog. Kontinuität des Keimplasmas. Der Organismus baut nämlich aus der Anlagemasse einerseits die Körper- zellen auf, andererseits geht aus ihnen in direkter Fortsetzung die Anlagemasse zur nächsten Generation hervor. Diese Hypo- these der Kontinuität des Keimplasmas, die heute von der Mehrzahl der Forscher anerkannt ist, lehrt uns, daß wir durch dieses nicht nur mit unseren Nachkommen verbunden sind und so- lange mit ihnen verbunden bleiben, wie diese selbst sich fortpflanzen, sondern daß wir auch in körperlicher Verbindung stehen mit unseren Eltern, Großeltern und Vorfahren bis in die fern- sten Zeiten hinein. Wir alle sind nicht so alt, wie wir an Jahren zählen, sondern so alt, wie überhaupt die Erde Leben getragen hat. Des- halb liegen in uns auch noch die Eigenschaften unserer Vorfahren. Wenn man versuchen will, sich eine Vorstellung davon zu machen, wieweit wir in unserer Ahnenreihe zurückgehen müssen, um auf die Vor- und Urmenschen zu kommen, so sind wir etwa, wenn wir auf i Jahrhundert 3 Generationen rechnen, mit 60 Vorfahren im Beginne unserer Zeitrechnung, mit 120 Vorfahren etwa in der Pharaonenzeit und mit 3000 Vorfahren in der Eiszeit, in der unser Planet so gewaltige Umwandlungen erfahren hat, und in der zum erstenmal Knochenreste von Lebewesen aufge- funden sind, die schon mit Bewußtsein In- strumente hergestellt und einen religiösen Kult getrieben haben, also als Menschen zu be- zeichnen sind, obwohl ihr Körperbau noch stark an tierische Vorfahren erinnert. Denken sie sich also ein kriegsstarkes Regi- ment von Menschen hintereinander aufgestellt, von denen jeder Nachfolgende der Vater des vor ihm Stehenden ist, so gehört der Zuletzt- stehende schon in die Gruppe der eben be- N. F. XIX. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 435 sprochenen Neandertalmenschen, aber alle, vom Neandertalmenschen bis zum IVIenschen der Gegen- wart, sie sind körperlich miteinander ver- bunden durch den immer sich wiederholenden wunderbaren Vorgang der Zeugung, bei der sich ja eine einzige Zelle des Körpers durch Ver- schmelzen mit der weiblichen Eizelle zum Keim - plasma des neuen In divid u u ms entwickelt und dabei die ganze Erbmasse weiter übermittelt. Dieser Vorgang der körper- lichen Übermittlung der Erbmasse geht von unseren Urahnen an bis zum IVIenschen der Jetztzeit, der deshalb auch noch alle Eigenschaften jener 3000 Vorfahren, ja alle Eigenschaften von noch vielen Tausenden von weiteren Vorahnen in sich bergen muß. Ich will ihnen das an drei recht deutlichen Beispielen zeigen. Beim Men- schen tritt häufig eine sog. Polymastie, d. s. mehr- fache Brustwarzen, auf. Diese Erscheinung ist gar nicht anders zu erklären als durch einenRückschlag auf tierische Vorfahren mit mehreren Brustwarzen, denn sie treten beim IVIenschen in der gleichen bogenförmigen Linie und auch an den gleichen Körperstellen wie bei den Tieren auf. Diese brauchen sie notwendig, weil sie mehrere Junge zur Welt bringen und zu säugen haben. Beim IVIenschen hat sich also Millionenjahre hindurch die Anlage zur Mehr fachbil d u n g der Brustwarzen im Keimplasma erhalten, um dann plötzlich ohne sichtbaren Grund wieder zum Vor- schein zu kommen. — Oder der Blinddarm. Dieser ist für uns wahrscheinlich ein unnützes und überflüssiges Organ, das schon vielen Tausen- den von wertvollen Menschen das Leben gekostet hat. Warum ist er in jedem von uns erhalten ? Weil er der Rest eines alten Darms ist, der sich noch als funktionsfähiges Organ bei allen Pflanzen- fressern vorfindet. — Oder ein Beispiel, das Darwin wiederholt angeführt hat und das ge- schichtlichen Wert besitzt. Wir haben Be- weise, daß schon 5000 Jahre vor unserer Zeit- rechnung die alten Inder und Egypter die Taube kannten und zwar in erster Reihe die sog. Felsen- taube, die ein graublaues Gefieder besitzt und auch noch heute auf den Felsen der Bretagne vorkommt. Nun wissen Sie alle, daß die Tauben- zucht durch die manchmal extreme Liebhaberei der Züchter zu zahlreichen Rassen mit wunder- lichen Außeneigenschaften geführt hat. Paaren sie solche extrem gezüchteten Tauben miteinander, so schlagen die Nachkommen fast regelmäßig in das alte blau-graue Gefieder der Felsentaube zurück. Jede Taube führt also, wie wir geschichtlich nachweisen können, mindestens 5000 Jahre, in Wirklichkeit wahrscheinlich viele hunderttausend Jahre, in ihrem Keimplasma, in ihrer Anlagemasse die Fähigkeit in sich, in die alte Urform und Färbung zurückzuschlagen. Diese Beispiele sind zum Verständnis der folgenden Darstellung von Wichtigkeit, denn nun erhebt sich für uns die Frage, ob dies Gesetz von der Kontinuität des Keimplasmas auch für die mensch- liche Haut und für die Nae vusbildung, Gültigkeit hat. Hierüber besitze ich ein reiches Material, das ich Ihnen nur zum Teil im Bilde vorführen, zum Teil nur in großen Zügen schildern kann. Wie Sie wissen, ist es das Pig- ment, das tierischer und menschlicher Haut die P'ärbung verleiht und bestimmte Menschen- und Tierrassen voneinander unterscheiden läßt. Dieses Pigment entsteht, wie ich früher in ausgedehnten Untersuchungen nachgewiesen habe, nicht aus dem Blutfarbstoff, sondern durch die lebendige Energie in den Zellen selbst. Das Licht, das der hauptsächlichste Faktor für die Entstehung des Farbstoffs ist, büßt auf seinem Durchtritt durch die Haut verschiedene Strahlungen ein, verliert dadurch an chemischer Aktivität, und ein Teil der verloren gegangenen Lichtenergie tritt uns in der Haut wieder als Pjgment entgegen. Beim Menschen ist nun im allgemeinen die ge- samte Hautdecke mit Pigment versehen, jedoch heben sich aus der schwachen und gelegentlich geradezu minimalen diffusen Pigmentierung einzelne Hautpartien ab, die sich durch einen stärkeren Pigmentgehalt, durch ihre physiologische Überpigmentierung aus- zeichnen. Der eine Teil dieser physio- logisch-überpigmentierten Hautpartien untersteht in seinem Pigmentgehalt in unzwei- deutigster Weise den Einflüssen der Belichtung. Dieses Verhältnis besteht jedoch nicht für die Pigmentierung der Brustwarzen, des Warzen- hofes, der Genitalien und der Achsel- höhle. Da es sich hier um einen kon stanten Befund handelt, der sich durch verschiedene Menschenrassen hindurch verfolgen läßt und außerdem auch bei bestimmten Affen er- hoben worden ist, so sind diese vom Licht un- abhängigen Pigmentierungen von der größ- ten Wichtigkeit für die Lehre von der Ab- stammung des Menschengeschlechts. Es ist das Verdienst des berühmten Anatomen Schwalbe, diese Verhältnisse eingehend geprüft und in ihrer vollen Bedeutung erkannt zu haben. Schwalbe stützt sich nicht nur hierbei auf die eigenen Unter- suchungen, sondern auch auf die Arbeiten von KöUiker, Beuel, Adachi und vor allem Widenmann. Man kann nach ihm einen kurzen Ausdruck für die Gesamtfärbung gewinnen, indem man sagt: Der Rücken des Menschen ist bedeutend dunkler gefärbt als die Bauchseite, die Streckseiten der oberen Extremitäten sind dunkler als die Beugeseiten; Handteller und Fußsohlen sind am hellsten. Im helleren Brust- gebiet hebt sich die Brustwarze und ihre Um- gebung als dunkel pigmentiert hervor. An den unteren Extremitäten besteht in der Fär- bung des Oberschenkels noch das Verhältnis, daß die Außenfläche dunkler gefärbt ist als die Innenfläche. Diese verschiedene Verteilung des Farbstoffes hat mit einer un- mittelbaren Einwirkung des Sonnen- 436 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XtX. Nr. 28 lichts offenbar nichts zu tun, es handelt sich hier um eine Pigmentverteilung, die in gleicher Weise im ganzen Tierreich verbreitet ist. Allen imm er wieder erfol gen den Ver- suchen der äußeren klimatischen Fak- toren, an der Hautfärbung zu modeln, steht zäh gegenüber die Vererbung einer von Urzeiten her übernommenen Färbung des Menschengeschlechts, die sich kurz in den Worten zusammenfassen läßt: 1. für den Rumpf dorsal dunkel, ventral hell; 2. für die Extremitäten Streckseite dunkel, Beuge- seite hell. Bei den Säugetieren, insbesondere bei den Primaten, findet sich über- wiegend der Rücken dunkler gefärbt als der Bauch. Nicht weniger wie 81 der von Forbes beschriebenen Affen- spezies folgen der erwähnten Färbungs norm, ferner fast alle Halbaffen. Bei relativ vielen Affenarten, etwas über 40, sind Bauch und Rücken gleich dunkel gefärbt, und bei nur wenigen sechs, ist sogar der Bauch dunkler als der Rücken. Sehr bemerkenswert ist, daß gerade bei den anthropoiden Affen Rücken und Bauch und Extremitäten nahezu gleich dunkel sind. Schwalbe kommt deshalb zu dem Resultat, daß der Mensch nicht direkt von den jetzt lebenden An- thropoiden abstammt, da sonst die auf- fallenden charakteristischen Unterschiede in der Färbung seiner dorsalen und ventralen Seite nicht verständlich wären. Will man nach Schwalbe einen Versuch machen, die Hautfärbung des Menschen in ihrer altvererbten, allen Menschenrassen zukommenden Eigen- art von der Färbung ihrer Primaten- Vorfahren abzuleiten, so wird eine An- knüpfung an die quadrupeden oder baumlebenden kletternden Formen mit dunkler Rücken- und heller Bauchseite den einzigen Anhalt gewähren. Es ist dies ein uraltes Farbenmerkmal der Mehrzahl der Säugetiere, das allerdings durch lokale Anpassungen, durch Zeich- nungen u. dgl. geändert werden kann. Dieses Farbenmerkmal muß auch der gemeinsamen Wurzel der Anthropoiden und Hominiden angehört haben. Gleichmäßig gefärbten Menschen und Tieren stehen die sog. Schecken gegenüber, bei denen nicht die gesamte Körperhaut, sondern nur ein- zelne Partien pigmentiert sind. Bei solchen Lebewesen sind nun immer die gl eichen Stellen gefärbt resp. farblos. Wenn Sie z. B. auf die Straße gehen und die zahlreichen Pferde vorüber- passieren lassen, so werden Sie häufig in der Mitte der Stirn einen weißen Fleck finden, der meist nur die Mitte derselben einnimmt, mitunter sich aber auch über die Schnauze bis zum Kinn er- streckt, mitunter in einer bogenförmigen Linie um die Augen geht; dabei ist die Schnauze und das Kinn weiß gefärbt im Gegensatz zu den gefärbten und pigmentierten Flächen um die Augen. Genau die gleiche Erscheinung finden Sie bei Kühen, bei Hunden, besonders bei Bulldoggen und Foxterriern, aber auch bei zahlreichen wildlebenden Tieren; ja diese Erscheinung erstreckt sich bis über die Säugetierreihe hinaus bis zu den Vögeln, denn die sog. Blessetaube zeigt den gleichen Stirnfleck. Tritt nunbeieinemNeger oder bei einem Weißen eine Scheckenbildung auf, so erscheint in den meisten Fällen eben- falls an der Stirn genau der glei.che Fleck; genau an der gleichen Stelle und genau in der gleichen Form. Die Über- einstimmung ist eine so frappante und eine so vollkommene, daß gar kein Zweifel darüber vorhanden sein kann, daß hier die gleiche Erscheinung bei Menschen und Tieren vorliegt. Ja, die weiße Stirnhaarlocke, von der ich am Anfange meiner Ausführungen sprach, erscheint in der gleichen F'orm wie die Blesse der Tiere und ver- erbt sich wie diese viele Generationen hindurch. Könnte man beim Menschen wie beim Tier Züch- tung treiben, so wäre es für uns ein Leichtes, eine gescheckte Menschenrasse zu erhalten. Nun ist es weiter auffällig, daß auch die größeren Muttermäler der Haut am Gesicht wiederum an den gleichen Stellen auftreten, wie die Schecken- bildung der Tiere und die Scheckenbildung der Menschen. Es besteht also in Bezug auf die äußeren Formen eine völlige Übereinstimmung zwischen Tierscheckung, Menschen- scheckung und Naevusbildung. Was für das Gesicht gilt, gilt auch für den Körper. Ich sprach schon davon, daß die Bildung der ausge- dehnten Muttermäler in einem System von Linien erfolgt, dessen Ursache wir uns in keiner Weise erklären konnten. Auf Grund einer großen An- zahl von Tatsachen bin ich zu der Vorstellung gekommen, daß sich dieses Liniensystem bis tief in die Tierreihe hinein erstreckt und Zeichnungscharakter besitzt, daß also hier infolge der Kontinuität des Keimplasmas Rückschläge in die Zeichn ungsform en freilebender und domestizierter Tiere stattfinden. Daß diese Anschauung richtig ist, läßt sich nun besonders deutlich an der Schecken- bildung des Menschen und den großen Pig- mentnaevi — den sog. Tierfellnaevi — zeigen. Bedecken diese letzten, wie es selten beobachtet ist, den ganzen Körper, so ist die Haut mit dichten Haaren bedeckt und dunkel gefärbt. Der Ausdruck „Tierfell" gibt durchaus richtig den Eindruck wieder, den diese Gebilde auf den Be- schauer machen. Treten sie nur an einzelnen Stellen auf, so zeigt sich wiederum die auffallende Tatsache, daß ihre Lokalisation auf das Genaueste übereinstimmt nicht nur mit der Scheckung schwarzer und weißer Menschen, sondern auch mit der N. F. XIX. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. A17 M M M ■> Rrtitfflhurgir 5(*iljfl Totbuntjf Hinlfiliidffr TifffjndsiWi^ 6Anjinqen »cffr Acelta :..^^H' Dlckkopf %pujmer TolmhÖpfcliin w" Stortl) Taubp, :— ■— ■ (i?' A' ^?^ If C«nis Mfiomtlas ijl) 5t.Tli.™äi (i, ^ ^^ ,„ ' ""»K jp i«2L._ _^ Ji; - 531 ,51' ''■' (i5"*>ai™=s>^ ' C»wpKlwii» «tMlio 1 . 438 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XrX. Nr. 28 Färbung der Tiere. So findet man bei Tieren häufig den Rücken stärker gefärbt wie die Bauch- seiten ; dadurch hat man den Eindruck, als besäße das Tier eine Rückendecke. Tritt nun beim Menschen Scheckenbildung oder Naevusbil- dung auf, so finden wir wiederum wie arn Ge- sicht, daß die befallenen Partien eine völlige Über- einstimmung mit der Zeichnung der Tiere zeigen. Ich will hier ferner auf eine Eigenschaft der Ex- tremitäten aufmerksam machen. Wenn Sie aufmerksam die Färbung unserer Haustiere verfolgt haben, so wird Ihnen bei Pferden, Ka- ninchen, Hunden usw. auffallen, daß die unteren Teile der Extremitäten entweder schwarz oder weiß sind. Diese Farben treten stets alternierend an den gleichen Stellen auf Die Tierzüchter nennen diese Erscheinung bei Pferden die „S t i e f e - lung", bei Kaninchen die „Manschettenbil- dung". Tritt nun beim Menschen Schecken- bildung auf, so finden Sie genau die gleiche Er- scheinung. Auch bei ihm zeigen die unteren Enden der Extremitäten „Manschettenbildung" oder „Stiefelung". Das Wunderbare und Auf- fallende ist nun, daß auch die ausgedehnten Muttermäler wiederum die gleiche Lokalisation innehalten, wie die Färbung der Tiere und die Scheckenbildung beim Menschen. Abb. I zeigt die Blesse einer Blessetaube, Abb. 2 die eines Widderkaninchens und Abb. 3 die eines Schwarzpinseläffchens. In Abb. 4 ist ein Spanielhündchen abgebildet mit einer schmalen, länglich gestellten Blesse, in deren Mitte sich noch ein dunkel ■ pigmentierter Fleck befindet. Eine ähnliche, nur breitere Blesse , jedoch mit einem gleichen Pigmentfleck wie bei dem eben genannten Hunde, zeigt ein geschecktes Neger- kind nach Buffon; bei diesem ist — wie bei vielen dome- stierten Tieren (Abb. 9, 22, 26) und bei vielen gescheckten Menschen (Abb. 13, 19, 23,25) — auch das Kinn pigmentfrei. In Abb. 6 ist ein deutscher stichelhaariger Vorstehhund mit einer langen schmalen Blesse abgebildet, die sich von der Stirn bis zur Schnauze erstreckt; genau die gleiche schmale Blesse vom Scheitel bis zur Nasenwurzel zeigt der Kopf eines gescheckten Negerkindes aus dem St. Thomaskrankenhaus in London. In Abb. 8 und 9 sind dreieckige Blessen des Rindes aus Werners „Die Rinderzucht" dargestellt, bei denen die Spitzen des. Dreiecks nach unten und die Basis nach der Stirn hin laufen. In Abb. 9 sind auch Haare in der Gegend zwischen den Hörnern weiß gelärbt. Die Abb. 10, II, 12, 13, 14 und 15 stellen eine Reihe von ge- scheckten Negern aus der englischen Monographie über den Albinismus von Pearson Nettleship und üsher dar, bei denen die Blessebilduug ähnliche Formen zeigt wie bei den Rindern in Abb, 8 und 9. Abb. 17 zeigt aus Brehms Tierleben einen niederen Affen Pin che, der an der Stirn dunkel pigmentiert ist, jedoch genau in der Mitte von der Nasenwurzel ausgehend eine weiße Blesse mit mächtiger Haarentwicklung aufweist. Diese war schon bei dem vorher genannten Negerschecken angedeutet und kommt besonders stark zur Ausbildung bei der Beatrice Andersen (nach Fra- setto) Abb. 16, bei dem Fall Haarraann, bei dem sich die weifie Haarlocke schon 6 Generationen hindurch in der Familie erhalten hat, bei den 3 getigerten Grazien nach einer Photographie von Neisser und bei der gescheckten Negerin nach Marlow. In diesem letzteren Falle macht sich schon — ebenso wie bei den gescheckten Grazien — die Tendenz des Schwundes des Pigments in bogenförmigen Linien be- merkbar. Dadurch wird die ganze Mitte des Gesichts frei von Pigment , das sich auf die seitlichen Pallien zurückzieht und nun — genau so wie bei den abgebildeten Kindern (Abb. 21, 22, 24) und hei der Tigerdogge (Abb. 26) — die Mitte der Stirn völlig freiläßt. Die Übereinstimmung zwischen der bogenförmigen Linie um die Augen bei den Tieren in Abb. 21, 22, 24 und bei den Menschen in Abb. 23 und 25 ist eine außerordentlich weitgehende. Ganz genau wie die Pigmentverteilung bei den Schecken ist nun auch die Färbung bei den Muttermälern im Falle Werner (Abb. 27), im Falle Delaitre (Abb. 28J sowie in den beiden mir von Herrn Geheimrat Jadassohn zur Verfügung gestellten Fällen (Abb. 29 und 30). In Abb. 31 ist ein doppelseitiger Fall von Naevus flammeus abgebildet, bei dem die Färbung in strich- förmigen Linien um die Augen geht, die mittlere Stirnpartie freiläßt, so daß hierbei wiederum das Bild einer Blesse ent- steht, wie es auch bei den Schecken abgebildet ist. Überall da, wo beim Tier eine weiße Blesse auftritt, kann sich auch eine pigmentierte Stelle zeigen. Der Färbung der Blessetaube entspricht die der Storchtaube (Abb. 32). Auch eine Reihe von Affen zeigt genau in der Mitte der Stirn da, wo sonst die Blesse auftritt, eine längliche Pigmentierung, die sich von der behaarten Kopfhaut bis zur Nasenwurzel erstreckt. In Abb. 33 ist ein Apella-Affe, in Abb. 34 ein Dickkopf-Kapuziner, in Abb. 35 ein Totenköpfchen mit dieser Erscheinung abgebildet. In Abb. 36 ist ein Kind aus der Kieler Klinik von Klingmüller abgebildet, bei dem sich mitten auf der Stirn da, wo sonst die Blesse aufzutreten pflegt, eine keilförmige behaarte Fläche zeigt, die mit ihrer Spitze bis zur Nasenwurzel geht. Die gleiche Erscheinung ist in dem Fall Brucks (Abb. 37) dargestellt. Genau in der Mitte der Stirn beginnt auch ein Naevus pigmentosus im Fall Rilles (Abb. 38) und ein systematisierter großer Hornnaeyus, der von Callomon beschrieben ist und sich genau in der Mittellinie bis zur Nasenspitze erstreckt. Wie ich bereits geschildert habe, ist bei den meisten Säugetieren der Rücken dunkler gefärbt als die Bauch- seite. Bei vielen Tieren verdichtet sich die Färbung am Rücken zu einer Rückendecke. Als Beispiel habe ich eine Schakalart, den Canis Mesoraelas, gewählt, der eine stark gefärbte Rückendecke besitzt gegenüber völlig farblosen Seiten- und Bauchpartien (Abb. 40). Eine ähnliche Rückendecke besitzt auch ein gescheckter Säugling aus dem St. Thomas- krankenhaus (.Abb. 41), das gescheckte Negerkind nach dem Gemälde von Le Masurier (Abb. 58) und das Negerkind aus British Honduras (Abb. 59). Das gescheckte Negerkind aus dem St. Thomaskrankenhaus (Abb. 41) weist noch eine andere äußerst interessante Systematisation der Scheckung auf: es sind nämlichdieFingerundZehenalternierendschwarz und weiß gefärbt. Auch diese Erscheinung kommt in der Tierwelt vor; ich verdanke der Liebenswürdigkeit des Lehrers für Kleintierzucht an der Landwirtschaftskammer in Bonn, Herrn K. K ö n i g s in München-Gladbach, die Photographie einer gescheckten Kaninchenpfote, bei der ebenfalls dieZehen ab w c c h s e In d sc h w ar z und w eiß gefärb t sind. Ge- nau so wie die Scheckung der Tiere zeigt auch die Scheckung der Menschen die gleiche Lokali- sation am Rücken. In den Fällen Sioli (Abb. 43), Klingmüller (.-Xbb. 44), Unna (Abb. 45 u. 46) ist der Rücken vom Halse bis zur Steißbeingegend mit einem dicken Fell bekleidet, und die Begrenzung zeigt an den seitlichen Partien die gleiche bogenförmige Linie wie bei dem eben geschilderten Schakal und bei dem gescheckten Negerkinde (Abb. 41). In den Abb. 47 u. 48 ist ein Tierfellnaevus ab- gebildet, der nicht mehr den ganzen Rücken bedeckt, sondern nur einen Teil des Rückens. Hierbei ist bemerkenswert, daß bei dem Zurückweichen der Pigmentierung die gleichen zacken- und bogenförmigen Ränder entstehen, wie wir sie beim Zurückweichen des Pigments am Gesicht bereits kennen gelernt haben. — Bei vielen Tieren erstreckt sich die Färbung des Rückens auf die Extremitäten. Es entsteht dadurch ein Gegensatz in der Färbung zwischen den oberen und unteren Enden derselben; entweder sind die oberen Partien gefärbt und die unteren Partien farblos, oder es sind die oberen Par- tien farblos und die unteren Partien gefärbt. Der Tierzüchter spricht in solchen Fällen von einer Mansch et ten bildung oder Stiefelung. Eine solche weiße resp. hellgelärbte Manschettenbildung resp. Stiefelung zeigt der in Abb. 49 ab- gebildete Cynopithecus ochreatus, ferner der Schweizer Sennen- hund nach Heim (Abb. 50), der Lappländer Hund nach Strebel (Abb. 51) und der gewöhnliche HusarenaflTe (Abb. 52) nach Brchm. Die gleiche weiße Manschettenbildung weisen N. F. XIX. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 439 aber auch die Pigment- resp. Haar-Naevi im Falle Zum- busch (Abb. 53), im Falle Darier (Abb. 54I und im Falle Jadassohn (Abb. ';5) auf, bei welch letzterem auch eine bemerkenswerte Färbung des Gesichts vorhanden ist, die in ihren Einzelheiten ungefähr der Pigmentierung des in Abb. 21 abgebildeten Rindes folgt. In Abb. 56 schneidet ein den Rücken völlig bedeckender Haarnaevus genau in der EUbogen- gcgend ab, ebenso wie die starke Behaarung bei dem singen- den Gibbon aus dem Zoologischen Garten in Breslau , bei dem die Vorderarme nur mit einem dünnen Flaum bedeckt und Hände und Füße völlig haarlos sind. Genau so, wie es eine w e i i3 e Stiefelung resp. Manschetten- bildung gibt, ist auch eine solche schwarze Stiefelung bei einzelnen Tieren vorhanden. Das charakteristischste Beispiel ist das Russenkaninchen, bei dem die Extremitäten im Gegen- satz zum weißgefärbten Rumpf völlig schwarz sind. Eine schwarze Manschettenbildung weisen aber auch die gescheckten Negerkinder in den Abb. 58, 59, 60 und der ausgedehnte Naevus, den Mulzer in seinem Lehrbuch über Hautkrank- heiten abgebildet hat (Abb. 62) auf. Die häufigste Naevusform ist wohl die sogenannte Schwimmhosenform, bei der die Färbung sich von der Mitte des Leibes bis mehr oder weniger weit auf die Oberschenkel erstreckt. Auch im Tierreich gibt es eine analoge Form, nämlich beim Holländerkaninchen. Bei den reingezüchteten Tieren beginnt die Färbung in der Mitte des Leibes mit einer ziemlich regelmäßigen Linie um den Leib herum und erstreckt sich bis zu den Unterschenkeln. Solche Schwimmhosenformen weisen eine Reihe - von zahlreichen Naevi auf, von denen ich in Abb. 64 den Fall Hildebrands, in Abb. 65 den Fall Linkes (letzteren scheraatisch) , in Abb. 66 den Fall Rilles, in Abb. 67 den Fall Michel- sen, in Abb. 68 den Fall Jadassohn, in Abb. 69 den Fall Joseph und in Abb. 70 den Fall Fox abgebildet habe. Allen diesen Fällen ist gemeinsam, daß auf den ventralen Seiten der Naevus mit einer Linie abschneidet, die nach unten einen spitzen Winkel bildet, während auf der Rückenseite der spitze Winkel nach oben gerichtet ist. Wie mir Tierzüchter wiederholt gesagt haben, zeigen unreingezüchtete Tiere nicht die gerade Linie des abgebildeten Falles, sondern die gleiche Zackenbildung wie bei den eben geschilderten Naevi. Sie werden gewiß mit mir der Überzeugung sein, daß bei der Übereinstimmung der äußeren Erscheinungen auch ein tieferer innerer Zu- sammenhang vorhanden sein muß, der dahin zu deuten ist, daß die bei Menschenschecken und bei den Naevi au ftretende Färbung der Rest einer phylogenetisch d. h. stam- mesgeschichtlich uralten Färbung ist, die sich infolge der Kontinuität des Keimplasmas auchnochin uns erhalten hat und gelegentlich wieder zum Durch- bruch kommen kann. Mit dieser Feststellung erhebt sich die Frage nach dem tieferen Sinn der Naevi aus dem engen Rahmen der Dermatologie heraus und gewinnt Bedeutung und Interesse für alle Naturwissenschaftler, — denn nun steht die Frage der Hautfarbe des Vor- und Urmenschen zur Diskussion. Da wir von Urmenschen nur Knochenreste und niemals Überbleibsel der leicht- vergänglichen Haut besitzen werden, so können wir keine direkten, sondern nur indirekte Beweise erbringen. Ebenso wie es richtig ist, daß das Auf- treten von zahlreichen Brustwarzen am Körper auf Vorfahren hindeutet, die von Natur aus mehrfache Brustwarzen besitzen, ebenso wie es richtig ist, daß der Blinddarm ein Überbleibsel eines besonderen Darms unserer Urahnen ist, — ebenso ist es richtig, daß die Riesenmuttermäler Rückschläge darstellen auf die Haut unserer behaarten und pig- mentierten Vorfahren, denn sonst wäre es unverständlich, daß sie die gleiche Lokalisation wie die Färbung der Tiere aufweisen. Genau so wie ein geschecktes Tier oder ein gescheckter Neger gleichmäßig gefärbte Individuen in seiner Vortahrenreihe aufweist, genau so sind die pig- mentierten und behaarten Riesenmuttermäler nur Teilausschnitte aus der behaarten und pig- mentierten Haut unserer Vorfahren. Damit bin ich am Schlüsse meiner Ausführungen. Auf Grund langjähriger Untersuchungen habe ich versucht, Ihnen eine einfache Erklärung über ein viel und lange umstrittenes Gebiet zu geben und einen kleinen Baustein zu dem großen Ge- bäude der Lehre vom Menschen zu liefern. Der Mensch steht nicht isoliert in der Natur da, sondern ist unterworfen derewigen und unabänderlichen Einheit allen na- türlichen Geschehens. Das hier mitgeteilte Material stellt nur einen kleinen Teil des wirklich vorhandenen dar, das ich gemeinschaftlich mit Sanitätsrat Dr. L e ve n - Elbcrfeld im Archiv für Dermatologie (Verl. Julius Springer, Berlin) veröffentlichen werde. In dieser Arbeit sollen auch die zahlreichen Fragen aus den Gebieten der Dermatologie, Pathologie und Anthropologie erörtert wer- den, die sich an unsere Ergebnisse anschließen. Wir hätten die im vorstehenden Vortrag ausgeführten Untersuchungen nicht ohne Unterstützung zahlreicher Fachgeno'sen uud Zoologen ausführen können. Zu besonderem Dank sind wir für die Überlassung von Material den Herrn Professoren Jadassohn (Breslau), Rille (Leipzig), Arning (Hamburg), Brück (Altona), Klingmüller (Kiel), Joseph, Arndt, Blasch- ko, Pinkus (Berlin), Zumbusch (München), Hauck (Er- langen) und zahlreichen anderen Kollegen verpflichtet. Von zoologischer Seite hatten wir uns häufig des Rates von Herrn Dr. Wunderlich, des Direktors des Zoologischen Gartens in Köln und von Herrn Kön igs , Wanderlehrer für Kleintier- zucht in der Landwirtschaftskaramer in Bonn und des Privat- lehrers Herrn v. Otto (Bensheim) zu erfreuen, denen wir auch hier wärmsten Dank sagen. Einzelberichte. Naturschutz. Aus dem Arbeitsgebiet der Staatlichen Naturdenkmalpflege. ^) Es muß uns in diesen Tagen eine doppelte Sorge um die Er- haltung der Naturdenkmäler ergreifen. Das sah man so recht auf der kürzlich stattgehabten IX. ■ ') Nach Schriften der Staatl. Stelle f. Naturdenkmalpflege. Jahreskonferenz für Naturdenkmalpflege. Wird solche Erhaltung, so fragen wir uns, unter den heutigen schwierigen Verhältnissen überhaupt noch möglich sein? Durch den Artikel 234 des Friedens- vertrages sind wir einer recht schrankenlosen Ausbeutung ausgesetzt und zwar in einer Weise, die unsere Naturdenkmäler sehr gefährden muß. 440 Naturwissenschaftliche Wochensch rift. N. F. XIX. Nr. 28 Wir sind durcli diesen Artikel verpflichtet, Steine, Bauholz und vieles andere zu liefern, was unser Landschaftsbild sehr leicht stark beeinflussen kann. Deutschlands Hauptströme sind als international erklärt worden, die Franzosen dürfen dem Rhein für technische Zwecke jede Wassermenge ent- nehmen, ein Schiffahrtweg Rhein-Donau soll nach feindlichen Angaben angelegt werden. Man denkt an die Kanalisierung der Perle deutscher Land- schaften, der Mosel und an noch vieles andere. Wie leicht können da die Leitsätze vergessen werden, die durch so viele Jahre von deutschen Freunden der Naturdenkmalpflege mit Erfolg geltend gemacht worden sind! Und doch ist die Idee des Naturschutzes in Deutschland entstanden, und es hieße Verrat an unserer Heimat, sich jetzt unter schwierigeren Verhältnissen zurückzuziehen. Wir wollen unseren Nachkommen nicht außer anderen Trümmern auch noch eine verödete Heimat hinterlassen. So schlimm nun, wie es nach diesen Aus- führungen scheinen mag, ist es Gott sei Dank noch nicht. Im Gegenteil, die Naturdenkmalpflegc hat mit Erfolg ihr Arbeitsfeld erweitert. Nicht nur natürliche Schönheiten Deutschlands sind ge- schützt worden, auch angepflanzte Bäume, Parke, Dorflinden und anderes mehr ist einbezogen wor- den. Ja man denkt daran, auch gewisse schöne Bäume Berlins in Zukunft mehr zu beachten. So sei nur an die Sumpfzypressen des Kleistparks erinnert; waren doch die Sumpfzypressen zur Braunkohlenzeit Charakterbäume deutscher Sumpf- moore. Weiter hat die Staatliche Naturdenkmalpflege das Bestreben sich mehr als bisher mit dem Volks- hochschulwesen zu verbinden. Vor allem aber sind die Fortschritte in der Gesetzgebung für Natur- und Heimatschutz seit 1914 größere gewesen als in den früheren Jahren. Zwar sind sich die Pfleger der Natur wohl be- wußt, daß die Interessen der Ernährung unseres Volkes wichtigere sind als die der Naturdenkmal- pflege. Aber beide Bestrebungen können Hand in Hand gehen. Es ist gut, in allen Fragen stets erst geeignete Sachverständige zu hören. Daß auch die Ansichtspostkarte im Dienste der Naturdenkmalpflege steht, ist wohl schon be- kannt. Bei all diesen Bestrebungen ist es aber immer und immer das Hauptaugenmerk der Staatlichen Naturdenkmalpflege, durch ihr Wirken der Wissen- schaft zu dienen. Das soll im folgenden an der Hand einer Reihe neuerer Schriften zum Gegen- stande gezeigt werden. Über die Beziehungen der Naturdenkmal- pflege zur Vorgeschichte und zur Volks- kunde ist bereits kürzlich berichtet worden. Ich kann darauf verweisen. Ein weiteres wichtiges Feld der staatlichen Naturdenkmalpflege betrifft das Kapitel „Natur- schutz und Verkehr", Über diesen Gegenstand berichtet in einer ausführlichen Arbeit Gian n oni.') Dieser Autor führt folgendes aus: Wenn die Naturdenkmalpflege und der allge- meine Naturschutz verlangen, daß vom Stand- punkte wissenschaftlicher und charakteristischer Bedeutung wie von jenem schönheitlicher Wertung Gebiete und Einzelheiten ursprünglicher wie kulti- vierter Natur unversehrt erhalten oder zumindest schonend berücksichtigt werden sollen, so stehen dem die Tätigkeiten des Menschen gegenüber, durch die er die Natur beeinflußt und verändert: die Nutzung der Naturerzeugnisse und Naturkräfte, die Siedlung in der Natur und der Verkehr. Der Verkehr pflegt sich mit der Natur nur insoweit auseinanderzusetzen, als sie seiner Verwirklichung F"örderung oder Hemmung bereitet. Der Verkehr ist ja eine der wichtigsten wirt- schaftlichen Notwendigkeiten. Es fällt den Ver- tretern des Naturschutzes nicht entfernt ein, das zu verkennen und gegen den Verkehr oder über- haupt gegen irgendeine wirtschaftliche Notwendig- keit anzukämpfen. Ein solcher Kampf wäre ebenso aussichtslos wie unberechtigt. Es kann aber der Nachweis geführt werden, daß die durch den Verkehr an der Natur angerichteten Schäden zumeist einem gegen die allgemeinen Interessen rücksichtslosen, unsozialen Erwerbsdrange einzelner zuzuschreiben sind, oder daß unzureichendes Können daran Schuld trägt. Was zunächst die Wege betrifft, so wurde auch gegenüber dieser geringfügigsten Verände- rung der Natur die grundsätzliche Frage erhoben, ob nicht Stellen völliger Unberührtheit der Natur überhaupt von jedem Wege, also von jeder Men- schenspur freigehalten werden sollten. G i a n n o n i möchte sich hier der Forderung vieler Alpinisten anschließen, die sich dafür aussprechen, daß man besonders unnahbare, stolze Hochgebirgsgipfel von versicherten Kleltersteigen frei lasse, weil sie, meint Giannoni, eben nicht schlichte Spuren der Lebensnotdurft des in der Natur lebenden, primitiven Menschen sind , sondern technische Behelfe des naturfern lebenden, überzivilisierten Menschen. Wichtig ist weiter die Frage, ob Zugänglich- machung durch Wege erlaubt sei, in den großen Naturschutzgebieten, den sogenannten Naturschutz- parken. Eine völlige Absperrung der großen, entlegenen Naturschutzparke ist ja undurchführbar und gar nicht anzustreben. Hierauf ist mit Giannoni zu antworten: Ermöglichen, aber nicht künstlich steigern, sollte man den Besuch solcher Weihestätten der Natur, der nicht Mode- sache sein soll. Die Forderungen des Naturdenkmal- und Landschaftsschutzes beim Straßenbau im allge- meinen sind u. a. folgende: Vor allem soll die Linienführung bei der Straßenplanung Rücksicht auf vorhandene einzelne Naturdenkmäler nehmen. Naturdenkmäler, VorUäge und Aufsätze, Band 3, I, Heft 21. N. F. XIX. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 441 Weiter ist für alle Straßen zu wünschen, daß ihre Böschungen bepflanzt und begrünt seien. Diese und andere Forderungen haben denn auch schon dankenswerte Berücksichtigung in einem vorbildlichen Erlasse der preußischen Minister der öffentlichen Arbeiten, der geistlichen und Unter- richtsangelegenheiten und des Innern vom 16. April 1912 gefunden. Es ist aber weiter eine Forderung des Naturschutzes, in Gegenden wie beispiels- weise in schönen, einsamen und engen Tälern, in denen die Eisenbahnanlagen aufdringlich und störend wirken würden, solche überhaupt zu unterlassen. Andererseits muß betont werden, daß der Naturschutz durchaus nicht etwa jeden Bahnbau als ein notwendiges Übel ansieht und beklagt. Ihm sind häufig sogar künstlerische Steigerungen des Landschaftsbildes zu danken. Es gibt aber leider Ingenieure , die durch die ' kurzsichtige Art ihrer Bahnbauprojekte gerade diejenigen Schönheiten zerstören, für deren Be- such sie die Bahn bauen. Man wird nicht von jedem Ingenieur die Kenntnis der etwa gefähr- deten Naturdenkmäler verlangen können; aber eben darum ist die Zuziehung von Fachleuten des Naturschutzes nötig. Zahlreich sind die P"älle, wo einzelne solche Denkmäler, namentlich be- sondere Felsbildungen, durch Umgehung geschont wurden, ebenso landschaftlich und baulich be- deutende Orte durch Tunnellierung umgangen wurden und so unversehrt blieben. Was insbesondere Bergbahnen betrifft, so hält es Giannoni für eine wichtige Maßnahme des Naturschutzes, daß jene Gipfel eines Landes ge- setzlich bezeichnet werden, die von jedem Berg- bahnbau auszuschließen sind. Über Brücken im Gebirge aber sagt er : Geradezu monumentale Eindrücke danken wir den Steinbrücken der Alpenbahnen, wie jener über den Semmering, der Mariazellerbahn in Niederösterreich, der Chur- Arosabahn in der Schweiz oder der Brücke über den Isonzo bei Salcano, um nur einige zu nennen. Auch Flußregulierungen und Hafenbauten machen dem Naturschutz Sorgen. Diese sind nicht mehr so ganz begründet. Man erhält jetzt aus technischen Gründen dasselbe, was der Natur- schutz auch erhalten wissen will, nämlich nach Möglichkeit das natürliche Flußgerinne und dessen Böschungen im natürlich bestehenden Zustande, nimmt Üferbauten mit festen Leitwerken nur auf dem konkaven Ufer des Flusses vor und beschränkt Durchstiche auf das unbedingt nötige Maß. Der Seeverkehr berührt den Naturschutz nur durch seine Hafen- und Strandbauten. Hier sei nur eines erwähnt. In Holland hat man im Inter- esse des Vogelschutzes die erfolgreiche Einführung gemacht, an Leuchttürmen den Vögeln, die um die ungeheuer starken Lichtquellen kreisen , bis sie zu Tausenden vor Ermattung tot herabfallen, durch angebrachte Gestänge Ruhegelegenheit zj geben. Solche Vorrichtungen sind dann auch an deutschen Leuchttürmen angebracht worden. Nur einiges konnte aus der lesenswesen Schrift Giannonis hervorgehoben werden. Sie läuft darauf hinaus, daß alle Fragen des Verkehrs in der Natur schließlich in ihrer Lösung wesentlich er- leichtert werden durch die Erziehung. Man kann wie zum Verkehr unter Menschen auch zu dem in der Natur erziehen. Das gilt vom wandernden Knaben, den die Schule statt zum Sammler zum Beobachter heranzubilden hätte, bis zu dem Meister der Technik, der auch in der Überschienung der Alpen oder der Cordilleren die Ehrfurcht vor der Größe der Natur im Verständnis und in der Schonung ihrer Schönheit betätigen kann. Die Naturschutzforderungen erweisen sich bei unvor. eingenommener Prüfung fast durchweg als nich. bloß wissenschaftlicher oder ästhetischer Art sondern sie vertreten auch den sozialen und wirt- schaftlichen Vorteil der Allgemeinheit gegen die Willkür des einzelnen. Wie schon die einleitenden Worte meiner Zusammenstellung ahnen ließen , ist der Staat- lichen Stelle für Naturdenkmalpflege ein wichtiges Arbeitsfeld in der „Sicherung von Natur- denkmälern bei der bevorstehenden Kultivierung der Odländereien" entstanden. So ist denn auch von der Staatlichen Stelle eine Denkschrift dieses Titels im April 19 19 heraus- gegeben worden. In einer Denkschrift des Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten über die schleunige Inangriffnahme der Besiedlung und Ödlandkultur in Preußen vom 19. März 19 19 wurde nämlich dargelegt, daß die Kultivierung der Moor- und Ödländereien alsbald mit allen Kräften in Angriff genommen werden müsse. Jedoch ist hier die Rücksicht auf die Pflege der geistigen Interessen unseres Volkes nicht außer acht zu lassen. Die Erkenntnis der hohen Bedeutung der Moore für die Kunst sowie vor allem für geologische, botanische und zoologische Studien hat denn schon vor Jahren dahin geführt, daß der Landwirtschafts- ministcr die Zehlau in Ostpreußen, das letzte so gut wie völlig unberührte größere Hochmoor, bis auf weiteres von der Bewirtschaftung ausschloß. Aber auch andere Moore sind erhallen worden. Doch sind dies im ganzen nicht viele Fälle ge- wesen , und mit Bedauern sahen Naturforscher, Künstler und alle Freunde der Moorlandschaft diese letzten Stätten ursprünglicher Natur mehr und mehr dahinschwinden. Die Beunruhigung gewann in allen Kreisen starken Ausdruck, als im Herbst 1914 die Meliorationen mit Hilfe von Kriegsgefangenen einsetzten und zu Anfang sehr rasch fortschritten. Leider wurden entscheidende Schritte vielfach durch die Kriegsverhältnisse ge- hindert. Immerhin ist von staatlicher Seite und auch von einzelnen Gemeinden und Privatbesitzern eine Anzahl meist kleinerer Moore unter Schutz gestellt worden. Die weitere Erhaltung der bereits geschützten Moore ist dringend erforderlich. Soweit fiskalische Flächen in Betracht kommen, sei darauf hin- gewiesen, daß der Landwirtschaftsminister vor 442 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 28 drei Jahren, als ein Naturschutzgebiet durch wirt- schaftliche Pläne bedroht schien, durch den Erlaß vom 2. Juni 1917 (J.-Nr. lA IV 1749) es für er- forderlich erklärt hat, daß einmal dem Naturschutz gewidmete Grundstücke dieser Bestimmung nicht ohne zwingende Gründe entzogen werden dürfen. Und in der Tat, der unbedeutende Verlust, der durch die Ausscheidung gewisser Moore aus der Nutzung entstehen könnte, wird durch einen un- ersetzbaren Gewinn für Wissenschaft, Kunst, Unter- richt und allgemeine Volkswohlfahrt reichlich auf- gewogen. Die Fürsorge sollte sich aber nicht nur auf die Moore erstrecken, sondern auch auf gewisse andere „Ödländereien". Es sei hier nur auf die „pontischen Hügel ' verwiesen, d. h. jene sonnigen, trockenen Hänge, auf denen zahlreiche pontische Pflanzenarten wachsen. Man hat sich an einigen Orten schon vor längerer Zeit erfolgreich bemüht, solche Stellen vor der Zerstörung zu bewahren, so namentlich in Westpreußen, wo eine Reihe von Geländen mit Steppenpflanzen durch Forstver- waltung, Ansiedlungskommission, Militärbehörden und Privatbesitzer unter Schutz gestellt worden sind. Um die gänzliche Zerstörung bemerkenswerter natürlicher Lebensgemeinschaften und Landschafts- formen durch die vorzunehmenden Bodenverbesse- rungsarbeiten im Interesse der Wissenschaft und des Natur- und Heimatschutzes zu vermeiden, würde es sich empfehlen , daß die zuständigen Stellen rechtzeitig die Staatliche Stelle für Natur- denkmalpflege über die Meliorationspläne ver- ständigten. Besonders eindringlich tritt uns die von der Naturdenkmalpflege geleistete Arbeit entgegen durch die Mitteilungen der verschiedenen Pro- vinzial-, Landschafts- usw. Komitees. Zunächst einiges aus den Mitteilungen des pommerschen Provinzialkomitees für Naturdenkmal- pflege von 191 9. Es heißt dort u. a. : Da der Ostsee-Fischfang in Kriegswirtschaft genommen und die Abfälle auf Fettgewinnung und Kraft- futtermittel verarbeitet wurden, konnten sie nicht mehr auf die städtischen Müllplätze gefahren und zur Erhöhung von Acker- und Wiesenland ver- wandt werden, von wo sich die verschiedenen Arten von Möven ihr dürftiges Futter holten. Sie pflegten früher in Scharen von 1 000— 4000 Stück auch zu überwintern. Sie blieben jetzt fast gänzlich aus. Und weiter: Die Knappheit an Nahrungsmitteln beförderte den Eierraub, besonders abends und während der Nacht landeten Fischer- boote auf dem Gänsewerder und der Fährinsel, die Mövenkolonie am Poggerort wurde vollständig ausgeraubt, so daß der ornithülogische Verein in Stralsund 50 Mark Prämie für die Ermittlung der Nesträuber aussetzte. Diese Bemerkungen zeigen, wie der Krieg überall störend eingegriffen hat. Es gehört wirklich Mut und Ausdauer zur Aus- übung des Vogelschutzes. Überhaupt erfahren wir neben Erfreulichem viel Betrübendes. Zwei Seeadler sind trotz aller Gegenbestrebungen in dem Gebiet abgeschossen worden. Als vor etwa 10 Jahren die neue preußische Jagdordnung ein- geführt wurde, nahm man die Adler in die Liste der jagdbaren Tiere auf, zu dem ausdrücklichen Zwecke, den Kreis ihrer Verfolger einzuschränken und so ihrer Vernichtung entgegenzuarbeiten. Die gewünschte Wirkung ist aber nur zum Teil ei reicht worden. So horstete im vorigen Jahre ein Seeadlerpaar in der Oberförsterei Taubenberg. Trotz absoluter Schonung des Paares und der Jungen sind die Adler im Jahre 1919 leider nicht mehr zurückgekehrt. Auch in den Abstimmungsgebieten Deutsch- lands sind die Bestrebungen bis vor kurzem rege gewesen und werden aller Voraussicht nach rege bleiben. Es handelt sich nur darum, ob die neuen Regierungen dem Naturschutz mit alter Sympathie gegenüberstehen werden. Voller Zu- kunftspläne sind z. B. die Mitteilungen der Ge- schäftsstelle des Landschaftskomitees für Natur- denkmalpflege im oberschlesischen Industriebezirk vom Dezember 1919. Eine reiche Erkundungs- tätigkeit des Geschäftsführers Studienrat Eisen- reich ist entfaltet worden. Erratische Blöcke wurden registriert, und noch auf manche andere geologische und auch geographische Denkwürdig- keit wurde die Aufmerksamkeit gelenkt, so auf die ganz eigenartigen Verwitterungserscheinungen des Dolomits auf dem Gelände des jetzigen St. Johanneshauses bei Tarnowitz. Endlich wurde u. a. an die Aufstellung von noch weiteren Ver- zeichnissen gedacht. Es existieren u. a. bereits solche über die dortigen Schmetterlinge sowie Käfer. Auf dem Gebiete der höheren Pflanzen liegt eine Arbeit von Czomok Hindenburg „Ver- zeichnis der im Gebiet von Gleiwitz von 1885 bis 191 5 beobachteten wildwachsenden Pflanzen" vor. Interessant sind auch die Mitteilungen des Schleswig-Holsteinischen Provinzialkomitees für Naturdenkmalpflege (Nr. 6). Auch hieraus einige Bemerkungen. Eine Dünenlandschaft in dem Provinzialforst Süderlügum wurde geschützt. Die betreffende Fläche wird nicht aufgeforstet, sondern in natürlichem Zustande erhalten, aber, soweit notwendig, werden Vorkehrungen getroffen, um das Wandern der Dünen zu verhüten. Das die Dünen umgebende Gelände ist mit hochwuchender Heide bedeckt, während die sich über die LTmgebung erhebenden Dünen selbst aus teilweise reinem Flugsand ohne jegliche Vegetation, streckenweise auch mit Strand- hafer bedeckte Sandaufhäufungen aufweisen. Auf der zum Kreise Hadersleben gehörigen Insel Aarö im kleinen Bell ist im Kriegsjahre 1915 ebenfalls ein neues Naturschutzgebiet ent- standen. Die Insel bildet an der Ostseite eine aus niedrigem Anschwemmungsland entstandene Halbinsel, Aarö-Kalv genannt, welche der einzige deutsche Standort des seltenen Zwergstrandsflieders (Statice bahusiensis Fries var. danica Fries) ist. Vier Findlinge bezeichnen die Grenzen des Ge- N. F. XIX. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 443 bietes. Neben der genannten botanischen Selten- heit findet sich eine charakteristische Strandflora, aus der u. a. die Keilmelde (Obione pedunculata), das Stachelhaar (Echinopsilon hirsutus), der Strand- beifuß (Artemisia maritima) und die Stranddistel (Eryngium maritimum) genannt seien. Nachträglich ist es dem Bunde für Vogelschutz gelungen, auch der Vogelwelt dort eine Freistätte zu schaffen. Auch über die Kriegsmeliorierungen und die IVIoorschutzfrage erfahren wir aus der vorliegenden Schrift. Der Geschäftsführer Dr. Heering (f) bereiste zweimal die Moore der Provinz. Er be- richtet, daß bereits damals, Ende des Jahres 191 5, die Zahl der Meliorierungsgebiete in der Provinz gegen 70 (bei einem Gesamtareal von etwa 24000 ha) betrug. Obwohl sich trotz dieser um- fangreichen Meliorierung eine nennenswerte Zer- störung von Naturdenkmälern zunächst noch nicht nachweisen ließ, so betonte er doch, daß eine so ausgedehnte Trockenlegung von Moorländereien nicht ohne Einfluß auf die weitere Umgebung der- selben bleiben könne und allmählich große Ver- änderungen auch in den nicht von der Meliora- tion betroffenen Gebieten nach sich ziehen müsse. Die Notwendigkeit der Erhaltung des einen oder anderen der Gebiete möglichst in natürlichem Zustande sei deshalb nicht von der Hand zu weisen. Diese Übersicht, die leider nur so dürftig aus- fallen konnte, darf nicht abgeschlossen werden, ohne einige Worte über die Wiege der Natur- denkmalpflege, die Provinz Westpreußen. Sie ist nun aufgeteilt worden. Schon lange vor der Ein- richtung der Staatlichen Stelle für Naturdenkmal- pflege in Preußen im Jahre 1906 hatte ihr Leiter, Geh. Rat Conwentz, damals Direktor des West- preußischen Provinzialmuseums in Danzig die Grundlagen gelegt für die Aufnahme und den Schutz der bemerkenswerten Naturgebilde der Provinz und in allen Kreisen der Bevölkerung Mitarbeiter für diese Bestrebungen herangezogen. Besonders rührig erwies sich die im Jahre 1908 begründete Ortsvereinigung Thorn für Natur- denkmalpflege, an deren Spitze nacheinander die Oberbürgermeister Dr. Kersten und Dr. Hasse standen, und deren Arbeiten vorzugsweise der naturkundige Geschäftsführer Seminaroberlehrer Panten durchgeführt hat. In einem kleinen Heft- chen „Mitteilungen der Ortsvereinigung Thorn für Naturdenkmalpflege" hat er über diese Arbeiten Bericht erstattet. Die Schrift gibt Zeugnis von der eifrigen Tätigkeit der Vereinigung, die von der Stadt- und Kreisverwaltung Thorn unterstützt und namentlich auch dadurch gefördert wurde, daß die Kommandantur des Thorner Schießplatzes und die Revierverwalter der Staatsforsten, die in ihrem Gebiete gelegenen Naturdenkmäler unter ihren Schutz nahmen. Nun kommt alles in polnische Hand, damit erhebt sich die Sorge um den Bestand des Geschaffenen. Man wird gern die Hoffnung Pantens teilen, daß auch unter der polnischen Oberhoheit eine Vereinigung zu- stande kommt, die auf der vorhandenen Grund- lage weiterarbeitet. R. Potonie. Zoologie. Parthenogenese trotz Besamung der Eier bei Nematoden. Die F"ortp^anzungs- verhältnisse der Nematoden sind außerordentlich mannigfaltig. Während bei den einen Weibchen und Männchen in mehr oder weniger gleichem Verhältnis vorhanden sind, gibt es bei anderen nur Weibchen, und bei wieder anderen sind die Tiere äußerlich zwar Weibchen, erzeugen aber neben Eiern auch Samenfäden, sind also herma- phrodit. Zwischen den hermaphroditen und den getrenntgeschlechtlichen Formen finden wir alle möglichen Übergänge. Es gibt Arten, bei denen neben echten Weibchen und Männchen Herma- phroditen in großer Zahl vorkommen. Häufig ist bei diesen der eine der beiden Uterusschläuche als Hoden ausgebildet. Bei anderen hermaphroditen Formen ist eine regelrechte Zwitterdrüse vorhanden, und es werden abwechselnd Eier und Samenfäden erzeugt. Bei einer weiteren Gruppe ist die Keim- drüse nur einmal imstande, Spermien zu bilden. Die Spermien befruchten die Eier des gleichen Tieres; ist der Spermienvorrat aufgebraucht, so gehen die unbefruchtet bleibenden Eier zugrunde, da sie zu parthenogenetischer Entwicklung nicht befähigt sind. Bei gewissen Arten wiederum ist reine Parthenogenese der normale Fortpflanzungs- modus. Damit sind aber die bei den Nematoden vorkommenden Fortpflanzungsweisen noch immer nicht erschöpft. Es gibt Hermaphroditen, die Spermien erzeugen, deren Spermien auch in die Eier eindringen, ohne daß aber die Spermakerne sich mit den Eikernen vereinigen, erstere gehen zugrunde, die Eier entwickeln sich trotz Besamung parthenogenetisch. So ist es bei einem freilebenden Nematoden, Rhabditis aberrans, den Eva Krüger vor einigen Jahren beschrieben hat. Die Besamung der Eier ist bei diesem Nematoden die Regel, doch ist sie nicht notwendig, unbesamte Eier ent- wickeln sich in gleicher Weise parthenogenetisch wie die besamten. Offenbar ist also die Besamung bei dieser Spezies ein Prozeß, der im Verlaufe der Phylogenie seine Bedeutung gänzlich verloren hat. Der nächste Schritt wäre der Wegfall der Besamung, und damit hätte die Art das Endstadium der Ent- wicklung zur eingeschlechtlichen Fortpflanzung, die reine Parthenogenese, erreicht. Jüngst hat nun Paula Hertwig') die Fortpflanzungsverhältnisse einer Rasse eines in der Leibeshöhle und den Exkretionsorganen des Regenwurms schmarotzen- den Nematoden beschrieben, der sich ebenfalls augenscheinlich im Stadium progressiver Partheno- genese befindet, aber das Stadium von Rhabditis aberrans noch nicht erreicht hat. ') Hertwig, Paula, Abweichende Form der Partheno- genese bei einer Mutation von Rhabditis pellio. Eine experi- muntell cytologische Untersuchung. Arch. f. mikrosk. Anat., Festschr. f. Oscar Hertwig 1920. 444 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 28 Die von Paula Hertwig bei ihren Unter- suchungen benutzte Nematodenart ist Rhabditis pellio, eine Form, die sich gewöhnlich zwei- geschlechtlich fortpflanzt. Weibchen und Männchen treten bei ihr in ungefähr gleichem Verhältnis auf. Versuche, das Geschlechtsverhältnis durch Änderung der Außenbedingungen, durch Wechsel der Temperatur und der Ernährung, zu verschie- ben, mißlangen. Nachdem die Nematodenkulturen bereits über i ^/., Jahre geführt worden waren, ohne daß in der Fortpflanzungsweise eine Be- sonderheit zu verzeichnen gewesen wäre, tauchten plötzlich Weibchen auf, die, wenn sie begattet wurden, immer wieder nur Weibchen hervor- brachten. Da die Zuchten P. Hertwigs alle von einem Elternpaar ihren Ursprung nahmen, müssen die ausschließlich Weibchen erzeugenden Weibchen von „normalen" Weibchen und Männ- chen abstammen, und da die Weibchenerzeuger ihre Eigentümlichkeit auf ihre Nachkommen ver- erben, so betrachtet P. Hertwig das Erscheinen dieser Weibchen als die Folge einer Mutation. „Es handelt sich um eine plötzlich eingetretene konstant vererbbare Abänderung der ursprüng- lichen Art, eine Veränderung, die im idioplasma- tischen System eingetreten ist und eine dauernde Umgestaltung des Fortpflanzungsmechanismus auch bei der Nachkommenschaft zur Folge hat." Das Fehlen von Männchen in der neu ent- standenen Rasse von Rhabditis pellio legt die Vermutung nahe, daß sich diese Rasse rein ein- geschlechtlich fortpflanzt. Dem ist indessen nicht so. Isoliert man ein Weibchen, so daß es unbe- gattet und seine Eier unbesamt bleiben, so ist es nicht imstande, Nachkommenschaft zu produzieren. Das Weibchen selbst bringt — im Gegensatz zu Rhabditis aberrans — keine Spermien hervor, und bleiben seine Eier unbesamt, so entwickeln sie sich nicht. Setzt man aber ein Männchen der Ursprungsrasse hinzu, so erfolgt Begattung des Weibchens, Besamung der Eier und Erzeugung einer reichen Nachkommenschaft, die aber wieder ausschließlich aus Weibchen besteht. Die neue Rasse hat also, um sich erhalten zu können, die Männchen der Ursprungsrasse nötig. Übrigens traten auch in der mutierten Rasse einige wenige Männchen auf, in der ersten, Zeit nach dem Auf- treten der Mutation häufiger als später; schließ- lich blieben sie vollständig aus. Von den nor- malen Männchen unterschieden sich die Mutanten- männchen in ganz charakteristischer Weise. Sie zeigten eine schwächliche Konstitution, waren häufig mißbildet und hatten in der Regel nur eine kurze Lebensdauer. Auch wenn sie normal aussahen und einen wohlentwickelten Hoden zeigten, waren sie nicht imstande, mit einem nor- malen Weibchen eine gesunde Nachkommenschaft zu zeugen; die Mehrzahl der Nachkommen starb als Embryo oder im Larvenstadium ab. Die Notwendigkeit der Iksaniung der Mutanten- eier läßt uns zunächst wieder vermuten, daß die neue Rasse sich zweigeschleclitlich im eigentlichen Sinne, d. h. amphimiktisch fortpflanzt. Aber wäre dies der Fall, so sollte man erwarten, daß bei Kreuzung der Mutation mit der normalen Form in der zweiten Bastardgeneration eine Aufspaltung in die beiden Rassen erfolgt Immer wieder aber entstehen nur Weibchen der neuen Rasse, von einem erblichen Einfluß der normalen Mäimchen fehlt jede Spur. Das brachte P. Hertwig auf den Gedanken, die Sperinien dienten in den Eiern der Mutantenweibchen lediglich als Entwicklungserreger, beteiligten sich aber im übrigen an der Entwicklung nicht. Die Verhältnisse würden dann insofern ähnlich liegen wie bei Rhabditis aberrans, als sich in beiden Fällen die Eier trotz Besamung partheno- genetisch entwickeln, aber die Mutation von Rhab- ditis pellio hätte die Stufe von Rhabditis aberrans doch noch nicht erreicht, da bei der ersteren das Eindringen der Spermien noch zur Einleitung der Entwicklung notwendig ist. Um die Richtigkeit ihrer Annahme zu prüfen, beschritt P. Hertwig zwei verschiedene Wege, die beide zu einer vollen Bestätigung der oben mitgeteilten Vermutung führten. Wie wir seit den Untersuchungen O. Hert- wigs wissen, wird durch die Behandlung tierischer Zellen mit Radiumstrahlen vornehmlich die Kern- substanz geschädigt. Werden z. B. Samenfäden der Radiumbestrahlung ausgesetzt, so wird das im Kopf des Spermiums lokalisierte Chromatin schon nach kurzer Bestrahlung derart verändert, daß es vermehrungsunfähig wird, während selbst bei längerer Bestrahlung die Bewegungsunfähig- keit des Spermiums, die an Elemente des Plasmas gebunden ist, nicht beeinträchtigt wird. So sind die mit Radium behandelten Spermatozoen zwar imstande, in die Eier einzudringen, vermögen aber nicht an der Entwicklung teilzunehmen. Von dieser Feststellung ging P. Hertwig bei ihren weiteren Untersuchungen aus. Männchen der normalen Form von Rhabditis pellio wurden mit Radium bestrahlt und dann mit normalen Weib- chen zusammengebracht. Es erfolgte eine regel- rechte Begattung und weiterhin eine Besamung der Eier, aber die Entwicklung ging nur bis zum Morulastadium vor sich, auf diesem Stadium starben die Embryonen regelmäßig ab, niemals entwickelte sich auch nur eine Larve. Ganz anders aber war das Resultat, wenn die mit Radium bestrahlten Männchen mit Mutantenweib- chen kopulierten. Die Eier dieser Weibchen ent- wickelten sich völlig normal, von einem Einfluß der Radiumbestrahlung war nicht das Geringste zu bemerken. Bei der normalen Rasse erfolgt die Entwicklung ausschließlich amphimiktisch, Ei- und Spermakern verschmelzen miteinander; wird durch die Bestrahlung dem Spermakern die Funk- tionsfähigkeit genommen, so muß eine patho- logische Entwicklung die Folge sein. Wirkt aber bei der mutierten Rasse das Spermium lediglich als Entwicklungserreger, erfolgt die Entwicklung trotz Besamung parthenogenetisch, so kann die Schädigung des Spermiums sich in diesem Falle N. F. XIX. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 445 nicht bemerkbar machen, denn die ihm hier zu- kommende Funktion vermag es ja trotz Radium- bestrahlung auszuüben. Am sichersten läßt sich die Frage, ob amphi- miktische oder parthenogenetische Entwicklung bei der Mutation vorliegt, durch die zytologische Untersuchung entscheiden. Auch dieser Weg wurde von P. Hertwig eingeschlagen und führte, wie gesagt, ebenfalls zu einer Bestätigung der an- fänglichen Vermutung. Die Eier der normalen Weibchen schnüren zwei Richtungskörper ab und erfahren dadurch eine Herabsetzung ihrer nor- malen Chromosomenzahl 14 auf die Hälfte. Durch den Hinzutritt der Chromosomen des Sperma- kernes wird die Normalzahl wiederhergestellt. Die Eier der mutierten Weibchen hingegen bilden nur einen Richtungskörper, die normale Chromosomen- zahl 14 bleibt erhalten, und mit 14 mütterlichen Chromosomen tritt das Ei in die Entwicklung ein. Es handelt sich also um eine diploide Partheno- genese. Den Spermakern sieht man im unge- furchten Ei im Plasma liegen, er wandelt sich nicht, wie in den normalen Eiern, in den männ- lichen Vorkern um, sondern bleibt zunächst un- verändert — man kann ihn noch im 4-, SZellen- stadium nachweisen — , um schließlich der Auf- lösung zu verfallen. Mit dem Eindringen in das Ei hat er die Entwicklung in Gang gebracht, seine Schuldigkeit ist getan. Zum Schluß noch einige Worte über die Ge- schlechtsbestimmung bei den Nematoden. Wie bei den meisten Tieren ist auch bei den Nema- toden das männliche Geschlecht heterogametisch, es werden zwei Sorten von Spermien, weibchen- und männchenbestimmende, gebildet. Das Männ- chen besitzt in der Regel ein Chromosom weniger als das Weibchen oder doch wenigstens ein Minus an Chromatinsubstanz gegenüber diesem. So hat bei den freilebenden Nematoden Angiostomum nigrovenosum das Weibchen 12, das Männchen 1 1 Chromosomen. Es müssen also Spermien mit 6 und solche mit 5 Chromosomen entstehen. Nun geht aber aus den befruchteten Eiern dieses Nema- toden eine in der Lunge des Frosches schmarotzende hermaphrodite Generation mit 12 Chromosomen hervor, Männchen fehlen in dieser Generation. Es hat sich der Beweis erbringen lassen, daß das Fehlen des Männchen auf das Zugrundegehen der männchenbestimmenden Spermatozoen bei den Männchen der getrenntgeschlechtlichen Generation zurückzuführen ist. Wie aber kommt es, daß die hermaphrodite Generation wieder Weibchen und Männchen liefert? Da sie 12 Chromosomen be- sitzt, sollte man erwarten, daß alle Spermien wie alle Eier 6 Chromosomen erhalten. Das würde lediglich zu der Kombination 6+6= 12 Chromo- somen führen, die für das weibliche Geschlecht charakteristisch ist. Aus der Hälfte der Spermien der hermaphroditen Generation wird jedoch das Geschlechtschromosom entfernt , so daß nur 5 Chromosomen in diesen Spermien verbleiben, und damit haben wir dann neben weibchen- bestimmenden Spermatozoen auch männchen- bestimmende. Geht eine Form, wie die Mutation von Rhabditis pellio, unter Beibehaltung der nor- malen Chromosomenzahl zur parthenogenetischen P'ortpflanzung über, so müssen ausschließlich Weibchen entstehen, da ja allen Individuen die für das weibliche Geschlecht charakteristische Chromosomenzahl zukommt. Nur ganz selten tritt einmal ein Männchen auf Die Chromosomen- verhältnisse der Mutantenmännchen hat zwar P. Hertwig nicht untersucht, aber die Beobach- tungen an Angiostomum lassen Vermutungen darüber zu, wie diese Männchen entstehen. Viel- leicht gerät bei der Bildung des einen Richtungs- körpers gelegentlich ein Geschlechtschromosom ungeteilt in diesen; damit wäre dann die Grund- lage zur Entstehung eines Männchens gegeben. Es wäre aber auch denkbar, daß in seltenen Fällen die Eier zwei Richtungskörper abschnüren und sich haploid parthenogenetisch zu Männchen entwickeln. Die Geschlechtsbestimmung würde dann in ähnlicher Weise erfolgen wie bei den Hymenopteren, bei denen alle Männchen haploide Organismen sind. Nachtsheim. Geographie. Die Posener Seen. Unter diesem Titel veröffentlicht H. Schütze in den Forschungen zur Deutschen Landes- und Volkskunde, Bd. 22, Heft 2, Stuttgart, PIngelhorns Nachf 1920 einen wertvollen Beitrag, einmal zur deutschen Landes- kunde, dann auch zur Seenkunde überhaupt. Die ehemalige preußische Provinz Posen, heute zum bei weitem größten Teil zum polnischen Reich gehörig, wie wir alle hoffen, nur vorübergehend, ist zwar nicht so seenreich wie die Provinzen Ost- und Westpreußen, Brandenburg und Pommern, sowie Mecklenburg, immerhin umfassen die an- nähernd 1000 Seen der Provinz rund 400 qkm, also etwas mehr als die Fläche des Gardasees (370 qkm) imd nehmen 1,4 v. H. des Bodenareals ein. Die wasserreichsten Kreise sind Strelno (4,8 V. H.), Birnbaum (4,7 v. H.), Z n i n (4,4 v. H.) und Mogilno und Witkowo (je 3,4 v. H.), während die wasserreichsten Kreise Ostpreußens, Angerburg und Lö tzen mit je 14 bzw. 13 v. H. ihres Areals mit Wasser bedeckt sind. Weitaus der größte See Posens ist der Goplosee (36,5 qkm), wovon aber nur 22 qkm zu Posen gehören, der Rest zum ehemaligen Kaiserreich Rußland. Nur der Mauer- und der Spirdingsee in Ost- preußen, der M ü r i t z - und der Schwerinersee in Mecklenburg sind größer, ihm sehr nahe kommt der Madüsee in Pommern. Rechnet man freilich die Strandseen hinzu, so wird der Goplosee um das Doppelte vom Lebasee in Hinterpommern an Größe übertroffen. Der zweit- größte ist der gleichfalls halbrussische Powidzer- see (12 qkm), außerdem gibt es noch 89 weitere Seen, welche mindestens i qkm groß sind, 500 Seen besitzen nur eine Größe von i — 10 ha, sind eigentlich also nur Tümpel, meist tragen sie den 446 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 28 Charakter der sog. „Solle". Relativ am seen- reichsten ist die Westposener Hochfläche, während am seeärmsten die Schildberger Hochfläche, also der Südzipfel der Provinz ist. 316 Seen mit 229 qkm Areal entwässern zur Wart he mit ihren Nebenflüssen Welna undObra, 147 Seen mit 126 qkm zur Netze; die abflußlosen Seen sind größtenteils sehr klein. Ausgelotet wurden bisher, zum größten Teil durch den Verf. selbst, rund nur 25 v. H. aller größeren Seen, die aller- dings 50 v. H. des Gesamtareals aller Seen ein- nehmen. Einschließlich einigermaßen zuverlässiger Erkundigungen sind die Tiefenverhältnisse von nur 173 Seen bekannt, so daß noch vieles auf diesem Gebiete zu tun übrig bleibt. Morpho- metrische Werte gibt Schütze von 155 Seen an. Die absolut größte Tiefe wurde bisher im Popielewoer See (Kr. Mogilno) mit 50,5 m gefunden, ihm sehr nahe steht die IVIaximaltiefe im Schrimmer See (Kr. Birnbaum) mit 49 m, letzterer besitzt auch die größte mittlere Tiefe (20,7), während sie beim Popielewoer See nur 13,2 m beträgt. Nur 22 Seen erreichen eine Maximaltiefe von über 20 m, nur 12 Seen eine mittlere Tiefe von mindestens 10 m. Dem Volumen nach stehen die beiden größten Seen, der Goplo- see mit 160 Mill. und der Powidzer See mit 140 Mill. cbm an der Spitze. Unter den Meeres- boden reicht nur der Boden des Schrimmer Sees, dessen relative Kryptodepression 10 m beträgt. Der äußeren Form nach sind die meisten größeren Seen entweder rundliche Rinnen- oder schmale Grundmoränenseen, letztere bilden oft ganz ausgesprochene Seenketten von vielen Kilometern Länge. Durch einen Fluß- oder Bachlauf mit- einander verbunden, ähneln sie einer Reihe von Perlen, die auf eine Schnur aufgezogen sind, die regelmäßigste ist wohl die des Byschewoer oder Lindenwalder Flusses bei C r o n e an der Broche in Nordposen. Vielfach gehen auch beide Formen von Seen direkt ineinander über, so daß ein und derselbe See beide Formen in sich ver- einigt. So ist z.B. der Primentersee in Süd- westposen am Nordende ein Rinnen-, am Südende ein Grundmoränensee. Die Ursache liegt daran, daß die Tätigkeit des Schmelzwassers, das die Rinnenseen schuf, ganz von selbst, je nach der Bodenbeschaffenheit, jäh übergehen kann in die aufschüttende und ausschürfende Tätigkeit des nordischen Inlandeises, welches die Grund- moränenlandschaft weiter nördlich im allgemeinen stärker modellierte als in Posen. Daher ist auch Südposen, das den Wirkungen des Inlandeises in der letzten Eiszeit nicht in dem Maße ausgesetzt war, wie der Norden und die Mitte des Landes, wesentlich seenärmer. Die Hauptseenregionen schließen sich überall an den großen ostwestlich gerichteten Endmoränenzug an, weil dort die seenbildende Kraft am stärksten wirksam wurde, einmal , da der Gletscher an seinem Ende am stärksten ablagerte und dann, weil der Schmelz- prozeß am intensivsten in Tätigkeit trat. Die Entstehung der „Solle" bleibt immer noch in Dunkel gehüllt; der Ansicht von Jentzsch, daß sie vielfach die Reste einst größerer abflußloser Seen seien, schließt sich Schütze nur bedingt an. Der Pflanzenwuchs reicht in den Posener Seen nur bis etwa 5 iri Tiefe, nur ausnahmsweise geht er über diese Tiefe hinaus, in der Regel wird er schon von 4 m ab sehr knapp, ent- sprechend den Beobachtungen beider Seen in den übrigen baltischen Gebieten. Die Farben der Seen bewegen sich ganz überwiegend im grün- bräunlichen Teil der Forel-Uleschen Farbenskala, wobei die Nummern 13 — 17 am häufigsten auf- treten; für die Durchsichtigkeitsgrenze liegen leider verhältnismäßig nur wenige Messungen vor, die größte Sichttiefe der Secchischen Scheibe fand Verf. im Juni im Großen Ketscher See (6,5 m), doch fehlen Beobachtungen im Vorfrühling und Spätherbst , wo die größte Durchsichtigkeit zu herrschen pflegt, gänzlich. Thermische und chemische Untersuchungen sind in Posener Seen bisher nur in so verschwindend wenig Fällen vorgenommen worden, daß sie Verf mit Recht in seiner Darstellung überhaupt un- berücksichtigt läßt. Ein besonderes Kapitel ist dem Thema „Die Seen und der Mensch" gewidmet, in welchem darauf hingewiesen wird, daß die Seen Posens schon seit den ältesten Zeiten eine große An- ziehungskraft auf die Bewohner des Landes aus- geübt haben. Dennoch weisen im großen und ganzen die seenreichsten Kreise die dünnste Be- völkerung auf, weil eine Wasserfläche den Menschen nicht so viel Nahrung abwirft als eine gleichgroße Ackerfläche, und weil die unmittelbare Umgebung eines Sees wenig ergiebigen Boden aufweist, meist Sand und Moor. Der Fischreichtum der Seen ist noch entfernt nicht in dem Maße ausgebeutet, wie es möglich wäre ; ein lokaler Verkehr hat sich bisher nur auf dem G o p 1 o - und P a k o s c h - see entwickelt, infolge der an diesen Seen ge- legenen Zuckerrübenfabriken. Auf den landschaft- lichen Reiz der Binnenseen wird ausdrücklich hin- gewiesen, leider wird er durch die Waldarmut vieler Teile Posens wesentlich beeinträchtigt. Bei- nahe die Hälfte des wertvollen Buches wird von einer generellen Schilderung der Seen der ein- zelnen Posener Landschaften eingenommen , auf die wir hier nicht weiter eingehen können. W. Halbfaß. N. F. XIX. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 447 Bücherbesprechungen. Tischner, Dr. med. Rudolf, Über Telepathie und Hellsehen, Experimentell -theoretische Untersuchungen. Mit 17 Abbildungen auf 4 Tafeln. 125 S. — Heft CVI von „Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens". Wiesbaden 1919, Verlag von J. F. Bergmann. Es ist allmählich allerhöchste Zeit geworden, gerade naturwissenschaftlich interessierte und denkende Kreise nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß auch in Deutschland die Zeit vorüber zu sein beginnt, in der man in dem sog. Okkultismus und seinen Erscheinungen nur ein Gemisch von Aber- glauben, Betrug, phantastisch wertlosen Spekula- tionen, bestenfalls von kritikloser Mißdeutung schlechter Beobachtungen im Sinne rückständig- dualistischer, ja reaktionärer Denkungsweise finden zu können wähnte. Wer Tischner's Schrift aufmerksam durchliest — und es dürfte niemand reuen, dies zu tun — wird schnell merken, daß alle diese, mehr oder weniger gedankenlos von Mund zu Mund gehenden Behauptungen in ihrer Allgemeinheit gegenstandslosgeworden sind. Ich sage geworden und ich sage in ihrer Allge- meinheit; denn entschieden war auch die bessere frühere Literatur des Gebietes weniger kritisch, z. B. der spiritistischen Hypothese gegenüber, mit der man seinerseit sehr schnell bei der Hand war, während man heute bestrebt ist, sie, solange es irgend geht, auszuschalten. Und ebenso sicher kann man auch heute noch in okkultistischen Zeitschriften und Büchern manchen Beleg für die obige Mißbewertung finden. Das liegt in der Natur des Gegenstandes und wird sicher noch lange, vielleicht für immer, neben der sich hier zweifellos bildenden, wissenschaftlich durchaus ernst zu nehmenden Literatur dieses Gebietes herlaufen. Ich kann hier nur eine Übersicht des wesent- lichen Inhalts von Tischner's Buch geben. Eine Einführung setzt sich mit einigen Fragen der Nomenklatur auseinander, schaltet das sog. „Muskellesen" aus dem Bereich der wirklichen „Telepathie" aus und erörtert dann kurz und treffend einen Teil der eigenartigen Schwierig- keiten der Untersuchungen und Nachprüfungen auf dem Gebiet, sowie die mannigfaltigen Vorurteile, die dagegen bestehen, wie Betrug, unbewußte Täuschung, falsche Deutung des Beobachteten. Ihre Höhe erreichen diese Einwände, wenn sie sich in aprioristische Formen kleiden : da die be- haupteten Erscheinungen „den" Naturgesetzen teil- weise widersprächen, könnten sie nicht wahr sein und man brauche sie sich infolgedessen gar nicht erst anzusehen. Ich weiß nicht, ob der ungewollte Humor einer solchen Erklärung in unserer an- geblich auf die Erfahrung soviel Wert legenden Zeit allgemein einleuchtet; für den Kenner des Gebiets tut er es unbedingt. Solchen Auslassungen stehen dann die Aussprüche der Theosophen gegenüber: alle okkultistischen Erscheinungen ver- ständen sich ganz von selbst, aber seien weder wichtig, noch sei es wünschenswert sie zu studieren. So von entgegengesetzten Seiten bedrängt, kann der besonnene und vorurteilsfreie Forscher sich nur, ohne sich von rechts oder links bange machen zu lassen, an die Tatsachen selber halten, was auf die Dauer, wie sich auch hier zeigen wird, jedenfalls nicht nur die wissenschaftlich richtige Haltung, sondern auch die beste Politik ist. Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit einigen neueren Arbeiten auf dem Gebiete und der ihnen zuteil gewordenen Kritik. Wir wenden uns gleich zu dem anschließenden zweiten, experi- mentellen Teil, als dem wichtigsten. Tischner bietet 105, in einem Nachtrag noch 7, also gesamt 1 12 Versuche. Davon sind nur 4 tele- pathischer Art, beschäftigen sich also mit der Übertragung von Vorstellungen; alle hatten sie ein positives Ergebnis. Die Hellsehversuche, die an Zahl durchaus überwiegen, scheiden sich in zwei Gruppen : das Lesen kleiner, zusammen- gefalteter Zettel (69 Versuche) mit ein und der- selben Versuchsperson, und sog. psychometrische Versuche, bis auf 2 ebenfalls mit derselben Person (nicht der der Zettelversuche) angestellt, im ganzen 35 Versuche. Dazu kommen noch 4 Hellsehver- suche etwas abweichender Art. Eine Kritik dieser Versuche würde den zur Verfügung stehenden Raum überschreiten. Auch kann es uns hier durchaus genügen, das Hellsehen in einer sehr einfachen Form kennen zu lernen, wozu sich die genannten 69 Zettelversuche vor- züglich eignen. Mit geringen Abänderungen boten sie stets dasselbe Bild : eine Anzahl nicht großer Zettelchen werden mit einzelnen Worten, einem kurzen Satz oder einer Zahl beschrieben, mehrfach gefaltet, gemischt, der hellsehenden Person eins davon übermittelt, alles unter den gebotenen Vor- sichtsmaßregeln, über die man bei Tischner selber das Nähere nachlesen muß. Der Hellseher nimmt den gefalteten Zettel in die Hand des aus- gestreckten Armes und gibt nach sehr kurzer Zeit — schwankend zwischen wenigen Sekunden und einigen Minuten — den Inhalt des Zettels in einer großen Prozentzahl von Fällen richtig an. Natürlich kommen allerlei kleinere und größere Abweichungen von diesem Schema vor. Ich greife einen der Versuche heraus: 41. Versuch. ,,Ganz fremder Name — sehr schön geschrieben, Zoroa — nein — Zarathust, nein — Zarasto." Die Er- öffnung ergibt „Sarastro". Ich habe absichtlich einen Versuch mit nicht absolut zutreffendem Ergebnis gewählt, um zu erwähnen, daß derartige kleine Abweichungen nicht selten waren, trotzdem aber von Tischner als positive Ergebnisse be- wertet werden, und zwar mit vollem Recht, da die Frage, wo hier die Grenze sei, bei so geringen Unterschieden gar nicht in Betracht kommt. Was sich etwa zur Erklärung derartiger Abweichungen sagen läßt, würde hier wieder zu weit führen. 448 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 2y Zur Bewertung dieser Versuche weist T i s c h n e r darauf hin, daß sie in zwei getrennten Perioden stattfanden, deren erste 35, die zweite 34 Versuche umfaßt. In der ersten Periode waren fast sämt- Hche Lösungen richtig, in der zweiten fast alle falsch. Dies ist zweifelsohne ein bedauerlicher Umstand für Fernerstehende (in Fachkreisen ist das zeitweilige Versagen der Versuchspersonen wohl jedem Experimentator bekannt), kann aber nicht zugunsten der Betrugshypothese aufgefaßt werden, da bei den im wesentlichen gleichbleiben- den Bedingungen nicht ersichtlich ist, wie die Versuchsperson in der ersten Serie stets, in der zweiten nie hätte betrügen können. Von den 35 Versuchen der ersten Reihe sind nicht weniger als 26 positiv, vier aus verschiedenen Gründen unsicher, vier ohne jedes Ergebnis, indem gar nichts „gesehen" wurde , und nur einer direkt falsch. Dies glänzende Ergebnis kann nicht ein- mal dadurch vernichtet werden, daß man die un- günstige zweite Periode mitzählt. Auch dann würden (die unsicheren Versuche weggelassen) immer noch 27 Treffer 37 Nieten gegenüberstehen, ein jeden Zufall ausschließendes Ergebnis, da ja die Wahl der Worte und Zahlen praktisch un- begrenzt war. Der knappe Raum gestattet leider nur noch wenige Notizen. Auch die psychometrischen Ver- suche, über deren Bedeutung und Natur man in okkulten Werken oder bei Tischner nachlesen muß, enthalten schöne und sehr beachtenswerte Ergebnisse. Daran schließt sich ein theoretischer Teil, in dem der Verfasser sich u. a. der Mühe unterzogen hat, in aller Ausführlichkeit die mög- lichen physikalischen „Erklärungen" zu besprechen, wofür ihm gerade naturwissenschaftliche Leser dankbar sein werden. Allerdings kommt er zu dem Schlüsse, daß keine bisher aufgestellte Strah- lungs- oder ähnliche Theorie allen Erscheinungen des Hellsehens gerecht zu werden vermag, und hält dies auch für die Zukunft für nicht wahr- scheinlich. Tischner schließt sich, wie auch ich es tue, für das Wesentliche der Hellseh- erscheinungen einer rein geistigen Auffassung an. Auch hier muß ich mir leider versagen, nähere Ausführungen zu machen und weise jeden, der sich belehren möchte, auf Tisch ner's sehr interessante Darlegungen hin. Wir haben hier eine Abhandlung vor uns, die allen billigen, an eine wissenschaftliche Arbeit zu stellenden Anforderungen gerecht wird, eine Unter- suchung, deren Autor alle erhobenen Einwände kennt und berücksichtigt hat, und dennoch zu denselben positiven Ergebnissen gelangt ist, wie schon so manche Erforscher des umstrittenen Ge- bietes vor ihm. Wird Tischner's Buch helfen, den „Skeptizismus der Ignoranz" (Schopenhauer's prägnantes Urteil), der bei uns noch fast unum- schränkt in diesen Dingen herrscht, kräftig zu Leibe zu gehen? Hoffen wir es! V. Wasielewski. Koppe, M., Die Bahnen der beweglichen Gestirne im Jahre 1920. Eine astrono- mische Tafel mit Erklärung. Berlin 1919, Springer. Preis 2,40 M. Wie alljährlich, so ist diese bekannte Tafel auch in diesem Jahre erschienen, sie entspricht erheblich höheren Anforderungen, als die anderen Sternbüchlein, indem sie auch auf den Mondlauf, die Finsternisse, Auf- und Untergänge, die Zeit- gleichung, die Osterrechnung und die Bestimmung der Südrichtung mit Hilfe der Uhr eingeht. Die immer neu gezeichnete Tafel gibt den Lauf jedes Planeten einzeln an, die Stellung von Merkur und Venus als Abend- oder Morgenstern, sowie die Bewegung von Sonne und Mond, und die halben Tagebogen für die Breite von Berlin, also alle Bewegungen am Himmel zwischen den Fixsternen. Riem. Aster, E. v., Einführung in die Psychologie. 2. Auflage 19 19. (B. G. Teubner, Aus Natur und Geisteswelt 492. Bändchen.) Preis geh. 1,20 M. (ohne die Teuerungszuschläge). Das Erscheinen einer 2. Auflage beweist, daß das Werkchen des Münchner Gelehrten die günstige Aufnahme gefunden hat, die ihm auch weiterhin zu wünschen ist. Auf 142 Seiten gibt es eine nach allen Richtungen sich erstreckende Einführung in die wissenschaftliche Psychologie der Gegen- wart, im Rahmen der eigenartigen Selbstbeschrän- kung, in der sich diese Disziplin bis heute gefällt, worauf an dieser Stelle nicht weiter einzugehen ist. Wenn der Verfasser in der Vorbemerkung sich rechtfertigt, daß er die Farblosigkeit eines bloßen Literaturberichts vermieden und ein per- sönliches Gesamtbild gegeben habe, so möchten wir hierin einen Vorzug seiner ansprechenden Arbeit erblicken. Willkommen werden die zahl- reichen Literaturangaben sein — jeder Abschnitt wird mit solchen eingeleitet, die ein weiteres Ein- dringen ermöglichen. Auch die (leider nicht ganz durchgeführte) Unterscheidung, speziellere Aus- führungen durch kleinen Druck kenntlich zu machen, wird angenehm empfunden. V. Wasielewski. Inhalt: E. v. Meirowsky, Die angeborenen Muttermäler und die Färbung der menschlichen Haut im Lichte der Ab- stammungslehre. (69 Abb.) S. 433. — Einzelberichte: Aus dem Arbeitsgebiet der Staatlichen Naturdenkmalpflege. S. 439. P. Hertwig, Parthenogenese trotz Besamung der Eier bei Nematoden. S. 443. H. Schütze, Posener Seen. S. 443. — Bücherbesprechungen: K. Tis ebner, Über Telepathie und Hellsehen. S. 447. M. Koppe, Die Bahnen der beweglichen Gestirne im Jahre 1920. S. 448. E. v. Aster, Einführung in die Psychologie. S. 448. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InvalidenstraiJe 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Folge 19. Band; zen Reihe 35. Ban Sonntag, den i8. Juli 1920. Nummer 29. [Nachdruck verboten.] Über die Wernersche Koordinationslehre. Von R. Weinland in Tübingen. Mit 12 Abbildungen im Text. (Fortsetzung.) 7. Spiegelbildisomerie. An den Zeichnungen der eis- und trans-Form der Chloro-ammin-dien-kobaltisalze eis form. derartigen Komplexen durchgeführt. Es handelt sich in diesen Fällen um ein dem asymmetri- schen Kohlenstoffatom entsprechendes Kobaltatom. Aber Spiegelbildisomerie tritt auch auf bei cis- Diacidodiensalzen mit 2 gleichen, einbasischen Säureresten und bei cis-Diammin-diensalzen : Abb. 6. erkennt man, daß die cis-Form in 2 Gestalten auftreten kann, die sich wie Bild und Spiegelbild verhalten und demnach nicht deckbar sind : Abb. 7. Bei der trans-Form ist dies nicht der Fall. Die in gewöhnlicher Weise dargestellten Salze des eis Chloro-ammin-dienkations müssen demnach wie die Kohlenstoffverbindungen mit asymmetri- schem Kohlenstoffatom inaktive Racemate sein und sich in die beiden optisch aktiven Formen spalten lassen. Dies gelang Werner 191 1 nach der ersten Methode von Pasteur (1860) durch Darstellung des d-Bromkampfersulfonats jenes Komplexes: er, ] C0NH3 (OaS-QoHiiOBrjj. Cl J Von diesen ist das d-Bromkampfersulfonat der d- Form schwerer löslich als das d - Bromkampfer- sulfonat der Linksform. Das erstere Salz, das sich zuerst abscheidet, bildet kurze dünne rote Prismen, das letztere feine, seidenglänzende, hellblaurote Nadeln. Von den Bromkampfersulfonaten aus erhält man dann die anderen Salze. Das spezifische Drehungsvermögen der Bromide in i proz. Lösung beträgt [«]C = + 43". Die Spaltung hat Werner noch bei mehreren Werner spricht hier von Molekülasymmetrie erster Art. Derartige Reihen ließen sich von cis-Dinitro-, cis-Dichloro- und cis-Diammin-dien- salzen darstellen, sowie von cis-Dichloro-dien- chromisalzen. Auch die Carbonato- und Oxalato-diensalze zeigen Molekülasymmetrie erster Art : Abb. 9. Man gelangt zu den aktiven Salzen von den aktiven Dichlorodiensalzen mittels Kaliumcarbonat, bzw. Kaliumoxalat. Die beiden Oxalochloride zeigen hohe spezifische Drehung [ß]C = + 3o80; [«|C = -304'>. . Beim Erwärmen der aktiven Carbonatosalze tritt Autoracemisation ein. Die interessanteste und in ihrer Art einzige Spiegelbildisomerie ist die Molekülasymmetrie zweiter Art. Tritt in den Carbonato-diensalzen an Stelle des Kohlensäurerestes ein Molekül Äthylendiamin, so zeigen die entstehenden zur Hexammingruppe gehörenden Trienkobaltisalze eine räumliche Gestalt, deren Bild und Spiegel- bild sich nicht zur Deckung bringen lassen : 450 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 29 Werner gelang 191 1 die Spaltung in die beiden aktiven Formen, eine Verwirklichung der weit- gehendsten Folgerung der Koördinationslehre und der räumlichen Oktaedervorstellung. Auch die Salze der Trienkationen des drei- wertigen Chroms und Rhodiums haben sich spalten lassen, ferner Salze eines roten Kations des zweiwertigen Eisens mit einer zweisäurigen organischen Base («-«-Dipyridyl) '): .II [Fe(a.«-Dipyr)3]x2. In allen obigen Fällen von Spiegelbildisomerie enthielten die Kationen eine Kohlenstoffverbindung. Es wäre also immerhin möglich gewesen, daß die optische Aktivität mit diesem Umstand in Zu- sammenhang gestanden wäre. Werner suchte daher einen Fall, bei dem die Rolle des Äthylen- diamins von einer kohlenstofffreien Verbindung übernommen wird. Er fand ihn in dem Dode- kammin-/t-hexol-tetrakobaltichlorid: H III / .0.^ III Co(/ "Co(NH, II (Vergl. oben die basischen Salze und unten den Abschnitt über mehrkernige Verbindungen, S. 456). Dieses Salz ließ sich in der Tat in die aktiven Salze spalten. Die Drehung der aktiven Formen ist überaus groß, sie beträgt für das 1-Bromid in 0,05 proz. Lösung l«]6«0 = — 4500°- Außer den komplexen Kationen der angegebenen Zusammensetzung zeigen aber auch gewisse Anionen diese Isomerie. Es sind dieTrioxa- latosalze des Chroms, Rhodiums und Iridiums. Wir führen die blauen Trioxalato- chromiate an: [Cr(QO,)3]K3 4-3HjO. Jeder Oxalsäurerest ist sowohl durch eine Haupt- valenz, als durch eine Nebenvalenz an das Chrom- atom gebunden: C'K I K3 + 3H,0. [ ^ •o=c-u/J Da der Oxalatorest stets cis-Stellung einnimmt, hat man es mit derselben räumlichen Lage zu tun, wie beim Trien-kation. Die Spaltung der Salze dieses Anions gelang Werner mit Hilfe des Kalium-distrychninsalzes. •) Die Vorstellungen über den räumlichen Bau der Komplexe mit der K.Z. 6 haben sich nach jeder Richtung hin als zutreffend erwiesen. 8. Valenzisomerie. Eine besondere Art von Isomerie beruht darauf, daß gleiche Bestandteile des Moleküls einmal durch eine Hauptvalenz, dann durch eine Neben- valenz gebunden sind. Die meisten bekannt ge- wordenen Fälle dieser Art betreffen mehrkernige Metallammoniakverbindungen (S. 457) und or- ganische Farbstoffe. Wir führen hier den ein- fachen Fall des Dimethylsulfites, des Methylsul- fonsäuremethylesters und der Verbindung von einem Molekül Schwefeldioxyd mit einem Molekül Dimethyläther an: 0 = S(OCH3)2; H3C — S=Ü ; O^S- -0(^3)2. ^ , .CHs Die dritte Verbindung steht zu den beiden anderen im Verhältnis der Valenzisomerie. 9. Geometrische Isomerie anderer Art. Unter den Verbindungen mit der K.Z. 4 neh- men die Nichtelektrolyte des zweiwertigen Platins^) der allgemeinen Formel II [(H^NJ.Ptx,] eine besondere Stelle ein. Sie treten nämlich in 2 Isomeren au. Vom Dichloro -diamminplatin z. B. bildet das eine Isomere ein schwefelgelbes, kristallinisches Pulver, das andere gelbe Nadeln. Dann bestehen Unterschiede in der Löslichkeit. Bei Ersatz sowohl der Chloratome als der Am- moniakmoleküle bleibt die Isomerie bestehen. Da diese Isomerie schon bei zwei Substituen- ten auftritt und nicht erst bei 4, wie beim Kohlen- stoff und beim Stickstoff in den quaternären Am- moniumverbindungen, kann sie nicht auf das Tetraederschema zurückgeführt werden. Sie er- gibt sich vielmehr aus einer ebenen Figur wie die cis-trans-Äthylen-isomerie : ab ab N N ') Neuerdings wurde diese Isomerie auch bei den Diacido- diammin- Verbindungen des zweiwertigen Kobalts (Nichtelektro- lyten) beobachtet. W. Biltz. N. F. XIX. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 451 Dieses Schema entsteht aus dem des Oktaeders durch Wegnahme der in Diagonalstellung befind- lichen Säurereste oder ganzen Moleküle: Auf die umständliche Ableitung der Konfiguration können wir hier nicht eingehen. Wir bemerken noch, daß man durch Anlage- rung von Chloratomen an eis- und trans-Dichloro- diamminplatin zu den beiden früher erwähnten isomeren Tetrachloro - diammin - platinverbindung gelangt. Endlich tritt diese Isomerie auch auf in anderen Komplexen des zweiwertigen Platins, wenn von den vier K.St. zwei andersartig besetzt sind, z. B. bei Pt Clo (NH3 Pyr. Diammin- dipyridin- platochlorid Ammoniumsalz der Diammin- disulfito-platosäure. 5. Ammoniumverbindungen. Ebenso wie 2 Chloride können sich auch 2 Wasserstoffverbindungen miteinander vereinigen : AuClg + CIK = [AuCl,]K ; NH3 + HCl = [NHjICI. Im ersteren Falle rückt das Chloratom des Kalium- chlorids an das Goldatom, im zweiten der Wasser- stoff des Chlorwasserstoffs an das Stickstoffatom. Das eine Mal bildet sich ein komplexes Anion mit Gold als Z.A. (vgl. oben die Halogenosalze , das andere Mal wird das Stickstoffatom zum Z.A. mit der K.Z. 4. Das Chloratom ist demnach nicht wie bei der früheren Ammoniumtheorie an das Stickstoffatom gebunden, wobei man den Stick- stoff als fünfwertig ansah: H— N r/ ^Cl sondern es ist das Anion des Kations [NH,], ohne mit einem Atom desselben speziell ver- bunden zu sein, wohl aber sättigt es die Haupt- valenz eines Wasserstoffatoms ab. Man kann die Ammoniumsalze auch folgender- maßen ableiten. Ammoniakmoleküle lagern sich an Verbindungen erster Ordnung zunächst in be- stimmter Zahl an, wobei ein Nichtelektrolyt ent- steht („ A nlagerungsverbindun g") : [(02N)3Co(NH3)3]; LCl2Pt(NH3)2]. Trinitro-triammin- Dichloro- kobalt diammin- platin. Rückt nunmehr in diese Nichtelektrolyte noch I Molekül Ammoniak ein, so wandert ein Säure- rest aus, es entsteht ein Elektrolyt(-„Einlage- rungsverbindun g") [(OjN),Co(NH3 NH3 = [co^?!"»^1no, (°'°j'"-!,'.'""; ' (NOj), '^ min-kobaUinitrit). Statt der Metallverbindung kann aber eine solche Wasserstoffverbindung wie eine Säure, in welcher sich der Wasserstoff elektrochemisch völlig wie ein Metall verhält, mit dem Ammoniak sich ver- einigen, wodurch entweder eine Anlagerungs- verbindung oder eine Einlagerungsverbindung ent- stehen muß : [CIH- NHj] oder [H--NH3]C1. Die Erfahrung lehrt, daß das letztere zutrifft, man erkennt in dieser Formel die Ammoniumsalze. Schon I Molekül Ammoniak drängt in diesen Fällen das Chloratom ins Anion. Ein Wasser- stoffatom, gleichsam das Z.A., ist durch eine Nebenvalenz an das Stickstoffatom gebunden, doch gleichen sich auch hier die verschiedenen Valen- Die alte Ammoniumtheorie ist mit mehrfachen logischen Schwierigkeiten behaftet, welche der neuen, die aus der K.L. unmittelbar hervorgeht, fehlen. Wenn der Säurerest direkt an das Stickstoff- atom gebunden wäre, würde es schwer verständ- lich sein, daß er in wässeriger Lösung dissoziiert. Die obige indirekte Bindung des Säurerestes er- klärt dagegen seine lonennatur in wässeriger Lösung ohne weiteres. Die Steigerung der Valenz des Stickstoffatoms bei der früheren Ammoniumtheorie ist weiter wenig befriedigend, denn wir haben früher gesehen, daß bei den Doppelhalogeniden dieses Verfahren ganz unmöglich ist. Die Ammonium- salze sind aber den Halogenosalzen an die Seite zu stellen. Sodann lassen sich die basischen Ammonium- salze auf Grund der älteren Theorie nur schwer erklären. Ihre Zahl ist aber sehr groß. Wir er- wähnen z. B. das Bromid (NH3),,.HBr. Die K.L. erklärt diese Salze mit der Fähigkeit des Wasserstoffs der Säuren, mehrere Neben- valenzen zu äußern, insofern er den Metallen gleicht : r ,NH3] r .-' » H-- Br; Ag-NH, Cl. [ NHsJ [ NH3I Der Wasserstoff spielt hier die Rolle des Z.A. Diese kann er auch in komplexen Anionen über- nehmen, so sind die bekannten sauren Fluo- ride derartige Verbindungen KF.HF = |H/ K. 4ii Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. ig Die Ammoniumsalze gehören zu der großen Gruppe von Verbindungen mit der K.Z. 4 des Z.A. Dies gilt auch für die quaternären Am- moniumverbindungen : [N(CH3)i,ri. Die Bildung eines organischen Amins aus Am- moniak und Alkylhalogenid ist ein typischer Ein- lagerungsvorgang : Schon das erste Molekül Ammoniak lagert sich zwischen das Kohlenstoffatom und das Ha logen ein. Anhang. Sulfonium-, Oxonium- und Jodonium- verbindungen. Den quaternären Ammoniumverbindungen ent- sprechen beim Schwefel die Sulf on ium-, beim Sauerstoff die Oxonium- und beim Jod die J odoni u m Verbindungen. Demgemäß zeigen die Z.A. bei den beiden ersten die K.Z. 3, bei den letzteren die K.Z. 2: [S(CH3)3]x; [J(CeH6),]x. Von diesen bedürfen die Oxoniumsalze einer kurzen Besprechung. Daß gewisse, organische, sauerstoffhaltige Verbindungen sich wie die Amine mit Säuren zu verbinden vermögen, wurden von Collie und Tickle 1899 beim Dimethyl- pyron beobachtet, v. Baeyer und Vi 11 ige r haben die Erscheinung dann genauer verfolgt und bei vielen organischen sauerstoffhaltigen Verbin- dungen solche basischen Eigenschaften festgestellt. Über die Konstitution dieser Verbindungen kann nach dem Vorhergehenden kein Zweifel bestehen. Das Wasserstoffatom der Säure verbindet sich durch eine Nebenvalenz mit dem Sauerstoffatom der Kohlenstoffverbindung, der Säurerest bildet das Anion. Man nimmt beim Dimethylpyron an, daß es das ätherartig gebundene Ring -Sauer- stoffatom ist, mit dem sich der Wasserstoff der Säure vereinigt, wie z. B. beim Pyridin das in gleicher Weise gebundene Stickstofiatom : CH,, I /CH = C. :( >o --H ^CH = c: I CH3 Dimethylpyron-nitral \, I "^01 = CH^" Pyridin-nitrat Die Zahl der organischen Verbindungen, die Oxoniumsalze geben, ist sehr groß (als anorgani- sche Säure hat sich besonders die Überchlorsäure bewährt, K.A. Hofmann, aber auch komplexe Säuren, wie die Platinchlorid chlorwasserstoffsäure u. a.); wir nennen die folgenden: Diäthyloxalat, Amylcnhydrat, Benzophenon, Acetophenon, Di- benzalaceton, Zimmtaldehyd, Phenolphtalein, Phen- anthrenchinon, Cumarin, Kampfer, Cineol, San- tonin. Auch die Blütenfarbstoffe, die Pyronderi- vate sind, geben mit Säuren (Salzsäure, Pikrinsäure) vorzüglich krystallisierte Salze, R. Willstätter 1914- Die einfachsten Oxoniumverbindungen sind übrigens die Verbindungen der Säuren mit H.^O, sie entsprechen den gewöhnlichen Ammonium- salzen : NO3H + H2O = [HjO-- HJNQS; 11,1 >■•■ ,, . (anomales Salz wie die anomalen P ■ salze, S. 451). Treten an die Stelle des Wasserstoffs in den Säuren Metallatome, so entstehen beim Wasser die Aquo- Verbindungen, beim Ammoniak die Me- tallammoniakverbindungen : rHsjO, 1 1H3N, 1 ;K F; >Ag Cl. Lh.>o-' J [h^n' J Werden in der ersteren Verbindung die Wasser- stoffatome des Wassers durch Alkyl- etc. -reste er- setzt, so kommen die interessanten Verbindungen von Alkoholen, Äthern usw. mit Metallchloriden zustande: (C.H^O- MgCl,; rC,IV2()j;-^°^'*; farblos kristallisiert (CH3)2CO--SbCl6; Cumarin + HgClj. farblose Prismen 6. SauerstofFsäuren. Eine große Anzahl der gewöhnlichen Sauer- stoff(Thio)säuren enthalten unabhängig von der Wertigkeit des die Sauerstoffatome bindenden Elementes 4 Atome Sauerstoff (Schwefel). Wir führen einige Fälle von 4-, 5-, 6-, und 7-wertigen Elementen an: I IV SiiijMej; SnSjXa^ -12^,0. POjlIj, ebenso As; SbSiNaa'glJoO. VI IV VI VI RiiJIa, ebenso Se, Cr, Mo, W, Mn, Fe, ( is, Ku. 1 ClOitr, JOiMe, MnOjH. Es lagern sich bei der Bildung dieser Säuren bzw. Thiosäuren, jeweils soviel Wasser (Schwefel wasserstcff)-Moleküle an das O.xyd (Sulfid) an daß das Anion 4 Sauerstoffatome enthält SiÜ2 -t- 2 MoO ; SnSo + 2 H^S ; ^ ?^0^ + 1 ,5 H.^O ; I AsjSr, + 1,5 HjS ; SO3 + HjO ; MoS, -f HjS ; Die Zahl der angelagerten Wassermoleküle nimmt gesetzmäßig mit der Zunahme der Wertigkeit des die Säure bildenden Elementes ab. Den Grund hierfür erblickt die K.L. darin, daß diese Elemente dem Sauerstoff (Schwefel) gegenüber die K.Z. 4 als obere Grenzzahl besitzen. Diese Salze und ihre Säuren gehören also zur großen Gruppe der Tetracidosalze. N. F. XIX. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 453 Die Vereinigung zweier Chloride und zweier Oxyde sind völlig analoge Vorgänge: AuClj + CIH = [AuCl.,]H; . SO3 + OHj = [SOJHj. Die Anionen [AuClj] und [SO^] entsprechen einander vollständig. Während man aber für die Bildung des ersteren Anions die Wirkung einer Nebenvalenz des Goldes zur Bindung des 4. Chloratoms annehmen muß, kommt man beim zweiten wegen der Zweiwertig- keit des Sauerstoffs mit Hauptvalenzen aus. Wir stellen noch besonders fest, daß das Sauerstoffatom in diesen Anionen stets nur eine K.St. besetzt, wie es der K.Z. als Raumzahl ent- spricht. Nur bei vierwertigen Elementen fällt demnach die K.Z. mit der Wertigkeit zusammen : o, IV ^0 .0/ \o. •Ol I ■ O Me. O.. VI \o I Me, •^^VII ] I 0=C1 — O Me. Die Koordinationsformel ist aber für alle diese Anionen dieselbe: [o. |o. -O] Die K.Z. bleibt erhalten, wenn eine oder beide Hydroxylgruppen durch Halogen oder andere Gruppen ersetzt werden: [s*^»1h; Is'-'^ 1h; Is'-'^ lll; I f| [ ONO oder NOj | NH.jj Fluor- Nitrosylschwefelsäure Sulfamin- sulfonsäurc oder Nitrosulfonsäure säure H„. [OPCI3] . Phosphor- oxychlorid H; [OjSCli,]; [O..SlNH2)„J ; I RJ Sulfuryl- Sulfamid Alkyl- Chlorid (Aryl-) Sulfon- säure Eine Parallele zwischen den Sauerstoffsäuren und den Metallammoniakverbindungen besteht so- dann darin, daß wie bei diesen mit dem Austritt von einem Molekül Ammoniak ein Säurerest in das Kation einrückt, so bei den Säuren an Stelle eines auswandernden Sauerstoffatoms ein Wasser- stoffatom an seine Stelle tritt: [P0JH3 ^ [p«^|h.. -^ [^Sl^-KJ- Phosphorsäure, Phosphorige dreibasisch Säure, zweibasisch Die zuletzt angeführte Phosphorverbindung ist nicht bekannt, wohl aber organische Derivate der- selben, wie Triäthylphosphinoxyd fp" 1. Dieser Eintritt von Wasserstoff an Stelle von Sauerstoff findet aber nur dann statt, wenn das Z.A. Verbindungen mit niedrigerer K.Z. nicht zu bilden vermag. So ist die schweflige Säure zwei- basisch wie die Schwefelsäure und die Chlorsäure Unterphosphorige Säure, einbasisch einbasisch wie die Überchlorsäure. Die K.Z. des Schwefels und des Chlors ist in diesen Fällen 3. Beim Austritt von Sauerstoffatomen aus der Kohlensäure mit K.Z. 3 des Z.A. besteht aber die Gesetzmäßigkeit wieder: [CO,]H, ■ H') saure, zwei- saure, ein- basisch basisch Form- aldehyd Wir bemerken noch, daß die sauerstoffreichsten Säuren der ersten Horizontalreihe des periodischen Systems 3 Sauerstoffatome enthalten, die der zweiten 4: [BOjIH,; [COjJH,; fNOäJH. [SiOjlHj; [POjjHa; [SOjiHj ; ■ClOjfH. Nur wenige Sauerstoffsäuren enthalten 6 Sauer- stoffatome mit der K.Z. 6 des Z.A. Es sind dies die Tellursäure und ihre Salze, die Überjodsäure und vielleicht die Osmiate: [VI VII VI IK., , [TeOe]!!«; Ag,. - [](\]l\- - [OsO.Jh, ('°^"'")- Die Silbersalze der beiden ersten Säuren sind braunschwarz. Die sauerstoffreichsten einfachen Oxyde ent- halten 4 Atome Sauerstoff, nämlich die eigen- tümlichen, leichtflüchtigen Verbindungen Osmium- und Rutheniumtetroxyd : OsOi; RuO|. Sie verbinden sich nicht mit Wasser; dadurch würde die K.Z. des Z.A. gegenüber dem Sauer- stoff über 4 steigen, was offenbar nicht möglich ist (vgl. dagegen oben die Konstitution der Osmiate). Des weiteren erwähnen wir einige basische Sulfosalze, weil wir dabei eine neue Kon- stitution basischer Salze und isomere Anionen kennen lernen werden. Im Stephanit, Sb.S^-sAgäS, besitzt das Antimon die K.Z. 4: r ,'SlAg Ag2 S - Sb— S Ag. ' \sAg Ein Molekül Silbersulfid hat sich an das normale Salz mit Hilfe einer Nebenvalenz des Schwefels angelagert. Das Anion [SbS^] ist aber auch in den Sulfantimoniaten mit fünfwertigem Antimon enthalten : iSbSilNas-j-gH.O. Des weiteren ist der bis jetzt nur einmal im Erzgebirge aufgefundene Argyrodit, in dem ') Der Carboxylgruppe kommt nach ihrem optischen Ver- halten (Absorptionsspektrum im Ultraviolett) eine verschiedene Konstitution zu, je nachdem es sich um die Ester oder Salze handelt, A. Hantzsch. In den Estern besitzt sie die ge- wöhnliche Hydro.xylform, dagegen in den Salzen die Koor- dinationsform ; in den homogenen Säuren selbst besteht ein Gleichgewicht beider Formen: .,0 /,0 R C( 1, H. \0C„H(jn-)-i) ^ ' OH Ester in den Salzen homogene Säure 454 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 29 Clemens-Winkler das Germanium ent- deckte (1886), ein basisches Silber-sulfogermaniat der Formel: GeSiAgj • 2 AgaS = [GeS^] Ag,. Schließlich bemerken wir noch, daß auch Sauer- stoffsäuren mit den K.Z. 2 und i vorkommen: [NOajH; [C10]H. 7. Verbindungen, die durch Nebenvalenzen des Kohlenstoffs zustande kommen. Die Nachbarn des Kohlenstoffs im periodischen System, das Bor und der Stickstoff, sind durch die Fähigkeit, Nebenvalenzen zu äußern, aus- gezeichnet, wir weisen auf die Borfluorid-fluorwasser- stoffsäure und die Ammoniumverbindungen hin: [BFj]H; [NHjlx. Es ist daher zu erwarten, daß auch der Kohlen- stoff derartige Verbindungen bildet. Erhitzt man Platochlorid (olivengrünes Pulver) in völlig trockenem Kohlenoxyd, so bildet sich eine Verbindung PtCl2-2CO in farblosen, bei 1 50" in einer Atmosphäre von Kohlenoxyd flüchtigen Nadeln. Diese Verbindung kann nicht anders konstituiert sein, als daß die beiden Kohlenoxydmoleküle durch Nebenvalenzen des Kohlenstoffs an das Platin gebunden sind : gelbes Pulver, das beim Erhitzen auf offenem Brenner leicht entflammt (nach seinem Entdecker Zeises entzündliches Chlorplatin genannt (1829)). Es besitzt die Zusammensetzung ci,Ptir,Hj, und es kann nicht zweifelhaft sein, daß das Äthylen durch eine Nebenvalenz des Kohlenstoffs an das Platin gebunden ist. Derartige Verbindungen ungesättigter Kohlen- wasserstoffe mit Metallsalzen kennt man noch mehrfach, z. B. 2 ZnCU • C5Hio(Amylen) ; AICI3 • 3 CöH6(Benzol). Endlich kommt nach P.Pfeiffer die Bildung der tiefgrünen Chinhydrone — Verbindungen von Chinonen mit Phenolen — durch Neben- valenzen der Kohlenstoffatome zustande: C = 0 ■ CeHi(OH)2(i,4) HCj Hcl iCH 'CH C = 0--CeHs(0H),(i,4\ Auch die bekannten Verbindungen der Pikrin- säure mit Kohlenwasserstoffen sind so zu deuten: QH^rOH (NOj)„N: o 0-C„H,o. Pikrinsäure-Anthracen-Verbindung (rote Nadeln). Die Verbindung gehört zu den Nichtelektrolyten des zweiwertigen Platins vom Typus des oben S. 450 erwähnten Diammin-dichloro-platins [p.(NH3)J [ ci., ]• Man kennt noch mehrere derartige Verbindungen des Kohlenoxyds mit Metallsalzen, z. B. I CuCl-CO.H.O, auf deren Bildung die Benützung des Kupfer- monochlorids in der Gasanalyse beruht. Ferner verbindet sich Hämoglobin mit Kohlen- oxyd ebenfalls durch die Wirkung einer Neben- valenz des Kohlenstoffs gegenüber dem Eisen im Hämoglobinmolekül. Aber auch in dem allbekannten Nickel-tetra- carbonyl (farblose Flüssigkeit vom spez. Gew. 1,3 und dem Siedepunkt -(- 43") und seinen Genossen muß die Bindung der Kohlenoxydmoleküle durch Nebenvalenzen des Kohlenstoffs Zustandekommen. Diese Verbindungen sind dadurch interessant, daß Nebenvalenzen von Atomen (hier den Metall- atomen) geäußert werden, die sich nicht in einer durch Hauptvalenzen bewirkten Verbindung be- finden. Aber auch Kohlenwasserstoffe vermögen sich mit gewissen Metallsalzen zu vereinigen. So bekommt man durch Erhitzen von Platinchlorid- chlorwasserstoffsäure mit Alkohol ein blaß zitronen- 8. Innere Komplexsalze. Daß Metallsalze imstande sind, Ammoniak- moleküle und Oxyde durch die Wirkung von Nebenvalenzen des Stickstoff- , bzw. Sauerstoff- atoms gegenüber dem Metallatom zu binden, ist im Vorhergehenden wiederholt festgestellt worden. Hieraus folgt, daß Metallatome in Salzen von organischen Säuren oder von organischen Ver- bindungen mit saueren Eigenschaften, die eine- Amino- oder Ketogruppe enthalten, gegen das Stickstoff-, bzw. Sauerstoffatom dieser Gruppen Nebenvalenzen werden äußern können. Durch diese Bindung verliert das Metallatom die Fähig- keit, in wässeriger Lösung abzudissoziieren. Der- artige Säuren sind z. B. die Aminosäuren. Das Kupfersalz der Aminoessigsäure (auch Glykocoll oder Glycin genannt) ist tiefblau, leitet den elek- trischen Strom nicht und verhält sich kryoskopisch wie ein nicht gespaltenes Molekül. Es unter- scheidet sich also wesentlich von den gewöhn- lichen Kupfersalzen , etwa den Acetaten. Man wird daher bei ihm eine solche Nebenvalenz vom Stickstoff zum Kupferatom annehmen müssen : C) II H,C— C-O I I H^N Cu 2 Derartige Salze können sehr beständig sein, das rote Kobalti-aminoacetat N. F. XrX. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 455 Co{CH,.(NH.,:COO)3 -|- iH^O löst sich unzersetzt in konzentrierter Schwefelsäure und widersteht selbst konz. Salpetersäure einige Zeit. Solche Metallsalze, deren IVletallatom eine Nebenvalenz gegen eine Gruppe oder ein Sauer- stoffatom der Säure äußert, nennt man innere Komplexsalze (H. Ley 1904). Man sieht, daß das neutral reagierende Glyko- coll selbst auch ein inneres Komplexsalz ist und zwar des Wasserstoffs : H.,CC:f I \0H. I i HaN Sehr schöne Fälle von inneren Komplexsalzen sind sodann die Metallsalze der Enol formen der 1,3-Diketone. Das tiefrote Ferri-acetyl- acetonat') bildet sich schon beim Schütteln von Ferrihydroxyd mit Acetylaceton. Die Kobalt- verbindung ist rotviolett, im Vakuum unzersetzt sublimierbar. Das farblose Aluminiumsalz siedet unzersetzt bei 314", das Berylliumsalz-) bei 270". Alle diese Salze erweisen sich kryoskopisch als nicht dissoziiert, es sind also Nichtelektrolyte. Sie lösen sich wenig in Wasser, leicht in organischen Lösungsmitteln, auch in Benzol, im Gegensatz zu den meisten gewöhnlichen Metallsalzen. Auch gegen Basen und Säuren sind sie teilweise ganz beständig. Besonders schön sind auch die Kupfer- salze (blau oder grün). Die besonderen Eigen- schaften dieser Verbindungen erklären sich am besten auf Grund der Annahme einer Neben- valenzäußerung des Metallatoms gegen das Car- bonylsauerstoffatom : ,0 — C— CH, I CH3 In diesen Verbindungen zeigt das Z.A. die K.Z. 6, bzw. 4. Die inneren Komplexsalze sind den Ver- bindungen vom Typus des Trinitro-triamminkobalts an die Seite zu stellen. Wie diese durch Eintritt von Ammoniak, bzw. Wasser, zu Elektrolyten werden : (NO,; + NH3 fr (NH3 SO können auch die inneren Komplexsalze Hydra- tation erleiden und in gewöhnliche Salze über- gehen, was z. B. beim Zink-aminoacetat der Fall ist : ») Acetylaceton, CHs— CO— CH^— CO— CHj , bzw. als Enol CH,— C = CH— CO— CHJ. ') aus der Dampfdichte dieser Verbindung ergibt sich die Zweiwertigkeit des Berylliums. [(CH2(NH„)COO)2Zn] + ÖH.O = \Zu[\\Ji)W(ZW„&Y\^)Co; Co/H ">Co. ■'■o-' ' . \o' .-' H \o.- H II[ jj III Cr-O-Crj N. F. XIX. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 457 Aber auch 3 und 4 Metallatome werden durch ol Gruppen verkettet: H H H III (). III ,0 III IUI -co.-r o ■■o Co; Co o. iin o» Nächst der Hydroxylgruppe übernimmt diese Auf- gabe die Aminogruppe, ferner die PeroxoGruppe, aber auch Sauerstoff, bzw. Schwefel allein, end- lich die Reste einbasischer und mehrbasischer Säuren. Solche Brückenbindungen sind z. ß. II2 H, Co— N Co; Co( yCo Co/ ■ Co ; V)-0 Amino-brücke O' H Amino-peroxo-brücke H Oz ,0 , 1 >-s-o . ■ Co< /Co; Co "Co. O;C-0/ 1 H2 CH3 Sulfate- amino-brücke ol-acetato-brücke Das Kobalt tritt 3 und 4 wertig in diesen Kernen auf. Es muß noch besonders hervorgehoben werden, daß eine Bindung von Metallatom an Metallatom, was man früher annahm, niemals vorkommt. Wir führen einige solcher mehrkernigen Ver- bindungen an, aber ohne den Konstitutionsbeweis zu geben, da wir hierzu zu sehr ins einzelne gehen müßten: H, ,„ III "^O Co- ' „ OH2 H (NO3 Diaquo-hexammin-/'-amino-ol- dikobaltinitrat (H3N: III / I Co- »2 -^\ H O- III -Co(NH3),, (NO, He3(ammin-/i- amino- ol-a<;etato- dikobaltinitrat H III ,' "x ,„ (H ~'*"\ DSO/ (NH3I4 Cl.,; O2 OktamrDin-/(-imiao-sulfato- dikobaltichlorid III y^\ IV I (H3N)iCo< >Co(NH3 V H4. \o-o/ ■ J Oktammin-H-amino-peroxo- kobalti-kobaltesalz Bei diesen mehrkernigen Verbindungen kommen mehrere Isomerien vor, nämlich Polymerie, Valenzisomerie und eine nur bei diesen auftretende koordinative Stellungsisomerie. Polymer sind z. B. Hexammin /^-trioldikobalti- salze (I) und Dodekammin-jU-hexoltetrakobalti- salze (H) : [(H3N)3Co(OH)3Co(NH3l3]x; [Co<(HO)2Co(NH3),>3]xe (S. 450). I II Valenzisomer sind die von Jörgensen aufge- fundenen Rhodo- (!) und Erythro-Chromsalze (II): H [(ll3N)5Cr-0-Cr(NH3)5lx,; Dekanimin-/(ol-chromisalze I [(H3N)6Cr — O — Cr(NH3)r,]Hi. lix Dekainmin-z'-ol-hydroxonium-chromisalze. II Die ersteren sind karmoisinrot und reagieren neutral, die letzteren karminrot und reagieren stark sauer. Im Verhältnis koordinativer Stellungsisomerie stehen die beiden intensiv grünen Salze: H, .N IV, CI \ - / n l^-'a' ■.Co(NH3). .0/ ci symmetrisches Dichloro-hexammin-/(-amiDO peroxo-kobalti-kobaltechlorid H2 r /N ....,_ (NH,)2] (H3N)4Co( -;;;Co Clj CI., I \o_o/ ) unsymmetrisches Dichioro-hexammin /t-amino-peroxokobalti-koballechlorid zueinander. Diese bei anorganischen Ver- b i n du ngen einzig dastehende Isomerie entspricht bei den Kohlenstoffverbindungen etwa der des Äthylen- und Äthylidenchlorides. Wir besprechen sodann ein mehr kerniges, nur aus IVletallatomen und Säureresten bestehendes Kation, das 1906 zuerst auf- gefunden wurde und dem für die Kenntnis der Konstitution organischer Ferrisalze große Be- deutung zukommt. Bei der Behandlung von Chromihydroxyd mit Essigsäure bei gewöhnlicher Temperatur bekommt man einen Kristallbrei von violettem Hexaquo-chromiacetat: [Cr(H,Olöj(CH3COO)3. Erhitzt man dagegen Chromihydroxyd mit Essig- säure, so bekommt man grüne, wasserlösliche, der Zusammensetzung nach basische Acetate wie: Cr3(CH,,CiiO),(OH)2. 411,11. In diesem Salze läßt sich ein Essigsäurerest durch beliebige andere Säurereste in äquivalenter Menge ersetzen, so daß in den neuen Salzen stets min- destens 6 Essigsäurereste enthalten sind. Aus dem ganzen Verhalten dieser Verbindungen ergibt sich, daß ihnen ein eigentümliches, aus 3 Chrom- atomen und 6 Essigsäureresten bestehendes, Kation zugrunde liegt, wie folgende Formeln zeigen: ■^*^"oHV''"|'^' + S "*'-'; J + SH^C^; ^PtCle + 5H,0. Cr, 458 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 29 I (CH3COO)e] ^, Cra OH CrOj + ÖH^U; ^^"^^-^q + 4H,0. L HgO J ' ** [„ (CHjCOOU Cr^O, . CrCU , p» (HjO)^ ICH3COO' Cl -t-^riju, (CHaCOOJs + lHäO. Alle diese Salze sind g^rün, wenn die anorganische Säure farblos ist. Keines enthält weniger als 6 Essigsäurereste. Diese müssen daher zum Kom- plex gehören. In denjenigen Verbindungen, die an Essigsäure reicher sind, befinden sich die über 6 hinausgehenden Essigsäurereste ionogen im Anion. Das Kation ist so beständig, daß man die Salze anorganischer Säuren direkt durch Ein- wirkung von diesen auf die Acetate darstellen kann. Dies zeigt sich auch darin, daß Ammoniak aus der wässerigen Lösung nicht sogleich , wie bei den gewöhnlichen Chromisalzen, Chromi- hydroxyd fällt, sondern nur ganz allmählich, rascher beim Kochen. Außer der Essigsäure geben dieses Kation alle übrigen Fettsäuren, auch aromatische Säuren wie die Benzoesäure. Nächst dem Chrom bildet das dreiwertige Eisen dieses Kation mit Vorliebe. Es hat sich gezeigt, daß die bekannte Rotfärbung der Acetate durch F'erri- salze auf die Bildung des Triferri-hexacetato- kations zurückzuführen ist. Die gewöhnlichen basischen Ferriacetate sind Acetate jenes Kations, von dem man wiederum Salze mit beliebigen anorganischen Säuren darstellen kann, z. B. das mit dem Chromisalz isomorphe Chloroplatinat : Es hat sich herausgestellt, daß den Ferrisalzen sämtlicher organischer, nicht substituierter Mono- carbonsäuren und vieler Dicarbonsäuren, seien sie löslich oder unlöslich, dieses Kation zugrunde liegt. Ferrisalze im alten Sinne gibt es überhaupt nicht, nur die Verbindungen erster Ordnung darf man, wie früher üblich, formulieren, nämlich : FeCls. Sämtlichen Salzen liegen Komplexe zugrunde, sei es das Hexaquokation, wie im blaßroten Ferrinitrat und anderen Salzen : [FeiH.dlejNüj),; (CIO,,)» ; oder, wie in den orangegelben Eisenchlorid- hydraten Chloro aquokationen : Cl ■-■ CU; Fe"> (H,0)J oder wie in den Salzen mit zahlreichen organischen Säuren der obige mehrkernige Komplex: I ' (t>H),, [''• oder auch, wie in den grünen Oxalaten ein kom- plexes Anion : III [Fe(Q04),]K3 + 3H,0. Wir erwähnen noch, daß auch säureärmete Kat- ionen aufgefunden wurden, wie fcrs('^^,3,^°°)'>|cH,C00 + 12H2O; fcr3(^^^^°°)^|cH,COO + xH^O ; [^^»'^""oHt^^'l^eHaCOO + Ah,0; r (CHjCoo),] Fcj (^OH)3 CuHßCOO. I '-' J Wenn diese Salze im Anion mehr Essigsäurereste enthalten, können sie mit denjenigen des Hexa- acetato-kations isomer sein : grün |cr3 (^[^»2)°^°f C^sCOO), + 2 H,0 ; violett |cr,(^J^J°|^'»|(CH,COO)e. violett Alle drei stehen zum violetten Hexaquo-chromi- acetat (S. 457), abgesehen vom Wassergehalt, im Verhältnis der Polymerie. Während das Hexacetato-trichromikation noch 3 Moleküle Pyridin aufnimmt ohne anderweitige Änderung, wird durch den Eintritt von Pyridin in die Ferriacetate ein vierkerniges Kation ge- bildet, das aber wiederum 6 Essigsäurereste ent- hält: r (CH^coou Fcj iOH^2 CI4 (gelbgrÜD). I IQH.N), I Es fragt sich, wie der Zusammenhalt dieser mehr- kernigen Komplexe zustandekommt? Da sich der Essigsäurerest bei den IVIetallammoniakver- bindungen als sehr guter Brückenbilder erwiesen hat (S. 457), wird man ihm die Bindung der Kerne zuschreiben müssen, insofern das Carbonyl-sauer- stoffatom der Carboxylgruppe eine Nebenvalenz gegen das Eisenatom des anderen Kernes äußert. Hier gibt es aber mehrere IVIöglichkeiten, zwischen denen man zur Zeit auf experimentellem Wege nicht entscheiden kann. Wir führen eine an: I lll -i OTT eil, I ] . ,o=c— O^ ■-■-o=c-o/ ^o-c=o/ I I Cl + SIljO. Schließlich erwähnen wir, daß neuerdings bei der unterphosphorigen Säure dasselbe Kation auf- gefunden wurde, z. B. '^ - *" H,PO, 18H.O. Perchlorat, blaurot, explosiv. Wir bemerken, daß die unterphosphorige Säure und die Ameisensäure analoge sind: Verbindungen HP^ • \0H -^ ,0 (Schluß folgt.) N. F. XIX. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 459 Einzelberichte. Völkerkunde. Zur Anthropogeographie West- Turkestans. Einen^Flächenraum von etwa zwei MUlionen Quadratkilometern umfassend liegt Tur- kestan im Osten des Kaspisees, zwischen dem westsibirischen Hügelland und dem Hindukusch. Den westlichen Teil dieses Gebiets, das frühere RussischTurkestan, behandelt ArvedSchultzin Band 2 der „Abhandlungen aus dem Gebiet der Auslandskunde", welche die Hamburgische Uni- versität herausgibt. („Die natürlichen Landschaften von Russisch-Turkestan"; Verlag L. Friederichsen, Hamburg.) Er zeigt, daß das Charaktermerkmal des Landes sein Trockenklima ist, infolgedessen kein Abfluß zum Meere besteht und daß an der Umgestaltung der Erdoberfläche die Verschüttung und die Tätigkeit des Windes gegenüber der des Wassers weit vorherrschen. „Unübersehbare, tote Sandmeere, in denen selten eine Tamariske gedeiht, endlose, spärlich bewachsene Gras- und Kraut- steppen, geheimnisvolle Oasen, umgeben von reichen Baumwollpflanzungen, alte Städte, Hochburgen isla- mitischer Kultur, voller historischer Erinnerungeri, eine äußerst orthodoxe oder noch ganz in primi- tiven Glaubensformen verstrickte ansässige oder nomadische Bevölkerung treten vor Augen." Auch die anthropogeographischen Verhält- nisse dieses Gebiets sind eigenartig, vornehmlich bedingt durch die geographische Lage im Fest- land Asien. Wichtige Verkehrswege von Innerasien nach dem Westen durchziehen es und führten ver- schiedene Völker und Kulturen zusammen. Das bunte Gemisch alier ihrer hinterlassenen Spuren ist im einzelnen heute noch lange nicht geklärt. Schultz sagt u. a.: Klar tritt der Gegensatz zwischen dem Norden und Süden Turkestans hervor, der Kampf arischer Kultur mit türkisch- mongolischer, der durchweg in schweren kriege- rischen Zusammenstößen vor sich ging. Auch in der jüngsten Zeit haben sich der Norden und der Süden Turkestans ungleichartig entwickelt. Nicht nur Klima und Boden haben im Norden die starke russische Kolonisation hervorgerufen, sondern auch das Neuland, das diese letzten Eroberer hier vor- fanden, im Gegensatz zum alten Kulturland der südlicheren Teile Turkestans, wo sich die Russen einer alten, kulturell entwickelten Bevölkerung gegenüber fremder fühlten. Die türkische Bevölkerung bildet heute 88,4 "/„ der gesamten Einwohnerzahl. Die nächste Volks- gruppe, die Iranier, machen erst 6,9 "/o der Be- ■ völkerung aus, während der Anteil der Russen mit nur 3,7 '7o z" bewerten ist; 0,3 "/o Mongolen und 0,7 "/o übrige Volksstämme bilden den Rest der insgesamt 9 530400 betragenden Bevölkerungs- zahl des Landes. ZudentürkischenVölkern rechnet Schultz die Kirgisen und Kara- Kirgisen, Sarten und Tarantschen, Usbeken, Turkmenen, Kara-Kalpaken, Tataren und Kiptschaken. Iranier sind Tadschik und Perser, Mongolen Dunganen und Kalmücken. Weiter leben in Turkestan in ge- ringer Zahl Kaschgarlyken (Kaschgarier), Tusken, Armenier, Juden, Araber, Indier, Afghanen usw. Die heutigen türkischen Stämme in Turkestan sind aus der jahrhundertelangen Mischung ver- schiedener türkischer, mongolischer und zum Teil iranischer Stämme hervorgegangen. Besonders deutlich ist diese Mischung in physischer und kuhureller Beziehung in der ansässigen Bevölkerung Turkestans ausgeprägt. Der stärkste der türkischen Stämme sind die Kirgisen, mit den Kara-Kirgisen, etwa 2,1 Mill. Menschen. Beide kirgisische Stämme sind vorwiegend Nomaden, die ihre Geschlechter- organisation bis auf den heutigen Tag erhalten haben. Ihr Islam ist stark von primitiven ani- mistischen Anschauungen durchsetzt. Die ihnen stammverwandten Usbeken zählen etwa 2 Mill. Personen. Die reinsten Typen findet man im Chanat Chiwa vor, immerhin ist Beimischung arischen Blutes erkennbar. Nahe Stammverwandte der Usbeken und Kirgisen sind die Turkmenen (Vo Million), die den Hauptteil der Bevölkerung in Transkaspien ausmachen, aber auch in Buchara und Chiwa leben. Die Sarten machen fast eme Million Einwohner in Turkestan aus und verteilen sich vorwiegend auf das Fergana Gebiet (etwa 800000), das Gebiet Syr-darja (145 000), Samar- kand (18000) und Semiretschensk (15 000). Die heutigen Sarten sind aus der Mischung der alten autochthonen Bevölkerung Turkestans mit den späteren türkischen und mongolischen Eroberern entstanden. Von den Iraniern stehen an erster Stelle die Tadschik (7 50 000), die direkten Nach- kommen der ahen autochthonen Bevölkerung Turkestans, die in vorhistorischen Zeiten aus Iran herübergekommen waren. Sie unterliegen einer raschen Türkisierung. In siedlungsgeographischer Beziehung fand Schultz, daß die Bevölkerung am dichtesten sitzt im Ferganabecken und in den Samarkander Vorgebirgsgebieten. Mittelmäßig besiedelt sind Buchara und Chiwa, während das Ust-Urt-Plateau, die großen Wüsten des Turanischen Beckens und der östliche Pamir fast menschenleer sind. Die städtische Bevölkerung macht etwa 10 "/o der Ge- samtbevölkerung Turkestans aus. Im Osten des Landes sind die Städte durchweg alte Kultur- zentren, im Norden vorwiegend neue Gründungen der Russen. Im Ferganabecken und in den Vor- gebirgsgebieten war eine außerordentliche An- sammlung städtischer Bevölkerung festzustellen. H. Fehlinger. Geologie. Der einzig sichere Weg, der zu einer tieferen und richtigen Erkenntnis der geo- logischen Vorgänge der Vergangenheit führt, kann nur der sein, daß wir uns mit den geologischen Ereignissen der Gegenwart vertraut machen. Der Leitsatz der neueren Geologie, dessen Richtigkeit immer mehr erkannt wird, kann nur so heißen: „Die geologischen Kräfte der Vergangenheit sind 400 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 29 im wesentlichen nicht verschieden von denen der Gegenwart." Ein Beispiel, das uns diese Wahrheit eindring- lich zum Bewußtsein bringen muß, bietet die Arbeit von Th. Teumer über die Ursachen größerer Flözstörungen im Senftenberger Braunkohlenrevier (Braunkohle, XlX.^Jahrg., Heft 6, 1920). Ja im Grunde geht dieser Aufsatz noch einen Schritt weiter, da er nämlich zeigt, daß geologische Vor- gänge der Gegenwart, die unter IVIitwirkung des Menschen ausgelöst werden, in geologischer Vor- zeit durch Naturkräfte zur Auslösung kamen und in derselben Weise wie heute verlaufen mußten. Der geologische Vorgang der Gegenwart der aller- dings unter Mitwirkung des Menschen zur Aus- lösung kommt, ist der vom deutschen Braunkohlen- bergbau mit Recht so gefürchtete Wasserdurch- bruch aus dem Liegenden des Flözes, der dann erfolgt, wenn durch den Abbau die Mächtigkeit der Kohle stark vermindert wird. In vielen Braun- kohlengebieten kann man drei Grundwasserströme unterscheiden ; Einen Grundwasserstrom, der über der Kohle fließt, einen solchen im Liegenden der Kohle und einen dritten in der Kohle selber, dessen Geschwindigkeit aber meist so gering ist, daß man praktisch nur von den beiden ersten zu reden braucht. Bei der Anlage der großen Tage- baue fließt der Grundwasserstrom aus dem Han- genden in die Grube hinein und durch Wasser- haltungen müssen diese trocken gehalten werden. Ein klassisches Beispiel dieser Art bietet uns der Tagebau Marga im Senftenberger Revier, der mitten im Lausitzer Urstromtal gelegen ist. Hier fließt der obere Grundwasserstrom durch gleich- körnigen Talsand und eine geradezu erstaunliche Wassermenge muß hier dauernd gefördert werden, um den Tagebau vor dem Ersaufen zu schützen. Im Liegenden der Kohle fließt nun der untere Grundwasserstrom, dessen Einzugsgebiet meist er- heblich höher liegt, als das Liegende, und selbst als das Hangende der Kohle. Dadurch stehen also diese Wassermassen unter einem ziemlich er- heblichen hydrostatischen Druck. Beim Durch- bohren des Flözes müssen dieselben Verhältnisse wie bei einem artesischen Brunnen auftreten. Bei dem eben erwähnten Tagebau Marga ist aller- dings der Druck im Liegenden des Flözes nicht sehr erheblich, weil große Löcher im Flöz (flöz- leere Stellen) eine Verbindung von oberem und unterem Grundwasserstrom möglich machen. Bei der allmählichen Absenkung des Grundwasser- spiegels muß also selbst eine Pumpe, die im Hangenden des Mözes ansetzt, Wassermassen des unteren Grundwasserstromes fördern, und so seinen hydrostatischen Auftrieb verringern. Das Bild eines Grundwasserdurchbruchs aus dem Liegenden mit seiner oft verhängnisvollen Wirkung für den Bergbau kann also folgender- maßen aussehen. Stellen wir uns einen Tagebau vor, der ganz bedeutend länger als breit ist und dadurch im Landschaftsbilde den Eindruck einer von Menschenhand geschaffenen Schlucht macht. Dieser Tagebau möge noch dazu am Rande einer Hochfläche gelegen sein, um die Illusion eines Tales, das sich in die Hochfläche liineinzieht, voll- ständig zu machen. Im Liegenden des Flözes fließe ein Grundwasserstrom unter starkem hydro- statischem Druck, von dessen Vorhandensein der Bergbau nichts ahnt, weil das starre Flöz ihm das Gleichgewicht hält. Würde nun das Flöz in der Weise abgebaggert, daß es immer dünner und dünner wird, so wird seine Festigkeit schließlich soweit nachlassen, daß sich der Grundwasserstrom bemerkbar macht. Der Boden fängt an zu wippen, hebt sich rhythmisch auf und ab und schließlich drückt das Wasser das Flöz von unten durch. Aus dem schluchtartigen Tagebau stürzt ein Wasserstrom hervor, der nicht nur ein wirres Durcheinandergequirl von Kohlenbrocken und Deckgebirge mit sich führt, sondern auch nicht unerhebliche Massen aus dem Liegenden weg- transportiert. Diesen Vorgang überträgt Teumer auf die geologische Vergangenheit und macht es auf Grund von Beobachtungsmaterial aus dem Senften- berger Revier mehr als wahrscheinlich, daß auch Naturkräfte ein derartiges Ereignis auslösen können. Die Braunkohlenflöze sind vielfach der Zerstörung durch fließendes Wasser anheimgefallen. Oft sind von weitausgedehnten autochthonen Flözen nur einzelne größere Stücke übriggeblieben, die selbst wieder durch schmale Auswaschungsrinnen die eigenartigste Gestalt aufweisen. Hiervon kann uns die Flözkarte des Oberflözes im Senftenberger Revier überzeugen. Von diesem Höz sind nur 6 größere Stücke übrig geblieben. Wie die Föhrden an der deutschen und dänischen Küste ziehen sich schmale Auswaschungsrinnen in diese Gebiete hinein, deren Gestalt nur eine Erklärung durch die Arbeit des fließenden Wassers zuläßt. Solche Flözzerstörungen können nach Teumer sowohl im Pliozän als im Eiszeitalter vorgekommen sein (die Niederlausitzer Braunkohle ist miozänen Alters). Wie nun der Kohlenbagger das Flöz wegnimmt, so hier der Fluß in der Auswaschungs- rinne; zuerst erodiert er das Deckgebirge, schließ- lich erreicht das Flußbett die Kohle. Wenn nun die Dicke des Flözes mehr und mehr abnimmt, drückt der Grundwasserstrom die Kohle von unten durch. Jetzt fließen die Tagewässer und der Grundwasserstrom aus dem Liegenden durch die Rinne; das Gebirge aus dem Hangenden, die Kohle und das Material aus dem Liegenden vermischen sich mit dem Wasserstrom. Es ist die Mög- lichkeit gegeben, daß bedeutend e Mas- sen unter dem Flöz wegtransportiert werden und Massendefekte unter den noch nicht zerstörten und vom Deck- gebirge nicht entblößten F"lözteilen entstehen können. Zu beiden Seiten einer solchen Auswaschungsrinne kann sich jetzt das Flöz absenken unter sei- nem eigenen Gewicht und unter dem N. F. XDC. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 461 des Deckgebirges. Durch spätere Ablage- rungen wird die Auswaschungsrinne wieder zu- gefüllt, sie wird aber stets ein wirres Haufwerk von schwer zu enträtselndem Gebirgsmaterial ent- halten. So kann ein Flöz, das ursprünglich voll- kommen horizontal und ungestört lag, stellenweise stark einfallen. Gewiß, für die wissenschaftliche Geologie bedeuten derartige Störungen keine großen Ereignisse, für den Bergbau sind sie aber ganz anders zu bewerten. Ein geringes Einfallen des Flözes führt bereits auf kurze Entfernung zu einer bedenklichen Steigerung der IVlächtigkeit des Deckgebirges. Diese Verhältnisse hat Teumer zur Erklärung der größeren Flözstörungen im Senftenberger Re- vier herangezogen. Er gibt zunächst ohne kriti- sche Wertung den Tatbestand, daß eben vielfach das horizontal lagernde Flöz plötzlich stark ein- fällt, daß lange Spalten dort auftreten, er be- schreibt die flözleeren Stellen, die Auswaschungs- rinnen und führt den Nachweis, daß sich alle die Verhältnisse in der oben angegebenen Weise er- klären lassen. Es kann nicht Aufgabe dieses Be- richtes sein, den Leser mit den Einzelheiten und Besonderheiten der Flözstörungen des Senften- berger Reviers bekannt zu machen, wohl aber soll dieser Bericht den Sinn haben, wieder einmal nachdrücklich zu betonen, daß das Studium der geologischen Vorgänge der Gegenwart der einzig sichere Weg ist, den wir gehen können und müssen und daß uns dieser Weg vor phantastischen Kon- struktionen schützt. Bis vor kurzer Zeit bezeichnete man die größeren Flözstörungen im Senftenberger Oberflöz als „tektonisch". Wilhelm Nuß. Zoologie. Schulung eines jungen Raubvogels im Fangen der Beute; Folgende Beobachtungen von B. Hoffmann- Dresden (Ornithologische Monatsschrift Januar 1920) scheinen der gekürzten Wiedergabe wert. Bussarde waren in einem Horst ausgebrütet worden und eines Morgens noch alle fünf in den Lüften, an den folgenden Tagen aber infolge Abwanderns der andeien meist nur noch ein alter und ein junger. Eines Vor- mittags nun sah Hoff mann den alten mit Beute, anscheinend einem schlangenartigen Reptil, heran- geflogen kommen, während der junge jenem entgegenflog und in kläglichen Tönen um das Futter bettelte, das ihm aber sogar in lebhaften Kämpfen verweigert wurde, bis der alte endlich die Beute fallen ließ und der junge sie nicht ohne Mühe erhaschte. Bald darauf kam der junge Bussard bettelnd schreiend wieder, der alte kehrte nach vergeblicher Jagd auf einen Fasan nach '■^|^ Stunde mit der gleichen Beute zurück wie das erstemal, und das vorige Schauspiel wiederholte sich ; so auch noch ein drittes Mal. Ähnliche Beobachtungen an Raubvögeln dürf- ten selten gemacht worden sein, und sie regen an zu der Furage, ob hier Instinkt oder Verstand vorliegt. V. Franz. Von der gelben Färbung der Mundhöhle junger Vögel stellte W. J. Schmidt') an jungen Amseln fest, daß sie auf einem Lipochrom be- ruht, das, in Fetttropfen gelöst, im Plasma der Epithelzellen vorkommt, nie in den Fettzellen des unterUegenden Bindegewebes. Der Farbstoff kann in sämtlichen Zellen des Epithels oder auch nur in denen des Rete malpighii erscheinen, was von Ort zu Ort in der Mundhöhle wechselt. Oft umlagern die F'etttröpfchen den Kern, doch kann daraus nicht auf ihren Ursprung oder den des Farbstoffs geschlossen werden. Die Beschränkung des Farb- stoffs auf das Epithel stimmt überein mit dem, was man seit Leydig, Kruckenberg und andere über den roten Farbstoff nackter Hautstellen bei Vögeln weis. Weitere Untersuchungen müssen feststellen, ob die gelbe, nach einiger Zeit wieder schwindende Färbung der Mundhöhle junger Vögel mit der Resorption des Dotters im Darm zusammenhängt. Fest steht bisher, daß der Dotter gleichfalls ein Lipochrom enthält und nicht unwahrscheinlich sei, daß der gelbe F'arbstoff des Dotters mit dem der gelben Fußbekleidung der Vögel und mit dem der Federn identisch ist. Erwägungen darüber, ob die biologische Bedeutung der gelben Farbe der Mundhöhle junger Vögel in der Herstellung von Leitmalen für die atzenden Eltern besteht, wie es Chun für die helle Farbe der Schnabel- wülste und die lichtreflektierenden Leuchtorgane australischer Prachtfinken annimmt, führen den Verfasser zu keiner sicheren Schlußfolgerung. Ein Überblick über das Vorkommen von Lipo- chromen in der Haut der Wirbeltiere bringt in Erinnerung, daß solche bei den Säugern fehlen, bei Kaltblütern aber nie in Epithelzellen, sondern in besonderen, allermeist der Cutis angehörigen Zellen, ganz ausnahmsweise (Salamander) auch in der Epidermis in besonderen Chromatophoren vorkommen, meist in F"ett gelöst, mitunter aber in Kristallen oder in einer alkoholunlöslichen Modifikation. V. Franz, Jena. Dinophilus apatris Korscheit ist ein merk- würdig esTldeinesr zu den „Würmern" gehöriges Meerestier, das zuletzt in den R. Hertwigschen Forschungen über die Ursachen der Geschlechts- bestimmung eine Rolle spielte, nachdem v. Mal- sen im Münchener Zoologischen Institut gefunden hatte, Wärme begünstige die Bildung der männ- lichen Eier, die bei dieser Tierart leicht von den größeren weiblichen, die stets aus mehreren Zellen verschmölzen, zu unterscheiden sind. Nach einer neueren Arbeit von Nachts- heim-) dürfte nun Dinophilus die bisherige ') W. J. Scliraidt, Über die gelbe Färbung der Mund- höhle junger Vögel. Verhandl. d. Naturhist. Vereins d. preuß. Rheinlande u. Westfalens, 75. Jahrgang 1918. Bonn igiq. S. 169-188, S. 10 f. ''} HansNachtsheim, Zytologische und experimentelle Untersuchungen über die Geschlechtsbestimmung bei Dino- philus apatris Korsch. Archiv für mikroskopische Anatomie, Band 93, Abteilung II, Seite 17 bis 140, 4 Tafeln. 462 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 29 Rolle in der Lehre von den geschlechtsbestimmen- den Ursachen ausgespielt haben. Manche Merk- würdigkeiten seiner Organisation dürften aber auch jetzt noch der allgemeinen Aufmerksamkeit wert sein. Die Männchen von Dinophilus apatris sind, wie schon der Entdecker der Art, Korscheit, fand, außerordentlich kleine infusorienartige Wesen, ein im Tierreich bekanntlich zwar nicht ganz einzig dastehender Fall, während anderweitige Dinophilus-Arten äußerlich nicht dimorph sind. Die Spermatogenese bietet nichts Besonderes; es scheint nur eine Sorte von Samenzellen, alle mit 10 Chromosomen, gebildet zu werden, so daß man nicht wie in so manchen anderen Fällen ein bestimmtes Chromosom als das geschlechtsbe- stimmende hinstellen kann. Die Begattung der Weibchen erfolgt kurz vor dem Ausschlüpfen der Weibchen aus dem Schleim- kokon durch die Männchen, die in demselben Kokon aus Eiern entstanden. Inzucht ist also die Regel. Die Begattung erfolgt in der Weise, daß das Männchen den Penis durch die Körper- wand des Weibchens hindurchstößt und so die Spermien in dessen Leibeshöhle befördert. Vor der Befruchtung der Eizellen erfolgt im Leibe des Weibchens ein starkes Wachstum der Ovozyten, wobei stets solche miteinander in großer Zahl verschmelzen, ohne daß übrigens Kernverschmelzungen vorkämen : der Kern der einen von zwei verschmelzenden Zellen wird stets resorbiert. Eine Differenzierung der Eier in große weibliche und kleine männ- liche erfolgt durch die Verschmelzun- gen noch nicht, sondern am Ende der Ver- schmelzungsperiode sind alle Eier gleich groß. Alsdann erst werden einige Eier durch stärkeres Wachstum, später auch durch stärkere Dotter- bildung, zu ,, Weibcheneiern". Demnach dürften männliche und weibliche Eier aus je gleichvielen Zellen entstehen, und eine morphologisch erkennbare Ursache für die Differenzierung der Eier in männliche und weib- liche fehlt durchaus. Nach der Differenzierung, wenn auch vor be- ginnender Dotterbildung, erfolgt die Besamung, die somit ohne Einfluß auf die Geschlechtsbe- stimmung ist. Obschon die Besamung bei den verschiedenen Organismen zu sehr verschiedenen Zeiten erfolgen kann, vor, während und nach der Eireifung, ist eine derart frühe Besamung wie bei Dinophilus, nämlich vor der Reservestoffbildung, durchaus selten und im Tierreich erst bei einem Turbellar (Otomesostonum) und einem Annelliden (Saccocirrus) bekannt geworden. — Auf feinere zytologische Einzelheiten einzugehen, die Nachts- heim ermittelte, ist hier nicht der Ort. Experimentelle Untersuchungen lehrten, daß das Sexualitätsverhältnis bei Dinophilus apatris je nach der Rasse schwankt und somit in erster Linie auf inneren, ererbten Faktoren beruht. Äußere Faktoren modifizieren es nur in ganz geringem Maße : Kälte gar nicht, Wärme läßt die Männcheneier schneller ablegereif werden als die Weibcheneier, so daß die ersten Kokons eines in der Wärme gezüchteten Weibchens mehr Männchen- eier enthalten als gewöhnlich, was sich aber bei den späteren Kokons wieder ausgleicht, Ernäh- rungsungunst verschiebt das Geschlechtsverhältnis zugunsten der Männchen, da in diesem Falle den Weibcheneiern nicht so viele Nährstoffe zugefügt werden, wie sie zur Vollendung ihrer Entwicklung brauchen. Ausbleiben der Begattung beeinflußt das Ge- schlechtsverhältnis der Eier wiederum nicht. Parthenogenetische Entwicklung bis zu frühen Embryonalstadien kann eintreten. ^ Hinsichtlich der phylogenetischen Stellung von Dinophilus weist Nachtsheim Übereinstim- mungen der Furchungsart und Keimblattbildung mit denen der Polychäten nach, die Bewimperung und der Entstehungsort des Gehirns gemahnen an die Trochophoralarve, die Größe und die Aus- bildung der Metamerie führen jedoch über diese hinaus. /^Ähnlichkeiten mit Eunizidenlarven lassen in Dinophilus eine geschlechtsreif , gewordene polytroche Annelidenlarve erkennen; andere Merk- male, wie auch die Rudimentation der Männchen, gemahnen aber auch an die Rotatorien, die ja gewiß mit den Anneliden verwandt sind, mag man sie als geschlechtsreife Larvenformen auf- fassen oder, wozu Nachtsheim mehr neigt, als näher den Stammformen der Anneliden stehend. V. Franz, Jena. Bücherbesprechungen. Cahn, Fritz: Die Zelle. 8». 68 Seiten, 6 Tafeln, 23 Textabbildg. Stuttgart, Kosmos. 2,40 M. Der Gedanke des Kosmos- Verlags, in einem seiner periodisch erscheinenden Büchlein die Zelle zu behandeln , verdient wegen der Wichtigkeit des Gegenstandes vollste Anerkennung. Die Dar- stellung Fritz Cahns ist sehr wohl anregend und anschaulich ausgefallen und wird dem erforderten Zweck recht gut genügen. Besonders zu loben sind anschauliche , höchstens zum Teil etwas zu stark schematisierte Abbildungen verschiedener Zellarten sowie ein Bild vom Kampf zwischen Bakterien und Wanderzellen, mit dem entsprechen- den Text. Die Hinweise auf flüssige Kristalle und „künstliche Amöben" zum Vergleich mit Zellen treffen durchaus das Richtige. Dagegen dürfte die eingehende Wiedergabe veralteter Theorien des Zellplasmas, wie der Flemmingschen Fädentheorie, der Künstlerschen Mosaiktheorie und der Fayodschen Spiraltheorie, zur Anschaulich- N. F. XIX. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 463 keit viel weniger beitragen als die geschichtliche Einleitung mit der ältesten Darstellung von Zellen aus dem Jahre 1667. Auch in der Bewertung der Amöbe als Urwesen — eine durch Pascher und andere doch erledigte Auffassung! — und in der Wiedergabe der „Norwegischen Flimmer- kugel" — die höchst problematische Magosphaera Haeckels - — bemerkt man etwas mehr Beharrungs- gesetz, als erwünscht. Daß die Amöbe die „ein- fachste Form der Zellteilung" zeige, trifft vollends nicht zu. Die Einteilung der verschiedenen Körner in der Zelle in „Atemkörner", „Speicher- körner", „Drüsenkörner", ,, Nervenkörner", „Pigment- körner" und ,, Reizkörner" nebst den Zentralkörpern einerseits und den Chlorophyllkörnern andererseits ist in vielem zugleich hypothetisch und rein theo- retisch und hierin dermaßen des Verfassers eigene Geistesarbeit, daß dies hätte erwähnt werden sollen. Die Angabe, daß der menschliche Körper 30 Billionen Zellen enthalte, wird manchen Leser interessieren und ist somit zu begrüßen, obwohl sie wegen der Verschiedenartigkeit der Zellenarten kaum Erkenntniswert hat. Alles in allem: wäre für eine Neubearbeitung auch manche Änderung erwünscht, so muß man doch sagen, daß eine gute kurze populäre Ein- führung in das Wesen der Zelle, wie sie hier ge- geben ist, noch nicht vorliegen dürfte und das Büchlein im Leserkreis des Kosmos- Verlags somit Gutes wirken wird. V. Franz, Jena. Bley, Fritz, Von wehrhaftem Raubwilde. 8". 260 Seiten. IVIit 16 Tierphotographien nach dem Leben. R. Voigtländers Verlag in Leipzig. 5 M., geb. 7 iVI. Fritz Bleys sieben Tiergeschichten „König Braun", „Isegrim in Krieg und Frieden", „Blut- schreck", „Hexenspuk", „Otterchen", „Der wilde Jäger" und „Die Verwunschenen", die einen in vierter Auflage vorliegenden handlichen Band bilden, gebührt dasselbe Lob wie dem zuvor erwähnten Band ,,Von freiem Hochlandwilde". Die photographischen Bilder sind vielleicht noch prächtiger, und der Band bietet auch an Aus- stattung wirklich alles , was man für den Preis heutzutage erwarten kann. V. Franz, Jena. Rusch, F., Beobachtung des Himmels mit einfachen Instrumenten. IL Aufl. 5 1 S. mit 6 Abb. Der mathem.-physik. Biblio- thek Heft 14. Leipzig 1919, Teubner. Brosch. I M. Der auf diesem Gebiete wohlbekannte Verf. gibt hier in gedrängter Form, doch sehr anschau- lich und verständlich alles, was sich mit kleinen Instrumenten, Fernrohr, Prisma und photographi- scher Kamera am Himmel machen läßt. Zunächst die Handhabung dieser Instrumente, dann ihre Anwendung auf die verschiedenen Arten von Himmelskörpern. Eine Anzahl von Tafeln geben Zusammenstellungen von Sternen, Doppelsternen, Nebeln, Sternhaufen und Mondgebilden, die mit solchen Instrumenten nutzbringend zu beobachten sind. Also ein für Besitzer solcher Fernrohre sehr brauchbares Büchlein, das jedem Freunde der Himmelskunde empfohlen werden kann. Riem. Stäger, R. , Erlebnisse mit Insekten. 8". 98 Seilen. Zürich, Rascher & Co. 2 M. Format und äußere Ausstattung sind etwa die eines „Kosmosbücheis", infolge dickeren Papiers und weiteren Satzes steht zwar weniger drin, wenn man nach der Zeilenzahl mißt. Doch ver- dient der Inhalt Lob. Der Verf erzählt in unge- schminkter und anziehender Weise fast nur Selbst- erlebtes. Nur ganz wenig wird dazwischen auch einmal philosophiert oder in Fragen der Systematik das Schrifttum herangezogen. Eine Probe: „Oft wird dem Lerchensporn der Honig nicht nur von einer, sondern von drei, vier oder fünf Hummeln auf die geschilderte Weise entnommen. iVIeint ihr, die nachfolgenden Schelme benützten die Öffnung, die der erste in den Sporn gebissen ? Keine Spur davon. Und doch wäre dies das Einfachste gewesen und hätte keine weitere Ar- beit erfordert. Aber nein ; jeder beißt sein eigenes Loch hinein, und kämen zehn Erdhummel nach- einander. Und so gewinnt denn schließlich ein solcher Sporn das Aussehen einer Kinderfiöte, wo ein Loch hinter dem andern in einer Reihe angebracht ist. Vielleicht hielt man die Erd- hummel bisher ihres Schurkenstreichs wegen für so grundgescheit, weil man diese Tatsachen nicht kannte Ich bin zufrieden mit meinem Spazier- gang. Durch einen einzigen Blick in das wunder- bare Räderwerk der Natur habe ich mehr gelernt als aus zehn staubigen Büchern meiner Bibliothek." V. Franz, Jena. Anregungen und Antworten. über die Schrift von H. Fricke, Eine neue und einfache Deutung der Schwerkraft und eine anschauliche Er- klärung der Physik des Raumes (Wolfenbüttel 1919, Heckners Verlag) ist uns noch eine wesentlich von der früheren Be- sprechung (S. 15S dieses Jahrganges) abweichende Beurteilung von Herrn Prof. Becker (Heidelberg) zugegangen, die wir noch zum Abdruck bringen möchten. „Die vorliegende Schrift enthält eine Reihe von Aufsätzen, in denen Verf. eine über unsere bisherige Kenntnis hinaus- gehende Deutung der Gravitation glaubt geben zu können. Der Grundgedanke ist der, daß die Kraftlinien des Schwere- feldes den Lichtstrahlen vergleichbar als Weg einer Energie- strahlung (zum anziehenden Körper hin) aufzufassen seien. Es müsse infolgedessen in schweren Massen eine dauernde Eneigieentwicklung stattfinden, die sich in den Himmelskörpern durch ihre Temperatur äußere. In diesem Zusammenhang glaubt Verf. die Tatsache eines gewissen Parallelismus von Masse und Temperatur dieser Körper verständlich machen zu 464 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 29 können, die natürlich, was offenbar nicht erkannt wird, ohne weiteres aus der Proportionalität von Masse und Wärmeinhalt bei festgehaltener Temperatur folgt. Diese und zahlreiche damit verknüpfte Betrachtungen sind leider vielfach weder mit unserer bisherigen festbegründeten Kenntnis noch miteinander in Einklang zu bringen." V. Reinach-Preis für Mineralogie. Ein Preis von 500 Mark soll der besten Arbeit zuerkannt werden, die einen Teil der Mineralogie des Gebietes zwischen Aschaffenburg, Heppenheim, Alzey, Kreuznach, Koblenz, Ems, Gießen und Büdingen be- handelt; nur wenn es der Zusammenhang erfordert, dürfen andere Landesteile in die Arbeit einbezogen werden. Die Arbeiten, deren Ergebnisse noch nicht anderweitig veröffentlicht sein dürfen, sind bis zum I. Oktober 1921 in versiegeltem Umschlage, mit Motto versehen, an die unter- zeichnete Stelle einzureichen. Der Name des Verfassers ist in einem mit gleichem Motto versehenen zweiten Umschlage beizufügen. Die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft hat die Berechtigung, diejenige Arbeit, der der Preis zuerkannt wird, ohne weiteres Entgelt in ihren Schriften zu veröffentlichen, kann aber auch dem Autor das freie Verfügungsrecht über- lassen. Nicht preisgekrönte Arbeiten werden den Verfassern zurückgesandt. Über die Zuerteilung des Preises entscheidet bis spätestens Ende Februar 1922 die unterzeichnete Direktion auf Vorschlag einer von ihr noch zu ernennenden Prüfungskommission. Frankfurt a. M., i. April 1920. Die Direktion der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft. The wonderfull Dog of Misnia. Sehr vorsichtig drückt sich Kant hinsichtlich der Raumzeit- Anschauung d^r Tiere — am Schluß der Allgemeinen Anmerkungen zur transzenden- talen Ästhetik — aus: ,,Es ist auch nicht nötig, daß wir die Anschauungsart in Raum und Zeit auf die Sinnlichkeit des Menschen einschränken; es mag sein, daß alles endlich den- kende Wesen hierin mit dem Menschen notwendig überein- kommen müsse (wiewohl wir dieses nicht entscheiden kön- nen) . . .'* Und in der Tat ist hier wie hinsichtlich des Den- kens der Tiere die größte Zurückhaltung erforderlich. Solange noch irgendwelche Aussicht besteht, psychische Phänomene bei Tieren mit Hilfe niederer Prinzipien erklären zu können, dürfen höhere nicht herangezogen werden, nach dem alten Satze: entia non sunt creanda sine necessitate. Man darf bei den Tieren nicht sofort die höchsten menschlichen psychischen Fähigkeiten ins Spiel setzen, wenn es sich darum handelt, komplizierte Handlungen derselben zu erklären. — Die Psyche unserer Haustiere ist, wie verständlich, seit alters her Gegen- stand intensiven Nachdenkens gewesen, besonders die unseres treuen Freundes, des Hundes. Zurzeit ist dieses Thema ganz besonders aktuell: die rechnenden usw. Hunde und Pferde (Paula Möckel, Mein Hund Rolf, ein rechnender und buch- stabierender Airdale-Terrier; Änny Kindermann, Lola, ein Bei- trag zum Denken und Sprechen der Tiere). Ich möchte heute — da mir nicht bewufit ist, über diese Angelegenheit etwas bisher gelesen zu haben — an einen ,, sprechenden" Hund erinnern, mit dem sich Lcibniz befaßt hat. Etwas ausführ- licher berichtet über diese Angelegenheit Shaw 1800 in seiner General Zoology. Am besten ist es, den betreffenden Passus — Vol. 1, part. 2, pag. 289, 2go — in e.ttenso anzuführen (da das beireffende Werk schwer zugänglich ist). Shaw berichtet : ,,But of all the educational attainments by wich the Dog has been distinguished, that of learning to s|)eak secms the most extraordinary. The French academicians, however, make mention of a Dog in Germany, which could call, in an in- telligible manner, for tea, coffee, chocolate etc. etc. The ac- count is too curious to be omitted here, and is from no less a person than the celebrated Leibnitz, who communicated it to the Royal Academy of France. This Dog was of a midd- ling size, und was the property of a peasant in Saxony. A little boy, the peasant's son, imaginated that he perceived in the Dog's voice an indistinct resemblance to cerlain words, and, therefore, took it into his head to teach him to speak. For this purpose he spared neither time nor pains with his pupil, who was about three years old when this his learned education commenced ; and at length he made such a progress in language as to be able to articulate no less than thirty words. It appears, however, that he was somewhat of a truant, and did not very willingly e.\ert his talents, being rather pressed into the Service of literature; and it was neces- sary that the words should be first pronounced to him each time, which he. as it were, echoed from his preceptor. Leibniz, however, altests that he himself heard him speak ; and the French academicians add, that, unless they had received the testimony of so great a man as Leibniz, they should scarcely have dared to report the circumstance. This wonderfull Dog was born near Zeitz in Misnia, in Saxony." Dieser wunderbare Hund übertrifft also noch den be- rühmten Rolf. Es wäre interessant von den Psychologen, die sich speziell mit den Hunden befassen. Näheres über ihn und besonders über Leibniz' Behauptungen und Ansichten zu erfahren. Dr. Anton Krauße, Eberswalde. Wissenschaftlicher Naturschutz? In Nr. 13 der Naturw. Wochenschr. weist Prof. Konrad Guenther dem Natur- schutz eine neue Aufgabe zu, die darin bestehen soll, ,, unter Zugrundelegung der Verhältnisse, wie sie die heutige Kultur braucht, zu untersuchen, wie der Naturorganismus überall da, wo er erschüttert ist, wiederhergestellt werden kann". Er nennt diesen Teil des Naturschutzes ,,im Hinblick auf seine wissenschaftlichen Arbeitsweisen und Ziele den wissen- schaftlichen Naturschutz", indem er bemerkt, daß ,, unter Naturschutz bisher hauptsächlich Naturpflege oder Naturdenkmalpflege betrieben wurde". Hiermit ist ausge- sprochen, daß die Nalurdenkmalpflege, die Naturptlege und der ganze Naturschutz, wie er ,, bisher" betrieben worden ist, keine ,, wissenschaftlichen Arbeitsweisen und Ziele" haben. Aus dem Munde eines Forschers, der seit vielen Jahren in vorderster Reihe für den Naturschutz kämpft, ist diese Behauptung be- fremdlich; sowohl die Naturdenkmalpflege in Preußen wie die Nalurpfiege in Bayern und der Naturschutz in Sachsen, Baden usw. ruhen auf wissenschaftlicher Grundlage und werden in wissenschaftlicher Weise betrieben. Um nur von Preußen zu sprechen, so gehört zu den Aufgaben der NaturdenkmalpHege außer der Ermittlung auch die Erforschung der Natur- denkmäler, und Zeugnisse für diese Tätigkeit liegen in den Veröffentlichungen der Staatlichen Stelle für Naturdenkmal- pflcge vor. Die Wahl des Ausdrucks ,, Wissenschaftlicher Naturschutz" für das von Prof. Guenther umschriebene Arbeitsfeld ist daher ein Mißgriff. Wenn ein besonderer Name dafür nötig ist, so mag es ,, Experimenteller Naturschutz" oder auch ,, Biologischer Naturschulz" genannt werden, ein Name, der sogleich an die verwandten Aufgaben der ,, Biologischen Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft" erinnern würde und außerdem erkennen ließe, daß ein nicht unwichtiges Ge- biet der Naturdenkmalpflege und des allgemeinen Natur- schutzes (das übrigens auch in Prof. Guenthers bekanntem Buch nicht berücksichtigt wird), nämlich der Schutz der geo- logischen Naturdenkmäler, außer Betracht bleiben soll. (Eingegangen am 25. April.) F. Moewes. Inhalt: R. Weinland, Über die Wernersche Koordinationslehre. (12 Abb.) (Forlsetzung.) S. 449. — Einzelberichte: A. Schultz, Zur Anthropogeographie West-Turkestans. S. 459. T h. Teumer, Ursachen größerer F'lözstörungen im Senftenbe " ''' ' " „..., „, -- .... .„ S. S. F. S. klärung der Pliysik des Raumes. S. 463. .. --. S. 464. Wissenschaftlicher Naturschutz? S. 464. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band : ST ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 25. Juli 1920. Nummer 30. „Magische Quadrate" und Planetenamulette. [Nachdruck verboten.) Von Dr. W. Ahrens, Rostock. Mit 15 Abbildungen. Schon Geber, der berühmte, freilich auch etwas mythenhafte arabische Alchimist und Astrolog des 8. oder 9. Jahrhunderts, soll Kenntnis gehabt haben von einer merkwürdigen Zahlenanordnung, die wir heute mit dem Namen „magisches Quadrat" bezeichnen, und jedenfalls findet sich in dem wunderlichen „Buche der Wagen", das man — mit Recht oder Unrecht — Geber zuschreibt, ein solches magisches Quadrat. Es ist eine An- ordnung der Zahlen 1 bis 9 in 3> 3 Zellen, wie wir sie hier wiedergeben: Die Zahlen sind so geordnet, daß jede der drei wagerechten Reihen, z. B. 4, 9, 2, und ebenso jede der drei lotrechten Reihen, z. B. 2, 7, 6, schließ- lich auch jede der beiden Diagonalreihen (4, 5, 6 und 2, 5, 8) übereinstimmend dieselbe Zahlen- summe, nämlich 15, ergibt. Ein solches, aus lauter verschiedenen Zahlen bestehendes Quadrat nun, das in allen wagerechten Reihen („Zeilen"), allen lotrechten Reihen („Spalten") und in jeder der beiden Diagonalen stets die gleiche Zahlen- summe aufweist, nennt man heute, wie schon ge- sagt, allgemein ein „magisches Quadrat". Da ein solches von 2X2 Zellen, gebildet aus vier ver- schiedenen Zahlen, offenbar unmöglich ist, so ist das hier angegebene Neunzellenquadrat das kleinstmögliche magische Quadrat überhaupt, das- jenige erster Stufe. Ebenso jedoch, wie mit 3X3 Zellen, läßt sich mit 4> 4 Zellen ein ma- gisches Quadrat angeben, das nun entsprechend natürlich mit den Zahlen 1 bis 16 auszufüllen ist. Ein solches magisches Quadrat zweiter Stufe (von i6Zellen) findet sich bekanntlich auf Albrecht Du rers berühmtem Kupferstich„Melencolia"(i 514); es ist dies zugleich eins der allerfrühesten magi- schen Quadrate, die wir aus dem Abendlande nachzuweisen vermögen. Jede der vier „Zeilen" dieses Quadrats, jede der vier „Spalten" und ebenso jede der beiden Diagonalen ergibt übereinstimmend die Zahlensumme 34, die sog. „Konstante" des magischen Quadrats. Entsprechend den magischen Quadraten erster und zweiter Stufe von 3X3 resp. 4X4 Zellen lassen sich nun magische Quadrate von 5X5 Zellen, sodann von 61-: 6 usw. stets bilden, allgemein solche von nXn Zellen (n>3). Dabei sind also die n'- Zellen in der Regel mit den Zahlen i bis n- auszufüllen und zwar in der Weise, daß, wie gesagt, jede der n Zeilen, jede der n Spalten und jede der beiden Diagonalen als Zahlensumme die „Konstante" des Quadrats — sie hat, wie eine leichte Rechnung zeigt, den Wert n(n''-f-i) . - ' - — ergibt. 2 ^ Ob nun bereits Geber ein magisches Quadrat kannte oder nicht, jedenfalls wird man nach allem, was heute bekannt ist, die Araber, und nicht, wie vielfach oder gar meistens angenommen und an- gegeben wird, die Inder, als die Erfinder der magischen Quadrate zu bezeichnen und als deren Wiegenzeit etwa die Zeit vom S.— 1 1. Jahrhundert n. Chr. anzusehen haben. Dabei sehe ich freilich ganz ab von einem angeblich jahrtausendealten, aber durchaus sagenhaften und daher für ernst- hafte Geschichtsbetrachtungen, wenigstens bei heu- tigem Stande der Frage, gar nicht verwertbaren chinesischen Vorkommnis eines magischen Qua- drats, auf das hier daher überhaupt nicht näher eingegangen werden soll. Auch die ältesten ara- bischen Schriften und Autoren, die nächst Geber für unseren Gegenstand in Betracht kommen, über- gehen wir und wollen nur als das älteste heute noch erhaltene Werk, das schon eine beträcht- liche Fülle von magischen Quadraten verschie- denerStufen aufweist und auch einige Kenntnis der wichtigsten Bildungsgesetze verrät, den sams al-ma'ririf („Sonne der Wissenschaften") des Arabers al-Büni (f 1225 n. Chr.) nennen; der Text dieses, wie es scheint, bisher außerhalb des Morgenlandes noch gar nicht studierten und daher in der europäischen Literatur nirgends gewürdigten Werkes ist mir leider wegen Unkenntnis der ara- bischen Sprache verschlossen, jedoch habe ich die sämtlichen und zahlreichen magischen Quadrate des Buches um so eingehender studiert. Schon der Titel — „Sonne der Wissenschaften" — des B u n i sehen Werkes, von dem die magischen Quadrate, wie schon angedeutet, einen nicht un- wesentlichen Bestandteil bilden, läßt erraten, daß die arabischen Gelehrten diesen Zahlenquadraten eine besondere Bedeutung beilegten. Es ist be- greiflich, daß solche Zahlenanordnungen mit der- selben in den verschiedensten Reihen stets wieder- kehrenden Zahlensumme auf abergläubische Ge- müter, insbesondere auf Menschen, die zu dem auch heute noch weitverbreiteten Zahlenaber- glauben neigten, eine faszinierende Wirkung aus- übten, und so ist es verständlich, daß diesen merkwürdigen Zahlenquadraten besondere, „ma- 466 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 30 gische" Eigenschaften und Kräfte zugeschrieben wurden. So hat man sie denn auch praktisch für allerlei magische Zwecke gebraucht, und von dieser Verwendung rührt ja der Name, mit dem wir sie heute noch zu bezeichnen pflegen, her. Insbesondere in ihrer Heimat und überhaupt im ganzen Morgenlande sind sie von ihrem ersten Auftreten an bis auf den heutigen Tag im Dienste der IVIagie und Zauberei beständig verwandt worden, und man könnte dafür, ohne daß hier jedoch der Platz wäre, ein außerordentlich umfang- reiches Material auch noch aus neuer und neuester Zeit beibringen. Jedoch, auch das christliche Abendland hat etwa von Ausgang des 15. oder Anfang des 16. Jahrhunderts an die vom Orient überkommenen Zahlenquadrate sogleich in aus- giebiger Weise für solche Zwecke verwandt, wenn auch die äußeren Formen, in denen dies hier ge- schah, sich von denen des Morgenlandes im all- gemeinen wesentlich unterschieden. Hier, in West- europa, sind es — abgesehen von selteneren Vor- kommnissen, wie an Kirchen und anderen Ge- bäuden, — vorwiegend die „Planetenamulette", die noch heute von dieser Verwendung der Zahlen- quadrate im Dienste der okkulten Wissenschaften zeugen. Es sind dies medaillenartige Amulette, von denen unsere Münzkabinette und andere Sammlungen vielfach noch heute eine nicht ge- ringe Zahl besitzen, ohne daß bisher irgend jemand diesen Erzeugnissen und Werkzeugen des Aber- glaubens ein näheres Studium gewidmet hätte. Wohl kommen sie in der Literatur, zumal der- jenigen des 16. und 17. Jahrhunderts, an nicht seltenen Stellen, wenn auch zumeist vereinzelt oder doch in geringerer Anzahl, vor, und diese Vorkommnisse nun veranlaßten mich, durch eine — kurz vor dem Kriege — über die größten Sammlungen Europas erstreckte Umfrage den heute noch erhaltenen Bestand -in der Hauptsache festzustellen. So, aus Sammlungen und Literatur, bekam ich immerhin ein recht ansehnliches Mate- rial zusammen, wenn auch jedenfalls manche Planetenamulette, die im 16. und 17. Jahrhundert zirkuliert haben, heute weder in der Literatur noch in einer Sammlung Spuren hinterlassen haben und somit unwiederbringlich untergegangen sind. Die Astrologie ist es, der unsere Zahlen- quadrate auf diesen Amuletten dienstbar gemacht sind, — die Astrologie, der Astronomie „närrisches Töchterlin", wie der große Kepler diese After- wissenschaft einmal nennt, die bekanntlich auf dem Aberglauben beruht, daß alles Geschehen auf der Erde, alles Werden und alle Schicksale im Menschenleben, von den Sternen, insbesondere den Planeten, bestimmt werde. Von ihnen, den Planelen, hängen nach diesem schon im fernsten Altertum wurzelnden Glauben nicht nur die Jahres- zeiten, nicht nur Wind und Wetter jedes Tages, jeder Stunde, sondern auch alle Ereignisse im Lebensgange jedes einzelnen Menschen, ja seine Fähigkeiten, die Entwicklung seines Charakters, die Gestaltung seiner äußeren Erscheinung, ab. Sie, die Planeten waren so die Götter der Welt, und bekanntlich hat man sie, wie ihre noch heute gebräuchlichen Namen auch zeigen, geradezu mit Göttern identifiziert. Dabei galt als ,,Planeten" schon dem Altertum, wie dem Mittelalter, bekannt- lich stets diese Siebenzahl : Mond, Merkur, Venus, Sonne, Mars, Jupiter, Saturn. In dieser Reihen- folge, geordnet nach den Zahlen der (scheinbaren) Umläufe um die Erde, treten die Planeten über- all, wo sie vorkommen, auf und ebenso natürlich auch in der gerade umgekehrten. Diese letztere Reihenfolge, die also bei dem Planeten der größten Umlaufszeit beginnt, wird für unsere nachfolgenden Ausführungen aus einem praktischen Grunde maß- gebend sein, und so mag sie hier denn nochmals — als Disposition für unsere späteren Betrach- tungen — mit einem bekannten lateinischen Distichon gegeben werden : Saturnus, dein Jupiter, hinc Mars Solque Venusque, Mercurius, cui sie ultima Luna subest. [^Mit diesen sieben Planeten nun also brachte der Aberglaube die magischen Quadrate in Ver- bindung und zwar in der Weise, daß von den magischen Quadraten der ersten 7 Stufen je eins einem bestimmten der 7 Planeten resp. Planeten- götter zugeordnet, geweiht wurde. Schon die Araber haben — spätestens im 15. Jahrhundert — solche Beziehungen angenommen. Gibt doch z. B. und insbesondere eine der Mitte des i 5. Jahr- hunderts entstammende arabische Handschrift der Berliner Staatsbibliothek '), eine Abschrift, deren Original jedoch möglicherweise noch älter ist -), eine solche Zuordnung an. Diese Schrift gibt nämlich acht im wesentlichen korrekte magische Quadrate und zwar je eins von 3-, 4-, 5', 6'^ 7^, 8'-, 9- und 10- Zellen, also je ein Quadrat der acht ersten Stufen, und von diesen ordnet sie nun das kleinste, das der 3- Zellen, dem erdnächsten Planeten, dem Mond, zu, das zweitkleinste, das der 4- Zellen also, dem folgenden Planeten, dem Merkur, usw. bis zu dem magischen Quadrat der 9" Zellen, das dem erdfernsten Planeten, dem Sa- turn, geweiht wird, während das letzte der acht magischen Quadrate, das der 10- Zellen, der auf den erdfernsten Planeten folgenden Sphäre, der des „Tierkreises", zugewiesen ist. Neben diesem soeben beschriebenen „System der Planetenquadrate" oder „Planetentafeln" hat die Astrologie nun noch ein zweites gekannt, das sogar das bei weitem wichtigere ist. Es unter- scheidet sich von dem ersten nur durch die Um- kehrung der Planetenfolge; es ordnet also das kleinste magische Quadrat, das der 3- Zellen, ') Signatur: Ms. orient. (Juait. 9S; s. dazu W. Ahl- wardt, ,,Verzcichniss der arabischen Handschriften der Königl. Bibl. zu Herlio", Bd. III, Berlin i.Scji, S. 505/506 (.\r. 4115). -) Über den Verf. der Schrift, Abu Iwalld Ismail al- MSlaki, scheint nichts Weiteres, also nicht einmal die unge- fähre Lebenszeit, bekannt zu sein (in Brockelmanns ,, Gesch. der arab. Litt." und bei H. Suter, „Die Mathem-iliker und Astronomen der Araber u. ihre Werke", 1900, fehlt er). N. F. XIX. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 467 nicht dem erdnächsten, sondern dem erdfernsten Planeten, d. h. dem Saturn, zu und entsprechend geht es fort, so daß alsdann Jupiter als der zweit- fernste Planet das Quadrat der 4- Zellen erhält, worauf sich Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond entsprechend anschließen. Der besseren Übersicht halber mögen die beiden zueinander inversen Systeme von Planetenquadraten hier tabellarisch — als System I und 11 — zusammen- gestellt werden, wie folgt: summe des neunzelligen magischen Quadrats, das ja aus 3 Zeilen, jede von der Zahlensumme 15, besteht. Beziehungen zwischen den Planeten resp. Pla- netengöttern einerseits und den Zahlen anderer- seits, und zwar ganz im Sinne des einen unserer beiden „Systeme", lassen sich übrigens bereits bei den Sabiern nachweisen, jener religiösen Genossen- schaft, die in Harran, Edessa, Bagdad und anderen Städten Mesopotamiens und Syriens vom 9. bis Magisches Quadrat, Zellenzahl 3' = 9 4'= '6 5^=25 ei» = 36 7" =49 82=64 9« =81 10« = 100 Planet (System I) Mond Merkur 1 Venus Sonne 1 Mars Jupiter Saturn Tierkreis Planet (System II) 1 Saturn Jupiter Mars Sonne Venus Merkur Mond - Das hier an zweiter Stelle aufgeführte System, ob nun jünger oder älter als das erste, scheinen die Araber jedenfalls schon im 14. Jahrhundert besessen zu haben. Darf man einem Zitat, das eine kleine moderne arabische Schrift ^) eines gewissen Muliammed al-KhalwatI gibt, vertrauen, so muß man sogar annehmen, daß bereits im 14. Jahr- hundert die beiden Systeme bei den Arabern mit- einander gerungen haben oder daß wenigstens eine Kontroverse darüber, ob das Neunzellen- quadrat dem Saturn oder aber dem Mond zuge- höre, schon damals unter arabischen Gelehrten bestanden hat. Der Verfasser der gedachten mo- dernen Schrift erwähnt und erörtert nämlich diese Streitfrage und entscheidet sie dahin, daß dem Saturn das Neunzellenquadrat zuzusprechen sei, und für diese Entscheidung beruft und bezieht er sich eben auf ein Buch, dessen Verfasser (Nadruni) gegen Ende des 14. Jahrhunderts schrieb. Das Quadrat der 3- Zellen, so etwa argumentiert unser moderner arabischer Autor, ist das erste der magi- schen Quadrate und daher gehört es der ersten Sphäre, derjenigen des Saturn, an; denn dieser ist der erste der Sterne. Die entgegengesetzte Ansicht, daß das kleinste magische Quadrat dem Mond gebühre, bezeichnet unser Khalwati sodann ausdrücklich als eine Irrlehre, und hierfür beruft er sich nun eben auf das erwähnte Buch des 14. Jahrhunderts und entnimmt diesem insbesondere ein Argument : Wie bekannt, haben im Arabischen die Buchstaben alle zugleich einen Zahlenwert; gibt man nun in Zuhal, dem arabischen Namen des Saturn, jedem der Buchstaben seinen Zahlen- wert :' z = 7, h = 8, 1 = 30 (die Vokale werden bekanntlich nicht mitgeschrieben), so erhält man als Zahlenwert des ganzen Wortes 7 -[- 8 -j- 30 = 45, und das ist zugleich die Gesamtzahlen- ') Den Hinweis auf diese Schrift und die Angaben über ihren Inhalt verdanke ich dem Herrn Professor (jetzigen Staatssekretär) Dr. C. H. Becker, dem ich auch in anderen Punkten wertvolle Anregung und Belehrung für meine Studien über die magischen Quadrate des Orients verdanke. 12. Jahrhundert blühte. Wie nämlich der arabi- sche Geograph Dimiski von den Tempeln der Sabier mitteilt, stand dort das Bild des Saturn auf einem Postament von neun Stufen, das des Jupiter auf einem solchen von acht, während es für Mars entsprechend sieben, für die Sonne sechs, für Venus fünf, für Merkur vier und schließlich für den Mond drei Stufen waren.') Es sind dies also ganz dieselben Zahlen wie in unserem System I. Freilich nichts, schlechter- dings nichts deutet darauf hin, daß in diese Be- ziehungen schon magische Quadrate irgend- wie hineinspielten. Dieses System der Planeten- zahlen, wie man sagen könnte, mag dann zu den Arabern gedrungen sein und mag bei ihnen, die' in ihrer hervorragenden arithmetischen Be- gabung andererseits wieder, wenn nicht alles täuscht, die magischen Quadrate hervorgebracht haben oder doch mindestens in deren Besitz waren oder gelangten, dazu geführt haben, daß nun aus einem System der Planetenzahlen ein System der Planeten quadrate wurde. Das System, das so entstanden sein mag oder sein kann, wäre natürlich das von uns als I bezeichnete. Später mag dann ein findiger arabischer Gelehrter die oben schon angegebene ariihmologische Beziehung zwischen Zuhal (Saturn) und dem magischen Quadrat erster Stufe entdeckt haben, und es ist nicht schwer, sich vorzustellen, daß diese Ent- deckung auf einen für Zahlenmystik empfänglichen Kopf einen so tiefen Eindruck machte, daß er nunmehr das bisherige System der Planetenqua- drate verwarf und es durch das dazu inverse, also das mit jener zahlenmäßigen Beziehung in schön- stem Einklang befindliche System zu ersetzen suchte. So mag denn neben das System I das von uns hier als II bezeichnete getreten sein und hinfort im Aberglauben des Orients neben diesem ') Siehe D. Chwolsohn, „Die Ssabier und der Ssabis- mus" (St. Petersburg 1856), Bd. II, p. 383, 386, 3S8, 390, 392, 395, 396 und 672/673 (Anm. 15). 468 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 30 bestanden haben. Bis auf den heutigen Tagl denn aus der Polemik unseres Khalwati gegen das eine und seinem Eintreten für das andere System müssen wir doch wohl schließen, daß bis heute die Wissenschaft des Morgenlandes sich noch nicht unbedingt für eins dieser Systeme ent- schieden hat. Daß es sich hier um zwei Systeme handelt, war bisher in der europäischen Literatur nirgends ausgesprochen, was um so merkwürdiger ist, als beide Systeme von Planetenquadraten zunächst aus dem IVlorgenlande ins Abendland gelangt zu sein scheinen, ein Umstand, der freilich auch wieder nirgends beachtet zu sein scheint. Allerdings hat nur das eine der beiden Systeme in West- europa festen Fuß zu fassen vermocht, und für das andere weiß ich aus der gesamten abendländi- schen Literatur nur einen Beleg, die „Practica arithmeticae" des Cardan von 1539, beizubringen. Schon vor dem Erscheinen von Cardans Werk hatte nun ein anderer Gelehrter des Abendlandes, Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, sich zu dem anderen System, d. h. dem Sj'stem II, bekannt. Das Werk Agrippas, die „Occulta Philosophia", die voll- ständig und mit dem hier in Betracht kom- menden Abschnitt zuerst im Jahre 1533 erschien, aber handschriftlich — durch Abschriften nacli dem im Jahre 15 10 entstandenen Manuskript — schon vorher einige Verbreitung gefunden hatte, gelangte alsbald bei allen Jüngern und Adepten der geheimen Wissenschaften zu größtem Ansehen; es wurde geradezu die abendländische Bibel des Okkultismus, und so erklärt es sich wohl, daß im Abendlande von den beiden Systemen von Planeten- quadraten nur das von Agrippa gelehrte zweite festen Fuß zu fassen vermochte, dagegen jenes andere auf das isolierte Vorkommnis bei Cardan beschränkt blieb. Diese Doktrin von den Planetenquadraten, und zwar genau in der Form II, werden wir nun streng befolgt finden bei den „Planetenamuletten", zu denen wir uns jetzt wenden. Allgemein haben wir unter einem Planetenamulett natürlich ein Amulett zu verstehen , das man sich mit den Kräften eines bestimmten Planeten, in besonderen Phallen auch wohl mehrerer oder gar aller Planeten, begabt dachte und das daher bei solchen Gelegen- heiten, für die man von dem betreffenden Planeten seinen Kräften und Eigenschaften gemäß eine schützende oder fördernde Wirkung erwartete, gebraucht wurde. Diese Planetenamulette, die, wie schon gesagt wurde, in dem Europa des 16. und 17. Jahrhunderts in großer Zahl hergestellt und gebraucht sein müssen, weisen nun neben anderen Dingen zumeist ein magisches Quadrat, eben das dem betreffenden Planeten geweihte, auf Zwar sind insbesondere Sonnenamulette auch sehr viel ohne alles Zahlenquadrat hergestellt, und dieses ist somit durchaus nicht ein notwendiger, immerhin aber doch ein überaus häufiger, ja — abgesehen zumal von den Sonnenamuletten — eigentlich ein regelmäßiger Begleiter der Planeten- amulette. Betrachten wir nun zunächst die Amulette der Abbildungen i und 2, so finden wir auf der „Zahlenseite" jedes von beiden ein magisches Quadrat von 9 Zellen. Auf Abb. 2 hat dieses genau die Form , die wir in den einleitenden Zeilen dieser Abhandlung gaben, während das Quadrat der Abb. i nur das Spiegelbild von jenem ist (die erste und letzte „Spalte" sind miteinander vertauscht). Jedenfalls haben wir in beiden Fällen ein magisches Quadrat erster Stufe, und schon hiernach dürfen wir gemäß System II annehmen, daß die beiden Stücke Saturnamulette sind. In r^\y der Tat ist denn auch das Zahlenquadrat^der Abb. 1 ausdrücklich als TABVLA SATVRNI be- zeichnet. Auf der anderen Seite von Abb. 1, der „Bildseite", wie wir im Gegensatz zu der „Zahlen- seite" auch weiterhin stets sagen wollen, finden wir übrigens, wie meistens auf den Planetenamu- letten, den Planetengott selbst, mit dessen Kräften das wunderwirkende Kleinod begabt sein sollte, dargestellt: wir sehen einen alten Mann mit langem struppigem Haupt-, und Barthaar. Es ist, ganz in der üblichen Darstellung, der Saturn. Mit dem Spaten gräbt er das Erdreich um. Saturn war nämlich den Altlatinern, wie noch der von sero, satum hergeleitete Name verrät, ein Gott des Feld- baues, und der Spaten gehörte daher zu seinen häufigsten Attributen. Obwohl hiernach die ganze Darstellung auf Abb. i über die Person des Dar- gestellten keinen Zweifel mehr läßt, so ist docli zum Überfluß oben noch der Name: SA— TVRNVS angegeben, und zwischen den Buclistaben, gerade zu Häupten des Gottes, sehen wir einen kleinen Stern, der natürlich den Planeten, den Saturn also, darstellen soll. — Im wesentlichen denselben spatenbewaffneten Greis führt uns nun Abb. 2 vor; auch hier sehen wir zu Häupten des Gottes den Planeten selbst, dieses Mal aclitstrahlig dar- N. F. XIX. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 469 gestellt, als Sternachteck mit der Zahl 8 im Innern des Achtecks, eine Besonderheit, auf die wir hier nicht näher eingehen können. Audi hier — auf Abb. 2 — lesen wir übrigens ausdrücklich — zu beiden Seiten des Achtecks — den Namen : SATU — RNUS, ebenso wie auch das am linken Rande angebrachte, bekanntlich noch heute allge- mein in der Astronomie für Saturn gebrauchte Zeichen |> über die Person des Dargestellten hin- längliche Aufklärung gewährt. Auch sonst weist auf Abb. 2 noch vieles direkt und unzweifelhaft auf den Gott, für dessen Dienst das Amulett be- stimmt war, hin, so z. B. die beiden Zeichen oberhalb des Zahlenquadrats: ^ und s». Es sind die noch heute in der Astronomie allgemein ge- bräuchlichen Zeichen des Steinbocks und des Wassermanns, und die Antwort auf die Frage, warum gerade diese beiden Tierkreisbilder hier auf dem Saturnamulett angebracht sind, vermögen wir beispielsweise aus einem alten, höchst seltenen und kostbaren Planetenbuche des Berliner Kupfer- stichkabinetts zu entnehmen. In dem aus der vorgutenbergischen oder spätestens der frühguten- bergischen Zeit stammenden Buche, das in Holz- schnittillustrationen und nebenstehenden hand- schriftlichen Versen eine Art Naturgeschichte aller sieben Planeten in Wort und Bild gibt, hören wir aus dem Munde des Saturn nämlich u. a.: So ich yn meinen hewsern stan In dem Steinbocke vnd wasserman Den thu ich schaden an der weit Mit wasser vnd mit grosser kelt. In der Tat galten nach einer wunderlichen Astro- logendoktrin, auf die wir noch zurückkommen werden, Steinbock und Wassermann als die beiden „Häuser" des Saturn. Daß er, der ob seines bleichen, fahlen Lichts schon den alten Astrologen als ein Verderbenbringer galt, zu den Zeiten, wo er in diesen seinen „Häusern" steht, besonders ge- fahrlich ist, sagen uns die vorstehenden Verse gleichfalls, und so sollte unser Amulett vermutlich zur Abwehr dieser schädlichen Saturnwirkungen dienen. Natürlich kann und soll es nicht unsere Auf- gabe sein, alle die wunderlichen Namen und Zeichen, mit denen unser Amulett Abb. 2 geradezu über- laden ist, zu erklären. Ich muß auch offen be- kennen, daß ich dazu gar nicht imstande sein würde, und ich wage zu bezweifeln, ob überhaupt jemand heute diese Aufgabe in befriedigender Weise und ohne große Mühe zu lösen vermöchte. Es lohnt natürlich auch gar nicht, allen diesen Bizarrerien im einzelnen nachzugehen und diese längst be- grabene PseudoWissenschaft bis in alle Einzelheiten von neuem auferstehen zu lassen. Vielmehr wird sich die Besprechung auf diejenigen Momente be- schränken müssen, die charakteristisch oder aus irgendeinem anderen Grunde besonders inter- essant sind, und so sei denn von Abb. 2 wenig- stens noch eins erklärt: DER GROSE ORIPHIEL und dahinter AGIEL, so lesen wir oben auf der Zahlenseite. Was zunächst „Oriphiel" betrifft, so war dies der „Engel" des „Saturnstages", wobei zunächst zu bemerken, daß unsere siebenteilige Woche bekanntlich aus der Astrologie resp. Astro- nomie, von den sieben Planeten, herstammt. As- syrer und Babylonier hatten anfänglich, wie es das Nächstliegende war, die Tage nach den fünf F"in- gern gezählt, und erst nach längerem Nebenein- anderbestehen war diese Fingerwoche durch die ursprünglich nur für den Astrologeiigebrauch be- stimmte und erst allmählig mehr und mehr in das bürgerliche Leben eingedrungene siebenteilige Planetenwoche verdrängt worden. In dieser Pla- netenwoche nun war jeder Tag einem bestimmten Planeten untergeordnet, und zwar war der Saturns- tag der Sonnabend, der ja noch heute im Eng- lischen — „Saturday" — und Holländischen — „Zaturdag" — als ,, Saturnstag" bezeichnet wird, ebenso wie übrigens auch unser ,, Samstag" wohl so zu erklären sein dürfte. Zu diesen einzelnen Planetentagen resp. den Planeten erfanden nun in allerdings natürlich sehr viel späterer Zeit Astro- logen und Kabbalisten besondere ,, Engel", und der des Saturn hieß, wie schon gesagt, „Oriphiel". Freilich schwanken diese Namen in der Literatur, und andere Autoren, so der berühmte italienische Arzt und Astrolog Pietro de Abano (1250 — 13 19 oder 1320) geben für Saturn „Cassiel" an, ein Name, der sich denn gleichfalls auf unserem Saturnamulett Abb. 2 : Bildseite oben, links von dem achtstrahligen Stern, findet. — Sodann sei aber noch das schon angemerkte „Agiel" erklärt. Denkt man sich dies Wort hebräisch geschrieben und dabei jeden Buchstaben durch den Zahlen- wert, den die Buchstaben dort ja ebenso wie im Arabischen haben, ersetzt, so erhält man : a (aleph) = •- g(gimel) = 3, i(jod)=io, e = a (aleph) = i, 1 (lamed) = 30, und der Gesamtzahlenwert des Wortes Agiel ist somit 45, derselbe also wie der des uns schon oben entgegengetretenen arabischen Wortes „Zuhal". Solche Zahlenspielereien haben bekanntlich einen wesentlichen Bestandteil der Lehren der Kabbalah gebildet. „Jedes Wort ist eine Zahl und jede Zahl ist ein Wort", so lautete geradezu ihr Hauptgesetz, das eben darauf beruht, daß im Hebräischen jeder Buchstabe zugleich eine Zahl ist, so daß jedes Wort einen bestimmten Zahlenwert besitzt und umgekehrt jede Zahl sich durch numerisch äquivalente Worte ersetzen läßt. So ergibt sich denn für unser „Agiel", wie schon gesagt, der Zahlenwert 45, und, da dies, wie gleichfalls schon früher bemerkt wurde, die Summe aller 9 Zahlen des Saturnquadrats ist, so war da- mit eine Beziehung zum Saturn gegeben. So wurde denn das „Agiel", das ja, ebenso wie übrigens auch das besprochene Oriphiel, die bei Engel- namen (Rapha-el, Micha-el usw.) übliche Endung el hat, zu einem besonderen Saturngeist, zur so- genannten „Intelligentia Saturni", erhoben. Auch für die übrigen Planeten gibt es ganz entsprechende „Intelligenzen", und es sei schon hier in Ergänzung der soeben über „Agiel" ^ 45 gemachten Aus- 47° Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 30 führungen bemerkt, daß jedem Planeten vier Zahlen geweiht sind, nämlich : 1. die Anzahl der Felder jeder Reihe seines magischen Quadrats (für Saturn : 3), 2. die Anzahl aller Felder seines magischen Quadrats (für Saturn : 9), 3. die „Konstante" seines magischen Quadrats (für Saturn: 15), 4. die Gesamtsumme der Zahlen seines magi- schen Quadrats (für Saturn: 45). Die hiernach für die sieben verschiedenen Planeten sich ergebenden Zahlen mögen in der nachstehen- den Tabelle zusammengestellt werden : Planet Die dem Planeten geweihten Zahlen Saturn 3, 9, 15, 45 Jupiter 4, 16, 34, 136 Mars 5. 25. 65, 325 Sonne 6, 36, :ii, 666 Venus 7, 49, 175. 1225 Merkur 8, 64, 260, 2080 Mond 9, 81, 369, 3321 Wenden wir uns weiter den Jupiteramuletten unserer Abb. 3 und 4 zu, so finden wir auf beiden den Gesetzen der Kunst gemäß das i6-zellige magische Quadrat, das, wie schon oben gesagt I Abb. 3. 'fw\^\ -[TT ^h]4 UfT , r^f^f T^ VFFfncr Abb. 4. wurde, in jeder seiner 4 Zeilen, in jeder seiner 4 Spalten und in jeder seiner beiden Diagonalen die Summe 34 ergibt. Das Quadrat hat auf unseren beiden Amuletten sogar genau die gleiche P'orm; es ist übrigens dieselbe, die auch das bereits oben erwähnte magische Quadrat desDürerschen Kupfer- stichs aufweist. Daß das Stück Abb. 3 in der Tat als Jupiteramulett anzusehen ist, sagt in erster Linie die Umschrift lUPITER der Bildseite; das Innere stellt sodann den Planeten selbst, gekenn- zeichnet durch das bekannte Jupiterzeichen 2j. und einen Kranz von Strahlen aussendend, dar. Auch der hebräische Buchstabe der Rückseite weist di- rekt auf Jupiter hin : es ist der Anfangsbuchstabe des hebräischen resp. rabbinischen Namens für Jupiter: Zedeq. Auf Abb. 4 tritt uns nun auch der Planetengott, der Jupiter also, entgegen, in üblicher Weise dargestellt als Gelehrter mit auf- geschlagenem Buch in der Hand; zu seinen Häupten strahlt — analog den Darstellungen der Abb. i und 2 — der Jupiterstern, gekennzeichnet durch das Jupiterzeichen 2|. in seinem Innern und durch die Umschrift IVPITER zwischen seinen Strahlen. Was wir unten zu beiden Seiten des Gottes sehen, sind — rechts — der „Schütze", links die „F"ische", die beiden Sternbilder des Tierkreises. Czwe czeichen seint die hewser mein Die fische derschutze mit gutem schein. So hören wir in dem oben erwähnten alten Pla- netenbuche den Jupiter sprechen. Auch hier, auf diesem Planetenamulett Abb. 4, fehlen somit die „Häuser" des Planeten nicht, und, da sie überhaupt zu den wichtigsten und häufigsten Bestandteilen der Planetenamulette gehören, so mag hier ein kurzes Wort über die schon oben gestreifte Lehre von den Planetenhäusern gesagt werden. Da man sich die Planeten als Götter und demzufolge als lebend vorstellte, so schrieb man ihnen auch menschliche Bedürfnisse, menschliche Gefühle und Neigungen zu. So nahm man denn an, daß sie für bestimmte unter den Sternbildern, die sie auf ihrer Bahn durcheilen, der eine für dieses, der andere für jenes, eine besondere Vorliebe hegten, und solche Sternbilder sah man als die „Wohnungen", als die „Häuser" des betreffenden Planeten an. Natürlich mußten alle Planetenhäuser im Tierkreis liegen, dem Himmelsgürtel, der, in einer Breite von etwa 20", die Ekliptik, die Sonnenbahn, ein- schließt und die scheinbaren Bahnen aller den Alten bekannten Planeten umfaßt. Doch, der Tier- kreis hat entsprechend der Zwölfteiluiig des Sonnen- jahres zwölf Sternbilder, und der „Planeten" kannte man im Altertum nur sieben. Erteilte man jedem Planeten e i n Haus, so blieben mithin fünf Stern- bilder des Zodiakus unbewohnt. Immerhin, diese Unstimmigkeit vermochte die Erfindungsgabe der Astrologen nicht ernstlich in Verlegenheit zu setzen. Man gab einfach den fünf Planeten, die auch uns heute noch Planeten sind, also Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, je zwei Häuser, eins für den Tag, das andere für die Nacht, während die beiden großen Lichter des Himmels, Sonne und Mond, nur je ein Haus erhielten. Wozu auch, so dachte man offenbar, braucht die Sonne, das Gestirn des Tages, ein Haus für die Nacht ? Wozu der Mond, das Licht der Nacht, eins für den Tag ? Damit war denn der Tierkreis vollkommen besetzt, und diese Lehre von den Planetenhäusern, die, N. F. XIX. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 471 wenn auch vielleicht nicht in fertiger Gestalt, aus dem Orient stammen wird, lag jedenfalls bereits im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung bei Griechen, Ägyptern und Römern in dieser Form schon vor. Sie stand also in jenen Zeiten, als die von uns betrachteten Amulette aufkamen, bereits in mehr als tausendjähriger Gültigkeit, und so ist es be- greiflich, daß die Planetenhäuser bei der Gestal- tung und Anfertigung der Planetenamulette viel- fache Anwendung fanden. — Wie die Astrologie nun im einzelnen die zwölf Sternbilder des Zodiakus unter die Planeten verteilt hat, mag die folgende Tabelle veranschaulichen. Haus des Tages Haus der Nacht (0 Sonne £ Mond 1^ Saturn 2| Jupiter o" Mars 9 Venus V Merkur dt Löwe (6 Steinbock ■yT Schulze TTL Skorpion ^^ Wage lip Jungfrau 69 Krebs 2^ Wassermann K Fische T Widder y Stier 11 Zwillinge Dabei sind diese Festsetzungen im Grunde alle durchaus willkürlich. Ein plausibler Grund läßt sich höchstens für die Wahl des Sonnenhauses an- geben: Wenn die Sonne im Sternbilde des Löwen steht, haben wir in der Regel die heißeste Zeit des Jahres: es ist die Zeit, in der etwa gleichzeitig mit der Sonne der Sirius, der „Hundsstern", aufgeht, d. h. also die Zeit der sog. Hundstage. Hier also im Löwen fühlte die Sonne sich offenbar „am wohlsten"; pflegte sie doch von dort aus regel- mäßig die stärkste Wärmeentwicklung zu ent- falten. Dort also mußte ihr „Haus" sich befinden. r 10 ) Z2 18' 20 11 7 3 Zf 2.1 17 3 9 S Z 'Z2 ;9 IS 6 .8„^ 2S li IZ 1_„ ■§ y^j Abb. 5. Die Marsamulette der Abb. 5 und 6, zu denen wir bei F"ortsetzung unserer Wanderung nunmehr gelangen, weisen natürlich je ein magisches Qua- drat von 25 Zellen und der „Konstanten" 65 auf Dabei ist, was zunächst das Quadrat der Abb. 5 be- trifft, die Anordiu'.:;g der Zahlen (i — 25) eine solche, daß die 12 geraden Zahlen zu je dreien an den vier Ecken des Quadrates stehen und dort je ein Dreieck bilden, wäh:xnd die 13 ungeraden Zahlen ein Quadrat innerhalb des ganzen Quadrats ausmachen. Der oberhalb des Quadrats stehende hebräische Buchstabe ist analag, wie auf Abb. 3, der Anfangsbuchstabe von Maadim, dem hebrä- ischen resp. rabbinischen Namen für Mars. Die andere Seite des Amuletts weist, wie die Um- schrift MARS und das Marszeichen ^ besagen, den Planeten selbst auf, und zwar in einer Dar- stellung, die den damals herrschenden Vorstellungen entspricht. Ich entnahm das Amulettbild nämlich einer Schrift aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, dem „Mysterium Sigillorum, Herbarum & La- pidum" (Erfurt 1651) des Israel Hiebner, der hier einen vollständigen Satz von 7 Planeten- amuletten, alle nach denselben Grundsätzen ge- bildet, im Bilde vorführt. Dabei sind die Planeten, die auf allen sieben Amuletten den Hauptbestand- teil der Bildseite ausmachen, ganz so gehalten, wie in rein astronomischen Werken derselben Zeit, beispielsweise in Matthias Hirzgarters „Detectio dioptrica corporum planetarum vero- ruin" (Frankfurt a. M. 1643), wo es über den Mars in den unter dem Bilde stehenden Versen heißt : Wer mein Gestalt vnd Färb ansieht, Eim brünnenden Berg vergleicht mich. Auf Abb. 6 tritt uns nun der Planetengott selbst entgegen, dargestellt in üblicher Weise als Kriegs- mann : in Panzer und Helm, mit dem großen Schwert in der Rechten und einer brennenden Granate in der Linken; zu seinen Häupten links seine Namenskarte, das Zeichen (J, und darüber links wieder MARS. Gerade über dem mit großen Federn verzierten Helm des Kriegsgottes sehen wir einen neunstrahligen Stern mit der Zahl 9 darin: er soll natürlich den Planetenstern, den Mars also, vorstellen. Das Zahlenquadrat der Rückseite weist, wenn es auch ein völlig korrektes Marsquadrat von der Konstanten 65 ist, eine andere Form als das der Abb. 5 auf und ist nach einem Gesetz gebildet, von dem wir weiterhin noch zu sprechen haben werden. Oberhalb des Zahlen- quadrats sehen wir zwei Zeichen, die gleichfalls direkt auf den Mars hinweisen, und die uns be- reits als die der beiden Marshäuser Widder und Skorpion bekannt sind. Auf die mancherlei son- stigen Namen und Zeichen, mit denen unser Amulett reichlich bedacht ist, wollen wir nicht eingehen und nur noch folgendes herausgreifen: Auf der Bildseite neben dem Schwert des Kriegs- gottes sieht man ein Sternsechseck (Hexagramm) und zwischen dessen Strahlen liest man: ADONAI. Das Wort, das im Hebräischen bekanntlich „mein 472 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 30 Herr" bedeutet, findet sich nun freilich gleich anderen Gottesnamen, beispielsweise dem hier auf Abb. 6 sogleich darunterstehenden SABAOTH oder dem „Eloha" unserer Abb. 9 u. a., häufig auf solchen Amuletten ; hier auf dem Marsamulett hat es jedoch noch eineganzbesondereBedeutung. Schreibt man das Wort nämlich hebräisch und ersetzt jeden Buchstaben durch seinen Zahlenwert: a (aleph)= i, d (daleth) == 4, n (nun) = 50, i (jod) == 10, so bekommt man als Zahlenwert des ganzen Wortes die Zahl 65, die „Konstante" des Marsquadrates, die dritte der Marszahlen. So bringt also Adonai zugleich eine besondere Beziehung zum Mars zum Ausdruck, und dasselbe gilt von GRAPHIEL, das wir auf unserer Abb. 6 zu Häupten des Mars, rechts von dem neunstrahligen Stern, lesen. Schreiben wir nämlich auch dieses Wort hebräisch und ersetzen jeden Buchstaben durch seinen Zahlen- wert : g (gimel) = 3, r (resch) = 200, a (aleph) = 1, ph (phe) = 80, i (jod) =10, e ^ a (aleph) = I, 1 (lamed) = 30, so kommt man auf 325 Sonnengott strahlt in beiden F'ällen ein Sonnen- bild, über dem wir auf Abb. 8, wenig deutlich zwar, lesen : SOL, während dieser Name auf Abb. 7 neben den beiden Thronpfeilern angebracht ist; auf Abb. 7 sehen wir übrigens auch an der Spitze des Szepters ein Sonnenbildchen. Das Anhängsel der Abb. 7 erinnert uns daran, daß das Stück ein Amulett ist und am Körper getragen werden sollte und wohl auch getragen ist. Wesentlich anders geartet als diese beiden Sonnenamulette ist das Amulett Abb. 9; als ein Sonnenamulett werden wir es freilich auch anzusehen haben, zu- mal wir darauf, freilich neben anderen Namen, ausdrücklich „Sol" lesen. Auch sein Zahlenquadrat ist ganz das übliche Sonnenquadrat der 36 Felder mit der „Konstanten" in und zwar in der am häufigsten hierfür vorkommenden Form, die üb- rigens auch Abb. 8 aufweist, abgesehen davon, daß das Quadrat hier — auf Abb. 8 — mit einem kleinen Fehler — Vertauschung der Zahlen 15 und 16 der drittobersten Zeile — behaftet ist. Al.h. 7. Abb. 8. die vierte und größte der Marszahlen. „Graphiel" nimmt somit in der Sphäre des Mars dieselbe Stellung ein wie das uns schon bekannte „Agiel" in der des Saturn. War dieses die „Intelligenz des Saturn", so wird ,, Graphiel" die „Intelligenz des Mars" sein, und so heißt es in der Tat. Man sieht : „Ist es schon Tollheit, hat es doch Methode." Nachdem wir die bisherigen Amulette so aus- führlich besprochen haben, werden wir uns bei den folgenden im ganzen möglichst kurz fassen müssen. Auf den Sonnenamuletten Abb. 7 und 8 finden wir den Sonnengott in üblicher Weise dargestellt: als König mit Szepter und Krone, auf seinem Thron sitzend; zu seinen Füßen in beiden Fällen ein „Löwe", das Sternbild, das. wie wir wissen, das „Haus" der Sonne ist. Über dem .\bb. 9. Während es sich hier nur um ein leichtes Ver- sehen handelt, weist das Quadrat Abb. 7 schwe- rere Verstöße auf, indem zunächst nur die Zeilen und Spalten, nicht aber die beiden Diagonalen, die konstante Summe 1 1 1 ergeben. Man nennt solche Quadrate wohl, in denen die Diagonalen versagen, „semimagische Quadrate". Unser Qua- drat ist aber nicht einmal als solches korrekt, sondern weist noch einen zweiten und schwereren Mangel auf: es enthält gar nicht alle Zahlen von ij^bis 36, vielmehr fehlen sechs von diesen, wofür N. F. XK. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 473 denn wieder 6 andere Zahlen (3, 14, 15, 24, 25, 26) je zweimal vorkommen. Man kann das Quadrat daher nur etwa als „pseudosemimagisch" bezeichnen. Die beiden Venusamulette der Abb. 10 und 11 zeigen uns die Göttin der Liebe, auf Abb. 11, wie zumeist, unbekleidet, auf Abb. 10 bekleidet und mit dem Zeichen y des „Stiers", des einen Venus- hauses, vor der Brust. Zu Häupten der Göttin sehen wir in beiden Fällen den Venusstern, auf Abb. 10 als Sternsechseck mit der Zahl 6 darin gezeichnet, und lesen dabei noch ausdrücklich VE-NVS resp. VEN— ERIS (Abb. 11). Auch das Saiteninstrument in der Hand der Venus, der mit Pfeil und Bogen bewaffnete Cupido zu ihrer Seite, erinnern in beiden Fällen daran, daß wir die Göttin der Liebe, der Freude, der Lust vor uns haben. Das magische Quadrat, über dem wir auf Abb. 10 übrigens die Zeichen der beiden Venushäuser Stier (y) und Wage (=2=) erblicken, ist in beiden Fällen dasselbe und mag hier nach- stehend wiedergegeben werden: 22 5 47 23 16 41 lO 35 4 48 .7 42 II 29 30 6 24 49 18 36 12 13 31 7 .5 43 19 37 38 14 32 I 26 44 20 21 39 8 33 2 27 45 46 15 40 9 34 3 2S Das Bildungsgesetz dieses Quadrats ist leicht zu durchschauen, wenn man bei der Zahl i — unter- halb des IVIittelfeldes — beginnt und darauf zu 2, zu 3 — diagonal nach unten hin — fortschreitet. Da jetzt — bei 3 — der untere Rand erreicht wird, erfolgt die Fortsetzung am oberen Rande in der rechtsanschließenden Spalte (4) und, da hier infolge Erreichung des rechten Randes keine Fortsetzung möglich ist, so geht es nunmehr am linken Rande in der nächsttieferen Zeile fort und von dort (5) wieder diagonal nach unten hin zu 6 und 7. Bei weiterem Fortschreiten in gleicher Richtung kommt man auf ein schon besetztes Feld (i), und jedes IVIal, wenn dies der Fall ist, springt man von dem zuletzt besetzten Felde (7) um zwei Felder nach unten (8), worauf die weitere Fortsetzung wieder nach den vorstehenden Regeln geschieht. Es ist dies das Bildungsgesetz der magischen Quadrate, das wir bereits oben im Vorbeigehen erwähnten bei Abb. 6; das dortige Quadrat ist in der Tat von dieser Struktur, und gleiches gilt von dem Mondquadrat unserer Abb. 14 und 15, wie über- haupt dieses Bildungsgesetz stets dann für Herstellung eines magi- schen Quadrats anwendbar ist, wenn die Felderzahl des Quadrats unge- rade ist. Von den beiden Merkuramuletten Abb. 12 und 13 bedarf das erste kaum einer weiteren Erläuterung: wir sehen den schnellfüßigen Götter- boten in der üblichen Darstellung mit Flügeln an den Schultern und Füßen , mit dem schlangenumringelten Heroldstab, dem caduceus, in der Rechten. Statt dieser Figur des Merkur weist Abb. 1 3 iminnern das sog. „Signaculum Mercurii", wie es der schon genannte Agrippa von Nettesheim an- gibt, auf, und auch die Linienzüge zu beiden Seiten am Rande haben ähnliche Bedeutung und drücken besondere Beziehungen zum Merkur aus. Das oben stehende hebräische Wort heißt „Tiriel", das untenstehende teilweise etwas mangelhaft ge- schriebene „Thaphthartharath". Auch diese beiden Worte enthalten besondere Beziehungen zum 474 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 30 Merkur; ihre Zahlenwerte sind nämlich 260 und 2080, die dritte und vierte der Merkurzahlen. Ähnliches gilt von den hebräischen Worten der Rückseite, über die wir im übrigen nur noch be- merken, daß die Zeichen am Rande rechts das Merkurzeichen ^ und zu dessen beiden Seiten die Zeichen der beiden Merkurhäuser (Jungfrau und Zwillinge) sind. Das hebräische Zahlenquadrat ist abgesehen von der Mangel- oder Fehlerhaftig- keit einiger Zeichen genau dasselbe wie das von Abb. 12. Abb. 14. Abb. 15. Von den beiden Mondamuletten Abb. 14 und 15, deren magisches Quadrat bereits erwähnt wurde,^) zeigt Abb. 14 die Mondgöttin (LVNA) auf einem Halbmond stehend und mit einem Halbmond in der Rechten. Was die eigenartige Darstellung der Mondgöttin auf Abb. 15 — mit Feldfrüchten in beiden Armen — dagegen betrifft, so ist daran zu erinnern, daß in der späteren Mythologie SeleneLuna mit Artemis Diana iden- tifiziert und so zu einer Göttin des Ackerbaues und der Demeter- Ceres verwandt wurde. Immer- hin ist die Gottheit unseres Amuletts aber auch deutlich als Mondgöttin gekennzeichnet und wäre auch dann als solche eindeutig zu erkennen, wenn nicht ausdrücklich LU — NA darüber stände: ihr Kopf ist mit einem kleinen Halbmond geschmückt; ') Das Quadrat der Abb. 15 ist mit einem Versehen be- haftet, indem es in der drittuntersten Zeile 27 statt 72 heißen müßte. Ebenso weist auf dem Amulett Abb. 14 die dritt- unlerste Zeile ein Versehen auf; lies 75 statt 57. ihre Rechte ruht auf einer Kugel, die ganz die auf Mondamuletten jener Zeiten übliche Mondland- schaftendarstellung zeigt und die daher zweifellos als Mondkugel gedacht ist; auf der anderen Seite der Göttin sehen wir eine Sternfigur mit einem „Krebs", dem „Haus" des Mondes, darin, und auch sonst weist noch Verschiedenes auf den Mond hin. Bekanntlich ordneten Alchemie und Astrologie jedem der sieben Planeten ein bestimmtes Metall zu, und nach strengen Lehren der Kunst sollte jedes Planetenamulett in dem Metall des betreffen- den Planeten ausgeführt werden. Immer freilich ist diese Vorschrift keineswegs befolgt, ganz abge- sehen davon, daß auch die Lehr- meinungen über die Zuordnung der Metalle und Planeten für einige von diesen geschwankt haben. Bei den hier abgebildeten Planeten- amuletten findet man die Grund- regel: ..jedes Amulett in dem Me- tall des Planeten" zumeist befolgt. So bestehen die beiden Saturne (Abb. I, 2) in der Tat aus Blei, die beiden Jupiteramulette (Abb. 3, 4) aus Zinn, und zwar befinden sich die Originale von Abb. 2 und 4 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, das von Abb. 3 in dem Gothaer Münzkabinett und das von Abb. i in der Wiener Münzen- und Medaillensammlung. Dieser Wiener Sammlung gehört auch das Mars- amulett der Abb. 6, ein Bleistück, an, während Abb. 5, wie schon angegeben, einem Werke des 17. Jahrhunderts entnommen ist. Im wesentlichen ebensolche Stücke wie diese Abb. $ und 6 be- finden sich aber, und zwar in Eisen, dem eigent- lichen Metall des Mars, in der soeben schon ge- nannten Gothaer Sammlung. Die Sonnenamulette (Abb. 7, 8, 9) gehören alle drei der Wiener Samm- lung an, und zwar bestehen die Originale der Abb. 8 und 9 aus Gold, dem Metall der Sonne, während das Original von Abb. 7 ein Silberstück ist. Begreiflicherweise hat man bei Sonnenamu- letten des hohen Preises wegen nicht selten das Gold gescheut und dieses dann durch ein anderes Metall ersetzt, wofür denn zumeist Silber gewählt wurde, da ein wohlfeilerer Ersatz wieder das magische Ansehen des Amuletts allzusehr ge- schmälert haben würde. Das Venusamulett Abb. 10 gehört der Privatsammlung des Herrn Hofrat A. M. Pachinger in Linz a. D., das der Abb. 11 der Medaillensammlung der Bibliotheque Nationale in Paris, an; dieses ist in Kupfer, dem Metall der Venus, jenes in goldhaltiger Bronze, also einer Kupferlegierung, ausgeführt. Beim Merkur läßt sich nun ein „Ersatz" gar nicht vermeiden, da das merkurielle Metall bekanntlich Quecksilber ist. Wofern man also nicht ein mehr oder minder quecksilberhaltiges Amalgam vorzieht, wie dies in der Tat für Merkuramulette vorkommt, werden insbesondere Zinn und Silber, also die Metalle, N. F. XIX. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 475 die dem Quecksilber an Farbe ähneln und die übrigens auch manche Astrologen, wie unser Agrippa von Nettesheim, geradezu für Merkuramulette vorschreiben, gewählt. Das Amu- lett unserer Abb. 13 bestand in der Tat aus Zinn und befand sich ehemals in der Bibliotheque SainteGenevieve in Paris; heute scheint es nicht mehr zu existieren (ich entnahm die Abbildung dem Werk, das Claude du Molinet im Jahre 1692 über diese Sammlung erscheinen ließ). Das Merkuramulett der Abb. 12 ist ein Bieiabguß, der zu der schönen und insbesondere an Merkuramu- letten relativ reichen Privatsammlung des Herrn Geheimrat Prof Dr. Verworn in Bonn gehört. Die Originale der beiden Mondamulette (Abb. 14, 1 5) sind beide in Silber, dem Metall des Mondes, ausgeführt; ersteres gehört dem Münzkabinett der Stadt Breslau, letzteres befindet sich in der schon mehrfach genannten Wiener Sammlung, die mit ihrem reichen Besitz an astrologischen Amuletten auf diesem Gebiet weitaus an erster Stelle unter allen Sammlungen der Erde dasteht. Einzelberichte. Biologie. Über die Vererbung erworbener Eigenschaften hat der Berner Anatomieprofessor Hans Strasser eine beachtenswerte Abhandlung veröffentlicht. (Fragen der Entwicklungsmechanik: Die Vererbung erworbener Eigenschaften. Bern 1920, Ernst Bircher.) Als sicher annehmen darf man, sagt St., daß sich die Lebewesen im Laufe der Erdgeschichte verändert haben, aber strittig ist, wie die Änderungen vor sich gingen, wie der Erwerb neuer passender Eigenschaften (die „Eu- tropie") möglich war. Ohne weiteres zuzugeben ist das Auftreten neuer Eigenschaften infolge von Änderungen der Beschaffenheit der Erbmasse der Keimzellen, also blastogener Variationen. Dagegen ist es nicht von vornherein selbstverständlich, daß die somatogen (infolge veränderter Außen- bedingungen während der Entwicklung) ent- standenen neuen Eigenschaften auch dann bei den Nachkommen wiederkehren, wenn auf diese die gleichen besonderen Außenbedingungen nicht wieder einwirken. Die Diskussion über die Ver- erbung erworbener Eigenschaften kann sich also nur auf erworbene Eigenschaften beziehen, die erstmals somatogen entstanden sind infolge ver- änderter Außenbedingungen, welche auf den Or- ganismus erst im Verlauf seiner Entwicklung ein- gewirkt haben und die in keiner Weise bereits durch eine Veränderung der ursprünglichen Keimes- anlage bedingt sind. Dabei könnte man „annehmen, daß eine Stoff- oder Reizübertragung von der in Veränderung begriffenen Stelle des elterlichen Organismus auf die in ihm heranwachsenden Keimzellen stattfindet, und die in letzteren hervor- gerufene Veränderung müßte eine äquifinale sein, d. h. sie müßte beim Nachkommen zu dem gleichen Endresultat führen, wie es beim Elter infolge der direkten Einwirkung der veränderten äußeren Lebensbedingungen entsteht". St. weist über- zeugend nach, daß eine solche Induktion nicht in Betracht kommen kann. Wenn Einwirkungen den Körper und die Keimzellen zugleich betreffen, so werden „allfällige gleichsinnige Veränderungen beim Nachkommen im allgemeinen nicht in gleicher Weise lokalisiert sein, sondern das ganze System, welches durch die betreffenden Erbfaktoren determiniert wird, erfassen". Eine vollkommen gleichartige Veränderung am Körper des Elters und dem der Nachkommen aus dem beeinflußten Keimplasma hält St. da für möglich, wo sie die ganze allgemeine Konstitution des Körpers oder ein ganzes System gleicher histologischer Elemente oder Organe oder überhaupt ein ganzes System, das vom gleichen Erbfaktor des Keimes aus determiniert wird, betroffen hat. Dann kann es wohl unter Umständen zu einer adäquaten Ver- änderung der noch aktivierbar im Soma vor- handenen Determinanten dieses Systems und der korrespondierenden Determinanten in den Keim- bahnzellen kommen. Wenn wir auf ein derartiges Prinzip der gleichen Beeinflussung noch nicht kativierter korrespondierender Determinanten im Soma und in den Keimbahnzellen rekurrieren, so ist dies das äußerste Zugeständnis, das wir zu- gunsten der Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften machen können. Wir sind uns aber wohl bewußt, damit eine Hypothese aufgestellt zu haben, die noch näherer Prüfung bedarf. — Wenn in der angedeuteten Weise eine gemeinsame Be- einflussung des Somas und der Keimzellen wirk- lich stattfindet, so beruht sie natürlich nicht auf dynamischer oder stofflicher Induktion, sondern auf der Paralleleinwirkung eines der Zirkulation übermittelten Agens. Als solche Parallelwirkung eines der Zirkulation übermittelten Agens kann man sich eine Änderung des Chemismus im Elternkörper und den von ihm getragenen Keim- zellen vorstellen. Wenn aber infolge äußerer Einwirkungen auftretende chemische Stoffe in das Keimplasma gelangen, so ist doch nicht anzu- nehmen, daß die Veränderungen, die dadurch an der neuen Generation hervorgerufen werden, auch auf deren Nachkommen übergehen , wenn in- zwischen die Einwirkung, welche die Veränderung des Chemismus herbeiführte, aufgehört hat. Besten- falls kann eine Nachwirkung stattfinden. Wir hätten es also eigentlich bloß mit einer nicht erblichen Modifikation zu tun. Auf das Keimplasma selbst abändernd wirken können nach St.s Auffassung Einflüsse vom übrigen Körper her oder durch ihn hindurch. Solche Abänderungen können „nicht bloß als jKombinationsvarianten' (durch Neu- und Um- 4/6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 30 gruppierung der Erbfaktoren, Reduktionsteilung, Vereinigung der Gameten) auftreten, sondern auch durch wirkliche Transformation der Erbfaktoren zustande kommen, und zwar nicht etwa bloß aus inneren, im Keimplasma selbst gelegenen Ursachen im Sinn der Weismannschen Germinalselektion, sondern infolge äußerer vom Soma her wirkender Einflüsse. Solche Einflüsse können ganze Popula- tionen betreffen und während vieler Generationen wirken. Sie können dann größere Wirkungen hervorbringen, die unter Umständen auch eine Handhabe für die Auslese bieten. Eng lokalisierte Abänderungen auf Grund solcher Keimesverände- rungen sind sehr wohl möglich, ohne daß deshalb für jeden variierenden Teil ein besonderer Erb- faktor im Keim vorhanden sein muß." Nicht jede Veränderung der Erbsubstanz der Keimzellen hat Aussicht, zur Geltung zu kommen. Es haben nur solche Aussicht auf Bestand und Weiterführung, welche die P'ähigkeit des Lebe- wesens , den Wettstreit ums Dasein mit Erfolg zu führen, nicht ernstlich gefährden oder welche diese Fähigkeit steigern. Der in der Stammes- geschichte zu beobachtende Neuerwerb passender Eigenschaften kann ,, nicht in der ausschließlichen oder fast ausschließlichen Entstehung von adaptiven Varianten ihren Grund haben. Sie kann nur ver- standen werden unter der Annahme der Mit- wirkung der Auslese des Passenden." H. Fehlinger. Völkerkunde. Aufschlüsse über die Schiffahrt kulturarmer Völker, die auf die Entstehung der Schiffahrt überhaupt Licht werfen, geben Arbeiten von C. Schuchhardt, E. Aßmann und R. Pöch '). Wir dürfen annehmen, daß die Erfindung von Wasserfahrzeugen für alle an schiffbaren Flüssen oder am Meere lebenden Menschen sehr nahe lag, so daß sie nicht bloß einmal, sondern öfter gemacht worden ist. Sie gehört in eine Klasse mit einer langen Reihe von Erfindungen, die man notwendige nennen kann, weil sie starke und in allen Lebenslagen häufig auftretende Be- dürfnisse decken. Möglich ist auch, daß schwim- mende aufgeblähte Tierleichen die Anregung zu P'ellbooten gaben, wie sie heute von verschiedenen Völkern hergestellt werden. Ob sich die Meeresschiffahrt aus der Schiffahrt auf Flüssen und Binnenseen entwickelte, ist fraglich. Fest steht, daß sich selbst sehr kulturarme Menschen mit ganz primitiven F"ahrzeugen auf das Meer hinaus- wagten. Das taten z. B. die Tasmanier, die auf ein- fachen Flößen auch bei stürmischer See nach den benachbarten, aber doch mehrere Meilen entfernten Inseln übersetzten. Nach Rudolf Pöchs Be- ') C. Schuchhardt, Der Busch als Segel. Prähist. Zeit- schrift, 10. Hand, S. 178 — 179. — Ernst. Aßmann, Die Ur- anfänge des Segeins, Zeitschrift für Kthnologie, 48. Jahrgang, S. 82 u. f. — Rudolf Pöch, Die anthropologische und ethnologische Stellung der Tasmanier. Mitt. Anthr. Ges. Wien, 3. K., i6. ßd. S. 76 u. f. Schreibung ^) besteht ein solches Floß aus drei Rindenbündeln, von denen das Hauptbündel in der Mitte einen Meter breit ist, sich aber gegen den Bug und Stern zu verjüngt; die zwei Seilen- bündel bilden eine Art Bordwände und lassen das Floß bootartig erscheinen; sie sind nur etwa ' .. m breit. Der durch seilliches Anbinden dieser Bord- wandbündel an das Hauptbündel entstehende Innenraum des bootartigen Floßes würde kaum 'j^ m hoch sein und in der Mitte eine größte Breite von etwa 90 cm haben. Nach beiden Enden zu verjüngen sich die Rindenbündel und enden in den hornartig aufgebogenen Bug und Stern. Die Länge jedes dieser aufragenden Teile beträgt et- wa 80 cm, Bug und Stern sind voneinander nicht zu unterscheiden. Die Gesamtlänge des Rinden- bündels des Floßes von der Spitze des Buges zur Spitze des Sterns beträgt außen (oder unten) herum gemessen 4'/., m, oben (oder innen) nicht ganz 4 m. Die starke Aufbiegung von Bug und Stern hat offenbar die Aufgabe, das Durchschneiden der Meereswellen zu erleichtern und das P'ahrzeug see- tüchtiger zu machen ; sie findet ihre .'\nalogie in den in gleicher Weise aufgebogenen Vorder- und Hinterenden der Plankenboote und der vielfachen Aufbauten auf Bug und Stern bei Einbäumen, die typisch für viele ozeanische Inselgebiete sind. Das P'ahrzeug war mit einer Feuerstelle versehen. Es wurde auf die Rindenbündel des Floßbodens zu- erst eine Lehmschicht gelegt und darauf dann das Feuerholz gebracht. Außer diesen gab es auch mehr flache Fahrzeuge. Gerudert wurde mit Stöcken, die 2 — 5 cm breit und 2^2 — 5 m lang waren und mit denen man abwechselnd Steuer- und backbordseitig arbeitete. Die Maori Neu-Seelands benutzten neben ihren vollkommenen Booten ebenfalls Flöße aus dicken Lagen von Rohr, die den Vorteil hatten, beson- ders leicht zu sein, aber den Nachteil, sich rasch mit Wasser vollzusaugen. Finsch („Samoafahrten", Leipzig 1888) sah an der Nordküste von Neu- guinea nur aus Baumwurzeln bestehende Flöße. Im Golf von Carpentaria fahren die Eingeborenen auf Balkenflößen nicht nur von Insel zu Insel, sondern auch hinüber zum australischen Festland. Auf Ceylon und an der indischen Koromandel- küste werden zu Seefarten F'löße benutzt, die aus rohbehauenen und durch Kokosfasern zusammen- gehaltenen Baumstämmen bestehen. 1 >ie tasma- nischen F'löße haben viel Ähnlichkeit mit Binsen- flößen der Serilndianer, welche damit die stürmi- sche InfiernilloStraße zwischen der mexikanischen Küste und der gegenüberliegenden Tiburoinsel befuhren, in der die Schiffahrt auch noch durch einen starken Gezeitenstrom erschwert ist; zum Rudern gebrauchten sie dabei bloß ihre Harpunen- stöcke oder Muscheln. N. W. l'homas erwähnt, ') daß an zwei verschiedenen Stellen in Australien ') A. a. O., S. 92. '-) Thomas, Australian Canoes and Rafts, The Journal of the Anthropological Institut, 35. Bd., 1905, 'S. 71. N. F. XIX. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 477 „Boote" vorkommen sollen, die den tasmanischen Flößen außerordentlich ähnlich sind, und denkt dabei an die Möglichkeit eines Zusammenhanges. Es ist wahrscheinlich, daß Flöße überhaupt die ersten Seefahrzeuge waren, die dem ausgehöhlten Einbaum vorausgingen. Sie konnten von Völkern benutzt werden, die eine ganz niedrige Steintech- nik hatten und — wie z. B. die Tasmanier — das geschäftete Beil nicht kannten und die es nicht verstanden. Bäume durch Feuer auszuhöhlen. Be- vor man Baumstämme aushöhlen und in belie- biger Länge zuschneiden konnte, sagtPöch, war die Zeit der Flöße; die Rinden- oder Binsenflöße sind Wasserfahrzeuge des Paläolithikums ; es spricht nichts dagegen, wenn später diese Erfindung noch mehrmals gemacht wurde und wenn diese Form sich erhalten hat bis in die Gegenwart. G. Friederici hebt in diesem Zusammenhange treffend „die guten Eigenschaften dieser primitiven Wasserfahr- zeuge" hervor, „die sie für anspruchslose und ab- gehärtete Schiffer so wertvoll machen : ihre Billig- keit, Seetüchtigkeit, Tragfähigkeit und Sicherheit als Segler". ') Ob absichtliche weite Seefarten auf solch einfachen Flößen unternommen wurden, weiß man nicht. Als sicher kann gelten, daß Verschlag ung häufig vorkam, daß Leute, die sich mit den Flößen auf das Meer hinausbegaben, leicht zu weiteren Fahrten gezwungen wurden, als ihnen lieb war. Gewiß führten solche Fahrten nicht immer zum Untergang der Beteiligten. Unhaltbar ist die Annahme, daß kulturarme Menschengruppen nur auf dem Wege von Fest- landswanderungen über angenommene alte Land- brücken nach Inselgebieten hinüber gelangten. Es scheint schon in früheren Zeiten bei schwachem Ansatz zum Bau von Seefahrzeugen auf dem Wege von Verschlagungen, vielleicht sogar bei erzwun- genem oder auch beabsichtigtem Verlassen der hei- mischen Küsten unter Mithilfe von stetigen Winden und von Strömungen, die Möglichkeit vorgelegen zu haben, auch weiteStrecken zur See zu überwinden. So würde manche heute noch rätselhafte Besied- lung entlegener Inseln durch Völker mit ganz primitiven Kulturen erklärlich sein. Die neueren Ergebnisse der geologischen For- schung deuten darauf hin, daß der Wechsel von Festland und Ozean mindestens in den jüngsten Perioden der Erdgeschichte durchaus nicht sehr bedeutend war. Bestanden, seitdem die Erde von Menschen bewohnt ist, nicht die zahlreichen Land- brücken, die man bisher annahm, so muß die See- fahrt bei der Ausbreitung der Menschen eine sehr große Rolle gespielt haben. Bei der Annahme weiter Seefahrten auf ganz einfachen Fahrzeugen, die in der Frühzeit der Menschheit stattgefunden hätten, bliebe es auch nicht mehr rätselhaft, wieso durch Meere weit von- einander getrennte Menschheitszweige auffallende ') Friederici, G., Die Schiffahrt der Indianer. Stutt- gart 1907, S. 20. Übereinstimmungen körperlicher Merkmale und des Kulturbesitzes zeigen, wie etwa Tasmanier und Melaneser. Was gerade diese betrifft, so ist zu erwähnen, daß im westlichen Stillen Ozean Meeresströmungen und Winde so geartet sind, daß sie Wanderungen von den melanesischen Inseln nach Australien und von da wieder nach Neu- seeland begünstigen. Längs der Ostküste Au- straliens führt die warme, nach Süden setzende „australische Strömung" vorbei als Ablenkung und Fortsetzung des südlichen Aquatorialstromes. Diese Wässer bespülen zuerst die Küsten von Samoa und Tonga und dann der ganzen melane- sischen Inselflur, von Fidschi, den Neuen Hebri- den und Neu-Kaledonien; auch eine vom Bismarck- Archipel und den Salomonen südöstlich führende Strömung biegt zum Teil um und vereinigt sich mit der australischen Strömung. Ihre Analogien hat sie an den Ostküsten der beiden anderen Süd- kontinente in der ebenfalls südlich fließenden, warmen Agulhasströmung der Ostküste Südafrikas und dem gleichgerichteten Brasilstrom. Mit den- selben Strömungen müssen wir auch für die Vor- zeit des Menschengeschlechtes rechnen, da eine wesentliche Änderung der Landverteilung seither nicht mehr eingetreten sein kann. Bis zum 25. Grad südlicher Breite haben wir in dem West- teile des Stillen Ozeans, also für den nördlichen Teil der Ostküste Australiens, mit abwechselndem Nordwest- und Südostmonsum zu rechnen, was die vielfachen Beziehungen, Wanderungen und Rückwanderungen in dem melanesischen Inselge- biete erklärt. Die Tasmansee südlich vom 30. Grad südlicher Breite, zwischen Australien und Neu-Seeland, liegt in der Region der ,, braven" Westwinde : während des ganzen Jahres herrschen Westwinde vor. Die entsprechende nach Osten gerichtete Meeresströmung führt auch die Wässer südlich von Tasmanien nach der Südinsel von Neuseeland. Man kann also annehmen, daß Ver- schlagungen nach Tasmaniens und Australiens Ost- küste von dem melanesischen Inselgebiete her statt- gefunden haben ; von Wanderungen zu sprechen, welche die Benutzungaußerordentlich primitiver See- fahrzeugeüber weite Strecken offenenMeeres voraus- setzen, klingt sehr unwahrscheinlich; aber immer- hin scheinen solche Begebenheiten vorgekommen zu sein ; wie sollten wir uns sonst die zweifellos in sehr früher Zeit mit sehr geringem Kulturbe- sitze erfolgte erste Besiedlung mancher melanesi- schen und polynesischen Insel eigentlich vorstellen ? Selbst Völker, welche die Kunst des Seefahrens gegenwärtig nicht kennen, können sie ehemals besessen haben und über das Meer nach ihren jetzigen manchmal weit vom Festland abgelegenen Wohnsitzen gekommen sein. Die Herstellung des Ruders gelang gewiß bald nach der Erfindung von Wasserfahrzeugen; der Mensch konnte darauf als eine Nachbildung von Hand und Arm verfallen, die er zum Schwimmen benutzte, und überdies beobachtete er viele Tiere beim Schwimmen. Alltägliche Vorbilder in der 478 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 30 Natur kamen dagegen der Erfindung des Segels nicht so wie beim Ruder zu Hilfe. Deshalb ge- lang die Erfindung des Segeins viel schwerer und noch heute kennen es manche seefahrende Völker- schaften der Inselwelt des Stillen Ozeans nicht. Ernst Aßmann') bemerkt, wie schwer es uns fällt, zu denken, daß die Schweden als seemäch- tige Suiones um 100 n. Chr. noch keine Segel gebraucht hätten, und doch ist das erwiesen. Die schiebende Kraft des Windes hat der Mensch wohl am eigenen Leibe gefühlt, er sah auch den Wind an belaubten Büschen und Bäumen kräftig zerren, kahle dagegen wenig beeinflussen. Es ist möglich, daß diese Wahrnehmung zu dem Ver- suche führte, das Boot vermittels eines belaubten Zweiges vom Winde schieben zu lassen. Jeden- falls läßt sich dieser in anthropologischethnologi- schen Kreisen noch wenig bekannte Brauch bei Naturvölkern als eine Tatsache nachweisen. Die Kenntnis der Verwendung von Baumstämmen oder Büschen als Segel bei lebenden Naturvölkern löst ein Rätsel auf Schiffsbildern aus der Vor- zeit. Aßmann erwähnt die vor 3500 v. Chr. entstandenen, auf Tongefäße gemalten Schiffe der Ausgrabungen von Nagade in Ägypten. Hier steht auf dem Vorderschiff ein schlanker Palmzweig oder ein dicht belaubter Busch, an Höhe alle Auf- bauten im Boote überragend. Da diese Schiffe nichts von Mast und Segel aufweisen, so ist anzu- nehmen, daß sie den Zweig oder Busch im Sinne eines Segels benutzten. Wir können demnach den sonderbaren, jetzt noch bei Eingeborenen der Menta- wei- Inseln an der Südküste von Sumatra und den Indianern von Guyana nachweislichen Gebrauch rück- wärts um etwa 5400 Jahre verfolgen. Wenn sich hier das älteste Ägypten und malaiische Inseln des Indischen Ozeans in demselben Schifferbrauche zusammenfinden, so ist das vielleicht kein reiner Zufall; denn eine ganze Reihe technischer Eigen- tümlichkeiten der ägyptischen Schiffe des alten Reichs sind auf den Schiffen der Malaien wieder- zufinden, sonst aber, in ihrer Gesamtheit, nirgends auf der Welt. Das legt doch den Gedanken nahe an einen inneren Zusammenhang, an uralte ge- meinsame Kulturwurzeln. C. Schuchhardt fand, daß auf nordischen Rasiermessern der jüngeren Bronzezeit ein paar Schiffsdarstellungen vorkomrtien, bei denen ein ') Die Uranfänge des Segeins. Zeitschrift für Ethnologie, 48. Jahrg., .S. 82 u. f. merkwürdiges Gebilde wie eine Trauerweide sich mitten im Boote erhebt. Ein Segel kann das nicht bedeuten, denn es fehlt der Darstellung gerade das Wesentliche und Charakteristische des Segels, nämlich die Rahe, die geradlinige Querstange, ohne die sich das Tuch gar nicht am Mäste ausspannen läßt, überdies weiß man, daß die Schweden, wie schon bemerkt, selbst in viel späterer Zeit das Segel nicht kannten. Es handelt sich bei diesen Darstellungen wohl gleichfalls um Büsche, die als Segel benutzt wurden. *) Aßmann meint, als man soweit war, die Triebkraft des Windes mit einer dicht geschlossenen, künstlich aus Geflecht, Gewebe oder Häuten her- gestellten Fläche auffangen zu wollen, da verfiel man noch lange nicht auf das künstliche System eines Mastes mit einer daran nach allen Richtungen beweglichen Rahe als Trägerin des Segels. An- fangs tat man wohl dasselbe, was noch heute die nordamerikanischen Indianer tun: sie stellen sich, eine ausgespannte Decke mit den Händen haltend, im Kanu auf. Auch von diesem Verfahren glaubt Aßmann eine deutliche Spur in Altägypten nach- weisen zu können. Die ägyptische Göttin Isis sollte das Segel erfunden und zur Meeresfahrt auf einem Floße zuerst gebraucht haben. Die Isis Pharia ward auf Münzen und Gemmen öfters dar- gestellt (so z. B. Münzkatalog d. brit. Museums 26, 99 Tf. 12, Abb. 10, 15) auf einem Floße stehend und die beiden oberen Eeken eines ge- blähten Segels mit vorgestreckten Armen haltend, also in dem gleichen Benehmen wie jene Indianer. Diese Sonderbarkeit ist nicht von den Künstlern erfunden, welche die Münzen entwarfen, es wird hier nur alte Überlieferung ans Licht gezogen. Als dann zum Segelhalter statt des Arms die Stange verwendet ward, scheint zunächst — we- nigstens manchenorts — noch keine Rahe er- funden worden zu sein, vielmehr spannte man das Segel quer über zwischen rechts und links an der Bordwand aufragenden Stangen, den ersten Masten, aus. So machen es die Neuseeländer (Hörnes, Urgeschichte des Menschen, S. 148) auf ihren Kähnen, und dasselbe Segel setzt an Land der wandernde chinesische Handelsmann auf seinen einräderigen Karren, damit der Wind ihm schieben helfe. H. Fehlinger. ') Schuchhardt, Der Busch als Segel. Prähist. Z-eitschr. 10. Bd., S. 178 — 179. Bücherbesprechungen. Hertwig, Oscar, Allgemeine Biologie. Fünfte, verbesserte und erweiterte Auflage, be- arbeitet von Oscar und Günther Hertwig, 800 Seiten. Mit 484, teils farbigen Abbildungen im Text. Jena 1920, Verlag von G. Fischer. Preis geh. 45 M., geb. 52,50 M. Oscar Hertwigs „Allgemeine Biologie", die soeben in fünfter Auflage erschienen ist, bedarf einer besonderen Empfehlung nicht mehr. Es wird nicht viele Biologen geben, seien es nun Natur- wissenschaftler im engeren Sinne, oder seien es über ihr Fachgebiet hinaus interessierte Mediziner, denen das Buch unbekannt geblieben ist. Wer sich über Morphologie und Biologie der Zelle, dieses N. F. XIX. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 479 Thema im weitesten Sinne gefaßt, unterrichten will, der findet in der „Allgemeinen Biologie" ein außerordentlich reiches Tatsachenmaterial zu- sammengetragen und wohlverarbeitet, und auch der Spezialist auf dem Gebiete kann manche An- regung aus dem Buche schöpfen. Entsprechend den seit Erscheinen der letzten Auflage (1912) auf dem Gebiete erzielten Fort- schritten ist die neue Auflage vielfach verbessert und erweitert. Der l^mfang des Buches ist trotz- dem ungefähr der gleiche geblieben. Ermöglicht wurde das durch Vornahme stärkerer Kürzungen an verschiedenen Stellen. So sind zwei Kapitel ganz weggefallen, die Besprechung der Keimplas- matheorie Weismanns und die historischen Bemerkungen über die Stellung der Biogenesis- theorie zu anderen Entwicklungstheorien, Themata, die der Verfasser in seinem inzwischen erschienenen „Werden der Organismen" ausführlich behandelt hat. Verbesserungen sind an den verschiedensten Stellen vorgenommen worden, die neuere Lite- ratur ist bis auf die jüngste Zeit berücksichtigt, wenigstens soweit es sich um inländische Arbeiten handelt; die ausländische Literatur der Kriegsjahre ist uns ja bisher leider kaum zugänglich. Das Kapitel über die Geschlechtsbestimmung oder das Sexualitätsproblem wurde völlig neu bearbeitet, ein Gebiet, auf dem in den letzten Jahren eine besonders rege Tätigkeit entfaltet worden ist. Die Neubearbeitung stammt von dem Sohne des Ver- fassers, Günther Hertwig. Auch eine Reihe neuer Abbildungen ist in der neuen Auflage hinzugekommen. Die Aus- stattung ist überhaupt, wie alle Werke des Fischer- schen Verlages, für die gegenwärtige Zeit eine gute. Nachtsheim. Mitteilung. Mit Bezug auf meine letzte „Erklärung" kann jetzt mit- geteilt werden, daß Herr Prof. Plafimann inzwischen einer Anregung meines Rechtsbeistandes nachgegeben und einen Richligstellungs-Artikel, der ihm seinerzeit von mir eingesandt wurde, seinem wesentlichsten Inhalt nach zum, anfangs von ihm abgt lehnten, Abdruck angenommen hat. Da, wie ich aus dem mir zugelangten Korrekturabzug ersehen durfte, Prof. Plaßmann in einem von ihm verfaßten Zusatz ausdrücklich ausspricht: ,,Was wir von seiner (meiner) Einsendung ab- drucken, genügt, um die von ihm (mir) behauptete schwere Schädigung seines guten Rufes in der von ihm selbst ge- wünschten Weise aufzuheben", so darf seine gegen mich ge- richtete Anschuldigung als erledigt angesehen werden. Johannes Schlaf (Weimar). Anregungen und Antworten. Die doppelte tägliche Schwankung des Luftdrucks. Druckfehlerberichtigung. In dem Aufsatz : „DerStand der Chemie der alko- holischen Gärung" (Nr. 14, S. 209) sind folgende Druck- fehler zu berichtigen: Spalte 2 Zeile 7 von oben nicht Zyanase sondern Zymase „ 2 „ 14 .. „ 7 .. 4 ., " [ nicht Lavoisier " / sondern Gay-Lussac unten nicht 1909 sondern 1906. Dr. Erwin Schwenk. Berichtigungen und Zusätze. 1. In dem .Aufsatz „Wilhelm Ostwalds Forschun- gen zur Farbenlehre" in Naturw. Wochenschr. N. F. XIX, S. 129 — 135 muß es, worauf mich Herr W. Ostwald freund- lichst aufmerksam macht, auf S. 131 natürlich heißen remittiertes Licht auffallendes Licht statt umgekehrt, was im übrigen aus dem Zusammenhang her- vorgegangen sein dürfte. 2. In dem Referat über „Blausäuredesinfektion und Blausäure v ergiftung" (Naturw. Wochenschr. N. F. XIX, S. 76, Nr. 5 (1920) ist als Reichszentrale für Desinfek- tionen mittels Blausäure der ,, Technische Ausschuß für Schäd- lingsbekämpfung, Berlin" genannt worden. Diese Stelle wurde am I. April aufgelöst, und ihre Tätigkeit ging auf die „Deut- sche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m. b. H." über. Diese arbeitet in ganz Deutschland. Daneben wirkt eine private Unternehmung, die „Bayerische Ge- sellschaft für Schädlingsbekämpfung" in München, MüUerstr. 3. Heller. Im Heft 5 (März) des laufenden Jahrgangs dieser Zeilschrilt findet sich eine Besprechung der Schrift von Dr. H. Fricke: „Eine neue und einfache Deutung der Schwerkraft und eine an- schauliche Erklärung der Physik des Raumes. Der Verfasser geht in seinen Betrachtungen von einem Gravitationsdruck aus, der die Welt erfüllt und der für ihn eiii Urphänomen ist, also ein solches, das aus anderen Vorgängen nicht weiter ableitbar ist. Dieser Druck häuft auf den Massen Energie an; d.aher muß dem Gravitationsdruck ein anderes Phänomen entsprechen, das die Energieanhäufung beseitigt. Er nimmt hierfür einen Wätmeabfluß von den Körpern in den Weltraum in Anspruch. Zufluß der einen und .\bfluß der anderen Energie sollen rhythmisch wechseln; doch gibt der Verfasser nicht an, wie er sich die Bewegung im einzelnen vorstellt, so daß seinen Vorstellungen bisher die wünschenswerte Klarheit fehlt. Da- her ist es auch erschwert, eine direkte sachliche Kritik zu versuchen, da man sich dazu auf den Standpunkt des Ver- fassers stellen und diesen folglich genau kennen muß. Doch ist eine indirekte Kritik möglich; denn der Autor hat aus seiner Theorie zwei Folgerungen entwickelt, einmal die gegen- seitige Abhängigkeit zwischen der Temperatur an der Ober- fläche eines Weltkörpers und der Gravitation auf seiner Ober- fläche und ferner die doppelte tägliche Schwankung des Luft- drucks. Die Erklärung bestimmter Tatsachen durch eine neue Theorie ist immer geeignet, für die Theorie ein günstiges Vor- urteil zu erwecken, sowohl wenn die Tatsachen vorher nicht erklärt werden konnten als auch besonders, wenn die Theorie Folgerungen zuläßt, die auf bisher unbekannte Tatsachen hin- weisen, die dadurch erst ans Licht gebracht werden; und so wirken diese Erklärungen als Schrittmacher für die Aner- kennung der neuen Theorie. Aber sie erreichen dieses Ziel nur unter der einen Bedingung, daß andere Vorstellungen die- selben Tatsachen nicht gleichfalls ausreichend begründen; sonst können die anderen Vorstellungen der aufgestellten Theorie geradezu gefährlich werden. Es fragt sich daher, ob die erwähnten Folgerungen nur aus Frickes Theorie begründet werden können. Was die Beziehung zwischen der — nur errechneten — Gravitations- konstante auf der Sonnenoberfläche und der aus Messungen auf der Erde erschlossenen dortigen Temperatur betrifft, so läßt sich die gegenseitige Abhängigkeit auch folgern, wenn man den .«^ther als Energieübermittler im Weltenraume auf- gibt und die Übermittlung den Elektronen zuschreibt, die nach Art der Luftmolekeln an der Erdoberfläche, den ganzen Welten- raum erfüllen und mit 300000 km Geschwindigkeit sich be- wegen. Aber dieser Nachweis kann der Hypothese von Fricke solange nicht hinderlich sein, als diese Elektronen- theorie noch selbst um ihre Anerkennung kämpft. Dagegen 480 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 30 läßt sich die doppelte tägliche Schwankung des Luftdrucks aus den bisher geltenden Anschauungen ableiten, so daß die Entwicklung aus Frickes Theorie nicht als besondere Stütze für diese in Anspruch genommen werden kann: und diese Darlegung soll hier folgen. Das eine Maximum des täglichen Luftdrucks fällt auf 4 Uhr nachm. , das andere auf 4 Uhr morgens. Mit dem ersteren fällt auch das Maximum der täglichen Luftwärme zu- sammen. Es ist daher naheliegend, für beide einen ursäch- lichen Zusammenhang anzunehmen und ihn auf die gesteigerte kinetische Energie der Luftmolekeln zurückzuführen, die der Wärmeabgabe der Sonnenstrahlen zu danken ist. Das zweite Maximum um 4 Uhr morgens fällt dagegen nahe zusammen mit dem Minimum der Lufttemperatur, das unmittelbar vor Sonnenaufgang angetroffen wird. Man sollte daher an dieser Stelle ein Minimum des Luftdrucks und demnach überhaupt nur ein Maximum und ein Minimum erwarten. Aber eine genauere Überlegung über die Wirkungen der Sonnenstrahlen auf das Luftmeer weist neben der Vergrößerung der kinetischen T'.nergie der Luftmolekeln noch auf 2 weitere Wirkungen hin, nämlich auf die Hebung der Schichten gleichen Luftdrucks und auf einen Abfluß der Molekeln auf einer Fläche gleichen Luftdrucks nach den der Sonne abgewandten Punkten der Luftschicht hin. Die Hebung, also ein Aufwärtssteigen, wirkt dem Gravitationsstoß entgegen und schwächt ihn; doch ist anzunehmen, daß diese Schwächung nur einen kleinen Teil der Wirkung des Wärmezuwachses aulhebt, so daß ihm eine Mitwirkung an dem zweiten Maximum unmöglich zugeschrieben werden kann. Um die Wirkung des Abfließens der Luft auf den Niveau- llächen zu verstehen, soll die vereinfachende Annahme gemacht werden, daß die Erde eine Vollkugel sei. Würde dann auch von der Einwirkung der Sonne abgesehen werden können, so würden die Flächen gleichen Luftdrucks mit der Erdoberfläche konzentrische Kugelschalen sein. Unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen heben sich die Niveauflächen auf der Sonnen- seite über die konzentrischen Kugelschalen empor, während sie auf der Erdschattenseite unter dieselben sinken. Die Niveauflächen selbst werden in ihrer Gestalt von den Kugel- flächen abweichen, aber können als fast zusammenfallend mit exzentrischen Kugelschalen angesehen werden, deren Mittel- punkte auf der Verbindungslinie Sonne — Erde liegen und nach der Sonne hin verschoben sind. Nun erteilt die Gravitations- energie einer Molekel der Niveaufläche eine Geschwindigkeit, die nach dem Mittelpunkte der Erde gerichtet ist, die dem- nach auf der Niveaufläche nicht mehr senkrecht steht. Daher kann diese Geschwindigkeit in zwei Komponenten zerlegt werden, von denen die eine normal zur Niveaufläche steht und die eigentliche Gravitationswirkung veranlaßt, und die andere in die Tangentialebene der Niveaufläche in diesem Punkte fällt. Die letztere treibt die Molekel nach dem der Sonne am meisten abgewandten Punkte dieser Fläche auf der Schatten- seite. Nach ihm werden sämtliche Molekeln durch eine, wenn auch sehr schwache Komponente getrieben. Die Folge muß aber sein, daß sich dort ein verstärkter Druck geltend macht. Seine Größe wird schwer zu berechnen sein; aber für ihn gelten drei Möglichkeiten. Dieser Druckzuwachs ist entweder größer als die Druckabnahme, die aus der Abkühlung auf der Erdschattenseite folgt oder er ist gleich oder kleiner. Im letzteren Falle muß hier ein Minimu'm des Luftdrucks auftreten ; das gleiche gilt für den zweiten Fall. Dagegen kann sich im ersten Falle ein zweites Maximum ausbilden. Und da dies tatsächlich beobachtet wird, so muß man annehmen, daß dieser erste Fall in der Natur verwirklicht wird. Dieses Maximum ist zwar nicht genau um 4 Uhr morgens zu erwarten, da das Luftdruckminimum infolge der Abkühlung der Luft erst kurz vor Sonnenaufgang eintritt. Auch werden die Schwankungen des Luftdrucks, die durch einen einmaligen scheinbaren Um- lauf der Sonne um die Erde hervorgerufen werden, nur klein sein. Aber nach 24 Stunden wiederholen sich die Schwan- kungen in derselben Weise: so bilden sich stehende Schwin- gungen aus, die sich durch Übereinanderlagerung solange verstärken, bis der tägliche Schwankungszuwachs durch die Keibungszuwüchse der stärker schwingenden Luftmasse auf- gebraucht wird. Dann laufen innerhalb 24 Stunden zwei Luftdruckwellen von Osten nach Westen um die Erde, deren Maxima zunächst noch nicht genau einander gegenüber liegen. Aber nachdem die ganze Luflmasse in diesen Schwingungs- zustand gekommen ist, müssen sie sich genau gegenüber legen und auch gleich werden, wenn sie es nicht waren. Denn die Bewegung vollzieht sich dann so, daß die Welle auf der einen Hälfte eine genau gleiche auf der anderen veranlaßt, so daß auf jeder Seite zwei Maxima auftreten, die durch Übereinander- lagerung zu einem verschmelzen. Die Kritik mag diese Darlegung auf ihre Richtigkeit prüfen und die Fr icke sehe Erklärung zum Vergleiche heran- ziehen. Dabei auf dessen Gedankenreihen hingewiesen zu haben, ist dann eine erfreuliche Nebenwirkung dieser kurzen Betrachtung. Walte. Giftwirkungen bei eßbaren Pilzen. Von O. Prochnow wird ein Fall einer leichten Vergiftung durch .^garicus sapona- ceus Fr., dem Seifenritterling erwähnt und gesagt, daß auch die beiden Krämplinge Paxillus involutus und atrotomentosus Batsch. geringe Magenbeschwerden und ganz leichtes an Schwindelgefühl erinnerndes Unwohlsein mitunter hervorrufen (Naturw. Wochenschr. N. F. XVllI, Nr. 48). Herter gibt nach dem Genuß von Champignonarten (Psalliota arvensis, campestris, pratensis) ähnliche Erscheinungen an, hat sie aber bei Krämplingen niemals gesehen, trotzdem er sie regelmäßig in größeren Mengen verzehrt (Naturw. Wochenschr. N. F. XIX, Nr. 17). Ich kann selbst von einem Fall einer nicht unbe- denklichen Vergiftung durch den kahlen Krämpling berichten, den ich im vergangenen Herbst beobachten konnte. Die Pilze waren frisch auf dem Markte gekauft. Die Hausfrau hatte bei der Zubereitung der Pilze etwa eine halbe Untertasse voll der rohen Krämplinge verzehrt. Sofort nach dem Genuß der zu- bereiteten Pilze, d. h. etwa eine Stunde nach dem Genuß der rohen, trat bei der Hausfrau ohne besondere Vorboten (Nausea) starkes Erbrechen auf. Dieses Erbrechen hielt in Zwischen- räumen von xo bis 15 Minuten etwa sechs Stunden lang an. Erst nach der Einführung eines Magenschlauches, der übrigens wesentlichen Mageninhalt nicht mehr herausbeförderte, ließ das Erbrechen nach und trat nur noch ab und zu bis etwa 12 Stunden nach dem Genuß der Pilze auf. Der Puls war — vielleicht infolge der starken Erschöpfung durch die Anstren- gungen bei dem fortwährendem Erbrechen — sehr schwach geworden, besserte sich aber bald nach dem Seltcnerwerden des I->brechens und Darreichung von Kognak und Abführ- mitteln. Gleichzeitig hatte sich ein starkes Angstgefühl und Verfall der Gesichtszüge gezeigt. Da von den sämtlichen übrigen drei Hausgenossen, die die Pilze nur im geschmorten Zustande verzehrt hatten, niemand auch nur das geringste Un- wohlsein verspürte, so führe ich die ausgesprochenen Ver- giftungserscheinungen, die einen recht bedenklichen Eindruck machten, auf den Genuß der rohen Pilze zurück. Dr. Willer. Literatur. Mit W o 1 1 e n w e b e r , Dr. H. W. , Der Kartoftelschorf. 2 Tafeln und II Textabbild. Berlin '20, P. Parey. Lubosch, Prof. Dr. W., Die Bedeutung der humanisti- schen Bildung für die Naturwissenschaften. Jena '20, G Fischer. 2 M. luhalt: W. Ahrens, „Magische Quadrate" und Planetcnamulette. (15 Abb.) S. 465. — Einzelberichte: H. Strasser, Vererbung erworbener Eigenschaften. S. 475. Schuchhardt, Aßmann, Poch, Schiffahrt kulturarnier Völker. S. 476. — Bücherbesprechungen: O. Hertwig, Allgemeine Biologie. S. 478. — Anregungen und Antworten : Mitteilung. S. 479. Druckfehlerberichtigung. S. 479. Berichtigungen und Zusätze. S. 479. Die doppelte tägliche Schwankung des Luftdrucks. S. 479. Giftwirkungen bei eßbaren Pilzen. S. 4S0. — Literatur: Liste. S. 480. ^^^^ Manuskripte und Zuschriften Verden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'scheu Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Folge 19. Band; zen Reihe 35. Band. Sonntag, den i. August 1920. Nummer 31. Über Perlen und Perlenbildung.') Von Priv.-Doz. Dr. F. Alverdes, Halle a. S. [Nachdruck verboten.] Mit 4 Tei Soweit überhaupt unsere historischen Quellen zurückreichen, erfreuen sich Perlen einer besonderen Wertschätzung in den Augen der Menschen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß schon in alten Zeiten versucht wurde, durch künstliche Mittel Muscheln zu einer erhöhten Perlproduktion zu ver- anlassen. Doch ist man darin trotz eifriger Be- mühungen bisher zu keinem rechten Resultat ge- kommen. Nur dann ist eine Lösung des in Rede stehenden Problems zu erhoffen, wenn die Ver- suche von einer genauen Kenntnis derjenigen Be- dingungen ausgehen, unter welchen die Bildung einer Perle sich vollziehen kann. Echte Perlen entstehen ausschließlich als Er- zeugnis des tierischen Körpers und zwar desjenigen der Weichtiere (Mollusken). Unter diesen kommen für die Produktion edier Perlen hauptsächlich die- jenigen Arten in Betracht, deren Schalen auf der Innenfläche von einer glänzenden Perlmutterschicht ausgekleidet sind. Daher erweisen sich nicht nur Muscheln, sondern auch eine Anzahl von Schnecken- arten zur Bildung von Perlen befähigt; ja sogar von dem schalentragenden Tintenfisch (Nautilus p07npüius) können Perlen hervorgebracht werden. Die zahlreichsten und schönsten Perlen werden aus der im Indischen und Stillen Ozean lebenden Seeperlmuschel (Margaritifera margaritifera) gewonnen; dieselbe ist eine große, flache, bis zu 30 cm im Durchmesser erreichende Muschel mit außen rauher, innen prachtvoll perlmutterglänzender Schale. Sie lebt in Tiefen von 25 — 40 m und wird vielfach in größeren Mengen, zu sog. „Muschel- bänken" vereinigt, gefunden. Der Fang der Muscheln geschieht durch Taucher, die von Jugend auf an dieses Handwerk gewöhnt sind und die im allge- meinen etwa eine Minute unter der Wasserober- fläche auszuharren imstande sind. Infolge der nun schon Jahrtausende währenden Verfolgung hat die Zahl dieser Perlmuscheln, namentlich in neuerer Zeit, allmählich abgenommen, woran auch die — wenigstens von der englischen Verwaltung — ein- geführten Schonzeiten bisher nichts zu ändern ver- mochten. Daher ist man jetzt vielfach dazu über- gegangen, die Muscheln, bevor man sie öffnet, mit Röntgenstrahlen auf die Anwesenheit von Perlen hin zu untersuchen, um die zwecklose Vernichtung derjenigen Muscheln, welche keine oder nur kleine Perlen enthalten, zu vermeiden. In Deutschland kommt für die Perlproduktion hauptsächlich die Flußperlmuschel (Marga- rUana margaritifera) in Betracht. Diese zeigt sich leider — im Gegensatz zu anderen Süßwasser- tabbildungen. muscheln — gegen Verschmutzung ihres Wohn- gewässers außerordentlich empfindlich und ist daher bei uns in ihrem Bestände durch das Weiteraus- greifen der menschlichen Siedelungen und Fabrik- anlagen ernstlich bedroht. Sie fühlt sich nur in klaren, raschfließenden, dabei kalkarmen Bächen und P'lüßchen heimisch ; früher war sie bei uns weit verbreitet und wurde jahrhundertelang zum Zwecke der Perlengewinnung von Staats wegen ge- schützt. In neuerer Zeit hat man dagegen ihre Pflege fast durchwegs als unrentabel aufgegeben. Die Flußperlmuschel wird bis zu 12 cm lang; das Alt er ausgewachsener Exemplare soll mindestens 70 — ^80 Jahre betragen. Die Perlen setzen sich aus den gleichen Sub- stanzen zusammen wie die Schalen der sie produ- zierenden Tiere. Bei denjenigen Muscheln, welche in der Hauptsache für die Erzeugung wertvoller Perlen in Betracht kommen, sind an den Schalen 4 verschiedene Schichtarten voneinander zu unter- scheiden. Zunächst findet sich an der Oberfläche eine aus organischer Substanz bestehende, meist dunkel gefärbte, derbe Haut (das Periostracu m). Unter ihr folgt die etwas mächtigere Prismen- schicht, deren Name daher stammt, daß sie sich aus einer großen Zahl senkrecht zur Schalenober- fläche angeordneter Prismen aufbaut. Die dritte der Schalenschichten, die Perlmutterschicht, setzt sich aus feinsten, parallel zur Oberfläche ge- richteten Lagen zusammen ; sie sowohl wie die Prismenschicht besteht aus kohlensaurem Kalk. Die Reihenfolge der genannten drei Schichten braucht nicht immer schemalisch streng eingehalten zu sein, da unter Umständen feinere Lagen der einen Schichtart in die andere eingesprengt sind (Abb. 3). Des weiteren kompliziert sich das Bild durch das Auftreten einer 4. Schichtart, der sog. „hellen Schicht" (des Hypostracums), welche sich an den Ansatzstellen der Muskeln vorfindet und nie eine größere Mächtigkeit erreicht. Öffnet man eine lebende Muschel, so zeigt sich, daß die Innenflächen der beiden Schalen durch den Mantel des Tieres bedeckt sind. Zwischen Mantel und Körper des Tieres schalten sich jeder- seits die beiden Kiemenpaare ein (Abb. i). Der Mantel besteht im wesentlichen aus Bindegewebe; seine Oberfläche wird durch eine einfache Zell- schicht bekleidet (Abb. 2). Diese Zellen sind es, ') Nach einem Vortrage, gehalten am 5. Februar 1920 im Naturwissenschaftlichen Verein für Sachsen und Thüringen zu Halle 3. S. 482 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr, 31 welche durch ihre Tätigkeit die Schalensubstanzen hervorbringen und durch beständige Ablagerung neuer Schichten auf die bereits vorhandenen das allmähliche Wachstum der Muschelschale veran- lassen. Am Aufbau einer Perle können sich entweder alle 4 Schichtarten beteiligen oder man findet nur einen Teil derselben vertreten; unter Umständen setzt sich eine Perle von der innersten Lage bis zur äußersten aus einer einzigen Schichtart zu- sammen. Handelswert besitzt nur diejenige Perle, welche eine runde oder ovale Gestalt aufweist; außerdem darf ihre Oberfläche nur von der glänzenden Perlmutter und von keiner anderen Schichtart bedeckt sein, da allein diese ihr den begehrten Glanz verleiht. Manteloberfläche zu einer einheitlichen Zellschicht und die vorher im Inneren des Mantels gelegene Perle wird bei weiterer Tätigkeit der Zellen durch einen Überzug von Schalensubstanz an die Schale festgeheftet (Abb. 3, SP). Diese die Perle be- deckende Schicht ist zunächst sehr dünn, verdickt sich aber ständig, so daß die Perle allmählich weiter ins Innere der Schale zu liegen kommen kann; der konzentrische Bau der sie zusammen- setzenden Schichten weist jedoch ständig darauf hin, daß sie ihren Ursprung im Inneren des Mantels nahm. Pm Pr Pe Abb. I. Schematiscber Querschnitt durch eine Süfiwasser- muschel. S Schale. SS Schalenschlofl. M Mantel. K Kiemen. F Fuß. Ihre Entstehung nehmen die Perlen lediglich im Inneren des Tieres und zwar in dessen Mantel. Es ist ein Irrtum, wenn selbst in neueren Büchern angegeben wird, daß die Perlen in dem Räume zwischen Mantel und Schale entstünden und durch Hin- und Hcrrollen ihre runde Gestalt erhielten. Jede Perle steckt — anfänglich wenigstens — in einem Perlsack, welcher nicht etwa aus Binde- gewebe besteht, sondern durch eine einfache Schicht der gleichen Zellen gebildet wird, wie sie die Oberfläche des Mantels bedecken. Da die Zellen des Perlsacks genau so wie die Zellen der Mantel- oberfläche Schalensubstanz absondern, so ist es nicht verwunderlich, daß durch ihre Tätigkeit im Inneren des Mantels mehr oder minder regelmäßig gestaltete Gebilde entstehen, welche wir Perlen nennen. Die Zellen des Perlsacks können unter Umständen aus uns unbekannten Gründen absterben; dann hört das Wachstum der Perle auf und dieselbe liegt ohne Perlsack im Inneren des Mantels. In anderen Fällen können die Perlen infolge ihres unaufhaltsamen Wachstums die Oberfläche des Mantels sprengen und treten dann in direkte Be- rührung mit der Innenfläche der Schale (Abb. 2, B). Der Perlsack vereinigt sich mit den Zellen der Abb. 2. Teil der Schale einer Süßwassermuschel mit darunter- liegendem Mantel. In letzterem 2 Perlen mit Perlsack. Die eine (A) in normaler Lage, die andere (B) hat durch ihr Wachstum die Manteloberfläche gesprengt. Ihr Perlsack ist mit den Zellen der Manteloberfläche in Verbindung getreten; sie steht also im Begriffe, zu einer Schalenperle zu werden. Halbschematisch. Pe Periostracum. Pr Prismenschicht. Pra Perlmutter. M Mantel. Bg Bindegewebe. Vergrößerung 3 mal. Solche der Schale angehefteten Perlen heißen „Schalen perlen"; man muß sie als echte Perlen ansprechen. Von ihnen sind die sog. „Schalenkonkretionen" scharf zu unter- scheiden (Abb. 3, SK). Letztere entstehen, wenn irgendein Fremdkörper (ein Steinchen, Pflanzenteil oder Tier) zwischen Mantel und Schale gerät, dort liegen bleibt und nun in gleicher Weise wie eine Schalenperle von Schalensubstanz überzogen wird. Es können auf diesem Wege auf der Innenseite der Muschelschale Auswüchse entstehen, welche noch längere oder kürzere Zeit mehr oder minder deutlich die ursprüngliche Form des Eindringlings erkennen lassen. Auf dem angegebenen Prinzip beruht die Produktion der sog. Halbperlen, wie sie besonders in Japan und China erzeugt werden. Dieselben werden in der Weise gewonnen, daß man Fremdkörper (aus Perlmutter geformte Halb- kugeln, Buddhabildchen aus Wachs usw.) zwischen N. F. XDC. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 483 Schale und Mantel des Tieres bringt ; dort werden sie dann im Laufe der Zeit auf der dem Mantel zugekehrten Seite mit Perlmutter überzogen. Dagegen ist die Erzeugung von freien, im Inneren des Mantels gelegenen kugelförmigen Perlen, wie sie allein eine bedeutende Wertschätzung im Handel erfahren, bisher ein ungelöstes Problem geblieben. Mannigfach sind die Vorschläge, die zur Lösung desselben gemacht worden sind. Es wird berichtet, daßLinne einen Weg zur künst- lichen Erzeugung derartiger Perlen gefunden und daß er sein Geheimnis für eine ansehnliche Summe verkauft habe. Doch hat man in der Folgezeit nie wieder etwas über diese Angelegenheit gehört, so daß der Gedanke nahe liegt, die Anwendung der Linneschen Methode habe doch nicht zu dem gewünschten Resultat geführt. Pr Pe Abb. 3. Schliff durch eine Muschelschale. An dieser eine Schalenperle (SP) und eine Schalenkonkretion (SK). Vergrößerung 15 mal. Andere Forscher, über deren Versuchsanordnung wir genauer orientiert sind, gingen davon aus, daß man im Zentrum der Perle nicht selten einen Fremdkörper antrifft (entweder eine undefinierbare Masse oder einen Parasiten, etwa ein Milbenei oder einen Wurm). Ein solcher Körper wird im allgemeinen als der „Perlkern" bezeichnet. Nach Ansicht dieser Autoren hat man nur nötig, Fremd- körper ins Innere des Muschelmantels einzuführen oder die Muscheln stark mit Parasiten zu infizieren, um sie zu einer erhöhten Perlproduktion anzu- regen. Alle derartigen Versuche führten jedoch zu keinem eindeutigen Erfolg. Einen zusammen- fassenden Überblick über diejenigen Anschauungen, welche die Perlen und ihre Bildung betreffen, enthält neben anderen Angaben die Arbeit von E. Korscheit: „Perlen, Altes und Neues über ihre Struktur, Herkunft und Verwertung." (Fort- schritte der Naturwissenschaftlichen Forschung. Bd. 7. 1912.) Bei meinen Untersuchungen, deren Ergebnisse nach der genannten Arbeit veröffentlicht wurden, ging ich von denjenigen Perlen aus, welche im Zentrum keinen „Perlkern" aufweisen ; hier lassen sich die konzentrisch gelagerten Perlschichten bis ins Zentrum verfolgen. In solchen Fällen konnte also kein ins Innere des Mantels hineingelangter F"remdkörper den Anstoß zur Perlbildung gegeben haben; man muß vielmehr annehmen, daß hier die Anwesenheit der die Schalensubstanzen ab- sondernden Zellen allein genügte, die Bildung einer Perle zu verursachen. Dies führte auf den Gedanken, Zellen von der Manteloberfläche abzulösen und mit einer feinen Injektionsspritze in das Mantel- innere hineinzubringen. Meine Versuche erstreckten sich auf 3 Süß Wassermuscheln: die Flußperl- m u s c h e 1 (Margarüaiia margaritifera), die Teichmuschel (Anodoida cy^nea) und die Malermuschel (Unio pidoruni). (Vgl. auch meine Arbeit: „Versuche über die künstliche Er- zeugung von Mantelperlen bei Süß wassermuscheln." Zoologischer Anzeiger. Bd. 42. 1913-) Abb. 4. Im Entstehen begrirliiur , txperimenlell erzeugter Perlsack mit Perle. Halbschematisch. Bg Bindegewebe. ÜB Übereepflanztes Bindegewebe. PS Zellen, welche von der Manteloberfläche stammen und durch die Injektion in das Mantelinnere gerieten. Sie stehen im Begrift', den durch den experimentellen Eingriff entstandenen Hohlraum auszukleiden und sich dadurch zu einem vollständigen Perlsack zusammen- zuschließen. Soweit sich die Zellen erstrecken, ist Perlen- substanz abgeschieden worden. Vergrößerung 100 mal. Es zeigt sich, daß in der Tat derartig behandelte Zellen sehr rasch — während der warmen Jahreszeit oft schon innerhalb von 3 Tagen — im Manlelinneren einen Perlsack bilden, der sogleich beginnt, Perlen- substanz abzuscheiden. Daß die nach Ausführung der Versuche vorgefundenen Perlen und Perlsäcke dem experimentellen Eingriff ihre Entstehung ver- dankten und nicht etwa schon früher vorhanden gewesen waren, geht aus folgendem hervor. Neben dem jungen Perlsack war immer sehr deutlich jenes Bindegewebsstückchen nachzuweisen, mit dem zusammen die Zellen der Oberfläche ins Mantelinnere hinein injiziert worden waren; denn eine vollständige Loslösung dieser Zellen von der 484 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 31 Unterlage war ohne ihre gleichzeitige Zerstörung nicht möglich. Einen schlagenden Beweis für das Gelingen der Versuche liefert ein Schnittpräparat, das in Abb. 4 wiedergegeben ist. Hier ist der Perlsack erst im Entstehen begriffen. Das inji- zierte Bindegewebe ist kenntlich an einer etwas dunkleren Färbung. Die ihm aufsitzenden Ober- flächenzellen stehen im Begriffe, sich über die Wand des bei der Injektion im Mantelinneren entstandenen Hohlraums auszubreiten. Soweit die Zellen vorgedrungen sind, ist bereits eine Ab- sonderung von Perlsubstanz erfolgt. Im Inneren der sich bildenden Perle finden sich Zellreste und Schmutzteilchen. Das Präparat wurde angefertigt fünf Tage nach Ausführung des Experimentes. Die junge Perle zeigt hier zunächst eine glockenför- mige Gestalt. Wäre mit Abtötung des Tieres und Anfertigung des Präparates länger gewartet worden, so hätte sich der Perlsack, wie in anderen Fällen, vollständig geschlossen und die Perle sich abgerundet. Das Resultat meiner Versuche war also das folgende : nicht die Anwesenheit von Fremdkörpern oder Parasiten ist zur Bildung einer Perle erforder- lich, sondern das Vorhandensein von Schalen- substanz absondernden Oberflächenzellen. In freier Natur werden diese Zellen wahrscheinlich durch Eingriffe von außen, z. B. entweder durch Eiablage oder Einwandern eines Parasiten oder durch andere noch gröbere Verletzungen ins Innere des Tieres hineingebracht. Diese von der Manteloberfläche herstammenden Zellen zeigen dann an ihrem neuen Standort das Bestreben, sich zu einem Perlsack zusammenzuschließen, welcher sogleich mit der Absonderung von Perlsubstanz beginnt. Die ein- gedrungenen Parasiten oder etwa eingeschleppte Schmutzteilchen kommen im Verlauf der Perl- bildung ins Innere der Perle zu liegen und werden dadurch zu dem sog. „Perlkern". Die größte Perle, welche ich erzielte, war ^j.^ Jahr alt und besaß i mm Durchmesser. Alles in allem besitze ich etwa 50 kleiner und kleinster Perlen. Durch den Krieg wurden die Versuche unterbrochen. Im Prinzip ist also die Frage nach der künstlichen Erzeugung freier Perlen im Inneren der Muschel gelöst; es fragt sich nur, ob die bis- her angewandte Methode von Bedeutung für die Praxis werden kann. Denn das prozentuale Ver- hältnis zwischen Perlen schlechter und guter Qualität wäre selbstverständlich unter den künst- lich hervorgerufenen Perlen genau das gleiche wie bei den natürlich entstandenen, d. h. es käme auf viele hundert oder gar tausend Perlen erst eine wertvolle. Es ist zweifelhaft, ob ein solches Er- gebnis die aufgewendete Mühe lohnen würde. Über die Wernersche Koordinationslehre. Von R. Weinland in Tübingen. [Nachdruck verboten.] Mit 12 Abbildungen im Text. (Schluß.) mehrwertigem Trägeratom von C. W. B 1 o m - Strand 1869 gemacht: 0,s IG. Heteropolysäuren. Eine sehr umfangreiche Gruppe mannigfaltigst zusammengesetzter Glieder bilden die Hetero- polysäuren. Als allgemein bekannte Verbin- dungen nennen wir die Phosphormolybdänsäure, die Kiesel- und die Borwolframsäure. Soweit man früher versuchte, Konstitutionsformeln für diese aufzustellen, geschah es in Kettenformeln, wie die folgende für das phosphor-duodeci-molyb- dänsaure Ammonium : Oa O2 O2 Oj O = P(0 — Mo — O — Mo — U — Mo — O — Mo — O — NH^),. Diese Kettenformeln waren früher auch für die Metallammoniakverbindungen und die Sauerstoff- säuren im Gebrauch, z. B. für Hexamminkobalti- chlorid und für Überchlorsäure : ,NH3 — Cl Co— NH3 — NHj — NHj — NHjCl ; Cl — O — O — O — OH. \NH3Cl In der ersteren wurde der Stickstoff als fünfwertig angenommen, in der letzteren das Chlor als ein- wertig (unter der Herrschaft der Keku leschen Theorie von der Konstanz der Valenz eines Elementes). Bei den Sauerstoffsäuren wurde der Schritt von den Kettenformeln zu denen mit ClOjH o=ci- ■OH; S ,0— OH O^ O— OH O^ >C Bei den Metallammoniakverbindungen führte Werner die Formeln mit zentralem Atom, wie wir gesehen haben, mit vollem Erfolge ein. Allen Kettenformeln haftet der sehr unbe- friedigende Mangel an, daß keine Grenze für die Ammoniakmoleküle oder Sauerstoffatome ersicht- lich ist. Bei den Heteropolysäuren entwickelte M i o - lati (1908) auf Grund der Koordinationslehre die jetzigen Anschauungen über ihre Konstitution. Er nimmt an, daß die zentrale Säure (Kieselsäure usw.) so viel Wassermoleküle durch Nebenvalenzen des Sauerstoffs anlagert, daß im ganzen 6 Sauer- stoffatome das Z.A. umgeben: ,OHj SiO^Hi -(- 2 HjO = (HO).,Si < = [SiOeJHs. '^OHj Werden in dieser Säure die Sauerstoffatome durch zweiwertige Reste wie WO^, MoO^ oder WjO,, MojO, ersetzt, so bekommt man die verschiedenen N. F. XIX. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 48s Heterosäuren. In der Kieselwolframsäure sind demgemäß an die Stelle der 6 Sauerstoffatome 6 Reste W,0- ■[Si(W20,)6]H8. getreten. Die beobachtete Grenze von 12 Wolf- ramsäuremolekülen findet in der K.Z. 6 des Sili- ciums, welche dieses z. B. auch in den Fluorsili- katen, 1 (SiFelMe,, zeigt, ihre Erklärung. Im ganzen sind bis jetzt 2 Grenzreihen be- kannt, je mit 6 Resten W„(Mo3)0,, bzw. WfMojOj. Für die oben genannten Heteropolysäuren er- geben sich demgemäß folgende Formeln : BO.iHj + 3 HjO = |BOg]Ha; [B{W2 0,)„1H„, Borwolframsäure Sii\H, + 2H2C1 = \S\(\]H,; [Si(W20,1„]H8, Kiesel wolframsäure PO.Hj + 2 H„0 = {POJH, ; [P(W„0,>,]H,. Phosphorwolframsäure Hiernach muß die Borwolframsäure 9 basisch, die Kiesel wolframsäure 8- basisch und die Phosphor- wolframsäure jbasisch sein. Die an Base reich- sten Kieselwolframate enthalten in der Tat 8 äquivalente Base: [Si(W20,)e]K8 + i4H20. Aber von den beiden anderen Säuren waren bei Aufstellung dieser Formeln Salze der verlangten Basizität nicht bekannt. Man vermochte indessen solche Salze darzustellen und zwar von der Phos- phormolybdänsäure und -wolframsäure das Guani- dinsalz (A. Rosenheim), von der Borwolfram- säure das Merkurosalz. Die genannten 3 Heteropolysäuren sind aber nicht nur in Salzen, sondern auch als solche be- kannt. Sie kristallisieren ausgezeichnet in tetra- gonalen Oktaedern und jede enthält 28 Moleküle Wasser, außerdem sind sie bemerkenswerterweise isomorph. Bei diesen Säuren verflüchtigen sich die 28 Moleküle Wasser zwar verschieden leicht, aber stets bei niedrigerer Temperatur, als dasjenige Wasser, von dem die sauren Wasserstoffatome stammen. Dieser Umstand und der Isomorphismus der drei Säuren sprechen sehr für die Richtigkeit, der aufgestellten Konstitutionsformeln. Wir führen noch die Formel eines Arsen deci- molybdänates (I) und eines Arsen-trimolybdänates (II) an (A. Rosenheim): JAs(M''^0^)5JH,.(CN,H,), ; [As(^^°0^)JNa3 + 7 H.O. I Guanidin II Aber nicht nur für die Heteropolysäuren gelten diese Anschauungen, sondern auch für viele Poly- molybdäbate und Polywolframate usw. Bekannt ist, daß die Zusammensetzung der Molybdänate und Wolframate meist ziemlich ver- wickelt ist. Die normalen Salze bieten nichts Außergewöhnliches. Dagegen zeigen die stöchio- metrisch als sauer erscheinenden Salze so viel eigentümliches, daß man schon früher besondere Säuren in ihnen vermutete. Zu den bemerkens- wertesten gehören in dieser Hinsicht die Meta- wolframate. Diese bilden sich beim lang- samen Zusatz von Salzsäure zur wässerigen Lösung von normalen Wolframaten (fügt man die Salz- säure sogleich in größerer Menge hinzu, so wird weiße Wolframsäure gefällt). Die Metawolframate sind stets wasserhaltig: I 4WO3, MeaO, nH„0. Aus den Lösungen der Metawolframate fällen Säuren keine Wolframsäure. Die ihnen zugrunde liegende Säure läßt sich darstellen. Für die Klärung ihrer Konstitution war die Feststellung von Wichtigkeit, daß das Kaliummetawolframat isomorph ist mit dem Kaliumkiesel- und dem Kalium-bor-duodeciwolframat : [si(W30;)J|^*;+ 16H,0; Ib(W,0,Ük*+ 16H.O. Ferner ist die Metawolframsäure selbst isomorph mit der trigonalen Reihe der Phosphor-, Bor- und Kiesel duodeci -wolframsäure : fP(W,,0,)lH, 4-22H„0. Hieraus wurde geschlossen, daß auch die Meta- wolframate Duodeciwolframsäureverbindungen sind (H. Copaux). Es fragt sich aber, wer in diesem Falle die Rolle der zentralen Säure übernimmt. Hier hat sich die Annahme, daß dies die schwache Säure Wasser ist, vorzüglich bewährt (H. Copaux). Die beiden Wasserstoffatome eines Wassermole- küles sind hiernach die Zentralatome. Dadurch, daß sich nun Wassermoleküle mit Nebenvalenzen der Sauerstoffatome in solcher Zahl an jenes Wassermolekül anlagern, daß zusammen 6 Atome Sauerstoff vorhanden sind, entsteht eine Aquo- säure: (H20-)2H-0-H{-.OHj), == [HjOö]H,o. Ersetzt man in dieser Säure die 6 Sauerstoff- atome durch 6 Reste w,o,, so erhält man die Metawolframsäure: [H,(W,0,)„]H,„. Die Metawolframate sind hiernach Salze einer Heteropolysäure. Die Formeln des Kalium-meta- wolframates und der Metawolframsäure sind nun- mehr: [H2(WjO,1e]K^+l 6 H.O, isomorph mit [Si(W„0,lo] "*+' ^HoO; [H2(W,,0,)ojHi„-)-22H20, „ „ [P(W20,)„]Hio + 22H20. Die Probe auf ihre Richtigkeit haben diese An- schauungen aber darin bestanden, daß jeweils die- jenigen Wassermoleküle, die in den Formeln als Wasserstoffatome auftreten, sich ganz anders ver- halten, als die einzeln geschriebenen Wassermole- küle. Diese letzteren können entfernt werden, ohne daß der Charakter der Salze sich ändert, die anderen aber nicht. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 31 Von den Salzen, denen eine solche Aquo- heteropolysäure zugrunde liegt, erwähnen wir noch das gewöhnliche Ammoniummolyb- dänat, auch Paramolybdänat genannt, mit dessen analytischen Werten die beiden F'ormeln 7M0O3, 3{NHi\0, 4H.,0 oder 12M0O3, 5(NH4)20, 7H2O, in Übereinstimmung stehen. Es hat sich gezeigt, daß es von einer 6 Molybdän-aquosäure sich ab- leitet : [H2(MoO,)J(fj"^^^^=Y('2Mo03, 5(NH,),0, 7H,,0). Das Wasser, das das Salz enthält, gehört alles zum Komplex; durch seine Entfernung ändern sich die Eigenschaften des Salzes wesentlich. Für andere Polysäuren hat sich ergeben, daß ihnen sauerstoffarmere Aquosäuren zugrunde liegen : ^H,0,,]H,; [H.,0jiH3; [HoOjJH,. Was die Salze der Isopolysäuren betrifft, z. B. die Polychromate, so kann man sie ent- weder so ableiten, daß man in den normalen Chromaten Sauerstofi'atome durch Reste CrO.j ersetzt (Miolati): [CrOiJMe O,, 1 |Me, JMe, Bichromat Trichromat Tetrachromat oder daß man annimmt, daß sich ganze Chrom- säureanhydrid-Moleküle an das Anion Cr04 an- lagern (durch Nebenvalenzen der Sauerstoffatome an das Chrom) : r o. 11 mCr .CrOj Me^ (Bichromat). I O •'' J Werner bevorzugt für das Kaliumbichromat die Formel mit mehrfacher Sauerstoff brückenbindung, \cr-0-Cr/ vor der üblichen mit einem Brückensauerstoff- atom. Im Anschluß hieran wollen wir noch einige Formeln von Silikaten anführen, wie sie von den iMineralogen auf Grund der Koordina- tionslehre jetzt angenomrnen werden.*) Der in der Kieselwolframsäure enthaltenen Sbasischen Hexaoxo-kieselsäure (S. 484), SiOjIU -f 2 HjO = (SiOJHs,") ') GröiStetiteils nach J. Jakob, „Zur Theorie der niag- matischen Mineral isatorcn" in Z. anorg. Chem. 106, 229. 1919. ') Im „Maema" nimmt Jakob die vollständig koordina- tiv gesättigte Säure Si^t )H)4 ^- GIl^O = [(ILO -OaSit— OH- 0H)4jHi in Wasser unter Druck in reichlicher Menge gelöst an. Kom- men solche Lösungen in Gegenden niedrigeren Druckes, so zerfallen diese Moleküle, das einfache Oxyd scheidet sich aus, der „Mineralisator" Wasser entweicht. Entsprechend bildet sich z. B. Kotgültigerz aus dem koordinativ gesättigten Molekül ' [AsSe]H^» = AsS3Ag3 + 3ll,S. kommt auch bei den Silikaten große Bedeutung zu. Sie liegt z. B. dem Tschermakschen Molekül, das in der Hornblende (neben Strahlstein, s. u.) angenommen wird, zugrunde: [ 1 AI SiO 2 p'^«|(Mg,Fe) Diese Verbindung kommt auch selbständig als Prismatin im Gneis vor. Des weiteren ist der Dumortierit das Aluminiumsalz jener Säure : [SiOelsAls. Andere Silikate stammen von einer Säure ab, welche den mehrkernigen Metallammoniakver- bindungen (S. 456) gleicht, und deren zentrales Siliciumatom auch die K.Z. 6 besitzt: [Si(SiO,)3]H8. Man kann entweder annehmen, daß je ein Rest SiOj wie Äthylendiamin (S. 429), 2 K.St. des inneren Siliciumatoms in cis-Stellung besetzt (I), oder daß sich 3 Siliciumdioxyd-Moleküle an die obige Hexaoxo-Kieselsäure angelagert haben (II):') [o^ .0^ / ^o. o\ 1 1 ,0. / ,0, hJ )Si; >Si / >Si( [o^ ^o-^ \ 0/ 0,Si< > Si < --.■0/ /\^, ^O-- ö 0= ;SiO., SiO, II Von dieser Säure leitet sich z. B. der Strahl- stein ab : |si(SiO,)JJ?f. Wirken auf den Strahlstein Kohlensäure und Wasser ein, so entsteht Talk: Si(SiO,),|^^?.''-|-CO„ 4- H, IsitSiOjjJ^Ss^CaCOj. Werden hierbei auch Moleküle SiOj aus dem Anion und in einem Falle außer dem Calcium noch Magnesium weggenommen , so bekommt man Meerschaum und Serpentin: fsiO„(Si02)3pf-'+2H20 O, 2C08 = "2" ■ / "n \ > Si -; ".-SiOj Mgj + CaCOj + MgCOa -)- Sil H2O-' \^0' 'o I Meerschaum jSiOe(SiO,)3|;:'«3^H,0-|-CO, 10. ,0 |Mg3 I ^ Si ^ ~-SiO„|Mg3 4-CaC03 -)-2Si02. k»/ /v ^O ' "I 11,0 i>=- Serpentin ') Hierbei äuUcrn 2 SauerstolTatome je 2 Nebenvalenzen, was bisher in der präparativen Chemie nicht beobachtet wurde (S. 424). N. F. XIX. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 487 Durch Einlagerung von 2 Molekülen SiOj kann der Serpentin in Talk übergehen. Dem Kaolin (Ton), zSiOj, AI2O3, 2HjO, liegt dieselbe Säure wie dem Serpentin zugrunde: Ov /O.. I ) Si < "SiOa Ms. H4O0 Ö = Eine andere wichtige Gruppe von Silikaten enthält die Säure fAl(Si04\.|lH„ oder AI 0/ \(: H,„ nämlich die Granate, der Leucit und einige Glimmer: lAl, |Al(SiOJ3|p* ; |Al(SiO;i3|;:;= ; |Al(SiO,)3|K H, Grossular Leucit Muscovit Auch in dem Turmalin ist dieses Molekül ent- halten in Verbindung mit einer Aluminiumbor- säure : I 4([AHS.O,)3]K„^') + l[Al(B,05)3]Al3. Treten endlich in den Komplex des Leucits noch 2 Moleküle SiOg ein und ersetzen wir im Kation Natrium durch Kalium, so haben wir die Formel des Orthoklases: SiO, /O 0\ AI o SiÖ2 Orthoklas II. Über das Wesen der Basen, Säuren und der Hydrolyse. Eine neue Theorie der Basen, Säuren und der Hydrolyse nimmt ihren Ausgang von Beobach- tungen, die an Hydroxometallammoniakverbin- dungen gemacht wurden. Die erste von diesen fand P. Pfeiffer bei den Chromammoniak- verbindungen. Aus der wässerigen Lösung des violettroten Tetraquo-dipyridin-chromichlorids (Hexammingruppe) erhält man durch Zusatz von Ammoniak das Dihydroxo-diaquodipyridin-chromi- chlorid als graugrünes, in ^A^asser sehr schwer lösliches Pulver: (H,0)4 CI3 (OHio ' Bei dieser Reaktion werden 2 Moleküle Chlor- wasserstoff in der Art abgespalten, daß 2 Chlor- atome des Anions sich mit 2 Wasserstoffatomen von 2 Wassermolekülen des Kations vereinigen. Diese grünen Dihydroxosalze, die zur Diacido- tetrammingruppe gehören, gehen durch Säuren ') R = I-, 2- oder 3 wertiges Metall in äquivalenter Menge oder Wasserstoff. wieder rückwärts in die violettroten Tetraquo- dipyridinsalze über, bei der obigen Gleichung im Sinne von rechts nach links. Die Salzbildung findet also hier durch Anlagerung von Säure statt, wie bei der Bildung der Ammoniumsalze (P. Pfeiffer). Diese Reaktion liegt der neuen Theorie zugrunde (Werner und Pfeiffer von 1907 an). Bei der Untersuchung zahlreicher Hydroxo- verbindungen hat sich ergeben, daß die wässerige Lösung derselben teils alkalisch, teils neutral reagiert, ferner daß sie aus ihren konzentrierten Lösungen durch Metallsalze wieder gefällt werden können, und daß sie mit Säuren Aquosalze bilden. Die letztere Reaktion ist schon oben besprochen. Aus der Tatsache, daß Metallsalze die Hydroxo- salze aus ihren, auch alkalisch reagierenden Lösungen fällen, z. B. Kaliumbromid das Bromid, folgt, daß sie in der wässerigen Lösung enthalten sind. Wie ist aber die alkalische Reaktion der wässerigen Lösung zu erklären ? Da die Hydroxo- gruppen im Kation nichtionogen gebunden sind, und da für diese Verbindungen die K.Z. 6 aus- nahmslos besteht, kann die alkalische Reaktion nicht etwa darauf beruhen, daß eine Hydroxo- gruppe das Anion bildet. Vielmehr kommt sie so zustande, daß sich Wasser an die Hydroxo- Verbindung anlagert: r° OH Cl„-|-HOH = r OH„ OH' In der wässerigen Lösung dieses Aquo-pentammin- kobaltihydroxydes ist nunmehr eine ionogene Hydroxylgruppe enthalten, d. h. Hydroxylion. Diese Aquohydroxyde sind die wirk- lichen Basen. Die Hydroxoverbindungen sind Anhydrobasen (Basenanhydride) wie Ammoniak. Aus den Anhydrobasen werden also dadurch wirkliche Basen, daß sie dem lösenden Wasser Wassertoffionen entziehen unter Verschiebung des Wasserstoff ion - hydroxylion- gleichgewichts des Wassers; |coÄ5jc,-+ i + OH = |cJi|;'.|ar. OH Anhydrobase wirkliche Base NH3 + H -f OH = [NH JOH. Dies gilt aber nicht nur für die Metallammoniak- verbindungen und das Ammoniak, sondern, wie man beim Chrom gefunden hat, auch für die reinen Aquosalze, und man wird verallgemeinern müssen, daß alle Basen in wässeriger Lösung auf diese Weise entstehen. Die Metallhydroxyde sind hiernach Anhydrobasen, und erst, wenn sie dem lösenden Wasser Wasserstoffionen entnehmen, entstehen die wahren Basen: + Mg(0H)2 -f 2 H + 2 OH . : [Mg^H,0).,](0H)2.') ') Das Kation nimmt außerdem soviel Wassermoleküle auf, als der K.Z. des Metallatoins entspricht, im Falle des Magnesiums noch 4. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XrX. Nn 31 Ganz allgemein ist jeder Stoff, der sich mit Wasser zu einer Verbindung vereinigt, die in ein Kation und Hydroxylion dissoziiert, eine Anhydrobase. Es gibt Sauerstoff-, Stickstoff- und Phosphor- anhydrobasen. Zu den ersteren gehören sämtliche Metallhydroxyde und ebenso die Hydroxyde der quarternären Ammoniumbasen, ferner alle sauerstoff- haltigen Kohlenstoffverbindungen, die Oxoniumsalze (S. 452) bilden. Zu den Stickstoff (Phosphor)-an- hydrobasen sind das Ammoniak (und der Phosphor- wasserstoft) und sämtliche Derivate derselben zu rechnen. Bei der Salzbildung aus den wirklichen Basen sollten hiernach stets Aquosalze entstehen. Dies ist bei den Metallammoniakverbindungen der Fall, auch bei den wasserhaltigen Chromsalzen sowie bei den meisten übrigen Schwermetallsalzen und zahlreichen Erdalkalimetallsalzen, nicht aber bei vielen Alkalimetallsalzen und den quarternären Ammoniumsalzen. Indessen bilden sich die aus- geschiedenen festen Salze durch eine Anhydri- sierung, die auch bei Aquo-ammin kobaltisalzen und Chromisalzen vorkommt. Aus der wässerigen Lösung von Hydroxo - nitro -tetrammin-kobalti- chlorid, in der sich Aquosalz befindet, wird durch Salzsäure sogleich Chloro-nitrosalz gefällt, indem sich das in erster Phase gebildete Aquosalz an- hydrisiert: NO, r (NH Co H2O IClj = ICo NO2 L NO,, I [ Cl Co HjO Cl2-(-H„0; NO» J (NH3>4] CI + H2O. Diese Anh3'drisierung erfolgt im allgemeinen um so leichter, je stärker die betreffende Base ist, und es kann daher nicht auffallen, daß die meisten Kalium-, Rubidium- und Cäsiumsalze, sowie manche Natrium- und Erdalkalimetallsalze wasser- frei sind. Was die Stärke der Basen betrifft, so ist sie abhängig von der Neigung der Hydroxogruppen, sich mit Wasserstoffion zu verbinden, z. B. ist Nitro- aquo - tetrammin ■ kobaltihydroxyd eine stärkere Base, als Aquo pentammin- und Diaquo-tetrammin- kobaltihydroxyd, obgleich das erstere eine Nitro- gruppe enthält. Säuren. Eine wirkliche Base bildet sich, wie wir ge- sehen haben, dadurch, daß eine Verbindung dem Wasser Wasserstoffionen entzieht. Umgekehrt muß hiernach, wenn eine Verbindung dem Wasser Hyd roxy 1 ion en wegnimmt, eine Säure zustande kommen. Daß dies in der Tat der Fall ist, sieht man fürs erste an solchen Säuren, die durch Vereinigung von Chloriden mit Wasser entstehen. Das rotbraune Platintetrachlorid entnimmt bei der Lösung in Wasser diesem zwei Hydroxylionen und geht dadurch in ein komplexes Anion über') — Bildung einer Säure: ') Ebenso vereinigt sich Platinlelrachlorid mit 2 Mol. Chlorwasserstoff zu Hcxachloro-platesäure, [PtClJHj. + - - + + PtCli -f 2 OH + 2 H + [Ptai(0H)2iH,. Diese Dihydroxo-tetrachloroplatesäure kann man als Platinchlorid-chlorwasserstoffsäure, [PtClgjHo, ansehen, in der zwei Chloratome durch zwei Hydroxylgruppen ersetzt sind. Ebenso verläuft die Säurebildung bei allen denjenigen Metallhydroxyden, die saure Eigen- schaften besitzen, z. B. beim Stannihydroxyd : - + -- + + Sd(OH)i + 2 oh + 2 H = [Sn(0H)elH3. Werden in dieser Hexahydroxostannesäure die Wasserstoffatome durch Natrium ersetzt, so hat man das gewöhnliche Natriumstannat vor sich, das man früher NajSnOa-sHjO formulierte. Es konnte aber bewiesen werden, daß dem Wasser eine wichtige Rolle in dem Salze zu- kommt, insofern man es nicht beseitigen kann ohne völlige Zersetzung desselben. Diejenigen Metallhydroxyde, die zugleich basische und saure Eigenschaften besitzen, die amphoteren Elektrolyte, vermögen sich sowohl mit Wasserstoffionen (des Wassers) zu Basen, als mit Hydroxylionen zu Säuren zu verbinden: Zn{OH)2 + 2 H -f 2 OH = [Z^HaOlaJlOHjj ; - + - + Zn(0H)2 -f OH -f H = [Zn(OH)3]H. Aber auch die Bildung der Sauerstoffsäuren aus den Säureanhydriden und Wasser kommt so zustande: Schwefelsäureanhydrid ver- einigt sich mit einem Hydroxylion des Wassers, wodurch sich das Hydroxylion - wasserstofiion- gleichgewicht desselben verschiebt unter starker Vermehrung der Wasserstoffionen: Das Anion SO3 -f OH -|- H = SOJl + H. [SOjH] dissoziiert dann weiter je nach der Verdünnung in bekannter Weise: + *--'- + SO4H -f H = SOi + 2(H. Diese Reaktion entspricht völlig der Bildung der Fluorsulfonsäure aus Schwefelsäureanhydrid und Fluorwasserstoff: + l O3I+ SO:, + K + H= Sp H. Man sieht, daß es in letzter Linie die Wasserstoff- ionen des Wassers sind, die die Säure-wasserstoff- ionen bilden. Dies muß dann aber auch für die- jenigen Verbindungen gelten, die wie der Chlor- wasserstoff schon wasserstoffhaltig sind, und deren wässerige Lösung man als typische Säuren an- sieht. Chlorwasserstoff ist also eine Anhydrosäure und die wirkliche Säure muß folgendermaßen konstituiert sein : + ~ + CIH -f OH + H = [Cl(HjO)]H. N. F. XIX. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 489 Das Wassermolekül ist durch eine Nebenvalenz des Wasserstoffs an das Chloratom gebunden; dieses sättigt seine Hauptvalenz durch das Wasser- stoffion, das indirekt gebunden ist. Hiernach müßten allerdings die Salze dieser Säuren solche Aquo-halogenatome enthalten; dies ist in wässeriger Lösung der Fall, bei der Aus- scheidung der Salze findet aber wie häufig bei Aquo-komplexen Anhydrisierung statt. Daß die Ionen sich mit Wassermolekülen ver- einigen, wird auch aus elektrochemischen Beob- achtungen gefolgert. Hydrolyse. Die wässerige Lösung der Hydroxopentammin- kobakisalze reagiert alkalisch, die der Aquo- pentamminsalze sauer und die der Chloro-pentam- min- sowie Hexaminsalze neutral: Co OH j alkalisch lNH3)6 r° ci Co(NH3iJx3. neutral neutral Die alkalische Reaktion der ersteren beruht, wie wir sahen, auf der Bildung einer wahren Base durch Anlagerung von Wasser. Die saure Reaktion der zweiten beruht auf Hydrolyse und die ein- fachste Formulierung für diese ist : ico(^"'Mci OHH 3 Ico^^'^'Mci OH 2 Daß dies so ist, geht daraus hervor, daß die Hydroxoverbindung, die nach dieser Annahme entstehen muß, tatsächlich sich bildet und ab- geschieden werden kann. Hydrolyse kommt demnach nicht durch das lösende Wasser zustande , sondern das Wasser muß schon vorher im Komplex des Moleküls vorhanden sein. Daß die Hydrolyse bei allen Aquokationen so wie angegeben verläuft, kann hiernach nicht zweifelhaft sein. Aber diese Auffassung muß natürlich auch für diejenigen Salze gelten, die in festem Zustande wasserfrei sind, aber in Wasser Hydrolyse erleiden, wie die Kaliumsalze schwacher Säuren (Kaliumcyanid, Kaliumacetat). Bei diesen bilden sich, wie schon bei der Feststellung, daß nur indirekt gebundene Säurereste Ionen bilden, erörtert wurde (S. 420 und 424), beim Lösungs- vorgang Aquokationen. Aber auch bei wasserfreien Chloriden, wie Zinntetrachlorid, kommt die Hydrolyse durch inneres Wasser zustande. Das Zinn mit der K.Z. 6 lagert zunächst 2 Moleküle Wasser an und der so entstehende Nichtelektrolyt spaltet dann Chlor- wasserstoff ab: "(OH,), CI3 1 oh' Derartige Verbindungen haben sich durch Aus- schütteln mit Äther, in dem sie löslich sind, dar- stellen lassen (P. Pfeiffer). Da das Zinn aber die K.Z. 6 besitzt, nimmt die in der Gleichung rechts stehende Verbindung sogleich I Molekül Wasser auf: P°(oh!)J- OH ' Dieser Nichtelektrolyt erleidet wiederum Hydro- lyse, und das setzt sich fort bis zum Tetrahydroxo- diaquo-zinn: Bei Aquo-halogeno-komplexen kann noch eine andere Art von Hydrolyse eintreten. Erhitzt man die wässerige Lösung des Difluoro-diaquo-kupfers, so entsteht zuerst eine Difluoro-dihydroxosäure: [^"(OH.,),! -^ [''"(OH), ]"2- Da das Kupfersalz dieser Säure schwer löslich ist und Kupferionen in einer solchen Lösung stets vorhanden sind, wird es sich bilden: F"(OH),!"^ + CuF, (OH), Cu 4- 2 HF. Das so entstehende basische Salz gehört zu den- jenigen , die als Anlagerungsverbindungen von Metallhydroxyden erscheinen (S. 453). Literatur. Die Koordinationslehre (Chemie der Komplexverbindun- gen) bebandeln folgende Bücher: A. Werner, Neuere Anschauungen auf dem Gebiet der anorganischen Chemie. 3. Aufl. Braunschweig 1913, bei Fr. Vieweg & Sohn. R. Weinland, Einführung in die Chemie der Kom- plexverbindungen (Werner sehe Koordinationslehre) in ele- mentarer Darstellung. Stuttgart 1919, bei F. Enke. Einzelberichte. Paläontologie. Bemerkungen über die älte- sten bekannten Wirbeltierreste werden von Ernst Stromer in den Sitzungsberichten d. Bayr. Akad. d. Wissenschaften, Jahrg. 1920 gemacht. Über die frühesten Wirbeltiere hat man die verschieden- sten Ansichten geäußert. Die verbreitetste ist die, daß man sie für marine den Knorpelfischen ähn- liche Tiere hält. Simroth und Jaekel sehen sie als lungenatmende Landbewohner an, aus denen sich in Süßwasser- und Küstengewässern lebende Wasserbewohner entwickelten. Patten und Steinmann halten die ältesten Wirbeltiere, die Placodermi für Übergänge von wasserbewohnen- den Arthropoden zu Fischen. Den ältesten Wirbeltierresten begegnete man in den Glaukonitsanden von St. Petersburg. Rohon beschrieb 1889 daraus kleine kegelförmige Zähne aus Dentin mit Schmelz ohne Wurzeln. 490 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 31 Ihre Form sagt, daß sie nicht von Plasmobran- chiern stammen. Walcott macht uns aus dem Harding-Sandstein von Canyon City in Colorado mit Bruchstücken von Hautpanzerplatten bekannt, in denen von Ja ekel Dentin, von Vaillant Knochenkörperchen nachgewiesen wurden. Diese Reste kann man zu Placodermi und Crossopterygii rechnen. Von Walcott wurden dann auch noch Chorda- Scheiden von Chimaeridae beschrieben. Stromer hält diese Reste nicht für innere Or- gane eines Wirbeltieres. Als nächstälteste Reste von Wirbeltieren kom- men die Funde F. Matthews aus dem Ober- silur von St. John in Neu -Braunschweig, des Ctenopleuron in Frage, von Stromer als „nicht näher bestimmbares Fossil" gehalten und die Acanthodi, deren isolierte Fiossenstacheln man schon lange als Onchus aus dem Ludlow Eng- lands kennt. Osteostraci und Ostracodermi kennt man aus dem Obersilur Schottlands, der Insel Ösel, letztere auch von verschiedenen Fundorten Europas und Nordamerikas. Stromer macht zu den Anaspida aus dem Obersilur Schottlands und Kristianias eigene Bemerkungen. Nach seiner Auffassung von der Lage der vermutlichen Kiemen- löcher bei Birkenia und Lasanius ist die Schwanz- flosse hypopatisch angelegt. Er hält die 8 Spangen hinter der Kopfregion eines IVIünchener Lasanius- exemplares für verknöcherte Kiemenspangen. Unterdevonische Wirbeltierreste gehören den Osteostraci, Heterostraci, Antiarchi, Arthrodira, Acanthodi, Dipnoi und Crossopterygii an. Zahn- chen von Campbellton in Neu-Braunschweig weisen echte Elasmobranchii nach. Die meisten Wirbel- tiere stammen aus der Oldred-Fazies Europas und Nordamerikas und nur wenige aus marinen Seicht- wasserschichten Europas. Im mitteldevonischem Oldred Europas zeigt sich der älteste Vertreter der Heteroceri und im oberen Devon stellt sich eine reichere marine Fauna von Arthrodira ein. Wenn sich nun auch die ältesten Wirbeltiere entgegen allen anderen größeren Tierstämmen erst im Untersilur zeigen, so kann man mit Stromer wohl vermuten, daß noch ältere, bisher nicht aufgefundene Reste vorhanden sind. Wo diese ältesten Reste reichlicher und gut erhalten in silurischen und unterdevonischen Schichten vor- kommen, da kann man von Binnenablagerungen sprechen. In marinen Seichtwasserablagerungen zeigen sich immer nur Bruchstücke. Erhalten konnten leicht nur Formen mit starker Haut- bedeckung bleiben , während nackte Wirbeltiere schwerer sich aufbewahrten, denn ihr Innenskelett war nur wenig oder gar nicht verkalkt. Das primäre Knochenskelett ist wahrschein- lich phylogenetisch jünger als das Hautskclett. Aus Mangel an Material zur Aufstellung von Stammbäumen ist noch nicht zu entscheiden, ob sich mit der Zeit die großen Hautskelettplatten in kleine Teile auflösen oder ob sich aus fein- plattigen Formen großplattig gepanzerte Arten entwickeln konnten. Normale Zähne aus Pulpo- dentin sind von Rohon im Untersilur und von Haifischen im Silur und Unterdevon nachgewiesen worden. Reichlicher treten bezahnte Formen von Crossopterygii, Diperi, Acanthodi auch von Cla- doselachii und Heterocerci auf Bei den Crosso- pterygii zeigen die Kegelzähne Labyrinthstruktur und bei Dipnoi sind sie fächerförmig zu Kämmen verschmolzen. Arthrodira haben zahnartige ge- zackte Kieferränder aus Knochensubstanz. Ana- spida, Heterostraci, Osteostraci, Antiarchi waren kieferlos. Ja ekel glaubt, daß sie einen Saug- mund besaßen. Stromer hält diese Annahme bei Formen mit quergestreckter Mundspalte für gewagt. Die Arthrodira und Antiarchi besaßen zwischen Kopf und Vorderrumpf ein seitliches Gelenk, daß nach Stromer den bodenbewohnenden Formen ein Heben des Kopfes ermöglicht haben soll. Die ältesten Wirbeltiere sind schlechte Schwimmer und Bodenbewohner gewesen. Der obersilurische Pteraspis und Anaspida waren bessere Schwimmer. Bis jetzt hat man noch keine Übergänge zwi- schen Flossen und Gehfüßen gefunden. Erst im Oberdevon treten uns die ersten dürftigen Spuren von Gehfüßen entgegen. Brust- und bauchständige F"ischflossen kommen bei Heteroscerci im Mittel- devon vor. Anormale paarige Fischflossen besitzt Acanthodi im Obersilur, meist vergleichbare vor- dere gelenkige Organe die Antiarchi, keine paari- gen Extremitäten die Ostracodermi, ein mit der Wirbelsäule verbundenes Becken die Arthrodira. Stromer hält die paarigen Fischflossen für etwas Sekundäres. Über die Atmungsorgane der ältesten Wirbel- tiere gehen die Meinungen sehr auseinander. Ja ekel hält sie für Lungenatnrer. Deecke glaubt, daß auch die ältesten Dipnoi keine Lungen- atmer waren. K e m n a nimmt für viele Placo- dermi ein Vorhandensein von Kiementaschen an. Soviel ist sicher, daß man Kiemenöffnungen, Kiemenspangen, Kiemendeckel an den Resten beobachtet hat. Im Unterdevon zeigen sich auf- fälligerweise eine ganze Anzahl unserer jetzigen Lungenfische und Darmatmer. Bei . dem unter- devonischen Dipterus hat man Nasengänge ge- funden, die den reinen Kiemenatmern fremd sind. Rudolf Hundt. Hydrobiologie. Sauerstoffbestimmungen im Wasser. A. Thienemann hat auf die Fehler einer bisher in der Fischcreibiologie fast ausnahms- los angewandten Methodik der Wasserproben- entnahme zur Bestimmung des gelösten Sauer- stoffes hingewiesen (Allg. Fischerei Zeitung 1920, Nr. 7). Die F"ischereibiologen haben bisher die Meyer sehe Schöpfflasche zu diesem Zwecke an- gewandt, die bekanntlich derart eingerichtet ist, daß die durch ein Lot beschwerte und in ge- schlossenem Zustande in die Tiefe versenkte Flasche durch einen Ruck an der Leine, der den Stöpsel herausreißt, geöffnet wird. Das einströ- N. F. XDC. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 491 mende Wasser kann dann in ziemlich unveränder- tem Zustande an die Oberfläche befördert werden. Man hat auch sonst wohl in der Hydrobiologie noch diese Methode zur Gewinnung von Wasser- proben für die Sauerstoffbestimmung angewandt. Deshalb dürfte ein Hinweis auf die Thiene- mannsche Arbeit hier angebracht sein. Nicht allein von rein hydrographischem Inter- esse ist die Kenntnis des Sauerstoffgehaltes eines Gewässers in den verschiedenen Tiefen , sondern auch von erheblich praktischem. Hängt doch das Leben der Fische vielleicht in allererstem Grade von der Menge des im Wasser gelösten Sauer- stoffes ab. Sauerstoffarme oder gar sauerstoffleere Wasserschichten sind für Fische eben unbewohn- bar, und es beruht darauf gerade die schlimmste Wirkung der Abwässer der organischen Industrien, wie der Zuckerfabriken, Zellulosefabriken usw., daß sie durch die entstehenden Fäulnisvorgänge, den Sauerstoffgehalt vollkommen auf Null herabdrücken können. Es hat sich gezeigt, daß durch diese Einwirkung der Abwässer organischer Natur die Schäden derselben ganz erheblich höhere im all- gemeinen sind als die der anorganischen Abwässer. Der Sauerstoffgehalt ist das erste, was der Fischerei- biologc in einem Gewässer, das auf für die Fischerei wichtige Verunreinigungen untersucht werden soll, bestimmt. Thienemann hat nun gezeigt, daß die Fehler, die bei der Anwendung der Meyer sehen Stöpselflasche entstehen können, sehr groß sind. Dadurch, daß die Flasche in geschlossenem Zu- stande, in dem sie in die Tiefe herabgelassen wird, noch mit Luft angefüllt ist, tritt diese mit dem nach der Öffnung einströmenden Wasser in Be- rührung und kann sich mit dem Sauerstoff der Flaschenluft anreichern. Von fischereibiologischer Seite ist nun der Einwand gemacht worden, daß die eintretenden Fehler nicht sehr groß sein können und für die Praxis nicht in Frage kommen, da es häufig vorkommt, daß der Sauerstoffgehalt des mit der M eye r sehen Flasche geschöpften Wassers Null beträgt. Dies sei nicht möglich, wenn eine nennenswerte Anreicherung mit Sauerstoff beim Einströmen ■ des Wassers stattfinden würde. Thienemann hat mit anderen Apparaten, die zur Entnahme von Wasser zu gjsanalytischen Zwecken dienen, und mit der Meyer sehen Flasche Parallelversuche angestellt und zwar in vier Seen, dem Edebergsee und Schöhsee bei Plön, dem kleinen Ukleisee bei Plön und dem Ukleisee in der Nähe des Kellersees. Die Proben wurden aus den verschiedensten Tiefen genommen. Durch- weg war der gefundene Sauerstoffgehalt des mit der Mey ersehen Flasche entnommenen Wassers höher als der des R u 1 1 n e r sehen Wasserschöpfers, mit dem die Parallelversuche vorgenommen wurden. In einem Falle betrug das Mehr an gefundenem Sauerstoff 4,66 ccm. Noch deutlicher wird der Fehler, der beobachtet worden ist, wenn, wie es Thienemann getan hat, der mit der Meyer- chen Flasche gewonnene Sauerstoffwert in Pro- zenten des Wertes ausgedrückt wird, der mit dem Ruttn ersehen Wasserschöpfer gewonnen wor- den ist. Als Mindestzahl ist hier 1006 "/(, und als Höchstzahl 3562,5 % gefunden worden. Da- mit dürfte Thienemann den Beweis für seine Behauptung erbracht haben, daß die Mey ersehe Schöpfflasche aus der Technik der Sauerstoff- bestimmung im Wasser verschwinden muß. In der wissenschaftlichen Hydrographie werden zu- meist zwei Apparate verwendet, der Krümmei- sche und der Ruttnersche Wasserschöpfer, der erstere ist allerdings nur mit der Einschränkung brauchbar, daß auch bei ihm eine kleine Anreiche- rung an Sauerstoff möglich ist. Er besteht näm- lich aus einem Zylinder, der an beiden Enden mit Klappenvorrichtungen versehen ist. Er wird offen in die Tiefe gelassen und durch ein Fall- gewicht werden die Klappen geschlossen. Durch einen besonderen Hahn kann dann das Wasser abgelassen werden. Hierbei kommt dann das Wasser mit der Luft in Berührung. Der Ruttner- sche Apparat besteht aus einem größeren Gefäß, an dem die Sauerstoffflasche angebracht ist. Beide werden geschlossen in die Tiefe gelassen und durch ein Fallgewicht geöffnet. Beim Einströmen des Wassers wird die Sauerstoffflasche erst durch- strömt und ausgespült und die Luft ausgetrieben. Es sollen praktisch keine Fehler hierbei vor- kommen. Willer. Physik. Die scheinbare Gestalt des Himmels- gewölbes und die scheinbare Vergrößerung von Sonne und Mond am Horizont war Gegenstand einer fesselnden Ausführung, die in der letzten Sitzung des Naturwissenschaftlichen Vereins in Hamburg Professor Dr. Chr. Jensen vom Ham- burger Physikalischen Staatslaboratorium brachte. — Dem unbefangenen Blick erscheint das Him- melsgewölbe beim raschen Gleitenlassen des Blicks über dasselbe im allgemeinen als ein mehr oder weniger gedrücktes Gewölbe. Dies läßt sich auch ziffernmäßig belegen durch die sog. «Methode, d. h. durch die Bestimmung des Neigungswinkels a zwischen Horizont und der Verbindungslinie zwischen Beobachter und dem geschätzten Hal- bierungspunkt des Bogens „Zenit-Horizont". Solche Bestimmungen wurden verschiedentlich ausgeführt, so vor allem von Reimann und neuerdings von Dember. Es zeigte sich eine Verkleinerung des Winkels mit abnehmender Gesamthelligkeit des Himmels; stets war er aber wesentlich kleiner als 45 ", woraus zu entnehmen ist, daß die Entfernung „Zenit-Beobachter" wesentlich kleiner ist als die „Horizont Beobachter". Durch vom Vortragenden kurz erörterte Kombinationen von Messungen und Schätzungen ließen sich nun verschiedene Kriterien aufstellen zur Beurteilung der Richtigkeit der viel- fach vertretenen Annahme, daß das scheinbare Himmelsgewölbe als Kugelkalotte aufzufassen sei. In dieser Beziehung von R e i m a n n vorgenommene Prüfungen bestärkten diesen in der Annahme der 492 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 31 Richtigkeit einer solchen Auffassung. Mit einem so gedachten flachen Himmelsgewölbe steht natür- lich, da am Horizont gleichen wirklichen verhältnis- mäßig große scheinbare Winkel entsprechen, die in Frage stehende Vergrößerung der Gestirne in gutem Einklang. Die scheinbare Veränderung der Gestirngröße mit ihrer Höhenlage wurde, wie dar- gelegt, durch Vergleichung mit Kreisscheiben von gleichbleibender Größe in verschiedener, oder von verschiedener Größe in gleicher Entfernung vom Auge bestimmt. — Der Vortragende bespricht nun eingehender die verschiedenen Versuche, be- sagte Phänomene zu erklären, die entweder phy- siologischer oder psychologischer oder endlich physikalischer Art sind. Physio- logisch ist die vor allem von Filehne und Zoth sowie auch Pernter vertretene Blickrichtungs- theorie, welche hinsichtlich der scheinbaren Ge- stalt des Himmelsgewölbes durch Veränderung der ganzen Körperlage und hinsichtlich der Vergröße- rung der Gestirne durch geeignete Spiegelung der am Horizont befindlichen Gestirne in die Zenit- nähe bzw. umgekehrt sowie durch Projektion der Nachbilder von Sonne und Mond an verschiedenen Himmelsstellen geprüft wurde, und zwar mit ver- schiedenem Erfolge. Psychologisch wäre der Ver- such zu nennen, die Flachheit des Gewölbes da- durch zu erklären, daß der Beobachter in der horizontalen die für die Richtung zum Zenit fehlen- den Marksteine für die Entfernungsschälzung hat und daher die Entfernung bis zum Horizont ver- hältnismäßig groß bewertet. Verschafft man sich künstlich mit Hilfe funkentelegraphischer Türme Marksteine nach dem Zenit hinauf, so wird der Himmel stark gewölbt, wie H. Stückle n zeigte, und man erhält «-Werte von 45" und mehr. — Physikalisch äußerst interessant sind die Versuche, die scheinbare Form des Gewölbes (s. v. S t e rn e c k und Dember), sowie auch die Vergrößerung der Gestirne (s. Dember) mit der Extinktion des Lichtes in den verschiedenen Blickrichtungen in Verbindung zu bringen, so gedacht, daß v. Ster- neck die Rechnung in recht befriedigender Weise für den Sternenhimmel durchführen konnte, wäh- rend es dem mit den leuchtenden Luftmolekeln operierenden Dember gelang, aus der gemessenen Helligkeitsverteilung am Himmel die mittels der «Methode gewonnene Gestalt des Gewölbes zu errechnen. — Nach Ansicht des Vortragenden ist aber nun weder Dember berechtigt, die Blick- richtungstheorie zu verwerfen, noch sind die Ver- treter der psychologischen Richtung berechtigt, die physikalischen Erklärungsversuche als verfehlt zu betrachten. Es greifen hier offenbar gar viele in ihrer gegenseitigen Beeinflussung nach nicht abzuschätzende Einflüsse ineinander, und es dürfte der Endeffekt wohl wesentlich davon abhängen, auf welches Moment der Beobachter besonders eingestellt ist. Schließlich wird an Hand der Witt eschen Betrachtungen über den Sehraum gezeigt, daß das Problem der Vergrößerung von Sonne und Mond noch viel komplizierter ist, als gemeiniglich bis dahin angenommen wurde, und daß es überhaupt nicht restlos gelöst werden kann, bevor nicht die eigentlich viel näher liegende Frage, warum uns der Mond überhaupt so groß erscheint, wie er es tut, beantwortet ist. Petersen. Botanik. Eine merkwürdige Pflanze, die einen sonderbaren Fall von „Rhizanthie""darstellt, fand L Mildbraed im Jahre 1911 im „Bange-Busch", einem menschenleeren Waldgebiet in Kamerum. Aus dem locker mit Laub bedeckten Waldboden ragten hier und da kleine weiße Blüten ohne Blätter hervor, die bei näherem Zusehen an einem bindfadendicken, blattlosen Sproß saßen, der von Laub verdeckt über die Erde hinkroch und in einem peitschenartigen, mit winzigen Schuppen- blättchen versehenen Ausläufer endete. Eine Ver- folgung dieses Sprosses nach rückwärts ergab eine Länge desselben von etwa 10 m und zeigte, daß der Sproßbeginn hart über dem Boden am Stamme eines 9,5 m hohen Bäumchens zu finden war, von dessen 35 cm im Umfang messender, etwas ver- dickter Stammbasis 15 solcher, vielfach verzweig- ter, fadenartiger Auslaufer nach allen Seiten sich ausbreiteten und so eine Fläche von rund 300 qm mit jenen übrigens durchweg männlichen Blüten versahen. An anderen, in einem anderen Bezirk aufgefundenen Exemplaren desselben Baumes fanden sich auch zwittrige Blüten. Bei seiner letzten Reise fand Mildbraed 1913/14 das auffallende Gewächs, dem er den Namen Paraphyadanthe nov. gen. gab, an zahlreichen feuchten Standorten in der Nähe von Bächen. Es konnten sogar mehrere, namentlich im Aussehen der Blätter ver- schiedene Arten dieser als zur Familie der Fla- courtiaceen gehörig erkannten Gattung festgestellt werden. Dieselbe stellt für das tropische Afrika den ersten, bekannt gewordenen Fall von „Rhi- zanthie" dar, wie sie im tropischen Amerika von Eichler und in malesischen Regenwäldern von Koorders bei verschiedenen Pflanzen beobach- tet wurde. — Eine Abbildung des interessanten Baumes und seiner Teile findet sich in der Ori- ginal-Publikation (Notizblatt des bot. Gartens u. Museums zu BedinDahlem, 1920, Seite 40^). kbr. Zoologie. Neue Versuche zur Wolffschen Linsenregeneration. Bekanntlich erfolgt die Neu- bildung einer operativ entfernten Urodelen- Augen- linse vom ektodermalen Teil der Iris aus und so- mit von einem fremden Mutterboden her, was der Entdecker dieser höchst merkwürdigen, obwohl nicht ganz einzig dastehenden Erscheinung,') Gustav Wolff 1894, als Beweis einer nur teleo- logisch zu erklärenden primären Zweckmäßigkeit hinstellte, während andere F"orscher, unter denen 'j In ähnlicher Weise regeneriert sich der fortgescbriltene Vorderdarm von Lumbriculus atypisch, nach Franz Wagner. N. F. XK. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 493 einige, wie Erik Müller, Fischel, die Tat- sache als solche bestätigten, sich in der mechani- stischen Erklärung versuchten : die Pars ciliaris et iridiaca retinae neige an sich zur gelegentlichen Bildung von linsenähnlichen „Lentoiden", fand zum Beispiel Fischel. Weismann rechnete mit der Möglichkeit des Vorkommens jener „He- teromorphose" auch in der Natur, diese Fähig- keit könne also durch Selektion erworben sein. Schimkewitsch suchte die Heteromorphose phylogenetisch zu erklären durch die Annahme, daß die durch Regeneration erscheinende „innere Linse" die Linse der primären Augenblase sei, ein Organ, welches die Wirbeltiere ehedem be- sessen hätten. Neuerdings hat Horst Wachs ^) das Problem experimentell neu durchgearbeitet und die Er- scheinung hinsichtlich ihrer Ursachen genauer analysiert, wobei Gesichtspunkte, ähnlich wie sie durch die Spemann sehen Arbeiten über die Entwicklungsmechanik des Wirbeltierauges ge- wonnen waren, in Betracht gezogen wurden. Vielerlei Bemerkenswertes wurde dabei durch ge- naue Verfolgung des Regenerationsablaufes ge- funden. So fand sich ein bestimmtes Alter der Triton-Larve — vor der Metamorphose und vor Bildung der Augenlider — als Optimum für die Schnelligkeit der Regeneration. Allgemein re- generien die Tritonen die Linse viel schneller als Salamandra maculata und der Axolotl. Auch die Zonulafasern werden wiederhergestellt. Eine in ein älteres Tier implantierte kleine Linse wächst in diesem schneller als ihre im jüngeren Tiere zurückgelassene Schwesterlinse. Was die auslösenden Ursachen der Regeneration betrifft, so bedarf es nicht, wie Frisch el annahm, irgend- einer Alteration der Linse. Es schadet aber auch nichts, wenn der obere Iristeil ^ denn er ist es, von dem die Neubildung stets ausgeht — von der Retina abgeschnitten wird und frei in der hinderen Augenkammer liegt. Hingegen scheint eine auf Sekretion beruhende Mitwirkung der Retinazellen erforderlich zu sein; denn es kann zwar auch ein transplantierter Teil des Auges an anderer Stelle eine Linse erzeugen, doch nur, wenn ihm noch genügend Retinazellen eigen sind. Es wird ferner nicht regeneriert, wenn eine lebende reimplantierte Linse im Auge entstanden ist, diese heilt vielmehr glatt ein, und selbst eine Paraffinlinse wirkt hemmend. Deutet dies auf die hemmende Wirkung des mechanischen Gegen- drucks hin, so liegen andere Versuche vor, nach denen auch auf chemischem Wege die Sekretion einer vorhandenen Linse hemmend wirkt: zerfällt eine verlagerte Linse im Auge selbst, so wird die Regeneration beträchtlich verzögert. — Wird ein Stück der oberen Iris abgeschnitten und entfernt, so tritt von den nächstoberen Zellen Regeneration ein, ohne daß die Iris vorher neugebildet zu werden braucht. Bleibt aber dieses abgeschnittene Stück im Auge, so tritt Regeneration an der Iris und am Stück ein; so können in einem Auge zwei oder mehr Linsen gebildet werden; ver- schmelzen jedoch die Regenerate miteinander, so kann eine doppelzentrische Linse gebildet werden, usw. Selbstverständlich ist die Regeneration der Linse durchaus zweckmäßig, und das um so mehr, als sie vom Vorhandensein der Retina abhängig zu sein scheint. Eine andere Frage, sagt Wachs, ist die der ,, primären" Zweckmäßigkeit. Nur gegen diese Annahme und für die Wcismannsche kann ins Gewicht fallen, daß Wachs in zwei Fällen diese Regeneration aus der oberen Iris auch an nicht operierten Tieren gefunden hat. Das eine wurde mit fehlender Linse und undeutlicher, wohl durch den Tonus der Iris verkleinerter Pupille gefangen und hatte nach 12 Tagen regeneriert. Nähere Angaben hierüber sollen noch folgen. Man darf also mit dem Verf annehmen, daß die Heteromorphose in Freiheit durchaus nicht so selten ist, sondern sich nur durch die Schnellig- keit des Ablaufs leicht der Beobachtung entzieht, aber, da Verf etwa 600 Larven in Händen hatte, in 0,5 % aller Larven vorkommt. V. Franz, Jena. Im Verfolg seiner Studien über die den Nutz- fischen als Nahrung dienenden Bodentiere des Meeres hat P. Boysen Jensen jetzt Unter- suchungen über die zeitliche Variation der Boden- fauna des Limfjords abgeschlossen '), denen folgende bemerkenswerte Tatsachen zu entnehmen sind: Solche Variationen sind bei den in Betracht ge- zogenen Muscheln und Würmern, den hauptsäch- lichsten Nährtieren der Schollen und Aale, be- trächtlich in qualitativer und, was alle zusammen betrifft, in quantitativer Hinsicht. So war das Jahr 1911 arm an Nährtieren, und die Muschel Abra alba dominierte, 1912 war ein reiches Jahr, und die Muschel Solen pellucidus war das vor- herrschende Bodentier, während Abra ganz zurück- trat. Eine Ursache solcher Schwankungen liegt darin, daß die meisten dieser Tierarten nicht jedes Jahr sich stark vermehren. Abra tut das wohl ziemlich jedes Jahr, Solen aber schon seltener, und bei Mya truncata scheint auf ein Jahr starker Fortpflanzung meist eine Mehrzahl von Jahren geringer Vermehrung zu folgen. Äußere Ursachen dafür lassen sich nicht angeben, denn die Laich- jahre der einzelnen Arten fallen nicht zusammen, auch können sich verschiedene Örtlichkeiten hierin verschieden verhalten. Die erwähnten und andere kleine Muschelarten — Nucula nitida, Corbula gibba — werden nun der Mehrzahl nach bereits im ersten Lebensjahr von den Fischen verzehrt, ') Horst Wachs, Neue Versuche zur Wolffschen ') P. Boysen Jensen: Valuation of Ihe Limfjord I. Linsenregeneration. Archiv für Entwicklungsmechanik Bd. 39, Studies on Fish-Foud 1909 — 1917. In: Report of the Danish 1914, S. 384—451. 9 Tafeln. Biol. Stat. XXVI, Kopenhagen 1919, S. 1—44, 2 Taf., 44 Tab. 494 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC Nr. 31 nur wenige erreichen höheres Alter. — Eine volle hängen. Jedenfalls unterliegen diese Verhältnisse Übereinstimmung zwischen dem jeweiligen Nähr- natürlichen Schwankungen, und keineswegs tierreichtum und dem Jahresertrag der Fischerei ist die Menge der Nährtiere unbegrenzt, weshalb kann nicht erwartet werden. Doch war 1916 Scholleneinsetzungen nur innerhalb gewisser ein äußerst mageres Jahr für die Limfjordfische, Grenzen wertvoll sind, die in manchem Jahr und damit dürfte der geringe Ertrag desselben schon überschritten worden sein dürften. Jahres hinsichtlich des Fischfanges zusammen- V. Franz, Jena. Bücherbesprechungen. Röseler, Paul und Lamprecht, Hans, Leit- faden für biologische Übungen. Zoo- logischer Teil. 8". 151 Seiten. 155 Text- abbildungen. Berlin, Julius Springer. 6,80 IVI. In zoologischer Hinsicht ist dieser Leitfaden für biologische Schülerübungen Stück für Stück einwandfrei, ja sogar gut, und dasselbe gilt von den zahlreichen Abbildungen ') sowie von dem didaktischen Geschick der Darstellung. Wenn der Schüler den hier behandelten Stoff praktisch durchgearbeitet hat, ist er in Zoologie nahezu reif für die ärztliche Vorprüfung und kann, falls er als Student Zoologie zum Hauptfach wählt , auf die Teilnahme am üblichen „kleinen Praktikum" verzichten und sogleich das ,, große Praktikum" in viel kürzerer Zeit absolvieren als jeder andere, solange diese Universitätslehrgänge nicht wesent- lich höher einsetzen als bisher. Denn er hat ja schon die wichtigsten Vertreter des ganzen Tier- reiches durchpräpariert, soweit sie aus unserer Fauna erhältlich. Da fragt man sich bei aller Begeisterung für den Gedanken des biologischen Schulunterrichts, ob in diesen notwendig jener Lehrstoff hineingehört. Und ich dächte, dem kann selbst auf Realschulen nicht so sein. Was der Student sich in mehreren Semestern aneignet, kann zwar, bei Vorliebe dafür und geeigneter Anleitung, auch der eine oder andere Schüler sich bereits erwerben. Will man aber eine ganze Klasse darauf einstellen , so gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder die Schüler nehmen nur ein Hundertstel von dem Gebotenen auf oder, wenn mehr, so geschieht das zum Schaden der Aufnahmefähigkeit in anderen Fächern. Und so- mit wäre für das spätere Studium nichts gewon- nen , denn für dieses sind anderweitige natur- wissenschaftliche Kenntnisse gleichfalls unentbehr- lich, nebst mathematischen und sprachlichen und, sofern nicht ein rein praktischer Lebens- beruf vorschwebt, neben einigem philosophischen und ethischen Denken. Und auch für die allge- meine Bildung scheint mir mit Kenntnissen der vergleichenden Anatomie und mit Präparier- geschick wenig gewonnen, ja weniger als mit genauen Kenntnissen der systematischen Zoologie oder Botanik. Der Lehrstoff der zoolo- gisch-vergleichend-anatomischen Universitätskurse ') In der Beschriftung pon Abb. 13b sind 4 und 6 irre- lührcnd verwechselt. ist ja an sich nicht „die" Zoologie. Seine übliche Zusammenstellung beruht auf der Bedeutung der Morphologie für die Deszendenztheorie. Fehlt die starke Betonung der letzteren, was kann dann eine Auswahl aus dem Kurslehrstoff noch anderes sein als Stückwerk ? Würden nun auch diese „Schüler- übungen" im Falle spontaner Nachfrage nach ana- tomischer Unterweisung für die Liebhaber dieses Faches unter den Schülern ein geeigneter Handfertig- keitsunterricht sein, als angebotener Lehrstoff dürften sie von hohem praktischen und pädago- gischen Wert kaum sein. Man müßte staunen über die geringe Originalität dieses Unterrichts, über das Verkennen der in viel größerer Zahl sich aufdrängenden lebendigen und für uns lebens- wichtigen Anregungen seitens der Natur und ihrer Objekte. Das gilt auch für den F'all, daß, wie wohl meist, die naturkundlichen Schülerübungen fakultativ sind. Mögen diese Zeilen dazu anregen, daß man vom biologischen Schulunterricht das fordere, was ihn zu einem unentbehrlichen Unterrichts- fach auch auf den höheren Klassen der huma- nistischen Gymnasien macht. V. F"ranz, Jena. Oesterreich, T. K., Das Weltbild der Gegen- wart. BerHn 1920, E. S. Mittler & Sohn. Das Buch ist als eine knappe und klare Zu- sammenfassung der letzten Ergebnisse und Ein- sichten aller unserer wahrhaft kulturfördernden Arbeit jedem Gebildeten zu empfehlen. Das Hypothetische und Problematische unserer ver- nünftigen Erkenntnis wird ohne Scheu aufgezeigt, obschon der Verfasser bei ihr mit deutlicher VorUebe verweilt. Er umschreitet den Sinn des Daseins und endet am Ausgange des Weges mit der höchsten Einsicht, daß unser bestes Wissen immer noch das geblieben ist, nichts wissen zu können: „Unauflösbar ist das Geheimnis des Schöpfers. Das Letzte in uns ist . . . Hingabe an das Namenlose, Unsagbare, Erhabene und Un- endliche." In der Behandlung des Stoffes macht sich der persönliche Standpunkt des Verf. auf geisteswissenschaftlichem Gebiete stärker geltend als auf dem naturwissenschaftlichen. So beurteilt er recht kühl die einigende preußische Staats- kraft, namentlich in der Person ihrer Hauptträger Friedrichs des Großen und Bismarcks, nur nach der Seite der Machtentfaltung. Es hängt das zu- N. F. XIX. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 495 sammen mit seiner leise durchklingenden Erwar- tung einer Verinnerlichung und Versittlichung unseres Weltbildes. Die Einsichten und Ansätze dazu in der Wissenschaft werden aufgedeckt. Namentlich wird gezeigt, daß auch die Natur- wissenschaft überall wieder die Grenze erkennt, von der Goethe durchdrungen war, als er aus- sprach: „Man kann in den Naturwissenschaften über manche Probleme nicht gehörig sprechen, wenn man die Metaphysik nicht zu Hilfe ruft; aber nicht jene Schul- und Wortweisheit; es ist dasjenige, was vor, mit und nach der Physik war, ist und sein wird." Ein gewisses schulmäßiges Streben nach intellektueller Durchdringung der Welt bis zu Gott gegenüber dem unmittelbaren Goiterlebnis ohne solchen Apparat war wohl un- vermeidlich, da es dem Verf eben darauf ankam, unsere Welterkenntnis und unsere Weltauffassung, nicht aber unser Gotterlebnis als solches ohne jene Hilfen, zu beschreiben. Er läßt nicht im Zweifel, daß er das ausschließlich gefühlsmäßige Verhältnis zu Gott wohl versteht, wie er ja auch selbst definiert: „Religion ist die oersönliche Be- ziehung des Menschen zum Obersinnlichen." Allerdings hätte eine eingehendere und anschmieg- samere Behandlung des Glaubens und Fühlens als Zubehör des Weltbildes aber außerhalb der Erkenntnissphäre von Wissenschaft und Kunst dem Buche vielleicht eine noch harmoni- schere Rundung gegeben. Jedoch: es handelt sich um das Weltbild unserer Gegenwart; nimmt in ihm das rein religiöse, der Gnade fromm ge- wärtige Gotterlebnis schon wieder einen merk- lichen oder gar einflußreichen Platz ein? K. Steinacker. Wasmann, E. , Haeckels Monismus eine Kulturgefahr. Vierte, vermehrte Auflage der Schrift „Ernst Haeckels Kulturarbeit". 1 1 1 S. kl. 8". Freiburg i. Br. 1919, Herdersche Ver- lagshandlung. 3 M. In vjerter Auflage erschienen, bedürfte das Büchlein Wasmanns einer „Anzeige" kaum oder höchstens insoweit, als zu erwähnen wäre, daß die Streitschrift gegen Haeckels Ideen, namenthch gegen Haeckels der Kriegszeit ent- sprungenes Buch „Ewigkeit" und gegen die Fest- schrift „Was wir Ernst Haeckel verdanken", ver- mehrt ist um Auszüge aus Levensteins „Die Arbeiterfrage", 1912, und um einen Angriff auf V. Verweyens „monistischen Jenseitsgedanken", nach welchem „wahrhaft Tote nur die Vergessenen sind". Bei den Auszügen aus Levenstein han- delt sichs besonders um die Beantwortungen einer an Arbeiterkreise gerichteten Umfrage, wobei sich zeigt, daß etwa ^4 bis '/lo de'' Beantworter „an Gott glauben", die restlichen ^/^ bis "/lo ^ber es nicht tun und zum kleinen Teil aus der Kirche ausgetreten sind. Von letzterem Schritt hält die meisten die Befürchtung wirtschaftlicher Nachteile zurück. Diese Feststellungen also nebst Angriffen auf Haeckels Lehrengebäude, die ja billig wie Brombeeren, aber in den Punkten, die entschei- dend wären, keineswegs überzeugend sind, dienen Wasmann dazu, die Kulturgefahr zu beleuchten, die Haeckels Monismus und Atheismus be- deute. Es soll nun — möchte ich hinzufügen, um meinen Standpunkt und damit gewiß ungefähr den der meisten Naturforscher zu bekennen — keineswegs geleugnet werden, daß Haeckel, wie der „Vorwärts" gesagt haben soll, „ein Vorbereiter der geistigen deutschen Revolution" war. Wenn Wasmann daraus im Sinne der deutschen Sozial- demokratie machen zu dürfen meint, Haeckel sei „der geistige Urheber der neuen deutschen Revolution" gewesen, so ist das allerdings eine Übertreibung, was aber nichts daran ändert, daß der naturwissenschaftliche Monismus, nachdem er durch Haeckel zum Gemeingut geworden, viel dazu beigetragen hat, dem einfachen Manne Zu- friedenheit, Ehrfurcht und Ideale und das Ver- trauen zur Staatslenkung zu nehmen. Doch hat diese Bewegung tiefere Ursachen in dem rhyth- mischen Lauf der Geschichte, Haeckel und die neuzeitliche Naturwissenschaft sind nur einige von ihren Werkzeugen. Sie selber ist eine Natur- notwendigkeit. Die Erkenntnis der großen Natur- zusammenhänge ist an sich etwas höchst Be- friedigendes und unaufhaltbar. Von ihr werden wir nicht wieder loskommen, und wir könnten das auch nicht wünschen, um nicht in Aberglauben zu verfallen. Auf ihr müssen wir vielmehr Ideale wieder aufbauen. Sie können nicht mehr auf dem Gebiete des Glaubens an Beteuerungen vom Übernatürlichen gesucht werden. Mithin wird der von Wasmann gewünschte apostolische Eifer für den Gottes- und Unsterb- lichkeitsglauben nicht viel helfen. Verständi- gung ist nötig. Ihr neigen, scheint mir, mit am meisten diejenigen Theologen zu, die bekennen, monistisch zu denken, und daß deren Zahl immer größer werde, müssen wir hoffen, damit die Kirche befähigt werde, am sittlichen Wiederaufbau mit- zuarbeiten. V. Franz, Jena. Schmidt, C. W. , Grundriß der Zoologie. Für Studierende der Naturwissenschaften und Medizin zum praktischen Gebrauch bei Vor- lesungen und praktischen Übungen. Mit 308 Abbildungen. 8". 216 Seiten. B. G. Teubner 1919. 7 M. Schmidts „Grundriß der Zoologie" behan- delt den üblichen, hauptsächlich auf Morphologie, Deszendenztheorie und Systematik eingestellten Lehrstoff mit großem didaktischem Geschick. Es scheint dem Verf ausgezeichnet zu liegen, die komplizierteste Materie übersichtlich auf wenige Sätze und Stichworte zusammenzudrängen. Auf inhaltlich Eigenes wird der gestellten Aufgabe gemäß vollständig verzichtet, ebenso auch neue Abbildungen. Die zahlreichen Abbildungen sind indessen gleichfalls sehr gut gewählt und veran- schaulichen leicht alles Wichtigste. Bei Fremd- 496 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XDC. Nr. 31 Worten und lateinischen Namen ist durch Akzente die Betonung und in Fußnoten die Ethymologie angegeben. Als Dozent der Zoologie möclite man zwar auch ein eingehenderes Lehrbuch in der Hand des Studierenden wissen, wie denn das Studium nicht Einpauken sein soll, sondern lebendiges Er- fassen und Vertiefung. Ich dächte aber, darin sind unsere Studierenden ganz derselben Meinung, und dennoch können sie zeitweilig Schwierigkeiten finden, wenn sie sich nur mit umfangreicheren Werken in das Fach einarbeiten wollen. Sollte man also grundsätzlich für „Büchlein", die nur eben das zum Examen Notwendigste bieten, nicht viel übrig haben, im vorliegenden Falle fällt das Urteil wegen der erwähnten Vorzüge der Arbeit doch nur günstig aus. Zur ersten Orientierung und zur schließlich doch einmal notwendigen Repetition wird es seine Aufgabe stets vortreff- lich erfüllen. Im Jenaer Zoologischen Institut erfreut es sich bei den Praktikanten großer Be- liebtheit. V. Franz, Jena. Piderit, Theodor, Mimik und Physiogno- mik. 3. Aufl. 247 S. m. 96 photochemigraphi- schen Abbildungen. Detmold 1919, Meyer. Geh. 10 M.. geb. 12 M. Der Verf, welcher sich 1858 erstmals über Mimik und Physiognomik vernehmen ließ, gibt als 83 jähriger sein von allen Seiten günstig auf- genommenes Werk neu heraus. Nachdem La- vaters physiognomische Bestrebungen seinerzeit in nebelhafte Spekulationen diffundiert waren und durch die Satiren von Musäus und Lichten- berg den letzten Stoß erhalten hatten, werden die alten Probleme hier mit dem ganzen Rüstzeug der modernen Wissenschaft neu angefaßt: der Anatomie und Physiologie des Muskelspiels und der Psychologie innerer Erlebnisse, welche sich darin ausdrücken. Sowohl der mimische wie der physiognomische Teil des Buches werden jeden Leser anregen. Hans Henning (F"rankfurt a. M.). Bley, Fritz, Von freiem Hochlandwilde. 8". 273 Seiten. Mit 15 photographischen Ab- bildungen nach dem Leben. R. Voigtländers Verlag in Leipzig. 5 M. Fritz Bleys acht Tiergeschichten „Gams- jagd", „König der Lüfte", „Das Murmeltier", „Der Pestbringer", ,, Zwischen Rebe und Zirbe", „Paus Urbild", „Der große Teufel" und „Schneegeflüg", die einen in zweiter Auflage vorliegenden hand- lichen Band bilden, kann man bei den genauen systematisch - faunistischen Kenntnissen und dem lebendigen Erleben des Verfassers rückhaltlos empfehlen. Sie führen sowohl in die Alpenwelt wie in russisches und asiatisches Hochgebirge. Unter den photographischen Abbildungen sei die eines weißbrüstigen Auerhahns vom Ural beson- ders hervorgehoben. V. Franz, Jena. Anregungen und Antworten. über die drohende AusroUung des afrikanischen Elefanten ist in Nummer 13 dieses Jahrganges ein Referat enthalten, zu dem ich einige einschränkende Bemerkungen machen möchte. Daß die Ausrottung des Großwildes in Südafrika nach Norden zu fortschreitet, ist zuzugeben; sie entspricht, wie anderwärts, einfach der Ausdehnung der dauernden Öesiedelung des Landes durch Weiße. In Mittelafrika liegen die Verhältnisse jedoch anders. Dort sind große Länderstrecken, die noch von Euro- päern wenig berührt und auch von Eingeborenen ganz dünn besiedelt sind. Einen gewissen Anhaltspunkt gerade für die Häufigkeit des Elefanten geben z. B. die Zahlen über die Aus- fuhr von Elfenbein aus dem belgischen Kongo, die in den letzten Jahren vor dem Kriege vielfach über Daressalam ging. Auch im früheren Deutschostafrika waren die Elefanten in vielen Landschaften noch recht häufig und der Abschuß in- folge des hohen Preises des Jagdscheines gering, da dieser sich nur bei stärkeren Tieren mit schweren Zähnen lohnte. Außerdem bestand eine ganze Anzähl ausgedehnter Wildreser- vate. Der Krieg hat nun folgendes Beispiel über Häufigkeit des Elefanten ergeben: Im Jahre 19 17 wurden im Küsten- hinterland zwischen Rufiji und Rovuma von unserer Truppe wegen des absoluten Mangels an Speisefett zahlreiche Jagd- kommandos unterhalten, um Elefanten, die ein vorzügliches Fett liefern, zu schießen. Dabei sind in diesem verhältnismäßig beschränkten Gebiet von etwa 3 Grad Längen- und Breiten- ausdehnung schätzungsweise 1000 Elefanten abgeschossen worden. Ein erfahrener, schon lange dort ansässiger Jäger, der mir diese Zahl angab, nimmt an, daß dieser Abschuß über- haupt keinen fühlbaren Einfluß auf den Bestand hatte. Denn die ganze Gegend ist in der Hauptsache sehr dünn besiedelt und in den unbewohnten Tälern der Nebenflüsse des Rufiji sind Herden von 30 bis 50 Stück häufig. Somit kann von einer Gefahr der Ausrottung nicht die Rede sein und ähn- liches gilt auch für andere Teile Mittelafrikas und das übrige Großwild. Die Wirkung des Krieges ist für große Teile des tropischen Afrika eine starke Verminderung der Eingeborenen, wobei verschiedene Ursachen zusammenwirken, und teilweise ebenfalls ein Rückschlag in der Europäerbcsiedlung und da- mit ist auch in der Bedrohung des Wildbestandes zum min- desten ein Stillstand eingetreten. Morstatt-Dahlem. Inhalt: F. Alverdes, Über Perlen und Perlenbildung. (4 Abb.) S. 481. R. Weinland, Über die Wernersche Koordi- nationslehre. (12 Abb.) (Schluß.) S. 4S4. — Einzelberichte: E. Stromer, Bemerkungen über die ältesten bekannten Wirbeltierreste. S. 4S9. A. Thienemann, Sauerstoffbestimmungen im Wasser. S. 490. Chr. Jensen, Die schein- bare Gestalt des Himmelsgewölbes und die scheinbare Vergrößerung von Sonne und Mond am Horizont. S 491. 1. Mildbraed, Eine merkwürdige Pflanze. S. 402. H. Wachs, Neue Versuche zur Wölfischen Linsenregeneration. S. 492. P. Boysen-Jensen, Die zeitliche Variation der Bodenfauna des Limfjords. S. 493. — Bücherbesprechun- gen: P. Rö seier und H. Lamprecht, Leitfaden für biologische Übungen. S. 494. T. K. O est er reich, Das Weltbild der Gegenwart. S. 494. E. Wasmann, Haeckcls Monismus eine Kulturgefahr. S. 495. C. W. Schmidt, Grundriß der Zoologie. S. 495. T h. Piderit, Mimik und Physiognomik. S. 496. Fr. Bley, Von freiem Hochland- wilde. S. 496. — ■ Anregungen und Antworten; Drohende Ausrottung des afrikanischen Elefanten? S. 496. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band ; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 8. August 1920. Nummer 3ä. Zur Biologie und Physiologie der SchutzstofFe höherer Pflanzen. [Nachdruck verboten.] Von Dr. Norbert Patschovsky, Halle a. S. Einleitung. Ein nicht selten verkannter Unterschied be- steht zwischen den Methoden und Zielen der Physiologie und der Biologie. Der Physiologe tritt, mit den Hilfsmitteln der Chemie und Physik ausgestattet, an die Organismen heran und be- trachtet diese wie der Chemiker und Physiker die unbelebten Gegenstände: als unter bestimmten Bedingungen existierende Objekte mit gesetzmäßig ablaufenden und bei Kenntnis dieser Gesetze will- kürlich herstellbaren Geschehnissen. Anders der Biologe. Er ist davon überzeugt, daß die Lebe- wesen, eigentümliche Einheiten sind, die sich durch im einzelnen sehr verschiedene Einrichtungen, die Anpassungen, inmitten ihrer Umwelt behaupten. Für den Biologen ist, was die physiologische For- schung an Tatsachen ermittelt, keineswegs etwas Letztes, Abschließendes, sondern nur mehr das Material, das eine weitere Deutung verlangt, weil dem physiologisch Feststellbaren eine Be- deutung für die Erhaltung des Lebens zukommt. Bei einer großen Gruppe von Lebenserschei- nungen ist dies den Forschern auch niemals zweifelhaft gewesen, und wir sehen hier Physio- logie und Biologie unmerklich ineinander über- gehen und miteinander verschmelzen. „Kein Botaniker wird aufhören zu sagen, daß Spermie und Ei zur Fortpflanzung, die Wurzeln zur Auf- nahme von Wasser und Nährsalzen aus dem Boden, die Laubblätter zur Assimilation dienen" (Joh. Reinke in Festschrift zum siebzigsten Geburts- tage von Ernst Stahl. Flora 191 8). Allein diese und ebenso die übrigen organischen Ein- richtungen sind nicht nur in so allgemeiner Be- ziehung für die Erhaltung von Individuum und Art wirksam, sie erweisen sich bei genauerem Zu- sehen in sehr weitgehendem Maße auf die be- sonderen Erfordernisse berechnet, wie sie sich aus dem Standort, seinen Wärme-, Feuchtigkeits- und Lichtverhältnissen, überhaupt der gesamten leb- losen und belebten Umwelt ergeben. Ein Gebiet, auf dem die biologische Methode noch erheblichen Widerständen begegnete, ist die Frage nach den Schutzmitteln der Pflanzen gegen die Vernichtung durch die Tierwelt. Das ani- malische Leben ist zu seiner Erhaltung auf die grüne Pflanzendecke der Erde angewiesen. Wenn jede Art die Tendenz zu unbegrenzter Ausbreitung in sich trägt, diese aber durch die endliche Nah- rungsmenge sowie durch Feinde eingeschränkt wird, so müßte es, da die Pflanzenwelt alles Tier- leben erhält, fraglos zur Vernichtung jener kom- men, sofern nicht von den Pflanzen selbst dagegen Sicherungen aufgeboten würden. Durch wechsel- seitige Anpassung hat sich ein gewisses Gleich- gewicht hergestellt, das für Pflanzen und Tiere einen relativ umschriebenen Lebensraum übrig läßt. Wo man Pflanzen und Tiere aus ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet in fremde Länder versetzte, hat man sie oft rapid überhandnehmen sehen, da unter den veränderten Verhältnissen der ihre Ausbreitung eindämmende Faktor fehlte. Daß die Pflanzen Schutzmittel besitzen, die sie vor den verheerenden Eingriffen der Tierwelt be- wahren, konnte im Ernst nie in Abrede gestellt werden. Dennoch verhalten sich manche Forscher diesen Fragen gegenüber skeptisch, zum mindesten doch zurückhaltend. Der Grund hierfür ist meines Erachtens ein geschichtlicher. Mit dem Aufleben der biologischen Studien um die Mitte des vorigen Jahrhunderts machte sich vielfach eine kritiklose Art geltend, an den Lebewesen in allem und jedem etwas „Zweckmäßiges" zu bemerken. Man über- sah nijr zu leicht, daß auch auf diesem Gebiet nur das Anspruch auf wissenschaftlichen Wert erheben kann, was durch das Experiment gestützt wird. Gegen diese oberflächliche Biologie trat eine bis in die Gegenwart anhaltende Bewegung auf, die das Biologische sorgsam verbannt und in der Erforschung der Organismen nicht weitergehen möchte, als es unmittelbarste Beobachtung sowie das durch festgelegte Bedingungen eingegrenzte physiologische Experiment gestatten. Daß aber auch der Biologe exakt experimentieren kann, pflegt diesen hyperkritischen Skeptikern zu ent- gehen. Die Unwissenschaftlichkeit jener überwundenen Biologie und die Enge ihrer Gegner zu vermeiden, zugleich unter Anwendung des Experiments alle einschlägigen Tatsachen der Botanik und Zoologie sowie ihrer Hilfswissenschaften zu berücksichtigen, war und ist der leitende Gedanke für die neuere Biologie der pflanzlichen Schutzmittel, wie sie vor allem durch Ernst Stahl (1848 — 1919) ausge- baut und durch die Arbeiten 5einer Schüler weiter gefördert worden ist. Im Jahre 1888 ließ Stahl seine „Pflanzen und Schnecken" betitelte Studie über die Schutzmittel der Pflanzen gegen Schneckenfraß erscheinen, wo- rin auf experimenteller Grundlage bereits ein fest- gefügtes System der pflanzlichen Schutzwirkungen gegeben wird. Von Bedeutung für die Beurteilung dieser Verhältnisse war es, daß Stahl den tief- gehenden Unterschied zwischen chemischem und mechanischem Schutz erkannte. Pflanzen 498 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 32 mit Borstenbekleidung, harter oder auch schlei- miger und gallertiger Oberflächenbeschafifenheit, Rhaphidengehalt u. a. , besitzen in diesen Ein- richtungen mechanische Schutzmittel. Ihnen stehen andere Gewächse gegenüber, die durch mannig- fache abschreckende oder giftige Stoffe ihre tieri- schen Angreifer fernhalten. Von hohem Interesse ist die Tatsache, daß innerhalb verwandter Gruppen, selbst bei Pflanzen derselben Familie die eine oder die andere Form des Schutzes auftreten kann. So sind die Lebermoose durch ätherisches Ol chemisch, die Laubmoose durch harte Gewebe- beschaffenheit mechanisch geschützt. Unter den Araceen ist Acorus calamus durch Sekretbehälter mit scharfer Substanz, dagegen Arum maculatum durch Rhaphiden gegen Tierfraß gesichert. Stahl hat dieses Wechselverhältnis das Vikariieren der Schutzmittel genannt, und er konnte zeigen, daß bei chemischem Schutz nahe verwandte Pflanzen oftmals wiederum ein Vikariieren der Schutzstoffe erkennen lassen. Häufiger sind je- doch die Fälle, wo sich mehrere Schutzmittel in ihrer Wirkung kombinieren; so wenn Oenothera biennis und Verwandte Rhaphiden und Gerbstoff zugleich enthalten und der IVIohn durch Borsten- überzug die Schnecken, durch Gifte höhere Tiere fernhält. Es gewinnt überhaupt den Anschein, daß solche „Häufung" der Schutzmittel gegen ver- schiedene Feinde der Pflanze gerichtet ist, denn oft werden Tiere von sehr wechselnder Organisa- tion ein und dasselbe Gewächs angehen, und die Pflanze muß den Lebenseigentümlichkeiten jedes ihrer Angreifer mit spezifischen Abwehrmaßnahmen begegnen. Sehr wichtig ist es nun an dieser Stelle mit Stahl hervorzuheben, daß jeder Schutz der Pflanze nur ein relativer ist. Mögen auch einige Indi- viduen durch Tierfraß beschädigt oder selbst ver- nichtet werden, das Regenerationsvermögen des Pflanzenkörpers vermag den erlittenen Schaden oft wieder auszugleichen, und der maßgebende Gesichtspunkt für die Beurteilung der Schutzwir- kungen ist die Erhaltung der Art, deren Ausrottung durch die Schutzmittel tatsächlich verhindernd wird. Sehr richtig sagt Detto(i903) hierüber, daß zu den Existenzbedingungen der Pflanzen auch die Lebensbedürfnisse der Tiere gehören. Ferner sind nach Stahl alle Schutzmittel lediglich gegen den großen Durchschnitt der Tierwelt, die von sehr verschiedener Kost sich nährenden „Omni- voren" (Pleophage Beneckes) wirksam, während eine kleine Gruppe, die „Spezialisten", durch „reziproke" Anpassung gerade einzelne stark ge- schützte Pflanzen bevorzugt. Dem Unterschied zwischen diesen beiden biologischen Hauptgruppen pflanzenfressender Tiere begegnet man immer wieder, wo sich an den Pflanzen Schutzmittel gegen Tierfraß nachweisen lassen. Am besten unterrichtet sind wir über die Schutzmittel der höheren Pflanzen, denn an diesen sind die meisten Beobachtungen gesammelt wor- den und ihre Lebensbedingungen sind die weitaus bestgekannten. Die Schutzwirkungen der niederen Pflanzen dagegen bilden noch ein reiches Arbeits- feld für zukünftige Forschungen. Die Schutzstoffe der höheren Pflanzen. Für die pflanzlichen Schutzstoffe, von denen im weiteren die Rede sein soll, ist es eigentüm- lich, daß wir über ihre Physiologie überall nur äußerst wenig wissen und daß ihre biologische Schutzfunktion nahezu das einzige ist, was nach den bisherigen Erfahrungen über sie mit zweifels- freier Gewißheit ausgesagt werden kann; denn nur in dieser Richtung hat das Experiment zu nam- hafteren Erfolgen geführt. Demnach ist alles was über die Stellung dieser Stoffe im Stoffwechsel der Pflanzen zu sagen ist, durchaus hypothetisch. Bezeichnend ist es nun, daß wir dagegen über die physiologischen Wirkungen jener Stoffe auf den Tierkörper vielfach weit besser unterrichtet sind. Viele Schutzstoffe sind als Neben- oder Endprodukte des Stoffwechsels anzusehen, die nicht weiter am Aufbau des Pflanzenkörpers be- teiligt werden. Daß solche Abfallstoffe in der Pflanze entstehen, ist a priori anzunehmen, da bei keinem Lebewesen der Stoffwechsel ein völlig in sich geschlossener Kreislauf ist. Nun wissen wir, namentlich durch eine neue Arbeit Stahls (19 19), daß die als Tropfenausscheidung vornehmlich durch die oberirdischen Organe sich vollziehende Hinausbeförderung von Stoffen aus dem Pflanzen- körper der Entfernung der aus dem Boden im Überschuß aufgenommenen Mineralsalze dienstbar ist und weit weniger auf organische Stoffwechsel- produkte sich erstreckt. Diese verbleiben zum größten Teil in der Pflanze, der sie eben in bio- logischer Hinsicht noch von Nutzen sein können. Folgende Stoffgruppen sind im Experiment als hauptsächliche chemische Schutzmittel erkannt worden : I. Gerbstoffe. II. Alkaloide und Glukoside. III. Oxalsäure und andere Säuren. IV. Ätheri- sche Öle. I. Gerbstoffe. Die als Gerbstoffe bezeichneten Verbindungen sind vom chemischen Standpunkt gesehen stick- stofffreie aromatische Stoffe von sicherlich wenig einheitlicher Zusammensetzung. Man schließt auf ihr Vorhandensein in der Pflanze, wenn deren Säfte einen adstringierenden Geschmack besitzen, mit Eisensalzen sich blauschwarz oder auch mehr grünlich färben und mit Kaliumbichromat einen rotbraunen auf Oxydation beruhenden Niederschlag liefern. Auch mit Eiweiß, Leim und Alkaloiden sind sie fällbar. Daneben werden noch zahlreiche andere Reagenzien angegeben. Ältere Physiologen wie Hart ig und Wigand sahen in den Gerb- stoffen dem aufbauenden Stoffwechsel zugehörige Körper, jener einen Reservestoff, dieser ein Glied in der Reihe der Kohlehydrate. Einen Wende- punkt brachten die keimungsphysiologischen Stu- dien von Sachs (1859), der die Gerbstoffe als Nebenprodukte des Stoffwechsels ansprach. Seit- N. F. XIX. Nr. 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 499 dem ist diese Auffassung die herrschende geblieben. Doch sind bis in die jüngste Zeit hinein dagegen Bedenken erhoben worden. In extremer Weise stellte sich Westermaier (1S85) auf den Stand- punkt, daß die Gerbstoffe Produkte der Chloro- plasten seien, durch als „Gerbstoftbrücken" dienende Zellenzüge den Gefäßbündelscheiden zugeführt und in den Stamm abgeleitet würden, daß sie auch an der Eiweißbildung in den Blättern beteiligt seien. Kritischer behandelte Kraus das Problem (1889), der fand, daß mit Unterbrechung der Kohlen- säureassimilation auch die Gerbstoffproduktion zurückgeht und daß die Gerbstoffe aus den Blättern in Stamm und unterirdische Teile wandern können. Kraus, sowie zu gleicher Zeit (1889) Bus gen, stellte fest, daß an derselben Pflanze Lichtblätter mehr Gerbstoff enthalten als Schattenblätter. Außer diesem „Wandergerbstoff" gibt es nach Kraus noch „ruhenden" Gerbstoff, der ohne Mitwirkung des Lichtes in Vegetationspunkten und Sekret- behältern entsteht und dort verbleibt. Die Haupt- bedeutung der Gerbstoffe sieht Kraus in ihrer schützenden biologischen Funktion, sowohl gegen Tierfraß wie gegen Fäulnis. Sie sollen keine Re- servestoffe sein und nicht wieder in den Stoff- wechsel einbezogen werden, womit die Auffassung von Sachs eine Stütze gewann. Pfeffer (1886) hat darauf hingewiesen, daß den Gerbstoffen durch glukosidische Bindung an Zucker bestimmte Auf- gaben im Stoffwechsel zukommen könnten. In neuester Zeit hat Sperlich (1917) auf dem von den Gerbstoffphysiologen etwas verlassenen Wege mikrochemischer Nachweisung gefunden, daß in den Geweben, die aus gerbstoff- und stärkeführen- den Zellen bestehen. Speicherung und Abbau der beiden Stoffe sehr häufig parallel laufen. In in- haltlich homogenen Geweben räumt im Laufe der Entwicklung der eine Stoff dem anderen das Feld. Von chemischer Seite haben E. Fischer und K. Freudenberg (i9i2ff.) nahe Beziehungen zwischen Gerbstoffen und Kohlehydraten aufgedeckt. Liegt somit über der Physiologie der Gerbstoffe noch ein nur schwach erhelltes Dunkel, so ist ihre biologische Bedeutung sehr viel durchsichtiger. Die von Warming (1883) vorgeschlagene Auf- fassung, daß die Gerbstoffe die Gefahr des Aus- trocknens damit versehener Epidermen vermin- derten, scheint in der F'olgezeit nicht mehr be- achtet worden zu sein. Dagegen ist durch die Untersuchungen Stahls (1888) die Funktion des Gerbstoffs als Schutzmittel der höheren Pflanzen gegen Schneckenfraß zu einer allgemein aner- kannten Tatsache erhoben worden. So konnte Stahl zeigen, daß die Blätter unserer Kleearten und anderer Futterkräuter aus der Fa- milie der Papilionaceen geringe Gerbstoffmengen besitzen, die den Weidetieren nicht unangenehm sind, dagegen von den Schnecken Helix hortensis und pomatia gemieden werden. Blätter dagegen, deren Gerbstoffgehalt durch Auslaugen entfernt oder (dies bei anderen gerbstoffreichen Pflanzen) durch unter der Luftpumpe injiziertes Kalium- bichromat gefällt worden war, wurden von den Schnecken schnell verzehrt. Dünne Scheiben der den Omnivoren Schnecken sehr zusagenden Möhre, getrocknet und in Gerbstofflösungen von 0,1, 0,5 und I % aufgeweicht, wurden in einem Versuche Stahls ausgehungerten Individuen von Limax agrestis dargeboten. Die in 0,1 "/,, aufgequollenen Stücke wurden ebenso rasch verzehrt als die in reinem Wasser aufgeweichten. Dagegen waren die mit i "/o iger Lösung versetzten Scheiben auch nach zwei Tagen noch fast intakt. Tropfte Stahl eine Tanninlösung von i "j^q auf den Körper der- selben Schnecken, so flüchteten diese unter be- trächtlicher Schleimabsonderung. Da der Gerb- stoff sehr oft in Haaren und Epidermiszellen lokalisiert ist, muß er gegen Schnecken, die zuerst die Oberfläche der Pflanzen annagen, einen wirk- samen Schutz gewähren. Ein zweiter Schutzwall gerbstoffhaltiger Zellen liegt häufig im Innern der Organe um die Gefäßbündel. Gegenüber größeren Tieren, z. B. Wiederkäuern und Nagern, dürfte eine solche Schutzwirkung nicht bestehen, wie zwei Schüler Stahls: Räuber (1910) und Peyer (1911) nachgewiesen haben. Der erste bemerkte, daß die besonders gerbstoff- reichen Rinden der Fichte und Eiche vom Rot- wild am stärksten geschält werden. Auch Kanin- chen scheinen Gerbstoffe in gewissen Mengen an- genehm zu sein. Elche und Biber, deren ge- wöhnliche Äsung in den Trieben und Rinden stark gerbstofthaltiger Holzgewächse besteht, nehmen große Mengen von Gerbstoffen zu sich. Peyer konnte zeigen, daß diese Tiere gegen Tannin längst nicht so empfindlich sind wie z. B. der Mensch. Auch Vögel wurden in Versuchen von Liebmann (1910), der dem Futter 5 "/o Tannin beirriischte, hierdurch keineswegs abge- schreckt. Gerbstoffgehalt hindert die Vögel auch nicht, Früchte, von deren greller Farbe sie in erster Linie angelockt werden, zu verzehren und so die Samen zu verbreiten. Vor und während der Reife sind die Fleischfrüchte nach L i e b - mann durch unscheinbare Farbe und harte Be- schaffenheit geschützt, nicht aber chemisch, da Geschmacks- und Geruchssinn der Vögel nur sehr unvollkommen ausgebildet sind. Die Vögel ver- tragen denn auch für Säugetiere giftige Stoffe ohne Schaden. Andere an Gerbstoffgehalt angepaßte Spezia- listen finden sich unter den Insekten , die sich unter den Pflanzenfressern ganz allgemein am stärksten auf die Abwehrstoffe eingestellt haben. Die Raupe des Frostspanners bevorzugt gerb stoffreiche Pflanzen und die von Bombyx chrysorrhoea läßt, wie Stahl (1888) angibt, aus- gelaugte Eichenblätter unberührt, während sie diese nach dem Durchtränken mit dem Saft frischer Eichenblätter verzehrt. II. Alkaloide und Glukoside. Den Gerbstoffen stehen in ihrer physiologischen Wirkung auf den Tierkörper am nächsten die als 500 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XrX. Nr. 32 „Bitterstoffe" bezeichneten wenig erforschten Pflanzenstoffe, die zumeist den Alkaloiden und Glukosiden zuzurechnen sind. Sie vermögen wie die Gerbstoffe Gärungsprozesse im Magen zu be- schränken und sind für den Menschen nicht giftig. Daß die Bitterstoffe Schnecken von den Pflanzen fernhalten, konnte Stahl in Versuchen mit Gen- tiana- Arten, Menyanthes, Polygala und Carduus benedictus beweisen. Ausgelaugte oder im Ab- sterben begriffene Blätter von Gentiana lutea wurden von den Schnecken verzehrt. Die pflanzen- fressenden Säugetiere zeigen keine sichtliche Ab- neigung gegen Arnica montana und Taraxacum officinale, stark bittere Pflanzen (Peyer). Besen- ginster und Weißdorn führen in der Rinde die Bitterstoffe Scoparin und Oxycanthin, die nach Räuber Hasen und Kaninchen nicht davon ab- halten , diese Sträucher zu schälen und zu ver- beißen. Auch in biologischer Hinsicht zeigen mithin die Bitterstoffe große Ähnlichkeit mit den Gerbstoffen. Besser als die „Bitterstoffe" sind viele Alkaloide in chemischer Hinsicht bekannt; indes ist ihre Rolle im Stoffwechsel der Pflanzen durchaus dunkel. Als Alkaloide oder Pflanzenbasen bezeichnet man eine Anzahl meist durch spezifische physiologische Wirkungen ausgezeichneter Pflanzenstoffe mit basischen Eigenschaften, die außer sehr viel Kohlen- stoff noch Wasserstoff und stets Stickstoff ent- halten, während Sauerstoft" fehlen kann. Czapek (1905) deutet dies dahin, daß die Alkaloide an Orten entstehen, wo Kohlenstoff sehr reichlich zur Verfügung steht, wo aber sauerstoffarme Ver- bindungen vorherrschen. Oxydationsprodukte werden sie also nicht sein. Ihr Zusammenhang mit der Eiweißbildung ist problematisch. Clau- triau sowie Feldhaus fanden, daß während der Samenreife von Datura die Alkaloide ständig zunehmen. Dennoch darf man sie nicht als Re- servestoffe ansehen, denn bei der Keimung von Datura wird der Alkaloidgehalt erhöht, ein Vor- gang, der auf Kosten umgesetzten Reserveeiweißes im Samen erfolgen dürfte (Czapek). Bei der Keimung von Datura diffundiert das Alkaloid der Samenschale in den umgebenden Boden, und Feldhaus (1903) hat es wahrscheinlich gemacht, daß hierdurch Tiere ferngehalten werden; Bakte- rien und Pilze vermögen jedenfalls das Datura- alkaloid nur schwer anzugreifen. Clautriau und Errera sehen in den Alkaloiden in erster Linie Schutzstoffe. Dafür spricht ihre periphere Lage- rung in der Pflanze, ihre Lokalisation in Rinden, Haaren und Milchsäften. Nicht nur tierische, auch pflanzliche Schädlinge können so abgewehrt werden, wie Peirce (1894) zu zeigen suclit, der Cuscuta epilinum auf giftigen Euphorbien nur Haustorien bilden sah und keine Weiterentwicklung feststellen konnte. Hier wäre freilich noch der Nachweis zu erbringen, daß es wirklich die gegen andere Organismen als Gifte wirkenden Euphorbiastoffe sind, die diesen Tatbestand bedingen. Wenn da- gegen Phytophthora auf Nicotiana und Solanum gedeiht, so scheint hier eine Immunität gegen das Gift zu bestehen. Der Alkaloidgehalt wechselt übrigens zwischen verwandten Gewächsen sehr stark, er kann sogar bei Individuen derselben Art vorhanden sein und fehlen. Die spezifische Wirkung der Alkaloide auf den Tierkörper, die schon in sehr geringen Gaben in Erscheinung tritt, besteht in Reiz- und Lähmungs- erscheinungen des Herzens und Gehirns. In den Harn gehen sie unzersetzt über, und Peyer fand bei Sektionen außer Hyperämien des Gehirns und Rückenmarks keine anatomischen Verände- rungen. Sehr lehrreich und die hervorragende Schutzwirkung der Alkaloide beleuchtend sind die Fütterungsversuche von Peyer, in denen an Ka- ninchen frische, sowie mit Alkohol oder schwach salzsäurehahigem Wasser ausgekochte Teile alka- loidhaltiger Pflanzen verabreicht wurden (Conium, Atropa, Hyoscyamus, Papaver, Colchicum, Fuma- ria, Aconitum, Berberis u. a.). Die frischen Ob- jekte wurden mit Ausnahme der sehr schwach ber- beridinhaltigen Blätter von Berberis gemieden, die ausgelaugten dagegen gefressen. Einer wässrigen unter Kleie gemischten Abkochung jener Pflanzen gegenüber verhielten sich die Tiere wie gegen frische Pflanzen. Ein Kaninchen, das nach langem Hungern Atropa belladonna gefressen hatte, starb unter den Anzeichen von Atropinvergiftung. Die in Rinden auftretenden Alkaloide vermögen, wie Räuber mitteilt, Warmblüter zu töten, wenn man diesen die isolierten Gifte verabreicht. Da in den Rinden die Alkaloide häufig zusammen mit alkaloidfällenden Stoffen, z. B. Gerbstoffen vorkommen , mag ihre physiologische Wirkung durch chemische Bindung aufgehoben werden. Räuber kann den Rindenalkaloiden eine Schutz- wirkung gegen das Schälen jedenfalls nicht bei- messen. Ebenso sind die Vögel gegen die in Früchten enthaltenen Alkaloide und Glukoside nach Lieb mann unempfindlich; z. B. stellen viele Drosseln Atropa belladonna, Solanum nigrum und dulcamara gierig nach. Insekten können Chinin ohne Schaden aufnehmen und unverändert wieder ausscheiden (N e g e r). Worauf dieser Unter- schied im Vergleich mit dem Verhalten anderer Tiere beruht, kann auch nur vermutungsweise nicht gesagt werden. Für das pflanzliche Proto- plasma sind die Alkaloide wiederum giftig. Die im Pflanzenreich weit verbreiteten chemisch von den Alkaloiden sehr verschiedenen Glukoside stimmen mit jenen in ihrem bitteren Geschmack und ihrer — obschon minder toxischen — Wir- kung auf den Tierorganismus überein. Auch über ihre Stellung im Stoffwechsel der Pflanze ist nichts Sicheres bekannt. Man könnte daran denken, daß die Glukoside als zuckerhaltige Substanzen bei der Ernährung eine Rolle spielen. Denn es ist allen Glukosiden eigentümlich, beim Kochen mit ver- dünnten Säuren oder Alkalien sowie durch Fer- mente unter Wasseraufnahme in Glukose und andere Stoffe zu zerfallen. Man kann sie deshalb als ätherartige Verbindungen auffassen, die aus N. F. XIX. Nr. 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 501 Zucker und den Reststoffen durch Wasserabspal- tung entstanden sind. In Wasser sind die Gluko- side leicht löslich; im Tierorganismus werden sie gespalten, so daß sie sich in den Sekreten nicht mehr nachweisen lassen. Einen charakteristischen Sektionsbefund erhielt Peyer nicht. Dieser For- scher wiederholte die bei den Alkaloiden be- sprochene Versuchsanordnung mit Glukosid führen- den Pflanzen (Menyanthes, Erythraea, Gentiana, Achillea, Convallaria, Rhamnus frangula, Vincetoxi- cum, Digitalis u. a.), indem er frische und aus- gekochte Pflanzen an Kaninchen verabreichte. Der Erfolg war derselbe wie bei den Alkaloiden: die frischen Objekte wurden von den Kaninchen ge- mieden, ebenso die mit Kleie vermischte Ab- kochung. Das giftigste Glukosid einheimischer Rinden ist das Daphnin des Seidelbastes, der vom Wild ängstlich gemieden wird (Räuber). Die Früchte des Seidelbastes werden dagegen von verschiedenen Vögeln in der Natur gefressen (Liebmann). Eine besondere Gruppe der Glukoside sind die Nitrilglukoside, die bei der Hydrolyse neben Zucker stets Blausäure liefern. Hierher gehört das Amyg- dalin, das m Samen und Blättern z. B. bei Prunus padus, persica und laurocerasus vorkommt. Durch das Enzym Emulsin wird es in Zucker, Benzal- dehyd (Bittermandelöl) und Blausäure gespalten. Nach Guignard (1890) ist das Amygdalin im Parenchym, das Emulsin in der Endodermis und im Perizykel der Leilbündel lokalisiert. Werden Blätter zerkaut, so muß der Zerfall des Glukosids und damit seine Giftwirkung eintreten. Räuber hat eine Schutzwirkung des in der Rinde von Prunus padus vorhandenen Laurocerasins gegen- über schälenden Kaninchen nicht feststellen können. Peyer berichtet über die tödlich verlaufene Amygdalinvergiftung eines Schafes nach Genuß von Blättern der Vogelkirsche. Geringe Mengen von Kirschlorbeer- oder Pfirsichblättern sollen Kühe und Ziegen töten können. Die Mondhohne (Javabohne), Phaseolus lunatus, besitzt ein Glukosid, (Phaseolunatin), das ebenfalls Blausäure abspaltet (Treub) und dadurch Vergiftungen des Weide- viehs verursacht hat. So auch junge Mohrenhirse (Sorghum), Glyceria und Lotus arabicus. Doch werden nach Ravenna stark blausäurehaltige Sorghum- Pflanzen von Blattläusen und anderen Insekten nicht verschont. Nach Peyer ver- schmähen aber Maikäfer Alkaloid oder Glukosid führende Blätter. Derselbe Autor hat unter 52 alkaloid- oder glukosidführenden Pflanzen nur vier gefunden, die vom Weidevieh gutwillig und vier- zehn, die in der Not oder Hast verschlungen werden. Aus diesen Erfahrungen folgt, daß Alkaloide und Glukoside — namentlich in den Blättern — den damit versehenen Gewächsen einen nicht ge- ringen Schutz gegen Tierschäden gewähren können. Milchsäfte. Die im Vorangehenden besprochenen Schutz- mittel der höheren Pflanzen; Gerbstoff, Bitterstoffe, Alkaloide und Glukoside treten in mehreren Familien (Euphorbiaceen, Asclepiadaceen, Apo- cynaceen, Compositen, Campanulaceen, Papavera- ceen, Aroideen, Musaceen usw.) als Bestandteile des Milchsaftes auf. Über dessen physiologische Bedeutung ist trotz der eingehenden Untersuchun- gen von Molisch (1901) und K nie p (1905) nur wenig bekannt. In jüngster Zeit hat Hermann Ziegenspeck im Stahl sehen Institut die Milch- saftfrage von neuem studiert und kommt in seiner noch unveröffentlichten Arbeit zu dem Ergebnis, daß die Milchsaft- und ebenso die Schleimbehälter der vorübergehenden Aufnahme wie der dauernden BeseitigungüberschüssigerStoffe dienstbar sind (nach Stahl 1919). Molisch fand, daß bei allen von ihm untersuchten Papaveraceen der Milchsaft Hauptsitz für die giftigen Alkaloide ist. Durchsichtiger als die physiologische erwies sich die biologische Seite des Milchsaftproblems. Die Ansicht von de Vries, daß den in Milchsäften vorkommenden Harzen, Gummi, Kautschuk eine wichtige Rolle als Ver- schlußmittel bei Verwundungen zukomme, hat sehr viel Wahrscheinlichkeit. Daneben haben die Versuche von Kniep die von Stahl (1888) dem Milchsaft zugesprochene Schutzwirkung gegen Tier- fraß durchaus erwiesen: Euphorbia Lathyris, durch Abschneiden der Blattspitze milchfrei gemacht, wurde von Schnecken rasch vertilgt, während un- versehrte Pflanzen niemals berührt werden. Der Milchsaft von Rhus toxicodendron wirkt seltsamer- weise auf Schnecken nicht abschreckend. Kniep meint, daß diese exotische Pflanze gegen unsere einheimischen Schnecken Giftstoffe nicht gebildet hat. Milchsäfte von einheimischen Pilzen dagegen vermochten damit beträufelte Schnecken zu töten. Liebmann bemerkte, daß Vögel das mit dem Milchsaft von Euphorbia myrsinites versetzte Futter nicht berühren. Der Turgordruck in den Milchröhren ist sehr beträchtlich, so daß ihre geringste Verletzung ein sofortiges Ausspritzen des Saftes bewirkt. In manchen F"ällen reichen die Milchröhren mit ihren Enden bis an die Oberfläche der Organe heran und können selbst zwischen den Epidermiszellen als kleine Papillen vorspringen, die bei leiser Be- rührung sich öffnen. Indes erstreckt sich die Giftwirkung des Milch- saftes nicht auf alle Angreifer. Die streng speziali- sierten Raupen des Wolfsmilchschwärmers sind durch reziproke Anpassung gegen den Milchsaft von Euphorbia cyparissias nicht nur unempfindlich, es sagen nach Stahl (1888) diesen Raupen aus- gelangte Triebe der Wolfsmilch nicht einmal zu. IIL Oxalsäure und andere Säuren. Von allen Schutzstoffen der Pflanze sind die Säuren wohl am häufigsten Gegenstand physio- logischer Forschungen gewesen. Im Mittelpunkt hat hierbei stets die Oxalsäure gestanden. Seinen Grund hat dies darin, daß die Oxalsäure im Kal- ziumoxalat einen im Pflanzenreich sehr verbreiteten Zellinhaltsbestandteil bildet, der schon den älteren 502 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 32 Anatomen auffallen mußte und seitdem immer wieder Gegenstand der Untersuchung geworden ist. Lag die Oxalsäure als gelöstes Salz im Pflanzen- körper vor, so war es wiederum das Kalksalz, an dem sie sich, darin übergeführt, erkennen ließ. Eine Gruppe von Forschern ging vom Kalzium- oxalat aus, nach dessen Bildungsbedingungen und damit auch denen der Oxalsäure man fragte. Die Hypothesen, die von den einzelnen Physiologen vertreten werden, nehmen für den Ursprung der Oxalsäure nacheinander alle wichtigen Punkte des aufbauenden wie abbauenden Stoffwechsels in An- spruch. Eine Einigung der Meinungen hat sich bis jetzt nicht vollzogen. Schimper (1888, 1890) nahm an, daß die Kalksalze der Bodennahrung — Nitrate, Phosphate, Sulfate — bei ihrer Verarbeitung in den Blättern eine Zersetzung erfahren, derart, daß Stickstoff, Phosphor und Schwefel in den Eiweißstoffwechse! übergehen, während der Kalziumrest an Oxalsäure gebunden und damit als nutzloses Exkret dem Stoffwechsel entzogen wird. Pallad in (1887) hingegen, nahm den Regenerationsvorgang der Eiweißverbindungen aus Asparagin und Kohle- hydraten für die Bildung der organischen Säuren in Anspruch. Hiervon verschieden ist die Stellung jener For- scher, die auf einschlägigen Studien de Barys fußend das Problem behandelten. De Bary (1886) bemerkte in Peziza sclerotiorum einen in Nährlösung reichlich Oxalsäure produzierenden Pilz, und zwar fand er diese in kalziumfreier Nähr- lösung in gelöstem Zustande, als Kaliumsalz, vor, hingegen in kalziumhaltiger Kulturflüssigkeit als Kalziumoxalat, das die Hyphen mit einer Art von Inkrustation überzieht. De Bary dachte hierbei an eine „Oxydationsgärung", bei der innerhalb der lebenden sauerstoffaufnehmenden Zellen des Pilzes aus Zucker Oxalsäure gebildet und diese als Kaliumsalz aus der Zelle ausgestoßen wird, um bei Kalkgegenwart an der Oberfläche der Hyphen in fester Form sich abzuscheiden. Fortgesetzt wurden diese Untersuchungen von Wehmer (bes. Bot. Ztg. 1891). Wehmer stu- dierte Schimmelpilze der Gattungen Aspergillus und Penicillium, die abhängig von der für die Kultur gewählten Kohlenstoff- und Stickstoff- nahrung, mehr oder weniger 'Oxalsäure produzieren. Maßgebend ist hierbei, ob im Stoffwechsel Basen bzw. Säuren disponibel werden. Bei Abwesen- heit säurebindender Basen in der Kulturflüssigkeit steht die Oxalsäurebildung bei einer bestimmten niedrigen Konzentration still. Bildung der Säure und Zerstörung durch Weiteroxydation halten sich dann im Gleichgewicht. Dienen Albumosen, bzw. Kali- oder Natronsalpeter als Stickstoffquelle, so werden durch den Assiinilationsprozeß Basen frei und entsprechend ergiebige Oxalsäureproduktion ist die Folge. Wird vollends für einen dauernden Überschuß an basischer Substanz gesorgt, z. B. durch Hinzufügen von Kalziumkarbonat zur Nähr- flüssigkeit, so erzeugt der Pilz unausgesetzt Oxal- säure, indem der angestrebte Zustand schwacher Azidität des Substrats nie erreicht wird. Schimper hatte (1890) angenommen, daß es bei der Bildung des Kalziumoxalates darauf ankomme, die Oxalsäure unschädlich zu machen, deren Giftwirkung im Pflanzenkörper dabei ver- hindert würde. Umgekehrt betont Wehmer die regulatorische Bildung der Oxalsäure, die auf die entgiftende Neutralisation basischer Äquivalente angelegt zu sein scheint. In diesem Sinne äußerten sich u. a. auch deVries(i88i, 1884) und Stahl (1900). Eine Stütze gewann diese Vorstellung noch in Untersuchungen von Benecke (1903), der den Gehalt grüner Pflanzen an oxalsaurem Kalk zu beeinflussen suchte und in dieser Richtung an Zea Mays, Fagopyrum und Tradescantia Er- folg hatte. Bei Nitraternährung werden im Stoff- wechsel Basen frei, und diese regen zur Oxalsäure- bildung an. Die Folge ist reichliches Auftreten von Kalziumoxalat. Bei Verwendung von Am- monsalzen werden nach Verbrauch des in diesen enthaltenen Stickstoffs Säuren frei, und so kulti- vierte Pflanzen sind arm oder leer an Kalzium- oxalat. Der Rhaphidengehalt erwies sich indes als von den zugeführten Nährstoffen minder ab- hängig. „, Bestätigt wurden die Ergebnise Beneckes durch eine nahezu gleichzeitige Untersuchung von Amar (1904), der Keimpflanzen von Caryophylla- ceea sehr weitgehend kristallfrei kultivierte, da- durch daß er kalziumfreie Nährlösung gebrauchte. Fügte Amar zu der Nährlösung in verschiedenen steigenden Mengen Kalziumnitrat hinzu, so er- schienen in den Blättern wiederum Kalkoxalat- kristalle, deren Zahl mit steigendem Nitratgehalt zunimmt. Die Versuche A m a r s hat in jüngster Zeit Stahl (1919) wieder aufgenommen. Stahl ließ isolierte Blätter von Caryophyllaceen, Viscum album, Tradescantia u. a. eine i proz. Lösung von Kalziumnitrat aufnehmen, im Dunkeln mit Rohr- zuckerzusatz, am Licht ohne solchen. Die be- handelten Blätter zeigten eine beträchtliche An- reicherung ihres Gehaltes an Kalziumoxalat- kristallen, woraus sich nach Stahl ergibt, daß der Kalk die Veranlassung zur Bildung der Oxalsäure gewesen ist. Wie es früher bei Pilzen gezeigt wurde, so konnte Stahl für höhere Pflanzen den Nachweis erbringen, daß die Oxalsäure so lange gebildet wird als ein zu sättigender Kalküber- schuß vorhanden ist. Gleichzeitig beweist Stahl gegen Schimper, daß bei der Kalziumoxalat- bildung die Assimilation des Stickstoffs nicht ent- scheidend mitspricht. Denn es führten in Stahls Versuchen an Stelle des Kalziumnitrats z. B. noch zitronen-, cssig- oder apfelsaurer Kalk, nicht aber Kaliumnitrat, zur Oxalsäurebildung. In der Natur oxalatfreie Pflanzen (Equisetum, F"umariaceen, Boragineen) konnte Stahl künstlich nicht zur Bildung von Kalziumoxalat veranlassen. Bei diesen Pflanzen führte die erzwungene Aufnahme von Kalksalzen durch abgeschnittene Halme (Equise- N. F. XIX. Nr. 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 503 tum) zur Ausscheidung löslicher Kalziumverbin- dungen in Tropfenform (Guttation). Die Gutta- tioti ist also für die Pflanze ein anderer Weg, den Kalküberschuß aus dem Stoffwechsel zu entfernen. Dem entspricht, was Stahl als allgemeinen Tat- bestand feststellt: „Bei reichlich ausscheidenden Pflanzen können, aber brauchen Kristalle nicht zu fehlen, während andererseits nicht ausscheidende Pflanzen in der Regel, aber auch nicht ausnahms- los, Oxalatkristalle führen" (1. c. S. 73). Daß die Oxalsäure das Produkt einer unvoll- kommenen Oxydation von Kohlehydraten dar- stellt, ist gegenwärtig die bestgeglaubte Ansicht über dieses Problem. Nichtsdestoweniger haben sich in letzter Zeit Stimmen dagegen erhoben, die abermals in eine andere Richtung weisen. So erblickten bereits Berthelot und Andre (1886) in der Oxalsäure ein Produkt unvoll- ständiger Reduktion des Kohlendioxyds in den grünen Blättern. In diesem Sinne haben sich wiederum Baur (1908), Bassalik (1914) und Steinmann (1917) geäußert. Der letzt genannte Autor sucht die Vorstellung zu stützen, daß die Säuren des Rhabarberblattes, unter denen Oxal- säure altbekannt ist, in mehrfacher Hinsicht sich ähnlich wie die gelösten Kohlehydrate verhalten. Damit wird zugleich eine andere Seite der botanischen Oxalsäureforschung berührt. Man geht hier nicht von dem histologischen Kalziumoxalat aus, sondern prüft chemisch, zumeist litrimetrisch, die Azidität saurer Organe. Diese Forschungen richten sich mehr auf die Pflanzensäuren im allge- meinen. Lange stand der tägliche periodische Aziditätswechsel vieler Pflanzen im Verdergrund des Interesses. Die wichtigsten Arbeiten hierüber sind die von Ad. IVIayer (1875), de Vries (1876), Kraus (1884), Warburg (1886) über den Säureweclisel sukkulenter Pflanzen. Es zeigte sich, daß das Licht, sowie erhöhte Temperatur den Säuregehalt der Organe vermindern. War- b u r g machte es wahrscheinlich, daß die organi- schen Säuren der Sukkulenten in der Nacht aus tagsüber gebildetem Kohlehydrat durch Oxydation hervorgehen und am Tage weiter zu Kohlen- dioxyd und Wasser veratmet werden. Einen neuen Gesichtspunkt brachten noch die Arbeiten von Aubprt (1890,92), der den typischen Trans- pirationsschutz der Sukkulenten auf ihren Säure- reichtum zurückführte. Damit erhält das zunächst rein chemisch-phy- siologische Problem der Pflanzensäuren auch eine biologische Seite. Für die Oxalsäure lieferten die Beobachtungen und Versuche Stahls (188S) den Nachweis ihrer zweifellosen Schutzwirkung gegen Schneckenfraß. Frische Blätter von Rumex acetosa und acetosella werden von den Schnecken nur in großer Not genossen, während ausgelaugte rasch vertilgt werden. Wenn den Schnecken getrock- nete und nachher mit Lösungen von saurem oxal- saurem Kali (i"/(io bis i'-'j,,) zum Aufquellen ge- brachte IMöhrenscheiben geboten wurden , so mieden sie dieses FuT.ter anfangs und verzehrten zuerst die in reinem Wasser aufgeweichten Scheiben. Nachher wurden die mit i "/„„Lösung getränkten Scheiben gefressen, während die mit i",, Oxalat- gehalt übrig blieben. Lösungen von !"„„, auf den Körper der Schnecken gespritzt, riefen starke Reizwirkungen hervor und brachten die Tiere zu eiliger Flucht. Daß Sauerampfer und Sauerklee vom Weide- vieh gemieden werden und, falls dennoch ver- zehrt, schwere Erkrankungen an Oxalsäurevergif- tung hervorrufen, ist bekannt. Experimentell hat Peyer diese Giftwirkung an Kaninchen nachge- wiesen. Gewöhnlich verschmähten die Tiere stark oxalsaures Futter; nach langem Hungern wurde es jedoch angenommen und veranlaßte Vergiftung und Tod. Die Sektion ergab in der Schleimhaut von Magen und Darm reichliche Niederschläge von mikroskopischem Kalziumoxalat. In den Nieren zeigte sich zwischen Rinde und Mark eine weißliche Zone, die sich unter dem Mikroskop in lauter Kalziumoxalatkristalle von Briefkouvertform auflöste. Der Harn ent- hielt Eiweiß, wenig Zucker und sehr viele Kri- stalle. Zitronensäure und Weinsäure, von Peyer dem Futter beigemischt, vermochten dieses den Kaninchen zu verleiden, wenn sie auch nicht so abschreckend wirkten wie Oxalsäure. Der Schutzfunktion der Oxalsäure entspricht auch ihre Verteilung im Pflanzenkörper. Mikro- chemisch kann man die Lokalisation der Oxal- säure — meistens liegt saures Kaliumoxalat vor — mit mehreren Reagentien ermitteln. G i e ß 1 e r (1893) verwendete Chlorkalziumlösung und fand, daß die Oxalsäure in Stengeln und Blättern vor- züglich in der Nähe der Oberfläche nachweisbar ist. Ich habe (191 8) mit Hilfe von Eisenvitriol, der die Oxalate als mikrochemisch sehr gut charakterisierte Ferrooxalatkristalle ausfällt, den Befund Gießlers in vielen Fällen bestätigen können. Wenn auch die periphere Lagerung der Oxalsäure gegen große Tiere einen ersichthchen Nutzen nicht mit sich bringt, so ist ein solcher gegen Kleintiere, namentlich Schnecken unver- kennbar: Diese raspeln die Pflanzen von der Oberfläche her schichtenweise ab, und sie werden nur geringen Schaden verursachen, wenn sie be- reits in den äußersten Zellschichten auf den Ab- wehrstoff stoßen. Periphere Lokalisation ist bei Schutzstoffen auch sonst beobachtet. Zu nennen wären das Vorkommen von Gerbstoff in der Epi- dermis, der von Errera, Maistriau und C 1 a u - triau (1887) geführte Nachweis der Alkaloide in der Epidermis, den Haaren und äußeren Rinden- schichten. Bei Cicer arietinum, Circaea sowie anderen Onagraceen fand Stahl (i888) Haare, die ein saures Sekret absondern. Schnecken sind gegen diese Haare sehr empfindlich. Wird das Sekret aber mit Wasser abgespült, so werden die nun- mehr wehrlosen Triebe von Cicer rasch vertilgt. Bei Circaea sind noch Gerbstoffe und Rhaphiden als Schutzmittel wirksam, so daß nach Entfernung 504 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. V. XPC. Nr. 3: des Sekrets die Pflanze für Schnecken nicht ge- nießbar wird. Die in Früchten vorkomnnenden Säuren (z. B. Äpfel-, Zitronen- und Weinsäure) sollen nach Neger (19 13) hauptsächlich für die Fernhaltung der Bakterien Bedeutung haben. Vögel dagegen, die zur Verbreitung der Samen beitragen, sind gegen Säuren (Zitronen-, Ameisensäure) nach den Erfahrungen von L i e b m a n n unempfindlich. Die Wurzeln der höheren Pflanzen scheiden bekanntlich ein saures Sekret ab, dem die Be- deutung zugesprochen wird, die wasserunlöslichen Bodenbestandteile für die Ernährung aufzuschließen. Peyer hat die Beobachtung gemacht, daß Schnecken die Wurzeln verschiedener Keimlinge (Getreide u. a.) nicht anrühren. Waren die Wurzeln mit Wasser abgespült worden, so wurden sie vorübergehend von den Schnecken benagt. Diese fraßen aber die Wurzeln bald auf, wenn sie eine halbe Stunde lang in Sodalösung von i^ gelegen halten oder wenige Minuten gekocht waren. Hungrige Exemplare von Limax agrestis und Helix pomatia fraßen mit Wasser getränkte Streifen von Fließpapier. Wenn in diese aber vorher sezernierende Wurzeln eingehüllt waren, blieben sie von den Schnecken unberührt. Peyer schließt hieraus nicht, daß das Wurzelsekret gegen alle Tiere schütze; insbesondere wäre, meint er, für die eigentlichen Wurzelfeinde, Raupen sowie Larven von Käfern und Würmern, ferner für die Wühlmaus (Arvicola amphibius) dieser Nachweis erst zu erbringen. Die schützende Wirkung, die von der Oxal- säure in der Form der aus Kalziumoxalat be- stehenden Rhaphiden ausgeht, ist in erster Linie eine mechanische und kann bei der Erörterung der chemischen Schutzmittel nicht ausführlicher gewürdigt werden. Peyer, der sich mit der von Lewin an Stahls Auffassung des Rhaphiden- apparates geübten Kritik auseinandersetzt, bestätigt auf Grund sorgfältiger Versuche die Ansicht von Stahl. Die Rhaphiden sind schon allein durch ihre mechanische Wirkung auf die Schleimhäute ein wertvolles Schutzmittel. Sind zugleich mit den Rhaphiden in einer Pflanze noch Giftstoffe vorhanden, so werden diese durch die sich ein- bohrenden Rhaphiden mit übertragen. IV. Ätherische Öle. Der Duft der Pflanzen wird zumeist durch Stoffe hervorgerufen, die in bestimmten Gewebc- elementen lokalisiert sind und als flüssige Sub- stanzen ätherische C)le, als in diesen gelöste feste Körper dagegen Kampfer genannt werden. Ihr chemischer Charakter ist wechselnd. Einige sind oder enthalten Aldehyde, andere bestehen aus Phenolen, manche enthalten Esterarten. Die ätherischen Eixkrete sind anfangs immer flüssig. Als Lösungsmittel können die flüchtigen Kohlen- wasserstoffe oder Terpene (C,(,f^J„ oder CjoHjgO) entweder kristallinische kampferhaltige Körper, die Stearoptene (Cj^Hj^O), ferner aber auch amorphe „Harze" enthalten. In Wasser sind diese Verbindungen unlöslich, während sie sich in Alkohol, Äther, Chloroform und fettem Öl lösen. Auch über die Entstehungsweise und phy- siologische Stellung der ätherischen Öle sind die Vorstellungen noch nicht geklärt. P>- giebiger waren wiederum die biologisch gerichteten Forschungen. Wenn die in Blumenblättern ent- haltenen duftenden ätherischen Öle Insekten zur Bestäubung anzulocken wohl geeignet sind, so ist ihr Vorkommen in den Vegetationsorganen ver- schiedentlich aufgefaßt worden. Einmal sollten sie, in epidermalen Drüsen gebildet, ein Mittel sein, die Pflanzen vor zu großer Erwärmung und dadurch übersteigerter Transpiration zu bewahren. Tyndall hat festgestellt, daß schon durch geringe Mengen ätherischen öldampfes die Ab- sorptionsfähigkeit der Luft für Wärmestrahlen be- deutend erhöht, d. h. ihre Diathermansie herab- gesetzt wird. Beimengung von Rosenöl ließ in Tyndalls Versuchen das 36 fache der Wärme- menge, die reine Luft absorbiert, aufnehmen. Diese Zahl betrug für Lavendelöl 60, für Zitronen- öl 65, für Rosmarinöl 74, für Anisöl 372. Haber- landt, Volkens, Warming u. a. Forscher haben im Anschluß an diese Feststellungen Tyn- dalls die Meinung geäußert, daß Pflanzen, die ätherisches Öl ausscheiden und sich mit einer Wolke davon umgeben, gegen zu starke Er- wärmung und zu hohen Wasserverlust gesichert seien. Eine Kritik erfuhr diese Hypothese von dem früh verstorbenen Carl Detto, einem der begabtesten Schüler Stahls (1903). Detto kommt zu dem Ergebnis, daß, bei vergleichender Betrachtung, einer Vermehrung der Ölproduktion und Öldrüsen auch eine Häufung der Trocken- schutzeinrichtungen parallel geht; nach der be- sagten Theorie hätte man aber zu erwarten, daß bei den ölreichsten Pflanzen ein Zurücktreten der übrigen Trockenschutzmittel bemerkbar sei, ein Vikariieren, wie es von Volkens zwischen der Dichte der Behaarung und der Stärke der Epi- dermisaußenwand als nicht selten angegeben worden ist. Ferner besitzen nach Detto die morphologisch am wenigsten xerophytisch aus- gebildeten Arten keineswegs die Öle mit höchster Ziffer der Wärmeabsorption. Auch macht Detto geltend, daß eine Dampfhülle von ätherischen Ölen nur in völlig unbewegter Luft in der frag- lichen Weise wirken könnte, eine Voraussetzung, die im Experiment erfüllbar, nicht aber in freier Natur gegeben ist. Die von Tyndall angeregte Auffassung er- hielt eine gewi.sse Stütze durch Untersuchungen von Dixon (1898); diesem gelang es nachzu- weisen, daß mit dem Eindringen ätherischer Öl- dämpfe in die Interzellularen eine Verminderung der Transpiration einhergeht. Durch die von Artemisia absinthium ausströmenden Dämpfe wurde eine Herabsetzung des Transpirationsver- N. F. XIX. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 505 lustes von Syringa- und Cytisuszweigen bewirkt. Detto hat diesen Befund nachgeprüft mit dem Ergebnis, daß es sich hier um eine Giftwirkung handelt. Öldämpfen ausgesetzte Blätter welken, bräunen sich und sterben ab. Detto verwendete sowohl Dämpfe der von den Versuchspflanzen selbst erzeugten Konstitution, wie auch unter natürlichen Verhältnissen nicht gegebene Zusam- menstellungen. Die Bedeutung dieser Stoffe für den Tran- spirationsschutz muß somit als sehr zweifelhaft gelten. Dagegen hat es sich auf dem Wege des Versuchs zeigen lassen, daß die ätherischen Öle den Pflanzen ein wirksamer Abwehrstoff gegen andere Organismen sein können. Die bakterizide und fungizide Wirkung ätheri- scher Öle ist bekannt. Terpentinöl z. B. wirkt gegen Mikroorganismen noch in dem Verhältnis I : 75000 (Koch). Die damit versehenen Nadel- hölzer besitzen hierin ein Mittel, die ihnen durch Schälen und Verbeißen zugefügten Wunden vor Infektion zu bewahren. Räuber hat nämlich gezeigt, daß Wiederkäuer von den Coniferen durch deren Harz- und Terpentingehalt nicht ferngehalten, vielmehr sogar angezogen werden. Soweit die Kenntnis hierüber reicht, werden aber die meisten Tiere von ätherischen Ölen abgeschreckt. Hasen und Kaninchen schälen und verbeißen vorzugs- weise Laubhölzer. Nach Neger scheint das ätherische Öl mancher Coniferen auf das Wild zuerst eine abstoßende Wirkung auszuüben, wie Erfahrungen mit neu eingeführten Holzarten (Dou- glastanne) lehren. Allmählig tritt Gewöhnung und Anpassung ein, und man kann schrittweise ver- folgen, wie Omnivoren nach und nach zu Spezia- listen werden. Planmäßige Versuche über das Verhalten von Kaninchen gegen ätherische Öle hat Peyer an- gestellt. Dieser Forscher bestrich Möhren mit den Blättern verschiedener Labiaten, Geranien, Ruta graveolens usw. Die so vorbereiteten Möhren blieben von den Tieren unberührt. Die Ölbehälter finden sich bei den genannten Pflanzen bereits in sehr jungen Exemplaren. Diese werden für Schnecken erst nach Auskochen mit Alkohol ge- nießbar. Bereits Stahl (1888) hat dasselbe mit Blättern von Ruta graveolens und Acorus calamus gezeigt. Stahl preßte auch Drüsenhaare (Mentha, Dictamnus) gegen eine Glasplatte und erhielt so einen feinen Streifen ätherischen Öles, an dem Schnecken halt machen und umkehren. P"erner hat Stahl nachgewiesen, daß Umbelliferensamen, die in ihren Ölstriemen an ätherischem Öl sehr reich sein können, von körnerfressenden Vögeln sorgfältig gemieden werden. Sperlinge, denen solche Samen aufgezwungen wurden, starben nach kurzer Zeit. Den Kontroll versuch hat Peyer ausgeführt. Er zog gepulverte Umbelliferensamen am Rückflußkühler mit Alkohol aus und mischte sie mit Getreide: Solches Futter wurde von Hühnern und Sperlingen gierig verzehrt. Unter den Vögeln gibt es aber auch Spezia- listen, die durch den Gehalt gewisser Samen und Früchte an ätherischem Öl angelockt werden. So verzehrt die Wacholderdrossel die Wacholder- beeren, der Kreuzschnabel die Samen der Weiß- tanne. In Ceylon überläßt man nach Neger die Kultur des Zimtbaumes ganz und gar einer kleinen Elsternart, von der die aromatischen Beeren ge- fressen und die Samen dabei ausgesät werden. — Außer diesen zu bekannten chemischen Gruppen gehörenden Schutzstoffen sind noch andere nicht mit solcher Bestimmtheit angebbare Stoffe bekannt geworden, von denen gleichfalls Schutzwirkungen ausgehen. Eines der wirksamsten Schutzmittel der Pflanze gegen die Angriffe von Tieren, namentlich der Säugetiere, sind die Brennhaare, die bei Urticaceen, Loasaceen, der Euphorbiacee latropha, der Hydro- leacee Wigandia gefunden worden sind. Von tropischen Urtica- und Laportea-Arten ist bekannt, daß ihr Stich die heftigsten Giftwirkungen, schwere Entzündungen, starrkrampfartige Zustände und selbst den Tod nach sich zieht. Die alte Ansicht, daß das Gift der Brennhaare Ameisensäure sei, war deshalb schon ohne weiteres unwahrscheinlich. Haberlandt hat dementgegen das Brennhaar- gift von Urtica dioica als eine im Zellsaft gelöste eiweißähnliche Substanz mit Eigenschaften von Enzymen erkennen können. Gealterte oder welke Blätter, an denen die Brennhaare wegen mangeln- den Turgors außer Funktion sind, werden nach Detto von Kaninchen gefressen. Hieraus erhellt die Schutzwirkung, die von den intakten Brenn- haaren ausgeht, mit der Sicherheit des Experiments. Peyer hat in Leguminosensamen Stoffe flüch- tiger Natur gefunden, die Mäuse und Kaninchen fernhalten. Wenn diese Stoffe mit Alkohol und Äther ausgezogen waren, fraßen die Tiere die so behandelten Samen. Die Auszüge selbst, mit Kleie oder Zwiebackkrümel vermischt und nach Verflüchtigung der Lösungsmittel und Wieder- anfeuchten mit Wasser den Tieren vorgesetzt, blieben unberührt. Noch größerer Abneigung be- gegnete das gleichfalls mit Zwiebackkrümel und Kleie gemischte wässrige Destillat aus Legumi- nosensamen. Literatur. Czapek, Kr., Biochemie der Pflanzen. Bd. II. — Jena 1905, G. Fischer. Detto, C, Über die Bedeutung der ätherischen Öle bei Xerophyten. — Klora 1903. Giefiler, R., Die Lokalisation der Oxalsäure in der Pflanze. — Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft 1893. Kniep, H., Über die Bedeutung des Milchsaftes der Pflanzen. — Flora 1905. Kraus, Gr., Grundlinien zu einer Physiologie des Gerb- stoffs. — Leipzig 1S89. Liebmann, \V., Die Schutzeinrichtungen der Samen und Früchte gegen unbefugten Vogelfraß. — Jen. Zeilschr. f. Naturw. 1910. Moli seh, H., Studien über den Milchsaft und Schleim- saft der Pflanzen. — Jena 1901. Neger, Fr. W. , Biologie der Pflanzen auf experimen- teller Grundlage (Bionomie). — Stuttgart 1913. Patschovsky, N. , Über Nachweis, Lokalisierung und So6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 32 Verbreitung der Oxalsäure (gelösten Oxalate) im Pflanzen- Organismus. — Ber. d. Deutsch. Bolan. Ges., Jahrg. 1918. Peyer, W. , Biologische Studien über Schutzstoffe. — Diss. Jena 191 1. 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Man unterscheidet wohl auch biologisch eine „kutikole", „kavikole" und „gastrikole" Erkran- kungsform, je nachdem die Larven an der Außen- haut, in Hohlräumen oder im Intestinaltraktus auf- treten. Streng durchführen läßt sich eine solche Einteilung nicht, da manche Fliegen sich sowohl kutikol als auch kavikol bzw. gastrikol entwickeln. Bemerkenswert ist, daß der Parasitismus dieser Fliegen Übergänge zeigt zu der Lebensweise sol- cher Dipterenarten, die sich normalerweise sapro- phytisch auf verwesenden Stoffen entwickeln. Ein- mal werden solche Fliegen durch übelriechende Sekrete veranlaßt, ihre Eier auf entzündliche Stellen oder auf offene, eitrige Wunden abzusetzen, andererseits werden ihre Eier durch verunreinigte Nahrung durch den Mund aufgenommen. Bei uns ist diese Erscheinung relativ selten, aber in wärmeren, speziell tropischen Gegenden ist diese Art der Myiasis ein bekanntes klinisches Vorkommnis bei Mensch und Tier. In dieser Weise treten als gelegentliche Parasiten sowohl an äußeren vernachlässigten Wunden und wunden Stellen, z. B. an Konjunktiva, Nase, Ohr, Geni- talien, als auch im Darm unsere Stubenfliege (Musca domestica L.) und besonders die Schmeiß- fliegen auf (Sarcophaga carnaria L., auch Calli- phora vomitaria L. und C. erythrocephala Meig.). Die Larven der Käsefliege (Piophila casei L.) können beim Verzehren von nicht einwandfreiem Käse oder Schinken in lebendem Zustand in den Körper des Menschen gelangen und dort zu unangenehmen Parasiten werden, da sie mit ihren spitzen Mund- werkzeugen die Darmvvand verletzen und dadurch entzündliche Blutungen verursachen. Auch die Larven der Drosophila melanogaster Br. gelangen zufällig, z. B. durch saure Milch, in den Darm des Menschen und können hier ähnliche Erscheinungen, verbunden mit Erbrechen, hervorrufen. Ein anderer Vertreter solcher Fliegen, deren Larven sich häufig auf der Haut und besonders in der Nase des Menschen entwickeln und zu üblen Erkrankungen und zu Todesfällen Anlaß geben, ist die im nörd- lichen Südamerika berüchtigte Schmeißfliege Lu cilia macellaria Fabr., der „screw-worm", deren Larve mit starken, schmerzverursachenden Freß- haken versehen ist. Auch unsere heimische Goldfliege, die Lucilia Caesar B., legt gern ihre Eier in offene Wunden oder Geschwüre ab. Die rasch heranwachsenden Larven bohren sich dann tief in das Fleisch ein. Bekannt geworden ist ein Fall vom Jahre 1902, in dem in der Umgebung von Berlin ein ver- wahrlostes Mädchen von etwa 20 Jahren in völlig erschöpftem Zustande aufgefunden wurde. Das Gesicht des Mädchens war stark geschwollen und in dem verschmutzten Kopfhaar saßen zahlreiche Maden, die die Kopfhaut angefressen und sich teilweis bis zum Schädelknochen eingebohrt hatten. Die Person starb kurz nach ihrer Einlieferung in das Charite-Krankenhaus an Blutvergiftung.') Eine Verwandte dieser Goldfliege, die Lucilia sericata Meig. wird den jungen auf der Weide befindlichen Schafen gefährlich. Die Maden dringen oft in größerer Anzahl durch die Haut bis in die tieferen Muskelschichten und die Bauchhöhle ein. Diese , .Fliegenkrankheit der Lämmer" ist bisher hauptsächlich aus Holland und Neu-Seeland be- kannt geworden. Ein weiteres Beispiel für die gelegentliche Ent- wicklung von F"liegenlarven in der Haut des Men- schen ist die Sarcophila magnifica (Wohlfahrti), die Wohlfahrtsfliege. Diese lebendig gebärende Fliege kommt in Rußland vor und soll dort in manchen Gegenden als Parasit eine richtige Land- plage hervorrufen. Auch die Hundstagsfliegen (z. B. Homalomyia canicularis L.), die gern den Menschenkot zur Ei- ablage aufsuchen, werden im Darm des Menschen vorgefunden und können hier zu ernstlichen Be- schwerden führen. Das gleiche gilt für die Buckel- fliege (Phora rufipes Meig.), die sich in faulenden Pflanzen, Kartoffeln usw. entwickelt. Selbst beim menschlichen Hautkrebs sollen gelegentlich Fliegen- larven auftreten. Göldi, der sich lange in Süd- ainerika aufgehalten hat, gibt an, daß vermutlich das dreieckige, aus gebranntem Ton hergestellte „Folium vitis", die „tanga" mancher Indianer- stämme Brasiliens, in erster Linie den Zweck eines Schutzmittels gegen Myiase bei den Frauen zur Menstruationsperiode hat. F'erner weist dieser Forscher darauf hin, daß in Südamerika die Re- vision der Weidetiere nach Läsionen, die durch Ocstriden oder Museiden besiedelt sind, zu den täglichen Obliegenheilen gehört, deren Versäum- Henneberg, Berliner med. Gesellschaft 1903. N. F. XIX. Nr. 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 507 nis schweren Schaden anrichten kann. Das ge- wöhnlichste Mittel zur Behandlung der Wunden und zur Abtötung der Larven besteht dort in der Anwendung von Quecksilberchlorid. Die Erkran- kungen durch diese Fliegenlarven, namentlich durch Lucilia macellaria, können so intensiv sein, daß sie zur Sepsis führen und den Tod des Be- troffenen zur Folge haben. Solche Fälle mit letalem Ausgang beim Menschen sind nach Göldi in Südamerika nicht allzu selten.') In diesen aus saprophytischer Entwick- lungsweise zum gelegentlichen Parasitismus über- gehenden Fliegenlarven haben wir nun den Ur- sprung des echten Entoparasitismus zu suchen, wie wir ihn bei den Oestriden, den Bies- fliegen finden. Diese Biesfliegen, besonders die „Dasselfliegen" schädigen das Vieh und haben, wie z. B. die Dassellarven des Rindes eine hohe wirtschaftliche Bedeutung. Medizinisch- hygienisch sind sie von Wichtigkeit, weil sie bisweilen beim Menschen als Parasiten auftreten. So sind einige Male die Larven der Oestrus ovis L., der Rachen- bremse des Schafes, in Nase und Kehlkopf des Menschen gefunden worden. Die Larve der Rinder- biesfliege (Hypoderma bovis de Geer und Hypoderma lineatum Villers) ist verschiedentlich beim Men- schen beobachtet worden. Über das Eindringen und die Wanderung einer Larve in der Unterhaut und ihren Austritt in der Mundhöhle gibt Gläser 191 3 eine genauere Darstellung (Mitteilungen des Ausschusses zur Bekämpfung der Dasselplage Nr. 5, 191 3). Interessant ist die Beobachtung, daß sich frisch ausgeschlüpfte Larven der Pferdemagen- bremse (Gastrophilus equi Fabr.) in die Haut am Unterschenkel des Menschen einzubohren ver- suchten und dort geschlängelte Gänge von meh- reren Zentimetern Länge ausfressen. Zu erwähnen ist ferner eine Rachenbremse des Pferdes (Rhin- oestrus purpureus Br.), die in den mittelasiatischen Steppen sehr verbreitet ist. Diese Fliege soll die Gewohnheit haben, ihre Eier in die Augen des Menschen zu spritzen. Durch die sich im Aug- apfel entwickelnden Larven sollen nicht selten schwere Augenerkrankungen der dortigen Bevöl- kerung hervorgerufen werden. Im Auslande, besonders in Südamerika, sind die Dasselfliegen weit verbreitet. Von einer Art, der in Brasilien heimischen „Berne"Dasselfliege (Dermatobia cyaniventris Macq.) gibt Göldi an, daß sie stellenweis eine arge Plage für die Rinder darstellt und schwere wirtschaftliche Schäden ver- ursacht. Diese Dasselfliegen scheinen öfter den Menschen anzugehen; Göldi erwähnt 4 Beulen, die an Kopf und Nacken seines Töchterchens ihren Sitz hatten, und mehrere Beulen, die sich am Arm seines Vetters entwickelten. Bemerkens- werte Angaben über ein „Dermatobia hominis" in Südamerika macht Frederick Knab in der amerikanischen Zeitschrift Journal of economic ') Göldi, Die sanitariscli-pathologische Bedeutung der Insekten und verwandten Gliedertiere, Berlin 1913. Entomologie (Vol. 9, 1916, Referat in der Zeit- schrift f. angewandte Entomologie, 1918, S. 159). Dieser Forscher berichtet, daß die Larven durch Moskitos übertragen werden. Er erhielt ein Weib- chen einer Moskitoart (Psorophora Lutzii), an deren unterer Bauchseite die Eier von Dermatobia fest angekittet waren. Die entwickelten Larven sollen das Ei in dem Augenblick verlassen, wo die Stechfliege Blut saugt ; sie dringen dann, durch einen wunderbaren Instinkt geleitet, durch die Stichwunde in die Haut des Menschen ein, wo sie sich weiter entwickeln. Von Bedeutung sind dann noch einige andere Fliegenlarven, die als ständige Parasiten bei Mensch, Hund, Katze und anderen Tieren auftreten, be- sonders an den unteren Extremitäten und an der Bauchseite, so die „Ver de cayor" am Senegal (Cordylobia anthropophaga Grünb.), ferner die blutsaugende Natallarve (Auchmeromyia luteola Walk.) in Südafrika. Soweit die in Deutschland vorkommenden parasitischen Fliegenlarven an Verletzungen der äußeren Haut oder an den Schleimhäuten auf- treten, sind sie durch Sauberkeit und Reinhalten etwaiger Wunden leicht fern zu halten. Dagegen ist es viel schwerer, sich in jedem Falle vor der- artigen Larven im Verdauungstraktus zu schützen. Eine Infektion durch Aufnahme von Eiern oder jungen Larven, die sich in den warmen Sommer- monaten an Nahrungsmitteln z. B. geschabtem frischen Fleisch, Speck, Käse, Obst, Salat, saurer Milch, finden, ist leichter möglich. Diese „Myiasis intestinalis", wie sie auch genannt wird, scheint öfter vorzukommen als allgemein angenommen und bekannt wird. Die durch solche Larven hervorgerufenen Er- krankungen können recht schwerer Natur sein. Sie betreffen sowohl Magen als Darm. Plötzlich auftretende Übelkeiten, kolikartige, sehr heftige Magenschmerzen, Erbrechen und andauernder Brechreiz, Verstopfungen oder Diarrhöen, heftige Leibschmerzen, Schwäche, Mattigkeit, Appetit- losigkeit, Abgang von blutigen Fäkalien, Schwindel, Ohnmachtsanfälle usw. werden als Folge einer derartigen Infektion angegeben. Die Diagnose ist durch den Nachweis der Larven im Mageninhalt oder im Stuhlgang unschwer zu stellen. Nament- lich das schubweise Abgehen von Larven soll ein wichtiges klinisches Merkmal darstellen. Ob der Magensaft imstande ist, etwaige eingedrungene Larven abzutöten und ob aufgenommene Eier oder Larven im Magen regelmäßig oder nur in ver- einzelten Fällen sich festzusetzen vermögen, wird durch Versuche klargestellt werden. Von unseren heimischen Fliegenarten kommen für die Myasis intestinalis besonders die beiden Schmeißfliegen- arten Musca vomitoria und Sarcophaga carnaria sowie die Anthomyia canicularis in Betracht. Sind diese Larven im Magen oder Darm festgestellt, so können durch Anwendung von Brechmitteln und Klistieren die Schmarotzer erfolgreich be- kämpft und entfernt werden. 5o8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 3: Auf die Gefahren einer Infektion durch Fliegen- eier oder -larven mit der Aufnahme von Nah- rungsmitteln, die nicht sorgfältig vor der Berührung mit Fliegen geschützt werden, hinzuweisen und bei vorkommenden Erkrankungen der geschilderten Art derartige Larven als Krankheitserreger in Be- tracht der Möglichkeit zu ziehen, ist Zweck dieser Zeilen. Einzelberichte. Botanik. Zur Physiologie der Zellteilung. In seinen beiden letzten Arbeiten über diesen Gegenstand hatte G. Haberlandt Zellteilungen beschrieben, die in gewissen Pflanzenzellen nach Plasmolyse in Traubenzuckerlösung eintreten (vgl. Naturw. Wochenschr. 1919, S. 397 u. 755). Er war bei diesen Untersuchungen von dem Gedanken ausgegangen , neue Tatsachen zur Stütze seiner Annahme zu finden, daß für die Teilungen in der Zelle ein besonderer „Zellteilungsstoff" bestimmend sei (s. a. den Aufsatz von Friedl Weber über Hormone im Pflanzenreich, Naturw. Wochenschr. 1920, Nr. 16). Doch hatte er auch darauf hinge- wiesen , daß die teilungserregende Wirkung der Plasmolyse sowohl auf mechanischen wie auf chemischen Ursachen beruhen könne. Jene würden mit der Ablösung des Protoplasten von den Zellwänden-, die ein Zerreißen der Plasma- verbindungen usw. mit sich führen könnte, und mit seiner Volumabnahme infolge der Wasser- entziehung, daher mit einer Änderung seines mizel- laren Gefüges zusammenhängen; diese aber wären vor allem durch die beträchtliche Zunahme der Konzentration der im Zellsaft und im Zyto- plasma gelösten Stoffe bedingt, wobei die Über- schreitung der Reizschwelle für den hypothetischen Zellteilungsstoff in Frage käme. Haberlandts Bemühungen sind nun zunächst darauf gerichtet gewesen, durch ein geeignetes Versuchsverfahren die mechanischen Folgen der Plasmolyse von den chemischen zu trennen. Er folgerte so : Die durch die Ablösung und Kontraktion des Protoplastcn in ihm hervorgerufenen Störungen und Struktur- ähderungen, die sich als mechanische Ursachen der Zellteilungen annehmen lassen , müssen so eingreifend sein, daß sie nicht aufgehoben werden können, wenn man sogleich oder bald nach Ein- tritt der Plasmolyse diese .wieder rückgängig macht, indem man die Zellen in Wasser oder schwächer konzentrierte Traubenzuckerlösung bringt. Es müßten also auch nach so herbei- geführter Deplasmolyse noch Zellteilungen ein- treten, falls diese auf den mechanischen Folgen der Plasmolyse beruhten; sie würden aber nicht mehr eintreten, falls die chemischen Folgen der Plasmolyse für die Teilungen maßgebend sind, denn nach Wiederherstellung der ursprüng- lichen Konzentration des Zellsaftes können diese chemischen Einflüsse nicht mehr wirksam sein, und die Dauer der Einwirkung des konzentrier- tcren Zellsaftes wäre zu kurz, um die Teilungs- vorgänge herbeizuführen. Die in diesem Sinne angestellten Versuche, bei denen wieder Coleus Rehneltianus und Elodea densa verwendet wurden, zeigten nun, daß nach der zeitig herbeigeführten Deplasmolyse keine Zellteilungsvorgänge auf- traten , während sie in Kontrollobjekten , die länger in der plasmolytischen Lösung (0,4 — 0,8 n- Traubenzucker) verweilten, mehr oder weniger zahlreich zu beobachten waren. Haberlandt schließt deriigemäß, „daß der durch die Plasmo- lyse und Deplasmol\'se gesetzte mechanische Reiz nicht imstande ist, Zellteilungen auszulösen, daß vielmehr der durch die Konzentrationszunahme der. Zellsäfte bewirkte chemische Reiz, dessen Wirksamkeit mit der Dauer der Plasmolyse zu- nimmt, die Teilungen nach sich zieht". Bezüglich der Natur dieses chemischen Einflusses hält Verf. es für möglich, daß dadurch gewisse Hemmungs- stoffe beseitigt würden, die in Dauergewebszellen die Teilungen hintanhalten. Als wahrscheinlicher betrachtet er es aber, daß eine oder auch mehrere im Zellsaft oder im Zytoplasma gelöste Substanzen infolge ihrer Konzentrationszunahme direkt teilungs- auslösend wirkten, und hierbei läge es nahe, an den eingangs erwähnten „Zellteilungsstoff" zu denken. — Haberlandt hat auch einige Be- sonderheiten in dem Verhalten der plasmolysierten Protoplasten von Coleus beobachtet und abge- bildet, auf die hier nur hingewiesen werden kann. (Sitzungsberichte der Preuß. Akad. d. Wissensch. 1920, XI, S. 323 — 338.) F. IVIoewes. Lebensfähigkeit von Mikrgorganismen im Bernstein. Galippe (Comptes rendus hebd. des seances de l'academie des sciences Bd. 170, 1920) geht der Frage nach , ob Mikroorganismen , die normalerweise oder zufällig bei der Bildung des Bernsteinharzes eingeschlossen wurden, durch die Jahrhunderte hindurch ihre Lebensfähigkeit be- halten haben. An der Hand eines größeren Materials bekannter Herkunft prüft er diese F"rage. — Die von ihm angewandte Technik , um , wie er glaubt, einwandfreie Resultate zu erlangen, ist kurz folgende. Zunächst reinigte er die Bernstein- stücke sorgfältigst äußerlich mechanisch und dann durch Waschungen in sterilem Wasser. Dann werden die Stücke zwischen sterilem Filtrierpapier getrocknet und darauf mit sterilem, mit Äther übersättigtem Wasser 24 Stunden lang unter häufigem Schütteln behandelt. Dann wurden sie nochmals zwischen sterilem Filtrier papier getrocknet und schließlich in reinen Äther gebracht. Die Behandlungsdauer mit Äther war je nach der Art des Bernsteins verschieden. Manche Arten N. F. XrX. Nr. 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 509 widerstanden längere Zeit , andere erweichten und ließen sich mit sterilen Instrumenten zerkleinern. Im Äther blieben die Stücke mindestens 48 Stun- den, vielfach aber 4 bis 5 Tage. Hatten die Stücke diese Behandlung hinter sich, so wurden sie zwischen sterilem Filtrierpapier wiederum ge- trocknet und auf aseptischem Wege mechanisch geteilt, so fein als möglich. Die kleinsten Stücke verwandte Verf. zur Aussaat auf trockene und flüssige Nährböden, leider sagt er nicht, welche er hierzu benutzt hat. Ferner hat Galippe, trotz großer Schwierigkeiten, wie er sagt, die Teilstücke direkt auf Mikroorganismen untersucht, doch gibt er nicht an, welchen Weg er hierbei einschlug. Gesagt wird von ihm nur, daß er fast stets auf diese Art ovoide Bazillen und (sehr selten) stark gekrümmte Stäbchen fand. Ebenso, berichtet er, wuchsen in den auf obigem Wege hergestellten Aussaaten Bakterienkulturen heran, nach einer Brutdauer von 48 Stunden und länger im Brutofen. — Im großen und ganzen fielen seine Untersuchungen positiv aus, d. h. im Bernstein fanden sich nach ihm lebende IVlikro- organismen. Allerdings ist die entdeckte Bakterien- flora nicht reichhaltig, da Galippe immer nur ovoide Bazillen und Stäbchen fand. Alle Formen bewegten sich lebhaft und die ovoiden, nicht gefärbten Bazillen waren im polarisiertem Lichte doppelbrechend. Welche Farbstoffe er angewandt, wird in der Arbeit nicht erwähnt. — Zum Schluß folgt eine Aufzählung der untersuchten Bernsteinarten, von denen 16 Proben positive und nur 3 Proben negative Resultate ergaben. Verf. schließt mit dem Hinweise , daß also die Länge der Zeit ohne Einfluß auf die Lebensfähigkeit dieser Mikroorganismen gewesen sei. Wir geben in vorstehenden Zeilen den Inhalt der Arbeit objektiv wieder und enthalten uns jeder Kritik. Immerhin müßten bei der theoreti- schen Wichtigkeit der Frage Nachprüfungen unter Anwendung von Galippe s Technik und anderen Methoden vorgenommen werden , ehe man die Resultate als absolut sicher hinnimmt. Albrecht Hase, Berlin-Dahlem. Geologie. Dem Aufsatz Raeflers Boden- fremdheit der sächsischen - thüringischen Braun- kohlenlagerstätten (Braunkohle, XIX, ig20) ge- bührt , obgleich er sich zunächst nur auf das Mitteldeutsche Braunkohlenvorkommen bezieht, Beachtung, nicht nur deshalb, weil er sich im wesentlichen mit der Entstehung dieses unseres größten Braunkohlenlagers beschäftigt, sondern vor allen Dingen darum, weil die umfassendere Frage der Autochthonie und Allochthonie solcher Lagerstätten ausführlich behandelt wird. Wie scharf sich bis zum heutigen Tage die Ansichten in dieser Hinsicht gegenüberstehen, zeigt das Bei- spiel des Mitteldeutschen Reviers, dessen Lager- stätten von Etzold für autochthon, von Tille für allochthon gehalten werden. Und doch dürfen wir hoffen, daß in diesem Kampf der Meinungen, dessen Ruf: „Hie Autochthonie, hie Allochthonie!" schon mehr als zu lange erklingt, recht bald das letzte Wort gesprochen wird, ja durch diesen Aufsatz schon gesprochen ist. Möge sich endlich die Erkenntnis durchsetzen, daß die weitverbreitete Ansicht irrig ist, als ob man mit dem Ausdruck „autochthon" oder „allochthon" irgendeine wissen- schaftliche Seite des Kohlenproblems entscheiden könne. In den Gedanken über allochthone Braun- kohlenlagerstätten gefiel man sich wohl nur des- halb so gut, weil sie zunächst scheinbar die einzige Möglichkeit boten, die großen Flözmächtigkeiten zu erklären, wie sie vielfach vorkommen. Man konnte sich mit Recht nicht an den Gedanken gewöhnen, daß lOO m tiefe Seebecken in ähn- licher Weise wie unsere norddeutschen Seen ver- landen konnten, indem an die Stelle des Wassers eine tote Pflanzenmasse tritt, die sich in echte Humuskohlen verwandelt und dann die Lager- stätte bildet. Man fühlte, daß sich ein Vergleich solcher Flöze mit rezenten Torflagern verbietet. Ja, es ist im Grunde wohl nicht zu viel gesagt, wenn man alle die Gedanken über Allochthonie als Verlegenheitshypothesen bezeichnet. Man überlegte sich im Grunde wohl kaum, was für eine abenteuerliche Konstruktion ein solches allochthones Braunkohlenlager sei. Es müssen seltsame Sammelbecken gewesen sein, deren Zuflüsse grundsätzlich totes Pflanzenmaterial herbeibrachten, um es hunderte von Metern hoch aufzuhäufen, so daß eine Humuskohle von der Reinheit entstehen konnte, wie wir sie vielfach antreffen. Wo gibt es Flüsse, die nur organische Sedimente führen? Zu der Annahme, daß sich das Material in einzelnen Fällen mehrere hundert Meter hoch anhäufen mußte, zwingt uns aber oft die große Flözmächtigkeit und die Einsicht, daß die fertige Kohle gegenüber dem frischen Material eine bedeutende Verminderung des Rauminhalts zeigen muß (Setzungskoeffizient). Die auffallende Reinheit und das Fehlen anorganischer Beimen- gung muß uns aber bei fast allen Braunkohlen- flözen überraschen; fast immer fehlen die Über- gänge von Kohle zu Quarzsand und reinem Ton; das Liegende und Hangende schneiden scharf gegen die Kohle ab; ja, sind einmal hie und da Zwischenmittel vorhanden, so fallen sie durch ihre Reinheit auf. Im Lausitzer Revier liegt oft gerade blendend weißer Quarzsand unmittelbar unter der Kohle; jeder Besucher der berühmten Quarzsand- gruben am Koschenberg in der Niederlausitz muß überrascht sein, wenn er beobachtet, wie hier der reinweiße Quarzsand unmittelbar unter der Kohle lagert und in scharfer Linie gegen diese ab- schneidet. Noch abenteuerlicher wird der Ge- danke, daß die Zuflüsse eines großen Sammel- beckens als schwarze Kohlenflüsse, die Kohlen- massen aus zerstörten autochthonen Lagern her- beiführten (sekundäre Allochthonie). Die aben- teuerlichsten Gedanken über Allochthonie hat man 5IO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 32 zur Erklärung der Schwelkohlenbildung heran- gezogen. Man mutete den Zuflüssen sogar die Fähigkeit zu, eine Sortierung des Materials in harzreiche und weniger harzreiche Substanz be- wirken zu können. Gewiß — fast alle neueren Flözkarten müssen uns davon überzeugen, daß sowohl im Tertiär und Eiszeitalter gewaltige Flözzerstörungen stattgefunden haben, aber der Gedanke, daß sich diese Kohlenmassen in Senken, Bach- und Flußtälern' in völliger Reinheit wieder zusammengefunden haben sollen, ist mehr als un- wahrscheinlich. Raefler führt sogar den Nach- weis, daß selbst das Auftreten von Klar- und Rieselkohle in keiner Weise eine allochthone Ent- stehung der Lagerstätte beweise. Früher wurde vielfach behauptet, daß die unteren Lagen eines Braunkohlenflözes meist Knabbenkohle, die oberen dagegen Klarkohle enthalten. Raefler dagegen zeigt, daß das Auftreten von Klar- und Riesel- kohle in den oberen Flözpartien durch chemische Vorgänge bedingt wird, die dort möglich sind, wo die Decke aus Sand besteht und verhältnis- mäßig wenig mächtig ist. Sand ist wasser- und luftdurchlässig; auch Temperaturschwankungen, Frost und Hitze, können in diesem Falle auf die Kohle einwirken. Lagert dagegen die Kohle unter einer mächtigen tertiären Tondecke, so ist sie derartig geschützt, daß ihr ursprüngliches Gefüge, meist Knabbenkohle, erhalten bleibt. Mit allen diesen Betrachtungen soll natürlich nicht in Abrede gestellt werden, daß hier und da die der Erosion anheimgefallenen Kohlenmassen wenig ausgedehnte, geringmächtige und infolge inniger Durchmengung mit anorganischen Teilchen durchgehend stark verunreinigte Vorkominen meist unregelmäßiger Lagerung erzeugt haben, die meist nicht abbauwürdig sind. Den großen Flözmächtigkeiten der Braun- kohlenlager wird die Tatsache entgegengehalten, daß wir z. B. im Bourtanger Moor Moorstärken von 5 — 10 m Mächtigkeit haben, daß der be- kannte Moorforscher A. Weber Mächtigkeiten von 13 — 14 m angetroffen und daß man an ost- preußischen Mooren sogar solche von 20—25 ^n gemessen hat. Alle diese Moore sind aber ver- hältnismäßig jung, da sie postglaziales Alter be- sitzen ; ihre Torf bildung also erst nach dem Ver- schwinden des letzten diluvialen Inlandeises und erst nach der Steppenzeit begonnen hat. Dieser Hinweis auf das jugendliche Alter der Moore soll den Sinn haben, daß hier die Möglichkeit der Weiterentwicklung gegeben ist. Die an dieser Stelle in dem Aufsatz gemachte Bemerkung, daß der Vergleich eines rezenten Torfmoores mit den Braunkohlenmooren des Tertiärs im Grunde doch hinke, entspricht ganz und gar der neuesten Auf- fassung, nicht aber die Äußerung, daß die aus- giebige Erzeugungskraft der damaligen Flora eine umfangreiche Anhäufung organischer Massen mög- lich machte. Es kommt nach der neuesten Ein- sicht der Forschung ganz und gar nicht darauf an, ob eine gewaltige Produktion von Pflanzen- material stattfindet, sondern darauf ob Bedingungen vorhanden sind, die eine Erhaltung der festen toten Pflanzensubstanz gewährleisten. Ein Weiter- wachsen der Moore der Gegenwart ist also nur durch eine Senkung des Gebiets möglich. Es wird darauf hingewiesen, daß das Studium der rezenten Moore es wahrscheinlich gemacht hat, daß selbst heute noch Senkungen vorkommen. Ein Wiesenmoor auf festem Boden nimmt all- mählich den Charakter eines Zwischenmoors an und entwickelt sich zum Hochmoor. Es sind aber schon zahlreiche Torfmoore beobachtet wor- den, die niemals dem normalen Entwicklungsgang entsprechend in den Zustand des Zwischenmoors übergehen, sondern Wiesenmoor bleiben. Dieser Vorgang läßt sich nur durch jugendliche Boden- senkungen erklären. Der Aufsatz von Raefler steht dann vollkommen auf dem Boden der neueren Senkungstheorie, die den AUochthonisten gegen- über nicht scharf genug betont werden kann: „Die gewaltigen Flözmächtigkeiten sind eben nur dadurch zu erklären, daß der Boden, auf dem ein Braunkohlenmoor wuchs, dauernd sank!" An dieser Stelle sei es mir gestattet, daran zu erinnern, daß diese Senkungstheorie in ihrer krassesten Fassung zu- erst von Berginspektor Th. Teumer ausge- sprochen wurde (vgl. Naturw. Wochenschr. Nr. 18, Jahrg. 1920, S. 283 — 285). Man hat behauptet, daß das Auftreten von Schwefelkieshorizonten nicht auf Moorbildung schließen lasse. Demgegenüber stellt Raefler ausdrücklich fest, daß das Auftreten von Schwefel- kieslagen in den Torfmooren eine geradezu häufige und bezeichnende Eigenschaft sei. Weber hat Sumpftorflagen von 20—30 cm Dicke festgestellt, deren Hauptmasse aus Schwefeleisen bestand. Das Protoplasma der Pflanzenreste ist der Schwefel- lieferant, während entweder eisenhaltige Lösungen von außen eindringen, oder Eisenbakterien als Eisenlieferanten in Betracht kommen. Die gewaltigen Wurzelstümpfe von Taxodium distichum und Taxodioxylon sequoianum werden aber für immer den besten Beweis für die Boden- ständigkeit der meisten Braunkohlenflöze liefern. Man kann fast alle diese aufrechtstehenden Stubben mit vollem Recht als guterhalten bezeichnen; es wäre eine naive Forderung, eine Konservierung der Hölzer, samt Wurzel, Stamm, Zweigen und Ästen bis in die kleinsten Einzelheiten zu ver- langen. Eine zweite sehr bedeutsame Frage ist aber die: „Was folgt aus dem Fehlen solcher Stubben und Stubbenhorizonte? Raefler gibt hierauf die Antwort, daß es schließlich auch baum- lose Moore gegeben habe und daß vielleicht die Stubbenhorizonte des Senftenberger Reviers einen Ausnahmefall darstellen. Auf diese Frage gibt allerdings Th. Teumer eine ganz andere Ant- wort. Er sagt: „Gewiß ist das Auftreten eines fossilen Stubbenhorizontes eine Episode bei der Flözbildung. Die Episode bestand aber keines- N. F. XIX. Nr. 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 5" wegs darin, daß unter gewissen Bedingungen ein Waldmoor wuchs: nein, es wuchs stets ein Wald- moor. Nur unter gewissen Bedingungen blieb ein Stubbenhorizont erhalten. Er erklärt dies durch eine instantane Senkung. Diese Auffassung kann man den Allochthonisten gegenüber nicht nach- haltig genug betonen. Durch einen säkularen Senkungsprozeß kann das Flöz ständig durch ein Waldmoor erzeugt werden, ohne daß es irgend- welche Stubben in der Kohlenmasse zeigt; es ist stets genügend Zeit vorhanden, daß die Holzmasse bis zur Zerstörung der Form vertorft. Durch eine instantane Senkung kann der Wald plötzlich er- trinken und im Wasser unter Erhaltung der P^orm von Wurzelstümpfen und Stämmen vertorfen. Diese Auffassung dürfte den Allochthonisten mehr als unbequem sein. Wilhelm Nuß. Über Windschlifife an der Heidelberger Schloß- ruine gibt Ffäberle in den „IVIitt. und Arb. a. d. Geol. Institut d. Univ. Heidelberg N. F. Nr 49" seine Beobachtungen bekannt. Schon 1899 hat Futterer auf gleiche Erscheinungen an der Wand- fläche einer Schießscharte im dicken Turm des Heidelberger Schlosses hingewiesen. Häberle erkannte solche Windschlifife im obersten Geschoß des achteckigen Glockenturmes, der durch einen Blitzstrahl im Jahre 1764 eine Ruine wurde. Der Westwind fängt sich am Gläsernenbau und im Friedrichsbau, wird in die oberen Geschoße des Turmes gleichsam mit Sand und Schleifmaterial beladen hineingepreßt, um als Sandgebläse seine Tätigkeit an den verschieden widerstandsfähigen Quadern zu beginnen. Es sind glatte Flächen entstanden, herausgearbeitete Leisten entlang der horizontalen Schichtung, rundliche Partien, löcherig zerfressene Oberflächen. Auch am Mörtel sind abschleifende Wirkungen in schieferigen Abblätte- rungen anzunehmen. Die korrodierende Tätigkeit der Winde ist an diesem Teil des Heidelberger Schlosses seit 1764 nachzuweisen. Rudolf Hundt. Die Terrassen des Maintales bis zum Eintritt in die oberrheinische Tiefebene als Beitrag zur Ent- wicklungsgeschichte des fränkischen Flußnetzes behandelt L. Henkel in der Geologischen Rund- schau, Band lo (1920). Vom Roten Main liegt der höchste Mainkies westlich von Bayreuth an der Straße nach Ober-Preuschwitz 95 m über dem Fluß. Die nächsttiefere Terrasse liegt in 70 — 75 m, eine weitere in 40 m (die aber durch Erosion stark zerstört ist), während die in ungefähr 25 m über dem Fluß liegende Terrasse stellenweise fortlaufend erhalten ist. Die alten Kieslager enthalten die- selben Gesteinsreste wie der jetztige Rote-MainKies von der Mündung der Steinach in den Roten Main aufwärts. Von der Steinachmündung an sind in den Roten-Main- Kiesen Phyllite, Quarze aus dem Fichtelgebirge enthalten, die sowohl den alten als auch der 25 m-Terrasse fehlen. Daraus folgt, daß das Rote-Main-Tal alt ist, die Steinach früher aber nicht in den Roten Main floß. Nördlich von Schnabelwaid ist es nicht ausgeschlossen, daß der Rote Main durch zurückverlegte Erosion der Peg- nitz einen Teil ihres Gebietes entrissen hat. Am Weißen Main ist nur die 40- und die 25 m- Terrasse ausgebildet. Henkel sieht in der Steinach den dritten Quellfluß des Maines. Früher ging sie von Laineck nach Trebgast, wo sie in den Weißen Main floß. Dieses alte Tal weist unter dem Wiesenboden Steinachkies auf. In ihm ist auch die 25 m-Ter- rasse deutlich ausgeprägt. Henkel nimmt an, daß die Laufverlegung der Steinach vor sich ge- gangen ist, als der Weiße Main schon jetzt in seinem Niveau floß. Bei Laineck hat der Rote Main, der tiefer lag, durch seitliche Erosion und Gehänge- spülung den schmalen Riegel durchgenagt. Das geschah vielleicht schon im Diluvium. Henkel nimmt eine früher stärkere Wasser- führung an. Er führt dies nicht auf erhöhte Nieder- schläge zurück, sondern läßt diese Feststellung als Folge geringerer Verdunstung erscheinen. Die Mächtigkeiten der Ablagerungen eines Talbodens hält er für den Ausdruck des Höhenunterschiedes zwischen tiefster Auswühlung des Bettes und höchstem Wasserstand. Vom Zusammenfluß des Roten und Weißen Maines an kann man die 25 m-Terrasse (die jetzt „Terrasse A" genannt wird) und die 40 m-Terrasse (Terrasse B), mit ihren Ablagerungen mächtiger werdend, verfolgen. Dazu gesellt sich von diesem Zusammenfluß an eine 12 m-Terrasse, die der Verf. „Terrasse der Talaufschüttung" genannt hat, weil der Fluß sich nach der Ausfüllung des Tales oft sogar durch die Kiesdecke hindurch bis ins Anstehende einschnitt. Durch Abspülung kann es stellenweise vorkommen, daß Terrasse A unmerk- lich mit der Talaufschüttung zusammenläuft. An den größeren Nebenflüssen, so an der Rodach, der Itz sind die Terrassen des Hauptflusses ebenfalls vorhanden. Von der Rednitzmündung an bis Haßfurt sind die älteren Terrassenreste verschwunden. Terrasse A ist hin und wieder ausgebildet. Am Lindners- feld tritt zum letzten Male die Terrasse B auf. Bei Haßfurt stellt sich in 55 m Höhe eine neue Terrasse C ein. Die Talaufschüttung ist zwischen Bamberg und Schweinfurt stark eingeebnet. In der Schweinfurter Gegend zeigt sich reich- lich die Terrasse A. Nicht vorhanden sind Ter- rasse B und C. Zwischen Schweinfurt und Kitzin- gen bildet der Main mehrere große Schleifen. Vorhanden ist die Talaufschüttung, Terrasse A und Terrasse C. Zwischen Kitzingen bis Gemünden sind selten Terrassenstücke vorhanden oder wenn sie erhalten sind, dann wahrscheinlich von Löß überdeckt. Nachgewiesen sind in diesem Stück Maintal die Aufschüttungs-, die A- und C-Terrasse. Die gleichen Terrassen kennt auch das Flußstück zwischen Gemünden und Wertheim. Einmalberg, 512 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 32 Romberg bei Lohr und Achtelberg bei Hafen- lohr sind Umlaufberge. Von Wertheim bis zum Eintritt in die Tief- ebene treffen wir bei Wertheim den Umlaufberg Krainberg, bei Stadtporzelten den Krochberg an. Von Trennfeld an fehlen die älteren Terrassen. Die Terrasse der Talaufschüttung begleitet von Wertheim an den Fluß in 25 m Höhe. Von Wörth an tritt wieder eine 30 m-Terrasse auf, die Henkel seiner A-Terrasse gleichstellt. Die IVIos- bacher Sande an der IVIainmündung setzt der Verf. der Terrasse C gleich, die im mittleren Maintale auftrat. Die Entstehung der Felsterrassen führt Hen- k e 1 auf Hebung des ganzen Gebietes oder Sen- kung der Erosionsbasis zurück. Klimatische Ur- sachen sollen die Terrasse der Talaufschüttung erzeugt haben. Rudolf Hundt. Bücherbesprechungen. Boas, J. E. V., Lehrbuch der Zoologie. Achte, vermehrte und verbesserte Auflage. 735 Seiten. 8". 683 Textabbildungen. Jena 1920, G. Fischer. Geh. 36 M. Neben zwei anderen Lehrbüchern der Zoologie hat sich bekanntlich dasjenige von Boas seit 20 Jahren einen festen Platz an den deutschen Hochschulen errungen und ist soeben in achter Auflage erschienen, abgesehen von fremdsprach- lichen. Der bekannte dänische Zoologe und ver- gleichende Anatom, den es zum Verfasser hat, spricht aus, daß er Deutschlands Forschern vieles verdankt, und daß sein Freund Geheimrat Spengel in derselben Weise wie bei den frühe- ren Auflagen auch bei der jetzigen mitgewirkt hat. Im Verhältnis zum Hertwigschen und gar zum Clau s- Grob be n sehen Lehrbuch, wel- ches zugleich als ziemlich eingehendes Nachschlage- werk am seltensten versagt, beschränkt Boas' sich etwas mehr auf die wichtigsten Grundtatsachen unter Verzicht auf eingehende Systematik, was sich auch in einer gewissen Bevorzugung schema- tischer Abbildungen äußert und damit zusammen- hängt, daß das Buch in erster Linie Studierenden der Medizin, Veterinär- und Forstwissenschaft zuge- dacht ist, also denjenigen, die die Zoologie als Vorbildungsfach betrachten. In der Tat ist es für diesen Zweck außerordentlich zu empfehlen. Hinsichtlich des Stammbaums der Tiere verleugnet der Verfasser nicht seine eigenen, zum Teil vor einiger Zeit in dieser Zeitschrift zur Sprache ge- kommenen Ansichten, nach denen die Stammes- linien so verlaufen : Protoz. r-t- Cölent. Echinod. »-» Wurm. »-► Wirbelt. Spongien * Arthrop. mit den Tunikaten als Anhang zu den Wirbel- tieren. Ob sich die Fachgenossen mit diesem Stammbaum in allen Punkten befreunden, ist einerlei für denjenigen Studierenden, dem es auf derartige Spezialfragen nicht ankommt. Erweitert ist die Neuauflage um ein Kapitel über Erblich- keit, das sich mit der Behandlungsart dieses Stoffes vortrefflich in den übrigen Text einfügt, und um ein Kapitel über Physiologie. Letzterer Gegenstand, auf 31 Druckseiten, mußte natürlich sehr eklektisch behandelt werden: besprochen wird der Chemismus des Tierkörpers, die allge- meinen Lebensbedingungen, „Reize, Irritabilität" und die Statik und Mechanik des Tierkörpers. Der Abschnitt über die Statik ist bei aller Kürze sehr gut ausgefallen, man möchte ihm Erweiterung wünschen vielleicht auf Kosten der übrigen soeben genannten Teile : die interessanten statischen Ver- hältnisse des Skelettbaues und aller Teile des Skeletts, wo immer ein solches im Tierreich aus- gebildet ist. sollten den Studierenden genauer be- kannt gemacht werden als es bisher meist ge- schieht , wogegen zur Erfassung der chemischen und der Reizphysiologie das Studium eines phy- siologischen Lehrbuchs doch unentbehrlich bleiben dürfte. Soviel über die Neuauflage dieses Buches, das einer besonderen Empfehlung nicht mehr bedarf. V. Franz, Jena. Literatur. Fritz Müller, Werke, Briefe und Leben. Gesammelt und her.ausgegeben von Dr. A. Möller. 3. Band : Fritz Müllers Leben. Mit einem Titelbild, einer Karte und 6 Textabbildgn. Ebenda. 15 M. Müller, Fr., Konstitution und Individualität. Rektorats- Antrittsrede, gehalten im Wintersemester 191 9 an der Univer- sität München. München '20, J. Lindauer. 1,20 M. Semper, Prof. Dr. M., Wissenschaftliche und sittliche Ziele des künftigen Deutschtums. 12 Vorlesungen, gehalten im Sommerseraester 1919 an der techn. Hochschule in Aachen. München '20, I. 1''. Lehmann. illliall: N. Patsch ovsky, Zur Biologie und Physiologie der Schutzstoffe höherer Pflanzen. S. 497. E. Pritsche, Fliegenlarven als Parasiien des Menschen. S. 506. — Einzelberichte: G. Haberlandt, Zur Physiologie der Zell- teilung. S. 508. Galippe, Lebensfähigkeit von Mikroorganismen im Bernstein. S. 508. Raefler, Bodenfremdheit der sächsisch-thüringischen Braunkohlenlagerstättcn. 509. Häberle, Über Windschliffe an der Heidelberger Schloß- ruine. S. 511. L. Henkel, Die Terrassen des Maintales bis zum Eintritt in die oberrheinische Tiefebene als Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des fränkischen Fluflnetzes. S. 511. — Bticherbesprechungen: T. E. V. Boas, Lehrbuch der Zoologie. S. 512. — Literatur: Liste. S. 512. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ig. Band; ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 15. August 1920. Nummer 33. Die Bedeutung der mathematischen Statistik für die Natur- Geisteswissenschaften. und [Nachdruck verboten. Von Dr. P. Riebeseil, Hamburg. Mit 3 Abbildungen. Man hat sich seit langem darüber gestritten, ob die Statistik überhaupt eine Wissenschaft ist oder ob sie lediglich eine Methode darstellt, die sich auf die Naturwissenschaften, auf die So- zialwissenschaften und auf die Geisteswissenschaften anwenden läßt. Und auch über den Wert dieser Methode ist man sich nicht einig. So hört man das Wort: „Mit der Statistik kann man alles be- weisen." Ähnlich hat der englische Politiker Lord Beaconsfield einmal gesagt: „Es gibt eine Lüge, eine gemeine Lüge und die Statistik", während um- gekehrt derjenige Engländer, der sich namentlich um die Entwicklung der mathematischen Statistik verdient gemacht hat, Galton, in den statisti- schen Gesetzen das Walten einer Gottheit sehen wollte. Zweifellos ist wohl, daß die allgemeine Statistik lediglich eine Methode ist, und daß sie erst durch die Anwendung der Mathematik zu einer Wissenschaft geworden ist, insofern als die mathematische Statistik die statistischen Gesetze ohne Rücksicht auf ihre Anwendungen in den ver- schiedenen Wissenschaften einer Untersuchung unterzieht. Wenn wir zunächst nach einer Definition für die Statistik fragen, so sind wir einigermaßen in Verlegenheit, obgleich es mehr als hundert Definitionen gibt, ohne daß eine von ihnen das Richtige träfe. Am besten ist wohl diejenige, die die Statistik als die Lehre von den Kollektiv- gegenständen bezeichnet, wo unter einem Kollektiv- gegenstand die Gesamtheit von als gleichartig betrachteten Dingen zu verstehen ist, die nach einem oder mehreren bestimmten Merkmalen aus- gesucht sind. So bilden z. B. eine Anzahl von Menschen geordnet nach Alter oder Größe, eine Anzahl von Steinen geordnet nach dem Gewicht, eine Anzahl von Blüten geordnet nach der Zahl ihrer Blumenkronblätter einen Kollektivgegenstand. Fragen wir zweitens nach dem Zweck der Sta- tistik, so ist er am besten erkennbar aus den Ver- öffentlichungen, die jährlich von den statistischen Landesämtern herausgegeben werden. Wir finden darin z. B. die Bevölkerung geordnet nach Alter, Geschlecht und Beruf Die Hauptsache bei den Veröffentlichungen sind aber nicht die Zahlen selbst, sondern die Vergleiche mit den Vorjahren. Der Zweck der statistischen Angaben ist, quanti- tative Zahlenverhältnisse festzustellen und daraus zeitliche Änderungen abzuleiten und zu erklären. Wir haben also bei der Statistik eine ähnliche Aufgabe vor uns wie bei der Naturwissenschaft. Nur ist die Aufdeckung der Ursachenverhältnisse in der Statistik sehr schwierig. Habe ich z. B. festgestellt, daß die Zahl der Selbstmörder in einem Jahre zugenommen hat, so darf ich, ohne Fehl- schlüsse zu vermeiden, es nicht unterlassen, eine weitere Gliederung des Materials nach Alter, Ge- schlecht und Beruf zu unternehmen. In derselben Lage, in der sich heute die Statistik befindet, be- fanden sich in früheren Zeiten die Naturwissen- schaften. Noch heute sind einige Zweige, wie etwa die Meteorologie und die Biologie, in bezug auf die Aufstellung von quantitativen Gesetzen fast ausschließlich auf statistische Daten angewiesen. Man hat daher auch die Statistik vielfach als die Vorläuferin der Naturwissenschaft bezeichnet. Neuerdings hat sich aber dieses Verhältnis voll- kommen umgedreht. Heutzutage werden alle Naturgesetze als statistische Gesetze bezeichnet. Daß das richtig ist, geht ohne weiteres daraus hervor, daß die Materie aus Molekülen, diese aus Atomen, diese wieder aus negativen Elektronen und positiven Kernen besteht. Wenn ich also ein beliebiges mechanisches Gesetz aufstellen will, muß ich streng genommen die Zusammensetzung der Atome und die Bewegung der kleinsten Teile kennen. Da wir aber in dieser Erkenntnis noch nicht so weit vorgeschritten sind, kann es sich lediglich um die Beschreibung der Wirkung einer großen Zahl von Atomen handeln. Wenn somit die Statistik in früheren Zeiten lediglich histori- schen Wert hatte, insofern sie Vergangenes fest- legte, hat sie heutzutage die Aufgabe, auch Schlüsse in die Zukunft zu ermöglichen und Kausalitäts- verhältnisse klarzulegen. Inwiefern dies bei den statistischen Gesetzen, die doch immer nur im allgemeinen gelten und Ausnahmen zulassen, möglich ist, soll im folgenden gezeigt werden. Dasjenige, was an den statistischen Gesetzen von altersher aufgefallen ist, ist die Konstanz der sich ergebenden Zahlen. Die Zahl der Geburten in einer Stadt, die Zahl der Todes- fälle usw. schwankt um konstante Zahlen herum. Auf dieser Konstanz ist das ganze Wirtschaftsleben aufgebaut, man denke nur an die Versicherungs- wissenschaft, an den Staatshaushalt, an sämtliche soziale Einrichtungen des Staates, die von vorn- herein auf einen gewissen Umfang zugeschnitten sind. Wie steht es nun aber mit dieser Konstanz der Zahlen? Man weiß, daß es sich streng ge- nommen nicht um absolute Konstanz handelt. SH Naturwissenschaftliche Wochenschrift. k. F. XDC. Nr. 33 Man weiß, daß der Schwankungsbereich von dem Umfang des Kollektivgegenstandes abhängt. Bren- nen beispielsweise in einer Stadt von lOOO Häusern jährlich 50 ab, so darf ich nicht ohne weiteres schließen, daß von 100 Häusern 5 abbrennen und eins von 20. Sondern jeder weiß, daß es ganz auf die Auswahl dieser 20 ankommt und daß die Abweichung um so größer ausfallen kann, je kleiner die Zahl der betrachteten Gegenstände ist. Diese Erkenntnis faßte man zu dem mystischen „Gesetz der großen Zahlen" zusammen. In allen Lehrbüchern der Statistik prangt dieses Gesetz an der Spitze. Fast in keinem findet man aber eine Antwort auf die Frage: Wie groß müssen denn nun die Zahlen sein, damit Konstanz ver- bürgt wird? Oder: Wie groß sind die Abwei- chungen, die man erwarten muß, wenn der be- trachtete Kollektivgegenstand den und den Um- fang hat? Um diese Frage zu beantworten, soll zunächst das Gesetz der großen Zahlen in quanti- tativer Form kurz abgeleitet werden. Wir wollen ausgehen von den Glücksspielen, bei denen das Gesetz zuerst aufgestellt worden ist. Nehmen wir das einfache Spiel, mit einer Münze Kopf oder Wappen zu werfen. Die Wahr- scheinlichkeit, Kopf zu werfen ist , die, Wappen zu werfen ebenfalls — . Frage ich nach der Wahr- scheinlichkeit, in einer vorgeschriebenen Reihen- folge unter n - Würfen aj mal Kopf und a,, mal Wappen zu werfen, so ist das Ergebnis j ai ja, j n (,) -C^) =(3). Sehe ich aber von der Reihenfolge ab^ und ver- lange nur, daß a^ mal Kopf und a^ mal Wappen geworfen wird, so ist die Wahrscheinlichkeit ge- geben durch den Ausdruck: aj-a.,! ^2' Verallgemeinere ich dieses Ergebnis auf zwei Er- eignisse Ej und Ej mit den voneinander ver- schiedenen Wahrscheinlichkeiten Wj und w.^, so ergibt sich als Wahrscheinlichkeit dafür, daß bei einer n fachen Folge das eine aj mal und das andere a, mal vorkommt, ('^ ^^a.ra-"^'- •"="•• Bezeichne ich die Abweichung von den wahr- scheinlichsten Zahlen nw, bzw. nw^ mit x, so ergibt sich: (nwj-fx)! ■ (nwj — x)! ^ ^ Daraus ergibt sich: W14.1 nWjT— X w, Wx ~nw, +x4-l ' Wj und W,+i — W^ _ _ x-f w., W, Ist n eine große Zahl und x klein gegen n, so kann ich schreiben ; dW,^ _ _ X Wx • dx nw,w.," Integriere ich, so ergibt sich : (2) W^ = k • e =""■''''' , wo für k die Gleichung gilt: ■./- dx = l. Da nun (3) I e = dz = y 2 ?r ist, so ergibt sich k • } 25TnWiW2 = 1, d. h. 1 k = , wo u = VnWi w.,. Ii]2 7l ' ' ^ - Wird die Funktion der Gleichung (2) graphisch dargestellt, so ergibt sich der in der Abbildung i dargestellte Verlauf. Auf der Abszissenachse sind die Abweichungen von der Maximalzahl, auf der Ordinatenachse die Wahrscheinlichkeiten aufge- tragen. Die Kurve ist die bekannte Gaußsche Fehlerkurve, Glockenkurve, Zufallskurve oder nor- male Variationskurve. Bestimme ich die mittlere Abweichung, d. h. die Quadratwurzel aus der Summe der Quadrate der Abweichungen, so er- gibt sich der Wert /< der Gleichung (3). Sind die Wahrscheinlichkeiten in Prozenten p, und p,, gegeben, und soll auch die mittlere Abweichung in Prozenten angegeben werden, so ergibt sich (4) -fi (nw,-f x-}-l)w./ Mit Hilfe dieser Gleichung bin ich unmittelbar in den Stand gesetzt, die oben gestellten Fragen zu beantworten. Die mittlere Abweichung ist der Wurzel aus dem Umfang des Materials n umge- kehrt proportional. Für jedes n läßt sich der mittlere Fehler, der bei rein willkürlicher Auswahl sich ergibt, errechnen. Lasse ich die beiden Er- eignisse mit den Wahrscheinlichkeiten pj und p, n-mal aufeinanderfolgen, so ist das häufigste Er- eignis npi bzw. npg, wie die Figur zeigt in einer ganz bestimmten Anzahl von Malen zu erwarten, höhere Anzahlen von Ej kommen in ganz be- stimmter, durch die Figur angegebenen Weise vor, N. F". XIX. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. SIS ebenso niedrigere, die mittlere Abweichung gibt Gleichung (3) bzw. (4). Ist also beispielsweise aus einer Statistik, die an 400 Säuglingen angestellt worden ist, festge- stellt, daß die Säuglingssterblichkeit p, = 10 Pro- zent beträgt, so ist die Gegenwahrscheinlichkeit p., = 90 Prozent, und es ergibt sich der mittlere Fehler zu -i 10 • 90 400 30^ 20" 1.5- Würde dagegen der Umfang des Materials nur 100 betragen haben, so würde sich als mittlere Abweichung 3 ergeben haben usw. Hätte ich also bei dem ersten Material im nächsten Jahre eine Abweichung von 1,5 Prozent erhalten, so hätte ich daraus keinerlei Schlüsse auf die zu- nehmenden Krankheiten usw. ziehen dürfen. Unter denselben Bedingungen wie im Vorjahre wäre die Abweichung allein aus der rein willkürlichen Aus- wahl der 400 Säuglinge als wahrscheinlichste Ab- weichung erklärbar. Zu jedem statistischen Er- gebnis gehört daher immer die Angabe des Ma- terialumfangs und des mittleren Fehlers. Das soeben abgeleitete Gesetz, das das Ein- treffen zufälliger Ereignisse quantitativ regelt, bildet die Grundlage für die mathematische Sta- tistik und kehrt auch bei allen Anwendungen wieder. Dafür ein paar Beispiele: Zunächst das Maxwel Ische Geschwindigkeitsvertei- lungsgesetz. Nehme ich in der Volumen- einheit eines Gases die Moleküle am Anfang alle als mit gleicher Geschwindigkeit behaftet an, so werden nach kurzer Zeit durch die Zusammen- stöße Unterschiede in den Geschwindigkeiten auf- treten. Eine mittlere Geschwindigkeit wird am häufigsten, größere und kleinere seltener vor- kommen. Man wird von vornherein vermuten, daß das Verteilungsgesetz das Gaußsche sein wird. Daß das tatsächlich der Fall ist, geht aus folgender Betrachtung hervor. Es soll die Zahl N der Moleküle in ihrer Ab- hängigkeit von der Geschwindigkeit c bestimmt werden. Sind x, y und z die Geschwindigkeits- komponenten und machen wir die beiden Annah- men, daß jede Richtung gleich wahrscheinlich ist und die Komponenten voneinander unabhängig sind, so kann die Zahl N der Moleküle, deren Geschwindigkeiten zwischen den Grenzen x und x-j-dx, y und y -[- dy, z und z -(- dz liegen, an- gegeben werden durch N = f(x) • f(y) • f(z) . dx . dy • dz. Da die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Ge- schwindigkeit nicht von der Richtung sondern nur von der Größe abhängig sein soll, so muß N eine Funktion von c- = x'' -|- y' 4" ''•' sein. Das ist der Fall, wenn f(x) = a • e'^''' gesetzt wird, wo a und b Konstante sind. Dann wird N = a • e*"^'. Daß b negativ sein muß, folgt ohne weiteres daraus, daß für unendliches c die Zahl N unend- lich klein sein muß. Eine genaue Bestimmung der Konstanten aus den Größen, die den Zustand des Gases bestimmen, liefert: ivT n - '^' N = -y e a^, 7t^ ■ a'"' wo - = R.T (R ist die Gaskonstante, T die ab- 2 solute Temperatur, n die Losch midtsche Zahl). Dasselbe Verteilungsgesetz ergibt sich, wenn ich nach der Anzahl der Moleküle frage, die zu einer gewissen Zeit sich in einem Raumelement be- finden. Und noch auf eine andere Weise wird man zu diesem Gesetz geführt. Sind von den n Molekülen Uj mit der Geschwindigkeit Cj be- haftet, n^ mit der Geschwindigkeit c, usw., so kann eine und dieselbe Geschwindigkeitsverteilung auf verschiedene Weisen verwirklicht werden, je nachdem sich die einen oder die anderen Moleküle in dem Zustand Cj bzw. c^ usw. befinden. Die Wahrscheinlichkeit, daß gerade diese Verteilung eintritt, ist daher gegeben durch die Zahl, welche angibt, wievielmal sich n Elemente so in Gruppen verteilen lassen, daß nj zur ersten Gruppe, n^ zur zweiten usw. gehören. Diese Zahl ist aber: (5) nil-n^l--- • Führt man in diesen Ausdruck für die Fakultäten nach derStirlingschen Nährungsformel Exponen- tialgrößen ein, so läßt sich der wahrscheinlichste Zustand ermitteln. Andererseits wird man, wenn die Wahrscheinlichkeit der Verteilung mit W be- zeichnet wird, zu der Beziehung geführt (6) S=k.lgW+A, wo S die Entropie bedeutet und k und A Kon- stante sind, die durch die Gasgrößen zu bestimmen " sind. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ist in dieser Darstellung lediglich eine Verallge- meinerung des Gauß-Maxwellschen Problems, und die Vermehrung der Entropie sagt weiter nichts, als daß das Gas in einen Zustand von wahrscheinlicherer Verteilung übergeht. Noch an einem anderen Beispiel soll das Fehler- gesetz gewissermaßen greifbar dargestellt werden. Das Galtonsche Brett ist in der Abb. 2 dar- \ L Si6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 33 gestellt. Der Sand gleitet, wenn das Brett schräg aufgestellt ist, aus dem Trichter an den Hinder- nissen vorbei und sammelt sich unten in den Fächern. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ein Sandkorn in der mten Hindernisreihe den nfachen Hindernisabstand von der Nulllage erhält, ist ge- geben durch die Gleichung (7) W„=| (?-")M' + n Die weitere Entwicklung dieser Gleichung fuhrt, wie (i) zeigt unmittelbar zum Gau fischen Fehler- gesetz, falls das Brett als unbegrenzt angenommen wird. An dem Galtonschen Brett läßt sich auch sehr leicht die Wirkung der Diffusion erklären. Ordne ich auf einem begrenzten Brett auf der rechten oberen Hälfte zahlreiche Trichter an, aus denen schwarzer Sand herabgleitet, während auf der anderen Seite weiße Sandkörner aus der Trichter- reihe herauskommen, so wird der Diüfusionsvor- gang verständlich. Ebenso läßt sich die Bro wü- sche Bewegung an dem begrenzten Brett erläutern. Messe ich in gewissen Zeiteinheiten die Wege, die ein Teilchen unter dem IVIikroskop zurücklegt, so muß die Verteilung der verschiedenen Längen sich nach der Gleichung (7) richten. Diese Er- gebnisse sind experimentell bestätigt worden. Endlich spielt in der Biologie die Gauß- sche Fehlerkurve als normale Variationskurve eine große Rolle. Die normalen Kollektivgegenstände zeigen in ihrer Variation eine Verteilung, die der Gau fischen Kurve entspricht. Treten schiefe Verteilungen auf, so läßt sich aus der Form der Kurve ein Schluß auf den Mechanismus, der diese hervorgebracht hat, machen. So wird z. B. die Kurve der Abb. 3 durch Hindernisse erzeugt, deren \L DÜÜÜÖ Abb. 3. Basislänge proportional der Entfernung des Hinder- nisses von einer bestimmten Linie ist. Ähnliche Verhältnisse kommen in der Natur sehr häufig vor, da die Ursachen die Hemmung und Förderung bewirken, keine gleich großen Wirkungen hervor- bringen, sondern die Wirkungen häufig z. K. um- gekehrt proportional der schon vorhandenen Ab- weichung sein werden. ') Während das Gau fische Zufallsgesetz in allen diesen Fällen Ergebnisse erzielt, die mit der Er- fahrung übereinstimmen, schien die klassische Statistik auf dem Gebiet der Strahlungstheorie zu versagen. Hier handelte es sich um die Be- stimmung der Funktion, die die Abhängigkeit des Emissionsvermögens des schwarzen Körpers von der Schwingungszahl v und der Temperatur T darstellt. Wir haben die Gleichung K..=f(»',T) Durch das Stefan-Boltzmann sehe Gesetz war bereits bekannt, daß die Gesamtstrahlung der 4. Potenz der Temperatur proportional ist, d. h. V 0 K, dj' = a.T*. Ferner hatte Wien durch sein Verschiebungs- gesetz bereits die unbekannte Funktion f soweit ermittelt, daß gesetzt werden mußte Kr : ,F(4-)- Zur näheren Bestimmung der Funktion F muß zunächst festgestellt werden, wie bei dem schwarzen Körper im Gleichgewichtszustand sich die Energie- dichte der gesamten Strahlung auf die verschie- denen Schwingungszahlen verteilt. Als Modell kann ein System von linearen elektromagnetischen Oszillatoren gewählt werden. Wir verteilen nun die vorhandene Energie nach dem Zufallsgesetz auf die verschiedenen Oszillatoren und bestimmen die mittlere Energie eines Oszillators. Von den n vorhandenen Oszillatoren möge n^ eine Energie zukommen, die zwischen o und t liegt, n., eine Energie zwischen e und 2 e usw. Dann ist die Zahl, die angibt, wie oft die erwünschte Zustands- verteilung durch immer andere Oszillatorgruppie- rungen erhalten werden kann: W=~^-^. Wir haben damit dieselbe Gleichung erhalten wie in (s). Mit ihrer Hilfe läßt sich die Entropie des Systems, wie früher angegeben, bestimmen, und aus dem Maximum derselben ergibt sich die wahr- scheinlichste Verteilung und damit eine Gleichung für die Energie. Ging man nun aber auf dem eingeschlagenen Wege weiter wie früher, so ergab sich ein Strahlungsgesetz, das nicht mit der Erfahrung übereinstimmte. Erst Planck löste den Widerspruch, indem er eine besondere An- nahme über die Elementargebiete e machte. Die Energie der Oszillatoren mit der Eigenschwingungs- zahl )' sollte nach ihm keine stetig veränderliche Größe sein, sondern ein ganzzahliges Vielfaches des „Energieelements" £ == h • »>. Werden dann diese Energieelemente nach dem ') Vgl. P. R i e b e s e 1 1 , Die mathematischen Grundlagen der Variations- und Vererbungslehre. Leipzig 1916. N. F. XIX. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 517 Zufall auf die einzelnen Oszillatoren verteilt, so ergab sich die Plancksche Strahlungsformel: hys 1 0 K,'- 1 wo h eine universelle Konstante und k = (R ist die Gaskonstante, N die Avogadrosche Zahl). Die Konstante h, das Planck sehe Wirkungs- quantum, hat dabei die Bedeutung einer univer- sellen Konstanten. Sie hat vorläufig lediglich statistischen Charakter, wird aber wohl in Zukunft dazu führen, die Anschauung von der Welt als einer kontinuierlichen Mannigfaltigkeit zu verlassen und zu einer diskontinuierlichen Auffassung über- zugehen, da sie mit dem Wesen der Quanten zu- sammenhängen muß. Haben wir bisher eine Menge von Beispielen kennen gelernt, in denen sich die Naturgesetze als statistische Gesetze darstellen, so handelt es sich jetzt um die Beantwortung der Frage: Wie steht es mit den Kausalitätsverhältnissen, wie mit den Ausnahmen, die alle statistischen Gesetze zulassen? Kann nicht z. B. auch einmal Wärme von einem kälteren auf einen wärmeren Körper übergehen ? An sich ist das nämlich durchaus möglich. Es können sehr wohl die schnelleren Moleküle des kalten Körpers auf die langsamen des warmen treffen. Wenn wir aber nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit für ein solches Er- eignis fragen, so müssen wir uns folgendes klar machen. Wenn ich mit einem Würfel hundert Würfe mache, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß ich eine bestimmte Reihenfolge erhalte Habe ich in einem Sack 25 Buchstaben und soll ich durch zufälliges Herausziehen eine ganz be- stimmte Wortfolge von 100 Buchstaben erhalten, so ist die Wahrscheinlichkeit > I 25100- Das sind schon derartig kleine Zahlen, daß sie in der Praxis vernachlässigt werden. Und nun gar bei der Zahl der Moleküle in einem Kubikzenti- meter, die nach der Loschmidtschen Zahl etwa 28 Trillionen beträgt. Sobald ich es also mit realen Körpern zu tun habe, wird die Ab- weichung in der Praxis so gering, daß sie zu vernachlässigen ist. Damit ist natürlich für die Theorie noch gar nichts gesagt, und es fragt sich, besteht das Kausalitätsgesetz weiter oder sind auch hier Abweichungen möglich? Um diese Frage zu beantworten, gehen wir wieder am besten von den Glücksspielen aus und vergleichen sie mit den Naturereignissen. Die Wahrscheinlichkeit, mit n Würfen einer Münze k mal Kopf zu werfen, ist Am häufigsten wird offenbar die Zahl für k auf- '^ 2 treten, und eine lOOprozentige Abweichung, d. h. lauter Wappenwürfe, wird die Wahrscheinlichkeit haben Sie wird also mit der Zahl n außerordentlich rasch abnehmen. Ebenso ist es mit der Verteilung der Moleküle eines Gases auf die verschiedenen Raum- elemente. Im allgemeinen wird die Durchschnitts- zahl vorkommen, große Abweichungen sind, wenn das Element nur groß genug genommen ist, be- liebig, selten. Nehme ich aber die Zahl der Teil- chen und der Raumelemente kleiner, so kommen auch Abweichungen vor, wie sich bei der Brown - sehen Bewegung experimentell beweisen läßt. Wir knüpfen hier an Bemerkungen an, die kürz- lich Frank') gemacht hat. Es scheint nämlich zunächst aus diesen Betrachtungen zu folgen, daß der Zustand eines Systems den zukünftigen Zu- stand nicht eindeutig bestimmt, sondern daß Ab- weichungen möglich sind. Natürlich gilt das Kausalgesetz streng, sobald ich die Lage und die Bewegung jedes einzelnen Moleküls kenne. Durch die experimentell feststellbaren Größen aber, z. B. Druck und Temperatur, ist dieses noch nicht der Fall, und ich kann daher auch die Zukunft nicht mit Sicherheit voraussagen. Allerdings scheiden, wenn ich mehrere aufeinanderfolgende Zustände betrachte, von den molekularen Zuständen, die einem bestimmten durch empirische Größen gege- benen Zustand entsprechen, verschiedene aus, so- daß ich, wenn ich nur lange genug die empirischen Zustände betrachte, auch aus ihnen Schlüsse auf die Zukunft machen kann. Genau das gleiche gilt, wie Frank gezeigt hat, in der Geschichts- wissenschaft. Auch hier handelt es sich um statistische Gesetze, da uns die Gesetze der Physio- logie und Psychologie für den Einzelmenschen natürlich noch viel weniger bekannt sind als die Gesetze, die für die einzelnen Atome gelten. Wir können also auch in der Geschichte nur Gesetze erwarten, die den Abweichungen des Gesetzes der großen Zahlen unterliegen. Auch bei ihnen ist aber das Kausalitätsgesetz nicht ausgeschaltet, es gilt vielmehr auch hier für die molekularen Zu- stände, ohne damit für die beobachtbaren Zustände irgendwelche sicheren Schlüsse zu verbürgen. Wir sehen somit, daß die mathematische Sta- tistik mit ihrem Grundgesetz des Zufalls bedeu- tende Erfolge auf allen Wissensgebieten erzielt hat und vor allem neue Einblicke in die Methoden der verschiedenen Wissenschaften liefert. ') Vgl. Die Naturwissenschaften, 1919, Heft 39 u. 40. 5i{ Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 33 Die Färbung der Laubblätter und ihre Änderung im Laufe des Sommers. [Nachdruck verboten.] Von Otto Meißner, Potsdam. Mit 3 Abbildungen im Text. I . Einleitung. Wilhelm Ostwald hat ') eine neue Farben- lehre aufgestellt, die es ermöglicht, jede (nicht „spiegelnde", also sozusagen stumpfe) Körperfarbe durch 3 zweiziiTrige Kennzahlen eindeutig und also zahlenmäßig festzulegen. Dabei bedeutet die I. Zahl die Nummer im F"arbenkreis: oo = reingelb, 25= reinrot, 50 = Ergänzungsfarben zu 00, schwachrötliches blau, 75 = Ergänzungsfarbe zu 25, schwachbläuliches grün. Die 2. Zahl be- deutet den „Weißgehalt", die 3. den „Schwarz- gehalt", beides in Prozenten. Z. B. bedeutet 28. 10. 75. ein dunkles Rot mit ein „Stich ins Bläu- liche", mit 10 *•/(, Weiß und 75 "/(, Schwarzgehalt. Ist die 2. Kennzahl annähernd O, so heißt die Farbe „dunkelklar", ist es die 3., so heißt sie „hellklar". 100^ Summe der 2. und 3. Kennzahl gibt die Reinheit der Farbe an (im gewählten Beispiel also 100 — 10 — 75 = 15 "/g). Man bestimmt den Farbton mittels „Lam- bert sehen Spiegels", Weiß- und Schwarzgehalt, die zusammen den „Graugehalt" geben, mittels Lichtfilter und einer Grauskala.-) 2. Die Färbung der grünen Blätter und ihre zeitliche Änderung. Nach diesen Grundsätzen habe ich im Früh- ling und Sommer 1919 die Blattfärbung einer Anzahl um Potsdam besonders häufiger Pflanzen, hauptsächlich von Bäumen, untersucht. Die Er- gebnisse sind in den Tabellen 1—6 enthalten. An ihrem Kopfe steht die jedesmalige „mittlere Epoche", deren mittlerer Fehler etwa ± 2 Tage beträgt, da die Beobachtungen nicht immer an demselben Tage ausgeführt werden konnten. Pflanzenexemplare mit erheblich vom Durchschnitt abweichender Laubfärbung wurden nicht zur Untersuchung verwandt, die Blattfärbung tunlichst bald nach dem Abpflücken, meist bei dem günstigere Bedingungen gewährenden Gaslicht, gemacht. (Im Sommer brannte das Gas gut.) In den Tabellen bedeutet: A die Anzahl der untersuchten Blätter, c die Nummer im Farbkreis, w, s und r den Weißgehalt, Schwarzgehalt und die Reinheit in Prozenten (w -j- s + r = 100); mit ± sind den Resultaten ihre mittleren Fehler beigefügt. Tab. 7 gibt eine Zusammenfassung der Er- gebnisse; I — 6 sind die in Potsdam vorherrschen- den Laubbaumarten. Wie aus der Kleinheit des mittleren Fehler hervorgeht, verhalten sie sich alle ziemlich ähnlich, und daher ist auch ihre Zusam- menfassung gerechtfertigt. Die Nrn. der Pflanzen- arten sind in den Tabellen i — 7 überall dieselben. Die beistehende Figur zeigt, in wie gesetzmäßiger Weise sich Färbung und Weiß- und Schwarzge- halt ändern, was zugleich auch ein Beweis für die Zuverlässigkeit der zum erstenmal in dieser Weise ausgeführten Beobachtungen ist. Stellt man die Änderungen der 4 Färbungselemente durch eine quadratische Funktion ') dar a = a« + ai (t — to) -f a, (t — t,,)-, mit t|| = Ende Juni als mittlere Epoche, die Ein- heit von t als '/.j Monat genommen, so ergeben sich die in Tabelle 8 aufgeführten Koeffizienten. Zusammenfassung. P'ür die 6 Baumarten Eiche (Ouercus pedun- culata und ressiliflora), Buche (Fagus silvatica), Linde (Tilia sp.), Rüster (Ulmus), Pappel 14 i PI \ 9? V c»1 » CO lor °ia \ RP ^ V • RR S k, R7 <. ■^ — * I.V. i.vi. i.vn. i.vm. i.DC. Abb. I. 13 1? f "" n in 9 w 8 s 7 '1 6 \ s t "v ^. 1. V. 1. Vi. l.\ m. IV m. ii> 90r 80- 70 60 i / s Abb. 2. I.V. I.VI. I.vn. I.vm. i.ix. Abb. 3. ') Zur ersten Einführung ist am besten seine „Karben- fibel", Verlag Unesma, Leipzig. 2. Aufl. 191 7. Dann seine Karbenlehre I. II. im selben Verlag. ') Näheres hierüber außer bei O. selbst in folgen4 6 0,3 6,0 ± 0,8 6,7 1,0 7 I Birke S j Eberesche 9 Flieder 10 Spiräe 5 88 7 88 5 88 5 89 ,S±o,3[ ,4 0,4 ,2 0,2 |0 0,4 6,4 ± 0,9 8,1 0,9 5,6 1,0 5.4 0,5 84.9 ± 85.3 85.4 85.5 89,8 83,6 7± 1,8 o 2,1 8 1,5 7 3,8 7 0,5 1,1 11,4 1,2 84,0 ± 84.7 85.6 84.2 2,1' 9 0,9' 7 0,6 8, 1,1 10, 6 ±2,3 2 1,3 ,8 1,2 ,4 1.2 II Amerik. Eiche 5 88,8 ± 0,3 7,4 + 0,8 84,0 ± 1,7 8,6 ± 1,9 12 Weißbuche 4 89,0 0,4 8,0 1.5 179,5 4.4 12,5 4.7 13 Bergahorn 5 188,8 0,6 6,4 0,6 184,4 3.2 9.2 3.3 14 Erle 10 88,3 o,3i5.3 0,3 87,6 0,7 7.1 0,8 'S Hängeweide 6 88,7 0,4, 5,0 0,6 ,79,5 0,5 15.5 0,7 16 Roßkastanie 4 87.7 0,3 4,2 0,5 90,8 1.1 5.0 ',2 17 Pavia 7 88,4 o,3: 4,4 0,6 86,9 1.7 8,7 1,8 18 Akazie 8 89,5 0,31 3,8 0,3 85,0 1,5 11,2 1,6 19 Holunder 3 88,3 0,31 5.3 0,9 91,0 0,6 3,7 1,1 22 Echter Wein 9 88,8 0,4. 6,7 0,8 85,0 1,7 8,3 1,9 23 Wilder Wein 6 89,0 0,4 7,0 0,7 184,8 2,3 8,2 2,4 26 Brennessel 5 89,0 0,3 5.6 0,3 (87,4 1,1 7.0 1,2 29 Platane 7 89,1 0,31 5.9 0,6 |8o,7 1.9 13,4 2,0 108 520 Naturwissenschaftliche W ochenschrift. N. F. XIX. Nr. 33 später bildenden, vor allem die des sog. „Johannis- triebs", unberücksichtigt gelassen. Ich habe je- doch auch von diesen Blättern eine große Zahl untersucht, und die Beziehung zwischen Farbton einerseits, Weiß- und Schwarzgehalt andererseits festgestellt. Die Ergebnisse finden sich in der Doppeltabelle 9 — 10, in der A die Anzahl der untersuchten Blätter ist, w, s und c die früher erklärte Bedeutung haben, während K den Kor- relationsfaktor bezeichnet, der im Falle streng- linearer Abhängigkeit eines Paares von Gliedern zweier Größenreihen ~ ± i ist und = O wird, falls gar keine Abhängigkeit besteht. Tabelle 5. 14. Juli 1919. Pflanzenart A ' Eiche Buche Linde I Rüster Pappel Ahorn ,88,1 ± 0,2 88,3 0,3 87,0 0,2 88.7 0,4' 87.8 0,3, :88,4 o,4i ±0,4' 0,6 0,4 0,7 0,6 0.3 i,3dz2.i 85,0 6.2 J; 2,2 8.1 1.3 3.3 i.o 9.2 2,7 7,1 1.5 8,6 0,8 7 ! Birke 6, »7,8 ±0,3 6,8^0,4^84,8^1,2! 8,4 + 1,2 8 1 Eberesche 6 |88,o 0,1 5,5 o,si89,o 0,9; 5,5 1,1 9 ! Flieder 6 '87,8 0,8 5,8 o,4'S7,6 1,8 6,6 1,9 10 1 Spiräe 6 ,88,2 0,31 5,7 0,6,86,8 1,0 7,5 1,3 Amerikan. Eiche Weifibucbe Bergahorn Erle Weide Roflkastanie Pavie Akazie Holunder Echter Wein Wilder Wein Brennessel Platane 88,5 ± 0.3 89,0 0,3 88,7 86,8 87,2 87.7 86,8 88,2 87,7 88,4 88,5 87,8 89.5 8,2 7,5 5.5 6,6 10,7 4.8 4.8 4.3 8.5 6,4 6,8 S.° 5.9 ±i,"85 0,3 85, 0,7:88 1,088 2,i|79, o,6|9i, o,5;90, 0.S87, 0,884, 0,586, 0,884, 0,3 189, 0.7I83, .o± 1,4 ,2 1,1 .7 6,8 + 1,8 7,3 1,2 1,6 ^,8 1,8 1,0 5,4 1.4 2.3 9.9 3.1 o,b 4.2 0,9 0,9 5.2 1,0 i.i 8,4 1,2 1,2 7.0 1,4 I.I 7.4 1,2 1.4 9.0 1.6 1.5 5,6 1.5 1.2 10,7 1.4 Tabelle 6. 28. August 1919. Pflanzenart A Eiche Buche Linde Rüster Pappel Ahorn 12 87.8 + 0,2 7 88,1 0,3 6 87,5 0,2 6 87,0 0,2 ■; 86,8 0,2 0 87.3 0.3 w s 4,9 ■± 0,2 90,S + 0,6 4.3 6,1 0,3 88,1 0,7 5.8 4.3 o,S 90,3 0,8 5,4 5,0 0,4 86,7 0,8 8,3 4,8 0,4 89,2 0,9 6,0 4.Si 0,4 86,7 06 8,5 ±0.7 0,8 0,9 0,9 1,0 0,7 7 Birke 4 87,5 ± 0,2 7,8 ± 1,9 |S5,8 ± 2,2 6,4 ± 2,8 8 1 Eberesche 6 |S7,3 0,3 4,7 0,5 189,8 1,0 5,5 1,1 9 Flieder 4 88,0 0,4 5,0 0,4 88,0 0,7 7,0 0,8 10 I Spiräe 6 |S8,o 0,4 4,5 0,6184,7 1,210,8 1,3 Amerik. Eiche 5 88,2 f 0,2 6,4 4 0,9 88,4 ± 0,8; 5,2 ± 1,2 Weiflbuche 5 87,2 0.5 5,0 o.s 86,6 1,3 8,4 1,4 Bergahora 6 88,3 0,3 ■;,2 0,6 88,5 i.4| 6,3 1.5 Erle 4 86,7 0.3 5,2 o,s 89,5 1.3 5.3 1.4 Hängeweidc 6 87,5 0,2 6,3 o,"; 82,8 1,1 10,9 1,2 Roßkastanie 6 87.2 0,3 3,8 0,2 91,0 1.0 5,2 1,0 Pavie 4 87,0 0,4 ^.0 0,4 90,8 0,5 4,2 0,7 Akazie ^ 87,8 0.4 4,0 0.3 87,6 0,8, 8,4 0,9 Echter Wein 6 87.5 0,2 S.2 0,5 84,8 1,1! 10,0 1,2 Wilder Wein 4 :88,5 0.3 5,5 1,2 84.8 2,81 9.7 3,1 Brennessel 6 87,7 0,4 4,7 0,4 91.7 i.ol 3,6 i.i Platane 2 89.5 0.5 7.0 1.0 83,0 1,0 10,0 1,4 /( (E) bedeutet den mittleren Fehler eines Einzel- wertes. Daß, wie aus den Spalten 5 und Sa her- vorgeht, die Korrelation enger ist, wenn man nur Blätter eines bestimmten Individuums untersucht, ist begreiflich. Auch Nr. 31 bezieht sich auf den Stockausschlag eines Einzelexemplars. Farbton und Schwarzgehalt stehen aber stets in enger Korrelation. Die Korrelation zwischen Farbton und Weiß- gehalt ist viel schwächer ausgeprägt. Das liegt zum Teil, aber wohl doch nicht ausschließlich, an der Geringfügigkeit des Weißgehalts überhaupt und der dadurch erschwerten Bestimmung. Von Nr. 13 ab wird die Korrelation rechnerisch sogar negativ, was hieße, daß der Weißgehalt zunähme, Tabelle 7. Nr,^ 1—6 14. Mai 1919 29. Mai 1919 1 1. Juni 1919 30. Juni 1919 14. Juli 1919 28. August 1919 Nr. 7 — 10 :94,2 ^ 0,4 12,8 J; l,i;6o,o -|- 2,6!27,2 ^ 2,9 91,9 0,31 7,6 0,875,7 I,8|i6,7 2,0 o„o „ .1 o„ "-80,6 " -'■" ■ "- ),8 0,1 ,6 S8,o 87,4 8,0 5,8 0,2 6,2 0,2 ^,o i7 0,41 12,4 0,7 o,9{ 8,4 0,8 86,9 0,8 6,9 0,9 ;,6 0,7 6,4 0,7 1 14. Mai 1919 2 29. Mai 1919 3 1 1. Juni 1919 4 30. Juni 1919 5 14. Juli 1919 9,3 ± o,8| 8,5 ± 0,7 77,5 ± 2,6 14,0 ± 2,7 >,2 189,2 88,6 !8S.o 6 28. August 1919 i87,7 0.4 5.3 0,4! 7.5 0,2! 6,4 o, r 6,0 0,2 5-5 0,1 83,6 l,l|S3.4 o,6;84,6 0,387,0 0,9187,1 3,0,11. 1,1 9,1 0,21 9,0 1.1 7,0 1,1 7,4 11-13 '5-18 21-23 11-13 15-18 21-23 11-1315-1821-23 91.5 90,3 91,4 89,9 88,2 89,4 88,9 88,6 88,9 88,7 87,6 88,5 87,9 87.4 88,0 7,6 6,5 7,3 7.1 5.5 7.5 5,6 4,6 6,0 4,8 9,0 7,7 6,9 6,6 5.4 79,9 78,0 80,6 81,4 86,4 82,1 82,6 85,5 84,9 86,3 86,9 85,2 87,8 88,0 84,8 Tabelle 8. 90,0 ^ 0,2 — :,oo ± 0,25 -f 0,086 ± 0,072 7.6 0,7 — 0,67 0,3=; + 0,068 0,104 79,6 1,8 -f 3,99 0.81 — 0,45 0,27 12,8 0,9 — 2,98 0,42 + 0,31 0,12 [ c 88,7 ± 0,1 — 0,15 ± 0,05 — 0,002 ±0,015 7— lol w 6,5 0,6 — 0,29 0,21; s 83,9 0,8 + I.2S 0,37 — 0,119 0,107 1 r 9,6 0,9 — 1,30 0,40 + 0,113 0,119 j c : 89,4 ± 0,2 — 0,71 ± 0,13 + 0,068 ± 0,036 11-13I w ; 6,8 0,2 ; — 0,31 0,18 s 83, b 0,3 -f 1,70 0,21 — 0,153 o,ob3 r 1 9,6 0.7 - 0,95 0,49 + 0,033 0,140 15-18-; 88,4 ±0,4 — o, 5.7 0,4 1 — o, ■ 85,0 0,5 + 2, 9.3 0.9 — 1, ,61 ± 0,29 0,2s 0,34 0,63 I + 0,010 ± 0,084 I + 0,08 0,08 — 0,36 0,10 + 0,28 0,18 ( ' 89,2 ± 0,2 — 0,75 ±0,14 — o,l4± 0,04 7,1 0,1 — 0,74 0.06 -f 0,09 0,02 ■' "1 ; 83,5 0,4 + 1,16 0,29 — 0,22 0,08 9,4 0,4 — 0,42 0,27 -t-0,14 0,08 N. F. XIX. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 521 Tabelle 9—10. Korrelation zwischen P"arbton und Schwarzgehalt ^ gn + Si (c— Cq) und Weißgehalt = Wn + W, (C— C„) Nr. j Pflanzenart A j — loooK So - ■'. C(, S(c = 88) -|- 1000 K 1 -0 1 w, I lEiche 40 733 : '0-^ 77.5 ± 1,3 2,oSj_o,42 91,8 85,4 + 219± 154 8,2 ± 0,6 '+0,28 ± 0,21 2 'Buche 30 954 55.67.2 1,1 6,72 0,41 92,0 94,1 + 608 145! 9.6 0,7 -f-1,08 0.26 3 Linde 51 741 94 72,5 1,34,13 0,48 91.9 88,7 + 784 87; 8,5 0,5 +0,94 0,18 4 1 Rüster 33 780 109 71,0 1,9 4,62 0,7s 92,1 90,0 + 504 150 9.4 0,7 '-)-o,90 0,27 ■; (Pappel 30 I831 101 79,2 1,214,11 0,50 50,7 90,3 + 658 137 7,9 0,6 -j-1,00 0,21 5a Pappel (i Baum' 2"; 977 44 82,0 0,4 2,88 0,04 90,4 88,9 + ■83 163 5.1 04 l-(-o, 10 0,1 1 i^bSilberpappel 2S S83 94,72,3 1,1 3,35 0,40 92,6 87,7 + 419 181 7.6 0,6 i+0,41 0,18 6 lAhorn 3S 810 100 76,1 1,1'3,02 0,37 91,4 86,4 + 381 156 6,1 0,4 '+0,29 0,12 7 ;Birke 32 805 98i77.o 1,0 2,64 0,34 90,8 84.4 4-573 145 8,7 0,6 +0,74 0,19 S 1 Eberesche 30 906 7871,7 1,24,40 0,39 90,6 83,1 + 761 118 9.3 0.5 +0,99 o,i(j 9 Flieder 32 817 102 81,5 0,9 2,84 0,37 90,4 88,3 + 170 176 6,5 0,5 1+0,21 0,22 10 Spiräe 32 728 121 7s,2 1,03,43 0,65 90.5 83,8 + 305 168 6,9 o>5 i+0.36 0,20 II Amerik. Eiche 20 6}o 102 77,1 3,03.33 0,79 92,1 87,5 + 252 216 7,2 0,6 +0,37 0,24 12 Weißbuche 35 871 82:73,2 1,0:3,05 0,30 91.9 8=;.2 + 415 154 7.3 0.5 ,+0.38 0.14 13 Bergahorn 23 738 14078,8 1,72,42 0,61 91.5 87.3 — 139 206 6,8 0,6 14 Erle 23 754 134,80,2 1,0 2,28 0.39 90.3 Ss.5 + 121 207 S,i 0,1 +0,05 0,01 22 .Echter Wein 31 788 iio'7i,7 1.4,3.91 0,56 92,4 89,0 — 288 174 6,7 5.7! ■ 23 Iwilder Wein 21 735 148 84,7 1,0 2,62 0,51 90,6 91.5 — 211 214! 5,0 0,4 1 24 Mahonie 28 753 125 78,0 i,2!2,53 0,44 91,7 87.4 - 89 182; 5,2 0,2 ; 26 Brennessel 28 623 157 86,3 1.91,35 0,32 89,5 88,3 — 214 184 6,2 0,3 1 • 30 Berberitze 25 853 104 76,3 0,82,62 0,20 92,0 86,8 — 74 195 5.3 0,3 31 Weichselk. 32 920 68 79,3 0.7 2,38 o,2>; 02,2 89,3 -1- 174 160 5,4 0.2 0,08 0.08 0,67 ±0,19! Mitlei -ii-0,34 ' f 1-12 Mittel (!'] •< m |8o2± '±87 - 3,2i±o,43 — ±i.'o - , 87.5 — ± 2,6 + 435 ± + 200 154, — - \ Mittel (2) ." (E) '823± ±83 — |3,6o±o,45i -I±i.i8 ! 87,4 ± 2,9 | + 250± 0,37 — ±0,41 — wenn das Blatt „grüner" (d. h. c kleiner, vom gelb nach blau hin) würde, aber die mittleren Fehler zeigen, daß das Resultat ein bloßes for- males Rechnungsergebnis ist. Deshalb ist auch der Faktor w ; des linearen Gliedes für diese Fälle nicht berechnet. Die Spalte 5 (c = 88) bedeutet den (errechne- ten!) Schwarzgehalt für den (endgültigen) Farb- ton 88. Zusammenfassung. Bezeichnet man die Abnahme des Farbtons hier als „Vergrünen" (vgl. oben), so kann man sagen, unter Beschränkung auf die Baumarten i bis 12: „Bei zunehmender „Vergrünung" um i c nimmt der Schwarzgehalt um 3 '/o "/„ zu, der Weißgehalt um % "/d ab. Die Korrelation zwischen Farbton und Schwarzgehalt ist doppelt so stark als die zwischen Farbton und Weißgehalt ( — 0,82 ±0,08 gegen +0,43^0,15). Ausgefärbte Blätter der verschiedensten Baumarten (c = 88) haben ziem- lich den gleichen Schwarzgehalt von ?>7'^IJ%, während sie im Jugendzustand weit mehr ab- weichen, worauf die zwischen 2 und 6 schwankende Größe des linearen F"aktors Sj in Tab. 9 hinweist." Die Ergebnisse stimmen, obwohl anderes Material und andere Gesichtspunkte verwendet wurden, sehr gut zu denen des vorigen Ab- schnitts. Man kann noch versuchen, die Abhängigkeit zwischen c und s durch eine quadratische Funktion darzustellen. Das habe ich für i (Eiche), 2 (Buche) und 11 (amerikan. Eiche) getan: mit 4U. Gl. s(|) = 75,8 + 0,10 (c — 92)2 — 1,94 (c — 92) Tabelle = 77,5 —2,08(0 — 92) mit .[u. Gl. 5(2) = 65,6 + 0,26(0 — 92)^ — 5, 10 (c — 92) Tabelle = 67,3 —6,72^0 — 92) mit qu. Gl. s(,,) =^ 78,1 ± 2,0 — (0,08 + 0,20) (c — 92)' — (2,6s ± 0,73) (c — 92) Tabelle = 77,1 ± 2,0 — (3,33 ± 0,79) (c — 92). Das quadratische Glied ist also immer klein, und seine Mitnahme modifiziert die Ergebnisse nur unwesentlich. 4. Die Färbung der roten Blätter. Von Anthokyan rotgefärbte Jungblätter habe ich gleichfalls untersucht; die Ergebnisse finden sich in Tab. Ii. Tabelle ii. Junge rote Blätter Frühling/Sommer. Nr. Pflanzenart A c '"1 w 1 s r I Eiche 19 16,2 ± 1,5 10,3 ± 1.8 77,6 ± 2,0 12,1 + 2,8 3 Linde 12 'I,9± 1,1 11,3+ 1,468,9 + 2,4 19,8 + 3,1 4 Rüster 10 19.3 ± I-l 6.7 + 0,7170,7 + 2,8 22,6 + 2,9 5 Pappel 7 12,9 + 2,0 7,6 ± o,6|83,9 ± 2,6i 8,5 + 2,6 6 Ahorn 6 12,0 ± 1,7 14,0 + 2,6163,8 + 3,8|22,2 ± 4,7 10 Spiräe 1 20 12 78 10 12 Weißbuche 15 16,1 + 0,7 5,7 + o,4 8i,i; + 1,6 12,8+ 1,6 IS Bergahorn 6 15,7 ± 1,7 9,7 + 2,2178,3+ 1,9 12,0 + 3,0 18 Akazie 3 6-7 ± 1,7 7,3+ J.2 81,0 ±3,8 11,7 ±4,0 23 Wilder Wein 7 12,0 ± 1,3 9-4 it i.8|'0,4 + 0,8:10,2 + 2,0 24 Mahonie 4 18,0 + 0,9 7,2 ± I,l|82,2 + 3,0 10,6 + 3,2 30 Berberitze Mittel (außer lo, I 20 7 90 4 30) 14.1 ±3.7 8,9 + 0,876.8 + 2,3 14,3 + 2,3 Die Reinheit ist also viel k 1 ei n e r als bei den jungen grünen Blättern; auch der Farb- ton ist veränderlicher, wie der mittlere Fehler von fast 4 c beweist. Auch hier ist in einigen Fällen, 522 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 33 in denen Material genug vorhanden war und die Ergebnisse, die infolge der Spiegelwirkung gra(Je der roten Blätter unsicherer sind als bei den grünen, hinreichendes Vertrauen verdienen, ein Zusammenhang zwischen Farbton und Schwarz- gehalt zu konstatieren, aber im entgegenge.- setzten Sinne wie bei den grünen Blättern beide ändern sich hier gleichsinnig! 1. Eiche K= 0,638 ±0,181 s = 77.6 ± 2,0 + (1,22 ± 0,32) (c — 16,2) 2. Linde K = 0,720 ± 0,200 s = 68,9 ±2,4-}- (1,63 ±o,i5)(c— 11,9) 4. Rüster K = 0,223 ± 0,317, also fraglich; end- lich 12. Weißbuche: K = ol Beim Übergang vom rot zum grün hat das Blatt keine einheitliche Färbung mehr; die „mittlere Färbung" zu bestimmen, würde Mittel (etwa einen Kreisel) erfordert haben, über die ich nicht verfüge, und die auch nur mehr theoretischen Wert hätten. 5. Die Färbung der gelben Blätter. Bei längerer Trockenheit lassen viele Bäume auch im Sommer eine Anzahl Blätter vergilben und abfallen; besonders zeichnet sich hierdurch die Birke aus. Über die Färbung dieser Blätter unterrichtet die letzte Tab. (12) ^) dieser Arbeit. Dabei sind sachgemäß „ins grünlich spielende" Farbtöne, 97, 98, 99 u. ä. durch ihre Komple- mente zu 100 ersetzt. Im Mittel ist der Farb- ton fast genau das reine Gelb, das aber mehr als die Hälfte Grau (von 2g'l^^ % Weißgehalt) enthält ') Der mittlere Fehler bezieht sich auf den Mittelwert, nicht den Einzelwert. und infolgedessen, wegen der Menge und der relativen Helligkeit des beigemischten Graus, einen „blassen" Eindruck macht. Die verfärbten Blätter der Mahonie, die alle Töne von gelb bis rotbraun durchlaufen, können relativ gut in 2 Gruppen geteilt werden (wie der mittlere Fehler zeigt), deren eine als mittleren Farbton orange („erstes Kress" nach Ostwald) hat, während die andere reines Rot, 25 c, hat. Da der Weißgehalt nicht groß ist, machen die Farben den bekannten „satten" Eindruck annähernd „dunkelklarer" Farben. Tabelle 12. Gelbe Blätter Mittsommer 1919. Nr. Pflanzenart A c 1 w [ s ■ 1 . I Eiche 9 2.6 ± 1,9 ;30.6 dz 5.0 43,3 ± 4.8'26,i + 6,9 2 I »5 14 50 36 3 Linde 23 0,7 0,3 |i6,9 1.3145.6 2,6'37,t 78 4 Rüster 20 r,S .0,7:15.4 2,6 44,8 . 5,4 39,8 5,9 i Pappel 14 I|2 0,6 |i6,7 1.94I.O 4.8 42,2 N.S 7 Birke 26 3.1 0,6 15,0 1.439,3 2,845,7 3.1 y Flieder 3 — 1.7 0.3,15.3 2,4'35,o 2,8 49.7 3,8 10 Spiräe 5 — 0,4 0,3 12,2 3.3!44,o 3.o'43.8 4,^ 12 Weiöbuche 12 1,0 0,6 19,3 2.6 38,3 3,942,4 4,7 13 Bergahorn 1 1 0.3 0,5,15.8 2,1 41.7 2,742,5 3.4 13 Weide 2S 1.2 0.3 19.0 1.3 36,0 3,2 45,0 3-4 ib Kastanie 20 1,6 0,8 15,6 '.340,9 3,1 43,5 3.3 17 Pavie 12 2,2 0,4 i 9,5 0,9 38,8 4.051,7 4.1 ii> Akazie 19 2,6 0,6 7,2 0,6 42,7 4.5 50,1 4.5 Liguster ^ — 0,4 0,4 19,2 1,8 28,6 6,0 52,2 6,2 22 Echter Wein s 0,0 0,5 22,4 2,9 41,8 4.535,8 5,4 •■'3 \\ ilder Wein 2J — 0.5 0,2 25,0 '•6J30,5 3,6-44,5 4,0 24 Mahonie 10 ii>7 1,8: 8,2 i.2|56.7 5.5 35,0 5.6 24a M 23 25.5 1,0 7,7 0,855,1 3,1 37,2 3.2 2b Brennessel 5 0,2 0,5 29,6 2,0 50,0 3,9 I9,S 4.4 32 Lonicera « 0,2 0,4 28,5 2,7 44.3 6,0 27,2 6,6 Mittel 3— 23; ; 0.8 ± o,3!i6,3± i,ii39,3± '.7 44,4 ±.1.2 Einzelberichte. Kristallphysik. Die Methoden, die zur expe- rimentellen Erforschung ^er ICristallstruktur in den Jahren seit Laues Tintdeckung (Naturw. Wochenschr. 1914, S. 70 ff.) entwickelt worden sind, können durch die Namen v. Laue, Bragg und Debye-Scherrer bezeichnet werden (Naturw. Wochenschr. 1917S. 52iff. und 1918 S. 611 ff.). Neuerdings haben -diese Verfahren sich in verschiedener Hinsicht vervollkommnen lassen, wie die 3 folgenden Berichte zeigen sollen. I. Erweiterte Laue-Methode. Im Zentral- blatt für Mineralogie usw. 1920 S. 52—64 berichtet R. Groß über eine Anpassung des Laue-Ver- fahrens für den Gebrauch bei kristallographisch nicht orientierbaren oder unmeßbar kleinen Einzel- kristallen, (p-ür die Debye-Scherrer- Methode ist bekanntlich das Vorhandensein möglichst vieler, in allen möglichen Lagen zum einfallenden Rönt- genstrahl orientierter Kristallindividuen erforder- lich, für die Bragg sehe Methode ist die vorherige genaue Feststellung der kristallographischen Orien- tierung eines entsprechend großen Einzelkristalls notwendig. Die gleiche Bedingung galt bisher auch für die Laue-Methode.) Erforderlich war hierzu ein möglichst genaues und wenig zeitraubendes Verfahren zur Ausmes- sung der erhaltenen Laue-Photogramme. Hierzu wurde ein besonderes Instrument (das Zyklo- meter, Abbildung a. a. O.) konstruiert, das die Lage der Beugungsflecken rasch durch Messung ihres Abstandes vom Mittelpunkt des Primärflecks und eines gegen eine beliebige Nullrichtung ge- messenen Drehungswinkels gestattet. Es ist, wie an Abbildungen gezeigt wird, möglich, auch von z. B. nur 0,004 cm dickem Wolframdraht oder von einem nur 0,003 g schweren Diamantkriställ- chen Laue-Photogramme zu erhalten. Sie sind, der zufälligen Primärstrahlorientierung entsprechend, aber im allgemeinen asymmetrisch. Nun werden Aufnahmeserien gemacht, deren einzelne Glieder sich durch bekannte Veränderung der Richtung des einfallenden Primärsfrahles unterscheiden, und wobei von Aufnahme zu Aufnahme die erhaltenen Fleckenfelder sich möglichst lückenlos überdecken. N. F. XIX. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 523 Dadurch erhält man einen Überblick über die Symmetrieverhältnisse des Kristalls, wie ihn sonst die Laue-Methode nur bei bestimmter Orientie- rung des Präparats durch eine einzige Aufnahme ergeben kann. Die Methode hat sich nach den Angaben des Verf. als anwendbar erwiesen „auf kristallographi- sche Seltenheiten (Tridymit, Hämoglobin, Melni- kowit usw.), ferner für kristallographisch mangel- haft aufgeklärte Bildungen (natürliche und künst- liche [auch metallische] Kristallhaare und drahte) sowie zur Untersuchung solcher Substanzen, die Kanten und Flächen als Bezugsrichtungen nicht ausbilden, wie z. B. das Eis". 2. Photographisches Spektralverfahren unter Drehung des Kristalls. Einen da- hingehenden Vorschlag hat E. Schiebold ge- macht, wie F.Rinne mitteilt (Einführung in die kristallographische Formenlehre und elementare Anleitung zu kristallogr.- optischen sowie röntgeno- graphischen Untersuchungen. Leipzig 1919 S. 198-200). Bei dem eigentlichen Braggschen Spektralverfahren wird bekanntlich der „Reflexions- winkel" eines Röntgenstrahles und dessen Inten- sität mit Hilfe einer Ionisationskammer gemessen. An Stelle dieser um die Drehungsachse des Kristalls drehbaren Meßvorrichtung wurde bereits von Broglie, Rutherford und vor allem von Seemann eine ebenso drehbare photographische Platte zu gleichem Zwecke verwendet. E. Schie- bolds Vorschlag geht nun dahin, an Stelle von an einer bestimmten Schar von Gitterebenen des Kristalls, „reflektierten" Strahlen, die durch den Kristall hindurchgegangenen Strahlen zu benutzen. Es wird zunächst bei ruhendem Kristall und ruhender photographischer Platte ein durch ge- wöhnliches „weißes" Röntgenlicht erzeugtes Laue- Diagramm hergestellt. Dann wird der Kristall gedreht, wobei sich in passenden Stellungen re- flektierte homogene Röntgenstrahlen als besondere Linien auf der feststehenden Platte markieren. Die so gewonnenen Aufnahmen lassen sich zu- nächst wie die Laue-Diagramme überhaupt zur Feststellung der kristallographischen Lage der reflektierenden Gitterebenen benutzen, danach kann man für die betreffenden Ebenenscharen aus den Abständen der durch die homogene Strah- lung hervorgerufenen Linien die Gitterabstände in der Braggschen Weise auffinden. Damit ' läßt sich dann nach Berücksichtigung der Reflex- intensitäten die Auswertung der betreffenden Kristallstruktur vornehmen. Natürlich braucht man hierbei, wie weiter oben erwähnt wurde, bestimmt orientierte meßbare Kristallpräparate. 3. Eine n eue Anordnung fürröntgen- kristallographische Untersuchungen von Kristallpulver hat schließlich im Anschluß an die Debye ScherrerMethode vor kurzem Helge Bohlin bekannt gemacht. (Annalen der Physik 1920 S. 421 — 439). Bei der Debye-Scherrer- Methode ist die Breite der auf dem zylindrischen Film (vgl. Naturw. Wochenschr. 19 17 S. 529 Abb. 13 a u. 13 b) hervorgerufenen Interferenz- streifen abhängig von der Dicke das Stäbchens aus gepreßtem feinen Kristallpulver, das in der Mitte der Zylinderachse angebracht wird. Sie beträgt ungefähr 1 — 2 mm und bringt natürlich eine gewisse Ungenauigkeit der Messung mit sich, besonders bei kleinen Winkeln. Bei linienreichen .aufnahmen kann dadurch die notwendige mathe- matische Auswertung beträchtlich erschwert wer- den. Außerdem müssen bei der Debye-Scherrer- Methode dann, wenn die Strahlung nur bis zu einer bestimmten Tiefe in das zerstreuende Kristall- pulver eindringt, gewisse Korrektionen vorgenom- men werden. Die neue Methode soll diese Mängel beseitigen. Sie erreicht dies in der Tat, indem das Kristall- pulver durch hydraulischen Druck in ein kr eis- bogen förmiges Stäbchen von dem gleichen Krümmungsradius gepreßt wird wie ihn der Auf- nahmefilm hat. Die beigegebene Abb. erläutert das Verfahren. Durch den Spalt S trifft ein diver- gentes monochromatisches Bündel von Röntgen- strahlen auf das zerstreuende Kristallpulver K. Einer von den möglichen reflektierten Strahlen S D A wird dann z. B. unter dem Winkel 2 if aus der Einfallsrichtung abgelenkt, wenn die ihn er- zeugenden Scharen von Gitterebenen den Ab- stand d haben. Da nun alle Strahlen des Bündels an den gleichen Gitterebenen auch um den glei- chen Winkel 2(p abgelenkt werden müssen (weil nach Bragg n /. = 2 d ■ sin y), so ergibt die ein- fache geometrische Überlegung, daß alle reflek- tierten Strahlen wegen der zylindrischen Krüm- mungsfläche des Kristallpulvers sich in dem glei- chen Punkte A vereinigen müssen. Dort ist also ein scharfes Bild von S zu erwarten. In glei- cher Weise schneiden sich alle unter einem be- stimmten anderen Winkel reflektierten Strahlen in einem Punkte, etwa in B. Durch die An- wendung der gekrümmten Reflexionsfläche wird demnach eine fokusierende Wirkung, d. h. ein Sammeln der Strahlen nach einen Punkt hin, bewirkt. Es zeigt sich nun, daß alle entstehenden Inter- 524 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 33 ferenzlinien aus diesem Grunde eine geometrisch definierte scharfe Kante haben müssen, deren Lage nicht von der Breite und von den sonsti- gen Dimensionen des gepreßten Kristallpulver- „Spiegels" abhängig ist. Auch eine größere Spaltbreite verändert die Lage der einen scharfen Kante nicht, ebensowenig wie die Eindringungs- tiefe der Strahlung in die Kristallmasse. Es wurden mit dieser neuen Versuchsanord- nung, die zweifellos die große Brauchbarkeit der Debye-Scherrer-Methode noch weiter erhöhen wird, bereits einige neue Kristallstrukturen aus- gewertet. Für Th und für Ni ergab sich das schon für AI, Cu, Ag, Sn, Au und Pb ermittelte flächenzentrierte VVürfelgitter (vgl. Naturw. VVochen- schr. 1917 S. 521 ff.). Die Kantenlängen der Ele- mentarwürfel sind aus der folgenden Zusammen- stellung zu ersehen: AI = 4,07 • 10"** cm Sn (grau) ^ 6,46 • lo^^ cm Ni(o) = 3-53 .. Au =4.07 .. Cu = 3,61 „ Pb = 4,91 „ Ag =4,06 „ Th =5,12 „ Für Magnesium ist nach B o h 1 i n s Untersuchungen ein Aufbau nach zwei einfachen ineinander ge- stellten hexagonalen Gittern wahrscheinlich. Die geschilderte Methode wurde übrigens un- abhängig von H. B o h 1 i n auch durch H. See- mann vorgeschlagen (vgl. Ann. d. Physik 59, (1919) S. 455—464). Spbg. Herrscht Zufall oder Gesetz beim Festwachsen der Kristalle auf ihrer Unterlage? Im Zentral- bTatt für Minerarogie usw. 1920, S. 65 — 70 ver- sucht G. Kalb durch eine statistische Zusammen- stellung der in Betracht kommenden Verhältnisse bei Epidot, Skolezit, Glimmer, Turmalin, Topas, Kieselzinkerz, Eisenglanz, Cölestin, ferner bei Weinsäure und Traubenzucker gesetzmäßige Zu- sammenhänge zwischen Tracht und Art der Auf- wachsung der genannten Kristalle aufzufinden. Verf. glaubt zunächst aus den angeführten Tat- sachen den Schluß ziehen zu dürfen : „Der Kristall hat das Bestreben sich mit einer vorherrschenden rationalen Richtung senkrecht zur Unterlage zu stellen." Da wegen der Schwierigkeit, die Rich- tung der Unterlage ausreichend festzulegen, an natürlichen Vorkommen entsprechende Messungen fehlen, verspricht sich Verf. eine Klärung dieser Frage durch Kristallisationsversuche auf künst- lichen, ebenen Flächen. Der Satz, daß die meisten Kristalle am Rande einer ausgezeichneten Spalt- fläche, d. h. einer P"läche großer Netzdichte der Struktur, aufgewachsen seien, stützt sich bei dem vorliegenden Material vor allem auf die Beobach- tungen am Glimmer und am Cölestin, wird aber durch das Verhalten von Topas nicht bestätigt. Es scheint vielmehr, daß für die gestellte F"rage die Verhältnisse, die die Wachstumsgeschwindig- keiten bedingen, von allgemeinerer Bedeutung sind als die Spaltflächen. Es würde sich dann der Satz ableiten, „daß Kristalle auf ihrer Unterlage meist mit solchen Stellen ihrer Oberfläche aufwachsen, die be- sonders große Oberflächenspannung (bezogen auf die Grenzfläche Kristall-Lösung) be- sitzen". Dieser Beziehung würde auch das Ver- halten gewisser Zwillingskristalle nicht wider- sprechen. Zum Schluß stellt Verf. über die ge- setzmäßige Aufwachsung der Kristalle die Be- hauptung auf: „Jeder ungestört auf- wachsende Kristall nimmt zu seiner Unterlage eine Gleichgewichtslage an, die durch seine Oberflächene nergie be- stimmt ist." Spbg. Geologie. Die Zinnobervorkommen in der südlichen Toskana beschreiben H. Troegel und F. Ahlfeld in einer ausführlichen Arbeit in der Zeitschr. f. prakt. Geologie, XXVIII, 1920, S. 21 bis 28 und 37 — 46, deren Inhalt als Ergänzung des Referates über die Quecksilbergewinnung Europas ^) nicht ohne Interesse sein wird. Nach einem Abschnitt über die wichtigste Literatur behandeln die Verf. die Lage der Zinno- bervorkommen, die Entwicklung des Bergbaues und die Metallproduktion. Das zinnoberführende Gebiet liegt westlich der Bahn Florenz— Rom, etwa in der Mitte zwischen beiden Städten. Es reicht vom Monte Amiata (1734 m) bis zur Küste und bildet ein Rechteck von etwa 90 km Länge und 25 km Breite. Die Mehrzahl der Vorkommen liegt auf einer N — S- Linie vom Osthang der Monte Amiata bis zu den sich südlich anschließenden Höhen beiderseits des Fioraflusses, nur das Vorkommen von Pereta tritt erheblich aus dieser Zone nach Westen zu heraus. Von den zahlreichen Fundpunkten sind jedoch nur wenig abbauwürdig und von keinem kann man heute nachweisen, daß die Ausbeute auf eine lange Reihe von Jahrzehnten vorhalten wird. Der Bergbau scheint auf die ältesten Zeiten zurück- zugehen und auch im Mittelalter zeitweise be- trieben worden sein. Den jetzigen Aufschwung verdankt der Bergbau im wesentlichen dem Unter- nehmungsgeist eines eingewanderten hessischen Geologen namens Schwarzenberg, der seit 1875 eine Anzahl Gruben in Betrieb nahm, und auf dessen Anregung auch die Schürfarbeiten am Monte Amiata bei Abbadia San Salvatore aufge- nommen wurden. Deren Ergebnisse führten 1898 zur Gründung der Amiata- Aktiengesellschaft unter vorwiegender Beteihgung deutschen Kapitals. Dieses Werk , hat sich in der Folgezeit derartig günstig entwickelt, daß es nicht nur eine weitaus überragende Stellung in dem toskanischen Gebiet einnimmt, sondern auch zurzeit nächst Almaden und neben Idria das bedeutendste Quecksilber- werk der Welt ist. Die Gesamtförderung der sieben weiteren in Betracht kommenden Gruben erreicht seine Produktion nicht. Die gesamte •) Naturw. Wochenschr., N. F. Bd. 1919, S. 741. N. F. XIX. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 525 toskanische Quecksilberproduktion wird nach der Bahnstation Monte Amiata der Linie Asciano— Montepescali gebracht. Ausfuhrhafen ist Livorno. Uie Produktion von Abbadia San Salvatore im Vergleich zu der der ganzen Toskana und zu der VVeltproduktion für die letzten 5 Jahre vor dem Kriege zeigt die folgende Übersicht: 1909 1910 1911 1912 1913 t t t t t Abbadia 558 636 685 696 765 Toskana 771 894 931 looo ? Weltproduktion ca. 3700 3600 4100 4275 4200 Geologischer Aufbau der Gegend. Von Sedimenten beteiligen sich daran in ge- ringerem Maße das Perm mit glimmerhaltigen, schiefrigen Schichten und das R h ä t mit dolo- mitisierten Kalken, in etwas größerer Verbreitung die Juraformation, und zwar sind alle 3 Stufen des Lias gut entwickelt, während Dogger und Malm fehlen. Ein Teil der Lagerstätten setzen im Lias auf. Von der Kreide finden sich nur senonische Ablagerungen, die konkordant auf dem oberen Lias lagern. Tertiäre Schichten, vor allem das Eozän, besitzen für das behandelte Gebiet überragende Bedeutung. Da im Eozän die Fazies vielfach wechselt, läßt sich eine allge- meingültige Schichtenfolge nicht aufstellen. Im allgemeinen fehlt der Sandstein da, wo der Num- mulitenkalk entwickelt ist und umgekehrt. Doch sind Kalke bei weitem verbreiteter als Sandsteine. Die allergrößte Verbreitung besitzen tonige, mer- gelige Kalke (alberese) und Tonschiefer, die in- folge ihrer geringen Widerstandsfähigkeit gegen eindringende Lösungen , Wasser und Gase der Haupthorizont der Zinnoberlagerstätten geworden sind. Zu quartären Bildungen gehören noch jetzt sich abscheidender Travertin, ferner Kiesel- gur und Farberde (terra di Siena). Von Erup- tiven beteiligen sich außer kleinen, zerstreut liegenden Gabbro- und Serpentinstöcken, die bei der Entstehung der Zinnoberlagerstätten keine Rolle gespielt haben, vor allem trachytische Magmen am Aufbau der Gegend. Sie bilden den Monte Amiata, die Monti Cimini und das Tolfagebirge. Der Amiata - Trachyt lagert auf Eozänkalken, Kontakterscheinungen sind kaum beobachtet worden. Auf das Alter des Trachyts wird später zurückgekommen. Auf den ausführlichen und mit vielen Rissen und Profilen versehenen Abschnitt über die Be- schreibung der einzelnen Vorkommen können wir aus Raummangel hier leider nicht eingehen, sondern müssen uns mit der Wieder- gabe der kurzen Zusammenfassung der Verf. be- gnügen. Die Lagerstätten des Zinnobers treten in verschiedenen Formen auf. Dabei treten be- sonders zwei Typen hervor: die Vererzung von Kalkbänken in obereozänen Tonschiefern und die Vererzung von obereozänen Tonschiefern und mergeligen Kalken an der Grenze des Nummu- litenkalkes. In beiden Fällen ist die Form und Ausdehnung der Lagerstätte sehr verschieden. Zu dem ersten Typ ist Solforate, Siele und Rigo zu rechnen. Hierher ist auch das Vorkommen von Cornacchino zu stellen, wo die Vererzung eine Liaskalkbank betrifft, mit der Besonderheit, daß das Erz durch Zirkulation der Wasser in Spalten des liegenden Kieselschiefers bis zu 80 m Tiefe eingedrungen ist und sich auf dessen unzähligen Schichtflächen ausgebreitet hat. Der zweite Typ ist am reinsten im Vorkommen Maria Bianca aus- geprägt, da sich hier die Vererzung auf eine schmale Zone an der Grenze des Nummuliten- kalkes gegen Tonschiefer und grauen Ton mit Kalkblöcken beschränkt. Von derselben Art ist das Vorkommen Funicolare. Ein ganz anderes Bild desselben Lagerstättentypus bietet Abbadia, wo die Vererzung bedeutende Glieder der eozänen Schichten über dem Nummulitenkalk betroffen hat und erst an deren Hangenden (Trachyt) absetzt. Bei den auch hierher gehörigen Vorkommen Frana und Ripacci wiederum ist das Eindringen der Vererzung in den von Klüften und Schläuchen durchhöhlten unterlagernden Nummulitenkalk kennzeichnend. Zu dem Typus gehören ferner noch die Lagerstätten Morone und Capita. Eine Sonderstellung nehmen die Vorkommen Pietrineri, Montebuono und Pereta ein. Ersteres wird von einem Trümmergestein gebildet, das zum Teil vererzt eine Spalte zwischen Eozän und Lias aus- füllt. Dieses Vorkommen ist sekundär und ver- dankt seine Entstehung vermutlich einer darüber- liegenden Lagerstätte in liasischen Kalken. Ein anderes sekundäres Vorkommen ist das von Monte- buono, wo die eozänen Sande, zum Teil Hohl- räume in dem unterlagernden Nummulitenkalk ausfüllend, vererzt sind. Die primäre Lagerstätte ist in obereozänen kalkig-tonigen Schichten zu vermuten, die anscheinend weggespült worden sind. Bei Pereta endlich liegt eine primäre Im- prägnation eines pliozänen Sandlagers vor. Die Genesis der Lagerstätten. Ver- schiedene Autoren bringen die Entstehung der toskanischen Zinnobervorkommen mit dem Empor- dringen kleiner Gabbromagmen tertiären Alters in Verbindung. Für diese Annahme fehlt jedoch jede Unterlage. Das Vorkommen von Abbadia beweist klar, daß die Zinnobererze erst nach dem Erguß des Amiata-Trachyts zum Absatz gelangt sind, und dieser ist nach Sabatini quartären Alters. Dem Schutze der wasserundurchlässigen Trachyt- decke verdanken wir die intakte Erhaltung der Lagerstätte. An anderen, von Trachyt nicht be- deckten Stellen des weiteren Amiatagebietes sind wahrscheinlich die sehr leicht zerstörbaren tonigen Kalke mit dem Erze weggeschwemmt worden. Manche lokale Fundpunkte von Zinnober sind viel- leicht als Reste von ehemals ausgedehnteren Vor- kommen anzusprechen. Die postpliozäne Ent- stehung der Lagerstätte von Pereta, wo pliozäne Sande vererzt sind, liegt auf der Hand. Für das Alter der übrigen Lagerstätten fehlen noch exakte Belege, doch sind sie wahrscheinlich auch quar- 526 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 33 täten Alters. Alle Beobachtungen zusammenfassend kommen die Verf. zu folgenden Annahmen über die Entstehung: Infolge der Ausbrüche trachyti- schen Magmas des Monte Amiata, der Monti Cimini und des Tolfagebirges während der Quartär- periode entstand eine ungefähr nordsüd laufende Auflockerung der Sedimente, in deren Bereicli Hg-führende Lösungen emporstiegen. Der Metall- gehalt der Lösungen dürfte in dem Magma seinen Ursprung gehabt haben. Die Beschaffenheit der Lösung und die Art der Ausfällung des Queck- silbersulfids war höchstwahrscheinlich die gleiche, 'die Becker bei den jungen Zinnoberlagerstätten von Kalifornien überzeugend dargelegt hat. Nach diesem Autor liegt in den Thermen das Queck- silber als lösliches Doppelsulfid HgS-nNa„S vor, aus welchen Lösungen der Zinnober auf sehr ver- schiedene Weise, auf die hier nicht eingegangen werden kann, ausgefällt werden kann. Bei der Fällung des HgS aus den Lösungen wurden leicht zerstörbare Sedimente nahe der Tagesoberfläche bevorzugt. Mineralquellen und Solfataren , die zahlreich in Verbindung mit den Lagerstätten auftreten, stellen das Endergebnis der Erzbildung dar. Der Zinnober ist ohne Zweifel aus den noch jetzt tätigen Thermen bis in die jüngste Zeit hin- ein abgesetzt worden, jedoch hat der Absatz periodisch stattgefunden. Das Vorkommen von Thermen und Solfataren sowie von Absätzen aus früher tätigen Thermen (Schwefelbildungen) ist ein wichtiges Hilfsmittel zur Auffindung neuer Lagerstätten. F. H. Zur Höhlenkunde. Im österreichischen Gebiet waren durch den Krieg vielfach Untersuchungen von Höhlen veranlaßt worden. Dadurch hatte sich die k. k. Heeresleitung veranlaßt gesehen, eine eigene Höhlenkunde herauszugeben, die die Möglichkeit zur Verwertung der dabei gemachten Beobachtungen bieten sollte (R. W i 1 1 n e r , Kleine Höhlenkunde. Wien 19 17). Jetzt sind in diesem Lande die Höhlen erneut zum Gegenstande vieler Nachgrabungen geworden, weil die große Wichtig- keit der Phosphatgewinnung für die einheimische Landwirtschaft zu einer ausgedehnten Ausräumung des phosphorsäureführenden Höhlenlehms geführt hat. Aus diesem Grunde hat sich jetzt das Staats- denkmalamt für Österreich veranlaßt geseheh, eine Anleitung zur Bergung und Sicherung der ein- schlägigen Funde herauszugeben, die auf die Not- wendigkeit der Bergung und Erhaltung der etwa bei diesen Grabungen zutage tretenden Funde hinweisen und hierzu selbst einige Anleitung geben soll. In den Mitteilungen der Zentralkommission für Denkmalpflege XVI, 191 8, S. 1 — 24 findet sich diese Anleitung zu Ausgrabungen in Höhlen ver- öffentlicht; sie ist sehr kurz und allgemein ver- ständlich gehalten. Den paläontologischen Teil hat dabei O. Abel bearbeitet, den prähistorisch- anthropologischen Teil G. Kyrie, den anthro- pologischen Teil R. Pöch. Ein Studium dieser Anleitung wird auch dem deutschen Höhlen- forscher nicht unwillkommen sein. Zur gleichen Zeit hat der bereits genannte Forscher G. Kyrie das Thema Höhlenkunde in einer Abhandlung in den Mitteilungen der geo- graphischen Gesellschaft in Wien 1919, S. 360 — 373 von einem anderen Standpunkte aus behandelt. Kyrie hat dort in kurzen Strichen die Aufgaben der Höhlenkunde darzustellen versucht. Seine Ab- handlung bietet eine Reihe von methodisch und systematisch sehr wertvollen Gesichtspunkten, an denen die deutsche Forschung eigentlich nicht achtlos vorbeigehen darf. Kyrie gliedert die ganze Höhlenkunde von vornherein in zwei Teile, einen wissenschaftlichen und einen praktischen. Der erstere ist berufen die Gesamtheit der anzutreffenden Phänomene' systematisch zu ordnen, zu vergleichen und zu erklären; der letztere, aus den theoretischen Er- gebnissen die praktische Nutzanwendung zu ziehen. Die wissenschaftliche Höhlenkunde gliedert Kyrie in a) Topographie, b) Morphologie und Lager- stättenlehre, c) Genetik, d) Hydrologie, e) Meteoro- logie, f) Paläontologie, g) Prähistorie- Anthropo- logie, h) Biologie, i) Volkskunde. — Die Topo- graphie hat die Aufgabe, das Vorkommen von Höhlen oder Höhlengebieten, ihre Lage im Ter- rain, Zugänglichkeit usw. darzustellen; sie liefert der praktischen Höhlenforschung die theoretischen Grundlagen und ist auch berufen, für alle anderen Untergruppen die geographischen Voraussetzungen bereitzustellen. Nahe verwandt mit ihr ist die Morphologie, die sich nicht nur auf die Erschei- nungen in den Räumen unter Tag zu beschränken hat, sondern auch naturgemäß die einschlägigen Oberflächenerscheinungen in weitgehendstem Maße in ihre Untersuchungen einbeziehen muß. Die deskriptive Morphologie hat in erster Linie eine genaue, wissenschaftlich kritische und eintieitüche Beschreibung aller Phänomene zu liefern. Die systematische Morphologie hat die Aufgabe, die Zusammenfassung einzelner Erscheinungsformen in Gruppen und somit die begriffliche Gliederung der morphologischen Tatsachen zu erstreben. Sie hat ihr Ziel in der Aufstellung eines Systems der Höhlenformen und der mit diesen zusammen- hängenden Oberflächenerscheinungen zu erblicken. Die Lagerstättenlehre beschäftigt sich mit den HöhlenausfüUprodukten, ihrer Verbreitung, Ent- stehung, Zusammensetzung und Veränderung, und ist besonders wichtig für die Höhlenwirtschafts- kunde, speziell für die Phosphatgewinnung. Die Bildung, Erhaltung und Veränderung der ein- schlägigen ober- und untertägigen Phänomene zu erklären ist Aufgabe der Genetik, die gleichzeitig diese in die allgemeinen Erscheinungsformen ein- zugliedern beziehungsweise diese hiermit in Zu- sammenhang zu bringen hat. Wissenschaftlich fällt naturgemäß der Genetik der Löwenanteil zu. Zum Teil schon in der Genetik erhalten ist die Hydrologie, der aber in dieser Gliederung eine selbständige Stellung zugewiesen wird, einerseits, N. F. XIX. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 527 um dadurch ihre besondere Wichtigkeit zu be- tonen, andererseits, um zu zeigen, daß sie berufen ist, bei Lösungen praktischer Fragen grundlegende theoretische Ergebnisse zu liefern. Auch die Meteorologie wird ein reiches Betätigungsfeld finden; hier wird besonders der Wechsel der Temperaturverhältnisse, der Feuchtigkeitsgehalt der Höhlenluft, die Bildung und Erhaltung von Höhleneis usw. wichtig sein. Die Bedeutung der Paläontologie, Anthropologie und Prähistorie haben wir bereits weiter oben gewürdigt. Die Biologie beschäftigt sich mit der rezenten Höhlenfauna und -flora und wird so, besonders bezüglich spezieller Anpassungsformen, wichtige Ergebnisse der all- gemeinen Biologie liefern können. Ein nicht zu unterschätzendes Interesse an der Höhlenkunde endlich hat auch die Volkskunde, der es zusteht, die landläufigen Traditionen, Sagen usw., die sich auf Höhlen beziehen, zu sammeln und zu ver- werten. Die praktische Höhlenkunde läßt sich gliedern in a) Höhlenforschung, b) Höhlenwirtschaftskunde, c) Höhlenbautechnik, d) Fundwesen und Natur- schutz. Die Höhlenforschung hat für die Schaf- fung und den Ausbau einer Forschungsorganisa- tion und für die Ausgestaltung der Forschungs- technik zu sorgen. Die Höhlenwirtschaftskunde besorgt die Untersuchung erschlossener Höhlen auf ihre wirtschaftliche Verwendungsmöglichkeit. Ihr steht ein sehr großes Betätigungsfeld offen, spielt doch hier die ganze Exploitierungsfrage des phosphatführenden Höhlenlehms hinein. Sie wird sich der Agrikulturchemie und der Kunst- düngerforschung zu bedienen haben, um die ge- eigneten Kunstdüngertypen für die Landwirtschaft bereitzustellen. Im engsten Zusammenhange mit der Höhlenwirtschaftskunde steht die Höhlenbau- technik, der die praktische Erschließung, die Aus- beutung sowie überhaupt die praktische Benutzbar- machung der Höhlen zufällt. Dem Fundwesen und dem Naturschutz sind ebenfalls wichtige Auf- gaben vorbehalten. Kyrie fordert hier, daß eine genaue fachmännische Überwachung der Abbau- stellen eintritt, die schon bei den Aufschließungs- arbeiten zu beginnen hat. Die Organe der Höhlen- düngerverwaltung werden ausreichend zu instru- ieren sein, welche Veranlassungen zur Bergung, Sicherung und vorläufigen Konservierung von Funden zu ergreifen sind. Die Schichtenverhält- nisse müssen eine genaue Beachtung erfahren, und endlich ist darauf hinzuwirken, daß jeweilig in wichtigeren Fällen sofort ein Fachmann zu Rate gezogen wird. Kyrie wendet sich darauf der Literatur über Höhlenkunde zu ; die von ihm gegebene Übersicht bietet einen guten Überblick, der manchem, der diesem Thema nähertreten will, höchst willkom- men sein wird. Kyrie zeigt an der Hand der bis jetzt erschienenen Höhlenliteratur, wie außer- ordentlich ungleichmäßig die einzelnen Zweige der Höhlenkunde bis in die Gegenwart Berück- sichtigung fanden; er fordert deshalb für die Zu- kunft in erster Linie für die Höhlenforschung selbst die Aufstellung von einheitlichen und ge- meinsamen Richtlinien, weil ohne Höhlenforschung in der gesamten Höhlenkunde ein wesentlicher Fortschritt nicht zu erwarten ist. So folgen denn eine Reihe von Vorschlägen zur praktischen Aus- gestaltung der Höhlenforschung. Kyrie schlägt zunächst einmal die Errichtung einer Organisa- tion vor, welche es ermöglicht, alle die verschie- denen Interessen der wissenschaftlichen und prak- tischen Höhlenkunde in gebührendem . Maße zu berücksichtigen und so eine einheitliche Sammel- stelle zu schaffen, in welcher die gewonnenen Erkenntnisse leicht zugänglich und zu überblicken sind. Die besondere Wichtigkeit dieser Organi- sation wird wohl ohne weiteres jedem einleuchten. Diese Höhlenkommission muß folgende vier Haupt- verpflichtungen zu übernehmen haben: i. Die Schaffung von Grundlagen für die praktische Höhlenforschung und der Ausbau derselben. 2. Die Durchführung von Aufschließungen vOn Höhlen. 3. Überwachung der Exploitierung und Einrichtung, Handhabung und Kontrolle der wissen- schaftlichen Hilfsstellen. 4. Aufklärung über die wirtschaftliche und wissenschaftliche Wichtigkeit der Höhlenkunde. Auf jede dieser Aufgaben geht Kyrie noch im einzelnen ein, seine Vorschläge sind sehr klar und verständlich gehalten. Möchten sich in Österreich die Kräfte zur Verwirklichung dieser Aufgaben finden; noch weit besser freilich wäre es, wenn alle diese Aufgaben der in Salz- burg stattfindende Zusammenschluß der Höhlen- forscher deutscher Sprache übernehmen und sie dann einheitlich für alle die Länder des deutschen Sprachgebiets durchzuführen versuchte. Wernigerode a. H. Hugo Mötefindt. Chemie. Die Existenz einer dem Ozon ent- sprechenden Modifikation des Wasserstoffs ist nach Ausführungen von Gerald L. Wendt (Univer- sität Chicago) nunmehr als bewiesen anzusehen.^) An sich steht der Möglichkeit einer solchen „Ozon- form" des Wasserstoffs natürlich nichts entgegen. Schwierig ist ihr Verständnis nur wegen der Formel Hg , der die bisherige Strukturchemie keinen Ausdruck zu geben weiß. Da die „Ein- wertigkeit" des Wasserstoffs die unerschütterliche Grundvorstellung der Valenzchemiker ist,") so ist es in der Tat unmöglich, drei solcher einwertigen Atome zu einem Molekülverband verkettet zu denken. Sehr wahrscheinlich hat allein diese formale Schwierigkeit der bildlichen Wiedergabe es verhindert, daß die aktive Form Hg des Wasser- stoffs schon früher beobachtet wurde. Die erste Beobachtung hierüber teilte J. J. Thomson mit") Als er 191 2 mit positiven ') Proceed. of the National Academy of Sciences of America. V, S. 518. 19 19. ") Vgl. hierzu ,,Die ehem. Valenz in heutiger Auffassung" vom Verf. in Naturw. Wochenschr. N. K. XVIIl, Nr. 20 (1919). •) Rays of Positive Electricity ; Longmaus Verlag, 1913. 528 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 33 «-Strahlen arbeitete, fand er, daß diesen Strahlen ausgesetzt gewesener Wasserstoff stark aktive Eigenschaften hinsichtlich seiner chemischen Reak- tionsfähigkeit angenommen hatte. So verband er sich mit Sauerstoff unter Lichterscheinung; mit Kupferoxyd im Quarzgefäß erhitzt, wurde er eben- falls zu Wasser oxydiert, wiederum bedeutend leichter als es bei gewöhnlichem Wasserstoff der Fall ist. Der Nachweis, daß die Veränderung des bestrahlten Wasserstoffs auf der Bildung von Hg -Molekülen beruht, gelang Duane und Wendt in einer seit 1914 ausgeführten Experimental- untersuchung.') Wurde Wasserstoff der Bestrah- lung durch «-Strahlen aus Radiumemanation unterworfen, so zeigte sich parallel der Zunahme der Aktivität eine Verringerung seines Volumens. Sie ist nur durch Bildung größerer Moleküle zu erklären. Der aktive Wasserstoff ist nach den genannten Forschern außerordentlich reaktions- fähig, entspricht also dem Ozori vollkommen. So bildet er mit Schwefel alsbald Schwefelwasser- stoff, reduziert Permanganatlösung sofort, ver- bindet sich mit Phosphor sofort zu Phosphin, mit Blei zu einer gelben Verbindung, wahrscheinlich Blei- hydrid, usw. Daß es sich um Reaktionen einer besonderen aktiven Form, nicht aber um solche von elektrisch aufgeladenen Molekülen oder Ionen handelt, wird dadurch bewiesen, daß die Aktivität erhalten bleibt auch dann, wenn das Gas dem Einfluß eines starken elektrostatischen Feldes (1000 Volt/cm) ausgesetzt wird. In diesem Fall ist Aufladung von Molekülen gänzlich hintan- gehalten. — Die aktive Form des Wasserstoffs ist, wie zu erwarten, unstabil. Sie besteht nur wenige Minuten. Nach 3 — 5 Minuten vom Augen- blick ihrer Bildung an vermag man die genannten Reaktionen nicht mehr auszuführen. Auch das spricht für Ozon-Analogie. In flüssiger Luft ver- schwindet die Aktivität, sei es infolge Zerfall der Hj -Moleküle, oder infolge ihrer Kondensation. In neuester Zeit hat S. C. L i n d ^) die Ver- suche mit großen Mengen von Radiumemanation wiederholt. Er bestätigte die Volumverringerung, die übrigens von Usher'') schon 1909 beobachtet, aber falsch gedeutet wurde. U s h e r glaubte nämlich, ein Teil der Wasserstoffmoleküle werde durch die «-Teilchen in die Glaswände des Ver- suchsgefäßes gepreßt. Aber die zertrümmerten Wände entließen beim Erhitzen bei weitem nicht die der Volumabnahme entsprechende Menge Gas. ') Physical Review 10, S. 116. 1917. ■') Journ. of the Americ. Chem. Soc. 41, S. 545. 1919. ') Journ. of the Chem. Soc. 97, S. 400. 1909. J. Langmuir') fand eine andere Bildungs- weise des aktiven Wasserstoffs. Dieser entsteht auch in der elektrischen Glühbirne, wenn der Draht sehr hoch erhitzt wird. Zweifellos zerfallen unter diesen Umständen die Wasserstoff- moleküle zu Atomen, die sich zum Teil zu H3 wiedervereinigen und auf der Glaswand nieder- schlagen, ein der Ozonbildung ganz entsprechen- der Vorgang. Ein Teil der Atome aber bleibt als solche bestehen, ist infolgedessen zwar auch stark reaktionsfähig, zeigt jedoch Unterschiede zur „Ozonform"; so z. B. wird der einatomige Wasserstoff durch Glaswolle adsorbiert und ist nur bei höchstem Vakuum beständig, was beides für die Hg -Form nicht gilt. 1916 schließlich brachte A. J. Dem pst er') durch elektrische Messungen weitere Beweise für die Ozonform des Wasserstoffs, die bei 0,05 mm Druck sogar überwiegt. Nach Wendt ist die Hy-Form in jeder Geißlerröhre anzutreffen. Wenn Wasserstoff beständig durch solche Röhre geht (6 cm Druck), so reagiert er alsbald mit Schwefel und entfärbt Permanganatlösung — ein wirkungsvoller Vorlesungsversuch. Wiederum können für den Effekt nicht Ionen verantwortlich gemacht werden, denn selbst empfindlichste Ema- nationselektroskope lassen keinen Ausschlag er- kennen. Die Aktivität kommt also den Molekülen zu. Der Vorgang ihrer Bildung ist noch dunkel und recht zweifelhaft. Wahrscheinlich ist jedoch folgende Erklärung. Einzelne stets gebildete Ionen kondensieren auf sich mehrere Wasserstoffmole- küle, bilden also ein sog. Groß-Ion. Die hierin vorhandenen Valenzfelder können nun ganz ver- schiedenartig reißen dergestalt, daß neben Hy auch Hg-Bruchstücke auftreten. Eine Klärung der Frage ist vielleicht durch Untersuchungen in sehr kurzwelligem Licht möglich. Dieses (Schumann- Strahlen) wird durch Wasserstoff absorbiert und gibt hierbei vielleicht zur Molekülbildung Veran- lassung. Es mag erwähnt sein, daß ein Molekül H^ zwar der bisherigen Strukturchemie Rätsel auf- gibt, daß dagegen mit Hilfe Starks Anschau- ungen eine Valenzzersplitterung auch für den Wasserstoff durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt. H. Heller. ') Journ. of the Americ. Chem. Soc. 34 (l9l2)fi. ') Philosophical Magazine 31, S. 438. 1916. Inhalt: P. KiebcscU, Die Bedeutung der mathematischen Statistik für die Natur- und Geisteswissenschaften. (3 Abb.) S. 513. (itto Meißner, Die Färbung der Laubblätter und ihre Änderung im Laufe des Sommers. (3 Abb.) S. 518. — Einzelbencbte: K. Groß, K. Schiebold, H. liohlin, Methoden zur experimentellen l'rforschung der Kristall- struktur. (I Abb.) S. 522. G. Kalb, Herrscht Zufall oder Gesetz beim Festwachsen der Kristalle auf ihrer Unterlage f S. 524. H. Troegel u. F. Ahlfeld, Die Zinnobervorkommen in der südlichen Toskana. S. 524. G. Kyrie, Zur Höhlenkunde. S. 526. G. L. Wendt, Existenz einer dem Ozon entsprechenden Modifikation des Wasserstoffs. S. 527. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pktz'icben Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge der ganzen Reil Sonntag, den 22. August 1920. Nummer 34» Ein Lehrbuch der Philosophie für Naturforscher. (Nachdruck verböte Von Hermann Kranichfeld. Der erste Band der Sammlung naturwissen- schaftlicher Monographien und Lehrbücher, welche bei Julius Springer, Berlin erscheint, enthält eine Allgemeine Erkenntnislehre von Moritz Schlick.^) Man wird heutzutage nicht mehr fragen: Wie kommt Saul unter die Propheten; was hat die Naturwissenschaft mit der Philosophie zu schaffen ? Die Stellung der Naturwissenschaft zur Philosophie hat sich, wie Schlick mit Recht hervorhebt, in den letzten Jahrzehnten wesentlich geändert. Die Methodologie nahm zuerst wieder das Interesse der Naturforscher in Anspruch. Bei dem Reichtum der Entwicklung, welchen die ein- L zelnen Disziplinen gewannen, stellten sich überall neue Probleme ein, die zu ihrer Lösung neue Forschungsmethoden erforderten. Die Methodo- logie hat die Aufgabe, die Einsicht in die logi- schen Formen dieser Methoden, das Verständnis des Zusammenhanges, der zwischen diesen Formen * und der besonderen Struktur der betreffenden Forschungsgegenstände besteht, zu ermitteln. Die Männer der F"achwissenschaften verlangten nun von sich aus solche Rechenschaft über ihre wissen- schaftliche Tätigkeit. Fast alle Bahnbrecher auf den Gebieten der exakten Wissenschaften haben daher selbst das Wort zur speziellen Methodo- logie ihrer Wissenschaft ergriffen. Aber nicht nur während der Untersuchung, auch nach Vollendung seiner exakten Arbeit stoßen dem Naturforscher philosophische Probleme auf. Seine Tätigkeit besteht ja wesentlich darin, daß er einzelne Erkenntnisse auf allgemeine Wahr- heiten, aus denen jene abgeleitet werden können, zurückführt. Dabei gelangt er bald -an einen Punkt, wo er mit den Mitteln seiner Einzelwissen- schaft nicht weiter kommt, sondern sich von einer allgemeineren, umfassenderen Disziplin Aufklärung verschaffen muß. So wendet sich der Chemiker in den chemisch physikalischen Untersuchungen an die Disziplin, welche einen weiteren Kreis der Naturerscheinungen umfaßt als die Chemie, an die Physik. Das letzte allgemeinste Gebiet, in welches alle weiter vordringenden Erklärungs- prozesse schließlich münden, ist aber das der Philosophie. Denn für die Erörterung der letzten Grundbegriffe, wie des Begriffs des Bewußtseins in der Psychologie, des Axioms und der Zahl in der Mathematik, von Raum und Zeit in der Physik ist nur noch die Philosophie zuständig. Da diese ') Mo ritz Schi ick, . allgemeine Erkenntnislehre. Berlin, Julius Springer 1918. 346 und IX S., Preis l8 M. Begriffe allem Erkennen zugrunde liegen, steht der Philosophie das letzte Urteil über alle, auch die naturwissenschaftliche Erkenntnis zu. Doch ist darunter nicht die Nachprüfung der Ergebnisse der Naturwissenschaft zu verstehen, der Entscheid über ihre Richtigkeit und Falschheit. Diese ver- mag pur die Naturwissenschaft selbst zu geben. Keine außerhalb derselben stehende Wissenschaft ist dazu imstande. Jenes letzte Urteil bezieht sich nicht auf die einzelnen Erkenntnisse, sondern auf die Grund- lagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis über- haupt. Vor allem handelt es sich um die Frage nach der Möglichkeit, nach den Grenzen und nach der Geltung der naturwissenschaftlichen Erkennt- nis. Diese Art der „Metaphysik"; die hinter dei Naturwissenschaft herkommt, aber nicht in dem Sinne, daß sie die naturwissenschaftliche Arbeit fortsetzt, sondern in dem Sinne, daß sie das System, welches die Naturwissenschaft aufrichtet, „hinterher" betrachtet, ist nach Schlick die Erkenntnis- theorie. Wie Aristoteles die formale Logik, so hat Kant die erkenntnistheoretische Logik begründet. Aber wenn Kant die formale Logik des Aristo- teles für einen so festgefügten Bau erklären konnte, daß daran nach zwei Jahrtausenden nur noch Geringfügiges zu ergänzen und zu verbessern sei, so läßt sich von der erkenntnistheoretischen Logik Kants nicht das gleiche sagen. Bei ihr handelt es sich nicht um ein bereits abgeschlos- senes System. Der von Kant gegebene Anstoß hat vielmehr in die Untersuchung über das Wesen des wissenschaftlichen Denkens die gewaltigste Gährung gebracht und gegensätzliche Auffassungen hervorgerufen, die noch nicht ausgeglichen sind. M. Schlick kann daher auch in seiner Allge- meinen Erkenntnislehre nicht eine feststehende Lehre überliefern, sondern die verschiedenen er- kenntnistheoretischen Probleme nur erörtern. Er behandelt in den 3 Teilen seines Werkes das Wesen der Erkenntnis, die Denkprobleme und die Wirklichkeitsprobleme. Im ersten Teile hebt er scharf den Unterschied zwischen Erkenntnis und Anschauung hervor. Intuitives Erkennen, wie es von einer Hauptrich- tung der neueren Philosophie vertreten wird (B e r g - son, Husserl), ist nach ihm eine Contradictio in adjecto. Denn Anschauen und Erkennen be- zeichnen wesentlich verschiedene geistige Prozesse. Kennen im Sinne von Kennenlernen, Erfahren eines Eindruckes, Erleben einer Tatsache des Bewußt- S30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XrX. Nr. 34 Seins und sich in dieselbe Versenken ist Sache der Intuition. Bei ihr stehen wir nur einem ein- zigen Gegenstande, eben dem angeschauten ge- genüber. Zum Erkennen gehören dagegen stets zwei Glieder, die zu einander in Beziehung ge- setzt werden: etwas, das erkannt wird und das- jenige, als was es erkannt wird. Es wird das eine auf das andere zurückgeführt und mit ihm identifiziert. Es kann das eine Teilidentifikation sein, wie in dem Erkenntnisurteil: der Lichtstrahl besteht in einer Wellenbewegung. Die Eigenschaften und Gesetze der Lichtausbreitung werden hier identi- fiziert mit den Eigenschaften und Gesetzen der Fortpflanzung der Wellen. Doch sind nicht um- gekehrt alle Wellen Lichtwellen. Eine voll- ständige Identifikation haben wir dagegen in dem Erkenntnisurteil : ein Na-Lichtstrahl ist eine elek- tromagnetische Welle von der Frequenz 509- 10^". Hier ist das Urteil umkehrbar. Man kann auch sagen: eine elektromagnetische Welle von 509- 10*- Frequenz ist ein Na-Lichtstrahl. Den naturwissenschaftlichen Monismus, in der Form wie ihn V er wo rn vertritt, lehnt Schlick von seinem Standpunkt ab. Auch nach ihm ist das Ziel, welchem alle Erkenntnis zustrebt, die Gewin- nung eines Minimums von Erklärungsprinzipien. Bei der Teilidentifikation wird ein Einzelnes oder Be- sonderes einem allgemeinen Begriff zugeordnet oder vielmehr untergeordnet. Indem letzterer wieder auf einen noch allgemeineren Begriff zurückgeführt wird, schreitet die Erkenntnis von Stufe zu Stufe weiter und wird so die Anzahl der Gegenstände, die dem gleichen Erklärungsprinzip zugeordnet werden, immer größer und die Zahl der zur Er- klärung der gesamten Gegenstände erforderlichen Prinzipien immer kleiner. Während früher die Gebiete der Mechanik, der Optik, der Wärme und der Elektrizität getrennt nebeneinander standen, jedes mit seinen eigenen Gesetzmäßig- keiten, kennt der moderne Physiker im Prinzip nur noch die Mechanik und die Elektrodynamik als besondere Teile seiner Disziplin. Schlick weist aber mit Recht darauf hin, daß damit der Erkenntnisprozeß noch nicht ab- geschlossen ist. Die Erscheinungen sollen nicht nur auf allgemeinere Erscheinungen zurückgeführt und damit erklärt, sondern auch in der Stellung, welche sie innerhalb des -Umkreises der allge- meineren Erscheinungen einnehmen, eindeutig be- stimmt werden. Es geschieht das durch eine Ver- bindung von wenigstens zwei sich kreuzenden Erklärungsprinzipien, aus der sich ein Identitäts- urteil ergibt. Wie durch zwei sich kreuzende Längen- und Breitengrade ein ganz bestimmter geographischer Ort festgelegt wird, so wird auch in dem Identitätsurteil: ein Na Lichtstrahl ist eine elektromagnetische Welle von der Frequenz 509- 10'- durch die beiden Erklärungsprinzipien, durch welche die Wellenbewegung nach ihrer Qualität als elektromagnetische Wellenbewe- gung ; nach ihrer Quantität als Wellenbewegung von der Frequenz sog-io'-' bestimmt wird, ein Bezirk innerhalb der allgemeineren Erscheinungen abgegrenzt, in welchem nichts als das Na-Licht Platz hat. Die letzte Aufgabe der Wissenschaft ist daher eine doppelte; sie soll einerseits ein Minimum von Erklärungsprinzipien auffinden, in welchen alle Erscheinungen aufgehen, andererseits mit Hilfe dieser geringen Anzahl von Erklärungs- prinzipien jede einzelne Erscheinung in der Welt vollständig bestimmen. Daraus folgert Schlick mit Recht, daß die Zurückführung der Erklärungs- prinzipien auf ein einziges nicht nur noch nicht erreicht, sondern überhaupt nicht möglich ist. Die Bestimmung des Individuellen und Besonderen erfordert stets wenigstens zwei Erklärungsprin- zipien. Dies Resultat stimmt mit der Auffassung Kants im allgemeinen überein und wird auch in neuerer Zeit von Physikern wie P o i n c a r e und besonders V o 1 k m a n n in Königsberg vertreten. Im übrigen bestimmt Schlick das Ziel der fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis vom Standpunkt des Physikers aus. Die Beziehungen, welche jene zwischen zwei Gegenständen festzu- stellen hat, sind nach ihm nur die ursächlichen (S. 52). Genauer ausgedrückt, müßte darum das Urteil: das Licht ist eine magneto-elektrische Welle eigentlich lauten, die Ursache der Er- leuchtung ist eine magneto- elektrische Welle. Als Ursachen der betreffenden Erscheinungen finden wir aber stets Gesetze, die wieder auf allge- meineren Gesetzen beruhen. So sind nach Schlick auch die letzten Erklärungsprinzipien, zu denen wir kommen, Fundamentalgesetze. Von ihnen können wir umgekehrt, wenn wir bei dem Aufbau des wissenschaftlichen Systems richtig verfahren sind, die einzelnen Tatsachen auf deduk- tivem Wege ableiten. Die Physiker können mit Hilfe der Max wellschen Grundgleichungen dem gesamten Gebiete der elektrischen und magneti- schen Erscheinungen passende Urteile zuordnen. Dasselbe kann auf dem Gebiete der mechanischen Vorgänge mit Hilfe von wenigen Bewegungsge- setzen geschehen. Jeder Masche unseres Urteils- netzes, die wir auf deduktivem Wege erzeugt haben, entspricht so je eine Tatsache der Wirk- lichkeit, jedes Glied unseres deduktiven Urteils- systems ist einem wirklichen Tatbestand eindeutig eingeordnet. Diesem Erkenntnisbegriff Schlicks gegen- über muß jedoch hervorgehoben werden, daß er, so richtig er das physikalische Erkennen charakteri- siert, der Erkenntnis, zu welcher der Historiker auf seinem Gebiete gelangt, nicht gerecht wird. Auf diesem handelt es sich vor allem um die Wirkungen von Persönlichkeiten, die allgemeinen Gesetzen, wie sie der Physiker findet, nicht unter- geordnet werden können, und die in der histori- schen Wissenschaft auch nicht einmal nach dem allgemeinen Charakter, den sie mit anderen teilen, sondern gerade in ihrer Individualität und Ein- maligkeit dargestellt werden sollen (Rickert). Es ist das ebensowenig ein Mangel der Geschichts- wissenschaft, wie es ein Mangel der Physik ist, N. F. XIX. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 531 daß sie auf ihrem Gebiete die Entfaltung einer Persönlichkeit nicht aufzeigen kann. Auch auf das biologische Gebiet kann der Erkenntnisbegriff Schlicks nur zum Teil angewandt werden. Die Unmöglichkeit, das biologische Geschehen in die allgemeinen anorganischen Gesetze einzuordnen, tritt nicht nur an einzelnen Punkten wie bei dem Übergang vom Anorganischen zum Organischen oder vom Naturleben zum Geistesleben hervor. Es ist z. B. auch die ganze ungeheure Anzahl der Gene nicht ableitbar. Sie lassen sich in dem Netz eines deduktiven System nicht einfangen. Eine eigentümliche Stellung nimmt Schlick zur erkenntnistheoretischen Bedeutung von Begriff, Urteil und Schluß ein, den logischen Formen, in denen sich die wissenschaftliche Erkenntnis voll- zieht. Auch der Naturwissenschaftler wird mit Interesse der klaren und fesselnden Darstellung der angeblich trockenen Materie folgen. Hier soll nur auf seine Charakterisierung der Begriffe und Urteile als bloßer Zeichen etwas näher einge- gangen werden, weil diese Auffassung auch die weiteren Gedankengänge Schlicks wesentlich mit bestimmt, jedoch aus verschiedenen Gründen beanstandet werden muß. Nach Schlick ist der Begriff ein bloßes Zeichen, welches einem Gegen- stande; das Urteil ein bloßes Zeichen, welches dem Bestehen einer Beziehung zwischen zwei Gegenständen zugeordnet ist. In beiden Fällen soll das Zeichen nur die Bedingung zu erfüllen haben, eindeutig zu sein d. h. eine Mehrdeutigkeit oder Verwechselung auszuschließen. Es fragt sich zunächst: Kann beim Begriff oder Urteil die Eindeutigkeit genügen? Was Schlick unter Eindeutigkeit versteht, ergibt sich aus dem von ihm angeführten Beispiel. Das Urteil: ein Lichtstrahl besteht in einem Strom bewegter Körperchen — ist nach ihm falsch, weil es nicht eindeutig ist, d. h. weil in ihm einerseits zwei verschiedene Tatsachenklassen, die Kathoden- strahlen und die Lichtfortpflanzung, durch die- selben Symbole bezeichnet, und andererseits zwei identischen Tatsachenreihen, der Lichtfortpflanzung und der Wellenausbreitung, verschiedene Zeichen zugeordnet sein würden. Das betreffende Urteil wird jedoch nicht durch den gerügten Mangel an Eindeutigkeit falsch. Es könnte trotz desselben richtig sein. Denn in dem Urteil: das Licht ist eine elektromagnetische Wellenausbreitung — werden auch zwei verschiedene Tatsachenreihen, die des Magnetismus und der Lichterscheinung mit demselben Symbol bezeichnet — wie es über- haupt bei der Subsumtion stets der Fall sein muß — und doch ist das Urteil wahr. Nach Schlick selbst schadet es ferner nichts „wenn demselben Gegenstand mehrere, verschiedene Zeichen zugeordnet sind", wenn letztere nur ver- tauschbar sind. Daß Lichtfortpflanzung und magnetoelektrische Wellenausbreitung von einer gewissen Frequenz vertauschbar sind, erkennt man aber daran, daß die in dem Urteil: die Lichtfort- pflanzung ist eine elektromagnetische Wellenaus- breitung von einer gewissen Frequenz behauptete Beziehung als wirklich vorhanden nachgewiesen werden kann. Bei dem Urteil: ein Lichtstrahl besteht in einem Strom bewegter Körperchen, ist das nicht der Fall. Dieser Nachweis, nicht die bloße Eindeutigkeit ist die Bedingung für die Wahrheit des Urteils. Er hat beim analytischen Urteil durch eine Begriffsanalyse a priori, beim synthetischen Urteil durch Beobachtung oder Er- fahrung a posteriori zu erfolgen, worauf übrigens Schlick an anderer Stelle selbst hinweist. Begriffe und Urteil können ferner über- haupt nicht als bloße Zeichen charakterisiert wer- den. Eine solche Bezeichnung entspricht nicht der Bedeutung der beiden logischen Formen. Zeichen sind Mittel, das Wiedererkennen bzw. das Wiederauffinden einer Sache zu erleichtern, aber es sind willkürlich gewählte Formen, die man zur Bezeichnung zufällig gegebener Dinge oder Verhältnisse anwendet. So ist es in den Bei- spielen, die Schlick zur Illustrierung seiner Auf- fassung anführt. Bei den Nummern, die in einer Theatergarderobe abgegeben werden oder bei den Bibliothekzeichen in dem Katalog einer Bibliothek genügt in der Tat die Eindeutigkeit von Zeichen, um ein richtiges, dem Zweck entsprechendes Ur- teil zu bilden, d. h. das Ortsverhältnis zu bestim- men und das Kleidungsstück in der Garderobe, das Buch in der Bibliothek sicher aufzufinden. Es beeinträchtigt den Zweck in keiner Weise, daß die Zeichen ganz willkürlich gewählt sind; denn es handelt sich ja auch nur um die Fest- stellung von Beziehungen der Gegenstände, die ganz zufällig sind und mit der Eigenart der Gegen- stände nichts zu tun haben. Ob mein Pelz in der Theatergarderobe an dem Haken 5 oder 15 hängt, darauf hat die Beschaffenheit des Pelzes nicht den geringsten Einfluß, sondern nur mein früheres oder späteres Kommen. Ganz anders ist es bei wissenschaftlichen Urteilen. Sie gehen nicht auf zufällige, sondern auf konstante Be- ziehungen zwischen zwei Gegenständen. Das Ur- teil, das Silber hat das spezifische Gewicht 10,5 heißt: das Silber ist stets 10,5 mal so schwer wie das gleiche Volumen Wasser. Bei der Feststellung dieses Urteils, d. h. beim Wiegen des Silberstückes unter Wasser, müssen alle zufälligen Momente, welche auf das Gewicht des untersuchten Silber- stückes und des Wassers einwirken und das dem Silber und dem Wasser eigentümliche Gewichts- verhältnis abändern könnten (Erwärmung des Wassers, Beimengungen des Silbers usw.) sorg- fältig ausgeschaltet werden. Das Analoge gilt von den Begriffen. Wie das wissenschaftliche Ur- teil nur konstante Beziehungen zwischen zwei Gegenständen feststellt, so bezieht sich auch der Begriff nur auf die konstanten Eigenschaften eines Gegenstandes. Das folgt schon daraus, daß der Begriff aus synthetischen Urteilen hervorgeht und nur ein Niederschlag derselben ist. Wir haben es daher beim Urteil und beim Begriff nicht mit willkürlich gewählten Zeichen 532 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 34 zu tun wie bei den Nummern, welche den Klei- dungsstücken und den Haken einer Theatergarde- robe äußeilich angeheftet sind, sondern mit all- gemein gültigen Bezeichnungen, die nicht beliebig geändert werden können, weil sie mit dem Wesen des Gegenstandes untrennbar ver- bunden sind. Der Satz Schlicks: „Das Urteil bildet das Wesen des Beurteilten so wenig ab wie die Note den Ton oder wie der Name eines Menschen seine Persönlichkeit" entspricht nicht dem Wesen der beiden logischen Formen und ist darum ab- zulehnen. Im zweiten Teil seines Buches bespricht Schlick unter den Denkproblemen zu- nächst die analytische Natur des strengen Schlusses. Der Syllogismus dient, wie Schlick im Gegensatz zu Bradley, Riehl u. a. a. her- vorhebt, nur dazu die einzelnen Wahrheiten eines Systems von Erkenntnissen miteinander zu ver- binden, ist aber nicht ein Mittel, durch das neue Erkenntnisse geschaffen werden könnten. Durch den Vollzug eines Syllogismus wird uns deutlich, was alles in dem Obersatz liegt, nie aber können wir dadurch zu einer Erkenntnis gelangen, die nicht im Obersatz liegt und über ihn hinausgeht. Gerade darum besitzen analytisches Urteil und logischer Schluß apodiktische Gewißheit, weil sie im Grunde nichts anderes sagen, als was in den Voraussetzungen schon enthalten war. Diese apodiktische Geltung besteht allerdings nur unter der Bedingung, daß wir richtig schließen. Dazu ist nötig, daß unser Bewußtsein imstande ist, die für die Deduktion nötigen Vorstellungen wenigstens so lange festzuhalten wie der deduktive Prozeß dauert; daß wir Gedächtnis besitzen. Das ist aber mit der Tatsache gegeben, die Kant in den beherrschenden Mittelpunkt der ganzen Er- kenntnistheorie gerückt hat, mit der Einheit des Bewußtseins. Jenes Hinüberziehen des einen momentanen Bewußtseinsinhaltes in den Moment des nächsten Bewußtseinsinhaltes, wo- durch beide sich zur Einheit des Bewußtseins zu- sammenschließen , kommt dem Bewahren und Festhalten gleich, welches als Erinnerung die Leistung des Gedächtnisses bildet. Wo Bewußt- sein ist, da ist auch Einheit des Bewußtseins und wo Einheit des Bewußtseins ist, da ist auch Ge- dächtnis. So bürgt die Tatsache des Bewußtseins dafür ,,daß das was wir denken, eben dasselbe ist, was wir einen Augenblick vorher dachten" (Kant). So ist es im Prinzip. Die Garantie, welche das Ge- dächtnis für den richtigen Vollzug der einzelnen Deduktionen gibt, ist jedoch nur relativ. Der Gei»t des scharfsinnigen Denkers schließt komplizierte Bewußtseinsinhalte energisch zu einer Einheit zu- sammen, die vor dem geistigen Blick des Unbe- gabten zerfließen. Mit der Einheit des Bewußtseins ist nach Schlick auch eo ipso die Vorstellung der Gleichheit und Verschiedenheit, des Wechsels und der Zeitfolge der verschiedenen Bewußtseinsinhalte gegeben. Die zweite Voraussetzung für den richtigen Vollzug der Deduktion ist die deutliche Abgrenzung der Vorstellungen. Es handelt sich dabei um ein Problem, das durch das Verhältnis des Psycho- logischen zum Logischen gestellt ist. Es wird von Schlick in interessanter Weise gelöst. Doch kann hier auf dasselbe wie auf die viel um- strittenen, in den folgenden Abschnitten be- handelten Probleme der inneren Wahrneh- mung und der Evidenz nicht näher einge- gangen werden. Wir möchten jedoch nicht unter- lassen daraufhinzuweisen, daß sich der Leser bei der Erörterung derselben stets dessen bewußt bleiben muß, daß es sich bei den Denkproblemen durch- weg um Probleme handelt, die noch keine Ent- scheidung gefunden haben. Wenn daher Schlick von dem Kant sehen Begriff der inneren Wahr- nehmung sagt, er sei ,,neben dem Begriff der Erscheinung einer der unglücklichsten, den das philosophische und psychologische Denken je ge- prägt hat" und wenn Ziehen -Halle ihm darin bestimmt, so ist daran zu erinnern, daß jene Kon- zeptionen von anderer Seite noch immer für die große kopernikanische Tat des Königsberger Philosophen gehalten werden. Das Problem der Verifikation, welches den Schluß der Denkprobleme bildet, gehört eigentlich nicht mehr zu diesen, sondern zu den Wirklichkeitsproblemen. Diese sind es, die für den Naturforscher ein besonderes Interesse haben müssen, denn die Welt des Wirklichen ist seine Welt. Schlick behandelt sie im 3. Teil seines Buches unter den Titeln : die Setzung des Wirklichen, die Er- kenntnis des Wirklichen und die Gültig- keit der Wirklichkeitserkenntnis. Die Frage, was wir als wirklich zu bezeichnen haben, wird auch heute noch verschieden beant- wortet. Schlick geht auf die Kantsche Auf- fassung zurück. Nach ihm ist wirklich, „was mit den materialen Bedingungen der Erscheinung zu- sammenhängt" oder, um es mit Riehl verständ- licher auszudrücken, „was in den Zusammenhang der Wahrnehmungen gehört". Es braucht nicht unmittelbar wahrgenommen zu werden, muß aber sicher auf eine Wahrnehmung zurückgeführt bzw. in Zusammenhang mit einer solchen gebracht werden können. Schlick fügt diesem Kenn- zeichen noch das Merkmal der Zeitlichkeit und bei den Dingen der Außenwelt außerdem das der Räumlichkeit hinzu. Sobald sich für einen Gegen- stand ergibt, daß die Regeln der einzelwissen- schaftlichen Forschung dazu zwingen, ihm einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit zuzuer- kennen, ist seine reale Existenz erwiesen. Das in neuester Zeit auf dem Wege exakter Forschung nach Zeit und Ort bestimmte Atom ist danach ebenso wirklich wie der Ziegel auf dem Dache. Das Schlicksche Kriterium gilt auch im Sinne Kants für alle Dinge und Vorgänge der Er- scheinungswelt. Von diesem seinem erkenntnistheoretischen N. F. XIX. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 533 Standpunkt aus lehnt Schlick die besonders in den Kreisen moderner Naturforscher bis vor kurzem vielfach vertretene Immanenztheorie (Phänomenalis- mus, idealistischer Positivismus) von Mack und A V e n a r i u s ab. Sie lassen nur das als wirklich gelten, was unmittelbar wahrgenommen wird. Am konsequentesten hat Avenarius den Ge- danken durchgeführt. Nach ihm existiert auch das Ding (die Blume, der Vogel) nicht mehr, das ich nicht mehr sehe, wenn ich die Augen schließe. Wenn ich doch fortfahre, von ihm als etwas Existierendem zu reden, so handelt es sich dabei nur um ein Gedankensymbol für die Vor- aussage, daß die Komplexe von Farben, Tönen, Gerüchen usw., die in ihrer relativ konstanten Verknüpfung den betreffenden Körper bilden, wieder auftreten werden, sobald ich bestimmte Bedingungen realisiere, d. h. wenn ich die Augen von neuem öffne. Indem Avenarius nur das gelten ließ, was unmittelbar gegeben ist, hoffte er, zu einer hypothesenfreien Wissenschaft zu kommen und besonders das Problem, das in dem Verhältnis des Physischen zum Psychischen be- steht, ausschalten zu können. In scharfsinniger Weise widerlegt Schlick die Immanenztheorie, indem er die Widersprüche nachweist, in welche sie sich notwendig verwickelt. Bei der Frage nach der Erkenntnis des Wirklichen setzt sich Schlick zunächst pnit dem Kant sehen Gedanken des Dinges an sich und der Erscheinung auseinander, doch läßt er bei dieser Erörterung den fundamentalen Gedanken des Begründers der Erkenntnistheorie, aus dem sich seine Auffassung des Dinges an sich und der Erscheinung ergab, zu sehr zurücktreten, wodurch dem Leser das Verständnis des Kant sehen Standpunktes erschwert wird. Kant sagt selbst darüber in der Einleitung zur 2. Aufl. der Kritik der reinen Vernunft: „Wie Kopernikus, nach- dem es mit der Erklärung der Himmelsbewegung nicht fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, ver- suchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe", so müßten wir auch das Verhältnis unserer Erkenntnis zu den Gegenständen in ähnlicher Weise umkehren. Wenn sich „die Anschauung nach der Beschaffenheit der Gegen- stände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie wir a priori etwas von ihr wissen können ; richtet sich aber der Gegenstand nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit sehr wohl vorstellen". Nach Kant machen daher erst unsere reinen Anschau- ungsformen, Raum und Zeit, aus den ungeordne- ten Empfindungen die Erscheinungen und unsere reinen Verstandesbegriffe, die Kategorien, aus den zufälligen Erscheinungen, die sie nach einer Regel verknüpfen, die allgemeingültigen Objekte der Erscheinungswelt. Deswegen sind letztere nichts als unsere Vorstellungen und existieren nirgends anders als in unseren Gedanken. Wollen wir daher nicht zu der rein idealistischen Weltansicht Fi cht es kommen, so müssen wir annehmen, daß wenigstens das Material, aus welchem unsere An- schauungsformen die Erscheinungen machen, die ungeordneten Empfindungen, dadurch entstehen, daß ein transszendentes Objekt, das Ding an sich, unsere Sinne affiziert. Das Begriffspaar Ding an sich und Erscheinung ist daher von diesem Stand- punkt aus nicht, wief Schlick sagt, „eine höchst unzweckmäßige", sondern eine notwendige Bildung. Wenn wir es ferner sind, die der Erscheinungs- welt die Anschauungsformen Zeit und Raum erst aufgeprägt haben, und wenn wir durch unsere reinen Verstandsbegriffe, die Kategorien, die Zusammen- hänge der Erscheinungen erst herstellen, so können diese von uns herrührenden Anschauungsformen und Verstandesbegriffe in dem Ding an sich, das den Empfindungen zugrunde hegt, nicht schon ange- troffen werden. Das Ding an sich muß darum, weil wir nur mit Hilfe der reinen Anschauungs- formen und der reinen Verstandesbegriffe er- kennen können, nach Kant unerkennbar sein. Die Frage, ob die Auffassung Kants richtig ist oder nicht, kann hier nicht erörtert werden. Jedenfalls ist aber die Behauptung Schlicks, die Position Kants, daß nur die Erscheinungs- welt erkennbar wäre, sei aus dem von Schlick angeführten Gründen „in sich widerspruchsvoll" nicht zutreffend. Schlick läßt bei seinen Aus- führungen außer acht, daß nach Kant auch die Kategorie der Quantität nicht auf das Ding an sich angewandt werden kann, und daß darum gerade die Annahme einer Erkennbarkeit des- selben mit Hilfe der Schlickschen begrifflichen Konstruktionen von Raum und Zeit eine Inkon- sequenz Kants bedeutet haben würde. Nach Kant ist die ganze wirkHche Welt, die wir erkennen, Erscheinungswelt, der das Ding an sich, das selbst unerkennbar ist, zugrunde liegt. Schlick bezeichnet dagegen alle Gegenstände der Erscheinungswelt, soweit wir sie nicht un- mittelbar wahrnehmen, als Dinge an sich. Ge- rade sie sind nach Schlick die Gegenstände der wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Dinge an sich sind so bei Schlick etwas ganz anderes als bei Kant. Doch ist das nur eine Frage der Termino- logie. Aber mögen wir die Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung nun mit Schlick als Dinge an sich oder mit Kant als Erschei- nungen ansehen, um sie wissenschaftlich behandeln zu können, müssen wir für die einzelnen Gegen- stände allgemein gültige Bezeichnungen haben. Wie kommen wir zu solchen? Auf diese Frage gibt Schlick Antwort in den folgenden Ab- schnitten über Raum und Zeit. Die Sinnesqualitäten können wir zu allgemein- gültigen Bezeichnungen nicht gebrauchen, da sie nicht dem Objekte, sondern dem beobachtenden Subjekte angehören und je nach der Beschaffen- heit des letzteren und seiner Stellung zum Ob- jekte verschieden sind. Der naive Realismus, der jenes will, führt zu Widersprüchen, denn er muß 534 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 34 einem und demselben Dinge Eigenschaften bei- legen, die miteinander unv^erträglich sind; er muß dasselbe Ding je nach der Empfindung der ver- schiedenen Beobachter für rot und nichtrot, für kalt und nichtkalt erklären. Ganz anders steht es auf den ersten Blick mit den räumlichen und zeitlichen Ordnungs- begriffen; sie scheinen zur allgemeingültigen Be- zeichnung von Objekten ganz hervorragend ge- eignet zu sein, und sie werden dazu auch von den exakten Naturwissenschaften durchgehends an- gewandt. Tonqualitäten werden hier repräsentiert durch Schwingungszahlen von Luftteilchen, Farben- töne durch die Frequenz elektromagnetischer Wellen, Wärmequalitäten durch die kinetische Energie von Molekülen. Bei diesen allgemein- gültigen Bezeichnungen handelt es sich um Be- wegungen. Der Begriff der Bewegung enthält aber stets die Begriffe von Raum und Zeit. Die räumlichen und zeitlichen Qualitäten wurden deswegen, weil sie nicht dem Subjekt, sondern den Objekten außerhalb des Bewußtseins angehören sollen von Boyle und Locke als „primäre" Qualitäten vor den sinnlichen Qualitäten als den „sekundären" Qualitäten aus- gezeichnet. Mit Recht weist jedoch Schlick darauf hin, daß wir auch bei der Zeit- und Raum- vorstellung eine sekundäre, rein subjektive Quali- tät von den objektiven, allgemeingültigen Be- stimmungen des Raumes und der Zeit zu unter- scheiden haben. So ist die räumliche Ordnung für jedes hier- bei in Betracht kommende Sinnesgebiet eine spezifische. Der Tastraum ist z. B. von dem Ge- sichtsraum zu unterscheiden. Der operierte Blind- geborene, der sich im Tastraum frei bewegen konnte, vermag sich zunächst im Gesichtsraum nicht zurechtzufinden. Noch schärfer tritt die subjektive Seite der Raumvorstellung hervor, wenn man auf sie hin die einzelnen Sinnenräume näher ins Auge faßt und etwa unsern optischen Raum mit dem mathematisch - physikalischen Raum vergleicht. Wir sehen einen Würfel stets so, wie wir ihn perspektivisch zeichnen, d. h. jedesmal verschieden je nach der Stellung, die wir zu ihm einnehmen, aber niemals als physikalischen Körper mit 12 gleichen Kanten, die in 24 rechten Winkeln zu- sammenstoßen. Der mathematisch-physikalische Raum ist nach Schlick überhaupt keine Anschauung, sondern eine begriffliche Konstruktion. Er entsteht nach ihm dadurch, daß wir die verschiedenen sinnlich gegebenen Raumdaten aufeinander bezichen und in übereinstimmender Weise in eine dreidimensio- nale Mannigfaltigkeit einordnen, wie der Mathe- matiker dies in der analytischen Geometrie tut, wenn er sie auf die drei Koordinaten bezieht. Der mathematisch- physikalische Raum ist wie jeder andere Begriff nach Schlick nicht vor- stellbar, sondern nur denkbar. Analoges gilt hinsichtlich der Zeit. Auch die Zeit ist ein subjektives Erlebnis und gehört als solches dem Subjekt und nicht dem Objekt an. Allerdings empfindet nicht, wie beim Raum, irgendein Sinnesorgan die Zeit, sondern das ganze Ich erlebt sie. Zudem haftet sie allen Erleb- nissen als eine Eigenschaft an. Aber trotz ihrer grundlegenden Bedeutung für unser ganzes Be- wußtseinsleben hat sie den Charakter einer sekundären Qualität. Sie ist ebenso variabel wie alle subjektiven Erlebnisse. Eine Stunde schleicht träge dahin oder saust im Fluge vorbei je nach dem Zustande des Subjektes. Zur objektiven Zeitbestimmung kommen wir ebenso wie zur ob- jektiven Raumbestimmung durch eine begrifi'liche Konstruktion. Wir ordnen allen zeitlichen Er- lebnissen eine eindimensionale Mannigfaltigkeit zu, in welcher, nachdem Anfangspunkt und Be- zugssystem (Kreislauf der Erde, des Zeigers der Uhr) gewählt sind, jedem Vorgang eine zahlen- mäßig bestimmte Stelle entspricht. Im Reich des Bewußtseins entspricht jedem Abstand zweier Zahlen jener eindimensionalen Mannigfaltigkeit nur ein „gleich", „bald", „vor langer Zeit" usw. Die Unterscheidung, welche Schlick zwischen der Zeit- und Raumvorstellung als subjektiven Erlebnissen mit dem Charakter sekundärer Quali- täten und den objektiven allgemeingültigen Zeit- und Raumbestimmungen macht, ist zweifellos richtig. Aber die Frage ist, ob die objektive Zeit- und Raumbestimmung tatsächlich nur eine begriffliche Konstruktion ist, oder ob sie nicht wesentlich mit Hilfe eines uns angeborenen An- schauungsvermögens zustande kommt. Schon beim Kind ist die Schlicksche Annahme, daß der objektive Raum ein Begriff ist, der dadurch ent- steht, daß das Kind die einzelnen sinnlichen Wahrnehmungsdaten im optischen, haptischen und kinästhetischen Räume einander eindeutig zu- ordnet und auf ein rein begriffliches, einheitliches, unvorstellbares Ordnungsschema bezieht, sehr un- wahrscheinlich. Noch mehr gilt das z. B. hin- sichtlich der Nestflüchter, die sich, sobald sie das Nest verlassen haben, sofort mit vollkommener Sicherheit im Räume bewegen und für das Küken, das, eben aus dem Ei geschlüpft, mit richtiger Abmessung das ihm hingestreute Futter aufpickt. Hier ist eine vorhergehende begriffliche Konstruktion sicher ausgeschlossen. Bei der Auseinandersetzung Schlicks mit Kant muß man festhalten, daß nach Schlick die allgemeingültigen Ort- und Zeitbestimmungen Verhältnissen der Dinge an sich entsprechen. Insofern die Schlickschen Dinge an sich den Erscheinungen Kants korrespondieren, würde hinsichtlich dieser Geltung der Raum- und Zeit- begriffe eine Übereinstimmung zwischen Kant und Schlick stattfinden. l'"ür das Kant sehe Ding an sich gilt aber nach Kant der Raum- und Zeitbegriff weder in der Schlickschen subjektiven, noch in seiner objektiven Auffassung. Diese Unterscheidung findet sich, was Schlick gegenüber besonders hervorgehoben werden muß, bei Kant überhaupt nicht. Kant hat durchweg N. F. XIX. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 535 nur den mathematisch- physikalischen Raum im Auge. Wichtig ist der auf die Abschnitte über Raum und Zeit folgende Abschnitt: Quantitative und qualitative Erkenntnis. Um zu objektiven oder allgemeingültigen Orts- und Zeitbestimmungen zu kommen, stellen wir stets räumliche Koinzidenzen fest. Bei den meisten Instrumenten beobachten wir dabei, wie auch bei der Uhr, das Zusammenfallen eines Zeigers mit einer bestimmten Stelle oder Ziffer. Objektiver Ort und objektive Zeit werden also durch die Länge einer bestimmten Strecke, einer extensiven Größe, gemessen und werden dadurch selbst zu extensiven Größen. Extensive Größen, die gleiche Einheiten enthalten, sind aber ver- gleichbar. Werden nun wieder, wie Schlick mit Recht hervorhebt, zur allgemeingültigen Be- zeichnung der Gegenstände und ihrer Eigen- schaften in den exakten Wissenschaften durch- gehend Zeit- und Raumgrößen verwandt, so er- gibt sich daraus, daß auf diese Weise eventuell ganz verschiedenartige Qualitäten, die an sich unvergleichbar sind, vergleichbar werden; es können dieselben, wenn sie sich nur quantitativ in gleiche Einheiten (Tonwellen, Lichtwellen usw.) auflösen lassen, aufeinander bezogen und die einen in den anderen (als Summanden in der Summe) wiedergefunden werden. Die Qualitäten selbst werden auf diesem Wege für die wissenschaftliche Betrachtung eliminiert. Und dieser Eliminations- prozeß ist nach Schlick das Wesentliche aller Erkenntnisfortschritte der erklärenden Wissen- schaften. Es bleibt schließlich nur eine geringe Anzahl nicht weiter reduzierter Qualitäten übrig (z. B. die elektrischen und magnetischen Feld- stärken), aus denen die Physik die ganze objek- tive Welt aufbaut. Hinsichtlich der angenommenen fundamentalen Qualitäten herrscht eine gewisse Willkür. Im Aufbau der Newtonschen Mechanik kann z. B. an Stelle der Masse, der Zeit und der Strecke auch Volumen, Geschwindigkeit und Energie zugrunde gelegt werden. Nach Schlick ist die ganze Physik nichts anderes als die Bezeichnungsweise des Wirklichen durch die quantitativen Zeit- und Raumbestim- mungen. Wie schon oben gesagt wurde, ist die Er- kenntnistheorie Schlick, vom Standpunkt des Physikers orientiert. Die Frage ist nun, ob sich die auf dem Gebiete desselben gewonnenen Grund- sätze auch auf das Gebiet der Biologie und des Geisteslebens übertragen lassen. Nach Schlick ist dies der Fall, wenn er auch auf die biologi- schen Fragen selbst nicht näher eingeht und nur das psychologische Problem besonders behandelt. Während Kant letzteres dadurch zu lösen versuchte, daß er die objektive Welt nur als Er- scheinung und damit als Vorstellung ansah, will Schlick den Gegensatz von Natur und Geist dadurch überbrücken, daß er dem Bewußtseins- leben dasselbe quantitative Begriffssystem, das er in der Physik für das Wirkliche gefunden hat, zuordnet. Nun ist zwar das Bewußtseinsleben dasjenige Wirkliche, das eine Beschreibung durch quantitative Begriffe, wie sie für das Physische gelten, an sich, wie auch Schlick zugibt, in keiner Weise zuläßt, aber dem Bewußtseinsleben entsprechen bestimmte Gehirnprozesse, welche der quantitativen Bezeichnungsweise zugänglich sind, und nach Schlicks Voraussetzung die parallelen Bewußtseinsprozesse eindeutig be- zeichnen lassen. Die Psychologie soll darum auf Gehirnphysiologie reduziert und damit zum Gegen- stand physikalischer Erkenntnis werden. Läßt man auch den gegen diese Auffassung erhobenen Einwand prinzipieller Natur, der so schwer wiegt, daß es auch nach Schlick auf den ersten Blick „keine Rettung vor ihm zu geben scheint", auf sich beruhen, weil sich prin- zipiell auf diesem Gebiete überhaupt nur schwer etwas ausmachen läßt, so bleibt doch die auch von Schlick zugegebene Tatsache bestehen, daß „keine physikalische Theorie auch nur hinsichtlich der elementarsten psychischen Gesetzmäßigkeiten bisher befriedigende Rechenschaft zu geben ver- mochte" und daß alle Wahrscheinlichkeit dagegen zu sprechen scheint, daß man auch später einmal z. B. die Erinnerungsvorgänge auf physiologische Gehirnprozesse wird zurückführen können (S. 267). Es ist dies ein Tatsachenbeweis, der gegen die Schlicksche Auffassung spricht. Wenn Schlick ihn nicht anerkennen will, weil es „keinen all- gemeinen Satz gäbe, auf den ein solcher Un- möglichkeitsbeweis gegründet werden könne" und „an die universelle Anwendungsmöglichkeit des Systems der quantitativen Begriffe glaubt, so- lange nicht streng erwiesen sei, daß wir uns da- mit im Irrtum befinden", so setzt er sich mit letzterer Forderung mit sich selbst in Widerspruch, da es nach ihm in der exakten Wissenschaft strenge Beweise überhaupt nicht geben kann, wir uns in derselben vielmehr durchweg mit Wahrscheinlich- keitsbeweisen begnügen müssen. Es ist dies der Hauptgedanke, den er im letzten Teil seines Buches, der von der Gültigkeit der Wirklichkeits- erkenntnis handelt, im einzelnen ausführt. Die Kardinalfrage ist hier: Führen die Er- kenntnisprozesse zur unbedingten Walirheit oder dürfen auch die sichersten Wirklichkeitsurteile nur auf Wahrscheinlichkeit Anspruch machen. Nach Schlick ist nur das Letztere der Fall. Man hat gemeint, daß die absolute Gültigkeit analytischer Urteile, wenn sie reale Dinge zum Gegenstande haben, auch eine absolute Wirklich- keitserkenntnis bedeutet. Das ist jedoch ein Irr- tum. Die absolute Gültigkeit der analytischen Urteile bezieht sich nur auf den logischen Zu- sammenhang des Denkprozesses, nicht auf die Gültigkeit der Prämissen, welche das Material sind, an welchem der Denkprozeß sich vollzieht. Hinsichtlich der Wirklichkeitserkenntnis sind auch die analytischen Urteile konditionell. Das Stück Silber ist 10,5 mal so schwer als das gleiche 536 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 34 Volumen Wasser folgt mit absoluter Notwendig- keit aus dem Begriffe des Silbers. Aber nur wenn dieser richtig bestimmt ist, entspricht das Urteil auch der Wirklichkeit. Mehr noch als beim analytischen Urteil war man beim Schluß versucht, eine prästabilierte Harmonie zwischen Denken und Sein anzu- nehmen. Von jeher hat es „das Staunen des grübelnden Menschen erregt", daß unser Denken mit seinen verwickelten Deduktionen in den Lauf der Natur so einzudringen vermag, daß unsere kühnen, weittragenden Folgerungen durch die be- obachteten Tatsachen, z. B. in der Astronomie, auf das genauste bestätigt werden. Das sieht so aus, als ob der Verstand der Natur die Gesetze, nach denen die Naturvorgänge ablaufen müssen, diktiere. Nach Schlick liegt auch hier die Sache so, daß wenn die Prämissen richtig sind, d. h. der Wirklichkeit entsprechen, auch das Schlußresultat mit dem realen Verhalten der Dinge überein- stimmen muß, da die Conclusio trotz des oft langen Umwegs der Deduktion nichts anderes sagt, als was die Prämissen schon enthielten. Auch der Schluß hat ja analytischen Charakter. Es gilt von ihm dasselbe wie vom analytischen Urteil (vgl. oben S. 532). Eine absolut sichere Erkenntnis der Wirklich- keit würde daher nur möglich sein, wenn wir von absolut sicheren Prämissen ausgehen könnten. Gibt es solche? Gibt es mit anderen Worten, da die Wirklichkeit nur durch synthetische Urteile erkannt wird, und synthetische Urteile aposteriori immer eine nur relative Gewißheit haben können, synthetische Urteile apriori. Das man die Frage, die Kant stellte, und die nur bejahend beant- wortet werden kann, wenn man mit Kant an- nimmt, daß die Wirklichkeit sich nach unserer Erkenntnis richtet (vgl. oben S. 533). In den Ab- schnitten: Erkennen und Sein; Gibt es eine reine Anschauung? Gibt es reine Denkformen? Von den Kategorien — setzt sich Schlick mit Kant auseinander. Schlick hält den mathematisch-physikali- schen Raum nicht für eine Anschauungsform, sondern für eine begriffliche Konstruktion und erkennt darum wohl den mathematischen Sätzen, welche aus den impliziten Hilbertschen Defini- tionen abgeleitet sind, die 'apodiktische Gewißheit analytischer Urteile zu, nicht aber den mathemati- schen Sätzen, welche auf Anschauung beruhen, die nach ihm nur sekundäre Qualitäten erkennen läßt. Gegen die Auffassung des mathematisch- physikalischen Raumes als einer begrifflichen Konstruktion haben wir schon oben (S. 534) einige Bedenken geltend gemacht. Soweit die mathe- matischen Sätze über den Raum in Frage stehen, kommt noch ein weiteres Bedenken hinzu. Kant hat in der Methodenlehre schart den Unterschied zwischen Begriff und reiner Anschauung ange- geben. Bei dem Begriff erkennt man das Be- sondere im Allgemeinen; bei der reinen Anschau- ung das Allgemeine im Besonderen. Aus dem allgemeinen Begriff Hund kann ich erkennen, daß der Mops zu den Hunden gehört, dagegen kann ich aus der Anschauung eines einzelnen Mopses nicht den allgemeinen Begriff Hund ableiten. Anders ist es bei der reinen Anschauung. Aus einem einzelnen beliebigen Dreieck leite ich durch Konstruktion alle die Eigenschaften ab, die mit Notwendigkeit allen Dreiecken gemeinsam sind ; daß z. B. bei allen Dreiecken die Summe der 3 Winkel gleich 2 R ist, daß der Flächeninhalt aller Dreiecke gleich ist dem halben Produkt von Höhe und Grundlinie usw. Diese besondere Art, in dem Einzelnen mit absoluter Gewißheit das Allgemeine zu erkennen, ist nur der Mathematik eigen, aber sie ist aller Mathematik eigen, soweit sich dieselbe bei ihren Beweisführungen anschau- licher Konstruktionen bedient. Sie muß auf einem grundlegenden Unterschied zwischen Ding- Vor- stellung und Raumvorstellung beruhen. Ebenso wie die reinen Anschauungsformen Kants leugnet Schlick das Bestehen der Kant sehen reinen Verstandesbegriffe, der Kate- gorien. Er läßt sich bei der Begründung seiner Stellungnahme wesentlich von seiner Auffassung der Begriffe und Urteile als bloßer Zeichen leiten, die wir beanstanden mußten (vgl. oben S. 531). In bezug auf die wichtigste Kategorie, die Kausalität, geht Schlick von Kant auf H u m e zurück, nach welchem die Kausalität oder das propter hoc nichts anderes ist als die gewohnte Sukzession zweier Wahrnehmungen, also ein oft wiederholtes post hoc. Ein absolutes Kausal- gesetz und ein geschlossener Naturzusamnienhang bestehen bei dieser Auffassung nicht. Wir können es nicht wissen, ob nicht einmal Naturgeschehnisse auch ohne Kausalzusammenhang ablaufen (Mi 11), wenn wir auch in der Regel den aufeinander- folgenden realen Naturgeschehnissen begriffliche funktionelle Beziehungen zuordnen können. Das Hauptresultat der Schlickschen Er- örterung ist: „Die Wirklichkeit erhält Form und Gesetz nicht erst durch das Bewußtsein. — — Nun bestand aber die letzte und einzige Möglich- keit strenger, allgemeiner Natureikenntnis darin, daß das Bewußtsein der Natur ihre Gesetze diktiert. Da diese Möglichkeit entschwunden ist, so sind wir jeder Hoffnung beraubt, im Erkennen des Wirklichen zu absoluter Sicherheit zu ge- langen. Apodiktische Wahrheiten vom Wirklichen übersteigen die Kraft des menschlichen Erkennt- nisvermögens und sind ihm nicht zugänglich. Es gibt keine synthetischen Urteile a priori." Damit kommt nun auch der logische Charakter der naturwissenschaftlichen Forschungsmethode, der Induktion, in Wegfall. Der strenge Induktions- schluß lautete: Unter gleichen Bedingungen treten gleiche Erfolge ein. Unter den Bedingungen a, b, c . . . trat häufig der Erfolg X ein. N. F. XIX. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 537 Also tritt unter den Bedingungen a, b, c . . . immer der Erfolg X ein. Gibt es keinen geschlossenen Naturzusammen- hang, so fällt die Propositio major hinweg. Es bleiben nur die Glieder der bloß aufzählenden Induktion: Unter den Bedingungen a, b, c . . . trat häufig der Erfolg X ein; Also tritt unter den Bedingungen a, b, c . . . immer der Erfolg X ein. Die Induktion ist nicht mehr ein logischer, sondern nur noch ein psychologischer Vorgang. Sie beruht ausschließlich auf Assoziation, auf Ge- wöhnung. Weil unter bestimmten Bedingungen ein Erfolg oft eingetreten ist und auch sonst in der Natur ähnliche Erlebnisse gleichförmig immer wiederkehren, glauben wir, daß der Erfolg unter jenen Bedingungen immer eintreten wird. „Ein anderer Grund für den naiven Glauben an die. Allgemeingültigkeit synthetischer Sätze läßt sich nicht finden" — daher ist „keine wissenschaft- liche Wahrheit, mag sie — — der exaktesten Naturforschung angehören, im Prinzip vor der Gefahr sicher, irgendwann einmal widerlegt und ungültig zu werden." Das Schlicksche Buch ist klar und fesselnd geschrieben. Es führt in den heutigen Stand der naturphilosophischen Probleme ein und erleichtert deren Verständnis durch eine Menge trefflich ge- wählter Beispiele. Freilich leidet es auch an dem Fehler, den der Königsberger Physiker V o 1 k - mann im allgemeinen bei den naturwissenschaft- lichen Monisten, zu denen trotz seiner Ver- wahrung Schlick gehört, rügt. Nach Volk- mann arbeitet jeder Forscher bei der Aus- führung seines monistischen Systems mit dem Handwerkszeug, das er kennt, und überträgt das Isolationszentrum, das er für sein Spezial- gebiet gefunden hat, auf das Ganze. Die Folge ist, daß der Chemiker und Physiker zu einem anderen Monismus kommt, wie der Zoolog und Botaniker. So will Schlick das auf dem Ge- biet der Physik gefundene System der quantita- tiven Begriffe auf die ganze Wirklichkeit an- wenden. Es kommen dabei nicht nur die Geistes- wissenschaften, sondern auch die Biologie zu kurz. Das für diese so wichtige Problem der Teleologie berührt er überhaupt nicht. Einzelberichte. Chemie. Das Atomgewicht von Scandium ist neu bestimmt worden. Die Atomgewichtsbestim- mungen im Gebiet der seltenen Erden gründen sich vorwiegend auf zwei Methoden. Man er- mittelt das Atomgewicht entweder aus den Halogen- verbindungen oder aus denen der Sulfate. Insbe- sondere bei der letzten Methode stört aber die Hydrolyse der betreffenden Salze, die dadurch eine unkontrollierbare Verschiedenheit der Zu- sammensetzung annehmen. Th. W. Richards und seine Schüler haben demgemäß die Bestim- mung über die Halogenide bevorzugt und mit allen Mitteln und Vorsichtsmaßregeln der heutigen Experimentierkunst zu einem sehr hohen Grade der Vollkommenheit gebracht. Nachdem es R. J. Meyer und B. Seh weig "^j gelungen war, das Scandium in Form des Scandium-Ammonium- fluorids sehr rein darzustellen, konnte man daran denken, eine neue Atomgewichtsbestimmung nach der Richard sschen Halogenidmethode durch- zuführen. Diese Bestimmung wurde von O. Hönig- schmid") vorgenommen. Aus der Analyse reinsten wasserfreien Scandiumbromids ergab sich das Atomgewicht Sc = 45,099, mit einem wahrscheinlichen Fehler von ±0,014. Dieser Befund wird bestätigt durch eine neuere Arbeit von R. J. Meyer und Schweig,^) die ') Vgl. B. Schweig, Inaug.-Dissertat. Berlin 1917. ^) Zeitschr. f. Elektrochemie 25, S. 91. 1919. ') Zeitschr. f. anorgan. Chemie 108, S. 303. 1919. mit einer nochmals verbesserten Sulfatmethode sowie einige Male auch über das Oxalat als Mittel- wert Sc = 45,23 fanden. Obwohl diese Autoren betonen, daß diese Bestimmung (als Sulfat, Sc„(So^'l3) „völlig genaue Werte nicht liefern kann", so ist doch die grundlegende Übereinstimmung mit dem Wert von Hönigschmid nicht zu verkennen. Die Internationale Atomgewichts- kommission die nunmehr zu bestehen aufgehört hat, nahm als Atomgewicht 80 = 44,1 an, ein Wert, den auch Brauner^) als wahrscheinlich- sten ansah, obwohl schon Cleve 1879 den Wert 45,20 fand. Nach den neuesten Bestimmungen ist jedoch kaum zweifelhaft, daß der wahre Wert um eine Einheit größer ist als der bisher gebräuchliche, d. h. Sc =^45,1 beträgt. H. H. Chemie. Über eine neue Darstellungsmethode von Glyoxal berichten Ä. Wohl undK. Bräunig.-) Das Verfahren ist vor allem von hohem theoreti- schen Belang, während seine praktische Bedeutung (im Gegensatz zu den Entdeckern) zunächst nicht sehr hoch veranschlagt werden möchte. x'\ls Ausgangsstoffe dienen Ozon und Azetylen, also zwei sehr reaktionsfähige Stoffe. Ihre Ein- wirkung aufeinander besteht in einer Oxydation des Azetylens, das infolge seiner wenig stabilen ') In Abeggs Handbuch d. Anorgan. Chemie III, , S. 341. Leipzig 1906. -) Chemiker-Zeitg. 44. S. 157. 1920 (Nr. 23). 538 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 34 Struktur (HC — CH) diesem Prozeß so leicht zu- gänglich ist, daß er explosionsartig erfolgt. Be- rechnet man die Wärmetönung dieses Vorgangs, so gelangt man zu so hohen Werten, daß „wohl die flüssige IVIischung von Azetylen und Ozon eine der voraussichtlich wirkungsvollsten Kom- binationen" für explosive Mischungen wäre.') Bringt man jedoch beide Stoffe in geeigneter Verdünnung zur Reaktion, so wird diese gefahr- los und führt, wie Wohl und Bräun ig fanden, zu einer fast quantitativen Oxydation des Azetylens zu Ameisensäure H-CO.,H und Glyoxal H-CO-CO-H, dem einfachsten Dialdehyd. Der Vorgang ist vielleicht zu formulieren: 2C2H2 + 2O3— >H.C — C-H-l- Azetylen Ozon |] || o o Glyoxal H-CO^H + CO, Ameisensäure Kohlendioxyd. Interessant daran ist einmal, daß durch Ver- dünnung mit Luft die Reaktionsgeschwindigkeit auf ein solches Maß herabgedrückt wird, daß wohldefinierte Stoffe entstehen und gefaßt werden können; dann aber, daß wegen der konstitutiven Einfachheit der Reagentien hier ein besonders schönes Beispiel für die Anlagerung des Ozons an eine Mehrfachbindung vorliegt, eine Reaktion, die ja von Harri es in der Chemie der Terpene (Kautschuk usw.) mit großem Erfolg studiert worden ist. Die geeignetsten Versuchsbedigungen sind diese : ein Luftstrom, der in der Stunde 15 m^ Gas in das Reaktionsgefäß treten läßt, und in dem auf den m'' 12 — 13 g Ozon enthalten sind, tritt zu einem zweiten Luftstrom, der stündlich 16 — 18 g Azetylen in m^ zuführt. Man erhält so stündlich 155 — 190 g Glyoxal und 107— 122 g Ameisensäure, die dem Reaktionsgemisch durch Einblasen von fein verstäubtem Wasserdampf entzogen werden. Praktisch von Bedeutung ist diese Gewinnung von Glyoxal dadurch, daß es durch Kalk in das Calciumsalz der Glykol säure, die als Genuß- mittel Verwendung findet, überführt werden kann. Sodann fand Hinsberg,-) daß sich Glyoxal mit aromatischen Aminen zu Oxindolderivaten kon- densieren läßt, was einen Weg zur Indigodar- stellung darstellt. Ob diese durch das Wohl- sche Verfahren wesentlich' vereinfacht wird, sei dahingestellt. H. Heller. Über Hydroperoxyd (Wasserstoffsuperoxyd) als Lösungsmittel berichten Barn beTger und Nuß - bäum in einer vorläufigen Mitteilung.'') Mittels der von Spring, Brühl u. a. ausgearbeiteten Methoden ist es möglich, Hydroperoxyd in nahezu jeder gewünschten Konzentration darzustellen. ') van t'Hoff, Vorlesungen üb. tlicoret. Chemie, »raun- M-hweig 1903. III. S. 109. ') Ber. d. deutsch. Chem. Gescllsch. 21, S. iii. 1888. ^) Wiener Monatsheft für Chemie, 40, .S. 411, 1919 (Heft ^ 10 V. b. März 1920. Zumal durch Ausfrierenlassen hochkonzentrierter Lösungen des Stoffes gelangt man zu fast wasser- freien Präparaten. Die eingangs genannten For- scher fanden nun, daß Hydroperoxyd zahlreiche organische Stoffe mit großer Leichtigkeit zu lösen vermag, und zwar scheint die Löslichkeit für hydroxyl reiche Stoffe besonders groß zu sein. Ferner besteht eine weitere Beziehung der Art, daß mit wachsendem Molgewicht des zu lösenden Stoffes die Konzentration des Hydro- peroxyds zuzunehmen hat. Die Lösungsversuche sind bisher vorwiegend auf Stärke und Zellu- lose angewendet worden. Hierbei ergab sich, daß es sich zumeist nicht um gewöhnliche „phy- sikalische" Lösung, d. h. einfache intermolekulare Zerteilung, handelt, sondern daß chemische Vorgänge dabei eine Rolle spielen. Beispielsweise löst sich Stärke in 6oproz. Hydroperoxyd zu einer leicht viskosen homogenen Masse. Zellulose bedarf höher konzentrierter Lösungen. Versetzt man diese mit Wasser, so wird die Zellulose wieder ausgeschieden, aber in chemisch veränderter Form. Auch die Lösung selbst verändert sich, sie zeigt Blasenbildung und „geht auf" wie Brotteig. Dann aber tritt Er- weichung ein, die Masse wird immer dünnflüssiger und ergibt bei der Ausfällung mit Alkohol nicht etwa wieder Stärke, sondern verschiedene ihrer Abbauprodukte. Man hat also im Hydro- peroxyd ein Mittel gefunden, der Konstitution der Zellulose, die ja noch ganz ungekannt ist, auf die Spur zu kommen. Den von den beiden F"orschern in Aussicht gestellten Untersuchungen hierzu darf mit um so größerer Hoffnung auf günstige Er- gebnisse entgegengesehen werden, als die durch die Einwirkung der Hydroperoxydlösung sich er- gebenden Abbauprodukte ziemlich kleine, der weiteren Behandlung zugänglichere Spaltstücke des Zellulosemoleküls zu sein scheinen. Jene Stoffe sind gummiartig und besitzen verschieden große Wasserlöslichkeit. Von Einfluß auf die Löslichkeit in Hydro- peroxyd ist ferner die Vorbehandlung der Zellulose. Solche, die durch konzentrierte Kali- lauge merzerisiert wurde, wird vergleichsweise leichter gelöst. Möglicherweise liegt hierin ein Mittel, Zellulosepräparate auf etwa vermutete Merzerisation zu prüfen. Von weiteren in Hydroperoxyd löslichen Stoffen sindfernerZucker arten und Eiweißstoffe ge- nannt. Eieralbumin löst sich leicht, auch weiße Seide. Auch hier sind Abbauprodukte wahr- scheinlich, wie denn überhaupt gewisse Bindungen in organischen Molekülen unter dem Einfluß des Hydroperoxyds leicht gelöst zu werden scheinen. (Ein Verhalten, das dem des Ozons entsprechen würde; vielleicht sogar in mehr als rein äußer- lich, denn beide Male handelt es sich um leicht sauerstoffabgebende Stoffe, also um oxydative Reaktionen. Ref.) Ein Beispiel für solche „sprengende" Eigenschaften des Hydroperoxyds ist die Depolymerisation von Paraformal- N. F. XIX. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 539 dehyd. Dieses zerfällt in Hydroperoxydlösung in Formaldehyd. Für die Praxis aller genannten Reaktionen ist zu beachten, daß Spuren katalytisch wirkender Stoffe, z. B. Metalle, lebhafte Zersetzungen, selbst Entzündungen hervorrufen können. Hans Heller. Mineralogie. Die Basalte der Blauen Kuppe bei Eschwege und benachbarter Vorkommen und ihren Cristobalitgehalt behandelt P. Ramdohr, Göttingen, im Zentralbl. f. Mineral, usw., 1920, S. 33 —36. Es handelt sich um die Vorkommen der Blauen Kuppe, des Rosenbühls und des Alpsteins bei Sontra, wo überall Basalt unteren Bundsandstein durchbrochen und verändert hat. Der Basalt der Blauen Kuppe ist ein meist fein- körniger, im Innern doleritisch werdender Feld- spatbasalt. Er unterscheidet sich scharf von dem Basalt der Kleinen Kuppe, eines der Blauen Kuppe unmittelbar vorgelagerten Hügels, der genetisch mit der Blauen Kuppe zweifellos eine Einheit bildet, aber aus Sodalithbasalt besteht. Einen deutlichen Übergang zwischen beiden Gesteinen stellt der Basalt eines Ganges dar, der vielleicht die beiden Kuppen verbindet. Der Buntsand- stein ist durch den Kontakt nur dort stark ver- ändert, wo Schollen losgerissen wurden und zum Schwimmen kamen, hier aber stark gefaltet und durcheinander geknetet. Die tonreichen und glimmerreichen Partien sind vollkommen zu schwarzem Glas geschmolzen. Als Neubildungen treten auf: Cordierit, rhombischer und monokliner Augit, Erze und manchmal in unmittelbarer Kon- taktnähe auch Feldspat. Besonders interessant sind die pneumatolytisch und hydrothermal ent- standenen Mineralien. Das Gestein, das diese Mineralien in seinen Hohlräumen führt, ist deut- lich von dem gewöhnlichen Basalt verschieden. Stark klüftig und blasenreich, fallt es durch seine helle Farbe leicht auf. Die Analyse ergab eine beträchtlich höheren SiOoGehalt. Magnetit, meist in Oktaedern auftretend, ist das häufigste pneu- matolytische Mineral. Eisenglanz ist selten in kleinen Täfelchen. Das größte Interesse hat der Cristobalit, der an einer kleinen Stelle, dort aber recht häufig vorkommt. Es sind schöne, milchglasähnliche, weiße Kristalle von gewöhnlich unter i mm Größe. Sie erscheinen in drei Trachten: i. als Oktaeder in wenig verzerrter Ausbildung, 2. als dünne sechsseitige Tafeln mit scheinbar rhomboedrischer Begrenzung und 3. als Kristalle, die geometrisch durchaus dem Tridymit gleichen. Die bei allen drei Arten gleiche Um- wandlungstemperatur ist beim Erhitzen 235 bis 250", beim Abkühlen stets verzögert 215 — 230", die Dichte liegt zwischen 2,290 und 2,320. Die zweite Tracht ist die weitaus häufigste. Zwischen den drei Trachten untereinander sind Über- gänge vorhanden. Zwillingsbildungen, besonders nach dem Spinellgesetz, sind sehr häufig. Das ungemein häufige Auftreten von nach dem Oktaeder verzerrten Kristallen, das Vorkommen von Ikositetraederflächen nur an den Prismen- flächen zukommenden Stellen, die zwillingsähnlichen Verwachsungen, die Zwillinge nach unwahrschein- lichen Gesetzen und schließlich habituelle Merk- male beweisen dem Verf., daß hier Pseudo- morphosen von Cristobalit nach Tri- dymit vorliegen. Optisch zeigen die Kristalle einen Aufbau aus drei zueinander senkrechten quadratischen Individuen. Der Brechungsexponent beträgt 1,485. Viel seltener als Cristobalit ist der Tridymit. Seine Unterscheidung von Cristobaliten dritter Tracht ist sehr schwierig. Häufig treten noch auf Apatit in einfachen P'ormen, sowie Augit in sehr kleinen grünen Kristallen. Hypersthen ist recht selten und zeigt, ebenso wie die gelegent- lich gefundenen Feldspate, Glimmer und Titanite, keine Besonderheiten. In vielen Hohlräumen sind reichlich Karbonate, besonders Aragonit, selten auch Zeolithe abgesetzt worden. Die älteren Kluftmineralien sind sämtlich mit Chalzedon in- krustiert. Der Basalt der Rosenbühls, der jetzt schlecht aufgeschlossen ist, ist ein sehr dichter Feldspat- basalt. Von ihm deutlich verschieden ist ein silbergraues, blasenreiches Gestein, das fast aus- schließlich aus Plagioklas und Magnetit besteht und ebenfalls Cristobalit führt. Es ist jedoch ver- schieden von dem cristobalitführenden Basalt der Blauen Kuppe. Der Alpstein besteht aus sehr dichtem, oft sehr reichlich große Olivineinschlüsse führendem Nephelinbasalt. Der Kontakt am Buntsandstein ist hier besonders schön aufgeschlossen und ent- spricht dem an der Blauen Kuppe. Die Vergleichung der Analysen der ver- schiedenen Basalte von den angeführten P'undorten ergibt sehr beträchtliche Verschiedenheiten in der Lage der Projektionspunkte im O s a n n sehen Dreieck. Gemeinsam ist allen Gesteinen ein auf- fallend hoher Titangehalt. F. H. Über Schwerspatperimorphosen im mittel- devonischen Massenkalk des Sauerlandes berichtet F. M. Behr in der Zeitschr. d. Deutsch. Geol. Gesellsch., Bd. 71, 1919, S. 122 — 134. Die Fund- stelle für die Perimorphosen war der Steinbruch der Berghauser Kalkwerke, welcher Soo m nord- westlich der Sennebrücke an der Eisenbahn im Massenkalk liegt. Der Dolomit, der den größten Teil der Bruchwand bildet, ging nach NW in eine schmale Zone dolomitisierten Kalkes über, auf die reiner, massiger und dichter Kalk folgte. Etwa in der Mitte der W-Wand des Steinbruchs ragte eine Kalkmasse in den Dolomit hinein, welche von diesem ebenfalls durch ein dolomiti- siertes Zwischenmittel getrennt war. In dieser Kalkmasse fanden sich vornehmlich die in Frage stehenden Hohlformen, ebenso häufig in der 540 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 34 schwach dolomitisierten Zone, während sie im Dolomit fehlen. Makroskopisch haben diese Hohl- formen teilweise das Aussehen von „Messer- schnitten" mit glatten Flächen, auch flach linsen- förmige Formen kommen vor. Die Einzelformen vereinigen sich z. T. unter konstanten Winkeln oder bilden Durchdringungen von der Form des Andreaskreuzes oder große Rosetten. Die Größe der Hohlformen schwankt zwischen 0,5 und 5 cm, die Dicke zwischen 0,1 — 1,2 mm. Positive Aus- güsse der negativen Perimorphosen lassen zwar Winkelmessungen nicht zu, lassen jedoch erkennen, daß es sich um tafelförmige Kristallindividuen handelt, deren Kanten durchweg zugeschärft sind. Von den Mineralien, die in derartig unveränderten kalkigen Sedimentgesteinen aufzutreten pflegen, hat nur der Schwerspat ähnliche Formen aufzu- weisen. Er hat aller Wahrscheinlichkeit die Hohl- räume ausgefüllt gehabt. Eine Altersgrenze der Bildungszeit dieser Hohlformen kann insoweit fest- gestellt werden, als sie sicher jünger sind als der Dolomit. Auf den Flächen haben sich nämlich, vor allem in der dolomitisierten Zone, zahlreiche Dolomitrhomboeder angesiedelt, welche mit der .Annäherung an den Dolomit immer zahlreicher werden und die Hohlformen schließlich ganz aus- füllen und damit völlig verwischen. Auf die weiteren, ausführlichen Erörterungen des Verf. über die Bildungsmöglichkeiten der Perimorphosen können wir aus Raummangel hier nicht weiter eingehen. Wir müssen uns mit einer kurzer Wiedergabe der Ergebnisse begnügen. Der Verf. kommt zu dem Schluß, daß die Bil- dung der vorliegenden Barytperimorphosen mit großer Wahrscheinlichkeit auf metasomatischem oder authigen diagenetischem Wege als eine spätere Umwandlung des Kalkes in bezug auf seine che- mische Zusammensetzung erfolgt ist. Ein Ver- gleich mit der in der Luftlinie kaum 6 km davon entfernten Meggener Schwerspatlagerstätte läßt uns erkennen, daß es sich mit einiger Wahrschein- lichkeit um eine der Schwerspatknollenbildung im Liegenden derselben analoge Erscheinung handelt, daß diese daher ebenfalls metasomatisch oder diagenetisch entstanden sein können, mit der Unterscheidung, daß im Kalk eine Kristallaus- bildung des Barytes möglich war, im dichten Tonschiefer hiergegen eine sphärolithisch-kristal- line Ausbildung erfolgt ist. Eine Beziehung der Perimorphosen zur Lagerstätte selbst wäre da- gegen nur in der Annahme festzustellen, daß der primäre Bariumgehalt des Kalksteines dem Devon- meere entstammt, aus welchem nach den neuen Untersuchungen von Bergeat und Doß und anderen die Meggener Lagerstätte gebildet worden sein soll, ohne dagegen einen Schluß auf die Art und Weise der dort vor sich gegangenen Prozesse, auf die Wechselwirkung der Lösungen oder die Möglichkeit von deren Ableitung zu gestatten. F. H. Zoologie. Über Chlorpikrin, von dessen vor- züglichen Eigenschaften als Ungeziefervertilgungs- mittel vor kurzem berichtet wurde/) liegen neue Mitteilungen vor. G. Bertrand und seine Mit- arbeiter verwendeten es erfolgreich gegen den Rüsselkäfer,-') den bekannten Getreideschädling, der sich in die Körner einfrißt und so auf Ge- treideböden ein höchst unwillkommener Gast ist. Wurden die von dem Käfer befallenen Säcke auf einen fest abgedichteten Speicher verbracht und dieser derart vergast, daß auf den Sack 20— 25 g Chlorpikrin kamen, so waren nach 20 stündiger Einwirkungsdauer sämtliche Tiere abgetötet und, ein weiteres günstiges Ergebnis, zum größten Teil aus den Körnern herausgekrochen, so daß diese nunmehr verwendungsfähig waren. Etwas schwieriger gestaltet sich die Vertilgung von Ver- tretern der Triboliden.^j von denen insbe- sondere Triboliiim navalc F. und 7>. fcrntginciiiii F. angetroffen werden. Diefe befallen vorzugs- weise Maiskörner, wenn auch anscheinend erst dann, sobald der Rüsselkäfer vorgearbeitet hat, so daß sie die fertigen Löcher auszunutzen ver- mögen. Die für den Rüsselkäfer angewendete Gaskonzentration mußte, um Triboliuiii zu ver- nichten, wenigstens 2\ Stunden zur Wirkung ge- bracht werden. Unterhalb dieser Zeit blieb eine Einwirkung aus bzw. nur unvollkommen. — Von weittragender Bedeutung ist es ferner, daß auch Ratten dem Chlorpikrin zum Opfer fallen,') so daß man auch diesem unter Umständen gefähr- fährlichen Tier zu Leibe gehen kann. Vor allem sterben mit ziemlicher Schnelle die auf den Ratten lebenden Flöhe, bekanntlich die Verbreiter von Pest und anderen Krankheiten. Man hat somit im Chlorpikrin ein Mittel, pestverdächtige Schiffe auszuräuchern, ein gefahrloses Unternehmen, da weder Gewebe noch P'arbstoft'e und Lackierungen von dem Gase angegriffen werden. Die mit der Handhabung des Stoffes betrauten Menschen können sich der Einwirkung des Gases durch unsere Heeresgasmaske entziehen. Gewisse Vorsicht beim Gebrauch, zumal bei hohen Temperaturen ist jedoch am Platze. J. \. Gardner und F. W. Fox'"') nämlich haben fest- gestellt, daß das Chlorpikrin beim Kochen unter gewöhnlichem Druck unter Bildung höchst giftiger Gase zerfällt im Sinne der Gleichung: CO, -NO., > NOCl + CO ■ Cl,, Chlorpikrin Nitrosylchlorid Phosgen. Beide gebildeten Gase sind dem Organismus höchst schädlich (Phosgen wurde bekanntlich im Gaskampf verwendet, und erst jüngst wieder fiel ihm ein Chemiker der Deutschen Zellu- 1919). ') Naturw. Wochenschr. .\. F. XVUI, S. 425 (Nr. 30, '-) Comptes rendus de l'Acad. fran^aisc 169, S. 880: a. a. Ü., S. 1428; 1919. a. a. O., 170, S. 345; 1920. Journal of Ihc Chem. Society, London, 115, S. 1188; N. F. XIX. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 541 loidfabrik zu Opfer, Ref.). Bei erhöhter Tem- peratur also kann, sich dieser Zerfall, selbst wenn er nur zu geringem Grade eintritt, gefährlich bemerkbar machen. Schließlich sei noch erwähnt, daß W. L. A rgo und seine Mitarbeiter imTetrachlordinitro- aethan einen Stoff fanden, der dem Chlorpikrin an Wirksamkeit erheblich überlegen ist.^j So wirkt es auf Mäuse sechsmal giftiger als dieses, tlin Sechstel seiner Konzentration wirkt in gleicher Weise tränenreizend wie Chlorpikrin, auch zer- fällt es bei hoher Temperatur in entsprechender Weise. Immerhin dürfte der neue Stoff nicht die gleiche Bedeutung wie das Chlorpikrin erlangen. Seine Darstellung nämlich ist zu schwierig. Sie geschieht so, daß man Perchloraethylen mit Stickstofftetroxyd in geschlossenem Rohr auf- einander einwirken läßt. CU.C = C-C1., +N,0, >NO„CI,. • C— C-CU-NO.,. Schon geringe Wassermengen vermögen das Gasgemisch zur Explosion zu veranlassen. Indem Vi^erden die meisten Stoffe davon angegriffen, so daß die Darstellung im großen schwer ist. Man muß mit Porzellan ausgekleidete Autoklaven dazu verwenden, um bei 70 — 80" und 10 — 12 atm. Druck etwa 65 v. H. der theoretischen Ausbeute zu erhalten. Demgegenüber ist die Chlorkalk- methode A. W. Hofmanns zur Chlorpikrindar- stellung unübertrefflich einfach und billig. Hans Heller. Bücherbesprechungen. Engler, Arnold, Untersuchungen über den Einfluß des Waldes auf den St and der Gewässer. Mitteilungen der Schweizerischen Zentralanstalt für das forstliche Versuchswesen. Bd. XII mit 58 Abbildungen auf Tafeln und im Text. 626 Seiten. Zürich 1919, Kommissions- verlag von Beer & Co. Die große Bedeutung des Waldes für die Be- wässerung und damit für die Kulturfähigkeit der Länder und die Wohlfahrt ihrer Bewohner ist so- zusagen eine Binsenwahrheit. Aber im einzelnen besteht trotz der zahlreichen Untersuchungen, die der Gegenstand erfahren hat, manche Unsicher- heit, die sich auch bei Lösung praktischer Fragen geltend macht. So wurde es in der Schweiz bei den zur Bekämpfung der Wasserverheerungen in den neunziger Jahren des vor. Jahrhunderts vor- genommenen Aufforstungen als großer Übelstand erkannt, daß keine zahlenmäßigen Unterlagen vor- lagen, um zu beurteilen , in welchem Maße der Wasserabfluß bei starken Niederschlägen durch den Wald verhindert wird. Damals regte der Oberförster Gottfried Zürcher, der mit der Projektierung von Aufforstungsarbeiten in den Quellgebieten der Ilfis beauftragt war, die Aus- führung entsprechender Versuche im Emmental an. Infolgedessen beschloß die Aufsichtskommis- sion der Eideenössischen forstlichen Versuchs- anstalt die Ausführung von Versuchen zur mög- lichst genauen Messung des Wasserabflusses in zwei Rinnsalen des Emmentals, dem stark be- waldeten Sperbelgraben und dem wenig be- waldeten Rappengraben im Gebiet der ber- nischen Gemeinde Sumiswald. Diese beiden Wassermeßstationen wurden im Jahre 19CO in Betrieb gesetzt, und die Versuche standen seit 1902 unter der Leitung von Prof Arnold Eng- ler, der damals an die Spitze der forstlichen Versuchsanstalt getreten war. Seine umfangreiche, ') Journal of Physic. Chemistry. 23, S. 578; 1919. mit Tabellen, Tafeln und photographischen Auf- nahmen ausgestattete Arbeit gibt erschöpfende Auskunft über diese Versuche. Festgestellt wurden die täglichen und jährlichen Niederschlagsmengen, der Verlauf und die Inten- sität der Niederschläge, die Schneehöhen und die Lufttemperatur sowie die Größe des Verlaufs des Wasserabflusses. Weiter wurden untersucht die Wasserkapazität, die Porosität usw. der Wald- und Freilandböden , deren Feuchtigkeitsgehalt in verschiedenen Jahreszeiten, ihre Durchlässigkeit (Sickerwassermengen, Geschwindigkeit der Ein- sickerung) u. a. m. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der vergleichenden Darstellung der im Zusammenhang mit stärkeren Niederschlägen, Landregen, Regen- und Trockenperioden usw. in beiden Gebieten beobachteten Abflußmengen. Engler hebt es als selbstverständlich hervor, daß die Versuchsergebnisse nur für Gebiete mit ähnlichen Klima- und Bodenverhältnissen volle Gültigkeit haben, doch fügt er hinzu : „Durch die Art und Weise aber, wie die Versuche durchge- führt wurden, und besonders auch durch die Untersuchung derjenigen Faktoren, die für die Wasserführung des Bodens ausschlaggebend sind, glaube ich die Ergebnisse auf eine allgemeinere, wissenschaftliche Grundlage gestellt zu haben". Hier mögen einige Hauptergebnisse mitgeteilt sein: Die Gebiete, deren Abflußverhältnisse festge- stellt wurden und deren Flächengröße 55,79 ha (Sperbelgraben) und 69,71 ha (Rappengraben) be- trägt, gehören geologisch beide der bunten oder polygenen Nagelfluh an. Die sie zusammensetzen- den Gesteine sind vorwiegend weiße, grünliche und rötliche Quarzit-, Hornstein- und Granitgerölle, deren Größe im allgemeinen von unten nach oben zunimmt. Das Bindemittel besteht aus feineren Geschiebetrümmern und enthält viel Kalkkarbonat. Die Nagelfluhbänke haben 3 — 35 m Mächtigkeit. Wegen ihres lückenlosen Gefüges S42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 34 und der vielfach eingelagerten Mergelschichten ist die Nagelfluh im allgemeinen für Wasser wenig durchlässig, namentlich in den tiefer liegen- den Schichten , während die oberen stark der Verwitterung ausgesetzt sind und dadurch aufge- lockert werden. Diese geringe Durchlässigkeit war in methodischer Hinsicht ein Vorteil für die Versuche, da die IVIöglichkeit des Verschwindens großer Wassermengen in Gesteinsklüften ausge- schlossen war. Wenn nun beide Gebiete in die- sem Punkte übereinstimmen, so entsprechen doch die natürlichen Verhältnisse in anderer Beziehung nicht den idealen Forderungen, die man im Streben nach unmittelbarer Vergleichbarkeit der Versuchs- ergebnisse zu stellen geneigt wäre. So begünstigt die Bodengestalt im Rappengraben den langsamen Abfluß und die Verdunstung des Wassers auf der Oberfläche mehr als im Sperbelgraben. Ferner müßte, um den Einfluß der Vegetationsdecke zu ermitteln, das eine Gebiet vollständig bewaldet, das andere völlig waldlos sein. Tatsächlich ist der Sperbelgraben auf 3 '% seiner Oberfläche unbewaldet und der Rappengraben noch zu 35 "j,, der Oberfläche mit Wald bedeckt, trägt auch auf der Hälfte seines Weidelandes Strauch- und Farnwuchs, weshalb der Boden dort lockerer und durchlässiger ist als gewöhnlicher Weideboden. Trotz dieser den Vergleich erschwerenden Um- stände treten die Unterschiede im Verhalten des bewaldeten und des unbewaldeten Gebietes deut- lich hervor. Die Porosität der Waldböden zeigte sich nicht nur in den oberen , sondern namentlich auch in den tieferen Schichten bedeutend größer als die der Weide-, Wiesen- und Ackerböden. Selbst an den steilsten Hängen nimmt daher der Waldboden den intensivsten wässerigen Niederschlag augen- blicklich in sich auf, während dicht beraster Weide- boden sehr wenig durchlässig ist. Auf geschonten lockeren Waldböden fließt das meteorische Wasser unterirdisch, auf P'reilandböden dagegen größten- teils auf der Oberfläche ab, besonders bei inten- sivem Regen und rascher Schneeschmelze. Im Boden erfolgt aber der Abfluß viel langsamer als auf dem Boden, und ein großer Teil des Wassers fließt zudem in der Regel überhaupt nicht sogleich ab, sondern wird vorläufig in den Hohlräumen des Bodens gespeichert. Der günstige Einfluß des Waldes auf den Wasserhaushalt beruht mithin in allererster Linie auf der großen Porosität und Durchlässig- keit seines Bodens. Dagegen ist die un- mittelbare Wirkung des Bestandesschirmes auf Verzögerung, Verteilung und Verminderung des Wasserabflusses nur von untergeordneter Be- deutung. Der fi;influß der Waldbestände ist viel- mehr ein indirekter, indem sie den Boden in jenem für das Wasserregime vorteilhaften physi- kalischen Zustand erhalten. Auch die von Eber- mayer, Wollnyu. a. gelehrte und allgemein verbreitete Ansicht, daß die Fähigkeit des Wal- des, das Wasser festzuhalten, hauptsächlich der großen Wasserkapazität der Streu- und iVIoos- decken zuzuschreiben sei, bezeichnet Engler auf Grund anderweitiger Versuche und Beobach- tungen als irrig. Geschlossene Rohhumus- und Moosdecken wirken im Gegenteil sehr nachteilig auf das Wasserregime. „Sie nehmen wohl viel Wasser auf, geben aber davon nur wenig an den Boden ab, und wenn sie einmal mit Wasser ge- sättigt sind, veranlassen sie den Abfluß der Nieder- schläge auf der Oberfläche. Auf geschlossenen Decken von Fichtennadel- und Buchenlaubstreu fließt das meteorische Wasser bei stärkerer Boden- neigung rasch ab. In Zeiten der Trockenheit führen Rohhumus- und Moosdecken dem Boden wenig Wasser zu. Unentwässerte Torf- und Moorböden zeigen ein ähnliches ungünstiges Ver- hältnis." Bei starken Niederschlägen von kürzerer Dauer (Gewitterregen, Wolkenbrüche) und gleicher In- tensität in beiden Gebieten war der Abfluß des Sperbelgrabengebietes nur halb so groß als der des Rappengrabens. Dies zeigt die günstige Wirkung des Waldes auf die Zurückhaltung des Wassers, ein Ergebnis, das zweifellos noch stärker hervorgetreten wäre, wenn die beiden Gebiete gleiche Bodengestalt hätten und die Baum- und Strauchvegetation im Rappgraben vollständig fehlte. Einen wesentlichen Einfluß übt die vorangegangene Witterung auf den Gesamtabfluß aus. Lange Trockenperioden und starke Winter- fröste z. B. erhöhen die Durchlässigkeit und das Retentionsvermögen des Bodens, während anhal- tende Nässe die gegenteilige Wirkung hat. Die Wirkung kräftiger Niederschläge ist dem- gemäß nach der Jahreszeit im allgemeinen ver- schieden. Auffälliger weise fließen nach anhalten- dem Regen (Landregen) viel größere Anteile der Niederschläge ab als nach heftigem Regen vori kürzerer Dauer. Engler nimmt an, daß bei dauerndem Regen in den Höhlungen und Röhren des Bodens allmählich sämtliche Luft durch Wasser verdrängt werde und der Inhalt unter hydrauli- schen Druck gelange, worauf eine gleichbleibende „stationäre" Strömung entstehe. .Mit dem Nach- lassen des Regens nehme der hydraulische Druck ab, und es dringe von der Oberfläche her alsbald wieder Luft in die Bodenröhren. „Die in die Rinnsale mündenden Röhren aber laufen noch voll Wasser, so daß vorderhand die Luft von dieser Seite her nicht in den Boden eindringen kann. In dieser Phase treten nun in den Reser- voiren wahrscheinlich Saugwirkungen auf, die sich mit denjenigen eines Saughebers vergleichen lassen und durch welche dem Boden beinahe das gesamte Senkwasser entzogen wird." Damit dürfte dann die merkwürdige Erscheinung zusammen- hängen, daß der Waldboden durch einen aus- giebigen Landregen von neuem zur Aufnahme befähigt werden kann, so daß in einem kurz darauf folgenden Landregen die günstige Wirkung des Waldes voll zur Geltung kommt. In Trockenperioden des Sommers und Winters N. F. XIX. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 543 floß im bewaldeten Sperbelgraben immer mehr Wasser ab als im wenig bewaldeten Rappengraben, trotzdem das Rappengrabengebiet zahlreichere und bessere Quellen hat und durch künstliche Zuleitung (durch einen 6 Monate lang fließenden Brunnen) von außen Wasser empfangt. Die Rinne des Rappengrabens trocknete im Sommer mehrmals vollständig aus, was im Sperbelgraben niemals eintrat. Die große Bedeutung, die den Wäldern im Hügel- und Gebirgsland für die nach- haltige Speisung der Quellen und Gewässer zu- kommt, ist durch diese Versuche einwandfrei nachgewiesen. Der Wald wirkt ausgleichend auf den Abfluß. Dagegen ergab sich für die mittleren jährlichen Abflußmengen einer 13 jährigen Be- obachtungsperiode in beiden Versuchsgebieten fast dieselbe Ziffer, nämlich rund 60 "/o der Nieder- schlagsmengen. Die viel geringeren Schwankungen im Wasser- abfluß des bewaldeten Gebietes sind letzten Endes die Folge der gleichmäßigen Temperatur- und Feuchtigkeitsverhältnisse von Luft und Boden. „Diese Erkenntnis ermöglicht uns, mit einiger Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, welchen Einfluß allfällig auftretende Gewitter, Landregen usw. auf den Stand der Gewässer haben werden. So ist z. B. nach einem niederschlagsreichen Winter oder einem nassen, kühlen Frühjahr zu befürchten, daß Landregen und Wolkenbrüche im Juni oder Juli Überschwemmungen und Wasserschäden zur Folge haben werden. Nach einem trockenen, heißen Sommer ist die Hochwassergefahr bei Wolken- brüchen und Landregen im Herbst geringer, als wenn der Sommer naß und kühl war. . . ." Für die Forstwirtschaft ergibt sich aus dem Gesagten die Forderung der Vermeidung des Kahlschlages und der Stockrodung, die beide den Boden ungünstig verändern. Der Kahlschlag ist durch das eidgenössische Forstgesetz schon grund- sätzlich verboten. Verf verlangt auch das gesetz- liche Verbot der Stockrodung. Empfohlen wer- den Femelschlag- und Plenterbetrieb, naturgemäße Holzartenmischung, Entwässerung der Wege, da- mit das Wasser nicht auf ihnen, sondern im Boden weiterfließt usw. Die Dringlichkeit der Aufforstung hängt ab von Lage, Gebirgsbau, Bodenart und Oberflächengestalt. Ein sorgfältiges Studium der physikalisch- chemischen Eigenschaften des Bodens, zu denen die Abflußvorgänge in engster Beziehung stehen, ist für die Ausführung der praktischen Aufgaben unentbehrlich. F. Moewes. Möller, Alfred, FritzIMüller, Werke, Briefe und Leben. Band 3: Fritz Müllers Leben. Nach den Quellen bearbeitet. Mit einem Titel- bild (Heliogravüre), einer Karte und 6 Abbil- dungen im Text. S und 163 Seiten. 4». Jena 1920. Preis 15 M. Verlag und Autor tun recht daran, das An- denken an den hochverdienten Zoologen, Bota- niker und Forschungsreisenden Fritz Müller, „Fritz Müller -Desterro", den „Verbannten", der selber so garnicht für sein Fortleben im Ge- dächtnis der Nachwelt warb, zu pflegen. Dem überaus umfangreichen ersten Bande, der in zwei Teilen und mit einem Atlas 1915 erschien und Fritz Müllers schon früher gedruckte Werke ') gesammelt enthielt, folgt jetzt der dritte, Fritz Müllers Leben, bedeutend weniger umfangreich, während der begonnene Druck des zweiten, „Fritz Müllers Briefe und nachgelassene Schriften", so weit fortgeführt werden wird, wie es die aus ver- schiedenen Stiftungen stammenden, aber nach der sprunghaften Steigerung der Preise noch zu ver- größernden Mittel jeweils gestatten. Da der jetzt vorliegende Band wohlfeil ist , auch ohne die beiden anderen ein selbständiges Werk darstellt und aus ihm der Mensch zum Menschen spricht, ist die Hoffnung zu teilen, daß er der Vollendung des Werks neue vermögende Freunde zuführen möge. Nicht in künstlerischer Abrundung, aber doch in glatt lesbarer Darstellung, unter ausgiebiger Verwendung von Müllers Briefen und Aufzeich- nungen, läßt der Herausgeber vor uns das lücken- lose Lebensbild eines kerndeutschen Mannes er- stehen, eines Freiheits- und Wahrheitssuchers, den Vorteile und Ansehen nicht lockten , Furcht vor fremden Meinungen nie schreckte. Vielleicht er- wähne ich nur eins : der thüringische Pfarrerssohn trat in jungen Jahren aus der Kirche aus. Dies entfremdete ihn seinen nächsten Angehörigen. „Was mich zum Auswandern treibt", schrieb er 1849, nachdem es dem jungen Mediziner und ehe- maligen Apotheker nicht gestattet wurde, ohne christlichen Eidschwur zu promovieren, „ist ge- wissermaßen ein Akt der Verzweiflung. Durch meinen Trotzkopf, der, um dem Prinzip konse- quent zu sein, rücksichtslos gegen das übermächtig Bestehende sich auflehnt und lieber zerschellen als sich beugen will, bin ich so weit gekommen, daß mir hier zu Lande nichts anderes übrig bleibt, denn als Hauslehrer, Literat oder Tagelöhner mein Brot zu suchen. Großenteils habe ich von vorn vorausgesehen, daß ich in diese Lage kommen werde, und würde auch heute noch alle die un- klugen, unüberlegten Schritte unbedenklich tun, die mich dahin gebracht; denn ich weiß, daß ich mich auf immer unglücklich fühlen würde, wollte ich eines äußeren Vorteils willen ein Jota meiner Überzeugung verleugnen." — Daß ihm viel später auch Schwierigkeiten aus politischen Gründen nicht erspart blieben, läßt sich schon hiernach denken. Sie führten an seinem Lebensabend zur Entlassung des Siebzigjährigen aus der Stellung des reisenden Naturforschers des Nationalmuseums zu Rio de Janeiro. Er bedauerte nur, daß er auf wissenschaftliche Zeitschriften, die er hielt, wie die „Nature", fortan werde verzichten müssen, und ') Diese behandeln bekanntlich Tiere und Pflanzen der verschiedensten Art nach systematischen, ökologischen, mor- phologischen, mikroskopischen und nicht zum wenigsten, ob- schon ohne erhebliche Entfernung vom Tatsächlichen , nach Darwinschen Gesichtspunkten. 544 Naturwisseoschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 34 schränkte sich auch durch Verzicht auf die alt- gewohnte Tabakspfeife ein, lehnte aber die ihm von Fachgenossen reichlich angebotenen Unter- stützungen ab. Wer möchte nicht in dieses wissenschaftlich hochberühmten Mannes Lebensbild sich weiter vertiefen? Es ist von einigen Brustbildern und einem Ganzbilde in Heliogravüre begleitet, und aus den Gesichtszügen spricht auch die dem Manne nachgerühmte Freundlichkeit und Güte. V. Franz, Jena. Potonids Lehrbuch der Paläobotanik. Zweite umgearbeitete Auflage von Prof. Dr. W. Gothan- Berlin. I. Ueferung (Bogen i — lo). Berlin, Gebr. Borntraeger. 14 M. Unter den wenigen in deutscher Sprache er- schienenen Hand- und Lehrbüchern der Paläo- botanik stand Potonies Lehrbuch in vorderster Reihe. Jahre waren indessen seit seinem Er- scheinen vergangen, und so gab es in der Tat kein Buch, das die neueren Ergebnisse paläobota- nischer Untersuchung zusammenfassend behandelte. Dies war um so bedauerlicher, als im Auslande Werke wie Sewards Fossil Plants entstanden, von dem soeben der 4. (Schlußband) erschienen ist. Die Neubearbeitung des P o t o n i e sehen Lehr- buches, die nach dem Tode des Verfassers von seinem Nachfolger Gothan -Berlin übernommen wurde, füllt daher in der Tat eine empfindliche Lücke aus. Schon die vorliegende i. Lieferung zeigt, daß Gothan mehr als eine Ergänzung der alten Auflage gibt. Die meisten Kapitel sind von ihm völlig neu geschrieben worden, auch die zahl- reichen Abbildungen (140) sind zum großen Teil neu. Auf die einleitenden Abschnitte über „die Art der fossilen Pflanzenreste" und „Vermeintliche pflanzliche Fossilien" folgt der systematische Teil, der in Lief i bis zu den Equisetaceen führt. Den meisten Raum nehmen naturgemäß P^arne und Cycadofilices ein. Hier haben — und man wird dem durchaus beistimmen — die speziellen Anschauungen Potonies stark zurücktreten müssen. Die gesamte Literatur ist in weitgehen- dem Maße berücksichtigt. Die Literatur soll erst am Ende des Lehrbuchs zusammengestellt werden, wodurch der Gebrauch der ersten Lieferungen etwas behindert ist, wenngleich auf die wichtig- sten Arbeiten gelegentlich auch im Text hinge- wiesen wird. Hoffentlich erscheinen die weiteren Lieferungen recht schnell, damit dieser Nachteil behoben wird. Das Buch wird niclitnurdem Studie- renden der Geologie, Botanik oder Bergbaukunde als Lehrbuch dienen, es ist, das kann schon heute gesagt werden, ein unentbehrliches Hilfsmittel für jeden, der selbst paläobotanisch arbeiten will. Hervorgehoben zu werden verdient die geradezu vorzügliche Ausstattung, die sämtliche Abbildun- gen, auch wo es sich um pholographische Re- produktionen handelt, zur besten Wirkung kom- men läßt. Kräusel, Frankfurt (Main). Wundt, Wilhelm, Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele. 6. umgearb. Aufl. XVI u. 579 S. m. 53 Textfig. Leipzig 1919, Leopold Voß. Geh. 28,60 M. Dieses Werk ist der Keim, aus welchem sich alle anderen Bücher Wund ts entwickelten. Erst- mals 1863 erschienen, verstand der Verf es in allen späteren Auflagen, ihm die persönliche Note und den Charakter der leichtverständlichsten Ein- führung in seine Gedankenwelt zu verleihen und zu wahren. Das Werk ist, wie sein Verf betont, kein Lehrbuch der heute geltenden Tatsachen, auch fand, wie wir hinzufügen müssen, die neuere experimentelle Tierpsychologie noch keine Heim- stätte darin. Aber es ist im vollsten Sinn der ganze Wundt mit all seinen Kernproblemen und Eigenheiten, und somit das persönlichste Zeugnis seiner Lehre. In diesem Sinne werden der Psy- chologie fernerstehende PVeunde des greisen Ge- lehrten zuerst nach diesem Buche greifen. Hans Henning (Frankfurt a. M.). Literatur. Sammlung Göschen. Berlin u. Leipzig 'zo, W. de Gruytei u. Co. Jedes Bändchen 2,40 M. Neger, Prof. Dr. \V., Die Nadelhölzer und übrigen Gymnospermen. Mit 81 Abb., 5 Tabellen und 4 Karten. Pilger, Prof. Dr. K.,. Das System der Blütenpflanzen. Mit 31 Figuren. Dacque, Dr. E., Geologie I. Mit 75 Abbildungen. Bauer, Prof. Dr. H., Chemie der Kohlenstoffverbin- dungen. I. Aliphatische Verbindungen, I. u. 2. Teil. Braun, Dr. K., Die Fette und Öle. Jacobi, Pjol. Dr. A., Tiergeographie. Mit 3 Karten. Hoppe, Dr. Joh., Analytische Chemie 1. Schulze, Dr. Fr., Luft- und Meeresströmungen. Mit 27 Abbildungen und Tafeln. Nord hausen, Prof. Dr. M., Morphologie und Organo- grapliie der Pllanzcn. Mit 123 Abbildungen. Dahl, Prof. Dr. Fr., Der sozialdemokratische Staat im Lichte der Darwin- Weismannschen Lehre. Mit 6 Textabb. Jena '20, G. Fischer. Inhalt: H. Kranichfcld, Ein Lehrbuch der Philosophie für Naturforscher. S. 529. — Einzelberichte: O. Uönig- schmid, Das Atomgewicht von Scandium. S. 537. A. Wohl und K. Bräunig, Über eine neue Darsteliungs- mcthode von Glyo.xal. S. 537. Bamberger und Nußbaum, Hydropeio.\yd (Wasserstoffsuperoxyd) als Lösungs- mittel. S. 538. P. Kamdühr, Die Basalte der Blauen Kuppe bei fcschwege und benachbarter Vorkommen und ihren Cristobalitgchalt. S. 539 F. M. Behr, Über Schwer.«palperimoiphosen im mitteldevonischen Massenkalk des Öauerlandes. S. 539. G. Bertrand, Chlorpikrin, Cngezitfervertilgungsmittel. S. 540. — Bücherbesprechungen: Engler, Arnold, Untersuchungen über den Einfluß des Waldes auf den Stand der Gewässer. S. 541. Möller, Alfred, Frilz Müller, Werke, Briefe und Leben. S. 543. Po toni e s Lehrbuch der Paläobotanik. S. 544, Wundt, Wilhelm, Vorlesungen über die Menschen- und Tietseele. S. 544. — Literatur: Liste. S. 544. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. II. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ig. Band; er ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 29. August 1920. Nummer 35' Die durchdringende Höhenstrahlung. [Nachdruck verboteo.] Die Luft zeigt immer eine schwache Leitfähig- keit für die Elektrizität. Das Leitendwerden (die Ionisation) der Luft erfolgt durch Strahlen, unter deren Einfluß die Gasmoleküle in positiv und negativ geladene Teilchen (Ionen) zerfallen. Die Ionisation in einem geschlossenen Metallgefaß, welche meist durch die Abnahme der elektrischen Ladung eines hochempfindlichen Elektrometers nach Wulf beobachtet wird, ist durch 3 Faktoren bedingt: i. durch eine Eigenstrahlung oder die Sekundärstrahlen der Gefäßwände, 2. durch die )'-Strahlen der radioaktiven Stoffe des Erdbodens und der Luft, 3. durch eine von oben kommende durchdringende Strahlung, welche möglicherweise kosmischen Ursprungs ist. Die zweite Ursache für die lonenbildung in der Luft wurde bereits im Jahre 1903 von Rutherford') und Cooke, von Mc. Lennan und Burton '^) sowie von Cooke beobachtet und durch Abschirmungsver- suche nachgewiesen. An der Erdoberfläche sind die /-Strahlen der radioaktiven Stoffe des Bodens die fast ausschließlich wirksame Quelle für die Ionisierung der Lufthülle, denn durch Abschirmung konnte die lonenbildung äußerst stark vermindert werden. So beobachtete Bergwitz ^) in einem Steinsalzbergwerk, wo das Elektrometer von vielen Meter mächtigen Steinsalzwänden allseitig umgeben war, die Produktion von nur 0,8 Ionen pro Kubik- zentimeter und Sekunde. Infolge des geringen Spannungsverlustes brauchte das Elektrometer nur alle Wochen einmal neu aufgeladen zu werden. Die schwache Restionisation stammt aber wahr- scheinlich nicht, wie N. R. Campbell*) annahm, von einer Eigenstrahlung der Zinkwände des loni- sationsgefaßes, sondern die Ursache davon ist wohl eine spurenhafte Verunreinigung des Zinks mit radioaktiven Stoffen. Räch Bergwitz würden bereits 5 ■ iO~"' g Radium in i g Zink zur lonen- erzeugung genügen. Da selbst bei Sedimentge- steinen der Radiumgehalt etwa lO^'-g pro Gramm Gestein beträgt, so ist der kleine Betrag von 5 • lO~"' g pro Gramm Zink sehr wohl denkbar. Den radioaktiven Stoffen der Luft wurde von manchen Forschern '') ein beträchtlicher Einfluß Von Karl Kuhn. ') Rutherford, Radioaktive Substanzen und ihre Strah- lungen. Handbuch der Radiologie, Bd. II, Leipzig 1913. ^) Phys. Zeitschr., Bd. 4, S. 553 (1903). ^) Elster- Geitel Festschrift, S. 594, Braunschweig 1915. *) Phil. Mag., Bd. 9,8. 531 (1905) und H. Meier, Über die Ionisation in geschlossenen Gefäßen und die sog. durch- dringende Strahlung. Dissertation Erlangen 1914. °) Literatur siehe: Meyer-Schweidler, Die Radio- alftivität, S. 477, Leipzig 1916. auf die Ionisierung der Atmosphäre zugeschrieben. Die der unteren Atmosphäre entstammende Strah- lung muß zunächst mit der Höhe zunehmen, bis der Raum, dem die auf den Meßapparat wirken- den y-Strahlen angehören, in etwa looo m Höhe') sich auf eine Vollkugel ergänzt hat. Doch be- trägt nach neueren Berechnungen von C h a v e a u •') und Heß'') die Zahl der pro Sekunde in einem Kubikzentimeter dadurch erzeugten Ionen nur O bis 0,2. Eine eingehende Untersuchung über die Verteilung der radioaktiven Gase (RaEm, ThEm, AcEm) und ihrer Zerfallsprodukte bis hinauf in große Höhe durch V. F. H e ß und W. S c h m i d t ') ergab ebenfalls den sehr geringen Einfluß der von diesen Substanzen ausgehenden Strahlen auf die Gesamtionisierung der Atmosphäre. Die von oben kommende durchdringende Strahlung, welche nach Gockel ^) sowie St. Meyer und v. Schweidler") am Boden nur etwa 1,5 bis 2 Ionen pro Kubikzentimeter und Sekunde erzeugt, wurde spät entdeckt. Die Ab- nahme der Ionisation in geschlossenen Gefäßen in Höhen von 50 — 300 m über dem Erdboden zeigte sich nach den Messungen von Bergwitz, ') McLennan und Macall um *) sowie von Wulf) (auf dem Eifelturm) nicht so bedeutend, als man berechnet hatte. Da die Erdstrahlung wegen der Absorption in der Atmosphäre in etwa lOOO m Höhe auf i 7oo'°) abnehmen muß, so waren Mes- sungen im Freiballon notwendig. Diese wurden zuerst von Gockel") angestellt. Er fand, daß die durchdringende Strahlung in den ersten paar Hundert Metern etwas abnimmt; für größere Höhen jedoch glaubt er nach seinen von ihm selbst als nicht ganz einwandfrei bezeichneten Messungen eine geringe Zunahme ^'^) der Strahlung beobachtet zu haben. Bergwitz,'^) der zuerst auf einem ') Schrödinger, Wiener Ben, Bd. 121, S. 2391—2406 (1912) und Seh weidle r-Kohlrausch, Atmosphärische Elektrizität, in: L. Grätz, Handbuch der Elektrizität und des Magnetismus, Bd. 3, S. 231 (191$). 2) Nach Fortschritte der Physik, Bd. 69 III., S. 16—17 (1912). ") Naturwissenschaften, Bd. 6, S. 103 (1918). *) Phys. Zeitschr., Bd. 19, S. 109—114 (1918). *) Phys. Zeitschr., Bd. 16, S. 345 — 352 (1915). ") Naturwissenschaften, Bd. 6, S. 103 (191S). ') Habilitationsschrift. Braunschweig 1910. ") Phil. Mag., Bd. 22, S. 639 (1911) und Phys. Zeitschr., Bd. 9, S. 440 (1908). ") Phys. Zeitschr., Bd. II, S. 811 (1910). '") Schweidler und Kohlrausch 1. c. ") Phys. Zeitschr,, Bd. u, S. 280. (1910). '2) Ebenda, Bd. 12, S. 595 (191 1). ''^) Berg wi tz 1. c. 546 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 35 50 m hohen Kirchturm die Ionisierung durch die durchdringende Strahlung untersuchte, beobachtete auch auf einer Ballonfahrt die Änderung der Strahlung mit der Höhe. Da aber an seinem Apparat während der Versuche Störungen ein- traten, so sind seine Ergebnisse nicht genügend sicher. Erst V. F. H e ß ^) gelang es auf einer Reihe von Freiballonfahrten die durchdringende Strahlung gleichzeitig an 2 oder 3 Wulfschen Apparaten bis in eine Höhe von 5 200 m zu messen. Es zeigte sich das bemerkenswerte Ergebnis, daß in 2000 m Höhe die Intensität der durchdringenden Strahlung noch ungefähr von der gleichen Größen- ordnung war wie an der Erdoberfläche. Von 2000 m an nahm die Strahlung anfangs langsam, dann aber rascher bis zur höchsten erreichten Höhe an Intensität zu. Gegen dieses wichtige und interessante Resultat bestanden aber nach Kolhörster-) einige Bedenken, da die bedeu- tenden Luftdruckschwankungen und Temperatur- schwankungen die Angaben der Heß sehen Ap- parate stark beeinflußt haben konnten. Kolhörster baute daher das Wulf sehe Elektrometer den Bedürfnissen bei Ballonfahrten entsprechend um und gelangte mit der so er- zielten einwandfreieren Apparatur auch in be- trächtlich größere Höhen. Auf vier Freiballon- fahrten erreichten Kolhörster und Wigand Höhen von 4145, 4290, 6294 und 9300 m. Die zwei verwendeten Wulfschen Strahlungsapparate lieferten sehr gut übereinstimmende Angaben,'') welche wider Erwarten die Heßschen Beobach- tungen völlig bestätigten. Bei allen vier Fahrten ergab sich übereinstimmend das Resultat, daß mit wachsender Höhe zuerst die durchdringende Strah- lung rasch, dann langsamer abnimmt, bei 600 m etwa ein iVIinimum erreicht (1,8 Ionen weniger als am Erdboden) darauf wieder wächst, in 1500 m wieder denselben Wert wie am Erdboden hat und von 3000 m an schnell zunimmt. Am Erdboden (Ziegelwiese bei Halle) werden von der durch- dringenden Strahlung 4,2 Ionen im Kubikzenti- meter und in der Sekunde erzeugt, wovon 2,8 Ionen auf die j'-Strahlen der radioaktiven Stoffe des Erdbodens treffen. Die Zahlen der folgenden Tabelle *) ergeben den Unterschied der von der durchdringenden Strahlung in verschiedenen Höhen erzeugten Ionen im Kubikzentimeter pro Sekunde gegenüber den Werten am Erdboden: Differenz der lonenzahlen Seehöhe in in der Höhe und am Boden m Wertevoni9i3 Werte vom 28. VI. 1914 1000 — 1,5 2000 + 1.2 3000 4-4 +4,3 ») Phys. Zeitschi., Bd. 12, S. 998 (1911), Bd. 13, S. 177 und 1084 (1912), Bd. 14, S. 610 (1913), Wiener Ber., Bd. 120, S- 1575 (191 0, Bd. 121, S. 2001 (1912), Bd. 122, S. 1481 (1913). '■') Abh. d. naturf. Ges. Halle, Neue Folge Nr. 4 (1914). ") Beitr. z. Phys. d. frei. Atmosphäre, Bd. 7, S. 87 (1915). ■■) Verh. d. deutsch. Phys, ('.es., Bd. 16, S. 719—721 (1914). Differenz der lonenzahlen Seehöhe in in der Höhe und am Boden m Wert von 1913 Werte vom 28. VI. 1914 4000 + 8,3 4- 9,3 5000 -|-i6,S +17.2 6000 -j- 28,7 -|- 28,7 7000 -(-44.2 8000 +61,3 9000 -\- 80,4 ,, Damit dürfte der endgültige Beweis ') für die Zunahme der Ionisation mit der Höhe im ge- schlossenen dickwandigen Zinkgefäß erbracht sein. Mangels anderer Erklärungen wird man daher aus diesen Tatsachen auf eine sehr durchdringende Strahlung in den oberen Atmosphärenschichten oder in unserem Sonnensystem schließen müssen." Das gleiche Ergebnis erhielt A. Gockel-) bei Fesselballonaufstiegen der Friedrichshafener Drachenstation bis zu 3400 m Seehöhe. Auch auf hohen Bergen erweist sich nach den neuesten Untersuchungen die von oben kommende Strahlung, welche Kolhörster^) bezeichnend die „durch- dringende Höhenstrahlung" genannt hat, bereits etwa zweimal so stark wie am Erdboden. Diese Messungen wurden von Gockel auf dem Aletsch- gletscher in 2800 m Seehöhe, auf dem Jungfrau- joch in 3400 m Höhe und von V. F. Heß und Kofler*j auf dem Obir (Südkärnten) in 2044 m Höhe angestellt. Aus seinen Messungen berechnet Kolhörster"') den Absorptionskoelfizienten der durchdringenden Höhenstrahlung für Luft zu A = 0,71 • lO"'' cm ' d. h. der Absorptionskoeffizient ist 7 — 8 mal kleiner als der der härtesten bekannten y-Strahlen. Die durchdringungsfähigste d. h. die kurzwelligste Strahlung aller bekannten radioaktiven Stoffe be- sitzt das Radium C^). Wenn nun die Höhen- strahlung wirklich weniger absorptionsfähig ist wie die 7-Strahlen des RaC, so ist ihr Ursprung ganz rätselhaft und auch die reine Physik hat das größte Interesse, die Natur dieser neuartigen Strahlung aufzuklären. Vorstöße in die Stratosphäre zur Untersuchung der durchdringenden Höhenstrahlung im Freiballon hätten deshalb nicht nur für die Aerophysik die größte Bedeutung. Mit den gegen- wärtig vorhandenen Ballonen kann aber kaum eine größere Höhe wie 10800 m erreicht werden, bis zu welcher am 31. Juli 1901 die beiden kühnen Forscher Berson und Süring") von Berlin aus im Luftballon Preußen vordrangen. Nach dem jetzigen Stand der Hochfahrttecknik lassen sich aber sichere Vorstöße in die Stratosphäre (über 1 2 km) unternehmen, wenn man nur einen Kugel- ') Beitr. z. Phys. d. frei. Atmosphäre, Bd. 7, S. 87 (1915)- '') Phys. Zeitschr., Bd. 16, S. 345—352 (1915)- Met. Zeit- schr., Bd. 33, S. 15—24 (1916). ä) Naturwissenschaften, Bd. 7, S. 412— 415 (1919). *) Wiener Ber., Bd. 126, S. 13S9— 1436 (191 7). ") Abh. d. naturl. Ges. Halle, Neue Folge Nr. 4, S. 69 (1914). »l Naturw. Wochenschrift, Bd. 17, S. 655 (1918). ") Ergebn. d. Arb. am aeronaut. Obs. 1900 und 1901. Berlin 1902. N. F. XIX. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 547 ballon von etwa 4000 cbm anwendet. Der Bau eines großen, eigens für wissenschaftliche Hoch- fahrten ausgerüsteten Ballons war von der aero- physikalischen Gesellschaft ') in Halle a. S. geplant; der Weltkrieg hat aber die Ausführung dieser Absicht unmöglich gemacht. Seeliger-) gedenkt die Richtung der Her- kunft und den Absorptionskoeffizienten der durch- dringenden Höhenstrahlung dadurch genauer fest- zustellen, daß er sie aus der Atmosphäre unter ver- schiedenem Inzidenzwinkel in den tief in Queck- silber versenkten Elektrometerraum eintreten läßt. Schlüsse aus dem Absorptionskoeffizienten auf die Wellenlänge der durchdringenden Höhenstrahlung sind zurzeit bei der Unsicherheit der wenigen vor- liegenden IVIessungen noch nicht möglich. Die Quelle der durchdringenden Höhenstrah- lung in der Sonne zu suchen, war natürlich recht naheliegend. Durch Registrierung der Intensität der Höhenstrahlung am Tage und in der Nacht mußte sich dies aufweisen lassen. Die früheren Messungen ergaben aber sich widersprechende und unzuverlässige Resultate ; erst in den letzten Jahren wurden von Gockel, Heß und Kofier sowie Kolhörster übereinstimmende Ergebnisse er- zielt. Gockel*) schließt aus seinen Messungen : „Eine tägliche Schwankung der durchdringenden t Strahlung ist in Freiburg (Schweiz) nicht nach- !■ weisbar." Kolhörster*) fand in Waniköi bei Konstantinopel an einer über i ^'4 Jahre durchge- führten Messungsreihe keinen Unterschied der Ionisation während des Tages und in der Nacht. Wichtiger sind Messungen in größeren Höhen, wo der Einfluß der durchdringenden Höhenstrahlung mehr ins Gewicht fällt. Heß und Kofi er ""j fanden folgendes: „Im ganzen ergab sich, daß in 2000 m Höhe die Schwankungen der durch- dringenden Strahlung sowohl absolut als auch re- lativ geringer sind als in normaler Seehöhe. Da in 2000 m die von oben kommende sehr harte Komponente der durchdringenden Strahlung schon erheblich mehr an der Gesamtstrahlung beteiligt ist, so können die Schwankungen dieser Kompo- nente nur äußerst klein sein. Die Hypothese, daß diese Komponente von der Sonne herstammt, scheint endgültig dadurch widerlegt, daß am Obir in 2000 m Seehöhe die Tag- und Nachtwerte der Strahlung gleich groß sich ergeben." Auf dem Piz Languard in einer Höhe von 3200 m fand Gockel ^) ebenfalls keinen Unterschied der Strah- lung bei Tag und Nacht. Auch die Messungsergebnisse während der Sonnenfinsternisse 1912 und 1914 schließen die Sonne als unmittelbare Quelle der durchdringenden ') Mitteilung, d. naturforsch. Ges. zu Halle a. S., Bd. 3, S. 12 (1913). ") Münchener Ber., S. 1—46 (1918). ^) Phys. Zeitschr. Bd. 16, S. 345—352 (1915), Met. Zeit- schrift Bd. 33, S. 15 — 24 (1916). ■*) Naturwissenschaften Bd. 7, S. 412— 415 (1919). '^j Wiener Ber. Bd. 126, S. 13S9— 1436 (1917). *) Neue Denkschr. f. Schweiz, naturf. Ges. 45, I. Abh., 95 ('9'7) angeführt nach Heß und Kofier, 1. c. Höhenstrahlung aus. Die Messungen von de B r o g 1 i e ') während der Sonnenfinsternis am 17. April 1912 lassen nach Kolhörster'^) wegen der ungeeigneten Apparatur keine überzeugenden Schlüsse zu. V. F. Heß ^), der während dieser Sonnenfinsternis und auch während einer Nacht- hochfahrt im Freiballon Messungen anstellte, hält danach die Sonne nicht für die Quelle der Strahlung, obwohl sein Material nicht ganz entscheidend in dem einen oder anderen Sinne sein soll. Genaue Untersuchungen mit 2 Wulfschen Elektrometern unternahm Kolhörster '•*) während der Sonnen- finsternis am 21. August 1914. „Eine Verminde- rung der lonisierungsstärke ließ sich nicht mit Sicherheit feststellen. — Es ist daher wenig wahr- scheinlich, daß die Sonne als direkte Quelle jener noch unbekannten Strahlungskomponente, der Höhenstrahlung, angesprochen werden kann." Nach Berechnungen von Schweidler*) müßte man der Sonne oder dem Monde unwahrschein- lich hohe Werte der Radioaktivität in den Ober- flächenschichten zuschreiben und den Planeten und Fixsternen noch weit größere, wenn sie die Messungsergebnisse Kolhörsters in großen Höhen quantitativ erklären sollten. Es wurden daher andere Hypothesen zur Er- klärung des Ursprungs der durchdringenden Höhen- strahlung aufgestellt. L i n k e °) nimmt in der Stratosphäre horizontal ausgebreitete kosmische Staubmassen an, welche unbekannte radioaktive Stoffe mit enorm durchdringungsfähigen /-Strahlen enthalten könnten. Daß dieser kosmische Staub überhaupt nicht oder nur so langsam, bis er in- aktiv geworden ist, auf den Erdboden gelangt, er- klärt Linke durch die Schwierigkeit des Durch- brechens der Staubmassen durch die Schichtgrenze zwischen Troposphäre und Stratosphäre. S c h w e i d - 1 e r ^) zeigte rechnerisch, daß „am wenigsten über- triebene Anforderungen .... die Hypothese einer im Weltraum verteilten radioaktiven Substanz" stellt. Für die Staubmassen würde eine Aktivität von '/1200 ^^^ Urans oder dem rund lOO fachen des die Erdrinde zusammensetzenden Gesteins ge- nügen. „Dieser Wert ist also nicht mehr so un- möglich groß, wie der für entfernte Weltkörper berechnete, aber immerhin von einer nicht gerade wahrscheinlichen Größenordnung." Sehr eingehend diskutiert auch Seeliger") die Wirkung radio- aktiver Staubwolken in der Stratosphäre oder im Weltenraum. Der Schweif des Halley-Kometen hat im Mai 1910 möglicherweise Staubmassen in die irdische Atmosphäre gebracht. Wäre der Staub teilweise radioaktiv gewesen, so hätte sich eine vorüber- ') Compt. rend. Bd. 154, S. 1654 (1912). ■-) Naturwissenschaften Bd. 7, S. 412 — 415 (1919). ä) Phys. Zeitschr. Bd. 13, S. 1084 (1912), Wiener Ber. Bd. 121, S. 2001 (1912). *) Elster-Geitel, Festschrift S. 411—419, Braun- schweig 1915. *) Met. Zeitschr. Bd. 33, S. 157 und 510 (1916). ") Schweidler, 1. c. ') Münchener Ber. S. I — 46 (1918). 548 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 35 gehende Zunahme der durchdringenden Höhen- strahlung zeigen müssen. Tatsächlich geben auch nach einer Zusammenstellung von Wigand*) von 17 Beobachtern 11 eine Zunahme der Ioni- sation an. Ob der beobachtete Effekt aber tat- sächlich mit dem Halley Kometen in ursäch- lichem Zusammenhang stand, unterliegt doch einigen Bedenken. Nach Swinne'-) hönnte der hypothetische radioaktive Staub der höchsten Atmosphären- schichten von der Sonne stammen. Wenn auf der Sonne neue Radioelemente, die einen noch größeren Energiegehalt wie die irdischen besitzen müßten, vorkommen, so könnten diese noch strah- lende Atome als „Rückstoßstrahlung" in den Welten- raum hinausschicken. Vom magnetischen Feld der Erde eingefangen, können sich diese Rückstoßatome in den höchsten Luftschichten zu Stäubchen wach- sender Größe ansammeln. Nach Swinne ist auch der Gehalt der obersten Erdschichten an radioaktiven Stoffen kosmischen Ursprungs, da sich diese infolge ihrer großen spezifischen Dichte eher im Erdinnern angereichert haben [sollten. Die kosmische Staubwolke in der Äquatorialebene, welche die durchdringende Höhenstrahlung emit- tieren soll, wird nach Swinne wohl in enger Beziehung zum Zodiakallicht stehen. Swinne ge- denkt sich auch Proben vom Polarstaub zu be- schaffen, um diesen auf das Vorkommen neuer Radioelemente zu prüfen. Da sich die Rückstoß- strahlen wie die Nordlichtstrahlen in den Gegenden des Polarlichtgürtels zusammendrängen werden, so regte Swinne an, etwa auf dem Haldde-Ob- servatorium in Finmarken an die Registrierung der Ionisierung in geschlossenen Gefäßen heran- zutreten. Von größter Wichtigkeit für das Vor- kommen radioaktiver Stoffe in großen Höhen sind neueste Beobachtungen,'') nach denen der in be- trächtlicher Höhe auf Draht gesammelte radioaktive Niederschlag gegenüber den erdnahen Schichten nicht vermindert sondern eher vermehrt erscheint. Ferner ist denkbar, daß eine von der Sonne ausgehende Korpuskularstrahlung beim Eintritt in die Erdatmosphäre gebremst wird und dann /■Strahlen, d. h. die durchdringende Höhenstrah- lung, aussendet. Es müßten danach sehr rasche /S-Strahlen von der Sonne ausgehen, wie sie Le- nard*) schon im Jahre 1910 annahm. Diese ') Phys. Zeitschr. Bd. l8, S. 1—6 (1917). *) Naturwissenschaften Bd. 7, S. 529 — 530 (1919). ') Phys. Zeitschr. Bd. 21, S. 144 — 145 (igao). *) Sitz. Ber. d. Heidelberger Ak. d. Wiss. Nr. 17 (1910) und Nr. 12 (191 1). könnten dann auch manche Formen des Nordlichts verursachen. S e e 1 i g e r ^) hat diese Hypothese eingehender behandelt. Schweidler") schreibt über sie: „Die Schwierigkeiten, eine quantitativ zureichende außerterrestrische Quelle zu finden, werden aber hierdurch nicht vermindert." Die Höhenstrahlung sollte nach dieser Anschauung einen ähnlichen periodischen Wechsel der Inten- sität ^) zeigen, wie er der täglichen, 26-tägigen, jährlichen und 1 1 -jährigen Periode der Nordlichter entspricht. Bis jetzt wurde nichts davon bemerkt und es wären Messungen in hohen Breiten sehr erwünscht. Versuche von Schweidler*), eine kosmische primäre /^-Strahlung oder durch kos- mische y-Strahlen in der Atmosphäre erregte sekun- däre /? Strahlen nachzuweisen, hatten keinen Erfolg. Ausgedehnte Zirrenzüge in der Troposphäre glaubt Swinne'') von der durchdringenden Höhenstrahlung verursacht, da bei geeigneter Wasserdampfüber- sättigung die gebildeten Ionen als Kondensations- kerne dienen können. Vielleicht hängen die bei Nordlichtern manchmal gebildeten Wolken damit zusammen. Ein äußerst leichtes radioaktives Gas in den höchsten Atmosphärenschichten als Quelle der durchdringenden Höhenstrahlung ist sehr unwahr- scheinlich, denn nach Schweidler") ist dies ,, unvereinbar mit den vorläufigen Ergebnissen über den Zusammenhang der Strahlungsintensität mit der Höhe". Was an den vielen Hypothesen über Ursprung und Natur der Höhenstrahlung von Swinne und anderen Wahres ist, werden in Zu- kunft die Messungen ergeben. Jedenfalls ist die durchdringende Höhenstrahlung eines der interes- santesten aerophysikalischen Probleme, dessen all- seitige Aufklärung dringend erwünscht ist und dessen Lösung vor allem durch Untersuchungen in der Stratosphäre selbst möglich sein wird. Möge es deutschen Forschern, welche am meisten zur Kenntnis der Höhenstrahlung beigetragen haben, entgegen der Prophezeihung eines ameri- kanischen Physikers während des Weltkriegs nicht an Mitteln fehlen, das Rätsel der durchdringenden Strahlung von oben weiter erfolgreich zu bearbeiten und zu lösen. 1916. ') Seeliger, 1. c. '-) Seh wei d 1er , 1. c. •') Naturwissenschaften Bd. 7, S. 415 (1919). ^) Wiener Ber. Bd. 127, S. 515 — 533 (1918). '') S w i n n e , 1. c. ") Meyer-Schweidler, Radioaktivität S. 479, Leipzig [Nachdruck verboten. 1 Die GruiKllagen der Belativitiitstheovie. Von B. de Rudder, München. Aus dem gleichnamigen Aufsatz von Stahl in Nr. 25 dieser Zeitschrift mag mancher der Theorie ferner Stehende zu der Überzeugung ge- langt sein, daß nunmehr die Relativitätstheorie endgültig aufzugeben sei. Behauptet doch Stahl, daß das Relativitätsprinzip der alten Mechanik bisher falsch ausgelegt und falsch angewendet wurde. Freilich ist da Stahl durchaus im Recht, N. F. XIX. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 549 vorausgesetzt, daß seine Formulierung des alten Relativitätsprinzips und seine Auslegung stimmt. Aber gerade dieses wird falsch formuliert, und es kann dann nicht Wunder -nehmen, wenn es zu einer „falschen" Relativitätstheorie führt. Stahl schreibt: das Relativitätsprinzip „be- hauptet ja nur, daß sich die Naturgesetze in, d.h. innerhalb aller Trägheitssysteme gleich abspielen". Aus seinen Ausführungen geht dann weiter hervor, daß die Geschwindigkeit eines gewissen Vorgangs z. B. des Schalles i n jedem System die gleiche sei. Wäre die St ah Ische Behauptung richtig, so müßte der Schall, der in der Luft 333 m/sec zurücklegt, dieselbe Geschwindigkeit im Wasser haben, denn der Ozean ist mit derselben Be- rechtigung ein Trägheitssystem für kurze Zeiten, wie die Erdatmosphäre. Selbst für einen als Trägheitssystem gedachten luftleeren Raum müßte die Schallgeschwindigkeit dann konstant bleiben. Der grundlegende Fehler liegt einerseits in der Behauptung, daß die Schallgeschwindigkeit ein Naturgesetz sei. Sie ist das ebensowenig, wie das spez. Gewicht des Wassers. Beides sind Mes- sungen, aber keine für Trägheitssysteme invarianten Gesetze. Stahl verwechselt die Schallgeschwindig- keit mit dem Gesetz der Schallausbreitung. Ein zweiter Fehler ist andererseits in der Formulierung des Relativitätsprinzips, daß Gesetze j nur innerhalb eines Systems gelten sollen, be- s gründet. Die Physik hätte wenig Grund, auf ein so unfruchtbares Prinzip stolz zu sein. In Wirklich- keit handelt es sich darum, einen Vorgang, dessen gesetzmäßiger Ablauf in bezug auf ein System bekannt ist, auf jedes beliebige andere Trägheitssystem zu projizieren und seinen Ablauf relativ zu diesem neuen System darzustellen. („Transformation"). Das Relativitätsprinzip sagt also z. B. daß Schall, der sich relativ zu einem System, z. B. Erdatmosphäre, gleichmäßig aus- breitet, dasselbe relativ („in bezug" nicht inner- halb!) zu jedem anderen Trägheitssystem tut. Endlich ist es aber prinzipiell falsch, zu be- haupten, daß das Relativitätsprinzip überhaupt über „Geschwindigkeiten" etwas angebe. Es ist ja gerade das Wesen des alten Relativitätsprinzips, daß es über Geschwindigkeiten überhaupt nichts aussagt, ja nichts aussagen kann. Im Gegenteil spricht das alte Relativitätsprinzip nur von Ge- schwindigkeitsänderungen, da ja schon aus dem Newtonschen Trägheitssatz die Gleichwertig- keit von Ruhe und jeder Translationsbewegung für die Gesetze der Mechanik hervorgeht. Betrachten wir einen Körper, der relativ zu einen ruhend gedachten System sich gleichförmig bewegt, so behauptet das Relativitätsprinzip nur, daß dieser Körper sich auch relativ zu jedem anderen ■ Trägheitssystem gleichförmig bewegt; daß aber seine Geschwindigkeit relativ zu jedem System eine andere ist, lehrt die einfachste Überlegung. Das Relativitätsprinzip der alten Mechanik geht ja nicht aus der Relativität unserer Bewegungs- vorstellungen hervor — man kann das leider in nicht wenigen „populären" Aufsätzen lesen — sondern liegt darin begründet, daß es in der Mechanik nur auf Geschwindigkeitsänderungen, nicht auf Ge- schwindigkeiten ankommt. Ganz und gar heißt es aber die Tatsachen verkennen, wenn man, wie Stahl, behauptet, daß die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit aus dem Relativitätsprinzip hervorgehe. Wer die Geschichte der Relativitätstheorie nur einigermaßen kennt, weiß, daß diese Konstanz vielmehr eine, allerdings logisch unanfechtbare Festsetzung ist, die erst in Verbindung mit dem Relativitätsprinzip der klassischen Mechanik zur Einst ein sehen Theorie führte. Es sei mir gestastet, den Weg in aller Kürze anzudeuten. Das alte Relativitäts- prinzip besagt die Gültigkeit aller mechanischen Gezetze für Trägheitssysteme. Aus dieser Gleich- wertigkeit all dieser Systeme folgt, daß durch mechanische Versuche über den Bewegungszustand eines Systems, sofern derselbe nur geradlinig-gleich- förmig ist, kein Entscheid zu treffen ist. Es war nun die Frage ob nicht durch elektromagnetische Versuche ein solcher Bewegungszustand zu er- mitteln wäre, d. h. die el.magn. Vorgänge unter allen Trägheitssystemen nicht doch eines bevor- zugen würden, — oder aber ob das Relativitäts- prinzip auch hier gälte. Da war es naheliegend, zu untersuchen, ob nicht gleich der Weltäther eben dieses bevorzugte System sei und die Frage gipfelte damit in der Untersuchung, ob der Welt- äther ruhe oder mit den Körpern sich bewege. Der Versuch von Fizeau sprach für ruhenden, der von M i c h e 1 s o n für bewegten Äther. Im F'iz au sehen Versuch sind Medium der Lichtaus- breitung (Gas) und Beobachter zueinander gleich- förmig bewegt; der letztere stellt fest, daß Licht sich mit gleicher Geschwindigkeit fortpflanzt, gleichgültig, in welcher Richtung es eilt (mit oder gegen das strömende Gas). Im Michelson- versuch sind Lichtmedium (Erdatmosphäre) und Beobachter zueinander in Ruhe und auch dieser Beobachter findet gleichmäßige Ausbreitung des Lichtes nach allen Seiten. Somit ergibt sich, daß auch el.-magn. Vorgänge über den Bewegungs- zustand eines Beobachters jede Auskunft ver- weigern, daß der Bewegungszustand des Beobachters (sofern er nur gleichförmig ist) ohne Einfluß auf die Lichtausbreitungsgesetze ist, d. h. daß das alte Relativitätsprinzip auch für diese Gruppe physika- lischen Geschehens Gültigkeit behält. Wenn aber das Licht für den ruhenden Be- obachter sowohl wie für den bewegten sich nach allen Richtungen gleichmäßig fortpflanzt, so ist die Annahme auf jeden Fall logisch berechtigt, daß beide Beobachter auch die gleiche Ge- schwindigkeit des Lichtes von 300 000 km/sec feststellen. Das Gegenteil ist unbeweisbar, wie Einstein lehrt, und andererseits ist das Prinzip von der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit eine Forderung der Max well sehen Gleichungen, die doch sicherlich in der Physik uneingeschränktes Vertrauen genießen. Wohlgemerkt also: be- 550 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 35 wiesen ist das alte Relativitätsprinzip für die el.- magn. Vorgänge, unwiderlegbar ist das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ( — unwider- legbar sowohl logisch wie durch Versuche, aber kein „Gesetz" — ) und erst durch Verknüpfung dieser beiden innerlich durchaus fremden Prinzipien ergeben sich ohne weiteres die Einst einschen Folgerungen. Stahl führt weiterhin als Argument gegen Einstein an, daß in dem bekannten Beispiele vom Eisenbahnzug das Licht sich in dem Träg- heitssystem der Erde, nicht in dem des Zuges bewege. Wann bewegt sich Licht in einem Sy- stem ? Wir sahen, daß jede mechanische Vor- stellung von einem lichttragenden Medium un- haltbar ist, da sie zu Widersprüchen mit Ver- suchen führt. Licht kann sich niemals bald i n einem System, bald in einem anderen bewegen, sondern ein und derselbe Lichtstrahl wird von jedem Trägheitssystem aus als sich in jeder Rich- tung gleichmäßig fortpflanzend festgestellt. Stahl begeht den Fehler, die für den Schall geltenden Verhältnisse ohne weiteres auf die des Lichtes zu übertragen. Für den Schall haben wir ja ein mechanisches Medium, die Luft, die von dem „Zugsystem" natürlich mitgenommen wird, wäh- rend sie außen ruht. Und ganz mit Recht kann Stahl behaupten, daß in dem einen Fall der Schall sich „im Raumsystem des Zuges", in dem anderen sich im „Raumsystem der Erde" fort- pflanze. Nun ersetzte man in dem Beispiele aber „Schall" durch „Licht", „Luft" durch „Weltäther" und setze die Lichtgeschwindigkeiten ein, dann haben wir im Zug mitbewegten Weltäther, außen ruhenden, d. h. Versuchsbedingungen, die zwar gut mechanisch vorstellbar sind, aber gerade den Tatsachen durchaus widersprechen. Ich wieder- hole, es gibt nach den Ergebnissen von Fizeau und Michelson kein Raumsystem, in dem sich el.-magn. Vorgänge abspielen — gerade deshalb mußte ja die Physik nicht ohne bittere Resigna- tion auf eben dieses System, den Weltäther ver- zichten — sondern wir können el.-magn. Vor- gänge nur relativ zu einem System betrachten. Die Behauptung, daß Licht sich einmal im System A, ein andermal im System B fortpflanze, hat eben gar keinen physikalischen Sinn. Was endlich das von Einstein so klassisch behandelte Beispiel von den Blitzschlägen und dem Eisenbahnzug betrifift, so ist der Stahlsche Einwand damit widerlegt. Denn es handelt sich gar nicht darum, wie ein Vorgang (der Blitzein- schlag in den Bahndamm) für den Dammbe- obachter, und wie ein zweiter Vorgang (Blitzein- schlag in den Zug) für den Zugbeobachter sich abspielt, sondern es soll ja gerade ermittelt wer- den, wie ein und derselbe Vorgang sich für zwei zueinander bewegte Beobachter darstellt. Und da beide Beobachter den Versuch von F i z e a u und Michelson, d. h. die GüUigkeit des Re- lativitätsprinzips für el.magn. Vorgänge kennen und andererseits an dem Prinzip der Konstanz der Lichtausbreitung festhalten, so müssen sie zu zeitlich verschiedenen Ergebnissen kommen, wie eine Überlegung lehrt. Der Fehler, den die Stahlsche scheinbare Widerlegung der Relativitätstheorie begeht, liegt also m. E. in der falschen Auslegung bzw. Anwen- dung des Relativitätsprinzips (Konstanz der Lichtgeschwindigkeit überhaupt ohne Beziehung zum alten Relativitätsprinzip), dazu aber noch in einer falschen Formulierung des Prinzips (Natur- gesetze spielen sich nicht innerhalb, sondern relativ zu einem System ab). Wenn es mir durch diese kurze Andeutung gelungen ist, bei einigen Lesern die Relativitäts- theorie Einsteins wieder in ihr verdientes Recht einzusetzen, so haben meine Zeilen ihren Zweck voll erfüllt. Einzelberichte. Medizin. Zur Jjeschichte der Zahnkaries. Die Zahnkaries ist heute unbestritten die am häufig- sten auftretende unter den Krankheiten des Men- schen; ihr Vorkommen erstreckt sich auf über 90% der Menschen, so daß das Vorhandensein kariöser Zähne geradezu als Charakteristikum des Homo sapiens bezeichnet werden kann. Da ist es begreiflich, daß sich im Laufe der Jahrhunderte über die Entstehung und Geschichte dieser schmerzhaften Krankheit viele Legenden gebildet haben; es ist das Verdienst von M. v. Lenhos- sek, in einer neuen Arbeit (Die Zahnkaries einst und jetzt. Archiv für Anthropologie. N. F. 17. Bd. 1919 S. 44— 66) auf Grund eines sehr zahlreichen Schädelmaterials die bestehenden Ansichten auf ihre Zuveriässigkeit geprüft zu haben. Schon über die Zeit des ersten Auftretens der Zahnkaries werden ganz widersprechende Angaben gemacht. Nach der einen ist die Zahnkaries so alt, wie das Menschengeschlecht selbst; C. Jung (Die Karies der Zähne. Handbuch der Zahnheil- kunde, herausgegeben von J. Scheff, Wien 1909, II. Bd. L Abtlg. S. 185) bemerkt z. B.: „Schon die ältesten bekannten Skelettfunde lassen er- sehen, daß die Affektion selbst damals keine seltene war und geben so zu der Annahme Berechtigung, daß die Karies der Zähne dem Menschen schon auf einem ganz niederen Kulturstandpunkte, für den uns direkt beweisende Funde noch fehlen, angehaftet hat." Dieser Behauptung gegenüber ist auf die Tatsache hinzuweisen, daß die ältesten Schädel, die wir bis jetzt kennen, gesunde Zähne N. F. XIX. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. S5I haben und zwar gilt dies für das ganze Diluvium bis zu der zum Neolithikum überleitenden Periode, z. B. für alle Schädel des Neandertaltypus. In der Krapinahöhle, der reichen Fundstätte von Überresten des Homo Neandertalensis wurden 275 Zähne (85 noch in den Kiefern steckend und 190 herausgefallene), alle frei von Karies ange- troffen (vgl. Gorjanovic-Kramberger, Der diluviale Mensch von Krapina in Kroatien, Wies- baden 1906). Gleich verhält es sich mit allen aus der letzten Periode der Eiszeit stammenden Schädeln (Aurignac-, Cro-Magnon- u. Grimaldi- typus) ; nur der 1918 gefundene Neandertaler Schädel von La-Chapelle-aux-Saints macht eine Ausnahme, indem er große Zahnlücken und außer- dem ausgesprochen pathologische Erscheinungen an den Zahnwurzeln aufweist. Die zahnärztliche Untersuchung eines Schädels (J. Choquet, Ex- amen de l'appareil dentaire du cräne de l'homme de La Chapelle-auxSaints. Verhandl. des V. Zahn- ärztlichen Kongresses. Berlin 1909, Bd. I, S. 138) ergab jedoch, daß hier nicht die Folgen von Karies, sondern diejenigen einer gichtischen Erkrankung vorliegen. Erst als beim Ausgang der Eiszeit, zu Beginn der jüngeren Steinzeit zum erstenmal in Europa kurzschädelige Formen auftraten, haben wir den ältesten sicher nachweisbaren Fall von Karies und zwar an einem 1871 in Nagysap im Graner Komitat gefundenen Schädel, bei welchem der linke obere erste Molar eine kariöse Kavität aufweist, während unten der rechte erste Molar fehlt; da die Alveole einen ausgerundeten Rand besitzt und mit Knochenmasse gefüllt ist, handelt es sich sicher um einen prämortalen Verlust des Zahnes, der jedenfalls durch Karies verursacht worden ist. Es ist demnach der am Ende des Diluviums in Europa auftretende brachycephale Mensch der erste Träger und Vermittler der Zahn- karies ; da dieser jedenfalls aus Asien eingewandert ist, muß dieser Erdteil, wie für manche andere epidemische Krankheiten (z. B. Pest und Cholera) auch für die Zahnkaries als Herd angesehen werden und es läßt sich, wenigstens für unseren Erdteil der Zeitpunkt des ersten Auftretens der Zahnkaries mit hinreichender Bestimmtheit an- geben. Eine andere, sehr verbreitete Ansicht ist die, daß die alten Völker prozentual weniger unter Zahnkaries gelitten haben, als der moderne Mensch. Exakte Angaben, um diese Behauptung zu stützen, finden sich bei J. R. Mummery (On the Rela- tion with Dental Caries may be supposed to hold food and social condition. Transactions of the Odontological Society of Great Britain, 1870); er gibt folgende Zahlen an : 1. v.öSSchädeln a. d. NeoUthzeith;iUen 2[= 3%] kariöse Zähae 2. 32 Bronzezeit 7[=22%] 3. 59 Eisenzeit 24[^4I%] 4. 143 Römerzeit 4l[= 29%] 5. 76 allen, angelsächsischen Schädeln I2[= 16%] Diese Zahlen hält Lenhossek für viel zu niedrig und zwar deshalb, weil Mummery nur die noch vorhandenen, kariösen Zähne in Rech- nung zieht, die intra vitam entstandenen Zahn- lücken aber unbeachtet läßt. Da nun aber für die in Frage stehenden Schädel das, Vorkommen von Karies offenbar ist, so werden jedenfalls da- mals so gut wie heute die meisten Zahnlücken durch Karies verursacht sein und müssen bei der Feststellung der Häufigkeit von Karies berück- sichtigt werden. — Eine zweite Angabe über die Karies bei früheren Völkern liegt vor für die Alemannen aus dem fünften bis zehnten Jahr- hundert (S c h w e r z , Pathologische Erscheinungen an Alemannenzähnen. Schweizer Vierteljahresschrift für Zahnheilkunde, 26. Bd. 1916 S. i). Hierbei wurden die Zahnlücken mitgerechnet; im Durch- schnitt war die Zahl der erkrankten Zähne 15,6"/^. Doch scheinen auch diese Untersuchungen für eine allgemeine Beantwortung nicht eine ge- nügende Grundlage zu bieten, weil die unter- suchten Schädel nach Geschlecht und Lebensalter eine gewisse Auslese darstellen. Sie stammten nämlich aus einem Gräberfeld des alten Augusta Rauracorum (ßasel-Augst) und waren mit Aus- nahme eines einzigen alles Männerschädel; es handelte sich also um ein Schlachtfeld oder sonst um eine militärische Begräbnisstätte. Jedenfalls kann auf Grund der Untersuchungen von Mum- mery und Seh werz die Frage nach der Häufig- keit der Zahnkaries in früheren Zeiten nicht be- antwortet werden. Bei seinen neuen Feststellungen ging Len- hossek besonders darauf aus, ein möglichst großes Schädelmaterial von Individuen, die dem Geschlecht und dem Lebensalter nach durchaus gemischt sind, zur Untersuchung herbeizuziehen; die prämortalen Zahnlücken wurden dabei zu den kariösen Zähnen gerechnet. Es wurden 11 90 Schädel untersucht, welche folgenden 4 .Serien angehören : I. 755 Schädel aus dem ehemaligen Budapester „Alten Waitzner Friedhof", welcher 1777 bis 1849 als Begräbnisort benutzt worden war. . II. 260 Schädel aus dem Funde von Räkos- palota, d. h. aus der Begräbnisstätte eines Dorfes im 11. — 13. Jahrhundert. III. loi Schädel aus der Zeit der Völkerwande- rung, 4. — 5. Jahrhundert ; Funde von Keszthely und Nemesvölgy. IV. 74 Schädel aus römischen Sarkophagen; I. Jahrhundert n. Chr.; sie stammen aus Aquincum, den heutigen Obuda, aus dem ehemaligen römischen Pannonien. Die Ergebnisse waren: Zahl der gesunden Zähne Zahl der fehlenden und erkrankten Zähne Zahl der infizierten Schädel Zahl der kariösen Zähne pro Schädel 3971 = 580/0 2925=42% QO^/o 1778 = 64% 1014 = 36%! 86% 528 = 67% 285 = 3-3% , 83% 342 = 71% . 243 = 29% , 85% 3,87 3.12 2,71 1.93 552 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 35 Es betrug demnach schon zur Zeit der Völker- wanderung und der Römerherrschaft die Zahl der infizierten Gebisse über 80 "/q; sie steht nicht wesentlich hinter der heutigen Frequenzzahl zu- rück. Der geringe Unterschied fällt kaum ins Gewicht. — Auffällig ist die Differenz gegenüber den Ergebnissen von Schwerz, die aus der Tatsache, daß es sich bei den Alamannenschädeln um ein Auslesematerial handelte, wohl nicht rest- los erklärt werden kann. Vielleicht hängt dies mit der östlichen Lage Ungarns zusammen; wenn wirklich Asien der Herd der Zahnkaries ist, dann war jedenfalls Ungarn mehr exponiert, als die westlichen Teile Europas. Auch andere Angaben, denen man häufig be- gegnet, suchte Lenhossek auf ihre Zuverlässig- keit zu prüfen ; die große Zahl' der von ihm unter- suchten Gebisse und Zähne läßt seine Ergebnisse als von Zufälligkeiten ziemlich frei erscheinen. Es ist z. B. eine weit verbreitete Ansicht, daß das weibliche Geschlecht häufiger von Zahnkaries befallen werde als das männliche. Von den 260 Schädeln der II. Serie konnten auf 8 alle in be- zug auf das Geschlecht identifiziert werden; es waren 161 männliche und 91 weibliche. Bei den Männerschädeln waren 63,47 %i bei den Weiber- schädeln 63,59 "/o '^^^ Zähne gesund; ein Unter- schied in bezug auf das Geschlecht ließ sich also bei diesen Zähnen nicht konstatieren. — Die andere häufige Angabe, daß die unteren Zähne weniger erkranken als die oberen, fand Lenhos- sek an 4 Schädelserien bestätigt; der Unter- schied zugunsten der Zähne des Unterkiefers be- trug im Durchschnitt 9 "j^. Die relative Immuni- tät der unteren Frontzähne wird gewöhnlich da- mit in Verbindung gebracht, daß diese am näch- sten bei der Mündung der Unterkiefer- und der Unterzungenspeicheldrüsen liegen und so ständig von frischem, unzersetztem Speichel umspühlt werden, wobei man eine bakterizide Wirkung des Speichels vermutete. Da eine solche aber nicht nachgewiesen werden konnte, liegt der günstige Einfluß des Speichels jedenfalls in einer mecha- nisch reinigenden Wirkung, durch welche die Zähne von Bakterienbelegen einigermaßen befreit werden (vgl. A. Bühl er und O. Heer, Be- ziehungen zwischen Zahnkaries und relativer Azi- dität des Speichels und des Harns. Deutsche med. Wochenschr. 43. Bd. 191 7 S. 207). Das Auffallendste an der Zahnkaries ist aber jedenfalls die Tatsache, daß sie geradezu als spe- zifisch menschliche Erkrankung anzusehen ist. Es ist freilich nicht zu übersehen, daß auch Tiere von dieser Krankheit befallen werden können, so in erster Linie der Haushund (bis 6 "/(,), dann auch, freilich seltener Pferd, Rind und Schwein und von Säugetieren, die in zoologischen Gärten gehalten werden, Affen und Leoparden. Doch handelt es sich dabei immer um Tiere, die mit dem Menschen in direkte Berührung kamen und jedenfalls von ihm angesteckt wurden ; denn an wild lebenden Tieren ist Zahnkaries bis jetzt noch nie beobachtet worden. Man hat vielfach die Ernährungsweise der Kulturmenschen für das Überhandnehmen der Karies verantwortlich ge- macht und der Satz, daß „wild" lebende Völker, also die sog. „Naturmenschen" bessere Zähne be- sitzen als wir, gilt fast als Dogma. Doch hat demgegenüber C. Seyffert (Die Pflege der Zähne bei den Naturvölkern. Deutsche Monatsschrift für Zahnheilkunde, 191 1 S. 842) nachgewiesen, daß die Naturvölker im allgemeinen schlechte Zähne haben und R. Föch (Studien an Eingebornen von Neu-Südwales und an australischen Schädeln. Mitteil. Anthropol. Gesellsch. Wien. 45. Bd. 191 5 S. 12) berichtet, daß die Zähne der australischen Urbewohner, welche zu den primitivsten Menschen- rassen zu rechnen sind, sehr stark infiziert sind. Jedenfalls besteht die „Immunität" dieser Urvölker nur solange, als sie möglichst isoliert bleiben ; gegen eine Infektion erweisen sie sich durchaus nicht als widerstandsfähig. Der Grund, weshalb die Zahnkaries auf den Menschen beschränkt ist, wird vielfach darin ge- sehen, daß die Tierzähne sich vor denen des Menschen durch größeren Kalkgehalt auszeichnen sollen. Nun haben aber gerade die menschlichen Zähne einen höheren Kalkgehalt, als die meisten tierischen (z. B. mehr als beim Hund und beim Krokodil; vgl. Gaßmann, Der Kalkgehalt der Menschen- und Tierzähne. Korrespondenzblatt für Zahnärzte 1912) und überhaupt kommt für die Widerstandsfähigkeit der Zähne in erster Linie nicht ihr prozentualer Kalkgehalt, sondern die Art der gegenseitigen Durchdringung der anor- ganischen und der organischen Bestandteile in Betracht. Es ist also sehr schwer, die dem Menschen eigentümliche, allgemeine Disposition zu Zahn- karies auf Grund äußerer Verhältnisse einwand- frei zu erklären. Es drängt sich hier m. E. der Gedanke auf, daß die Zähne sich beim Menschen im abfallenden Teil ihrer Entwicklungskurve be- finden. Die enorme Vergrößerung des Gehirnes hat ja beim Menschen eine ganze Reihe anderer Ausfallserscheinungen im Gefolge gehabt, wie dies auf Grund des Satzes von der Korrelation der Organe nicht anders erwartet werden kann: die exzessive Entwicklung eines Körperteiles kann nur auf Kosten anderer Teile von sich gehen, die dann in die absteigende Linie gedrängt werden. In der Säugetierreihe scheint es, daß gerade die Zähne leicht zu Rückbildung neigen ; tatsächlich finden wir vielfach zahnarme oder gar zahnlose Formen, so z. B. bei den Edentaten, bei den Walen und bei den Wiederkäuern. Ähnlich mögen auch beim Menschen die Zähne unmerk- lich degeneriert haben, bis sie den eindringenden Bakterien keinen Widerstand mehr leisten konnten, welche nun ihrerseits den Abbau beschleunigen. Es würde damit die Zahnkaries in eine Linie ge- stellt mit den anderen menschlichen Rückbil- dungen, unter denen der Verlust der Körperbe- haarung, des Schwanzes, der Beweglichkeit der N. F. XIX. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 553 Ohrmuscheln, der Opponierbarkeit der ersten Zehe sowie der Rückgang der Empfindlichkeit der Sinnesorgane die auffallendsten Beispiele dar- bieten. Daß speziell die Bezahnung in einem ähnlichen Rückschritte begriffen sei, darauf deutet auch die Tatsache hin, daß der ganze Kauapparat des Menschen, d. h. sowohl die Kiefer als die Kaumuskeln im Vergleich zu den Säugern unver- kennbar schwach entwickelt sind. Wenn diese Ansicht richtig ist, dann bleibt freilich der Mensch- heit wenig Hoffnung auf Erhaltung der gefähr- deten Bezahnung und dieser Umstand mag es denn auch sein, der uns hindert, das Problem der Zahnkaries von dieser entwicklungsgeschichtlichen Seite aus zu betrachten. Dr. M. Schips, Zürich. Geologie. Zeitgemäße Aufgaben der prakti- schen Geologie erörtert F. Beyschlag in der Zeitschr. f. prakt. Geologie, XXVIII, 1920, S. 1 — 5. Als erstes wird die Frage behandelt, inwieweit die praktische Geologie beitragen kann, den Er- trag unserer Ernten wieder zu heben und damit unsere Ernährung sicherzustellen. Das Haupt- problem dafür ist wohl die Erzeugung und Ver- teilung reichlicher Mengen künstlichen Düngers. An Kalisalzen fehlt es in Deutschland trotz des verlorenen Elsaß nicht, Stickstoff könnten das Leunawerk bei Merseburg, Piesteriz, Charzow (Oberschlesien) , Trostberg (Bayern) , Waldshut, Oppau (besetztes Gebiet) und Knapsack in mehr als genügenden Mengen liefern, wenn sie Kohlen und Gips, mit denen Deutschlands Boden ja ge- segnet ist, in genügenden Mengen haben. Auch an Kalk mangelt es nicht, wenngleich derselbe sehr ungleichmäßig verteilt ist. Unser Boden ist sehr kalkhungrig geworden, und die Scheidekalk- erzeugung der Zuckerfabriken, die den Landwirten ein so ausgezeichnetes streufähiges Düngemittel lieferte, geht zurück. . Es ist daher eine schöne und große Aufgabe der praktischen Geologie zu untersuchen, ob großzügige Mergelungsunterneh- mungen, wie sie im südlichen Holstein mit sehr gutem Erfolg — Steigerung der Erträge schon nach kurzer Zeit um ^'3 und darüber — ausge- führt worden sind , auch in anderen Gebieten Deutschlands technisch und wirtschaftlich möglich sind. Sehr wichtig ist weiterhin die Beschaffung von Phosphor. Deutschland ist sehr arm an Phosphatlagerstätten. Vor dem Kriege standen uns reiche überseeische Vorkommen (Florida, Süd- seeinseln) und das Thomasmehl der Minetten und lappländischen Eisenerze zur Verfügung. Im Kriege wurden die Phosphatlagerstätten an der Lahn, am Harzrand und im Harzvorland wieder belebt. Zur- zeit können wir die hochprozentigen ausländischen Phosphate infolge unserer Valuta nicht kaufen. Auch die Thomasmehlerzeugung geht dauernd zurück. Wir müssen also aus unseren armen heimischen Lagerstätten herausholen, was nur irgend möglich ist. Aber auch da verhindern die gesteigerten Löhne und hohen Kohlenpreise die Verarbeitung der ärmeren Rohmaterialien mit einem Gehalt unter 40''/|j Trikalziumphosphat, die an der Lahn einen nicht unbeträchtlichen Teil des Fördergutes ausmachen. Aufgabe der praktischen Geologie bleibt es daher, dem Bergmann immer sicherere Hilfsmittel in die Hand zu geben durch Erforschung der Gesetze der Verbreitung der Phosphorite im Gebirge und durch Angabe aller für die Aufsuchung, Gewinnung und Wasserhaltung wichtigen Einzelheiten es ihm zu ermöglichen, den schwierigen und in alten, niemals wirtschaft- lich werdenden Methoden erstarrten Betrieb zu modernisieren und solange lebensfähig zu erhalten, bis wir wieder in der Lage sind, uns aus dem Ausland zu versorgen. Schwieriger als bei den Pflahzennährstoffen liegt für uns das Problem der Rohstoffversorgung aus dem eigenen Lande bei den Erzen und Kohlen. Hier fehlt zunächst eine ins einzelne gehende Übersicht über das Vorhandene. Wir müssen uns heute Rechenschaft geben, ob unter den besonderen Verhältnissen der Gegenwart irgendwo innerhalb unserer Landesgrenzen Lager- stätten schlummern, die uns notwendige Rohstoffe liefern könnten. In diesem Sinne haben Preußen, Bayern und andere Staaten durch ihre geologi- schen Landesanstalten Erhebungen veranlaßt, in denen sämtlicher Lagerstättenbesitz registriert und bei den noch nicht oder nicht mehr ausgebeuteten die Aussichten bei erneuter Inbetriebnahme unter- sucht werden sollen. Eine gründliche Prüfung aller einschlägigen Verhältnisse durch Sachver- ständigenkommissionen muß dahin führen, die wirklich höfflichen und aussichtsreichen Verlei- hungen von den sehr zahlreichen wertlosen zu trennen und diese der allgemeinen ungesunden Spekulation zu entziehen. Alle diese Beurteilungen aber müssen ihren Ausgangspunkt nehmen von der Bewertung der Lagerstätte selbst, und in diesen Prüfungsarbeiten steht den praktischen Geo- logen eine ungemein umfangreiche Aufgabe bevor. Keine geringere Rolle als die Wiederbelebung stilliegender Bergbaue spielt für die praktische Geologie zurzeit die Frage nach dem Vorhanden- sein bisher unentdeckter Mineralschätze sowie die PVage, ob gewisse Vorkommen heute vielleicht wirtschaftlich verwertbar sind. So steht z. B. fest, daß Gold in minimalen Mengen in deutschen Gesteinen weit verbreitet ist, und es steht zu hoffen, daß vielleicht doch schließlich noch Ge- biete gefunden werden, die infolge ihrer Lage zu den primären Herden feinverteiltes Gold in ge- nügender Menge enthalten, das uns bisher ent- gangen ist, weil wir zunächst nach den sekun- dären Anreicherungsstätten griffen, die am leich- testen zu finden und abzubauen waren. Auch die Frage des Plati n Vorkommens ist noch nicht endgültig entschieden. Wenn auch ein großer Teil der Nachrichten übertrieben und falsch ist, so bleibt doch noch eine gewisse Hoffnung, daß es gelingen könnte ursprüngliche oder nachträg- 554 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 35 liehe sekundäre Konzentrationen zu finden, oder ein Anreicherungsverfahren der feinst und un- regelmäßigst verteilten Edelmetallgehalte zu er- sinnen. Ahnlich schwierig scheint die Aufgabe des praktischen Geologen, für die durch den unglück- lichen Krieg verloren gegangenen Eisen- und Man ganerz Vorräte Ersatz zu schaffen. Beson- ders wichtig für die erstgenannten ist die weitere Untersuchung und Aufschließung der senonen und cenomanen Eisenerze im Harzvorland. Gegen- wärtig betreiben dortige Großindustrielle eine umfangreiche Bohr- und Schürftätigkeit auf solche Erze. Die schwierigen Lagerungsverhältnisse machen hierbei die Mitwirkung des praktischen Geologen zur unumgänglichen Voraussetzung. Ähnliche Aufgaben , wenn auch kleineren Maß- stabes, liegen gegenwärtig in Hannover, Thüringen und Franken vor. In bezug auf die Manganerze kommen zwei Gebiete in Betracht, bei deren Er- schließung der praktische Geologe berufen ist, Hilfe zu leisten , einmal die mitteldevonischen nassauischen Kalkmulden , insonderheit die Lahn- mulde, sowie der Taunusrand gegen die Wetterau. Die zahlreichen , manganreichen Verwitterungs- lagerstätten, die durch die bisherigen Aufschlüsse nicht erschöpft sind, verdienen es im Interesse unserer heimischen Stahlindustrie näher unter- sucht zu werden. Die Aussichten, in Deutschland neue Stein- kohlenlager zu finden sind gering. Auf An- regung der preußischen geologischen Landesanstalt soll jedoch versucht werden, durch ein System von Bohrungen die nicht ganz aussichtslose Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem west- fälischen und dem oberschlesischen Steinkohlen- becken zu klären. Die erste Bohrung ist bei Oranienburg nördlich Berlin im Gange. Für Braunkohle bleibt noch an zahlreichen Stellen im nördlichen Teil der Provinz Brandenburg die Möglichkeit der Auffindung von Tiefbaubraun- kohle und im Zusammenhang hiermit von Glas- sand, Tonen und Kaolin. Weiterhin ist noch zu erwähnen, daß eine Knappheit an feuerfesten und säurebeständigen (Juarziten, an Feuer- steinen für Kugelmühlen, vor allem aber an Quarzitschiefern zum Aussetzen von Öfen und an Mühlsteinen droht. Die Aufgabe des praktischen Geologen ist es, hier neue, geeignete Lagerstätten zu finden. Als letzte Aufgabe des praktischen Geologen bezeichnet Beyschlag noch die Bekämpfung des Dilettantismus, der sich auf diesem Gebiete seit dem Kriege, vielfach zu unserem Schaden, breit gemacht hat. F. H. Über das Grundwasser des Rheintales bei Köln und die darin auftretenden Mineralquellen berichtet G. F 1 i e g e 1 in der Zeitschr. f. prakt. Geologie, 28. Jahrg., 1920, S. 5 — 12. Die Vorarbeiten für das letzte Wasserwerk der Stadt Köln boten ein besonders schönes und klares Bild der Beziehungen des großen Grundwasserstromes, der den Rhein von seinem Austritt aus dem Rheinischen Schiefer- gebirge ab begleitet und dem alle die zahlreichen Ortschaften des dicht besiedelten Rheintales so- wie zahlreiche des Bergischen Landes und auch die großen industriellen Betriebe ihr Wasser ent- nehmen, zu den schwankenden Rheinwasser- ständen. Außerdem konnte man hier den Eintritt von mineralisierten Lösungen ins Grundwasser nachweisen, und in der Folge ist es tatsächlich gelungen, an mehreren Stellen der Umgebung Kölns Mineralquellen im Rheintal zu erbohren. l. Das Grundwasser des Rhein tales bei Köln. Das Rheintal hat bei Köln die Breite von rd. 25 km. Er wird im Westen durch den Höhenrücken des Vorgebirges, im Osten von dem Devon des Bergischen Landes begrenzt. Die P"luß- aufschüttungen des Tales gliedern sich morpho- logisch und geologisch in die Mittel- und Nieder- terrasse. Dem Grundwasser gegenüber bilden beide Terrassenaufschüttungen ein einheitliches Ganze. Die im wesentlichen im Bereich der Niederterrasse ausgeführten Beobachtungen er- strecken sich von der Stadtumwallung bis zur Straße Brühl — Wesseling und nehmen den ganzen Raum zwischen der Eisenbahn Köln — Brühl und dem Rhein ein. Ein zweites kleineres Unter- suchungsgebiet liegt weiter im Südosten bei Wid- dig. In dem Gebiet wurden 94 Bohrungen von 24,1 m Durchschnittstiefe niedergebracht und 38 bestehende Brunnen für die Spiegelmessungen verwendet, so daß 132 Beobachtungspunkte vor- handen waren. Die 17 Schiffspegel zwischen der Kölner Schiffsbrücke und Widdig dienten der gleichzeitigen Kontrolle der Rheinwasserstände. Die Grundwasserträger sind in dem umgrenzten Gebiete die Kiese und Sande der Niederterrasse. Sie sind nur im Süden unter 20 m mächtig und schwellen im Norden auf 35 — 37 m an, in einem Falle sind sie mit 45 m nicht durchbohrt. Die Unterlage besteht in zahlreichen Bohrungen zwi- schen Brühl, Wesseling, Rondorf und Weiß aus Ton der Braunkohlenformation. Bis zu einer Tiefe von 8 m durchschnittlich sind die Kiese und Sande trocken, dann folgt das Grundwasser, daß sich demnach in den tieferen Sand- und Kies- schichten bewegt und bis zur tertiären Tonsohle herabreicht. Die Bewegungen des Grundwassers zeigen besonders lehrreich zwei Spiegelpläne, die leider aus Raummangel hier nicht wiedergegeben werden können. Der erste ist aufgenommen nach Spiegelmessungen bei hohem Mittelwasser. Die Grundwasserkurven laufen im allgemeinen ost- westlich, so daß die gesamte Flußrichtung als nördlich bezeichnet werden muß. Die Rhein- schlingc von Weiß wird von Grundwasser ignoriert, es fließt unbekümmert um die abweichende Strömungsrichtung des offenen Flusses nach Norden ab, während sein Gefälle in dem südlichen, kleinen Untersuchungsgebiet parallel dem Rhein nach Nordwesten geht. Da der Wasserspiegel des N. F. XIX. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 555 Rheins bei Godorf, Sürth und Weiß höher als der Grundwasserspiegel liegt, tritt dort Rheinwasser in das Grundwasser ein, während weiter stromab die Verhältnisse gerade umgekehrt liegen. Ganz anders ist das Bild bei Niederwasser. Das Grund- wasser steht jetzt wesentlich höher als der Rhein- spiegel, es tritt auf der ganzen Flußstrecke in den offenen Strom über und fließt nicht mehr nach Norden, sondern nach Nordosten, in der Rhein- schlinge sogar nach Osten und Südosten. Die Beobachtungen über den Einfluß des wechselnden Rheinwasserspiegels auf den Grundwasserspiegel haben ergeben, daß bis auf eine Entfernung von 550 m der Rhein den Grundwasserstand in allen Einzelheiten und fast unmittelbar beeinflußt, bis 1600 m ist der Einfluß nur noch in sehr abge- schwächter Form und mit starker Verspätung be- merkbar. In 4300 m endlich ist ein Einfluß des Rheins nicht mehr bemerkbar. Zusammenfassend ergibt sich, daß in den randlichen Teilen eines so breiten Tales das Grundwasser sich dauernd schräg oder quer auf das Taltiefste bewegt. Erst im mittleren Teile des Tales machen sich die wechselnden Wasserstände des Flusses geltend. Bei mittlerem Wasserstande ist die Flußrichtung des Grundwassers identisch mit der allgemeinen Richtung des Tales, bei niedrigem Flußwasser- stand wirkt die Flußrinne dagegen absaugend auf das Grundwasser, die allgemeine Flußrichtung führt dann schräg auf den Fluß zu. Bei Hoch- wasser endlich wird das Grundwasser gestaut und es findet ein wenn auch langsamer Übertritt von Flußwasser in das Grundwasser statt. II. IVIineralische Strömungen im Grund- wasser. Der normale Gehalt an Chlor im Grund- wasser beträgt 15—21 mg im Liter. Eine Aus- nahme bilden zwei Zonen, von denen die eine in 8 km Länge von Berzdorf vorbei an Gondorf zum Rhein nach Rodenkirchen läuft, während die andere im Untersuchungsgebiet bei Wätlich ge- legen ist. Der Chlorgehalt steigt bei Berzdorf auf HO und 138 mg, bei Godorf auf 83 und 1 10 mg, bei Rodenkirchen auf 60 und 56 und unmittelbar am Rhein immer noch auf 44 mg. Unverkennbar nimmt das Chlor bzw. Chlornatrium seinen Ursprung im Süden und fließt mit dem Grundwasser unter allmählicher Verdüngnung nach Norden in den Rhein. Die Breite dieses „Chlor- stromes" beträgt bis zu 1500 m. Ganz ähnlich verhält sich die Zone westlich von Widdig. Sie hat ihren Anfang an der Roisdorfer Mineralquelle, deren Chlorgehalt 11 18 mg im Liter beträgt. Weitere Untersuchungen haben ergeben, daß auch der Ursprung des ungewöhnlich hohen Chlorge- haltes der erstgenannten Zone auf den Eintritt mineralischer Lösungen ins Grundwasser zurück- zuführen ist. III. Mineralquellen bei Köln. Im Be- reich der Stadt Köln ist in den letzten Jahren an zwei Stellen Mineralwasser erbohrt worden. Bei der einen Bohrung, Köln i, steigt das Mineral- wasser aus den feinen Sauden des Oligozäns, die von den Niederterrassenschottern durch eine 18 m mächtige Tonablagerung der Braunkohlenformation getrennt sind, etwas über das Grundwasser in die Höhe und wird von da aus mittels Pumpe ge- hoben. Der Unterschied des Grund- und Tiefen- wassers besteht einmal in der Menge des Trocken- rückstandes (0,3 g/1 für Grund-, 9,90 g für Tiefen- wasser), sodann darin, daß mit dem Tiefenwasser erhebliche Mengen Kohlensäure emporsprudeln. Ihrem chemischen Bestand nach ist die Quelle ein erdigsulfatisches Mineralwasser. Ganz ähnlich ist das Wasser der Bohrung Köln II. Bei einem Vergleich mit anderen Mineralquellen ergibt sich, daß besonders Köln I den Kissinger Quellen sehr nahe steht. Bei Köln II fehlt die Zwischen- schaltung einer wasserabschließenden Tonablage- rung zwischen Grund- und Tiefenwasser. Damit wird die eigenartige Tatsache verständlich, daß die Spiegelgange von Grund- und Mineralwasser einen weitgehenden Parallelismus unter sich und zum Spiegelgang des Rheines zeigen. IV. Die Herkunft der mineralischen Lösungen. Die Kölner Mineralquellen ver- einigen in sich die wesentlichen chemischen Eigen- schaften der alkalischen Quellen der Eifel- und der Kochsalzquellen des nördlichen Schieferge- birgsvorlandes. Die Erklärung für diese besondere chemische Stellung ergibt sich aus der geologi- schen Position der Quellen. Bereits in 100 m Tiefe etwa steht das Devon an. Auf Spalten im devonischen Grundgebirge bewegen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier ähnliche Lösungen wie inmitten der Eifel. Kohlensäure führende Wässer, reich an gelösten Alkalien, treten aus ihnen in die oberoligozänen Sande im Unter- grunde des Rheintales ein und sind durch die beiden Bohrungen erschroten worden. Eine be- sondere Herkunft muß nur für das Kochsalz an- genommen werden. Ursprüngliche Salzlager gibt es im Oberoligozän des Niederrheingebietes nicht. Für die Salzquellen im nördlichen Vorlande des Schiefergebirges ist die Herkunft des Chlornatriums aus dem weit verbreiteten Salzlager des nieder- rheinischen Zechsteins allgemein anerkannt, und hier sucht der Verf auch die Heimat des Chlor- natriumgehaltes für die Kölner Quellen. Er denkt an Wanderungen der Solen auf allerdings weiten Wegen — der nächste Punkt, von dem Zechstein am Niederrhein bekannt ist, liegt 60 km nördlich von Köln — in Spalten des Untergrundes. Sie treffen dabei im Süden der niederrheinischen Bucht mit mineralischen Lösungen vom Charakter der alkalischen Säuerlinge zusammen, versalzen diese und steigen mit ihnen in den oberoligozänen Sand und unter Umständen sogar ins Grund- wasser auf. In Einklang mit dieser Ansich steht der Befund der Roisdorfer Mineralquelle, in der der Chlornatriumgehalt gegenüber Köln weiter zurückgegangen ist und in der der Charakter des alkalischen Säuerlings reiner zum Ausdruck kommt. Erst in den Eifelquellen selbst ist der Kochsalz gehalt fast verschwunden. F. H. 556 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XrX. Nr. 35 Über die Beziehungen der Erzführung einiger Blei-Zinkerzgänge zur Tektonik des Nebengesteins berichtet A. Stahl in der Ztsc¥r. f.^fjraktische Geologie, XXVIII, 1920, S. 12—14 u- 28—34. Die Erzführung der Blei-Zinkerzgänge hält ge- wöhnlich im Streichen nicht sehr weit aus. Sie beschränkt sich meist auf einzelne örtliche Erz- mittel, während die Gänge in ihrer übrigen streichenden Erstreckung taub sind. Dadurch wird der Abbau sehr zeitraubend und kostspielig. Die alte Bergmannsregel, daß die Haupterzmittel an der Scharung der Gänge auftreten, hat prak- tisch nur geringe Bedeutung, auch neuere Unter- suchungen, die Erzverteilung auf Nebengesteins- einflüsse zurückzuführen, haben zu einer befriedi- genden, allgemein gültigen Regel noch nicht ge- führt. Dagegen hat sich in einer Reihe von Fällen die Tektonik des Ganggebietes von unverkenn- barem Einfluß auf die Erzführung gezeigt. Die Tektonik des Oberharzer Ganggebietes wird von einer Reihe SW— NO streichender Falten be- zeichnet, und zwar sind für das Hauptganggebiet fünf solcher Falten von Bedeutung, die sich zwi- schen Lautenthal-Grund und Altenau erstrecken. Die Oberharzer Erzgänge schneiden dieses Falten- system annähernd rechtwinklig. Sie sind nicht in ihrer ganzen streichenden Erstreckung erz- führend, sondern enthalten nur vereinzelte, ziem- scharf begrenzte Erzmittel, für deren Lage' bisher irgendwelche Anhaltspunkte und Gründe nicht be- kannt waren. Nach den Untersuchungen des Verf hat sich indessen gezeigt, daß der Verteilung der Erze ein ganz bestimmtes, von der Tektonik vorge- zeichnetes Schema zugrunde liegt, daß die Gänge nämlich regelmäßig nur dort Erze füh- ren, wo sie die Sattelfalten des Ge- bietes schneiden. Der Einfluß des Neben- gesteins dagegen ist sicher nur von unterge- ordneter Bedeutung gewesen. Diese auffällige Gesetzmäßigkeit läßt sich ebenfalls in den zwei anderen Ganggebieten Deutschlands von ähnlichem tektonischen Auf- bau — welliges Schichtensysiem, rechtwinklig von Gangen durchsetzt — nachweisen, nämlich im Lintorf-Velberter und im Aachener Blei-Zink- distnkt. Das Lintorf-Velberter Ganggebiet bildet die südwestliche Umrandung des Niederrheinisch- Westfälischen Steinkohlengebietes, dessen Tektonik es sich eng anschließt. Es ist in ihm der gleiche Paltenbau zu beobachten, wie er aus dem Stein- kohlengebirge bekannt ist. Das Gebiet wird von einer Anzahl NNW— SSO streichender, die Falten annähernd senkrecht schneidender Gänge durch- setzt, deren Erzführung, teilweise in außerordent- lich anschaulicher Weise, an die Sattelfalten des Gebietes geknüpft ist. Das schönste Beispiel bieten die Lintorfer Gänge, die nur dort erz- führend sind, wo sie zwei Kohlenkalksättel schnei- den, die sich als Fortsetzungen des aus dem Sleinkohlengebiet bekannten Johann-Diepenbrockcr und Langenbrahmer Sattels darstellen. Damit ent- fallen auch die Widersprüche, die sich für die einzelnen Vorkommen ergeben, wenn man für die Erzverteilung lediglich Einflüsse des Neben- gesteins geltend machen will. Die Erzmittel der Lintorfer Gänge liegen im Kohlenkalk und sie vertauben im kulmischen Schiefer, was nicht da- rauf zurückzuführen ist, daß dieses Gestein den Erzabsatz ungünstig beeinflußt hätte, sondern nur darauf, daß er die Mulden erfüllt. Denn bei den Sulbecker Gängen liegen die Erzmittel gerade im Kulm und Flözleeren, die hier den Sattel auf- bauen. Für die — freilich untergeordneten — metasomatischen Bildungen dagegen ist das Neben- gestein wie auch anderorts von größter Bedeu- tung gewesen, da sie sich ausschließlich im Kalk finden. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse im Alten- berger und Stoiberger Revier in der Gegend von Aachen. Im Altenberger Erzgebiet finden sich, da hier metasomatische Bildungen mehr in den Vordergrund treten, die Erzmittel vorwiegend an den Flügeln der Sättel, da die metasomatischen Lagerstätten an bestimmte Gesteinsarten ge- bunden sind. Die Erzmittel der Gänge dagegen sind auch hier von der Beschafienheit des Neben- gesteins unabhängig und erstreckten sich daher auch in den Sattelkern. Sie konnten in jedem Schichtengliede zur Ausbildung kommen, sofern nur die tektonischen Voraussetzungen vorlagen. Das klassische Beispiel für die geschilderten Beziehungen von Erzführung und Tektonik findet sich im Tombstone-Minen-Distrikt in Arizona, wo sie schon seit längerer Zeit bekannt und von Church^) beschrieben worden sind. Eine Ab- hängigkeit der Erzverteilung von dem Intrusiv- kontakt oder den Eruptivgängen scheint nicht vorzuliegen, wogegen die Erzmittel sich fast aus- nahmslos dort finden, wo die Gänge Sättel des Gebietes schneiden, während die Muldenpartien taub sind. Es handelt sich nunmehr darum, eine Er- klärung für diese auffällige Erscheinung zu suchen. Faltung und Gangbildung sind zwei tektonische Prozesse, die wahrscheinlich in keinem der be- handelten Fällen im ursächlichen Zusammenhang stehen. Die Gangbildung ist zweifellos jünger als die Faltung. Die Beziehungen zur Tektonik können daher nur darauf zurückgeführt werden, daß infolge der Faltung gewisse Vorbedingungen für die Erzverteilung bereits gegeben waren, ehe noch die Gangbildung einsetzte. Da die Erze in den vorliegenden Fällen wohl zweifellos thermaler Entstehung sind, läuft die PVage darauf hinaus, welche Umstände die Erzlösungen veranlaßt haben, gerade an der Kreuzung der Sättel mit den Gangspalten aufzusteigen, die anderen Gangteile aber zu meiden. Von den Erklärungsmöglich- keiten verwirft der Verf. als nicht genügend be- gründet einmal die, daß die Regelung der Ther- maltätigkeit in rein mechanischer Einwirkung der Faltung zu suchen sei, indem die Gangbildung in ') „The Tombstone, Arizona, Minen Dislrict". 'l'rans. of Uic .\nier. Inst, of Min. Eng. 1290. N. F. XIX. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 557 den Sattelpartien besser ausgebildet und dadurch einer Thermenzirkulation günstiger gewesen sei, sodann die, daß die Erzmittel sich deshalb an den Sattelkreuzungen fänden, weil an diesen Stellen der erzspendende Horizont in der ge- ringsten Tiefe angeschnitten worden sei. Er gibt vielmehr der Vorstellung den Vorzug, daß die Verteilung der Erze im Rahmen des Falten- baues bereits erfolgt war, noch ehe die Gangbil- dung überhaupt einsetzte. Als Vergleich werden die Erdöllagerstätten angeführt, die ebenfalls meist an Sättel gebunden sind, in denen infolge des Auftriebes eine Anreicherung des Öles stattfand. Als Erzlieferant gilt im Oberharzer Gebiet das Granitmassiv des Brockens. Die Intrusion des Granites wird eine lebhafte Entgasung in Gefolge gehabt haben, und es ist erklärlich, daß die Sattel- falten der das Massiv bedeckenden Erdkruste als die höchsten Aufwölbungen, innerhalb deren in- folge der Zerrung und Lockerung der Kohäsion Hohlräume vorhanden waren, dem Auftrieb dieser Gase ungleich günstiger waren als die benach- barten Partien. Es wird daher an den Sattel- partien zu einer Konzentration der magmatischen Ausdünstungen gekommen sein, und es war nun nur noch erforderlich, daß diese Partien von hin- reichend tiefen Gangspalten angeschnitten wurden, damit das angesammelte IVIaterial in Gestalt erzhaltiger Thermen zur Oberfläche aufsteigen konnte. Für die Praxis ist die geschilderte Gesetz- mäßigkeit nicht unwesentlich, wenngleich sie natürlich eine Gewißheit auch nicht gewährleistet. Noch eine andere Bedeutung kommt dem Ergeb- nis zu. Es wird zu untersuchen sein, ob die Be- ziehungen zwischen Erzführung von Gängen und Nebengesteinen nicht letzten Endes ebenfalls eine Folgeerscheinung der Tektonik des betreffenden Gebietes ist, wie es sich für die Pribramer Erz- gänge bereits herausgestellt hat. F. H. Physiologie. Beiträge zur Geruchschemie bringt L. Ruzicka,^) indem er nach einer kurzen ablehnenden Kritik der Hennin gschen Duft- klassen ") die erkenntniskritischen Schwierigkeiten der Forschung des Problems der Duft- und Ge- ruchserscheinungen kennzeichnet. Ruzicka gibt erstmalig eine rein phänome- nologische Begriffsbestimmung eines „Riechstoffes". Auf Grund der Versuche Erdmanns, ^) die die große Löslichkeit duftender Stoffe in Luft darge- tan haben, sowie besonderer Anschauungen über den Vorgang im Geruchsorgan gibt Ruzicka die Definition: „Als Riechstoff wird man einen Körper bezeichnen, der in der Luft löslich ist und m it Substanzen der Riechschleimhaut eine chemische Re- aktion eingeht, die den Riechnerv an- ') Chemiker-Zeitung 44, S. 93 und S. 129. 1920. ^) H. Henning, Der Geruch. Leipzig 1916, S. 291 ff. ") Journ. f. prakt. Chemie 61, S. 225. 1900. regt." Eine besondere dem Gefühl angenehme Reizbetonung ist also hierbei nicht zur Bedingung genommen. Mit Recht, denn eine scharfe Schei- dung zwischen reinen Wohlgeruch auslösenden Stoffen und solchen, wo diese Gefühlsreaktion ausbleibt, ist unmöglich. Da bisher, in Wissen- schaft und Industrie, jedoch der Name „Riech- stoffe" so gut wie ausschließlich den zur Par- fümerie verwendeten, lustbetonte Empfindungen hervorrufenden Stoffen eigen war, so hegt die Gefahr einer Begriffsunklarheit vor. Deshalb, und weil auch logisch ganz einwandfrei; möchte Re- ferent stattdessen „Duftstoffe" für alle eine Ge- ruchsempfindung bedingenden Stoffe vorschlagen, eine Bezeichnung, die ich seit längeren ausnahms- los verwende *) und auch von anderer Seite an- genommen sehe. Nächst diesem stört an der obigen Definition die Verwechslung der Begriffe „Körper" und „Stoff": „ein Riechstoff ist ein Körper" zu sagen, sollte (nach Ostwa Ids ein- dringlicher Unterscheidung zumall) nicht mehr möglich sein. Ruzicka betont sehr die Unmöglichkeit, nähere Beziehungen zwischen chemischer Konsti- tution und Duftqualität aufzufinden. Die chemisch ganz verschiedenartig konstituierten Stoffe können doch übereinstimmende bzw. zur gleichen Klasse gehörende Düfte entsenden. Andererseits ist die Veränderung der Reizintensität in homologen Reihen diesen durchaus nicht adäquat. (Ruzicka geht hierin methodisch wohl nicht ganz einwand- frei vor: nach Henning ist der Geruchsein- druck, d. h. die psychische Qualität, durch so viele Umstände bedingt, die ihrerseits in ganz unübersehbarer Weise physikalisch-chemisch modi- fiziert werden, daß Homologie z. B. im Kohlen- stoffgehalt duftender Stoffe eine irgendwie ent- sprechende Homologie im psychischen Eindruck überhaupt nicht erwarten läßt!) Jedenfalls ist eine Duftklassifikation nach rein chemischen Ge- sichtspunkten zurzeit verfehlt. Zu skeptisch aber ist Ruzickas Meinung, es sein nicht möglich „in einwandfreier Weise gewisse Punkte des Ge- ruchsgebietes so zu kennzeichnen, daß sie jeder- zeit von anderen Personen in der genau gleichen Weise wieder aufgefunden werden können". Das liegt m. E. nur daran, daß wir im Riechen, vor allem im Erleben von „Gegebenheitsdüften" '-) das unabhängig vom anderweitigen Kennenlernen des Duftträgers geschieht, so ganz ungeübt sind. Häufiger Gebrauch der Nase, neben einiger psychologischer Schulung, dürften hier bedeutende Fortschritte ermöglichen. Über den Vorgang an der Riechschleimhaut, d. h. über das Wesen des Geruchs, gibt Ru- zicka eine in Vielem neue Theorie. Nach dieser ist der Geruchsvorgang rein chemischer Na- tur, nicht aber, wie eine phantastische Anschauung will, auf physikalische Vorgänge zurückzuführen, ') Vgl. Deutsche Parfümerie-Ztg. 1918IT. -) Vgl. Henning, a. a. O. S. 30. 558 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 35 etwa auf Schwingungen lichtähnlicher Art. Denn der Geruchseindruck findet stets nur in Gegen- wart des Duftstoffes statt, nicht durch Fernwir- kungen. Im übrigen ist die Funktion des Ge- ruchsorgans der von Auge und Ohr deutlich ent- gegengesetzt. Insbesondere treten bei Reizen mittlerer Stärke bei den letzten so gut wie keine Ermüdungserscheinungen auf, hingegen die Nase von oft überraschender Ermüdungsfähig- keit ist. Da diese Abstumpfung sich auf Duft- stoffe bezieht, deren nächste Verwandte im psy- chischen Eindruck noch sehr wohl gerochen wer- den können, so liegen im Geruch sicher chemische Umsetzungen in der regio olfactoria vor. R u - z i c k a deutet sie so, daß er in der Riechschleim- haut bestimmte Verbindungen von höherem Typus, die in Anlehnung an Ehrl ich sehe Vorstellungen „Osmoceptoren" genannt sind, lokalisiert sein läßt. Die in die Nase gelangten Duftstoffteilchen treten in Umsetzung mit diesen Osmoceptoren, und diese Umsetzung ist der Reiz auf den Nerven, der im zentralen System als Geruch erlebt wird. Der Duftstoff wird also, was schon Henning betonte, beim Riechen verbraucht. Je lang- samer die Duftstoffteilchen in die Schleimhaut gelangen, um so langsamer werden die ent- sprechenden Osmoceptoren verbraucht, d. h. der Eindruck ist dauerhaft. Bei großer Konzentration des Duftstoffes jedoch können die Osmoceptoren vom Organismus nicht rasch genug neugebildet werden, es kann also kein Reiz stattfinden, wir sind „ermüdet". Wohl aber ist eine Umsetzung mit anders konstituierten Osmoceptoren mög- lich, daher die Empfindung für in der Qualität zwar ähnliche, aber chemisch verschieden ge- baute Duftstoffe. Auch krankhafte Geruchser- scheinungen werden hiernach leicht gedeutet. Den betreffenden Organismen fehlen gewisse Osmo- ceptorengattungen, also auch die Vollzugsmög- lichkeit der entsprechenden Empfindungsinhalte.') Da Zahl und Art der Acceptoren höchstwahr- scheinlich wechseln, so ist die in der Olfaktome- trie gewonnene Größe für die Geruchs- intensität offenbar mit einem ■ unbestimmten (und vorläufig unbestimmbaren) Faktor behaftet. Auch dieser Umstand also bedingt ein Hindernis eindeutiger Erkenntnis der vorliegenden Verhält- nisse. Daneben treten die großen gehirnlichen Einflüsse. Aus alledem zieht Ruzicka die wichtige und beachtenswerte Folgerung, daß Beziehungen zwi- schen Duft und chemischer Konstitution nur äußerst schwer und fragwürdig zu erhalten sein müssen. Während die Farbe von keiner phy- siologisch-chemischen Umsetzung begleitet und auch der Einfluß des Zentralnervensystems von grundsätzlich anderer Art ist (daß er ganz fehle, ist ein Irrtum R.s), so sind ähnliche Erfolge wie sie die Farbenchemie aufweist für die Geruchs- chemie einstweilen nicht zu erwarten. Ref hofft auf einige der behandelten Fragen ausführlicher zurückzukommen. Hans Heller. '1 Vgl. hierzu Naturw. Warhensclir. N. 1'. l8. (1919) S. 119. Bücherbesprechungen. Kraepelin, Karl, Einführung in die Bio- logie zum Gebrauch an höheren Schulen und zum Selbstunterricht. Vierte, verbesserte Auflage. Bearbeitet von C. Schaffen Leipzig und Berlin 1919, Teubner. Preis mit Teuerungszuschlag 13,85 M. Kraepelins „Einführung in die Biologie" ist in vierter Auflage, von Oberlehrer Prof. Dr. C. Sc häffer- Hamburg bearbeitet, erschienen und seinem Werte entsprechend von Merker- Bremerhaven in den „Naturwissenschaftlichen iVIonatsheften", 2. Bd., 3. Heft, beurteilt worden. Ich schließe mich seinem Urteil durchaus an, möchte jedoch nicht versäumen, auf einige Un- genauigkeiten und Mängel hinzuweisen, die in der nächsten Auflage leicht beseitigt werden können. Sie betreffen den letzten Abschnitt: „Die Menschheitstypen der Gegenwart und der vorgeschichtliche Mensch". Ich habe zunächst zu beanstanden, daß der Verfasser in seiner „Übersicht über die Menschen- rassen" (S. 306 ff.) Volke rnamen verwendet. Wenn er (S. 308) die europäischen Rassen in nordische, alpine und mediterrane Völker ein- teilt oder (S. 309) die asiatischen Rassen in Semiten und Mongolen zerlegt, die Volke r- namen sind, so muß dies verwirrend wirken. Außerdem entspricht es gar nicht dem, was der Verfasser selbst in der Einleitung zu dem Ab- schnitt A: „Die körperlichen Verschiedenheiten des Menschengeschlechts" (S. 301) über die Gegen- sätze von Rasse und Volk richtig hervorhebt. Ein Schreibfehler ist es daher auch nur, wenn er in dem Vorwort zu der kleinen Ausgabe seines Werkes bemerkt: „Die Kürzungen wurden teils durch Streichung ganzer Abschnitte, z. B. des Ab- schnittes über Völkerkunde, erreicht, . . ." denn die Völkerkunde kommt mit Recht in der großen Ausgabe überhaupt nicht zu Wort. Einteilung und wissenschaftliche Benennung des Menschengeschlechts müssen nach denselben Grundsätzen erfolgen, die für Pflanzen und Tiere gelten. Alle Menschen vereinigen wir zur Gat- tung Mensch (Homo); diese zerlegen wir — der Ansichten der meisten Fachgelehrten folgend — in drei Arten, die weiße (H. europaeus), die schwarze (H. niger) und die gelbe (H. brachy- cephalus). Jede der drei Arten zerfällt in Rassen. N. F. XIX. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 559 In folgender Zusammenstellung können wir am leichtesten einen Überblick gewinnen: Gattung: Mensch (Homo) 1. Art: Weißer Mensch (H. europaeus): 1. Rasse: Nordische Rasse (H. europaeus, var. septentrionalis sive nordica); 2. Rasse: Mittelmeerrasse (H. europaeus, var. mediterranea). 2. Art: Schwarzer Mensch (H. niger): 1. Rasse: Neger (H. niger, var. afer); 2. Rasse : Australier (H. niger, var. australis). 3. Art: Gelber Mensch (H. brachycephalus) : 1. Rasse: Asiate (H. brachycephalus, var. asiatica); 2. Rasse: Amerikaner, „Indianer" (H. brachycephalus, var. americana). Diese Übersicht, der die Vorschläge Wilsers zugrunde liegen, hat den großen Vorzug der Folge- richtigkeit. Auch Sergis Einteilung des Men- schengeschlechts kommt, wenn wir die Einwände Wieth-Knudsens berücksichtigen, in Betracht, denn sie ist ebenso folgerichtig wie diejenige Wilsers. Sergi faßt die Arten sogar als Gat- tungen auf und unterscheidet vier Gattungen. Den drei Arten obiger Übersicht entsprechen der Nord-, Süd- und Ostmensch, und der Amerikaner ist bei ihm die 4. Gattung und wird als West- mensch bezeichnet. Im einzelnen habe ich noch folgendes zu be- merken: Die Engländer sind keine reinen Ver- treter der nordischen Völker (lies : nordischen Rasse); sie gehören wohl zu den längstköpfigen Menschen Europas, sind aber doch nicht rein- rassig, sondern Mischlinge von Vertretern der langköpfigen nordischen Rasse und der ebenfalls langköpfigen Mittelmeerrasse. Auch die Finnen und die Magyaren gehören nicht hierher; sie sind ursprünglich Rundköpfe (Homo brachycephalus), heute Mischlinge dieser Rasse mit der nordischen Rasse. Die Bezeichnung „Israeliten" für die Juden oder Hebräer würde ich vermeiden, da es nicht unwahrscheinlich ist daß die Israeliten ein von den Juden unterworfenes Ackerbauern- und Hirten- volk waren, dessen Namen sich die Juden an- eigneten. Wenn die Eskimos zu den mongolen- ähnlichen Völkern gestellt werden sollen, dann müßte zum mindesten auf ihre Langköpfigkeit hingewiesen werden. Die Ainu gehören aber sicher nicht hierher. Auch zum Abschnitt „Der vorgeschichtliche Mensch" möchte ich mir einige Bemerkungen erlauben. Jenes Lebewesen , von dem einige Knochenreste auf Java gefunden wurden, darf nicht als Pithecanthropus, zu deutsch „Affen- mensch", bezeichnet werden. Ist es ein Gibbon, dann ist der Name ohne weiteres falsch; ist es ein Vorläufer des Menschen, dann ist die von W il s e r vorgeschlagene Benennung Proanthropus = Vormensch vorzuziehen. Denn der Mensch stammt nicht — in der landläufigen Weise — vom Affen ab; vielmehr haben Mensch und Menschenaffen eine gemeinsame, noch unbekannte Wurzel X, und zwischen X und Mensch wäre der Fund auf Java zu stellen. Von „Homo heidel- bergensis" zu sprechen, wäre selbst dann nicht berechtigt, wenn es sich erweisen sollte, daß er einer besonderen Art oder Rasse angehörte und nicht den übrigen Funden von Urmenschresten eingereiht werden könnte. Es ist nämlich nicht üblich, Tier- und Pflanzenarten nach örtlichen Fundstellen zu bezeichnen, und für den Menschen muß eine derartige Bezeichnung ebenfalls abge- lehnt werden. Dasselbe gilt für „Homo aurigna- censis hauseri". Ich würde es als einen großen Gewinn für das Buch bezeichnen, auch bei der Besprechung des vorgeschichtlichen Menschen den Vorschlägen Wilsers zu folgen. Von der richtigen Voraussetzung ausgehend , daß der Mensch — wie alle Lebewesen — sich entwickelt hat, daß den heutigen Arten und Rassen also urgeschichtliche Formen entsprechen müssen, unterscheidet er: L i) Homo europaeus, var. fossilis (Rentier- jäger oder Rasse von Cro-Magnon); 2) Homo mediterraneus, var. fossilis (Löß- mensch). II. Homo niger, var. fossilis (Urneger aus der Doppelbestattung der Kinderhöhle). III. Homo brachycephalus, var. fossilis (eiszeit- licher Rundkopf). Den Urmenschen, zu dem u. a. der Neandertaler gehört, nennt Wilser Homo primigenius, und die meisten Anthropologen haben wohl diese Bezeichnung als zutreffend angenommen. Den Namen gebrauchte zuerst H a e c k e 1 in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" für ein fehlen- des Bindeglied. Ein Vergleich der beiden Übersichten läßt den Schüler leicht die Entwicklung des Menschen- geschlechts und die Zusammenhänge zwischen den ausgestorbenen und den heute noch leben- den Formen erkennen. Um den Entwicklungs- gedanken mehr hervorzuheben , würde ich auch den Abschnitt über den vorgeschichtlichen Men- schen vor „Die Menschheitstypen der Gegenwart" stellen. Ein Gewinn wäre es auch zweifellos für das wertvolle Buch, wenn Fremdwörter wie variabel, Statur, differenziert usw. vermieden, wenn den deutschen Pflanzen- und Tiernamen überall in den Abbildungen der wissenschaftliche Namen in Klammer beigegeben würde, und wenn der Verlag bei einem Neudruck dieses deutschem Geiste entsprungenen Buches der deutschen Druckschrift sich bediente. Bremerhaven. Bruno Beutler. Dahl, Fr., Der sozialdemokratische Staat im Lichte der Darwin -Weismann sehen Lehre. 42 Seiten. 8". Mit 6 Abbildungen im Text. Jena 1920, G. Fischer. Mit seinen Schlußworten charakterisiert der Verfasser den Inhalt der Schrift recht gut : „Da- mit wären einige der wichtigsten politischen Fragen vom rein naturwissenschaftlichen Stand- S6o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 35 punkt aus, also durchaus objektiv, kurz behandelt. Der Mensch ist dem Verfasser lediglich Natur- objekt wie jedes andere Lebewesen. Von allen subjektiven Empfindungen hat er sich möglichst freizumachen gesucht, in der Überzeugung, daß auch in der Politik nur eine objektive, unparteii- sche Betrachtungsweise zum richtigen Resultat führen kann." — Die aus der vorteilhaften Wir- kung der Auslese des Tüchtigsten abgeleiteten Schlußfolgerungen und Anregungen, die meist be- stimmten Tendenzen der Sozialdemokratie wider- sprechen, sind meist sehr einleuchtend. Die Be- seitigung der Kriege erhofft der Verfasser am ehesten von der Ausbreitung der Intelligenz, doch leitet er diese Anregung mit einem „Vielleicht" ein. Religion erachtet er für notwendig — aber welche ? Jedenfalls eine zeitgemäße. Daß er nun für den Gebildeten keine andere findet als die Annahme einer Dreiheit: Materie, Bewegung und Psychisches = Gott, scheint mir ethisch nicht über einen rein wissenschaftlichen Monismus hin- auszukommen. Allerdings, auch dem Verfasser ist das „nur eine Auffassung, die dem augenblick- lichen Stand der Wissenschaft entspricht". Be- züglich aller übrigen Punkte, in denen sein Stand- punkt ein bestimmterer ist, möchte ich dem In- halt der kurzen Schrift nicht vorgreifen. V. Franz. Graser's naturwissenschaftliche und landwirtschaftliche Tafeln. Annaberg, Erzgebirge, Grasers Verlag (R. Liesche). Diese Farbentafeln können nach der mir vor- liegenden Tafel 35 (Preis 4,50 M.), welche die sämtlichen deutschen Reptilien- und Amphibien- arten in Lebensgröße typenmäßig darstellt, für Unterrichtszwecke bestens empfohlen werden. Wenn auch leuchtendes Gelb hier und da nicht ganz rein herausgekommen ist, muß man doch sagen , die Farbengebung der weitaus meisten Bilder ist von höchster Naturtreue und Schön- heit, besser kann es nicht gemacht werden. Bei weniger verbreiteten Arten fehlen Angaben über das Verbreitungsgebiet nicht, und auch Biologisches — z. B. die Sumpfschildkröte auf der Fischjagd, die Kreuzotter vor der durch den Biß getöteten Maus — und die Abbildung mancher Farben- varietäten begrüßt man. V. Franz. Uhle, Heinrich, Laien-Latein. Viertausend lateinische Fremdwörter, Redensarten und Zitate, nach Form und Bedeutung erklärt, nebst einer allgemeinen Einführung in die lateinische Sprache. 184 Seiten. S**. Gotha 1920, Verlag Fr. A. Perthes A.-G. Preis 5 M. Dem des Lateinischen Unkundigen wird dieses alphabetische Wörterbuch, dem eine ganz kurze Grammatik vorausgeschickt ist, sehr gute Dienste leisten. V. Franz. Anregungen und Antworten. In meiner Besprechung des Buches von R. Tischner, „Über Telepathie und Hellsehen" (Nr. 28, vom 1 1. Juli d. J.) muß es S. 447, Spalte 2, Zeile il von unten nicht Zarasto, sondern Zarastro heißen. Also hat die Versuchsperson den Zettelinhalt nicht, wie es jetzt aussieht, mit zwei, sondern mit nur einem Fehler erkannt (Z für S). Dr. v. Wasielewski (Sondershausen). In dem Referat über Schütze, „Posener Seen" (Nr. 28, S. 443) muß es heißen: „Schütze" nicht Schütz; ferner in Absatz 2 „rundliche Grundraoränen oder schmale Rinnenseen" nicht umgekehrt. Halbfaß. Druckfehler in dem Aufsatz von Felix M. Exner. Naturw. Wochenschh 1920, Nr. 25. S. 385 links, Zeile 14 von unten: ein statt sein S. 385 rechts, Zeile 2 von unten: uns statt nur S. 387 links, Zeile 2 von oben ; flache statt Fläche S. 388 links, Zeile 4 von oben: nur statt um S. 388 links, Zeile 5 von unten: BCD statt Bc, S. 389 links, Zeile 5 von oben : Absatz vor „Ähnlich . . ." S. 389 links, Zeile 19 von oben: wirkt statt rückt S. 389 rechts, Zeile II von oben: turbulente statt ambulante S. 389 rechts, Zeile 31 von oben: turbulenten statt ambulanten Literatur. D u n g e r n , Emil Freiherr von. Dynamische Weltanschau- ung. Ebenda. 3 M. Fritz Müller, Werke, Briefe und Leben. Gesammelt und herausgegeben von Dr. A. Möller. 3. Band. Fritz Müllers Leben. Mit einem Titelbild, einer Karte und 6 Text- abbildungen. Ebenda. 15 M. Lubosch, Prof. Dr. \V., Die Bedeutung der humanisti- schen Bildung für die Naturwissenschaften. Ebenda. 2 M. Kanzler, Dr., Geologie des Teutoburger Waldes und des Osnings. Bad Rothenfelde '20, J. G. Holzwerlh. 18 M. Müller, F., Konstitution und Individualität. Rektorats- Antrittsrede, gehalten im Winter-Semester '19 an der Universität München. München '20, J. Lindauer. InbuH: Karl Kuhn, Die durchdringende Höhenstrahlung. S. 545. B. de Rudder, Die Grundlagen der Relativitäts- theorie. S. 548. — Einzelbericbte : M. v. Lenhossek, Zur Geschichte der Zahnkaries. S. 550. F. Beyschlag, Zeitgemäße Aufgaben der praktischen Geologie. S. 553. G. Fliegel, Über das Grundwasser des Rheinthaies bei Köln und die darin auftretenden Mineralquellen. S. 554. A. Stahl, Über die Beziehungen der Erzführung einiger Blei- Zinkerzgänge zur Tektonik des Nebengesteins. S. 556. L. Ruzicka, Beiträge zur Geruchschemie. S. 557. — Bücherbesprecbungen: Karl Kraepelin, Einführung in die Biologie zum Gebrauch an höheren Schulen und zum Selbstunterricht. S. 55S. Fr. Dahl, Der sozialdemokratisclie Staat im Lichte der Darwin-Wcisraannschen Lehre. S. 559. Graser's, Naturwissenschaftliche und landwirtschaltliche Tafeln. S. 560. H einric h Uhl e, Laien-Latein. S. 560. — Anregungen und Antworten: Berichtigungen. S. 560. Druckfehler. S. 560. — Literatur: Liste. S. 560. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'ichen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 5. September 1920. Nummer 36. [Nachdruck verboten.] Orthogenesis, Mutation, Auslese. Von Dr. Hugo Fischer, Essen a. R. Es kann nie zum guten Ende führen, wenn jemand ein verwickeltes Problem aus nur einem Grunde erklären will. Jedes Naturgesetz ist an sich einfach , wo ihrer aber viele und unter wechselnden Bedingungen zusammentreffen, wie meistens in biologischen Fragen, da ist das Ge- samtbild nicht von einem einzigen Standpunkt aus zu überblicken. So z. B. die Frage der Art- bastarde, die allein mit dem einfachen IVIendelis- mus nicht aufzuklären ist. Noch viel verwickelter ist aber das Problem der Entstehung der Tier- und Pflanzenarten samt ihren „Zweckmäßigkeiten". Darum ist es verfehlt, wenn Weismann und seine Schüler mit der Auslese allein alles erklären wollen ; noch verfehlter aber ist es, wenn man die Wirkung der Auslese ganz leugnen will, wie das O. Hertwig in seinem Buche „Das Werden der Organismen", 2. Aufl. (Jena 1918) tun möchte. Jls geht ihm hier, wie es im „Faust" heißt: „Und möcht ich sie zusammenschmeißen, „Könnt' ich sie doch nicht Lügner heißen." Da wird S. 347 de Vries genannt mit seinem gefüllten Chrysanthemum segetum. Aber wie ist er dazu gelangt? Ganz gewiß nicht ohne Auslese! Oder man lese S. 473 — 475 über Farbenanpassung der Polar- und der Wüstentiere: „Dann läßt es sich verstehen, daß . . . die . . . durch ihre Färbung leicht wahrnehmbaren Indi- viduen wegen der Ungunst der Existenzbedin- gungen in kurzer Zeit entweder von ihren Feinden oder durch die Schwierigkeiten der Nahrungs- beschaffung vernichtet wurden." Ja, ist denn das keine ,, natürliche Auslese" .'' Der einzige Unter- schied zwischen Darwin und Hertwig ist hier der, daß D. mit abgestuften Schattierungen, H. mit scharfen Farbenkontrasten, schwarz, weiß, braun usw., rechnet. Und das sollen zwei grund- verschiedene Naturauffassungen sein ? Und Hert- wig kein Anhänger der Selektionstheorie? (Selbst- verständlich bestreite ich nicht, daß zwischen ab- gestuften und krassen Farbunterschieden doch noch ein wichtiger innerer Unterschied ist; über die Ursachen derselben weiß aber Hertwig auch nicht mehr zu sagen als Darwin.) Nun fährt aber H. a. a. O. also fort : ,,In beiden Fällen hätte man es mit einer direkten Bewirkung zu tun, mit einer direkten Vernichtung der . . . nicht geeigneten Individuen." Dieser Satz löste bei mir ein Erstaunen aus, wie ich es lange nicht empfunden. Die Vernichtung der Ungeeigneten (bei Überleben der Passendsten) hat bisher für „Auslese", für den Grundgedanken des eigent- lichen Darwinismus gegolten. Direkte Be- wirkung nannte man bisher einen abändern- den Einfluß von Außenbedingungen, der, wo er für die Abstammungslehre in Betracht kommen sollte, neue erbliche Anlagen erzeugen müßte, der aber mit Auslese nichts zu tun hat! Also die Ursache von Abänderungen, unter welchen dann die natürliche Auslese ein- setzen würde, die aber H., dem Herkommen ent- gegen, nicht als Naturauslese, sondern als direkte Bewirkung bezeichnet. — Also selbst ein einseitiger Gegner der Aus- lese kommt ohne sie nicht aus, wieviel weniger der unbefangene Beurteiler, der, was ist, auch gelten läßt. Und die Tatsache der Auslese ist da, nur über ihre Tragwe ite war Darwin im Irrtum; vgl. dazu die Feststellung von Johannsen: über das, was in einer „Linie" drin steckt, kommt keine Auslese hinaus — wenn nicht Mutation ein- setzt. H. bekennt sich S. 603 zur direkten Be- wirkung und zur Vererbung erworbener Anlagen, als alleiniger Erklärung für die De- szendenz. Tatsächlich wissen wir über erstere herzlich wenig, von der letzteren, daß körper- lich erworbene Eigenschaften nicht vererbt werden, wohl aber Einwirkung auf die Keim- zellen erbliche Abänderungen erzeugen kann. Jede nicht ganz äußerliche Beziehung der Ver- erbung zur Erinnerung muß die Wissenschaft entschieden ablehnen ! — Was die sog. „vererbten Gewohnheiten" betrifft, so gäben die staaten- bildenden Insekten (Bienen, Ameisen, Termiten) ja ein prächtiges Beispiel ab, wenn nicht leider gerade die mit soviel Intellekt oder Instinkt (das „oder" bleibe hier unerörtert) arbeitenden Tiere unfruchtbar, die Geschlechtstiere aber an jener Tätigkeit ganz unbeteiligt wären. Wo aber irgend von vererbter Gewohnheit gesprochen werden kann, fehlt immer noch der Beweis, daß die Gewohnheit vor der Vererbung da war. Angesichts der heutigen Druckschwierigkeiten will ich bez. dieser Fragen auf meine Aufsätze in Naturw. Wochenschr. N. F. 9., 1910, S. 737, 753 und 10., 191 1, S. 165 verweisen, hier nur kurz auf einen Punkt hindeuten: die Kalk- und die Kieselpflanzen. Wir kennen eine Anzahl Artenpaare, die, nahe verwandt, kalk- bzw. kiesel- stet sind. Innerhalb eines solchen Paares sind aber die Unterschiede ganz andere als bei einem anderen; man kann nicht sagen: Kalk ruft dieses, Granit jenes Merkmal hervor. Z. B. die mitteleuropäischen Alpenrosen : Rho- dodendron hirsutum, kalkstet, trägt einzelne lange üb'. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. ^6 weiße Haare an den Blatträiidern ; bei Rh. ferru- gineum, einer Kieselpflanze, ist die ganze Rlattunter- seite mit dichtem rostrotem Filz überzogen. Diese Unterschiede finden sich bei keinem jener Artenpaare wieder, und in den Ostkarpathen wächst Rh. myrtifolium, dem Rh.- ferr. ähnlich, auf Kalk- und Kieselboden gleicher- maßen 1 Ahnliches findet man bei N ä g e 1 i (Kgl. Bayr. Akad. d. Wiss. 1865) von Achillea atrata (Kalk) und moschata (Kiesel) berichtet : wo auf engerem Raum beide Arten vorkommen, wächst eine jede nur auf ihrem Boden'); wo aber nur eine von beiden vertreten ist, steht diese wahllos auf Kalk- oder Kieselgestein, das also keine direkte Be- wirkung ausgeübt hat, sowenig wie auf die ge- wöhnliche Schafgarbe, A. millefolium, die ohne Abänderung auf allerlei Unterlagen wächst. Über- haupt ist die Zahl der getrennten Kalk- und Kieselformen gering gegenüber dem Heer der Arten, die auf den verschiedensten Böden vor- kommen, ohne eine Spur von „direkter Bewir- kung" zu zeigen. Auf Serpentin besitzen über- haupt nur drei Arten, 2 Streifenfarne, Asplenum, I Hornkraut, Cerastium, typische Varietäten, alle anderen sind nicht verändert. Berühmt sind ja auch die Galmei- Pflanzen der Umgegend von Aachen, seltsamerweise zwei Subalpine, Viola lutea und Alsine verna, beide in typischer Abweichung von der Stammform; aber es sind sonst von dort keine Varietäten anderer Arten beschrieben, obwohl in der Asche der dort wachsenden Pflanzen bis zu 10 v. H. Zinkoxyd enthalten ist. Und wie sollen wir die Feststellung von E. Werth (zit. nach Neger, Biologie der Pflanzen, Stuttg. 1913, S. 210), der in der Flora der Kerguelen-Inseln „eine merkwürdige Mischung von xerophilen und hygrophilen Anpassungen" fand, verstehen, wenn die äußeren Lebensbe- dingungen einen bestimmt gerichteten, umgestal- tenden Einfluß ausüben sollen r Der müßte doch hier ausgleichend gewirkt haben ? ! — Der Ein- fluß des Körpers auf die Keimzellen ist auch heute noch ein sehr dunkles Gebiet. Hert- wig sagt ja selbst (S. 545): „Die Erwerbung neuer Anlagen durch die Artzelle ist aber zugleich das schwierigste Problem der ganzen Biologie." S. 569 oben schreibt H. die Mutationen der direkten Bewirkung zu, im nächsten Absatz nennt er nach de Vries 4 ganz verschiedene Oeno- thera-Mutanten, die aber unter ganz gleichen Um- ständen entstanden sind 1 Auf S. 572 schreibt er: ,,Es kann nur im allgemeinen ein ursächliches Verhältnis, eine irgendwie geartete Beeinflussung der Keimzellen, die von den an einer bestimmten Körperstelle vor sich gehenden Prozessen aus- geübt wird, als Erklärungsprinzip angenommen werden." Angenommen, jawohl, dann es ist eben ') l)brigens ein prächtiges Beispiel für den so oft be- grabenen „Darwinismus"; im Wettbewerb verdrängt die je- weils angcpafltere Art die andere; wo jener fehlt, ist jede Art Äuf jedem Boden lebensfähig I eine Annahme. Der wortreiche Vergleich (^- 579) "lit Photographie, Telephonie usw. wäre nicht vonnöten, wenn es für die Verbindung vom Körperteil zur Keimzelle einen klaren Beweis gäbe. Aber gerade das: scharf gefaßte Prämissen und den zwingenden Schluß daraus, das vermißt man im ganzen Buch, soweit es die Abstammungs- lehre betrüTt. Immer nur: Beweis-Ersatz 1 Interessant ist ein Satz S. 574: „Allerdings wirken Fälle, wie die mitgeteilten, auf die meisten Naturforscher, wenigstens gegenwärtig, nicht so überzeugend ein, wie die Ergebnisse eines richtig angestellten Experimentes." Hoffentlich bleibt das so, daß der exakte Versuch in der Wissen- schaft mehr gilt als mitgeteilte Fälle. H. aber schreibt S. 597, daß „Lamarck mehr durch Vernunftschlüsse als durch positive Tatsachen zu überzeugen suchte," und weiter: „Darwin, aus- gerüstet mit einem umfangreichen Beweismate- rial . . .". Da mutet es doch ein wenig seltsam an, wenn ein Forscher von Beruf sich zu dem ersten bekennt und den zweiten verwirft. Die immer subjektiven ,, Vernunftschlüsse" wollen wir doch lieber den Philosophen überlassen, und uns in der Naturwissenschaft dafür an das Beobachtete halten ! Ein Lieblingswort von H., das ja auch den Titel seines Buches ziert, ist „Darwins Zu- fallstheorie". Nun führt er aber selbst S. 610 bis 611 D. an: „Ich habe bisher von den Ab- änderungen zuweilen so gesprochen, als ob (!) dieselben vom Zufall veranlaßt wären. Dies ist natürlich eine ganz inkorrekte (!) Ausdrucksweise; sie dient aber dazu, unsere gänzliche Unwissen- heit über die Ursache jeder besonderen Abände- rung zu beurkunden." Wer diesen Satz gelesen hat, der kann doch gar nicht mehr von „Zu- fallstheorie" sprechen! D. meint doch nur ein Geschehen aus unbekannten Ursachen; für den Forscher gibt es keinen Zufall, wie es keine „Möglichkeiten" gibt, sondern in jedem Fall nur eine Möglichkeit, und das ist die Notwendigkeit ! Hertwig aber bemerkt anschließend dazu: „Da dies aber das Alpha und Omega ist, ob . . . be- stimmt gerichtete oder beliebige, unbestimmte Varietäten entstehen, so entbehrt die Selektions- theorie \"on vornherein, solange diese Vorfrage nicht entschieden ist, einer festen wissenschaft- lichen Grundlage und hat während 60 Jahren nur als Meinungs- oder Glaubenssache ihr Dasein fristen können." Wenn wir aus letzterem Schluß rückwärts- gehend den zugehörigen Obersatz suchen, dann gelangen wir dazu , daß z. B. auch das K o - per nikanische Planetensystem die 4 Jahr- hunderte lang nur ein „Meinungsdasein" gefristet hätte! Denn K. hat doch nur gelehrt, daß die Erde mit den Planeten um die Sonne kreist, das letzte , .Warum" dieser Bewegung ist aber noch heute nicht zufriedenstellend aufgeklärt. — Für das Problem der Artenentstehung möchte ich aber eine Frage an Hertwig richten: Wenn N. F. XIX. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 563 unter 10 000 Sämlingen einer Pflanze mit ganz- randigen, unbehaarten Blättern und blauen Blüten ein Stock mit sägezähnigen, einer mit behaarten Blättern, einer mit roten Blüten aufgeht — sind das dann „bestimmt gerichtete" oder „beliebige unbestimmte" Abänderungen? — Die „bestimmt gerichtete Variation", für die Eimer das Wort „Orthogen esis" eingeführt hat, ist ein Moment von Bedeutung für die Ab- stammungslehre; aber was heißt „bestimmt ge- richtet"? Wenn jemand mit geschlossenen Augen einen Schuß abfeuert, so ist der Lauf zwar auf kein Ziel, aber doch bestimm t gerichtet, die Kugel kann nur an einem genau bestimmten Punkte einschlagen. Wenn man also von „rich- tungslosem" Variieren spricht, so sollte es besser „ziellos" heißen, denn ihre „Richtung" hat jede Abänderung. Daran aber, daß Organismen je nach mehreren Richtungen abändern können (auch erblicher Weise), daran dürfen wir doch wohl nicht zweifeln. Es war also von Darwin nicht logisch, wenn er (zit. nach Hertwig, S. 593) meinte : „Das Variieren erfolgt bald in dieser, bald in jener Richtung; es ist von Natur aus richtungs- los." — Wenn wir mit „Orthogenesis" einen klar umschriebenen Begriff verbinden wollen, so kann es nicht derselbe sein, der schon an dem Worte „Mutation" haftet. Da letzteres die einzelne erb- liche Abänderung bedeutet, so wäre Orthogenesis also eine Summe von erblichen Abände- rungen, die in gleicher Richtung er- folgen. Dabei können wir über deren Ursachen wohl in keinem Fall noch etwas Bestimmtes aus- sagen, die Tatsache besteht aber, daß sie mit Auslese des Passendsten nichts zu tun haben. Wie die einzelne Mutation, so kann auch eine „bestimmt gerichtete" Reihe solcher für die Er- haltung der Art nützlich oder gleichgültig oder schädlich sein. In letzter Hinsicht schreibt z. B. Branca (Naturw. Wochenschr. N. F. 10., 191 1, S. 276): „Es ist in diesen wie in den vorangegangenen Fällen, als habe die Natur gewissermaßen unter einer Zwangsvorstellung ge- standen, als habe sie notwendig immer weiter auf • der einmal beschrittenen Bahn wandeln müssen, gleichgültig, ob das auch zur Unsinnigkeit führte." Dabei wäre eine Schwierigkeit zu überwinäen : alle Beobachtungen stimmen darin überein, daß Mutationen einzeln, wenige unter zehntausen- den, auftreten. Umprägung einer ganzen Sippe durch direkte Bewirkung gehört noch ganz der Hypothese an (vgl. Kalkpflanzen). Ist dann Orthogenesis im obigen Sinne nicht doch gar zu unwahrscheinlich ? Darüber hilft uns wohl der Mendelismus hinweg: ist ein neu auftretender Erbfaktor dominant, dann wird er, wie eine an- steckende Krankheit, allmählich die ganze Sippe ergreifen; ist er erhaltungsmäßig, so wird das neue Merkmal um so rascher sich aus- breiten; ist er gleichgültig, etwas langsamer; ist er erhaltungswidrig, so wird er, je nach dem Grade dieser Eigenschaft, das ganze Geschlecht ausrotten können. So erklärt sich wohl am besten das Aussterben ganzer gewaltiger Stämme des Tier- wie des Pflanzenreiches. Ist aber das neue Merkmal erst vorhanden, dann kann (aus unbe- kannten Ursachen, wie der erste) ein zweiter, dann ein dritter gleichgerichteter Erbfaktor hin- zutreten, der das betr. Merkmal zu immer stärkerer Entwicklung bringt. Daß aber eine Gesetzmäßigkeit vorläge, nach welcher Außenbedingungen durch direkte Bewirkung zweckmäßige erbliche Abände- rungen an einer ganzen Sippe hervorbrächten, das ist ganz entschieden abzulehnen, solange keine Beobachtung dafür vorliegt. Das Einzelwesen hat die Eigenschaft, in gewissem Grade sich der Außenwelt anzupassen; daß diese Anpassungen erblich festgelegt werden können, dazu fehlt es unserer Erfahrung noch an jedem Beweis. Für die Erklärung der „Zweckmäßigkeit" kommen wir sehr wohl mit Mutation, Orthogenesis und Naturauslese aus, nur daß wir eben für die ersteren beiden noch in keinem Fall die Ursachen angeben können. Ein Geschehen aus ganz be- stimmten, uns nur noch verborgenen Ursachen ist aber ganz gewiß kein „Zufall". Ganz gewiß ist nicht „alles Anpassung". Sehen wir uns die Pflanzen einer Wiese an; da haben wir die verschiedensten Blattformen (ich will nicht alle aufzählen), Blütenfarben und -formen, hier wenige große Einzelblüten, dort zahlreiche kleine Blüten in lockerer Rispe oder in geschlossenem Köpfchen, einjährige, zweijährige und ausdauernde Pflanzen, eine bunte Mannigfaltigkeit, wo doch direkte Bewirkung der Außenbedingungen zur Eintönigkeit führen müßte, wo aber andererseits die Zweckmäßigkeit als Erklärungsprinzip ver- sagt; denn von all den Merkmalen ist eins so angepaßt wie das andere, sonst müßten ja (nach Darwins Auslese oder nach Hertwigs „direkter Bewirkung") die minder angepaßten Arten aus- sterben. Also muß neben der Auslese (Anpassung, Zweckmäßigkeit) noch ein anderes da sein, das ist Mutation und Orthogenesis, als eine Reihe von Mutationen. Ob dabei die Abänderung mehr schritt- oder mehr sprungweise erfolgt ist, bleibe unerörtert ;Johannsen verdanken wir die seh r wich- tige Kenntnis, daß erbliche Rassen (das Ergebnis von Mutationen) auch innerhalb dessen bestehen können, was man früher als fluktuierende Variation bezeichnete: Samengröße bei Bohnen u. a. In aller Kürze möchte ich nun eine Anzahl von Eptwicklungsreihen aufführen, die mit An- passung wenig oder nichts zu tun haben, jedenfalls aber nicht durch direkte Bewirkung erklärbar sind, über deren Ursachen wir jedoch z. Z. nichts wissen. Ich überlasse dabei das Tierreich den Zoologen, und beschränke mich auf die höhere Pflanzenwelt und vorwiegend die Mitteleuropas, um nicht durch Überfülle zu ermüden und um einem größeren Leserkreise, nicht nur Fachbotanikern, verständlich zu bleiben. 5t'4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 36 1. Die Fortpflanzung der Moose und Farne weist durch weitgehende Übereinstimmung auf gemeinsamen Ursprung, doch aber auf frühzeitige Trennung in zwei Richtungen : bekanntlicli entspricht die sexuelle Moospflanze dem Vorkeim der Farne, die Sporenkapsel der Moose der sporentragenden Farnpflanze. 2. In früheren Epochen war die Mehrzahl der Farne eusporangiat (Sporangien größere Gewebs- körper, aus tieferen Schichten entspringend); heute überwiegen ums Vielfache die leptosporangiaten Familien (Sporangien dünn gestielt, aus einer Oberhautzelle). Ursache oder Zweck dieser Ent- wicklungsrichtung ist unverständlich. 3. Reduktion der Blätter, die in manchen F"ällen als Anpassungs-Erscheinung zu deuten sein mag; doch gilt von den Standorten der betr. Pflanzen, was oben von der „Wiese" gesagt ist; am selben Fleck stehen meistens auch Arten mit nicht reduzierten Blättern. a) Der „erikoide" Habitus. Blätter schmal nadeiförmig, oft mit umgerollten Rändern (Erica i. e. S.) oder kurz schuppenförmig (Calluna, Heide- kraut). So innerhalb der Gattung Lycopodium (Bärlapp) beiderlei Formen. Schuppenblätterige Nadelhölzer, Thuja (Lebensbaum) u. a.; Empetrum (Krähenbeere), seltsamerweise auch im Pollen ganz mit Erica übereinstimmend, doch ohne nähere Verwandtschaft; die Tamarisken, Tamarix und Myricaria; M. germanica an Bachufern, wo also keinerlei „Trockenschutz" notwendig. Fabiana imbricata, Solanacee aus Chile, u. a. Arten einer „Heide" täuschend ähnlich. b) Schachtelhalmfoim, Blätter reduziert, Sproße aus Gliedern aufgebaut: Equisetaceae (Schachtel- halme), Ephedraceae (Meerträubel), Casuarinaceae. Der gleiche Bau also bei je einer Form der Farnpflanzen i. w. S., der Gymno- und der Angio- spermen. Nähere Verwandtschaft? Zweck ? c) Schmarotzerpflanzen; hier besteht natürlich ein Zusammenhang zwischen Blattreduktion und Lebensweise ; wie aber erstere zustande gekommen, ist doch nicht so einfach zu erklären. Die Mistel, Viscum, und alle ihre Verwandten schmarotzen auch, desgl. Rhinanthus u. a. , und haben doch Blätter. Auffallend die täuschende Ähnlichkeit von Cuscuta (Teufelszwirn, Seide), Farn. Convol- vulaceae, und der tropischen Cassytha, Farn. Lauraceae. d) Ersatz der + verschwundenen Blätter durch blattartig gewordene Blattstiele („Phyllodien") oder durch Sprosse („Phyllokladien"). Ersteres bei den „phj-llodinen" Acacia-Arten in und um Australien (alle anderen haben doppeltgefiedertes Laub), bei der Graswicke, Lathyrus nissolia, F"am. Papilio- naceae. Letzteres bei Phyilocladus, Farn. Taxaceae, Phyllanthus z. T., Fam.Euphorbiaceae, Carmichaelia, F"am. Papilionaceae, Mühlenbeckia, Farn. Polygona- ceae, Colletia, Farn. Rhamnaceae (diese sehr hart und dornig), u. a. Weitgehend reduziert sind schon die Blätter, und die Assimilation wird vorwiegend von den Sprossen besorgt bei Cytisus scoparius (Besenginster), C. sagittalis (Flügelginster), Spartium junceum der Mittelmeerländer (Farn. Papilion). Ein . „Zweck" dieses Blattverlustes ist nicht abzusehen, die Ersatzblätter sind meist ziemlich derb, das können echte Blätter aber auch sein. e) Kaktusform ; Blätter meist völlig abhanden gekommen, die meist bedornten Warzen ent- sprechen den Blattpolstern, die Dornen werden als metamorphosierte Blätter verkümmerter Seiten- sprosse gedeutet. In Amerika Cactaceae, in Afrika und Südasien z. T. täuschend ähnliche Euphorbia- (Wolfsmilch) Arten, in Afrika auch Stapelia (Aaspflanze), Farn. Asclepiadaceae. Den Übergang bilden beblätterte Formen : Peireskia, Farn. Cactac. , Euphorbia splendens, neriifolia u. a. Die Pflanzen sind ihren Standorten vor- trefflich angepaßt; doch finden sich am gleichen Platz auch beblätterte Pflanzen. Bei manchen sind dann, wie dort die Stämme, die Blätter fleischig, sukkulent, und man kann hier zwei Typen unterscheiden : mit stark verkürzter Achse, „Rosetten - wuchs", Agave, Aloe, Sempervivum (Dachwurz) u. a., und mit langem beblättertem Stengel, manche Aloe- Arten, Sedum (Fetthenne), Othonna, Fam. Com- positae, u. v. a. Fleischige Stengel mit hier flachen, dort drehrunden Blättern bei Kleinia, zu Senecio (Kreuzkraut), Fam. Compositae gehörig, in Süd- afrika. Die ebenfalls vorwiegend afrikanische Gattung Mesembryanthemum (Zaserblume) hat teils lange, teils gestauchte Achsen, dann also Rosettenwuchs. Alle diese F^ettgewächse sind trockenen Standorten angepaßt, doch keineswegs immer an solche gebunden; die reizende Linaria alpina (Alpenleinkraut) wächst mit anderen Alpinen zusammen, die nicht sukkulent sind, und ist doch in Mitteleuropa die einzige sukkulente Art ihrer Gattung. — Direkte Bewirkung kann man für die Entstehung jener Formen deshalb nicht an- nehmen, weil dieselbe Ursache einmal Ausfall, einmal mächtige Entwicklung der Blätter (Kakteen, Agaven) bewirkt hatte. — Sukkulent sind auch manche Salzpflanzen, die Richtung der Anpassung dürfte auch hier eine ähnliche sein wie oben: Schutz gegen Verdunstung; bei ihnen kann man z. T. direkte, aber individuelle Bewirkung beobachten: Salsola kali (Salzkraut) wächst auf schlechtem Boden hart-dornig, auf Gartenerde weich-krautig, auf Salzboden fleischig-stachelig. 4. Zygomorphe (dorsiventrale , lippen- oder rachenförmige) Blumenkrone, typisch für ganze z. T. große Familien : Musaceae, Cannaceae, Orchi- daceae; Caesalpiniaceae, Papilionaceae, Violaceae, Polygalaceae, Tropaeolaceae , die große, unter sich wohl phyletisch zusammenhängende Gruppe der Labiatae, Verbenaceae, Scrophulariac, Bignoniac, Pedaliac. , Martyniac. , Orobanchac. , Gesnerac, Lentibulariac, Globulariac, Acanthaceae. Dazu kleinere Verwandtschaftskreise: Asphodelus, Fam. Liliac, Sprekelia u. a., F'am. Amaryllid., Gladiolus, Fam. Iridac. , Fumaria (Erdrauch) und Corydalis (Lerchensporn), Fam. Papaverac, Aconitum (Eisen- hut) und Delphinium (Rittersporn), Fam. Ranun- N. F. XIX. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 565 culac, Saxifraga sarmentosa (Judenbart), Fam. Saxifragac, Pelargonium, Farn. Geraniac, Rhodo- dron, Fam. Ericac. , Echium (Natterkopf) Fam. Boraginac, Schizanthus (Spaltblume) u. a., Fam. Solanac, Lobelia und Verw., Fam Campanulac, Lonicera (Heckenkirsche, Geisblatt), Fam. Caprifoli- aceae. Eine stattliche Zahl, ohne Zweifel einer Mehrheit von Zweigen des großen Stammbaumes angehörend. Die Ursache der Zygomorphie ist noch ganz dunkel; daß die Blüten darum häufiger von Insekten besucht würden, ist kaum der Fall, obwohl manche spezielle Anpassungen (Eisenhut, Salbei an Hummeln) vorkommen. 5. Verlust der Oberlippe in zygomorphen Blüten: Teucrium (Gamander), Fam. Labiatae, Acanthus u. a. „Verlust durch Nichtgebrauch" nach Lamarck wäre widersinnig anzunehmen; warum ■sollten die Vorfahren ihre Oberlippe weniger gebraucht haben als andere? 6. Sympetalie, verwachsene Blumenkrone: ver- einzelt bei Monokotylen, wo sie für die Systematik wenig bedeutet; dagegen unter den Dikotyledonen die große, freilich nicht einheitliche Gruppe der Sympetalae. Am meisten treten die Cucur- . bitaceae (Kürbisgewächse), demnächst die Ericales aus der Geschlossenheit heraus. Ganz einzeln die glockenblütige Correa und Verw., Fam. Rutaceae, die sonst alle freiblätterig ! Auch für die Sympetalie ist weder Zweck noch Ursache verständlich. 7. Unterständiger Fruchtknoten, nicht minder „ziellos"; typisch für Fam. Amaryllidac, Iridac, Musac, Cannac, Orchidac. ; Pomaceae von den Rosales; Umbelliferae, Araliac, Cornac, Campa- nulac, Rubiac, Capriofoliac, Dipsacac, Compositae. Eigenartig die krugförmig vertiefte, zahlreiche Fruchtknoten bergende Blütenachse bei Rosa und dem weit entfernten Calycanthus, Reihe Polycarpicae. Solchen Fall bezeichnet man wohl auch als „Kon- vergenz", ohne ihn damit erklärt zu haben. 8. Verminderte Zahl der P>uchtknoten, in Fam., wo sonst viele vorhanden : Fam. Ranunculac, bei Delphinium Consolida (Rittersporn),Actaea (Chistofskraut) nur einer; wenige bei Aconitum, Paeonia u. a.; Fam. Rosac. die Amygdaleae (Mandel, Pflaume, Kirsche usw.), Gattg. Alchemilla (Frauen- mantel) mit I Fruchtknoten. 9. Verminderte Zahl der Samenknospen im Frkn., bis auf eine bei Ranunculus, Anemone, Thalictrum (Wiesenraute) in Fam. Ranunculac; bei Medicago (Schneckenklee) z. T., Melilotus (Honigklee) z. T., Trifolium (Klee) z. T., Onobry- chis (Esparsette) in Fam. Papilionac; bei Calepina, Neslea, Fam. Cruciferae, u. v. a. Typisch ein- samig die ganze P~am. Compositae (Korbblütler). 10. Schoten oder Hülsen in Glieder zerfallend: bei den Crucif. Raphanistrum (Hederich); Über- gang bildet Raphanus (Rettig); bei den Papilion. Hedysarum (Süßklee), Ornithopus (Krallenklee), Hippocrepis (Hufeisenklee), Coronilla (Kronwicke). 11. Mehrblättriger, doch einfächeriger Frkn.; Placenten wandständig: Fam. Orchidac, Violac. u. a., grundständig: Fam. Caryophyllac, Primu- laceae. 12. Ausfall von Staubblättern, wo „Verlust durch Nichtgebrauch" ganz unverständlich : Fam. Liliac u. Verw. 6, doch Iridac. nur 3; Musac. 5, Canna ein halbes, Orchidac. 2 oder i. Primulac u. a. 5 statt 10, Aesculus (Roßkastanie) mit 7 und Tropaeolum (Kapuzinerkresse) mit 8 statt 10. Eines von 5 Staubblättern fehlt bei Fam. Labiatae, Verbenaceae, Scrophulariac. (außer Verbasceae, Wollkräuter) u. ob. gen. verw. Fam. Bei Salvia (Salbei) und Veronica (Ehrenpreis) nur noch 2 vorhanden, bei Salvia deren nur je ein halbes fertil. Zuweilen statt des ausgefallenen Staub- blattes noch ein steriles „Staminodium", so bei Scrophularia (Braunwurz) , Pentastemon (Fünf- faden), Fam. Scrophulariac; ihrer 10 bei Aquilegia (Ackelei), Fam. Ranunculac. Bei Rosac. Gttg. Alchemilla (Frauenmatitel), A. vulgaris mit 4, arvensis mit i Staubblatt. Ein „Zweck" dieser Reduktionen ist unverständlich. 13. Öffnung der Staubbeutel nicht durch Spalten, sondern durch Löcher an der Spitze: Solanum (Kartoffel, Nachtschatten), viele Ericales, z. B. Rhododendron (Alpenrose); oder seitlich mittels Klappen, Fam. Lauraceae (Lorbeerge- wächse). 14. Verwachsung der Staubblätter bei vielen Kürbisgewächsen : ihladiantha noch 5 frei. Cucu- mis (Gurke), Cucurbita (Kürbis) u. a. 2 + 2 -[- i verwachsen, bei letzterer ein kolbiges Gebilde mit auf- und abgewundenen Pollenfächern ; Sicyos alle 5 verwachsen; Cyclanthera endlich besitzt in den (J Blüten ein hutpilzähnliches Gebilde, das in seinem Rand die zu einem Ring verwachsenen Pollenfächer birgt. Höchst merkwürdige, auch „bestimmt gerichtete" Entwicklung, — aber zweckmäßig? 15. Zahlreiche kleine Blüten in einem Blüten- stand, der mit seinen Hüllblättern eine Blüte vor- täuscht: manche Umbelliferae, Astrantia , Hac- quetia, einige Bupleurum; Cornus suecica (Schwe- discher Hartriegel), Körbchen von Scabiosa und der artenreichen Fam. Compositae, wo den Gipfel der Entwicklung Leontopodium (Edelweiß) dar- stellt, dessen „Blume" eine Gruppe von Körbchen, also doppelt zusammengesetzt ist. 16. Ersatz der geschlechtlichen Fortpflanzung durch Brutzwiebeln : Dentaria bulbifera (Zahn- wurz), Fam. Cruciferae ; P'ourcroya (der Agave ver- wandt), Fam. Amaryllidac; AUium (Lauch), Fam. Liliac, hat nach Garcke, Flora, in Deutschland 19 kapseltragende, 2 zwiebel- oder kapseltragende, 4 nur zwiebeltragende Arten, worunter A. vineale überhaupt nur wenige, A. sativum (Knoblauch) meist gar keine Blüten mehr hervorbringt. Meist steril sind auch die Frkn. von Lilium bulbiferum und tigrinum (Feuer-, Tigerlilie). Manche Kakteen- (Opuntia-)Früchte reifen keine Samen, dafür ent- stehen an der Außenwand der Frucht Seiten- s^rosse („Kindel"), wie sonst am Kaktus selbst, welche, abfallend und sich bewurzelnd, der Ver- 566 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr 36 mehrung dienen. Als Gegenstück sei auf einige Bulbillen tragende Farne hingewiesen, welche zwar Sporen hervorbringen, die aber nicht mehr keim- fähig sind: Diplazium celtidifolium, Asplenum viviparum u. a., Cystopteris bulbifera. Auch für diese Erscheinungen ist weder eine Ursache noch eine Nützlichkeit bekannt. Mehrere der genannten blütenmorphologischen Abänderungen geben scharfe Grenzen für die Systematik, andere weniger; jedenfalls stehen sie systematisch höher, als „Anpassungserscheinungen", die selbst innerhalb einer Art (Polygonum amphi- bium z. B.) wechseln können. Wirken ihrer mehrere nacheinander, so entstehen ganz ab- weichende Typen ; so kann man z. B. folgende Reihe aufstellen: Liliaceae, Frkn. oberständig, Stbb. 3 + 3, Blkr. radiär; nun abgeändert: Frkn. unterständig (Typus Amaryllidac.}, dann Stb. 3 (Typus Iridac), dann Bl. zygomorph, Stb. auf 2 oder 1 vermindert, mit dem Frkn. verwachsen, Frknfächer wegfallend, Plazenten wandständig: Typus Orchidaceae. Drei kleinere Fam., Bur- manniac, Corsiac. , Apostasiac, stellen ± Über- gangsglieder dar. Ähnlich stehen die Compositae (Korbblütler) am Ende einer Reihe, durch starke Reduktion in Frkn. und Kelch ausgezeichnet. Es können, auch innerhalb eines Verwandten- kreises, verschiedene Wege zur gleichen biologi- schen Wirkung führen ; z. B. in der Fam. Ranun- culaceae: (s. die Tabelle rechts oben). Die hier skizzierten Fälle stellen nur eine ganz kleine Auswahl dar; wollte man alle schildern, gäbe es ein vielbändiges Handbuch der Morpho- logie und Systematik. Zahl der Blüten Frkn. in in I Blüte Samen in I Frkn. Caltha palustris wenige 1 viele Ranunculus wenige viele Delphinium mäßig 3—1 Thalictrum viele { 3-1 Das Produkt ist immer: viele Samen! Meine Absicht war, an einer Auswahl von Beispielen zu zeigen, wie wir allenthalten auf die Beweise stoßen, daß wir allein mit der „Naturauslese" nach „Nützlichkeiten" nicht auskommen, wenn wir die Fülle der Arten herleiten wollen. Vor allem ist jede „höhere" Entwicklung damit nicht zu erklären, denn kein Mensch kann behaupten, daß das kleinste Bak- terium, daß eine einzellige Alge od. dgl. weniger zweckmäßig organisiert wäre wie irgendein „höheres", d. h. komplizierteres Lebewesen. Auch die Theorie der direkten Bewirkung und der Ver- erbung somatisch erworbener Anlagen können jene Erscheinungen nicht erklären. Ja, alles das gilt auch für zwei Hauptzüge der ganzen Ent- wicklung: Die Entstehung der geschlechtlichen Fortpflanzung und die von Mehrzelligen aus Ein- zelligen. Wir können nur vermuten, es „müsse" irgend- ein Einfluß auf die Keimzellen solche erbliche Abänderungen, wie unterständigen Fruchtknoten, zygomorphe oder verwachsene Blumenkrone usw. hervorgebracht haben. Weiter helfen kann uns nur die experimentelle Forschung. Eiu ueues Verfahren zur P'eststelluiis der Vervvaudtschaft im Tierreich. [Nachdruck verboten.] Von Ur. W. A. Collier. Daß bei allen Tierarten eine strenge chemische Spezifität der Zellen besteht, ist heutzutage ziem- lich allgemein anerkannt. Der erste praktische Versuch einer Erklärung dieser Eigenschaften wurde durch das vergleichende Studium über die verschiedenen Kristallformen der Bluisubstanzen, besonders des Hämoglobins, des Blutfarbstoff"es, bei den höheren Wirbeltierfen gemacht. Es stellte sich heraus, daß die Hämoglobinkristalle bei ver- schiedenen, selbst nahe verwandten Arten, eine vollständig, voneinander abweichende Kristallform besitzen. Auch ihre Löslichkeit in Alkalien, in Alkohol, in Wasser und Säuren zeigt bedeutende Differenzen. (Jm aber eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen den Arten festzustellen, reich- ten die Versuche nicht aus, da die Variationen zu groß sind, und man nur einfach das Vor- handensein chemischer Unterschiede einzelner Arten festzustellen in der Lage ist. Viel wichtiger für die Klärung aller dieser Fragen waren die Versuche der Transplantation. Vor fast 70 Jahren unterschied schon Paul Bert eine äußere Transplantation, die zwischen entfernt verwandten Tieren, und eine innere Transplantation, die zwischen nahe verwandten Tieren oder sogar solchen derselben Art stattfand. Bald stellte es sich aber heraus, daß die äußere Transplantation im allgemeinen niemals gelingt, sondern nur die innere. Während bei der äußeren Transplantation das transplantierte Gewebe ent- weder auf den Körper des Versuchstieres giftig wirkt oder doch wenigstens zugrunde geht, tritt bei letzterer allmählich eine Verschmelzung der Zellen des überpflanzten Stückes mit den Zellen des betreffenden Tieres ein: Das Stück wächst an. Viele derartige Versuche ergeben nun mit größter Bestimmtheit eine Spezifität oder eine be- sondere biochemische Differenz nicht nur einzel- ner Arten, sondern sogar einzelner Individuen. Besonders stark sind diese Differenzen bei den Säugetieren ausgesprochen, etwas weniger stark bei den niederen Wirbeltieren oder gar den Wirbellosen. Alle diese Versuche lehrten zwar das Vor- N. F. XIX. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 567 handensein besonderer spezifischer Substanzen in jedem Tierkörper, ließen aber ihr Wesen noch nicht erkennen. Erst dem in letzter Zeit gewaltig einsetzenden Ausbau der Immunitätslehre haben wir eine verhältnismäßig genauere Kenntnis ihres Wesens zu verdanken. Creite fand als erster, daß sich Blutkörperchen einer Art mitunter in dem Serum des Blutes einer anderen Art lösten, daß also das Serum einer Art giftig auf die Blut- zellen einer anderen phylogenetisch entfernter stehenden Art wirkt. Diese Giftwirkung tritt aber nicht ein, wenn es sich um zwei nahe verwandte Tierarten handelt. Mit Hilfe dieser Hämolysever- suche sind also nicht nur die Unterschiede zweier entfernt verwandter Arten festzustellen, sondern es läßt sich auch in manchen Fällen deutlich der Grad der Verwandtschaft erkennen. Das Blut- serum der Hauskatze löst beispielsweise nicht die Blutkörperchen der ihr eng verwandten Felis ozelot und Felis jagguarundi, wohl aber dasjenige fast aller anderen Säugetiere. Das Serum des Men- schen löst wohl die Blutkörperchen vieler Säuge- tiere, unter anderen auch das der Halbaffen und der platyrrhinen Affen, nicht aber das der Men- schenaffen, der Anthropomorphen. Ebenso aber wird andererseits auch das Menschenblut von dem Serum der Halbaffen und der platyrrhinen Affen gelöst. Noch weitere Fortschritte auf diesem Gebiet wurden mit der Ausbildung der Präzipitinreaktion gemacht. Diese bei der angegebenen Reaktion die Hauptrolle spielenden Präzipitine sind Sub- stanzen, die im Serum irgendeines Tieres nach Einverleibung gewisser Stoffe in die Blutbahn, unter die Haut oder mit sonstiger Umgehung des Verdauungskanales (also parenteral) allmählich auf- treten und in einer Lösung dieser Stoffe ganz spezifische Niederschläge entstehen lassen. Uhlenhuth insbesonders hat nun durch ausführ- liche Versuche klargelegt, daß diese Präzipitin- reaktion auch dazu benutzt werden kann, die Verwandtschaftsbeziehungen einzelner Arten fest- zustellen. Wird beispielsweise einem Kaninchen das Blut eines Menschenaffen in die Blutbahn ge- spritzt, so bildet sich im Serum des Kaninchens ein Präzipitin, das nicht nur mit dem Serum eines Menschenaffen, sondern auch mit dem eines Men- schen Niederschläge gibt. Bei dem Serum anderer entfernter stehenden Arten bleibt jedoch diese Reaktion aus Auch das Serum eines mit Pferde- blut vorbehandelten Kaninchens bildet nicht nur mit dem Serum eines Pferdes Niederschläge, son- dern auch mit dem eines Esels. Allerdings ist in letzterer Zeit vielfach beobachtet worden, daß auch mit dem Serum ganz anderer Tiere Nieder- schläge gebildet werden, was auf das Vorhanden- sein sogenannter „heterogenetischer Antikörper" zurückgeführt wird. Auf die hier geschilderte Weise wurden vielfach die Verwandtschaftsbezie- hungen zwischen Säugetieren und Vögeln, aber auch die von Crustaceen, Insekten, Protozoen und sogar von Pflanzen experimentell untersucht. In vielen Fällen aber kann es vorkommen, daß die hier bis jetzt besprochenen Methoden nicht ausreichen, um eine genügend sichere Ant- wort auf die Fragen zu geben, auch können sie nicht angeben, wie nah oder wie weit sich die zu untersuchenden Tierarten im System vonein- ander befinden. Hier wird die Wassermannsche Reaktion in der Zukunft große Erfolge aufzuweisen haben. Während bei der ursprünglichen Wassermann- schen Reaktion das zu untersuchende Blut eines Kranken mit Gewebssubstanzen eines Luetikers (meist Extrakt einer luetischen Fötusleber) ver- glichen wird und auf Grund der Menge der bei der Hämolyse gelösten bzw. ungelöst gebliebenen Blutkörperchen auf den Grad der Krankheit ge- schlossen werden kann, hat man hier an Stelle des luetischen Leberextraktes und des zu unter- suchenden Blutes des Patienten, einerseits Serum eines Kaninchens, dem eine Emulsion einer zu untersuchenden Tierart eingespritzt worden ist, und andererseits eine Emulsion der zweiten in Frage kommenden Tierart. So ist es auf diese Weise durch die Menge der gelösten Blutkörperchen möglich, nicht nur das Bestehen einer Verwandt- schaft überhaupt, sondern auch den Grad dieser Verwandtschaft mit ziemlicher Genauigkeit anzu- geben. Auf diese Weise hat z. B. Schepatieff genauere Untersuchungen über die Würmer an- gestellt. Nun gibt es aber Fälle, wo alle diese Methoden teils wegen technischer Schwierigkeiten, teils sonstiger Gründe halber nicht angewendet werden können; auch ist es wünschenswert, eine nicht nur rein serologische Methodik zu haben, um der Lösung dieser Fragen näher zu kommen. Eine neue Methode, die Artspezifität von Tieren festzustellen, hat nun Verf dieses Artikels gefunden. Die Ursache hierzu waren Beobach- tungen, die an überlebenden Zellen des Epithels von jungen Cyclopteruslarven in vitro angestellt wurden. Bei diesen in-vitro-Versuchen stellte es sich heraus, daß die Zellen der Cyclopteruslarven in der Lage waren, untereinander sogenannte „sekundäre Häute" zu bilden. Unter sekundären Häuten versteht man bei den Carrelversuchen folgendes Phänomen : Einzelne Zellen des Prä- parates beginnen sich abzuplatten und sich be- deutend auszudehnen. Infolgedessen kommen sie mit Nachbarzellen in nähere Berührung, und wenn mehrere von solchen Zellen zusammentreffen, so können sie gleichsam miteinander verwachsen und dann eine zusammenhängende Haut bilden. Die Zellen breiten sich so lange aus, bis jeder Zwischenraum zwischen ihnen verschwunden ist. Die Ränder der Zellen bilden dann häufig ein Sechseck und sehen wie die Waben eines Bienen- stockes oder wie die Schuppen einer Reptilien- haut aus. Man muß darauf achten , diese sekundären Häute, die aus der Verschmelzung ursprünglich vollkommen getrennter Zellen entstehen, nicht 568 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 36 mit den Häuten zu verwechseln, die einfach durch Vermehrung randständiger Zellen irgendeines im Kulturmedium liegenden Stückes entstanden sind. Diese primären Häute sind meistenteils jedoch nicht so dünn, da sie aus mitunter zwei bis drei übereinander aufgebauten Zellagen bestehen, während im Gegenteil dazu die sekundären Häute nur aus einer einzigen Schicht bestehen. Erst wenn das Auge genügend geübt ist, und die Mikrometerschraube des Mikroskops benutzt wird, ist man in der Lage, die sekundären und die primären Häute mit Sicherheit unterscheiden zu können. Vor langer Zeit schon hatte Jensen ge- funden, daß Foraminiferen ein sonderbares Ver- halten zeigten. Er konnte nämlich beobachten, daß Foraminiferen ein und derselben Art mit- unter ihre Pseudopodien untereinander verschmelzen ließen, nie aber mit denen einer anderen Art. Diese Erscheinung beruht nach seiner Ansicht auf einer chemischen Spezifität, die die einzelnen Arten unterschied. Bei der Betrachtung dieser Beobachtungen liegt es nun nahe, bei den in- vitro-Kulturen überlebender Gewebszellen einen analogen Versuch anzustellen und zu erproben, wie sich die Zellen zweier verschiedener Tierarten in bezug auf die sekundäre Häutebildung ver- halten. Hier zeigte es sich nun, daß die Zellen zweier Tiere derselben Art wohl gut untereinander diese sekundären Häute bilden können, nie aber tritt ein derartiger Vorgang bei dem Zusammenbringen von Zellen zweier verschiedener Tierarten ein. Es zeigt sich auch hier eine strenge Artspezifität. Die Versuche bestanden darin, daß in dieselben Kulturen einmal Zellen zweier verschiedener In- dividuen gleicher Art gebracht wurden und dann die sekundäre Häutebildung beobachtet wurde. Hier trat deutlich hervor, daß dann schon die Häutebildung merklich, wenn auch nur in ge- ringem Maße schwächer war, als wenn es sich um die Zellen ein und desselben Tieres handelte. Es trat hier schon die Individualspezifität klar hervor, d. h. jedes Tier, selbst von ein und der- selben Art, hat eine relative Verschiedenheit des chemischen Aufbau seines Körpers, die nicht nur in diesen Fällen, sondern auch in mancher anderen Beziehung deutlich zutage tritt. Die eben ange- führten Versuche bieten auch einen weiteren Be- weis für diese häufig behauptete Theorie. Andererseits wurden aber in dieselbe Kultur Zellen zweier verschiedener Tierarten getan, und zwar beispielsweise Epithelzellen von Cyclopterus (Seehase) und von Pleuronectes (Scholle). Hier trat nun eine deutliche Reaktion der beiden Zell- arten zutage, die darin bestand, daß sie sich nie zu sekundären Häuten vereinigten. Man möchte vielleicht versucht sein einzuwerfen, daß es sich hier um eine Störung handele, die dadurch her- vorgerufen wurde, daß das Serum von Cyclopterus hemmend auf Pleuronectes und das Serum von Pleuronectes hemmend auf Cyclopterus wirken könne. Demgegenüber steht aber die Beobach- tung, daß sehr wohl die Zellen von einer Art auf dem Serum der anderen Art wachsen konnten, ebenso wie sich eine Weiterentwicklung in mit Menschenserum vermischten Meerwasser zeigte. Es muß sich also um eine typische Artspezihtäts- Reaktion handeln, die hier zum Ausdruck kommt und die Bildung der sekundären Häute verhindert. Durch diese Methode ist es möglich zu kon- statieren, ob verschiedene Tiere blutsverwandt oder besser „zellverwandt" sind. Die Methoden der Hämolyse und der Präzipitation setzen immer das Vorhandensein von Versuchstieren (z. B. Kaninchen) voraus, und aus diesem Grunde sind sie neben der Schwierigkeit, größere Mengen von zu injizierenden Stoffen zu erhalten, nicht immer in gleichem Maße anwendbar. Hier aber kann man mit geringem Materialaufwand leicht die Zellverwandtschaft einzelner Tiere feststellen, so- wie man sich an die immerhin nicht allzuleichte Methodik gewöhnt hat und die Bilder der Häute- bildung richtig auszuwerten gelernt hat. Immer- hin scheint durch dieses Verfahren manche Er- leichterung geboten zu sein, um so mehr als es auch in relativ kurzer Zeit anzustellen ist, wenn man die Dauer der Präzipitinreaktionen und der Wassermannschen Versuche vergleicht. Immerhin sind noch viele Arbeiten und Untersuchungen nötig, um das Verfahren zu verbessern, zu ver- einfachen und allseitig zu bestätigen, das selbst- verständlich an Bedeutung bei weitem nicht an die Wassermannsche Reaktion heranreichen kann. Einzelberichte. Völkerkunde. Die Bevölkerung Finnlands wird ausführlich geschildert in dem unter Redak- tion von L. H ende 11 durch das finnische Mini- sterium der Auswärtigen Angelegenheiten heraus- gegebenen Werke ,, Finnland im Anfang des 20. Jahrhunderts" (Helsingfors 1919). Den weitaus größten Teil des Landes bewohnen F"in n cn, die auch über seine Grenzen hinaus in einigen Ge- bieten Rußlands, Schwedens und Norwegens leben, und etwa 300 000 Finnen sind nach Nordamerika ausgewandert. Diese eingerechnet wird die Ge- samtzahl der Finnen mit 3 081 000 angenommen. Nach der körperlichen Erscheinung werden bei den Finnen zwei Typen unterschieden : die Tavasten (Landschaft Tavastland) und Karelier. Die Tavasten sind ausgezeichnet durch stark ent- wickelten Rumpf, breite Schultern, kräftige, mittel- lange Glieder, doch ist die Abweichung der Körperlänge nach oben und unten groß. Die Hautfarbe ist ziemlich hell, der Kopf gewöhnlich N. F. XIX. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 569 groß, kurz und breit (brachykephal), aber eigent- lich nicht hoch, oft ziemlich eckig, das Gesicht ist groß, lang, besonders aber von bemerkens- werter Breite sowohl in der Gegend der Stirn als in der der Backenknochen und sogar des Kinns. Der Unterkiefer ist kräftig, dessen Winkel sind kräftig ausgebildet (typisch anthropin) und weit von- einander abliegend. Die Nase ist klein, ziem- lich breit, entweder dick und rundlich oder noch öfter mit einer kleinen, gewöhnlich etwas aufge- stülpten Spitze versehen. Der Mund ist ziemlich breit. Die Augenlidspalte ist klein, bisweilen schräg nach innen geneigt; die Iris ist hell, grau- blau oder grau, die Augenbrauen sind schwach entwickelt. Der Gesichtsausdruck ist etwas mür- risch, nicht sympathisch. Das Haar auf dem Scheitel ist hell, oft flachsfarben, sonst hell asch- grau, straff, niemals lockig. Der Bartwuchs ist schwach, die Barthaare sind borstig, kurz und undicht, hell, mitunter rötlich. Bei den Kareliern ist der Körper schwächer als bei den Tavasten, weniger breitschultrig und schmäler, nicht kräftig, nicht starkgliedrig, sondern eher schlank und schöner proportioniert, oft über mittellang; lange Individuen sind zahlreich. Es besteht keine Neigung zur Wohlbeleibtheit. Die Hautfarbe ist ziemlich dunkel oder ins Aschgraue spielend. Der Kopf ist nicht groß, gut propor- tioniert, ziemlich kurz (brachykephal), wenn auch nicht im selben Grade wie bei den Tavasten. Die Nase ist lang, nicht sehr breit. Die Savolaxer in den Bezirken Wyborg, St. IVlichel und Kuopio sind wohl ein Mischvolk von Kareliern und Tavasten. Der dolichokephale Typus herrscht in den von Schwedischsprechenden bewohnten Gegenden vor, während eine geringe Brachykephalie in den Gegenden dominiert, wo die Vermischung der Finnischsprechenden und der Schwedischsprechen- den leichter hat vor sich gehen können. In den östlichen und nördlichen Landesteilen ist dagegen die Brachykephalie ausgeprägt. Bezüglich der Farbe des Haares und der Augen unterscheiden , sich die Finnen und die Schwedischsprechenden Finnlands nicht merkbar voneinander. Die Finnen sind zum größten Teil blond, 78 "/g haben helle, blaue oder graue Augen und 57 "/o blondes Haar. Die Behauptung, die Brachykephalen seien dunkel und nur die Dolichokephalen blond, ist also für die Finnen nicht stichhaltig. Sowohl Geschichts- wie Sprachforscher nehmen an, daß die Vorfahren der Finnen aus zwei ver- schiedenen Richtungen in ihr Land gekommen seien: die eigentlichen Finnen aus den Ostsee- provinzen über den finnischen Meerbusen nach Südwestfinnland und die Karelier (Karjalaiset) aus den Gegenden jenseits des Ladoga an das west- liche Gestade dieses Sees, an die Ufer des Vuoksen und an das östliche Ende des Finnischen Meer- busens. Die eigentlichen Finnen, deren Einwande- rung vielleicht schon um lOO n. Chr. begonnen hat, verbreiteten sich dann bereits während der älteren Eisenzeit über die Gegend des heutigen Abo (Turku) in das Tal des Kyrönjoki in Süd- Osterbotten. In der jüngeren Eisenzeit setzte sich die Besiedlung des Landes vom Tale des Koke- mäki aus nach Tavastland fort. Die Karelier, die sich in der Eisenzeit in SüdostKarelien niederzu- lassen anfingen, erweiterten ihr Gebiet nach und nach gegen Norden und bemächtigten sich schon nach dem li. Jahrhundert der Gegenden um St. Michel (Mikkeli), Landschaft Savolax, von wo sich dann die Kolonisation des Landes weiter fort- setzte. Das Siedlungsgebiet der schwedischsprechen- den Bevölkerung Finnlands beschränkt sich auf verhältnismäßig schmale Küstenstreifen in den Landschaften Nyland (Uusimaa), engeres Finnland (Varsinais-Suomi) sowie Österbotten (Pohjanmaa) mit den davor gelegenen Schären und umfaßt außerdem das ganze Aland. Eine scharfe Grenze läßt sich zwischen den Gebieten der finnisch- sprechenden und der schwedischsprechenden Be- völkerung nicht ziehen; die Grenzgegenden sind nämlich meist, außer in Österbotten, zweisprachig. Außerdem spricht in allen Städten wenigstens ein Teil der Einwohnerschaft schwedisch. Die Anzahl der schwedischsprechenden Bewohner Finnlands betrug im Jahre 1910 338961 (11,6"/,,), wovon 107955 in Städten lebten. Die Bevölkerungszahl Finnlands wird für 1571 auf etwa 300000, 1749 auf 534000, 181 5 auf I 1 1 8 000 geschätzt, 1900 betrug sie 2 71 3 000 und 191 7 3 347 000- In ^i^r zweiten Hälfte des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung besonders in den Öd- marken des Nordens und Ostens stark zu, womit die großen Unterschiede in der Bevölkerungs- dichtigkeit, die bis dahin bestanden, bedeutend abgeschwächt wurden. In den letzten Jahrzehnten ist die Bevölke- rungsvermehrung wieder langsamer geworden. Die Eheschließungszahl ist unter den europäischen Durchschnitt gesunken und die Geburtenziffer ist im Sinken begriffen. Auf looo Einwohner kamen Geburten: 1752—55 45,3, 1801 — 05 38,4, 1851 bis 55 36,3, 1881 — go 35,0, 1891 — 19CO 32,2, 1901 — 10 31,1. Im Jahre 1913 war die Geburten- zahl nur noch 27,1. In den Städten betrug sie nicht mehr als 21,9, auf dem Lande 28,1. Das Sinken der Geburtenzahl ist eine allgemeine Er- scheinung der Gegenwart und ist in Finnland noch nicht soweit gediehen wie in vielen anderen Ländern Europas. Wie die Geburtenzahl, so sinkt auch die Sterblichkeit schon seit langer Zeit. Auf 1000 Personen betrug die Durchschnittszahl der Todes- fälle-: 1751 — 55 28,6; 1801 — 05 24,7; 1851 — 55 28,2; 1881 — 9021,1; 1891 — 190019,7; 1901 — lo 17,9. Im Jahre 191 3 war die Sterblichkeitszahl nur 16,1. Finnland gehört heute schon zu den Ländern, in denen die Sterblichkeit verhältnis- mäßig klein ist, wenn sie auch in vielen Ländern, unter anderem in den drei skandinavischen, noch 570 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 36 kleiner ist. Der Sterblichkeitsriickgang ist zu- nächst in einer Abnahme der Säuglingssterblich- keit hervorgetreten. Dadurch bildet er ein direktes Gegengewicht zu der Geburtenminderung, wenn auch zugegeben ist, daß diese in den letzten Jahren in einem noch rascheren Tempo statt- fand. H. Fehlinger. Chemie. Die chemische Natur der Carmin- säure klärten vor einigen Jahren Otto Dimroth und seine Schüler auf, wenigstens in ihrem für die Farbe maßgebenden (chromophoren) Teil.') Danach war die Carminsäure ein Farbstoff, der zur Gruppe der Oxy-anthrachinone gehört, dem also das Anthrachinon zugrundeliegt. Der hier inmitten sitzende Chiiion- ring ist als der Chromophor anzusprechen. In beiden an diesem Chinonring sitzenden Benzol- ringen befinden sich ferner eine Anzahl Substitu- tionsglieder, deren Stellung zum Teil festgestellt werden konnte derart, daß seinerzeit der Carmin- säure folgende Formel zugeschrieben wurde O CH, II O CO,-H Über die Art und die Verteilung der rechts der Klammer befindlichen, durch Analyse nachge- wiesenen Reste war jedoch noch keine Entschei- dung zu erzielen. Der soeben veröffentlichte neueste Beitrag Dimroths zu diesem Konstitutionsproblem bringt uns der Lösung wiederum einen erheb- lichen Schritt näher. ■■^) Er gründet sich auf die Analogie der Carminsäure zur Kermessäure. Deren Formel ist nach Dimroth und Fink^) COjH O OK d. h. der linke Teil dieses Formelbildcs stimmt vollkommen überein mit dem der Carminsäure. ') Berichte d. deutsch, ehem. Gesellsch. 42, S. 161 1 und '735; 19191 sowie Annalcn d. Chemie 399, S. i. 1913. -) Berichte d. deutsch, chem Gesellsch. 53, .S. 471. 1920. •■') Annalen d. Chemie 411, S. 315. 1915. Da nun Carmin- und Kermessäure völlig ähn- liche Absorptionsspektren sowie färberische Eigenschaften besitzen, so durfte auf eine ent- sprechende Übereinstimmung in der Art und Ver- teilung auch der im rechten Teil abgebildeten Gruppen geschlossen werden. Tatsächlich läßt sich nun nachweisen, daß die Carminsäure beim stufenweisen Abbau des Moleküls zu den gleichen Stoffen führt wie die Kermessäure. Mittels Zinks und Eisessig nämlich reduziert und hierauf wieder oxydiert liefert die Carminsäure eine Desoxy- carminsäure mit einem Mindergehalt von einem Sauerstoffatom. Das ganz Analoge findet auch statt bei der Kermessäure, die in eine Desoxy- verbindung von folgender F'ormel übergeht: OH wenn nur der rechte, hier hauptsächlich inter- essierende Teil geschrieben wird. Es fehlt darin an der durch *^ gekennzeichneten Stelle ein O. Auf Grund dieser Tatsache ist nunmehr die Formel der Carminsäure d. h. also, sie ist eine Kermessäure, in der die Gruppe CO-CHo ersetzt ist durch CßHj.jO-,. Die Natur dieser letzten Gruppe ist der einzige noch unaufgeklärte Bestandteil des Moleküls. Aber auch über ihn vermag Dimroth bereits Wich- tiges und sehr Belangreiches auszusagen. Jener RestCßHjgO., ist allem Anschein nach zuckerähnlich. Zwar liefert die Car- minsäure bei der hydrolytischen Spaltung keine Glucosiden zukommende Spaltstücke. Wohl aber, und das ist ein schöner Befund, der allen For- schern bisher entgangen ist, zeigt sie optische Aktivität. Bei der Wellenlänge 645 ^uii besitzt die Carminsäure eine spezifische Drehung des polarisierten Lichtes von nicht weniger als 51,6". Nun ist die Kermessäure optisch inaktiv, die Aktivität ist mithin der Gruppe C|,H|.;0-, zuzu- schreiben. Das aber spricht für ihren zuckerähn- lichen Charakter. Diese Erkenntnis ist wichtig. Würde sie sich weiter bestätigen lassen, so träte die Carminsäure in nach einer Richtung grundsätzliche Analogie zu den Anthocyanen, den von Willstätter erforschten Blütenfarbstoffen, deren einer Bestand- teil ja ebenfalls ein Glucosid ist.') Hans Heller. ') Vgl. hierzu ,,Die FarbstolTe unserer Blüten und Früchte" V. Verf., Naturw. Wochenschr. N. F. XVIII (1919), S. 238. N. F. XIX. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 571 Geographie. Ein schätzenswerter Beitrag zur Kenntnis der Länder und Völker Zentralasiens ist E. u. P. Sykes' eben erschienenes Buch „Through Deserts and Oases of Central Asia" (Macmillan u. Co., London — New York 1920). Am ausführ- lichsten wird Chinesisch-Turkestan behandelt, das die Chinesen Hsing-Tschiang oder die neue Pro- vinz nennen. Es ist eine Ebene, die sich von Ost nach West etwa 1600 km und von Nord nach Süd ungefähr 800 km weit erstreckt; ihre durch- schnittliche Erhebung beträgt im Westen über 1000 m, nach Osten nimmt sie fortwährend ab und bei Turfan haben wir ein unter dem Meeres- spiegel liegendes Gebiet. Die scharf ausgeprägten natürlichen Grenzen bilden in Norden der Tian Schan, im Westen der Kisil-Art, im Süden der Kara Koram und Kuen Lün, die zu den höchsten Ge- birgen der Erde gehören, während im Osten die Wüste Gobi Chinesisch-Turkestan abschließt. Von der Gobi getrennt liegt im Herzen des Landes die Takla-Makanwüste, die mehr als die Hälfte seiner Bodenfläche einnimmt und so richtig ein Land des Todes ist, wo ungeheure Sandberge über zerstörten Städten, über fruchtbaren Gärten und den abgestorbenen Resten von Wäldern sich türmen. Außerhalb der sehr fruchtbaren Oasen tritt der Wüstencharakter der Landschaft überall deutlich vor Augen; es gedeihen dort nicht ein- mal armselige Büsche, wie man sie z. B. in den persischen Wüsten fast allenthalben findet. Die Oasen sind in der Regel durch breite Wüstenge- biete voneinander getrennt und das bewohnbare Land ist von ziemlich geringem Umfang. Wo Bodenkultur möglich ist, wird alles Land aus- genutzt, vornehmlich für Weizen-, Hirse- und Gerstenbau und Obstgärten. Jede Oase erzeugt nahezu alle Bedürfnisse ihrer Bewohner selbst, so daß wenig eingeführt werden braucht und der Verkehr mit der Außenwelt gering ist. Diese Abgeschlossenheit und Selbstgenügsamkeit kleiner Siedlungsgebiete trägt wahrscheinlich auch die Hauptschuld an dem wirtschaftlichen und geistigen Stillstand Chinesisch-Turkestans als ganzem, die uns das Buch der Geschwister Sykes als unbe- streitbare Tatsache aufzeigt. Doch ist die kul- turelle Rückständigkeit wahrscheinlich in körper- licher Entartung mitbegründet, denn es wird z. B. gelegentlich der Schilderung der Städte Yarkand und Chotan nachdrücklich hervorgehoben, daß Kropf und Kretinismus ungemein häufig sind und die Bevölkerung körperlich einen wenig günstigen Eindruck macht. Nicht besser als in den großen Städten ist die Erbveranlagung der Landbewohner, die weniger an Wanderungen beteiligt sind. Im äußersten Westen des Landes, in Kaschgar, hat dagegen die körperliche Entartung noch nicht so weit um sich gegriffen und der Gegensatz zwi- schen den lebensfrohen Kaschgarleuten und dem apathischen Volk von Yarkand ist höchst auf- fallend. Den entarteten Zustand der Bewohner Chinesisch-Turkestans hat schon Marco Polo bemerkt und erwähnt. Auch Hautkrankheiten sind wegen der landesüblichen Unreinlichkeit häufig. Von den Flüssen Chinesisch-Turkestans ist der Yarkand der wichtigste; er ist in seinem Oberlaufe auch als Sarafschan und im Unterlaufe als Tarim bekannt. Eine Eigenart des Flusses ist die häufige Änderung seines Laufes, was den von ihm abhängigen Siedlungen der Menschen oft schweren Schaden zufügt. Die wichtigsten Zu- flüsse sind der Aksu vom Norden und der Chotan vom Süden. Viele Flüsse verlieren sich in der Wüste ohne den Hauptstrom zu erreichen. Die Besiedlungsmöglichkeit hängt ganz und gar von dem Wasserreichtum der Flüsse ab, die vom Schnee der Gebirge gespeist werden. Nieder- schläge in der Ebene kommen praktisch gar nicht in Betracht. Wenn ein Sommer außergewöhnlich kalt ist und der Schnee in den Gebirgen in zu geringem Umfange schmilzt, herrscht in Chinesisch- Turkestan Wassermangel. Da es jedoch niemals Hagelschlag gibt und Frostschäden sowie Rost selten vorkommen, sind die Ernteerträge stets gut und Hungersnöte treten nicht ein. Das Klima ist extrem kontinental, die Tem- peraturgegensätze sind sehr groß. Während der drei Sommermonate beträgt die durchschnittliche Höchsttemperatur etwa 32" C und die durch- schnittliche Mindesttemperatur 16,5'^ C; die ent- sprechenden Durchschnittswerte für die drei Wintermonate sind -|- 3 und — 8" C. Die Winter- kälte ist wegen der großen Trockenheit nicht sehr unangenehm fühlbar. Die durchschnittliche Nieder- schlagshöhe macht bloß 8,4 cm im Jahre aus. Die Niederschläge fallen recht unregelmäßig, manchmal gibt es, von ein paar Schauern ab- gesehen, während des ganzen Sommers keinen Regen. Die häufigen Oststürme bringen ge- wöhnlich Staubwolken von der Wüste nach den Oasen, so daß es z. B. in Kaschgar bloß etwa 100 klare läge im Jahre gibt. Die Bevölkerungszahl Chinesisch-Turkestans schätzt P. Sykes auf rund i'/., Mill.; davon kom- men auf die Kaschgar- Oase 300 000, auf die Oasen Yangi Schahr und Yarkand je 200000, auf Akru und Chotan je 190000, der Rest auf kleine Oasen. Der Großteil der Bevölkerung ist seßhaft. Die Zahl der Nomaden und Halbnomaden überschreitet ins- gesamt nicht 125000; sie bevölkern die kalten Hochlande, indem sie mit ihren Herden von einem Weideplatz zum anderen ziehen. Am stärksten vertreten sind unter den Nomaden die Kirgisen mit etwa 50000 Personen. Ein anderer starker Nomadenstamm sind die Dulani in der Merket- Oase unterhalb Yarkand. Die ärmere ansässige Bevölkerung lebt haupt- sächlich von pflanzlichen Nahrungsmitteln, nament- lich Hirsebrot, verschiedenen Gerichten aus Ge- treidemehl, Melonen, Rüben usw. Doch ist an- scheinend auch an Fleisch kein Mangel, denn neben dem Acker- und Gartenbau ist die Zucht von Pferden, Maultieren, Kamelen, Rindern, Schafen und Ziegen umfangreich. Die Lebens- 572 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 36 weise und die Gebräuche der Bevölkerung Chinesisch-Turkestans werden von den Verf aus- führlich beschrieben, ebenso wie die land- schaftlichen Eigenarten dieses Gebietes, die namentlich in E. Sykes' Reiseschilderung von Taschkent nach Chotan lebhaft vorgeführt werden. H. Fehlinger. Durchlässigkeft und Undurchlässigkeit des Bodens von Binnenseen. In einer Reihe von geologischer Seite abgestatteten Gutachten über den Zusammenhang zwischen der Senkung der Grunewaldseen bei Berlin und dem Grund- wasserwerk Beelitzhof der Charlottenburger Wasserwerk AG., das aus seiner Umgegend be- trächtliche Mengen Grundwasser in Anspruch nimmt, wurde die Eigenschaft „undurchlässiger Schläuche" nicht bloß den abflußlosen Grunewald- seen, Sonden den märkischen Gewässern allgemein zugeschrieben. Dr. Ing. H. Keller, Wirk! Geh. Oberbaurat, Berlin weist in einer Arbeit „Wasser- haushalt der Grundwasserseen", Zeitschr. für Wasser- versorgung, 7 Jahrg. Nr. i — 3, Leipzig 1920 zahlen- mäßig überzeugend nach, daß zwar allgemein abfluß- lose Seen günstigere Bedingungen für Wasserabdich- tung darbieten als Wasserläufe bei stetiger Fließ- bewegung und mit Wind- und Dampferwellen, welche die spülende Wirkung unterstützen, daß aber auch der Boden dieser Seen keineswegs dicht und undurchlässig ist , sondern daß ihr Wasser in einem beständigen Austausch mit dem Grund- wasser ihrer Umgebung steht. Bei dieser Gelegen- heit betont er mit vollem Recht, daß, wenn es sich darum handelt, einen See für Zwecke der Wasser- versorgung dienstbar zu machen oder die Ein- wirkung von Wasserwerken auf einen See zu untersuchen, nicht das Seebecken die Haupt- sache sei, sondern das Seewasser, nicht das Gefäß, sondern der Inhalt. Die Untersuchung des Wasserhaushaltes eines Grundwassersees ist in diesem Falle weit bedeutungsvoller als die geologische Schätzung des Durchlässigkeitsgrades der Dichte des Seebeckens, die stets unsicher ist und leicht auf Irrwege führt. An einem anderen Beispiel, dem von derSpreedurchflossenenSchwie- lochsee, weist er nach, daß die geologische Entscheidung über die Entstehung eines Sees garnichts mit der Entscheidung der F"rage zu tun hat, ob ein Grundwassersee als Flußsee oder als geschlossener Grundwassersee bezeichnet werden muß. Der Schwielochsee ist gewiß nicht durch die heutige Spree gebildet, dagegen ist sein Wasser- haushalt durchaus von ihr abhängig und ist deshalb ein Teil des Wasserlaufs erster Ordnung „Spree". W. Halbfaß. Piatos Atlantis in der Paläogeographie. Die antike Erzählung von der Atlantis ist von ver- schiedenen Seiten als echte Tradition angesehen worden. Man glaubt die von Plato beschriebene Atlantis-Insel als das Überbleibsel einer früheren Landbrücke quer durch den Atlantischen Ozean deuten zu können. William Diller Matthew') kommt jetzt zu dem Ergebnis, daß Piatos Erzählung von der Atlantis nur eine Fabel sein kann, weil deren wissenschaftlicher Beweis nicht möglich ist. — Die Existenz einer transatlantischen Brücke im Tertiär oder Vortertiär ist eine an sich berechtigte wissenschaftliche Frage, die aber nicht mit Pia tos fabelhafter Erzählung zu vermengen ist. Matthew sieht aber dennoch nicht die Notwendigkeit für eine solche Brücke ein. Deren angebliches Dasein während des Tertiärs ist nach ihm nicht so ohne weiteres mit der uns bekannten Geschichte der Säugetierentwicklung auf beiden Seiten der Atlantik zu vereinen. Die zugunsten der Atlantis-Hypothese vorgebrachten Beweise von der V^erbreitung ge- wisser niederer Tiere und Pflanzen können alle auch auf andere Weise erklärt werden. Und die Argumente, die für eine allgemeine F~ortdauer der Ozeanbecken sprechen, liefern — geologisch be- trachtet — starke Einwände gegen solche Land- brücken, besonders von so jungem Datum. Transatlantische Brücken aus vor tertiären Zeiten haben theoretisch mehr Wahrscheinlichkeit; einfach deshalb, weil weniger positive Beweise dagegen sprechen. Die dafür vorgebrachten Zeugnisse sind ähnlich denen für tertiäre Land- verbindungen. Mehr Überzeugungskraft wohnt aber auch diesen Hypothesen nicht inne. Es spricht vor allem die Gleichförmigkeit des Ozean- grundes wenig für frühere F"estlandsbrücken, aus- genommen im äußersten Norden : von Neufund- land nach Irland oder über Grönland, Island nach Skandinavien herüber. Ein langer, eingesunkener unregelmäßiger Trog oder Reihen von „deeps" auf jeder Seile liegen vor den Kontinenträndern, die Hebungs- und Erosionsflächen darstellen. Da diese große Elevation und Erosion der festländischen Randstreifen während des Paläozoikums stattfand, sei auch anzunehmen, daß die heutige Gleichförmig- keit des Ozeangrundes, teilweise wenigstens, in diese Epoche fällt. — Hoffentlich ergänzt Matthew seine von H. V. Osborn in der Amerikanischen Naturforscherakademie im November 19 19 vor- getragene Mitteilung recht bald durch eine aus- führliche Darstellung. Zaunick, Dresden. ') William Diller Matthew. Plato's Atlantis in Palaeogcography. In: Proceedings of the National Acadeniy of Sciences of the United States of America, vol. VI, nr. I (January 1920) S. 17 f. N. F. XIX. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 573 Bücherbesprechimgen. Strecker, Karl, Jahrbuch der Elektro- technik. Übersicht über die wich- tigeren Erscheinungen auf dem Ge- sa mtgebiete der Elektrotechnik. Unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen. 7. Jahrg. Das Jahr 191 8. R. Oldenbourg. München und Berlin 191 9. Das Buch enthält in äußerster Kürze eine ungeheure Fülle höchst interessanter neuer Er- kenntnisse, zusammengestellt aus den bekannt- gewordenen Versuchen und Arbeiten auf dem Gebiete der Elektrotechnik des Jahres 191 8. Der reiche Inhalt wird jedem, dessen Interessen in der Richtung liegen, viel Anregung bieten und wichtige modernste Kenntnisse vermitteln, und es kann auch den etwas ferner Stehenden dTe Durchsicht dieses Bandes empfohlen werden, wenn er sich schnell über die Hauptfragen der Elektro- technik orientieren will. Infolge der notwendigen Kürze kann es sich bei der Darstellung nur eigentlich um Hinweise handeln ; die Darstellung ist aber doch so klar und meist so angenehm lesbar, daß meist die Hinweise eine bequeme Orientierung zu geben vermögen. Einige Ab- schnitte stellen gut geschriebene kleine Aufsätze dar, leicht verständlich auch für den Laien. Ich nenne die anregenden Ausführungen über Bildungs- wesen von Epstein und Sozial-Technisches von Osenbrügge, aus deren Inhalt recht deutlich hervorgeht, wie falsch es ist, zu glauben, es seien die Bemühungen für Volksbildung und Sozialisie- rung von Regierungsseiten erst seit Ende 191 8 bemerkbar. Äußerst interessant auch für den Laien sind ferner die Zusammenstellungen der größten während des Jahres 1918 gebauten Wechselstrommaschinen (S. 33), ferner das Kapitel über die modernen Kraftwerke und Verteilungs- anlagen mit Aufsätzen von Büggel n „Wirt- schaftlichkeit in der Elektrizitätsversorgung" (S. 59 bis 74) und von Eichel „Kraftquellen" (S. 74 — 81). Bei Besprechung der Elektrometallurgie bringt muß, so kann manMewes nur recht geben, daß von Hausrat h, von Gumlich („Magnetismus") und anderen. Die eigenartigen durch den Krieg geschaffenen Verhältnisse, die durch den Krieg erzwungene Sparsamkeit mit vielen Rohstoffen, die erfinderisch gemacht hat, spielen bei den Neuerungen im Jahre 191 8 wie schon in den Vorjahren natürlich eine bedeutende und interessante Rolle. S. Valentiner. Me was, Rudolf, Wissenschaftliche Be- gründung der Raum zeitlehre oder Relativitätstheorie. Berlin 1920. Selbst- verlag. 1 10 S. Der Verf zeigt, daß er sich schon seit 1 884 vor Lorentz, Minkowski, Gerber und Einstein mit dem Relativitätsprinzip beschäftigt und vielfach die gleichen Ergebnisse veröffentlicht hat, wie diese. Es geht dies besonders aus dem 4. und 5- Aufsatz hervor, die sich mit der ge- schichtlichen Entwicklung und der Prüfung der Relativitätstheorie an den Erscheinungen befassen. Hier ist als wichtig herauszuheben, daß auch Mewes die Bestätigung der Einst einschen Lehre aus den Sonnenfinsternisbeobachtungen ablehnt, er faßt die beobachteten Ablenkungen zunächst als Refraktionserscheinungen auf und sodann als Verschiebungen nach dem Doppler- schen Prinzip, da ja das Medium, in dem die abgelenkten Strahlen sich bewegen, nämlich die Sonnenatmosphäre in rascher Umdrehung begriffen ist, was notwendig eine Ablenkung bewirken muß. Nimmt man nun noch hinzu, daß soeben Kopf und Cour voisier in den Astronom. Nachrichten eine Arbeit veröffentlicht haben, aus der hervor- zugehen scheint, daß eine als kosmische Refraktion bezeichnete Ablenkung des Lichtstrahles in der Nähe der Sonne dadurch zustande kommt, daß im Gravitationsfeld der Sonne der Äther eine Verdichtung erleidet, die eine Refraktion bewirken Engelhardt auf S. 130 eine instruktive Tabelle über die Edelstahlerzeugung Deutschlands. Auf S. 72 hören wir von Versuchen in Norwegen, Salz mittels Elektrizität aus Meerwasser zu gewinnen, auf S. 74 wird auf die noch ungenutzte Kraft- quelle der Gezeiten, auf S. 75 auf die ungeheuren Wasserkräfte in Amerika und Skandinavien, die zur Elektrizitätserzeugung dienen, hingewiesen und über die Verbesserungsversuche und Neu- anlagen des Berichtsjahres berichtet. S. 95 bringt einen kurzen Abschnitt über elektrischen Schiffs- antrieb, der in Amerika und England versucht wird. Wertvoll sind auch die Abschnitte „Elektrisches Nachrichten- und Signalwesen" (S. 138 — 161) mit Aufsätzen von Breisig „Telegraphie ohne fort- laufende Leitung", von Strecker „Schiffahrts- Sicherheits- und Betriebssignale" und anderen und der letzte große Abschnitt „Messungen und wissenschaftliche Untersuchungen" mit Aufsätzen eine Bestätigung der Grundlagen der Einst ein- schen Lehre noch aussteht. Riem. Doflein, Franz, Das Problem des Todes und der Unsterblichkeit bei den Pflan- zen und Tieren. 120 Seiten. Mit 32 Ab- bildungen im Text und i Tafel. Jena 19 19, Verlag von G. Fischer. — Preis geh. 8 M. Wohl kaum ein Problem der modernen Bio- logie ist in den letzten Jahren in wissenschaft- lichen Zusammenfassungen und populären Dar- stellungen so oft behandelt worden wie das des Todes und der Unsterblichkeit. Hängt dies in erster Linie auch damit zusammen , daß uns ge- rade die letzten Jahre wertvolle Untersuchungen zu dem Problem gebracht haben, so ist doch das allgemeine Interesse, das diese Fragen finden, wohl auf die gegenwärtigen Zeitverhältnisse zurück- zuführen. i'Mlenthalben war man vor dem Kriege 574 Naturwissenschaftliche Woch enschrift. N. F. XIX. Nr. 36 tatkräftig bemüht, die Lebensverhältnisse zu ver- bessern, das Leben des einzelnen Individuums zu verlängern, den Tod also hinauszuschieben. Die Säuglingssterblichkeit ging von Jahr zu Jahr zu- rück, das Heer der Infektionskrankheiten, an der Spitze Tuberkulose und Syphilis, wurde mit Er- folg bekämpft, dem alternden Menschen wandte man besondere Fürsorge zu. Der Krieg wirkte allen diesen IVlaßnahmen direkt entgegen, an die Stelle künstlicher Lebensverlängerung trat künst- liche Lebensverkürzung, massenhaft wurden gerade die IVIenschen in der Blüte ihrer Jahre vernichtet, die am gesündesten, für die Rasse also am wert- vollsten waren. Dieses gewaltsame Massensterben, das wir täglich sahen, mußte zu Betrachtungen über natürliches und künstliches Sterben in der Natur, über die biologische Notwendigkeit des Todes führen, und die seit Weismann viel dis- kutierte Frage der Existenz von körperlich un- sterblichen Lebewesen — nur um eine solche Unsterblichkeit handelt es sich für den Biologen — trat wieder in den Vordergrund des Interesses. Weismann hatte den sterblichen vielzelligen Organismen die potentiell unsterblichen Protisten gegenübergestellt. Im Gegensatz hierzu vertraten Maupas, R. Hertwig, Calkins die Ansicht, daß ein prinzipieller Unterschied zwischen Proto- zoen und Metazoen nicht besteht; diese wie jene altern, die Bedingungen des Todes sind eine not- wendige Konsequenz der Lebensfunktionen. Der Streit um die Unsterblichkeit der Einzelligen geht auch heute noch weiter. Während die einen in den Untersuchungen der letzten Jahre definitive Beweise für die Richtigkeit der Weismann- schen Theorie sehen, betrachten Hertwig und andere gerade durch diese Untersuchungen die Unhaltbarkeit dieser Theorie als erwiesen. D o f - lein, der das Unsterblichkeitsproblem im Tier- reich bereits 191 3 als Nachfolger Weismanns in seiner Antrittsvorlesung behandelt hatte, bricht in der vorliegenden Schrift abermals für die Theorie von der Unsterblichkeit der Einzelligen eine Lanze. Referent hat sich schon zu wieder- holten Malen, auch an dieser Stelle, '] zu der An- sicht Hertwigs bekannt, und sieht sich auch durch die neuen Darlegungen Dofleins nicht veranlaßt, seinen Standpunkt zu ändern. Im Rahmen dieser Besprechung verbietet sich eine eingehende Diskussion , doch seien wenigstens einige Punkte kurz berührt. Bei vielzelligen Lebewesen unterscheidet Dof- lein fünf verschiedene Arten des natürlichen Todes. Viele Pflanzen und Tiere sterben eines Stoff Wechsel t od es. Die sich entwickelnden Keimzellen entziehen den übrigen Körperteilen Nährstoffe und machen ihnen dadurch das Weiter- ') Nachtsheim, H. , Parlhenogenese bei Infusorien. Naiurw. Wochenschr. N. F. Bd. 14, 1915. Sodann: Der periodische Reorganisationsprozoß bei Infusorien, Bericht nach Woodruff und Er d mann, und: Weitere Beobachtungen über die Parthenogenese der Infusorien, Bericht nach J oll es, Naturw. Wochenschr. N. ¥. Bd. 16, 1917. leben unmöglich, und so sind Stoffwechselerschei- nungen die direkten Ursachen des Todes. Bei den eines Fortpflanzungstodes sterbenden Lebewesen wird das Ende des Lebens mit der Abgabe der Geschlechtsprodukte erreicht, der Körper ist zum Transportmittel für die Geschlechts- zellen geworden, das durch die Fortpflanzung auf- gebraucht wird. Eine seltene Form des natür- lichen Todes ist derShocktod, der wahrschein- lich in nervösen Störungen seine Ursache hat. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der Tod der Drohne bei der Begattung der Bienenkönigin. Im Momente der Umstülpung des männlichen Begattungsapparates tritt der Tod ein , wie sich auch experimentell nachweisen läßt, wenn man die Umstülpung durch Druck auf den Hinterleib der Drohne herbeiführt. Allerditigs tritt, wie nebenbei bemerkt sei, der Shocktod bei der Drohne nur ein, wenn sie sich hochgradig im Brunstzustande befindet. Als besondere Art des natürlichen Todes be- zeichnet Do fl ein den Tod durch unharmo- nische Organisation. Polyspermie, Kreuz- befruchtung, die Existenz sogenannter letaler Fak- toren können abnorme Entwicklungsvorgänge im Gefolge haben, die dann zu einem vorzeitigen Tode des Individuums führen. Soll man in sol- chen Fällen wirklich von „natürlichem" Tode sprechen? In erster Linie wird man, wenn von natürlichem Tode die Rede ist, an den Alters- tod denken, an den Tod durch Altersschwäche, dem der Mensch und die Mehrzahl der hoch ent- wickelten Tiere zum Opfer fällt. Die Einteilung der Arten des natürlichen Todes, wie sie Doflein gibt, kann jedenfalls nur als provisorisch betrachtet werden. Ob zwi- schen dem „Stoffwechseltod" und dem „Fort- pflanzungstod" wesentliche Unterschiede bestehen, erscheint fraglich, und was ist der „Alterstod" anderes als ein „Stoffwechseltod"? Doflein selbst erwägt die Möglichkeit, daß bei allen diesen Todesarten ähnliche Gesetzmäßigkeiten walten. Unsere Kenntnisse über die wahren Ursachen des Alterns und des Todes sind eben noch zu gering, um ein sicheres Urteil zu gestatten. Im Hinblick auf neuere Untersuchungen, be- sonders amerikanischer Autoren, ^) haben manche Anhänger der Weismannschen Theorie ver- sucht, die Grenze, 3ie Weismann zwischen Einzelligen und Vielzelligen zog, nach unten zu verschieben, insofern sie jetzt die höchst differen- zierten Protozoen, die Ciliaten, zu den sterblichen Metazoen rechnen. Doflein hält an der ur- sprünglichen W e i s m a n n sehen Ansicht fest. Was bei der „Parthenogenese" eines Paramäcium z. B. zugrunde gehe, der Makronukleus, sei lediglich eine von vornherein zur Degeneration bestimmte Bildung, der ganze Körper des Infusors bleibe lebend, er regeneriere das wichtige Stoffwechsel- organell, das degeneriert sei, von einer Leiche sei nichts zu sehen. Mit demselben Rechte wie ') Vgl. die in der ersten Fußnote genannten Berichte. N. F. XIX. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 575 den Makronukleiis des Infusors können wir jedes Soma eines Proto- oder Metazoons als „von vorn- herein zur Degeneration bestimmte Bildung" be- zeichnen. Die „Regeneration" eines IVIetazoons aus der Eizelle ist in ihrem Wesen das Gleiche wie die parthenogenetische Entwicklung eines Infusors; hier wie dort liefert eine Geschlechtszelle — und das gereifte Paramäcium ist nicht mehr als eine solche ! — ein Tochterindividuum, an dem sich auf Grund der gleichen Erbmasse die Eigenschaften der Mutter neu entfalten. Ob die Leiche „groß oder klein, ein Ganzes oder zerfallender Detritus" sei, hat schon Weismann als gleichgültig be- zeichnet. Doflein vergleicht den „Partialtod" des Infusors mit dem Tode einzelner Zellen im Metazoenorganismus, z. B. der Drüsenzellen , die sich bei ihrer Funktion abnutzen und zugrunde gehen, ohne daß der Gesamtorganismus zerstört wird. Aber hier ist ein wesentlicher Unterschied. Bei der Parthenogenese des Infusors entsteht aus einer Geschlechtszelle, um es nochmals zu betonen, ein neues Individuum, frisches Keimplasma tritt in Funktion, im letzte- ren Falle sterben nur minimale Teile des Somas. Es gibt jedoch auch beim Paramäcium Vorgänge, die sich dem Untergang der Drüsenzellen ver- gleichen lassen, der Ersatz der abgenutzten Wim- pern z. B. Auch im kompliziertesten vielzelligen Körper gibt es nach Doflein Zellen , die ihre Unsterb- lichkeit bewahrt haben ; er weist auf Regenerations- versuche und die an ,, Gewebekulturen" gewonne- nen Erfahrungen hin. Auch hier vermögen wir Doflein nicht beizupflichten. Die verschiedenen Zellen eines Metazoons sind sehr verschieden stark differenziert und überdies sehr verschieden stark in Anspruch genommen. Daraus resultiert eine verschiedene Lebensdauer, die bei einfachen Meta- zoenzellen größer sein mag als bei hoch differen- zierten Protisten. Hertwig vergleicht die Lebe- wesen mit Maschinen. Wir können diesen Vergleich noch weiter ausführen. Eine kompliziert gebaute und stark arbeitende Maschine ist mehr der Ab- nutzung ausgesetzt als eine einfache, schwächer arbeitende, und bei der kompliziert gebauten Maschine hinwiederum werden sich die einzelnen Teile sehr verschieden stark abnutzen. Wenn schließlich die Maschine außer Betrieb gesetzt wird, so wird das geschehen, weil einzelne Teile gänzlich unbrauchbar geworden sind, andere könnten vielleicht noch lange Zeit Ver- wendung finden. Ganz ähnliche Verhältnisse finden wir bei den lebenden Maschinen. Auch sie nutzen sich ab, die einen rasch, die anderen lang- sam, und das gleiche gilt für ihre Teile, es sind nur graduelle Unterschiede, die zwischen ihnen bestehen, keine prinzipiellen. Unsterb- lich ist lediglich das Keimplasma in jedem Organismus, aus ihm wird — eine G r u n d eigenschaft der lebendigen Substanz — von Zeit zu Zeit die abgenutzte Maschine neu aufgebaut, es sicheit die Kontinuität des Lebens bei Protisten ebenso wie bei Vielzelligen. Die einzelnen Individuen aber haben sich damit nicht mehr als „einen Schein von Unsterblichkeit" be- wahrt.^) So kommen wir zu wesentlich anderen Schluß- folgerungen als Doflein. Wie man sich aber zu den behandelten Fragen auch stellen mag, der Gegner wie der Anhänger der Wei sm an nschen Theorie von der Unsterblichkeit der Protisten wird in der Doflein sehen Schrift viel Neues finden. Sie ist nicht eine der vielen populär- wissenschaftlichen , rein referierenden Darstel- lungen des Problems, sondern es werden mannig- fache neue Momente in die Diskussion eingeführt. Das wird — und darin sehe ich den besonderen Wert der Abhandlung — neue Untersuchungen zur Folge haben, die neues Licht auf „das größte Problem der Biologie", wie es Doflein nennt, werfen werden. Nachtsheim. ') Anmerkung bei der Korrektur. Ganz ähnliche Ansichten wie die hier vertretenen äußert in einem soeben er- schienenen Aufsatze B. Slotopolsky (Zur Diskussion über die potentielle Unsterblichkeit des Einzelligen und über den Ursprung des Todes. Zool. Anz. Bd. 51, 1920). ,, Doflein verwechselt die Frage nach der Kxistenz unsterblicher Lebe- wesen mit dem Problem der Unsterblichkeit der lebenden Substanz, die ja in Wahrheit kein Problem, sondern eine Tatsache ist." Ziegler, H. E., Der Begriff des Instinktes einst und jetzt. Eine Studie über die Ge- schichte und die Grundlagen der Tierpsycho- logie. Dritte Auflage. Mit 39 Abbildungen im Text und 3 Tafeln. 211 Seiten. Jena 1920, G. Fischer. Preis brosch. 15 M. Sechzehn Jahre nach seinem ersten Erscheinen liegt Zieglers „Begriff des Instinktes" in dritter Auflage vor. Das ist trotz des langsamen Absatzes ein Erfolg, der meines Wissens noch keinem Lehr- buch der Tierpsychologie beschieden gewesen ist mit Ausnahme der Wundtschen Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele. Und das dürfte daran liegen, daß Z i e g 1 e r gerade das verhältnis- mäßig Handgreiflichste von der Tierpsychologie behandelt, also sich weder in das Spekulativ- Psychologische verliert noch in die tatsachenreiche Nerven- und Sinnesphysiologie, die wiederum vom eigentlich Psychologischen etwas weit fortzuführen pilegt. Doch ist denn das Ziegl ersehe Buch eine „Tierpsychologie"? Nun, mindestens in der jetzigen Auflage nennt der Untertitel auch dieses Wort mit Recht, denn was man nach ihm außer der Definierung des Instinktbegriffs, der Erörte- rung abweichender Meinungen hierüber und der eingehenderen Darstellung des tierischen Instinkt- lebens iri dem Buche noch zu finden erwarten kann, das findet man denn auch : Betrachtungen über die Frage des Bewußtseins, des Zweckbe- wußtseins, des Gefühls bei Tieren , über den Unterschied zwischen Menschen- und Tierseele, zwischen Verstand und Instinkt. — In wesent- 576 Naturwissenscliaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 30 liehen Punkten erweitert und vertieft ist der um- fangreiche historische Abschnitt. Aus ihm sei eine Abbildung — es ist nicht die einzige — hier wiedergegeben (Abb. i). Er führt bis auf die Gegenwärtigen, wie K. Groos, Lloyd Mor- gan, zur Straßen und die Kenner der Insekten- staaten. .^4'Z.vrftl' ^^'t'^^^g'^ i'liltt'l'tU^ cK,ttfi|cMtU:|^t<; Abb. I. Stammbaum der antiken Philosophie. Diejenigen Philosophen , deren Namen unterstrichen sind, lehren die Unsterblichkeit der Seele. Es würde dem Buch in der jetzigen Auflage etwas fehlen, wenn der Verfasser, der bekanntlich mit einer Entschiedenheit, zu der IVIut gehört, für die Krall -Moeckelsche Säugetierpsychologie eintritt, nicht auch dieses Kapitel eingehend be- handelt hätte. Er betrachtet es als eine Streit- frage. Er hätte wohl hinzufügen dürfen , daß selbst für den kopfschüttelnd Ungläubigen die beobachtbaren Ergebnisse der Klopfmethode noch Rätselfragen enthalten, um deret willen man das Problem nicht im Sinne von Pfungst und S t u m p f für erledigt erachten kann. Diesen Ein- druck wenigstens nahm ich seinerzeit aus Elber- feld mit, worüber ich anderwärts berichtete. Höchst anziehend ist ferner die genaue Dar- stellung von Beobachtungen an einem als Stuben- und Gesellschaftstier gehaltenen Affen. Sie bringen manchen lehrreichen Aufschluß, z. B. über das Instinktmäßige des „Lausens". Soviel Einstellung auf den Menschen wie seitens eines Hundes war beim Afifen nicht zu erwarten. Die Gelehrigkeit — nicht nur beim Buchstabieren, worin gleichfalls fast völlig versagt wurde — war sehr gering, aber vielleicht war der Erzieher zu milde.? Freilich, Neckerei seitens Fremder machte das Tier schließ- lich so bösartig, daß es seinen Herrn blutig an- griff und er es erwürgen mußte. Zieglers „Begriff des Instinktes" habe ich bereits in der ersten Auflage mit Vergnügen ge- lesen, zumal wegen der klaren Fassung des In- stinktbegriffs und wegen der klaren, obschon hypothetischen histologischen Versinnlichung der Lernvorgänge. Wie damals, so wird man auch jetzt in dem Buche nicht vieles finden , was zur abweichenden Meinung herausfordern könnte, und so ist es jedem Biologen vom jungen Studenten an sehr zu empfehlen. V. Franz, Jena. Jacobi, Arnold, Tiergeographie. Zweite, umgearbeitete .Auflage. Mit 3 Karten im Text. In: „Sammlung Göschen". 153 Seiten. Berlin und Leipzig 1919, Vereinigung wissenschaft- licher Verleger, VValter de Gruyter & Co. Das an sich vielleicht nicht für jedermann sehr anregende Kapitel Tiergeographie ist in diesem Bändchen von Jacobi höchst anregend darge- stellt, wozu gerade die Kürze beiträgt, bei der trotzdem eine erschöpfende Darstellung gelungen ist und in glücklicher Weise auch den geschicht- lich-phylogenetischen Ursachen der heutigen Tier- verbreitung durchaus der gebührende Raum ge- währt wurde. Besonders diese Kapitel lesen sich gut, während manches andere zum Nachschlagen nicht weniger erwünscht sein wird. Möge das Büchlein der Tiergeographie neue Freunde zu- führen, wie es das auch bisher schon getan hat, da es in zweiter Auflage vorliegt. V. Franz. Literatur. Haberstrumpf, G., Untersuchungen über die ver- schiedenen Bewegungsarten des siderischen Pendels und über deren Ursache. Leipzig '20, M. Allmann. 5,25 M. Pfeiffer, Dr. Chr., Grundbegriffe der pholographischen Optik in elementarer Darstellung. Mit 40 Text.abb. und 7 photogr. Aufnahmen. Leipzig, Th. Thomas. 2 M. Illlialt: Hugo Fischer, Orthogenesis, Mutation, Auslese. S. 561. W.A.Collier, Ein neues Verfahren zur Feststellung der Verwandtschaft im Tierreich. S. 566. — Einzelbericbte: L. H ende 11, Die Bevölkerung Finnlands. S. 56S. Otto Dimroth, Die chemische Natur der Carminsaure. S. 570. E. u. P. Sykes, Länder und Völker Zentralasiens. S. 571. li. Keller, Durchlässigkeit und Undurchlässigkeit des Bodens von Binnenseen. S. 572. W.D.Matthew, Piatos Atlantis in der Paläogeographie. S. 572. — Bücherbesprechungen: K. Strecker, Jahrbuch der Elektrotech- nik. S. 573. R.Mewes, Wissenschaftliche Begründung der Kaumzeitlehre oder l^elativitätstheorie. S. 573. Fr. Dof- lein, Das Problem des Todes und der Unsterblichkeit bei den Pflanzen und Tieren. S. 573. II. E. Ziegler, Der Begriff des Instinktes einst und jetzt. (1 Abb.) S. 575. A. Jacobi, Tiergeographie.' S. 576. — Literatur: Liste. S. 576. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'scfaen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ig. Band ; ganzen Reihe ,^5. Band. Sonntag, den 12. September 1920. Nummer 37. Die Bedeutung der Schuttuntersuchung für die Erklärung der Landformen. [Nachdruck verboten.] Von Dr. E Scheu. Mit 6 Abbildungen im Text. Wohl kennen wir die Kräfte, welche bei der Entstehung der Landformen in humiden Gebieten wirksam sind, aber in welchem Ausmaß sie sich unter den gegenwärtigen klimatischen Bedingungen an der Abtragung beteiligen ist eine noch viel- fach strittige Frage. Die Schuttführung der Flüsse und Bäche lehrt uns zwar, daß große Mengen des Schuttes weggeführt werden, aber die Mei- nungen darüber, wie stark und wie lang die Ver- witterungsdecke der Berge dem Flusse durch die Schwerkraft in der Form des Gekrieches zuge- führt wird, gehen noch sehr auseinander. Nach- dem Dawson das Abkriechen des Schuttes er- kannt hatte und durch Götzinger(i) in ein- gehenden Untersuchungen die Wirkung des Gekriechs auf die Bildung der Bergrückenformen studierte, wurde der Vorgang des Gekriechs für die Abtragung der Landoberfläche als die haupt- sächlichste flächenhaft wirkende Kraft angesehen. Selbst für geringe Neigungswinkel stellte Götzinger ein Abkriechen des Bodens fest, so daß es bei der Abtragung der Landoberfläche zu dem Endstadium, zur Fastebene eine wichtige Rolle zu spielen hätte. Selbst für Waldgebiete sollte das Gekriech das wichtigste Agens der Ab- tragung sein. Dagegen wurden Einwendungen von Passarge (2) gemacht, welcher der Vege- tation einen schützenden Einfluß auf die Schuttdecke zuschreibt und das Endstadium der Abtragung abhängig macht von den Vegetations- verhältnissen, welche einen Gleichgewichtszustand bei gewissen Böschungsverhältnissen bedingen. Es handelt sich bei ihm um kein bestimmtes Endstadium, sondern um eine relative Gleich- gewichtsfläche die kugelig oder mehr oder weniger flach sein kann. Zur Förderung dieser Fragen verhält sich die Natur meist abwehrend, da die Aufschlüsse zur Untersuchung der Schuttbewegung selten und meist ungenügend sind und künstliche Aufschlüsse, wie sie Pas sarge z. T. auf Blatt Stadtremda (3) zur Verfügung hatte, können doch nur vereinzelt hergestellt werden. Erst der Welt- krieg hat uns durch seinen Stellungskampf in langgezogenen Gräben einen großen Einblick in die Schuttverhältnisse der Landoberflächen, gerade auch in Waldgebieten tun lassen, wie es bisher nie der Fall war. Im Jahre 1918 war es mir möglich, zahlreiche künstliche Aufschlüsse an dem Ostabhang der Tertiärstufe des Pariser Beckens nordwestlich von Reims näher zu untersuchen. die vielleicht einen Beitrag zur Klärung obiger Fragen liefern können. Das Vesletal wird bei seinem Eintritt in das Tertiärplateau im Norden von schmalen bisweilen nur einige lOO m breiten Plateaus flankiert, die steil zu den Kreidehügeln der Champagne im Osten und zu breiten zirkusartigen Tälern im Norden und Westen abfallen. Die, das Plateau aufbauenden Schichten liegen für dieses kleine Gebiet so gut wie horizontal, und werden am Abhang über der Kreide hauptsächlich aus Sanden gebildet, in die sich bis zu 5 tonige, Quellhorizonte bildende Schichten einschalten. Der bedeutendste Quellhorizont findet sich über den plastischen Tonen, die aber in ihrer Mächtigkeit lokal recht schwanken und dann durch Sande ersetzt werden. Über dieser Zone der plastischen Tone liegen die Sande von Guise, auf die noch eine Tonlage mit kleinemQuellhorizont und graugrüne, glaukonitische Sande folgen, die schon zu dem nun folgenden Komplex des unteren Grobkalkes gehören, der meist aus sandigen z. T. mit harten Bänken wechselnden Kalksteinen besteht. Durch lone getrennt schließt das Profil mit den harten dichten Kalken des oberen Grobkalkhorizontes. Im Durch- schnitt nehmen die der Kreide auflagernden Sande bis zu den Kalken des unteren Grobkalkes eine Mächtigkeit von 80 m ein, die unteren Grobkalke sind rund 10 m mächtig, während die nicht mehr überall auf den Randplateaus des Fort Thierry erhaltenen harten dichten Kalke nur wenige Meter dick sind. Der Abfall des Plateaus von Fort Thierry zum Vesletal ist kurz und steil und be- trägt 120 m, während im NO. nach einem Steil- abfall ein sanfterer Fuß zu den Kreidekugeln über- leitet. Über diesem sanften Fuß führte ein Lauf- graben in spitzem Winkel in nördlicher Richtung zum Plateaurand hinauf, welcher den am steileren Hang lagernden Schutt bis zu den anstehenden Sanden bloßlegte. Diesem Graben sind die Profile der Abb. 2 a bis 5 entnommen, während Profil 6 etwas nördlicher, wenig unterhalb des Plateau- randes aufgenommen wurde. Da aber der Lauf- graben die Bergschraffen in spitzem Winkel schneidet, bekommt man zwar ein Bild des Schuttes von unten nach oben, aber leider nicht das Profil einer orographisch ganz einheitlichen Schuttdecke, da die leicht konkaven Stellen den Gehänges von flachen Wölbungen unterbroches werden. Doch verteilen sich die Profile auf eine 578 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 37 Strecke von wenig mehr als '/2 ^^i ohne daß eine Erosionsrinne eingreifen würde, weshalb die Profile wohl untereinander verglichen werden dürfen. Bei allem Wechsel, den das Längsprofil jV-5, 7. «c2> II' Anreicherung d. Eisens) Grobkalkschutt Nummulitensand (anstehend) Abb. I. PouJilon Abb. I a. Lage des Schuttproftls am Sattel v. Pouillon Brauner Mutlerboden m. zahlreich. Brocken v. Grobkalk grünlich grauer Sand m. lehmigen Streifen u. Kalkbrocken grauer Sand rostfleckiger, lehmiger Sand feiner lehmiger Grobkalkschutt (benachb. grob werdend wie Abb. 2 b) braune feine Sande (Num. Sand) "--^"^^'^'.-..^ E cS-uO O ^ Q o r^r^r-i^.:-/: '•■ '..' '.'• •' '■ •"' '■' ■ OJ AJ'rSi^JZKv Graben feiner \ des Grabens zeigte, war für alle Stellen die scharfe Sortierung des Schuttes auffallend. Am Aufbau der Schuttdecke beteiligten sich Kalk, Sand, Ton und Lehm und die Grenze zwisclien den einzelnen Lagen war meist haarscharf, nur ihre Anzahl wechselte häufig. Wenn wir im Längsprofil von unten nach oben fortschreiten, sehen wir in Abb. 2 a vier scharf getrennte Schuttlagen über dem an- stehenden Nummulitensand; unten und oben stellt sich Kalkschutt ein, während sich dazwischen ver- schiedene Sande übereinanderlegen. In geringer Entfernung wird der untere Kalkschutt gröber und an einer scharfen Wendung des Längsgrabens verdrängt er auf der einen Grabenwand einen Teil der Sandlagen ganz, während an der anderen oberen Grabenwand ein viergliedriges Profil (Abb. 2 b) mit regelmäßigem Wechsel von Kalk- und Sandschutt sich entfaltet. Weiter aufwärts wird das Profil sogar nur zweiteilig, indem sich über Lehm, mit Kalkbröckchen an der Basis, ein sandiger Lehm mit Grobkalkbrocken deutlich ge- trennt, einstellt. Von besonderem Interesse ist Abb. 4, deren Profil eine Wechsellagerung von Ton und Grobkalkschutt zeigt, dabei keilen alle 4 Lagen aus, weil der Graben eine flache Wöl- bung des Gehänges über- schreitet. Weiter oben er- scheint der Grobkalkschutt wieder an der Basis, und es sind, trotzdem das Profil auf I m zusammenschrumpft, 5 verschiedene Lagen übereinan- der ausgebildet. Bei aufmerk- samer Betrachtung der Schutt- lagengrenzen waren Anzeichen von Verwitterungserscheinungen zu sehen, die an Bodenbildungen erinnerten, aber dafür doch nicht zweifelsfrei angesprochen werden konnten. Nach genauem Absuchen des Gebietes gelang es aber, wenig unterhalb des Plateaurandes in einer Grube nicht weit vom Laufgrabenende entfernt, die typischen Verwitterungserscheinungen der Boden- bildung über einem gelben erdigen Kalkschutt zu finden; darüber legte sich sandig lehmiger Kalk- schutt, der gegen oben stark verwittert war (Abb. 6) ^). Diese Bodenbildung konnte sich nur vollziehen, nachdem die Schutibewegung, welche den Kalk des Plateaurandes das Gehänge abwärts verfrachtete, aufhörte, und dieser Zeit der Schutt- ruhe folgte wieder eine Phase energischer Schutt- deckenbildung. Zur Erklärung dieser periodischen Schuttbildung wird man an klimatische Verände- rungen denken müssen, zuerst ist es aber not- wendig, über das Alter des Schuttes einige Klar- heit zu erhalten, das sich aber aus Mangel an Lößvorkommen und Fossilien, die Passarge (3) eine Gliederung in diluvialen und alluvialen Schutt in Thüringen gestatteten, an diesem bewaldeten Stufenabfall nur indirekt erschließen läßt. Wenn ') Herr Dr. von See hatte mir in dankenswertester Weise seine bodenkundlichen Erfahrungen zur Verfügung gestellt und das Profil genau untersucht, mit dem Ergebnis, daß es sich um ein typisches normales Bodenprofil handelt, wie wir es in unserem humiden Klima finden, daß also bei seiner Ent- stehung ungefähr die heutigen klimatischen Verhältnisse ge- lierrsclit haben müssen. N. F. XIX. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 579 man von dem Nummulitensandhang eine flache Einsattelung überschreitet (Abb. i a), so trifft man auf einer Vorhöhe bei Pouillon ein 2V3 m mäch- tiges Schuttprofil, das starke Verwitterung auf- weist und an der Basis Grobkalkschutt auf an- stehenden Nummulitensanden tührt (Abb. i). Dieser Schutt ist älter als das heutige Relief, denn er könnte heute unmöglich über die durch zwei Talmulden geschaffene Einsattelung hinwegkommen und auf dem Rücken von Pouillon sind keine Grobkalkreste vorhanden. Es hat also nach Ablagerung dieses Grobkalkschuttes eine Talbildung durch Rückwärtswandern der beiden Talmulden stattgefunden, so daß der die Schutt- stelle mit der heutigen Stufe verbindende Hang unterbrochen worden ist. Daraus darf man wohl auf ein relatives Alter dieses Schuttvorkommens schließen, und wenn man Schuttprofile aus der Champagne zum Vergleich heranzieht, so kommt man zu einem diluvialen Alter dieser Schuttbil- dung. An der Nord- seite bei Menil ■ Lepinois nordöstlich Reims, konnte ich mit den Herren Dr. D i s s m a n n und R. Hundt gewanderten feinen Kreideschutt beobachten, der durch Löß getrennt war, weshalb man wenigstens für den unteren Schutt ein diluviales Alter annehmen muß, und Herr Dr. Haupt hat bei Tagnon an der Chaussee Reims — Rethel zwei Lößvorkommnisse festgestellt, die mit Kreideschuttlagen wechselten, so daß also hier in der Diluvialzeit eine zwei- malige starke Schuttbildung vor sich ging, die sehr an die Schuttprofile der Reimser Tertiär- stufe erinnert. Abträgungsvorgänge müssen denen der arkti- schen Gebiete ähnlich gewesen sein, die mecha- nische Verwitterung, das Auftauen und Gefrieren des Bodens bereitete den Boden für die Abtragung ti>^^ tJ\n v^f^' Mutterboden sandiger Decklehtn m. Grobkalk- brocken vollständig durchsetzt Dccklehm unten mit kleinen Kalkbröckchen Nummulitensand (anstehend) Abb. 3. Mutterboden Grobkalkschutl rostfleck. Ton Grobkalkschutt Ton Alter Hang Abb. 4. /«<- ^'i'i^.~^\. ^ r.Q.'^'°.^?-?.".°'^ - ■;id:^'-.l-^a.V5ra^rr I •^:.v=:.-;>.v:.'.': *.-, — *%,. Humoser Kalkschutt Lehmiger, sandiger Kalkschutt Hum. schwarzer bis grauer Ton Bleichzone Gelber, erdiger Kalk 'O <0 <:d^c0^o (^ c:z:>c^ O "^^ -O ^-i c:> '^-to"^ c-^ czscs^ } Nm. Sand (anstehend) Mutterboden Kalkscbutt Sand lehmiger Sand m. Kalkbroc Sand Kalkbrocken Num. Sand (anstehend) Abb. 5. 40 — 50 cm stark verwittert 70 — 80 cm < g Fossile Bodenbildung 30 cm Abb. 6. Fossile Bodenbildung am NO-Hang d. Fl. Thierry. Während der Eiszeit herrschte in diesen Ge- bieten ein arktisches Klima, das Inlandeis reichte bis zur Themse und bis an das Rheindeha heran. Dementsprechend war di£ Vegetationsdecke dürftig, der schützende Waid fehlte wohl ganz. Die vor, bei der der Vorgang der Solifluktion wie sie B. Högbom (4) eingehend beschrieben hat, eine Hauptrolle spielt. Dabei ist es, wie Passarge entwickelte (3), wohl möglich, daß sich über ge- frorenem Schutt mit scharfer Grenzfläche Soli- 5 So Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 37 fluktionsschutt schieben, und dadurch eine scharfe Schultsonderung in einzelnen Decken entstehen kann. Bei Auftauen des schon vorhandenen Schuttes tritt dann mit dem neu herangefiihrten Vermischung ein. Das vielfache Übereinander- lagern petrographisch verschiedener Schuttdecken ließe sich also auch während einer Eiszeit er- klären, und es ist wohl denkbar, daß sich das Profil 5, wo sich fünf Decken übereinanderschichten z. T. durch Solifluktion über gefrorenem Boden erklärt. Sobald aber fossile Bodenbildung auf- tritt oder Löß sich dazwischen schiebt, wird man an einem klimatischen Wechsel nicht vorbei- kommen. Typisch ist zwar diese fossile Boden- bildung nur in Profil 6 entwickelt, aber auch in dem Laufgräben traten Anzeichen davon auf, so daß wir an dem Hang der Tertiärstufe zwei eis- zeitliche Schuttdecken, welche durch Bodenbil- dung während einer Interglazialzeit getrennt wer- den, annehmen möchten, ja die ausgezeichnete Entwicklung von drei Schuttdecken, welche gegen eine Wölbung des Gehänges (Abb. 4) auskeilen, legt den Gedanken an drei verschiedene Schutt- phasen nahe, wenn auch ein zwingender Beweis dafür nicht zu erbringen ist. Wie ganz anders aber die Schuttverhältnisse in nächster Nachbarschaft sein können, zeigt der We^tabfall des Plateau von Foit Thierry, den ich systematisch in mehreren Profilen abgebohrt habe. Leider sind die genauen, eingemessenen Profile verloren gegangen, so daß hier nur die allge- meinen Resultate mitgeteilt werden können. Auf dem Westhang nach der Mulde von Trigny wer- den die Tertiärsande und ihre in der Mächtigkeit stark wechselnden Toneinlagerungen von einem Schutthang fast ganz überdeckt, der ähnlich wie in den Profilen des Osthanges etwa 2 m mächtig ist, aber fast nur aus Sanden besteht, während Grobkalkstücke zu den Seltenheiten gehören. Nur dort wo mächtige Tonlagen (bis 15 m) einen ausgeprägten Quellhorizont bilden, spielt der Schutt eine untergeordnete Rolle, indem er von dem flächenhaft austretenden Wasser weggeschafft worden ist. So befremdend das Fehlen des Grob- kalkschuttes in diesen Profilen ist, so erklärlich ist diese Erscheinung, wenn man das Profil dieses Abfalls betrachtet, das hier nicht mit einer schön geschwungenen Kurve vom Plateau zur Mulde wie auf der Ostseite hinabzieht, sondern durch die Einschaltung einer leicht geneigten Terrasse in etwa 160 m Höhe unterbrochen wird. Über- raschenderweise ist diese Terrasse petrographisch nicht bedingt, sondern in den Nummuliicnsanden zur Ausbildung gelangt, aber durch besondere Umstände erhalten geblieben. Man findet auf ihr reichlich Grobkalkschutt von ziemlicher Mächtig- keit, der aber teilweise stark verfestigt worden ist und so einen schützenden Panzer gegen die Abtragung dieser Terrasse gebildet haben mag. Dieser Schutt liegt nur auf der Terrasse und zieht sich nicht am Gehänge zum anstehenden Grob kalk des Plateaurandes hinauf. Zwar liegen ein- zelne Grobkalkstücke auf dem oberen Hang herum, doch lassen sich die anstehenden Sande mit Leichtigkeit feststellen, die eine ausgezeichnete Grenze gegen den Grobkalk bilden. Diese 160 m- Terrasse kommt auch nördlich des Fort Thierry am Fuße von Villers Mühle vor, wo ein guter Einblick in die Schuttverhältnisse möglich war. Die Verteilung des Schuttes war auf der Terrasse verschieden; gegen den Außenrand nahm der Schutt stark ab, im mittleren Teil war eine mäch- tige Kalkschuttdecke, die gegen den inneren Rand zunahm und dabei mit Sand wechsellagerte, der innere Rand selbst bestand aber nur aus Sanden ohne Kalkbrocken. Für diese ganze Anordnung ist eine leichte Neigung der Terrasse im Äuge zu behalten. Vertikal zeigte der Schutt in einem 2 m starken Profil folgende Anordnung: Auf den dem anstehenden Sande auflagernden Kalkschutt folgte eine Sandlage, die aber wieder aubkeilte, darüber befand sich wiederum Kalkschutt, der sehr fest verbacken war, über das ganze legte sich nun ein hellgrauer lehmiger Sand, in welchem der Beginn einer ßodenbildung angedeutet war, darauf folgte ein brauner Sand, der gegen oben in humosen Sand überging. Dieser verfestigte Terrassenkalkschutt ist unter den aufgezählten Schuttvorkommnissen der älteste, er gehört offenbar einem alten Relief an, das zum größten Teil verschwunden ist. Am ganzen Ostabfall dieser nordöstlich von Reims liegenden Tertiärberge tritt in etwa 160 m ein so deutlicher Absatz auf, wie es gewöhnlich nur härtere Ge- steinsgesimse bei den Stufenlandschaften bilden. Daran erinnerte mich der nördlich von Hermon- ville vorspringende Plateauabfall so sehr, daß ich mich nur nach genauer Untersuchung davon zu überzeugen vermochte, daß dieser in der Land- schaft so markante Vorsprung ganz unabhängig von einer härteren Bank, nur in den Tertiärsanden zur Ausbildung gelangt war, ganz entsprechend wie die soeben beschriebenen zwei Terrassen. Für eine ältere, zum größten Teil zerstörte Landoberfläche am Rande der Tertiärstufe sprechen Schuttvorkommnisse nördlich der Aisne. Dort erhebt sich nordöstlich von Berry au Bac über dem Aisnetal auf der Kreidehoehfläche der 150 m hohe bewaldete Prouvaisberg, aus tertiären Ab- lagerungen bestehend, die einst mit der Tertiär- stufe in Zusammenhang gestanden haben. Diese Tertiärsande sind teilweise in ihren obersten Partien umgelagert worden und in ihnen liegen Kreidebrocken in etwa 140 m Höhe, die nur auf einer älteren Landobei fläche dorthin transportiert worden sein konnten, da das Kreideplateau der weiteren Umgebung nirgends mehr entsprechende Höhen erreicht. Wahrscheinlich gehören die Terrassen der Tertiärstufe und der Prouvaisberg der pliocänen (?) F"astebene Briquets (5) an, der eine ausgedehnte Einebnung für das ganze nord- östliche Frankreich festgestellt hat. Ihrer Lage nach können wir die Schuttvor- kommnisse der Tcrliärstufe in drei Gruppen teilen. N. F. XIX. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 581 Die älteste Gruppe gehört den 170 m-Terrassen an und zeichnet sich durch die Verfestigung des Kalkschuttes aus. Allerdings scheint bei Villers Mühle über diesem eine Decke jüngeren Schuttes zu liegen, wie die obige Profilbeschreibung ergibt. Einer zweiten Gruppe gehört das Profil von Fig. i an, das zwar tiefer liegt, aber mit dem heutigen Relief ebenfalls nicht zusammenhängt, während sich die aus dem Laufgraben und seiner Nachbar- schaft beschriebenen Profile (Abb. 2 a — 5) dem heutigen Relief anschmiegen. Wenn wir uns also eine Anschauung über die Entstehung des Steil- abfalles der Tertiärstufe bilden wollen, müssen wir neben den heute wirksamen Vorgängen auch diese älteren Schuttdecken berücksichtigen. Quer über das Plateau des Fort Thierry gezogene Gräben lassen uns einen Einblick in die heutigen Vorgänge am Plateaurand tun. Die sandigen Kalke des unteren Grobkaikes sind an der Ober- fläche des Plateaus zu einem Steinschlag aufgelöst, gegen unten wird das IVIaterial gröber, welches in etwa 2 m Tiefe allmählich in das anstehende Gestein übergeht. Lokale Verschiedenheiten des Gesteins zeigen auch örtliche Verwitterungstiefen, so daß bisweilen das verwitterte Kalksteinmaterial taschenförmig in die Tiefe greift. iVIan sollte nun erwarten, daß am Plateaurande dieser Kalkstein- schutl über die Sande das steile Gehänge wenigstens zu Zeiten großer Durchfeuchtung abwärts kriecht. Davon ließ sich aber nichts beobachten, und ge- radezu erstaunt ist man über die Seltenheit des Kalksteinmaterials über der Sandböschung, wenn man von einer gelegentlichen Überrollung in nächster Nähe des Plateaurandes absieht. Das Plateau ist zwar stark verwittert, so daß das feste Gestein allmählich einen Schuttmantel erhält, der bei einer gewissen Tiefe die mechanische Ver- witterung zurückhalten wird und dann haupt- sächlich die chemische Verwitterung wirksam sein läßt. Aber ein Abtransport dieses Schuttmantels tritt heute selbst an den Rändern , wo die Böschungswinkel es erlauben könnten, nicht ein, da offenbar die physikalischen Bedingungen hier- für nicht gegeben sind. Der Mangel an starker Durch feuchtu ng dieser durch- lässigen Gesteine und Vegetations- schutz dürften besonders der Schuttbewegung in der Art des Gekriechs hier entgegenwirken. Und wenn an den Hängen kräftiges Gekriech vorhanden wäre, so hätte sich die fossile Boden- bildung wohl kaum erhalten können, denn der überlagernde Kalkschutt ist eine alte Schuttdecke, die heute von dem Kalkplateau nicht mehr genährt wird, also schon längst abgekrochen sein müßte. Bei Abhaltung eines geographischen Prakti- kums an der Schwäbischen Alb wurden die Schutt- verhältnisse der Jurastufe einer näheren Unter- suchung unterzogen, wozu die Gegend von Neid- lingen (O. A. Kircheim u. d. Teck) besonders geeignet war, da dort die oberen Weiß-Jurakalke staffeiförmig abgebrochen sind und durch das seitliche Ausweichen des ganzen Bergsporns „am Brand" in der Richtung auf Neidlingen große parallele Spalten aufgerissen worden sind. Über die Impressamergel und die Tone des oberen Braunen Jura sind ganze Schichtpakete den Hang hinabgeglitten, so daß wir jetzt auf mittlerem Braunen Jura überrutschte Schichten des unteren mittleren Weißen Jura haben. Dieser Vorgang war eine großangelegte akute Bewegung, ein Bergschlipf, der das gewöhnliche Landschaftsbild der Stufe insofern umgestaltet hat, als auf den überrutschten Weißjuraschichten jetzt der Acker- bau bis an den Waldrand heranreicht, der die Grenze zwischen Braunem und Weißem Jura markiert. Sowie man aber von dieser über- rutschten Zone seitwärts geht, hören die oberen Ackerfelde auf und das normale Profil stellt sich ein, in dem die mageren Tone des, Braunen Jura eine dürftige Weide bilden, die als „Wasen" den Waldrand begleitet. Weithin sind diese Erschei- nungen im Landschaftsbilde sichtbar. Diese oberen Braun-Juratone müßten mit den Impressamergeln eine ausgezeichnete Grundlage für das Abkriechen des Bodens geben, denn diese Zonen werden nach jedem kräftigeren Regen so schlüpfrig, daß das Gehen darauf erschwert wird. Trotzdem sucht man vergebens nach Weißjura- schutt auf diesen Tonen. Während die noch vom Buchenwald bedeckten Impressatone häufig von Kalkschutt noch überrollt sind, gehören Kalkstücke im normalen Stufenprofil auf den Tonen zu den Seltenheiten. Ohne jegliche Schuttdecke treten diese Braun-Juratone an die Oberfläche, und nach jeder Schneeschmelze wittern an diesen häufig abgelesenen Stellen zahllose der kleinen braunen Ammoniten (A. hecticus) aus. Der Weißjuraschutt tritt durch ein Abkriechen nicht aus dem Walde heraus, und die Schuttanhäufung auf dem steilen Weißjurahang bildet geradezu die Grundlage für den prächtigen hochstämmigen Buchenwald, der die ganze Albtraufe schmückend bedeckt. Auch das Filstal zwischen Wiesensteig und Geislingen liefert hierfür zahlreiche Beispiele. Ältere Schutt- wanderungen bilden auch in diesem Tal am Waldrand des Weißen Jura von Acker bedeckte Terrassen, während auf die mageren Tonen des Braun-Jura der Weißjuraschutt heute sich nicht hinabbewegt. Sowohl für die Schwäbische Alb, wie für die Tertiärstufe des Pariser Beckens können wir die bewaldeten Steilhänge nicht durch die Wirkung der heutigen Kräfte erklären ; wir müssen zurück- greifen zu den Vorgängen, wie sie durch das Eis- zeitalter bedingt wurden. Längsschnitte der Schutt- decken am Nordabfall des Thierry Plateaus zeigten ganz den Charakter eines Schuttstromes und auch vom Prouvaisberg herab zieht sich in südlicher Richtung ein Schuttstrom, der das Tertiärmaierial auf das Kreideplateau verfrachtete, dort dann Kreidematerial in sich aufnahm, aber dann in größerer Entfernung vom Ausgangspunkt allmäh- lich an gröberem Material verarmte. Und auch 582 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 37 die Profile 2 — 6 sind wohl als solche Schuttströme zu deuten, wie sie in klassischer Weise G. Anders- son (6) beschrieben hat, durch den gefrorenen Untergrund verliert selbst durchlässiges Gestein die Permiabilität und der durchtränkte Verwitte- rungsschutt vermag darauf abwärts zu fließen. Es hat demnach den Anschein, daß wir zur Er- klärung der Formen unserer Mittelgebirge die heute in den polaren und subpolaren Gebieten wirksamen Vorgänge heranziehen müssen, da die gegenwärtig in den Mittelgebirgen zu beobachtende Kräfte lange nicht auszureiclien scheinen, was Salomon (7) lebhaft zum Ausdruck brachte, wenn er geradezu von den toten Landschaften unserer Mittelgebirge spricht. Eingehende Auf- klärung können uns aber nur genaue Schuttprofile geben, wie sie bei Wasserleitungen und anderer Bauten auf kurze Zeit erschlossen werden und die deshalb von allen für das Problem Interessierten gesammelt werden sollten. Literatur. 1. Götzinger, G., Beiträge zur Entstellung der Berg- rückenformen. Geogr. Abh. Bd. IX. Leipzig 1907. 2. Pas sarge, S., Physiologische Morphologie. Ham- burg 1912. 3. — Morphologie des Meßtischblattes Stadtremda. Ham- burg 1914. 4. Högbom, B., Über die geologische Bedeutung des Frostes. Bull, of the Geol. Inst, of Ups.ila. Vol. XII. Up- sala 1914. 5. Briquet, A., La Peneplaine du Nord de la France. Ann. de Geogr. T. XVII, 1908, p. 206. 6. Andersson, F. G., Contributions to the Geology of the Falkland Islands. Wissenschaftl. Ergebn. der Schwed. Südpolare.\ped. 1901 — 03. Stockholm 1907. Vgl. auch Sapper, K., Erdfließen u. Slrukturboden in polaren u. subpolaren Gebieten. Geol. Rundschau Bd. !V, 1913- 7. Salomon, Die Bedeutung der Solifluktion für die Erklärung deutscher Landschafts- und Bodenformen. Geol. Rundschau Bd. VII, 191 7, p. 30 — 40. [Nachdruck verboten. Zur Stammesgeschichte der Blütenkroiiblätter. Von Dr. M. Schips in Zürich. Die Frage nach der stammesgeschichtlichen Entstehung der Perianthblätter ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil eben der Besitz von Blütenhüllen das auffälligste Merkmal ist, welches die Angiospermenblüte von derjenigen der Gymnospermen unterscheidet. Seit Konrad Sprengel das „Geheimnis der Natur in Bau und Befruchtung der Blumen" entdeckte, wissen wir, daß der Zweck der meist auffällig gefärbten Kron- blätter in der Anlockung der Bestäuber besteht, und bis in die neueste Zeit ist man nicht müde geworden, immer neue Übereinstimmungen im Bau der Blüte mit den Körperformen der be- stäubenden Insekten herauszufinden. Dabei wurde die Frage nach der Entstehung der Kronblätter nur selten berührt. Es ist aber durch die Palä- ontologie unzweifelhaft festgestellt, daß den Blüten- pflanzen, die vor der Kreidezeit auftraten, eine eigentliche Blumenkrone fehlte. Es waren nur Sexualblätter und eine schützende Hülle von Hoch- blättern vorhanden ; jene waren in der Regel nach Geschlechtern getrennt, ein- oder zweihäusig, wie dies auch heute noch bei den Gymnospermen die Regel ist. Die Kronblätter haben sich tatsächlich erst in Verbindung mit der Entwicklung der die Blüten besuchenden Insekten herausgebildet; erst nachdem in der Jurazeit die Hautflügler und die Schmetterlinge entstanden waren, machten die Angiospermen besonders im Laufe der darauf folgenden Kreideformation eine rasche Entwick- lung durch, indem sie von der wenig zuverlässigen und wenig sparsamen Windbestäubung zu der rascher und ökonomischer sich vollziehenden In- sektenbestäubung übergingen. Dabei ergaben sich vor allem zwei wichtige Veränderungen im Bau der Blüte, nämlich der Übergang von der Ein- geschlechtigkeit zur Zwitterigkeit ^) und die Aus- bildung von Schauapparaten, die sich eben in den weitaus häufigsten Fällen als Kronblätter dar- stellen. Das Zwitterigwerden hat man sich nach Wett- stein (Handbuch der systematischen Botanik II. Bd., 2. Aufl. 1911) so vorzustellen, daß mehrere männliche Blüten sich durch Verkürzung der Inter- nodien um eine zentrale weibliche Blüte grup- pierten. Tatsächlich waren bei den Blütenpflanzen der Vorkreidezeit, sofern sie zwitterige Blüten- stände hatten, die unteren Sexualblätter immer männlich. Als bekanntestes Beispiel unter den rezenten Pflanzen, welches an diese Verhältnisse erinnert und deshalb als atavistische Form gelten mag, sei die Infloreszenz der VVolfsmilcharten [Euphorbia) erwähnt, bei welcher zahlreiche männ- liche Blüten um eine zentrale weibliche gruppiert sind, während der ganze Blütenstand durch ein System von Hochblättern getragen wird. Diese Hochblätter entsprechen den Kelchblättern der ,, normalen" Angiospermblüte. Das Entstehen der Kronblätter kann nun auf ') Die Bedeutung der Zwitterigkeit für cntomophile Blüten ist unschwer einzusehen. Die ursprünglich anemophilen Blüten hatten sicher keine Honigdrü'ien; sie wurden also nur des Pollens wegen von den Insekten besucht. Wenn nun die Blüten durch den Insektenbesuch nicht nur ausgeraubt, sondern auch bestäubt werden sollten, dann konnte dies nur dadurch geichehen, daß die Narben von den Insekten eben- falls berührt wurden. Je näher die männlichen und die weib- lichen Organe beisammen waren, desto sicherer traf dies ein. Es fand also unter den anemophilen Blüten, die zur Entomo- philie übergingen, eine .auslese statt, welche diejenigen Formen begünstigte, bei welchen die Internodicn zwischen den männlichen und den weiblichen Sexualblättcrn am kürzesten waren. Daß dieser Umstand zur Ausbildung herma- phroditischcr Blüten führen muß, steht außer Zweifel. N. F. XDC. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. S83 zwei Arten vor sich gegangen sein, entweder da- durch, daß innere Hochblätter (Kelchblätter) sich bunt färbten und vergrößerten oder dadurch, daß die untersten (äußersten) Sexualblätter, d. h. also Staubblätter sich in Kronblätter verwandelten. Tatsächlich sind denn auch beide Ansichten wieder- holt ausgesprochen und zu begründen versucht worden. Das sicherste Mittel in der Entscheidung dieser Alternative liegt nun zweifellos in der Beobach- tung von Übergangsformen und von Rückschlägen. Es ist bekannt, daß bei manchen Pflanzen- formen alle möglichen Übergänge zwischen Staub- und Kronblättern auftreten (z. B. Nyi)ipl!ai'(7 alba) und daß bei den meisten , .gefüllten" Blüten die überzähligen Kronblätter nachweisbar durch Um- wandlung von Staubblättern entstanden sind. Man kann mit Sicherheit darauf rechnen, in jeder ge- füllten Rose oder Tulpe Blumenblätter zu finden, welche deutliche Rudimente von Pollensäcken oder halbe Staubbeutel tragen, oder Staubbeutel, bei Welchen der Staubfaden zum Teil zu einer farbigen Fläche sich ausbreitet. Es hat denn auch schon A.-P. de Candolle 1817 (Mem. de Physique et de Chimie de la Soc. d'Arcueil, T. 3, p. 394 f.) die Ansicht ausgesprochen, daß die Kronblätter nichts anderes als metamorphosierte Staubblätter seien. Es dürfen aber die angeführten Beweise für den staminalen Ursprung der Kronblätter deshalb nicht als beweisend angesehen werden, weil bei gärtnerischen Züchtungen nicht nur Staubblätter, sondern auch Fruchtblätter und Kelchblätter eine kronblattähnliche Ausbildung erfahren können. Auch sind die Fälle nicht selten, wo Kronblätter vergrünen und Kelchblättern ähnlich werden, was auf eine Entstehung der Kronblätter aus Kelch- blättern hinweist. Vor allem aber ist der Ein- wand durchaus berechtigt, daß die Verhältnisse, wie sie bei künstlichen Zuchtformen und in terato- logischen Fällen vorliegen, gar nichts aussagen über die in der Blüte normal vorkommenden Kronblätter. Es läßt sich also auf Grund unserer bisherigen Kenntnisse die P>age nach der Her- kunft der Kronblätter nicht mit Sicherheit beant- worten; speziell die staminale Ableitung der Kronblätter hat im allgemeinen wenig Anhänger gefunden (vgl. Goebel, Beitr. z. Kenntnis ge- füllter Blüten, Jahrb. wiss. Bot. Bd. 17, 1886 und Velenovsky, Vergleichende Morphologie der Pflanzen, III. Bd., 19 10, S. 918). Hier setzen nun die neuen Untersuchungen ein, welche Sv. Murbeck „über staminale Pseudo- petalie und deren Bedeutung für die Frage nach der Herkunft der Biütenkrone" (in Lunds Uni- versitets Ärsskrift, N. F. Avd 2, Bd. 14, 191 8, Heft 25) veröffentlicht hat. Er geht dabei von der normalen Angiospermenblüte aus. Wenn nach allem, was wir wissen, bei diesen die Bildung der Kronblätter als Folge des Übergangs von der Windblütigkeit zur Bestäubung durch Tiere aufgefaßt werden muß, dann läßt sich er- warten, daß bei der Rückbildung einer insekten- blütigen Form zu einer windblütigen auch eine Rückbildung der Kronblätter eintreten wird. Bei Arten, die sonst entomophilen Gruppen ange- hören, sich aber in der Richtung der Anemophilie zurückentwickelt haben, ist anzunehmen, daß die Kronblätter bei ihrer rezessiven Metamorphose, sofern sie überhaupt aus Staubblättern entstanden sind, vor dem völligen Verschwinden wieder die Gestalt von Staubblättern annehmen. Denn eben die Windblütigkeit erfordert wieder größere Mengen von Blütenstaub und so ist es durchaus im Inter- esse der wieder windblütig gewordenen Pflanze, daß die als Schauapparate nicht mehr benötigten Kronblätter nicht vollständig zurückgebildet wer- den, sondern ihre ursprüngliche Funktion als Pollenerzeuger wieder aufnehmen. Die Untersuchungen Murbecks haben nun ergeben, daß bei vielen kronblattlosen Blüten an der Stelle, wo sich normalerweise Kronblätter befinden, Staubblätter an- getroffen werden. Die Beobachtungen be- zogen sich auf die nordamerikanischen Rosaceen- Gattungen Neviusia A. Gray, Cercocarpus H.B K. und Cokogyne Torr.; weiter wurden die ein- schlägigen Literaturangaben in der Pflanzenterato- logie von Penzig (Genua 1890 und 1894) verfolgt. Es ergab sich, daß die Ausbildung von Kron- blättern als Staubblätter, die von Murbeck sog. „staminale Pseudopetalie" in der Natur gar nicht selten ist. Die einzelnen Fälle lassen sich in folgende vier Gruppen einteilen : 1. Die Pseudopetalie steht im Zu- sammenhang mit Anemophilie; dieser Fall ist verwirklicht bei den Rosaceengattungen Neviusia, Ccrcocarpiis und Cokogyne^ ferner bei den Papaveraceen Mackaya und Bocconia, unter denen besonders die drei zuletzt genannten aus- gesprochene Windbestäuber sind. Es tritt dabei die Vermehrung der Staubblätter durch die funk- tionslos gewordenen Kronblätter, nicht nur bei Bocconia auf, die nur 4—12 normale Staubblätter besitzt und wo auf diese Weise die Pollenproduk- tion merklich gesteigert wird, sondern auch bei Formen mit normal über 50 Staubfäden. Bei einigen Exemplaren wurde auch vollständiger Abort der staminisierten Kronblätter festgestellt. 2. Die Pseudopetalie steht in Ver- bindung mit Meiomerie, d. h. mit der Ver- minderung der Blattzahl in den einzelnen Blüten- wirteln, wobei z. B. eine fünfzählige Blüte zur Vierzähligkeit, eine vierzählige zur Dreizähligkeit übergeht usw. Bei Gagea, Comaniiii und Are- naria, sowie bei zahlreichen Orchideen-Arten nehmen in den so umgestalteten Blüten die in Rückbildung begriffenen Kronblätter, bevor sie ganz abortieren, die Gestalt von Staubblättern an. 3. Die Pseudopetalie ist durch all- gemeine Reduktionserscheinungen in der Blüte bedingt. Bei Akhemüla tritt die Staminisierung der Kronblätter dort ein, wo die normalen Staubblätter ganz oder doch zum größten 584 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 37 Teil abortiert sind; die biologische Bedeutung liegt auf der Hand. Vielfach, so bei AgrosfeiiiDia, Danais, ATyosurns, Saxifraga, Yucca und Canipa- mda wird der vereinfachte Blütenbau durch Nah- rungsmangel hervorgerufen. Bei ausgeprägten Hungerkulturen nehmen die normalen Staubblätter an Zahl ab, während die Kronblätter kleiner werden und sich in typische Staubblätter um- wandeln ; nur in ganz extremen Fällen kommt es durch Verschwinden dieser Pseudo-Stamina zu wirklicher Apetalie. Bei den am stärksten redu- zierten Individuen einer Hungerkultur von Papai'cr RJiocas waren die beiden äußeren Kronblätter in männliche, die beiden inneren aber in weibliche Sexualblätter umgewandelt, trotzdem sich im Zentrum der Blüte noch ein wohlentwickelter, freilich nur noch zweiblätteriger Fruchtknoten befand. 4. Die Pseudopetalie hat den Cha- rakter spontaner Variation. Hierher ge- hören Capsella, Solanum, Verbascuni, Cardaiiüiic, Digitalis. Die Fälle dieser Art sind relativ selten, z. T. nur ein- oder zweimal beobachtet worden, scheinen aber sich zu vererben, da sich bei einem gewissen Prozentsatz der Nachkommen die über- zähligen Staubblätter an Stelle der Kronblätter wieder finden. So wird die im allgemeinen seltene dekandrische Capsclla-Vorm an gewissen Orten häufiger angetroffen. Alle diese Fälle lassen sich ungezwungen nur durch die Annahme erklären, daß die Kronblätter aus Staubblättern entstanden sind; denn, wenn sie, der gewöhnlichen Annahme entsprechend, wie die Kelchblätter aus Hochblättern hervor- gegangen wären, dann müßten sie beim Zurück- schlagen doch in die Form von Kelchblättern oder Hochblättern übergehen. Fälle des Auftretens von Kelchblättern an Stelle von normalen Kronblättern sind aber nur wenige bekannt und auch diese sind (nach der Kritik von Murbeck, a. a. O. S. 56) höchst zweifelhaft und kommen gegenüber den zahlreichen Fällen von Staminodie normaler Fetalen nicht in Betracht. Es ist dem- nach daran festzuhalten, daß die Kronblätter in der Regel durch Umwandlung männlicher Sexualblätter entstanden sind, gelegentlich auch aus weiblichen Organen, wie der erwähnte Fall von Papaver RJwcas zeigt. Anhangs Ameise sei noch die ganz vereinzelt stehende Ansicht von Celakovsky (Sitz.-Ber. der K. Böhm. Ges. d. Wissensch., Maih.-Nat. Kl. Jahrg. 1900, S. 46) erwähnt, wonach nicht nur die Kronblätter, sondern überhaupt alle Blüten- hüllblätter, also auch die Kelchblätter durch Um- bildung von Staubblättern entstanden seien. Dem- gegenüber ist zu bemerken, daß bis jetzt keine ganz einwandfreie Beispiele dafür bekannt sind, daß grüne Kelchblätter oder gefärbte äußere Perianthblätter sich in Staubblätter zurückgebildet haben. Einzelberichte. Hydrologie. Temperaturmessungen der ober- sten Wasserschicht. Die Wassertemperatur in der Tiefe der Ozeane und Binnenseen zu messen war bisher viel leichter möglich, als diejenige der obersten Wasserschicht, hauptsächlich aus dem Grunde, weil sie gerade dort viel größeren Schwan- kungen unterliegt und weil es an geeigneten In- strumenten fehlte, um die Temperatur dünner Wasserschichten exakt zu messen. Die einzige Methode, die bisher in Betracht kam, war die von Schuh (Peterm. Mitt. 1901, III) angegebene, ein Thermometer mit Weingeistfüllung zu be- nutzen, in welcher sich ein Minimumindex befand, der horizontal auf dem Wasser schwimmen konnte; sie gestattete aber auch keine feineren Messungen und beschränkte sich außerdem lediglich auf die Messung der Temperatur an der Oberfläche selbst. Nun ist aber gerade die oberste Wasserschicht thermisch bei weitem die interessanteste und empfindlichste, weil nach W. Schmidt im obersten Millimeter reinen Wassers bereits 14 v. H., im obersten Dezimeter 45 v. H. der gesamten Strahlungsmenge der Sonne absorbiert werden und diese Mengen mit der Trübung des Wassers noch bedeutend zunehmen, während die Ausstrah- lung sogar ausschließlich auf die Oberfläche be- schränkt ist, weil ja die dunkle Wärmestrahlung vom Wasser nicht durchgelassen wird. Schon die Messungen mittels der bisherigen recht unvollkommenen Methoden ließen einen außer- ordentlich hohen Gradienten der Wärmezu, resp. Wärmeabnahme gerade in den höchsten Wasser- schichten als sehr wahrscheinlich erkennen, nament- lich bei heiterem und ruhigem Wetter, wenn keine Vermischung mit unterhalb gelegenen Wasser- schichten stattfinden kann oder durch intensiven Pflanzenwuchs verhindert wird, aber erst die durch Merz') vorgenommenen Messungen an den kleinen Teichen bei Walkenried am Südharz und im Sakrower See bei Potsdam durch die von der Firma C. Richter und Wiese in Berlin, den Nachfolgern des bekannten Glastechnikers C. Richter, konstruierten neuen Thermometer haben uns einen ganz überraschenden Einblick in die wahren thermischen Verhältnisse der obersten Zentimeter der Wasserschicht in Seen gestattet. Die neuen Präzisionsoberflächenthermometer be- ') Prof. Dr. A. Merz, Die Oberflächentemperatur der Gewässer. Methoden und Krgebnisse. Veröft'entl. des Instituts für Meereskunde an der Univ. Berlin, herausgeg. von Direktor A. Penck, N. F. A. Geogr.-naturw. Reihe. Heft 5. Mit 3 Abb. im Text. Berlin, E. S. Mittler & Sohn, 1920, N. F. XIX. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 585 stehen aus einem ungefähr I2 Cm langen Hg- Gefäß von i mm Durchmesser, das bei der Messung horizontal in das Wasser getaucht wer- den muß. An das Gefäß ist im rechten Winkel die Kapillare angesetzt, die zunächst 15 cm ver- tikal aufwärts geht, dann rechtwinklig umgebogen wird und auf dieser Horizontalstrecke die Tem- peraturskala besitzt. Durch allmähliches Versenken des Instrumentes ist es möglich, die Temperatur des Wassers bis zu einer Tiefe von 15 cm fest- zustellen. Die Skala reicht von — 2" bis 41'' und ist 14,2 cm lang, sie ist in 7.5" eingeteilt, wobei der Abstand der Teilstriche 0,66 mm beträgt. Infolge der bei verhältnismäßig geringem Durch- messer großen Länge des Gefäßes bezieht sich der Beobachtungswert auf eine ausgedehnte hori- zontale Wasserschicht und das Thermometer folgt schnell jeder Temperaturänderung, die bis auf 0,02 " direkt abgelesen werden kann. Um den Fehler des herausstehenden Fadens einwandfrei beseitigen zu können, sind neben dem eigentlichen Hauptthermometer noch besondere Fadenthermo- meter angebracht, die gleichfalls einen 15 cm langen Vertikalschenkel besitzen, an dem sich der Horizontalschenkel mit der in ganze Grade ge- teilten Skala anschließt. Das Gefäß des einen Fadenthermometers ruht an der Ansatzstelle der Hauptthermometerkapillare bis zum Teilstrich -f-io", das des anderen bis zum Teilstrich +30*'- Nach der vorhandenen Temperatur kommt immer nur eines der beiden Nebenthermometer in Anwendung, die eine Korrektur auf 0,01° gestatten. Haupt- und Fadenthermometer, die nebeneinander liegen, befinden sich in demselben Umfüllungsrohr. Handelt es sich lediglich um die Messung der Oberfläche selbst, so entfällt der Vertikalschenkel und damit natürlich auch das Fadenthermometer. Die Thermometer schwimmen in einem stabilen Holzrahmen, innerhalb dessen sie in eine beliebige Tiefe innerhalb der obersten 15 cm gebracht werden können; zur Abhaltung der direkten Sonnenstrahlung ist oberhalb des Gefäßes am Rahmen eine luftleere, verspiegelte Glasröhre angebracht, die so eingestellt werden kann, daß nur das Gefäß, nicht aber die umgebende Wasserfläc^he, gegen die Strahlung geschützt ist. Durch dieses neue Meßinstrument konnten vertikale Temperaturgradienten bis zu 17" in einer Wasserhöhe von nur 5 cm Dicke beobachtet und zugleich konstatiert werden, daß in den obersten Wasserschichten in demselben See gleich- zeitig an verschiedenen Stellen des Sees, je nach der Möglichkeit der Bestrahlung des Wassers, direkte wie inverse Schichtung des Wassers statt- finden. Auch über die thermischen Vorgänge bei der Eisbildung auf Seen haben die neuesten Messungen von Merz ein neues Licht geworfen. Die genaue Messung der Temperatur der ober- sten Wasserschicht ist zunächst deshalb so wich- tig, weil ja die Oberfläche fast die gesamte Er- wärmung und Abkühlung vermittelt und die Temperatur der Oberfläche für die Verdunstung des Wassers von der größten Bedeutung ist, sie gewinnt aber noch ein weit größeres Interesse durch die Beziehung, in der sie zu Fragen der maritimen Meteorologie steht. Bisher wurde allgemein angenommen, daß auf freiem Meere die Amplitude der Lufttemperatur größer sei als die der obersten Wasserschicht; diese Annahme fußte aber auf Messungen mit ungenügenden Meß- instrumenten. Die bisherigen Messungen mit den neuen Instrumenten lassen die Wahrscheinlich- keit zu, daß das Gegenteil obiger Annahme rich- tig ist und daß im Gegensatz zu der allgemein geltenden Anschauung die Meeresoberfläche das ganze Jahr über wärmer ist als die überlagernde Luft. Trifft dies wirklich zu , dann wird der Temperaturgang der Luft über dem Meer nicht in erster Linie durch die Sonnenstrahlung bedingt, sondern durch die Temperatur der obersten Wasserschicht. W. Halbfaß. Astronomie. Eine neue Theorie des Äthers veröffentlicht der amerikanische Astronom und Theoretiker See soeben in den Astronom. Nach- richten Nr. 5044 und 5048. Er zeigt zunächst, daß die Relativitätstheorie ganz allgemein in Amerika abgelehnt wird, besonders durch Michel- son, auf dessen Versuch sich Einstein stützt. Gegenüber der durch die Elektronenlehre nach Lorentz und diese rein mathematische Darstel- lung Einsteins eingetretenen Zerfahrenheit be- müht sich See zu zeigen, daß der Äther not- wendig ist, um die Planeten in ihrer Bahn zu halten und um das Gesetz von der Zentrifugal- kraft in Gültigkeit zu lassen. Aus der Planeten- bewegung bestimmt er die Elastizität des Äthers, dem eine Wellenbewegung zukommt, auf die die neue Theorie aufgebaut wird. Die Dichtigkeit des Äthers nimmt in den Gravitationsfeldern der Sonne zu, und hieraus, sowie durch die Refrak- tion in der Korona sowie im Gravitations- und magnetischen Feld erklärt sich die bei der Sonnen- finsternis beobachtete Ablenkung des Lichtstrahles. Auch das Merkursperihel ist nach See durch die bekannten physikalischen Gesetze ausreichend er- klärt, so daß es keiner mystischen und voreiligen neuen Erklärungen bedürfe. See leitet dann Gesetze der Dichtigkeit des Äthers ab, die Be- ziehung zwischen den molekularen Geschwindig- keiten der Gase und der einer Ätherwelle. Es finden sich viele Berührungspunkte mit den An- schauungen von Fr icke (vgl. Nr. 10 dieses Jahr- ganges). Und es gelingt See, eine Tafel der physikalischen Konstanten des Äthers aufzustellen. Es muß in dem sehr ausgedehnten Aufsatz selber nachgelesen werden, wie sich See mit der Be- wegung des Merkursperihels und den sog. Fluk- tuationen in der Mondbewegung auseinander setzt, die als eine Abschirmung der Schwerestrahlen bei Finsternissen gedeutet werden. Nach See wird die Schwere durch den Druck der Ätherwellen fortge- pflanzt, doch nicht nach Max wells Anschauung. 58o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 37 Es läßt sich zeigen, daß nach der kinetischen Äthertheorie der Michelsonsche Versuch negativ ausfallen mußte, womit eine neue Theorie der Aberration des Lichtes, relativ zur sich be- wegenden Erde zusammenhängt. Der Aufsatz hat im Kampf der Meinungen für und wider Ein- stein seine unzweifelhafte Bedeutung. Riem. Anthropologie. Eine Studie über die Her- kunft der Ungarn hat J. Szinnyei als Heft i der ,, Ungarischen Bibliothek" veröffentlicht, die für das ungarische Institut an der Universität Berlin von Robert Gragger herausgegeben wird (Vereinigung wissenschaftlicher Verleger, Preis 5 M.). Der Verf. sagt u. a., es sei nun mit voller Entschiedenheit festgestellt, daß das Ungari- sche eine finnisch ugrische Sprache ist, ein Glied jener Sprachfamilie, deren übrige lebende Glieder das Wogulische, das Ostjakische, das Syrjänische, das Wotjakische, das Tscheremissische, das Mord- winische, die ostseefinnischen Sprachen (Finnisch, Estnisch, Karelisch usw.) und das Lappische sind. Diese Sprachen bilden mit dem Ungarischen die Fortsetzungen, die neueren Variationen, ein- und derselben Grundsprache. Aber die Sprachverwandt- schaft beweist nicht auch die Rassenverwandtschaft der Völker, wie die durch dieselbe Muttersprache Verbundenen nicht alle zur gleichen Rasse gehören. Es sind viele Beispiele dafür vorhanden, daß einzelne Völker und Völkerteile ihre eigene Sprache mit einer fremden vertauschten. Die siegreichen Wolga-Bulgaren nahmen die Sprache des be- siegten slawischen Volkes an und vergaßen ihre türkische Muttersprache. Die Lappen sprechen eine finnisch-ugrische Sprache, die der finnischen am nächsten verwandt ist, während sie in anthro- pologischer Hinsicht von den Finnen so sehr ab- weichen, daß man sie unmöglich von gleicher Rasse mit diesen halten kann, sondern annehmen muß, die lappische Sprache sei nicht ihre ur- sprüngliche, sondern- eine angenommene Sprache. S. wendet sich gegen die Annahme einiger Au- toren, die Mehrheit der „echten Ungarn" (Mad- jaren) seien nicht Angehörige eines finnisch-un- garischen, sondern eines türkisch tatarischen Volks. Klar ist, daß die Ungarn zur Zeit der Landnahme in Mitteleuropa nicht ein reines finnisch-ugrisches Volk waren. Es schlössen sich ihnen z. B. im neunten Jahrhundert die türkischen Kabaren an und eroberten mit ihnen gemeinsam Ungarn. Auch das ist sehr wahrscheinlich, daß die früheren Be- rührungen der Ungarn mit anderen Völkern gleich- falls nicht ohne größere oder geringere Rassen- mischung vorübergingen. Daß aber die Ungarn finnisch-ugrischer Abstammung immer die Mehr- heit bildeten, ist nach S. Auffassung sicher, sie waren die Aufnehmenden und die Assimilierenden, sie übertrugen ihre Sprache auf die sich ihnen anschließenden Volkselemente. Im letzten Ab- schnitt versucht S., zumeist auf sprachlichen Grundlagen, in Umrissen ein Bild von der Kultur des Ungartums vor der Landnahme zu zeichnen. H. Fehlinger. Geologie. Eine „Geschichte des Erdöls" gibt Ernst Blumer im „Neujahrsblatt der Naturfor- schenden Gesellschaft in Zürich" (1920). Nach ihm sind „unsere Erdöllager nichts anderes als die natur- notwendige Ergänzung zu unseren Versteine- rungen". Das absterbende Leben der alten Welt- meere ist die ,, Quelle des Erdöles von heute". Erdöl bildete sich in allen Formationen und aus- beutbare Erdöllager kennt man vom Silur bis zum Tertiär. Die großen Ölfelder liegen alle in alten Flachseegebieten verlandender oder heute schon verlandeter Golfe oder Binnenmeere. Die galizi- schen und rumänischen Lager sind zur Tertiärzeit im Schwarzen Meer entstanden, die von Apscheron und die anderen um die Kaspische See im früher umfangreicheren Kaspischen IVIeere, die von Meso- potamien im damals weiter nach Norden reichen- den Persischen Golf, die von Birma im ausge- dehnteren Meerbusen von Pegu, alle im Bereich des Meerbusens von Mexiko im einstmals nahezu doppelt so großen Golf von Mexiko, Central Valley of Californien bildete ehedem einen dem heutigen Golf von Kalifornien ähnlichen Meeres- teil. Früheren Binnenmeeren gehören die heutigen innennordamerikanischen Öllagerstätten an. Die fettreichen Reste von Tieren und niederen Pflanzen durchlaufen in ihrer Umsetzung nach ihrem Tode eine Reihe von bituminösen Stoffen, deren End- produkt die Reihe der Kohlenwasserstoffe ist. Als natürliches Gemenge verschiedener Kohlenwasser- stoffe kommen Erdöl, Erdgas, Erdpech und Erd- wachs vor. Unter den Erdölen unterscheidet man die schwarzen, schweren Asphaltöle und die hellen, leichten Paraffinöle. Fäulnisbakterien wer- den in der Natur bei der Umsetzung der organi- schen Stoffe in Erdöl mit am Werke sein. In Verbindung mit diesen chemischen Prozessen wird das die Ölregionen begleitende Wasser sul- fatfrei. Die Sulfate werden zu Sulfiden. Schwefel- eisen und Schwefelwajserstoff treten auf Die auf- tretende Kohlensäure bewirkt ein Schwinden der Versteinerungsreste, da von ihr aller Kalk aufge- löst wird. Wenn sich die Schlammassen ver- festigen, tritt eine Wanderung von Erdöl, Erdgas und Salzwasser ein, die nach porösen Sand- und Kalkhorizonten hinstreben. Bald aber hört die Wanderung auf und Tone und Mergel bilden für die in den Sand- und Kalkschichten eingeschlos- senen Erdöl- und Erdgasmengen einen hermeti- schen Abschluß. Bis auf hundert Atmosphären kann der Druck in diesen eingeschlossenen ( )llagern sich steigern. Dadurch löst sich ein Teil des Ga^es in Erdöl oder Salzwasser. Es bilden sich ganze ,, bituminöse oder ölführende Stufenfolgen" aus. Im feinporigen Schiefer ist das Schieferöl diffus verteilt. Die Mächtigkeit solcher Folgen kann mehrere Meter bis einige tausend Quadrat- N. F. XIX. Nr. 37 Natui wissenschaftliche Wochenschrift. 587 meter ausmachen. Ausbeutbare Öllager können Bruchteile von Meter, seltener bis 50 m mächtig sein. Die ölführenden Schichten wurden gefaltet. Nun setzt eine Wanderung der Öle und Gase innerhalb der Sandsteine und Kalklager ein. In gefalteten Gebieten liegen die Erdschichten nie wagrecht, sondern mehr oder weniger schräg. Nach den höheren Stellen wandert sofort das Erd- öl, während die Salzwasser in der Tiefe zurück- bleiben. In Sätteln kann die Anordnung so sein, daß in den Schenkeln nach der Tiefe zu nur Salz- wasser, nach dem Scheitel zu Salzwasser und Erdöl und im Scheitel des Sattels Erdöl und Gas lagern. Die meisten großen Öllagerstätten sind solche Kuppellager. So die Ölfelder von Baku, Groszny am Nordfuß des Kaukasus, Boryslaw- Tustenowice, viele Ölfelder in der appalachischen Ölregion in Pennsylvanien, Westvirginien und Kentucky, das große Saltcreekfeld in Wyoming, das Spindletoxfeld in Texas, die hinterindischen Ölfelder. Die Wanderung des Erdöles nach dem höch- sten Scheitel des Sattels kann dadurch unter- brochen sein, daß die ölführende Schicht auskeilt oder Verwerfungen den Lauf unterbrochen haben. Es können also auskeilende und abgeschnittene Scheitellager im Gewölbeabfall und auskeilende und abgeschnittene Schenkellager auftreten. Durch die Verwitterung werden die ver- schiedenen Erdöllagerstätten angeschnitten. Es entstehen Ölquellen, Gasbrunnen, Schlammsprudel, Salzwasserfundstellen , Schwefelthermen. Diese Ölanzeichen verraten reiche Ölregionen. Schon seit Jahrtausenden sind diese Vorkommen den alten Kulturvölkern bekannt und in sehr vielen alten Berichten der Bewohner Mesopotamiens, der Ägypter, Babylonier, Perser werden sie schon er- wähnt. Der Feuerkult der Perser und der Be- wohner von Apscheron geht auf diese Fundstellen zurück. Die Paraffinöle verflüchtigen sich leicht, während die schweren Asphaltöle als Rückstand den teer- ähnlichen Asphalt hinterlassen. Das größte As- phaltvorkommen liegt im Asphaltsee von Trinidad und im Pechsee von Bermudaz auf dem Festlande von Venezuela. Wenn das entweichende Gas im Verein mit Öl, Wasser sogar die Erdschichten mit sich fort- reißt, dann entstehen Schlammsprudel. Trinidad erlebte einmal einen solchen Sprudel, so daß mehrere tausende Quadratmeter in einer Stunde mit 15000 cbm Erde und Blöcken bedeckt wurden. Untermeerische Schlammsprudel führten zur Insel- bildung im Kaspischen Meer, an der Westküste von Birma, an der Nordküste von Borneo, im Süden von Trinidad, im Golf von Mexiko. Nun kann aber auch die Ölwanderung noch nicht beendet gewesen sein, als schon die Kuppelab- tragung vor sich gegangen war. Dann tritt das Erdöl an den Schenkeln aus. So läuft ein Öl- lager langsam aus und nur Salzwasser- (Brom-, Jod) und Schwefelquellen erinnern an den ehe- maligen Ölgehalt, bis auch diese ausgesüßt sind. Seit 1857 erbohrt der Mensch bis zu 1500 m Tiefe die Erdöllagerstätten. Im Ölspritzer ver- raten sich die Druckverhältnisse reicher Lager- stätten. Je mehr Bohrungen in einer Ülregion niedergebracht werden, desto schwächer wird der Druck. Jedes ( Jlfeld besitzt eine bestimmte Lebensdauer, die vom Reichtum, der Konzentra- tion und dem Drucke der Lagerstätte abhängt. Manche Ulbrunnen leben nur einen Bruchteil eines Jahres bis eine Anzahl von Jahrzehnte. Die Brunnen können Bruchteile eines Liters bis mehrere hundert Liter in einem Tage geben. In einer Bohrung sind einmal in einem Tage 28000000I Erdöl gewonnen worden. Man brauchte zum Ab- transport dieser Fördermenge lOO Eisenbahnzüge von je fünfundzwanzig Eisenbahnwagen. In man- chen Brunnen gewinnt man während ihrer Lebens- zeit mehrere Millionen Tonnen. In den letzten sechs Jahrzehnten hat man über eine Billion Liter Erd- öl gewonnen, eine Menge, die einen Würfel von 10 km Kantenlänge ausfüllen würde, die auf die ganze Erdoberfläche verteilt diese mit einer Schicht von 2 mm Dicke bedecken würde. Zwei Drittel dieser Menge stammt aus Nordamerika, fast ein Drittel aus Rußland. Rußlands Ausbeute stammt fast ausschließlich von der Halbinsel Apscheron. „Das ist der größte Bodenschatz, der je von Menschen gehoben, die größte Energiekonzentra- tion, die menschlicher Ausbeute zugänglich ge- worden. Nicht Gold und nicht Diamanten können mit solchem Reichtum wetteifern I" Rudolf Hundt. Bücherbesprechimgen. Selenka-Goldschmidt, Zoologisches Taschen- buch für Studierende zum Gebrauch bei Vorlesungen und praktischen Übungen. 7. ver- besserte Auflage von Prof. Dr. Richard Goldschmidt. Heft i. Wirbellose mit 368 Abbildungen. Heft 2. Wirbeltiere mit 292 Abbildungen. Leipzig 1920, Georg Thieme. Preis steif geheftet 11 M. (40 % Teuerungs- zuschlag). Trotz der ungünstigen Zeitverhältnisse liegt das Zoologische Taschenbuch von Selenka- Goldschmidt wiederum in einer neuen Auf- lage vor uns, wohl der beste Beweis für seine Brauchbarkeit, und ein Zeichen, daß dieses zuerst von Selenka herausgegebene und seit der fünften Auflage durch R. Goldschmidt einer vollständigen Umarbeitung unterzogene Werk in der Tat den Bedürfnissen weiter Kreise entspricht. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 37 Für die Studierenden bestimmt soll dieses Taschen- buch durchaus nicht etwa einen Ersatz für ein Lehrbuch der Zoologie bilden, noch soll es den Besuch der Vorlesungen überflüssig machen, son- dern es soll ein Hilf^buch sein, daß dem Studenten während der Vorlesungen und praktischen Übun- gen nützlich ist und ihm dazu dient, das bei den Vorträgen Gehörte und Gesehene ohne Mühe später wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Diesen Zweck erfüllt das Taschenbuch wirklich in ausgezeichneter Weise. Unter Fortlassung aller Erörterungen theoretischer Art (Deszendenz- lehre, allgemeine Biologie, Entwicklungsmechanik usw.) und Übergehung physiologischer und histo- logischer Daten bringt es in erfreulich klarer, knapper und übersichtlicher Form alles besonders Wichtige und Wissenswerte aus dem Gebiete der speziellen Zoologie unter eingehender Berücksich- tigung der Organisation der Tiere und nament- lich der vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. Alles was in dieser Hinsicht in den Rahmen einer der an unseren Hochschulen übüchen Vor- lesungen über allgemeine Zoologie zu fallen pflegt, findet sich hier vermerkt. Die systematische Gliederung ist im allgemeinen bis zu den Unter- ordnungen durchgeführt, und von jeder Gruppe werden ein oder mehrere Vertreter genannt, die in biologischer Hinsicht oder anderweitig beson- ders erwähnenswert sind. Zu den wesentlichsten Vorzügen des Taschenbuchs gehört seine überaus reiche Ausstattung mit zwar einfachen aber cha- rakteristischen F'iguren, die in zweckentsprechen- der Weise aus Lehrbüchern oder Spezialwerken entlehnt, oder eigens für das Taschenbuch her- gestellt auch dem Anfänger sogleich das nötige Verständnis vermitteln. Damit wird das zeit- raubende Nachzeichnen während der Vorlesungen, das bekanntlich oft nur recht unvollkommen ge- lingt, so gut wie überflüssig gemacht oder doch jedenfalls sehr wesentlich vereinfacht, da der Studierende alles Wichtige ja eigentlich schon in seinem Taschenbuch aufgezeichnet findet. Im übrigen ist bei jeder Tiergruppe immer noch genügend freier Raum für ELintragungen von No- tizen oder weiterer Zeichnungen vorhanden, ebenso wie sich am Schlüsse jeden Heftes noch eine Anzahl leerer weißer Blätter beigefügt findet, die gleichfalls für Notizen' und für Skizzen ver- wendet werden können und sich hernach leicht an jeder gewünschten Stelle einkleben lassen. Für die wissenschaftliche Benennung der Tiere ist im allgemeinen die moderne Nomenklatur maß- gebend gewesen. So lesen wir Eimeria stiedae (= Coccidium cuniculi), Dipylidium caninum {= - Taenia cucumerina), Potamobius astacus (== Astacus fluviatilis), ohne daß allerdings diese Bennenungsweise konsequent durchgeführt ist. Doch wird es gewiß niemand dem Bearbeiter verargen, wenn ein so eingebürgerter und allgemein be- kannter Gattungsname wie Paludina statt Vivi- para erhalten blieb. Die Bezeichnung des „Hasen" als Lepus timidus könnte allerdings schon Be- denken erregen, weil hierunter jetzt der skandi- navische Schneehase zu verstehen ist, während unser doch sicherlich gemeinter einheimischer kontinentaler Hase den Namen Lepus europaeus führen muß. Auch bei den Insekten ist die Be- nennungsweise nicht immer ganz glücklich. Noch wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu Ratze- bu rgs Zeiten ist hier von Bostrychiden und Bostrychus (als Borkenkäfern) die Rede, und der traditionelle Irrtum, daß die Schmeißfliege den Namen Musca vomitoria führt, ging auch wieder ncich in die gegenwärtige Auflage des Lehrbuchs über, obwohl doch diese verhältnismäßig seltene in Wäldern vorkommende Fliegenart für den Menschen so gut wie bedeutungslos ist, und es sich bei dem lästigen Plagegeist in unseren Woh- nungen, der seine Eier so gern an Fleisch ab- setzt, fast immer um Calliphora (Musca) erythro- cephala handelt. Ebenso würden bei der syste- matischen Einteilung der Insekten gewisse dem modernen Standpunkt mehr gerecht werdende Verbesserungen am Platze sein. Gewiß hebt der Bearbeiter ganz mit Recht hervor, daß ein Buch vom vorliegenden Charakter in solchen Dingen immer erst den Vorgang der gebräuchlichen Lehrbücher abzuwarten habe. Wenn wir jedoch neuere Lehrbücher (z.B. das von Claus-Grob- ben) zur Hand nehmen, so finden wir auch dort schon die gänzlich veralteten Einteilungen der . Käfer und Zweiflügler durch das neuere System ersetzt. Es wäre vielleicht doch zu wünschen, daß unser Taschenbuch sich diesen Verhältnissen gleichfalls anpaßt. Irrtümer sind mir im übrigen kaum aufgefallen. Nicht ganz richtig ist die Zahn- formel für die Katze angegeben, und auch bei den Pleuronectiden darf es nicht im allgemeinen heißen, daß bei ihnen die rechte Seite Schutz- färbung besitze, die linke aber weiß bleibe, weil bei verschiedenen Arten gerade das entgegen- gesetzte Verhalten zutrifft. Auch setzt die Reb- laus ihr Winterei nicht an den Wurzeln des Wein- stocks ab, und der heilige Pillenkäfer, den wir auf einer der Figuren dargestellt sehen, befördert mit der Kotpille ganz gewiß keines seiner Eier. Dies alles sind aber natürlich recht unwesentliche Dinge, die in keiner Weise den unzweifelhaften Wert des Selenka-Goldschmidt sehen Taschenbuchs und seine praktische Brauchbarkeit herabsetzen. Letzteres enthält ein so umsichtig ausgewähltes und reichhaltiges Tatsachenmaterial, daß es nicht nur für die Studierenden ein fast unentbehrliches Hilfsbuch bildet, sondern auch für den Dozenten, wenn er sich einmal schnell über Einzelheiten, die seinem Gedächtnis entfallen sind, unterrichten möchte, vortrefflich zu gebrauchen ist. Wir zweifeln daher nicht im mindesten, daß die vorliegende Auflage einen ebenso dankbaren Leserkreis wie die vorhergehenden finden wird. R. Heymons. Sapper, Karl, Natur und Lebensbedin- gungen in den tropischen und tropen- N. F. XIX. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 55 nahen Gebieten. (Auslandswegweiser, Bd. 3.) 115 S. Hamburg 1920, Friederichsen. 9 M. Der Würzburger Geographieprofessor unter- richtet in diesem kleinen Buch über Klima, Wasser, Boden, Pflanzen- und Tierwelt und die Bevöllkerung der warmen Länder, dann gibt er Winke für das Verhalten der Europäer gegenüber Natur und Ein- geborenen jeper Gebiete und sonstige Aufschlüsse, die besonders für die von Wert sind, die sich dort niederlassen wollen. Unter dem Begriff der warmen Länder werden zusammengefaßt die eigent- lichen Tropen und diejenigen der wendekreis- nahen Subtropen, soweit in ihnen im Tiefland noch frostfreie Wirtschaft vorwaltet ; die wendekreis- fernen Subtropen, wie z. B. die Miltelmeerländer, sind in dieser Schrift nicht mehr berücksichtigt worden, weil in ihnen die Landwirtschaft wegen des Einschaltens einer winterlichen Jahreszeit schon ein ganz anderes Gepräge besitzt und mehr der unserer Heimat ähnlich ist. Der Verf. sagt u. u., daß sich die Angehörigen der europäischen Völker in ihrer körperlichen Tropeneignung ungleich verhalten. Die südeuro- päischen kolonisierenden Völker, die Spanier und Portugiesen, vermögen sich, wie es scheint, der tropischen Natur am leichtesten anzupassen, da sie schon in ihrer Heimat während eines großen Teils des Jahres an hohe Wärmegrade gewöhnt und daher klimatisch besser als ihre nördlichen Nachbarvölker geignet sind, ständig hohe Hitze zu ertragen. Dazukommt, daß sie durch Vermi- schung mit manchen aus Afrika herübergekommenen semitischen und hamitischen, selbst Negerelementen, zum Teil schon einen gewissen Anteil am Erbe hitzegewohnter Völker erhalten haben und dadurch noch bessere Tropeneignung erwarben. Die Franzosen stehen wohl kulturlich den Spaniern und Portugiesen nahe und bilden mit ihnen die lateinische Völkergruppe (im Gegensatz zur germanischen); in ihrer körperlichen Tropen- eignung kommen sie und die Belgier aber den Engländern und Holländern näher, mit denen sie im Gegensatz zur südeuropäischen eine Gruppe bilden, die nordeuropäische, der auch Deutsche, Skandinavier usw. zugehören. Von den Nord- europäern sind selbst Holländer und Engländer nicht zu dauernder Ansiedlung in den Tropen ge- eignet. Das ziemlich gleichmäßige Seeklima ihrer Heimat nähert sich zwar dem tropischen insofern einigermaßen, als es verhältnismäßig geringe jähr- liche Wärmeschwankungen aufweist, aber gerade dadurch sind diese Nordeuiopäer an längerdauernde intensive Hitze von Hause aus gar nicht gewohnt. Deshalb sind zeitweise Unterbrechungen des Tropenäufenhalts der holländischen und englischen Kolonisatoren allgemein üblich und die Kinder werden vielfach überhaupt in Europa aufgezogen. Überall in holländischen und englischen Kolonien zeigen die Angehörigen des herrschenden Volkes einen stark ausgesprochenen Rassestolz, der sich in seinen Folgewirkungen darin bekundet, daß die Zahl der Mischlinge zwischen Weißen und Farbigen und damit auch deren wirtschaftliche und politische Bedeutung im Gegensatz zum lateinischen Amerika und portugiesischen Kolonien gering geblieben ist. Die tiopischen Tiefländer scheiden als Sied- lung s gebiete für Nordeuropäer ganz aus. In der mäßig warmen Höheregion (etwa zwischen 600 — 1800 m Höhe ü. M. in den inneren Tropen) ist für den Nordeuropäer zwar angestrengte körper- liche Arbeit im Freien im allgemeinen nicht möglich, wohl aber geistige Arbeit, ohne daß die Gesund- heit leiden würde. Generationen überdauernde Ansiedlungen können an günstigen Stellen und bei vernünftiger Lebensweise recht wohl geschaffen werden. Die Zahl der in den tropischen Hoch- ländern (oberhalb etwa 1800 m) ansässig ge- wordenen Nordeuropäer ist noch sehr gering. Sie könnte ganz wesentlich gesteigert werden; denn es ist für viele noch Raum im spanischen Amerika, wo allein die Hochländer schon wirtschaftlich einigermaßen entwickelt sind, ebenso wie in Afrika und Australien, wo die wirtschaftliche Entwicklung der Hochländer noch kaum begonnen hat. Sa ppers Schrift gewährt allen, die sich über Tropen- und Subtropensiedlung interessieren, eine reiche Fülle von Auskunft. H. Fehlinger. Nölke, F., Das Problem der Entwicklung unseres Planetensystems. Eine kritische Studie. 2. Aufl. Mit einem Geleitwort von Jung-Kiel. 387 S. Berlin 1919, Springer. 28 M. In diesem bedeutenden Werk gibt der Verf. eine äußerst wertvolle, interessante, kritische Zu- sammenstellung der Hypothesen und Theorien über die Entwicklung des Sonnensystems und der Erde im besonderen aus dem Urzustände. Systematisch werden die verschiedenen Erklärungsversuche und möglichkeiten geprüft und zwar nicht nur qualitativ, sondern quantitativ mit größter Kon- sequenz verfolgt. Das führt zu wichtigen Resul- taten ; manche bisher bei qualitativer Beobachtung recht wohl für möglich gehaltene Theorie läßt sich bei quantitativer Nachprüfung als unhaltbar nachweisen. Dem analytischen Teil (S. 49— 224), . der kritischen Behandlung der bisherigen An- schauungen über Weltenentwicklung schließt sich an ein synthetischer Teil (S. 225—379), in dem ein Aufbau einer neuen gesicherten Anschauung über die Entwicklung versucht wird aus den im I. Teil als möglich übrig gebliebenen Erklärungen; sie reichen in der Tat aus, den Entwicklungsgang des Sonnensystems darzustellen. Man kann den Aufbau fast zwingend nennen, insofern der i. Teil nicht viel Wahl in den Erklärungen gelassen hat und, wo mehrere Möglichkeiten bestehen, sich eine als besonders wahrscheinlich zeigen läßt. So zeigt der Verf., daß die Urmaterie in Form eines kosmischen Nebels mit freier Beweglichkeit vor- gestellt werden muß, eine Entwicklung des Systems aber nur möglich sein konnte, wenn Änderungen der Gravitationswirkungen aufgetreten sind, was auch von anderen Seiten schon gefordert und aus gewissen astronomischen Beobachtungen ab- 590 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 37 geleitet worden ist und jedenfalls aus physikalischen Gründen durchaus nicht von der Hand gewiesen werden kann. F'ür den ürnebel müssen wir ge- wisse Eigenschaften fordern, die zu den bekannten Gesetzmäßigkeiten in der Bewegung des Planeten- systems Veranlassung geben konnten- in streifen- artiger, schwach- bogen- oder S förmig gekrümmter Spiral- Nebelform müssen wir die Urmaterien uns vorstellen, längst der Achse des Spiralnebels un- gleich dicht und dick, mit einer Masse, die sich in der Streifenrichtung mit verschiedenen linearen Geschwindigkeiten bewegten. Die Entstehung der Planeten, der „regulären" und „irregulären" IVIonde, der Kometen, des Zodiakallichtes (vielleicht die nicht zur Zusammenballung gelangte Rest- materie des Sonnennebels) und viele Einzelheiten werden dann eingehend behandelt. Die Aus- führungen sind von großem Interesse und das Studium des Buches ist äuserst anregend und nützlich. Sie sind klar und verhältnismäßig einfach, und setzen nicht allzuviel Kenntnisse der Mathe- matik und Physik voraus; ganz hat sich die An- wendung der höheren Mathematik natürlich nicht vermeiden lassen. S. Valentiner. Gerke, O., Botanisches Wörterbuch. Teub- ners kleine Fachwörterbücher Bd. i. Verlag B. G. Teubner, Leipzig 1919, geb. 5. — M. und 100 7o Verlagszuschlag. Man weiß aus Erfahrung wieviel leichter ein Pflanzennamen behalten wird, wenn man ihn über- setzen kann. Dabei wird auch dem humanistisch Gebildeten die sprachliche Ableitung vieler Namen und mancher Fachausdrücke nicht immer gegen- wärtig sein. Um so mehr muß heute, wo sich viele, die keine lateinischen und griechischen Kenntnisse besitzen, mit Naturwissenschaften beschäftigen, das Bedürfnis nach solcher Hilfe vorhanden sein. Des- halb ist es zu begrüßen, daß der Verf. des vor- liegenden handlichen kleinen Wörterbuches den Hauptwert auf die Vermittlung des sprachlichen Verständnisses legt. Das scheint ihm, soweit ein Nichtphilologe das beurteilen kann, auch einwand- frei gelungen zu sein. Dabei bringt er es mittels eines geschickten Systems der Verweisung, das alle Wiederholungen unnötig macht, fertig, auf 216 Seiten Kl. 8" über 500 Pflanze^inamen und botanische Fachausdrücke zu erklären. In den meisten Fällen ist auch noch eine sachliche Er- läuterung hinzugefügt, die hin und wieder durch ganz kleine Skizzen ergänzt wird. Diese sachlichen Erläuterungen sind gleichfalls im allgemeinen treffend und zweckentsprechend, wenn sich auch einige Einwendungen machen lassen. So kann man wohl der Meinung sein, daß in solchem kleinen Wörterbuch Lebensbeschreibungen von Botanikern besser fortbleiben würden. Sie müssen doch so kurz gehalten sein, daß ihre Bedeutung nicht richtig gewertet werden kann. Der dadurch ge- sparte Raum könnte gut verwendet werden, um die auf die Pflanzenkrankheiten bezüglichen Namen und Begrifife etwas zu erweitern. Es fällt nämlich auf, daß Namen wie Fusarium, Fusicladium,Monilia, Nectria, Plasmodiophora, Tilletia, Bakteriosis, Schorf, Honigtau nicht erwähnt sind. „Mutterkorn" hat den Namen von seiner Verwendung in der Gynä- kologie und nicht „weil es durch Form und Größe die Vorstellung hervorruft, es sei die „Mutter" der Roggenkörner" (S. 40). Gonidien sind nicht „kleine Brutzellen" sondern die Algen in den Flechten (S. 79). Das Werkchen wird sich gewiß seinen Platz auf dem Arbeitstisch der Studierenden und der weiten Kreise derjenigen, die sich aus Liebhaberei oder von Berufs wegen- mit Pflanzenkunde be- schäftigen, wie es der Verf. wünscht, erobern, wenn nicht der auch für heutige Verhältnisse recht hohe Preis es daran hindert. Nienburg. Anregungen und Antworten. Eine neue Erklärung des osmotischen Druckes. Die An- schauungen über den osmotischen Druck waren lange Zeit völlig unklar. Erst die Untersuchungen von Traube, Pfeffer, de Vries und van't Hoff haben die Gelegen- heit zu einer schärferen Erfassung geboten. Besonders des letzteren Nachweis, daß der Druck gleich dem Druck eines Gases ist, das in der Volumeinheit ebenso viele Molekeln enthält wie die Lösung Molekeln des festen gelösten Stoffes, führte dazu, den Sitz des D.uckes in die Molekeln des festen Stoffes zu legen und deren kinetische Energie für die osmoti- schen Wirkungen in Anspruch zu nehmen. Dann mußte der Druck von der Lösung nach dem Lösungsmittel gehen, wäh- rend er in der Tat entgegengesetzte Richtung hat. Man hat sich dann mit der Vorstellung beholfcn, daß der osmotische Druck ein Zug sei. Aber da jeder Zug bei genauer Zer- gliederung des Vorganges auf einen Druck zurückgefülirt werden kann, der durch feste Stoffe nach der Stelle der Zug- wirkung übertragen wird, so ist diese Vorstellung nur als eine Verlegenheitsannahme anzusehen. Nun hat man in letzter Zeit den osmotischen Druck mit der Bro wuschen Bewegung in Verbindung gebracht. Be- kanntlich faßt man diese als die Folge der wechselnden Ge- schwindigkeit der eine Flüssigkeit zusammensetzenden Molekeln auf, die sich aus den gegenseitigen Zusammenstößen ergeben. Die Molekeln geben dabei Geschwindigkeit ab oder nehmen solche auf, ohne daß das Energiegleichgewicht gestört wird, indem das Gleichgewicht zwar mikrokosmisch labil, jedoch makrokosmisch stabil ist. Der Gleichgewichtszustand bleibt derselbe, solange nicht Energie zu- oder abgeführt wird ; er kann sich daher nicht ändern, solange die umgebenden Massen die alte Temperatur beibehalten; und es kann die Lösung unter diesen Umständen keine freie Energie abgeben für die Arbeiten, die man der osmotischen Energie zuschreibt. Um diese dennoch begreiflich zu machen, hat man die An- nahme gemacht, daß die Atome selbst eine ungeheure Energie enthalten, und daß die geringe Abgabe, die die Osmose er- fordert, keine merkliche Änderung des Gesamtzustandes be- wirkt. Diese .Annahme entbehrt jedoch solange jeder ernsten Würdigung, als man nicht klar macht, weshalb die ungeheure Energie, wenn sie frei ist, nicht in ihrer ganzen Menge sich entlädt und alles, was auf der Erde fest und flüssig ist, in heißen Gaszustand überführt, und wenn sie gebunden ist, was es bewirkt, daß die gebundene frei wird. Eine befriedigende Erklärung des osmotischen Druckes muß doch zeigen, daß er dem van't Hoffschen Gesetze entspricht. Die nachfolgende Erklärung führt auch diesen Nachweis. N. F. XIX. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 591 Die meisten Erklärungen des osmotischen Druckes sind mit Belraclitungen über halbdurchlässige Membranen verknüpft. Nun gibt es keine Membran, die ein Lösungsmittel immer durchläßt und jeder Lösung dieses Lösungsmittels den Durch- gang verwehrt. Meist wird am Anfang das Lösungsmittel allein durchgelassen, nachher auch die Lösung: und der Grund für dieses Verhalten ist darin zu finden , daß der os- motische Druck am Anfang nur das Lösungsmittel in Bewegung setzt, so daß Partikeln der Lösung gegen den einseitigen Strom des Lösungsmittels sich nicht zu diesem hinbewegen können. Die scheinbare Halbdurchlässigkeit ist auf diese einseitige Bewegung zurückzuführen. Je höher die Lösung in dem senkrechten Zylinder emporsteigt, desto mehr wird die aufsteigende Bewegung durch das Gewicht der gehobenen Lösung geschwächt, bis sie gleich Null wird und dadurch der Austausch von Teilchen der Lösung und des Lösungsmittels durch die Membran möglich gemacht wird. Die Bedeutung der Membran für den Versuch ist allein darin zu suchen, daß sie den Austausch der Flüssigkeiten möglich macht, aber eine schnelle Beseitigung der Niveaudifferenzen verhindert. Da der osmotische Druck von dem Lösungsmittel zur Lösung geht, so ist die natürliche Annahme, ihn als einen Überdruck des Lösungsmittels über die Lösung anzusehen. Der Druck in einer Flüssigkeit wird ebenso wie in einem Gase durch die kinetische Energie ihrer Molekeln verursacht; dann muß der in der Lösung aufgelöste Stoff die durchschnitt- liche kinetische Energie der Molekeln vermindern. Diese Verminderung kann nun entweder dadurch hervorgerufen werden, daß jede einzelne Molekel eine Einbuße an lebendiger Kraft erleidet, oder daß die durchschnittliche kinetische Energie jeder Molekel dieselbe bleibt, aber die Anzahl der Molekeln sich vermindert. Da aber diese Wirkung nach dem van't Hoff sehen Gesetz der Anzahl der gelösten Molekeln des festen Stoffes proportional ist, so würde die erste An- nahme voraussetzen, daß mit jeder Auflösung einer Molekel fester Substanz auch sprungweise eine Abnahme der durch- schnittlichen kinetischen Energie aller Molekeln verknüpft wäre. Dies ist aber wegen der inneren Unwahrscheinlichkeit abzulehnen, wenigstens solange als die zweite Annahme Aus- sicht auf Erfolg hat. Dafür führt die zweite Annahme sofort zum van't Hoff sehen Gesetz, wenn die Anzahl der ver- schwindenden Molekeln des Lösungsmittels in der Lösung genau so groß ist als die Anzahl der in der Lösung isolierten oder aufgelösten Molekeln des festen Stoffes. Bevor der gelöste Stoff in das Lösungsmittel auf der einen Seite der Membran gebracht wird, gleichen sich die Stöße der Molekeln der Flüssigkeiten auf beiden Seiten aus. Wenn nun durch Hinzufügen des festen Stoffes eine Vermin- derung der freischwingenden Molekeln eintreten soll, so müssen die hinzutretenden Molekeln des festen Stoffes so wirken, daß sie zunächst keine Vermehrung der kinetischen Energie bringen und außerdem noch die Anzahl der Molekeln der Lösung um ihre eigene Anzahl vermindern. Damit die Molekeln des festen Stoffes keine Vermehrung bringen, dürfen sie ihre Selb- ständigkeit nicht behalten, sondern müssen sie durch Anleh- nung an die Molekeln des Lösungsmittels aufgeben. Stellt man sich nun vor, daß .sich i Molekel des festen Stoffes an I Molekel Lösungsmittel anlegt, so bleibt die Anzahl der Molekeln der Lösung noch dieselbe wie vorher, auch in der Volumeinheit, wenn man von der Volumvermehrung durch die Lösung der festen Substanz absieht, die hier als klein ver- nachlässigt werden soll. Also bleibt auch die kinetische Energie der Lösung dieselbe. Um die Verminderung zu er- halten, die das van't H o ff sehe Gesetz verlangt, muß ange- nommen werden , daß jede Molekel gelöster fester Substanz sich an 2 Molekeln Lösungsmittel anlegt und dadurch einen Molekelkomplex bildet. Zum Unterschied von anderen Molekel- komple.\en soll dieser als Großmolekel bezeichnet werden. Löst man z. B. in I 1 Wasser oder 55'/> Mol. I Mol. Zucker gleich 342 g auf, so enthält I I Lösung, genau 1,006 I, 55 V» Mol. Wasser und I Mol. Zucker. Vereinigt sich dann jede Molekel Zucker mit 2 Molekeln H.^O, so sind 53 ','2 Mol. HjO und I Mol. Zuckerlösung vorhanden. Auf die trennende Membran wirkt dann von der einen Seite der Druck von 55 Vz Mol., auf der anderen Seite der von 5472 Mol. Dana wird auf der Seite des Lösungsmittels ein Überdruck wirken, der von I Mol. Wasser herrührt. Dieser Druck ist nach dem empirisch festgestellten van't Ho ff sehen Gesetze gleich dem Drucke eines Gases, welches mit gleicher Molrkelzahl, also mit I Mol., das gleiche Volum, also in diesem Falle I 1 ausfüllt. Dabei ist es ganz gleichgültig, welcher Art das Gas ist. Es kann auch Wasserdampf sein. Das heißt aber : I Mol. Wasserüberoruck auf der Seite des Lösungsmittels drückt ebenso stark wie I Mol. Wasserdampf. Da aber I Mol. Wasser des Überdrucks genau so viele Molekeln enthält wie 1 Mol. Wasserdampf, so sagt dies nichts anderes aus als die bekannte Tatsache, daß I Molekel Wasser — unter gleichen Bedingungen — denselben Druck wie 1 Molekel Wasserdampf ausübt. Das van't Hoffsche Gesetz ist eine unmittelbare Folge der vorgetragenen Anschauung. Es fragt sich nun, welche unmittelbaren Folgerungen man aus der neuen Vorstellung ziehen kann. Zunächst ist zu schließen , daß diese Gasmolekel eine Flüssigkeitsmolekel im gewöhnlichen Sinne ist, daß eine Lösung nicht ein Gemenge von flüssigen und festen Molekeln ist, sondern nur aus flüssi- gen Partikeln besteht. Die bisherige Vorstellung war in die- sem Punkte eine ganz unbestimmte. In der Lösung war von den Molekeln des festen Sloftes nichts zu merken, abgesehen etwa von der Färbung, die sich aber von der des ungelösten Stoffes häufig unterschied; aber die Molekeln sollten doch isoliert darin enthalten sein. Ferner gilt das van't Hoff- sche Gesetz nur dann, wenn sich 2 Molekeln H2O mit einer Kernmolekel verbinden. Sollte sich mit dieser nur I Kern- molekel verbinden, so tritt kein Überdruck auf der einen Seite der Membran, also auch kein osmotischer Druck auf. Verbindet sich dagegen eine Kernmolekel mit n Molekeln HjO, so fallen je (n — i) H.^Omolekeln aus; also muß ein osmotischer Druck von (n — i)facher Stärke auftreten. Dann kann das va n' t H o f fsche Gesetz auch nicht allgemein gelten. Und da dies auch nicht der Fall ist, indem es für, in Ionen zerspaltbare Salze abgeändert werden muß, so muß man diese Abänderung auf eine andere Anlagerung von H20molekeln zurückführen. Vor allem aber ist die Folgerung zu ziehen, daß der osmotische Druck nur so weit zur Wirkung kommt als Groß- molekeln gebildet werden und als der dadurch auf der Seite des Lösungsmittels hervorgerufene Überdruck nicht durch Diffusion ausgeglichen wird. Dann hängt die Bildung dieses Druckes von so viel Voraussetzungen ab, daß er nur in be- schränktem Maße zur Entstehung kommt. Es sind zunächst 2 Flüssigkeiten erforderlich, ein Lösungsmittel und die Lösung eines festen Stoffes in diesem Lösungsmittel. Die Lösung muß noch nicht aufgelöste Teile des festen Stoffes enthalten, da nur aus ihnen Großmolekeln gebildet werden können. Ferner müssen beide Flüssigkeiten durch eine Membran ge- trennt werden, deren Maschen weit genug sind, um beide Flüssigkeiten durchzulassen, aber auch hinreichend eng, um einen sofortigen Austausch unter dem Einflüsse der Gravitation zu verhindern. Dann muß schließlich die Anordnung getroffen sein, daß der Überdruck auch eine sichtbare Arbeit leisten kann. Diese Bedingungen können bei einem Versuche zusam- men ohne Schwierigkeiten eifüUt werden. Aber daß sie sich in der freien Natur leicht von selbst zu der Erscheinung zu- sammenfinden, ist nicht als sehr wahrscheinlich anzusehen. Es ist daher ein verfehltes Bestreben, überall anzutreffende Erscheinungen, wie die elektrischen, auf den osmotischen Druck zurückzuführen, da bei diesen in den seltensten Fällen die Gesamtheit der aufgestellten Bedingungen als erfüllt nach- gewiesen werden kann. Dagegen kann die Bildung von Groß- molekeln überall zutage treten, wo Lösungsmittel mit, in ihren auflösbaren Stoffen zusammentreffen. Man kann daher ver- suchen, auf deren Bildung die Quelle bestimmter elektrischer Energien zurückzuführen. Wieweit aber die vorgetragene Anschauung von der bis- her geltenden abweicht, mag der triumphierende Ausspruch Ostwalds in einer Versammlung der Ingenieure Deutsch- lands bezeugen, daß in einer Flasche mit konzentrierter Am- moniaklösung ein osmotischer Druck von vielen Atmosphären enthalten sei, wenn er auch nicht immer zur Geltung komme. Wie eine nüchterne Betrachtungsweise es für selbstverständlich hält, ist ein solcher Druck in der Flasche nicht vorhanden, weil die F"lasche mit Ammoniaklösung gar nicht die Wasser- menge enthält, die zur Bildung der Großmolekeln erforderlich ist, und weil außerdem die Membran fehlt, die das Lösungs- S92 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 3; mittel ohne Ammoniak von der konzentrierten Ammoniak- tlüssigkeit trennt. Man kann also jetzt eine Flasche mit Am- moniak wieder ohne Lebensgefahr in die Hand nehmen. Walte. Der Aufsatz von Dr. A. Stahl in Nr. 25 dieser Wochen- schrift, der die Einsteinsche Relativitätstheorie widerlegen will, enthält solche elementaren physikalischen Fehler, daß ich folgendes dazu bemerken möchte. Im Michelsonschen Versuch ist beobachtet worden , daß die Lichtgeschwindigkeit nach allen Richtungen der Erde gleich ist, also von dem Bewegungszustand der Erde nicht beeinflußt wird. L)ieses E,\periment bildet den Ausgangspunkt der Einsteinschen Relativitätstheorie. Stahl glaubt nun, das Experiment in sehr einfacher Weise dadurch erklären zu kön- nen, daß das lichtfortpflanzende Medium — nennen wir es den Äther — in bezug auf die Erde ruht. In der Tat wäre dies die einfachste Erklärung, und ganz sicher wäre sie auch von allen Physikern längst angenommen worden, wenn nicht sämtliche Tatsachen der Optik ihr widersprechen würden. Deshalb war man sich auch schon im Jahre 1883, als der Michelsonsche Versuch angestellt wurde, darüber klar, daß diese Erklärung unmöglich ist, also 22 Jahie eher, als Ein- stein durch seine Relativitätstheorie endlich die Lösung des Widerspruches gab. Z. B. hat die Aberration, eine dem Astronomen altbekannte Erscheinung, bewiesen, daß die Erde relativ zum Licht eine Bewegung ausführt. Auch der Fizeau- sche Versuch hat gelehrt, daß der Äther nur in ganz ver- schwindendem Maße von bewegten Körpern mitgerissen wird. Für eine gemeinverständliche Begründung dieser Zusammen- hänge möchte ich auf W. Bloch, Einführung in die Rela- tivitätstheorie, Teubner 1918, verweisen. Ein zweiter ebenso elementarer Fehler ist Stahls An- sicht, das Relativitätsprinzip müßte auch auf die Schallge- schwindigkeit angewandt werden dürfen. Im Gegenteil be- hauptet das Relativitätsprinzip ausdrücklich, daß nur für eine einzige Geschwindigkeit, eben die elektromagnetische Grund- geschwindigkeit, die unter anderem auch das Licht annimmt, die eigentümliche Konstanz gilt. Für die anderen Geschwindig- keiten gilt dann das Einsteinsche Additionstheorem, das quan- titativ von der früher benutzten direkten Addition nur wenig abweicht. Man sieht aus diesen Bemerkungen , daß eine Kritik der Relativitätstheorie nur möglich ist, wenn man sie genau kennt, und wenn man das gesamte Erfahrungsmaterial der Physik beherrscht. Es wäre doch ratsam, nicht, wie es jetzt so häu6g geschieht, mit den primitiven Mitteln des Laien eine Kritik der Relativitätstheorie zu versuchen. Man muß sich Ein- stein nicht gerade als einen Mann vorstellen, der vor lauter Spintisiererei einen ganz elementaren Schnitzer nicht bemerkt hat. Sondern man versuche einmal ganz bescheiden , seine eigenen Vorstellungen von Raum und Zeit zu kritisieren; und wenn man dann gemerkt hat, auf wie hohlen ^'üßen diese anspruchsvoll auftretenden Begriffe eigentlich stehen, dann gehe man zu Einstein und lerne von diesem liefen Denker den Weg, aus dem schwanken Boden der Vorstellungen den- noch zu objektiven Erkenntnissen zu kommen. Dr. Hans Reichenbach. Zu der Notiz ,, Neues vom Specht" auf S. 318, 1920, dieser Zeilschrift, scheint mir bemerkenswert, daß einige Wochen lang täglich mehrmals ein Specht — wahrscheinlich Großer Buntspecht — auf das Dach des Phyletischcn Museums, hier, flog, sich auf eins der beiden Türmchen und zwar an einen dort herablaufenden Draht setzte und mit vorgestreck- tem Kopf und Schnabel an der Eisenblechwand ,, trommelte". Die tjbereinslimmung zwischen dieser Beobachtung und der- jenigen Trützners besteht darin, daß in beiden Fällen der Vogel an Häusern klopfte, von deren Stein- oder Metall- dach er keine Nahrung gewärtigen konnte. Aber was veran- laßte den jüngst von Herrn Dr. O. Leege beobachteten und durch ihn auch mir bekannt gewordenen Specht zu seinen häufigen Besuchen des Daches, an dem er immer wieder ein ■ und dieselbe ganz bestimmte Stelle einnahm? Das erstemal muß er durch Zufall dort ,, probiert" haben, und von da an war sicher die Erinnerung an den ungeheuer lauten Ton, den das Trommeln dort verursachte, der unwidersteh- lich zum häufigen Wiederkommen verlockende Reiz, der also für den Vogel eine Annehmlichkeit darstellte, vermutlich weil derselbe Ton im na tür 1 i ch en Leben um so besseren Erfolg der Nahrungssuche verspricht, je lauter er i't. So kann beim Tiere das zu zwecklosen Handlungen veranlassen , was min beim Menschen ästhetisches Empfinden nennt. V. Franz, Jena. In dem Aufsatz ,,Der Gesang der Vögel und seine Dar- stellung in der Musik" (in Nr. 14 d. Jahrg.) ist auch von der Verwertung der Vogelstimmen durch R. Wagner in seinem , .Siegfried" die Rede. Dem darf ich vielleicht noch folgen- des hinzufügen: Als ich seinerzeit als erster in einer größeren Arbeit in den ,, Bayreuther Blättern" und später in meinem Buche ,, Kunst und Vogelgesang" auf die Entlehnung der Wald- vogelmotive im ,, Siegfried" aus der Natur hinwies, tat ich dies nicht ohne ein gewisses Zagen, da mir sichere Beweise für die Richtigkeit meiner Untersuchungen fehlten. Am besten hätte sie Wagner selbst bestätigen können, der aber damals schon lange tot war. Da fand ich später in AVagners hinlerlasse- nem Werke ,,Mein Leben" eine für mich hocherfreuliche Stelle; sie lautet: Meine täglichen Spaziergänge richtete ich an den heitern Sommernachmittagen nach dem stillen Sihltale, in dessen waldiger Umgebung ich viel und aufmerksam nach dem Gesänge der Waldvögel lauschte; . . . Was ich von jenen Weisen mit nach Hause brachte, legte ich in der Waldszene „Siegfrieds" in künstlicher Nachahmung nieder." Noch heute bin ich Wagner für diese Bestätigung meiner Ausführungen dankbar. Prof. Dr. B. Hoffmann. In Nr. 25 Jahrg. 1920 der Naturw. Wochenschr. wird für den medizinischen Blutegel, Hirudo medicinalis, als neuer Fundort in Deutschland z. B. der „Eisweiher" bei Enkheim unweit Frankfurt a. M. genannt. Zu diesem Fundort muß ich eine Anmerkung machen. Er heißt nicht ,, Eisweiher", sondern das ,,Enkheimer Riet" oder im Volksmund auch ,,der Stich", weil dort einmal Torf gestochen worden ist. Neu als Fund- ort für Hirudo medicinalis ist das Enkheimer Riet nicht. In den neunziger Jahren haben wir Jungens jedenfalls dort medi- zinische Blutegel gefangen. Ein alter Lehrer, der nun aller- dings tot ist, erzählte, daß Hirudo medicinalis im Enkheimer Riet schon in den fünfziger Jahren vorgekommen sei. Damals wohnte in Bergen ein Arzt Theobald, der häufig Blutegel an- setzte. Wenn er nun irgendwo Blutegel verschrieb, schickte er die Leute an das Enkheimer Riet, daß sie sich dort die Blutegel fingen. Wenn aber in den fünfziger Jahren Blutegel in dem Enkheimer Riet gefangen wurden, dann ist es sicher, daß sie schon viel früher dort vorgekommen sind. Das Enk- heimer Riet ist also nicht ein neuer, sondern ein alter Fundort für Hirudo medicinalis. A. Reuber. lullAlt: E. Scheu, Die Bedeutung der Schultuntersuchung für die Erklärung der Landformen. (6 Abb.) S. 577. M. Schips, Zur Stammesgeschichte der Blütenblätter. S. 582. — Einzelberichte: A. Merz, Temperaturmessungen der obersten Wasserschicht. S. 584. See, Theorie des Äthers. S. 5S5. J. Szinnyei, Die Herkunft der Ungarn. S. 586. Ernst Blumer, Geschichte des Erdöls. S. 586. — Bücherbesprechungen: Selcnka-Goldschmidt, Zoologisches Taschenbuch für Studierende. S. 5S7. K. Sapper, Natur und Lebensbedingungen in den tropischen und tropennahen Gebieten. S. 588. F. Nölke, Des Problem der Entwicklung unseres Planetensystems. S. 589. 1». Gerke, Botanisches Wörterbuch. S. 590. — Anregungen und Antworten: Einsteinsche Relativitätstheorie. S. 592. Neues vom Specht. S. 592. Der Gesang der Vögel und seine Darstellung in der Musik. S. 592. Medizinischer Blut- egel. S. 592. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InvalidenstraBe 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Päti'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ig. Band ; ii ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 19. September 1920. Nummer 38. Der derzeitige Stand der Vitaminfrage. [Nachdruck verboten.] Von Dr. E. P. Häußler. Vor bald drei Jahren habe ich hier ^) — als Fortsetzung zu einer früheren Abhandlung ^) — in kurzen Umrissen ein Bild von der Vitamin- frage und ihrer Bedeutung in der physiologischen Chemie und der Medizin entworfen und sodann eingehender die Röhmannsche Theorie über das Wesen der Vitamine wiedergegeben. Heute möchte ich diesen früheren Aufsatz fortsetzen, aber es ist notwendig, an jener Skizze manche Linie auszuwischen und vieles zu ergänzen, denn die letzten Jahre haben viel Neues auf diesem Gebiete gebracht. I. Der Inhalt der letzten Abhandlung ist kurz folgender: Die alte Theorie der fünf Stoffe, bzw. Stoffarten, die zur Ernährung notwendig sind — Wasser, Salze, Fette, Kohlenhydrate und Eiweißstoffe — , hat im Laufe der Zeit eine An- zahl von Beobachtungen, die neuere Fütterungs- versuche ergaben, nicht restlos erklären können. Bei Ernährung mit chemisch reinen, bzw. isolier- ten Stoffen (wie Kasein, Stärke usw.) einerseits, wie auch mit verschiedenen, meist besonders prä- parierten (geschliffenen, entschälten) Körnerfrüchten andererseits, traten bei den Versuchstieren Ge- sundheitsstörungen auf, die bei Fortsetzung der Versuche — trotzdem die verfütterten Stoffe in genügender Menge vorhanden waren — unter Gewichtsverlust und eigentümlichen patho- logischen Erscheinungen zum Tode führten. Bei einigen dieser letzteren Symptome wurde eine auffallende Übereinstimmung festgestellt mit den- jenigen einiger bis dahin noch verschieden er- klärter Krankheiten der Menschen, wie dem schon im Mittelalter bekannten Skorbut, der Pellagra, dem Beriberi und dem M öller- Barlo wschen Kinderskorbut. Eine verheißungsvolle Richtlinie zur Erforschung und zur Erklärung dieser Er- scheinungen schien gegeben, als es Eijkman gelang zu zeigen, daß der Beri-beri auch an Tieren, und zwar an Hühnern erhalten werden konnte, wenn man diese statt ausschließlich mit unpoliertem, mit poliertem, d. i. von der Kleie befreitem Reise fütterte. Diese Beobachtung stand in befriedigen- der Übereinstimmung mit der Tatsache, daß der Beri-beri der Menschen bei Ernährung mit Voll- reis oder mit poliertem oder geschliffenem Reis ') „Über Vitamine, Ergänzungsstoffe, Amidosäuren, Ei- weißkörper und einige Stoffwechselkrankheiten". (Naturw. Wochenschr. 32 (N. F. I6), 1917, S. 497. ') „Über Amine, Amidosäuren und Eiweißkörper, Alka- loide und Hormone, Proteinogene Amine und Toxine". Naturw. Woclicnschr. 31 (N. F. 15), 1916, S. 560, plus anderen Nahrungsmitteln zum Schwinden gebracht werden kann, und das gleiche konnte auch konstatiert werden bei Anwendung dieser Beobachtung auf die erkrankten Hühner. Diese in der Reiskleie vorhandenen Stoffe, die die Krank- heit zum Verschwinden bringen müssen, wurden von Casimir Funk als Vitamine bezeichnet und damit dem ganzen großen Gebiete dieser Probleme und Forschungen der Name gegeben. Einem Fehlen dieser Vitamine in der jeweiligen Nahrung wurden dann auch die anderen Stoff- wechselkrankheiten, wie z. B. Skorbut und Pel- lagra zugeschrieben. Nachdem es weder Funk noch den in ähnlicher Richtung vorgehenden Forschern gelungen war, die. chemische Natur der Vitamine aufzuklären, hat dann Röhmann die früher besprochene Theorie aufgestellt.^) Sie ist kurz folgende : Es genügt nicht, daß die Nahrung das Mini- mum an Eiweißstoffen enthalte, damit sie aus- reichend sei, „muß sie vollständige Eiweiß- stoffe enthalten ; enthält sie unvollständige Eiweiß- stoffe, so kann dieser Mangel ausgeglichen werden durch die Zufuhr der entsprechenden Ergänzungs- stoffe".'') Vollständige Eiweißstoffe sind solche, die bei der Hydrolyse, dem Abbau, in vitro oder im Ver- dauungstraktus sämtliche Aminosäuren oder doch diejenigen liefern, die der Körper nicht selbst synthetisch zu bilden vermag. Unvollständige Proteine hingegen — im Gegensatz zu den voll- ständigen, wie dem Ovalbumin des Eies, dem Myosin des Muskels u. a. — sind z. B. die Ei- weißstoffe des Klebers, die Gliadine und Glutenine, die sich in den Getreidemehlen vorfinden. Es fehlen diesen in größerem oder kleinerem Betrage verschiedene Aminosäuren, wie z. B. das Lysin, das Histidin und das Tryptophan. Zusatz der- selben zu einer „unvollständigen" Nahrung behebt die Krankheitserscheinungen der Versuchstiere und ihre Gewichtsabnahme (Versuche von Os- borne und Mendel). Daraus folgert Röh- mann, daß die Vitamine Funks als ergänzende Aminosäuren anzusprechen seien. Diese Theorie hat denn auch viele Beobach- tungen ungezwungen zu deuten erlaubt, aber nicht alle, so sei nur erwähnt, daß das Kasein — doch ein vollwertiger Eiweißstoff — mit Kohlehydraten, Fetten und Salzen verfüttert, ebenfalls nicht ge- '1 „Die Chemie der Cerealien in Beziehung zur Physio- logie und Pathologie" von Prof. Dr. F. Köhmann, Verlag V. Ferdinand Enke, Stuttgart 19 16. ■') Rohmann, loc. rit., .S. 471. 594 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 38 nügt, ferner daß eine vollwertige Nahrung durch längeres Erhitzen auf 120" ebenfalls zu einer un- vollständigen degradiert werden kann. II. Es war nun zu erwarten, daß die weiteren Versuche auf diesem umfangreichen Gebiete, die in verschiedenen Ländern und nach verschiedenen Richtungen unternommen wurden, zeigten, wie- viel an der Röh mann sehen Theorie richtig ist. Um es aber gleich vorwegzunehmen, diese Ver- suche haben ergeben, daß sich — wenigstens für die nächste Zeit — sehr wahrscheinlich die bei der „unvollkommenen" Ernährung gemachten Be- obachtungen gar nicht nach einem Schema er- klären lassen. Das hängt einesteils schon damit zusammen, daß sich ja das ganze Problem auf verschiedene Gebiete erstreckt, auf die reine Chemie, auf die Physiologie, auf die Pathologie, wenn nicht aucli noch auf psychologische Mo- mente und physikalische zu berücksichtigen sind, zum anderen aber sind doch manche Versuchs- reihen mit verhältnismäßig wenig Tieren aus- geführt worden, vielleicht auch ohne die erforder- liche Berücksichtigung des Gesundheitszustandes und der normalen Lebensbedingungen derselben. Es scheint auch, daß mitunter etwas zu rasch Vergleiche gezogen wurden zwischen den Krank- heitsbefunden der Versuchstiere und den eingangs erwähnten Stoffwechselkrankheiten der Menschen. Schließlich wäre hier noch zu bemerken, daß recht häufig die Versuche unter den verschiedensten Gesichtspunkten ausgeführt worden sind, wodurch infolge Mangels eines einheitlichen Arbeitsplanes die bis jetzt gemachten Beobachtungen sich oft nur schwer miteinander vergleichen lassen. Die ganze Vitaminfrage ist also noch im Flusse, erst aufgerollt, und viele Experimente haben statt einer Antwort zehn neue Fragen gebracht. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, dürfte es angezeigt sein, über den gegenwärtigen Stand derselben einen kürzeren Überblick zu geben. Zu den Forschern, die über die Ergeb- nisse ihrer einschlägigen Untersuchungen in den Fachzeitschriften berichten, gehört seit einigen Jahren auch der bekannte Mediziner und Chemiker Prof. Emil Abderhalden in Halle. Er hat in der ersten seiner Publikationen ') eine überaus wertvolle und klare Übersicht über diese Probleme gegeben und vor allem auch die Resultate der unter den verschiedensten Gesichtspunkten an- gestellten Versuche, die bis jetzt publiziert worden sind, gegeneinander abgewertet. Im nachfolgen- den soll hauptsäciilich auf Grund dieser und der nachfolgenden Abhandlungen Abderhaldens, dann aber auch, unter Berücksichtigung einiger neuerer Publikationen anderer, über die wich- tigsten Tatsachen dieses ganzen Komplexes der ') „Beitrag zur Kenntnis von organischen Nahrungsstoffen mit spezifischer Wirkung" von E. Abderhalden und H. Schaumann. Pflügers Archiv für die ges. Physiologie der Menschen und Tiere 172, S. 1-274, 1918. Probleme der Vitaminfrage und der unvollständigen Ernährung berichtet werden. III. Aus den klinischen Erscheinungen, sowie der Ätiologie des Beri-beri der Menschen und den vorteilhaften therapeutischen Wirkungen bei Zu- gabe von Hefe, Fleisch, Bohnen usw. zum geschliffenen Reise, aus den Symptomen der Polyneuritis gallinarum, d. h. der Krankheit, die durch längere ausschließliche Fütterung mit geschliffenem Reise bei Hühnern bewirkt wird (Eijkmann)*) und aus der Anlogie dieser Krankheit mit dem Beri- beri; anderseits aus den pharmakologischen Wirkungen verschiedener Präparate aus Reis- kleie (alkoholische Extrakte, Hydrolysenprodukte alkoholischer Extrakte usw.; des Vitamin P'unks) hat man, nach Ab d erhalten, zum ersten nur folgende Schlüsse zu ziehen: ,,1. daß aus Reiskleie, Hefe und noch einigen anderen natürlich vorkommenden Stoffen pflanz- lichen und tierischen Ursprungs Substanzen ge- wonnen worden sind, welche die im Gefolge der alimentären Dystrophie (Polyritis bei Tieren) auf- tretenden, nervösen Störungen (Paralysen und Paresen der Beine und Flügel, Opisthotonus, Konvulsionen) in der Regel schnell und schon bei Verwendung sehr kleiner Gaben zu beseitigen vermögen. Dagegen bleiben alle anderen im Ge- folge der alimentären Dystrophie auftretenden Ausfallerscheinungen trotz Zufuhr der genannten Substanzen („Vitamine") im wesentlichen bestehen; 2. daß die Zufuhr dieser Substanzen (,, Vitamine") in mäßigem Umfange den Stoffwechsel anregt. Diese Anregung ist aber nur eine recht beschränkte und einseitige. Sie ist keineswegs sowohl quali- tativ wie quantitativ mit derjenigen zu vergleichen, welche die Ausgangsmaterialien (Reiskleie, Hefe usw.) auszuüben vermögen, aus denen die „anti- neuritisch" wirkenden Substanzen („Vitamine") dar- gestellt worden sind." Von weittragender Bedeutung für die Forschung auf dem Gebiete .waren dann die schon früher er- wähnten Beobachtungen von Axel Holst und Fröhlich. Diese konnten durch ähnliche Fütte- rungsversuche an Tauben Symptome erhalten, die zwar der Polyneuritis gallinarum (der Hühner) in vielen Punkten glichen, in manchen aber wieder davon abwichen und gar bei Meerschweinchen zu einem ganz anderen Krankheitsbild führten, das sehr viel Ähnlichkeit zeigte mit dem Kinder- skorbut, der Möller-Barlo wschen Krankheit. Diese Versuche sind von Schaumann sowohl mit Meerschweinchen, wie mit Hunden, Katzen, Kaninchen usw. weitergeführt worden und konnten die Befunde von Holst und Fröhlich erweitern, ergänzen und bestätigen. Auf Grund dieser Tat- sachen und eigener Versuche (an Ratten) folgern ') „Über Vitamine, Ergänzungstoffe, Amidosäuren, Ei- weißkörper und einige Stoffwechselkrankheiten". (Naturw. Wochenschr. 32 (N. V. :6), 1917, S. 497. N. F. XIX. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 59S dann Abderhalden und Schaumann weiter, „daß ein- und dasselbe Nahrungsmittel für eine bestimmte Tierart suffizient, für eine andere Tierart insuffizient sein kann", und daß „ein- und dasselbe insuffiziente Nahrungsmittel bei verschiedenen Tierarten ganz verschiedene Ausfallserscheinungen und Krankheitsbilder hervorrufen kann," ferner, „daß die Insuffizienz von Nahrungsmitteln be- gründeterweise nicht auf das Fehlen eines einzigen („Vitamins") zurückgeführt werden kann, sondern daß hierbei eine Mehrzahl derartiger Stoffe in Frage kommen, deren chemische und physiologische Eigenschaften recht verschiedenartig sein könne." Diese Folgerungen sind das Ergebnis der Kritik und der Gegeneinanderwertung der zahl- reichen und wie eingangs bemerkt, unter den verschiedensten Gesichtspunkten angestellten Ver- suche auf diesem ausgedehnten Arbeitsfelde. Sie zeigen, wie notwendig es war, die bei den ver- schiedenen Versuchstieren beobachteten patholo- gischen Veränderungen und klinischen Erschei- nungen mit in Rechnung zu ziehen, und wie weit man noch von einer eindeutigen Erklärung dieser Probleme entfernt ist. Der Versuch Röhmanns, die „Ergänzungs- stoffe" mit bestimmten Amidosäuren zu identifi- zieren, kann nach Abderhalden nicht das Wesen der „Vitamine" erklären. Wohl gibt es unentbehrliche Amidosäuren, wie z. B. Tryptophan, Tyrosin, Phenylalanin, Histidin, die der tierische Organismus nicht aufbauen kann, doch haben sowohl die experimentellen Versuche von Abder- halden, wie von Boruttau') bewiesen, daß die Zugabe derselben zu den Nahrungsgemischen „keinen Einfluß auf den gewöhnlichen Verlauf der alimentären Dystrophie auszuüben vermag". Berücksichtigt man in erster Linie die Wachs- tumshemmung, bzw. Wachstumsförderung (also nicht die nervösen Erscheinungen), so hat man nach IVIc. Collum und seinen Mitarbeitern 2 wachstum- fördernde Klassen von Substanzen („accessory factors ofgrowth andequilibrium") zu unterscheiden und zwar a) wasserlösliche und b) fettlösliche. Was die Wasser und auch alkohollöslichen — Faktoren betrifft, so sei z. B. auf folgende Versuche verwiesen. Drummond konnte aus Milchzucker durch wiederholtes Auflösen in Wasser und Fällen mit Alkohol die wachstumfördernde Substanz ent- fernen (der rohe Milchzucker wird durch diese Reinigung stickstoffrei), ferner: Weizenkeimlinge, ebenso auch Brot, ließen sich durch Extraktion mit Alkohol in ein insuffizientes Nahrungsmittel verwandeln. In bezug auf den fettlöslichen Faktor ist zu bemerken, daß z. B. Olivenöl, Baumwoll- samenöl usw. insuffizient sind gegenüber Butterfett oder den Ätherextrakten getrockneter Testikel und Nieren, daß aber durch Verseifen von Butter und Ausschütteln der Seifenlösung mit Olivenöl der fettlösliche Faktor in dieses übergeht. So wurden nun aus verschiedenen Drüsen Biochemische Zeilschr. 82, S. 96, 1917. Substanzen, z. T. lipoidartiger Natur extrahiert, die wohl teilweise das Wachstum förderten, die daneben aber auch ganz spezifische Wirkungen (je nach dem verarbeiteten Organ) ausübten. Es scheint nun, daß man in diesen Fällen statt der gesuchten hypothetischen Vitamine Hormone, ') wenn auch nicht in reinem Zustande, erhalten hat, und es mag dies als eine Begründung des eingangs gestellten Postulates angesehen werden, daß nämlich nur bei voller Berücksichtigung aller klinischen, pathologischen und ' anatomischen Befunde und eingehender Kritik der chemischen Isolierungs- methoden die Gefahr vermieden werden kann, das eigentliche Ziel aus den Augen zu verlieren. Das Verschwinden lediglich einiger Sym- ptome der alimentären Dystrophie darf noch nicht als Beweis dafür angesehen werden, daß nun diese oder jene isolierten Stoffe die gesuchten Vitamine seien, sondern es muß auch Gewichtszunahme eintreten, die Freßlust muß wieder zunehmen und vieles andere mehr. Berücksichtigt man aber alle diese Forderungen, so zeigt es sich, daß die natürlich vorkommenden Stoffe bis jetzt immer noch die aus denselben künstlich dargestellten Substanzen an Wirksamkeit weit übertreffen. — In erster Linie ist hier, und zwar sowohl für Vögel wie für Säugetiere (carnivore wie herbi- vore) als Ergänzung für ungenügende Nahrung, also als besonders „vitaminhaltig", die Hefe zu nennen, dann folgen die Reiskleie und die Kleie von Gerste, Roggen, Hafer und Weizen, ferner eine in Ostasieri heimische und schon seit längerer Zeit gegen Beri-beri gebrauchte Bohnenart (Phase- olus radiatus), in etwas schwächerem Maße auch die gewöhnlichen Bohnen und die Linsen, von animalischen Nahrungsmitteln außer Fleisch ver- schiedene Drüsen, Eidotter, Butterfett usw. So- bald man jedoch daran geht, aus diesen Stoffen Substanzen mehr oder weniger bekannter chemi- scher Konstitution zu isolieren, so gelangt man zu nicht mehr vollwertigen Ersatzmitteln. Das gilt z. B. für die Nukleinsäure aus der Hefe, die bei wiederholter Anwendung ihre Witkung ver- liert, und noch mehr für die einzelnen Abbau- produkte der Nukleinsäuren, Purin und Pyrimidin- basen, und — in einiger chemischer Analogie zu diesen — für Chinin, Cinchonin, Derivate der Nikotinsäure und des Pyridins, die alle nur noch gewisse nervöse Erscheinungen, nicht aber Ab- magerung und Tod des Versuchstieres zu ver- hindern vermögen. Ebenso verhält es sich mit den Extrakten aus jenen Ergänzungsnährstoffen, mögen sie nun durch alkoholische oder salzsaure Extraktion oder durch Abbau mit Pepsinsalzsäure erhalten worden sein. „Kein einziges dieser Prä- parate kann es an Stärke und Vielseitigkeit der Wirkung mit den Muttersubstanzen (Hefe, Reis- kleie usw.) aufnehmen."^) Die im Gefolge der ') „Über Amine, Amidosäuren und Eiweißkörper, Alka- loide und Hormone, Proteinogene Amine und Toxine". Naturw. Wochenschr. 31 (N. F. 15), 1916, S. 560. 'j Abderhalden, loc. cit., S. 44. 596 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr 38 alimentären Dystrophie auftretenden Störungen und Ausfallserscheinungen können also auch durch eine Reihe organischer, chemisch mehr oder weniger genau definierter Basen behoben werden und Abderhalden hat nun diese Basen „Eu- tonine" genannt, zum Unterschied derjenigen Nahrungsstoffe oder -bestandteile, bei deren Ver- fütterung überhaupt keine Erkrankung, kein Ge- wichtsverlust usw. auftritt. Diese Stoffe nennt Abderhalden „Nu tramine". Bei den vielen Fiitterungsversuchen, die nun angestellt worden sind, hat es sich herausgestellt, daß die Eutonine niemals die Nutramine zu er- setzen vermögen. Also eine insuffiziente Nahrung (z. B. ge- schliffener Reis) wird durch Zusatz eines Eutonins noch nicht vollwertig, es verschwinden wohl ver- schiedene klinische Erscheinungen, aber die Ab- magerung geht weiter, selbst wenn zu dem Futter noch Hefeasche oder sogar Rinderblut- körperchen gegeben werden, und das gleiche gilt auch für den Zusatz von Amidosäuren. Daraus geht aber auch hervor, daß die mineralischen Be- standteile der Hefe nicht der Grund ihrer Voll- wertigkeit sein können. (Auch wird die Amido- säurentheorie Rhömanns widerlegt.) Ein aus Hefe durch Behandlung mit Natronlauge und nachheriger Neutralisation gewonnenes Präparat (A) war nicht imstande, bei Verfülterung mit geschliffenem Reise die Gewichtsabnahme zu be- heben, wohl aber war dies der Fall, wenn gleich- zeitig noch ein Hefeeutonin zugegeben wurde. Daraus folgt also, daß in der Hefe lebens- wichtige Stoffe enthalten sind, von denen die einen gegen Alkalien beständig, gegen Säuren aber unbeständig sind = Hefenpräparat A (zu diesen würden dann wohl auch die anderen „fett- löslichen Vitamine" der englischen und amerikani- schen Forscher zu rechnen sein), die anderen aber von Alkalien, nicht aber von Säuren zerstört werden. Diese sind die Eutonine, die durch Säurehydrolyse und fraktionierte Fällung der Hydrolysenflüssigkeit mit Alkohol und Azeton er- halten werden. Diesen würden also die früheren „Wasser- und alkohollöslichen Vitamine" ent- sprechen. Es sind nun von Abderhalden und seinen Mitarbeitern eine große' Zahl solcher Eutonine dargestellt worden, bei Fütterungsversuchen er- gaben sie aber immer so ziemlich dieselben Re- sultate, wie sie das obige Beispiel zeigte. „Es handelt sich also offenbar um mehrere Ver- bindungen mit verschiedener Wirkung, die zusammen einen vollwertigen Einfluß aus- üben." ^) Von diesen Verbindungen kann man bis jetzt nur so viel sagen, daß sie erstens or- ganischer Natur sind und sich in den Nahtungs- mittein meistens direkt oder indirekt mit Phos- phorsäure kombiniert vorfinden.-) Diese Ver- M loc. eil., S. 149. ■') Der Phosphor, bzw. die I'hosphorsäure Hsl'«!») findet bindungen, also die „Vitamine" im weitesten Sinne, sind labiler Natur. Isolation aus ihren Mutterkörpern, den Nutraminen, schädigt sie, und zwar, je nach der chemischen Methode der Iso- lierung, nach irgendeiner Richtung hin; nur diese oder jene klinischen Erscheinungen können dann mit dem betreffenden Produkt zum Verschwinden gebracht werden. Diese Labilisierung der Vita- mine — ich möchte nun für hier doch bei diesem Namen bleiben — durch Loslösung von ihrer Muttersubslanz hat, worauf ich hier hinweisen möchte, ein gewisses Analogon in dem Verhalten der Fermente.^) Diese werden bei ihrer Rein- darstellung wohl hochwertiger (innerhalb gewisser Grenzen) aber auch bedeutend unbeständiger.^) Durch das Abtrennen von Begleitstoffen minerali- scher wie organischer Natur (und darin besteht ja doch der Reinigungsprozeß) werden ihnen eine Reihe von Schutzstoffen, Schutzkolloiden, Puffern (= Salzen, die die Einstellung auf die optimale Wasserstoftionenkonzentration bewerkstelligen) und Aktivatoren weggenommen. Da die Nutramine erfahrungsgemäß schon in sehr kleinen Dosen wirken, so können sie keine Energieträger sein. Wie aber ist dann ihre Wir- kung zu erklären.? Vor allem muß man annehmen, daß ein Kom- plex von Wirkungen vorliegt. Das geht auch daraus hervor, daß die Ausfallserscheinungen nicht einheitlicher Natur sind. Die Frage, ob man sie als wichtige Zellbausteine ansehen darf, muß noch unbeantwortet bleiben, hingegen muß aus allen bisher gemachten Beobachtungen geschlossen werden, daß „nicht eine einzelne Verbindung als Träger bisher unbekannter Wirkungen in P'rage kommt, sondern eine Mehrzahl von solchen"."') Die, übrigens nicht nur therapeutischen, son- dern auch prophylaktischen Wirkungen können nun auch abgeschwächt werden oder ganz ver- loren gehen außer durch speziell chemische Ein- griffe auch durch Manipulationen, wie sie bei der Zubereitung und der Konservierung der Nahrungs- sich den organischen Stoffen des Tier- und Pflanzenreiches, wenn man von den Phoshporglobulinen (Kasein, Vitellin im Ei) und dem Phylin (Inositphosphorsäure, ausschließlich in den Pflanzen) absieht, eigentlich nur in den Phosphatiden und den Nucleinen. Ersteren , von denen das Lezithin der be- kannteste Vertreter ist, kommt folgende Struktur zu : Fett— Phosphorsäure — stickstofThaltige Base letzteren die Zusammensetzung: Eiweiß — Nucleinsäure und den Nucleinsäuren : Phosphorsäure— Zucker — stickstoffhaltige Pase I Phosphorsäure — Zucker — stickstoffhaltige Base •/ -NB. ^) Vgl. auch ,,L'ber den Begrifl" der Reinheit des Enzymen, ihre Benennung und die Wege, ihre chemische Struktur zu ermitteln" von E. P. Iläußler. .\aturw. Wochenschr. 33, S. 145 (1918). *) Wiewohl ich hier ausdrücklich darauf hinweisen möchte, daß bis jetzt die Vitamine nicht mit den Fermenten identifi- ziert werden 'dürfen. '>) Abderhalden, loc. cit., .S. 152. N. F. XIX. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 597 mittel üblich sind. Z. B. beim Trocknen (Um- wandlung von Gras in Heu), beim Pökeln oder namentlich beim Erhitzen auf höhere Tempera- turen (120")') (Skorbut bei ausschließlichem Ge- nuß von Schiffszwieback und Pökelfleisch!). Ge- rade diesen Tatsachen muß in der Lebensmittel- industrie zukünftig besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, wie auch bei der Beurteilung der Nahrungsmittel hinsichtlich ihres „biologischen Wertes" nicht mehr, wie bis anhin, nur auf die Prozente StickstofT, Kohlehydrate usw. abgestellt werden darf. IV. Muß man also einerseits die Frage nach der chemischen Natur der Vitamine noch unbeant- wortet lassen — wobei man immerhin denken könnte, sie seien Kompenten der Phosphatide und Nucleine — , so kann man doch andererseits Ver- mutungen anstellen über ihre Rolle im Stoffwechsel- prozeß. Ich will hier nur '-) diejenigen von Abderhalden anführen. Die eine wäre mal die: Der ganze Verdauungstraktus plus Drüsen ist auf eine bestimmte Art von Nahrung ein- gestellt, also eine Anpassung, die sich im Laufe von Generationen herausgebildet hat; es besteht eine Art Symbiose zwischen dem Verdauungs- traktus des Tieres und den Stoffen seiner Nahrung. Wenn nun anderes Futter gereicht wird, so kommt es zu Störungen. Nach Abderhalden sind niedere Tiere, wie z. B. die Insekten auf ein eng begrenztes Gebiet von Nahrungsmitteln ange- wiesen (Raupen auf Blätter von bestimmten Pflanzen). Bei den höheren Tieren fallen diese engen Grenzen weg, aber trotzdem findet noch eine Bevorzugung von besonderen Nahrungsstoffen statt. Bedenkt man nun, daß die am Nahrungs- geschäft beteiligten Drüsen ihre Sekrete (innere = Hormone und äußere = z. B. Pankreassaft, Galle usw.) nur auf bestimmte Reize hin abgeben, daß diese Sekrete aber unbedingt notwendig sind zur Umwandlung und Aufnahme (Assimilation) der Nahrung, so ist es klar, daß, wenn diese Reize fehlen, ein Tier trotz reichlicher aber insuffizienter ') Auch das Verhalten der Vitamine gegen höhere Tem- peraturen ist noch keineswegs genügend erforscht. So hatten z. B. Steenbock und Beutwell nach einer neueren Ab- handlung (Journal of the Biological Chemistry 41, S- 163 (1920)) aus Pflanzen fettlösliche Vitamine erhalten, die sie als „verhältnismäßig beständig" (comparativly stable) bei höheren Temparaturcn bezeichnen. Andererseits fanden Por- tier und Randoin (Comptes rendus de la societe de biologi- que 82, S. 990 (19191), dafi beim Erhitzen von Kleie und Kohl im Autoklaven die inneren Partien bei weitem nicht auf so hohe Temperaturen gebracht wurden, wie die äußeren. -) Nach den Versuchen von Bottomley und F. Mockeridge beziehen die Tiere ihre Vitamine von den Pflanzen, aber auch diese vermögen selbst keine Vitamine zu bilden, sondern sind auf die Bakterien angewiesen. Von diesen wiederum sollen nur die ,, abbauenden Slicksloffbakterien*' als Erzeuger der pllanzlichen Vitamine (=AuNimone) in Betracht kommen (vgl. K. Schweizer. Chemiker-Zeitung 1, S. 420 (1919). Nahrung unter Abmagerung zugrunde geht. Eben diese Reize könnten nun durch die Nutramine, bzw. deren Ab- und Umbauprodukte geliefert werden. Zur Befürwortung dieser Hypothese möge erwähnt werden, daß z. B. bei Tauben, die ausschließlich mit geschliffenem Reise gefüttert worden waren, bei der Sektion die Reiskörner ohne verkennbare Veränderung im Kröpfe lagen und auch weder Darm noch Magen Anzeichen von Sekretion aufwiesen. Des ferneren sei an die Versuche von Tomaszewski') und anderen über die sekretionsfördernden Wirkungen von Fleischextrakt und anderen Nahrungsmitteln hin- gewiesen. Eine weitere Möglichkeit wäre die: die Nutramine (oder ihre Abbauprodukte) spielen eine bestimmte Rolle im Zwischenstoffwechsel der Zellen, vielleicht ähnlich wie gewisse aus der Hefe isolierte Stoffe die Gährung beschleunigen, und zum dritten könnte man folgende Annahme machen. Nach den derzeitigen Ansichten über die innere Sekretion von Organen beeinflussen deren innere Sekrete (= Inkrete) die Funktion von anderen Organen in weitgehendstem Maße, und zwar mittels der in den Inkreten vorhandenen Hormone. '-) Zur Bildung dieser letzteren sind nun die Zellen, so wäre anzunehmen, auf be- stimmte in den Nutraminen enthaltenen Stoffe angewiesen. Fehlen diese, so können die Hor- mone nicht mehr gebildet werden, andere von diesen beeinflußte Organe können ihre Funktion nicht mehr voll ausüben und es treten Störungen auf. (So ließen sich vielleicht auch manche der nervösen Erscheinungen erklären.)'') Diese hier ausgeführten Möglichkeiten über die Rolle der Vitamine bzw. Nutramine sollen aber, nach Abderhalden, nur als „Arbeits- hypothesen" gelten. Wie aus dem Geschilderten hervorgeht, erfordert die „Vitaminfrage" noch ein weiteres großes Tatsachenmaterial, noch viele Arbeit und — viele Versuchstiere, bis sie spruch- reif ist. ') Pflügers Archiv 171, S. i (1918). '-) z. B. analog der gegenseitigen Beeinflussung von Schild- drüse und Nebennieren. ') Ich möchte hier nochmals auf die Amidosäurentheorie zurückkommen. Sehr wahrscheinlich kann der tierische Kör- per z. B. das Tyrosin HO' ■ CH, — CHNH., — COOH nicht selbst bilden, fehlt dieses in der (insuffizienten) Nahrung, so kann er kein vollwertiges arteigenes Eiweiß bilden. Es könnte nun aber auch sein, daß der tierische Körper auch noch Tyrosin braucht, um daraus Adrenalin H — O ■\_/" ■ CH(OH) — CHaNH-CHj zu bilden (vgl. hierzu Rosenround und Dornsaft: Ber. d. deutsch. Chem. Gesellschaft 53, S. 317 (1920)). 598 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 38 Die Entstehung der bodenstündigen Braiinkohlenflöze. Eine Würdigung des gegenwärtigen Standes der Forschung. Von Wilhelm Nuß, Studienrat am Realgymnasium in Senftenberg (Niederlausitz). [Nachdruck verboten.] Der Kampf der Meinungen über viele Fragen, die unsere Braunkohlenlagerstätten betreffen, dauert bereits viel zu lange, als es im Interesse der end- gültigen wissenschaftlichen Klärung dienlich ist. In diesem Widerstreit sind fast alle Beteiligten der Ansicht, als ob man mit dem Ausdruck „autochthon" oder „allochthon" die wissenschaft- liche Seite des Kohlenproblems entscheiden könne. Mehr als allzulange ertönt bis zum heutigen Tage der Ruf: „Hie Autochthonie, hie Allochthonie 1" In neuerer Zeit hat allerdings die Mehrzahl die Partei der Autochthonisten ergriffen. Aber auch hier steht Meinung gegen Meinung. Da sind jene, die sich damit vollkommen beruhigten, daß der Nachweis des Tropencharakters der Steinkohlenpfianzen, des subtropischen und mediterranen der Braunkohlen- pflanzen gelang. Der vermeintliche üppige Pflanzen- wuchs sollte die Tatsache erklären, daß uns die tote Pflanzensubstanz in so ungeheurer Menge in den Flözen erhalten geblieben ist. Da sind schließ- lich jene, die allerdings auf den ersten Blick eine sehr einleuchtende Losung als Arbeitshypothese erklärt haben, nämlich die ,,daß der einzig sichere Weg, der zu einer Erforschung der geologischen Ereignisse der Vergangenheit führen kann, nur der sei, daß man die geologischen Vorgänge der Gegenwart studiere". Hierbei kann aber eins leicht übersehen werden, daß nämlich der end- gültige Vergleich der geologischen Vorgänge von Gegenwart und Vergangenheit nicht so einfach ist, daß mancher Vergleich schon von vornherein bedenklich hinkt und deshalb zu falschen Folge- rungen führen muß. Ich meine jene, die durch unpassende Vergleiche mit rezenten Mooren, so manches schiefe, ja selbst vollständig falsche Bild der Flözanhäufung entworfen haben. Dazu kommt, daß eine ganze Reihe von Momenten beim Ab- wägen des Für und Wider in die Wagschale ge- worfen wurde, die nicht hineingehören. Gedanken über Klimaschwankungen, Entartung der F'lora und ähnliches mehr. Es hat auch nicht an Stim- men gefehlt, die eine Versöhnung von Auto- chthonisten und Allochthonisten in dem Sinne an- strebten, daß sie bei ein und demselben Flöz beide Entstehungsarten annahmen (natürlich ent- sprechend den einzelnen Horizonten). Die älteren Theorien über die Entstehung der Braunkohle und Steinkohle gefielen sich allzu sehr darin, immer wieder zu betonen, daß zur Braun- kohlen- und Steinkohlenzeit eine gewaltige Pro- duktion von Pflanzenmaterial stattfand. Man redete zu gern von dem üppigen Pflanzenwuchs jener Perioden der Erdgeschichte und spürte den Ur- sachen nach, die ihn veranlaßt haben könnten. Man beruhigte sich vor allen Dingen damit, daß der Nachweis des Tropencharakters der Stein- kohlenpflanzen gelang und daß sich selbst für die kältesten Abschnitte des Tertiärs immer noch ein feuchtes, warmes, im allgemeinen frostfreies Klima aus den Pflanzenfunden ergab. Entsprechend der weitausgedehnten Verbreitung der Steinkohlenflöze bis zum höchsten Norden, man denke an die Vorkommen der Bäreninsel und auf Spitzbergen, nahm man für bedenklich große Erdgebiete ein Tropenklima an, das man durch einen Ausnahme- zustand der Lufthülle, nämlich durch einen höheren Kohlensäure- oder Wasserdampfgehalt zu erklären versuchte. Man vergaß dabei ganz, daß hierin nicht der Kernpunkt der Frage lag. Erst in neuerer Zeit wies man nachdrücklich darauf hin, daß es mit der Produktion gewaltiger Pflanzen- massen allein nicht gemacht sei. Bei näherer Überlegung ist es auch ein unwahrscheinlicher Ge- danke, daß nur in zwei Perioden der Erdgeschichte eine Massenproduktion von Pflanzensubstanz er- folgt sei. \A^ir können die Braunkohlen- und Steinkohlenzeit nicht als Perioden charakterisieren, die durch ihren üppigen Pflanzenwuchs ausge- zeichnet waren, wir können vielmehr nur be- haupten, daß es Zeiten waren, aus denen uns eine große Menge tote, allerdings bis zum heutigen Tage sehr weitgehend veränderte, Pflanzensub- stanz erhalten geblieben ist. Aus dieser Tatsache folgt natürlich nicht das geringste über die weniger große Üppigkeit des Pflanzenwuchses in anderen geologischen Epochen. Die ganze Frage läuft vielmehr darauf hinaus, zu erklären, wie es mög- lich war, daß in gewissen Perioden der Erdge- schichte die tote Pflanzensubstanz vor Verwesung und Vermoderung geschützt wurde und durch einen Vertorfungsprozeß erhalten blieb. Die An- nahme, daß in früheren Perioden der Erd- geschichte die Verwesungs- und Vermoderungs- vorgänge der Pflanzensubstanz ganz andere ge- wesen sein sollten, erscheint zu unwahrscheinlich und die uns leider zu geläufig gewordene An- nahme von der enormen Steigerung der Produk- tion von Pflanzensubstanz, die sj weit gehen sollte, daß die Kräfte der Verwesung und Vermoderung ihre Zersetzung nicht mehr bewältigen konnten, ist schließlich nicht weniger unwahrscheinlich. Es braucht im Grunde auch keine ausgemachte Sache zu sein, daß eine Sumpfvegetation in jedem Falle die üppigste sein muß; das ist schließlich Geschmacksache. Die Gegenwart zwingt uns durchaus nicht zu dieser Annahme. Diejenige Stätte, wo in der Gegenwart die bedeutendsten Pflanzenmassen erzeugt werden, ist unstreitig der tropische Regen wald, der überall dort in der heißen Zone das Pflanzenkleid der Erde bildet, wo ausgesprochenes tropisches Klima herrscht, dessen wesentliche Eigenschaften dauernde N. F. XIX. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 599 große Luftfeuchtigkeit und bedeutende Wärme- gerade sind. Hier ist der Pflanzenwuchs in der Tat üppig; und sollte uns nicht jedes Ürwaldbild davon überzeugen, so werden es sicherlich die- jenigen im Gebiet des Amazonenstromes mit ihrer zum Licht drängenden Fülle tropischen Pflanzen- wuchses. Um nicht im bläulichschwarzen Dunkel des Unterholzes zu ersticken, streben hier die Pflanzen zum Licht. So gewaltig aber auch die Pflanzenmasse ist, die dort Jahr für Jahr erzeugt wird, so lebhaft sind die Kräfte bei der Arbeit, die sie wieder zersetzen. Der für die Tropen in dieser Hinsicht charakteristische Zersetzungsvor- gang ist die Verwesung, die unter Mitwirkung von Organismen zu einer Pflanzensubstanzzer- störung führt, bei der keine festen Zersetzungs- produkte in bedeutenderer Anhäufung übrigbleiben. In den gemäßigten Zonen vermag ein Luftabschluß durch Wasser tote Pflanzensubstanz vor Verwesung und Vermoderung zu schützen, in den Tropen dagegen ist selbst dieser Schutz zweifelhaft. Wenn auch der Nachweis einiger Tropenmoore gelungen ist, so wird deshalb doch der Satz richtig bleiben, daß das charakteristische Verbreitungsgebiet der Moore die gemäßigten und arktischen Landstriche beider Halbkugeln sind. Die Torfbildung ist geographisch bedingt, indem sicherlich das feuchte gemäßigte Klima das idealste in dieser Hinsicht darstellt. Dieses Idealklima soll das feuchte ge- mäßigte Südamerika besitzen. An seiner West- küste, auf dem Feuerland und den Falklandsinseln soll Torf jede flache Stelle bedecken, während Wald die Hänge einnimmt. Auf den Falklands- inseln soll sich jede Pflanzenart in Torf verwandeln. Dieses Beispiel vom tropischen Regenwald zeigt so recht, daß es gar nicht darauf ankommt, ob viel Pflanzenmaterial erzeugt wird, sondern darauf, ob Bedingungen vorhanden sind, die eine Erhaltung der Pflanzensubstanz in bedeutenderem Umfang gewährleisten. Auch der Wald der gemäßigten Zonen ist zwar ein guter Produzent von Pflanzensubstanz, aber auch hier fällt die Hauptmasse der Zerstörung anheim. Hier findet ein Vermoderungsprozeß statt, bei dem allerdings festes Material übrigbleibt, das sich mit dem anorganischen Verwitterungsboden meist zu einer Schicht vermengt. Die Dicke dieser Schicht ist sowohl von klimatischen und Bodenverhältnissen abhängig. Sie ist gering aut trockenem Kalkboden, sie ist größer im Urgebirge. Der trockene mit dürren Buchenlaub bestreute Kalkboden des Jura und die vom Moder unge- zählter Waldgenerationen verhüllten Granite und Gneise von Schwarzwald und Böhmerwald, das sind wohl treffende Gegensätze, welche die Ab- hängigkeit vom Boden zeigen, während der Über- gang vom muliartigen zum moorigen Boden dem klimatischen Einfluß der Feuchtigkeits Verhältnisse zuzuschreiben ist. Es kann also im Wald der gemäßigten Zonen im Laufe sehr langer Zeiten zur Bildung mehr oder weniger mächtigen Humus- schichten kommen, entsprechend den klimatischen und besonderen Verhältnissen den Bodenart, eine bedeutendere Anhäufung von toter Pflanzensubstanz, die jede beliebige Mächtigkeit annehmen könnte, ist aber völlig ausgeschlossen. Wir kennen alle diese schwarze Humus- oder Moderschicht, die wir meist als Waldboden, Humusboden oder Mutter- erde bezeichnen, welcher der Boden ein gut Teil seiner Fruchtbarkeit verdankt. Der Vermoderungs- prozeß, der sich im Humus abspielt, ist ein Summenwert von physikalischen, chemischen und biologischen Vorgängen. Gerade diese letzteren spielen eine Hauptrolle. Es ist ein unübersehbares Heer von Lebewesen, Bodenbakterien, Bodenpilzen, Wurzelfüßlern, niederen und selbst hoch organi- sierten Tieren, tunnelgrabenden Käfern und Wühl- tieren, die hier mitarbeiten, um die organische Substanz in anorganische Massen zu zersetzen, die den eigentlichen grünen Pflanzen zur Nahrung dienen können. P'ür die Humuspflanzen und Pilze ist diese Substanz, die man früher fälschlich für die Nahrung der Pflanzen überhaupt gehalten hatte, die eigentliche Nahrung. Wenn auch dieser Humus eine starke Anreicherung an toter Pflanzen- substanz zeigt, so ist er doch keine dem Torf und den braunkohleartigen Bildungen gleichwertige Masse. Im getrockneten Zustande ist er eine bröcklige erdige Substanz, deren Eigenschaften von denen der kohleartigen Bildungen erheblich abweichen. Der Humusboden kann allerdings für weite Gebiete eine charakteristische Bodenart bilden; so hängen natürlich zunächst Wald und Humusdecke voneinander ab, indem im Schatten und Schutze der Bäume und durch ihre Wurzeln festgehalten sich der Humus hält und wächst. Als Humusboden müssen wir auch die Moorerde, den Marschenboden, die russische Schwarzerde und die Schwarzerde Westsibiriens auffassen. Aber auch vom Trockentorf können wir nur behaupten, daß er entfernt mit den kohlenartigen Bildungen verwandt ist. Er bildet sich dort, wo große Luftfeuchtigkeit und schlecht durchlüfteter Boden ist. Die Eigenart seiner Bildung wird am besten durch die Trockentorfvorkommen der arktischen Gegenden beleuchtet. Kälte und Schneebedeckung im Winter, F'euchtigkeit im Sommer hindern in diesen Gegenden die Zersetzung der organischen Substanz. So kärglich der Pflanzenwuchs in diesen Erdstrichen auch ist, so kommt es doch zu einer Torfbildung (größte beobachtete Mächtigkeit "/g m). Dieses Beispiel mag so recht wieder einmal die neuere wichtige Einsicht klarlegen, daß es auf die Intensität des Pflanzenwuchses ganz und gar nicht ankommt, sondern auf die mehr oder weniger günstigen Bedingungen, die eine Erhaltung der Pflanzensubstanz gewährleisten und daß selbst unter einem Optimum dieser Bedingungen, die armselige arktische Flora zu einer Torfbildung führen kann, während es diejenige des tropischen Regenwalds nicht vermag. Die einzigen Stätten, die einen echten Ver- torfungsprozeß der abgestorbenen Pflanzensubstanz möglich machen, sind die Wiesen- und Hochmoore. 6oo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 38 Bei einem Wiesenmoor wächst der Pflanzenwuchs im Wasser und die tote Substanz ertrinkt gleichsam ständig, um dann vor Verwesung und Vermoderung geschützt unter Wasser einen Vertorfungsprozeß durchzumachen. Beim Hochmoor sind die über den ehemaligen Grundwasserspiegel hinauswach- senden Moostorfmassen derart voll Wasser gesaugt, daß auch hier der nötige Luftabschluß gewährleistet wird. Unsere Sumpfwälder — im norddeutschen Flachland sind besonders die Erlensumpfwälder (Eisbrüche) weit verbreitet — führen dagegen in der Gegenwart zu keinen nennenswerten An- häufungen toter Pflanzensubstanz. Eine eigen- artige Rolle haben in der Frage der Entstehung unserer Braunkohlenflöze stets die Sumpfzypressen- wälder gespielt, die an der atlantischen Küste Nordamerikas, am Golf von Mexiko von Texas bis Florida und Carolina vorkommen. Mit ihnen hat man zu gern die Waldmoore der Braunkohlen- zeit verglichen und nur allzu sehr und voreilig betont, daß sie ein getreues Bild der Waldmoore des Miozäns darstellen. Nun liegt aber das Wesen eines miozänen Waldmoors darin, daß es imstande war, ein Braunkohlenflöz zu erzeugen. Wir müssen deshalb die Sumpfzypressenwaldmoofe der Gegenwart und Braunkohlenzeit als wesens- verschieden betrachten, wenn nicht der Nachweis gelingt, daß die Waldmoore Floridas und Carolinas ebenfallsFlözanhäufungen von toter Pflanzensubstanz erzeugen. Das ist aber durchaus unwahrscheinlich. Nachdem man erkannt hatte, das i'\nthrazit, Steinkohle, Braunkohle und Torf in gewissem Sinne verwandte Bildungen sind, konnte der einzig gangbare Weg, der zu einem Einblick in die Entstehung der Braun- und Steinkohle führt, nur der sein, daß man die Bedingungen des Ver- torfungsprozesses, der sich noch heute vor unseren Augen abspielt, genau studierte. Man gelangte auf diesem Wege zu mancher begründeteren Ein- sicht über Dinge, die früher oft Gegenstand er- bitterter Meinungskämpfe gewesen waren. An dieser Stelle sei an das Lebenswerk Po to nies erinnert; durch unermüdliches Studium der re- zenten Moore in den verschiedensten Erdgebieten gelangte er zur Lösung der Frage über die Ent- stehung der Steinkohle. Wenn wir diesen Weg mit aller Vorsicht Schritt für Schritt gehen wollten, so müssen uns die Moore der Gegenwart zunächst zu den Braunkohlenlagerstätten, das Studium dieser zur Steinkohlenbildung führen. Wenn schließlich auch die PVage nach der Entstehung der Braun- kohlenflöze für sich allein wichtig genug ist, so besteht doch der hohe Wert aller diesbezüglichen Forschungen vor allen Dingen auch darin, daß wir sicherlich neue Einblicke in die Entstehung der Steinkohle gewinnen. So verlockend aber dieses Verfahren auf den ersten Blick erscheinen mag, so ist doch bei dem endgültigen Vergleich der geologischen Perioden untereinander, stets äußerst kritische Vorsicht geboten. Durch un- passende Vergleiche der Flözbildung mit dem heutigen Prozeß der Torfanhäufung ist so manches schiefe und selbst vollständig verkehrte Bild dieses Vorgangs entworfen worden. Der Vergleich der Braunkohlenflözbildung mit der Torfanhäufung eines rezenten Wiesen- oder Hochmoors hinkte allmählich mehr und mehr. Die großen Flöz- mächtigkeiten im Westrheinischen Revier der Kölner Bucht von 20 — 50 m, die stellenweise so- gar auf über 100 m anwachsen, die größte Mäch- tigkeit von 53 m bei Nachterstedt in der Aschers- lebener Mulde, dazu die Flözmächtigkeit von bei- nahe 100 m im Geiseltal machten den Gedanken, daß derartig tiefe Seebecken in derselben Weise verlandet sein sollten, wie heute unsere norddeut- schen Seen verlanden, mehr als unwahrscheinlich. Der Gedanke, daß an die Stelle der ungeheueren Wassermasse eines derartig tiefen Seebeckens eine tote Pflanzenmasse treten sollte, die sich in echte Humuskohlen verwandelt und dann die Lager- stätte bildet, wurde schließlich immer ungeheuer- licher. Über diesen Punkt können auch nicht die Hinweise hinweghelfen, daß es bei rezenten Mooren ebenfalls ganz erhebliche Mächtigkeiten gibt (selbst 20—25 ™)- In den Gedanken über allochthone Braun- kohlenlagerstätten gefiel man sich wohl nur des- halb so gut, weil sie zu nächst scheinbar die einzige Möglichkeit boten, die großen Plößmäch- tigkeiten zu erklären. Ja im Grunde ist es wohl nicht zu viel gesagt, wenn man alle diesbezüg- lichen Gedanken als Verlegenheitshypothesen be- zeichnet. Man überlegte sich im Grunde wohl kaum, was für eine abenteuerliche Konstruktion ein solches allochthones Braunkohlenlager sei. Es müssen seltsame Sammelbecken gewesen sein, deren Zuflüsse grundsätzlich totes Pflanzenmaterial herbeibrachten, um es Hunderte von Meter hoch aufzuhäufen, so daß eine Humuskohle von der Reinheit entstehen konnte, wie wir sie vielfach antreffen. Wo gibt es Flüsse, die nur organi- sche Sedimente führen? Zu der Annahme, daß sich das Material in einzelnen Fällen mehrere Hundert Meter hoch anhäufen mußte, zwingt uns aber die große Flözmächtigkeit und die Einsicht, daß die fertige Kohle gegenüber dem frischen Material eine bedeutende Rauminhaltsverminde- rung zeigen muß. An dieser Stelle sei mir eine kleine Zwischenbemerkung darüber erlaubt, wie Massentransporte von Pflanzensubstanzen im nord- deutschen F'lachlande zustande kommen können. Die vielen Entwässerungsgräben, wie sie in den weiten Niederungen des Flachlandes vorkommen, zeigen meist derartig geringe Strömungsgeschwin- digkeiten, daß sich freischwimmende Wasser- pflanzen, in erster Linie VVasserhahnenfuß (Ba- trochium aquatile), ansiedeln. Bei starken Regen- güssen steigert sich die Strömungsgeschwindig- keit derartig, daß diese Pflanzenmassen abtreiben und an den Mündungen der Gräben in bedeuten- der Anhäufung zur Ablagerung kommen. Es gibt zu denken, daß es sich bei dieser Pflanzendrift nur um freischwimmende Wasserpflanzen handelt I Die auffallende Reinheit und das Fehlen an- N. F. XIX. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 60 1 organischer Beimengung muß uns bei sehr vielen Braunkohlenflözen überraschen; fast immer fehlen die Übergänge von Kohle zu Quarzsand oder reinem Ton ; das Liegende und Hangende schnei- den scharf gegen die Kohle ab; ja sind einmal hie und da Zwischenmittel vorhanden, so fallen sie durch ihre Reinheit auf. Im Lausitzer Revier liegt oft gerade blendend weißer Quarzsand un- mittelbar unter der Kohle. Jeder Besucher der berühmten Quarzsandgruben am Koschenberg in der Lausitz muß überrascht sein, wie hier der reine weiße Quarzsand unmittelbar unter der schwarzen Kohle lagert und in scharfer Linie gegen diese abschneidet. Auch das Kohlenflöz der Grube Erika in der Niederlausitz wird von weißem Quarzsand unterlagert, der allerdings glimmerhaltig ist. Noch abenteuerlicher wird der Gedanke, daß die Zuflüsse eines solchen großen Sammelbeckens als schwarze Kohlenflüsse die Kohlenmassen aus zerstörten autochthonen Lagern herbeiführten (sekundäre Allochthonie). Gewiß fast alle neueren Flözkarten müssen uns davon überzeugen, daß sowohl im Tertiär und Eiszeit- alter große Flözzerstörungen staltgefunden haben. So sind zum Beispiel von dem sicherlich weit- ausgedehnten Oberflöz des Senftenberger Reviers nur sechs größere Stücke übriggeblieben. In diese Stücke ziehen sich, den Föhrden an der deutschen und dänischen Küste vergleichbar, schmale Aus- waschungsrinnen hinein, die ihre Gestalt noch komplizierter macht und uns unbedingt davon überzeugen müssen, daß wir hier Wirkungen des fließenden Wassers vor uns haben. Der Gedanke aber, daß sich diese forttransportierten Kohlen- massen in Senken, Bach- und Flußtälern in völliger Reinheit wieder zusammengefunden haben sollen, ist mehr als unwahrscheinlich. Die abenteuer- lichsten Gedanken über Allochthonie hat man zur Erklärung der Schwelkohlenbildung herangezogen. Ja man mutete den oben erwähnten Zuflüssen sogar die Fähigkeit zu, eine Sortierung des Ma- terials in harzreiche und weniger harzreiche Sub- stanz bewirken zu können. Auch den Wind hat man als Transportmittel für Pollenkörner in die Betrachtung hineingezogen. Es ist das Verdienst von Räfler eine Lanze für die Autochthonie der nutzbaren Braunkohlenlagerstätten gebrochen zu haben. Er führt nämlich den Nachweis, daß selbst das Auftreten von Klar- und Rieselkohle in keiner Weise eine allochthone Entstehung beweise. Früher wurde vielfach behauptet, daß die unteren Lagen eines Braunkohlenflözes meist Knabben- kohle, die oberen dagegen Klarkohle enthalten. Räfler zeigt dagegen, daß das Auftreten von Klar- und Rieselkohle in den oberen Flözpartien durch chemische Vorgänge bedingt wird, die dort möglich sind, wo die Decke aus Sand besteht und verhältnismäßig wenig mächtig ist. Sand ist Wasser- und luftdurchlässig, auch Temperatur- schwankungen, Frost und Hitze können in diesem Falle auf die Kohle einwirken und so ihre Um- wandlung aus Knabbenkohle in Klar- und selbst Rieselkohle hervorrufen. Lagert dagegen die Kohle -unter einer mächtigen tertiären Tondecke, so ist sie derartig geschützt, daß ihr ursprüng- liches Gefüge, weitgehend erhalten bleibt. JVIit allen diesen Betrachtungen soll natürlich nicht in Abrede gestellt sein, daß hier und da die der Erosion anheimgefallenen Kohlenmassen wenig ausgedehnte, geringmächtige und infolge inniger Durchmengung mit anorganischen Teilchen durchgehend stark verunreinigte Vorkommen un- regelmäßiger Lagerung erzeugt haben (Räfler). Es wird sich wohl über kurz oder lang die An- sicht durchsetzen müssen, die Johann es Walther bei der Sitzung des Halleschen Verbandes für die Erforschung der Mitteldeutschen Bodenschätze und ihrer Verwertung am 22. November des ver- gangenen Jahres in der Diskussion über die Frage der Wiederaufnahme des Harzer Steinkohlenberg- baues so eindeutig aussprach : „Ich möchte zu- nächst der weitverbreiteten Ansicht entgegen- treten, als ob mit dem Ausdruck „autochthon" oder „allochthon" irgendeine wissenschaftliche Seite des Kohlenproblems entschieden werden könne. Nach meiner Auflassung sind alle bauwürdigen Kohlenflöze bodenständig und nur die aschen- reichen, wertlosen Kohlen sind durch Umlagerung bodenfremd aufgehäuft worden." Der Gedanke der zusammengeschwemmten Braunkohlenflöze ist auch in der Tat mehr und mehr zurückgetreten und nur für kleinere Braunkohlenaufhäufungen hat man an dieser Theorie festgehalten. Durch langjährige Beobachtungen im Nieder- lausitzer Braunkohlenrevier der Senftenberger Gegend ist man zu der Überzeugung gelangt, daß sich jeder Vergleich eines Braunkohlenwald- moores mit einem Wiesen- oder Hochmoor von selbst verbietet. Es ist das Verdienst Teumers, diese Dinge einmal an einem klassischen Beispiel klargestellt zu haben. Seine Beobachtungen und Studien im Niederlausitzer Braunkohlenrevier der Senftenberger Gegend haben uns eine neue ein- gehende Theorie der Entstehung der Braunkohleri- flöze dieses Reviers und höchstwahrscheinlich der autochthonen Flöze überhaupt geliefert. Eine der auffälligsten Erscheinungen in den großen Tagebauen des Senftenberger Reviers sind die Sumpfzypressenhorizonte. Sie werden von gewaltigen unter Erhaltung der Form und Holz- struktur vertorften Wurzelstümpfen von Sumpf- zypressen und Mammutbäumen gebildet, die uns imm.er wieder daran erinnern, daß sie dort ge- wachsen sind, wo sie heute noch aufrecht stehen. Sie werden für immer die Hauptzeugen für die Bodenständigkeit der Braunkolilenflöze dieses Reviers bilden. Diese Stubben erinnern uns an die sog. Stig- marien, die aus den Steinkohlenflözen bekannt sind. In diesen Steinkreuzen hat man bekanntlich die unterirdischen Stützorgane der im Steinkohlen- wald wachsenden Sigel- und Schuppenbäume er- kannt. Sie zeigen ebenso wie die Stubbenhorizonte im Braunkohlenflöz durch ihr charakteristisches 602 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 38 Auftreten in ganz bestimmten Sohlen einen ehe- maligen Waldboden an. Fünfzig bis hundert dieser Waldböden hat man in den Schichten der Steinkohlenformation übereinanderlagernd in den einzelnen Flözen angetroffen, zwischen denen dann die Schichten des flözleeren Sandsteins oder Tonschiefers lagern. Diese Lagerungsverhältnisse haben dann zu der Einsicht geführt, daß nicht nur der Gesamtkomplex der Schichten in einem Senkungsfeld entstanden ist, sondern daß auch ein Steinkohlenflöz selber, wie wenig mächtig auch viele sind, niemals auf einem festen Boden ent- stehen kann. Diese Einsicht kann die neuere Auffassung nicht nachdrücklich genug betonen. Gewiß den ständigen Wechsel von Land und Wasser, indem bei Wasserbedeckung flözleerer Sandstein, Kohlenkalk oder Tonschiefer, nach Ver- landung dagegen eine tote Pflanzenmasse zur Ab- lagerung kam, hat man stets durch eine Senkung des Gebiets erklärt. Allein die Forderung, daß zur Flözbildung ebenfalls ein dauerndes Absinken des Bodens erforderlich ist, kann die neuere Auf- fassung nicht scharf genug hervorkehre.n. Aus den einleitenden Betrachtungen geht zur Genüge hervor, daß in einem Braunkohlen- oder Steinkohlenwald die Pflanzenmasse, die dort er- zeugt wird, ebenso der Zerstörung anheimfallen muß, wie im tropischen Regenwald oder einem Sumpfwald der Gegenwart. Zu dieser Folgerung werden wir um so mehr gedrängt, weil der Tropencharakter der Steinkohlenpflanzen als ver- bürgt gelten kann. Diese Annahme gilt aber nur für den Fall, daß der Boden stabil ist, also keine Gebietssenkung eintritt. Treten aber Gebiets- senkungen auf, so ist Gelegenheit gegeben, daß die tote Pflanzenmasse dauernd im Walser er- trinkt und so vor Verwesung und Vermoderung geschützt wird, um jetzt unter Wasser einen Ver- torfungsprozeß durchzumachen, der zu einer Flöz- einhäufung führen muß. Bei dieser Auffassung haben wir es mit einem einheitlichen Senkungs- vorgang zu tun, bei dem nur die Geschwindig- keit des Absinkens veränderlich ist. Bei lang- lamer (säkularer) Senkung kann der Pflanzenwuchs Schritt halten; er ist imstande mit der toten Pflanzensubstanz den Boden immer wieder so weit aufzuhöhen, daß er festes, Land bleibt, auf dem die in Frage kommende Pflanzengemeinschaft weiterwachsen kann. Das Landschaftsbild verrät nirgends den dauernd sinkenden Boden. Tritt aber eine Beschleunigung der Senkung ein, so ertrinkt das Waldmoor im Wasser und anorgani- sche Ablagerungen wie Sande, Tone usw. be- decken jetzt das Flöz. Die organische Boden- bildung wird durch die anorganische abgelöst. Ich erblicke den hohen Wert der neueren Forschungen über die Entstehung der Braun- kohlenflöze im Senfienberger Revier darin, daß hier eine Forschungsmethode der Neuzeit fort- gesetzt wird, die weitgehende Erfolge verspricht. Genau wie der einzig sichere Weg, der zur Er- klärung der Braunkohlenflözbildung führt, nur der sein konnte, daß wir die Moore der Gegenwart erforschten, so muß der Beantwortung der Frage wie unsere Steinkohlenflöze entstanden seien, ein genaues Studium der Braunkohlenflöze voraus- gehen. Jene Stubbenhorizonte können uns mehr aus vergangenen Tagen erzählen, weil Wurzel- stumpfe und Stämme nicht versteinert, sondern als verhältnismäßig gut erhaltene Holzmasse vor- liegen und weil ihre Form uns mehr verrät wie die versteinerten Wurzelstöcke der Sigel- und Schuppenbäume der Steinkohlenzeit. Die kritische Musterung der Stubbenhorizonte im Senfienberger Revier hat die auffallende Tat- sache ergeben, daß die Stubben ein- und des- selben Horizontes alle gleich hoch sind. Ferner hat sich gezeigt, daß die Stämme, die zwischen den Stubben liegen einen auffallend guten Er- haltungszustand der Holzmasse zeigen. Die höchsten Stubben sind im allgemeinen nicht hoher als 2 m. Unter und über diesen Horizonten liegt erdig- stückige Braunkohle, die man auch wohl treffend als homogene Braunkohle bezeichnen kann. Es ist klar, daß diese Stubbenhorizonte eine Episode bei der Flözbildung darstellen ; denn es muß aus- drücklich festgestellt werden, daß die Stubben im allgemeinen in ausgesprochenen Sohlen (Horizonten) vorkommen. Die ältere Erklärung dieser Stubben- horizonte machte stillschweigend die Voraus- setzung, daß ein Sumpfzypressenwald in jedem Fall solche Wurzelstumpfe hinterlassen müsse. Man erblickte die Episode bei der Flözbildung darin, daß unter gewissen klimatischen Voraus- setzungen ein Sumpfzypressenwald wuchs, während für gewöhnlich eine andere Pflanzengemeinschaft das zur Flözbildung erforderliche Material lieferte. Die in Frage kommende Episode besteht nicht in dem vorübergehenden Auftreten eines Wald- moors, sondern darin, daß der Wald unter ge- wissen Bedingungen Stubbenhorizonte hinterließ. Durch diese ältere Auffassung sind vielfach Ge- danken über Klimaschwankungen in die Betrach- tungen hineingezogen worden, ja anfallend nied- rige Sumpfzypressenhorizonte ließen Mutmaßungen über eine Entartung der Flora laut werden. Auf Grund des Beobachtungsmaterials ist man dann zur folgender Theorie der Braunkohlenflöz- bildung im Senfienberger Revier gelangt (Teumer). Auf einem säkular sinkenden Boden wuchs ein Sumpfzypressenwaldmoor; durch eine plötzliche (instandane) Senkung, deren Betrag in keinem Einzelfalle mehr als 2 m betrug, ertrank dieser Wald durch ein scheinbares Steigen des Grund- wasserspiegels (tatsächlich blieb dieser stehen, während der Boden sank). Selbst ein Baurn wie die Sumpfzypresse vertrug eine derartige Über- flutung nicht; die Bäume gingen ein und die Stämme faulten dort, wo der Wasserspiegel stand in ein und derselben Horizontalen ab. Diese fielen ins Wasser und waren so mitsamt den Stubben vor Verwesung und Vermoderung geschützt. Das flache Seebecken vertorfte sehr bald und nach eingetretener Verlandung konnte ein neuer Sumpf- N. F. XIX. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 603 Zypressenwald wachsen. Durch weiteres lang- sames Sinken des Bodens ertrank das Pflanzen- material, das er erzeugte, ständig im Wasser, aber in dem warmen feuchten Klima des Miozäns war die Vermoderung noch so intensiv, daß nur eine Vertorfung unter völliger Zerstörung der Form stattfinden konnte. Auf diese Weise konnte ein solches Waldmoor ein Flöz mit erdigstückiger Braunkohle erzeugen, das jede beliebige Mächtig- keit erlangen konnte. In einer solchen Kohlen- masse brauchen wir nirgends erkennbare Reste von Sumpfzypressen zu entdecken. Die neuere Theorie vertritt grundsächlich den Standpunkt, daß die gesamten Flöze im Senfterberger Revier von Sumpfzypressenwaldwuchs erzeugt wurden. Nur dann, wenn eine plötzliche (instantane) Senkung erfolgt (bis zu 2 m müssen solche vor- gekommen sein), konnte ein Stubbenhorizont entstehen. Trat dagegen ein instantane Senkung von größerem Betrage ein, so hörte die Flöz- bildung auf, da jetzt Sande und Tone in einem tieferen Seebecken zur Ablagerung kommen. Auf diese Weise kann man den Gesamtkomplex der Schichten durch eine einheitliche Ursache entstehen lassen. Um den Wechsel von Flöz- bildung und anorganischen Ablagerungen zu er- klären, hat man den Senkungsvorgang immer herangezogen, aber auch zur Erklärung der Flöz- bildung selber kann man ihn nicht entbehren. Diese Theorie schlägt auch den Anhängern der Allochthonie eine wuchtige Waffe aus der Hand. Das Fehlen von Stubenhorizonten haben diese meist als Kennzeichen eines allochthonen Flözes betrachtet. Nach der eben dargestellten Theorie braucht das Fehlen dieser Horizonte die Autochthonie nicht in Zweifel zu ziehen. Mit dieser Theorie ist auch die heikle Frage endgültig beantwortet, ob sich ein Waldmoor der Braun- kohlenzeit mit einem rezenten Sumpfzypressen- waldmoor vergleichen läßt. Die eindeutige Ant- wort kann nur so lauten : ,, Solange nicht der Nachweis gelingt, daß die Sumpfzypressenwald- moore Floridas, Texas und Carolinas auf einem säkular sinkenden Boden wachsen, ist jeder Ver- gleich mit einem Sumpfwaldmoor der Braunkohlen- zeit gegenstandlos. Auch die verschiedenen Arten der Braunkohlen sind sicherlich durch die Eigentümlichkeiten des Senkungsvorganges bedingt. Die Braunkohle ver- dankt nicht allein einem Senkungsvorgang ihre Entstehung," sondern auch ihre Erhaltung. Die Erhaltung der tertiären Pflanzenmassen und ihre Umwandlung in Braunkohle war nur durch einen Senkungsvorgang möglich, bei dem die tote Pflanzen- substanz durch luftabschließende Sande und Tone überdeckt wurde. Wenn ein toter Pflanzenkörper offen an freier Luft daliegt, so zersetzt er sich durch Aufnahme von Sauerstoff aus der Luft, ohne daß dabei ein fester Rückstand, abgesehen von den schwerverwesbaren Harzen, übrigbleibt. Im Halle- schen Revier, an dessen Westrand stellenweise harzreiche Kohlen, die Schwelkohlen, vorkommen, haben daher die Waldmoore teilweise trocken gelegen. Hier konnte die Verwesung Platz greifen. Ein solches Trockenliegen läßt sich aber sehr gut durch eine Verlangsamung des Senkungsvorganges erklären. So konnte die Kohle durch Verwesung in den obersten Schichten in hellgelbe bis weiße Wachskohle, in den tieferen Lagen in harzreiche Schwelkohle verwandelt, während noch weiter unten die gewöhnliche Kohle unverändert blieb. Das Auftreten von Faulschlammkohlen läßt sich durch das Entstehen von flachen Seebecken in- folge instantaner Senkungen ebenfalls im Rahmen der Senkungstheorie erklären. So gipfeln also die neueren Ansichten darin, in den Senkungsvorgängen die eigentliche Ursache der Flözbildung zu erblicken. Sie stellen also sicherlich eine Vereinfachung und Vereinheitlichung der Anschauungen dar. Gewiß die eigenartige Mitwirkung der Pflanzenwelt, die klimatischen Verhältnisse brauchen wir deshalb nicht zu über- gehen. Allein so manche Frage, mit der früher das Problem zu stehen oder zu fallen schien, hat bedeutend an Wichtigkeit verloren. Den auf- geregten Zeiten, da auf der einen Seite der Nach- weis des Tropencharakters der Steinkohlenpflanzen geführt wurde, während man auf der anderen alles aufbot, um ihn zu leugnen, sind Zeiten einer ruhigeren Auffassung gefolgt. Die auch mehr und mehr eingesehen hat, daß fast alle Gedanken über Allochthonie bedenklich kühne Konstruktionen sind, denen draußen in der Natur trotz der Viel- seitigkeit der Mittel, die ihr zur Verfügung stehen, keine Existenz zukommt. Literatur. Teumer, Braunkohle, Jahrgang XVIII, 1919/20, Nr. 22, Heft 22. Die Bildung der Braun kohlenflöze im Senftenberger Revier. Räfler, Braunkohle, Jahrgang XIX 1920, Nr. I, 2, 3 (Krapp, Halle), Heft'l, 2 und 3. Gegen die Boden- fremdheit der sächsisch -thüringschen Braun- kohleulager. Einzelberichte. Kristallographie. Über^ieakzidentuelleDoppel- ^-^^^^^^ zusammengefaßt. brechung im Zelloidin und in der Zellulose. (Mit I Abb.). In den Nachrichten der K. Gesellsch. der Wissenschaften zu Göttingen, mathem.-physik. Klasse (Ende 19 19) hat H. Ambro nn, Jena, vor kurzem seine ganz besonders lehrreichen Versuche Teilweise sind ihre . Einzelheiten unter dem Titel „Über das Zusammen- wirken der Stäbchendoppelbrecluing und Eigen- doppelbrechung" ] Kolloidzeitschrift 18, S. 90 und S. 273 (1616) und 20 S. 173 (1917)] bereits in früheren Jahren veröffentlicht worden. — Streifen 6o4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 38 von reinem Zelloidin, das aus einer Nitrozellulose von sehr hoher Nitrierungsstufe besteht und mit Flüssigkeit imbibiert ist, zeigen je nach dem Brechungsexponenten der Flüssigkeit, mit der sie durchtränkt sind, ein ganz verschiedenes Verhalten. Bei ihrer großen Plastizität lassen sie sich ohne Schwierigkeiten auf über 100 "„ ihrer ursprüng- lichen Länge bleibend deformieren. Im frischen Zelloidin ist dabei der Anteil der Flüssigkeit etwa 75 "/ü- Wählt man zum Durchtränken F"lüssig- keiten-, die die Nitrozellulose weder chemisch noch physikalisch verändern, etwa Thouletsche Lösung (KaliumquecksilberjodidLösung), die konzentriert ein Brechungsvermögen von 1,72 hat und sich mit Wasser in jedem Verhältnis mischen läßt, so kann man damit die Flüssigkeit im Zelloidin inner- halb der Brechungsindizes von 1,33 bis 1,72 vari- ieren und darüber hinaus läßt sich Rohrbachsche Lösung (d. i. Bariumquecksilberjodid-Lösung) ver- wenden von 1,72 bis 1,77. Dann erhält man das merkwürdige Ergebnis, daß bei den Grenzwerten 1,33 und 1,77 und in ihrer Nähe die durch Deh- nung hervorgerufene Doppelbrechung für alle Farben positiv ist, während in der Nähe des Wertes 1,53 ebenfalls für alle Farben das Vor- zeichen das umgekehrte ist. Daraus geht ohne weiteres hervor, wie sich auch aus Abb. i ersehen *n2(D) = Stärke der Doppelbrechung ; d^ (D) = Brechungs- exponenlen der Flüssigkeiten für Na-Licht. läßt, daß für zwei andere Werte — jeweils für eine bestimmte Wellenlänge — • die Streifen bei Dehnung isotrop bleiben müssen. Dies ist für Grün etwa bei 1,45 und 1,65 der Fall. Dann gibt es an diesen Stellen ofifenbar auch Farben, für die die akzidentelle Doppelbrechung noch positiv und gleichzeitig andere, für die diese bereits nega- tiv ist. Dieses ganz eigentümliche Verhalten wäre nach den bisherigen Kenntnissen über den Ver- lauf der akzidentellen Doppelbrechung nicht leicht verständlich zu machen, wenn wir nicht mit H. Ambro nn den Schluß ziehen dürfen, daß im Zelloidin, d. h. also einem System von Nitro- zellulose und Flüssigkeit, ein Zusammenwirken zweier optischer Anisotropien von entgegengesetztem Vorzeichen stattfinden müsse. Dieser Schluß stützt sich auf die Erklärung der bekannten ano- malen Interferenzfarben, die bei Apophyllilen und bei Mischkristallen aus dem optisch positiven Blei- und dem optisch negativen Strontiumdithionat auf- treten. Diesen Farben sind diejenigen analog, die für n^ (D) bei 1,45 und 1,65 auftreten. Nun sind solche Körper, deren Doppelbrechung vom Brechungsexporventen einer sie durchdringenden Flüssigkeit abhängt, bereits bekannt, z. B. in den Kieselschalen von vielen Diatomeen ; auch feine in Glas eingeritzte Gitter und die sog. Tonerde- faSern verhalten sich ähnlich. In allen diesen Fällen kann man aber die Doppelbrechung gänzlich zum Verschwinden bringen, wenn man Flüssigkeiten von einem bestimmten Brechungsvermögen ein- dringen läßt. Für derartige Fälle von optischer Anisotropie, die als Gitter- oder Lamellarpolarisa- tion bezeichnet werden, hat erst in neuerer Zeit O. Wiener (1909 — 191 2) eine allgemeinere Theo- rie aufgestellt und gezeigt, daß in einem System von zwei völlig isotropen Komponenten Doppel- brechung auftreten kann, die abhängig ist, erstens von der Differenz n, — n^ in der Lichtbrechung der Komponenten, und zweitens von der Form und der Art der räumlichen Anordnung der das System aufbauenden Teilchen. Diese Doppel- brechung erreicht in zwei Grenzfällen ein Maxi- mum, die von Wiener als Stäbchen doppel- brechung und als Schichtendoppel- brechung bezeichnet wurden. Die Stäbchen- doppelbrechung, deren Betrag abhängig ist von der Differenz n^ — n,, und dem Volumenverhältnis der beiden Komponenten, ist nach den von Wiener aufgestellten Gleichungen stets positiv, die Schichtendoppelbrechung dagegen stets nega- tiv. Diese positive Stäbchendoppelbrechung wird natürlich gleich null, wenn nj^n., ist. Die akzidentelle Doppelbrechung beim Zello- idin, wie sie durch Abb. i veranschaulicht ist, zeigt ebenso wie die Stäbchendoppelbrechung eine Abhängigkeit von der Differenz n^ — n^. Aber ein wesentlicher Unterschied besteht darin, daß beim Zelloidin für ein bestimmtes Gebiet der Werte von Oj die Doppelbrechung negativ wird; sie verschwindet daher auch nicht für nj=n2, sondern bei zwei für alle Farben verschiedenen Werten von n.^, von denen einer größer, der andere kleiner als n^ ist. Daher kann offenbar beim Zelloidin die positive Stäbchendoppel- brechung nicht allein wirken, sondern es muß noch eine andere Doppelbrechung von negativem Vorzeichen sich mit ihr überlagern. Diese führt H. Ambronn auf die Eigenschaften der Zelloidin- teilchen selbst zurück und nennt sie „Eigen- dop pelbrechung". Nehmen wir diese Er- klärung an, so läßt sich in der Tat der Verlauf der Kurven in Abb. 1 ungezwungen erklären, N. F. XIX. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 605 In ganz analoger Weise geführte Versuche bei Zellulose ließen sich ebenfalls durch entsprechende Schlüsse als das Zusammenwirken von Stäbchen- doppelbrechung mit Eigendoppelbrechung deuten. Letztere ist aber hier positiv und nicht wie beim Zelloidin negativ. — Eine Reihe anderer Beob- achtungen, wie das optische Verhalten der ein- getrockneten Zelloidin- und Zellulosestreifen spricht ebenfalls für die gemachten Annahmen. Es fragt sich zuletzt nur, ob wir berechtigt sind, einen Auf- bau der Zellulose und des Zelloidins in der Art anzunehmen, wie es für die Stäbchendoppel- brechung nach Wiener gefordert wird. Am- bro nn geht hier zurück auf die alte Theorie Nägelis von dem Aufbau der Stärkekörner aus Micellen d. h. aus Teilchen, die an sich regel- mäßige Ungleichmäßigkeiten der räumlichen Rich- tungen zeigen, und nimmt für Zellulose und Zello- idin einen analogen Aufbau an. Sobald sich nun eine Anzahl solcher Micelle mit ihren entsprechen- den Achsen parallel oder nahezu parallel stellen, so können sich ihre Einzelwirkungen summieren, und das ganze System wird, ohne daß ein Raum- gitter wie bei den echten Kristallen zustande kommt, eine optische Anisotropie zeigen. H. Am- bron n weist auf die Analogie mit der Langevin- schen Orientierungshypothese zur Erklärung der magnetooptischen Doppelbrechung mancher kolloi- daler Lösungen hin. (Auch die anisotropen P'lüssig- keiten O. Lehmanns lassen sich analog auf- fassen. D. Ref) Wendet man diese Micellarhypo- these auf die geschilderten Erscheinungen im Zelloidin und in der Zellulose an, so muß man annehmen: Durch die. starke einseitige Deforma- tion wird eine mit steigender Dehnung immer vollkommenere Orientierung der stäbchenförmigen Micelle bewirkt, die dann nach O. Wiener zu einer positiven Stäbchendoppelbrechung führt. Daß die Micelle selbst aber nicht nur räumlich, sondern auch bereits optisch anisotrop sind, das zeigen die geschilderten Versuche H. A m m - bronns, die sich ohne die Zuhilfenahme dieser Eigendoppelbrechung nicht deuten lassen. Daß der Aufbau der Streifen in diesem Smne anzu- nehmen ist, das darf außerdem auch daraus ge- folgert werden, daß sich beim Einführen von Farb- stoffen ein starker Dichroismus zeigt. Wegen weiterer Einzelheiten der für die akzidentelle Doppelbrechung in Kolloiden sehr bedeutungs- vollen Versuchsergebnisse muß auf die oben er- wähnten 4 Originalarbeiten verwiesen werden. Spbg. Mineralogie. Eine neuere Untersuchungs- methode, deren Wichtigkeit mehr und mehr er- kannt wird, nämlich : Die mikroskopische Unter- suchung undurchsichtiger Mineralien und Erze im aulfallenden Licht und ihre Bedeutung für Minera- logie und Lagerstättenkunde behandelt eine die neuesten Ergebnisse z. T. auch eigener Unter- suchungen zusammenfassende Arbeit von H. Sehn eider höhn im Neuen Jahrb. f. Mineral. 43. Beil.-Bd. S. 400—438 (29. 5. 1920). Viele Mineralien, insbesondere solche, die als Erze Be- deutung besitzen, sind so undurchsichtig, daß sie auch in Dünnschliffen nahezu gleichmäßig schwarz erscheinen und sich der gewöhnlichen Art näherer Betrachtung entziehen. Wenn man daher ihre innere Struktur oder Homogenität, oder ihren Verband untereinander oder mit dem Neben- gestein erforschen will, so muß man die aus der Metallographie entwickelte Methode anwenden, deren Wesen darin besteht, daß einseitig ange- schliffene und polierte Erzstücke, die noch ver- schieden vorbehandelt sein können, im senkrecht auffallenden und reflektierten Licht u. d. M. unter- sucht werden. Eine allgemeine Anwendung dieser Methode im Dienste der Erforschung der Erz- lagerstätten ist seit etwa 1914 zunächst in Amerika in ausgedehnterer Weise erfolgt, während man bei uns eben erst damit zu beginnen scheint. Der Verf. gibt zunächst eine Übersicht über die einschlägige neuere und neueste Literatur und • danach über alles, was bei der Anfertigung von Erzanschliffen zu beachten ist. In einzelnen wird z. B. besprochen: Die Vorbereitung und Auswahl des Stückes, das Anschleifen von Erzstücken, der seiner Natur nach hiervon gänzlich verschiedene Polierprozeß, die Bedeutung der Natur des Polier- mittels und der Unterlage hierbei, die Fertig- stellung und Montierung von Erzanschliffen und die Anfertigung von Anschliffen von Körnerproben und pul verförmigen Produkten. In 10 Minuten können Erzstücke fertig geschliffen und poliert sein. Wenn zur genaueren Untersuchung der Ver- bandsverhältnisse die polierten Schliffe allein nicht genügen, wird noch eine besondere Vorbehand- lung erforderlich. Soweit hierbei Anätzen in Be- tracht kommt, ist auf Korrosionswirkungen und besonders auf elektrolytische Nebenwirkungen zu achten, die durch Potentialdifferenzen zweier ver- schiedener Erze in Berührung mit dem meist zur Ätzung dienenden Elektrolyten entstehen. Als weitere Methoden zur Vorbehandlung von Erz- anschliffen werden erwähnt: Rasche Erwärmung, Anlauffarben, Erzeugung von Gleitflächen durch einseitigen Druck und Lichtätzung. — Sodann folgen kurze Bemerkungen über das Metallmikro- skop, das zu bequemerer subjektiver Beobachtung verbessert werden soll, und über die Herstellung von Mikrophotographien von Erzanschliffen. Die für die ganze Untersuchungsweise, für die der Name „C h a I k o g r a p h i e" (von z^^^os = das Erz) vorgeschlagen wird, in Betracht kommenden Kennzeichen können morphologischer, optischer, oder chemischer Natur sein. Morphologische Kennzeichen ergeben sich aus Begrenzung und Habitus der Individuen, aus Spaltbarkeit, Zwillings- lamellen, Gleitflächen und Anwachszonen, Härte, Relief, Ausbildung der Schleifoberfläche, schließ- lich auch aus Struktur und Verwachsungsart wie aus Einschlüssen. Von optischen Eigenschaften 6o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 38 sind von Wichtigkeit : Politurfähigkeit und Glanz, Farbe und Verhalten gegen polarisiertes Licht. Hierzu dienen Vorrichtungen, wie sie von J. Königsberger (Centralbl. f. Min. usw. 1908, 565; 597; 1909, 245; 1910, 712) eingeführt und von R. E n d e 1 1 und H. Hanemann (Zeitschr. f. anorg. Chemie (191 3) 82, 267 — 274) verbessert wurden. Von chemisc he n Kennzeichen ist im wesentlichen nur die Ätzung von Bedeutung; spezielle mikrochemische Bestimmungsmethoden werden nicht empfohlen. Besonders hingewiesen wird sodann noch auf Pseudostrukturen und dia- gnostische Irrtümer infolge fehlerhafter Politur. Die Aufgaben, die die „Chalkographie" ihrer Lösung näher bringen kann, werden wie folgt zusammengefaßt : „I. Opake Mineralien können mit ihrer Hilfe auf Homogenität geprüft werden. Viele Analysen von Sulfiden und Sulfosalzen zeigen erhebliche Abweichungen von der theoretischen Formel. Dies mag auf Beimengungen beruhen, welche wegen der opaken Natur des' Stoffes bis jetzt nicht entdeckt werden konnten. 2. Manche kompliziert zusammengesetzte, als neu beschriebene opake Mineralien werden sich als Gemenge längst bekannter Mineralien erweisen. 3. Umgekehrt wird man manches noch unbe- kannte Erz erst mit Hilfe dieser Methode ent- decken. 4. Die Produkte der physikalisch chemischen Erzsynthese können leicht miteinander und mit bekannten Naturprodukten verglichen werden. 5. Die Chalkographie bietet wichtige Hilfe dar bei der Auffindung und Bestimmung von poly- morphen Umwandlungspunkten von Erzen (Chalko- graphie bei höherer Temperatur, bis jetzt m. W. noch nicht angewandt). 6. Neben die Untersuchung von Erzlagerstätten durch Dünnschliffe ist als gleichwertige Unter- suchungsmethode die der Erzanschliffe im auf- fallenden Licht getreten. Sie kann hauptsächlich folgendes feststellen: Die Mineralzusammensetzung der Erze. Ihre Verwachsungsstrukturen. Die ge- nauen Altersverhältnisse der Erze. Ihr Verhältnis zum Nebengestein. Die Zementationserscheinungen, die sie unter Umständen trennen kann in deszen- dente und aszendente Zementationen. Überhaupt werden durch sie die ganzen genetischen Ver- hältnisse der Erzlagerstätten bedeutend mehr ge- klärt. Alle diese Fragen waren seither im Dünn- schliff gar nicht oder nur unvollkommen zu lösen gewesen. 7. Spezialfragen der Mineralogie der Erze können behandelt werden : z. B. ob ein bestimmtes Metall in P'orm mechanischer Beimengung oder in fester Lösung in einem Erz vorhanden ist. 8. Alle die vorgenannten Feststellungen haben größten praktischen Wert, wenn es sich für die Bergbauinteressenten um die Erkennung der Genese eines Erzvorkommens und seines weiteren Verhaltens in der Teufe handelt. Aber auch noch spezielle, die Praxis des Bergmannes berührende Fragen lassen sich mit Hilfe dieser Methode be- handeln: so die Untersuchung von Bohrschlamm aus Erzlagerstätten und die Untersuchung von Produkten und Konzentraten der Aufbereitung." Spbg. Botanik. Die Wirkung ultravioletter Strahlen auf Pflanzen. Von der Wirkung der Strahlen- gattungen verschiedener Wellenlänge auf Pflanzen ist noch manches unbekannt. Am genauesten ver- folgt ist die Tätigkeit des Lichtes bei der Kohlen- säure-Assimilation: wir wissen, daß das hellrote bis gelbe, dann in geringerem Maße das blaue Licht assimilatorisch tätig ist, während die lang- welligsten roten, die grünen und die violetten bis ultravioletten Strahlen unwirksam sind. Auch daß es vorwiegend die stärker brechbaren Strahlen sind, welche die heliotropischen Erscheinungen und die Verzögerung des Längenwachstums be- wirken (gegenüber der Vergeilung verdunkelter Pflanzen), ist bekannt. Welche biochemischen Wirkungen aber sonst noch das Licht, nb. ver- schiedener Wellenlänge, etwa in Pflanzenzellen ausübt, und wie solche Wirkungen in der Ent- wicklung der Pflanzen in Erscheinung treten, das ist in theoretischer wie in praktischer Rich- tung noch zu erforschen. Einige Beiträge und Anregung zu diesen Fragen bringt F. Schanz -Dresden in „Einfluß des Lichtes auf die Gestaltung der Vegetation", Ben Deutsch. Bot. Gesellsch. 36, 1918, 619 — 632 und „Wirkungen des Lichtes verschiedener Wellen- länge auf die Pflanzen", ebenda 37, 1919, 430 bis 442. Zu seinen Untersuchungen gelangte er von augenärztlichen Studien aus. Die gesundheits- schädliche Wirkung starker ultravioletter Bestrah- lung auf die menschliche Körperhaut (Sonnen- brand der Alpenwanderer) und auf die Netzhaut des Auges regte zu Beobachtungen an, welche zunächst ergaben, daß ultraviolette Strahlen lös- lichere Eiweißverbindungen in schwerere lösliche überführen, so z. B. auch im Linseneiweiß des Auges. Solche Wirkung üben auch sichtbare Strahlen aus, wenn ein „sensibilierender" Farbstoff gleichzeitig vorhanden ist. Aber das Eiweiß ist auch an sich lichtempfindlich. Darum glaubt Schanz die Frage nach der Wirkungsweise des Blattgrünfarbstoffes dahin beantworten zu sollen, daß das Stroma der Chlorophyllkörper licht- empfindlich ist, und durch das Chlorophyll für Strahlen sensibilisiert wird, für welche es an sich nicht empfindlich ist. Schanz hat nun für seine Pflanzenversuche vorwiegend eine Art Glas angewandt: das von ihm selbst angegebene „Euphos-Glas", welches alle ultravioletten Strahlen, etwa von der Wellenlänge l. = 400 ;«/( ab, verschluckt, das sichtbare Licht aber hindurchläßt. Die Versuche wurden teils in der P'orstakademie Tharandt, 250 m ü. M., teils in dem zu dieser gehörigen Versuchsgarten zu Schellerhau ausgeführt. In gewissem Grade wer- N. F. XIX. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 607 den die ultravioletten Strahlen ja auch durch die Atmosphäre schon geschwächt, mehr noch durch gewöhnliches Glas, doch zeigen die beigefügten Spektrophotogramme, daß das Euphos-Glas deren noch weit mehr absorbiert. Es wurden zunächst vier Reihen von Versuchen, mit vielerlei Pflanzen- arten, ausgeführt : ohne Glas, unter gewöhnlichem, unter Euphos-, und unter rotem Glas. Die letzteren zeigten (wie längst bekannt) starke Über- verlängerung der Stengel und Blattstiele, die Blatt- spreiten z. T., wie bei Pelargonium, glockig aus- gebildet, infolge stärkeren Wachstums (geringere Wachstumshemmung?) der Palisadenschicht. Im folgenden Jahr (1919) wurden die Versuche noch weiter ausgedehnt (auch einer im Botanischen Garten zu Dresden angesetzt), wobei „Euphos- Glas" in zwei verschiedenen Dicken angewandt wurde, dazu Euphos- -|- gelbes Glas und Euphos- -[- grünes Glas, ferner ein blau-violettes Glas. Das dickere Euphos-Glas verschluckte auch einen Teil des sichtbaren violetten Lichtes. Auch hier war das Längenwachstum der Pflanzen wieder durchaus verschieden: am schwächsten im freien Licht, zunehmend unter gewöhnlichem, unter Euphos dünn, Euphos dick, rotem und gelbem Glas (letztere beiden gaben die höchsten Pflanzen), abnehmend unter Grün und Blauviolett. An Petunien ist von Interesse, daß die Pflanzen unter Euphos-Glas ebensogut und ebensogroß blühten wie im freien Licht, eine erneute Widerlegung der schon vor 20 Jahren von Klebs widerlegten Hypothese der im ultravioletten Licht entstehen sollenden „Blütenbildenden Stoffe" nach Sachs. Übrigens blühten die Euphos-Pflanzen eher aut als die unter gewöhnlichem Glas gehaltenen 1 Nur die Farbe der Blüten war bei Ausschluß der ultravioletten Strahlen schwächer als normal. Ein unmittelbarer Einfluß des Lichtes auf die Blüten- farbe ist ja seit lange bekannt (vgl. Hugo Fischer, in Flora, 98, 1908, S. 380). In gleicher Weise unterblieb aber auch die Anthocyanbildung in den Blättern sonst rot- blättriger Pflanzen: Salat, Rotkohl, Blutbuche, Celosia Thomsoni, Begonia hybrida. Die unter Euphos ganz grün gebliebenen Pflanzen färbten sich innerhalb weniger Tage normal rot, wenn sie hellem freiem Licht ausgesetzt wurden. Nur die Blutbuche verhielt sich insofern anders, als ihre unter Euphos grün entfalteten Blätter das freie Licht auch bei trübem Himmel nicht er- trugen (1), sondern abwelkten und durch neu aus- treibende, dunkelrot gefärbte Blätter ersetzt wurden; also eine deutliche Lichtschutzwirkung des Antho- cyans. Auch an jungem Eichenlaub blieb die be- kannte rötliche Färbung aus, wenn die Pflanzen unter Ausschluß der ultravioletten Strahlen ge- zogen wurden. In kleineren Versuchen wurden noch einige interessante Einzelheiten festgestellt; Auf die Samenkeimung wirken die ultravioletten Strahlen verzögernd (I), so daß unter Euphos-Scheibe ein weit rascheres Aufgehen stattfand, besonders deut- lich bei Brennesselsamen. Desgleichen wird aber auch das Ergrünen gebleichter Dunkelpflanzen (Buschbohnen, Puffbohnen, Kartoffeln) bedeutend gefördert, wenn man die ultravioletten Strahlen ausschließt, die also auf die Chlorophyllbildung verzögernden Einfluß ausüben müssen. Und eben- so wird das Vergilben älterer Blätter aufgehalten, wenn man jene Strahlen von den Pflanzen fern- hält. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß die hier mitgeteilten Versuchsergebnisse in meh- rerlei Richtung von Interesse und wert sind, weiter verfolgt zu werden. Daß hier rein wissenschaft- lich noch manche P"rage zu lösen ist, begreift sich wohl von selbst. Aber auch für die Gärtnerei ist es von wesentlichem Belang, zuverlässig zu erfahren, welche Glassorte für ihre Mistbeetfenster und Glashäuser die geeignetste sei. Vielfach wird jetzt „Rohglas" verwendet, das einen guten Teil der kurzwelligen Strahlen, aber auch solche des sichtbaren Spektralteiles abfängt. Daß solches Glas mit Erfolg benützt werden kann, ist ein erneuter Beweis dafür, daß der Lichtfaktor unter normal- natür- lichen Bedingungen jedenfalls nicht im „Minimum" ist (vgl. Naturw. Wochenschr. 1920, S. 179 r. u.). Schanz meint, daß sein Euphos-Glas von be- sonders günstiger Wirkung auf die Pflanzen sei; von anderer Seite hörte ich, daß das „Uviol- Glas" von Schott & Gen., Jena, gerade weil es (daher sein Name) viel ultraviolette Strahlen durchläßt, für gärtnerische Zwecke empfohlen wird. Es ist noch, und zwar in wissen- schaftlicher Versuchsanstellung, vor allem auch unter genauer spektroskopischer Prüfung der zu verwendenden Glassorten, zu prüfen, welche Mei- nung denn eigentlich die richtige ist. Aus Amerika kam jüngst die Nachricht (vgl. „Um- schau" 1919, Heft 23, S. 621), man habe dort durch Bestrahlung mit dem an ultravioletten Strahlen reichen Licht von Quecksilberdampflam- pen ganz erstaunliche Beschleunigung der Ent- wicklung und Steigerung der Ernten erzielt, aller- dings mit erheblichen Unkosten. Bestätigung und nähere Durchforschung der Zusammenhänge ist zu wünschen. — Daß die unter Euphos-Glas heran- gezogenen Pflanzen stärkeres Längenwachstum zeigten, ist noch kein Beweis dafür, daß sie des- halb wirklich besser, d. h. kräftiger gewachsen waren. Kein vernünftiger Pflanzenpfleger wird das Gedeihen seiner Zöglinge allein mit dem Metermaß feststellen wollen 1 Hier können nur Wägungen der Pflanzen zürn Ziele führen. Von weiterem Interesse wären Aufzeichnungen über Zahl und Größe der gebildeten Blätter und Blüten, über den Tag des Aufblühens usw. Gärt- nerisch bedenklich wäre von vornherein die er- wähnte blassere F'ärbung der unter Euphos-Glas entwickelten Blüten. Aber mancher würde vielleicht an rotblättrigen Pflanzen (z. B. Coleus) Gefallen finden, die man durch abwechselndes Einstellen unter Euphos- und unter gewöhnliches Glas ver- anlaßt hat, nacheinander bald grüne und bald rote 6o8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 38 Blätter hervorzubringen. Nach den Feststellungen von Schanz müßte man erwarten , daß sowohl die Blütenfarben wie auch das Anthocyan in Blättern unter Uviol - Glas besonders leb- haft in Erscheinung treten würden. Jedenfalls eröffnet sich hier noch sowohl für die „reine" wie für die angewandte Pflanzenphysiologie ein belangreiches Arbeitsfeld. Das Uviol- Glas wäre für die Versuchsanstellung darum wertvoll, weil Kultur ohne Bedeckung ja ganz andere Vege- tationsbedingungen schafft, so daß also im Freien und unter irgendeinem Glas gehaltene Pflanzen auch ohne den Lichtfaktor schon Unterschiede in ihrer Entwicklung zeigen müssen , folglich schwer zu vergleichen sindl Ist erst dasjenige Strahlenmischungsverhältnis festgestellt, das in Wahrheit der Entwicklung der Pflanzen am besten zusagt, so wird es unserer Glasindustrie nicht allzuschwer fallen, ein Glas mit den gewünschten Eigenschaften auf den Markt zu bringen. Dr. Hugo Fischer, Essen a. R. Bücherbesprechungen. Bauer, Prof Dr. Hugo, Chemie der Kohlen- stoffverbindungen.- I. Aliphatische Ver- bindungen. 3., verb. Aufl. (Sammig. Göschen Nr. 191/92.) Berlin und Leipzig 1919/20, Vereinigg. wissenschaftlicher Verleger. W. de Gruyter & Co. 3,2oM. + so%. In merklich besserer Weise, als in den ersten Auflagen gibt der Verl, in den neuen Bändchen eine gedrängte . Darstellung der Haupttatsachen und -beziehungen der aliphatischen Chemie. Der Wert des Werkchens liegt in erster Linie in der sehr glücklichen Auswahl und Darstellung der- jenigen Stoffe, deren Kenntnis die Grundlage zum Verstehen der organischen Chemie bildet. Hauptgewicht ist erfreulicherweise auf die Dar- stellung der rein chemischen Verhältnisse gelegt worden, während technische Fragen (Alkoholdar- stellung usw.) nur flüchtig berührt sind. Insbesondere auch für den chemisch interessierten Nichtfachmann sind somit die vorUegenden Bändchen durchaus empfehlenswert. Immerhin drängten sich mir ein paar Bemerkungen auf, deren Berücksichtigung das Werk zweifellos gewinnen lassen würde. Vor allem ist die Schreibweise der chemischen Be- zeichnungen nicht befriedigend. Wenn schon die seinerzeit vom Verein deutscher Ingenieure be- fürwortete „Aussprachebezeichnung" (die m. E. durch nichts gerechtfertigt ist) in Anwendung kommen sollte, so mußte das unbedingt ein- heitlich geschehen. Statt dessen steht z. B. I. S. 106 „Kalzium" und „Calcium" unmittelbar nebeneinander. Und auch in diesen für einen weiteren Leserkreis bestimmten Bänden ist die falsche Schreibweise „Zyan" statt „Cyan" durch nichts begründet. Ebenso ist „Halogenür" (I. S. 34) durch „Halogenid" zu ersetzen. Wenn ferner L S. 23 von Butan- 2.3-diol die Rede ist, so bleibt das unverständlich ohne vorherige Erläuterung der Genfer Nomenklatur. L S. 20 fehlt IVl o i s s a n s Hypothese der Erdöl- entstehung. — S. 30 unten ist die Druckanordnung sinnstörend. — Bei den Estern fehlt das zum Methylieren so wichtige Dimethylsulfat. — Der Darsteller des Chloroforms (LS. 39) war Soubeiran. — Eine nähere Erläuterung des Polymeriebegriffes fehlt. — Auch der neuerdings steigend wichtige Be- griff der Pseudosäuren verdient nähere Darstellung, zweckmäßig in Anschluß an das Trinitromethan. Es bedarf kaum der Versicherung, daß diese Bemerkungen den Wert der Bände im ganzen nicht mindern können. Im Gegenteil: es gibt nicht leicht eine Darstellung des behandelten Ge- bietes, die der Bau ersehen an innerem Wert gleichkommt. H. H. Weniger, Ludwig, Altgriechischer Baum- kultus. Untersuchungen. (Das Erbe der Alten, Neue Folge II.) 8*. VI, 64 S. Leipzig 1919, Dieterich 'sehe Verlagsbuchhandlung. Preis: geh. 3,50 M., geb. 5,50 M. Die Freunde der klassischen Antike und vor allem die Ethnobotaniker werden ihre helle Freude an der Schrift haben. Es wird in ihr untersucht, wie Eiche, Lorbeer, wilde und kultivierte Olive bei den Hellenen zu edlen Symbolen geworden sind. Auch der Nichtgräzist kann das Büchlein ohne Hindernisse lesen, da ausführliche gelehrte Erläuterungen und Nachweise erst am Schlüsse an- gefügt sind. Hoffentlich verwenden die Gymnasial- biologen dies oder jenes aus der Schrift auch in ihrem Unterricht. Denn Wenigers Unter- suchungen können unseren botanischen Lehrstoff wirklich „humanisieren". Dresden. Rudolph Zaunick. Inhalt: E. P. Iläufller, Der derzeitige Stand der Vitaminfrage. S. 593. — W. Nuß, Die Entstehung der bodenständigen Braunkohlenflüze. S. 598. — Einzelbericbte: H. Ambronn, Über die akzidentuelle Doppelbrecliung im Zelloidin und in der Zellulose. (l Abb.) S. 603. II. Schneiderhöhn, Die mikroskopische Untersuchung undurchsichtiger Mineralien und Erze im auffallenden Licht und ihre Bedeutung für Mineralogie und Lagerstlittenkunde. S. 605. F. Schanz, Die Wirkung ultravioletter Strahlen auf Pflanzen. .S. 606. — BUcherbesprecbungen : II. Bauer, Chemie der Kohlenstofl'verbindungen. S. 608. L. Weniger, Altgriechischer BaumkultuS. S. 608. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdt. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ig. Band; er ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 26. September 1920. Nummer 39. Das Individuum im Pflanzenreiche. Nach einem im naturwissenschaftlichen Vereine für Steiermark zu Graz am 26. Oktober 191 8 gehaltenen Vortrage. [Nachdruck verboten.] Von Dr. Karl Fritsch, Professor der Botanik an der Universität Graz. Einleitung. So klar und eindeutig der Begriff „Individuum" bei den höher entwickelten Tieren ist, so schwan- kend und zweifelhaft ist er bei den höheren Pflanzen. Auf den ersten Blick scheint ja ein Baum ebenso wie ein beliebiges Säugetier ein Individuum zu sein; in vielen Eigenschaften stimmen beide überein. Beide entstehen aus einem Embryo, der einem Befruchtungsvorgang sein Dasein verdankt. Der Embryo wächst zum Organismus heran; dieser erreicht schließlich die für die betreffende Art charakteristische Gestalt, ernährt sich, bildet Fortpflanzungsorgane aus, durch deren Tätigkeit neue Embryonen entstehen, und geht schließlich zugrunde. Zunächst scheint also zwischen Baum und Säugetier ein wesent- licher Unterschied nicht vorhanden zu sein — insoweit die Individualität in Frage kommt. Wie steht es aber dann, wenn wir einen Baum durch Ableger vermehren? Ein in die Erde gesteckter Weidenzweig wurzelt bekanntlich sehr leicht ein und liefert einen neuen Weiden- baum. Dieser ist im ausgewachsenen Zustande von einem anderen, der aus einem Embryo ent- standen ist, nicht zu unterscheiden. Ist nun ein solcher Baum, der nur ein vegetativer Abkömm- ling eines anderen Baumes ist, kein Individuum ? Salix babylouica, die echte „Trauerweide", wird bei uns nur durch Ableger vermehrt. „Sollen wir darum die herrlichen Trauerweiden unserer Parke und Friedhöfe, denen zu vollständigen Bäumen gewiß nichts abgeht, nicht für individuelle Stöcke, sondern für die zerrissenen Glieder eines in mythisches Dunkel sich verlierenden Urstammes halten?" (A. Braun*) S, 27). Ähnliches gilt von Helodea caiiadeiisis , der „Wasserpest", die in Milliarden von Stöcken die Wassergräben Europas anfüllt, aber nur in Amerika Samen hervorbringt. Sind wirklich die ungeheueren Massen von Helodea- Stengeln, die zahllose Gewässer Europas besiedelt haben, nur Zweige eines einzigen nach Europa gelangten Individuums? (Spencer 1864, S. 205.) Um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, wollen wir zunächst den Begriff „Indi- viduum" etwas genauer feststellen. In wörtlicher Übersetzung heißt „Individuum" etwas Unteilbares, eine unteilbare Einheit. Eine Schafherde ist auch eine Einheit, aber sie ist teil- ') Literatur am Schluß I bar. Ich kann aus ihr mehrere kleinere Herden bilden oder auch ein einzelnes Schaf für sich allein in Pflege nehmen. Jedes einzelne Schaf ist lebens- fähig, nicht aber Teile desselben — das einzelne Schaf ist also eine unteilbare Einheit, ein Indi- viduum. Hingegen läßt sich der Baum in eine große Anzahl von Zweigen zerschneiden, die — unter entsprechenden Bedingungen — für sich allein lebensfähig sind. Der Baum ist also ent- schieden keine unteilbare Einheit, also jedenfalls kein Individuurn im ursprünglichen Sinne des Wortes. Als unteilbare Einheit können wir aber ungezwungen eine unverzweigte monokarpische Pflanze mit endständiger Blüte auffassen, z. B. ein unverzweigtes Exemplar von Papaver rlioeas. Eine solche einaxige Pflanze ist zweifellos ein Individuum, da weder die Blüte, noch die Blätter oder Stengelstücke, noch die Wurzeln allein lebens- fähig sind. Nach einmaliger Samenbildung stirbt die Pflanze ab und aus ihren Samen wachsen neue Individuen heran. Verzweigt sich die Mohnpflanze, so schließen auch die Seitenzweige („Wieder- holungssprosse") mit je einer Blüte ab. Abge- schnittene Seitenzweige der Mohnpflanze sind aber nicht lebensfähig, da sie nicht die Fähigkeit haben, in der Erde Wurzeln zu schlagen, wie die meisten Baumzweige. Es ist also wohl die Auffassung berechtigt, daß auch die verzweigte Mohnpflanze nur ein Individuum repräsentiere. Recht lehrreich sind in dieser Hinsicht die Stauden, welche ausdauernde, in der Regel unterirdische Stämme (Rhizome, Knollen oder Zwiebeln) besitzen und alljährlich neue, im Herbst absterbende Laubsprosse und Blütensprosse aus- bilden. Wählen wir als Beispiel — wie schon A.Braun in seiner klassischen Abhandlung — zunächst Paris qiiadrifolia, die Einbeere. Das Rhizom dieser Pflanze ist plagiotrop und wächst unbegrenzt; die blühenden Sprosse entspringen aus den Achseln der am Rhizom vorkommenden Niederblätter. Ein solcher Blütensproß verhält sich — abgesehen von seiner Entstehung — ähn- lich wie die oben erwähnte unverzweigte Mohn- pflanze: er entwickelt Laubblätter und schließt mit einer terminalen Blüte ab; nach der Frucht- reife geht er zugrunde. Für sich allein lebens- fähig ist er aber nicht. Wenn wir also von einem Individuum die Lebensfähigkeit verlangen, so kann der Blütensproß allein kein Individuum sein, son- dern nur zusammen mit dem Rhizom. Letzteres 6io Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 39 entsendet aber nicht nur alljährlich einen Blüten- sproß über die Erde, sondern es verzweigt sich auch und stirbt von hinten her Stück für Stück ab, wodurch die ursprünglich zusammenhängen- den Zweige isoliert werden. Was ist nun hier ein Individuum? Fassen wir die Gesamtheit aller Rhizomzweige und Blütenzweige, die indirekt aus einem einzigen Embryo hervorgegangen sind, als solches auf, so kommen wir zu ähnlichen para- doxen Konsequenzen, wie bei der oben erwähnten Ht'lodca. Außerdem ist dieser ganze Komplex keineswegs unteilbar; denn wenn ein Rhizomzweig einmal eingewurzelt ist, so kann ich ihn ab- schneiden und er wird unbehindert weiterwachsen und Blütensprosse ausbilden — ähnlich wie ein abgeschnittener Weidenzweig. A. Braun hat bekanntlich den Sproß für das wahre Individuum der Pflanze erklärt. Sehen wir nun zu, ob diese Auffassung speziell bei Paris befriedigt. Aus der Achse des /^rt'ra-Keimlings geht das Rhizom hervor. Dieses hat, wie schon oben gesagt wurde, unbegrenztes Wachstum, kann also in gewissem Sinne als unsterblich bezeichnet werden. A. B ra u n sagt (S. 57): „Für Pflanzenstöcke, wie wir sie z. B. von der Einbeere {Paris) kennen, gibt es unzweifelhaft keinen anderen als einen zufälligen Untergang. Alle Pflanzen, die den Zyklus des vegetativen Lebens wiederholt und ohne bestimmte Lebensgrenze erneuern und die ich deshalb anabiotische nennen will, können daher nicht als einfache Individuen betrachtet werden." A. Braun faßt nun wohl die einzelnen Blütensprosse von Paris als getrennte Individuen auf, das Rhizom aber nur als ein einziges, und dieses hat für sich allein doch auch keine „be- stimmte Lebensgrenze" 1 Die Auffassung A. Brauns führt weiterhin zu der Konsequenz, daß wir Paris einen Generationswechsel zu- schreiben müssen : das Rhizom stellt die unge- schlechtliche Generalion dar, da es sich nur vege- tativ fortpflanzt, der Blütensproß die geschlecht- liche. Vor dieser Konsequenz ist auch A. Braun nicht zurückgeschreckt (S. 88 ff.). Hierbei ist die ungeschlechtliche Generation unsterblich, die ge- schlechtliche monokarpisch und kurzlebig. Interessant ist der Vergleich von Paris mit einer einaxigen Staude, z. B. mit Anonoiic iiciiio- rosa, dem Buschwindröschen. Auch diese Pflanze hat ein plagiotropes Rhizom, aber dieses verlängert sich direkt zum oberirdischen Stengel, der mit einer terminalen Blüte abschließt. Die Fortsetzung des Rhizoms wird durch einen Axillarsproß ge- bildet; das Rhizom ist also ein Sympodium. Dieser Fall läßt sich mit der Auffassung von A. Braun, jeder Sproß stelle ein Individuum dar, besser in Einklang bringen. Jede Jahres- generation wäre ein Individuum, das mit der Blüten- und Fruchtbildung sein Leben abschließt. Hier fällt auch der Generationswechsel fort. Wir kommen also zu dem eigenartigen Ergebnis, daß die Braun sehe Lehre in dem einen Falle be- friedigt, während sie in einem anderen, bei flüch- tiger Betrachtung recht ähnlichen Fall zu kaum haltbaren Folgerungen führte. Es läge nahe, ohne Rücksicht auf die Sproß- folge sowohl bei Paris als auch bei Anemone jedes Rhizomstück, welches einen Blütensproß trägt, mit diesem zusammen als Individuum auf- zufassen. Dadurch nähern wir uns der alten „Stockwerklehre", welche jedes Internodium samt dem dazugehörigen Blatt als Individuum auffaßte (A. Braun, S. 31). Man kann bekanntlich einen Kartoffelknollen zerschneiden und dadurch meh- rere Pflanzen aus ihm erzielen. Nur muß jeder der Abschnitte ein „Auge", d. h. eine Axillar- knospe, tragen. Die Axillarknospe ist nichts anderes als die Anlage eines neuen Sprosses und ist unter günstigen Umständen für sich allein ent- wicklungsfähig. Dieser Fall würde also der Sproß- lehre Brauns nicht widersprechen. Bekanntlich gibt es aber auch Pflanzen, die an Blättern leicht Adventivknospen bilden. Der Gärtner vermehrt Begoiiia-kx\.tn und Sinningia spcciosa (die sog. „Gloxinie") durch Blattstecklinge. Ein abge- schnittenes Blatt dieser Pflanzen, ja selbst ein Blattstück kann bei genügender Wärme und Feuchtigkeit in der Erde Wurzeln schlagen und den Ausgangspunkt für ein neues „Individuum" bilden. Es ist klar, daß wir durch derartige Be- trachtung schließlich bis zur einzelnen Zelle herabkommen müssen — diese allein ist wirklich unter allen Umständen unteilbar, wenn auch in sehr vielen Fällen für sich allein nicht lebens- fähig, namentlich wenn wir die höheren Pflanzen ins Auge fassen. Thallophyten. Dieser Gedankengang führt uns unwillkürlich zu den einfachsten Formen der Organismen, den „Protisten" Haeckels, bei welchen jede einzelne Zelle zweifellos ein Individuum darstellt, oder, klarer ausgedrückt , bei welchen die Individuen aus einer einzigen Zelle bestehen. In der Tat kann es darüber, daß ein einzelner Alicrococcus als Individuum aufzufassen ist, keinen Zweifel geben; denn er lebt durchaus selbständig und besorgt für sich allein alle F'unktionen des Lebens. Der näch- ste Schritt zur Vervollkommnung ist der, daß die durch die Teilung der Zelle entstandenen Tochter- individuen sich nicht sofort trennen, sondern mit- einander verbunden bleiben {Streptococcus^ Solche Anhäufungen von Zellen nennt man bekanntlich Zellkolonien; sie stellen einen Komplex von Individuen dar und unterscheiden sich von mehr- zelligen Individuen vor allem dadurch, daß jede ihrer Zellen gleichwertig und für sich allein lebens- fähig ist. Von großem Interesse für unsere Frage sind jene Zellkolcnien. deren Zellen nicht mehr gleich- wertig und nicht mehr alle für sich allein lebens- fähig sind; sie stellen die Verbindung mit den mehrzelligen Individuen her, von welchen sie meines Erachtens nicht scharf geschieden werden können. Betrachten wir z. B. die autotrophen N. F. XIX. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 611 Formen der Schisophykn , welche man ge- wöhnlich Cyanophyceeii oder Blaualgen nennt. Unter ihnen gibt es viele Formen, deren Zell- kolonien ebenso homogen sind wie die oben erwähnten von Streptococcus (z. B. Oscillatorid). Bei anderen Formen treten zwischen den nor- malen Zellen solche von abweichender Gestalt auf (Heterozysten), welche nicht mehr teilungs- fähig sind (z. B. bei Xostoc). Die iVc.v/'örKolonie ist also nicht homogen, sondern heterogen, weil sie — auch abgesehen von den Arthrosporen — aus zweierlei Zellen besteht. Gleichwohl be- trachtet man auch bei Nostoc die einzelne teilungs- fähige Zelle mit Recht als Individuum und die Zellkette als Kolonie. Die Heterozysten sind hier- nach nichts anderes als abweichend gestaltete In- dividuen, welche die Fähigkeit der Fortpflanzung eingebüßt haben.') Einen weiteren Schritt machen die mit Rivularia verwandten Blaualgen. Hier treffen wir nicht nur Heterozysten an, sondern außerdem sind die obersten Zellen des Zellfadens viel länger, dünner und inhaltsärmer als die unteren, so daß der Zellfaden in eine haarförmige Spitze ausläuft. Hier ist die Auffassung der einzelnen Zelle als Individuum kaum mehr möglich ; auch gibt es keine scharfe Grenze zwischen den teilungs- fähigen Zellen der Fadenbasis und den nicht mehr teilungsfähigen Zellen der Fadenspitze. Man hat das Gefühl, daß der ganze Faden zusammenge- hört und ein Individuum höherer Ordnung bildet (vgl. auch Nägeli 1884, S. 357 u. 445). Gar hoch organisiert und in höchstem Grade heterogen sind die Kolonien bei Volvox , einem Organismus, den weder die Botaniker, noch die Zoologien in ihren Systemen vermissen wollen, weil er einerseits zweifellose Beziehungen zu den Flagcllatcti auf der einen und zu den Chloro- phyccen auf der anderen Seite hat, andererseits in prächtiger Weise den Übergang von einer Kolonie einzelliger Individuen zum vielzelligen Individuum repräsentiert. Zahlreiche Zellen, die mittels Cilien aktiv beweglich sind, sind zu einer hohlen Kugel vereint. Einige unter ihnen liefern durch Teilung Tochterkolonien, andere bilden männliche, wieder andere weibliche Fortpflanzungs- zellen aus, während die übrigen in erster Linie die Funktion der Nahrungsaufnahme (einschließ- lich Assimilation) besorgen. Die Zellen sind untereinander durch Plasmafäden ver- bunden, was allein es schon unmöglich macht, sie einzeln als selbständige Individuen zu betrach- ten. Es würde zu weit führen, die anderen, ein- facher gebauten Formen der Volvociiiceii hier zu besprechen ; sie stellen alle Übergänge von dem einzeln lebenden einzelligen Individuum {SpliaereUa) bis zu dem eigenartigen Fö/T'ö.v'-Komplex dar (vgl. Böhmig S. 337). - Es ist lehrreich, in diesem Zusammenhang noch verschiedene andere Typen von Thallophyten zu betrachten. Die im System isoliert stehende ') Vgl. aber Lotsy I. S. SjSff. Gruppe der Alyxomyceten, welche gewissen Pro- tozoen nahesteht, zeigt Entwicklungsstadien, welche ohne Zweifel als einzellige Individuen aufzufassen sind (Sporen, Schwärmer, Amöben). Die Amöben vereinigen sich aber zu Plasmodien. Können die Aggregatplasmodien der Acrasiceii zwanglos als Kolonien aufgefaßt werden, weil die Grenzen der einzelnen einzelligen Individuen (Amöben) nicht verschwinden, so wäre die gleiche Auffassung der Fusionsplasmodien bei den Myxogastrccii nicht mehr zu rechtfertigen. Die Fusionsplasmodien sind offenbar Individuen höherer Ordnung, ob- schon ihre Individualität wegen der nicht scharfen Abgrenzung nach außen nur wenig ausgesprochen ist. Mit Recht zieht F r i m m e 1 (S. 6) die Alyxo- mycctcii als Beispiel für sein „Individualwander- gesetz" heran (vgl. auch Hertwig S. 378 — 379). Aus der großen Gruppe der Chloropliyceeii wurden die Volvociiicoi schon oben besprochen. Aber auch die anderen, im vegetativen Zustande unbeweglichen Formen der Oilorcpliyceoi bieten interessante Verhältnisse dar. Ein Netz von Hy- drodictyon wird mit Recht als Zellkolonie („Cöno- bium") aufgefaßt; alle Zellen sind gleichwertig, die Kolonie also homogen. Hingegen sind in der scheibenförmigen Kolonie von Pcdiastriiin die Randzellen anders gestaltet als die mittleren; diese Kolonie ist also heterogen. Bei den Con- fervincoi kommt es schon allgemein zur Bildung von Individuen höherer Ordnung, die am häufig- sten die Gestalt einfacher oder verzweigter Zell- fäden haben. Besonders merkwürdig sind die Siplwnecn. Dadurch, daß bei ihnen häufig Kern- teilungen ohne Bildung trennender Zellwände vor sich gehen, entstehen zunächst mehrkernige Zellen {Cladop/wra), schließlich aber die eigenartigen ,,Coelobl asten", von -welchen Botrydiiii/i e.\ntn relativ einfachen, Caiderpa einen komplizierteren Fall darstellt. Hier sind die Individuen zweiter Ordnung ohne Schwierigkeit erkennbar, während sich die Grenze zwischen den Individuen erster Ordnung in ähnlicher Weise verwischt hat, wie bei den Plasmodien der Myxogastrccii. Leider ist Caiderpa in physiologischer Beziehung noch wenig studiert worden ; der Umstand, daß los- gerissene Stücke leicht weiterwachsen, bietet aber für die Frage der Individualität ähnliche Schwierig- keiten wie das Einwurzeln der in der Einleitung erwähnten Weidenzweige. Für diesen Fall paßt auch die Sproßlehre von A. Braun nicht (vgl. dessen eigene Darstellung S. 37). Auch im Bereiche der Pilze treten mancherlei Erscheinungen auf, welche die Frage, was hier als Individuum aufzufassen sei, schwer lösbar machen. Nur wenige Formen der Eumyceten sind ausgesprochen einzellig {Olpidiuiii)\ die meisten besitzen ein sog. Myzelium, welches aus einem Geflecht von Hyphen besteht. Bei den höher organisierten Formen treten außerdem „F"ruchtkörper" auf. Der Pilze sammelnde Laie sieht nur die letzteren und wird geneigt sein, jeden Fruchtkörper für ein eigenes „Individuum" 6l2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 39 zu halten. Da aber gewöhnlich eine größere An- zahl von Fruchtkörpern aus einem und demselben Myzelium hervorwächst, könnte diese Auffassung nicht gebilligt werden. In morphologischer Hin- sicht ist doch nur die eine Deutung möglich, daß alles, was aus einer Spore hervorgeht als ein Individuum (natürlich höherer Ordnung) zu be- trachten ist. In physiologischer Hinsicht wäre aber zu bemerken, daß zweifellos die Myzelien teilbar sind und daher — ähnlich dem Coelo- blasten von Caulcrpa — nicht die letzte Einheit darstellen. Andererseits ist wohl anzunehmen, daß eine einzige Myzelium-Zelle für sich allein nicht lebensfähig wäre. Bevor wir die Thallophyten verlassen, sei noch ihrer Fortpflanzung gedacht. Die bei den Algen so häufig vorkommenden Zoosporen können als einzellige Individuen aufgefaßt werden. Das mehrzellige Individuum (zweiter Ordnung) bildet im Verlaufe seines Lebens einzellige In- dividuen (erster Ordnung) aus, welche die Fähig- keit haben, direkt oder indirekt wieder zu mehr- zelligen Individuen heranzuwachsen. Mutatis mutandis gilt dasselbe auch von den Gameten, namentlich wenn sie so selbständig sind, wie bei bei den isogamen Chlorophyceen {JJlofhrix u. a.). Die t'7cV///7A- Zoospore ist ein schönes Beispiel für das „biogenetische Grundgesetz" Haeckels; denn wir stellen uns die Abstammung der Chloro- phyceen von grünen Flagellaten vor, die so ähn- lich wie die f Yc/Z'/vA-Schwärmspore ausgesehen haben mögen. Die Besprechung des Generationswechsels, der ja auch schon bei vielen Thallophyten in mehr oder weniger ausgeprägter Form vorkommt, in bezug auf die Individualitätsfrage wollen wir lieber bei der Behandlung der Archegoniaten vornehmen. Bry ophy ten. Aus den Sporen der Moose entwickelt sich bekanntlich zunächst ein Vorkeim (Protonema), der bei den thallösen Lebermoosen direkt zum Thallus wird, während er bei den Laubmoosen seitlich Knospen ausbildet, aus welchen die be- blätterten Stämmchen hervorgehen. An der fertig ausgebildeten Moospflanze treten dann die Ge- schlechtsorgane auf: Antheridien und Archegonien. Die in den Antheridien entstehenden Sperma- tozoiden befruchten die in den Archegonien ent- haltenen Eizellen. Die befruchtete Eizelle wird durch Zellteilungen zum Embryo und dieser wächst zum Sporogonium (mit der für unsere Be- trachtungen unwesentlichen, übrigens nicht immer vorhandenen Seta) heran. Im Sporogonium ent- stehen die Sporen, von denen oben die Rede war. Die Frage, was bei den Moosen als Individuum aufzufassen sei, wird durch den eben kurz ge- schilderten Generationswechsel noch verwickelter, als sie an und für sich schon ist. Sehen wir vor- läufig vom Sporogonium (dem „Sporophyten") ganz ab, so gibt es für die Laubmoose zu- nächst zwei mögliche Auffassungen : entweder fasse ich den ganzen Moosrasen, der aus einer Spore (also aus Knospen eines Protonemas) her- vorgegangen ist, als ein Individuum auf, oder jedes einzelne Stämmchen des Rasens. Die letztere Auffassung würde sich an die A. Braun- sche Sproßlehre anschließen, hätte aber die Kon- sequenz, daß wir wohl auch die einzelnen Zweige eines fadenförmigen Protonemas, vielleicht sogar auch jene der Rhizoiden als Individuen auffassen müßten, was wohl entschieden unnatürlich wäre. Es darf also wohl die zuerst genannte Auffassung vorgezogen werden. Bei dieser Gelegenheit sei auf die außerordentlich lange Lebensdauer — wenn nicht Unsterblichkeit im gewissen Sinne — vieler Moosstämmchen hingewiesen. Es kom- men hier namentlich die Sphagiialcs in Betracht, deren Sexualorgane durchweg an seitenständigen „Kurztrieben" stehen, sowie die männlichen In- dividuen diözischer Laubmoose (wie z. B. Poly- triclnim), deren Antheridienstände regelmäßig durchwachsen (vgl. F. Weber S. 454). Das Sporogonium wird dem Laien als Frucht des Moosstämmchens erscheinen, da es diesem ebenso aufsitzt wie etwa ein Apfel dem Zweige des Apfelbaumes. Da aber das Sporogonium aus einem Embryo hervorgeht, muß es wohl als ein eigenes Individuum — allerdings von beschränkter physiologischer Selbständigkeit — angesehen wer- den. Der Generationswechsel besteht also bei den Moosen aus dem Wechsel zweier ganz ver- schieden gebauter Individuen (Selblinge oder Morphoden nach A. Meyer, bzw. F. J. M e y e r), von welchen sich das eine geschlechtlich, das andere ungeschlechtlich fortpflanzt. Bei den diö- zischen Moosen gibt es zweierlei Individuen (Mor- phoden) der Geschlechtsgeneration (des „Gameto- phyten" oder „Gamophyten"). (Man vgl. auch die beiden im Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten von Janet.) Es ist interessant, die alte Anschauung von Gallesio und Huxley (nach A.Braun S. 26), wonach alles, was einem Geschlechtsakt seine Entstehung verdankt, zu einem Individuum ge- höre, auf die Moose anzuwenden. Hiernach würde ein Moosindividuum bestehen: I. aus dem Sporo- gonium mit der Seta (dem direkten Produkt des Geschlechtsvorganges) und 2. aus sämtlichen Moos- pflanzen, die aus den Sporen eines Sporogoniums hervorgegangen sind. Diese Auffassung erscheint ebenso unnatürlich, wie die in der Einleitung be- sprochene Deutung aller durch Ableger gewon- nenen Bäume als Teile jenes Mutterindividuums, welches aus einem Samen hervorging. Da aber Huxley vor der Konsequenz nicht zurück- schreckte, die vielen Millionen von Blattläusen, die einem befruchteten Weibchen ihr Dasein verdanken, als Repräsentanten eines Individuums aufzufassen, so würde er auch die analoge Auf- fassung der Moospflanzen oder Wasserpestzweige jedenfalls gebilligt haben. N. F. XIX. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 613 Pteridophyten. Bei den isosporen Filicinen finden wir einen Generationswechsel, der sich von jenem der Moose hauptsächlich durch die viel weitere Aus- gestaltung des Sporophyten und durch geringere Differenzierung und viel kürzere Lebensdauer des Gametophyten unterscheidet. Letzterer besteht lediglich aus dem Prothallium, an welchem die Geschlechtsorgane auftreten, während die Farn- pflanze nur die Sporangien trägt. Konsequent mit unserer Auffassung der beiden Moosgenera- tionen müssen wir auch bei den Farnen die beiden „Morphoden" als getrennte Individuen auffassen. Aus dem Embryo geht hier direkt die Farnpflanze hervor, deren Stamm sich nur wenig oder gar nicht verzweigt, so daß sie ohne Zweifel als ein einheitliches Individuum aufgefaßt werden kann. Nach der oben erwähnten Auffassung von Huxley würden zu diesem Individuum noch alle jene Prothallien gehören, welche sich aus den von der betreffenden Pflanze stammenden Sporen entwickeln. Auch hier ist jedoch die Deutung jedes Prothal- liums als ein besonderes Individuum entschieden die natürlichere. Prothallium und Farnpflanze bilden zusammen (mit ihren Fortpflanzungsorganen) einen „Zeugungskreis" (Hertwig S. 373). War bei den Moosen der Sporophyt ein ganz unselbständiges, vom Gametophyten abhängiges und diesem dauernd aufsitzendes Individuum, so macht sich der Sporophyt der Farne durch Aus- bildung von Assimilations- und Absorptionsorganen (Laubblättern und Wurzeln) sehr bald unabhängig. Nur in der Jugend sitzt er dem Prothallium auf. Von diesem Verhalten gibt es interessante Aus- nahmen, so die Gattung A/iograinmc, bei welcher die Prothallien perennieren und alljährlich Ge- schlechtsorgane ausbilden, während die Pflänzchen selbst nur kurze Zeit vegetieren (Göbel). Die isosporen Lycopodinen verhalten sich in allen wesentlichen Punkten ebenso wie die isosporen Filicinen. Nur ist das Prothallium — wenigstens bei Lycopodiuui — viel mehr differen- ziert, während andererseits die Stämme des Sporo- phyten sich durch reichliche Verzweigung aus- zeichnen. Da außerdem häufig vegetative Ver- mehrung durch frei werdende Sprosse oder Brut- knospen stattfindet, kommt die A. Braunsche Sproßlehre hier mehr in Betracht als bei den Farnen. EquisctuDi hat dioecische Prothallien, also um eine IVIorphode mehr in seinem Entwicklungsgang. Ferner ist das Auftreten von zweierlei Sprossen bei einigen Arten (z. B. E. arveiise) bemerkens- wert, deren Auffassung als eigener (steriler und fertiler) Individuen vielleicht etwas Bestechendes an sich hätte. Wir wollen aber die endgültige Stellungnahme zur Sproßlehre von A. Braun dem nächsten Abschnitt vorbehalten. Bei den heterosporen Pteridophyten findet bekanntlich eine ziemlich weitgehende Re- duktion des Gametophyten statt, der auch hier ge- trenntgeschlechtig ist. Obschon diese Reduk- tion, namentlich die des männlichen Gametophyten, bis zur mikroskopischen Kleinheit geht, kann doch der Konsequenz halber nicht davon abgegangen werden, die für das freie Auge kaum bemerkbaren „Geschlechtspflänzchen" als eigene Individuen aufzufassen. (Vgl. Leuckart S. 38.) Anthophyten. Bei vorurteilsfreier Betrachtung der Entwicklung einer Blütenpflanze hat man zunächst nicht den Eindruck, daß bei ihnen ein Generations- wechsel vorkommt. Nur der zuerst von Hof- meister angestellte Vergleich mit der Entwick- lung der heterosporen Pteridophyten und dann die durch Strasburger bekannt gewordene Re- duktionsteilung des Zellkerns (der „Phasenwechsel" nach Buder) hatten zur Folge, daß man gegen- wärtig auch den Blütenpflanzen oder doch minde- stens den Gymnospermen einen Generationswechsel zuschreibt. Buder (S. 570) schreibt mit Recht: „Der Generationswechsel wird in der Reihe der Gymnospermen mehr und mehr rückgebildet, bis er schließlich bei den Angiospermen ganz ver- schwindet". Wir haben indessen jetzt nicht den Begriff des Generationswechsels, sondern jenen des Individuums zu behandeln und fragen daher: Ist es notwendig oder berechtigt, auch bei den Antho- phyten die den Prothallien der Pteridophyten homologen Entwicklungsstadien als eigene Indivi- duen aufzufassen? Nägeli (1884, S. 443) hat die Frage unbedingt bejaht. Er erwähnt, daß bei den Blütenpflanzen nur die „Androspören" (Mikro- sporen ^ Pollenkörner) sich von der Pflanze los- lösen, „während die Gynosporen (Embryosäcke) zeitlebens mit dem Gewebe der Elternpflanze ver- wachsen bleiben. Gleichwohl müssen die Embryo- säcke wegen der Analogie mit den Gynosporen der Gefäßkryptogamen und mehr noch wegen der Analogie mit den den nämlichen Rang be- hauptenden Pollenkörnern als Pflanzenindividuen und als besondere Generation betrachtet werden." In dieser Auffassung kann ich Nägeli nicht folgen. Die Pollenkörner sind meiner Ansicht nach keine Individuen, sondern F'ortpflanzungszellen. Sie haben für sich allein keine andere Fähigkeit als die, Pollenschläuche und Spermakerne auszu- bilden. Diese letzteren befruchten die Eizellen und als Resultat der Befruchtung entsteht ein neues Individuum — vor der Befruchtung ist es noch nicht vorhanden , weder im Pollenkorn noch im Embryosack. Man müßte sonst auch bei den Moosen und Farnen die Spermatozoiden und Ei- zellen als eigene Individuen auffassen, was Nägeli (1884, S. 442) allerdings ebenfalls getan hat. Man wird mir nun wohl einwenden, daß ich oben die Schwärmsporen und Gameten der Algen als Indi- viduen bezeichnet habe. Ich fügte aber ausdrück- lich bei, Individuen ersterOrdnung; solche sind natürlich auch die Spermatozoiden und Eizellen. Da aber im ganzen Bereiche der Cormophyten einzelhge Formen fehlen, so können einzellige 6i4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 39 Entwicklungsstadien nicht als Cormophyten-Indivi- duen aufgefaßt werden. Es wird am Platze sein, an dieser Stelle darüber zu diskutieren, ob die ganze Individualitäts-Frage durch die von mehreren Forschern vorgenommene Einteilung der Individuen in solche verschiedener Ordnung in befriedigender Weise gelöst wird. Jedenfalls würde die schon in der Einleitung ven- tiUerte Frage, ob der ganze Baum oder der ein- zelne Zweig ein Individuum darstellt, auf diese Weise am einfachsten beantwortet: der Zweig ist ein Individuum zweiter Ordnung, der Baum ein Indi- duum dritter Ordnung, wie ein Korallenstock (vgl. Hertwig S. 383—384)- Die Unterscheidung von Individuen verschie- dener Ordnung ist schon recht alt. A. Braun (S. 49 — 50) nennt sie die , .Lehre von der rela- tiven Individualität der Pflanze" und beruft sich auf Steinheil, De Candolle und S c h 1 e i d e n , von welchen der zuletzt Genannte seine ,, Allge- meine Morphologie" mit einem die Individualität der Pflanze behandelnden Abschnitte begann. In diesem heißt es: ,,In der Botanik haben wir als Individuen nach wissenschaftlicher Betrachtungs- weise : die einzelne Zelle, und nach empirischer Aufi"assung: die Pflanzen. In letzterer Beziehung zeigen sich Individuen verschiedener Ordnung. Die Elementarorgane treten zu bestimmten Ge- stalten zusammen (Einzelpflanze , ßaiiia simplcx). Durch Fortbildung entwickeln sich auf der Pflanze neue gleiche Individuen (Knospen, gcmuiae), welche häufig mit der IVIutterpflanze in Verbindung bleiben und so für die Anschauung ein Gesamt- individuum bilden (zusammengesetzte Pflanze, planta composifa)." Weiterhin heißt es: „Das In- dividuum ist gar kein Begriff, sondern die rein anschauliche Auffassung irgendeines wirk- lichen Gegenstandes unter einem gegebenen Artbegriff, von diesem letzteren hängt es allein ab, ob etwas ein Individuum ist oder nicht". A. Braun hat sich dieser Anschauung nicht angeschlossen, sondern bekanntlich den Sproß als das dem tierischen Individuum analoge mophologische Indi- viduum der Pflanze erklärt (S. 69). Eine wesentliche Klärung der Individualitäts- frage ist dem scharfsinnigen Nägeli zu danken. Zunächst (1853) halte er. den Baum als Indivi- duum erklärt (S. 31, P'ußnote), dann aber (1856, S. 185, Fußnote) darauf hingewiesen, daß die „Debatten" über die Individualität im Pflanzen- reiche „resultatlos" seien, weil man nicht die phy- siologischen und die morphologischen Individuen auseinanderhalte. „In morpholo- gischer Hinsicht sind die Zellen, die Organe, die Knospen und beblätterten Zweige, die ganzen Bäume individuell." „Sie gehören aber verschie- denen Individualitätsgraden an." Besonders eingehend hat sich IIa eck cl mit derF'rage der relativen Individualität beschäftigt und vom morphologischen Standpunkte aus sechs „Ord- nungen von Individuen" unterschieden (S. 251 und 265), die er für Tierreich und Pflanzenwelt gelten läßt: I. die Zelle, 2. das Organ, 3. das Gegen- stück oder Antimer, 4. das Stengelglied bzw. Rumpfglied oder Folgestück, 5. den Sprofi oder die Person, 6. den Stock. Das Individuum fünfter Ordnung ist hierbei das dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechende tierische Individuum (von den Protisten abgesehen), welchem nach A. Braun der Sproß der Pflanze entspricht. Der Baum ist für H a e c k e 1 ein Individuum sechster Ordnung. In physiologischer Hinsicht kann nach Haeckel jede dieser sechs Individualstufen selbständig sein: bei den Protisten ist es die erste, bei den meisten Tieren die fünfte, bei den meisten Blütenpflanzen die sechste Stufe. Nur unverzweigte einachsige Pflanzen und merkwürdigerweise auch ]'isLiuii (S. 325, 358) werden den Individuen fünfter Ordnung zugezählt, ebenso auch „viele Kryptogamen". Eine der auffallendsten Schwächen der Haeck ei- schen Darlegungen liegt darin, daß er gewaltsam Pflanzen und Tiere in dasselbe Schema einzwängen will (vgl. Fisch S. 8, 105). So hat z. B. die Gleichstellung der Stengelglieder mit den Meta- meren des Tierkörpers zur Folge, daß Viscuvi, dessen Zweige an jedem Knoten regelmäßig ge- gabelt sind und daher anscheinend der Gliederung in „Metameren" entbehren, zur ,, Buschperson" wird und daß der Mistelbusch kein echter „Pflanzen- stock" (Cormus), sondern ein „Pseudo-Cormus" ist (Fisch S. 106). Spätere Forscher haben denn auch die Haeck elsche Auffassung der relativen Individualität abgelehnt und sind zu der ein- facheren Gliederung Schleidens in Individuen dreier Ordnungen zurückgekehrt (Hatschek, Hertwig). Wenn wir nun die Zelle als Individuum ersten Grades, den Sproß als Individuum zweiten und den Baum als Individuum dritten Grades auf- fassen, so kann dagegen kaum etwas eingewendet werden. Die Lehre von A. Braun, daß der Sproß dem tierischen Individuum entspreche, steht mit dieser Auffassung keineswegs im Wider- spruch. Denn das Wirbeltier-Individuum ist ja ebenfalls ein Individuum zweiter Ordnung, und die Unterschiede, die in bezug auf Teilbarkeit zwischen ihm und dem Baum bestehen und die wir in der Einleitung besprochen haben, sind zum größten Teile hierauf zurückzuführen. Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß die Entwicklung der Individualitätsstufen im Tierreich in den meisten Fällen beim Individuum zweiter Ordnung stehen bleibt, während im Pflanzenreich gerade bei den höher entwickelten Formen die Bildung von In- dividuen dritter Ordnung die Regel bildet. Auch im Tierreich kommen solche Individuen dritter Ordnung vor („Tierstöcke": Korallen, SiphonO- phoren, Hertwig S. 383), aber doch nur bei relativ niedrig organisierten Formen, niemals bei Wirbeltieren oder Arfliropodai. Eines darf bei Annahme der Lehre von der relativen Individualität nicht vergessen werden, daß nämlich durch sie der Begriff „Individuum" N. F. XIX. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 615 nicht mehr in seiner ursprünglichen Bedeutung angewendet wird. Wenn ich das Wirbeltier- Individuum ein Individuum „zweiter Ordnung'" nenne und behaupte, das Individuum erster Ord- nung sei auch im Wirbeltierkörper die einzelne Zelle, so ist es klar, daß die letztere kein Wirbel- tier-Individuum sein kann. Schon Schieiden hatte, wie oben zitiert, darauf hingewiesen, daß es nur „Individuen" in bezug auf einen bestimmten Artbegriff geben könne. Der Artbegriff „Wirbel- tier" setzt nun eine bestimmte Differenzierung des Körpers, die Ausbildung einer segmentierten Wirbelsäule, . die Anlage von vier Extremitäten ^) usw. voraus, wie wir sie eben bei jedem Wirbel- tier-Individuum, nie und nimmer aber bei der einzelnen Wirbeltierzelle vorfinden. Wenden wir nun diese Betrachtungsweise auf eine Baumart an, z. B. auf die in der Einleitung erwähnte Trauerweide, so entsteht nochmals die Frage, die wir schon gelöst glaubten : Was ist ein Salix- Individuum, der ganze Baum oder der einzelne Zweig ? A. Braun hatte diese Frage in erschöpfender Weise beantwortet, indem er ausführlich darlegte, der Sproß entspreche dem tierischen Individuum. Auch die oben zitierten Verfechter der relativen Individualitätslehre, wie Haeckel und Hert- wig, haben stets den Sproß und nicht den ganzen Baum dem tierischen Individuum an die Seite ge- stellt. Wir wollen einmal die Konsequenzen dieser Anschauungsweise genauer verfolgen. Nach A. Braun bildet jeder Weidenzweig ein ,5'^?//!v Individuum. Ein Baum besteht somit aus Hunderten oder vielmehr Tausenden von Indivi- duen. Denn jede Axillarknospe ist ja wieder ein eigenes Individuum. Da die Weiden zu den Holz- gewächsen mit verkümmerten Terminalknospen und daher sympodialer Sproßverkettung gehören, so sind auch die Äste des Baumes keineswegs Individuen, sondern sie bestehen aus ebensovielen Individuen, als sie Jahre zählen. Ein alter Weiden- stamm läßt natürlich die Grenzen dieser Indivi- duen längst nicht mehr erkennen. Sein aus der Keimlingsachse direkt hervorgegangener Basalteil ist das älteste Individuum, das nächste Stück ist um ein Jahr jünger usw. Erscheint schon diese Deutung recht gekünstelt, so kommen wir bei Betrachtung der Blütenstände und der Wurzeln zu ganz unannehmbaren Konsequenzen. Jeder Kurztrieb, an dessen Spitze ein Kätzchen steht, ist natürlich ein Individuum ; aber nicht einmal das ganze Kätzchen gehört diesem Individuum an, sondern nur die Kätzchenspindel mit den Deckschuppen. Da jede Blüte ein Axillarsproß ist, ist auch jede Blüte ein gesondertes Individuum ! Die männlichen „Individuen" bestehen nur aus den Staubblättern und den Honigdrüsen, die weib- lichen aus dem Gynäzeum samt den Honigdrüsen. A. Braun geht so weit (S. 104), daß er sogar ') Von den tiefst stehenden Formen kann hier wohl ab- gesehen werden. die Verzweigungen des Wurzelsystems als Indivi- duen auffaßt. Ist eine Seitenwurzel fünften Grades wirklich ein eigenes ä///!v'- Individuum?! Es ist doch vollkommen klar, daß sie nur ein Organ des Ä/fe-Individuums ist, und daß dieses Individuum einfach der ganze Weidenbaum ist, der eine physiologische Einheit bildet (Fitting). Ahnliche Erwägungen ergeben sich auch bei Betrachtung der Stauden und der monokarpischen Blütenpflanzen. Wir haben schon in der Ein- leitung eine unverzweigte Pflanze von Papaver ?-Iioeas als zweifellos einfaches Individuum erklärt. Bei einer kümmerlich gewachsenen und daher unverzweigt gebliebenen Capsella bttrsa pastoris scheint alles gerade so zu sein. Doch neini Hier sind ja die Blüten an Achsen zweiter Ordnung inseriert und jeder Blütenstiel stellt mit der Blüte, die er trägt, ein eigenes Individuum dar, während der Stengel ein steriles Individuum für sich darstellt 1 A. Braun hat selbst auf meta- morphosierte Sprosse, wie Dornen, Ranken u. dgl. hingewiesen (S. 100 ff.), deren Individuum- Natur er durch Vergleiche mit dem Tierreich zu beweisen sucht. Mir erscheint die Auffassung einer Passiflora-'^2s\Vz als eigenes Passiflora- Individuum als höchst unnatürlich. Ja bei Vitis, wo wir gegabelte Ranken finden, wäre sogar der Rankenzweig ein Individuum für sich, während die verzweigten Ranken der Viciccii, weil an Blättern stehend, natürlich nur Organe jenes Sproßindividuums sind, an welchem das be- treffende Blatt steht. Der gesunde Menschen- verstand lehnt sich gegen derartige gekünstelte Konstruktionen aufl Der Fehler, den A. Braun gemacht hat, war der, daß er das Individuum rein morphologisch auffaßte und zu wenig Rücksicht auf die physio- logische Selbständigkeit nahm. Er spricht zwar auch von der Betrachtung des Individuums „vom physiologischen Gesichtspunkt" (S. 45 ff.) und gibt zu, daß bei dieser Betrachtungsweise weder die Zelle im Körper der höheren Pflanzen, noch der Sproß als Individuum aufgefaßt werden könnte. Er schießt aber übers Ziel, wenn er meint, daß bei diözischen Pflanzen zwei ganze Stöcke zur Herstellung eines vollständigen physiologischen Individuums nötig wären — der Vergleich mit den Wirbeltieren hätte diese Annahme verbieten sollen ! Von einem Individuum in physiologischem Sinne verlangen wir vor allem die Lebens- fähigkeit. Eine autotrophe Blütenpflanze braucht zum Leben unbedingt Assimilations- und Absorp- tionsorgane, also in den meisten Fällen Laub- blätter und Wurzeln. Daher kann die einzelne Ranke kein Individuum sein ; aber auch der ab- geschnittene Zweig ist zunächst noch keines, da ihm die Wurzeln fehlen. In vielen Fällen hat aber der Zweig die Fähigkeit, sich unter günstigen Umständen zu einem neuen Individuum zu ent- wickeln. Es ist also der Weidenzweig ebenso- wenig ein Individuum wie der in der Einleitung 6i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 39 erwähnte Zweig der Mohnpflanze, obschon ersterer entwicklungsfähig ist, letzterer aber nicht. Denn wenn wir den Zweig nicht vom Baume trennen, so bleibt er zeitlebens nur ein Teil des alten In- dividuums (vgl. Vöchting S. 245, Fitting S. 10, 20). So sind wir denn schließlich wieder zu jener Auflassung zurückgekehrt, die wir am Beginn unserer Betrachtungen als die am nächsten liegende bezeichnet haben: der ganze Baum ist ein Indi- viduum! Wenn wir das Individuum als physio- logische Einheit betrachten, kann darüber gar kein Zweifel herrschen. Denn schon die Vor- gänge der Ernährung und Stoffleitung sind ohne Zusammenwirkung von Wurzelsystem, Stamm und Laubblatt ganz undenkbar. Und da zu den Fähig- keiten eines Organismus auch die der Fortpflanzung gehört, so gehören selbstverständlich auch die Or- gane, welche der Forpflanzung dienen, wie die Blüten, Früchte und Samen zu dem betreffenden (physiologischen) Individuum und ihre Auffassung als besondere „Individuen" wäre ganz unhaltbar. Eine andere Frage ist die, ob denn ein solches pflanzliches Individuum, wie es der Baum ist, wirklich dem entspricht, was wir bei den höheren Tieren so nennen. Schon in der Einleitung haben wir davon gesprochen, daß das entschieden nicht der Fall ist. Vor allem ist die weitgehende Teil- barkeit und die damit zusammenhängende Fähig- beit der Teile, das Ganze zu rekonstruieren, bei den höheren Tieren nirgends vorhanden. Aber auch noch andere Differenzen sind vorhanden. Das Wirbeltier-Individuum wächst bis zu einer für die betreffende Art charakteristischen Größe heran und bildet seine Organe (die der Fort- pflanzung dienenden in der Regel zuletzt) aus. Dann erfolgt kein nennenswertes Wachstum mehr, wenn auch ein fortwährender Austausch des Mate- rials, aus dem die Gewebe aufgebaut sind, statt- findet. Ganz anders bei der Pflanze ! Hier haben die Organe meist nur eine recht kurze Lebens- dauer und werden fortwährend durch neue Organe ersetzt. Jeder Zweig trägt bei unseren Laub- bäumen nur einen Sommer lang Laubblätter. In den Achseln dieser Blätter entstehen Knospen, die sich im nächsten Frühjahr zu neuen beblät- terten Zweigen entwickeln, während der alte Zweig jetzt nur noch der Stoffleitung dient und zugleich als Träger der neu gebildeten Assimilationsorgane fungiert, bzw. die Verbindung zwischen ihnen und den noch älteren Zweigen herstellt. An den Wurzeln ist die Zone, in welcher durch die Wurzel- haarc eine Aufnahme von Wasser und in diesem gelöster Nahrung stattfindet, eine sehr beschränkte; immerfort werden neue Wurzeln zu diesem Zwecke ausgebildet, während die älteren ihre absorbierende Tätigkeit einstellen. Noch kürzer ist die Lebens- dauer der Blüten, deren jede nur einmal funktio- nierende Sexualorgane ausbildet, während bei den Tieren dieselben Sexualorgane zu wiederholten Malen Fortpflanzungszellen erzeugen. Diese liigen- tümüchkeit, daß die Pflanze fortwährend neue Organe ausbildet, hängt natürlich damit zu- sammen, daß sie vorzugsweise nach außen ge- gliedert ist und kein so geschlossenes System dar- stellt wie das Tier (vgl. Hartman n). Auf Grund dieser Erwägungen können wir also sagen, daß der Baum zwar eine physiologische Ein- heit bildet, daß er aber gleichwohl dem tieri- schen Individuum nicht entspricht ! Ergebnisse. Wir sind bei unseren Erwägungen ohne jedes Vorurteil vorgegangen, wir haben die verschiedenen Auffassungen des pflanzlichen Individuums diskutiert und keine hat uns vollauf befriedigt. Man kann ja allerdings durch Unterscheidung morpholo- gischer und physiologischer Individuen, oder, wie Wiesner sagt, „naturhistorischer" und „biologischer" Individuen, einen Teil der Schwierig- keiten beseitigen — Komplexe, die den Individuen der höheren Tiere genau entsprechen, wird man in der Pflanzenwelt vergebens suchen. Alle Schwierigkeiten sind ja doch nur dadurch ent- standen, daß wir uns bemühen, einen aus der höheren Tierwelt gewonnenen Begriff auf die anders geartete Pflanzenwelt anzuwenden, auf die er einfach nicht paßtl Über die tierischen Individuen schrieb V. Carus: .Die Erscheinungen der verschiedenen Lebens- formen in der Tierwelt sind überall an bestimmte, morphologisch sich gesondert darstellende mate- rielle Grundlagen geknüpft, welche eben die Tier- körper bilden und die man unter gewissen Voraus- setzungen Individuen nennt. Betrachtet man das Tierreich im ganzen, hebt man nicht einzelne Formen zur gesonderten Besprechung heraus, so erlangt der Begriff dieser Individuen dadurch noch eine besondere Bedeutung, als sie die Träger der, wenn auch durch die gleichartige Fortpflanzung von der Natur gegebenen, doch gegenüber der realen Existenz der Individuen abstrakten Art sind." Ein halbes Jahrhundert später spricht J 0 s t in der ersten Auflage seiner „Vorlesungen über Pflanzenphysiologie" ebenfalls davon, daß der Be- griff „Art" eine Abstraktion sei und fährt fort: „In der Natur gibt es keine Arten, nur Individuen" (vgl. auch C o r r e n s S. 13). Ich möchte in bezug auf die Pflanzenwelt noch um einen Schritt weitergehen und sagen : Die Indi- viduen existieren ebenfalls nicht in der Natur, auch sie sind nur Abstraktionen des menschlichen Geistes (vgl. D r i e s c h) ! Was in der Natur wirklich existiert, das ist die lebende Substanz, das Protoplasma. Dieses hat alle Fähigkeiten des Lebens in sich : die Fähigkeit, sich zu ernähren durch Assimilation von Stoffen, zu wachsen und alle möglichen Formen anzu- nehmen, auf äußere Reize zu reagieren, sich zu differenzieren, sich durch Teilung fortzupflanzen, seine Eigenschaften zu vererben usw. Das Protoplasma an und für sich ist unsterb- lich (vgl. Mi not S. 52). Am deutlichsten zeigt N. F. XIX. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 617 sich dies bei den einzelligen Organismen, die sich unbegrenzt oft teilen können, ohne zugrunde zu gehen. Hartmann züchtete 550 Generationen von Eudorina unter Ausschaltung der geschlecht- lichen Fortpflanzung, ohne irgendwelche Vorboten einer Desorganisation zu beobachten. Bei den höher entwickelten Formen des Tierreiches tritt eine scharfe Sonderung zwischen somatischem Plasma und Keimplasma auf. Das somatische Plasma geht mit den Individuen, die es aufbaut, zugrunde, während das Keimplasma die Fähigkeit hat, weiterzuleben und dadurch die Art zu er- halten. Bei den höher entwickelten Pflanzen finden wir zwar dieselbe Gliederung des Protoplasmas in somatisches und Keimplasma; aber der Unter- schied in ihrem Verhalten ist nicht so durch- greifend wie im Tierreich, da bei der Pflanze auch das somatische Plasma in vielen Fällen potentielle Unsterblichkeit zeigt, wie z. B. oben für Paris, Hclüdca oder für durch Stecklinge fortgepflanzte Bäume dargelegt wurde (vgl. auch Weber S. 45 2 ff.)- Hartmann schreibt (S. 771): „Einen Tod kann es nach dem Sinn, der diesem Begrifie inne- wohnt, nur bei Individuen geben; sein Begrifi" ist völlig an den des Individuums gebunden. Daher besteht auch für viele Pflanzen die große, ja un- überwindliche Schwierigkeit, diese Begriffe auf die dort waltenden Verhältnisse zu übertragen. Ver- flüchtigte sich doch hier vielfach der Begriff" des Individuums, weil die Pflanzen größtenteils off'ene biologische Systeme sind. Nur wo uns die Or- ganismen, wie bei den Metazoen und fast allen Protozoen, als geschlossene Systeme ent- gegentreten, besitzt der Begriff des Individuums seine wahre unzweideutigeGeltung, und nur hier hat die Frage nach dem Tod oder der Unsterb- lichkeit einen Sinn" (vgl. auch Klebs S. 397). Wenn wir also nun die Ergebnisse unserer Erwägungen ganz kurz zusammenfassen wollen, so ergibt sich die Erkenntnis, daß bei den höher entwickelten Tieren jede Art in geschlossenen, scharf ausgeprägten Individuen auftritt, während in der Welt der höheren Pflanzen eine solche scharfe Ausprägung vonlndivi- duen nicht vorkommt. Dies ist des an- scheinend so schwierigen Rätsels Lösung: ein Ei des Kolumbus! Literaturverzeichnis. Hier sind nur jene Werke angeführt, die vom Verfasser benutzt wurden. Weitere Literaturhinweise sind in diesen Werken zu finden, für die ältere Literatur besonders bei ,\. Braun. L. Böhmig, Die Bausteine des Tierkörpers. Mitteil. d. naturwiss. Vereines für Steiermark XLUl. S. 320 — 338 (1907). A. Braun, Das Individuum der Pflanze in seinem Ver- hältnis zur Specics. Gencrationsfolgc, Generationswechsel und Generationstheilung der Pflanze. Abhandl. d. kgl. Akad. d. Wiss. zu Berlin aus dem Jahre 1853, S. 19— 122 (1854). J. Buder, Zur Frage des Generationswechsels im Pflan- zenreiche. Ber. d. deutschen botan. Gesellschaft XXXIV. s- 559-576 (1916). A. P. de Candolle, Physiologie vegetale II. S. 957 — 1022 (1832). V. Carus, System der tierischen Morphologie S. 251 — 257 (1853)- C. Correns, Individuen und Individualstoffe. Die Natur- wissenschaften 1916, Heft 14 — 16. H. Driesch, Philosophie des Organischen II. S. 145 (1909). C. Fisch, Aufzählung und Kritik der verschiedenen An- sichten über das pflanzliche Individuum (1880). H. Fitting, Die Pflanze als lebender Organismus (1917). F. Frimmel, Das Individualwandergesetz. Verhandl. d. naturforschenden Vereines in Brunn LVI. (20 S.) (1919)- K. Göbel, Entwickelungsgeschichte des Prothalliums von Gymnogramme leptophylla Desv. Botan. Zeitung XXXV. S, 671—678, 681—694, 697—711 (1877). E. Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen. I. S. 241—374 (1866). M. Hartmann, Untersuchungen über die Morphologie und Physiologie des Formwechsels der Phytomonadinen. II. Sitzungsber. d. kgl. preuß. Akad. d. Wiss. 19 17, S. 760—776 11918). B. Hatschek, Lehrbuch der Zoologie S. 226 (1888). O. Hertwig, Allgemeine Biologie S. 371 — 384 (1906). Ch. Janet, Le sporophyte et le gamctophyte du vegc- tal; le soma et le germen de l'insecte. S. 3—24 (1912). Ch. Janet, Sur l'origine de la division de l'orthophyte en un sporophyte et un gamctophyte {1913)- L. Jost, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, I. Aufl., S. 470 (1904). G. Klebs, Über das Verhältnis von Wachstum und Ruhe bei den Pflanzen. Biolog. Zentralblatt XXXVII. S. 373—415 (1917)- R. Leuckart, Über den Polymorphismus der Individuen oder die Erscheinungen der Arbeitsteilung in der Natur. 1851. J. P. L o t s y , Vorträge über botanische Stammesgeschichte. I. (1907). F. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren als Wechsel verschiedener Morphoden. Biolog. Zentral- blatt XXXVIII. S. 505—522 (1918). Ch. S. Minot, Moderne Probleme der Biologie (1913). C. Nägeli, Systematische Übersicht der Erscheinungen im Pflanzenreich (.1853). C. Nägeli, Die Individualität in der Natur mit vorzüg- licher Berücksichtigung des Pflanzenreiches (1856). C. v. Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre S. 338—454 (1884). M. J. Schieiden, Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik. 11. S. 4—6 (1846). H. Spencer, The Principles of Biology I. S. 201 — 208 (1864^; 11. S. 119— 129 (1867). jH. Spencer, Die Prinzipien der Biologie, autorisierte deutsche Ausgabe, übersetzt von B. Vetter 1. S. 219 — 226, II. S. 122—133 (1876).] H. Vöchting, Über Organbildung im Pflanzenreich. I. S. 240-256 (1S78). F. Weber, Der natürliche Tod der Pflanzen. Naturw. Wochenschrift XXXIV. S. 449-457, 465— 471 (1919)- J. V. Wiesner, Biologie der Pflanzen. 3. Aufl. S. 21 bis 23 (1913). Die Namen der Pflanzengruppen sind in Übereinstimmung gebracht mit der von mir bearbeiteten 3. Aufl. von J. Wies- ncr, Organographie und Systematik der Pflanzen (1909). 6i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 39 Einzelberichte. Zoologie. Über Wanderameisen. In neuester Zeit häufen sich Meldungen, daß Frankreich von gewaltigen Mengen der fast mikroskopisch kleinen, sog. „argentinischen Ameise" {Iridomyrmcx Jntiiiilis) überflutet werde. Es ist \on Interesse, das Vor- dringen dieses Schädlings zu verfolgen. Vor meh- reren Jahrzehnten schon aus ihrer südamerika- nischen Heimat nach den Vereinigten Staaten ver- schleppt, hat sie sich dort in erschreckender Weise ausgebreitet und ist zu einer ernsten Plage ge- worden. In Europa ist sie schon seit den acht- ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Portugal bekannt, und zwar zuerst auf der Insel Madeira, bald darauf in den beiden größten Städten des Landes Lissabon und Porto (vgl. den Bericht von M. N. Martins in Broteria, Revisia de sciencias naturales do collegio de S. Fiel, 6. Bd. 1907, S. lOif). Wenn die Heere es auch nicht verschmähten, gelegentlich Züge ins Feld zu unternehmen, so hielten sie sich doch mit Vor- liebe in den menschlichen Wohnungen auf. Ver- möge ihrer Kleinheit befähigt, durch die engsten Ritzen in alle Gemächer, Kasten und Kisten ein- zudringen, ziehen die Vorhuten infolge des aus- geprägten Geselligkeitstriebes bald ganze Schwärme nach und vertilgen alles Eßbare, mit besonderer Vorliebe Fleischvorräte und eingemachte Früchte; auch naturhistorischen Sammlungen werden sie gefährlich. Gegen Stammesgenossen sind sie sehr unduldsam, indem sie einheimische Ameisen ver- jagen; in Madeira z. B. wurde die dortige „Haus- ameise" Plieidolc nicgacepliala durch Iriiiomyniicx aus den Häusern vertrieben, während diese sich selbst als Hausgenossen etablierte, ein Vorfall, der durchaus an die Vertreibung der Hausratte durch die Wanderratte erinnert. — Schon bei ihrem ersten Auftreten in Europa sprach F o r e 1 die Be- fürchtung aus, daß die argentinische Ameise für Europa zur Landplage werden könne; doch hat man diesseits der Pyrenäen bis jetzt wenig von ihr gespürt. Diesen Sommer aber tritt sie in Frank- reich, jedenfalls auf Schiffen eingeschleppt, stellen- weise, besonders in Südfrankreich, in gewaltigen Mengen auf, unterminiert die Kulturen, verzehrt die I'eldfrüchte und Konfitürenvorräte, vernichtet die Bienenstöcke und belästigt besonders auch die Hühner. Aus Cannes wird berichtet, daß eine der blühendsten Gegenden der Umgebung durch Millionen von Ameisen heimgesucht werde, welche auf einem Komplex von zehn Hektaren alle Pflan- zungen zerstört haben. Alle Maßnahmen gegen das weitere Vordringen der Schädlinge waren bis jetzt wirkungslos ; sie gehen über Wasserläufe weg, durchqueren das Petrol und übersteigen die Kleb- bande auf den Leichen der vordersten Kolonnen. Diese Zähigkeit, mit der die wandernden Ameisenzüge ihr unbekanntes Reiseziel verfolgen, ist wohl das Auffallendste an der ganzen Erschei- nung. Wie raffiniert es die Tiere oft anstellen, um über Schwierigkeiten Herr zu werden, zeigt ein Vorgang, welchen Norbert jacques in seinem Roman „Landmann Hai" (Berlin, 1919 S. 182 ff.) berichtet und von dem er in einer Zeitungsnotiz (Neue Zürcher Zeitung Nr. 1223 vom 14. August 1919) versichert, daß er ihn selbst am Ufer des Itajahi im südbrasilianischen Staate Sta. Catharina beobachtet habe. Es handelte sich wahrschein- lich um einen Zug der sog. „Besuchsameisen" (Angehörige der Gattung Ecitoii), die bis 3 cm lang werden und bei den Eingeborenen als Lecker- bissen gelten. An der Stelle, wo der Zug an den Fluß herankam, war dieser etwa 12— 14 Meter breit. Die Ameisen liefen in langer Kette dem Ufer entlang abwärts, eine dicht auf der anderen. Mit einem Ruck standen sie still; jede hatte sich mit den Vorderbeinen in den Hinterleib des Vordertieres eingekrallt und so schoben sie sich in die Strömung hinein, während sich die unterste am Ufer fest- hielt. Die ganze Kette machte sich „starr wie ein Stecken" und wurde so, durch die Strömung langsam um die unterste Ameise gedreht, über den Fluß geschoben. Als die Kette das andere Ufer berührte, hielt sich die äußerste Ameise daran fest, während die letzte Ameise das diesseitige Ufer losließ, worauf sich der Vorgang wiederholte und die ganze Kette an das andere Ufer trug. ') — So merkwürdig dieser Bericht scheinen mag, so braucht er doch nicht ohne weiteres in das Gebiet der h'abel gewiesen zu werden. Voraussetzung ist die genügende Versteifung der durch die Tiere gebildeten Kette. Diese liegt aber durchaus im Bereiche des Möglichen. Wir wissen nämlich, daß gerade bei Insekten Starrezustände nicht selten sind, welche an die hypnotischen Zustände von Menschen und höheren Tieren erinnern. Am bekanntesten ist diese Erscheinung bei den sog. Gespenst-Heu- schrecken, welche äußerlich verdorrten Zweigen und trockenen Blättern auffallend ähnlich sind (Vgl. P. Schmidt, Katalepsie der Plasmiden. Biologisches Centralblatt, Bd. 33, 1913)- Die Mus- keln sind dann bei diesen Insekten, ganz gleich wie bei hypnotisierten Menschen, gespannt, ohne daß Ermüdung eintritt. Legt man den Körper als Brücke über den Zwischenraum zweier Unter- stützungspunkte, wie man dies auch bei hypno- tisierten Menschen schon oft gemacht hat, so kann er beliebig lange aushalten und verhältnismäßig große Lasten tragen. Von der beim Menschen bekannten hypnotischen Starre unterscheidet sich diese Katalepsie der Insekten nur dadurch, daß sie nicht durch einen äußeren Reiz hervorgerufen wird, sondern aus inneren Gründen vom Tier *) So nach der Zeitungsnotiz. Im Roman läßt in dem kritischen Augenblick, als die Kette auf beiden Ufern zugleich aufgehängt war, in der Mitte des Flusses, also in der stärksten Strömung eine Ameise los, so daß die KcUc in 2 Hälften ge- lrennt auf beide Ufer getrieben wurde. Die „schuldige" .\nicise kam auf das diesseitige Ufer zurück und wurde durch eine Art „Lynchjustiz" von den erbosten Kameraden getötet. I >as Kapitil trägt die L'hcrsi'hrift „Der Schwaclie". N. F. XIX. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 619 selbst erregt werden kann („Autokatalepsie"). Auch bei einheimischen Insekten kann man Ähn- liches beobachten, am deutlichsten bei manchen Spannerraupen, welche oft ganz steif von dem Ast weg, auf welchem sie sitzen den Körper in die Luft hinausstrecken und so einem Zweig täu- scliend gleichen. Hier wie bei den Stabheuschrecken liegt die biologische Bedeutung auf der Hand. Sie liegt im Bereich der Lebensgewohnheiten dieser Tiere; in dem erwähnten Beispiel der Wanderameisen würde es sich dagegen um eine spontane Äußerung handeln, welche die höhere Entwicklung des Instinktes bei den gesellig lebenden Insekten in ein neues Licht stellt. Immerhin scheint es sich bei dieser „Ketten- bildung" nicht um eine ganz vereinzelte Erschei- nung zu handeln. Sie wurde z. B. auch bei der in Ceylon heimischen Occopylla smaragdiiia be- obachtet, welche ihre Nester auf Bäumen und Sträuchern anlegt, indem sie deren Blätter zu Klumpen zusammenspinnt (vgl. Escher ich , Die Ameise, Braunschweig 1906). Klafft der Abstand zwischen zwei benachbarten Blättern zu weit, dann kann es vorkommen, daß eine Ameise eine zweite um den Hinterleib faßt, diese eine dritte usw., so daß zuletzt von dem untersten Tier eine Kette aus fünf bis sechs Individuen hochgehalten wird, deren oberstes, wie von einer Leiter aus, den benachbarten Blattrand erfaßt. M. Schips, Zürich. Physiologische Versuche bei niederer Tempe- ratur. Bekannt ist die Eigenschaft gewisser Tiere, die den Moosbelag unserer Mauern und Dächer bewohnen, mit dem Moos auszutrocknen und in diesem, dem sogenannten asphyktischen Zustand, längere Zeit lebensfähig zu bleiben. Nach dem Wiederanfeuchten leben sie wieder auf, strecken ihre Extremitäten aus, kriechen umher, nehmen Nahrung zu sich, kurzum nehmen die Lebens- funktionen, die durch den asphyktischen Zustand unterbrochen waren, wieder auf. Sie bilden einen Teil der Moosfauna im engeren Sinne und zwar den Teil, den man bryophile F"ormen be- nannt hat. Es sind das Tiere, die in den Moosen ihre ganze Entwicklung durchmachen und in die- sem Medium ihr ganzes Leben zubringen. Ich rechne hierzu besonders Bärtierchen (Tar- digraden), F"adenwürmer (Nematoden) und Rädertierchen (Rotatorien) , allenfalls noch gewisse Protozoen. Daß diese Tiere im asphyktischen Zustand tiefe Temperaturen ertragen können, ohne Schaden zu nehmen, war mir klar. Denn das Protoplasma befand sich in einem ähnlichen Zustand wie in den lufttrockenen Samenkörnern. Hier kann die schädigende Wirkung der Kälte nur in der Aus- trocknung bestehen. Eine mechanische Zerreißung der Protoplasmastruktur kommt nicht in Betracht. Wie weit geht nun die Widerstandsfähigkeit dieser Tiere? Prof. Ferd. Richters, der Alt- meister der Tardigradenkunde, untersuchte schon Bryum-Rasen vom Gaußberg in der Antarktis, in dem eine Temperatur von — 41 " C gemessen worden war. Von diesem Gesichtspunkt aus- gehend, stellte ich im Oktober und November des verflossenen Jahres im chemischen Institut der Bonner Universität mit vorgenannten Tieren einige Versuche mit künstlicher Kälte an. Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse erschien in den Sitzungsberichten der Niederrheinischen Gesell- schaft für Natur- und Heilkunde zu Bonn 1919, S. 21 — 23. Es zeigte sich, daß die meisten Versuchstiere Temperaturen von — 8i'/.3''C, die mittels fester Kohlensäure und Äther hergestellt wurden, mehrere Stunden, so lange als der Versuch dauerte, schadlos ertrugen. Jasogar Temperaturen der flüs- sigen Luft, eine Kälte von — 183" C bis — 192^ C, überstanden die meisten Tiere. Da mir in Bonn Kältewirkungen nur in beschränktem Maße zur Verfügung standen, wandte ich mich an Prof. Dr. Kamerlingh Onnes, den Leiter des kryo- genen Instituts in Leiden, mit der Bitte, mir gütigst zu gestatten, in seinem weitberühmten Institut weitere Versuche anstellen zu dürfen. Der freundlichen Einladung des Gelehrten folgte ich im Februar dieses Jahres. Zunächst wurde ein Versuch mit flüssiger Luft gemacht , der sich auf längere Zeit als die in Bonn ausgeführten Versuche erstrecken sollte. Die Moosproben wurden in leichtem Papier in einen Gazebeutel, der mittels einer Bleikugel be- schwert war, gesteckt und sofort in ein bereit- stehendes Bad von flüssiger Luft getaucht. Beim Anfeuchten bald nach dem Auftauen erwachten fast alle Tiere in verhältnismäßig kurzer Zeit. Der Versuch hatte 125 Stunden gedauert. Die Moose hatten vorher 5 — 16 Tage lufttrocken ge- legen. Die Rädertiere erwachten zuerst in 5 (Callidina-Art) bis 15 Minuten (Adineta-Art). Der erste Macrobiotus Hufelandi Schnitze kehrte nach 19 Minuten zum Leben zurück, ein Nematode, Plectus rhizophilus de Man., erwachte in 33 Mi- nuten, Plectus parietinus Bastian, in 70 Minuten nach dem Anfeuchten. Ein zweiter Versuch wurde mit flüssigem Wasserstoff ausgeführt bei einer Temperatur von — 253*^ C. Dauer des Versuches 26 Stun- den. Nach dem Wiederanfeuchten der Moose zeigte sich , daß sämtliche Tiere wieder ihre Lebensfunktion aufnahmen. Das erste Rädertier- chen war schon nach 3 Minuten in vollen Lebens- tätigkeit, Macrobiotus Hufelandi Schnitze nach 20, Plectus rhizophilus de Man. nach 25 Minuten. Am interessantesten waren die Versuche mit flüssigem Helium, weil hiermit die tiefste Tem- peratur hergestellt werden kann, die überhaupt möglich ist. Praktisch kommt sie dem sogenannten absoluten Nullpunkt gleich. Herr Prof. Kamer- lingh Onnes hatte die Freundlichkeit, diese Versuche selber zu leiten. Zunächst wurden die Moose lufttrocken in den 620 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 39 Heliumapparat gebracht, der dann luftleer ge- pumpt wurde. Es ist dies Verfahren zur Ver- flüssigung des Heliumgases durchaus notwendig. In diesem Vacuum blieben die Moose 24 Stunden bei Zimmertemperatur stehen. Sodann wurde der Apparat mit Heliumgas gefüllt und bis auf — 150" C abgekühlt. Jetzt wurde alles plötzlich mit bereits flüssig gemachtem Helium überschüttet und 7 Stunden stehen gelassen. Während zwei Stunden betrug die Temperatur — 2 7 1,8" C, in der übrigen Zeit wurde — 269 " C gemessen. Auch hier zeigte sich nach dem Wiederanfeuchten keine Schädigung der Versuchstiere. Rädertiere erwachten schon in 19 — 25 Minuten zu voller Lebenstätigkeit, Tardigraden (Milnesium tardigra- dum Doyere) in 32, Nematoden (Plectus- Arten) in ca. I Stunde. Bisher kamen nur Tiere in Frage, die sich im asphyktischen Zustand befanden. Um also eine wirkliche Schädigung der Kälte durch Austrocknung festzustellen, müßten die Versuche sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken. Um die andere Wirkung der Kälte auf die Versuchs- tiere zu erproben, nämlich die mechanische Zer- reißung der Plasmastruktur, wurden folgende Versuche angestellt. Die Tiere wurden zuerst durch Anfeuchten zur vollen Lebenstätigkeit an- geregt und in diesem Zustand mit dem umgeben- den Wasser zum Frieren gebracht. Geschah das Einfrieren langsamer, so konnte ein nach- folgendes Bad in flüssigem Wasserstoff keinen ersichtlichen Schaden auf das Wiedererwachen ausüben. Ein plötzliches Einfrieren in flüssiger Luft mit nachfolgendem Bad in flüssigem Wasser- stoff" überlebten nur Rädertiere und die Eier der Tardigraden. Im ersteren Falle könnte man noch an die Möglichkeit denken, daß die Kälte als Reiz in ähnlichem Sinne auf die Tiere einwirkt wie die beginnende Austrocknung der Moose. Die Tiere reagieren darauf durch Eingehen in den asphyk- tischen Zustand. F. Gilbert Rahm O. FS. B. Abtei: Maria Laach. Bücherbesprechungen. Doflein, F., Die Fortpflanzung, die Schwangerschaft und das Gebären der Säugetiere. Eine zoologische Feld- vorlesung für meine im Feld stehenden Stu- denten. Mit 38 Abbildungen im Text. 70 S. 8". 2. Aufl. Jena 1920, G. Fischer. Ein viel behandeltes Thema, und doch wird man in der Doflein sehen Darstellung außer dem, was die gebräuchlichsten Lehrbücher darüber bringen, noch Anderweitiges finden, Tatsachen, die weniger bekannt sind, und deren Kenntnis dazu beiträgt, die Erscheinungen bei der Fort- pflanzung des Menschen besser zu verstehen. Hierzu rechne ich z. B. den Hinweis auf die der menschlichen Menstruation entsprechenden Blutun- gen in der Vorbrunst bei verschiedenartigen Säugetieren. Zweifellos wird der Gegenstand jeden Studierenden der biologischen Naturwissen- schaften und der Medizin stark fesseln, und die Dofleinsche Darstellung .wird ebensowohl zum Erwerb der nötigen Examenskenntnisse sowie da- rüber hinaus förderlich sein. Und die Mahnung zu einer heiligen Scheu vor dem anderen Ge- schlecht und zur sittlichen Reinheit möge nicht ungehört verhallen. V. Franz, Jena. Lubosch, Wilhelm, Die Bedeutung der h umanistisch en Bildu ng für dieNatur- Wissenschaften. Vortrag, gehalten in der Ortsgruppe Würzburg der Vereinigung der Freunde des Humanistischen Gymnasiums. 31 Seiten. Jena 1920, G. Fischer. 2 M. Gern wird Luboschs Ausführungen lesen, wer irgendeinmal bereits von dieses Autors Ver- mögen der Einfühlung in bedeutende Geistes- größen und ihre Zeit Notiz genommen hat. Er wünscht, daß nach wie vor wenigstens ein Teil der zukünftigen Naturforscher in den Schüler- jahren die humanistische Vorbildung erhalte als eine unverlierbare, sittlich wertvolle Erinnerung an das klassische Altertum, wo die Lebenskräfte einheitlich und harmonisch im Dienst einer rein menschlichen Aufgabe standen, nächstdem wegen der Bedeutung des Altertums für die Geschichte der Forschung und für den theoretischen Sinn, auch wegen der Wichtigkeit der alten Sprachen für die heutige Terminologie und für das Studium alter Literaturquellen. Die Schrift liest sich gut und hat Quellenangaben. Die wesentlichsten Punkte scheinen getroffen.^) V. Franz, Jena. ') Auch ich halte vom Humanistischen viel. Da ich aber den Hauptvifert auf den ersten Punkt, das sittliche Mo- ment, lege, scheint mir die rein sprachliche Seite der liumanistischcii Bildung das zu sein, was am ehesten in der Zukunft — oder, wenn möglich, recht bald — zcilgemäßcn .Abbruch zugunsten anderer, vielleicht neusprachlicher Lern- stoffe erleiden darf, und zwar durch viel geringere Betonung des Grammatischen im Griechischen. Wir lesen ja den Ho- mer, ohne Extemporalia in seiner Grammatik zu schreiben, und ebenso dringen wir später, wenn das Leben es erfordert, in das Italienische oder Türkische ein. Sollte das nicht bei den (jriechen von Xenophon bis Thukydides auch möglich sein? Riedler, A., Wirklichkeitsblinde in Wissen- schaft und Technik. 198 S. Berlin 1919, Springer. Als äußerst gehässig abgefaßte Streitschrift ein wenig erfreuliches Buch, wenn auch nicht uninteressant zu lesen 1 Der Verf. wendet sich N. F. XIX. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 621 gegen den Autoritätenglauben, das starre und kritiklose Festhalten an überlieferten Regeln und Anschauungen, die längst durch neue Erfahrungen modifiziert werden müßten, gegendie Unbekümmert- heit und Unkenntnis technischer Wissenschaften ge- genüber dem, was die Praxis gebraucht. Darin hat der Verf. zweifellos vielfach Recht ; auch darin, daß es notwendig ist, immer wieder den Unterschied der Aufgaben von Wissenschaft und Praxis zu betonen ; dieser Unterschied sollte auch den Lehrern der wissenschaftlichen Fächer an den technischen Hochschulen stets bewußt sein. Mit Recht stellt er dem Ingenieur den Naturforscher gegenüber, der alle Einflüsse einzeln und allgemein ermitteln soll ohne Rücksicht auf das, was gerade im täglichen Leben und in der Tehnick von besonderer Be- deutung ist; der Ingenieur muß von vornherein seine Betrachtungen auf Grundlagen und Voraus- setzungen aufbauen, die sachlich zulässig sind; der Ingenieur muß mit den realen Verhältnissen rechnen, muß sich bewußt sein, daß idealisierte Voraussetzungen zu gefährlich irrtümlichen Auf- fassungen führen können. Der schon in der Praxis stehende, erfahrene Ingenieur wird nicht so leicht in dieser Richtung Fehler begehen, wohl aber der angehende Ingenieur, der auf den technischen Hochschulen auf gefährliche Wege geführt wird. Bei dem Hochschulunterricht fehle, so meint Riedler, der nötige Kontakt zwischen Wissen- schaft und Technik; in den Vorlesungen und Übungen werden Tabellen und Koeffizienten be- nutzt, die in der Praxis kaum noch Verwendung finden ; zuviel unbrauchbares Einzelwissen werde vermittelt und zuwenig Wert werde gelegt auf große technische Fragen und Neuigkeiten. So trete der junge Ingenieur als Weltfremder ins Leben und müsse dort erst umlernen. In scharfen Worten wendet der Verf. sich danach ganz allgemein gegen die Unterrichtsmethoden an den technischen Hochschulen, die dem Studierenden ebenso wie schon 'die der höheren Schule viel wichtige Zeit wegnehmen ohne entsprechenden Nutzen zu bringen — . Es ist kein Zweifel und wird von keinem Ein- sichtigen bestritten, daß vieles im Hochschul- und Schulbetrieb verbesserungsbedürftig ist. Von frühe- ster Jugend an sollten die Schüler mehr zur Beobachtung und zur Kritik angeregt und erzogen werden und sollte darauf auch das Hauptaugen- merk in den höheren Schulen und an den Univer- sitäten und technischen Hochschulen gerichtet sein. Gesunden Reformvorschlägen liegen diese Forderungen zugrunde und Reformen in dieser Richtung werden allerseits angestrebt. Die Art nun, wie Riedler das Bedürfnis nach Besserung des Unterrichtswesens ausdrückt, ist unberechtigt und z. T. geradezu unerträglich dadurch, daß er einzelne selbsterlebte Beispiele in unerhörter Weise verallgemeinert; viele seiner Ausführungen, be- sonders die schroffen Ausfälle gegen die Lehrer- schaft der höheren Schulen erinnern an Schlag- wortfechtereien und sind allgemeine, manchmal lächerliche Redensarten, wodurch nichts geholfen wird. Daß ein ernstes Streben nach Verbesserungen in allen Schulstufen seit langem eingesetzt hat und Erfolge zu bemerken sind, wird Riedler, wenn er sich wenigstens mit pädagogischen Fragen beschäftigt hat, was aus seinen Worten allerdings nicht hervorgeht, nicht in Abrede stellen können. Das Buch zerfällt in 5 Abschnitte: i) Wissen- schaftsverfahren, 2) Wissenschaftliche Gegensätze, 3) Kleingeist, 4) Hochschulwerden, 5) Abhilfe. S. Valentiner. Wiegner, G. und Stephan, P., Lehr- und Auf- gabenbuch der Physik f ür Masch inen- bau und Gewerbeschulen sowie für verwandte technische Lehranstalten und zum Selbstunterricht, i. Teil. All- gemeine Eigenschaften der Körper, Mechanik. 2. verb. Aufl. Leipzig-Berlin 1920. Teubner. 5,60 M. Das sehr inhaltsreiche Buch, das klar und sehr übersichtlich geschrieben ist und eine bemerkens- wert knappe Darstellung der wichtigsten Gesetze und Anwendungen der Allgemeinen Eigenschaften der Körper und der Mechanik der Körper ent- hält, wird den Schülern maschinentechnischer Lehranstalten von großem Nutzen sein und eignet sich besonders durch die zahlreichen Musterbei- spiele und die sich daran anschließenden Aufgaben sehr gut zum Selbstunterricht. Jedem, der sich ein zuverlässiges Wissen der wichtigsten physikali- schen Erscheinungen aneignen will, sei das Bänd- chen empfohlen. Großes Gewicht ist auf die Hinweise der technischen Anwendungen gelegt, es ist ein Buch für die Praxis. Die Einleitung des vorliegenden Bandes ist: A. Allgemeine Eigen- schaften der Körper — Aggregatzustände — Molekularkräfte. B. Mechanik I. Gesetze des Gleichgewichts im allgemeinen und insbesondere der Statik der festen Körper, II. Gesetze der Be- wegungslehre, III. Gesetze der Dynamik im all- gemeinen und insbesondere der festen Körper, IV. Gesetze des Gleichgewichts und der Bewegung tropfbarer flüssiger Körper, V. Gesetze des Gleich- gewichts und der Bewegung luftförmiger Körper. — Der 2. Band soll die Lehre von der Wärme und als Atihang das Wesentliche aus der Optik, der 3. Band die Lehre vom Magnetismus und der Elektrizität enthalten. S. Valentiner. Weinland, R., Einführung in die Chemie der Komplexverbindungen (Wernersche Koordinationslehre) in elementarer Darstellung. XVI -|- 441 Seiten in gr. 8" mit 39 Abbildgn. im Text. Stuttgart 1919, Verlag von Ferd. Enke. Preis geh. '36 M. Es ist das unvergeßliche Verdienst des vor einigen Monaten verstorbenen Züricher Chemikers Alfred Werner, daß er in das unübersichtliche Gewirr der Verbindungen, die die im gewöhn- lichen Sinne des Wortes als „gesättigt" bezeich- neten Stoffe wie z. B. Kupfersulfat CuSO^ und 022 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 39 Wasser oder Ammoniak miteinander einzugehen vermögen , also in das Gewirr der sogenannten Komplexverbindungen durch eine glückliche Über- tragung der auf dem Gebiete der organischen Chemie erwachsenen Strukturlehre auf diese Ver- bindungen und eine sehr zweckmäßige Erweiterung der Valenzlehre System und Ordnung gebracht hat. Werner selbst hat seine Anschauungen außer in Zeitschriften auch zusammenfassend in Form eines Buches „Neuere Anschauungen auf dem Gebiete der anorganischen Chemie" nieder- gelegt , indessen läßt sich nicht verkennen , daß gerade dieses Buch , so groß seine wissenschaft- liche Bedeutung auch ist, doch der Lektüre wenig- stens für den nicht vollkommen durchgebildeten Fachmann erhebliche Schwierigkeiten bietet, und in der Tat hat der Berichterstatter, wenn er nach einem guten Buch über die Wern ersehe Theorie gefragt wurde, in der Regel auf das ausgezeichnete NA'erk von U r b a i n und S e n e c h a 1 „Introduction k la Chimie des complexes" (Paris 191 3) ver- wiesen, weil ein wirklich auf der Höhe stehendes Werk über das fragliche Gebiet in deutscher Sprache nicht existierte. Jetzt ist der Hinweis auf ein fremdsprachiges Werk über die Wern er- sehe Theorie nicht mehr erforderlich. In geradezu mustergültiger Weise hat der Tübinger Extra- ordinarius R. W e i n 1 a n d , ein Autor , der selbst wertvolle experimentelle Beiträge zur Chemie der Komplexverbindungen geliefert hat, im Anschluß an Vorlesungen über die Metallammoniakverbin- dungen und die Chemie der anorganischen Kom- plexe die schwierige IVIaterie behandelt. Klar, verständlich, das Wesentliche richtig hervorhebend, das Unwesentliche übergehend, führt Wein 1 and den Leser in die Wernersche Lehre ein und ermöglicht so dem Studierenden sowie dem che- misch interessierten Naturwissenschafter einen gründlichen Einblick in die von Werner be- wirkten Fortschritte der Chemie. Dem Bericht- erstatter ist die Lektüre des W e i n 1 a n d sehen Buches ein Genuß gewesen, und es dürfte kein Zweifel sein, daß das Weinlandsche Buch allen denen, die einen tieferen Einblick in die Werner- sche Theorie zu gewinnen wünschen , die wert- vollsten Führerdienste leisten wird. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Bräuer, P., lonentheorie. Mathematisch- physikalische Bibliothek, herausgegeben von W. Lietzmann und A. Wittig, Bd. 38. 51 Seiten in kl. 8" mit 9 Abbildungen im Text. Leipzig und Berlin 191 9, Verlag von B. G. Teubner. Preis kartoniert 1, — M. -\- Zuschläge. Eine sachgemäße und klar geschriebene, kurze populäre Darstellung der Lehre von den in Elektro- lytlösungen enthaltenen Ionen und ihre wissen- schaftliche Bedeutung. Einige „Fragen" am Schluß des Heftchens mit den dazugehörigen ,, Antworten" erleichtern dem Leser das Verständnis des \^or- getragenen. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Lob, W., Einführung in die Biochemie. II. durchgesehene und vermehrte Auflage, heraus- gegeben von Prof. Dr. Hans Friedenthal. 82 Seiten kl. 8" mit 12 Abbildungen im Text. Bd. 352 der Sammlung „Aus Natur und Geistes- welt". Leipzig und Berlin 1918, B. G. Teubner. Das Büchlein, dessen Verf. leider schon in ver- hältnismäßig jungen Jahren der Wissenschaft durch den Tod entrissen worden ist, gibt einen recht klaren und übersichtlichen Einblick in die Bio- chemie. Als Leser kommen in erster Linie chemisch etwas vorgebildete Naturwissenschafter in Frage. Berlin Dahlem. Werner Mecklenburg. Kammerer, Paul, Das Gesetz der Serie. Eine Lehre von den Wiederholungen im Lebens- und im Weltgeschehen. 456 S., 8 Taf. u. 26 Text- abb. D. Verl.-Anst. Stuttgart u. Berl. 1919. Die Gesetzmäßigkeit von Form und Rhythmus offenbart sich überall im lebendigen Gestalten, auch auf psychischem Gebiete. Die Volkspsyche schwingt innerhalb einer gewissen Variationsbreite, Volksanschauungen gehen und kehren wieder. Das allgemeine Denken ist jetzt zweifellos auf Fragen wieder besonders eingestellt, welche sich mit Ordnung, Harmonie im Makro- und Mikro- kosmos, mit Erscheinungen von Symmetrie und Rhythmus beschäftigen, wie man aus der Häufung von einschlägigen und ohne gegenseitige Beein- flussung entstandenen Publikationen sehen kann. Wenn aber in der antiken Periode mensch- lichen Geistes eine ähnliche Geistesrichtung des Pythagoreismus allmählich verflachte und in mysti- schem Dunkel unterging, hoffen wir jetzt, daß umgekehrt die mancherorts auftauchenden ähn- lichen mystischen und phantastischen Vorstel- lungen nur den Antrieb geben zu ernster kriti- scher Forschung. Es kann nicht verschwiegen werden, daß der auf mehr populärer Basis ent- stehende neueste „Pythagoreismus" unserer Zeit vom Standpunkte der strengen und exakten Wis- senschaften noch nicht voll bewertet werden kann, zumal diese Gedankenrichtung durch die Spekula- tionen einer ganzen Schule (Fließ) etwas in Mißkredit gekommen ist. Um so mehr ist es zu begrüßen, wenn ein bekannter Wiener Biologe nach langjährigem Stu- dium dieser Fragen eine wissenschaftliche Be- arbeitung versucht hat. Kammerer hat sich aber dabei nicht auf sein Gebiet der Biologie be- schränkt, sondern das Problem auf möglichst breiter Basi.s aufgerollt und von mannigfachen Seiten aus beleuchtet, nachdem er die ver- schiedenen Möglichkeiten der Ordnungsbeziehungen in folgendesSchemazusammengefaßt hatte; Einfache Serie, Serienfolgen, Serie höheren Grades (Serien- potenz), Simultanserie, Sukzedanserie, Sortenserie, Mischlingsserie, ein- und mehrreihige Serie, poly- tomische Serie, Parallelserie, Korrelationsserie, Metamerieserie (segmentale), Sym- metrieserie (bilaterale), Bewegungsseric, N. F. XIX. Nr. 39 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 623 Ruheserie, Quantitätsserie, Qualitätsserie, Iden- ditätsserie, Affinitätsserie, Homologieserie, Ana- logieserie, Reihen- oder direkte Serie, Kreuzungs- oder innere Serie, Kontrastserie, Wechselserie (alternierend oder zyklisch). Von zyklischen oder Kreislaufserien unterscheidet Kammerer schließ- lich I. zyklische Serie ohne regelmäßige Dauer der Komponenten, 2. phasische Serie (mindestens eine Phase von konstanter Dauer), 3. periodi- sche Serie. „Die Periode erscheint uns bei weitem als die häufigste und vertrauteste Form serialen Ablaufs, aber wohl nicht, weil sie wirk- lich am häufigsten vorkommt — die unregel- mäßigen Serien dürften sie darin weitaus über- treffen." Der Autor geht auf die einzelnen Serienarten näher ein und widmet dabei den Beobachtungen des alltäglichen Lebens einen recht breiten Raum. Einzelheiten des interessanten und glänzend ge- schriebenen Werkes können hier nicht besprochen werden; besonders wertvoll sind die auf biologi- schen Erfahrungen beruhenden Ausführungen. „Das Seriengesetz ist Ausdruck des Beharrungsgesetzes der in seinen Wiederholungen mitspielenden Ob- jekte. Aus der unverhältnismäßig großen Be- harrlichkeit, die im Vergleich zum Einzelkörper und zur Einzelkraft dem Körper- und Kräfte- komplex eigen ist, erklärt sich das Beibehalten einer identischen Konstellation und das "ihr be- gleitende Zustandekommen von Wiederholungen durch sehr lange Zeiträume hindurch — allenfalls durch Jahre und Jahrhunderte." H. Günther. Keller, C, Die Stammesgeschichte unserer Haustiere. (Aus Natur- und Geisteswelt, 252. Bändchen.) Zweite Aufl. Mit 29 Abb. im Text. kl. 8°. 117 S. Leipzig und Berlin 19 19, Verlag von B. G. Teubner. Preis: kart. 1,60 M., geb. 1,90 M. -f- Teuerungszuschläge des Verlags und der Buchhandlungen, Eine knappe Zusammenfassung eigener An- sichten aus Kellers Feder wird die Fachwelt stets dankbar begrüßen. Aber wir müssen zweifeln, ob die Teubn ersehe Sammlung der geeignete Ort für eine solche mehr oder weniger subjektiv ausfallende Arbeit sein darf. In deren Bändchen muß unseres Erachtens ganz neutral das Pro und Contra erwogen werden. Und Keller hat dies im vorliegenden Falle nicht getan. Es ist auch zu bedauern, daß Keller die Gelegenheit einer Neuauflage hat vorüber- gehen lassen, ohne die seinen Anschauungen entgegenstehenden Meinungen anderer moderner Haustierforscher in aller Kürze darzustellen. Dann wäre ein Teubner- Bändchen entstanden, das die Kritik unumwunden zu loben hätte. Aber man vermißt in der 2. Auflage z. B. völlig den Namen Max Hilzheimers; auch Du erst. Äugst und andere sind (unserer Lektüre nach) nicht genannt, nicht einmal in der Einleitung, wo der geschichtliche Werdegang der modernen Haustierforschung geschildert ist, und zum Schluß neuere Namen aufgeführt sind. Es ist jedenfalls festzustellen, daß der Inhalt der Schrift aus- schließlich die Kellersche Auffassung widerspiegelt, ohne im wesentlichen die neuesten entgegenstehenden Anschauungen zu berühren. In bezug auf Sachliches seien nur wenige Einzel- heitenherausgegriffen, da es ja verfehlt wäre, wollten wir zu allen Anschauungen Kellers die in der neuesten Literatut kursierenden gegenteiligen Hypo- thesen anderer Forscher anführen. Wer sich da des näheren zuvor orientieren will, lese den leider unvollendet gebliebenen „Überblick über die Ge- schichte der Haustierforschung, besonders der letzten 30 Jahre" von Max Hilzheimer (in: Zoologische Annalen, Bd. V, Heft 4, Würzburg 1913, S. 233—254). Zu S. 76 wäre noch als 6. Rindergruppe die Stegmann sehe „Orthoceros-Rasse" anzufügen; auch hätte die neuere Ansicht G. Laurers (191 3) angeführt werden können von der Abstammung unserer Rinderrassen vom Torfrind, wenngleich diese wohl abzulehnen ist. — S. 88 ff. vermißt man die Erwähnung der subfossilen Torfziege (Capra hircus Rütimeyeri) und der Kupferziege (Capra hircus Kelleri), aus denen durch Kreuzung nach Du er st die meisten der in der Schweiz und in Deutschland vorhandenen Ziegenrassen hervorge- gangen sein sollen. Eine ganz neue Ansicht ver- tritt übrigens G. Äugst, worüber man vorläufig C. Kronacher (Allgemeine Tierzucht, I, Berlin 1916, S. 165; auch mein Referat in: Mitteilungen z. Gesch. d. Med. u. d. Naturwiss. XVI, 1917, S. 203) vergleiche. — Zu S. 92 : Der von Keller ver- fochtenen Hypothese, daß das alte Torfschaf (Ovis aries palustris Rüt.) dem afrikanischen Stamme, also dem Mähnenschafe (Ammotragus Tragelaphus) anzugliedern wäre, stimmten u. a. Hilzheimer und Du erst nicht zu. — Zu S. 97: Das Ren ist nicht der einzige Vertreter der Cerviden, den der Mensch zu domestizieren versuchte. Hilz- heimer hat schon 191 3 (a. a. O. S. 253) aus- drücklich hiergegen Front gemacht und auf eine Notiz Pfizenmayers (1910) (wonach die Jakuten im vorigen Jahrhundert Elche als Reittiere be- nutzt haben) und auf eine Mitteilung Damm y Palacios (1910) (nach der die alten Mexikaner eine Cariacus- [■— Odocoileus Raf.] Art gezähmt haben) hingewiesen. — Zu S. 100: Set he hat jüngst (Festschrift Friedrich Carl Andreas, Leipzig 1916, S. 109 — 116; vgl. mein Referat in: Mitt. z. Gesch. d. Med. u. d. Naturwiss. XVIII, 1919, S. 98 f.) festgestellt, daß im 15. vorchristl. Jhdt. das Haus- huhn zuerst in einem ägyptischen Texte er- wähnt wird, allerdings als syrischer Vogel. Eine Einbürgerung des Haushuhnes in Ägypten ist vielleicht erst im 7. vorchristl. Jhdt. durch die Assyrer oder gar erst im 6. vorchristl. Jhdt. durch die Perser erfolgt. — Zu S. 103: Bruno Meißner (Orientalist. Literaturztg. XVI, 191 3, Sp. 292 f.; vgl. mein Referat in; Mitt. z. Gesch. d. Med. u. 624 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 39 d. Naturwiss. XVII, 191 8, S. 247) meinte, was auch sofort B. Lauf er (ebdas. Sp. 5 39 f.) durchaus plausibel erschien, daß der Pfau schon 738 v. Chr. in einer babylonischen Inschrift als Tributgegenstand aufgezählt ist, und daß dann im 6. vorchristl. Jhdt. dieser Vogel (wie auch der Reis) jedenfalls von der Westküste Indiens nach Babylon im übersee- ischen Verkehr gelangt ist. Kellers Schrift ist für den Fachmann und den die reiche Literatur einigermaßen Ken- nenden eine wertvolle Gabe. Sicher hat Keller die größten Verdienste um die moderne Haustierforschung. Wer aber hofft, an Hand der Schrift den gegenwärtigen Stand der Haustier- forschung überhaupt erst kennen zu lernen, der wird einseitig unterrichtet, wenn er nicht noch die Spezialliteratur zum Studium heranzieht. Dresden- A 16. Rudolph Zaunick. Höfer-Heimalt, Dr. h. c.H., Grundwasser und Quellen. Eine Hydrogeologie des Unter- grundes. 2. Aufl. Mit 66 Abb. 198 S. Braun- schweig 1920, Friedrich Vieweg & Sohn. Geh. 12 M. und Teuerungszuschlag. Gegenüber der ersten Auflage erscheint das Werk um 63 Seiten und 15 Abbildungen ver- mehrt und Ref. kann erfreulicherweise bestätigen, daß diese Erweiterung ihm in jeder Weise zugute gekommen ist. Besonders wertvoll ist die Angabe der Literatur bis in die neueste Zeit hinein, wo- bei natürlich die Literatur der Ententeländer und der Neutralen unberücksichtigt bleiben mußte. Neben Keilhacks Lehrbuch der Grundwasser- und Quellenkunde, das gleichfalls eine 2. Auflage vor einiger Zeit erlebte, bildet Höfers Buch das 2. Quellenwerk für alle diejenigen, die sich mit dem Wasser des Erdbodens beschäftigen, und wenn es auch weit weniger umfangreich ist als jenes, so ist es neben ihm keineswegs überflüssig, da es manche Partien der Grundwasser- und Quellenkunde von einem anderen Gesichtspunkt aus behandelt als jenes. Im großen und ganzen stimmt Ref. den vorgetragenen Ansichten durch- aus bei, wie er auch glaubt, daß kein wesent- liches IVIoment in der behandelten Materie über- gangen sei. Einige Kleinigkeiten, die ihm aufge- stoßen sind, mögen hier kurz Erwähnung finden. Man weiß nicht recht, ob Verf den Begriff des juvenilen Wassers überhaupt gänzlich ablehnt oder nicht; an einer Stelle (S. 165) sieht es so aus, als perhorresziere er diesen Begriff, an einer anderen Stelle spricht er sich weniger gegen ihn aus. Die M e z g e r sehe Umformung der V o 1 g e r - sehen Theorie des Grundwassers hätte vielleicht mehr hervorgehoben werden können, da doch sehr viel Erfahrungen für sie sprechen. Der Zu- sammenhang des Grundwassers mit dem Meer wird zwar erwähnt, ich glaube aber, daß er eine eingehende Erörterung wohl verdient hätte. Das Vorkommen des Artesischen Wassers ist doch, wie aus Keilhacks Darstellung klar hervorgeht, weit mannigfaltiger, als es nach Höfers Ausein- andersetzungen der Fall zu sein scheint. Bei der Darstellung der Teilung der Niederschläge in Verdunstung, Abfluß und Versickerung hätte wohl auf die grundlegenden Forschungen Kellers Rücksicht genommen werden können. Selbstver- ständlich sollen diese Andeutungen den Wert des Buches nicht im mindesten herabsetzen , dessen Wert nicht zum wenigsten auf den schönen Figuren beruht, die es schmücken. Ein Sach- register wäre vielleicht wünschenswert. Papier und Druck machen der Verlagshandlung alle Ehre. Wir wünschen dem verdienstvollen Buch eine recht weite Verbreitung. W. Halbfaß. Wenzel, Wilhelm, Kultur und Behandlung der wichtigsten Arznei-, Gewürz-, Handels-, Ol- und Fettpflanzen. Mit eineni Anhang: Anbau hochwertiger Medizinal- Giftpflanzen. Greifs wald 19 19, Emil Hartman, Buch- und Kunstdruckerei, Verlagsbuchhandlung. Der Verfasser möchte durch sein Büchlein das Interesse für den Anbau von Arzneipflanzen in Norddeutschland wecken, wofür ihm sicher mancher dankbar sein wird. Die Darstellung ist klar und jedem verständlich. Wieweit eigne Erfahrungen dem Verf. zur Seite stehen, geht aus der Schrift nicht hervor. Wenn im Vorwort gesagt wird, daß lediglich auf die praktischen Bedürfnisse Rücksicht genommen sei und alles Theoretischi; und Wissenschaftliche ausgeschaltet würde, so hätte der Verf noch radikaler vorgehen und auch die botanischen Namen weglassen sollen, die ihm offenbar große Schwierigkeiten bereiteten. Es macht keinen guten Eindruck, wenn man liest: Viola tricoloris, Dracunculi als bot. Name für Estragon, Anthrixus oder Symphytum officinale als bot. Name für Schwarzwurzel. Wenn man in Pommern mit Schwarzwurzel vielleicht Symphytum bezeichnet, so sollte im Text aber nicht Scorzonera beschrieben werden. Wächter. Inhalt: K, Fritsch, Das Individuum im Pflanzenreiihe. S. 609. — Binzelberichte: Norbert Jaques, Über Waiider- ameisen. S. ölS. GilbertRahm, Physiologische Versuche bei niederer Temperatur. S. 619. — Bücherbesprechungen: F. Doflein, Die Fortpflanzung, die Schwangerschaft und das Gebären der Säugetiere. S. 620. W. Lubosch, Die Bedeutung der humanistischen Bildung für die Naturwissenschaften. S. 620. A. Riedler, Wirklichkeitsblinde in Wissen- schaft und Technik. S. 620. G. Wiegner und P. Stephan, Lehr- und Aufgabenbuch der Physik für Maschinenbau und Gewerbeschulen sowie für verwandte technische Lehranstalten und zum Selbstunterricht. S. 621. R. Weinland, F.inführung in die Chemie der Komplexvcrbindungen. S. 621. P. Bräuer, lonentheorie. S. 622. W. Lob, Einführung in die Biochemie. S. 022. P. Kämmerer, Das Gesetz der Serie. S. 622. C.Keller, Die Stammesgeschichte unserer Haustiere. S. 622. H. Höfer-Heimalt, Grundwasser und Quellen. ,S. 624. W. Wenzel, Kultur und Behandlung der wichtigsten Arznei-, Gewürz-, Handels-, Öl- und Fettpfianzen. S. 624. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, InvalidenstraBe 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'scben Bucbdr. Lippen & Co. G. m, b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 3. Oktober 1920. Nummer 40. Goethe, Darwin und die Spiraltendenz im Pflanzenreiche.') [Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. Hans Molisch (Wien). Mit 3 Abbildungen. Die letzte botanische Arbeit, die Goethe etwa I Jahr vor seinem Tode veröffentlichte, führte den Titel: „Über die Spiraltendenz der Vegetation".") Sie reicht in ihrer Bedeutung keineswegs an seine Schrift „die Metamorphose der Pflanze" heran, aber sie liefert uns den Beweis, wie Goethe fast bis zu seinem Lebensende Botanik getrieben ^) und wie die bedeutenden Ideen, die damals in der Morpho- logie der Pflanze auftauchten, ihn fesselten und ihn zu eigenen Untersuchungen anspornten. Wieder war es die Morphologie, die ihn anzog. — Damals machte die Aufdeckung der geome- trischen Verhältnisse der Blattstellung in der Blüte durch V. Marti US großes Aufsehen, ja man kann sagen, die schraubige Anordnung der Blätter stand damals und kurz nach Goethes Tode im Brennpunkte der botanischen Forschung. Da dieser Gegenstand mit unserem Vortragsthema innig zusammenhängt, muß hier darauf kurz ein- gegangen werden. Bei der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München (1827) und Berlin (1828) hat der ausgezeichnete Pflanzensystematiker V. Martius je einen Vortrag über die Architek- tonik der Blüten gehalten, in denen er unter anderem nachdrücklichst auf die Spirale Anord- nung der Blütenblätter hinweist. Die schraubigeAnordnung läßt sich unteranderem an den Blütenblättern der Polycarpicae beobachten, ja diese Ordnung von Blütenpflanzen scheint geradezu durch dieses Merkmal ausgezeichnet zu sein. An den großen Blüten der Seerosen (Nym- phaeaceen), der Magnolien, Ranunculaceen und anderen fällt die einer Schraubenlinie folgende Stellung der Perianth-, Staub- und Fruchtblätter be- sonders auf. y. Martius hielt diese Verteilung fälschlich für ein Gesetz, also für allgemein verbreitet, allein dies war ein Irrtum, denn die Stellung der Blüten- blätter kann auch sehr oft in Kreisen erfolgen, mithin wirtelig sein. Er erläuterte seine Ansicht auch durch ein Modell, „worin er auf der Achse mehrere' Umläufe befestigt hatte und womit er nach den verschiedenen Stellungen und Reduk- tionen, welche er mit den Blättern der Umläufe vornahm, verschiedene Pflanzenfamilien darstellt" (S. 529 d. Jg. 1828). Ein solches Modell machte V. Martius Goethe zum Geschenk, es ist dasselbe, das sich derzeit im Besitze des Wiener Goethe- Vereins befindet und das in einem interessanten Artikel Prof. Zellners '^') eingehend besprochen und auch abgebildet ist. Goethe nahm an den einschlägigen Forschun- gen des Münchener Botanikers lebhaften Anteil, er erwähnte auch, daß v. Martius, von Berlin kommend, ihm die Spiralstellung der Blütenblätter durch Wort und Zeichnungen erläuterte und fügte hinzu: „Die in der Isis, Jahrgang 1828 und 1829 abgedruckten Aufsätze wurden mir zugänglicher, und die Nachbildung eines an jenem Orte vorge- gewiesenen Modells ward mir durch die Geneigt- heit des Forschers und zeigte sich zur Versinn- lich ung, wie Kelch, Krone und die Befruchtungs- werkzeuge entstehen, höchst dienlich".") Wie Goethe über die schraubige Anordnung der Blätter einer Blüte, die windenden Pflanzen und den schraubigen Verlauf mancher Pflanzenteile dachte, sei mit seinen eigenen Worten gegeben: „Hat man den Begriff der Metamorphose voll- kommen gefaßt, so achtet man ferner, um die Ausbildung der Pflanze näher zu erkennen, zuerst auf die vertikale Tendenz. Diese ist anzusehen wie ein geistiger Stab, welcher das Dasein be- gründet und solches auf lange Zeit zu erhalten fähig ist. Dieses Lebensprinzip manifestiert sich in den Längsfasern, die wir als biegsame Fäden zu dem mannigfaltigsten Gebrauch benutzen; es ist dasjenige, was bei den Bäumen das Holz macht, was die einjährigen, zweijährigen aufrecht erhält, ja selbst in rankenden, kriechenden Ge- wächsen die Ausdehnung von Knoten zu Knoten bewirkt. Sodann aber haben wir die Spiralrichtung zu beobachten, welche sich um jene herumschlingt. Das vertikal aufsteigende System bewirkt bei vegetabilischer Bildung das Bestehende, seiner Zeit Solideszierende, Verharrende; die Faden bei vorübergehenden Pflanzen, den größten Anteil am Holz bei dauernden. Das Spiralsystem ist das Fortbildende, Ver- mehrende, Ernährende, als solches vorübergehend, sich von jenem gleichsam isolierend. Im Über- maß fortwirkend, ist es sehr bald hinfällig, dem ') Auszug eines populären Vortrags, gehalten im Wiener Goethe-Verein am 17. Maj 1920. '^) Goethes Werke, II. Abt., 7. Bd. Weimar 1S92, Naturw. Schriften 7. Bd. Zur Morphologie II. Teil. ^) K. Molisch, Goethe als Naturforscher. Populäre biologische Vorträge. Jena 1920, S. I. *) V. Martius, Über die Architektonik der Blüten. Iris, Jahrg. 182S, S. 522 und Jahrg. 1829, S. 333. ''} J. Zellner, Zur Spiraltendenz der Vegetation. (Mit einem ungedruckten Briefe von K. v. Martius an Goethe). Chronik d. Wiener Goethe-Vereins. 26. Bd. (1912), S. 41. ") Goethes Werke, I. c. S. 38. 626 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 40 Verderben ausgesetzt; an jenes angeschlossen, ver- wachsen beide zu einer dauernden Einheit als Holz oder sonstiges Solide".^) Diese Stelle zeigt so recht, wie sehr Goethe im Banne der Naturphilosophie Hegels und S c h e 1 1 i n g s stand, und wie hier das Tatsächliche in ein rein spekulatives Gewand gekleidet wird, das nicht mehr fern von Mystik liegt und im einzelnen auch an Unklarheit grenzt. Den Gipfelpunkt des Phantastischen erreicht wohl die luftige Spekulation, wenn er das vertikal- und spiralstrebende System in der lebendigen Pflanze innig verbunden erklärt, jenes als männ- lich und dieses als weiblich ansieht und noch hinzufügt: so können wir uns die ganze Vegeta- tion von der Wurzel auf androgynisch ingeheim verbunden vorstellen; worauf denn im Verfolg der Wandlungen des Wachstums die beiden Symptome sich im offenbaren Gegensatz auseinander sondern und sich entschieden gegeneinander über stellen, um sich in einem höheren Sinne wieder zu ver- einigen". '■'} Mit solchen Gedanken vermag die Wissenschaft nichts anzufangen. Hätte Goethe einfach gesagt, der Stengel wächst vertikal aufwärts und zeigt häufig eine spiralige Anordnung der Blätter und nicht selten einen schraubigen Verlauf, so wäre dem Tatsächlichem genüge getan, alles andere aber ist Phantasie. Ob Goethe unter Spiral tendenz, wie es im Worte liegt, ein Streben, also etwas Psychisches gemeint hat, geht aus seiner Schrift nicht mit Sicherheit hervor. Hansen,^) der sich jahrelang in Goethes botanische Untersuchungen am meisten liebevoll vertieft hat, glaubt bestimmt, daß Goethe unter Tendenz Richtung verstanden hat, in ähnlicher Weise, wie auch der Physiker von dem Bestreben der Körper zu fallen oder von ihrer Trägheit spricht, ohne an psychische Vorgänge zu denken. So aufgefaßt, können wir mit Goethe tatsächlich von einer Spiraltendenz sprechen, denn diese ist in der organischen Natur häufig ver- wirklicht und darauf hat auch Goethe in zahl- reichen Beispielen, in denen er sich auf einschlä- gige Angaben von Don, Lindley, Dutrochet, von V. Martins und seine eigene Beobachtungen stützt, hingewiesen. So auf die im Stranggewebe der höheren Pflanzen vorhandenen, durch schrau- bige Verdickung ausgezeichneten Spiralgefäße, auf die in Schraubenlinien schwingenden Algen (Os- cillarien), auf den die Stütze schraubig um- schlingenden Windung (Convolvulus), auf die sich korkzieherartig einrollenden Ranken , auf den Drehwuchs der Bäume, auf die schraubige Deckung der Blütenblätter in der Knospe, auf die Spiral- stellung der Blätter von Pandunus, auf die durch Drehung zustande kommende Einseitswendigkeit der Blüten von Ophrys spiralis u. a. h> erwähnt ') Goethes Werke, 1. c. -S. 39. ■) Goethes Werke, 1. c. S. 68. ^) A. Hansen, Goethes Metamorphose der l'tlanzen. Gießen 1907: f. Teil (Text), S. 319. ferner die spiralige Drehung der Hülsen von Bohnen und Platterbsen beim Austrocknen, die Drehung der Fruchtschnäbel vom Storchschnabel, Erodium gruinum und die schraubige Einrollung des weiblichen Blütenstiels der bekannten Aquarium- pflanze Vallisneria spiralis. Wenn Goethe heute die Ergebnisse botanischer Forschung in dieser Richtung überblicken könnte, würde er angenehm überrascht sein über das große Tatsachenmaterial, das über die Schrauben- linie im Pflanzenreiche vorliegt. Siehe Abb. i. Abb. I. Beispiele von dem Vorkommen der Schraubenlinie im Pllanzenreiche. I. Spirillum undula, eine Schraubenbaklerie. 2. Spiro- chaele palüda, die Syphilisbakterie. 3. Spermatozoide eines Farnkrauts. 4. Spermatozoid einer Alge (Chara). 5 Frucht von Krodium cicutaiium. dem Storchschnabel. 6. Streifung der Membran von Holzzellen. 7. Cblorophyllband einer .Spirogyrazelle. 8. filalerenzelle aus einer Lebermooskapsel (Marchantia). 9. Spermatozoid einer Cycadee (Zamia lloridana). 10. Diagramm der - ., Blaltstellung. Die Blätter ihrer geneti- schen Aufeinanderfolge nach mit Zahlen versehen. II. Spore von Equisetum mit schraubigen Elateren. 12. Euglena tripteris. 13. Phacus longicaudus. 14. Schraubengefäß von Impatiens halsamina. Vergrößerungen bei (l) 1500, (2) 2000, (4) 1000, (6) 460, (7) 300, (8) 400, (9) 140, (14) 120 gezeichnet und dann verkleinert. Die Abb. 3, 11, 12, 13 stark vergrößert. Die Abb. 4. 9, 10 frei nach .Straßburger, 12 u. 13 frei nach France, die übrigen original. N. F. XIX. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 627 Von den niedersten Gewächsen aufwärts bis zu den höchsten, von der einfachen Zelle bis zu kompliziertesten Organen kennen wir bereits eine Fülle von Beispielen spiraliger Anordnung und Bewegungen. Schon unter den niedersten und kleinsten Pflanzen, unter den Bakterien finden wir solche, die einem schraubig gewundenen Faden gleichen. Spirillum und Spirochäte sind solche Schräubchen. Die Samenfäden der Farne, der Cycadeen und die Spermatozoiden des japanischen Gingkobaums zeigen gleichfalls schraubige Windungen, obwohl sie ebenfalls nur aus einer Zelle bestehen. Die aus Zellfäden bestehende Blaualge Spirulina , die einer Acht gleichende Kieselalge Surirella spiralis, des aus schraubig angeordneten Zellen bestehende Desmidium Swartzii und die gleich einer Wendel- treppe gestaltete Rotalge Vidalia volubilis ver- körpern gleichfalls die Schraubenlinie. Selbst innerhalb der Zelle können einzelne Organe schraubigen Verlauf aufweisen wie die Chlorophyll- körper der Algen Spirogyra und Spirotaenia. Es sei ferner an die Drehung vieler Blätter, wie man sie in jedem Getreidefeld leicht be- obachten kann, erinnert. Zahlreiche Grasblätter sind 2 — 3 mal gedreht. Auch die Blätter des Rohrkolbens (Typha), des Kalmus (Acorus), der Schwertlinie (Iris) u. a. sind häufig um i — 4- mal 180" um ihre Achse gedreht. Auf eine Fülle von Beispielen hat GoebeP) in neuester Zeit aufmerksam gemacht. Es geht daraus hervor, daß Drehungen und schraubiger Wuchs in der Pflanzenwelt viel häufiger vorkom- men als man bisher angenommen hat. Er zeigt auch, daß diese Drehungen auf einen von vorn- herein asymmetrischen Bau zurückzuführen ist, der dann entweder von selbst oder infolge äußerer Kräfte die Drehung oder die Schraube bediftgt. Diese asymmetrische Struktur spielt bei den Ent- faltungsbewegungen der Pflanzenorgane eine große Rolle und liegt, wie Goebel mit Recht betont, den noch später zu erwähnenden Zirkumnutationen zugrunde (S. 233). Kurz nach Goethes Tode eröffneten die glänzenden Forschungen K. F. Schimpers und Alex. Brauns einen tiefen Einblick in die schraubige Anordnung der Blätter an den Laubsprossen und schufen damit eine neue Stütze für Goethes Ideen von der Spiral- tendenz. Schon Caesalpin und Bonnet beobachten, daß die Blätter am Stengel in bestimmter Weise angeordnet sind, aber erst K. F. Schimper und Alex. Braun blieb es vorbe- halten, die gesetzmäßige Verteilung der Blätter in allgemeiner, umfassender Weise darzutun. Die Blätter stehen am Stengelknoten entweder einzeln, zu zweien oder zu mehreren. Im ersten Falle spricht man von wechselständiger, im zweiten von gegenständiger und im letzten F'alle von wirteliger Blattstellung. Die wechselständige Blattstellung zeigt uns die Blätter nicht regellos sondern nach ganz bestimmten Gesetzen ange- ordnet. Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn man die Anordnung ^der Blätter an einem aufrechten Sproß mit allseitig ausgebreiteten Blättern in einem Grundriß schematisch einzeichnet wie dies die Abb. i (lo) versinnlicht. In diesem Diagramm entspricht jeder Kreis einem Stengel- knoten, an dem je ein Blatt befestigt ist. Bezeichnet man das Blatt, von dem man ausgeht mit I und die gegen den Stammscheitel folgenden mit 2, 3, 4, 5, 6 usw., so zeigt sich daß das 6. Blatt schon wieder über den ersten steht und daß jedes Blatt von dem nächsten um ^5 des Stammumfanges entfernt ist. Dieser Winkel, der die Entfernung zweier un- mittelbar aufeinander folgender Blätter angibt, heißt der Di- vergenzwinkel oder kurz die Divergenz. Untersucht man in der freien Natur die Divergenzen ver- schiedener Pflanzen, so findet man, daß es deren sehr zahl- reiche gibt, am häufigsten aber die Reihe '/a. Vs' ^/s, %. ''/isi 8/ 13/ /■21. /S4 • • ■ ■ Sie stehen in einem sehr merkwürdigen Verhältnisse zu- einander denn die Zähler und Nenner jedes dieser Brüche werden durch die Summicrung der Zähler und Nenner der beiden vorhergehenden gewonnen oder mit anderen Worten ; die einzelnen Divergenzbrüche entsprechen den Partialwerten eines unendlichen Kettenbruches von der Formel I ') K. Goebel, Die Enihaltungsbewegungen der Pflanzen usw. Jena 1920. Werden die Ansatzstellen der im Alter auf- einander folgenden Blätter auf dem kürzesten Wege durch eine Linie miteinander verbunden, so erscheinen die Blätter in einer Schrauben- linie oder sog. Grundspirale angeordnet. Will man wissen, welche Blattstellung an einem Sproß vorkommt, so geht man zweckmäßig von einem bestimmten Blatte aus, bezeichnet es mit Null und zählt der Grundspirale folgend, bis man zu dem genau über dem Null-Blatt stehen- den Blatte gelangt. Die Zahl der Blätter, die man auf diesem Wege begegnet, geben den Nenner und die Zahl der dabei vollführten Umläufe den Zähler des Divergenzbruches. Die genau übereinander stehenden Blätter stehen in geraden Reihen, () r t h o s t i c h e n genannt. Bei '/■> Stellung treten 2 bei '/s 3 Orthostichen auf, der Nenner der Divergenz gibt also auch die Zahl der Orthostichen an. Stehen die Blätter sehr dicht nebeneinander wie die Blätter der Hauswurz (Sempervivum), die Blüten der Sonnen- rose oder die Schuppen des Tannen- oder Föhrenzapfens, so erscheinen anstatt der Orthostichen Schraubenlinien, die als Parastichen oder Schrägzeilen bezeichnet werden. Müssen wir die Ursachen der Schraube in letzter Linie in die Struktur der Pflanze und des Plasmas verlegen und damit auch zugeben, daß wir eine kausale Erklärung darüber nicht geben können, so ist es immerhin möglich, die Bedeu- tung der Spiralrichtung für die Pflanze festzu- stellen. In vielen Fällen bleibt auch dies ein Rätsel, in einigen läßt sich aber doch, ohne sich gewagten Spekulationen hinzugeben, der „Zweck" ermessen. Daß die geometrische Anordnung der Blätter in einer Schraubenlinie, wie sie in der Hauptreihe der Blattstellung verwirklicht erscheint, es ermög- licht unter möglichst geringem Aufwand von IVIaterial den Stengel gleichmäßig zu belasten und die Blätter günstigster Beleuchtung auszu- setzen, leuchtet wohl ohne weiteres ein. Das durch die spiralige Stellung der Blätter am Stamme zustande kommende Blattmosaik läßt, namentlich von oben betrachtet, die überaus vorteilhafte Ver- teilung der Blätter, die gleichzeitig dem Beschauer einen ästhetischen Genuß gewährt, mit einem Blick erkennen. 628 Naturwissenschaftliche W ochensch rift. N. F. XIX. Nr. 40 Der Nutzen, den windende Pflanzen durch das schraubige Umwachsen einer Stütze genießen (Abb. 2), liegt auf der Hand. Ihr schlaffer Stengel würde ohne Stütze am Boden verbleiben, so aber vermag er durch die Schraubenbewegung sich an der Stütze emporzustrecken und dem günstigsten Lichte zuzuwenden. Oder wenn die Ranke des Weinstocks mit ihrer Spitze kreisende Bewegungen vollführt, wächst in hohem Grade die Wahrschein- lichkeit, eine Stütze zu erfassen. Die Zellhaut einer Pflanzenfaser, die aus schrau- big angeordneten Fibrillen besteht, wird eine größere Festigkeit aufweisen, als eine mit geraden Fibrillen, ebenso wie ein gedrehtes Blatt fester sein wird als ein ebenso gebautes aber gerades. Daneben gibt es eine Reihe von Fällen, wo die Zweckmäßigkeit der Drehung nicht ohne weiteres einleuchtet. Dient z. B. die Einrollung der Schneckenkleefrüchte der besseren Verbreitung oder der Verringerung der Oberfläche, oder soll die Öffnung der Hülse erschwert werden, wer könnte heute diese Frage exakt beantworten? -^ " Im Jahre 1880 bescherte uns Charles Darwin ein insbesondere die Pflanzenphy- siologen interessierendes Werk: ,,das Bewegungsvermögen der Pflanze".') Diesem Buche liegt eine Idee zugrunde, die die Spirallinie in der Natur wieder von einer neuen Seite be- leuchtet. Seit langem kennt man eine physiologische Gruppe von Pflanzen, die einen auf- rechten Stab in einer Schrau- benlinie umwachsen und die man als windende bezeichnet. Der Windling, die Feuerbohne und der Hopfen gehören hier- her. Das Ende des wachsen- den Sprosses erscheint nach der Seite geneigt und wendet sich aus inneren, uns unbe- kannten Gründen, indem stets eine äußere, aber fortwährend wechselnde Kante stärker wächst als die ihr gegenüber- liegende im Kreise, oder besser gesagt, weil die Spitze sich ja auch verlängert, in einer Schraubenlinie um die Stütze herum (Abb. 2). Die Mehrzahl der winden- den Pflanzen windet nach links, die wenigsten nach rechts (Hopfen) oder bald nach rechts oder links. Man spriclit von Linkswindern, wenn der Sproßgipfel sich im umgekehrten Sinne des Uhr- zeigers bewegt, im entgegengesetzten I'"alle von Rcchtswindern. Abb. 2. Linkswindendcr Sproß der Trichter- winde, Ipomoea purpurea. In Darwins Denkweise spielte der Entwick- lungsgedanke eine führende Rolle. So auch hier. Er fragte sich, wie ist es zu dieser für die win- denden Pflanzen so nützlichen, von ihm als Zir- kumnutation genannten Bewegung gekommen? Trat sie plötzlich in dieser Gruppe von Gewächsen auf oder ist sie nicht vielleicht bei den anderen nicht windenden Pflanzen auch, wenngleich mehr versteckt und verschleiert vorhanden ? Diese Frage wird auf Grund zahlreicher und umfassender Ver- suche von Darwin bejaht. Nach ihm zirkum- nutiert jeder wachsende Pflanzenteil beständig, wenn auch im geringen Maße. Die Wurzel, der Stengel und das Blatt vollführen beständig kreisende oder schraubige Bewegungen. Gewöhnlich sind sie so klein, daß es feinerer Beobachtung bedarf, um sie wahr- zunehmen. Wenn man z. B. an der Spitze eines Kohl- keimlings einen Glasfaden schief anklebt und die mit Lack geschwärzte Spitze dieses Zeigers, der nun die Bewegung des Stengelchens ziemlich ver- größert wiedergibt, beobachtet, auf einer über den Keimling horizontal befestigten Glasplatte die je- weilige Lage der Zeigerspitze durch Tuschepunkte markiert und die aufeinander folgenden Punkte durch gerade Linien verbindet, so läßt sich aus dem so gewonnenen Diagramm (Abb. 3) er- '1 Ch. Darwin, The power of movemenl in plants. I-ondon 1880. Deutsche Übersetzung von J. V. Carus, Das liewcgungsvermögcn der Pflanze. Stuttgart iSSl. Abb. 3. Quercus (Americanische Sp.) : Circumnutation eines jungen Stammes, an einer horizontalen Glasplatte von 12,50 p. m., 22. Febr., bis 12,50 p. m., am 24., aufgezeichnet. Be- wegung des Lacktropfens zueist bedeutend, gegen das l'ndc der Beobachtung nur unbedeutend, im Mittel ungefähr lomal vergröflert. Nach Darwin. kennen, daß die Stengelspitze unregelmäßige Kreise, Ellipsen oder Spiralen beschreibt, also im Sinne von Darwin zirkumnutiert. So wie sich der Stengel dieses Kohlkeimlings verhält, so ver- hält sich jedes wachsende Organ. Stellt man sich diese Bewegung an den Tausenden von Sprossen, Blättern und Wurzelspitzen eines großen Baumes im vergrößerten Maßstab und daher in stärkerer Geschwindigkeit vor, etwa im Geiste gesehen N. F. XIX. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 629 durch das Mikroskop, so gewährt uns ein solcher Baum ein höchst interessantes Bild, das weit ent- fernt ist von jener Ruhe und Starrheit, die der Laie der Pflanze im allgemeinen zuzuschreiben geneigt ist. Die Zirkumnutation faßt Darwin als eine der Pflanze inhärente Urbewegung auf, von der die anderen als Tropismen und Nastien bekannten Bewegungen sich ableiten und durch Modifikation entstanden sind. Schon ein Jahr nach dem Erscheinen von Darwins Werk erschien eine kritische Studie W i e s n e r s ') in dem er sich unter anderem gegen Darwins Ansicht von der allgemeinen Verbreitung der Zirkumnutation als Urbewegung im Pflanzenreiche wendete. Nach W i e s n e r ist, abgesehen von den windenden Pflanzen, die von D a r w i n als Zirkumnutation aufgefaßte Bewegung eigentlich keine kreisende sondern eine ganz un- regelmäßige, durch Störungen im Längen- wachstum oder durch kombinierte Bewegungen verschiedener Art hervorgerufene. Es sei von vornherein nicht sehr wahrscheinlich, daß die Stamm- oder Wurzelspitze mit mathematischer Genauigkeit in einer Geraden wachse, sondern viel wahrscheinlicher, daß sie unregelmäßig im Räume umhertaumele, da sich ja das Wachstum eines solchem Organes aus verschieden großen und eigenartig gebauten Zellen zusammensetzt, die, weil fest miteinander verwachsen, beim Wachs- tum Spannungen hervorrufen. Diese werden ruckweise ausgelöst und führen zu unregelmäßigen Bewegungen. Auch durch kombinierte Wirkung von zwei spontanen und durch äußere Kräfte her- vorgerufene Bewegungen kann nach Wiesner Zirkumnutation vorgetäuscht werden. In vielen Fällen mag die Zirkumnutation, wie Wiesner es sich denkt, zustande kommen, und seine Ver- suche haben es wohl sehr zweifelhaft gemacht, daß die Zirkumnutation eine allgemein verbrei- tete Urbewegung ist. Er hat aber meiner Meinung nach auch über das Ziel geschossen, wenn er die Zirkumnutation im Sinne Darwins nur den win- denden Pflanzen zuschreibt und anderen Organen überhaupt nicht. Ist es doch bekannt, daß die Ranken vieler Gewächse (Weinstock usw.) echte Zirkumnutation zeigen und habe ich mich doch wiederholt über- •) J. Wiesner, Das Bewegungsvermögen der Pflanzen. Wien l88l. zeugt, daß auch die kreisenden Bewegungen der Keimstengel mancher Pflanzen, die in der Natur keine Stütze umfassen und einen geraden Stamm entwickeln, wie z. B. die Sonnenrose, so auffallend sind, daß man sie nicht gut auf bloße Störungen des Wachstums zurückführen kann. Ob die verschiedenen Bewegungen der Pflanze sich aus der Zirkumnutation entwickelt haben, was Darwin behauptet, Wiesner aber ent- schieden bestreitet, soll hier nicht erörtert werden ; hier sei nur betont, daß die Zirkumnutation, d. h. das Wachstum in einer Schraubenlinie im Pflanzen- reiche, wenn auch nicht allgemein verbreitet, so doch recht häufig ist. So sehen wir denn, daß die Schraube in der Natur tatsächlich von den niedersten bis zu den höchsten Gewächsen in der verschiedensten Art verwirklicht ist. Wenn die Geißel einer Bakterie einer Schiffs- schraube gleich um ihre Achse wirbelt und der Bakterie das Schwimmen ermöglicht; wenn die Wimpern eines Gingko-Spermatozoids in einer Spirale befestigt erscheinen und eine Schwimm- bewegung veranlassen; wenn in einer Bastzelle die Zelluloseteilchen der Wand in Schraubenlinien angeordnet wurden und dadurch die schief ver- laufende Streifung veranlassen oder der Hopfen- stengel um seine Stütze windet immer tritt uns die Schraubenlinie in eigenartiger, wechselnder Form von neuem entgegen. Und so wie die Drehung der Polarisations- ebene des Lichtstrahles durch die Natur und den Bau des Krystalls begründet ist, so liegt auch die letzte Ursache all der erwähnten Schrauben in der Konstitution der lebenden Substanz und nicht in äußeren Verhältnissen. Der Goethesche Gedanke von einer Tendenz im Sinne eines Strebens zur Spirale kann aller- dings nicht angenommen werden, aber sein Hin- weis auf das häufige Vorkommen der Spirale in der Vegetation im Sinne einer bestimmten Rich- tung hat in der weiteren Entwicklung der Bota- nik und durch Darwins Werk über das Bewegungs- vermögen der Pflanze eine vielfache Erweiterung erfahren. Und so hat sich wieder gezeigt, daß der gottbegnadete Dichter hier noch kurz vor seinem Tode seinen Blick auf eine Erscheinung des Pflanzenreichs gelenkt hat, die die Botanik noch weiter beschäftigt hat und auch noch ferner beschäftigen wird. [Nachdruck verboten.] Menotoxiu, Menstriiationsgift ? Von Dr. F. Schilling, Leipzig. Überall wo die Wissenschaft ihre Grenzen findet und auf unüberwindliche Hindernisse stößt, beginnt der Aberglaube zu wuchern, sich vorzu- drängen und wunderliche, widersinnige Blüten zu treiben. Im Volksmunde pflanzen sich derartige wunderbare Anschauungen von Generation zu Generation, von Jahrhundert zu Jahrhundert lange fort und finden sich nicht bloß bei den Urvölkern, den braunen Indern und schwarzen Negern, son- dern auch bei den modernen Kulturvölkern in 630 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 40 mehr oder weniger ausgeprägten Variationen. Vielfach unterliegen gerade natürliche Vorgänge des menschlichen Lebens und körperliche Funk- tionen solchem Wunderglauben, gar oft sind so- gar mystische Vorstellungen damit verknüpft. Und was das Sonderbare dabei ist und auffällt, ist der Umstand, daß diesen Vorstellungen nicht so selten ein Körnchen Wahrheit zugrunde liegt, das erst spät, zufällig oder gelegentlich anderer Forschungen an das Licht gezogen wird und ex- perimentelle Bestätigung findet, ohne daß mit der Beobachtung des Vorganges auch bereits der Grund aufgedeckt ist. Die bestätigende Beob- achtung regt zu neuen Beobachtungen an, die dann unser Wissen nach verschiedener Richtung bereichern. Über derartige dunkle Lebensprozesse haben in den letzten Jahrzehnten die Radioaktivi- tät der Luft und verschiedener Flüssigkeiten, die Fermente der menschlichen Sekrete und die Hormone der endokrinen Drüsen Aufklärung ge- bracht. Was physikalische Faktoren, Wärme, Kälte, Licht, Klima und Elektrizität, ferner Rassen- anlage an Veränderungen in den Lebensprozessen des menschlichen Körpers hervorzubringen ge- eignet sind, vermögen exzessive psychische Ein- flüsse in weit höherem Maße. Ähnlich verhält es sich mit der Menstruation, dem bei Frauen zur Zeit der Pubertät und Ge- schlechtsreife in Perioden wiederkehrenden Monats- fluß, über dessen Bedeutung und Ursprung noch nicht volle Einigung unter den Physiologen und Biologen herrscht. Mit der längere Zeit vor- herrschenden bloßen Behauptung, daß die Blutung der Inokulation des befruchteten oder zu be- fruchtenden weiblichen Eies im Uterus diene, ist es längst nicht mehr getan, seitdem die Ovulation in den Vordergrund gerückt ist und die Einwir- kung der sezernierenden Follikelwand auf den weiblichen Organismus immer mehr an Bedeutung zugenommen hat. Früher dachte man bei der Menarche nur an die sinnfälligste Erscheinung der periodischen Blutung, dann entdeckte Bischoff die von Monat zu Monat einsetzende Eilösung und später brachte Pflüger die wiederkehrende Hyperämie der inneren Geschlechtsorgane damit in Verbindung. Daß chemische und zwar spezi- fische Einflüsse im Spiele waren, bewies H a 1 b a n durch Überpflanzung der Ovarien an Pavianen, denen sie vorher genommen waren ; während die Menstruation ausblieb, wenn sie fehlten, setzte sie wieder ein von neuem, wenn sie dem Körper wiederum implantiert wurden. L. Fränkel sieht in der inneren Sekretion des Corpus luteum den ätiologischen Faktor, der die zyklisch wieder- kehrende Hyperämie des Uterus einleitet. Wo die Ovarien fehlen oder keine Eier wie nach der Klimax mehr reifen, hört die Menstruation auf und beginnt die Menopause. Über Wesen, Zweck und Wirkung der Blutung äußern die Urvölker, die Nationen des Altertums und Mittelalters die eigentümlichsten Ansichten, auch noch die Neuzeit treibt sonderbare Blüten. Wie die Bezeichnung, so wechselt die Erklärung des Vorganges. Im Altertum herrschte die Meinung, daß die Menstruierende unrein sei und ein Gift ausscheide, vor. Katharsis deutet bei den Griechen auf eine ähnliche Ansicht hin. Katamenien bezeichnen die monatliche Wieder- kehr. Wenn man vom Monatlichen spricht, so datiert diese Bezeichnung von der Annahme her, daß der Mond mit seinen Phasen den Vorgang einleitet oder begleitet: der Neumond wirke in den ersten 10 Jahren, der Vollmond in den nächsten 10 Jahren und das letzte Viertel auf den Rest. Periode weist auf die rhythmische Wiederkehr, Reinigung auf das Unreine, das Abfluß findet. Unser Unwohlsein schließt die mancherlei Be- schwerde ein, über welche die Menstruierenden zu klagen haben; Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Schlaflosigkeit, Leibweh vor- und nachher oder während der Regel, andererseits bleibt ein ge- wisser Grad von Erregung und Gereiztheit nicht aus, übler Mundgeruch findet sich vielfach. — Die alten Völker sahen in der Periode die Ausschei- dung eines Giftes, des Unreinen. Die Perser, Meder und Juden, ebenso die Urvölker Arabiens und die Urbevölkerung Amerikas sonderten des- halb die Menstruierenden einige Tage von dem Verkehr ab, die Perser und Inder schickten sie in besondere Menstruationskammern, in die ihnen das Essen zugeschoben wurde. In Ostindien zieht sich die Jungfrau, wenn sie zum ersten Male ihr Blut bekommt, 4 Tage zurück. Ein Bad schließt die Reinigung ab. Bei den Juden durfte zu dem Reinigungsbade nur Quell- und Regenwasser, kein F'lußwasser benutzt werden. Iraner, Semiten und Araber hielten aus religiösen Gründen an diesem Glauben fest. Moses schreibt dem Blutfluß eine infizierende Wirkung zu, manche alten Völker glaubten, daß das Blut Pocken und Masern her- beiführe. Nach dem Aberglauben afrikanischer Völker schädigt der Mann seine Gesundheit, wenn er während der Menses Verkehr pflegt, da er unrein wird. Die Kappadozier vertrieben Kan- thariden mit Hilfe menstruierender entblößter Frauen. Im Orient hält man auch die von der Menstruierenden berührten Gegenstände für un- rein. Dies ist nicht wunderbar, weil man an- nimmt, daß die Menstruation von einer Schlange verschuldet sei, wie ja die Schlange in der Sage mit dem Bösen, so auch im Paradiese, in Ver- bindung gebracht wird. In Brasilien verbot man den Mädchen zur Zeit ihrer Blutung in den Wald zu gehen, weil verliebte Schlangen sie anfielen. Inder erklärten die Menstruation für eine Art Abort. Trächtige Tiere sollten umgekehrt bei dem Anblick einer Menstruierenden abortieren. Eckarts unvorsichtige Hebamme behauptet noch im Anfange des 18. Jahrhunderts, daß das monat- liche Blut nicht so gut sei wie das anderer Organe, der Nase und des Halses. In dem Weibe von Ploss-Bartels und der vergleichenden Volks- medizin von H o vor ka- Kornfeld findet jeder, der sich für solche Irrtümer interessiert, reichliche N. F. XIX. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 631 Ausbeute. — Daß ein Gift dem Körper ent- ströme, findet in dem Volksglauben nach Plinius bei den Römern seinen Ausdruck darin, daß Bäume verdorren, die von Menstruierenden berührt würden, und bewährte Medizinen ihre Wirkung verlören. Ähnliche irrige, vielfach aber auch zu- treffende Ansichten kehren noch in den letzten Jahrzehnten bei uns wieder. Will man in der Gegend von Nürnberg die Gärten von Raupen befreien, dann führt man eine Menstruierende hinein. Bei uns in Mitteldeutschland verbietet die Mutter der menstruierenden Tochter, Teig anzu- rühren, weil der Teig dann ungenügend in Gärung gerät und um die Hälfte weniger hoch aufgeht. In manchen Weingegenden (Rheinland) führen die Weinbauer Menstruationsterminlisten und verbieten den weiblichen Arbeitern während der Periode den Eintritt in den Weinkeller, weil sonst der Gärungsprozeß unterbrochen würde, oder der Most sofort überfließe. Schneidet eine Menstru- ierende Blumen ab, so beginnen sie rasch zu welken. Die Wurst und die Butter, die gemacht werde, verdürben. In Steiermark glaubt man, daß berührte Trauben und Knospen verdorren, eingemachte Früchte ungenießbar werden. In Schlesien darf ein Mädchen während der Blutung keine Pflanze anlegen, da sie eingeht. In der Meininger Gegend glaubt man, daß abgezapftes Bier dann verdirbt, wenn eine weibliche Hand zu jener Zeit dabei Hand anlegt. Berührt eine F'rau im Zorn während der Menses einen Menschen, dann erkrankt er an gefahrlichen, nicht heilenden Wunden. Rasiermesser sollen rosten, Früchte fallen von den Bäumen, Pech soll nicht an dem Faden kleben. Wo das Geblüt hinfällt, ist es als ein Scheidewasser (Eckart). Wie die Mutter- milch tatsächlich verändert, vielleicht durch ein Menstruationsgift geschädigt wird, ersieht man an dem Säugling, wenn zu zeitig zur Zeit der Lak- tation die Periode wiederkehrt ; nur ungern nimmt er die Brust der Mutter oder erkrankt an Darm- katarrh (Biedert). Aus meiner Klientel kann ich gleiche Beispiele anführen. Andererseits schreibt man dem Blute eine heilende Wirkung zu. Feuermale, Warzen und Leberflecke sollen schwinden, wenn der Patient drei Tage das Hemd einer Menstruierenden trägt. Das Menstruationsblut heilt den Biß eines tollen Hundes nach altertümlichem Glauben. Knotiger Aussatz und schwarze Räude schwinden, wenn man sie mit Blut bestreicht (Kosmographie des Arabers Zakarija ben Muhamed). Als Mittel gegen sang gäte (verdorbenes Blut) gilt bei den Bewohnern der P'ranche comte ein Eßlöffel Men- struationsblut, mit Wein und Essig vermischt. Aussatz kommt zur Heilung in JVlenstrualblut- bädern (heilige Hildegard). An einer anti- septischen Wirkung hält Petersen deshalb fest, weil er Geschwüre der Schoßgegend unter dem Fluß des Monatlichen heilen sah, während unbe- spülte Geschwüre sich in dieser Zeit verschlech- terten. Bei Hundswut empfiehlt Plinius, dem Erkrankten ein mit Menstruationsblut befeuchteten Lappen unter das Trinkglas zu legen. Selbst mystisch klingt es, wenn man hört, daß nach Oldenburger Sitte man den Schweiß und das Blut der Menstruierten mischt und zu einem Tranke bereitet, um die Liebe und Zu- neigung einer Person zu gewinnen, oder wenn in Schleswig einige Blutstropfen den Kaffee des Bräutigams zugesetzt werden, um ihn festzuhalten. Ähnlicher Aberglaube herrscht noch in der Ober- pfalz und Niederösterreich. In Britisch • Guajana darf ein blutendes Mädchen nicht in den Wald gehen, da sie sonst den Angriffen der verliebten Schlange ausgesetzt wird. An Magie grenzt der alte Germanenglaube: das befleckte Hemd schützt vor Gefährdung, löscht Feuerbrand, macht fest gegen Hieb und Stich und gilt als Zauber- und Fruchtbarkeitsmittel. Nach Plinius vertrieben die Griechen und Römer Sturm und Hagel mit Hilfe einer Person in der Regelzeit. Angeblich kämpften die Schiffe vergeblich gegen die Wogen des stürmischen Meeres, wenn eine in der Blutung begriffene weibliche Person als Passagier auf dem Schiffe weilte. Wie die Völker zu solchem Wunderglauben kamen oder wie sie sich solche Einwirkungen des weiblichen Monatsflusses auf die Umgebung dachten, darüber läßt sich keine Erklärung ab- geben. Nach unserem heutigen Wissen über die physiologischen Vorgänge des Blutflusses und über die ßlutzusammensetzung der periodischen Aus- scheidung müssen wir neben dem Aberglauben dem Schwindel und Unsinn einen großen Platz einräumen. Im Altertume und noch im Mittel- alter zählte die Zauberei viele Anhänger. Daß sich eigentümliche Einflüsse von außen auf die monatliche Blutung Geltung verschaffen, weiß man in Ärztekreisen wie im Volke ganz sicher. So ist es bekannt, daß intensive Geistes- und Gemüts- erregung den Monatsfluß frühzeitig eintreten lassen und ein kaltes Fußbad oder ein Fall in kaltes Wasser während der Menses den Monatsfluß hemmt. Ich selbst erlebte drei Fälle, bei denen Frauen für immer das Unwohlsein, von dem sie gerade befallen waren, verloren, weil das Haus abbrannte, eine Tochter in einen Brunnen fiel und plötzlich starb oder die Frau durch Unfall den Mann verlor. Dabei standen diese Frauen keineswegs im klimakterischen Alter. In diesen Vorgängen liegt nichts Unerklärliches und Über- raschendes, der intensive Affekt überreizt das ganze Nervensystem und führt, gewissermaßen sich ausschleifend wie die gesteigerte Magensaftsekre- tion bei Erregungen, zum Krampf der Gefäße, insbesondere der Kapillaren der Gebärmutter- schleimhaut. Umgekehrt erlebt man es nicht so selten, daß anhaltende Angst und Not wochen- lang die Blutung unterhält, weil die Blutgefäße lange Zeit erschlaffen und gewissermaßen ihres Tonus verlustig gehen. Daß aber die Ausschei- dung des Blutes auch nach außen wirkt und die Umgebung in augenfälliger Weise beeinflußt, wird 63: Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 40 neuerdings von S ch ick- Wien V) mit folgender Beobachtung behauptet, die jedoch noch der Nachprüfung und Bestätigung bedarf (vgl. die Anmerkung am Schluß. Die Red.). Er ließ zufällig eine Frau frisch geschnittene Rosen nachmittags von einem Gärtner holen, um sie einwässern zu lassen, und beobachtete, daß die Rosen schon am anderen Morgen welk und verdorrt waren, obwohl die Gärtnerei nur -10 Mi- nuten Weges ablag und die Frau sie lediglich in der Hand überbracht hatte. Als er seine Be- wunderung darüber äußerte, erklärte die Person, daß sie das schon längst gewußt habe, weil alle Blumen, die sie während der Menstruation in die Hand nähme, zugrunde gingen. Weitere Ver- suche in dieser Richtung ergaben, daß eine nicht menstruierende Frau ohne Nachteil, auch wenn sie die Menstruierende begleitet, Rosen nach Haus trägt, daß ferner nachmittags abgeschnittene Anemonen, Chrysanthemum und gelber Helianthus schon nach 10 Minuten welken, die Anemonen nach 16 Stunden von blauen Linien durchzogen sind und nach 24 Stunden verdorren. Am 3. und 4. Tage der Menstruation ließ die Gifteinwirkung nach. Eine Schädigung der Rosen blieb über- haupt aus, wenn die Frau die Blumen in der be- handschuhten Hand nach Hause brachte. (Ich selbst habe ähnliche Proben, deren Wert durch Kontroll- versuche an nicht von der Versuchsperson berührten Blumen anscheinend steigt, angestellt und gefunden, daß nicht nur die ersten Tage der Menses, son- dern auch das Alter der Menstruierenden und die Art der Blumen und Pflanzen von Bedeutung ist. So störten die Blutausscheidungen einer 35- und 40jährigen Frau keineswegs das weitere Auf- blühen der abgeschnittenen Jasminblumen und Rosen, wenn sie bereits den 3. und 4. Tag der Menses zählte, auch am 1. Tage nicht bei einem 30jährigen Mädchen; dagegen legten sich die Blumenblätter von Bellis perennis bereits nach 8 — 10 Stunden zusammen und verfärbten sich die Blätterspitzen, wenn ein 29jähriges junges Mädchen sie am ersten Tage ihrer Periode in der Hand hielt oder am Busen liegen hatte. Weidenkätzchen blieben unbeeinflußt). Ebenso nachteilig wie d^s Tragen mit der bloßen Hand erwies sich der Schweiß der Achselhöhle bei der Probeperson, dagegen war Anhauchen, ebenso Speichelbenetzung ohne Bedeutung. Der Effekt des ausgeschiedenen Blutes war an das Gerinnsel und zwar an die roten Blutkörperchen, nicht an das Serum gebunden. Es zirkuliert also das Menstruationsgift, das Meno- foxin, wie es getauft wurde, mit dem Blute im Körper und kommt in manchen Sekreten der Milch- und Schweißdrüsen zur Ausscheidung, während der Exhalationsweg durch die Lunge und der Speicheldrüscnweg freiblciben. Offenbar hemmt das Menotoxin die Hefegährung, da der angerührte Teig nicht genügend locker wird, und beschleunigt andererseits das Schäumen und Über- Wien, klin. Wochcuschr. 19/20. laufen des Most. Mit der Zeitdauer des Blutaus- trittes ändert sich die Intensität der Wirkung. Der Abfall von Obst von den Bäumen, unter denen eine Menstruierende sitzt, und die größte Zahl der oben erwähnten Kasuistik gehört in das Reich des Aberglaubens und der Fabel, da jeder Kontakt zwischen Frau und Frucht fehlt. Wie aber erklärt sich die austrocknende und ver- welkende Wirkung, wenn die Blumen nur 10 Minuten in der Hand getragen werden ? Strömt das Gift aus der Hand in den Stiel der Blumen ? Ist es gasförmig oder kolloider Natur? Fermente, wie sie bei der Verdauung unserer Nahrungsmittel im Magen und Darm oder bei der Autolyse tätig sind, kommen nicht in Frage. Bakterizid wirken Ovarialextrakte. Wenn die Uterindrüsen im Prä- menstruum viel Arsen aufspeichern, das in dem Monatsfluß reichlich ausgeschieden wird und den Körper entgiftet, so kommt Arsen doch nicht in Betracht, da es nicht flüchtig ist und im Schweiß der Achseldrüsen kaum austreten kann, mag die Form, sein welche es wolle. Blausäuredämpfe und irrespirable Gase, wie Chlorgas, Schwefel- wasserstoff oder Kohlenoxyd könnten solche Wirkung wohl entfalten. Um Bakterien und Protozoen kann es sich ebensowenig handeln, auch Organzellen scheiden aus, da deren Austritt durch die Haut und den Schweiß nicht bekannt ist. Nur die Larven von Ankylostomum duodenale treten durch die Haut der Ziegelarbeiter oder Tunnelbauer nach innen, also ist ihnen die Eva- sion ebenfalls nicht erschwert. Das Menotoxin ist sogut wie thermostabil, da es der Wärme von 56" für 15 Sekunden widersteht, bei der Fermente bereits ihre Wirkung einbüßen, und loo" seinen Effekt nur wenig schädigt. Wenn wir An- steckungen bei Infektion des Typhus und der Cholera beobachten, so genügt der Kontakt mit einer erkrankten Person oder ihrer Kleidung oder der Fäzes oder der Genuß infizierter Flüssigkeiten und Nahrungsmittel. Bei den Masern bringt ein kurzer Aufenthalt im Krankenzimmer die An- steckung zustande. Wenn man in Zukunft die Muttermilch einer Menstruierenden nach den ver- schiedensten Richtungen untersucht, gelingt es voraussichtlich, den Giftträger und das Gift selbst zu ermitteln. Anmerkung der Redaktion. Der Herausgeber fühlt sich verpflichtet, den oben angeführten Versuchen gegen- über seinen sehr skeptischen Standpunkt zum Ausdruck zu bringen, wenigstens soweit es sich um die Beobachtungen an Pflanzen und Gärungserregern handelt. Daß sich im Menstrual- blut giftige Stolfe finden, soll nicht angezweifelt werden, daß dagegen solche Stoffe in flüchtiger Korni schon nach ganz kurzer Zeit Pflanzen zu schädigen vermögen und daß damit der bekannte Volksabeigiaubc eine wissenschaftliche Bestäti- gung erfahren habe, das ist durch die Versuche Schicks (und das gleiche würde auch für die unzureichend wieder- gegebenen des V'erfassers des obigen Aufsatzes gelten) nicht mit der Sicherheit bewiesen, die man bei einer so merk- würdigen Behauptung billig fordern müßte. Abgesehen von der ganz allgemeinen Einwendung, daß nicht der Versuch gemacht wurde, die Resultate kritisch vom pflanzenphysiologi- schen Standpunkte aus zu diskutieren, sind auch solche gegen N. V. XIX. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 633 die Methodik anzuführen. Es findet sich keine Angabe über das Alter der Versuchspflanzen. Schick hätte unter per- sönlicher Aufsicht die Versuchspflanzen ziehen lassen müssen, nachdem er sich vorher eine genaue Kenntnis der phänologi- schen Momente sowie der individuellen Variationen verschafft hätte. Er verläflt sich ganz auf den Gärtner bzw. seine Ver- suchspersonen. Das ist auch noch in einer anderen Hinsicht bedenklich. Das Volk (d. h. der Inbegriff von Menschen ohne kritisch geleitetes Kausalitätsbedürfnis) hegt und pflegt den Aberglauben, er ist ihm eine Art Vulgärwissenschaft, die es nicht antasten oder gar lächerlich machen läßt. Das ver- pflichtet hier wie bei anderen ähnlichen Fällen zur Neutrali- sierung aller auf psychologische Momente zurückgehender, gefühlsmäßiger, bewußter oder unbewußter Widerstände. Dann ist bei gewissen Blumen die Wirkung doch ausgeblieben, wie mir überhaupt die Statistik von Kehlversuchen vernachlässigt zu sein scheint. Wie Schick bei den so kurzlebigen Tabak- blüten den Erfolg hat kritisch beurteilen können, ist sein Geheimnis, das er uns wohl hätte mitteilen dürfen. Schließlich darf man es tadeln, daß nicht versucht wurde, die Experimente nach pflanzenphysiologischen Gesichtspunkten zu variieren, also z. B. nicht blühende oder eingewurzelte Pflan- zen zu prüfen. Die Back- und Gärversuche sind trotz der angegebenen Rezepte zu flüchtig wiedergegeben, als daß man sich eine Vorstellung von ihrer Zuverlässigkeit machen könnte. Bei der dem Vortrage Schicks folgenden Diskussion war CS charakteristisch, daß der einzige kompetente Beurteiler, der Pflanzenphysiologe Molisch in Wien, eine deutlich skepti- sche Haltung einnahm, wenn er sich auch auf einige kritische Bemerkungen anatomisch-physiologischer Art beschränkte. Miehe. Einzelberichte. Geographie. Morphogenetische Studien aus Albanien gibt G. Nowack in der Zeitschrift d. Gesellsch. f. Erdkunde z. Berlin (1920). Die Bal- kanhalbinsel verdankt ihre heutige Gestalt, Um- risse, Küstengliederung, Oberflächenform tektoni- schen Ereignissen der jüngsten geologischen Ver- gangenheit. Erdbeben der Küstengegenden, Meeres- schwankungen verraten ein letztes Ausklingen dieser Bewegungen. Was von der ganzen Balkan- halbinsel zu sagen ist, das kann man von Albanien im besonderen sagen. Die Küste Niederalbanies ist südlich von Sku- tari ab bis an das Südende der Bucht von Valona Flachküste, um von da ab wieder Steilküste, wie nördlich Skutari, zu werden. Die inselfreie albani- sche nord-südlich streichende Flachküste fällt aus dem Nordwest-Südoststreichen der übrigen Balkan- küste heraus. Stellenweise nur wird sie dort zur Steilküste, wo spitz zur Streichrichtung verlaufende Hügelrücken von der Brandung angeschnitten worden sind (Kap Rhodoni, Kap Tali, Kap Laghi). Diese Küste ist nach geologischem Aufbau und Morphologie mit dem „Subapennin" Toskanas zu vergleichen. Die in Albanien vorhandenen jüngsten Meeresablagerungen tauchen hier an der Ostküste der Adria deshalb auf, weil sie der apenni- nischen Hebungszone entsprechen. Pliozäne Meeres- ablagerungen liegen 600 m hoch, eine miozäne Strandterrasse 100 m hoch. In den sich heute noch einschneidenden Flüssen kann man Terrassen beobachten. Die Küste wandert seewärts. Nieder- albanien ist das Südende der adriatischen Geosyn- klinale. Von dem Flüßchen Ismi wird die Ebene von Tirana durchflössen. Sie erscheint wie eine Bucht, die nach Westen hin vom Hügelland von Durazzo begrenzt wird. Die Kalkmauer von Kruja trennt Inneralbanien von Niederalbanien. An ihrem Fuße kann man eine „niedrige, flach und sanft an- steigende Vorzone aus pliozänem, lockerem, rotem Sandstein und Konglomerat", „einen höheren, sich deutlich absetzenden, regelmäßig wallförmigen Bergrücken aus miozänem Lithothamnienkalk und Leithakalk-ähnlichem Gestein" und „eine schmale, seichte Senke" unterscheiden. Die Sandsteinzone hat gerundete, ausgewaschene Formen und Klamm- bildungen, die Lithothamnienkalkzone felsige Durchbruchstäler und die Senke als Flyschzone zeichnet sich durch Zerrissenheit und feinste Gliede- rung aus. Das Hügelland von Durazzo, seine Fortsetzung im Krabe- Gebirge, besteht aus stark gestörten jungtertiären Schichten. Es sind drei Antiklinalen vorhanden, deren östlichste im Kern Oligozän einschließt. Am Ostrand der Ebene lagert Miozän und Pliozän. Man erkennt drei tektonische Einheiten von Osten nach Westen: die Fächerfalte von Dajtit mit zerknittertem Flysch- mantel, das gegen die Ebene von Tirana aus- ebnende mio-pliozäne Schichtpaket, das wellig gefaltete Neogen zwischnen Tirana und Durazzo. Die Tirana- Ebene ist eine synklinal gebaute Re- gion, die durch einen Längsbruch zerrissen ist. Die „Mauer von Kruja" (Dajtit) ist keine Bruch- stufe, sondern die jetztige Gestalt dieses Absturzes wurde durch Erosion hervorgerufen. Wir haben in jener Wand das hohe Kliff eines pliozänen Meeresstadiums vor uns. Der reife Landschaftscharakter des Hügellandes am Durazzo ist auf die sehr geringe Widerstands- fähigkeit der jungtertiären Schichten zurückzu- führen. Nach der Küste zu verflacht sich die immer offener werdende Landschaft mehr und mehr. In der Insel von Durazzo haben wir mit den steil einfallenden pliozänen Schichten den Westflügel einen Synklinale vor uns, welche der Senke des Kneta Durzit entspricht. Der Ostflügel ist der „Sassi bianchi". Als Fortsetzung der Mulde von Kneta Durzit ist die Ebene von Kawaja auf- zufassen. Überall tritt eine Übereinstimmung zwischen Tektonik und Morphologie zutage. Die Elbasaner Senke verdankt tektonischen Vorgängen ihre Entstehung. Das alte zum Dewoli gerichtete Skumbital wurde zur Quartärzeit ver- senkt. Weil die Senkung bis unter die Erosions- basis staltfand, staute sich bei Almagia, Dal Piaz, De Toni, ein See. Eine postpliozäne Hebung und eine Anzapfung von Westen her durch kräftige rückschreitende Erosion haben ein Auslaufen des 634 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 40 Sees herbeigeführt. Die Hebungen sind wellen- förmig vor sich gegangen, so daß Talengen im Abfluß entstehen konnten. In den Seen, Sümpfen der Seenplatte von Belis erkannte der Verf. Dolinen in einem sehr seichten Karst. Die Berglandschaft Malakastra im Süden Al- baniens besteht aus durch atmosphärische Einflüsse herausgearbeiteten antiklinal aufgebauten „Paxos- kalk" (Kreide- Eozän) zwischen stark sekundär ge- faltetem Flysch. Der Flysch ist erst in junger Zeit herausgearbeitet worden, da die Oberfläche der Berge nur sehr wenig verkarstet ist. In der westlichen Malakastra ist die Abtragung noch nicht so weit vorgeschritten, daß Struktur und Land- schaftsbild so deutlich übereinstimmen. Im Tomar-Gebirge, das östlich Berat 2400 m aufragt, erkannte der Verf. zwei Kare und einen scharfgratigen Karling, die auf eine diluviale Ver- gletscherung des mittelalbanischen Hochgebirges schließen lassen. Auch im Polisitgebirge südlich des Skumbiknies wurden von ihm in einem „flach- trogförmigen" Hochtal Reste eines alten Plateau- gletschers erkannt. Am Nordhang des Gora Top- Gebirges liegen im Ursprungsgebiet des Skumbi zwei Moränenstauseen. Auch an einer anderen Stelle des Gora Top-Gebietes liegen solche Kar- seen. Rudolf Hundt. Geologie. Die Wünschelrutenfrage in Hamburg wurde in der letzten Sitzung des Naturwissen- schaftlichen Vereins in Hamburg von Professor Gürich vom hiesigen Mineralogisch- Geologischen Institut erörtert. Das Bestreben, in der Nähe der Gasquelle von Neuengamme weiteres Gas oder wo- möglich Erdöl zu finden, hat eine lebhafte Tätigkeit der Rutengänger hervorgerufen. Der Vortragende hatte im Laufe der letzten drei Jahre 6 Rutengänger bei ihrer Arbeit genau beobachtet und faßt nun seine Erfahrungen zusammen. Der Redner hatte die weitere Umgebung der Gasquelle mit drei Rutengängern nacheinander auf demselben Wege begangen und die Ausschläge genau bezeichnet; es ließ sich keinerlei ITbereinstimmung, auch nur andeutungsweise, feststellen. Bei der Bestimmung des neuesten Bohrpunktes bei der Gasquelle gaben drei Rutengänger ihr Urteil ab, alle hatten von- einander abweichende Ausschlagspunkte zu ver- zeichnen. Die Übereinstimmung in einem Punkt wurde nur nachträglich erzielt. Die Zeitungs- nachricht, daß die neue Quelle durch überein- stimmende Aussage von drei Rutengängern ge- funden worden sei, ist demnach unrichtig; auch handelt es sich gar nicht um eine neue Gasquelle, sondern um eine neue Anzapfung des alten Gas- vorrats. Die beiden Bohrlöcher sind 1 1 'Z, m von- einander entfernt und stehen in der Tiefe von etwa 250 m durch eine unter einer mächtigen Tondecke auftretenden sandigen Mergelschicht miteinander in Verbindung. Sicher scheint es zu sein, daß besonders veranlagte Personen unter Umständen einen Ruten- ausschlag erleiden, unmöglich ist es, daß die Rute von außen einen Reiz aufnimmt und sich selbstätig bewegt. Der Reizvorgang spielt sich lediglich im Träger selbst ab, und dessen Mus- keln bewirken die Bewegung. Möglich wäre es, daß Menschen gewisse physikalische Vorgänge und Zustände am Erdboden empfinden könnten; andererseits ist es ebensowohl möglich, daß es sich hierbei überhaupt nicht einmal um derartige primitive Empfindungen handelt, sondern daß der Rutenausschlag ausschließlich infolge einer Er- müdung oder besonderer krankhafter Zustände des Trägers erfolgt, ohne daß dieser sich der Vorgänge bewußt wird. Er sieht nur den Ruten- ausschlag und verlegt die Ursache desselben in den Untergrund, den er nicht kennt. Hier steht seiner Phantasie ein weiterer Spielraum zur Ver- fügung als in der sichtbaren Welt, in der seine Einbildungskraft durch die Beobachtung jederzeit kontrolliert werden kann. Die psychischen Vor- gänge interessieren mehr den Arzt als den Geologen; der letztere wird nur durch den Umstand betroffen, daß der Rutengänger die unbewußten Eigenreize auf den Untergrund projiziert. Nach den Hamburger Erfahrungen ist der Rutenausschlag nicht an den Ort gebunden, folglich noch weniger an die örtlich be- schränkten verschiedenen Stoffe der Erdkruste. Die angeblich empirisch gefundenen ,, spezifischen Emp- findungen" für diese Substanzen, das an sich höchst unwahrscheinliche „Ausschaltungsvermögen", die ganze Reihe der angeblich ebenfalls auf dem Er- fahrungswege gefundenen „spezifischen Faktoren", die von dem Vortragenden durch Beispiele er- läutert wurden (ausführlicher geht der Vortragende auf den Gegenstand in einer demnächst im Verlage von W. Gente, Hamburg, erscheinenden Broschüre ein), werden auf Fehler in den Schlußfolgerungen der Rutengänger zurückgeführt. Bei der Erörterung der angeblichen Erfolge der Rutengänger müssen die Regeln der Statistik und der V/ahrscheinlich- keitsrechnung berücksichtigt werden. Man kann die Frage klären helfen, wenn man bei einer Zurateziehung der Rutengänger sich von ihnen die Voraussage schriftlich festlegen läßt, damit eine nachträgliche Umdeutung der Ergebnisse erschwert wird. — Einen Erfolg halaen die Rutengänger bei Hamburg gehabt: sie haben die Unternehmungslust angeregt und durch zahlreiche Bohrungen wesentlich zur Vertiefung unserer Kennt- nisse vom Untergrund der Hamburger Gegend beigetragen. Ein weiteres Suchen nach Gas und Öl empfehlen außer Rutengängern auch die meisten Geologen, aber nur sehr kapitalkräftige Finanz- größen darf man zu diesen Unternehmungen anregen. Petersen. Der Bohlen bei Saalfeld in Thüringen wird in einer „geologischen Studie" von H. Meyer (Saalfeld 1920) nach Aufbau und Fossilführung eingehend behandelt. Der Bohlenaufschluß ist N. F. XIX. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 635 eins der lehrreichsten geologischen Profile Deutsch- lands. Seit 1761 (Füchsel) wird In der geolo- gischen Literatur auf diesen wichtigen Aufschluß, der HO — 120 m hoch und 700 m lang ist, hin- gewiesen. Das der Arbeit beigegebene Profil zeigt zum ersten Male ein Bild des gesamten Bohlens. Das gefaltete, oben* „fast eben" abgeschliffene thüringische Oberdevon wird von ungleichförmig aufliegendem Zechstein überlagert. Durch die Köhler- (NW) und die Richter- Verwerfung (SO) ist der devonische Teil in 3 Schollen, die einzeln nach NW absanken, zerlegt. Im NW liegt die große oder Hauptfalte mit dem merkwürdig ge- falteten „Zimmermannssattel" (nach dem Landes- geologen Geheimrat Zimmermann genannt), zwischen Köhler- und Richter-Verwerfung die ein- geklemmte Scholle und im SO zeigt sich die Ober- nitzer Plattenbruchmulde. Die Schollen wurden vorzechsteinzeitlich verschoben, abradiert und auf die Fastebene lagerten sich die Zechsteinschichten diskordant auf. Das Zerreißen und nordwestliche Absinken der Schollen geschah zur Zeit, als die Entstehung des Thüringer Beckens einsetzte. Daß diese Störungen in den nachzechsteinzeitlichen P'ormationen wieder aufgenommen worden sind, wird durch eine kleinere Verwerfung angedeutet, die den Zechstein mit verwirft (bei Kilometerstein 142,000). Meyer ist der Ansicht, daß die Kalk- knoten innerhalb des Gesteins schon vor der Fal- tung, mindestens aber vor den Verwerfungen vor- handen gewesen sind. Sie geben dem Gestein bei den Gebirgsbildungsprozessen eine gewisse Elasti- zität, die sich besonders in den Schleppfiguren an der Köhler-Verwerfung bemerkbar macht. Im „Zimmermannssattel" ist eine großartige Kernver- quetschung festzustellen, denn „der Erosionsschnitt legte einen Sattel frei , einen großen — mit kleinen im Leibe". Die Devonschichten sind bis auf 100 m tief gerötet. Nach Zimmermann stammt der rötende Farbstoff (wirklich wasserfreies Eisenoxyd) aus dem Rotliegenden, das einst auf dem Rumpf- gebirge gelagert hat, das aber jetzt wieder abge- tragen ist, weil sich auf dem Schiefergebirge Zech- stein aufgelagert hat. In der Nähe (i — 7 m) dieser Zechsteindecke erkennt man eine Ausbleichungs- zone, die durch Reduktion des Eisenoxyds zu Oxydul und durch Wegführung des Oxyds ent- standen ist. Die Zechsteindecke läßt uns manche interes- sante Beobachtung abgewinnen. Der schwerver- witternde Quarzit bildete eine Klippe in dem ein- dringenden Zechsteinmeer. Im erhaltenen Basal- konglomerat zeigen sich die Brandungsspuren des hereinbrechenden Meeres. Wo normale Verhält- nisse herrschten, keine Klippen vorhanden waren, da findet sich der untere Zechstein als Sandflöz, Konglomerat, konglomeratischer Sand und Mutter- flöz ausgebildet. Diese Zechsteinablagerungen passen sich den Bodenvertiefungen an, die am Rande der Zechsteinschüssel nach dem Innern der Zimmermannsschlucht dolomitisch, im Innern kalkig ausgebildet sind. Die Basalschichten des Zechsteins am Vorder- und Hinterbohlen verhalten sich folgendermaßen: Vorderbohlen: 0,7 m Konglomerat; 4,5 m konglom. Mutterflöz. Hinterbohlen: 3,6 m Sandflöz; 2,0 m reines Mutterflöz. Über den Unteren Zechstein lagern sich noch 2 m Mittleren Zechstein in zum Teil oolithischer Ausbildung. Rudolf Hundt. „Betrachtungen über den Aufbau des Rheini- schen Schiefergebirges unter besonderer Berück- sichtigung eines den Hunsrück und den Wester- wald spießwinklig querenden Gebirgsstreifen so- wie der darin auftretenden Erzlagerstätten" stellt H. Vogel in „Metall und Erz^'^(HefF8^nd 9, Jahrg. 1920) an. Er erkannte, daß häufig die Erz- gänge sich in der Richtung des Gebirgsstreifens anordnen. Die älteste Gebirgsfaltung mit ost- westlichem Streichen der Züge — diese wird vermutet — oder vielleicht auch ein Gebirge kaledonischen Alters haben das Material zu dem im rheinischen Schiefergebirge so reichlich ver- breitetem Devon geliefert. Eine prävariskische Faltung läßt sich an der Aufrichtung älterer Schichten (Silur, Devon, Kulm in der Dillmulde) nachweisen. Parallel diesem Gebirgsstreifen laufen Erzgänge (Holzappeier Gangzug) und Diabasgänge in der Rhein- und Lahngegend. Ältere Schichten sind oft auf nordwesthch lagernde jüngere auf- geschoben. Die Dillmulde zeigt den prävariski- schen Gebirgsaufbau am deutlichsten. Sie wird im Nordwesten von dem aus Unterdevon aufge- bautem Horst der Kalteiche und im Südosten von dem Silurhorst der Hörra begleitet. Nach der Muldenmitte hin macht sich durch staffeiförmige Einsenkungen ein grabenartiger Charakter bemerk- bar. Die drei Sattelgänge mit den dazu gehörigen Mulden müssen auch im Hunsrück vorhanden sein. Beim Eintritt der variskischen Faltung wurden Sättel und Mulden nicht nur enger aufeinander- geschoben, sondern stellenweise zu Horsten und Gräben verzerrt. Die dem Kamm des prävariski- schen Gebirges fernliegenden Gebiete boten dem variskisclien Druck geringeren Widerstand. Darum ist das prävariskische Streichen nicht mehr ein- heitlich, sondern in manchen Stücken stark um- geändert. Seinen Höhepunkt hat das prävariski- sche Gebirge im Nordosten gehabt. Den Anfang der prävariskischen Faltung setzt Vogel in die Zeit der Koblenzschichten und den Abschluß in das Ende der Kulmzeit. Vielleicht ist die prä- variskische Faltung gleichbedeutend mit derjenigen Denckmanns im Siegerlande. Vogel erwägt auch den Gedanken, ob nicht vielleicht in dem von ihm untersuchten Gebiete die kaledonische Paltung längere Zeit als in den schottischen Ge- birgen angehalten hat. 636 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 40 In der folgenden älteren Steinkohlenzeit trat in der Gebirgsbildung Ruhe ein, die erst wieder in der jüngeren Steinkohlenzeit von orogenetischen Vorgängen unterbrochen worden ist. Durch den jung- und postkarbonischen F"altenschub entstanden die Steinkohlenmuldcn, die Sättel und Mulden im Steinkohlengebirge an der Ruhr. Südsüdöstlich wurde das ältere Unterdevon über das Mitteldevon hinübergeschoben. Im Hohen Veen wurde das Kambrium herausgehoben. Es wurde herausge- walzt und überschoben, während Karbon und ältere Schichten unterschoben worden sind. Viel- leicht liegen im Taunus, Rheingaugebirge, Soon- wald, Idarwald, Hochwald ganz ähnliche Verhält- nisse vor. Die vorgefalteten prävariskischen Sättel widerstanden zwar, bekamen aber eine abgeänderte Richtung. Die Mulden wurden von neuem ge- faltet. Durch Erosion wurde das variskische Gebirge zerstört. Ringsum senkte sich das Vorgelände. Die hessische Senke sank entlang meridional ge- richteten Klüften ab. Auf der linken Rheinseite entspricht dieser hessischen Senke die Einscnkung zwischen Trier und Zülpich. Am Nordnordwest- rand senkte sich das Vorland von Münster bis .dachen hin. Am Südsüdwestrand entstand der große Graben zwischen Saar und Saale, in dem das Zechsteinmeer von Osten her eindringen konnte. Die Erzgänge auf Spalten der einzeln ange- nommenen Gebirgsbildungsprozesse dieses Gebietes passen sich dem Schichtenstreifen an. Die älteste Faltung kennt ärjuatorial verlaufende Längsspalten und meridional gerichtete Querspalten. Die prä- variskische Faltung weist solche in Stunde 3 und Quergänge in Stunde 9 auf. Der variskischen Spaltung entsprechen die streichenden Gänge in Stunde 4 und die Ouergänge in Stunde 10. Dem Kamm des prävariskischen Gebirges ge- hören fünf im Streifen liegende Gangzüge und die beiden Quergänge (Emser und Malberger) mit Zink- und Bleierzen, wenig Spateisenstein und Kupferkies an. Es macht sich der Einfluß variski- scher Faltung auf die bei der prävariskischen Faltung entstandenen Gänge bemerkbar. Diese Gangzüge lassen sich als nordöstliche Fortsetzung in der Dillmulde und in der hessi- schen Senke verfolgen. Aifch eine südwestliche Fortsetzung ist festzustellen. Man kann also diese Gaiigzüge im Streifen der prävariskischen Gebirge von der Saar bis zur hessischen Senke festlegen. Prävariskischer Entstehung verdanken auch die Roteisensteinlager innerhalb der Dillmulde ihre Entstehung. Hierher gehört auch die Mangan- erzlagerstätte im Kreise Biedenkopf, die gleicher Entstehung wie die der Eisenerze vom Hunsrück zu sein scheint. Nach Koch treten die Eisen- erze des Hunsrück gangförmig oder als lagerför- mige Ausscheidungen im verwitterten Schiefer- gebirge auf. Die Nickelerzlagerstätten in der Dill- mulde bei Nanzenbach und Gladenbach führt Vogel auch auf prä variskische Gebirgsbildungs- prozesse zurück. Den Platingehalt der feldspat- armen, olivinreichen Eruptivgesteine bei Flammers- bach, Haiger, Sechshelden, Frohnhausen, Eier- hausen, Guntshausen, Niederdieten, der sich auch in benachbarten Schiefern an der Grenze zwischen Unter- und Mitteldevon und sogar im Basalt findet, glaubt man auch mit dem prävariskischen Ge- birgsaufbau in Zusammenhang bringen zu können. Rudolf Hundt. Die Herkunft der west- und süddeutschen Sedi- mente stellt W. Deecke in den Sitzungsberichten d. Heidelberger Akad. d. Wissenschaften, Math.- naturw. Klasse. Jahrg. 1920 fest. Eine ähnliche Aufgabe hat Deecke schon in seinen Studien im südbaltischen Gebiete gelöst. Das Material zu den Paragneisen in Südwest- deutschland stammt aus bis jetzt unbekannten Gebieten. Die Grauwacken und Quarzilkiesel der mitteldevonischen Breuschtalschichten stammen wohl aus den kambrischen Weiler Schiefern. Auf Tuffiten, Schalsteinen, Laven entstanden Korallen- riffe im oberen Mitteldevon. Die Kulmschichten des Schwarzwaldes und der Vogesen erhielten ihr Aufbaumaterial aus Gneisen, präkulmischen Schiefern und Eruptiven darin. Die Arkosen und arkoseartigen Sandsteine und Schiefer des elsäs- sischen und badischen Oberkarbon sind Trümmer freigelegter mittelkarbonischer Granite. Der feinere Tonschlamm Hes oberdeutschen Karbongebirges wurde in der Saarbrückener Mulde und im Essener Kohlenrevier gesammelt. Das niederrheinische Oberkarbon stammt aus dem Rheinischen Schiefer- gebirge und von den Ardennen. Ton lieferten die kristallinen Kerne des Oberrheins, der in einem nicht nachweisbaren Fluß nach des Verf. Annahme auf der Ostseite von Schwarzwald, Odenwald und Schiefergebirge floß und auf den variskischen Alpen entsprang. Durch dyadische Einbrüche entstanden neben der Saarbrückener Mulde andere variskische Mulden und NNW — NW streichende Gruben vom Oberrhein bis zu den Alpen. Vor den Alpen bildete sich bis in die untere Trias hinein der Verrucano. In Süd- als auch in Mitteldeutschland wanderte aller Ver- witterungsschutt in diese entstandenen Vertiefungen. Diese terrestrische Sedimentation verwendete Ma- terial einheimischen kristallinen Schuttes aus kristal- linen Massiven und mitteldyadischen Porphyraus- brüchen der Vogesen, des Schwarzwaldes, Oden- waldes. Das sog. Rotliegende umfaßt in Süd- deutschland den Zechstein mit, in den Schweizer Alpen sogar Dyas und Untertrias. In Süddeutschland besteht der Kulm bis zur Trias aus einheimischem Material oder aus Umlage- rungs Produkten der Eruptiven. Für den Buntsandstein sieht Deecke eine Her- kunft des Aufbaumaterials aus der Fremde für wahrscheinlicher an. ,T^er Buntsandstein ist eine Sandflut, welche von Norden her über ein langsam immer tiefer absinkendes Stück der Erdkruste hin- N. F. XIX. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 637 wegging und ihr Ufer am Rande der variskischen, durch die heutigen Donau- und Doubsflüsse be- zeichneten Linie fand." Von England und Skan- dinavien an nimmt er bis Hessen bis auf lOOO m Stärke zu, dann nach Süden hin wieder ab (Heidelberg 600 m, Südschwarzwald, Vogesen = 50 m). Das Material ist allochton und stammt aus abgetragenen, umgelagerten Oldred zwischen Nor- wegen und England. Nur verschwindend kleine IVIengen sind aus einheimischem Gebiet zum Auf- bau der Buntsandsteindecke zugesteuert worden. Der Karbonatgehalt des unteren Sandsteines, der Pseudomorphosen-Bänke, des Karneolhorizontes und des Rots stammt auch von auswärts. Die Muskowitblättchen im oberen Sandstein können aus den kristallinen Gesteinen des kaledonischen Gebirges, aus dem Oldred oder dem phyllitischen Mantel eingelagert sein. Der Muschelkalk entstammt einem Binnenmeer. Das Karbonat darin hat seine Heimat in dem unter dem Oldred in England und Norwegen auf- tretendem kalkigen Obersilur. Erst herrschen noch die sandigeren Teile vor und seit der An- hydritgruppenzeit muß mit der stärkeren Silur- erosion eine geschlossenere Kalkablagerung ein- setzen. Eindampfen und stärkeres Durchwärmen des flachen Wassers fällt den Magnesiagehalt als Magnesiakarbonate aus. Nordostdeutschland besaß in den mitteldevonischen Kalken im Baltikum, in dert silurisch-devonischen Schichten Böhmens einen Kalklieferant. Der Keuper benutzt zu seinem Aufbau wieder einheimisches Material. Nur die Heimat der Mergel ist De ecke unbekannt geblieben. Die Verbreitungsgebiete der Keupersandsteine stehen mit variskischen Rümpfen in enger Verbindung (Lettenkohlensandstein am Spessart, Odenwald, Schwarzwald ; Stubensandstein an der Böhmischen Masse; Semioneton-Sandstein am Thüringer Wald und Fichtelgebirge). Der schwäbische Räth- sandstein stammt vom Schwarzwald und ganz besonders vom Bayerischen Wald. Von den Ar- dennen kommt der Schutt des südbelgisch-luxem- burgischen Keupers. Die präjurassischen Senke mit mitteleuro- päischem Triasgebiet und bayerisch helvetischer Mulde schuf neue Verhältnisse. Das Rheinische Schiefergebirge kam hoch. Nach dem Harz hin blieb eine Untiefe bestehen. Es war der Anfang der kimmerischen Faltung eingeleitet. Von der Nordsee nach Schwaben blieb eine Meeresstraße, in der die Jurafauna wandern konnte. Die Her- kunft der Liasmergel und Liastone ist rätselhaft. De ecke hält die eisenschüssigen Angulatensand- steine Schwabens, des Harzrandes und Westfalens für umgearbeiteten Keuper. Die deutschen tonigen Jurasedimente sieht der Verf für „ein Produkt einer atlantischen Kreistrift" an. In den Unter- malm läßt er die Hebung Mitteldeutschlands ein- treten. Die kimmerische Faltung setzt im Ober- malm ein. Es bleibt nur die vom Wealden er- füllte Rinne von Posen, Bornholm, Hannover, Niederlande, Südengland und Frankreich übrig. Süddeutschland hob sich. Vor dem Alpengebiet bildete sich die vindelizische Kreidesenke. Im Wealden haben wir den Mündungsschutt mäch- tiger Ströme vor uns. Die kimmerische Faltung stellte die deutsche mesozoische Tafel nach S und SO hin schief, so daß die Zerstörungsprodukte aus Malm, Dogger und Lias in die vindelizisch- helvetische Kreiderinnen verfrachtet wurden. Süd- und Mitteldeutschland blieb in der Kreide- zeit ein Denudationsraum. Es blieben im Klett- gau und Hegau bis zum Oligozän, im Breisgau bis ins Diluvium Bohnerze zurück. Es sind Karst- produkte. In Norddeutschland sammelt in der Mittel- und Oberkreidezeit die baltische Straße die Schreibkreideablagerungen, der Kalk entstammt dem schwedisch-norwegischen Silur und dem deutsch nordfranzösisch- englischen Malm. Die sudetisch-sächsischen Quadersandsteinmassen er- hielten ihr Aufbaumaterial aus dem Süden. Vom Tertiär ab liefern die Alpen zum Schichten- aufbau Schuttmaterial. Im Rheintalgraben kam erst einheimisches, dann alpines Material zur Ab- lagerung.- Auch in die oberbayerisch- helvetische Mulde wurde Alpenmaterial getragen. In dem Rheintalgraben sieht man, wie der Hauptoolith, die Blauen Kalke, der Muschelkalk die Gerolle des Küstensaumes schufen und die Keupermergel, Lias- und Doggertone ins Grabeninnere verfrachtet wurden. Die triadischen Salze wurden zu unter- oligozänen Salzpfannen umgelagert. Die Kalk- massen schufen die Cerithien- und Corbiculakalke, der Lias Septarienton und F"ischschiefer, der Keuper Cyrenenmergel, Buntsandstein die Ried- salzer Sande, Dinotheriensande. Im Diluvium lagern sich die Trümriier der freigelegten kristal- linen Kerne ein. Vom Pliozän an schüttet der Rhein von Basel aus ein Delta aus Alpenmaterial auf. Mit der Alpenfaltung setzt die Entwicklung der variskischen Mulde von Genf bis Passau ein, steigt der Schwarzwald und kippt nach Osten, biegt sich die Juratafel von den Vogesen nach Süden. Das oligomiozäne Meeresbecken wird von Süden und Norden aus zugefüllt. Die tertiären Süß- wasserkalke am Rande der Alb, im Hegau, im Schweizer Jura stammen aus einheimischem Ma- terial. Die Hegauer untere Süßwassermolasse ent- stammt der Keuperdecke des Schwarzwaldes. Die Meeresmolasse des Bodensees und der Mittelschweiz hat rein alpinen Schutt zum Aufbau verwertet. Am Ende der Mittelmiozänzeit ist das Material im Hegau und längs der Alb rein einheimisch, im Klettgau ver- mengt mit alpinem Schutt und im Berner Jura rein wasgauisch. Nach dem Mittelmiozän bildet sich aus Material, das den helvetischen Kalkalpen entstammte, die Obermolasse. Im Pliozän wird aus südlichem Material der Deckenschottermantel gebildet. Der Schwarzwald verlor seine Schichten nach Osten hin, die Vogesen im Tertiär nach Westen und Norden. Das westfälisch-hannoversche Ter- 638 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 40 tiär baut sich aus den mesozoischen, besonders jurassisch-triadischen Abtragungsprodukten der hessisch-thüringischen Gebiete auf. Im südlichen Ostseegebiet wurden zur Keuper- und Jurazeit die Oldredschichten der schwedisch- finnischen Tafel abgetragen, in der oberen Kreide die Obersilurschichten, im Paläozän die Grapto- lithenschiefer, zur Zeit der Ablagerung des Sep- tarientons und der Stettiner Sande die Alaun- schiefer und Sandsteine des schwedischen Kam- briums. Es lief eine Schwelle durch Norwegen, Harz, Böhmen, Rinnen zu beiden Seiten befanden sich ent- lang der Linien Ostsee-Polen-Schlesien und England- Niederlande-Hessen-Schwaben. Die I'linnen von Hessen und Schwaben werden miteinander ver- bunden in der Trias-, Jura-, Kreide-, Tertiär- und Diluvialzeit als die variskischen Mulden (Belgien- Südbaltikum und vindelizische Rinne) neu belebt wurden. Diese beiden Hohlformen wurden zuge- schüttet. Dabei spielte im Norden das kaledo- nische und im Süden das Alpengebirge abwech- selnd dieselbe Rolle. Rudolf Hundt. Bücherbesprechungen. Ulbrich , E. , Pflanzenkunde, Band I : Geschichte des Pflanzensystems, die niederen Pflanzen. Leipzig 1920, Ph. Reclam jun. Preis 7 M. Pilger, R., Das System der Blütenpflanzen mit Ausschluß der Gymnospermen. Sammlung Göschen, 2. Aufl., Berlin u. Leipzig 1919. Preis 2,40 M. Neger, F. W., Die Nadelhölzer (Koniferen) und übrigen Gymnospermen. Samm- lung Göschen, 2. Aufl., Berlin u. Leipzig 1919. Preis 2,40 IVI. Die Systematik, die früher im Mittelpunkt der botanischen Forschung stand, ja ihr ureigenstes Wesen ausmachte, ist neuerdings durch andere Teilgebiete wie Anatomie, Physiologie, Entwick- lungsgeschichte usw. stark in den Hintergrund ge- drängt worden und begegnet heute selbst in wissenschaftlichen Kreisen vielfach nur geringem Interesse. Aber gleichwohl ist zu einem tieferen Eindringen in das Leben und Weben der Pflanzen- welt die Kenntnis der Einzelformen und ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen unentbehrlich. Um in der Systematik heimisch zu werden übe man sich zunächst an der Hand einer guten „Flora" im Erkennen und Bestimmen einzelner Pflanzen ; erst wenn einem auf diese Weise die systematischen Grundbegriffe geläufig geworden sind, greife man zu zusammenfassenden Darstel- lungen des Systems. Die oben genannten Bücher aus den bekannten Sammlungen von Reclam und Göschen bedeuten eine wertvolle Bereicherung unserer, nicht eben umfangreichen gemeinverständlichen systemati- schen Literatur. Ulbrich gibt zunächst eine ausführliche Ge- schichte des I^flanzensystems vom Mittelalter bis zur Gegenwart und behandelt sodann die niederen Pflanzen : Spaltpflanzen, Schleimpilze, Flagellaten, Algen, Pilze, Moose und Farne. Bei den Pilzen nehmen die Speisepilze und ihre giftigen Doppel- gänger einen breiten Raum ein. Der Verf gibt auf Grund eigener Erfahrungen bei volkstümlichen Lehrgängen beachtenswerte Ratschläge, wie die Pilze besser als bisher für die menschliche Er- nährung nutzbar zu machen sind. Bei der Be- sprechung der Laubmoose wird das System von Max Fleischer zugrunde gelegt, das im Gegensatz zu dem, in anderen Lehrbüchern ver- breiteten die Entwicklungsgeschichte der Moose klar zum Ausdruck bringt. Dieses System ge- langt hier zum ersten Male zur Veröffentlichung; der Abschnitt dürfte daher namentlich bei den Bryologen lebhaftes Interesse wecken. Hervorge- hoben seien noch die zahlreichen Textabbildungen und die z. T. farbigen Tafeln, die typische Ver- treter der wichtigsten systematischen Gruppen zur Darstellung bringen. Pilger gliedert seinen Stoff in einen allge- meinen und einen speziellen Teil. Im ersteren erörtert er nach einem kurzen Überblick über die geschichtliche Entwicklung des Systems die Grund- lagen der Systembildung, d. h. die Begriffe der verschiedenen Kategorien, die zu ihrer Abgrenzung geeigneten Merkmale, die Prinzipien, nach denen die Zusammenfassung zu natürlichen Gruppen vor- zunehmen ist usw. Im speziellen Teile werden die systematischen Gruppen, bis zu den Familien hinab, charakterisiert und einzelne typische oder sonstwie bemerkenswerte einheimische oder exotische Vertreter derselben namhaft gemacht. Eine Reihe von Abbildungen veranschaulichen für die Systematik wichtige Eigenarten im Bau der Blüten, Blütenteile, Früchte usw. Bei dem beschränkten Raum konnte der Verfasser natur- gemäß keine, auch nur halbwegs erschöpfende Darstellung des Systems der Blütenpflanzen geben; er hat es aber mit anerkennenswertem Geschick verstanden, das Wesentliche in klarer, übersicht- licher Weise herauszuarbeiten. Demgegenüber war es Neger bei dem ge- ringeren Umfang des zu behandelnden Gebietes möglich, mehr ins Einzelne zu gehen. Er bringt nicht nur die Charakteristika der Familien, sondern auch der Gattungen und der meisten Arten, von denen eine größere Anzahl in vorzüglichen Ab- bildungen wiedergegeben ist. Dem speziellen ist ein allgemeiner Teil vorausgeschickt, in dem die Stellung der Gymnospermen im System , die Anatomie des Holzes, die P'ortpflanzung und die N. F. XIX. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 639 praktische Bedeutung der Nadelhölzer abgehandelt werden. Im Anhang finden sich 4 außerordent- lich praktische Tabellen zur Bestimmung des Holzes, der Samen und der Keimpflanzen der wichtigsten Nadelbäume, sowie einige instruktive Karten, die die Verbreitung bekannter Arten ver- anschaulichen. Esmarch. Oettli , Dr. Max, Das Forscherbuch. An- regungen zu Beobachtungen und Versuchen. Naturwissenschaftslehrer am Landerziehungs- heim Glarisegg. Mit zahlreichen Federzeich- nungen von Heinr. Meyer und einer farbigen Beilage. Zürich 19 19, Verlag von Rascher & Co. Geb. 5,— Fr. Ferienbuch für Jungen. Unter Mitarbeit von Herrn. Emch, Arburg; Prof Dr. Aug. Forel, Yvorne ; Dr. Hans Friedrich, München ; Hrch . Meier, Glarisegg; H. Noll-Tobler, Kaltbrunn; Dr. Max Oettli, Glarisegg ; Prof Dr. P. Steinmann , Arau, herausgegeben von Hanns Günther (W. de Haas). Gesamtausgabe, Zwei Teile in einem Bande. Mit 107 Abb. im Text und 15 Tafeln. Zürich 19 18, Verlag von Rascher & Co. Diese beiden geschmackvoll ausgestatteten, mit guten Abbildungen versehenen Bücher sind mit großer Liebe für die Jugend geschrieben und sind durchdrungen von dem Geist moderner Jugenderziehung, wie er in den Landerziehungs- heimen gepflegt wird. Die Verfasser stellen sich die Aufgabe, die Jugend zu naturwissenschaftlichen Beobachtungen anzuregen, was ihnen ohne Zweifel auch vielfach dort gelingen wird, wo beim Schul- unterricht das Hauptgewicht auf die sogenannten Geisteswissenschaften gelegt wird, wie in unseren öffentlichen höheren Schulen. Ref ist aber der Meinung, daß manche Aufgaben für Jungen, die ganz auf sich selbst angewiesen sind und auch an ihren Eltern, die doch in der Regel ohne naturwissenschaftliche Kenntnisse sind, keine Stütze haben, zu schwer sind. Oettli scheint dafür das richtige Gefühl gehabt zu haben, wenn er im Vorwort schreibt: „Ich habe eigentlich nur eine Hoffnung, nämlich die, daß das Buch von er- wachsenen Naturfreunden und Lehrern gerne ge- lesen und wieder im persönlichen Verkehr mit der jungen Welt verwertet werde." Da im all- gemeinen diese Hoffnung wohl unerfüllt bleiben wird, so wäre es vielleicht besser gewesen, wenn die Lösung der Aufgaben anstatt in einem be- sonderen Heft irgendwo im Buche selbst mitgeteilt worden wäre. Für ganz unpraktisch hält Ref es, wenn zur Lösung der Aufgaben auf andere Bücher hingewiesen wird oder wenn Fragen gestellt werden, über deren richtige Beantwortung sich der Leser nirgends Gewißheit verschaffen kann. Abgesehen von dem Unpraktischen solcher Methodik besteht aber noch die große Gefahr, dal? das Gegenteil von dem erzielt wird, was die Verfasser wünschen : anstatt Achtung vor dem Ernst und der Wichtig- keit naturwissenschaftlicher Kenntnisse wird das Elternpublikum bestärkt in seiner alten Auffassung, daß die ganze Naturgeschichte eigentlich nur eine Spielerei für die halbreife Jugend sei. Wenn man einem Jungen als Ferienaufgaben z. B. stellt: „Be- obachtet die Schlafbewegungen der Tulpen, des Hahnenfußes, der Bohnen; versucht festzustellen, wodurch diese Bewegungen veranlaßt werden und wie sie zustande kommen", und diese Frage ohne weitere Anleitung oder Kommentar dem jugend- lichen Forscher zur Beantwortung überläßt, so darf sich der Verf nicht wundern, wenn die Eltern erstaunt darüber sind, daß unsere größten Forscher Jahre ihres Lebens opfern mußten, um diese Fragen zu lösen. — Wenn man der Ansicht ist, daß die naturwissenschaftliche Bildung gegenüber der geisteswissenschaftlichen zu kurz kommt, so sollte man alles vermeiden, was geeignet ist, den Glauben zu erwecken, daß man naturwissenschaft- liche Kenntnisse ohne besondere Arbeit so nebenbei und spielend erwerben könne. Man sollte auch vermeiden, Kapitel zu schreiben, wie das 52. im „Forscherbuch" „Du sollst lernen, einen Frosch töten". Der Verf gibt da eine Anleitung, wie man einen Frosch enthauptet und Rückenmark und Hirn mit glühenden Nadeln abtötet. Er ver- wahrt sich dagegen, daß das eine Roheit sei, denn : „solange du noch Fleisch issest oder Milch trinkst, oder Eierspeisen verzehrst und dich an Rahmtörtchen gütlich tust, sollst du auch im Stande sein, ein größeres Tier zu töten." Er emp- fiehlt, keine Narkotika anzuwenden, weil sie nicht ganz harmlos seien, und weil sie äußerst wider- wärtig riehen. „Besser ist es daher, du lernst den Frosch durch Enthaupten zu töten. — Und sollte dir das auch noch so unangenehm sein?" Und wozu diese Metzgerei? „Erst nachdem das alles besorgt ist, hast du ein Recht, dich über die weiteren Arbeiten am Frosche zu freuen." Von weiteren Arbeiten am Frosche wird aber kein Wort geschrieben. Man darf sich nicht wundern, wenn derartige Entgleisungen den Zorn der Eltern erregen und wenn sie ihre Kinder nicht in Er- ziehungsheime schicken wollen, wo solche Ex- perimente zur Abhärtung geübt werden. Selbst wer sich frei von aller Sentimentalität weiß, wer Tötung von Tieren und Vivisektion zu Forschungs- zwecken für notwendig hält, wird es verurteilen müssen, daß Knaben ohne Anleitung zu weiteren wissenschaftlichen Arbeiten sich im Köpfen von Fröschen üben. In einer Zeit, in der die Jugend angehalten wird. Pflanzen als lebendige Organismen zu achten und sie nicht unnütz abzureißen, be- greift man den Verfasser nicht recht. Es wäre besser gewesen, wenn Herr Oettli auf seinen Verleger gehört hätte, der offenbar mit großem Widerstreben dies Kapitel aufgenommen hat. Manchmal meinen es die Verleger auch gut mit den Autoren. Wächter. France, R. H., München. DieLebensgesetze einer Stadt. 346 S. und 118 Abb. im Text. München 1920, Verlag von H. Bruckmann. In dieser Darstellung hat es der Verf. ver- 640 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 40 standen in fesselnder phantasiereicher Weise einen großen Stoff zu meistern, um die Biologie einer Stadt herauszuarbeiten. Der Gedanke ist aber nicht so neu, wie ihn Franc e darzustellen sucht, da die moderne Länderkunde ähnlich wie France, hier, aus den Ergebnissen der Geologie, Biologie, Verkehrslage, Besiedlungsgang und Kulturge- schichte die Gesetzmäßigkeit von Städten immer schon abzuleiten suchte, und es ist deshalb gar nicht möglich, daß der Verf. wie er sich ausdrückt, mit diesem Buche „eine neue Kulturwissenschaft geschaffen hat". Wenn auch der Geologe nicht immer seinen weitausholenden Ausführungen bei- pflichten wird, und die Einheit der Eiszeit haupt- sächlich wegen der leichteren Erklärbarkeit des Phänomens angenommen wird, so ist doch am heutigen Bild klar durchgeführt, wie sich die Pflanzen-, Tier- und Menschenbesied- lung auf den vier München umgebenden Böden — den fluvioglazialen Schottern, den Lehmgebieten, der subalpinen Nagelfluh und den Moorböden — vollzogen hat. Die Zuwanderung erfolgte immer von NO und von den Alpen her, während süd- liche Eindringlinge nur ganz untergeordnet auf- treten. Die Lage Münchens ist bedingt durch die seit der prähistorischen Zeit besiedelten Niederterrasse, an welcher auch die alte Salzstraße die Isar überschreitet; und diese Niederterrassen- schotter bilden auch heute noch die Grenze der Stadt, an welche sich im N das Dachauer Moos, im W und O fruchtbare Lehmgebiete anschließen. In liebevoller Viertiefung wird der Einfluß dieser Randzonen auf München zu schildern versucht und zuletzt gezeigt, wie die Fremden, hauptsäch- lich in Schwabing konzentriert, schließlich das alte München überwältigt und ihm einen beson- deren Stil aufgedrückt haben. Ohne die Fremden kein heutiges München, das in der Zeit des Welt- verkehrs groß geworden ist. Vorzügliche Abbil- dungen, Skizzen und Pläne unterstützen in guter Weise den Text. Scheu. Hoppe, Dr. Johannes, Analytische Chemie I. Qualitative Analyse. 3., verbesserte Aufl. Berlin und Leipzig 1920, Vereinigg. wissenschaftl. Ver- leger. W. de Gruyter & Co. 1,60 M. + 5o'Vo. Das 247. Bändchen der Sammig. Göschen ist aus der Praxis hervorgegangen. Überall spürt man, zumal bei gelegentlicher experimenteller Nach- prüfung, daß der Praktiker aus eigner reicher Erfahrung schöpft. Nicht so sehr die theore- tische Klarlegung der bei den analytischen Operationen obwaltenden Verhältnisse, als viel- mehr die Aufhellung aller im Analysengang möglichen Komplikationen und Probleme sollten mit dieser ebenso kurzen wie inhaltreichen Dar- stellung gegeben werden. Das wird zweifellos erreicht. Um so störender ist es, inmitten der rein praktischen Erörterungen hin und wieder auch Erwägungen über die Zweckmäßigkeit der oder jener in Betracht kommenden Methode zu finden; beispielsweise S. 99, wo Abänderungen der Ammoniumsulfidfällung diskutiert werden. Schlichte Bevorzugung eines Weges unter Außerachtlassung anderer Möglichkeiten, deren vollständige Aufführung ohnehin unmöglich ist, ist in solchem Taschenbuch allein am Platze. (Nebenbei: ich halte die Zerlegung der Ammon- sulfidgruppe in zwei Untergruppen für eine wesent- liche Erleichterung der Analyse 1) Durch diese Abschweifungen leidet die Übersichtlichkeit des Buches nicht wenig. Auch die nicht immer glück- liche Druckanordnung trägt dazu bei, rasches Auffinden bestimmter Reaktionen zu erschweren. Etwas weniger Stoff wäre hier mehr anzustreben Erfreulich ist der Gebrauch von sprachlich einwandfreien Bezeichnungen, wie „Cyanid" und „Calcium". Zu sachlichen Bemerkungen ist im übrigen kein Anlaß. Als kurzes Hilfsbuch für das Labora- torium kann das Buch mit den aus Vorstehendem ersichtlichen Vorbehalten empfohlen werden. , H. H. Literatur. Breitensteins Repetitorien. Nr. 36. Leitfaden und Repetitorium der qualitativen Analyse. 3., neu bearbeitete Aull. Leipzig '20, J. A. Barth. Ruska, Prof. Dr. J., Methoden des mineralogisch - geo- logischen Unterrichts. Mit 35 Textabb. und einer Bildtafel. Stuttgart '20, F. Enke. 3 M. Driesraans, H., Der Mensch der Urzeit. Mit 4 Tafeln und 94 Textabb. 4 , neubearbeilete Auflage. Stuttgart '20, Strecker und Schröder. 9,50 M. Schenck, C, Anleitung zur Haltung und Beobachtung wirbelloser Tiere. München- Freising '20, Datterer X Co. 10 M. Wasmann, E., Die Gastpflege der Ameisen, ihre bio- logischen und philosophischen Probleme. Mit 2 Tafeln und 1 Textabb. Berlin '20, Gebr. BoTntraeger. 20 M. Löwenhardt, Prof. Dr. E. , Didaktik und Methodik des Chemieunterrichts. München '20, C. H. Beck. 7 M. Dr. J. VViesners Anatomie und Physiologie der Pflan- zen, b. vollständig umgearbeitete und vermehrte Auflage, be- arbeitet von Prof. Dr. K. Linsbauer. Wien und Leipzig '20, A. Holder. 24 M. Inhalt: H. Molisch, Goethe, Darwin und die Spiraltendenz im Pflanzenreiche. (3 Abb.) S. 625. F. Schilling, Meno. loxin, Menstruationsgift? S. 62g. — Elnzelbeiicbte: G. Nowack, Morphogenetische Studien aus Albanien. S. 633 Gürich, Die Wünschelrutenfrage in Hamburg. S. 634. H. Meyer, Der Bohlen bei Saalfeld in Thüringen. S. 634 II. Vogel, Betrachtungen über den .Aufbau des Rheinischen Schiefergebirges unter besonderer Berücksichtigung eines den Ilunsrück und den Wcsterwald spießwinklig querenden Gcbirgsstreifen sowie der darin auftretenden l'.rzlagerstätlcn S. 635. W. Deecke, Herkunft der west- und süddeutschen Sedimente. S. 636. — Bücherbesprechungen: E. Ul brich, Pflanzenkunde. R. Pilger, Das System der Blütenpflanzen mit Ausschluß der Gymnospermen. F.W.Neger, Die Nadelhölzer (Koniferen) und übrigen Gymnospermen. S. 63S. M. Oettli, Das Forscherbuch. M. Oettli, Ferienbuch für Jungen. S. 639. R. H. France, Die Lebensgesetze einer Stadt. S. 639. J. Hoppe, Analytische Chemie I. S. 640. — Literatur: Liste. S. 640. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Ba der ganzen Reihe 35. Sonntag, den lo. Oktober 1920. Nummer 41. Über Alter und Herkunft deutscher Pflanzennamen. [Nachdruck verboten.] Von Dr. Heinr. Marzell in Gunzenhausen (Bayern). Das Studium der deutschen Pflanzennamen ist für den Botaniker wie für den Sprachforscher von gleichem Interesse. Gar manches viel umstrittene Problem der Einwanderungs-, Besiedlungs- oder Anbaugeschichte einer Pflanze kann an Hand der Sprachforschung entschieden oder doch geklärt werden. In erster Linie gilt dies natürlich von Kulturpflanzen, von Waldbäumen, überhaupt von solchen Gewächsen, die für den Menschen von besonderer Bedeutung sind. Auf der anderen Seite kann aber auch der Sprachforscher bei der Frage nach der Herkunft und Entstehung (Ety- mologie) von Pflanzennamen die Hilfe des Bota- nikers nicht entbehren. Wer den Namen einer Pflanze einwandfrei erklären will, muß unbedingt die Pflanze selbst, eventuell auch ihre Geschichte, ihre physiologische Wirkung, ihren Standort usw. kennen. Ist das nicht der Fall, dann können oft schlimme Irrtümer entstehen, wie manche Er- klärungen hervorragender, jedoch nicht pflanzen- kundiger Sprachforscher beweisen. Noch zahl- reichere Fehler finden sich aber in den Ausfüh- rungen über Pflanzennamen, die von Fachbotanikern stammen, wie man sie besonders in manchen Florenwerken antreffen kann. Hier wird eine Deutung der Pflanzennamen oft lediglich mit Hin- blick auf die neuhochdeutschen Wortformen ge- macht ohne Berücksichtigung der älteren und fremdsprachlichen Namen sowie der Ergebnisse der Sprachforschung überhaupt. Daß solche Er- klärungsversuche oft unhaltbar sein müssen, liegt auf der Hand. Wie fruchtbar aber die Beschäfti- gung mit Pflanzennamen werden kann, wenn Sprach- forscher und Botaniker zusammenarbeiten, bzw. in einer Person vereinigt sind, das beweisen Werke wie des Sprachforschers Viktor Hehn, Kultur- pflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa, dessen neuere Auflagen botanische Beiträge des Berliner Botanikers A. E n g 1 e r ent- halten, J. Hoops', Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum (Straßburg 1905), R. v. Fischer-Benzons, Altdeutsche Garten- flora (Kiel 1894). Für den Botaniker, der sich über Alter und Herkunft der deutschen Pflanzen- namen unterrichten will, sei bemerkt, daß er die zuverlässigsten Angaben in den Wörterbüchern von Grimm (Deutsches Wörterbuch iS54ff.), Kluge (Etymologisches Wörterbuch der deut- schen Sprache. 8. Aufl. 1915) und Weigand- Hirt (Deutsches Wörterbuch. 5. Aufl. 1910) findet. Freilich wird er in diesen Wörterbüchern viele Pflanzennamen vergeblich .suchen, besonders die eigentlichen Volksnamen fehlen fast ganz. Diese sind in großer Zahl in der noch im Er- scheinen begriffenen „Illustrierten Flora von Mittel- Europa" von G. Hegi (1906 ff.) von mir ge- sammelt und ich habe mich auch dort bemüht, der sprachlichen Seite möglichst gerecht zu werden. Natürlich enthält das genannte Werk nur einen Bruchteil der wirklich vom Volke ge- brauchten Pflanzenbenennungen. Die gewöhnlich von Botanikern benutzten Bücher, die sich mit der Erklärung der deutschen Pflanzennamen be- fassen, z. B. K a n n g i e ß e r , Fr., Die Etymologie der Phanerogamen- Nomenklatur 1908, Prahn, Pflanzennamen, 2. Aufl. 1910, Sohns, Fr., Unsere Pflanzen, Ihre Namenerklärung usw., 5. Aufl. 191 2 sind, was die sprachliche Seite betrifft, unvoll- ständig und enthalten eine Reihe Irrtümer und gänzlich veralteter Angaben auf sprachlichem Ge- biete. Die bis jetzt vollständigste Sammlung der deutschen Pflanzennamen, Pritzel, G. und Jessen, C, Die deutschen Volksnamen der Pflanzen 1882, ist eine an sich dankenswerte Arbeit, wimmelt aber von Druckfehlern, ungenauen Quellenangaben usw. Der etymologische Teil ist unbrauchbar. In den folgenden Zeilen habe ich es versucht, eine Anzahl unserer bekanntesten Pflanzennamen nach Alter und Herkunft zusammenzustellen. Da- bei habe ich mich in der Hauptsache an die oben genannten Wörterbücher von Kluge und Wei- gand-Hirt gehalten. Viele deutsche Pflanzen- namen können bei dem heutigen Stand der Sprach- wissenschaft noch nicht etymologisch erklärt werden. Es ist jedoch schon viel gewonnen, wenn ihr zeitliches Auftreten, ihre Wandlungen im Laufe der Jahrhunderte einwandfrei festgestellt werden können. Einen sehr schätzenswerten Beitrag dazu hat trotz einiger Mängel Björkmann in seinen „Pflanzennamen der althochdeutschen Glossen" (Zeitschr. f. Deutsche Wortforschung 2 [1902] 202 ff., 3 [1902] 263 ff., 6 [1904/05] i74ff.) geliefert. Zum besseren Verständnis des folgenden sei kurz einiges Sprachliche vorausgeschickt. Fast alle europäischen und mehrere asiatische Sprachen zeigen untereinander eine gewisse Verwandtschaft, so daß man sie als indogermanische Sprachen zu- sammenfaßt. Zu ihnen gehören in der Gegenwart das Germanische, Romanische, Slawische, Litau- ische, Keltische, Albanesische, Griechische, In- dische, Iranische, Armenische. Von der indo- germanischen Ursprache ist uns nichts erhalten geblieben, ebensowenig ist mit Sicherheit bekannt, wo sie gesprochen wurde, wie ja auch die so viel 642 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 41 erörterte Frage nach der Urheimat der Indo- germanen noch immer nicht gelöst ist. Dagegen ist man imstande in der indogermanischen Ur- sptache zwei Mundarten zu unterscheiden, eine westliche (Germanisch, Griechisch, Keltisch, Italisch) und eine östliche (Arisch, Litu-Slawisch, Albane- sisch. Armenisch). Das Germanische, das uns hier zunächst interessiert; gliedert sich in folgende Zweige : das Ostgermanische (Gotisch), das Nord- germanische (Dänisch, Schwedisch, Norwegisch) und das Westgermanische (Englisch, Friesisch, Deutsch, Niederländisch). Beginnen wir mit den Pflanzennamen, die sich in möglichst vielen indogermanischen Sprachen nachweisen lassen ! Sie deswegen ohne weiteres als die ältesten zu bezeichnen und eine Einteilung in indogermanische, europäische und germanische Pflanzennamen, wie dies vielfach geschieht, zu machen, ist wie besonders Hirt betont, wohl nicht richtig. Manches Stammwort, das bisher z. B. sich nur in den germanischen Sprachen nach- weisen ließ, kann möglicherweise bei Auffindung neuer Sprachdenkmäler oder beim Fortschreiten der Sprachwissenschaft auch in einem nicht- ger- manischen Zweig der indogermanischen Sprach- familie entdeckt werden, so daß seine bisherige Bezeichnung als „germanisches" Wort hinfällig wird. Immerhin gewährt eine solche Zusammen- stellung der Pflanzennamen nach ihrem Vorkommen in den indogermanischen Sprachen einen un- gefähren Überblick über ihr Alter und gibt dabei oft Fingerzeige auf Heimat, Verbreitung und Wanderung der betreffenden Pflanze. Zu den ältesten deutschen Pflanzennamen ge- hören viele unserer Baumnamen. Wir finden sie nämlich nicht nur in den germanischen, sondern auch in anderen indogermanischen Sprachen, eine Tatsache, die zur Vermutung Anlaß gab, daß die Urheimat der Indogermanen bzw. der Germanen von nordeuropäischen Bäumen bestanden gewesen sein muß. Auffällig ist der Bedeutungswandel gewisser Baumnamen. Das deutsche Buche (ahd. ') buohha) gehört lautlich zweifellos zu griech. (fy^yDi, das aber hier nicht Fagus silvatica, sondern die Speise-Eiche (Quercus esculus) bedeutet. Föhre (ahd. foraha, forha) ist lautlich verwandt mit lat. quercus (= Eiche) und wahrscheinlich auch mit altindisch parkatis = Feigenbaum, während Esche (ahd. asc) zu griech. oiiJi, = Buche gehört. Hirt stellt es sich so vor, daß — eine Folgerung der Völkerwanderungen — die Bezeichnung eines be- stimmten Baumes zur allgemeinen Bezeich- nung für Baum wird, während später (in der neuen Heimat des Volksstammes) wieder eine Spezialisierung eintritt. Alte Baumnamen sind ferner noch FicJilc (ahd. fiohta, griech. mvvj]), Taiiiir, Kihe (ahd. iwa), Birke (ahd. birihha, russ. berezza, altind. bhurjas), Erle (ahd. erila), U7/i/e (ahd. wida, griech. hm), Hasel (ahd. hasala zu latein. corylus). Von den Kulturpflanzen tragen ') ahd. = althochdeutsch. sehr alte Namen die Gerste (ahd. gersta zu lat. hordeum, griech. yiQt3i!). Roggen (ahd. rocko), Ha/er (ahd. habaro), Hirse (ahd. hirsi wohl stamm- verwandt mit lat. Ceres, der Göttin des Acker- baues), Lein (ahd. lin, lat. linum, griech. kivov), Mohn (ahd. mago zu griech. fir^mop). Sehr alt scheint auch das Wort Ampfer (ahd. ampharo zu altind. amläs = Sauerklee) zu sein. Wenden wir uns jetzt zu den Namen, die vor- züglich der germanischen Sprachenfamilie, also dem Deutschen, Englischen, Nordischen und Gotischen eigen sind, den „gemeingermanischen" Namen. Von Baumnamen sei hier an erster Stelle die Eiche (ahd. eih, engl, oak, schwed. ek) ge- nannt, ein Name, der vielleicht mit Rücksicht auf das wohl stammverwandte lat. aesculus == Berg- Eiche und das griech. ar/ü.coip = Quercus aegi- lops(?) besser zu der vorigen Abteilung gestellt wird. Ferner wären hier noch zu nennen die Linde (ahd. linta, angelsächs., altnord. lind), die Schlehe (ahd. sleha, engl, sloe, schwed. slän), der Efeu (ahd. ebehewi, engl, ivy), die Alistel (ahd. mistil, engl, mistle, schwed.-dän. mistel). Von Kulturpflanzen gehören hierher die Bohne [Vicia faba] (ahd. bona, engl, bean, altnord. baun), Wei- zcn (ahd. weizzi, engl, wheat, got. hvaiteis), Dill (ahd. tilli, angelsächs. dile, dän. dild), Flachs (ahd. flahs, engl, flax), Lauch (ahd. louh, engl, leec, altnord. laukr). Auch einige wildwachsende Pflanzen sind hier zu nennen, so die Distel (ahd. distil, engl, thistle, schwed. tistel), das Bilsenkraut (ahd. bilisa, angelsächs. beolene, dän. bulmeurt), die Erdbeere (ahd. ertberi, schwed.-dän. jordbär), die Melde (ahd. melda, angelsächs. melde, schwed. mäll). Ebenfalls alte, aber anscheinend hauptsächlich auf die westgermanischen Sprachen (Deutsch, Englisch) beschränkte sind: Klee (ahd. chleo, engl, clover), Kresse (ahd. cresso, engl, cress — das franz. cresson ist aus dem Germanischen ent- lehnt!), Älö'hre (ahd. morha, engl, more; jedoch wahrscheinlich urverwandt mit russ. morkovi = wildwachsendes Gemüse), Llopfoi (ahd. hopfo, engl, hop), Waid (ahd. weit, engl, woad), Kessel (ahd. nezzila, angelsächs. netele, wahrscheinlich älter, da es sich auch in slawischen Sprachen findet!), Klette (ahd. chletta, angelsächs. cläte), Heidelbeere (ahd. heitperi), LIimbeere (ahd. hint- peri, angelsächs. hindberige), Binse (ahd. binuz, engl, bent), Trespe (ahd. dreffs, mittelengl. drawk). Von der Mitte des 8. Jahrhunderts n. Chr. bis gegen 11 00 n. Chr. rechnet man das Althoch- deutsche. Zu den Baum- und Sträuchernamen, die in dieser Zeit auftreten, gehören : Aluu-n (ahd. ahorn; verwandt mit lat. acer = Ahorn), Brom- beere ^ahd. bramberi), Holunder (ahd. holuntar; vielleiclit gehört auch russ. kalma = Viburnum opulus hierher), Speierling (ahd. sperwa, spiere), Spindelbauiii (ahd. spinnilboum, spilboum), ]]\i- choldcr (ahd. wechalter). Ebenso finden sich die Bezeichnungen einer Reihe von Gift- und Heil- pflanzen bereits im Althochdeutschen: Gertner (ahd. germarrun), Schierling (ahd. sceriling), Nacht- N. F. XIX. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 643 schatten (ahd. nahtscato), Zeitlose (ahd. zitilösa, je- doch hier nicht für Colchicum autumnale gebraucht, sondern für Frühlingspflanzen wie Crocus vernus, Narcissus!), Alant (ahd. alant), Andorn (ahd. an- dorn), IVenniit (ahd. wermuota). Auf die althoch- deutsche Zeit gehen ferner zurück Beifuß (ahd. bivoz), Dost (ahd. dosto), Gundermann, Gundel- rebe (ahd. gundram, gunderebe), Ringelblume (ahd. ringila), IVol/sinilc/i (ahd. woluismilch), Dinkel (ahd. dinchil). Jüngeren Datums sind die Namen, die sich mit Sicherheit erst im Mittelhochdeutschen (Mhd.; von etwa i lOO n. Chr. bis ungefähr zur Reforma- tion) nachweisen lassen. Eine scharfe Trennung von den eben genannten althochdeutschen Namen läßt sich meist nicht durchführen, denn vereinzelt treten sie schon in den althochdeutschen Glossen auf. Auch mögen sie z. T. schon im Althoch- deutschen existiert haben, sind uns aber vielleicht zufällig nicht überliefert worden. Solche mittel- hochdeutsche Pflanzennamen sind z. B. : Hartheu (mhd. harthöuwe), Mangold (mhd. manegolt), Schmiele (mhd. schmele), Sinaii (mhd. synnaw). Groß ist die Zahl der erst im Neuhochdeutschen (also etwa seit der Reformation) auftretenden Pflanzennamen. Zum Teil handelt es sich hier um neu eingeführte oder in früheren Jahrhunderten nicht beachtete Gewächse. Nicht selten läßt sich verfolgen, wie ein älterer Name immer mehr ver- drängt wird und schließlich ganz dem neueren Platz macht. Von diesen neueren Bildungen sei hier nur eine Auslese gegeben: Bingelkraut (16. Jahrh.), Edekveiß (zum erstenmal bei v. Moll 1784), Ehrenpreis (Kräuterbücher des 16. Jahrh.), Engelsiiß (bereits spätmhd.), Erdbirne (Helianthus tuberosus), Flieder (aus dem Niederdeutschen), Hauhechel (1537 bei Dasypodius „Heuwhechel"), Kiefer (gekürzt aus „Kienföhre", zuerst bei Luther „kyfer"), Knöterich (so i486), Knäuel (Scleranthus; bei Bock 1539 „Knawel"), Ma/Jliebdien (14 19 „maßleben" 1517 „maßlib"; auffallenderweise hat diese jetzt allgemein bekannte und überall ver- breitete Blume im Altdeutschen keinen Namen !), Nelke (aus „Näglein", ursprünglich für die Gewürz- nelke und erst im 16. und 17. Jahrhundert auf Dianthus übertragen), Preiselbeere (aus der tschech. Bezeichnung brusnicel), Quecke (Anfang des 15. Jahrhunderts), Schachtelhalm (Mitte des 18. Jahrh.), Schafgarbe (im Althochdeutschen nur ,,garwa"), Schlingbaum, Schlüsselblume (ahd. himmilsluzzil), Stiefmütterchen (1741 bei Frisch „Stiefmütterlein"), Vergißmeinnicht (15. Jahrhundert ), J l'achtckie (Arctostaphylus) , Drachenkopf (Dracocephalum), Hundszahn (Cynodon), Immc7iblatt (Melissophyl- lum), Knotenfu/J (Streptopus), Mannsschild (An- drosace), A'atterzunge (Ophioglossum), Riudsau^e (Buphthalmum) , Sonncnivendc (Heliotropium), Steinbrech (Saxifraga), Tausendblatt (Myriophyl- lum), Wachsblnme (Cerinthe), Wasser nabel (Hy- drocotyle), M'olfstrapp (Lycopus), Z'd'cizahn- (Bidens). Eine besondere Gruppe nehmen die rein künstlich von Botanikern gebildeten Namen ein, damit eben die Pflanze auch einen deutschen Namen habe. Entweder sind es seltene , den Laien kaum bekannte oder unscheinbare vom N. F. XIX. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 64s Nichtbotaniker übersehene Pflanzen. Hier mögen als Beispiele genügen: Heilglöckcl (Cortusa Mat- thioli), Kammiiizc (Elssholtzia), KkinUng (Centun- culus), Kricchstciidcl (Goodyera repens), Kriiiiini- hals (Lycopsis arvensis), Liliciisimsc (Tofieldia), Schunm)nfani (Salvinia natans; das Volk erkennt gewiß nicht die Zugehörigkeit dieser Pflanze zu den Farnen!), Sumpf sdiraiibc \^^\'!Xitx\2i), Wasser- falle (Aldrovandia). Schließlich noch einige Worte über deutsche Pflanzennamen, die auf volksetymologischem Weg entstanden sind. „Man kann damit das Bestreben bezeichnen zwei etymologisch in der Regel ganz unverwandte Worte miteinander zu verknüpfen, wobei sich leicht Umgestaltungen der eigentlichen Lautform einstellen" (Hirt). Grund aller volks- tümlichen Erklärungen ist nach Andresen, dem verdienstvollen Erforscher der deutschen Volks- etymologie, das Sprachbewußtsein, das sich da- gegen sträubt, daß der Name leerer Schall sei, vielmehr einem jeden seine besondere Bedeutung und eine zweifellose Verständlichkeit zu geben bemüht ist. Es gibt nicht viel Klassen von Wörtern, in denen die Volksetymologie so häufig auftritt, wie gerade in den Pflanzennamen. Der Grund hierfür ist leicht erklärlich : Das Volk hört die lateinischen Namen von Botanikern, Ärzten, Apothekern, und da ihm die fremden Worte nicht verständlich sind, macht es sich diese Namen mundgerecht und gleicht sie der deutschen Sprache an. Wenn auch diese Volksetymologie besonders in rein mundartlichen Pflanzen- namen in Erscheinung tritt — so wird aus Vinca minor „Fiukciio/inn", aus Thymus „Dcmiit\ aus Diptam „Dickdarm''^, aus Tulipane „tolle Bohne" — so begegnet sie uns doch auch ab und zu in den schriftdeutschen. Zum Teil sind diese Um- deutungen sehr alt. Bereits im Ahd. ist das Eberreis (Artemisia abrotanum) als ebereize, im IMittelniederdeutschen als averrute (nhd. Eberraute) zu finden mit deutlicher Anlehnung an „Eber" und „Reis" bzw. „Raute". Zugrunde liegt jedoch das griech.-lat. abrotanum. Ein Schulbeispiel bietet das Liebstöekel (Levisticum officinale), das weder mit „Liebe" noch mit „Stöckel" (von Stock) etwas zu tun hat, sondern aus mittellat. levisticum (dies aus ligusticum für die aus Ligurien stammende Pflanze) entstanden ist. Im Volksmund geht diese Anlehnung noch weiter, es seien hier nur genannt Liebesstäekel (Schlesien), Leibstäekle (Gegend von Calw in Wttbg.), Lewerstoek (Göttingen), Lebens- stock (Oberharz), Lewestock (Eichsfeld), Lichtstöckel (Thüringen), Luststock (Kärnten), Laubstöek (Grau- bünden) und — Ladstock, Ladsto'ckl (Böhmerwald, Tirol). Maulbeere (ahd. murberi) aus lat. morum hat mit „Maul" ebensowenig etwas zu schafi'en wie Osterluzei (aus griech.-lat. aristolochia) mit „Ostern", an das das Volk bei dem Namen denkt, wie ein fränkischer Volksname für Aristolochia clematitis, „österliche Zeit", beweist. Der Rain- farn (Tanacetum vulgare) heißt im Ahd. reinfano (= die an Rainen wachsende Fahne wegen des stattlichen Wuchses), ist aber bereits im 15. Jahrh. in seinem zweiten Bestandteil an „Farn" angelehnt. Keller hals (Daphne mezereum) gehört in seinem ersten Bestandteil gewiß nicht zu Keller, vermut- lich liegt das mhd. kellen =; quälen zugrunde wegen des Kratzens, das der Genuß der Beeren im Hals hervorruft. Safer (Carthamus tinctorius) ist wie das engl, safflower an „Safran" und „Flor" angelehnt, stammt aber aus dem Italien, asfori und dies aus arab. usfur. Bertram (Anacyclus officinarum), das deutlich an den Personennamen anklingt, ist das griech.-lat. pyrethrum. Kreuz- kraut (Senecio) dürfte wohl aus „Greiskraut" ent- standen sein, das seinerseits die Übersetzung von senecio (lat. senex = Greis) darstellt. Maßholder (Acer campestre) gehört nicht zu Holder (Holun- der) wie das ahd. rnazolter beweist. Die gedrängte Übersicht, die hier über Alter und Entstehung der deutschen Pflanzennamen ge- geben ist, beweist schon, daß in diesem Kapitel eine Fülle der anziehendsten Probleme steckt. Leider wird in den Kreisen der Botaniker nicht selten auf die deutschen Pflanzennamen „als nicht zur Sache gehörig" wenig Rücksicht genommen, ja sie werden sogar als unnötiger Ballast betrachtet. Gewiß mit Unrecht! Wer die botanische Wissen- schaft mehr als handwerksmäßig betreibt, für den dürfen die Pflanzennamen keine leeren Worte sein. Und dem Unterricht in der Pflanzenkunde wird es nicht zum Schaden gereichen, wenn der Lehrer mit einigen Worten auch auf die deutschen Namen der besprochenen Pflanzen eingeht. Die Exkretion bei (leu Pflauzeii. [Nachdruck verboten.] Von P. C. van der Wölk Das Exkretionsproblem bei Pflanzen ist ein Abschnitt der Physiologie, der bis jetzt noch nicht recht gewürdigt worden ist. Man hat die Exkre- tion als einen selbständigen und prinzipiellen Ab- schnitt des Pflanzenlebens noch nicht erkannt. Der vorliegende Artikel ist eine Orientierungs- arbeit, wobei es sich nicht an erster Stelle darum handelt möglichst viele, vereinzelte und zusammen- hanglose Tatsachen zu relevieren, sondern um die Hervorkehrung eines Prinzips. (Middelburg in Holland). Deshalb sei hier auch bloß e i n Name genannt, aber eben der Name eines Mannes, der zuerst das Exkretionsprinzip als solches in schärferer Ausprägung hervorgebracht hat, und zwar der Name Ernst Stahls. Es ist zwar ein kleiner Abschnitt des großen Exkretionsgebietes, den Stahl in seine Abhand- lung hincinbezogen hat, aber von außerordent- licher Wichtigkeit dabei ist es, daß er experimentell nachgewiesen hat, daß die Ausscheidung dem 646 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 41 Gedeihen der Pflanze notwendig ist und daß die- selbe stirbt, falls die Exkretion behindert wird. Die Frage der sog. wertlosen Dissimilations- produkte wird bis auf den heutigen Tag von den Pflanzenphysiologen sehr nebensächlich behandelt, als ob das Vorhandensein solcher Substanzen die Pflanze nicht vor die größten Schwierigkeiten stellte, von deren richtiger Lösung das Leben der Pflanze abhängt. Die Beseitigung der giftigen Dissimilationsprodukte ist conditio sine qua non für die Pflanze; dieselbe beherrscht ihr Leben un- mittelbar. Allerdings äußert sie sich bei den Pflanzen nicht in so sichtbarer Weise als bei den Tieren; aber daß sie bei ersteren einen ebenso wichtigen Teil des Lebens wie bei letzteren dar- stellen muß, ist selbstverständlich. Obiges muß man mit größter Konsequenz im Auge be- halten; und das Weitere ist nur eine Frage der anhaltenden, systematischen Forschung in der ge- gebenen Richtung, ohne daß man jedoch blind- lings die Verhältnisse bei Menschen und Tieren zur Richtschnur nimmt. Gleichwohl sind auch aktive Ausscheidungen nach außen bei Pflanzen bekannt, abgesehen von den allgemein bekannten Hydathoden (in deren Guttationsflüssigkeit sehr viele disparate organische und anorganische Stoffe nachgewiesen worden sind ; außer den bekannten Krustenbildungen aus Kalk, kennt man deren auch aus Chloriden und Sulfaten von K, Na und Mg) und Nektarien (die in ihrem Zuckerwasser außerdem mehrere anorganische Salze ausscheiden), die, neben- bei bemerkt, einen wichtigen Ausgangspunkt für das pflanzliche Exkretionsprinzip hätten bilden können, wenn sie nicht, leider, verbiologisiert wären. Das gleiche gilt bezüglich der Drüsen- und Brenn- haare, der vorzüglichsten Exkretionsorgane. Un- beschadet aller Hochachtung für diesen inter- essanten Abschnitt der Naturwissenschaften, er- laube ich mir dennoch zu glauben, daß die Bio- logie unserer Wissenschaft geschadet hat; gelinde gesagt hat sie den Fortschritt der Physiologie ge- hemmt, stellenweise hat sie sogar dieselbe irre- geleitet und auf schlechte und verkehrte Bahnen geführt. Vor einigen Jahren habe ich in meiner Abhandlung über die Rolle der Fruchtwand bei der Keimung der Samenkörner, und früher schon in meinen Forschungen über Symbiose nachdrück- lichst darauf hingewiesen, daß jedes biologische Pi in- zip ausschließlich sekundärer Art ist, daß zwi- schen den Organismen verschiedener Art, wie zwi- schen Pflanze und Tier, Frucht und Tier, Blume und Tier ein solcher Ozean der Abstraktion liegt, daß es unangebracht und töricht ist, einen solchen angeb- lichen und gewöhnlich sehr übertriebenen und fraglichen Zusammenhang als ein primäres Ver- hältnis zu betrachten. Das biologische Prinzip, ein reines Produkt des menschlichen Verstandes, ist meines Erachtens gewöhnlich in erster Instanz ein Zufall sekundärer Art. Vielleicht ist es in einigen einzelnen l'ällen möglich, daß ein sol- cher sekundärer Zufall sich auf entwicklungsge- schichtlichem Wege tatsächlich nützlich ausbeuten läßt, aber der Ausgangspunkt, das Primäre, ist immer sehr intimer, inner-physiologischer Art ge- wesen, und das hat sich in oberwähnten Unter- suchungen zur Genüge herausgestellt. Ich glaube, daß ich nicht zu weit gehe, wenn ich den Schluß ziehe, daß die Vernachlässigung des Exkretionsbegriffes der Pflanzen der Biologie aufs Konto geschrieben werden muß. Und es ist keine geringe Schuld ! Denn erstens hat man dadurch eine der wich- tigsten physiologischen Lebenserscheinungen bei den Pflanzen schlankweg übersehen; die dann und wann veröffentlichten Fälle wurden als ver- einzelte, isolierte Fakta betrachtet und nicht als Spuren eines prinzipiellen, universellen, pflanzlichen Lebensphänomens gedeutet. Ferner geht die Be- deutung der Pflanzenexkretion noch über die einer Laboratoriumwissenschaft hinaus. Dieselbe ist in ihrem Wesen eins der Hauptmomente der praktischen Landwirtschaft, wenn das auch bis- jetzt noch nicht genügend erkannt wurde. Schon vor mehreren Jahren entdeckte man die Aus- scheidung giftiger Alkaloide durch die Wurzeln mehrerer tropischer Leguminosen. Im stillen hat diese Entdeckung tatsächlich in der tropi- schen Landwirtschaft gewirkt : an erster Stelle be- einflußte dieselbe den Anbau von Leguminosen als Zwischenkultur für N-Düngung. Es hatte den Anschein, als ob nun einige seltsame und uner- klärte Beziehungen von Kulturpflanzen unter- einander erklärt werden sollten. Die für die tropischen Kulturen äußerst wichtige Methode der Zwischengewächse konnte nunmehr aus dem Gesichtspunkte der Wurzelexkretionen betrachtet werden; es hätte binnen kurzem mithin eine Re- vision dieses wichtigen tropischen Kulturprinzips stattfinden müssen. Allein die landwirtschaftliche Wissenschaft dort in Indien hat sich gar nicht darum gekümmert. Die Entdeckung wurde eben wieder als eine vereinzelte Tatsache be- trachtet, man ließ alles beim Alten und beschränkte sich auf Diskussionen, wie z. B. das öde Theore- tisieren über die Frage des „clean weeding", d. h., ob eine peinliche Reinerhaltung der Plantagen von Unkraut und Gras erwünscht sei oder nicht, ein Gegenstand, der hin und her pendelt je nach allerhand seltsamen Resultaten der Praxis, und der vorzüglich und ausschließlich eine Frage der Wurzelexkretion ist. Die Ernährung spielt hier- bei überhaupt keine Rolle. Es muß hinzugefügt werden, daß die tropische landwirtschaftliche Wissenschaft am selben Übel krankt wie die europäische und zwar in noch höhcrem Grade: sie besteht fast ausschließlich aus Phyto-pathologie. In den letzten Jahren ist Selektion hinzugekommen, aber vor allem sind die landwirtschaftlichen VersuchsstationcTi drüben in Indien phyto- pathologische Anstalten, und wir dürfen sagen : zum Schaden der Landwirtschaft. Dieselbe würde viel mehr leisten können, wenn sie die Physiologie in ihr Arbeitsprogramm ein- führte. Aber ist unsere Wissenschaft selbst auch N. F. XIX. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 647 nicht ein wenig schuld daran, daß die Praxis sich wenig aus ihr macht? Beschäftigen wir uns in unserer Studienzeit speziell in dieser Hinsicht nicht oft mit Untersuchungen rein-wissenschaftlicher Natur, mit reinster Laboratoriumarbeit? Was erfährt die landwirtschaftliche Praxis von praktisch-physiologischen Untersuchungen ? Und was wissen die Jüngeren, die das Laboratorium verlassen und der wissenschaftlichen Landwirtschaft obliegen sollen, von physiologischen Land Wirtschafts- problemen, deren im Laboratorium nie erwähnt wurde? Aber, wenn dem so ist, so ist jetzt der Augenblick da für die Behauptung, daß wenn es einen Gegenstand gibt, der sowohl für die phy- siologische Wissenschaft als auch für die land- wirtschaftliche Praxis von Wichtigkeit ist, dies für die Exkretion bei Pflanzen zutrifft! Vor einigen Jahren habe ich selbst das Vor- handensein giftiger Wurzelexkrete festgestellt bei der Kokospalme und darüber berichtet. Die Tat- sache ließ sich in einfacher, aber anschaulicher Weise demonstrieren durch eine Kultur von Gras- keimpflanzen, unter einer besonderen Einrichtung des Versuches, auf einem Nährboden, der mit den Wurzelexkreten der Kokospalme imprägniert wurde: jene Graskeimpflanzen erkrankten bald und gingen ein. Neben diesen Untersuchungen ging noch eine andere merkwürdige Beobachtung nebenher. Be- kanntlich muß, bei der Keimung der Kokospalme, die Keimpflanze, die durch eine Öffnung aus der harten Endokarpschale hervortritt, vorher noch durch den ganzen Faserbast der Kokosfrucht hin- durchdringen, bevor sie in die Erde oder ans Tageslicht kommt. Der Umstand ist von großer Wichtigkeit, insoweit die Wurzeln während jenes Prozesses die Nahrung an sich ziehen, die in jenem Faserbast aufgespeichert ist. Aber, währenddem setzen die Wurzeln die Ausscheidung ihrer giftigen Exkrete fort, was, a priori betrachtet, dem Keime gefährlich sein muß. Allein, ich glaubte, mit großer Wahrscheinlichkeit den Beweis geliefert zu haben, daß in erwähntem Faserbast, vielleicht von dem Keime selbst, nach der Keimung ein Gegengift gebildet wird, wodurch die gefährlichen Wurzelexkrete unschädlich gemacht werden. Im Grunde ist das, nachträglich besehen, bloß eine zu erwartende Zweckmäßigkeit. Aber in- zwischen besagt das die Feststellung einer Art „interner Sekretion" bei Pflanzen. Mit größter Wahrscheinlichkeit wird derartiges allgemein sein bei den Gewächsen, obgleich es für gewöhnlich sich unserer Beobachtung entzogen hat, zufolge der noch mangelhaften Kenntnis der chemischen Vorgänge im Innern der lebendigen Pflanze. Die Pflanzenzellen müssen bei den energiebildenden Prozessen giftige Stoffwechselprodukte bilden, gleichwie bei dem tierischen Protoplasma. Sind ja auch die Ausscheidungen der menschlichen und tierischen Drüsen mit innerer Sekrektion, wie der Schilddrüse, Nebennieren usw. ausschließlich Gegen- gifte gegen äußerst giftige, wenn auch noch nicht ganz aufgeklärte Stoffwechselprodukte, welche uns ohne jene Antitoxine in kurzer Frist verkrüppelt und vernichtet haben würden, wie es sich heraus- stellt, wenn jene Drüsen nicht tadellos funk- tionieren. Daß die Pflanzen im allgemeinen, von Aus- nahmen abgesehen, mehr oder weniger immun sind gegen ihre eigenen sehr giftigen Säuren, Alkaloide usw., das verdanken sie, wie wir mit fast völliger Gewißheit behaupten können, gleich- falls den Antitoxinen einer noch im Verborgenen liegenden internen Sekretion, wie es im Wege des Versuches bei der Kokosfrucht höchst plausibel gemacht worden ist. Das Vorhandensein giftiger Wurzelexkrete bei der Kokospalme hat nebst einigen anderen Be- obachtungen mich veranlaßt, ein anderes System der Kokoskultur in Vorschlag zu bringen, ab- weichend von dem jetzt angewandten. An anderer Stelle habe ich über alles Betreffende ausführlich Mitteilung gemacht. Das Vorhandensein von Wurzelexkreten über- haupt rückt die oft unerklärlichen und seltsamen Ergebnisse von Düngungsversuchen, wie dieselben in Indien zutage getreten sind, in ganz neues Licht. Ich habe damals in diesem Zusammenhang die Vermutung geäußert, daß in mehreren Fällen die günstigen Resultate nicht so sehr eine Wir- kung der Nahrungszufuhr durch den künstlichen Dünger, als vielmehr eine Festlegung und Un- schädlichmachung der giftigen Wurzelexkrete durch die Düngemittel darstellten; und das jene günstige Wirkung sich erstreckte entweder auf die Wurzel- exkrete der Hauptpflanze selbst, oder auf die Wurzelexkrete der Zwischengewächse. Dennoch ist es in jeder Hinsicht vorschnell, wie es in einigen landwirtschaftlichen Kreisen geschehen ist, im Zusammenhang mit Obenberichtetem, schon jetzt von einer „neuen Theorie der Düngungslehre" zu sprechen. So weit sind wir ja noch nicht; es muß bis dahin noch viel experimentiert werden. Aber, und deshalb habe ich dabei verweilt: es ist jetzt von Wichtigkeit, daß man in der gegebenen Richtung weiter denkt und weiter experimentiert; daß wir den Faden festhalten, der uns in jenem neuen, dunklen Be- reich weiterführt. Systematische Arbeit in dieser einen Richtung wird allein diese schwierigen Probleme aufhellen. Indessen zeigt das Oberwähnte, zu welchen wichtigen Ergebnissen das Studium der Pflanzen- exkretion uns führen wird. Es ist selbstredend, daß die Pflanze in ihrem Atmungsprozeß, in ihrem Prozesse der Energiebildung überhaupt, gleichwie die Tiere und der Mensch Nahrung und zum Teil das Protoplasma opfern muß zwecks Freimachung von Energie und daß bei diesen Prozessen gleicher- weise wertlose, schädliche und äußerst giftige Dissimilationsprodukte entstehen, deren meiste wir nicht einmal kennen, wenngleich allerhand höchst giftige Säuren, Alkaloide usw. bekannt sind, 648 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 41 von dem gewöhnlichen CO., ganz zu schweigen. Und jene Stoffe müssen selbstverständlich in irgendeiner Weise unschädlich gemacht werden. So stehen wir schon mitten im Exkretionsproblem. Denn es ist angebracht, daß wir die Exkretion nicht erst mit der Ausscheidung von Gasen oder wässerigen Lösungen nach außen ihren Anfang nehmen lassen. Die Exkretion fängt bei der Zelle an. Was die Zelle ausscheidet als ein für sie wertloses oder giftiges Dissimilationsprodukt, ist vorzugsweise der Exkretionsstoff ; die nächste Frage ist, wie macht die Pflanze als Ganzes, als Organis- mus höherer Ordnung, diejenigen Stoffe unschäd- lich, die von ihr in ihrem Inneren sezerniert wer- den und die für ihr Leben verhängnisvoll sind? Dabei müssen wir es ganz dahingestellt sein lassen, ob sie dieselben nach außen hin ausscheidet oder nicht; stehen ja doch mehrere Wege offen. 1. Die Ausscheidung von Gasen und wäßrigen Lösungen durch die Oberfläche des Pflanzenkörpers nach außen. 2. Die Ansammlung von Dissimilationspro- dukten, seien sie unschädlich gemacht oder nicht, in bestimmten Organen, die dann zu bestimmten Zeiten abgestoßen werden. 3. Die Umbildung, der giftigen Substanzen zu unschädlichen Bildungen innerhalb der Pflanze, die nachträglich zum Bau des Pflanzenkörpers ver- wandt werden. Von den primären CO, und HjO der gewöhn- lichen, unmittelbaren Atmung abgesehen, wird in diffuser Weise im Pflanzenkörper, durch Einwirkung von Enzymen, die mehr oder weniger dem Ein- fluß äußerer Faktoren, als Wärme und Licht unter- liegen, ein bestimmtes Quantum schädlicher Dissi- milationsprodukte, im Wege eines sekundären Prozesses, ausgelöst in C0„ und H,0, welche Gase diffus durch die ganze Oberfläche der Pflanze entweichen können ? In der Hinsicht ist die CO., und H.jO-Bildung und -Ausscheidung der Pflanze, als Exkretionsprozeß , von viel allgemeinerer und tieferer Bedeutung als bei Mensch und Tier. CO., und H.2O sind bei den Pflanzen viel mehr als bei Mensch und Tier, vorzüglich Exkretionsprodukte. Dabei sollen wir bedenken, daß CO., nicht nur als Gas in engerem Sinne aus dem Pflanzenkörper ausdünstet, sondern in nicht geringerem Grade auch als Lösung. In dieser Hinsicht spielt die Transpiration eine sehr große Rolle im Exkretionssystcm der Pflanzen, viel größer als wir zu glauben pflegen. Der Transpiralionsstrom reißt viele Schädlich- keiten mit sich heraus. Am. stärksten vielleicht durch die Hydathoden, denn hier werden große Mengen fester Substanzen in verhältnismäßig schnellem Tempo und mitunter in ziemlich großen Tropfen gelöst aus der Pflanze entfernt. Die auf- fallendsten bisher bekannten sind Kalk, Salze, Säuren, die durch Haare ausgeschieden werden, Oxalsäure, Zuckerarten. Wir mögen dabei be- denken, daß jene Kalkausscheidung, eine der am häufigsten vorkommenden überhaupt, wiederum eine verkappte Ausscheidung von CO., ist, von sekundärem CO,, das von den umgebil- deten Dissimilationsprodukten herstammt, deren Wichtigkeit ich schon oben auseinandersetzte. Obgleich die sekundäre CO,- und H.,0 Aus- scheidung als eines Gases im engeren Sinne inner- halb der Pflanze diftus stattfindet, so gibt es doch Organe, wo dieselbe vorzugsweise geschieht und zwar in solchen, in denen sich namentlich Dissi- milationsprodukte anzuhäufen pflegen, und die dann zu gemäßer Zeit abgestoßen werden. Ich denke da vorläufig allein an die Fruchtwand, die ja, wie sattsam bekannt, eine Sammelstelle ist für allerhand gefährliche Säuren, Alkaloide, Tannin- arten usw. In jenen Organen findet sekundäre COj- und HjO-Bildung und -Ausschei,dung in reich- lichem Maße statt. Die Fruchtwand ist meines Erachtens von Haus aus ein Exkretionsorgan. Daß in derselben ein Teil der angehäuften Säuren, Alkaloide usw. durch besondere enzymatische Prozesse zu Zuckerarten und Fetten umgebildet werden, beweist nichts gegen den exkretorischen Charakter der Fruchtwand. Wir sollen daher in jenen Zucker- und Fettarten nicht gleich ohne weiteres wieder den nützlichen Nährstoff erblicken wollen, sondern vielmehr einen Versuch der Un- schädlichmachung der giftigen Dissimilationspro- dukte, wenn auch entwicklungsgeschichtlich die Pflanze aus dem Nützlichkeitsprinzip heraus, einen gewissen Zusammenhang hergestellt haben mag zwischen der Ernährung des Keimes und der Tat- sache, daß jene Dissimiiationsprodukte speziell zu derartigen wichtigen Nährsubstanzen umgebildet werden. Die Nützlichkeit eines gewissen Stoffes, die Nützlichkeit eines gewissen Organes, unserem Dafürhalten nach, schließt den exkretiven Charakter jenes Stoffes oder jenes Organes keineswegs aus. Wir müssen in dieser Hinsicht zwischen Primärem und Sekundärem sehr scharf unterscheiden, sonst fallen wir sofort den Phantasien der Biologen anheim. Dasselbe gilt für die Wachsausscheidung vieler Früchte, aber auch der Stengel und anderer Teile der Pflanze. Ich glaube auch hier, daß es ver-' kehrt ist, besonders die biologische Seite hervor- zuheben; wir haben jene Erscheinungen an aller- erster Stelle als Exkretionserscheinungen in enge- rem Sinne aufzufassen und einer näheren Unter- suchung zu unterziehen. Was mithin von dem exkretiven Chai akter der Frucht gesagt worden ist, gilt auch für die Blumen. Auch jene sind, ich wage es auf Grund vieler Anzeichen zu behaupten, von Hause aus Ablagerungsstätten von Dissimilationsprodukten, Stätten, zu denen sich ein großer Teil der Dissi- miiationsprodukte hinbegibt, um dann mit ihnen von der Pflanze losgelöst zu werden. Die biolo- gische Bedeutung der Blume in engerem Sinne ist sekundär, und deswegen von physiologisch ge- ringerer Wichtigkeit. Die Stoffe finden sich ge- meinhin in speziellen Zellen, die, als echte Exkre- tionszellen, die hinzugeführten Dissimilations- produkte zu mehr oder weniger gefahrlosen Stoffen N. F. XIX. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 649 umbilden, wenn es auch manche Pflanzen gibt, die durch Behandlung mit den ätherischen Ölen ihrer Blumen eingehen. Die für Pflanzen so sehr ty- pische Geruchsausdünstung ist eine wichtige Ex- kretionserscheinung. Es steckt in jener Umbildung der Dissimilationsprodukte zu flüchtigen Ölen, wie dieselbe nicht nur in Blumen, sondern namentlich in Blättern vor sich geht, ein wesentlicher Bestand- teil des pflanzlichen Exkretionssystems. Wir sagten es schon oben bezüglich der sekundären COj- und HjO-Umbildungen, daß das Prinzip der gasförmi- gen Exkretion bei den Pflanzen viel stärker als bei den Tieren sei, was ja allerdings leicht einzu- sehen ist. Die Tiere können ihren Exkrementen leicht entfliehen; die an der Stelle haftenden Pflanzen aber werden vorzugsweise Exkremente bilden, die sich selbsttätig aus dem Körper ent- fernen, mithin gasförmige, sonst hätten die Pflanzen alle Aussicht, in einer Anhäufung von Exkrementen um sich herum unterzugehen. Das wird denn auch schon der Grund sein, weshalb gewöhnliche Ex- kretionsstoße, wie wir dieselben bei Tieren kennen und wodurch bei Tieren die Exkretion so deutlich wahrnehmbar ist, bei Pflanzen in viel geringerem Grade vorhanden sind, so daß das Exkretions- system der Pflanzen überhaupt sich unserem Auge zu entziehen gewußt hat. Ein weiteres typisches, physiologisch sehr schwieriges Organ, das abgeworfen zu werden pflegt, wenn es mit Dissimilationsprodukten an- gefüllt ist, und in dieser Hinsicht mithin auch ein Exkretionsorgan, ist das Blatt. Daß Blätter vor ihrem Falle gänzlich entleert werden sollten, ist eine Auf- fassung, die schon völlig veraltet ist. Im Gegen- teil ; durch mehrere Untersuchungen hat sich er- geben mit nach und nach genügender Gewißheit, daß zwar gegen den Blätterfall etliche Stoffe wie K, P, Fe, Nitrate, gewisse Formen der Kohlehy- drate verschwinden und nach dem Stamme ab- fließen, daß aber mehrere andere sich in den Blättern ansammeln, wie Mg, S, manche organi- schen N-Verbindungen, Glukoside; fallende Blätter stecken oft voller Kalziumoxalatkristalle. Ohnehin nimmt gegen den Blätterfall der Gesamt-Aschen- gehalt der Blätter zu. Der Ansicht, als sollten sich die Blätter entleeren, könnte man mit größerem Recht diejenige einer Anfüllung der Blätter bei der Herannäherung des Falles entgegenstellen. Ein strittiger Punkt ist dabei schon wieder, zu- folge unserer menschlichen Ansichten des Nutzens oder Nichtnutzens, ob jene Stoffe, die mit den Blättern mit herabfallen, der Pflanze nützlich seien oder nicht, mit Rücksicht auf die N-Verbindungen und die Kohlehydrate. Aber da gilt wieder die Bemerkung, die wir eben vorher gemacht haben, daß man nicht den Nährwert einseitig überschätzen, sondern vielmehr das Faktum beachten soll, daß es hier der Unschädlichmachung der schädlichen Stoffe gilt. Dergestalt sind oft in den Blättern giftige, aromatische Bestandteile latent gebunden in der Gestalt geruchloser Verbindungen mit Zuckern, Glukosiden ; aber deswegen sind jene Zuckerverbindungen, trotz ihres Nährwerts, dennoch den Pflanzen sehr gefährlich und müssen entfernt werden. Dasselbe gilt von der Glukosidnatur der Farbstoffträger in Blumen und Blättern. Die Verfärbungen der Blätter gegen den Blattfall hin soll man mithin nicht jedesmal wieder als eine sekundäre Vergiftungserscheinung des Blattgewebes zufolge der eindringenden Gifte, sondern als einen primären Prozeß, als selbständige Umbildungen von Dissimilationsprodukten zu unschädlichen Be- standteilen auffassen. Ich habe seinerzeit von einer „Exkretionstheorie des Blatt fa lies" ge- sprochen und es ist manches, was diese Auffassung stützt. Der ÜberschufJ an Dissimilationsprodukten im Pflanzenkörper, der sich nicht nutzbringend an dem Aufbau der Pflanze beteiligen kann, unter anderem auch weil gegen jene Zeit das Wachs- tum und der Verbrauch an Wachstumsmaterial, (wozu die Pflanze, wie wir unten sehen werden, auch Dissimilationsprodukte verwendet), abnimmt, wird gegen den Blattfall nach den Blättern hin- übergeführt, damit er beim Falle entfernt werde. Daher der große Transport im Herbst. Aber. dennoch besteht er im kleinen das ganze Jahr hindurch, indem er schon unmittelbar mit dem Frühjahr anfängt. Daß die Dissimilations- produkte später nicht immer wieder aufgefunden werden, kommt daher, daß sie zu anderen, un- schädlichen Verbindungen umgebildet werden; oder aber daß sie sonstwo verbraucht werden, da die Pflanze einen vielfältigen nützlichen Gebrauch von ihren Dissimilationsprodukten macht. In der Weise ist es möglich, in Widerspruch mit unseren Auffassungen des Nutzens, des Nichtnutzens oder der Zweckmäßigkeit, daß ein und dasselbe Gluko- sid, als latentes Dissimilationsprodukt bei einer Pflanze gegen den Blattfall den Blättern zugeführt und bei einer anderen den Blättern gerade ent- zogen wird. Deshalb müssen wir auch nicht bei dem Transporte ohne weiteres stille stehen, son- dern müssen dem Verbleib jener Stoffe nach- spüren. Mit der Tatsache des Transportes oder des Nicht-Transportes, oder aber des Transport- modus steht oder fällt weder der exkretorische Charakter eines Stoffes, noch der exkretorische Charakter der Blätter. Die große Oberfläche der Blätter müssen wir an erster Stelle betrachten als eine Steigerung der Gasausdünstung und der Transpiration, mit- hin vor allem als eine der Exkretion dienliche Erscheinung; also sind die Blätter meines Er- achtens besonders als Exkretionsorgane zu be- trachten, in Gegensatz zu der Diffusions-Gasaus- scheidung und Transpiration der ganzen Pflanze. Indem das Transpirationswasser die Gase mit sich fortzieht, ist die Transpiration eins der wichtigsten Exkretionshilfsmittel der Pflanze. Aber die Tran- spiration ist in dieser Hinsicht nie genügend ge- würdigt worden. Die Exkretionsfähigkeit der Blätter findet eine sehr kräftige Stütze an Haarbildungen; eine Be- merkung, die auch für den Stengel und andere 650 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 41 Pflanzenteile zutrifft. Meines Erachtens sind Haare überhaupt sehr vorzügliche Exkretionsorgane so- wohl hinsichtlich der Aufspeicherung von Stoff- wechselprodukten als der Oberflächenvergrößerung für Transpiration und sekundäre COj-Ausdünstung. Nicht am wenigsten die guttierenden Haare. Neben Haaren müssen Dornen und Stacheln genannt werden, sowohl als Vergrößerung der Oberfläche der Gasausscheidung und Transpiration und Gutta- tion, als für Absatz- und Aufspeicherungsstätte bestimmter Exkretionsstoffe, wie es dann in ver- kieselten oder verkalkten Dornen zur Äußerung kommt. Auch an anderen Stellen des Pflanzen- körpers können Zellwände verkalken und ver- kieseln, so daß auch die Zellwand an und für sich bei der Exkretion eine Rolle erfüllt. Die sehr verbreitete Kristall-, Nadel- und Kystolith- bildung der Pflanzen ist auch als Exkretions- erscheinung zu betrachten, obgleich in dieser Hinsicht jene Betrachtungsweise einen starken Widersacher hat in der Biologie, die die Bedeu- tung der Exkretion auf ein ganz anderes Gebiet verlegt und damit die primäre physiologische Bedeutung völlig in den Hintergrund drängt. Betrachten wir auch hier die biologische Bedeu- tung als eine durchaus sekundäre I Zufolge bestimmter Momente kaim ein zeit- weiliger Überschuß giftiger Dissimilationsprodukte auftreten, der einen vorzeitigen Fall der Exkre- tionsorgane der Pflanze, wie Blätter, Blumen, sehr junger Früchte herbeiführt, wovon diejenigen, die sich mit Kulturen beschäftigen, ein Lied zu singen wissen. Unter den mehrjährigen tropischen Kul- turpflanzen haben einige Gewächse in dieser Hin- sicht einen schlimmen Ruf; der vorzeitige Abwurf jener Organe kann sich mitunter zur förmlichen Plage auswachsen. Dieser sehr wichtige Punkt, von dem die Ernte abhängig ist, hängt wieder mit dem Hauptproblem der Exkretion zusammen. In derartigen Notfällen können auch andere Or- gane als Exkretionsorgan geopfert werden, und da sehen wir einen großen Fall von Achsel- und Endknospen, die tatsächlich aktiv, mittels eines Trennungsgewebes von der Mutterpflanze getrennt werden, nachdem dieselben mit schädlichen Dissi- milationsprodukten angefüllt worden sind. Daß tatsächlich eine Anhäufung giftiger Bestandteile in solchen Achselknospen, ' die plötzlich und un- erklärlicherweise abfielen, stattgefunden hatte, war ich selbst in der Lage an fallenden Knospen des „Dadap" (Erythrina sp.), des vorzüglichsten Schattenbaumes tropischer Kakao- und Kaffee- pflanzungen, festzustellen , einer Leguminose, die leider in so starker Degenerierung begriffen ist, daß sie binnen absehbarer Zeit in den indischen Kulturen keine weitere Rolle spielen wird und häufig schon durch andere ersetzt worden ist. Es wurden Achsclknospen, die im Begriff waren abgeworfen zu werden, in Reagenzröhrchen mit destilliertem Wasser geschüttet , worauf ich in demselben kleine Graskeimpflanzen wachsen ließ. Letztere gingen darin ein. Als derselbe Versuch mit gesunden Knospen wiederholt wurde, er- hielten sich die Graskeimpflanzen beim besten Wohlergehen. Vielleicht beruht das ganze Prinzip des sympodialen Baues der Gewächse auf dem exkretorischen Charakter gewisser Endknospen. Dasselbe was sich an den Knospen vollzieht, kann auch mit jungen Zweigen und Wurzeln vor sich gehen, und es gibt gewisse Pflanzen, bei denen solches die Regel bildet: in der gesunden Krone, gehen immer, sehr systematisch bestimmte Zweige ein, die verdorren und aktiv abgeworfen werden. Hinsichtlich der Wurzeln stellte ich in starkem Maße dasselbe bei der Kokospalme fest, namentlich bei denjenigen, die einigermaßen in der Nähe des Meeres wuchsen. Alles überflüssige und giftige NaCl sammelt sich in bestimmten Reservoirs an, und zwar in speziellen Wurzeln, die sich nach und nach mit Kristallen anfüllen und schließlich durch eine Scheidewand von der Mutterpflanze isoliert werden. Man hat Fälle konstatiert bei mehreren verschiedenen Pflanzen, in denen von den Wurzeln in späterem Lebens- alter eine große Menge Salze ausgeschieden wer- den. Mitunter treten dabei, als Sekundärbildung, Wurzelexkreszenzen auf, in denen sich bestimmte Exkretionssalze anzuhäufen pflegen. Es muß noch speziell die Aufmerksamkeit hin- gelenkt werden auf diejenige Exkretionsmethode bei Pflanzen, bei welcher die Dissimilationsprodukte zu unschädlichen Bestandteilen umgebildet werden, damit sie nachher eine bedeutende Rolle beim Aufbau des Pflanzenkörpers übernehmen. Als ich vor einigen Jahren meine Untersuchungen über den Milchsaft veröffentlichte, woraus sich mit Bestimmtheit ergab, daß Milchsaft keine Nahrung für die Pflanze ist, habe ich schon den Nachweis für die Wahrheit der Vermutung zu führen versucht, daß der Milchsaft eine große Rolle in der Bildung der Zellenwände und des Rindengewebes mit seinem sehr verwickelten Chemismus spielte. Die Milchsaftzellen resp. -bahnen haben den Charakter von Drüsen, welche die hinzugeführten Dissimilationsprodukte zu Milch- saft umbilden, der als Zwischenprodukt zur Er- langung der Bestandteile, woraus das Rinden- gewebe sich aufbaut, zu betrachten ist. Teilweise versucht die Pflanze den Milchsaft loszuwerden durch die Blätter; bei etlichen Milchsaftpflanzen hat man beobachtet, daß gegen den Fall der Blätter ein gesteigerter Milchsaftstrom nach den Blättern hin stattfindet. Weiter hat man außer- dem beobachtet, daß nach den Blättern und der Rinde dieselben Stoffe gehen. Jenes tote und dennoch sehr nützliche Gewebe rings um den Pflanzenkörper herum, das zufolge der Dickenzu- iiahme sowieso auf kurzen Termin abgeworfen werden muß, ist der Natur der Sache nach eine vorzügliche Ablagerungsstätte für alles dasjenige, was die Zellen an Schädlichem und Wertlosem ausscheiden. Auch Stahl erblickt in der Rinde eine exkretorische Tätigkeit der Pflanze. Die Rinde ist demgemäß ein Summum der An- N. F. XIX. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 651 häufung von Aromaticis, Alkaloiden, Glukosiden, Tanninen, Suberinen usw., ein sehr zusammen- gesetztes chemisches System. Zwischen Rinde und Blättern besteht eine Wechselwirkung; aber auch, sei es denn in geringerem Grade, zwischen Rinde und Blumen. Es findet zwischen jenen Organen eine fortwährende Verschiebung, ein Transport von Dissimilationsprodukten statt je nach der Bautätigkeit der Pflanze. Was zur Rinde nicht mehr zur Verwendung kommen kann, z. B. dadurch, daß im Spätjahr das Wachstum sich verringert, geht nach den Blättern und nach den Früchten, damit es abgeworfen werde. Aber bei alle dem handelt es sich um anfänglich schädliche, giftige Dissimilationsprodukte, deren die Pflanze sich aber noch in ingeniöser Weise vor ihrer Beseitigung, zu bedienen weiß. Wir stehen hier mitten im Leben der Pflanze, aber physiologisch betrachtet zugleich mitten im Problem der Exkretion. Sogar die Organe und Tätigkeiten, welche die Pflanze der Exkretion zur Verfügung stellt, werden sich vielleicht binnen kurzem als sehr zahlreiche erweisen. Im Werke Stahls zeigt sich allerdings schon, wie weit jener vortreffliche P'orscher, und zweifelsohne mit gutem Grunde, das Arbeitsgebiet der exkretori- sehen Funktionen zieht. Auch die Blattbewegungen, wie der zusammen- gefaltete Schlafzustand bei den Leguminosen, werden von Stahl in die Exkretion mit hinein- bezogen. Es sollen dieselben nämlich eine feine Regulierung der Wasserströmung bewirken und zusammen mit der Regulierung der Transpiration zu gleicher Zeit die Regulierung der Exkretion bewirken. (Abnahme der Transpiration hat Gutta- tion zur F'olge.) Es steckt in allem hier Gesagten viel Hypo- thetisches, es beruht aber auf vielen vereinzelten, von den Physiologen noch nicht geordneten und gewürdigten Tatsachen. Gleichwohl liegt es mir durchaus fern zu behaupten, ich hätte in allem den richtigen Standpunkt eingenommen. Der Gegenstand ist viel zu umfassend dazu. Aber es will mich mitunter bedünken, als hätten die Phy- siologen einen der wichtigsten Prozesse des Pflanzenlebens vergessen I Jedoch , das Material ist schon reichlich vorhanden , und in einem zusammenfassenden Überblick können wir viele vereinzelte, nichtssagende Tatsachen zu einer höheren Einheit zusammenfassen und da- durch eine tiefere Einsicht in das Leben der Pflanze gewinnen. Wenn wir in jener Richtung folge- richtig weiter denken, und namentlich nun in erster Linie weiter experimentieren, werden wir einer der wichtigsten, ja vielleicht einer der groß- artigsten und umfassendsten Äußerungen des Pflanzenlebens, der Exkretion, gerecht werden. Bücherbesprechungen. Fuchs, F., Grundriß der Funken-Tele- graphie in gemeinverständlicher Dar- stellung. 72 S. 130 Textabb. 11. Aufl., Oldenburg, Berlin und München 1920. Dieses Büchlein hat während des Krieges in früheren Auflagen bei vielen Lehrkursen zur Aus- bildung von Funkern als Hilfsbuch beste Dienste geleistet und kann als kurze übersichtliche Dar- stellung dessen, was zum Verständnis der Funker- apparate und der verschiedenen Systeme der Funkentelegraphie nötig ist, falls man auf mathe- matische Vorkenntnisse verzichten muß, sehr empfohlen werden. Die Abbildungen sind ein- fach und anschaulich. Bemerkenswert ist, daß in einem kurzen Schlußkapitel auch die Anwendungen der Kathodenröhre besprochen sind. Die Kapitel Überschriften sind : Gleichstrom, Wechelstrom elektrische Schwingungen und Wellen, Resonanz erscheinungen, Antennen, Systeme der Funken telegraphie, die Anwendungen der Kathodenröhre. S. Valentiner. Steiner, G., Untersuchungsverfahren und Hilfsmittel zurErforschungderLebe- wclt der Gewässer. Handbuch der mikro- skopischen Technik. 7. und 8. Teil. 148S. Gr. 8". 150 Abb. Stuttgart 1919, Franckhsche Verlags- buchhandlung. 6, — M. Die Hydrobiologie ist eine junge Wissenschaft. Angeregt durch die großen Planktonexpeditionen, hat sie sich in den meisten Kulturländern etwa gleich- zeitig und ziemlich unabhängig voneinander ent- wickelt. Die Folge davon ist, daß fast jeder Forscher seine eigenen Methoden für den Fang der Wasserorganismen und die Auswertung der F'angergebnisse ausgearbeitet hat. Eine Übersicht über die hierauf bezüglichen Angaben zu gewinnen, war bisher nicht nur für den Anfänger, sondern selbst für den Fachmann recht schwierig. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß der Verf. hier eine zusammenfassende Darstellung der hydrobiolo- gischen Untersuchungsverfahren gibt, mit deren Hilfe leicht festzustellen ist, wie bis heute irgend- ein bestimmtes Problem der Hydrobiologie metho- disch angepackt ist. Zahlreiche gute Abbil- dungen unterstützen die klare Darstellung, und wo sie nicht ganz in die Einzelheiten gehen kann, wird sich der Leser mit Hilfe der Hinweise auf die Originalarbeiten, von denen auch die aller- jüngsten berücksichtigt sind, leicht weitere Belehrung verschaffen können. Dem eigentlichen methodischen Teil geht ein sehr frisch geschriebenes Kapitel „Einige allgemeine Richtlinien für das naturwissen- schaftliche Arbeiten und ihre besondere Anwendung für den Hydrobiologen" voraus, in dem mit recht die unbedingte Hingabe an die Natur, die Be- geisterungsfähigkeit für ihr Getriebe als eine der wichtigsten Eigenschaften des Naturforschers hin- gestellt wird. Größte Sorgsamkeit und Genauig- keit wird natürlich ebenso gefordert, und so wird 65: Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 41 jeder Anfänger gerade dieses Kapitel mit großem Nutzen lesen, während den folgenden nicht nur diesem sondern auch dem Erfahrenen viel Anregung geben werden. Besonders hinzuweisen sei z. B. auf die noch unveröffentlichten, von Prof. Birge dem Verf. zur Verfügung gestellten Photographien und Beschreibungen eines Gerätes zum Messen der Stärke und Absorption der Wärmestrahlung der Sonne im Wasser, die großes Interesse er- wecken müssen. Nienburg. Wichelhaus, H., Vorlesungen über che- mische Technologie. Bd. I. Anorgani- scher Teil. Vierte umgearbeitete und vermehrte Auflage. VI -f 434 Seiten in gr. 8" mit 104 Abbildungen im Text. Dresden und Leipzig 1919, Verlag von Theodor Steinkopff. Preis geh. 16 M. Das vorliegende Werk des bekannten Berliner Hochschullehrers bringt eine für Anfänger im Chemiestudium und weitere Kreise des natur- wissenschaftlich interessierten und gebildeten Pu- blikums bestimmte Darstellung der anorganischen chemischen Technologie. Die Schlagworte : Kochsalz und seine Abkömmlinge, Schwefel und Schwefel- verbindungen , Kalisalze , Calciumverbindungen, Stickstoff und Stickstoffverbindungen einschließ- lich der eigentlich zur organischen Chemie ge- hörigen Explosivstoffe, Phosphor- und Phosphor- verbindungen, Aluminium, Eisen, Gold, Industrie der Silikate und Mineralfarbstoffe deuten den Um- fang des behandelten Gebietes an. Die Darstel- lung ist — selbst verständlicli — sachlich einwand- frei und enthält manchen interessanten Hinweis, der in der großen eigenen Erfahrung des Ver- fassers seinen Ursprung hat. Ursprünglich hatte das Buch von W i c h e 1 - haus, wie auch der ursprüngliche und sicherlich mit Vorbedacht geänderte Titel „Populäre Vor- lesungen über chemische Technologie" zu erkennen gibt, einen weniger strengen und mehr populären Charakter. Nach Ansicht des Berichterstatters ist es eigentlich schade, daß das Werk diesen seinen ursprünglichen Charakter im Laufe der Zeit z. T. verloren hat, denn es erscheint zweifelhaft, ob der sachliche Gewinn , der in der größeren Strenge der Darstellung und in der Darbietung von mehr an sich ja sehr interessanten Einzelheiten trägt, den Verlust wettmacht, den der große Einfiuß des Buches auf weitere Kreise des Publikums, insbesondere Juristen und Verwaltungsbeamte, er- litten hat. Wie die Verhältnisse heute liegen, ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Hoch- schullehrer- für Chemie, in möglichst weiten Kreisen, vor allem auch der Richter, Anwälte und Verwaltungsbeamten Interesse und Verständ- nis für die Probleme der chemischen Technik und die Wege zu erwecken, die zu der Lösung führen. Diese wichtige Aufgabe hat die erste Auflage des W i c h e 1 h a u s sehen Werkes in mustergültiger Weise erfüllt, erscheint aber in der vorliegenden vierten Auflage — die zweite und dritte Auflage hat der Berichterstatter nicht zur Hand — zu ihrer Erfüllung v\?eniger geeignet , und das ist schade. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Wedding, H., Das Eisenhüttenwesen. \\ Auflage (21. bis 26. Tausend) herausgegeben von F. W. Wedding. VI u. 130 Seiten in kl. 8" mit 22 Abbildungen im Text. Bd. 20 der Sammlung „Aus Natur und Geisteswell". Leipzig und Berlin 191 8, B. G. Teubner. Der bekannte Verf., der als Lehrer für Eisen- hüttenkunde an der Berliner Bergakademie gewirkt hat, bringt in der vorliegenden kleinen Schrift einen Überblick über die Geschichte des Eisens, über seine heutige Bedeutung, seine Gewinnung und seine Verarbeitung. Die Darstellung ist klar, der Herausgeber ist seiner Aufgabe gewachsen, und so wird der Erfolg, der die ersten Auflagen des Büchleins begleitet hat, auch der neuen Auf- lage treu bleiben. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Ludendorff, H., Astrophysik. 136S. mit 14 Abb. 4. Aufl. Sammlung Göschen 1920. Vereinigung wissensch. Verleger, Leipzig und Berlin. So klein dies zuerst von Wislizenus herausge- gebene Büchlein ist, so sehr spürt man auf jeder Seite den Herausgeber als einen der bedeutendsten astrophysikalischen Praktiker. Die 5 Kapitel um- fassen Sonne, Mond, Planeten, Kometen und Meteore und zuletzt, fast die Hälfte des Werkes, die Fixsterne und Nebel. Dies ist verständlich, denn hier istLudendor f f s eigenstes Gebiet, und daher finden wir hier die schwierigsten Zusammen- hänge zwischen den Spektren, den Bewegungen, der Entwicklung der Sterne behandelt, so klar und übersichtlich, als es der geringe Raum möglich macht. Nirgends ist der Unterschied der Riesen- und Zwergsterne und deren Stellung in der Ent- wicklungsreihe so klar zusammengestellt, so daß jeder, der sich mit Fixsternastronomie beschäftigt, gern dies kleine Büchlein zur Belehrung in die Hand nehmen wird, was der billige Preis von 1,60 M. erleichtert. Riem. Mach, Ernst, Die Leitgedanken meiner naturwissenschaftlichen Erkenntnis- lehre und ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen. Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe. Zwei Aufsätze. 8". 31 S. Leipzig 19 19, Ver- lag von J. A. Barth. 2,40 M. Zu den in Nr. 48 des vorigen Jahrganges be- sprochenen Mach-Schriften ist auf P'riedr. Adlers Anregung eine neue hinzugetreten. Wir besitzen damit zwei sonst schwer erreichbare Journalaufsätze des großen Österreichers in einem jedermann zu- gänglichen Neudruck. Die in beiden Aufsätzen l)chandeltcn P'iagen stellen durchaus eine Neu- bearbeitung und Weitcrfül/rung von Problemen dar, die Mach in seiner „Analyse der Empfin- N. F. XIX. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 653 düngen" aufgeworfen hatte. Die Schrift ist un- entbehrlich für jeden, der sich dem Studium des Machismus zuwendet. Dresden. Rudolph Zaunick. die Anschaffungsmöglichkeit gewähren, die an aus- führlichen Werken vorübergehen müssen. Hennig. Dacqu6, Edgar, Geologie (I. Allgemeine Geologie). Sammlung Göschen, 128 S. mit 75 Abb. Berlin-Leipzig 1919, Vereinigung Wis- senschaftlicher Verleger. Geb. 2,10 M. (Kriegs- einband). An Stelle des älteren Büchleins „Geologie" der Sammlung Göschen von Eb. Fraas tritt nunmehr eine neue Darstellung, die den seitherigen Fort- schritten des Wissenszweiges entspricht. Die schwere Aufgabe, den ungeheuren Stoff in so engem Räume zu meistern und wirklich frucht- bringend zu gestalten, darf als glücklich gelöst be- zeichnet werden. Die Beschränkung eines Bänd- chens auf die Aligemeine Geologie war dabei selbstverständlich. Wohltuend ist die fast über- raschend einfache und klare Gliederung. Sie ist hauptsächlich erreicht dadurch, daß das Wasser als das angesehen wird, was es ist : ein Mineral. Dementsprechend erhält es seinen Platz innerhalb der Materialien, aus denen sich die Erdkruste auf- baut. Seine Eigenheiten innerhalb dieses Ganzen und die aus ihnen sich ergebenden unabsehbaren Einwirkungen auf die anderen Gesteine sind von zweierlei Art: Abtragung und Umlagerung, also Gesteinsbildung und -Zerstörung auf der einen Seite, Formengebung für das Erdrelief auf der anderen, wobei es nicht nur negativ ausräumend, sondern auch positiv als See, Fluß, Meer land- schaftbildend wirkt und von anderen Faktoren, so dem Winde in mannigfaltiger Weise unterstützt und ergänzt wird. Damit sind zwei weitere Haupt- abschnitte der Darstellung gegeben. Vulkanis- mus, Gebirgsbildung, Erdbeben, die „drei Gewal- tigen" der Geologie, machen den Beschluß, indem sie jene Kräfte vor immer neue Aufgaben stellen. Da Lagerungsart, Absönderungsform und Druck- erscheinungen der Gesteine durch sie bedingt werden, von denen beim Aufbau der Erdkruste schon die Rede sein mußte, knüpft das Ende an den Anfang an und schließt den Kreis. Betrach- tungen über den Erdball gleichsam von außen als über einen planetarischen Körper waren als ein allererster Abschnitt vorausgegangen. Die klare Disposition wird dem Fernerstehen- den, auf den das Büchlein abgesehen ist, das Ein- dringen und die Aneignung gewißlich erleichtern. Vermißt werden könnte vielleicht die Entstehung und Gliederung der Gesteinsbildungen am Meeres- grunde, die ja für die Geologie doch eine sehr beträchtliche Rolle spielen. Mit Recht ist dagegen auf wirtschaftlich wichtigere Bodenschätze be- sonders Bedacht genommen. Die Darlegungen zeichnen sich durchweg durch Zuverlässigkeit und Gleichmäßigkeit aus. Der für heutige Verhältnisse noch billige Preis wird vielen Kayser, Emanuel, Abriß der allgemeinen und stratigraphischen Geologie. 2te vermehrte Auflage, 212 Textfig., 54 Tafeln, geol. Übersichtskarte von Mitteleuropa. 460 S. Stutt- gart 1920, Enke. Neben das berühmte zweibändfge Lehrbuch des Verfassers trat im Kriege ein gedrängterer Auszug. Auch er aber entgeht dem Schicksal des Wachstums bei jeder Neuauflage nicht, obwohl er in Reaktion hiergegen entstanden war. Das soll kein Vorwurf sein : Soll die Gesamtdarstellung des lebendig sich mehrenden Stoffs für diesen nicht zum Prokrustes- bett werden, so muß sie sich strecken. So ist das Wachstum ein Zeugnis für die hingebende Sorgfalt der Überarbeitung wie für den Fortschritt der Wissenschaft. Daß aber immer neue, kurz aufeinanderfolgende Auflagen nötig wurden, be- weist zur Genüge das Bedürfnis, dem hier abge- holfen wird, und auch den Anklang, den das Werk des Verf. in allen Gestaltungen findet. Die Stoffgliederung ist die gleiche geblieben: der erste Teil behandelt die Kräfte, Stoffe und Zustände des Erdkörpers im ganzen, der zweite führt historisch durch die Formationen, d. h. durch die Lebensgeschichte des Erdballs, wie sie sich aus jenen Faktoren zusammensetzt bzw. ablesen läßt. Der erste Teil wieder gliedert sich in Be- trachtung erstens des Materials und seiner Gestal- tung, zweitens der lebendigen Vorgänge. Eine gewisse Schwierigkeit ergibt sich dabei stets haupt- sächlich für die Tektonik, die in zwei schwer trenn- bare Abschnitte auseinandergerissen erscheint, ohne daß daraus ein Einwurf erhoben werden dürfte. Neu in den Abriß aufgenommen wurden Ab- schnitte über Meteorite, Paläoklimatologie, abso- lute Zeitmaße in der Geologie und Erdmagnetis- mus, andere sind erweitert worden. Das Buch kann als ausgezeichneter Leitfaden nur aufs Neue empfohlen werden. Hennig. Sachs, Arthur, Repetitorium der allge- meinen und speziellen Geologie. 44 S. geh. 3,75. Leipzig- Wien 1920, Deuticke. Über den Nutzen eines so gedrängten Ex- traktes einer Wissenschaft kann man verschiedener Meinung sein. Vielmehr als eine Disposition des Stoffes, allenfalls noch eine erklärende Zusammen- stellung der termini technici kann es nicht sein wollen. Erklärungsversuche und Diskussionen der Probleme und Lehrmeinungen müssen in solchem Rahmen notwendig unzureichend bleiben. Ganz frei hält sich das Heftchen davon nicht. Gibt es doch zum Schluß gar noch einen Exkurs in die Tiefen der Weltanschauungsfragen! Doch auch in Einzelheiten ließen sich Aus- 654 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 41 Stellungen machen : Unter den wichtigeren F"altungs- perioden ist die silurische nicht genannt. Die deutschen Mittelgebirge als Reststücke des karbo- nischen Faltenmassivs hinzustellen, das doch zeit- weilig bereits völlig aus dem Oberflächenbilde verschwunden war, muß zu irrigen Vorstellungen Anlaß geben, falls solche nicht gar der Ausgangs- punkt sind. Die kristallinen Schiefer kann man wohl kaum mit Recht heute noch als „Gestein von zweifelhafter Entstehung" hinstellen. Was über ihren absoluten Versteinerungsmangel gesagt wird, ist mindestens in der gewählten Fassung unzutreffend. Ebensowenig ist der bei ihrer Entstehung wirksame Druck allgemein als Gebirgs- druck oder die schiefrige Struktur als das zu be- zeichnen, was ihre Beziehung zu den Sediment- gesteinen ausmacht. Die Darstellung von den reliefgebenden endogenen und nur nivellierenden exogenen Kräften ist zwar beliebt, aber nichts- destoweniger unzulässig. Das Miozän darf nicht mehr als Hauptentstehungszeit der Alpen gelten. Die diluviale Eiszeit kann unmöglich in einer Höherlage von Nord-Europa und -Amerika um mehrere hundert Meter eine befriedigende Er- klärung finden. Den Löß als Interglazialbildung hinzustellen ist mindestens einseitig. Das Repetitorium kann somit kaum den An- sprüchen genügen, die an ein solches zu stellen wären, will man überhaupt die Notwendigkeit eines solchen anerkennen. Nicht ohne weiteres verständlich ist übrigens die Übertragung des in anderen Zweigen bei systematischer Darstellung üblichen Ausdrucks „speziell" auf die Stratigraphie. Spezielle Geologie wäre doch eher etwa die re- gionale zu nennen. Hennig. Sachs, Arthur, Repetitorium der Gesteins- kunde und Lagerstättenlehre (Salze, Kohlen, Erze). 52 S. Geh. 3,75 M. Leipzig- Wien 1920, Deuticke. Die grundsätzlichen Bedenken sind die gleichen wie im vorgenannten Falle. Der ausgesprochene Zweck ist „Heraushebung der Grundzüge und deren Einprägung ins Gedächtnis des Lesers". Der knappe Raum verhindert nicht Wiederholungen (kristalline Schiefer S. 3, 12, 30). Das Urteil, daß alle bisherigen Versuchje, das absolute Alter der Erdschichten zu bestimmen, der wissenschaft- lichen Grundlage entbehrten, dürfte entschieden zu weit gegangen sein. Der Stoff aber eignet sich zu der Behandlung etwas besser, da es sich größtenteils um Aufzählungen von Namen, chemi- schen Formeln, Vorkommnissen usw. handelt. Hennig. Braun, Dr. Karl, Die Fette und Öle. 2. neu- bearbeitete Aufl. (Sammig. Göschen Nr. 335.) Berlin und Leipzig 1920, X'ereinigg. Wissenschaft!. Verleger. 1,60 M. -}- 50 "/o- Die 2. Auflage ist um einige Kapitel gekürzt worden dadurch, daß die „Erklärung einiger che- mischer Begriffe", sowie „Die Fabrikation der Fettsäuren" und „Glycerin" weggelassen wurden. Setzt somit das Werk nunmehr chemische und physikalische Vorkenntnisse voraus, so ist ander- seits Raum gewonnen worden für eine eingehendere Behandlung des eigentlichen Themas. Nach einer Übersicht über Entstehung und wichtigste Eigen- schaften der Fette und Öle, die in einer Tabelle sehr instruktiv zusammengestellt sind, gibt Verf eine ausführlichere Darstellung sämtlicher für die Praxis wichtiger physikalischer und chemischer Untersuchungsmethoden, die in der Tat eine brauchbare Anleitung für den Analytiker darstellt. Eine Zusammenstellung der natürlich vorkommen- den Fette und Öle bildet den Beschluß, dem eine wertvolle Tabelle der analytisch wichtigen „Kenn- zahlen" angefügt ist. Die sachlich im wesentlichen einwandfreie Arbeit, die den selbständigen Fachmann ohne weiteres verrät, ist durchaus zu empfehlen. Leider hält auch sie sich nicht frei von mancherlei störenden Willkürlichkeiten der Nomenklatur. Ist doch S. 22 tatsächlich vom „Status naszendi" die Rede, anderseits aber wird herkömmlich „Goudron" geschrieben! Es ist schlechterdings nicht ein- zusehen, weshalb nicht auch „Klor" statt „Chlor" gedruckt wird. Neben einer Reihe von Druckfehlern habe ich mir notiert : In das Literaturverzeichnis ist die „Deutsche Parfümerie-Zeitung" aufzu- nehmen. — Ich empfehle ferner eine gedrängte historische Übersicht: neben vielen Autoren niederen Ranges ist der Name Chevreuls in dem ganzen Buch nicht erwähnt. — S. 41 wird das Glycerin als in „allen" Fetten und Ölen vor- kommend genannt. Das bedarf natürlich der Ein- schränkung. — Von einem „gelben und blauen Chlorophyll" zu reden (S. 109) ist heut nicht mehr angängig. — Schließlich ist insbesondere das Namenregister der Vervollständigung beträcht- lich bedürftig. Der Druck dieses wie aller neueren Bändchen der Sammlung ist einwandfrei, auch das Papier ist recht erträglich ; lediglich der Einband läßt an Haltbarkeit zu wünschen übrig. H. II. Ott, Dr. Erwin, Neuere Untersuchungen über Laktone (1907 — 1915). Stuttgart 1920. Ferdinand Enke. 2,50 M. Diese flott geschriebene Zusammenfassung eigener und fremder Arbeitsergebnisse über das im Titel bezeichnete Gebiet der organischen Chemie wendet sich ausschließlich an die engere Fachwelt. Für diese aber ist sie von hohem Belang durch den im Verlauf der Untersuchungen gewonnenen Nachweis der symmetrischen Struktur des Succinyl- und Phtalylchlorids, denen beiden auf Grund irre- führender Umsetzungen Laktonformeln zugeschrie- ben zu werden pflegen. Dagegen kommen die Maleinsäurechloride nur in der asymmetrischen Form vor, stehen also in bemerkenswertem Ge- gensatz zu jenen. Dem Chemiker, soweit ihm das behandelte Gebiet belangvoll erscheint, ist N. F. XIX. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 6SS das Heft zu empfehlen, nicht zuletzt der reichen Literalurangaben halber. Die Druckausstattung ist erstaunlich gut. H. H. Leitfaden und Repetitorium der qualitativen Analyse. 3., neubearbeitete Auflage. Leipzig 1920, Johann Ambrosius Barth. 4.20M, geb.S,4oM. Als Nr. 36 der bekannten Breite nsteins Repetitorien erscheint dieser Leitfaden dies- mal in völlig veränderter Gestalt. Ich stehe nicht an, ihm vor allen anderen derartigen Hilfsbüchern unumschränkt die Palme zuzusprechen. Hat er sich mir selbst doch in ausgebreiteter Unterrichts- erfahrung als die beste Zusammenfassung der Tatsachen und theoretischen Unterlagen erwiesen, die zu erfolgreichem Studium der qualitativen Analyse unerläßlich sind. Insbesondere für Studie- rende der Medizin, der Naturwissenschaften usw. gibt es kaum ein zweites Buch, das auf so be- schränktem Raum eine derart ausführliche und dabei doch stets nur das Wesentliche berück- sichtigende Darstellung des Analysengangs und seiner theoretischen Grundlagen bietet. Der Verf., der die neuesten Anschauungen zur Grundlage nimmt, sich im Praktischen im übrigen an Medicus hält, hat in diesem Repetitorium ein kleines Meister- werk chemischer Pädagogik gegeben. Alles ist natürlich auch ihm nicht restlos gelungen. Vor allem bezweifle ich, daß die „Ableitung der For- meln der Säuren", sowie die „Aufstellung von Reaktionsgleichungen" ohne weiteres Verständnis finden werden. Vorzüglich klar und überzeugend ist die Darstellung der Theorie der Lösungen und der sich daraus für die Analyse ergebenden Folge- rungen. Der Analysengang selbst enthält nicht die Vorproben von Bunsen, m. E. eine durchaus gerechtfertigte Vereinfachung: macht doch selbst der Chemiker selten von ihnen Gebrauch. Die Säureprüfung lehnt sich an Böttger an. Kurz, das Büchlein ist, nicht zuletzt auch stilistisch, eine vorzügliche Leistung und kann insbesondere Labora- torien an höheren Schulen und Universitäten an- gelegentlich empfohlen werden. H. H. Friedrichs, Dr. Karl, Studien über Nashorn- käfer als Schäd linge der Kokospalme. Monographien zur angewandten Entomologie. Berlin 191 9, Paul Parey. Die sehr vielseitige und interessante Schrift ist ein Bericht Friedrichs an das Reichs- kolonialamt über eine 191 3/14 im Auftrage aus- geführte Studienreise. Rein entomologischen Kapiteln schließen sich ausführliche pflanzenpatho- logische Beobachtungen über einige Oryctes- Arten an. Was der Verf. an biologischen Tat- sachen mitteilt, verdient die Aufmerksamkeit aller Insektenforscher. Die Ausgezeichneten Abbildungen erhöhen das Verständnis des Textes wesentlich. Bei den Ergebnissen über die Untersuchungen der natürlichen Feinde der schädlichen Nashorn- käfer interessiert besonders das Wirken des In- sektenpilzes Metarrhizium anisopliae. Verf. hat Impfversuche, d. h. Infektionsversuche, sowohl an fertigen Käfern als auch an Larven gemacht, die die Möglichkeit intensiver Bekämpfung nahe- legten. Friedrichs kann mitteilen, daß eine Pflanzungsgesellschaft in Apia „in ihren Pflanzungen das System der mit dem Pilz infizierten Fang- haufen von 191 3 ab dauernd und noch jetzt in Gebrauch" hat und mit den Ergebnissen durch- aus zufrieden ist. Erwartungsvoll darf man der angekündigten Arbeit des Verf. entgegensehen, die die Frage behandeln soll, ob der Pilz zur Be- kämpfung anderer, auch europäischer, Schad- insekten verwendbar ist. Die Schrift muß allen Entomologen warm empfohlen werden. Dr. Hanns von Lengerken, Berlin. Nordhausen, M., Morphologie und Organo- graphie der Pflanzen. Sammlung Göschen Nr. 141, 2. Aufl., Berlin u. Leipzig 1920, Preis 2,40 M. Beide im Titel dieses Bändchens bezeichneten P"orschungsrichtungen beschäftigten sich mit der äußeren Form und Gliederung der Pflanzen. Die Morphologie bedient sich der vergleichenden Methode und beschränkt sich auf die Beschreibung der fertigen oder in Entwicklung begriffenen Pflanzenteile ohne Rücksicht auf ihre Funktion; demgegenüber sucht die Organographie die Ur- sachen der Pflanzengestaltung gerade im Zusam- menhang mit der Funktion der Organe und ihrer Anpassung an die Umgebung zu ergründen, wo- bei sie auch experimentelle Methoden anwendet. Die geschichtliche Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß die ältere der beiden Forschungs- richtungen, die reine Morphologie, immer mehr von der experimentellen Morphologie in den Hintergrund gedrängt ist bzw. deren Fragestel- lungen und Methoden in sich aufgenommen hat, so daß heute eine scharfe Trennung nicht mehr durchführbar ist. Der Verf. bespricht in den ersten drei Kapiteln (höhere und niedere Pflanzenformen, Bildung und Anordnung der pflanzlichen Organe, die speziellen Gestaltungs- und Entwicklungsverhältnisse der Organe höherer Pflanzen) vorzugsweise Fragen der Morphologie im engeren Sinne, während in den bei- den letzten Abschnitten (Änderungen in der Gestalt und Entwicklung der Pflanze und ihrer Organe, die bestimmenden Ursachen der Pflanzen gestalt) die Gesichtspunkte der neueren experimentellen Mor- phologie in den Vordergrund treten. Es werden hier sowohl die vegetative Entwicklung der ver- schiedenen Organe als auch die Fortpflanzungs- verhältnisse und im Anschluß daran die Bildungs- abweichungen behandelt und zuletzt die äußeren und inneren Ursachen der Pflanzengestaltung er- örtert. Die Darstellung ist ansprechend; eine größere Anzahl von instruktiven Abbildungen er- leichtern das Verständnis. 656 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 41 Das Bändchen, das bereits in zweiter Auflage vorliegt, ist zur Einführung in das immerhin etwas spröde Gebiet der Morphologie, trefflich geeignet. Esmarch. Krische, P., Agrikulturchemie. (Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 314.) 2. Aufl. Leipzig- Berlin 1920, Verlag von B. G. Teubner. Preis kart. 1,60 M. (zuzüglich Teuerungszuschlag). Bei der gegenwärtig dringendsten Aufgabe der deutschen Landwirtschaft, dem heimischen Boden weit höhere Erträge als bisher abzuge- winnen, kommt der Agrikulturchemie eine ganz besondere Bedeutung zu. Beschäftigt sie sich doch damit, die chemischen Lebensbedingungen unserer landwirtschaftlichen Nutzpflanzen und Haustiere zu erforschen und dadurch Fingerzeige für eine möglichst nutzbringende Gestaltung des landwirt- schaftlichen Betriebes zu gewinnen. Sie bean- sprucht daher über den engeren Kreis der land- wirtschaftlichen Fachleute hinaus ein allgemeines Interesse. Im vorliegenden Bändchen der bekannten Sammlung „Natur und Geisteswelt" gibt Krische eine gemeinverständliche Einführung in das Gebiet der Agrikulturchemie. Nach einem kurzen Über- blick über deren geschichtliche Entwicklung wird zunächst die theoretische, dann die praktische Agrikulturchemie behandelt. Wir werden mit den Grundzügen der Bodenkunde bekannt und erfahren, daß die chemische, physikalische und biologische Beschaffenheit des Bodens bei der Düngung und der Wahl der anzubauenden Früchte eine hervor- ragende Rolle spielt. Wir lernen die unentbehr- lichen Nährstoffe der Pflanzen und ihre Bedeutung für den Ablauf der Stoffwechselvorgänge, sowie die bei Mangel an einzelnen Nährstoffen auftre- tenden Erscheinungen kennen, und ebenso die tierischen Nahrungsstoffe und ihre Verwertung. In dem Abschnitt über praktische Agrikultur- chemie werden die zur Bodenverbesserung dien- lichen Maßnahmen der Bodenbearbeitung und der Düngung erörtert, insbesondere die verschiedenen Düngemittel auf Grund ihres durch Versuche fest- gestellten Wertes miteinander verglichen und ihre Anwendung bei der praktischen Düngung der einzelnen Kulturpflanzen ausführlich besprochen. Eine Reihe von Abbildungen, die die Erfolge zweckmäßiger Düngung veranschaulichen, erläutern das Gesagte in instruktiver Weise. Es folgt eine etwas kürzer gehaltene Fütterungslehre und ein Hinweis auf die agrikulturchemischen Probleme der Gegenwart. Das Büchlein erfüllt seinen Zweck, weitere Kreise mit den vielseitigen und bedeutungsvollen Aufgaben der Agrikulturchemie bekannt zu machen, in vorbildlicher Weise und kann allen Lesern aufs wärmste empfohlen werden. Esmarch. Literatur. Kolbe, L., Flüssige Luft. Sauerstoff, Stickstoff, Wasser- stoff. Deutsche Übersetzung und Erweiterung des Buches ,,Air liquide, oxygene, azote" von G. Claude, Paris. Mit 207 Abb., 17 Tabellen und 6 Tafeln. Leipzig '20, J. A. Barth. 42 M. France, K. H., München. Die Lebensgesetze einer Stadt. München '20, H. Bruckmann. 16 M. Kayser, Prof. Dr. E., Abrifl der allgemeinen und strati- graphischen Geologie. 2. verm. Aufl. Mit 212 Textfig., 54 Versteinerungstafeln und einer geologischen Übersichtskarte von Mitteleuropa. Stuttgart '20, F. Enke. 42 M. Schumann, Dr. H., Lehrbuch der Physik für die oberen Klassen der Oberrealschule. Teil I, II, lU. München und Berlin '20, R. Oldenbourg. 15,80 M. W i 1 h e 1 m i , Prof. Dr. J., Die Kriebelmückenplage. Über- sicht über die Simuliidenkunde, besonders in praktischer Hin- sicht. Mit 23 Textabb. Jena '20, G. Fischer. 13 M. Sachs, Prof. Dr. A., Repetitorium der Gesteinskunde und Lagerstältenlehre (Salze, Kohlen, Erze). Mit 5 Abbil- dungen. Leipzig und Wien '20, F. Deuticke. Sachs, Prof. Dr. A., Repetitorium der allgemeinen und speziellen Geologie. Ebenda. 3,75. Arndt, Prof. Dr. K., Die Bedeutung der Kolloide für die Technik. Allgemeinverständlich dargestellt. 3. verb. Aufl. Dresden und Leipzig '20, Th. Steinkopf. 3 M. Perrin, J., Die Atome. Deutsch von Prof. Dr. A. LoUer- moser. 2. Aufl. Mit 13 Texifig. Ebenda. 9 M. Grasers Naturwissenschaftl. und Landwirtschaft!. Tafeln. L. Hinterthür, Tafel der Reptilien und Amphibien. Anna- berg i. Erzgeb., Graser. 4,50 M. Meyer, H., Fünfzig Jahre bei Siemens. Berlin '20, S. Mittler. 12 M. Horst, M., Die „natürlichen Grundstämme" der Mensch- heit. 2. erweiterte Aufl. Mit 6 Bildtafeln. Berlin '18/19, O. Matthe. Löwen hardt, Prof. Dr. E-, Die Didaktik und Methodik des Chemie- Unterrichts. München '20, C. H. Beck. 7 M. Ul brich, Dr. E., Pflanzenkunde. I. Band. Geschichte des Pflanzensyslems. Die niederen Pflanzen. Mit 7 Tafeln und 55 Textabbildungen. Leipzig, Ph. Reclam. 7 M. Mi ehe, Prof. Dr. H., Taschenbuch der Botanik. Z.Teil: Systematik. Mit 114 Abbildungen. Leipzig '20, Dr. W. Klinkhardt. 9 M. Inhalt: Heinr. Marzell, Über Alter und Herkunft deutscher Pflanzennamen. S. 641. P. O. van der Wölk, Die Ex- kretion bei den Pflanzen. S. 645. — Bücherbesprechungen: F. Fuchs, Grundriß der Funken-Telegraphie in gemein- verständlicher Darstellung. S. 651. G. Steiner, Untersuchungsverfahren und Hilfsmittel zur Erforscliung der Lebe- welt der Gewässer. S. 1151. H. Wichelhaus, Vorlesungen über chemische Technologie. S. 652. H. Wedding, Das Eisenhültenwesen. S. 652. H. Lu d e n d o r f f , Astrophysik. S. 652. E. Mach, Die Leitgedanken meiner naturwissen- schaftlichen Erkenntnislehre und ihre Aufnahme durch die Zeitgenossen. Sinnliche Elemente und naturwissenschaft- liche Begriffe. S. 652. E. Dacque, Geologie (1. Allgemeine Geologie). S. 653. E. Kayser, Abrifl der allgemeinen und stratigraphischen Geologie. S. 653. A. Sachs, Repetitorium der allgemeinen und speziellen Geologie. S. Ü53. A. Sachs, Repetitorium der Gesteinskunde und Lagerstättenlehre (Salze, Kohlen, Erze). S. 654. K. Braun, Die FeUe und (He. S. 654. E. Ott, Neuere Untersuchungen über Laktone. S. 654. Leitfaden und Repetitorium der qualitativen Analyse. S. 655. K. Friedrichs, Studien über Nashornkäfer als Schädlinge der Kokospalme. S. O55. M. Nord hausen, Morphologie und Organographie der Pflanzen. S. 655. P. Kriesche, Agrikulturchcmie. S. 656. — Literatur: Liste. S. (J5Ö. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pälz'ichen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H,, Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; ganzen Reihe 35. Ba Sonntag, den 17. Oktober 1920. Nummer 43. Über die Zulässigkeitsgrenzen biologischer Analogien. [Nachdruck verholen.] Von Prof. H. Dexler (Deutsche Universität Prag). Wenn wir uns in der heutigen Tierpsychologie nach einer einheithchen Wesensauffassung dieses Gegenstandes umsehen, so darf man soweit ver- allgemeinernd, als dies ein so ungemein strittiges Theorem überhaupt zuläßt, sagen, daß eine ge- wisse Fixierung in den bisherigen, höchst viel- seitigen Meinungsstreit nicht zu verkennen bleibt: Es hat sich die physiologische Auffassung des Tierlebens als die am besten fundierte und am weite- sten anerkannte herausgestellt; es ist das immer- hin ein erfreuliches Ergebnis, zu dem wir auf dem recht leidensvollen Wege über eine anthropodoxe, mechanistische, vitalistische und psychistische Ge- bahrenslehre gelangt sind, als deren Hauptvertreter die Biologen Darwin, Loeb, Driesch, v. Uexküll und K. C. Seh neide r in Erinne- rung gebracht werden sollen. IVIan ist sich darüber klar geworden, daß sich das Leben der Tiere und in einem gewissen Ausmaße auch jenes des Neben- menschen als Naturobjekt betrachtet, auf Grund der physiologischen Analyse beschreiben und auch erkennen läßt. Nur quantitative Unterschiede er- geben sich dabei als regulierende Einschränkungen aus der Erfahrung, daß das menschliche Gebahren auf diesem Wege nur in einem beschränkten Umfange auf jene ordnungshafte Bestimmtheit zurückgeführt werden kann , die man objektiv nennt, und daß auch im Verhalten der Großhirn- tiere ein merklicher Rest physikalisch chemisch nicht lösbarer Erscheinungen uns zur Anerkennung eines phänomenologischen Dualismus drängt; daher sind in gewissen Fällen, die vom mensch- lichen Verhalten ausgehenden Vergleichsbetrach- tungen oder Analogien nicht nur nicht zu ver- meiden, sondern sogar imerläßlich, wenn wir ver- suchen, das Tun und Lassen der Großhirntiere unserem Verständnisse in möglichst weitem Um- fange nahe zu bringen. Die Notwendigkeit, an der mit einem so üblen Andenken behafteten analogisierenden Methode, wenn auch in weit reduziertem Maße, heute noch festzuhalten, ergibt sich teils aus der Verlegen- heit, die uns dieses Aushilfsmittel angesichts unserer Unkenntnis aufzwingt; zum Teile trägt auch das Unvermögen hierzu bei, über innere Zustände des stummen oder des fremdsprachigen Nebenmenschen, des sprachverfälschten Irren und im übertragenen Sinne auch der uns näher verwandten Tiere, auf einem anderen Wege zu einem Urteile zu ge- langen oder eine Aussage zu machen. Die Physio- logie ist bisher nicht in der Lage gewesen, alle Lebenserscheinungen der Tiere auf eine rationale Basis zu bringen und zögert nicht einzubekennen, daß ein namhafter Restbestand solcher Vorgänge noch der künftigen Forschung vorbehalten bleiben muß. Hier darf also die analogisierende Methode als ein vorläufiger Notbehelf bei der Betrachtung physikalisch chemisch noch nicht aufgeklärter Bio- phänomene nicht ganz ausgeschlossen werden. Überdies sieht sich auch die mechanistische Richtung der Erforschung der Lebensvorgänge, trotz schärfster Abwehr einer subjektiven Ana- lyse gezwungen, gewisse Zugeständnisse nach dieser Richtung hin zu machen. Vorerst, daß auch die sog. psychischen Leistungen als Bedingt- heiten körperlicher Prozesse ein Naturgeschehen darstellen und daher von einer naturwissenschaft- lichen Erörterung nicht ausgeschlossen werden können. Es muß doch ausnahmslos jede Be- ziehung, die zum Organismus auffindbar ist, eine Grundlage für eine wissenschaftliche Beschreibung abgeben können. Weiter wird zugegeben, daß den seelischen Leistungen des Menschen analoge Funktionen in einem beschränkten Umfange auch bei den Großhirntieren vorauszusetzen sind. Wil- helm Roux bezeichnet mit vielen anderen modernen Physiologen diese Leistungen als be- sondere Eigenschaften der höheren und höchsten Lebewesen und sieht von ihrer Analyse bei der Wesenserklärung des Lebens deshalb ab, weil sie nicht zu jenen Merkmalen gehören, die allen Organismen gemeinsam sind. Hier muß die analogisierende Methodik als Ergänzung Platz greifen, wenn wir, wie gesagt, nicht auf das ganze Gebiet des seelischen Ge- schehens Verzicht leisten wollen. Nicht nur ein Zwang besteht — wie beispielsweise die klassischen Untersuchungen von Köhler über die Anthro- poiden der zoologischen Station Teneriffa zeigen — sondern ein Recht erwächst uns daraus, daferne wir nicht verkennen, daß die biologische Analogie nur beschreiben und nicht in die falsche Position eintreten kann, Erklärungen geben zu wollen. Daß auch diese Einschränkung noch von den weiteren gefolgt ist, die analogisierende Gebahrens- betrachtung wegen ihrer zahlreichen inneren Schwächen und Irrtumsquellen nur hinsichtlich der einfachsten psychischen Elemente, in möglichst beschränktem Umfange und stets unter Führung einer diskreten Sparsamkeit zu gebrauchen, darf heute als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Die einschlägigen Arbeiten von Dahl, Potonie, V. F'ranz, Taschenberg, Angersbach, Doflein, Hesse, zur Strassen und vielen anderen Biologen und Physiologen haben in diesem 658 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 42 Sinne durchgreifend gewirkt. Als warnende Ab- schrectcung gegen zu laxe Vergleichsbetrachtungen steht die vulgäre Tierpsychologie mit ihren un- sinnigen Ergebnissen vor uns, auch die niedersten Tiere mit seelischen Eigenschaften so reichlich belegt zu haben, daß schließlich, vom Körper abgesehen, beinahe jeder Unterschied zwischen den Protisten und dem Menschen verschwand. Wenn wir hierdurch gelernt haben, in der modernen Gebahrenslehre der Tiere mit Ver- gleichsbegrififen wesentlich kritischer umzugehen, wie dies ehedem der Fall war, so darf damit nicht die Hoffnung verknüpft werden, gelegentliche Ver- stöße gegen die notwendige Ökonomie im Ge- brauche dieser Methodik ganz ausgeschaltet zu haben. Von den auch heute noch gangbaren phantastischen Analogien der vulgären Tier- psychologie (Meer wart und Soffeis Tier- leben als Beispiel genommen) soll nicht die Rede sein; Sie sind so unausrottbar wie die Tierver- herrlichung und haben mit wissenschaftlichen Hemmungen nichts zu tun. Wohl aber haben wir gegen die allzufreie Handhabung lässiger Ver- gleichsbegrifTe auf dem Gebiete einer sachlich sein wollenden Biologie unsere Einwendungen zu machen, gegen jene Übertretungen einer gebotenen Vorsicht, deren sich auch korrekt denkende Natur- forscher modernster Richtung nicht selten dadurch schuldig machen, daß sie vielen Erscheinungen des Tierlebens Deutungen geben, die einer näheren Prüfung nicht standhalten können. Fast alle der- artig zu bemängelnden Interpretationen lassen sich zurückführen auf eine nicht genügend ge- würdigte Kenntnis des phänomenologischen Tat- sachenmateriales in Verbindung mit einem über- großen Vertrauen auf biologische Gesetzlichkeiten, die oft kaum den Wert von Regeln haben, und mit der Verwendung von vieldeutigen Begriffen, die sich durch ihre konventionelle Duldung das Ansehen wissenschaftlicher Brauchbarkeit er- schlichen haben. In vielen Fällen wird auf solche gelegentliche Vorkommnisse kein alizugroßes Gewicht zu legen sein; es sind das Irrungen wie viele andere, die für sich allein möglicherweise ganz bedeutungslos bleiben können. Wir müssen aber von einem so tolerierenden Standpunkte dann rechtzeiiig ab- rücken, wenn derartige suspekte Schlüsse aus ihrer Isoliertheit hervorgeholt und als Vergleichselemente allgemeiner biologischer Folgerungen verwendet oder mit volkswirtschaftlichen, sozialpolitischen, moralischen, ästhetischen und auch ethischen, also rein innermenschlichen Angelegenheiten verquickt werden. Bei einem solchen Vorgange können Verzerrungen und Entstellungen von Theoremen erzeugt werden, deren Dignität eine Forderung nach größerer Sachlichkeit wohl berechtigt er- scheinen läßt. Der Anstoß zu der hier ventilierten aufmerk- sameren Überprüfung unzulässiger Begriffsdeh- nungen biologischer Analogien geben uns einige Lebenserscheinungen aus dem Tierreich , die Nicolai in seinem Buche über die Biologie des Krieges zur Vergleichsbetrachtung heranzieht. Sie bieten uns ein willkommenes Beispiel dar, die be- schränkte Tragfähigkeit biologischer Analogien aufzuzeigen, die, oft schon längst bekannt, gelegent- lich als Grundlage von Tagesfragen allgemeineren Interesses, wieder aufgegriffen werden. Im vor- liegenden Zusammenhange spielen die tierischen Kriegsinstinkte eine Rolle, die auch beim Menschen als vorhanden angenommen werden, neben noch anderen instinktiven Tätigkeiten, von denen das Artverhalten der Raubtiere bei der Exkrementation mehrmals Erwähnung findet. Mit der analytischen Betrachtung dieses Vor- ganges hat sich seinerzeit zur Strassen beider Behandlung des Problems der rudimentären In- stinkte eingehender befaßt. „Viele Raubtiere", schreibt dieser Autor in seiner Neuesten Tierpsychologie, „bedecken ihren Kot mit Sand und da die Nützlichkeit dieser Hand- lungen einleuchtet — bewirkt sie doch, daß die Gegenwart des Räubers minder ruchhiar wird — , so glauben wohl viele zunächst, das Raubtier ver- fahre hierbei mit Überlegung. Nun produzieren aber die Haushunde von dieser Verrichtung ein komisches Rudiment. Erst gehen sie 10 Schritte weiter, dann machen sie nach einer Seite, wo das corpus delicti gar nicht liegt, ein paar unge- schickte Kratzbewegungen mit den Hinterbeinen und alles vielleicht auf hartem Trottoir. Natürlich kann diese zwecklose Bemühung nur die P"olge innerer, nach dem Kotlassen eintretender Reiz- zustände sein. Damit aber die ursächlichen Grundlagen eines solchen Prozesses in rudimen- tärer Form überliefert werden konnten, wird unbedingt vorausgesetzt, daß auch die voll- kommene, gut gezielte und zweckmäßige Original- verrichtung der wilden Ahnen nicht das Ergebnis freier Entschließung und Überlegung, sondern die automatische Folge instinktiver Veranlagung war" .... „Sie blieb in reduzierter Form unvoll- kommenerweise fortbestehen, nachdem sie durch die stammesgeschichtliche Veränderung der früheren Verhältnisse überflüssig und zwecklos geworden ist." Hieraus zieht Autor die Ableitung, daß eine tierische instinktive Verrichtung ebenso rudimentär werden kann, „wie ein Organ". Diese, auch von Nicolai übernommene Aus- sage bemengt sich also mit einem vorzeitlichen, nicht gesehenen, sondern nur erschlossenen In- stinkt der Raubtiere, dessen damalige Nützlichkeit in seiner gut gezielten Zweckmäßigkeit einleuchtet, dessen Notwendigkeit aber beim Hunde durch die Veränderungen der früheren Verhältnisse — Domestikation — gefallen ist, so daß nur mehr ein für die Lebens- und Arterhaltung zweckloses Residuum zu finden ist. Wie in vielen Fällen der Erhebung der so leidigen Zweckmäßigkeit in der Biologie, enthält auch diese im Zwange deszendenztheoretischer Erwägungen geformte Schlußkette einen beherzten Vorstoß hinsichtlich des Werdens und Vergehens N. F. XIX. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 659 der Instinkte und setzt sich aus mehreren gewalt- samen Eingriffen in die Tatsächlichkeiten des biologischen Verhaltens der Tiere zusammen, die sich dafür durch einen völlig haltlosen Gesamt- schluß rächen. Wie sieht das sog. „Pfotenwischen" der Hunde, das als Rest eines ehemaligen Einscharrungs- synergismus gedeutet wird, und wie das instinktive Graben und Scharren rezenter Säuger aus? Alle grabenden und scharrenden Mammalier bedienen sich dabei zunächst der Vorderbeine, wie dies auch Hunde tun, wenn sie beispielsweise nach Mäusen stöbern, und wie es nur zu Grab- organen umgewandelte Vorderbeine, nicht aber solche Hinterbeine gibt. Nur wenige benützen, aber bloß sekundär, auch die Hinterbeine alter- nierend zum Wegschaffen gelockerter Erdmassen, die sich hinter dem Tiere aufhäufen. Mäuse, Maul- würfe, Bisamratten und wilde Kaninchen sowie auch Hamster wenden sich zu diesem Zwecke gelegentlich um und schieben die .Abfälle mit der Brust vor sich her. Hunde scharren aber nicht bloß aus, sie graben Objekte auch ein. So tragen viele im Freien ge- haltene Hunde nach ausreichender Sättigung übrig gebliebene Nahrungsreste, namentlich Knochen, an eine Mauer, Planke oder sonstige Boden- erhebung und kratzen, mit den Vorderpfoten einzeln abwechselnd, etwas Sand oder Erdreich weg, schieben den Brocken mit der Nase in die erzeugte kleine Höhle und legen dann die wegge- scharrten Massen dadurch wieder vor, daß sie diese mit den Seitenflächen der Schnautzenspitze und dem Unterkieferkinn unter nickenden Kopfbe- wegungen so lange schieben, drücken und stoßen, bis der Gegenstand notdürftig bedeckt ist. Sie üben dieses „Nahrungsverstecken" auch aus, wenn sie täglich bis zum Platzen gefüttert werden, durch Jahre hindurch und ohne Nachlaß, auch wenn ihnen die Hofhühner die Fleischreste und Fett- bemmen gelegentlich immer wieder ausscharren und wegfressen. Diese Synergismen automatischer Einförmigkeit beanspruchen also immer das Vordertier, und es wäre wohl vorauszusetzen, daß bei einer eventuellen Rückbildung dieses Bewegungskomplexes die am meisten beanspruchten Organe namentlich dann ein Tätigkeitsrudiment am längsten ausüben, wenn der Grab- und Scharrinstinkt so gut erhalten ist wie beim Hunde. Das trifft beim sog. Pfoten- wischen jedenfalls nicht zu: Vielmehr beugen dabei die Hunde zuerst die Nachhand, fahren einigemale mit den Hinterbeinen kräftig auf dem Boden aus, worauf erst die Wischbewegung der Vorderpfoten folgt — zuweilen allerdings im mannigfachen Durcheinander. Die Aktion der Vorderbeine kann ganz ausbleiben ; auch gibt es Individuen, die bei Abstreifen eines Vorderfußes mit dem diagonalen Hinterfuße in die Luft stoßen. Diese Bewegung wird sowohl auf dem Asphalt wie auf dem Parkrasen der Stadt und den unge- pflasterten Wegen des Landaufenthaltes, in den ungarischen Pusten ebenso wie in der russischen Steppe von fast allen Hunden verzärtelter wie rauher Haltung im geschlechtsreifen Alter, oft nach jedem Harnen und nach jeder Defäkation, seltener auch ohne zeitlichen Zusammenhang mit einer solchen ganz oder partiell ausgeführt und noch öfters völlig unterlassen. Die Form dieser Instinktsbewegungen unterstützt also die Ver- mutung nach einem defektiven Verscharrungs- vorgang kaum. Aber auch die Betrachtung der Verwandtschaft des Hundes ergibt hierfür keine Wahrscheinlichkeiten. Mögen sich manche Haushunde wegen ihrer Beeinflussung durch die Domestikation und wegen der Plastizität ihres instinktiven Gebahrens auch davon vielfach abweichend verhalten, so ist nicht zu vernachlässigen, daß ähnlich wie die Marder und Wiesel auch verwilderte Hunde, Schakale, Füchse und Wölfe ihre Losung niemals einscharren, trotzdem gegenteilige Behauptungen vielfach zu lesen sind. Wohl tun dies aber sehr sorgfältig und umständlich Dachse und Katzen , letztere auch trotz der Domestikation. Fehlt dieser Re- flex also bei den Gattungsgenossen, so ist er wohl auch bei den Vorfahren des Hundes nicht zu vermuten, und wir können sonach auch auf genetischem Wege nichts Zustimmendes über ihn gewinnen. Wir verfügen also weder über eine Erfahrung noch über eine Erschließung, daß er dort vorhanden gewesen wäre. Unter solchen Umständen ist es müßig nach einem Rudimentär- werden und nach einem teleologischen Wert auszuschauen, dessen „einleuchtende" Nützlichkeit darin bestehen sollte, daß die Gegenwart des Räubers „weniger ruchbar" werden soll. Für wen fragen wir, um auch auf die inhalt- liche Analyse dieses sonderbaren Phänomens zu kommen. Offenbar könnten von einem solchen Effekte nur die Beutetiere des Hundes oder seine Feinde betroffen werden, um bei dem, unter der Idee des Kampfes ums Dasein manöverierenden Vorstellungskomplex zu bleiben. Die gewöhn- lichen Beutetiere — kleinere und mittlere Pflanzen- fresser unter den Säugern — fallen ganz aus, weil sie als makrosmatische Typen ungemein scharf wittern. Für diese Geschöpfe können also so substantielle, noch dazu durch das Sekret der Anal- drüsen pointierte Geruchsspuren unmöglich durch eine Sanddecke gemindert werden, abgesehen von den, einem Spurenverwischen ganz zuwider- laufenden Instinkte des Hundes, seinen Harn auf eine ganz unbegreifliche Weise zu verzetteln. Dazu kommt weiter, daß es einem Hunde in der freien Natur kaum gelingen wird, durch eine spezialisierte Losungsbehandlung weniger ruchbar zu werden, weil er wie die Füchse und Schakale zu den ,, stinkenden" Tieren gehört, eine osmatisch sehr markante Fährte hat und überdies seinen Nahrungserwerb gewöhnlich nicht an einem um- schriebenen Platze, sondern wie viele fleisch- fressenden Vierfüßler in so weitem Wandern und Umherschweifen ausübt, daß der Dunstkreis seiner 66o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 42 Losungsstelle dagegen als gänzlich bedeutungslos verschwindet. Ein einziger wildernder Haushund kann einen ansehnlichen Rehbestand aus seinem Gehege vertreiben und ein durch ein Hasenrevier wechselnder Bauernköter vermag die kommende Treibjagd auf das empfindlichste zu stören , weil das Wild durch seine Fährte wie durch sein Hetzen, nicht aber durch seine Losung im weiten Umkreise beunruhigt und vertrieben wird. Boden- brütende Vögel kommen hier noch weniger in Betracht, obwohl sie als mikrosmatlsche Tiere schlecht oder gar nicht wittern; ihre Sicherung liegt in dem scharfen Bewegungssehen und in der Flugfähigkeit. An den, einem revierendem Hunde als Verfolger zur Nahrung dienenden Tieren der freien Wildbahn kann also der Zweck seines eventuellen Kotverscharrens nicht zum Ausdrucke gelangen. Ähnlich also wie die Form des Pfoten- wlschens und das Gebahren der nächsten Ver- wandten des Hundes, so spricht auch sein instink- tives Gesamtverhalten gegen die Einbeziehung des Kotverscharrens in das hündische Aktionsbereich und damit gegen die Annahme einer eventuellen Rudimentarltät eines solchen Bewegungskomplexes. Vielleicht ergibt sich für den Hund in der Rolle des Verfolgten ein Interesse, an einem supponlerten Kotverscharren als Schutz vor seinen Feinden, von denen wir den Menschen nicht nennen, weil er sich nicht durch seinen Geruch orientieren kann, sondern als Muster den Wolf anführen, der in tage- und wochenlangen Herum- streifen seine Beute sucht und jeden Hund reißt, den er außerhalb der Brunst trifft. Ihm kann er durch seine Fährte ebensowenig verborgen blei- ben , wie den makrosmatischen Pflanzenfressern, gleichgültig, was er mit seiner Losung vornimmt. Ergeben sich also in einer Beziehungswelt makrosmatlscher Säuger keine einleuchtenden Zwecke des Verscharrens der Exkremente, das bei den rezenten Raubtieren durchaus keine all- gemeine Eigenschaft ist, so könnte man eine regressive Gebahrensmetamorphose auch einmal in dem Sinne ventilleren, daß die Domestikation den gezähmten Hund des selbständigen Nahrungs- erwerbes ebenso überhob, wie der Verteidigung gegen einen Hauptfeind, den Wolf, so daß sich dem Nichtgebrauche dieses Mechanismus eines imaginären Kotverscharre'ns seine Verkümmerung folgte. Im ersten Falle wird man den Blick von den verwöhnten Pfleglingen der Sport- und Lieb- haberkreise abwenden und der vielen herrenlosen, hungernden Hunde der menschlichen Ansledlungen gedenken müssen ; der rauh gehaltenen Hunde der halbzivilisierten oder im Urzustände lebenden Menschen, der Bewohner der Steppen und des Polarkreises, mit härtestem Lebenskampfe, man- gelnder Obsorge und größeren und gefährlicheren Feinden — um die Tragweite einer solchen Vor- aussetzung ermessen zu können. Immerhin ergäbe sich wenigstens eine dermalige ausgeschaltete P'eindesabwehr gegen den bei uns ausgerotteten Wolf und damit das Aufgeben der uns hier inter- essierenden Sicherung — in Westeuropa. Nach- dem aber die Hunde sowohl in Odessa wie in Sebastopol und in den ukrainischen Bauerndörfern am Don nach eigenen Beobachtungen den gleichen Pfotenwischreflex zuwege bringen wie bei uns, obwohl sie dort mit Wölfen schon eher zu tun haben, so kann die P'rage auch nach dieser Seite nicht gelöst werden. Zusammenfassend können wir also sagen : Soll in den Worten „durch stammesgeschichtliche Veränderungen früherer Verhältnisse überflüssig geworden" gelegene Sinn die Änderung der Umweltsverhältnisse des Hundes betreffen, die diesen Instinkt bedingen, so ist die be- sprochene Ableitung nicht stichhaltig; denn wie der Hund bei uns latent, so ist er an vielen ( )rten der Erde ein effektives Raubtier geblieben, mit seiner ganzen ererbten Wehrhaftigkelt, die ihm in allen ihren Einzelheiten keineswegs überflüssig geworden ist. Nach den Merkmalen, die uns greifbar sind. Hegt in seinem instinktiven Pfoten- wischen eine Reflexkette vor, deren Zweck uns nicht einleuchtend, sondern in gleicher Weise un- bekannt ist, wie das Losungsvergraben der Katzen oder das gehäufte Harnlassen des Hundes. Es handelt sich um ein teleologisch wie auch gene- tisch ganz unbekanntes Phänomen, das nur be- schrieben, nicht aber erklärt werden kann; wir dürfen es daher kein „komisches" Rudiment einer vermuteten Triebbewegung nennen, die genau so wie ein Organ verkümmert, weil sowohl ihre Existenz wie auch ihre Rudimentarltät nicht nachweisbar, und well die Gegenüberstellung einer funktionellen und einer davon getrennten somati- schen rückläufigen Entwicklung eines Instinktes nicht zureichend ist. Soll sie meinen , daß ein biologisch festgeprägter, der organisatorischen Regulation angehörlger, vererbbarer und als In- stinkt gekennzeichneter Bewegungskomplex mit seiner somatischen Grundlage schwinden kann, so enthält das eine Tautologie, und es müßte heißen : Die typische Instinktbewegung kann mit ihren Ausführungsorganen, wozu auch die spezi- fische nervöse Zentralisation — (ins Vltalistlsche übersetzt: die ererbten Gegen weltschemen v. Uex- külls, die P"inalien von C. K. Schneider) — gehört, regressiv metamorphosleren, nicht aber so wie ein Organ. Eine instinktive Bewegungsart für sich allein regressiv werden zu lassen, ähn- lich wie man eine Gewohnheit erwirbt oder ab- legt, ist eine ganz hinfällige Annahme, die jeder Erfahrungsgrundlage entbehrt. Alles was durch funktionelle Assoziation als neue Gewohnheit er- worben werden kann: Labyrinthdressuren, künst- liche Koppelung von Rezeptoren mit ihnen nicht natürlich zugehörigen Effektoren (bedingte Re- flexe) usw. ist immer durch seine Unbeständigkeit charakterisiert. Es liegt keine Erfahrung vor, daß diese künstliche Funktion als formativer Reiz vvirkt oder daß sich ihr eine Vererbungskomponente beigesellt. Sie werden niemals zu einer norm- strebigen Einrichtung und sind daher trotz vieler N. F. XIX. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 661 äußeren Ähnlichkeiten weder Reflexe noch In- stinkte. Demgegenüber ist die Bindung beider Komponenten des Instinktvorganges analog jener des Reflexbogens mit der Reflexäußerung eine unlösbare. Ein wirklicher Instinkt kann sich nur m it seinem materiellen Substrat rückläufig dauernd ändern, nicht unabhängig von diesem, niemals in seinen motorischen Äußerungen allein. Die üb- liche Bezeichnung eines Instinktes als eine ererbte „Gewohnheit", beinhaltet eine unzulässige Ana- logie; als Kompositum eines Reflexvorganges kann er ebensowenig eine Gewohnheit genannt werden wie irgendein Reflex. Beruht daher die oben berührte Theorie der regressiven Metamor- phose der Instinkte auf keinem anderen Beispiele wie auf dem hier besprochenen, so ist kein zu- reichender Anlaß gegeben, diesen Prozeß „genau so" wie etwa den der morphologischen Rück- bildung zu klassifizieren. Nicolai beruft sich, wie eingangs erwähnt, in seinem Buche über die Biologie des Krieges beim Versuche einer Vergleichsbetrachtung der Kriegsneigungen der menschlichen Gesellschaft mit den Fleischfresserinstinkten einleitend eben- falls auf das Losungsverscharren der Hunde nebst anderen Folgerungen aus dem Instinktgeschehen der Tiere. Wenn der Mensch — so führt Autor wörtlich aus — kriegerische Instinkte hat, so ist das ein Beweis, daß Kriegführen einmal nötig war, sagt aber nichts darüber aus, ob es auch jetzt noch nötig ist. Denn wie schon das Beispiel von der Motte, die zum Licht fliegt, lehren kann, sind die Instinkte ungemein konservativ und bleiben immer noch lange bestehen, wenn die Bedingun- gen, die sie hervorgerufen haben, längst vergangen sind. Solche rudimentäre Instinkte gibt es un- zählige. Auch der Hund war einst ein arger Räuber, hat aber diese Eigenschaft schneller aufgegeben als sein Herr, und es könnte fast scheinen, als sei die Peitsche eine bessere Erzieherin als die sittliche Forderung. Aus dieser Zeit stammt eine — bei den Wollen als große Klugheit gerühmte Gewohnheit — ihre Exkremente zu verscharren. Das war damals, als der nächtlich schweifende Räuber möglichst wenig ruchbar werden sollte, ganz zweckmäßig. Aber wie er von dieser Zweck- mäßigkeit damals nichts wußte, so hat er diese unbewußte Gewohnheit auch heute noch — trotz seiner jetzigen, viel friedlicheren Beschäftigung — beibehalten. Es ist ein lächerlicher Anblick, wenn unsere Straßenhunde nach Verrichtung ihres Ge- schäftes auf dem Asphalt moderner Städte einige Kratzbewegungen mit den Hinterbeinen ausführen. Ein sinn- und zweckloser Instinkt 1 Nun müssen wir nicht glauben, daß Menschen keine rudimentären Instinkte "hätten. Wenn der alte vormenschliche Afie auf seinen Feind losging, so zeigte er, wie es sehr viele Tiere tun, zuerst einmal als Schreckmittel seine Waffen: Durch Heben der Oberlippe entblößte er den starken Eckzahn seines Gebisses und drohte mit der ge- ballten Faust — und noch heute, wenn wir zivi- lisierte Europäer, die gar nicht mehr beißen und auch die F"äuste kaum noch gebrauchen, wütend werden, so heben wir im Affekt die Oberlippe, wie unser Urahn, der alte Waldaffe. Kein Instinkt ist also an sich nützlich, sondern hat nur eine Daseinsberechtigung , solange das Milieu das gleiche geblieben ist. Wie das Tier, das im Laufe der Jahrtausende nordwärts wan- derte, allmählich einen dickeren Pelz bekam, so mußte es auch andere Gewohnheiten, andere In- stinkte annehmen. Für uns Menschen gilt das Gesagte noch weit- aus mehr, denn, da wir die P'ähigkeit besitzen, unser Milieu in unendlich höherem Grade als alle Tiere umzuwandeln, kommen wir leichter und häufiger in die Lage, unter veränderten Bedingun- gen leben zu müssen, haben dafür aber auch die Pflicht, unsere Gewohnheiten (Instinkte) nach Möglichkeit diesen selbstgeschaffenen Lebens- bedingungen anzupassen. Das geht schwer, denn die Instinkte sind, wie gesagt, konservativ und zäh. Seit wir das Messer erfunden haben, brau- chen wir die Zähne nicht mehr gegen den Feind, aber all die Jahrtausende hindurch fletschen wir die Zähne. Als wir den Vorteil der Weltorgani- sation ergriffen, wäre es an der Zeit gewesen, den ehemals wertvollen kriegerischen Instinkt zu dämpfen. — Die Vernunft — kann den einen Instinkt ausbilden und den anderen unterdrücken. — Wenn wir die kriegerischen Instinkte tausend- mal als falsch erkannt haben, so werden wir sie doch nur überwinden, wenn wir andere, friedliche Instinkte an ihre Stelle setzen. — Daß das Dämpfen der kriegerischen Instinkte sehr langsam geht, soll kein Vorwurf sein, aber ich kann mir nicht helfen — Menschen, die sich heute noch mit Be- geisterung ihren kriegerischen Begierden hingeben, rufen mir immer das Bild von den Hunden auf den Asphalt vor Augen." — Jedenfalls wird man nach dem Gesagten ein- sehen, daß man den augenblicklichen Wert der kriegerischen Instinkte nur dann richtig einschätzen kann, wenn man die Bedingungen kennt, die seinerzeit die Kriegslust erzeugt haben. Sind diese heute andere, so paßt auch der alte Instinkt nicht mehr; sind sie gar in ihr Gegenteil verkehrt, so wird er sogar schädlich — wie unser rudimen- tärer Blinddarm, der einst auch sehr wichtig war, heute aber statt nützlich zu sein, nur noch Krank- heiten hervorruft. • — PVeilich kann nur derjenige recht beurteilen, wo, ,vann und warum veraltete Einrichtungen abgeschafft werden müssen, der voll- ständig erkannt hat, weshalb sie zu ihrer Zeit ein- geführt werden mußten (Röscher)." Zunächst wollen wir nach diesem Exkurs die rein subjektiven Momente ausschalten. Wenn es Darwin, seinem Empfinden zusagender fand, anstatt des Instinktbegriffes, den der Intelligenz zu setzen, so kann daran ebensowenig getadelt 662 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 42 werden, wie wenn Nicolai den Pfoten wischreflex des Mundes immer mit der Kriegsbegeisterung der IVIenschen assoziiert; das sind nicht weiter diskutable Empfindungsbedingungen, gegen die jede Einsicht machtlos ist — auch er kann sich wie zur Strassen hier nicht helfen, der Biologie eine komische Seite abzugewinnen — und die daher keine Hinweise auf das Thema enthalten. Wir wollen aber versuchen, einige der heran- gezogenen Analogien näher zu betrachten, nicht um eine Kritik des Nicolaischen Buches an dieser Stelle einzuflechten, sondern nur um an diesem gerade vorliegendem Beispiele die Elemente des Aufbaues solcher Ableitungen zu analy.>ieren, die ja in vielen modernen Werken über biolo- gische Zusammenhänge der Kunst, Ethik oder irgendwelche Gesellschaftsformen des mensch- lichen Lebens häufig genug wiederkehren und die Alleinherrschaft des Entwicklungsgedankens in einem Umfange proklamieren, über den man heute wesentlich anders urteilen kann. Daß hier engere Grenzen gesteckt werden müssen, wird alsbald aus dem Umstände klar hervorgehen, daß viele der versuchten Grundvergleichungen nicht so ganz einfach zu tolerieren sind, wie sie gegeben werden. Wie wir oben gehört haben, besteht kaum eine Wahrscheinlichkeit des instinktiven Fäkalien- verscharrens bei den Caniden der Vorzeit. Ver- mögen wir hierüber begreiflicherweise kaum etwas auszusagen, was die Reichweite einer Hypothese überragen würde, so wissen wir doch, daß die rezenten Hunde wie ihre Verwandten dies nicht tun, auch nicht der darob wegen seiner Klugheit bewunderte Wolf Die gegenteilige Annahme Nicolais hinsichtlich dieses Tieres entspricht also gar nicht den Tatsachen, und es kann dieses Beispiel, wie früher gezeigt wurde, nicht dazu dienen, ein rückläufiges Vergehen der Instinkte darzutun. Ob dies beim Zähnefletschen, Knurren, Fausiballen usw. anders ist, hängt mit der sehr wohlbegründelen und vielvertretenen IVIeinung zu-, sammen, daß Instinkte überhaupt nur rudimentär werden können, wenn zugleich morphologische Rückbildungen eintreten, wie z. B. das Imago eines Instinktes motorisch ganz anders ausgestattet ist, als seine Larve mit einem total anders ge- bauten Nervensystem und äußeren Bewegungs- apparat. Denn die Reflexe und ihre Komposita, die Instinkte, sind, wie wir oben ausgeführt haben, eben nicht vererbte Gewohnheiten, wie wir ober- flächlicherweise immer sagen, sondern körperlich begründete, prästabilisierte IVIechanismen oder maschinelle Einrichtungen, deren Funktion ebenso- wenig für sich allein bestehen oder vergehen kann, wie etwa die Schwerkraft ohne Materie. Luxus- hunde mit verkümmertem Nasenskelett — Chins, Möpse, Bullies — verlieren fast alle mit dem Gerüche zusammenhängende Reflexe und Instinkte oder üben sie nur in unvollständiger Weise aus. Bei F'ortbestand des körperlichen Substrates der typischen Reflexketten jedoch können wohl die Äußerungen derselben in der Domestikation ab- dressiert oder doch zurückgehalten werden. Trotz- dem darüber Generationen vergehen können, bleiben sie aber latent erhalten und springen beim Nachlassen der Domestikationsdressur und des künstlichen Selektionszwanges schon nach wenigen Generationen wieder in ihrer ursprünglichen Form hervor, wie wir das an verwilderten Haustieren sowie aus der Erfahrung kennen, daß der un- ablässig einbrechenden „Degeneration" der land- wirtschaftlichen Nutztiere — die die Rückkehr zur weniger produktiven Normalform bedeutet — durch fortwährende Blutauffrischung entgegen- gearbeitet werden muß. Die Nachkommen auch der zahmsten weißen Mäuse oder Kaninchen zei- gen immer wieder ihre große und wilde Scheu und Schreckhaftigkeit. Trotz Jahrtausende langer Domestikation läßt die Katze doch das Mausen nicht und „ein suw bleibt ein suw wenn man ihr auch ein gülden stuck anzüge so legt sy sich doch mit im dreck" wie der alte Ge ßn er sagt. Finden wir bei Haustieren aberrante Instinkte, so erweist sich deren morphologische Grundlage wie auch deren Äußerung nicht als dominant; es spielen künstliche Beeinflussungen des tierischen Gebahrens mit, die für oder gegen die Konstanz natürlicher Zustände oft gar nichts besagen können. Ob ein Reflex oder ein Instinkt verkümmert oder ver- schwunden ist, kann nicht an einem künstlich „gemachten" Tiere beurteilt, sondern erst dann erkannt werden, wenn die künstliche Bewirkung wieder ausgeschaltet worden ist, daferne der Fort- bestand der der Spielart, Varietät, des Schlages oder der „Moderasse" durch Überzüchtung nicht etwa somatisch unmöglich gemacht wurde, wie bei den höchst empfindlichen, selten oder nicht regulär gebärenden großköpfigen Zwerghunden. Aber auf keinen Fall kann man die physiolo- gischen Funktionen domestizierter Tiere mit solchen von im Naturzustande lebenden ohne Vorbehalt nebeneinander stellen und das Gebahren eines Wolfes mit dem des Schoßhundes bis in die letzten Konsequenzen vergleichen, um das Problem einer retrograden Instinktvariation zu beleuchten und zu ihrem Vergehen zu gelangen. Derartig von der Natur Festgebanntes läßt sich weder durch die Peitsche noch durch intelligente Be- ziehungseinsichien oder sittliche Forderung aus- merzen. Daher belastet das Verlangen, an Stelle der als schlecht erkannten Instinkte friedliche zu setzen, unsere Vernunft mit einer Schöpferkraft, die ihr leider gar nicht zukommen kann. Unsere so betrübliche Abhängigkeit von unseren Trieben trotz höchster Kultur, die verzweiflungsvollen Mit- teilungen Invertierter und ihre Suicide mahnen uns daran hinlänglich und warnen uns zugleich, die dornige Frage der Willensfreiheit wegen solcher Nebenbemerkungen vorwitzig aufzurollen. Die Triebe sind wirklich ,,sehr zähe und konser- vativ" und gehören zu den Naturerscheinungen, von denen Nicolai in seiner Vorrede selbst sagt, daß wir wohl ihre Wirkung, nicht aber sie N. F. XIX. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 663 selbst ändern können. Im unerklärlichen Wider- spruche damit steht die Erwägung, daß die Peit- sche die Raubtierinstinkte besser zum Schwinden gebracht haben mag, als dies der Kultur beim Menschen gelang. Man wird aber weder mit diesem Instrumente noch mit der Kultur einen Instinkt verkümmern machen oder ausrotten und ebensowenig ändern können, wie den Iris- oder Sohlenreflex. Verkümmerte Instinkte gibt es gar nicht so sehr viele wie Nicolai meint, und das Lichtfliegen der Motten so zu nennen, ist wohl nur eine Metapher. Wie wir früher gelernt haben, daß es einem Tiere nicht möglich ist, eine instinktive moto- rische Äußerung einfach abzulegen, so kann eine solche von Tier und Mensch auch nicht an- genommen, willkürlich ausgetauscht oder versetzt werden. Kein Tier oder Mensch kann sich art- vererbbare, nur so als instinktiv zu be- zeichnende Automatien zu eigen machen. Sie können ihm in der biologischen Anpassung an geänderte Ümweltsverhältnisse wohl „mit dem Pelze" anwachsen, aber nicht im Gefolge der Änderung der menschlichen Sozialeinrichtungen. Es gibt also, wie nochmals wiederholt werden soll, im Instinktgetriebe keine wesensentscheidende Variation der funktionellen Sphäre ohne eine solche des materiellen Substrates. Der Gedanke, daß der primordiale Affe im Kampfe offenbar in einsichtsbezüglicher Bewußtheit „zuerst einmal den Eckzahn" zeigte, wovon uns das instinktive Flet- schen verblieb, oder die Behauptung, daß durch Übung einstiger Handlungen in der Befriedigung neuer Bedürfnisse neue Instinkte wurden, andere nach dem Phallen der Bedürfnisse zurückgingen, gibt der ,, Macht der Gewohnheit" einen Ausdruck, wie er im Lamarkismus verkörpert ist. Dagegen sind uns heute doch wohl zu viele Einwände zur Hand, um der Bestimmtheit derartiger Aussagen zwangsmäßig beitreten zu müssen. Wir wissen eben nichts Tatsächliches über die Genese dieser Erscheinungen, können also auch im Sinne Roschers über ihre Überständigkeit nicht ur- teilen, sondern in unserer Verlegenheit nur zu Konstruktionen greifen, die steuerlos treibend, zuweilen eine so schroffe Form annehmen wie jene, die sich in dem Satze über den mensch- lichen Blinddarm äußert: Daß dieses Organ nur dazu da sei, um krankheitserregend zu wirken; freilich dürfte derartiges wohl nur eine Gesprächs- form sein, die ein Mediziner kaum im Extrem festhalten wollen wird. In gleicher Weise müßten vor einer engeren Analyse auch die Behauptungen zerbröckeln, daß eigentliche Kriege nur von Hirschen, einigen Vögeln, Bienen und Ameisen — eine Seite später — nur von letzteren geführt werden; daß echte Kriege bei Tieren nur dort einsetzen können, wo sie „an irgendeinem Ding Besitzrecht empfinden", wo die ,, Kultur zu echter Besitzspeicherung geführt hat", wie eben bei diesen Instinkten; daß der fossile Waldaffe zunächst den Eckzahn als Schreckmittel zeigte, woraus das in- stinktive F"letschen ward, und daß die Peitsche den Raubinstinkt des Hundes aufgeben ließ, u. a. m. All das sind Analogien ebenso schwerer anthro- podoxer Belastung, wie die Behauptung Kro- potkins, daß der Herdentrieb die Tiere — wie den Menschen — gelehrt hat, welche Stärke sie durch gegenseitige Hilfe gewinnen und welche Freuden sie im sozialen Leben finden können. Solche Behauptungen stehen teils in einem ganz unlösbaren Widerspruche mit biologischen Tat- sachen und Problemen, teils entspringen sie un- klaren Begriffsdefinitionen, für die nirgends ein fester Anhaltspunkt gefunden werden kann. Ob wir den Krieg als ,, Menschheitshandlung", also als eine Äußerung des menschlichen Geistes, oder als massenpsychologisches Phänomen in automatischen, unbewußten Bewegungskomplexen solcher Tiere wurzeln lassen, von denen wir nebenbei gar nicht abstammen können, wird auf jeden Fall recht zweifelhaft beantwortet werden, zumal uns eine ausreichende Definition des Be- griffes ,, Krieg" nicht gegeben ist. Der zugestan- dene Gegensatz zwischen Trieb und freiem Willen ließe das Gegenteil auch dann annehmen, wenn man ausweichend, die animalen Kriegsinstinkte nur der Kriegsbegeisterung und erst diese dem Kriege unterlegen möchte. Jedenfalls aber kann man das, was man ,,bei den Hirschen, Ameisen, Bienen und einigen Vögeln" nach menschlichen Maßstäben oder anthroposophisch analogisierend „Krieg" nennt, nicht rückläufig dazu benützen, den Krieg der Menschen damit zu analysieren und in der einsichtsmäßigen Bekämpfung dieser tierischen Reflexe, der Kriegsinstinkte, die Kultur- höhe zu erstreben suchen. Von Kriegsinstinkten, als Hauptfaktoren des Verhaltens der Völker zu reden, eröffnet keine Erklärung sondern nur zwei neue Fragen : Einmal nach dem Sein und Werden dieses Gebahrens. Zuerst werden uns nach den Ausführungen des Autors die vorzeitlichen Kampf- handlungen — das Zeigen des erschrecklichen Gebisses des menschlichen Urahns — im Grunde des Laniarck sehen Entwicklungsgedankens als einsichtslose, automatische, für uns auch zwecklose reflektorische oder Instinkterbschaft hinterlassen. Darauf gründen sich später wieder beziehungs- einsichtige, also bewußte Handlungen, mit welchem Kommen und Gehen der Schablonen sich eine willfährige Biologie aufbauen läßt, für journa- listische Zwecke. Dann aber taucht das große Problem auf, ob die vielen Hunderttausende deut- scher Soldaten für Ideen, für ethische Werte höchster Schwungkraft oder mit bewußter Ein- sicht in bittere Notwendigkeiten in den Tod ge- zogen sind oder ob sie als Opfer dunkler Natur- gewalten, in derem Grunde die Reflexe und die Triebe schlummern, im Elend verkamen. Durch die einförmige Betonung der Kriegsinstinkte, als Richtunggebendes unseres Lebens aufgefaßt, wird uns der Glaube aufzunötigen versucht, daß sie es waren, die den preußischen Militarismus groß- gezogen, den Weltkrieg entflammt und grenzen- 664 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 42 lose Not über die ganze Welt gebracht haben — wogegen doch manches eingewendet werden könnte. Selbstverständlich dürfen wir diese Beispiele in ihrer Bedeutung für die Beurteilung des be- treffenden Buches nicht überschätzen. Zusammen- gehalten aber mit sonstigen gelegentlichen Be- merkungen gleichen Gefüges erwachsen aus ihnen doch ansehnliche logische Widerstände gegen einen Teil der verwendeten Voraussetzungen. Solche gehen beispielsweise aus der Behauptung hervor, daß die Wale ungeachtet ihres hochent- wickelten Gehirnes die Eigentümlichkeit solitärer Tiere zeigen, stumm zu sein; daß die Wilden grimassieren und daß auch wir heute noch im Affekt die Zähne zeigen, wie das Sprichwort lautet, sowie auch daß der Mensch das wehr- loseste Tier ist usw. Die moderne Biologie lehrt uns doch, daß wir nicht wissen, ob das Pfoten- putzen der Hunde ein nützlicher Instinkt sei; daß das ins Lichtfliegen der Motten kein rudimentärer Instinkt ist ; daß alle Wale mit wenigen Aus- nahmen stets gesellig leben, in sog. Shoals herum- ziehen, und in der Anpassung an das Wasserleben, nicht aber aus Vergesellschaftungseinflüssen stumm geworden sind; daß die herbivoren Wale ein sehr niedrig entwickeltes Gehirn haben; daß, ähnlich wie der Begriff „Wale" auch die Begriffe „Wilder", „Haushund" und „Raubtier" „Gewohnheit" ob der bestehenden Kompliziertheiten zu weit, zu generell und daher zu Analogisierungen engerer Art un- tauglich sind ; daß unser gelegentliches Zähne- zeigen auf Mitbewegungen bei körperlichen An- strengungen beruht, denen gar keine teleologische Bedeutung nachgewiesen werden kann; die Vor- stellung, unsere Infanteristen grimassierend ins Handgemenge gehen zu sehen, wäre einer Reporter- phantasie würdig; der Mensch hat sich keineswegs als das wehrloseste, sondern als das wehrhafteste Tier erwiesen; er vermochte sich die ganze Tier- welt auch damals zu unterjochen, als ihm nichts wie seine natürlichen Waffen zur Verfügung standen, zu denen er sich durch seine Intelligenz noch künstliche schuf; auch wird man sich einen urgeschichtlichen Waldaffen vielleicht ebensowenig wehrarm vorstellen dürfen, wie den nicht in Horden lebenden Gorilla oder den gesellig lebenden Pavian. Überhaupt ist die übliche, theoretisierende bedingungslose Gegenüberstellung des wehrhaften Fleischfressers und des wehrlosen Pflanzenfressers in hohem Grade irreführend, weil unrichtig und nicht für alle P'älle geltend. Schon mittelgroße Pflanzenfresser können auch großen Fleischfressern unter Umständen ausreichenden Widerstand leisten; wie die Veldtjäger wissen, kann eine größere Anti- lope zum Schutze ihres Jungen einem Löwen eine ganze Nacht widerstehen, bis er sich im Morgen- grauen verzieht; ein solcher Angriff kann auch für einen Löwen von Gefahr begleitet sein. Er- fahrungsgemäß werden Menageriebesucher von den größeren Ungulaten, Cerviden und Antilopen im Glauben an deren „Unschuld" viel häufiger verletzt wie von den Raubtieren, denen sie vor- sichtiger gegenübertreten. Auch hier sind also Relativitätsverhältnisse sorgfältiger zu beachten, wenn man nicht zu Aussagen kommen will, die zwar zutreffen können, deren Gegenteil aber gleichfalls mit derartigen Beweisen zu belegen ist. Das ist aber keine wissenschaftlich ordnende Ge- bundenheit, sondern so oberflächlich, daß man kaum gezwungen werden kann , näher darauf einzugehen. An solchen Dingen sieht man überall das im Dienste einer vorgefaßten Idee weit und gewalt- sam Herbeigeholte zu deutlich durchleuchten, um sich zu einer befriedigenden Auffassung durch- ringen zu können. Das alles lebt von der Vor- urteilslosigkeit vieldeutiger und unbestimmter Vergleichsbegriffe, denen eine gewisse Verschiebung oder Ummodelung zuweilen nicht viel anhaben kann, bei denen man aber doch häufig genug zu handgreiflichen Nichtigkeiten gelangt. So, wenn man die für den Menschen so irrtumsreichen „offen- baren" Beziehungseinsichten auf die Tiere über- trägt und in das Triebleben derselben Bewußtseins- momente einschiebt, daferne die verwendeten Be- griffe „offenbar" und „Zweck" nicht zu leeren Wörtern herabsinken sollen. Es ist genau so unersprießlich, wenn Nicolai die Kriege in der aufsteigenden Stufenfolge der tierischen Entwick- lung dort eintreten läßt, wo sich Rechtsbegriffe über den Besitz entwickelt haben, von denen wir gar nichts wissen, auch wenn sie uns noch so „offenbar" erscheinen sollten; oder wenn Kropot- kin die primären Gemeinschafts- und Gesellig- keitstriebe die Tiere „lehren" läßt, daß ihnen daraus Vorteile und Freuden erwachsen. All das sind theorienwendige Folgerungen, deren wirk- liche Grundlage völlig aus der Luft gegriffen ist. Um eine Biologie des Krieges zu schaffen, braucht man naturgemäß Geselligkeitserscheinungen ele- mentarer Art; mit der Herleitung solcher Phäno- mene der Menschen von solitären Anthropoiden, deren rezente Vertreter nach Kropotkin unzwei- felhaft in Verfall geraten sind, konnte man nichts rechtes anfangen. Daher sagt Autor: Eine primär vorhandene Gemeinschaft hat erst die P'ortbildung zum Menschen ermöglicht; „wir stammen also von sozialen Herdentieren". Angesichts der außer- ordentlich strittigen P"rage über die Abstammung des Menschen erscheint das ein sonderbarer Beweis, der einer zwingenden Beantwortung des Problems beträchtlich vorgreift und weit entfernt ist, genau genannt zu werden. Da aber auch der Begriff „Krieg" keine scharfe Definition besitzt, kann man mit solchen Erörterungen Beliebiges in idealer Weise lösen, ohne sich mit Tatsächlichkeiten ab- mühen zu müssen. Es ist eben durchaus leicht ideal zu sein, sagt der Philosoph der Tücke des Objektes, wenn man alles ungenau nimmt. Der Anerkennung der Biologie als Wissenschaft wird dadurch kaum ein Dienst erwiesen. Derartige Ableitungen der Geschehnisse aus dem Leben des Menschen von tierischen Vorstufen N. F. XtX. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 665 des Gebahrens beruhen eben nicht auf aufzeigbaren Tatbeständen sondern nur auf einem Glauben an die Allmacht des Gedankens der geistigen Ent- wicklung. Sie stellen auch sprechende Belege dafür dar, daß das Prinzip der einfachsten Er- klärung nicht zur Schablone werden darf und daß wir biologische Erscheinungen nicht vorschnell zur Erklärung von anderen, erst zu untersuchenden Phänomenen benützen können ; sonst erleben wir zu leicht den von Lipschütz, Hertwigu. a. glossierten Vorgang, daß aus gleichen biologischen Gesetzlichkeiten ganz entgegengesetzte Schlüsse abgeleitet werden — Kampf ums Dasein — gegen- seitige Hilfe — sowohl Krieg wie Pazifizismus. So sehen wir im Grundplane der Abhandlung über die Kriegsinstinkte der Tiere als biologische Vorstufen der Menschenkriege die Wirkung jener drei Grade von Unzulässigkeiten der Interpretations- methode, die wir eingangs zusammengestellt haben : Die Verwendung eines wissenschaftlich untaug- lichen Ausgangsbegriftes für naturhistorische Ver- gleiche, die mangelnde Rücksichtnahme auf ob- jektive Korrelate der Vergleichsbetrachtungen und die Überdehnung biologischer Gesetzlichkeiten, die sich in glatter Kontinuität von den uranfäng- lichen Raubtierinstinkten bis zu den höchst kompli- zierten Erscheinungen der menschlichen Gesell- schaft erstrecken sollen. Wie nochmals besonders hervorgehoben wer- den soll, katm von unserer Seite damit keineswegs irgendeine Stellung zu dem sehr dornigen Pro- blem genommen werden, ob die Genesis des Krieges mit dem Nahrungserwerb der Fleisch- fresser oder mit der Arterhaltung tierischer Lebe- wesen zusammenhängt , dort wurzelt , abstammt, oder sich daraus entwickelt hat. Wohl aber ne- gieren wir die Verwendbarkeit oberwähnter Ana- logien zur Beantwortung einer solchen Frage. Wir geben aber zu, daß man die literarische Ver- arbeitung der hier zum Ausdrucke gebrachten An- schauungen als Produkt ihrer Zeit mit Notwendig- keit definieren und verstehen kann, auch wenn sie nicht in der Lage sind uns eine neue Über- zeugung aufzuzwingen. Das sog. Kausalbedürfnis hat in diesem Völkerkriege einen so ungeheuren Auftakt erhalten, wie dies bisher vermutlich kaum je der Fall gewesen ist. Ein großer Teil der Kriegsliteratur hat diesen Gegenstand zum Vor- wurfe und erledigte ihn je nach Können, von den bis zum Überdruß abgeleierten Tüchtigkeits- plaudereien bis zu den ernstesten und sachlichsten Erörterungen der unübersehbaren Kompliziertheit dieses Problems; unter Heranziehung aller mög- lichen Berufungsbeispiele von Houston Cham- berlain bis Nietzsche und mit dem bunten Wust von Ansichtsdifferenzen. Während die einen für den objektiven und geistvollen Engländer eine hohe Ordensauszeichnung verlangen, wollen die anderen ihn als Kriegshetzer behandelt wissen. Die doppelte Moral Nietzsches und die Frech- heit seines Herrenmenschen mußte dem einen als Reklameschild einer kulturwidrigen Machtpolitik dienen, indem man so die gedankenlosen Gewalt- tätigkeiten philosophisch zu beglaubigen suchte und das deutsche Volk mit seinem Philosophen als der Barbarei verdächtig an den Pranger stellte; zusammen mit diesem durch und durch kultivierten Geistesheros, den andere als das erlesene Ingenium verehren, als erhabenen Künstler und Denker, der seine Ideale nur durch leidenschaftlichste Arbeit an sich selbst und durch die opferreichste mora- lische Selbstprüfung erreichen konnte, und dessen Sympathien niemals zur Rechtfertigung eines Wehkrieges zu haben gewesen wären usw. Solche und ähnliche Widerstreite, die wir in tausendfachen Variationen vernommen haben, er- tragen keine befriedigende Lösung auf die nicht verstummenden Fragen nach den Kriegsursachen, von denen man doch allgemein überzeugt war, daß es eine glatte Antwort geben müsse. Nach so vielen Umwegen zurück also zur Natur mit ihren ewigen Gesetzen: Man griff zum Wurzel- suchen üblen Angedenkens in der Biologie, die uns schon so oft gezeigt hat, daß sie ganz außer- stande ist, Erklärungen von nur den Menschen allein betreffenden sozialen, ethischen und politi- schen Angelegenheiten zu geben, um auf diesem Wege, durch ungefähre Verallgemeinerungen und Verflüchtigungen der Grundbegriffe bei den Aus- führungen Nicolais zu landen, in denen uns die Vergeblichkeit aller solcher Versuche unver- hüllt entgegentritt. [Nachdruck verboten.] Die Schwalben in der deutschen ürlandschaft. Von Dr. Otto Schnurre. Der allgemein herrschenden Ansicht zufolge sind unsere beiden Siedlungsschwalben (Delichon urbica L., Haus- oder Mehlschwalbe, und Hirundo rustica L., Rauch- oder Stallschwalbe) von Natur aus Felsenbrüter. Mit Rücksicht auf die Tatsache, daß die Avifauna menschlicher Bauten fast durch- weg aus Felsenvögeln besteht, erscheint diese Annahme durchaus gerechtfertigt. Ihre Richtigkeit läßt sich auch für die Hausschwalbe ohne weiteres nachweisen. Diese Art schloß sich dem Menschen an, als dieser Steinbauten aufzuführen begann, und zwar besiedelte sie anfangs ausschließlich die höheren Bauwerke, die sich für den Vogel natur- gemäß noch am wenigsten von seiner Felsenheimat unterschieden. Aus den Angaben der älteren ornithologischen Schriftsteller (Gesner u. a.) geht das deutlich hervor. Allmählich gewöhnte sich die Mehlschwalbe dann auch an weniger hohe Gebäude, bis zu Viehställen herab. Beim Segler (Cypselus apus L.) fand der gleiche Entwicklungsgang statt : 666 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 42 anfangs ein Vogel der mittelalterlichen Burgen und Wachttürme, späterhin der Mietskasernen der Großstadt und heute selbst niedriger einstöckiger Fischerhäuser. Die Hausschwalbe wird bekanntlich auch in der Gegenwart noch nicht so selten im Urzustand angetroffen. In den 80er Jahren be- stand selbst in Deutschland noch eine aus etwa 60 Nestern bestehende Kolonie an den Kreide- felsen Rügens bei Stubbenkammer. In Spanien ist die Art überhaupt noch überwiegend Felsen- brüter. Somit bestehen bei der Mehlschwalbe keinerlei Zweifel betreffs ihrer natürlichen Nistweise. Die Sachlage ändert sich, sobald man einmal daran geht, in entsprechender Weise die Herkunft unserer Rauchschwalbe abzuleiten. Es stellen sich da unerwartete Schwierigkeiten in den Weg. Der Vogel hat von jeher ausschließlich niedrige Bauten, mit Vorliebe Stallungen, besiedelt. Solche gab es in wesentlich früherer Zeit als steinerne Bauwerke. Daraus ergibt sich von selbst, daß diese Schwalbe als Siedlungsvogel weit älter ist als die vorige Art. Diese Tatsachen nun sind nicht in Einklang zu bringen mit der ursprünglichen Nistweise in Felsen. Wir sind wohl berechtigt, die letzteren in Parallele zu stellen mit Steinbauten des Menschen — sie bedeuten für den Vogel ein und dasselbe — nicht aber mit niedrigen Hütten und Viehsiällen. Der Übergang vom Felsenvogel zur „Stall- schwalbe" wäre gar zu schroff und stände in der Vogelwelt einzig da. Auch die Hausschwalbe nistet heute nicht selten an den gleichen Ortlich- keiten; bei ihr läßt sich aber nachweisen, daß sie zuerst höhere Bauwerke besiedelte und sich dann allmählich an niedrigere gewöhnte. Dieser Übergang fällt bei der Rauchschwalbe fort. Halten wir an der Felscnheimat dieser Art fest, so bleibt nichts anderes übrig, als diesen äußerst unwahr- scheinlichen Sprung anzunehmen, der mit dem tierischen Verhalten kaum in Einklang zu bringen ist. Suchen wir uns einmal klar zu machen, in welcher Weise der Anschluß der Stallschwalbe an die menschlichen Siedlungen erfolgt sein kann. Bei ihren Verwandten gab die Errichtung von Steinbauten den Antrieb; diese sind in ornitho- geographischer Beziehung einer Felsenlandschaft gleichzusetzen. Bei Hirundo rustica muß die Vieh- zucht, bzw. der durch sie bedingte Insektenreichtum, das Lockmittel gewesen sein. Es dürfte wohl der Annahme nichts im Wege stehen, daß sie sich bereits dem prähistorischen Menschen an- schloß. Neben der Viehzucht kommt allerdings noch ein zweites Erfordernis in Betracht: der Mensch mußte seßhaft geworden sein, das unstete Nomadenleben aufgegeben haben. Damit haben wir zeitlich einen gewissen Anhaltspunkt ge- funden, hinter welchen wir das Auftreten unserer Schwalbe als Brutvogel in menschlichen Be- hausungen nicht zurückverlegen dürfen. Der vorgeschichtliche Mensch Mitteleuropas war in erster Linie Steppenbewohner. Die einmal besiedelten Gebiete hielt er mit großer Zähigkeit fest; es gelang ihm auch sie waldfrei zu er- halten, wenn er auch zum Roden des Urwaldes nicht imstande war. Die ganze Schwalbenfrage bekommt nun ein anderes Aussehen, wenn wir die Urheimat der Rauchschwalbe in der Steppe suchen. Rein theoretisch betrachtet, mußte sie dort bessere Ernährungsverhältnisse finden als im Gebirge. Dafür sorgte schon der Wildbestand und späterhin d^s Weidevieh des Menschen. Die Frage nach der Nistweise in der Steppe erscheint beim ersten Hinsehen schwieriger, als sie in Wirklichkeit zu sein braucht. Hirundo rustica könnte Lößwände, Gipsfelsen und steilwandige Fiußufer bewohnt haben. Ob sie dort Höhlen nach Art der Uferschwalbe (Riparia riparia L.) gegraben hat, läßt sich natürlich nicht nachweisen; diese Annahnje ist aber auch nicht unbedingt erforderlich. Nischen und Vorsprünge wird sie sicher gefunden haben, und diese mögen ihr zur Nestanlage genügt haben. EineStütze gewinnt diese Annahme durch die Funde Alfred Neh rings, der bei Westeregeln zahlreiche Knochenüberreste der Rauchschwalbe, und zwar von jugendlichen Exemplaren, feststellte, zusammen mit den Resten zahlreicher Steppentiere. Weitere Hirundoknochen sind ausgegraben in den Gipsbrüchen auf dem Seveckenberg bei Quedlinburg von Giebel, sowie in den Fuchslöchern am Roten Berge bei Saal- feld ; beide Funde stammen aus der postglazialen Steppenperiode. Nehmen wir in der mitteleuropäischen Urland- schalt die Steppe als die Heimat der Stallschwalbe an, so läßt sich der Übergang zum Siedlungsvogel gut vorstellen. Von den Lößwänden und Gips- brüchen der Steppe zu den Blockhäusern und Viehställen des Neolithikers ist es nur ein kleiner Schritt, zumal der durch die Herden angelockte Insektenreichtum eine große Anziehungskraft auf die Schwalben ausüben mußte. Die Rauchschwalbe stellt somit einen der ältesten Bestandteile in der Ornis menschlicher Siedlungen dar. Die Ursache für ihren Anschluß an den Menschen ist die gleiche, die sich bei der großen Mehrzahl unserer Haus-, Garten- und Feld- vögel feststellen läßt : Verbesserung der Ernährungs- verliältnisse in der Nähe menschlicher Behausungen. V. Middendorffs Ausspruch gelegentlich seiner Reise in Ostsibirien behält auch für die Kultur- fauna Mitteleuropas volle Gültigkeit: „Der Mensch erzieht die Tierwelt des Waldes zu. Schmarotzern." N. F. XIX. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 667 Einzelberichte. Physik. Neue Versuche über die Achsen- drehung der Erde. (Mit 3 Abb.) Im Jahre 1851 stellte J. B. Leon Foucault im Pantheon zu Paris seinen berühmten Pendelversuch') an, wo- durch die Achsendrehung der Erde augenschein- lich nachgewiesen wurde. Foucaults Versuch erregte überall das größte Aufsehen und noch heute pflegt man ihn fast in jeder physikalischen Vorlesung als Beweis für die in 24 Stunden um die Nord-Südachse erfolgende Drehung der Erde vorzuführen. Seit Foucaults Zeiten ist eine ganze Anzahl weiterer Experimente zum Nachweis der Achsendrehung angestellt worden; eines der geistreichsten aus jüngster Zeit wurde von dem ungarischen Physiker Baron Roland von Eötvös') ausgetührt. Schon der Weg, welcher Eötvös zu seinen höchst bedeutungsvollen Unter- suchungen „über die Schwere der an der Erd- oberfläche bewegten Körper" führte, ist sehr interessant. Im Jahre 1901 maß Prof O. Heck er auf dem Atlantischen Ozean und 1 904/5 auf dem In- dischen und Großen Ozean die dort herrschende Größe der Schwerkraft. Da auf einem schwan- kenden Schiffe die Schwerkraft nicht wie üblich aus der Schwingungsdauer eines Pendels bestimmt werden kann, bediente sich Heck er des Ver- fahrens von H.Mohn, das auf der gleichzeitigen Bestimmung des Luftdrucks mit dem Qaecksilber- barometer und aus dem Siedepunkt des Wassers beruht. Beide Methoden der Luftdruckbestimmung ergeben nicht immer die gleichen Resultate, da die Länge der Quecksilbersäule im Barometer nicht nur vom Luftdruck abhängt, sondern auch von der Schwerkraft. Aus dem Unterschied der Luftdruckangaben beider Meßmethoden läßt sich die Größe der herrschenden Schwerkraft berechnen. Eötvös wies in Heckers zahlreichen und wichtigen Schweremessungen auf dem Meere eine nicht berücksichtigte sehr erhebliche Fehlerquelle, nämlich die Eigenbewegung des Schiffes, nach. Der Anziehungskraft der Erde wirkt die infolge der Erdrotation entstehende Zentrifugalkraft etwas entgegen. Die Erde dreht sich nach Osten und ein ostwärts bewegter Körper hat daher in bezug auf die Nord- Südachse eine größere Rotations- geschwindigkeit als ein auf gleichem Breitengrad befindlicher mit der Erde fest verbundener Kör- per. Die größere Rotationsgeschwindigkeit ost- wärts bewegter Körper hat eine größere Zentri- fugalkraft und damit eine entsprechende Vermin- derung der Schwere zur Folge. Umgekehrt werden westwärts bewegte Körper eine Zvmahme der Schwere oder des Gewichts aufweisen. Z. B. ') Literatur siehe: S. Günther, Handbuch der Geo- physik. Bd. I. S. 237—249. Stuttgart 1897. W. Brunner, Dreht sich die Erde? Leipzig 1915, Teubner. 2) Annalen der Physik. Bd. 59, Nr. 16, S. 743 — 752. Leipzig 1919. muß unter dem 45. Breitengrad ein wohlgenährter Mann von loo kg Gewicht bei seinem behäbigen Spaziergang mit I m Geschwindigkeit pro Sekunde auf normal geformter Erdoberfläche um etwa 2 g Gewicht leichter sein, wenn er nach Osten fort- schreitet, als wenn er dann gegen Westen zurück- kehrt. Hecker hat nun seine meisten Messungen auf fahrenden Schiffen angestellt, ohne den recht erheblichen Einfluß der ostwestlichen oder um- gekehrten Fahrtrichtung zu berücksichtigen. Auf P^ötvös' Hinweis unternahm H eck er eine neue Durchsicht und eine neue Berechnung des älteren Beobachtungsmaterials und brachte die infolge der Schiffsbewegung notwendige Korrektion an seinen früheren Schweremessungen an. H e c k e r überzeugte sich aber auch experi- mentell von der Richtigkeit des Eötvösschen Gedankengangs. Mit Hilfe der damaligen kais. russ. Regierung führte Heck er im Mai 1908 auf dem Schwarzen Meer neue Fahrten und Messungen aus. Auf 2 einander begegnenden Schiffen , von denen das eine ostwärts, das andere westwärts fuhr, zeigten die Höhen der Quecksilbersäulen in den Barometern beider Schiffe sehr deutliche Unterschiede. Die gleichen kleinen Schwankungen im Stande der Quecksilbersäule zeigten sich auch auf eineni Schiff, wenn es dieselben Wege auf der Meeresoberfläche, aber in entgegengesetzten Richtungen durchfuhr. Damit war die erste tat- sächliche Bestätigung der von der Galilei- Newton sehen Mechanik geforderten Schwere- änderung von Körpern geliefert, die eine östliche oder westliche Bewegung haben. Eötvös hat noch durch ein sehr sinnreiches Experiment, das auch als Vorlesungsversuch gut verwertet werden kann, Heckers Messiingen über die Gewichtsänderung der an der Erdober- fläche bewegten Körper im Laboratorium be- stätigt. An einer empfindlichen Wage ersetzte Eötvös die Schalen durch größere Gewichte und versetzte den Wagebalken um eine dem Schwerpunkt nahe gelegte lotrechte Achse durch ein ausgezeichnetes Uhrwerk, das zum Betrieb astronomischer Fernrohre bestimmt war, in sehr gleichmäßige Drehung. Die Massen am Ende des Wagebalkens machen dann eine Kreisbewegung und auf einem kurzen Stück der Kreisbahn läuft der eine Arm der Wage ostwärts und wird leichter, während der andere gerade westwärts laufende entsprechend schwerer wird. Wenn die Wage mit einer ganz bestimmten Umdrehungszahl gleichmäßig rotiert, dann bewegen sich die Massen am Wagebalken periodisch abwechselnd nach öst- licher und westlicher Richtung, „und den so ent- stehenden Schwereänderungen entsprechend müssen periodische Schwingungen auftreten , die durch Multiplikation stets heranwachsend einen durch die Dämpfungskraft (der Wage) begrenzten maxi- malen Wert erreichen". Die bei einer einzigen Umdrehung äußerst geringe Wirkung wird durch 668 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 42 das von Eötvös angewandte Resonanzprinzip rasch vervielfältigt und die schwache Bewegung des Wagebalkens wird durch eine Art Spiegel- ablesung (siehe Abb. i) leicht sichtbar gemacht. Um die Größe der eintretenden Schwereänderung noch schärfer quantitativ festzustellen, kompen- Q Lampe D Diaphragma L Linse S Spiegel B Balken UU Projektionsschirm P Lichtpunkt sierte Eötvös die Schwingungen des Wage- balkens durch ein veränderliches elektromagneti- sches Feld, das auf einen am Wagebalken be- festigten Magnetstab einwirkte. Aus der Stärke der leicht meßbaren magnetischen Felder läßt sich die Größe der eintretenden Schwereänderung sehr scharf bestimmen. Daraus und mit Hilfe der geographischen Breite des Beobachtungsortes kann die Rotationsgeschwindigkeit der Erde fest- gestellt werden. Dies Experiment von Eötvös ist ein anschau- licher Laboratoriumsversuch, der die Schwere- änderung ost-westwärts bewegter Körper zeigt, und zugleich ein neuer glänzender Beweis für die Achsendrehung der Erde. Am 7. April 1919 ist die hier besprochene wichtige und letzte Arbeit Eötvös', welche auch vom Standpunkt der Re- lativitätstheorie erhebliches Interesse beansprucht, bei den „Annalen der Physik" eingelaufen und schon am 8. April 19 19 verschied im Alter von 7 1 Jahren zu Budapest Baron Roland von Eötvös,') Ungarns größter Physiker. Während nur ein Körper mit ost-westlicher Bewegung eine Gewichtsveränderung erleiden kann, wird durch die Erdrotation jede annähernd hori- zontale Bewegung eines Körpers verändert, und zwar ist die Azimutalablenkung auf der Nordhalb- kugel eine rechtsseitige, auf der Südhalbkugel der Erde aber eine linksseitige. So werden durch die Erddrehung die Bewegungen "') der Luftmassen, die Winde, die IMeeresströmungen und die Flüsse ') Nachruf von D. Pek.-ir in „Naturwissenschaften" S. 387—391, Bd. 7. *) Siehe Günther 1. c. wesentlich beeinflußt. Auf der nördlichen Halb- kugel wird jeder Wind nach rechts abgelenkt und so wird allmählich ein Nordwind zu einem NO- Wind und auf der Südhalbkugel geht ein Süd- wind in einen SO-Wind über. Die Erddrehung bewirkt eine Ablenkung der Geschosse beim Schießen auf große Entfernungen; die rechten Eisenbahnschienen sollen durch das Drängen der fahrenden Züge nach rechts etwas stärker abgenützt werden und nach dem K. E. von Baer- schen Gesetz kann auf unserer Hemisphäre in günstigen Fällen eine stärkere Erosion des fließen- den Wassers am rechten Ufer be- ll obachtet werden. Prof. O. T u m - lirz') in Wien hat in einem schönen Versuch die ablenkende Wirkung der Erdrotation auf Flüssigkeitsbewegungen nachge- wiesen. Bei dem Versuch lag am Bo- den eines zylindrischen Gefäßes von 160 cm Durchmesser und 55 cm Höhe eine Glasplatte von 154 cm Durchmesser, die auf der Unterseite weiß angestrichen war, und 5 cm darüber war eine zweite Glasplatte von 140 cm Durchmesser angebracht. Der Boden des Gefäßes und die untere Glasscheibe waren in der Mitte durchbohrt und durch die Öffnung führte ein kleines Röhrchen nach außen, das in dem Zwischenraum zwischen den beiden Glas- platten mit vielen feinen Löchern versehen war. Der Behälter wurde unter ganz besonderen Vor- sichtsmaßregeln zur Verhütung von Bewegungen des Wassers mit über 1000 Litern gefüllt. Durch das kleine Röhrchen konnte das Wasser aus dem Zwischenraum der beiden Glasplatten abfließen. Die Ausflußmenge betrug 4,072 ccm in der Se- kunde; nach vollen 24 Stunden war der Wasser- spiegel erst um 17,5 cm gesunken, so daß die Bewegung der Wasserteilchen als recht stationär betrachtet werden kann. Da der Abstand der beiden Glasscheiben nur 5 cm beträgt, so erfolgt zwischen diesen die Strömung parallel zu den Scheiben. Die Wasserteilchen bewegen sich mit einer Geschwindigkeit von l,ii mm in der Mi- nute vom Rand der Glasscheiben auf die Abfluß- öffnung in der Mitte zu. Hätte die Erde keine Rotation, so müßten sich die Wasserteilchen zwi- schen den Glasplatten in radialen geraden Linien der .Abflußöffnung nähern. Durch die Erdum- drehung werden die Stromlinien zu krummen Linien, d. h. die Wasserteilchen beschreiben auf ihrem Wege Spiralen von rechtsseitigem Dreh- sinne. Die Abbildung 2 zeigt den theoretischen Verlauf der Stromlinien. ') Wiener Berichte, mathem.-naturwiss. Klasse; Bd. CXVII. Abt. IIa. S. 819— S41. N. F. XK. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 669 Am Äquator müßten die Bahnen der Wasser- teilchen gerade Linien (Radien) darstellen , wäh- rend in Australien die Stromlinien in linksseitigem Sinne gekrümmt wären. Die Strömung der Wasserteilchen machte Tumlirz dadurch sicht- bar, daß er am Rande im Zwischenraum der beiden Glasplatten 16 kleine Näpfchen, mit Methyl- violett gefüllt, einstellte; die langsame Flüssigkeits- bewegung nimmt dann farbige Fäden, welche sich aus den offenen Näpfchen entwickeln , mit und diese Fäden geben dorch ihre Gestalt die Strom- linien wieder. Bis die farbigen Fäden die Ausfluß- (iffnung erreichen, vergehen mehrere Stunden. sich der theoretisch berechnete Verlauf der Strom- linien in gleicher Weise. Damit ist in schönster Weise der Einfluß der Erdrotation auch auf lang- samste Flüssigkeitsströmungen nachgewiesen. Von größter Wichtigkeit für das Gelingen des Versuches ist es, daß vor dem "flnen des Ab- flusses die Flüssigkeit völlig zur Ruhe gekommen ist. Um Konvektionsströmungen durch Tempe- raturschwankungen vollkommen zu verhindern, wurde der ganze Apparat im Kellerraum des Militärgeographischen Instituts in Wien aufgebaut, wo bei einer mittleren Temperatur von 6,3" C nach den Angaben eines Thermographen die Wärme höchstens um 0,2" C schwankte. Die farbigen Fäden würden durch die geringste fremde Rotation der Flüssigkeit verzerrt werden und da- her war zu deren Vermeidung auf die obere Glasscheibe noch ein vielfach durchlochter Blech- zylinder mit nach innen und außen vorspringenden rechteckigen Blechtafeln aufgesetzt. Nach vor- sichtigster Füllung blieb die Wassermasse noch 40 Stunden bis zur völligen Beruhigung stehen, ehe die Farbstoffnäpfchen eingesetzt und der Ab- fluß geöffnet wurde. An der Decke des Keller- raumes, gerade oberhalb des Apparates, befand sich eine photographische Kamera, durch welche die farbigen Stromlinien zwischen den beiden Glasplatten aufgenommen werden konnten. Die Photographie in Abb. 3 ist 24 Stunden nach der Öffnung des Abflusses aufgenommen. In den Quadranten II bis IV sieht man sehr deut- lich die im Sinne der Erdrotation gewundenen krummen Stromlinien; nur im I. Quadranten ist infolge einer Störung eine kleine Abweichung von der Theorie vorhanden. Tumlirz hat im ganzen 6 Versuche angestellt und immer zeigte Abb. 3. Die von Tumlirz in einem großen Wasser- behälter nachgewiesene Bewegung der Teilchen, die unter dem Einfluß der Erddrehung stehen, ist schon seit längerer Zeit in großartigstem Maßstab in der freien Natur, nämlich im Luftmeer, be- obachtet worden. In einer Zyklone, in einem barometrischen Minimum, haben wir ganz analog von der Erdrotation beeinflußte Luftströme vor uns. Ein Blick auf die in einem barometrischen Minimum herrschenden Windrichtungen zeigt ohne weiteres die innere Verwandtschaft und Ähnlich- keit mit den von Tumlirz photographierten Flüssigkeitsströmungen. Von historischem Interesse ist es, daß vor mehr als 60 Jahren Perrot *) bereits den gleichen Gedanken hatte wie Tumlirz, die Erdrotation durch Beobachtung an einer Flüssigkeitsströmung nachzuweisen. Per rot glaubte auch in einem von ihm angestellten Versuch eine solche Wirkung beobachtet zu haben; doch zeigte Tumlirz*) eingehend, daß schon theoretisch bei der Ver- suchsanordnung P er rots kein nachweisbarer Ein- fluß der Erddrehung möglich sei; überdies war auch die technische Methode Per rots zur Sicht- barmachung der Stromlinien unbrauchbar. Karl Kuhn. Chemie. Die chemische Aktivierung von Gasen. Über eine sehr merkwürdige Art der che- mischen Aktivierung von Gasen berichtet C. Zeng- helis*) in den Comptes rendus der Pariser Aka- ') Günther 1. c. S. 242. ") Wiener Berichte, mathem.-naturwiss. Kl;isse ; Bd. CXXI. Abt. IIa. S. 1481 — 1490. ') Natura S. 339 Vol. 105 Nr. 2637, 13. Mai 1920. 670 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XIX. Nr. 42 demie der Wissenschaften vom 12. April 1920. Gase wie Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Kohlenmonoxyd wurden in äußerst fein zerteiltem Zustand mit Lösungen in Berührung gebracht und zeigten dann bei gewöhnlicher Temperatur che- mische Wirkungen, die sonst nur bei hohem Druck, großer Hitze und in Gegenwart von passenden Katalysatoren beobachtet werden. Die feine Zer- teilung der Gase in den Lösungen wurde einfach dadurch erzeugt, daß die Gase unter einem solchen Druck in Papierpatronen gepreßt wurden, daß sie innerhalb der Poren des Papiers mit dem gelösten Körper zur Reaktion kamen. Der Druck darf nicht so groß werden, daß Gasblasen aus der Papierhülse austreten und in der umgebenden Lösung in die Höhe steigen. Vor jedem Versuch wurde eine leere Papierpatrone in die Lösung ge- bracht, um zu beweisen, daß das Papier allein keinerlei Wirkung auf die Flüssigkeit auszuüben vermag. Elementarer Wasserstoff vermochte unter den beschriebenen Versuchsbedingungen Quecksilber- chlorid (Sublimat HgCI^) zu Quecksilberchlorür (Kalomel HgCI) zu reduzieren, ebenso Kaliumnitrat KNO3 zu Kaliumnitrit KNOj. Bei der Einwirkung von Wasserstoff auf Kohlendioxyd ließ sich nach einiger Zeit Formaldehyd CHjO und eine Substanz nachweisen, welche Zuckerreaktion zeigte. In der Papierhülse aktiviertes Sauerstoffgas vermochte Ammoniak NH., zu salpetriger Säure HNO., zu oxydieren und Methylalkohol CHgOH in Form- aldehyd CHjO zu verwandeln. Selbst der chemisch träge Stickstoff wurde mit Wasserstoff gemischt so aktiviert, daß sich nach einer halben Stunde in der umgebenden Flüssigkeit soviel Ammoniak NH; gebildet hatte, um dessen Nachweis mit Neßlers Reagens zu ermöglichen. Kohlenmonoxyd CO wirkte auf Jodsäure und auf molybdänsaures Natrium reduzierend ein. Alle Reaktionen fanden bei gewöhnlicher Temperatur statt. Falls sich diese Angaben von Zenghelis, welcher weitere Einzelheiten darüber noch ver- öffentlichen will, bei der Nachprüfung bestätigen sollten, hätten wir in dem beschriebenen Verfahren eine sehr merkwürdige und einfache, aber theo- retisch noch nicht ganz klare Methode zur chemischen Aktivierung von Gasen vor uns, die möglicherweise auch einmal einer industriellen Ausnutzung fähig ist. Karl Kuhn. Meteorologie. Das Gesetz der Windzunahme mit der Höhe und die Aufstellung von Wmd- turbinen. Mehr denn je sucht man jetzt die Wind- kräfte der Volkswirtschaft dienstbar zu machen, und es gilt nun für die Windturbine die erforder- lichen windstatistischen Unterlagen zu liefern. Die Kenntnis der Dauer gewisser Windgeschwin- digkeitswerte ist für Ermittlung der ,, Betriebs- stunden" im Monat und Jahr wichtig, doch dazu bedürfte es eines möglichst dichten Netzes von Windmeßstellen. Augenblicklich benutzt man als solche die schlanken Stahlrohrtürme der modernen Großradiostationen, die sich bis 250 ni Höhe er- heben und in den so aufgestellten Apparaten die ungefälschten Verhältnisse des freien Luftmeeres wiedergeben. Auf Grund der Beobachtungen auf den Funkentürmen in Nauen und Eilvese, welche Windmeßapparate in den verschiedensten Höhen tragen, ergibt sich folgendes: Windzunahme mit der Höhe in cm pro m Erhebung über dem norddeutschen Flachland Boden —2 2—9 ig — 10 16 — 4242 — 82 82 — 124 m Wir sehen also eine Vierteilung der Luft- schichten vom Boden ab, bis 2 m Höhe außer- ordentlich große Windzunahme von 116 cm pro m Erhebung, dann eine solche bis auf ',(, , bis auf V.20 und schließlich bis auf '/sj des Betrages der untersten Bodenschicht. Hell mann bringt die Windzunahme in den untersten Luftschichten (Das „Wetter", 1920, S. 74) in die folgende Form: „Die mittleren Windgeschwindigkeiten sind in den Schichten bis 2 m Höhe proportional den 4. Wurzeln, oberhalb 16 m aber proportional den 5. Wurzeln aus den entsprechenden Höhen." Bis 16 m Höhe über dem Boden bedeutet also jeder Meter Höhengewinn einen merklichen Windgewiim, darüber hinaus ist nur noch wenig Wind mit größerer Turbinenhöhe zu gewinnen. Dr. BI. Bücherbesprechungen. Lang, R., Experimentalphysik. 1. Mechanik der festen, flüssigen und gasigen Körper. 148 S. mit 125 Abb. im Text. Sammlung Göschen Nr. 611. Berlin und Leipzig 1919. Das Büchlein ist lebendig und einfach, leicht faßlich geschrieben, die Auswahl des Stoffes gut, die Gruppierung oiiginell. Das Bändchen zerfällt in 2 Hauptteile: Mechanik der idealisierten Materie und Mechanik der wirklichen Materie. Der 2. Ab- schnitt handelt von der Molekularhypothese, der Elastizität, der Reibung, den Kapillarkräften und der Diffusion und ist auf 28 Seiten zusammen- gedrängt, wie das bei einer solchen Peilung und in Anbetracht des geringen Umfanges des Bänd- chens nicht anders möglich erscheint. Im i. Ab- schnitt nimmt den größten Raum die Mechanik N. F. XIX. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 671 der starren Körper ein, in der die grundlegenden physikalischen Gesetze etwas breiter dargestellt werden konnten, da auf die Behandlung der IVIeß- methoden unter Hinweis auf Bändchen 301 der Sammlung verzichtet wurde. Die 2. Auflage ist gegenüber der i. nicht verändert. S. Valentiner. He§, H., Elektrizitätslehre. 148 S. Nürn- berg 19 19, C. Koch. In dem Buch gibt der Verf. eine elementare Darstellung der Elektrizitätslehre für die Oberstufe von Mittelschulen ; dementsprechend ist auch die Benutzung höherer Mathematik (abgesehen von ihrer Anwendung in einem kurzen Anhang „zur Entstehung des elektromagnetischen Feldes") unter- blieben. Die Auswahl des Stoffes ist gut und die Schreibweise einfach und klar. Die modernen Gebiete der Elektrizitätslehre hätten vielleicht ein wenig mehr berücksichtigt werden können, im besonderen gilt das von der drahtlosen Tele- graphie; immerhin finden sich doch Hinweise auch auf die neuesten Erkenntnisse. Der Verf. legt seinen Ausführungen eine besondere Anschau- ung über das Wesen der Elektrizität zugrunde, die, wie er selbst sagt, in mancher Beziehung an die von Zehn der erinnert. Das Elektron ist ein „Atheratom" und als solches eine Gashülle um, bzw. an dem positiven Kern des materiellen Atoms. Natürlich kommt diese Vorstellung nur an wenigen Stellen des Buches zur Geltung und Anwendung; trotzdem wäre wohl ein Verzicht auf eine solche bestimmte, anscheinend noch nicht völlig durch- gearbeitete Vorstellung über das Wesen der Elek- trizität in einem kurzen einführenden Lehrbuch zweckmäßiger, da der Anfänger leicht zu dem Gedanken neigen wird, das Vorgetragene als ge- sicherte, allegemein anerkannte Grundlage anzu- sehen. Als solches kann wohl höchstens zurzeit die jetzt schon gutbegründete Theorie des Atom- innern von Rutherford, Sommerfeld u. a. gelten, die mit allem Vorbehalt vorzutragen sich unter Unständen empfehlen würde. S. Valentiner. Dr. Kanzler, Geologie des Teutoburger Waldes und des Osnings. 191 S. Bad Rothenfelde 1920, Verlag von J. G. Holzwarth. Geh. 18 M. Ein Lokalkenner gibt hier eine reine Strati- graphie des Teutoburger Waldes mit reichlichen Angaben der Aufschlüsse und Fundstätten, die für Sammler willkommen sein werden. Der Schichtenfolge ist ein Kapitel über die Prähistorie und ein solches über die Solquellen angefügt, auf die der Verf., als Rothenfelder Badearzt, etwas näher eingeht. Leider fehlen dem nicht billigen Buche jegliche Profile, und die interessante Tek- tonik des Gebietes ist einleitend nur mit ein paar Zeilen gestreift. Scheu. Jäger, Prof Dr. Gustav (Wien), Theoretische Physik L Mechanik u. Akustik. Mit 24 Abb. Sammlung Göschen. Berlin u. Leipzig 19 19. Preis einschl. Verlegerzuschlag 2,40 M. Das in fünfter, verbesserter Auflage vorliegende Büchlein weist gegenüber der Ausgabe von 1898, die dem Referenten vorliegt, wesentliche Erweite- rungen auf; so ist eine 14 Seiten umfassende Be- handlung der Elastizitätstheorie neu aufgenommen. Auch in den Abschnitten Hydromechanik u. Aku- stik ist die Darstellung an manchen Stellen ge- ändert. K. Seh. Lang, Prof R. (Stuttgart), Experimental- physik. III. Wärmelehre. Mit 55 Abb. im Text. Sammlung Göschen Nr. 613. Berlin u. Leipzig 19 19. Preis einschl. Verlegerzuschlag 2,40 M. Das Büchlein, das namentlich für ältere Schüler höherer Lehranstalten u. technischer Fachschulen, Studenten u. interressierte Laien geschrieben ist, gibt in leichtfaßlicher Darstellung einen Überblick über die Erscheinungen der Wärmelehre. Zahl- reiche gute Abbildungen erläutern die beschrie- benen Versuche. Am Schlüsse wird neben dem 2. auch der 3. kürzlich von N ernst aufgestellte Satz kurz mitgeteilt. K. Seh. Otto, Dr. P. , Oberbibliothekar im Reichspatent- amt, Erfinderfibel. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart u. Berlin 1920. Preis 16 M. Aus den tausenden von Erfindungen, welche in jedem Jahre im Deutschen Reich patentiert werden, hat der Verf. solche ausgewählt, „die durch den Reiz des ihnen zugrundeliegenden Gedankens ansprechen und die mit Elementarkenntnissen, wie unsere Schulen sie geben, für jeden verständ- lich sind, der mit einigem technischen Sinn begabt ist". Aus der Fülle der 100 mitgeteilten Erfin- dungen, von denen jede durch eine oder mehrere Figuren erläutert ist, seien nur einige Beispiele mitgeteilt : aus einem Blech gebogener Rasier- apparat, Vorrichtung zur Erweckung der Vor- stellung eines brennenden abstürzenden Flugzeuges, Hilfshosenknopf, Vorrichtung zur Führung von Blinden, Verfahren zur Herstellung von Schififs- wandungen aus Eisenbeton, zusammenrollbares Boot usw. Technisch begabte Jungen wie ange- hende und gereifte Techniker werden aus dem Buch mannigfache Anregung und .Belehrung schöpfen. K. Seh. Börnstein, K., Sichtbare und unsichtbare Strahlen. 3. Aufl. Aus Natur und Geistes- welt Nr. 64. Teubner, Leipzig u. Berlin 1920. 130 S. mit 71 Abb. Nach dem Tode Borns t eins ist die vor- liegende dritte Auflage des Büchleins von Erich R e g e n e r besorgt worden. Die vier ersten Kapitel, die von der Wellennatur der Strahlen, den Schall- und Lichtstrahlen und dem unsichtbaren Teile des Spektrums handeln, sind wenig verändert, das 672 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 42 fünfte und sechste dagegen ist neu geschrieben worden. Im fünften werden die elektromagneti- schen Strahlen unter Heranziehung mechanischer Vergleiche behandelt. Das sechste bespricht die elektrischen Entladungsstrahlen und die radio- aktiven Strahlen. K. Seh. Grabe, L., Spektroskopie. 2. Aufl. Aus Natur und Geisteswelt Nr. 284. 115 S. mit 63 Abb. Leipzig u. Berlin 1919, Teubner. Das Bändchen gibt eine Darstellung der Spektro- skopie für naturwissenschaftlich interessierte Leser; an Vorkenntnissen wird nicht mehr vorausgesetzt als unsere höheren Lehranstalten bis zur Unter- sekunda vermitteln. Die zweite Auflage ist gegen- über der ersten namentlich durch eine Darstellung der neuen Spektroskopie der Röntgenstrahlen, dem sich ein kurzer Hinweis auf die Quanten- theorie anschließt, erweitert. K. Seh. die sich für das Wetter und meteorologische Fragen interessieren, kann das Büchlein warm empfohlen werden. K. Seh. Günther, S., Das Zeitalter derEnt- deckungen. 4. Aufl. 106 S. Aus Natur und Geisteswelt Nr. 26. Leipzig und Berlin 1919, Teubner. Das lesenswerte Büchlein liegt in der vierten Auflage vor; dieselbe zeigt gegenüber der dritten keine wesentlichen Veränderungen. K. Seh. Meyer, Hermann, Fünfzig Jahre bei Sie- mens. 213 S. Berlin 1920, Ernst Siegfried Mittler u. Sohn. Preis 12 M. Der Verfasser ist im Jahre 1870 als 15 jähriger Lehrling bei der Firma Siemens & Halske einge- treten und hat Jugendzeit und Aufschwung der Elektrotechnik der Firma, der er als Oberingenieur bis zum Jahre 1920 angehört hat, miterlebt; in schlichter Weise schildert er seine vielfachen Er- lebnisse. Besonders lehrreich und reizvoll ist es zu erfahren, welche Unsumme von zäher mühe- voller Arbeit nötig war, um einen elektrischen Apparat, eine elektrische Anlage aus den Anfängen bis zur Vollkommenheit zu bringen, die wir heute an ihm für selbstverständlich halten. Welche Schwierigkeiten waren z. B. zu überwinden, die elektrische Beleuchtung zu ihrer heutigen Voll- kommenheit zu entwickeln ! Das Buch gibt uns eine Entwicklungsgeschichte der Elektrotechnik aus der Feder eines Mannes, der in einer der ersten Firmen der Welt an hervorragender Stelle tätig war, und darin liegt sein besonderer Wert. K. Seh. Möller, J. , Nautik. 2. Aufl. Aus Natur und Geisteswelt Nr. 255. 116 Seiten mit 64 F"ig. u. einer Seekarte. Berlin u. Leipzig 1919, Teubner. Die erheblichen Änderungen der nautischen Methoden in den letzten 10 Jahren haben den Verfasser genötigt, einzelne Kapitel umzu- arbeiten. So ist u. a. der Abschnitt über den Kreiselkompaß ausführlicher behandelt worden. Neu aufgenommen ist die Beschreibung, wie man mit Hilfe der Funkentelegraphie den Abstand und die Richtung bestimmt. K. Seh. Hennig, R., Unser Wetter. 2. Aufl. Aus Natur und Geisteswelt Nr. 349. 118 S. mit 48 Abb. Berlin u. Leipzig 1919, Teubner. Das äußerst lehrreiche Büchlein , das vor 8 Jahren unter dem Titel „Gut und schlecht Wetter" erschienen ist, bringt eine Einführung in die Klimatologie Deutschlahds an der Hand von Wetterkarten. Die wichtigsten Wetterlagen wer- den unter Zugrundelegung der dazugehörigen typischen Wetterkarten besprochen. Allen denen. Literatur. Günther, H., Was ist Elektrizität. Erzählungen eines Elektrons. Autorisierte freie Bearbeitung nach dem Eng- lischen des Ch. R. Gibson. Stuttgart, Franckhsche Verlags- handlung. 3,60 M. Auerbach, F., Wörterbuch der Physik. Berlin und Leipzig '20, VV. de Gruyter & Co. 26 M. üppenheimer, Prof. Dr. C, Kleines ^Wörterbuch der Biochemie und Pharmakologie. Ebenda. 16 M. Schütze, Prof. Dr. H., Die Posener Seen. Mit 4 Text- figuren und I Karte. Stuttgart '20, J. Engelhorn. 25 M. C lassen, W. , Wie der deutsche Osten entstanden ist. Hamburg, Verlag des deutschen Volkstums. 3,60 M. Angersbach, A., Das Relativitätsprinzip. Mit 9 Te.\t- figuren. Leipzig und Berlin '20, B. G. Teubner. 2, So M. Koerster, Prof. W., Die Freude an der Astronomie. Eine kulturgeschichtliche Betrachtung. Berlin '20, F. DUmmler. Das Kelativitälsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen 11. A. Lorentz', A. Einstein's , II. Minkowski's. 3. verb. AuH. Berlin und Leipzig '20, B. G. Teubner. 16 M. Karsten, Prof. Dr. G. und Benecke, Prof. Dr. W., Lehrbuch der Pharmakognosie. 3., vollständig umgearbeitete Aufl. von G. Karstens L. d. Ph. Mit 544 Abb. Jena '20, G. Fischer. Verworn.M., Die Entwicklung des menschlichen Geistes. 4. Aufl. Jena '20, G. Fischer. 3,60 M. Illlmlt: 11. Dexler, Über die Zulässigkeitsgrenzen biologischer Analogien. S. 657. O. Schnurre, Die Schwalben in der deutschen Urlandschaft. S. 665. — Einzelberichte: Roland von Eötvös, Neue Versuche über die Achsendrehung der Erde. (3 Abb.) S. 667. C. Zenghelis, Die chemische Aktivierung von Gasen. S. 669. llcUmann, Das Gesetz der Windzunahme mit der Höhe und die Aufstellung von Windlurbinen. S. 670. — Bücherbesprechungen: R. Lang, E.\perimentalphysik. S. (170. H. Heß, Elektrizitätslehre. S. 671. Kanzler, Geologie des Tcutoburger Waldes und des Osnings. S. 671. R. Lang, Experimentalphysik. III. S. 071. G. Jäger, Theoretische Physik 1. Mechanik und Akustik. S. 671. P. Otto, Erfinderfibel. S. 671. K. Börnstein, Sichtbare und unsichtbare Strahlen. S. 671. L. Grebe, Spektroskopie. S. 672. S. Günther, Das Zeitalter der Entdeckungen. S. 672. J. Möller, Nautik. S. 672. R.Ilennig, Unser Wetter. S. 672. H.Meyer, Fünfzig Jahre bei Siemens. S. 672. — Literatur: Liste. S. 672. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 24. Oktober 1920. Nummer 43. [Nachdruck verboten.] Die Samen vieler Pflanzen keimen nicht gleich nach ihrer Reife, sie verharren kürzer oder länger in einem Ruhezustand , aus dem sie auch dann nicht treten, wenn anscheinend günstige Keimungs- bedingungen gegeben sind. Mit diesem Keim- verzug muß auch die Praxis rechnen und nicht selten macht er sich unliebsam geltend in Gärt- nerei und Landwirtschaft. Die Wissenschaft hat sich vielfach bemüht klareren Einblick in die inneren und äußeren Bedingungen dieser zeit- weisen Keimungsunfähigkeit zu gewinnen; durch sie wurden in letzter Zeit vor allem Licht und Frost als ungemein wirksame keimungsfördernde Faktoren erkannt und so ein wichtiger Fortschritt in der Erforschung der auch für die Praxis be- deutungsvollen Keimungsphysiologie gemacht. Relativ wenig Rücksicht hat dagegen bisher die Keimungsforschung auf die individuellen Ver- schiedenheiten des Pflanzenmaterials genommen, obwohl natürlich längst bekannt ist, daß sich die einzelnen Samen in Hinsicht auf die Keimung keineswegs gleich verhalten. Wissenschaftlich ist das für verschiedene Arten festgestellt , so z. B. für die Samen des grünen Halbschmarotzers Alec- torolophus, des Klappertopfes durch die grund- legenden Arbeiten Heinrich er s. Die A. -Keim- linge erscheinen unter natürlichen Verhältnissen nie über dem Boden in dem Jahre, in dem die Samen reifen, sondern erst im darauffolgenden Frühling; aber auch dann keimt nur ein Teil der Samen , ein weiterer Teil erst im Frühling des zweiten Jahres, ja einige gar erst im dritten Jahr und zwar wieder nur im Frühling. Auch das Keimprozent der A. -Samen also die Anzahl der Samen einer Ernte, die überhaupt zum Keimen kommt, ist wechselnd. Bisweilen sind es nur wenig Prozent, eine Vollkeimung, lOO Prozent war bisher überhaupt nicht beobachtet. Warum die einen Samen Früh-, die anderen Spätkeimer sind, wieder andere gar Nichtkeimer, das klar zu legen hat sich vor einigen Jahren Spärlich zum Ziel gesetzt. Umfassende, mühe- volle, über Jahre sich erstreckende, gewissenhaft durchgeführte, zeitraubende Kuhurversuche waren dazu nötig. Das Resultat, obwohl anders ausge- fallen als erwartet, hat aber die aufgewandte Mühe wohl gelohnt, es ist jedenfalls als eines der bemerkenswertesten der letzten Jahre auf dem Gebiete der Vererbungslehre zu bezeichnen. Es sei versucht den Gang der Arbeit Sperlichs in naher Anlehnung an seine Publikationen (1919) kurz darzustellen. Pline Reihe von Vorversuchen ergab zunächst. Phyletische Potenz. Von Dr. Friedl Weber (Graz). daß die Keimkraft, das Keimprozent, der Zeit- punkt der Keimung weder vom Ernährungszustand der Mutterpflanze, noch von der Samengröße, noch dem Reifegrad der Samen abhängt. Es war daher naheliegend anzunehmen, daß unter den natürlichen Verhältnissen in den Beständen (Po- pulationen) von Alectorolophus hirsutus — das war die Versuchspflanze — überhaupt, was die Samenkeimung betrifft, kein einheitlicher Typus vorhanden ist, daß, um in der Terminologie der Vererbungslehre zu sprechen, die verschiedenen realisierten Erscheinungstypen (Phaenotypen) des Verhaltens der Samen nicht durch eine verschie- denartige äußere Beeinflussung eines einheitlichen Anlagetypus (Genotypus) Zustandekommen; es schienen vielmehr genotypische, vererbbare Unter- schiede des Keimungsverhaltens vorhanden zu sein. Beobachtungen an den natürlichen Beständen, Populationen, bei denen stets mit Fremdbestäubung und demnach mit Vermischung der Anlagen (Gene) zu rechnen ist, konnten die Frage nicht entschei- den. Es mußte daher versucht werden, aus den Populationen durch fortgesetzte Zucht reine Linien zu gewinnen. Unter reinen Linien versteht Jo- hannsen bekanntlich den Inbegriff aller Indi- viduen, welche von einem absolut selbstbefruch- tenden Individuum abstammen, das aus einer Ei- zelle und Spermazelle hervorgegangen ist, die in bezug auf die betreffenden Anlagen, Gene gleich sind. Die Selbstbefruchtung muß natürlich bei der Züchtung reiner Linien fortdauernd ohne Unterbrechung erfolgen, Kreuzung darf nicht vor- kommen. Sperlich legte sich also zunächst die Frage vor: gibt es eine Form der Alectorolophus -Pflan- zen, eine reine Linie, deren Samen durchweg im I.Jahre nach der Reife keimen, eine andere Form, deren Samen erst im 2. und noch eine andere, wovon sie erst im 3. Jahre zur Keimung ge- langen .? Die Rohernte, von der die Zucht der reinen Linien ausgehen sollte, wurde im Juni 19 12 vor- genommen und zwar erfolgte die Freilandernte am 6., 13., 21. und 30. Juni also an etwa eine Woche voneinander abstehenden Tagen. Gerade durch dieses in Intervallen erfolgende Abernten der Samen war die Grundlage gegeben für das spätere Verhalten der einzelnen den Samen ent- stammenden Linien. Das Samenmaterial ist je nach dem Tag der Ernte in 4 Gruppen eingeteilt: 674 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 43 Gruppe I Samen geerntet am 6. VI. 1912 „ II „ „ „ 13. VI. 1912 „ III „ „ „ 21. VI. 191 2 „ IV „ „ „ 30. VI. 191 2 Die erste Tochtergeneration, Fj-Generation, erwuchs 191 3 bei guter Ernährung. Es ent- wickelten sich dabei aus der Gruppe I 33,6 "/„ der Keimlinge zu Individuen, die wieder reife Samen lieferten, aus der Gruppe II 5S>5 "/o ^"s der III. 20,4 "/o, aus der IV. 25,9 "/q. Hievon sind die Pflanzen der Gruppe I mit denen der übrigen Gruppen nicht unmittelbar vergleichbar, da sie wesentlich dichter gesät und daher im Konkurrenz- kampfe stark benachteiligt waren. Dagegen er- wuchsen die Pflanzen der Gruppen II bis IV unter annähernd gleichen Bedingungen und doch ver- hielten sie sich, wie aus obigen Zahlen ersicht- lich, so sehr verschieden ; bei der Gruppe IV und III erreichten ca. 'j^ bzw. ^5 "^^r Keimlinge, bei der Gruppe II mehr als die Hälfte die Samen- reife. Da, wie erwähnt, die äußeren Bedingungen bei diesen 3 Gruppen im wesentlichen die gleichen waren, kann der Unterschied nur „in der inneren Konstitution der einzelnen Gruppen liegen". Es sei noch betont, daß von den Keimlingen der Gruppe I gewiß ein sehr hoher Prozentsatz die Samenreife erreicht hätte, falls diese Pflanzen unter denselben günstigen Bedingungen erwachsen wären wie die der übrigen Gruppen. Die 2. Filialgeneration, Fj, erwuchs im Jahre 1914 unter absichtlich ungünstig gehaltenen Be- dmgungen: Dichtsaat, Wirtspflanze (Gras) mager gehalten. Die natürliche Folge davon war, daß nur ca. 6"/^ der Keimlinge die Samenreife er- reichten; es gingen also die meisten früher ein, ihre Anzahl war in allen vier Gruppen so ziem- lich gleich; der in der ersten Filialgeneration zu- tage tretende Unterschied schien also wieder ver- wischt. Von besonderem Interesse war nun aber das Verhalten der F3 -Generation im Jahre 191 5. Die Entwicklung der Wirtspflanze war reichlich und dadurch eine günstige Ernährung der darauf schmarotzenden Klappertöpfe gesichert, anderer- seits aber der Stand der Schmarotzer ein dichter und so doch der Konkurrenzkampf stark: Die schwächlichen Individuen fielen der Ausmerzung anheim. Diese durch Autoselektion erfolgende Reduktion der Individuenzahl war in Gruppe I am geringsten, in II etwas weitgehender, ganz bedeutend stärker aber in III und noch mehr in IV, wo von 66 Keimlingen schließlich nur 5 Individuen, d. i. "6 "/„, zur Samenreife gelangten. Dieser in der inneren Konstitution zu suchende Unterschied der Linien der 4 Gruppen, der schon in der F, Generation deutlich zutage trat, in der F.,-Generation verschwunden schien, lag nun in der Fg- Generation wieder offen vor. Die fünf Pflanzen der Gruppe IV, die infolge ihres lockeren Standes unter äußerst günstigen äußeren Bedin- gungen erwuchsen, fielen nun auch äußerlich durch ihre dürftige Entwicklung, ihre Kleinheit auf, über ihre schwächliche innere Konstitution konnte kein Zweifel bestehen. Dementsprechend war auch ihr Verhalten in der nächsten 1916 F^ -Generation: Alle Keimlinge der spärlich gekeimten Samen der Gruppe IV gingen ein. Die Linien der Gruppe IV starben also in F^ vollständig aus, die der übrigen Gruppen lieferten dagegen sich weiter erhaltende Individuen. Schon aus dem bisher Mitgeteilten geht die grundlegende gänzlich neue Tatsache hervor: „Je später ein Individuum entsteht, desto schwächer ist seine Deszendenz, um so früher müssen die ihm entstammenden Linien zugrunde gehen." Von Gruppe I und II, das sind die Pflanzen, die der frühesten Ernte (bis Mitte Juni 191 2) ent- stammten, leiten sich kräftige Linien ab, von Gruppe IV aus der spätesten Ernte (Ende Juni 191 2) die allerschwächsten, die bereits in der F^- Generation völlig aussterben. Die Kultur 1916, die F^ -Generation wurde — soweit sie sich erhielt, die Gruppe IV starb eben aus — nicht wie bisher der natürlichen Auslese überlassen, sondern eine künstliche durch den Experimentator vorgenommen. Von den Keim- lingen, die den Samen gleicher Glieder (Nodien) oder gleicher Kapseln entstammten, wurden näm- lich nur die kräftigsten Individuen belassen, die sich dann auch weiterhin bei vortrefflichen Lebens- bedingungen günstig entwickelten. Dies gilt aller- dings vornehmlich nur für die Pflanzen der Gruppe I und IL Bei der Gruppe III zeigte sich im Gegensatz dazu häufiges Eingehen der Pflanzen und auch die schönsten äußerlich kräftigsten Exemplare entwickelten keine oder nur innerlich minderwertige Samen, während die Pflanzen der beiden ersten Gruppen überaus reichliche Samen- produktion aufwiesen. Keimfähig zeigten sich von den Samen der Gruppe III überhaupt keine, ob- wohl sie äußerlich von seltener Größe und Gleich- mäßigkeit waren; alle diese Samen starben bald nach ihrer Reife ab und mithin ist auch die Linie III ausgestorben ebenso wie im Vorjahre die Gruppe IV. Bei beiden aussterbenden Gruppen hat sich der nahende Verfall der Linien bereits angekündigt durch die Herabsetzung der Keim- kraft der jeweilig vorhergehenden Generation. Die Zunahme von spätkeimenden Samen ist also ein drohendes Vorzeichen von dem Verfall der kom- menden Generationen. Die Keimung der noch verbleibenden Gruppe I und II der F^-Generation erfolgte in Schalen, damit sie besonders genau von den ersten An- zeichen an verfolgt werden konnte. Die Keim- linge der Gruppe I waren vorzüglich Frühkeimer, die der Gruppe II Spätkeimer; dadurch kündigt sich wieder der beginnende Verfall der Linien und zwar nunmehr der Gruppe II an. Tatsäch- lich hatten die Spätkeimer kein langes Leben; viele starben, noch bevor sie ans Tageslicht ge- langten, nur ganz wenige entwickelten sich bis zur Samenreife. Es bestätigt sich daher neuer- N. F. XIX. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 675 dings: die Zunahme von Spätkeimern ist — eben- so wie die Produktion von Nichtkeimern ein An- zeichen, „daß die betreffenden Mutterpflanzen einer Linie angehören, die nicht mehr lebensfähig ist und früher oder später aussterben wird". Aus der überblickenden Betrachtung der Ge- samtzüchtungsergebnisse, der seit 191 2 durch Selbstbefruchtung gezogenen Linien gelit jedenfalls mit Sicherheit hervor, daß die Keimkraft in ein und derselben Linie kein konstantes erbliches Merkmal ist. Es offenbaren sich vielmehr allmäh- lich in den aufeinander folgenden Generationen die verschiedensten Grade einer Schwächung, die sich zunächst in der verschiedenen Keimkraft äußert. Die wechselnden Keimerfolge, deren Ur- sache aufzuhellen Anlaß zu dieser Untersuchung Sperlichs waren, erklären sich nicht durch Vermischung reiner Linien verschiedener Keim- kraft oder durch Bastardierung früh- mit spät- keimenden Rassen. Auch in reinen Linien bleibt der Keimerfolg nicht konstant. Es ist nicht mög- lich — wie ursprünglich vermutet — Linien einer bestimmten konstant sich vererbenden Keimkraft zu züchten. Damit ist die Beantwortung der anfangs ge- stellten Frage gegeben ; in ihr liegt jedoch keines- wegs — wie ja bereits zu entnehmen, das alleinige oder auch nur bedeutungsvollste Ergebnis der inhaltsreichen Arbeit. Eine eingehende Verfolgung der Deszendenten von den genau bekannten Linienausgangspunkten der Fj -Generation bis zur F^-Generation ergibt nun weiterhin folgendes: 1. Linien, die sich aus Samen von Seitenachsen der Stammpflanze herleiten, gehen bald zurück und sterben aus. Die Seitenzweige am Hauptstamm der Pflanze hinken in ihrer Entwicklung dem Hauptstamm bekanntlich nach, entwickeln sich später; es findet sich also auch in obiger Ermittlung die aus der Betrachtung der Gesamtkultur sich ergebende Gesetzmäßigkeit realisiert; Die später entstehen- den Individuen zeigen sich in ihrer Nachkommen- schaft geschwächt. 2. Der Schwächungsgrad der Deszendenz hängt ab von der Rangordnung der betreffenden samen- liefernden Fruchtkapsel. Die Aufblühfolge und demnach auch die Samenreife im Hauptstamm von Alectorolophus ist eine von unten nach oben fortschreitende, akropetale; die den obersten Stammgliedern, Nodien entspringenden Blüten kommen am spä- testen zur Entfaltung; aus den Samen der dort zuletzt sich entwickelnden Kapseln geht die am meisten geschwächte Nachkommenschaft hervor. 3. Selbst die Deszendenz eines und desselben Nodiums, ja sogar die einer einzelnen Kapsel ver- hält sich in bezug auf Lebensenergie und Keim- kraft nicht gleich. „Es wiederholt sich somit innerhalb der Nach- kommenschaft des Nodiums oder der Kapsel, das was sich innerhalb der Deszendenz des Individu- ums bzw. der Individuengruppe gleichzeitiger F'rei- landernte abspielt: ein beständiges Auftreten von Individuen, die eine bestimmte Schwächung er- fahren, welche die weitere Nachkommenschaft früher oder später (je nach dem Grade der Schwächung) dem sicheren Untergange entgegen- führt." Diese merkwürdige bisher noch nie erkannte Schwächung braucht sich zunächst keineswegs in äußerlich sichtbaren, morphologischen Anzeichen und Merkmalen der betreffenden Individuen kund- zutun; deshalb blieb sie auch bisher völlig unent- deckt. Vielmehr können Individuen, deren innere Schwächung so weit schon gediehen ist, daß sie überhaupt keine lebensfähigen Nachkommen mehr zu erzeugen vermögen, wenn sie selbst unter günstigen äußeren Bedingungen leben, äußerst üppig gedeihen und reichliche Samen produzieren. Die geheimnisvolle Schwächung äußert sich eben erst in ihrer Deszendenz; diese Individuen selbst sind noch keineswegs steril, sondern im gewöhn- lichen Wortsinne fortpflanzungsfähig ja fruchtbar, doch fehlt ihnen „die Fähigkeit vollwertige exi- stenzfähige Linien zu erzeugen" : ihr Stamm stirbt entweder schon in der nächsten oder aber in ganz wenigen Generationen aus; ihre Üppigkeit und Fruchtbarkeit ist nur mehr „gleichsam ein letztes Aufflackern vor dem sicheren Untergang der Linie." Die Fähigkeit der Erzeugung lebenskräftiger Linien bezeichnet S perl ich als: Fähigkeit der Linienerhaltung oder phyletische Potenz. Jedes Individuum besitzt ein ganz bestimmtes Maß dieser phyletischen Potenz, das eine viel, es bildet den Ausgangspunkt einer sich auf viele Generationen erhaltenden kräftigen Linie, das andere wenig, seine Nachkommenschaft ist auf ganz wenige geschwächte Generationen beschränkt, dann erlischt sein Stamm. Das Maß dieser Individualpotenz äußert sich also erst in der Deszendenz, ist aber abhängig von der Aszendenz und zwar wurde — wie aus- geführt — das Moment erkannt, das in der Aszendenz für das Maß der phyletischen Potenz entscheidend ist, das auf die einzelnen Nach- kommen entfällt: Es ist dies nämlich der Zeit- punkt der Entstehung des Individuums oder, was auf dasselbe hinausläuft, die „Rangordnung der betreffenden samenliefernden Kapsel". Die Samen der Früchte, die frühzeitig an den mittleren No- dien entstehen, also in relativ jungem Blütenalter der Mutterpflanze, erhalten mehr phyletische Po- tenz zugewiesen, als solche von am spätesten reifenden Früchten der obersten Nodien oder von Kapseln aus der ebenfalls im höheren Alter der Mutterpflanze sich entwickelnden Seitenachsen- blüten. Die phyletische Potenz „erreicht in den untersten Nodien der Hauptachsenmitte das Maxi- mum. Vom ersten Nodium oder von den beiden untersten blühenden Nodien abgesehen, kommt den ersterzeugten Nachkommen der Hauptanteil e^6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 43 der verfügbaren phyletischen Potenz des Indi- viduums zu." Stets ist in jedem Individuum eine ganz be- stimmte selbstererbte Erbmasse an phyletischer Potenz vorhanden; diese wird keineswegs gleich- mäßig auf alle Nachkommen verteilt; der Haupt- anteil fällt vielmehr den ersten Kindern zu; die Weiterentwicklung der Art — die ja durch das reichliche Maß der phyletischen Potenz gesichert wird — gründet sich „gleichsam auf das Majorats- recht". Wenn die ersten Nachkommen den Haupt- anteil der verfügbaren phyletischen Potenz zu- gewiesen erhalten, so muß für die späteren immer weniger davon übrig bleiben, je mehr Kinder überhaupt zur Ausbildung gelangen; das gegebene Maß der phyletischen Potenz erschöpft sich in den erstentwickelten Nachkommen größtenteils und wird an die späteren immer spärlicher verteilt. Wie ist es aber, wenn die Erstlinge aus irgend- einem äußeren Grund schon in ihrer Anlage miß- raten und nicht zur Ausbildung geraten, können dann dafür spätere Kinder mehr von der für die Erhaltung des Stammes ausschlaggebenden phy- letischen Potenz ererben? Auf experimentellem Wege ließ sich diese Frage beantworten. Zu den betreffenden Versuchen durften natürlich nur Pflanzen gleicher innerer Verfassung herangezogen werden d. h. Pflanzen, ausgerüstet mit der gleichen Masse phyletischer Potenz. Werden bei solchen Individuen die ersten Blüten an den Nodien der unteren Achsenhälfte entfernt oder auch nur an der Bestäubung verhindert, dann erhalten die Samen aus den späteren Blüten der oberen Nodien selbst bis zur allerletzten erhöhte phyletische Potenz zugewiesen; dies ist erkennbar schon in der nächsten Generation durch auffallende Er- höhung des Keimprozentes dieser Samen, während normalerweise nur die Samen aus den unteren Blüten befriedigende Keimung aufweisen, die aus den oberen aber meist überhaupt nicht zur Keimung kommen. Das Maß der phyletischen Potenz ist demnach innerhalb gewisser Grenzen am einzelnen Individuum verschiebbar. Bei Unterdrückung der Fruchtbarkeit älterer Nodien aus jüngeren Alters- stadien der Mutterpflanze werden die jüngeren Nodien der älteren Mutterpflanzen phyletisch wert- voller. Es hat überhaupt die auf irgendwelche Weise zustandekommende Reduktion der Samen- erzeugung, die Kinderbeschränkung eine Erhöhung des Wertes der Nachkommenschaft zur Folge. Die Ausprägung der Schwächung der phyletischen Potenz ist daher auch abhängig von der Frucht- barkeit des Individuums: Je fruchtbarer ein Indi- viduum ist, um so rascher wird die phyletische Potenz völlig aufgebraucht, um so auffallender ist der Unterschied zwischen seinen phyletisch kräftigen und schwachen Nachkommen und um so früher tritt dieser Unterschied ausgeprägt zutage. Von Wichtigkeit bei obigem Experiment ist der Zeitpunkt des kün etlichen Eingriffes; werden die Kapseln erst entfernt, wenn sie bereits zu schwellen beginnen, so hat dies keinen Einfluß auf die Ausgestaltung der verbleibenden Samen mit phyletischer Potenz ; das Schicksal des Samens in bezug auf den ihm zufallenden Erbteil an linien- erhaltender Fähigkeit muß sich also spätestens bei der Befruchtung selbst oder etwas nachher entscheiden. Letzterer Umstand spricht dafür, daß dieser seinem Wesen nach rätselhafte „zweifellos aber quantitativ faßbare" Faktor der phyletischen Potenz nicht rein stofflicher Natur ist, nicht in der mehr oder weniger reichlichen Ausstattung mit den be- kannten Reservestoffen der Samen (Fett, Stärke, Eiweiß, Mineralstoffe) gesucht werden dürfte ; denn alle diese Stoffe fließen doch wohl erst in den späteren Stadien des Reifungsprozesses den Samen zu. Verschiedene Feststellungen und Überlegungen sprechen dafür, daß die Grundlagen der phyletischen Potenz in der enzymatischen Ausrüstung des Keim- plasmas zu finden sind und daß „dieses demnach im Rahmen des Individuums nicht gleichwertig sein kann". In diesem Sinne lassen sich deuten vor allem beachtenswerte Versuchsergebnisse über den Einfluß des Lichtes auf die Samenkeimung von Alectorolophus. Es wurde erwähnt, daß bei vielen Pflanzen der Keimverzug durch Lichtwirkung wesentlich verkürzt oder gänzlich aufgehoben werden kann. Zu diesen Pflanzen gehört nun nach Sp er lieh der Klappertopf nicht, dieser ist weder Licht- noch Dunkelkeimer, das Licht beein- flußt den normalen Verlauf seiner Keimung nicht. Nur vereinzelte ganz bestimmte Individuen boten eine Ausnahme, bei ihnen konnte eine keimungs- fördernde Wirkung des Lichtes festgestellt werden. Die genaue Kenntnis der Herkunft solcher licht- bedürftiger Samen ermöglichte eine weitergehende Analyse dieser merkwürdigen Ausnahmsfälle. Diese Individuen sind ihrer Abstammung nach Angehörige in ihrer phyletischen Potenz ge- schwächter früher oder später zum Aussterben verurteilter Linien ; wenn nun gerade nur bei diesen innerlich geschwächten Individuen das Licht keimungsfördernd wirkt, während es sonst sich bei dieser Art als unwirksam und unnötig erweist, so muß „das Licht gewisse Mängel in der inneren Verfassung der Samen zu ersetzen imstande sein." Nun ist aber durch die neuen grundlegenden Untersuchungen über Lichtkeimung höchst wahr- scheinlich gemacht, daß das Licht bei der Samen- keimung katalytisch wirkt. „In unserem Falle — meint daher S per lieh — erscheint das Licht geradezu als Ersatz für die Benachteiligung des ererbten Substrates in seiner dissimilatorischen Leistungsfähigkeit und wir können uns vorstellen, daß die in der Zeit äußerlicher Samenruhe sich normalerweise selbsttätig entwickelnden erforder- lichen Katalysatoren — vielleicht ein einziger ganz bestimmter — hier durch eine arbeitsspeichernde photochemische Reaktion geschaffen werden." Die Äußerungen geschwächter phyletischer Potenz sind recht mannigfacher Art. Wie erwähnt ist die Herabsetzung der Samenkeimkraft als erstes sicheres Vorzeichen dafür zu betrachten. Keim- N. F. XDC. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 677 Verzug, das Auftreten von Spätkeimern zeigt an, daß die aus solchen Samen entstehende Generation oder aber erst deren Kinder mit geschwächter phyletischer Potenz belastet sein werden. In den Kindern und Enkeln tritt dann auch diese innere Schwäche häufig äußerlich offenkundig zutage und wie sie sich äußert ist von' großem Interesse. Schon die Keimung selbst ist dann oft ganz ab- normal, die Hauptwurzel stirbt vorzeitig ab, der Keimling geht frühzeitig ein, gelangt oft über- haupt gar nicht ans Tageslicht; oder aber die Ausbildung der vegetativen Organe ist noch normal und erst in der Blüte zeigt sich durch mangel- hafte Entwicklung der männlichen oder weiblichen Teile die Schwäche, es besteht Unfähigkeit zur Erzeugung von Samen überhaupt oder aber von lebensfähigen Samen, die Samen vermögen nicht mehr zu keimen. Von besonderem Interesse ist der gelungene Nachweis, daß Anomalien sowohl in der vegetativen Sphäre als auch in der Blüten- region ganz besonders gehäuft bei der Nach- kommenschaft in ihrer phyletischen Potenz ge- schwächter Individuen sich einstellen. Das Problem, unter welchen Umständen das Auftreten von Monstrositäten erwartet werden kann, ist schon häufig ventiliert worden, man hat dabei meistens an einen Einfluß abnormaler Ernährungsbedin- gungen gedacht. Nun konnte Sperlich für Alectorolophus mit Sicherheit feststellen, daß das Auftreten der verschiedensten teratologischen Er- scheinungen „in keinem direkten Zusammenhang mit der Ernährung steht". Zunächst wurde bei der dikotylen Pflanze das Aufkommen von Keim- lingen mit drei bzw. verwachsenen Keimblättern beobachtet (Tri- und Synkotylie). Beim Heran- wachsen solcher Keimlinge ergeben sich dann gewöhnlich weitere Anomalien in der Blattaus- bildung und Blattstellung verbunden mit Zwangs- drehung der Achse. „Wo und wann immer trikotyle (zweimal waren es synkotyle) Keimlinge sich zeigten, waren sie Abkömmlinge von Seiten- linien, die sich entweder schon in der Aszendenz als geschwächt erwiesen hatten oder deren Schwächung im geringen Keimprozent eben hervortrat. Viele dieser Keimlinge starben sehr bald nach der Keimung ab; wenn sie zu Pflanzen, zumeist mit aberranter und zwar in unglaublich mannigfaltiger Weise variierender Blattstellung heranwuchsen, so waren sie selbst oder ihre nächste Nachkommenschaft unfähig, lebenskiäftige Samen oder überhaupt Samen zu entwickeln." Als Monstrositäten in der Blütenregion traten auf: in den Früchten Vermehrung der Karpelle; die Samen aus solchen Kapseln waren sämtlich lebensunfähig. Eine andere Monstrosität der Blütenregion verleiht der Pflanze eine höchst be- fremdende Tracht : die Spaltung der Oberlippe. Solche Blüten blieben entweder vollkommen steril oder aber wenn sie Samen lieferten, so starben diese bald nach der Reife ab. Auch eine andere für Alectorolophus seltene Anomalie der Blüte, die Vermehrung der Staubgefäße trat auf knapp vor dem völligen Aussterben einer schwachen Seiten- linie. Besondere Beachtung verdient diejenige Äuße- rung der Schwächung phyletischer Potenz, die sich im Zustandekommen von harmonisch ver- kleinerten Formen, Zwergen kundgibt. Verzwergte Formen (Nanismus) kommen bei vielen Pflanzen und besonders auch in der Familie, zu der der Klappertopf gehört, als Folgen ungünstiger Er- nährungsbedingungen gar nicht selten vor. Um solche Nanismen handelt es sich dabei aber nicht, sondern um Zwergformen, die unter den denkbar günstigsten Außenbedingungen auftreten ; diese letzteren entstehen nun immer nur im Zusammen- hang mit der Schwächung der phyletischen Potenz der Linie, es sind dies eben Individuen, die infolge innerer Schwächung die günstigen Außenbedin- gungen nicht mehr auszunützen vermögen, trotz aller Pflege erweisen sie sich als lebensunfähig. Diese Zwerge gehen auch in der Regel als Folge ihrer schwächlichen Konstitution frühzeitig, zu- mindest aber noch vor dem Ausreifen ihrer Samen ein; nur ganz selten bringen es die Pflänzchen zu wenigen kleinen Samen, einige davon sind sogar keimfähig, die Kinder sind dann wieder Zwerge; es läßt sich also hier die Vererbbarkeit dieses Zwergwuchses erweisen. Es ist verwunderlich, daß diese Zwerge, die jedenfalls Individuen bereits hochgradig geschwächter phyletischer Potenz dar- stellen, überhaupt noch Nachkommen erzielen. Eine Erklärung dafür ist vielleicht darin zu finden : Bei den Zwergformen erfolgt eine weitgehende Reduktion der Samenproduktion, es werden nur ganz wenige Kinder gezeugt, die geringe noch vorhandene Masse phyletischer Potenz kann nicht verzettelt, braucht nicht zerstückelt zu werden und so reicht sie gerade noch aus, um ein und dem anderen Nachkommen ein erneutes Zwergleben zu gewährleisten — allerdings kaum unter natür- lichen Verhältnissen , denn da wären diese Schwächlinge dem Konkurrenzkampf des Lebens nicht gewachsen. Unter künstlichen, ausgesucht günstigen Verhältnissen aber ließ sich eine der- artige Zwerglinie durch vier Generationen hindurch in vereinzelten Individuen erhalten, dann aber war auch sie endgültig ausgestorben trotz Hege und Pflege. Wie aus all diesen Fällen ersichtlich ist mithin (wenigstens für Alectorolophus) die Frage gelöst, wann teratologische Erscheinungen in der Nach- kommenschaft normaler Individuen zu erwarten sind: eben dann, wenn es sich um Nachkommen mit geschwächter phyletischer Potenz handelt, also relativ spät entstehender Mutterpflanzen nach dem neu entdeckten Gesetze: Je später ein Indi- viduum entsteht, um so schwächer ist seine Des- zendenz. Der Züchter, der bisher auf der Suche nach Monstrositäten auf das „zufällige" vereinzelte Auftreten bei Massenaussaaten angewiesen war, wird bei Beachtung obigen Gesetzes gewiß mehr Erfolg haben als bisher — allerdings zu längerer Weiterzucht werden sich abnorme Formen solcher 678 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 43 Provenienz kaum eignen, tragen sie doch gerade in ihrer Abnormität das sichtbare Kennzeichen der Todesbestimmung ihres Stammes zur Schau. Andererseits wird es ja aber dem Züchter meist viel wichtiger sein, derartige geschwächte Indi- viduen und Linien zu vermeiden und einen möglichst kräftigen Stamm zu erzielen. In der Praxis bei der Samenwahl der Kulturpflanzen geht man nun schon immer — natürlich ohne das nunmehr ent- hüllte Gesetz klar zu kennen — so vor, daß man stets die Mitte des Fruchtstandes bevorzugt und die letzten Früchte und Samen ausschaltet (ein Beispiel für die Wahrheit: Jede junge Wissenschaft kann sich auf alte Weisheit berufen. Es wird nichts bewußt, was nicht vordem schon geahnt worden ist. Swoboda 19 17). Befolgt man nun obige sowie überhaupt alle praktischen Regeln der Züchtung hochwertiger Kulturpflanzenrassen und ihrer reinen Linien, warum halten sich dann zum Schaden des Käufers diese Eliterassen nicht auf der einmal erzielten und angepriesenen Voll- wertigkeit ? Warum bleibt der Nachbau der folgen- den Jahre nicht auf der Höhe der Originalsaat? Gewiß spielen da unter den Verhältnissen im Freien am Lande Kreuzungen mit benachbarten minder guten Rassen eine störende und verhängnis- volle Rolle. Aber auch abgesehen davon kann in der neugewonnenen Erkenntnis eine Erklärung für diesen gefürchteten Abbau der Güte des hoch- gezüchteten Saatgutes gesehen werden : Auch in reinen Linien wird die phyletische Potenz keines- wegs gleichmäßig auf die Nachkommen verteilt, die ersten oder mittleren Nachkommen sind stets begünstigt, die letzten benachteiligt und gerade bei allzu großer Fruchtbarkeit — wie sie ja bei Kulturrassen erstrebt und erreicht wird — er- schöpft sich das verfügbare IVIaß der phyletischen Potenz um so eher. Eine große Zahl der Kinder sinkt unter das hohe Niveau der Eltern. Die Originalsaat baut sich selbst ab. Vorläufig ist man allerdings noch nicht be- rechtigt, die Gültigkeit der für Alectorolophus gefundenen Regeln auf andere Organismen auszu- dehnen, doch spricht andererseits gar nichts dafür, daß diese Gesetzmäßigkeiten nur für die Versuchs- pflanze gelten sollten, es dürfte sich dabei eher wohl um ein weitverbreitetes wenn nicht allgemein gültiges Gesetz handeln; daß es nicht schon längst erkannt wurde, spricht nicht dagegen, denn nur exakteste, mühevolle Beobachtung mehrerer Gene- rationsreihen reiner Linien konnte es bestimmt und klar auffinden lassen. Vor allem würde natürlich interessieren, ob auch eine gleiche oder ähnliche Gesetzmäßigkeit beim Menschengeschlechte zu konstatieren ist. Das aus dem Studium des pflanzlichen Materials gewonnene Gesetz läßt jedenfalls eine ganz allge- meine Fassung zu; sie ist ja schon wiederholt angeführt worden: Je später ein Individuum ent- standen ist, um so schwächer ist seine Deszendenz, um so früher müssen die ihm entstammenden Linien zugrunde gehen. Es ist also der Zeitfaktor bei der Entstehung eines Individuums, es ist das Alter des elterlichen Organismus von maßgebender Be- deutung. Während der Entwicklung eines Indi- viduums ändert sich die innere Verfassung desselben in bezug auf die Fähigkeit ein bestimmtes Maß phyletischer Potenz an die Kinder weiterzugeben. Das führt mit Notwendigkeit zu der Vorstellung, „daß die stofflichen Grundlagen der phyletischen Potenz im Keimplasma zu finden sind und dieses demnach im Rahmen des Individuums nicht gleich- wertig sein kann". Diese Schlüsse und Folge- rungen aus den Untersuchungen an speziellem Objekte lassen wohl allgenieine Anwendung zu. Zu ähnlichen Vorstellungen gelangt auf ganz anderem, leider weniger sicherem Wege Swoboda in seinem umfangreichen, doch bisher kaum aner- kannten Buche: Das Siebenjahr. (191 7.) Es be- schäftigt sich mit Untersuchungen über die zeitliche Gesetzmäßigkeit des Menschenlebens. Auch in diesem Buche wird dem Zeitfaktor bei der Ent- stehung der Kinder für die Voll- oder Minder- wertigkeit eben dieser Nachkommenschaft die allergrößte Bedeutung zuerkannt, auch hier wird die Ansicht vertreten von der inneren gesetz- mäßigen Ungleichwertigkeit der Kinder eines und desselben Elternpaares , von der steten „Wert- schwankung der Keimzellen". Swoboda, der ideenreiche Wiener Psychologe ist bekanntlich in gleicher Weise wie Fließ ein begeisterter Ver- fechter der Lehre vom periodischen, rhythmischen Ablauf des Lebens; er ringt trotz aller Ver- schiedenheit des Arbeitsgebietes und der Arbeits- weise in seinem neuen Buche jedenfalls um ähnliche Probleme, wie sie vonSperlich durch die über- zeugende Sprache experimentell ermittelter Tat- sachen in weitgehender Weise klargelegt wurden. Unter Außerachtlassung aller trennenden Elemente sei hier nur Gemeinsames hervorgehoben, so vor allem S wob odas Vitalitätsgesetz: Kinder, die in bestimmten Zeit- oder Lebensabschnitten der Eltern entstehen — die nach Swoboda aber nach 7 jährigem Rhythmus immer wiederkehren — sind durch größere Lebensfähigkeit ausgezeichnet, sie haben eine gute Konstellation, andere Kinder, die in anderen Zeitabschnitten des elterlichen Lebens zur Welt kommen, haben den Keim der Schwäche in sich, sie sind infolge ihrer ungünstigen Geburtskonstellation zu frühem Tode verurteilt, ihr Leben ist auf die Dauer auch unter den günstigsten Bedingungen nicht zu erhalten. Die zur rechten Zeit Geborenen, die „Siebenkinder" besitzen nicht nur selbst größere Lebenskraft und Lebensdauer, sondern auch eine „größere Fähig- keit, Leben in Nachkommen weiterzugeben, sie stammen aus Jahren der Eltern, die durch eine besondere Eignung zur Fortpflanzung ausgezeichnet sind und erben diese Eignung. Sie sind die prädestinierten Stammhalter. . . . Die Siebenkinder sind demnach nicht so sehr durch gegenwärtiges Leben, als durch den Gehalt an zukünftigem Leben ausgezeichnet ; in ihnen ist potenziell die Zukunft des Geschlechtes enthalten." In diesen Worten N. F. XIX. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 679 tritt die Ähnlichkeit der Ideen Swobodas mit der experimentell gewonnenen Vorstellung der Fähigkeit der Linienerhaltung, der phyletischen Potenz recht deutlich zutage. Beim Menschen liegen naturgemäß die Ver- hältnisse schon deshalb viel komplizierter und un- übersehbarer als bei den durch Selbstbefruchtung züchtbaren Pflanzen, weil dort die Kinder Kreu- zungsprodukte mit verschiedenen Anlagen aus- gestatteter Eltern sind, also Bastarde im Sinne der Vererbungslehre. Nach Swobodas Lehre ist demnach auch die Lebenskraft und sonstige Be- schaffenheit, vor allem auch die Ähnlichkeit der Kinder ganz verschieden, je nachdem sie in den günstigen Fortpflanzungsjahren des einen oder des anderen Elters beider oder keiner von beiden ge- zeugt werden. Mit Rücksicht auf die Komplika- tion dieser Möglichkeiten stellt Swoboda eine Reihe von Vererbungsregeln auf; dabei scheint von besonderem Interesse der Nachweis, daß der Begriff dominant und rezessiv, wie er von Mendel geprägt wurde, keineswegs „eine von der Zeit unabhängige konstante Relation" zwischen den Eltern ist; in kinderreichen P'amilien gleichen nicht alle Kinder einem Elter, nicht ein und der- selbe Elter bleibt dauernd dominant, vielmehr prävaliert bald der Vater bald die Mutter, je nach- dem — wie Swoboda meint — gerade der eine Elter in der vererbungskräftigen Periode ist, der andere nicht. So kommt Swoboda zum Begriff der zeitlichen Prävalenz und hat damit, wie es scheint, eine wertvolle allgemeingültige Er- gänzung der Mendel'schen Dominanzregel ge- funden. Wenigstens sprechen zugunsten einer zeitlichen Prävalenz experimentelle Untersuchungen, die — angeregt durch die Ideengänge Swobodas — vor einigen Jahren Zeder bau er mit Pflanzen durchgeführt hat. Bisher wurde bei Bastardierungsversuchen das Alter der zur Kreuzung verwendeten Individuen kaum berücksichtigt. Zederbauer hat nun Versuche angestellt um den Einfluß des Zeit- faktors, d. i. des Zeitpunkts der Entstehung auf die Kinder festzustellen. Seine Fragestellung lautete folgendermaßen: Welchen Einfluß hat bei Bastardierungen das Alter der Blüten (Aufblüh- folge) auf das Bastardierungsprodukt; wird das- selbe Resultat erzielt, wenn erste Blüte mit erster, oder erste mit letzter, und umgekehrt bastardiert wird?" Zederbauers Versuchspflanzen waren zwei verschiedene Erbsensorten: „Auslös de gräce", welche gelbe, glatte Früchte besitzt und „Wunder von Amerika" mit grünen, runzeligen Früchten. (Bekanntlich hat auch Mendel bei seinen be- rühmt gewordenen Experimenten gelb- und grün- kernige Erbsenrassen miteinander gekreuzt.) Beide Erbsensorten bilden nach Entwicklung von 7 Blät- tern in der 8. Blattachsel die erste Blüte; im ganzen kommen 5 — 8 Blüten zur Ausbildung; die Entfaltung ist akropetal, von unten nach oben fortschreitend ; die erste Blüte ist in der Regel verblüht, wenn die_ dritte aufzublühen be- ginnt, die Blütezeit eines Individuums dauert 2 — 3 Wochen. Die unterste erste Blüte entsteht also in einem relativ jungen Entwicklungsstadium der Pflanze, die oberste letzte im höheren Alter. Die Merkmale grün, runzelig der Erbsensamen gelten als rezessiv , es dominieren also bei den Nachkommen die Merkmale gelb und glatt. So hatte man es wenigstens bisher gefunden, wenn • — wie es bisher ganz allgemein geschah — die Kreuzungen an Blüten annähernd gleich alter Eltern durchgeführt wurden. Bei gleichzeitigem Auslegen der Samen wachsen ja die Pflanzen gleichalt heran und bilden gleichzeitig die ersten und die darauffolgenden Blüten aus. Sollten un- gleichalte Individuen bastardiert werden, so mußten die Aussaaten in kurzen Zeitzwischenräumen er- folgen, damit dann gleichzeitig Pflanzen zur Ver- fügung standen, von denen die einen erst die erste, andere schon spätere bis zur letzten Blüte bestäubungsfahig trugen. Das Ergebnis der Ernte nach auf dieser Weise durchgeführter Aussaat und Kreuzung war nun im wesentlichen folgen- des: 1. Bei isochroner Bastardierung, d. h. wenn zwei Blüten gleichalter Eltern gekreuzt werden (also z. B. I. Blüte der Mutter mit i. Blüte des Vaters), verhalten sich die Merkmale grün und runzelig rezessiv. 2. Bei heterochroner Bastardierung dagegen, d. h. wenn Blüten von Eltern verschiedener Lebensphasen, verschiedenen Alters gekreuzt wer- den (also z. B. die i. Blüte der Mutter mit der letzten des Vaters), können dieselben Merkmale grün, runzelig dominant werden. So ergab in der Versuchsreihe zwischen un- gleichalten Individuen eine Kreuzung: Mutter Vater Wunder von Amerika X Auslös de gräce grün, runzelig gelb, glatt I. Blüte 5. (letzte) Blüte in der dritten Samengeneration 0,1 % gelbe Sa- men und 87,6 "/o grüne, dagegen die Kreuzung derselben aber gleichalten Eltern: i. Blüte X I. Blüte 36 "/ü und 64 "/;, gelbe Samen. Die Wertigkeit der Merkmale ist also ver- schieden je nach dem Alter der Eltern, sie ändert sich im Laufe des Lebens eines Individuums. Das einzelne Merkmal ist in den ersten Blüten hoch- wertig, in den mittleren mittelwertig und in den letzten niederwertig. „Die Wertigkeit eines Merkmals nimmt von der ersten Blüte an mit dem Alter des Individuums a b." Dieses völlig neue vorläufig leider nur an einem etwas dürftigen Material gewonnene Er- gebnis muß für die mit Bastardierung arbeitende Züchtung von großem Interesse sein. Der Züchter wird in Hinkunft jedenfalls den Zeitfaktor das Alter seiner Versuchspflanzen nicht außer acht lassen dürfen. Es wird vielleicht möglich sein, gewünschten Merkmalen, die sich sonst rezessiv verhalten, zur Dominanz zu verhelfen dadurch, daß bei der Kreuzung ein jugendkräftiges Stadium 68o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 43 des in dieser Eigenschaft meist rezessiven Elters mit einem älteren des sonst dominanten verwendet wird. „Man macht sich — - sagt Swoboda — das Verhältnis von Dominanz und Prävalenz durch den folgenden Vergleich klar: ein starker (domi- nanter) Mann wird einen schwächeren (rezessiven) in der Regel unterkriegen ; wenn aber der Starke gerade seinen schlechten Tag hat und der schwächere seinen guten, kann es umgekehrt sein. Die zeitliche Disposition (Prävalenz) kann dem Schwächeren zum Siege verhelfen über den von Natur Stärkeren (Dominanten)." Den im einzelnen kaum Berührungspunkte miteinander aufweisenden voneinander gänzlich unabhängig durchgeführten experimentellen Ar- beiten von Sperlich und Zederbauer, d. h. der durch sie vermittelten Erkenntnis scheint eine gemeinsame Wahrheit zugrunde zu liegen ; Der Zeitpunkt der Entstehung des Individuums, das Alter des mütterlichen Organismus ist maßgebend für die Beschaffenheit und Wertigkeit der Nach- kommen. Die Übertragungsfähigkeit, sei es nun an phyletischer Potenz, sei es an einer anderen Eigenschaft nimmt mit dem Alter ab. Die Ver- erbungsintensität im allgemeinen, die Fähigkeit der Linienerhaltung im speziellen ist im Verlaufe der individuellen Entwicklung keineswegs konstant. Die Keimzellen ein und desselben Individuums entwickeln sich — wie Swoboda sagt — zu verschiedenen Zeiten aus ausschließlich autonomen Gründen zu verschiedenen Nachkommen. Innere Beziehungen zwischen den Ergebnissen der beiden botanischen Arbeiten erhellen im üb- rigen aus weiteren Resultaten der Zed erbau er- sehen Experimente; sie betreffen die Keimfähig- keit von Erbsen. Die Erbsen aus den am frühesten entstehenden ersten Hülsen keimten zu 70"/u, die Keimfähigkeit, das Keimprozent der mittleren Hülsen war auch hoch, bei letzten Hülsen aber höchstens 33 "/q, häufig aber 0%. Pflanzen, die aus Samen der letzten Hülsen erwuchsen, starben größtenteils frühzeitig ab. Auch bei Levkojen nahm das Keimprozent der Samen mit der Zu- nahme des Alters der Mutterpflanze, in dem die Frucht entstand, ab. Es steht zu hoffen, daß weitere exakte experi- mentelle Arbeit sich diesen grundlegenden Unter- suchungen anschließt und so immer mehr klare Einsicht gewonnen wird in das vielgestaltige Rätsel der Vererbung. Literatur. Sperlich, A., 1919, Die Fähigkeit der Linienerhallung (phyletische Potenz), ein auf die Nachkommenschaft von Saisonpflanzen mit festem Rhythmus ungleichmäßig übergehen- der Faktor. Sitz.-Ber. Ak. Wiss. Wien. 128. Bd. Derselbe, 1919, Über den Einfluß des Quellungszeitpunktes, von Treibmitteln und des Lichtes auf die Samenkeimung von Alectorolophus hirsutus All. Ebenda. Swoboda, H. , 1917, Das Siebenjahr, Bd. I. Orion- Verlag. Zederbauer, E., 1914, Zeitliche Verschiedenwertigkeit der Merkmale bei Pisum sativum. Zeitschr. f. Pfianzenzüch- tung Bd. 2. Derselbe, 1917, Alter und Vererbung. Ebenda 5. Bd. Derselbe, 1917, Alter, Vererbung und Fruchtbarkeit. Verhandl. zoolog. botan. Ges. Wien. Vorschläge zu einem zeitgemäßen Ausbau der deutschen zoologischen" Gärten. [Machdruck verboten.) Von Dr. Hans Walter Frickhinger, München. Die 5 jährige Kriegszeit hat allen deutschen zoologischen Gärten schwere Schäden zugefügt und durch die Fleisch- und Futtermittelnot Lücken in alle Tierbestände gerissen, die jedem Besucher schmerzlich in die Augen fallen. Wenn z. B. der Frankfurter Zoologische Garten keinen männlichen Löwen mehr besitzt, wenn, wie im Münchener Tierpark Hellabrunn die großen Katzenarten nur mehr durch einen Repräsentanten vertreten sind, so sind dies Kriegsopfer, die unter den heutigen Verhältnissen kaum in absehbarer Zeit ersetzt werden können. Das Streben aller zoologischen Gärten vor dem Kriege ging dahin, dem Besucher möglichst viel exotisches Tiermaterial vor Augen zu führen, um ihn dadurch über den Formenreichtum der Tierwelt zu belehren und ihm die hervorstechend- sten Vertreter der Fauna fremder Weltteile zu zeigen, die ihm aus Reiseberichten, Jagdbüchern von Kindheit auf Interesse abgenötigt hatten. Soweit diese Tiere, wie die Raubkatzen, Löwen, Tiger, Leoparden, Jaguar, Puma, wie Bären, wie Elefanten, Flußpferde, Nashorn, (jiraffe, Antilopen, Gnu usw. in unseren zoologischen Gärten trotz aller Kriegsnöte auch heute noch vorhanden sind, werden sie nach wie vor den Hauptanziehungs- punkt aller, und vor allem der jugendlichen Be- sucher bilden. An Neuanschaffungen derartiger Tiere aber wird wohl, ganz abgesehen von der schweren Beschaffungsmöglichkeit, vor allem des tiefen Standes der deutschen Valuta wegen , so bald kein deutscher zoologischer Garten denken können. Die deutschen zoologischen Gärten müßten aber mit der Zeit, die Ansätze sind ja leider mancherorts schon vorhanden, mehr und mehr veröden, das Interesse der Besucher würde mit jedem Jahr geringer werden und ein großer Teil selbst des Stammpublikums würde mit der Zeit untreu werden. Um ein solches Ende zu verhüten, ist es dringend nötig, daß die deutschen zoologischen Gärten auch während der Jahre, in denen sie an die Ersetz ungder Kriegs Verluste nicht denken können, das Ziel eines zeitgemäßen Ausbaues nicht aus dem Auge verlieren. Nach welcher Richtung hin können nun auch N. F. XIX. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 68 1 heute die zoologischen Gärten ihre Tierbestände ohne allzugroße Opfer ergänzen ? Mehr als früher — - und in dieser Beziehung haben alle zoologischen Gärten mehr oder weniger gesündigt — sollte heute die heimische Tierwelt berücksichtigt werden. In dieser Beziehung kann noch viel Neues und Lehrreiches geschaffen und das Inter- esse weiter Kreise belebt werden. Welch dankens- werte Aufgabe böte es z. B. allein, eine restlose Ausstellung der deutschen Vogelwelt zu veranstalten! Ich denke dabei nicht an die grau- same Aneinanderreihung kleiner enger Käfige, in denen die kleinen befiederten Sänger, womöglich noch in einem finsteren Gebäude nebeneinander ausgestellt werden — ich kenne aus einigen deut- schen zoologischen Gärten derartige Sammlungen — nein, in lichten hohen Räumen, in luftigen Käfigen, mit weiten, ins Freie gehenden Volieren, das Einerlei der Käfige unterbrochen durch Pflanzengruppen, sollten die bei uns heimischen Vögel, nach Gruppen geschieden, ihre Aufstellung fmden. Welche Fülle von Möglichkeiten bietet da allein die Singvogel- oder Raubvogel- welt! In Gärten, die, wie der Münchener oder der Nürnberger Tierpark, über günstige Terrain- verhältnisse verfügen, könnte das Wasser- geflügel in lückenloser Reihe, nach biologischen Gesichtspunkten eingezwingert, dem Laien Kennt- nis geben von der F'üUe der Formen, die unser deutsches Vaterland hier besitzt und die schon zumeist wegen ihrer sehr scheuen Lebensweise noch viel zu wenig allgemein bekannt sind. Auch die Hühnervögel enthalten eine Reihe interessanter Arten und würden sich sehr wohl als Ausstellungs- objekte eignen. Bei ihnen allen muß freilich die Art der Aufstellung, wenn es nur irgend geht, so sein, daß der Laie sofort auch einiges über die Lebensweise der Tiere sieht. Wie die Vogelwelt, so böten auch die hei- mischen Fische Arten genug, die das Aus- stellen in zoologischen Gärten wohl lohnten. In zoologischen Gärten, die ein Aquarium besitzen, wie Frankfurt, Berlin oder Hamburg, sind ja die heimischen Fische schon ausgestellt — eine sehr schöne, und so viel ich mich erinnere auch lückenlose Ausstellung weist z. B. der Frankfurter Zoologische Garten auf — aber es könnte wohl auch hier Neues versucht werden; eins vor allem schiene mir sehr interessant für die Besucher, die Angliederung einer kleinen Fischzucht- anlage. Der Besucher könnte hier spielend den ganzen Werdegang einzelner unserer hauptsäch- lichsten Nutzfische verfolgen und jeder Eingeweihte weiß, wie viel Freude in Laienkreisen gerade mit derlei Anordnungen geweckt wird. Auch die heimischen Nutzsäuger ließen sich für den Ausbau der deutschen zoologischen Gärten da und dort gut verwenden. Die deut- sche Schafzucht z. B. nimmt heute aller Orten rege zu. Findet sich nun schon in einem der zoologischen Gärten eine Ausstellung, welche die hauptsächlichsten Fleisch- und Wollrassen des Schafes enthält? Ich selbst kenne keinen der- artigen Versuch, es wäre aber eigentlich ver- wunderlich, wenn kein deutscher Tiergarten diesen so nahe liegenden Gedanken aufgegriffen hätte. Die Kleintierzucht hat ja in einigen zoolo- gischen Gärten, so auch im Münchener, schon eine Ausstellung der wichtigsten Nutzkaninchen- rassen veranlaßt, auch die Hundezucht könnte in den Gärten — auch hierbei sind, schon An- sätze, wie z. B. in Frankfurt a. M. vorhanden ^- mehr wie bisher betrieben werden. Sehr vernachlässigt wurde bisher auch — nur wenige deutsche Tiergärten, wie z. B. der Ham- burger und Berliner, haben hierin eine Ausnahme gemacht — die heimische Amphibien- und Reptilien fauna. Die in Deutschland und den angrenzenden Alpengebieten heimischen Eidechsen- arten, die dort vorkommenden Schlangen, sowie Kröten und Frösche, alle diese Tiere könnten in schönen Terrarien ungeheuer reizvoll zur Auf- stellung gelangen und in spielender Weise Heimat- kunde vermitteln. Welch dankenswerte Aufgabe die deutschen Tiergärten dabei erfüllen, kann jeder ermessen, der weiß, wie wenige Menschen heute z. B. noch über die Schlangenfauna Bescheid wissen. Jeder der einmal an einer angewandt- zoologischen Anstalt tätig war, weiß aus zahl- reichen Einsendungen, daß viele unschuldige Ringelnattern heute noch alljährlich ihr Leben lassen müssen, weil sie der Laie, ja selbst der sonst nicht naturunkundige Landwirt oder Forst- mann und auch der Lehrer für Kreuzottern hält. Ein Gebiet der Tierkunde endlich haben viele unserer Tiergärten überhaupt nicht, andere nur in ganz ungenügenden Ausmaßen berücksichtigt, das ist die Insektenwelt. Und doch läge hier ein Betätigungfeld vor mit unbegrenzt weiten Mög- lichkeiten. Die praktische Kerbtierkunde im besonderen bietet der Aufgaben hier eine Fülle : wie lehrreich wäre es z. B., die vornehmsten Schädlinge auszustellen, sie zu zeigen bei ihrer Zerstörungsarbeit, ihre natürlichen Feinde wieder vorzuführen. Zudem wäre das Material leicht zu beschaffen, die Leitung der Gärten könnte aus jeder auftretenden Kalamität neue Anregung ziehen und so mit dem Ausstellungsmaterial wechseln. Auch die Nutzinsektenzucht könnte hier in gleicher Weise vorgeführt werden. Die Stellung der Biene z. B. als Helfer des Men- schen bei der Befruchtung der Obstbäume ließe sich an einem Bienenstande, in dessen Nähe Obst- bäume gepflanzt würden, trefflich veranschaulichen: einzelne der Blütenzweige wären mit Gaze zu um- hüllen, so daß den Bienen der Zugang zu den Blüten verwehrt ist. Ihre Unfruchtbarkeit würde jedem Beschauer sofort in die Augen fallen. Spielend könnten so erstrebenswerte Kenntnisse vermittelt werden. Alle diese Ausbauvorschläge haben noch einen großen, in der heutigen Zeit besonders wertvollen Vorteil, den größten vielleicht, den sie besitzen 682 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 43 können : sie lassen sich auch mit den beschränkten Mitteln durchführen, wie sie den deutschen Tier- gärten heute ja durchgängig leider nur mehr zur Verfügung stehen. Und deshalb dürfte es sicher- lich auch unter den heutigen mißlichen Verhält- nissen nicht schwer fallen, wohlhabende Kreise für den einen oder anderen der hier gestreiften Pläne zu interessieren, um die erschwinglichen Mittel hierfür flüssig zu machen. Aber nicht nur die geringen Kosten, noch ein letzter aus der- selben Perspektive gesehener Gesichtspunkt spricht für die Heranziehung der heimischen Tierwelt als Ausstellungs- und Zuchtobjekte unserer zoolo- gischen Gärten: mit einigen der hier genannten Zuchten (Vogelzucht, Fischzucht, Kaninchenzucht, Hundezucht, Bienenzucht) könnte sich der Tier- garten neue, wenn auch anfangs vielleicht be- scheidene Einnahmequellen eröffnen, die ihm in der heutigen Zeit der Geldknappheit nur will- kommen sein können. Zum 70. Geburtstag Dr. Herrn, von Iherings. Am 9. Oktober war es dem unermüdlichen Pionier naturwissenschaftlicher Forschung in Süd- amerika, speziell Brasilien, Herrn Prof. Dr. Her- mann von Ihering, beschieden, seinen 70. Ge- burtstag in voller Rüstigkeit zu feiern. Das schönste Werk des greisen Forschers ist das Museu Paulista, das Ypiranga-Museum in Brasi- liens zweitgrößter Stadt Säo Paulo. Die reichen einzig dastehenden zoologischen Sammlungen, welche fast die ganze brasilianische Fauna ver- einigen und die in eine Schausammlung und eine Studiensammlung geteilt sind , zeugen von einer arbeitsreichen Vergangenheit. Aber auch die zoologische Forschung als solche hat der greise deutsche Forscher durch zahlreiche originelle Arbeiten gefördert. Möge dem greisen Gelehrten ein friedlicher Lebensabend werden nach einem Leben reich an Arbeit, aber auch reich an Freuden! Carl Aug. Schmöger, Direktor des Laboratorio Biologico Chimico, Corrego da ponte, Collatina, Est. Espirito Santo. Einzelberichte. Geologie. Über die Chromerzvorkommen in Nordmazedonien berichtet auf Grund eigener Untersuchungen C. Hütter in der Zeitschr. f. prakt. Geologie, XXVIII, 1920 S. 53 — 59. Chro- mitvorkommen finden sich in Mazedonien einmal in der Umgebung des Doiransees, wo sie, in Linsen- form in chromreichem Serpentin eingebettet, seit vielen Jahren in einer Anzahl kleinerer primitiver Bergbaue abgebaut werden, sodann weiterhin — und zwar solche von besonderer Bedeutung — bei Radu- scha in Nordrnazedonien. Dieses Dorf liegt etwa 22km NWW von Üsküb auf dem rechten Wardarufer, die Erzgruben selbst etwa 1,5 km nordöstlich vom Nordrand des Dorfes auf dem linken Wardarufer. Die Vorkommen sind derbe Chromeisensteine, die sich als Erzlinsen in graugrünen bis schwarzen, ebenfalls chromhaltigen Serpentinmassen vorfinden. Der Chromgehalt des Serpentins rührt von fein verteilten, mikroskopisch kleinen Chromitkörnchen her. Die dichten Serpentinmassen sind häufig von weißen Magnesitadern durchzogen und ent- halten mitunter noch Reste des IVIuttergesteins des Serpentins, nämlich Olivin und Augit. Die Kristallform dieser beiden Mineralien ist unter dem Mikroskop noch ziemlich gut erkennbar. Als Ver- witterungsprodukte treten, besonders im östKchen Teil des Grubenfeldes von Raduscha, Grünerde, Pi- krolith und Eisenhydroxyd auf. Die Chromitlinse besitzt ein Streichen von W 28 N. Die erreichte Abbautiefe betrug im Jahre 191S etwa 23 m, die durch den Abbau erschlossene Länge in Richtung WO 86 m. Die Mächtigkeit in Richtung NS N. F. XIX. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 683 schwankt zwischen 12 und iS m. Innerhalb der Erzlinse können drei Zonen festgestellt werden, und zwar nimmt der Cr.,03 Gehalt von der oberen, ersten nach der liegendsten, dritten zu. In dieser beträgt der Durchschnittsgehalt 48 "/o- Ein Auf- hören der Erzmassen in größeren Teufen konnte trotz fortschreitendem Abbau bisher noch nicht festgestellt werden. Vorgefundene alte Förder- strecken aus türkischen Betriebszeiten zeigen keine Abnahme der Mächtigkeit. Daß man es trotzdem aber mit einer Linse und keinem Erzstock zu tun hat, zeigen alte, auflässige Gruben aus englischen Betriebsperioden, die das Verschwinden des Chrom- erzes in größerer Teufe dartun. Als Bildungs- theorie kommt für das Vorkommen von Raduscha am ehesten eine Erklärung als syngenetische Bil- dung durch magmatische Ausscheidung des Chroms bzw. durch Anreicherung eines größeren Gesteins- horizontes mit Cr und Fe in den Peridotiten, den Muttergesteinen des Serpentins, in Frage. Das Chrom ist im Peridotit schon meist als Chromit oder als Pikotit vorhanden, während andere chrom- haltige Mineralien nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die Bildung der Erzlinse erfolgte durch zwei getrennte Differentiationsvorgänge aus dem Stammagma (etwa einem Olivingabbro). Als erstes sog. Anreicherungsmagna bildete sich ein Peridotit magma und darauf erfolgte durch weitere Differentiation innerhalb dieser Magmen die Auskristallisation des Chromits. Andere Bildungstheorien (syngenetisch mit dem Serpentin aus dem Peridotit; durch Regionalmetamorphose; epigenetisch-hydrometasomatisch) lassen sich nach dem Verf. mit den Beobachtungen nicht in Ein- klang bringen. Die bei den Schwestervorkommen von Gratscha, Krivenik u. a. in den Randzonen reichlich auftretenden Chromit Dunite und Chromit- Peridotite bestärken ebenfalls die Annahme einer syngenetischen Differentiation aus einem Olivin- gabbro. Der Abbau der Chromitlagerstätten in der Umgebung von Raduscha erfolgt bereits seit Jahr- zehnten, teils als Tage- , teils als Tiefbau. Die Gruben waren abwechselnd in italienischen und englischen Händen. Im Januar 1917 übernahm die deutsche Kriegsmetall-A.-G. den Gruben- betrieb und es gelang ihr, die Ausbeute auf Grube Raduscha I auf monatlich 3500t im Mai bis Juni 1918 zu steigern. Bei noch weiter vervollkomm- neten Betriebseinrichtungen ließen sich vielleicht 5000 t erzielen. Die Grundfläche des Tagebaues dieser Grube hatte im Jahre 19 18 eine Ausdehnung von rund 22 000 qm. Der Abtransport der auf Raduscha geförderten Erze erfolgt durch eine etwa 800 m lange Einseilbahn nach dem Klein- bahnhof Raduscha im Wardartale. Auf den Nach- bargruben von Gretschan, Goranza, Krivenik und Orascha erfolgt die Gewinnung des Chromeisen- steins in derselben Weise wie in Raduscha, doch besitzt keine der Nachbargruben einen derartig ausgebauten Betrieb wie Raduscha. Auch sinkt der Cr, O,- Gehalt der Erze von Gretschan und Goranza auf ungefähr 40% und darunter. Die Erze sämtlicher Raduschaer Gruben erreichen nicht den Durchschnittsgehalt an Cr.,03 anderer Chromitvorkommen, wie z. B. der Daghardigruben in Kleinasien (ca. 54 "/o Cr.,Og). Auch die Ver- hüttung bietet gegenüber anderen Chromiten einige Schwierigkeiten wegen des hohen Silizium- gehaltes. Aus den kieselsäurereichen Chromiten von Gretschan und Goranza kann daher nur hoch- gekohltes Ferrochrom hergestellt werden, während die kieselsäureärmeren Erze von Raduscha und Orascha noch die Herstellung von niedrig ge- kohltem Ferrochrom im Elektroofen zulassen. Be- denken, daß die Chromitvorkommen nur kurze Abbaudauer gewähren, sind nach den Unter- suchungen des Verf. nicht begründet. Die Nord- mazedonischen Chromitvorkommen bieten viel- mehr genau soviel Gewähr für eine rentable Ab- bauzeit wie ein jedes andere Chromerzvorkommen von Durchschnittsausdehnung. F. H. Über den Sonnenbrand der Gesteine (mit 2 Abb.) berichtet J. E. Hibsch in der Zeitschr. f. prakt. Geologie, XXVIII, 1920, S. 69—7». Der sog. „Sonnenbrand" tritt am häufigsten bei Basalten auf, wird aber auch bei Basaniten , Tephriten, Phonolithen, Monchiquiten und anderen Gesteinen beobachtet. Die Sonnenbrenner verursachen bei ihrer Verwendung als Material für Straßen pflaster oder Straßenschotter große Schäden, weil sie in kurzer Zeit in ein Haufwerk von kleinen Körnern oder Scherben zerfallen. Dadurch entstehen tiefe Löcher in den Straßen, die kostspielige Ausbes- serungsarbeiten nötig machen. Die Erscheinung des Sonnenbrandes selbst tut sich folgendermaßen kund : Frisch gebrochen unterscheiden sich die Sonnenbrenner im Aussehen nicht vom gesunden Gestein. Höchstens ein splittrig-zackiger Bruch an Stelle des flachmuschligen kann den Sonnen- brenner verdächtig machen. Erst beim Liegen an der Luft treten nach kurzer Zeit verschieden große Flecken heller F"arbe in einem dunklen Ge- bälk oder dunkle Flecken in hellerer Grundmasse auf. Diese Flecke und Geäder sind Querschnitte durch körperliche Gebilde, die im Gestein bei seiner Erstarrung entstanden sind. Nach weiterer monatelanger Einwirkung der Atmosphärilien bil- den sich zahlreiche Haarspalten, und schließlich zerfällt der Sonnenbrenner in kleine Graupen, Körner oder Scherben. Der Zerfall kann jedoch auch ohne vorherige P'leckenbildung eintreten. Über die Ursache des Sonnenbrandes kommt der Verf. auf Grund neuer eigener Untersuchungen einer Anzahl der oben genannten Gesteine zu folgenden Schlüssen: Die Ursache des Sonnen- brandes kann eine verschiedene sein. Er kann durch das Auftreten eines bestimmten, verhältnis- mäßig leicht verwitterbaren Minerals in Form größerer Kristalle hervorgerufen werden (z. B. Leuzit oder Nephelin). Das ist jedoch nur aus- nahmsweise der F'all. In der Regel besitzen die Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 43 Sonnenbrenner eine ungleiche Verteilung ihrer Gemengteile im Gestein. Es sondern sich Gruppen ungefärbter (salischer) Mineralien, in denen Alkali, Kieselsäure und Wasser angereichert sind (Feld- späte, Nephelin, Zeolithe, Glas) und die unter dem Einfluß der Atmosphärilien leichter vervvitterbar Abb. I. Abb. 2. Schwammiges Gerüst der Gerüst aus farblosen Mine- duuklen, zuerst ausgeschie- ralien, die sich früher aus- denen Mineralien der Son- geschieden haben. Zwischen nenbrenner. Zwischen den den hellen fsaüschen) Bai- dunklen Balken helle (sali- ken dunkle (femische) FüU- sche) Füllmasse. Sonnen- masse. Sonnenbrenner mit brennen mit hellen Flecken. dunklen Flecken. sind, von solchen Gruppen, die aus dunklen, Mg-, Fe- und Ca- reichen Mineralien (Augit, Magnetit) bestehen und den genannten Agentien größeren Widerstand leisten. Diese ungleichmäßige Ver- teilung der Gemengteile bedingt eine gewisse ,, Gerinnselstruktur", die oft nur an kleinen Stellen des Gesteinskörpers auftritt und die Anlage zum Sonnenbrande bedingt, während der ganze übrige Gesteinskörper gesundes Material liefert. Sogar an einzelnen Basaltsäulen kann eine 2 — 10 cm dicke Rinde gesund bleiben, während das Säulen- innere Sonnenbrenner liefert. Deshalb schon kann nicht ein bestimmter Stoff die Ursache des Sonnen- brandes bilden, sondern nur eine abweichende Ausbildungsart der betreffenden Gesteinsstelle, die verschiedenartige Verteilung der Gemengteile. Durch diese werden auch schon von Anfang an gewisse Spannungszustände im Sonnenbrandgestein erzeugt, die dann bei beginnender Zersetzung der ungefärbten Mineralgruppen rasch ausgelöst werden und den Gesteinszerfall wesentlich be- schleunigen und fördern. Die Erscheinung des schlierigen Auftretens des Sonnenbrandes im gesunden Gestein ist eine Folge der bei den Eruptivgesteinsmagmen allgemein vorhandenen Neigung zur Entmischung in mehr femische und mehr salische Bestandteile. Bei bewegtem Magma wird die Entmischung aufgehalten, bei ruhendem tritt sie rascher ein (F. Becke). Deshalb zeigen häufig nur Teile des Gesteinskörpers Entmischung und damit Neigung zum Sonnenbrand. Die mehr salischen Gesteinsstellen neigen stärker zur Ver- witterung unter Bildung von tonigen Substanzen. Bei der Verwitterung spielen sowohl physikalische wie chemische Vorgänge eine Rolle, beide unter- stützen sich. Praktisch von großer Wichtigkeit sind die Fragen der rechtzeitigen Erkennung des Sonnen- brandes, und ob die Möglichkeit besteht, die Folgen des Sonnenbrandes zu verhindern. Zur ersten ist zu bemerken, daß es ganz sichere Er- kennungszeichen am frischen Gestein nicht gibt. Immerhin kann aus folgenden Anzeigen auf Nei- gung zum Sonnenbrand geschlossen werden : a) Wenn nach mehrmaligem Erhitzen und da- rauffolgender Abkühlung einer Gesteinsprobe Risse und Sprünge eintreten; b) wenn nach 10 Minuten langem Kochen der Gesteinssplitter in Salzsäure und darauf- folgend in 5 proz. Lösung von NajCOg Flecke auftreten; c) wenn durch mehrstündiges Kochen von Ge- steinssplittern in einer Lösung von (NH^),COg oder Na.XOa, in NH3, NaOH oder KOH, oder durch längeres Liegenlassen in einer warmen Lösung der genannten Stoffe Flecke hervorgerufen werden. Wenn irgend möglich sind die längere Zeit der Luft ausgesetzten Wände der Steinbrüche, das ältere Material der Halden und sonstiger Abfall auf Sonnenbrenner zu untersuchen. Geliefertes Material empfiehlt sich vor der Übernahme längere Zeit lagern zu lassen und erst zu verwenden, wenn kein Sonnenbrand zu bemerken ist. Um den Zerfall der Sonnenbrenner zu ver- hindern gibt es kein Mittel. Nur vollständiger Abschluß der atmosphärischen Luft (z. B. Ein- betten in Betjon) schützt. F. H. Die Lagerungsform des Westerwälder Sohl- basaltes wird von Luise Buchner un^ W. S a 1 o - mon in den „Sitzungsberichten d. Heidelb. Akad. d. Wissensch. Math.-naturw. Klasse" (1919) ge- klärt. Bis in die neueste Zeit hinein faßte man den liegenden (Sohlbasalt) und den hängenden (Dachbasalt) Basalt als Decken auf. Nun zeigte sich während der genauen Untersuchungen, daß die Kohle (aus Lignit bestehend) an den Seiten- hängen der auftretenden Rücken mechanisch stark gepreßt und gedrückt war, daß glänzende Rutsch- streifen eine Bewegung zwischen Kohle und Basalt verraten, daß zungenförmige Apophysen mehrere Meter lang, bis 80 cm mächtig in die Kohle hineinragen, daß sich im Sohlbasalt Einschlüsse von Kohlen zeigen. Aus all dem Angeführten geht hervor, daß der Sohlbasalt ein Lager- gang mit lakkolithischen Aufwölbungen ist. Da- durch ist die hängende Kohle metamorph ge- worden. Sie erinnert stellenweise an Steinkohle. Bei der veränderten Kohle nimmt der Kohlenstoff- gehalt zu, der Wassergehalt ab, der Heizwert er- höht sich von 3000 auf 7400 Kalorien. Die nor- male Westerwälder Braunkohle hat den auffällig hohen Heizwert von 2500 — 3000 Kalorien. Das führt man auf eine beschleunigte Inkohlung zu- rück, die durch eine Durchwärmung des ganzen Gebietes hervorgerufen worden ist. An der Durch- wärmung beteiligten sich der Sohlbasalt, der Dachbasalt imd die verschiedenen Intrusionen und Eruptionen. Rudolf Hundt. N. F. XDC. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 685 Der Bedeutung des Pliozäns für die Morpho- logie Südwestdeutschlands geht W. Salomon in den „Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. d. Wissensch. Math.-naturvvissensch. Klasse" (191 9) nach. Das Buntsandsteinmassiv des Katzenbuckels zwischen Neckar und Itter ist eine „tote Landschaft", die in einem früheren Abschnitt der Erdgeschichte gebildet wurde und seitdem unverändert geblieben ist. Wie im Sandstein-Odenwald tritt uns hier eine alte Rumpffläche entgegen, die in dem schwach geneigten Tafelgebirge allmählich abge- tragen worden ist. Weil sie die Schichtflächen der Gesteine sehr spitz schneidet, kommt man leicht zu der Anschauung, daß die Rumpffläche mit einer Schichtfläche zusammenfällt. Von ge- ringer Höhe war sie zur Zeit der Erosion. Die auffallenden Höhenunterschiede zwischen Oden- wald und Kraichgau einerseits und der Rheinebene andererseits sind erst später entstanden. Mit der Neubelebung des Gefälles zerschnitten die Ge- wässer den Sandstein-Odenwald in einzelne Rücken und schmale Kämme. Wie im Odenwald und Kraichgau ist im Pflälzerwald eine alte Rumpffläche nachzuweisen. Auf der Hochfläche ruht die Erosion. Nur in den Tälern ist sie tätig. Der Pfälzerwald, Odenwald, das Rheinische Schiefergebirge tauchte bereits in der zweiten Hälfte der Dogger- oder in der ersten Hälfte der Malmzeit aus dem Jurameer heraus. Die Erosion setzte also hier auch eher ein als im Süden. Es wurden deshalb auch ältere Schichten abgetragen. Der einst höhere Norden wurde so zum jetzt fast mit der Rheinebene übereinstimmenden Niveau. Erst später setzten Gebirgsbewegungen ein, die Schwarzwald und Wasgenwald über ihre nörd- lichen Zwillingsgebirge heraushoben. Der Graben belebte sich neu, die tiefen Täler bildeten sich aus und es entstanden die Hauptzüge des west- deutschen Reliefs. In dem ganzen Gebiet finden sich weiße, meist kalkfreie Sand- und Tonablagerungen, die pliozänen Alters sind und nach Salomon ihre Bleichung großen Mooren verdanken. Sie liegen auf den ver- schiedensten älteren Schichten. Die entstandene Rumpffläche kannte träge fließende Flüsse, die in Seen und Tümpeln zur Sumpfbildung führten, wo- durch die Bleichung des Untergrundes herbeigeführt wurde. Das einsetzende Heben der Gebirge, Ein- sinken der Ebene war auf beiden Rheinseiten ganz verschieden. In der Pfalz kam die Senkung früher zur Ruhe. Hier liegen am älteren Gebirgs- rand langgestreckte Tertiärterrassen und weißes Pliozän tritt zutage. Auf dem rechten Rhein- ufer findet die Senkung der Ebene bzw. Hebung der Gebirge statt. Weißes Pliozän und Braun- kohle liegen, bedeckt von jüngeren Schichten, in der Tiefe begraben. Die Zerschneidung der pliozänen „Gleichge- wichtsfläche" fällt entweder ins Jungpliozän oder in das ältere Diluvium. Nachklingende Bewegungen setzen sich bis in die Gegenwart hinein fort. Mit der Emporwölbung des Schweizer Juragebirges hängt die oben erwähnte Umkehrung der Höhen- lage des Südens und Nordens zusammen. Vor diesen Gebirgsbildungen in jungpliozäner Zeit floß der Urmain aus den Gebiete der heutigen Wetterau nach Norden, der Rhein noch durch die Burgunder Pforte, während darnach der Urrhein nach Norden umbog, sich mit dem Urmain verband und das aufsteigende Rheinische Schiefergebirge durchsägte. Rudolf Hundt. Über die Lebensdauer der Solle schreibt H. Schütze in Petermanns-Mitteilungen (1920). In Südposen haben wir eine söllereiche Gegend vor uns. Manche Talzüge Südposens (obere Lutynia, Orla, Domhroczna) können verlandete ehemalige Seenbecken sein. Die moorerfüllten Senken der Geschiebemergelhochfläche westlich der Orla sind wohl auch verlandete Seen. Nun finden sich in Südposen eine Menge Solle neben diesen ver- landeten Seen. Die große Tiefe der Solle, die sie mit abflußlosen Seenbecken gemeinsam haben, sedimentieren weniger schnell als die flacheren Seen mit Ein- und Abfluß. Es kommt bei ihrer Verlandung wie bei den abflußlosen Seen ein pflanzliches Zuwachsen in Frage. Viele Solle trocknen vorübergehend aus, so daß sie für die Entwicklung eines Phragmitesgürtels und unter- getauchter Pflanzenwell wenig günstige Voraus- setzung bieten. Eine Pflanzenverkohlung unter Wasserabschluß wird durch die öfters eintretende Austrocknung unterbrochen. So können die Solle nach des Verfassers Ansicht sogar Interglazial- zeiten überdauern. Rudolf Hundt. Über „fossile Holzkohle" berichtet O. Stutzer in der „Braunkohle" (1920). In Steinkohlenflözen findet sich öfter Holzkohle als in Braunkohlen- flözen und Torf. Reich an Holzkohlen sind die Rußkohlengebiete des Zwickauer Reviers, das „Pitsbergh"-Flöz in Amerika (bis 2000 Quadrat- meilen Fläche). Durch Waldbrandentstehung er- klärt man sich die Holzkohlen im Kohlenflöz Friedrich Wilhelm Maximilian und Vereinigte Wille am Niederrhein gebildet. Jetzige Torfmoore zeigen oft Holzkohle mit Asche zusammen. Brände in Mooren scheinen dies erzeugt zu haben. Das Braunkohlenflöz von Moys bei Görlitz birgt an- gekohlte Stämme, Spuren von Waldbränden. Nun kann aber auch Holzkohle auf anderem Wege ent- stehen, nämlich durch Dehydratisation. Was im Laboratorium starke Schwefelsäure verrichtet, das erzeugt in der Natur in Wasser gelöste Schwefel- säure, die vom Schwefelkies herstammt. Stutzer vergleicht die fossile Holzkohlenbildung mit den Vorgängen in einem in Gärung übergegangenen Heuhaufen. Wenn hier diese Gärung ohne Feuer- erscheinung verläuft, die Reaktion durch Ab- kühlung unterbrochen wird, dann „findet man in dem Heuhaufen alle Übergänge von der unver- 686 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 43 änderten Pflanzensubstanz außen bis zur verkohlten Substanz im Innern". Durch diese trockene Destilla- tion des Heues ist in der entstandenen Kohle jede Zelle erhalten, so daß alles porös bleibt. Ein Sinken des Grundwasserspiegels kann nach Stutzers Meinung die Vorbedingungen für die Gärung und die Verkohlung der abgelagerten Pflanzensubstanz gegeben haben. Rudolf Hundt. Medizin. Neue Beiträge zur Schilddrüsenfrage hat Otto Bayard eben bei Benno Schwabe u. Co. in Basel veröffentlicht (42 S., 2,50 M.). Hin- sichtlich der Entstehungsursache des Kropfes herrschte bis vor etwa einem Jahrzehnt ziemlich unbestritten die Ansicht, daß derselbe durch einen Mikroorganismus hervorgerufen werde, und daß das Trinkwasser der Träger der Kropfursache sei. Aber die Feststellung, daß an sehr vielen Orten Kropf und Kretinismus abgenommen haben, ohne daß daselbst anderes Trinkwasser zugeführt wor- den wäre, führte dazu, jene Annahme unwahr- scheinlich zu machen. Zudem erhielten mehrere Forscher bei Tierversuchen an Kropforten auch bei Tränkung mit gekochtem Wasser aus kropf- freien Orten stets Kropf, während in einer kropf- freien Gegend die Tränkung der Tiere mit Wasser aus einer Kropfgegend erfolglos blieb. Die Er- gebnisse der Versuche zur Feststellung eines Er- regers der Kropfkrankheit scheinen darauf hinzu- weisen, daß diese überhaupt nicht infektiöser Natur ist. Zudem bietet das histologische Bild nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß die Struma die Folge einer Infektion sei. In ihren Anfängen stellt sie sich als einfache Epithelwuche- rung dar. Später, beim Menschen meist nach dem zehnten Lebensjahr, treten Adenomknoten auf (Struma nodosa). Andere Veränderungen (stärkere Kolloidansammlung, Zystenbildung usw.) treten als weitere Stadien der primär hyperplasti- schen Struma auf. Klinisch ist der Kropf weder von einem Lokal- noch einem Allgemeinsymptom begleitet, das auf eine Infektion zurückzuführen wäre. B. wurde durch Überlegungen über den Jod- gehalt verschiedener Nahrungsstoffe und das re- gionale Schwanken des Jodgehalts der Nahrung auf den Gedanken gebracht, daß die als Kropf bezeichnete Epithelwucherung der Schilddrüse nichts anderes ist als Anpassung an jodarme Nahrung. Da der Jodgehalt der Nahrung mit der Entfernung vom Meere abnimmt, findet man Kröpfe auch am häufigsten in entlegenen Kontinentalgebieten. Zugunsten der Jodmangel- theorie sprechen eine Reihe gewichtiger Argu- mente. B. sagt: Vergleicht man das Schilddrüsen- gewicht der Bewohner verschiedener Gegenden, die noch nicht als kropfbehaftet gelten, so finden sich ganz bedeutende Gewichtsunterschiede, und zwar ist das Gewicht um so größer, je jodarmer aller Wahrscheinlichkeit nach die Nahrung ist. Darum hat man im Gegensatz zu anderen Or- ganen für die Schilddrüse kein Normalgewicht festsetzen können. Nachfolgende Tabelle orien- tiert über das mittlere Gewicht der Schilddrüsen : Alter Kiel Berlin München 21—30 Jahre 23,5 g 32,1 g 37.2 g 31 — 40 „ 24,0 „ 30,6 „ 40,6 „ 41—50 „ 25,3 „ 28,6 „ 38,2 „ Berlin und München gelten den Anhängern der Infektionslehre nicht als kropfverseucht, und doch ist die Berliner Drüse größer als die Kieler Drüse, während die Münchener wieder größer als die Berliner Drüse ist. In Kiel, einer Küstenstadt, ist die Nahrung jodreicher als in Berlin, und in München, daß so weit ab vom Meere liegt, jeden- falls jodärmer als in Berlin. Eine Berner Schild- drüse stellt gegenüber einer Münchener Drüse in jeder Beziehung nichts anderes dar als eine weitere Etappe in der Hyperplasie, wie die Münchner gegenüber der Berlmer, und letztere gegenüber der Kieler Drüse. Im allgemeinen ist in Strumen der relative Jodgehalt geringer als der normaler Schilddrüsen, der absolute sehr oft aber bedeutend höher. In- folge gestörter Abflußverhältnisse kann in Strumen das als Kolloid im Inneren der Follikel abgelagerte Schilddrüsensekret oft weniger leicht entleert werden und es kommt darum zu Kolloidrück- ständen. Dieses Residualkolloid kann zu einem hohen Jodgehalt der Schilddrüse führen, auch wenn die Follikel nur wenig jodhaltige Klobulin- substanz (Thyrjod) zu produzieren und an den Körper abzugeben imstande sind. Die Basedow- Schilddrüsen hingegen, die sehr viel Thyrjod pro- duzieren und an den Körper abgeben, haben durchwegs einen geringeren Jodgehalt. Darum ist auch der oft gemachte Schluß nicht zulässig, daß die Schilddrüse des Neugeborenen noch nicht funktioniere, weil dieselbe sehr wenig Jod ent- halte. Fällt es der Infektionslehre schwer, eine Er- klärung zu finden, warum bei einem Kropfigen nach einem längeren Aufenthalt in einer kropf- freien Gegend eine Rückbildung der Struma er- folgt, so gibt uns die Jodmangellheorie ohne weiteres eine befriedigende Antwort. In einer kropffreien Gegend ist die Nahrung jodreicher, der Schilddrüse wird mehr Jod zugeführt und in- folgedessen kann die wegen Jodmangel ent- standene Hyperplasie eine Rückbildung erfahren. Das gleiche kann man beobachten, wenn eine stark kropfbehaftete Bevölkerung anfängt, einen Teil der Lebensmittel aus anderen Gegenden zu beziehen. Man hat gesehen, daß in abgelegenen Gebirgsgegenden der Kropf eine Abnahme erfährt, sobald dieselben dem Verkehr erschlossen werden. Nach Erstellung von Verkehrswegen sind die Be- wohner solcher Gegenden leichter in der Lage, sich Nahrungsmittel von auswärts zu verschaffen. Nach einer Umfrage unter alten Leuten hat B. für das Zermatterial feststellen können, daß da- N. F. XK. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 687 selbst (wie überhaupt im Wallis) Kropf und Kre- tinismus in den letzten fünfzig Jahren ganz be- deutend abgenommen haben. Früher waren die Talbewohner fast ausschließlich auf die eigenen Landesprodukte angewiesen. Infolge des Fremden- verkehrs hat die Bevölkerung so zugenommen, daß das Land den Bedarf an Nahrung nicht mehr zu decken vermag. Die Bewohner sind nun auf die Nahrungszufuhr von auswärts angewiesen und der Kropf nimmt ab. — Wie aber kommt es, daß z. B. in München und Oberbayern die Zuge- wanderten und ihre Nachkommen kropffrei bleiben, die Einheimischen aber, bei gleicher Nahrung, vielfach kropfig sind ? Das spricht gegen B.s Auf- fassung. Ferner ist B. der Ansicht, das in jedem Zell- kern nachgewiesene Jod sei ein Abbauprodukt der jodhaltigen Globulinsubstanz der Schilddrüse, es besitze jede Zelle die Fähigkeit, Thyrjod zu binden, welche als „Thyreophilie" bezeichnet wird. Der Grad der Thyreophilie kann aber bei ver- schiedenen Zellen verschieden stark ausgeprägt sein. Auch ist der Thyrjodbedarf des Körpers nach dem Lebensalter ungleich; er ist in der Jugend am größten und nimmt im Alter stetig ab. Demzufolge nimmt B. an, daß die Zellen in der Jugend mehr Thyrjod zu binden vermögen als im Alter. Sondert die Schilddrüse, dem Lebens- alter entsprechend, zu wenig Thyrjod ab so gehen Rezeptoren für dieses Sekret vorzeitig ein, was einen vorzeitigen Alterszustand zur Folge hat. Da aber das fixierte Thyrjod den gesamten Zell- stoffwechsel beeinflußt, so wird sich das früh- zeitige Altern nicht allein auf die Thyreophilie be- schränken, es wird auch sonst zu Alterserschei- nungen der Zelle kommen, und in der Tat er- weckt schon der äußere Habitus eines Kretin den Eindruck des Greisenhaften. Einzelne Zellen oder Organe können die Thyreophilie eher einbüßen als andere und die Stigmata der Hypothyreose in mehr ausgeprägter Weise zeigen. So kann es geistig normale Individuen geben mit allen somati- schen Zeichen der kretinischen Degeneration. Sucht man den Zustand der Hj'pothyreose durch Zufuhr von Schilddrüsensubstanz zu beheben, so ist ein Heilerfolg dann zu erwarten, wenn die Rezep- toren nicht allzusehr zurückgebildet sind. Kann das künstlich zugeführte Thyrjod wegen solcher Rückbildung nicht verankert werden, so ist eine Wirkung ausgeschlossen. Damit in Einklang steht, daß bei der Behandlung des Kretinismus durch Verabreichung von Schilddrüsensubstanz die Er- folge um so größer sind und um so rascher auf- treten, in je früherem Alter die Behandlung einsetzt. Die Hypothyreose führt in den schwersten Fällen zum Myxödem, zum Kretinismus und zur Taubstummheit. B. ist der Ansicht, daß überdies die Unterfunktion der Schilddrüse zur Krebs- krankheit und Arteriosklerose in Beziehung steht. Er weist darauf hin, daß nach statistischen An- gaben die Schweiz unter allen Ländern die größte Krebsmortalität hat. Arteriosklerotische Verände- rungen an der Aorta und den großen Gefäßen findet man regelmäßig bei der Thyreoplasie, sehr häufig nach Schilddrüsenentfernung. In der Schweiz beobachtet man die Sklerose der Schild- drüsenarterien bei Kindern und Jugendlichen viel häufiger als in Norddeutschland. B. läßt es da- hingestellt, ob dies als ein weiteres Alterssymptom der kropfigen Schilddrüse oder als Teilerscheinung der allgemeinen Arteriosklerose zu deuten ist. Besieht die Störung der Schilddrüsenfunktion nicht in verminderter, sondern in vermehrter Ab- scheidung jodhaltiger Globulinsubstanz, so kann die Basedowsche Krankheit entstehen u. zw. nur dann, wenn das in zu großer Menge im Blut kreisende Thyrjod an die Zellen verankert wer- den kann. Bei der Basedowschen Krankheit wird also, wie in der Jugend, ein erhöhtes Bin- dungsvermögen der Zelle für Thyrjod bestehen, und sie wird dadurch in einen Reizzustand ver- setzt. B. weist auf die Ähnlichkeit hin, die funk- tionell zwischen einer Basedowschilddrüse und einer jugendlichen Schilddrüse besteht; er zeigt, daß die Thyreophilie bei der Basedowkrankheit einem Jugendzustand dieser Zellfunktion gleich- kommt und daß mehrere Basedowsymptome ex- quisit infantilen Charakter haben, weshalb man diese Krankheit als Form des Infantilismus auf- fassen kann. Es wird ein Jugendzustand dauernd bewahrt, während bei zu geringer innerer Sekre- tion der Schilddrüse frühzeitig ein Alterszustand auftritt. H. Fehlinger. Ein pflanzliches Keuchhustenmittel. In der Volksmedizin werden seit alter Zeit die bei- den fleischfressenden Pflanzen unserer Heimat, Drosera (Sonnentau) und Pinguicula (Fettkraut), als Heilmittel gegen Keuchhusten verwendet. Auch die Homöopathie benutzt vor allem Droserapräpa- rate als Mittel gegen Erkältungshusten und andere Husten, speziell auch gegen Keuchhusten. Nach homöopathischer Lehre sollte die Zufuhr von größeren Mengen von Droserapräparaten im menschlichen Körper einen Symptomenkomplex ähnlich dem einer akuten Erkältung herbeiführen. In neuerer Zeit finden galenische Präparate (Ex- trakte, Dialysate) von Drosera und Pinguicula in der Allopathie als Keuchhustenmittel nach den günstigen Erfahrungen der praktischen Ärzte zu- nehmende Anwendung. Diese pflanzlichen Drogen sollen nicht wie andere Keuchhustenmittel nur symptomatisch wirken, sondern sie sollen direkt den ganzen Verlauf der Krankheit günstig beein- flussen und wirkliche Mittel gegen den Keuchhusten darstellen. Die Angaben in der Literatur ließen eine Nach- prüfung der Drosera- und Pinguiculadrogen nach den Methoden der experimentellen Pharmakologie höchst wünschenswert erscheinen. Die Nach- prüfung erfolgte auf Veranlassung von Heinz ^)- '1 Münchener med. Wochenschrift S. 77 1 — 772 Nr. 27 (1920). Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 43 Erlangen durch Schottenheim. Die Versuche wurden mit getrocitneten Drosera- und Pinguicula- pflanzen, sowie mit „Thymipin" angestellt. Das Thymipin ist ein Gemisch von Dialysaten, die nach dem Golazschen Verfahren aus Drosera rotundifolia, Pinguicula alpina und Thymus vul- garis hergestellt werden. Nach diesem Verfahren werden die möglichst frischen, eben erst geern- teten Pflanzen gegen Wasser dialysiert, wodurch man die kristalloiden wirksamen Bestandteile im Dialysat erhält, während die kolloidalen Stoffe wie Eiweiß und Dextrinkörper nicht zu diffundieren vermögen und als sog. Ballaststoffe zurückbleiben. Es entspricht i ccm Thymipin einem Gramm der frischen Pflanzen. Die Wirkung des Thymipins beruht nach den Untersuchungen Schottenheims hauptsächlich auf den Drosera- und Pinguicula- bestandteilen. Zunächst mußte festgestellt werden, ob die pflanzlichen Drogen überhaupt im Experiment eine Wirkung ausüben und wenn dies der Fall ist, ob aus der Art der Wirkung vielleicht der günstige Einfluß auf Keuchhusten verständlich wird. Das Thymipin zeigte keine lokal-anästhe- sierende, keine stärker bakterizide und keine be- täubende (kodeinartige) Wirkung auf das Atmungs- bzw. Hustenzentrum. Daher kann der heilende Einfluß bei Keuchhusten nicht auf einer direkten pharmakodynamischen Wirkung beruhen, sondern „es muß sich um eine andersartige Beeinflussung der Krankheit durch das Mittel handeln, indem durch dasselbe die Abwehrmechanismen des Orga- nismus gegen den Krankheitserreger unterstützt werden". Heinz nennt derartig wirkende Mittel (wie auch z. B. IvoUargol, Terpentinöl usw.) Arznei- mittel mit indirekter Heilwirkung. „Es wurden einer Anzahl gesunder jugendlicher Individuen sub- kutane Injektionen von Thymipin bzw. Drosera- extrakt gemacht. Tatsächlich erfolgt darauf ein gewöhnlich binnen 24 Stunden vorübergehender, wässeriger Katarrh der Nasenschleimhaut." Bei Mäusen ergab die subkutane Injektion von Thymi- pin regelmäßig vertiefte Atmung mit Zeichen hochgradiger Dyspnoe. Als Ursache dieser auf- fälligen Erscheinung ergab die Sektion eine starke Rötung und Schwellung der Tracheal- und Bron- chialschleimhaut. Auch bei Meerschweinchen und Kaninchen wurde Hyperämie der Schleimhaut der Trachea und der größeren Luftwege gefunden. Manchmal, aber nicht konstant und nicht bei allen Tierarten, erfolgten Schwellungen der Lymph- drüsen und eine Vergrößerung der Milz. Durch diese Untersuchung ist die höchst inter- essante Tatsache einwandfrei festgestellt, daß auf die subkutane Zufuhr von Thymipin oder von Droseraextrakten eine Veränderung an den Atem- wegen eintritt. „Sie ist bisher bei keinem Mittel beobachtet worden außer bei Giften, die durch die Lunge, also gasförmig, ausgeschieden werden." Es muß also eine spezifische Affinität zwischen den Bestandteilen des Thymipins bzw. des Dro- seraextrakts und der Respirationsschleimhaut be- stehen, die aber zurzeit noch nicht erklärt werden kann. Die Hyperämie der Schleimhaut der Atem- wege auf die Zufuhr des Thymipins könnte für die Heilwirkung bei Keuchhusten in Betracht kommen, vielleicht auch ein Einfluß auf das Lymph- system : wehren doch die Lymphozyten die ein- dringenden Mikroorganismen ab und neutralisieren unter Umständen deren Gifte. Da bei Tieren Keuchhusten experimentell nicht erzeugt werden kann, werden Tierversuche kaum weitere Auf- schlüsse bringen. Nachdem aber die pharma- kologische Untersuchung die spezifische Verwandt- schaft der pflanzlichen Drogen zu den Schleim- häuten der Atemwege ergeben hat, wäre die weitere eingehende klinische Prüfung dieser inter- essanten Mittel recht wünschenswert. Karl Kuhn. Literatur. Teubners kleine Fachwörterbücher. Berlin • Leipzig '20, B. G. Teubner. 14,40 M. Tb. Knottnerus-Meyer, Zoologisches Wörterbuch. P. Thormeyer, Philosophisches Wörterbuch. G. Bernd t, Physikalisches Wörterbuch. O. Gerke, Botanisches Wörterbuch. Leich, Dr. A., Physikalische Tabellen. 2. Aufl. Berlin- Leipzig '20, M. de Gruyter (Göschen). Graebe, C, Geschichte der organischen Chemie. Bd. I. Berlin '20, J. Springer, 28 M. Das Pflanzenreich. Herausgegeben von A. Engler. 71. Heft: Additamentum ad Araceas - Philodendroideas von A. Engler. Araceae-Colocasioideae von A. Eogler und K. Krause. Mit 28S Einzelbildern. Leipzig '20, W. Engelmann. 51 M. Höfer- Heimalt, Dr. H. , Grundwasser und Quellen. Eine Hydrogeologie des Untergrundes. 2. Aufl. Mit 66 Abb. 12 M. Roinert, J. , Der elementare Beweis des Fermatschen Satzes. Halberstadt, J. Schimmelburg. Reichenow, Prof. Dr. A. , Die Kennzeichen der Vögel Deutschlands. 2. umgearbeitete Aufl. Neudamm, J. Neumann. Fürth, Dr. R., Schwankungserscheinungen in der Physik. Braunschweig '20, F. Vieweg. 4,50 M. Molisch, Prof. Dr. H., Anatomie der Pflanze. Mit 126 Abb. Jena '20, G. Fischer. 12 M. Inlmlt: Friedl Weber, Phyletische Potenz. S. 673. H. W. Frickhinger, Vorschläge zu einem zeitgemäßen Ausbau der deutschen zoologischen Gärten. S. 680. Zum 70. Geburtstag Dr. Uerni. von Iherings. (I Abb.) S. 682. — Eitizel- berichte: C. Hütter, Über die Chromerzvorkommen in Nordmazedonien. S. 682. J. E. Hibsch, Über den Sonnen- brand der Gesteine. (2 Abb.) S. 683. Luise Buchner und W. Salomon, Die Lagerungsform des Westerwälder Sohlbasaltes. S. 684. W. Salomon, Bedeutung des Pliozäns für die Morphologie Südwestdeutschlands. S. 685. II. Schütze, Über die Lebensdauer der Solle. S. 685. O. Stutzer, Über „fossile Holzkohle". S. 68«;. Otto Bayard, Beiträge zur Schilddrüsenfrage. S. 686. Schottenheim, Ein pflanzliches Keuchhustenmitlei. S. 687. — ■ Literatur: Liste. S. 688. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'gchen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band ; der ganzen Reihe 55. Band. Sonntag, den 31. Oktober 1920. Nummer 44. Über eine heterophylle philippinische Ameisenpflanze aus der Familie der Melastomataceae, nebst Bemerkungen über das Auftreten von Amylodextrin-Körnern in den sog. Perldrüsen. [Nachdiuck perboten.] Von H. Solereder, Erlangen. Mit I Abbildung. Bei einer Anzahl südamerikanischer Melasto- mataceen aus den Gattungen Tococa, Majeta, Microphysca, Calophysa und Myrmidone sind blasige, mit Zugangsöfifnungen versehene Auftrei- bungen der Blattspreite oder der Blattstiele oder der an die Blattstiele sich unmittelbar anschließen- den Stengelteile, welche als Ameisenwohnungen dienen, längst gekannt (s. namentlich K. Schu- mann, Einige neue Ameisenpflanzen, Pringsheim Jahrb. XIX, 1888, S. 399 ff. u. Taf. X— XI). Durch meinen Freund Loh er in Manila sind mir nun schon vor einigen Jahren Samen einer phi- lippinischen Melasto matacee zugekommen, die nach seinen Angaben ebenfalls eine Ameisenpflanze ist, aber nicht so typische, sondern viel einfacher gebaute Blatt- domatien aufweist, wie die genannten ameri- kanischen Gattungen. Die aus den Samen auf- gezogenen Pflanzen ließen sich leicht durch Steck- linge vermehren; zur Blüte sind sie leider noch immer nicht gekommen. Daher steht auch ihre sichere Bestimmung noch aus. Doch mag die in Rede stehende Art vorläufig den Namen Medinilla Loheri führen; ob sie nicht schon unter den zahl- reichen von Merrill im Philippine Journal of Science veröffentlichten Melastomataceen enthalten ist, steht allerdings dahin. Die mit gegenständigen Blättern versehenen Knoten der ausgewachsenen Pflanzen sind zum Teil in auffallender Weise heterophyll. Das eine Blatt ist dann als normales Laubblatt ausgebildet, an unseren Exemplaren bis 21 cm lang einschließlich des 1,5 cm messenden dicklichen Blattstiels und bis 7,5 cm breit und mit einer breitlanzettlichen oder fast eiförmigen oder umgekehrt-eiförmigen, kurz- und stumpfbespitzten, ganzrandigen und fieder- nervigen Spreite versehen. Die Nervatur ist cha- rakteristisch und bei anderen Medinilla- Arten eine ähnliche: 4 — 5 Seitennervenpaare gehen von der Mittelrippe unter spitzem Winkel aus und dabei das oberste unterhalb der halben Länge des Mittel- nerven ; die Seitennerven stehen durch Quernerven in Verbindung. Von einer Behaarung ist am aus- gewachsenen Blatt abgesehen von einem ober- seitigen Zottenschopf an der Spreitenbasis wenig zu sehen. Das andere Blatt des Knotens, das Ameisenblatt, ist zu einem kurzen, an der Basis kropfigen Blattgebilde umgewandelt, wie das Lichtbild zeigt. Die Kropfblätter sind sitzend, breit eiförmig, bis über 4 cm lang und über 3 cm breit. Der unterste gegenüber dem übrigen Spreitenteil dickliche und durch Anthocyan braun- rot gefärbte Teil der Spreite ist durch stärkeres Wachstum auf der Unterseite kropfig nach unten ausgebuchtet und umschließt eine oberseits ge- lagerte halbkugelige Höhlung, welche gegen die Achse zu an der Spreitenbasis eine Wimperreihe von Zottenhaaren trägt und nach oben zu mit einem breiten, von dem oberen grünen, mehr horizontalen Laminarteil begrenzten Spalt aus- mündet. Die Kropf blätter haben 7 — 9 sog. Haupt- nerven, die im kropfigen Teil besonders stark nach unten vorragen; die seitlichen entspringen kurz über der Basis des medianen und verlaufen Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 44 in raschem Bogen nach außen, um Randschleifen zu bilden. Bemerkt sei noch, daß gleich den normalen Laubblättern auch die Kropfblätter Axillärsprosse entwickeln und weiter, daß an den Keimpflanzen nicht schon anfangs, sondern erst später die Kropfblätter zur Entwicklung kommen, daß aber mitunter schon dort eine gewöhnliche Heterophyllie, die lediglich in einer ungleich starken Ausbildung der Blätter desselben Knotens be- steht, zu beobachten war, wie dies bei vielen Familienangehörigen, z. B. bei der häufig kulti- vierten Centradenia rosea Lindl. oder innerhalb der Gattung Medinilla bei IVI. heterophylla A. Gray vorkommt. An unseren Pflanzen nahm ich Ameisen- besuch wahr, ohne daß die Ameisen aber eine blei- bende Wolinstätte in den Kropf blättern aufschlugen. Über die Anatomie der Blätter unserer Ameisenpflanze, welche neben der exomorphen Blattbeschaffenheit der Zugehörigkeit der Pflanze zu Medinilla das Wort spricht, ist folgendes an- zuführen (vgl auch Palezieux, Anat.-syst. Unter- suchung des Blattes der Melastomaceen mit Aus- schluß der Triben : Microlicieen , Tibouchineen, Miconieen, Diss. IMünchen, 1899, S. 70). Das Blatt ist bifazial gebaut, mit einschichtigem und von längeren Trichterzellen gebildetem Palisaden- gewebe und lückigem, kurz- und flacharniigem Schwammgewebe. Unter der oberseitigen Epi- dermis befindet sich ein größerzelliges, gewöhn- lich nur einschichtiges Hypoderm. Die auf die Blattunterseite beschränkten Spaltöffnungen folgen dem Typus mit zwei quer zum Spalt gestellten Nebenzellen ; dabei umfaßt in charakteristischer Weise die eine Nebenzelle den größten Teil des Schließzellenpaares, während die andere das Schließzellenpaar nur berührt. Die unterseitigen Epidermiszellen bewirken durch die Vorwölbung ihrer Außenwände das matte Aussehen der un- teren Blatlfläche. Die Nervenleitbündel besitzen keinen direkten Sklerenchymbelag. Doch sind im Umkreis der Nervenleitbündel und auch sonst im Grundgewebe der größeren Nerven einzelne parenchymatische Grundgewebezellen sklerosiert und getüpfelt. Vereinzelt, und zwar häufiger im Kropfblatt, sah ich unregelmäßig gewundene und schwach sklerosierte Zellen auch im Schwamm- gewebe. Der Oxalsäure Kalk ist in Drusenform ausgeschieden ; rundliche Drusenzellen sind zwi- schen den Palisadenzellen eingeschaltet. Die Kropfblätter weichen in ihrer Struktur von den gewöhnlichen Laubblättern wenig ab. Nur fehlt in ihrer Spreite stellenweise die oberseitige größer- zellige Hypodermschicht; dieselbe ist dann durch eine an diesen Stellen größerzellige Epidermis er- setzt ; auch ist das Palisadengewebe kürzergliedrig. In dem basalen kropfigen Teil des Blattes ist das Hypoderm zweischichtig; Palisaden- undSchwanim- gewebe treten gegenüber einem großzelligen und im Querschnitt rundlichzelligem Grundgewebe zu- rück; eine Vermehrung der mechanischen Gewebe- elemente findet dort nicht statt. Die Behaarung des Blattes besteht aus langen und kürzeren Zottenhaaren, die übrigens auch an den Zweigen vorkommen, aus kleinen Drüsenhaaren, aus spreu- igen Trichomen, welche Kombinationen von Büschel- und Drüsenhaaren sind, und aus sog. Perlhaaren. Die Zotten sind mehrzellreihige Ge- bilde aus stärker- und nach oben hin dünner- wandigen Zellen, die an der Zottenoberfläche oft in der IVIitte oder an dem Ende in einen kürzeren oder längeren Papillenstrahl ausgesackt sind; an den kürzeren Zotten, die nebenher vorkommen, sind die Haarstrahlen länger. Die kleinen Drüsen- haare haben einen kurzen, ein- bis zweizeiligen Stiel und ein durch wenige horizontale und auch longitudinale Wände geteiltes, armzelliges Köpfchen. Sehr verschieden gestaltet sind die mit den wenig- zelligen Drüsenköpfchen kombinierten Büschel- haare, die dünnwandige weitlumige Strahlzellen haben; sie sind besonders reichlich auf der Ober- seite des jungen rotgefärbten Laubblattes, wo sie eine feine spreuige Behaarung bilden. Schließlich sind die Perlhaare anzuführen, welche als glän- zende, 165 fi dicke Kugeln dem freien Auge sicht- bar sind, namentlich in feuchter Luft auf der Blattoberseite erscheinen und gleich den Perl- 'drüsen der IVIalvacee Abelmoschus und der Me- lastomacee Medinilla magnifica Lindl. (s. Holm- g r e n , N;igra jakttagelser öfver förekomstcn af Pärlhar hos tropiska växter, Svensk Botanisk Tidskrift 5, 191 1, S. 197 — 216) aus wenigen groß- lumigen Zellen zusammengesetzt sind. Medinilla magnifica Lindl., deren Blatlanatomie ich zum Vergleich untersuchte (s. auch die unvollständigen Angaben von Paltzieux, a. a. O., S. 72), besitzt ebenfalls ober- seitiges Hypoderm, bifazialen Blattbau, Spaltöffnungen mit der oben geschilderten Struktur, Drusen, weitlumige sklerosierte Parenchymzellen in Beziehung zu den Nervenleitbündeln, auch weitlumige, sklerosierte Zellen, mit unduliertem Umriß in der Flächenansicht, in der vom Schwammgewebe gebildeten Blatt- mittelschicht, dann, was die Behaarung anlangt, kurzgestielte Drüsenhaare, oft mit reicherzelligem Köpfchen und fächer- förmiger Anordnung der Zellen im oberen Teil des Köpfchens, dann vor allem auch die oben erwähnten Kombinationsfornien von Drüsen- und Büschelhaaren und die schon von Ho Im- gren (S. 202) festgestellten Perlhaare, während bei anderen Mediniila-Arten uns auch noch die Zotten begegnen. Die er- wähnten Doppelgebilde aus Drüsen- und Büschelhaaren sind unter den Melastomataceen noch von Palezieux (a. a U., S. 58 u. Taf. 11, Fig. 15) bei der auch sonst in der Blatt- struktur Medinilla-ähnlichen madagassischen Gattung Veprecella und aulSerdem von Gott schall (Anat.-systemat. Untersuch, d. Blattes der Melastomaceen aus der Tribus Miconieae, Diss. München, 1900, S. 75 u. Taf.) bei vielen Miconieen-Genera konstatiert. Für die schon kurz beschriebenen Perldrüsen unserer Ameisenpflanze ist gleichwie für die an- deren, von Holmgren (a. a. O.) und die bereits früher von Pen zig (Über die Perldrüsen des Weinstockes und anderer Pflanzen, Atti Congresso bot. internaz. Genova 1892, ed. 1893, S. 237 bis 245 u. Taf. XV) erwähnten, allgemein als Futter- körper angesehenen Perldrüsen und gleichwie für die von S er na n der (Entwurf einer Monographie der europäischen Myrmekochoren, K. Svenska Vetenskapsakademiens Handlingar 41, n. 7, 1906, 410 S., II Taf.) und neuerdings auch von Ul- brich (Deutsche Myrmekochoren, Th. Fisher, N. F. XDC. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 691 Leipzig u. Berlin, 1919) beschriebenen und als Ölkörper bezeichneten Futterkörper der Myrme- kochoren, welche entweder verdickte Nabel- schwielen der Samen oder Teile der Frucht oder Fruchtstiele bilden, in erster Linie ein Gehalt an Tropfen fetten Öles charakteristisch. Außer den Öltropfen finden sich bei unserer Pflanze Körner, welche nach ihren chemischen Reak- tionen als Amylodextrin anzusprechen sind (über Amylodextrin s. Molisch, Mikrochemie 191 3, S. 348 und Tunmann, Pflanzenmikro- chemie, 191 3, S. 507). Mit Jodlösung werden sie nämlich zuerst bräunlich mit einem Stich ins Violette, dann braun bis schwarz; sodann ver- kleistern die dunkeln Körner mit Kalilauge unter zuerst eintretender Violettfärbung und schließ- lichem Hellwerden, worauf nach Auswaschen mit Wasser bei nochmaliger Behandlung mit Jodlösung wieder die Violett- und dann die Braunfärbung auftritt. Das Amylodextrin scheint in den Ameisenfutterkörpern und so auch in den Perl- drüsen weiter verbreitet zu sein, als bisher angenommen wurde. Auch die Perldrüsen der Medinilla magnifica enthalten nach meiner Unter- suchung neben Öltropfen Amylodextrin, das von Ho Imgren nicht angegeben wurde. Gleiche Reaktion geben weiter die schon von Nägeli festgestellten kleinen und großen Körner in den als Ameisenfutterkörper anerkannten fleischigen Samenanhängseln von Chelidonium majus L., während die Zellen der ähnlichen Samenanhänge von Corydalis cava Schweigg. et K. u. solida Smith kein Amylodextrin einschließen. In den kurzen Samenanhängen von Viola fand ich nur in wenigen Zellen zahlreiche kleine, mit Jod sich schwarz färbende, mit Kalilauge nicht verquellende und sich aufhellende und dann wieder mit Jod schwarz werdende Köfperchen vor, in den Ölkörpern von Melampyrum arvense L. keine Stärke- oder Amylodextrinkörner. Ulbrich gibt selten in den „Ölkörpern" oder analogen Gebilden der Myrmekochoren „Stärke" an, so in der Frucht- wand von Tozzia alpina L. Kleine Amylodextrin- körner fand ich in großer Zahl neben fettem ül in den Perldrüsen einer dreiblättrigen, durch Loh er mir zugekommenen und im hiesigen Garten leider nur in männlichen Exemplaren vor- handenen und daher noch nicht bestimmten Cissus- Art, welche nach L o h e r die Nährpflanze der Rafflesia manillana Teschem. ist und, nebenbei ge- sagt, von uns schon zur Aussaat von Samen dieser Rafflesia-Art, einmal anscheinend mit schwachem Erfolg benutzt wurde. Wie bei anderen Ampeli- daceen (s. namentlich auch Penzig u. Holm- gren) setzen sich dort die annähernd kugeligen, von Haut- und Grundgewebe gebildeten Perl- drüsen im Innern aus großen rundlichen Paren- chymzellen zusammen, welche eine kleinzellige, am Scheitel der Drüse mit einem grünen Schließ- zellenpaar besetzte Epidermis umspannt. Die Körner werden mit Jodlösung erst hell- und dann dunkelbraun; nach Behandlung mit Kali- lauge durch Jodlösung violett. D'Arbaumont (Observations sur les stomates et les lenticelles du Cissus quinquefolia , Bull. Soc. bot. France XXIV, 1877, S. 48—66 u. Taf. II— III) gibt in den Perldrüsen der genannten Cissus-Art (S. 64 bis 65) Fehlen von Stärke, aber neben anderen Inhaltsstoffen schwach gefärbte Chloro- plasten an; Penzig, welcher die Perldrüsen bei mehreren Arten von Vitis, Ampelopsis und Cissus untersuchte, fand in ihnen neben Öl und Zucker Kugeln mit Proteinreaktion, welche neben einem oder mehreren größeren Körnern kleine stark lichtbrechende, die Brown sehe Wimmelbewegung zeigende Körper enthielten und mit Jodlösung zu- sammenflössen ; die Körner gaben Stärkereaktion. Raciborski (Biolog. Mitteil, aus Java, Flora 85, 1898, S. 359) beobachtete in den ähnlich wie bei Cissus zusammengesetzten Ameisenbrötchen der Ampelidacee Leea hispida Stärkekörner, die sich in jungen Körperchen mit Jodlösung violett färben und in späteren Stadien eine rotgelbe Färbung annehmen; ähnliches, erst schwärzliche, dann rot- braune Färbung der Körner hat derselbe Autor (Über myrmekophile Pflanzen, Flora 87 , 1900, S. 44) in den Perldrüsen schlingender Gnet um- Arten wahrgenommen. Die gleich den von Penzig für Artanthe-, Enkea- und Piper- Arten und von Nestler (Die Perldrüsen von Artanthe cordifolia Miq., Österreichische bot. Zeitschrift 1893, S. 388) für Artanthe cordifolia Miq. be- schriebenen Perldrüsen nur von einer einzigen kurzgestielten großen Zelle gebildeten Drüsen- gebilde von Chavica officinarum Miq. in Horto Erlang, zeigen in den Köpfchen zellnetzartig an- geordnete Vakuolen, einen großen Zellkern und kleine Öltropfen, aber kein Amylodextrin; dieses oder Stärke werden auch nicht von Penzig und Nest 1er erwähnt. Bot. Institut Erlangen, im August 1920. Nachsch ri ft. Nach Absendung des vorliegenden Aufsatzes erhielt ich von Herrn Loh er- Manila die briefliche Mitteilung, daß die Atneisen-Medinilla, deren Früchte er mir sandte, die von Merrill im Philippine Journal of Science Vlll, 1913, S. 248 aufgestellte Medinilla Loheri sp. n. sein wird, und zugleich eine Abschrift der Diagnose dieser auf Grund von Loher- schem Herbarm.aterial (Loher n. 6280, Luzon, Prov. Rizal, Oriud und Loher n. 6299, Mabacal) aufgestellten Art, sowie der mit dieser Art nächst verwandten, von Robinson an anderem Standort gesammelten und im selben Journal VI, 1911 veröfientlichten Med. disparifolia C.B.Robinson. Nach dem Vergleich unserer Gla.shauspflanzen mit der bezüglichen Artbeschreibung schließe ich mich der Ansicht Lohers durchaus an und bemerke noch, daß nach dem Briefe Lohers die Samen, aus denen unsere Pflanzen gezogen wurden, von dem gleichen Standort „Berg Oriud, ca. 1200 m hoch, an Gebirgsbächen, halb epiphytisch und in sehr feuchter Luft" ') stammen, wie die Pierbarpflanzen n. 62S0. Merrill wie Robinson haben nur fruchtende Sprosse der beiden Arten vorgelegen; deshalb läßt Merrill der Möglichkeit Raum, daß die beiden Arten nach dem Bekanntwerden der Blüten in ein anderes Genus versetzt werden müßten. Für Med. Loheri kommt dies nach meinen obigen Ausführungen nicht in Betracht, da ihre Stellung bei Medinilla schon durch die anatomischen Merkmale gesichert ist. ') Sohin sehr günstig für die Entwicklung der Futter- Perldrüsen. 692 iSIaturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 44 TNachdruck verboten. Xli'kiindliches von und über Christian Conrad Sprengel. Mitgeteilt von Paul Hoffmann. Mit einer Abbildung. Seitdem die Wissenschaft die Bedeutung des Buches: „Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen" erkannt hat, wandte sie ihre Aufmerksamkeit auch seinem Verfasser zu. Es war aber leichter, Sprengeis Beobachtungen nachzuprüfen, seine Irrtümer zu berichtigen und auf dem von ihm gewiesenen Wege weiter, über ihn hinauszukommen, als sichere Nachrichten über seine Schicksale zu erhalten und ein geschlossenes Bild von seiner Lebens- führung zu gewinnen. Christian Conrad Sprengel ist noch kein ihm kongenialer Biograph erstanden. Ob und wann es möglich sein wird, eine würdige und lichtvolle Darstellung seiner Persönlichkeit und eine einheitliche Schilderung seiner P'orschertätigkeit zu geben, vermag ich nicht zu ermessen. Ich möchte nur einzelne Dokumente, so wie ich sie auffand und sammelte, hier wiedergeben, die der noch zu lösenden Auf- gabe nach der einen oder anderen Richtung hin förderlich sein dürften. I. Als erstes folge die Geburtsurkunde. Ich ver- danke sie dem Stadtarchivar Herrn Professor Dr. Otto Tschirch, der sie dem Kirchenbuch entlehnte: Im Taufbuch der St. Gotthardikirche zu Branden- burg an der Havel wurde verzeichnet: „T>en 22. September \750 2lbcii&5 um ö Iltir fdienfte (Sott mir firnft Pictor Sprengel (2lrd]i öiaconus) unt> meiner lieben (£f^egenof)'tn nad] einer 2^ftünöigen [ditneren (Seburtsarbcit einen gefunben unfi tcol^lgeftalten Sol|n in meinem 64.ftcn 3al]re. 2lm 2.5. 5cp' tcmbcr nniriie er getauft uni5 befam öie Hamen Cl^riftian CTonraö. ^ie üaufjeugen: \. Super. Cappelino. 2. 5r- (üonr. Dornmanii, paftor an öer paulifird]e. .5. 5«I- fifa Jllaria i\ (Sörne. 4. ,frau 2lnna €lifabetb Sd^äferin, öes Synbif. (Sruft iSheliebfte. ."). 3iii'9frau 3ol]<^'i'T' X)orotl]ea öes Superintenöents illials streite ?Eod)ter. 2ld) fjerr, erl]alte ilin ^odf beffänöig in beiner (Snabe um Clirifti beincs fjeitanbs tpillen. ^Imen."') ') Ich mochte an dieser Stelle zwei Daten mitteilen über einen noch berühmteren Naturforscher, über Gas p ar Kr ied- richWolff, den Verfasser der , .Theoria generationis" (1759), und zwar zunächst seinen Geburtstag, den man bisher nicht wußte. Das Taufregister der St. l'etrikirche in Berlin ent- hält folgendes: Geboren: ,,1734 am iS. Januar:" „I'r. [pater] llTr. [lllctl'ler] Joh: Wolff, 33r [Bürger] 11. rdnieilJer. Mr. [mater] ^r. [^vauj Anna Soph: Stiebeiern Inf. [inlan.s] Caspar l'riedrich [patcn:] Ui. 3Ilbvedjt, Ul^rmadjcr 2. Über Sprengeis Bildungsgang ist bisher nichts bekannt geworden. Die IVlatrikel der Uuiversität Halle ergibt das folgende : ,.1770. 3""'ifi' ProR. Nr. 267. Dies: May 16. Nomina infcriptorum : Christian Conrad Sprengel. Palria Specialis : Brandenburg. Studium ; Theolog. Nomina parentum: Ernst Victor Sprengel. Domicilium : Brandenburg. Vitae genus! Prebigev mortuus." 3. Daß Sprengel einige Zeit in Berlin im Amte war, und wo ei; seine Lehrtätigkeit ausübte, weiß man bereits. Über die Zeit seiner Wirksamkeit berichtet das nachstehende Aktenstück: „Actum Berlin im großen Friedrichs- tPaYfen fjaufe b. \8tcn Novbr. 1777." Ober-Consistorial-Praesident von der Hagen l^at „i)en lieutigen £ag jur i^ertifion bcs fjaufes ange= fe^et, um 3U unterfud^cn, was cor perfoncn an Officianten, Domestiquen pp im fjaufe t)orI]anben, was fic an i3e[olbung unb Emolumenten bisher genogen unb »oriii ilirc Derriditung beftanben. <£rfd|einet .... 7 fjerr Christian Conrad Sprengel 5. ^aVit im £jaufe." .... 4. Im Jahre 1780 wurde Sprengel als Rektor an die große Stadtschule in Spandau berufen. Über die mancherlei Schwierigkeiten, die ihm dort von einem Geistlichen bereitet wurden, ist von Kirchner und Potonie mehreres mitgeteilt worden. Ein Schreiben an den Magistrat in Spandau, dessen Original sich jetzt in der „Samm- lung Darmstädter" der Staatsbibliothek in Berlin befindet, gebe ich hier zum erstenmal wieder: „i£inen fjodieblen 2IIagi|'tratunbfjod)el]nrürbigen iierrn 3'ifP'-'ctor nelimc mir bie 5feYl;eit, einen lui' iiorgrciflidKu Uorfd^lag iu einer Jlbänberung ju tl^un, ir>eld]e bcy unfrer Sd^ule, meines 23ebünfens, mit rielcm Uortheil gcmadit ujcrben fönnte. 3d? habe nämlid; bisher ben ucreinigten beibeii erften Klaffen bes 'Donerftags unb freitags Ifad^mittags Untcrridit im ^eutfdien gegeben. 3d! muß aber geftcben, i'a^ biefer Untcrridit, tt>egcn ber ju großen Jlnjal unb ju oerfdiiebenen ^äf^igfcif ber Sdjüler, nidit fo oiel ifufeen gefdiafft I]at, als idi getrünfdit hätte. 5erner inerbcn bes ^i'eytags Pormittags alle Klaffen, bie dhorfd.üler ausgenoiiten, bie als ben im Singen unfeririefen iiierben, combinirt, nnb ber Hv£. Caspar iviii?au, 5d'nci!>cr H>£. i-djriiöcf, Sdjticibor 3gfl'. Sophia Jungen Jijfr. lieiit^cil." 2. Hei der Universität Halle wurde Wolff als am 10. Mai 1755 immatrikuliert. N. F. XIX. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 693 UntciTid^t in bicfcr 5tunbc tücctjfclt unter Ucii »ier £cl7rcrn ab. i>a^ mm in ^crfclben nod) ircnigcr Hu^cn gcftiftct werben fan, [ot»ol »egen ber nodj gröffcrn ^Injal unb Derfd^iebenl^cit ber Sdiüler, als aud] tpegen bor jebcsmaligen 2lbtDedifehmg ber «Lclircr, ift leidit einsufeljcn. (£s tcürbc alfo fef|r »ortl;eiIl)aft seyn, roen idi bei Donerftags unb 5i"ev= tags Itadiniittags primam unb secundam allein, unb ein anbrer Seigrer tertiam unb quartam unter» rid^tete, bes 5t-"0Yt''9ä Dormittags aber bie Sdiüler in 2 coetus eingctlieiÜ icürben, bereu jeber »on bem nämlidjcn Cel^rer jebesmaligen llnterridjt er- I]ielte. 21uf foldje 2lrt unirben nun '^ neue tc)öd]ent< lid]e ^lebrftunben cnlftet;en, unb es fragt fid^, tcie biefelben fotlen gegeben roerben föilcu, oljne bog fid) bie Slci^rer über Dermebrung ber 2lrbcit ju be= ldm->eren I-jaben. ijier alfo iriire mein Porfdilag bicfer. i)ie Preces finb jinar eine gut gemeinte €inrid7tung, bie aber, meiner illeinung nadj, u^enig ober gar feinen Hu^en ftiftct. €5 roirb gebetet, gcfungen, ein Kapitel aus ber 23ibel gelefen, unb jtDey Sd^ülcr fragen fid; ein fjauptftücf aus bem i£ated]ismus ab; bas alles [5. 2. aber gefd^iel^t ol]ne i£rFIärung. 2ludj fcl^e id\ nidjt ein, »eil bie gan5e Sdiulc alsben »erfatrielt ift, trie man biefcn prccibus eine beffere unb sroed'mä^igcre £inrid]tung geben fönte. 3ft es nid^t febr mabrfdieinlid], iia^ biefe Dorbereitung jur 5d]ule, anftatt nü^lid^ ju feyn, ben Sdiabcn Dcrurfadie, i>a% bie 3"9«nb fid^ babey 3U einem med^anifd^en unb gebanfenlofen (Sottcsbienft geiDÖtjne? 2hid\ fdieint es, als tven bie JUtern ber 5diüler bie preces für überflüffig I^ielten ; ben bie Jhijal ift in benfelben am Kleinften. iJeym Cantor unb Küfter bleiben piel Sd^üler aus ber erften Klaffe faft beftänbig ans, W05U id) bisl^er ftille ge= fd^toiegen I^abe, »eil es mir fd^on lTtü[]e genug gefoftet I;at, es bal^in 3U bringen, i)a^ bie *£elir' ftunben von ifinen gel^örig frequentirt roerben, unb fie burd] bas Slusbleiben ans ben prccibus bod] eigentlid^ nid^ts »erfäumen. iDürbeii alfo biefe preces abgefd^afft, unb liege, an berfelben ftatt, ein jeber Cel^rer bie Sd^üler feiner Klaffe burd) ein furses (Sebet fidi 5um Unterrid^t oorbereiten : fo fönten bie porgefdilagenen <{ neue £eljrftunben, oline Dermet)rung ber 2lrbeit, gegeben werben. "Den jeber £cl]rcr I^ält bie tüod^c einmal bie preces, madit '/., Stunbe; bie preces bes ^lüttwod^s roedjfeln unter bie ^Eel^rer, madjt für jeben bie lüodic ^^ Stunbe; bie Stunbe bes ^i'citags wcdifelt gleid^falls; madit für jeben bie IDodie ^|^ Stunbc. lüegen ber bis= P;erigen fiinrid^tung alfo I]atte jeber Cel^rer bie IPodic Vs 5tunben, unb nad) ber rorgefd^Iagenen tnürbe er '/s Stunbe mcl^r befoiüen, aieldjes il^m tBoI]I feinen (ßrunb geben würbe, fid) über Der= mel)ruug ber 2lrbeit 5U befdiioeren. IDie fci^r Dor= tljeill^aft biefe 2lbänberung fein roürbe, wirb wol)l nidft nötFjig feyn 5U erweifen. ITCxr würbe es fd^on beswegeu feljr angenel^m feyn, wen idi eine neue ^el^rftunbc erEjielte, weld^e id] ber gried^ifdien, ober aud] ber Iateinifd]en Spradie juwenben fönte, weil id] nad] bem Examine alle üertianer in meine Klaffe rerfe(3t Ijabe, ber nnterrid]t alfo natürlid]erweifc fid] tl]eilt, unb für bie altern 5d]üler geringem Hutien l]at, weld]er burd] biefe neue Stunbe einiger^ matten üergütet werben würbe. Dies wäre alfo ber Dorfd]lag unb bie Hrfadien bcffelben. 3^] fd]meid]ele mir mit ber f^offnung, ia^ meine liod]5UDerel]rcnbc £icrren bie lefeten triftig finben, unb hen etften ap< probireu werben, um fo mel]r, i)a bes i^fi. 3nfpec= tors f^odiel]ra->ürben , Denen id] meine 3öec befant 5u mad]en fd]on bie <£l]rc geliabt, biefelben ge- nel]migon. Spanbow b. 2^. Xbr. \7S\. Sprengel." M 5. Daß weder Sprengeis „entdecktes Ge- heimnis der Natur" (Berlin 1794), noch das Schrift- chen: „Die Nützlichkeit der Bienen und die Noth- wendigkeit der Bienenzucht von einer neuen Seite dargestellt" (Berlin 1812), die Wertschätzung oder auch nur Beachtung fanden, auf die sie Anspruch erheben dürfen, darüber ist wiederholt geklagt worden. Daran änderte auch ein sehr aufschluß- reicher Artikel in der „Flora", der „botanischen Zeitung" der „königlichen botanischen Gesellschaft in Regensburg", wenig, den „H. B." in Erfurt — der Verfasser ist wahrscheinlich der Apotheker Heinrich Biltz (gest. im September 1835) — als „Erinnerungen" im September 1819 veröffentlichte, obwohl er am 28. und 29. Dezember desselben Jahres mit unbedeutenden Änderungen im „Morgen- blatt für gebildete Stände" nachgedruckt wurde. Bemerkenswert ist allerdings, daß in einer Fußnote dieses Nachdruckes auf die Christian Conrad Sprengel betreffende Stelle in der „Geschichte der Botanik" (II, 266) von seinem Neffen Kurt Sprengel hingewiesen wurde. Das Übersehen und Nichtbeachten der Fachgelehrten focht unseren Forscher wenig an, es ließ ihn nicht irre an sich selbst werden. Davon legt eine Äußerung Zeugnis ab, die hier um so weniger übergangen werden darf, als sie sich in einem Werke findet, das schwerlich von einem Naturforscher gelesen wird. Daß die Ergebnisse seiner naturwissenschaftlichen Untersuchungen so ganz ohne Wiederhall hinge- nommen wurden, veranlaßte leider unseren Ge- lehrten, sich anderen Studien zuzuwenden. Un- mittelbar nachdem sein „Die Nützlichkeit der Bienen" erschienen war, wendete er sich philo- logischen Arbeiten zu. Nachdem er „drei Jahre lang sich fast bloß mit diesem Studium" der römischen Dichter „beschäftigt" hatte, brachte er sein letztes Buch ans Licht: ,,Neue Kritik der klassischen Römischen Diciiter in Anmerkungen zum Ovid, Virgil und Tibull. Vorläufige Probe eines noch nicht vollendeten Werkes. Berlin 1815." Es ist als ein Zeichen gesunder Selbstbewertung und richtiger Eigenerkenntnis zu schätzen, wenn er in der „Vorrede" schreibt: „Mit eben dem ') Herrn Prof. Darmstädter und Herrn Dr. Julius Schuster, dem Entdecker dieses Schriftstückes, an dieser Stelle meinen Dank für die gütige Erlaubnis zur Veröffent- lichung zu wiederholen, ist mir eine ehrenvolle Pflicht. 694 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 44 Recht, mit welchem ich mein Werk über die Blumen das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen genannt habe, mit eben dem Recht, sage ich, kann ich auch dasjenige Werk, von welchem ich hier eine Probe liefere , Neue Kritik der klassischen römischen Dichter nennen; und so wenig jener Titel von irgendeinem Botaniker angefochten worden ist, ebensowenig wird auch hoffentlich dieser Titel von irgendeinem Philologen angefochten werden. . . . Bei beiden Schriften liegt eine wirkliche Ent- deckung und eine durch dieselbe hervorgebrachte neue Ansicht der Dinge zum Grunde, bei jenem, daß alle Blumen, nicht bloß diejenigen, welche süßen Saft enthalten, sondern überhaupt alle, welche eine wirkliche Blumenkrone haben, von Insekten befruchtet werden, bei diesem aber, daß der Text in den Werken der klassischen römischen Dichter von unwissenden und unverständigen Menschen geflissentlich und absichtlich auf eine jämmerliche Art geändert worden ist. . . . „Wenn aber das Werk selbst erschienen sein wird, so werden Gelehrte, welche zugleich Bota- niker und Philologen sind, wenn sie auch das, was jemand in Rücksicht auf mein Werk über die Blumen gesagt hat, nämlich, daß ich dem Schöpfer in die Karten geguckt hätte, für über- trieben halten sollten, gestehen müssen, daß ich den unberufenen Verbesserern der römischen Dichter in die Karte geguckt habe. Aber sowie sie ohne Zweifel bei Durchlesung meines bota- nischen Werks es bedauert haben, daß ich den Bau und die Befruchtung mancher Blumen, z. B. der Parnassia palustris, zu ergründen nicht imstande gewesen bin, so werden sie auch bedauern, daß ich viele verfälschte Stellen in den römischen Ge- dichten, besonders in Ovids Fastis, nicht habe verbessern können, da man doch vermuten sollte, daß, wie schwer es ist die Meisterwerke Gottes, ebenso leicht es sein müsse, die Pfuscherarbeiten unverständiger Menschen zu ergründen." 6. Bereits im folgenden Jahre fühlte Sprengel, daß es Zeit sei, sein Haus zu bestellen. Ich gebe sein Testament und das Protokoll über die Hinter- legung bei Gericht — beides ungedruckte Doku- mente — buchstabengetreu ,hier wieder: „Da id) weitet iUtern iiodj Kinber t)abc, fo w'iü idl auf ben 5aU meines 3lbfterbcii5 l^iermit beflimcit. 3d^ \eiie nef^mlid^ 5um £rbcn meines fämtlidjcn I1adila\\es, er möge befteben , ir>oriii, unb l^Cal^tiie baben, tpie er trolle, meinen oicljälirigen ^rcin'b, ben Cantor an bct 5t. (ßeorgcnfirdie, fierrcii Streit, ober falls berfelbc bey meinem ^Ibleben nid]t meljr am Seben feyn follte, beffcn ebelid]e Xlefcenbenten. Dagegen mad^e \d\ es bcm fjrn £anfor t)iermit 5ur pflidit, baJ5 er meinen entfeelten Körper, nadv bem er ein testimonium mortis üon einem Slrjt unb einem IDunbarst — id^ fdilage meine Zlaii- baren, ben £}crren Doctor fjeinrid) Zllayer unb ben fjrn 2lffeffor Engel oor — bey öe« Seljörben ein- gereid^t l)aben mirb, 5ur Crbe beftaftcn laffe. Serlin b. 30. 3anuar 1816. Der Hector <£. £. Sprengel. (I. s.J" Der Kantor an der St. Georgenkirche zu Berlin August Friedrich Lebrecht Streit, Sprengeis Erbe, veranlaßte, daß diese letzt- willige Verfügung dem Gericht ad depositum übergeben wurde : „Actum Berlin b 5tcii Februar \S{6 iladimittags um { Htjr. 2hif bie 3u protocoll gefdjebene Jlnseige bes Cantor Ei& Streit, i)a% bor fj£ Rector Sprengel feinen legten IPillen in feiner lüo^nung 3ur gerid^tl. Perirabrung übergeben molle, b'Jtten fidi 3ur oben» gebadeten §eit bie unferfdirtebene Deputation bes König! Stabtgeridjts in bie am fjausDogtet plaße no \ \ unb jtriar im Seitengebäube 5 (Ereppenbodj befinblid^e IDobnung bes Requirenten begeben tr>o= felbft in einem nad^ bcm f^of bi"<'U59«be"bcn 5im= mer umher ge^cnb stoar altersfdiicadi, jebod) wie bie geführte Unterrebung ergeben l]at bei uölligen (ßciftcs Kräften angetroffen roarb. Der Rector Christian Conrad Sprengel »eldier i)en von bctn £l<£: Cantor Streit gefd^b^'i^" Eintrag roegen 21n= nabme feines legten UPillens genehmigte unb fclbft tnieberbolte, aud^ nad^bem biefer Eintrag deferirt tDorben, ein mit 2 prioatpettfdiaften üerfd^Iofeenes pafet überreidite, ttield^es bie Jhiffd^rift Iiatte fjier ift mein tEeftament il. C Sprengel Hector mit ber 2ln5eige, i)a% in tiefem überreid^ten pafet fein t»abrer unb u)obIüberIegtcr le^ter lüille ent balten fey, »eldjen er eigenbänbig aufgefe^et, aud^ am Sdihi^c eigenljänbig unterfd^ricben unb unter» fiegclt unb fobann in bas überreidite Couvert ein« geflegelt unb mit ber obenbemerften Shiffd^rift eigen- bänbig nerfeben b^be. >£r bitte bicfcs fein iEcfta = ment in tceldiem eine befiimnite (£rbes finfe^ung erfolgt unb bie gefe^lidie Dorfd^rift, wegen ber notliirenbigen Erbfolge beobaditet fey, in gerid]tlid]e l?ertDaI]rung 5u nehmen unb ihm einen 2?ecognitions Sdiein 3U ertbeilen. Das überreid]tc Ceftament ifi hierauf in bes Tesfatores (ßegetupart mit bem gcfe^5. lidien 2lnnabmc Permerf nerfeben audi einmal mit bem (Serid]tsficgel bebruft trorben. Itad) gcfdicbener Pcrlcfung b^t ber £;<£ Testator, roeldier »on bem hierbei gegenirärtigen (Saftmirtb £}€ Johann Friedrich Schmidt recognoscirt wov- ben, ben 3"ball biefer Perbanblung überaß genebmigt unb nebft bem gebadeten £i^ Schmidt, unb 3n?ar [enteren in vero recognitionis eigenbänbig unter^ fd]riebeu. (Tliriftian donrab Sprengel Hector. Johann Friedrich Schmidt aus Naumann Müller €id)mann." 8. Das Testament wurde am lO. April l8l6 „im Stadtgerichtshause Königsstraße Nr. 19 in gewöhnlicher Gerichtsstube" eröffnet. Tags zuvor war der nachstehend wiedergegebene Totenschein, wenn auch von einem anderen als dem testa- N. F. XDC. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 695 mentarisch gewünschten Arzte ausgestellt worden. Er ist um der rühmenden Eingangsworte willen wichtig. Beweisen sie doch, daß immerhin einige gelehrte Zeitgenossen Sprengeis Arbeiten zu würdigen wußten: „T)a^ bcr elicmalige 2Jeftor bcr 5ci]ulc ju Spandau, unö große unb ausgcseid^ncte llatux 5orfdier (£ntbecfcr unb SofaniFcr Conrad Chriftian Sprengel, incldjer mir »011 perfon tnol]! bofaiint tnar, uiib bcf[cn !£ctdinnm id) focbcn befiditigt, »ürcf = lid^ lobt iff, unb ol]nc i3ebenfen jur i£rbe bcftattct ircrbeii fanii, bcjeuge burd^ bies cigenl^ätibig gc= fdiriebene Jlttcft. Berlin Dr. Kohlrauich ben t)*^" 21pril Köutgl. (Selicimer \8\f). cObcr JTlebisinal Jvatb etc. Sotdics beftätige nod] ebenfalls Engel ®b: ZTTeb. AlTefsor." Diese Dokumente erweisen die Unrichtigkeit einer Nachricht bei Kerner von Marllaun (Pflanzenleben. 3. Aufl. II, S. 310), wo, nachdem ge- sagt worden, Sprengel habe nach seiner Amts- enthebung ,, durch Privatunterricht seine Pension von ganzen 1 50 Talern zu vermehren" gesucht, ohne Quellenangabe, behauptet wird: „In welcher Weise er die ihm angetanen Leiden zu vergelten wußte, möge man daraus entnehmen, daß er bei seinem Tode dem Waisenhaus in Berlin (wahr- scheinlich ist doch das große Friedrichswaisenhaus, an dem er Lehrer gewesen, gemeint) fünftausend Taler vermachte." 9. Als letzte Urkunde füge ich die Eintragung in das Sterberegister der Werderschen Kirche in Berlin bei. „Der Tod wurde durch HE. Kantor Streit gemeldet." Dabei ist diesem ein Versehen unterlaufen. Er gibt nämlich als Sprengeis Wohnung,, am Hausvogteiplalz Nr. I2." an, während in dem Hinterlegungsprotokoll, also gerichtlicher- seits genau angegeben wird, daß Sprengel „am Hausvogteiplatz Nr. 11 im Seitengebäude drei Treppen hoch" gewohnt habe. Auf diesem Grund- stücke, das der Witwe des Kochs und Eigen- tümers Krapp gehörte, wurde eine Gastwirtschaft „Zum deutschen Hause" betrieben. Der Inhaber dieser ist aber jener „Gastwirt HE. Johann Fried- rich Schmidt", durch den die Persönlichkeit Sprengeis „rekognosziert worden", und der das Hinterlegungsprotokoll mit unterzeichnet hat. Der Kantor Streit wohnte zwischen 1807 und i8i8 (wahrscheinlich schon früher und vielleicht auch später noch) ,,im Schulhause in der Landsberger- straße 39". Offenbar befand er sich im Irrtum, als er beim Pfarramt Sprengeis Tod meldend, als dessen Wohnung „am Hausvogteiplatz Nr. 12" nannte. Außerdem wird im „Allgemeinen (Indu- strie) Adreßbuch der Königl. Preußischen Haupt- und Residenzstadt Berlin auf das Jahr 18 16" unter: „230. Schriftsteller" angegeben: „Sprengel C. C. Rektor, Hausvogteipl. 11." Im Kirchenbuch wird, auf die einzelnen Spalten verteilt, festgestellt, daß „Conrad Christian Sprengel pcufiouirter Hector iti Spandow. 65 3al)r alt." gestorben ift am „Siebenten April \8\6i (£in Ul^r tiad^ts" an „£}ämortbaI zufallen." in feiner IPobnung „Ejaus« üogtci plafe Hr. \2." „Begraben ben 9'en 2lpril" auf bem Kirdibof „»or bein Oranienburger iEl;or." ■ €r „I]interlief Hiemanb." Sprengeis Grab ist nicht erhalten. Sein Denkmal sind seine Schriften. Die Nachwelt ehrte seine Wirksamkeit durch Errichtung eines Ge- denksteines im botanischen Garten Berlin-Dahlem. Eine Abbildung des Sprengel - Steines darf ich, nach einer photographischen Aufnahme, die mir Herr Dr. Otto Prelinger in liebenswürdiger Weise zur Verfügung stellte, hier zum ersten Male veröffentlichen. 696 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 44 Einzelberichte. Chemie. Eiweißprobleme behandelt Oskar ^O Loew in Chemiker- Zeitung 44, S. 417, 1920. Trotz mannigfacher Bemühungen ist die wahre Größe des Eiweißmoleküls bisher nicht festzu- stellen gewesen. Zwar ergibt sich aus zahlreichen Analysen Lieberkühns die empirische Formel Cj.jHji.^NjgSOo.,, aber einen Schluß auf die Ver- kettung dieser Elemente im Molekül gestatten jene Angaben auch dann nicht, wenn man weiß, welches die Spaltstücke jenes Moleküls sind. Bekanntlich ergibt die Spaltung des Eiweißmoleküls nicht weniger denn 16 Aminosäuren. Sie alle nun leiten sich her von einer aliphatischen Säure, der K-Aminopropionsäure, gewöhnlich AI an in genannt. Emil Fischer, zweifellos der erfolg- reichste chemische Erforscher des Eiweißes, kam im Verlauf seiner Untersuchungen zu dem Schlüsse, daß jene Aminosäuren unmittelbare Bausteine des Eiweißmoleküls seien. Dieser Ansicht widersprechen jedoch schwerwiegende physiologische Tatsachen. Das lebende Eiweiß (und dessen Struktur gilt es ja zu ergründen) ist eine außerordentlich labile Sub- stanz. Das aber könnte ein Gebilde aus 16 immer- hin hochmolekularen Säuren niemals sein. 1871 bereits sprach E. P f 1 ü g e r es aus, daß das Ei- weiß offenbar in zwei Modifikationen bestehe, einer labilen, aktiven Form, die dem lebenden Eiweiß eigen sei, und einer stabilen Form. Nur die labile Form vermöge am Aufbau lebender Zellen teilzunehmen, auf ihrer raschen Wandlungs- fähigkeit beruhe das erstaunlich große Bildungs- vermögen im Werdeprozeß von pflanzlichem und tierischem Eiweiß. Die Frage jedoch, worauf der Zusammentritt der labilen Eiweißstoffe zum Protoplasma beruhe, welches die Voraussetzung ihrer chemischen Um- setzungsfähigkeit seien blieb offen. Denn P fl ü g e rs Meinung, es hierbei mit Polymerisationsvorgängen zu tun zu haben, kann nicht mehr genügen, wenn man die unendliche heinheit und Kompliziertheit im Leben und Sein der Zellbestandteile näher ins Auge gefaßt hat. Dabei werden die chemisch verwickeltsten Vorgänge mit in der Tat spielen- der Leichtigkeit verwirklicht. Und zwar lediglich durch irgendwie freiwerdende kinetische Energie, deren Vorhandensein in potentieller Form wiede- rum nur in beschränktem Maße möglich ist, denn beim Absterben jedes Organismus ist die dabei freiwerdende Energie nur sehr gering. Die zum Lebensprozeß notwendige und zweifellos betätigte Energie stammt vielmehr unmittelbar aus der immer zugänglichen thermischen Energie. Welcher Stoff aber ist der wahrscheinliche Träger der Umwandlung thermischer in chemische Energie ? Bereits 1908 hat Loew aus hier nicht näher zu erläuternden fcirwägungen die Aldehydgruppe für diese Wandlung verantwortlich gemacht. Der thermische Anstoß setze den Sauerstoff der Gruppe C—ii it^ erhebliche Schwingungen, lockere also seine Bindefestigkeit zum Kohlenstoff, und dadurch sei die große Reaktionsfähigkeit jener Gruppe er- klärlich, sodann aber auch die Tatsache ihrer Fähigkeit, unmittelbar Arbeit zu leisten, wofür eine Versuchsreihe Neubergs als Beispiel dient. Nach ihm nämlich wird die alkoholische Gärung im Hefepreßsaft durch Aldehyde bemerkenswert beschleunigt. Die zweite Frage ist nun, ob im lebenden Gewebe labile Stoffe nachweisbar sind, die sich nachher zu lebender Materie organisieren. Das gelingt nun in der Tat, wenn Pflanzenzellen einer Einwirkung so schwacher Agentien unter- worfen werden, daß sie nicht absterben können. Dies ist der Fall, wenn man sie mit mild wirken- den Basen (Koffein, Antipyrin) behandelt. Als- dann scheiden sich kleine Tröpfchen aus, die nichts anderes sind als ein „wasserreicher Zustand einer quellbaren labilen Eiweißform mit Koffein in lockerer Bindung". Bewiesen wird diese Behaup- tung damit, daß alle der Zelle schädlichen Ein- flüsse ein „Absterben" auch dieser Tröpfchenaus- scheidung bewirken, beispielsweise Blausäure, Ammoniak, Hydroxylamin und Hydrazin. Diese Stoffe sind ohne jeden Einfluß auf das gewöhn- liche passive, stabile Eiweiß, bringen jene Tröpf- chen jedoch sofort zur Gerinnung. Nun reagiert keine einzige uns bekannte chemische Gruppierung in so charakteristischer Weise auf die genannten Reagentien, selbst in starker Verdünnung, wie gerade die Aldehydgruppe. Loews Annahme, daß sie der wesentlich reagierende Bestandteil der Tröpfchengebilde sei, ist deshalb wohlbegründet. Da weiterhin auch durch stärkst verdünnten Form- aldehyd, Dicyan usw. Gerinnung eintritt, so folgerte Loew weiter auf eine für diese Agentien kenn- zeichnende Aminogruppe. Der labile Eiweiß- stoff hat also Aldehyd-Äminostruktur. Der beschriebene labile Eiweißstoff ist nun zweifellos einer der Bausteine lebenden Gewebes. Bringt man nämlich S pyrogyra- Fäden in eine stickstofffreie Nährlösung, die aber reich an dem labilen Stoff ist, so wachsen sie auf dessen Kosten; er verschwindet allmählich ganz und ist mit keinem der oben genannten Agentien mehr nachzuweisen, muß also verdaut sein, d. h. zum Aufbau lebender Eiweißmoleküle gedient haben. Auch die Tatsache, daß alle Stoffe, welche noch in starker Verdünnung in die ^Idehyd-Amino- gruppierung eingreifen, auch auf das lebende Ei- weiß einwirken, beweist, daß man in ihm eine derartige Atomgruppierung anzunehmen berechtigt ist. Das Absterben ferner lebenden Eiweißes bei etwa 50 Grad kann als eine innermolekulare Ein- wirkung eigner Aldehyd- und Aminogruppen ge- deutet werden. Alsdann aber hört die große Schwingungsmöglichkeit jener Gruppen auf, mit- hin auch die auf eben jenen Schwingungen be- N. F. XIX. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 697 ruhende Respirationstätigkeit der lebenden Ge- bilde. Im übrigen zeigen die labilen Eiweißaus- scheidungen dieselben Farbreaktionen, die leben- den Zellen zukommen, dagegen diejenigen toter Zellen, sobald sie koaguliert worden sind. Man darf also mit einem hohen Grade von Wahrschein- lichkeit die Proteosomen (so nannten Loew und Bokorny, die Entdecker, jene Gebilde) als Bausteine lebenden Eiweißes betrachten. Auch über die hieran anschließende Frage nach der Entstehung der Proteosomen hat Loew vor längerer Zeit eine Hypothese aufge- stellt. Er glaubt, daß sie durch Kondensation von Asparaginsäuredialdehyd entstehen, wobei Schwefel eintrete und reduzierende Wirkungen ausübe. Empirisch ließe sich dieser Vorgang dar- stellen durch folgende Gleichungen : 3 QH^NOa = C,oHi;N30,i + 2 H.,0 Asparaginaldehyd 6(Ci„H,„N.,0J+ 12H + H0S Nun ist Asparaginaldehyd allerdings nicht be- kannt. Die Labilität zweier Aldehydgruppen an der gleichen und zwar sehr kurzen Kohlenstoff- kette ist zu groß, als daß ein solcher Dialdehyd beständig wäre. Ein Überblick über die schon bekannten Aminoaldehyde und Dialdehyde zeigt die große Unbeständigkeit dieser Verbindungen, so daß es zunächst wenig aussichtsvoll erscheint, die Darstellung des Asparagindialdehyds zum Zwecke einer Nachprüfung obiger Hypothese zu versuchen. Immerhin gestatten Beobachtungen über die Ernährung, bzw. Eiweißbildung niederer Tiere und grüner Pflanzen den Schluß, daß diese Aufbautätigkeit lebender Substanzen wirklich im Sinne der Lo ewschen Theorie geschieht. So gelingt es, Bakterien in Lösungen zur Vermehrung, d. h. Eiweißbildung zu bringen, in denen ihnen als einzige Quelle MethylalJo6 ^Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Ni. F. XK. Nr. 45 In jüngster Zeit ist es E. Kohlweiler in Stuttgart gelungen, auch aus dem Element Jod mit dem Atomgewicht 126,92 durch Diffusion im Dampfzustand ein leichteres Isotopes zu isolieren. Statt die Anreicherung des leichteren Bestandteils des Joddampfs durch oft wiederholte mühsame Diffusion durch dieselbe Tonmembran vorzunehmen, ließ Kohl weil er von vornherein die anfängliche Gasmischung durch 16 hintereinander geschaltete Tonmembranen diffundieren und brach die Diffusion ab, sobald hinter der letzten JVlembran eine ge- ringe Menge Jod erschienen war. Die ganze Apparatur bestand aus einem elektrisch geheizten Verdampfungsraum, in welchem sich ein 5 1 Rundkoiben zur Erzeugung des Joddampfs befand. Dieser mußte dann in einer 30 cm langen Glas- röhre von 64 mm Durchmesser durch 16 hinter- einander geschahete Tonmembranen diffundieren. Die Diffusionsröhre war wie der Rundkolben auf elektrischem Wege dauernd auf 220" geheizt. Am Ende des Diffusionsapparates waren mehrere mit Schwefelkohlenstoff gefüllte Waschflaschen ange- schlossen, in welche die verschiedenen Fraktionen des Joddampfs durch Saugpumpen eingeleitet, auf- gelöst und so gelrennt aufgefangen werden konnten. „Im ganzen wurden 768 Diffusionen ausgeführt, und die Gesamtmenge des so erhaltenen Jods betrug 4,32 g." Mit dem gewonnenen Jod wurden dann Dampf- dichtebestimmungen nach der Methode von D u - mas angestellt. Auf die schwierige genaue Atom- gewichtsbestimmung wurde deshalb verzichtet, weil es sich nur um den Nachweis von Atom- gewichtsdifferenzen gegenüber dem normalen Jod handelt. Bei Vergleichsversuchen heben sich die prinzipiellen, der Methode von Dumas anhaften- den Fehler heraus und kommen in vorliegendem Fall nicht in Betracht. Zunächst wurden mit ge- wöhnlichem Jod vom Atomgewicht 1 26,92 zwanzig Molekulargewichtsbestimmungen ausgeführt und dann mit den durch Diffusion gewonnenen 4,32 g Jod noch weitere sieben. Von letzteren zeigte es sich, „daß die zwei höchsten erhaltenen Werte zusammenfallen mit den niedersten Werten, die mit Jod 126,92 erhalten worden waren, und daß die fünf übrigen Werte alle außerhalb des Inter- valls der zwanzig ersten Bestimmungen liegen. Somit liegt der Durchschnitt des Mischgewichts des fraktionierten Jods um 0,66 '% tiefer als das Verbindungsgewicht der Plejade ^} Jod des perio- dischen Systems. Aus diesen Daten der vorläu- figen Versuche läßt sich bis zur Erledigung einer weiteren, genaueren und definitiven Beweisführung auf jeden F"all mit ziemlicher Bestimmtheit die Schlußfolgerung ziehen, daß es gelungen ist, aus der Jodplejade eine Jodisotopenmischung mit einem im Mittel um 0,66 7o geringeren Verbin- dungsgewicht abzufraktionieren, wodurch das Jod als Isotopenmischung aus der Reihe der homo- atomaren *) Elemente au'jscheidet. Außerdem ist durch die Versuche die Möglichkeit der Isotopen- trennung durch fraktionierte Diffusion im Gas- zustand experimentell belegt." Wenn aus Jod vom Atomgewicht 126,92 ein leichterer Anteil durch Diffusion abgesondert wird, so steigt natürlich das Atomgewicht des Jodrück- siandes. Dies muß nach dem periodischen Sy- stem der Elemente auch so sein; denn das ge- wöhnliche Jod sollte nach seinem Atomgewicht eigentlich die Stelle des Tellurs einnehmen, wäh- rend es doch seinem ganzen chemischen Verhalten nach unbedingt in die Gruppe der Halogene ge- hört. So ist durch Kohlweilers erfolgreiche Arbeit eine störende Ausnahme im periodischen System der Elemente beseitigt worden. Außer Chlor und Jod wurde weiter versucht, das Neon, den Wasserstoff und den Sauerstoff durch Diffusion in Isotope Elemente zu zerlegen. Vom Neon ist es ziemlich sicher, daß es ein Isotopengemisch ist; es ist aber bis jetzt den Versuchen von F. W. Aston'-j nicht mit Sicher- heit gelungen, aus gewöhnlichem Neon durch oft wiederholte Diffusion ein Neon mit verändertem Atomgewicht abzuscheiden. Auch aus Wasser- stoff und Sauerstoff konnten Stern und Voll- mer^) keine Isotopen abdiffundieren und nach den Ergebnissen der Kanalstrahlenanalyse sind auch diese Gase Elemente mit völlig einheitlichen Atomen. Zum raschen Nachweis von Isotopen hat sich die elektromagnetische Analyse der Kanalstrahlen *) sehr erfolgreich erwiesen. F. W. Aston hat die Apparatur für die Ablenkung der Kanalstrahlen im elektrischen und magnetischen F'eld so ver- bessert, daß die Masse der in den Kanalstrahlen dahinfliegenden Teilchen mit großer Genauigkeit festgestellt werden kann. Zunächst erzeugte Aston in allen Edelgasen Kanalstrahlen und fand, daß Helium'') keine Isotopen enthält; die Masse der Heliumatome ergab sich innerhalb 2 t>'s 3 "/oo genau gleich 4. Die bereits von J. J. Thomson festgestellte Komplexität des Neons konnte Aston bestätigen; Neon") enthält zwei Isotope vom Atomgewicht 20 und 22. Vom schwereren Anteil kommt im gewöhnlichen Neon etwa I " Q vor. Das Argon paßt mit seinem Atomgewicht 39,9 nicht in das periodische System der Elemente, so daß schon Mendel ejeff ihm das Atomgewicht 36 zuschrieb und die Beimengung eines Edelgases von höherem Atomgewicht für wahrscheinlich hielt. Wirklich fand Aston in den Argonkanalstrahlen'') eine sehr starke Linie mit dem Atomgewicht 40 und eine viel schwächere mit dem Atomgewicht 36. Dies leichte Argon dürfte zu 3 "/o in gewöhnlichem Argon vorhanden ') Plejade Typus. alle Elemente vom gleichen chemische ') homoatomar = aus nur gleichartigen Atomen bestehend. *) Nature Bd. 105, S. 231 (1920). ') Ann. d. Phys. iid. 59, S. 225 (igrgl *) Naturw. Wochi-nschr. XVI, S. 097—702 (1917). '') Nature Bd. 105, S. 104/5 (1920). ") Nature Bd. 104, S. 334 (.1919). N. F. XDC. Nr. 45 Maturwissenschaftliche Wochenschrift. 70; sein. In Krypton (Atomgewicht 82, 92) ließen sich Massenstrahlen mit den Atomgewichten 78, 80, 82, 83, 84 und 86 nachweisen. Zum ersten- mal treten hier Atome auf, die sich nur um die Ma^se I des Wasserstoffkerns unterscheiden. Xenon mit dem Atomgewicht 130,2 erwies sich als ein Gemisch von 5 Isotopen mit den Atom- gewichten 128, 130, 131, 133 und 135. Stickstoff zeigte genau das Atomgewicht 14 und erwies sich als einheitlich; ebenso auch Kohlen- stoff und Sauerstoff'), die als Gase: O.^, CH^, CO und CO2 in die Kanalstrahlenröhre eingeführt werden. Chlor '), das als HCl und COCig unter- sucht wurde, zeigte Linien, die dem Atomgewicht 35 und 37 enispiechen; erstere Linie hat 3 — 4mal größere Intensität; auch eine feine Linie, dem Atomgewicht 39 entsprechend, ist angedeutet. Dies Ergebnis stimmt gut mit den Dififusions- versuchen von Harkins mit Chlorwasserstoff" überein. Auch Quecksilber (Atomgewicht 200,6) ist ein Gemisch von Isotopen mit den Atom- gewichten 202 und 204; eine nicht aufgelöste starke Bande, die einem Atomgewicht zwischen 197 und 200 entspricht, ist noch vorhanden. Wasser- stoff ist einheitlich und hat nach der Kanal- strahlenanalyse genau das Atomgewicht i,C08 auf Sauerstoff = 16 bezogen. Auch das interessante Molekül Hg von der Masse 3,024 wurde von Aston in den Kanalstrahlen einwandfrei beobachtet. ') Als im vorigen Jahre Rutherford *j die fundamentale Entdeckung machte, daß es möglich ist aus Stickstoff Wasserstoffaiome abzuspalten, da war dies natürlich ein weiterer wichtiger Umstand, welcher die Rückkehr zur Prout sehen Hypothese sehr nahelegte. Die Abweichung der schweren Elemente von der Ganzzahligkeit der Atomgewichte ist zum Teil sicher dadurch bedingt, daß sie Ge- mische von Isotopen darstellen, deren Atomgewicht vielleicht ein Vieltaches des Wasserstoffs ist. Die leichtesten Elemente, vor allem das Helium, be- stehen aber nach unseren heutigen Kenntnissen vom Kernbau der Atome kaum aus Isotopen- gemischen. Wenn sich aber der Heliumkern von iO~'3 cm Durchmesser aus vier Wasserstoffkernen und zwei Elektronen aufbaut, so sollte das Atom- gewicht des Heliums höher sein, als es tatsächlich gefunden wird; Helium hat das Atomgewicht 4,002, Wasserstoff das Atomgewicht i,OOb. Es ist nun von hohem Interesse, daß die Relativitätstheorie ') kleine Abweichungen von der Ganzzahligkeit der Atomgewichte dadurch verständlich macht, daß nach ihr jede Energieänderung irgendeiner Art mit einer entsprechenden Massenänderung des Körpers verknüpft ist. Jede Energieabgabe eines Systems bedingt einen Massenverlust gemäß der Beziehung „Masse = Energie: Quadrat der Lichtgeschwindig- keit". Wenn daher vier Wasserstoffkerne und zwei Elektronen zu einem Heliumkern unter Ausstrahlung von Energie zusammentreten, so muß das neu- gebildete rieliumatom infolge des Energieverlustes einen Massendefekt -') aufweisen und tatsächlich ist ja auch das experimentelle Atomgewicht des Heliums nicht ganz viermal so groß wie das des Wasserstoffs. Die Anwendung der Relativitätstheorie auf das vorliegende Problem hat ergeben, daß die Ab- weichung der Atomgewichte der leichteren Ele- mente von den Viellachen des Wasserstoffs durch die relativistische Beziehung zwischen Masse und Energie als Verschiedenheit der Energieinhalte quantitativ erklärt werden kann. Überdies hat W. Lenz^) auf gleicher Grundlage noch wichtige Schlüsse auf die Beständigkeit oder Zerspaltbarkeit der Atome der leichteren Elemente unter dem Einfluß raschester a Strahlen ziehen köanen. Wie man sieht, hat in den letzten Jahren die experimentelle und theoretische Erforschung des Atombaus erhebliche Fortschritte gemacht und den alten Methoden zur Analyse chemischer Ver- bindungen haben sich tiefergreifende Analysen- verfahren angeschlossen, die man mit Kohl weil er als Atornanalysen oder Elementaranalysen be- zeichnen könnte. Von der Anwendung der neuen Methoden auf alle chemischen Elemente sind bereits für die nächste Zeit noch reiche Ergebnisse zu erwarten. ') Nature ßd. 104, S. 393 (1919). ') s. Nalurw. Wochenschr. 1920, S. 527 — 528. ') Naturw. Wochenschr. 1920, S. 30 — 32. ') R. Swinne, Physik. Zeitschr. 19 12. "} W. Lenz, Siu.-Ber. d. bayer. Akad. d. Wiss., Math phys. Kl. 1918, S. 355. ') Die Naturwissenschaften Bd. 8, S. 181 — 18<3 (1920}. Die Dokumenten-Sanimliiiig Dariustaedter der Preußischen Staatsbibliothek und ihre Bedeutung als historisches Archiv für Naturwisseuschal'teu und Mediziu. [Nachdruck verboten.] Von Julius Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften als Lehr- und Forschungsaufgabe ist einer der jüngsten Sprosse am Baume der historischen Wissenschaft. Als die Staatsarchive schon ein gigantisches Material positiver handschriftlicher Quellen aufbewahrt und der wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglich gemacht hatten, war vor allem die Literaturgeschichte gefolgt, Nachlässe Schuster, und Briefwechsel von Dichtern und Schriftstellern zu sammeln und zu erschließen. F"ür die Geistes- wissenschaften war ja die historische Forschung das gegebene Fundament wie die physikalische für die Naturwissenschaften. Aber wie der Besitz eines Blumentopfes und einer Pflanze noch keinen Botaniker machen, so kann in den Natur-, aber auch in den Geisteswissenschaften ohne die Kunst 7o8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 45 der Fragestellung niemand zum Forscher werden: und solche Frage kann nur stellen und beantworten, wer durch fortdauernde unmittelbare Berührung mit den Werken der großen Meister den geschicht- lichen Zusammenhang der Gedanken der Gegen- wart mit denen der Vergangenheit kennt. Der Altmeister der Naiurforschung, Alexander von Humboldt, der den ganzen Kreis des da- maligen Wissens auch historisch überschauen konnte, hatte den Erscheinungen der tierischen hlektrizität viele Jugendjahre mühevoll und hoffend gewidmet, als er den Physiologen Johannes Müller auf eine Schrift des italienischen Physikers Carlo Mateucci über diesen Gegenstand aufmerksam machte. Müller wußte wohl, was er tat, als er diese Schrift zur Nachprüfung seinem auch in der Physik ungewöhnlich vorgebildeten Schüler Emil du Bois-Reymond übergab, der sich durch diese Untersuchungen zu einem der größten Physiker und Physiologen entwickelte. Es darf als feststehend betrachtet werden, daß du Bois- Reymond dies neben der unübertrefflichen Exakt- heit der Methode der vollständigen historischen Kenntnis des vor ihm auf diesem Gebiete Unter- nommenen zu verdanken hat, die ihm zeigte, was zur Fortsetzung geeignet schien und wo es galt, von vorn anzufangen. Aber auch wo die bahn- brechende Leistung nicht primär auf historischem Fundament entspringt: sekundär ist sie damit stets verknüpft, da die oft in mühseliger Klein- arbeit zutage geförderten Einzeltatsachen nur im Lichte geschichtlicher Betrachtung zu großen Ge- samtbildern zusammengeschlossen werden können, die andere Wissenschaften befruchten. So führt die Geschichte über den entsagungsvollen Spezia- lismus zu dem befreienden Universalismus, und wäre es für einen noch so kleinen Ausschnitt der Natur. Ein antreibendes Moment lür Männer dieser Art ist die Flucht aus dem Alltagsleben, aus der Welt des persönlichen Daseins in die des objektiven Schauens und Verstehens. Für die schöpferische Persönlichkeit ist die Geschichte unentbehrlich. Wozu aber nützt die Kenntnis der Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin demjenigen, der diese Wissenschaften anwendet? Und vollends der Allgemeinheit? Lichtenberg hat einmal den Ausspruch getan: „Wer nur Chemie versteht, versteht auch diese nicht!" In der Tat wäre solches Wissen ohne Sinn und Bedeutung der Ruin der praktischen Medizin und Naturwissenschaften, ihre Mitarbeit an der Lösung wissenschaftlicher Probleme würde in diesem Falle bald der Geschichte angehören. Dagegen gilt es, immer wieder, die Eigenschaften der wahrhaft großen Männer zu zeigen, den Blick in ihre Forscherwerkstätte zu lenken, auf ihr Schaffen und Ringen hinzuweisen. Dadurch können Talente zu ähnlichen Leistungen geweckt werden, aus deren Anhäufung ein Bahnbrecher hervorgehen kann. Dies vermag freilich nur eine Darstellung, die voraussetzungslos darauf ausgeht, die Ent- wicklung der Wissenschaften historisch zu er- fassen, um aus ihr neues Leben für diese selbst zu schöpfen. Dadurch ist ja die Geschichte der Naturwissenschaften besonders lehrreich, daß sie über die Struktur und Entwicklung des mensch- lichen Geistes Licht verbreitet. Indem der Histo- riker die funktionelle Verbindung zwischen den diskontinuierlichen Tatsachen herstellt, strebt er danach, wie der Naturforscher die Gesetzmäßig- keit des Geschehens festzustellen. Eine der schönsten und nützlichsten Aufgaben, welche die neue Zeit der Geschichte der Natur- wissenschaften bietet, ist, sie in den Dienst der Volksbildung zu stellen. Insbesondere die mit den Naturwissenschaften aufs engste verknüpfte Geschichte der Technik zeigt, wie viele auf diesem Gebiet klein anfingen und in erster Linie durch zähe Ausdauer sich empor arbeiteten: Edison begann als Zeitungsjunge, Krupp als einfacher Schlosser, Borsig als Zimmermann. Der Weg, den diese Männer wanderten, ist bei der Allge- meinheit fast vergessen, obwohl es der Weg aller ist, die nicht mit dem Beifall des Tages sich es genügen lassen. So ist die geschichtliche Rück- schau auch geeignet, Achtung vor der Wissen- schaft und den Männern der Wissenschaft, die eine Ehrensache sein sollte, zu erwecken und zu erhalten. Unter diesen Umständen kann es nicht mehr zweifelhaft sein, daß die Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften Aufgaben darstellen, die einem immer mehr als notwendig empfundenen Bedürfnis der Hochschulen entsprechen. Nach der medi- zinischen Seite hin hat dies auch in der Schaffung mehrerer Lehrstühle Ausdruck gefunden, die in dem ersten Ordinariat in Verbindung mit einem Institut für Geschichte der Medizin zu Leipzig unter K. Sudhoff ihren Mittelpunkt haben. Das Haupt- gewicht liegt hier naturgemäß in der medizinischen Geschichte, wennschon diese vielfach auch für die der Naturwissenschaften fruchtbar wird. F"ür Geschichte der Naturwissenschaften gibt es bis jetzt in Deutschland keinen Lehrstuhl. Um so wichtiger ist es, daß ein Archiv für natur- wissenschaftliche Geschichtsforschung vorhanden ist, das, unbeschadet einzelner auf besimmte Gebiete gerichteter Institute, wie das vor- wiegend auf die Geschichte der Technik hin- zielende Deutsche Museum zu München oder das für die Deszendenztheorie so bedeutungsvolle Haeckel-Archiv zu Jena, auf breitester Grundlage das handschriftliche Quellenmaterial sammelt, ohne das wissenschaftliche historisch-kritische Untersuchungen nicht denkbar sind. Es ist dies die Dokumentensammlung Darm- staedter, die durch Stiftungsakt vom 31. De- zember 1907 von Prof Darmstaedter der Preußischen Staatsbibliothek als Gabe zur Eröffnung des neuen Gebäudes dargebracht wurde. Diese Sammlung umfaßt jetzt nahezu 100 000 Original- dokumente, Handschriften und Briefe hervor- ragender Persönlichkeiten aus allen Gebieten der Wissenschaften, der Künste und der Technik, die N. F. XIX. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. ;o9 sich auf etwa 30000 Namen sämtlicher Nationen erstrecken. Bis vor kurzem als „Autographen- sammlung" bezeichnet, hatte sie sich längst über eine Sammlung dieser Art erhoben, indem sie zwar ursprünglich aus einer solchen hervorgegangen war, aber aus dieser gleichsam als eine Galerie der Pioniere und Bahnbrecher in Wissenschaft und Kunst ausgeschieden wurde, um ein historisches Bild der Entwicklung des. gesamten menschlichen Denkens und Schaffens auf Grund von Doku- menten der betreffenden Persönlichkeiten zu geben. Von diesem Gesichtspunkt aus wird der Haupt- wert auf solche Dokumente gelegt, die den Werdegang der wissenschaftlichen Entdeckungen zu beleuchten vermögen, gleichgültig ob es sich dabei um eine signierte Zeichnung oder um eine eigenhändig unterzeichnete Maschinenschrift han- delt. Der Sammlung entsprangen schon früher die von Prof. Darmstaedter in Gemeinschaft mit Prof. Rene du Bois-Reymond herausgegebenen Tabellen zur Geschichte der exakten Wissen- schaften, die unter dem Titel „4000 Jahre Pionier- arbeit in den exakten Wissenschaften" und in der zweiten Auflage als „Handbuch zur Geschichte der Naturwissenschaft und der Technik" erschienen. Diese Tabellen gaben dann das chronologische Gerüst für die Ordnung der Sammlung innerhalb der einzelnen Disziplinen. Hierin liegt für die Historiker der verschiedenen Gebiete ein wesent- licher Vorteil, indem sie die Wissenschaften in ihrer vertikalen wie in ihrer horizontalen Lebens- linie verfolgen können. So findet der Mediziner ohne weiteres die Dokumente der Spezialfächer wie Ana- tomie, Physiologie, Chirurgie, Gynäkologie, Psychia- trie, innere Medizin usw. in historischer Folge verei- nigt. Bacons Ausspruch, daß Briefe die besten Geschichtslehrer und, für einen verständigen Leser, selbst die beste Geschichte sind, könnte wohl nirgends besser demonstriert werden. Um einen Begriff von der Beschaffenheit der Sammlung zu geben, seien aus der ersten Abteilung der Medizin, welche die epochemachenden Entdeckungen dieser Wissenschaft enthält, einige Namen angeführt, von denen inhaltliche Dokumente vorliegen : A m - broise Pare, der Schöpfer der modernen Chirurgie 1545, Crato von Craftheim (an Carl Clusius 1567), Ludovicus Septalius (Settal a), Giovanni Alfonso Borelli, Marcello Malpighi (über seine mikroskopischen Untersuchungen), Friedrich Rujrsch, Hermann Boerhaave, Antoni van Leeuvenhoek (an Constantijn Huyghens), Giovanni Battista Morgagni, John Tuberville Needham, William Hunter, Johann Nathaniel Lieberkühn, Albrecht von Haller, Pieter Camper, Lazaro Spallanzani usw. bis auf die neueste Zeit, aus der die wissenschaftliche Korrespondenz an Paul Ehrlich besonders er- wähnt sein möge. In gleicher Weise ist die Samm- lung imstande, auf jedem beliebigen Gebiete der Wissenschaften, der Kunst und der Technik sofort die historische Entwicklung durch bezeichnende Dokumente zu belegen, und diese universelle Anlage ermöglicht es, die engen Beziehungen von Medizin und Naturwissenschaften zum Staat, zum Recht, zur Philosophie, überhaupt zur aligemeinen Kulturgeschichte, gleichmäßig zu erforschen. Um ein derartiges Archiv zu erweitern, bedarf es nicht allein der stetigen Energie des Sammlers. Unzählige Dokumente sind durch ihn aus dem Autographenhandel des In- und Auslandes der Wissenschaft erhalten und zugänglich geworden. Vieles haben private Personen, Institute, Vereine und Behörden in liberalster Weise überlassen. Dankbar hervorgehoben werden muß die Unter- stützung der Staatsbehörden, vor allem des Mini- steriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, sowie der Universitäten. Möge uns auch in der Gegenwart jeder an seinem Platze helfen, einge- denk Alexander von Humboldts Worten: „In der politisch bewegten Zeit ist es fast politische Pflicht, zu zeigen, wo das intellektuelle Leben fortatmet" (23. Dezember 1831). |Freilich gibt es auch unter den großen Männern vereinzelte Stimmen, die derartiges Sammeln gering schätzen oder für überflüssig halten. Ihre Argu- mente sind, daß ein anderer mit dem wissen- schaftlichen Nachlaß doch nichts Rechtes anzu- fangen wisse; daß ihr Hauptwerk in ihren Schritten und nicht in ihrer Schrift liege; daß eine Auto- biographie zu subjektiv sei und ein fremder Bio- graph doch wieder nicht die nötigen Spezial- kenntnisse habe; endlich daß die Nachwelt an den Nebenumständen ihrer Leistungen kein Interesse habe. Sollte es demgegenüber nicht ins Gewicht fallen, daß es stets bedeutende Per- sönlichkeiten gegeben hat, die keine gedruckten Schriften hinterlassen haben: wie Kielmeyer, einer der hervorragendsten Biologen Deutschlands und auch von entscheidendem Einfluß auf Cuviers Entwicklung; oder Schönlein, der große Kliniker, der außer seiner Dissertation nur zwei kleine, aber grundlegende Mitteilungen in Brief- form veröffentlicht hat; oder Gregor Mendel, der Newton der Biologie, der 1865 im Augustiner- kloster zu Brunn jene erst 1900 von der Wissen- schaft in ihrer Tragweite erkannten Vererbungs- experimente an Pflanzen ausführte, von denen eine durch einen glücklichen Zufall erhalten ge- bliebene Korrespondenz noch beredteres Zeugnis ablegt als seine in den Schriften eines naturwissen- schaftlichen Vereins vergrabene Abhandlung. Und wer wüßte nicht, daß die zeitliche Priorität und Unabhängigkeit in der Konzeption der Wirbel- theorie des Schädels durch Goethe gegenüber O k e n durch datierte Briefe bewiesen ist. Ein Brief von Etienne Geoffroy St. Hilaire, für dessen philosophische Anatomie und Zoologie Goethe 1830 so feurig eintrat, beweist, daß seine Anschauungen 1800 in Ägypten während der Be- lagerung von Alexandria, gänzlich unbeeinflußt von der deutschen Naturphilosophie, gleichsam in ihm entbunden wurden. Gelegentlich enthält auch 710 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XIX. Nr. 45 die an heute fast ganz vergessene Persönlichkeiten gerichtete Korrespondenz Briefe nahezu aller Naturforscher und Ärzte ihrer Zeit, wie der Nach- laß des Direktors der Berliner Akademie Formey, der über 23000 Briefe umfaßt, oder die Briefe an den Arzt und Polyhistor Günther Christoph Schelhammer (1649 — 1716). Für die vielen Eintagsfliegen, die in solchen Korrespondenzen naturgemäß gefangen sind, entschädigen die posi- tiven Notizen, die gleich einer Tatsache oder Be- obachtung für die Forschung von unschätzbarem Werte sein können. Diese zu sammeln ist die ureigentliche Aufgabe der Dokumentensammlung Darmstaedter. Was nun das Mißtrauen gegen Biographien betrifft, so ist zu bedenken, daß diese, soweit sie der neuesten Zeit angehören, nicht Geschichte sein können, ja die Sicherheit der geschichtlichen Erkenntnis bedrohen, eine Gefahr, der nicht besser vorgebeugt werden kann als dadurch, daß histo- rische Dokumente und Schriftstücke für die Zeit, wo eine historisch kritische Darstellung möglich ist, aufbewahrt anstatt vernichtet werden. Manche geschichtliche Vergewaltigung, die sich Jahrzehnte fortschleppt, kann durch ein einziges Dokument beseitigt werden, wie auch die Atmosphäre des Neides und des Widerspruchs im Lichte urkund- lichen Beweismaterials der Erkenntnis der Wahrheit weichen muß. Leider sind ganze Bestände von Dokumenten bei Umzügen oder sonstigen Verän- derungen verloren gegangen oder der Vernichtung anheimgefallen. So bediente sich z. B. der Jardin des plantes in Paris 1793 der Papiere des Hauses Orleans, die man dahin geschafft hatte, um darin die Samen an die Gärten der ganzen Welt zu versenden. Besonders aber zu bedauern ist, daß manche hervorragenden Gelehrten selbst ihre Korrespondenz vernichtet haben. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß für die psychologische Erkennung des wissenschaft- lichen Talents und Genies in der Gegenwart es kein besseres Erfahrungsmaterial gibt als die genetische Analyse des Werdens der großen Männer, aus der sich wichtige Resultate zur Verwirklichung des Grundsatzes ergeben: „freie Bahn dem Tüchtigen". Es ist dies eine der bedeutendsten sozialen Fragen, die zuerst der Botaniker Alphonse De Candolle 1873 in dem 1910 von W. Ostwald übersetzten Werk „Die Gelehrten und die Wissenschaft seit zwei Jahr- hunderten" kritisch zu beantworten versucht hat. Diese Tatsachen sollten nicht übersehen werden. Dann ist Geschichte keine Kirchhofswissenschaft, sondern Auferweckung des Geistes zum Aufsuchen richtiger Wege der Erkenntnis. Diesem Ziel folgt auch die Geschichte der Medizin und Naturwissen- schaften, und ihm dient das empirische Material der Dokumentensammlung Darmstaedter, die des- halb auch die weiteste und energischste Förderung vonseiten der Wissenschalt erfahren sollte: denn es ist nicht bloß eine Pflicht der Pietät, sondern auch eine Forderung und Förderung der Wissen- schaft, die Erinnerung an die Männer wachzu- halten, die für sie Großes geleistet haben, und die Wege zu zeigen, die sie gegangen sind — Auf- gaben, die nicht würdiger als mit Goethes er- hebendem Spruch umrissen werden können ; „Halte das Bild der Würdigen festl Wie leuchtende Sterne Teilte sie aus die Natur durch den unendlichen Raum." Einzelberichte. Zoologie. Zur Symbiose zwischen Einsiedler- krebsen und Seeanemonen. Verschiedene Be- obachter haben schon berichtet, daß Einsiedler- krebse beim Übersiedeln in neue, größere Schneckengehäuse die auf ihren alten Wohnungen lebenden Seeanemonen mit hinübernehmen. Aber diese Berichte sagen nicht deutlich aus, ob es eine ständige Gewohnheit dieser Krebse ist. Aus diesem Grunde hat jüngst R. P. Co wies im Zoologischen Institut der John Hopkins Universi- tät zu Baltimore neue Beobachtungen an zwei Phiiippinenkrebsen, Pagurus deformis und Pa- giirns asper, angestellt, über die er in den „Pro- ceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America" (vol. VI, nr. i, January 1920, p. 40 — 42) berichtet. Aus einer großen Reihe ganz ähnlicher Be- obachtungen beschreibt Co wies folgenden Einzel- fall: Ein Paguride mit zwei großen Seeanemonen oben auf dem Schneckengehäuse und einer kleineren an der Gehäusemündung wurde in einen Behälter gesetzt, wo ein leeres Doliumgehäuse lag, das größer als das vom Krebs bewohnte war. Der Krebs begann sofort mit der Unter- suchung dieser Schale, d. h. er fuhr mit den Scheren und einigen Beinen hinein und verharrte in dieser Stellung eine geraume Zeit. Nur ge- legentlich zog er die Scheren wieder heraus und untersuchte mit ihnen die Außenseite des Ge- häuses. Dann, ganz plötzlich, wurde der Hinter- leib in die leere Doliumschale hineingesteckt. Der Krebs umfaßte darauf die eine der beiden größeren Anemonen seiner alten Schale, wobei er sie reichlich malträtierte und auf seine neue Schale herüberzuzerren versuchte. Statt sich zu- sammenzuziehen, blieb die Anemone bei diesen Angriffen ausgebreitet. Erst nach zehn Minuten löste sich deren Fußscheibe an einigen Stellen von der alten Unterlage. Der Krebs begann aber plötzlich das gleiche Manöver bei der anderen großen Anemone, die freilich ihre Tentakeln weg- zog, um sie aber sofort wieder gegen den Krebs vorzustoßen. Da wandte sich der Krebs plötzlich auch von dieser zweiten Anemone ab, riß die N. F. XK. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 711 dritte, kleinere von ihrer Unterlage weg und setzte sie an die Mündung seiner neuen Wohnung, wo sie sich bald fest ansaugte. Er wandle sich nun wieder einer von den großen Anemonen zu, löste sie ohne Mühe ab, drehte sie zwischen seinen Scheren und Beinen umher und setzte sie end- lich mit der Basis an die Seite seines neuen Ge- häuses. Die Anemone blieb aber nicht dort. Sie rutschte auf die Krebsbeine herab, klemmte sich hier einen Augenblick fest, fiel herunter und blieb schließlich am Glasboden des Aquariums haften. Wiederum schien der Paguride das Interesse an ihr zu verlieren und begann nun die allein auf seiner alten Wohnung sitzende Anemone zu zerren und zu kneifen. Nachdem er sie längere Zeit so bearbeitet und dabei den Rand der Fußscheibe etwas emporgehoben hatte, löste sie sich ganz plötzlich von selbst ab.') Der Krebs fing die Anemone, die bereits herabgerutscht war, auf, drehte sie einige Sekunden rundherum und drückte dann mit Hilfe der Hinterbeine die Tentakelseite gegen die neue Schale. Wieder entschlüpfte sie ihm und wurde für einen Augenblick außer acht gelassen. Denn der Krebs ergriff inzwischen wie- der die andere Anemone. Indem er aber diese noch festhielt, wurde gleichzeitig von ihm die soeben entschlüpfte Anemone wieder empor- gehoben. Schließlich setzte er die eine mit dem Rande ihrer Basis auf die eine Seite der Schale, während die andere Anemone mit Hilfe der Hinter- beine ihren Platz gegenüber erhielt. Auch bei allen Beobachtungen an anderen Exemplaren, die selbstverständlich nicht ganz gleich ausfielen, war die dauernde und erhöhte Tätigkeit der Krebse so charakteristisch , daß Co wies an eine ererbte Eigenschaft denkt. Überdies reagierten die Krebse während dieser Überpflanzungstätigkeit auf keinerlei Erschütte- rungen des Aquariums, während sie für gewöhn- lich sehr stark auf solche Reize antworteten. Die Anemonen gewinnen ohne Zweifel durch ihre Symbiose mit dem wandernden Einsiedlerkrebs, und oft ergreifen sie auch Stücke von abge- storbenen Tieren, von denen die Krebse etwas gefressen haben. Aber niemals hat der amerikani- sche Zoologe beobachtet, daß die Krebse die Anemonen sozusagen fütterten, wie man gelegent- lich lesen kann. Auch hat er nicht bemerken können, daß die Anemonen die Krebse durch ihre Nesselzellen gegen äußere Angriffe geschützt hätten. Co wies glaubt nicht, daß der Einsiedlerkrebs erst während seines eigenen Lebens durch Erfah- rungen gelernt habe, welcher Vorteil ihm von der Überpflanzung der Seeanemonen erwächst, ob- gleich wir wissen, daß Krebse im allgemeinen auch durch Erfahrungen gewitzigt werden. Er ist ') So merkwürdig es ist, die Krebse scheinen bei den oben geschilderten Angriffen niemals der Anemone Schaden zuzufügen, obgleich deren Fußscheibe sehr dünn ist und leicht zerreißt, wenn der Mensch die Anemone von der Unterlage loben vill. vielmehr der Meinung, daß hier eine instinkt- mäßige Handlung vorliegt. Wie freilich diese „inherited combination of reflexes" genetisch zu erklären ist, diese Frage muß auch Co wies noch unbeantwortet lassen. Rudolph Zaunick, Dresden. Botanik. Rumphius' Herbarium Amboinense. — Zu den hervorragendsten botanischen Werken der Zeit vor Linne gehört das 7-bändige Tafel- wetk von Rumphius, Herbarium Amboinense (1741 — 1755); es bildet nicht nur die wichtigste Grundlage für die Kenntnis der malaiischen Flora, sondern weit darüber hinaus ist es für Studien über tropische Flora der Alten Welt und beson- ders über Pflanzenfamilien, die hauptsächlich in den Tropen verbreitet sind, unentbehrlich, und enthält zudem einen auch heute nodi nicht er- schöpften Schatz wertvoller Beobachtungen über das Vorkommen, die Lebensbedingungen, biolo- gischen Eigenheiten, die Variabilität vieler Tropen- pflanzen , besonders auch über die Sorten weit- verbreiteter Nutzpflanzen , so daß man immer wieder auf es zurückgreifen muß, ein glänzendes Zeugnis für die ungewöhnliche Beobachtungsgabe seines Verfassers. Dem in lateinischer Sprache mit holländischer Übersetzung verfaßten Werke fehlt eine streng systematische Anordnung; darin erinnert es wie auch in der Nomenklatur an die Kräuterbücher der vorlinneischen Periode. Zu- dem wird das Verständnis durch den Mangel einer scharfen Terminologie der Organe, die man damals noch nicht hatte, erschwert. Wie aber viele der von Linne und seinen Zeitgenossen aufgestellten und mit binären Narnen versehenen Arten auf die Beschreibungen und Abbildungen der Vorgänger zurückgehen, so bilden auch die Beschreibungen und Abbildungen des Werkes von Rumphius in einer großen Zahl von Fällen die Grundlage für die Artnamen späterer Autoren, die, da R. kein Herbar hinterlassen hat, oft nicht einmal in der Lage waren, die Angaben an der Hand von Herbarexemplaren nachzuprüfen, oder, wo ihnen solche aus dem malaiischen Gebiete oder aus den asiatischen Tropen überhaupt zur Verfügung standen, recht oft die von Rumphius beschriebenen Arten verkannten und die ihnen vorliegenden Arten aus anderen Gegenden (z. B. aus Ostindien) zu Unrecht mit den von ihm be- schriebenen Arten identifizierten. Früher hatte man eben eine noch recht mangelhafte Kenntnis von der Verbreitung der Arten im indisch-malaii- schen Gebiete, und man glaubte oft Arten Ost- indiens oder Südchinas in den Angaben Rum- phius' wiederzuerkennen, die sich doch vorzugs- weise auf Pflanzen der kleinen Molukkeninsel Amboina beziehen; man bedachte nicht, daß die Verbreitung der Arten oft eine viel beschränktere ist, wenn es sich auch um verwandte Arten han- delt. Um nun zu einer sicher begründeten Be- nennung der Arten der malaiischen Flora zu ge- 712 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XrX. Nr. 45 langen, war es von allergrößter Bedeutung, zu- nächst einmal festzustellen, was Rumphius in jedem besonderen Fall gemeint hat, und das konnte nur durch eine erneute botanische Erfor- schung der 950 qkm umfassenden südlich des Westendes von Ceram an der Nordseite der Bandasee liegenden Insel Amboina mit Hilfe von Herbarsammlungen geschehen, woran es bislang trotz einiger früheren gelegentlichen Sammlungen durchaus fehlte. Dieses Ziel setzte sich der ame- rikanische Botaniker Ch. B. Robinson im Jahre 1913, der jedoch schon Ende desselben Jahres auf der Insel von Eingeborenen ermordet wurde, nachdem er eine größere Pflanzensammlung zu- sammengebracht hatte, wobei er gerade sein Augenmerk auf das Einsammeln der von Rum- phius beschriebenen Arten gerichtet hatte. Übrigens leiteten ihn beim Wiedererkennen der Arten oft mehr die ausführlichen Angaben Rumphius' über die Verwendung bei den Ein- geborenen und die einheimischen Namen der Pflanzen, als ihre nach heutigen Begriffen vielfach unzulänglichen Beschreibungen. Da seit der Zeit, da Rumphius dort forschte, ein großer Teil des ursprünglichen Waldbestandes Kulturen hat weichen müssen, so ist es oft sehr schwer, gewisse von R. beschriebene Arten wiederzufinden; wahr- scheinlich sind viele dort sehr selten geworden, es bleibt freilich immer noch die Hoffnung, sie auf einer der benachbarten Inseln wieder zu entdecken. Der um die Kenntnis der Philip- pinenflora so verdiente amerikanische Bota- niker E. D. Merrill in Manila, auf den auch die Anregung zur Erforschung von Amboina zurück- geht, hatte sich in jahrelangen Forschungen und Reisen um eine ähnliche Aufgabe für diese Insel- gruppe bemüht, indem es ihm darauf ankam, die von Blanco in seiner Flora de Filipinas 1837 und 1845 beschriebenen Arten dort an Ort und Stelle wiederzufinden. Auch Blanco hat kein Herbar hinterlassen; auch seine Arten sind viel- fach mißverstanden worden, wie er selbst außer- dem wieder Arten der Philippinen fälschlicher- weise mit früher beschriebenen aus anderen Ge- bieten des tropischen Asiens identifiziert hat. Trotz aller Schwierigkeiten ist es aber Merrill gelungen, den größten Teil der Blanco sehen Arten zu klären, wie man dies aus seiner 1918 erschienenen Arbeit erkennt : Species Blancoanae, a critical revision of the Philippine species of plants described by Blanco and by Llanos (422 S.). . Merrill war nun bei seiner reichen Erfahrung in der malaiischen Flora wie kein anderer be- rufen, die durch den frühzeitigen Tod Robin- sons verwaiste Aufgabe weiterzuführen und vor allem eine vollständige Übersicht über alle von Rumphius beschriebenen Arten mit den heute für sie geltenden binären Namen zu geben, ein Unternehmen, dessen Schwierigkeiten nur der er- mißt, der einmal in die Irrgänge der Deutungen, denen die Beschreibungen älterer Autoren ausge- setzt sind, eingedrungen ist. Georg Eberhard Rumpf oder Rum ph (latinisiert Rumphius) wurde in Hanau (Hessen- Kassel) 1627 geboren und starb in Amboina 1702. Im Jahre 1653 trat er in den Dienst der hollän- disch-ostindischen Kompagnie und kam nach Amboina, wo er bis zu seinem Tode lebte, dort unermüdlich mit der Arbeit an seinem botanischen Lebenswerk beschäftigt, trotz schweren Mißge- schicks, das ihn zeitweilig verfolgte. Die ursprüng- lichen Tafeln wurden offenbar von ihm selbst verfertigt, jedoch It87 durch eine Feuersbrunst zerstört. Sie wurden durch neue ersetzt, die sein Sohn und verschiedene Assistenten anfertigten, doch hat er sie selbst nicht mehr gesehen, da er inzwischen (1670) erblindet war. Daher stammen wohl manche Widersprüche zwischen Text und Tafeln. Das Manuskript wurde später, nach mannigfachen Wechselfällen, von der ostindischen Kompagnie dem Professor J. Burman zur Publi- kation übergeben. Abgesehen von diesem monu- mentalen botanischen Werke hat Rumphius ein besonders für die Kenntnis der niederen Seetiere wichtiges Werk verfaßt (Amboinsche Rariteitkamer, 1705, mit 60 Tafeln). Ferner liegt im Manuskript noch eine Landbeschreibung der Insel vor, außer- dem landwirtschaftliche Berichte, Beobachtungen über Erdbeben, ein malaiisches Wörterbuch u.a.; auch plante er ein Tierbuch, analog dem Kräuter- buch. R. war also ein Naturforscher von un- gewöhnlicher Vielseitigkeit und erstaunlichem Fleiße, und verdiente sehr wohl den ihm beige- legten Namen des „indischen Plinius". Mit der Identifikation der Rumphiusschen Arten haben sich schon frühere Autoren beschäf- tigt, so hat z. B. J. K. Haßkarl einen „Schlüssel" zu dem Werke verfaßt, der aber hauptsächlich auf Literaturstudien beruht, immerhin eine sehr wertvolle Kompilation darstellt. Merrill gibt nun in seinem 1917 erschienenen Werke (An In- terpretation of Rumphius's Herb. Amboinense; Manila, 595 pp.) sowohl eine Liste der von Rumphius beschriebenen Arten in systemati- scher Anordnung der Familien und Gattungen, wobei bei jeder Art eine ausführliche Synonymie sowie die Begründung des für die Art nach den Regeln der Nomenklatur gewählten Namens bei- gefügt wird, wie eine Liste der Namen nach ihrer Reihenfolge im Werke selbst mit Angabe der binären Namen, soweit eine solche möglich ist. Rumphius hat etwa 1 700 verschiedene F"ormen beschrieben, eine Zahl, die sich nach Abrechnung der Varietäten, Kulturformen oder geringfügigen Abweichungen auf 1200 Arten reduziert. Davon können 930 nach heutiger Nomenklatur mit Gat- tungs- und Artnamen bezeichnet werden, sind also vollkommen bestimmbar; I40 weitere können wenigstens in die richtige Gattung gebracht wer- den, 130 bleiben unbestimmbar. Etwa 45 von verschiedenen Autoren aufgestellte Artnamen kennt man nur aus den Angaben von Rumphius; die Pflanzen sind nicht wieder beobachtet worden und für sie ist also die Beschreibung im Werke N. F. XK. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 713 selbst die einzige Grundlage; sie entbehren bisher eines Originalexemplars. Bei der Durcharbeitung der Synonymie ergab sich nach den Regeln der Nomenklatur in vielen Fällen die Notwendigkeit, die Arten, und zwar oft recht bekannte, anders zu benennen, wie z. B. Ananas comosus (L.) Merrill für den bekannten Namen Ananas sativus Schult, f., Citrus maxima (Burm.) Merrill für C. decumana L. (Pompelmuse). In manchen Fällen wird man Merrill nicht bei- stimmen können, wie ich z. B. die Umbenennung der Sojabohne Glycine hispida in Glycine max nicht billigen kann. Auch mögen sich außer formalen noch manche sachlichen Einwen- dungen gegen die Identifikationen Merrills machen lassen. Gleichwohl ist sein Werk, das den Namen des großen deutschen Naturforschers Rumphius wieder in ehrenvolle Erinnerung gebracht hat, eine für Systematik und Pflanzen- geographie sehr wertvolle Leistung. H. Harms. Geologie. Einen „Bericht über geologische Stu- dien während des Krieges in Südwestafrika" gibt E. Kaiser in den Abhandlungen der tjieüener Hoch- schulgesellschaft (1920). E. Kaiser weilte in Südwestafrika von 1914 bis Mai 191 9. Um seine geologischen Untersuchungen ausführen zu können, regte er eine neue topographische Aufnahme der wichtigsten Teile des Diamantgebietes im Maß- stabe I : 25 000 an. So wurde ein 80 km langer Küstenstreifen von der Elisabethbucht bis nach Angras Juntas von 10 — 13 km Tiefe aufgenommen. Auf dieser Unterlage wurden dann die mineralogi- schen, geologischen und morphogenetischen Unter- suchungen ausgeführt. Zur Lösung vulkanologi- scher Fragen diente die genaue Aufnahme des Klinghardtgebirges im Maßstabe i : 100 000. Im Untergrund der südlichen Namib finden sich kristalline Schiefer, Gneise mit eingelagerten Glim- merschiefern, Amphiboliten, Chlorhschiefern, Injek- tionen granitischer und seltener grabbroider Gesteine, durchirümert von aplitisch-pegmatischen und stark umgewandelten kersanlitischen Gängen, die ältere Alkaligesteine oder wenig umgewandelte jüngere Syenit- Eläolithsyenite enthalten. Die älteren In- jektionen gehören den Alkaligesteinen an. Jünger und wenig umgewandelt sind Bioiitgranite, Zwei- glimmergranite. Die mehr verbreiteten älteren Granitinjektionen sind sehr metamorph beeinflußt. Orthogneise kennt das Küstengebiet, Paragneise das Landinnere. Von der Lüderitzbucht bis zur Elisabethbucht treten „Zebragneise", von da bis über den Pomonahügel Augengneise auf. Im Süden, Osten sind Chloritschiefer und Talkschiefer weit verbreitet. Im Gebiete der Zebragneise finden sich ptygmatisch gefaltete Arterite und Migmatite in sehr großer Mannigfaltigkeit. Zu diesen Hauptgesteinen treten Roteisen-, Magnetilkorundgesteinseinlagerungen. Marmor- linsen, in der Nähe von Gneisgranitmassiven Kalk- silikathornfels mit Wallastonit zeigen sich. Man muß eine mindestens doppelte granitische Injektion und eine ebensoofte aplitischpegmatiti- sche Injektion annehmen. Die letzteren, jüngeren Injektionen haben die Gesteine entweder vor oder bei der Injektion wirr durchtrümert. Zeitlich und ursächlich fällt die erste Injektion mit der Meta- morphose der Gesteine zusammen. In den schief- rigen Gebieten kommen schmale und breite Quarz- gänge mit Eisenglanz, Bleiglanz, Kupferkies, Tur- malin, Linerit, Amethyst vor, die nach d. Verf. Bildungen pegmatischer Natur sein sollen. In pegmatitischen Gängen zwischen Pomonahügel und Steuchslager treten flächenreiche Kristalle von Apatit, Turmalin, gemeinem Beryll auf. Topas, Korund, Rutil kommen in Seifen vor. Diskordant über den kristallinen Schiefern liegen petrographisch verschieden ausgebildete Schichten, deren petrographischer Wechsel von dem tieferen Untergrunde, den kristallinen Schiefern, abhängig ist. Eine sandige Ausbildung ist in Küstennähe und eine Schieferausbildung im östlichen Teile wahrzunehmen. Kaiser hat folgende Schichtenfolge festgestellt: Hauptdolomit Bändrige Dolomite I Schieferausbildung mit Arkose-Quarzitausbildungi eingelagerten Karbonat- 1 gesteinen. Basiskonglomerat Unterer Dolomit, bzw. Mergel, nur lokal. Er spricht sie dem Algonkium oder dem Kambrium zu und hält sie für Äquivalente der älteren Namaformation. Die früher für diese Schichten angenommene Faltung hat sich in dem Umfange nicht nachweisen lassen. Von diesen algonkischen oder kambrischen Schichten an fehlen Ablagerungen bis zum Tertiär. Nur Eruptivgesteine sind Zeugen vulkanischer Ausbrüche in der Zwischenzeit. Es finden sich Alkaligesteine auch in den kristallinen Schiefern, dieselben, die auch in den (?) kambrischen Ablage- rungen auftreten. Das dichte Netz von Tiefen- gesteinen: Syenite, Eläolithsyenite, Essexite, Theoalithe sind nachkambrisch und von der Fal- tung verschont geblieben. Im Klinghardtgebirge treten Phonolithe auf. Die basaltisch aussehenden Phonolithe gehen in porphyrische Gesteine über, die Nephelinsyenitporphyren gleichen. Sie ent- stammen prämiozänen Ausbrüchen. Beachtens- wert sind auch die Klinghardite und Phonolith- tuffe. Von dem nachgewiesenen Miozän kann man Strandablagerungen und solche mit deckenförmiger Verbreitung unterscheiden. Sie kleiden die Nischen und Vertiefungen in der prämiozänen Landober- fläche aus. Bei Buntfeldschuh beginnen die deckenförmigen Ablagerungen mit Achatgeröllen, die von terrestren Schichten überlagert werden. Vor der Ablagerung der miozänen marinen Schichten war ein deutliches Erosionssystem aus- gebildet, das seine Zuflüsse von weither erhielt. 714 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 45 Es ließen sich Rinnen und Terrassen nachweisen, die es gestatteten ein Bild der prämiozänen Ober- fläche und die Entwicklungsgeschichte der heuti- gen Landoberfläche seit prämiozäner Zeit darzu- stellen. Auch die Schichten, die im Pomona- gebiete die Tafelberge aufbauen, sind miozän. Es sind wahrscheinlich Eindeckungen der alttertiären Landoberfläche. Sie stellen terrestre Aufschüt- tungen in bereits damals schon aridem Klima dar. Es müssen Zeiten größerer Niederschläge voraus- gegangen sein, denn unter den Eindeckungen zeigen sich Spuren eines Erosionssystems, tief- gründige Verwitterungserscheinungen, Verkar- stungen. Arides Klima setzte also schon ein, als sich die miozänen Schichten bei Granitberg-Bogen- fels-Buntfeldschuh bildeten. Das damalige Meeres- niveau wich nicht viel von dem heutigen ab. Seit dem Miozän sind nur ungleichmäßige Ver- bindungen der Landoberfläche festzustellen. Die Schichten, welche die Eindeckungen bezeichnen, nennt Kaiser Pomonaschichten, die Kalke Po- monakaike und die daraus hervorgehenden ver- kieselten Gesteine Pomonaquarzite. Die Verkiese- lung ist nicht auf alle Gebiete gleichmäßig ver- teilt. In manchen Senken (Elisabethfeldern, Wüstenkönig) sind gleichaltrige Sandsteine und fein- bis grobkörniger Schutt mit einer Wirbel- tierfauna erhalten. Diese Pomonaschichten überdeckten einen großen Teil des Küstengebietes zur Zeit, als an eine Ausräumung durch Wind nicht zu denken war. In der Folgezeit herrschte das schon im Miozän einsetzende aride Klima, in dem Wind und Wasser eine große Rolle spielten. Die Wir- kung der Sonne, die Insolation und die chemische Verwitterung spielen eine große Rolle. In den küstenfernen Gebieten der Namib treten in groß- artigster Weise Kernsprünge, Abblätterungen, Ab- schuppungen auf Eine Menge durch chemische Verwitterung in das unterirdische Wasser gelangte Kieselsäure führt zu mannigfaltigen Verkieselungen. Dann traten jüngere Ouarzausscheidungen auf, Opale und Chalzedone mit Achatbänderungen. Wie die Kieselsäure in den Gesteinen der Wüste wandert, so tut es auch Kalziumkarbonat. Ver- kalkungen und Gipskrusten spielen eine große Rolle. Im Ferretisieren der verschiedensten Ge- steine erkennt man eine Wanderung des Eisens und des Mangans. Zeugnisse einer intensiven chemischen Verwitterung sind Rindenbildungen, Bröckellöcher, Salzausblähungen auf Gesteinen und in den Vleys und Verdunstungspfannen Mineral- ausscheidungen von Gips, Baryt, Chloride, Sulfate, Karbonate der alkalischen Erden und Alkalien. Die prämiozäne Landobei fläche ist anderen Ver- witterungsfaktoren ausgesetzt gewesen als unsere heutige Landoberfläche. Der Wind der Namib wirkt in das Gebiet von Norden nach Süden durchziehenden Zonen. Es werden Wanderdünen zusammengeweht, die bis zu dem großen Dünengebiet zwischen Lüderitz- bucht und Swakopmund bis weit ins Hinterland hinein wandern. Das Wasser ebnet wieder alle Unebenheit ein. Die Hohlformen werden mit grobem und feinem Schutt ausgefüllt. Die gelockerte Oberfläche wird vom Winde wieder aus der Hohlform herausge- tragen, dann aber schließlich vom Wasser von neuem wieder in das Becken hineinverfrachtet, aus dem es stammt. Es entstehen Panzerungen in den Becken, die später von der Deflation, Korrasion oder Erosion zerschnitten werden können. Oberflächlich können sowohl die Schutt- massen in den Hohlformen als auch die Auf- schüttungen von einer bis i m dicken Kalkkruste versehen werden. Die Hohlformen können voll- ständig eingedeckt werden. Durch ,,Schichtfluten" legen sich „Flächen" von Schutt über die ganze Landschaft. Es entsteht die von Kaiser so be- zeichnete „Flächennamib". An den Küsten ent- steht unter Einfluß starker Winde die „Wannen- namib". Die wannenförmigen Hohlformen ziehen mit ihrer Beckenform von Nord nach Süd. Die Wanderdünen der Namib erreichen eine Höhe von 40 m. Die großen liegen still, sind an Bodenerhebungen gebunden. Die kleineren Dünen wandern schnell. Es lösen sich von den großen Wanderdünen kleinere ab, die zu den anderen großen hinüberwandern. Es geschieht ein .Kalben der Dünen". Die Windwirkung erzeugt durch Korrasion kleine Rinnen, Rillen, Schluchten und ganze Tal- furchen. Sie ziehen von Norden nach Süden und sind so reichlich, daß man sie kaum alle kartieren konnte. Wenn die Korrasion fortdauert, sind die Rinnen frei von Schutt, der sich erst langsam bei Windstillstand anhäuft. In der südlichen Namib läßt Grundfeuchtigkeit Vegetation entstehen, die Flugsandmassen aufhält, solange, bis die Rinne ausgefüllt ist. Neben Bugformen und Windschliffen treten in der Namib Wmdkanten, Grate, Rippen, Kämme, Leisten, Windstiche, Windrippen, Wind- rillen, Windfurchen, Pilzfelsen und Baldachine auf. Schon früher wies man eine Hebung der Küste nach, die Kaiser bestätigen konnte. Rudolf Hundt. Über Erdbrände machte F. Herrmann in der „Deutschen Geol. Gesellschaft" interessante Mitteilungen (Zeitschr. d. deutsch. Geol. Gesellsch. 71. Bd., 1919, Monatsber. S. 66— 77). Unter dem Worte Erdbrand bezeichnet man nach J. Roth die Erscheinung der Selbstentzündung bei Stein- und Braunkohlen, es können jedoch auch bitumi- nöse Schiefer Veranlassung zu Erdbränden geben. So haben z. B. die sehr bituminösen und schwefel- kiesreichen Dictyonemaschiefer Estlands zwischen Baltisch-Port und PakkerOrt längs der Küste in- folge Selbstentzündung 1908 umfangreiche Erd- brände bewirkt. In der Rothschen Begriffs- bestimmung fehlt auch die Unterscheidung zwi- schen den ohne Zutun der Menschen entstandenen. N. F. XIX. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift 715 rein geologisch bedingten Erdbränden und den- jenigen, die künstlich durch Bergbau und ähnliche gewaltsame Eingriffe hervorgerufen worden sind. Die letzteren bilden die IVlehrzahl der bekannt gewordenen Fälle. Die Wirkungen beider Gruppen von Erdbränden, die dabei entstehenden Mineral- neubildungen dürften wenig oder gar nicht ver- schieden sein. Die Entstehungsursachen der Erd- brände festzustellen wird in den meisten Fällen schwer oder unmöglich sein. Gelingt es ein so hohes Alter des Erdbrandes nachzuweisen, daß menschliches Zutun nicht in Frage kommt, so dürfte wohl nur Selbstentzündung der brennlichen Mineralien als Ursache anzusehen sein. Von den bekanntesten Erdbränden ist der brennende Berg bei Dudweiler trotz seines hohen Alters ein auf den Bergbau zurückzuführender Erdbrand im Ausgehenden des Blücherflözes. Ebenfalls künstlicher Entstehung ist der Erdbrand von Planitz bei Zwickau, der bereits im 15. Jahr- hundert urkundlich erwähnt wird. Dagegen wird der Porzellanjaspis von Groß - Almerode als die Folge eines Erdbrandes der Alluvialzeit mit natür- licher Ursache angesehen, desgleichen der Por- zellanjaspis im miozänen Braunkohlenton bei Zittau. Die Erdbrände von Hindenburg und Kattowitz werden in die prähistorische Zeit ver- legt, mindestens jedoch für entstanden angenom- men vor Einsetzen des Bergbaues. Ziemlich sicher der Diluvialzeit gehören die Erdbrände in dem bei weitem ausgedehntesten Erdbrandgebiet, dem nordwestböhmischen Braunkohlengebiet, an. Von älteren Autoren wurden sie mit den Basalterup- tionen in Verbindung gebracht, aber bereits Jockely und Haidinger (1858) halten sie für Selbstentzündungsprodukte, die mit den Basalt- eruptionen nichts zu tun haben. Der Verfasser selbst hatte Gelegenheit, im Jahre 191 7 und 191 8 zahlreiche Vorkommen von Erdbrandspuren auf den Kohlengruben Serbiens zu beobachten, wo sie sich an Kohlen der Kreide und des Tertiärs finden. Als Ursache konnte Selbstentzündung festgestellt werden. Die Gründe, die die Selbstentzündung begünstigten oder ver- anlaßten , sind dieselben wie bei allen sonstigen Erdbränden: der durchweg hohe Gehalt an Schwefelkies, die gestörte Lagerung, die allent- halben die Kohle zum Ausstreichen an der Erd- oberfläche bringt und vielleicht auch das Klima, in dem starke Regenfälle mit nachfolgender er- heblicher Erwärmung abwechseln. Am ausge- dehntesten war die Erscheinung an den jung- tertiären Braunkohlen des Kostolacer Höhenrückens (östlich Semendria). Die infolge von Sprüngen zum Ausbiß gelangende Kohle ist ringsum an den Hängen verbrannt und hat die mächtigen überlagernden Tone verziegelt. Diese veränderten Tone bilden in Serbien geradezu ein Leitgestein beim Aufsuchen von Kohlen und mit ihrer Hilfe ist es dem Verf. z. B. gelungen, nördlich des Ochridasees ein Braunkohlenflöz aufzufinden. Auch auf die Mächtigkeit des Flözes lassen die Erd- branderscheinungen mitunter Schlüsse zu. Die Erdbrandgesteine selbst können geologisch- morphologische Bedeutung gewinnen (Sachsen, Böhmen), oder sie können als Leitgestein für die Lagerstättenforschung dienen, weiterhin sind sie für die Mineralogie und Petrographie nicht ohne Bedeutung als Parallele zu echter kaustischer Metamorphose, und da sie schließlich weiter ver- breitet sind, als gemeinhin angenommen wird — es kommen außer den Vorkommen in Deutsch- land, Böhmen und Serbien noch solche in Frank- reich, England, Rumänien, Estland, Grönland und Amerika in Betracht — wäre es wohl wünschens- wert, wenn in unseren neueren Lehrbüchern die Erdbrände wieder Erwähnung finden würden, wo sie unter den Wirkungen der Atmosphäre oder bei der kaustischen Metamorphose einzureihen wären. F. H. Über die neuere Entwicklung der Molybdän- gewmnung und -Verwendung berichtet B. Sim- mersbach in der Zeitschr. f. prakt. Geologie, XXVIII, 1920, S. 47—51 und 59 — 67. Der Name Molybdän kommt von dem griechischen Wort für Blei. Im Altertum und Mittelalter wurden unter diesem Namen mehrere sich ähnlich sehende blei- graue Mineralien zusammengefaßt, besonders wurde auch der Graphit dazugerechnet. Erst 1778 und 1779 stellte Scheele den Unterschied zwischen Graphit und dem sogenannten Wasser- blei, Molybdänglanz, fest, und im Jahre 1782 ge- lang es Hjelm, das im Wasserblei enthaltene Metall zu isolieren, das er Molybdaenum nannte. Der erst als wolframsaures Blei angesehene Wul- fenit, das Bleimolybdat, wurde 1797 von Klap- roth als solches richtig erkannt. Das Molybdän ist ein weißes, stark glänzendes, hartes, sprödes, sehr schwer schmekbares Metall von 9,01 spez. Gewicht. Die Anzahl der Molybdänmineralien ist recht klein, auch sind die Erze nicht sehr ver- breitet. Die bekanntesten sind Molybdänglanz, MoS», und das Gelbbleierz oder der Wulfenit, PbMoO^. Ersterer ist meist mit Zinnerzen ver- gesellschaftet und findet sich im Urgebirge, auch im Granit, Syenit usw., letzteren findet man viel- fach auf Bleiglanzlagerstätten. Weit seltener und wirtschaftlich nicht in Frage kommend sind der Molybdit, M0O3, oder Molybdänocker, der Ilsemanit oder blaues Molybdänoxyd, Mo.,Og, der Moly- bdänferrit, FeMoO^ , das iVlolybdänuran und der Paterait, eine natürliche Molybdänkobaltverbindung, C0M0O4. Die Eisensauen vom Verschmelzen des Mansfelder Kupferschiefers zeigen einen Gehalt von 9—28 % Molybdän. (Diese Zahl dürfte wohl etwas zu hoch gegriffen sein. Nach einem Gut- achten von Beyschlag und Kr u seh beträgt der Mo- Gehalt der Mansfelder Eisensauen nur 5 "1^. Trotzdem dürfte nach Erweiterung der Ausnutzung des Kupferschiefers die daraus gewonnene Menge genügen, um den Bedarf Deutsch- 7i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 45 lands zu decken und es damit in dieser Hinsicht unabhängig vom ausländischen Markt zu machen. Ref.) Verwendung findet das Molybdän als sog. „blauer Karmin" in untergeordnetem Maße zum Blaufarben von Wollstoffen, ferner ist das moly- bdänsaure Ammoninm bei der chemischen Analyse zur Bestimmung der Phosphorsäure ein überaus wichtiges Reagens. Seine jetzt wichtigste Ver- wendungsart, als Zusatzmiitel für hochwertige Oualitätsstähle, ist erst eine Errungenschaft der neuesten Zeit. Auf die eingehende Schilderung der bekannte- ren Vorkommen in den einzelnen Ländern können wir hier nur ganz kurz eingehen. Für Europa wäre an erster Stelle Norwegen zu nennen. Die Knaben - Grube (Fjötland bei Flekkefjord) , die Krina-Grube und die Grube Reinshammen in der gleichen Gegend lieferten den Hauptanteil. In- folge der stark erhöhten Nachfrage während des Krieges wurde die Förderung sehr stark angeregt. Jetzt hat man Sorgen wegen der künftigen Ge- staltung der Absatzverhältnisse. Zahlenangaben über die Höhe der Förderung werden leider nicht gemacht. In Schweden ist der Molybdänerzberg- bau weniger intensiv, hat jedoch auch im Kriege einen starken Aufschwung gencmmen. Die För- derung betrug 19 16 3000 t, 191 7 80000 t (soll wohl 8000 t heißen. Ref) Roherz. In Spanien werden in der Sierra Nevada in der Nähe von Granada Gelbbleierzlager ausgebeutet. Die Ge- samtproduktion des Landes betrug 191 5 60 t, 19 16 147 t aufbereitetes Erz. Asiatische Produ- zenten sind China und Birma, augenblicklich je- doch nur von untergeordneter wirtschaftlicher Bedeutung. Wichtig dagegen sind die australi- schen Vorkommen, besonders die von Queensland. In Amerika wird Molybdänerz besonders in Ka- nada, mehrorts in den Vereinigten Staaten und in Peru gewonnen. Peru förderte 1916 5752 t Erz. Die Gesamterzeugung der Welt an Moly- bdän betrug für das Jahr 1915, dem letzten, für das bislang eine Statistik zur Verfügung steht, 2226 t. Davon erzeugten die Vereinigten Staaten 90 t, Australien 77,8 t, hiervon Queensland 58,8 t, Norwegen etwa 40 t. Das übrige Molybdän wurde hauptsächlich in Kanada, Spanien und Peru gewonnen. In den Jahren 1916 und 1917 nahm die Molybdängewinnung schätzungsweise auf das Doppelte zu. Das Metall Molybdän wird erhalten durch Erhitzen von Trioxyd oder Chlorid im Wasserstoffstrom oder durch Reduktion von molybdänsaurem Kalk mit Kohle und Entfernung des Kalkes mittels Salzsäure. Das so gewonnene Metall enthält nur 3 % chemisch gebundenen Kohlenstoff. Goldschmidt- Essen stellt Molyb- dän aus Molybdänglanz nach dem Thermitver- fahren her. Ferromolybdän mit 50 *'/(, Mo und Molybdännickel mit 25 "/o Mo werden durch Ver- schmelzen von geröstetem Molybdänglanz mit Eisen- oder Nickeloxyd hergestellt und zur Be- reitung von SpezialStahl benutzt. Stahl erhält durch Zusatz von 2 % Mo eine silberweiße Farbe, sammetartigen Bruch und außerordentliche Härte. Itn allgemeinen erreicht man eine gewisse Härte mit halb soviel Molybdän wie Wolfram. Die Festigkeit wird im geringen Maße erhöht, die Zähigkeit nicht beeinflußt. Den Molybdänstahl verwendet man als Werkzeugstahl , für große Kurbeln und Treibwellen, Kesselplatten usw., alles Material, an das hohe Qualitätseigenschaften ge- stellt werden. Als besonders gut schmiedefähige Werkzeugstahle erzeugt man in England Molybdän- Wolframstahl und Molybdän-Wolfram-Chromstahl. F. H. Biologie. Über eine neue Form von erblicher Kurzfingerigkeit beim Menschen berichten Oilo L. Mohr und Chr. Wriedt in Nr. 295 der Ver- öffentlichungen der Carnegie-Institution zu Washing- ton. Es handelt sich um eine beiderseitige Ver- kürzung des zweiten Gliedes des Zeigefingers und der zweiten Zehe, die bei einer norwegischen Familie, von der einige Mitglieder nach Amerika auswanderten, erblich auftritt. Die Mißbildung ist stets auf die erwähnten Glieder beschränkt, sonst sind Hände und Füße sowie der ganze Körperbau normal, es ist keine Verkürzung der Gestalt be- obachtet worden, wie sie z. B. Farabee ^) vor anderthalb Jahrzenten feststellen konnte. Die Ano- malie ist bei einem Teil der behafteten Personen stark, bei anderen dagegen nur mäßig ausgeprägt; ein mittelmäßiger Zustand der Mißbildung kommt nicht vor. In den extremen Fällen ist der ganze Zeigefinger nicht viel länger als das basale Glied des Mittelfingers. Das zweite Zeigefingerglied fehlt nie — wie die Behafteten selbst meinen — , sondern es ist stets, wenn auch in äußerst rudimentärer Form, vorhanden. Die Vererbung der Mißbildung konnte ununter- brochen , sechs Geschlechterfolgen hindurch aufge- zeichnet werden, bis zurück zum Jahre 1764. Das war nur dank dem Vorhandensein eines Familien- buches möglich, das ausführliche Mitteilungen über jede Person der älteren Geschlechter enthält. Die Kurzfingerigkeit wird als nach den Mend ei- schen Regeln als dominantes Merkmal vererbt. Das zahlenmäßige Verhältnis der behafteten zu den nicht behafteten Nachkommen kurzfingeriger Personen entspricht genau der theoretischen Er- wartung. Die Dominanz ist aber nicht immer deutlich. In einem Fall wäre sie durch körper- lichen Augenschein überhaupt nicht feststellbar gewesen, die Länge des zweiten Zeigefingers fiel bei der fraglichen Person ganz in den normalen Variationsbereich; daß sie dennoch die Anlage zur Kurzfingerichkeit hatte, ergab sich erst aus der Geburt eines damit behafteten Sohnes, dessen Vater aus nicht behafteter Familie stammte. Das ist wohl der erste beim Menschen beobachtete Fall, wo eine in Bezug auf eine dominante Eigen- schaft heterozygot veranlagte Person als somatisch ') Farabee, W. C: Inherilance of digital raalformations in man. Peabody Museum Pap., III, S. 65 u. f. N. F. XDC. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 717 normal festgestellt wurde. Dieser Fall ist wichtig, weil er eine befriedigende Erklärung mancher Widersprüche in Aufzeichnungen über Vererbung beim IVIenschen gibt; sie lassen sich von nun an nicht mehr als Beweise gegen die Geltung der Mend eischen Vererbungsregeln für den Menschen ins Feld führen. Von den kurzfingrigen Personen waren mit Ausnahme eines Mädchens alle hinsichtlich dieses Merkmals heterozygot. Der Ausnahmefall ver- dient besondere Beachtung. Es handelt sich um ein krüppelhaftes Kind, das etwa elf Monate alt wurde und nach Aussage seines Halbbruders, eines sehr intelligenten Mannes, keine Finger und Zehen hatte und dessen ganzes Knochensystem in Un- ordnung war. Das Mädchen ging hervor aus einer Ehe von behafteten Geschwisteikindern; es hatte die Anlage für Kurzfingrigkeit also von beiden elterlichen Seiten her geerbt. Dieser homozygote Zustand ist aber allen Anschein nach gefährlich, der Mangel äußert sich nicht in einer leichten Abweichung vom normalen Körperbau, sondern in schwerer Mißbildung. Beobachtungen an Tieren bestätigen, daß eine solche Annahme wohl be- gründet ist. So fand Wriedt bei früheren Studien über Kurzohrigkeit bei Schafen, daß beim Zu- sammentreffen der Anlage von beiden Elterntieren her in manchen Fällen die Ohren vollständig mangelten. C. B. Bridges stellte an Drosophila melanogaster fest, daß die Anlage zu Star, wenn sie heterozygot auftritt, nur einen geringfügigen Mangel verursacht, aber die Lebensfähigkeit be- einträchtigt, wenn sie homozygot ist. Die Tatsache, daß eine erbliche Mißbildung bei heterozygoten Individuen ohne praktische Folgen bleibt, gewähr- leistet also keineswegs, daß der Defekt auch bei homozygoter Anlage dazu unbedeutend sein wird. Für die praktische Rassenhygiene ist diese Feststellung der amerikanischen Forscher außer- ordentlich wichtig. Die kurzfingerigen Personen, von welchen Mohr und Wriedt Auskunft erhielten, waren in den verschiedensten Berufen tätig und sagten sämtlich aus, daß die Abnormität kein Hindernis bei der Arbeit sei. Immerhin ist die Biegsamkeit der Finger, im Vergleich mit normalen, beeinträchtigt und im manchen Fällen ist eine Subluxation des Fingerendgliedes leicht herbeizuführen. Erwähnens- wert ist, daß das Material der beiden Autoren auch einen Fall identischer Zwillinge mit ganz genau der gleichen Form von Kurzfingerigkeit umfaßt. H. Fehlinger. Physiologie. Als Ausgangspunkt der inneren Sekretion kommen zwei ZelTarten des Hodens in Betracht: die generativen Zellen (Samenzellen) und die interstitiellen Zellen (Zwischen- zellen). Folgende Versuche sprechen für die inner- sekretorische Tätigkeit der Zwischenzellen. Seit längerer Zeit werden die Röntgen- strahlen dazu verwendet, den generativen Anteil der Keimdrüsen zu vernichten — unter Erhaltung der interstitiellen Zellen. Läßt sich also trotz der Ausschaltung der Keimzellen eine innersekreto- rische Wirkung auf die sekundären Geschlechts- merkmale erkennen, so ist die Bedeutung der Zwischenzellen erwiesen. Tandler und Groß') haben derartige Versuche am Rehbock gemacht. Sie bestrahlten die Testikel von Rehböcken und untersuchten diese nach mehreren Monaten mikro- skopisch, wobei sie eine völlige Vernichtung der Epithelien der samenbildenden Kanäle und den normalen Zustand der Zwischensubstanz feststellten. Sie beobachteten ein normales Verhalten der Rehböcke hinsichtlich des Abwerfens des Gehörns. Auch die sonst bei Kastrationen festzustellenden Wirkungen auf die komplementären Drüsen (Hypo- physis, Thymus usw.) und auf die Entwicklung der Knochen (Erhaltung der Epiphysenfugen) waren nicht zu bemerken. Eine andere Methode, die generativen Zellen zu vernichten, die interstitiellen aber zu schonen, ist die Vasektomie. So haben Tandler und Groß bei Rehböcken die beiden Ductus defe- rentes unterbunden und durchschnitten. Das Ab- werfen des Geweihes war normal. Die Sperma- togenese im Hoden der Tiere fehlte, während die Zwischenzellen zugenommen hatten. Eine dritte Versuchsart ist die Transplan- tation. So beobachtete Steinach bei seinen bekannten Transplantationsversuchen die Zerstörung der Hodenkanälchen und Erhaltung des Interstiti- ums. Er transplantierte Säugetierhoden auto- plastisch auf eine fremde Unterlage. Trotz des Fehlens der Samenzellen war die Entwicklung der männlichen Merkmale zu beobachten. Ja, Steinach erzielte sogar bei Transplantationen von Ovarien auf männliche Tiere eine völlige ge- schlechtliche Umwandlung, obwohl nur das Inter- stitium erhalten blieb. Zu diesen experimentellen Beweisen kommt noch ein natürlicher von großer Be- deutung. Dies ist der Kryptorchismus, eine Mißbildung, bei der der Hoden während der em- bryonalen Entwicklung nicht in den Hodensack rückt. Man hat nämlich festgestellt, daß kryp- torche Testikel keine Spermatogenese aufweisen; dagegen tritt das Interstitium außergewöhnlich stark hervor. Trotzdem sind aber die männlichen Sexualmerkmale vollkommen ausgebildet. Auch das spricht also für die innersekretorische Tätig- keit der Zwischensubstanz und deren Wirkung auf die sekundären Geschlechtsmerkmale. Gegen diese Annahme sprechen folgende Tat- sachen. In erster Linie zeigen die Kastrations- versuche von W. Harms '^j an Regenwürmern, daß das Clitellum von den Keimdrüsen (höchst- wahrscheinlich von den Hoden) abhängig ist. Da aber in den Hoden der Regenwürmer nur Keim- ') „Die biologischen Grundlagen der sekundären Ge- schlechtscharaktere'. 1913. Julius Springer, Berlin. -) ,, Experimentelle Untersuchungen über die innere Sekre- tion der Keimdrüsen". 1914. Gustav Fischer, Jena. >1S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XßC Nr. 4$ Zellen (außer den bindegewebigen Hüllzellen) vor- kommen, ist die Abhängigkeit der sekundären Merkmale hier von den Keimzellen erwiesen. Außerdem sprechen hierfür die hrscheinungen der parasitären Kastration, die Sollas bei Regen- würmern beobachtete. Ferner sind von besonders weitreichender Bedeutung Versuche von Harms an Bufo vulgaris. Bei der Erdkröte findet sich nämlich zwischen Hoden und Fetikörper das sog. BiJdersche Organ. Harms hat nun durch seine Versuche an Bufo vulgaris die Bedeutung dieses Organes darzulegen versucht. Tiere, denen er Hoden und Biddersches Organ herausge- nommen hatte, verhielten sich wie Kastraten. Andere, denen nur dasBiddersche Organ fehlte, zeigten normale Brunsimeikmale, doch war ihr Umklammcrungstrieb sehr herabgesetzt. Bei Tieren ohne Hoden (aber mit Bidderschem Or- gan) gingen die Daumenschwielen zurück, der Brunsltneb war aber normal. Und solche Kröten, denen Harms Hoden und Biddersches Organ her- ausgenommen halte, das Biddersche Organ aber wieder einpflanzte, zeigten ähnliche Erscheinungen. Wahrend also die Hoden die Ausbildung der Daumenschwielen begünstigen, hat das Biddersche Organ einen Einfluß auf den Brunsitrieb. Das Biddersche Organ') ist eine Drüse mit innerer Sekretion. Da es aber kein Interstitium autweist, spricht es gegen die Annahme von Tan dl er und Groß u. a. Vielmehr ist das Biddersche Organ ein rudimen- täres Ovarium, seine Zellen sind rückgebildete Keimzellen. Die innere Sekretion kann also auch von Keimzellen (die allerdings ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben) ausgehen. Die Versuche von Tandler und Groß er- gaben die Feststellung des Interstitiums als Aus- gangspunkt der Hormone, die von Harms aber die Feststellung der Keimzellen als Ort der Se- kretion. Wie ist nun aber dieser Gegensatz der Versuchsergebnisse zu erklären? Harms löst auf folgende Weise diesen Wider- spruch. Er meint, daß die interstitiellen Zellen ursprünglich auch Keimzellen gewesen seien, die ihre Funktion allmählich gewechselt hätten. Im Laufe der phylogenetischen Entwicklung haben sich also die Keimdrüsen in generative und inner- sekretorische Anteile differenziert. So ist er- klärt, daß bei den Regenwürmern die Keimdrüsen auch ohne Zwischenzellen Hormone aussenden, bei Bufo vulgaris neben dem Interstitium des Hodens das Biddersche Organ mit seinen rudimentären Keimzellen und bei den Vertebraten im allgemeinen das Interstitium allein dafür verantwortlich zu ') Übrigens hat das Biddersche Organ lebenswichtige Be- deutung. Harms beobachtete nämlich, daß alle Kröten ohne Biddersches Organ (mit und ohne Hoden) in einem gewissen Zeitraum starben. Uie Tiere häuteten sich, nachdem sie aus dem Winterschlaf erwacht waren, nicht mehr und muSlen schliefilich (b)nde Februar) an Atemnot zugrunde gehen. (Harms, Über die innere Sekretion des Hodens und Bidder- schen Organs von Bufo vulgaris Laur., Vortrag 1914.) machen ist. Soviel über den Ort der inneren Sekretion. Nun zum Weg der Hormone. Wirkt das Hoden- sekret direkt auf dem Wege des Blutstroms oder ist es auf die Vermittlung bestimmter Nerven angewiesen.' Wir wollen wieder das Für und Wider sprechen lassen. M. Nußbaum durchschnitt beim Frosch den Nervus brachialis longus inferior, der zur Daumen- schwiele führt, um dadurch die Notwendigkeit der Nerven (wenigstens der zentrifugalen peripheren) zu beweisen. Tatsächlich findet eine Atrophie der Daumenschwielendrüse statt. Um den Einwand auszuschalten, daß es sich um eine Inaktiviiäts- atrophie handeln kann, machte er die Versuche während der Zwischenbrunstzeit, da die Drüsen nur zur Paarungszeit tätig sind. Aber damit ist der Einwand Ptlügers, daß nämlich die Atro- phie durch Empfindungslähmung hervorgerufen sein kann, nicht überwunden; ebenso kann auch die schlechte Ernährung der Daumenschwiele, die durch die üurchschneidung des Nerven verursacht ist, eine große Rohe spielen, da ja Harms beobachtet hat, daß die Schwielen auch nach Hunger zurück- gehen. Ganz und gar ist aber die Nichtigkeit der Annahme Nußbaums u. a. durch die 1 ransplan- tationsversuche von W.Harms erwiesen worden, auf die wir im folgenden näher- eingehen wollen. Harms transplanüerte Daumenschwielen von Rana fusca (Grasfrosch) autoplastisch, homo- plasiisch und heteroplastisch auf den Kopf der Frösche, wo also eine Nervenverbindung ausge- schlossen erscheint. Die autoplastischen Transplantationen hatten folgendes Ergebnis. Schwielen normaler Männchen, auf deren Kopf transplantiert, zeigten normales Verhalten. Entnervte Schwielen nor- maler Männchen (s. Nußbaums Versuche), auf deren Kopf verpflanzt, bekamen normales Aus- sehen. Bei homoplastischer Transplantation von Daumenschwielen normaler Männchen auf eben- solche zeigte sich Degeneration der Schwielen. So bildeten sich auch die Schwielen eines nor- malen Männchens, auf einen Kastraten transplan- tiert, zurück. Kastratenschwielen dagegen, auf normale Männchen verpflanzt, erholten sich an- fangs, um später zu degenerieren. Ahnlich ver- hielten sich die Kastratenschwielen, die auf Weibchen transplantiert waren. Normale Schwielen, auf Weibchen gebracht, degenerierten auch. Und homoplastische Transplantationen von Kastraten- schwielen auf Kastraten ergaben vollständige De- generation der schon durch die Kastration redu- zierten Schwiele. Ferner transplantierte Harms eine normale Daumenschwiele auf ein normales Männchen, dem er aber vorher Blut in die Vena abdominalis injizierte, das von dem Tier stammte, dem er die Daumenschwiele entnommen hatte. Es fand keine Degeneration statt. Harms gab einem normalen Männchen Blut von einem Ka- straten und transplantierte dann eine Kastraten- N. F. XIX. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 719 Schwiele auf das normale Tier, worauf die Schwiele zu schwellen begann. Bei heteroplastischer Transplantation (Rana esculenta (j auf Rana fusca (J und umge- kehrt) zeigte sicn Degeneration der Schwielen. Diese Versuche, besondeis die autoplastischen Transplantationen, zeigen deutlich, daß es sich bei der Einwirkung der Keimdrüsen auf die sekun- dären iVIerkmale nur um eine reine innere Sekre- tion auf dem Wege des Blutstroms handeln kann. Die Annahme, es läge eine Beeinflussung der Nerven vor, ist damit wohl endgültig widerlegt. Die beiden wichtigen Fragen unseres Problems nach dem Ort und dem Weg der inneren Sekre- tion der Keimdrüsen sind dahin zu beantworten, daß ihre Hormone bei den niederen Tieren von den Keimzellen, bei den höheren Wirbeltieren von gewissen zu diesem Zwecke spezialisierten Zellen (im allgemeinen Z wischen - Zellen) ausgehen und durch den Eintritt in das Blut auf die sekundären Geschlechtsmerk- male wirken '). Welche Bedeutung das Problem der inneren Sekretion der Keimdrüsen in pathologischer Hin- sicht hat, ist bekannt. Neuerdings dringt das Interesse für diese Fragen auch in weitere Kreise, nachdem Steinach'-) auf die Röntgenbestrahlung der Keimdrüsen als Verjüngungsmittel hin- gewiesen hat. G. Zeuner. Kristallchemie. Über „Kolloide Vorgänge beim Binden des Gipses" und über „Strukturen im Gips" berichtet J.Traube in Band 25, S. 62 bis 00 der Kolloidzeitschrift (1919II). Beim Ab- binden von Portlandzement und anderer kiesel- säurehaltiger Zemente spielen bekanntlich kolloide Vorgänge eine hervorragende Rolle. Dies lehren Arbeiten von H. Ambronn, W. Michaelis, S. Keisermann, H. Blumenthal, P. Roh- land u. a. In bezug auf das dem Abbinden fol- gende Erhärten gehen die Ansichten jedoch aus- einander. Ein Teil der Forscher ist der Meinung, ') Nicht bei allen Tieren sind die sekundären Geschlechts- merkmale von den Keimdrüsen abhängig. So hat man bei den Gliedertieren gefunden, daß die Sexualcharaktere auch ohne Hoden oder Ovarien ausgebildet werden. Diese Ver- schiedenartigkeit der eiozelnen Tiergruppen ist phylogenetisch zu erklären. Alle Geschlechtscharaktere waren ursprünglich Systemmerkmale; je weiter ihre Festigung in der organischen Entwicklung zurückliegt, desto unabhängiger werden sie von den Keimdrüsen. So sind zyclische Merkmale viel leichter durch Kastration zum Verschwinden zu bringen als dauernde, da die erstcren noch nicht so gefestigt sind. Durch die Ver- suche Meisenheimers (in Nr. 35 der N. W. von 1909) wurde die Unabhängigkeit der sekundären Geschlechtsmerk- male von den primären bei den Schmetterlingen erwie^en. *) „Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der alternden Pubertätsdrüse". 1920. Julius Springer, Berlin. daß das Härterwerden lediglich auf der fort- schreitenden Kontraktion bei der Koagulation der Gelmassen beruht. Andere (z. B. M. Glasenapp) nehmen an, daß sich das Gel fortschreitend in eine Kristallmasse verwandelt, wodurch das Er- härten in letzter Linie bedingt sei. Für andere Zemente, wie gerade für den Gips, wird dagegen zumeist das Erhärten nicht auf kolloide Vorgänge, sondern allein auf die durch das In- und Durcheinanderwachsen der Kriställ- chen hervorgerufene Verfiizung und Verankerung zurückgeführt. Gegenüber dieser Anschauung ver- tritt Cavazzi die Ansicht, daß auch beim Binden des Gipses zuerst sich ein gelatinöses CaSO^- Hydrat bildet, aus dem sich dann allmählich unter Bildung kleiner Gipsnadeln die Kristallisation voll- zieht. Jedoch genügt die Feststellung von C, daß sich CaSO^ unter bestimmten Vorsichtsmaßregeln durch Ausfällen mittels Alkohols als ein Gel er- halten läßt, zweifellos noch nicht, um diese An- sicht zu begründen. Die von J. Traube neuer- dings veröffentlichten Versuche sind aber geeignet, die Schlüsse Cavazziszu unterstützen. T r. unter- sucht in einigen Versuchsreihen den Einfluß, den Zusätze von Salzen, Säuren und anderen Stoffen auf die Erhärtungsgeschwindigkeit des Gipses aus- üben. Es zeigte sich, daß der Einfluß der An- ionen auf diese Erscheinung unbedeutend ist, gegenüber dem großen Einfluß von Kationen. Die einwertigen Metallkationen Tl, K, Na, Ag und Li beschleunigen die Erhärtung des Gipses am stärksten, dann folgen die Schwermetalle Cd, Cu, Co, Sn, Zn und Ni; sehr geringen Einfluß üben aus Ca und besonders Ba, ebenso Hg ; eine starke Verzögerung bewirkt das vierwertige Th-Ion. „Diese Reihenfolge der Kationen erinnert sehr lebhaft an die umgekehrte Reihenfolge derselben Ionen, welche sich in bezug auf die Flockungs- geschwindigkeit etlicher Kolloide geltend macht." Diese umgekehrte Reihenfolge wurde von Traube u. Köhler [Zeitschr. f. phys.-chem. Biol. "2, S. 79 (1915)] bereits in bezug auf die Bildung eines Gclatinegels festgestellt. „Wird daher angenommen, daß die Bindung des Wassers durch das Hemi- hydrat des Gipses zunächst zu einer Gelbildung führt, so wird der Einfluß der Kationen in der genannten Reihenfolge verständlich." Der Verfasser glaubt, die Beteiligung einer Gelbildung beim Wasserbindungsvorgange des Gipses hierdurch wahrscheinlich gemacht zu haben. Seine Annahme wird noch wesentlich verstärkt durch die Feststellung, daß im Gips Strukturen erzielt wurden, die den bekannten Liesegang- schen Diffusionsringen in Gelatine entsprechen. Sie wurden erhalten durch Diffusion eines mit Eisenchlorid getränkten Gipsbreies in Richtung eines mit Ferrozyankalium getränkten Gipsbreies. Spbg. 720 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 45 Bücherbesprechungen. Schaffer, Josef, Vorlesungen über Histo- logie und Histogenese, nebst Bemer- kungen über Histotechnik und das Mikroskop. 528 S. Leipzig 1920, Wilhelm Engelmann. 44,80 M. Im Gegensatz zu anderen Büchern über Histo- logie nimmt in diesem die allgemeine Gewebe- lehre einen viel größeren Raum ein. Ihr ist nicht nur ein längerer Text, sondern sind auch eine größere Anzahl von Abbildungen gewidmet als der speziellen Gewebelehre. Darin ist schon die Eigenart dieses Buches gegeben. Der Verf. hat diese Form bewußt gewählt, um Gelegenheit zu haben, „über den knappen Rahmen der Tatsachen hinaus die Aufmerksamkeit des Schülers auf noch zu lösende oder strittige Fragen zu lenken". Wenn Verf. von der Wirkung des Buches auf den „Schüler" spricht, so muß das aber als zu be- scheiden bezeichnet werden. Jeder Forscher wird sich aus seinem Buch wertvolle Anregungen holen können, wenn man auch im einzelnen an ver- schiedenen Stellen anderer Meinung sein wird. Das darf aber wieder als ein Vorzug bezeichnet werden. Denn die kritische Betrachtungsweise, zu der so der Leser gezwungen wird, ist doch viel lehrreicher als die einfach beschauliche. Das Buch hat eben, wie der Verf. will, nichts Dog- matisches an sich wie die meisten seiner Vor- gänger, sondern beleuchtet gerade eingehend die strittigen Fragen. Das zeigt sich besonders bei den histogenetischen Problemen, die oft ganz in den Vordergrund treten. Das ist eine ungemein lehrreiche Methode, die sich nicht mit dem rein Morphologischen begnügt, sondern erweist, daß man es mit einer biologischen Disziplin zu tun hat. Vergleichend-anatomische Betrachtungen sind natürlich in weitem Maße herangezogen. Deren Auswahl ist, sowohl was den Text als auch was die Abbildungen betrifft, sehr geschickt vorge- nommen, so daß meist sehr klar aas herauskommt, was gesagt werden soll. Das Buch hilft einem Bedürfnis ab ; denn wir haben in deutscher Sprache nicht seinesgleichen. Zusammen mit dem 1915 erschienenen Buche von Friedrich Maurer über die vergleichende Gewebelehre füllt es eine fühlbare Lücke im deutschen Schrifttum aus. Die Arbeitsbedingungen auf dem Gebiete der Histologie sind mit diesen beiden Büchern ganz andere, viel fruchtbarere geworden. — Was nun die einzelnen Kapitel betrifft, so legt Schaff er selbst be- sonderen Wert auf das über die Binde- und Stütz- substanzen, und man muß zugeben, daß es mit besonderer Liebe und Sorgfalt bearbeitet wurde, ohne daß damit die anderen etwa schlechter zu beurteilen wären. Dahingegen kommt nach dem Empfinden des Referenten die spezielle Gewebe- lehre nicht ganz so weg, wie man es gewünscht hätte. Der Bau der Lungen ist doch z. B. nicht ganz so einfach, wie man es nach der Schilderung des Verf. glauben möchte, und die innersekre- torischen Drüsen hätten auch etwas mehr Raum verdient. Hier ließe sich noch manches sagen. Fünfzig Seiten mehr hätten vielleicht schon genügt, um das Buch zu einer Vollkommenheit zu bringen, wie man es nur wünschen könnte. Vielleicht — wir wollen es hoffen — bringt die Neuauflage die Erfüllung dieses Wunsches. Besonders betont sei noch, daß die an den Geweben zu beobachtenden optischen Phänomene in weitem Maße berück- sichtigt sind. Die Optik scheint dem Verf über- haupt sehr am Herzen zu liegen. So schickt er auch dem eigentlichen Gegenstand des Buches voraus eine sehr lesenswerte Einleitung über die Einrichtung und die Theorie des Mikroskopes. — Die Ausstattung des Buches ist ganz ausgezeichnet; die Abbildungen (589, z. T. farbige), die, wie schon erwähnt, nach guten Präparaten sorgfältig ausgewählt sind, sind vorzüglich wiedergegeben. Die Darstellung ist flüssig und anregend. Das Buch empfiehlt sich von selbst, wobei noch dem Verlage gegenüber lobend anerkannt werden muß, daß der Preis, wenn man die heutigen Verhält- nisse in Betracht zieht, ein sehr mäßiger ist. Hübschmann (Leipzig). Brick, H., Drähte und Kabel. 2. Aufl. Aus Natur und Geisteswelt. 112 S. mit 48 Abb. Leipzig und Berlin 1919, Teubner. Das Büchlein beschäftigt sich mit dem, was man leicht geneigt ist, als nebensächlich und un- interessant anzusehen, mit Drähten und Kabeln. Es schildert die Materialien, welche dazu verwendet werden, es gibt an, wie Dränte und Kabel her- gestellt Und schließlich wie sie verwendet werden. Alles wird in fesselnder Form dargestellt, so daß man das Büchlein mit großem Interesse liest. K. Seh. Inlialt: Karl Kuhn, Isotope Elemente. S. 705. Julius Schuster, Die Dokumenten-Sammlung Darmstaedter der Preußischen Slaatsbibliotbek und ihre Bedeutung als historisches Archiv für Naturwissenschaften und Medizin. S. 707. Einzelberichte: R. P. Co wies, Zur Symbiose zwischen Einsiedlerkrebsen und Seeanemonen. S. 710. H. Harms, Rumphius' Herbarium Amboinense. S. 711. E.Kaiser, Bericht über geologische Studien während des Krieges in Südwestalrika. S. 713. F. Herrmann, Über Erdbrände. S. 714. B. Simmersbach, Über die neuere Entwick- lung der Molybdängewinnung und -Verwendung. S. 715. O. L. Mohr und Chr. Wriedt, Erbliche Kurzfingerigkeit beim Menschen. S. 716. Tandler und Groß, Ausgangspunkt der inneren Sekretion. S. 717. J. Traube, Kolloide Vorgänge beim Binden des Gipses und über Strukturen im Gips. S. 7.19. — Bücherbesprechungen; J. Schaffer, Vorlesungen über Histologie und Histogenese, nebst Bemerkungen über Histotechnik und das Mikroskop. S. 720. H. Brick, Drähte und Kabel. S. 720. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. PStz'ichen Bucfadr. Lippert & Co. G. m. b, H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reibe 35. Band. Sonntag, den 14. November 1920. Nummer 46. [Nachdruck verboleu,] Über die Pflanzenfamilie der Kakteen. ') Von Ernst Stahl, f Leichtigkeit und Geschmeidigkeit, die in weit durchgeführter Gliederung beruhende Eigenschaft, jedem Luftzug'e nachzugeben, gehören lür uns, denen allein die heimische Pflanzenwelt von Kind- heit an vertraut ist, zu den scheinbar selbstver- ständlichen, das Gegensätzliche ausschließenden Merkmalen des Pflanzenleibes. Wenn wir auch an den gedrungenen Gestalten von Früchten, Wurzelknüllen, Baumstämmen keinen AnstoiS nehmen, so verlangen wir doch, ohne uns genau Rechenschaft geben zu können warum, von den grünen Pflanzenteilen die uns gewohnte, von dem Begnift" der Pflanze schwer trennbare, feine Zerteilung und große Oberflächenentfaliung. Beim Anblick von Gewächsen, welche sich diesem Schema nicht fügen wollen, fühlen wir uns be- fremdet, und dieses Befremden kann sich bei manchen Pflanzenfreunden bis zur Abneigung steigern. „Wie kann man nur, sagen die einen, den starren, plumpen Kakteen P'reude abgewinnen ? Die garstigen Dinge wollen ja gar nicht wachsen und blechen einem zur Belonnung höchstens ein- mal in die Finger. Eine mir unbegreifliche Lieb- haberei!" — Andeie wieder, gerade durch die Sonderbarkeit angezogen, schließen die drolligen Stacheliräger liebevoll in ihr Herz, können sich nicht satt sehen an den in buntester Mannigfaltig- keit variierten regelmäßigen Gestalten, bereichern ihre Sammlung mit immer neuen Schätzen und räumen ihnen nicht nur die besten P'cnsterplätze ein, sondern bedecken oft genug zum Leidwesen ihrer Angehörigen, alle freien Zimmerplätze mit ihren genügsamen, in bezug auf Pflege so an- spruchslosen Licbhngen. — Da Ästhetik nicht meines Amtes ist, so fühle ich mich nicht verpflichtet in dieser Geschmacks- sache zugunsten der einen oder der anderen Partei zu entscheiden, um so mehr als Liebhaber und Verächter der Kakteen jedenfalls in dem einen Punkte übereinstimmen werden, daß diese Gewächse, gerade infolge ihrer Sonderbarkeit das wissenschattliche Interesse in hohem Maße bean- spruchen. Der denkende Naturbeirachter wird sich vor allem die F"rage stellen, womit es wohl zusammenhängen mag, daß die Kakteen im Bau ihrer Vegetationsorgane so sehr von den übrigen Pflanzen abweichen. Hat man in ihnen, wie Schieiden dies in einem vor etlichen fünfzig Jahren an dieser Stelle gehaltenen Vortrag halb scherzweise aussprach, bloß die Kinder einer humoristischen Laune der Natur zu erblicken oder ist nicht, im Auge der in Darwins Bahnen wandelnden heutigen Naturwissenschaft, die eigen- tümliche Gestaltung der Kakteen zu begreifen als eine Folge der modellierenden Einflüsse der Außen- welt, insbesondere des Klimas auf den ziellos variierenden, den äußeren Existenzbedingungen notgedrungen sich anpassenden Organismus? Während Linn6 von der Familie der Kakteen bloß etwa ein Dutzend Arten kannte, sind deren jetzt über 1000 beschrieben worden, von denen mehrere Hundert in den europäischen Gärten zu finden sind. Inre Heimat ist, mit einigen wenigen, im tropischen Afrika vorkommenden Ausnahmen, Amerika, wo sie von den.wesikanadischen Prärien bis Patagonien allerwärts in dürren Ländern ge- deihen. Auch die in Südeuropa so verbreitete Opuntia ficus indica, die jedermann bekannte in- dische Feige, welche namentlich im südlichen Italien, zusammen mit Agave americana, zu lebenden Zäunen Verwendung findet, ist wie diese letztere amerikanischen Ursprungs und nachweislich erst nach der Entdeckung von Amerika eingeführt worden. Jetzt gehören beide Pflanzen zu den fast unvermeidlichen Requisiten des südeuropäischen Landschaftsbildes, so daß wir auch dem Künstler Preller nicht zu grollen vermögen, wenn er sich erlaubt hat, den beiden Bürgern der mexikanischen Flora etwas vorzeitig einen Platz in seinen stim- mungsvollen Bildern zur Odyssee anzuweisen. — Beim Vergleich der Opuntia mit den Gewächsen der einheimischen Flora gewahrt auch der mit der Lehre von der Pflanzengestaltung nur wenig Vertraute sofort einen bedeutsamen Unterschied. Während bei diesen der Zweig sich aus einen gewöhnlich stielrunden, mehr oder weniger ver- längerten Stengel und aus diesen entspringenden flachen, durch Blattgrün gefärbten, papierdünneii Blättern zusammensetzt, baut sich eine Opuntia aus flachen, fleischigen, zwar blattähnlichen Scheiben auf, die aber trotz ihrer grünen Farbe mit den Blättern anderer Gewächse nicht verwechselt wer- den dürfen. Sie sind zwar blattähnlich und über- nehmen im Haushalt der Pflanzen die sonst den Laubblättern zukommende Rolle bei der Ernährung, müssen aber als umgewandelte, oder um Goethes Ausdrucksweise zu gebrauchen, als metamorpho- sierte Stengel betrachtet werden. In jedem Som- mer sprossen aus den vorjährigen Scheiben, ge- wöhnlich an deren oberem Rande, neue junge ') Der Verfasser hat letztwillig verfügt, daß dieser am 28. November 1900 in den akademischen Kosensälen zu Jena vor einem größeren Audiloiium grhalieue Vortrag nach seinem Tode veröffentlicht werde. Das Manuskript hat keinerlei Ver- änderungen erfahren. 722 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 46 Scheiben hervor, so daß im Laufe der Jahre sich GHed an Glied anreiht, ein Vorgang, der im wesent- hchen an die Verzweigungsweise der Stengel unserer Kräuter und Holzgewächse erinnert, bei echten Blättern aber, die ihr Wachstum frühzeitig einstellen, niemals zur Beobachtung gelangt. Eine genauere Betrachtung eines jungen, eben aus- treibenden, Opuntiagliedes zeigt übrigens aufs deutlichste, daß die Blätter diesen Pflanzen keines- wegs gänzlich fehlen, wohl aber zu kleinen bräun- lichgrünen, bald hinfälligen Zäpfchen verkümmert sind, die in regelmäßiger Anordnung dem flach- gedrückten grünen Stengel entspringen. Nur bei einzelnen Opuntiaarten, von denen eine dort auf- gestellt ist, erreichen die Blätter eine kräftigere Ausbildung. Bei der auf Grund ihres Blütenbaus ebenfalls den Kakteen zuzuweisenden Gattung Peireskia endlich sind die Stengel mit großen, flachen , fleischigen Blattspreiten versehen , die einigermaßen an die Kamellienblätter erinnern. Welche nahe Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den verschiedenartigsten Kakleen be- stehen , erhellt daraus , daß habituell sehr von- einander abweichende Arten durch Pfropfung, welche doch stets nur mit nahe verwandten Pflanzen gelingt, miteinander verbunden werden können. Es stehen dort verschiedene Beispiele derartiger Verbindungen, die allerdings nicht immer auf die Dauer haltbar sind. Stachelstrotzende Kugel- kakteen lassen sich auf flache Opuntienglieder, ja sogar auf die blattreiche Peireskia veredeln. Eine der niedlichsten, durch den reichen winterlichen Flor rosafarbener Blumen hervorragende Zimmer- pflanze aus der Gattung Epiphyllum wird in der Regel auf Peireskia als Unterlage gezogen und es findet hierin das Staunen des Blumen- freundes, der aus den Stämmchen seines Pfleglings ganz unerwartet beblätterte Sprosse hervorwachsen sieht, seine höchst einfache Erklärung: der so ganz abweichend geartete Trieb entstammt einer schlafenden Knospe des als Unterlage dienenden Peireskiasiämmchens. Die vorher etwas eingehender besprochene Gattung Opuntiahat uns erlaubt, die Kluft zwischen den scheinbar blattlosen Kakteen und den anderen normal beblätterten Gewächsen zu überbrücken. Viel schwerer würde uns dies gefallen sein, wenn wir von den Säulen- oder Kugelkakteen ausge- gangen wären. Blätter finden sich hier oft nur in der allerersten Jugend, im Keimlingsstadium. Wenn sie auch später gänzlich fehlen, so liefert doch dieses Jugendstadium dem Morphologen den Beweis dafür, daß diese extrem abweichenden Formen von in gewöhnlicher Weise beblätterten Gewächsen, etwa aus dem Verwandtschaftskreis der ähnlichen Blüten- und P'ruchtbau zeigenden Stachelbeergewächse, abzuleiten sind. Es kann nicht meine Aufgabe sein, die große Mannigfaltigkeit der Gestalten, die in der Sippe der Kakteen verwirklicht sind, auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln. Beim Besuch auch nur bescheidenerer Sammlungen haben Sie über den Reichtum an Variationen einiger weniger Grundthemen gestaunt. Der bald heller, bald dunkler grüne, saftreiche Stamm wächst bald zu schlanken, einfachen oder verzweigten Säulen aus, bald entstehen mächtige kuppelartige Klötze oder, infolge reicher grundständiger Verzweigung, flach ausgebreitete, aus zahlreichen Einzelstämmen zu- sammengesetzte Horste. Nur in seltenen Fällen ist die gesamte Ober- fläche gleichmäßig gerundet; meist sind dem kugeligen oder walzenförmigen Stamme längsver- laufende Kanten oder in schrägen, sich kreuzenden Zeilen angeordnete Höcker aufgesetzt, die beide von büschelweise verteilten Anhängseln bedeckt sind, deren regelmäßige Anordnung den sonst so plumpen Gestalten einen eigenartigen Reiz ver- leiht. Bald sind diese Anhängsel zu langen starren geraden oder am Ende hakenartig gekrümmten Nadeln mit stechender Spitze ausgebildet, bald stellen sie einen wolligen Flaum oder lange weiß- graue Haare dar, wie bei den als Greisenhaupt bekannten Cereus senilis, bei welchem die grüne Farbe des Stammes unter der mächtigen Haar- bedeckung fast vollständig verschwindet. — Das Gesagte mag, mit Hinweis auf die ausge- stellten Exemplare und die photographischen Auf- nahmen , welche verschiedene Kakteen in ihrer heimatlichen Umgebung zeigen, ausreichend sein zur vorläufigen Orientierung über die zu be- handelnden Pflanzengestalten, deren Sonderbarkeit wir nicht bloß anstaunen, sondern auch zu ver- stehen suchen wollen. Während eine ältere wissenschaftliche Schule sich mit der möglichst genauen Beschreibung und Unterscheidung der zahllosen Erzeugnisse von Tier- und Pflanzenreich begnügte, sucht man heute tiefer in das Verständnis der organischen Gestalten einzudringen. Von den verschiedenen Fragestellungen, die sich dem forschenden Geiste aufdrängen, ist der denkbarsten eine die Er- gründung der Beziehungen zwischen der Gestalt und den Verrichtungen des Pflanzenleibes. Äußere wie innere Eigen- tümlichkeiten des Baues eines Organismus haben wir bis zu einem gewissen Grade verstehen ge- lernt, wenn es gelingt, Rechenschaft von ihrer Zweckmäßigkeit zu geben. Es ist der neueren Forschung gelungen, die absonderlichsten Blüten- gestaltungen, wie sie etwa bei den Orchideen vor- kommen, als Mittel zum Zweck der Bestäubung durch Insekten zu begreifen. Auch der Bau der Vegetationsorgane, die so mannigfaltigen Formen der Laubblätter und Stengel, sind allmählich dem Verständnis näher gebracht worden. Es darf jedoch der Forscher, wenn er die Er- kenntnis auf diesem Gebiete fördern will, nicht zum Stubenphysiologen verkümmern, sondern er muß die Gegenstände seiner Studien in der freien Natur aufsuchen, sie in ihrer heimatlichen Um- gebung samt den auf sie einwirkenden Lebens- bedingungen kennen lernen; N. F. XDC. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 723 „Wer die Pflanie will verstehen, Muß in ihre Lande gehen I" Und so fordere ich Sie denn auf mit mir, in Gedanken, einen Abstecher nach dem Lande zu machen, in welchem die Kakteen in reichster Formenfülle gedeihen, nach dem Lande, welches die Cochenille liefernde Opuntia nopal in ihre Wappen aufgenommen hat. In dem Wappenschild der mexikanischen Re- publik sehen wir einen Adler mit ausgebreiteten Flügeln, der mit seinem Schnabel eine sich win- dende Schlange gefaßt hat, auf einer reich be- wehrten Opuntia ruhen. Diese Pflanzengattung, gewissermaßen das Wahrzeichen des Landes, ist jedoch, zusammen mit anderen Kakteen, nicht über alle seine Teile gleichmäßig verbreitet. Begründet ist dies in der fast beispiellosen Mannigfaltigkeit der klimatischen Zonen, die oft beinahe unvermittelt, in denkbar schroffstem Gegensatze, aneinandergrenzen. — Wir befinden uns in dem Eisenbahnzuge, der täglich die in der heißen Niederung liegende Hafenstadt Veracruz mit der 2300 m über dem Meeresspiegel — also in Pilatushöhe — gelegenen Hauptstadt des Landes verbindet. Die heiße Ebene ist längst durchflogen, und es windet sich der ächzende Zug mühsam an den steilen Berg- lehnen der Sierra madre hinan, welche das trockene Hochland des mexikanischen Plateaus von der feuchten westlichen, nach dem heißen Antillen- tneer schauenden Abdachung trennt. Schwere Regenwolken verhüllen in den Nachmittagsstunden die ferneren Züge der großartigen Gebirgsland- schaft, und in dem Maße als wir höher steigen, umhüllt uns ein dichter, jede weitere Umsicht verhindernder Nebel. Ringsumher der üppigste Pflanzenwuchs. Hochstämmige Eichen, in zahl- reichen verschiedenen Arten, und andere Baum- geschlechter, die unseren einheimischen Holz- gewächsen nahestehen, beschatten ein Gewirr von Sträuchern und Stauden, alle durch kräitige Entfallung des Laubwerks gekennzeichnet. Wilde einfache rot oder gelbblühende Georginen, die Stammpflanzen unserer fai benprächtigen Garten- varietäien, blaue Trichterwinden leuchten aus den saftiggrünen Laubmassen hervor. Überfährt der Zug auf kühn hingeworfener Brücke einen der in liefeingerissenen Schluchten dahintosenden Gebirgsbäche, so wiegen sich lief unter d^em Beschauer, die von dem Gischt der Wasserfälle besprühten, fein zerteilten Wedel- kronen hochragender Baumfarne. Die Fülle der Belaubung ist hier, wie in geringerem Maße auch in unseren feuchten Gebirgsschluchten, das un- trügliche Wahrzeichen eines an Niederschlägen reichen Klimas. In den Vormittagsstunden herrscht, wie in anderen tropischen Gebirgen, auch in der Regenzeit, hellster Sonnenschein, während die später sich einstellenden Regengüsse der Pflanzen- welt das befruchtende Naß in ergiebigster Weise spenden. Unser Zug hat allmählich die letzte Steigung überwunden und rascher geht es durch eine Ein- senkung des Randgebirges in ein ebenes Hochtal hinein. Nach kurzer Fahrt schon lichten sich die Nebel, das Tagesgestirn entschleiert sich und bald leuchtet es vom wolkenlosen Firmament auf die wie durch einen Zauberschlag veränderte Land- schaft. Langgezogene, in duftiger Ferne sich ver- lierende Bergketten umgrenzen die mit Mais be- stellte Talsohle. Wo nicht für künstliche Be- wässerung gesorgt ist, bloß spärlicher Pflanzen- wuchs. Verschwunden sind die Eichenwälder mit dem strotzenden Unterholz; nur an höheren, kühlen Berglehnen stehen lichte Kiefernhaine; den niederen Hügeln und Lavafeldern fehlen Bäume vollständig. Dorniges Gestrüpp, sieif- blättrige Yuccas, Agaven, Opuntien und andere Kakteen bedecken mit weniger auffälligen, meist armlaubigen, kleinblättrigen Gewächsen meilen- weite Strecken, und dieser seltsame Charakter der Pflanzenwelt prägt sich um so mehr aus, je regenärmer und trockener die durchfahrenen Strecken sind. Wir verlassen den Zug an einer der weit von- einander entfernten Stationen des dünn bevölkerten Landes und besteigen einen nach Süden geneigten Bergabhang. Unsere Aufmerksamkeit wird zu- nächst durch mächtige Yuccabäume in Anspruch genommen. Die in der Jugend auf gerade auf- strebendem, fleischigem Stamm einen Schopf dunkelgrüner, derber, säbelförmiger Blätter tragen- den Pflanzen verzweigen sich in späterem Alter kandelaberartig und bilden mit ihrer plumpen, derben Laubkrone die einzigen, willkommenen Schattenspender in der sonnendurchgluhien Ein- öde. Neben diesen Lilienbäumen mit ihren großen, durch Gestalt und Färbung an das Maiglöckchen erinnernden Blüten stehen bald einzeln, bald zu kleinen Gruppen vereinigt, die Visnagas der Mexi- kaner, kurze, dicke, mit vielen Längskanten ver- sehene, stachelige Säulen, wahre Ungetüme von Gewächsen, welche in einzelnen Landstrichen einen derartigen Umfang erreichen solien, daß Roß und Reiter sich hinter ihnen zu verbergen vermögen. Nicht minder eigentümlich als diese mehr in die Breite gehenden Walzen des Echinocactus ingens nehmen sich die oft bläulich bereiften, schlanken, kannelierten Stämme der Cereusarten aus, die bald einfach bleibend, bald sich gleich Armleuchtern regelmäßig verzweigend, ihre starren Säulen meh- rere Meter hoch gegen den Himmel emporsirecken. Weniger fremdartig berühren die in großem Formenreichtum auftretenden flachsprussigen Opuntien, die nicht bloß in der Wildnis ange- troffen werden, sondern noch mehr als in Süd- europa, samt den hohen Säulenkaktusen zur Ein- friedigung der Grundstücke dienen. Neben diesen auffälligeren großen Arten sind zahlreiche kleinere aus verschiedenen Geschlechtern über den sonst nur von dürftigstem Pflanzenwuchs bedeckten Bo- den zerstreut. Wir durchstreifen die grellbeleuch- teten, sonendurchglühten steinigen Abhänge, über denen die erhitzte Luft zittert, lesen aus den Fels- 724 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 46 ritzen zierliche weißgraue Mammillarien und ver- suchen den quälenden Durst zu löschen mit den saftigen, wohlschmeckenden, an Erdbeeren und Stachelbeeren erinnernden Früchten, die wir mit Vorsicht den dornigen Gestalten ablesen. So weit das Auge in die ernste Landschaft hinauszureichen vermag, sind die Berglehnen, an nicht bewässerten Stellen auch die Talsohlen, mit den stacheligen Gewächsen übersät, die hier so gemein sind, wie bei uns Löwenzahn und Maß- liebchen. - — Wenn nun auch der Forscher sich nicht satt- sehen kann an den rätselhaften, immer wieder in neuen Gestalten ihm begegnenden Wesen, die ich schon als Knabe angestaunt hatte, so wandelt er nicht, wie in den heimatlichen Gassen, sorglos, ungestraft dahin. Jeden Schritt und Tritt muß er sorgfältig bewachen, um Arme und Beine nicht in unliebsame Berührung zu bringen mit den be- wehrten Gewächsen, deren spitze Stacheln mit- unter so fest sind, daß sie selbst das Schuhleder zu durchstechen vermögen. Schon die bloße Be- rührung mit den Opuntien kann, wie jeder Italien- fahrer beim Genuß der indischen Feige zum eigenen Schaden gelernt hat, unangenehme Folgen haben. Die unscheinbaren, gelbbraunen Borsten, welche die Flachsprosse und die daran sitzenden Früchte büschelweise bedecken , brechen sehr leicht ab und bohren sich in die Haut ein , wo sie, durch zahlreiche Widerhäkchen festgehalten, ein unerträgliches Jucken und Brennen verur- sachen. — So sehr denn auch den in der Kakteen- landschaft wandernden Botaniker das wissenschaft- liche Interesse für die dornigen Gesellen einnehmen mag, so dankt er doch im Stillen seinem Schöpfer, daß sie in der lieben fernen Heimat nur in Blumen- töpfen wachsen! — Die so mannigfaltig gestalteten Stacheln und Borsten sind nicht etwa überflüssige Zierrate des Kakteenleibes, sondern notwendige Wehrorgane, ohne deren Gegenwart die Gewächse sich nicht zu erhalten vermöchten. Verschiedene Umstände müssen in Erwägung gezogen werden, wenn man verstehen will, warum gerade bei ihnen die Ver- teidigungsorgane so besonders ergiebig entwickelt sind. — Trägwüchsige Pflanzen, die verloren- gegangene Teile nur langsam zu ersetzen ver- mögen, müssen, falls sie nicht untergehen sollen, gegen die Angriffe pflanzenfressender Tiere besser geschützt sein als solche mit raschem Wachstum und stark entwickelter Regenerationsfähigkeit. Unsere besten Futterpflanzen, die Gräser, welche Verlorengegangenes mit erstaunlicher Schnellig- keit ersetzen, gehören zu den am wenigsten ge- schützten Gewächsen und bilden gewissermaßen das extreme Gegenstück zu den so langsam wachsenden, aber von Wehrorganen strotzenden Kakteen. Der mechanische Schutz, den die Stacheln dem Stamme gewähren, ist um so not- wendiger, als das saftige Gewebe meist keinen unangenehmen Beigeschmack hat und also den in den öden, pflanzen- und wasserarmen Ländereien hei umstreichenden Tieren, ohne den kräftigen Schutz, willkommene Beute — Nahrung mit Trunk vereint — liefern würde. Oft sieht man Schafe und Rinder sich an Kakteenstämmen und sukku- lenten Agaveblättern gütlich tun, aber erst nach- dem der sie bewachende Hirt, durch Entfernen der Stacheln vermittels eines Messers ihnen den Genuß ermöglicht hat. Es bilden daher die saft- reichen Gewächse dem Tierzüchter einen will- kommenen Nahrungsvorrat für die Zeiten der Not. Einer Kakteenvegetation, wie wir sie in der Kürze zu schildern gesucht haben, begegnet man in Mexiko nur in den regenarmen Landstrichen. Es fehlt hier zwar keineswegs an zum Teil er- giebigen Niederschlägen, doch dauern diese nur kurze Zeit und treten nur während der wenige Wochen langen Regenzeit ein. Den ganzen übrigen Teil des Jahres herrscht große anhaltende Dürre und unter dem Einfluß der vom wolkenlosen Himmel strahlenden Sonne trocknet der Boden entweder zu Staub oder wird, bei anderer chemi- scher Zusammensetzung, hart wie Gestein. Alle zarteren Kräuter, auch die härteren Gräser, die während der kurz bemessenen Regenzeit in rascher Aufeinanderfolge grünten, blühten und fruchteten, sind alsdann verdorrt, ja zum Teil ganz von der Erdoberfläche verschwunden. Übrig bleiben von grünen Pflanzenteilen fast nur die saftstrotzenden Kakteen, welche während der Regenzeit das kostbare Wasser in hinreichender Menge in ihren gedunsenen Leibern anzusammeln vermochten. Während der monatelangen Ruhe- zeit verlangen sie nicht nur kein Wasser, sondern sie sind gegen unzeitgemäße oder zu reichlich be- messene Wasserzufuhr sehr empfindlich. Gar leicht faulen die Wurzeln infolge der Angriffe von Pilzen, welche von hier aus die saftigen Stengel durch- wuchern und ihnen oft genug durch Verschim- melung oder Fäulnis den Untergang bereiten. Es weiß denn auch der Kakteenzüchter, daß er seine sonst so anspruchslosen Pfleglinge während des Winters sorgfältig vor Nässe zu bewahren hat. Wenn dieselben in der trockenen Zimmerluft auch unscheinbar werden und allmählich stark ein- schrumpfen, so gelingt dafür die Überwinterung um so sicherer. — Die Betrachtung der Kakteen in ihrer heimat- lichen Umgebung läßt uns, wie auch ihr Ver- halten in der Kultur, schon erkennen, daß ihr ge- drungener Körper in hohem Grade geeignet ist, lang anhaltender Dürre zu widerstehen. Um je- doch etwas tiefer in das Verständnis der von anderen Gewächsen so sehr abweichenden Ge- stalten einzudringen, müssen wir uns einige Grund- lehren der Pflanzenphysiologie vergegenwärtigen. Zwischen Pflanzenleib und Tierleib besteht in betreff der Oberflächenentfaltung ein scharf aus- geprägter Gegensatz, der aufs innigste mit der in den beiden Organismenreichen verschiedenen Er- nährungsweise zusammenhängt. Das Tier vermag nicht, wie die grüne Pflanze, aus den in Luft und Boden verteilten anorganischen N. F. XDC. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 725 (mineralischen) Stoffen seine Nahrung zu bereiten ; sondern es bezieht dieselbe in bereits hoch kom- plizierter Zusammensetzung direkt oder indirekt von der Pflanzenwelt : Sein Körperbau muß es befähigen, der aus Pflanzen oder Tierleibern zu beziehenden Nahrung nachzugehen. Dies der Sinn der kompendiösen, gedrungenen, Gestalt des be- weglichen Tieres, welches oft allerlei List anzu- wenden hat, um sich seiner Beute zu versichern. Wie passiv demgegenüber das stille Dulderwesen der im Boden festgewurzelten Pflanze ! Den inneren Wachstumsgesetzen folgend, baut der ausder Samen- hülle heraustretende Keimling seinen fein ge- gliederten Leib auf. Während der Stengel das aus dünnen Lamellen bestehende Blattwerk dem Lichte ausbreitet, dringt die Wurzel immer tiefer in den Boden ein und durchsetzt das Erdreich in weitem Umfange mit ihren zahlreichen feinen Ver- ästelungen. Oberhalb der Erde, wie in ihrem Schöße, eine ausgedehnte Oberflächenentfaltung ! Ein direktes Aufsuchen der Nahrung, wie es den Tieren eigen ist, wäre bei den festgewurzelten Pflanzen undenkbar. Sie können aber auch diese Fähigkeit entbehren, da durch Wachstumsvorgänge, die durch äußere richtende Kräfte, wie Licht, Schwerkraft beeinflußt werden, ihre sämtlichen Glieder: Stengel, Blätter und Wurzeln in die passende Stellung gelangen und daher in der vor- teilhaften Lage sind, die Dinge an sich herankom- men lassen zu können. Rein physikalische Kräfte, Dififusionsvorgänge, sind es, welche die einfachen mineralischen Nährstoffe den mit ihrer Verarbeitung vertrauten Organen zuführen. Die in der Luft bloß in Spuren vorhandene Kohlensäure tritt durch Diffusion in das Innere der Blätter, wo sie in dem grünen Gewebe, unter dem Einfluß des Sonnen- lichtes, zum Aufbau von Zucker und Stärke Ver- wendung findet. Für diesen im Haushalt der Natur so wichtigen Prozeß der Kohlenstoffassimilation, dessen Auf- hören den Hungertod aller Lebewesen nach kürzerer oder längerer Frist zur Folge haben würde, da ja alle Tiere sich mittelbar oder unmittelbar von den Produkten der Tätigkeit der grünen Gewächse ernähren, ist aber die flächenförmige Blattspreite aufs beste eingerichtet. — Je mehr das grüne Ge- webe sich zu dünnen Lamellen ausbreitet, um so leichter wird die Kohlensäure des umgebenden Mediums Aufnahme finden und um so k äftiger das für ihre Verarbeitung notwendige Licht ein- wirken können. Andererseits sind aber der Ai;sbreitung Grenzen gesteckt und zwar besonders durch die Gefahr des Vertrocknens des zarten, blattgrünbergenden Gewebes, welches denn auch nur bei unterge- tauchten Wasserpflanzen frei nach außen grenzt, bei den von mehr oder weniger trockener Luft umgebenen Landpflanzen aber sich mit einer schützenden Oberhaut umgibt, welche die Ver- dunstung des Wassers mildert und reguliert. Es sind nämlich die Außenwände der Oberhautzellen mit einer fettariigen Masse durchtränkt, welche das Entweichen des Wasserdampfes in hohem Grade erschwert, dafür aber auch den Gasaustausch und mithin die Kohlensäureaufnahme in bemerk' lichem Maße beeinträchtigt. Diesem mit dem Leben an der Luft unzertrennbar verbundenen Übelstande ist abgeholfen durch die in der Ober- haut angebrachten, zu Millionen vorhandenen winzigen Poren, den Spaltöffnungen, welche den Gasausiausch, wie auch die Wasserdampfabgabe, in feinster Weise regeln, indem sie je nach Be- darf geöffnet oder geschlossen werden können. Bei Sonnenschein stehen die Poren, vorausgesetzt, daß das Blatt hinreichend mit Wasser versorgt ist, weit offen; tritt dagegen Wassermangel ein, so verengern sie sich bis zum völligen Verschluß. Das Blatt ist dann zwar vom Vertrocknen be- wahrt, erleidet aber zugleich eine Einbuße in der Ernährung, da mit dem herabgesetzten, gefähr- lichen Wasserverlust zugleich auch der nutzbringende Gasaustausch eine wesentliche Beeinträchtigung erfährt. Es gibt Pflanzen , die, namentlich im Winter, wochenlang ihre Poren hermetisch ver- schlossen halten, wobei Ernährung und Wachstum, bis zum Wiedereintritt günstigerer Bedingungen, so gut wie stille stehen. Der Gummibaum, die Aspidistra, deren derbe dunkelgrüne Blätter an diejenigen des Maiglöckchens erinnern, sind die bekanntesten dieser anspruchlosen Gewächse, welche auch bei nachlässigster Behandlung und spärlichster Wasserzufuhr, an beschatteten Orten wenigstens, ihr zähes Leben fristen und gerade wegen ihrer großen Genügsamkeit den verbreitetsten und dauerhaftesten Schmuck unserer Blumen- tische bilden. Soll aber eine Pflanze gedeihen, so darf sie nicht nur, sondern sie muß Wasserdampf in größeren Mengen an die Atmosphäre abgeben, denn mit Luft allein kommt auch sie nicht aus. Es muß sie ein durch die Wurzeln aufgenommener leb- hafter Wasserstrom durchziehen , welcher den Blättern die dem Boden entstammenden, in Lösung gehaltenen . Nährsalze zuführt. Während letztere vom Blatte zurückgehalten und verarbeitet werden, geht das Wasser, in welchem sie gelöst waren, durch Verdunstung, Transpiration, verloren. Hier- durch wird Platz geschaffen für neue, mit Nähr- salzen beladene Wassermengen, die in den Leitungs- röhren nachrücken, welche von den Wurzeln bis in die Blattspreiten reichen, wo sie sich, gleich dem Netz einer kunstvollen Wasserleitung, in dem feinen Geäder verteilen und den grünen Zellen das kostbare Naß zuführen. Je ergiebiger die Wasserdurchströmung einer Pflanze, um so mehr Nährsalze vermag sie dem Substrate zu entziehen und um so weiter kann sie die den Gasaustausch dienenden Poren öffnen, beides glückliche Um- stände, die kräftige Ernährung und rasches Wachs- tum zur F"oIge haben. In trockenen Erdstrichen, wo das Wasser den Pflanzen kärglich bemessen ist, können nur träg- wüchsige Arten ausharren, welche, ganz abgesehen von dem Porenverschluß, der ja nur vorübergehend 726 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 46 zur Anwendung kommen darf, durch verschieden- artige Einrichtungen befähigt sind, ihren Wasser- bedarf in hohem Maße einzuschränken. — Eines der ergiebigsten Mittel hierzu besteht in der be- sonders bei den Bewohnern von Wiisten und Halbwüsten verbreiteten, oft weitgehenden Ver- minderung der Oberfläche der blattgrünführenden Teile des Pflanzenleibes. — Es leuchtet ohne weiteres ein, daß ein dünnes Blatt im Verhältnis zu seinem Gewicht durch Verdunstung mehr Wasser verliert als ein anderes, im übrigen gleich gebautes, von gleicher Ober- fläche aber größerer Dicke. Es ist ebenfalls leicht einzusehen, daß die Kugel, bei welcher die Ober- fläche, im Verhältnis zum Inhalt die denkbar kleinste ist, diejenige Gestalt darstellt, welche den größten Wasservorrat mit der geringsten Ver- dunstungsfläche vereint. Zur Veranschaulichung des Gesagten denke man sich zwei gleich große und gleich durchfeuchtete Tonmassen, von wel- chen die eine rasch trocken werden, die andere aber möglichst lange feucht bleiben soll. Um dies zu erreichen, formen wir die erstere ver- mittelst einer Walze zu einer blattdünnen Scheibe, der letzteren aber geben wir Kugelgestalt. — Dieses letztere Verfahren hat die Natur bei der Hervorbringung vieler Wüstengewächse, insbe- sondere der Kakteen zur Anwendung gebracht, indem sie dieselben zu Kugeln, Walzen oder anderen kompakten Körpern mit geringer Ober- flächenentwicklung formte, deren Gestalt für die Aufspeicherung und die zähe Zurückhaltung großer Flüssigkeissmengen besonders geeignet ist. Formulieren wir das Gesagte etwas strenger wissenschaftlich , so können wir sagen , daß im regenarmen, sonnigen Klima solche Pflanzen- geschlechter günstige Aussicht hatten die lang anhaltende Dürre schadlos zu ertragen, welche imstande waren, ihre Verdunstungsfläche in weit- gehendem Maße zu vei kleinern. Es mußte aller- dings ein mit diesem Vorteil unvermeidlicher Ubelstand mit in Kauf genommen werden, wir meinen die äußerst langsame Entwicklung, welche es andererseits wieder mit sich bringt, daß derartige trägwüchsige Gestalten nicht nur das Wüsten- oder Steppenklima ertragen, sondern es geradezu verlangen, da sie in regenreicheren Gegenden mit üppiger geschlossener Vegetations- decke von höheren, blattreichen, viel Wasser ver- brauchenden Pflanzen rasch überwachsen und unterdrückt werden. Deshalb sucht man auch vergebens nach Kugel- und Säulenkakteen auf dem beschatteten Grunde der feuchtigkeitstriefen- den Wälder der mexikanischen Randgebirge. Zwar wird auch hier diese Pflanzenfamilie nicht völlig vermißt. Vertreten ist sie aber nur durch grazile Formen, die in langen Quasten von den hoch über den modrigen Waldesgrund erhobenen, nach der Sonne sich emporreckenden Ästen der Eichen und anderer Bäume herabhängen. Kugel- und Säulenkaktuse stellen also eine Anpassung des Pflanzenleibes an das trockene Wüstenklima dar. Die Blätter, denen bei anderen raschwüchsigen Gewächsen die Bildung organi- scher Verbindungen obliegt, sind bei ihnen meist äußerst kümmerlich und hinfällig, oder werden gänzlich vermißt; die Funktion der Kohlenstoff- assimilation ist hier den äußeren lebhaft grünen Teilen der dicken Stämme übertragen, deren farbloses Innere große Mengen von Saft aufzu- speichern vermag. In sparsamster Weise wird mit dem in der rasch vorübergehenden Regenzeit aufgenommenen Wasser hausgehalten. Zu dem bereits besprochenen Vorzug der geringen Ober- flächenentwicklung der gedrungenen Körper treten noch andere hinzu, die alle auf eine denkbar große Wasserersparnis hinzielen. Die Oberhaut, welche dem grünen Gewebe aufliegt, besteht aus Zellen, deren Außenwände stark verdickt und für Wasser so gut wie undurchlässig sind ; die Spaltöffnungen, durch welche das im Innern der Pflanze durch zähen Schleim festgehaltene Wasser, allein in Dampfform nach außen entweichen kann, sind in relativ geringer Anzahl vorhanden und dazu noch im Grunde von röhrenförmigen Vertiefungen der Stammoberfläche geborgen. Alle diese Eigen- tümlichkeiten des Baues, die bei den verschiedenen Pflanzen dieser Familie bald mehr, bald weniger ausgeprägt sind, ermöglichen ihnen das Bestehen unter Bedingungen, die stark verdunstenden rasch- wüchsigen Pflanzen den Untergang bereiten wür- den. — Die große Anspruchslosigkeit in bezug auf den Wasserbedarf hat aber bei den Kakteen eine ebenso große Bescheidenheit in den Leistun- gen zur Folge. Während in feuchtwarmen Tropenländern, z. B. im westlichen Java, in dem großartigen botanischen Garten von Buitenzorg, wo es niemals an Sonnenschein und Regen gebricht, Baumkeim- linge (Alb. moluccana) schon im ersten Jahie eine Höhe von 5 bis 6 m erreichen, verlängert sich innerhalb desselben Zeitraums eine alltäglich reich besonnte, aber spärlich mit Wasser versorgte Cereussäule bloß um einige wenige Zentimeter! Selbst die Versetzung in das immer feuchte Tropen- klima vermag die trägwüchsigen Pflanzen kaum zu üppigem Wachstum anzuspornen. Die Wüsten- pflanze bleibt auch in dem üppigen Tropenklima Wüstenpflanze; großflächige Blätter vermag sie nicht zu entwickeln, und sie kann infolgedessen auch nicht die für andere Gewächse so verteilten Ernährungsbedingungen ausnützen, daran hindert sie ihre ganze, dem trockenen Wüstenklima ange- paßte Organisation. Die Beschränkung des Blattgrüns auf die äußeren Schichten eines saftreichen Stammes mit gleichzeitiger Verkümmerung oder Fehlen der Laubblätter, wird nicht bloß bei Kakteen, sondern bei verschiedenen anderen Pflanzenfamilien ge- funden, am häufigsten bei den Wolfsmilchgewächsen der Gattung Euphorbia. Während bei unseren einheimischen Wolfs- milcharten der Sproß die gewöhnliche Differen- N. F. XK. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 727 zierung in einen stielrunden Stengel und daran- sitzende flache, wohl ausgebildete Laubbläiter zeigt, erinnern viele, namentlich südafrikanische Arten derselben Gattung, von denen einige dort aufgestellt sind, sehr an gewisse Kakteen. Kugel- und Säulenform sind wie bei diesen vertreten; auch fehlt es nicht an den verschiedenen Ab- stufungen in der Blattbildung. Bei dem merk- würdigen Medusenhaupt, das aus einem bis kopf- großen, kugeligen Hauptstamm mit zahlreichen, gleich Schlangen aus ihm hervorsprossenden, langen, gebogenen Ästen besteht, sind die kleinen, fleischigen Blättchen an den Enden der Seiten- triebe noch leicht zu erkennen, während bei an- deren Arten vergeblich danach gesucht wird. Diese kaktusähnlichen Euphorbien bewohnen in Afrika, Arabien und Ostindien die ödesten, trocken- sten Landstriche, gedeihen also unter ganz ähn- lichen klimatischen Bedingungen wie ihre ameri- kanischen Ebenbilder. Die Ähnlichkeit mit diesen letzteren beschränkt sich aber auf die Gestaltung der Vegetationsorgane. Durch die innere, feinere Gliederung der Stämme, besonders aber durch den Bau von Blüten und Früchten verraten sie ihre Zugehörigkeit zu den Euphorbien. Jeder Wunde, die wir den Stengeln anbringen, entquillt weißer, giftiger Wolfsmilchsaft und zur Blütezeit entsprießen den Stämmen nicht farbenprächtige Blumen, wie wir sie von den Kakteen kennen, sondern unscheinbare grünlichgelbe Euphorbien- blüien. Die wesentlichen Grundzüge der Orga- nisation der Wolfsmilchpflanze haben also diese Gewächse zähe beibehalten, die weniger konser- vativen Vegetationsorgane sind aber, unter dem züchtenden Einfluß eines trockenen, regenarmen Klimas, den ähnlichen Bedingungen angepaßten Kakteen zum Verwechseln ähnlich geworden, ein prägnantes Beispiel der Abhängigkeit der Ausge- staltung des Pflanzenleibes von der auf ihn ein- wirkenden Außenwelt. Wenn bisher von kugeligen oder walzenförmi- gen Kakteen oder Wolfsmilchstämmen die Rede gewesen ist, so war diese Ausdrucksweise, wie die Betrachtung der aufgestellten Exemplare zeigt, nur annähernd richtig. Am meisten nähern sich den genannten geo- metrischen Figuren die schmächtigeren Sorten, während bei massigeren Gestalten der geometri- schen Grundform die schon erwähnten, mehr oder weniger vorspringenden Kanten oder Höcker aufsitzen, deren Vorhandensein dem in seiner Be- deutung als Transpirationsschutz erkannten Prinzip der Oberflächenverminderung geradezu wider- spricht. Aus diesem Widerspruch ist zu ent- nehmen, daß wir bisher etwas zu einseitig vor- gegangen sind, indem wir bloß die Frage nach der Wasserökonomie ins Auge gefaßt haben. So wichtig dieser Gesichtspunkt auch für das Ver- ständnis der uns beschäftigenden Pflanzengestalten sein mag, so reicht er doch nicht aus, sondern verlangt Ergänzung von einer anderen Seite. In heißen, sonnigen Ländern droht den Pflanzen nicht bloß die Gefahr des Vertrocknens, sondern die noch rascher sich geltend machende Gefahr der übermäßigen, tödlich wirkenden Erwärmung. — Tiere vermögen sich vor den sengenden Strahlen in Schlupfwinkeln zu verbergen; die im Boden festgewurzelte Pflanze ist ihnen dagegen oft ge- nug scheinbar schutzlos preisgegeben. Ganz be- sonders gilt dies von den Kakteen, von denen nur wenige Arten, wie das Greisenhaupt, gewisse Mammillarien , durch einen Überzug von weißen Haaren oder Flaum den Sonnenstrahlen den Zu- tritt zum Innern des Körpers erschweren. Zartere Pflanzenteile, namentlich Blätter, haben, falls sie nicht direkt besonnt werden, eine niedri- gere Temperatur als die umgebende Luft; selbst bei direkter Besonnung erwärmen sie sich nur wenig, weil die aufgenommene Wärme rasch wieder durch Ausstrahlung nach außen verloren geht. Diese Wärmeabgabe durch Strahlung voll- zieht sich um so rascher, je größer die Oberfläche im Verhältnis zum Inhalt entwickelt ist. Dünne Blätter fühlen sich denn auch, nach vorheriger Besonnung, kühler an als solche von dicker, fleischiger Beschaffenheit Schon in unserer Heimat kann man, an heißen Julitagen, beim Ein- bohren einer Therrriometerkugel in die dem Bo- den ansitzende saftige Rosette einer Hauswurz ein Steigen des Quecksilberfadens bis zu 52" C beobachten, welches eine Temperatur anzeigt, der alle Tiere und auch die meisten Pflanzen schon nach kurzer Zeit zum Opfer fallen würden. Wenn nun auch, wie die Erfahrung gezeigt hat, die saftreichen Hauswurze und noch mehr die Kakteen höhere Temperaturen zu ertragen vermögen als andere Gewächse, so würden doch auch sie zu- grunde gehen, wenn die in ihrem Innern aufge- speicherte Wärme noch um einige wenige Grade über die erwähnte Temperatur zunähme. Es müssen deshalb die saftigen Stämme der Kakteen, welche, in ihrer wolkenarmen Heimat, oft vom Morgen bis zum Abend der erwärmenden Wirkung der Sonnenstrahlen ausgesetzt sind, durch beson- dere Vorrichtungen gegen den Erhitzungstod ge- schützt sein. Die Opuntien, deren flache Sprosse schon wegen ihrer geringeren Dicke weniger als andere gefährdet erscheinen, erheben sich vertikal vom Substrat, so daß sie gerade in den Mittagsstunden, wo die am höchsten stehende Sonne ihre größte Macht entfaltet, am wenigsten von ihr erwärmt werden, da sie ihr nicht die breite Flächenseite, sondern nur eine schmale Kante zukehren. Bei den gleichfalls aufrechten, aber viel kompakteren Cereussäulen und den noch gedrungeneren Ge- stalten der Kugelkakteen würde dagegen die Vertikalstellung nicht zur Vermeidung der ge- fährlichen Wärmesteigerung genügen ; es kommt hierzu die Wirkung der früher besprochenen un- ebenen Oberfläche der dicken Leiber mit ihren weit vorspringenden Kanten und Höckern, deren Gegenwart die Ausstrahlung der von der Sonne 728 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 46 empfangenen Wärme in hohem Grade begünstigt. Es tritt hier dasselbe Konstruktionsprinzip in Kraft, welches der Techniker beim Bau der Hei- zungsröhren unserer Wohnräume anwendet, indem er die von heißem Wasser oder Wasserdampf durchströmten Röhren mit ringförmig vorspringen- den Leisten oder anders gestalteten Fortsätzen versieht zum Zweck der besseren Ausstrahlung der zugeführten Wärme an die zu heizenden Räume. Die bei den Kakteen und den ähnlich ge- stalteten Euphorbien vorhandene Abweichung von der durch den Transpirationsschutz verlangten Kugel- oder Walzengestalt, erklärt sich also aus der Notwendigkeit der Vermeidung einer über- mäßigen, gefahrbringenden Erwärmung. — Denke man sich die die Ausstrahlung befördernden Längs- kanten oder Höcker hinweg, so wird sich bei starker Besonnung der dicke fleischige Stamm der im Übermaß aufgenommenen Wärme nicht ent- ledigen können; die Erhitzung der Gewebe, welche trotz der Kanten und Höcker oft genug an die Nähe der tödlichen Temperaturen heranreicht, würde nunmehr so stark zunehmen können, daß sie den Tod einzelner Teile, vielleicht auch des ganzen Stammes, zur Folge haben würde: ver- mieden wird diese Gefahr durch das die Aus- strahlung begünstigende Oberflächenrelief. — Das Bauprinzip, welches der moderne Techniker, auf der Kenntnis der Strahlungsgesetze fußend, bei Herstellung der Heizungstöhren zur Anwendung bringt, hat die Pflanze schon vor urdenklichen Zeiten verwirklicht. Den Kakteen und Wolfsmilch- gewächsen gebührt daher unbestreitbar die Pri- orität in dessen Anwendung, eine Priorität, die der Mensch ohne Beschämung ihr gerne zuer- kennen mag, denn so übereinstimmend beiderlei Leistungen in ihrem Ergebnis sein mögen, so ver- schieden die Mittel und Wege der Vollführung. Was der erfinderische Menschengeist in zielbe- wußtem Streben, in vorausschauender Ahnung des zu schaffenden Werkes, verwirklicht, ist in der Natur das Ergebnis unzähliger, ziel- und planloser Tastversuche. Auch sie erreicht das Zweckmäßige in der Hervorbringung ihrer Gestalten, aber nicht auf geradem Wege, sondern durch Leichenfelder hindurch. Ungezählte Mengen von Keimen ent- stehen, um spurlos, nachkommenlos zu vergehen, da sie nicht erhaltungsfähig waren, den drohenden mannigfaltigen Gefahren nicht zu widerstehen ver- mochten: Der unbarmherzige Kampf ums Dasein hat sie, und mit ihnen das Unzweckmäßige vernichtet. Wenn wir nicht müde werden, an den im Kampfe siegreich geblieberen Wesen die oft wunderbar zweckmäßigen Einrichtungen zu be- wundern, so dürfen wir nicht, in billigem Opti- mismus, vergessen, auf welchem Wege sie erworben worden sind. Der Bewunderung wert ist nicht die Hervorbringung des Zweckmäßigen, sondern die endlose, nimmer ruhende Schöpferkraft der Natur, die in blindem Schaffensdrang immer neue Keimesvariationen hervorbringt, sie in den Kampf hinausstößt, dem Schicksal es überlassend, ob sie bestehen mögen oder untergehen. Wir haben es verlernt , in der Natur eme gütig vorsorgende Mutter zu erblicken. Liebe suche der Mensch nicht in ihr, sondern im eigenen Herzen. Die Ernährung der Wirbellosen. Von Dr. E. Lenk, Ebenso wie bei den Wirbeltieren finden wir ei den Wirbellosen Eiweiß, Fett, und Kohlen- y 1 rat abbauende Fermente, welche die Aufgabe aban, die chemisch hochkomplizierien Nahrungs- mittel in einfachere und für den Organismus leicht aufnehmbare zu zertrümmern. Ein Unterschied zwischen ein- und mehrzelligen Wirbellosen in bezLig auf die Verdauung besteht nicht. Die ein- fachst gebauten Tiere verdauen innerhalb der Zelle, und der Prozeß der Verdauung kann von dem der Aufnahme (Resorption) nicht unterschie- den werden. So haben Protozoen und Schwämme (Spon- gien) keinen Magen oder Darm. Protozoen um- fassen ihre Beute mit Pseudopodien , bringen sie ins Zeliinnere, wo sie mit Flüssigkeit umgeben als Nahrungsvakuole auftritt. Diese wandert dann in der Zelle, tritt zum Zellkern in eine bestimmte Lage und zeigt bald nach Nahrungsaufnahme eine sauere Reaktion, die nach Stunden bis Tagen alkalisch wird. Die Verdauung ist also auch hier an eine bestimmte Wassersloffionenkonzentration gebunden. Fettkörnchen verdauen Protozoen nicht Als Ursache der Nahrungsauswahl nimmt man eine positive oder negative Chemotaxis an, also Anziehungs- oder Abstoßungskräfte. Bei Cnidarien sieht man kleine Fische im Zellinnern, Aktinien fressen sogar dargebotenes Fleisch. Selbst bei Würmern kommt noch die intrazelluläre Verdauung in Betracht. Am bekanntesten ist diese Ver- dauungsart bei den weißen Blutkörperchen, die z. B. Bakterien unschädlich machen, eine Tat- sache, die Metschnikoff Phagocytose nannte, die aber schon vor längerer Zeit von einem deut- schen Arzte erkannt wurde. Außer dieser primitivsten Verdauungsart inner- halb der Zelle (intrazellulär), gibt es bei bestimmten niederen Lebewesen schon eine extrazelluläre Ver- dauung, die an differenzierte Zellgruppen gebunden ist. Auch einzellige Pflanzen, z. B. Hefezellen, produzieren ein verdauendes Ferment, das vom Organismus leicht zu trennen ist. Bei den Tieren mit exlrazellulärer Verdauung finden wir dann auch zumeist dreierlei Verdauungssysteme. Zuerst N. F. XIX. Nf. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 729 einen Hohlraum wie Mund, Speiseröhre, Magen und Darm; das zweite System dient der mecha- nischen Zerkleinerung der Nahrungsmittel und im letzten erfolgt ihre chemische Verarbeitung, bei der oft wieder drei Unterabschnitte zu unterscheiden sind. Es kommt erstens zur Ausbildung von be- stimmten Drüsen zur Erzeugung der Verdauungs- enzyme. Würmer, Arthropoden und Mollusken besitzen schon solche Drüsen. Bei den Mollusken und Crustaceen wird die Verdauung komplizierter durch die Tiennung des Verdauungs- vom Re- sorptionsvorgarg. Es kommt dabei zur Ausbildung eines Mitteldarmstückes, der Leber, die einerseits die Fermente erzeugt, andererseits die Resorption verrpittelt. Als dritter Unterabschnitt des Ver- dauungssystems bezeichnet man Reservespeicher, in denen vom Körper aufgenommene Nahrungs- stoffe für weitere Nahrungszwecke aufbewahrt werden. Zumeist übernimmt die Leber diese drei Funktionen zugleich (Crustaceen, Mollusken). Bei Insekten treten die Reservespeicher getrennt auf. Es gibt jedoch auch Tiere, bei denen der Ver- dauungsapparat ganz fehlt; so haben Parasiten wie Cestoden oder Acanthocephalen usw. keinen Darm, da das Wirtstier die Nahrungsstoffe für den Parasit bereits verdaut hat. Die Verdauung geschieht unter bestimmten Bedingungen. Bei Würmern z. B. reagiert der vordere Abschnitt des Mitteldarms sauer, der hintere alkalisch; der mittlere Teil des Blutegel- darms alkalisch, die Kloake sauer. Die Verdauung ist bei diesem Tier sehr verlangsamt. Nach Mo- naten, ja nach einem Jahr ist noch aufgesaugtes Blut im Darmkanal, der Blutfarbstoff in schönen Kristallen. Seesterne z. B. stülpen ihren Magen aus, produzieren ein Gift, zwingen Muscheln ihre Schale zu öffnen und verdauen diese Tiere so außerhalb des Körpers. Andere Echinodermen verschlucken ganze Austern, verdauen sie inner- halb einiger Stunden und richten daher große Schäden in Austernbänken an. Merkwürdige Ein- richtungen haben Regenwürmer. Oberhalb der Speiseiöhre münden drei Paare von Drüsen, die kleine Körner von ca. i mm Durchmesser in die Speiseröhre entleeren. Die Ansichten über den Wert dieser Einrichtung sind noch strittig, wahr- scheinlich werden die Körner zur mechanischen Zerkleinerung der Nahrung benutzt. Dann gibt es verschiedene niedere Tiere, die man unter dem Namen Tracheaten zusammenfaßt, von denen z. B. die Skorpione keine Leber haben, während die Insekten eine solche besitzen. Von manchen Vertretern dieser Klasse wird ein eiweiß- spaltendes Ferment enthaltender Speichel ins Beute- tier eingespritzt. Die Aufnahme der Nahrungs- stoffe erfolgt vom Mitteldarm aus. Bei anderen Tiergruppen wieder kommunizieren Gänge der Leber direkt in den Darm. In der Leber aller Tiere werden Kohlenhydrate aufgespeichert, bei den Mollusken auch Fett, Eisen bei den Kopf- füßlern, bei einigen auch Zink. Bei den Kopf- füßlern z. B. gibt es auch bestimmte Kalkzellen in der Leber, die besonders im September vor der Bildung des „Deckels" für den Winter reich an Kalk und Phosphorsäure sind, während im Winter diese anorganischen Stoffe geringer werden. Schalentragende Mollusken bessern ihre Schalen- defekte durch Verwendung des Kalkdepots der Leber aus. Ganz anders die Crustaceen, z. B. der Hummer. Diese Tiere haben unter der Chitin- schicht des Magens kalkhaltige Krebsaugen. Wird die Chitinschicht bei der Häutung gelöst, so ge- langen diese Steine in den Magen, werden gelöst, aufgenommen, an die Körperoberfläche transportiert und zum Flicken der Defekte verwertet. Para- sitisch lebende Krebse besitzen vom vorderen Ende ausgehende, wurzeiförmige, hohle Ausläufer, die das Gewebe des Wirtstieres umspinnen und durchsetzen. Das Blut niederer Tiere hat verschiedene Zwecke. Bei den Tracheaten dient es zum Transport von Sauerstoff, bei anderen Tieren strömt das Sauer- stoff mitführende Blut in besonderen Gefäßen, oft fehlt wie bei den Echinodermen die Sauerstoff- versorgung. Bei Mollusken, Kopffüßlern und Kreb- sen wird der Sauerstoff auf dem Blutwege weiter- getragen zugleich mit den verdauten Nahrungs- mitteln. Niedere Tiere ernähren sich zumeist von tieri- scher Nahrung, und es gibt keinen Organismus, der einem anderen nicht zur Nahrung diente. Einigen Tieren genügt eine geringe Auswahl von Nährstoffen (sie sind monophag), das Insekt Phylto- xeus vastatrix lebt z. B. nur auf Weinreben, Schizo- neura lanigera nur auf Äpfelbäumen, während andere Tiere polyphag sind, d. h. sich wie z. B. die Raupe Ocneria von verschiedensten Stoffen ernähren. Kohlensäure dient nur Pflanzen, nicht aber Tieren als Nahrungsmittel. Beim symbiontischen Zusam- menleben zwischen Pflanze und Tier produziert das Tier Kohlensäure, von der sich die Pflanze nährt, während die Pflanze das Tier durch ihren abgegebenen Sauerstoff entschädigt. Höchstes Interesse bietet die Art der Nahrung, die die Bienenlarven der verschiedenen Formen, wie Königin, Drohne und Arbeiterin erhalten. Die parthogenetisch' entstandene Drohne kommt für diese Untersuchung nicht in Betracht. Der aus Eiweiß, Fett, und Kohlenhydraten bestehende Speisebrei wird im Chylusmagen erzeugt. Ar- beiterinnenlarven bekommen nur halb so viel Fett und weniger Eiweiß als die Königinnenlarvcn. An Kohlenhydraten jedoch erhält die Larve der Arbeiterin um die Hälfte mehr als die der Königin. In den ersten vier Tagen ist das Futter gleich, dann wird die Nahrung der Arbeiterinnenlaiven mit Honig gestreckt. Ähnlich ist es auch den Termiten möglich durch Änderung des Futters in qualitativer und quantitativer Hinsicht die Ent- wicklung der Larven zu modifizieren und so das sich entwickelnde Tier direkt zu beeinflussen. Die Nahrung wird zumeist von Zeit zu Zeit aufgenommen. Große Pausen treten bei be- 730 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 46 stimmten Tieren im Winter auf, bei denen das Gehäuse durch einen Declprang bei den ersten Schlägen in viele unbrauchbare Stücke, oder war von Kalk stark durchsetzt und meist ganz unbrauchbar. Nicht geeignet zur Bearbeitung waren auch Stücke des trüben grobkörnigen Feuer- steins, oder Stücke, die derartige Nester enthielten. Dieser Stein, der den Eindruck macht, als sei seine Bildung nicht vollendet, zeigt eine größere Härte, aber eine Neigung zum Abspringen von Lamellen ist nicht vorhanden. Weißer Stein zeigte sich als sehr hart, war aber noch zu verwenden. Brauch- barer war der durchscheinende, sowie der matte dunkel- und gelblichbraune bis fast schwarze Stein. Bei der Bearbeitung zeigte sich zwar oft genug, daß derselbe vorher nicht bemerkte Sprünge enthielt, trotzdem lieferten diese Sorten das für mich beste Material. Gern verarbeitete ich die flachen unregelmäßig geformten Knollen mit er- haltener Rinde, die allerdings nicht häufig waren. Obwohl das Material, welches mir zur Verfügung stand, also keineswegs ein gutes zu nennen ist, so glaube ich gerade dadurch den Nachweis zu erbringen, daß unsere Vorfahren sehr wohl im- stande waren, die meisten Gebrauchsgegenstände aus dem vorhandenen Material selbst herzustellen. Aus gefundenen bearbeiteten Abfallstücken ist zu entnehmen, daß sie verstanden auch Messerklingen von den Steinen abzuschlagen, was mir bisher nur äußerst selten gelang. Wer praktische Versuche vornehmen will, stecke sich beim Sammeln von Feuersteinen einen kleinen etwa 150 — 200 Gramm schweren Siahl- hammer in die Tasche und mache am Fundorte des Feuersteins einige kurze Schlagversuche. Sehr bald wird man sich so eine ziemliche Material- kenntnis aneignen und das Heimschleppen von meist nutzlosem, aber recht schwerem Material vermeiden. Anzuraten ist für den Anfang, worauf ich später noch des Näheren eingehe, das Sammeln von passenden, flachen Stücken. Auf meine ersten Versuche mit verschiedenen Stahlhämmern will ich hier nicht näher eingehen, da sie die alte Technik nicht wiedergeben können, anderenteils die Ergebnisse dieselben waren, wie diejenigen mit Sieinhämmern. Die Steinhämmer haben sogar den Vorteil, daß der Schlag durch den rauhen Schlagstein sicherer wirkt, da er an den Kanten nicht so leicht nutzlos abgleitet. Die Bearbeitung der Steine machte ich sitzend ; auf den Schoß legte ich einen flachen ca. 30 cm großen Feldstein mit rechtwinkliger und schräger Kante als Amboß. Dieselben Dienste leistet ein starkes Hartholzbrett etwa 25 zu 40 cm. Um die Bearbeitung der kleinen Schaber, Pfeilspitzen usw. bequemer vornehmen zu können, hatte ich auf dasselbe 2 ca. 3 cm starke Leisten aus Hartholz in einem Abstand von einem Zentimeter aufge- nagelt, die Enden waren schräg abgeschnitten. Außerdem war rechtwinklig hierzu ein starkes Brett, ca. 6 cm hoch, ebenfalls mit schrägen Enden 738 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 47 angebracht. Mit diesen Hilfsmitteln konnte der zu bearbeitende kleine Gegenstand bequem in jede gewünschte Stellung gebracht werden, um die Retusche vorzunehmen. Erforderlich sind die Leisten usw. jedoch keineswegs, sie erleichtern nur sehr die Arbeit. Als Schlagsteine verwandte ich, je nach dem Objekt, 3 — 8 cm große eiförmige und spitze, im Wasser abgerollte, möglichst harte Steine; gut eignen sich Quarz und Feuersteinknollen. Außer- dem benutzte ich einige kleinere flache Steine mit schmaler Kante für die feinere Retusche. Bei intensiver Arbeit ist die Lebensdauer sol- cher Schlagsteine infolge der großen Härte der Feuersteine eine recht begrenzte, deshalb ist von vornherein für Ersatz zu sorgen. Abb. I. Der Verfasser b<-i uci An. eil. Wenn es bei größeren Schlagsteinen auch möglich ist, sie direkt mit der Hand zu gebrauchen, so ist dies bei kleineren so gut wie ausgeschlossen, da zu wenig Kraft im Schlage entwickelt werden kann. So habe ich alle meine Srhlagsteine mit Stiel versehen, was ohne große Mühe in nach- stehender Weise geschehen kann. In frisch ge- schnittene 2 — 7 cm starke Buchen oder Eichen- zweige bohrte ich, nachdem sie entrindet waren, je nach der Größe des einzusetzenden Steines 2 — 4 Löcher. Den Bohrer setzte ich hierbei schräg an, so daß die Löcher auf der Rückseite dichter zusammenlagen. Das Gesamtloch lief, nachdem die stehengebliebenen Stücke weggestemmt waren, hinten enger zu. Mit etwas Nachhilfe durch ein rundes Stemmeisen ist der Stein so nicht schwer passend einzusetzen und klemmt sich selbst fest. Um ein Herausfallen zu verhindern, lasse man den Stein recht tief ein. Kleine Steine versehe man mit kräftigen Stielen, um durch das Gewicht die Schlagkraft zu erhöhen. Die Bearbeitung des frischen, noch weichen Holzes ist sehr leicht. Die Stiele trocknete ich nach der Fertigstellung einige Stunden auf der Herdplatte. Wenn auch wohl kaum anzunehmen ist, daß unsere Vorfahren bei der Herstellung von Stein- geräten eine Schutzbrille trugen, so möchte ich dies dringend allen, die Versuche machen, emp- fehlen, da winzige, haarscharfe Splitter mit ziem- licher Kraft in allen Richtungen herumfliegen, die mitunter auch kleine Verletzungen hervorrufen, überwiegend allerdings an den am meisten ge- fährdeten Händen. Abb. 2. Vom Verf.isser hergestelltes Feuersteingerät. Ist im gewöhnlichen Leben eine grobe Arbeit leichter auszuführen als eine feine, so ist es bei der Bearbeitung der Feuersteine umgekehrt, näm- lich die feine Retusche ist leichter als das grobe Behauen und Zurechtschlagen der Steine. Das Geheimnis, Feuersteine zu bearbeiten, liegt in den drei Voraussetzungen, daß I. der Schlag auf den Stein in einem Winkel von 70 — 75" geführt wird, 2. der Schlag kurz und kräftig ist, 3. der Stein festliegt. Will man einen größeren Block spalten, legt man denselben auf den Schoß oder den Amboß in eine möglichst feste Lage, mit der linken Hand hält man ihn fest und führt mit einem großen Hammer mit der Rechten einen kräftigen Schlag in genanntem Winkel gegen den Stein, um ein Stück im stumpfen Winkel zur Schlagrichtung ab- springen zu lassen. Ist der Absprung gelungen. N. F. XDC. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 739 so schlägt man einige Millimeter bis einige Zenti- meter von der entstandenen Bruchkante entfernt, in derselben Weise weiter und versucht Platten in gewünschter Stärke abzuschlagen. Häufig wird das abspringende Bruchstück, statt lang abzu- splittern, muschlig gebogen und nur einige Zenti- meter lang sein, so daß es meist nicht brauchbar ist. Dies Abspringen führe ich jedoch mehr auf das hiesige Material als auf Fehler in der ange- wandten Arbeitsweise zurück. Häufig machen sich auch jetzt erst feine, vorher nicht bemerkte Sprünge bemerkbar, so daß die Absplisse unregel- mäßig und scharfkantig werden. Etwas Geduld ist schon erforderlich bis man passende Stücke bekommt. Anzuraten ist, wenn der Stein vor- springende Ecken oder Kanten hat, hier die Ar- beit zu beginnen und fortzusetzen. Aus den erhaltenen Stücken suche man sich ein möglichst passendes heraus, schlage es, immer wieder die drei Voraussetzungen beachtend, von den Rändern beginnend, erst in roher Weise, dann immer feiner um das Stück herumarbeitend, zu- recht. Hat man an einer Seite etwas abzuschlagen, so versuche man dies durch feine Absplisse, ab- wechselnd von beiden Seiten zu erreichen. Ebenso versuche man kurz hinter scharfe Kanten zu schlagen, so daß der Hammer beim Schlag Halt findet. Der Abschlag springt im stumpfen Winkel zur Schlagrichtung, so daß eine spitzwinklige Kante entsteht. Kommt man zur Bearbeitung der Schneide, so ist zu beachten, daß die zu behauende Kante einige Millimeter über eine Amboßkante hinaus- steht. Wie schon gesagt, habe ich, um dies be- quem zu erreichen, hierfür die Leisten usw. auf dem Amboßbrett angebracht. Für die meisten Arbeiten benutze ich einen mittelgroßen Hammer mit eiförmigem Stein von 3 — 4 cm Durchmesser. Jedenfalls ist die bisher behandelte Arbeit weit schwieriger, als die jetzt folgende, die Herstellung von Kiemgerät, welche ohne Mühe schon beim ersten Versuch gelingt. Einige selbst angestellte Versuche dürfen weit schneller zum Verständnis führen, als alle weit ausholenden Ausführungen. Es ist überraschend, wie leicht und schnell z. B. ein kleiner Schaber hergestellt ist; es erfordert nicht mehr als i — 2 Minuten Zeit. Auf einem Spaziergang durch Wald und Feld suche man sich einige etwa 5 — 10 cm große, möglichst ganz flache Stücke Feuerstein mit scharfer Kante. Gar nicht selten sind flache, scharfkantige, runde Absplisse von Feuerstein- knollen, diese sind besonders zu Schabern gut geeignet. Unter 3 cm wähle man möglichst keine Stücke, da diese durch die abfallende Retusche zu klein werden. Das Material dieser kleinen Steine ist durchweg recht brauchbar. Bei der Bearbeitung lege man solch einen Stein flach über die zwei Leisten auf dem Arbeitsbrett, so daß die Schläge zwischen die Leisten zu liegen kommen. Es wird so ein recht gutes Festliegen des zu bearbeitenden Steins erzielt. Der Auf- schlag muß durchschnittlich 2 — 3 mm von der scharfen Kante erfolgen. Auf der Rückseite springt, je nachdem der Schlag näher oder weiter von der Kante erfolgte, ein kleinerer oder größerer runder Abspliß mit der negativen Schlagmarke ab. Der nächste Schlag erfolgt einige Milhmeter weiter seitwärts und so fort. Man erhält so die einseitige Retusche. Je nach Form des Steins und Ausfall der Arbeit muß die Retusche wieder- holt werden, bis der Stein in die gewünschte Form gebracht ist. Nach Belieben kann man dasselbe Verfahren von der anderen Seite an- wenden, um so die doppelseitige Retusche zu er- halten. Die so entstehende Schneide ist je nach der Entfernung der einzelnen Schläge voneinander, mehr oder weniger wellenförmig. Um eine mög- lichst glatte Schneide zu erhalten, wiederholt man die Retusche und setzt jetzt die Schläge in die vertieften Stellen. Meist wird es sich zeigen, daß der Feuerstein nur nach einer Seite schöne gleich- mäßige Absplisse gibt, während die andere Seite unregelmäßige Absplisse liefert, wodurch die Schneide nicht gleichmäßig scharf wird. Hier kann man nachhelfen, indem man die letzte Re- tusche von der unregelmäßig abspringenden Seite her ausführt. Indem man erst breitere Absplisse, durch weiteres Absetzen der Schläge von der Kante herstellt, dann feinere folgen läßt, erhält man die übereinanderliegende Retusche. Um eine Säge herzustellen, verfertigt man eine möglichst lange, messerartige Schneide. Die Her- stellung der Zähne kann bei schwächeren Sägen durch das später besprochene Abpressen ge- schehen. Bei stärkeren ist jedoch ein Meißel an- zuraten, da allein mit dem Steinhammer eine saubere Herstellung der Zahnreihe nur durch eine sehr lange Übung gelingen dürfte. Als primitive Meißel genügen unregelmäßige Abfallstücke, wel- che eine scharfe, aber nicht haarscharfe Kante be- sitzen und auf der entgegengesetzten Seite eine Aufschlagmöglichkeit bieten. Als Hammer kann jeder 4 — 5 cm starke Ast verwendet werden. Zum Ausschlagen der Vertiefungen zwischen den herzustellenden Zähnen ist ein gutes Festliegen des Steines unbedingt erforderlich. Eine zweite Person kann hierbei gute Dienste leisten. Wie beim Hammer der Schlag, wird hier der Meißel im Winkel von 70 — 75 " auf die scharfe Kante des Steines aufgesetzt, so daß derselbe etwa 2 mm vom Rande entfernt ist. Durch den Schlag mit dem Hammer auf den Meißel springt auf der entgegengesetzten Seite der entstehenden Säge der negative, runde Abspliß ab. Der nächste Ansatz des Meißels erfolgt etwa 5 nim weiter seitwärts usf. Dreht man nach jedem Schlag den Stein herum und wendet dasselbe Verfahren an, so erhält man , wie der Zimmermann sich aus- drückt, eine stark geschränkte Säge, d. h., die Zähne stehen wellenförmig zueinander. 740 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 47 Über das Abpressen oder Abdrücken von Spänen findet man in der Literatur auffallend wenig nähere Angaben. Nach meinen Erfahrun- gen kann bei der Natur des hiesigen Feuersteins dies Verfahren nur für die ganz feine Retusche in Frage kommen und nicht für Späne vom Block. Das erforderliche Werkzeug ist sehr einfach, aus einem abgetrockneten, stärkeren Knochen oder ähnlichem Material schneidet man mit einer Säge ein Stäbchen, etwa 8 mm breit, 5 mm dick und 7 cm lang, mittels einer Raspel und Feile läßt sich dasselbe leicht in eine spitz zulaufende Form bringen und etwas glätten. i)iese Spitze wird in einem Holzgriff oder ein etwa 50 — 60 cm langes gerades Aststück fest eingelassen, so daß die Spitze 3 — 4 cm hervorsieht. Wie bemerkt, kommt diese Art Retusche nur für feine Arbeit bei messerartigen, scharfschneiden- den Klingen und Kanten in Frage. Der vorbe- reitete Stein muß in eine feste Lage gebracht werden , die zu bearbeitende Kante soll hohl liegen resp. über die Amboßkante überstehen. Die Knochenspitze wird etwa 2 mm von dem Rande im stumpfen Winkel von etwa 130" auf- gesetzt, worauf die Abpressung durch Druck auf die Spitze erfolgt. Nach Belieben läßt sich auch hier die einseitige oder doppelseitige Retusche herstellen. Dies Verfahren hat sogar den Vorteil, daß man die Stelle und Tiefe des Absplisses haarscharf bestimmen kann. Die Abdruckstelle zeigt die- selben JVlerkmale wie die Schlagstelle. Die Spitze zum Abdrücken ist vielfach lang geschäftet, dies hat zweifellos seine praktische Veranlassung darin, daß, wenn der obere Teil des Stiels bei der Ar- beit gegen die Schulter gelegt wird, die Hand die Spitze nicht nur sicherer führen, sondern auch mit mehr Kraft verwenden kann. Echte Stücke von nachgemachten zu unter- scheiden, halte ich für außerordentlich schwierig, mir ist es nicht gelungen, Unterschiede zur Unter- scheidung herauszufinden. Durch die Patina ist es zwar vielfach möglich alte Stücke mit Sicher- heit zu erkennen, aber für sicher möchte ich diesen Weg keinesfalls halten. IVlanche Stücke P^euerstein zeigen an der frischen Abschlagstelle keinerlei Unterschied in Glanz und F"arbe gegen die alte Oberfläche. Bei Stücken, bei denen letztere über- haupt nicht mehr vorhanden ist, dürfte, besonders bei glänzenden Stücken, eine Unterscheidung außerordentlich schwierig sein, selbst wenn nichts geschieht, um die Täuschung absichtlich zu ver- größern. Der Direktor eines der größten deutschen Museen, welchem ich einen Teil der von mir her- gestellten Gegenstände vorlegte , erklärte sie lür so gut, daß sie in die verschiedenen Perioden eingereiht werden könnten. Meine Versuche machen es mir sehr wahr- scheinlich, daß unsere Vorfahren die meisten Waffen und Geräte aus Feuerstein nicht aus der Ferne durch Handel zu beziehen brauchten, son- dern sie aus dem vorhandenen Material selbst herzustellen vermochten. [Nachdruck verboten.' Über den Landbau im alten Mexico. Von Franz Termer. Mit 2 Abbildungen. Landbau in den Tropen zu Zeiten, da die europäische Kolonisation in ihnen noch nicht ein- gesetzt hatte, ist von einheimischen Völkerschaften mit besonderer Intensität in Verbindung mit beachtenswerter technischer Vervollkommnung nur in Amerika betrieben worden. Daß es sich hier nicht um primitivere Formen landwirtschaft- licher Tätigkeit, vielmehr um eine unter Zugrunde- legung gegebener lokaler Verhältnisse sehr be- achtenswerte Höhe ackei baulicher Leistungen han- delt, mag im folgenden an Beispielen aus Mexico gezeigt werden. Wenn von der bedeutenden kulturellen Ent- wicklung amerikanischer Völker vor der Ent- deckung des Kontinentes durch die Europäer ge- sprochen wird, so sind im allgemeinen nur vier größere Kulturreiche gemeint : das mexikanische Reich der Azteken und das yukatekische Mayareich in den zentralen Gebietsteilen der Neuen Welt, der Staat der Chibcha- und peruanischen Bevöl- kerungen in ihrer südlichen Hälfte, von denen allen an diesem Orte nur das nördliche Reich einer eingehenderen Betrachtung unterzogen wer- den soll. Das ausgedehnte mexikanische Gebiet, das zur Zeit der spanischen Konquista der einheitlichen Oberherrschaft der Azteken unterstand, war aus verschiedenen Bevölkerungselementen zusammen- gesetzt, die sich durch ihre sprachlichen Idiome beträchtlich voneinander unterschieden. Ihre Mehr- zahl war bereits im Lande ansässig gewesen, als Stämme aus nördlichen Gegenden auf der Wande- rung nach Süden in ihre Gebiete eindrangen. Von Mythen und Sagen ist jenes Ereignis in der heimi- schen Tradition nachmals umsponnen worden. Immerhin lassen sich aber dennoch Tatsachen genug, besonders sprachlicher Art, für den Einfall von Norden her geltend machen. Die Eindringlinge hatten bald ein Übergewicht über ihre Nachbarn zu erringen gewußt, waren immer weiter im Lande vorgedrungen, ohne bei Ankunft der Spanier be- reits an den äußersten Grenzen der heutigen Republik angelangt zu sein. Doch nicht gleich- mäßig hatte sich die aztekische Oberhoheit über N. F. XIX. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 741 Mexico ausgebreitet: hier und da klafften teil- weise nicht unbedeutende Lücken , eben von solchen Gebietsteilen, in denen sich die ursprüng- lich ansässigen Stämme unabhängig erhalten hatten. Waren nun die einzelnen Bevölkerungselemente sprachlich getrennt, so einigten sie hinwiederum in vielfachen Beziehungen gemeinschaftliche mate- rielle und zum Teil auch geistige Kulturgüter. Unter ihnen ist das wichtigste, zugleich ein be- zeichnendes Merkmal für den ganzen Charakter nicht bloß der mexikanischen, sondern ebenso der anderen altamerikanischen Kulturen, die Landwirt- schaft gewesen. Cerealien höherer Breiten, wie sie heutigestags in nicht unerheblichem Umfange in den tropischen Hochländern Amerikas angebaut werden, hat es in alter Zeit in diesen Gebieten nicht gegeben. Erst die Weißen haben sie mitgebracht. Daher ist von der Familie der Gramineen nur der Mais vor dem Eintreffen der Europäer kultiviert worden. Diese Pflanze, deren ursprüngliche Heimat noch immer nicht mit Bestimmtheit hat ausfindig ge- macht werden können , die aber wohl jedenfalls zuerst von mittelamerikanischen Völkern • — ins- besondere Stämmen in Guatemala — mit Vorliebe gepflegt worden ist, war die wichtigste in der ein- heimischen Ernährungswirtschaft. Verschiedenartige Bezeichnungen für einzelne Teile der Pflanze führte die mexikanische Sprache : toctli = Maisstaude, miauatl = männliche Blüte, elotl = Kolben, xilotl = junger Kolben, cintli := reifer Kolben, olotl = entkörnter Kolben. tlaolli = ausgekörnter Mais, Seine Hauptrolle spielte der Mais als Volks- nahiungsmittel. Mannigfach waren seine Verwen- dungsmöglichkeiten in der mexikanischen Küche, die eine ganze Reihe von Maismehlspeisen auf- zuweisen hatte. Daß auch die Weißen kurze Zeit nach der Eroberung des Landes den Mais wohl zu schätzen wußten, läßt sich aus seiner schnellen Einbürgerung in Europa erkennen, wo er nach- weislich schon 15 51 in der oberrheinischen Tief- ebene angebaut wurde. ^) Neben dem Mais standen die Bohnen als wichtigstes Volksnahrungsmittel, dementsprechend die zweite Stellung in der Agrikultur einnehmend. Meist bevorzugte man beim Anbau die schwarzen Sorten, deren mexikanische Benennung „etl" war. Eine notwendige Zutat zu seinen Mais- und Bohnengerichten waren dem Mexikaner in alter wie noch in heutiger Zeit Gewürze, deren be- liebtestes der rote spanische Pfeffer ist, dessen alte Bezeichnung „chilli'' sich in der hispanisierten Form des modernen „chile" erhalten hat. In den warmen Küstenniederungen (tierra caliente) wurde eine Mehl liefernde Pflanze, die Batate (mex. camotli), angebaut, und zwar ge- wann man das Mehl aus ihren Wurzeln. Durch Übertragung von den Antillen ist dafür der Name cagali (= das Gebackene) eingebürgert worden. Für Mexico typische Nutzpflanzen sind verschie- dene schon in vorspanischer Zeit beliebte Sapo- tazeen, deren teils saure, teils süße Früchte mit großem Behagen genossen wurden. In einer dem ausgehenden 17. Jahrhundert entstammenden deut- schen Übersetzung des englischen Reisewerkes von Thomas Gage werden diese Sapotazeen be- schrieben : ^) „Ananes, Sapoten und Chicosapotten, welche inwendig einen großen schwartzen Kern haben / in der Größe einer Pflaumen; die Frucht ist von außen so roth als ein Scharlach / und schmeckt so süße als Honig: Doch sind die Chico- sapotten nicht so groß / und ein Teil derselben sind roth / die anderen aber braun-roth und sind so voller Safft / daß wenn man sie isset der Safft tropffen weise als ein Honig daraus treufft; und riechen fast wie eine gekochte Birne." Von anderen Pflanzen können noch erwähnt werden der Kakao (cacauatl), der in der Tierra caliente gezogen wurde — aus ihm bereitete man die Schokolade, ein bevorzugtes Getränk im alten Mexico. Dann die Agave (metl; span. verderbt maguey), aus deren Satt das Nationalgetränk, der Pulque (octli), -j hergestellt wurde, deren Fasern ein brauchbares Material zur Verfertigung von allerhand Gespinsten lieferten und deren nadel- spitze scharfe Blattstacheln die gebräuchlichsten Bußwerkzeuge waren, mit denen sich die Frommen Zunge und Ohrläppchen durchstachen. Endlich sei auch die Baumwolle hinzugefügt, die man zu feinen Gewändern, Decken und gesteppten Pan- zern verarbeitete. Von einer eigentlichen P'eldwirtschaft in alten Zeiten kann nur bei der Kultivierung des Maises die Rede sein. Die anderen erwähnten Nahrungs- und Genußmittel liefernden Pflanzen wurden im Garten- oder kleinen Plantagenbau — wenn er so genannt werden darf — gezüchtet. War dieser vornehmlieh auf die warmen Küstenstriche des Atlantischen und Stillen Ozeans beschränkt — auf der einen Seite bis nach Tabasco, auf der anderen bis Soconusco reichend — , so wurde Gartenbau und Felderwirtschalt auf den höher gelegenen Par- tien des Landes getrieben. Schon in den ersten Mitteilungen von Spaniern über das Land wird die Fülle der Gartenbauerzeugnisse im Hochtale von Mexico, besonders um den See von Xochi- milco herum, gerühmt und mit Bewunderung von der fast unerschöpflichen Menge dieser Produkte auf dem Markte der Hauptstadt gesprochen. Aber trotzdem bildete die Grundlage der mexikanischen Agrikultur der Maisbau und mithin die Felder- wirtschaft. Die Art, wie sie ausgeübt wurde, richtete sich natürlich ganz nach den klimatischen ') Bock, Kreuterbucli. Straßburg 155 1 ') Th. Gage, Neue mcrckwürdige Reisebeschreibung nach NeuSpanien etc. Leipzig 1693 (S. SO- -) Das Wort Pulque soll nach Clavigero (Storia antica del Messico etc., Cesina 17S0— 8;) aus der araukani- schcD Sprache, also aus Südchile stammen, 742 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 47 Bedingungen der einzelnen Länderstriche. Da sie in der Hauptsache nur in den höher gelegenen Landesteilen bodenständiger war, so waren die dort vorherrschenden Witterungsverhältnisse bei der Anlage und Pflege der Felder maßgebend. Das mexikanische Hochland zeichnet sich nicht durch Reichtum an Niederschlägen aus. Weite Striche sind geradezu Dürregebiete. Daher er- klärt es sich denn auch, daß man schon in alter Zeit zu künstlicher Bewässerung seine Zuflucht nahm, um möglichst ertragfähige Ernten zu ge- winnen. Die alten Mexikaner lösten das Bewässe- rungsproblem einfach in der Art, daß sie Bäche und kleine Rinnsale an den Hängen der Berge auffingen und in schmalen Gräben auf und über die Felder hinwegleiteten. „Atlalli" (Wasserfelder) nannten sie derartiges Ackerland, demgegenüber nicht künst- lich bewässerte Felder als „teuhilalli" (Staub- felder) oder „xalalli" (Sandfelder) bezeichnet wurden. Zeiten intensiverer Trockenheit konnten aber auch die wohlausgedachten Kanalsysteme nicht über- dauern, und Mißernten mit Hungersnöten waren oft genug die schlimmen Folgen solcher Dürre- perioden, die nach den abergläubischen Vor- stellungen der Alten besonders in solchen Jahren auftreten sollten, die in ihrem Kalender die Be- zeichnung „ce tochtli" (= I Kaninchen) trugen. Auf Feldern in hochgelegenem Gelände, sowie an Berghängen wurde nicht in jedem Jahre eine Aussaat vorgenommen. Vielmehr ließ hier der mexikanische Landmann nach einer Ernte das Landstück brach liegen, bis eine Decke von Gestrüpp und Unkraut darüber ge- wachsen war. Dann erst machte er sich wieder an eine neue Bestellung, die er in der Weise aus- führte, daß er das Land abbrannte, so einen ebenso leicht zu beschaffenden als vorzüglichen Dünge- stoff für den Boden gewinnend. Auf den frucht- baren vulkanischen Böden aber, wie sie besonders sich in Mittelamerika finden, ließen sich ohne jedesmalige Neudüngung mehrere Ernten nach- einander von ein und demselben Bodenstück ge- winnen. War der Boden auf die beschriebene primitive und doch praktische Art gedüngt, dann schürfte man, wenigstens in Mexico, die oberen Bodenpartien mit einem eigenartigen Instrumente auf, das aus einem langen Stabe bestand, der an seinem unteren Ende eine- Verbreiterung trug, die vermutlich mit einer geschärften Kante versehen war. Die Form dieses „uictli" oder „coauacatl" ist in den Bilderschriften wiedergegeben und aus diesen noch zu erkennen (vgl. Abb. i und 2). In den alten Berichten spanischer Autoren wird noch ein Name für dieses Bodenbearbeitungsinstrument angegeben, „quauhacatl" ; allein dürfte hierunter ein einfacher langer, an einem Ende zugespitzter Hartholzstab zu verstehen sein.^) Ein so einfaches Instrument, der Pflanzstock, ist nun das einzige landwirtschaftliche Gerät der Indianerstämme Mittelamerikas gewesen und ist es auch noch heutigestags.') In Schützenketten ähnlichen Reihen schreiten die Indianer, jeder mit seinem Pflanz- stock und einer die Samen enthaltenden Umhänge- tasche versehen, über die Felder, stoßen mit dem spitzen Ende des Stabes ein nicht eben tiefes Loch in den Boden und lassen mit großer Geschicklichkeit die Maiskörner in die Löcher hineinfallen. Eine außerordentlich einfache Prozedur, die doch wiederum nur die einzig praktische an den geneigten Flächen und Steilhängen ist, die ein Arbeiten mit dem europäischen Pfluge von vornherein verbieten. Über weitere Ackerbauinstrumente ist nichts bekannt geworden. Daß mit den paar erwähnten ihr Vorrat bei den Alten erschöpft gewesen ist, wird nicht ohne weiteres anzunehmen sein. Ist doch kaum einem Zweige menschlicher Tätigkeit bei fremden Völkern in früheren wie selbst noch in modernen Zeiten so geringe Beachtung ge- schenkt worden als dem Landbau ! Die Bestellung der Felder lag in den Händen der Männer unter Beihilfe der Frauen. Das ist aus Mexico wie aus Yucatan überliefert worden. In Mittelamerika hingegen scheinen die Männer seit langen Zeiten bis in die Neuzeit hinein immer allein die Feldarbeiten verrichtet zu haben. Nur in jenen Gegenden, wo Stämme südamerikanischer Herkunft auf dem mittelamerikanischen Isthmus vorgedrungen sind, liegt die Felderbestellung in Abb. I. Mexikanischer Landmann mit dem „uictli". Codex Osuna f. 38 verso. Abb. 2. „uictli" und „chiquiuitl". Codex Mendoza 11, 11. Händeir der Frau. Ob diese Verhältnisse auch einmal in entlegenen Zeiten im mexikanischen und mayanischen Kulturgebiete herrschend ge- wesen sind, ob hier der Mann erst später die Führerrolle übernahm und die Frau daneben nur noch eine untergeordnete Stellung sich zu erhalten gewußt hatte, oder ob von Anfang an der Mann die leitende Stellung innegehabt hat, läßt sich nicht sagen. Hierüber fehlen vorläufig eingehen- dere Untersuchungen, die auch bei den mangel- haften Überlieferungen ihre Schwierigkeit haben werden. Wenn es erlaubt ist, Vermutungen zu äußern, so möchte die erstere Ansicht, die der P>au auch im nördlichen Mittelamerika die ur- sprüngliche Führerrolle zuzuweisen geneigt ist, nicht ganz unberechtigt sein. Zur Zeit der spani- ') Moli na übersetzt in seinem Würtcrbucli .juauhac^itl ') Vgl. Karl Sapper, Der Feldbau der mittclamerik.1- inil varall (Vocabulario de la Icngua Mexicana.) niscben Indianer. Globus 1910, S. 8 — 10. N. F. XIX. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 743 sehen Eroberung herrschte in Mexico jedenfalls die Sitte, daß der Mann das Feld zur Aussaat herrichtete, die Frau hingegen diese selbst vor- nahm; daß der Mann bei der Ernte die Pflanzen durch Mähen niederlegte, die Frau aber die Ähren abstreifte und die Körner reinigte. Die Arbeiten auf den Feldern erschöpften sich in Herrichtung des Bodens, in Aussaat und Ernte. In gebirgigen Landesteilen, wo Anlage von Feldern auf künstlichen Terrassen nötig wurde, mußte das Erdreich erst an die betreffenden Stellen trans- portiert werden, was mittels geflochtener Körbe (chiquiuitl : Abb. 2) erfolgte, die, wie alle Lasten, an einem um den Kopf herumgelegten Bande getragen wurden. Von einzelnen spanischen Autoren wird noch angegeben, daß Düngung durch Fäkalien ebenfalls in Anwendung gebracht worden wäre, doch scheint das nur für die unmittelbare Um- gebung der Hauptstadt im Hochtale von Mexico üblich gewesen zu sein. Ganze Kahnladungen von diesem Dungstoffe, der an bestimmten Stellen der Stadt gesammelt wurde, wären über den See von Mexico transportiert worden. An anderen Orten war es Brauch , verfaulendes Holz oder Pflanzen zum Zwecke des Verfaulens in den Boden zu vergraben, um dadurch Düngemittel zu ge- winnen. — Der Gesamtkomplex landwirtschaftlicher Tätig- keit, viele Einzelmomente in der Ausführung dieser Arbeiten stehen unter dem Einfluß der sozialen Verhältnisse des betreffenden Volkes, und es hieße nur eine unklare Vorstellung von den Zuständen der Landwirtschaft bei fremden Völkern gewinnen, wollte man sich nicht jene in ihren Grundzügen wenigstens vor Augen führen. Die Grundlage, auf der sich in Mexico die Volksgemeinschaft aufbaute, war die Gens oder der Clan (mex. calpolli, chinamitl, chinancalli), eine Gruppe blutsverwandter Familienangehöriger, an deren Spitze ein erwählter Häuptling (calpole) stand. Auf diesen sozialen Verbänden beruhte nun auch die Besitzverteilung weiter Bodenstrecken. Jedes Mitglied eines calpolli hatte Anrecht auf ein Stück Land, das aber immer Eigentum des Geschlechtsverbandes blieb. Der Häuptling nahm die Verteilung des Bodens vor; er wies den ein- zelnen Clanmitgliedern Landparzellen zu, die nun die Eigentümer unter allen Umständen zu be- bauen verpflichtet waren. Nur zwei Jahre durfte jemand sein Land nicht bestellen : hatte er nicht stichhaltige Gründe für seine Versäumnis vorzu- bringen , dann wurde ihm sein Anteil am Ge- meindelande nach dieser Frist wieder genommen. Es fiel an den calpolli zurück. Nur das Clan- oberhaupt, der calpole, war dem Herkommen gemäß von einer Bestellung seiner Felder befreit, die seine Genossen für ihn vornahmen. Dafür oblagen ihm jedoch besondere Pflichten, denen er durch seinen Rang unterworfen war. Neben der Ausstattung der Volksfeste auf eigene Kosten, der genauen Buchführung über Einnahmen und Ausgaben des calpolli und anderen Tätigkeiten, mußte er jederzeit den calpolli nach außen hin vertreten und für seine Genossen in allen strittigen Fragen eintreten, die sich für sie im Verhältnis zur Außenwelt ergaben. Ausgeteiltes Gemeindeland (altepetlalli) durfte niemals von den jeweiligen Eigentümern weiter veräußert werden. Nur wenn es das Wohl des ganzen calpolli erforderte oder angebracht er- scheinen ließ, konnte von diesem Gesetz abge- wichen werden. So wurde gegebenenfalls Land auch an Mitglieder anderer Gemeinden verpachtet. Sonst ging aber die gegenseitige Abschließung der einzelnen Verbände bei der Felderbestellung so weit, daß es überhaupt keinem Mitglied des einen gestattet war, auf Ländereien des anderen jemals zu arbeiten. Ein bestimmt abgegrenzter Bezirk von Gemeinde- ländereien wurde überhaupt nicht verteilt. Ihn bestellten alle Gemeindemitglieder gemeinschaft- lich und ernteten ihn ebenso in corpore ab. Diese Bodenerträge kamen hernach in besondere Ge- meindespeicher, wo sie als Friedensproviant dem Heere reserviert blieben. „Chimalmilli" hießen solche Landstücke. Der calpolli war die Basis der völkischen Ein- teilung, seine Mitglieder bildeten aber nicht den einzigen Stand im mexikanischen Reiche. Alle jene Verteilungsmomente, wie sie dargestellt wur- den, waren, wenn sie sich auch auf einer solchen Entwicklungsbahn zu befinden scheinen, durchaus nicht kommunistisch. Der stets untertänige, unter- würfige Sinn des Indianers, seine konservative Natur in allen Lebensäußerungen wie die weitere, gleich zu besprechende Gliederung des Volkes verhinderten das Aufkommen reiner kommunisti- scher Zustände von vornherein. Und wenn auch noch mehr Züge einer kommunistischen Gesell- schaftsordnung sich in dem Staatswesen der Peruaner der Inkazeit finden, so waren sie ebenso noch lange nicht wirklicher Kommunismus. Die alles überragende Herrschergestalt des Gott-Königs, des Inka, und die dem Volksbewußtsein fest ein- wurzelnde Unterwürfigkeit gegenüber dieser halb mythisch-religiösen Persönlichkeit ließ niemals ein rein kommunistisches Staatsgebilde aufkommen. Im mexikanischen Reiche gab es neben dem Stande des in seine calpolli gegliederten niederen Volkes und des handeltreibenden Mittelstandes noch den Stand der Priesterschaft, den des Adels und den der königlichen Familie, der bei ihrer ausgedehn- ten Verwandtschaft eine derartige Sonderstellung zugewiesen werden kann. Für Betrachtungen über den Landbau sind diese drei letzten Stände insofern von Bedeutung, als sie ebenfalls am Besitze des Bodens teil hatten. Der König selbst war Großgrundbesitzer. Sein Besitz zeigte beständiges Wachtum, das auf folgende Weise zustande kam. Die Azteken waren, wie eingangs bemerkt, noch bis zur An- kunft der Spanier im Jahre 15 19 bei der völli- gen Inbesitznahme des mexikanischen Gebietes begriffen, wobei sie im Süden freilich schon ziem- 744 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 47 lieh weit an die Peripherie des heutigen Staates vorgedrungen waren. Ihre Eroberungskriege, die sie führten, waren fast immer für sie von Erfolg begleitet und endeten mit der Einbeziehung der unterworfenen Territorien in den Komplex des bisherigen Staaisverbandes. Was tat man mit den neu hinzuerworbenen Ländereien ? Zunächst zerschlug man diese „pillalli" nicht in kleine und kleinste Parzellen, sondern teilte sie in größere Bezirke ' ein. Die sonderte man dann in drei Gruppen : Ländereien, die stets nur an fürstliche Personen und deren Nachkommen vergeben wurden, die also in den Privatbesitz des Adels übergingen und von den Hörigen des Adels (mayeque) bewirt- schaftet werden mußten; ferner die beiden anderen Gruppen, über die allein dem König Verfügungs- recht zustand. Die eine lieferte ihm den Lehens- besitz, den er an seine erprobten Heerführer ver- ausgabte, der ihnen lebenslänglich zur Nutznießung verblieb und nach dem Tode der Inhaber an das Lehnsoberhaupt, den König, zurückfiel. Auf der anderen endlich beruhte die stetige Vermehrung der königlichen Besitzungen. Der Herrscher ließ auf ihnen seine Krongüter anlegen, landwirtschaft- liche Institute, die für den Lebensunterhalt des ausgedehnten Hofstaates zu sorgen halten und von besonderen Beamten (tecpanilacä), gewisser- maßen Hausmeiern, verwaltet wurden. Eine letzte Art von Ländereien schließlich war Eigentum der Priesterschaft der zahlreichen Tem- pel- und Kultstätten des Landes. Die Bestellung dieser „teotlalli" oblag als besondere Pflicht den einzelnen Nachbargemeinden. — Wie mancherlei Ähnlichkeiten mit europäischen Verhältnissen machen sich somit innerhalb der alt- mexikanischen Volksgemein^chaft bemerkbar: jene Gliederung des Volkbkörpers in „calpolli" und deren Bedeutung für die Landverteilung, die manche Parallelen mit dem russischen IVlir aufweist ; jenes Lehnswesen, das so an mittelalterliche Zustände in Europa erinnert. Mag auch dem modernen Europäer einzelnes in dieser alten Landwirtschafts- technik vielleicht primitiv erscheinen, er wird dennoch dem Volke der alten Mexikaner eine er- staunliche Höhe in ihrer Agrikultur nicht ab- sprechen können, einem Volke, das unter den gegebenen lokalen und klimatischen Verhältnissen mit den ihm zu Gebote stehenden technischen Mitteln und Fertigkeiten eine Stufe der Landwirt- schaft erklommen hatte, die in jeder Hinsicht völlig für die Ernährung der zahlreichen Bevölke- rung des Landes ausreichte. Literatur. Was die Literatur über den hier behandelten Gegenstand anbelangt, so existiert hierüber nur die ältere Arbeit von Max Steffen, Die Landwirtschaft bei den altmexil^anischen Kulturvölkern, Leipzig 1883. Im übrigen muß auf die Werke der alten spanischen Autoren über Mexico und Mittelamerika verwiesen werden. Einzelberichte. Völkerkunde. Prof. A. L. Kroeber von der Universität Kalifornien hat als Nr. 8 der Hand- bücher des Amerikanischen Museums für Natur- geschichte eine Beschreibung der Völker der Philippinen-Inseln in Ostasien herausgebracht, die 224 Seiten umfaßt und unstreitig die beste zu- sammenfassende Darstellung der anthropologischen und ethnographischen Verhältnisse dieser Insel- gruppe ist. ') Die Reste der ältesten Bewohner der Philippinen, wie Indonesiens überhaupt, sind die kleinwüchsigen schwarzen Negrito, über deren Herkunft bisher nichts festgestellt werden konnte. Gewiß ist, daß sie lange vor den braunhäutigen Rassen (Indonesiern, Malafen), die heute die über- große Mehrheit der Bevölkerung bilden, auf der Inselgruppe ansässig waren. Sie müssen auch eine eigene Sprache und sachliche Kultur be- sessen haben, doch hat sich nichts davon er- halten, die Negrito haben die Sprache und Kultur der späteren Einwanderer übernommen, freilich nur in armseligen Stücken. Sie sind zu kultu- rellen Parasiten der braunen Menschen geworden. Das ist um so mehr bemerkenswert, als nicht nur die körperlichen Unterschiede sehr auffallend sind, sondern beiderseits deutlich ausgeprägte psychische Eigenarten bestehen. ') Kroeber, Peoplcs of the Philippines. 224 Seiten. New York, American Museum of Natural History. Die mongoloiden Völker der Philippinen, und zwar weniger die nach den küstenfernen Gegenden gedrängten Indonesier als die in den leichter zugänglichen Landschaften lebenden Malaien, haben ihrerseits ebenfalls wieder Bestandteile fremder Kulturen aufgenommen, vor allem vorderindisches und chinesiches Kulturgut. Aus Indien stammen eine Menge religiöser Gedanken, ein ansehnlicher Schatz von Sanskritworten, die Schrift, die Kunst der Metallbearbeitung, sowie andere gewerbliche Künste. Die Übertragung fand aber nicht unmittelbar ausVorderindien statt, sondern die nach den Philippinen vom südlichen Indonesien zuwandernden Malaien brachten von dort, wo starker buddhistischer Einfluß erwiesen ist, ihrem eigenen Kuliurbesitz hinzugelügte vorderindische Elemente mit; auf diese VVeise erreichte vorder- indische Kultur die Philippinen, ohne daß Ein- wanderung aus Vorderindien dahin stattfand. Anderenfalls müßten auf den Philippinen — wie etwa auf Java — Denkmäler der buddhistischen Kunst, wenn auch in noch so bescheidenem Um- fange, erhalten geblieben sein. Doch ist dies nicht der P'all. Die indonesischen Völker, deren typische Ver- treter die Bergbewohner Nordluzons sind, standen bei ihrem Eintreffen auf den Philippinen jedenfalls auf verhältnismäßig liefer Stufe, sie besaßen vor N. F. XIX. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 745 allem nichts von buddhistischer Kultur, über- nahmen aber später viel von den Malaien. Wann diese nach den Philippinen wanderten, steht noch nicht sicher fest. Jedenfalls erst zu einer Zeit, als in den Stammwohnsitzen der Buddhismus schon gut eingebürgert war. Ihre erstmalige vollendete schöpferische Reife erlangte die indische Kultur auf Java nach der Mitte des 8. Jahrhunderts und es ist eine malaiische Wanderung nach den Philippinen keinesfalls früher anzusetzen. Zugleich machten sich auch chinesische Ein- flüsse geltend, die länger dauerten; die Berührung mit den Chinesen führte überdies zu ausgiebiger Rassenkreuzung. Die Sprachen der Philippinenvölker gehen ausnahmslos auf eine und dieselbe malaio-poly- nesische Grundsprache zurück. Die lokalen Sprach- verschiedenheiten, sagt Kroeber, sind nicht so weitgehend, als daß sie sich nicht an Ort und Stelle hätten ausbilden können. Kroeber veranschaulicht die Verwebung der verschiedenen Geisteselemente, wie sie in den Kulturen zum Ausdruck kommen, namentlich in den gewerblichen Künsten, in den gesellschaftlichen Einrichtungen und in der Religion. Der Abschnitt Religion ermöglicht ganz besonders tiefe völker- psychologische Emblicke. H. Fehlinger. Völkerpsychologie. Die kulturgeographischen Grundlagen der altindischen Kunst auf Java legt Karl W i t h dar im i . Bande („Java") der Schriften- reihe „Geist, Kunst und Leben Asiens", die im Folkwangverlag zu Hagen i. W. erscheint. Tief dringt der Verf. ein in die Zusammenhänge zwischen Natur und Kultur, er beweist uns mit aller Deutlichkeit, wie sehr abhängig die Schöpfungen des Menschengeistes von den Bedingungen der Umwelt sind. Das Buch ist grundlegend und unentbehrlich für das Verständnis der Meisterwerke der Kunst, die auf Java aus alten Zeiten erhalten geblieben sind. Es seien nur einige von Withs Gedanken angeführt. Die altindischen Formen des Lebens herrschten eine Zeitlang auf Java. Indische Kolonisten kamen dahin und faßten die in viele Kleinheiten zersprengte javanische Volks- masse gemäß dem indischen gesellsrhafilichen, religiösen und geistigen System zu größeren Ein- heiten zusammen, rissen sie zu einer gemeinsamen Idee hin, wobei diese Volksmasse willfährig ge- horchte. Um die Mitte des 8. Jahrhunderts erreichte die vorderindische Kultur in Mitteljava eine voll- endete schöpferische Reife, doch nach einem Bestand von kaum 300 Jahren ging sie plötzlich, wie von heute auf morgen, unter. Bald darauf, etwa vom 1 1. Jahrhundert an, blühte diese Kultur an anderer Stelle, im Osten Javas, noch einmal auf, und zwar diesmal tiefer mit der malaiischen Seele der Insel verwoben und im 13. Jahrhundert von einem neuen Impuls südindischen Lebens er- füllt, doch im 15. Jahrhundert stürzte sie abermals zusammen. Die Denkmäler, die diese Kultur hinterlassen hat (die With ausführlich beschreibt und erklärt), „grenzen in ihrer Vollendung an die Erfüllung geheimnisvollster Wünsche. Volk und Land haben ihr bestes Teil den indischen Fremd- lingen gewährt, „sie haben die Strenge indischer Lebensordnung gemildert und sie vor Verhärtung bewahrt. Wer die innere schöpferische Anteil- nahme des javanischen Geistes an den Werken dieser von Indien getragenen Kunst übersieht, wird ihrem Besten und Innerlichsten nicht gerecht. Selbst dort, wo noch nicht (wie später in Ostjava) die beiden Elemente klar als eigene Bestandteile sich gegenüberstehen, wo das indische Element auf den ersten Blick das beherrschende und ein- druckbestimmende zu sein scheint, wird man bald den innewohnenden Geist Javas spüren, wird man fühlen, daß die Gölter Indiens mit F"reuden von den Schätzen dieser Insel genommen haben ; ja gerade das javanische Element ist es, das den Grad der Vollendung und Schönheit dieser Werke ausmacht und das sie merklich vom Geiste, nicht von der Qualität der altindischen, jedenfalls aber der gleichzeitig indischen Werke unterscheidet. Die „wundersame Vereinigung von indisch über- sinnlicher Vehemenz mit malaiischer Innigkeit, von unromantischer Klarheit mit unberührter Phantastik, des indischen Stolzes mit malaiischer Glückhaftigkeit, der indischen Konzentration mit der Weichheit malaiischen Lächelns, der visionären Zauberkraft Indiens mit der harmonischen Lebens- fülle Javas — diese Vermischung hat aus Java einen Märchenwald von Göttern und Tempeln gemacht. Indojavanisch bezeichnen wir diese Kunst in ihrer Verschmelzung zweier Rassen, die einander so glücklich ergänzen und die ein Spiel der Natur zu einem erschütternden Werke ver- einigte." In ihren letzten Gründen wird freilich die einzigartige Fülle, Reife und Durchbildung der indojavanischen Kunst immer ein Rätsel bleiben. Warum aber war jene Kultur nicht bestand- fähig, die sich aus dem geistigen Kontakt von- einander recht abweichend veranlagter Rassen ergab ? Die Geschichte schreibt ihren endgültigen Untergang im 15. Jahrhundert der Überwältigung des buddhistischen durch den islamischen Geist zu, doch ist diese Erklärung nicht hinreichend, sie forscht nicht in die Tiefe. With unternimmt es, die letzten Ursachen des Zusammenbruches der indojavanischen Kultur klarzulegen. Er denkt, daß die Formen vorderindischen Lebens dem malaiischen Lande ungemäß waren, weil sie vom Mutterboden abgesprengt waren und weil der malaiischen Rasse eine starke eigene Potenz der Lebensauffassung eigen ist. Sobald die vorder- indische Wanderung nach Java aufhörte, war es auch mit der Lebensfähigkeit der indojavanischen Kultur vorbei, die von dem weitentlegenen Zentrum her genährt werden mußte. Das Leben auf Java kehrte wieder in die ihm von Natur und Rasse vorgeschriebenen Bahnen zurück, es nahm wieder „an Stelle der großen höfischen Zentren die patriarchalisch-kommunistische Form der Dorf- 746 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 47 genossen an, wirkte sich in dem engen Kreis häuslichen Lebens und dörflicher Verpflichtungen aus." Es ist alles wieder so geworden, wie es von alters her war : ,,Die schöpferische Lust erlebt im Handwerk der täglichen Dinge ihre nahe Er- füllung, die Unendlichkeit lebt sich in der Freude an Tempelfeiern, an Prozessionen und Tänzen aus." Der Bau der großen Götterwelt, das feste Gefüge der metaphysischen Gedanken ist ver- sunken und „die nahen Geister von Bäumen, Dorf, Berg und Regen erfüllen wieder die Seele dieses Volkes, bis die europäischen Einwanderer ihr übriges tun, die innere Leidenschafdichkeit solchen Glaubens und Lebens abzuschwächen." In den Tropen ist nur diese ganz einfache Lebensordnung möglich, die „Anpassung an den Boden in kleinsten Ausmaßen", oder aber jene „ganz strenge, fanatisch reine Schichtung des Gesamtvolkes, unter Aus- sonderung einer besonderen, den Furchtbarkeiten des Lebens enthobenen Kaste, deren einziges Lebenamt darin besteht, die Gedanken über Götter und Welt zu hüten und zu vererben, während andere Kasten das Mark der Volkskraft stark zu erhalten und den Bau ständig zu erneuern haben, indessen gleichzeitig Ungezählte der Unerbitilich- keit des Lebens preisgegeben sind"; das ist die Kastenordnung, wie sie in Vorderindien besteht. Ihr entspricht die Psyche der Javanen nicht. Ungünstig für das Erhaltenbleiben der indo- javanischen Kultur war ferner der Umstand, daß ihr Verbindungsweg von Nord nach Süd verlief, vom Himalaja in die Aquatorzone hinein; denn die tropische Natur begünstigt den jähen Wechsel des Lebens und der Kulturen, von „rauschender Fülle und vernichtendem Untergang." H. Fehlinger. Kristallographie. Über Entmischungsdisper- soide in anisotropen Medien. In Anlehnung an frühere Versuche (B. Lorenz und W. Eitel, Zeitschr. f. anorg. Chemie 91 (1915) S. 46 — 65) zeigt W. Eitel im Zentralbl. f. Min. 1919, S. 173 bis 188, wie ultramikroskopische Methoden heran- gezogen werden können, um die Vorgänge der Entmischung vorher homogener fester Lösungen zu beschreiben. — Die Kristalle des sog. Chlo- ronatrokalits, eines eigentümlichen Sublima- tionsproduktes, das bei Vesuveruptionen beobachtet wird und chemisch ein Gemisch von NaCl und KCl darstellt, werden meist als „opak durch- scheinend" bezeichnet, soweit sie nicht schon makroskopisch eine Entmischung durch Auftreten von getrennten NaCI- und KCl Würfeln erkennen lassen. Sie haben dann bläuliche Farbe im auf- fallenden, gelbliche im durchfallenden Lichte und zeigen damit wesentliche Eigenschaften eines Dispersoides, wie sie z. B. bei Milchglas oder bei Hydrosolen von Kieselsäure oder Aluminium- hydroxyd zu beobachten sind. Ein nur wenig NaCl haltiger, opaliner Sylvinkristall vom Monte Somma zeigte in der Tat unter dem Mikroskop nichts von einer Sonderung in zwei Komponenten, während mit dem in einer nur wenig früheren Arbeit (Centralbl. f. Min. 1919, S. 74—85) be- schriebenen Apparat für kristallultramikroskopische Untersuchungen unter dessen hohem Auflösungs- vermögen eine außerordentliche Fülle, ein „Nebel" sehr feiner Ultramikronen wahrnehmbar wurde. Man muß es hier demnach mit einem typischen Entmischungs Dispersoid zu tun haben. Das Zustandsdiagramm des Systems NaCl — KCl, wie es von Kurnako w und Zemczuzny sowie neuerdings von R. Nacken gegeben wor- den ist, läßt in der Tat einen kritischen Ent- mischungspunkt bei ca. 500" und 65 "/„ NaCl- Ge- halt, sowie zwei Entmischungskurven erkennen. Wenn die Abkühlungszeit zur Herstellung des endgültigen Gleichgewichts genügt, zerfallen die Mischkristalle schließlich in ein Gemenge von Sylvin und Kochsalz, andernfalls lassen sich durch rasches Abschrecken die Mischkristalle sogar meta- stabil in das Gebiet gewöhnlicher Temperatur hinüberretten. Zweck der Untersuchungen Eitel s ist nun nicht, die bereits bekannte Lage der Entmischungs- kurven nachzuprüfen, sondern vielmehr ultramikro- skopisch festzustellen , „wie der Entmischungs- vorgang selbst einsetzt, wie sein Fortschreiten sich äußert, und welche Endzustände bei den praktisch zur Verfügung stehenden Zeiträumen erreicht werden können." — Zunächst wurden Vorproben angestellt, wie die Schmelzprodukte der reinen Salze sich ultramikroskopisch ver- halten. Hierbei zeigten sich nur bei sehr starker Vergrößerung und langer Exposition bei der photographischen Aufnahme einige sehr feine Ultramikronen, welche allem Anschein nach echte Metallnebelteilchen darstellen, die durch den bei höheren Temperaturen eintretenden ganz geringen freiwilligen Zerfall der Chloride in Halogen und Metall zu erklären sind. Bei den weiteren Unter- suchungen brauchte auf diese außerordentlich zarte Erscheinung keine Rücksicht genommen zu werden. Danach wurden systematische Schmelz- versuche von NaCl — KCl -Mischungen angestelllL 50 Gew.-»/,, KC1+ 5oGew.-7o NaCl ergaben nach möglichst rascher Abkühlung bei der Ver- festigung ein Aggregat von Kristallkörnern , die im Laufe sehr kurzer Zeit porzellanartig trüb und undurchsichtig wurden. Im Dünnschliffe zeigte sich anfangs sehr starke anomale Doppelbrechung, bis die fortschreitende Entmischung das Präparat undurchsichtig machte. Im Ultramikroskop konnte man im Laufe von etwa einer Stunde den Fort- schritt der Entmischung sehr schön verfolgen. „Es sah ganz so aus, als ob ein Hydrosol ausge- flockt werde." — Gleichzeitig mit den dichter und dichter werdenden Nebelteilchen nahm die Durchsichtigkeit und, soweit sich beurteilen ließ, auch die anomale Doppelbrechung ab, ein Zeichen der Entspannung des ganzen metastabilen Systems. Schließlich wird die Entmischung auch mikro- skopisch (durch eine eigenartige „Pflaster"-Struktur N. F. XK. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 74; heterogener Bestandteile) und sogar auch makro- skopisch (durch Verlust des Oberflächenglanzes) sichtbar. Bei Schmelzen mit 25 "/o KCl bzw. 25 "^/^ NaCl war der Entmischungsvorgang bereits besser zu verfolgen. Bei analogen Mischungen von 12,5 % KCl bzw. 12,5 "/o NaCl zeigten die schwach opalanig getrübten Mischkristalle im IJltramikro- skop bei weitem nicht mehr die intensive Nebel- bildung der vorher geschilderten Präparate. Noch schwächer wurde die ultramikroskopische Ent- mischungserscheinung bei Mischungen von 6,25 % KCl bzw. 6,25% NaCl. Das KCl -reichere Prä- parat erschien dabei im Gegensatz zum NaCl- reicheren als fast völlig nebelfrei und zeigte noch eine sehr deutliche Spannungsdoppelbrechung. Es wurde hieran nachgeprüft, wie die Entmischung mit dem Verschwinden der Spannungsdoppel- brechung zusammenhängt. Nach dreistündigem Erwärmen des Präparates, das vorher nahezu optisch leer erschien, auf 250", zeigten sich deut- lich ultramikroskopische Nebelgebilde, vor allem gern in der Nähe von Gasblaseneinschlüssen und an Spaltrissen. Vermutlich war dort die Spannung am größten und wurde am ehesten ausgelöst, in- folgedessen erklärt sich die merkliche Abnahme der vorher sehr deutlichen Spannungsdoppel- brechung. — Nach 24 stündigem Erwärmen des- selben Präparates war die Entmischung noch weiter fortgeschritten, sie erreichte nach ßtägiger Erhitzung auf 250'^ ihren Höchswert, längere Zeitdauer ließ alsdann eine weitere Reifung des Nebels nicht mehr erkennen. Analog verhielten sich Schmelzen mit 3,13 % KCl bzw. 3,13 "/o NaCl. Dagegen zeigte ein Prä- parat mit 1,56% KCl und 98,44% NaCl auch bei 96 stündigem Erhitzen auf 200" keine Ände- rung des ultramikroskopischen Bildes. Diese Kristalle sind und bleiben also homogen. Dem- gegenüber ist ein Präparat mit 1,50 "/o NaCl noch sehr deutlich verschieden, indem die zwar sehr klaren, nicht opaleszierenden Kristalle in der Nähe von Luftblasen noch immer recht deutliche Nebel zeigen, die durch 2tägiges Erwärmen auf 200" sich noch stärker ausgeprägt entwickeln ließen. Selbst bei 0,78 "/o NaCl zeigten sich noch während langsamer Abkühlung gebildete Nebel; spurenhafte Entmischungserscheinungen bleiben sogar bei nochmaliger Verdünnung des NaCl- Gehaltes auf 0,39 % bemerkbar. — Die Beschrei- bung dieser Beobachtungsergebnisse wird vorteil- haft unterstützt durch 22 Photogramme, die mit besonderer Geschicklichkeit aufgenommen und entwickelt worden sind, so daß Erscheinungen objektiv wiedergegeben werden konnten, von deren Feinheit sonst ohne persönliche Beobach- tung nicht leicht eine Vorstellung gegeben wer- den könnte. An diese sehr interessanten Versuche und Beobachtungen läßt sich die Hoffnung knüpfen, daß die schwierige Frage der Entmischung des mineralogisch so wichtigen Systems Kalifeldspat — Natronfeldspat, dessen homogene primäre Misch- kristalle die Anorthoklase sind, in dieser Weise aufgeklärt werden kann. Spbg. Die Verwendung von Lauediagrammen zur Er- kundung der Symmetrieklasse von Kristallen zeigt F. Rinne in Untersuchungen über „Lauediagramme des Nephelin" (Centralbl. f. Min. 1919 S. 129^133) und über „Lauediagramme des Benitoit" (Centralbl. f. Min. 1919 S. 193 — 201), ebenso wie dies in einer früheren Arbeit über „Das Kristallsystem und das Achsenverhältnis des Eises" [Ber. sächs. Ges. d. Wiss. z. Leipzig, 69 S. 5 7. ('9 '7)1 bereits geschehen ist. — Wenn z. B. die Übersicht des Musters der Sekundärstrahleneinstiche im Lauediagramm beim Eise deutlich hexagonale Symmetrie zeigt, so läßt sich daraus für die Eiskristalle ableiten, daß sie entweder der dihexagonalbipyramidalen oder der dihexagonal- pyramidalen oder der hexagonal- trapezoedrischen oder der ditrigonal-bipyramidalen Klasse, nicht aber der hexagonalbipyramidalen, hexagonal- pyramidalen oder trigonal-bipyramidalen Klasse angehören können. (Im Lauediagramm ist nämlich stets die eigentliche Kristallsymmetrie durch Zusatz eines Symmetriezentrums erhöht, darum läßt sich zunächst die Kristallklasse nicht eindeutig angeben. Man kann vielmehr von den 32 Kristall- klassen nur II Abteilungen röntgenographisch voneinander unterscheiden.) Aus dem Überblick über alle in Betracht kommenden Daten schließt der Verf , daß von den angegebenen möglichen Kristallklassen das Eis dihexagonal-pyrami- dal (d. i. hexagonal hemimorph) kristallisiert. Das Achsenverhältnis läßt sich nur unsicher mit a : c := I : 1,6 bestimmen. O. Mügge hat da- gegen bereits früher die Ansicht ausgesprochen, daß die Flächensymmetrie von Basisplatten des Eises trigonal sei und daher das Eis wahrscheinlich rhomboedrisch kristallisiere. Er deutet infolge- dessen das hiermit im Widerspruch stehende Lauephotogramm F. Rinn es durch die Annahme, daß die photographische Eisplatte ein Zwilling nach (0001) gewesen sei (vgl. O. Mügge, Über die Symmetrie der Einkristalle, Centralbl. f. Min. 1918 S. 137). Dieser Deutung kann sich jedoch R. Groß, der die betreffende Aufnahme als Assistent Rinn es auszuführen hatte, nicht an- schließen. Er bestätigt vielmehr die Rinne sehe Auffassung auch noch durch die Prüfung, ob das betreffende Lauediagramm in bezug auf eine Struktur deutbar ist (vgl. R. Groß, Das Laue- photogramm des Eises, Centralbl. f. Min. 1919 S. 201 — 207). Bei Verwendung der Lauediagramme zur Symmetrieerkundung ist also, wie aus dem Vor- stehenden ersichtlich ist, zunächst stets die Frage zu stellen, ob die zur Unterscheidung in Betracht kommenden Klassen ein und derselben oder ver- schiedenen der 1 1 röntgenographisch unterscheid- baren Klassen angehören. .So rechnet man z. B. zufolge Ätzversuchen U. Baumhauers den 748 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 47 Nephelin, der nach seiner Formenentwicklung zunächst dihexagonal bipyramidal (holoedrisch) er- scheint, zu einer hemiedrischen, in der jetzt üblichen Bezeichnungsweise zur hexagonal pyramidalen Klasse. Der Befund Baumh au ers wurde durch H.Traube bestätigt. Wenn nun auch, wie oben angegeben, die Symmetrieklasse durch die Laue- diagramme nicht eindeutig erkannt werden kann, so läßt sich im vorliegenden Falle doch zwischen dihexagonal-bipyramidal und hexagonal- pyramidal bestimmt entscheiden und somit der Befund der Ätzversuche nachprüfen. Es ergibt sich (wie auch aus den Originaldiagrammen in den Ber. sächs. Ges. d. Wiss. z. Leipzig 71. Bd. S. 225 ff. hervor- geht) Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Ätzversuche Baumhauers, so daß die Ein- gliederung des Nephelins in die hexagonal-pyra- midale Klasse bestehen bleibt. In dem anderen Beispiel, beim Benitoit (BdTiSigO;,), kommen zurzeit entweder die trigonal- bipyramidale, ditrigonal bipyramidale oder ditri- gonal pyramidale Klasse in Betracht. Diese drei Klassen würden sich gerade durch drei verschieden- artige Röntgenogramme unterscheiden müssen, vorausgesetzt, daß keine Störungen sich zeigen. Unregelmäßigkeiten der Diagramme können vor- kommen, wie z. B. aus Untersuchungen von H. Haga und F. M. J a e g e r sowie von F. R i n n e zu ersehen ist. Um diese Fehler zu vermeiden, ist eine be- sonders genaue Orientierung der zu untersuchenden Kristallplatten in bezug auf die Primärstrahlrichtung notwendig, wie sie sich durch peinliche Hand- habung des bekannten Wülfingschen Schleif- apparates bei kristallographisch gut ausgebildetem Material erreichen läßt. Es zeigte sich bei den dies beachtenden Aufnahmen Rinnes (Original- Autotypien in den Ber. d. mathem. phys. Kl. d. sächs. Ges. d. Wiss. 71. Bd. S. 225 ff.), daß der Benitoit mit Sicherheit der ditrigonal-bipyramidalen Klasse angehört (sein Lauediagramm erscheint also infolge des Zusatzes des Symmetriezentrums dihexagonal-bipyramidal). Spbg. F. Rinne veröffentlicht im Centralbatt für Mine- ralogie 1919 S. 161 —172 wertvolle Betrachtungen „Zum Feinbau isomorpher Stoffe". (Mit i Abb.) Bekanntlich werden als die , grundlegenden Kenn- zeichen des vor etwa 100 Jahren von J. E. Mitscherlich gelehrten Isomorphismus heute gefordert: ähnliche Kristallform, chemische Ana- logie und die Fähigkeit zusammenzukristallsieren. Indem wir eine enge Strukturverwandtschaft der isomorphen Stoffe voraussetzen dürfen, lassen sich mit Hilfe des Molekularvolumens und der kristallo- graphischen Achsen die sog. „topischen Achsen" berechnen und durch diese die Verschiedenheit der räumlichen Dimensionen der Isomorphen ver- gleichen. Quantitative Angaben der absoluten Beträge der Strukturdimensionen wurden aber erst durch die Röntgenuntersuchung nach Laue, Bragg, De byc und Sc herrer ermöglicht. Mit ihrer Hilfe wurden die Elementarkörper isomorpher Stoffe ausgemessen und die Zahl der darin ent- haltenen Moleküle aufgefunden. Man kann aber auch unter der Annahme der Richtigkeit der bereits erkannten Isomorphie auch für röntgeno- graphisch direkt noch nicht gemessene Glieder einer zum Teil ausgemessenen isomorphen Gruppe die Ausmaße des Elementarkörpers berechnen. So sind von den a. a. O. beigefügten Tabellen für AI, Cu, Ag, Au, Pb die Ausmaße sämtlich direkt gemessen worden. Die Tabelle zum Vergleich der Ausmaße der trigonalen Karbonate MgCO.., CaCOg, MnCO^, FeCOg, ZnCOg, CdCOg enthält dagegen teils direkt gemessene, teils berechnete Werte, ebenso auch eine Tabelle der Alkali- halogenide, in der die Verbindungen von Li, Na, Rb und Cs mit F, Cl, Br und J mit ihren Aus- maßen aufgeführt werden. Bezüglich der Frage nach dem Feinbau isomorpher Mischkristalle sind nun be- kanntlich zwei Anschauungen verbreitet. Entweder wird eine Verwachsung von submikroskopischen Kristallteilchen, d. h. von immerhin beträchtlichen Ausschnitten des Punktsystems der Komponenten, angenommen, oder man stellt sich den Misch- kristall als ein einziges System vor, in dem ent- sprechende Feinbauteilchen (Atome oder Atom- gruppen) der Komponenten „Vikariieren". — Zur Entscheidung, welcher von diesen beiden Auf- fassungen der Vorzug zu geben sei, hoffte man durch die Anwendung der Phasenregel zu ge- langen; es zeigte sich jedoch, daß deren An- wendungsfähigkeit sich nicht in das Gebiet hoher Dispersitätsgrade erstreckt. Ebenfalls gibt die Meinung, daß die mechanische Mischung kleiner Teile eine Additivität ihrer Eigenschaften als Kriterium mit sich bringen müsse, kein untrügliches Kennzeichen zur Entscheidung dieser Frage. Als ein weiteres Aufklärungsmittel steht uns aber die Röntgenstrahlung zur Verfügung, die ja der Fein- heit des Kristallgitterbaues gerade angepaßt ist. Nach M. V. Laues Berechnungen müßte der atomistisch vikariierende Bau von Mischkristallen Anlaß zu einer zerstreuten Strahlung werden, die neben dem Beugungsdiagramm aultreten sollte. Nun wird aber andererseits auch durch größere feinkristalline Einlagerungen einer isomorphen Komponente in die andere sicherlich die Regel- mäßigkeit des Lauediagramms ebenfalls gestört, so daß zunächst auch hiermit eine Entscheidung schwer erscheint. „Indes darf man doch wohl annehmen, daß die Ungleichmäßigkeiten des Beugungseffektes mit der Größe dieser Fremd- körper in der Reihe von leptonischen zu kolloi- dalen Dispersitäten zunehmen." Dann könnte man aber aus dem Grade der Beeinträchtigung der Schärfe der Lauediagramme einen Anhalt ge- winnen, welche der beiden oben erläuterten An- schauungen über den Bdu isomorpher Mischungen besser zutrifft. Der Verf hat nun im Laufe der letzten Jahre bei rönfgenographischen Aufnahmen an Mineralien (vgl. besonders F. Rinne, Beiträge N. F. XIX. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 749 zur Kenntnis der Kristall Röntgenogramme I u. II, Ben d. Sachs. Ges. d. Wissenschaften zu Leipzig 67, S. 303 ff. und 68, S. 1 1 ff.) oft Gelegenheit ge- habt, Lauediagramme isomorpher IVIischungen, wie z. B. der Feldspäte, Glimmer, Augite und Horn- blenden u. a. mehr mit solchen von reinen Kristallen zu vergleichen, wie z. B. von Quarz, Kalkspat, Gips usw. Ein durchgreifender Unterschied be- züglich zerstreuter Strahlung und sonstiger Störung ist jedoch dabei nicht aufgefallen. Dies spricht daher für die Annahme, daß die Verteilung der isomorphen Komponenten jedenfalls in sehr großer Dispersität erfolgt, die wahrscheinlich der ato- mistischen gleichkommt. ^) Nimmt man also an, daß die Mischkristall- bildung durch eine ganz wahllose Ersetzung von entsprechenden vikariierenden Atomen oder Atom- gruppen der einen Komponente durch solche der anderen erfolgt, so erhält man z. B. für die Ver- teilung der Cl- und Br-Ionen in einem NaCl-NaBr- Mischkristall das schematisch von Rinne gegebene Bild (vgl. Abb.). Daraus geht hervor, daß offen- bar für die Möglichkeit einer Mischkristallbildung ONa lei DBr die Struktur der sich vertretenden Atome, bzw. Atomgruppen von größter Bedeutung sein wird, womit im wesentlichen dasselbe gesagt ist, was durch das eine der Kennzeichen des Isomor- phismus, die chemische Analogie, gefordert wird. — In zweiter Linie findet sodann die Isomorphie ihren strukturellen Ausdruck in den passenden Ausmaßen der Elementarkörper. Nur bedingen offenbar gleiche Elementarkörper allein noch nicht die Mischbarkeit. Dies geht aus den Daten der in verkürzter Form nach Rinne hier ange- gebenen Tabelle hervor. Die Längen der Elementarwürfel von AI, Ag und Au stehen sich sehr nahe, die von Cu und Pb weichen erheblich davon ab. Käme es nur auf die Abmessungen der Raumgitter an, so wäre ') Anm. d. Ref.: L. Vegard und H. Schjelderup haben übrigens [Physik. Zeitschrift 18, S. 93—96 (1917)] eben- falls, und zwar nach dem Braggschen Reflexionsverfahren, röntgenographische Untersuchungen von Mischkristallen ausge- führt, unü das in Rede stehende Problem zu lösen. Das Unter- suchungsmalerial war jedoch einer endgültigen Entscheidung nicht günstig, so daß diese weiteren Untersuchungen vorbe- halten bleiben mußte. Doch scheint auch aus ihren Ergeb- nissen die Annahme atomistischer Verteilung der Mischkristall- komponenten die wahrscheinlichere zu sein. Ordnungs- zahl Absolutes Alomgew. in to-" g 1 Spez.Gew. Seitenlänge des Elementar- würfels in 10— 'cm AI 13 44.22 i 2,60 4,07 Cu 29 103,75 ' 8,93 3,61 Ag 47 174.84 10,50 4,06 Au 79 321,82 ! 19.32 4.07 Pb 82 338,14 1 11,37 4.91 für AI, Ag und Au eine durchgehende Mischbarkeit zu erwarten. In Wirklichkeit sind zwar Ag und Au (infolge gleichzeitig passender Atomstruktur) durchgehend mischbar. Au und AI aber nur in beschränktem Maße, trotz vollkommen gleicher Raumgittermaße. [Auf diese Verhältnisse hat bereits P. Scherrer, Physik. Zeitschrift 19, S. 23 (191 8) nach Erforschung des Raumgitters des AI hingewiesen.] — Auf die Bedeutung der Atom- struktur für die Mischbarkeit weist auch deren Abhängigkeit von der Temperatur hin. Die Tempe- raturänderung ist vielmehr ein Ausdruck der Struktur- und Bewegungsänderung des Atoms als der Gitierausmaße. Der starke Wechsel von Mischbarkeit mit dem Wärmegrade, bei Halo- geniden z. B., läßt sich zur Stütze dieser An- schauung heranziehen. Demnach erscheint also auch die Temperatur als ein wesentlicher Faktor der Isomorphie. — ■ Schließlich ist noch ein weiterer Faktor bemerkenswert, der sich z. B. dadurch zeigt, daß die Mischbarkeit nicht für alle Kon- zentrationen mit einem Male eintritt. Rinne be- zeichnet ihn als leptonische Nahewirkung der Stoffe (Leptonen = Feinbauteilchen, von IettiÖg = fein, zart). In ihrer wechselseitigen Beeinflussung bilden sie ein leptonisches Feld, unter dessen Wirkung jede Komponente struk- turelle Änderungen erfährt. Es ergibt sich daher: „Der Isomorphismus hängt somit nicht lediglich mit der analytisch chemischen Zusammen- setzung der Stoffe zusammen, sondern auch mit der strukturellen Art ihrer feinbaulichen Bestand- teile, die ihrerseits bedeutsam von den physi- kalischen Umständen beeinflußt wird, unter denen die Stoffe stehen, gleichwie von der chemischen Umgebung, dem stofflichen Felde, das sie in gegenseitiger Einwirkung bilden. Ein Stoffpaar ist nicht schlechthin isomorph, sondern erst in Zuständen atomstruktureller Verwandtschaft; sie hängt von den physikalisch-chemischen Faktoren Temperatur (und Druck) sowie stofflicher Nahe- wirkung als den wirksamen Einflüssen auf den atomistischen Feinbau ab." — Erst nach Er- kenntnis der Atomstrukturen wird das volle Verständnis des Isomorphismus nahegerückt. — Zum Schluß wird noch die PVage erörtert, ob die isomorphen Mischungen als physikalische Gemische oder als chemische Ver- bindungen aufzufassen seien. Gemäß der regel- mäßigen chemischen Verknüpfung ihrer Bauteile entsprechen sie dem Wesen chemischer Verbin- dungen, werden aber andererseits deren weiterem Charakterzug, der Konstanz der Atomproportionen, 750 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 47 nicht gerecht. In bezug auf die Zusammen- setzung folgen die Mischkristalle wie die typischen molekularen Gemische dem Wechsel der äußeren Umstände in stetiger Weise. Rinne sagt infolge- dessen: „So haben die isomorphen Mischungen also ein ganz besonders bedeutsames allgemein chemisches Interesse durch ihren ausgeprägten Charakter als Bindeglied zwischen che- mischer Verbindung und physikalischem G e m i s c h." Spbg. Bücherbesprechungen. Morton, Dr. Friedrich, Wasserpflanzen. Mit 29 Originalbildern. Deutsche Naturwissenschaft- liche Gesellschaft. Geschäftsstelle Theod. Thomas Verlag, Leipzig. Auf 70 Seiten das Wesentlichste über Physiologie, Biologie und Morphologie unserer Wasserpflanzen zu sagen, ist nur bei äußerst gedrängter Darstellungs- weise möglich, selbst wenn man die von manchen „zur Zeilenfüllung herangezogene Pflanzen psych e, sowie Fragen über Zweckmäßigkeit u. a." ganz beiseite läßt. Offenbar waren dem Verf., der sich große Mühe gibt, im Laienpublikum Interesse für die Wasserpflanzen zu wecken, in Bezug auf den Raum die Hände gebunden. Infolgedessen mußte eine gewisse Formenkenntnis beim Leser vorausgesetzt werden. Ohne Frage werden Lieb- haber, Aquarienfreunde usw. durch das Buch zu eigenen Beobachtungen angeregt werden. — Nach einem Kapitel, das sich mit den Lebensbedingungen der Wasserpflanzen im allgemeinen beschäftigt, werden die untergetauchten Pflanzen, dieSchwimm- und Seichtwasserpflanzen im besonderen besprochen. Eine kurze Anleitung zur Kultur der Wasserpflanzen, ein ziemlich ausführliches Literaturverzeichnis und ein Register bilden den Schluß. Es wäre wünschens- wert, daß im Text überall auf die Literatur hingewiesen worden wäre, so daß dem Leser, der sich eingehender mit den Wasserpflanzen beschäf- tigen möchte, das zeitraubende Suchen erspart bliebe. — Die Abbildungen, die sämtlich Originale sind, stehen in Bezug auf die Reproduktion leider nicht auf der Höhe. Ref. kann nur immer wieder empfehlen, bei den heutigen Papierverhältnissen lediglich Strichzeichnungen zu verwenden. Aus welchem Grunde Nymphaea alba Castalia alba und Scirpus lacustris Schoenoplectus lacustis genannt werden, ist nicht recht ersichtlich. In populären Büchern sollte man auch populäre Namen wählen, auch wenn der Verf. sich an igrendwelche Nomen- klaturregeln für gebunden hält. Wächter. Maurizio, Dr. A., o. Prof. an der Technischen Hochschule in Lemberg, Die Nahrungs- mittel aus Getreide. Ihre botanischen, chemischen und physikalischen Eigenschaften, hygienisches Verhalten, Prüfen und Beurteilen. Handbuch für Studierende, Landwirte und den gesamten Getreidenahrungerzeugenden Gewerbe- stand. Zweiter Band. Brotnahrung. Brotarten, Volks- und Soldatenbrot, Zwieback, Brotersatz und Zusätze. Graupen und Grieße. Teig- waren. Breipflanzen, Aufguß und Suppen. Mais und Maiskost, Reis und Reiskost und ihre Ge- fahren. Mit 6 Textabbildungen und i Tafel. Berlin 1919, Verlagsbuchhandlung Paul Parey. Dieser zweite Band schließt sich, was Tatsachen- material und Darstellungsweise anbelangt, dem ersten würdig an. (Vergl. Nat. Wochenschr. 1919, S. 176.) Die Originalhät des Verf. kommt auch hier wieder darin zum Ausdruck, daß in glück- lichster Weise physiologische, botanische, chemische und technische mit kulturhistorischen und sozio- logischen Erörterungen verknüpft werden, und daß die wichtige französische und italienische Literatur eingehend verwertet wird. — In dem Kampf um Schwarz- und Weißbrot steht Verf. im Wesentlichen auf Seiten der Weißbrotesser, und er stimmt in der Bevorzugung des Weißbrotes, außer mit einer Reihe von Physiologen mit allen Praktikern überein, die die Bedürfnisse der Konsu- menten natürlich am besten kennen. Es zeigt sich, sobald die Möglichkeit der freien Wahl vor- handen ist, eben immer wieder das Bedürfnis nach gewissen Nahrungsmitteln, zu denen auch das Weißbrot gehört, denn selbst in Gegenden, in denen Schwarzbrot das eigentliche Volksbrot ist, zeigt sich ein starkes Bedürfnis nach Weißbrot. — Besonders dankbar muß man dem Verf. sein, daß er zum ersten Male die Teigwaren wissenschaftlich bearbeitet. — In den Schlußkapiteln wird Stellung zu den Gliadin-, Vitamin- und Ergänzungsstofffragen genommen. Verf. verteidigt im allgemeinen die Vitamine gegen die Ergänzungsstoffhypothese. Nachträge zu Bd. i u. 2 und ein Namen- und Sachregister bilden den Schluß des Werkes, das allen Interessenten aufs beste empfohlen werden kann. Wächter. Fischer, Bernhard, Zur Neuordnung des medizinischen Studiums und Prüfungs- wesens. München 1919, J. F. Lehmanns Verlag. Es kann hier nicht der Platz sein, auf den Gegenstand näher einzugehen. Ich möchte aber betonen, daß von allen Vorschlägen , die für die zweifellos erforderliche Neuordnung des medizini- schen Studiums und Prüfungswesens gemacht worden sind, die Fischerschen am meisten Leben atmen und am klarsten auf Grund eigener Erfahrungen durchgearbeitet sind. Es sei mir erlaubt, dieses hier auszusprechen, wenn ich auch zur Begründung eine Schrift verfassen müßte, die der Fischerschen an Umfang gleichkäme. Doch es ist schon genug über das Thema geschrieben N. F. XIX. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 751 worden. Ich möchte aber jedem, der sich mit der vorliegenden Frage beschäftigt — und es ist ja keine rein ärztliche Frage — empfehlen , die Schrift Fischers zu lesen. Wenn ich die Macht dazu hätte, ich würde mich nicht scheuen, seine Vorschläge in Bausch und Bogen zur Durch- führung zu bringen. Kurz gesagt will Fischer folgendes. Ausdehnung des Studiums auf I2 Se- mester mit Abschaffung des praktischen Jahres, das durch wiederholte Praktikantentätigkeit in den Ferien ersetzt wird; drei Examina, das erste für die naturwissenschaftlichen Fächer, das zweite für Anatomie, Physiologie und allgemeine Patho- logie, das drhte entsprechend dem jetzigen Staats- examen ; Einführung des Kollegialexamens. — Alles wird eingehend begründet, und der Studien- und Examensplan ist bis in alle Einzelheiten genau ausgearbeitet. Hübschmann (Leipzig). Anregungen und Antworten. Vom Kuckuck, Cuculus canorus L. Neulich wurde einem meiner Mita>beiter au der geplaLten Wirbeltier fauna Hessens, für die mir nach wie vor zoologische Mitteilungen aus Hessen und Nachbargebielen stets erwünscht sind (An- schrift: W. Sunkel, Marburg i. H., Fr. Str. 55), gesagt, der Kuckuck werde im Herbst ein Sperber und es war kaum möglich, seinem Kameraden den allen Aberglauben aus- zureden. Auch Prof. Knortz („Die Vögel in Geschichte, Sage, Brauch und Literatur". Seybolds Verlag, München. S. 151) erwähnt diesen Volksglauben: ,,Es ist eine gemeine Volkssage, wenigstens in einigen Teilen von Westfalen, daß der Kuckuck sich im Winter m einen Hühnergeier verwan- delt." Derselbe Aberglaube beschäftigte Goethe und Eckermann, wie letzlerer im 3. Band seiner Gespräche er- wähnt: „Ein kleiner Falke flog vorbei, dtr in semem Flug und in seiner Gestalt grofie Ähnlichkeit mit dem Kuckuck hatte." „Es gab eine Zeit," sagte Goethe, „wo das Studium der Naturgeschichte noch so weit zurück war, daß man die Meinung allgemein veibreitet f.ind , der Kuckuck sei nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber werde er ein Raub- vogel." ,, Diese Ansichl", erwiderte ich , „existiert im Volke jetzt noch. Ja man dichtet dem guten Vogel auch an, daß, sobald er völlig ausgewachsen sei, er seine eigenen Eltern verschlucke. Und so gebraucht man ihn als ein Gleichnis schändlichsten Undanks." — Schon Plinius ge- denkt der Vorstellung, daß der Kuckuck, sobald er erwachsen ist, die Vögel verschluckt, die ihn in jüngeren Tagen gefüttert haben. Wenn auch kein Vogelkenner mehr daran glaubt, daß der Kuckuck sich im Herbst in einen Raubvogel verwandelt oder seine Pflegeeltern auffrißt, so verlohnt es sich doch ein- mal, den Tatsachen nachzuspüren, die zu diesem Aberglauben geführt haben. Zunächst das Auffressen der Eltern ! Bekannt ist im Volk, daß der Kuckuck von anderen Vögeln ausge- brütet und mit viel Geduld aufgefüttert wird ; ebenso, daß er nach erlangter Selbständigkeit sich ,,ohne Dank" von den Stiefeltern trennt. Diese ,, Undankbarkeit", die doch ganz natürlich ist, mißfällt den moralisierenden Leuten, und sie übertreiben diese ,, Untugend" noch und sagen, das undankbare Kuckuckskind fresse seine Ernährer auf, wie ja die Menschen auch die Fehler ihrer eigenen Artgenossen gern noch schlim- mer darstellen, als sie wirklich sind. Nun zur Met amor p h ose in einen Raubvogel! Diesem Glauben liegen zwei Tatsachen zugrunde. Erstens ver- stummt der im Frühjahr so auffallende Pa arun gsruf unseres Vogels im Sommer, woraus die Leute schließen, daß er sich in ein anderes Wesen verwandelt hat. In Wirklichkeit schweigt aber der Kuckuck, wenn die Zeit der Liebe vorüber ist, und zieht im Herbst weg. Der Sperber dagegen, den man in der warmen Jahreszeil nur selten zu Gesicht bekommt, weil er sich während des Fortpflanzung.-geschäftes vorsichtig ver- borgen hall, kommt im Herbst und Winter nahe an die menschlichen Siedeluogen heran und scheut sich in den kalten Monaten sogar nicht, seine Streif- und Raubzüge bis in die Dörfer und Städte auszudehnen. Der Kuckuck, der sein Rufen eingestellt hat, sagt sich daher der Bauer, ist im Herbst ein Raubvogel geworden und fängi bei Schneewetter im Dorf Emmeilinge und Hausspatzen weg. Der zweite Grund für den Glauben an die Altverwandlung ist eine tatsächlich vor- handene Ähnlichkeit zwischen Kuckuck und Sperber. Zunächst ist das Gefieder des Kuckucks gesper- bert", bezeichnenderweise nennt man so gefärbte Hühner- rassen ,, Kuckuckssperber". Dann aber erinnert der an einem Waldrand entlang fliegende Kuckuck, der sich auf derNesler- suche befindet, in seinem Flugbild, seinen Bewegungen und seiner ganzen Erscheinung bei oberflächlicher Betrachtung so sehr an einen das Gelände nach Beute absuchenden kleinen Raubvogel, daß ich selbst schon mehrfach im ersten Augen- blick in Zweifel war, welchen Vogel ich vor mir halle. Auch Naumann schreibt (,,Naturgesch. d. V. Mitteleuropas". Neue Ausgabe IV, S. 399) : ,, Seine sehr großen Flugwerkzeuge ge- stalten einen schnellen und schönen Flug .... ähnelt dem des Turmfalken, weniger dem des Sperbers; aber diese Ähn- lichkeit macht, daß er von Unkundigen in der Ferne häufig mit diesen Raubvögeln verwechselt wird." Ohne mich zu kühnen Theorien versteigen zu wollen, möchte ich hier auf die Möglichkeit hinweisen, daß die Ähn- lichkeit zwischen den beiden systematisch doch so ver- schiedenen Vogelarten in Gefiederfärbung und Be- wegung einen Fall von Mimikry darstellt. Wenn auch die Mimikry von einigen Forschern noch angezweifelt wird, ist sie doch recht deutlich z. B. bei schutzlosen Fliegen, die den mit Giftstachel bewaffneten Bienen und Wespen zum Verwechseln ähnlich sind , oder bei dem aalarligen Fisch Ophichthys colubrinus aus dem Bismarck- Archipel, der nach Prof. Dr. Fr. Dahl einer dort häufigen Seeschlange Plalurus colubrinus so ähnlich ist, daß er ihm von den Eingeborenen oft als Seeschlange gebracht wurde. Eine Mimikry bei Cu- culus läßt sich etwa so denken. Der Kuckuck ist Brut- schraarotzer, der seine Eier in Singvogelnestern ausbrüten läßt. Bekanntlich sind die Vögel meist nicht geneigt, ihnen untergeschobene Eier auszubrüten, wie Versuche gezeigt haben. Auch suchen sie die Annäherung anderer Vögel an ihr Nest möglichst zu verhindern. Um so auffallender ist die Tat- sache, daß zahlreiche Kuckuckseier von vielen und vielerlei Singvögeln geduldig angenommen und erbrütet werden. Viel- leicht halten die kleinen Vögel ihn für einen Raubvogel, wie ihn ja auch Schwalben und andere gelegentlich genau so ver- folgen wie einen Turmfalken ; andererseits aber täuscht sie seine Raubvogelähnlichkeil wahrscheinlich doch so, daß sie nicht wagen, ihn in der Nähe ihres Nestes energisch und erfolgreich anzugreifen und zu verscheuchen; auch das flügel- lahme Geflatter, womit die Vogeleltern so leicht Menschen und Raubtiere von ihrem Nistplalz weglocken, wird, falls sie es beim Kuckuck anzuwenden versuchen, nicht den gewünsch- ten Erlolg haben (denn der Kuckuck will doch keine Vögel erbeuten), ja diese sog. ,, Verstellung" würde dem Brutschma- rotzer nur zustatten kommen ; denn während die Kleinvögel vor dem vermeintlichen Raubvogel flüchten, wird das gar nicht auf Vogeljagd bedachte Kuckucksweibchen sein lege- reifes Ei dem Singvogelnest anvertrauen, von den Eigentümern unbehelligt und unbemerkt. Und auf letzteres kommt es wohl besonders an; wenigstens glaube ich, daß die Singvögel das fremde Ei eher entfernen, wenn sie den Eingriff in ihr Nest selbst haben mit ansehen müssen. Unlängst vertrat in der Zeitschrift „Aus der Natur" ein Beobachter auf Grund falsch gedeuteter Wahrnehmungen die Ansicht vom Selbslbrüten des Kuckucks. Bei der klaren Be- arbeitung der daselbst erschienenen Entgegnungen stellte Prof. Dr. Otto Buchner am Schluß mehrere Fragen, von denen 752 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 47 die beiden letzten lauten t „Verhalten sich alle Nestvögel gegenüber den Kuckuckseiern anders als gegenüber zufällig eingelegten Eiern anderer Vögel? Verhalten sich speziell die Grasmücken gegen das Kuckucksei anders als die übrigen ausgewählten Pflegevögel?' Auf die erste Frage können wir zunächst nur das sagen; Es sind zwar schon viele Eier und Junge von Cuculus in Singvögelnestcrn gefundin worden, ob und wie oft Singvögel aber das eingeschmuggelte Ei nicht angenommen, sondern entfernt haben, entzieht sich unserer Kenntnis. Einige Fälle sind allerdings sicher veibürgt, daß Kleinvögel das Kuckucksei entfernten, und zwar handelt es sich dabei meist um Grasmücken, die ja auch gegen Brutstörungen durch Menschen sehr emp- findlich sind. Schon Naumann erwähnt solche Beobach- tungen. Von dem den Grasmücken nahestehenden Gelb- spöiter (Hypolais) teilte einen ähnlichen Fall der bekannte Ornithologe Ür. O. Heinroth in der ,, Deutschen Oinithol. Ge-ell-ch." mit (,, Journal f. Ornith." 1920, S. 91): .,Auch das Kuckucksei wird anscheinend durchaus nicht immer ange- nommen. Aus einem Nest mit eben vollzähligem Gelege des Gelb-pötters wurde ein Ei entnommen .... und dafür dem Gilbspöttergelege ein frisches Kuckucksei beigegeben. Der Gelbspöiter setzte sich gleich darauf wieder aufs Nest. Als das künstlich bebiütrte Gi lb«pötterei im Aus-chlüpfen war, wurde das Gelbspötternest in Augenschein genommen .... vom Kuckucksei keine Spur mehr vorhanden. Ein fremder Eingriff war vollkommen aui^geschlossen. . . . Solhe Hypolais vielleicht doch öfters vom Kuckuck beglückt werden, aber sich nicht auf die Bebiütung des fremden Eies einlassen? Wir finden eben draußen immer nur die Nester, in denen Kuckuckseier liegen, wissen aber nicht, aus welchen sie viel- leicht herausgeworfen worden sind. Auffallend ist es immer- hin, daß der Gelbspötter hier so gut wie nie Ammendiensle des Kuckucks übercimmt. Auch über diese Frage wären Versuche interessant, jedenfalls wichtiger als das fortgesetzte Einsammeln von Kuckuckseiern." — Gelegentlich findet man verstreute Eier vom Kuckuck und hat seh das damit erklärt, daß das Kuckucksweibchen für sein legereifes Ei nicht schnell genug ein Nest fand und es daher mitten im Gelände ablegte. In Anbetracht des scharfen Gesichtes und der be- neidenswerten Fertigkeit im Nesterfinden beim Kuckucksweib- chen erscheint mir diese Erklärung zu unwahrscheinlich, glaube vielmehr, daß Singvögel das in ihr Nest eingeschobene fremde Ei entfernten und so die ,, verstreuten" Eier von Cu- culus canorus zu deuten sind. Erwähnen möchte ich noch ein Gegenbeispiel zu der Abneigung der Grasmücken gegen Ammendienste. Kürzlich zeigte mir mein Freund, der hessische Ornithologe Dr. Otlo Schnurre, im Frankfurter Zoologischen Garten in einem kleinen Käfig eine Gart en grasmücke und einen jungen Kuckuck. Beide waren bei Gießen gefangen worden, und die Grasmücke hing so an ihrem Pflegekind, daß sie trotz der mit dem Fang verbundenen Aufregung und der ver- änderten Umgebung in der Gefangenschaft denjungen Kuckuck ruhig weiter fütterte, unbekümmert um die Hunderte schaulustiger und lauter Zoobesucher, die dicht an ihrem Käfig vorbeiströmen. Werner Sunkel. Der Bienenfang der Spinnen. In Nr. II (S. 173 — 174) dies. Zeitschr. gibt F. Dahl einige Notizen über dieses Thema. Zur Ergänzung möchte ich Folgendes erwähnen. In der Literatur wird vielfach angegeben, Netzspinnen wagten sich nicht an gefangene Bienen und Wespen heran, sondern ließen diese schleunigst durch Abbeißen der Fäden rei. Meine Versuche erwiesen dies als irrig ; darüber habe ch berichtet und die Erfahrungen anderer Foischer angefügt (vgl. das Referat in Nr. I (S. 14) dies. Zeitschr.). Für mein Tnema kamen nur jene Hautflügler in Betiacht, die als Mi- mikrymodelle vorgeführt werden {Honigbiene, Wespe, Hummel u dgl); das Heer der kleineren, unauffälligen, geflügelten HautflUglerarten blieb außerhalb. Große Hautflügler, wie die oben genannten, können nur von großen Spinnen bewältigt werden; daß solches geschieht, wies ich nach. Auch Dahl bezeugt dies, indem er sagt: ,, Sehen wir von jenen Spinnen- artrn ah, welche Bienen in allen Fallen leicht bewältigen können, indem sie dieselben vorsichtig in dichte Gespinstfäden ein- wickeln . ." und mitteilt, daß auch andere Spinnen im Hunger ,, jedes Insekt, auch eine Biene", angreifen. Voraussetzung ist hierbei natürlich eine genügende Größe der Spinne; daß jede Spinne ein ihr zu großes, fahriges Objekt, welches ihr das Netz zerstört, entweder gewähren lätit oder irgendwie, gegebenenfalls durch Abbeißen der Fäden, aus dem Netz zu bringen sucht, ist eine Selbstverständlichkeit. Dies geschieht ebenso gegenüber wehrlosen Insekten, z. B. Heu- schrecken. Eine entsprechend große Spinne aber fürchtet keine Biene oder Wespe, sondern greift sie mutig an und be- wäliigt sie leicht. Damit fallen die Grundlagen der Mimikry- hypoihese, soweit es sich um Spinnen und Immen ha.idelt. Daß die Spinnen, speziell die kleineren Arten, vorwiegend Fliegen- und Mückenjäger sind, ist allbekannt; es ist zum Teil vielleicfil dadurch verständlich, daß an den Stellen, wo die Spinnen vorwiegend Netze bauen, z. B. an Mauern, Ge- büsch usw., mehr Dipieren als Hymenopteren verkehren, daß letztere vorsichtiger und energischer sind, sich leichter los- reißen usw. ; im ülirigen würde auch durch die Tatsache, daß irgendwelche kleinere Spinnenarten nur kleine Fliegen und Mücken und keine kleinen Hautflügler jagten, das Problem der Sphekoidie, der mimetischen Nachahmung der ansehnlichen Bienen, Wespen und Hummeln durch Fliegen nicht berührt. In einer anderen Arbeit (Biolog. Zent'alblatt, 39. Bd., 1919, S. 65 — 102) habe ich an erdrückendem Tatsachenmaterial nachgewiesen, daß die Ameisen eine Hauptnahrung der Vögel ausmachen (eine Tatsache, welche übrigens schon Dahl in seiner Arbeit über das Leben der Ameisen im BismarckArchipel festgestellt bat) und daß eine Ameisenähnlichkeit keinen schützenden Wert haben kann. Aus meiner Arbeit ergibt sich, daß ein Unterschied zwischen wehrhaften und harmlosen Arten in der Mimikryliteratur bis heute nicht gemacht worden ist und daß die Vögel ebensowohl angriffslustige als auch scheue Ameisenarten verzehren (vgl. Dahls Leben der Vögel auf den Bismarckinseln). Eine Unterscheidung zwischen gefahr- lichen und harmlosen Ameisen müßte vom Vogel- und nicht vom Menschenstandpunkt aus vorgenommen werden, was aber für uns Menschen undurchführbar ist. Für die Mimikry hätte diese Unterscheidung keine Bedeutung, weil Ameisennachahmer nur einzeln dem Insektenfresser begegnen, kein Vogel aber eine einzeln laufende Ameise, und sei es die bissigste, zu fürchten hat. Unsere ameisenfressenden Vögel, z. B. der Wendehals, die Spechte usw. fressen gleicherweise wehrhafte wie harmlose Arten, wie sich an reicherem Untersuchungs- material nachweisen läßt. Unsere Erdspechte (Grünspecht, Grauspecht) sind bekannt als Hauptteinde der wehrhaften roten Waldameise (andernorts sollen für diese Behauptungen ausführliche Belege veröffentlicht werden). Auch während des Sommers bilden Ameisen eine Hauptnahrung der Vögel; so weist F. E. L. Bcal für den nordamerikanischen Specht Colaptts auratiis nach, daß er die größten Mengen Ameisen in den Monaten März bis August verzehrt. An längeren Tatsachenreihen läßt sich erweisen, daß weder wehrhafte Ameisen noch stachelbegabte Bienen und Wespen wirklichen Schutz vor ihren natürlichen Feinden genießen. .'\uf dieser Grundlage ist demnach auch eine Mimikryhypothese nicht haltbar. F. Hcikertinger. Illbalt: A. Wulff, Über die Wiederbelebung der Technik der Feuersteinbearbeitung. (2 Abb.) S. 737. Fr. Termer, Über den Landbau im alten Mexico. (2 Abb.) S. 740. — Einzelbericbte : A. L. Kroeber, Völker der Philippinen- Inseln. S. 744. K. With, Kultutgcographische Grundlagen der altindischen Kunst auf Java. S. 745. W. Eitel, Über Entmischungsdispersoide in anisotropen Medien. S. 746. F.Kinne, Lauediagramme des Nephelin und Lauediagramrae des Benitoit. S. 747. F. Rinne, Zum Feinbau isomorpher Stoffe. S. 74S. — Bücberbesprecbungen: Fr. Morton, Was-erpflanzen. S. 750. A. Maurizio, Die Nahrungsmittel aus Getreide. S. 750. B. Fischer, Zur Neuordnung des medizinischen Studiums und Prüfungswesens. S. 750. — Anregungen und Antworten: Vom Kuckuck, Cuculus cano- rus L. S. 751. Der Bienenlang der Spinnen. S. 752. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'icbeo Bucbdr. Lippert & Co. G. m, b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 28. November 1920. Nummer 48. Die von asymmetrischen Molekülen ausgehende Kraft, über optisch aktive Zimtsäure und asymmetrische Synthese. [Nachdruck verboten.] VoQ Emil Erlenmeyer, Berlin-Dahlem. Auf Anregung von Freunden und Kollegen habe ich die wichtigsten Resultate der in den letzten Jahren ausgeführten, in der Biochemischen Zeitschrift mitgeteilten Untersuchungen in mög- lichster Kürze für diese Zeitschrift zusammenge- faßt, um sie dadurch einem größeren Leserkreis bekannt zu geben. In meiner Abhandlung: Über die von asym- metrischen Molekülen ausgehende Kraft und ihre Bedeutung für die Biochemie ^) wurde an der Hand einer großen Reihe durch das Experiment aufge- fundener Beispiele ausgeführt, daß diese in weit- gehendem Maße an die magnetische Energieform erinnernde Kraft, einerseits auf asymmetrisch ein- stellbare Moleküle wie die Zimtsäure, induzierend andererseits gegenüber spiegelbildlichen Molekülen in verschiedenem Grade anziehend bzw. abstoßend und damit auslesend wirkt. In dieser Wirkungs- weise wurde sie deshalb als asymmetrische Wahl- verwandtschaft bezeichnet. Wie gezeigt wurde, gehört auch die Umwand- lung der Hälfte der asymmetrischen Moleküle in ihre Spiegelbilder bei der Racemisierung zu den Wirkungen der asymmetrischen Induktion, während das Aneinanderhaften von d-Molekülen und 1-Mole- külen in den Racemverbindungen als Wirkung der asymmetrischen Wahlverwandtschaft zu be- trachten ist. Nun hat sich aber ergeben, daß es eine Reihe von spiegelbildlichen Verbindungen gibt, die nicht imstande sind, eine besondere von den Kompo- nenten verschiedene Racemverbindung zu bilden. Bei ihrer Vereinigung in Lösung macht sich dem- entsprechend eine Wärmetönung nicht bemerkbar, wohingegen die Mehrzahl der spiegelbildlichen Paare unter mehr oder weniger starker Wärme- tönung sich zu einer von den Komponenten ver- schiedenen Racemverbindung vereinigen. Dieser Umstand, sowie die in der genannten Abhandlung betonte bei vielen Fällen festgestellte Verschiedenheit in der Anziehung und Abstoßung zwischen einem asymmetrischen Molekül und zwei spiegelbildlichen Molekülen beweist, daß die von asymmetrischen Molekülen ausgehende Kraft in ihrer Wirkungsweise als asymmetrische Wahlver- wandtschaft bei den einzelnen asymmetrischen Ver- bindungen sehr verschieden sein, ja in einzelnen Fällen gleich Null werden kann. Vor allem ist es unmöglich, vorherzusagen, welchen Wert die asymmetrische Wahlverwandtschaft bei bestimmten Kombinationen haben und in welchen Fällen sie gleich Null sein wird. Über die Ursache dieser Verschiedenheit läßt sich heute noch ebensowenig eine Mutmaßung äußern, als über die Ursache der Verschiedenheit im magnetischen Verhalten der verschiedenen Metalle und Metallegierungen. Neuerdings ausgeführte zahlreiche Versuche, über die demnächst in der Biochemischen Zeit- schrift berichtet werden wird, haben den Beweis erbracht, daß auch die induzierende Kraft asym- metrischer Verbindungen gegenüber den gleichen ungesättigten, induzierbaren Molekülen sehr ver- schieden groß und gleichfalls gleich Null werden kann. Den Anstoß zu diesen Untersuchungen hatte die Frage gegeben, ob ungesättigte Säuren, wie die Zimtsäure, in labiler, molekular-asymmetrischer Form vorübergehend existenzfähig sind, ent- sprechend meiner auf Grund der Isomerieverhält- nisse bei den Zimtsäuren aufgestellten Theorie. Die zugunsten dieser Auffassung sprechenden Beobachtungen waren schon früher *) zusammen- gestellt worden. Um eine sichere Entscheidung zu gewinnen, ob Moleküle wie die Zimtsäure in molekularasym- metrischer und daher optisch aktiver Form, wenn auch vielleicht nur vorübergehend, bestehen können, wurden die aus den beiden aktiven Phenylbrom- milchsäuren durch Wegnahme von Br und OH regenerierten Zimtsäuren untersucht. In der Abhandlung: Intra- und intermolekular wirkende Kräfte und ihre Bedeutung bei Umlage- rungen, bei der Racemisierung und der asym- metrischen Synthese,-) ist der einwandfreie Beweis erbracht worden, daß die regenerierte Zimtsäure tatsächlich aktiv ist, wenn man auch annehmen muß, daß bei dem Verfahren der Regeneration ein Teil der Aktivität durch Racemisierung ver- schwindet. Bei der Regeneration der nach der gleichen Richtung, wie die angewandte Phenyl- brommilchsäure, drehenden Zimtsäure wird diese: in Form eines gemischten Zinksalzes der bei der Reaktion gleichfalls gebildeten, nach der gleichen. Richtung drehenden Phenylmilchsäure einerseits und der zurückgebildeten Zimtsäure andererseits erhalten. Der Beweis für die molekulare Asymmetrie verbunden mit optischer Aktivität bei der zurück-- ') Biochem. Zeitschr. 97, 261. ') Biochem. Zeitschr. 35, 134, 149 (1911). '') Biochem. Zeitschr. 97,. 198 (1919),. ;s4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 48 gebildeten Zimtsäure ergibt sich aus den folgen- den Beobachtungen: I. Obwohl bei der Regeneration der Zimtsäure aus aktiver Phenylbrommilchsäure die Hälfte der aktiven Phenylbrommilchsäure beim Übergang in Zimtsäure verschwindet, behält die Lösung nach Ablauf der Reaktion das ursprüngliche Drehungs- vermögen bei oder nimmt sogar an Drehung zu. Die entstehende Zimtsäure muß daher selbst im- stande sein, den durch das Verschwinden der Hälfte der aktiven Phenylbrommilchsäure zu er- wartenden Aktivitätsverlust zu decken, was nur möglich ist, wenn wenigstens ein Teil der Zimt- säure fähig ist, bei der Regeneration die in der angewandten Phenylbrommilchsäure vorhanden ge- wesene molekulare Asymmetrie beizubehalten. 2. Die aus dem bei der Regeneration ent- stehenden gemischten Zinksalz, nach sorgfältiger Trennung von der nebenhergebildeten aktiven Phenylmilchsäure, gewonnene Zimtsäure ist stets optisch aktiv. 3. Da die durch Regeneration gewonnene Zimt- säure in Äther beträchtlich löslicher ist, als eine künstlich hergestellte IVIischung von inaktiver Zimt- säure und aktiver Phenylmilchsäure des gleichen Drehungsvermögens, so kann die größere LösUch- keit der regenerierten aktiven Zimtsäure nur durch ihren Gehalt an molekular asymmetrischen aktiven Zimtsäuremolekülen bedingt sein. 4. Dampft man die alkoholische, das bei der Regeneration gebildete gemischte Zinksalz ent- haltende, Lösung ein und addiert in Chloroform- lösung die für den Zimtsäuregehalt des Salzes berechnete Menge Brom, so erhält man nach Ab- trennung der aktiven Phenylmilchsäure in der entgegengesetzten Richtung drehendes Dibromid. Da die Aktivität des so entstandenen Dibromids wegen seiner entgegengesetzten Drehungsrichtung weder durch die Anwesenheit nicht abgetrennter Phenylmilchsäure noch Phenylbrommilchsäure er- klärbar ist, so bleibt nur der Schluß zulässig, daß die bei der Regeneration gebildete, der ange- wandten Phenylbrommilchsäure gleichdrehende aktive Zimtsäure in dem gemischten Zinksalz bei der Aufnahme von Brom das ihr entgegengesetzt drehende Dibromid liefert. 5. Endlich schieden sich beim Verdunsten der, die freie regenerierte Zimtsäure enthaltenden, ätherischen Lösung stets eine große Menge hemi- edrischer Zimtsäurekristalle ab. Durch den Nachweis der Aktivität der durch Regeneration aus einem aktiven Derivat mit zwei asymmetrischen Kohlenstoffatomen gewonnenen Zimtsäure, ist zum erstenmal der Beweis erbracht worden, daß ungesättigte Moleküle, wie das der Zimtsäure, der molekularen Asymmetrie verbunden mit Drehungsvermögen und Hemiedrie fähig und daher räumlich aufzufassen sind. Dieses Ergebnis stimmt vollständig überein mit den bereits aus den Isomerieverhältnissen bei den labialen Zimt- säuren gezogenen Folgerungen. Die Erfahrungen, die ich bei der Untersuchung dieser Säuren gesammelt hatte,') ließen es mir wahrscheinlich erscheinen, daß von asymmetrischen Molekülen mit asymmetrischem Kohlenstoff auf ungesättigte Verbindungen ein die Konfiguration verändernder Einfluß ausgeübt wird. Dieser Ge- danke gab die Veranlassung, aus inaktiver Zimt- säure einerseits und d- bzw. IPhenylmilchsäure andererseits in der Hitze ein gemischtes Zinksalz herzustellen und zu prüfen, ob sich hierbei eine durch das aktive Molekül bewirkte Beeinflussung des Zimtsäuremoleküls bemerkbar machen würde. Der asymmetrisch orientierende Einfluß der aktiven Phenylmilchsäure auf die angewandte in- aktive Zimtsäure bei der Bildung des gemischten Zinksalzes trat sofort sehr deutlich dadurch in Er- scheinung: 1. Daß die Aktivität der Lösung, die zunächst allein von der aktiven Phenylmilchsäure berührte, bei der Bildung des in Alkohol löslichen, ge- mischten Zinksalzes alsbald um mehr als 5 Grade zunahm und wird durch die folgenden Beobach- tungen außer Frage gestellt. 2. Daß sich die in das gemischte Zinksalz ein- getretene, ursprünglich inaktive Zimtsäure vorzugs- weise in der einen asymmetrischen Konfiguration eingestellt hat, ließ sich leicht durch Addition der berechneten Menge Brom an das gemischte Zink- salz beweisen. Aus dem mit dPhenylmilchsäure gebildeten gemischten Zinksalz wurde 1-Zimtsäure- dibromid aus dem mit 1 Phenylmilchsäure herge- stellten Salz dagegen d-Dibromid erhalten. Da die Rechtsdrehung des d-Dibromids nicht von bei- gemengter IPhenylmilchsäure und die Links- drehung des IDibromids nicht von beigemengter d-Phenylmilchsäure herrühren kann, so folgt daraus, daß die in dem so stark drehenden gemischten Zinksalz enthaltene Zimtsäure nach der gleichen Richtung, wie die angewandte Phenylmilchsäure dreht, während das daraus gebildete Dibromid jeweils das entgegengesetzte Drehungsvermögen aufweist. 3. Auch hier wurde neuerdings durch das Ex- periment festgestellt, daß die aus dem gemischten Zinksalz abscheidbare Zimtsäure zum Teil hemi- edrisch kristallisiert und die Lösung optisch aktiv ist. 4. Da das Gemisch von inaktiver Zimtsäure und aktiver Phenylmilchsäure in Äther schwerer löslich ist, als eine gleich stark drehende aktive Zimtsäurelösung aus dem gemischten Zinksalz, so kann die größere Löslichkeit dieser letzteren Säure nur auf die Anwesenheit molekularasym- metrischer aktiver Zimtsäuremoleküle zurückgeführt werden. Damit waren also die zwei ersten Methoden aufgefunden worden, um aktive Zimtsäuren, wenn auch nicht von der denkbar höchsten Aktivität herzustellen. Bei der ersten entsteht die aktive Zimtsäure durch Regeneration aus aktiver Phenylbrommilch- säure. Die regenerierte Zimtsäure stellt gleich - ') Biochem. Zeilschr. 97, 245 (1919). K R XK. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. m sam das in der aktiven Phenylbrommilchsäure enthaltene, asymmetrische, zweiwertige Radilcal, das in der Lückenforme! ^) zu schreiben ist : CgHs-CHL— CHL— COOH vor. Bei der zweiten dagegen übt die d- bzw. 1- Phenylmilchsäure bei Bildung des gemischten Zinksalzes mit inaktiver Zimtsäure in der Hitze auf diese einen orientierenden Einfluß aus, unter starker Zunahme der Drehung und Bildung eines Überschusses der nach der gleichen Richtung drehenden aktiven Zimtsäure. Die daraus gebil- deten Dibromide drehen entgegengesetzt. Wegen ihrer Ähnlichkeit mit der magnetischen Induktion, habe ich diesen von der aktiven Phenyl- milchsäure auf das JVIolekül der Zimtsäure ausge- übten, orientierenden Einfluß als asymmetrische Induktion bezeichnet. ~) In der eingangs genannten Abhandlung wurde das Wesen dieser Kraft ein- gehender besprochen. Die Bildung der aktiven Dibromide aus den aus den Komponenten gebildeten Zinksalzen von aktiver Phenylmilchsäure und inaktiver Zimtsäure stellt aber auch, wie schon früher erwähnt wurde, einen ganz besonderen Fall einer asymmetrischen Synthese vor, bei dem die durch die Synthese neu erzeugte asymmetrische Gruppe durch die leicht lösbare Salzbindung mit der ursprünglichen asymmetrischen Gruppe in Verbindung steht, so daß nach Ablauf der Synthese beide asymmetri- schen Gruppen leicht voneinander getrennt und einzeln auf ihr Drehungsvermögen untersucht werden können. Für den Nachweis der erfolgten asymmetri- schen Synthese, d. h. der Neubildung aktiver Sub- stanz, ist es ferner sehr wertvoll, wenn, wie in dem vorliegenden Falle, die ursprünglich asym- metrische und die neugebildete aktive Substanz mit asymmetrischem Kohlenstofi'atom in ihren Löslichkeitsverhältnissen möglichst verschieden voneinander sind, so das sie leicht und vollständig durch ihre Löslichkeitsdifferenz trennbar sind. Wenn dann endlich die neugebildete asymmetri- sche Substanz nach der entgegengesetzten Rich- tung dreht, als die ursprüngliche, so wird dadurch der Einwand, die Aktivität der neugebildeten asymmetrischen Substanz könnte durch die nicht völlig abgetrennte ursprüngliche aktive Substanz bewirkt sein, hinfällig und damit die Neuerzeugung von Aktivität über allen Zweifel erhoben. Auf Grund der gewonnenen Versuchsresultate läßt sich nun der Vorgang der asymmetrischen Synthese des Zimtsäuredibromids aus dem ge- mischten Zinksalz von aktiver Phenylmilchsäure und inaktiver Zimtsäure in die folgenden vier Phasen zerlegen : I. Zusammentritt der ungesättigten Zimtsäure mit der aktiven Phenylmilchsäure zu dem ge- mischten Zinksalz. ') Biochem. Zeitschr. 64, 351 (1914)- ') Ebenda 43, 445 (1912). 2. Vorzugsweise Einstellung der Zimtsäure- moleküle durch die, von der aktiven Phenylmilch- säure bei der Salzbildung unter Wärmezufuhr aus- gehende Kraft, in der einen asymmetrischen Kon- figuration die in der Richtung, wie die Phenyl- milchsäure dreht, was sich durch die starke Zu- nahme der Aktivität bei der Salzbildung leicht beweisen läßt. 3. Aufnahme von Br^ durch die ungesättigte Gruppe der Zimtsäure. Die vorzugsweise in der einen asymmetrischen Konfiguration eingestellten Moleküle ergeben direkt aktives, der Zimtsäure entgegengesetzt drehendes Dibromid, während aus dem übrigen racemischen Rest der Zimtsäure auch racemisches Dibromid entsteht. 4. Trennung des neu durch Addition gebilde- ten asymmetrischen Teils, das ist, des Dibromids von dem angewandten asymmetrischen Molekül der Phenylmilchstäure und Nachweis der entgegen- gesetzten Aktivität des Dibromids. Man ersieht aus diesen Versuchen, daß rechts drehende Zimtsäure mit linksdrehendem Dibromid und linksdrehende Zimtsäure mit rechtsdrehendem Dibromid in die gleiche Konfigurationsreihe ge- hören. Wenn sich nun andere aktive Säuren auf- finden ließen, deren, mit inaktiver Zimtsäure her- gestellten, gemischten Zinksalze bei der Brom- addition zu einem nach der gleichen Richtung, wie die angewandte aktive Säure, drehenden Zimtsäuredibromid führten, so mußte die Zimt- säure in diesen gemischten Zinksalzen in der ent- gegengesetzt drehenden Konfiguration eingestellt gewesen sein. Im Falle der Polarisierbarkeit der, das gebildete gemischte Salz enthaltenden, Lösung mußte sich alsdann die entgegengesetzt asymme- trische Einstellung des Zimtsäuremoleküls durch einen Rückgang der Drehung bemerkbar machen. In der Tat gelang es, 1- Chlorbernsteinsäure mit inaktiver Zimtsäure in alkoholischer Lösung zu einem gemischten Zinksalz zu vereinigen, bei dessen Bildung die ursprünglich allein durch die 1 Chlorbernsteinsäure bewirkte Drehung, infolge der Einstellung der Zimtsäure in der der IChlor- bernsteinsäure entgegengesetzten Form, um mehr als 3" zurückging und das nach dem Eindampfen, der erfolgten Bromaddition und der Abtrennung der Chlorbernsteinsäure, wie zu erwarten war, nach der gleichen Richtung drehendes Dibromid lieferte. Während sich in diesem Falle die vor- zugsweise Einstellung der Zimtsäure in ihrer d- Form durch die bedeutende Abnahme des Drehungs- winkels bei der Bildung des leicht löslichen ge- mischten Salzes zu erkennen gab, führte die Ein- wirkung von Zinkoxyd auf das Gemisch von d- Weinsäure und inaktiver Zimtsäure zu einem in Alkohol nicht löslichen Salz, dessen Drehungs- winkel daher nicht festgestellt werden konnte. Der Umstand, daß aus diesem mit d Weinsäure hergestellten Salz rechtsdrehendes Zimtsäure- dibromid gewonnen wird, zwingt jedoch, in Über- einstimmung mit den bei den anderen asymmetri- schen Synthesen des Zimtsäuredibromids erhaltenen ;S6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 48 Resultaten, zu dem Schluß, daß die inaktive Zimt- säure bei Bildung des gemischten Salzes durch die Induktion mit d-Weinsäure vorzugsweise in ihrer linksdrehenden Form eingestellt wird. Schon bei der Gewinnung der durch Induk- tion mit aktiver Phenylmilchsäure in molekular asymmetrischer Form eingestellten Zimtsäure aus dem gemischten Salz war ein großer Verlust an Aktivität nachgewiesen worden, und es war daher nicht zu verwundern, wenn in anderen Fällen die durch Induktion erzeugte Aktivität der Zimtsäure infolge der Racemisierung beim Freimachen aus den gemischten Salzen vollständig wieder verloren geht wie z. B. bei der Zerlegung der gemischten Zinksalze mit aktiver Chlorbernsteinsäume und mit d Weinsäure. Alle Erfahrungen wiesen darauf hin, daß die asymmetrische Induktion unter Energiezufuhr in Form von Wärme erfolgen muß, und es stand da- her zu erwarten, daß man bei Aufwendung einer größeren Energiemenge durch längeres und höheres Erhitzen z. B. in einer Schmelze mit der indu- zierenden, asymmetrischen Substanz zu stärkeren Aktivhäten gelangen würde, als bei der Bildung gemischter Salze. Diese Erwartung fand durch die eingehende Untersuchung der Schmelzen von d- Weinsäure mit Zimtsäure, Zimtsäureanhydrid oder Zimtsäure- chlorid ihre willkommene Bestätigung. Wenn bei der Induktion der Zimtsäure mit d-Weinsäure im gemischten Zinksalz die Ein- stellung der Zimtsäure in der linksdrehenden Form aus der Bildung rechtsdrehenden Dibromids bei der Bromaddition an das gemischte Salz ge- folgert werden mußte, so ergab sich bei der Untersuchung der eben genannten Schmelzen, daß die d-Weinsäure tatsächlich die Zimt^äure- moleküle vorzugsweise in ihrer links-, die 1- Wein- säure dagegen sie in ihrer rechtsdrehenden Form einstellt. ^) Bei der Schmelze von Weinsäure mit Zimt- säureanhydrid wurden unschwer von 5 — 9", aus den gleichzeitig gebildeten Cinnamaten durch vorsichtige Verseifung bis zu 20" drehende Prä- parate von aktiver Zimtsäure erhalten, die genau- stens für Zimtsäure stimmende Werte ergaben und frei von Weinsäure waren. Diese durch Schmelze erhaltenen aktiven Zimtsäurepräparate verloren ihre Aktivität durch Racemisierung viel weniger leicht als die aus den gemischten Salzen. Während aber die in den gemischten Zink- sälzen enthaltenen asymmetrisch eingestellten Zimtsäuren durch Bromaufnahme direkt aktive Dibromide liefern, verschwindet bei der Bromie- rung selbst sehr hochdrehender freier Zimtsäure alle Aktivität, was auf die bekannte umlagernde Wirkung des freien Broms zurückzuführen ist. Daß zum Unterschied hiervon bei der Brom- addition an die in den gemischten Salzen ent- haltenen aktiven Zimtsäuren aktive Dibromide entstehen, läßt erkennen, daß die noch bestehende Verbindung des aktiven Zimtsäuremoleküls mit dem induzierenden aktiven Säuremolekül in dem Salz die asymmetrische Einstellung der Zimtsäure zu erhalten bestrebt ist. Gleichwohl ist aber damit zu rechnen, daß auch schon bei der Brom- addition an die gemischten Zinksalze ein Teil der in diesen Salzen enthaltenen aktiven Zimtsäure an Aktivität einbüßt, so daß die Aktivität der entstehenden Dibromide nicht der Gesamtaktivität der in den Zinksalz gebunden gewesenen aktiven Zimtsäure zu entsprechen braucht. Der Umstand aber, daß bei der Bromaddition an selbst sehr hochdrehende freie Zimtsäure weder das gebildete Dibromid, noch die einge- dampfte Mutterlauge nur die geringste Aktivität besitzt, beweist, daß die vorher festgestellte Ak- tivität eine leicht wieder durch Racemisierung verschwindende Eigenschaft der angewandten Zimt- säure war. Die Untersuchungen führten also zu den fol- genden für die Chemie so überaus wichtigen Er- gebnissen : I. Ungesättigte Säuren wie die Zimtsäure sind entsprechend meiner Theorie der molekularen Asymmetrie fähig, verbunden mit Hemiedrie und Drehungsvermögen. In aktiver Form konnte die Zimtsäure erhalten werden durch Regeneration aus aktiver Phenyl- brommilchsäure und durch die asymmetrische Induktion mit Hilfe verschiedener aktiver Säuren. Da die Aktivität bei der Zimtsäure durch freies Alkali bereits in der Kälte wieder verschwindet, ist es verständlich, daß die natürlich vorkommen- den Ester der Zimtsäure, die durchweg optische Aktivität aufweisen, bei der Verseifung inaktive Zimtsäure liefern. Die Existenzfähigkeit der Zimtsäure in molekular-asymmetrischen P^ormen erweist die Unhaltbarkeit der geometrischen Theorie bei ungesättigten Verbindungen und zwingt zu ihrer räumlichen Auffassung, womit auch die Vorstellung einer doppelten Bindung hinfällig wird. In den von mir vorgeschlagenen Lückenformeln tritt die Analogie der ungesättigten Verbindung mit denen mit asymmetrischen Kohlenstofifatomen unmittelbar in Erscheinung. In Übereinstimmung mit Spiegel,') Hinrichsen,-) Stark und Pauly") bin ich der Meinung, daß bei den un- gesättigten Verbindungen die zwei mehrwertigen Elementaratome nicht doppelt sondern einfach miteinander verbunden sind, während die Lücken, das sind die noch disponiblen Affinitäten, durch Pllektronen besetzt sind. Ungesättigte Verbindungen wie die Zimtsäure sind danach als Moleküle mit zwei asymmetrischen ') Bioohem. Zeitschr. 64, 296 (1914); 74, 13" (1916); 77. 55 (1916); 103. 79 (1920). ') Zeitschr. f. anorgan. Chem. 29, 315 (1902). -) Liebigs Ann. 336, 168 (1906). "j Biochem. Zeitschr. 67, 439 (1914). N. F. XIX. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 757 Kohlenstoffatomen aufzufassen, bei denen zwei Elektronen die Rolle von zwei Substituenten spielen. Bei der Kleinheit und Leichtbeweglich- keit der Elektronen ist die leicht erfolgende Ra- cemisierbarkeit der aktiven ungesättigten Verbin- dungen sehr verständlich. Die räumliche Auffassung der ungesättigten Verbindungen im Zusammenhang mit der Lehre von der relativen Isomerie ') gibt ohne weiteres Aufschluß über die Existenzfähigkeit von mehr als zwei Isomeren, wie sie nicht nur bei der Zimt- säure, sondern auch bei anderen ungesättigten Verbindungen beobachtet worden sind. Die leichte Veränderlichkeit dieser Modifikationen macht es begreiflich, daß nicht in allen Fällen die theoretisch denkbaren Isomeren beständig sind. 2. Als zweites wichtiges Ergebnis folgt aus den mit Hilfe der aktiven Phenylmilchsäuren an- gestellten Induktionsversuchen bei der Bildung der gemischten Zinksalze mit Zimtsäure und der Brom- addition an diese Salze und im Zusammenhang mit der Abscheidung aktiver Zimtsäuren aus diesen Salzen die klare Erkenntnis des Wesens der asym- metrischen Synthese, das ich in der folgenden Weise zum Ausdruck gebracht habe : -) „Das Wesen der von ungesättigten Verbindungen ausgehenden asymmetrischen Synthese besteht hiernach nicht darin, daß bei der Addition einfacher Moleküle an eine an sich symmetrische, ungesättigte Verbindung die Bildung des einen der denkbaren asym- metrischen Moleküle bevorzugt wird, sondern darin, daß die racemische ungesättigte Verbindung be- reits vor der asymmetrischen Synthese vorzugs- weise in der einen asymmetrischen Konfiguration eingestellt wird , wodurch der partielle asym- metrische Verlauf der Synthese bedingt wird." Umgekehrt muß dann das Gelingen einer asymmetrischen Synthese als Beweif gelten für die Fähigkeit des durch sie veränderten Moleküls oder seiner ungesättigten Gruppe sich in einer asymmetrischen Konfiguration einzustellen. Außer diesen chemisch wichtigen Resultaten führten die Untersuchungen über die durch In- duktion erworbene molekulare Asymmetrie bei ungesättigten Verbindungen zu der Feststellung der Wirksamkeit einer von den asymmetrischen Molekülen ausgehenden neuen Energieform, die sich weitgehend mit der magnetischen Energie- form vergleichen läßt.') Da sie von den vorzugsweise in der lebenden Zelle vorhandenen asymmetrischen Verbindungen ausgeht, so stellt sie eine besondere der lebenden Zelle zur Verfügung stehende Kraft vor, mit deren Hilfe es möglich wird, viele bisher unverständliche Verschiedenheiten im Verhalten der lebendigen und der toten Substanz ohne die Heranziehung einer mysteriösen Lebenskraft zu begreifen. Die an anderen Stellen mitzuteilenden neuen Versuche werden weiteres interessantes Material zur Beurteilung dieser Kraft liefern. ') Biochem. Zeitschr. 52, 439 (1913). ^) Biochem. Zeitschr. 97, 219 (1919). ') Vgl. dazu Zeitschr. f. physikal. Chemie 93, 693 (19:9). Über das Haaren in Fetzen bei einigen Säugetieren, besonders beim Moschusochsen. [Nachdruck Vorboten.] Von E. Mohr, Hamburg. Mit 5 Abbildungen. Die Haarung ist bei den meisten Säugetieren eine recht auffällige Erscheinung. Bei unseren Haustieren: Rindern, Pferden, Hunden, Katzen sehen wir im allgemeinen nicht so sehr viel da- von, weil bei der regelmäßigen Pflege mit Striegel und Bürste die Haare nur einzeln ausfallen. Bei schlecht gepflegten langhaarigen Hunden kann es allerdings doch hin und wieder vorkommen, daß die Winterwolle sich in dicken Klumpen an den bereits neu gebildeten Sommerhaaren hinunter- schiebt; ebenso kann das bei langhaarigen Katzen vorkommen, wie ich es Anfang August bei einer wenig gepflegten Angorakatze des Stuttgarter Tier- gartens sah. Bei freilebenden Tieren und den Insassen der Zoologischen Gärten, die einer Be- handlung mit Bürste und Striegel meist nicht zu- gänglich sind, kann man dagegen den natürlichen Haarungsvorgang häufiger gut beobachten. Bei den Haustieren, die in guter Pflege stehen, kann der Haarwechsel Ende Mai, Anfang Juni beendet sein; bei freilebenden Tieren zieht sich die Haarung oft bis August, September hin. Der Sommerpelz ist also erst dann ganz rein und fertig zu sehen, wenn die viel schwächere Herbsthaarung einsetzt und der Winterpelz anfängt, sich zu bilden oder schon vorhanden ist. Da drängt sich natur- gemäß die Frage auf, weshalb sich die Haarung so sehr lange hinzieht. Ich erkläre mir das zum Teil damit, daß das Tier ebenso wie der Mensch sich nur langsam an den jeweiligen Temperatur- wechsel gewöhnt. Im Winter kleiden wir uns warm und bleiben auch im Frühjahr noch längere Zeit im Winterzeug, greifen auch besonders abends, wenn es kühler wird, wieder darauf zurück. Haben wir uns dagegen erst an die Temperatur gewöhnt, so bleiben wir bis spät in den Herbst hinein in leichterer Kleidung, bis der Winter uns endgültig wieder in warmes Zeug treibt. Den Tieren geht es ähnlich; aber da sie sich nicht mit „Über- gangskleidung" behelfen können, sind sie viel längere Zeit auf ihren Winterpelz angewiesen als die Menschen, und so tritt der Wechsel bei ihnen viel später ein und dauert meistens länger; ob- gleich die Tiere oft versuchen, sich an Stämmen und anderen passenden Gegenständen zu scheuern. Die Tiere wissen sehr wohl, daß sie in dieser 758 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 48 Wolle einen Kälteschutz haben, denn man sieht nur an heißen und warmen Tagen, daß sie sie abzuscheuern versuchen ; wenn an kalten Tagen das Ungeziefer sie plagt oder ihnen das Loslösen der Wolle unangenehm ist, kratzen sie nur mit dem Fuß, dem Hörn oder dem Geweih, oder ver- suchen, durch Hautzucken dem Übel abzuhelfen. Auch scheint mir die Beobachtung für die ge- äußerte Ansicht zu sprechen, daß Tiere wärmerer, bzw. weniger kalter Gegenden viel zeitiger im Jahr mit der Haarung fertig sind als die hoch- nordischen Formen und solche anderer rauher Klimata, trotzdem bei uns ja gerade jene länger, diese weniger lange eines Kälteschutzes bedürfen müßten. Bei langhaarigen Tieren ist es ganz allgemein daß sich die Winterwolle an den neuen Sommer- haaren hinunterschiebt. Ein dem Besucher zoolo- gischer Gärten bekanntes Beispiel sind die ver- schiedenen Hunde: Wölfe, Füchse, besonders auch die nördlichsten Formen wie Eis- und Blaufüchse haaren auf diese Weise. Da die Hunde aber ver- hältnismäßig beweglich sind und mit ihren Füßen fast überall zum Kratzen ankommen können, bilden sich bei ihnen meist nur Flocken alten Haares, selten reguläre Fetzen. Bei manchen Huftieren dagegen bleibt das alte Fell teppichartig auf den neuen Haaren sitzen und bildet lange Fransen und Lappen, wie z. B. am Wisentbild (Abb. 2) gut zu erkennen ist. Abb. 3. Bison im Zoo-Hamburg. E. Mohr phot. 23. V. 1917. Abb. I. Weißschwanzgnu im Zoo-Leipzig. J. Haarhaus phot. 3. VIII. 1919. Abb. 2. Wisentstier im Zoo-Leipzig. Dr. G. Grimpe phot. 27. VII. 1919. Wie schon oben gesagt, fallen bei kurzhaarigen Tieren die Haare zumeist einzeln aus, und nur bei langhaarigen schieben sie sich in Flocken an dem neuen Sommerhaar hinunter oder lösen sich in Fetzen ab. Tiere, die an sich kurzhaarig sind, können, wenn sie in ein kälteres Klima verpflanzt werden, ebenfalls in Flocken aushaaren, wie die Abb. I vom Weißschwanz Gnu aus dem Leipziger Zoo zeigt. Auch beim Dromedar kann ein Haaren in Fetzen vorkommen. 4. Bisons, diluviale Höhlenzeichnung aus der Grotte von Marsoulas. Nach Carteilbac et Breuil. In ganz ähnlicher Weise haaren auch die amerikanischen Bisons. Abb. 3 zeigt ein Tier Ende IVlai in den allerersten Stadien des Haar- wechsels. Besonders die vornstehende Kuh machte damals — und noch mehr acht Tage später — von weitem und in der Sonne durch die Schatten- wirkung der hochstehenden Haarflocken den Ein- druck , als ob das Tier fein gefleckt sei. Dies Bild ist deshalb von ganz besonderem Inter- esse, weil es herangezogen werden kann zur Deutung eines diluvialen Höhlengemäldes aus der Grotte von IVIarsoulas in den Pyrenäen. Es scheint — die IVlöglichkeit der Deutung als Dar- stellung eines Tieres im Haarwechsel stammt letzten Endes nicht von mir, sondern von Prof. Ew. Wüst in Kiel — als ob bei dem linken und dem mittleren Tiere der Beginn der Haarung an- -M. F. XDC. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 759 gedeutet sein soll, wenn auch die Ausführung etwas schematisiert ist. Bezeichnend ist, daß auf der Höhlenzeichnung das Hinterteil der Tiere nicht gefleckt erscheint. Es kommt nämlich nur selten vor, daß Vorder- und Hinterteil gleich weit enthaart sind; meist ist die hintere Körperhälfte eher enthaart, wie das Wisentbild gut zeigt. Am längsten bleiben die alten Haare an denjenigen Stellen des Körpers sitzen, an denen das Tier zum Scheuern nicht gut ankommen kann, oder wo es beim Scheuern sein Gleichgewicht gefährden würde. Auf allen Bildern ist deutlich zu sehen, wie vom Widerrist abwärts über die Schulter- blätter der alte Behang am längsten dauert. Abb. 5. Moschusochse im Zoo-Kopenhagen. Das interessanteste von allen Bildern ist zweifel- los das des haarenden Moschusochsen (Abb. 5). Hier hebt sich das alte Winterfell in großen Fla- den vom Körper ab. Es scheint zum Teil die Ansicht verbreitet zu sein, zumal auch in den Zoologischen Gärten, die Langwierigkeit und scheinbare Schwierigkeit des Haarens schädige die Tiere gesundheitlich. Ich möchte gleich vorweg nehmen, daß ich mich dieser Ansicht nicht an- schließen kann. Wenn sonst die Tiere, zumal in Zoologischen Gärten, Schwierigkeiten haben bei der Instandhaltung ihres Körpers — wenn z. B. die Nager zur Abnutzung der Zähne, die Hunde und Huftiere zur Abnutzung der Krallen und Hufe keine Gelegenheit haben — so gibt das sicher mehr oder weniger starke gesundheitliche Schädigungen; aber wenn die Haarung um einige Wochen ver- zögert wird oder erscheint, so kann das unmöglich von so tief einschneidender Bedeutung sein; denn in der Freiheit findet die Haarung auf gleiche Weise statt. Beim IVIoschusochsen speziell ist diese Frage am leichtesten erörtert. „Der Pelz der Moschusochsen ist außerordent- lich lang und dicht, die Haare bilden an den Seiten einen welligen, seidenweichen Behang von 60 — 80 cm Länge von dunkelgraubrauner Farbe mit einer dichten, hellen Unterwolle; auf dem Rücken sind die Haare nur kurz, und hinter der Schulter fehlen sie ganz , so daß hier die helle Unterwolle" eine helle schabrackenartige Zeichnung bildet (Brass)." Nathorst (Tvä somrar i norra ishafvet) erzählt über den Haarwechsel des Moschus- ochsen etwa folgendes : Anfang Sommer wechseln die Tiere den Pelz und haben dann ein sehr eigen- tümliches Aussehen; die abgelöste Wolle hängt in größeren und kleineren Fladen am Körper und flattert im Wind hin und her. In den Gegenden, in denen sich Moschusochsen aufhalten, findet man nicht selten Teile der abgelösten Wolle hier und dort am Boden liegen. Einem Stier, der Mitte Juli geschossen wurde, hing soviel lose Wolle in die Stirn hinein, daß man sich schwer vor- stellen konnte, daß er überhaupt noch etwas sehen konnte. Ein anderer dagegen, der Ende August geschossen wurde, war vollständig ausgehaart. Wir entnehmen diesen Angaben, daß die Haarung des Moschusochsen in der Freiheit in gleicher Weise vor sich geht und kaum eher er- ledigt ist als in der Gefangenschaft, und ich kann deshalb auch nicht glauben, daß der langsame Haarwechsel des Tieres die Schuld an der ver- hältnismäßig geringen Haltbarkeit des Moschus- ochsen in der Gefangenschaft hat. Nach den Be- richten von Nathorst sind die Versuche einer Domestikation des Moschusochsen soweit fortge- schritten, daß man sie als recht vielversprechend ansehen darf, wenn man sie noch nicht als ge- lungen ansehen will. Aber selbstverständlich darf man nie daran denken, in unserem Klima Moschus- ochsen domestizieren zu wollen; damit muß man im Norden bleiben. Unser Land wird dem Tiere zu warm und nicht windig genug sein. Der Wind ist überhaupt ein Faktor, dem bei der Aufstauung und Unterbringung kälteliebender Tiere viel mehr Beachtung erteilt werden sollte. So ist mir oft aufgefallen, daß sich die Rentiere viel lieber in den zugigsten Teil ihres Geheges stellten, als daß sie sich in den Schatten begaben, was man rein theoretisch zunächst anzunehmen geneigt ist. Im allgemeinen ist Langhaarigkeit eine Er- scheinung, die fast nur im Zusammenhang mit Domestikation oder Albinismus auftritt; aber einige wenige Tiere gibt es doch, die teils das ganze Jahr über langhaarig sind, teils im Winter ein dichtes, langes Vlies haben. Zu letzterer Gruppe gehört das zweihöckerige Kamel, das in der Weise wie Wisent und Bison haart, zur ersten Gruppe der Yak, dessen Haarung nach der Dar- stellung von Hingston (Journ. Bombay Nat. Hist. Soc. 1914) in der gleichen Weise verläuft wie beim Moschusochsen. 76o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 48 [Nachdruck verboten.) Alpine Karrenfelder. Von Dr. Hugo Lindner, Nürnberg. Mit I Abbildung und i Kärtchen. Über die Entstehung der Karrenfelder wurde von geologischer und geographischer Seite manch dankenswerter Aufsatz veröffentlicht, bis M. Eckert mit seiner Monographie des Gottesackerplateaus in der Gebirgsgruppe des Hohen Ifen ') das ganze Problem sowohl nach der historischen als natur- wissenschaftlichen Seite eingehend beleuchtete. Wir wollen deshalb hier das genetische Moment nur in Kürze behandeln und verfolgen vielmehr den Zweck, manchen wanderlustigen Leser auf ebenso genußreiche als belehrende alpine Spazier- gänge hinzuweisen, auf denen er Gelegenheit nehmen wird, der Karrenfrage durch eigenen Augenschein nahezutreten. Ob man die Erscheinung der Karrenfelder dem weit umfassenderen Karstphänomen angliedern will oder nicht (bekanntlich weist das Stammland aller Karsterscheinungen, der dinarische Karst, keine Karrenfelder auf, sondern statt deren Dohnen oder Karsttrichter) — jedenfalls ist ihr Auftreten geknüpft an solche Gesteine, die dem Prozeß der „Verkarstung" unterworfen sind, in erster Linie an den sogenannten kretazischen Schrattenkalk, welcher ja seinen Namen der allseitig zerklüfteten und ausgelaugten Oberfläche verdankt; stellten sich doch die biederen Älpler vor, daß böse Dämonen, die Schratte, sich in grauen Zeiten mit Felsblöcken beworfen hätten, wobei der betreffende Gebirgs- boden allenthalben zerwühlt und zerrissen worden sei.*) Bei der Frage nach der Entstehung der Karren oder Schratten standen sich in der wissen- schaftlichen Welt von jeher zwei Anschauungen gegenüber, die auch bei der Erklärung des Karst- phänomens überhaupt zu unterscheiden sind. Während die eine der mechanischen Wirkung des Regen- und Schneewassers den Hauptanteil an der Herausarbeitung dieser charakteristischen Bodenform zuwies, sah die andere vor allem in der chemischen Auslaugung des Gesteins durch kohlensäurehaltiges Wasser die vornehmste Ur- sache. Früher dachte man in erster Linie an Gletscherwirkungen, sei es, daß man in der aus- kolkenden Tätigkeit des -Gletschereises den Haupt- faktor gefunden zu haben glaubte, sei es, daß man die auslaugende und mechanisch abschleifende Wirkung der Schmelzwässer in Betracht zog. Heute steht man dem ganzen Problem insofern freier gegenüber, als man allen Faktoren das ihrige zugesteht. Durch Gletschertätigkeit mag der Boden vorbereitet worden sein, indem er entblößt, ') M. Eckert, Das Gottesackerplateau (ein Karrenfeld) in der Gebirgsgruppe des Hohen Ifen; Zeitschr. d.-ö. A.-V. IQOO, S. 52. Ferner die ausführlichere Arbeit im 3. wiss. Erg.Heft d.-ö. A.-V. ') Die Bezeichnung „Karrenfeld" hingegen ist nach S. Günther (Handb. d. Geophysik II, S. 880; Stuttgart 1S99) mit dem Worte Kar verwandt. eingeebnet und abgeschliffen wurde. Bei der Auf- wölbung der Gebirge wurde von den tektonischen Kräften die Oberfläche vielseitig zerrissen und gespalten, und das in den Klüften gefrierende Wasser mag zu deren Erweiterung noch ein übriges getan haben. Der, wie Eckert als wichtig an- sieht, verhältnismäßig reine Kalk wurde sowohl von erosiven (mechanisch wirkenden) als korro- siven (chemisch auslaugenden) Kräften zum Teil weggeführt, wobei die zur Tiefe ziehenden Spalten als Abzugskanäle dienten. Schließlich kommt die Mitwirkung der Vegetation in Betracht, indem die von den Pflanzen ausgeschiedenen Humussäuren an der Auflösung des Bodens mitarbeiten können. Wir werden weiter unten auf die besondere Be- teiligung des einen oder anderen Faktors Bezug nehmen. Wer je in den Allgäuer Alpen etwa vom Nebel- hornhaus einen Teil des entzückenden Höhenweg- netzes begangen hat und über das Laufbachereck durchs Bärgündeletal zu dem in schauerlicher Ein- samkeit gelegenen Prinz-Luitpoldhaus gewandert ist, wird dort mit Freude die Gelegenheit wahr- genommen haben, in größter Bequemlichkeit, in der unmittelbaren Umgebung der Hütte die treff- lichsten Karrenstudien zu machen. Das Prinz- Luitpoldhaus (1846 m ü. d. M.) liegt nämHch in- mitten eines Miniaturkarrenfeldes, auf einem schmalen Streifen Jurakalkes (Aptychenkalk),*) der vom Massiv des Wiedemer zum Glasfelderkopf verläuft. Dieses Karrenfeld wird allenthalben von gangbaren Wegen durchzogen, deren einer über den kleinen Felsbeckensee zur Balkenscharte und zum Hochvogel emporführt, während der andere als sogenannter Jubiläumsweg zum Schrecksee leitet. Letzterer zieht ein Stück auf der Ostseite des Karrenfeldes entlang, und wir bemerken hier mächtige, meterdicke, in sanftem Abfall ostwärts geneigte Platten oder besser Blöcke, auf denen wir in ausnehmender Schönheit die besondere Abart der „Rinnenkarren" beobachten können. In Gefällsrichtung liegen hier parallel nebeneinander wohl ausgeschliffene Furchen, deren Breite einige Zentimeter bis zu einem Dezimeter beträgt, und die sich gewöhnlich am unteren Ende verjüngen. Zwischen diesen „Halbröhren", wie wir sie treffend bezeichnen können, zeigen sich scharf ausgebildete Firste von Messerschärfe, bisweilen auch stumpfe oder ebenfalls gerundete, nach oben gewölbte Ge- steinsstreifen. Ohne weiteres leuchtet uns ein, daß der Löwenanteil an der Modellierung dieser Furchen der Erosion durch fließendes Regenwasser zuzuschreiben ist, wie denn auch bei feuchtem Wetter darin die Wasserfäden munter zur Erde ') Vgl. Gümbels Geolog. Karte der Alpen, Blatt Sont- N. F. XIX. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 761 rinnen. In den Rinnenkarren findet sich wenig Vegetation; nackt und bloß liegt das Gestein zu- tage, da jede Humusanhäufung sofort der Ab- spülung zum Opfer fallen müßte. Anders geartet sind die Karren, welche wir einige Meter weiter innen im Felde finden. Hier handelt es sich um drehrunde, fuß- bis metertiefe Nischen und Löcher, ähnlich denen, die heftig strömendes, mit Geröll beladenes Wasser im an- stehenden Gestein auskolkt. So zeigen sie bei- spielsweise eine überraschende Ähnlichkeit mit den Uferbildungen an der östlichen Illerseite bei Buxheim unweit Memmingen, nahe der Eisenbahn- brücke. Aber was dort die Kraft der Wellen im verhältnismäßig weichen, lehmigen Gestein des Niederterrassenschotters zustande brachte, das wurde hier aus hartem, kristallinem Kalkstein modelliert. Einzelne dieser Löcher gleichen runden Töpfen mit verhältnismäßig dicker Wandung, bei anderen wieder wurde die Umfassung mehr- fach durchbrochen, ja zum Teil bis auf dürftige Reste aufgelöst. Diese stehen dann als abenteuer- lich geformte Zinken und Nasen, bisweilen von der Gestalt eines Kuhhorns, frei in die Luft, wo- bei jedoch stets die Schmalseiten nach oben und unten gerichtet sind. Abb. 1 zeigt rechts ein solch scharfkantiges, 15 cm langes, bis 9 cm breites und i — 2 cm dickes Kalkgebilde aus dieser Stelle des Karren feldes. Abb. I. VerwiUerungsformen des Kalksteins aus dem Malm des Frankecjuras (links) und aus dem Aptychenkalk des All- gäus (rechts); letzteres eine scharfkantige „Nase" vom Karren- feld des Prinz-Luitpold-Hauses. Was nun die Entstehung dieser Art von Karren anlangt, so ist sie nicht so einfach zu fassen wie diejenige der Rinnenkarren. Man findet bisweilen Vertiefungen, welche nirgends einen Abzugskanal erkennen lassen, und dennoch ersichtlich durch Wasserwirkung ausgearbeitet worden sind. Nun ist zwar der Kalkstein als solcher für Wasser un- durchlässig; er ist aber außer von den mit bloßem Auge wahrnehmbaren Spalten auch von zahlreichen mikroskopisch kleinen Haarspältchen durchzogen, welche das Niederschlagswasser in sich aufsaugen. Bei diesem Vorgang wandelt sich der kohlensaure Kalk unter Mithilfe der atmosphärischen Kohlen- säure in doppeltkohlensaurem Kalk um, welcher in Wasser leicht löslich ist — dies um so gründ- licher, als das Regenwasser erst nur sehr langsam in das Gestein einzudringen vermag. Bei der Auflösung des Kalkes bleiben lehmige Rückstände übrig, auf denen sich nun eine bescheidene, all- mählich üppiger werdende Vegetation ansiedelt.^) Hat sich erst Humus gebildet, so gedeihen Alpen- rosen und Latschen allenthalben in und zwischen den Karren, wie denn unser Karrenfeld durchaus keinen nackten und wüsten Eindruck erweckt, sondern überall begrünt und beblumt ist. Stellen- weise ist der Humus zu dicken, weichen Polstern angewachsen, welche unter Umständen die Karren sogar vollkommen einhüllen. Andererseits wirken, wie wir schon eingangs betonten, gerade die Humusbestände zufolge der ausgeschiedenen Säuren gesteinslösend. Mancherorts sind die Kalk- blöcke so sehr zerfressen und in Auflösung be- griffen, daß das ergänzende Auge nur mit Mühe ihre ehemaligen Umrisse verfolgen kann ; sie machen dann den Eindruck von Knochen, die vom Fleische entblößt wurden und nur dem kundigen Blick die einstige Gestalt verraten. Um zu zeigen, daß die mannigfachen Probleme der Natur sich fast immer irgendwo berühren und ineinander übergehen, können wir es uns nicht versagen, einen vergleichenden Blick auf gewisse Erscheinungen unseres einheimischen Frankenjuras zu werfen. Schon G um bei beschreibt, daß die Schwammkalke (Malm ö) in der Fränkischen Schweiz eine Art der Verwitterung aufweisen, die ihre Reste riesigen Tierknochen ähneln läßt. Den gleichen Eindruck erweckt ein Teil der Karren am Prinz- Luitpoldhaus: man glaubt die Ober- schenkelknochen, Schädeltrümmer und Becken- gürtel ausgestorbener Säuger zu erblicken. Ein weiteres Parallelbeispiel ist auf Abb. i links zu bemerken. Es handelt sich um ein 15 cm hohes, ebenso breites und i — 2 cm dickes Gebilde aus dem Werkkalk des Frankenjura (Malm ßj, welches eine gewisse Ähnlichkeit mit der Karrennase vom Prinz- Luitpoldhaus aufweist. Auch hier sind die Kanten überaus scharf und schneidend, besonders an dem gebogenen Stiel. Die Gestalt ist beii- förmig und erinnert entfernt an einen Tomahawk. Ich fand das Verwitterungsstück vor Jahren im Ankatale bei Rupprechtstegen (südl. Pegnitz) in der sog. Hersbrucker Schweiz, wo es neben an- deren verwitternden Resten an der Talflanke lag. Es ist klar, daß ähnlich zusammengesetzte Gesteine hier wie in den Alpen unter dem Einfluß der Niederschläge und der Verwitterung ähnliche For- men angeben können. Der Unterschied ist nur der, daß im Frankenjura nirgends eine solch aus- ') Im „dinarischen Karst" bildet sich solchermaßen die sog. Terra rossa (Roterde), ein durch Deiraengung von kollo- idalen Eisenoxydhydraten und infolge des geringen Humus- gehaltes auffallend rot gefärbter Ton, dessen Entstehung von dem dort herrschenden subtropischen Klima besonders be- günstigt wird. An manchen Stellen, besonders in den trichter- förmigen Dolinen, stellt sie den einzigen brauchbaren Acker- boden dar. Für den Karslhauern ist sie von solch hervor- ragender Wichtigkeit, daß sie sogar des Diebstahls für wert erachtet wird I 762 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 48 gedehnte Ansammlung von „verkarrten Gebilden" — um diesen Ausdruck zu prägen — gefunden wird wie im Gebirge. Im Frankenjura zeigt die Gesteinsoberfläche an Stelle der Karrenbildung häufig ein poröses, durch und durch zerfressenes, nach allen Richtungen ausgelaugtes Gepräge — jedoch oftmals nur an den Flanken und abstürzen- den Wänden, während das Haupt der Felsblöcke vielfach vollkommen von Humus und Pflanzen- wuchs bedeckt ist. Wo diese fehlen, bilden sich gleichwohl keine Karren; denn einerseits besteht ein großer Anteil am Gestein nicht aus kohlen- saurem Kalk, sondern aus Dolomit, und wo es sich um Kalkstein handelt (Werkkalk, Schwamm- kalk), da sind die betreffenden Gesteine überaus lehmhaltig und von unreiner Zusammensetzung. Im Schweizer Jura dagegen finden sich Karren- felder, wie A g a s s i z ^) und R a t z e 1- j berichteten. Wie bereits erwähnt, ist der Gletschertätigkeit bei der Karrenbildung insofern eine gewisse Rolle zuzuerkennen, als sie durch ihre abhobelnde Tätig- keit den Boden vorbereitet und vor allem ihn vom Pflanzenwuchs entblößt. Daß dies auch beim Gelände in der Umgebung des Prinz-Luitpoldhauses der Fall war, dafür spricht der ganze Bau des dahinterliegenden Kares; vor allem erweist sich der kleine See als ein Felsbeckensee, wel- cher vom Tale durch den bereits erwähnten Riegel aus Aptychenkalk geschieden wird. Um dieses Problem gleich festzuhalten, möchten wir nicht versäumen, auf die charakteristische Rund- höckerlandschaft hinzuweisen, welche wir im Hinter- grunde des nahe gelegenen Oytales antreffen, wohin wir über das Himmeleck durch blumen- bedeckte, 2000 m hoch liegende Matten wandern können. Hier oben liegt, 1800 m hoch, in der Nähe der verfallenen Seehütte der Eissee, rings umgeben von abgerundeten, in dunkles Grün ge- hüllten Hügeln, indes das Seebecken wiederum gegen das Tal durch eine Barriere abgegrenzt ist. Wir gedenken im Vorbeieilen der bereits ge- nugsam beschriebenen Karrenfelder des an der Grenze von AUgäu und Bregenzerwald gelegenen Hohen Ken, *) welche man am besten von Riez- lern im kleinen Wassertale über die Auen-Alm und den Ifenkamm erreicht. Zufolge seines düsteren, einem aufgerissenen Gräberfelde gleichen- den Charakters nannte man dieses Karrenplateau das „Gottesackerplattert". Vor einer Begehung desselben bei Nebel muß dringend gewarnt wer- den; denn ohne Hilfe der IVIarkierung ist es ein überaus mühseliges und zeitraubendes Unter- nehmen, über die scharfkantigen Firste, die hier von über 10 m breiten Gräben getrennt werden, hinwegzuklettern. An schauerlicher Großartigkeit und Einsamkeit darf es getrost neben das „Stei- nerne Meer" in den Berchtesgadener Alpen gestellt ') Agassiz, litudes sur les glaciers; Neuenburg 1848. ^) Ralzel, Über Karrenfelder im Jura und Verwandtes; Leipzig 1891. ') Vgl. auch Waltenbcrger, Die Gebirgsgruppe des Hohen Ken; Zeilschr. d.-ö. A.-V. 1877. werden. Letztgenanntes Karrenfeld hat diesen Namen seiner auffallenden Ähnlichkeit mit einem sturmgepeitschten und plötzlich versteinten Ozean zu verdanken. Wir durchwandern in Gedanken den westlich des Hohen Ifen liegenden Bregenzer Wald und gelangen durch das große Walsertal hinüber ins Mantavon, das Tal der 111. Von Bludenz führt uns eine bequeme elektrische Bahn nach dem stillen Tschagguns. Durchs Gauertal steigen wir mühelos auf breiter Fahrstraße zur einzigartig gelegenen Lindauer Hütte, zu welcher rechts die Drusenfluh und die fein ziselierten Drei Türme herunterschauen, während links der massige Stock der Sulzfluh sogleich jedes geographisch geschulte Auge entzückt (Abb. 2). Mit dem Fernglas er- blicken wir schon vom Tale aus das große Karren- feld, welches den oberen Rand dieses imposanten Kalkklotzes ziert und nach rechts allmählich mehr Partnun.\ p^jj j S. '»--.J(__ /rotta schwindende^ Bache Abb. Gege 2. Übersichtskärlchen der Karsterscheinungen in der id der Sulztiuh im Rhätikon unter Benutzung von Waltenbergers Sulzfluhkarte. und mehr in Schnee getaucht erscheint, bis es schließlich unter der eisigen Umarmung des Sporer- gletschers verschwindet. Der Aufstieg zur Sulz- fluh kann von der Lindauer Hütte aus auf zwei Wegen erfolgen. Man steigt ein Stück rückwärts das Gauertal hinab auf einem Seitenpfad durch den Porsalenger Wald bis zu dem Bachbett, wel- ches den Weg senkrecht schneidet. Hier führt der direkte Anstieg über Latschen und durch den sog. „Rachen" steil empor — eine wegen Stein- schlag nicht ohne Gefahr zu passierende Route. Bequemer steigt man die Zickzackwindungen des Bilkengrates hinauf bis zur Scharte am Schwarz- horn, wo mitten in die Kalke ein mächtiger Zug N. F. XK. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 763 flaschengrünen Serpentines eingebettet liegt. Schwindelfreie benützen von hier ab den nach rechts ziehenden Verspalagrat, der in freier Höhe mit beglückender Aussicht zum Massiv der Sulz- fluh führt; Vorsichtige dagegen steigen zur Tili- sunahütte ab und nehmen von hier den direkten Aufstieg. Was das Karrenfeld auf dem Rücken der Sulzfluh anlangt, so zeigt es trotz seiner An- sehnlichkeit verhältnismäßig sanften Charakter. Das Interessanteste sind die häufigen Übergänge von Karren in Höhlen, die man hier allenthalben beobachten kann. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht eine ziemlich mühelose Wanderung über das Karrenfeld, welches sich an der Ostseite der Sulzfluh bis zum Partnunpaß herabzieht, um dann jenseits zur Weißplatte oder Scheienfluh wieder anzusteigen. Die in der Nähe liegende Tilisuna- hütte ist rings von Ausläufern dieses Karrenfeldes umgeben. Zahlreich bemerken wir ansehnliche Rinnenkarren; die napfförmigen Karren jedoch scheinen jüngeren Alters zu sein als diejenigen in der Umgebung des PrinzLuitpoldhauses. Während dort Hohlräume und massive Gesteinsteile sich zum mindesten die Wage halten, ist hier das noch feste Gestein dem Volumen nach größer als die darin verstreuten Karrenbildungen. Nasen und Zinken können wir auch hier beobachten ; Latschen, Alpenrosen und andere Pflanzen sind überall über den blendend weißen Kalk verstreut. Dahinter aber steigt in strahlender Helle die nackte Scheien- fluh empor, anzusehen fast wie ein kristallglänzender Zuckerbrocken oder ein hoch aufragendes Schnee- feld. Von ganz besonderem Reize jedoch sind die zahlreichen Höhlen, hier „Balmen" genannt, welche hauptsächlich südlich des Partnunpasses (2220 m) liegen und nunmehr auf markiertem Wege zu erreichen sind.') Dort besichtigen wir die 80 m lange Seehöhle mit ihrem Dom von 6 m Höhe und 4 m Breite, so genannt nach einem unter- irdischen See, welcher regungslos in den Kalk eingebettet liegt; wir besuchen die Kirchhöhle und die Herrenhöhle, sowie die eigenartige „Rote Fluh", eine 0,5 m breite Marmorspalte an der Scheienfluh, auf deren tiefliegendem Boden hinab- geworfene Steine erst nach 3 — 4 Sekunden an- schlagen. Daß der Sulzfluhstock auch im Innern von zahlreichen Höhlen durchschwärmt sein muß, können wir aus den an der Nordwand zutage tretenden unterirdischen Röhren erkennen. Be- trachten wir diese durch horizontale Bänder ge- gliederte Wand von der Lindauer Hütte aus, so bemerken wir, einen Steinwurf weit links vom Wege nach dem Drusentor einen Schuttkegel, der am Fuße der Wand etwa 60 m in die Höhe steigt. Dort mündet ein ovales Loch von beträchtlichen Dimensionen, welches sich nach oben rechts in einen leicht zu verfolgenden Spalt fortsetzt, der die Wand weithin durchbricht. Der Einstieg in ') Vgl. F. Nibler, Die Sulzfluh und ihre Höhlen ; Zeit- schrift d.-ö. A.-V. 1877, S. 324- diese Höhle ist schwierig; man muß einer über- hängenden Wand von 12 m Höhe nach rechts ausweichen, über griftarmes Gestein wieder nach links traversieren und betritt nach dieser ziemlich exponierten Kletterei eine bis 60 m hohe, 100 m tiefe und 10 m breite Höhle. Aus einer 15 m über dem Höhlenboden liegenden Fortsetzung, die mit der Leiter leicht erreichbar wäre, rinnt Wasser herab. Andere derartige Mündungen unter- irdischer Gerinne sind über die ganze Nordwand verstreut, und wir werden im Geiste unschwer die Verbindung herstellen zu den Öffnungen der Karrenfelder auf dem Sulzfluhrücken, in welche das Regenwasser einsickert, um sich allmählich in größeren „Karstgerinnen" zu kleinen Bächen zu sammeln. Wir haben hier somit ein Analogon zu den Dohnen oder Karsttrichtern im dinarischen Karste, von denen bekanntlich ebenfalls unter- irdische Wasseradern zur Tiefe führen, mit zwischen- geschaUeten Höhlen und Grotten. Hier näher auf die verschiedenen karsthydrographischen Theorien einzugehen, verbietet mir der zur Verfügung stehende Raum, und ich kann es um so leichter übergehen, als ich alles Wesentliche hierüber be- reits an anderer Stelle berichtet habe.') Daß wir in der Umgebung der Sulzfluh auch verschwindende Bäche bemerken können, möchte ich aber doch beifügen. Von der Tilisunahütte aus gelangt man an der Ostseite der Scheienfluh vorbei zum Plass- eggenjoch und in das südlich davon gelegene Hochtal. Hier verschwinden zahlreiche Bäche in Spalten des Kalkfelses, um erst weiter unten, im Gebiete von Partnun an der Südseite des Ge- birges hervorzubrechen. -) Auch im Gauertale kann man derartiges beobachten. Oberhalb der Lindauerhütte entspringt nahe dem Eisjöchel ein Bächlein, welches alsbald inmitten grüner Matten versickert, um erst weiter unten, im Porsalenger Walde, wieder aufzutauchen und nunmehr als Rasafeibach das Gauertal hinabzuspringen. Wahr- scheinlich handelt es sich hier jedoch nicht um ein Karstphänomen, sondern, wie ich dies früher vom Oybache beschrieb und dieses Jahr auch beim Falterbach wiederfand, um ein Versickern im Geröll des Bachgrundes. Wir können die vorliegende Abhandlung nicht wohl schließen, ohne auf die zahlreichen Gletscher- spuren aufmerksam gemacht zu haben, welche sich allerorts in der Umgebung der Sulz- und Schleienfluh finden. Fristet doch heute noch ein Miniaturgletscher sein Dasein in der Einsenkung zwischen Drusenfluh und Großem Turm, am oben erwähnten Eisjöchel. Spalten- und Blaubänder- struktur sind an diesem mühelos zu erreichenden Gletscher in charakteristischer Ausbildung zu be- obachten. Der Tilisunasee und der südlich vom Partnun- paß, gelegene Partnunsee sind typische Felsbecken- •) H. Lindner, Unterirdische Flüsse und Bäche: diese Zeitschr. 1920, Nr. 8. ^) Vgl. K. Blöd ig, Wanderungen iraRhätikon; Zeitschr. d.-ö. A.-V. 190I, S. 268. 764 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 48 Seen ; Rundhöckerlandschaft und erratische Blöcke bilden ihr Gefolge. Der Boden des oberen Gauer- tales aber erweist sich, aus der Höhe des Ver- spalagrates betrachtet, von ttogförmiger Gestalt; vermutlich erstreckte sich der Gletscher des Eis- jöchels, verstärkt durch einen zweiten vom Schweizer Tor her, weit über das Gebiet der Lindauerhütte hinab — mindestens bis zu jenem Riegel, der nun den Porsalenger Wald trägt und dessen Hügel alle hübsch gerundet sind. So hätten wir auch hier die Verbindung hergestellt zwischen ehe- maliger Vergletscherung und nachfolgender Karren- bildung; denn auch im Gauertale finden wir, schon in den mittleren Teilen, Andeutungen besonders von Rinnenkarren, die dem Auge des aufmerk- samen Beobachters nicht entgehen werden. Zum Schlüsse sei mir gestattet, auf weitere Karrenfelder hinzuweisen. F. S i m o n y ^) beschrieb ') F. Simony, Die erodierenden Kräfte im Alpenlande; J. ö. A.-V. VII. Derselbe, Das Dachsteingebiet, ein geo- graphisches Charakterbild aus den österr. Nordalpen I; Wien eingehend diejenigen des Dachstein- und Priel- stockes, Keller*) behandelte das Karrenphänomen in den Schweizer Alpen, IVIayr^j schildert einen Spaziergang über das „Steinerne Meer'", während KeiP) diesem Gebirgsteile eine Monographie widmet. Die Karren am Untersberge zwischen Schweigmülleralpe und Mückenbründl, auf dem Boden des Brunntales gegen den Rehlack, sowie am Nordabhang des großen Hauptkammes be- schreibt eingehend Fugger.*) Daß auch in anderen Ländern, im Peloponnes, in Montenegro und am Libanon das Karrenphänomen zu finden ist, mag man in der mit bekannter Gründlichkeit verfaßten Übersicht von S. Günther nach- schlagen. ') F. K e 1 il e r , Bemerkungen über die Karren oder Schratten usw.; Zürich 1840. ^) J. Mayr, Ein Spaziergang über das Steinerne Meer; Mitt. d.-ö. A.-V. igoi, S. 2, ') Keil, Das Steinerne Meer ; Mitt. Ges. Salzburg. Landes- kunde 61. *) E. Fugger, Der Untersberg; Zeitschr. d.-ö. A.-V. 1880, S. 117. Einzelberichte. Geographie. Zu Nehrings „Steppenhypothese". Gegen Alfred Nehrings bekannte Anschau- ungen über Tundren und Steppen der Jetzt- und Vorzeit ist immer wieder Sturm gelaufen worden, in neuester Zeit vor allem von Brockmann- J er OS eh. In einer Arbeit über „Das Naturbild Norddeutschlands zur ausgehenden Eiszeit" (in : Zeitschrift für Ethnologie, LI, 19 19, S. 205 — 233) unternimmt es jetzt Arnold Jacobi, die Tat- sachen für und wider nochmals kritisch zu prüfen, wobei ihm vor allem seine eigene Anschauung der Tundra mit ihrer Fauna und Flora zustatten kommt. ') Jacobi stellt zunächst fest, daß die Lebewelt der Tundra- und der Dryasperiode als Mitglieder ein und derselben Lebensgemeinschaft zu be- trachten sind, die gleichzeitig in den gleichen Strichen Norddeutschlands gelebt hat. Die Ein- wände, die gegen die von Nehring eingeführte Auffassung der Physiographie unseres Spätglazials vorgebracht worden sind,, erscheinen vom biolo- gischen Standpunkte aus nicht stichhaltig. Die angeblich „ausgestorbenen" Tierarten der Tundren- phase stellen eine, ja sogar die ganze Fauna lebender Zirkumpolartiere dar, deren Lebensspiel- raum wir ebenfalls genau kennen. Ebenso läßt sich mit Hilfe des von Nathorst gesammelten Materials auch der botanische Nachweis für die Diluvialtundra erbringen. Aus dem Vergleiche der zoologischen und biologischen Feststellungen läßt sich überein- stimmend mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ') Vgl. auch die kurz vorher erschienene Arbeit A. Ja- cobis über „Die Tundra", in: Geographische Zeitschrift, 25 1919) S. 245 — 262. die Ablösung der Gletscherbedeckung Nord- deutschlands — und wohl auch südlich an- grenzender Gebiete — durch eine Landschaft von tundraähnlicher Beschaffenheit schließen. Nehrings mitteleuropäische Steppenfauna ferner enthält alle typischen Säuger derjenigen europäischen Steppengebiete, die den diluvialen Wohnplätzen räumlich am nächsten liegen. Wir dürfen daraus auch folgern, daß unsere einstigen Diluvialsteppen im wesentlichen die Natur- beschafifenheit der heutigen südrussischen Steppen besessen haben. Die gegen Nehrings Steppen- lehre streitenden Autoren haben bei dem Begriffe ..Steppe" eine falsche Vorstellung gehabt. Dieser Name ist von einem ostslawischen Volksstamm geschaffen worden, der die Tiefländer zwischen Dnjestr, Don und dem Schwarzen Meere bewohnte. Als die Russen (im weiteren Sinne) die weiter östlich liegenden, damals waldfreien Gebiete be- siedelten, fanden sie ganz oder fast gleiche Natur- verhältnisse vor, die zwanglos die Anwendung ihres ursprünglichen Steppenbegriffs auf diese vertrugen. Man versteht an der Wolga unter Steppe die von der Bodenkultur verschont ge- bliebenen Schwarzerdeländer und die im Süden anstoßenden Lehmgebiete, soweit sie vorzugsweise vom Federgrase bewachsen sind. Alle übrigen Verwendungen des Wortes Steppe als Bezeichnung einer Landschafts- und Vegetationsform schließen schon eine Übertragung in sich. Studiert man die heutige Verbreitung gewisser Diluvialtiere, so bieten die Diluvialfaunen keinerlei Züge, die sich mit dem Bilde der heutigen nicht vertrügen. Als Zoologe kann Jacobi jedenfalls keinen ernstlichen Widerspruch gegen die An- N. F. XDC. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 765 nähme zugeben, daß in der spätesten Eiszeit Naturverhälinisse bestanden haben, die den heuti- gen Tundren und Steppen entsprachen. Aller- dings gesteht er mäßige Abweichungen physi- kalischer und biologischer Art von den gegen- wärtigen Zügen in gewissem Umfange zu und führt die Gründe dafür an. Rudolph Zaunick, Dresden. Zoologie. Zur Verbreitung des Siebenschläfers in Mittel- und Ostdeutschland. Erst seit der JVIitte des vorigen Jahrhunderts melden die sächsischen Faunisten das ganz vereinzelte Vorkommen von Siebenschläfern (Myoxus glis L.) in ihrem Be- obachtungsgebiet. Man glaubte zunächst, daß diese in Sachsen gefangenen Tiere nur spärliche, nach Westen vordringende Vorposten der südost- europäischen Hauptmasse wären. Doch hat vor allem Rudolf Zimmermann in mehreren kleinen Arbeiten ') allmählich feststellen können, daß der Siebenschläfer in Sachsen ein viel weiter verbreitetes Tier ist, als man vorher annahm. Sein Wohngebiet ist hier, soweit wir es bis jetzt kennen, in den Landschaften rechts und links der oberen Elbe bis nach Dresden herunter, sowie weiter im Gelände der unteren Zwickauer Mulde, der unteren Zschopau mit der unteren Freiberger Mulde, schließlich im Gebiete der Vereinigten Mulde und westwärts bis Leipzig. Hat schon Zimmermann in seinen jüngsten Artikeln nicht mehr die Anschauung früherer Faunisten wiederholt, daß der Siebenschläfer sich auf der Einwanderung aus Böhmen nach Sachsen längs der Elbe befinde, so glaube ich — ganz in Übereinstimmung mit Arnold Jacobi, dem Direktor des Dresdener Zoologischen Museums — daß das Tier längst schon in Sachsen heimisch ist. Nur haben die wenigen sächsischen Faunisten des 18. und der i. Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den doch recht verborgen (in der Nacht !) leben- den einen Vertreter der vier deutschen Schlaf- mäusearten nicht geachtet, wie überhaupt die Er- forschung der Kleinsäuger-Fauna überall erst reich- lich spät eingesetzt hat. In Werner Herolds Sammelreferat über „Die Verbreitung der Schlaf- mäuse (Myoxidae) in Deutschland""^) sind die Be- weise hierfür zu finden. Ich kann nur streifen, daß auch vom Ziesel (Spermophilus citillus L.) noch hier und da in der Literatur behauptet wird, er befände sich auf einer Westwärtswanderung durch Sachsen hin- ') VoQ Zimmermanns Artikeln nenne ich nur die zu- gänglicheren: Zoologischer Garten [später: Beobachter], 46 (1905) S. iSo— 185; 47 (1906) S. 311 — 314; 50 (1909) S. 108— 1 10 u. 281; 51 (1910) S. 105 — 108. — Mitteilungen d. Landesver. Sachs. Heimatschutz, 1, 9 (1910) S. 267 — 269. — Über Berg und Tal, 30 (Dresden 1907) Nr. 1, S. 123 — 125; 40 (1917) Nr. 7, S. 71 — 73. — Dresdner Anzeiger, Sonntags- Beilage, 1914, Nr. 52, S. 206 — 207 [Zusammenfassendes Refe- rat mit Literatur]. 2) In: Helios, 28 (1916) S. 1—38 (mit 6 Verbreitungs- karten); bes. S. I — 10:. Verbreitung des Siebenschläfers. durch. Aus älteren bislang unbeachtet gebliebenen Berichten und Chroniken ist aber zu schließen, daß auch er im Süden Sachsens längst heimisch, ja früher sogar vielleicht häufiger gewesen ist als jetzt. Aus Herolds oben zitierter Arbeit geht her- vor, wie verbreitet eigentlich der Siebenschläfer in ganz Deutschland ist. Freilich fehlen für einzelne Territorien immer noch genaue Angaben und kritische Nachprüfungen, wie z. B. für Ostdeutsch- land. Erst Ferdinand Fax hat jüngst diese eine Lücke mit einer Arbeit über „Die Verbreitung des Siebenschläfers in Schlesien" ^) ausgefüllt. Hier im Osten Deutschlands ist das Tier ein charakte- ristischer Bewohner des Hügellandes, der seine Hauptverbreitung in den niederen Teilen der Su- deten besitzt. Auf den Höhen der schlesischen Landrücken wird es dagegen nur selten ange- troffen, während es in dem Gebiete der ober- schlesischen Muschelkalkplatte überhaupt ganz zu fehlen scheint. Hoffentlich achten die Faunisten jetzt immer mehr auf die Schlafmäuse, vor allem aber auch auf Nachrichten, die in der älteren landeskund- lichen Literatur noch verborgen sein dürften. Rudolph Zaunick, Dresden. Edelreiherkolonien in Ungarn. In den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es in Ungarn, führt Dr. Nikolaus Ostermayer im „Deut- schen Jäger" (1920, Nr. 25, S. 296) aus, noch 19 Kolonien des Silberreihers mit etwa 500 Brutpaaren. Heute gibt es nur mehr 4 Kolonien mit ungefähr 25 Brutpaaren, und zwar Kisbalaton (kleiner Plattensee) und Obedska bara mit 15, und Neusiedler- Feriösee und Weißer See bei Lukacs- falva mit 10 Paaren. Der Bestand des zweiten Edelreihers, des Seid en reih ers, ist auch heute noch, gerade so wie einst, erheblich größer als der des Silberreihers: doch hat er durch dieselben Ursachen wie der des letzteren eine gewaltige Verminderung erlitten. Blindwütende Verfolgung und Fluß- und Binnengewässerregulierung fällen der gesamten Wasservogelwelt das Todesurteil. Im Jahre 1869 belief sich der Seidenreiherbestand Ungarns, auf 19 Brutgebietkolonien verteilt, auf ungefähr 3000 Paare. Im Laufe der letzten Jahr- zehnte verschwanden die Seidenreiher aus sämt- lichen Brutgebieten mit Ausnahme der Obedska bara, wo heute etwa noch 200 Paare brüten dürften. H. W. Frickhinger. Der Reiher als Fischräuber. Der graue oder Fischreiher {Ardea cinerea) ist von allen fischen- den Vögeln der größte Fischräuber. Zwar fängt er nebenbei auch Mäuse, Frösche und fischschäd- liche Wasserkäfer. Ja sogar Muscheln, Salamander und Molche dienen ihm, wenn er in strengen ') In: Archiv für Naturgeschichte, 84. Jahrg. 1918, Abt. A, 10. Heft (Mai 1920) S. 156 — l6l (mit I Kundortkarte). ;66 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nfr. 4g Wintern nichts anderes mehr findet, zur Nahrung, aber während der Brutzeit besteht sein Speise- zettel fast ausschließlich aus Fischen. Das Haupt- konlingent der ihm zur Nahrung dienenden Fische, führt W. Schuster, Rastalt, in der „Allgemeinen Fischerei-Zeitung" (1920) aus, stellen die Weißfische und Karpfen, von deren letzteren er aber meist nur Jungfische fängt. Die Forelle fallt dem Reiher weniger häufig zur Beute, da er an klaren Bächen, wie sie die Forellen lieben, zumeist nicht fischt. Schaden kann der Reiher an Fischteichen voll- führen: regungslos steht er am seichten Rand- wasser und läßt von Zeit zu Zeit seine flüssigen Exkremente ins Wasser fallen. Wie jeder Gegen- stand, der ins Wasser fällt, erregen auch diese die Aufmerksamkeit der Fische, sie schwimmen heran und werden so des Reihers leichte Beute. Dieser Tatsache liegt wohl die vielgeglaubte Fabel zugrunde, nach der Reiher „die Fische anziehen". Die Reiher waren einst viel zahlreicher in Deutsch- land als heute, da sie im 16., 17. und 18. Jahr- hundert auf Grund mancher „LandesForstordnung", wie z. B. der bayerischen und hessischen, aus- giebige Schonung erfuhren, weil sie als Opfer der Falkenbeize zum „Federspiel" rechneten. Die Reiherfedern standen als Verzierung der Ritter- helme ebenso hoch im Wert wie die Falkenbeize als Vergnügen der Herren und Edeldamen, und noch heute lassen sich die Töchter der Herren von Morstein an der Jagst, Besitzer der einzigen noch bedeutenden Reiherkolonie in Württemberg, im Reiherfedernschmuck in der Kirche trauen, streng festgehaltenem Herkommen gemäß. Außer- dem wurde vor drei- und vierhundert Jahren die Fischerei in den damals so überaus fischreichen Gewässern Deutschlands noch lange nicht so intensiv betrieben wie heute, so daß man — im Gegensatz zu der Gegenwart — einen Mangel und eine Abnahme der Fische verspürt hätte. Man brauchte also damals nicht wie heute sonder- lich um Fischschutz besorgt zu sein und Front zu machen gegen die befiederten P'ischfeinde, deren Tun dem Fischvolk ja damals nicht nach- teilig ward. Darum waren die Reiher damals viel mehr geduldet, also auch viel zahlreicher. Heute liegen die Verhältnisse anders. Dem Fischbestand der kleineren Zuchtteiche können Fischreiher ganz empfindlich Abbruch tun,- und hier müssen sie .schonungslos bekämpft werden. H. W. Frickhinger. Schakale in der Herzegowina. Über das Vorkommen des Schakals in der Herzegowina veröffentlicht Forstrat Geschwind im „Deut- schen Jäger" (1920, S. 252) eine Reihe belang- reicher Tatsachen. Standreviere dieses Wildhundes sind die dalmatinische Insel Curzola, die langge- streckte Halbinsel Sabbioncello und die Scogli, unbewohnte Felseneilande im Bereiche der ge- nannten Halbinsel. Gerudelt fällt der Schakal dort am Kleinvieh belangreich zu Schaden. Boden- beschaffenheit, Macchie und immergrünes Busch- werk gewähren Versteck und erschweren die Nachstellung. Zum zeitweiligen oder dauernden Aufenthalt schnürt der Schakal von hier nach dem Festlande. Ein Landstreifen von 1,5 km Breite ermöglicht diese Ortsveränderung und die 2 km breiten Wasserarme des Canale di Stagno gicolo und des Canale di Stagno grande werden mühe- los durchschwömmen. Auch der 3 km breite Valle di Maestro dient als Verbindungsmittel. Heute ist der Schakal auf der Halbinsel und den Eilanden weniger häufig als auf dem dalmatischen Festland. Vom Küstengebiet drang er in das stufig aufgebaute Hinterland, dann erreichte er die dalmatinischherzegowinische Landesgrenze und überschritt diese. Je weiter aber der Schakal in die Herzegowina eindrang, desto ungünstiger ge- stalteten sich dort seine Lebensbedingungen. Deckung und Unterschlupf sind nicht in gewohnter Weise geboten und auch die Raubtätigkeit ist in mehrfacher Hinsicht erschwert. Manche der un- günstigeren Lebensbedingungen hängen mit den klimatischen und Vegetationsverhäitnissen zu- sammen. Auf Inselrevieren stehen dem Schakale die Früchte des rotfrüchtigen und großfrüchtigen Wacholders, wie auch die des Erdbeerbaumes in „fleischarmer" Zeit zu Gebote, die immergrüne Macchie bietet immerwährende Deckung, in der Herzegowina jedoch fehlen diese Sträucher und weichen dem sommergrünen Laubholz. In den Revieren zwischen der Bucht von Neum-Klek, der Bezirksgrenze Ljubinje und Trebinje einer- und dem Popovo polje andererseits halten sich die Schakale meist nur den Sommer über. Dauernd, also auch den Winter über, halten sich die Scha- kale in dem Gebiet zwischen Zavala und Slano, der Gemeinde Orafovi, wo zerklüfteter Boden und das Bodendickicht der Steinlinde und des rot- früchtigen Wacholders günstige Verstecke bieten. Die Kleinviehzucht der dortigen Karstbewohner bietet willkommene Beute. Der Erdbeerbaum und Wacholderarten spenden ihre Früchte zum Fräße. Hier also kann der Schakal als eingebürgert an- gesprochen werden, und von hier aus steht auch ein Ausstrahlen des Bestandes zu erwarten. H. W. Frickhinger. Tiermedizin. Vergiftung von Pferden durch den Adlerfarn (Pteris aquilina) werden in Kanada viellach beobachtet und bringen stellenweise er- hebliche Verluste. Das Farnkraut wird in der Regel im Heu, seltener auf der Weide, aufge- nommen. Die erkrankten Tiere haben Gleichge- wichtsstörungen und unsicheren Gang, höhere Rötung der Lidbindehäute und Neigung zu Ver- stopfung. Sie genesen nur bei frühzeitiger Be- handlung wieder. Hawden und Bruce, so be- richtet die „Berliner tierärztliche Wochenschrift", haben bei vier Pferden Fütterungsversuche mit Farn aus verdächtigem Heu angestellt und ge- funden, daß eine tägliche Gabe von etwa 6 Pfund N. F. XIX. Nr. 48 Maturwissenschaftliche Wochenschrift. 1^7 getrockneten Farnkrautes ein Pferd in etwa einem Monat tötet. Bei der Zerlegung findet man Ge- hirnkongestionen und Blutungen im Magen. Der in der Pflanze enthaltene Giftstoff ist noch nicht näher bekannt: er ist im Wasser unlöslich und soll ein der Gerbsäure ähnlicher Körper sein. Die Behandlung besteht im Beseitigen der Ursache, Entfernen der Stallstreu und in der Verabreichung von Aloe, Kalomel und Bromkali. Um die Farn- kräuter auf den Feldern auszurotten, wird neben Besprengung mit Salzlösungen und Ausstechen der Pflanzen das Säen von rotem Klee empfohlen, der das Farnkraut überwuchern soll. H. W. Frickhinger. Über das Vorkommen der Rotlaufbazillen bei Vöffeln findet sich im „Deutschen Jäger" (1920, Nr. 32J ein Bericht aus einer ungarischen Zeit- schrift (Allatorvosi Lapok 1919, Nr. 8), in der Dozent Dr. Karl Järmai, Budapest, von Unter- suchungen berichtet, die darauf hinweisen, daß sich die Vögel besonders empfänglich zeigen für den Rotlaufbazillus, den man bisher als belangreichen Krankheitserreger des Schweines gehalten hatte. Järmai wies typische Rotlauf bazillen nach beim Wasserhuhn mit der Folge eines Darmkatarrhs, bei der Wachtel, ohne daß jedoch bei dieser krankhafte Veränderungen an den Eingeweiden beobachtet wurden, bei der Drossel und einem Papagei eines Tiergartens. Nach Kitt und Me- loni sind die Vogelarten zu diagnostischen Tier- impfungen bei Schweinerotiauf besser geeignet, als die Mäuse oder das Kaninchen. Fütterungs- versuche rufen bei Vögeln ebenfalls eine Infektion hervor. Sowohl morphologische, wie auch kul- turelle und biologische Untersuchungen ergaben in den beschriebenen Fällen die Gleichartigkeit der Krankheitserreger der Vögel mit dem Schweine- rotlauf bazillus. Das Geflügel kann daher, was bisher noch nicht bekannt war, auch bei der Ver- breitung des Schweinerotlaufes eine Rolle spielen, weshalb in der Verabreichung von Fleischabfällen rotlaufkranker Schweine an Geflügel Vorsicht ge- boten ist. H. W. Frickhinger. Astronomie. Die englischen Versuche zum Nachweis des Einsteinschen Gravhationseffekts anläßlich der Sonnenfinsternis vom 28./29. Mai 1919. Die Einstein sehe Theorie der Schwerkraft verlangt eine Ablenkung der Lichtstrahlen beim Durchgang durch ein Gravitationsfeld. Es müßten also Sterne, deren Licht, bevor es in das Auge des irdischen Beobachters gelangt, dicht am Sonnenkörper vorübergeht, eine Ortsveränderung in dem Sinne zeigen, daß sie weiter vom Sonnen- rand entfernt ständen, als sich aus der ohne Rücksicht auf jene Einwirkung geführten Rech- nung ergibt. Die einzige Möglichkeit, diese Er- scheinung zu beobachten, bietet sich bei voll- ständigen Sonnenfinsternissen dar, da nur dann die Sterne dicht neben der Sonne sichtbar sind. Zu dem Zweck, eine Entscheidung für oder wider die Einst einsehe Theorie herbeizuführen, wurden deshalb von der englischen Regierung einige Ex- peditionen zur Beobachtung der Sonnenfinsternis vom 28./29. Mai 1919 nach dem Gebiet der gün- stigsten Sichtbarkeit entsandt, und vor einigen Monaten brachten deutsche Zeitungen die Nach- richt, daß die Ausmessung der bei der Finsternis aufgenommenen photographischen Platten eine Verschiebung der Sterne ergeben habe, die voll- kommen der von der Einsteinschen Theorie geforderten entspräche und daß damit der Beweis für die Richtigkeit jener Theorie geliefert sei. In Nr. 5056 der „Astronomischen Nachrichten" behandelt nun L. Courvoisier von der Stern- warte zu Berlin-Babelsberg die englischen Ergeb- nisse und weist vor allem darauf hin, daß bei ihrer Ableitung keine Rücksicht auf die sog. ,. jährliche Refraktion" genommen worden ist. Die jährliche Refraktion ist eine noch wenig erforschte, erst seit kurzer Zeit bekannte Erscheinung, die darin besteht, daß die Sterne in geringem sphä- rischem Abstand von der Sonne eine Ortsverände- rung erkennen lassen, die zwar im gleichen Sinne erfolgt, wie die sich aus dem „Gravitationseffekt" ergebende, die aber in größerem Sonnenabstand einen wesentlich anderen Verlauf zeigt. Wie schon der Name sagt, denkt man dabei an eine Lichtbrechung in einem die Sonne umgebenden dichteren Mittel, und vielleicht besteht irgendein Zusammenhang mit dem Zodiakallicht. Wie schon erwähnt wurde, ist die jährliche Refraktion noch sehr wenig bekannt, und insbesondere gilt dies von ihrem Betrag und Verlauf in der un- mittelbaren Nachbarschaft des Sonnenrandes. Da- durch erklärt sich wohl auch die bei der eng- lischen Bearbeitung begangene Vernachlässigung. Als Schlußergebnis seiner Untersuchung findet Courvoisier eine Verschiebung der Sterne um 0,67 Bogensekunden in 50 Bogenminuten Abstand vom Sonnenrand. Dieser Betrag würde demnach als die Summe aus dem Gravitationseffekt a und der jährlichen Refraktion q anzusehen sein. Der von der Theorie geforderte Wert dieser Summe ist jedoch wesentlich größer, nämlich 1,10 Bogen- sekunden, und Courvoisier äußert sich über diesen Widerspruch wie folgt: „Die Deutung dieser Zahlen erscheint in einer Hinsicht einfach: Die Beobachtungen sagen aus, daß in der näch- sten Umgebung der Sonne nicht beide Ab- lenkungseffekte, der Graviiationseffekt und die jährliche Refraktion, ihrem vollen theoretischen Betrage nach zugleich bestehen. Denn dieser theoretische Betrag ist für a allein in der Ent- fernung von 50' schon 0,55" und für p nach meiner empirischen Formel von genau derselben Größe. Es kann also nur entweder a tatsäch- lich vorhanden sein und folglich q am Sonnen- rande relativ sehr klein ausfallen, oder der Gra- vitationseffekt von der jährlichen Refraktion völlig 768 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC Nr. 48 vorgetäuscht werden, wobei dann freilich die letztere in dem betrachteten Gebiet zufällig nahe den gleichen Abfall mit zunehmender Entfernung haben müßte wie a. Die Wahrscheinlichkeit spricht für den ersten Fall, insbesondere auch aus dem Grunde, weil die beiden äußersten Sterne Ablenkungen zeigen, welche mit dem theoretischen Gravitationseffekt gut übereinstimmen, während sie im Durchschnitt um 0,24" geringer sind als die in jener Gegend immer noch etwa 0,54" be- tragende formelle jährliche Refraktion. Eine Ent- scheidung läßt sich dagegen vorderhand keines- wegs treffen, da die Sicherheit der hier den Aus- schlag gebenden Beobachtungen der beiden äußer- sten Sterne dazu nicht ausreicht. Die Situation ist also auch nach den englischen Sonnenfinsternis- expeditionen noch eine solche, daß man nicht mit Bestimmtheit wird sagen können , der Nachweis des Eins t ein sehen Gravitationseffekts sei ge- lungen. Es werden weitere Untersuchungen gleicher Art nötig sein, ehe völlige Klarheit ein- tritt, und man wird namentlich das Material auf von der Sonne weiter abstehende Sterne aus- dehnen müssen, welche eine Trennung zwischen Gravitationseffekt und jährlicher Refraktion besser zulassen. — Was die letztere betrifft, so haben uns die Sonnenfinsternisplatten von 19 19 ihrer Erklärung auch nicht näher gebracht. In dem Falle, daß sie in der Sonnennähe völlig an die Stelle des Gravilalionseffekts tritt, können die be- obachteten Ablenkungen nicht darüber entschei- den, ob die Erscheinung kosmischen oder terrestri- schen (bzw. physiologischen) Ursprungs sei. In dem zweiten, den Beobachtungen entsprechend wahrscheinlicheren Falle, daß der Gravitations- effekt neben einer geringen jährlichen Refraktion am Sonnenrande wirklich besteht, ist es trotz er- höhter Schwierigkeiten immerhin noch denkbar, daß wir es bei der Erscheinung mit kosmischer Refraktion zu tun haben, welche gemäß der Harzer sehen Theorie ihr Maximum in einiger Entfernung von der Sonne aufweist, gegen den Sonnenrand zu aber wieder abnimmt, während andererseits die Deutung des Effekts als eines terrestrisch -atmosphärischen oder eines physio- logischen sicherlich nicht leichter geworden ist." — Courvoisier sieht, um zur Klarheit zu ge- langen, zunächst keine andere Möglichkeit, als die eifrige Fortsetzung der Beobachtungen des Pla- neten Venus bei seinen scheinbaren Sonnennähen, also in oberer und unterer Konjunktion. Die Vergleichung solcher Beobachtungen muß schließ- lich Aufschluß darüber geben, ob die Erscheinung kosmischen oder irdischen Ursprungs ist. In letzterem Falle würde sie die gleichen Beträge zeigen müssen, einerlei ob Venus zwischen Sonne und Erde steht, also in der unteren Konjunktion, oder ob in der oberen Konjunktion das Licht der Venus von jenseits der Sonne zu uns kommt, wogegen eine kosmische Refraktion in beiden Fällen ganz verschieden wirken würde. Die nachzuweisenden Ablenkungen sind aber so gering, daß die Entscheidung nicht schon auf Grund weniger Beobachtungen möglich ist. Courvoi- sier bringt dafür die Anwendung des Heliometers in Vorschlag, das die Abstände der Venus vom Sonnenrand unmittelbar zu messen gestattet. C. H. Bücherbesprechungen. Fehlinger, H., ZwiegestaltderGeschlech- ter beim Menschen. 48 S. Würzburg 1919, Verlag von Curt Kabitzsch. Es ist mit seinen 11 guten Abbildungen ein sehr hübsches Büchlein. Es behandelt in 8 Ka- piteln die Entwicklung der Fortpflanzung und der Geschlechtsunterschiede, die Funktionen der Keimdrüsen, die sekundären Geschlechtsmerkmale, die Rassenunterschiede in 'der Ausbildung dieser, die Unterschiede im Entwicklungsgang der Ge- schlechter, die Einwirkung der jüngsten Kultur auf die Geschlechtsunterschiede, die psychischen Geschlechtsunterschiede und die Geschlechts- bestimmung und das Geschlechtsverhältnis. — Natürlich kann auf dem engen Raum von 48 Seiten das alles nur kurz, gewissermaßen aphorismen- artig, behandelt werden. Aber der Verf. faßt seine Sache sehr geschickt an, und derjenige, der sich über alle diese interessanten Fragen zunächst einmal orientieren möchte, wird das Büchlein ohne Frage mit Vorteil lesen. Hübschmann (Leipzig). Inhalt: E. Erlenmeyer, Die von asymmetrischen Molekülen ausgehende Kraft, über optisch aktive Zimtsäure und asyra metrische Synthese. S. 753. E. Mohr, Über das Haaren in Fetzen bei einigen Säugetieren, besonders beim Moschus ochsen. (5 Abb.) S. 757. H. Lindner, Alpine Karrenfelder. (2 .'\bb.) S. 760. — Einzelberichte: A. Jacobi Nehrings „Steppenhypothese". S. 764. R. Zimmermann, Verbreitung des Siebenschläfers in Mittel- und Ostdeutsch land. S. 765. N. Ostermayer, Edelreiherkolonien in Ungarn. S. 765. W. Schuster, Der Reiher als Fischräuber S. 765. Geschvi-ind, Schakale in der Herzegowina. S. 766. Ha w den und Bruce, Vergiftung von Pferden durch den Adlerfarn (Pteris aquilina). S. 766. K. Järmai, Über das Vorkommen der Rotlaufbazillen bei Vögeln. S. 767 L. Courvoisier, Die englischen Versuche zum Nachweis des Einsteinschen Gravitationsefifekts anläßlich der Sonnen- finsternis vom 28/29. Mai 1919. S. 767. — Bücherbesprechungen: H. Fehlinger, Zwiegestalt der Geschlechter beim Menschen. S. 768. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Päti'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b, H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19, Band ; der gaDzcD Reihe 35. Ba Sonntag, den 5. Dezember 1920. Nummer 49. [Nachdruck verboten.] Pigmentprobleme. Von Dr. phil. et med. Hans Krieg. Mit 7 Abbildungen. Man pflegt bei den Wirbeltieren zwei Arten von Hautpigmenten zu unterscheiden, von welchen die eine Art im Corium lokalisiert ist, also jener Bindegewebslage angehört, welche unter der Epi- dermis liegt, während die andere Art sich in der Epidermis selbst findet, also im geschichteten Plattenepithel der Hautoberfläche. Zu dieser letzteren Art gehört naturgemäß auch das Pig- ment der epidermalen Anhangsgebilde Schuppe, Feder und Haar. Bei den Wirbeltieren ist meist das Pigment als eine feinkörnige, farbige Substanz in beson- deren Zellen enthalten, den Pigmentzellen. Es sind dies im allgemeinen Zellen mit pseudopodien- oder dendritenariigen Fortsätzen, welche zwischen die sonstigen Gewebselemente eingeschaltet sind. Doch läßt sich beispielsweise in der Epidermis in manchen Fällen eine Einlagerung von Pigment- körnchen in gewöhnliche Zellen des Epithels fest- stellen. Dies gilt z. B. für die Pigmentierung, welche als Folge lokaler Einwirkung des Sonnen- lichtes entstanden ist. Auch kann das in Pigment- zellen gebildete Pigment aus dem Verband der einzelnen Zelle austreten, ein Vorgang, welcher sich beim Wachstum einer Feder oder eines Haares verfolgen läßt. Es ist eine viel diskutierte Frage, ob die Pig- mentzellen der Epidermis aus der Lederhaut ein- gewandert sind oder ob sie sich an Ort und Stelle differenziert haben. Während viele Autoren, wie Gegenbaur, die Ansicht vertreten, daß die epi- dermalen Pigmentzellen aus dem Bindegewebe einwandern, sind andere, wie Rabl, der Ansicht, daß sie im Epithel selbst entstehen. Ich gehe hier nicht auf diese Kontroverse ein, halte es aber für sehr wohl denkbar, daß beide Fälle vorkom- men. Wir sind viel zu sehr geneigt, Alternativen zu konstruieren. Die Natur ist nun einmal nicht schematisch. Was die Entstehung des eigentlichen Pigments betrifft, also der in den Zellen enthaltenen Gra- nula, so steht hierüber mit ziemlicher Sicherheit fest, daß bei ihr mehrere stoffliche Komponenten beteiligt sind. Die m. E. wichtigste der heutigen Hypothesen, die sog. Chromogen - Ferment ■ Hypothese, scheint letzten Endes zurückzugehen auf die Beobachtung von Bertrand (2). Dieser hat in Pflanzen ein Ferment (Tyrosina.se) gefunden, durch welches Tyrosin in eine Art Melanin übergeführt wird. Ahnliches fanden Biedermann (3) u.a. bei In- sekten , wo ein entsprechendes Ferment auf ein vorgebildetes Chromogen bei Anwesenheit von Sauerstoff eine schwärzende Wirkung auszuüben vermag. Cuenot (5) hat diese Feststellung auch für die Haarfarbe von Mäusen anzuwenden ver- sucht und ist zu folgender Anwendung gelangt: Die „Melanine" (Pigmente) in der Haut und den Haaren entstehen durch die Einwirkung von F"er- menten (Oxydasen) auf anwesende Chromogene. Die Verschiedenheit der Färbung kann dadurch bedingt sein, daß ein bestimmtes Ferment mit verschiedenen Chromogenarten verschiedene Pig- mentarten hervorbringt oder daß umgekehrt ein Chromogen, durch verschiedene Fermente in ver- schiedene Pigmentarten übergeführt wird. Ich gehe auf die Einzelheiten dieser Hypothese und auf die verschiedenen Formulierungen und Modi- fikationen nicht näher ein und verweise auf die Darstellung, welche dieser Gegenstand in Haeckers Phänogenetik (lO) erfahren hat. Ich hebe hier als für uns wesentlichsten Ge- sichtspunkt hervor, daß nach dieser Hypothese für die Ausbildung von Pigment mindestens zwei Substanzen nötig sind: i. eine Substanz, welche schon in den Zellen vorhanden ist, noch ehe diese sichtbares Pigment enthalten; 2. eine Substanz, welche sekundär hinzutritt und unter bestimmten Verhältnissen die Pigmentbildung auslöst. Diese zweite Substanz stellen wir uns flüssig vor und nehmen an, daß sie sich durch Diffusion in den Geweben auszubreiten vermag und in allen jenen Zellen zur Pigmentbildung führt, wo sie eine hierfür unerläßliche Partnerin findet. Auf Schritt und Tritt beobachten wir, daß die Pigmentierung der Haut und ihrer Adnexe sich von bestimmten Zentren her ausbreitet. Ich er- innere nur an die oft sehr deutlichen Pigment- zentren, welche sich — um ein beliebiges Bei- spiel zu nennen — bei wildfarbigen Hunden an der Stirn, dem Scheitel, vor der Schulter, am Rücken und an der Schwanzwurzel, sowie ge- gelegentlich an den freien Extremitäten feststellen lassen, und welche bei starker Ausbreitung des Pigments durch Konfluieren der pigmentierten Gebiete verschwinden, bei geringerer Ausbreitung oft während des ganzen Lebens erhalten bleiben. Derartige Zentren lassen sich bei sehr vielen Wirbeltieren, besonders auch bei Säugetieren, in beliebigen Graden der Ausbreitung, verschiedener Intensität der Pigmentierung, mit scharfer oder diffuser Begrenzung immer wieder beobachten, sobald man einmal sein Augenmerk darauf richtet. 770 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 4g Es wäre nun naheliegend, als Agens für die Ausbreitung des Pigments von solchen Zentren aus einfach die Vermehrungs- und Bewegungs- fähigkeit der Pjgmentzellen zu betrachten. Diese beiden Eigenschaften der Pigmentzellen sollen nicht bestritten werden und spielen vermutlich auch tatsächlich eine gewisse Rolle. Doch stößt die Vorstellung einer aktiven Ausbreitung fertig pigmentierter Zellen über größere räumliche Distanzen und am fertig entwickelten Organismus Ausgiebigkeit in jedem Epithel abspielen; ich erinnere an die Zellverschiebungen im geschich- teten Plattenepilhel, über welche nach den bis- herigen Beobachtungen die Wanderung von Pig- mentzellen in keinem P"all hinausgeht. H a e c k e r hat bei der Axoloillarve Epidermis- zellen besonderer Art gefunden, welche' er als Vorläufer der epidermalen Pigmentzellen bezeichnet, und Merkel sieht in den Langerhansschen Zellen der menschlichen Epidermis „pigmentfreie Abb.l. a) Sukkulentenblätter mit verschiedenailig ausgebildeter Strcifung (Haworthia, Aloe). Nach Kü'ster. b) Diagramm eines CbapmaD-Zebras. Nach E wart aus Lang). mit regelrecht differenzierten und konsolidierten Geweben auf gewisse Schwierigkeiten. Es sind zwar tatsächlich schon Wanderungen von Pigment- zellen am erwachsenen Organismus beobachtet worden (Ehrmann, Fischel u. a.). Aber im Gegensatz zu der uns geläufigen Wanderung weißer Blutkörperchen durch die Gewebe hin- durch scheint es sich hier doch immer um Be- wegungen zu handeln, wie sie sich in gleicher Pigmentzellen". Im Sinne der Chromogen-Ferment- Hypothese können wir in derartigen Zellen sehr wohl Pigmentzellen sehen, welche regelrechte Bestandteile des Gewebes sind, in welchem sie sich befinden und entstanden sind, und welchen eine der pigmentbildenden materiellen Kompo- nenten fehlt oder noch fehlt. Schultz (15) ist es gelungen, bei Himalaja- kaninchen, welche im ganzen weiß und nur an K. F. XIX. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift 7?t Nase, Ohren und den distalen Teilen der Extre- mitäten schwarz behaart sind (Akromelanismus), experimentell auch an anderen Stellen die Aus- bildung schwarzer Haare hervorzurufen. Es muß also wohl ein Teil der materiellen Grundlagen für die Pigmentbildung in der Epidermis schon vorhanden gewesen sein, so daß zur Aktivierung der Pigmentbildung ein experimenteller Reiz (Kälte) genügte. Ob die Wirkung dieses Reizes in der Beseitigung einer hemmenden epistatischen fach als eine mehr oder weniger weit reichende, an Intensität bald stärkere, bald schwächere Aus- breitung ursprünglicher Zentren aufgefaßt werden können, soll hier abgesehen werden. Sie sind Abb. 2 a. a) Augenflecke bei Felis onza mit sekundärer Verzerrung. Aufnahme von v. der Stuttgarter Naturaliensammlung. {Original.1 b) Aueenflecke auf dem Racken von Torpedo ocellata. (Original.) c) Augenfiecke und Zonenbildung an der Unterseite von Caligo Achilles. Nach Gebh; s der Bildersammlung Komponente bestand oder darin, daß eine für das Zustandekommen der normalen Pigmentierung notwendige Komponente (oder eine ihr im Effekt gleichbedeutende Komponente) erst gebildet wurde, läßt sich vorläufig nicht entscheiden. .Wir kommen nunmehr zur Besprechung eines zweiten Problems. Während bisher von der Pig- mentbildung die Rede war, soll jetzt noch einiges über die Pigmentanordnung gesagt werden. Von allen jenen Formen der Anordnung, welche ein- oben kurz erwähnt worden. Es soll hier noch von jenen spezifischen Zeichnungsarten die Rede sein, für welche die Ausbreitung der Pigmentie- rung von bestimmten Zentren aus nicht genügt, wenn sie ihnen auch bei näherer Betrachtung letzten Endes überall zugrunde liegen dürfte. Hierher gehören die als systematische oder auch als Geschlechtsmerkmale bei wildlebenden Wirbel- tieren vorkommenden Streifungen und Fleckungen. Es mag gewagt erscheinen, die Erklärung 772 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XK. Nr. 49 von Zeichnungseigentümlichkeiten so verschieden- artiger Tiere sozusagen ab ein einziges Problem aufzufassen, wo doch die morphologischen Vor- aussetzungen, welche der Zeichnung in den epi- dermalen Anhangsgebilden der Haut zugrunde liegen, so verschiedene sind. Aber wir wollen einmal ohne Voreingenommen- heit an das Problem herantreten und zunächst ganz einfach feststellen, daß gerade eine ganze Serie besonderer Eigentümlichkeiten der Pigment- anordnung nicht nur in der Reihe der Säuger oder der Wirbeltiere überhaupt beständig wieder- kehrt, ohne daß ihre grundlegenden Ähnlich- keiten durch die Verschiedenheit des morpho- logischen Substrats wesenilich verwischt würden, sondern daß ihre Ubiquilät sich sogar durch die ganze Reihe der Erscheinungsformen lebendiger Substanz hindurch immer wieder und wieder dem Beobachter aufdrängt. Ich brauche nur an die Tigerung oder Zebrastreifung zu erinnern, welche oft sogar in manchen Details auffallende .Ähnlichkeiten zeigt, auch wenn wir sie an Orga- nismen vergleichen, die einander morphologisch sehr ferne stehen (Abb. i a und b), oder an die augenartige Fleckung, wie wir sie sowohl an der Pfauenfeder, als an der Epidermis vieler Wirbel- tiere (Abb. 2 a und b) oder dem Flügel zahl- reicher Schmetterlinge (Abb. 2 c) vorfinden. Der- artige Ähnlichkeiten sind viel zu häufig, als daß man sie als Folgen einer mehr oder weniger zu- fälligen Konvergenz auffassen dürfte. Hier müssen Vorgänge im Spiele sein, welche sich in stets ähnlicher Weise in der lebenden Substanz ab- spielen, Vorgänge relativ einfachen, fundamentalen Charakters. Will man versuchen, Geschehnisse derart allgemeiner Natur ihrem Wesen nach zu definieren, so muß man sich von vornherein da- rüber klar sein, was nun eigentlich das gemeinsam Bezeichnende der in Betracht kommenden Er- scheinungsformen ist, und man muß sich davor hüten, unwesentliche Modifikationen beim Ver- gleich in den Vordergrund zu rücken. Ein all- gemeines Prinzip kann im Detail nicht starr sein. Es wird variiert durch die Verschiedenheiten zahlreicher Nebenkomponenten. Was an den meisten Zeichnungsformen der Wirbeltiere immer wieder zutage tritt, das' ist der Eindruck als ob sie durch eine fließende Materie zustande gekom- men seien, deren Bewegung in irgendeiner Pliase zum Stillstand gekommen ist (siehe /.. B. in Abb. I b das Zusammenfließen zweier Halsstreifen und die sehr ähnliche Erscheinung in Abb. 3). In vielen F'ällen wird bei naiver Betrachtung der Verhältnisse in uns die Vorstellung erweckt, als habe sich die spezifische Anordnung des Pigments gebildet aus rhythmisch entstehenden Niederschlags- zonen einer die Gewebe durchdringenden Flüssigkeit. Es gelingt, im Reagenzglas oder der Petri- schale Bildungen zu erzeugen, welche nicht nur eine allgemeine Ähnlichkeit mit den rhythmischen oder zonenförmigen Formen der Pigmentierung lebender (")rganismcn aufweisen, sondern deren beliebig zahlreiche experimentell variierbare Modi- fikationen sogar fast ausnahmslos in der lebenden (und toten) Natur ihre Parallelen haben. Das Prinzip der Versuche besteht darin, daß kolloidale Medien von Flüssigkeiten durchflutet werden , welche in diesen Medien Niederschläge zu erzeug^ vermögen. Die Anordnung dieser Niederschläge pflegt eine ganz spezifische, rhyth- mische zu sein und im einzelnen vom Charakter der zum Versuch verwandten Stoffe abzuhängen. Die so entstehenden Figuren pflegt man nach ihrem Entdecker als Liesegangsche Zonen oder Abb. 3. Vorderfliigel von Chelonia Hebe. (Original.) Man hat den Eindruck, als seien die Queibinden teilweise zusam- mengeflossen. Vgl. die beiden konfluierenden Streifen in der Malsgegend des Zebra-Diagramms Abb. i b. Abb. .)n, Abb. 4 b. Abb. .j. :i) Liesegangsche Zonen, entstanden nach Zusatz von .\mmouiak zu manganhaliiger Gelatine (Schnitt). Nach Tillmann und Heublein. b) Zonen im Proberöhrchen mit Irritierung durch ein Stück- chen B auustcin. Nach Till mann und Heublein. .'\us ..Umschau", Wochenschrift über die Fortschritte di-i Wissenschaft und Technik (Frankfurt a. M.) IQK. Liesegangsche Ringe zu bezeichnen. Eine vollkommen befriedigende Erklärung dieser Er- scheinungen besteht trotz vielfacher Versuche (Ostwald, Hausmann, Morse, Pierce, ßechhold) bis heute noch nicht. Was uns interessiert, ist in erster Linie ihre Morphologie. Tillmann und Heublein (16) erzielten die Liesegangschen Zonen auf folgende Weise. Sie füllten ein Gefäß mit manganhaliiger Gelatine und ließen von der Gefaßniittc aus Ammoniak in N. F. XIX. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 771 die Gelatine eindringren. Es entstanden so schalen- förmige, konzentrisch angeordnete Zonen von Manganniederschlägen (s. Abb. 4 a). Ganz gleich- artige Erscheinungen erzielte z. B. Liesegang mit Kaliumbichromatgelatine und Silbernitrat. Wählt man zu derartigen Versuchen ein zylin- drisches Gefäß, so entstehen scheibenförmige, horizontale Niederschlagszonen, deren Abstände voneinander (Verarmungszonen) um so größer werden, je später die zugesetzte Flüssigkeit die betreffende Region der Gelatine erreicht, und deren jede als Ausschnitt aus einer kugel- oder schalenförmigen Zone aufzufassen ist (s. Abb. 4 b). Der Rhythmus dieser Niederschläge läßt sich nun im Experiment in der allerverschiedensten Weise variieren und irritieren (s. Abb. 4 b). Die Kon- zentration der Zusatzfliissigkeit , die Konsistenz des Kolloids, die Anwesenheit von Fremdkörpern sind auf ihre Anordnung von Einfluß. Dazu kommen nun noch die Erscheinungen, welche bei polyzentrischer Ausbreitung der Zusatzflüssigkeit zutage treten. Ich kann in dieser kurzen Dar- stellung auf Einzelheiten nicht eingehen und be- gnüge mich damit, auf das Wesentlichste hinzu- weisen. Für das weitere Studium empfehle ich die am Schlüsse angeführten Arbeiten Nr. i, 9, 12 ur.d 16. Es liegt naturgemäß nahe, diese experimen- tellen Erfahrungen nun auch auf die lebenden Organismen auszudehnen, welche ja in der Haupt- sache aus kolloidalen Medien bestehen (Bech- hold). Daß man im Reagenzglas auch mit or- ganischer Materie die Liesegan gschen Phäno- mene erzeugen kann, hat H. Bechhold nachge- wiesen. Die zelluläre Struktur lebender Organis- men scheint für das Zustandekommen analoger Erscheinungen kein Hindernis zu sein. Ob die einzelnen Zellen, wie bei den Pflanzen, durch eine regelrechte Membran oder, wie bei den Tieren, durch eine Crusta oder eine Lipoidhaut umgeben sind, stets handelt es sich um mehr oder weniger permeable Gebilde, durch welche irgend welche „Zusatzflüssigkeiten" ebensogut ihren Weg finden dürften, wie die Materien des Stoffwechsels; be- sonders werden jugendliche, also wenig differen- zierte Zellen, deren Begrenzung eine noch weniger derbe ist, einer Diffusion wenig Widerstand ent- gegensetzen (s. Bechhold S. 222 f.). Eine Schwierigkeit beim Vergleich der experi- mentellen und der uns hier interessierenden, sich in der Epidermis abspielenden Vorgänge liegt in der Flächenhaftigkeit der Epidermis. Doch lassen sich durch Regulation der räumlichen Verhältnisse auch die natürlichen räumlichen Proportionen experimentell nachahmen, ohne daß sich die Resul- tate wesentlich verändern. Die wichtigste Arbeit, welche es sich zur Auf- gabe gemacht hat, die Liesegan gschen Phäno- mene auf die lebende Natur anzuwenden, ist die- jenige von Küster (12). Küster hat in äußerst umfassender und ein- leuchtender Weise die experimentellen und natür- lichen Zonenbildungen zueinander in Parallele gesetzt und nach seinen Untersuchungen läßt sich kaum mehr daran zweifeln, daß die Phänomene einander in ihren Grundpriniipien ursächlich ent- sprechen. Wenn er auch zu seinen Vergleichen ausschließlich F"älle aus der Botanik verwendet, so versäumt er doch nicht, auch auf eine Menge von Beispielen aus der Zoologie wenigstens kurz hinzuweisen. Während Küster die Liesegan gschen Phänomene ganz allgemein bei den verschiedensten Abb. 5 b. .\bb. 5. 11) Experiraenteil erzeugte Augenflecke mit gemein- samen Ringzonen. Nach Biedermann. b) Konfluierende Augenflecke auf den Flügeln von Panthera pardalaria. (Original.) morphologischen Bestandteilen der Pflanzen mit Erfolg wiederzufinden versucht, beschränkt sich Gebhardt (9) auf die Untersuchung ihrer An- wendbarkeit bei der Erklärung der Pigmentver- teilung, und zwar an einen äußerst dankbaren Objekt, dem Schmetterlingsflügel. Ob es sich um wellenförmig angeordnete Pigmentzonen oder Pigmentbänder handelt, oder um konzentrische Ringelungen und Augenflecke in verschieden- artigsten Kombinationen und Detailstrukturen, immer lassen sich diese Erscheinungen in zwang- loser Weise mit entsprechenden Modifikationen 7?4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 49 und Kombinationen Liese gangscher Figuren in Parallele setzen, und zwar sind auch hier die Ähnlichkeiten mancher Bildungen zu groß und betreffen zu sehr das Wesentliche der Erschei- nungen, als daß man von einem Zufall sprechen könnte. Auch die ursächliche, nicht nur die äußer- liche Ähnlichkeit der Erscheinungen muß wohl, trotz Biedermanns (4) Mahnung zur Vorsicht, Abb. 6 b. fast regelmäßig finden, kommen auf Schmetterlings- flügeln hauptsächlich auch aus mehreren Zonen bestehende Augenflecke zur Beobachtung (Abb. 2 c). Eine auffallende Erscheinung ist sowohl im Experiment als am Schmetterlingsflügel, das Auf- treten von Trennungs- oder Verarmungszonen zwischen je zwei oder mehreren benachbarten Niederschlagszentren. Es sind dies niederschlags- freie Streifen oder — bei Anwesenheit mehrerer Zentren — Netzfiguren, welche die einzelnen Nieder- schlagsflecke voneinander trennen (Abb. 6). Es ist nun zu erwarten, daß derartige Er- scheinungen in analoger Weise auch bei Wirbel- tieren, deren Zeichnung uns hier in erster Linie interessiert, vorkommen können. Tatsächlich finden wir sie auch hier überall wieder, am sinnfälligsten in Gestalt von Streifung, Sperberung oder Fleckung Abb. 6 c. .\bb. 6. aj Polyzentrische Diffusionsfelder (Experi- ment). Nach Küster. b) und c) Polyzentrische Diffusionsfelder bei Schmetterlingen (Arctia, Chelonia). (Originale.) Abb. 7. Polyzentrische Diffusionsfelder bei Giraffa reticulala Winton, aus Brehms Tierl. 4. Au6. Vgl. auch Abb. 2 a. als Tatsache im naturwissenschaftlichen Sinne an- erkannt werden, wenn auch die Entstehung der Figuren selbst am lebenden Organismus der Be- obachtung bis jetzt noch nicht hat zugänglich ge- macht werden können. Neben einfachen rhythmisch angeordneten Streifungen, wie wir sie besonders bei Spannern verschiedensten Charakters (Abb. ib, 2a u. b und 6). Werden durch besondere Strukturerscheinungen der Gewebe die Figuren schon bei Wirbellosen in mancher Hinsicht (z. B. im Schmetterlings- flügel durch dessen Adern) hier und da Modi- fizierungen erfahren müssen, so muß dies natür- N. F. XDC. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 775 lieh noch viel mehr dort der Fall sein, wo die Zeichnung der Haut in epidermalen Anhangsge- bilden lokalisiert ist, welche sozusagen einen auto- nomen Wachstumsmodus meist rhythmischer Art besitzen, wie Haar, Feder, Schuppe. Durch ein der- artiges autonomes Wachstum der einzelnen Adnexe oder Teilgebiete müssen selbstredend sekundäre Verschiebungen und Verzerrungen ursprünglich vielleicht ganz regulär angelegter Liesegang scher Zonen entstehen, welche dann ihrerseits wieder gesetzmäßigen Charakter tragen können (Abb. 2 a). Daß im übrigen gleichartige Liesegan gsche Figuren ebenso gut an einzelnen solchen Adnexen zur Ausbildung gelangen wie an ganzen Kom- plexen der Hautoberfläche, spricht eben nur für die allgemeinen dynamischen Prinzipien ihrer Entstehung. Es wäre unwissenschaftlich und verfehlt, wollte man in der Anwendung Liesegang scher Phäno- mene den alleinigen Schlüssel für alle Zeichnungs- muster bei Pflanzen und Tieren erblicken. Ich sehe in ihr vorläufig in erster Linie eine frucht- bare Arbeitshyothese. Einer rein mechanistischen Auffassung soll hier keineswegs das Wort geredet werden. Wir stehen vermutlich noch am Anfange der Pigmentforschung. Das Problem liegt m. E. zunächst darin, daß die erwähnten Erscheinungs- formen morphologisch — insbesondere durch Charakterisierung einzelner Phasen ihrer Entwick- lung und ihrer Übergänge — und physikalisch- chemisch zu untersuchen sind. Weiterhin muß versucht werden, sie mit der einleuchtenden Hypo- these Haeckers (10) über das rhythmische Wachstum flächenhafter Organe in Einklang zu bringen. Für die Berechtigung der entwickelten Hypo- these bei dem Versuche, spezifische Formen der Pigmentanordnung zu erklären, scheint mir neben der sinnfälligen Ähnlichkeit der in der lebenden Natur vorkommenden Erscheinungen mit dem im Experiment und der anorganischen Natur (Achate!) feststellbaren auch der Umstand zu sprechen, daß sie sich gut mit der Chromogen- Ferment Hypo- these verträgt und durch diese in vieler Hinsicht ergänzt wird. Denn es ist leicht vorstellbar, daß etwa die Ausbreitung eines Fermentes im kol- loidalen IVIedium der lebenden, insbesondere der wenig differenzierten Gewebe oder Gewebsteile (embryonalen Gewebe, Keimschichten der Epi- thelien) zur Ausbildung von Pigmentierungszonen führt, welche den Liese gangschen Phänomenen entsprechen. Daß die Chromogen- Ferment- Hypo- these bei Wirbeltieren auf die Fälle einfacher, gleichmäßiger Pigmentausbreitung ohne weiteres anwendbar ist, halte ich für sehr wahrscheinlich, wenn auch hier über Einzelheiten wie Ursprung und Mechanik der Verteilung der Fermentkompo- nente nichts ausgesagt werden kann. Gerade bei Wirbeltieren scheint es mir im übrigen wahr- scheinlich, daß rhythmische Formen der Pigment- anordnung, auch wenn sie ihrem Wesen nach durch Li esegangsche Phänomene hervorge- rufen sein mögen, doch im einzelnen noch weit- gehend beeinflußt werden können durch struk- turelle Eigentümlichkeiten der Haut, besonders durch ihre Zug- und Druckverhältnisse, wie sie sich gelegentlich auch in ihrer Faltenbildung äußern. Ich bin im Begriffe, diese Gesichtspunkte in be- zug auf die Streifung der Equiden zu verwerten und werde hierüber an anderer Stelle berichten. Wichtigste Literatur. 1) Bechhold, Die Kolloide in Biologie und Medizin. Dresden 1912. 2) Bertrand, C. R. Ac. Sc. T. 122, 1896. 3) Biedermann, Pflüg. Arch. Bd. 72, 1898. 4) Biedermann, in Wintersteins Handb. der vergl. Physiol. 5) Cuenot, L'heredite de la pigraentation chez les sou- ris. Arch. Zool. exp. et gen. T. I, 1903. 6) Fisch el, Ursachen tierischer Farbkleidung. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. 46, Heft 2/3, 1920. 7) Fisch el, Beitr. zur Biol. d. Pigmentzelle, Anatom. Hefte H. 174, 1919. 8) V. Fürth, Physiol. u. ehem. Unters, über melanotische Pigmente (großes Lit.-Verzeichnis), Centralbl. f. allg. Path. u. path. Anat. XV. Bd., 1904. 9) Gebhardt, Die Hauptzüge d. Pigmentverleilung im Schmetterlingsflügel im Lichte der Liesegangschen Niederschi, in Kolloiden. Verhandl. d. deutsch, zool. Ges. 1910 — 1912. 10) Haecker, Entwicklungsgesch. Eigenschaftsanalyse. Jena 1918. 11) kölliker, Gewebelehre. 12) Küster, tJber Zonenbildung in kolloidalen Medien. Jena 1913. 13) Lang, Die exp. Vererbungslehre in der Zool. seit 1900. Jena 1913. 14) Przibram, Ursachen tierischer Farbkleidung. Arch. f. Entw.-Mech. Bd. 45, Heft 1/2, 1919. 15) Schultz, Versteckte Erbfaktoren der Albinos für Färbung usw. Zeitschr. f. ind. Abst. u. Vererbungslehre. XX. Bd., 1919. 16) Tillmann und Heublein, Neues von den Liese- gangschen Ringen. Umschau 19 15, Nr. 47. Martin Schongauers Drachenbanm. Von H. Schenck, Darmstadt.') [Nachdruck verboten.] Mit I Abbildung. Seb. Killermann hat in seinem interessanten Aufsatz über die ersten Nachrichten und Bilder vom Drachenbaum ^) auf die bemerkenswerte Tat- ') Für freundliche Mithilfe bei der Durchsicht der Lite- ratur und der Bilderwerke ge>tatte ich mir verbindlichsten Dank auszusprechen den Herren Dr. Freund, Kustos des Kupferstichkabinetts des Darmstädter Museums, Herrn Privatdozent Dr. O. Schmitt, Leiter des Kupferstichkabinetts des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt a. M., Herrn Ge- heimrat Dr. A. Schmidt, Direktor der Landesbibliothek in Darmstadt und Herrn Oberbibliothekar Dr. L. Voltz in Darmstadt. Naturw. Wochenschr. 1920, N. F. 19. Bd. S. 305. 776 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 49 Sache hingewiesen, daß lange vor der ersten Be- schreibung und Abbildung durch den Botaniker Clusius dieser Baum bereits auf Bildern Hans Burgkmairs, Martin Schongauers und Albrecht Dürers dargestellt erscheint. Zu den Ausführungen Kill erm an ns möchte ich im folgenden noch einige Ergänzungen in bezug auf die Darstellungen dieses eigenartigen Liliaceen- baumes auf Kunstwerken aus der ersten Zeit des 16. Jahrhunderts bringen. Als ich vor einer Reihe von Jahren gelegent- lich eines in Darmstadt gehaltenen Vortrags des bekannten verstorbenen HamburgerKunsthistorikers L i c h t w a r k über die beiden wundervollen Kupfer- stiche Martin Schongauers Kreuztragung und Flucht nach Ägypten, die er in Nachbildungen an seine Zuhörer verteilte, diese Blätter zu Gesicht bekam, fiel mir sofort auf, daß auf dem letzteren Stiche ein echter Drachenbaum dargestellt ist. Es war mir ein Rätsel, aus welcher Quelle Schon- gau er das Vorbild zu diesem nur auf den Ka- naren, Madeira und Kapverden einheimischen Gewächs geschöpft haben mochte. Die Durch- sicht eines umfangreichen Bildermaterials im hiesigen Museum und in der Landesbibliothek ließ das Rätsel ungelöst und ebensowenig konnte ein Anhaltspunkt aus den wenigen Daten, die uns über den Lebensgang ^) des Künstlers überliefert sind, gewonnen werden. In der umfangreichen Literatur über Schongauer finde ich nirgends eine Angabe, daß der seltsame Baum auf dem Stich den kanarischen Drago vorstellt; das scheint den Kunsthistorikern gänzlich entgangen zu sein. Martin Schongauer wurde um 1450 in Kolmar geboren als Sohn eines aus Augsburg ein- gewanderten Goldschmiedes, in dessen Werkstatt er die Grundlage für die Kunst des Kupferstiches gewonnen haben mag, die er aus ihren ersten noch handwerksmäßigen Anfängen rasch zu hoher Vollkommenheit emporhob; man kann ihn als den ersten wirklich bedeutenden Künstler auf diesem Gebiete rühmen. Auch als Maler erlangte er früh- zeitig große Meisterschaft. Sein Lehrer war wohl Kaspar Isenmann in Kolmar. Großen Ein- fluß übte auf ihn die Kunst des bereits 1464 ver- storbenen berühmten Brüsseler Meisters Rogier van der Weyden 3us. Schongauer starb bereits 1491, im Anfange seiner vierziger Jahre. Sein Stich ,, Flucht nach Ägypten" wird von Wendland "j datiert auf 1469 — 1474. Auch die P'orm des Buchstabens M im Monogramm spricht für einen seiner früheren Stiche, da die späteren die Form M aufweisen. Schongauer soll als Geselle in den Nieder- landen gewesen sein; so wäre es denkbar, daß er das Vorbild zu seinem Drachenbaum einem ') C. V. Lützow, Geschichte des deutschen Kupfer- stiches und Holzschnittes. Berlin 1S91, S. 31. K. Wörmann, Geschichte der Kunst. 2. Aufl., 4. Bd., 1919, S. 88. ^) H. Wendland, M. Schongauer als Kupferstecher Berlin 1907. flandrischen Maler verdankte. In der Tat hatte Jan van Eyck, der Hofmaler des Herzogs Philipp des Gütigen von Burgund, i42»/29 Portu- gal und Südspanien bereist, mit einer Gesandt- schaft, die vom Fürsten den ehrenvollen Auftrag erhalten hatte, für ihn um die Hand der portu- giesischen Königstochter zu werben, und die Braut nach den Niederlanden zu begleiten. Die Ein- drücke, die Jan van Eyck auf dieser Reise in sich aufnahm, sehen wir von ihm verwertet auf den Flügelbildern des Genter Altars, deren Land- schaften er mit Zypressen, Pinien, fruchttragenden Zitronenbäumen und Dattelpalmen schmückte.') Der Drachenbaum dagegen fehlt .auf den Ge- mälden Jans, ebenso auf den Bildern anderer flandrischer Maler der damaligen Zeit, soweit mir bekannt. Auch einem wissenschaftlichen Werk kann Schongauer das Vorbild zu seinem Baum nicht entnommen haben. Die gedruckten besseren Kräuterbücher datieren später und enthalten diesen nicht. Erst hundert Jahre später, 1576, erschien die erste Beschreibung und Abbildung, De Dra- cone arbore, durch den Botaniker Carolus Clusius.-j So bleibt noch die Frage zu er- örtern, ob Schongauer selbst als junger Mann eine Fahrt nach dem Süden unternommen hat. Wir wissen über seinen Lebensgang nur sehr wenig, sind also hierbei ausschließlich auf die Be- trachtung seiner Stiche angewiesen. Zunächst sei hervorgehoben, daß der am linken Bildrand dargestellte Baum den eigenartigen Habi- tus der Dracaena draco, die quirlförmige Ver- ästelung, den stockwerkartigen sympodialen Auf- bau der Krone, die Form der angeschwollenen Zweige, die rissige Rinde des Hauptstammes, so- gar eine Längswunde, aus der das Drachenblut- sekret in Tropfenform nach unten geflossen er- scheint, die Blätterbüschel und endständigen großen Fruchttrauben, kurz alles Wesentliche durchaus treffend wiedergibt. Nur am lebenden Objekt konnte der Künstler diese richtigen Eindrücke gewinnen. Noch ein zweites Moment könnte uns in der Annahme bestärken, daß Martin Schon- gauer im Süden der iberischen Halbinsel gewesen sein muß, denn auch auf seinem großen Stich der Kreuztragung verraten Landschaft, Volkstypen und Trachten vielfach südspanische Herkunft. Be- reits Lichtwark soll in seinen Vorträgen auf dieses Moment aufmerksam gemacht haben, wie mir mein verehrter Kollege Prof. Dr. Paul Hartmann mitteilt. Ein so bedeutender durchaus selbständiger Künstler, wie Schon- ■) Felix Rosen, Die Natur in der Kunst. Leipzig 1903. S. 62. *) Killermann 1. c. S. 30S. Vgl. ferner H. Loj an- der (Beiträge zur Kenntnis des Drachenbluts, Diss. Straßhurg 1S87), der bereits die historischen Notizen zusammengestellt hat. Herr Dr. H. Christ in Riehen bei Basel, unser ver- ehrter Altmeister der kanarischen Botanik, teilte mir im Früh- jahr 1919 auf Befragen freundlichst mit, daS ihm ebenfalls keine älteie Abbildung der Dracaena bekannt sei, als die von Clusius gegebene. N. F. XIX. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. rn gauer, wird — das dürfen wir wohl sicher an- annehmen — die von ihm dargestellten Objekte nicht anderen Bildern entlehnt, sondern nur selbst Geschautes und selbst Empfundenes künstlerisch verwertet haben. Killermann ^) weist darauf hin, daß Schongauer durch Beziehungen zur Heimat seines Vaters, zu Augsburg mit seinen ausgedehnten Handelsverbindun- gen, die Kenntnis des ausländischen Baumes erlangt haben möge; aber es ist eher wahrscheinlich, daß er selbst, als fahrender Ge- selle, nach dem Süden gelangt war. Die Ausführung einer sol- chen Reise muß für einen Deut- schen wohl nicht allzu schwierig gewesen sein, denn wir erfahren aus den Berichten Münzers,-) daß sich damals in Spanien und Portugal zahlreiche deutsche Kauf- leute aufhielten, die einem jungen Landsmann weiterhelfen konnten. Drachenbäume mögen schon vor 1469 in Südspanien oder Portugal gezogen worden sein, denn schon seit der Mitte des 14. Jahrhun- derts wurden die Kanaren ge- legentlich von Seefahrern be- sucht, die von dort das als Heil- mittel hochgeschätzte Drachenblut mitbrachten, vielleicht auch Sa- men, zumal die fleischigen mennig- roten Früchte eßbar sind. Es ist zurzeit nicht möglich, genau das Alter des in Frucht stehenden Drachenbaums Schon- gauers abzuschätzen mangels ausreichender Angaben '^') über die Zahl der Jahre , die der junge, noch unverzweigte Stamm bis zur Entwicklung des Blütenstands an seinem Gipfel und der bald auf die Blüte folgenden ersten wirte- ligen Verzweigung gebraucht, so- wie über die Zeitdauer, die die sympodialen Äste der Krone jedesmal bis zu ihrer Gabelung benötigen. Nehmen wir schät- zungsweise an, der Hauptstamm verzweige sich nach 20 — 25 Jahren, dieÄstejedesmalnachS— lojahren, so ergeben sich für den in Rede stehenden Baum i 50 Jahre; er müßte also unter obigen Voraussetzungen etwa im Anfang des 15. Jahrhunderts aus einem Samen seinen Ursprung genommen haben. Die eigentliche Eroberung der Kanaren*) erfolgte erst seit 1402 durch den nor- Abb. I Nach dem Original Auf -/j ver M. Schongauer, Die Kluchl nach Ägypten. Kupferstich im Siaedelschen Kunstinstitut zu Frankfurt a. M. kleinen. Autotypie von Guhl &: Co., Frankfurt a. M. ») 1. c. S. 310. -) H. Lojander (1. c. S. 24) zitiert den Reisebericht des Arztes Dr. Hieronymus Münzer (vgl. Abbandl. hi'st. Kl. Akad. Wiss. München. VlI. 1855. S. 342), der im Jahre 1494 in Lissabon drei Drachenbäume in Kultur sah, darunter einen, dessen Stamm kaum von zwei Männern umfaßt werden konnte. Dieser Baum wird also sicher zu Beginn des 15. Jahr- hunderts aus einem Samen herangezogen worden sein. ^) Alle diesbezüglichen Literaturangaben habe ich zusam- mannischen Edelmann Jean de Bethencourt. mengestellt in H. Schenck, Beitr. z. Kenntnis der Vegeta- tion der Kanarischen Inseln. Wiss. Ergebn. der deutschen Tiefsee- Expedition. 11. Bd. i. Teil. 1907. Hier auch Abbil- dungen der ältesten Exemplare von Icod u. Laguna. Vgl. ferner C. Schröter, Nach den Kanarischen Inseln. 1909. Tafel V. *) Hans Meyer, Die Insel Tcnerifc. Leipzig iSgu. S. 47. 778 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XDC. Nr. 49 Tenerife wurde 1494 erobert. Madeira nahmen die Portugiesen 1419 in Besitz. Alvise da ca da Mosto, ein venetianischer Seefahrer, der als einer der ersten über den Drachenbaum und das Drachenblut genauer berichtete, unternahm seine Fahrt nach Madeira unddenKanaren im Jahre 1450.') Es darf wohl als ausgeschlossen gelten, daß Schongauer diese Inseln besucht hat, wohl aber mag er nach Südspanien oder auch nach Portugal gelangt sein, wo Dracaena draco recht gut im Freien gedeihen kann."'') H. Christ**) berichtet in seinem anziehenden Reisebuch über einen alten Drachenbaum im botanischen Garten zu Cadiz: „Er ist zwar magerer als die Kolosse auf Tenerife, immerhin aber ein wahrer Baum, der schon öfier geblüht hat, einen Drittelmeter im Durchmesser, 10 Meter hoch und mit einer Krone von wenigstens 50 Rosetten." Der von Clusius 1564 bei Lissa- bon gesehene und von ihm abgebildeten Baum *) ') G. B. R a m u s i o , Delle navigationi et viaggi. Vol. I. Terza edit. Venetia 1563. S. 105. *) L. Kaemraerer (Beilr. z. Kunstgesch. N. F. IV, 1886, S. 72) hält die Hypothese einer italienischen Reise des deutschen Meisters zu gewagt und meint, die Vorbilder für die südländischen Bäume könne dieser wohl auch von Bildern niederländischer Kunstler oder aus Pfianzenbüchern gewonnen haben. Italien kommt m. E. aber überhaupt nicht in Betracht, ebenso auch nicht die von K aemmerer als mögliche Quellen genannten Schriften über Leo von Rozmidals Reisen 1465 — 1467 und das Buch der Natur von Conrad von Megcnberg (1309 — 1374', das I475 zuerst gedruckt wurde. In beiden ist von diesem Baum nicht die Rede. Der eben- falls zitierte Herbarius 1484 und das Herbarium Apuleji Pla- tonici 1480 sind erst nach dem S c h o n g a u e r'schen Stich er- schienen. ') H. Christ, Frühlingsfahrt nach den Kanarischen Inseln 1886. S. 232. '') Zufällig fand ich in dem „Neu vollkommenen Kräuter- buch" von Theodor Zwinger: Theatrum botanicum, Basel 1696, S. 165, Caput LXXX, Draco Arbor, eine Reproduktion des Clusiusschen Bildes, ohne Nennung des Autors. Nach der üblichen Beschreibung der Pflanze wird über Eigenschaft und Gebrauch folgendes ausgesagt: ,,Von diesem Baum wird anders nichts gebiaucht alß das Gummi, welches wegen seiner bartzichten Klebrigkeith und irdischen rauhen Saltz-theilgen die Krafft und eigenschafft hat zu heilen, zusammen zuziehen, und anzuhalten, auch den etzenden Feuchtigkeiten ihren ge- walt und schädliche schärfe zu benemen, das Blut in Wunden und sonsten zu stillen." ,,Es wird dieses Gummi von den Jubelieren zu den gläntzenden Blättlein unter die Edelgestein in Ringe zu legen gebraucht, diesen Steinen desto besseren glantz zu geben. Die Glaßroahler bedienen sich desselben auch, zu der Carmasin- rolhen Färb." Dann folgen Rezepte gegen rote Ruhr, zu Wundessenz und zu Zahnpulver. Im Anschluß an Zwingers Theatrum botanicum sei hier auch das Herbarium Blackwellianum des Nürnberger Arztes Christoph Jacob Trew (1695 — 1769) erwähnt, eines sehr kenntnisreichen Mannes, der zu Nürnberg einen berühmten botanischen Garten begründete und mehrere botanische Pracht- werke herausgab. Tafel 358 dieses Foliowerks bringt eine Wiedergabe der vorbildlichen Darstellung des Drachenbaums aus dem Buche von Clusius über die seltenen Pflanzen Spaniens, daneben auch den Schopf eines noch unverzweigten Baumes aus dem medizinischen Garten zu London und auch eine vierzählige Blüte, die aber sicher zu einer anderen Pflanze gehören dürfte oder unrichtig ist. Über die Verwendung schreibt Trew: „Das ürachenblut in den Apotheken kommt von diesem Baum und wird für anhaltend, trocknend und zusammenziehend gehalten, und im Durchfalle, in der rothen Ruhr, im Blutauswerfen und allen Arten von Blutflüssen ge- zeigt Ähnlichkeit mit dem Schon gau ersehen; er mußte bereits dreimal geblüht haben, stand in der Entwicklung des dritten Aststockwerkes und dürfte etwa lO Jahre jünger gewesen sein. Werfen wir noch einen Blick auf den Schon- gauer sehen Kupferstich. In der Mitte sehen wir die heilige Familie überdacht von einer Dattel- palme, die ihren Wipfel, einer alten Legende ent- sprechend,') übergeneigt zeigt und ihre reifen Datteln leicht erreichbar darbietet. Geflügelte Engel sind Joseph beim Abpflücken der F"rüchte behilflich. Den Hintergrund zwischen der Palme und dem Drachenbaum füllt ein kleiner Wald aus hotien Feigenbäumen. Mit Absicht wird der Künstler diese drei Baumarten mit ihren wohl- schmeckenden Früchten zur Charakterisierung einer südlichen, zur Rast einladenden Oasenlandschaft gewählt haben, wobei ihm sicher unbekannt war, daß der Drachenbaum als endemisches Gewächs Madeiras, der Kanaren und Kapverden streng ge- nommen nicht in diese Gesellschaft hineingehört hätte. Rein künstlerisch betrachtet, stellt sich der Stich als eine hervorragende Leistung dar. Man beachte, wie durch die elliptisch-spiralige Linien- führung in der Dattelpalme und in den Konturen der F"iguren das Auge unwillkürlich auf die Haupt- figur in der Mitte des Bildes, das Christuskind in den Armen der Maria hingelenkt wird, wie diese beiden gleichsam den ruhenden Pol in einem Rahmen stark bewegter Figuren der Engel, des Joseph und des Grautieres bilden und wie das Bild links seinen wundervollen ornamentalen Ab- schluß findet in dem prachtvollen hohen Kande- laber des Drachenbaums, dessen streng symme- trischer Aufbau und dessen exotischer, von unseren Laub- und Nadelhölzern durchaus abweichender Habitus -) zu künstlerischer Wiedergabe reizen mußte. So steht der Künstler entschieden über der Natur und verwertet ihre Formen, deren Wesen er frei aber durchaus zutreffend wieder- gibt, zum Aufbau einer tiefempfundenen Kom- position. Bei der Durchsicht des von G. Duplessis^) herausgegebenen Schongauer sehen Kupferstich- werkes im hiesigen Museum fiel mir die merk- geben. Es befestiget die wakkelnden Zähne, stillet das Bluthen des Zahnfleisches und dienet wider dessen Scharbockische Beschaffenheit." ') A. Schultz, Die Legende der Jungfrau Maria in Lücke, Beilr. z. Kunstgesch. I. Leipzig 1878. S. 23. -) Der eigenartige Habitus und der sympodiale Aufbau von Dracaena wird uns verständlicher, wenn wir die Möglich- keit seiner phylogenetischen Herkunft aus krautigen Vertretern der monokotylen Liliaceen, vielleicht solchen mit synnpodialen Rhizomen, in Betracht ziehen. Die Leitbündcl der Mono- kotylen sind geschlossen, haben die Fähigkeit zu nachträg- lichem Dickenwachstum nach Art der Dikotylen eingebüßt. Wenn aus solchen Krautern baumartige Vertreter hervorgehen, werden diese ein anderes Gepräge erhalten, als wenn dikotylc Kräuter zu holzigem Wüchse übergehen. Warmes gleich- mäßiges Klima begünstigt die Entwicklung holziger Vertreter innerhalb sonst krautiger Sippen, wofür uns gerade die kana- rische Flora typische Beispiele zeigt. ') G. Duplessis, Oeuvre de M. Schongauer reproduit et publie par Amand-Durand, Paris 1881. N. F. XK. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 779 würdige Tatsache auf, daß abgesehen von dem in Rede stehenden Stich fast auf allen Blättern Dar- stellungen bestimmter Pflanzenformen fehlen. Nur auf zwei Stichen sehen wir blühende Lilien, auf einem anderen eine blühende Iris; ferner ist noch ein Blatt mit Hopfenornament und eines mit Nelkenornament zu nennen. Man hätte vermuten sollen , daß auch andere mediterrane Gewächse wie Pinien, Zypressen z. B. den Künstler zur Nach- bildung gefesselt hätten. Das scheint aber nicht der Fall gewesen zu sein, vielmehr offenbart er eine ausgesprochene Vorliebe für seltsame Tiere, die namentlich in der „Versuchung des heiligen Antonius" hervortritt. Einzelne der auf Kupferstichen und Holz- schnitten der damaligen Zeit dargestellten Bilder sind von IVIalern in Form von Ölgemälden wieder- gegeben worden. So existiert auch eine Nach- bildung der Flucht nach Ägypten, wie bereits V. Wurzbach ^) erwähnt, ein Ölbild, das von einem unbekannten oberschwäbischen Meister gegen Ende des 15. Jahrhunderts, vielleicht bald nach Erscheinen des Stiches gemalt wurde und in der Stuttgarter Gemäldesammlung -) aufbewahrt wird. Die Stiche Schon gau ers fanden weite Ver- breitung in Deutschland und wurden vielfach von Künstlern verwertet. So haben vor allem sein Drachenbaum und seine Dattelpalme Liebhaber gefunden; als erster ist kein Geringerer als Al- brecht Dürer zu nennen. Es ist bekannt*) und steht außer aller Frage, daß er zu seinem Holzschnitt „Flucht nach Ägypten" (aus dem „Marienleben" 1504— 05) den Seh on gau ersehen Stich benutzte, wenn auch H. Wölfflin*) betont, die Ähnlichkeit gehe kaum über das Äußerliche des gleichen Stoffes hinaus und wenn auch L. Kaemmerer*) meint, die wenigen ähnlichen De- tails (fast nur in den tropischen Vegetationsformen) könnten bei beiden Meistern seiir wohl aus der gleichen Quelle, etwa einem Pflanzenbuch, stam- men. Dürer gibt allerdings den Drachenbaum nicht richtig wieder, er verhüllt vorsichtigerweise die Krone zum Teil in eine Wolke mit geflügelten Engelköpfen; die regelmäßige quirlige Verzweigung ') A. V. Wurzbach, Martin Schongauer. Wien lS8o, S. 96. Eine Angabe v. Wurzbachs sei hier zitiert: „Das Original eines Kupferstiches, welcher mit Veränderungen die- selbe Darstellung (wie die Flucht nach Ägypten) behandelt und von Pietro Aquila (1650 — 17CO) angeblich nach einem Bilde von Gaudentio Ferrari mit der Widmung: „lUu- strissimo Domino D. Balthassari Cannizares de VigintimiUis, Pasaneti, Bidanis et Nadorum Domino" gestochen wurde, scheint zu diesem Blatte Schongauers in Beziehung zu stehen und ist vielleicht (?) älter." Diese Angabe konnte ich nicht nachprüfen. Ich möchte es aber für ausgeschlossen halten, daß Schongauer dorther zu seinem Drachenbaum kam. *) Verzeichnis der Gemäldesammlung Stuttgart. 2. Aufl. 1907 Nr. 98. ä) M. Thausing. Dürer. Leipzig 1876. S. 251. *) H. Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers. München. 3. Aufl. 1919, S. 86. ') L. Kaemmerer, Beitr. z. Kunstgesch. N. F. IV. 1886, S. 100. kommt nicht zum richtigen Ausdruck; auch seine Dattelpalme, die er aufrecht darstellt, ist botanisch anfechtbar, alles Anzeichen dafür, daß ihm diese Gewächse selbst fremd waren und daß er ihre Formen willkürlich abgeändert hat. Wie bereits Kill ermann^) hervorhebt, hat auch Hans Burgkmair den Drachenbauni dar- gestellt, auf seinem 15 18 entstandenen Ölbild „Johannes auf Patmos" (Alte Pinakothek, München). Wie ein Vergleich dieses Gemäldes mit dem Stich Schongauers einleuchtend ergibt, hat auch Burgkmair den letzteren als Vorbild benutzt. Von der Krone des Drachenbaums gibt er nur den untersten Astquirl wieder, durchaus richtig. Die Dattelpalme stellt er ebenfalls mit geneigtem Wipfel dar, obwohl sie gar keine Ursache hatte, sich ebenso wie vor der heiligen Familie zur Dar- bietung ihrer Datteln auch vor dem Johannes auf Patmos zu verbeugen. Man sieht, es handelt sich hier mehr um ein ängstliches Kopieren fremd- artiger Baumbilder, als um freie Gestaltung der Landschaft. Auf eine dritte Nachbildung des Schon- gau ersehen Stiches weist F. Küch^) hin. Es handelt sich um ein Altarschnitzwerk aus Uerzell, das sich jetzt im Germanischen Museum zu Nürn- berg befindet und etwa um 15 17 aus der Werk- statt des Marburger Bildhauers Ludwig Juppe hervorgegangen ist. Die wesentlichen Züge der Komposition sind im geschnitzten Relief beibe- halten, Drachenbaum und Palme allerdings in starkem Maße umstilisiert und dem Material ent- sprechend vereinfacht. Ferner finde ich den Schongau ersehen Drachenbaum unzweifelhaft wieder auf einem höchst seltsamen Triptychonbild des hollän- dischen Malers Hieronymus Bosch, ^) eines Phantasten und Erfinders der merkwürdigsten Spuk- und Teufelsgebilde (geb. um 1460 zu Her- zogenbusch, die Familie ursprünglich wohl aus Aachen stammend, gest. 15 16). Das jetzt im Prado zu Madrid befindliche Gemälde stellt das Paradies vor dem Sündenfall der beiden ersten Menschenkinder dar, im Vordergrunde Gottvater, Adam und Eva ermahnend, Adam auf dem Rasen unter dem Baum der Erkenntnis sitzend, die reich belebte märchenhafte Landschaft ausstaffiert mit seltsamen Tieren und Gebilden. In dem Baum der Erkenntnis erblickt man leicht den Schon- gauer sehen Drachenbaum wieder ; nur erscheinen die Äste des dritten Stockwerks auffallend nach oben verjüngt und am rechten Hauptast nur eine Gabelung, anstatt zwei, eingezeichnet, woraus hervorgeht, daß der Maler den Baum nicht in der Natur selbst beobachtete. Den Hauptstamm hat er mit Schlingpflanzen garniert. Nicht den Drachenbaum, wohl aber die über- ') 1. c. S. 310 u. Abb. I. ^) F. Küch, Ludwig Juppe, Eine Nachlese. Hessen- kunst 1920, Elwerts Verlag Marburg a. L. S. 33 u. Fig. S. ') Ernst Heidrich, Alt- Niederländische Malerei in „Die Kunst in Bildern". Jena 1910. Abb. loo. 78o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XTX- Nr. 49 geneigte Dattelpalme und die Anordnung der Figuren des Sc hongauer sehen Stiches sehen wir in dem kirchlichen Hauptwerk des Malers Hans Baidung, genannt Grien (geb. zwischen 1485 — 90, gest. 1545) wieder auftauchen, auf einem die Flucht nach Ägypten darstellenden Flügeibild des Hochaltars im Dom zu Freiburg i. Br. ') Die Dattelpalme des IMatthias Grünewald auf einem P'lügelbilde des Isenheimer Altars, -) Besuch des Heiligen Antonius beim Heiligen Paulus, wird bereits von K i 1 1 e r m a n n "j erwähnt. Sie zeigt aufrechten schuppigen Stamm und eine wenig natürliche besenförmige Krone, steht als Fremd- ling in einer abenteuerlichen Landschaft neben flechtenbehangenen Baumruinen und könnte mög- licherweise auch dem Stiche Schongauers entlehnt sein. Nebenbei sei noch bemerkt, daß auch auf dem 1509 datierten Holzschnitt Lukas Cranachs des Älteren (1472— 1553) „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten" einige Züge an die Komposition Schongauers erinnern, wenngleich Cranach durchaus selbständig eine nordische Landschaft, statt des Drachenbaums eine Eiche, statt der Palme eine Kopfweide bringt. Gegen Ende des 15. und in den ersten Jahr- zehnten des 16. Jahrhunderts nahm der Buchdruck in Deutschland einen gewaltigen Aufschwung. In Straßburg, Bisel, Augsburg, Nürnberg, Mainz er- schien eine Fülle reich illustrierter und typogra- phisch hervorragender Werke. Es lag nahe, daß die Holzschneider die vortrefflichen Stiche Schon- gauers und anderer Künstler für ihre Bilder be- nutzten. So erlebte auch der vorbildliche Drachen- bäum sein Wiedererscheinen. Ich finde ihn wieder- gegeben auf dem Titelholzschnitt zu Virgils ') Lothar Brieger. Altmeister deutscher Malerei. Berlin 1913. S. 81. Abb. Fr. Baumsarten, Der Freiburger Hochaltar. Studien zur deutsch. Kunstgesch. 40. Heft. Straßburg 1904. S. 34, hat klargelegt, in welcher Weise Baidung die beiden Blätter von Schongauer und Dürer für sein Bild verwertete. *) A. L. Mayer, Matthias Grünewald. München 1919. Abb. 33. — H. H. Josten, Matthias Grünewald. Bielefeld und Leipzig 1913, Abb. 49, S. 56. ■'') 1. c. S. 310. Georgicis ') in der von Sebastian Brant be- sorgten Virgilau=gabe, die 1502 als Hauptwerk der rühmlichst bekannten Olfizin Grüningers in Straßburg erschien. In der Mitte dieses figuren- reichen Bildes steht die geharnischte Pallas mit flatterndem Haar, sie zaubert mit ihrer Lanze den Ölbaum aus der Erde. Der dargestellte Baum ist nun nicht etwa ein Ölbaum , sondern der Schon gau ersehe Drachenbaum. Ein zweiter Holzschnitt zeigt uns Virgil, umgeben von Bacchus, Silen, Satir;-) es bringt gleichfalls den Drachen- baum. Aus dem genannten Werk reproduziert Kristaller ^j einen dritten Holzschnitt, der im Vordergrunde zwei stilisierte Bäume zeigt, für die vielleicht der Drachenbaum und die Dattel- palme Schongauers haben herhalten müssen. Ohne Zweifel wird man auch noch auf anderen Holzschnitten beide Gewächse wiederfinden. In späteren Epochen der Malerei und Bildnerei scheinen Drachenbäume keine künstlerische Wieder- gabe mehr gefunden zu haben. Immerhin könnten sie vielleicht auf Werken älterer spanischer oder portugiesischer Künstler noch zu finden sein. Im Rückblick auf obige Ausführun- gen stellenwir fest, daß, soweitunsbis jetzt bekannt ist, bereits etwa hundert Jahre vorClusius der deutsche Kupfer- stecher Martin Schongauer als erster den kanarischen Drachenbaum unter trefflicher Wiedergabe seiner wesent- lichen Züge abgebildet hat und daß die späteren Darstellungen dieses Baumes von Dürer, Burgkmair, Bosch, Juppe, (irüninger sämtlich auf diesem ersten Vorbild beruhen. ') Wiedergegeben auf Blatt 140 in K. Muthers ausge- zeiehnetem Werk : Die deutsche Bücherillustration der Golhik und Frührenaissance (1460-1530) 18S4. — Ferner in W. Worringer, die alldeutsche BuchiUustration. München und Leipzig 1912. Abb. 64, S. 105. '-) Vgl. Abb. 153, S, 49. I. Bd. des Werkes: Deutsches Leben der Vergangenheit in Bildern. Herausgegeben von Eugen Diederichs, Jena 1908. •■') P. K r i s t a 1 1 e r , Die Slraßburger Bücherillustration im 15. und im Anfang des 16. Jahrh. Beitr. z. Kunstgesch. N. F. VII. Leipzig 1888. Abbild. 20. Einzelberichte. Hydrologie. Regen und Grundwasser. Unter diesem Titel hat Ch. iVlezger, dessen in der Zeit- schrift „Der Gesundheilsingenieur" entwickelten Grundwasserbildungstheoricn der höchsten Be- achtung wert sind, in der Zeitschr. f. d. ges. Wasser- wirtschaft, XV. Jahrg. igzo, Heft 15 ff. eine Ar- tikelserie veröffentlicht, welche geeignet ist, auf das Verhältnis der Niederschlagsmenge zur Grund- wassermenge ein neues Licht zu werfen. Regen kann durch seinen hydrostatischen Druck eine Vermehrung des Grundwassers erst dann hervor- rufen, wenn die gesamte den Grundwasserspiegel überdeckende Boden.«chicht vollkommen gesättigt ist, und auch in diesem Falle gelangt nicht etwa das Wasser des eben gefallenen Regens in das Grund- wasser, sondern ein bestimmter Teil der schon vorher im Boden vorhandenen Feuchtigkeit. Kann wegen der Temperaiurverhältnisse eine Verdunstung des Regenwassers in der äußersten Bodenhaut nach unten zu nicht eintreten, so ist der Fall recht gut denkbar, daß der Regen nur indirekt eine Vermehrung des Grundwassers hervorruft, ohne daß ein Tropfen von ihm den Grundwasser- spiegel selbst erreicht. Insofern darf man be- N. F. XIX, Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 781 haupten, daß in der Regel der Regen keinen direkten Einfluß auf die Grundwassermenge besitzt. Da das Wasserzurückhaltungsvermögen der meisten Böden lehmig sandiger Beschaffenheit etwa zu 300—350 1 auf 1 cbm angenommen wer- den kann und für Deutschland die mittlere jähr- liche Regenhöhe etwa ö6o mm beträgt, die Regen- mengen also, auf I qkm Niederschlagsgebiet ver- teilt, also 660 1, so vermag unter mittleren Ver- hältnissen eine Bodenschicht von 2 m Dicke den gesamten jährlichen Niederschlag in Deutschland aufzunehmen und kapillar festzuhaken. Daraus folgt, daß in Deutschland die Niederschläge eines Jahres im allgemeinen erst nach Ablauf desselben und unter dem Druck der nachfolgenden Nieder- schläge in tropfbarflüssiger Form tiefer als 2 — 3 m in den Boden eindringen können. In gewissen Ausnahmefällen existiert allerdings eine unmittelbare Verbindung des in den Boden eindringenden Regenwassers und dem Grundwasser, wenn nämlich bei plötzlichem Umschlag von Frost in Tauwetter die Temperatur der Außenluft plötz- lich um 0—8 " und mehr über den Gefrierpunkt steigt und infolgedessen eine heftig in den Boden einziehende Dampfströmung Platz greift, welche in wenigen Metern Tiefe mit der aufsteigenden zusammentrifft und dort und in ihrer nächsten Umgebung eine lebhafte Kondensation hervorruft, welche das Grundwasser mindestens ebenso kräftig vermehrt, wie die stärksten Gewitter- oder Dauer- regen. Solche Dampfströmungen führen dann zu Erscheinungen, welche Mezger als Grund- regen bezeichnet und in ihrer Wirkung auf das Grundwasser den Regenfällen an der Erdober- fläche kaum nachstehen. Sie verlegen sozusagen den Schauplatz der Regenbildung aus der freien in die unterirdische Atmosphäre. Mit vollem Recht betont der Verfasser, daß dem Grundregen für den Wasserhaushalt des Bodens eine viel weiter- gehende Bedeutung zukommen muß, als man bis- her gemeinhin annahm. Die angeführten Be- ziehungen des Bodens zum Regen stehen im nahen Verhältnis zu seiner bisher noch wenig exakt untersuchten Eigenschaft, durch seine Kapillar- kraft nicht nur Wasser zurückzuhalten, sondern auch Wasser hygroskopisch zu binden ver- mag, so daß man also zwischen einer kapillaren und einer hygroskopischen Sättigung des Bodens unterscheiden muß. Über die Zustands- form des hygroskopisch gebundenen Wassers weiß man bisher nichts Bestimmtes, sicher ist nur, daß wasserfreier und lufttrockener Boden sowohl Wasserdampf wie tropfbarflüssiges Wasser unter Entwicklung von Wärme begierig aufnimmt und dasselbe nur durch Erhitzen oder mit Hilfe einer Luftpumpe wieder von sich gibt. Inwieweit die Hygroskopizität bei den Schwankungen des Grundwassers eine Rolle spielt, läßt sich bisher noch nicht feststellen, sicher steht die Richtung der Bodendampfströmungen und der Wechsel ihrer Stärke mit der Entbindung und Verflüssigung von hygroskopischem Wasser im engen Zusam- menhang. M. nimmt an, daß die Stärke der im Boden auftretenden Dampfströmungen durch die Unterschiede im Atmosphärendruck und das An- wachsen der Temperatur von etwa 8 auf 18" C kaum beeinflußt wird, sich vielmehr bei gleich- mäßiger Luftdurchlässigkeit ziemlich genau im Verhältnis des Dichtegefälles und, soweit der Boden stärker durchfeuchtet ist, annähernd im Verhältnis des Temperaturgefälles sich ändert, so daß man, wenn man diese Daten kennt, je nach der Jahreszeit den Einfluß der Dampfströmungen auf die Schwankungen der Grundwassermengen ermitteln könnte. Der Verlauf einer Anzahl von M. entworfenen Temperatur- und Dichtekurven läßt erkennen, daß ein ganz beträchtlicher Teil des in den Boden eindringenden Regenwassers in Dampfform wieder in die äußere Atmosphäre zurückkehrt, ohne im mindesten mit dem Grund- wasser in Berührung gekommen zu sein. Die Mezgersche- Theorie der Grund wasserbildung scheint eine glückliche Vermittlung der bekannten Pettenkoferschen und Voglerschen Grund- wassertheorien vorzubereiten und eröffnet zugleich die Möglichkeit der Lösung der fundamentalen Aufgabe, die absolute mittlere Menge des in der Erdrinde aufgespeicherten Grundwassers zu er- mitteln, näherzukommen. W. Halbfaß. Chemie. Die Einwirkung des Lichtes auf feuchtes Chlorgas ist von E. Radel erneut stu- dieit worden.'] Die Kenntnis des Mechanismus dieser Wirkung ist wichtig, weil die Bildung von Chlorwasserstoff aus den Elementen im Lichte nur vor sich geht, wenn eine Spur Feuchtigkeit zugegen i.st. 1903 zeigte Bevan, daß das Wasser hierbei „Keime" bildet, auf denen eine Konden- sation von Nebeln des entstehenden Chlorwasser- stoffs stattfindet. Radel fand nun, daß diese Keimbildung zwischen Chlor und Wasserdampf im Licht umkehrbar ist und auch durch Be- strahlung mit radioaktiven Stoffen herbeigeführt werden kann. Die Versuchsanordnung ist einfach: Eine mit dem feuchten Chlorgas gefüllte Kammer wird durch ein Mikroskop beobachtet. Sobald in die Kammer durch ein dafür vorhandenes Fenster das Licht einer 5 Amp.-Bogenlampe fällt, treten im Gesichtsfeld eine Unzahl kleinster Teilchen (Keime) auf, die sehr bald wachsen und dabei an Zahl abnehmen, so daß sie schUeßlich vermöge ihrer Schwere zu Boden zu fallen anfangen. Wird nun das Licht abgeblendet, so ist nach einigen Minuten das Gas wieder keimfrei, d. h. die Kon- densationsprodukte haben sich zurückgebildet. Man kann diesen Vorgang sogar sichtbar ver- folgen, wenn man nach erfolgter Teilchenbildung, die je nach den Umständen innerhalb Vi 00 ^^l*- bis 30 Sek. eintritt, in den Gang der belichtenden Strahlen eine Küvette mit Ferroammoniumsulfat- ') Zeitschr. f. physikal. Chemie 95, S. 378, 1920. 782 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XIX. Nr. 49 lösung stellt. Alsdann ist das Gesichtsfeld noch genügend hell, die Strahlenwirkung durch die Farbe der Lösung jedoch so gedämpft, daß sie zur Keimbildung nicht hinreicht. Man sieht, wie die Teilchengröße mehr und mehr zurückgeht, bis sie schließlich unter die Grenze der Sichtbarkeit gelangt. Weitere Versuche ergaben, daß die Teilchen keine elektrische Ladung besitzen. Sie werden ferner erzeugt durch kleine Induktionsfunken, so- wie endlich durch Strahlen von Polonium- und Radiumpräparaten, jedoch in viel. schwächerem Grade als durch Licht. Der Verfasser der sachlich recht hübschen Abhandlung zieht merkwürdigerweise keinerlei theoretische Folgerungen aus seinen Befunden. H. Heller. Elementarer Wasserstoff ist die schwächste Säure. Zu diesem Schluß kommt W. N ernst in einer Mitteilung, die 'er im Anschluß an Ver- suche von K. Moers auf der diesjährigen Haupt- versammlung der Deutschen Bunsengeselischaft machte.^) Moers untersuchte zum Zwecke der Konstitutionserklärung der Hydride das be- sonders dazu geeignete Lithiumhydrid. Dieser Stoff von der Formel LiH hat ausgesprochen salzartigen Charakter, zweifellos eine sehr auf- fallende Tatsache, wenn man ihn mit dem typi- schen Salz Lithiumchlorid LiCl vergleicht. Es scheint danach offenbar, daß der Wasserstoff mit Chlor (und den anderen Halogenen) in Parallele zu setzen ist. Auch die Bildungsweise beider Stoffe entspricht einander völlig. Lithiumhydrid entsteht aus dem Lithiumhydroxyd durch Re- duktion mit elementarem Wasserstoff Li-0H-fH„ = H20 + LiH. (i) Das Chlorid wird in bekannter Weise mittels Salzsäure gewonnen Li.0H-|-HCl = H„0 4-LiCl. (2) Das eine der im gasförmigen Wasserstoff vor- handenen Atome verhält sich also wie Chlor, d. h. aber wie sein elektrochemischerWider- part! Diese Merkwürdigkeit erklärt die Untersuchung von Moers in befriedigender und überraschender Weise. Es gelang ihm, Kristallform, Bildungs- wärme, Atomwärme und Atomvolumen genau zu bestimmen (experimentell eine vorzügliche Leistung 1), und diese Daten, die in einer späteren Arbeit mitgeteilt werden sollen, sprechen durch- aus für die erwähnte Analogie. Am über- zeugendsten jedoch wird diese gestützt durch die Elektrolyse des Lithiumhydrids. Entsprechend der formalen Übereinstimmung von (1) und (2) sollte auch gelten, wenn die elektrolytische Spal- tung von Chlorwasserstoff formuliert wird HCl — > H" -f Cl', die analoge Spaltung des Wasserstoffs H2 —> H" -f H'. ') Vgl. auch Zeitscbr. f. Elektrochemie 26, S. 323, 1920. Das würde aber bedeuten, daß Wasserstoff eine, wenn auch äußerst schwache Säure ist. Die Elektrolyse von geschmolzenem Lithium- hydrid ergibt nun tatsächlich Abscheidung von metallischem Lithium an der Kathode und Was- serstoffentwicklung an der Anode. Der Wasserstoff verhält sich mithin auch hier wie Chlor, und es sind nur experimentelle Schwierig- keiten, die es verhindern, daß die Abscheidung quantitativ vor sich geht. Ist somit erwiesen, daß elementarer Wasser- stoff gewissermaßen „Wasserstoffhydrid" ist, so fragt sich nunmehr, wie groß die Stärke dieser „schwächsten Säure" sei. (i) beweist schon, daß Lithiumhydrid völlig dissoziiert sein muß. Könnte man seine Wasserlöslichkeit bestimmen, so ließe sich die Stärke des sauren Wasserstoffs ermitteln. Hydrolyse verhindert das jedoch. Auf Grund einer angenäherten Rechnung, die anzuführen hier zu weit gehen würde, bestimmt Nernst die Dis- soziationskonstante zu K = 0,55- lO^^^-Co. Was- serstoff ist also eine sehr schwache Säure, so schwach, daß sich seine Dissoziation weder durch Leitfähigkeit noch durch gesteigerte Löslichkeit in Alkalien nachweisen läßt. Diese Versuche beseitigen, und das ist nicht ihre geiingste Bedeutung, einen alten Widerspruch, der in der organischen Chemie vorzuliegen scheint und darin besteht, daß sich Wasserstoff durch Halogene leicht substituieren läßt, ohne daß der Habitus der Verbindung im allgemeinen geändert wird, obwohl beide Stoffe chemische Gegensätze sind. Wir müssen, um das zu verstehen, nunmehr des zwiefaltigen Charakters des Wasserstoffmole- küls bewußt werden. Dieses hat nach heutigen Vorstellungen die Formel H^Ej. Hier bedeutet E ein negatives Elektron, „das ein chemisches Ele- ment ist so gut wie jedes andere". Und außer der uns bisher allein geläufigen Dissoziation in die „Atome" HoEj-^HE-f HE ist nunmehr auch eine Spaltung denkbar geworden im Sinne H2E2 = H — j- HEo. H' ist positiv geladener Wasserstoff, HE^ je- doch solcher, der eine überschüssige Ladungs- einheit aufweist, d. h. H'. Aus obigem folgt also ferner, daß gasförmiger Wasserstoff eigentlich ein 4atomiges Mole- kül ist. Auch hierfür findet Nernst eine quan- tentheoretische Deutung, worauf anderen Orts zurückgekommen werden soll. H. Heller. Zoologie. Parasitenkunde und Tierg^eoeraphie. Das Studium einer großen Reihe von Opaluien (holotrichen Ciliaten) hat Maynard M. Met- calf) zu neuer Erkenntnis geführt. Will man ') Maynard M. Metcalf, Upon an important method of studying problems of relationship and of geographica! distribuiion. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United Slates of America, vol. VI, nr. 7 (July 1920), p. 432 sq. N. F. XIX. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 783 Verwandtschaftsprobleme zwischen jetzt örtlich getrennten Tiergeschlechtern lösen, so kann nach ihm ein Vergleich ihrer Parasiten, sowie ein Ver- gleich der geographischen Verbreitung der Wirts- tiere mit derjenigen ihrer Parasiten von größtem Nutzen sein. Als Beispiel führt er die Verhält- nisse zwischen Froschlurchen und in ihnen schmarotzenden Opalinen an. Die Leptodactyliden sind die charakteristischen Froschlurche des tropischen und gemäßigten Süd- amerika. Doch auch im Gebiete der Notogäa sind sie vertreten. Diese tiergeographische Tat- sache hat mit zu der Annahme einer früheren Landverbindung zwischenPatagonien und Australien, über die Antarktis hinweg, geführt. Andererseits hat man aber auch nur eine Art Konvergenzent- wicklung als Erklärung angenommen. Metcalf kann jetzt auf Grund seiner Opalinastudien die hypothetische Konvergenz endgültig ausschließen. Ein von ihm als Zelleriella bezeichnetes zwei- kerniges Opalina-Genus, das der charakteristische Opalina-Schmarotzer der Leptodactyliden ist, kommt häufig vor in Süd- und Mittelamerika, reicht weiter- hin nach den Antillen und ein klein wenig nach dem südlichen Nordamerika hinüber. Doch auch in australischen Leptodactyliden schmarotzen Zel- leriella-Arten, die von den amerikanischen spezi- fisch kaum zu unterscheiden sind. Es ist wohl denkbar, daß die australischen und amerikanischen Leptodactyliden nicht eng verwandt und ihre Ähn- lichkeiten lediglich auf eine konvergente oder parallele Entwicklung zurückzuführen sind. Aber es dünkt Metcalf ganz unwahrscheinlich, daß beide — sowohl die Leptodactyliden als auch ihre Opalina Schmarotzer — sich konvergent auf dem südamerikanischen und dem australischen Kontinente entwickelt haben können. Eine solche Koinzidenz ist ihm ganz und gar undiskutabel. Die Untersuchung von Opalinen, die in zahl- reichen anderen Familien und Unterfamilien der Froschlurche schmarotzen, gibt noch weitere interessante Aufschlüsse. Es muß z. B. zu der Zeit, als Patagonien noch mit der Antarktis zusammenhing, Patagonien vom nördlichen Südamerika durch einen Wasserarm (quer durch das heutige Südamerika) völlig ge- trennt gewesen sein. Arten aus dem Genus Bufo sind im tropischen und gemäßigten Amerika ge- nau so häufig wie in Asien und Ostindien. Aber sie haben Australien nicht erreicht, weder über die Antarktis noch über Neuguinea hinweg. Die südamerikanischen Bufoniden beherbergen Zelle- riella-Parasiten. Warum wanderten diese Bufoniden nun nicht über die Antarktis hinüber nach Au- stralien, indem sie zugleich ihre Zelleriellen mit sich verschleppten? Metcalf gibt folgende Ant- wort : Die Leptodactyliden stellten eine südliche, in Patagonien beheimatete Gruppe der Anuren dar. Die Bufoniden dagegen sind eine nördliche Familie. Es erhellt aus dem oben Gesagten, daß die Bufoniden noch nicht in Patagonien lebten, als dieses Gebiet durch die Antarktis mit Australien verbunden war. Offenbar trennte eine quer durch Südamerika sich hinziehende Wasserfläche die Bufoniden des Nordens von den Leptodactyliden des Südens. Nachdem dann Patagonien den Zu- sammenhang mit der Antarktis verloren hatte, muß sich im mittleren Südamerika an der Stelle der Wasserfläche Land erhoben haben, das nun den Norden und Süden endgültig einte und da- mit auch beide Froschgruppen in nahe Berührung miteinander brachte. Die Bufoniden, die allen Opalina Genera Gastfreundschaft gewähren, konnten nunmehr auch die in Leptodactyliden schmarotzen- den Zelleriellen auflesen. Aber es war zugleich für sie zu spät, nach Australien herüber zu ge- langen. Denn Südamerika war jetzt von der Ant- arktis getrennt. Wenn Metcalfs Anregung von den Zoologen aufgenommen würde — freilich immer mit der nötigen Kritik und Vorsicht in den Schlußfolge- rungen — , könnten sicherlich noch mancherlei schwebende zoo- und paläogeographische Probleme der Lösung nähergeführt werden. Vor allem dürfte das vergleichende Studium der afrikanischen und südamerikanischen Anuren mit ihren Opalina- Schmarotzern die Frage nach einer ehemaligen Landverbindung quer durch den Atlantischen Ozean mit klären helfen. Rudolph Zaunick, Dresden. Bücherbesprechungen. Schnegg, Dr. Hans, Prof. an der Akademie Weihenstephan, Unsere Giftpilze und ihre eßbaren Doppelgänger. Unter Einbeziehung der häufigeren ungenießbaren Arten. JVlit 9 Abb. im Text und 42 farbigen Pilzbildern auf 21 Tafeln in Vierfarbendruck nach Naturaufnahmen von Prof. Josef Hanel. 3. verm. Auflage. München 1919, Verlag Natur und Kultur Dr. Frz. Jos. Völler. 2,75 M. Die schnelle Aufeinanderfolge der drei Auf- lagen dieses praktischen und handlichen Büchleins beweist, daß die Methode des um die Verbreitung der Pilzkunde in Bayern sehr verdienten Verfassers, in erster Linie die Giftpilze kennen zu lehren, großen Anklang im Publikum gefunden hat. Es kam dem Verf vor allem darauf an, „die Furcht vor den Pilzvergiftungen zu beheben, diese selbst zu verringern und dadurch das allgemeine Vor- urteil gegen die Pilze zu beseitigen". Die farbigen Abbildungen sind nach Naturaufnahmen an den natürlichen Standorten „ohne künstliche Hervor- hebung oder Weglassung von Einzelheiten" wieder- gegeben und man kann sie als charakteristisch und wohlgelungen bezeichnen. Dem Giftpilz ist 784 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC, Nr. 49 auf der gleichen Tafel stets der ähnliche eßbare Pilz gegenübergestellt und im Text wird von beiden Seiten eine kurze und präzise Diagnose gegeben, so daß eine Verwechslung fast ausge- schlossen erscheint. Trotzdem möchte Ref. be- zweifeln, ob ein völliger Neuling in der Pilzkunde überhaupt Pilze nach einem Buch sicher kennen lernen kann. Die in jedem Jahre vorkommenden Vergiftungen durch Pilze trotz den vielen guten Büchern beweisen, daß regelmäßige Ausstellungen, wie sie in den letzten Jahren an verschiedenen Orten eingerichtet wurden und Exkursionen unter sachverständiger Leitung, die dem Anfänger Ge- legenheit geben, den lebendigen Pilz richtig be- stimmt zu erhalten, niemals entbehrt werden können. Wächter. Wilhelmi, Prof. Dr. J., DieKriebelmücken- plage. Jena 1920, Gustav Fischer. Wie der Untertitel der verdienstvollen Ver- öffentlichung besagt, hat der Verf eine Übersicht über die Simuliidenkunde, besonders in praktischer Hinsicht geben wollen. Im Vorwort sagt der Autor, daß es sein vornehmliches Bestreben ge- wesen sei, der Literatur gerecht zu werden und so für weitere Bekämpfung der Kriebelmücken- plage den Bearbeitern sachdienliche Unterlagen zu geben. Dieses gesteckte Ziel dürfte erreicht worden sein. Es wird nach dem Gesagten nie- mand in der Schrift die Lösung der Kriebel- mückenfrage oder ausgedehnte eigene Unter- suchungen suchen dürfen. Was in den einzelnen Kapiteln z. B. über Ökologie und Biologie der Simuliiden-Vollkerfe, der Schadwirkung der Simu- liiden Vollkerfe nach Art der Schädigung an Mensch und Vieh und der Theorien zur Erklärung der Kiiebelmückenplage und zur Verhütung der durch Kriebelmücken bewirkten Viehschäden aus dem einschlägigen Schrifttum zusammengetragen wurde, ist klar und übersichtlich zur Darstellung gebracht worden. Jeder, der die Schwierigkeit der Lite raturbeschaffung, zumal in jetziger Zeit kennt, wird die geleistete Arbeit zu schätzen wissen. Der in Gemeinschaft mit Nevermann ausge- arbeitete Bericht über die im Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten am 10. Fe- bruar 1920 erfolgte Beratung zur Bekämpfung der Kriebelmückenplage enthält einen gut organisierten praktischen Arbeitsplan, der gute Ergebnisse hoffen läßt. Die Ausstattung des Werkes ist, zumal unter Berücksichtigung der heutigen Schwierig- keiten, anzuerkennen. Der Preis von 13 M. kann daher als sehr angemessen erachtet werden. Priv.-Doz. Dr. Hanns v. Lengcrken, Berlin, Landwirtsch. Hochschule. Anregungen und Antworten. Im Hochsommer und Herbst ist gelegentlich in Gebäuden MassPn^uf'reten von Fliegen der Gattung Chloropisca zu be- obachten. Zu lausenden bedecken die 'lierc die Fenster, die Zimmerdecke, die Wände und schwärmen mit deutlichem Summen unter der Decke. Es handelt sich wohl meist um Chi. notata Meig. Diese ist 2 — 3 mm lang, glänzend gelb, erscheint aber durch 3 schwarze Thoraxlängsstreifen und die bis auf Basis und Einschnitte schwarze Oberseite des Ab- domens dunkler. Eine befriedigende Erklärung der biologi- schen Bedeutung der Erscheinung ist meines Wissens noch nicht gegeben worden. Um ihr näher nachgehen zu können, bitte ich alle, die das Auftreten der Fliege beobachten konn- ten, um gefällige Mitteilung; sehr erwünscht wären mir Ein- sendung von Material und auch Literaturangaben. O. Harnisch, Brieg, Bez. Breslau, Gartenstr. 34 1. Die Kritik von Dr. Hans Reichenbach in Nr. 37 dieser Wochenschrift über den .Aufsatz von Dr. A. Stahl in Nr. 25 enthält m. E. derartige Unrichtigkeilen , daß sie wohl nicht unwidersprochen bleiben kann. Stahls einfache Erklärung des Michelsonschen Ver- suchs aus einer Mitführung des Äthers bei der Erdbewegung stellt durchaus keinen „elementaren Fehler", sondern die nächstliegende und älteste Deutung dar. Sie rührt von Stokes her und wird u. a. auch von Michelson selbst für richtig gehalten. Vgl. hierzu die Ausführungen über den Mic helson sehen Versuch in Drudes Optik, 3. Autl., 1912, S. 472 ff , ferner die Polemik zwischen Einstein und Gehrcke, Verhandlungen der Deutschen Physikalischen Ge- sellschaft 1919, S. 67, endlich auch meine Schrift ,,Der Fehler in Einsteins kelativitätstheorie", Wolfenbültel 1920. Die .Aberration läßt sich, wie ebenfalls aus den genannten Literaturstellen hervorgeht, ebensogut im Sinne eines ruhen- den (Lorentz), wie eines mitbewegten .Äthers (Stokes) er- klären, und die Ergebni>se des Fizeauschen Versuchs lassen sich überhaupt nicht ohne weiteres auf kosmische Erschei- nungen übertragen. Die populären Darstellungen der Ein- stein sehen Theorie, wie die erwähnte von Bloch, pflegen den Umstand, daß die fraglichen Versuche von vielen — namentlich den englischen — Physikern ganz anders ausge- legt werden, als es durch Lorentz und Einstein geschehen ist, meist gar nicht zu erwähnen und sind daher kaum sehr zu empfehlen. Die Kritik Dr. Keichenbachs an dem Aufsatz von .Stahl erscheint mir daher in der Hauptsache unberechtigt. Keg-Kat Dr. H. Fricke Literatur. Zwei Jahre Berliner Begablenschulen. Erfahrungen ihrer Schulleiter. Leipzig '20, S. Hirzel. 5,50 M. Vcrworn, M., Die .Anfänge der Kunst. 2. Autl. Mit 32 Textabb. und 3 Tafeln. Jena '20, G. Fischer. S M. lultnlt: H. Krieg, Pignientprobleme. (7 Abb.) S. 769. H. Schenck, Mattin Schongauers Drachenbaum. (I Abb ) S. 775. — Eintelbencbie: Ch. Mezger, Regen und Grundwasser. S. 7S0. E. Kadel, Die Einwirkung des Lichtes auf feuchtes Chlorgas. S. 781 W. Nernst, Elementarer Wasserstoff die schwächste Säure. S 782. Maynard M. Met- calf, Parasitenkunde und Tiergeographie. S. 782. — Bücherbesprechungen: H. Schnegg, Unsere Giftpilze. S. 783. J. Wilhelmi, Die Kiiebelmückenplage. S. 784. — Anregungen und Antworten: Massenauftreten von Fliegen der Gattung Chloropisca. S. 7S4. Kritik von Dr. Hans Reichenbach. S. 7S4. — Literatur: Liste. S. 784. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miebe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 41, erbeten. Verlae von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert i: Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 12. Dezember 1920. Nummer 50. Die mechanistische Idee in der modernen Naturwissenschaft. [Nachdruck verboten/ Eine programmatische Studie. Von Dr. Adolf Meyer, Göttingea. Der Kampf um die mechanistische Natur- wissenschaft ist so alt wie die moderne Natur- wissenschaft. Kaum war durch Galileis große Tat das Fundament zu der modernen Mechanik gelegt, ein Fundament, in dem sich zum ersten Male die beiden großen schöpferischen Prinzipien der modernen Naturwissenschaft, die auf Experi- ment gegründete Empirie und die mathematisch deduzierte Theorie, in großartiger Synthese zu- sammenfanden, da begann auch schon mit Des- cartes gleich in genialer Weise die seitdem un- unterbrochene Reihe jener Versuche, die in dem herrlichen Bilde, das die Betrachtung des Zustandes der Mechanik dem erkenntniskritisch interessierten Theoretiker bot, das ideale Vorbild sahen, dem alle echte Naturwissenschaft fortan nacheifern müsse, die anders gesprochen den theoretischen Zustand der Mechanik zum Range eines kate- gorischen Imperativs für die Naturforschung er- hoben. Allein dies, die Hypostasierung des theoretischen Bildes der Mechanik als das Ziel aller Naturwissenschaft, ist auch der wahre, gemeinsame Sinn aller mechanistischen Theorien. Ob die Mecha- nik nun zufällig die Wissenschaft von den Be- wegungen eines Massenpunktes oder dergleichen ist, das ist für die definitorische Erfassung der mechanistischen Theorien völlig gleichgültig. Wenn man also, wie auch Planck das in seinem be- kannten geistvollen Vortrag getan hat, die mecha- nistische Naturwissenschaft definiert als das Be- streben, alle Naturerscheinungen letzten Endes auf Bewegungen bestimmter Elemente zurückzuführen, so hat man damit wohl die Mechanik, nicht aber die Theorie des Mechanismus definiert. Für diese ist maßgebend allein das wissenschaftstheoretische logische Bild der modernen, auf Experiment und Mathematik gegründeten Naturwissenschaft, das sich historisch eben zufällig (cum grano salis ver- standen I) in der Mechanik zuerst realisiert hat. Hätte Galilei nicht die Mechanik, sondern etwa die Wärmelehre — daß das historisch möglich gewesen wäre, soll hier natürlich nicht behauptet werden — , zuerst in mathematischer Durchbildung auf Grund experimentell verfahrender Empirie ge- schaffen, so würde man heute wahrscheinlich nicht von mechanistischer, sondern von kaloristischer Naturwissenschaft sprechen. Erst wenn man die mechanistische Idee so weit faßt, versteht man einmal, wie sie in allen Naturwissenschaften aus- nahmslos, in der Physik nicht weniger wie in der Biologie, in der Psychologie ebenso wie in der Soziologie, eine so fundamentale Rolle, freilich überall in besonders typischer Form, der jeweiligen wissenschaftlichen Situation entsprechend, wie wir noch sehen werden, hat spielen können ; begreifen wir ferner auch, daß sie allen Widerlegungen zum Trotz immer von neuem ihr Haupt erhoben hat, wie in der Sage der Vogel Phönix. Beide Eigen- schaften teilt das Mechanismusproblem mit allen typisch philosophischen Fragestellungen, die eigent- lich auch prinzipiell unwiderlegbar sind. Was sich bei diesen ewig wiederkehrenden Grundfragen der Wissenschaft und des Lebens ändert, das sind nur die jeweiligen Formulierungen als der Ausdruck dessen, was den jeweiligen Zeitgeist an dem frag- lichen Problem besonders interessierte und für dasselbe typisch erschien. Worin hat nun aber diese besondere logische Struktur von Problemen, die, obschon endgültig unlösbar, dennoch notwendig sind für den Fortschritt der Wissenschaften — kann man doch in ihrer jeweiligen Lösung den typischen Ausdruck für den Charakter einer Wissen- schaft in einer bestimmten Epoche sehen — , ihren letzten Grund? Offenbar darin, daß es sich hier gar nicht um jene Art eigentlich wissen- schaftlicher Probleme handelt, die, klar und ein- wandfrei definiert, nur eine einzige bestimmte Lösung verlangen und, wenn sie diese erhalten haben, ein für allemal erledigt sind, wie es uns die meisten mathematischen Theoreme so ein- dringlich vor Augen führen. Unser Problem ge- hört vielmehr jener logischen Schicht von Pro- blemen an, die ich, da sie ja nur das ideale Ziel formulieren sollen, dem eine Wissenschaft zustreben soll, kurz Zielprobleme nennen möchte. Über Ziele kann man nun aber verschiedener Meinung sein, man kann also nicht beweisen, daß ein be- stimmtes Ziel das allein richtige, wie daß es ab- solut falsch sei. Das einzige, was mit einiger Sicherheit gesagt werden kann, ist, daß der je- weilige Zustand einer Wissenschaft heute diesem Ziele zuzustreben scheint, was aber nicht aus- schließt, daß morgen plötzlich jenes ganz ent- gegengesetzte Ziel verfolgt wird. Einen solchen plötzlichen Zielwechsel haben wir in unseren Tagen noch unlängst durch die Relativitätstheorie erlebt, die der mechanischen Theorie in der Physik fürs erste einmal wieder den Boden ent- zogen zu haben scheint. Man erkennt jedoch leicht, daß solche Ziele in der Wissenschaft unbe- dingt notwendig sind ; denn ziel- und planlos kann nicht geforscht werden, und auf dem Wechsel der Ziele beruht aller wahre sog. Fortschritt in. 786 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 50 den Wissenschaften. Versuchen wir nun einmal, uns im folgenden ein Bild zu machen von den roahnigfaltigen Zielen, die die mechanistische Idee in den modernen Naturwissenschaften verfolgen kann. Wir werden, meine ich, eine große durch- gehende Linie finden und erkennen, daß die mechanistische Idee heute gar nicht so tot ist oder tot zu sein braucht, wie vielfach angenom- men wird, wie auch, daß ihr heute gültiges all- gemeines Wesen, das aus ihren Einzeloffenbarungen in den einzelnen Wissenschaften resultiert, vid präziser formuhert werden kann, als es gemein- hin geschieht. i- Die mechanistische Idee in der Physik. -In der Physik ist die Anschauung gegenwärtig allgemein , daß die mechanistische Theorie in negativer Weise erledigt sei. Um diese Auf- fassung, namentlich auch in ihren Konsequenzen für andere Wissenschaften, richtig beurteilen zu können, wird es zunächst erforderlich sein fest- zustellen, was sie eigentUch unter „Mechanismus" verstanden wissen will. Diese Frage ist nun da- hin zu erledigen, daß in der Physik unter {Mecha- nismus diejenige Theorie verstanden wird, die für die Erklärung schlechthin aller physikalischen Erscheinungen die Prin- zipien und Grundgesetze der Mechanik maßgebend und grundlegend sein lassen will. Mit anderen Worten: Alle Prinzipien und Gesetze der Physik sind aus denen der Mechanik abzuleiten, auf sie zu reduzieren. Diese ursprüng- liche „mechanische" Form des Mechanismus ist nun bekanntlich durch die Relativitätstheorie er- ledigt worden. Die klassische Mechanik war nicht imstande, den fundamentalen Riß, der sich in der Physik zwischen der Mechanik und ihren Ab- kömmlingen und der Thermodynamik mit den ihren aufgetan hatte, zu beseitigen. Die Wider- sprüche und Unhaltbarkeiten, zu denen dieser Zu- stand, besonders in der Athertheorie, geführt hatte, sowie die mehr oder weniger endgültige Lösung des Rätsels durch die Relativitätstheorie stehen heute noch im Brennpunkt des wissenschaftlichen Interesses. Ein Eingehen darauf erübrigt sich hier deshalb. Für uns genügt hier die Feststellung, daß die alte klassische mechanistische Theorie in der Physik aufgegeben worden ist. Wie sieht aber die neue, an ihre Stelle getretene Theorie hinsichtlich ihrer logisch erkenntniskritischen Struktur aus? Eine ganz bedeutend weitergehende Mathematisierung der Physik, als der klassische Mechanismus sie zu leisten vermochte, ist das Er- gebnis. Die Physik ist, mit H i 1 b e r t zu reden, eine Wissenschalt vom Range der Geometrie ge- worden. Die empirischen P'eststellungen, die er- forderlich sind, das gewaltige Gebäude der theo- retischen Physik zu tragen, haben eine sehr wesent- liche Verminderung erfahren. Aus einer vor- wiegend empiristischen Disziplin ist die Physik auf dem besten Wege, eine vorwiegend . axioma- tische ZU- werden. Das ist meines Erachtens- der. tiefste logische Sinn der Relativitätstheorie, daß sie einen gewaltigen Fortschritt darstellt in der. Richtung des königlichen Weges der modernen Naturwissenschaft, eben dem' Prinzip ychologie. Die verschiedenartigsten Theo- reme können hier einstweilen noch nebeneinander existieren. Eine naheliegende Ausfüllung der mechanistischen These in der Soziologie wird in der Marxistischen These des sog. historischen Materialismus versucht. Ob sie sich aber so ein- wandfrei wird formulieren lassen, daß sie auch den schwerwiegenden Bedenken Stammlers u. a. gewachsen wäre, das steht einstweilen noch dahin. Für uns kann hier nur von Wert sein die Fest- stellung, daß auch der Stammlersche Sozial- idealismus sich einem soziologischen Mechanismus in unserem Sinne nicht widersetzt. Wenn es auch richtig sein mag, daß, wie Stammler meint, „der Begriff der sozialökonomischen Phä- nomene als gleichheitlicher Massenerscheinungen von äußerlich geregelten Beziehungen unter Men- schen" ^) die spezifische Struktur der soziologischen Sphäre adäquat beschreibt, so ist damit doch auch nur eine formale Gebietsabgrenzung geliefert und gegen die inhaltliche Durchdringung des so umschriebenen Gebietes gemäß den Prinzipien unseres soziologischen Mechanismus, wodurch nach unserer Meinung allein die Soziologie eine exakte Wissenschaft werden kann, noch gar nichts aus- gemacht. Gegen die hier geforderte Abbildung der sozialen Phänomene auf psychische wird Stammler vermutlich auch gar nichts einzu- wenden haben, sagt er doch selbst ein wenig später : „Es ist richtig und notwendig für erschöp- fendes Durchdenken der sozialen Betrachtung, wenn diese in ihrer letzten Bedingung auf mensch- liches Streben und Wollen gegründet wird." '') Mithin wird eine ausgebildete Psychologie des Individual- und Kollektivwillens am ehesten im- stande sein, die Prinzipien bereitzustellen, deren >) Wirtschaft und Recht. 3. Aufl. Leipzig IQM- S. 417. ■') Ebenda S. 430. f^ Naturwissenschaftliche Wachenschrift: t^. F. XDC.Ni 50 die Soziologie bedarf, um als Wissenschaft in Gang zu kommen, Dieser Satz ist hier aber mit genau den gleichen Kautelen zu genießen, wie das, was wir über die Handhabung der mecha- nistischen These in der Biologie ausführten. Es ist damit durchaus nicht gesagt, daß die Soziologie nun so lange die Hände in den Schoß legen solle, bis es der Psychologie eingefallen sei, ihre Pflichten der jüngeren Schwester gegenüber zu erfüllen. Wer will denn die Soziologie daran hindern, sich selbst die Psychologie zu schaffen, deren sie be- darf? Der gegenseitige Anschluß beider Wissen- schaften aneinander wird nach erforderlicher Rei- fung unschwer erfolgen. Nur das soll allerdings behauptet werden, daß der Ausbau der Soziologie als Wissenschaft nur auf psychologischer Grund- lage möglich ist, mag auch bis dahin, wo die Soziologie ihre Physiologie erhalten hat, noch einige Zeit vergehen. Daß endlich der soziologische Mechanismus die Verwendung teleologischer Beziehungen wo- möglich noch unbedenklicher gestattet wie der psychologische, das noch ausführUch zu begründen dürfte nach dem darüber Gesagten nicht mehr erforderlich sein. 5. Exkurs über Kausalität und T e 1 e o 1 o g i e. Wenn man mit Com tes, Planck^) u.a. der Ansicht ist, daß die fortschrittliche Entwicklung des naturwissenschafdichen Weltbildes sich in der Richtung eines immer mehr ausgemerzten An- throfiomorphismus vollzieht, dann muß sich, wenn unser bisheriges letztes Ergebnis (v. bes. § 6), das in der These der sich immer weiter aus- breitenden JMathematisierung gipfelt, richtig ist, zeigen lassen, daß diese beiden Tendenzen im Gründe identisch sind. Das läßt sich trefflich bewerkstelligen an einer kurzen Betrachtung der Begriffe Kausalität und Teleologie, sowie ihrer Beziehungen zur Mathematisierung. Ohne Frage ist die Teleologie diejenige Verknüpfungsart von Dingen und Vorgängen, die uns Menschen als zwecktätigen Wesen zunächst am gemäßesten ist. Sie ist ohne Frage anthro- pomorph in bedeutendem Maße, und zwar nicht nur in dem alten engen Sinne dieses Begriffes, der überall eine Beziehung des Teleologischen zum Menschen und seinen engen Zielen herge- stellt wissen wollte, sondern auch in der modernen, in der Biologie besonders üblichen Fassung dieses Begriffes, wonach teleologisch alles das genannt wird, was eine günstige Beziehung herstellt zu der Erhaltung der Art oder des Individuums. ^) An die Stelle des Menschen, dem zunächst nur seine eigene Erhaltung von Wichtigkeit schien, tritt fiter die Selbsterhalturig der anderen Lebe- ■*) cf. u. -a. „Acht Vorlesüngeil über theoretische Physik". Erste Vorlesung. - - - ') Vgl. Karl Peter, Die Zwcckmäfiigkeit in der Fni- wickbmgsgeschichte. Berlin 1920, bes. S. 34 — J". Wesen, die auch zum Selbstzweck erhoben wird. Ein offenbarer Fortschritt in. der Richtung einer zu erstrebenden Verminderung des Anthroporaor- phen, hervorgerufen durch die theoretische Wissen- schaft. Auch der Begriff der Kausalität ist nicht einheitlicher Natur. . Auch seine verschiedenen Ausgestaltungen von der noch ziemlich anthro- pomorphen vulgären Form bis zu der klassischen Formulierung Kants und den modernen Erörte- rungen über Kausalität und Konditionalität lassen sich leicht in eine Reihe einordnen, deren zu- nehmende Objektivierung im Sinne einer fort- schreitenden Reduktion anthropomorpher Elemente deutlich hervortritt. Aber vollkommen gereinigt und frei von diesen unerwünschten Zutaten werden die durdi die Begriffe Teleologie und Kausalität intendierten Beziehungen erst durch ihre restlose Mathemati- sierung. Nur von den aus mathematischen Glei- chungen ableitbaren und in ihnen enthaltenen Beziehungen kann gesagt werden, daß sie absolut frei von jedem Anthropomorphismus sind. Nur die Mathematik, die letzten Endes in dem Satz vom Widerspriich gründet, kann von sich sagen, daß sie ohne Änderung ihrer logischen Struktur von jedem denkenden Wesen begriffen werden könne, ganz einerlei, ob dieses auf Erden, einem Trabanten des Sirius oder im Himmel lebe. So lassen sich alle Beziehungen, durch die wir die Natur wissenschaftlich ergründen, in eine lange Reihe ordnen, an deren einem Ende der Mensch als teleologisches Wesen, an derem an- deren Ende aber die reine mathematische Welt- vernunft, d. h. die Wissenschaft in ihrer Vollendung steht. Prinzipielle, d. h. qualitative Grenzen lassen sich zwischen Kausalität und Finalität also unmöglich ziehen. Beide Beziehungsformen gehen ineinander über. Sie sind nur graduell ver- schiedene Durchgangsstufen auf dem — meta- physisch gesprochen — Wege der Menschheit zu Gott. 6. Ergebnisse. Fassen wir nunmehr die Ergebnisse unserer kurzen programmatischen Studie zusammen. Unter mechanistischer Forschung versteht man in der Physik eine Mathematisierung d. betr. Phänomene Biologie eine Physizierung „ „ „ Psychologie eine Biologisierung „ „ Soziologie e. Psychologisierung „ „ „ Aus dieser Tabelle ergeben sich eine Reihe logisch höchst interessanter Folgerungen, denen wir nun noch einmal kurz nachgehen wollen. Zunächst springt mit hinreichender Klarheit die einzigartige und geradezu, fundamentale Rolle ifi die Augen, die die Mathematik in der: modernen Naturforschung spielt, und die wir wiederholt in die Formel zu Jdeiden versuchten: Die Mathe- matik ist die Logik der modernen Na^ turwissenschaft. Ihre ganze Entwickhmg ■N. FiiXDL^NL so NaturwissenschaftEche Wochenschrift. 75« bedeutet eine; fortschreitende Mathetnatisierung. Das letzte Ziel der Naturforschung ist eine Uni- versalmathematik, eine Weltlogik, wie wir gegen- wärtig bei der Weltgeometrie angelangt sind. Die jetzt noch getrennten einzelnen Gebiete wer- den sich dann darstellen als wohldefinierte, unter- einander zusammengehörige Systeme von Glei- chungen, aus denen sich jedes Empirisma ') auf Grund einer möglichst minimalen Zahl von sog. Naturkonstanten, die in möglichst wenig Axiomen verarbeitet sind, mathematisch ableiten läßt. Übrigens ändert sich bei der fortschreitenden Mathematisierung einer Disziplin nicht nur diese selbst,. - sondern auch die Mathematik. So hat liicht nur die Physik durch die modernen Theo- rien, die sie „zum Range einer Geometrie" empor- gehoben haben, ein anderes Gesicht bekommen, sondern" auch die bisherige Geometrie, was ja schon in dem neuen Terminus der „Weltgeometrie" sich ausdrückt. So wird sich bei einer künftigen Einbeziehung der Biologie in die Weltgeometrie diese vermutlich auch noch gewaltig umgestalten müssen, Ob z. B. das Relativitätsprinzip in seiner gegenwärtigen Gestalt dann noch wird aufrecht erhalten werden können, erscheint sehr fraglich; denn die Relativitätstheorie kennt keine zeitlich irgendwie ausgezeichneten Vorgänge, die wir in der Biologie aber doch bisher noch vorzufinden gbuben. Doch wird es hier noch eingehender logischer Untersuchungen bedürfen, ehe man zu einigermaßen apodiktischen Entscheidungen in dieser Spezialfrage wird gelangen können. Aber Seihst wenn diese Unvereinbarkeit bestehen bleiben sollte zwischen Relativitätsprin- zip und Biologie, so braucht das weder die moderne Physik, noch die gegenwärtige Biologie zu beunruhigen; denn bis die Biologie mathc matisierbar geworden ist, hat es einstweilen noch gute _ Weile. Der „Newton des Grashalms" ist noch nicht erschienen. Vielleicht wird auch die Biologie keine zeitlich ausgezeichneten Vorgänge mehr kennen, wenn sie erst alles Teleologischen restlos entkleidet worden ist. Doch sei dem wie ihm wolle, die Mathematisierung der Naturwissen- schaft schreitet unverkennbar fort, sie ergibt sich mit syllogistischer Notwendigkeit aus unserer obigen Tabelle, wenn diese richtig ist. Dieser Prozeß der fortschreitenden Mathemati- sierung ist äußerlich, wie auch bereits angedeutet, leicht erkennbar, durch eine Verminderung von sog. Konstanten, Axiomen und letzten Prinzipien einer Disziplin. Sie er- weisen sich immer als gegenseitig von einer ab- hängig und mathematisch ableitbar. Nur die auf ') -Unter Empirisma verstehe ich jedes bisher nur empirisch feststellbare Phänomen, das in Wissenschaften eine Rolle spielt, afso z, B. alle so^. Konstanten -m allen Natur- wissenschaCteü.' Hingegen fasse ich die Gesamtheit aller durch die Logik, Mathematik usw. bereitgestelltea-Vcf-fabren, die . die Empirismen iu wissenschaftlichen Sätzen zusammen- fassen, also Theorien , Hypothesen , Gleichungen usw. als Theorismen zusammen. Empirismen und Theoiismen zu- sammen sind die Logismen. '■■',■.■■ ein Minimum zu beschränkenden, einstweilen noch voneinander unabhängigen Konstanten finden ihren Ausdruck in den jeweiligen Axiomen. Eben- dasselbe kann man auch anders ausdrücken, wenn man sagt, die Naturwissenschaft bewirke eine fortschreitende Verminderung der letzten unabhängigen Qualitäten (z. B. Atom, Molekül usw.), die sich als quantitativ von- einander ableitbar erweisen. Auch die von Ernst Mach mit soviel Über- zeugungskraft geforderte Reinigung der Natur- wissenschaft von metaphysischen Motiven wird durch ihre Mathematisierung bewirkt. Das erhellt sofort, wenn wir an die hierhin gehörige in § 5 geschilderte Reinigung des Kausalitätsbegriffs denken. Wenn aber Mach der Meinung war, die Reinigung zu bewirken dadurch, daß er Ver- knüpfung der Empfindungen für das Ziel der Naturwissenschaften hielt, so befand er sich in einem gefährlichen Irrtum ; denn es ist schlechter- dings nicht einzusehen, wie Empfindungen, diese unabhängigen Qualitäten par exellence, mathe- matisierbar sein sollen. Machs Lehre bringt die Qualitäten wieder in die Naturforschung hinein, statt sie aus ihr zu eliminieren. Mach hat die großen Tendenzen der Naturforschung mit seltener Klarheit geschaut und an ihrer Darstellung zu einer Zeit gearbeitet, als alle Welt derartige Be- mühungen für überflüssig und schädlich hielt. Seine Empfindungstheorie aber bedeutet einen Rückfall in Metaphysik, der darum nicht besser wird, weil es sich um den Sensualismus handelt. Die Mathematik allein ist die einzige Wissenschaft, die metaphysikfrei dargestellt werden kann. Es ist Kant nicht gelungen, die Metaphysik „in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen", und es wird auch nie gelingen. Denn die Metaphysik ist prinzipiell unwissenschaftlich, darum aber keines- wegs bloße Begriffsdichtung oder gar wertlos. Nur innerhalb der Wissenschaft hat sie nichts zu suchen. Hier ist der mathema- tische Positivismus die allein berechtigte Forschungsmethode. Was aber in der Naturwissenschaft an Metaphysischem noch unent- behrlich ist (z. B. das Teleologische in der Bio- logie), das darf daher nie vergessen, daß es hur ein Provisorium ist. Auch hinsichtlich der Definition und Ein- teilung der Naturwissenschaft hat unsere kleine Untersuchung interessante Ergebnisse ge- zeitigt. Die alte Einteilung Comtes hat sich in großen Zügen aufs neue glänzend bewährt, ob- schon sie sich, namentlich hinsichtlich der binden- den Bedeutung der Mathematik für die ganze Hierarchie auch nicht unwesentlich verändert hat. Ich habe immer wieder gefunden : Je mehr man sich in sie versenkt, desto mehr neue Gesichte zeigt sie. Sie ist eine wahrhaft geniale Glanz- leistung der Logik für alle Zeit. In unseret- Dar- stellung hat sie sich allerdings, wie gesagt, nicht unwesentlich geändert. Sie erscheint nicht töehr in der -Gestalt -eines Kegels, dessen Basis von •m Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 50 Logik und Mathematik eingenommen wifd, während auf der Spitze die Soziologie als fort- schreitende Verengerung und zugleich Vertiefung des der Basis gesteckten Rahmens hervortritt, sondern mehr in der Form einer Treppe, die von einem aus ihr selbst herausfallenden mächtigen Strebepfeiler, eben der Mathematik, getragen wird, während die einzelnen Wissenschaften zwar auf, hinsichtlich ihrer Höhenlage, verschiedenen Stufen der Treppe von dem mit dem Strebepfeiler ge- meinsamen Grunde bis zu der ebenfalls wieder den Pfeiler erreichenden Spitze Platz genommen haben, allerdings so, daß man die Spitze der Treppe nicht erreichen kann, ohne doch vorher die unteren Stufen durchmessen zu haben. Aber dennoch sind die einzelnen Stufen nicht hierarchisch von- einander abhängig, sondern im Endergebnis ein- ander demokratisch gleichwertig. Am Ende haben sie alle logisch dieselbe Struktur, sind sie dann doch sämtlich Systeme von Gleichungen. Das kommt bei Comtes nicht so zum Ausdruck. Wir können daher die Naturwissenschaften nach folgendem Schema einteilen: Geometrie und Physik (mit Mechanik, Che- \ mie, Kristallographie usw.), Biologie (mit den medizinischen Fächern, so- \i weit sie theoretischer Natur sind), Psychologie, \ Soziologie. Die Mathematik ist das sie alle umschließende Band. Die Pfeile bedeuten, daß der Weg der Mathematisierung in ihrer Richtung verläuft. Wir können nunmehr definieren: Naturwissenschaft ist alles, was entweder bereits Mathe- matik ist oder doch prinzipiell in der Lage ist, es zu werden. Ob hinwiederum ein Gebiet der Mathematisierung fähig ist, das wird dadurch entschieden, ob es der mechanistischen Forschung in unserem weiten Sinne dieses Ter- minus zugänglich ist. Das große Ganze der Wirklichkeit ist vor seiner naturwissenschaftlichen Erforschung keines- wegs, wie uns manche Philosophen glauben machen wollen, ein irrationales Chaos. Eine Ord- nung nach wenigen großen Gruppen (tote, lebende Natur, Seele) ist bereits erfolgt. Ihre Aufstellung und Scheidung voneinander ist aber lediglich nach den praktischen Gesichtspunkten des gewöhn • liehen Lebens und seiner Bedürfnisse erfolgt, wes- halb von Präzision und Wohldefiniertheit natürlich keine Rede sein kann. Dieser großen praktischen Gruppen bemächtigen sich dann die naturwissen- schaftlichen Teildisziplinen, indem eine jede be- strebt ist, ihren Ausschnitt aus der Wirklichkeit nach der ihr gemäßen Form des Mechanismus in Mathematik zu verwandeln. Das Ziel in Gestalt mathematischer, deduktiver Systeme ist überall dasselbe. Man hat wohl gemeint, daß Naturwissenschaft überhaupt möglich sei, das beruhe letzten Endes auf der Tatsache, daß das Wirkliche sich in ver- wandte Gruppen einordnen lasse, sowie daß ähn- liche Vorgänge sich überhaupt wiederholten, ja man hat diese „Tatsache" sogar zu demGrund- g e s e t z der Naturwissenschaft hypostasiert. ') Dieses „Gesetz" ist indessen ebenso überflüssig, wie widerspruchsvoll, daher keinesfalls notwendig. Es findet auch nirgends axiomatische Verwendung, es wird nur um seiner selbst willen erwähnt. Wichtige Schlüsse werden daraus nicht gezogen. Es ist einfach nicht richtig, daß die Möglichkeit der Naturwissenschaft das Dasein von Gleich- förmigkeiten zur Voraussetzung habe. Dann angenommen, die Well wäre in jedem Zeitmo- ment dt absolut anders, so müßte sich doch wenigstens ein Kriterium ausgeben lassen, nach dem diese absolute Ungleichförmigkeit festgestellt werden könnte. Damit aber wäre selbst diese Welt der Wissenschaft zugänglich und berechen- bar. Die Welt muß notwendigerweise überall von „Ähnlichkeiten" erfüllt, d. h. sie muß so sein, wie die Naturwissenschaft in ihrer Vollendung sie in- tendiert, das ergibt sich ohne weiteres aus dem Satz von Widerspruch, diesem wahrhaft letzten Prinzip der Wissenschaft. Eine absolut gleich- förmige Welt ist ebenso widerspruchs- voll wie eine absolut ungleichförmige. Man braucht diese Gedanken nur ausreifen zu lassen, um ihrer Unmöglichkeit inne zu werden. In welchem Verhältnis stehen endlich, so müssen wir schließlich noch fragen, nun die Mathematik selbst und die Logik zu der Naturwissenschaft, wie wir sie soeben definiert haben. Wenn auch alle Naturwissenschaft die Tendenz verfolgt, mathe- matische Gestalt anzunehmen und so zu einem Teile der Mathematik selbst zu werden, einem solchen allerdings, der auf irgendwelche Natur- konstanten — und seien es noch so wenige — in seinen Axiomen nicht verzichten kann, so bleibt sie darum doch Naturwissenschaft, Wissenschaft von der Natur. Wie verhalten sich zu dieser Sachlage die immensen Teile der sog. reinen Mathematik.^ Sind sie etwa auch ver- kappte Naturwissenschaft? Offenbar nicht. Denn die Naturwissenschaft, selbst die rationalisierteste, kann, wie soeben noch gesagt, einige noch so wenige empirische Bestimmungen in Form von axiomatisierten „Naturkonstan- ten" nicht entbehren. In diesem Sinne bleibt sie stets eine empirische Disziplin, obschon sie die Tendenz verfolgt, ihre rational nicht restlos erfaßbaren empirischen Bestimmungen auf ein Minimum zu beschränken. Die reine Mathematik dagegen ist von absoluter Rationalität. Sie bedarf keiner empirischen Konstanten. Ihren Axiomen liegen reine, rational völlig ausschöpf bare Defi- nitionen zugrunde. Gleichwohl steht auch die reine Mathematik im innigsten Verhältnis zur ') Man vgl. u. a. den trefflichen Aufsatz über Kausalität von M. Schlick, „Die Naturwissenschaften" Jahrg. 8, 1920, S. 462 ff., fetner W. Ostwald, „Grundlinien der anorganischen Cbeinic". J M. F. XK. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 793 Naturwissenschaft, einem Verhältnis, das einer vollkommenen Ehe, einem edelsten gegenseitigen Nehmen und Geben vergleichbar ist. Denn die Mathematik ist bis in den entlegensten zahlen- theoretischen Satz hinein mögliche Natur- wissenschaft. Ihre verschiedenartigsten Systeme von Definitionen und Glei- chungen haben logisch nur den einen Sinn, irgendwelchen naturwissen- schaftlichen Erkenntnissen einmal ihre exakte Gewandung zu verleihen oder durch Rechnung die Vertauschung eines solchen Gewandes durch ein an- deres, das theoretisch oder praktisch gerade be- nötigt wird, zu ermöglichen. Nur die mathe- matisch formulierte Natur ist die wirklich be- herrschte. Alles in allem : die Mathematik ist die wahre und wirkliche Logik der Naturwissenschaft. Weshalb Logik? Ist die Logik etwa über- flüssig für die Naturwissenschaft? Ja und nein. Nein, weil die Mathematik selbst „enorm logisch" aufgebaut ist, d. h. sich letzten Endes auch auf den Satz vom Widerspruch gründet, das Einzige in der Tat, was beide gemeinsam haben, und ferner nein für die noch nicht mathematisierten Teile der Naturwissenschaft, und zwar als Provi- sorium. Ja, unbedingt ja für die bereits mathe- matisierte Naturwissenschaft. Hier ist „die Logik" in der Tat entbehrlich und wird überall durch die weit logischere Mathematik ersetzt. An die Stelle bekannter logischer Schlußweisen, wie des Syllogismus oder der Induktion, treten hier überall mathematische Ableitungen auf Grund mathema- tischer Theoreme. Nun wird man vielleicht sagen : Aber den mathematischen Theoremen liegen auch Syllogismen zugrunde. Ebenfalls ja und nein. Nein z. B. beim Prinzip der vollständigen Induk- tion, die eine rein mathematische Schlußform ist. Ja auch nur cum grano salis. Denn nicht die Syllogismen sind es, die in der Forschung Verwendung finden, sondern ihre mathematischen Geschwister. Der Modus Barbara usw. ist nur deshalb ein so gebräuchlicher „logischer" Syllo- gismus, weil er die bedeutendste mathematische Schlußform ist. Die Logik hat ihn nur für die Bedürfnisse des praktischen Lebens, das nicht so exakte Ansprüche stellt wie die Mathematik, zu- recht gemacht, oder meinetwegen, wenn das genetisch-historische Verhältnis zum Ausdruck kommen soll, auch umgekehrt. Die Logik ist eben nur die Mathematik des gewöhn- lichen Lebens, woher es auch kommt, daß ihr traditioneller Teil ,seit dem Aristoteles immer noch keine Fortschritte gemacht hat" und sie vermutlich auch nie machen wird, weil die tradi- tionelle Logik in ihrer gegenwärtigen Gestalt für diese Zwecke des praktischen Lebens ausreicht. In diesem Sinne kann man die Logik mit Recht eine normativ - praktische Disziplin nennen. Aber nur in diesem engen Sinne, die wahre Logik ist so theoretisch, wie nur irgend möglich, und ihre Fortschritte liegen auf dem Gebiete der Mathematik, besonders auch in jenem prinzipiellen Teile, den man auch heute noch geneigt ist, als auch für die Mathematik bindend zu erklären. Gerade diese Teile erweisen sich noch einer ganz anderen Durcharbeitung fähig, als sie von den vorwiegend historisch gerichteten Logikern bisher geleistet wurde, und nehmen da- her unter den Händen der Mathematiker eine ganz andere viel klarere, d. h. eben mathematische Gestalt an, der beste Beweis für unsere Auffassung vom gegenseitigen Verhältnis von Logik und Mathematik. Die Mathematik ist die wahre Logik und die Logik nur eine Mathematik für den Haus- gebrauch und die noch nicht mathematisierten Teile der Wissenschaft. Aber auch hier hat die Naturwissenschaft die Logik seit hundert Jahren bedeutend bereichert, was in der sog. Methoden- lehre zum Ausdruck kommt. Aber auch diese ist, so bedeutungsvoll sie ist und soweit sie nicht schon zur Mathematik gehört, nur ein Provisorium. Die wahre Logik ist überall die Mathematik. Sie verkörpert die Allmacht des menschlichen Geistes und bedingt seine absolute Herrschaft über die Natur. Einzelberichte. Botanik. Vor einer geladenen Gesellschaft machte der Direktor des Botanischen Gartens und Museums zu Dahlem, Herr Geh. Oberreg.-Rat Prof. Dr. Ad. Engler, Mitteilung von der Ein- richtung einer „Zentralstelle für Nutzpflanzen". Aus seinen einleitenden Ausführungen sowie den an- schließenden Vorträgen der Herren Professoren Gilg und Graebner, die mit der Wahrnehmung der Geschäfte dieser neuen Stelle betraut sind, sei hier das folgende wiedergegeben. Trotzdem ursprünglich die Botanik in sehr engem Zusammenhange mit praktischen Aufgaben gestanden hat, ja im Universitätsbetriebe früher nur ein Anhang der Heilkunde war, ist mit dem Selbständigwerden der Pflanzenkunde diese nahe Beziehung sehr gelockert worden. Gleichwohl behält die wissenschaftliche Botanik ihre große Bedeutung für alle solche Betätigungen, die sich mit Pflanzen befassen. Das ist in der Landwirt- schaft klar erkannt, Pflanzenphysiologie und Ver- erbungslehre sind in ihren Dienst getreten. Auf anderen Gebieten ist dies nicht so. Insbesondere wird vielfach die große Wichtigkeit der syste- matischen Botanik und der in engem Zusammen- hange mit ihr stehenden Pflanzengeographie für die Praxis verkannt. Zu ihrem Schaden hat sie 794 NatuaTürfssenschaftliche Wochenschrift. --N. F. XK'. N"t. 50 oft genug der wirklich sachkuodrg-en Bestimmung ihrer Objekte nicht genügende Aufmerksamkeit gewidmet. Nur der mit großer FormenkenritnJs ausgerüstete und durch umfangreiche Herbarien und Sammlungen unterstüizte Systematiker ver- mag die Formen sicher zu bestimmen, ihre Be- nennung einwandfrei festzulegen , ihre ursprüng- liche Lebensweise zuverlässig anzugeben und so- mit der Praxis zu weiterer Arbeit genau definierte Objekte in die Hand zu geben. Erst jetzt kann diese daran gehen die Objekte genauer zu unter- suchen, Zuchtversuche zu unternehmen, Sorten auszusondern, Kreuzungen zu machen, also im einzelnen ihre technische Eignung endgültig zu ermitteln. Zur Ausübung einer solchen beraten- den und gutachthchen Vorarbeit ist das Dahlemer Museum wie kein anderes die geeignete Stelle. Unter Englers Führung ist es zu einem Mittel- punkt der systematischen und pflanzengeographi- schen Forschung geworden; ein großer außer- ordentlich reichhaltiger PfJanzenbestand in Garten and Gewächshäusern, ein riesiges Herbarium und eine umfangreiche Bibliothek sind das Rüstzeug, mit dem erfolgreich gearbeitet werden kann. Vor dem Kriege war es die „Zentralstelle für die Kolonien", die in dieser Weise segensreich für die Praxis -gewirkt hat und der zu einem nicht ge- ringen Teile das Aufblühen unserer überseeischen Schutzgebiete zu verdanken war. Trotz der einst- weilen veränderten Lage sollen die hier gesam- melten Erfahrungen und erreichten Erfolge nicht verkümmern. Doch neue Aufgaben sind, z.T. schon während des Krieges, aufgetaucht, deren Bedeutung nicht kleiner ist. Müssen wir doch infolge unserer sehr verringerten Kaufkraft trachten, so viele pflanzliche Produkte als wir irgend können, selber zu gewinnen. Für die eigentlich landwirt- schaftlichen Produkte ist dies selbstverständlich. Um diese handelt es sich zunächst auch nicht. Vielmehr sind es hauptsächlich Medizinal-, 01- und Faserpflanzen, die wir, soweit es irgend geht, auf der heimischen Scholle ziehen müssen. All- mählich beginnt sich die Industrie auch auf die neuen Aufgaben einzustellen, und damit wächst das Bedürfnis nach zuverlässiger botanischer Be- ratung. Um es zu befriedigen, ist mit Unter- stützung der Regierung und der Industrie die „Zentralstelle für Nutzpflanzfen" eingerichtet, deren Ziele und Organisation im „Notizblatt des Bota- nischen Gartens und Museums" (Nr. 69) folgender- maßen gekennzeichnet werden: „Die Tätigkeit der Zentralstelle ist so gedacht, daß möglichst von allen deutschen und hier kultivierbaren Nutz- pflanzen, soweit sie nicht schon in den landwirt- schaftlichen Versuchsstationen usw. ausgiebig stu- diert sind, vor allern von den medizinisch wichtigen, den Öl- und Faserpflanzen , sämtliche Formen vergleichsweise gezogen, in einwandfreier Form geerntet und dann in den Fabriken, den tech- nischen Forschungsstellen usw. auf ihren^ Wert für die Praxis geprüft werden sollen. Alle Formen werden ihrer Herkunft, ihrer systematischen Ver- wandtschaft nach und namentlich in ihrer sicheren Bestimmung festgelegt, um falsche Benennungen, die früher der Praxis oft riesige Geld- und Ät- beitsverluste verursachten, auszuschließen.. Um die Resultate der systematischen wie der praktischen Untersuchungen dauernd festzuhalten und nicht, wie es früher in zahllosen Fällen geschehen ist, örtliche und zeitliche Wiederholungen derselben Untersuchungen (oft mit unzulänglichen Mitteln) nötig zu machen, wird im Anschluß an das große Herbarium, die Bibliothek und die Sammlungen des Museums ein Archiv aller Nutzpflanzen und ihrer Formen, ihrer Erzeugnisse, der technischen und wissenschaftlichen Ergebnisse, der Literatur usw. angelegt." In der „Zeitschrift für angewandte Botanik" steht ein Publikatiqnsorgan zur Ver- fügung. Einige Erfahrungen und Beobachtungen der „Zentralstelle" seien kurz nach den Ausführungen der Redner wiedergegeben. Digitalis purpurea hat regional verschiedenen Alkaloidgehalt, im Schwarzwald und den Vogesen ist sie alkaloid- reicher als z. B. im Harz. Papaver somniferum kann in guter Qualität in Deutschland gezüchtet werden, doch wird vorläufig noch das Opium za teuer. Vom chinesischen Rhabarber werden eine ganze Anzahl als Stammpflanzen in. Frage korü- mender Arten und Formen kultiviert. Da der Rhabarber in Zentralasien in 2 — 3000 m Höhe wächst, hat man eine kleine Tochterpflanzung im Riesengebirge in 1200 m Höhe angelegt. Pyre- thrum cinerariifoUum, von dem das Insektenpulver stammt, wird an den sonnigen Kalkhängen des Saaletales bei Bad Kosen und an Weinbergen bd Heidelberg erfolgreich kultiviert Steinige und steile Abhänge und Böschungen in geschützter und sonniger Lage sind überhaupt für die Kultur aromatischer Pflanzen geeignet. Thymus vulgaris erwies sich als eine sehr zusammengesetzte Arl; die große Unsicherheit im Ertrag des^ Thymols ist deshalb kein Wunder. Ähnlich steht es mit der Pfefferminze. Eine Minze aus Japan ist be- sonders ölreich. Wichtig ist auch der Anbau von Kümmel, Anis, Coriander, Dill, die zum großen Teil eingeführt wurden. Von ihnen gibt es eben- falls sehr verschiedene Formen. Unzuverlässige Systematiker gaben Pinus rigida als Slammpflanze fies Pitchpine-Holzes an; angepflanzt enttäuschte sie. Keine Wunder, denn die Stammpflanze ist die bei uns 1-S. 27-58. Chemie, Über Bildung vo6. Komplexsälzen berichten E. H. Riesenfeld und H-Feld.-^) Bekanntlich ist Bariumsulfat BaSO^ das Schul- beispiel eines schwer löslichen Salzes. Seine Lös- lichkeit in Wasser beträgt nur i : 4COOOO, und sie muß , laut Gesetz der chemischen Massen- wirkung, durch Zusatz von Schwefelsäure noch geringer werden, weil alsdann ja die Konzentrar tion des Sulfations SO4" wächst. Wird die Kon- zentration der Schwefelsäure jedoch sehr groß, so tritt, im Widerspruch zu diesem Schluß, eine sehr bedeutende Vermehrung der Löslichkeit ein. 100 cm^ 90 proz. Schwefelsäure lösen ruad 3 g Bariumsulfat, d. h. die Löslichkeit ist nun- mehr etwa I : 33! Um diese auffallende Erschei- nung zu deuten, nahm man bisher im altgemeinen an, daß sich in diesem Konzentrationsbereich das saure Sulfat Ba(HS04)2 bilde, dessen Löslichkeit augenscheinlich größer als die des norrnalen Salzes sei. Diese Annahme schien gestützt durch die Isolierung einer kristallinen Verbindung von der Zusammensetzung des Bisulfates. Ist nun diese Auffassung richtig , so muß bei einer Elektrolyse der konzentrierten Lösung das Barium an der Kathode auftreten, da es ja als Ba" vorliegen müßte. Die Autoren vermuteten jedoch , daß nicht Bariumbisulfat sich bilde, sondern ein Komplex- salz. In diesem Fall müßte das Barium ano- disch erscheinen. Der in einem einfachen, recht zweckmäßig gestalteten Gefäß vorgenommene Versuch bestätigt die Annahme einer Komplex- salzbildung. Bei einem 440 Volt gespannten Strom trat eine Anreicherung von Barium im Anodenraum ein, was sich durch Analyse einer bestimmten Menge der elektrolytischen Flüssig- keit ohne Schwierigkeiten nachweisen läßt. Hin- gegen verarmte der Kathodenraum an Barium. Bei der Lösung von Bariumsulfat in konzen- trierter Schwefelsäure handelt es sich also nicht um saure Salzbildung, sondern um Bildung eines Komplexes, wahrscheinlich H2[Ba(SPi)2] (Bä^' riumsulfatt)- Säure, Ref.). Ganz ähnliche Verhältnisse liegen vor beinj Silberchlorid AgCl. Dieses löst sich, wie jedem Analytiker bekannt, schön in verdünnter Chlorwasserstoffsäure ein wenig mehr als in reinem Wasser' — wieder in Widerspruch zum Mässen- wirkungsgesetz. Noch größer ist die Löslichkeil in konzentrierter Salzsäure. Die Elektrolyse ergab wiederum eine Wande- rung des Silbers nach der Anode, wie sich durch analytische Methoden zeigen ließ. Das Silber muß also komplex gebunden sein, wahr- scheinlich als H[AgCl.j], Silberehlorwasserstoffsäure, analog dem [Ag(NH8 j^jCl, das sich beim Auflösen von Silberchlorid in Ammoniak bildet. . "H. HelLer. ') Zeitschr. f. Kleklroohemie 26, S: 34p, 1920. 796 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XIX. Nr. 50 Biologie. Die biologischen Folgen des ge- sellschaftlichen Aufstieges erörtert Ludw.Flüggen in seiner jüngst erschienenen Schrift.*) Er weist darauf hin, daß ein großer, wenn nicht der größte Teil der sozial aufsteigenden Familien in verhält- nismäßig kurzem Zeitraum erlischt. Zugleich aber gibt es Geschlechter, „die sich seit länger als einem halben Jahrtausend nachweislich in der Oberschicht behauptet haben. Auch zeigt ein Blick auf zahlreiche Stammbäume solcher bevor- zugter Familien, daß ein Aussterben durch innere Lebensschwäche oder natürliche Auslese nach keinerlei Anzeichen zu erwarten steht. Dies führt uns darauf, daß es eine Art Immunisierung geben muß, wodurch die ungünstigen Einflüsse der höheren Lebenssphäre paralysiert werden können." Welche Umstände dabei mitspielen, ist nicht leicht zu sagen, wahrscheinlich handelt es sich um gute Anpassungsfähigkeit an die Lebensbedingungen der betreffenden sozialen Schicht, obzwar der Ver- fasser glaubt, daß die innere Festigkeit gewisser Geschlechter „in der Regel nicht so sehr auf einem besonderen Maß physischer oder geistiger Kräfte, als vielmehr auf einer guten Ökonomie dieser Kräfte und ihrer richtigen Verwendung in tausend Formen" beruht. Soll die gute Ökonomie der Kräfte in einem Geschlecht Bestand haben, so wird sie m. E. wohl erbliche Grundlagen haben müssen — nicht bloß traditionsmäßige. Wenn z. B. der Einfluß metaphysischer Momente auf die Lebensführung (dem Flüggen mit Recht große Bedeutung beimißt) familienweise verschieden ist, sich aber doch in der Regel in gewissen Familien behauptet, so ist das in der erblichen psychischen Eigenart mindestens mitbegründet. Eine Untersuchung Flüggens über die im Nachwuchs zum Ausdruck kommende Bestand- kraft der deutschen Adelsfamilien ergibt, „daß der Uradel günstiger dasteht als der Briefadel. Weiter erscheinen innerhalb des Adels die Familien im ganzen als um so verwitterungsfester, je höher ihr Rang ist". Zutreffend wird als eine Ursache der starken Erhaltungsfähigkeit des Landadels der Umstand hervorgehoben, daß bei diesem der kirchliche Sinn sich viel lebendiger erhalten hat, als es unter den gebildeten Zeitgenossen sonst der Fall ist. Flügge schreibt u. a.: „Als Beispiel dafür, daß lebendige Religiosität auch hochgezüchtete (und für ihren Stand nicht sehr bemittelte) Fa- milien lebenskräftig erhalten kann, sei die Nach- kommenschaft des aus der Literaturgeschichte be- kannten, von Schiller als Frömmler angegriffenen Grafen Friedrich Leopold zu Stolberg- Stolberg an- . geführt. Der Verfasser hat aus den Gothaer Taschenbüchern nicht weniger als 130 Urenkel und 262 Ururenkel des genannten Grafen festge- stellt (letztere Zahl ist offenbar noch nicht abge- ') Die rassenbiologiscbe Bedeutung des soiialen Auf- iteigens und das Problem der immunisierteo FainilieD. Göt- liogCD 1920, Vandeohoeck & Ruprecht. schlössen), während man nach der für das Ge- samtvolk, einschließlich der Ausgewanderten, geltenden durchschnittlichen Vermehrung etwa 40 Urenkel und 135 Ururenkel, nach dem Durch- schnitt jener bevorzugten Kreise aber etwa nur 7 Urenkel und 13 Ururenkel hätte erwarten dürfen. In Wirklichkeit wird die Deszendenz des Grafen sogar noch etwas zahlreicher sein." In bezug auf die Bestandsfähigkeit der bürger- lichen Bevölkerung glaubt Flügge feststellen zu können, „daß die städtischen Patrizier und bevor- zugten Bürger an Lebenskraft der Familien den Durchschnitt der übrigen Stadtbewohner zum Teil mäßig, zum Teil ganz bedeutend übertreffen. Andererseits dürfen wir bei dem anscheinend gänzlichen Aussterben des Patriziats mancher Städte, z. B. des ursprünglichen Patriziats von Lübeck, annehmen, daß bei den germanischen Völkern die Lebensdauer des ländlichen Adels auch von den bestimmunisierten Stadtfamilien im allgemeinen nie erreicht wird." Doch stützt sich der Ver- fasser bei seinen Betrachtungen über das Bürger- tum nur auf das Erlöschen von Familien im Man- nesstamm, das jedoch kein Aussterben be- deutet, denn bei jeder Einzelfamilie werden im Verlaufe der Zeit einmal nur Mädchen geboren werden. Unter den Gegenwartsverhältnissen wird allerdings tatsächliches Aussterben von Familien infolge willkürlicher Geburtenverhindernng und Unfruchtbarkeit nach Geschlechtskrankheiten viel häufiger werden als es vordem war. Beide Um- stände werden aber wahrscheinlich auch dahin wirken, daß die bisherigen Unterschiede in der Nachwuchszahl der sozialen Schichten erheblich verringert werden. Zweifellos ist, daß die Menschen, die sich aus den traditionellen Verhältnissen ihrer Familien herausbegeben, namentlich aber die aufsteigenden, mehr Gefahren ausgesetzt und namentlich in der Familiengründung mehr behindert sind, als die, welche ruhig in ihrer Umwelt verharren, auch wenn diese materiell nicht gerade vorteilhaft ist. Aber jenen, die eine sozial bevorzugte Stellung in der Gesellschaft zu erlangen vermochten, bietet sich andererseits wieder größere Sicherung des Nach- wuchses. H. Fehlinger. Die Fruchtbarkeit der christlich-jüdischen Misch- ehe. Eine auf Grund statistischen Materials fest- stehende unverhältnismäßig hohe Ziffer von kinder- losen und kinderarmen christlich jüdischen Misch- ehen könnte glauben lassen, daß diese Erscheinung der Ausdruck natürlicher Minderfruchibarkeit sei, wie sie vom Referenten für weit voneinander differenzierte Menschheitszweige nachgewiesen wurde und im Tierreich häufig zu beobachten ist. Ihre Ursache ist vermutlich darin zu suchen, daß Spermien einer Tierform nicht oder doch nicht stets durch die Membranen der Ova einer anderen Form eindringen können. Auch vermag Dis- harmonie der Erbfaktoren die Entwicklung eines N. f. X0(. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 797 befruchteten Eies zu verhindern. Auf Grund psychologischer und soziologischer Untersuchungen und kritischer Bewertung der Statistik gelangt Max Marcuse') zu dem Resultat, daß die Minderfruchtbarkeit christlich-jüdischer Mischehen nicht so sehr auf Rassenkreuzung beruht, als viel- mehr sozial und psychisch bedingt ist. Es kommt unter anderem in Betracht, daß sich unter ihnen ein größerer Prozentsatz ju nger und im physio- logischen Sinne noch nicht abgeschlossener Ehen befindet, als es sonst der Fall ist. Im Jahre 1914 hat im Deutschen Reich die Zahl der Ehe- schließungen insgesamt ab-, und dennoch die- jenige der Mischheiraten z u genommen. Es ist ohne weiteres klar, daß unter solchen Bedingungen ein zu Ungunsten der Mischehen- Fertilität ver- schobenes Bild entstehen muß, wenn die statistisch erfaßte Kinderzahl der Mischehen mit der G.eburt- lichkeit aus der Gesamtheit der Ehen ohne Diffe- renzierung nach der Ehedauer verglichen wird. In der Statistik werden ferner die Fälle, in denen ein andersgläubiger Gatte zur Religion des anderen vor oder während der Ehe übergetreten ist, nicht zu den Mischehen gezählt. Das ist von besonderer Bedeutung, weil die Wahrscheinlichkeit des Übertritts annähernd mit jedem neuen Kinde steigt, der Kinderzahl demnach so ungefähr proportional sein dürfte und auf jeden Fall bei und während der Kinderlosigkeit am ge- ringsten ist. Auch sonstige Mängel der statisti- schen Methode führt Marcuse an. Gegen die Annahme einer Unterfruchtbarkeit der Ehen von Christen und Juden in unserer ') Abhandlungen aus dem Gebiet der Sex.-Forschung, Bd. 2, Heft I : Die Fruchtbarkeit der christlich-jüdischen Mischehe. Bonn 1920, Marcus & Weber. Zeit spricht die starke Vermehrung der letzteren auf europäischem Boden, die auch schon in ver- gangenen Jahrhunderten von verhältnismäßig starker Vermischung mit den Wirtsvölkern be- gleitet war. Überdies ist von den gegenwärtigen Mischehen ein großer Teil sehr kinderreich. Am meisten beeinflußt wird die Geburtenzahl der christlich jüdischen Mischehen wahrscheinlich durch die Stellung der betreffenden Menschen zu religiösen Grundsätzen. Sowohl die christlichen Religionen, wie die jüdische Religion stehen dem Willen zur Fortpflanzungsverhüiung entgegen, während Personen, die aus dem kirchlichen Ideen- kreis herausgetreten sind, wie die meisten Misch- ehenpariner, in bezug auf die Fortpflanzung von rationalistischen Erwägungen geleitet werden. „Fortschreitende Entfernung vom Glauben und Dogma und die zunehmenden Bedenken gegen unbeschränkten Kindersegen sind einander koor- dinierte psychische Vorgänge." Damit stimmt überein, daß auch in Ehen von Angehörigen ver- schiedener christlicher Bekenntnisse die Kinder- zahl auffallend klein ist. In der Würzburger Poli- khnik wurde ermittelt, daß in 77 "/o der katho- lisch-evangelischen Ehen Prävention Brauch war, aber nur in 73 "/(, der evangelischen und 64 "/o der katholischen Ehen. In Betracht kommt dann noch, daß die christlich -jüdische Ehe fast ganz auf die großen Städte beschränkt ist, wo sowieso die Prävention am weitesten verbreitet ist, sowie daß die meisten dieser Ehen Spätehen sind, sie umfassen zu einem guten Teil eine bereits durch verminderte weibliche Fruchtbarkeit ausgezeichnete Lebensperiode. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerungsschichten, in denen Mischehen am häufigsten sind, spielen gleichfalls eine be- deutende Rolle. H. Fehlinger. Bücherbesprechungen. Steinach, Prof. Dr. E., Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der alternden Pubertätsdrüse. Mit 7Textabb. und 9 Tafeln. Berlin 1920, J. Springer. 28 M. Die Entwicklung der körperlichen und psychi- schen Sexualmerkmale hängt von einem bio- chemischen Einfluß ab, der von den Keimdrüsen ausgeht. S t e i n a c h nimmt an, daß das Z wi schen- gewebe der Keimdrüse, nicht die generativen Ge- webe selber der Bildungsort für die die Sexus- zeichen beherrschenden Stoffe ist. Diese als Hor- mone zu bezeichnenden, nach innen in den Körper ausgeschiedenen Substanzen werden zuerst wirk- sam während der Pubertätsperiode. Der Verf. leitete diese Auffassung aus seinen Transplan- tationsversuchen ab, die auch in der Naturw. Wochenschr. mehrfach besprochen wurden. Die Sexualhormone halten aber auch den entwickelten Organismus auf der Höhe seiner Leistiujgsfähigkeit, indem sie dauernd abgesondert werden; läßt diese Inkretion nach oder erlischt sie schließlich, so soll dies die Ursache des Alterns und zuletzt des Greisentums sein. Gelänge es, meint nun Steinach, die nachlassende oder be- reits sistierte Absonderung der Hormone wiederum zu erwecken, so müßten sich auch die Erschei- nungen des Seniums rückgängig machen, der Or- ganismus also verjüngen lassen. Über solche, bereits vor einer Reihe von Jahren eingeleiteten Versuche berichtet nun der Verf. in diesem Hefte, das einen Sonderdruck aus dem Wilhelm Roux' gewidmeten Festbande des Archivs für Entwick- lungsmechanik darstellt. Er arbeitet wiederum mit Ratten. Diese Tiere leben etwa 30 Monate. Die ersten Spuren des Alterns zeigen sich etwa im 18. Monat. Das ausgeprägte Greisenalter äußert sich abgesehen von dem allgemeinen Ver- halten der Tiere in Haarverlust an bestimmten Stellen, Gewichtsverminderung, Abnahme und schließlichem Erlöschen der Libido und der Po- 798 Naturwissenschaftliche Wochenschrih. N. F. XIX, Nn 50 tenz. Bei nicht zu weit fortgeschrittenen Verfalis- erscheinungen setzt nun der Versuch ein, sie rückgängig zu machen. Er besteht im Prinzip darin, die inkretorisch tätigen Elemente zu neuer Wucherung anzuregen. Als Mittel dazu werden angegeben: Bestrahlung der Keimdiöise, Behand- lung derselben mit Chemikalien und Unterbrechung ihrer Ausführgänge. Nur das letztere bewährt sich, der Verf. durchschneidet die Samenkanäle zwischen Hoden und Nebenhoden nach Laparatomie oder nach Inzision ins Skrotum. Im folgenden wird nun die Wirkung dieser Operation an einer freilich recht kleinen Zahl kritisch vorher geprüfter Rattengreise ausführlich geschildert. Sie ist erstaunlich. Die Tiere werden munterer, mutiger, freßlustiger, schwerer, die kahlen Stellen bedecken sich mit jungem Haarwuchs, Libido und Potenz stellen sich nicht nur wieder her sondern werden z. T. zur Raserei gesteigert. Diese neue „Jugend" hält Mo- nate an, bis sich Anzeichen eines zweiten Greisen- alters zeigen, die dann zum Tode führen. Dieser tritt bei merkwürdig guter körperlicher Verfassung unter den Zeichen eines schweren psychischen Marasmus ein. Ob auch die Lebensdauer ver- längert ist, darüber äußert sich der Verf. noch vorsichtig. Jedenfalls ergeben die Versuche da keinen eindeutigen Anhalt. Einseitige Operation war ebenfalls erfolgreich, die Wirkung äußerte sich dann auch in einer erneuten Produktion von Sperma im anderen Hoden, so daß das betreffende verjüngte Tier normalen Nachwuchs erzeugte. Über die übrigen Versuche wird nur summarisch referiert, dabei ist auch von erfolglosen sowie ab- weichend verlaufenden die Rede. Vielen werden diese nur wenige Zeilen umfassenden Bemerkungen unerwünscht kurz erscheinen. Ahnlich zusammen- fassend wird dann über eine zweite Methode be- richtet, die darin besteht, daß Keimdrüsen von jungen Tieren alten implantiert wurden. Der Verf. ließ sie subkutan auf der Bauchmuskulatur anwachsen. Die implantierten Drüsen zeigten unter Schwund ihres generativen Gewebenanteils eine starke Wucherung des übrigen und stellten nun nach dem Autor reine Pubertätsdrüsen dar. Diese Methode scheint primär nicht so wirksam zu sein, wenigstens berichtet der Autor darüber nichts. Er kombiniert sie mit der oben erwähnten, indem er sie erst beim Abklingen der Wirkung jener zur Anwendung bringt. Dabei beobachtet er ein erneutes Aufflammen der Jugend. Gleich erfolgreich ist diese Methode von dem Chirurgen Lichtenstern auch bei Patienten angewandt worden, die infolge Verlust, Erkrankung oder Unterentwicklung der Testikel einem vorzeitigen Senium zustrebten. Bei Weibchen hat Verf. analog erfolgreiche Ergebnisse wie bei den Männchen durch Operationen im Keimdrüsengebiet selber nicht erzielen können, dagegen hatte die Implan- tation junger Orarien Erfolg, wie an zwei Fällen ausführlich berichtet wird. Die also verjüngten Weibchen wurden nach vorheriger langer Sterilir t4lsperiode wieder fruchtbar. .. J ' - Auf die Anregung des Verf.s hin hat Lichten- stern bei geeigneten Anlässen die Unterbindung der Vasa deferentia auch beim Menschen vorge- nommen. Die Erfolge, die den an Ratten erzielten analog sind, sind aus den drei ausführlichen Krankengeschichten zu entnehmen, die der Verf in das Schlußkapitel aufgenommen hat. Es ist hier nicht der Ort, die Versuche, die ja in der breiten Öffentlichkeit großes Aufsehen er- regt haben, kritisch zu erörtern. Zweifellos ist physiologisch noch manches dunkel, auch ana- tomisch noch nicht alles unbestritten. Vor allem kann man nicht im eigentlichen Sinne von Ver- jüngung reden. Wie weit die Anwendbarkeit der Erfahrungen auf die menschliche Heilkunde reichen wird, muß die Zukunft lehren. Jedenfalls steht, wie gewöhnlich, der Lärm in der Tagespresse in keinem Verhältnis zu dem Umfang des bisher sichergestellten. Miehe. Molisch, Dr. Hans o. ö. Professor und Direktor des pflanzenphysiologischen Institutes an der Universität Wien, Populäre biologische Vorträge. Mit 63 Abb. im Text. Jena 1920, Verlag von Gustav Fischer. 16 M. „Klarheit ist die Höflichkeit derer, welche öffentlich reden" setzt Mol isch seinen Vorträgen als Motto voran. Wer andere gemeinverständliche Arbeiten des Verf.s kennt, weiß, daß er ein höf- licher Mann ist, und wer nichts von ihm kennt, wird bei der Lektüre der „Vorträge" nicht nur die „Höflichkeit" des Verf.s wahrnehmen, sondern auch finden, daß er, z. B. in den Reiseskizzen aus China und Japan, in der Wanderung durch den javanischen Urwald und in dem Vortrag über Goethe als Naturforscher Töne anzuschlagen vermag, die jedem belletristischen Schriftsteller zur Ehre gereichen würden. — Auffällig ist, daß bei Molisch die Chinesen, im Vergleich mit den Japanern, etwas schlecht wegkommen; er betont besonders den Mangel an Sinn für Naturwissen- schaften bei diesem Gartenbauvolk, was vielleicht insofern richtig ist, als die Intellektuellen, die durch die europäische Zivilisation noch viel weniger als die Japaner beeinflußt sind, sich vorwiegend in den Geleisen altchinesischer Geisteskultur be- wegen und noch keine Zeit gefunden haben zu naturwissenschaftlichen Studien, deren Ausbau in den westlichen Kulturländern Hand in Hand mit der industriellen Entwicklung ging. Wer aber z. B. das lesenswerte Buch von G. E. Simon „La cite chinoise" kennt, ist erstaunt über das hohe Kulturniveau der Chinesen, die es verstehen, durch künstliche Bewässerung und Düngung ihr Land in einen Garten zu verwandeln und eine so intensive Bodenausnutzung zustande bringen, wie wir sie in Europa nur in den Gärtnereien finden. In den Dörfern finden wir Pagoden, die als Ver- sammlungsorte dienen, als Theater für Wander- schauspieler oder als Bibliotheken für den. allge- meinen Gebrauch. Die modernen- Bestrebungen in- Europa, eine Vereinigung von -Geistgskultut N. F. XiX. Nr. 50 Matunvissenschaftliche Wochenschrift. 1'^ und Landbau in Siedlungen außerhalb der Städte mit ihrem Lärm und ihrer Hast zu schaffen, sind also in China seit Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden, verwirklicht, und es wäre sonder- bar, wenn ein solches Volk keinen Sinn für an- gewandte Naturwissenschaften haben sollte. Es ist sehr bedauerlich, daß gerade der Verf. als Autorität auf dem Gebiet der gärtnerischen Botanik keine Gelegenheit hatte, die Angaben Simons, die schon Jahrzehnte zurückliegen, nachzuprüfen und zu ergänzen, wodurch unsere Kenntnis des vielleicht interessantesten Landes der Erde wesent- lich bereichert worden wäre. — In den übrigen Vorträgen des Verfs begegnen die wissenden Leser vielen alten Bekannten : dem Warmbad in der Pflanzentreiberei, dem Erfrieren der Pflanzen, der Herstellung von Photographien in einem Laub- blatt usw. Sehr hübsch ist die Zusammenfassung mancher Erscheinungen unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt; so werden in dem Vortrag über die „Verwertung des Abnormen und Pathologischen in der Pflanzeiikultur" die Panaschierung der Biälter, das Etiolement, die Trauerbäume, die japanischen Zwergbäumchen , die Verbänderung, die Parthenokarpie und die Durchwachsung er- örtert und in dem Vortrage „Botanische Para doxa" — nach dem Vorbilde W. Stampsons „Paradoxes of nature and science" — werden Er- scheinungen besprochen, die mit der täglichen Er- fahrung in Widerspruch zu stehen scheinen. M o - lisch zeigt, wie man durch mehrere Zentimeter dickes Holz Luft, Leuchtgas und Tabakrauch hindurchschicken kann, daß ein in Wasser ge- tauchter Sproßgipfel welk werden, daß das Wachs- tum durch Kälte angeregt werden kann usw. und das Alles, ohne in den F"ehler mancher Autoren, die für das große Publikum schreiben, zu verfallen, die Tatsachen sensationell „aufzumachen" oder durch gelehrte Terminologie zu verwirren oder zu ermüden. Die Vorträge seien allen denen empfohlen, die Freude an der Biologie haben und denen „Wahrheit und Klarheit" in der populär- wissenschaftlichen Literatur mehr gelten als dunkle Spekulationen. Wächter. Bürger, Prof. Dr. Otto, Chile als Land der Verheißung und Erfüllung für deutsche Auswanderer. Eine Landes- und Wirtschafts- kunde. Mit einer Karte. Leipzig 1920, Diete- rich. 21 M. Der Verf. hat 8 Jahre lang in Chile gelebt und während der Zeit das Land sehr eingehend kennen gelernt. Das merkt man auf jeder Seite dieser bei aller Knappheit doch außerordentlich reichhaltigen Darstellung. Der Verf. hat es mit sehr großem Geschick verstanden, alle für die Charakterisierung des Landes wichtigen Momente heranzuziehen und dabei doch jede dem Zweck abträgliche^ Breitschweifigkeit zu vermeiden. Der Schwerpunkt ruht, trotzdem der Verf. Naturforscher isV-aüt-4em wirtschaftlichen Teil. Nach -einem- allgemeinen "Teil werden die einzelnen Pro- vinzen und Städte nach ihrer wirtschaftlichen Seite geschildert unter Benutzung instruktiven statisti- schen Materials. Besonders ist überall dem deut- schen Element in der chilenischen Bevölkerung und Wirtschaft Beachtung gezollt, und der Schluß ist einer ausführlichen Schilderung der deutschen Kolonisation in Chile gewidmet, woran sich dann eine Diskussion der gegenwärtigen Einwanderungs- aussichten schließt. Trotzdem der Verf. vorsichtig urteilt und bei aller Sympathie für Chile dem Lande kritisch gegenübersteht, redet er einer weiteren Einwanderung Deutscher das Wort, was ja aus dem oben angegebenen Untertitel seines Buches hervorgeht. Beherzigenswert ist seine Kritik an gewissen Fehlern der Deutschen im Ausland, an der dunkle Kneipen liebenden Ver- einsmeierei und vor allem an dem das Gemein- samkeitsgefühl schädigenden Parteihader, wie er z. B. in der Form des konfessionellen Haders in der deutschesten Provinz Chiles, Llanquihue, ge- schürt durch unverständige religiöse Eiferer, so unheilvoll wirkt. Auch die Natur kommt nicht zu kurz. Mit einer glücklichen Gabe für anschau- liche Darstellung gelingt es dem Verf. durch wenige charakteristische Striche die verschieden- artigen Gegenden des langgestreckten Landes zu schildern. Desgleichen werden die politischen Zu- stände, die Geschichte, die ethnographischen Ver- hältnisse nicht vergessen. Es ist ein hübsches Buch, an dem auch der Freude haben wird, der sich nicht mit Auswanderungsabsichten trägt. Miehe. Wollenweber, Dr. H. W., Der Kartoffel- schor f. Aus : Arbeiten des Forschungsinstitutes für Kartoffelbau. Heft 2. 102 ff mit i schwarzen und I farbigen Tafel, sowie 1 1 Textabbildungen. Berlin 1920, Paul Parey. Unter der Bezeichnung Schorf wird im allge- meinen eine ganze Anzahl von Erscheinungen zu- sammengefaßt, die meist nach dem Vorgange von Frank und Krüger rein morphologisch als Flach-, Buckel-, Tiefschorf usw. unterschieden wurden, ohne daß man damit ihrem Wesen irgend- wie näher kam. Das Bild des Schorfes kommt durch eine krustenariige Gewebeschicht auf dem betreffenden Pflanzenteil zustande, wobei Verf.' die Definition zugrunde legt, daß sich die Schorf- kruste auf verletzter Haut der Pflanze befindet und nur eine begrenzte Vermehrung oder Zerstörung von Zellen im Bereich der Kruste stattfindet. So werden die durch das schwarzbraune Dauermyzel des Fadenpilzes Rhizoctonia hervorgerufenen „Pocken" (oder Grind) der Kartoffeln, da sie mit dem Fingernagel abwischbar sind, ohne eine Haut- verletzung zu hinterlassen, ebenso wie die durch den Kartoffelkrebs (Synchytrium endobioticum) hervorgerufenen starken Wucherungen an den Knollen nicht unter den Begriff des Schorfes ge- faßt. Es werden aber auch diese wie überhaupt alle schorfähnlichen Erscheinungen besproehefh- Es handelt sich also bei dem Schorf in ' vorliegender 8oo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XDC. Nr. 50 Fassung um Wunden, deren vollständige Schließung infolge von Gewebebiidung von den Wundrändern aus durch in den Wunden anwesende Schorf-Er- reger verhindert wird, wobei durch hinzukommende Fäulniserreger größere Verluste im Winterlager entstehen können. Sonst ist im allgemeinen der Materialverlust der Kartofifeln durch Schorf nicht groß, wesentlich ist allerdings der Mehrabfall beim Verbrauch. Es werden die einzelnen Schorferreger ein- gehend untersucht, die Literatur gründlich be- sprochen und von den Erregern wie den durch sie hervorgerufenen Krankheitsbildern vorzügliche zum Teil farbige Abbildungen gegeben. Das gilt besonders von dem Schorf, der durch Strahlenpilze (Actinomycetes) hervorgerufen wird, jene den Bak- terien nahestehenden Mikroorganismen, die durch sehr feine nur etwa 0,0003 his 0,0006 mm dicke verzweigte Myzelfäden und Ketten von kugligen bis ovalen Sporen ausgezeichnet sind und die bis- her hauptsächlich als Ursache der Aktinomykosen beim Menschen (Haut- oder Knochenwucherungen besonders am Kiefer) besonderes Interesse erregten. Verf. fand, daß bei uns die Aktinomyzeten die häufigsten Schorferreger an Kartofifeln sind. Er vermochte 4 neue als solche anzusprechende Formen aus schorfigen Knollen zu isolieren. Daß dieselben tatsächlich Parasiten sind, ließ sich allerdings nicht ohne weiteres nachweisen, da durch Infektion von freien nicht wachsenden Knollen kein typisches Schorfbild zustande kam, ein solches konnte nur bei wachsenden im Boden befindlichen Kartoffeln erzielt werden. Von den durch den Fadenpilz Rhizoctonia hervorgerufenen Erscheinungen ist der an den Knollen auftretende Runzelschorf (auch Grind oder Pocken genannt) als Knollenkrankheit weniger wichtig, in erster Linie kommt der Pilz als Fuß- krankheit der Kartoffelpflanze in Frage, indem er bei akutem Auftreten die unterirdischen Triebe abtötet, bei chronischem Verlauf die unterirdischen Teile mit vegetativen braunen Fäden oder die Stengelbasis mit einem weißen die Basidiosporen tragenden Myzel (Hypochnus) überzieht. Es kommt so zu einer Beeinträchtigung des Saftstromes, der Blatt- und Knollenbildung, zu Erscheinungen, die häufig mit der Blattrollkrankheit verwechselt wurden. Wesentlich ist, daß Verf. auch an Be- legmaterial für die als besondere Form der Blatt- rollkrankheit beschriebene Bukettkrankheit die unterirdischen Teile aller Pflanzen durch Rhizoc- tonia befallen fand, die überhaupt in dieser Form des Auftretens eine viel größere Rolle zu spielen scheint, als man bisher annahm. Der durch den Schleimpilz Spongospora sub- terranea hervorgerufene in Norwegen häufige Schwammschorf scheint an besondere klimatische und Bodenverhältnisse gebunden zu sein und ist bei uns nur von geringer Bedeutung. Des weiteren werden außer einem Bakterien- schorf, einer durch den Pilz Phoma eupyrena her- vorgerufenen Krankheit, dem durch Synchytrium endobioticum verursachten Kartoffelkrebs sowie nichtparasitären schorfähnlichen Erscheinungen eine Anzahl durch tierische Parasiten veranlaßte Krankheitsbilder untersucht. Hinsichtlich der Beziehungen der Lentizellen zum Schorf kommt Verf. zu dem Schluß, daß Schorfwarzen an beliebigen Stellen der Knolle entstehen können und in ihrem Ursprung nicht auf die Lentizellen angewiesen zu sein scheinen. Für die Bekämpfung des Schorfes ist es wesent- lich , daß die Aktinomyzeten sehr empfindlich gegen Säuren sind. Als wichtigstes Bekämpfungs- mittel kommt auch hier, wie bei vielen Pflanzen- krankheiten, die Auswahl schorffester Sorten in Frage, deren Verf. eine Anzahl aufführt. Burret. Literatur. Bavink, Dr. B., Einführung in die anorganische Chemie. Mit 31 Textabbildungen. .,Aus Natur und Geisteswelt." Leipzig und Berlin '20, B. G. Teubner. Rehmke, Prof. Dr. J., Die Seele des Mensehen. 5. Aufl. Ebenda. Schroeder, H., Die Stellung der grünen Pflanze im irdischen Kosmos. Berlin '20, Gebr. Borntraeger. 8 M. Riesling, H. v., Rund um den Libanon. Leipzig '30, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung. 9 M. Hofmann, A., Die odische Lohe. Pfullingen i. W., J. Baum. Bürger, Prof. Dr. O., Chile. Eine Landes- und Wirt- schaftskunde. Mit einer Karte von Chile. Leipzig '20, Dieterich. 21 M. France, R. H., Die Pflanze als Erfinder. Stuttgart '20, Franckh. 3,60 M. Weil, Dr.-Ing. L., Neue Grundlagen der technischen Hydrodynamik. Mit 133 Textabb. München u. Berlin '20, R. Oldenbourg. 26 M. Domo, Prof. Dr. C. , Klimatologie im Dienste der Medizin. Braunschweig '20, F. Vieweg. 5 M. Goldscbmidt, Prof. Dr. R., Einführung in die Ver- erbungswissenschaft in zwanzig Vorlesungen für Studierende, Ärzte, Züchter. 3. neubearbeitete Aufl. Mit 178 Textabb. Leipzig '20, W. Engelmann. 44 M. Abel, Prof. Dr. O. , Lehrbuch der Paläozoologie. Mit 700 Textabb. Jena '20, G. Fischer. 40 M. Wachs, Dr. H., Entwicklung und Gestaltung. Mit II Textabb. Freiburg i. B. 20, Th. Fisher. 2,40 M. Guenther, Prof. Dr. R. , Heimatlehre als Grundlage aller Volksenlwicklung. Ein Programm für den Wiederaufbau. Ebenda. 2,50 M. Naturwissenschaftliches Jahrbuch I. Band. Sonderausgabe von „Natur und Technik". Züiich '20, Rascher & Co. Inhalt: A. Meyer, Die mechanistische Idee in der modernen Naturwissenschaft. S. 785. — Einzelberlcbte : Zentral- stelle für Nutzpflanzen. S. 793. H. Winkler, Pflanzenphysiologische Bibliographien. S. 795. E.H. Riesenfeld und H. Feld, Bildung von Komplexsalzen. S. 795. L. Flüggen, Biologische Folgen des gesellschaftlichen .\ufslieges. S. 796. M. Marcuse, Die Fruchtbarkeit der christlich-jüdischen Mischehe, S. 796. — Bücber- besprecbungen : E. St ein ach, Verjüngung durch experimentelle Neubelebung der alternden Pubertätsdrüse. S. 797. H. Molisch, Populäre biologische Vorträge. S. 798. O. Bürger, Chile als Land der Verheißung und Erfüllung für deutsche Auswanderer. S. 799. H. W. Wollen web er, Der Kartoffelschorf. S. 799. — Literatur: Liste. S. 800. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena, Druck der U. Pttz'acben Bucbdr. Lippert & Co G. m. b, H,, Naumburg a, d. S, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 19. Band; der ganzen Reihe 35. Band. Sonntag, den 19. Dezember 1920. Nummer 51. Über Giftspinnen. (Nach einem Vortrag, gehalten am 6. August 1920.) Von Ulrich Hintzelmann. [Nachdruck verboten.] Unter den Arthropoden sind — außer einigen parasitischen, stechenden und therapeutisch ver- wendeten Insekten und Krebsen — die Spinnen- tiere oder Arachnoidea für den medizinischen Bio- logen wohl die wichtigsten Vertreter. Abgesehen von ihrer durch die Homöopathie und Volks- medizin statthabenden Verwendung als Heilmittel, interessieren sie uns besonders als krankmachende Tiere. Von den fünf Ordnungen der Arachnoidea kommen für uns hier nur die Gliederspinnen oder Arthrogastres und die echten Spinnen (Sphaero- gastres, Araneina) in Frage. Von den Gliederspinnen sollen uns ein Ver- treter der Walzenspinnen, von den echten Spinnen die zu den Tetrapneumones gehörige Vogelspinne und einige Vertreter der Dipneumones be- schäftigen. Die Kenntnis der Giftspinnen und der durch Spinnenbiß hervorgerufenen Erkrankungen reicht bis ins Altertum zurück. In allen ans Mittelmeer stoßenden Ländern kommen Spinnen vor, die dem Menschen und den Haustieren gefährlich werden können. Es ist daher wohl anzunehmen, daß die Angaben der Alten sich auf Tiere beziehen, die auch heute noch dort leben und sich zeitweise unangenehm bemerkbar machen. Schon Xenophon berichtet in seinen Me- morabilien ') von heftigen Schmerzen, die nach dem Biß einer Gruppe von Spinnen entstehen, die er unter dem Namen Phalangien zusammen- faßt. Aristoteles (384—322 v. Chr.) 2) nennt neben einigen anderen vor allem eine kleine buntgefleckte Spinne „Psylla", die höchstwahr- scheinlich als Lathrodectesart zu deuten ist. Nikander") spricht von der Spinne „Rhox", für die er Krankheitssymptome angibt, welche auf den Lathrodectesbiß passen. Aulus Cornelius Celsus*) nennt neben dem Schlangengift auch gewisse Jagdgifte (quaedam venatoria venena), deren sich die Gallier be- dienten. Auch kennt er die Wirkung und Be- handlung der Spinnenbisse. Es dürfte daher die ') Liberi, cap. 3. Ausgabe von Sauppe (Leipzig 1866), S. 18. ') Historia anim. IX, 39. ä) 2. Jahrh. v. Chr. in seiner Theriaca. *) A. C. Celsi de medicina libri octo cum notis inte- gris ed.Th.J.abAImeloveen (Basileae 1748) S. 309— 312. Deutiing der Jagdgifte als Spinnengifte wohl wahrscheinlich richtig sein. Auch der Pharmakologe des Altertums, Pedanios Dioskorides {'J^ v. Chr.), spricht in seiner berühmten Materia medica') von der krankmachenden Wirkung des Spinnenbisses. Ober die Therapie des Spinnenbisses finden sich Angaben — außer bei den oben genannten Schriftstellern — vor allem bei Claudius Galen OS*) und später bei Constantin von Afrika.") Außer diesen sei noch der berühmteste von den späteren arabischen Autoren, der Perser Ibn Sina oder Avicenna genannt, der ausführliche Mitteilungen über Giftspinnen, Spinnenbiß und seine Heilung macht. Eine große Reihe späterer Autoren übergehe ich, die alle mehr oder minder richtige, später vervollständigte Beobachtungen über Lathrodectes- arten, Taranteln und deren Biß mitteilen. Ich wende mich jetzt dem 17., 18. und 19. Jahr- hundert zu und hebe auch hier wiederum die wichtigsten Autoren hervor. Ulisses Aldrovandi*) erkennt wohl als erster, daß der Biß der kleinen Tarantel keine große Bedeutung hat. Er bekämpft die Angaben über den damals weit verbreiteten Glauben an den Tarantismus. Spätere Schriftsteller stimmten — abgesehen von einigen Rückfällen — dem Aldrovandi bei auf Grund ihrer Beobachtungen an Gebissenen. Es fehlte nur noch das absichtliche Experiment zur definitiven Klärung dieser alten Streufrage. Dies wurde zuerst von Baglivi*) an Tieren ausgeführt. Ein neapolitaner Arzt Sanguinetti, welcher nicht an den Tarantismus glauben wollte, ließ sich von apulischen Taranteln in den Arm ') Liber II, cap. 68, Bd. I, S. 193 der Sprengeischen Ausgabe (Medic. giaec. opera, ed. C. G. Kühne, vol. XXV. Lipsiae 1829). 2) De antidotis Lib. II. ^) De communibus medico cognitu necessariis locis; lib. VIII, c. 22 (S. 235 der Baseler Ausgabe von 1539). *) Ulisses Aldrovandi philosophicae medici Bononiensis de animalibus insectis libri Septem, in quibus omnia illa ani- malia accuratissime describuntur, eorura icones ad vivum ob oculus ponuntur etc. (Frankfurt! 1623) S. 237—241. ") Georgi Baglivi doctores medici et in Roman, Archylic. anatomes professoris de praxi raedica libii duo. Lugduni Batav. 1700. Accedunt dissertationes novae. Die erste führt den Titel : de anatome morsu et effectibus Taran- tulae 1699 (mit Abbildungen). 802 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XIX. Nr. si beißen. Die Folgen waren Lividwerden der Biß- stelle und leichte Schorfbildung. Von späteren Autoren, die teilweise auch Autoexperimente vornahmen, wurden diese An- gaben Sanguinettis bestätigt. HeinzeP) z. B. zieht den Schluß daraus, daß der Biß der italieni- schen Tarantel in eine menschliche Extremität für gewöhnlich keine schweren Folgen habe. Diese historischen Angaben mögen genügen. Ehe ich die einzelnen Giftspinnen bespreche, mögen hier einige Bemerkungen über das Spinnen- gift Platz finden. Nach den Angaben E. S t. F a u s t s ") sind die chemischen Eigenschaften und die Natur dieser stark bitter schmeckenden, sauer reagieren- den, klaren und öligen Flüssigkeit unbekannt. „Wie bei den Schlangen wird der Giftvorrat durch wiederholte, rasch aufeinander folgende Bisse bald erschöpft." Sein wirksames Prinzip „soll weder ein Alkaloid, noch ein Glykosid, noch eine Säure sein. Es dialysiert nicht." Die Ex- trakte aus den Spinnen enthalten Eiweißkörper oder doch eiweißartige Substanzen. Kobert nimmt daher an, daß die Giftwirkung auf einem Toxalbumin oder Enzym beruhe. Ich wende mich jetzt der Besprechung der einzelnen Giftspinnen zu und beginne mit einem Vertreter der Gliederspinnen, die dadurch charak- teristisch sind, daß der Hmterleib segmentiert ist. Unter dem Namen Phalangen fassen die älteren Autoren alle Giftspinnen zusammen. Auch heute- noch ist dieser Name in Gebrauch: die wissen- schaftliche Zoologie bezeichnet damit die Walzen- spinnen, zu denen der allbekannte Weberknecht (Phalangium opilio) gehört. Im asiatischen Ruß- land jedoch versteht man darunter alle dort vor- kommenden Walzenspinnen, die zoologisch als Solifugae oder Solpugae anzusprechen sind. Nach Kobert^) führt diese Tiergattung dort außerdem auch den Namen „Bichorch" und dem ebenfalls aus dem Altertum stammenden Namen „Solpuge". Es kommt dort vor allem Galeodes ara- neoides vor. Wie dieser Autor auf Grund von Literatur- studien und selbst in Rußland eingezogenen Be- richten angibt, ,, kommen wir zu dem Ergebnis, daß die Bisse der meisten Phalangenarten für Menschen und Tiere wohl keine größere Be- deutung haben als etwa ein Bienenstich . . . Die nach dem Bisse auftretenden lokalen Reizerschei- nungen beruhen stets auf der bedeutenden me- chanischen Reizung, welche der Biß ausübt, teils auch wohl auf pharmakologisch reizender Wirkung des Speichels." Die von Kobert angestellten Versuche mit Extrakten aus Spiritusmaterial und getrockneten Spinnen waren erfolglos. Ihm so- ') Wochenbl. d. Ges. d. Wiener Arzte lS66, Nr. 21, S. 255. -) Edwin Stanton Faust, Die tieriscben Gifte. BrauDSchweig, Friedr. Vieweg u. Sohn I906. ") R. Kobert, Beiträge lur Kenntnis der Giftspinnen. Stuttgart, Ferd. Enke, 1901. wohl wie mir fehlte es an frischem Material. Eine von mir angestellte Umfrage bei Gefangenen aus der Kirgisensteppe, wo Galeodes häufig ist, hatte zum Ergebnis, daß die Eingeborenen ihn zwar fürchten, aber außer lokalen Erscheinungen nichts Bedenkliches beobachtet haben. Galeodes besitzt wie alle Walzenspinnen keine Giftdrüse. Mit der Gruppe der echten Spinnen oder Araneen müssen wir uns etwas mehr beschäftigen. Für die zu den Tetrapneumones gehörigen Vogelspinnen (= Mygaliden), die in Süd- amerika, Westindien, Java, Ägypten usw. vor- kommen und teilweise recht gefürchtet werden, dürfte es wohl heute feststehen, daß ihr Biß wenig gefährlich für den Menschen ist. Einige Vergiftungen mit tödlichem Au.'gang sind zwar beobachtet worden, im allgemeinen beißen diese prächtigen Spinnen den Menschen aber nicht, sondern nur Tiere. Gebissene Pflanzenfresser sollen daran immer sterben. Es wird berichtet, daß in Honduras, Guatemala, Costarica und anderen mittelamerikanischen Staaten eine Myga- lide, die von der dortigen Bevölkerung Artfla picacaballo (Pferdebeißerj genannt wird, großen Schaden anrichte. Toxikologische Untersuchungen über das Gift der Riesenspinnen stehen noch aus. In der Gruppe der Dipneumones treffen wir auf die Spinnen, die dem Laien als die Gift- spinnen par excellence erscheinen. Es sind das die Taranteln, von denen es verschiedene Gattungen gibt: die italienische Tarantel, Taran- tula Apuliae sive Lycosa Tarantula; die griechische Tarantel, Lycosa hellenica; die russische Tarantel, Trochosa singoriensis. Bekannt sind die epidemi- schen Neurosen, die sich in früherer Zeit an den Aberglauben von der enormen Giftigkeit des Tarantelbisses (fälschlich als Stich bezeichnet) knüpfen, und die mit dem Namen Tarantismus belegt wurden. Die zur Heilung angewandte Musik (Tarantella) und der Tanz haben nur in- sofern therapeutische Bedeutung, als der dabei stark sezernierte Schweiß in der Tat die Aus- scheidung des eventuell eingedrungenen Giftes beschleunigt. In der Hauptsache dürften alle diese früheren Angaben wohl auf eine andere Spinne, nämlich den Lathrodectes, zu beziehen sein. Kobert') hat aus frischen russischen Taranteln Auszüge hergestellt und gefunden, daß sie, Katzen unter die Haut oder an die Halsvene eingespritzt, ohne besondere Wirkung sind. Er kommt zu dem Ergebnis, daß „die Menge des in physio- logischer Kochsalzlösung löslichen Giftes in diesen Tieren, selbst wenn sie ganz frisch und gut er- nährt sind, recht unbedeutend ist". An anderer Stelle spricht Kobert sich folgendermaßen aus: „Eine Wirkung auf Blutkörperchen ist nicht vor- handen. Daß in der Giftdrüse aber trotzdem eine kleine Menge eines für kleine Tiere wirkt ') Beiträge zur Kenntnis der Giflspinnen. N. K. XIX. Nr. $i Maturwissenschaftliche Wochenschrift. 803 samen Giftes enthalten ist, soll damit nicht in Abrede gestellt werden."*) Ich gehe jetzt über zur Besprechung der letzten Gattung außerdeutscher Giftspinnen, die allerdings in der Tat recht gefährlich für Tiere und Menschen sind. Es ist das die Gattung Lathrodectes, deren Vertreter über alle Erd- teile verbreitet sind. Abbildungen der wichtigsten Arten finden sich in Koberts Artikel in Eulen- burgs Real-Enzyklopädie und in seiner schon wiederholt zitierten Monographie. In Nordeuropa leben keine Lathrodectesarten, wohl aber kommen drei Spezies in Südeuropa vor: eine italienische, griechische und russische. Die itaHenische, vom Volke „Malmignatto" oder auch „Marmignatto" bezeichnet, hat 13 rote Punkte auf schwarzem Grunde. Es ist das Lathrodectes tredecim- guttatus Rossi. Die ältere Literatur über dieses Tier findet sich bei Kobert. Es wird von der dortigen Bevölkerung gefürchtet. In neuerer Zeit hat Bordas^) in Korsika Versuche mit dieser Art angestellt, die allerdings im Gegen- satze zu den Resultaten früherer Forscher stehen. Die griechische Art, Lathrodectes con- globatus, hat weiße Punkte auf schwarzem Grunde. Über sie liegen meines Wissens keine pharmakologischen Untersuchungen vor. Die russische Malmignatte ist die durch Koberts Forschungen bekannteste Form. Sie ist ganz schwarz und wird daher vom Volke als „schwarze Spinne" oder auch als „Karakutte" bezeichnet, und ist sehr gefürchtet. Einige Zoologen halten unser Tier für eine schwarze Varietät der italieni- schen Malmignatte und benennen es Lathro- dectes tredecimguttatus var. lugubris, andere sehen es jedoch für eine besondere Art an und nennen es Lathrodectes Erebus. Nach Kobert ist das Tier für Menschen, Pferde, Kamele und Rinder gefährlich. Er führt eine ganze Reihe Krankengeschichten an, aus denen zur Evidenz hervorgeht, daß der Biß des in Rede stehenden Tieres schwerste Erscheinungen beim Menschen hervorzurufen imstande ist und unter Umständen tödlich wirkt. Diese Berichte veranlaßten Kobert, selbst experimentelle Untersuchungen über das Gift der Karakurte vorzunehmen. Auszüge mittels physio- logischer Kochsalzlösung aus lebenden und ge- trockneten Tieren erwiesen sich bei intravenöser Applikation für Hunde, Katzen, Kaninchen, Ratten, Meerschweinchen, Schafe, Ziegen und Vögel als ungemein giftig. Die kleinste tödliche Dosis be- trug 0,02 — 0,03 mg pro Kilo Tier. Bei sub- kutaner Injektion waren größere Dosen nötig. Eine Wirkung vom Magen aus konnte nicht er- zielt werden. Nicht nur die die Giftdrüsen ent- haltenden Vorderteile, sondern auch die Abdomina, die Beine, junge, noch ungehäutete Spinnen und 'j Spinnengifte. Separatabdruck aus Real-Enzyklopädie der gesamten Heilkunde. 4. Auflage, Bd. XllI, S. 692. *) Bordas, Hamburger Nachr. vom 19. Februar 1902. (Zitiert nach Kobert.) sogar die unbefruchteten Eier erwiesen sich als stark giftig. Kobert konnte ferner eine hämo- lytische Wirkung dieses Giftes feststellen, die noch in einer Verdünnung von i : 127000 eintritt. Es werden aber nur die roten Blutkörperchen bestimmter Tiere angegriffen (Mensch, Kaninchen, Rind, Maus und Gans), während die anderer Tiere (Pferd, Hund, Kamel und Meerschweinchen) nicht gelöst werden. Das Gift steigert noch in einer Konzentration von 1:60000 die Gerinnbar- keit des Pferdeblutes. Weitere Angaben über die Wirkung von Karakurtenauszügen auf Warni-, Kaltblüter und Wirbellose finden sich bei bei E. St. Fausti) und Kobert.^) Längere (15 jährige) Trocknung und die Kon- servierung in Alkohol heben die Giftwirkung auf, ebenso das Kochen. Über außereuropäische Lathrodectesarten gibt Kobert Krankengeschichten z. B. aus Argentinien an, die sich auf Lathrodectes mactans be- ziehen. *) Hiermit kann ich die Angaben über fremd- ländische Giftspinnen schließen und mich unseren zwei deutschen Arten zuwenden. Es kommen für uns in Frage: Chiracanthium nutrix Walck. und Epeira diadema Walck. Die Literatur über Chiracanthiumnutrix, für welches Tier noch nicht einmal ein deutscher Name besteht, ist nicht sehr ausgedehnt. B e r t k a u in Bonn hat 1891 auf dieses sich in Deutschland einbürgernde Tier zuerst aufmerksam gemacht. Er gibt über die Wirkung des Bisses folgendes an; *) „Ich selbst wurde dreimal gebissen : zweimal am 28. August beim Einfangen der Spinnen in das Endglied des Mittelfingers der rechten und linken Hand, und zum dritten Mal am i. Sep- tember in das Grundglied des linken Mittelfingers, als ich von einem lebend gehaltenen Exemplar die Giftdrüse präparieren wollte. Der Schmerz war ein ungemein heftig brennender und ver- breitete sich fast augenblicklich über den Arm und auf die Brust; am stärksten war er an der Bißstelle und in der Achselhöhle. Eine Änderung meines Allgemeinbefindens konnte ich nicht be- merken, abgerechnet einen zweimaligen kurzen Schüttelfrost, der mich etwa eine halbe Stunde nach den beiden kurz aufeinanderfolgenden Bissen am 28. August befiel. Der spontane Schmerz war am anderen Morgen verschwunden, kehrte aber auf Druck an der Bißstelle wieder und ging am zweiten Tage in Jucken über. Als ich vier Tage später wieder gebissen wurde, kehrten auch die Schmerzen und später besonders das Jucken an den früheren Bißstellen spontan wieder, und diesmal dauerte es fast vierzehn Tage, bis jedes ungewöhnliche Gefühl geschwunden war, während die später in Eiterung übergehenden Bißstellen ') E. St. Faust, a. a. O. S. 185—187. =J Kobert, a. 0, O. S. 130— 171. ^) Die Medizinische Woche 14. April 1902, Nr. 15. *) In der Niederrhein. Gesellsch. (Ur Nat. und Heilkunde, 7. XII. 91, 8o4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XIX. Nr. 51 (vom I. September) noch heute (7. Dezember) sichtbar sind. Die unmittelbaren Folgen des Bisses bestehen in einer leichten Anschwellung und Rötung, die von dem Bißkanal gleichmäßig nach allen Richtungen hin abnehmen und sich allmählich verlieren, ohne, wie etwa beim Stich einer Biene oder Wespe, ein scharf umschriebenes Feld einzunehmen. Anfangs ist die Bißwunde selbst nicht wahrzunehmen, später, wenn die Rötung schon im Abnehmen begriffen ist, macht sie sich durch ihre bläuliche Farbe bemerkbar; nur in einem Falle trat eine winzige Menge Blutes aus dem tief ins Fleisch gebohlten Bißkanal aus." (Zitiert nach Kobert, Giftspinnen, S. 175.) Genaue pharmakologische Untersuchungen sind wegen Materialmangels weder von Bert kau noch von Kobert ausgeführt worden. Mir selbst gelang es nicht einmal, auch nur ein Exemplar des lebenden Tieres zu erhalten. Bert kau fand die in Rede stehende Spinne bei Bingen auf dem Rochusberg. Von anderer Seite wurde das Tier im Odenwalde aufgefunden. Die zweite für uns in Frage kommende Gift- spinne ist Epeira diadema Walck., die all- bekannte Kreuzspinne. In Rußland wird die dort häufige Epeira lobata gefürchtet. Sonst stimmen alle anderen Autoren darin überein, daß der Biß der Kreuzspinne ungefährlich sei. E. Taschenberg äußerte sich einmal R. Kobert gegenüber, „die Giftigkeit der Spinnen sei überhaupt ein Ammenmärchen, und die Eltern möchten nur ja ihre Kinder anhalten, recht herz- haft jede Spinne anzugreifen, dann werde sich die Scheu vor diesem ganz harmlosen Tiere schon verlieren". ^) Im folgenden berichte ich über die experimen- tellen Untersuchungen Koberts, die den Zweck hatten, in analoger Weise wie für Lathrodectes und Tarantel, die Giftigkeit resp. Ungiftigkeit der Kreuzspinne nachzuweisen. Ich kann seine Ver- ') Zitiert nach Kobert, GiAspinnen S. 70. suche dahin zusammenfassen, daß das Kreuz- spinnengift ähnliche Wirkungen zeigt wie das der Karakurten, ohne jedoch mit ihm identisch zu sein. Die Auszüge aus jungen Tieren und Eiern sind ebenfalls todbringend für Hunde, Katzen und Füchse. Meine eigenen Beobachtungen erstrecken sich auf die lokalen Wirkungen, die das Gift an der Applikationsstelle hervorruft. Nach subkutaner Injektion zeigte sich nach einiger Zeit Rötung und Schwellung an der Umgebung des Einstiches. Ebenso konnte ich um die zwei punktförmigen Wunden, die durch den Biß entstehen, Rötung und schmerzhafte Schwellung feststellen. Eine Umfrage bei der hiesigen Land- und Stadtbevölke- rung hatte zum Ergebnis, daß Epeira von selbst nie beißt. Zwei mir zu Gesicht gelangte Fälle von Kreuzspinnenbiß zeigten allerdings außer Rötung nur geringe Schmerzen an der Bißstelle, die sich m^h zwei Tagen bei Berührung noch fühlbar machten. Ernste Folgen sah ich nie ein- treten. Nach den Versuchen Koberts und denen von H. Sachs ^) dürfte es allerdings dennoch angebracht sein, Kinder vor der Kreuzspinne zu warnen. Meine unter Kobert 1918/19 begonne- nen Versuche zur Herstellung eines Serums gegen Kreuzspinnengift mußte ich leider vor Erlangung eines definitiven Resultates abbrechen, da es mir an dem nötigen Tiermateriale gebrach. Nach Koberts Tod hatte ich bis jetzt noch keine Gelegenheit, die Versuche wieder aufzunehmen. Von der enormen Wirksamkeit dieses Giftes vom Blute aus, das von Sachs seiner hämolyti- schen Wirkung wegen als Arachnolysin bezeichnet wurde, können wir uns ein Bild machen, wenn ich mitteile, daß man nach Kobert mit einer einzigen erwachsenen weiblichen Kreuzspinne un- gefähr tausend halbwüchsige Katzen vergiften kann bei intravenöser Injektion. ') H. Sachs, Zur Kenntnis des Kreuzspinnengiftes. B. 2. ehem. Phys. u. Path. 1902, II, S. 125. t)ber den Atomkern. CMachdruck verboten.] Von Studienrat W. Nach dem Rutherford-Bohrschen Atom- modell kann man ein Atom mit einem Planeten- system vergleichen. Die Sonne dieses Systems ist der positiv elektrisch geladene Atomkern, um den herum die negativen Elektronen als die Pla- neten kreisen. Bei diesem Vergleich ist aber ein Zusatz nötig. Wir sind gewohnt, bei einem Planetensystem immer an einen sehr großen Zen- tralkörper zu denken, dem gegenüber die Dimen- sionen der Planeten nur winzig klein sind. Diese Vorstellung darf auf die Atome nicht übertragen werden. Zwar ist auch in ihnen der zentrale Kern der größere Teil, aber seine Dimensionen sind Möller-Neustettin. nicht so gewaltig überragend wie in dem astro- nomischen Vergleichsbild. Radius des Kerns und Radius eines um ihn kreisenden Elektrons sind Zahlen von ähnlicher Größe. Eine bemerkens- werte Ausnahmestellung nimmt das Wasserstoff- atom ein. Sein Kern ist außerordentlich viel kleiner als das um ihn rotierende Elektron. Die Rechnung ergibt: Atomradius des Wasserstoffs von der Größen- ordnung lO~' cm, Radius eines Elektrons = 2,8. io~'^ cm, Radius des Wasserstoffkerns von der Größen- ordnung io~'^ cm. N. F. XIX, Nr. si Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 805 Ein anschauliches Bild von diesen merkwürdigen Dimensionen des Wasserstofifatoms gibt Prof. L. Graetz in seinem Buche — „Die Atomtheorie in ihrer neuesten Entwickelung" — durch folgen- des Beispiel. Ein Wasserstofifatom werde ver- größert gedacht „bis es den Raum der ganzen Erde einnimmt, also einen Radius von 6350 km besitzt. Dann hat der Kern einen Radius von 9 cm, entspricht also der Größe eines Kinder- balls. Das Elektron hat einen Radius von 177 m, entspricht also der Größe einer Kirche oder Ka- serne. Diese Kaserne rotiert also um den Kinder- ball — . . ." Kinderball und Kaserne in einem Räume von Erdgröße 1 Man gewinnt eine Vorstellung davon, welch winziger Teil des Atomraumes mit Materie gefüllt ist, wie winzige Gebilde Kern und Elek- tronen in dem großen leeren Atom räum sind. Es ist nicht schwer, sich auf Grund dieses speziellen Bildes allgemein ein Atom vorzustellen. Man hat sich einen im Vergleich zu einem Elektron größeren Kern zu denken, der von mehreren negativen Elektronen auf verschiedenen Bahnen umkreist wird. Immer aber bleibt die wesentliche Tatsache bestehen, daß bei weitem der größte Atomraum leer ist. Gerade in den im Vergleich zum ganzen Atom winzigen Dimensionen des Kerns liegt das Wunder- bare. Denn der Kern ist einerseits der Träger fast der gesamten Masse eines Atoms. (Gegen- über der Kernmasse kommt die Masse eines Elektrons, welche z. B. nur Visso eines Wasser- stofifatoms beträgt, gar nicht in Betracht.) Anderer- seits konzentriert sich auf den Kern auch noch die Gesamtmenge der positiven elektrischen Ladung, die für jedes nach außen neutrale Atom so groß ist, daß sie der Gesamtheit der negativen Elektronen das Gleichgewicht hält. Die auf verschiedenen ellipsenförmigen Bahnen um den Kern kreisenden Elektronen werden alle nach dem Gesetze der Coulomb sehen Anziehungs- kraft an ihn gefesselt. Jedoch sind diese inneren Anziehungskräfte nicht (ür alle Elektronen die- selben. Es gibt in jedem Atom ein oder mehrere Elektronen auf den äußeren Bahnen, die leicht von ihrem Zentralkörper abgespalten werden können. Nach Verlust dieser negativen Elektrizi- tätseinheiten überwiegt die positive Kernladung; das Atom erscheint uns positiv geladen, als ein positives Atomion. Andererseits kann ein Atom auch ein oder mehrere Elektronen als Planeten in sein System aufnehmen, dann überwiegt die negative Elektrizität; das Atom ist ein negatives Ion. Elektrolytisch wird z. B. die Salzsäure HCl in ein positives H-Ion und ein negatives CMon gespalten. Von diesen auf den äußeren Bahnen um den Kern kreisenden Elektronen hängt nach neuerer Ansicht die chemische Valenz eines Atoms ab. Sie wird heute definiert als die Zahl der leicht aus dem atomaren Verbände zur lösenden „Valenz- elektronen". Dadurch wird auch die vielen Ele- menten eigentümliche wechselnde Valenz (S = H2; S =E Oj) erklärbar, da bei Einwirkung zweier Atome aufeinander nicht die Coulombschen Kräfte des einen Systems maßgebend sind, sondern auch die des anderen eine entscheidende Rolle spielen. Der Verlust oder der Hinzutritt einiger Elektronen auf den äußeren Ringen verändert wohl die Eigen- schaften eines Atoms aber nicht das Atom selbst. Die Zahl der um den Kern kreisenden nega- tiven Elektronen ist für das natürliche System die Ordnungszahl Z, nach der die Elemente aufge- zählt sind. Sehr häufig wird die Ordnungszahl auch definiert als die Zahl der positiven Kern- ladungen, da die positive Kernwirkung für jedes neutrale Atom gleich der Gesamtwirkung der negativen Elektronen ist. Die Zahl Z ist nach dem Moseley sehen Gesetz der Röntgenspektro- skopie experimentell zu ermitteln. Die natürliche Folge der Elemente beginnt mit dem Wasser- stoff Z = I. Jedes folgende Element hat eine um eins größere Ordnungszahl; es tritt immer eine positive Einheit zum Kern hinzu. Der einfachste Träger des positiven elektrischen Elementar- quantums ist der Wasserstoff. Nach Ruther- ford ist er direkt als das positive Elektron auf- zufassen. Die Zunahme der aufeinanderfolgenden Ele- mente um je ein positives Kernelektron und dem- entsprechend auch um je ein negatives Ringelektron ist eine Besonderheit, an die sich die Vermutung geknüpft hat, daß die Atomkerne der höheren Elemente nichts Einheitliches mehr sind, sondern daß sie sich aus den positiven Kernelektronen, also den Wasserstoffkernen, aufbauen. Mit der Auffassung, daß die Atomkerne eine Aggregierung von Wasserstoff kernen sind, nähert sich die Theorie von der Atomstruktur wieder einer alten schon gegen 1820 von dem englischen Arzt Prout auf- gestellten Hypothese, nach der das Wasserstoff- atom das Uratom ist, mit dem sich alle anderen Atome aufbauen. Die Proutsche Idee ist nach dem Stande der heutigen Forschung auch noch aus einem anderen Grunde nicht von der Hand zu weisen. Es sind heute schon Atome bekannt, deren Kerne nicht einheitlich sind, sondern sich in kleinere Teilkerne zerlegen. Das sind die radioaktiven Atome. Die von diesen fortgeschleuderten Teilchen z. B. der a-Strahlung (bei den «Strahlern) sind Zerfallspro- dukte, die aus dem Kern des betreffenden Atoms stammen. Da diese «Teilchen als Heliumkerne erkannt worden sind, ist zweifelsfrei festgestellt, daß die radioaktiven Atome, von denen die «• Strahlung ausgeht, Heliumkerne als Bestandteile enthalten. Schon diese Ergebnisse der radioaktiven Forschung genügen, um die alte Ansicht von der Unteilbarkeit der Grundstoffe zu stürzen. Der radioaktive Zerfall ist ja direkt eine Atom- teilung. 8o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XIX. Nr. 51 Sind nur die radioaktiven Atome aus kleineren Teilen zusammengesetzt? Verständlicher ist die Verallgemeinerung, daß auch die anderen nicht radioaktiven Atome, daß sich alle Atome aus Urteilen aufbauen. Das ist wieder der wesentliche Grundgedanke P r o u t s. Nur tritt bei der Radioaktivität der Heliumkern als Baustein auf. Die Behauptung von der Existenz einer Ur- materie ist nach der Besonderheit des natürlichen Systems und nach den Ergebnissen der radio- aktiven Forschung genügend begründet. Nur über das Urmaterial selbst ist noch ein Zweifel mög- lich, da neben dem Wasserstofifkern auch noch der Heliumkern in Frage kommt. Die Zunahme um je eine positiv elektrische Kerneinheit in der natürlichen Folge der Ele- mente ist ein gewichtiges Argument für den Wasserstoff als Urmaterie. Beseelt von dem Wunsche nach möglichster Vereinheitlichung scheint der Gedanke, daß der kleinere Wasserstoff- kern die Urmaterie ist, der natürlichere zu sein. Wir finden leicht die Brücke, die unseren Zweifel überwindet, in der Annahme, daß der Heliumkern mit dem Atomgewicht 4 sich selber aus 4 Wasser- stofl kernen zusammensetzt. Mit diesen Spekulationen ist die allgemeine Erforschung einer Kernstruktur der Atome ange- schnitten. Sie liegt an der Grenze des heute für die Wissenschaft Erreichbaren. Gehen wir heute dieser Frage zu weit nach, so verlieren unsere Schlüsse leicht den sicheren Boden der experi- mentell erkannten Tatsachen und werden allzu hypothetisch. Wohl können wir uns vorstellen, was für einen Gewinn die Lösung dieser Probleme bringen würde. Wenn wir wüßten, aus was für kleineren Teilkernen die Atomkerne sich aufbauten, dann müßten wir versuchen, alle Atomkerne in diese Kernteile zu zerlegen und müßten auch versuchen, mit diesen Bausteinen wieder Atomkerne aufzu- bauen. Damit hätten wir dann die ganze Schar von »7 verschiedenen Atomen auf diese kleineren Ureinheiten zurückgeführt. Die Chemie vom Auf- bau der Molekel würde fortgesetzt durch eine Chemie vom Aufbau des Atoms. Gelungen ist bis heut-e nur eine einzige Kern- zerlegung, das ist die Rutherfordsche Zer- legung des Stickstoffs') in Wasserstoff und Helium — denn den radioaktiven Atomzerfall können wir weder hervorrufen noch beeinflussen. Die Schwierigkeit, dem Atomkern beizukom- men, wird recht deutlich aus dem von Prof. L. Graetz (vgl. oben) gegebenen Anschauungsbild. Sie liegt eben in den außerordentlich kleinen Dimensionen des Kerns. Rutherford setzte das Stickstoffatom einem Bombardement von a-Teilchen aus. In ihnen •) Die Rutherfordsche Zerlegung des Cl-Atoms isl Verf. bis heute nur aus TagcszeituDgeo bckaniit. Steckt eine große Energie, da sie mit einer Ge- schwindigkeit von vielen tausend km/sec bis zu Vio Lichtgeschwindigkeit aus den radioaktiven Atomen herausgeschleudert werden. Getroffen werden konnte der Kern des Stickstoffatoms nur von der kleinsten Menge der aufgewendeten Mu- nition. Der Kern bot eben eine äußerst kleine Angriffsfläche. Die größte Menge der Helium- kerngeschosse sauste durch den leeren Atomraum hindurch. Saß ein Volltreffer im Kern des Stick- stoffatoms, um in dem angefangenen Vergleich zu bleiben, so zersprang er, wie Rutherford als höchstwahrscheinlich nachgewiesen hatte, in Helium und Wasserstoff. Mit den Atomgewichts- zahlen für Wasserstoff (i), Helium (4) und Stick- stoff (14) läßt sich die Zerlegung folgendermaßen erklären. Ein Stickstoffatom läßt sich in drei Heliumatome und zwei Wasserstoffatome zerlegen nach der Gleichung 14 = 3 X 4 + 2 X I. Andere Kernzerlegungen sind noch nicht ge- lungen. Warum ist gerade der Heliumkern so fest, daß bei dem Zusammenprall mit dem Stickstoffkern gerade er nicht zerspringt? Die Tatsache, daß beim radioaktiven Zerfall und auch bei der Stickstoffzerlegung als Kern- bestandteil der Heliumkern auftritt, deutet darauf hin, daß er in der Struktur der Atomkerne doch eine besondere Rolle spielt. Unter der Voraus- setzung, daß. der Wasserstoffkern die eigentliche Urmaterie ist, aus der sich alle anderen Atome aufbauen, wäre dann anzunehmen, daß der Helium- kern ein besonders festes Gefüge von Wasserstoff- kernen ist, dessen Spaltung bisher noch nicht erreicht werden konnte. Welcher Art sind denn überhaupt die binden- den Kräfte, welche die positiv geladenen und daher auseinanderstrebenden Kerneinheiten zu- sammenhalten ? Dafür können nur die negativen Elektronen in Frage kommen. Daß solche im Kern vorhanden sind, geht auch aus den radioaktiven Erscheinun- gen hervor, denn die negativen Elektronen der ß Strahlen sind Zerfallsprodukte, die ebenfalls aus dem Kern des radioaktiven Atoms stammen. Danach sind in jedem Atom die Kernelektronen von denen der äußeren Ringe, den Ringelektronen, zu unterscheiden. Das Größenverhältnis eines negativen Elektrons zur positiven Kerneinheit hat zur Folge, daß in der Struktur des Kerns die Elektronen die maßgebende Rolle spielen. Die Gegenwart von negativen Elektronen im positiven Kern verursacht natürlich, daß nicht die gesamte positive Kernkraft auf die Ringelektronen, auf „die Elektronensphäre des Atoms", zur Wir- kung kommt. Ein Teil der positiven Elektrizitäts- einheiten wird bereits im Kern durch die Kern- elektronen neutralisiert. Daraus geht hervor, daß die Gesamtzahl der positiven Kernladungen immer (mit .'\usnahme des Wasserstoffs) größer ist als N, F. XDC. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 807 die der RingeleI