NOVA ACTA ACADEMIAE CAESAREAE LEOPOLDINO-CAROLINAE GERMANICAE NATURAE OURIOSORUM. TOMUS XCVIl. CUM TABULIS VI. Abhandlungen der Kaiserlichen Leopoldinisch-Carolinischeu Deutschen Akademie der Naturforscher. 97. Band. Mit 6 Tafeln. Halle, 1912. Buchdruckerei von Ehrhardt Karras in Halle a. S. Für die Akademie in Kommission bei W. Engelmann in Leipzig. JAN j M 2 Seiner Majestät Wilhelm II Deutschem Kaiser und Könige von Preufsen ihrem hohen Schirmherrn dem erhabenen Gönner und Beförderer aller wissenschaftlichen Arbeit des deutschen Volkes widmet die Kaiserliche Leopoldinisch-Carolinische Deutsche Akademie der Naturforscher diesen siebenundneunzigsten Band ihrer Abhandlungen durch den Präsidenten Dr. Albert Wangerin Inhalt des XCVII. Bandes. R. Zander: Beitrag zur Kritik der Bereehtigung der Neuronen- theorie auf Grund eigener und fremder Beobachtungen . Gustav Poelchau: Über die ee der Masern dureh die Schule 5 : ee Hermann Adolphi: Ein Fall von hrakaikn lerioi Ernst Funke: Zur Behandlung des Querbruches der Kniescheibe Arved Bertels: Über die Ursache der Hypertrophie des rechten Ventrikels bei vermehrter Arbeitsleistung des linken . : Otto Thilo: Die Verhütung der Winkelstellungen nach Läh- mungen u OR EEE a Hermann Streit: Über die Reaktionen der Hirnhäute gegen- über Reizen bakterieller Art. SE ; Bogusat: Über den Einfluls von Verletzungen Eh m Ent- wicklung der Lungentuberkulose unter besonderer Berück- siehtigung der geriehtsärztlichen Tätigkeit BR. Kurt Jester: Die Sommersterbliehkeit der oelinge unter Berücksiehtigung der Königsberger Verhältnisse . ; A. Dampf: Über den morphologischen Wert des Duckus obturatorius bei den Aphanipterenweibehen ENEGN Eant- Karl Dehio: Untersuehungen zur auskultatorischen Methode der Blutdruekbestimmung am lebenden Menschen ? Richard Pflugradt: Ein ie zur Pathogenese Ostsee Knochentumoren : ; : Erich Hesse: Beilage» zur Be de ahertoneale Berne blasenruptur und der isolierten Se bei der Behandlung derselben . e R.du Bois- Ramona: Remersrüfse, u Muskeelkraft : Hilmar Teske: Die statischen und mechanischen Verhältnisse der Brusteingeweide vom chirurgischen Gesichtspunkte . Huebschmann: Über die Endophlebitis hepatiea obliterans 1—38. 1—20. 1—6. 1—17. 23 1—13. 1—21. 1—48. 1—43. 1—11. 1—18. 1—32. 1—10. 1— 3. 1—13. 1—24. Mit 3 Taf. Mit 1 Taf. Mit 1 Taf. Mit 1 Taf. Vorstand der Kaiserlichen Leopoldinisch-Garolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher. Gegründet am 1. Januar 1652. Deutsche Reichsakademie seit dem 7. August 1687. Präsidium. A. Wangerin in Halle a. S., Präsident. W. Roux in Halle a.S., Stellvertreter. Adjunkten. I. Kreis: J. von Hann in Wien; i VIII. Kreis: M. H. Bauer in Marburg. G. Stache in Wien; IX. Kreis: E. H. Ehlers in Göttingen. F. Toula in Wien. X. Kreis: K. Brandt in Kiel. I. Kreis: E. Wiedemann in Erlangen; XI. Kreis: W. Roux in Halle. R. von Hertwig in München. XI. Kreis: E. Haeckel in Jena. IHN. Kreis: K. B. Klunzinger in Stuttgart. | XIN. Kreis: ©. Chun in Leipzig; IV. Kreis: A. Weismann in Freiburg. F. Marchand in Leipzig. V. Kreis: G. A. Schwalbe in Stralsburg. XIV. Kreis: F. Pax in Breslau. VI. Kreis: R. Lepsius in Darmstadt. XV. Kreis: ©. A. Jentzsch in Charlottenburg; VI. Kreis: F. Küstner in Bonn. H. Waldeyer in Berlin. Sektionsvorstände und deren Obmänner. I. Mathematik und Astronomie: VI. Zoologie und Anatomie: R. Belnert in Potsdam, Obmann; | F. E. Schulze in Berlin, Obmann; G. Cantor a Halle; E. H. Ehlers in Göttingen; A. Gutzmer in Halle. M. Fürbringer in Heidelberg. II. Physik und Meteorologie: E. Riecke in Göttingen, Obmann; | VII Physiologie: J. von Hann in Wien; | S. Exner in Wien, Obmann; L. von Pfaundler in Graz. | V. Hensen in Kiel: IH. Chemie: | J. von Kries in Freiburg. ©. Wallach in Göttingen, Obmann; | E. Beckmann in Berlin; VIII. Anthropologie, Ethnologie und Geo- C. Engler in Karlsruhe. | graphie: IV. Mineralogie und Geologie: | G. C. Gerland in Stralsburg, Obmann; A. Penck in Berlin; H. Credner in Leipzig; J. Ranke in München. W. Branca in Berlin; G. Linck in Jena. 2 . IX. Wissenschaftliche Medizin: V. Botanik: H. G. A. Engler in Dahlem-Steglitz bei H. Waldeyer in Berlin, Obmann; | W. O. von Leube in Stuttgart; P. von Baumgarten in Tübingen. Berlin, Obmann; S. Schwendener in Berlin; H. Graf zu Solms-Laubach in Stralsburg. | NOVA ACTA. Abh. der Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr. 1. Beitrag zur Krıtık der Berechtigung der Neuronentheorie auf Grund eigener und fremder Beobachtungen. Von Professor Dr. R. Zander in Königsberg. Eingegangen bei der Akademie am 27. April 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a.S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. Die Kämpfe, die in den letzten beiden Jahrzehnten um die Berech- tigung der Neuronentheorie geführt worden sind, haben noch nicht zu einer endgültigen Entscheidung geführt. Sie haben aber trotzdem die neurologische Wissenschaft in hohem Mafse gefördert. Die Gegner dieser Lehre richteten von Anfang an ihre Angriffe hauptsächlich gegen die Methoden, auf welche die Anhänger sich stützten, und erreichten dadurch, dafs man bessere ersann. Die besseren Methoden lieferten genauere Resultate, aber immer wieder fanden sich neue Einwände. Selten ist wohl eine Frage mit gleichem Aufwand von Scharfsinn und technischem Können bearbeitet worden. Und die Folge war nicht nur eine erhebliche Bereicherung unserer Kenntnisse, vor- nehmlich ein tieferes Eindringen in die feineren Bauverhältnisse, sondern es ergaben sich auch fortgesetzt neue Probleme für die weitere Forschung. Die Neuronentheorie ist zu einem Arbeitsprogramm „eworden. In diesem Sinne äufserte sich bereits im Jahre 1900 Max Verworn') auf der Natur- forscherversammlung in Aachen: „Diese Lehre, die zum ersten Male ein einheitliches Prinzip in die Betrachtung des Nervensystems einführte und die Übersichtlichkeit auf diesem Gebiete dadurch in ganz erstaunlichem Malse erhöhte, hat so befruchtend auf die verschiedenen Zweige der Forschung und imsonderheit der theoretischen und praktischen Medizin gewirkt, dafs man wohl sagen kann: die lebhafte Forschertätigkeit und das intensive Interesse, das sich im letzten Dezennium auf dem Gebiete der gesamten Nervenlehre entwickelt hat, ist vorwiegend zurückzuführen auf die Anresung, welche die Neuronentheorie gab.“ Und noch ein zweites Urteil eines Anhängers dieser Lehre aus jüngster Zeit möge hier seinen 1) Max Verworn, Das Neuron in Anatomie und Physiologie. Verhandlungen Deutscher Naturforscher und Ärzte, 72. Versammlung zu Aachen 1900. In erweiterter Form heraus- gegeben, Jena 1900. 1*F 4 R. Zander, Platz finden. Heidenhain') erklärte: „Unter ihrem Zeichen ist im Ver- lauf von etwa 20 Jahren das ganze Nervensystem erobert worden; daher kann zum mindestens ihr heuristischer Wert auf dem Felde der Anatomie nicht bestritten werden“. Über diesen Worten höchster Anerkennung darf aber nicht das absprechende Urteil der Gegner vergessen werden. Ich erinnere daran, dals Nissl°’), „die Neuronenlehre bei ihrer allgemeinen Ver- breitung als ein Unglück und eine Gefahr für den Fortschritt in unserer Wissenschaft“ bezeichnet hat, und dafs Pflüger’) es für seine Pflicht hielt, „den durch jene Irrlehre hartnäckig fortwirkenden Schädigungen der Wissen- schaft entgegenzuarbeiten“. Bei so weit auseinander gehenden Ansichten über die Wertschätzung der Neuronentheorie ist es auffallend, dafs die neuesten neurologischen Hand- und Lehrbücher fast ausnahmslos der Neurontheorie eine grofse Bedeutung für die Erklärung physiologischer und pathologischer Vorgänge beimessen, obwohl sie ihre anatomischen Grundlagen für mehr oder weniger stark erschüttert oder gar für unhaltbar halten. Monakow‘) erklärt in seiner „Gehimpatholosie“: Vorläufige können wir die Neuronentheorie für das Verständnis des Zustandekommens der verschiedenen physiologischen Prozesse nicht entbehren“. Oppenheim’) betont in der neuesten Auflage seines „Lehrbuchs der Nervenkrankheiten“ die in hohem Mafse befruchtende Wirkung der Neuronlehre auf die Physiologie und Pathologie des Nervensystems. „Wenn diese Lehre nun auch nach neueren Untersuchungen ihre volle Gültigkeit nicht mehr zu besitzen scheint und vielleicht künftiehin modifiziert werden muls“, so hält er sich doch „mit anderen Forschern für berechtigt, einst- weilen an ihr festzuhalten und sie den weiteren Betrachtungen zu Grunde zu legen“. 1) Martin Heidenhain, Plasma und Zelle. II. Jena 1911. 19. Lieferung des „Handbuchs der Anatomie des Menschen“, herausgeg. von K. v. Bardeleben. 2) Fr. Nissl, Die Neuronenlehre und ihre Anhänger. Jena 1903. 3) E. Pflüger, Über den elementaren Bau des Nervensystems. Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie. Bd. 112. 1906. 8. 1—69. 4) C.v. Monakow, Gehirnpathologie. IX. Bd. 1. Teil der speziellen Pathologie und Therapie, herausgegeben von H. Nothnagel. Wien 1905. S. 181. 5) H. Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 5. Aufl. Berlin 1908. Bd.I. $. 114. - Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 09) In dem von Curschmann herausgegebenen Lehrbuch der Nerven- krankheiten äufsern sich Steinert und Rothmann nicht ganz überein- stimmend zu der Frage. Steinert'!‘) meint: „Jedenfalls ist aber .die Neuronlehre, die Lehre von der Einheit der Ganglienzellen und ihrer Fortsätze, in den Kernpunkten ihrer entwicklungsgeschichtlichen und pathologischen Grundlagen noch nicht als widerlegt anzusehen und vermag zurzeit allein eine grofse Anzahl von Tatsachen aus der Pathologie der peripherischen Nervenkrankheiten befriedigend zu erklären“. Rothmann') folgert aus den neuesten Untersuchungen, „dals die Lehre vom Neuron,. d.h. der Einheit der Ganglienzelle und ihres Achsengliederfortsatzes, die mit anderen Neuronen nur durch Kontakt in Verbindung treten sollten ... rein anatomisch nicht haltbar ist. Dagegen müssen wir für die physiologische und klinische Forschung die Neuronentheorie auch gegenwärtig als aulser- ordentlich wichtig und für die weitere Forschung bedeutungsvoll festhalten.“ Bielschowsky’‘) kommt in seiner allgemeinen Histologie und Histopathologie des Nervensystems in dem von Lewandowsky heraus- gegebenen Handbuch der Neurologie zum Resultat, „dafs wir auch heute noch die Neuronlehre gelten lassen können, wenn wir sie unter Beseitigung der verschiedenen Einheitsdogmen als einfache Zellenlehre auffassen“. Ihr didaktischer und heuristischer Wert erscheint ihm auch heute noch un- bestreitbar. In demselben Bande kommt Lewandowsky’') zu dem fast entgegengesetzten Ergebnis: „Es dürfte immer klarer werden, dafs der Streit um die Neuronenlehre die Physiologie fast garnicht berührt.“ Solange die Neuronentheorie noch als so nützlich und notwendig für die physiologische und klinische Forschung angesehen wird, scheint es mir geboten zu sein, weiter nach endgültigen, allgemein überzeugenden Beweisen dafür, dafs sie auch anatomisch begründet ist, zu suchen. 1) Lehrbuch der Nervenkrankheiten, herausgegeben von H.Curschmann. Berlin 1908. a) H. Steinert, Die Krankheiten der peripherischen Nerven. 8. 73. 5) Max Rothmann, Normale und pathologische Physiologie des Rückenmarks. 8.170. 2, Handbuch der Neurologie, herausgegeben von M. Lewandowsky. 1.Bd. All- gemeine Neurologie. Berlin 1910. a) Max Bielschowsky, Allgemeine Histologie und Histopathologie des Nerven- systems. 8.29. 5) M. Lewandowsky, Allgemeine Physiologie des zentralen Nervensystems. $. 336. 6 R. Zander, Man könnte meinen, dals dieser Forderung längst Genüge geleistet ist durch die Erfahrungen im Gebiete der experimentellen Pathologie und pathologischen Anatomie. Die Beobachtungen von Forel, v. Monakow u. a. haben übereinstimmend das wichtige Ergebnis geliefert, dafs, wenn eine Nervenzelle erkrankt oder verletzt wird, die Veränderungen sich zunächst nicht weiter fortpflanzen, als die Fortsätze der Nervenzelle reichen. Gerade dieser Nachweis hat immer als eine der wichtigsten Stützen der Neuronen- theorie gegolten. Ausnahmsweise kommt es auch vor, dafs die Veränderungen nicht auf das eine Neuron beschränkt bleiben, sondern ein zweites und drittes ergreifen. Freilich sollen diese indirekten Degenerationen, die also ein von der Verletzung garnicht selber betroffenes Neuron befallen, „keine Degeneration im histologischen Sinne“ sein.') Aber es gibt auch indirekte Degenerationen, die histologisch genau mit den direkten übereinstimmen. Die Gegner der Neuronentheorie entnehmen hieraus den Grund, die Lehre von der scharf abgegrenzten Degeneration des verletzten Neurons nicht als ausnahmslos und darum auch nicht als zwingenden Beweis für die Neuronen- theorie anzuerkennen. Held, der neuerdings?) in seiner Neurenceytiumtheorie zu der Auffassung kam, dafs die fertige Nervenzelle der Sammelpunkt zahlreicher Fibrillenbahnen ist, die von verschiedenen Gebilden gleicher Bedeutung herstammen, und sie darum nicht als eine Nerveneinheit, als ein Neuron, betrachtet, betont, dafs diese Lehre durch die Neuronentheorie nicht einmal erklärbar sei. Auch das Wallersche Gesetz, das von den Anhängern der Neu- ronentheorie stets für eine der wichtigsten Stützen der Neuronentheorie an- gesehen worden ist, ist auf das heftigste bekämpft worden. Die gegen dasselbe angeführten Beobachtungen von der Autoregeneration der Nerven dürfen zwar als widerlegt angesehen werden, aber dafs man die reine Auto- regeneration bekämpfen und trotzdem Gegner der Neuronlehre sein kann, zeigt E. Neumann.’) Er hat vor kurzem darauf hingewiesen, dals die 1) Hoche im Handbuch der pathologischen Anatomie des Nervensystems von Flatau und Jacobsohn. 2) Hans Held, Die Eutwicklung des Nervensystems. Leipzig 1909. 3) Ernst Neumann, Die Bedeutung der Wallerschen Degeneration der Nerven für die Neuronlehre. Arbeiten aus dem pathologischen Institut zu Tübingen, herausgegeben von P.v. Baumgarten. Bd. VI Hft.2. 1908. 8. 213 — 227. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 7 Protoplasmawucherungen und mitotischen Kernproliferationen der sogenanten Schwannschen Zellen, welche nach Durchscheidung eines Nerven auftreten, nicht eine Folge der Veränderungen der Markscheide und des Achsenzylinders sind, sondern ihnen vorangehen. Wenn die Degeneration des peripherischen Endes des durchschnittenen Nerven, wie Neumann nachweist, aus der Aufhebung eines besonderen trophischen Einflusses der Ganglienzellen auf die Nervenfasern abzuleiten ist, so ergibt sich, dafs nicht nur der Achsen- zylinder und die Markscheide sondern auch die „Zellen der Schwannschen Scheide“ diesem Einfluls unterworfen sind. Da aber nach der Auffassung der Anhänger der Neuronentheorie die Scheidenzellen als akzessorische Bestand- teile der Nervenfasern anzusehen sind, so folgert Neumann daraus, „dals gerade die Erscheinungen der Wallerschen Degeneration in hervorragender Weise geeignet sind, Zweifel an der Richtigkeit der Neuronenlehre, wenigstens in der durch Waldeyer präzisierten Form zu erwecken“. Hingegen er- scheint Neumann „das Verhalten der Nerven bei der Wallerschen Degeneration nicht auffällig, wenn wir den Standpunkt der Neuroblasten- oder Zellkettentheorie einnehmend, in den Nervenfasern ein Syneytium spezifisch differenzierter Zellen erblicken, welches nicht nur in seiner Funktion sondern auch in seiner Entwicklung und seiner normalen morpholo- gischen Persistenz auf die Verbindung mit der zentralen Ganglienzelle, ihrem Endgliede, angewiesen ist. Diese Ansicht über die Beziehungen zwischen Nervenzelle und Nervenfaser stimmt mit der meinigen, wie ich sie schon lange in meinen Vorlesungen vortrage und im Jahre 1906 in zwei Vorträgen genauer erörtert habe. Ich habe in meinem Vortrag über das Wallersche Gesetz‘) mich dahin ausgesprochen, dals es einer neuen Formulierung bedürfe, die etwa folgendermalsen lauten mülste: „Nach Durch- schneidung eines Nerven degeneriert sein peripherisches Ende. Im Anschluß an die Degeneration beginnen — wenigstens bei den peripherischen Nerven — regenerative Prozesse, die aber nur dann zur völligen Regeneration führen, wenn eine Verbindung des pheripherischen Nervenabschnittes mit einem zentralen zustande kommt. Unterbleibt diese Verbindung, so degeneriert das peripherische Nervenende vollständig. Beide Vorgänge verlaufen in der 1) R. Zander, Über das Wallersche Gesetz. Vortrag im Verein für wissenschaftliche Heilkunde zu Königsberg. Referat in Deutsche medizinische Wochenschrift 1906. Separat. S.9. te) R. Zander, Richtung von der Verwundungsstelle nach der Peripherie zu. Der zentrale Absehnitt eines durchschnittenen Nerven bleibt, abgesehen von einem kleinen, unmittelbar an die Verletzungsstelle anstolsenden Gebiet, unverändert, falls nicht durch die Operation die Nervenzellen so geschädigt worden sind, dals sie zugrunde gehen und infolgedessen nun auch die zugehörigen Fasern von der Zelle an peripherwärts entarten. Nach der Durchtrennung der Nerven treten Form- und Strukturveränderungen an seinen Ursprungszellen auf, die nach einiger Zeit sich zuwrückbilden. Die Nervenzelle ist das nutritive und funktionelle Zentrum der Nervenfaser. Der Untergang der Nervenzelle hat den Untergang der Nervenfaser zur Folge. Eine von der Nervenzelle abgetrennte Faser degeneriert und vermag nicht sich vollständig zu regenerieren“. Diese Formulierung habe ich bald darauf in einem Vortrage „über Bildung und Regeneration der Nerven“') in dem einen Punkte geändert, dals ich die Kern- und Protoplasmawucherung bei der Wallerschen Degeneration in den Vordergrund stellte, während ich damals angegeben hatte, dafs sie im Anschluls an die degenerativen Vorgänge auftritt. Ich habe meine Ansicht in folgende Fassung gebracht: „Die zentrale Nervenzelle bewahrt dauernd eine dominierende Stellung. Sie empfängt allein Erregungen und übermittelt sie der Faser. Die Verbindung der Nervenfaser mit der Nervenzelle ist für ihre Integrität Vorbedingung. Wird sie unterbrochen, so wandelt sich das distale Stück der Nervenfaser unter dem Bilde der sekundären Wallerschen Degeneration um. Dadurch werden die Nervenfaserkerne aus ihrem Ruhezustand aufgerüttelt; sie beginnen zu wuchern, um sich Protoplasma zu sammeln, und so entstehen plasmatische kernhaltige Bänder, die sogenannten v. Büngnerschen Bandfasern. Dafs auch die weiteren Differenzierungen auftreten, die Bethe beschrieben hat, (Axialstrangfasern, fibrilläre Bänder, Markscheiden, Neurofibrillen) halte ich für sehr zweifelhaft ... Die neuesten Beobachtungen von Perroncito und Cajal haben in Übereinstimmung mit älteren Untersuchungen gezeigt, dafs von dem zentralen Stumpfe der Nervenfaser zahlreiche junge Fasern aus- wachsen und in den peripherischen Stumpf eindringen. Ob die jungen auswachsenden Fasern plasmatische Beschaffenheit besitzen und mit Nerven- 1) R. Zander, Über Bildung und Regeneration der Nerven. Schriften der physikalisch- ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg i. Pr. XLVI. Jahrgang 1906. S. 15. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. ®) faserkernen ausgerüstet sind, wie bei der ersten Entwicklung, ist nicht bekannt, es erscheint mir dies aber sehr wahrscheinlich. Wenn die junge Faser, vielleicht unter dem Einflusse eine Neurotropismus im Sinne von Forsmann, auf eine in der beginnenden Regeneration begriffenen Faser des peripherischen Nervenendes stölst, so verschmilzt sie, wie ich vermute, mit ihr, und die Regeneration, die nun unter dem Einfluls der erregenden Reize der zentralen Nervenzelle erfolgen kann, führt zur Bildung einer funktionsfähigen Faser. Wenn die junge Faser nicht auf ein solches peripherisches Faserende stößst, so wächst sie in dem peri- und endoneuralen Bindegewebe oder aufserhalb des Nerven weiter. Dals der Nerv amputierter Glieder fortwächst und zu Neurombildungen führt, dafs auch nach völliger Entfernung des peripherischen Nervenabschnittes durch Thierssche Aus- drehung die zentralen Nervenenden zu dem Endziel hinwachsen können, ist bekannt. Es wohnt also dem zentralen Ende der Nervenfasern dauernd die Fähigkeit inne, weiterzuwachsen“. An dieser Auffassung der Vorgänge nach Unterbrechung der Nervenfaser habe ich auf Grund der später erschienenen Veröftentlichungen nichts wesentliches zu ändern, und ich erblicke nach wie vor in dem Wallerschen Gesetz in dieser neuen Fassung eine Stütze für die Neuronentheorie Heidenhain') hält es für notwendig, „die Frage der normalen Entwicklung von der Frage der Regeneration zu trennen, da in beiden Fällen die Bedingungen der Histogenese verschiedenartiger Natur sind. Denn der Nerv tritt in den frühen Stadien der Embryogenese in Form einer kleinen Anlage auf, welche sich im Zusammenhang mit der gewaltigen Zunahme der allgemeinen Körpergrölse des werdenden Geschöpfes allmählich über weite Entfernungen ausdehnt; bei der Regeneration hingegen, wie sie nach Nervendurchschneidung auftritt, mu[s ein Defekt gedeckt werden, d.h. die räumliche Ausdehnung des Gebietes, auf welchem der histogenetische Prozefs sich abspielt, ist von. vornherein in toto gegeben. A priori liest demnach die Möglichkeit vor, dafs in beiden Fällen der Vorgang der Entwicklung der Achsenfasern ver- schiedenartiger Natur ist“. Ich kann dem nicht zustimmen. Das prinzipiell 1) Martin Heidenhain, Plasma und Zelle Jena 1911. 19. Lieferung des Hand- buchs der Anatomie des Menschen, herausgegeben von K. von Bardeleben. 8. 778. Nova Acta XCVII. N\r.1. 2 10 R. Zander, Wichtige scheint mir in beiden Fällen zu sein, dafs die Neubildung unter dem Einflusse der Nervenzelle sich vollzieht. Der Streit um die Berechtigung der Neuronentheorie ist von Anfang an hauptsächlich auf histologischem und entwicklungsgeschichtlichem Gebiete geführt worden. Die histologischen Einwände gegen die Neuronentheorie richteten sich sofort gegen die Lehre von der Übertragung durch Kontakt, obwohl Waldeyer') in seiner grundlegenden Arbeit im Jahre 1891 nicht auf sie, sondern auf die Nerveneinheit Gewicht legt. „Nehmen wir — sagt er — mit Golgi und Bela Haller Nervennetze an, so modifiziert sich die Auffassung etwas, doch können wir die Nerveneinheiten beibehalten. Die Grenze zwischen zwei Nerveneinheiten würde dann immer in einem Netzwerk liegen und — anatomisch wenigstens — mit unseren jetzigen Hilfsmitteln nicht genau bestimmbar sein. Auch His, dessen Lehre von der Bildung der Nervenfaseın eine Hauptstütze der Neuronentheorie bildete, nahm an, dals die als Ausläufer der Nervenzelle auftretenden Nervenfasern zwar frei auswachsen und zunächst frei endigen, aber sekundär mit den Endorganen in Verbindung treten zur Herstellung einer kontinuierlichen Leitungsbahn. Trotzdem gewann die Ansicht von R. y Cajal, dafs die Endverästelungen der Nervenfasern frei endigen, die auf die Golgibilder begründet war, und die in Kölliker, Lenhossek u. a. energische Verteidiger fand, mehr und mehr Anklang bei den Anhängern der Neuronentheorie. Auch Weigert’) warnte erfolelos vor Überschätzung der Frage der „freien Endigung“* mit den Worten: „Für die physiologisch so wichtige Frage nach der Übertragung der nervösen Erregsungen von dem Gebiete der einen Zelle auf das einer anderen ist es zunächst ganz gleichgültig, ob bei diesen Übertragungen der Nervenstrom direkt von einem Achsenzylinderbüschel auf die Verästelungen der Protoplasmafortsätze übergeht, oder ob er dabei einen kleinen Zwischen- yaum zu überspringen hat. Übergehen mufs er ja in jedem Falle von einem Gebiete auf das andere“. 1) W. Waldeyer, Über einige neuere Forschungen im Gebiete der Anatomie des Centralnervensystems. Deutsche medizinische Wochenschrift 1891, Nr. 44 u. ff. Separat. 8. 55. 2) C. Weigert, Technik. Ergebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte, herausgegeben von Merkel und Bonnet. V. 1895. S. 28. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 11 Vornehmlich hat Held’) durch subtile histologische Untersuchungen festgestellt, dals die Endverästelungen der Nervenfasern, die in Gestalt von Endfülschen die Nervenzellen in ungeheurer Menge umgeben, beim erwachsenen Wirbeltier mit der Oberfläche des Körpers und der Dendriten der Nerven- zelle eine echte Verwachsung, eine „pericelluläre Concrescenz“, eingehen. Die Golgifärbung, die vorwiegend an Feten und ganz jungen Tieren an- sewandt wurde, weil sie nur bei diesen gute Ergebnisse lieferte, zeigte im Gegensatz zu den von Held benutzten Färbungen eine Grenze: zwischen Zellprotoplasma und Faserendisung. Auerbach, R.y Cajal, Semi Meyer u.a. haben das Vorhandensein von Concrescenzen geleugnet aber anerkannt, dafs der Kontakt inniger wäre, als man bis dahin angenommen hatte. In eine neue Phase trat der Streit als im Anschlußs an die Beobachtungen von Apathy und Bethe, die schon von Max Schultze beschriebenen Neurofibrillen in den Nervenzellen und Nervenfasern allgemeine Beachtung fanden. Apathy und Bethe behaupteten, dafs die Neurofibrillen ohne Unterbrechung durch das ganze Nervensystem verfolgbar sind, dafs sie beim Übergang von einer Nervenzelle auf die andere keine Unterbrechung erfahren. Held bestätigte dies, indem er feststellte, dafs die Endfülschen- Fibrillen durch zarte Fibrillen mit den Fibrillen im Innern der Nervenzellen zusammenhängen. Für die neurofibrilläre Kontinuität sind auch Auerbach, Holmgren, Antoni, Bielschowsky, Wolff u.a. gegen den Widerspruch von R. y Cajal, Dogiel, Retzius, v. Lenhosseck eingetreten, obwohl diese wie jene ihre Untersuchungen mit gleichen Methoden ausführten. Während Held die Kontinuität der Fibrillen als Beweis gegen die Be- rechtigung der Neuronentheorie ansieht, sind Wolff und Bielschowky, die gleich Held die Kontinuität der Neurofibrillen annehmen, Anhänger der Neuronentheorie. Heidenhain’) hält es aus physiologischen Gründen für undenkbar, dals zwischen den Neuronen eine neurofibrilläre Kontinuität besteht. „Da die meisten zentralen Nervenzellen von verschiedenen Seiten her innerviert 1) H. Held, Beiträge zur Structur der Nervenzellen und ihrer Fortsätze. I. Arch. für Anatomie und Physiologie 1895, anatomische Abteilung, S. 396—416; II. ebenda 1897, S. 204— 294; III. ebenda, Supplementband 1897, S. 273— 312. 2) Ic. 8. 931. 12 R. Zander, werden, so würden neurofibrilläre Zusammenhänge der terminalen Nerven- fäserchen mit den anastomosierenden Binnenfibrillen der Zelle jede Möglichkeit .der Leitung der Erregung in bestimmter Richtung aufheben.“ Heidenhain bezeichnet die Verbindung zwischen den Endfülsen oder Netzkörperchen und dem Zelleibe als Kohärenz, als eine Art fester Ver- lötung, jedoch ohne Verschmelzung der Substanzen. Lache'!) nimmt an, dals beide Arten der Verbindung, die kon- tinuierliche und die durch Kontakt nebeneinander vorkommen. Wenn die Nervenleitung eine sehr schnelle Einwirkung erfordert, so verschmelzen die Endknöpfehen mit den Nervenzellen; wenn die Nervenerregung weit langsamer vor sich geht, so bleiben die Endknöpfchen frei. Offenbar ist es äulserst schwierig, eine sichere Entscheidung zu treffen, welche Form der Verbindung besteht. Lasareff?) hat, von den Versuchen von Nernst und Zeynack ausgehend, den Abstand der Neurone auf 20 vu berechnet. Er liegt also unterhalb der Leistungsfähigkeit des Mikroskops. Das könnte vielleicht eine Erklärung sein für den Widerspruch in den Angaben der Autoren. Ich beabsichtige nicht, diese Streitfrage hier eingehender zu erörtern und die umfangreiche Literatur hierüber näher zu besprechen. Es genügt mir die Feststellung, dals es trotz aller Vervollkommnungen der Methodik bisher nicht gelungen ist, eine allgemein anerkannte Ansicht über die Verbindungsweise der Nerveneinheiten zu gewinnen. Ich betone, dafs der positive Nachweis einer kontinuierlichen Verbindung für die allein bedeutungsvolle Frage, ob selbständige Neurone morphologisch nachweisbar sind, nicht entscheidend ist. Wiederholt ist dies schon hervorgehoben und zum Beweise unter anderem darauf hin- gewiesen worden, dals auch die Epidermiszellen, an deren Selbständigkeit niemand zweifelt, doch auch durch die .Interzellularbrücken und die Kromayerschen Fasern kontinuierlich miteinander verbunden sind. Wollte man annehmen, dafs die im ausgebildeten Zustande gefundene protoplasma- 1) J. G.Lache, Contact et continuit& des neurons. Comptes rendus hebd. des seances de la societe de biologie. Tome LVI, No. 12, 1906, 8. 569—570. 2) P. Lasareff, Jonentheorie der Nerven- und Muskelreizung. Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie 1910. Bd. 135, 8. 196 — 204 Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 13 tische und neurofibrilläre Kontinuität im Laufe der Entwieklung erworben wäre, so mülste dies entwicklungsgeschichtlich nachweisbar sein. Die Studien über die Bildung der Nerven waren anfangs embryo- logische, in neuerer Zeit kamen histogenetische und experimentelle Unter- suchungen hinzu. Als Beweis der Selbständigkeit der Neurone galt von Anfang an der Nachweis von His‘), dals die Nervenfasern als Fortsätze der Neuro- blasten hervorwachsen und in den Gewebslücken vordringen. Diese Hissche „Ausläufer-, oder Auswachsungstheorie“, die an die Beobachtungen von Bidder und Kupffer anknüpft, ist von zahlreichen Untersuchern für alle Tierabteilungen bestätigt worden. Sie fand aber von Anbeginn an Widerspruch. Zunächst entstanden im Lager der Anhänger der Neuronentheorie selbst Gegensätze Ein Teil der Untersucher fand als erste Anlagen der Nerven protoplasmatische, homogene, kernlose Stränge, andere sahen fibrillär gestreifte Stränge, und wieder andere stellten fest, dafs die ersten Nerven- anlagen aus Zellen bestehen, die zu Ketten aneinander gereiht sind. Diese Widersprüche sind wohl darauf zurückzuführen, dafs die Untersuchungen zumeist nur an einer einzigen Tierart und an zu wenigen, in der Regel zu alten Entwicklungsstufen ausgeführt wurden. Die Zellenkettentheorie sing, wie ich schon im Jahre 1906°) hervorgehoben habe, von Beobach- 1) W. His, Über die Anfänge des peripheren Nervensystems. Arch. f. Anat. 1879. —, Über das Auftreten der weilsen Substanz und der Wurzelfasern am Rücken- mark menschlicher Embryonen. Arch. f. Anat. 1893. —, Zur Geschichte des menschlichen Rückenmarks und der Nervenwurzeln. Abh. d. Kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wiss., math.-phys. Kl., 1886. XII. 6. —, Zur Geschichte des Gehirns, sowie der zentralen und peripheren Nervenbahnen beim menschlichen Embryo. Ebdendaselbst XIV. 7. —, Die Neuroblasten und deren Entstehung im embryonalen Mark. Ebendaselbst xXV.4. 1889. —, Histogenese und Zusammenhang der Nervenelemente. Internat. med. Kongrels zu Berlin 1890. — , Über der Aufbau unseres Nervensystems. Verh. d. Gesellsch. deutscher Natur- forscher nnd Ärzte 1893. : — , Die Entwieklung des menschlichen Gehirns während der ersten Monate. Leipzig 1904. 2) R. Zander, Über Bildung und Regeneration der Nerven, s. oben 1. ce. 14 R. Zander, tungen an niederen Wirbeltieren, vornehmlich Selachiern, aus, deren erste Nervenanlagen einen sehr grolsen Kernreichtum zeigen. Die Auswachsungs- theorie stützte sich auf Beobachtungen an höheren Wirbeltieren, besonders Säugetieren, bei denen die jungen Nerven kernarm, auf manchen Stadien -kernfrei gefunden werden. Viel Verwirrung ist in die Streitfrage dadurch hineingetragen, dafs kernhaltige Territorien als Zellen bezeichnet wurden, dals man von Zellen spricht, wo nur Kerne zu sehen sind. Bis zum heutigen Tage beruhen Irrtümer in der Deutung der Befunde häufig darauf, dafs man Zellen annimmt, wo sie nicht vorhanden sind. Offenbar ist es korrekter, statt von Zellenketten von kernhaltigen fadenförmigen Syneytien zu sprechen. Auf den Streit, der wegen der Bedeutung und Herkunft der Kerne im Bereich ‘der Nervenanlagen seit lange und aueh noch gegenwärtig besteht, gehe ich nicht ein, weil es sich für mich an dieser Stelle nur darum handelt, ob bei der Bildung der Nerven morphologisch abgegrenzte selbständige Nerveneinheiten vorkommen. Ich werde zunächst die wichtigsten Einwände, welche die Gegner der Neuronentheorie gegen die Beobachtungen der Anhänger der Aus- wachsungstheorie vorgebracht haben, einer Kritik unterziehen. Die gröfste Beachtung haben die Einwände von Hensen gefunden. Hensen') trat in mehrfachen Veröftentlichungen gegen die Hissche Aus- wachsungslehre auf. Anknüpfend an die Anschauungen von ©. E. v. Baer’), nach denen „der Nerve seiner Ausdehnung nach immer ganz da ist und beide Enden hat, das zentrale wie das peripherische“, kam Hensen zunächst auf Grund theoretischer Erwägungen zu der Annahme, „dafs die Nerven 1) V. Hensen, Über die Entwicklung des Gewebes im Schwanz der Froschlarve. Virchows Archiv. Bd. 31. 1864. —, Über die Nerven im Schwanz der Froschlarve. Arch. f. mikrosk. Anatomie. Bd. 4. 1868. —, Beobachtungen über die Befruchtung und Entwicklung des Kaninchens und Meerschweinehens. Zeitschr. f. Anatomie und Entwicklungsgeschichte 1875/76. —, Die Entwicklungsmechanik der Nervenbahnen im Embryo der Säugetiere. Kiel und Leipzig 1903. ; 2) C.E. von Baer, Über Entwickelungsgeschichte der Tiere. I. Bd. Königsberg 1828, 8. 110. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 15 niemals ihrem Ende zuwachsen, sondern stets mit denselben verbunden sind“, weil er sich keine Einriehtung zu denken vermochte, die die Nerven an ihr richtiges Ende leiten. Er versuchte zu zeigen,') „dals für die Nerven ein Zwang vorhanden sein mülste, der es bewirke, dafs Anfang und Ende richtig verbunden seien und verbunden bleiben“ und erblickte diese „Zwangs- lage“ darin, „dals sich Anfangs- und Endzelle bei ihrer Entstehung durch die Zellteilung nicht vollkommen von einander trennen, sondern durch einen zu Nervensubstanz werdenden Faden im Zusammenhang bleiben“. „Fort- gesetzte derartige Teilungen führen mit der Zeit zu einem unendlichen Netzwerk von Fasern“, den „Urnervenbahnen“. Von diesen erhält sich dasjenige, „was für den Körper verwendbar ist und benutzt wird, die nicht tätigen Wege atrophieren“. Die „Urnervenbahnen“ glaubt Hensen in den feinen Protoplasmafäden gefunden zu haben, die er zwischen Medullarrohr, Ursegmenten und Ektoderm und in den Radiärfasern und der Spongiosa des Medullarrohres nachweisen konnte. Sie sollen bei der Bildung der Nerven benutzt werden respektive sich partiell in die Nerven umwandeln. Hensen hat, hauptsächlich in der Arbeit vom Jahre 1903, nachzuweisen versucht, dals seine theoretisch gewonnene Ansicht für die motorischen Nerven, die Nerven in den Zentralorganen, für die hinteren Wurzeln, für die tief liegenden Enden der sensibeln Nerven und für den Sympathicus zutrifft. Auffallender Weise sind die ontogenetischen Beweise, die Hensen als Stütze seiner Lehre mitgeteilt hat, von den Anhängern seiner T'heorie, der sogenannten „Kontinuitätstheorie“, kaum berücksichtigt, jedenfalls nicht bestätigt worden. Ich habe durch wiederholtes sorgfältiges Studium der Hensenschen Arbeiten, insbesondere der Arbeit über „die Entwicklungs- mechanik der Nervenbahnen im Embryo der Säugetiere“ nicht den Ein- druck gewonnen, dafs Hensens Beobachtungen zwingende Beweise seiner theoretisch gewonnenen Anschauungen liefern. Seine scharfsinnigen Dar- legungen vermögen meiner Ansicht nach höchstens zu zeigen, dafs einzelne seiner Beobachtungen im Sinne seiner T'heorie gedeutet werden können aber durchaus nicht müssen. Der theoretischen Begründung der Kontinuitätstheorie durch Hensen 1) 1.c. 1903 und 107, 8. 995. 16 R. Zander, sind vornehmlich Gegenbaur und seine Schule gefolgt, bestimmt durch vergleichend-anatomische Beobachtungen. Fürbringer, der die Nervenbildung wiederholt, besonders aus- führlich in seiner neuen Bearbeitung des Lehrbuchs der Anatomie des Menschen,') erörtert hat, ist ein unbedingter Anhänger der Theorie vom ununterbrochenen primordialen Zusammenhang zwischen den Nervenzellen untereinander und zwischen den Nervenzellen und den Endorganen. Ihre Begründung erblickt er in den Befunden der vergleichenden Anatomie. Er weist darauf hin, wie bereits bei manchen Protozoen die ersten Dif- ferenzierungen des Protoplasmas zu muskulösen Gebilden auftreten, wie unter den Metazoen zunächst bei Hydra und Verwandten ein Teil der Ektodermzellen durch Auswachsen basaler muskulöser Fortsätze zu „Epithel- muskelzellen“ werden, wie bei den Würmern aus diesen Epithelmuskelzellen durch unvollständige Teilung eine oberflächliche Epithelzelle und eine tiefere motorische Zelle entsteht, deren Verbindungsbrücke zu einem langen feinen Protoplasmafaden wird, sobald die Zellen sich voneinander entfernen, und wie durch Differenzierung aus diesen eine empfindende Nervenzelle, eine reizleitende Nervenfaser und eine motorische Muskelzelle wird. Ent- sprechende Verhältnisse finden sich nach Fürbringer auch bei höheren Tieren. Den Beweis für diese Angabe aber erbringt er nicht. Er gesteht auch unumwunden zu, dals diese bei den niederen Tieren leicht verständ- lichen Verhältnisse bei dem zusammengesetzten Körperbau der höheren derartige Komplikationen eingegangen oder durch andere sich drängende Differenzierungen derartig verdeckt worden sind, dals wir von einer jeden überzeugenden Lösung zurzeit noch weit entfernt sind. Fürbringer behauptet auch, dafs er „in den Befunden der Ontogenie keine Instanz“ finde, „welche zur Annahme einer gesonderten Anlage von Nerv und Muskel nötigt“. Beide entstehen nach ihm in der Rückenstrecke des Embryo, welche einer kaudalwärts gehenden Verlängerung der vorderen Urmundslippe ihre Entstehung verdankt, jener Rückenstrecke, in der Ektoderm und Entoderm nie durch einen blastocoelen Hohlraum getrennt 1) Gegenbaurs Lehrbuch der Anatomie des Menschen. Achte umgearbeitete und vermehrte Auflage von M. Fürbringer. I. Bd. Leipzig 1909. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. Ur waren, sondern innerhalb welcher die ektodermalen und die entodermalen, den Nerven- und Muskelzellen Ursprung sebenden Epithelzellen in direkter Nachbarschaft und im primordialen interzellulären Plasmaverbande mit- einander stehen. Hensen') hatte den primordialen Zusammenhang von Muskel- und Nervenzelle daraus erklärt, dafs die Zellen der Urwirbel aus dem Ektoderm stammen, von dem sie sich mit dem Auftreten und der Umbildung des Primitivstreifs abspalten. Dies dürfte kaum die-Zustimmung der Embryologen finden. Zieht man ferner in Betracht, dafs die ver- gleichende Embryologie hinsichtlich der Bildung des Mesoblasts und der Ursegmente bis jetzt keineswegs zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangt ist — ich erinnere an die jüngste Darstellung dieser Vorgänge durch Hubrecht°’) —, so ergibt sich, dafs die Verhältnisse nicht so klar liegen, wie es nach der Auffassung von Hensen und Fürbringer scheinen könnte. Jedenfalls haben die Anhänger der Kontinuitätstheorie bisher den primordialen Zusammenhang zwischen Medullarrohr und Ursegment nicht beweisen können. Freilich ist an der Existenz des von Hensen entdeckten proto- plasmatischen Faserwerks zwischen Medullarrohr und Ursegment, die der- einst von Kölliker’) bestritten wurde, nach den Beobachtungen von Szily,‘) die Held’) bestätigen konnte, nicht zu zweifeln. Wenn das Faserwerk von Hensen auch viel einfacher als von Szily und Held dargestellt wird, so ist es doch in topographischer Hinsicht identisch. Eine andere Frage aber ist es, ob dieses Fadenwerk als primäre oder sekundäre Bildung anzusehen ist. D217e-31903218710: 2) Hubrecht, Die Säugetierontogenese in ihrer Bedeutung für die Phylogenie der Wirbeltiere. Jena 1909. Kapitel II. 3) A. Kölliker, Entwieklungsgeschichte des Menschen und der höheren Tiere. Leipzig 1879, S. 719. #) Aurel von Szily, Zur Glaskörperfrage. Eine vorläufige Mitteilung. 1904. Anat. Anzeiger XXIV. Nr. 16/17. 8. 417—428. —, Über das Entstehen eines fibrillären Stützgewebes im Embryo und dessen Ver- hältnis zur Glaskörperfrage. Anatom. Hefte. 107. Hft. 1908. 8. 649— 757. 5) Hans Held, Die Entwickelung des Nervengewebes. Leipzig 1909. Nora Acta XCVII. Nr.]l. 3 18 R. Zander, Oskar und Richard Hertwig') haben sich auf Grund von Untersuchungen über das Nervensystem wirbelloser Tiere, der Medusen, Ütenophoren, Aktinien, Chaetognathen, im Gegensatz zu Hensen dahin ausgesprochen, dals die protoplasmatischen Verbindungen, aus denen sie in Übereinstimmung mit Hensen die Neurofibrillen hervorgehen lassen, sekundäre Bildungen sind, die zu einer Zeit sich ausbilden, wo die nervösen Zentral- und Endorgane noch näher zusammenliegen. Auch Held’) hat sich ent- schieden gegen die Hensensche Auffassung und für die Hertwigsche ausgesprochen. Er erklärte, die Hensensche Hypothese, dafs alle Nerven durch unvollkommene Trennung der Anfangs- und Endzellen entstanden sind, könne nicht richtig sein, weil sie nicht durchzuführen wäre, sobald man genau die einzelnen Phasen in der Entwicklung bestimmter Organ- anlagen und ihre gegenseitigen Beziehungen betrachte. Held erläutert dies im besonderen an der Entwicklung der motorischen Nerven des Frosches, indem er darauf hinweist, dals bei der Blastula das Blastocoel nicht von Zellbrücken durchzogen ist und dafs deshalb die später zwischen Medullarrohr und Urwirbel ausgespannten Plasmafäden sekundär entstanden sein müssen. Für die Anamnier und die Amnioten hat Held den Nachweis erbracht, dafs das Fadennetzwerk zwischen Medullarrohr, Ektoderm, Ur- wirbel und Chorda durch das Auswachsen der basalen Enden der Zellen an den einander zugekehrten Flächen dieser Gebilde entsteht. Von dem Faserwerk zwischen Medullarrohr und Myotom bemerkt er, dals es zum Teil von den Zellen des Medullarrohrs, zum grölseren Teil aber von den Zellen des Myotoms her ausgewachsen ist. Später gehen Bindegewebszellen mit den Fäden dieses Fasernetzes sekundäre Verbindungen ein, so dals die Epithelzellen der verschiedenen Keimblätter und die Zellen des Mesenchyms an seinem Aufbau beteiligt sind. Auch hinsichtlich der Bildungsweise der sensiblen Nerven stehen sich bis zur Stunde die Ansichten schroff gegenüber. In Übereinstimmung 1) Oskar und Richard Hertwig, Das Nervensystem und die Sinnesorgane der Medusen. Leipzig 1878 und Oskar Hertwig, Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte. VIH. Aufl. 1906. S. 515. 2) Held, 1.c. 1909. 8. 276. Beitrag zur Kritik der Berechtigung .der Neuronentheorie. 19 mit Hensen nimmt Fürbringer an, dafs alle sensiblen Nerven mit Epithelzellen endigen und dafs keine freien Nervenendigungen vorkommen. Fürbringer') hält „die freie Endigung zwischen den Zellen (wenn sie wirklich existiert und nicht blofs der Ausdruck unserer momentanen Unter- suchungstechnik ist) nicht für das ursprüngliche“. Auch Dogiel’) kam zum Ergebnis: „Freie Endigungen peripherer Nerven existieren nicht“. Ebenso trat O. Schultze für diese Ansicht ein. Demgegenüber hob Heiden- hain°) jüngst hervor, „dals ein sehr grolser Teil der sensiblen bezw. rezeptorischen Nervenfasern überhaupt keine Endorgane in diesem Sinne besitzen. Vielmehr fungieren in den meisten Fällen die peripheren Enden der Nerven selbst als rezeptorische Apparate. Die Debatte über das primäre Verhältnis zwischen Nerv und Endorgan bewegen sich daher zum Teil auf der Basis der Fiktion.“ Diese Beispiele aus der neuesten Literatur genügen wohl, um zu zeigen, dals die zur Stütze der Kontinuitätstheorie herangezogenen phylo- genetischen und ontogenetischen Beobachtungen bis jetzt eine Entscheidung nicht gebracht haben. Wenn Hensen zur Aufstellung der Kontinuitätstheorie bestimmt wurde, weil er sich keine Einrichtung zu denken vermochte, die die Nerven an ihr richtiges Ende leiten, so muls betont werden,‘) dafs es nicht weniger unverständlich und wunderbar ist, wenn von den zahllosen Urnervenbahnen immer nur ganz bestimmte. und immer die richtigen zu den definitiven Nerven umgewandelt werden. Von den Autoren, die sich in neuerer Zeit für die Kontinuitätstheorie ausgesprochen haben, kam. ©. Schultze’) zu dem Ergebnis, dals das 4712702 19097287501. 2) A. Dogiel, Über die Nervenendigungen in den Grandryschen und Herbstschen Körperchen im Zusammenhange mit der Frage der Neuronentheorie. Anatom. Anzeiger 1904. XXV. 8.506. 3) 1. ce. S. 784. 4) Zander, Über Bildung und Regeneration der Nerven. 1. c. 5) Oscar Schultze, Über die Entwicklung des peripheren Nervensystems. Verh. d. anatom Gesellsch. Jena 1904. — , Nachtrag zu meinem auf der Anatomenversamlung in Jena gehaltenen Vortrag über die Entwicklung des peripheren Nervensystems. Anatom. Anz. 1904. Bd.25. 3*+ 20 R. Zander, gesamte Nervensystem aus Neuroblasten hervorgeht, die teils zu Nervenzellen, teils zum Zwecke der Reizleitung zu syneytial vereinisten-Nervenfaserzellen werden. Diese Ansicht hat Held’) mit grolser Enschiedenheit zurück- gewiesen, weil seiner Ansicht nach ©. Schultze die ersten Entwieklungs- stadien der frühen Amphibiennerven bisher ganz ununtersucht gelassen habe. Das, was Schultze als Neuroblasten bezeichnet, sollen die Schwannschen Zellen sein, die die anfangs kernfreien Nerven „erst nach relativ langer Zeit einhüllen und begrenzen; indem sie als periphere Gliazellen längs einer schon vorhandenen und funktionsfähigen Nervenbahn vorrücken, können sie un- möglich Neuroblasten sein“. Wenn Schultze?) in einer Auseinandersetzung mit Held zugesteht, dals er es niemals bezweifelt hätte, dals die neuro- fibrilläre Differenzierung in den Nervenanlagen zentral beginnt und peripher- wärts fortschreitet, so ist dies meiner Ansicht nach nicht im Sinne der Kontinuitätstheorie zu verwerten. Jedenfalls können die Beobachtungen von Schultze nicht als einwandfreier Beweis für die Richtigkeit der Kontinuitäts- theorie betrachtet werden. Die Anhänger der Auswachsungstheorie haben an Stelle der im mancher Hinsicht unvollkommenen Golgischen Methoden mit den neuesten Untersuchungsmethoden immer wieder und wieder die Entwieklung der Nerven mit dem gleichen Erfolge untersucht. 8. Ramön y Cajal’) Oscar Schultze, Beiträge zur Histogenese des Nervensystems. I. Über multi- zelluläre Entstehung der peripheren sensiblen Nervenfaser und das Vorhanden- sein eines allgemeinen Endnetzes sensibler Neuroblasten bei Amphibienlarven. Arch. f. mikrosk. Anat. 1905. Bd. 66. —, Die Kontinuität der Organisationseinheiten der peripheren Nervenfaser. Pflügers Archiv. 108. Bd. 1905. —, Weiteres zur Entwicklung der peripheren Nerven. Verh. d. phys. med. Ges. zu Würzburg. Bd. 37. 1905. — , Zur Histogenese der peripheren Nerven. Verh. d. anatom. Ges. zu Rostock. 1906. —, Zur Histogenese des Nervensystems. Sitzungsber. der Berliner Akademie der Wissenschaften. VI. 1908. 1. ce. 1909. 8. 254 ff. AO Be 39) 8. Ramön y Cajal, Nouvelles observations sur l’&volution des neuroblastes avec quelques remarques sur l’hypothese neurogenetigue de Hensen-Held. Anatom. Anz. Bd. 32. 1908. Nr. 1/2, S. 1—25 und Nr. 3/4, 8. 65— 87. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 21 bleibt auch in seiner letzten Publikation über diesen Gegenstand seiner alten Anschauung treu und lehnt vollkommen die Resultate ab, zu denen Held!) bei seinen Untersuchungen über die Histogenese der Neurofibrillen hinsichtlich der Nervenbildung gelangt war. Den Heldschen Untersuchungen kommt wegen des reichen Beobachtungsmaterials, das sich auf Embryonen aller Wirbeltierklassen erstreckt, eine sehr grofse Bedeutung zu. Held gelangt zu einer zwischen der Auswachsungs- und Kontinuitätstheorie ver- mittelnden Ansicht über die Nervenbildung. Er stellte fest, dafs die Bildung der Neurofibrillen sehr frühzeitig in den Hisschen Neuroblasten beginnt. Die Neurofibrillen wachsen aus ihnen heraus und treten mit den Neuro- fibrillen benachbarter Neuroblasten in Verbindung und liefern den Nerven- fortsatz. Nach Gierlich und Herxheimer?) sollen die Fibrillen von den Fortsätzen her in die Zelle eindringen. Held bestreitet, dafs der Nerven- fortsatz, wie His und die Anhänger der Auswachsungstheorie annehmen, in den Gewebslücken mit freiem Ende vorwärts wächst und zum Endorgan gelangt. Er nimmt an, dafs er innerhalb der nicht nervösen protoplasmatischen Fäden, bezw. der Zellen des Szilyschen Netzes, das Medullarrohr, Chorda, Ursegment und Hornblatt verbindet, vorrückt, wobei die Substanz der Fäden des Netzes an der Bildung der Neurofibrillen Anteil hat. Der Nerv ist demnach nicht allein das Produkt des Neuroblasten, sondern auch der Plasma- fäden und der Zellen, die später mit diesem Netzwerk in Verbindung treten. Dieses gemeinsame Produkt nennt Held „Neureneytium“. „Das Nerven- system ist ein vom Neuroblasten her entwickeltes Neureneytium.“* Auf Grund seiner Beobachtungen erklärt sich Held gegen die Neuronentheorie. Die reifen Nervenzellen sind keine Nerveneinheiten, sondern der Sammelpunkt zahlreicher Fibrillenbahnen, die von verschiedenen Gebilden gleicher Be- deutung herstammen und hier eine neue Gruppierung und Ordnung erhalten. Die neurofibrillären Substanzen, die von Neuroblasten ausgehen, dann inner- halb der protoplasmatischen Fäden des Szilyschen Netzes ohne Rücksicht auf Zellgrenzen vorrücken und auch in die Innervationsorgane, Muskeln, Drüsen, Häute usw. eindringen, sind demnach nicht neuronenmälsig verteilt. 1) ]. ec. 1909. 2) Nikolaus Gierlich und Gotthold Herxheimer, Studien über die Neuro- fibrillen im Zentralnervensystem. Wiesbaden 1907. DD 22 R. Zander, Held begründet seine Annahme von der Beteiligung der Plasmafäden an der Fibrillenbildung hauptsächlich darauf, dafs er die Fibrillen stets inner- halb der Fäden des Netzes sieht. Er vermochte freilich nieht R. y Cajal hiervon zu überzeugen, der nach wie vor behauptet, dals sie in den Lücken des Netzes liegen und vordringen. Ich halte es für wohl möglich, dafs das Plasma, in dem Held die Fibrillen eingelagert sieht, aus dem Neuroblasten stammendes perifibrilläres Plasma ist oder durch Zusammenflielsen dieses mit dem Plasma der Fäden des Szilyschen Netzes entstanden ist. Wenn eine zähflüssige Masse, als die man sich doch wohl den aus dem Medullarrohr austretenden Neuroblastenfortsatz vorzustellen hat, in das wasserdurehtränkte Schwammwerk zwischen Medullarrohr und Ursegment hineingelangt, so wird sie längs der Protoplasmabälkchen, auf die sie stölst, flielsen, falls der Wachstumsdruck nicht anders gerichtet ist und die Adhäsion überwindet. Auf einzelnen Abbildungen Helds zeigen die Fibrillenbündel strecken- weise einen zackigen Verlauf entsprechend der Form der Netzmaschen. Ein Teil der von Held eigenhändig gezeichneten Abbildungen, die doch also wohl möglichst genau seine Ansicht zeigen, erweckt den Eindruck, dals dies vorrückende Fibrillenbündel sich nicht an die Fäden des Netzes ge- halten hat, sondern quer durch die Maschen des Netzes hindurch gedrungen ist. Die Erklärung, die Held dafür gibt, dafs immer nur bestimmte Fäden des Netzes die Fibrillen leiten und bilden, ist mir nicht einleuchtend und überzeugend. Sie stützt sich nicht auf Beobachtungen, sondern auf theoretische Erwägungen. Dafs Held am Aufbau der Fibrillenbündel ein Netzwerk anteilnehmen Jläfst, das von Elementen aller drei Keimblätter und des Mesenchyms gebildet wird, erscheint mir sehr auffallend und wenig wahr- scheinlich, da alle Untersuchungen der neueren Zeit übereinstimmend die ektodermale Herkunft des gesamten Nervensystems festgestellt haben. Heidenhain') spricht sich sehr entschieden gegen die Heldsche Auffassung aus. Er hat wohl Recht mit der Annahme, dafs das so „überaus fremd- artige und unwahrscheinliche Resultat Helds sich daraus erkläre, dals Held die von den Neuroblasten auswachsenden Fasern als Neurofibrillen und nicht als Achsenzylinder ansieht.“ 1) 1. ce. S. 780 ff. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 23 Leider haben auch die experimentellen Untersuchungen, die in der Absicht, über die Bildung der Nerven Licht zu schaffen, von mehreren Forschern im letzten Jahrzehnt angestellt worden sind, nicht eine Ent- scheidung herbeigeführt. Braus') machte die Beobachtung, dafs eine ganz junge nur aus indifferentem Gewebe bestehende Extremitätenanlage einer Unkenlarve, die auf eine andere Unkenlarve transplantiert wurde, zu einer Gliedmasse von normalem Bau und mit normal angeordneten Nerven heranwuchs, dals dagegen die Gliedmalsenanlage, die von einer ganz früh des Rückenmarks beraubten Unkenlarve entnommen und auf eine normale Larve transplantiert war, zu einer wohl in der äulseren Form normalen und mit normalen Muskeln, Stützgewebe und Gefälse versehenen aber völlig nervenlosen Extremität wurde Braus erblickte in diesen Beobachtungen einen Beweis für die Hensensche Kontinuitätstheorie. Harrison’) wieder- holte beide Versuche und erzielte im ersten Falle das gleiche Ergebnis wie Braus; beim zweiten Versuch fand er jedoch im Gegensatz zu Braus, dals die transplantierte Extremität, die von dem nervenlosen Tier herstammte, normale Nerven enthielt. Er machte noch ein drittes Experiment. Es ge- lang ihm ein Tier, das er durch frühzeitige Abtragung des Medullarrohres nervenlos gemacht hatte, und auf das er dann eine normale Extremitäten- knospe einer anderen Unkenlarve verpflanzt hatte, einen Monat lang am Leben zu halten. In der inzwischen herangewachsenen transplantierten Gliedmasse fand er die Nerven entartet. Harrison deutete seine Beobachtungen im Widerspruch zu Braus als Stütze der Hisschen Auswachsungstheorie. Fast noch gröfseres Aufsehen als diese Experimente Harrisons machten seine Versuche, das Auswachsen der Nerven direkt unter dem Mikroskope zu studieren.’) Er schloßs Stücke des Medullarrohres eines Froschembryos !) H. Braus, Einige Ergebnisse der Transplantation von Organanlagen bei Bombinator- larven. Verh. d. anatom. Ges. XVII. Vers. in Jena. Ergänzungsheft zum anat. Anzeiger. Bd. XXV. 1904. S. 53—65. —, Experimentelle Beiträge zur Frage nach der Entwickelung der peripheren Nerven. Anatom. Anzeiger. Bd. XXVI. 1905. Nr. 17/18. 8. 433 — 479. 2) R.G. Harrison, Experimeuts Transplanting Limbs and their Bearing upon tlıie Problems ofthe Development of Nerves. Journal of experimental Zoology. Bd. IV. 1907. P. 239 — 281. 3) R. G. Harrison, Öbservations on the Living Developing Nerve Fibre. Proceed. Society of Experimental Biol. and Med. Vol. 1V, No. 6, p. 140—143, 1907 und The Anatomical Record No. 5. 24 R. Zander, unter einem Deckglas in Froschlymphe ein. An solchen Präparaten blieb das Gewebe ein bis vier Wochen lang am Leben und er konnte sehen, wie Nervenfasern heraustraten und sich in die umgebende geronnene Lymphe hineinbegaben. Die freien Enden zeigten eine gewisse Ähnlichkeit mit Rhizopoden. Sie stellten eine Protoplasmamasse mit amoeboiden Bewegungen dar. Mit dieser Beobachtung schien ein für allemal das freie Auswachsen der Nerven endeiltig entschieden zu sein. Indessen, während Driesch') die Hissche Theorie hierdurch für bewiesen hielt, kam Schaepi’) zu dem Ergebnis, dals alle diese Befunde im Sinne der Hensenschen Kontinuitäts- theorie gedeutet werden könnten. Während Harrison aus seinen Versuchen den Schlufs zog, dals die Nervenfasern im Embryo einzig und allein durch das Ausflielsen des bewegunssfähigen Neuroblastenprotoplasmas sich ent- wickeln, zeigen nach der Ansicht von Held’) diese Experimente nur, „mit welcher Energie die neurofibrilläre Zellsubstanz aus der fibrillogenen Zone des Hisschen Neuroblasten hervorwächst“, sie sagen aber nichts über die weitere Bildung des Nerven aus. Harrison‘) hat dann seine Experimente im Jahre 1910 wiederholt und erweitert. Er führte vier Reihen von Versuchen aus: i. Er entfernte ausgiebige Stücke des Neuralrohrs von Froschlarven vor dem Beginn der histologischen Differenzierung und stellte dann fest, dafs die peripherischen Nerven, die normaler Weise von dem abgetragenen Bezirk des Neuralrohrs geliefert werden, fehlen. 2. Um die Protoplasmabrücken, aus denen die Kontinuitätstheorie die Nerven hervor- gehen lälst, auszuschalten, entfernte Harrison verschiedene Gebiete aus dem embryonalen Körper, während wenigstens einiges von den Nerven- zentren intakt blieb. Dadurch wurde jede funktionelle Tätigkeit aus- )) Driesch, Die Entwickelungsphysik. Ergebnisse der Anatomie und Entwickelungs- geschichte, herausgeg. von Merkel und Bonnet. XVII. Bd. 1907 (erschienen 1909). S. 94. 2) Th. Schaepi, Kritische Bemerkungen zur Frage nach der Entstehung der Nerven. Anatom. Anz. XXXV.Bd. Nr.4. 8.81—88. 1909. 3) 1909 1. ec. S. 260. 4) R.G. Harrison, The Outgrowth of the Nerve Fibre as a Mode of the Protoplas- matie Movement. Journ. experim. Zoology. Val. IX. 1910. No. 4. P. 789— 846. —, The Development of Peripheral Nerve Fibres in Altered Surroundings. Arch. f. Entwickelungsmechanik der Organismen. 30. Bd. (Festschrift für Roux). 1910. 8. 14—33. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 25 geschaltet. Er stellte danach fest, dals die Nervenfasern, welche mit den zurückgebliebenen Nervenzentren verbunden sind, sich in der veränderten Umgebung, d.h. im Mesenchym, statt in der Wand des Neuralrohrs ent- wickeln. 3. Harrison verpflanzte Stücke des Zentralnervensystems von Froschembryonen auf fremde Körpergebiete. Es bildeten sich dann Nerven- fasern, die mit den verpflanzten "Teilen des Zentralnervensystems verbunden waren an Stellen, wo normaler Weise keine Nerven gefunden werden. 4. Er schaltete die Protoplasmabrücken dadurch aus, dals er einen Teil des embryonalen Zentralnervensystems durch ein Blutgerinsel ersetzte, und fand dann, dafs die Nervenfasern in das Gerinsel eindringen. Der Haupt- schlußs, der nach der Meinung von Harrison aus diesen Experimenten gezogen werden muls, ist, dals die Nervenfasern (Axonen) nicht aus Proto- plasmabrücken zwischen den Zellen des embryonalen Körpers sich differen- zieren, sondern dafs sie aus der Substanz der Nervenzellen, die in den Nervenzentren gelegen sind, entstehen und sich von hier aus allmählich gegen ihre peripherische Endigung ausdehnen. Es ist klar, dals die Ganglienzellen der beherrschende Faktor in dem Bilde der peripherischen Nerven sind. Sie besitzen die Fähigkeit, diesen den Ursprung zu geben unter fast allen Bedingungen, die beim Embryo vorkommen und selbst in solehen fremden Substanzen wie Blutgerinsel, die in den Körper hinein- gebracht sind. Andererseits hat die Entfernung der Nervenzellen voll- ständige Unterdrückung der Bildung der peripherischen Nerven zur Folge. Burrows') bestätigte die Beobachtungen über das Auswachsen der Nerven aus isolierten Neuroblasten von Hühnerembryonen. Auf der letzten Naturforscherversammlung in Heidelberg (1911) berichtete Braus°’) über neue Experimente, sowohl T'ransplantationen von isolierten Extremitätenknospen als auch über Isolationsversuche von Neuro- blasten im hängenden Lymphtropfen, mit dem gleichen Erfolge wie Harrison, bekannte sich aber auf Grund derselben als Anhänger der Neureneytium- theorie Helds. !) M. T.Burrows, Cultures des tissues d’embryon de poulet et specialment cultures des nerfs de poulet en dehors de l’organisme. Compt. rend. Soc. biol. Paris. T. 69. 1910. P.291— 292. 2) H. Braus, Die Entstehung der Nervenbahnen. Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte. 1911. I. Nova Acta XCVII. Nr. 1. 4 26 R. Zander, So haben denn sowohl die entwickelungsgeschichtlichen wie die histogenetischen und experimentellen Untersuchungen den Streit über die Bildungsweise der Nerven nicht zur Ent- scheidung gebracht. Im Gegenteil, statt der früheren, sich bekämpfenden zwei Ansichten gibt es nun noch eine dritte. Immerhin aber sind doch gewisse Fortschritte festzustellen. Die Untersuchungen der neueren Zeit haben zweifellos bewiesen, dafs der Neuroblast bei der Entwieklung die wesentlichste Rolle spielt, indem er den neurofibrillären Neuriten entsendet. Die Wachstumskeule Cajals (die seit langer Zeit als das Ende des frei auswachsenden Neuriten aufgefalst worden ist, der die Gegner der Auswachsungslehre diese Bedeutung aber immer wieder und wieder ab- gesprochen haben, zeigt in ihren Formverhältnissen eine solche Überein- stimmung mit dem Ende der lebenden Nervenfaser, die Harrison und Braus in ihren Experimenten direkt beobachten konnten, dafs an ihrer Identität wohl niemand mehr zweifeln wird. Damit dürfte denn auch der Einwand der Gegner der Auswachsungstheorie, dafs noch niemand das Ende des auswachsenden Nerven gesehen hätte, ein für alle Mal beseitigt sein. Ich habe meine im Jahre 1906') auf Grund von eigenen histo- logischen und entwickelungsgeschichtlichen Beobachtungen, die freilich nur spärlich waren, und durch umfangreiche kritische Studien gewonnenen Ansichten über die Bildungsweise der Nerven nach gründlichsten Studien aller neueren Arbeiten einer erneuten Prüfung unterzogen und bin durch sie nicht veranlafst worden, meine Ansichten in irgend einem wesentlichen Punkte zu ändern. Ich halte nach wie vor an folgender Auffassung fest: Die frühesten Stadien der Nervenanlagen sind entweder schmale Plasma- stränge, die von dem Zellkörper einer einzigen Nervenzelle ausgehen, oder breitere Plasmamassen, die von mehreren Nervenzellen oder von einem Syneytium, das, wie es scheint, als Vorläufer getrennter Nervenzellen vor- kommt, geliefert werden. In diese Plasmamassen treten Kerne aus dem Zentralorgan, bei den niederen Wirbeltieren sehr bald und sehr reichlich, bei den höheren Wirbeltieren später und spärlich. Es handelt sich in der Regel nicht um einen Übertritt von Zellen sondern von Kernen. Diese 1) R. Zander, Über Bildung und Regeneration der Nerven. 1.c. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 27 Kerne stammen wohl von den Kernen der Neuroblasten ab. Den in den Fortsatz eintretenden Kern habe ich als Nervenfaserkern von dem in dem Neuroblasten verbleibenden Nervenzellkern unterschieden. Die Weiter- bildung der Nervenanlagen vollzieht sich dann in der Weise, dafs der plasmatische Strang sich weiter ausdehnt und durch mitotische Teilung des Nervenfaserkerns') neue Nervenfaserkerne entstehen. So bildet sich schlielslich ein langer Protoplasmafaden mit zahlreichen Kernen, die je nach der Tierart näher oder weiter voneinander, aber in ziemlich regel- mälsigen Abständen sich finden. Die syneytiale Nervenanlage nimmt nicht ° nur an Länge sondern auch an Dicke zu und gliedert sich weiterhin durch Spaltbildungen oder Abgliederungen in Nervenfasern und Gruppen von Nervenfasern. Die histologische Differenzierung beginnt in den zentralen Nervenzellen und schreitet von dort aus peripherwärts fort. Sie führt zur Bildung der neurofibrillären Achsenzylinder, der Mark- und Schwannschen Scheide, und die Nervenfaserkerne werden zu den Kernen der Schwannschen Scheide. Die zentrale Zelle bewahrt dauernd ihre dominierende Stellung. Das Neuron hat offenbar nicht den morphologischen Wert einer Zelle Es ist das Produkt einer Zelle, das bei seinem Entstehen den Charakter eines Syneytiums besitzt, im ausgebildeten Zustand wohl besser als Organ zu bezeichnen ist. Höchstwahrscheinlich sind Neurone von gleichem Bau und gleicher Funktion zu Gruppen verbunden, die als unvoll- kommene zellige Gliederung eines Syneytiums oder als unvollkommene Teilung einer gesonderten Nervenzelle zu betrachten sind. Die widersprechenden Deutungen, die die Beobachtungen über die Nervenbildung gefunden haben, erklären sich zum Teil daraus, dafs man über den morphologischen Wert der in Frage kommenden Gebilde im unklaren geblieben ist. Unter dem Einflu(s der Zellenlehre hat man vielfach von Zellen geredet, wo es sich nur um Kerne innerhalb einer ungegliederten Protoplasmamasse handelte, wo also die Bezeichnung Synceytium’) am Platze 1) Möglicherweise könnten die Nervenfaserkerne an Ort und Stelle durch freie Kern- bildung entstehen. 2) Mit dem Ausdruck Syneytium soll eine Protoplasmamasse mit mehreren Kernen, ohne deutliche Abgrenzung von Zeilenterritorien bezeichnet werden, gleichviel ob sie durch Verschmelzung gesonderter Zellen oder durch unvollständige Teilung von Zellen entstanden sind. 4* [5 DD 8 R. Zander, gewesen wäre. Solche Syneytien können sich in mehr oder weniger voll- kommen abgegrenzte Zellen gliedern. Auch die Ausläufer der Neuroblasten sind in ihrer Wesenheit oft falsch beurteilt. Es ist der streifige oder homogene Faden, der aus dem isolierten Neuroblasten oder aus dem syn- cytialen Neuroblastenkomplex hervorgeht, keineswegs als Achsenzylinder anzusehen sondern als Vorstufe für zahlreiche Nervenfasern, die zu Bündeln von Nervenfasern und zu ganzen Nerven sich umgestalten. Die Beobachtungen der Nervenbildung beziehen sich fast ausschliels- “ lich auf jüngere Stadien, in denen die Nervenanlagen sich noch in der Nähe der Zentralorgane befinden. Über das weitere Vorrücken der Nerven- anlagen herrscht eigentlich noch vollkommenes Dunkel. Da meine eigenen entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen mich in dieser -Hinsicht auch nicht weiter gebracht haben, so suchte ich auf andere Weise mir darüber Klarheit zu schaffen, wie die Nerven zu ihrem Ziel gelangen, ob durch freies Auswachsen, wie die Anhänger der Auswachsungstheorie meinen, oder durch. Vermittlung präformierter nicht nervöser Gebilde, wie es Held annimmt. Ich konstruierte mir aus den topographischen Beziehungen der Nerven zu den anderen Organen während der aufeinander folgenden Ent- wicklungsstufen den Weg, den die Nerven von der Stelle ihres Hervor- sprossens aus dem Neuralrohr und den Ganglien an eingeschlagen hatten. Von den Nerven des fertig ausgebildeten Körpers will ich für die folgenden Betrachtungen die Hautnerven allein berücksichtigen, weil an ihrer An- ordnung besonders deutlich der Nachweis geführt werden kann, dafs sie durch freies Auswachsen der Nerven zustande gekommen sein muls und dals sie mit den Anschauungen der Kontinuitäts- und Neurencytiumtheorie Helds unvereinbar ist. Ich habe die Innervation der äufseren Haut des ausgebildeten Körpers teils allein, teils mit Unterstützung meiner Schüler E. Funke und V. Mertens sehr genau studiert und kann demnach sicher gestellte Tatsachen meinen Untersuchungen zu Grunde legen. Dafs die Anordnung der Muskelnerven zu den gleichen Folgerungen über die Weise der Nervenbildung nötigt, mag hier nur kurz erwähnt werden. In betreff? der Bildung der sensibeln Rückenmarksnerven liegen folgende Beobachtungen vor: Auf dem Querschnitt durch den Rumpf eines Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 29 Wirbeltierembryos, dessen Medullarrohr sich soeben geschlossen hat, liegt die Ganglienleiste zwischen der dorsalen Wand des Medullarrohres und dem Hornblatt. Trotzdem diese drei Gebilde unmittelbar aneinander grenzen, bildet sich doch zwischen ihnen keine Verbindung aus, die zu - bleibenden Nerven für die Rückenhaut werden, denn die Ganglienanlage rückt in späteren Stadien zwischen die laterale Fläche des Medullarrohrs und die mediale Fläche des Ursegments und gliedert sich hier in einzelne Ganglien, deren dorsaler Pol mit dem Medullarrohr in Verbindung bleibt oder, nach anderen Angaben, eine neue Verbindung mit dem Medullarrohr erwirbt, und deren ventraler Pol keine Verbindung mit dem. Hornblatt hat, sondern mit der motorischen Wurzel zum gemischten Nerven verschmilzt. Nach den Beobachtungen von Kupffer, van Wijhe, Dohrn, Kerr, Harrison, Held u.a. erreicht die motorische Wurzel,. die als plasmatischer Ausflufs aus der ventrolateralen Kante des Medullarrohrs hervortritt, die mediale Fläche des Ursesments und tritt mit ihr in Verbindung. Die Beobachtungen Helds zeigen, dafs zuvor ihr Ende sich in den dorsalen und ventralen Ast gabelt, die nun längs der medialen Fläche des Ur- segments dorsalwärts und ventralwärts vorrücken. Es mag dahin gestellt bleiben, ob dieses Vorrücken dadurch zustande kommt, dafs die in gleicher Richtung vorwachsende Muskelplatte des Ursesments die Nerven mitzieht, weil Muskelkeime und Nerv eine unlösliche Verbindung eingegangen sind, oder ob die Nerven selbständig neben dem Myotom vorwachsen. Durch die Verbindung des Spinalganglions mit der motorischen Wurzel gelangen die sensibeln Nerven in den gemischten Stamm der Spinalnerven und in seinen dorsalen und ventralen Ast und rücken mit dem Myotom zur Rückenfläche des Embryo und in seine seitliche Rumpfwand hinein. Um aber zu ihrem Ziel, zur Epidermis, zu gelangen, müssen sie entweder zwischen den Ursegmenten hindurch vordringen oder aber das Myotom durchsetzen, alsdann durch den Spaltraum zwischen ihm und dem Hautblatt und durch das Hautblatt selbst hindurch zum Hornblatt rücken, während die motorischen Fasern im Muskelblatt Halt machen und hier naturgemäls ihr Ende finden. Es ist demnach wohl als erwiesen anzusehen, dafs die motorischen Fasern vom Medullarrohr aus zum Myotom und die sensibeln Fasern vom Ganglion zur motorischen Wurzel, mit dieser verbunden zum 30 R. Zander, Myotom, darauf durch das Myotom und das Koriumblatt hindurch zum Hornblatt vorrücken. Ob dieses Vorrücken ein freies Vorwachsen eines undifferenzierten Neuroplasmafadens vom Medullarrohr und vom Spinal- ganglion aus durch die Gewebslücken hindurch zum Endorgan ist, wie His, Cajal u.a. angenommen haben, oder ob dabei Protoplasmabrücken benutzt und in den Nerven miteinbezogen werden, etwa in der Weise, wie es die neueste Lehre von Held darstellt, hat nur sekundäre Bedeutung. Es kann jedenfalls darüber kein Zweifel herrschen, dafs zwischen Spinal- ganglion und Haut weder eine ursprüngliche Verbindung, wie sie Hensen annimmt, noch eine so frühzeitige sekundäre Verbindung, wie sie zwischen Medallurrohr und Ursegment sich bildet, vorhanden ist, sondern dals der sensible Nerv auf dem Umwege durch die motorische Wurzel und weiter- hin durch das Ursesment hindurch zu seinem Ziel gelangt. Wollte man auch annehmen, dafs die motorischen Fasern mit den Zellen des Hautblattes verschmelzen und mit ihnen in dauernder Verbindung bleiben, wie grofs auch die Verlagerungen und Verschiebungen sein mögen, die diese Zellen und ihre Abkömmlinge durchmachen, so würde diese Annahme doch nicht die Anordnung und Verbreitungsweise der Hautnerven im ausgebildeten Körper zu erklären vermögen. Zunächst möchte ich auf die Tatsache hinweisen, dals die Endgebiete der sensibeln Wurzeln benachbarter Spinalnerven in der Haut sich mehr oder weniger decken oder, mit anderen Worten, .dals jede Hautstelle von zwei oder mehr Nervenwurzeln Fasern bezieht. Sie wurde bereits durch die physiologischen Versuche von Eckhardt (1849), Peyer (1855), Türck (1859), W. Krause (1865), Hein (1869) festgestellt und dann durch die umfangreichen physiologischen Experimente von Sherrington (1893—1898) noch dahin erweitert, dals das Endgebiet einer jeden sensibeln Spinalwurzel das Endgebiet der davor und der dahinter gelegenen Wurzeln zum Teil überdeckt (anterior and posterior overlap), und dals das Endgebiet eines jeden sensibeln Spinalnerven über die dorsale und ventrale Mittellinie hin- überreicht, so dafs die Haut zu beiden Seiten der Mittellinie von den Wurzeln der linken und rechten Seite innerviert wird (dorsal and ventral crossed overlap). Klinische Beobachtungen von Kocher, Coen, Head, Mackenzic, Blaschko u.a. haben gezeigt, dals die durch physiologische Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. - al Untersuchungen für Tiere festgestellte Innervation der Haut auch für den Menschen silt. Die anatomische Bestätigung steht noch aus. Die Forscher, welche die Segmentalinnervierung studiert haben (Herrinsham, Paterson, Bolk, Fröhlich, Grosser) verfolgten die Hautnerven nur bis zur Haut oder eine kurze Strecke weit in sie hinein. In ihren Abbildungen sind darum die Endgebiete der einzelnen sensibeln Wurzeln gegen die benachbarten scharf abgegrenzt und greifen nicht in sie über. Dagegen ist es mir und meinen Schülern E. Funke und V. Mertens gelungen, durch anatomische Präparation den Nachweis zu führen, dafs Endverzweigungen der Hautnerven innerhalb der Haut sich in das Gebiet der benachbarten Hautnerven hinein erstrecken, so dafs die Haut überall von zwei oder von mehr sensibeln Nerven Fasern erhält. Die Präparationsmethode, die wir bei diesen Untersuchungen an- wandten, bestand darin, dals die Haut mit den darunter liegenden, die Nerven enthaltenden Weichteilen abgelöst und von den Nervenstämmen aus die Verästelungen der Nerven zur Peripherie verfolgt wurden. Während bei der allgemein üblichen Art, die Hautnerven zu präparieren, indem man die Haut abträgt und die Nerven im Unterhautbindegewebe freilegt, es unmöglich ist, den eigentlichen Verbreitungsbezirk eines Nerven innerhalb der Haut festzustellen, gelingt es so, die Nerven mehr oder weniger weit in der Lederhaut freizulegen und ihren Eintritt in die Epidermis darzustellen. Die letzten Verzweigungen der Nerven, die präparatorisch von geübter Hand dargestellt werden können, sind aufserordendlich fein, enthalten aber doch immer noch mehrere (6 bis 20) Nervenfasern, so dals also das wirkliche Ende der Nerven ein erhebliches Stück weiter peripherwärts zu suchen ist. Durch gelegentlich vorgenommene Sensibilitätsprüfungen, namentlich im Be- reiche des N. trigeminus konnte ich nachweisen, dafs das Endausbreitungsgebiet der einzelnen Hautnerven etwas gröfser ist, als es nach der anatomischen Präparation erschien. Immerhin aber genügten die Präparationen, um die Innervationsverhältnisse in Übereinstimmung mit den physiologischen und klinischen Beobachtungen zu bringen. Unsere Präparationen wurden in der Hauptsache zu einer Zeit ausgeführt, als mir jene Untersuchungen noch unbekannt waren, was ich nur darum erwähne, weil sonst der Verdacht 32 = R. Zander, entstehen könnte, dals wir in dem Wunsche, jene Resultate zu bestätigen, bei der so überaus subtilen Präparation Irrtümer begangen hätten. Ich bemerke aufserdem noch ausdrücklich, dafs wir ausnahmslos durch mikro- skopische Untersuchung festgestellt haben, ob die zarten Fädchen, die wir für Nerven hielten, es auch wirklich waren. Die Übereinstimmung der Ergebnisse unserer Präparationen mit den physiologischen und pathologischen Beobachtungen, gibt mir die Gewilsheit, dafs es sich um tätsächlich be- stehende Einrichtungen handelt, die wohl für die Prüfung der Richtigkeit der Nervenbildungstheorien benutzt werden dürfen. Ich habe die gleichzeitige Innervation gewisser Bezirke der Haut der Handrückenfläche durch Zweige des N. radialis und des N. ulnaris mittelst der beschriebenen Methode schon im Jahre 1883 festgestellt.') Die durch die Mitte des Mittelfingers und die Mitte des Handrückens ver- laufende Linie trennt demnach nicht die Ausbreitungsgebiete der beiden Nerven, wie allgemein angenommen wird. Zur Erklärung des auch klinisch häufig beobachteten Ineinandergreifens der beiden Nervenendgebiete hat man Verschiebungen der Hautelemente während der Entwicklung an- senommen. Derartige Verschiebungen sind nicht beobachtet und auch kaum verständlich. Die Auswachsungstheorie bietet dem Verständnis keine Schwierigkeit. Wie die Zweige heranwachsender benachbarter Bäume ihre Kronen ineinander schieben, so kann man sich auch das Verhalten benach- barter Nerven vorstellen, die gegen die Epidermis vorwachsend sich fort- gesetzt verzweigen und ineinander greifen. Auf diese Weise erhält die Haut überall Zweige von zwei oder mehreren Nachbarnerven. ; Seit dieser ersten Beobachtung habe ich die mehrfache Inneryation der einzelnen Hautbezirke für die Haut zu beiden Seiten der dorsalen und ventralen Mittellinie des ganzen Körpers, für das Gesicht und für die Seitenwand des Rumpfes durch Präparation nachgewiesen. Die Feststellung der Grenzen des Ausbreitungsgebietes der einzelnen Nerven lehrte, dafs diese Grenzen sehr wechselnde sind. Sie schwanken in viel höherem Malse als gewöhnlich angenommon wird. Die Konstanz der Nerven, die geradezu als Dogma galt, trifft für die Hautnerven garnicht zu. Diese Tatsache 1) R. Zander, Die frühesten Stadien der Nagelentwickelung und ihre Beziehungen zu den Digitalnerven. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1884, anatom. Abt. 8. 103— 144. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 33 findet in. der Auswachsungstheorie leicht eine Erklärung, während die Kontinuitätstheorie sie nicht zu erklären vermag. Zunächst habe ich, gemeinsam mit E. Funke die Hautäste des N. trigeminus studiert.) Wir fanden, dals die Endausläufer der von den Nn. supra- und infratrochlearis, vom R. nasalis externus des N. nasociliaris, von den Nn. infraorbitalis und mentalis gelieferten Hautzweige der Nase, der Ober- und Unterlippe die Mittellinie. überschreiten und sich in der entgegengesetzte Gesichtsseite in ihre Endzweige auflösen. Es gelang, die Nerven bisweilen fast 1 cm weit über die Mittellinie hinaus zu verfolgen. Spätere Untersuchungen ergaben, dafs auch die Endverzweigungen der Nn. frontalis und supraorbitalis über die Mittellinie der Stirn hinaus- ziehen. Mithin erhalten die Streifen der Gesichtshaut zu beiden Seiten der Mittellinie sowohl vom rechten wie vom linken N. trigeminus Zweige. In Übereinstimmung mit diesen Beobachtungen fand ich durch Untersuchung der Sensibilität von Personen, denen das Ganglion semilunare Gasseri exstirpiert war, dals die anästhetische Zone nicht bis zur Mittellinie reicht. Sodann studierte ich’) gemeinsam mit V. Mertens die Rami mediales der hinteren Spinalnervenäste.e Wir konnten am Scheitel, am Hinterhaupt, am Nacken und am ganzen Rücken die Endausläufe der Hautnerven über die Mittellinie verfolgen und Kreuzungen der Nerven der linken und rechten Körperhälfte nachweisen. Auch die Hautnerven des Halses, der Brust und des Bauches traten über die Mittellinie hinüber und verbreiteten sich in ihrer Nachbarschaft auf der entgegengesetzten Körperseite. Da die dorsale Mittellinie erst nach Abfaltung des Medullarrohrs zum Verschlufs gelangt, so können die sie überschreitenden Hautnerven nicht aus. einer primordialen kontinuierlichen Verbindung zwischen Ganglion und Haut hervorgegangen sein, sie mülsten entweder nach Verschlufs der !) E. Funke, Beiträge zur Anatomie des Ramus maxillaris Nervi trigemini. Inaug.- Diss. Königsberg i. Pr. 1896. R. Zander, Über das Verhalten der Hautnerven in der Mittellinie des menschlichen Körpers. Sitzungsber. d. physik. ökon. Gesellsch. zu Königsberg. 1897. 2) R. Zander, Anatomisches über Trigeminusneuralgie. Sitzungsber. des Vereins f. wissenschaft]. Heilkunde zu Königsberg (Deutsche med. Wochenschr.). 1896. —, Beitrag zur Kenntnis der Hautnerven des Kopfes. (Festschrift für Merkel.) Anatomische Hefte 283-—- 30. 1897. Nora Acta XCVII, Nr.]1. {9} 34 R. Zander, dorsalen Mittellinie entstanden sein, oder aber man mülste wieder zu der unbeweisbaren Hypothese greifen, dafs eine nachträgliche Verlagerung der Nervenendstelle über die Mittellinie stattgefunden habe. Für die Erklärung versagt abermals die Kontinuitätstheorie, während die Annahme, dafs nach Verschlufs der dorsalen Mittellinie die Nerven erst zu ihrem Ende vor- wachsen, eine plausible Erklärung liefert. Dafs die Nerven der Öberlippe über die Mittellinie hinübertreten, die erst nach Vereinigung der medialen Nasenfortsätze und der Oberkiefer- fortsätze sich bildet, ist ein schlagender Beweis von der Unrichtigkeit der Kontinuitätstheorie. Eine primäre Verbindung zwischen linker und rechter Seite, aus der diese Nerven hervorgegangen sein könnten, ist unmöglich, da an ihrer Stelle die breite mediane Gesichtsspalte liegt. Ein besonders eklatantes Beispiel für die Unrichtigkeit der Kon- tinuitätslehre bietet auch das Verhalten der Nerven in der seitlichen Gesichtspartiee Die Innervation des Mundwinkels ist höchst kompliziert: der N. infraorbitalis liefert Zweige zur Unterlippe, der N. mentalis zur Oberlippe; beide Lippen erhalten aufserdem Zweige vom N. auriculotemporalis durch Vermittelung des N. facialis, vom N. buceinatorius und bisweilen vom N. auricularis magnus. Der N. aurieularis magnus breitet sich in grolser Ausdehnung im Trigeminusgebiet mit Endzweigen aus. Die Ursprungsstelle dieses Nerven aus dem Rückenmark ist von diesem Endgebiet während der Fetalzeit durch die Visceralspalten getrennt. Zwischen beiden Stellen können demnach keine primären Verbindungen bestanden haben. Der N. trigeminus und der N. auricularis können erst nach Verschluß der Visceralspalten zur Wangenhaut vorgedrungen sein. Mit V. Mertens gemeinsam habe ich') weiterhin festgestellt, dals die Interkostalnerven keineswegs auf ein Körpersegment beschränkt sind. Die Zweige des vierten Interkostalnerven verbreiten sich beispielsweise in der Haut über dem dritten, vierten und fünften Interkostalraum und über 1) R. Zander, Kleine Mitteilungen aus dem Gebiete des peripherischen ‚Nerven- systems. I. Die Verbreitungsweise der Intercostalnerven. Sitzungsber. der physik. ökonom. Gesellsch. zu Königsberg. 1397. 8. 48—50. V. Mertens, Über die Hautzweige der Intercostalnerven. Anatom. Anzeiger. XIV. Bd. 1898: 8. 174 —177. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 39 der vierten, fünften und sechsten Rippe; die Zweige des fünften Interkostal- nerven verbreiten sich in der Haut über dem vierten, fünften und sechsten Interkostalraum und über der vierten, fünften und sechsten Rippe. Diese Verhältnisse bilden wiederum einen Beweis für die Auswachsungstheorie und gegen die Kontinuitätstheorie. Höchst interessant ist auch die Innervation der Bauchwand im Bereich vom Nabel bis zur Symphysis pubis. Dies Gebiet erhält seine Hautnerven vom zehnten, elften und zwölften T'horacalnerven und ersten Lumbalnerven. Wie ich') nachgewiesen habe, geht dieser Teil der Bauchwand aus dem Primitivstreifengebiet des Embryo hervor, das, solange der Embryo noch scheibenförmig gestaltet ist, seinen hintersten Abschnitt darstellt. Am vorderen Ende des Primitivstreifens findet sich der Canalis neurentericus, von seinem hintern Ende geht der Haftstiel, der später zur Nabelschnur wird, aus. Dieses Gebiet krümmt sich weiterhin nach der Bauchseite und es rückt sein hinteres Ende mit dem Haftstiel nun nach vorn. Bestände eine primäre Kontinuität der Nerven, so würde beim scheibenförmigen Embryo das hinterste Gebiet neben dem Haftstiel mit dem Gebiet, das dem Ursprung des zehnten Thoracalnerven entspricht, verbunden sein, die weiter nach vorn gelegenen Teile des Primitivstreifens mülsten in Verbindung stehen mit den Ursprungsstellen der zehnten und elften 'T'horacalnerven und des ersten Lumbalnerven. Welch ein Durcheinander mülste wohl entstehen, wenn das Primitivstreifengebiet auf die ventrale Seite des Embryo verlagert wird! Im ausgebildeten Körper findet sich keine Spur von einem solchen Verhalten. Es ist ganz unzweifelhaft, dafs die Nerven erst, als die Bauch- wand ihre endgültige Lage eingenommen hatte, in sie hineingewachsen sind. Daraus erklärt sich auch die wechselnde Innervation der Nabelgegend. Nach Bolk liest der Nabel zwischen neuntem und zehntem T'horakalsegment, nach Fröhlich und Schlesinger im untersten Teile des zehnten, oder vielleicht zwischen zehntem und elften, nach Wichmann in der Mitte des zehnten. 1) R. Zander, Über Schistosoma reflexum des Menschen. Ein Beitrag zur Ert- wickelungsmechanik unter normalen und pathologischen Verhältnissen. Festschr. zur Feier des 60. Geburtstages von Max Jaffe. Braunschweig 1901. 8. 151—185. R. Zander, Bildung der äufseren Körperform menschlicher Embryonen. Monats- schrift für Geburtshülfe und Gynäkologie. Bd. XXIII 1. Heft. 1905. 5* 36 R. Zander, Vor kurzem habe ich!) die Beobachtung gemacht, dafs die Raphe des Serotums und die Haut des Dammes und der Dammseite des Penis in der Mittellinie von den Nerven der linken und rechten Seite gekreuzt werden. Diese Hautpartien bilden sich durch die Verwachsung der Geschlechtsfalten und der Geschlechtswülste erst im vierten Fetalmonat, also zu einer Zeit, in der alle übrigen Nerven des Körpers bereits aus- gebildet sind. Wenn nach erfolgtem Verschluls die Nerven über die Mittel- linie hinüberziehen, so kann natürlicher Weise das Hinüberwachsen erst nach Beendigung der Verwachsung der Geschlechtsfalten und Geschlechts- wülste erfolgt sein. Durch die angeführten Beispiele aus der Innervation der Haut des ausgebildeten menschlichen Körpers wird meiner Überzeugung nach be- wiesen, dafs die Bildung der Nerven nur durch Auswachsen erfolgen kann. Mit diesem Nachweis ist der Neuronentheorie eine sichere Stütze gegeben. Auf Grund der Anordnung der Hautnerven, die durch anatomische, physiologische und pathologische Untersuchungen überein- stimmend festgestellt ist, darf man wohl die Behauptung aussprechen, dals die Auswachsungstheorie, die eine Erklärung für diese Anordnung liefert, zu recht besteht, und dals die Kontinuitätstheorie nicht richtig sein kann, weil sie für die Erklärung versagt. Durch die mikroskopische Beobachtung des freien Auswachsens von plasmatischen Fäden mit verdicktem amoeboid beweglichem Ende aus isolierten Stücken des Medullarrohrs war für das Anfanssstück der Nervenbahn die Richtigkeit der Auswachsungstheorie erwiesen. Dals diese Beobachtungen von Harrison, dem überzeugten Anhänger der Auswachsungstheorie, von Braus, ihrem Gegner, ohne Einschränkung bestätigt wurden, gibt ihnen eine erhöhte Beweiskraft. Auch die sorgfältigen Beobachtungen über die Bildung der Neurofibrillen durch Held stützen, soweit sie sich auf das Anfangsstück der Nervenbahn beziehen, unzweifelhaft die Auswachsungstheorie. Für den übrigen Teil der Nervenbahn zeigen die neueren Beobachtungen über die Regeneration 1) R. Zander, Über die kollaterale Innervation der äufseren Haut und die Bildung der peripherischen Nerven. Verhandl. d. Gesellsch. Deutscher Naturforscher und Ärzte. 82. Vers. zu Königsberg 1910. II. Teil 2. Hälfte. Leipzig 1911. 8. 451— 453. Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. 37 übereinstimmend den überwiegenden Einflu(s des zentralen Endes des unter- brochenen Nerven auf die Herstellung der Bahn. Perroneitos') und Cajals°) Beobachtungen haben gelehrt, welche reiehen Mengen von neuro- plasmatischen Fäden dem zentralen Ende durchtrennter Nerven entströmen, um die Regeneration zu bewirken. Eine Anteilnahme des peripherischen, von den Nervenzellen abgetrennten Stückes der Nerven an der Regeneration unter. dem Einfluß des zentralen Endes widerspricht nicht der Auswachsungs- theorie. Das Verhalten der Nerven nach vollkommener Entfernung ihres peripherischen Endes ist ein weiterer Beweis für sie. Nach Amputation der Gliedmassen wächst der zurückbleibende zentrale Stumpf der Nerven weiter, knäuelt sich auf und bildet gelegentlich Neurome. Nach dem Aus- drehen des peripherischen Nervenstücks nach der Methode von Thiersch sind gelegentlich Rezidive der Neuralgie beobachtet worden, das zentrale Ende der Nerven ist also ausgewachsen und der Nerv hat das verlorene Ende wieder erlangt. Mit dem Nachweis der Richtigkeit der Auswachsungs- theorie ist auch die Berechtigung der Neuronentheorie ent- schieden. Das Nervensystem ist aus Einheiten zusammen- gesetzt, die während der Entwicklung getrennt sind. Es ist von sekundärer Bedeutung, ob sie getrennt bleiben, wie ein Teil der Anhänger der Neuronentheorie behauptet, oder ob sie miteinander in lockere oder festere Verbindung treten. Auch bei festerer Verbindung, die für die histologische Untersuchung unter dem Bilde der protoplasmatischen oder neurofibrillären Kontinuität auftreten kann, bleibt jedes Neuron eine biologische Einheit im Sinne Edingers.’) 1) Aldo Perroneito, Sulla questione della rigenerazione autogena delle fibre nervose. Nota preventiva. Boll. d. Soc. med.-chir. di Pavia 1905. —, La rigenerazione della fibre nervose. Boll. d. Soc. med.-chir. di Pavia 1905. —, La rigenerazione delle fibre nervose. III. Nota preventiva. Boll. d. Soc. med.- ehir. di Pavia 1906. —, Die Regeneration der Nerven. Zieglers Beiträge zur pathol. Anat. und zur allg. Pathologie. 42. Bd. 1907. 8. 354— 446. 2) 1909. ].c. 3) Ludwig Edinger, Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane des Menschen und der Tiere. 8. Auflage. I. Bd. Leipzig 1911. S. 42. 38 R. Zander, Beitrag zur Kritik der Berechtigung der Neuronentheorie. Dafür sprechen die Erfahrungen der Physiologie und Pathologie Das Wallersche Gesetz ist in der modifizierten Form, die ihm oben‘) gegeben wurde, nach wie vor eine Stütze für diese Anschauung. Die indirekte Degeneration, die als Ausnahme von der Regel, dafs Verletzungen des Neurons nicht über seine Grenzen hinaus ihre Ein- wirkungen ausüben, gilt, mufs nicht als Widerlegung der Annahme von der funktionellen Selbständigkeit der Neurone betrachtet werden. Schieferdecker’) hat gezeigt, wie man sich die Einwirkung eines Neurons auf das andere durch Abscheidung von Stoffwechselprodukten erklären kann, und wie verschieden sich die Einwirkung, die von ver- schiedenen Seiten her ein Neuron treffen, gegenseitig ausgleichen oder ver- stärken können. Wahrscheinlich kommen bei der indirekten Degeneration derartige Momente in Betracht. Ohne Bedeutung für das Wesent- liche der Neuronentheorie bleibt es, ob man dem Neuron den Wert einer Zelle oder eines Synceytiums mit prädominierender zentraler Zelle, oder eines Organs zuerkennt, da die scharfe Absrenzung dieser Begriffe nicht möglich ist. Die Natur arbeitet nicht immer in so einfacher Weise und nach einem so einheitlichen Schema, wie es der einzelne Forscher, der doch immer nur über eine beschränkte Zahl von Beobachtungen verfügt, wohl annimmt. Zahlreiche Detailfragen, die man mit Hilfe des Mikroskops zu ent- scheiden bemüht war, harren noch der Erledigung. Die Untersuchungen der Zukunft werden neben der Vervollkommnung der Methoden und der Vermeidung von Einseitigkeiten in den Methoden besonders die wechselnden Verhältnisse in den verschiedenen Tierabteilungen zu berücksichtigen haben; und bei der Deutung der Beobachtungen wird fortan ein grölseres Gewicht gelegt werden müssen auf die Frage, ob der Befund geeignet ist fest- stehende Tatsachen, wie z. B. die Anordnung der peripherischen Nerven, das Auswachsen amputierter Nerven usw. zu erklären. 1) 8.9. 2) Schiefferdeeker, Über die Neurone und die innere Sekretion. Sitzungsber. der Niederrheinischen Gesellsch. f. Natur- und Heilkunde zu Bonn. 1905. NOVA ACTA. Abh. der Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr. 2. Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. Von Dr. med. Gustav Poelchau praktischer Arzt und Schularzt in Charlottenburg. Eingegangen bei der Akademie am 14. März 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a.S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. Kente Klassen- oder Sehulepidemien von Scharlach, Diphtheritis, Röteln oder Keuchhusten sind im allgemeinen nicht häufig. In mehr als zehnjähriger Tätigkeit als Schularzt in der Grofsstadt, in welcher die In- fektionskrankheiten ja nie verschwinden, habe ich nur einmal eine kleine Klassenepidemie an Diphtheritis und an Keuchhusten beobachtet. Wenn Infektionskrankheiten, wie es ja in der Grolßsstadt häufig vorkommt, in höherem Grade herrschen, so wird sich das natürlich auch in der Schule sehr bemerkbar machen. In vielen Klassen werden Kinder wegen an- steckender Krankheiten fehlen, und bei flüchtiger Beobachtung wird man annehmen können, dals Klassenepidemien vorhanden sind. In Grofs-Berlin und in vielen anderen Grolfsstädten sind im letzten Jahre Diphtheritis und Scharlach in grolser Verbreitung aufgetreten. In sehr vielen Familien gab es Krankheitsfälle und infolgedessen häuften sich auch die Krankheits- meldungen in den einzelnen Klassen und Schulen. Dadurch konnten leicht Klassen- oder Schulepidemien vorgetäuscht werden, während es sich in der Hauptsache doch um Hausepidemien handelte. In einzelnen Fällen mag es ja auch zu Klassen- oder Schulepidemien gekommen sein, doch waren das sicher nur Ausnahmen. Wir müssen daran festhalten, dals unter Klassen- resp. Schulepidemien nur solche Epidemien zu verstehen sind, deren Herd in den Klassen resp. in der Schule liest. Hierbei können sowohl die Baulichkeiten und das zum Schulbetriebe erforderliche tote Material, als auch die Masse der Schüler selbst den Ausgangspunkt der Epidemie bilden. Im Anfange einer Epidemie wird es oft recht schwierig sein, festzustellen: liegt hier eine Klassenepidemie vor, oder sind die gemeldeten Krankheits- - fälle durch Hausepidemien, welche im Schulbezirk herrschen, zu erklären ? Nur wenn man einen Überblick erlangen kann über die in der ganzen 1* 4 Gustav Poelchau, Schule und zugleich im Schulbezirk vorgekommenen Erkrankungen, wird man den Charakter der Epidemie bald richtig einschätzen können, was sonst meist erst möglich ist, wenn die Epidemie schon eine gröfsere Aus- breitung gewonnen hat. Ganz anders, wie ich es bisher geschildert habe, liegen die Verhältnisse bei den Masern. Die Masern sind diejenige Infektionskrankheit, welche typische Klassenepidemien ver- ursacht. Meiner Überzeugung nach werden die Masern in den Grols- städten hauptsächlich durch die schulpflichtige Jugend ver- breitet. Der Infektionsherd ist in den meisten Fällen die Schule; von dieser aus werden die Ansteckungsstoffe in das Haus getragen und geben dann erst Veranlassung zu weiteren Erkrankungen in der Familie. Meine Erfahrungen an zwei Üharlottenburger Gemeindeschulen sind so typische, dals sie verdienen, hier wiedergegeben zu werden. Wohl mögen lokale Verhältnisse, wie die Lage und Belichtung des Schulgebäudes, die Überfüllung des Klassenräume, die Ventilation und Heizung, die Art des Schulbetriebes und schliefslich auch das soziale Niveau des Schul- bezirkes einen Einfluls auf den Verlauf und die Ausbreitung einer Masern- epidemie haben, im allgemeinen wird aber wohl die Krankheit auch in anderen Grolsstädten ein ähnliches oder dasselbe Bild darbieten. Ich habe, seitdem ich diese Verhältnisse als Schularzt verfolge, in jedem Jahre eine Masernepidemie in der untersten Klasse der mir unterstellten Gemeindeschulen beobachtet, meistens im Winterhalbjahr, einige- mal jedoch auch im Sommer. Es handelte sich immer um eine echte Klassenepidemie, welche ganz plötzlich auftrat, eine mehr oder weniger srolse Anzahl von Schülern ergriff, und nach einigen Wochen wieder ab- klang. Vor und nach einer solchen Epidemie scheinen einzelne Er- krankungsfälle an Masern in der untersten Klasse kaum vorzukommen. In den nächsthöheren Klassen kann ich mich nicht entsinnen, je eine derartige Epidemie beobachtet zu haben, dort sind Masernerkrankungen überhaupt selten und treten eben nur als Einzelfälle auf. Dals die Ansteckung der Schüler der untersten Klasse in der Klasse selbst, nicht etwa im Wohnhause oder beim Spielen auf öffentlichen Spiel- plätzen erfolgt, läfst sich genau feststellen. In den Parallelklassen der- Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. 5 selben Schule traten die Masernepidemien nicht gleichzeitig auf. Oft war die Epidemie in der einen Klasse schon im Erlöschen begriffen, während sie in der anderen Klasse eben erst einsetzte. Da ich als Schularzt eine Doppelschule, d. h. eine Knaben- und eine Mädchenschule zu überwachen hatte, die beide unter einem Dach lagen, jedoch sonst völlig voneinander getrennt waren, so konnte ich die Morbiditätsverhältnisse beider Schulen mühelos miteinander vergleichen. Da war es mir auffällig, dafs manchmal die eine Schule ganz frei von Masern war, während die Krankheit in der anderen Schule in mehreren Klassen epidemisch herrschte Während ich in der Knabenschule das epidemische Auftreten von Masern nur im Winter- halbjahr beobachtet habe, besitze ich Notizen über Klassenepidemien in der Mädchenschule, welche 1908 im Mai und 1909 im April herrschten. In dieser Zeit war unter den Knaben kein gehäuftes Auftreten von Masern- erkrankungen zu bemerken. Wenn die Ansteckung an Masern hauptsächlich in den Wohn- räumen der Kinder, auf der Stralse und auf den Spielplätzen erfolgt wäre, so hätten die Epidemien sowohl in den einzelnen Klassen, als auch in den beiden Schulen doch ungefähr gleichzeitig auftreten müssen. Auffällig ist es immerhin, dafs sich in diesen Fällen der Einflufs der Schule auf die Ausbreitung der Masern als schwerwiegender erwies, als manche andere Faktoren, die man doch in demselben oder in noch höherem Grade als günstig für die Ausbreitung von Epidemien ansehen sollte Wenn auch der erste Masernfall in einer Familie wohl stets eine Erkrankung der übrigen Kinder desselben Haushaltes zur Folge haben wird, so scheint doch aufser- halb der Familie das enge Zusammentreffen in den Grolsstadthäusern mit ihren zahlreichen Wohnungen, das Benutzen gemeinsamer 'Treppenhäuser, ja auch gemeinsamer Aborte, das Spielen auf der Stralse und auf den Spiel- plätzen, das doch häufig sehr nahe körperliche Berührung mit sich bringt, auf die im ersten Schuljahr stehende Jugend von geringerem Einfluls zu sein als der Aufenthalt in den Schulräumen. Ob die Temperatur der Klassenzimmer, die Schulluft, die Schulutensilien oder der Zwang für die Kinder, viele Stunden hindurch dicht neben dem Nachbar ruhig zu sitzen, hierbei die ausschlaggebende Rolle spielen, bedarf noch genauer Beobachtung und Erforschung. 6 Gustav Poelchau, Dafs es im Winter für die Knaben weniger Gelegenheit zum Herum- balgen auf der Stralse und auf den Spielplätzen gibt und sie somit in dieser Zeit aulserhalb der Schule kaum in so enge körperliche Berührung kommen, wie in den Schulräumen und auf der Schulbank, mag zum Teil mit dazu beigetragen haben, dafs die Klassenepidemien in der Knabenschule gerade im Winterhalbjahr am häufigsten zu beobachten waren; doch mag das auch auf Zufall beruhen, und die Verhältnisse mögen an manchen Orten ganz andere sein. Was nun die Anzahl der an Masern erkrankten Kinder betrifft, so betrug diese in manchen Jahren ein Drittel bis fast die Hälfte aller Kinder der untersten Klasse. Wenn auch die häufig nur von den Müttern gestellte und dem Klassenlehrer gemeldete Diagnose nicht immer ganz richtig ge-: wesen sein mag, in der Mehrzahl der Fälle stimmte sie doch; denn es er- wies sich häufig, dafs alle die Kinder von der Epidemie ergriffen wurden, welche vor ihrer Einschulung noch nicht die Masern durchgemacht hatten. Und diese Tatsache stützte wieder die Beobachtung, dals die Angaben der Eltern, welche bei der Einschulunguntersuchung ihrer Kinder aufgezeichnet wurden, im allgemeinen richtig waren. Diese im Gesundheitsschein ver- merkten Angaben über frühere Masernerkrankung konnten mir in einem Falle auch einen wichtigen Hinweis für mein praktisches Handeln geben. Als ich nach Ausbruch einer gröfseren Epidemie bei Durchsicht der Ge- sundheitsscheine fand, dafs in der Klasse nur noch sechs gesunde Kinder vorhanden waren, welche noch nicht die Masern durchgemacht hatten, hielt ich es nicht für nötig, um dieser sechs gefährdeten Kinder wegen den Klassenschlufs zu beantragen, zumal da ich der Überzeugung war, dafs ich durch diese Mafsregel diese sechs Kinder doch nicht vor der, wahrscheinlich schon erfolgten Ansteckung würde bewahren können. Zwei Berliner Schulärzte, Dr. Igel und Dr. Lewandowski, welche an einem grölseren Material Erhebungen angestellt haben,') fanden, dals 50—54 °), aller Schulrekruten vor ihrer Einschulung die Masern durch- gemacht hatten; nach meinen Erfahrungen ist dieser Prozentsatz eher noch grölser. Meine Beobachtungen und meine Überzeugung, dafs die Erkrankung 1) Bericht über die Tätigkeit der Berliner Schulärzte im Jahr 1906/07. S. 2. Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. 7 der Kinder an Masern hauptsächlich durch die Schule vermittelt wird, stimmen vollständig mit den Tatsachen überein, welche der Charlottenburger Schul- arzt, Dr. Max Cohn, auf Grund grölserer statistischer Untersuchungen anführt. In seiner Arbeit: Schulschlufs und Morbidität an Masern, Scharlach und Diphtherie (Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 1905) weist Cohn einwandsfrei nach, dals die Masernerkrankungen während und nach den srolsen Ferien in ganz auffälliger Weise an Zahl abnehmen, um dann nach dem Wiederbeginn des Schulunterrichtes allmählich wieder zuzunehmen. Auf die Erkrankungsziffer von Scharlach und Diphtherie hat der Schulschlufs keinen nachweisbaren Einflußs. In Berlin zeigt die Kurve der Erkrankungs- ziffern an Masern, welche Cohn abbildet, zwei Gipfel und zwei Täler; der höhere Gipfel findet sich Ende Juni, der niedrigere im Dezember, während der grölste Tiefstand im August und September, sodann im März und April zu verzeichnen ist. Man kann daraus, übereinstimmend mit meinen vorhin an- geführten Beobachtungen schlielsen, dals die zu Ostern eingeschulten Kinder, falls sich ihnen eine Gelegenheit zur Infektion bietet, in der Regel bis zum Beginn der grolsen Ferien durchmasert und daher eben später für den Rest des Semesters immunisiert sind. An den im Oktober eingeschulten Kindern vollzieht sich dann derselbe Prozels während der Monate Oktober bis Februar. Nach zweimonatigem Tiefstand bekommt die Erkrankungsziffer dann wieder neuen Zuwachs durch die Schulrekruten des neuen Schuljahres. Wenn man bedenkt, dafs diese Ziffern sich nicht nur auf Schulkinder, sondern auch auf die jüngeren, noch nicht schulreifen Kinder beziehen, so fällt die Über- einstimmung dieser Kurve mit den verschiedenen Zeitabschnitten des Schul- jahres doppelt auf. Es erhellt daraus der überaus bedeutende FEinflufs, den die Schule auf die gesamte Erkrankungsziffer an Masern, nicht nur auf die der schulpflichtigen Jugend, sondern auch auf die der noch nicht schulreifen Kinder ausübt. Wenn man die Morbidität der Masern bei der Schuljugend vermindern könnte, so würde man damit auch die Erkrankungsziffern der jüngeren Altersstufen herabsetzen. Die alltägliche Erfahrung, welche nicht nur jeder praktische Arzt, sondern auch jede Mutter macht, geht dahin, dafs die Kinder, welche bis zur Einschulung des ältesten Kindes von Masern verschont geblieben sind, im ersten oder einem der nächsten Schuljahre an Masern erkranken; dals 8 Gustav Poelchau, durch das älteste, die Schule besuchende Kind, die jüngeren, häufig noch in zartem Alter stehenden Geschwister angesteckt werden können, darin liegt die grolse Gefahr, welche die Einschulung eines Kindes für alle übrigen jüngeren Geschwister mit sich bringt. Und diese Gefahr verlangt es auch, dals Masernepidemien in der Schule energisch und nach Möglichkeit bekämpft werden. Wenn man eine ziffernmälsige Zusammenstellung über die Masern- erkrankung der „einzigen Kinder“ aufstellen würde, so würde man wohl meist finden, dals diese Kinder erst nach der Einschulung an Masern erkranken. Ich habe den Eindruck, dafs die Gefährlichkeit der Masern noch viel- fach unterschätzt wird. Wenn das von Laien geschieht, bei welchen die Masern für eine harmlose Kinderkrankheit gelten, die jeder durchmachen müsse — je früher, desto besser —, so braucht man sich darüber nicht zu wundern. Bedenklicher ist es aber, dals die gesetzlichen Vorschriften den Eindruck erwecken, als ob diese Meinung auch von den malsgebenden Be- hörden geteilt würde. Die zurzeit geltenden Vorschriften bieten nach meiner Ansicht keinen genügenden Schutz gegen die Verbreitung der Masern durch die Schule. Das ist um so auffälliger, als diese Bestimmungen erst vor wenigen Jahren erlassen worden sind. Sie scheinen aber die neueren Anschauungen über den Infektionsmodus bei Masern nicht genügend berücksichtigt zu haben und bedürfen daher der Ergänzung; es dürfte sich sonst herausstellen, dafs die Aufhebung ver- schiedener, früher bestandener Schutzmalsregeln, doch etwas zu weitgehend war und zu einer Zunahme der Erkrankungsfälle von Masern führen dürfte. Der Charakter der einzelnen Masernepidemien ist ja ein ganz ver- schiedener. Manche von ihnen weisen nur leichte Fälle auf. Hin und wieder kommen aber doch recht schwere Epidemien vor, welche zahlreiche Todesfälle im Gefolge haben. So wurde in den letzten Jahren aus mehreren Orten über sehr schwere Masernepidemien berichtet. Aber auch die anscheinend gutartigen Epidemien führen doch häufig in einer mehr oder minder grofsen Anzahl von Fällen zu schweren Nach- krankheiten, wie Lungenentzündungen, Krupp, Mittelohrentzündungen; ja sogar brandige Zerstörung an verschiedenen Körperteilen, Myelitis lumbalis und Sinusthrombose sind nach Masern beobachtet worden. Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. 9 Nach den Angaben von Rathmann') starben in Preufsen in dem Zeitraum von 1891—1901 jährlich 8400 Personen an Masern, 8000 an Scharlach, während in der Periode 1901—1908 die jährliche Mortalität an Masern ebenfalls 8400, die an Scharlach 9700 betrug. Wir sehen also, dafs in dem ersten Zeitabschnitt die Mortalität an Masern sogar die an Scharlach übertraf. Am srölsten scheint die Sterblichkeit an Masern im zweiten Lebens- jahr zu sein und später bedeutend herabzugehen, so dals sie nach dem fünften Lebensjahr nur noch sehr gering ist. Es kommen jedoch auch Masern- epidemien vor, welche für die Erwachsenen gefährlich sind. So starben im Jahre 1874 bei einer Epidemie auf den Fidschi-Inseln 2000 Personen, darunter vorwiegend Erwachsene. Prinzing fand für Bayern in den Jahren 1895—1902 folgende Verhältnisse: Die Sterblichkeit an Masern auf je 100000 männliche Personen berechnet, betrug im ersten Lebensjahr 319, im zweiten Lebensjahr 435, im dritten bis sechsten Lebensjahr 73, im sechsten bis elften Jahr 13. Diese Mortalitätsziffern wurden nur übertroffen von Keuchhusten, welcher im ersten Lebensjahr 674 Todesfälle auf 100000 aufwies. Auch der Mannheimer Stadtschularzt Dr. Stephani, welcher schon in früheren Jahresberichten auf die zahlreichen Masernfälle bei Schulkindern hingewiesen hatte — 1808/1909 waren in den Mannheimer Schulen 266 solche Fälle zur Anzeige gekommen —, führt in seinem letzten Jahresbericht an, dafs nach den Zusammenstellungen des statistischen Landesamtes für Baden, welche sich auf die letzten 20 Jahre beziehen, die Todesfälle an Masern die an Scharlach in 18 Jahrgängen übertrafen. Auch die Sterblichkeit an Diphtheritis hat vor der Einführung des Heilserums die Sterblichkeit an Masern, welche 26 auf 1000 im Maximum betrug, nur dreimal übertroffen. Alle anderen Krankheiten blieben hinter dieser Maximalsterblichkeitszahl an Masern beträchtlich zurück. Der Stadtphysikus Dr. Eberstaller in Graz,’) welcher Aufzeichnungen über 22000 Masernerkrankungen mit 853 Todesfällen hat, berechnet die 1) Vgl. Feer, Lehrbuch der Kinderheilkunde. 1911. S. 498. 2) Vgl. Eberstaller, Masern und Schule. Internationales Archiv f. Schulhygiene. 1907. Nova Acta XCVII. Nr. 2. 2 10 Gustav Poelchau, Mortalität an Masern im ersten Lebensjahr auf 16 35 %, im zweiten bis sechsten Lebensjahr auf 2,6—5,8 °/,, im sechsten bis zehnten auf 0,1—0,3 %. Es erhellt hieraus, dals der Einflufs der Masern auf die Mortalität des kindlichen Alters in manchen Gegenden doch ein sehr beträchtlicher ist, daher ernster Beachtung bedarf und zu Abwehrmalsregeln Veranlassung geben sollte. Ebenso wichtig, wie die Mortalitätsziffern, würden für unsere Be- trachtungen zuverlässige Zahlen über die Morbidität sein. Leider stehen uns solche nicht zur Verfügung. Da die Meldepflicht für Masern aufgehoben wurde, ist ein derartiges Zahlenmaterial für die letzten Jahre nicht mehr vorhanden. Die Zahlen aus früheren Jahren könnten uns wohl einen ge- wissen Anhalt geben, sind aber sicherlich viel zu klein. Denn der gröfste Teil aller Masernfälle kam nicht in ärztliche Behandlung und somit auch nicht zur amtlichen Meldung. Die Erkrankunesfälle an Masern betragen daher sicher ein Vielfaches der in den statistischen Listen verzeichneten Zahlen. Eine ungefähre Vorstellung von der Menge dieser Erkrankungsfälle kann man sich vielleicht dadurch schaffen, dals man die Zahl der in einer Grofsstadt in einem bestimmten Zeitraum eingeschulten Kinder in Berechnung zieht. In Berlin z. B. beträgt die Zahl der Kinder, welche in dem Zeitraum von 1905/06—1910/11 in den Gemeindeschulen eingeschult worden sind 207400. Nehmen wir an, dals von diesen Kindern die Hälfte in den ersten sechs Jahren ihres Lebens bis zu ihrer Einschulung an Masern erkrankt seien, so würden in diesem Zeitabschnitt unter den noch nicht schulreifen Kindern 105 700 Erkrankungsfälle vorgekommen sein, auf ein Jahr berechnet also 17283. Dazu würden dann noch die Erkrankungsfälle der älteren Kinder kommen. Wie wir sehen, handelt es sich also um ganz erhebliche Zahlen! Fast noch wichtiger als die weite Verbreitung und die Mortalität der Masern ist für den Gesundheitszustand des jugendlichen Alters der Um- stand, dafs die Widerstandsfähigkeit des kindlichen Körpers nach dem Über- stehen der Masern gegen einige andere Infektionskrankheiten herabgesetzt zu sein scheint. Man hat häufig nach Masernepidemien zahlreiche Fälle von Keuchhusten gesehen. Es ist wohl kein Zufall, dafs auch ich nach der gröfsten Masernepidemie, die ich bei den Schulrekruten beobachtet habe, Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. ul mehrere Kinder an Keuchhusten erkranken sah, während ich solche Fälle sonst nur ganz vereinzelt beobachtet habe. Noch mehr zu berücksichtigen aber ist die durch vielfache Beob- achtungen festgestellte Tatsache, dafs Kinder, welche Masern durchgemacht haben, erhöhte Disposition zeigen, an Tuberkulose zu erkranken. Wir wissen jetzt, dals die Tuberkulose im schulpflichtigen Alter sehr viel häufiger vorkommt, als man früher annahm und dafs die ersten Zeichen einer tuberkulösen Erkrankung doch verhältnismäfsig oft schon im Kindes- alter nachzuweisen sind. Im Kampfe gegen diese Volkskrankheit dürfte es sich daher empfehlen, auch Malsregeln gegen das epidemische Auftreten der Masern zu ergreifen. Welches sind nun die Schutzmittel, welche der Schule zur Be- kämpfung der Masern zur Verfügung stehen? In Preufsen werden diese Verhältnisse geregelt durch den Ministerialerlafs vom 9. Juli 1907. In der Anweisung zur Verhütung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten durch die Schule sind die Masern in $ 3 unter den Krankheiten genannt, welche wegen ihrer Übertragbarkeit besondere Anordnungen für die Schulen und andere Unterrichtsanstalten erforderlich machen. Lehrer und Schüler, welche an Masern leiden, dürfen nach $ 4 die Schulräume nicht betreten. Nach $ 5 sind die Ortspolizeibehörden angewiesen, von jeder Fernhaltung einer Person vom Schul- und Unterrichtsbesuche dem Vorsteher der Schule un- verzüglich Mitteilung zu machen. Ferner ist auch seitens der Schule darauf hinzuwirken, dafs der Verkehr der vom Unterricht ferngehaltenen Schüler mit anderen Kindern, insbesondere auf öffentlichen Stralsen und Plätzen möglichst eingeschränkt wird. $ 6 bestimmt, dafs die Wiederzulassung er- folgen darf, wenn entweder eine Weiterverbreitung der Krankheit durch die Genesenen nach ärztlicher Bescheinigung nicht mehr zu befürchten ist, oder die für den Verlauf der Krankheit erfahrungsgemäßs als Regel geltende Zeit abgelaufen ist. In der Regel dauern Masern vier Wochen. Es ist darauf zu achten, dafs die erkrankt gewesenen Personen yor ihrer Wieder- zulassung gebadet, und ihre Wäsche, Kleidung und persönlichen Gebrauchs- gegenstände vorschriftsmälsig gereinigt bezw. desinfiziert werden. Von der Schliefsung und Wiedereröffnung von Schulen handeln die $$ 15 und 16. In ersterem heilst es: In Ortschaften, in welchen Masern I 12 Gustav Poelchau, in epidemischer Verbreitung auftreten, kann die Schließung von Schulen oder einzelnen Schulklassen erforderlich werden. Über diese Mafsregel hat die Schulaufsichtsbehörde nach Anhörung des Kreisarztes zu entscheiden. Bei Gefahr im Verzuge kann der Vorsteher der Schule auf Grund eines ärztlichen Gutachtens die Schlielsung vorläufig anordnen usw. $ 16. Die Wiedereröffnung einer wegen Krankheit geschlossenen Schule kann nur von der im $ 12 Absatz 2 bezeichneten Behörde — in Landkreisen der Land- rat, in Stadtkreisen der Bürgermeister, bei höheren Lehranstalten der Direktor — auf Grund eines Gutachtens des Kreisarztes angeordet werden. Auch muß ihr eine gründliche Reinigung und Desinfektion der Schule oder Schulklasse sowie der dazu gehörigen Nebenräume vorangehen. Die Bestimmung, dals auch die gesunden Geschwister der an Masern erkrankten Kinder vom Schulbesuch auszuschliefsen seien, welche früher bestand, ist durch diesen Erlals aufgehoben worden; eine Änderung, welche, wie wir später sehen werden, nicht ganz einwandfrei erscheint. Diese Vorschriften, welche ja zur Bekämpfung der übrigen an- steckenden Krankheiten durchaus segensreich und zweckmälsig sind, weisen in ihrer praktischen Anwendung bei Masern einerseits einige Härten auf, die nicht durchaus erforderlich sind, andererseits — wieder einige Lücken, welche Bedenken erregen müssen. Das hängt mit gewissen Eigentümlich- keiten des Kontagiums der Masern zusammen. Wenn wir dieses auch noch nicht näher kennen, so kann man doch sagen, dals es ein sehr viru- lentes, aber kurzlebiges Virus ist, das in der Regel nur bei direkter Übertragung von Person zu Person gefährlich ist, in wenigen Stunden aber dureh Luft und Licht zerstört wird. Daher sind zu seiner Vernichtung ausgiebige Desinfektionen nicht nötig. Wir wissen jetzt, dals das Inkubationsstadium der Masern, in welchem die Kinder sich noch ganz wohl fühlen und keinerlei Krankheitserscheinungen aufweisen, 8&—12 Tage beträgt, also länger ist als bei den meisten anderen Infektionskrankheiten des kindlichen Alters. Ferner scheint es nach den neueren Forschungen festzustehen, dafs die Masern schon vor dem Ausbruch des charakteristischen Ausschlages an- steckend sind. Manche Autoren halten sogar das katarrhalische Invasions- stadium, das meist nur ganz geringe Störungen verursacht, in bezug auf Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. 112) die Ansteckung für das gefährlichste, während man früher das Exanthem und die Schuppung des Reconvaleszenzstadiums als höchst ansteckend ansah. Die Infektion anderer Kinder kann also schon erfolgen, ehe der Masernausschlag erschienen ist, oft also, ehe die Diagnose gestellt, oder das von Masern befallene Kind überhaupt als krank erkannt worden ist. Darin liegt die grolse Gefahr der Weiterverbreitung der Krankheit. Die Folge davon ist, dafs Versuche, eine Übertragung auf gesunde Kinder — durch Isolierung u. dgl. — zu verhüten, meist zu spät kommen. Das kann man schon in der Familie beobachten; es wird kaum je gelingen bei Er- krankung eines Kindes an Masern die Geschwister durch Absperrung oder Entfernung vor der Ansteckung zu bewahren. Professor Dr. Siegert in Cöln,') dessen Ausführungen ich hier im allgemeinen folge, erklärt die Verbringung nicht durchmaserter Geschwister des Kranken in andere Familien für ein direktes Vergehen, weil dadurch in erster Linie die Masern in bisher masernfreien Wohnstätten verbreitet würden. Personen, welche die Masern schon durchgemacht haben, kann man im allgemeinen als immum ansehen. Noch mehr als in der Familie macht sich diese Eigenart der Masern in der Schule geltend. Ehe die in den gesetzlichen Vorschriften genannten Malsregeln ergriffen sind, ist schon eine Übertragung der Ansteckung auf die für diese empfänglichen Kinder erfolgt, und Desinfektion und Schul- schlu[fs kann nicht mehr viel Nutzen bringen. In der Verfügung ist die Rede von Ortschaften, in welchen ansteckende Krankheiten in epidemischer Verbreitung auftreten. In Grolsstädten pflegen die Infektionskrankheiten zu gewissen Jahreszeiten stets in epidemischer Weise zu herrschen. Die Sorge des Schulhygienikers wird es daher nur sein können, zu verhüten, dals es zu Klassen- oder Schulepidemien kommt, die Entscheidung darüber, wann eine Klassenepidemie als vorhanden anzunehmen sei, ist aber wiederum sehr schwierig. Soll man, wenn zwei oder drei Masernerkrankungen ge- meldet sind, annehmen, dafs eine solche besteht, oder sind zur Begründung einer solehen Annahme noch mehr Fälle, sagen wir sechs oder sieben nötig? Wann fängt der Begriff der Epidemie in der Klasse an? 1) Vgl. Siegert, Prophylaxe und "Therapie der Masern. Deutsche Medizinische Wochenschrift 1910. Nr. 31. 14 Gustav Poelchan, Ich habe in früheren Jahren mehrere Masernepidemien genau verfolgt. Ich habe mir täglich sämtliche Kinder der untersten Klasse angesehen, da ich damals noch der Meinung war, dals sich durch frühzeitige Diagnosen- stellung und sofortige Ausschliefsung der als verdächtig erkannten Kinder vielleicht eine weitere Verbreitung der Krankheit verhüten liefse. Ich habe damit aber keinerlei Erfolge erzielt. Nach unseren heutigen Anschauungen ist das ja natürlich, denn viele von den Kindern waren schon infiziert, obwohl sie noch gesund erschienen. Ich habe früher auch häufig die Schliefsung der Klassen beantragt, wenn eine grölsere Anzahl von Kindern — manchmal waren es !/;—!/, der Klasse — wegen Masern fehlten. Meinem Antrag wurde meist stattgegeben und die Schulen auf 14 Tage bis drei Wochen geschlossen und desinfiziert. Die Klagen der Lehrer, dals der lange Klassenschluls den Unterricht so störe, dals die Klasse das vorgeschriebene Klassenziel nicht erreichen könne, sowie die Überzeugung, dafs man mit weniger eingreifenden, jedoch früher angewandten Malsregeln ebenso viel oder noch mehr zum Schutze der ge- fährdeten Kinder erreichen könne, veranlalsten mich im Wintersemester 1909, als neun Mädchen in der untersten Klasse erkrankt waren, nach dem Vor- schlage von Eberstaller bei der Schuldeputation die Schliefsung der Klasse auf fünf Tage zu beantragen. Dieses Vorgehen, welches von der vorgesetzten Behörde genehmigt wurde, hatte den Erfolg, dafs die Epidemie erlosch und nachher nur noch ein Kind erkrankte. Die Vorschläge von Eberstaller,') Stadtphysikus in Graz, der auf dem uns beschäftigenden Gebiete grofse Erfahrungen hat, gehen dahin, dals die Klasse vom neunten Tage nach der ersten vorgekommenen Masern- erkrankung auf fünf Tage geschlossen werden solle. Dals der erste Masern- fall Infektionen im Gefolge hat, läfst sich nicht vermeiden, wohl aber lälst sich verhüten, dafs die zweite Maserngeneration weitere Infektionen herbei- führt und zwar durch die Schliefsung der Klasse für die Tage des voraus- sichtlichen Beginnes der nächsten Erkrankungen. Eberstaller hat dieses Verfahren im ganzen 103 mal angewendet, darunter 44 mal mit ausgesprochenem Erfolge. Es ist nur dort durchführbar, wo genaue Meldungen von den Haus- 1) Vgl. Internat. Archiv für Schulhygiene. 1907. - Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. 15) haltungsvorständen, Ärzten und Lehrern erstattet werden und versagt bei Kindergärten, weil hier der erste Krankheitsfall nicht rechtzeitig bekannt wird. Eberstaller weist darauf hin, dals es schon ein grofser Gewinn ist, wenn es durch prophylaktische Mafsregeln gelingt, die Durchmaserung des Nachwuchses um einige Jahre hinauszuschieben. Ihm ist dies in Graz an- scheinend gelungen, denn bei den letzten Epidemien waren mehr Kinder der höheren Altersstufen erkrankt, als früher, während die Erkrankungs- zifter der jüngeren Kinder gesunken war. Das Vorgehen von Eberstaller ist entschieden sehr dankenswert und ihm gebührt das Verdienst, zuerst darauf hingewiesen zu haben, dals man bei der Bekämpfung der Masern und in der Anwendung prophylaktischer Malsregeln energischer vorgehen müsse, als es bisher üblich war, und auch einen Weg gezeigt zu haben, den man bei diesen Bestrebungen beschreiten kann. Durch seine Vorschläge wird die Zeit der Klassenschliefsung schon sehr beschränkt und dadurch der Ausfall an Unterrichtszeit beträchtlich vermindert. Wenn es auch in -der Hauptsache hygienische Erwägungen sind, welche uns die Bekämpfung der Masern in der Schule ais notwendig er- scheinen lassen, um nicht nur die schulpflichtige Jugend, sondern auch die jüngeren Jahrgänge vor der Erkrankung zu schützen, so wird der Schularzt doch auch dahin wirken müssen, dals die Zahl der Erkrankungen an Masern auch im Interesse der Unterrichtserfolge nach Möglichkeit vermindert werde. Denn die Versäumnisse, welche durch die Masern veranlafst werden, sind doch recht beträchtliche und darunter hat der Unterricht sowohl der kranken, als auch — bei Klassenschliefsungen — der gesunden Kinder zu leiden. Der Mannheimer Stadtschularzt Dr. Stephani') hat ausgerechnet, dafs 160 Masern- fälle 2856 Schulversäumnistage verursachten, wobei die Tage, in denen die Klassen bezirksamtlich geschlossen waren, nicht mitgerechnet sind, während derer ja auch die gesunden Kinder den Unterricht versäumten. Ferner sind die Weihnachtsferien nicht mitgerechnet, welche auch noch zu einer Abkürzung der Epidemie beitrugen. Dabei sind in Baden nur 14 Tage für den Schul- ausschluls masernkranker Kinder vorgeschrieben, während diese Zeit in Preufsen vier Wochen beträgt. 1) Bericht über die Tätigkeit des Schularztes an den Volksschulen der Grofsherzogl. Bad. Hauptstadt Mannheim für die Zeit von Ostern 1908 bis Ostern 1909. 16 Gustav Poelchau, Nach den Angaben des Berliner Schularztes Dr. Bernhard!) wurden in Berlin vom 1. April 1909 bis Ende 1910 81 Klassen wegen Masern geschlossen. Der hierdurch veranlafste Ausfall von Unterrichtsstunden war natürlich ein sehr beträchtlicher. Wegen Diphtherie wurden 44 Klassen geschlossen, wegen Scharlach 31. Ich glaube, dafs man im Interesse einer möglichst geringen Störung des Unterrichtes noch weiter gehen kann als Eberstaller, wenn man berücksichtigt, dals die Kinder einer Klasse, welche die Masern schon gehabt haben, bei dem Ausbruch einer Klassenepidemie von Masern gar nicht gefährdet sind. Alle Schutzmalsregeln brauchen sich daher nur auf die noch nicht durchmaserten Kinder zu beziehen. Ferner mufs verhindert werden, dafs durch diese die Ansteckung sowohl auf ihre Schulkameraden, als auch auf ihre jüngeren Geschwister übertragen wird. Eine Weiterverbreitung des Ansteckungsstoffes durch die schon früher durchmaserten, gesunden Schüler können wir wohl als ausgeschlossen betrachten. Ich glaube daher, dafs die Schliefsung einer ganzen Klasse in Zukunft nicht mehr nötig sein wird, und dafs man eine Masernepidemie am besten verhindern kann, wenn man die noch nicht durchmaserten Kinder eine Zeit lang vom Unterricht aus- schliefst. Ehe ich aber auf Einzelheiten dieses Verfahrens eingehe, möchte ich noch einen Punkt berühren, der mir von grolser Wichtigkeit zu sein scheint. Die im Jahre 1907 aufgehobene alte Anweisung zur Verhütung der Übertragung ansteckender Krankheiten dureh die Schulen vom 14. Juli 1884 enthielt zwei Bestimmungen über das Verhalten bei Masernerkrankungen, welche in die neuen Vorschriften nicht hinübergenommen worden sind. Während früher jede Erkrankung an Masern von dem behandelnden Arzt polizeilich. gemeldet werden mulste, ist das jetzt nicht mehr nötig. Ferner war früher vorgeschrieben, dals gesunde Kinder vom Besuche der Schule auszuschlielsen sind, wenn in dem Hausstande, dem sie angehören, ein Masern- fall vorgekommen war, es mülste denn ärztlich bescheinigt sein, dals das Schulkind durch ausreichende Absonderung vor der Gefahr der Ansteckung geschützt sei. Ich weils nicht, welche Gründe und Erwägungen zu dieser Änderung geführt haben, ich meine aber, dafs dadurch eine Lücke in den !) Bericht über die Tätigkeit der Berliner Schulärzte im Jahre 1910/11. 8.9, Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. 17 Vorschriften entstanden ist, welche zu mancherlei Bedenken Veranlassung gibt. Die alten Bestimmungen entsprachen nicht mehr ganz den neueren Anschauungen, sie hätten daher geändert werden müssen. Dafs sie ganz aufgehoben sind, ist in mancher Hinsicht zu bedauern. Denn die Zulassung gesunder Geschwister masernkranker Kinder zum Schulbesuch kann ihre Schulkameraden der Gefahr der Ansteckung aussetzen und die Veranlassung zum Ausbruch einer Klassenepidemie geben, wenn diese Geschwister die Masern noch nicht gehabt haben. Diese gesunden Kinder bilden also eine Gefahr für ihre noch nicht durchmaserten Schulgefährten. Ich habe vorher eine Äufserung von Prof. Siegert angeführt, welche dahin lautet, dafs es ein direktes Vergehen sei, nicht durchmaserte Geschwister des Kranken in andere Familien zu bringen. Und noch bedenklicher erscheint es, Kinder, welche eine Ansteckungsgefahr für ihre Mitschüler darstellen, zum Schul- unterricht zuzulassen! Ist der Schutz einer Schulklasse vor Infektion nicht noch wichtiger, als der einer Familie? Dafßs diese Lücke in den gesetzlichen Vorschriften sehr erheblich zur Verbreitung der Masern in der Schule beiträgt, davon bin ich fest überzeugt. Ich bin zufällig in der Lage, über einen Fall aus meiner Privat- praxis zu berichten, der die Sachlage sehr gut illustriert. Ich will daher auf die Einzelheiten ganz kurz näher eingehen. Ein neunjähriger Schüler erkrankte am 18. April 1911 in den Osterferien mit leichten katarrhalischen Erscheinungen. Am 20. April war ein deutliches Masernexanthem vorhanden. Sein jüngerer sechsjähriger Bruder sollte am 24. April zum erstenmal die Schule besuchen. Da er die Masern noch nicht gehabt hatte, sagte ich den Eltern, dafs er aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls erkranken würde, und dafs sie ihn daher nicht zur Schule schicken sollten. Da ich den Knaben täglich sah, konnte ich am 29. April die ersten Zeichen des Invasionsstadiums der Masern feststellen, am 2. Mai begann das Eruptionsstadium mit dem Ausbruch eines deutlichen Exanthems. Wenn der Knabe nicht in ärztlicher Beobachtung gewesen wäre, so würde er am 24. April in die Schule gegangen sein, und würde etwa vom 29. April an eine Ansteckungsgefahr für seine Mitschüler gebildet haben. Der Knabe, der ganz munter war, wäre seinen Eltern bis zum 1. Mai kaum aufgefallen. Am Morgen des 1. Mai betrug die Temperatur, die ich absichtlich seit einigen Tagen hatte messen lassen, Nova Acta XCVII. Nr. 2. 3 15 Gustav Poelchau, 36,5°, am Abend 38,2°. Am nächsten Morgen war das Exanthem sichtbar. Die Erscheinungen des Invasionsstadiums waren sehr gering, für den Arzt, der auf die Erkrankung gleichsam wartete, allerdings erkennbar; unter anderen Umständen, namentlich in Proletarierkreisen, wären sie jedoch sicherlich übersehen worden. Kommt es doch sogar manchmal vor, dals ein Kind mit deutlichem Masernausschlag in der Schule erscheint, ohne daıs sein Aussehen den Eltern aufgefallen wäre. Was die Meldepflicht der Masern betrifft, so mag diese ja für statistische Zwecke von keiner Bedeutung gewesen sein, da die grofse Mehrzahl der Fälle gar nicht zur Kenntnis des Arztes und damit auch nicht zur Kenntnis der Polizei kommt; für die Schule war aber durch diese offiziellen Meldungen doch immerhin die Sicherheit gegeben, dals in diesen Fällen eine ärztliche Diagnose gestellt und ärztliche Behandlung eingeleitet war, und dals alle segen eine Weiterverbreitung der Krankheit erforderlichen Mafsnahmen getroffen worden waren. Von diesem Gesichtspunkte aus ist die Aufhebung der Meldepflicht bei Masern, die ja kaum eine Belastung der Ärzte oder des Publikums bildete, zu bedauern. Aus allem dem, was ich angeführt habe, ergibt sich, dafs eine plan- mälsige Bekämpfung der Masern durchaus notwendig ist. Das liegt sowohl im Interesse der Schule und der Schulkinder, als auch der noch nicht schulpflichtigen Kinder. Da der Schulbesuch sicherlich die Verbreitung der Masern in hohem Grade begünstigt, liegt es nahe, dafs wir uns der Schule zur Bekämpfung der Masern bedienen. Das kann in folgender Weise geschehen: Nachdem der erste Masernfall in der untersten Klasse einer Gemeinde- schule bekannt geworden ist, werden eine Woche später die erforderlichen Schutzmafsregeln in Aussicht genommen. Erfolgt in dieser Zeit keine weitere Erkrankung, so kann man allenfalls annehmen, dafs der Fall ver- einzelt bleiben wird, und man wird dann unter Umständen von weiteren Maflsnahmen absehen dürfen. Wenn aber noch ein zweites oder drittes Kind als masernkrank gemeldet wird, so werden acht Tage nach dem Beginn der ersten Erkrankung alle diejenigen Kinder vom Schulbesuch ausge- schlossen, welche noch keine Masern gehabt haben. Die Dauer dieses Ausschlusses sollte 8—10 Tage betragen. Unter Umständen würde sich, Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. 19 nachdem genügende Erfahrungen gesammelt sind, die Dauer dieses Aus- schlusses sogar, entsprechend den Vorschlägen von Eberstaller, auf fünf Tage herabsetzen lassen. Die Kinder, welche während dieser Zeit er- kranken, mülsten natürlich bis zu ihrer Genesung den bisherigen Vor- schriften entsprechend der Schule fernbleiben. Diese meine Vorschläge beziehen sich vorläufig nur auf die untersten Klassen der Gemeindeschulen. Sie würden natürlich ebenso gut, falls die Verhältnisse sich ändern sollten, für die sechste und fünfte Klasse an- wendbar sein. Ob sie auch für höhere Schulen brauchbar sind, darüber fehlt mir die Erfahrung, doch ist anzunehmen, dals die Verhältnisse dort ähnlich liegen, und dals in den untersten Klassen der Vorschulen häufig Klassenepidemien von Masern vorkommen; dann würde auch dort natürlich ebenso zu verfahren sein. Ferner mülsten in allen Klassen und in allen Schulen die noch nicht durchmaserten Geschwister masernkranker Kinder auf mindestens 14 Tage vom Schulbesuch ausgeschlossen werden. Bei allen diesen Malsregeln ist die Mitwirkung des Schularztes nicht zu entbehren. Nach der Meldung des ersten Masernfalles mülste er, falls über diesen keine ärztliche Bescheinigung vorliegt, in die Wohnung des erkrankten Kindes gehen und sich von der Richtigkeit der Diagnose überzeugen. Ferner mülsten ihm alle vom Schulbesuch ausgeschlossenen Kinder vor ihrer Wiederzulassung vorgeführt werden. Für andere etwa notwendige Nachforschungen würde man sich der Hilfe der Schulschwester bedienen können. Wenn die Schulärzte, wie es bei uns geschieht, bei der Einschulungsuntersuchung, die in Gegenwart der Eltern stattfindet, die Krankheiten auf dem Gesundheitsschein vermerken, welche das Kind durchgemacht hat, so lassen sich die noch nicht durchmaserten Kinder leicht aussondern. Es dürfte sich empfehlen, nach den hier angeführten Grundsätzen einen Versuch zur Bekämpfung der Masernepidemien in der Schule und damit auch der gesamten Masernmorbidität des kindlichen Alters zu machen. Die Erfahrung muls lehren, ob diese Grundsätze sich praktisch in dieser Weise durchführen lassen, oder ob sie noch verändert oder ergänzt werden müssen. Darüber sollte man durch methodisches Vorgehen in einer grölseren 3+ 20 Gustav Poelehau, Über die Bekämpfung der Masern durch die Schule. Anzahl von Schulen Klarheit zu gewinnen suchen. Erst wenn die Einzel- heiten dieser Methode genügend ausgearbeitet und erprobt sind, wird man in Erhebungen darüber eintreten können, ob es auf diese Weise gelingt, die Mortalität der zarten Altersklassen und die Morbidität der schulpflichtigen Jugend an Masern allmählich herabzusetzen, ein Ziel, das wohl eines solchen Versuches wert ist! INLOPVFAT A OHWAR Abh. der Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr. 3. Ein Fall von Duplicitas posterior. Von Hermann Adolphi. Mit 2 Figuren. Eingegangen bei der Akademie am 14. März 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a.S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. Ba der Durchsicht des Skelettvorrates des hiesigen anatomischen Institutes stiels ich auf ein Kreuzbein, das mit einigen Steilsbeinwirbeln synostotisch verbunden war. Das distale Ende dieses Skelettstückes hatte eine höchst auffallende Form und bei eenauerer Besichtigung ergab sich, hier läge eine der so seltenen Verdoppelungen des hinteren Endes des Achsenskelettes vor. Minnliches Becken von vorn und oben. Grölsenverhältnis 1:4. Das Kreuzbein gehörte einem erwachsenen Manne an und war mit dem rechten Hüftbeine synostotisch verbunden. Ich habe das linke Hüft- bein angefügt und dann das ganze Becken in der Ansicht von vorn und oben mit dem Zeichenapparat in orthogonaler Perspektive aufgenommen (Fig. 1), wobei die Größe auf ein Viertel der natürlichen reduziert ist. Wie stets bei einseitiger Synostose von Kreuz- und Hüftbein ist der zugehörige schräge Durchmesser des: Beckens verkürzt und das ganze Becken ist asymmetrisch. 1* 4 Hermann Adolphi, Der Hals-, Brust- und Lendenteil der Wirbelsäule zeigte keine irgendwie auffallenden Befunde. Das Kreuzbein besteht aus fünf reinen Sacralwirbeln und einem sacroeoceygealen Übergangswirbel, mit denen die ersten Steilsbeinwirbel synostotisch verbunden sind. Dementsprechend gibt es rechts vier und links fünf Kreuzbeinlöcher. In Fig. 1 sind die beiden zweiten vorderen Kreuzbeinlöcher nicht sichtbar, sie standen genau senkrecht zur Ebene der Zeichnung. Wirbel 25 ist erster Sacralwirbel, Wirbel 29 letzter reiner Saeralwirbel. Wirbel 30 ist sacrococeygealer Übergangswirbel. Sein linker Fig. 2. Unteres Ende des Kreuzbeines von hinten. Grölsenverhältnis 1:1. @Querfortsatz beteiligt sich an der Bildung der Pars lateralis sacri, der rechte @uerfortsatz endet frei. Die Bogenhälften dieses Wirbels bleiben dorsal gespalten und sind mit den gleichfalls dorsal gespaltenen Bogen- hälften des vorhergehenden Wirbels synostotisch verbunden. Dieses ist deutlich in Fig. 2 zu sehen, welche das untere Ende des Kreuzbeines in natürlicher Gröfse in dorsaler Ansicht wiedergibt. Die ersten vier Sacral- wirbel sind dorsal geschlossen. Von Wirbel 30 abwärts wird nun das synostotisch mit dem Sacrum verbundene Steilsbein nicht schmäler, wie man erwarten sollte, sondern breiter und dann — gabelt es sich. Es entstehen so zwei Fortsetzungen des Achsenskelettes, von denen (was besonders in Fig. 2 hervortritt), die Ein Fall von Duplieitas posterior. 9 linke die kürzere und stärkere ist. Diese ist auch in der Richtung von vorn nach hinten massiger wie die rechte und nach ihrer ganzen Form als die Hauptfortsetzung des Achsenskelettes anzusehen. Das Ende ist ab- gestutzt und lälst eine ovale, besonders hinten scharf umrandete Fläche erkennen. Hier hat eine Bandscheibe gesessen, mittels deren der nächste Steilsbeinwirbel angefügt war. Eine genauere Betrachtung des Objektes selbst lehrt, hier seien Wirbel 31 und 32 synostotisch mit dem Sacrum verbunden. “ Der rechte Zweig geht von dem rechten Rande des verbreiterten Wirbel 31 ab und man wäre geneigt, ihn für eine Exostose zu halten, wenn nicht zwei Gründe dagegen sprächen. Erstens ist ‘dieser Fortsatz segmentiert: ich zähle an ihm eine rechtsseitige Verbreiterung des Wirbel 31, einen Wirbel 32, der mit dem linken Wirbel 52 noch eine kurze Strecke lang verwachsen ist, und einen Wirbel 33, der frei vorragt. Zweitens ist das Ende des fraglichen Fortsatzes abgestutzt und trägt eine ovale, allseitig scharf umrandete Fläche. Hier hat zweifellos eine Bandscheibe gesessen, mittels deren ein weiterer Steilsbeinwirbel angefügt war. Es kann somit kein Zweifel bestehen, hier liege tatsächlich ein Fall von Verdoppelung des distalen Endes des Achsenskelettes vor, eine Duplicitas posterior nach dem Schema des umgekehrten Y (also A). Die Forderung Ernst Schwalbes,') die klassische Form der Duplicitas posterior müsse eine Verdoppelung des kaudalen Endes der Wirbelsäule aufweisen, ist hier erfüllt. Freilich liegt kein Dipygus mit vier Beinen vor, die Doppelbildung hat einen viel kleineren Umfang und bei dem einfachen Becken war natürlich auch nur ein Paar Beine vorhanden. Ob am After und Mastdarm oder den Geschlechtsteilen irgendwelche Verdoppelungen vorlagen, weils ich nicht, halte sie aber für sehr unwahrscheinlich, solche Milsbildungen hätten im Präpariersaal bemerkt werden müssen. Ivar Broman’) bildet einen von Pallin 1910 in Lunds Läkare- sällskaps Förhandlingar beschriebenen neugeborenen Knaben in äufserer 1) Ernst Sehwalbe, Die Morphologie der Mifsbildungen. Teil II. Die Doppel- bildungen. S.305. Jena 1907. 2) Ivar Broman, Normale und abnorme Entwickelung des Menschen. Wiesbaden EIBPZESWTLIIE 6 Hermann Adolphi, Ein Fall von Duplieitas posterior. Ansieht ab. Der einfache Penis endet mit zwei von einer gemeinsamen Vorhaut umschlossenen Eicheln, die jede eine Harnröhrenmündung tragen. Das Serotum ist einfach. Zwei Analgruben liegen vorn. Die kaudale Wirbelsäulenpartie und die kaudale Reetumpartie waren doppelt vorhanden. Die beiden Reetumzweige endeten blind. Der linke wurde operativ nach aulsen geöffnet. Die Doppelbildung des unteren Endes der Wirbelsäule war mit Hilfe von Röntgen-Durchleuchtung festgestellt worden. Eine genaue Angabe, wieweit die Verdoppelung hinaufreicht, ist dem Referate nicht zu entnehmen. Das Original habe ich nicht erlangen können‘) und so bleibt es ungewils, ob in meinem Falle, oder in dem von Pallin be- schriebenen die Verdoppelung des distalen Endes des Achsenskelettes die geringere war. 1) Während der Drucklegung dieser Arbeit erhielt ich durch die Freundlichkeit des Herrn Pallin einen Abzug seines Aufsatzes. Aus der Skizze des Röntgenbildes (Fig. 6) ist zu entnehmen, die Verdoppelung des Achsenskelettes habe bis zum zweiten Sacralwirbel gereicht. Somit hat der von mir beschriebene Fall von Duplieitas posterior den geringeren Umfang und wohl überhaupt den geringsten Umfang von allen bisher bekannt gewordenen Fällen. Jurjew-Dorpat, den 6./19. Februar 1912. NOVA ACTA. Abh. der Kaiserl. Leop.- Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr. 4. Zur Behandlung des (Juerbruches der Kniescheibe. Von Dr. Ernst Funke, Melle i. H. Mit 1 Figur. Eingegangen bei der Akademie am 14. März 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a. S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. Lie Behandlung der häufigsten Form der Patellarbrüche, der sub- eutanen Querfraktur, möchte ich hier einiges sagen. Die im Laufe der Jahre stets wechselnden Behandlungsmethoden zeigen uns schon, dafs sie nicht genügen. In ihrer Anwendung sind die Methoden in zwei entgegengesetzte Gruppen zu teilen, die blutige und die unblutige Methode, in ihrem Erfolge sind sie gleich. Beide erzielen in mehr oder minder langer Zeit und einfacherer oder komplizierterer Weise eine fibröse Vereinigung der Fragmente mit beschränkter Funktion des Kniegelenkes. Fast immer, sagt Middeldorpf (Beiträge zur Lehre von den Knochenbrüchen. Breslau 1853. 5. 129), bleibt der knöcherne Callus ein pium desiderium. Malgaigne (Traite des Fractures et des Luxations. T. I. Paris 1847) zitiert S. 756 einen Ausspruch Tibracs: „Tibrae en niait jusqu’a la possibilite, et il avait offert un prix de cent louis A celui qui lui montrerait une ratule entierement reunie par un cal osseux. (Pratique moderne de la chirurgie, par Ravaton. T. IV. P. 336). Weniger pessimistisch sind andere Autoren (Hueter, Tillmanns usw.), die in der „übergrolsen Mehrzahl eine Heilung dureh fibröse Stränge“ annehmen. Wichtiger ist entschieden die Frage, weshalb heilen die Querbrüche durch fibröses Bindegewebe und nicht knöchern. Hueter-Lassen geben in ihrem Grundri/s der Chirurgie. II. Bd. 1892. S. 207, drei Gründe dafür an. Die Diastase der Fragmente, die mangelhafte Leistungsfähigkeit des Periostes, welches nur die obere Fläche des Knochens bedeckt und die Gefälsarmut des Markgewebes der Patella. Macewen beschuldigt Fasern der Aponeurose, die sich zwischen die Fragmente legen. Gewils sind die Distance und Interposition von Weich- teilen Hinderungsgründe für die knöcherne Vereinigung, weniger die einseitige 1* 4 Ernst Funke, Lage des Penöstes oder die behauptete Gefälsarmut der Patella. Letztere besteht nach meinen Befunden an Leichen und den starken Blutungen bei Patellarverletzung an Lebenden zu urteilen nicht und das Periost der Vorderfläche ist ausgiebig genug zur knöchernen Vereinigung. Auch die anderen Gründe lassen sich operativ hinfällig machen. Auf blutigem Wege entfernen wir dazwischen gelagerte Weichteile und legen durch Naht der Patella die Bruchflächen nahe aneinander und — erzielen dennoch keine knöcherne Verheilung. Der Grund muls also ein anderer sein. Bei den unblutigen Methoden, wo wir versuchen von aulsen her durch Apparate und Binden (Little. Wolfermann, Trelat, Hamilton, Gama, Wood, Dorsey, Cooper, Lonsdale, Burge, Lausdale, Beach, Lindemann u. a.) die Fragmente aneinander zu bringen, ist der Hinderungsgrund, wie Hutshinson zuerst be- tonte, das Blutextravasat zwischen den Fragmenten. Stets ist dasselbe be- deutend und noch nach Wochen vorhanden, wie ich mich auch selbst in einem Falle nach 7!/; Wochen überzeugen konnte. Dazu kommt noch, dafs es nach meiner Ansicht unmöglich ist, von aufsen her, sei es durch Binden- touren oder Apparate, die Fragmente ideal aneinander zu drücken. Der Druck mülste ein so starker sein, dafs sicher die Ernährung der Haut leiden und Druckgangrän eintreten würde. In der Erkenntnis des schädlichen Einflusses des Blutextravasates haben dann Volkmann, Schede punktiert, letzterer noch mit 3% Carbol ausgespült. Die Erfolge blieben jedoch ebenso mangelhaft. Den Übergang zu den operativen Methoden bildete dann Malgaignes Klammer und Dieffenbachs Nägel, die er in. jedes Fragment schlug und mit Fäden zusammenzog. Trotzdem die Malgaignes Klammer in der Annäherung der Fragmente das möglichste leistete, wurden die Erfolge nicht besser, ja es traten oft Eiterungen in der Tiefe ein, deren Ätiologie wir uns heute leicht dadurch erklären, da/s mit der Klammer Infektions- erreger aus der Cutis in die Tiefe geschleppt wurden. Ähnliche Prinzipien und Gefahr hat eine neuere Methode von 1897, wobei in der Richtung der Längsachse des Beines unter den Fragmenten durchgestochen wird und die Fragmente auf diese Weise aneinandergezogen werden. Auch Heusners Methode der zirkulären Umschnürung zeitigte keine besseren Resultate. Ebensowenig die grölseren operativen Methoden der Patellarnaht mit Seide, Catgut oder Silber. Diese Naht leistet wohl das beste in der Anpassung - Zur Behandlung des Querbruches der Kniescheibe. 9) der Fragmente und ist heute ebensowenig gefährlich als alle früheren Methoden. Unter Leitung des Auges können wir die Bluteoagula möglichst entfernen und die Fragmente in bester Stellung.aneinander fixieren. Ob man zu dieser Patellarnaht einen queren Hautschnitt oder einen in der Längsachse des Beines oder den Textorschen Bogenschnitt bevorzugt, ist gleichgültig. Bei diesen Methoden sind wir jetzt stehen geblieben, sie leisten nicht mehr, als die früheren. Es muß also irgend etwas geben, das die knöcherne Ver- heilung verhindert. Ich sehe den Grund darin, da/s man die Bruchflächen nicht anfrischt und zwar durch Absägen einer dünnen Lamelle etwa mittels Phalangensäge. Es ist dieses technisch leicht ausführbar, wie ich mich an der Leiche überzeugt habe. Dadurch wird durch die vergrölserte Spannune der Quadricepsehne die Annäherung der Fragmente noch etwas mehr erschwert, die Spannung kann man durch Querschnitte beseitigen, die wie Ziegel in einer Mauer zu- einander liegen. Macewen machte mehrere Reihen V förmiger Einschnitte, welche Y ausgezogen wurden. Wie dem auch sei, so steht es fest, dals die Vereinigung gelingt und es ist zu verwundern, weshalb die Absägung einer Knochenlamelle immer unterlassen wird, obwohl wir durch dieselbe das Ideal der Heilung der Patellarfraktur, die knöcherne Vereinigung er- reichen. Die Operation Rosenbergers (27. Chirurgenkongrels 1898) — Ab- sägung der Kuppe in frontaler Richtung am unteren Fragmente und Her- unterklappen der entsprechend frontal abgesägten Scheibe des oberen Seg- mentes — ist viel komplizierter, beruht jedoch auf demselben Prinzip, frische Knochenflächen aneinander zu bringen. Bei jeder Querfraktur finden wir ein starkes Blutkoagulum zwischen den Fragmenten. Ich glaube, dafs die Blutung aus den verhältnismäßig breiten Bruchflächen deshalb so stark ist, weil die Fragmente gleich nach erfolgtem Bruche auseinandergezogen werden und die blutenden Bruchflächen frei in den geschaffenen Hohlraum bluten können, bis derselbe mit Blut gefüllt ist. Dieses zum Gerinnen kommende Blut führt zum Stehen der Blutung aus den Bruchflächen, worauf in diesen die eröffneten Gefälslumina trombosieren und die zahllosen Knochenlücken sich mit Bluteoagulis füllen. Zur Naht kommt es stets erst einige Tage nach der Fraktur, dann legt man die beiden mit Blutcoagulis gefüllten Bruchflächen aufeinander und: 6 Frnst Funke, verlangt, dals dieselben Anöchern verwachsen. Der lebensfähige, zur Rege- neration geeignete Knochen ist damit aber wie durch eine Isolierschicht dureh die mit Bluteoagulis und Gefälstromben erfüllten Bruchflächen voneinander getrennt. Die frisch geschaffenen Sägeflächen aneinandergelegt bieten sicher mehr Chancen für knöcherne Verheilung. Um diese angefrischten Knochen aneinanderzubringen, mulste ich aber immer ein Hilfsmittel haben, sei es Naht mit Silberdraht oder Klammer usw. Das ist aber nicht das Ideal, es geht auch ohne jeden Fremdkörper und zwar auf folgende Weise. Die Tischler haben bei Befestigung zweier Holzteile ohne Nägel oder Leim eine Methode, die sie Schwalbenschwanz-Methode nennen. Aus einem Stück wird ein schwalbenschwanzähnliches Stück gesägt, aus dem anderen der dareinpassende Vorsprung. Aus dem kleineren Patellarfragmente wäre der schwalbenschwanzförmige Vorsprung zu sägen, aus dem grölseren die entsprechende Vertiefung. Man sägt zunächst an dem kleinen Fragmente eine dünne Schicht bis gegen die Mitte, dann schräge von aulsen von der Bruchfläche aus ‚gegen das Ende des ersteren Sägeschnittes, so erhält man den schwalbenschwanzähnlichen Vorsprung. Alsdann legt man diesen Zur Behandlung des Querbruches der Kniescheibe. 7 auf das grölsere Fragment, markiert sich mit dem Messer die Umrisse des Schwalbenschwanzes, sägt dieses Stück von der Bruchfläche aus heraus und palst den Schwalbenschwanz von oben hinein. Jeder Zug der Muskulatur wird die Knochenwundflächen nur um so fester ameinanderpressen. Zu dieser Methode brauche ich keinerlei Fremdkörper, ich schaffe die günstigten Vorbedingungen für eine rasche und feste knöcherne Vereinigung. An der Leiche ist diese neue Methode leicht ausführbar, selbstverständlich müssen die Fragmente beim Sägen sehr fest gehalten werden. Wenn man die bisherigen unbefriedigenden Resultate der blutigen Methoden sowie auch der unblutigen Massage (Gehfähigkeit nach etwa sechs Wochen) be- denkt, so empfiehlt sich diese neue einfache Methode selbst zur Prüfung (s. Fig.). Die schraffierten Stücke werden fortgesägt. NOV AZ AEITA: Abh. der Kaiserl. Leop. Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr.5. Über die Ursache der Hynertrophie des rechten Ventrikels bei vermehrter Arheitsleistung des linken, Von Dr. med. Arved Bertels, Prosektor am I. Stadtkrankenhaus in Riga. Eingegangen bei der Akademie am 14. März 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a. S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. h 5 2 Ra = nn “ 1 Psakal, 7a & Da bei Krankheitszuständen, welche erhöhte Anforderungen an die Arbeitskraft des linken Ventrikels stellen, bei Arteriosklerose, bei den ver- schiedenen Formen der Nephritis und bei Klappenfehlern der Aorta, nicht nur der linke Ventrikel hypertrophiert, sondern häufig auch der rechte, ist schon seit langer Zeit den verschiedenen Beobachtern aufgefallen.!) Die Ansichten über das Zustandekommen der rechtsseitigen Hypertrophie falst Schabert folgendermalsen zusammen: „Senator stellte sich die Sache so vor, dals bei einer Hypertrophie des linken Ventrikels mehr Blut in die Kranzarterien getrieben würde... Krehl wies auf die anatomische Tat- sache hin, dals ein Teil der Kammermuskulatur, wenn auch nur der kleinere, beiden Kammern gemeinsam ist. In diesem Krehlschen Sinne scheint mir die Hypothese vom Mithypertrophieren noch nicht widerlegt ... Viertens liefse sich zur Erklärung darauf hinweisen, dals es in den extremen Fällen durch Nachlafs der Kraft des linken Ventrikels allmählich zur Stauung kommen müsse, die den rechten Ventrikel zu energischeren Kontraktionen antreibt. Vorstellungen dieser Art finden sich bei Krehl und Schrötter“. In den letzten Jahren hat nun die Lehre vom „Mithypertrophieren“ des rechten Ventrikels mit dem linken, sei es im Sinne Senators oder Krehls, offenbar an Anhängerschaft verloren. Krehl selbst”) hebt hervor, dals die einzelnen Herzabschnitte vollkommen unabhängig voneinander hypertrophieren können. Päfsler’) erklärt die rechtsseitige Hypertrophie, speziell bei Nierenkranken durch Insuffizientwerden des linken Ventrikels mit nachfolgender Stauung in der Lunge; als anatomischen Ausdruck der 1) Vgl. Schabert, Über die Ventrikelhypertrophie bei Arteriosklerose und chron. Nephritis. St. Petersb. Med. Wochenschr. 1908, Nr. 30. — Wideröe, Massenverhältnisse des Herzens. Christiania 1911. Daselbst weitere Literaturangaben. 2) Die Erkrankungen des Herzmuskels. 1901, 8.88. (Nothnagel, Spez. Path. u. Ther.) 3) Volkmanns Sammlung 1903 —1907, Nr. 408. (Innere Med. Nr. 123.) 8. 538, 1* 4 Arved Bertels, Stauung findet er eine braune Induration der Lunge, welche er in allen denjenigen Fällen niemals vermilst hat, in welchen die Nephritis aulser der Hypertrophie des linken Ventrikels auch eine solche des rechten Herzens erzeugt hatte. Päfsler hat vollkommen recht. Die braune Induration der Lunge ist, nicht nur bei Nephritis, sondern auch bei Arteriosklerose, unter den genannten Umständen oft sehr deutlich. Ich will auch die Möglichkeit zugeben, dals sie immer vorhanden sein mag; aber sie ist jedenfalls in den geringeren Graden makroskopisch sehr schwer zu diagnostizieren, was schon daraus hervorgeht, dals sie bisher meist nur als Attribut der Mitralfehler galt. Pälsler selbst sagt von ihr: „Merkwürdigerweise ist diese Erscheinung bei Nephritis meines Wissens bisher nicht beobachtet worden“. Und im Lehrbuch der Path. Anatomie von Birch-Hirschfeld!) heilst es: „Am häufigsten kommt als Ursache in Betracht die Stenose und Insuffizienz der Mitralklappen ... Auch Nachlals der Triebkraft des rechten oder linken Herzventrikels durch Fettentartung, Myokarditis, bewirkt Stauungshyperämie in den Lungen“. Von Aortenklappenfehlern, Nephritis, Arteriosklerose ist nicht die Rede. Es galt also, eine Methode ausfindig zu machen, um möglichst leicht und sicher eine chronische Stauung in den Lungen nachzuweisen. Eine solche bot sich mir dar im mikrochemischen Eisennachweis in den Lungen. Bei chronischer Stauung kommt es nämlich zu wiederholten Austritten roter Blutkörperchen in das Lungengewebe; das Hämoglobin wird unter Bildung einfach konstituierter Eisensalze zersetzt, welche z. T. im Gewebe liegen bleiben, z. T. auch von zelligen Elementen aufgenommen werden; die letzteren findet man, mit braunem eisenhaltigem Pigment beladen, als die allbekannten „Herzfehlerzellen* gelegentlich im Auswurf. Das in der Lunge liegen gebliebene Eisen läfst sich aber mit den für diese Zwecke angegebenen mikrochemischen Reaktionen nachweisen. Um die Brauchbarkeit der Methode zu prüfen, stellte ich zunächst fest, wie es mit dem Eisengehalt von Lungen steht, bei denen weder die klinische Diagnose, noch der anatomische Befund eine chronische Zirkulations- störung erwarten läfst. Aus dem Sektionsmaterial des ersten Rigaschen Stadtkrankenhauses wählte ich 15 Fälle aus von Personen, welche an akuten 1) 4. Aufl. 1894. 2. Bd. S. 492. . Über die Ursache der Hypertrophie des rechten Ventrikels usw. [9) Infektionskrankheiten, Darmokklusion, Diabetes, Amyloidose, Karzinom gestorben waren. Von jeder Leiche entnahm ich ein Stück aus dem Ober- lappen einer Lunge; Paraffinschnitte; Turnbulls-Blau-Reaktion nach Tiermann und Schmelzer; schwaches Nachfärben mit Alaunkarmin. In keiner der 15 untersuchten Lungen fand sich eine irgend er- hebliche Eisenreaktion; nur wenn die Lungen grölsere Mengen Kohle ent- hielten, fanden sich zwischen und in der Umgebung der Kohlenanhäufungen regelmälsig auch blaue Schollen, was wohl auf lokalen Stauungen, bedingt durch Kompression der kleinen Gefälse von seiten der Kohlepartikelchen beruhen dürfte. Sonst fanden sich nur vereinzelte blaue Partikelchen, offen- bar zufällig in das Präparat gelangte Eisenstäubchen. Ein ganz anderes Bild bot sich, als ich nun solche Lungen unter- suchte, in denen sicher seit längerer Zeit eine Stauung bestanden hatte. Die betreffenden Lungenschnitte stammten von Personen mit Mitralklappen- fehlern, bei denen es zu einer deutlichen Hypertrophie des rechten Ventrikels gekommen war, ohne dals sich für die letztere anderweitige Ursachen (Emphysem) auffinden lieisen. Die Feststellung der Hypertrophie geschah durch Wägung nach der Methode von Wilhelm Müller'). Leider ge- statteten die Verhältnisse an unserem pathologischen Institut es nicht, eine Wägung der Leichen vorzunehmen, es fehlte mir also die Möglichkeit, das Herzgewicht in Relation zum Körpergewicht zu setzen, und ich mulste mich darauf beschränken, diejenigen Fälle zu benutzen, bei denen das Gewicht des rechten Ventrikels gröfser war als das mittlere Gewicht des rechten Ventrikels bei dem höchsten vorkommenden Körpergewicht. Ein Blick auf die Tabelle auf S. 214 des Müllerschen Buches lehrt nun, dafs bei Männern ein Gewicht von 70 g für den freien Teil des rechten Ventrikels und bei Frauen ein solches von 60 g unter allen Umständen eine Hyper- trophie bedeutet. i Solcher Fälle von Mitralklappenfehlern mit Hypertrophie des rechten Ventrikels standen mir zwölf zur Verfügung, von diesen zeigten elf eine mehr oder weniger stark ausgesprochene Eisenreaktion in den Lungen; das 1) W. Müller, Die Massenverhältnisse des menschlichen Herzens. Hamburg und Leipzig 1883. | 6 Arved Bertels, Eisen lag in Form von blauen Schollen zum Teil frei im Gewebe, zum Teil innerhalb grofser Zellen, an manchen Stellen fand sich auch eine diffusere Blaufärbung des interstitiellen Gewebes; in einem Fall war der Schnitt schon für die Betrachtung mit blolsem Auge intensiv blau gefärbt. Nur in einem Falle fehlte die Eisenreaktion; die Lunge zeigte in diesem Fall das typische Aussehen der „braunen Induration“; warum die Eisenreaktion nicht vorhanden war, vermag ich nicht zu erklären, jedenfalls geht aus dem positiven Ausfall der Reaktion in elf von zwölf Fällen chronischer Stauung und aus ihrem negativen Ausfall in allen 15 darauf- hin untersuchten Fällen ohne Stauung hervor, dals man mit gröfster Wahr- scheinlichkeit Stauung annehmen darf, wenn man eine deutliche Eisen- reaktion erhält. Nachdem dies festgestellt war, konnte ich dazu übergehen, zu prüfen, ob sich in den Fällen von Arteriosklerose, welche nicht nur zu einer Hypertrophie des linken, sondern auch zu einer solchen des rechten Ventrikels geführt hatten, Stauung in den Lungen nachweisen liels. Ich benutzte nur solche, bei denen der linke Ventrikel ein Mindestgewicht von 135 g bei Männern oder von 115 & bei Frauen hatte, wo also sicher Hypertrophie des linken Vetrikels bestand (W. Müllers Tabelle S. 214), während für den rechten Ventrikel die oben angeführten Gewichtsnormen in Geltung blieben. Ausgeschlossen waren alle Fälle, wo gleichzeitig Klappen- fehler bestanden, nach Möglichkeit auch alle Fälle mit Nephritis und mit primären Lungenveränderungen, die ein Strömungshindernis für das Blut abgeben konnten: Emphysem, Sklerose der Lungenarterien, Szirrhose und Tuberkulose der Lungen. Doch möchte ich bemerken, dals es Fälle gibt, wo man nur durch die Hypertrophie des rechten Ventrikels, für die sich sonst keine Ursache finden läfst, darauf hingewiesen wird, dafs ein solches Zirkulationshindernis bestehen muß. Es läfst sich folglich nicht aus- schliefsen, dafs in dem einen oder anderen Fall dieser Gruppe, wo die rechtsseitige Herzhypertrophie durch die Arteriosklerose eine genügende Er- klärung zu finden scheint, nicht diese letztere, sondern ein in den Lungen liegendes Strömungshindernis verantwortlich zu machen ist. Der hieraus erwachsende Fehler kann aber nicht grols sein, weil Fälle der erwähnten Art nicht häufig sind. Über die Ursache der Hypertrophie des rechten Ventrikels usw. Z Ich kann auch nieht mit Sicherheit ausschliefsen, dafs das eine oder andere Mal eleichzeitix eine Nephritis geringen Grades bestanden hat; in den meisten Fällen war eine mehr oder weniger ausgesprochene Stauung im erofsen Kreislauf vorhanden, bei Stauungsnieren findet man aber gelegentlich Herdchen kleinzelliger Infiltration; ob dieselben eine Folge der Stauung oder unabhängig von derselben entstanden sind, läfst sich nicht entscheiden, doch dürften diese Veränderungen wegen ihrer Geringfügigkeit wohl keinen nennens- werten Einfluls auf die gesamten Zirkulationsverhältnisse ausgeübt haben. Ich habe nun in dieser Gruppe: mit Eisenreaktion 6 Fälle; ohne n 2 ” Also für die Mehrzahl der Fälle ist die Stauung in der Lunge und damit die Insuffizienz des linken Ventrikels bewiesen; von den beiden Fällen ohne Eisenreaktion betraf der eine eine gut genährte männliche Leiche, bei welcher der rechte Ventrikel ein Gewicht von 70 & hatte, er war also nur eben leicht hypertrophisch; die Insuffizienz des linken Ventrikels, welche ich auch in diesem Fall zur Erklärung der rechtsseitigen Hypertrophie voraus- setze, mag erst kurze Zeit bestanden haben und nicht hochgradig genug gewesen sein, um die Lungenveränderungen hervorzurufen, auch makroskopisch fehlten die Merkmale der „braunen Induration.“ Der Tod war an Hirnblutung erfolgt, Stauungserscheinungen im grolsen Kreislauf fehlten. Man muls auch an die oben erwähnte Möglichkeit denken, dafs die Hypertrophie des rechten Ventrikels in diesem Fall nicht die Folge einer Insuffizienz des linken Ventrikels ist, sondern auf einer komplizierenden Erkrankung der Lunge beruht, welche sich anatomisch nicht direkt diagnostizieren lälst. Im zweiten Fall ist die Lunge von mir im Sektionsprotokoll als „zähe elastisch“ bezeichnet worden; es scheint hier also doch ein gewisser Grad von Induration bestanden zu haben, die Sache liegt hier ganz ebenso, wie bei dem oben erwähnten Mitralklappenfehler mit mangelnder Eisenreaktion. Man mufs an die Möglichkeit denken, dals bei manchen Individuen, vielleicht infolge von Stoffwechselanomalien, das im Gewebe liegen bleibende Hämo- globin nicht bis zu den einfachen Verbindungen zersetzt wird, welche die Reaktion mit dem Blutlaugensalz geben. [0 0) Arved Bertels, Aber nicht nur in „extremen Fällen“, wie Schabert annimmt, kommt es zu einem Nachlals der Kraft des linken Ventrikels; ein gewisser Grad von Insuffizienz desselben ist offenbar oft sehr früh vorhanden. Wenn wir aus Erfahrung wissen, dals Mitralklappenfehler, bei denen das Bestehen einer Stauungshyperämie in den Lungen eine physikalische Notwendigkeit ist, viele Jahre von den betreffenden Patienten ohne erhebliche Störungen ertragen werden können, so darf die Vorstellung für uns nichts Befremdliches haben, dafs auch bei der Arteriosklerose, wenn der linke Ventrikel den erhöhten Anforderungen nicht mehr Genüge leisten kann, eine Rückstauung des Blutes in den Lungen stattfindet, ohne dals der Patient daran bald zu Grunde geht. Als Beweis für meine Behauptung führe ich diejenigen Fälle an, in welchen der Tod nicht unter den Erscheinungen der allgemeinen Stauung im grolsen Kreislauf, sondern aus anderweitigen Ursachen erfolgt war; unter den obengenannten sechs Fällen finden sich zwei derartige: Sekt. 566, 1910: Gut genährte männliche Leiche, linker Ventrikel 370 g, rechter Ventrikel 70 g, Tod an Hirnblutung, in der Lunge sehr starke Eisenreaktion. Sekt. 598, 1910: Mäfsig genährte männliche Leiche, linker Ventrikel 210 g, rechter Ventrikel 70 g, Tod an Enzephalomalazia, in der Lunge starke Eisenreaktion. Auch unter denjenigen Fällen unkomplizierter Arteriosklerose, bei welchen es wohl schon zu einer Hypertrophie des linken Ventrikels ge- kommen war, nicht aber zu einer deutlichen Hypertrophie des rechten, fand ich zweimal die Eisenreaktion: Sekt. 389, 1910: Weibliche Leiche mit stark entwickeltem Fettpolster, mälsiger Muskulatur, linker Ventrikel 195 g, rechter Ventrikel 55 g, Tod an Hirnblutung, in der Lunge deutliche Eisenreaktion. Sekt. 569, 1910: Magere männliche Leiche, linker Ventrikel 200 g, rechter Ventrikel 50 g; Tod unter Hirnerscheinungen, für welche sich anatomisch keine befriedigende Erklärung finden läfst; in der Lunge starke Risenreaktion. Diesen zwei Fällen mit positiver Eisenreaktion stehen vier Fälle gegenüber, wo sich kein Eisen findet; das entspricht vollkommen dem, was man erwarten muls, es handelt sich um Personen, bei welchen der hypertrophische linke Ventrikel die durch die Arteriosklerose gesetzten erhöhten Widerstände prompt überwindet, wo es also zu keiner Stauung Über die Ursache der Hypertrophie des rechten Ventrikels usw. g im Lungengefälssystem gekommen ist, infolgedessen auch zu keiner Eisen- reaktion und zu keiner Hypertrophie des rechten Ventrikels. Das Gewicht des linken Ventrikels betrug hier zwischen 125 und 210 g, das des rechten zwischen 50 und 60 &. Der Tod war zweimal durch eine fibrinöse Pneumonie erfolgt, einmal durch eine inkarzerierte Hernie und einmal durch Hirnblutung. Wie verhält es sich nun mit den Aortenklappenfehlern, läfst sich auch bei ihnen mit Hilfe der Eisenreaktion Stauung in den Lungen nach- weisen, wenn sie zu einer Hypertrophie des rechten Ventrikels geführt haben? Diese Frage habe ich nicht beantworten können, weil es mir nicht gelungen ist, in meinem Sektionsmaterial „reine Fälle“ aufzufinden. Die auf Endokarditis beruhenden Klappenfehler an der Aorta sind zum grolsen Teil mit Mitralfehlern vergesellschaftet, die Aortenklappenfehler ohne gleichzeitige Mitralfehler sind zum Teil direkt atheromatösen Ursprunges, zum Teil läfst sich wenigstens eine gleichzeitige Arteriosklerose nicht aus- schlielsen. Denn da die Arteriosklerose bekannntermalsen oft zur Herz- hypertrophie führt, auch wenn die Arterienveränderungen bei der gewöhn- lichen Art zu sezieren nur geringfügige zu sein scheinen, so muls man äulserst zurückhaltend mit seinem Urteil sein, wenn es sich darum handelt, die Arteriosklerose als mitwirkende Ursache für eine anderweitig erklärte Herzhypertrophie auszuschliefsen. Man darf dies meiner Ansicht nach nur bei jugendlichen Individuen, höchstens bis zum 35. Jahre, bei denen keine deutliche Erscheinungen von Arteriosklerose vorliegen, mit einem höheren Grade von Wahrscheinlichkeit tun. Unter mehr als 1000 Sektionen, welche ich ausgeführt habe, seit ich mich mit dieser Frage beschäftige, habe ich nur einen Aortenklappen- fehler mit beiderseitiger Herzhypertrophie, ohne Mitralfehler und ohne Nephritis gefunden, bei welchem ich meinte, Arteriosklerose als Ursache einer Zirkulationsstörung ausschlieisen zu können — und bei diesem bestand eine totale Perikardialverwachsung: Sekt. 134, 1911: Männliche Leiche, 21 Jahre alt. Aortenklappeninsuffizienz, in der Intima der Aorta und ihrer gröfseren Äste nur gelbliche Flecken in geringer Ausdehnung, sonst keine auf Arteriosklerose deutende Veränderungen. Linker Ventrikel 380 g, rechter Ventrikel 105 g. In der Lunge starke Eisenreaktion. Aus dem Krankenbogen ging hervor, Nova Acta XCVII. Nr. 5. 2 10 Arved Bertels, dals akuter Gelenkrheumatismus vorausgegangen war. Ob totale Verwachsung des Herzbeutels ein Zirkulationshindernis bilden kann, scheint mir fraglich. Hirsch!) bestreitet diese Möglichkeit, Wideröe?) führt drei Fälle an, welche das Gegenteil beweisen sollen. Die Fälle von Wideröe wirken in der Tat sehr überzeugend; in allen drei Fällen hatte sowohl der linke als auch der rechte Ventrikel annähernd sein doppeltes Normalgewicht, dabei handelte es sich um Personen im Alter von 12 bis 21 Jahren, bei denen man also Arterio- sklerose und Emphysem als Ursache einer Herzhypertrophie von vornherein mit grölster Wahrscheinlichkeit ausschlie(sen kann, während andere die Herzarbeit erschwerende Momente bei der Sektion schwer zu übersehen sind. In einem Fall lag eine totale Verwachsung des Herzbeutels vor, in den beiden anderen Fällen nicht ganz totale. Ich habe nun mein eigenes Sektionsmaterial der letzten zwei Jahre durchgesehen und 17 Fälle totaler Verwachsung des Herzbeutels gefunden, darunter zehn Fälle mit Hypertrophie eines oder beider Ventrikel, für welche sich jedoch jedesmal eine ausreichende Erklärung in einem Klappenfehler, einer Arteriosklerose oder einer Lungenerkrankung fand; in sieben Fällen dagegen fehlte die Hypertrophie; zwar habe ich in den meisten Fällen der letzteren Art eine Herzwägung nicht vorgenommen und wo ich sie vorgenommen habe, genügte sie nicht, um eine geringfügige Hypertrophie auszuschlielsen, weil ich nicht die Möglichkeit hatte, das Gewicht der Leiche festzustellen, doch kann ich mit Bestimmtheit sagen, dafs eine irgend in Betracht kommende Hypertrophie nicht vorlag. Unter den sieben Fällen befanden sich drei, in welchen die Verwachsungen sehr feste waren, so dafs in einem Fall bei ihrer Lösung die Vorhöfe einrissen; in einem zweiten Fall fanden sich ausgedehnte Kalkplatten zwischen den beiden Perikardialblättern, die Verwachsungen hatten also schon seit längerer Zeit bestanden und gerade im letzten Fall mit den Kalkablagerungen wird das Herz im Sektionsprotokoll als „knapp von der Grölse der Faust“ bezeichnet. Ich meine nun, hier sind die Fälle ohne Hypertrophie von gröfserem Gewicht, als diejenigen mit Hypertrophie, ganz anders als bei der Arteriosklerose; findet man bei einer hochgradigen Arteriosklerose keine Hypertrophie, so beweist das nichts gegen die ursächliche Bedeutung derselben für das Zustandekommen der Herzhypertrophie in anderen Fällen, weil trotz starken Ergriffenseins der der Betrachtung leicht zugänglichen grolsen und mittelgrolsen Arterien gerade die kleinen wenig oder gar nicht verändert sein können; gerade diese aber kommen offenbar für die arteriosklerotische Blutdrucksteigerung wesentlich in Betracht, während es andererseits überaus schwierig ist, über den Grad der Ausbreitung der sklerotischen Veränderungen in ihnen eine richtige Vorstellung zu gewinnen. Falls sich die Ansicht von Hasenfeld®) und Hirscht) bestätigen sollte, dafs es vorwiegend die Veränderungen in den Arterien des Splanchnikus- gebietes sind, welche zu einer Blutdrucksteigerung und damit zur Herzhypertrophie führen, so würde die Aufgabe des sezierenden Arztes, im Einzelfall zu entscheiden, ob eine Herz- hypertrophie auf sklerotische Gefäfsveränderungen zu beziehen ist oder nicht, sich zwar wesentlich vereinfachen, aber immer noch eine schwierige bleiben. Ganz anders ist der Sachverhalt bei der totalen Verwachsung des Herzbeutels; hier liegen einfache, leicht zu übersehende Verhältnisse vor; führt sie in einer Reihe von Fällen 1) Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 68. 1900. S. 323. 2) a.a. 0. 8.120. 3) Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. 59. 1897. 8. 193. 4) 2.2.0. Über die Ursache der Hypertrophie des rechten Ventrikels usw. 11 zu keiner Hypertrophie, so muls man den dringenden Verdacht haben, dafs die Hypertrophie, falls in anderen Fällen vorhanden, anderweitige Ursachen haben müsse. Immerhin seheinen mir die Fälle von Wideröe von so grolsem Gewicht zu sein, dals ich die Angelegenheit noch nicht für definitiv entschieden halte. Ebenso wie mit den Aortenklappenfehlern ist es mir auch mit der Nephritis in ihren verschiedenen Formen gegangen; ich habe keinen einzigen Fall, welcher folgenden Anforderungen entspricht: Nephritis mit Hypertrophie sowohl des linken, als auch des rechten Ventrikels, die genügend hochgradig ist, um sich auch ohne Relation zum Körpergewicht feststellen zu lassen; dabei Ausschluls von Klappenfehlern, chronischen Lungenkrankheiten und: Arteriosklerose. Das ist um so bedauerlicher, als gerade das Zustande- kommen der rechtsseitigen Hypertrophie bei Nephritis im Vordergrunde des Interesses steht; und man kann sich nicht mit dem Analogieschlulßs beruhigen: da die Hypertrophie des rechten Ventrikels bei Arteriosklerose durch Insuffizienz des linken zu Stande kommt, werde es sich bei der Nephritis wohl ebenso verhalten, denn nach den Angaben von Hasenfeld, Hirsch, Schabert, Wideröe hat es den Anschein, als ob die rechtsseitige Hypertrophie bei Nephritis häufiger und hochgradiger ist, als bei Arterio- sklerose, woraus man dann den Schlufs ziehen mülste, dafs sie, zum Teil wenigstens einen anderen Ursprung habe; im einzelnen weisen die einzelnen Untersuchungsreihen noch so viel Widersprüche auf und das Beobachtungs- material ist noch so klein, dals weitere Untersuchungen nach dieser Richtung dringend wünschenswert erscheinen; nur das eine scheint mir klar zu sein: nachdem der Lehre vom „Mithypertrophieren“ des rechten Ventrikels mit dem linken von allen Seiten der Boden entzogen worden ist, kommen für die Erklärung der rechtsseitigen Hypertrophie bei Nephritis überhaupt nur zwei Möglichkeiten in Betracht: entweder vermehrt die Nephritis direkt nicht nur die Arbeit des linken sondern in gleicher Weise auch diejenige des rechten Ventrikels (vermehrte Blutviskosität? Kontraktion der Muskulatur der Lungengefäßse unter dem direkten Einfluss der im Blut enthaltenen Harnbestandteile?) oder der rechte Ventrikel hypertrophiert, ebenso wie bei der Arteriosklerose, sobald der linke die ihm aufgebürdete Mehrarbeit nicht mehr in vollem Malse leisten kann; auch wenn die erste Erklärung sich als die richtige erweisen sollte, dürfte die zweitgenannte Ursache doch auch Ir 12 Arved Bertels, Über die Ursache der Hypertrophie usw. als mitwirkendes Moment anzusehen sein. Mit anderen Worten: der Herz- muskel verhält sich genau so wie der Extremitätenmuskel; ‘wie der letztere durch keine noch so reichliche Ernährung zur Hypertrophie gebracht werden kann, sondern allein durch Übung, so nimmt auch der Herzmuskel nur an Masse zu, wenn er vermehrte Arbeit leistet. Zusammenfassung: 1. Die mikrochemische Eisenreaktion in der Lunge ist ein gutes Hilfsmittel für den Nachweis chronischer venöser Hyperämie in derselben. 2. Die Hypertrophie des rechten Ventrikels bei Arteriosklerose ist durch Insuffizientwerden des linken Ventrikels zu erklären. 3. Eine solche Insuffizienz läfst sich schon in frühen Stadien der Arteriosklerose nachweisen. NOVA ACTA. Abh. der Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVIL Nr. 6. Die Verhütung der Winkelstellungen nach Lähmungen, Dr. med. Otto Thilo -Riga. Orthopädische Anstalt. Eingegangen bei der Akademie am 14. März 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a. S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. D: Winkelstellungen der Arme und Beine bilden oft das Haupt- hindernis für die Wiederherstellung eines Gelähmten; denn sie machen es oft den geschwächten Muskeln unmöglich, sich zu bewegen und hierdurch ihre frühere Spannkraft wiederzugewinnen. — Die Verhütung‘ derartiger Winkelstellungen ist gleich nach der Lähmung leicht. Trotzdem wird sie gewöhnlich verabsäumt, da die Ärzte, in deren Hände die frischen Lähmungen gelangen, meistens mit den hierzu erforderlichen Schienen und ähnlichen Vorrichtungen nicht umzugehen wissen. Sie müssen sich daher schon mit der inneren Behandlung des Kranken und mit dem Elektrisieren der gelähmten Muskeln begnügen. Tritt hiernach keine Heilung ein, so erklären sie den Fall für unheilbar. Oft erst nach Jahren gelangen dann solche Fälle in die Hände des Orthopäden, der dann häufig genug machtlos ist. Diese traurigen Verhältnisse werden haupt- sächlich dadurch bedingt, dals die zur Behandlung erforderlichen Schienen usw. recht umständlich und kostspielig sind. Hierdurch fühle ich mich veranlalst, auf einige einfache Vorrichtungen hinzuweisen, die man für verschiedene Grölsen einstellen und jahrelang be- nutzen kann. Genauer beschrieben und abgebildet sind sie in meinem Werke „Orthopädische Technik“. Zu den häufigsten Erscheinungen nach Lähmungen gehört wohl Der Spitzfufs. Nicht selten wird er so hochgradig, dafs er den Kranken vollständig an das Bett fesselt. Dieses zeigt unter anderem folgender Fall. Frau K. 35 Jahre alt, war an beiden Fülsen und Händen gelähmt, infolge einer Arsenikvergiftung durch Tapeten. Rechts bestand ein hoch- sradiger Spitzfuls und Klumpfußs, links ein hochgradiger Spitzfuls, verbunden 1* 4 Otto Thilo, mit Plattfuls. Infolgedessen war die Kranke elf Monate vollständig an das Bett gefesselt, als sie meiner Behandlung von ihrem Arzte übergeben wurde. Ich durehschnitt beide Achillessehnen subeutan, legte einen leichten Verband mit weichen Mullbinden an und liefs beide Fülse acht Tage lang in ihrer fehlerhaften Stellung. Hierauf liefs ich die Kranke Schnürstiefel aus fester Leinwand anziehen und ihre Fülse in meine Schiene legen (Fig. 1 u. 2). Es gelang mir jetzt leicht, in einigen Tragen, beide Fülse soweit überzukorrigieren, dals sie spitzwinklig zum Unterschenkel standen. Gipsverbände lege ich in diesen Fällen nie an, da sie den Fuls nicht so zuverlässig in seiner Stellung erhalten, wie meine Schienen. — Fig. 1. Fig. 2. Schiene gegen Spitzfuls und Klumpfuls. Korrigierter Spitzfuls und Klumpfuls. In der überkorrigierten Stellung erhielt ich die Fülse wochenlang. Hierdurch trat eine bleibende Verkürzung der Fulsrückenbeuger ein, ob- gleich ich sie nicht durchschnitten und verkürzt hatte, wie das jetzt ganz allgemein gebräuchlich ist. Ich führe das hier ausdrücklich an, da man nach meinen Erfahrungen in ähnlichen Fällen oft vollständig ohne operative Verkürzung der „überdehnten“ Muskeln und ohne Sehnenüberpflanzungen auskommt. Allerdings muls man hierbei eine Schiene haben, die zuverlässig wochenlang den Fuls in Hackenfulsstellung erhält. !) Genaueres über die Herstellung und den Gebrauch meiner Schienen s. Thilo, Orthopäd. Technik. Wiesbaden. J. F. Bergmann. 1908. Die Verhütung der Winkelstellungen nach Lähmungen. 5 Jedenfalls ging nach einigen Wochen die Kranke gröfsere Strecken. Nach einem mir vorliegenden Briefe ihres Arztes war das ein grolser Erfolg; denn man hatte es vollständig aufgegeben, die Kranke überhaupt noch auf die Beine zu bringen, da auch die Muskeln der Oberschenkel hochgradig geschwächt waren. Sie wurden durch Übungen im Liegen gekräftigt. Seit jener Zeit sind drei Jahre vergangen. Die Verkürzung der Fufsrückenbeuger hat sich vollständig erhalten. Beide Fülse stehen recht- winklig zum Unterschenkel. Allerdings kann die Kranke ihre Fufsspitzen fast garnicht bewegen. Aber nur zu oft erreicht man nach den sehr ein- greifenden Sehnenüberpflanzungen auch nicht viel mehr. Daher meine ich, dals man zunächst meine Behandlung anzuwenden hat, bevor man eine so eingreifende Operation, wie eine Sehnenüberpflanzung, vornimmt. Noch deutlicher zeigt die Wirksamkeit meiner Behandlung folgen- der Fall: K. Ruhwald aus Windau, 19 Jahre alt, litt infolge einer Kinder- lähmung seit der frühesten Jugend an einem rechtsseitigen Spitzfußs, ver- bunden mit leichter Klumpfufsstellung. Er ging sehr schlecht. Wenn er sals und sein rechter Fufs herabhing, so konnte er die Fufspitze nur kaum merklich erheben. Auch elektrisch konnte man die Fulsrückenbeuger nicht zur Zusammenziehung bringen. Setzte man die eine Elektrode eines pharadischen Stromes-auf den Nervus peroneus beim Wadbeinköpfchen, die andere auf die Fulsrückenbeuger, so wurde die Fulsspitze nach unten ge- zogen, statt nach oben. Ich durchschnitt die Achillessehne und liefs zunächst den Fuls acht Tage lang in seiner fehlerhaften Stellung, d. h. im Verbande ohne Schiene. Hierauf legte ich den Fuls so in die Schiene (Fig. 1), dals er zum Unterschenkel einen spitzen Winkel bildete (Hackenfulsstellung). In dieser Stellung erhielt ich ihn wochenlang Tag und Nacht. Nur zweimal täglich wurde die Schiene entfernt zum Üben‘) und Massieren. Mit der Schiene sing der Kranke schon vom achten Tage an im Zimmer umher. Schon am zwölften Tage konnte er die rechte Fufsspitze heben, wenn der Fuls herabhing. Auch hob sich die Fulsspitze, wenn die Fulsrückenbeuger 1) Meine Übungen siehe Thilo, Orthopäd. Technik, Fig. 85. 6 Otto Thilo, pharadisiert wurden, während sie sich vor der Durchschneidung senkte, wie oben erwähnt. — Es hatte also die Durchschneidung der Achillessehne die abnorme elektrische Erregbarkeit beseitigt. In einigen Wochen trat volle Beweglichkeit des Fulsgelenkes ein. Es hatte also die Verkürzung der Wadenmuskeln eine Lähmung der Fuls- rückenbeugen vorgetäuscht und es wäre überhaupt garnicht zur Bildung eines Spitzfulses gekommen, wenn man durch eine Schiene die Verkürzung der Wadenmuskeln verhindert hätte. — Ähnliche Erfahrungen habe ich häufiger gemacht und daher suche ich bei allen frischen Lähmungen planmälsig eine Verkürzung der verschont gebliebenen Antagonisten zu verhüten. Da ein derartiges planmälsiges Vorgehen — soweit mir bekannt — bisher noch nicht in der Literatur beschrieben ist, so erlaube ich mir hier an einigen Beispielen zu erläutern, wie es ohne Schwierigkeiten durch- geführt werden kann. Bei frischen Radialislähmungen bekämpfe ich die Verkürzung der Beugemuskeln folgendermalsen: Ich lasse den Kranken an einen Tisch treten, seine gelähmte Hand mit der Handfläche auf die Tischplatte legen und solange zurückbiegen, bis sie rechtwinklig zum Unterarme steht. In dieser Stellung lasse ich den Kranken einige Zeit hindurch seine Hand halten. Mehrmals täglich hat er diese Übung auszuführen. Aulserdem wird selbstverständlich massiert, elektrisiert und geübt.') Die soeben beschriebenen Dehnungen der Beugemuskeln haben mir stets bei frischen Lähmungen vortreffliche Dienste geleistet, bei veralteten Fällen jedoch reichen sie nicht mehr aus. Hier verwende ich eine Schiene, die ich besonders zur Beseitigung der Greifhand hergestellt habe (Fig. 3). Mit ihr erhalte ich wochenlang die Hand in überstreckter Stellung (Fig. 4). Hierdurch habe ich z. B. in folgendem sehr verzweifelten Falle die stark verkürzten Fingerbeuger wieder ausgedehnt und so alle Streckbewegungen wieder ermöglicht. 1) Meine Übungen siehe Thilo, Orthopäd. Technik, Fig. 108 u. 114. Die Verhütung der Winkelstellungen nach Lähmungen. E 7 Es handelte sich um eine Lähmung des Speichennerven, infolge eines Knochenbruches im Ellbogengelenke. Die Verkürzung der Finger- beuger bestand schon zwei Jahre und war so bedeutend, dafs ein hervor- ragender Chirurg in Berlin, die Speiche und Elle operativ verkürzen wollte, um hierdurch den Fingerstreckern ihre Arbeit zu erleichtern. Die Eltern des Kranken gingen hierauf jedoch nicht ein und so kam er denn in meine _ Behandlung. Docht beweglich Fig. 3. Schiene gegen Greifhand. Es gelang mir in einigen Wochen durch meine Schienen und Ubungen "eine gebrauchsfähige Hand zu schaffen. — Bei Lähmungen zentralen Ursprunges ist es noch wichtiger durch eine Schiene solange die SR Filz rn Heftpflaster Fig. 4. Korrigierte Greifhand. Verkürzung der Beugemuskeln zu verhüten bis die Störungen in den Zentralorganen geschwunden sind. Nach unserem jetzigen Wissen kann das folgendermalsen zustande kommen: 1. Es heilen die Hirnteile aus, welche die Zentren enthalten. 2. Es entstehen neue Zentra, wie dieses ja beim Sprachzentrum allgemein bekannt ist. [0 2) Otto Thilo, In beiden Fällen können hierüber Jahre vergehen. Ich kenne einen Mann, der infolge einer halbseitigen Lähmung fünf Jahre sprachlos war. Erst nach fünf Jahren fing er wieder an zu sprechen und jetzt hat er seine volle Sprache wieder erlangt. In einem anderen Falle wurden durch Lues beide Arme und Beine gelähmt. Die Muskeln der Arme und Beine befanden sich fortwährend in krampfhaften Zusammenziehungen. Vier Jahre lang konnte der Kranke nicht mit eigener Hand seine Nahrung zu sich nehmen, sondern mulste gefüttert werden. Mit Hilfe von Sehnendurchschneidungen gelang es die Spasmen der Beinmuskeln sehr bedeutend zu verringern. Es wurden an jedem Beine durchschnitten: die Achillessehne, der M. adductor magnus longus, brevis. Die Durchschneidungen der Adduktoren führte auf meine Bitte Dr. Leo Bornhaupt gütigst aus. Alle Durchschneidungen verheilten in einigen Wochen ohne Naht vollständig. Eine merkurielle Behandlung wurde nicht vorgenommen, da der Kranke schon mehrere sehr eingreifende Schmier- kuren durchgemacht hatte. Der Erfolg der Durchschneidungen war so deutlich, dafs der Kranke mich oft fragte, ob man nicht auch die Spasmen der Fingermuskeln mit Durchschneidungen beseitigen könne. Ganz selbstverständlich war dieses ausgeschlossen. Ich mufste mich schon auf den Gebrauch meiner Schienen und Übungen beschränken. Glücklicherweise gelang es mir hiermit, beide Hände wieder soweit gebrauchsfähig zu machen, dals der Kranke mit eigener Hand seine Nahrung zu sich nimmt, schreibt und chemische Arbeiten ausführt. Allerdings hat es Jahre gedauert, bis er soweit gelangte. Hieraus ersieht man wohl, dals man mit Hilfe von Sehnendurchschneidungen weit schneller vorwärts kommt. Man sollte daher diese Durchschneidungen, wo es durchführbar ist weit häufiger anwenden, als es im allgemeinen geschieht. Allerdings sind Sehnendurchschneidungen ohne eine sorgfältige Nachbehandlung mit ge- eigneten Schienen und Übungen durchaus zu verwerfen. — Die Verhütung der Winkelstellungen nach Lähmungen. B) Die Winkelstellungen bei tuberkulösen Kniegelenkentzündungen sind hauptsächlich deshalb so schwer zu beseitigen, weil die Beugemuskeln des Kniees in fortwährenden krampfhaften Zusammenziehungen sich befinden. Es werden hierdurch die Knochenteile des Ober- und Unterschenkel so gewaltsam gegen einander gezogen, dals schlielslich das Schienbein unter die Gelenktheile des Oberschenkels gelangt und hierdurch die sogenannte Bajonettstellung entsteht. Hierzu ist jedenfalls eine ganz ungeheure Kraft erforderlich; denn die Gelenkteile des Kniees sind ganz besonders fest aneinander gefügt. In der Tat haben denn auch die Untersuchungen der Physiologen nach- gewiesen, dals alle grölseren Muskelgruppen bei gewaltsamen Zusammen- ziehungen eine geradezu unglaubliche Kraft entwickeln können. — Nach den Untersuchungen und Berechnungen von Cartex, Ewald, Otto Fischer u.a. kann der abgelöste Wadenmuskel des Menschen bis 900 kg heben. Diese gewaltige Kraftentfaltung wird wohl selbst bei krampfartigen Zusammenziehungen der Kniegelenkmuskeln nur annähernd erreicht. Immerhin ist aber hierbei der Druck des Schienbeines gegen den Oberschenkelknochen sehr bedeutend und eine Herabsetzung des Druckes bis in die Nähe von Null hat eine grofse Heilwirkung. Eine solche Herabsetzung wird bei der Durchschneidung der Beuge- sehnen mit einem Schlage erreicht. Sie wirkt daher geradezu erlösend, wie eine Irideetomie bei Glaucom. Nach meinen Erfahrungen ist daher bei besonders schmerzhaften tuberkulösen Entzündungen des Kniees, schon einige Wochen nach dem Beginne der Krankheit eine offene Durchschneidung der Beugesehnen- vor- zunehmen. Diese Operation ist ja durchaus ungefährlich. Eine tuberkulöse Entzündung des Kniees ist aber eine höchst langwierige, und auch lebens- gefährliche Erkrankung. Ganz selbstverständlich sind nach der Durch- schneidung zuverlässige Schienen zu verwenden. Gipsverbände sind durch- aus zu verwerfen. Nova Acta XCVII. Nr. 6, 2 10 Otto Thilo, Ein ganz besonders grolses Hindernis bieten auch die Muskelver- kürzungen bei der Behandlung der Lähmungen der Gesichtsnerven. Sie werden hauptsächlich, neben der inneren Behandlung, mit Elektrisieren behandelt. Gegen die Muskelverkürzung geschieht hierbei so gut wie nichts. Man erwäge doch nur, dals beim Elektrisieren der ge- lähmten Muskeln ihre Antagonisten doch höchstens einige Minuten lang am Tage ausgedehnt werden. Den übrigen Teil des Tages ziehen sie sich immer mehr und mehr zusammen, bis schliefslich ein ganz unheilbarer Schiefmund entsteht. Diese Erwägungen veranlalsten mich schon vor vielen Jahren durch Heftpflasterzüge eine dauernde Verkürzung der Muskel zu verhüten. Fig. 5. Heftpflasterzüge gegen Schiefmund. Ich verwende stets hierzu drei Streifen des gelochten gelben Kautschukspflaster von Beyersdorf, da es eine ganz aulserordentliche Klebkraft hat. Einer der drei Streifen wird über die Oberlippe geklebt (Fig. 5). Er verläuft vom Ohre bis annähernd zur Mitte der gelähmten Wange. Ein zweiter wird dem entsprechend auf die Unterlippe geklebt. Der dritte ver- läuft von der Wirbelsäule bis zur Mitte der Wange. Es ist durchaus not- wendig lange Streifen und gelochtes Heftpflaster zu nehmen, da sich sonst die Streifen ablösen. Die Verhütung der Winkelstellungen nach Lähmungen. 11 Das eine Ende eines jeden Streifen wird durch ein Stück Leder versteift (Fig. 6a und b). Durch ein Loch in dem Leder wird Korset- schnur gezogen. Fig. 6a. Fig. 6b. Versteifung der Enden des Heftpflasters durch Leder. Mit Hilfe dieser Schnüre wird der Mund schief gezogen. In dieser Stellung lasse ich ihn wochenlang erhalten. Nur zum Essen, Elektrisieren usw. wurden die Schnüre gelöst. Das Auge schliese ich gleichfalls durch Heftpflasterstreifen (Fig. 7). Auch hier sind. die Streifen möglichst lang zu nehmen. Auf die Augenlider lege ich stets einen Bausch Verbandmull, zum Aufsaugen der Absonderungen des Auges. Verabsäumt man das, so wird das Pflaster bald durch diese Absonderung abgelöst. Die Haare über der Stirn sind zu rasieren. nd 7 Fig. 7. Schlielfsen des Auges durch Heftpflasterstreifen. 12 Otto Thilo, Die Verhütung der Winkelstellungen nach Lähmungen. Die Grundregeln meiner Behandlung lassen sich kurz folgendermalsen zusammenfassen: 1. Gleich nach eingetretener Lähmung ist neben der inneren Be- handlung dafür zu sorgen, dals die Antagonisten der gelähmten Muskeln sich nicht dauernd verkürzen. 2. Hierzu sind stellbare, leicht abnehmbare Schienen und ähnliche Vorriehtungen erforderlich. Die Anwendung von Gipsverbänden ist hierbei durchaus zu verwerfen, da sie das Elektrisieren, Üben und Massieren der gelähmten Körperteile in hohem Grade erschweren und doch nicht zu- verlässig den Körperteil in der gewünschten Stellung erhalten. Sehr mit Recht macht Vulpius darauf aufmerksam, dals es Klumpfülse gibt, die sich selbst aus dem besten Gipsverbande herausziehen. Bei meinen Stiefeln und Schienen ist dieses unmöglich. 3. Wenn bereits eine Verkürzung der Antagonisten eingetreten ist, so sind, wo es die anatomischen Verhältnisse gestatten, ausgiebige Sehnen- durchschneidungen anzuwenden. 4. Eine operative Verkürzung der „überdehnten“ gelähmten Muskeln ist hierbei meistens nicht erforderlich, denn diese verkürzen sich gewöhnlich ganz ausreichend, wenn ihre Antagonisten durchschnitten sind und der gelähmte Körperteil durch zuverlässige Vorrichtungen in über- korrigierter Stellung erhalten wird (vgl. S.4 Frau K). 5. Auch bei spastischen Lähmungen und bei einigen besonders schmerzhaften Kniegelenkentzündungen wirken Sehnendurchschneidung sehr günstig, allerdings nur dann, wenn eine geeignete Nachbehandlung mit Schienen und ähnlichen Vorrichtungen angewandt wird. IS Literatur. Dr. med. Otto Thilo-Riga, Orthopädische Technik. Mit 19 Tafeln. Archiv für Orthop. Mechanother. u. Unfall-Chir. VI. Bd. Hft. 2/3. Wiesbaden 1908. J. F. Bergmann. Auch einzeln käuflich. Derselbe. Plattfuls und Klumpfufs. Münch. med. Wochenschr. 1912. Nr. 1. Cartex M. E. Mecanisme du soulevment du Corp sur la pointe des pieds. Journ. d. Phys. et de Pat. gener. No. 3. Mai 1901. Paris Masson. Otto Fischer, Die Hebelwirkung des Fufses, wenn man sich auf den Zehen erhebt. Arch. f. Anat. u. Phys. Anat. Abt. 1895. NEONEAIARE TA, Abh. der Kaiserl. Leop.- Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr. 7. Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. Von Dr. Hermann Streit, Privatdozent. Eingegangen bei der Akademie am 14. März 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a.S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. h 4 B N E NT N s Huf y A Lk aaa oa Tg a3 es I f Einen jeden, der sich mit der Chiurgie des Schädels resp. seiner Nachbarorgane beschäftigt, sind Krankheitsbilder zur Beobachtung gekommen, die leichtere entweder einige Zeit anhaltende oder schnell verschwindende Symptome meningitischer Art boten. Relativ häufig sind derartige Vor- kommnisse nach eitrigen Erkrankungen des Warzenfertsatzes; sie will ich in den folgenden Auseinandersetzungen besonders berücksichtigen. Alle diejenigen Fälle, wo entweder ein vorausgegangenes Trauma resp. der Operationsakt selbst größsere oder geringere Partien des Gehirns und seiner Häute durchtrennt, zertrümmert oder doch mehr oder weniger geschädigt hat, sodafs hierdurch allein direkte cerebrale Reiz- resp. Ausfallssymptome zu erwarten sind, lasse ich unberücksichtigt. Da es bisher mit Ausnahme einiger Zufallsbefunde so gut wie voll- ständig an genauen pathologisch-anatomischen Grundlagen für diese nicht seltenen Krankheitsbilder fehlt, zieht eine Anzahl Autoren für einen Teil derselben die sogenannte seröse Form der Meningitis zur Erklärung heran. Erst neuerdings scheint es, als ob diese Auffassung noch mehr an Boden gewonnen hat, vielmehr als ihr meiner Ansicht nach, wie die Dinge liegen, Berechtigung zukommt. Denn schliefslich ist die seröse infolge entzündlicher Vorgänge in der Umgebung der Dura entstandene Meningitis pathologisch- anatomisch genommen, so lange es ihr an einer absolut sicheren allgemein anerkannten anatomischen Grundlage mangelt, vorläufig doch noch ein etwas unsicherer Begriff. Natürlich will ich damit weder etwas gegen die ziemlich häufigen klinischen Beobachtungen dieser Krankheitsform noch ihre Be- rechtigung am Krankenbette gesagt haben. Immerhin glaube ich, dafs einzelne Autoren in ihrer Heranziehung viel zu weit gehen und dafs eine andere Erklärung häufig, wie ich später zeigen werde, viel näher liegt. 1* 4 Hermann Streit, Es ist wohl ganz sicher, dals die Vermehrung des liquor cerebro- spinalis unter Umständen gewisse Symptome, natürlich in erster Reihe Kopf- schmerzen, zeitigen dürfte, und dafs, sobald diese Liquorstauung durch Lumbalpunktion nachgewiesen ist, ein Teil der Symptome der sogenannten menineitischen Reizung durch sie erklärt werden kann. Dies sagt aber noch garnichts, denn erstens einmal sind die näheren Gründe nach der Entstehung dieser pathologischen Vermehrung der Hirnflüssigkeit zur Zeit noch völlig ins Dunkel gehüllt und zweitens glaube ich, daß dieselbe weder das primäre, noch gewöhnlich — Ausnahmen mögen vorkommen — im Sinne der Prognose und T'herapie das wesentliche ist. Ich bin vielmehr der Ansicht, dafs, um das Zustandekommen der akuten serösen Menineitis zu ermöglichen, mehrere Bedingungen erfüllt sein müssen. Erstens,müssen Entzündungserscheinungen an der Dura, ge- wöhnlich an der Innenfläche derselben resp. an den weichen Hirnhäuten vorhanden sein. Manchmal sind dieselben allerderdings nur geringerer Art. Ferner kommen wahrscheinlich einige zur Zeit freilich noch nicht völlig geklärte Momente hinzu, die entweder auf eigentümlichen, nicht in jedem Falle vorhandenen anatomischen Verhältnissen, oder auch auf einer spezifischen Reaktion des Organismus auf besondere Bakterien oder Bakterien- toxine resp., was das wahrscheinlichste ist, auf der Kombinierung beider Momente beruhen. Was den ersten dieser zuletzt erwähnten Punkte betrifft, so möchte ich als Parallele auf den Umstand hinweisen, dafs die chronische Liquorvermehrung, der Hydrocephalus internus, auf einer gewissen kongenitalen Anlage basiert, die ihren Ausdruck in einer abnormen Gröfse und Gestalt des Schädels (Oppenheim) findet.') Natürlich nehme ich für die Meningitis serosa nicht etwa ganz ähnliche Verhältnisse an. Die Anführung der vorher gemachten Parallele berechtigt vorläufig überhaupt nicht zu bestimmten Folgerungen. Den äufseren Anlals zur Entwicklung einer derartigen chronischen Liquorvermehrung bieten oftmals Traumen; und hierin geht die Parallele noch weiter — Entstehung der Meningitis serosa nach operativen Eingriffen. Bei der Voraussetzung . derartiger Verhältnisse erscheint es durchaus plausibel, warum ein bakterieller resp. bakteriell-toxischer Reiz !) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 1908. Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. B) in einem Falle eine bedeutende Vermehrung des Liquor cerebro-spinalis zeitigt, in einem anderen nicht. Neuerdings hat Wagener‘) an Hand eines grofsen, aus der Passowschen Klinik stammenden Materials die Frage nach der Entstehung der sogenannten Meningitis serosa durch Ausbau und Erweiterung der bereits vor ihm von vielen Autoren betonten toxischen Reiztheorie zu erklären ge- ‘sucht. Ich kann mich nicht des näheren auf die Ausführungen Wageners einlassen, da es für mein jetziges Thema zu weit führen würde und muls in dieser Hinsicht auf eine demnächst erscheinende Arbeit im Archiv für Ohrenkeilkunde verweisen. Einige Punkte möchte ich jedoch auch an dieser Stelle ganz kurz aus der Wagenerschen Arbeit herausnehmen und besprechen. Nach Wagener entsteht die seröse Meningitis infolge toxischer Fernwirkung bakterieller, aulserhalb des Cerebralraumes befindlicher Herde durch die geschädigte Dura hindurch. In weiterer Konsequenz seiner toxischen T'heorie meint Wagener, dals die Diagnose Meningo-Encephalitis toxica — so nennt er die Krankheit — auch dann gestellt werden kann, wenn die Lumbalpunktion keinen erhöhten Druck anzeigt und zwar nur aus den Veränderungen am Augenhintergrund in Verbindung mit den übrigen unbestimmten Symptomen. „Auch die vielfach gestellte Forderung auf un- mittelbaren therapeutischen Erfolg bei einer druckentlastenden Therapie ist unberechtigt. Nehmen wir doch an, dafs durch die Toxinwirkung neben der Druckerhöhung z. B. ein umschriebenes Ödem, eine lokalisierte Schädigung der Hirnrinde hervorgerufen werden kann. Das hier eine Restitutio ad intesrum als unmittelbare Folge einer Lumbalpunktion nicht erwartet werden darf, liegt auf der Hand.“ Ich kann mich mit den Ausführungen Wageners ünd seinen Folgerungen nicht einverstanden erklären. Ich glaube nicht, dafs es richtig ist, der Meningitis serosa, welche durch die ihr charakteristische Trias, Veränderungen am Augenhintergrund, Erhöhung des Drucks der Lumbalflüssigkeit, Heilbarkeit, wenigstens im klinischen Sinne ein einiger- malsen kompaktes und umschriebenes Bild darstellt, auf Grund theoretischer 1) Wagener, Passow-Schäfersche Beiträge. IV. 6 Hermann Streit, Erwägungen ihr Hauptsymptom, die Vermehrung der Cerebrospinaltlüssigkeit zu nehmen. Es wäre richtig und notwendig, wenn die pathologische Anatomie eine andere feste Basis geboten hätte. Doch hierfür fehlt es der toxischen Theorie an jeder Grundlage. Wenn die Erhöhung des Druckes der Cerebrospinalflüssigkeit kein durehaus spezifisches Symptom der Meningitis. serosa sein soll, so sind es noch viel weniger die Veränderungen am Augenhintergrund. Es liegt auf der Hand, dafs auch sie bei geringeren toxischen Einwirkungen ganz fehlen dürften. Weshalb diese Veränderungen am Augenhintergrunde andrerseits oft gerade dann, wenn augenscheinlich die kräftigsten toxischen Einflüsse malsgebend sein mülsten, bei der eitrigen Meningitis, in einem bei weitem überwiegenden Prozentsatz der Fälle nicht beobachtet werden, dürfte durch die toxische Theorie schwer zu erklären sein. Zieht man aus dieser vorher zitierten toxischen Theorie Wageners die weiteren Konsequenzen, so müssen augenscheinlich die leichteren Formen der „Meningo-Encephalitis toxica“ mit dem Begriff der meningitischen Reiz- erscheinungen zusammenfallen. Ich zweifele sehr, ob dadurch der richtige Auffassung derartiger Krankheitsbilder geholfen wäre. Im Grunde genommen, würde man weiter nichts tun, als eine Unbekannte — meningitische Reiz- erscheinungen — durch eine andere — toxische Fernwirkung — erklären. Es ist wohl sicher, dals toxische Einflüsse in gewisser Weise bei der Entstehung der Meningitis serosa mitsprechen. Andrerseits ist es gut zu toxischen Momenten allein immer nur dann zu rekurrieren, wenn keine andere Erklärungsmöglichkeit vorhanden ist. | Aus diesen Erwägungen heraus schien es mir sehr zweckmälsig zu sein, wenn irgend möglich, an einer grölseren Reihe von Fällen nachzuweisen, wie der Schädelinnenraum gegenüber bakteriellen, in seiner unmittelbaren Nähe befindlichen Reizen reagiert, resp. die ersten Anfangsstadien der Reaktionen kennen zu. lernen und ihre weitere Entwicklung sowie ihr eventuelles Abheilen zu verfolgen. Nun dürften diese Forderungen auf- dem Gebiet der menschlichen Pathologie nur schwer zu erfüllen sein. Da es im Wesen der zu erwartenden pathologischen Befunde liegt, dafs sie voraussichtlich für gewöhnlich, ohne Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. -] bemerkenswerte Residuen zu hinterlassen, ausheilen dürften, mufs man es der Zeit und dem Zufall überlassen, sie zu suchen und zu finden. Dies gilt besonders für die leichteren und leichtesten der vermutlich vorhandenen pathologischen Veränderungen. Sie dürften bei weitem die Hauptsumme der zu erwartenden Beobachtungen ausmachen. Die schwereren Fälle tragen die Gefahr weiterer Komplikationen unmittelbar in sich. Kommt es hierzu, so decken die Folgen, Meningitis, Hirnabszels, gewöhnlich vollkommen die ursprüngliche Ursache. Aus diesen Erwägungen heraus habe ich mich entschlossen, das Tierexperiment heranzuziehen, trotz aller bekannten Einwände gegen das- selbe, die ich hier nicht näher erörtern will. Wie die Verhältnisse nun einmal liegen, bleibt das Tierexperiment zur Zeit doch wohl das einzige Mittel unsere Kenntnisse auf diesem Gebiete zu erweitern. Was nun meine Tierversuche selbst betrifft, so kann ich dieselben in zwei grolse Gruppen teilen. Beide Gruppen haben das gemeinsam, dafs zunächst an einer Stelle der Scheitelgegend beim Versuchstiere die harte Hirnhaut freigelegt wurde. Sodann wurde die Duraaulsenfläche bakteriell infiziert, entweder durch Auf- streichen einer frischen Asgarkultur oder Hineingielsen grölserer Mengen »iner Bouillonaufschwemmung oder auch nach dem Vorgange von Haymann!') nach Einnähen eines infizierten Tampons. Meistenteils verwandte ich Strepto- coccen, seltener Staphylococcen, bisweilen eine Mischung mehrerer virulenter Streptococcenstämme, in einigen Eällen ein Gemenge von Streptococcen und koliartigen Stäbchen, die aus einem Abszefs beim Hunde gewonnen waren. Dies letztere Vorgehen erschien mir besonders praktisch zu sein, weil ich bei Verwendung von Mischkulturen durchaus den Eindruck hatte, als ob die Virulenz nicht unbedeutend erhöht sei und aulserdem die Stäbchen in den Maschen der weichen Hirnhäute sich ungleich leichter nachweisen liefsen als Coecen. Da ich gewöhnlich auf Gram- resp. Weigert- Präparate angewiesen war, machte das Suchen nach oft vereinzelten Coccen nicht selten recht bedeutende Schwierigkeiten. Aus nahe liegenden Gründen 1) Haymann, Sinusthrombose und otogene Pyämie im Lichte experimenteller Unter- suchungen. Arch. f. Ohrenbeilkunde 83. Hft. 1, 2. [0 0) Hermann Streit, ergab bisweilen, sobald Fibrinbälkchen und -Maschen auftraten, .das einfache Methylenblau-Präparat ebenso gute, oft bessere Resultate. Die Versuchstiere blieben einen Tag bis sechs Wochen am Leben und wurden dann getötet. 1. Zur ersten Serie gehören 17 Fälle und zwar sind es sämtlich Hunde. Bei diesen Versuchen wurde die harte Hirnhaut nicht verletzt. 2. Die zweite Serie meiner Versuche umfalst diejenigen Fälle, bei denen die Dura inzidiert oder unabsichtlich lädiert wurde. Es gehören hierzu elf Fälle (sieben Hunde und vier Katzen). Ich füge gleich hinzu, dafs ich Duraverletzungen in allerdings seltenen Fällen erst histologisch nachgewiesen habe, während bei der Operation und dann bei der Obduktion nichts hierüber verzeichnet war. Derartige Vorkomnisse scheinen mir auch klinisch nicht ausgeschlossen. An allen 28 Fällen mit Ausnahme eines einzigen, der bei der Ein- bettung unbrauchbar wurde, wurde die Dura entsprechend der Infektions- stelle sowie die dem Infektionsherde gegenüber liegenden Partien des Gehirns mit den Hirnhäuten serienweise untersucht. Dazu kamen in einer großen Reihe von Fällen, wenn nötig, meist histologische Serienunter- suchungen benachbarter Hirnpartien, bisweilen auch des unweit gelegenen Sinus longitudinalis, der Grenzen der vorgefundenen Entzündungsherde usw. Da es an dieser Stelle zu weit führen würde, sämtliche Befunde in extenso zu schildern, habe ich aus der grolsen Menge des histologischen Materials nur die wichtigsten Details hervorgehoben und in der beistehenden Tabelle (S. 9) verzeichnet. Ich habe dabei besonders auf folgende Punkte Rücksicht genommen, ob sich schwere oder stärkere Entzündungserscheinungen zeigten, wo dieselben vorhanden waren, wann Regenerationsvorgänge ein- setzten, ob das Innenendothel der Dura erhalten blieb und schliefslich ob und wo sich Bakterien nachweisen lielsen. Man kann zunächst aus der vorliegenden Tabelle ersehen, dals ganz allgemein genommen, die Reaktion auf den bakteriellen Entzündungsreiz, ob nun die Dura verletzt wurde oder nicht, nur graduell verschieden war. Diefs läfst sich besonders deutlich’ aus der Gröfse der vorhandenen Ent- zündungserscheinungen an der Dura selbst, zumal auf ihrer Innenfläche, also der Stärke der etwa nachweisbaren Pachymeningitis interna, feststellen. Naturgemäls fanden sich stets, wenn die Dura lädiert war, bedeutende ent- r Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. Experimentelle Versuche ohne Verletzung der Dura. | | | un a ER ee 3 3 3 ö 7 Tom 1a 690 40 | | | | | l | | | | l | | DI| DIDI | DI|DI|DTN DW | DI |DU DI DIE DU DI DI e E | E|E| E|E e |E | E | BT PAIR LPT PAIN DET N PIIT BANG KEIITE HBATTE BANG DEAINZ FRITTE LI |LI| LI LWI| LI LO LI LI LI | 5 | | | BP sp | ep [BD BD BD | BD | BD RD RD |RD| RD BL | BP BD BP | BP RP RP RP RP | BL | BP BL RD RD RL RL RL RS | | BL BC | | BS | | Experimentelle Versuche mit Verletzung der Dura ne u Se is 3 5 10 14 20 25 42 DIE EDIT DET DIES DET [BSDETT DI PI ei) Pi) Bm Pie Lo LII IbBE | ball LI LI LI LI S | (0201 CI B BD BD BD BD BD RD RD RD RD RD RD BP | BP | BP |ı BP | BP | RP | RP |\RP RP | RP | RP BL | BL BL BL RL RL RL RL RL RL N BSI | RC RC RC Erklärungen zur vorstehenden Tabelle. +1 (usw.) = Tier getötet 1 Tag post infection. DI — Dura mälsig entzündet. DII — Dura stark PI = Pachymening. int. geringen Grades. al = n „ stärkeren „ LI = Leptomeningitis geringen Grades. II — 2 stärkeren Gradns. S = Sinusthrombose. Nova Acta XCVII. Nr. 7. © = Entzündungserscheinungen des Cerebrum. Innenendothel der Dura erhalten. I — m Ds sewuchert. BD = Bakterien innerhalb der Dura. Blr— 5 usw. innerhalb der Leptomening. RD = Regenerationsyorgänge in der Dura. RL — > in den Leptomening. usw. 10 Hermann Streit, zündliche Veränderungen an der harten Hirnhaut resp. auf ihrer cerebralen Fläche. Andererseits konnte man ohne Verletzung der Dura mater zwar bisweilen ebenfalls eine ziemlich starke entzündliche Reaktion an derselben bzw. auf ihrer Innenfläche konstatieren, bisweilen jedoch fehlte dieselbe bis auf mehr oder weniger geringe Andeutungen. Schon beim Studium der nachweisbaren Leptomeningitiden springt dieser Unterschied für die Fälle, in welchen die Dura lädiert war, gegenüber den übrigen, etwas weniger stark in die Augen, da ohne Duraverletzung bisweilen recht bedeutende Leptomeningitiden erzeugt waren, nach Verletzung derselben dagegen unter Umständen nur geringfügige Entzündungserscheinungen an den weichen Hirnhäuten zur Beobachtung kamen. _ Recht wichtig scheint mir auch die Frage zu sein, ob bei denjenigen Versuchen, bei welchen relativ hochgradige Veränderungen an den weichen Hirnhäuten zur Beobachtung kamen, das Innenendothel der Dura in con- tinuitate erhalten blieb oder zu fehlen schien. Natürlich kann man hierfür nur die Serie I meiner Beobachtungen berücksichtigen. Es stellte sich heraus, dals in den beiden Fällen, in denen die Entzündung relativ am weitesten vorgeschritten war und das eine Mal zum Entstehen einer Sinusthrombose, das andere Mal zu entzündlichen Vorgängen am Cerebrum selbst geführt hatte, dieses Innenendothel der harten Hirnhaut zu fehlte. Dieser Zusammen- hang ist sicher kein zufälliger und zeigt recht deutlich die Bedeutung des Endothels als wirksamen und recht wesentlichen Schutz gegenüber der fortschreitenden Infektion. Im übrigen fanden sich am Endothel fast durchschnittlich Zellwucherungen, manchmal waren dieselben ziemlich hochgradig. Die erzeugten Pachymeningitiden waren entweder fibrinöser oder fibrinös-eitriger Natur. Man konnte nicht selten die zierlichsten Bilder be- obachten, Maschen von feinerer und derberer Struktur, die sich entweder unregelmälsig durchkreuzten oder durch Knotenpunkte verbunden waren. Mitunter schien es, als ob die Hauptlamellen der Fibrinnetze sich der fort- strömenden und von der Durchbruchstelle nach beiden Seiten hin ver- breitenden Infektion gegenüber etwa ebenso angeordnet hatten wie die parallel verlaufenden Sandlinien am Meeresgestade. Die Breite der pachy- meningitischen Entzündungszone schwankte naturgemäls sehr, in einzelnen Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. 11 Fällen betrug sie das Mehrfache der Duradicke. Sehr auffallend und interessant war der nicht selten beobachtete innige Zusammenhang von Endothelzellen und Fibrinfäserchen. Diese Zellen schienen manchmal in das fibrinöse Exsudat direkt überzugehen; man traf Bilder an, bei denen man Endothelkerne ohne umgebende Zellhülle inmitten fibrinöser Fäserchen konstatierte; oder es lieisen sich in gleicher fibrinöser Umgebung um die Kerne herum nur Stücke zerfetzten Zellprotoplasmas nachweisen. Die experimentell am Versuchstier hervorgebrachten Leptomeningitiden hatten zunächst, und das war ihr Hauptcharakteristikum, eine aufserordent- liche Neigung eircumseript zu bleiben. Mitunter konnte man nur gering- fügige Häufchen von gelappt-kernigen Leucoeyten nachweisen, bei den geringsten Graden der Entzündung schienen auch diese zu fehlen und die Wirkung des entzündlichen Reizes hatte sich darauf beschränkt, dafs es zu einer vermehrten Ansammlung von kleinen Rundzellen und gewucherten Endothelzellen gekommen war. In den ausgeprägten Fällen waren die Maschen der weichen Hirnhäute zwar strotzend infiltriert mit gelapptkernigen Leuco- cyten; aber auch dann konnte man die Grenzen der leptomeningitischen Entzündungsherde über dem Stirnhirn, nach dem tentorium cerebelli hin, der medulla oblongata, der Hirnbasis zu usw. genau feststellen. Mitunter erschienen die weichen Hirnhäute mehr sprung- und etappenweise eitrig infiltriert. Mit Partien, die stark entzündet waren, wechselten solche ab, die entweder gänzlich normal waren oder bei denen man nur eine verhältnismäßig gering- fügige Zellwucherung nachweisen konnte. In den Beobachtungen, in welchen es zu entzündlichen Veränderungen an der Wand des sinus longitudinalis resp. zu Thrombenbildung gekommen war, hatte sich die Entzündung als Pachymeningitis interna bis auf die innere Wand des Blutleiters herüber- gezogen und diese letztere durchbrochen. An dieser Stelle hatte sich nach dem Lumen des Blutleiters zu, ganz ebenso, wie ich es vorher bei Be- sprechung der pathologischen Befunde an der Grofshirndura geschildert habe, eine Pachymeningitis interna entwickelt. Das Innenendothel des Sinus longitudinalis erschien an einzelnen Stellen gewuchert, mitunter war es durch vorrückende Leucocytennester aufgebuckelt. Manchmal hatte man direkt den Eindruck, als ob es geplatzt sei, die Endothelzellen waren dann nicht selten an den Rändern eigentümlich aufgekantet. Leucocyten und Bakterien Ir 12 Hermann Streit, drangen ins Gefälslumen hinein. Es kam zur T'hrombenbildung; und zwar zur wandständigen Thrombose. Ähnliche Bilder, wie ich sie hier geschildert habe, hat auch Hay- mann!) in seiner grolsen experimentellen Arbeit zur Entstehung der Sinus- thrombose erwähnt. Da jedoch in den Haymannschen Fällen die Art der Infektion eine andere und bedeutend intensivere war — Haymann hatte das infektiöse Material der Auflsenwand des operativ frei gelegten Sinus direkt aufgelegt und dort unter Druck befestigt — wären gewöhnlich auch die erzielten pathologischen Resultate intensivere. Wie aus der beigefügten Tabelle ersehen werden kann, waren in einem Teil der Beobachtungen die erzeugten entzündlichen Reaktionen an harten und weichen Hirnhäuten bakterieller Provenienz. Es hatten also vom Orte der Infektion, der Duraaulsenfläche her, Bakterien die harte Hirn- haut durchbrochen und waren zum Teil bis in die Maschen der weichen Hirnhäute eingedrungen. Allerdings stand nicht selten die geringe Anzahl der Bakterien zur Grölse der nachgewiesenen Pachy- resp. Leptomeningitiden in keinem richtigen Verhältnisse. Aus diesen Gründen drängte sich dem Beobachter unwillkürlich der Gedanke auf, dafs neben der Anwesenheit der Entzündungserreger toxische Einflüsse in nicht unwesentlichem Malse für das Zustandekommen der nachweisbaren Entzündungserscheinungen an den Hirnhäuten verantwortlich zu machen seien. Noch eklatanter sprechen für diese Auffassung diejenigen Fälle, bei denen trotz recht bedeutender Pachy- resp. Leptomeningitiden Bakterien überhaupt zu fehlen schienen. Ich habe mit Absicht gesagt „zu fehlen schienen“, denn es liegt ja auf der Hand, dals man bei derartigen Untersuchungen, selbst wenn man noch so minutiös zu Werke geht, aulserordentlich leicht vereinzelte Bakterien übersehen kann, zumal dort, wo Fibrinanhäufungen vorhanden sind. Andererseits hatte man den Eindruck, als ob im allgemeinen die durch die Dura in den Schädel- innenraum eingedrungenen Bakterien relativ leicht den wohl nicht un- bedeutenden antibakteriellen Ausscheidungsprodukten desselben erlagen oder doch durch dieselben in ihrer Weiterentwicklung in beträchtlichem Mafse geschädigt wurden. Aus diesen Gründen wird man die Entscheidung, ob !) Haymann, |. c. Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. 13 bakteriell-toxische oder rein toxische Einflüsse das Mafsgebende für die Entstehung der sich vorfindenden entzündlichen Veränderungen an dieser Stelle sein dürften, in vielen Fällen niemals mit absoluter Sicherheit fällen können. In den beiden Beobachtungen, bei denen ich Sinusthrombosen experi- mentell erzeugt habe, konnte ich Bakterien im Lumen des Blutleiters nach- weisen. Andererseits gelang es mir in einem Falle, eine bedeutende Pachy- meningitis interna am Sinus des Versuchstieres hervorzubringen, ohne dafs ich daselbst Bakterien konstatieren konnte. Anstatt der nicht sicher erkenn- baren oder in ihrer Kontinuität unterbrochenen Endothelschicht sah man: in diesem Falle Ansammlungen von gelapptkernigen Leucocyten untermischt von Zellen mit rundem Kern, sowie Fibrinniederschläge die Wand des Sinus nach innen zu aufbuckeln. Es handelte sich also hier um ein zunächst anscheinend ohne direkte Bakterienwirkung entstandenes Vorstadium der Sinusthrombose. Die repressiven Prozesse setzten etwa am fünften Tage deutlich ein; mit ihrem Beginn verschwanden mit ganz vereinzelten Ausnahmen die Bakterien. Dieses Zusammentreffen ist ein derartig promptes und gleich- mälßsiges, dals es keinem Zweifel unterliegen kann, dafs die zwischen Dura und Cerebrum gelegenen Räume für die Weiterentwicklung eingedrungener Infektionserreger beim 'Versuchstier ein sehr wenig geeignetes Terrain dar- stellen. Eine Ausnahme zu diesem, aulserordentlich regelmälsig beobachteten Gesetz bildet eigentlich, wenn man davon absieht, dafs man in einem Falle Bakterien noch sieben Tagen post infectionem nachweisen konnte — nur ein Fall. Bei dieser Beobachtung waren kleine Knochenmeiselsplitter durch die Inzisionswunde der Dura in den Subduralraum eingedrungen. In der Um- sebung dieser Knochenpartikel, die wohl in ihrer Fremdkörpereigenschaft als fortdauerndes Reizmoment anzusehen sind, fanden sich noch sechs Wochen post operationem starke Ansammlungen von Rundzellen, gelapptkerniger Leueocyten und Kokkenhäufchen. Natürlich ist es garnicht ausgeschlossen, dals von einem derartigen um den Fremdkörper längere Zeit persistierenden Entzündungsherd gegebenenfalls ein erneutes Aufflackern der Entzündung mit allen Folgen ausgehen kann. Die Regenerationsvorgänge an den Hirnhäuten entwickelten sich nach den bekannten Gesetzen der Ausheilung entzündlich veränderten Gewebes. 14 Hermann Streit, Die gelapptkernigen Leucocyten verschwanden, es traten junge Bindegewebs- zellen auf, neben diesen letzteren machten sich mehr oder weniger srolse Anhäufungen von mononukleären Elementen bemerkbar, das Fibrin wurde resorbiert und mit der Ausbildung einer geringeren oder stärkeren fibrösen Verdickung war der Prozefs abgeschlossen. Besonders das Auftreten von kleinen runden mononukleären Zellformen war, soweit meine Beobachtungen reichen, ein ziemlich sicheres Anzeichen dafür, dals die entzündlichen Vor- gänge innerhalb der weichen Hirnhäute Tendenz zur Abschwächung und Ausheilung zeigten. In selteneren Fällen resultierte als Folge besonders starker Ent- zündungen im Subduralraum eine Verwachsung der Dura mit den weichen Hirnhäuten und somit eine vollkommene strichweise Obliteration des Subdural- und Pia-Arachnoidalraums. Die Duranarbe präsentierte sich bisweilen als ein aulserordentlich breites Maschenwerk von sich kreuzenden und durch- einander verlaufenden jungen Bindegewebszügen. Diese letzteren umschlossen in sich eine grolse Anzahl von Hohlräumen, die mit Endothel ausgekleidet waren und wohl als neugebildete Lymphspalten aufgefalst werden müssen. In zwei Fällen konnte ich eine stark ausgeprägte Abknickung der Dura beobachten. Dieselbe war augenscheinlich durch Narbenzug und Gegenzug nach der Aufsenfläche des Schädels resp. dem Cerebrum zu bedingt. Als Folgen schwerer Entzündungen in den oberflächlichen Schichten des Gehirns waren in mehreren Fällen cerebrale Erweichungsherde ent- standen. Dieselben schienen eine ziemlich beträchtliche Neigung zur Spontan- ausheilung zu besitzen. Als Schlufsresultat präsentierte sich ein rundlicher Defekt in der Hirnrinde, der einerseits von den gewulsteten und verdickten weichen Hirnhäuten, andererseits von ziemlich reizlos aussehender Cerebral- substanz eingerahmt war. In einem gröfseren Teil meiner Fälle hatte ich kurz vor der Obduktion, nachdem das Versuchstier soeben getötet war, Bakterien- züchtungsversuche aus dem Subduralraum beider Hemisphären sowie dem Rückenmarkskanal unternommen. Hierbei stellte es sich heraus, dafs erst bei relativ hochgradigen Veränderungen innerhalb der Meningen Bakterien aus dem betreffenden Subduralraum gezüchtet werden konnten, während bei geringeren eircumskripten leptomeningitischen resp. pachymeningitischen Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. 15 Entzündungsherden die Punktion völlig negativ ausfiel. Aus dem Rücken- markskanal gelang es in keinem Falle durch Kultur den Bakteriennachweis zu erbringen, selbst wenn die entzündlichen Veränderungen recht beträchtliche Dimensionen angenommen hatten. Ich erwähne die eben geschilderten Be- funde der Vollständigkeit halber, kann ihnen aber schon deswegen nur eine relativ geringfügige Bedeutung zumessen, da naturgemäls erst die Abimpfung aus dem strömenden Liquor des lebenden Versuchtieres eine bessere In- formierung über den Bakteriengehalt desselben ergeben kann. Es dürfte sich verlohnen bei einer etwaigen Nachprüfung meiner Resultate nach dieser Richtung hin weiter zu bauen. Fasse ich die Ergebnisse meiner experimentellen Versuche kurz zusammen, so geht aus ihnen folgendes hervor. Es unterliest keinem Zweifel, dafs die Duramater allein bei einer bakteriellen Invasion von relativ geringer Virulenz einen genügend festen Schutzwall repräsentiert. Sobald jedoch die gegen den Schädelinnenraum fortschreitende Infektion eine intensivere ist, versagt diese erste Vormauer. Die Folge davon ist, dafs es zu entzündlichen Veränderungen auf der Durainnenfläche kommt. Hier steht eine anscheinend gleichfalls ebenso feste Schranke, wie es die binde- gewebige Substanz der Dura als solche ist, das Innenendothel derselben. Dieses letztere vermag schon recht kräftigen Attaquen gegenüber stand- zuhalten. Es kann aufgebuckelt und durch mächtige Exsudatmassen ab- gehoben sein, ohne durchbrochen zu werden. Tritt dieses letztere Ereignis jedoch ein, so ist noch lange nicht eine generalisierte Meningitis die Folge. Geringere Massen nicht zu virulenter Bakterien werden ohne weiteres durch die bakteriziden Kräfte des Subdural- resp. Pia-Arachnoidalraums vernichtet. Dieselben sind, wie mir scheint, viel grölser als angenommen wird. Es drängt sich hier unwillkürlich ein Vergleich mit den sogenannten serösen Höhlen des Körpers, dem Pleuralraum usw. auf. Auch innerhalb dieses letzteren walten, wie bekannt ist, sehr kräftige antibakterielle Kräfte, die sich häufig durch überraschend schnelle Vernichtung grolser Mengen infektiösen Materials kund tun. Weleher Art diese natürlichen Schutzvorrichtungen der Schädel- innenräume im einzelnen sind, ist allerdings schwer zur Zeit mit absoluter Bestimmtheit zu sagen. Ich vermute, dafs hier mehrere Faktoren sich 16 Hermann Streit, unterstützen und bedeutungsvoll zusammenarbeiten. Es dürften dies zunächst wohl folgende sein, der Liquor Cerebro-spinalis, die Endothelien der weichen Hirnhäute, sowie die als Folge des Reizes aufzufassende, sehr häufig nach- weisbare Gefälsfüllung innerhalb der Meningen. Dals der vorher angedeutete Schutzmechanismus imstande ist, beim Versuchstiere wenigstens ganz be- deutende entzündliche Vorgänge innerhalb der Hirnhäute zu hemmen und der Heilung entgegenzuführen, geht aus meinen experimentellen Unter- suchungen mit absoluter Sicherheit hervor. Ob nun durchaus jeder der vorher angedeuteten Faktoren für sich allein bakterizide Wirkungen zu entfalten vermag, oder der Erfolg nur durch gemeinsame Arbeit mehrerer von ihnen denkbar ist, lasse ich dahingestellt. Ich vermute, dals auch beim Menschen und zwar garnicht so selten nach entzündlichen Prozessen des Schädelknochens, ähnliche, mehr oder weniger geringfügige Entzündungen auf der Durainnenfläche resp. innerhalb des Pia-Arachnoidalraumes vorkommen können, wie ich sie experimentell am Versuchstiere erzeugt habe. Auch hier dürften die Heilungsmöglichkeiten sowie der Mechanismus der Regeneration denen des 'Tierversuchs gleichen. Aus naheliegenden, zu Anfang dieser Arbeit erörterten Gründen fehlt es bis- her noch sehr an pathologisch-anatomischen Ußterlagen hierfür. Immerhin hat Blegvad erst neuerdings eine ziemlich grofse Anzahl meist recht aus- gebreiteter interner Pachymeningitiden zusammengestellt. Einzelne derselben gleichen fast absolut den beim Tierversuch gemachten Beobachtungen. Blegvad kommt zu dem Resultate, dals die entzündlichen internen Pachy- meningitiden unzweifelhaft häufiger vorkommen als angenommen wird. Die weichen Hirnhäute werden nicht selten erst in späteren Stadien der Er- krankung infiziert. Die Pachymeningitis interna kann nach Blegvad') wahrscheinlich oft spontan heilen, wenn der primäre Fokus entfernt wird. Die Folgerungen Blegvads entsprechen also, wie ersichtlich, absolut meinen am Tierversuch gemachten Erfahrungen. Die Diagnose derartiger Prozesse in vivo jedoch macht, wie ich kurz ausführen will, ganz besondere, zur Zeit fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Allem Anschein nach 1) Blegvad, Über die otogene Pachymeningitis interna purulenta. Archiv für Ohrenheilkunde. Bd. 83. Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. 17 _ kommen für sie hauptsächlich die folgenden Anhaltspunkte in Betracht: 1. die lokale Inspektion des Schädelinneren nach Duraspaltung; 2. die Lumbal- punktion; 3. die objektiven und subjektiven Symptome Was das zuerst erwähnte Moment betrifft, so ist seine diagnostische Bedeutung nur sehr gering anzuschlagen, gewöhnlich ist sie gleich Null. Zunächst mu/s man die Duramater an der richtigen Stelle spalten. Doch wer würde sich für berechtigt halten dies bei dem meist in Frage kommenden leichteren Symptomenbilde zu tun? Und selbst dann, wenn man sich dazu bei einem schweren Falle entschlossen hat, würde man die Diagnose stellen können? Ich vermute für gewöhnlich nicht; jeden- falls würde ich mich hüten, aus einem negativen Befunde irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Sodann die Lumbalpunktion. Wie aus meinen experimentellen Ver- suchen hervorgeht, werden bei lokalen Prozessen, sei es nun auf der Innen- fläche der Dura oder innerhalb der Pia-Arachnoidea, die eingedrungenen Bakterien gewöhnlich bereits innerhalb einiger Tage überhaupt abgetötet. Hat man nun zufälligerweise das Glück innerhalb der richtigen Zeit zu punktieren, so ist es mir dennoch aufserordentlich fraglich, ob bei lokalen Prozessen selbst innerhalb der Meningen, Bakterien überhaupt im Lumbal- punktat vorhanden sein dürften. Bei den pachymeningitischen Prozessen und bei den Eiterungen des Subduralraumes dürften sie sicher fehlen, eine Ansicht, der sich auch Blegvad anschliefst. Andrerseits scheinen meine experimentellen Versuche — allerdings mit den vorher erwähnten Ein- schränkungen — zu zeigen, dals auch bei circumskripten bakteriellen Prozessen innerhalb der weichen Hirnhäute Bakterien gewöhnlich im Lumbalkanal fehlen. Für den Abschluß des Subduralraums gegenüber den entzündlichen Prozessen der- Pachymeningitis interna einerseits und der Leptomeningitis andererseits spricht übrigens, was ich nebenbei erwähnen möchte, der Umstand, dafs ich bei meinen Versuchen trotz bestehender ziemlich ausgedehnter bakterieller Herde auf der Durainnenfläche sowie innerhalb der Pia-Arachnoidea bisweilen ganz nahe dem eigentlichen In- fektionszentrum aus dem Subduralraum keine Bakterien züchten konnte. Wenn ich meine Ansicht betreffs der vorher diskutierten Frage kurz zusammenfasse, so ist dieselbe folgende: Wo eine gewisse Zeitlang Bakterien Nova Acta XCVII. Nr. 7. 3 15 Hermann Streit, sich aufhalten, fehlen auch niemals entzündliche Veränderungen. Bei dem Fortschreiten der Infektion gehen diese letzteren mit der Ausbreitung der Bakterien meist parallel oder folgen derselben unmittelbar. Deshalb ist der Nachweis ‚von Bakterien im Lumbalpunktat wohl stets als beweisend für das Bestehen einer generalisierten eitrigen Meningitis anzusehen. Was das Vorkommen von gelapptkernigen Leucocyten ohne Bakterien im Lumbalpunktat betrifft, so dürfte in den meisten Fällen dieser Befund gleichfalls der Ausdruck einer generalisierten Meningitis sein, doch sind andrerseits auch Fälle denkbar, in denen es durch Reizwirkung von um- schriebenen meningitischen Herden aus zu einer verstärkten Anhäufung dieser Zellen in der Cerebrospinalfllüssigkeit kommt. Demnach bleiben von den vorher kurz erwähnten diagnostischen Anhaltspunkten für einen bestehenden eircumskripten Prozess an den Hirn- häuten im Grunde genommen nur noch einer übrig, nämlich die objektiven und subjektiven Symptome, mit anderen Worten gesagt, die Kranken- beobachtung. Und in der Tat glaube ich, dafs alle die Symptome, welche wir als den Ausdruck einer meningitischen Reizung zu bezeichnen gewohnt sind, die geringsten bis zu den prägnantesten, sich durch pathologisch- anatomisch nachweisbare mehr weniger eircumskripte Herde an der Dura- innenfläche resp. innerhalb der Maschen der Pia-Arachnoidea mit ihren eventuellen, nur unter besonderen Umständen auftretenden Folgen — der übermäfßsigen Vermehrung des liquor cerebro-spinalis — werden erklären lassen. Ob nun im einzelnen Falle diese Entzündungszentren als Pachy- meningitis interna oder circumskripte Leptomeningitis auftreten, bleibt vorläufig dahingestellt. Geht man von derartigen Prämissen aus, so werden eine ganze Reihe von Beobachtungen am Krankenbett ohne weiteres klar, z. B. das stärkere Hervortreten von meningitischen Prozessen nach Operationen, bedingt durch die Propagation im Schädelinneren befindlicher Herde infolge der Erschütterung des Kopfes beim Meilseln, ferner das Auftreten der serösen Meningitis mit ihren Folgen am Augenhintergrund nach operativen Eingriffen, der Übergang der serösen Form in die eitrige usw. Zum Schlusse meiner Ausführungen möchte ich darauf. hinweisen, dals die am Tier gewonnenen Resultate auch noch in anderer Hinsicht Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. 19 augenscheinlich sehr bemerkenswerte Parallelen für die gleichen Prozesse beim Menschen bieten. Ich verzichte von vornherein auf eine Erörterung aller in Betracht kommenden Möglichkeiten und beschränke mich darauf, nur kurz einige Punkte zu besprechen, die mir eine gröfsere prinzipielle Bedeutung zu haben scheinen. Es ist dies zunächst die zur Zeit noch offene Frage der Entstehung einer Sinusthrombose in Fällen, bei welchen der Knochen des Prozessus mastoideus nicht bis an den Sinus heran erkrankt ist. Körner‘) nimmt an, dals bei derartigen Beobachtungen die Thromben kleiner Blutgefälse in den Sinus hineingewachsen sein können und auf diese Weise zu einer Thrombose des queren Hirnblutleiters Veranlassung gegeben haben. Ich will mich an dieser Stelle über die viel diskutierte und recht problematische Frage des Fortschreitens derartiger angenommener Thrombosen nicht näher einlassen, da ich eine Erörterung dieses Punktes — soweit der spezielle Fall in Frage kommt — für gänzlich überflüssig halte. Meiner Ansicht nach kann bei derartigen Beobachtungen die Sinusthrombose beim Menschen in gleicher Weise entstehen, wie ich sie experimentell beim Tier erzeugt habe, also infolge Fortschreitens einer Pachymeningitis interna auf die innere Sinuswand. Soweit mir die Fachliteratur bekannt ist, ist auf diese durchaus naheliegende Möglichkeit bisher noch nicht von anderer Seite hingewiesen worden. In solchen Fällen können eventuell nach einfacher Aufmeilselung des Warzenfortsatzes ohne Sinusfreilegung durch Entfernung des primären Herdes die pyämischen Symptome ebenso mit einem Schlage aufhören, wie es nach der Aufdeckung perisinöser Herde nicht selten be- obachtet wird. Es fällt also hiermit eine der Stützen der Körnerschen’) Lehre von der Osteophlebitispyämie. In einigen Beobachtungen konnte man eine anscheinend sprungförmige Verbreitung der Pachy- und Leptomeningitis konstatieren.. Was zunächst die Pachymeningitis betraf, so gelang es gewöhnlich durch genaue Schnitt- serien festzustellen, dals die sprungförmige Verbreitung hier nur eine schein- bare war, indem sich fast stets ganz schmale entzündliche Brücken zwischen den einzelnen Hauptherden konstatieren liefsen. Viel grölsere otitische 1) Körner, Die otitischen Erkrankungen des Gehirns usw. 1902 und Nachtrag 1908. 2) Körner, ]. e. . g* 20 Hermann Streit, Schwierigkeiten macht ein derartiger Nachweis naturgemäls bei der Lepto- meningitis, da durch das ungemein mannigfache Terrain der Hirnoberfläche mit ihren Sulei und Gyri recht vielgestaltige Grenzen geschaffen werden, die zudem noch in verschiedenen Ebenen liegen. Innerhalb der weichen Hirnhäute fand man nicht selten in der unmittelbaren Nähe anscheinend gesunder Partien stark entzündlich veränderte Stellen und manchmal sogar im selben Schnitte die verschiedensten Stadien der Entzündung. Diese vorher geschilderten Befunde bieten eine genügend klare anatomische Basis für die Briegersche') intermittierende Form der chronischen Meningitis. Diese letztere entsteht dann, wenn die weniger entzündlich veränderten Stellen ausheilen und von den übrig bleibenden stärker affızierten Partien neue Schübe ausgehen. ”. Ich schliefse meine Ausführungen noch mit einigen Bemerkungen | über die Möglichkeit einer Abdichtung des Subdural- und Pia-Arachnoidal- raumes infolge von entzündlichen Reizen, die von der Duraoberfläche aus einwirken. Wie ich bereits erwähnt habe, ist es mir trotz der mannig- fachsten und intensivsten Reaktionserscheinungen von seiten der Hirnhäute nur sehr selten gelungen, eine derartige Abdichtung experimentell zu erzeugen. Dieses Resultat scheint mir in gewissem Sinne bedeutungsvoll und zwar auch nach der praktischen Seite hin. Wie bekannt ist, spricht ein Teil der Autoren, sofern es die Verhältnisse irgend gestatten, einer zweizeitigen Eröffnung eines Hirnabszesses das Wort. Die Vertreter dieser Methode gehen von der Ansicht aus, dals es bei einem derartigen Vorgehen zu reaktiven Verklebungen der Hirnhäute untereinander kommen dürfte, welche eventuell eine weitere Propagation der Entzündung zu verhindern imstande sind. Um die Entstehung derartiger Verklebungen zu studieren, hat Mio- dowski’) experimentell versucht, dieselben vermittelst chemischer von der Duraaufsenfläche her einwirkender Agentien zu erzeugen. Die Resultate von Miodowski sind durchaus den meinigen an die Seite zu stellen. Auch 1) Brieger, Verhandlungen d. Deutsch. otol. Gesellsch. 1899. 1) Miodowski, Beiträge zur Pathogenese und pathologischen Histologie des Hirn- abszesses. Über die Reaktionen der Hirnhäute gegenüber Reizen bakterieller Art. 21 Miodowski gelang es nur recht selten eine wirkliche Abdichtung zu er- zielen. Im übrigen bin ich der Ansicht, dafs trotz der in dieser Hinsicht - als ziemlich negativ zu bezeichnenden Ergebnisse, gegen die praktische An- wendung des Prinzips der zweizeitigen Eröffnung von intracerebralen Herden in bestimmten Fällen — sie werden, was den Hirnabszefs betrifft, wohl selten sein — nichts einzuwenden ist. Nur muls man sich die zu erwartenden Reaktionen innerhalb des Subdural- und Pia-Arachnoidalraumes anders vorstellen. Richtige Verwachsungen der Hirnhäute untereinander wird man sicher wohl nur in den seltensten Fällen erzielen; sie dürften dann durch Reize erzeugt sein, die an sich mit ihren Folgen bereits eine Gefahr be- dingen. Dagegen stellen die reaktive Hyperämie, die Infiltration mit gelappt- kernigen und mononukleären Leucocyten, die Endothelvermehrung usw., auf deren Hervortreten man bei der zweizeitigen Eröffnung eines intra- cerebralen Herdes eventuell rechnen kann, für viele Fälle anscheinend einen senügenden Schutz gegenüber den an sich wohl kaum jemals sehr virulenten Bakterien eines Hirnabszesses dar. NOVA ACTA. Abh. der Kaiserl. Leop.- Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher.. Band XCVIL. Nr. 8. Über den Einfluss von Verletzungen auf die Entwieklung der Lungentuberkulose unter besonderer Berücksichtigung der geriehtsärztlichen Tätigkeit, Von Dr. med. Bogusat, Hilfsarbeiter im Gesundheitsrat des bremischen Staates. Eingegangen bei der Akademie am 14. März 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a.S. ir die Akademie in Kommission-bei Wilh. Engelmann in Leipzig af IHN . ia re r . 1 f ai f N) hl Jin D:. Einführung des Invalidenversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 (1) hat sich nicht nur für die leidende Menschheit sondern auch für die gesamte Ärztewelt als überaus segensreich erwiesen. Gilt diese geniale Schöpfung Kaiser Wilhelms des Grolsen der arbeitenden Klasse als eine Wohlfahrtseinrichtung allerersten Ranges, so hat sie durch Erweiterung der Gutachter- und Sachverständigentätigkeit den Ärzten eine ungeahnte Fülle von Anregung zu sachgemälser Beobachtung und wissenschaftlicher Forschung geboten und hierdurch wieder die Kenntnis des Wesens der einzelnen Krank- heiten stetig gefördert. So ist es eine Errungenschaft dieser Arbeiten, dafs man hinsichtlich der Lungenschwindsucht, jener entsetzlichen Volksseuche, die trotz des in den letzten Jahrzehnten von Staat und Kommune geführten aussichtsvollen Kampfes immer noch einen recht erheblichen Prozentsatz [Strümpell (2)] aller Menschen elend dahinsiegen lälst, einem viel um- strittenen ursächlichen Moment, das besonders für den Gerichtsarzt von hoher Bedeutung. ist, grölsere Beachtung schenkte, nämlich dem Einflufs von Verletzungen auf die Entwicklung dieses Leidens. Fassen wir den Begriff der Verletzung möglichst im Sinne der be- kannten Definition von Hofmanns (3) „Wir reden von einer Verletzung im engern Sinne, wenn Störungen des Zusammenhanges oder der Funktion gewisser Organe oder Organgewebe durch mechanische Mittel veranlafst werden“, so empfiehlt sich eine Behandlung unseres 'T'hemas nach folgenden Gesichtspunkten: a) Nicht penetrierende Verletzungen der Brust durch stumpfe Gewalt, b) Penetrierende Verletzungen der Brust durch scharfe Werkzeuge resp. Schüsse, c) Verletzungen an anderen Körperstellen in ihrer ätiologischen Bedeutung für das Entstehen einer Lungentuberkulose. {* 4 Bogusat, Ohne Zweifel muß als die älteste der zur ersten Gruppe gehörenden Beobachtungen eine Notiz des Herodot — nach Liebermeister (4) — im 88. Kapitel des 7. Buches angesehen werden, die von dem Reiterführer Pharnuches berichtet, dafs bei ihm nach einem Unfall ein Blutsturz auf- trat, dem weiterhin die Schwindsucht folgte: „eAatvortı ydo oi bno role zodes Tod inaov Üntdgaus ion, za 6 Innos od nooidon EYoß7dIn7 TE zei oTas 00%0s areoeloaro Tov Daovolyea, TEoov ÖE aiud TE Nuss zul Es pHlow negıMIdE N) volooc“ oder in deutscher Übersetzung: denn es war ihm beim Ausmarsch ein schwerer Unfall zugestoßen, als er nämlich ausrückte, lief ein Hund seinem Pferd unter die Beine, das Pferd scheute, bäumte sich und warf den Pharnuches ab; nach dem Fall spie er Blut, und die Krankheit ging in Schwindsucht über. Soweit bekannt, ist die zweitälteste, unserm Gegenstand auch in forensischer Hinsicht dienende Arbeit eine aus dem Jahre 1754 stammende Spezialabhandlung Muzells (5), die in anschaulicher Weise schildert. wie durch ein Trauma ein wahrscheinlich vordem bereits tuberkulöses Leiden soweit verschlimmert wurde, dafs es zu letalem Ausgange kam. Die Ausführungen des Verfassers, die wir zum Teil mit seinen Worten hier wiedergeben wollen, erzählen von einem jungen Burschen, der vor sechs Monaten einen so heftigen Stofs auf die rechte Brust erhielt, dafs ihm das Blut aus Mund und Nase drang, und Muzell fährt fort: „Nach der Zeit litt er an Beklemmungen und Stichen auf der rechten Seite. In der Charite warf er würkliches pus aus und zwar in ziemlicher Menge, der Atem war ungewöhnlich kurz, und auf der linken Seite konnte er garnicht liegen und überhaupt nur fast sitzen, sonsten wollte er ersticken, und die Beklemmungen waren fast das Schlimmste unter allen Zufällen; er fibrieirte dabei sehr stark und hatte einen kleinen doch sehr geschwinden Puls, war auch übrigens bereits ohngemein abgezehrt; aus allem konnte nichts anderes schliefsen, als dals es eine vera phthisis pulmonalis wäre, welche aber soweit gediehen, dals sie inkurabel war; ich ordnete indessen, um ihn doch wenigstens zu soulagiren, ein infusum rad. sassaparillae mit Milch, mit syrupis pectoralibus Morgens zu gebrauchen, und Nachmittags und. Abends temperantia. Allein nach dem Gebrauch dieser Mittel linderte sich auch keines von denen symptomatibus, gegenteils, wurde er beständig schlimmer, und beklemmte, bis er endlich mit ohngewöhnlicher Beklemmung starb. Ich war kuriös Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwieklung der Lungentuberkulose. 5 und vermutete starke Vomicas und indurationes pulmonum, deswegen liels ich ihn in meiner Gegenwart durch meinen damaligen Pensionaire-chirurgen, jetzigen Regiments-Feldscher, Herrn Winter, seciren. Als nun das Sternum gewöhnlichermalsen von den Rippen getrennt wurde, lief aus den daraus entstandenen Öffnungen auf der rechten Seite ein diekes Fluidum heraus, wie ein Brei, graulich von Farbe, doch ohne allen üblen Geruch. Ich wunderte mich darüber, und nachdem ich das Sternum ganz weggenommen, so suchte ich die Lunge rechter Seits, allein ich fand nichts, als die gedachte dicke graue Feuchtigkeit worinnen etwas hartes in grolser Menge befindlich war, doch nur in kleinen Stücken: ich wusche derselben einige in reinem Wasser ab, und fand ganz deutlich, dals es Stücke von der Aspera arteria und den bronchiis war, ich wurde noch kuriöser, dieses alles recht zu untersuchen, und da fand ich zu meinem und ‚vieler Anwesenden Erstaunen, dafs die ganze rechte Lunge mit dem dahin gehörenden Haupt-ramo der asperae arteriae und der bronchiorum ganz und gar in dergleichen Art von Chymo oder dicken grauen breiartigen Substanz übergangen, und was das be- wundernswürdigste war, so war sowohl die Arteria als Vena pulmonalis, wo sie in die rechte Lunge hereingingen feste verwachsene Knöpflein, welche folglich alle Haemorrhagie verhütet hatten. Die linke Lunge schien dem Ansehen nach noch ziemlich gut zu sein, allein bei genauer Unter- suchung fanden sich auch viele Vomicae, welche mit der aspera arteria deutliche Communication hatten, und aus dieser war wohl ohnstreitig das pus gekommen, welches beständig ausgeworfen worden. Denn von dem gedachten dicken Uhymo konnte ohnstreitig nichts in die asperam arteriam kommen.“ | Halten wir nach dieser für die damaligen Verhältnisse überaus ein- gehenden Erörterung weiter in der Literatur Umschau, so erregt es unsere Verwunderung, dafs länger als ein Jahrhundert die Frage der traumatischen Entstehung der Lungenschwindsucht vergessen blieb, ja vielleicht als un- wissenschaftlich abgelehnt wurde. So leugneten Maschka (6) und mit ihm die Prager medizinische Fakultät offenbar einen diesbezüglichen ätio- logischen Einfluß von Verletzungen, denn in den 1853 herausgegebenen geriehtsärztlichen Gutachten heilst es an betreffender Stelle, dals der tuber- kulöse Prozess übrigens der Erfahrung zufolge nicht sowohl als die Folge 6 Bogusat, einer derartigen Mifshandlung (es handelte sich um eine durch Schläge in den Rücken wahrscheinlich zum Ausdruck gekommene, in etwa drei Wochen letal verlaufene Lungentuberkulose), wie sie hier stattgefunden haben soll, betrachtet werden kann und sich auch nicht in einem so kurzen Zeitraum entwickeln konnte; an anderer Stelle wieder wird eine infolge eines heftigen Stolses in die Brust aufgetretene Lungenblutung folgender- malsen erklärt: „Das gegen Abend eingetretene Unwohlsein, zu dem sich bald ein Bluthusten hinzugesellte, dürfte somit bei dem in Frage stehenden Individuum, bei welchem zu Folge des schon einmal erlittenen ähnlichen Anfalles die Disposition zu einer derartigen neuerlichen Erkrankung jedenfalls gegeben war, in der körperlichen Anstrengung während des Tages der heftigen, durch den Streit hervorgerufenen Gemüthsbewegung, verbunden mit dem Umstande, dafs zu dieser Zeit gerade die monatliche Reinigung vorhanden war, eine hinreichende Erklärung finden und steht demnach mit dem statt- gefundenen Stoße und Falle auf die Erde in keinem nachweisbaren Zusammenhange.“ Sehen wir ferner von den nicht gerade sehr erheblichen Zusammen- stellungen Laäönnees und Andrals sowie des Berichts über den ameri- kanischen Rebellionskrieg (Part. I. Surg. Vol. p. 629) ab, die übrigens alle ebenfalls das Vorkommen einer traumatischen Phthise in Abrede stellen, so war Lebert, der durch seinen Schüler Scholz (7) im Jahre 1872 mehrere einschlägige Fälle veröffentlichte, wieder der erste, der einen Teil der Lungentuberkulosen auf Verletzungen zurückzuführen suchte, eine An- schauung, die er später 1877 in einem Sonderbeitrag (8) und auch 1879 in seinem Hauptwerk „Trait€ de la phthisie pulmonaire (9)* weiter ausbaute. Die Ansichten Leberts wurden von den meisten bis zur Entdeckung des Tuberkelbazillus im Jahre 1882 gemachten Beobachtungen, die gewöhnlich nur einzelne Fälle zum Gegenstand hatten, in der Hauptsache bestätigt; erwähnt seien die Autoren Teissier (10), Chaffy (11), Chauffard (12) und Perroud (13), des letztgenannten Mitteilung auf dem Kongrels zu Lille 1874, die einer gewissen Eigenart nicht entbehrt, sei hier nach Mendelsohn (14) zitiert: „P. hatte die Erfahrung gemacht, dafs die Schiffer im Rhonedepartement, welche mit der Brust unter grolsem Kraftaufwande Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 7 ihre Boote mit Hülfe eines langen Bootshakens vorwärts bewegten, in grolser Zahl infolge dieser lange fortgesetzten und häufig wiederholten freiwilligen Contusion der vordern 'Thoraxwand phthisisch wurden. Der Bootshaken bestand aus einer langen Stange, welche am unteren Ende mit einer Eisenspitze versehen war, und die an das Ufer oder auf den Grund des Flusses aufgestoßsen wurde, während das obere abgerundete Ende gegen die obere Partie der Brust in der Subeclavieulargrube an- gestemmt wurde; durch Druck und Stofs mit dem '[horax auf das so aufgestellte Ruder wurde das Boot vorwärts geschoben“. So geistreich und scharfsinnig auch oft die Schlüsse dieser älteren Schriftsteller waren, so lange mulsten ihre Kombinationen von grüberen Fehlerquellen ungünstig beeinflulst werden, als die Entdeckung des Tuberkel- bazillus, die wie Mendelsohn hervorhebt, mit einem Schlage das Wesen der gefährlichsten und verderblichsten aller Krankheiten, welche das Menschen- geschlecht dezimieren, noch ausstand. Allerdings verband sich mit der epochemachenden Geistestat Robert Kochs, durch die man versucht war, bei der Entstehung der Tuberkulose die bakteriologische Betrachtung in den Vordergrund zu stellen, die Möglichkeit, bei oberflächlicher Beurteilung jedes andere ätiologische Moment zu übersehen. Als Beispiel hierfür sei jenes Obergutachtens gedacht, das, wie Guder (15) mitteilt, im Jahre X von einer medizinischen Fakultät zu Y über einen Fall von Lungenschwind- sucht traumatischen Ursprungs abgegeben wurde und zu folgendem Ergebnis kam: „Die Behauptung von Dr. B., dafs ein Lungenleiden resp. Lungen- schwindsucht bei ganz gesunden Personen durch heftigen Schlag oder Sturz auf die Brust erzeugt werden kann, müssen wir nach unserer Überzeugung entschieden für unrichtig erklären. Lungentuberkulose oder Schwindsucht entsteht ausschliefslich durch eine ganz bestimmte Ursache, niemals durch eine Verletzung. Die Schwindsucht wird durch eine Infektion des Körpers hervorgerufen. Entgegengesetzte Ansichten müssen als dem heutigen Stande der medizinischen Wissenschaft nicht entsprechend zurückgewiesen werden.“ Ganz gewils ist dieser etwas krasse Entscheid als Ausnahme zu betrachten, denn, „wenn auch selbst bei dem heutigen Stande der Wissen- schaft“ — diese Worte Lachers (16) haben entschieden weit mehr als fe) Bogusat, nur in ihren Grundzügen auch noch für die gegenwärtige Zeit Geltung — „der infektiöse Charakter der Tuberkulose eine befriedigende und allgemein gültige Erklärung der beobachteten Erscheinungen (se. bei traumatischer Phthise) noch nicht zuläfst“, so haben sich wenigstens die meisten der nach dem Jahre 1882 an unserm Grundthema interessierten medizinischen Schrift- steller bemüht, den in recht vielen Fällen augenscheinlich bestehenden Einfluss von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose in entsprechender Weise zu würdigen. Übergehen wir die Monographien von Potain (17) und Quehen (18), die nichts besonders Erwähnenswertes enthalten, so nehmen vor allem zwei Arbeiten unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, die beide im Jahre 1885 erschienen; es sind das die Ausführungen Brehmers (19) und die Dissertation Mendelsohns (15). An der Hand von 500 Krankengeschichten bemüht sich Brehmer, die Existenz einer traumatischen Phthyse zu beweisen. Seine sonst. recht anerkennungswerte Leistung krankt nur daran, dafs er seine ‚Schlüsse auf der sog. Wigandschen (20) Theorie aufbaut, die mit ihrer Quintessenz, „dafs die Bakterien in der organischen Substanz selbst un- abhängig von präexistierenden Keimen spontan entstehen“, also einer mut- malslichen Generatio aequivoca das Wort spricht, weder damals noch jetzt Anhänger gefunden hat. Von grölserer Tragweite war die Arbeit Mendel- sohns, der sämtliche bis dahin bekannt gewordenen Fälle einheitlich zusammenstellte, neun weitere hinzufügte, diese kritisch beleuchtete und durch recht beachtenswerte Schlufsfolgerungen, die darin gipfelten, dafs etwaige traumatische Kontinuitätstrennungen der Lunge die Ansiedlung der Bazillen ebendaselbst ermöglichten, und dals dann die mit der Gewalt- einwirkung gewöhnlich verbundene Blutung, Entzündung und Ruhigstellung der Brust das Fortkommen der Gesundheitszerstörer weiter begünstigten, in gewissem Sinne grundlegende Anschauungen schuf. Einer genaueren Analyse wurden die von Mendelsohn aus- gesprochenen Ansichten zunächst von Lacher (16) und Guder (15), sodann von Stern (21) unterzogen, wodurch mancherlei gerechtfertigte 3edenken zum Ausdruck kamen; besonders konnte man sich nicht zu der Annahme verstehen, dafs es Fälle gäbe, in denen einzig und allein das Trauma die Entstehung der Lungentuberkulose bedingte, sondern war Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 9 entschieden der Meinung, dafs höchstens Verschlimmerung einer schon bestehenden Lungentuberkulose durch ein Trauma möglich wäre. Stern suchte diesen zum Teil ablehnenden Standpunkt damit zu begründen, dafs er ausführte: „Nur ein Zufall könnte uns einen Fall liefern, der geeignet wäre, jene Frage in positivem Sinne zu beantworten. Es mülste in einem Falle durch die Obduktion der Nachweis einer frisch entstandenen Lungen- tuberkulose erbracht werden, die ihren Ausgangspunkt von einer Lungen- verletzung erkennen lielse; dabei mülste das Fehlen älterer Herde von Lungentuberkulose sichergestellt werden. Natürlich wird sich — wenn überhaupt — nur selten Gelegenheit bieten, einen solchen beweiskräftigen Fall zu beobachten, etwa wenn durch irgend eine interkurrente Krankheit ein Patient mit frischer traumatischer Lungentuberkulose zur Obduktion käme. Sobald die Krankheit erst ‘viele Monate oder gar Jahre bestanden hat, wird selbst die anatomische Untersuchung keine sicheren Aufschlüsse mehr liefern können.“ Diese von Stern an einem reichen Material erläuterten Grundsätze sind bis jetzt durch die grolse Mehrzahl der Autoren bestätigt worden und so die leitenden Gesichtspunkte in der Beurteilung von Fällen traumatischer Tuberkulose geblieben. Zwar haben einzelne Ärzte wie Schrader (22), Schönfeld (23), Gebauer (24), Silberstein (25) und Spelten (26) durch Veröffentlichung diesbezüglicher Krankheitsberichte die Entstehung von Lungenschwindsucht durch ein Trauma darzulegen sich bemüht, doch hielten ihre Beweisführungen einer ernsten Prüfung nicht stand, entweder waren die anamnestischen Daten oder die ärztlichen Angaben zu unbestimmt oder sie ermangelten oft der notwendigen Vollständigkeit, so dafs die End- ergebnisse der Beobachtungen nie als ganz eindeutig angesehen werden konnten. Von den Schriftstellern, die entschieden für die Anschauungen Sterns eintraten, seien hier besonders genannt Mosny (27), der bei vorher anscheinend gesunden Leuten zwei Fälle posttraumatischer Hämoptoö be- schrieb und sich ohne Einschränkung dahin äulßserte, dafs ein Trauma allein niemals Lungentuberkulose hervorbringen könnte, ferner Hanf (28), der in einer recht umfangreichen Dissertation mit grofsem Fleilse die neuere Literatur gesammelt und kritisiert hat, seine Forschungen bringen ihn zu der Überzeugung, dafs immer noch kein Fall bekannt ist, durch den mit Nova Acta XCVII. Nr.S8. 2 10 Bogusat, Sicherheit nachgewiesen wäre, dals durch ein Trauma Lungentuberkulose hervorgerufen werden kann. Berücksichtigen wir noch einen längern Auf- satz Mosers (29), der sich etwa in gleichem Sinne wie später Cardon (77) besonders mit der Bedeutung der Hämopto@ beschäftigt, „der stets eine Verschlimmerung des zu Grunde liegenden Leidens folgt“, und gedenken wir schliefslich noch eines kurzen Referats Ports (74) sowie der Arbeiten von Grosser (30), Dycehno (31) und Spikele (75), die zum Teil aufser kurzen historischen Aufzeichnungen vereinzelte für die Beurteilung des Gegenstandes mehr weniger brauchbare Beiträge liefern, so dürfte die medinische Literatur über traumatische Phthise im wesentlichen soweit erschöpft sein, als die beschriebenen Fälle unserer ersten Gruppe ent- sprechen, d. h. als Beläge für den Einfluls nicht penetrierender Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose gelten können. Im Hinblick auf die Äufserung Lachers (16): „Nur durch Con- statierung sehr vieler Fälle von Lungenschwindsucht als Folge eines Traumas wird es ermöglicht werden, die einmal gefundene T'hatsache des Bestehens auch befriedigend zu erklären“, soll nicht verabsäumt werden, hier im Anschluls an die oben abgeschlossene Übersicht einschlägiger literarischer Erzeugnisse einige Beobachtungen anzufügen, die teils dem Gutachten-Material des Herrn Professor Dr. Puppe, teils dem Archiv des Städtischen Krankenhauses zu Königsberg i. Pr. (Vorstand der inneren Ab- teilung: Herr Professor Dr. Hilbert), teils der Akten-Sammlung des Schieds- gerichts für Arbeiterversicherung zu Bremen (Vorstand: Herr Regierungsrat Dr. Smidt) entstammen und dem Verfasser freundlichst zur Verfügung gestellt wurden. Fall l. (Obergutachten des Herrn Medizinalrats Professor Dr. Puppe Königsberg i. Pr.) Faktor V. fiel am 9. Januar 1905 von einem vollgeladenen Wagen auf die Erde Er klagte über heftige Schmerzen in der rechten Seite, begab sich nach seiner Wohnung, wechselte die Kleider und ging zu seinem Kassenarzt Dr. v. B., welcher eine intensive Schmerzhaftiskeit bei Druck Der Einflufs von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 11 auf die hinteren Rippenbögen und einen mäfsigen Grad von Lungen- erweiterung feststellte. Im Lauf der nächsten Tage war über der angeblich schmerzhaften Rippenpartie Knisterrasseln zu hören, auch waren über beiden Lungen in ganzer Ausdehnung katarrhalische Geräusche nachzuweisen, gleichzeitig hatte sich Fieber eingestellt. Der Zustand besserte sich nicht, der Auswurf nahm zu. Am 12. Februar wurden reichliche Tuberkelbazillen gefunden. Den 12. Februar ergab die vertrauensärztliche Nachuntersuchung: Arbeitsfähigkeit des V. Den 20. Februar meldete sich V. wieder krank. Die Untersuchung ergab eine Verschlechterung des vorigen, von Herrn Dr. v. B. als verhältnismäßig günstig bezeichneten Befundes. Seitdem hat V. das Bett nicht mehr verlassen und ist unter den Erscheinungen eines zunehmenden Kräfteschwundes am 14. April gestorben. Dr. v. B. nimmt — wohl mit Sicherheit — an, dafs es sich bei V. um eine latente Tuberkulose gehandelt hat, die aber mit dem Eintritt des Unfalles in ein akutes Stadium trat. Bei seiner latenten Tuberkulose hätte V. noch viele Jahre arbeitsfähig bleiben können, wenn nicht der Unfall das schlummernde Leiden geweckt hätte. Zweites Obergutachten. Die zur Beurteilung des ursächlichen Zusammenhanges von Unfall und Tod zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen sind sehr wenig erheblich. Es ist aus diesem Grunde aufserordentlich schwer, mit irgend welcher Bestimmtheit sich für oder gegen die Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges auszusprechen. Nach dem, was wir aber über den Fall wissen, insbesondere nach den Begründungen des behandelnden Arztes, wird die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges in dem Sinne, wie ihn Dr. v. B. annimmt, nicht von der Hand gewiesen werden können. Es ist bekannt, dafs durch Quetschung der Brust eine Lungen- entzündung zustande kommen kann (sogenannte Quetschungs- Lungen- entzündung, Kontusions- Pneumonie). Die Annahme ist berechtigt, dafs sich hier im Anschlußs an den Unfall eine solehe Kontusions- Pneumonie ent- wickelt hat. Diese Annahme gewinnt an Boden, wenn man berücksichtigt, 9x 12 Bogusat, dafs der behandelnde Arzt nur Lungenemphysem nachgewiesen hat, als er den Kranken zuerst sah, und dals erst die zunehmenden Erscheinungen von seiten der Lunge, ihn stutzig machten und ihn dazu brachten, den Auswurf genauer zu untersuchen. Diese Untersuchung, welche einen Monat nach dem Unfall stattfand, ergab Tuberkulose. Die weitere Frage, ob sich aus einer solchen Kontusions- Pneumonie eine Lungentuberkulose in einem Monat entwickelt haben kann, ist gleich- falls zu bejahen. Es ist sehr wohl möglich, dals bei einer Lunge, welche bis dahin keine tuberkulösen Erscheinungen aufwies, während eines monat- lichen Krankenlagers eine Infektion erfolgte, die schnell um sich griff, und deren Intensität in dem Befunde von massenhaften Tuberkelbazillen zu- tage tritt. Ebensogut möglich ist es aber auch, wie der behandelnde Arzt an- nimmt, dafs eine latente 'T'uberkulose vorhanden war, d. h. eine 'Tuber- kulose, welche chronisch verlief und keine Symptome machte, und die dann durch den Unfall verschlimmert wurde. Welche von beiden Annahmen die wahrscheinlichere ist, läfst sich nicht entscheiden, weil eben die Grundlagen zu unsicher sind. Ich bedaure vor allen Dingen, dafs eine Obduktion der Leiche des V. nicht stattgehabt hat, die gewils unschwer anzustellen ge- wesen wäre. Auch in diesem Falle hätte ich (Medizinalrat Professor Dr. Puppe) wie in so manchen anderen durch die Obduktion sichere Be- funde ermittelt, die gerade für die Feststellung des Alters der zum "T'ode führenden Erkrankung aulfserordentlich erheblich gewesen wäre. Dals V. am 12. Februar die Arbeit wieder aufgenommen hat, fällt angesichts der Tatsache, dals er bereits nach einer Woche die Arbeit wieder hinleste, um sie bis zu seinem Tode nie wieder aufzunehmen, nicht ins Gewicht. Es hat sich hier wohl nur um eine momentane Besserung der bereits in V. steekenden Lungentuberkulose gehandelt, wie solche im Verlauf der Lungentuberkulose nicht ungewöhnlich ist. Nach alledem komme ich zu dem Gutachten: Unter Berücksichtigung der ganzen Umstände ist ein ursächlicher Zusammenhang des am 14. April erfolgten Todes des V. mit dem am 9. Januar erlittenen Unfall nicht von der Hand zu weisen. Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 13 Folgende vom Verfasser nach Krankengeschichten aus dem Archiv des Städt. Krankenhauses zu Königsberg i. Pr. bearbeiteten Fälle mögen der Kürze halber hier nur im Auszuge folgen: Fall II. Arbeiter Kl., 32 Jahre alt, aufgenommen am 9. Juli 1906, will als Kind an Masern gelitten haben, sonst stets gesund gewesen sein. Im Jahre 1900 stürzte er mit dem Pferde, wobei ihm die Brust bedrückt wurde; es trat sofort Bluthusten auf, dessentwegen Kl. vier Wochen ärztlich behandelt wurde. Seit jener Zeit will er immer an den Lungen gelitten haben. Gewöhnlich wurden im Herbst Husten und Auswurf stärker. Beim Heben oder schnellen Gehen verspürte Kl. Schmerzen in der Brust und zwischen den Schulterblättern. In den letzten zwei Jahren ist er angeblich sehr abgemagert und klagt auch über Nachtschweilse. Die körperliche Untersuchung am 10. Juli 1906 ergab bei Kl., der als mittelgrofser Mann in gutem Ernährungszustand geschildert wird, keinen besonders pathologischen Befund, nur an den Lungen wurde festgestellt: Über der rechten Spitze erscheint der Klopfschall verkürzt, nirgends rasselgeräusche. Während der Behandlung wurden nur einmal bei der mikroskopischen Untersuchung des Auswurfs Tuberkelbazillen gefunden. Patient wurde am 3. September 1906 als gebessert entlassen. In dem für eine Berufsgenossenschaft abgegebenen Gutachten wurde bei dem Untersuchungsergebnis noch vermerkt: „Urepitieren und abnorme Beweglich- keit der Sternoclavieulargelenke, leise Abschwächung des Schalles über der rechten Spitze, verlängertes Exspirium“. Die Beschränkung der Erwerbs- fähigkeit des Kl. wurde auf höchstens 50 °o geschätzt, wovon allerdings nur 25° als durch den Unfall bedingt angesehen werden konnten. Fall II. Arbeiter G., 34 Jahre alt, aufgenommen am 20. Februar 1906, will aus gesunder Familie stammen; einer seiner Brüder verstarb indessen vor kurzem an Tuberkulose im Städt. Krankenhause Mit 17 Jahren machte 14 Bogusat, G. Lungenentzündung durch, 1901 wurde er an einer Halsdrüsenvereiterung operiert, vor drei Jahren fiel ihm angeblich ein schwerer Hanfballen bei der Arbeit auf die linke Brustseite. Im Dezember 1905 wurde er mit zwei Säcken in die linke Seite gestolsen, gleich darauf will er Blut aus- seworfen haben und leidet seit der Zeit an Husten und Brustschmerzen. Am 11. Januar 1906 will er wieder einen „Strahl“ Blut entleert haben. Augenblicklich bestehen hauptsächlich Stiche in der Gegend des Brustbeins. Aus dem sogleich bei der Einlieferung aufgenommenen Untersuchungs- befund des kräftig gebauten und gut genährten Patienten sei hier als wesentlich hervorgehoben: Das Brustbein scheint in seinem untersten Viertel nach hinten abgeknickt, die Knickungsstelle ist auf Druck angeblich schmerz- haft, eine Fraktur ist nicht nachzuweisen, über beiden Lungen vesikuläres Atmen und lauter Klopfschall, letzterer allerdings an der vordem erwähnten Stelle des Brustbeins etwas verkürzt. Auswurf frei von Tluberkelbazillen. Auf Injektion von 0,005 Tub. Koch. reagiert Patient mit 38,1° Temperatur sowie starker Infiltration an der Einstichstelle. Patient nach etwa 14 Tagen als geheilt entlassen. Fall IV. Besitzer St., 45 Jahre alt, aufgenommen auf Veranlassung des Reichs- Versicherungsamtes am 17. November 1904, erlitt im Jahre 1898 eine Quetschung der rechten Brustseite zwischen Wagen und Stalltür, will sich dabei Rippenbrüche zugezogen haben, die vom Arzte mit einem Gipsverband behandelt wurden, klagte sofort über Schmerzen in der betroffenen Seite und hat angeblich auch Blut aufgehustet. St. wurde in den nächsten 2—3 Jahren häufig begutachtet, sein Befinden besserte sich nicht, ver- schlechterte sich vielmehr nach seiner Meinung, er klagte bei seiner jetzigen Einlieferung in das Städt. Krankenhaus über Stiche in der rechten Brust, namentlich beim Gehen, Husten und Atemholen. Aus dem sogleich bei der Aufnahme erhobenen Untersuchungsbefund ist zu erwähnen: „Grolser kräftiger Patient, in gutem Ernährungszustand, kein Fieber. Augenbindehäute trübe und gerötet. Am Brustkorb keine Deformität, die Atmung ist beiderseits gleichmälsig, St. hustet beim Atem- Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 15 holen leicht auf, ohne Auswurf zu haben. Keine Perkussionsdifferenz, Atemgeräusch vesikulär, Exspirium nicht verlängert; an der hinteren Fläche der linken Lunge leises Giemen, rechts seitlich an einer Stelle deutliches Reiben, Sensibilität für Berührung und Schmerz auf der rechten Seite überall deutlich herabgesetzt (bis auf Üornealreflex), Hautreflexe lebhaft. Beim Rombergschen Versuch fängt Patient stark zu schwanken an, hält sich aber, als ihm gesagt wird, er würde nicht gestützt. Kniehacken- versuch rechts träge, im rechten Kniegelenk deutlich sanftes Crepitieren, links etwas weniger. Gang behutsam. Im Auswurf keine Tuberkelbazillen“. Auf 0,003 Tub. Koch. folgende Reaktion: „nachmittags 5 Uhr 36,1°, nach- mittags 6 Uhr 37,2°, abends 9 Uhr 37,5°, am nächsten Tage morgens 6 Uhr 38,2°, mittags 12 Uhr 39°,-nachmittags 3 Uhr 37°. Sehr erhebliches . Reaktionsgefühl, der Schall erscheint über der rechten Spitze abgeschwächt, dort hört man auch vereinzeltes Knacken“. Nach zehn Tagen aus der Beobachtung entlassen. Das am 6. Dezember 1904 über St. abgegebene Gutachten lautete in den wesentlichen Punkten folgendermalsen: „St. hat am 23. Juli 1898 einen Unfall dadurch erlitten, dals er bei dem Herausfahren eines Fuders Dung aus einem Stalle zwischen Wagen und Stalltür gedrückt wurde. Er zog sich dabei eine Quetschung der rechten Brust und angeblich auch mehrere Rippenbrüche zu und hat dar- nach, wie aus dem Gutachten des Dr. ©. vom 9. November 1898 hervor- geht, drei Wochen zu Bett liegen müssen und längere Zeit Blut gehustet. Dr. ©. konnte von den Rippenbrüchen keine Spuren mehr wahrnehmen, fand jedoch auf der vorderen Brustfläche in der Gegend der 3.—5. Rippe das Atmungsgeräusch abgeschwächt und unbestimmt ohne Veränderung des Klopfschalls und schliefst daraus, dafs an der Stelle der Gewalteinwirkung eine Verletzung und sekundäre Entzündung der Lunge bestand, die zwar ausgeheilt ist, aber noch eine Schwäche des Organs zurückgelassen hat. Die Beschränkung der Erwerbsfähigkeit wurde auf 30° geschätzt. Am 8. April 1899 und 2. Oktober 1899 konstatierte Dr. ©., dafs noch immer ein ehronisch entzündlicher Zustand in den unteren Lungenpartien bestünde, erwähnte auch, dafs St. wieder Blut gehustet haben sollte und schätzte die Erwerbsbeschränkung auf 30°. Am 3. März 1900 fand Dr. ©. bei der 16 Bogusat, physikalischen Untersuchung der Brustorgane normales Verhalten und er- klärte St. für gesund. Darauf wurde die Rente eingestellt, und diese Ent- scheidung entgegen einer gutachtlichen Äufserung des Dr. L. vom 17. Mai 1900, welcher ehronischen Bronchialkatarrh. chronische Brustfellentzündung rechts und Neurasthenie feststellte, auf Grund einer nochmaligen Unter- suchung durch Dr. C. von dem Schiedsgericht bestätigt. Auf Veranlassung des Reichsversicherungsamtes wurde St. nunmehr durch Herrn Kreisphysikus Dr. B. am 30. Januar 1901 untersucht und dabei aulser blassem, blutarmem Aussehen sowie dem Bestehen von Hustenreiz bei tiefen Atemzügen eine Abflachung und mangelhafte Ausdehnung der rechten Brustseite in der Gegend der dritten bis fünften Rippe, Abschwächung des Klopfschalles und des Atmungsgeräusches daselbst, dann auch pfeifende Rasselgeräusche über den hinteren unteren Lungenpartien konstatiert. Dr. B. schlofs daraus auf eine Verwachsung beider Brustfellblätter und auf das Bestehen eines Lungenkatarrhs, wovon die erstere mit Sicherheit, der letztere mit grolser Wahrscheinlichkeit als eine Unfallfolge anzusehen wäre, und schätzte die Beschränkung der Erwerbstätigkeit auf 20%, welchem Urteil sich das Reichversicherungsamt am 13. März 1901 anschloß. Dr. ©. fand bei einer erneuten Untersuchung am 27. Mai 1901 die Lungen normal, desgleichen Kreisarzt Dr. L. am 18. März 1902, während Dr.H. am 8. November 1901 ein leichtes Zurückbleiben der rechten vordern, untern Brustwand bei tiefen Atemzügen, ein Höherstehen (um 1'/ cm) des rechten, hintern, untern Lungenrandes, geringere Verschieblichkeit desselben bei der Atmung und Rasselgeräusche über dem untern Teil der rechten Lunge vorfand. Das Reichsversicherungsamt überwies nunmehr den St. zur Be- obachtung der Köniel. chiurgischen Klinik zu Königsberg i. Pr., deren Oberarzt, Dr. B., auf Grund längerer Untersuchung mittelst Röntgen- verfahrens am 18. August 1903 folgendes feststellte: 1. Beiderseitige Verkalkungen der Lungenspitzen als Ausdruck einer zum Teil ausgeheilten Tuberkulose, starke Schrumpfung der rechten Lunge und diffuser Katarrh auf beiden Seiten der Brust. 2. Einziehung des Brustkorbes vorne rechts. Der Einflufs von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 1 3. Vergrölserung des linken Herzens. 4. Inselförmige Bezirke herabgesetzter Schmerz- und Tastempfindung auf der rechten Körperseite. Dr. B. hielt es für wahrscheinlich, das St. schon vor dem Unfall an einer Tuberkulose der Lungenspitzen litt, welche, wie die Verkalkungen bewiesen, zum Teil ausgeheilt war; durch die bei dem Unfall stattgefundene schwere Quetschung des Brustkorbes ohne Rippenbruch wäre es zu einer Verschlimmerung gekommen, die sich in Bluthusten und entzündlichen Er- scheinungen kundgegeben und zu Schrumpfung der rechten Lunge geführt hätte. Die nervösen Erscheinungen hielt der Sachverständige ebenfalls für Folgen des Unfalls; die Beschränkung der Erwerbsfähigkeit schätzte er auf 66/3 °. Zwecks endgültiger Begutachtung wurde St. im nächsten Jahre noch einmal und zwar dem Städt. Krankenhause zu Königsberg i. Pr. zur Auf- nahme empfohlen. Die vom 17. bis 26. November 1904 hier vorgenommene Beobachtung ergab folgenden Befund: 1. Schrumpfung der rechten Lunge, rechts hinten unten Lungen- rand etwa 3,8—4,0 em höher als links, weniger Verschieblichkeit, Krepitieren rechts vorn unten bei tiefem Atemholen, leichte Abflachung des Brustkorbes rechts vorn seitlich, positive Tuberkulinreaktion, dabei Verschärfung des Atmungsgeräusches rechts oben. 2. Traumatische Neurasthenie, bewiesen durch Herabsetzung der Sensibilität auf der rechten Seite besonders in Brust und Rückengegend und Schwindelanfälle, von denen einer am 19. November 1904 morgens an Ort und Stelle beobachtet wurde. 3. Geringe Hypertrophie des linken Ventrikels ohne Störung der Herztätigkeit (nicht in Zusammenhang mit Unfall). Wesentliche Verschlimmerung gegenüber dem Befund des Dr. B. vom 3. Februar 1901 wird anerkannt, bestehend in starker Schrumpfung, aktiver Tuberkulose, und ausgesprochener traumatischer Neurasthenie. Einbufse an Erwerbsfähigkeit 50%. Der Prozentsatz wurde geringer angenommen als von Dr. B., weil die tuberkulöse Erkrankung der rechten Lunge, wenn auch wohl noch aktiv, so doch fast geheilt erschien, da sie durch physikalische Nova Acta XCVIJ. Nr. 8. 3 18 Bogusat, und Auswurfuntersuchungen nicht zu erkennen war. St. konnte daher noch leichte Arbeiten verrichten. Fall V. Arbeiter A., 27 Jahre alt, aufgenommen am 30. Januar 1905, ist angeblich hereditär nicht belastet, will auch früher stets gesund gewesen sein. Im Jahre 1904 (Anfang) hat Patient, wie er behauptet, etwa drei bis vier Wochen wegen Bluthustens in ärztlicher Behandlung gestanden. Am 14. Januar 1905 erlitt er eine Quetschung am Rücken durch herab- fallende Balken, wonach wieder Bluthusten aufgetreten sein und bis vor etwa acht Tagen bestanden haben soll. A. klagt jetzt über Brustschmerzen in der linken Seite. Aus dem sogleich bei der Aufnahme festgestellten Untersuchungs- befund seien folgende Tatsachen erwähnt: A. ist ein gutgenährter, kräftiger Mann. Über der linken Lungen- spitze besteht Schallverkürzung, besonders in den unteren Lungenpartien trockene Rasselgeräusche, mälsig reichlicher Auswurf von mehr schleimiger Beschaffenheit. Mit dem Kehlkopfspiegel erkennt man die Schleimhaut im Gebiet der Gielsbeckenknorpel geschwellt, die Stimmbänder gerötet. Während der Behandlung stellte sich ein diffuser Katarrh der linken Lunge ein, der aber wie auch die übrigen Erscheinungen in wenigen Tagen so schwand, dafs Patient am 13. Februar 1905 auf seinen Wunsch als „gebessert“ entlassen werden konnte. Bemerkt sei noch, dafs eine T'uberkulininjektion, deren Stärke indessen aus der Krankengeschichte nicht ersichtlich war, eine positive Reaktion bei A. ausgelöst haben soll. Fall VI. Arbeiter M., Epileptiker, 46 Jahre alt, aufgenommen am 27. Januar 1906, wurde im Jahre 1902 wegen Nierenentzündung in der Königl. medizin. Universitäts-Klinik zu Königsberg i. Pr. behandelt. Ein Jahr darauf hielt er sich eine Zeitlang im Städtischen Krankenhause ebendaselbst auf, um Heilung von Folgen einzelner schwerer Krampfanfälle zu suchen. Vor fünf Tagen fiel er auf der Stralse hin und zog sich wohl eine Quetschung der Der Einflufs von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 19 linken Rücken- und Brustseite zu, sofort verspürte er Schmerzen an der verletzten Stelle, auch sollen Husten und Schüttelfrost aufgetreten sein. Die am Tage der Einlieferung vorgenommene Untersuchung schilderte M. als einen kräftig gebauten Mann in herabgesetztem Ernährungszustande. Über der linken Lunge hinten unten erschien der Klopfschall gedämpft, hier bestand auch Knisterrasseln und verstärkter Pectoral-Fremitus; über allen Lungenpartien fanden sich diffuse bronchitische Geräusche. Aus dem Verlauf der Behandlung ist zu erwähnen, dafs Patient am 3. Februar 1906 — also nach sechs Tagen — unter starkem Schweils- ausbruch entfieberte, auch hellte‘sich die bei der Untersuchung festgestellte Dämpfung deutlich auf. Am 5. Februar 1906 trat von neuem Fieber auf, trotzdem die Dämpfung fast völlig verschwunden war, allerdings machte sich über beiden Lungen eine Vermehrung der bronchitischen Geräusche bemerkbar. In der Folgezeit wurden noch heftigere Nachtschweilse bemerkt, trotz mehrmaliger mikroskopischer Untersuchung fanden sich erst am 25. April 1906 im Auswurf Tuberkelbazillen. Unter allmählichem Stärkerwerden des Hustens schritt die körperliche Entkräftung des M. vorwärts. Ein Untersuchungsbefund vom 10. Juni 1906 betonte unter anderem „Patient hat seit drei Wochen das Bett nicht mehr verlassen. Über der linken Lungenspitze verlängertes Fxspirium, im Bereich der unteren Lungenpartien hört man beiderseits, namentlich aber links zahl- reiche klein- und mittelgrolsblasige Rhonchi“. Am 31. Juli 1906 wurde Patient auf seinen Wunsch als „ungeheilt“ entlassen, er war sehr abgemagert und kaum imstande zu gehen. Aus der Praxis des Schiedsgerichts für Arbeiterversicherung zu Bremen sei schliefslich noch folgender Fall erwähnt. Fall VII. Der an Bord des Bremer Dampfers P. beschäftigte Maschinisten- Assistent H., der vordem stets gesund gewesen sein will, erlitt am 30. April 1904 während der Reise des Schiffes von K. nach S. dadurch einen Unfall, dafs er, in einer Hängematte liegend, beim Reifsen der am Fufsende be- festigten Leine aus etwa ein m Höhe auf das Deck fiel und zwar mit dem br3 20 Bogusat, Rücken aufschlug. Schmerzen verspürte H. anfangs nicht, mufste aber Blut speien; nach zwei Wochen meldete er sich krank, bereits am 7. Mai 1904 aber wieder gesund. Am 9. Mai wurde H. in H. von einem Ärzte unter- sucht, der Magenblutung feststellte. Trotzdem sich etliche Wochen später blutiger Auswurf und Atembeschwerden bemerkbar machten, tat H. bis zum 2. März 1905 weiter Dienst, begab sich aber sodann in das St. Josephs- hospital in B., wo er wegen diffuser Bronchitis behandelt wurde. Am 7. April 1905 reiste H. in seine Heimat J. ab, wo Dr. B. bei seiner Unter- suchung eine Verdichtung des rechten Unterlappens und zahlreiche Tuberkel- bazillen im Auswurf nachwies. H. richtete nunmehr einen Entschädigungs- antrag an die See-Berufsgenossenschaft, der indessen durch Bescheid vom 5. Oktober 1905 abgelehnt wurde mit der Begründung, dafs nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ein Zusammenhang zwischen dem Lungenleiden und dem Vorgang vom 30. April 1904 ausgeschlossen erscheine. „Da er (H.) sich bereits acht Tage nach dem Vorfalle wieder gesund gemeldet und seinen Dienst bis zum 2. März 1905 unausgesetzt versehen habe, könne von einer Entstehung oder nachteiligen Beeinflussung eines Lungenleidens durch jenen Fall auf den Rücken nicht gesprochen werden. Übrigens habe der unmittelbar nach dem Fall konsultierte Arzt in H. keine Lungen- sondern eine Magenblutung festgestellt.“ Während die Ärzte Dr. W. in B. und Dr. M. in H. sich zugunsten der See-Berufsgenossenschaft äulserten, traten der zurzeit behandelnde Arzt, Dr. B. in J. sowie der Vertrauensarzt des Schiedsgerichts, Dr. J. in B. für die Ansprüche des H. ein. Das Schiedsgericht pflichtete den letztgenannten Gutachten bei unter folgender Auffassung der Sachlage: „Wenn es auch nach der Aussage des Kapitäns nicht ausgeschlossen sei, dafs Kläger schon vor dem Unfall lungenkrank war, da er verschiedent- lich Blut gehustet haben soll, so muls es als erwiesen angesehen werden, dafs der Unfall dieses Lungenleiden erheblich verschlimmert wurde. Denn nach dem Unfalle hat Kläger, wie auf Grund seiner Angaben dem Arzt Dr. M. in H. gegenüber festgestellt ist, vier Tage lang alle sechs Stunden Blut gespuckt. Er hat den Zeugen H. und Sch. gegenüber Schmerzen in der Brust geklagt, mehrere Tage keinen Dienst getan und auch später, nach Wiederaufnahme seines Dienstes, fortgesetzt gehustet und über Brust- Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 21 schmerzen geklagt. Im März 1905 wurde im Krankenhause in B. eine diffuse Bronchitis, wenige Wochen später eine Verdichtung des rechten Unterlappens und zahlreiche Tuberkelbazillen im Auswurf durch Dr. B. nachgewiesen. Dr. J. betont, dals von dem Beginn einer Lungentuberkulose bis zum Auswerfen von Tuberkelbazillen oft Monate und Jahre vergehen. Danach ist es zum mindesten wahrscheinlich, dafs H. vom Unfall ab tuberkulös lungenkrank gewesen ist und zwar in allmählich ansteigendem Mafse. Das Schiedsgericht schliefst sich Dr. J. auch in der Auffassung an, dals der Fall aus der Hängematte auf den Rücken nicht ohne weiteres als eine höchst unbedeutende Schädigung und Erschütterung des Körpers an- zusehen ist. Die Intensität der Einwirkung eines Falles auf den menschlichen Körper ist nicht nur von der Höhe des Falles abhängig sondern neben anderm auch davon, ob die Wucht des auffallenden Rumpfes durch vor- heriges Aufschlagen der Extremitäten abgeschwächt wurde oder nicht. Beim Unfall rifs das Tau am Fufsende der Hängematte, in welcher H. lag. H. schlug also mit krummem Rücken aus 1 m Höhe senkrecht auf den Boden auf, so dafs die erschütternde Wirkung des Stolses, durch nichts gemildert, sich unmittelbar auf den Brustkorb übertragen mulste. War bei H. schon ein latenter tuberkulöser Herd in der Lunge vorhanden, so bot die beschädigte, mit Blutresten durchsetzte Lungenpartie für die freigewordenen Bazillen einen günstigen Boden zur Ansiedlung und zu neuem Wachstum. Danach nimmt das Schiedsgericht mit Dr. B. und Dr. J. an, dafs der Unfall vom 30. April 1904 die Lungentuberkulose des Klägers wesentlich mit verschlimmert hat.“ Indem von einer eingehenderen Besprechung der soeben ausgeführten Fälle, die als mehr oder weniger markante Beispiele für die Verschlimmerung eines tuberkulösen Leidens infolge eines Unfalles angesehen werden können, Abstand genommen wird, soll es nun unsere Aufgabe sein, unter haupt- sächlicher Benutzung der eingangs erwähnten, teils durch Zitate teils durch Betonung der Leitsätze ihrem Inhalte nach gekennzeichneten Literatur festzustellen, von welchem Einflufs nicht penetrierende Verletzungen der Brust auf die Entwicklung einer Lungentuberkulose sein dürften. Was die Art der hier in Frage kommenden Verletzungen anbetrifft, so handelt es sich um Einwirkung stumpfer Gewalten z. B. Stofs, Schlag, 22 Bogusat, Überfahrenwerden, Verschüttung usw., deren Effekt entweder die Kon- tusion des 'I’horax, bei der Organveränderungen nachweisbar sind, oder die Commotio thoraeica (Riedinger) ist, welch letztere nichts Anormales im Organbefund erkennen läfst. Bei der Kontusion kann es, wenn wir von Quetschungen der Weichteile, subkutanen Muskelzerreilsungen, Rippen-, Brustbein- und Wirbelsäulebrüchen absehen, zu schweren Beeinträchtigungen der inneren Organe nämlich Zerreilsungen der grolsen Gefälse, des Herzens, des Zwerchfells und der Lungen kommen. Da indessen die Lungen, wie König (32) schildert, durch ihren Luftgehalt zu einem erheblichen Wechsel fähig sind, so wird für gewöhnlich nicht leicht eine Verletzung der Lungenoberfläche eintreten, wenn nicht die Splitter von gebrochenen Rippen in dieselbe eindringen. Die ohne ein solches Ereignis eintretenden wirk- lichen Lungenrupturen sind wohl meist nur so zu erklären, dals bei dem Stattfinden der Gewalteinwirkung Hindernisse vorhanden sind, welche die durch Kompression des 'T'horax sonst leicht herbeigeführte Entleerung der atmosphärischen Luft aus der Lunge nicht zustande kommen lassen. Ein solches Hindernis wird veranlafst durch den im Moment der Verletzung eintretenden Verschluls der Glottis [König (32), Gosselin (33), Nelaton (34), Link (78). Kann die Luft durch die Glottis nicht entweichen, so springt die Lunge bei einer plötzlichen Gewalteinwirkung, welche den Thorax zusammenbiegt, in ähnlicher Art wie jede andere membranöse Blase, deren Oberfläche durch einen raschen Druck komprimiert wird, und der entstehende Rifs braucht hier natürlich noch weniger da, wo die Gewalt ihren Angriffspunkt fand, stattzufinden, er kann gerade sowohl ein Kontrekouprifs an anderer Stelle sein. In beiden Fällen wird sich gemein- hin als nach aufsen hervorstechendstes Symptom eine mehr oder weniger deutliche Lungenblutung einstellen, was allerdings wieder davon abhängen dürfte, ob die in Mitleidenschaft gezogenen Blutgefäfse mit Bronchien in Verbindung stehen oder nicht. Stärkere Blutverluste, die indessen nicht häufig sind, können den Körper natürlich aufserordentlich schwächen und dadurch eine gewisse Hinfälligkeit der Gewebe sowie eine Verringerung der Abwehrmittel des Körpers bedingen. Nicht weniger bedenklich ist es, wenn. das außerhalb der Gefäfse befindliche Blut nicht auf natürlichem Wege aus dem Körper iin Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 23 austritt, sondern sich in die verletzten Gewebe ergiefst. Nach den Tier- experimenten von Geluzinski kann ein solcher Blutergufs bereits nach 24 Stunden eine Reaktion des Lungenparenchyms — Abschilferung des Alveolarepithels und des Epithels der feinsten Bronchien — hervorrufen, der oft bereits nach wenigen Tagen eine desquamative Buhesche Pneumonie folgt, durch die eindringenden oder bereits anwesenden Bazillen erwünschte Lebensbedingungen geschaffen werden. Leichtere Schädigungen der Brust beobachten wir natürlich, wenn die Gewalteinwirkung weniger heftig und der Glottisverschlufs im Moment der Einwirkung kein vollständiger war [Lacher (16)]; es wird dann oft nur eine Erschütterung des Brustkorbes empfunden, hier und da entstehen vielleicht kleine Kontinuitätstrennungen, unbedeutende Blutungen innerhalb des Lungengewebes ohne Zerreilsung der pleuralen Umhüllung und minimale Zertrümmerungsherde, deren Vorhandensein klinisch nicht in die Erscheinung tritt [Witzel (35)]. Im Gegensatz zu den bisweilen recht schwerwiegenden direkten Folgen — man denke an heftige Hämopto&@ — bei grölseren Verletzungen sind hier die mehr indirekten Folgen zu fürchten, die darin bestehen. dafs namentlich durch in der Reaktionsperiode auftretende Entzündungen, welche bekanntlich bei nennenswerten Traumen nie ausbleiben, sich in der betroffenen Lunge Verhältnisse ausbilden, die einer Ansiedlung und Fortentwicklung von Mikroorganismen günstig sind. Letzterem Moment wird noch dadurch Vorschub geleistet, dals nach mehr indifferenten Verletzungen wie F. Krause (42) ausführt, die Heilungsvorgänge und die mit ihnen verbundenen Zell- und Gewebsneubildungen fehlen, welche bei schweren Verletzungen in höchst energischer Weise verlaufen und das Fortkommen der Bazillen meist zu verhindern vermögen, ein Umstand, der von fast allen Autoren anerkannt wird und wohl als Grund dafür anzusehen ist, dafs eine Phthise nach schweren Verletzungen fast garnicht vorkommt. Wie wir gesehen haben, kann also im Gefolge von Verletzungen verschiedenster Art ein besonderer Zustand des Organismus eintreten, den wir als „örtliche Disposition“ bezeichnen und als zu dem Begriff der „all- gemeinen erworbenen Disposition“ gehörig betrachten dürfen. Dafs dieser Zustand nicht gleichgültig für einen Verletzten ist, erhellt aus der Tatsache, 24 Bogusat, dals sich demselben oft und — was hervorgehoben werden mag — recht häufig bei anscheinend früher ganz gesunden Menschen [Mosny (27)] eine schwere Lungentuberkulose anschlielst. Nehmen wir nun im Sinne Orths (41) an, dafs an dieser Infektion die „örtliche Disposition“ und die Bazillen als gleichwertige Faktoren beteiligt sind, so erübrigt zu einer befriedigenden Erklärung des betreffenden Infektionsvorganges noch die Festellung, wann und auf welchem Wege die Bazillen in einen vordem offenbar gesunden Körper eingedrungen und zur Stätte ihrer Wirksamkeit gelangt sind. Lassen wir die modernen Anschauungen über bronchogenen, hämato- genen Iymphogenen usw. Ursprung der Tuberkulose als den Rahmen dieser Arbeit überschreitend unerörtert, so bleiben in der Hauptsache nur drei Theorien zu erwähnen, die sich mit einer Lösung dieser Fragen be- schäftigen. An erster Stelle sei Feokistow (44) genannt, der bei einem Verletzten jede Infektion mit Tuberkelbazillen von aufsen her bestreitet, die Bindegewebstuberkulose als selbständige, primäre Krankheitsform be- schreibt und von einer Entwicklung der Mikroorganismen in dem durch die Verwundung gesetzten Blutextravasat des umgebenden Bindegewebes spricht. Indem er sich auf die nicht bewiesene Annahme stützt [Lacher (16)], dals an Orten, wo die Tuberkulose überhaupt stark verbreitet ist, das Blut jedes Menschen zu einer bestimmten Zeit eine beträchtliche Menge Tuberkel- bazillen enthalten kann, wird dasselbe also auch nach seiner Meinung in dem in einem ungünstigen Momente entstandenen Blutextravate der Fall sein und daher notwendig eine grölsere Menge dieser Mikroorganismen enthalten, deren Weiterentwicklung oder Untergang von einer ganzen Reihe von Einflüssen abhängt, vorzüglich wohl davon, ob das gegebene Extravasat schnell aufgesaugt wird oder nicht. Der Gedankengang Feokistows, der wohl nie eine grölsere Zahl von Anhängern gefunden hat, wird heutzutage nur noch vereinzelt vertreten. Cornet (45) weist die Ansicht Fs. zurück, indem er ausführt, man könne keinesfalls annehmen, dafs bei einem Tuberkulösen die Bazillen im Blute kreisen und gewissermafsen nur auf ein Trauma und die dadurch bewirkte (Gewebsläsion warten, um sich festzusetzen. Köhler (46) dagegen erklärt sich in gewissem Sinne mit der Meinung Fs. einverstanden, wenn er unter anderem sagt: „Wie im einzelnen das Kreisen des tuberkulösen Giftes im Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 25 Organismus sich darstellt, ist bekanntlich noch nicht völlig aufgedeckt, dals ein solches aber entweder ständig oder aber nur unter dem Einfluls gewisser unbekannter, organischer Vorgänge im Innern zustande kommt, kann keinem Zweifel unterliegen. Für diese Tatsache spricht z. B. das sukzessiv erfolgende Ergrifftenwerden verschiedener Gelenke oder die so häufig in mehr oder weniger langen Zwischenräume auftauchende Bildung tuberkulöser Abszesse ohne äufsere Wunde sowie viele andere bekannte Erscheinungen in der Lehre von der Tuberkulose.“ Noch weniger anerkannt als Feoktistow ist Wigand (20), dessen wir bereits früher gedachten. Mit seiner T'heorie, „dafs die Bakterien in der organischen Substanz selbst unabhängig von präexistierenden Keimen spontan entstehen“, tritt er direkt für die Generatio aequivoca der Bakterien, im besonderen die der Tuberkelbazillen ein. Eigentlich war es nach Kentnis des Verfassers nur Brehmer (19), der seinerzeit für Wigand ohne be- sonderen Erfolg eine Lanze brach. Die meisten Vertreter findet ohne Zweifel bis in die jüngste Zeit jene Anschauung, welche die Infektion mit "Tuberkulose in eine mehr oder weniger frühe Kindheit verlegt. Ob man nun mit Baumgarten (47) an- nimmt, dafs die Übertragung der Ansteckungskeime der Haupsache nach kongenital erfolge oder mit v. Behring (36), dals erst „die Säuglingsmilch die Hauptquelle für die Schwindsucht darbiete“, dafs also, wie auch andere Forscher betonen, einzig und allein die Disposition von den Eltern auf das Kind vererbt werde, dürfte ein vielversprechendes Streitobjekt des Spezial- gelehrten sein. Dem Praktiker und vor allem dem Gerichtsarzt, die beide des öfteren Gelegenheit haben, einschlägige Urteile abzugeben, muls die Tatsache wertvoll sein, dals der gröfste Teil aller Menschen tuberkulös infiziert ist, dafs demnach v. Bering nicht so unrecht hat, wenn er es unumwunden ausspricht: „Ein bifschen tuberkulös sind wir ja mehr oder weniger alle!“ Da Zahlen gewöhnlich als beste Beweismittel gelten, so mögen folgende Angaben hier ihren Platz finden: Naegeli (37) in Zürich sah bei 500 Sektionen in 97°, Schmorl (39) und Burkhardt bei 1262 Leichen 91%, Birch-Hirschfeld (38) in 80° und Schlenker (40) bei 66° tuberkulöse Erkrankungen, die indessen in sehr vielen Fällen verheilt waren. Nova Acta XCVII. Nr.3. 4 26 Bogusat, Fragen wir uns nun, wie es zugeht, dals bei einem solchen Vor- herrschen der Infektion mit Tuberkulose nicht sämtliche oder wenigstens die weitaus gröfsere Mehrzahl der mit diesem Leiden behafteten auch deut- liche Anzeichen der Erkrankung darbieten, so können wir uns auch hier wieder v. Behring (36) anschlielsen, der etwa folgendes ausführt: „Ob das Hineingelangen von Tuberkelbazillen für einen Menschen verderblich wirkt, hängt von einer grolsen Zahl von Faktoren ab (Grad der krankmachenden Energie des importierten Virus, Quantität des Virus, ob einmalige oder mehrmalige Infektion, Alter, Ernährungsweise, physio- logischer Zustand des Patienten, Beschäftigungsart, hygienisches Verhalten usw., kurz alles, was mit dem Sammelbegriff der Empfänglichkeit oder Disposition zusammengefalst werden kann). Aufser den hier erwähnten Momenten muls noch das grolse Heer der akzidentellen Infektions- bedingungen in Rechnung gezogen werden, und man muls sich klar werden über die unendliche Manniefaltiskeit der Reaktionsphänomene eines lebenden Individuums gegen Tuberkulosevirus.“ Vom praktischen Standpunkte aus gestaltet sich das Eintreten der Latenz bei einem auf irgend eine Weise einmal erworbenen Kranheitsherde wahrscheinlich so, dafs, wie Wagner (48) recht anschaulich schildert, der Organismus aus unbekannten Ursachen um die mit dem Krankheitsherde identische tuberkulöse Neubildung eine feste bindegewebige Hülle schafft und so das umgebende Gewebe vor den auf diese Weise wohlverwahrten Bazillen schützt, die in einer solchen Umfestigung jahrelang ruhen können, ohne ihre Giftigkeit zu verlieren. Mit der zunehmenden Dichte des den Tuberkelknoten umgebenden geweblichen Walles verringert sich die Möglich- keit der Blutzufuhr zu diesem selbst und damit die seiner Ernährung. Unter dem Bilde der Verkäsung und Vernarbung folgt dann nicht selten völlige Heilung. Tritt jedoch in dem Stadium der fortschreitenden Ein- kapselung ein schädliches Moment hinzu, werden die Gewebszellen infolge irgend einer Ursache, z. B. des Auftretens einer Entzündung, Quetschung, Zerreilsung oder Erschütterung aus ihrer physiologischen Gleichgewichtslage gebracht, ihre Tätigkeit über die Norm — wenn auch unmerklich — er- höht, so wird die gesteigerte Lebensenergie der Zellen und die vermehrte Blutzufuhr, die, solange sie sich in mafsvollen Grenzen halten, eine Ein- Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 27 dämmung der Tuberkeln veranlassen können, gerade das Gegenteil erreichen. Die begonnene bindegewebige Kapsel wird, falls sie nicht bereits vordem durch das Trauma undicht geworden, durch allzu reichliche Blutzufuhr erweicht, aufgeschwemmt und resorbiert, und die Bazillen gelangen wieder ins frei umliegende Gewebe sowie in die Blut- und Lymphbahnen. Die erhebliche Durchtränkung der Teile und ihr Saftreichtum liefern vermutlich ein äufserst günstiges Nährsubstrat für die Krankheitserreger, deren Weiter- entwicklung auch noch dadurch gefördert werden mag, dafs der Verletzte infolge der bestehenden Schmerzen die betroffene Brustseite beim Atmen und Husten möglichst schont, so dafs in der immobil gemachten Lungen- partie einer schlechten Ventilation und Anhäufung von Sekretmassen Vor- schub geleistet wir. Wenn auch im Sinne Professor Biers anzunehmen ist, dals bei sehr schweren Verletzungen, die infolge von Hyperämie und Entzündung sich einstellenden reaktiven und reparativen Gewebsprozesse so intensiv sind, dals durch sie Bazillen direkt abgetötet werden können, so dürfte für Verletzungen leichteren und mittleren Grades der oben dar- geleste Einfluls von T'raumen auf die Entwicklung der Tuberkulose speziell der Lungentuberkulose im grofsen und ganzen nicht unzutreffend sein. Berücksichtigen wir noch kurz die Gesichtspunkte, welche den Gerichtsarzt im Kriminal-, Zivilprozefs oder vor dem Unfallschiedsgericht bei der Beurteilung solcher Fälle leiten sollen, die den Zusammenhang einer nicht penetrierenden Brustverletzung auf die Entwicklung einer Lungen- tuberkulose als möglich erscheinen lassen, so ist bei der Schwierigkeit der vorliegenden Materie in jedem Einzelfalle die gröfste Vorsicht am Platze. Ergeben Aktenstudium und Zeugenvernehmungen, wobei auf die Feststellung einer etwaigen ererbten oder erworbenen Disposition ganz besonders Gewicht zu legen ist, sowie die eigene Untersuchung des Verletzten ohne Zwang, dals ein Zusammenhang der angeschuldisten Ursache und der später be- obachteten Wirkung vorhanden ist, so soll der Gerichtsarzt, wie Lacher (16) empfiehlt, die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen der erlittenen Verletzung und der phthisischen Lungenerkrankung zugeben, jedoch mit der Einschränkung, dafs es von zufälligen, uns zurzeit noch nicht senügend bekannten Ursachen abhänge, warum gerade in einem besonderen Falle die sonst vielfach gefahrlos verlaufenden Kontusionen des Thorax die 4 25 Bogusat, Entwicklung von Tuberkulose veranlafst haben. Mit ähnlichem Vorbehalt hat sich der Sachverständige zu äufsern, wenn von dritten Personen bei einer Sektion festgestellte Lungenschwindsucht mit einer früheren Verletzung in Einklang gebracht wird. Finden sich an den Organen der Leiche ältere Krankheitsherde irgendwelcher Art, so wird die Entstehung der Phthise auf diese, also auf „eigentümliche Leibesbeschaffenheit“ des Verletzten zurückgeführt werden können. Die Entscheidung der vom Richter dem Arzte gewöhnlich vorgelegten Fragen, ob es sich bei einzelnen hierhin gehörigen Fällen um eine leichte oder schwere Körperverletzung, d.h. um einen Versto[s gegen $ 223 resp. 224 Str.-G.-B. handelt, ist nach eingehender Darlegung des Tatbestandes, soweit dieser ärztliche Fragen behandelt, am besten dem Richter zu überlassen, dem darüber allein das endgültige Urteil zusteht. Wenden wir uns den unserer Gruppe b) angehörenden Fällen zu, d. h. solchen, bei welchen die Entwicklung von Lungentuberkulose nach einer penetrierenden Brustverletzung festgestellt wurde, so muls es auf- fallen, dals die Literatur über diese Art traumatischer Phthise wenig umfangreich ist. Ob diese Erscheinung ihre Erklärung darin findet, dafs für diese Fälle in erheblicherem Malse die ganz allgemein gehaltene Bemerkung Mendelsohns (14) zutrifft: „Kranke mit einer Brustver- letzung kämen zuerst in eine chirurgische Klinik, würden hier von dem äulseren Leiden geheilt entlassen und führten ihre später entstehende 'Tuber- kulose nicht mehr auf den Unfall zurück“, oder ob nach perforierenden Brustverletzungen tuberkulöse Erkrankungen tatsächlich so selten sind, wie König (49) und jener bereits erwähnte amerikanische Bericht über den Rebellionskrieg behaupten, ganz im Gegensatz zu v. Hofmann-Kolisko (), der an diesbezüglicher Stelle hervorhebt: „Am häufigsten scheint Tuberkulose nach Brustverletzungen, insbesondere nach penetrierenden Brustwunden sich zu entwickeln“, muls dahingestellt bleiben. Aus der mir zugänglichen Literatur sei zuvörderst ein Fall von Scholz (7) angeführt, der in kurzen Worten berichtet, dals ein Mann mittleren Alters, der vorher immer gesund war, sich vor vier Monaten durch Unvorsichtigkeit eine Stichwunde in der rechten Brustseite beibrachte, die heftige Blutung zur Folge hatte. Die Wunde erzeugte lange und bedeutende Eiterung. Es Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 29 entwickelte sich bald eine chronische Lungenentzündung, bei der Patient stark hustete, Auswuırf hatte, stark fieberte und im hohen Grade abmagerte. In dem Hauptwerke Leberts (9) finden wir einen ähnlichen Bericht, in dem angelegentlichst hervorgehoben wird, er sei darum besonders zu erwähnen, weil er durch das Vorhandensein einer offenen Wunde sich von den anderen Beobachtungen unterscheide. In mancher Hinsicht interessant ist eine von Mendelsohn (14) bearbeitete Krankengeschichte, die hier im Auszuge folgen mag: Ein Neger, James V., der angeblich einer gesunden Famlie entstammte und selbst bis zu seinem Unfall nie krank gewesen sein will, erhielt in Neapel bei einem Zweikampfe eine tiefe Messerwunde in die linke Fossa supraspinata, welche, wenigstens wie er es beschreibt, die linke Lungenspitze getroffen haben muls. Die Heilung nahm vier Wochen in Anspruch; Hämopto& war nicht bei oder nach der Verletzung aufgetreten. Ein halbes Jahr darauf fanden sich die ersten Zeichen einer Brustaffektion, V. hustete, der Husten wurde immer heftiger, allmählich stellten sich Schüttelfröste, Schlaflosigkeit und Nachtschweilse ein. Die in der unter Leitung des Herrn Geheimrat Professor Dr. Leyden stehenden medizinischen Klinik vorgenommene Untersuchung ergab aulser der Feststellung einer etwa 3 cm langen Narbe an der von dem Kranken bezeichneten Stelle sowie deutlichem, scharfem, knarrendem Rasseln in der linken Fossa supraclavicularis keine pathologischen Ver- änderungen. In dem reichlichen, aus grölseren eitrigen Ballen bestehenden Auswurf wurden trotz wiederholter, sorgfältiger Untersuchung weder elastische Fasern noch Tuberkelbazillen gefunden. Mendelsohn schliefst nun mit der Bemerkung: „Jetzt, wo zu jeder Diagnose auf Tuberkulose der Nachweis der Bazillen gefordert wird, könnte man leicht sagen, unser Fall sei gar keine Tuberkulose, zumal da auch keine elastischen Fasern im Sputum zu finden sind. Und doch ist er eine solche. Einmal haben wir für die Diagnose die kompetentesten Beurteiler für uns; dann aber sind zweimal mit dem Sputum des Patienten Reihen von Meerschweinchen unter allen antiseptischen Kautelen geimpft worden, und jedesmal hat diese Impfung bei allen Versuchstieren Tuberkulose im Gefolge gehabt. Das Sputum enthält also dennoch den tuberkulösen Infektionsstoff, nur dafs dieser, da er anscheinend nicht in der Form von Tuberkulose, sondern von Sporen 30 Bogusat, in demselben enthalten ist, sich bisher nicht hat nachweisen lassen. Dafs Material von zweifellos tuberkulöser Natur keinen einzigen Tuberkelbazillus enthalten und dennoch virulent sein kann, haben die Arbeiten Kochs (50), v. Leydens (öl), Malassez und Vignals (52), Castro-Soffias (53), Baumgartens (54) u. a. gezeigt.“ Lassen wir kürzere Notizen bei einzelnen Autoren, die nur andeutungs- weise unseren Gegenstand berühren, unerörtert, wie z. B. ein Fall Berg- leiters (55), der die Entstehung einer septischen Pleuritis in der Hauptsache auf einen Messerstich zurückführt, so haben wir nur noch einen Beitrag Mosnys (27) anzufügen, der bei Hanf (28) referiert ist und folgenden Tatbestand schildert: „Ein 25 jähriger Mann, der selbst vorher stets gesund gewesen sein soll, dessen Mutter und Schwester jedoch an Lungenschwind- sucht verstarben, erhielt eine Revolverkugel in den vorderen Teil der linken Brustseite; unmittelbar darauf trat eine Hämopto@ ein. Die Kugel ver- ursachte eine penetrierende Wunde und wurde nicht entfernt; trotzdem letztere gut verheilte, fing Patient an abzumagern und zu husten sowie über reichliche Nachtschweilse zu klagen. 5!/, Monate später kam er in das Hospital, wo eine beiderseitige, links stärker entwickelte Phthise kon- statiert wurde.“ Erwägen wir, in welcher Weise eine penetrierende Brustverletzung auf die Entwicklung einer Lungentuberkulose von Einfiuls sein kann, so müssen wir von der Tatsache ausgehen, dafs namentlich seit der antiseptischen Periode in der Chirurgie sämtliche die Brustwand durchbohrende Verletzungen, falls schwere, zu schnellem Tode führende Blutungen nicht mit in Rechnung gezogen werden, keine gar so ungünstige Prognose bieten. Stich- und Schufskanäle können sich reaktionslos schlielsen, in der Brustwunde ab- gebrochene Degen- und Messerspitzen sowie Projektile infolge einer eircum- skripten in ihrer Umgebung zur Bildung einer Bindegewebskapsel führenden Entzündung unschädlich gemacht werden. Voraussetzung für einen der- artigen erwünschten Ausgang des Wundverlaufs ist, dafs in die Weichteile eindringende Fremdkörper oder die von ihnen gewöhnlich mitgerissenen Stoff- oder Hautfetzen nieht mit Entzündungserregern und Fäulniskeimen beladen sind, da sonst Krankheitsprozesse der verschiedensten Art, besonders schwere Eiterungen ausgelöst werden können. Zuweilen jedoch kommt es Ve Core Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. sl vor, wie Experimente beweisen, dafs der eindringende Fremdkörper keines- falls für die ebengenannten Folgeerscheinungen verantwortlich gemacht werden darf; König (32), Tillmanns (56) u. a. nehmen an, dafs dann die schädigenden Mikroorganismen gegebenenfalls einfach durch die Luft über- tragen werden. Eine penetrierende Verletzung der Brust dürfen wir dem- nach insoweit mit einer nachfolgenden Lungentuberkulose in Zusammen- hang bringen, als einmal durch Vermittlung der Luft oder des verletzenden Instrumentes Tuberkelbazillen in das Körperinnere übertragen werden und dort infolge des Blutverlustes und der damit verbundenen Gewebsschwächung ihr verderbliches Werk beginnen können, oder indem die mit der Gewalt- einwirkung verbundene Erschütterung und Entzündung nach Art des an anderer Stelle bereits ausführlich geschilderten Vorganges es einer latenten Tuberkulose durch Schaffung geeigneter Verhältnisse ermöglichen, manifest zu werden. Nach alledem wird der Gerichtsarzt, der sein Urteil in einem speziellen Falle abzugeben hat —, in der Hauptsache wird es sich um Entscheidungen im Anschluls an $ 223a (gefährliche Körperverletzung) oder $ 224 (schwere Körperverletzung) des Str.-G.-B. handeln — auch hier, ob- wohl der Sachverhalt oft einfach zu liegen scheint, mit der schon früher empfohlenen Zurückhaltung und Vorsicht verfahren müssen. Grenaueste Untersuchung der Wunde und ihrer Umgebung neben sorgfältiger Aufnahme des allgemeinen Körperbefundes, Feststellungen über das in Frage kommende Werkzeug, den Tatort, die mit dem Gewaltakt verbundenen näheren Um- stände müssen durch Nachforschungen über die Vorgeschichte des Geschädigten und seine privaten Verhältnisse ergänzt werden. Gilt es durch eine Sektion die vermutete oder von dritter Seite behauptete Abhängigkeit beider Fak- toren — penetrierende Brustverletzung und Tuberkulose — voneinander zu erweisen, so wird auch hier in der Hauptsache der objektive Befund, d.h. die anatomische Diagnose, die Basis für unser Urteil sein müssen. „Nur dann“, sagt v. Hofmann-Kolisko (3), „wenn das Individuum zur Zeit der Verletzung entschieden tuberkulös war, oder wenn sich bei der Obduktion tuberkulöse Schwielen, alte käsige Herde in den Lungenspitzen oder ver- käste Bronchialdrüsen u. dergl. fanden, ist die Annahme begründet, dafs die dem Trauma folgende Krankheit (v. Hofmann nennt die „Pleuritis“) wegen 32 Bogusat, der bereits vorhandenen Tuberkulose oder wegen der Anlage dazu den tuberkulösen Charakter erhalten hatte. Ergeben sich solche Momente nicht, dann kann trotzdem kaum behauptet werden, dafs die Verletzung ihrer all- gemeinen Natur nach die Tuberkulose nach sich gezogen habe“, man wird vielmehr damit rechnen müssen, dals, wie v. Leyden sich ausdrückt, einem „unglücklichen Zufall“ — Aufenthalt des Verwundeten in einer an Tuberkel- bazillen oder Sporen reichen Atmosphäre, Notverband mit septischem Material, unsaubere Hände der Hilfeleistenden — gröfseres Verschulden beizumessen ist. Am schwierigsten in der Beurteilung, aber zweifelsohne am inter- essantesten sind die ebenfalls wenig zahlreichen Fälle, welche unserer letzten Gruppe zugehören. Es handelt sich hier um tuberkulöse Lungenerkrankungen, die sich nicht nach einer Verletzung der Brust sondern nach Verletzungen an beliebigen anderen Körperstellen oder Schädigungen mehr allgemeiner Natur entwickelten. Die vielfach durch scharfe Kombinationen ausgezeichneten Arbeiten auf diesem Gebiet gehören meist der neuesten Zeit an, doch haben auch einzelne der älteren Autoren auf Grund ihrer Erfahrungen die Möglichkeit eines Zusammenhanges der soeben erwähnten, auf den ersten Blick keine Beziehungspunkte miteinander bietenden Komponenten nicht von der Hand gewiesen. Unter den ersten hat Villemin (57) in einer kurzen Bemerkung über das Leiden seines Kollegen und Landsmannes Laännec einen ein- schlägigen Beitrag geliefert, indem er gewissermalsen nur aphoristisch aus- führte: „Laönnee raconte, dans son Traite d’auscultation, qu'il y a environ vingt ans, il s’est blesse en sciant un os tuberculeux, et qu’au moment, oü il eerit (1819), il n’en ressent aucun effet, quoiqwil ait en un tubereule local. Laönnee mourut phthisique en 1826, et deja, en 1822, le mal le forcait de suspendre ses travaux.“ v. Behring bringt hierzu folgende kurze Interpretation: „A priori könnte man die tuberkulöse Wundinfektion Laännees auch noch anders interpretieren. Man könnte daran denken, dafs trotz der oben erwähnten Bedenken gegen die Präexistenz eines tuberkulösen Prozesses bei Laännee, der Schwindsuchtskeim doch schon in seinem Organismus gewesen ist, und Der Einflufs von Verletzungen auf die Entwieklung der Lungentuberkulose. - 38 dals die Wundinfektion vom Jahre 1799 nur den Wert einer Super-Infektion gehabt hat, die ähnlich zu beurteilen ist, wie der lokalisiert bleibende In- fektionsproze[s tuberkulöser Meerschweinchen nach der Super-Infektion mit einer Reinkultur von Tuberkelbazillen.“ Als hierhin gehörig muls sodann eine Betrachtung Lindmanns (59) erwähnt werden, die zwei Vorgänge aus dem Jahre 1872 zum Gegenstand hat; Mendelsohn (14) erstattet darüber das folgende kritische Referat: „Dieselbe [die Betrachtung Lindmanns] betrifft zwei Fälle aus dem Jahre 1872, in denen bei der rituellen Beschneidung durch den phthisischen Beschneider die sonst gesunden und hereditär nicht belasteten Kinder tuberkulös von der frischen Wunde aus infiziert wurde; ein Kind starb nach längerem Leiden an Phthise, bei dem zweiten blieb die Tuberkulose lokalisiert und erfolgte Heilung. Es sind diese Fälle klassische Beispiele für die uns hier beschäftigenden Verhältnisse ‘ Wir sehen zwei gesunde Kinder ein artefizielles Trauma erleiden und gleichzeitig dieselben in näheren Kontakt mit einem Tuberkelbazillen an sich führenden Individuum kommen, und beide acquirieren Tuberkulose. Auf welchem Wege die Übertragung stattgefunden, wird schwer zu entscheiden sein; ob der Operateur Sputum an den Fingern gehabt und dasselbe in die Wunde gebracht, oder ob er nach vollzogener Operaion durch Hustenstöfse infizierendes Material in die Luft, und so in die Wunde befördert, muls dahingestellt bleiben. Die Tatsache jedoch steht fest, dals ein Trauma genügt, um bei vorhandener Gelegenheit zur Infektion dieselbe erfolgreich vonstatten gehen zu lassen.“ Nicht gleichgültig im Interesse einer möglichst allseitigen Beleuchtung unseres Gegenstandes scheinen die Ausführungen Ranviers und Cornils (60) über häufige Entstehung von Lungenschwindsucht bei Anatomiedienern, die gelegentlich vordem mit Leichentuberkeln behaftet waren. Eine Bestätigung dieser Wahrnehmungen finden wir bei Verneuil (61), Riehl (62) und See (63) welch letzterer das traurige Mifsgeschick eines Arztes schildert, der nach einer Obduktion im Anschlufs an eine kaum nennenswerte tuber- kulöse Wundaffektion von chronischem Lungenleiden befallen wurde. Die Angabe Rindfleischs (64), dafs er sich durch Vermittlung kleiner Haut- verletzungen bereits mehr als 30 mal Tuberkulose eingeimpft habe, ohne Folgen zu verspüren, dürfte das vordem Gesagte kaum wiederlegen können. Nova Acta XCVII. Nr. 8. 12) 2 34 Bogusat, Einen Gegensatz zu der offenbar ablehnenden Ansicht dieses Autors bildet neben anderen eine Arbeit Windelschmidts (65). Verfasser berichtet hier [Ref. nach Mendelsohn] von einem 28 jährigen Manne, der sich mit dem Sortieren von Knochen und Lumpen und dem Reinigen von mit Blut be- fleckten Haaren und Horn beschäftigte, also mit Gegenständen, welche recht gut Infektionsträger abgeben konnten, und welcher kurze Zeit, nachdem er sich eine komplizierte Fraktur des Nagelgliedes zugezogen hatte, an florider Lungenschwindsucht zugrunde ging. In gewisser Beziehung zu der vorhin geschilderten Betrachtung Lindmanns steht ein Fall Guders (15), demzufolge eine 44 jährige, hereditär nicht belastete Frau durch einen Bifs ihres phthisischen Mannes in die Oberlippe tuberkulös infiziert wurde. Bald nach der Heilung des an der Lippe befindlichen lokalen Herdes zog sie sich eine kleine Fingerverletzung zu. Fünf Monate darauf zeigten sich tuberkulöse Abszesse im Bereiche des linken Handgelenkes, wieder sechs Monate später entwickelte sich bei ihr eine linksseitige Pleuritis, der eine rechtsseitige Lungenschwindsucht folgte. Verschiedentlich sind Quetschungen in der untersten Rücken- und Lendengegend als Entstehungsursache für Lungentuberkulose angesehen worden. : In diesem Sinne spricht sich ein Gutachten Schäffers (66) und ein Obergutachten Schuchardts (67) aus, denen sich die zuständigen Behörden in ihren Entscheidungen voll und ganz anschlossen. Aus der- selben Zeit wie die beiden ebengenannten Arbeiten stammt ein Gutachten Wagners (48), das in überaus sachlichen und anregend geschriebenen Dar- legungen den Zusammenhang einer Lungentuberkulose mit Quetschung eines Ellenbogengelenkes beweist. Weit jüngeren Datums ist eine Beobachtung Köhlers (46b), nach der eine Subkutanverletzung der Wade durch T'hrombosierungen zu einem Lungeninfarkt führte, auf dessen Boden sich eine prognostisch sehr ungünstige Lungentuberkulose entwickelte. — Siehe auch das Sammelreferat Feilchenfelds (76). Bis jetzt wohl einzig dastehend ist aus der Praxis des vorgenannten Autors (46a) das Erkenntnis einer Berufsgenossenschaft, in dem ein Fall als der Unfallversicherungsentschädigung unterworfen bezeichnet wurde, bei dem, wie Köhler hervorhebt, einige Zeit nach ausgedehnter Verbrennung des Rückens und der oberen Extremitäten eine Lungentuberkulose auftrat. Der Einflufs von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 35 Es wurde in diesem Falle betont, dafs entweder vorher bereits die Lungen- tuberkulose bestanden hätte, latent geblieben wäre und nun durch die Reduzierung der gesamten Funktionen des Organismus infolge der aus- sedehnten Hautverbrennung einen ungünstigen Fortschritt aufwiese oder aber, dals die Infektion mit Tuberkulosevirus von den ausgedehnten offenen Wunden her erfolgt wäre, und eine Lokalisierung des Giftes in den Lungen stattgefunden hätte. Dafs zur Abgabe eines begründeten Urteils auch die Möglichkeit eines umgekehrten Verhältnisses der Grundfaktoren zueinander oder — im Sinne unseres T'hemas gesprochen — der Einfluls einer mehr oder weniger ausgebildeten Lungentuberkulose auf den Verlauf einer Verletzung wohl erwogen werden mulste, lehrt uns eine gutachtliche Feststellung Tietzes (68) über einen Unfall, bei dem sich ein Tischlergeselle eine Quetschung des rechten Mittelfulses zuzog, dem sukzessive im Verlauf von etwa drei Jahren tuberkulöse Erkrankungen des betreffenden Fulses, der Lungen und des Kehl- kopfes folgten, die zum Tode führten. Tietze schliefst seine Erörterungen mit den Worten: „Ich halte es für wahrscheinlich, dafs der verletzte Fufs von der Lunge angesteckt worden ist, oder dafs beide Erkrankungen ge- meinsam ihre Entstehung einem dritten im Körper verborgenen Herde ver- danken. Die Lungentuberkulose, an welcher H. starb, war nicht Folge der Fulsgelenktuberkulose. Sprechen hierfür alle bereits angeführten Gründe, so muls ich auch noch einen Zweifel an der Ansicht des Herrn Kollegen St. ausdrücken, wenn er in seinem Gutachten ausführt, es erschiene ihm nicht angängig, das kleinere objektiv nachweisbare Leiden, wie es die Lungenerkrankung darstelle, als Urheberin des weit grölseren und aus- gedehnteren tuberkulösen Herdes, wie er am Fufs bestand, anzunehmen. An und für sich wäre dies nach meiner Ansicht wohl denkbar, aber soweit man dies aus den Akten erkennen kann, scheinen die Verhältnisse garnicht so zu liegen; denn wie bereits ausgeführt, kann die Anfang August 1904 konstatierte Fulsgelenktuberkulose noch nicht so hochgradig gewesen sein, da sie am 11. Mai 1904, wenn sie damals schon bestanden, jedenfalls noch nicht als solche erkannt werden konnte, andererseits fanden sich Anfang August 1904 bereits auch Lungenerscheinungen, und als H. am 3. Oktober 5* 36 Bogusat, entlassen wurde, waren, d.h. also nach knapp acht Wochen, bereits Er- scheinungen einer Kehlkopftuberkulose vorhanden. Es fragt sich doch also sehr, ob wirklich die Zerstörungen in der Lunge so geringfügig gewesen sind, wie sie sich bei der Untersuchung verrieten. Natürlich wird man ja in solchen Sachen immer zweierlei Meinung sein können.“ Durchaus Beachtenswertes finden wir in einem Aufsatze Ewalds (69), der namentlich im Hinblick auf die weitgehende Inanspruchnahme «der Berufs- genossenschaften vor einer ungerechtfertisten Humanität und einem über- triebenen Mitleid für das bejammernswerte Schicksal des Kranken warnt, und den wir seiner allgemeinen Bedeutung wegen hier nicht vergessen wollen. Ausgehend von einem Beispiel, in dem dargetan wird, wie ein Schlossergeselle, der nach einem Unfall — Quetschung und komplizierte Fraktur an Zeige-, Mittel- und Ringfinger der rechten Hand — an einer Lungentuberkulose erkrankte, durch selbstbewulste, ein gewisses Raffınement nicht entbehrende Schilderung seines leidenden Zustandes die behandelnden Ärzte sowie den Obergutachter zu seinen Gunsten zu beeinflussen wulste, empfiehlt Ewald, den Angaben des interessierten Rentennachsuchers mit Vorsicht zu begegnen und sich keiner Beugung des Rechts schuldig zu machen. Erinnern wir noch daran, dafs Fälle beschrieben sind, bei denen die Entwicklung von Lungentuberkulose nicht durch die Verletzung eines bestimmten Körperbezirkes, sondern durch Schädigungen mehr universeller Natur, wie Überanstrengung, allgemeine Erschütterung des Körpers usw. Thiem (79) veranlafst wurde — Beobachtungen dieser Art sind von Für- bringer (70), Moser (29), Spelten (26) u. a. gemacht worden — 59 dürfte die wesentlichste hierhin gehörige Literatur Erwähnung gefunden haben. Im Anschlufs daran sei es gestattet, einige einschlägige Beiträge anzureihen, die der Verfasser dem liebenswürdigen Entgegenkommen der Herren Professoren Puppe und Hilbert- Königsberg i. Pr. sowie Regierungs- rat Dr. Smidt-Bremen verdankt. Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 37 Fall 1. [Auszug aus einer auf Veranlassung der nord-östlichen Eisen- und Stahl- Berufsgenossenschaft Sektion 4 zu E. von Herrn Medizinalrat Professor Dr. Puppe abgegebenen gutachtlichen Äufserung darüber, ob der Schlosser- lehrling Gustav Sch. zurzeit einer ärztlichen Behandlung bedürftig ist, be- jahenden Falles, welcher] — „Aus den Akten der Berufsgenossenschaft ereibt sich, dafs Sch. am 17. August 1904 etwa 5 m hoch von einem Turn- gerüst, das er reparieren sollte, heruntergefallen ist. Ein Augenzeuge war nicht zugegen. Der Meister B., welcher einige Minuten nach dem Unfalle die Unglückstelle betrat, fand den Sch. neben einer zerbrochenen und an der Erde liegenden Leiter stehen. Auf die Frage des Meisters, ob er sich Schaden getan habe, erklärte Sch., ihm fehle sonst nichts, es tue ihm der rechte Fuls etwas wehe, das sei aber nicht schlimm. DB. und Seh. haben dann noch weiter gearbeitet, und Sch. brachte noch ganz vergnügt seine Freude zum Ausdruck, dafs ihm weiter nichts passiert sei. Am 18. August kam Sch. in die Poliklinik des Krankenhauses der Barmherzigkeit. Er klagte über Schmerzen in der Lendengegend und sprach hinsichtlich des Ursprungs derselben von dem am Tage zuvor stattgehabten Unfalle. Es bestand mäfsige Druckempfindlichkeit der Lendengesend. Man nahm eine Kontusion derselben an, und Sch. erhielt entsprechende Ver- ordnungen. Sch. ist dann am 22. August in der medizinischen Universitätsklinik untersucht worden. Es ergab sich ein starker, gleichmäßiger Katarrh beider Lungen. Die Diagnose wurde auf Bronchialkatarrh gestellt,. dem Unfall wurde kein Gewicht beigelegt; in der Folge wurde eine Besserung des Katarıhs festgestellt. Am 31. August 1904 kam Sch. mit hohem Fieber in die Klinik, drei Tage vorher soll sich bei der Arbeit etwas Bluthusten eingestellt haben, der jedoch einen Tag vor der Aufnahme in die Klinik wieder verschwand. Die Untersuchung ergab eine geringe Dämpfung über der linken Lungen- spitze mit spärlichem kleinblasig klingendem Rasseln. Das Fieber verschwand bald, und nach drei Tagen wurde Sch. aus äulseren Gründen entlassen. Die Diagnose wurde auf Lungentuberkulose gestellt, und es wurde angenommen, 35 Bogusat, dals Sch., von dem ein Bruder wegen Lungen- und Kehlkopfschwindsucht in der Klinik behandelt worden war, insofern von dem Unfalle nachteilig betroffen worden sei, als eine bei ihm latente Tuberkulose durch den Unfall zum Ausbruch gekommen sei. Daraufhin ist Sch. die Unfallrente bewilligt worden, indem er für 100 % erwerbsbeschränkt erachtet wurde.“ Aus der am 14. April 1905 von Herrn Professor Dr. Puppe vor- genommenen Untersuchung des Sch. ist hervorzuheben: „Das Aussehen des Sch. ist ziemlich gut, leicht eyanotisch (blafsbläuliche Färbung der Lippen), die Muskulatur ist etwas abgemagert, immerhin aber doch leidlich kräftig, die Temperatur ist nicht erhöht; es besteht eine schwere Dämpfung über dem linken Oberlappen, die auch bei der Atmung zurückbleibt, mit sogen. amphorischem Atmen und klingendem Rasseln. In der rechten Lungenspitze ist eine leichte Dämpfung vorhanden, es finden sich wenig klangvolle Rasselgeräusche daselbst, eine leichte Dämpfung besteht auch in der rechten Seitenwand des Brustkorbes, Nebengeräusche sind daselbst nieht wahrnehmbar. Das Herz zeigt eine etwas beschleunigte Tätigkeit (108 in der Minute), der Spitzenstols ist innerhalb der Brustwarzenlinie sichtbar. Der Urin ist eoldgelb und enthält mittlere Mengen Eiweils. Nach alledem ist Sch. schwer lungenkrank, insbesondere ist der linke Oberlappen teils geschrumpft, teils höhlenartig entartet, indem der tuberkulöse Prozels zu sogenannten Cavernen in der Lunge geführt hat. Auch die rechte Lungenspitze ist, wenn auch weniger, von der Krankheit ergriffen. Ferner besteht eine Nierenentzündung mittleren Grades.“ Herr Professor Puppe empfahl der eingangs genannten Berufs- senossenschaft, dem Wunsche des Sch., in eine Lungen-Heilanstalt auf- genommen zu werden, näher zu treten. Die folgenden beiden Fälle sind wie (die bereits vordem unserer I. Gruppe angegliederten nach Krankengeschichten aus dem Archiv des Städtischen Krankenhauses zu Königsberg i. Pr. bearbeitet worden. Fall D. Arbeiter B., 21 Jahre alt, aufgenommen am 12. Januar 1906, will stets gesund gewesen sein. Vom 24. März bis 1. Mai 1905 wurde er in Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 39 dem Städtischen Krankenhause zu Königsberg i. Pr. wegen eines Unter- schenkelbruches behandelt. Seit sechs Wochen stellten sich bei ihm Husten und Auswurf ein, letzterer soll hin und. wieder blutig gefärbt gewesen sein; dabei will B. dem Gewichte nach erheblich abgenommen haben. Der am Tage der Einlieferung festgestellte Untersuchungsbefund er- gab in der Hauptsache: B. ist ein schlanker Mann, in dürftigem Ernährungs- zustande. Zunge ist feucht, nicht belegt. Über dem rechten oberen Lungen- lappen findet sich hinten eme deutliche Schallabschwächung, über beiden Spitzen hört man nach Hustenstöfsen vereinzelte klanglose Rasselgeräusche. Es besteht starker Husten, der reichlich schleimig- eitrigen Auswurf zutage fördert. Herzgrenzen normal, Herztöne rein. Nach einigen Tagen im Aus- wurf spärliche Tuberkelbazillen. Während der Behandlung, die in Tuberkulininjektion bestand, aber nach kurzer Zeit wegen ständigen hektischen Fiebers ausgesetzt werden mulste, veränderte sich das Zustandsbild der Lungen des Patienten bis zur Entlassung desselben am 29. März 1906, die gegen den ärztlichen Rat ge- wünscht wurde, folgendermafsen: Über dem rechten Oberlappen und den oberen Partien des rechten Unterlappens Dämpfung, über diesen Gebieten Bronchialatmen und zahlreiche, kleinblasige, klingende und klanglose Rassel- seräusche. In der linken Lungenspitze Bronchialatmen und Rasselgeräusche in mälsiger Zahl. Fall III. Hochseefischer S., 40 Jahre alt, aufgenommen am 9. Januar 1906, ist angeblich bis zu seinem Unfall, den er November 1903 erlitt, nie ernstlich krank gewesen. Er wurde auf See vom Sturm überrascht, bei dem Versuch, sich zu retten, will er sich so überanstrengt haben, dafs er Lungenbluten bekam, damals soll eine Gewebszerreifsung der Lunge in der rechten Spitze konstatiert worden sein. Das Lungenbluten soll sich mehrmals wiederholt haben, aufserdem hat Patient seit dem Unfalle über Reifsen im rechten Arm und rechten Bein zu klagen. Aus der am Tage der Aufnahme vorgenommenen Untersuchung ist hervorzuheben: Kräftiger Patient in gutem Ernährungszustande. Hautfarbe etwas blals. Rachenorgane ziemlich stark gerötet, bei Bewesungen im 40 Bogusat, rechten Knie und Hüftgelenk angeblich Schmerzen, kein Reiben, Gelenke frei. Brustkorb merklich falsfürmig, keine deutliche Schalldifferenz. In der linken Spitze, besonders von der Supraclavieulargrube aus gut hörbar, ver- einzelte kleinblasige, etwas klingende Rasselgeräusche, die nach Husten- stölsen reichlicher werden. Ein am 10. Januar 1906 gefärbtes Trockenpräparat von Blut ereibt normale Verhältnisse. Hämoglobingehalt = 100 % nach, Sahlı. Die diagnotische 'Tuberkulininjektion hat erst am 26. Januar 1906 in der Stärke von 0,01 Tub. Koch. Fieber (38,3°) im Gefolge. Bei der Entlassung am 10. Februar 1906 wurde hinsichtlich der Lungen in der Krankengeschichte vermerkt: In der linken Spitze sind jetzt noch ganz vereinzelte feuchte Rasselgeräusche besonders bei Auskulation über der oberen Clavieulargrube hörbar, keine Schalldifferenz, Auswurf war nie vorhanden. In dem für die Seeberufsgenossenschaft Hamburg am 11. Februar 1906 abgegebenen Gutachten wurde die Beschränkung der Erwerbsfähigkeit des S. in besonderer Berücksichtigung der Affektion der linken Lungenspitze auf 30 % geschätzt. Aus den Akten des Schiedsgerichts für Arbeiterversicherung zu Bremen sei noch folgende interessante Entscheidung referiert: Fall IV. Der Schmied Friedrich E. war am 13. Februar 1907, nachmittags von 4—7 Uhr in dem Betrieb der Hansamühle in B. zusammen mit dem Schlosser H. und unter Aufsicht des Maschinenmeisters L. damit beschäftigt, die in obigem Betriebe im Keller unter dem Maschinenraum befindliche Luft- pumpe auseinander zu nehmen. In dem bezeichneten Raume herrschte eine Temperatur von durchschnittlich 40° R. Während der Arbeit, die etwa drei Stunden dauerte, mulste E. wohl viermal aus der Werkstatt Hand- werkszeug und Material holen. Um zu der Werkstatt zu gelangen, durch- schritt E. die Maschinenstube und dann den freien Fabrikhof, der eine Länge von mindestens 100 m hat. Trotzdem es an dem Tage eisig kalt gewesen sein soll, schützte E. sich wegen der Eile nicht jedesmal durch wärmere Kleidung. Bereits nach Beendigung der Arbeit klagte E. über Der Einflu[s von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 41 Mattiekeit, am anderen Morgen über Erkältung, auch hustete er stark. Am zweiten Tage nach der betreffenden Arbeit — am Freitag — blieb er der Arbeitsstätte fern. Am Montag, den 18. Februar kam er wieder. Da er sehr schlecht aussah, wurde ihm von seinen Mitarbeitern geraten, zu Hause zu bleiben. Am Dienstag, den 19. Februar, nahm er denn auch die Arbeit nicht mehr auf und am 14. März 1907 ist er verstorben. Die von den Klägern erhobenen Entschädigungsansprüche wies die beklagte Berufsgenossenschaft durch Bescheid vom 29. Juni 1907 zurück, da der Tod des E. angeblich nieht auf einen im Betrieb der Hansamühle erlittenen Unfall zurückzuführen wäre. | In der gegen diesen Bescheid von den Klägern eingelegten Berufung wurde unter anderem ausgeführt, dafs der wegen eines tuberkulösen Leidens nicht so widerstandsfähige E. voraussichtlich noch lange seiner Arbeit hätte nachgehen können, wenn nicht am 13. Februar 1907 besondere Anforderungen an seine Widerstandsfähigkeit gestellt worden wären. Es handelte sich so- mit um einen Betriebsunfall. Die von den Ärzten Dr. Sch. (behandelnder Arzt des E.) und Dr. L. (Vertrauensarzt des Schiedsgerichts) m B. abgegebenen Gutachten nahmen vor allem Bezug darauf, dafs E. an einer chronischen Lungenkrankheit ge- litten, die seinen Körper im Laufe der Jahre geschwächt hätte; immerhin wäre E. nach Aussage der Witwe und einzelner seiner Mitarbeiter in den letzen 7—8 Jahren noch durchaus arbeitsfähig gewesen, er hustete wohl ab und zu, konnte aber die schwersten Arbeiten verrichten. Am 13. Februar 1907 mulfste er dann von 4—7 Uhr die eingangs geschilderte Arbeit in dem Keller unter dem Maschinenraum leisten; die Temperatur war hier sehr hoch +35’ R, während die Lufttemperatur im Mittel nur + 0,6°C betrug. Viermal mulste E. über den etwa 100 m langen Hof zur Werkstatt. Am Abend desselben Tages klagte er bereits über Mattigkeit, die Arbeit im Keller hätte ihn sehr mitgenommen. Am andern Morgen hustete und fröstelte er stark. Vom 20. Februar bis zu seinem Tode wurde E. sodann von Dr. Sch. wegen Bronchial- und Lungenkatarrhes behandelt, zu dem sich in der nächsten Zeit entzündliche Herde im Lungengewebe und eine Rippenfellentzündung gesellten. Dr. Sch. sprach sich auf Grund Beobachtungen in Übereinstimmung mit dem Vertrauensarzt des Schiedsgerichts, Dr. L., Noya Acta XCVII. Nr.8 6 42 Bogusat, dahin aus, dals die wesentlichsten Momente für die Entstehung der Er- krankung in der drei Stunden dauernden Arbeit bei der hohen Temperatur und in dem geschwächten Körperzustand des Erkrankten zu suchen wären. Das Schiedsgericht trat den Gutachten der Ärzte voll und sanz bei. Ein Rekurs der betroffenen Genossenschaft wurde von dem Reichsversicherungs- amt zurückgewiesen. Verzichten wir darauf den angeführten Fällen einen besonderen Kommentar hinzuzufügen, so können wir dazu übergehen, das eventuelle Abhängiekeitsverhältnis von peripheren Verletzungen und Lungentuberkulose etwas genauer zu analysieren. Lälst sich die Möglichkeit eines Zusammen- hanges beider Faktoren offenbar mit weit grölseren Schwierigkeiten in das Bereich der Wahrscheinlichkeit ziehen als bei zu den ersten beiden Gruppen gehörigen Fällen, so ist eine innere Beziehung oft nicht von der Hand zu weisen und bedarf bei Abgabe eines Urteils der Berücksichtigung. Folgen wir dem Gedankengange von Klebs (71), so dürfen wir annehmen, dafs die Lungen, indem sie von der ganzen Blutmasse immer wieder durehströmt werden und in ihren Capillargefäfsen die wechselndsten Verhältnisse der Stromgeschwindigkeit und des Blutdrucks besitzen, für die Implantation der im Blute zirkulierenden Organismen besonders günstige Verhältnisse dar- bieten. Erinnern wir uns ferner daran, dals wie Billroth in seiner chirur- gischen Pathologie und Therapie ganz allgemein sagt, eine unter dem Bilde der Caries ziemlich rasch verlaufende Tuberkelbildung in den Knochen, namentlich in den Hand- und Fulswurzelknochen vorkommt, und dafs dabei der Prozels niemals lokal beschränkt bleibt, so dals solche Kranke nicht selten an Lungen- oder Darmtuberkulose zu Grunde gehen. Erkennen wir schliefslich als ein Resultat praktischer Erfahrung an, dals eine Erschütterung des Lungengewebes genügt, um dieses unter anderem für eine tuberkulöse Infektion zu disponieren [Grashey (72)], indem bei einer nicht direkten Gewalteinwirkung meist immer — wenn auch in der Mehrzahl durch unsere Untersuchungsmethode nicht nachweisbare — Vor- sänge im Organismus anzunehmen sind [Köhler (46a)], welche in der Lunge den Boden schaffen sowohl zur Manifestierung einer latenten Tuberkulose wie auch zur Aufnahme für das tuberkulöse Virus überhaupt, dann dürfte sich ein Zusammenhang zwischen peripherem Trauma und Lungenschwind- Der Einflu(s von Verletzungen auf die Entwicklung der Lungentuberkulose. 45 sucht folgendermalsen konstruieren lassen: Infolge einer an beliebiger Stelle des Körpers gesetzten peripheren offenen oder subkutanen Verletzung wird — wenn wir mit Bezug auf die offene Verletzung von einer Infektion durch äulsere Einflüsse absehen — die Hülle eines an der betroffenen Stelle be- findlichen latenten Krankheitsherdes entweder direkt durch Zertrümmerung oder indirekt durch Entzündung zerstört; die Bazillen gelangen in die Blut- und Lymphbahnen, finden Eingang in die Lunge und können sich dort auf Grund der durch die Erschütterung bedingten Disposition des Ge- webes festsetzen und weiter entwickeln. Nehmen wir andererseits an, dafs infolge des Traumas eine Auswanderung der Bazillen aus einem an der Ver- letzungsstelle vorhandenen Herde nur in die nächste Umgebung des ge- schädigten Bezirkes stattfindet, dafs demnach die Lunge nicht infiziert wird, so besteht immer noch die Möglichkeit, dafs diese durch ihre von der Gewalteinwirkung herrührende Disposition, die durch Blutverlust, spätere Eiterung usw. eventuell gesteigert wird, an geeignetem Ort und im geeigneten Moment Bazillen aus der Luft aufnehmen kann, die dann sofort ihre ver- derbliche Wirkung entfalten. Es wird hier besonders solcher Fälle gedacht, bei denen sich nach radikaler operativer Entfernung namentlich tuberkulöser Gelenksabszesse nicht selten Lungentuberkulose einstellte; bisweilen mag dieselbe wohl auf dem soeben angedeuteten Wege zustande gekommen sein. Da heftige körperliche Überanstrengungen etwa in gleicher Weise zu bewerten sein dürften wie durch Traumen hervorgerufene Erschütterungen, so erübrigt sich hier wohl eime eingehendere Berücksichtigung derselben. Es bedarf gewifs keiner besonderen Betonung, dafs der Gerichtsarzt sich oft vor die schwierigsten Fragen gestellt sieht, wenn er in Fällen der zuletzt besprochenen Art eine gutachtliche Äußerung abgeben soll. Nicht der Kriminalprozels wird in dieser Hinsicht seine Sachverständigen- Tätigkeit besonders in Anspruch nehmen, in der Hauptsache wird es sich um Er- hebungen im Zivilprozefs und vor dem Unfallschiedsgericht handeln. Ent- scheidungen, wie sie bei Anwendung der Reichsgesetze betreffend Haftpflicht bei Tötungen und Verletzungen, Kranken-, Unfall-, Invaliditätsversicherung u.a. zu treffen sind, werden in solchen mehr als zweifelhaften Fällen von der Meinung des Gerichtsarztes abhängig gemacht werden. In höherem Maße wie sonst werden hier Vorsicht, Zurückhaltung und Skepsis am Platze 6*F 44 Bogusat, Der Einfluls von Verletzungen auf die Entwicklung usw. sein, um dem Gutachter unangenehme Weiterungen zu ersparen. Mit Vorteil wird er sich vielleicht gelegentlich der notwendigen Feststellungen daran erinnern, dals Bollinger (73) — zitiert nach Lacher — nach Malsgabe seiner Erfahrungen und Untersuchungen aufser der Familiendisposition und einer persönlichen des Individuums noch eine solche der Organe und zwar des ganzen Organs (Lymphdrüsen, Milz, seröse Häute, Lunge) und eine lokalisierte (Lungenspitze, basale Meningen, Schleimhaut des Kehlkopfes), ferner noch eine Disposition der Zellen (Endothelien, Wanderzellen usw.) an- nehmen zu müssen glaubt. Läfst sich ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht mit möglichster Wahrscheinlichkeit ermitteln, und kommt eine Strafverfolgung in Betracht, so "handle man gemäfs dem alten Spruch „In dubiis pro reo!“ Ebenso empfiehlt es sich dem Unfallschiedsgericht gegenüber, falls die angestellten Nachforschungen Ergebnisse von zweifel- haftem Wert zutage fördern, das Gutachten zugunsten des Rentenbewerbers zu gestalten, es wird damit nur ein ausgesprochener Wunsch des betreffenden Gesetzes erfüllt. Allerdings soll man auch hierin nicht zu weit gehen. Auf der Basis des mehr oder weniger feststehenden, objektiven Befundes müssen Rechtlichkeitsgefühl und Standesbewulstsein stets die richtigen Grenzen zu finden wissen, denn „der Arzt, der Möglichkeiten zu Wahrscheinlichkeiten macht, hat zwar dem einzelnen Rentennachsucher nicht zu seinem Recht freilich, aber doch zu seiner Rente verholfen, dem eigenen Stande hat er aber damit einen schlechten Dienst erwiesen und die Berufsgenossenschaft hat er sogar ungeheuer geschädigt, nicht allein durch die Auferlesung der Verpflichtung der Rentenauszahlung in dem einzelnen Falle, sondern nament- lich dadurch, dafs er einen Präzedenzfall geschaffen hat, der durch die Ent- scheidung des Reichsversicherungsamtes zum halben Gesetz erhoben worden ist“ [Ewald (69)]. 20. 21. Literaturverzeichnis. Schlockow-Roth-Leppmann. Der Kreisarzt. VI. Aufl. Berlin 1906. Strümpell. Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten. XVII. Aufl. Leipzig 1909. v. Hofmann-Kolisko. 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D: Frage nach der Ursache der Sommersterblichkeit der Säuglinge steht im Vordergrund des Interesses sowohl bei den Pädiatern wie bei den Hygienikern. Wenn schon die bisherigen Untersuchungen darüber mehr Lieht in das Dunkel gebracht und — besonders ein Verdienst Rietschels — von Irrwegen ablenkten, ist es zu einer befriedigenden Lösung der Frage bisher nicht gekommen. So dürfte jeder neue Beitrag zur Klärung dienen und daher willkommen sein. | Obwohl die Statistik zeigte, dafs trotz erschwerter Lebensbedingungen und der damit verbundenen schnelleren Abnutzung als Frucht sowohl der bewunderungswürdigen Fortschritte auf medizinischem Gebiete wie der damit zusammenhängenden gewaltigen Entwicklung der öffentlichen Gesundheits- pflege, die allgemeine Sterblichkeit sank, ergab sie, dafs von dieser Erscheinnng das Säuglingsalter nicht oder nur in sehr geringem Mafse betroffen war. Man hatte gefunden, dafs in Deutschland auf 1000 Lebendgeburten 275,5 Todesfälle im ersten Lebensjahre entfielen, und dafs annäherd 300000 Kinder im ersten Lebensjahre zu Grunde gingen. Angesichts dieser aufserordent- lichen Verluste an Volksvermögen und Volkskraft, die durch diese hohe Säuglingssterblichkeit hervorgerufen wurden, konnte es nicht Wunder nehmen, dafs sich nun die Aufmerksamkeit der weitesten Kreise auf diese Erscheinung lenkte, dals staatliche wie städtische Behörden, Vereine wie Wohlfahrts- einrichtungen gegen sie mobil machten, und namentlich auch der Arzt sich dieser brennenden Frage zuwandte, um mit der Erkennung der Ursache deren Folgen beseitigen zu helfen. Die näheren Nachforschungen ergaben nun zunächst. dafs die hohe Mortalitätsziffer im Säuglingsalter geknüpft war an Ernährungsstörungen, während andere Erkrankungen fast im gleichen Maflse wie bei den anderen Altersklassen als Todesursache zurücktraten, und zwar waren es besonders 1* 4 Kurt Jester, die in der heilsen Jahreszeit auftretenden Magen- und Darmstörungen, welche die Höhe der Mortalität bedingten. Es war nur natürlich, dafs für die Ernährungsstörungen auch eine ungeeignete Nahrung verantwortlich gemacht wurde. Dies umso mehr, als statistisch festgestellt war, dafs Hand in Hand mit der Zunahme der Säuglingssterblichkeit auch ein Rückgang der Er- nährung an der: Mutterbrust nachzuweisen war. So wurde als erste die Forderung aufgestellt, dafs der Säugling die ihm von Natur zugewiesene Nahrung, die Muttermilch erhielte. Nicht so körperlicher Unfähigkeit der Frauen als dem Mangel an Verständnis und an gutem Willen war die Abnahme des Stillgeschäftes zuzuschreiben. Diesem mangelndem Willen, diesem mangelndem Verständnis abzuhelfen, ist nun mit Wort und Schrift versucht worden, und sicher sind diese Ver- suche auch von Erfolg gewesen. Ich habe — wie wohl jeder Arzt — sowohl bei meiner Privatklientel die Erfahrung gemacht, dafs die Neigung der Mütter, ihre Kinder selbst zu stillen, ganz erheblich gröfser geworden, wie auch in der poliklinischen Praxis gesehen, dafs wohl infolge Belehrung, wie auch durch Gewährung von Stillprämien der natürlichen Ernährung weniger Widerstand entgegengebracht wird. Ein voller Erfolg dürfte aber auch hierin erst erreicht werden, wenn seitens aller Ärzte und seitens der Hebammen dieser Frage ein grölseres Interesse und grölsere Aufmerksamkeit zugewandt wird, wenn beide unter Klarlegung der gewaltigen Vorteile für Mutter und Kind energisch das Stillen verlangen, und, nachdem die Ein- willigung gegeben, durch die Schwierigkeiten und ein etwaiges Milslingen des ersten Versuches sich von weiteren nicht abhalten lassen. Die Erkenntnis, dafs die Darreichung von Muttermilch auf die Ver- minderung der Säuglingssterblichkeit von Einfluls sei, forderte nun auch naturgemäls zu eingehenden Untersuchungen der Frauenmilch heraus. Eine schier endlose Reihe wertvollster Arbeiten gibt über die chemische Zusammen- setzung, physikalische und biologische Eigenschaft der Frauenmilch Aufschluß. Hand in Hand damit ging die physiologisch-chemische Forschung auf dem Gebiete der Verdauung, die Aufklärung der Stoffwechselvorgänge, Unter- suchungen, die auch einen Einblick in den Unterschied der verschiedenen Wirkung der Frauen- und Kuhmilch gewinnen lies. Mag hier auch noch manches Problem ungelöst, manche Frage, die bei diesen Arbeiten auf- Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 5 getaucht, unbeantwortet sein, so viel steht fest, dafs — wie Heubner sagt, — „die einzige ihrem Zweck voll entsprechende, die einzige der Entstehung schwerer Verdauungskrankheiten sicher vorbeugende Ernährung des Säuglings diejenige an der Mutterbrust ist“. Nun hat und wird es leider immer einen grolsen Prozentsatz von Säuglingen geben, der infolge der körperlichen Unfähigkeit der Mutter und nochmehr infolge sozialer Verhältnisse der Wohltat der natürlichen Nahrung nicht teilhaftig werden kann. Für diesen bleibt als Ersatz so gut wie allein in Betracht kommend nur die Kuhmilch als Nahrungsmittel übrig. Auf Grund der Resultate der oben angedeuteten Untersuchungen hat man nun die aus der Kuhmilch — sei es durch einfachen Wasser- und Zuckerzusatz oder auf andere Weise (Eiweilsmilch, Buttermilch usw.) — gewonnene künstliche Nahrung dem jeweiligen Nahrungsbedarf des Säuglings und seinem Verdauungsmechanismus möglichst entsprechend hergestellt. Die Erfolge mit dieser Ernährungsweise sind recht gute; sie leistet, richtig angewandt, eigentlich alles, was man von einer künstlichen Nahrung er- warten kann. Und doch — auf die Herabsetzung der hohen Säuglings- sterblichkeit im Sommer hat sie keinen erheblichen Einflufs. Die Erfahrung, dafs die Mortalitätsziffer in den grofsen Städten, und hier wieder in den Proletarierbezirken am höchsten, wie die Erfahrung, dafs serade in den grolsen Städten die Milchversorgung überall Erhebliches zu wünschen übrig liefs, hatte die Vermutung nahegelegt, dafs zwischen diesen beiden Erscheinungen ein Zusammenhang bestände. Heubner und Biedert hatten schon lange die Forderung erhoben, dafs die Gemeinden ebenso wie für gutes Trinkwasser auch für gute Milch, besonders Säuglings- milch, zu sorgen hätten, ja dafs es ihre Pflicht wäre, ebenso Musterställe zu errichten, wie sie es für ihre Pflicht hielten, Schlachthäuser zu bauen. Diese Forderung ist nicht ungehört verhallt: überall sind dank vielfacher sanitärer Mafsnahmen, einer besseren Milchkontrolle, einer polizeilichen Überwachung der Verkaufstellen die Milchverhältnisse fraglos besser geworden. Hier in Königsberg, wo bis vor wenigen Jahren die Milch- versorzung sehr im Argen lag, sind ganz erheblich bessere Verhältnisse eingetreten. Freilich zur Errichtung von Musterställen haben sich nur verschwindend wenige Städte entschlossen. Es ist mir fraglich, ob diese 6 | Kurt Jester, Ferderung heute, wo, wie eben gesagt, die Milchversorgung schon so eine bessere geworden, und als Todesursache doch noch andere Momente als malsgebend angesehen werden, noch einen grolsen praktischen Wert hat, wenn man berücksichtigt, dafs diese Ställe, selbst wenn sie ohne Verdienst arbeiten, für einen Liter Milch etwa 60 Pfg. berechnen müssen, ein Preis, der gerade für den Teil der Bevölkerung, dem diese Milch am meisten zu gute kommen soll, unerschwinglich ist. Ob eine Kommune bei den immer schwieriger werdenden Etatsverhältnissen und bei der immer mehr an- gespannten Steuerkraft der Bürger heute imstande ist eine solche Milch ohne Entgeld abzugeben, ist mir zweifelhaft. Allerdings wird ja jetzt schon wohl in allen grofsen Städten einem Teil der ärmsten Bevölkerung aus städtischen (Armen-Direktion) oder privaten Mitteln — so ist es hier in Königsberg — gute andere Milch kostenlos geliefert. Abgesehen von diesen sanitären Ma/snahmen hat aber auch die Aufklärung der Milchproduzenten wie der auf sie ausgeübte Zwang des aufgeklärten, Milch kaufenden Publikums für eine Besserung der Milchverhältnisse gewirkt. Das Publikum, selbst der Proletarier kauft eben keine unsaubere und schlechte Milch mehr, für die er ebensoviel zahlen muls wie für gute. Von grofsem Einflufs ist hier auch die Belehrung der Ziehmütter durch die. Waisenpflegerinnen gewesen, die nicht nur auf eine geeignete Pflege der Ziehkinder hinwirken, sondern auch die Pflegemütter zwingen, bei jeder Erkrankung ihrer Pfleglinge den Arzt, hier gewöhnlich die Poli- kliniken aufzusuchen, wo sie nicht nur Behandlung ihrer Schutzbefohlenen, sondern auch Unterweisung über eine zweckmälsige Ernährung und Pflege erhalten. Das Ziehkinderwesen wurde in Königsberg im Jahre 1903 derart geregelt, dafs Damen der Stadt, die sich dazu bereit erklärt, auf unbestimmte Zeit ehrenamtlich angestellt wurden und nun die in Aussicht genommenen Pflegestellen zu begutachten und die gesundheitliche und sonstige Haltung der Ziehkinder bis zu deren Schulpflicht zu überwachen hatten. DBereit- willigst hatte sich. eine grofse Zahl in den Dienst der guten Sache gestellt. Aber der überaus grolse Widerstand, der ihnen zunächst von seiten der Pflegestellen entgegengebracht, ja die zuweilen recht ungezogene Behandlung, die ihnen dort widerfuhr, veranlalste einen grofsen Teil sich von dieser Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 7 Tätigkeit wieder zurückzuziehen. So stellte man im Jahre 1906 vier geeignete Damen gegen Besoldung an, denen lediglich die Kontrolle aller unehelichen Säuglinge, soweit sie nicht in öffentlichen Wohltätiskeitsanstalten untergebracht waren, oblag, während die über ein Jahr alten Kinder noch in der Fürsorge der ehrenamtlich angestellten Pflegerinnen verblieben. Auf Antrag dieser Damen wird nach polizeiärztlicher Untersuchung den Zieh- müttern, die ihren Pflegebefohlenen nicht die geeignete Behandlung und Pflege angedeihen und sich der monatlich stattfindenden Vorstellung der Kinder in den dazu bestimmten Polikliniken wiederholt entziehen, das weitere Halten von Ziehkindern polizeilich verboten. Während im Jahre 1903 bis Ende 1905 diese Vorstellung in der Kgl. Universitäts- Kinder-Poliklinik sehr unregelmäfsig und mangelhaft war, ist seit 1906 die Ziehkindersprechstunde von allen dazu bestimmten Kindern gut und ziemlich regelmäfsig besucht. Der Erfolg dieser Waisenpflege zeigte sich sofort darin, dals die Pflegemütter gezwungen wurden bei Erkrankungen von Säuglingen den Arzt aufzusuchen. In der Universitäts-Kinderpoliklinik verschob sich mit Eintritt der Waisenpflege sofort der Prozentsatz der behandelten ehelichen und unehelichen Kinder. Während im Jahre 1900, — also vor Einführung der Waisenpflege — 79,75 °/ eheliche und 20,25 °/ uneheliche Kinder an Verdauungsstörung behandelt wurden, waren es im Jahre 1903 78,44 % eheliche und 21,56 °/ und 1906 59,10 °% eheliche und 40,90 °/o uneheliche. Noch deutlicher lehrt aber den segensreichen Einflufs dieser Einrichtung nachfolgende Tabelle, die die Geburts- und Sterbeziffern der ehelichen und unehelichen Säuglinge in den betreffenden Jahren vergleicht. Diese Tabelle zeigt übrigens auch, dafs hier wenigstens an Verdauungsstörungen in allen vier Jahren relativ mehr uneheliche als eheliche zu Grunde gehen. Es starben an Verdauungsstörungen: Im Jahre 1900 von 4865 lebendgeborenen ehel. Säuglingen 474 — 9,74%), B928 a unehel. “ 199 = 21,44), 111903 ,04729 a ehel. F 457 —= 9,66 373 E unehel. 2 172 — 19,729), a 5119065091 n ehel. m 391’ — 6,87%, O6 n unehel. n 168 —= 15,19 0%), OT 5548 ” ehel. n 331.— 5,96.) KO) 5 unehel. 4 134 — 11,34 P),. 8 Kurt Jester, Der grofse Zuwachs an Lebendgeburten im Jahre 1906 erklärt sich durch die in diesem Jahre erfolgte Eingemeindung der Vororte. Die Ein- gemeindung der Vororte, in denen zum Teil die Wohnungsverhältnisse besser und die Lebensbedingungen der Bevölkerung günstiger sind, erklärt auch den verhältnismäßig grolsen Sprung in der Abnahme der Mortalität. Die Tabelle zeigt aber einmal dank der oben erwähnten Mafsnahmen und Einriehtungen, die ja unehelichen und ehelichen Kindern gleichmälsigs zu gute kommen, und wohl auch dank der erheblich gebesserten sozialen Verhältnisse der Arbeiterbevölkerung ein stetiges Zurückgehen der Säuglings- sterblichkeit an Verdauungsstörungen und zweitens dank der erfolgreichen Waisenpflege ein stetiges Abnehmen der Differenz zwischen den Prozent- sätzen der Sterblichkeit der ehelichen und unehelichen Kinder. Man könnte den Einwurf machen, dafs die Abnahme der Säuglings- sterblichkeit bedingt sein kann durch einen niedrigeren Stand der Temperatur in der heifsen Jahreszeit und daher ein Beweis für die Abnahme nur unter vergleichender Berücksichtigung der 'T'emperaturverhältnisse der vier Jahre erbracht werden kann. Mir sind leider für die Jahre 1900, 1903 und 1906 nur die Aufzeichnungen der mittleren Monatsextreme der Lufttemperatur zur Hand, ich glaube aber, dals sie für die vorliegende Feststellung genügen. Wenn man für die Zeit Mai-September der einzelnen Jahre den Durch- schnitt der für Königsberg angegebenen Temperaturextreme berechnet, so ergibt sich: für 1900 ein Temperaturextrem von 20,78—10,1° C nee R „ 20,05 —11,20 „ ” 1906 ” ” ” 20,50— 11,20 ” n 1911 ” ” ” 21,2 = 10,020 n Ein Vergleich der Jahre 1900—1903 zeist nun eine Abnahme der Temperatur. Es läge hier also die Möglichkeit vor, dafs die Abnahme der- Sterblichkeit durch die Abnahme der hohen Temmperatur bedingt wäre. Eine Gegenüberstellung des Jahres 1903 mit dem Jahre 1906 und des Jahres 1906 mit dem Jahre 1911 zeigt aber ein zunehmendes Steigen der Temperatur. Wenn nun trotzdem unter Berücksichtigung der Zahlenangabe für die Lebendgeburten — wie oben gezeigt — die Sterblichkeit geringer Nova Acta Acad. C. L. C. G. Nat. Our. Vol. XOVIIL Nr. 9. Tafel 1. Sterblichkeitskurven für die Jahre 1900, 1905, 1906, 1911. Sterbefälle | Jan. | Febr. | März Oktbr. |Novbr.|Dezbr. Curve für 90 __——IN_— „ EL a K. Jester: Sommersterblichkeit der Säuglinge. Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 5) geworden, so ist damit auch erwiesen, dafs in Königsberg in den letzten Jahren nicht nur die Säuglingssterblichkeit an Verdauungsstörungen im allgemeinen sondern auch die Sommersterblichkeit der Säuglinge ab- genommen hat. Die überaus hohen Mortalitätsziffern besonders in den Monaten Juli, August, September aller vier Jahre, auch in dem in dieser Beziehung günstigstem Jahre 1911, zeigen auch für Königsberg — wie ats bei- stehenden Kurven (Taf. 1) ersichtlich 2 dals die Sterblichkeit des ganzen Jahres beeinflufst wird von der Sterblichkeit der heifsen Jahreszeit und weisen zweifellos darauf hin, dals die erhöhte Temperatur die hohe Säuglingssterblichkeit bedingt. Es ist nun die Frage, in welcher Weise die Hitze auf die Sterblich- keit Einflulfs hat. Man hatte die Erfahrung gemacht, dafs die künstlich ernährten Kinder den größten Prozentsatz der Sterbefälle in der heilsen Jahreszeit- für sich in Anspruch nehmen, eine Erfahrung, die natürlich auch in Königsberg ihre Bestätigung findet. So starben im Jahre 1911 an Verdauungsstörungen: Im Mai mit natürlicher Nahrung ernährte 6,67 0/5 „ gemischter (Brust und Flasche) 23,33 %/, „ nur künstlicher 70,00 0/9 Juni „ natürlicher Nahrung ernährte 9,75 0/0 „ gemischter (Brust und Flasche) 24,40 %/, „ nur künstlicher 65,85 %/, runler „ natürlicher Nahrung ernährte 4,16 9), „ gemischter (Brust und Flasche) 22,92 0), „ Dur künstlicher 72,92 0%), August „ natürlicher Nahrung ernährte 5,21% „ gemischter (Brust und Flasche) 31,35 %/, „ nur künstlicher 63,54 0), „ September ,„ natürlicher Nahrung ernährte 7,13 0%, „ gemischter (Brust und Flasche) 18,57 0, „ nur künstlicher 74,3 9%, Diese Erfahrung forderte nun geradezu die Folgerung heraus, dafs die Hitze einen schädisenden Eintluls auf die Nahrung ausübe; und diese Folgerung erschien umso wahrscheinlicher, als ja die die natürlich ernährten Kinder ebenso der Hitze ausgesetzt sind, wie die künstlich ernährten. So Nova Acta XCVII.. Nr. 9. 2 10 Kurt Jester, gewann die Vorstellung immer mehr Boden, dafs analog der Vergiftung anderer Nahrungsmittel bakterielle Verunreinigung und dadurch bedingte Zersetzung der Milch die Hauptursache der Sommersterblichkeit der Säuglinge wäre. Fine Vorstellung, die in Deutschland nur in Meinert- Dresden ihren hartnäckigen Gegner fand, und die auch heute noch sowohl unter den Pädiatern wie unter den Hygienikern eine überwiegende Anzahl Freunde zählt. Man hatte erkannt, dafs der Milch zugesetzte Mikroben sich in kurzer Zeit, besonders in der Wärme zu grolsen Mengen vermehren. Die Gelegenheit zu bakteriellen Verunreinigungen in der Kuhmilch war beim Melken in den Ställen, beim 'Transport, in den Verkaufsstellen und last not least in der Wohnung der Konsumenten reichlich gegeben, und die Hitze tat das ihrige zur Vermehrung dieser Bakterien. So glaubte man den Schlüssel zu dem Problem gefunden zu haben und begrüfste mit Freuden die geniale Erfindung Soxhlets, die in einfacher Weise ein Sterilisieren der Milch und ein Abtöten der hineingelangten Bakterien ermöglichte. Aber der erwartete Erfolg trat nicht ein, die hohe Säuglingssterblichkeit im Sommer blieb bestehen. Sicherlich hat diese Erfindung auf die Erkrankung an Verdauungsstörungen einen günstigen Einfluls gehabt, um so mehr als sie im Laufe der Jahre Gemeingut des srolsen Publikums geworden, aber es dürfte heute kaum eineh geben, der durch sie eine Herabsetzung der Sommersterblichkeit erwartet. Man ging nun weiter und sprach nicht die Bakterien selbst, sondern die durch sie verursachte Zersetzung der Kuhmilch als die eigentliche Ursache der Sterblichkeit an. Es ist das Verdienst Flügges und seiner Schüler eine Reihe peptonisierender Bakterien in der Milch nachgewiesen zu haben, die eine Giftwirkung hervorrufen sollten. Doch ist weder von ihm noch von seinen Schülern diese Giftwirkung wenigstens am Menschen erwiesen, und es ist überdies von Czerny und Keller darauf aufmerksam gemacht, dals die beim akuten Brechdurchfall vorhandene Säurebildung im Darm eine Vermehrung und weitere Lebensfähigkeit dieser peptonisierenden Bakterien nicht zuläfst. Abgesehen davon mulste Flügge selbst zugeben, dafs ein Kochen der Milch die Schädlichkeit dieser Bakterien auch bei seinen 'Tierversuchen aufhob. Endlich weilst Rietschel treffend darauf Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 11 hin, dafs die Molkereiprodukte (Käse, Buttermilch), deren Entstehen ohne peptonisierende und säurebildende Bakterien nicht möglich ist, von Er- wachsenen wie Kindern ohne Schaden genossen werden, dafs man Säuglingen ohne Nachteil saure Milch geben kann, ja das Buttermilchpräparate gerade bei verdauungsschwachen Säuglingen als vorzügliches Nährmittel empfohlen werden. Diese Tatsachen widersprechen aber auch der Czerny-Kellerschen Theorie von der Schädlichkeit der säurebildenden Bakterien. Es fällt keinem ein, die Schädlichkeit der Säurebildung zu leugnen, aber wie schon Heubner betont und neuere Versuche von Barth, Edelstein, Langstein und Welde') gezeigt haben, ist es die endogene, im Magen - Darmtraktus entstehende Säurebildung, die die Schädigung hervorruft. Veranlalst durch die Mitteilung Escherichs,’) der zuerst das Vorkommen von Streptococcen beim Säugling im Darm wie auch ım Blut und anderen Organen nachwies, und durch die Annahme seiner Schüler, dafs dieser Streptococcen -Befund für den Sommerbrechdurch- fall von Bedeutung sei, wandte sich nun die Aufmerksamkeit den Streptocoecen zu. Tatsächlich gelang es einer Reihe von Untersuchern in der Marktmilch recht häufig Streptocoecen zu finden und ihre Vermehrung bei hohen Temperaturen nachzuweisen. Hauptsächlich war es Petruschky,’) der das häufige Vorkommen der Streptococceen durch das häufige Vor- handensein chronischer, sonst keine Erscheinung machender Mastitiden bei den Milchkühen erklärte, und der nun die Streptococcen in erster Linie für die Sommersterblichkeit der Säuglinge verantwortlich machte und in ihrer Beseitigung die Lösung des Problems erblickt. Seine Ansicht ist nicht nur von Kinderärzten sondern auch von seinen Fachkollegen unwider- sprochen geblieben. Zunächt besteht die Tatsache, daß auch die Streptococcen durch das Abkochen der Milch vernichtet werden. Wenn also ihre Anwesenheit einen wesentlichen Einfluls auf die Sterblichkeit oder auf Erkrankungen im Sommer auszuüben imstande gewesen, hätte die jetzt in jedem Haushalt übliche sofortige Abkochung der Milch eine ganz erhebliche Herabsetzung der Sterbefälle im Sommer zur Folge haben müssen. Es mulste nun wieder 1) Zeitschrift für Kinderheilkunde Bd. I. H.2. ‘ 2) Jahrbuch für Kinderheilkunde, Bd. 49, 8. 137. 3) Verhandlungen der Gesellschaft für Kinderheilkunde 1910, 8. 256. I* 12 Kurt Jester, die Annahme herhalten, dafs die durch die Streptocoecen bewirkte Zersetzung der Milch giftwirkende Eigenschaften habe, dafs man zwar durch das Abkochen eine Infektion, nicht aber eine Intoxikation verhüten kann. Die Streptococeenleiber lieferten nach Petruschky Toxine, die hitzbeständig seien und deren Giftiskeit daher durch das Kochen nicht aufgehoben würde. Ein Beweis für die Richtigkeit dieser Annahme ist nicht erbracht worden. Dafs er bei seinen Versuchen sowohl bei Tieren wie beim Menschen durch eine subkutane Injektion von Streptococcentoxinen lokale Entzündungen und bei grölseren Dosen auch Schüttelfrost und relativ hohe "Temperatur- steigerungen hervorrufen konnte, beweist nicht, dafs diese Erscheinung durch die Toxine hervorgerufen war. Dasselbe gilt von den Beobachtungen Prof. Schneiders, der abgekochte Milch zu Ernährungszwecken subkutan injizierte und an den Injektionsstellen Entzündungen auftreten sah, Be- obachtungen, die Petruschky als Beweis für das Vorhandensein der Streptococcentoxine anführt. Wir wissen doch, dafs auch andere Stoffe, die bestimmt keine Tooxine enthalten, subkutan injiziert Entzündungserscheinungen machen. Die Versuche Petruschkys sind daher weder ein Beweis dafür, dals in seinen aus Streptococcen-Bouillonkulturen hergestellten Präparaten Toxine vorhanden sind, noch dafür, dals diese Toxine — wenn sie vorhanden — an den Entzündungserscheinungen schuldig sind. Seiner Berufung auf die Streptocoeeen-Enteritis Escherichs mu[s man entgegen halten, dafs diese Streptococcen-Enteritis eine physiologisch und klinisch ganz andere Erkrankung ist als die hier in Frage stehende Sommerdiarrhoe. Nun haben vor allem neue Untersuchungen, zuletzt noch von Puppel') ergeben, dafs die von dem an Mastitis erkrankt oder erkrankt gewesenen Kuheuter stammenden, von Petruschky als Streptococcen gedeuteten Bakterien ganz harmloser Natur sind und ihnen daher irgend welche krank machende Eigenschaften nicht zugeschrieben werden können. Es soll ohne weiteres zugestanden werden, dafs infolge einer floriden Mastitis mal wirkliche Eiterkokken der Milch beigemengt werden können. Häufig wird das nicht der Fall sein, denn jeder Herdenbesitzer wird die Kuh, deren Milch mit Eiter vermischt ist, schon wegen der Gefahr der 1) Verhandlungen der Gesellschaft für Kinderheilkunde, Königsberg 1910, 8. 272. Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 13 Infektion des ganzen Viehbestandes von den anderen absondern. Ob im übrigen das Vorhandensein von Eiterkokken in der Milch für den Säugling so gefährlich ist, ist noch fraglich. Die Erfahrung bei der menschlichen Mastitis lehrt eigentlich das Gegenteil. Ich habe noch niemals einen Nachteil für einen Säugling gesehen, der von einer an Mastitis erkrankten Brust getrunken; ich habe mich daher auch nie veranlafst gesehen, den Säugling deswegen absetzen zu lassen, wenn nicht übergroße Schmerz- haftigkeit für die Mutter oder eine Ineision mieh dazu zwangen. Ebenso berichtet Rietschel von einem Fall, in dem das Kind an einer an Mastitis erkrankten Brust trank, die mit der Milch reinen Eiter sezernierte. Obwohl das Kind hier mit jedem Schluck Milliarden von Eiterkokken zu sich nahm, gedieh es vorzüglich. Wenn wir nun aber auch nach den vorangegangenen Erwägungen unter gewöhnlichen Verhältnissen jede Giftwirkung von spontan in der Milch vorkommenden Bakterien, die einen Durchfall beim Säugling auslöst, ablehnen müssen, besteht doch selbstverständlich kein Zweifel, dafs gelegent- lich unter besonderen Verhältnissen von diesen Saprophyten krankmachende Veränderungen in der Milch hervorgerufen, wie dafs auch durch ubiquitäre patogene Mikroorganismen krankheiterregende Zersetzungen in der Milch verursacht werden können. Es sind auch wirklich einige Endemien, die durch bakterielle Milchvergiftungen hervorgerufen, beobachtet worden, aber ' diese Erkrankungen verlaufen unter demselben Bilde wie die anderen Nahrungsmittelvergiftungen, von denen Kinder wie Erwachsene geschädigt werden; sie zeigen einen ganz anderen Charakter als die Sommerbrech- durchfälle. Es ist eine unbestrittene Tatsache, dals vom Sommerbrechdurchfall auch Kinder befallen werden, deren Milchnahrung aus einwandfreier Quelle stammt und zudem noch gut sterilisiert ist, wo also eine Zersetzung der Milch durch peptonisierende Bakterien oder durch die Petruschkyschen Streptococcen ausgeschlossen ist. Wie läfst sich nun diese "Tatsache. mit der Zersetzungstheorie in Einklang bringen ? Die Anhänger dieser Theorie, in neuerer Zeit besonders Willim, behaupten, dafs auch ursprünglich gute und einwandfreie Milch unter dem Einflufs großer Hitze besonders in den ungünstigen Proleterierwohnungen 1A Kurt Jester, leide, dals sie hier noch bakteriell verunreinigt würde, und diese bakterielle Verunreinigung nun infolge der grolsen Hitze zur schnellen giftigen Zer- setzung führe. Vergegenwärtigen wir uns doch einmal, wie denn die Verhältnisse im Haushalt, besonders auch im Proletarierhaushalt liegen. Zunächst kommt es kaum vor, dafs jemand dem Säugling unaufgekochte Milch gibt. Auch in jedem Proletarierhaushalt ist der Nutzen und die Wichtigkeit der sofortigen Abkochung der Milch so bekannt, dals das sofortige Aufkochen derselben und in den allermeisten Fällen auch das kühle Aufbewahren gang und gäbe ist. Was passiert nun, wenn die eingekaufte Milch nicht mehr ganz frisch war, was man ihr ja nicht ansehen kann, oder wenn die Milch nicht gleich aufgekocht oder endlich nicht kühl aufbewahrt wird? Die nicht frische, rohe Milch gerinnt beim Kochen, wie das jeder in seinem eigenen Haushalt besonders bei Gewitter- luft erfahren kann, und zeigt einen säuerlichen Geruch und Geschmack ; die aufgekochte, aber nicht kühl oder in nicht ganz sauberem Gefäls auf- bewahrte Milch wird bei grolser Hitze ebenfalls sauer. Das hervorstechende Merkmal der Einwirkung der Hitze auf die Milch ist also das Sauerwerden. Das jemand einem Säugling Milch geben wird, die schon eine durch den Geruch wahrnehmbare erhebliche Säurebildung verrät, ist nicht anzunehmen und gehört sicher zu den Ausnalmen. Wer nicht in der Lage ist, sich neue Milch zu kaufen, hilft sich durch Tee, oder durch eine Schleim- abkochung, die hier in Königsberg bei der Säuglingsernährung eine sehr grolse Rolle spielt. Wir haben aber auch feststellen können, dals eine mälsig sauere Milch dem Säugling nichts schadet, dafs die Säurebildung das Anwachsen und die Lebensfähigkeit der meisten patogenen Mikro- organismen verhindert. Nach diesen Erwägungen bliebe also für die Erklärung der Säuglings- sterblichkeit durch die Zersetzungstheorie nur noch eine Giftwirkung der wenigen Spaltpilze übrig, die für saure Reaktion unempfänglich sind. Wir müssen uns also vorstellen, dafs die Bakterien nach dem Abkochen .der Milch etwa durch Kontaktwirkung in dieselbe hineinkämen und nun inner- halb weniger als 24 Stunden infolge der hohen Wohnungstemperatur sich stark vermehrten und giftige Zersetzungen der Milch bewirkten. Vergleichen wir die Innentemperatur einer Proletarierwohnung in der heifsen Jahreszeit 29 | } } Juli August September 15 20 25 a1 6 10 15 20 20 1 + 1 + —- Fr _— i {HH ji I 1 | + En jnjejnjmje] l Annmunı jan aim! | j T ] . l | } ® N Ei | « I] T a 1 2 \ je, r Er 1 I “ Prolak : nn EBZERLER! | \ a EN mE u 3 Bu r ’ ] 18 u ° T ai 1 | N SE|IENRnnBE mum | ® 1 — } r I 1 '\ eiate Eheiaı 4 ern N = u DB T ICE -. K2 "Hr ei « aaa ee mE 4 r T 4 4 i 1 i aa mn ] De jafzlaleı Fin jajajejsinjajaetepnlit | | Fr mE am # E FF | PEErEFH 1 | BEI N I] | I] FEFEFREFEFFEFFEFEREE SEES EFF Ihkeit der Säuglinge. } Nova Acta Acad. C. L. C. G@. Nat. Cur. Vol. XOVIL. Nr. 9. Tafel 11. Mai Juni Juli August September A 5 an 18 20 zuB: ER 5 — T In 20 25 aan Ir 10 7 u 20 ei a 5 u. n Pi ii 25 Ei 5 10 15 . T in — | HEBERERR EHEHEEEEH | 30 - [ ae i [ TErTHSEeeerT 1 EIRIEIRIEN DaB H FH [1 Y EErH Im 1 Imi a BE ne 25 41477 FH FH EEEEEREEEF Haren Fi \ i i ! IT Frl n 20 T u 1 t t It 1 t 5 \ H } - | [1 Temperatur- ,, 1 LH 1 Id BRı F \ [1 maximum D Fanalner 1 l4 Di £ = aut EA PRESRREFRAFERRHEFEEHEFEEHN Ren 5 E Mittlere BR Pre 11 BöB as Fe ni BEnBIl | | Rs h ao = Q De I wi z rt ER BU rn - 7 fee Tagestemperatur SH Er : E Eh Uraan SBEBEN\BESEGSANBER,, SEE IH H EEEFRE Sunranil Far InBLNE t Bi Temperatur- „ 3 ad D Ei \ H h A N PEHHH 3 minimum A J EI % en T 1 T D A F = Et ') H ANCH N reteta [-A-teis CH EROHHE Sterblichkeitskuve Era SEECuG SUALGEERSEORLAUNE Bus E Y eu PN I SIRCEN! ae DB an Verdauungs- 1 lie FEEH AAN 1 [} 1 gi krankheiten H et Bı T Beteiligung Bi! £ + ai u HH Bun! EF-H der Broskinder es — EHEFEBELELECHEFEBE 80 Li p 1 1 =) t Hr Tagesmittel der 2° H 1 EBzaBa: = = \J relativen Luft- 3% u H - fenchtigkeit 20H LEE i H FE-rH EEEFETEH FH = 10 mi LEFEH | F elselejefejelejejelefe]; K. Jester: Sommersterblichkeit der Säuglinge. Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 15 mit der während des Winters, so finden wir nach den Messungen Rietschels') dals am Tage die Wohnungstemperaturen im Sommer nur um ganz wenige Grade höher sind als im Winter, dafs auch im ‚Winter 24—26° C zu be- obachten sind. Wer an eine bakterielle Schädigung der Milch infolge hoher Wohnungstemperaturen glaubt, der muls sie logischerweise für eine Temperatur von 24—26° ebenso gelten lassen wie für eine Temperatur von 26—30°, er kann höchstens die eine Milch für weniger, die andere für mehr giftig bezeichnen. Dann ist aber auch diese Hypothese für die Erklärung der Sommersterbllichkeit nicht brauchbar. Man mufs sich doch schlielslich sagen, dafs ein Gift seine Wirkung auf alle ausübt, die es genielsen. Sehen wir mal vom Erwachsenen ganz ab, der ja gegen diese Giftwirkung unempfindlicher sein könnte, so ist es doch aber unhaltbar anzunehmen, dals das Gift auf Kinder bis zu einem Jahre wirkt, während auf Kinder von ein bis zwei Jahren seine Wirkung ausbliebe. Wenn endlich durch hohe Temperaturen bedingte bakterielle Zer- setzungen der Milch die Ursache für die Säuglingssterblichkeit wären, so mu[s man doch unzweifelhaft annehmen, dafs die Sterblichkeitshäufigkeit der Brustkinder, bei deren Nahrung von bakterieller Zersetzung doch nicht die Rede sein kann, in der heilsen Zeit keine grölsere wäre, als in der kühleren, dals an eine durch die Hitze und die dadurch bedingte Milch- zersetzung erklärliche Anhäufung der Sterblichkeit der Säuglinge die Brust- kinder nicht oder unregelmälsig teilnehmen, kurz, dals irgend ein Einflufs hoher Temperatursteigerungen auf die Sterblichkeit der Brustkinder nicht zu bemerken wäre. Dem ist aber nicht so. So weist Engel-Bey für Kairo, wo alle Säuglinge nur Brustmilch erhalten, nach, dafs auch hier die Säuglingssterblichkeit im Sommer einen Anstieg erfährt. Beobachten wir die Kurventafel 2, in der die Todesfälle der Brustkinder mit einem + bezeichnet sind, so sehen wir auf den ersten Blick, dafs die meisten Toodes- fälle auf die Monate August und September fallen, in denen auch, wie die Sterblichkeitskurve zeigt, die Mortalität an Verdauungsstörungen überhaupt am grölsten war. Bei genauerem Zusehen finden wir einen Todesfall eines Brustkindes (mit Ausnahme des 1. Mai und 9. Juni) immer verzeichnet, 1) Ergebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde Bd. VI. 16 Kurt Jester, wenn die Sterbliehkeitskurve einen Gipfel erklimmt resp. die Kurve, welche die Temparaturmaxima angibt, einen grolsen Anstieg macht. Die Ausnahme, welche der 1. Mai und 9. Juni in dieser Beziehung zeigen, kann durch die Wirkung anderer Hilfsursachen erklärt werden und vermag die ganze Über- einstimmung nicht zu stören. Gauz besonders auffallend ist die Über- einstimmung am 13. Mai, am 3. und 5. Juni, am 16. und 29. Juli, am 13., 16. und 29. August und am 15. (hier Temperaturgipfel) und 16. September, wo immer der T'od eines Brustkindes m:t dem Sterblichkeits- und Tlemperatur- maximum zusammenfäll.e Nun ist mein Material in dieser Beziehung nur klein und es wäre wünschenswert, wenn die Beteiligung der Brustkinder an den Sterblichkeitsziffern der einzelnen Tage an viel gröfserem Material demonstriert würde. Ich glaube aber, dafs die auffallende, fast gesetzmälsige Übereinstimmung zwischen der Sterblichkeit der künstlich und natürlich ernährten Säuglinge einerseits und zwischen der Säuglingssterblichkeit und den hohen Temperaturen andererseits gerade bei dem kleinen Material auch ein Beweis dafür ist, daß die hohe Sterblichkeit der Säuglinge nicht ver- ursacht sein kann durch eine unter dem Einflufs der Hitze bakteriell zersetzte Nahrung, sondern durch die Einwirkung der Hitze auf den Säugling selbst. Wie will man ferner das zeitige Zusammenfallen der Sterblichkeits- sipfel und der Temperaturgipfel mit der Vergiftungshypothese erklären? Es mülste sich die Zersetzung der Milch, die dadurch verursachte Erkrankung des Säuglings und der Krankheitsverlauf bis zum Tode in wenigen Stunden abspielen, die Milch also von einer Giftigkeit sein, wie sie sonst bei organischen Giften nicht bekannt ist. Eine solche Annahme ist aber sicher nicht zulässig. In der Tat findet denn auch alles, was uns bei Annahme der Milch- vergiftung als Ursache der Sommersterblichkeit unverständlich war, eine einfache Erklärung, wenn wir als Todesursache einen direkten Einfluls der Hitze auf den Säugling annehmen. Auf der Kurventafel (Taf. 2) gibt von unten nach oben gerechnet für die einzelnen Tage vom 1. Mai bis 30. September 1911 die oberste Kurve die Temperaturmaxima, die zweite die mittlere T’agestemperatur, die dritte die Temperaturminima und die unterste die Säuglingssterblichkeit für Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 17 Königsberg an. Das meterologische und statistische Material ist mir in liebenswürdiser und dankenswerter. Weise von Herrn Prof. Kienast und Herrn Dr. Neuhaus zur Verfügung gestellt. Vergleichen wir nun das Verhalten der einzelnen Kurven zueinander, so sehen wir sofort, dals zwischen allen vieren ein gewisser Parallelismus besteht, der besonders auffallend ist an den durch vertikale Striche bezeich- neten Stellen. Die Kurve, welche die Temperaturmaxima angibt, und die, welche die mittlere Tagestemperatur bezeichnet, zeigen die genaueste UÜberein- stimmung. Mit Ausnahme von zehn Tagen, in denen eine gewisse Ab- weichung nach oben oder unten zu bemerken ist, fällt ein Ansteigen oder Abfallen in der einen regelmäfsic mit einem Ansteigen oder Abfallen der anderen zusammen. Beide stellen dieselbe Figur dar, die nur bei der die Tagesmittel darstellenden Kurve etwas kleiner ist. Die Übereinstimmung ist ja natürlich, weil das Temparaturmaximum einen Einflu(s auf die mittlere Tagestemperatur haben muß. Ich habe die Temperaturmaxima — die ja im Sommer, wie die Thermographenkurve zeist, immer auf den Tag und zwar in die Mittagszeit fallen — aufgezeichnet, um zu sehen, ob etwa das Temperaturmaximum einen ganz besonderen Einflußs auf die Sterblichkeit erkennen läfst. Das ist bei der kleinen Mortalitätsziffer in Königsberg nicht der Fall. Ich kann mir aber sehr wohl denken, dafs z. B. in Berlin, wo Finkelstein!') Hitzschläge bei Säuglingen beobachtet hat, ein besonderer Einfluls des Temperaturmaximums ersichtlich ist. Vergleichen wir nun die beiden mittleren Kurven miteinander, also die, welche die Tagesmittel, und die, welche die Temperaturminima — die im Sommer nach der Thermographenkurve immer in die Nacht fallen — angibt, so finden wir bei genauer Analyse eine Ähnlichkeit auch hier. Die Minimumkurve folgt im grofsen ganzen der Bewegung der anderen, nur dafs die Linie etwas zackiger ist. Ein Vergleich endlich der T’emperaturkurve mit der Sterblichkeits- kurve zeigt zunächst ganz auffallend die Übereinstimmung zwischen Höhe der Sterblichkeit und Höhe der "Temperatur. Wir sehen, wie jedesmal bei 1) Deutsche medizin. Wochenschrift 1909, Nr. 32. Nova Acta XCVII. Nr. 9. wo 18 Kurt Jester, beträchtlichem Steigen der Temperatur die Wellen der Sterblichkeitskurve srölser werden, wir sehen, wie mit dem anhaltenden Entfernen der Temparatur-Maximakurve (Ende Juli — Mitte September) über den 25. C ein anhaltendes Entfernen der Sterblichkeitskurve von der Nullinie eintritt, wir sehen schliefslich die Sterblichkeitskurve ganz besonders hohe Gipfel aufweisen, wenn diese in der T’emperaturkurve zu bemerken sind. Von Seibert wird darauf hingewiesen, dafs ein hohes Wärme- minimum besonders deletär auf die Säuglinge einwirke. Sehen wir uns die Teperaturkurve daraufhin an, so finden wir überall da, wo das Wärme- minimum einen hohen Ansties zeigt, einen hohen Anstieg der Sterblichkeit. Aber dieser Anstieg des Wärmeminimums ist auch konform dem Anstieg des Wärmemaximums. Für die deletäre Wirkung auf die Säuglinge könnte also ebensogut das Maximum als Ursache angesehen werden. So scheint mir auch die Tabelle, welche Rietschel in seiner Monographie über die Sommersterblichkeit der Säuglinge als Beweis für die deletäre Wirkung des Wärmeminimums aufstellt, nicht beweisend. Auch in dieser Tabelle ent- spricht einem hohen Minimum immer ein hohes Maximum. Freilich geht aus dieser Erwägung auch nicht das Gegenteil hervor, um so weniger als in meiner Kurve allerdings nach der entgegengesetzten Richtung hin ein Einflufs des Wärmeminimums auf die Sterblichkeit zu bestehen scheint. An dem mit einem X bezeichneten Stellen zeigt das Wärmeminimum im Gegen- satz zum Maximum einen niedrigen Stand, und an derselben Stelle zeigt auch trotz recht hoher Maxima von 20— 25°C die Sterblichkeitskurve nicht nur keinen Anstieg sondern einen Abfall. Man mülste hiernach der nächtlichen Abkühlung eine Einwirkung auf die Herabsetzung der Sterblich- keit zuschreiben. Wie dem aber auch sei, jedenfalls zeigen die Kurven, von ganz geringen Unstimmigkeiten abgesehen, die durch Zufälligkeiten bedingt sind und bei der Kleinheit der Sterblichkeitsziffern besonders auffallen müssen, ganz eklatant den fast gesetzmäfsigen Einflufs der Hitze auf die Sterblich- keit. Es lassen sich auch bei meinen Königsberger Kurven (nur nicht so deutlich) wie bei den von Finkelstein für Berlin aufgestellten zwei Phasen erkennen, einmal ein allmähliches Zunehmen der Sterblichkeit mit der Dauer der heilsen Jahreszeit, das aber nicht so schnell abfällt als die Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 19 Temperatur, entsprechend der Finkelsteinschen „Basiskurve“ und zweitens die auch von Finkelstein erwähnten steilen Zacken. Es ist mir weder aus der Finkelsteinschen noch aus der Rietschelschen Arbeit ersichtlich, ob Finkelsteins Kurve die Sterblichkeit an Verdauungskrankheiten oder die allgemeine Sterblichkeit angibt. Sollte letzteres, wie ich glaube, der Fall sein, so besteht in dieser Beziehung zwischen meiner und seiner Kurve ein Unterschied. Auf der anderen Seite zeigt die fraglose Übereinstimmung dann wieder, dafs lediglich die Sterblichkeit an Verdauungsstörungen auf die Figuration der Kurve einen Einflufs hat. Die Erscheinung, dafs die Höhe der Sterblichkeit um etwa vier Wochen später fällt als das Temperaturmaximum, wie Fürst dies für München und Götze'!) für Solingen angeben, findet für Königsberg wenigstens keine Bestätigung. Ich kann aber auch in der Breslauer Kurve von Willim°) und in der Berliner von Finkelstein keine Bestätigung dafür finden. In meiner Kurve beträgt die zeitliche Verschiebung zwischen Temperaturmaximum und Sterblichkeitshöhe höchstens 2—4 Tage. Be- trachten wir die vertikalen Striche auf der Kurventafel, so sehen wir sie senkrecht stehen, wenn entweder ein plötzlich auftretendes Tremperatur- maximum einen ganz besonders hohen Wert hat, wie z. B. am 26. Mai, dem heilsesten Tage des Jahres, oder wenn anhaltend hohe Temperatur- maxima vorhanden sind, wie im August und Anfang September; wir sehen sie schräger stehen bei ziemlich plötzlich auftretenden und hohen Temperatur- steigerungen. Mit anderen Worten: die deletäre Einwirkung der Hitze zeist sich am selben Tage bei plötzlich auftretenden hohen oder bei vielen in kurzen Intervallen folgenden Maxima. Sie zeigt sich erst ein oder mehrere Tage später — und zwar um so später je niedriger die Temperatur vorher war — bei vereinzelt auftretendem hohen aber nicht so exzessiv hohen Maxima. Bei einem Vergleich der Kurve, welche das Tagesmittel der relativen Feuchtigkeit der Luft angibt, mit der Sterblichkeitskurve, komme ich zu 1) Zentralbl. f. Gesundheitspflege. Bd. 28, 8. 116. ?) Siehe Rietschel, Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. Ergebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde. Bd. 6. 20 Kurt Jester, demselben Resultat wie Willim, Peiper, Pauli u.a.; es entspricht dem Mortalitätsgipfel eine geringe Feuchtigkeit. Es ist natürlich, dafs alle Aufzeichnungen über Witterungsverhältnisse und Sterblichkeit, auch die, welche über recht hohe Mortalitätsziffern ver- fügen, eine restlose Erklärung für die Beziehungen zwischen Hitze und Sterblichkeit nicht geben und auch nicht geben können. Einmal wird der deletäre Einfluls der Hitze auf die verschiedenen Säuglinge verschieden sein, der Tod also früher oder später eintreten je nach der Konstitution, nach dem sozialen Milieu, nach etwaigen anderen Hilfsursachen, sodann kommen bei der Hitzewirkung doch auch die verschiedensten meteorologischen Faktoren in Betracht, deren jeder einzelne je nach seiner Intensität einen vorherrschenden Einfluls ausübt (Wind, Feuchtigkeit, Gewitter, Bewölkung). Es kann z. B. eine Temperatur von 20°C einmal eine starke deletäre Wirkung ausüben, während sie das andere Mal unschädlich ist, je nachdem diese Temperatur von anderen meteorologischen Verhältnissen beeinflulst wird. Gewisse Unstimmigkeiten werden also nicht ausbleiben, da wir eine Kurve, welche alle meteorologischen Einflüsse zugleich berücksichtigt, nicht aufstellen können. Sicher geht indef[s aus allen neueren Aufzeichnungen als allgemein anerkannte Tatsache hervor, dals große Hitze die Sterblichkeit der Säuglinge erhöht. Nun kommt aber dazu, dafs alle diese meteoro- logischen Daten draulsen gewonnen sind und zwar an einer freien, allen Witterungsverhältnissen zugänglichen Stelle, während der Säugling doch auch im Sommer besonders bei der Arbeiterbevölkerung sich grölstenteils in der Wohnung aufhält, wo die T'emperaturverhältnisse andere sind wie im Freien. Flügge, Meinert, in neuerer Zeit Prausnitz, Hammerl und Rietschel haben Untersuchungen über die T'emperaturverhältnisse in Proletarierwohnungen angestellt und gefunden, dafs durchweg die Wohnungs- temperatur eine viel höhere ist als die Aufsentemperatur und dafs diese erhöhte T'emperatur ohne erhebliche Abkühlung lange Zeit anhalten kann. Meinert besonders, der die Wohnungen, in denen Sterbefälle an Sommer- brechdurchfall vorgekommen waren, aufgesucht hat, hat darauf aufmerksam gemacht, dafs sehr heifse und zugleich schlecht lüftbare Wohnungen vor- nehmlich die Stätten waren, in denen die Säuglinge dem Tode anheim- Nova Acta Acad. O0. L. ©. G. Nat. Cur. Vol. XCVIL Nr. 9. Plan von Königsberg. ” Tragheim König strasse ER ER Au‘ Hug ir £ Sy. „Haberberg*x 7 “% xx ch er ee Aug 6% K. Jester: Sommersterblichkeit der Säuglinge. Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 21 fielen. Es ist ohne weiteres klar, dafs die Temperatur- und Luftbewesung in einer Wohnung nicht allein abhängig ist von den äulseren meteorologischen Verhältnissen, sondern dafs die Lage des Hauses nach der Himmelsgegend und nach der Tage der es umgebenden Baulichkeiten, dafs die Lage der Wohnung im Hause selbst, ihre bauliche Beschaffenheit und endlich die Art ihrer Benutzung einen grolsen Einflufs darauf hat. Es müssen also Häuser, die in engen, dicht gebauten Strafsen liegen, die wieder von hohen Gebäuden umgeben sind, es müssen Wohnungen, deren Fensterseite nur nach einer schmalen, von hohen Häusern eingefalsten Straße oder nach einem eng umbauten Hof liegen, besonders wenn sie noch unzweckmälsig und unsauber behandelt werden, sich in besonders hoher Weise an der Mortalität beteiligen. Das hat von allen, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben, Bestätigung erfahren, und man hat gefunden, dafs bestimmte Stadt- teile und Stralsen, ja bestimmte Häuser sich durch besondere Häufigkeit von Todesfällen an Brechdurchfall auszeichnen. Für Königsberg ergeben sich dieselben Verhältnisse. Während die meisten Strafsen von Todesfällen an Sommerbrechdurchfall (1. Mai — 30. September) frei sind, weisen etwa 44 einen, 18 zwei, 15 drei, 6 vier, 3 fünf, 3 sechs, 6 sieben, 1 acht, l neun und 1 zehn Todesfälle auf; davon fallen auf 16 Häuser je zwei, auf 3 je drei Todesfälle. Das sind nun absolute Zahlen, die die mir "unbekannte Zahl der in den einzelnen Stralsen lebenden Säuglinge nicht berücksichtigen. Aber sie zeigen doch, wie bestimmte Strafsen und Häuser sich besonders hervortuen. Ich bemerke dazu, dafs die sich durch Todes- fälle auszeichnenden Stralsen und Häuser hauptsächlich in drei Stadtteilen (Rofsgarten, Sackheim und Haberberg) liegen und in diesen wieder an bestimmten Bezirken, in denen z. T. eine ungünstige Bauweise vorherrscht und die falst ausschliefslich von der ärmeren Bevölkerung bewohnt werden. Das läfst sich auch bei den anderen Stadtteilen beobachten. So ist z.B. auf der Laak der alte Graben allein mit 26°, an den Todesfällen beteiligt, auf dem Steindamm die Sternwartstrafse allein mit 37 °/., auf dem südlichen äulseren Stadtteile die Karschauerstrafse allein mit 41°). Am besten ver- anschaulicht diese Verhältnisse der beigegebene Plan von Königsberg, in dem die Stadtteile und die in den betreffenden Straßsen vorgekommenen T'odes- fälle eingezeichnet sind. DD DV Kurt Jester, Über die Beteiligung der einzelnen Geschosse an der Sommersterblich- keit-gibt folgende Tabelle Aufklärung: Es starben im Mai bis September 1911 an Verdauungsstörungen in Königsberg: Vorderhaus Hinterhaus Im Keller 2,68 0/, 0,419, Erdgeschofs 17,75 %/, 8,410), „ I Stock 24,49 0/, 6,94 0, ie 19,59 0), 2,86 9), u de: 11,83 %/, 2,45 0%), AOlVörfa, 4,59 0/, 0,00 9), in der Dachwohuung 0,41), 0,00 9, Es starben in elf Wochen an Durchfallkrankheiten (nach Meinert) in Dresden: Im Keller 3,98 0), „ Erdgeschofs 12,78 0], Pe lStock 10,7 0%, Br 0 Ey 9,13 01, U ROITIE ET 8,18 %y » Nein 9,18 %% ar AV 11,27 0/9 Da/s die Kellerwohnungen am geringsten beteiligt, liegt daran, daß im Keller natürlich im Sommer kühlere Temperatur herrscht, aber auch daran, dals es ganz erheblich weniger Kellerwohnungen gibt als andere Wohnungen. Dafs letztere mu[s auch beim vierten Stock und nochmehr bei den Dachwohnungen in Rücksicht gezogen werden. Ob sich im vierten Stock nicht auch einige Dachwohnungen befunden haben, möchte ich dahin gestellt sein lassen. Wenn wir aus diesem Grunde von dem vierten Stock- werke absehen, weicht die Beteiligung der einzelnen Geschosse an der Sterblichkeit in Königsberg von der Dresdener insofern ab, als das Erd- gescho[s sich in Königsberg weniger beteiligt, wie in Dresden, wohl weil die Erdgeschosse in Königsberg der engen Bebauung wegen weniger der Sonne ausgesetzt sind als in Dresden, wo nach Rietschel eine mehr offene Bebauungsweise vorherrscht. Daf/s in den Hinterhäusern das Erdgeschofs (wie in Dresden) eine grölsere Sterblichkeit aufweist als die anderen Ge- schosse, mag daran liegen, dafs die Parterrewohnungen hier erheblich mehr Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 3 23 der direkten Bestrahlung der Sonne und gleichzeitig den vom Erdboden reflektierten. Sonnenstrahlen ausgesetzt sind, eine Erklärung, die Rietschel für die Dresdener Verhältnisse auch gibt. Die Abnahme der Sterblichkeit mit der Höhe der Stockwerke beruht wohl auf der von Stockwerk zu Stockwerk zunehmenden Luftzufuhr und der grölseren und kühlenden Ein- wirkung der Winde. Es sind gestorben im Alter von über Jahr E im Alter bis bis einschliefs- | 1 Woche | 1 Monat | 6 Monate zu 1 Jahr und Monate | jieh ı Woche | bis 1 Monat | bis 6 Monate | bis 1 Jahr || ' \| 1911 über- Kr | über- a über- en | über- N über- en haupt | störungen | Paupt | störungen || Naupt | störungen || haupt | gtörungen | haupt | störungen St | | Januar Tee a ee ten La | 10, | 30 |WEssn were Februar To 0 18 Zu al Werl 1.19 2 74 14 März Ta. 1150 10 au || 38 14 1.22 2 84 18 April Te 300 08 5 Way), 10 18 5 63 16 Mai ap ee 6 4 | 26 | 23 2 92 35 Juni To Ro Ws 3a a3 | 151012 To NEN ea Men Juli 8 1 17 a, a2 | Ban. 17) 9 84 48 August 17 3 OO RI ee eval sera | 110% September 10 ) So 58 7 Boa os 70 Oktober 14 ) TaBl Bo na a 7 97 44 November 2 | 0 2a| 2 39 | 3 84 22 Dezember ige 0 20 | 4: | 40 16 | 32 6 111 26 Die Beteiligung der einzelnen Altersklassen der Säuglinge an der Sterblichkeit zeigt vorstehende Tabelle, aus der wir ersehen, daß das Alter von zwei bis sechs Monaten den grölsten Prozentsatz an T'odesfällen über- haupt im ganzen Jahre liefert und dafs von diesen Todesfällen im Sommer, also Mai bis September der überwiegende Teil den Verdauungsstörungen zur Last fällt. Ein geringer Anstieg der Sommersterblichkeit an Ver- dauungskrankheiten ist auch bei den bis zu einem Monat alten Kindern zu bemerken, besonders gering bei den bis zu einer Woche alten. Das hat wohl darin seine Ursache, dafs alle, oder doch die allermeisten Kinder in den ersten acht bis zehn Tagen Brustnahrung bekommen. Was den Stand der Eltern der ehelichen in der Zeit vom 1. Mai bis 30. September 1911 an Verdauungsstörungen verstorbenen Säuglinge 24 Kurt Jester, anlangt, so gehören 94,06 %, den wenig oder unbemittelten Bevüölkerungs- klassen, also Arbeitern, Handwerksgesellen usw. an, während der Rest von 5,94 °% sich verteilt auf 3 kleine Kaufleute, 1 Kassierer, 1 Korrespondent, 1 Werkführer. 1 Bautechniker, 1 Eisenbahntelegraphist, 1 Büroassistent, 1 Buehbindereibesitzer, 1 Oberpostassistent und 1 Provinzialsekretär. Wir sehen also auch hier die Sterblichkeit gebunden an ungünstig gelegene Proletarierwohnungen, während die Wohnungen der besser situierten Bevölkerung von Sommerbrechdurehtfall fast ganz frei sind, und finden damit die Erfahrung bestätigt, dafs wir in unserer besser gestellten Privat- klientel einen Todesfall an Cholera infantum nicht zu sehen bekommen. Ist es nun lediglich die hohe Wohnungstemperatur, die eine ver- derbliche Wirkung auf den Säugling ausübt oder spielen dabei noch andere Ursachen eine Rolle? Ich meine, man mu/s das letzte bejahen. Schon Flügge weilst darauf hin; er sagt: „Während der Erwachsene die Freiheit des Handelns hat und sich der lähmenden niederdrückenden Atmosphäre ent- ziehen und an frischer Luft Erholung suchen kann, wenn der Aufenthalt im Zimmer ihm unerträglich wird; während er mit leichter Mühe Kleidung und Bedeekung den augenblicklichen Temperaturen anpalst, und während er jeden Moment nur durch eine Lagerung und Stellung des Körpers, die möglichst allseitige Wärmeabgabe gestattet, den Anforderungen an eine intensivere Entwärmung nachkommen kann, sind die Kinder im ersten Lebensjahre zum völlig passiven Ertragen der vorkommenden Temperaturen verurteilt. Namentlich mufs das Liegen der Kinder unter fester Bedeckung, die jede freie Lagerung des Körpers hindert, sowie das Herumtragen auf dem Arme, bei dem der gleich warme Körper der Mutter eine ‚absolute Behinderung der Ausstrahlung verursacht, den Einflu[s hoher Temperaturen begünstigen“. Diesem Umstande, den wohl alle Autoren, die sich der Frage der Sommersterblichkeit der Säuglinge zugewandt haben, erwähnen, wird, glaube ich, viel zu wenig Wichtigkeit beigemessen. Ich muls allerdings Flügge widersprechen, wenn er auch ein Herumtragen des Säuglings auf dem Arme als eine Begünstigung des Einflusses der hohen "Temperatur bezeichnet; ich habe im Gegenteil von einem öfteren Aufnehmen und Herumtragen nur gutes gesehen. Der Säugling kommt dabei doch wenigstens eine Weile Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 25 aus ‘dem heifsen Federbett heraus und eine wenn auch geringe Wärme- abgabe wird ermöglicht. Sehen wir doch mal zu, wie denn bei uns der Säugling in der Proletarierwohnung gehalten wird. Selten im Bettgestell, gewöhnlich im engen Kinderwagen oder Wäschekorb finden wir ihn in Betten eingepackt; ein dickes Federbett als Unterlage, ein Federbett zum Kopfkissen und darüber als Bedeckung wieder ein diekes, schweres Federbett. Ein Hemdchen — nicht selten aus irgend einem Wollstoff —, ein Jäckchen aus Barchent oder gestriekter Baumwolle, ein bis zwei baumwollene und ein bis zwei wollene oder Barchentwindeln, zwischen die dann noch zum Schutz eine bis fast unter die Ärmchen und um das Kind herumreichende Gummi- einlage kommt, bilden des Säuglings Anzug, der nicht selten noch durch Strümpfehen und Mützchen vervollständigt wir. Um ein Aufgehen der Windeln zu verhüten und „das Kind nieht zu verbiegen“ wird dann noch der Rumpf des Kindes durch das von der Hebamme immer wieder empfohlene Wiekelband mehrfach umwickelt und bei jungen Kindern „damit sie sich nicht ausschreien“, ebenfalls auf Anraten der Hebamme eine baumwollene Nabelbinde angelegt. Ich habe im August und September vorigen Jahres die Herren, welche die um 2 Uhr anberaumte poliklinische Sprechstunde besuchten, immer wieder darauf aufmerksam machen können, in welch unglaublicher Bekleidung uns die an Brechdurchfall erkrankten , Kinder dorthin gebracht werden. Die Stelle des bei der ärmlichen Bevölkerung hier nicht gebräuchlichen Steckkissens vertrat ein grolses Tuch, in das das Kind eingeschlagen war; in den allermeisten Fällen waren zu dem vorhin beschriebenen Anzug bei Wegfall einer Windel wollene Strümpfehen und 'wollene Schuhe, eins bis zwei wollene Jäckchen, ein Tragkleidchen, ein gewöhnlich wollenes Mützchen und dazu eine dicke, lange Pelerine aus Tuch oder Plüsch, oder ein grofses Tuch gekommen. Und das um 2 Uhr Mittags, wo die Teemperaturmaxima vorherrschen! Nun haben die Kinder diesen Anzug ja zu Hause nicht an, aber es ist doch recht bezeichnend für die Auffassung der Mütter resp. Pflegemütter von dem Wärmebedürfnis des Säuglings, und man kann mit Sicherheit daraus schliefsen, dals es an der nach ihrem Urteil nötigen Bewärmung zu Hause auch nicht gefehlt hat. Es kommt noch dazu, dafs der Säugling hier die Nahrung gewöhnlich Nova Acta XCVII. Nr. 9. 4 26 Kurt Jester, in seinem Bett erhält. Der Gummipfropfen wird ihm in den Mund gesteckt und die Flasche durch das Deckbett so gelegt, dafs ihm die Nahrung leicht zuflielst. So wird der Säugling hier auch nicht einmal während seiner 10—20 Minuten dauernden Mahlzeit einer Abkühlung teilhaftig. Man stelle sich doch einmal vor, wie die Wirkung dieser Bekleidung, bei der der Säugling nur gerade die Ärmchen bewegen kann, und dieser Einpackung bei einer enorm hohen Zimmertemperatur ist. Eine profuse Schweilsabsonderung wird — ganz gleich ob die relative Feuchtiekeit in den Zimmern etwas höher oder niedriger ist — eintreten und früher oder später zu grolsem Wasserverlust des Organismus führen müssen. Ich will natürlich keineswegs in Abrede stellen, dafs eine hohe Zimmertemperatur bei mangelnder Ventilation auch ohne die Mithilfe einer solchen Bekleidung und Lagerung eine deletäre Wirkung auf den Säugling ausübt, für die grofse Mehrzahl der Fälle hat aber wohl dies Verhalten nieht nur einen unterstützenden, sondern sogar einen entscheidenden Einflufs. Heilse, schlecht lüftbare Kinderzimmer gibt es auch in grölseren Wohnungen der besser situierten Bevölkerung. Die schädigende Wirkung wird hier aber durch rationelle Behandlung der Säuglinge aufgehoben. Leichte und lose Kleidung, kühle Bäder, Veringerung der Nahrung, eventuell reichliche Zufuhr von Flüssigkeit (mit Saccharin gesülster kalter Tee), öfteres Auf- nehmen und Herumtragen im Zimmer wie an kühlen Stunden im Freien, alles das sind Mafsnahmen, die eine Erkrankung an Sommerbrechdurchfall oder doch- wenigstens einen letalen Ausgang verhindern können, Mafsnahmen, die sich der Proletarier ebensogut zu eigen machen kann. Auch in seiner Wohnung läfst sich durch geeignete und saubere Bewirtschaftung, durch rationelle Behandlung des Säuglings die Sommersterblichkeit herab- setzen, wenn auch nicht geleugnet werden soll, dafs bei dem Tode hier noch viel mehr Hilfsursachen mitwirken. Übrigens hat dies in ähnlicher Weise schon Meinert ausgesprochen: „Nicht die Aufsentemperatur an sich, sondern nur deren Akkumulation, aber auch diese nur da, wo ungebildete Leute ihre Kinder nicht ent- sprechend pflegen, macht die Durchfallkrankheit gefährlich. Wer die Grütze im Kopf hat, sich gegen die Hitze zu wehren, dem stirbt sein Kind nicht. x Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 27 So sterben im Hochsommer weniger uneheliche Kinder als eheliche, wegen der strengen Kontrolle der Ziehmütter. In Rom sterben im Sommer viel weniger Säuglinge als in Dresden, dort sind die Leute eben auf die Hitze eingerichtet, wir im Norden aber nur auf die Kälte.“ Die unbestrittene Anhäufung von Sommertodesfällen in einzelnen Stadtbezirken, in einzelnen Strafsen und Häusern möchte ich daher nicht ledigliglieh durch den Umstand erklären, dafs hier die für eine grofse Hitz- entwickelung günstigen Wohnungen sind, sondern mit durch den Umstand, dals diese Wohnungen, weil am billigsten, von der unbemittelten, ungebildeten und gar nicht selten unsauberen Proletarier- Bevölkerung bewohnt werden. Der Sommerbrechdurchfall ist also die Folge direkter Hitzeeinwirkung auf den Säugling. Wir kommen nun zu der viel umstrittenen Frage, wie sich diese Wirkung vollzieht. Die Todesfälle, die sich in den oben erwähnten Finkelsteinschen Zacken ausdrücken, erklärt Rietschel mit Finkelstein und analog der Auffassung Meinerts als durch Wärme bedingte Hitzschläge. Ich will an dem Vorkommen von Hitzschlägen nicht zweifeln; weshalb sollen nicht beim Säugling ebensogut Hitzschläge vorkommen wie beim Erwachsenen. Die in den Zacken meiner Königsberger Kurve sich ausdrückenden Todes- fälle kann ich nicht dafür ansprechen. Ich habe in den 20 Jahren meiner ärztlichen Tätigkeit niemals Gelegenheit gehabt, einen Fall von Hitzschlag zu beobachten. Mag sein, dals ich in der ersten Zeit nicht darauf geachtet und mir daher ein solcher Fall entgangen ist. In dem sehr heifsen Sommer des Jahres 1911 habe ich direkt darauf gefahndet. Aber ich habe weder selbst einen Hitzschlax beim Säugling gesehen, noch habe ich in den Totenscheinen von einem anderen Arzte in Königsberg Hitzschlag als Todesursache angegeben gefunden. Ich, mu/s mich daher der Ansicht der- jenigen Kinderärzte (darunter auch Heubner) anschliefsen, die den Hitz- schlag beim Säugling als sehr selten bezeichnen. Man mufs doch meines Erachtens den Hitzschlag als eine Krankheit sui generis ansehen und kann unmöglich, weil beim Hitzschlag gelegentlich diarrhoische Stühle und bei dem Sommerbrechdurchfall gelegentlich Kon- vulsionen vorkommen, beide in einen Topf werfen; auf hyperpyretische Temperatursteigerungen, die sehr tiefen Kollapstemperaturen weichen können, 4* 28 Kurt Jester, hat doch bei der alimentären Intoxikation Finkelstein selbst aufmerksam gemacht. Das immer und immer wiederkehrende, das ganze Krankheitsbild beherrschende Symptom der Erkrankung, von der die Säuglinge im Sommer dahingerafit werden, ist doch das Erbrechen und der Durchfall, also eine Störung im Magen-Darmtraktus. Diese Sommerbrechdurchfälle beeinflussen die Höhe der Säuglingssterblichkeit. Die wenigen Fälle von Hitzschlag kommen für die Sommersterblichkeit der Säuglinge nicht in Betracht; und ich glaube man tut besser, man läfst sie beim Versuch, die Sommer- sterblichkeit zu erklären, schon zur Vermeidung von Unklarheiten ganz aus dem Spiele. Sie gehören in dieselbe statistische Rubrik wie die Hitz- schläge der Erwachsenen, unter die Unglücksfälle. Wie läfst sich nun das Zusammenfallen der Sterblichkeits- und Temperaturgipfel in der Königsberger Kurve erklären, wenn man die Hyperthermie ausschaltet ? Im Frühjahr 1910 konnte ich am hiesigen städtischen Kinderasyl eine so ungewöhnlich hohe Zahl von Sterbefällen an Verdauungsstörungen beobachten, wie sie trotz des alle Zeit elenden und schlechten Kinder- materials sonst überhaupt, besonders aber in dieser Zeit nicht üblich war. Wie ich von vornherein annehmen mulste, war die Nahrung, die bei den Säuglingen gröfstenteils aus einer Kindermilchanstalt stammte, wie die Zu- bereitung und Aufbewahrung einwandfrei. Ebenso war bezüglich der Ver- dünnung, der Nahrungsmenge wie der Zeit der Darreichung nichts aus- zusetzen. Bei der Inspektion des Säuglingsraums — die erkrankten Kinder wurden immer im Aufnahmezimmer dem Arzt vorgestellt und dem städtischen Krankenhause überwiesen — fand ich nun eine 'l’emperatur von 23° R und die deshalb befragte Wärterin gab zu, dals es in letzter Zeit immer so warm gewesen wäre. Nach Abstellung dieser unvernünftigen Heizung — eine leicht regulierbare Zentralheizung ist seinerzeit abgelehnt worden — hörten auch bald die Todesfälle auf. Ich habe nun in diesem Winter systematische Untersuchungen in dieser Beziehung anzustellen versucht, indem ich ein Zimmer zweimal täglich stark heizen lies und die Wirkung der Hitze auf die Kinder beobachtete. Es ist selbstverständlich, dafs ich die Temperatur nicht übertreiben durfte, um die Kinder nicht zu schädigen, und dafs ich sie sofort aus dem Wärme- Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 29 zimmer herausnehmen mulste, sobald sich eine irgendwie bedenkliche Störung bemerkbar machte. Ich führe die einzelnen Fälle nachstehend auf: 1. Walter R. geboren 7. Juni 1911; gesundes, ziemlich kräftiges Kind; Stuhl normal. Nahrung: Vollmilch. Bekleidung: nur Hemdcehen; Bedeckung: zur Nacht eine Wollwindel. 3. Febr. Gewicht S000 g, Körpertemp. ab. 36.90 C, Zimmertemp. 25—300% C ] x = an allen Au Körpertemp. morg. 37,5% C, „ 37.000, = morg. 270 C | on De) A STLOLEG E37 AKO, n 25 20T Feuchte Gh: & szeoe, srAvc, 2 9522330, 00 ORs% h sure 1056.46, x no, |. 8. i er 25-3200 JGew.8150g Gas 5 »„ 3740 C, vier dünne, gelbe Stühle, blassere Hautfarbe. Entfernung aus dem Wärmezimmer. Keine Nahrungsänderung. LO Stuhl besser. Körpertemp. ab. 37.40 G, JelENe Körpertemp. morg. 37.4% C, „ 36.80C, 19, 18 > „ . 37.0%C, „ 37.0%C, Zimmertemp. 3 Stunden n.d. Heizen 22% C Gewicht 8120 g. Stuhl normal. 186 5 H „ 371°C, „ 36.50C, Zimmertemp. 200 C TEN, " SEO 0 Eh a ar 21°C 2. Charlotte Seh. geboren 5. Juni 1911. PBlasses, schwächliches Kind, sonst nichts nachweisbar. Gewicht 5340 g. Nahrung: Vollmilch. Kleidung: Hemdchen und Jäckchen; zum Bedecken: Woll- windel. Stuhl normal. 10. Febr. Körpertemp. morg. 37.4% C, ab. 37.60 C, Zimmertemp. 25—31°C VS = . EN (END 3 28—310C (sehr starker 12:0, nt 339010 38:3.116; & 26—320 C [Schweils) Stuhl dünn. Gewicht 5200 g. Entfernung aus dem Wärmezimmer. SUR Körpertemp. morg. 37.50 C, ab. 36.4° C, Zimmertemp. 20° © (Stuhl gebess.) 14.2, s 3 670 36:80 „ 206 (Stuhl normal) 15% 5, = 36:2 20, 0,,36:3.1%C, n 20°C (Gew. 5270 g) Entlassung aus dem Asyl. 3. Max E. geboren 4. Dezember 1911. Gewicht 3500 g. Sehr schwächliches Kind, sonst gesund. Be- kleidung: Hemdehen und Jäckchen; Bedeckung: Federbett, später Wollwindel. Starke Schweilse solange Federbett, später feuchte Haut. !) Vom 5. Februar ab sind bei allen Kindern die Zimmertemperaturen nicht beim Messen der Körpertemperatur, sondern durch den Thermometrographen (Maximum - Minimum) festgestellt. 30 Kurt Jester, 1. Febr. Körpertemp. morg. 37.30 C, ab. 37.30 C, Zimmertemp. 20—320 C Die B TO Y 29-310 0 In = STONE 37EBLG! 5 25—30° C (dünner, heller, schleimiger Stuhl) Ay 5 DEE STB, CHEN 37,0: A 2700 (Stuhl gebess.) er T suche aralca 25—280 C (Gew. 3460 e) Oi: 5 36:80 37.01, n 25—33°C (grünl. Stuhl) Vase 5 37.9 IE ONE ON RALUNG, » 23—31°C (Stuhl besser) SU, 4 33:0 05 37A0,0,6; 25— 329 C (gelber, dünner Stuhl; die Nahrung wird durch Wasserzusatz verdünnt) I: n »„ 37.20 C, ab. 37.2 C, Zimmertemp. 24—29°C (Stuhl dünn und schleimig; Bedeckung geändert) ON: # i 37.60 C, „ 37.0%C, Zimmertemp. 25—310C (fünf dünne, gelbe Stühle; aus dem Wärmezimmer entfernt. Gewicht 3300 g) ul & „ 37,530 C, ab. 37.000, (Nahrung dieselbe) 12:7, ” „36.600, „ 36.8%0C, Zimmertemp. 22°C (Stuhl normal) Toren, n RS BAUT 36:5 086! 5 20°C AN 5, 5 00236:21020,50,07,36:8:15€) 3 21°C Nu er an 3 64,040), 77.,0836:91040; 5 20°C (Gew. 3350 g, Stuhl normal.) 4. Charlotte J. geboren 19. November 1911. Gewicht 2900 g. Atrophisches, blasses Kind, sonst nichts nach- weisbar. Bekleidung und Bedeckung wie oben bei Nr. 3. 1. Febr. Körpertemp. morg. 36.90 C, ab. 37.30 C, Zimmertemp. 20—32°C [Erbrechen) Mairlk ” 3150, Caro 0IG! o 29—31°C (dünner Stuhl, SAmBE A ESS 3740086; & 25—30° C (kein Erbrech.) EUER u n Sala 0, 7.537700 4 27°C (Stuhl normal) SE 2 30 ETC. e 25—280 0 (Gew. 2900 g) Br, R 36 Bro: £ 25—330 0 INS 5 ERS TRAON O 3 orl N 23—310 0 Bien n Ball (dr re (Dr e 25—320C (Gew. 2950 g) Ola r 2377.20 0, 07,8813.0:9\10) 5 24—290 0 OR n n 37.60 C, (dünner, grünlicher Stuhl. Entfernung aus dem 1 (Stuhl normal. Gewicht 2950.) [Wärmezimmer) Wir sehen also bei allen vier Kindern je nach dem Zustand eine mehr oder weniger leichte Temperatursteigerung, die bei dem atrophischen Kinde, deren Temperaturen, wie ich durch Kontrollmessungen feststellen konnte, zwischen 35° und 36°C liegen, am niedrigsten war. Bei allen vier Kindern traten Verdauungsstörungen ein und zwar bei dem kräftigen und gesunden Walter R. am spätesten. Die beiden Kinder, die stark transpiriert Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. ol haben, besonders Charlotte Sch., bei der starke Schweilssekretion angegeben, nahmen stark an Gewicht ab, während der kräftige, von Anfang an in leichter Bekleidung und Bedeckung gehaltene Walter R. und das atrophische Kind ganz minimale Gewichtszunahme zeigen. Auf die Erscheinung, dafs atrophische Kinder auch höhere Wärmegrade gut ertragen, ist von verschiedenen Autoren hingewiesen worden. In allen Fällen tritt ohne Nahrungswechsel ein promptes Fallen der Temperatur und normale Beschaffenheitt der Ver- dauung ein, sobald sie aus dem Wärmezimmer herausgenommen. Was lehren nun diese Beobachtungen? Einmal die direkte Ein- wirkung der Hitze auf den Säugling. Eine Milchzersetzung oder Kontakt- infektion ist hier völlig ausgeschlossen. Es ist mir dies wieder ein Beweis für die Unhaltbarkeit der Milchzersetzungshypothese, die ich, ohne gelegent- liche Schädigungen durch Milchvergiftungen ableugnen zu wollen, für die Erklärung der Ursache der Sommersterblichkeit schon aus den voran- gegangenen Erwägungen ablehnen zu müssen glaube. Sodann aber auch entgegen der Ansicht Kleinschmidts, dafs trotz einer unter normalen Temperaturverhältnissen bekömmlichen Nahrung unter der Einwirkung der Hitze Ernährungsstörungen auftreten, bei kräftigen und nicht alimentär gestörten schwerer, "bei alimentär gestörten leichter. Die Frage, ob die Temperatursteigerung als Hyperthermie oder als alimentäres Fieber zu erklären, lasse ich zunächst offen, ich komme darauf noch zurück. Der Gewichtssturz ist auch nach dieser Beobachtung lediglich auf den durch die Schweilssekretion bedingten Wasserverlust zurückzuführen. Eine Erklärung, die durch eingehende Untersuchungen von Tobler') und L. F. Meyer’) ihre Unterstützung findet. Wir kommen auf Grund dieser Beobachtung zu dem Resultat, dafs die Hitze nicht auf die Nahrung, sondern auf den Säugling selbst wirkt, und zwar, sowohl auf den gesunden — wenn auch nicht so intensiv — als auch auf den alimentär ge- störten. Da bei beiden unter normalen Temperaturen die 1) Siehe Salle: Die Einwirkung hoher Aufsenlufttemperaturen auf die sekretorische Tätigkeit des Magens. Jahrbuch für Kinderheilkunde Bd. 24, H. 6. 2) Jahrbuch für Kinderheilkunde Bd. 15. 32 j Kurt Jester, qualitativ und quantitativ dem Ernährungsbedürfnis angepalste, einwandfreie Nahrung keine Krankheitserscheinung bewirkt, die Verdauungsorgane also mit der Verarbeitung dieser Nahrung fertig werden, mu[s man annehmen, dafs eine sonst zweckmälsige Ernährung in der Hitze unzweckmälsig ist, dals die Verdauungsorgane ihrer Aufgabe, die sie sonst mit weniger oder mehr Mühe überwältisen, unter dem Einflufs der Hitze nicht mehr gerecht werden können, dafs also unter dem Ein- flufs der Hitze ihre Leistungsfähigkeit herabgesetzt wird. Bei dem alimentär gestörten Kinde ist der Verdauungsapparat schon sowieso an der äulsersten Grenze der Leistungsfähigkeit angelangt, so mul[s hier die Störung eher und schwerer eintreten als bei dem gesunden. Es fragt sich nun, ob das aus diesen Beobachtungen gewonnene Resultat mit den sonstigen Erfahrungen in Einklang steht und ob sich dadurch das ganze Phänomen des Sommertodes zwanglos erklären lälst. Es ist zunächst eine bekannte Tatsache, dafs das Ernährungsbedürfnis des Erwachsenen bei grolser Hitze geringer ist. Er vermeidet dann eine reichliche Nahrungsaufnahme und er vermeidet — ich möchte sagen — instinktiv Speisen, die an seine Verdauung grölsere Anforderungen stellen, weil er weils, dafs ein Fehler in dieser Hinsicht leicht zu Verdauungs- störungen führt. Ich kenne einen Herrn, der fast regelmälsig bei grolser Hitze Durchfälle bekommt. Das alles deutet fraglos darauf hin, dafs die Funktion der Verdauungsorgane beim Erwachsenen unter der Einwirkung grolser Hitze herabgesetzt ist. Es wäre doch nun ganz unverständlich an- zunehmen, dals das beim Säugling, dessen Verdauungs- und Stoffwechsel- arbeit an sich ganz erheblich grölser ist als die des Erwachsenen, anders liege. So vertritt Heubner') nachdrücklich die Anschauung, „dals die hohe Wohnungstemperatur die Leistungsfähigkeit des kindlichen Verdauungs- apparates, an den die künstliche Ernährung an sich schon erhöhte An- forderungen stellt (was experimentell festgestellt ist), in so verstärktem Mafse herabsetzt, dafs sie erlahmt.“ 1) Deutsche medizinische Wochenschrift Bd. 37, S. 1866. Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. R 39 Alle Breehdurchfälle, die wir im ganzen Jahre, im Winter wie Sommer zu sehen bekommen, sind, vielleicht von ganz verschwindend wenigen Ausnahmen abgesehen, durch alimentäre Schädigungen veranlalst, durch eine qualitativ und quantitativ unrichtige Ernährungsweise. Die bei weitem gröfste Rolle spielt dabei die Überfütterung, also die quantitativ unrichtige Ernährung, die in der heifsen Zeit noch dadurch eine Steigerung erfährt, dals der Säugling infolge des Durstgefühls gröfsere Neigung zum Trinken hat, die er durch Schreien, das von der Mutter als Äufserung des Hungers aufgefalst wird, zum Ausdruck bringt. Der Magen wird mit einer quantitativ und qualitativ unzweckmäßigen Nahrung angefüllt, zu deren Verarbeitung der Magensaft nicht ausreicht. Die Salzsäure wird durch den von Mahlzeit zu Mahlzeit anwachsenden Nahrungsüberschuß gebunden, so dafs die für die Regulierung der normalen Bakterienflora nötige freie Salzsäure fehlt. Das führt nun zu pathologischen Umsetzungen des Mageninhalts, die sich besonders durch saure Gährungen und Bildung von Fettsäuren äulsern. Diese Fettsäuren vermögen nun wieder entzündliche Veränderungen der Magenwand und damit Funktions- störungen, d. h. also Einschränkung der Magensaftabsonderung zu bewirken. Der anormale Mageninhalt kommt nun in den Dünndarm und ruft hier weiter eine Reihe pathologischer Veränderungen hervor, für die besonders wieder sowohl die vom Magen übernommenen wie die im Darm durch fortgesetzte saure Gährungen weiter gebildeten Fettsäuren verantwortlich sind. Das aus dem Pankreas stammende, dem Überschußs der Salzsäure entsprechend vorhandene Alkali reicht zur Neutralisierung auch der Fett- säuren nicht aus. Es kommt damit zur erhöhten Inanspruchnahme der Alkalilieferung seitens des Organismus und zu Störungen der Fettverdauung. Vermag der Organismus dieser Anforderung nicht mehr zu entsprechen und wird dadurch der normale Alkaligehalt des Körpers gefährdet, so greift die bisher lokale Schädigung, wenn der Säugling ihr nicht schon erlegen, auf das Gebiet des intermediären Stoffwechsels über, aus der Dyspepsie wird die alimentäre Intoxikation mit den bekannten von Finkelstein aufgestellten Merkmalen oder die alimentäre Dekomposition. Wir sehen, die eben kurz angedeuteten pathologischen Vorgänge nehmen ihren Ausgangspunkt von einer Schädigung der Magensaftsekretion. n Nova Acta XCVII. Nr. 9, 19) 2 34 Kurt Jester, Es entsteht also die Frage, ob die Einwirkung der Hitze auf den Säugling eine Herabsetzung der sekretorischen Tätigkeit des Magens bewirken kann und wie dies geschieht. In neuester Zeit hat nun Salle') exakte Versuche in dieser Hinsicht angestellt und ist zu dem sehr bemerkenswerten Ergebnis gekommen, dafs „es gelingt durch Erhöhung der Aufsenlufttemperatur über eine bestimmte Grenze hinaus, beim jungen Hunde ein Krankheitsbild zu erzeugen, das durch grolsen Gewichtsverlust, Temperatursteigerung, Durchfall und Er- brechen charakterisiert ist. Die Untersuchung der sekretorischen Magen- funktion ergibt dabei eine Verringerung der Masensaftmenge, Herabsetzung der Gesamtazidität und des Gehalts an freier Salzsäure, eventuell Ver- schwinden derselben“. Es wird also durch das Tierexperiment die Er- fahrung, die wir an uns selbst gemacht und die Heubner auch für den Säugling mit Nachdruck vertritt, einwandfrei bestätigt, und das Ergebnis der Tierversuche Salles steht in vollem Einklang mit dem Ergebnis meiner Beobachtungen an den Säuglingen des Kinderasyls. Man hat danach keinen Grund, für die Erklärung der Sommersterblichkeit das Versagen der Leistungs- fähigkeit des Verdauungsapparates durch die Hitze abzulehnen, die, wie es die bekannten pathologischen Vorgänge beim magen-darmkranken Säugling von vornherein wahrscheinlich machten und die Salleschen Versuche bestätigen, durch eine Herabsetzung der sekretorischen Tätigkeit des Magens bedingt ist. Da die grofsen Gewichtsstürze lediglich durch den Wasserverlust zu erklären sind, kommt Salle zu dem Schlufs, dafs die Wasserverarmung des Körpers zum Darniederliegen der Magensekretion führt, eine Anschauung, die durch Versuche von Sassazky, Grundzew und Simon’) am Menschen wie am Tiere, bei denen es gelang durch Schwitzenlassen eine Herab- setzung der Magensekretion herbeizuführen, wie durch Untersuchungen von Pawlow ihre Unterstützung findet, eine Anschauung auch, die in Peiper einen energischen Vertreter besitzt. Die oben geschilderten Temperaturverhältnisse in den Wohnungen, die Erhitzung durch die unvernünftige Kleidung und die Federbetten, die 1) Jahrbuch für Kinderheilkunde Bd. 24, H. 6. 2) Siehe Salle, Jahrb. f. Kinderheilkunde. Bd. 24 Hft. 6. Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 35 nicht selten noch durch Wärmeflaschen („ein krankes Kind braucht doch Wärme“) gesteigert wird, müssen zu einer Schweilsabsonderung führen. Ich habe selbst bei dem leicht gekleideten Walter R. trotz der nicht übermälsig hohen Temperaturen eine leichte Transpiration feststellen können. Ob der Feuchtigkeitsgehalt der Zimmerluft unter solchen Umständen etwas höher oder niedriger ist, scheint mir nicht viel auszumachen. A priori muls man doch annehmen, dafs wie alle Witterungsfaktoren der Aufsentemperaturen auch der Feuchtigkeitsgehalt einen Einfluls auf das Wohnungsklima hat. Die Möglichkeit, auf die Rietschel hinweilst, dafs in der Proletarier- wohnung infolge der Bewirtschaftung der Feuchtigkeitsgehalt höher ist als draufsen, trifft doch wohl nur für ganz vereinzelte Fälle zu. Selbst die kleinste Proletarierwohnung hat eine besondere Küche, in der gekocht, gewaschen, ja auch gegessen wird. Der Säugling hält sich doch aber im Zimmer und nicht in der Küche auf. Es ist ohne weiteres klar, dafs je grölser die auf den Säugling ein- wirkende Hitze ist, desto gröfser auch die Schweilsabsonderung und der damit verbundene Wasserverlust sein wird, und dafs eine Herabsetzung der Magensekretion um so eher und rapider auftreten wird, je grölser der Wasserverlust ist. Es ist ferner auch ohne weiteres klar, dafs die Herab- setzung der Magensekretion um so eher und rapider zu einer Schädigung führen wird, je mehr schon die Verdauungstätiskeit an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt war. So erklärt es sich zwanglos, dafs gerade die künstlich ernährten Kinder, an deren Verdauungsarbeit, wie oben schon erwähnt, erwiesenermalsen erhöhte Anforderungen gestellt werden, in Königs- berg z. B. mit 95 %/, an der Sommersterblichkeit beteiligt sind. Die bekannte Tatsache, dafs gerade die pastösen, spasmophylen und rhachitischen Kinder sich recht erheblich an der Sterblichkeit beteiligen, findet in der Annahme dals durch die Hitze Wasserverlust und durch diesen wieder Verdauungs- störungen bewirkt werden, ebenfalls ihre Erklärung, da ja gerade diese Kinder an sich schon zur Transpiration neigen. Unter diesen Voraussetzungen wird mit der allmählichen Zunahme der Hitze ein allmähliches Zunehmen der Erkrankungen und damit auch der Sterbefälle erfolgen. Es werden also zuerst die alimentär gestörten Kinder erkranken und zwar um so früher, je grölser die Schädigung schon bu 36 Kurt Jester, war; ihnen folgen dann die, für welche die bis da normale Ernährung unter dem Einflufs der Hitze anormal wird, d. h. deren Verdauungsvermögen unter dem Einfluls der Hitze so gelitten hat, dals es auch mit der sonst passenden Nahrung nicht mehr fertig wird. Die durch die Herabsetzung der sekretorischen Tätigkeit des Magens bedingte Verdauungs- und Stoff- wechselstörung kann natürlich noch fortdauern, auch wenn das ursprünglich schädigende Moment, die Hitze, nicht mehr vorhanden. Wenn wir nun noch berücksichtigen, dafs der Tod der an Verdauungs- und Stoffwechsel- störungen erkrankten Säuglinge noch durch das Eingreifen anderer Er- krankungen herbeigeführt sein kann, so ist damit eine vollkommene Er- klärung der Phase der Königsberger Sterblichkeitskurve der Säuglinge, die der Finkelsteinschen Basiskurve entspricht, gegeben. Für diejenigen Säuglinge nun, deren Verdauungsfunktion schon an der äulsersten Grenze sich befand, oder deren Stoffwechselfunktion gar schon gestört war, und deren Wasserarmut nun noch durch das profuse Erbrechen und die Durchfälle erhöht wird, genügt ein plötzlicher hoher Anstieg der Temperatur, um die Katastrophe in wenigen Stunden oder Tagen herbeizuführen. Das findet in den steilen Zacken der Sterblichkeits- kurve seinen Ausdruck und erklärt auch das mehr oder weniger Senkrecht- stehen der oben besprochenen vertikalen Linien. Wenn wir aber als die Folge der Hitzewirkung die Transpiration und Wasserverarmung und als Folge der Wasserverarmung wieder die Herabsetzung der Tätigkeit der Magensekretion und die dadurch bedingten Verdauungs- und Stoffwechselstörungen ansehen, so erklärt sich auch ohne weiteres die Beteiligung der Brustkinder mit Todesfällen an den Gipfeln der Kurve. Das Brustkind ist ebenso der Hitzewirkung, was Wohnung, Bekleidung usw. anbelangt, ausgesetzt wie das Flaschenkind. Diese Hitze wird also bei ihm ebenfalls einen Wasserverlust und Herabsetzung der Magensekretion bewirken. Jeder weils ferner, dafs auch Brustkinder (natürlich seltener) überfüttert werden können. Es ist danach verständlich, dals die Sterblichkeit der Brustkinder an Verdauungsstörungen in derselben Zeit, wie die Kurventafel lehrt, am gröfsten ist, in der die Flaschenkinder die grölste Sterblichkeit aufweisen, und es ist auch verständlich, dafs sehr exessive 'l’emperaturmaxima ebenso wie beim Flaschenkind einen letalen Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 37 Ausgang herbeiführen können, wenn schon durch eine Reihe von Hitzetagen eine Verdauungsstörung bewirkt war. Es könnte dabei eine Erscheinung mitwirken, die übrigens dann auch für das Flaschenkind gilt, auf die neuerdings Langstein und Benfey') aufmerksam machen, dafs nämlich beim Wasserhunger — und der besteht doch bei diesen Kindern — schon eine geringe Temperatursteigerung eine deletäre Wirkung ausübt. Nun wissen wir alle, dafs die Toleranzbreite des Säuglings in jedem Falle für Frauenmilch erheblich gröfser ist als für Kuhmilch. Das Brustkind braucht zur Verarbeitung seiner Nahrung gewissermalsen nicht seine ganze Verdauungskraft. Es kann also eine gewisse Herabsetzung derselben ohne Schaden ertragen. Erst wenn die Herabsetzung so grols ist, dafs die Verdauungskraft nicht mehr zur Verarbeitung der Nahrung ausreicht, tritt eine Schädigung ein. Es wird also sehr viel schwerer zu Verdauungsstörungen kommen können. Danach mus auch die Beteiligung der Brustkinder an der Sterblichkeit eine geringere sein. Wenn wir somit die Erfahrungen aus der Statistik und aus der Praxis wie die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen am Tiere wie am Menschen übereinstimmend zusammenfassen, so kommen wir zu dem Resultat, dafs hohe Temperaturen durch Vermittelung der noch höheren Wohnungstemperatur und der Vermittelung nicht minder der durch übermälsige Bekleidung und Bedeckung bedingten Erhitzung direkt auf den Säugling wirken. Die Wirkung äufßsert sich je nach der Heftigkeit der unmittelbar auf den Säugling einwirkenden Hitze zunächst in einer mehr oder minderen Transpiration, die wiederum eine mehr oder mindere Wasserarmut des Körpers und eine hierdurch bedingte, dem Grad der Wasserarmut ent- sprechende Herabsetzung der sekretorischen Tätigkeit des Magens zur Folge hat. Diese Herabsetzung der Magenfunktion führt zu Verdauungs- und. Stoffwechselstörungen, deren Eintritt in erster Linie von der zur Zeit der Hitzeeinwirkung noch bestehenden Toleranzbreite für die Nahrung, sodann auch von der Intensität der Hitzewirkung abhängig ist. Der Verlauf der Erkrankung wird beeinflufst zunächst wieder von der Intensität der Hitze- wirkung (die stürmisch verlaufenden in kurzer Zeit ad exitum kommenden 1) Medizin. Klinik 1911. Nr. 50, 8. 1941: [ee] b) Kurt Jester, Fälle), sodann aber von der Fortdauer der Schädigungen, als welche jetzt nicht nur die Hitze sondern auch die Art und Menge der Nahrung anzusehen ist, und endlich von der Konstitution und der gleichzeitigen Wirkung anderer schädigender Hilfsursachen. Wenn ich nach dem Vorausgegangenen auch die Auffassung Rietschels teile, dals der verderbliche Einfluß der Sommerhitze auf den Säugling wesentlich ein direkter ist, so kann ich ihm doch nieht dahin folgen, der Hyperthermie bei der Sommersterblichkeit irgend welche Rolle zuzuerteilen. Die Einteilung, welche er für das klinische Bild der Sommerbrechdurchfälle gibt, ist mir immer gezwungen erschienen, weil er bei dem trotz aller Ver- schiedenheiten doch einseitigem Krankheitsbild für den einen Teil die Hyper- thermie, für den anderen die Schädigung des Verdauungsapparates als Folge der Hitze heranzieht. Die wahrscheinlichste Erklärung für die Ursache der Sommersterblichkeit wird doch immer die sein, welche für die ver- schiedenen Typen desselben Krankheitsbildes als Folge der Einwirkung der Hitze die gleichen Schädigungen nachweisen kann. Das ist aber bei der Annahme einer Hyperthermie unmöglich, da eine grofse Reihe der Brechdurchtälle ohne jede Temperatursteigerung verläuft. Ich glaube, daß die Temperatursteigerungen lediglich ein alimentäres Fieber sind, das uns ja bei der Dyspepsie und besonders bei der Intoxikation bekannt ist. Ich kann nach dem Vorangegangenen auch Rietschel dahin nicht folgen, das Problem der Sommersterblichkeit der Säuglinge als ein Wohnungs- problem zu betrachten. Wir haben doch gesehen, dals die in diesen Wohnungen durch eine schlechte Bewirtschaftung derselben und zu warme Kleidung des Säuglings hervorgerufene Hitzewirkung zu einer Beeinflussung der Ernährung führt, so würde also das Problem der Sommersterblichkeit ‚der Säuglinge nicht ein Wohnungsproblem sondern ein Nahrungsproblem sein (allerdings in anderem Sinne als man es früher aufgefalst), oder noch besser, um mich eines Ausdrucks Rietschels zu bedienen, ein komplexes Problem. Die Wichtigkeit guter Wohnungen soll nicht geleugnet werden, aber eine Besserung der Säuglingssterblichkeit lediglich von der Besserung der Wohnungsverhältnisse abhängig machen, hiefse sie ad calendas graecas vertagen. In der neuen Bauordnung für Königsberg z. B., die mit grofser Strenge gehandhabt wird, ist auf hygienische Forderungen, besonders auf Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 39 Gewinnung ausreichend grolser Höfe, auf Beschränkung der Geschofszahl, auf Sicherung des Zutritts von Licht und Luft die gröfste Rücksicht genommen. Aber diese Vorteile kommen doch erst in Neubauten zur Geltung; die Häuser, in denen jetzt die Proletarierwohnungen sind — und die sind in mancher Stadtgegend, so z. B. auf dem Rofsgarten, der besonders an der Sommersterblichkeit beteilist ist, in der Fahrenheidstrafse, noch gar nicht alte Häuser — werden noch in Jahrzehnten benutzt werden. Ein Abbruch wird, wenn nicht ganz besondere Verhältnisse eintreten, schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht erfolgen können. Zu einer polizeilichen Schliesung wird man es aber, da die Bauten ja vorher polizeilich genehmigt und abgenommen sind, wenn nicht ganz arge Mifsstände eingetreten sind, selbst bei einer Anhäufung von Sterbefällen in einem Hause schon deshalb nicht kommen lassen, weil man mit Recht einwenden wird, dafs die Schäden nicht so an der Wohnung als an der schlechten Bewirtschaftung der Wohnung liegen. Wenn wir die Sommersterblichkeit herabsetzen wollen, müssen wir da weiter arbeiten, wo wir mit Erfolg angefangen haben, das ist vor allem in der Belehrung der Proletarierbevölkerung. Ich habe schon eingangs darauf hingewiesen, dafs sich die Verhältnisse in der Milchversorgung und in der Behandlung der Milch auch in der Proletarierwohnung ganz erheblich gebessert haben. Auch die ungebildete Arbeiterfrau weils heute, wie sie die Säuglingsmilch zu behandeln hat. Solche Zustände wie sie Heubner in seiner früheren distriktsärztlichen Tätigkeit schildert, wo die Säuglings- milch mit allen möglichen Nahrungsresten Erwachsener aufbewahrt wird, habe ich nicht mehr bemerken können. Und auch die Kollegen, welche noch mehr Gelegenheit haben, in diese Wohnungen zu kommen als ich, werden, wenn sie genau darauf achten, bestätigen müssen, dals so etwas zu den seltenen Ausnahmen gehört. Worin aber von der Proletarierbevölkerung in unglaublicher Weise gefehlt wird, das ist, dafs ihr fast jegliches Verständnis für eine geeignete Bewirtschaftung der Wohnung und besonders für eine geeignete, den Witterungsverhältnissen angepafste Bekleidung des Säuglings abgeht. Sie wissen zwar, dals die Wohnung sauber zu halten ist, dals sie aber auch gut gelüftet werden mufs, ist ihnen gewöhnlich nicht vertraut. Ich habe 40 Kurt Jester, nur kürzlich Gelegenheit gehabt, in die Zweizimmerwohnung eines Militär- anwärters zu kommen, in der die peinlichste Sauberkeit obwaltete; aber die Hitze und die Luft, die in dem geräumigen und hellen Zimmer herrschte, spottete jeder Beschreibung. Und das findet man immer wieder. Die — ich möchte sagen — Scheu vor frischer Luft wird noch verstärkt, wenn in dem Zimmer ein Säugling liest, dem die frische Luft doch schaden könnte. Dafs selbst in der heilsesten Sommerzeit nachts das Fenster geöffnet wird, gehört zu den Seltenheiten. Da in den Proletarierfamilien der Tag früh anfängt, wird auch sehr früh schlafen gegangen, so wird schon um 9 Uhr oder noch früher alles fest geschlossen, und die am Tage schon unerträgliche Luft und Hitze wird nun noch durch die Ausstrahlung ‘von den Wänden und den Aufenthalt mehrerer Personen in einem Raum vermehrt. Nicht die Möglichkeit, einer kühlen und frischen Luft den Zutritt zu verschaffen, fehlt — die ist nachts wenigstens in fast jeder Wohnung vorhanden — sondern das Verständnis für die Zweckmälsigkeit und jede Empfindung für heifse und verbrauchte Luft. Was für verkehrte Ansichten über die Bekleidung und die Lager- stätten des Säuglings herrschen, habe ich schon oben geschildert. Es fehlt eben das Bewulstein dafür, dals zu warme Bekleidung im Sommer ebenso schädlich ist wie im Winter eine zu leichte. Ich habe auch schon kurz erwähnt, dals betreffs der Ernährung Fehler gemacht werden, allerdings nicht insoforn als eine unsaubere oder verdorbene Nahrung verabreicht wird, sondern insofern als zuviel gegeben wird. Über die zweckmäfsige Verdünnung der Milch sind die Frauen heute ziemlich orientiert; eher wird etwas mehr Wasser hinzu- genommen und das würde ja im Sommer nur gut sein. Sie geben aber die Nahrung in zu kleinen Intervallen besonders auch nachts und geben vor allem die einzelnen Portionen gröfser, als es für den Säugling zu- träglich ist. Aus Furcht, dafs die Darreichung von Milch im Sommer zu Durchfall führen kann, wird in vielen Fällen Haferschleim gegeben, dessen Quantität nun aber auch das Erlaubte übersteigt. Jede Mutter glaubt eben, dafs der Säugling umsomehr zunimmt, je mehr sie in ihn hineinfüllt. So kommt es zu einer Überfütterung, die ich im August und September vorigen Jahres in der Poliklinik fast bei allen Fällen feststellen Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 41 konnte und die nach dem Vorangegangenen besonders im Sommer zu Schädigungen führen muls. _ Die Aufklärung der Proletarierbevölkerung in diesen Beziehungen wird allein und am ehesten zu dem gewünschten Ziele führen. Für die unehelichen Kinder ist die Möglichkeit dazu geboten bei der Kontrolle durch die Waisenpflegerinnen und durch die Poliklinik, in der sie vorgestellt werden müssen; und wir haben gesehen, dafs hier der Erfolg auch nicht ausgeblieben ist. Für die ehelichen Kinder bleibt zu- nächst nur die Sprechstunde, in der die Stillprämien ausgeteilt werden. Die Belehrung kommt aber nur einem verschwindend kleinen Teil und zwar nur den Müttern, die stillen, zu gute, während die Mütter der Flaschen- kinder, für die diese Belehrung ganz besonders wichtig, hier nicht in Betracht kommen. Ein greifbarer Fortschritt wird meines Erachtens erst zu erreichen sein, wenn der Allsemeinpraxis treibende Arzt, namentlich der Kassenarzt und ganz besonders die Hebammen diesen Vorgängen mehr Verständnis und Interesse entgegenbringen. Es ist schon so oft ausgesprochen, dafs in der Beziehung recht viel zu wünschen übrig bleibt. Das soll natürlich kein Vorwurf gegen den Arzt sein. Man kann von einem vielbeschäftigten Kassenarzt nicht verlangen, dafs er sich nach des langen Tages Mühe und Lasten noch in pädiatrische Abhandlungen vertieft, die ihm zudem noch schwer zugänglich, weil sie in Spezialzeitschriften abgedruckt sind. Ja er wird auch gar nicht das rechte Interesse dafür haben, weil ihm die nötige Grundlage dafür fehlt. Die kann er eben nur an einer Universität erlangen, an der eine Kinderklinik oder doch ein Säuglingsheim existiert, in dem er Gelegenheit hat Ernährungs- und Stoffwechselvorgänge am gesunden und kranken Kinde zu beobachten. In einer Poliklinik, die überdies zur Vor- stellung nur das Material verwerten kann, das gerade die Sprechstunde besucht, ist das nicht möglich. Dem angehenden Arzt imponieren aulser- dem Krankheitsfälle viel mehr, und er wird ihnen mehr Interesse ent- gegenbringen als einem gelegentlichen Vortrag über Säuglingspflege- und Ernährung, bei dem er nichts sieht. Es kommt dazu, dafs er bei dem srolsen Pensum, das er zu überwältigen hat, seine Aufmerksamkeit zuerst denjenigen Fächern zuwenden wird, in denen er beim Staatsexamen eine Nova Acta XCVII. Nr.9. 6 42 Kurt Jester, Prüfung abzulegen hat. Um diesen Mängeln abzuhelfen ist ja noch jüngst auf der Naturforscherversammlung in Königsberg ein diesbezüglicher Antrag an die zuständige Stelle abgesandt, der aber auch für Königsberg bisher keine Berücksichtigung gefunden. Das ist um so bedauerlicher, als durch die unaufhörlichen Bemühungen Prof. Falkenheims das zur Erbauung eines Säuglingsheims nötige Geld aus privaten Mitteln beschafft worden ist. Noch viel wichtiger aber ist die Aufklärung durch die Hebammen. In Königsberg ist es allgemein üblich, dafs die Frauen der niederen Stände in allen den Säugling betreffenden Fragen sich zunächst an die Hebamme wenden, die ihnen von der Entbindung her bekannt ist. Die Hebamme, durch deren Hand ja jedes Kind geht, hat besonders in den ersten Tagen der Wochenpflege reichlich Gelegenheit in jeder Proletarierfamilie die Mutter über eine zweckmäßsige Ernährung und Haltung des Säuglings zu belehren. Bei dem grolsen Einflufs, den die Hebammen hier wenigstens auf die Frauen haben, könnte ein Erfolg gar nicht ausbleiben, wenn sie in der Säuglingspflege und Ernährung, namentlich auch von der grofsen Wichtigkeit des Stillens irgend welche Kenntnisse hätten. Aber es ist fast unglaublich, welche Unkenntnis über diese Fragen unter ihnen herrscht, und wir kämpfen vergebens gegen Verkehrtheiten an, weil sie immer wieder von den Hebammen empfohlen werden. Ich erwähne nur das wochen- ja monatelange Tragen der Nabelbinden, die Wickelbänder, die Behandlung des Soor mit Rosenhonig, das Auswischen des Mundes mit Glyzerin, damit das Kind besser sauge. Natürlich gibt es auch hier Aus- nahmen. Aber das sind nur die, welche in der praxis aurea zu tun haben. Ebenso wie die Erlaubnis zur Hebammentätigkeit abhängig gemacht ist von dem Bestehen eines Examens in den geburtshilflichen Handleistungen vor einem Gynäkologen, mülste sie abhängig gemacht werden von dem Bestehen einer Prüfung in den wichtigsten Punkten der Säuglingspflege und -Ernährung vor einem Pädiater. Eine Herabsetzung des Sommerbrechdurchfalls der Säuglinge wird trotz der gewaltigen Fortschritte, die die Pädiatrie in den letzten Dezennien auf dem Gebiete der Ernährungs- und Stoffwechselvorgänge zu verzeichnen hat, nicht von einer diätetischen oder gar medikamentösen Therapie sondern von der Prophylaxe zu erwarten sein. Hier wiederum werden nicht kost- Die Sommersterblichkeit der Säuglinge. 45 spielige und schwer erfüllbare soziale Mafsnahmen, sondern eine Aufklärung der breiten Volksmasse den Erfolg bedingen. Für diese Aufklärung ein- zutreten, sich selbst daran zu beteiligen, wird für jeden eine lohnende und befriedigende Aufgabe sein, die der Familie Kummer und Sorge, vergebens aufgewandte Mühe und Arbeit erspart, dem Staate aber einen erheblichen Teil seiner Volkskraft und seines Nationalvermögens erhält. 6* } IR Kb AuctpE) NOMAT ACTA. Abh. der Kaiserl. Leop. Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVIH. Nr. 10. Über den morphologischen Wert des Ductus obturatorius bei den Aphanipterenweibehen, Von „Dr. A. Dampf, Assistent am Kgl. Zoologischen Museum, Königsberg i. Pr. Mit 8 Abbildungen. Eingegangen bei der Akademie am 21. April 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a.S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. u Er m [Ps | 7” : ib h - a E N „ ei Pr 5 Pr ar” iR » f wi ae g kin - Br B Ban J - 2 < 260; Fig. 2. Typhloceras poppei (J. Wagn.) (Sardinien, Kraulse leg.), Vergr. >< 260; Fig. 3. Xenopsylla cleopatrae (Rothsch.) (Ägypten, coll. Rothschild), Vergr. > 355; Fig. 4. Xenopsylla pallida (0. Taschb.) (Belutschistan, Zoolog. Staatssammlung, München, Zugmayer leg.), Vergr. > 260; Fig. 5. Echidnophaga gallinacea (Westw.) (Chiwa, Zoolog. Staatssammlung, München, Zug- mayer leg.), Vergr. > 260; Fig. 6. Ceratophyllus laverami (Rothsch.) (Kreuznach, Geisenheyner leg.), Verg. 190; Fig. 7. Ceratophyllus mustelae (Dale) (England, eoll. Rothschild), Vergr. >< 190; Fig. 8. Chaetopsylla rothschildi (Kohaut) (Vukovar i. Slavonien, Freiherr v. Geyr leg.), Vergr.:>< 190. Es bedeutet: B. c. — Bursa eopulatrix; D. db. — Ductus bursae eopulatrieis; D. 0. — Duetus obturatorius; D.s. — Ductus seminalis; P. c. = Pars communis ducti seminalis et obturatorii; R.s. = Receptaculum seminis; V. — Vagina. Verzeichnis der zitierten Literatur. . Dampf, A.: Mesopsylla eueta n. g. n. sp. (Zoolog. Jahrb., Suppl. 12, Heft 3 [Festschr. f. M. Braun]. S. 609— 664. 34 Abbild. [1910]). . —: Aphaniptera in: Avifauna Spitzbergensis, herausgeg. v. Koenig. Bonn 1911. 8. 276—279. 4 Fig. . —: Zur Kenntnis der Aphanipterenfauna Westdeutschlands. (Sitzungsber., herausgeg. vom Naturhist. Ver. d. preufs. Rheinl. u. Westfalen für das Jahr 1911. S. 73—113. Taf. I—V.) . Lals, M.: Beiträge zur Kenntnis des histologisch-anatomischen Baues des weiblichen Hundeflohes. (Zeitschr. wiss. Zoolog., 79, 1905. 8. 73—131. Taf. V, VI) . Qudemans, A.C.: Über den systematischen Wert der weiblichen Genitalorgane bei den Suctoria (Flöhen). (Zoolog. Anz., 34, 1909. 8. 729—736. 11 Fig.) . Wagner, J.: Notice on insects with a double receptaculum seminis. (Zoolog. Anz., 27, 1903. 8. 148—150. 1 Fig.) an u NEON AT ACTA. Abh. der Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr. 11. Untersuchungen zur auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung am lebenden Menschen. Von Prof. Dr. Karl Dehio in Dorpat. Mit 1 Tafel und 1 Fisur. Eingegangen bei der Akademie am 9. Mai 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a.S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. if Yu B Pe a, 2 u ER 5 i4% usb fl TiEr Jir 1 ‚le IE} hs Fi = fastanladrietai it LA 9 2 0255 An im Jahre 1890 die von Riva-Roceci ersonnene Methode zur Bestimmung des arteriellen Blutdruckes am lebenden Menschen bekannt wurde, bedeutete das für die klinische Krankenuntersuchung einen sehr wichtigen Fortschritt. Mit Hilfe des Riva-Roccischen Spygmomanometers können wir den in der Arteria branchialis vorhandenen Blutdruck und somit auch den in der Aorta herrschenden, von dem der Oberarm-Schlagader nicht nennenswert verschiedenen Blutdruck mit. einer für klinische Zwecke ge- nügenden Genauigkeit abschätzen. Wird der Manometer mit der von Recklinghausen angegebenen breiten Luftmanschette verbunden, so gibt der Apparat Druckzahlen an, die bei einem Menschen von: mittlerer Er- nährung und einem das Normalmals nicht überschreitendem Fettpolster den faktischen Blutdruck nur um 5—10 mm Quecksilberdruck überschreiten. Bei Fettleibigen wird der Fehler wohl etwas grölser, bei sehr mageren Menschen geringer sein. Die Abschätzung dieses Fehlers muls im gegebenen Einzelfall dem Ermessen und der Erfahrung des Untersuchers überlassen bleiben, wird aber bei klinischen Untersuchungen, wo es auf 5 mm Blut- druck mehr oder weniger kaum ankommt, nicht allzu sehr ins Gewicht fallen. Wir dürfen eben nicht vergessen, dafs der Blutdruck des lebenden Menschen ein sehr labiles Ding ist, welches schon durch geringe Körper- und Gemütsbewegungen, durch Heben eines Armes oder durch die den Kranken interessierenden oder beunruhigenden Manipulationen beim Anlegen der Manschette in höherem Grade beeinflufst werden kann, als es durch die eben erwähnten Fehlerquellen geschehen könnte. Wir haben es eben nur mit einer für klinische Zwecke genügenden Abschätzung, nicht aber mit 1* 4 Karl Dehio, einer den exakten Anforderungen der Physiologie oder gar der Physik ent- sprechenden Messung des Blutdruckes zu tun. Wenn also die bei ver- schiedenen Personen gefundenen Blutdruckzahlen nur mit Vorsicht und unter gewissenhafter Berücksichtigung der individuellen Fehlerquellen untereinander verglichen werden dürfen, so wird es doch jedem erfahrenen und mit dem Gebrauch des Manometers vertrauten Beobachter aufgefallen sein, wie gut und genau die bei wiederholten Untersuchungen und an verschiedenen Tagen gewonnenen Zahlen bei einer und derselben Versuchsperson ceteris- paribus, d. h. unter gleichen Bedingungen der körperlichen und psychischen ruhe, gleichen Verdauungsphasen usw. übereinstimmen. Hier lassen sich die Zahlen sehr wohl untereinander vergleichen und geben oft wertvolle Aufschlüsse über die den Kliniker interessierenden Fragen nach der jeweiligen Leistungsfähigkeit des Zirkulations- Apparates, den Fıfolg einer die Erhöhung des Blutdruckes oder die Besserung des Kreislaufs be- zweckenden Behandlung mit Dieitalis usw. Wir dürfen aber nicht vergessen, dals die Riva-Roccische Methode, bei der wir mit Hilfe des palpierenden Fingers denjenigen Blutdruck be- stimmen, welcher im Moment des Verschwindens des Radialpulses in der zugehörigen Brachialarterie herrscht, nur den sogenannten maximalen Blutdruck angibt, der auf der Höhe der Pulswelle vorhanden ist. Nun habe ich schon auf dem Kongrels für innere Medizin im Jahre 1904') darauf hingewiesen, dals für den Kliniker die Bestimmung des minimalen, im Moment des tiefsten Punktes des Wellentales bestehenden Blutdruckes von nicht geringerer Wichtigkeit wäre, denn bei der gleichzeitigen Kenntnis des maximalen und minimalen Blutdrucks werden wir nicht blofs Kenntnis erlangen von der Gröfse und Höhenlage der pulsatorischen Blutdruck- schwankung, der sogenannten Druckamplitude des Pulses, sondern wir könnten dann auch den mittleren Blutdruck bestimmen, auf den es bei der Beurteilung des Effektes des Kreislaufes in erster Linie ankommt. Meines Wissens sind Jenaway in Amerika und ich die ersten ge- wesen, die unabhängig voneinander sich mit der Frage des minimalen Blut- druckes beschäftigt haben und im wesentlichen auf das gleiche Verfahren 1) Verh. des Kongresses für innere Medizin. Bd. 21. 1904. S. 167. Kritik der auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung usw. {0} zur klinischen Bestimmung desselben verfallend sind.') Hier eine kurze Beschreibung des Verfahrens, die zum Verständnis des Folgenden nicht umgangen werden kann. Man legt zunächst die Recklinghausensche Manschette um den Oberarm des zu untersuchenden Menschen und ver- bindet sie mit dem Sphymomanometer. Sodann befestigt man im der ge- gewöhnlichen Art einen Jaquetschen Sphygmographen auf der Arteria radialis desselben Armes und beschickt ihn mit einem möglichst langen Strämel berulsten Papieres. So lange nun die Manschette nicht aufgeblasen ist, zeichnet der Sphygmoegraph die gewöhnliche Pulskurve, wie ‚sie dem untersuchten Fall zukommt. Beginnt man nun bei fortlaufendem Gang des Sphysmographen mit der allmählichen Aufblasung der Manschette, so wird zunächst die Pulskurve nicht verändert. Erst mit dem Moment, wo der Luftdruck in der Manschette dem minimalen Blutdruck in der Brachial- arterie gleich wird oder ihn eben zu überschreiten beginnt, wird die durch die komprimierte Stelle der Arterie hindurchtretende Blutmenge kleiner, nnd dem entsprechend verkleinert sich auch der Puls und das sphygmographische Bild der Pulskurve (vgl. die beigefügte Kurventafel). Wenn man die auf dem Anfangsteil der Kurven sichtbaren Pulswellen mit den folgenden, wo sie schon kleiner geworden sind, vergleicht, so sieht man leicht, dafs die Verkleinerung sich dadurch merklich macht, dafs sowohl die Höhe der Welle abnimmt, als auch der absteigende Schenkel steiler ab- fällt und die Grundlinie eher erreicht als vorher; der gesamte von der Kurvenlinie und der Grundlinie umschriebene Flächenraum wird dadurch kleiner und gibt uns eine Vorstellung von der Verkleinerung der mit der Pulswelle geförderten Blutmenge. Je nach der ursprünglichen Form der Pulswelle fällt das eine Mal mehr das Sinken der Pulshöhe, das andere Mal mehr der rasche Abfall des katakroten Schenkels ins Auge. Immer aber beginnen diese Veränderungen nur allmählich, so dafs man Vergrölserungs- glas und Mefszirkel zu Hilfe nehmen muls, um genau die erste Welle zu !) Das von mir ersonnene Verfahren zur klinischen Blutdruckmessung ist zuerst von Masing in seiner auf meine Veranlassung und unter meiner Leitung ausgeführten Arbeit “Masing, Verhalten des Blutdrucks usw. Dtsch. Arch. 1902. Bd. 74“ beschrieben und benutzt worden und hat seitdem unter der Bezeichnung der Masingschen Methode der Blutdruck- bestimmung das Bürgerrecht in der Literatur erworben. 6 Karl Dehio, erkennen, an der diese Veränderungen sich geltend machen. Sind, wie es zuweilen schon von Hause aus der Fall ist, leichte Ungleichheiten der Puls- wellen vorhanden, so kann die Bestimmung des Ortes, wo die ersten Zeichen der Kompression des Gefälses eintreten, zwischen ein Paar Wellen schanken. Dadurch wird die Genauigkeit der Methode natürlich beeinträchtigt, aber doch nur um so geringe Werte, dafs ihre klinische Brauchbarkeit darunter kaum leidet. Es ist leicht einzusehen, dafs an dem Ort der Kurve, wo die ersten Zeichen einer beginnenden Verkleimerung der Pulswelle eintreten, die Höhe des minimalen Blutdruckes oder mit anderen Worten die untere Grenze der pulsatorischen Blutdruckschwankung gelegen ist. Lälst man nun den Sphygmo- graphen ruhig weiterlaufen bei stetiger weiterer Steigerung des Luftdruckes, so werden die aufgezeichneten Pulse immer kleiner und kleiner, bis sie schliefslich ganz schwinden und der Schreibhebel statt der Pulse eine horizontale Linie zeiehnet. Der Stillstand des Schreibehebels gibt den Punkt an, wo der Luftdruck in der Manschette so grols geworden ist, dals im Moment des höchsten pulsatorischen Blutdruckes kein Blut mehr durch die komprimierte Stelle der Arterie durchgeprelst wird, wo also der Druck in der Manschette dem auf dem Gipfel der Pulswelle vorhandenen Blutdruck gleich geworden ist oder ihn zu überschreiten beginnt. Hiermit ist, wie leicht einzusehen, die obere Grenze der pulsatorischen Blutdruckschwankung oder die Höhe des maximalen Blutdruckes auf der Kurve erreicht. Es kommt nun weiter darauf an auf der vom Sphygmographen ge- zeichneten Kurve zugleich auch die am Sphygmomanometer jeweils erreichte Druckhöhe aufzutragen; dieses lälst sich mit genügender Zuverlässigkeit durch eine kleine Vorrichtung erreichen, die mein Assistent Kaplan am Jaquetschen Sphygmographen angebracht hat (siehe nebenstehende Figur). Sie besteht aus zwei Gummiballons, «a und b, die gemeinsam in ein dünnes, etwa 1 m langes Gummirohr ce auslaufen. Ans andere Ende des Rohres ist eine kleine aus Kondomgummi hergestellte Blase von Haselnuls- grölse d befestigt, die durch einen leichten Druck auf die Gummiballons « oder 5 aufgeblasen wird und beim Nachlals des Druckes wieder kollabiert. Diese kleine Gummiblase wird auf die obere Fläche des Gehäuses des Sphysmographen mit einem Paar dünner Zwirnsfäden dadurch festgehalten, SEE Kritik der auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung usw. Ü dafs diese Fäden e unter dem kurzen Hebel des Sekundschreibers durch- laufen und von hier aus über die Blase wegziehen und an der Hinterwand des Gehäuses befestigt sind.') Ein Druck auf einen der luftgefüllten Gummiballons, den der Be- obachter des Sphygmomanometers oder sein Assistent in der Hand hält, genügt, um die Gummiblase momentan aufzublasen. Hierdurch werden die Zwirnsfäden angespannt und der Sekundenschreiber, dessen Uhrwerk ab- gestellt ist, gehoben und in Bewegung gesetzt, so dals er eine Zacke in den Kurvensträmel zeichnet. Sobald der Druck aufhört, kollabiert die Blase und der Hebel sinkt zurück. So ist es dem Beobachter möglich, die bei der fortschreitenden Anfüllung der Manschette erreichten Druck- werte auf dem Sphygmogramm zu notieren; er braucht nur den Gummi- ballon momentan zusammenzudrücken, sobald die Werte von 30, 40, 50 usw. Millimetern erreicht sind, und dieselben sind sofort in der Kurve festgelegt, genau an der Stelle, die unter dem angegebenen Druck gezeichnet wurde. Bei der Kombination des Sphygmomanometers und des mit der Kaplanschen Markiervorrichtung versehenen Sphygmographen erhalten wir also Kurvenbilder, auf denen die im Manometer erzeugten Druckhöhen 1) Auf dem Bilde ist das Gummirohr gegabelt und mit zwei Ballons versehen; auf diesen Punkt soll im weiteren Verlauf der Arbeit eingegangen werden. fo) Karl Dehio, sowie die durch die letzteren bewirkten Veränderungen der Pulswellen ein- getragen ist. Wir haben nun den Punkt aufzusuchen, wo die Pulswellen kleiner zu werden beginnen und den zugehörigen Druck auf der Kurve abzulesen und haben damit den minimalen Blutdruck im gegebenen Fall bestimmt. Wir haben ferner nur den Punkt aufzusuchen, wo die letzte kleine Pulswelle verschwunden ist und der entsprechende auf diesem Punkt verzeichnete Druek nennt uns die Höhe des maximalen Blutdrucks. Das soeben beschriebene Verfahren ist natürlich nicht das einzige, nach dem man versucht hat, den Pulsdruck zu bestimmen; es ist aber neben der später von Uskow') angegebenen die einzige Methode, um objektive, demonstrierbare Bilder zu erlangen.) Der einzige vom subjektiven Er- messen des Experimentators nicht völlig losgelöste Vorgang ist die Markierung der fortschreitenden Druckhöhen. Doch ist das eine so einfache Sache, dafs hier wesentliche Irrtümer nicht passieren können, zumal wenn man am Apparat zwischen Manschette und Manometer einen aus einer Zweiliterflasche bestehenden Windkessel einschaltet, durch den die während des Steigens und Nachlassens des Druckes eintretenden pulsatorischen Schwankungen der Quecksilbersäule gedämpft werden, so dals das Ablesen des Druckes keine Schwierigkeiten macht. Ich kann aber nicht leugnen, dals meine Methode den wesentlichen Nachteil hat, dals sie ziemlich umständlich und zeitraubend ist und daher wohl in der Klinik nützlich und für wissenschaftliche Untersuchungen geeignet, aber für den praktischen Arzt am häuslichen Krankenbett nicht recht brauchbar ist. Es müssen die Papierstreifen berulst, die gewonnenen Kurven fixiert, der Sphygmograph genau der Radialarterie adaptiert werden und — was die Hauptsache ist, die Bestimmung des Punktes des minimalen Druckes ist manchmal recht schwierig und verlangt, soll sie zuverlässige Resultate ergeben, eine grolse Genauigkeit bei der Ausmessung der Puls- kurven. 1) Zeitschrift für klinische Medizin. Bd. 66. 1908. 2) Dabei darf nicht vergessen werden, dafs der Uskowsche Apparat nicht den wirklichen Puls, sondern die durch den Puls in der Luft der Manschette hervorgerufenen Druckschwankungen aufzeichnet, während bei meinem Verfahren das sphygmographische Bild der Pulswelle selbst gewonnen wird. Kritik der auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung usw. 5) Daher war es mit Freude zu begrülßsen, als Korotkow!') und un- abhänsig von ihm auch Fellner’) eine neue viel einfachere Methode zur Bestimmung des maximalen und minimalen Blutdruckes mit Hilfe der Aus- kultation der zu untersuchenden Arterie angaben. Diese sogenannte aus- kultatorische Methode der Blutdruckbestimmung benötigt blofs eines Riva- Roceischen Sphygmomanometers und eventuell eines Stethoskopes oder Phonendoskopes, und wird so ausgeführt, dafs man die Recklinghausensche Manschette um den Oberarm legt und sodann in der gewöhnlichen Weise aufbläst. Wenn man nun die Brachial- Arterie gleich oberhalb der Man- schette oder in der Ellenbeuge auskultiert, so hört man bei fortschreitender Erhöhung des Luftdruckes in der Manschette mit dem Puls der Arterie isochrone Töne auftreten, die anfänglich leise sind, aber bei einer weiteren Steigerung des Druckes um 3—6 Millimeter entweder plötzlich oder all- mählich lauter und sehr deutlich werden. Diese lauten T’öne dauern weiter- hin an, bis die Arterie fast vollkommen komprimiert ist, werden dann rasch leise und hören natürlich ganz auf, sobald die Arterie vollkommen, bis zum Verschwinden ihres Lumens zusammengedrückt ist. Zuweilen geht dem Leisewerden der Töne noch eine Periode voran, in der die lauten Töne sich in deutliche pulsatorische Stenosengeräusche verwandeln, wie sie auch bei der Auskultation einer grölseren Arterie durch den Druck des Stetho- skopes leicht erzeugt werden können. Wir können also drei — respektive vier Phasen der Schallerscheinung unterscheiden, die sich bei ansteigendem Druck so aufeinander folgen, dals zuerst eine Phase der initialen leisen Töne, sodann die der lauten Töne, sodann zuweilen, aber nicht immer, die der Stenosengeräusche, und endlich die der finalen leisen Töne auftritt. Es kommt auch vor, dafs die Töne von Anfang an sehr laut und deutlich zu hören sind oder so plötzlich aufhören, dafs die leisen finalen Töne nicht, oder kaum zu hören sind. Der Beginn des geschilderten akustischen Phänomens soll den Punkt bezeichnen, wo der Manschettendruck den minimalen Blut- druck erreicht hat, und das Ende des Phänomens mufs natürlich dem Moment entsprechen, wo der Luftdruck den maximalen Blutdruck überwunden hat. !) Wratschebnaja Gaseta 1906. Nr. 5 u. 6. 2) Verhandlungen des Kongrefs für innere Medizin. Bd. 24. S. 404. 1907. Nova Acts XUCVII. Nr. 11. 2 10 Karl Dehio, Die Töne, sowie ihr Entstehen und Schwinden sind leieht zu be- obachten, nur mu/s man mit der Benutzung des Stethoskops vorsichtig sein und allen Druck auf die Arterie vermeiden, weil sonst sehr leieht künstlich in der Arterie Stenosengeräusche hervorgerufen werden, die die Beobachtung stören. Ich ziehe es daher vor, mein Ohr direckt auf die Manschette zu lesen und durch dieselbe hindurch zu auskultieren, was keine Schwierigkeiten macht und den Vorzug hat, keinen Fehler der Beobachtung hervorrufen zu können, weil so der etwaige Druck des Ohres sich nicht nur an der Arterie, sondern ebenso am Manometer bemerklich machen muls und dadurch un- schädlich wird. Wenn die soeben beschriebene auskultatorische Methode der Blut- druckbestimmung zuverlässige Resultate gibt, so hätten wir in ihr jedenfalls eine brauchbare klinische Untersuchungsmethode Um ein Urteil über die Brauchbarkeit , derselben zu gewinnen, sind schon mehrfache vergleichende Untersuchungen zwischen ihr und den anderen Methoden vorgenommen worden, die im ganzen eine gute Übereinstimmung mit dem Korotkowschen Verfahren ergeben haben.') Da bei diesen Untersuchungen vorwiegend Vergleiche mit der oseilla- torischen, Recklinghausenschen und Uskowschen Methode vorgenommen worden sind, so habe ich es nicht für überflüssig gehalten, auch meine graphische Methode der Blutdruckmessung mit der Korotkowschen zu vergleichen. Da die sichtbaren und melsbaren Veränderungen der Pulskurve in meinem Verfahren objektiv feststellbar sind, hoffte ich in ihnen zuverlässigere Ver- gleichungspunkte zu finden, als die anderen Methoden sie bieten können. In erster Linie kam es mir darauf an festzustellen, ob und wieweit die Bestimmung des minimalen Blutdruckes nach Korotkow mit den nach meiner Methode gewonnenen Daten übereinstimmt. Es ist viel darüber diskutiert worden, ob der minimale Blutdruck nach Korotkow in den Moment des Beginns der leisen Töne oder in 1) Vgl. Bickel, Zeitschr. f. exper. Pathol. u. Therap. 1909. Bd. 5 Hit. 3. Franck, ib. Bd.7. Westenrijk, Zeitschr. f. klin. Med. 1908. Bd. 66. Lang u. Manswetowa, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 1908. Bd. 94. Staehelin, Verhdlg. des Kongrefs für innere Med. 1909. Bd. 26. Kritik der auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung usw. 11 den Beginn der Phase der lauten Töne zu setzen ist. Auf Grund theo- retischer Überlegungen, die auch durch kleine experimentelle Beobachtungen gestützt werden können, halte ich die letztere Festsetzung für die richtige. So wie ein elastisches Gummiband durch plötzliche Anspannung nur dann einen Ton gibt, wenn es vorher schlapp hing und durch die Anspannung plötzlich zum Vibrieren um seine elastische Mittellage gebracht wird, nie - aber tönt, wenn es schon vorher auch nur im mindesten gespannt und durch eine weitere Dehnung sich daher nicht mehr zum Vibrieren bringen läfst, so gibt auch ein dünner Handschuhfinger aus Gummi, wenn man ihn plötzlich aus einer Spritze mit weiter Öffnung prall mit Wasser füllt, nur dann einen Ton, wenn er vorher schlapp und kollabiert dalag oder hing; war er da- gegen vorher bis zu einer wenn auch nur geringen Wandspannung mit Wasser gefüllt, so ist selbst das stärkste und heftigste Zupumpen von Wasser nicht mehr imstande, einen Ton hervorzurufen. Ebenso wird auch eine pulsierende Arterie von dem Augenblick an zu tönen beginnen, wo der Druck der Manschette eben den Innendruck so weit überwindet, dafs die bis dahin auch in der Phase des Wellentals noch elastisch gespannte Gefäls- wand nunmehr während des pulsatorischen Druckabfalles zu kollabieren und schlapp zu werden beginnt; in diesem Moment werden zunächst leise Töne eintreten müssen. Wenn der Manschettendruck aber so stark geworden ist, dafs in der Phase des Wellentales die Arterie vollständig zusammenfällt, und ihr Lumen gleich Null wird, dann müssen die Töne das Maximum ihrer Lautheit erlangen, denn nun ist die grölste Elongation der tünenden Vibrationsbewegung erreicht. Erst von diesem Moment an können die Puls- wellen kleiner werden, mithin entspricht dieser Moment des Beginns der lauten Töne dem minimalen Blutdruck und auf meinen Kurven dem Punkte, wo die Pulswellen sich zu verkleinern beginnen. Ich bin also der Ansicht, dafs die Phase der initialen leisen Töne noch nicht dem Punkte des minimalen Blutdruckes entspricht, sondern der Erreichung dieses Punktes unmittelbar vorhergehen mufs.') Mit dieser Annahme stimmen nun die Resultate meiner Untersuchungen gut überein. 1) Eine ähnliche Ausführung, allerdings ohne experimentellen Beleg, haben auch Lang und Manswetowa (l. e.) gegeben. 12 Karl Dehio, Ich habe das auskultatorische Verfahren Korotkows mit meiner graphischen Methode derart verglichen, dafs ich nach der schon beschriebenen Weise eine Pulsdruckkurve aufnahm, in welche mein Assistent durch Druck auf den Ballon « (vgl. die Fig. auf S. 7) die jeweilig erreichten Manschetten- druckwerte eintrug, während ich mit dem Ohr auf der Manschette aus- kultierte und den Moment des Eintritts und des Schwindens der Arterien- töne auf der sphygmographischen Kurve notierte. Letzteres geschah so, dals ich den Ballon 5 in der Hand haltend, blind, d. h. ohne die Kurve oder das Manometer zu sehen, die nötigen Zeichen gab. Um meiner Sache sicher zu sein, habe ich immer erst nach dem zweiten oder dritten stärkeren Schlag das Zeichen gegeben und danach auf die Kurve den Moment des Eintritts der Töne bestimmt. Die auf der bei- sefüsten Tafel wiedergegebenen Kurven sollen mein Verfahren illustrieren. Man sieht dort lange Reihen von Pulswellen allmählich kleiner werden und schliefslich ganz verschwinden, entsprechend dem allmählich anwachsenden Druck der Manschette, welcher über der Kurvenlinie durch mit Zahlen versehene Ausschläge gekennzeichnet ist; die Zahlen geben den jeweils erreichten Druck in Quecksilbermillimetern an. Die schraffierten Ausschläge bezeichnen den Ort, wo ich den zweiten respektive dritten hör- baren Puls nach Korotkow auskultiert habe, respektive wo während einer oder zweier Pulslängen keine Töne mehr zu hören waren. Nach diesen schraffierten Markierungen habe ich dann durch ‚senkrechte Pfeile die Stellen bestimmt, wo der erste, initiale, leise Pulston, respektive der letzte finale Ton zu hören waren. Die Stelle, wo die erste sicht- und mefsbare Ver- kleinerung der Pulswellen eintrat, respektive die letzte noch deutliche Wellen- erhebung schwand, habe ich durch ein kleines Kreuz gekennzeichnet. An dem Ort des ersten Kreuzes befindet sich also tatsächlich der minimale Blutdruck, an dem Ort des zweiten Kreuzes tatsächlich der maximale Blut- druck. Ich glaube, dafs diesen beiden Bestimmungen derselbe Wert objektiver Genauigkeit zukommt, wie etwa einer manometrischen Blutdruckkurve im Tierexperiment. Überschaut man diese Kurven, so bemerkt man sofort, dals das Korotkowsche Phänomen der initialen leisen Töne stets etwas früher be- sinnt, als der minimale Blutdruck erreicht ist, was ja mit meinen schon Kritik der auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung usw. 13 ausgeführten theoretischen Erwartungen durchaus übereinstimmt. Das Ver- schwinden der letzten finalen Töne fällt in den Kurven I bis III mit dem Ort des maximalen Blutdrucks gut zusammen, wie das ja auch theoretisch nicht anders zu erwarten war. Die Kurve IV dagegen zeigt ein anderes Verhalten, das nach meinen Erfahrungen nicht ganz selten zu sein scheint. Die finalen Töne verstummen nämlich ein gut Stück früher als der Zeichen- hebel des Sphygmographen stille steht. In solchen Fällen würde also das Korotkowsche Verfahren zu niedrige Werte für den maximalen Blutdruck angeben. h In der folgenden Tabelle (S. 14 u. 15) gebe ich eine Übersicht meiner Versuche und ihrer Resultate. Die mit der Überschrift: „Aufwärts“ ver- sehenen Rubriken bezeichnen Versuche, wo die Maxima und Minima bei wachsendem Druck aufgenommen sind; die mit „Abwärts“ bezeichneten sind solche, wo bei sinkendem Druck zuerst die Maximal- und dann die Minimal- werte in Quecksilbermillimetern verzeichnet sind. Mit D sind die nach meinem Verfahren, mit K die mit der Korotkowschen Methode gewonnenen Werte bezeichnet. Die in einer Sitzung erhaltenen Zahlen sind unter einem Datum notiert. Die nachstehende Tabelle bestätigt, was schon aus der Kurventafel ersichtlich ist, nämlich dafs in der Regel die initialen leisen Töne schon hörbar werden, bevor noch der minimale Blutdruck erreicht ist. Bei der in meinen Versuchen eimgehaltenen Geschwindigkeit der Drucksteigerung sind meist 2—4 leise Töne zu hören, bevor die zweite Phase mit ihren lauten Tönen beginnt. Der erste dieser leisen Töne liegt in der Regel 3 stimmte minimale Blutdruck, und die Zeit, während der der Manschettendruck 6 Millimeter Quecksilber niedriger als der nach meiner Methode be- um 3—-6 Millimeter Quecksilberdruck steigt, entspricht etwa der Dauer von drei Pulsschlägen, so dafs also der erste laute T’on ziemlich genau mit dem Moment der Erreichung des minimalen Blutdrucks zusammenfällt. Dadureh ist die schon früher theoretisch begründete Annahme bestätigt, dafs der Beginn der lauten Töne den minimalen Blutdruck anzeigt. Manchmal, z. B. bei Karl L. fallen schon die Initial- töne mit deutlichen Verkleinerungen der Pulswellen zusammen. Ich möchte dieses auffallende Verhalten durch die Annahme erklären, dafs hier die 14 Karl Dehio, Aufwärts Abwärts Minimum Maximum Maximum Minimum D K D K D K D K bei 61, wo zugleich die Rücksto/selevation | schwindet und die | Welle bedeutend nie- driger wird. Syphilis tardiva N 64 52 [106 106 | Die IM. Phase begimmt | — | — | — | — bei 72, wo die Welle | | Katharina W., 16 Jahr |7.XTL.| 54 | 48 | 104 | 104 | Die II. Phase beginnt | — — — _ bedeutend niedriger | wird. Drapassrasn! DERE 56 | 86 | — — =— — — — nervöse Herzbeschw. | , 75| 85 |116 | 116 Be D Ce: | N ss Bl — —_— | -I1- | — Karl L, 25 Jahr 7.X.| 80 | 80 | 112 | 110 =. | — Tubere. pulm. 5 78 78 | 112 | 112 =. le) ä a —|— u Oskar K., 34 Jahr 9.x1.| 74 | 72 | 113 | 110 chron. Nephritis 4 75.) al T2H0112 Conrad H., 51 Jahr jeı.x.| 9 | sl — | — Ne Syphilis cerebri 5 104 | 95 | 160 | 160 — || = „. | 112 | 108 | 162 | 156 Ba et 1 Wilhelm R., 35 Jahr |22.x.| 70 | ss [100 100 ee gesund 5 Gamer ee ee re En x 60 | 56 | 104 | 104 Ba pe ee | Rosa P., 28 Jahr 55 |I | Wre e TURM MEN) Den gesund = 65 ı 63 | 106 | 105 zu — — en 71 708 Bl22 12 —, | —= — — 8 | | Wladimir S., 30 Jahr |3.XL.| 87 83 | 128 | 125 — | = — — Tubere. pulm. ei 84 | 81 | 127 | 127 = | ar [Hape Er 1 Emilie S., 20 Jahr 25.XL) 62 60| 82 78, u Anämie 2 61.|.-59 | 82 | 81 | lee | | — | | Kritik der auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung usw. 11) Aufwärts Abwärts Minimum Maximum Maximum Minimum DI ERS DDR IR DA RER NDR ER | Anna K., 50 Jahr TORTE 269 64 | 104 | 100 Ber GE Br | rs Hysteria R 74 | 70 | 90 |, 88 95| 9 | 58 | 57 Rn 74 68 98 92 — — 58 ı 60 R 68 62 96 90 94 92 62 60 S — | — — | — 100 98 59 | 54 8.XL.| 75 71 | 102 | 92 | Korotkow gibt zu | 100 |; 90 66 | 62 | niedrige Werte für den Maximaldruck. Marie W., 57 Jahr 20.XT.| 75 , 69 | 128 | 118 EAN ee Syphilis tardiva # 61 61 | 122 | 122 PN a en ee : | El ORT A 64 | 62 | 112 | 107 ee 28.XL| 66 | 64 | 109 105 100 | 100. |. 61 | 61 n U | 103 103 | 59 | 59 »|+- | -|- | - 113 |113 | 54 | 34 Marie N., 43 Jahr SODREL 06 62 | 103 90 — — — — chron. Ieterus 5 6 2 69 66 | 115 | 100 | Der 4.Schlag ist laut | — —- | — | — | und fällt mit 69 zu- sammen. OU [ee } — I [) I [0] m - Oo (de) [0°) | | | | „| 62 | 6&| 115 | 105 | Korotkow gibt urh- | — | - I — | weg zu niedrige Werte | für den Maximaldruck. | 75 , 70. | 115 102 u a DRAN 65a | — | — | — | — : 67 | 64| 99 | 91 — |||) — R za We | ll | — Heinr. K., 61 a. e. 28.X.| 139 | 134 | — | — ehron. Schrumpfniere n 120 | 114 | 189 | 186 „ | 122 | 118 | 182 | 182 BE se] Tran lssı 182 3.x1.| 128 | 120 | 178 | 172 „ lı14 ' 110 | 175 | 161 | Korotkow gibt zu niedrigen Wert. 16 Karl Dehio, Arterie in der Phase des Wellentals nur wenige Blut enthält und ein sehr enges Lumen hat, so dals es bis zur völligen Kompression desselben nur einer geringen Vermehrung des Aufsendrucks bedarf und die erste Phase der Korotkowschen Töne daher ganz kurz wird oder vollständig fort fällt. Bei Dr. L. ist es mir zweimal passiert, dafs ich das Tönen der Pulse erst viel zu spät wahrgenommen habe. Solche Ungenauigkeiten sind mir aber nur zu Anfang meiner Untersuchungen begegnet, so dals ich geneigt bin, sie auf einen Hörfehler meinerseits zurückzuführen. . Im allgemeinen wird man nicht fehlgehen, wenn man den minimalen Blutdruck mit dem Beginn der lauten deutlichen Töne zusammenfallen läfst, an deren sichere Wahr- nehmung: das Ohr des Beobachters sich rasch gewöhnt. Was die Bestimmung des maximalen Blutdrucks anlangt, so haben wir ja nach den überall bestätigten Angaben von Riva-Rocci im tastbaren Schwund des Radialpulses ein sehr gutes Merkmal. Wir bedürfen hier keines anderen Verfahrens. Nichtsdestoweniger habe ich meine Methode mit der Korotkowschen auch hier verglichen und konstatieren können, dals beide im allgemeinen durchaus übereinstimmende Resultate ergeben. Nur in dem Fall Marie N. (chronischer Icterus), dem auch die Kurve IV der Tafel angehört, habe ich permanent nach meiner Methode und auch bei der Palpation der Radialarterie viel höhere Werte erhalten, als nach der Korotkowschen Methode. Es dauerten in diesem Fall gegen den Schlufs des Versuches noch deutliche sicht- und fühlbare Pulse fort, die aber keine wahrnehmbaren Töne mehr erzeugten. In solchen Fällen gibt das Korot- kowsche Verfahren falsche und zwar zu niedrige Werte. Worauf dieses der Regel widersprechende Verhalten beruht, habe ich nicht feststellen können, doch zeigt es uns, dafs wir zur Vermeidung von Irrtümern gut tun werden, uns bei der Bestimmung des maximalen Blutdrucks nicht mit der Korotkowschen Auskultation zu begnügen, sondern zur Kontrolle stets auch die Arterie nach Riva-Roceci zu palpieren. ; Gelegentlich bemerkt man, dafs, nachdem die progressivere Ver- kleimerung des Pulses unter dem Druck der Manschette zum Stillstand ge- kommen ist, doch noch kleinste, pulsatorische Schwankungen fortdauern, die auch bei sehr hohen Steigerungen des Druckes bis 200 Millimeter He Kritik der auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung usw. 17 und darüber nicht zum Schwinden zu bringen sind. Solche kleinste Schwankungen sieht man z. B. auf meiner Kurve II. Ich glaube, dafs sie zur Bestimmung des maximalen Blutdruckes nicht verwandt werden können, sondern dadurch entstehen, dafs nach dem Zusammenfallen des Arterien- lumens an den zusammengekniekten Stellen der Arterienwand bei einer gewissen Rigidität der letzteren kleinste Lumina übrig bleiben, durch die minimale Blutmengen durchgeprefst werden und kleinste Pulse bewirken. — Einzelne wenige Versuche habe ich so angestellt, dafs ich zunächst den Manschettendruck über den maximalen Blutdruck steigerte und sodann allmählich sinken liefs, so dafs ich bei abwärts gehenden Druckhöhen zu- erst den maximalen und sodann den minimalen Blutdruck bestimmte. Die Übereinstimmung zwischen den Resultaten meines und des Korotkowschen Verfahrens ist auch bei dieser Art der Registrierung eine befriedigende. Die Ergebnisse meiner, zur Kritik der Korotkowschen Methode der Blutdruckbestimmung unternommenen Versuche möchte ich folgender- malsen zusammenfassen: 1. Das Auftreten der lauten Töne bezeichnet den Moment, wo der vollständige Kollaps der Arterie in der Phase des Wellen- tales zum erstenmal erreicht ist und der minimale Blutdruck von dem Aufsendruck der Manschette überwunden wird. 2. Das Auftreten dieser lauten Töne kann mit einer für klinische Zwecke genügenden Genauigkeit zur Abschätzung des minimalen Blutdrucks am lebenden Menschen benutzt werden. 3. Das Verschwinden. der Töne entspricht dem Moment, wo zum erstenmal die Arterie auch auf der Höhe der Pulswelle verschlossen bleibt und somit auch der maximale Blutdruck vom Aufsendruck der Manschette überwunden wird. 4. Dieser Moment kann zur Bestimmung des maximalen Blutdrucks am lebenden Menschen benutzt werden, doch ist im Aüge zu behalten, dafs hier das Korotkowsche Verfahren ge- legentlich zu niedrige Werte ergibt und daher stets durch die Palpation der Arterie nach Riva-Rocei kontrolliert werden sollte. 18 Karl Dehio, Kritik der auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung usw. 5. Der praktische Arzt wird gut tun, am Krankenbett zur Bestimmung des minimalen Blutdruckes die Auskultation der Arterie nach Korotkow und zur Bestimmung des maximalen Blutdrucks die Palpation der Arterie nach Riva-Roceci zu be- nutzen. 6. Zur objektiven Wiedergabe und zur wissenschaftliehen Verwertung der Ergebnisse der Blutdruckmessung am Menschen ist die graphische Methode, wie sie auch von mir angegeben worden ist, am besten geeignet. er FC VOR N Nova Acta Acad. C. L. C. G. Nat. Cur. Vol. XCVIL Nr. 11. tr re ei EN l en A ER RE U N et, _ Maohrdem 2Bebsuen E nn NA — bein MER. Ih HngeH EL löige:sin sindverm. De egenıv cam deutlich, RE _Ourve Ill. SMIIE Iyfı lt s Aarcdhva- EN Bas ZhörtaverIchlag Curve IV. Ificrbarer Schlag Karl Dehio: Untersuchungen zur auskultatorische] —— EAN KHencsengeransch Methode der Blutdruckbestimmung am lebenden Menschen. Nora Acta Acad. C. L. C. G. Nat, Cur. Vol. XCVIL Nr. 11. Ourve |. Karl Dehio: Untersuchungen zur auskultatorischen Methode der Blutdruckbestimmung am lebenden Menschen NOVA ACTA. Abh. der Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr. 12. Ein beitrag zur Pathogenese eystischer Knochentumoren. Von Dr. Richard Pflugradt, Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses in Salzwedel. Mit 1 Tafel (4 Abbildungen). Eingegangen bei der Akademie am 9. Mai 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle .a.S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. nn nn nn j I A a a en u D = X D: Lehre von den cystischen Tumoren der Röhrenknochen ist eine Errungenschaft der neueren Zeit unserer Wissenschaft. Die spärlichen Beobachtungen aus früherer Zeit wurden von den Autoren durchweg in Anlehnung an die von Virchow im Jahre 1876 gegebene Erklärung als Einschmelzungsprodukte echter Geschwülste bezeichnet. Es ist möglich, dals diese Einseitigkeit in der Deutung jener komplizierten Gebilde dadurch veranlafst wurde, dafs die Erklärung Virchows vielfach milsverstanden worden ist (Milner). Doch erscheint es nur natürlich, dafs zunächst an dieser Deutung festgehalten wurde, solange das Krankheitsbild der „defor- mierenden Ostitis mit Tumoren und Öysten“ noch unbekannt war. Seit den mafssebenden Darlesungen v. Recklinghausens, vom Jahre 1891, über die Art dieser Erkrankung, die er in nahe Beziehung zur Osteomalacie bringt, hat sich allmählich ein Umschwung in den An- schauungen über das Wesen und die Entstehung der Knochencysten voll- zogen. Die eifrige, gemeinsame Arbeit von Chirurgen und Pathologen während der letzten acht Jahre hat dann den Beweis erbracht, dafs die Mehr- zahl der bisher beobachteten Fälle nieht nur von multiplen, sondern auch von solitären Knochencysten zweifellos als zugehörig zu der Ostitis fibrosa v. Reeklinghausens aufzufassen sind, wenn auch bei der lokalisierten Form derselben ein Zusammenhang mit Osteomalacie kaum angenommen werden kann. Während danach die Lehre von dem Wesen der Knocheneysten zu einem gewissen Abschlufs gebracht ist, so besitzen wir zurzeit noch keine allgemein anerkannte Ätiologie dieser merkwürdigen Bildungen. Dafs trotz der vielen kasuistischen Beiträge aus den letzten Jahren, über die faktischen ätiologischen Momente noch so wenig Klarheit herrscht, 1* 4 Richard Pflugradt, hat fraglos darin seinen Grund, dafs die meisten Fälle erst zur Beobachtung kommen, wenn das Leiden bereits voll ausgebildet ist. Von besonderem Wert für unsere Auffassung von den Ursachen der relativ seltenen Krank- heit müssen deshalb Fälle sein, an denen die Entwicklung der Erkrankung von den ersten Anfängen an beobachtet worden ist, auf Grund deren wir am ehesten berechtigt sind, auf die mögliche Entstehungsart jener tumor- ähnlichen Cystenbildungen Schlüsse zu ziehen, welche ausschlaggebender sein dürften als rein theoretische Erklärungsversuche. Mit der nachfolgenden Beschreibung eines von mir beobachteten Krankbeitsfalles glaube ich einen kleinen Beitrag dieser Art liefern zu können. Am 5. November 1909 wurde die 17 jährige Dienstmagd Frida B. aus Altmersleben in das Kreiskrankenhaus in Salzwedel aufgenommen wegen einer Verletzung, die sie acht Tage vorher: am Abend des 28. Oktober 1909, erlitten hatte. Das Mädchen stammt aus gesunder Familie: beide Eltern leben und sind gesund, desgleichen ihre drei Geschwister. Sie selbst ist früher niemals krank gewesen. Auch hat sie bisher aufser einer Verbrennung der Haut des rechten Fufses noch keine Verletzung erlitten. Rheumatische Beschwerden kennt sie nicht. Im besonderen hat sie beim Gebrauch des rechten Arms oder beim Tragen von Lasten auf der rechten Schulter niemals Schmerzen in der Schultergegend verspürt. Eine Anschwellung in der Gegend des rechten Schlüssel- beins hat vor der Verletzung nicht bestanden. Seit ihrem 16. Lebensjahre ist sie als Magd auf dem Lande tätig und hat von Anfang an schwere Arbeit ohne leichtes Ermüden ver- richten können. Die Verletzung ist dadurch zustande gekommen, dafs sie beim Melken einer Kuh von dieser gegen die Stallwand gedrängt wurde. Sie sals während des Melkens auf einem Schemel, mit dem Rücken gegen die Stallwand, den rechten Arm mit der Schulter etwas gesenkt, als die Kuh einen Sprung zur Seite machte und das Mädchen mit der Schwere ihres Körpers schräg von oben und vorn gegen die rechte Schulter und die Brust traf und gegen die steinerne Wand prelste. Die Patientin ist dann für einige Minuten bewulstlos geworden und vom Schemel zu Boden gefallen. Als sie wieder zum Bewulstsein kam, konnte sie selbständig aufstehen und aus dem Stall herausgehen, verspürte aber einen heftigen Schmerz in der Gegend der rechten Schulter und des rechten Schlüsselbeins und vermochte nicht mehr, den schlaf? herabhängenden, rechten Arm zu erheben. Der sofort zugezogene Arzt konstatierte eine starke Anschwellung in der Gegend des rechten Schlüsselbeins als unmittelbare Folge der Quetschung, verordnete kalte Umschläge, legte aber keinen Verband an. Da nach Verlauf von acht Tagen Schwellung, Schmerzen und Funktionsstörung noch in unverändertem Grade bestanden, überwies er die Patientin in der Annahme, dafs ein Bruch des Schlüsselbeins vorliege, dem Krankenhause. Bei der Aufnahme der Patientin in das Krankenhaus ergab sich folgender Befund: Ein Beitrag zur Pathogenese eystischer Knochentumoren. 9) Kräftig entwickeltes Mädchen, von blühendem Aussehen, mit ihrem Alter ent- sprechendem grazilen Knochenbau, kräftiger Muskulatur und reichlichem Fettpolster. Körper- gewicht: 62 ke. Keine Zeiehen überstandener Rachitis oder anderer Erkrankungen des Knochen- systems. An den langen Röhrenknochen nirgends Auftreibungen fühlbar. Keine Lymph- drüsenschwellungen. An den inneren Organen keine krankhaften Veränderungen nachweisbar. Temperatur und Pulsqualität und -quantität normal. Urin frei von Eiweils und Zucker. Auf dem rechten Fulsrücken flächenhafte, oberflächliche Brandnarbe ohne Keloidbildung. Der Kopf wird nach rechts leicht geneigt gehalten. Die rechte Schulter erscheint tiefer stehend als die linke. Der rechte Oberarm ist dem Thorax genähert und etwas einwärts rotiert. Die rechte Fossa supra- und infraclavieularis sind verstrichen. In ihnen und über dem sternalen Teil des Schlüsselbeins bis zum Jugulum findet sich eine diffuse Schwellung mit beginnender Verfärbung der Haut. Die Schwellung ist durch einen subkutanen Bluterguls bedingt, der sich allmählich ohne scharfe Grenzen in die umgebenden Weichteile verliert. Über dem rechten oberen Ende des Sternum wird die Haut des Jugulum vorgewölbt durch einen rundlichen, derben Vorsprung, durch den der sternale Ansatz des Muse. sternocleidomastoideus nach der Medianlinie hin verdrängt erscheint. Bei der Palpation ist dieser Vorsprung deutlich als das luxierte sternale Ende der Clavicula zu erkennen, das sich durch Fingerdruck relativ leicht, wenn auch unvollständig reponieren lälst, beim Nach- lassen des Drucks aber sofort wieder an die frühere Stelle luxiert. Unter dem subkutanen Bluterguls ist die Clavieula deutlich palpabel. Wenige Zentimeter lateralwärts von ihrem luxierten, sternalen Gelenkende findet sich, etwa auf der Grenze zwischen ihrem sternalen und mittleren Drittel eine schräg von innen oben nach aufsen unten verlaufende Fraktur. Das spitz auslaufende mediale Ende des lateralen Fragmentes ist nach hinten und oben verschoben und von dem luxierten medialen Fragment überlagert. An der Frakturstelle deutliche abnorme Beweglichkeit mit Knochenkrepitation. Die Fragmente sind, wie bei jeder Clavieularfraktur, zu umgreifen, zeigen normale, feste Konsistenz und fühlen sich nirgends verdickt an. Ebenso entspricht die Form und Gröfse des luxierten Gelenkendes durchaus dem der anderen Seite. Sonstige Komplikationen: Läsionen von Nervenstämmen oder grölseren Blutgefälsen, finden sich nicht. Die Haut ist überall intakt. Diagnose: acht Tage alte, subkutane Schrägfraktur der rechten Clavieula auf der Grenze zwischen mittlerem und sternalem Drittel mit Luxation ihres sternalen Gelenkendes nach oben. Die Therapie bestand in Anlegung eines Sayreschen Heftpflasterverbandes, dessen dritter, als Mitella parva angelegter Streifen über das rechte Sternoclavieulargelenk geführt wird, um hier das durch Fingerdruck reponierte Gelenkende des Schlüsselbeins zu fixieren. Darüber wird ein Bindenverband nach Art des Desaultschen Verbandes angelegt. Nach sechs Tagen Erneuerung des dritten Streifens des Sayreschen Verbandes, da keine vollständige Retention des luxierten Gelenkendes erreicht ist. Nach weiteren elf Tagen Abnahme des Verbandes: Es besteht noch eine un- vollständige Luxation des medialen Endes der Clavicula, das über dem oberen Rande der sternalen Gelenkfläche fühlbar ist, und sich jetzt nicht mehr reponieren lälst. Am Ansatze des Muse. sternocleid. ist bis über die alte Frakturstelle hinaus eine mäfsig derbe Schwellung fühlbar, durch welche die Haut halbkugelig vorgewölbt wird. Fluktuation ist nicht nach- 6 Richard Pflugradt, weisbar. Die Fraktur ist noch nicht konsolidiert; doch lassen sich die Fragmente nicht mehr frei gegen einander bewegen; Krepitation ist nicht mehr zu fühlen. Es wird deshalb nur eine Pelotte aus Watte mit einem über das sternale Ende der Clavicula herübergeführten Heftpflasterstreifen fixiert, der Arm in eine Mitella gelegt und mit regelmälsigen Bewegungs- übungen und Massage begonnen. Da im Laufe der nächsten drei Wochen noch keine knöcherne Konsolidation der Fraktur eingetreten war, während die halbkugelige Vorwölbung an der Frakturstelle sich vergrölserte und mehr und mehr eine prall elastische Konsistenz zeigte, wurde am 17. Dezember 1909 eine Probepunktion vorgenommen, bei der dunkles, flüssiges Blut aspiriert wurde. In der Annahme, dafs ein Haematom an der Stelle der Verletzung durch ein spitzes Fragmentende verursacht sei, wurde nunmehr am 22. Dezember 1909, also etwa zwei Monate nach der Verletzung, in Chloroformnaıkose durch einen Schnitt über der Höhe der hühnerei- grolsen Geschwulst die Frakturstelle freigelegt: Nach Durchtrennung der Haut und des subkutanen Gentebes liegt ein straffes, kapselartiges Gewebe vor, das lateralwärts kontinuierlich in das normale Periost der Clavieula übergeht, mit diesem gleichzeitig ineidiert und mit dem Raspatorium abgehebelt wird. Es kommen darauf die Fragmentenden zum Vorschein, die gegeneinander noch in dem oben angegebenen Sinne dislociert sind, untereinander ver- bunden durch derbe bindegewebige Stränge und vereinzelte Knochenspangen (junges Callus- gewebe) und umgeben von einer grölseren Menge teils geronnenen, teils flüssigen Blutes. Das koagulierte Blut wird mit dem scharfen Löffel entfernt, die Verbindungsstränge zwischen den Fragmenten lassen sich mit der Schere durchschneiden und die Fragmente danach aufrichten. Sie zeigen etwa ihre ursprüngliche Form, so dafs sie sich nahezu völlig adaptieren lassen. Das mediale Fragment erscheint allerdings auffallend porös und weich. Weil die scharfe Spitze des lateralen Fragmentes Neigung zeigt, sich nach hinten einzuspielsen, wird sie mit der Knochenschere abgetragen, und die Bruchenden werden nun, so gut als möglich adaptiert. Da sich die Bruchflächen in genügender Ausdehnung. berühren und keine Tendenz zu neuerlicher Dislokation zeigen, wird auf Anlegung einer Knochensutur verzichtet. Die Wundhöhle wird durch tiefgreifende Nähte, die gleichzeitig Haut, Weichteile und Periost fassen, möglichst verkleinert und geschlossen, und in den medialen Wundwinkel ein Drain und ein Jodoformgazestreifen eingeführt; darüber ein Druckverband angelest. Bis zum Tage der Operation war die Körpertemperatur dauernd normal. Am nächsten Tage stieg sie bis auf 38,40 und schwankte während der folgenden vier Tage zwischen 37° und 38,6%. Das Allgemeinbefinden war nicht gestört. Die Operationswunde erwies sich beim Verbandwechsel als reaktionslos. Die Tamponade wurde am vierten Tage post operationem, das Drain nach weiteren fünf Tagen entfernt, nachdem aus der Öffnung nur wenig blutig-seröse Flüssigkeit sezerniert war. Die Geschwulst über der Frakturstelle blieb jedoch unverändert bestehen. Wenn sie auch zunächst etwas eingesunken war, so erreichte sie doch bald die frühere Gröfse wieder. Soweit die Operationswunde vernäht war, heilte sie per primam intentionem. "Der Dränagekanal füllte sich bald mit frischen Granulationen, die allmählich das Niveau der Haut erreichten, und deren Epithelisierung ohne Verzögerung vor sich ging, so dals nach etwa vier Wochen eine feste, wenn auch wenig verschiebliche Narbe über. der Höhe der Gesehwulst sich fand, ohne Ulceration und ohne Fistelbildung. Das Körpergewicht hielt sich stets ungefähr auf der gleichen Höhe, zwischen Ein Beitrag zur Pathogenese eystischer Knochentumoren. 7 60 und 62 kg. Der Versuch, durch interne Medikation (dreimal täglich 15 g Sol. natr. jodat.) eine schnellere Resorption des Haematoms anzuregen, blieb völlig erfolglos. Sieben Wochen nach der blutigen Reposition der Fragmente wurde die Patientin auf Wunsch der Eltern für die Dauer von 14 Tagen nach Hause entlassen. Der damalige Befund war folgender: Die Gegend des medialen Drittels des rechten Schlüsselbeins nimmt eine etwa gänseeigrolse Geschwulst ein, die fast 'bis zur Mitte des Jugulum reicht, wo der sternale Ansatz des Muse. sternocleid. über sie hinwegzieht. Die Haut über der Geschwulst ist gespannt und zeigt über der Höhe derselben eine Scm lange, resistente Narbe, die an ihrem medialen Ende etwas breiter und nach der Tiefe hin fixiert erscheint. Die Geschwulst sitzt der Clavieula fest auf. Auch die umgebende Muskulatur läfst sich nicht dagegen verschieben. Die Oberfläche der Geschwulst fühlt sich überall glatt an; ihre Konsistenz ist teils derb, teils prall elastisch, an ihrem medialen Pol, der dem luxierten Gelenkende entspricht, knochenhart. Pergamentartiges Knittern ist bei Druck auf die Geschwulst nicht zu fühlen; auskultatorisch sind Gefälsgeräusche über ihr nicht wahrnehmbar. Lateralwärts geht die Geschwulst bogenförmig in den Schaft der Clavieula über, der gewissermalsen wie ein Stiel aus dem einen Eipol hervorkommt. Soweit das Schlüsselbein palpabel ist, zeigt es in Form, Umfang und Festigkeit keinen Unterschied gegenüber dem linken. Die Fragmentenden sind nicht mehr fühlbar. Abnorme Beweglichkeit ist nicht nachzuweisen. — Die Patientin klagt über keinerlei Schmerzen; auch die Gesehwulst ist auf Druck nicht schmerzhaft. Das rechte Schultergelenk ist frei beweglich; nur die Elevation des Arms ist behindert, sie gelingt bis etwas über die Horizontale hinaus. Auf dem in dorsoventraler Richtung aufgenommenen Röntgenbilde zeigt die laterale Hälfte der Clavieula völlig normales Aussehen, nirgends eine Verbreiterung oder Deformierung. Mit scharfen Konturen umgibt der gleichmälsig dichte Schatten der Corticalis beiderseits die hellere Markhöhle, die nirgends Verdichtungen oder Ausbuchtungen zeigt und sich nach dem spongiösen Teil des akromialen Endes zu allmählich verbreitert. Periostale Auflagerungen sind hier nicht zu erkennen. Dagegen ist auf der Platte ein Schattenbild des medialen Fragmentes nicht zu sehen. Medianwärts von der Mitte der Clavicula erkennt man an ihrer unteren Kante eine allmählich breiter werdende periostale Auflagerung, die sich von dem dichteren Corticalisschatten unterscheiden läfst. Genau oberhalb der Stelle, wo der Schatten der Spina scapulae an das mediale Drittel der Clavieula heranreicht, ist die schräg von unten aulsen nach oben innen verlaufende Bruchfläche des lateralen Schlüsselbeinfragmentes zu erkennen. Bis hierher ist die Markhöhle zwischen der sie mit scharfen Konturen zu beiden Seiten gleichmälsig umgebenden Kompakta ununterbrochen zu verfolgen. Oberhalb der Bruchfläche scheint das Periost von der Corticalis abgehoben zu sein und setzt sich medianwärts fort in einen unregelmälsig schalenförmigen Knochensaum, der ein ähnliches Aussehen zeigt wie Kallusbildungen in Weichteilen, und der sogar dort, wo er die knöcherne erste Rippe kreuzt, einen intensiveren Schatten gibt als diese. Dann verliert sich dieser schalenförmige Kallussehatten auf dem Bilde dort, wo er von dem Angulus der zweiten Rippe überlagert erscheint. Ähnliche, miteinander in Zusammenhang stehende, kleine Knochenschatten erscheinen auf der Platte in den freien Raum zwischen dritter und vierter Rippe neben der Wirbelsäule projiziert. Auch sie sind schalenförmig zu einander angeordnet, mit der Konvexität nach abwärts, und entsprechen in ihrer Lage der unteren Begrenzung der Geschwulst. Das Manubrium sterni ist auf der Platte nicht erkennbar. An der Stelle, wo das sternale 1) : Richard Pflugradt, Gelenkende zu suchen wäre, sind nur kleinere, strukturlose Knochenschatten ohne deutliche Konturen zu sehen, Bei ihrer Wiederaufnahme in das Krankenhaus am 1. März — also vier Monate nach der Verletzung — bot die Patientin annähernd denselben Befund. Doch erscheint die Geschwulst noch etwas gröfser und in ihrer Konsistenz derber. Auch jetzt besteht keine Drucksehmerzhaftigkeit. Das Allgemeinbefinden ist nicht gestört. An den inneren Organen, im besonderen an den Lungen sind krankhafte Veränderungen nicht nachweisbar. Temperatur und Puls normal. Am 14. März 1910 wurde eine zweite Röntgenaufnahme angefertigt — zwischen beiden Aufnahmen liegt also ein Zeitraum von einem Monat —, diesmal in ventro-dorsaler Richtung. ö Auf diesem Röntgenbilde (vgl. Abb. 1) ist entsprechend der Lage und Ausdehnung des rundlichen Tumors ein umschriebener, homogener, strukturloser Schatten erkennbar. Die Wölbung des Tumorschattens ist nach oben scharf abgegrenzt gegen die Weich- teile; auf der Grenze markiert sich ein dünner Saum, der die Geschwulst umgibt, und der einen etwas dichteren Schatten gibt als die übrige Geschwulstmasse. Nach unten ist die „Grenze des Tumors durch die Schatten der ersten und zweiten Rippe und der Scapula über- lagert und deshalb nicht erkennbar. Lateralwärts reicht der Tumorschatten bis über das mittlere Drittel der Clavieula hinaus, deren Konturen sich bis etwa in die Mitte desselben verfolgen lassen, wo die Bruchfläche des lateralen Fragmentes noch erkennbar ist, allerdings weniger scharf als auf dem früheren Bilde und umgeben von kallusartigen Auflagerungen die sich an der oberen Kante als freie Knochenleisten medianwärts in den Tumorschatten kontinuierlich fortsetzen, während an der unteren Kante eine allmählich zunehmende periostitische Auflagerung ohne scharfe Grenze in die Tumormasse überzugehen scheint. Die Markhöhle des lateralen Fragmentes der Clavieula ist auch auf diesem Bilde erkennbar, wenngleich weniger scharf als auf dem früheren. An einer Stelle, lateralwärts von der 'Tumorgrenze, erscheint sie etwas getrübt; die Konturen der Corticalis sind hier weniger scharf. Es wurde nun die Diagnose gestellt auf myelogenes Sarkom, das sich im unmittelbaren Anschluls an die Fraktur in dem epiphysären Abschnitt der Clavicula entwickelt hatte. Für die Therapie kam nunmehr nur die operative Entfernung des Tumors durch Resektion der Clavieula in Frage. Die Operation wurde am 21. März 1910 in Chloroformsauerstoffnarkose ausgeführt: 15 em lange Inzision entsprechend dem Verlaufe der Clavieula vom Processus coracoideus bis zum Manubrium sterni reichend, unter Umschneidung der alten Narbe. Haut und subkutanes Gewebe lassen sich relativ leicht gegen die Geschwulst zurückpräparieren. Dieselbe erscheint von einer derben, grau-weilslichen Kapsel umgeben in der Schnittlinie. In dem Zwischenraum zwischen den Ansätzen der Musc. cucullaris und sternocleid. läfst sich die obere Kuppe der Geschwulst stumpf aus dem subkutanen Gewebe lösen. Die Ansätze der Muskeln gehen in die Tumorkapsel über und müssen scharf durchtrennt werden, ebenso am unteren Rande des Schlüsselbeins der Ursprung des Musc. pectoral. maj. und das Ligament. costoclavieulare. Lateralwärts ragt aus der eiförmigen Geschwulst der von normalem Periost überzogene Schaft der Clavicula heraus, der, nach Abhebelung des Periosts mit dem Raspatorium, einige Zentimeter von der Geschwulst entfernt mit der Kettensäge quer durch- sägt wird. Die Sägefläche zeigt durchaus gesunden Knochen: rings von der festen Kompakta umgeben die mit rötlich-gelbem Fettmark angefüllte Markhöhle. — Nunmehr läfst sich mittels Ein Beitrag zur Pathogenese eystischer Knochentumoren. 6) Resektionshakens der resezierte Teil des Schlüsselbeins emporhebeln, und die untere Seite des Tumors mitsamt den atrophischen Resten des Muse. subelavius vorsichtig mit der Schere von der tiefen Fascie trennen. Durch weitere Präparation gelingt auch die vollständige Isolierung des medialen Pols der Geschwulst von der Gelenkfläche des Sternum und aus dem Jugulum. Pleura und grolse Gefälse bleiben unverletzt. Nach Entfernung des in toto exstirpierten Tumors, dessen Kapsel nirgends einen Defekt zeigt, lälst die übersichtliche Wundhöhle erkennen, dafs an keiner Stelle makroskopisch nachweisbare Geschwulstreste zurückgeblieben sind. Der Stumpf der Clavicula wird an seinen scharfen Kanten geglättet, an seinem freien Ende von Periost und Knochenmark befreit und durch einige versenkte Nähte in Muskulatur eingebettet. Die Wundhöhle wird nach Mögliehkeit durch die Naht verkleinert; in den medialen Wundwinkel wird ein Gummi- drain eingelegt. Die Haut legt sich ziemlich gut in das muldenförmige Bett des Tumors ein und wird durch einen Druckverband darauf fixiert. Der Wundverlauf war ohne jede Störung. Die Temperatur war dauernd normal. Am dritten Tage nach der Operation stand die Patientin auf und wurde auch später nicht wieder bettlägerig. Bei dem ersten Verbandwechsel, nach fünf Tagen, wurden das Drain und einige tiefgreifende Nähte entfernt. Nach vier Wochen war die Operationswunde fest vernarbt. Die Patientin blieb noch bis zum 50. April 1910 in stationärer Behandlung. Während dieser Zeit wurde durch Bewegungsübungen und Massage die Funktionsfähigkeit des rechten Arms nahezu völlig wiederhergestellt. Als Entlassungsbefund ergab sich, entsprechend der Operationswunde, eine im wesentlichen lineäre, nicht druckempfindliche Narbe, die nur in ihrer medialen Hälfte nach der Tiefe hin fixiert ist. Keine Fistel; keine Schorfbildung mehr. Von der rechten Clavicula fehlen das mittlere und das sternale Drittel. Über dem Defekt ist die Haut ein- gesunken. Der Stumpf der Clavicula ist von Weichteilen gut bedeckt, fühlt sich überall glatt und nicht verdickt an. Geschwulstreste sind nicht palpabel. Der sternale Ansatz des Muse. sternoeleid. fühlt sich etwas infiltriert und derb an. Doch hat sich dieses derbe Infiltrat in den letzten Wochen wesentlich zurückgebildet. — Die passiven Bewegungen im rechten Sehultergelenk sind völlig frei; die aktive Elevation des Arms ist noch etwas behindert. Eine sichtbare oder melsbare Atrophie der Muskulatur der rechten Schulter oder des rechten Arms besteht nicht mehr, ebenso kein Oedem am Arm oder an der Hand. Die Kraft der rechten Hand ist noch verringert. Die Atmung ist unbehindert, beiderseits gleich ausgiebig. Die Perkussion und Aus- kultation der Lungen ergibt nichts Krankhaftes. Das Körpergewicht ist das gleiche wie bei der ersten Aufnahme. Die Patientin ist in Abständen von drei bis sechs Monaten regelmäfsig nachuntersucht worden, das letzte Mal am 7. März 1912. Ein Reeidiv der Geschwulstbildung ist nicht eingetreten. Auch haben sich keine anderen Krankheitserscheinungen bei ihr eingestellt. Schwellungen an anderen Teilen des Knochensystems finden sich nicht. Über rheumatoide Beschwerden hat sie niemals geklagt. Als Entschädigung für die Folge des Unfalls hat das Mädchen während 11/, Jahren eine 20- bezw. 100/,ige Teilrente bezogen. Bei der Untersuchung im Juli 1911 erwies sich die Operationsnarbe als völlig frei verschieblich. Das vorher erwähnte Infiltrat im Ansatz des Muse. sternoeleid. war gänzlich resorbiert. Der Clavicularstumpf war gut gepolstert, überall glatt und an keiner Stelle. Nova Acta XCVII. Nr. 12. 2 10 Richard Pflugradt, deformiert. Von Tumormassen war nichts zu fühlen. Die Funktion des rechten Arms war wieder völlig normal. Das Mädchen verrichtete bereits seit einiger Zeit alle Arbeiten wie früher ohne irgendwelche Beschwerden, und konnte nach dem Befund wieder als voll erwerbsfähig bezeichnet werden. — Das durch die Resektion des Schlüsselbeins gewonnene Präparat, dessen nähere Beschreibung weiter unten gegeben wird, lies sich nach Härtung in Formalin ‚mit dem Messer durchschneiden bis auf den aus seinem lateralen Ende frei vorragenden Stumpf der Clavieula, der durchsägt wurde. Auf dem in frontaler Richtung angelegten Durchschnitt erwies sich der Tumor als eine vielkammerige, eystische Geschwulst, die von einer derben Kapsel umgeben ist, und welche das sternale Clavieularfragment bis auf einen kleinen, kalottenförmigen Rest seines Gelenkendes völlig substituiert zu haben scheint. Am anderen Ende geht die Geschwulstmasse in die periostale Oalluswucherung des lateralen Fragments über, gegen dessen Markhöhle sie aber eine ziemlich scharfe Grenze zeigt. Als Verbindung zwischen den beiden Fragmentresten findet sich im unteren Teile der Geschwulst ein von Hohlräumen durchsetztes, callusartiges, mehr oder weniger verknöchertes Gewebe. Dementsprechend läfst auch die Röntgenphotographie des durchschnittenen Tumors (s. Abb. 2) an dessen medialem Pol von dem sternalen Clavicularfragment nur einen kleinen Rest des Gelenkendes mit eben angedeuteter Struktur erkennen. Von diesem zieht zu dem Stumpf der Clavieula am lateralen Pol der Geschwulst in deren unterem Abschnitt ein Maschenwerk feiner Knochenspangen, das in sich eine Anzahl von Hohlräumen einschlielst, unten anscheinend direkt in die periostale Calluswucherung des lateralen Fragmentes über- geht und nach oben ohne scharfe Grenze sich in den homogen erscheinenden, strukturlosen Tumorschatten verliert. Die mikroskopische Untersuchung der zunächst angefertigten Schnitte bestärkte mich in der Annahme, der Tumor sei ein myelogenes Riesenzellensarkom. Ich habe dann dem Direktor des Königl. Pathologischen Instituts der Universität Halle, Herrn Professor Beneke die Präparate vorgelegt. Seiner Güte verdanke ich die systematische Untersuchung der Geschwulstbildung. In seinem Institute sind auch die beiden meiner Arbeit angefügten Zeichnungen, die ein makroskopisches und mikroskopisches Bild von dem Tumor wiedergeben, angefertigt (Abb. 3 und 4). Das von Herrn Professor Beneke aufgenommene, mir freundlichst zur Verfügung gestellte Protokoll über den Bau des Tumors und die Art seines Gewebes lasse ich deshalb wörtlich folgen: a) Makroskopische Beschreibung. Gut apfelgrofser Knoten, an dessen Basis beiderseits ein Knochenstumpf vorragt. Der eine dieser Stümpfe erweist sich als das sternale Ende der Clavicula, der andere als ein abgesägtes Stück der Clavicula, das dem acromialen Ende entspricht. Von dem letzteren zieht sich über den Knoten eine Strecke von etwa 2 cm eine Knochenplatte unter zunehmender Verdünnung; zuletzt endet dieselbe in derbem, kapselartigem Bindegewebe. Am Rande zeigt diese Knochenplatte vielfache Rauhigkeiten und sieht streckenweise wie angefressen aus. Der Tumor ist im übrigen von einer derb fibrösen, mit Fettgewebe durchsetzten Kapsel überzogen, aus welcher eine Anzahl kurze Zapfen, anscheinend Nerven und Muskeln hervorragen. Diese Gewebe werden dann in die Tumorkapsel einbezogen. Der Zwischenraum zwischen den beiden Knochenenden an der Tumorbasis ist von einem besonders derben Bindegewebe Ein Beitrag zur Pathogenese eystischer Knochentumoren. 11 gebildet, welches sich der querstehenden Bruchfläche, wie der Durchschnitt zeigt, direkt anlagert, und welches stellenweise bräunliches Pigment einschliefst. Ähnliche Pigmentierungen finden sich sonst nur an wenigen Stellen der Kapsel und sind immer unbedeutend. Die Kapsel der. Geschwulst verwächst auch unterhalb jener basalen Bindegewebsnarbe, zwischen ihr und der oben beschriebenen Knochenplatte, die vom Periost des lateralen Clavieularrestes stammt. Diese Knochenplatte hebt sich im Bogen von der alten Clavieula ab; der Winkel zwischen Peripherie und der kapselbildenden Knochenplatte ist von Neugebilde (festem Knochengewebe) ausgefüllt. Der Knochenstumpf trägt den Tumor demnach mit einer pfeiler- artigen Ausladung. Die bindegewebige Masse, welche das Bindegewebe zwischen den beiden Stümpfen darstellt, ist knochenfrei; sie enthält einige, mit farbloser Colloidmasse gefüllte, cystische Räume, an deren Rändern zum Teil ganz feine, hämosiderinartige Färbungen hervortreten. Mikroskopisch sind dieselben durch reichliche Hämosiderinzellen sowie kleine Hämatoidinkrystalle, welche sich an Zellen anschliefsen, bedingt. Das fibröse Verbindungs- stück setzt sich nach beider Seiten in unmittelbarem Übergang in ein derbes Maschenwerk fort, welches zahllose, grofse und kleine, mit Gallertmasse gefüllte Räume einschliefst. Die grölsten dieser Räume sind etwa bohnengrols, die kleinsten stecknadelkopfgrols. Sie enthalten entweder farblose Gallertmassen oder rotes Blut oder halb und halb, scharf voneinander getrennt, Blut und Gallertmassen. Mikroskopisch ist die Gallerte in der Hauptsache homogen, schlielst aber überall sehr feine, kleine Körnchen, ferner rote Blutkörperchen und bisweilen Fibrinfäden ein. Die Masse ist ziemlich derb. Die eingeschlossenen roten Blutkörperchen erscheinen meist normal beschaffen; weilse Blutkörperchen fehlen fast völlig. Das Stroma des Netzes ist überall fibrös, auffallend fest, aber doch nicht deutlich knochen- oder knorpel- haltig. Erst beim Einschneiden fühlt man hier und da ganz kleine, kalkhaltige Widerstände. Bei einem Druck auf die beiden Knochenpole des ganzen Präparates federt die Kapsel. b) Mikroskopische Untersuchung. 1. Schnitt aus der Gegend der fibrösen Anlagerung an der ausladenden Periost- wucherung an der Basis dicht am Knochencystenrand. Das Gewebe erscheint hier als ein derbes, callusartiges Material. Es enthält einige ältere Knochensplitter, anscheinend von der Fraktur herrührend und in deutlicher Reduktion begriffen. Dieselben sind in fibröses Gewebe eingeschlossen; letzteres geht in nächster Nähe bereits in ein zellreiches Stroma über, in welchem überall neu gebildete Osteoidbälkchen oder Knochenbälkehen mit Osteoidsaum hervortreten, oder welches wenigstens ein durch metachromatische Färbung hervorgehobenes, dem Osteoidgewebe ähnliches Intercellulargewebe bildet. In unmittelbarer Anlagerung an die alten Knochenbälkchen finden sich osteoklasten- artige Riesenzellen. Den jungen Bälkchen liegen stellenweise dichte Auflagerungen von Östeoblasten an; doch können sie auch direkt, ohne solche Anlagerungen aus dem fibrösen Material entstehen. Im übrigen finden sich vielfach Riesenzellen, die in dem durchaus fibrösen Gewebe zwischen den Knochenbälkchen ganz unregelmälsig eingestreut sind. Die Zahl der wuchernden Zellen ist streckenweise so bedeutend, dals der Eindruck sarkomähnlicher Wucherungen entsteht. In diesem Gewebe finden sich nun grölsere und kleinere Bluträume eingeschlossen, welche zum Teil ganz abgestorbenes Blut enthalten und in ihrer Umgebung Hämosiderinzellen zeigen. Die Riesenzellen zeigen zu diesen Räumen keine besonders auf- fallenden Beziehungen. Zum Teil sind die Blutmassen in deutlicher Organisation. Einige Ir 12 Richard Pflugradt, der Räume zeigen endothelartige Auskleidungen oder einen Saum von hämosideringefüllten, runden Wanderzellen; an anderen ist eine Auskleidung nicht deutlich. 2. Schnitt von einem peripheren Kapselabschnitt: Die äufseren Abschnitte zeigen ein derbes Schwielengewebe, welches sich ohne frische Entzündungserscheinungen in die das Ganze umschlie(sende Muskulatur einlagert. Die letztere zeigt am Kapselrande reichliche typische Bilder alter, scholliger Zerklüftungen, von welchen schmale, spindelförmige Muskelregenerate ausgehen; diese liegen z. T. schon in sehr vor- geschrittenen Ausbildungszuständen in den peripheren Teilen der Schwiele. Nach dem Tumorinnern zu geht nun die Schwiele unmittelbar in Knochen- und Osteoidbalken bildendes Spindelzellgewebe über. Die Knochenbalken bilden eine, wenn auch sehr unvollkommene, schalenförmige Abgrenzung. Die Wucherung dieses Gewebes ist sehr lebhaft, äulserst zellreich, namentlich finden sich ganz auffallend kräftige Osteoblastensäume um die jungen Osteoid- bälkchen; hier und da fliefsen. die Osteoblasten direkt zu Riesenzellen zusammen. Zwischen den fibrösen Spindelzellwucherungen finden sich auch sonst reichlich freie Riesenzellen, z. T. in sehr erheblicher Gröfse. Ferner finden sich sehr zahlreiche Hämosiderinzellen. Überall ist dieses Gewebe von Hohlräumen durchbrochen, deren erste Anfänge meistens eine endothel- artige Auskleidung erkennen lassen. Indessen ist eine solche doch nicht überall vorhanden, wohl aber dichte Zellanhäufungen am Saum der Hohlräume, namentlich der grolsen. Riesenzellen liegen ihnen öft reichlich an, und vielfach finden sich Organisationsvorgänge. Der Inhalt der Räume besteht aus gut erhaltenen roten Blutkörperchen, Gallertmassen mit frischen Fibrinmassen, vereinzelten Leukocyten und einzelnen Hämosiderinzellen. Hiernach machen die Massen mehr den Eindruck stagnierender Hämatome als fliefsender Blutmassen, wie etwa in einem Angiom. Auch mehrkernige Riesenzellen finden sich frei in dem fein- fädigen Gallertmaterial und lassen von ihrem Protoplasma zahllose, allerfeinste Fibrinfäden ausgehen. Die zellreiche, riesenzellenhaltige Wucherung dringt fast nirgends über die all- gemeine Grenze der Kapsel innerhalb dieser vor. Immerhin erweckt das histologische Bild wegen des grolsen Zellreichtums immer wieder die Vorstellung eines malignen Tumors. Die. Septa im Inneren des Tumors bestehen ganz vorwiegend aus zellreicher Wucherung, nicht aus einfachem fibrösen Kapselgewebe; sie sind immer ziemlich stark vaskularisiert, enthalten aber im Gegensatz zu der innersten Kapselpartie keinen fertigen Knochen, sondern immer nur zarte Osteoidbälkchen. Die Umgebung der grolsen Cystenräume zeigt häufig eine besondere Neigung, Osteoidbälkchen zu produzieren, oder sie zeigt wenigstens derbere, fihröse Züge und Riesenzelleinlagerungen. Ein sicheres Gefälswandgewebe ist in diesen Räumen nicht nachweisbar. Einige kleinere scheinen wie durch eine Art Erweichung der Grundsubstanz zu entstehen und sind dann von besonders dichten osteoblastartigen Zellen ausgekleidet. Für die Deutung des histologischen Befundes erscheint mir eine weitere schriftliche Mitteilung von Herrn Professor Beneke von Wichtig- keit, die ich deshalb wörtlich wiedergebe: „Das Gewebe des Tumors entstammt unzweifelhaft dem von mir seiner Zeit als skeletogenes Gewebe bezeichneten Grundmaterial; ich fasse hiermit das gesamte Knochengewebe mit Ausnahme der eingelagerten, Ein Beitrag zur Pathogenese cystischer Knochentumoren. 13 fremdartigen Knochenmarkzellarten (Fettgewebe, Blut- und Lymphgewebe) zusammen, da ich die Überzeugung habe, dafs alles peri- und endostale und ostale Gewebe identisch ist; auch die Zellen des nächstanstofsenden Perimysium sind noch skeletogen, sie bilden sehr leicht Knochen und Knorpel (Callus bei Frakturen).“ In Würdigung dieser epikritischen Bemerkungen Professor Benekes und unter besonderer Berücksichtigung des Befundes auf dem Röntgeno- gramm des Präparates (s. Abb. 2) erscheint es mir nicht gezwungen, die Gesehwulst in ihrer Gesamtheit als hyperplastische Callusbildung auf- zufassen. In der Geschwulst finden sich alle Gewebselemente des jungen und des fertigen Callus: in den äulseren Abschnitten in annähernd typischer Anordnung, nach dem Tumorinnern mehr und mehr übergehend in fibröses Gewebe, das sich wiederum allmählich in ein gefäfsreiches, wucherndes Spindelzellgewebe mit Einlagerung von Riesenzellen fortsetzt. Diese durch allmähliche Übergänge aus dem Callusgewebe "entstehende, atypische Zell- wucherung findet ihren lebhaftesten Ausdruck in den Septen der kleineren und gröfseren Hohlräume; doch läfßst auch hier noch die Gesamtstruktur des Gewebes dessen Abstammung von dem skeletogenen Grundmaterial erkennen trotz der histologischen Ähnlichkeit mit sarkomatöser Neubildung. Die derbe, fibröse Kapsel des Tumors, welche sich unmittelbar an die breit ausladende, periostale Callusmasse des acromialen Bruchendes anlagert, sehe ich als das Produkt der periostalen Calluswucherung des sternalen Fragmentes an, von dessen Gelenkende ein kalottenförmiger Rest den medialen Pol der Tumorkapsel bildet und kontinuierlich in diese über- geht. Die schwielige, äufsere Schicht der Kapsel ist der hypertrophierten äulseren Faserschicht des Periosts gleichzuachten, in welche durch Ver- schmelzung mit dem angrenzenden Perimysium das benachbarte Muskel- und Fettgewebe mit einbezogen ist. Der innere Teil der Kapsel, dessen fibröses Spindelzellgewebe reichlich Knochen- und Osteoidbalken bildet, entspricht meines Erachtens der osteoplastischen Proliferationsschicht des Periosts, deren neugebildete Knochenbalken eine schalenförmige Abgrenzung der Geschwulst erkennen lassen, welche auch auf dem Röntgenbilde her- vortritt. 14 Richard Pflugradt, In den Fortsätzen der Kapsel nach dem Inneren des Tumors, die als eine Art Netzwerk die cystischen Hohlräume in sich einschliefsen, wird die Verknöcherung des periostalen Neugebildes immer spärlicher; doch entstehen noch einzelne Knochenbälkchen wie bei der normalen Callusbildung, teils durch Anlagerung von Osteoblasten, die sich sehr reichlich finden, teils aus dem osteoiden oder fibrösen Gewebe direkt. Die eigentlichen Septa der Hohlräume weisen dann nur noch osteoides Gewebe auf, ohne fertigen Knochen, aber mit so lebhafter Zellwucherung und so vielfachen Riesenzellen, dafs dadurch der Eindruck eines Osteoidsarkoms immer wieder hervorgerufen wird. Diese allmählichen Übergänge in der periostalen Neubildung vom normalen Callusgewebe an der Peripherie der Geschwulst bis zu der atypischen, sarkomverdächtigen Zellwucherung im Innern derselben möchte ich als besonders bedeutsam für den Charakter des Tumors bezeichnen. Wenn ich das Gewebe der Tumorkapsel und ihrer Fortsätze, der Septen im Inneren der eystischen Geschwulst als Produkt der periostalen Callusbildung auffasse, so scheint mir die basale, stellenweise verkalkte Bindegewebsbrücke, welche die beiden Bruchflächen unmittelbar verbindet, dem endostalen Oallus zu entsprechen. Obwohl dieses Gewebe nach allen Seiten in die übrige cystische Geschwulstmasse ohne scharfe Grenze über- geht, so erscheint es wegen seines dichteren Gefüges, seines derberen Stromas und wegen der federnden Elastizität dieser ganzen Partie doch anders geartet und gewissermalsen in sich abgeschlossen. Diese Partie der endostalen Callusformation zeigt zwar makroskopisch wie mikroskopisch kein. Gewebe mehr, das als Knochenmark anzusprechen wäre, kann, glaube ich, aber ungezwungen nach Analogie der Ver- änderungen der Marksubstanz bei der Ostitis fibrosa osteoplastica als end- ostale Gewebsbildung aufgefafst werden. In der derb fibrösen Grundsubstanz finden sich neu gebildete Osteoidbälkchen und Knochenbälkchen mit dichten Auflagerungen von Osteoblasten eingelagert, daneben in deutlicher Reduktion begriffiene alte Knochenbälkchen, umgeben von osteoklastenartigen Riesen- zellen. Während also dieses callöse Gewebe die normalen Resorptions- vorgänge erkennen läfst, scheint ihm die Fähigkeit teilweise wenigstens zu fehlen, durch Aufnahme von Kalksalzen und durch Apposition genügend Ein Beitrag zur Pathogenese cystischer Knochentumoren.' 15 fertigen Knochen zu bilden. In dem jungen Callusgewebe fehlen ferner die primären Markräume; dagegen finden sich kleinere und gröfsere Hohl- räume mit abgestorbenem Blut und Ablagerung von Blutpigment in Häma- toidinkristallen oder in Hämosiderinzellen. Wenn man in Betracht zieht, dafs diese Bluträume stellenweise ohne Endothelbelag sind, meist nur eine endothelartige Auskleidung, aber kein geschlossenes Endothel zeigen, und dafs die randständigen Zellen den Östeoblasten durchaus ähnlich sind (s. Abb. 4), dafs ferner stellenweise der Eindruck erweckt wird, als entständen die kleineren Hohlräume „wie durch eine Art Erweichung der Grundsubstanz“, so erscheint es immerhin möglich, dafs diese Räume sich ursprünglich als primäre Markräume bilden, in die hinein — vielleicht auf Grund aulsergewöhnlicher Spannungsverhältnisse — Blutungen aus den umgebenden Gefälsen erfolgen. Auf diese Weise können an verschiedenen Stellen eine Reihe nebeneinander in dem osteoiden Gewebe gelegener Lücken durch Konfluenz zu den gröfseren Hohlräumen geführt haben. Die farblose, serös-eallertige Flüssigkeit in anderen Hohlräumen wäre nach dem gleichen Entstehungsmodus durch Lymphergüsse in dieselben zu erklären. Die stellenweise in den Gallertmassen enthaltenen Erythro- eyten und Fibrinfäden sowie das Pigment in den Hämosiderinzellen in ihrer Umgebung mögen Reste eines gleichzeitig stattgehabten kleinen Blut- ergusses sein. | Dals die Bluträume nicht Blutgefälse sind nach Angiomart, sondern Gewebslücken, in die sich die Flüssiskeit ergossen hat, geht neben dem Mangel eines geschlossenen Endothels daraus hervor, dals sie stagnierende, abgestorbene, gröfstenteils in Auflösung begriffene Blutmassen enthalten. Diese kleineren und grölseren Hämorrhagien können offenbar wegen der Starrwandiskeit der Räume nicht resorbiert werden. An Stelle der verzögerten Resorption tritt deshalb das Bestreben des umgebenden Gewebes, das extravasierte Blut zu organisieren. Deutliche Organisationsvorgänge sind tatsächlich an den verschiedensten Stellen zu erkennen. Es kann wohl kein Zufall sein, dals gerade in diesen Teilen des Tumors: in den Septen zwischen den Hohlräumen, sich die aufserordentlich lebhafte Zellwucherung mit der reichlichen Einlagerung von Riesenzellen 16 Richard Pflugradt, findet, welche nach den zunächst angefertigten mikroskopischen Schnitten zu der Diagnose Riesenzellensarkom verleitete. Die Frage, ob die eystischen Neubildungen der langen Röhren- knochen als Erweichungsprodukte echter Tumoren aufzufassen seien, weil in der grofsen Mehrzahl in ihren Wandungen atypische Zellwucherungen mit riesenzellensarkomartigem Charakter oder Einlagerungen von Knorpel sefunden werden, ist im letzten Jahrzehnt von einer grolsen Zahl von Autoren im Anschlufs an eigene Beobachtungen oder in zusammenfassenden, kritischen Arbeiten sowie in eingehenden Diskussionen auf Kongressen ausführlich erörtert worden. Auf die Begründung der verschiedenen Ansichten näher einzugehen, würde über den Rahmen dieser Mitteilung hinausführen. Durch die sehr interessanten Diskussionen auf der siebenten Tagung der Deutschen patho- logischen Gesellschaft und der Naturforscherversammlung in Breslau, beide im Jahre 1904, sowie auf dem Chirurgenkongre[s 1906 wurde eine Einigung über diese Frage zwar noch nicht erzielt, doch aber der Grund gelegt zu der jetzt fast allgemein gültigen Beurteilung. Damals wollte ein Teil der Redner (Lexer, Körte, Franz Koenig, v. Haberer) auf Grund ihrer Untersuchungen an der auf Virchows Erklärung über die Entstehung der Knocheneysten aus Enchondromen oder Riesenzellensarkomen basierenden Theorie festhalten, während die Mehrzahl (Mönckeberg, Benda, v. Mikuliez, Tietze, Schlange, Göbel und andere) in Übereinstimmung mit den bereits früher von Küster, M.B. Schmidt, Beck, Rehn und Gottstein gegebenen Erklärungen die unter dem Namen Knochencysten beschriebenen Neubildungen im wesentlichen als Produkte entzündlicher Proliferation auffalsten, als zugehörig zu der Ostitis fibrosa v. Reckling- hausens oder bei solitären Bildungen als sog. Osteodystrophia juvenilis eystica v. Mikulicz’, jedenfalls die Geschwulstgenese für die Mehrzahl der Fälle ablehnten. Einen besonderen Standpunkt vertrat auf dem genannten Pathologen- kongresse Beneke, der „diese Bildungen als traumatische Veränderungen bezw. reparative Vorgänge im Anschluls an Frakturen, Stoß, Fall oder sonstige Erschütterungen irgendwelcher Art“ zu erklären versucht. Darauf soll später noch zurückgekommen werden. Ein Beitrag zur Pathogenese eystischer Knochentumoren. 17 Die Literatur der letzten Jahre hat dann eine grofse Zahl von kasuistischen Beiträgen und Studien gebracht, auf Grund deren die über- wiegende Mehrzahl der Autoren sowohl die Fälle von multiplen wie auch die von solitären Knocheneysten unbedingt in genetische Beziehung bringen zur Ostitis fibrosa und ihre Entstehung aus echten Geschwülsten wegen des klinischen Verlaufs ebenso wie auf Grund des pathologisch-anatomischen Befundes ablehnen (Glimm, Müller, Bockenheimer, Pfeiffer, Tietze, Gaugele, Anschütz, Röpke, Dean Lewis, Konjetzny, Kohts, Gehring, Hartmann, Brade, Klestadt, Sabijakina). Einzelne (Braun, Röpke) gehen in ihrer Auffassung von den Cystenbildungen als entzündlichen Erkrankungen noch weiter, indem sie Entzündungserreger als Ursache annehmen. Die alte Theorie von der Entstehung der Knochenceysten aus echten Tumoren findet in der neuesten Literatur nur noch wenige Anhänger (Almerini, Studeny), nachdem auch Lexer und v. Haberer in ihren neueren Arbeiten zu dem Schluls gekommen sind, dafs die Cysten ver- schiedenen Ursprungs sein können, und dals sarkomartige oder fibrös- knorpelige Wucherungen ebenfalls bei der gutartigen Ostitis fibrosa vor- kommen, also nicht ohne weiteres beweisend sind für eine blastomatöse Genese der Cystenbildung. Die gleiche Entscheidung bringen auch die ausführlichen, kritischen Abhandlungen von Milner und von Tietze aus den Jahren 1908 und 1911, welche beide die Entstehung von Knochencysten als Erweichungs- produkte echter Tumoren zwar als nicht erwiesen bezeichnen, die Möglichkeit einer solchen Entstehung aber nicht in Abrede stellen, während sie die weitaus grölste Mehrzahl der beschriebenen Fälle als typische Bildungen der Ostitis fibrosa bezw. der Osteodystrophia cystica erklären. Milner bezeichnet auch den bekannten Virchowschen Fall einer Cyste im Humerus. als Ostitis fibrosa. Beide Autoren geben auch an, dafs für die Ätiologie der Knocheneysten dem Trauma eine wesentliche Rolle beizumessen sei. Während aber Tietze eine rein traumatische Entstehung ausschlielst, hält Milner sie für möglich. Wenn die Erkenntnis, dafs die in den Cystenwandungen und in deren Umgebung häufig gefundenen Knorpeleinlagerungen nicht als ver- Noya Acta XCVII. Nr.12 3 18 Richard Pflugradt, sprengte Knorpelkeime und Bestandteile eines echten Chondroms, sondern als metaplastisch gebildeter Knorpel aufzufassen sind, dazu führte, die Theorie der Entstehung aus Enchondromen im wesentlichen aufzugeben, so verdanken wir die heute allgemein anerkannte Erklärung für die riesen- zellenhaltigen Zellwucherungen in den cystischen Knochentumoren vor- nehmlich den mafsgebenden Darlegungen von Lubarsch, die Gaugele im Anschlufs an die Beschreibung seines Falles veröffentlicht hat. Lubarsch bezeichnet die „riesenzellensarkomartigen "Tumoren als eine Art entzündlicher oder resorptiver Neubildungen infolge starker Blut- ergüsse, die an diesen Stellen stattgefunden haben“, und erklärt „für die Differentialdiagnose zwischen Sarkom und gewissen entzündlichen Neu- bildungen allein malsgebend die Polymorphie der Zellen und die mangel- hafte Ausreifung des ganzen Gewebes. Wo man auch noch so viele Riesenzellen, die mit Pigmentschollen oder anderen Fremdkörpern beladen sind, sieht, und die Spindelzellen gleichmälsig geformt sınd, keine Ab- normitäten in den Kernen darbieten und zwischen sich faserige Inter- zellularsubstanz erkennen lassen, handelt es sich nicht um ein Sarkom.“ Des weiteren hebt Lubarsch als entscheidend gegen maligne Neubildung hervor, „dafs zwischen den Partien der rein fibrösen Ostitis und den riesen- zellensarkomähnlichen Teilen allerlei Übergänge bestehen“. Er erklärt die Bildung der letzteren dann folgendermafsen: „Es handelt sich in der Hauptsache darum, dafs die immer reichlicher auftretenden Osteoklasten, nachdem sie ihr Zerstörungswerk an den Spongiosa- und Kortikalisbälkchen vollendet haben, sich zusammenschliefsen und wahrscheinlich auch auf den Reiz der fortwährend hier stattfindenden Blutungen vermehren und als Phagocyten sich mit Pigment beladen.“ In ähnlicher Weise hatte M. B. Schmidt bereits neun Jahre vorher die Cysten und "Tumoren bei Ostitis fibrosa erklärt als entstanden aus regressiven bezw. progressiven Vorgängen in dem an Stelle der festen Tela ossea tretenden weichen Gewebe des Fasermarks, im Gegensatz zu echten, progredienten Geschwülsten. Und Mönckeberg betonte die viel grölsere Wachstumsfähigkeit der Riesenzellensarkome, welche „durch die in ihrer Umgebung stattfindende, lakunäre Knochenresorption bis an das Periost vordringen und dieses noch halbkugelig vorbuchten“, während das Ein Beitrag zur Pathogenese cystischer Knochentümoren. 19 Wachstum der „Oystofibrome“ nur durch lebhafte Knochenneubildung in ihrer Peripherie bedingt sei. Die zellreichen Partien unseres Tumors weisen keine Polymorphie der Zellen mit „hyperchromatischen Kernen, Mitosen oder Verklumpungen“ auf. Ich habe ferner bereits oben hervorgehoben, dafs die Übergänge von dem neugebildeten Knochen in das unfertige Callusgewebe und von diesem in das wuchernde Spindelzellgewebe ganz allmähliche sind. Die reichlich vorhandenen Riesenzellen erscheinen dort, wo sie die neugebildeten Knochen- bälkchen umgeben, entweder als Osteoklasten oder als Zellen, die durch Vereinigung von Osteoblasten entstanden sind; in nächster Umgebung der Bluträume können sie neben den Hämosiderinzellen zwanglos als Fremd- körperriesenzellen aufgefalst werden. Auf einen besonderen Befund in den Geweben am Saum der mit Blut angefüllten Hohlräume möchte ich noch hinweisen: ich meine die deutlich erkennbaren Organisationsvorgänge. Die Fähigkeit des Gewebes, Blutergüsse zu organisieren, dürfte mit Sicherheit gegen maligne Neu- bildung sprechen, von deren Zellwucherung nur eine destruktive Tätig- keit erwartet werden könnte. Zieht man schliefslich noch in Betracht, dafs das sarkomähnliche Gewebe nirgends in die eigentliche Tumorkapsel hin- einwuchert, ferner dals sich in den cystischen Hohlräumen an keiner Stelle Nekrosen finden, die als Zerfallsprodukte der Tumormasse anzusehen wären, so kann man auch in unserm Falle eine blastomatöse Geschwulst aus- schlielsen. Die Tatsache, dals nach der Exstirpation der Geschwulst kein Reeidiv eingetreten ist, sehe ich allerdings nicht als beweisend für die Gutartigkeit der Neubildung an, da bekanntlich auch die myelogenen Riesenzellensarkome, wenn sie durch Resektion des erkrankten Knochen- abschnittes radikal entfernt worden sind, meist nicht reeidivieren. Es bedarf aber bei genüsender Würdigung des histologischen Befundes gar nicht der Bestätigung durch den weiteren klinischen Verlauf, um zu dem Schlusse zu kommen, dafs es sich bei unserer Geschwulst jedenfalls nicht um ein echtes Sarkom handelt, dafs sie vielmehr anzusehen ist als ein Produkt der reparatorischen Vorgänge in dem frakturierten Knochen, bei welchem die resorptiven Prozesse überwiegen, während die normale g# 20 Richard Pflugradt, Regenerationsfähigkeit dem jungen Callusmaterial aus Gründen, die noch näher untersucht werden sollen, fehlt. Nach dieser Schlufsfolgerung glaube ich also mit Bestimmtheit aus- schliefsen zu können: Erstens dafs die Neubildung in meinem Falle auf dem Boden einer bereits früher vorhandenen echten Geschwulst entstanden sein könnte Das wird schon mit aller Sicherheit durch den genau beobachteten klinischen Verlauf widerlegt, worauf ich noch zurückkommen werde. Zweitens dafs die Neubildung den gelegentlich aus dem Frakturcallus entstehenden, progredienten Geschwülsten zuzurechnen wäre, den echten Callustumoren, welche von Weisflog und anderen beschrieben und als Sarkome, Osteome und Enchondrome bezeichnet sind. Diese Callustumoren entwickeln sich nach Heilung des Knochenbruchs aus dem fertigen Callus, aber nicht an Stelle desselben. Auf der anderen Seite läfst sich das cystisch entartete, callöse Gebilde auch nicht identifizieren mit den von Frangenheim beschriebenen parostalen Callusceysten, die er mit Recht in enge Beziehung bringt zu der von Rammstedt und anderen beobachteten Cystenbildung bei der Myositis ossificans. Die multilokuläre Form, die Struktur der Wandungen, sowie vor allem die zentrale Lokalisation der Cystenbildungen in unserem Präparat unterscheidet diese wesentlich von jenen, im luxuriierenden parostalen Callus bezw. in der verknöcherten Muskulatur sich bildenden gutartigen Cysten. Mit der Deutung der geschwulstartigen Neubildung als eines hyper- plastischen Callusgebildes, in welchem die resorptiven Vorgänge über- wiegen, während das neugebildete Gewebe nicht fähig ist, genügend fertiges Knochenmaterial zu bilden, wird allerdings die Frage, wodurch die atypische Wucherung dieses Gewebes bedingt ist, noch nicht beantwortet. Die Erklärung hierfür sehe ich in Vorgängen, die ganz analog den- jenigen bei der Ostitis fibrosa sind, wobei ich jedoch von vornherein betone, dafs ich, entsprechend den Darlegungen Benekes, den Begriff Ostitis fibrosa nicht als eine narbenbildende Entzündung des Knochenmarks auf- fasse, sondern als den Ausdruck abnormer „reparativer Vorgänge im An- schlußs an traumatische Veränderungen“, als eine „hypertrophische, funktionell bedingte endostale Bindegewebewucherung ohne Narbencharakter“. Ein Beitrag zur Pathogenese cystischer Knochentumoren. 21 Um gemäls dieser Auffassung eine folgerichtige Erklärung für die atypische Calluswucherung zu geben, mufs ich zunächst auf die Entstehungs- geschichte und den klinischen Verlauf meines Falles kurz zurückgreifen. Es kann nach der mit dem ersten Aufnahmebefund durchaus in Einklang stehenden Anamnese als sicher erwiesen gelten, dafs das "Trauma einen völlig gesunden Knochen getroffen hat. Die Möglichkeit, dafs es sich um eine pathologische Fraktur an einem durch Geschwulstbildung oder entzündliche Veränderung bereits in seiner Widerstandsfähigkeit geschwächten Knochen gehandelt hat, ist aus folgenden Gründen mit Sicherheit auszuschliefsen: 1. Frühere Erkrankungen, speziell solche des Knochensystems haben nach der genau erhobenen Anamnese nicht vorgelesen, insonderheit hatte am rechten Schlüsselbein eine Formveränderung bisher nicht bestanden. 2. Die Gewalteinwirkung, die zu der Verletzung führte, war so erheblich, dals sie als ursächliche Erklärung für eine rein traumatische Fraktur eines zuvor gesunden Knochens völlig ausreicht. 3. Durch die erhebliche äufsere Gewalteinwirkung ist nicht nur eine Fraktur der Clavieula infolge von Überbiegung, sondern auch eine Luxation ihres sternalen Gelenkendes erfolst. Es kann bei der Art und Riehtung der Gewalteinwirkung (schräg von aufsen und vorn) keinem Zweifel unterliegen, dals die Luxation eingetreten ist, bevor durch die Fraktur die Kontinuität der Clavieula unterbrochen war, und dafs die Fraktur dann sekundär durch weitere Überbiegung entstand. Eine Luxation im Sternoelaviculargelenk ist immer nur durch die Hebelwirkung der an ihrem andern Ende fixierten Clavicula denkbar. Für die Annahme einer sekundären Luxation des sternalen Fragmentes würde jede mechanische Erklärung fehlen. Wäre nun infolge einer bestehenden Geschwulstbildung oder eines lokal entzündlichen Prozesses in dem Schlüsselbein eine schwache Stelle vorhanden gewesen, an der dann die Fraktur eintrat, so wäre die Gewalteinwirkung niemals über diese geschwächte Stelle hinaus auf die Gelenkverbindung mit dem Sternum übertragen worden in dem Mafse, dafs sie zur Zerreilsung der Gelenkkapsel führte, sondern hätte sofort die Kon- tinuitätstrennung des Knochens an dem locus minoris resistentiae bewirkt. DD 189) Richard Pflugradt, Es kann daher als sicher erwiesen gelten, da/s die Fraktur einen vorher gesunden Knochen betroffen hat. Es handelte sich nach dem Aufnahmebefunde um eine Schrägfraktur mit erheblichem Bluterguls. Der frakturierte Knochen war eine Woche lang ohne fixierenden Verband geblieben. Bei jeder willkürlichen oder unwillkürlichen Bewegung des Armes konnten also durch Verschiebung der Fragmente die Thromben der zerrissenen Blutgefälse wieder gelöst werden und neue Blutungen eintreten. Das angesammelte Blut drängte naturgemäfls die Bruchllächen auseinander., Die Resorption des Blutergusses wurde ver- hindert durch die starrwandige Umgebung, die einesteils von den schrägen Bruchflächen, anderenteils vielleicht durch abgesprengte kleine Splitter und deren Periostverbindungen gebildet wurde. Ein Zusammenfallen der Wandungen des von dem Blutergufs eingenommenen Raums war dadurch unmöglich. Durch Vermittelung des Periosts und des umgebenden Binde- sewebes bildete sich nun um den Blutergufs herum naturgemäls die fibröse Kapsel, welche durch den vermehrten Innendruck infolge neuer Blutungen immer stärker gespannt wurde und auf diesen Reiz mit Hypertrophie ihres Gewebes reagierte. Da aus den oben angeführten Gründen das ergossene Blut nicht resorbiert werden konnte, so übernahm das umgebende Kapsel- gewebe die Organisation des Hämatoms. Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, kann die zellreiche Wucherung, in welche das vom Periost stammende osteoide Gewebe der Kapselinnenwand übergeht, als der Aus- druck lebhafter Organisationsvorgänge angesehen werden. Die Hämosiderin- zellen sowie die Riesenzellen bedeuten dabei nichts Fremdartiges, sondern vervollständigen nur das Bild. Dals zunächst lediglich eine große, mit Blut gefüllte Höhle bestanden hat, um die herum sich die Kapsel bildete, war bei der zwei Monate nach der Verletzung vorgenommenen ersten Operation deutlich zu erkennen. Damals war von einer mehrkammerigen Cystenbildung nichts zu sehen. In Ergänzung meiner obigen Ausführungen, auf Grund deren ich eine maligne Neubildung ausschliefse, sei hier noch betont, dafs trotz anfäng- licher Dränierung des Hohlraums nach dieser Operation der Tumor nicht nach aufsen vorwucherte, seine Kapsel sich vielmehr — wie das später Ein Beitrag zur Pathogenese cystischer Knochentumoren. 23 gewonnene Präparat erkennen läfst — auch an dieser Stelle wieder voll- ständig geschlossen hat. Bereits zur Zeit dieser ersten Operation mufs nun die Kapsel des Hämatoms ein so festes Gefüge gehabt haben, dafs ihre Teile trotz breiter Eröffnung und trotz: Entleerung der Blutmassen aus dem Hohlraum nicht imstande waren, sich aneinander zu legen. Das infolge des operativen Eingriffs in den Hohlraum von neuem ergossene Blut bedingte vielmehr sehr bald wieder einen vermehrten Innendruck, der durch Gröfsenzunahme der Geschwulst in die Erscheinung trat. Natürlicherweise traten nun überall in den den Blutergu(s begrenzenden Gewebsschichten erneute Organi- sationsvorgänge auf. Das Gewebe beantwortete den erneuten Reiz mit um so lebhafterer Zellwucherung und drang in Form von Zapfen und Leisten von allen Seiten in die Masse des ergossenen Blutes ein. Dabei entstanden wahrscheinlich auch innerhalb des einwuchernden, blutgefälßs- und zell- reichen, osteoiden Gewebes immer wieder Lücken und Hohlräume, in die hinein infolge häufiger Erschütterungen wiederum Hämorrhagien erfolgten. Aus diesen Vorgängen resultierte schliefslich das vielkammerige Maschen- werk, welches als makroskopische Struktur auf dem Durchschnitt der eystischen Geschwulst imponiert. Dafs das aus dem Callusmaterial stammende, osteoide Gewebe nicht mehr die Fähigkeit besals, fertigen Knochen zu bilden, kann also seinen Grund in der abnormen Beanspruchung zur Organisation und Resorption des reichlich ergossenen Blutes, sowie in der vermehrten Spannung der Gewebe seinen Grund haben. Infolge ähnlicher Vorgänge mag gleichzeitig auch bei dem Wachstum des endostalen Callus die Bildung fertigen Knochens ausgeblieben sein. Da das ergossene Blut aber die callusbildende Marksubstanz in der eng begrenzten Markhöhle nicht so stark auseinander drängen konnte als die Teile des Periosts, so mu[s auch die Spannung in den neu gebildeten (Gewebsschichten hier geringer gewesen sein als in denen der periostalen Calluswucherung. Es hat daher die endostale Callusbildung wenigstens zu einer festen, bindegewebigen Vereinigung beider Fragmente geführt: jener basalen Bindegewebsbrücke, welche auf dem makroskopischen Durchschnitt 24 Richard Pflugradt, sich deutlich gegen das übrige Tumorgewebe abhebt (s. Abb. 3), und die — wie das Röntgenbild erkennen lälst auch reichlichere Knochenschale enthält (s. Abb. 2). Die in diesem Gewebe ebenfalls vorhandenen eystischen Hohlräume habe ich oben als primäre Markräume des unfertigen Callus zu erklären versucht, in welche sich Blut oder Lymphflüssigkeit ergossen hat, vermutlich deshalb, weil die Osteoblasten auch hier nicht imstande sind, die Markräume mit genügender Knochenschale auszukleiden. Wesen dieses Mangels an fester Knochenschale ist der biegsame verbindende Callus der beständigen mechanischen Inanspruchnahme durch die Bewegungen des Arms sowie durch die Kontraktionen der am Schlüssel- bein inserierenden Muskeln nicht gewachsen, er braucht ein derberes Stroma. So tritt, gewissermalsen als Ersatz für das fertige Callusgewebe, jene endostale Bindegewebewucherung ein, die den bekannten Typus des fibrösen Knochenmarkes annimmt. Haeberlin hat auf dem Chirurgenkongresse 1911, im Anschluß an die Demonstration eines Falles von lokalisierter Ostitis fibrosa des ‚Fibula- köpfehens, als das „primäre Moment“ dieser Erkrankung „eine osteoplastische Metaplasie des Endostes“ bezeichnet, da er dabei die Bildung osteoiden Gewebes unmittelbar aus Fasern des Endostes beobachten konnte. Den übrigen histologischen Befund: die fibröse Markumwandlung, die Riesen- zellentätigkeit und die Hämorrhagien, erklärt er als sekundäre Reaktionen, die durch „diese endostale Neoplasie“ ausgelöst werden. Wenn meine Beobachtungen auf der einen Seite diese von Haeberlin neu aufgestellte "Theorie für die Entstehung der Ostitis fibrosa und der Kunochencysten durchaus zu bestätigen scheinen, so möchte ich doch seiner Auffassung von jener primären „osteoplastischen Metaplasie des Endostes“ als einer zwar benignen aber doch „blastomatösen Neoplasie“ keinesfalls beipflichten. Natürlich mufs eine Ursache dafür vorhanden sein, dafs die dem endostalen ebenso wie dem periostalen Gewebe „innewohnenden, latenten osteogenen Fähigkeiten“ scheinbar unvermittelt an irgendeinem Knochen =I— 1) Die Farbe dieser derb fibrösen, z. T. verknöcherten Verbindungspartie, nahe dem unteren Rande der Geschwulst, ist auf der Zeichnung nicht genau getroffen. Auf dem Durch- schnitt des Präparates erscheint sie gelblich, ähnlich derjenigen der Knochensägefläche. Ein Beitrag zur Pathogenese cystischer Knochentumoren. 25 in Erscheinung treten und zu den pathologischen Veränderungen führen. Zieht man nun in Betracht, dafs osteoplastische Metaplasien des skeletogenen Gewebes bei allen reparativen Prozessen auftreten, durch welche neues Knochenmaterial gebildet wird als Ersatz für zerstörte Substanz, vor allem also nach Substanzverlusten oder Kontuinitätstrennungen, so liegt es doch sehr nahe, auch für die Fälle, bei denen infolge der erwähnten, besonderen Verhältnisse atypische Wucherung der osteoplastischen Gewebsschichten nieht zur Bildung fertigen Knochens, sondern eines osteoiden und fibrösen Ersatzmaterials führt, das erste ursächliche Moment in einem Trauma zu erblicken. Tatsächlich spielen auch in der Anamnese der Mehrzahl der be- schriebenen Fälle wenigstens von solitärer Cystenbildung 'Traumen eine besondere Rolle, wobei natürlich die sekundären Verletzungen, die Spontan- frakturen der bereits eystisch entarteten Knochen nicht in Betracht kommen. Es würde zu weit führen, diese Fälle hier einzeln aufzuführen. Kummer erwähnt, dafs in den Vorgeschichten von 34 Krankheitsfällen ein Trauma 25 mal notiert sei. v.Mikulicz betonte auf der Naturforscher- versammlung 1904 bei Aufstellung des Krankheitsbildes seiner Osteodystrophia juvenilis cystica ausdrücklich: „In den meisten Fällen spielt ein initiales Trauma eine Rolle. Dasselbe liegt mehrere Monate, meist noch später zurück“. Boetticher, Glimm, Fritz Koenig, Riedel, Milner, Konjetzny u.a. erblicken in dem vorangegangenen Trauma eine mitwirkende Ursache und halten auch die lediglich traumatische Entstehung von Knocheneysten für möglich, im Gegensatz zu Lexer, Tietze und Almerini, die sie mit Bestimmtheit ausschliefsen wollen, ersterer auf Grund von Tierexperimenten, welche aber, wie Milner überzeugend dargelegt hat, nicht als beweisend angesehen werden können, „gegen die Annahme, dafs in Folge einer Ver- letzung mit Blutung in einen vorher scheinbar oder wirklich gesunden Knochen sich (natürlich ausnahmsweise, unter besonderen Umständen) eine Cyste entwickeln könne“. Wieder andere Autoren (Boekenheimer, Pfeiffer) lehnen das Trauma als primäre Ursache der Erkrankung ab, halten es aber für möglich, dafs das Weiterwachsen der Öyste nach primärer Einschmelzung des Fasergewebes auf traumatische Einflüsse zurückzuführen sei. Noya Acta XCVII. Nr. 12. 4 26 Riehard Pflugradt, Für die rein traumatische Entstehung der Knocheneysten sprechen sich nur wenige Autoren aus, so vor allem Beneke, auf dessen Aus- führungen ich noch einmal zurückkommen werde, und gleichzeitig Benda, ferner D’Areis, der als Ursache posttraumatische Hämorrhagien mit nach- folgender Umwandlung in Cysten annimmt, und Wollenberg, welcher die Entwicklung der zur Oystenbildung führenden Ostitis fibrosa zurückführt auf Ernährungsstörungen in der Spongiosa und im Knochenmark infolge von Traumen. Wenn Pfeiffer u.a. die primäre Bedeutung von Hämorrhagien — wie sie doch fraglos auch bei leichteren Knochenverletzungen ohne Kon- tinuitätstrennung vorkommen — für die Entstehung der Ostitis fibrosa als nicht erwiesen ablehnen, und als Grundlage fur die blutgefüllten Hohlräume Einschmelzungs- und Degenerationsvorgänge des fibrösen Gewebes annehmen, so sind ihnen von Anfang an beobachtete Fälle, wie der von Konjetzny vor zwei Jahren beschriebene und der meinige, entgegenzuhalten, in denen sich das Krankheitsbild mit allen typischen Veränderungen in unmittelbarem Anschluls an eine traumatische — nicht pathologische — Fraktur ent- wickelt hat. Es wäre völlig unberechtist, den Fall 1 von Konjetzny und den meinigen, etwa in dem Sinne v. Brunns deuten zu wollen als Spontan- frakturen, die ein „Frühsymptom der Ostitis fibrosa“ darstellen. Die Gründe, die in meinem Falle beweisend dafür sind, dafs die Fraktur einen zuvor völlig gesunden Knochen betroffen hat, habe ich oben angegeben. Der Konjetznysche Fall ist in ätiologischer, klinischer und histologischer Beziehung dem meinigen so völlig gleich, dafs sie sich eigentlich nur durch ihre Lokalisation an verschiedenen Teilen des Skelettsystems unterscheiden. Konjetzny empfindet es als Lücke in seiner Beweisführung der primären Bedeutung der Fraktur für die Entstehung der Geschwulst, dafs von der frischen Fraktur kein Röntgenbild vorhanden ist. Das fehlt auch von meinem Falle, da die Diagnose: Schrägbruch des Schlüsselbeins mit Luxation im Sternoclavieulargelenk der Erhärtung durch ein Röntgen- photogramm nicht bedurfte. Ich halte mich aber für berechtigt, die Beweis- führung in dem angegebenen Sinne für beide Fälle auch ohne Röntgenbilder von der frischen Fraktur für vollständig zu erklären, wenn man sich nur Ein Beitrag zur Pathogenese eystischer Knochentumoren. 27 vor Augen hält, dafs in beiden Fällen die Frakturen durch heftige Gewalt- einwirkungen veranlalst wurden, und dafs bei beiden sich dem untersuchenden Arzte der unverkennbar typische Befund einer frischen Fraktur eines bisher unveränderten Knochens an Körperstellen darbot, an denen die Palpation des frakturierten Knochens besonders leicht ist. Ich komme auf Grund meiner Betrachtungen zu dem Schlusse, dals Fälle wie der von Konjetzny und der meinige beweisend sind für die Auffassung Benekes von dem Wesen und der Entstehung der Ostitis fibrosa mit ihren cystischen Geschwulstbildungen, welche er auf der siebenten Tagung der Deutschen pathologischen Gesellschaft folgendermafsen präzisiert hat: „Ich möchte ganz kurz meinen Standpunkt dahin aussprechen, dafs ich in allen derartigen Fällen zunächst so lange als möglich versuchen würde, diese Bildungen aus traumatischen Veränderungen bezw. reparativen Vorgängen im Anschlußs an Frakturen, Stoß, Fall oder sonstige Er- schütterungen irgendwelcher Art zu erklären. „Bei traumatischen Nekrosen, welche mit mehr oder weniger aus- sedehnter Blutung einhergehen, liegen im Knochenmarkraum die Verhältnisse ähnlich wie im Gehirn. Bekanntlich kann das Hirngewebe wegen der im Schädelinnern vorhandenen Druckspannungen der das Gehirn umgebenden und durchsetzenden Cerebrospinalflüssigkeit nicht zusammenfallen wie ein anderes Gewebe, wenn eine Erweichung oder eine hämorrhagische Apoplexie ausheilt. Als Resultat des Heilungsvorganges, d. h. der Resorption der nekrotischen Hirnteile entsteht dann die apoplektische Cyste Auch der Markraum eines Knochens kann nicht zusammenfallen; sammelt sich aber in ihm im Anschlufs an ein Trauma ein grölseres Quantum Flüssigkeit an, welches etwa durch eallöse Wucherungen abgegrenzt würde, so würde die Resorption dieser Flüssigkeit ausbleiben müssen, solange kein festes Gewebe an deren Stelle tritt. Die stagnierende Flüssigkeit aber würde die mechanischen Erschütterungen, welchen sie wie die anliegende Knochen- substanz ausgesetzt wäre, aufnehmen und weitertragen müssen, sie also auf die anliegenden Knochenteile überleiten; aus diesem Verhältnis mülste sich durch die allmähliche Transformation der Knochenneubildung mehr oder weniger die Form abgerundeter Räume ergeben, d.h. eben der Knochencysten. 4* 28 Richard Pflugradt, Ein Beitrag zur Pathogenese eystischer Knochentumoren. Die Spannung der etwa unmittelbar vom Bindegewebe abgegrenzten Flüssig- keit würde ein Eindringen organisierender Elemente erschweren, so dafs die Innenfläche der Cyste dauernd glatt abgegrenzt bliebe. Selbst eine zu- nehmende Vergrölserung der käume würde mit diesen Vorgängen ver- einbar sein. — — — „In anderen Fällen mag die Entwicklung abgeschlossener Hämatome mit sekundärer Umwandlung in Cysten auf anderen Ursachen, etwa Ent- zündungsvorgängen, beruhen; das Wesentliche bleibt auch dann die primäre Flüssigkeitsansammlung im zertrümmerten, nekrotischen Mark. Die hierbei auftretenden reparativen Gewebewucherungen sind meist sehr zellreich und sarkomähnlich, namentlich wenn auch Riesenzellen sich dabei beteiligen; aus dieser Ähnlichkeit geht aber noch nicht die Identität mit wirklichem, progredientem Sarkomgewebe hervor. Allerdings kann auch ich nach einem den v. Recklinghausenschen Mitteilungen entsprechenden Falle von Ostitis deformans des Femur mit Cystenbildungen bestätigen, dafs sich irgendwo eine lokale Sarkomatose an die chronische Knochenerkrankung anschliefsen kann.“ So einleuchtend mir nach meiner hier mitgeteilten Beobachtung diese Erklärung Benekes, speziell auch für den vorliegenden Fall ist, so bleibt ein Bedenken doch immer vorhanden, das ist die Frage: Warum sind solche atypischen Oallusvegetationen mit sekundärer Entwicklung einer Ostitis fibrosa und eystischer Tumoren so selten, obwohl die von uns angenommenen Vorbedingungen dazu doch häufig bei den verschiedensten Knochenver- letzungen gegeben sein müssen ? Auf diese Frage muls ich die Antwort noch schuldig bleiben. Doch erscheint mir trotz dieses Einwandes mein Versuch einer Beweisführung für die traumatische Entstehung derartiger cystischer Knochentumoren immerhin weniger lückenhaft zu sein als diejenigen für eine lediglich entzündliche oder gar blastomatöse Genese. oo@.nı Literatur. Almerini: Zur Deutung der umschriebenen, jugendlichen Formen der „tumorbildenden Ostitis fibrosa (v. Recklinghausensche Krankheit)“. Zeitschr. f. Krebsforschung. Bd. 7. S. 389. . Anschütz: Knocheneyste des linken Humerus (Ostitis fibrosa). Münch. med. Wochenschr. 1908. Nr. 32. D’Areis: Etude sur les eystes des os longs. Arch. internat. de chir. 1906. Ref. in Zentralbl. f. Chir. 1906. Nr. 21. . Beek: Osseous eysts of the tibia. Amer. Journ. of med. sciences 1901. Ref. in Zentralbl. f. Chir. 1901. S. 966. Beck: (C., Über echte Cysten der langen Röhrenknochen. Arch. f. klin. Chir. Bd.70. 8. 1099. Beneke: Diskussion über Cystenbildung bei Ostitis fibrosa. 7. Tagung der Deutsch. patholog. Gesellsch. 1904. . 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Auf dem Bilde ist der Rest des sternalen Gelenkendes der Clavieula nicht mit aufgenommen, da er etwas nach vorn von der Ebene des Durchschnitts gelegen ist. a — abgesägter Schaft der Clavicula (acromiale Hälfte) mit der pfeilerartigen Ausladung der vom periostalen Callus gebildeten Knuchenplatte (p), die in die Tumorkapsel (%k) übergeht. Zwischen den septenartigen Fortsätzen der Kapsel in das Tumorinnere (s) die mit Blut (R) oder Gallertmassen (g) gefüllten Hohlräume. b—b, — das fibröse von Hohlräumen durchsetzte Verbindungsstück zwischen den beiden Bruchflächen, welches der endostalen Calluswucherung entspricht. Schnitt durch eine Stelle der Wand eines der grolsen Hohlräume. Rechts liegt der Kolloidinhalt mit Fibrinfäden (f) und Resten von Erythro- cyten (e), links das wuchernde, gefälsreiche Gewebe mit Riesenzellen (r), welche den Blutraum z. T. direkt berühren. Eine endotheliale Auskleidung des Hohlraums ist nicht erkennbar. Wenigstens können die osteoblastartigen, isolierten, gröfseren Zellen (0) am Rande des Hohlraums kaum als Endothel gedeutet werden. b — Blut- gefälse. Nova Acta Acad. C. L. C. G. Nat. Our. Vol. XCVII. Nr. 12. Abb. 1. R. Pflugradt:| b..---- EN SE Bun. Es folgt aus unseren Zahlen, dafs die intraperitonealen Blasenrupturen in den ersten 24 Stunden eine Mortalität von nur 16,6 ob, im weiteren Verlauf jedoch 90° Mortalität auf- weisen. Es mufs hieraus der Schlu[s gezogen werden, dals für jede einigermalsen sicher diagnotizierte Blasenruptur die sofortige Operation gefordert werden mu[ls, wenn möglich hat dieselbe eine Frühoperation im wahren Sinne des Wortes zu sein. IN OA Ar ON TERE Abh. der Kaiserl. Leop. Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVII. Nr. 14. körperarösse und Nuskelkralt. Von R. du Bois-Reymond. Mit 6 Abbildungen. Eingegangen bei der Akademie am 27. April 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a. S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. 2 I h PR. 2 DLR FAN; 1. Bemerkungen über den inneren Aufbau von Muskeln und Sehnen. Eine Erweiterung und Vertiefung der schulmäßigen Lehre von der Muskelanatomie hat mein verehrter Lehrer Herr Geh.-R. Stieda dadurch eingeführt, dals er seine Schüler anleitete, die Gestalt jedes einzelnen Muskels zu beschreiben. Dies hat mich auf eine Frage geführt, die, wie es scheint, von der deskriptiven Anatomie bisher vernachlässigt worden ist, nämlich die Frage nach dem makroskopischen inneren Bau der ver- schiedenen Muskeln. So gut wie jedem Muskel eine bestimmte äulsere Gestalt zukommt, hat er auch eineh bestimmten inneren Aufbau, der für die Funktion nicht gleichgültig sein kann. In einer Anzahl einzelner Fälle wird auch in den anatomischen Lehrbüchern auf Besonderheiten dieser Art hingewiesen, z. B. auf die Taschenform der Sehne des Pectoralis major, den losen groben Bau des Deltoideus und Glutaeus maximus und andere mehr. Bekanntlich hat die Untersuchung des inneren Baues des Gastro- cnemius vom Frosch für die Lehre von seiner elektromotorischen Wirksam- keit ‚eine wichtige Rolle gespielt. Manche feineren Einzelheiten erwähnt Schiefferdeeker in seiner trefflichen Monographie über Muskeln und Muskelkerne. Im Grunde genommen ist die allgemein bekannte Ein- teilung der Muskeln in parallelfaserige, fächerförmige, einfach und mehr- fach gefiederte auch nichts anderes als ein Schritt in dieser Richtung. Es fehlt aber, soweit mir bekannt, noch heute eine systematische Be- arbeitung dieses Gebietes, an die ich als Assistent in Königsberg eben die Hand gelegt hatte, als ich mich veranlafst sah mich der Physiologie zuzuwenden. Der Bau der Muskeln schliefst sich naturgemäfs an den der Sehnen an, und ich möchte einige Aufzeichnungen über die Anordnung der Fasern 1* 4 R. du Bois-Reymond, auf Sehnenquerschnitten, die ich seinerzeit in Königsberg gemacht habe, hier wiedergeben. Es waren jedesmal die entsprechenden Sehnen beider Körperhälften miteinander verglichen, und die gemeinsamen Hauptzüge der Faserverteilung in grob schematischer Weise aufgezeichnet worden, wie es beifolgende Fig. 1 darstellt. Die Sehne des Adductor brevis (/) zeigt einen diekeren und einen dünneren bandförmigen Abschnitt. Die distale Sehne des Reetus cruris (c) zerfällt in zwei Teile, von denen der eine aus prismatischen, der andere x 4 N 4 IN ” ei N x ‘ 4 1 Y x WERE ' " yo a \ en dh 1 N “ SR ar Y GR \ d ed © \ Schematische Andeutung der Einteilung der Faserbündel auf Querschnitten menschlicher Sehnen. a — Caput longum bieipitis femoris. d — Piriformis. b — Semitendinosus, distale Sehne. e — Köpfe des linken Gastrocnemius. — Reetus cruris, distale Sehne. f = Adductor brevis. aus bandförmigen Bündeln besteht. Die Sehne des Piriformis (d) hat einen runden Hauptstrang, an den sich an einer Seite schichtweise seitliche Bündel anlegen. Der lange Kopf des Biceps femoris (a) zeigt drei Quer- schnittsfelder, eins mit prismatischen, eins mit bandförmigen Bündeln und ein kleines isoliertes Bündel. Ähnlich ist die Sehne des Semitendinosus (D) gebaut. Die Sehnen der beiden Köpfe des Gemellus (e) zeigen symmetrische Anlage. Die Muskelfasern schliefsen sich in bandförmigen Gruppen an, wie durch die punktierten Linien angedeutet ist. [9] Körpergrölse und Muskelkraft. Wie gesagt habe ich seinerzeit diese Eigentümlichkeiten im inneren Aufbau der Muskeln und Sehnen nicht weiter verfolgen können, doch wurde ich vor kurzem von neuem darauf aufmerksam, als ich Muskelquer- schnitte verschiedener Tiere miteinander verglich. Auf den weiter unten abgebildeten Querschnitten des Sartorius vom Frosch ist zu sehen, dals die oberflächliche Schicht dieses Muskels aus mehreren Lagen besonders dicht gelagerter dünner Fasern besteht, während die Mitte des Muskels diekere Fasern enthält. Schiefferdecker sagt vom Sartorius des Hundes, er sei „insofern sehr eigenartig gebaut, als in der Mitte eines jeden der ihn zusammensetzenden Bündel sich eine Faser findet, welche weit dicker ist als die übrigen das Bündel bildenden Fasern“. Offenbar werden morphologische Beobachtungen wie die vorstehenden um so grölseren Wert haben, je deutlicher sie eine Beziehung zu der Funktionsweise der betreffenden Muskeln erkennen lassen. Diese Be- ziehung ist bei den mitgeteilten Bemerkungen über die Faserverteilung vielleicht noch eher aufzudecken, als in den überraschenden Feststellungen Schiefferdeckers über das Verhältnis der Muskelkerne zum Gesamtmuskel. Eine einfache und der Untersuchung leicht zugängliche Beziehung besteht aber jedenfalls zwischen der absoluten Gröfse eines Muskels und der Kraft seiner Zusammenziehung, und es scheint daher lohnend, das Ver- hältnis von Körpergröfse und Muskelkraft zu erörtern. 2. Borellis Satz über die Gröfse der Sprünge verschieden grofser Tiere. Borellius hat in seinem berühmten Buch „De motu animalium“ einen Satz aufgestellt, der eine der wenigen physiologischen Lehren enthält, in denen ein einfaches theoretisch beweisbares Gesetz die beobachteten Tatsachen vollkommen ausreichend und befriedigend erklärt. Es ist dies der Satz, der mündlich in abgekürzter Form überliefert lautet: „Quo minora sunt animalia, eo majores faciunt saltus“. In dieser Form findet sich der Satz bei Borellius nicht, dagegen lautet Propositio OLXXVII in Kap. XXI folgendermalsen: „Animalia minora et minus ponderosa majores 6 R. du Bois-Reymond, saltus effieiunt respectu sui corporis, si caetera fuerint paria“. Die Beweis- führung von Borellius trifft merkwürdigerweise gar nicht den Kern der Sache, wie man sie heutzutage ansieht. Er schneidet sich schon durch seine Voraussetzungen den Weg dazu ab und gibt schliefslich eine Er- klärung, die durchaus nicht befriedigend ist. Borellius geht davon aus, dals gleichen Massen von gleichen Kräften die gleiche Geschwindigkeit erteilt wird, und dafs, um einer gröfseren Masse die gleiche Geschwindigkeit zu erteilen, die Kraft in dem- selben Verhältnis stärker sein muls, in dem die Masse grölßser ist. Er wählt dann als Beispiel zweier ungleicher Massen die Körper von Pferd Hund, die er als einander geometrisch ähnlich und im Gewichtsverhältnis von 50:1 stehend gelten läfst, und macht ferner die Annahme, dafs die Sprungkräfte im Körper gleichmäfsig verteilt seien. Hieraus ergibt sich, dafs dann die Sprungkräfte ebenfalls im Verhältnis von 50:1 stehen würden. Unter diesen Bedingungen würden die Geschwindigkeiten, die sich Pferd und Hund beim Springen erteilen könnten, und mithin auch die Höhe oder Weite ihrer Sprünge gleich sein. Dies gilt aber, wie Borellius gleich bemerkt, nur wenn die Einwirkung der Kraft momentan ist, wie etwa bei einem Stols. In Wirklichkeit nimmt während des Springens die Beschleunigung der Masse allmählich zu, und zwar beim Pferde, wegen der grölseren Länge seiner Beine, auf einer viel längeren Strecke als beim Hund. Daher mülste die Kraft des Pferdes, auch wenn sie zu dessen Gewicht im gleichen Verhältnis steht wie die Kraft des Hundes zu seinem Gewicht, dem Pferde eine grölsere Geschwindigkeit erteilen, als die Kraft des Hundes dem Hunde, und es mülste der Sprung des Hundes kleiner sein als der des Pferdes. i Ohne weiter zu erörtern, wie sich genauer genommen unter diesen Bedingungen das Verhältnis der Sprunggrölsen gestalten würde, führt nun Borellius eine neue Betrachtung ein, die er Galilei entnimmt. Galilei') hat die Behauptung aufgestellt, dals grölsere und kleinere Tiere einander nicht geometrisch ähnlich sein können, sondern dafs das grölsere Tier, um 1) Zitiert nach Rauber: Galilei über Knochenformen. Morphol. Jahrb. Ba. 7. 1882. 8.327. Körpergrölse und Muskelkraft. 7 im Verhältnis zu seinem Gewicht die gleiche Festigkeit zu haben, unver- hältnismälsig stärkerer Knochen bedarf. Daher seien gröfsere Tiere unver- hältnismäfsig schwerer als kleinere, oder umgekehrt kleinere unverhältnis- mäfsig leichter. Aus diesem Satze leitet nun Borellius her, dafs die kleineren Tiere zu unverhältnismälsig grölseren Sprüngen befähigt seien. Diese Beweisführung ist, wenn man die von Galilei aufgestellte Ansicht gelten lälst, hinreichend, um eine Überlegenheit der kleineren Tiere gegenüber den grölseren im Springen zu erklären. Es muls aber zweifel- haft erscheinen, ob der von Galilei angenommene Gewichtsüberschuls der größeren Tiere so grols ist, wie die Unterschiede der an der Gröfse des Tieres gemessenen Sprungweiten. Es leuchtet sogar gleich ein, dafs dies nicht der Fall ist, und dafs daher die von Borellius gegebene Erklärung seines Satzes unzulänglich ist. 3. Borellis Satz ist aus dem verschiedenen Verhältnis von Muskelquerscehnitt zu Körpergewicht bei gröfseren und kleineren Tieren zu erklären. Wenn man, von den gleichen Voraussetzungen ausgehend wie Borellius, von dem Galileischen Satze absieht, so wird man zu dem Ergebnis kommen, dals die Sprunggrölfsen von Pferd und Hund sich ver- halten müssen wie die Körpergrölsen. Borellius nimmt nämlich an, dafs die Sprungkräfte sich wie die Massen verhalten und setzt auseinander, dafs die Kraft des Pferdes, wegen seiner längeren Knochen, auf einer längeren Wegstrecke wirke als die des Hundes. Geometrische Ähnlichkeit voraus- ausgesetzt, muls die Wegstrecke in demselben Verhältnis gröfser sein, in dem der Körper des Pferdes grölser ist als der des Hundes. Die Ge- schwindigkeit, die der Schwerpunkt des Pferdes auf dieser gröfseren Strecke erhalten würde, würde sich zu der die der Schwerpunkt des Hundes erlielte verhalten wie die Wurzeln der Strecken. Da das Pferd nach Borellius viermal so grols ist wie der Hund, würde es also die doppelte Geschwindigkeit erreichen, und zweimal so hoch oder weit springen können wie ein Hund. Damit würde allerdings schon gesagt sein, dafs es im Verhältnis seiner Gröfse nur halb so weit spränge, so 8 R. du Bois-Reymond, dals es gar nicht nötig wäre, auf Galilei zurückzugreifen. Wenn aber der Unterschied, wie es Borellius tut, nur durch den von Galilei behaupteten Gewichtsüberschuls erklärt werden soll, so mülste der Gewichts- überschuls so grofs sein, dafs das Gewicht dadurch doppelt so grofs würde, als es nach dem Vergleich der Körpergrölse sein mülste. Man sieht also, dals die Beweisführung von Borellius auf schwachen Fülsen steht. Der Lehrsatz selbst aber ist unbestreitbar richtie. Wenn man den Hochsprung zugrunde legt, der geeigneter ist als Mals der Sprung- kraft zu dienen, und wenn man in Betracht zieht, dals der Schwerpunkt des Pferdes von vornherein höher liest als der des Hundes, so darf man wohl behaupten, dafs gut springende Hunde, absolut gerechnet, ebenso hoch springen wie gut springende Pferde Im Verhältnis zu seiner Grölse springt also der Hund nicht blofs höher als das Pferd, sondern sogar zwei bis dreimal so hoch. Der Grund ist denn auch in Verhältnissen zu finden, die Borellius gar nicht in Betracht gezogen hat. Borellius nahm an, die Muskelkraft, die beim Sprung in Tätiekeit tritt, sei proportional dem Körpergewicht. Diese Annahme entspricht durchaus nicht der Wirklichkeit. Nach dem heutigen Stande unserer Kenntnisse der allgemeinen Muskelphysiologie würde vielmehr die ganze Erörterung etwa folgendermalsen zu fassen sein: Wenn zwei Körper von verschiedener Grölse einander geometrisch ähnlich sind, wie etwa zwei Würfel, so verhalten sich ihre Oberflächen wie die Quadrate, und ihre Rauminhalte wie die Kuben ‘der Längsdimensionen. Dies gilt nicht blols für regelmälsig gestaltete Körper, sondern für Körper von ganz beliebiger Form, sofern sie nur einander geometrich ähnlich sind, das heilst genau die gleichen Proportionen aller einzelnen Teile aufweisen. Denkt man sich also zwei Tierkörper, die vollkommen ähnlich sind und sich nur durch ihre Gröfse unterscheiden, so werden sämtliche ent- sprechende Oberflächen an diesen Körpern, also auch die Querschnitts- flächen der Muskeln, sich verhalten wie die Quadrate, der Rauminhalt aber, oder, was bei der genau gleichen Massenverteilung dasselbe ist, die Gewichte, werden sich verhalten wie die Würfel aus den Längenmalsen beider Körper. Das heilst, wenn ein Tier doppelt so lang ist wie ein anderes ihm sonst vollkommen ähnliches Tier, so sind seine Muskelquer- Körpergrölse und Muskelkraft. &) schnitte viermal so groß, sein Gewicht achtmal. Da nun die Kraft der Muskeln unter sonst gleichen Bedingungen von ihrer Dicke abhängt, so folgt, dafs das doppelt so grolse Tier mit der vierfachen Kraft das acht- fache Gewicht zu bewegen hat. Das kleinere Tier hat also eine im Ver- gleich zu seinem-Gewicht viel grölsere Muskelkraft. Der auf diese Weise begründete Unterschied in der relativen Kraft grolser und kleiner Tiere ist hinreichend, um das oben angegebene Mils- verhältnis zwischen den Sprunghöhben von Hund und Pferd zu erklären. Er ist so grols, dafs es nicht Wunder nehmen darf, dals er auch im täglichen Leben, beim Vergleich der turnerischen Leistung grofser und kleiner Männer, deutlich hervortritt. Je weniger aber zu bezweifeln ist, dafs die Wahrheit des Borellischen Satzes auf dem angegebenen Grunde beruht, um so lebhafter muls die Frage interessieren, wie weit die Überein- stimmung der vorgetragenen 'T'heorie mit den tatsächlichen Verhältnissen der Wirklichkeit geht. 4. Die geometrische Ähnlichkeit von Tieren verschiedener Gröfse. Die im vorigen Abschnitt angestellte Betrachtung ist rein theoretisch. „Wenn zwei Tiere verschiedener Grölse einander geometrisch ähnlich wären, so würden sich ihre Muskelkräfte wie die Quadrate, ihre Gewichte wie die Würfel ihrer Längenmalse verhalten“. Dafls der Satz theoretisch richtig ist, und dals er im grolsen und ganzen auch tatsächlich gilt, ist wohl allgemein als selbstverständlieh betrachtet worden, und findet sich deshalb, soweit mir bekannt, in der Literatur kaum erwähnt. Nur in bezug auf die Muskelkraft der Insekten, bei deren Untersuchung Plateau‘) den Satz vollständig vernachlässigt hat, hatte schon Leuckart?) ihn aus- führlich erörtert. Solange aber die Voraussetzung der geometrischen Ähn- lichkeit eine blofs theoretische Forderung bleibt, darf auch die Folgerung nur unter Vorbehalt auf die Wirklichkeit übertragen werden. Um die tat- sächliche Gültigkeit des Satzes zu erweisen, müssen also zwei Fragen 1) Bull. Acad. Belg. T. 20, 1866, p. 732. T. 22, 1866, p. 283. 2) Arch. f. Naturgeschichte. Bd.18. 1851. 8.1. Nova Acta XCVII. Nr.]14, “ du 10 R. du Bois-Reymond, entschieden werden, nämlich: Gibt es in Wirklichkeit Tiere verschiedener Grölse die einander geometrisch ähnlich sind? Und wie verhalten sich deren Muskelkräfte? Auf den ersten Blick erscheint es sehr einfach, diese Frage durch Untersuchung zu beantworten. Wenn zwei Tiere verschiedener Grölse einander geometrisch ähnlich sind, müssen sich ihre Oberflächen wie die Quadrate, ihre Gewichte wie die Würfel aus ihren Körperlängen verhalten. Körperlänge und Körpergewicht sind sehr leicht zu bestimmen, und man brauchte also nur nachzurechnen, ob sich die Gewichte der beiden Tiere wie die Würfel aus der Länge verhalten, um festzustellen ob geometrische Ähnlichkeit besteht. Findet man bei dieser Rechnung Übereinstimmung, so ist der Schlufs auf geometrische Ähnlichkeit zulässig. Im allgemeinen wird man aber keine genaue Übereinstimmung finden und dann entsteht die Frage, ob die Grölse der gefundenen Abweichung eine richtige Vorstellung von der Grölse der wirklichen Abweichung von der geometrischen Ähnlichkeit gibt. Der Sinn dieser Frage tritt deutlich zutage, wenn man die Unter- suchungen von Hutchinson und von Quetelet') über das Verhältnis von Körperlänge und Gewicht beim Menschen betrachte. Hutchinson kommt zu dem Ergebnis, dals das Gewicht des Menschen nicht mit der dritten sondern mit der 2,7ten Potenz der Körperlänge wächst, Quetelet nimmt sogar an, dafs sich das Gewicht nur wie die zweite Potenz aus der Länge verhaltee Danach mülste man glauben, dafs von geometrischer Ähnlichkeit keine Rede sei. Nun ist aber der Umstand zu bedenken, dafs von den genannten Forschern als Längenmals die Scheitelhöhe zugrunde gelegt worden ist, also die Länge des Kopfes, des Halses, des Rumpfes und der Beine Es ist bekannt, dafs die Länge der Beine bei ver- schiedenen Menschen beträchtlichen Schwankungen unterliegt. Es ist sehr wahrscheinlich, dals unter den Leuten, die von Hutchinson und von Quetelet gemessen worden sind, viele nur dadurch hohe Mafszahlen in der „Körperlänge“ aufgewiesen haben, dafs sie besonders lange Beine hatten. Mit anderen Morten: Hutchinson und Quetelet haben eben nicht Menschen von grolsem und kleinem Wuchs verglichen, sondern 1) Zitiert nach Vierordts Physiologie. Körpergröfse und Muskelkraft. 11 Menschen von grolser und kleiner Scheitelhöhe, das heifst Menschen mit langen und kurzen Beinen. Es leuchtet ein, dafs, wenn die Scheitelhöhe eines Menschen dadurch eine besonders hohe Zahl erreicht, dafs seine Beine besonders lang sind, dafs dann sein Gewicht nicht so grols sein wird wie das eines Menschen, der ohne besondere Länge der Beine, durch die Gröfse des gesamten Körpers dieselbe Scheitelhöhe erreicht. Es ist also fraglich, ob das Ergebnis der Messungen nicht ganz anders ausgefallen wäre, wenn statt der Scheitelhöhe, die die Beinlänge in sich schliefst, etwa nur die Rumpflänge gemessen worden wäre. Höchst wahrscheinlich wäre dann eine viel grülsere Übereinstimmung zwischen dem Gewicht und der dritten Potenz der Längen gefunden worden. Aus den Messungen von Hutchinson und von Quetelet geht also zwar hervor, dafs das Gewicht nieht mit der dritten Potenz der Scheitelhöhe wächst, für die Frage nach der geometrischen Ähnlichkeit grofser und kleiner Menschen läfst sich aber aus dieser Tatsache nichts ableiten, weil die Scheitelhöhe ebensosehr von der Beinlänge wie von der wirklichen „Körpergröfse abhängt. Man sieht aus diesem Beispiel, dafs es bei der Vergleichung der Grölse nicht genügt, ein einziges beliebig gewähltes Längenmals mit dem Gewichte in Beziehung zu setzen, sondern dals man, um eine zuver- lässige Angabe über die „Grölßse“ eines Körpers zu machen, eine Anzahl verschiedener Strecken an dem Körper messen und etwa deren Summe als Vergleichszahl benutzen mülste. Bei weiterer Betrachtung wird klar, dafs auch die einfache Wägung, wenn man nicht von vornherein geometrische Ähnlichkeit der verschiedenen Bestandteile des Körpers voraussetzt, kein gültiges Mals für die Gewichtsverhältnisse zweier verschiedener Tiere gibt. Dasselbe gilt von der Öberflächenbestimmung. Nimmt man z.B. an, es werde ein Tier mit grolsen Ohren mit einem ohne erhebliche Entwicklung der Ohren verglichen, so ist klar, dals die Oberfläche des ersten unver- hältnismälsig gröfser gefunden werden wird, während im übrigen voll- kommene geometrische Ähnlichkeit bestehen könnte. Man würde also auch hier in derselben Weise wie Hutchinson und wie Quetelet dazu kommen, eine Abweichung von der geometrischen Ähnlichkeit festzustellen, die nur auf einer einzelnen Besonderheit der beiden verglichenen Körper beruht und keinen allgemeinen Schluls zulälfst. - 12 R. du Bois-Reymond, 5. Bedingungen der Untersuchung über geometrische Ähnlichkeit. Eine strenge Untersuchung über die geometrische Ähnlichkeit grolser und kleiner Tiere läfst sich also nur durchführen, indem man soviele ein- zelne Mafse an jedem Tiere nimmt, dafs man mit Sicherheit erkennen kann, ob die zur Rechnung benutzten Mafse wirklich die Körpergröfse im ganzen bezeichnen, oder ob sie auf ungleichförmiger Entwicklung einzelner Teile beruhen. Aber in günstigen Fällen kann man sich mit viel ein- facherem Verfahren begnügen. Wenn man nämlich bei wenigen Messungen findet, dafs sich die beiden Tierkörper wie geometrisch ähnliche Körper verhalten, so ist es zum mindesten sehr unwahrscheinlich, dafs diese Über- einstimmung ein blofser Zufall sein sollte. In diesem Sinne kommt auch in Betracht, dafs Unterschiede in der, Gewichtsverteilung und in der Oberflächenentwicklung nicht so leicht einen wesentlichen Fehler in die Untersuchung bringen wie Unterschiede in den Längenmalsen. Wenn man z. B. die Oberflächen und die Gewichte zweier Körper bestimmt hat, und die zweiten Wurzeln aus der Öberflächenzahl oder die dritten aus den Gewichten vergleicht, so stellen diese Wurzeln gewissermalsen ideale Längenmalse der betreffenden Tiere vor, denn sie sind von ungleichförmisem Wuchs einzelner Teile aus mehreren Gründen unabhängig und deshalb geeignet, als Malszahl für die wirkliche „Grölse“ des Tieres zu gelten. Diese Gründe sind: 1. Indem aus der Oberflächenzahl die zweite, oder aus dem Gewichte die dritte Wurzel gezogen wird, wird die gemessene Zahl sehr erheblich verkleinert. Damit wird auch beim Vergleich zwischen zwei verschiedenen Tieren der Unterschied sehr viel kleiner, und etwa vorhandene Unähnlichkeiten im Körperbau, die auf die gemessene Zahl Einflufs haben, haben auf die Wurzel nur einen sehr viel geringeren Ein- flußs. Daher stellt das durch Wurzelziehen aus der Oberfläche oder dem Gewicht errechnete Längenmals zugleich ein sehr viel genauer gemessenes Mals dar, als irgend eine an einem Teile des Tieres unmittelbar ge- messene Zahl. 2. Die Bestimmung der Oberfläche oder des Gewichtes schliefst gleichsam die Bestimmung sehr vieler Längenmalse in sich, so dals die einzelnen Unähnlichkeiten im Körperbau einander zum Teil auf- Körpergröfse und Muskelkraft. 11: heben werden, und soweit sie das nicht tun, doch auf das Gesamtergebnis nur einen geringeren Einfluls haben, als wenn sie aus einer beschränkten Zahl tatsächlicher Längenmessungen abgeleitet wären. Tritt man nach diesen allgemeinen Betrachtungen an die Frage heran, wie weit bei grofsen und kleinen Tieren geometrische Ähnlichkeit bestehen kann, so wird man als sicherste Grundlage zunächst die Be- stimmung des Gewichtsverhältnisses ansehen müssen. Die Frage nach der geometrischen Ähnlichkeit wird dann danach zu entscheiden sein, ob die Längenmalse entsprechender Teile sich wie die dritten Wurzeln aus den Gewichten verhalten. Auf diese Weise muls sich zunächst feststellen lassen, ob annähernd geometrische Ähnlichkeit besteht, oder ob eine Abweichung zugunsten der srölseren Tiere im Sinne der Betrachtung von Galilei vorliegt. Wenn annähernd geometrische Ähnlichkeit gefunden wird, muls offenbar nach der oben angestellten Betrachtung, die Muskelkraft der gröfseren Tiere relativ zum Gewicht kleiner sein als die der kleineren, weil die Muskelquer- schnitte sich wie die einfachen Wurzeln aus dem Gewichte verhalten müssen. Wenn eine Abweichung in dem Sinne Galileis besteht, muls dieser Unterschied verstärkt hervortreten. Man wird also erwarten dürfen, dals die relative Muskelkraft grölserer Tiere bedeutend geringer gefunden wird als die kleinerer. Es wäre aber auch möglich, da.s bei den grölseren Tieren eine Abweichung von der geometrischen Ähnlichkeit gerade in dem Sinne bestünde, dafs ihre Muskeln unverhältnismälsig dicker wären, so dals ihre relative Kraft der der kleineren Tiere wenigstens angenähert gleich würde. 6. Untersuchung von Fröschen verschiedener Gröfse auf geometrische Ahnlichkeit. Um diese Vermutungen wenigstens an einem Beispiele durch Be- obachtungen zu ersetzen, bestimmte ich an zehn grolsen und zehn kleinen Fröschen das Körpergewicht ? und », ferner die Rumpflänge Z und |, die Länge des Sartorius 1 und 2, dessen Gewicht 7 und x und endlich seine Kraft K und &. 14 R. du Bois-Reymond, Das Körpergewicht wurde auf einer Tarirwage auf 0,5 g genau abgewogen, da dies für den vorliegenden Zweck genau genug ist. Die Körperlänge wurde mit einer Schublehre gemessen, die gegen das Ende des Steilsbeins und die Nasenspitze gelegt war, wobei jedesmal durch leichten Druck auf den Rücken des auf dem Bauche liegenden Frosches die Wirbelsäule so gestreckt wurde, dals das grölste mögliche Längenmals erreicht wurde Die Länge des Sartorius wurde anfangs am einzelnen Muskel in situ mit der Schublehre gemessen, später fand ich es bequemer, das Mafs beider zusammen bei zum gestreckten Winkel auseinander ge- spreizten Oberschenkeln zu messen, und die Hälfte des so genommenen Malses anzusetzen. Es ist hierzu zu bemerken, dafs es für die Zwecke der Messung nicht notwendig war, ein genaues Mals der Länge des Muskels zu erhalten, die sich ja überhaupt nicht wohl angeben läfst, sondern dals es genügte, wenn die als „Länge des Muskels“ angenommene Strecke immer unter gleichen Bedingungen gemessen war, so dals sie zur wirk- lichen Muskellänge im gleichen Verhältnis stünde. Das Gewicht des Muskels wurde, nachdem er möglichst schnell ausgeschnitten und in ein Wiegegläschen mit Stöpsel gelegt worden war, auf Milligsramme genau auf einer Analysenwage bestimmt. Das Ergebnis war folgendes: I. Grofse Frösche. L 120 A I M) K 110 210 55 428 Esel _ 113 139 ol 360 6,6 160 101 107 49 340 7 165 96 97 48 290 6 180 114 200 53 506 9,5 180 105 154 52 454 8 175 100 114 46 399 8,7 170 94 103 47 400 8,5 160 101 122 48 319 6,6 150 97 102 48 387 8 180 103 195 49,7 387 7,66 170 Körpergrölse und Muskelkraft. 15 II. Kleine Frösche. » 2 I q k 75 55,5 37 171 4,6 — 78 57 35 102 2,9 — 75 42 35 131 3,7 65 73 41 31 71 23 70 73 39 33 111 33 65 77 44 37 103 2,8 80 75 44,5 34 120 3,5 50 70 33 32 100 3 95 65 26 28 75 DU 60 68 29 3l 75 2,4 60 73 41 33,2 106 3,1 68 In dieser Zusammenstellung bedeutet: L = Rumpflänge in mm. P — Gewicht in g. Al== Länge des M. Sartorius in mm. II —= Gewicht des M. Sartorius in mgr. @ — Querschnitt des Sartorius aus A und /J berechnet. K — Kraft des Satorius. Die aus jedem Stabe der Gruppe I und II ausgezogenen Mittelzahlen sollen die Normalmaflse eines grofsen Frosches und eines kleinen Frosches .darstellen, indem die bei den einzelnen Tieren vorkommenden Abweichungen vom normalen Zustand einander grolsenteils aufheben. Der an erster Stelle angeführte Frosch, der das höchste Gewicht erreicht, zeigte z. B. Anzeichen von Oedem, so dals seine Gewichtszahl die eines normalen Frosches von derselben Grölse wahrscheinlich übertrifft. Demgegenüber ist das Gewicht des vierten Frosches jedenfalls abnorm gering, wie man aus dem Vergleich mit dem achten und zehnten erkennen kann. Der fünfte Frosch, der wiederum ein sehr hohes Gewicht zeigt, liels kein Anzeichen von Oedem erkennen. Nimmt man an, dafs die Durchschnittszahlen Normalzahlen für grolse und kleine Frösche darstellen, so ergibt sich folgendes: Die Rumpflänge der grofsen Frösche beträgt im Durchschnitt 103 mm, die der kleinen 73mm. Das Verhältnis dieser beiden Malse ist 1,41:1. 16 R. du Bois-Reymond, Die dritte Wurzel aus dem Durchschnittsgewicht der grolsen Frösche ist /135 — 5,130 die aus dem der kleinen ist /4ı — 3,448. Das Verhältnis dieser beiden Zahlen ist 1,49: 1. Das Gewicht der grolsen Frösche ist also um ein wenig höher, als nach dem Verhältnis der Rumpflängen zu erwarten wäre. Die Abweichung ist aber so klein, dals man sie vernachlässigen, und im allgemeinen sagen darf, dals Frösche deren Länge sich wie 1,5:1 verhält, einander vollkommen geometrisch ähnlich sein können. Dafür spricht, dals wenn man statt der Rumpflänge ein anderes Längenmals, nämlich die Länge des Sartorius, zu Grunde legt, das Ver- hältnis der Durchschnittszahlen für grofse und kleine Frösche genau das- selbe ist, wie das der dritten Wurzeln aus dem Körpergewicht, nämlich ag als Die Durchschnittsgewichte der Sartorii ergeben freilich auch wieder einen Überschufs zu Gunsten der gröfseren Frösche. Der Überschufs bleibt auch bestehen, wenn die beiden schwersten Frösche aus der Rechnung ausgeschlossen werden, oder wenn man von den gröfseren Fröschen nur die drei kleinsten berücksichtigt, oder wenn man die Rechnung nur mit der Reihe der kleineren Frösche ausführt, die man in zwei Gruppen, eine von 75mm Rumpflänge und darüber, eine darunter, einteilt. Selbst wenn man die gröfsten Gewichtszahlen aus der Rechnung ausschliefst, dabei aber die zugehörigen hohen Längenmalse berücksichtigt, erreicht man nur die Über- einstimmung mit der geometrischen Ähnlichkeit, aber keine Abweichung in entgegengesetzter Richtung. Es scheint demnach, als wenn die gefundene geringfügige Abweichung zu Gunsten des Gewichts der grölseren Frösche vielleicht doch schon Ausdruck des von Galilei ausgesprochenen Gesetzes sein könnte. %. Untersuchung von Ratten und Mäusen auf geometrische Ähnlichkeit. Zu einer weiteren Probe auf geometrische Ahnliehkeit verschieden grolser Tiere erschienen mir Ratte und Maus besonders geeignet, weil sie einander sehr ähnlich und an Gröfse beträchtlich verschieden sind. Leider Körpergröfse und Muskelkraft. lt konnte ich zur Zeit nicht mehr als drei weilse Ratten erhalten, die ich mit sechs weilsen Mäusen verglich. Die Längenmalse wurden so genommen, dafs ich erstens das Maximal- mals von der Schnauze bis zur Schwanzspitze mals, Z und /, dann die Rumpflänge vom After zur Nase, /L, und /,, dann die Rumpflänge bei natürlicher Haltung, vom After zur Stirnfläche, Z, und l,. Ferner wurde das Körpergewicht P und p, und die Kraft des Gastroenemius, K und k, bestimmt. Das Ergebnis war folgendes: Mäuse. I I; I, » k 165 91 77 21,9 90 163 35 72 22 — 150 s0 72 18 120—180 165 85 74 21 170 150 50 65 UT 165 160 80 70 10 225 Ratten. L L, Ls 72 IC 355 195 160 220 330 335 180 150 155 800 330 180 150 148 800 , 2, !, bedeuten die oben bezeichneten Längenmalse in mm, p das Gewicht in g, k die Muskelkraft des Gastrocnemius in g. Nimmt man aus den Längenmafsen die Durchschnittszahlen, so findet man, dals sich verhält = — oa an) il Zählt man, um ein Durchschnittslängenmafs zu bekommen, die drei Längs- malse zusammen, so ergibt sich Zee De IHh+h Dagegen verhalten sich die dritten Wurzeln aus den Durchschnitts- gewichten wie 2,6:5,6 oder wie 1:2,15. Nova Acta XCVIIL. Nr. 14. 3 18 R. du Bois-Reymond, Es zeigt sich also ebenso wie bei den Fröschen eine sehr grolse Annäherung an die geometrische Ähnlichkeit. Das diese Annäherung für das Verhältnis 2 — 214 weniger gut ist, erklärt sich daraus, dafs l:(l—l) < L:(L—L,), d.h., dafs die Schwanzlänge bei den Mäusen ver- hältnismäßig grölser war als bei den Ratten. Wollte man die grölste Verhältniszahl, die sich bei den Längenmalsen gefunden hat, nämlich a. — 220 als allein gültig ansehen, so würde allerdings die geometrische Ähnlichkeit geringer erscheinen, aber die Abweichung würde nach der Seite liegen, die ein verhältnismälsig geringes Körpergewicht der gröfseren Tierart bedeutet. Es ist also aus dem Vergleich zwischen Längenmalsen und Körper- gewicht bei Mäusen und Ratten zu schliefsen, dals zwischen ihnen geo- metrische Ähnlichkeit angenommen werden muls, oder wenigstens, dals keine Abweichung in dem Sinne besteht, dafs die Ratten ein unverhältnis- mälsig grölseres Gewicht hätten. Dies Ergebnis macht es sehr wahrscheinlich, dafs auch der bei den Fröschen erwähnte Gewichtsüberschuls der grölseren Tiere nur eine zufällige Abweichung darstellt. 8. Aus Kettners Angaben über Meerschweinchen ergibt sich, dafs zwischen gröfseren und kleineren Tieren geometrische Ahnlichkeit bestehen kann. Zu einer weiteren Probe auf geometrische Ähnlichkeit zwischen größeren und kleineren Tieren, kann eine Beobachtungsreihe an Meer- schweinchen dienen, die Kettner mitteilt.') Kettner hat an 15 Tieren Gewicht und Körperoberfläche genau bestimmt, und gibt folgende Zahlen an: Nr. Gewicht in g. Oberfläche in qem. 1 150 280 2 170 380 3 207 277 4 223 363 1) Archiv für Anatomie und Physiologie, Physiologische Abt. 1909. 8. 447. Körpergröfse und Muskelkraft. 19 Nr. Gewicht in g. Oberfläche in gem. 5 309 428 6 315 403 7 318 456 8 320 380 9 392 525 10 433 519 11 451 526 3 12 589 626 13 786 746. Teilt man die Gesamtzahl in vier Gruppen von annähernd gleichem Gewicht, wie es durch die Striche in der Übersicht angedeutet ist, also 1—4, 5—8, 9—11, 12 —15, und nimmt für diese Gruppen je die Mittel- zahl, so erhält man folgende Reihe. Gruppe. Gewicht in g. Oberfläche in gem. 1; 187 307 2. 310 417 38 425 523 4. 692 686. Diese Zahlen stellen also das durchschnittliche Gewicht und die durch- schnittliche Körperoberfläche bei Meerschweinchen verschiedener Grölse dar. Nach den im zweiten Absehnitt erörterten Grundsätzen stellt die dritte Wurzel aus dem Gewicht ein ideales Längenmals des Körpers vor, ebenso die zweite Wurzel aus der Körperoberfläche. Besteht zwischen den grölseren und kleineren Tieren geometrische Ähnlichkeit, so müssen die dritten Wurzeln aus dem Gewicht der grölseren Tiere zu denen der kleinen Tiere in demselben Verhältnis stehen, wie die zweiten Wurzeln aus den Ober- flächen, denn im Falle vollkommener geometrischer Ähnlichkeit verhalten sich die Gewichte wie die Cuben, die Oberflächen wie die Quadrate des Längenmalses. Um hiernach die vorliegenden Zahlen zu prüfen, müssen also die dritten Wurzeln aus den Gewichtszahlen und die Quadratwurzeln aus den Öberflächenzahlen genommen werden. Dies führt zu der Reihe: gr 20 R. du Bois-Reymond, Gruppe. v p ; q 1 5,73 17,5 2. 6,75 20,4 3. 7,45 23,0 4. 8,85 26,2. Nimmt man nun das Verhältnis, in dem die dritte Wurzel aus dem Ge- wicht in der zweiten Gruppe zu der dritten Wurzel aus dem Gewicht in der ersten Gruppe steht, und ebenso bei der dritten und zweiten, und bei der vierten und dritten Gruppe, so bekommt man die Verhältnisse, in denen die idealen Längenmalse der vier Gruppen zu einander stehen. Diese Zahlen sind 2:1 3:2 4:3 6,75:5,73 — 1,18 7,55:6,75 — 1,12 8,85:7,55 — 118. In derselben Weise erhält man aus den Quadratwurzeln der OÖberflächen- malse für die verschiedenen Gruppen die Verhältniszahlen: 2:1 3:2 4: 20,4:17,5 — 1,16 23:20,4 — 1,13 26,5:23 — 1,15 oo Man sieht hieraus, dafs die Abweichungen von der geometrischen Ähnlich- heit sehr gering sind, da die aus den Gewichten und aus den Oberflächen berechneten Längenmalse im ungünstigsten Falle um weniger als drei Prozent differieren. Dazu ist allerdings zu bemerken, dafs auch die Gröfsenunterschiede zwischen den benachbarten Gruppen nicht sehr bedeutend sind, und dafs die Abweichung bei zwei aus den drei Zahlenpaaren anzeigt, dafs das Gewicht mit der Gröfse unverhältnismälsig zunimmt. Um einen beträcht- licheren Unterschied in der Gröfse der Tiere zu betrachten, braucht man aber nur einmal die erste Gruppe mit der vierten zu vergleichen. Das aus dem Gewicht berechnete Längenmals ist für die erste Gruppe WMez = BR, für die vierte /692 — 8,85. Das Verhältnis der Längen ist demnach 8,85:5,73 — 1,57. Körpergrölse und Muskelkraft. 21 Die grölsten der gemessenen Meerschweinchen sind also mehr als anderthalb- mal gröfser gewesen als die kleinsten. Die aus den Oberflächen berechneten Längen sind für die erste Gruppe /307 = 17,5, 86 — 26,6. 2 für die vierte v2 a Diese Zahlen stehen im Verhältnis 26,5:175 — 131. Hier ist also eine etwas grölsere Abweichung in dem gleichen Sinne zu bemerken, wie beim Vergleich der benachbarten Gruppen. Vergleicht man nur die beiden kleinsten und beiden gröfsten Tiere, so erhält man auch eine Abweichung von etwa sieben Prozent. Auch aus den Messungen von Kettner geht also hervor, dafs zwischen grölseren und kleineren Tieren nahezu vollkommene geometrische Ähnlichkeit bestehen kann. 9. Die Muskelkraft verschieden grofser Tiere gleicher oder ähnlicher Art. Nachdem im Vorstehenden gezeigt worden ist, dafs zwischen grolsen und kleinen Fröschen, und ebenso zwischen Ratten und Mäusen, mit grolser Annäherung geometrische Ähnlichkeit besteht, darf behauptet werden, dafs sich die Muskelquerschnitte der grölseren Tiere zu denen der kleineren wie die Quadrate aus den linearen Dimensionen verhalten müssen. Die Probe hierauf läfst sich an den von den Fröschen genommenen oben angeführten Mafsen machen. Durch Division des Gewichtes eines Muskels mit seiner Länge erhält man bekanntlich seinen Querschnitt, oder wenigstens eine Zahl, die zu dem wirklichen Querschnitt in einem bestimmten Verhältnis steht, was für den vorliegenden Zweck ausreicht. Diese Zahlen sind in die vorstehende Zahlenübersicht unter Q@ und q auf- genommen. Sie bezeichnen den Querschnitt des Sartorius in qmm. Für die Gruppe der grofsen Frösche ist das Durechnittsmals des Querschnitts 22 R. du Bois-Reymond, 7,66, für die Gruppe der kleineren 3,1. Das Längenmals des Rumpfes ist für die grolsen Frösche 103, für die kleinen 73 mm. Die Quadrate dieser Zahlen verhalten sich wie 1,6:1. Die Mafse der Querschnitte ver- halten sich wie 1,4:1. Es ist hier dieselbe Abweichung von der voll- kommenen geometrischen Ähnlichkeit zu bemerken, wie sie oben in bezug auf das Körpergewicht erwähnt wurde, aber im grolsen und ganzen besteht Fig. 2. Messung der Zugkraft eines Muskels mit dem Auxotonographen. A — Auxotonograph. E = der Exzenter, der bei dieser Verwendung des Apparates nicht benutzt wurde. F = die Feder, die durch den Zug des Muskels M am Hebel H gebogen wird. R = Rolle. S — Schreibspitze. T — Schreibtrommel; 1 bezeichnet die Kurve, die bei der Probereizung geschrieben ist, 2 die danach bemessene Spannung die dem Muskel für die endgültige Messung erteilt wird. die geforderte Proportionalität zwischen Muskelquerschnitt und Quadrat des Längenmafses. Legt man als ideales Längenmals die dritte Wurzel aus dem Körpergewicht zugrunde, so erhält man eine noch bessere Überein- stimmung. Es fragt sich nun, wie sich die Muskelkraft in Wirklichkeit ver- hält, und ob sie der theoretischen Annahme entspricht, dafs sie dem Muskelquerschnitt proportional sein soll. Um diese Frage zu beantworten, Körpergröfse und Muskelkraft. 23 wurde die Muskelkraft bei den Fröschen und den Ratten und Mäusen gemessen. | Hierbei verfuhr ich folgendermalfsen: Die distale Sehne des Muskels wurde freigelegt und der Bauch des Muskels soweit frei präpariert, wie nötig war um die Einwirkung der benachbarten Muskeln auf seine Tätig- keit auszuschliefsen. Der Oberschenkel wurde durch Anschnüren an starke Nägel, die in einen grolsen Holzklotz geschlagen wurden, fixiert. An die Sehne des Muskels (M der Fig. 2) wurde ein Faden geknüpft, der zu einer Rolle ® und von da zum Schreibhebel 7 des Engelmannschen Auxotonographen AEX geführt wurde. Der Auxotonograph wurde, ohne seine Einstellbarkeit zu benutzen, hier einfach als ein nahezu isometrischer Spannungsschreiber gebraucht. Wenn der Muskel sich zusammenzog, wirkte seine Zugkraft auf den Hebelarm Z und bog die Feder # nach dem Malse der Kraft des Muskels durch. Dabei rückte die Spitze des Schreibhebels 5 an der Schreibtrommel 7 entsprechend tiefer. Zum Beginn wurde dem Muskel durch Abrücken des Holzklotzes von dem Stativ, an dem die Rolle & und der Auxotonograph befestigt waren, eine gewisse Spannung erteilt, so dafs die Schreibspitze, wie auf der Figur angedeutet ist, von ihrer Ruhe- lage bis zu der mit 1 bezeichneten Höhe herabging. Dann wurde der Muskel durch einen starken faradischen Strom gereizt und zog sich dabei so stark zusammen, dafs der Schreibhebel die zweite Stufe der auf der Figur erkennbaren Kurve verzeichnete. Nun wurde eine kurze Ruhepause gemacht, in der der Muskel durch Heranrücken des Klotzes von der Spannung entlastet wurde und darauf erst eine fast der bei der Kon- traktion erreichten Spannung gleiche Spannung hergestellt und dann durch eine zweite Reizung geprüft, ob der Muskel noch eine gröfsere Kraft aus- üben könne. Auf diese Weise glaube ich mit grölster Schonung des Muskels sehr schnell und leicht die Aufzeichnung seiner maximalen Zug- kraft erreicht zu haben. Unmittelbar nach jeder solchen Messung wurde der Faden von dem Muskel und der Rolle R gelöst, eine gewogene Schale angehängt, und mit aufgelegten Gewichten der erreichte Ausschlag der Schreibspitze geaicht. Bei den Fröschen wurde auf diese Weise die durchschnittliche Zug- kraft des Sartorius für die grolsen Tiere zu 170 g, für die kleinen zu 68 g 24 R. du Bois-Reymond, bestimmt. Diese Zahlen verhalten sich zueinander wie 25:1. Die für die Querschnitte der Muskeln gefundenen Zahlen verhalten sich zueinander wie 2,47 :1. Die in der obenstehenden Zahlenübersicht über die Messungen an Ratten und Mäusen gegebenen Malse für die Zugkraft des Gastroenemius K und k sind so schwankend, dals sie nieht wohl zur Berechnung eines Durehschnitts dienen können. Es dürfte richtiger sein, nur die letzten Zahlen jeder Gruppe in Betracht zu ziehen, weil bei den letzten Bestimmungen die Technik eine bessere war. Die erforderliche Präparation der Muskeln und Nerven konnte mit zunehmender Übung schneller und schonender vorgenommen werden und die Anfangsspannung wurde mit zunehmender Erfahrung von vornherein gröfser genommen. Dies hat auf das Ergebnis der Messung sehr viel Einfluß, weil die Muskelkraft bekanntlich mit zunehmender Dehnung des Muskels stark steigt und weil sie nach mehreren Reizungen meist auch schnell abnimmt, so dafs man um so höhere Werte erzielt, je näher man mit der Anfangsspannung an die maximale Zugkraft herankommen kann. Schon aus diesem Grunde wäre es verkehrt, aus den in der Über- sicht angeführten Zahlen eine Durchschnittsziffer berechnen zu wollen. Es ist vielmehr offenbar richtiger, die gefundenen Maximalzahlen zu ver- gleichen, weil bei dieser Art Untersuchung zahlreiche Fehlerquellen dazu führen, das Ergebnis zu klein, aber kaum eine, das Ergebnis zu grols erscheinen zu lassen. Die Kraft des Gastrocnemius der Ratten würde also zu der der Maus wie 800:225 oder wie 3,55:1 sein. Dies Verhältnis weicht nicht wesentlich von 4:1 ab. Da das Verhältnis der Längenmalse rund 2:1 ist, so ist das Verhältnis der Muskelkraft, zu 4:1 angenommen, ebenso wie bei den Fröschen proportional dem Quadrat des Längenmalses, also bei geometrischer Ähnlichkeit proportional dem Querschnitt. Zieht man in Betracht, dafs das Verhältnis der Längenmaße L:l > 2:1, dagegen das Verhältnis der Muskelkräfte X:% < 4:1, so ergibt sich allerdings eine Abweichung zuungunsten der grölseren Tiere. Diese kann indessen, da, wie oben angegeben, die dritten Wurzeln aus den Gewichten sich zueinander genau wie die Längenmalse verhalten, nicht auf unver- hältnismälsig hohem Gewicht der gröfseren Tiere beruhen. Es bliebe also Körpergröfse und Muskelkraft. 25 nur die Annahme übrig, dals die Muskeln der grölseren Tiere unverhältnis- mälsig schwach wären. Diese Annahme hat wenig wahrscheinliches und es ist deshalb wohl richtiger, das Ergebnis nur in runder Zahl ins Auge zu fassen und darauf zu beschränken, dafs sich auch beim Vergleich von Mäusen mit Ratten geometrische Ähnlichkeit und eine Muskelkraft ergibt, die dem Quadrate der Längenmalse, oder der zweiten Wurzel aus den Ge- wichten, mithin dem Querschnitt des Muskels proportional ist. Das Gesamtergebnis der vorliegenden Messungen für die Beant- wortung der am Anfang des vierten Abschnitts aufgeworfenen Fragen ist also: Tiere, die sich in linearer Dimension um das Doppelte an Gröfse unterscheiden, können einander mit sehr grofser Annäherung geometrisch ähnlich sein, und dabei verhalten sich ihre Muskelkräfte wie die Quadrate, ihre Körpergewichte wie die Würfel ihrer Längenmafse. Die theoretische Anschauung ist also durch die Messung vollauf bestätigt. 10. Aufdeckung der Ursache, weshalk Galileis Meinung, dafs die gröfseren Tiere unverhältnismäfsig schwerer seien, unrichtig ist. ‘Wenn in den vorliegenden Beispielen zwischen gröfseren und kleineren Tieren derselben oder ähnlicher Arten mit gro/ser Annäherung geometrische Ähnlichkeit gefunden worden ist, so darf man die Frage aufwerfen, ob überhaupt die Angabe Galileis richtig ist, dals grölsere Tiere notwendig unverhältnismälsig schwerer sein müssen als kleinere. Der allgemeine Grundsatz, von dem diese Lehre Galileis ausgeht, ist unzweifelhaft richtig und tritt bei sehr vielen Gelegenheiten sehr deutlich erkennbar hervor. Wenn z.B. eine Karte oder ein Stadtplan in verändertem Mafsstabe herausgegeben werden soll, so kann die Ver- sröfserung und Verkleinerung nur dann einfach auf optischem Wege aus- geführt werden, wenn es sich um Veränderungen innerhalb ziemlich enger Grenzen handelt. Sobald die Änderung des Malsstabes eine gewisse Gröfse erreicht, mu[s die ganze Zeichnung geändert werden, damit die Dicke der Striche, mit denen Stralsen, Flüsse usw. auf der Karte bezeichnet sind, die passende Breite erhalten, und damit namentlich auch die Schrift nicht zu grofßs oder zu klein ausfällt. Dasselbe gilt, nur in etwas weniger Nova Acta XCVII. Nr. 14. 4 26 R. du Bois-Reymond, auffälligem Grade, von jeder Zeichnung, die in verändertem Malsstab wiedergegeben wird. Ebensowenig wie die Zeichnungen können Bauwerke oder Maschinen ohne Veränderung ihrer Proportionen in gröfserem oder kleinerem Mafsstabe ausgeführt werden, weil Festigkeit und Gewicht ihrer Teile bei veränderter Gröfse ihr Verhältnis zueinander ändern. Bedürfte es noch eines Beweises, dals ein so unmittelbar auf Mals und Zahl beruhendes Gesetz auch in der organischen Welt gültig sein muls, so könnte man auf das Beispiel der Bäume verweisen, deren Stämme mit fortschreitendem Wachstum ganz unverhältnismälsig an Dicke zunehmen. Demgegenüber muls es um so mehr auffallen, dafs in den unter- suchten Fällen sich bei Tieren keine sicheren Anzeichen gefunden haben, dafs Galileis Betrachtung zutrifft. Man könnte geneigt sein, dies auf den Umstand zurückzuführen, dafs die drei untersuchten Tierarten keine sehr beträchtlichen Unterschiede an Grölse zeigten und überdies keine hohen Werte an absoluter Grölse erreichten. Offenbar muls der von Galilei angenommene Überschuls der gröfßseren Tiere an Gewicht um so deutlicher hervortreten, je grölser erstens der Unterschied in der Gröfse der verglichenen Tiere und je grölser zweitens die absolute Grölßse der Tiere ist. Diesem Einwand ist aber mit dem Bemerken zu entgegnen, dals, wie die angeführten Zahlen zeigen, die Ratten um mehr als das Doppelte gröfßser waren als die Mäuse, ihr Gewicht also mehr als das Achtfache von dem der Mäuse betrug, wonach man wohl schon einen Unterschied in der Dicke der Knochen erwarten dürfte. Was den Umstand anlangt, dafs nur Tiere von verhältnismäßig kleinem absolutem Gewicht verglichen worden sind, läfst sich leicht zeigen, dafs beim Vergleich absolut srölserer Tierarten kein wesentlich anderes Ergebnis herauskommen würde. Vergleicht man z. B., wie es Borelli getan hat, Hund und Pferd, und nimmt für den Hund an, dals er bei 40 cm Höhe 60 cm von der Schnauze bis zur Schwanzwurzel milst und etwa 10 kg wiegt, so hätte man für ein Pferd, das 1,60 m hoch wäre und 2,40 vom Kopf bis zur Schwanzwurzel mälse, also viermal so grofs wäre, schon bei geometrischer Ähnlichkeit das 64fache des Gewichts, also 640 kg, anzusetzen. Pferde sind.nun zwar im Durchschnitt nicht ganz so grols wie hier der leichteren Rechnung wegen angenommen worden ist, aber sie sind auch durchschnittlich sehr viel Körpergröfse und Muskelkraft. 27 leichter an Gewicht. Der Überschlag zeigt also, dafs selbst bei so grofsen Tieren jedenfalls kein beträchtlicher Überschufs an Gewicht im Verhältnis zu kleineren Tieren besteht. Es ist daher gerechtfertigt zu zweifeln, ob der massige Bau des Elephanten, der ein geeignetes Beispiel zur Stütze der Galileischen Lehre bietet, nicht vielmehr blofs auf eine besondere Anlage dieser Tierart zurückzuführen ist. Auch die Rinder sind ja zum Teil bedeutend schwerer gebaut als Pferde, ohne dafs sie sie an Gröfse wesentlich übertreffen. Es darf also behauptet werden, dafs die von &alilei ausgesprochene Meinung, dals grölsere Tiere unverhältmälsig schwerer seien als kleinere, überhaupt nicht zutrifft, dals im Gegenteil zwischen Längenmafsen und Gewicht bei grolsen und kleinen Tieren gleicher oder ähnlicher Arten das- jenige Verhältnis besteht, das bei geometrischer Ähnlichkeit des Körper- baus gefunden werden würde. Diese Tatsache muls befremden, weil, wie oben auseinandergesetzt, die Grundlage, auf die Galilei sich stützt, ein allgemein gültiges not- wendigerweise richtiges Gesetz ist. Wenn der Bau der Tiere eine Aus- nahme bildet, folgt daraus mit Sicherheit, dals entweder die grolsen Tiere im Verhältnis zu ihrem Gewicht recht schwach, oder die kleinen im Verhältnis zu ihrem Gewicht übermäßsig stark gebaut sind. Die erste Annahme ist offenbar unzulässig, denn die Lebensbedingungen sind für größere und kleinere Tiere, was die Anforderungen an Festigkeit des Körperbaus betrifft, nahezu dieselben, so dals es undenkbar ist, dals die sröfseren Tiere mit geringerer Festigkeit sollten auskommen können. Da- gegen steht der zweiten Annahme nichts im Wege, im Gegenteil erklärt sie vollkommen befriedigend den Grund, weshalb der Bau der Tiere nicht dem von Galilei angenommenen Gesetze unterliegt. Auf den ersten Blick freilich erscheint es ebenso unnatürlich, dafs die kleineren Tiere im Verhältnis zu ihrem Gewicht zu stark gebaut sein sollten, wie dafs die grolsen zu geringe Festigkeit aufweisen sollten. Denn ein Überschufs an Festigkeit erscheint als Verschwendung und die Natur pflegt in der Regel sparsam zu sein. Man muls aber bedenken, dafs die Festigkeit des Körpers nicht allein durch das Körpergewicht, sondern auch durch die Muskelkraft beansprucht wird. Nun folgt aus der allgemeinen 4* 28 R. du Bois-Reymond, Betrachtung über das Verhältnis zwischen Muskelkraft und Körpergröfse, die oben im dritten Abschnitt enthalten ist, dafs die kleineren Tiere eine unverhältnismälsig grölsere Muskelkraft haben und es leuchtet ein, dafs daher auch ihr Knochengerüst unverhältnismälsig stärker sein muls als das der grölseren. Eine Ratte ist ungefähr doppelt so grols wie eine Maus, ihre Muskeln sind viermal so stark wie die der Maus, ihr Gewicht acht- mal so grols. Damit die Ratte im Verhältnis zu ihrer Gröfse so hoch oder weit springen könnte wie die Maus, mülsten ihre Muskeln doppelt so stark sein als sie tatsächlich sind. Dann würden auch ihre Sehnen und Knochen entsprechend stärker sein müssen, und dann würde auch das Ge- samtgewicht der Ratte, wie es Galilei angenommen hatte, unverhältnis- mälsig grölser sein müssen als das der Maus. In Wirklichkeit ist aber die Muskelkraft der Ratte im Vergleich zu ihrem Gewicht nur halb so srols wie die der Maus und ihr Körperbau kann daher verhältnismäßig schwächer sein. So erklärt sich, dafs die Tiere dem von Galilei angenommenen Gesetze nicht folgen. 1l. Faserzahl und Fasergröfse in gleichen Muskeln von verschiedener Gröfse. Wenn demnach Galileis Anschauung als für Tiere nicht zutreffend betrachtet werden muls, kann auch der Beweis von Borellis eingangs an- geführtem Lehrsatz nur auf die Beziehungen der Muskelkraft zur Körper- grölse gegründet werden. Dafs die erölseren Tiere, sofern sie den kleineren geometrisch ähnlich sind, im Verhältnis zu ihrem Gewicht geringere Muskel- kraft haben müssen, folgt aus den allgemeinsten geometrischen Anschauungen, und wird durch die oben im neunten Abschnitt mitgeteilten Messungen überraschend genau bestätigt. Es zeigte sich nämlich, dafs die Kraft des Sartorius bei grofsen und bei kleinen Fröschen dem Querschnitte proportional ist, und dafs die Kraft des Gastroenemius bei Ratten und bei Mäusen dem Quadrat der dritten Wurzel aus dem Körpergewicht proportional ist. Das bedeutet, dafs bei großen und bei kleinen Muskeln gleiche Querschnitts- Körpergrölse und Muskelkraft. Fig. 3. Querschnitt des Sartorius eines kleinen Frosches. Aus dem Vergleich zwischen Fig. 3 und 4 ist sogleich zu erkennen, dals die Faserzahl nicht wesentlich verschieden ist. Ferner ist die dichte Schicht kleinerer Fasern am ober- flächlichen Rande (links auf dem Bilde) wahrzunehmen. Die Übersichtlichkeit war bei der Projektion ungleich gröfser. Fig. 4. Querschnitt des Sartorius eines grolsen Frosches. 29 30 R. du Bois-Reymond, flächen die gleiche Kraft entwickeln. Es entsteht nun die Frage, wie sich der innere Aufbau grolser und kleiner Muskeln verhält. Wenn man davon ausgeht, dafs gleiche Querschnittsflächen gleiche Kraft entwickeln, liegt es am nächsten anzunehmen, dals die Fasern der grolsen und kleinen Muskeln gleich wären und dals die gröfseren Muskeln entsprechend ihrer grölseren Dieke einfach mehr Fasern enthielten. Dann wäre die Proportionalität zwischen Querschnittsgröße und Kraft selbst- verständlich. Herr Dr. Walter Berg vom Strafsburger anatomischen Institut hatte die Güte, mir von den zu den oben beschriebenen Messungen benutzten Muskeln eine Anzahl Querschnittspräparate herzustellen. Ich bin ihm dafür zu um so orölserem Danke verpflichtet, als ich gefunden habe, dafs es gar keine so einfache Aufgabe ist, brauchbare Muskelschnitte zu machen, ob- schon die blolse Zählung und Messung von Faserquerschnitten nicht einmal sehr dünne Präparate erfordert. Da selbstverständlich nieht damit gerechnet werden kann, dals die Muskelfasern nach dem Fixieren, Einbetten und Färben ihre ursprünglichen Grölsenverhältnisse bewahrt haben, habe ich mich mit Messungen oder Zählung von Teilen des Querschnittes gar nicht abgegeben, sondern die Zahl der Fasern auf dem ganzen Querschnitt ins Auge gefalst. Das mikroskopische Bild wurde mit einer Projektionsvorrichtung in etwa hundertfacher Ver- grölserung auf ein Papierblatt geworfen (Fig. 5 u. 4), und die Muskelquer- schnitte gezählt, indem in jeden mit Bleistift die laufende Nummer ein- gezeichnet wurde. i So ergab sich für einen Schnitt durch den Sartorius von einem der kleinen Frösche die Faserzahl 568, bei einer zweiten Zählung desselben Schnittes 577. Ein anderes Präparat derselben Art ergab. die Zahl 625. Für zwei Schnitte vom Sartorius der grolsen Frösche fand ich die Zahlen 720 und 792. Die Faserzahlen verhalten sich also nur wie 1,3:1, während die Querschnittsgröfsen sich verhalten wie 2,5:1, d. h. die Fasern des grolsen nehmen etwa doppelt so viel Raum ein, wie die des kleimen. Ein ähnliches Ergebnis dürfte die Vergleichung der Muskeln von Ratten und Mäusen haben, doch konnte ich aus den mir vorliegenden Präparaten noch kein sicheres Urteil gewinnen. Die verschiedenen Schnitte Körpergrölse und Muskelkraft. al verhielten sich nämlich in eigentümlicher Weise verschieden, indem auf einigen die Muskulatur zu einzelnen, durch weite Zwischenräume getrennten Strängen zusammengeschrumpft erschien, oder, wo es sich um Paraffin- präparate handelte, durch Sprünge zerklüftet war. Aufserdem aber war versäumt worden, die Schnittstellen genau genug zu bestimmen, und bei der Anordnung der Fasern im Gastrocnemius war natürlich ein Vergleich zwischen Schnitten aus verschiedenen Stellen des Muskels zwecklos. So kann ich nur angeben, dafs mich die Betrachtung der Schnitte zu der Über- zeugung geführt hat, dals der Rattenmuskel nicht wesentlich mehr Fasern hat, als der Mäusemuskel, und dafs also die Muskelfasern der Ratte gröfser sind, als die der Mäuse. Da nun, wie wiederholt hervorgehoben, die grofsen und die kleinen Muskeln auf eleiche Querschnittsfläche gerechnet, die gleiche Kraft haben, so folgt, dafs wenige dicke Muskelfasern die gleiche Kraft haben, wie viele dünne. Dies führt dazu, dieselbe Betrachtung, die eben in bezug auf die Muskelfasern als wirksame Bestandteile des Gesamtmuskels angestellt worden ist, auf die Fibrillen als die wirksamen. Elementarteile der Muskelfaser aus- zudehnen. Eine diekere Muskelfaser wird selbstverständlich dann im Verhältnis zu ihrer Dieke mehr Kraft haben als eine dünnere, wenn sie in demselben Verhältnis mehr gleichartige Fibrillen enthält. Andererseits kann auch eine diekere Muskelfaser dadurch stärker sein, als eine dünnere, dals sie zwar nicht mehr, aber dickere Fibrillen enthält, wobei zugleich vorausgesetzt werden muls, dafs die dickeren Fibrillen auch stärker sind. Die Ent- scheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist nur durch Zählung oder Messungen von Fibrillen zu erbringen. Diese schwierige, ja unmöglich scheinende Arbeit hat Schieffer- decker geleistet und in seiner Monographie „Muskeln und Muskelkerne“ beschrieben. Aus seinen Angaben geht hervor, dals bei dem gewöhnlichen Faserwachstum die Fibrillen in demselben Verhältnis zunehmen, wie das umgebende Sarkoplasma, dafs mithin in dieken Muskelfasern nicht die Zahl der Fibrillen, sondern ihre Dicke zunimmt. Darf man diese Angabe Schiefferdeckers auf die von grolsen und kleinen Tieren stammenden Fasern beziehen, so ist anzunehmen, dafs 32 R. du Bois-Reymond, die dieken Fasern der grölseren nicht mehr, wohl aber dickere Fibrillen enthalten, als die dünneren Fasern der kleineren Tiere. Da für beide Muskelarten gefunden ist, dafs ihre Kräfte sich verhalten wie die Quer- schnitte, so folgt, dafs die absolute Kraft dieselbe ist, und dals daher die gleiche Anzahl diekerer Fibrillen eine grölsere Kraft entfaltet. Mit anderen Worten, diekere Fibrillen sind stärker als dünnere. Fig. 5. Querschnitt vom Gastrocnemius der Maus. Die Photographie ist ungefähr in der Gröfse aufgenommen, die sich für die Zählung der Fasern eignete, wobei auf Schärfe der Abbildung kein Wert gelegt wurde. Dies Ergebnis ist für die sogenannte „Oberflächenspannungstheorie der Muskelkontraktion“ nicht ohne Bedeutung. Nach dieser Theorie würde nämlich die Kraft der Zusammenziehung mit zunehmender Grölse der kon- traktilen Elemente abnehmen. Da nun die Vergleichung zwischen grolsen und kleinen Muskeln lehrt, dafs dickere Fibrillen mehr Kraft haben als Körpergrölse und Muskelkraft. 38 dünnere, so folst, dals die Fibrillen nicht als diejenigen Elemente angesehen werden können, mit denen es die Oberflächenspannungstheorie zu tun hat. Will man also diese Theorie festhalten, so mu/s man annehmen, dafs es innerhalb der Fibrillen kleinere kontraktile Elemente gibt, deren die diekeren Fig. 6. Querschnitt vom Gastrocnemius der Ratte, bei gleicher Vergrölserung wie Fig. 5. Die Grenzen der Faserquerschnitte sind nur an den eingelagerten Kernen zu erkennen. Fibrillen mehr enthalten als die dünneren. Bekanntlich ist Bernstein bei dem Bestreben, die Oberflächenspannungstheorie mit der Grölse der absoluten Muskelkraft in Einklang zu bringen, auch schon zu einer solchen Annahme genötigt gewesen. | Noya Acta XCVII. Nr. 14. {9) 34 R. du Bois-Reymond, 2. Anwendung der Lehre von der geometrischen Ähnlichkeit auf andere physiologische Gebiete. Ganz abgesehen von ‚der Betrachtung der Muskelkraft bietet die Vergleichung grölserer und kleinerer Tiere viel Anlals zu physiologischen Betrachtungen. Zwischen dem Magen des Pferdes und dem des Hundes besteht z. B. annähernd geometrische Ähnlichkeit. Der Pferdemagen mag dabei etwa 5—4 mal so lang, tief und breit sein wie der Hundemagen. Demnach ist sein Inhalt nicht weniger als 30—60 mal so grols, die Ober- fläche, von der die Sekretion des Magensaftes ausgeht, aber nur etwa 9_—-16 mal so grofs wie beim Hund. Demnach könnte man annehmen, dals die Bedingungen für die Magenverdauung beim Pferde bedeutend ungünstiger wären wie beim Hunde. Dagegen läfst sich aber geltend machen, dafs die Sekretion nicht von der Oberfläche der Magenwand, sondern von der ge- samten Masse der Drüsenschicht abhängt, und dals die Drüsenmasse bei geometrischer . Ähnlichkeit verschieden großer Magen dasselbe Verhältnis zur Grölse der Höhlung bewahre. Dasselbe gilt von den Lungen, deren respiratorische Oberfläche bei streng geometrisch ähnlicher Vergröfserung ein immer kleineres Verhältnis zur Athemgrölse aufweisen würde. Bei gleichbleibender Grölse der Alveolen würde aber natürlich bei jeder beliebigen Vermehrung der Lungensubstanz das Verhältnis der respiratorischen Ober- fläche zur Athemgrölse dasselbe bleiben. Auch die Bedingungen für die Sekretion der Nieren müssen sich mit der Grölse der Organe verändern, und sind vermutlich durch entsprechende Vermehrung oder Verminderung der Zahl und Gröfse der Glomeruli und Harnkanälchen den Grölsenverhältnissen der verschiedenen Tiere angepalst. Trotz dieser vielseitigen Anwendbarkeit des Satzes vom Verhältnis der Oberfläche zur Masse ist er bisher nur auf einem einzigen Grebiet gründlich erörtert und geprüft worden, nämlich auf dem Gebiet der Lehre von der tierischen Wärme. Hier ist die Ansicht zu allgemeiner Anerkennung gelangt, dafs die Wärmeabgabe kleiner Tiere im Verhältnis zu ihrer Körper- masse gröfser sei als bei grölseren, weil sie eine verhältnismälsig grölsere Oberfläche haben. Eine auffallende Analogie besteht zwischen den Er- gebnissen der vorliegenden Untersuchung und denen über das Verhältnis Körpergröfse und Muskelkraft. bp) von Wärmeabgabe und Körper-Oberfläche, dafs nämlich in beiden Fällen die experimentelle Prüfung die Theorie mit mehr als hinreichender Genauigkeit bestätigt, während doch das Untersuchungsmaterial so grolse Verschieden- heiten darbietet, dafs man kaum eine leidliche Übereinstimmung zwischen Versuch und Theorie erwarten durfte. Im vorstehenden ist die Kraft von Muskeln verglichen worden, von denen der eine fast doppelt so dicke Fasern hat wie der andere, und bei beiden wird die gleiche absolute Kraft gefunden. In den Untersuchungen zur Wärmelehre hat man gefunden, dafs die Wärmeabgabe der Oberfläche proportional ist, obgleich Tiere von ziemlich verschiedener Körperform, verschiedener Lebensweise und verschiedener Hautbeschaffenheit verglichen wurden. j Kor . . NY ER, Pi „ir arena ir 2 m % ii . Fi u; Mrihrind Nr “m airkap“ MilsO NLOSV AALEN. Ahh. der Kaiserl. Leop.- Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr. 15. Die statischen und mechanischen Verhältnisse der Brusteingeweide vom chirurgischen Gesichtspunkte. Von Dr. Hilmar Teske in Plauen. Eingegangen bei der Akademie am 9. Mai 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a.S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. - Ur TE Er, N ort hab oimaban Die bezüglichen Verhältnisse im Brustkorbe. 1. Die Lungen. Beim Fötus liegen sie völlig atelektatisch im Brustkorbe und füllen ihn so aus, dafs eine Eröffnung desselben (beim toten Fötus) keinen Pneu- mothorax erzeugt (Bernstein bei Landois [1]. Auch bei Kindern, die bis acht Tage gelebt und normal geatmet haben, sinken bei Eröffnung der Pleurahöhle die Lungen nicht zusammen, sondern bleiben der Brustwand anliegen. Erst in weiterem Wachstume wird der Thorax so umfangreich, dals die Lungen sich unter elastischer Spannung dehnen müssen. Auch dann erst ziehen sie sich nach Eröffnung des Brustraums elastisch auf ein kleineres Volumen zusammen (Hermann bei Landois). Die elastische Ausspannung der Lungen im Brustkorbe möchte ich die passive Elastizität derselben nennen. Für eine aktive Elastizität derselben (d. h. der Pneumothoraxlunge) fehlt jeder Anhalt. Die fötale Lunge bleibt nach Eröffnung der Brustwand derselben anliegen, hat also keine aktive Elastizität. Woher sollte letztere im postfötalen Leben kommen? Die klinische Beobachtung ergibt jedenfalls, dafs die kollabierte Lunge nicht einmal genügende Kontraktionsfähigkeit hat, um die Blutung ihres Gewebes zu stillen (Murphy), also nicht den schwachen Blutdruck des kleinen Kreislaufs überwinden kann. Bei einer aktiven Kontraktions- fähigkeit der Lunge mülste man im Pneumothorax alle Lungenlappen gleichmäfsig kontrahiert finden. Bei einem durch Wassereinbringen (s. u.) langsam angelesten und mit Gips ausgegossenen Pneumothorax fand ich jedoch Ober- und Mittellappen kollabiert, Unterlappen im Sinus liegend und überraschend lufthaltig (der Pneumothorax war rechtsseitig). 1* 4 Hilmar Teske, Der Zug, den die Lungen auf die Brustinnenwand üben, ist im Gleichgewiehtszustande zwischen Ein- und Ausatmung 6 mm He. Die Einatmung vermehrt die Dehnungskraft auf S—9 mm Hg, bei sehr tiefer Einatmung auf 30 mm. Die Ausatmung vermindert die passive Dehnung der Lungen auf 4,5—5 Hg (Landois, Tigerstedt). Die Kraft, welche die Pleura pulmonalis an die kostalis heftet und einem von 4—5 mm bis 30 mm Hg wachsenden elastischen Zuge der Lungen bei gewöhnlicher bezw. gesteigerter Einatmung Widerstand leistet, ist die Adhäsion der feuchten Pleurablätter. Durch die verhältnismälsig geringe Weite der zuführenden Luftwege und die an verschiedenen Stellen derselben stattfindenden Verengerungen, kann der Ausgleich der Druckverschiedenheit bei der Ein- und Ausatmung nicht augenblicklich geschehen. Die elastische Weiterdehnung der Lungen in der Einatmung um etwa 1—2 mm bewirkt daher einen negativen Druck in den Luftwegen, der an Mund und Nase, entsprechend der Länge des Weges, viel kleiner ist als an der Lungenwurzel. So fand Donders, wenn das Manometer in ein Nasenloch gesetzt und durch das andere geatmet wurde, bei der Ein- atmung — 0,7 Hg, bei der Ausatmung ergab die Messung des natürlich positiven Druckes in den Luftwegen etwa + 0,5 mm Hg. Aron fand unterhalb der Stimmritze bei tracheotomierten Menschen — 1,9 mm, bezw. +0,7 mm (Tigerstedt). An der Lungenwurzel müssen diese Werte noch grölser sein. Praktische Bedeutung haben diese Verhältnisse für die Frage der paradoxen Atmung der kollabierten Lunge im offenen Pneumothorax (Pendel- luftbewegung nach Brauer). Danach soll bei den sich folgenden Ein- und Ausatmungen ein Luftstrom aus der einen in die andere Lunge pendeln. Die schon durch das „Mediastinalflattern“ schwer geschädigte sesunde Lunge würde dann noch aufserdem durch Aufnahme einer ganz schlechten (nicht erneuerten) dem Gaswechsel nicht dienenden Pendelluft in ihren Funktionen behindert (B rauen). Den Vorgang der paradoxen Atmung seitens der freigelegten Lunge und damit die Vorbedingung zur „Pendelluft“* kann man experimentell her- vorrufen durch den von mir angegebenen künstlichen Hydrothorax. Der Die statischen und mechanischen Verhältnisse der Brusteingeweide. 5) Auftrieb des Wassers hebt die kollabierte Lunge und gestattet eine der gesunden Lunge entgegengesetzte Atmung. Im Tierexperiment habe ich dabei nie Dyspnoe gefunden, im Gegenteile wurde die nach Anlegung des breit offenen Pneumothorax (Kaninchen) unruhige Atmung stets ruhig und regelmälsig. Göbel hatte auch am Menschen Gelegenheit, die beruhigende Wirkung des künstlichen Hydrothorax und die Unschädlichkeit der „Pendel- luft“ kennen zu lernen. Bei einer Schultergelenkoperation mit Resektion der Vena jugul. comm. und intrathorace. Unterbindung der A. und V. sub- clavia eröffnete er wider Willen die Pleurakuppe. Er liefs reichlich Koch- salzlösung in die Pleurahöhle einfliefsen und konnte feststellen, dals die Atmung sofort ruhig wurde. Danach mu{s man jetzt wohl annehmen, dafs die paradoxe Atmung der freigelegten Lunge, der Vorgang der sogenannten Pendelluftbewegung nieht schädlich ist, wenigstens für Stunden. Schädlichkeiten würden sich, wenn man die ähnlichen Verhältnisse bei der 'Thorakoplastik herbeizieht (s. u.), erst nach Tagen bemerkbar machen. Prüfen wir nun weiter, ob der Vorgang der „Pendelluftbewegung“ beim offenen Pneumothorax so häufig zustande kommt, dals er eine typische Begleiterscheinung desselben genannt werden kann. Brauer sagt, die Luftmenge, welche während der Ausatmung die gesunde Lunge unter einem gewissen Drucke (dem Exspirationsdrucke) verläfst, strömt an der Bifur- kation nicht zur Trachea hinaus, sondern wählt selbstverständlich auch den zweiten verfügbaren Wes durch den betreffenden Hauptbronchus in die Kollapslunge. Wir haben oben gesehen, dafs Donders am Nasenloche einen Expirationsdruck von 0,5 mm, Aron unterhalb der Stimmritze von Tracheo- tomierten einen solchen von 0,7 mm fand, man wird also den an der Bifurkation progressiv auf etwa 1 mm schätzen können. Dieser Druck wird sich im Bronchialbaume mit seinen vielen Verästelungen bald ver- mindern, zumal er zweitens das Gewicht der kollabierten Wände des viel- kammerigen Lungensacks und drittens die Adhäsion vieler im Kollaps- zustande der Lunge zusammengefallener Lungenbläschen überwinden muls. Nach meinen Versuchen hat der Auftrieb des Wassers etwa gerade die Kraft, eine Dyspnoe der kollabierten Lunge zu verhindern und ist also 6 Hilmar Teske, wohl gerade imstande, den Gewichtsdruck der vielkammerigen Wände des Lungensackes aufeinander und die Adhäsion der zusammengeklebten Alve- olen zu beheben. Bindet man nun eine „im Wasser atmende* Kaninchenlunge in ihrem Inspirationsstadium ab und bestimmt ihr spezifisches Gewicht, so ergibt dasselbe etwa 0,61 &. Ein jeder cem dieser Lunge setzt dem Untertauchen (im Experiment) einen Widerstand von 1,05 & etwa entgegen (Kork andrerseits 2,5 8). Das heilst also, dafs bei der Exspiration der sesunden Lunge ein jeder ccm der freigelegten einen Wasserauftrieb von etwa 1 & hat, wozu dann noch der Espirationsdruck der gesunden von 1,3559 & (= 1 mm He) auf jeden cem der Innenfläche der freigelegten kommt. Dieser Espirationsdruck verliert sich im jetzt freieren Bronchialbaume (Wasserauftrieb) nicht so rasch wie in der Kollapslunge. Also erst bei der Summierung von Wasserauftriebskraft und Espirationsdruck erfolgt eine regelmälsige paradoxe Atmung und etwa ent- sprechend 2 mm Hg Druck. Der gewöhnliche Expirationsdruck, mit dem man in der zu Lungen- operationen nötigen tiefen Narkose rechnen muls — etwa Imm Hg — wird also die „Pendelluft“ nicht weit über den Hauptbronchus treiben. Bei Hustenstölsen wird allerdings der Expirationsdruck die kolla- bierte Lunge für einen Augenblick aufblähen. Das sind aber vereinzelte Vorgänge im Operationsverlaufe. Die Frage der „Pendelluft“ ist noch zu besprechen für die Fälle von Entknochung der Brustwand zur 'Thorakoplastik oder Pneumothorax- therapie. Letztere wird bekanntlich nur gemacht bei adhärenter Pleura. Der Hautlappen kann sich dann bei Espiration vorwölben, bei Inspiration einziehen. Wenn die Pleuraschwarte dick genug ist, findet eine solche Bewegung nicht statt, auch nicht, wenn man bei der Operation das hintere Rippenperiost hat stehen lassen, wie Friedrich es später tat. Auch in den Fällen eines nachgiebigen Hautlappens kann „Pendel- luft“ nun nur durch das Hinzukommen eines besonderen Momentes, nämlich der Verwachsung der Lunge mit dem Lappen erzielt werden, die den Druck der Lungensackwände aufeinander und Adhäsionsbildung verklebter Alveolen durch Verhinderung des Kollabierens z. T. aufhebt. Die im Spätverlaufe Die statischen und mechanischen Verhältnisse der Brusteingeweide. 7 solcher Fälle beobachteten Beschwerden scheinen nicht nur den Atem- sondern auch gewissen Störungen am Herzen zur Last zu fallen. War die Pleura bei einer Thorakoplastik nicht adhärent, so wird gewöhnlich nicht bei ruhiger Atmung (ähnlich wie im offenen Pneumo- thorax) sondern nur bei Hustenstölsen eine Vorwölbung des Hautlappens, aber keine inspiratorische Einziehung erfolgen. 2. Das Mediastinum. Es wird durch den gegenseitigen elastischen Zug und Druck beider Lungen im Gleichgewichte gehalten. Kollabiert eine Lunge, so muls es dem Zuge bezw. Drucke der gesunden Lunge bei der Atmung folgen, um so mehr je dünner es ist und je breiter der Pneumothorax mit der Aulsen- luft zusammenhängt. Beim Hunde zeigt sich wegen des dünnen Mediastinums das Flottieren bei der Atmung am deutlichsten. Beim Kaninchen und Menschen ist das Mediastikum dicker, so dafs bei tiefer Narkose und langsam vorsichtigem Eintretenlassen des Pneumothorax ein direktes „Mediastinalflattern“ kaum zu befürchten ist. Weitere Mittel um dieses zu verhüten sind die Fixation des Mediastinums nach Müller-Murphy, -Teske, Krauses Tamponade im Brustraum, der künstliche Hydrothorax (Teske). Bei Hunden findet sich öfter ein Foramen an der vorderen Be- rührungsgrenze beider Pleuren, stets bei Einhufern, seltener beim Kaninchen und Meerschweinchen, nie beim Menschen (Murphy). Man sollte bei mils- lingenden Tierexperimenten auf das Vorhandensein einer solchen Öffnung achten und Tiere desselben Wurfs meiden, wenn man einmal ein „Foramen“ gefunden hat. Findet man bei einem linksseitigen geschlossenen Pneumothorax das Herz nach rechts verlagert, ohne dafs man in ersterem manometrisch Überdruck nachweisen kann, so liegt das daran, dafs das Mediastinum, weil der Gegenzug der einen Lunge fehlt, jetzt dem Zuge der (elastisch ausgespannten) anderen Lunge nachgeben mus. Auch Brauer betont dieses und schreibt die Verlagerung des Mediastinums erst in zweiter Linie 8 Hilmar Teske, Die statischen und mechanischen Verhältnisse der Brusteingeweide. dem direkten Drucke der Pneumothoraxblase zu. Ist das Mediastinum, z. B. beim Emphysem entzündlich verdickt, so findet eine wesentliche Ver- lagerung bezw. Flottieren beim Pneumothorax überhaupt nicht statt (Garre). 3. Das Herz. Es ruht auf dem Zentrum tendineum des Zwerchfells auf, welches sich respiratorisch bewegt (Holzknecht bei Freund). Flacht sich letzteres ab, z. B. beim Emphysem, so tritt Herztiefstand und Schwäche des Spitzen- stolses ein. Aber nicht nur das Zwerchfell sondern auch der bedeckende Lungenlappen wirken als elastisches Widerlager, vergleichbar dem Schwung- rade einer Maschine Wie wichtig solche Widerlager für das Herz sind, zur Verhütung übergrolser Dilatation und Überarbeitung, ergibt sich daraus, dafs schon das Schlitzen des stützenden Herzbeutels relative Insuffiziens der Atrioventrikularklappe hervorruft (Tigerstedt). Bei meinen Versuchen an Kaninchen fand ich stets bei rhythmischer Kompression des linken Ventrikels entsprechend der Herzarbeit die Herzaktion langsamer und kräftiger, eine Beeinflulsung der Atemfrequenz habe ich nicht feststellen können (Versuch am freigelesten Herzen). Witzel hat, um das Fiottieren des Mediastinums zu vermeiden, einen grolsen Jodoformgazeballen seitlich ans Herz geschoben und damit natürlich auch unwillkürlich das Herz gestützt. Ich empfehle bei Operationen im Pneumothorax die seitliche Stützung des Herzens durch geeignet gebogene Spatel nicht zu unterlassen. Bei Herzwunden kann das die das Herz haltende Hand mitbesorgen. Die statischen und mechanischen Verhältnisse der brusteingeweide in ihren Beziehungen zur Bauchhöhle. Statik des Zwerchfells. Es gehört sowohl der Brust- wie der Bauchhöhle an und bildet gewissermalsen den Kolben einer Kraftmaschine, deren Zylinder der Brust- korb (Murphy) nicht nur, sondern die ganze Leibeshöhle ist. Seine Pleura ist sehr fest mit ihrer Unterlage verwachsen (Garre, Murphy) während die Rippenpleura locker ist und sich von ihrer Unterlage abpräparieren läfst. Anscheinend ist die festere Verwachsung am Zwerchfelle geschaffen, um für die Lunge an dem muskulösen Zwerchfelle eine grölsere Sicherheit gegen seitliche Verschiebungen (bei stärkerer, ungleichmälsiger gelegentlicher Arbeit der Bauchpresse?) und eine grölsere Festigkeit der Lungen- und Zwerchfellpleuraverbindung zu erreichen. Da an der rechten Zwerchfellhälfte die schwere Leber, an der linken der leichtere Magen und die Milz hängt, ist das Zwerchfell ein „Kolben“ von ungleicher Gewichtsverteilung seiner beiden Hälften. Damit es gleich- mälsig arbeiten kann, muls es zuerst „ausbalanziert“ werden. Dieses ist dadurch geschehen, dafs die Leberhälfte an die umfangreichere Unterfläche der rechten Lunge, die Magen-Milzhälfte an die linke Lunge aufgehängt wurde. Davon dafs die Verhältnisse in der Tat so bedingt sind, kann man sich leicht am Tierversuche überzeugen. '"T’ötet man ein gröfseres Kaninchen durch Nackenschlag und durchleuchtet es sofort') mit Röntgenstrahlen, so !) Später nach Erschlaffung der Bauchmuskeln tritt beim hängenden Pneumothorax- tier „Kugelform“ des Bauches auf, linke Zwerchfellhälfte aber höher als rechte. Nova Acta XCVIJ. Nr. 15. ° 2 10 Hilmar Teske, sieht man die rechte Zwerchfellkuppe etwa in Höhe des oberen Randes der vierten Rippe, die linke des unteren Randes derselben. Beide Brust- seiten werden dabei seitlich und von vorn durchleuchtet. Macht man nun rechts einen breit offenen Pneumothorax, so steht die rechte Zwerchfell- kuppe im fünften Interkostalraum, die linke steht am unteren Rande der vierten Rippe, vielleicht noch etwas höher und also gut eine Rippenbreite höher als die rechte. Eröffnet man nun auch breit den linken Brustraum, so sinkt die linke Kuppe in den vierten Interkostalraum, bleibt also höher stehen als die rechtee Aus dem Verhalten im doppelseitigen Pneumothorax, bei dem umgekehrt wie im unversehrten Brustkorbe die linke Zwerchfellkuppe höher steht als die rechte, erhellt einwandsfrei, dals es mit eine Funktion der Lungen ist, Leber einerseits, Magen und Milz andererseits mitzutragen, und dals die Aufhängung der Leber an die grölsere rechte Lungenunterfläche keine willkürliche ist, sondern dazu dient, die ungleich schweren Zwerchfellhälften gegen einander auszubalanzieren. Um den sicheren Kolbengang der schwereren rechten Zwerchfellhälfte noch mehr zu gewährleisten, finden sich die rechsseitigen Bauchmuskeln stärker entwickelt als die linken. Leshaft berechnet das bezügliche Verhältnis wie 96:91. Wenn man die geschilderten Verhältnisse als typisch erkannt hat, so wird man geneigt sein zur Annahme, dafs eine isolierte Dextrokardie d.h. eine Verlagerung der grölseren dreilappigen Lunge auf die leichtere Magenhälfte des Zwerchfells nicht vorkomme, sondern stets mit einem voll- ständigen Situs viscerum inversus verbunden sei. Nicolai, der sich beim Studium des Elektrokardiogramms sehr mit der Dextrokardie beschäftigt hat, sagt auch: „Die von mir bisher sicher beobachteten Dextrokardien kommen wahrscheinlich nur bei allgemeinem Situs viscerum inversus vor.“ Interessant in diesem Sinne sind auch die isolierten Verlagerungen von Magen Duodeum und Milz nach rechts, von denen Halff vier Fälle aufführt. Hier ist also die Leber mit ihrer gröfseren Lunge zusammen geblieben. Die Statik des Zwerchfells gibt weiterhin noch Aufschlußs über einen Punkt, dem Mark Jansen in seiner Theorie über die Entstehung der Skoliose durch respiratorische Kräfte grofse Wichtigkeit beigemessen hat. Die statischen und mechanischen Verhältnisse der Brusteingeweide. ital Er fand bei schwer rachitischen Kindern die durch die Zwerchfellarbeit be- dingten seitlichen Einziehungen am Brustkorbe links stärker als rechts und hält infolgedessen die linke Zwerchtellhälfte für kräftiger als die rechte. Dieser Schlufs dürfte unberechtigt und die tiefere Furche an der linken Brustkorbseite bei rachitischen Kindern auf das Fehlen eines Widerlagers in der linken Zwerchfellhälfte zurückzuführen sein, wie sie in der rechten die Leber bildet. Die oben festgestetlte Tatsache, dals das Zwerchfell mit Leber bezw. Magen und Milz an der Lunge aufgehängt ist, erklärt auch das Tiefertreten dieser Organe im geschlossenen Pneumothorax, ohne dafs ein Ventil- pneumothorax zu bestehen braucht. Eine Tatsache, die vielfach verkannt wird. Ähnliche Verhältnisse bestehen bei der Verlagerung des Mediastinums im Pneumothorax durch die freigewordene „passive Elastizität“ der ge- sunden Lunge. Das Tiefertreten der schweren Leberhälfte des Zwerchfells als das der Magenhälfte macht die rechtsseitigen Pneumothoraxerscheinungen geringer als die linken. Durch das Tiefertreten der Leberhälfte wird das Mediastinum mehr gespannt, als entsprechend beim linksseitigen Pneumothorax. Ferner bewirkt die Schwere der Leberhälfte, dafs beim rechtsseitigen Pneumothorax die sehr entkräftenden starken Exkursionen des Zwerchfells in den Pneumo- thoraxraum lange nicht so grols sind als beim linksseitigen Pneumothorax. Welch einen Wert die Beschränkung dieser übermälsigen Exkursionen des Zwerehfells in dem Pneumothoraxraum hat, konnte ich am Tierexperiment zeigen. Durch rhythmische Kompression der entsprechenden Zwerchfellhälfte konnte ich die unruhige Atmung (Kaninchen) beim Pneumothorax stets ruhig gestalten. Eine weitere chirurgische Bemerkung sei noch die, dafs Repetto (bei Amberger) empfiehlt, Schnitte im Zwerchfell in der Faserrichtung, nicht quer zu machen, weil die Eingeweide bei letzteren vorfielen, bei ersteren nicht. I 12 Hilmar Teske, Mechanik des Zwerchfells. Normalerweise wird bei der Inspiration mit der Zwerchfellsenkung die Bauchwand vorgebuchtet, bei der Exspiration eingezogen. Bei stark ausgeprägten thorakalen Typus erfolgt eine sehr ausgiebige Bewegung der Brustwand nach vorn und oben und eine passive Hebung des Zwerchfells nebst einer gleichzeitigen Einziehung der vorderen Bauchwand. Wenn die Rippen bei der Exspiration herabsinken, wölbt sich die vordere Bauchwand wieder nach vorn (Hasse bei Tigerstedt). Man kann diese paradoxe Zwerchfellbewegung in etwas modifizierter Form bei der Röntgendurch- leuchtung ausnutzen. Holzknecht (bei Chilaiditi) läfst nach einer Exspiration Mund und Nase mit der Hand verschlielsen, dann eine ausgiebige thorakale Inspiration ohne Kontraktion des Zwerchfells und der Bauchdecken machen. Dadurch wird das Zwerchfell stark gehoben, „aspiriert“, mit ihm Magen, Kolon transversum usw. Bei Astmakranken findet man oft eine sinnwidrige Arbeit der Bauchpresse bei der Atmung (Knopf, Hofbauer bei Brauer). Eine paradoxe Zwerchfellatmung findet wohl auch bei der so un- beliebten Prefsnarkose statt, infolge unregelmäßsig erfolgender Kontraktion der Bauchdecken, analog dem Spannen der sichtbaren Körpermuskulatur. Mit dem Erlöschen der Reflexe wird dann die Atmung eine gleichgerichtete. Bittorf stellte durch Tierversuche fest, dafs bei enger Pneumothorax- fistel eine paradoxe Zwerchfellbewesung eintritt, die bei genügender Er- weiterung der Fistel in die normale Zwerchfellbewesung übergeht. Er glaubt die paradoxe Zwerchfellbewegung bei enger Fistel durch inspiratorische Ansaugung veranlalst. Ich konnte nachweisen, dafs letztere nur z. T. die paradoxe Bewegung veranlalst, zum anderen Teile wird sie durch die gleichzeitige Einziehung der entsprechenden Bauchhälfte veranlalst, während die andere und die ihr zugehörige Brustkorbhälfte inspiriert. Wie die intraabdominalen Druckschwankungen sich am Thorax zum Ausdruck bringen können, zeigt auch ein Fall von Grofs mit parodoxer Atem- bewegung eines thorakoplastischen Lappens. Man konnte in diesem Falle die Vorbuchtung genau so, wie sie beim Husten eintrat, auch durch einen Die statischen und mechanischen Verhältnisse der Brusteingeweide. 13 bei offener Glottis ausgeführten Druck auf das Abdomen bewerkstelligen (Kümmel). Auf die paradoxe Zwerchfellbewegung im geschlossenen Pneumothorax möchte ich als nicht in den Rahmen dieser Arbeit gehörig, nicht eingehen (s. Brauer, Treupel, Samson u.a.) Zu erwähnen ist noch der Hellinsche Tierversuch der einseitigen Durchschneidung des N. phrenieus zur Prüfung, ob nach dem Vorschlage von Stuertz eine künstliche Zwerchfelllähmung bei chronischer einseitiger Lungenerkrankung möglich sei. Er fand, dafs die entsprechende Zwerch- fellhälfte dabei nicht stillstand, sondern die Bewegung der anderen mitmachte. Am Menschen hätten OÖ de la Camp u.a. ähnliche Beobachtungen gemacht. Schlufsbetrachtung. Hoffentlich hat obige Arbeit gezeigt, dals auch nach Erfindung des gewils segensreichen Druckdifferenz-Verfahrens noch vieles von der Statik der Brust- und Baucheingeweide zu erforschen blieb und bleibt. Das ge- nannte Verfahren arbeitet ja nur symptomatisch, beseitigt das Symptom der kollabierten Lunge mit ihren Folgeerscheinungen, berücksichtigt aber nicht die Zusammenwirkung der mechanischen Erscheinungen von Brust und Baucheingeweiden beim Atmungsprozels. Erfolgt z. B., auch unter Druck- differenz, die Eröffnung des Zwerchfells in der linken Hälfte (rechts wegen der Leber kaum bedenklich), bezw. muls ein grölserer Teil desselben ent- fernt werden, so kann trotz der Druckdifferenz eine starke Dyspnoe auf- treten, wie der Fall von Payr lehrt.) Die genaue Kenntnis der Statik und Mechanik der Brusteingeweide wird uns dann auch für solche Fälle ge- rüstet machen sowie in den Stand setzen, auch die anderen Hilfsmittel und Handgriffe zur Beseitigung der Pneumothoraxgefahren anzuwenden, wenn aus irgendwelchen Gründen das Druckdifferenzverfahren nicht in Betracht kommt. 1) Vorfall von Magen usw. in die Brusthöhle. Verzeichnis der zitierten Literatur. Landois, Physiologie des Menschen. Wien 1891. Murphy, Journal of the american med. assoeiation. 1898. Tigerstedt, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Leipzig 1905. Brauer, Jahreskurse für ärztliche Fortbildung. 1910 Hft. 2. —, Klinik der Tuberkulose. Bd.2 Hft. 1. Teske, Zentralblatt für Chirurgie. 1909 Nr. 6 und 1911 Nr. 4. —, Münch. med. Wochenschr. 1910 Nr. 36. Göbel, Langenbecks Archiv. Bd. 93 Hft. 2. Friedrich, Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 100. Krause, | Witzel, J Garre und Quincke, Grundrils der Lungenchirurgie. Jena 1903. Freund, Über primäre Thoraxanomalien usw. Berlin 1906. Leshaft, Anat. Anzeiger. Bd. III. Halff, Münch. med. Wochenschr. 1904 Nr. 51. Mark Jansen, Zeitschrift für orthopädische Chirurgie. Bd. 25. Amberger, Bruns klin. Beiträge. Bd. 30 Hft. 3. Bittorf, Münch. med. Wochenschr. 1910 Nr. 36. Kümmel, Handbuch der prakt. Chirurgie. 2. Aufl. Bd.2. S. 510. Hellin, Deutsche med. Wochenschrift. 1912 Nr. 4. Payr, daselbst. 1911 Nr. 24. Vereinsbericht. —, Briefliehe Beantwortung einer Anfrage. Grols, Bruns klin. Beiträge. Bd. 24. NOVA ACTA. Abh. der Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher. Band XCVI. Nr. 16. Uber die Endophlehitis hepatica obliterans. Von Privatdozent Dr. Huebschmann, Assistent am pathologischen Institut zu Leipzig. Mit 1 Tafel. Eingegangen bei der Akademie am 27. Juni 1912. HALLE. 1912. Druck von Ehrhardt Karras, Halle a.S. Für die Akademie in Kommission bei Wilh. Engelmann in Leipzig. D: bisher bekannten Fälle von Lebervenenverschluls sind in ver- schiedenen der weiter unten angegebenen Arbeiten zusammengestellt worden. Zum Teil sind dort auch die wichtigsten Einzelheiten der Fälle erwähnt. Ich brauche daher an dieser Stelle eine systematische Übersicht nicht zu geben, sondern verweise dazu auf die früberen Publikationen, besonders die von Hefs') aus dem Jahre 1905. Es sind bisher erst recht wenig Fälle von Lebervenenverschluls bekannt geworden und das liest kaum daran, dafs die Erkrankung übersehen wurde, sondern es scheint sich in der Tat um einen seltenen pathologischen Vorgang zu handeln. Die Erklärungen, die bisher für das Zustandekommen des Prozesses gegeben sind, weichen zum Teil sehr stark voneinander ab, obwohl die Beschreibungen der einzelnen Fälle viele wichtige gemeinsame Züge, sowohl des klinischen Bildes, als auch des pathologisch-anatomischen Befundes erkennen lassen. Der Zweck der vorliegenden Mitteilung soll also der sein, die Kasuistik dieser seltenen Leberaffektion durch einen neuen Fall zu bereichern und auf Grund dieser eigenen Beobachtung und der vorliegenden Literatur die ätiologischen und pathogenetischen Verhältnisse zu analysieren. Zu diesem Zweck werden natürlich sämtliche bisher beschriebenen Fälle wenigstens in den dafür wichtigen Punkten berücksichtigt werden müssen. Zunächst sei die eigene Beobachtung mitgeteilt. Es handelt sich um eine 30jährige Putzmacherin, aus deren Familienanamnese nichts wesentliches festzustellen ist. Auch über ihr eigenes Vorleben waren keine genaueren Daten zu erlangen. Vor 3—4 Jahren soll sie „Gallenstein- koliken“ gehabt haben. Die folgende Zeit will sie ganz gesund gewesen sein. Drei Wochen vor dem Tode bekam sie plötzlich heftige Schmerzen !) American Journal of med. Sc. 1905, II., p. 986. 1* 4 Huebschmann, im ganzen Leibe, die nach dem Rücken ausstrahlten. Auch Erbrechen trat auf. Stuhl und Harn wurden in normaler Weise entleert. Zu gleicher Zeit schwoll der Leib stark an, seit einigen Tagen so stark, dafs Patientin Atembeschwerden hatte. In den letzten Wochen soll auch reichlich gelber Fluß und Brennen beim Wasserlassen bestanden haben. In der Klinik‘) wurde Aseites, Ödeme und lIeterus konstatiert. Aufserdem stellte man spitze Condylome und gelben Ausfluls fest. Drei Tage nach der Aufnahme Punktion von etwa zehn Litern gelber Flüssigkeit. Nach weiteren drei Tagen exitus. Die Sektion wurde am nächsten Tage im Pathologischen Institut der Universität von mir vorgenommen. Sektionsbericht Nr. 1335. 1911 (Pathol. Institut Leipzig). Mittelgrofse weibliche Leiche in schlechtem Ernährungszustande, mit ieterischen Hautdecken und Schleimhäuten. Die unteren Extremitäten stark ödematös. Starre erhalten. Hals beiderseits geschwollen. Das Abdomen ist aufgetrieben, Bauchdecken ziemlich schlaff; auf der rechten Seite eine Punktionsöffnung. Über die Bauchhaut zerstreut kleine petechiale Blutungen. Kopfköhle. Die Dura mater ist leicht gespannt. Im Sinus longitudinalis ziemlich viel flüssiges Blut. Kopfschwarte o. B., ebenso Schädel. Die weichen Häute sind leicht ödematös. Auf dem Schnitt ist die Gehirnsubstanz ziemlich weich, etwas hyperämisch, stark ödematös. Arterien der Basis o. B. Nirgends Berde. Situs der Brust Zwerchfellstand: rechts vierte, links fünfte Rippe. Die Lungen sind nicht zurückgezogen, sie zeigen keine Verwachsungen. In der linken Pleura etwa 300 cem, in der rechten 100 ccm einer trüben, gelblich-grünen Flüssigkeit. Herz: Im Herzbeutel leicht vermehrte, klare, leicht ieterische Flüssigkeit. Das Herz ist so gro[s wie die Faust. Im Epicard, besonders des hinteren Teiles des linken Vorhofes und des linken Ventrikels, befinden sich ziemlich reichlich stecknadelkopfgrofse Blutungen. Der rechte Ventrikel 1) Chirurgische Universitätsklinik. Über die Endophlebitis hepatica obliterans. y D ist etwas dilatiert. Linkes Herz o. B. In allen Höhlen findet sich ziemlich reichlich flüssiges Blut und nur wenig Speckgerinnsel. Klappen o. B,, aulser ieterischer Verfärbung. Myocard etwas gelblich. Linke Lunge: Pleura glatt und spiegelnd. Auf dem Schnitt Hyper- ämie, besonders der unteren Partien und starkes Ödem. Rechte Lunge zeigt die gleiche Beschaffenheit. Halsorgane: Tonsillen groß, etwas zerklüftet, Rachenschleimhaut gerötet, an einigen Stellen kleine Blutungen. Narben sind nicht zu kon- statieren. Der Zungengrund zeigt in den vorderen Partien reichliche Follikel, hinten ist er abgeglättet. Das Epiglottisbändchen ist stark gespannt. Kehlkopf, Trachea und Ösophagus o. B., keine Varicen im Ösophagus. Die Schilddrüse ist sehr stark vergröfsert, der linke Lappen milst 6!5:4:4',, der rechte Lappen 7:4!1/,:3!, cm. Auf dem Schnitt zeigen beide Lappen eine knotige Beschaffenheit. Die Knoten sind von ziemlich festem Kolloid gebildet. Am unteren Pole des rechten Lappens findet sich ein wallnulssrofser Kolloidknoten, der in der Mitte eine ältere, noch flüssige, braun gefärbte Blutung zeigt. Die Intima der Aorta ist gelb gefärbt, sie zeigt nur wenig kleine Verdiekungen und Verfettungen. In den tieferen Partien findet sich etwa ein Liter leicht getrübter, gelblich-grüner Flüssigkeit. Die Darmschlingen sind ziemlich zusammen- gesunken. Das Colon transversum reicht bis über den Nabel herab. Die Leber überragt den Rippenbogen um zwei Querfinger, die Milz um drei Querfinger. Milz: 15!,:8:3!/ cm. Kapsel gespannt. Konsistenz hart. Auf dem Schnitt ist die Pulpa glatt, dunkelschwarzrot. Die Follikel sind ziemlich grofs, reichlich, scharf abgegrenzt. Magen: dilatiert. Seine vordere Wand ist sehr stark verdaut, so dafs sie beim Herausnehmen einreilst. Im Magen reichlich flüssiger, nach Kaffee riechender Inhalt, der mit einigen vegetabilischen Brocken untermischt ist. Die Magenschleimhaut ist mit. einer grolsen Menge zähen Schleims bedeckt, der hier und da von schwärzlichen Streifen durchsetzt ist; stellenweise ist darunter die Schleimhaut und die Muskulatur vollständig verdaut. An anderen Stellen findet man sehr zahlreiche, dicht beieinander stehende, Situs der Bauch- höhle. 6 . Huebschmann, stecknadelkopf- bis linsengrolse Erosionen. Beim Abstreifen des Schleims' sieht man von den Erosionen aus blutige, schwarzrote Streifen sich in den Schleim mischen. Im übrigen ist die Schleimhaut ziemlich stark geschwollen, von rosa Farbe. Im Beginn des Duodenums finden sich auf der Oberfläche der Schleimhaut flache Blutungen. Im übrigen ist die Schleimhaut geschwollen und gerötet, von sammetartiger Beschaffenheit. Aus der Papille entleeren sich auf Druck einige Tropfen schwarzgrüner Galle. Ductus pancreaticus 0.B. Der Darminhalt ist überall gallig gefärbt, im Rectum gut geformt. Die Schleimhaut des ganzen Darmes ist ziemlich geschwollen, stellenweise mit viel Schleim bedeckt, im oberen Jejunum aufserdem stark hyperämisch. An einigen kleinen Stellen befinden sich kleine Blutungen in der Schleim- haut. Im Rectum und am Anus sind Varicen nicht zu konstatieren. Die Pfortaderwurzeln zeigen eine geringe Dilation, sonst keine Besonderheiten. Leber: Die Gallengänge sind durchgängig, 0. B. Die Gallenblase ist ziemlich klein, mit klarer, dunkelschwarzgrüner Galle gefüllt, ohne Steine und ohne Gries. Die Schleimhaut und die ganze Wand ist ziemlich stark geschwollen. Die Leberoberfläche ist glatt, der vordere Rand etwas abgestumpft. Auf der Kapsel, besonders in den vorderen Teilen befinden sich sehr zahlreiche, kleinste, tautropfenähnliche, fibröse Knötchen. Unter der Kapsel sieht man stellenweise ein wie Gefälse angeordnetes weilsliches Netzwerk. Auf der Unterfläche des linken Lappens ist dieses Netzwerk sehr dick. Die Leberoberfläche ist an diesen Stellen etwas eingezogen. Eine narbige Einziehung befindet sich an der Unterfläche des linken Lappens, dicht neben dem Spiegelschen Lappen, eine zweite Einziehung an der Unter- fläche des rechten Lappens. Die Konsistenz der Leber ist hart, elastisch. Auf dem Schnitt bietet das Organ einen eigenartigen Anblick. Man hat zuerst den Eindruck einer Muskatnufsleber, indem tief dunkelrote mit helleren gelblichen Partien in marmorierter Zeichnung miteinander abwechseln. Bei senauerem Zusehen konstatiert man, dafs die gelblichen Partien, die etwas hervorragen, den Läppchenperipherien entsprechen, während die dunkelroten, eingesunkenen Partien mit den Uentra identisch sind. In den interstitiellen Räumen sieht man Pfortaderäste, Arterien und Gallengänge in normaler Weise verlaufen. Dagegen sind sämtliche sichtbaren Lebervenen mit Über die Endophlebitis hepatica obliterans. 7 Thromben erfüllt; so fallen zunächst einige grofse, bleistiftdiecke Äste auf, in denen sich noch ziemlich frische, weiche, rote 'T'hromben befinden. In einigen etwas kleineren Ästen sieht man ältere, etwas gelblich gefärbte, der Intima anhaftende 'Thromben. Dann aber konstatiert man auch in den meisten kleinen und kleinsten Venen meist dunkelrote, viel seltener gelb- liche und graurote mehr oder weniger feste T'hrombusmassen, bei günstiger Schnittriehtung bilden diese zuweilen einige Verzweigungen. An einigen Stellen an der Oberfläche und auch auf dem Schnitt sieht man bis erbsen- grolse, weiche, ockergelbe Herde (mikroskopisch handelt es sich um hyper- trophische, verfettete Leberzellen). Auf einem Einschnitt des rechten Lappens sieht man an einer Stelle einen Herd, der von weilsem Narbengewebe gebildet wird. Im Leberhilus zeigt sich die Pfortader nicht verändert, aulser dals sie ein wenig dilatiert ist. Die Leberarterie ist ohne Besonder- heiten, dagegen befindet sich im Ligamentum teres ein für eine feine Sonde gerade durchgängiges Gefäls. Die Lebervenen dagegen zeigen an der Hinterfläche der Leber sehr starke Veränderungen. Man sieht dort den der Leber anhaftenden Teil der Cava, deren Wand vielleicht ein wenig verdickt ist. An der Stelle, wo normalerweise die Lebervenen einmünden, befinden sich nur Einziehungen der Intima, die z. T. einen narbigen Ein- druck machen, in die man aber nirgends eine Sonde einführen kann. Es zeigen sich also die Mündungen der Lebervenen bis auf feine Poren total verschlossen. Aus der Mündung einer linken Lebervene schaut noch ein ziemlich fester, grauroter, linsengrolser T'hrombus heraus, daneben befindet sich in der Intima ein etwas grölseres, weilsgelbliches Knötchen. Auf Querschnitten durch die Cava zeigen sich die von links kommenden Leber- venen sehr stark dilatiert, während man an Stelle der rechten zum grolsen Teil derbe, stark fibröse Stränge sieht, die sich einige Zentimeter weit in die Leber hinein erstrecken. Das Pankreas ist von normaler Grölse und derber Konsistenz. Auf dem Schnitt treten kleine Läppchen als ziemlich harte Körper hervor. Sie sind von hellrosagrauer Farbe. Das Bindegewebe ist ziemlich spärlich. Nebennieren: Das Mark ist wenig entwickelt. In der Rinde erkennt man zwei Schichten, eine oberflächliche feste, graue, eine tiefere ziemlich weiche, hellgelbe, darin befindet sich noch ein schmaler, braun pigmentierter Streifen. 8 Huebschmann, Nieren: Die Kapsel ist leicht abzuziehen, die Oberfläche ist ganz glatt. Auf dem Schnitt zeigt sich das Parenchym etwas gelblich, stark hyperämisch, kaum geschwollen, von derber Konsistenz. Harnblase: Die Blase ist ziemlich stark kontrahiert, mit etwas tribem Urin gefüllt. Genitalien: Scheidenschleimhaut ziemlich stark gerunzelt. An der hinteren Seite befindet sich eine flache, strahlige Narbe, ebenso eine kleine Narbe an der linken Seite. Der Uterus ist von normaler Gröfse, von derber Konsistenz. In der Uervix ziemlich viel Schleim. Die Corpusschleimhaut ist hämorrhagisch infiltriert. Die Adnexe sind in weitem Umfange mit- einander und mit der Rectumwand fibrös verwachsen. Die Tuben sind auf dem Schnitt etwas dilatiert, mit trüber, grauroter Flüssigkeit gefüllt. Das linke Ovarium ist mit zahlreichen älteren, fibrösen Körpern erfüllt. Anatomische Diagnose: Occlusio et Thrombosis venarum hepaticarum. Induratio cyanotica gravis hepatis. Dilatatio levis ventrieuli dextri cardi. Öedema pulmonum, Ascites, hydrothorax, hydropericardium, anasarca. Induratio eyanotica lienis, pancreatis. Gastritis et Enteritis. Erosiones haemorrhagicae tunicae mucosae ventrieuli. Atrophia glabra levis radieis linguae. Cicatrices vaginae. Peri- metritis chronica adhaesiva. Struma colloides. Mikroskopische Untersuchung. Die meisten Organe boten im mikroskopischen Bilde keine Besonder- heiten. So fand man in den Nieren nur das Bild leichter Hyperämie, in der Milz eine stärkere Stauung mit leichter Bindegewebsvermehrung. Die hämorrhagischen Erosionen des Magens boten keine Besonderheiten, die hier interessieren könnten. Im Uterus und Tubensekret konnten keine Gono- kokken nachgewiesen werden. — Dagegen zeigte die Leber schwere Ver- änderungen, deren Beschreibung im folgenden genau ausgeführt werden soll. Über die Endophlebitis hepatica obliterans. 9 Es wurden aus zahlreichen Leberpartien Stücke teils in Zenkerscher Flüssig- keit, teils in Formalin fixiert, teils in Paraffin, teils in Celloidin eingebettet und die Schnitte nach verschiedenen Methoden gefärbt. Man hat nun in allen mikroskopischen Leberschnitten in erster Linie das Bild einer ganz aufsergewöhnlich schweren Stauung. Wohl gebildete Leberzellbalken finden sich nur in der äußsersten Peripherie der Läppchen in unmittelbarer Umgebung des periportalen Gewebes. Die Zellen sind dort etwas grols, ihr Protoplasma sehr fein eranuliert, ohne Fettgehalt, die Kerne wohl gefärbt, überall ohne Blähung; nur in einzelnen Zellen finden sich zwei Kerne. Stellenweise findet man im Bereich dieser normal erscheinenden Leberzellbalken in einzelnen Zellkomplexen stark dilatierte und mit grün- brauner Galle gefüllte Netze von Gallenkapillaren. Die Bluteapillaren sind zwischen diesen Zellbalken nur wenig dilatiert. Centralwärts folgt dann eine schmale Zone, in der die Blutcapillaren schon stark dilatiert, die Leberzellbalken stark atrophisch sind. Dort sind die Leberzellen mit Fett und braunem Pigment gefüllt. Stellenweise sind ihre Kerne schlecht gefärbt, stellenweise auch pyknotisch. Im sröfsten Teil der Läppchen bis zur Öentralvene hin sind aber Leberzellen überhaupt nicht mehr vorhanden. Man sieht dort nur enorm erweiterte Bluteapillaren, die prall mit Blut gefüllt sind. Die Capillarwände sind als ziemlich stark lichtbrechende, dickfaserige Gebilde deutlich zu erkennen. Auch die Uentralvenen sind äulserst stark erweitert und prall mit Blut gefüllt. Ihre Wände sind im allgemeinen etwas verdickt und bestehen aus ziemlich groben Fasern. Noch stärkere Dilatationen zeigen die sublobulären Venen. In ihnen lassen sich alle Übergangsstadien zwischen einfacher Stase und beginnender T'hrombenbildung konstatieren. Nirgends jedoch sind, wenigstens in Schnitten aus dem Innern der Leber, ältere in Organisation begriffene 'T'hromben zu sehen. Die Wände der Venen sind fast überall etwas, stellenweise sogar ziemlich beträchtlich, verdickt. Sie bestehen vorwiegend aus faserigem, zellarmem, stellenweise etwas sclero- tischem Bindegewebe. Ihre Intima zeigt nur an wenigen Stellen eine an kleinen elastischen Elementen reiche Verdickung. Ziemlich oft sieht man in der Adventitia kleine Herde von einkernigen Rundzellen. Das periportale Bindegewebe mit den in ihm enthaltenen Gebilden Nova Acta XCVII. Nr. 16. 2 10 Huebschmann, ist an vielen Stellen ganz ohne Besonderheiten. An anderen ist es ver- mehrt, besteht dann aus verhältnismälsig zellarmem, faserigem Bindegewebe, in dem sich nur spärliche kleine Rundzellenherde befinden. Die Arterien des periportalen Gewebes sind unverändert, die Pfortaderäste sind auch zum srölsten Teil normal, nur einige kleine Äste zeigen eine beginnende Thrombose. Die Gallengänge sind in.den normalen Partien ohne Verände- rungen. Dort, wo das Bindegewebe vermehrt erscheint, sind sie etwas gewuchert. Die herdweise Vermehrung des Bindegewebes sieht man am besten in nach Curtis') gefärbten Präparaten. Darin heben sich die tief dunkel- blau gefärbten Bindegewebspartien sehr deutlich ab.. Man sieht ferner in solchen Präparaten, dafs hier und da das Bindegewebe auch in die Läppchen eindringt. Aber auch in den übrigen Teilen sämtlicher Läppchen sieht man ein reiches Netzwerk von dunkelblauen Fasern. Es handelt sich um nichts weiter als die die Bluteapillaren umspinnenden Gitterfasern, die die Collagen- färbung annehmen und im übrigen auch etwas verdickt sind. Man hat dieselbe Erscheinung vor sich, wie man sie stets bei stärkerer Stauungs- leber finden kann und wie man sie auch in vielen Fällen von Diabetes sieht. Es läfst sich schliefslich noch folgender sehr wichtiger Befund in Schnitten aus dem Innern des Leberparenchyms erheben. In spärlicher Menge sieht man nämlich teils innerhalb der Leberläppehen, teils im An- schluß an das periportale Gewebe kleine tuberkelähnliche Granulations- herdehen. Es sind auf dem Schnitt rundliche Gebilde, die zum grölsten Teil aus epitheloiden Zellen bestehen. Die Zellkerne sind bald rund, bald mehr oval, zuweilen ganz lang gestreckt. Zwischen den Zellen befinden sich einzelne nur schwach gefärbte Bindegewebsfäserchen, an anderen Stellen auch etwas leicht granuliertes, anscheinend nekrotisch werdendes Gewebe. Man sieht ferner in diesen Herdchen auch kleine Rundzellen, unter denen 1) Diejenige der Methoden Curtis (Arch. de med. exp. et d’anat. path. 1905), die ich als die vorzüglichste befand, habe ich schon verschiedene Male warm empfohlen (z. B. Virchows Archiv, Bd. 187, 1907, 8. 35) und möchte es hier wieder tun. Die Methode ist folgende: Paraffinschnitte färben mit Anilinwassersaffranin, Abspülen mit Alkohol; dann 5—10 Minuten folgende Mischung: 9—9!/, Teile kone. wässrige Pikrinsäure und 1/;—1 Teil einer 10/,igen Lösung von Säureschwarz 2B (Agfa). Differenzieren in Alkohol. Resultat: Kerne rot, proto- plasmatische Substanzen gelblich-grünlich, collagene Fasern tief dunkelblau. Über die Endophlebitis hepatica obliterans. ei! sich verhältnismäßig viele polynucleäre Leukocyten befinden. In der Peri- pherie der Knötchen sind diese kleinen Zellen etwas reichlicher als im Innern. Etwa in der Hälfte dieser Herde sieht man aulserdem einzelne Riesenzellen, die zum Teil den Langhansschen Typus aufweisen, zum Teil mehr atypische Formen haben. Die Kerne der Riesenzellen sind gleich denen der Epitheloidzellen bald rund, bald oval und öfters auch sehr lang gestreckt. Tuberkelbazillen lassen sich in diesen Herden nicht nachweisen. Schnitte von der Einmündunesstelle der Lebervenen in die Cava zeigen folgende Verhältnisse: An der Stelle, wo makroskopisch auf dem Schnitt der fibröse Strang sichtbar war (s. auch Tafel), erkennt man am Verlauf der Venenmuskulatur die Einmündungsstelle einer Lebervene in die Cava. Von einem Lumen ist jedoch nichts mehr vorhanden, sondern alles von einem fibrösen, mälsig zeilreichen Gewebe ausgefüllt. Dieses ist be- sonders auch nach der Oberfläche zu äufserst stark vascularisiert, so daß stellenweise ein richtiges cavernöses Aussehen zustande kommt. In diesem Gewebe befinden sich aufserdem ziemlich reichliche, meist perivaseulär gelegene Rundzellenherde. Blutpigment ist hier nirgends zu entdecken. Das an- srenzende Glissonsche Gewebe, das auch hier etwas vermehrt ist und viele Gallengänge zeigt, weist sogar eine recht ansehnliche Rundzelleninfiltration auf. Die Lumina der nach dem linken Lappen zu gelegenen Lebervenen, aber auch die einiger von rechts kommender Äste sind hier äufserst stark dilatiert und mit frischeren roten T'hromben gefüllt. Nur stellenweise sieht man am Rande der T'hromben eine gerade beginnende Organisation. Die Wände dieser Venen, besonders ihre Intimae sind unregelmäfsig verdickt, es springen auf dem Querschnitt oft Wülste in das Lumen vor und zwar bestehen solche Wülste zum Teil aus derbem, kernarmen, mit reichlichen, kleinen, elastischen Elementen untermischtem Bindegewebe, zum Teil aus frischeren, zellreichen und mit Rundzellen reichlich untermischten Gewebs- wucherungen. Auch in den Adventitiae sieht man hier reichlich Rundzellen- infiltrationen. Etwas weiter innen zeigen einige grölsere Venen weiter vorgeschrittene Veränderungen. Man sieht z. B. in einer Vene das Lumen spaltförmig ein- geengt durch eine auf dem Querschnitt rundliche Gewebsmasse, die der verdiekten Intima breit aufsitzt. Diese Gewebsmasse ist mäßig zellreich Ir 12 Huebschmann, mit collagenen Fäserchen untermischt und zeigt in der Mitte braunes Blut- pigment, teils frei liegend, teils in Zellen eingeschlossen. In einer weiteren Vene liegen die Verhältnisse etwas anders. Man sieht in ihr auf dem Quer- schnitt die Intima beträchtlich, in der Form eines Halbmondes, verdickt, mälsig zellreich, fibrös, reich an elastischen Fasern, vascularisiert, ohne Pigmenteinlagerung. Dagegen abgegrenzt ist im Innern ein rundliches Gebilde, das dem bei der vorigen Vene beschriebenen durchaus ähnlich ist, sich scharf von der Intima absetzt und in der Mitte ziemlich reichlich braunes Blutpigment erkennen lälst. An der Grenze zwischen beiden findet sich ein kleiner Rest des mit Blut gefüllten Venenlumens. Die mit dem Leichenblutserum vorgenommene Wassermannsche Reaktion erwies sich als sehr stark positiv. Ich möchte nun zunächst eine Epikrise meines eigenen Falles vor- nehmen, um mich dann einer Kritik der früheren Publikationen zuzuwenden. Das klinische Krankheitsbild und Anamnese zeigten in unserem Falle nichts für ein bekanntes Krankheitsbild charakteristisches. Doch scheinen mir einige Symptome wichtig genug zu sein, auch in Hinsicht auf den späteren Vergleich mit anderen Fällen. So sollte die Patientin vor drei oder vier Jahren „Gallenstenkoliken“* gehabt haben. Wir können aus dieser vagen Angabe nur eins mit einiger Sicherheit entnehmen, nämlich dafs damals Anfälle von Schmerzen im Abdomen bestanden hatten und dafs auch eventuell ein Ieterus vorhanden war. Dann zeigten sich neue Symptome erst wieder drei Wochen vor dem Tode. Wieder waren es zunächst mit Übelkeiten einhergehende Schmerzen im Leibe. Dazu kam der Ascites, ÖOdeme, und Ieterus, und der Exitus erfolgte nach drei Wochen. Wir können also zwei Krankheitsschübe annehmen, von denen der eine ablief ohne schlimmere Folgen zu hinterlassen, der andere aber einige Jahre später fast akut zum Tode führte. Wie verhält sich das anatomische Bild zu dieser Annahme? Wesent- liche Veränderungen fanden sich nur in der Leber und wir können diese, soweit sie das Organ im ganzen betreffen, kurz als hochgradige Stauung und als Stauungseirrhose bezeichnen. Als Ursache dafür fand sich ein so zu sagen kompletter Verschlußs der Lebervenen an ihrer Einmündungsstelle in die Vena cava; die kleinen noch vorhandenen Poren können dabei ganz Über die Endophlebitis hepatica obliterans. 13 vernachlässigt werden. An der linken Seite sah man in einigen Ästen den Verschlufs bedingt durch derbes, fibröses, gefälshaltiges Gewebe. Es handelt sich da um einen älteren Proze[s und es liegt nahe, diesen mit den vor drei bis vier Jahren aufgetretenen Krankheitssymptomen in Zusammenhang zu bringen. Die starke Vascularisation dieser Stränge erinnert übrigens etwas an die cavernöse Umwandlung von Pfortaderthrombosen, wie sie von Verse!) u. a. beschrieben wurden. — An anderen Venenästen, besonders denen der linken Seite kann der Prozels aber erst jüngeren Datums sein. Es handelt sich um einen fast membranartigen Verschluls der Mündungen. Gleich dahinter weist die enorme Dilatation der Gefäßslumina und die frische Thrombose auf einen ganz jungen Krankheitsprozefs hin. Es liegt sehr nahe, dals dieser Prozels es war, der die schmerzhaften Symptome vor drei Wochen hervorrief. In welcher Weise allerdings in beiden Fällen die Schmerzen zustande kamen und ob die starke Stauung allein dazu genügte, ist schwer zu sagen. . Wir können aber hier bei Erörterung der anatomischen Befunde diese rein physiologisch klinische Frage bei Seite lassen. Wenn wir dann die erwähnten Hauptpunkte weiter betrachten, so sahen wir, dals der alte Prozels keine offenkundigen Symptome zurückliefs. Es wird aller- dings von jener Zeit an schon zu einer Stauung in der Leber gekommen sein und diese wird auch schon einen gewissen Grad von Stauungsinduration erzeugt haben. Aber dals der Gesamtabflufs des Leberblutes dadurch nicht in stärkerem Malse litt, ersehen wir daraus, dafs kein Ascites bestand und dals sich auch keine wesentlichen kollateralen Bahnen entwickelten. Klinisch waren solche selbst bis zum Ende der Krankheit nicht nachweisbar und anatomisch konnten wir nur ein einziges winziges Gefäls im Ligamentum teres feststellen, während alle anderen Bahnen, wie sie bei Störungen im Pfortaderkreislauf aufzutreten pflegen, nicht erweitert waren. Dieselben Verhältnisse liefsen sich übrigens bei vielen klinisch ähnlich verlaufenden Fällen von Lebervenenverschlufs konstatiren. Es ist dies eine interessante Tatsache, dafs bei Zirkulationshindernissen, die jenseits der Leberkapillaren liegen, zunächst nicht dieselben Symptome auftreten, wie bei Pfortader- insuffizienz und es steht dies in Analogie mit der oft zu erhebenden Be- 1) Zieglers Beiträge. Bd. 48. S. 526. 14 Huebschmann, obachtung, dafs auch bei Herzerkrankungen die zu schwerer Stauung in der Leber führen, oft der Ascites gar nicht oder nur in geringem Malse vor- handen ist. Die Folgen des vollständigen Lebervenenverschlulses, der, wie wir sahen, in unserem Falle drei Wochen vor dem Tode, oder erst kurz darauf erfolgte, waren dann allerdings die, dafs sich ein Ascites entwickelte. Aber die kurze Zeit bis zum Tode genügte auch nicht, um einen Kollateralabfluls des Leberblutes zu ermöglichen. Auch die anscheinend noch intakt ge- bliebenen Leberzellen konnten ihre Funktion nicht mehr in normaler Weise verrichten. Das sehen wir an den einige Tage vor dem Tode auftretenden leterus. Als mikroskopischen Beleg dafür konnten wir stellenweise eine starke Füllung der erweiterten Gallencapillaren konstatieren. Durch den enormen Druck also, der infolge der starken Blutstauung auf dem restierenden Parenchym lastete, wurde der Gallenabflufs beeinträchtigt, der stellenweise schon vorher infolge der eirrhotischen Prozesse nicht in gehöriger Weise vor sich gegangen sein dürfte. Wenn wir nun zu den ätiologischen Momenten übergehen, so müssen wir die mikroskopisch nachweisbaren Veränderungen noch näher betrachten. In den ähnlichen Fällen der Literatur finden wir hier und da die Überlegung angestellt, ob man es mit primären Thrombosen zu tun haben könnte. Solehe Überlegungen schweben aber so zu sagen ganz und gar in der Luft, denn für eine Thrombose mu/s doch auch schliefslich eine Ursache vorhanden sein. Man könnte rein theoretisch an eine retrograde Embolie denken, aber diese Möglichkeit findet sowohl auf Grund allgemeiner Überlegung, als auch bei Betrachtung der speziellen Fälle absolut keine Stütze. Es gibt m. E. a priori überhaupt gar keine andere Möglichkeit, als dafs es sich um eine primäre Gefälserkrankung, um .eine Endophlebitis handeln könnte Im Bereich der älteren Veränderungen sahen wir das ganze Gefäßslumen von gefälshaltigem Bindegewebe ausgefüllt und sahen noch als chronisch entzündliche Residuen die kleinzelligen Herde. Das es sich da nur um eine ursprüngliche Wucherung der Gefäfsintima ohne 'T’'hrom- bose handelt, wird durch das Fehlen von Blutpigment im den proximalsten Teilen der Venen erwiesen. Weiter im Innern waren dann die Zeichen einer Endophlebitis noch deutlicher. Man sieht dort Veränderungen der Über die Endophlebitis hepatica obliterans. 15 Venenintima, die absolut identisch sind mit denen bei der Endarteriitis proliferans. Dort ist aber der Gefälsverschluß auch z. T. durch organisierte Thromben bedingt. Es lälst sich dieser Prozels aber bei der miskroskopischen Betrachtung, wie aus der Beschreibung hervorgeht, gut von dem endo- phlebitischen abgrenzen, zumal da in den durch 'Thrombusorganisation ent- standenen Bezirken Blutpigment reichlich nachweisbar ist. Auch in den Partien, in denen sich die frischen Thromben dicht hinter der verschlossenen Mündung finden, ist die endophlebitische Wucherung und die entzündliche Zellinfiltration leicht zu erkennen. Es ist ohne weiteres klar, dafs auch dort der vollständige Verschlußs in erster Linie durch die Intimawucherung zustande kam. Erst im allerletzten Stadium mag auch die 'T'hrombosierung das ihrige getan haben. Der kleine, an einer Stelle in das Lumen der Cava hineinragende Pfropf deutet darauf hin. Wenn wir uns nun fragen, welches ätiologische Moment zu solchen Veränderungen führen kann, so mu[s man gestehen, daß wir eigentlich nur eine einzige Krankheit kennen, die die Gefälsintima zu einer derartigen unaufhaltsam fortschreitenden Wucherung bringt, die dann vollkommen glatte Narbenbildung erzeugt, ohne dafs sich stärkere sclerotische Veränderungen oder gar Verkalkungen zeigen: und das ist die Syphilis. Nun fanden sich aulserdem im Leberparenchym zerstreut spärliche, tuberkelähnliche Gebilde Es ist gewils etwas gewagt, diese Herde ohne weiteres als Gummata zu betrachten und doch stehen in diesem Fall der Annahme, dafs es sich um tuberkulöse Veränderungen handele, mindestens ebenso grofse Schwierigkeiten im Wege. Denn sonst zeigte sich im Körper keine Spur einer frischeren oder älteren Tuberkulose und Tuberkelbazillen konnten in den Herden nicht nachgewiesen werden. Andererseits kann man solche miliare den typischen Tuberkeln durchaus ähnliche Gummata doch hin und wieder auch inmitten von sicher syphilitisch veränderten Organen konstatieren. In unserem Falle könnte man noch die eigenartige Struktur der Herde für ihre syphilitische Natur verwerten. Die spärlichen Binde- gewebsfäserchen inmitten der beginnenden Nekrosen und die Anwesenheit von polynukleären Leukocyten in den Herden sprechen in diesem Sinne. Die langgestreckten Kerne in den Riesenzellen müssen zudem als atypisch für die Tuberkulose bezeichnet werden. Obwohl ich nun das Vorhandensein 16 Huebschmann, dieser Herde als diagnostisches Beweismaterial nicht verwerten will, so neige ich doch der Annahme zu, dals es sich um richtige gummöse Veränderungen handelt. Für einen syphilitischen Prozefs sprechen aber ferner die oberflächlichen Lebernarben, die wenn auch leichte Abelättung des Zungengrundes und der Befund von zwei strahligen Narben in der Scheide, während die älteren und frischeren entzündlichen Veränderungen im Bereich der Adnexe nicht in diesem Sinne sprechen können. Wir sind gewöhnt, derartige Ver- änderungen eher auf das Konto einer Gonorrhoe zu setzen. Was aber das Vorhandensein einer konstitutionellen Syphilis über alles Zweifel erhebt, das ist der positive Ausfall der Wassermannschen Reaktion. Es ist hier nicht der Ort, den Wert dieser Serumreaktion im allgemeinen und für die Leichendiagnose im besonderen zu beleuchten. Ich bin aber mit Nauwerck') u.a. durchaus der Meinung, dafs sie uns für die Aufklärurg vieler Fälle gerade an der Leiche ganz ausgezeichnete Dienste leistet. Findet man in der Leiche auf Syphilis verdächtige Ver- änderungen und lassen sich sonst im Körper keine Befunde (Tumoren usw.) erheben, die die positive Wassermannsche Reaktion erklären könnten, so ist sie für die syphilitische Natur der fraglichen Veränderungen beweisend. In unserm vorliegenden Fall, in dem eigentlich schon die anatomischen Befunde genügend klar waren, ist sie schliefslich nur noch die Probe aufs ® Exempel. Es bleibt uns nun noch übrig, auf die Literatur kurz einzugehen. Die bisher veröffentlichten Fälle von mehr oder weniger vollständigem Lebervenenverschluls wurden am übersichtlichsten im Jahre 1905 von Hess zusammengestellt. Ich bin der Meinung, dafs es sich in diesen Fällen fast ausnahmslos um syphilitische Endophlebitis gehandelt hat. Die Wasser- mannsche Reaktion konnte naturgemäfs in den früheren Fällen, deren Veröffentlichung zum Teil schon über 30 Jahre zurückliegt, nicht gemacht werden. Unser Fall ist in dieser Beziehung der erste. Spätere Autoren, besonders die Zweifler, dürfen bei weiteren Fällen keinesfalls die Vornahme der Reaktion verabsäumen. Damit würde die Frage in einwandfreier Weise !) Nauwerck und Weichert, Münchener med. Wochenschrift 1910. Nr. 45. Über die Endophlebitis hepatica obliterans. 7 gelöst werden können, und auch die T'herapie könnte, wie wir sehen werden, davon profitieren. Auf Grund der anatomischen Befunde erklären sich für ihre Fälle mit mehr oder weniger Überzeugung für eine syphilitische Genese Eppinger (1876), v. Maschka (1885), Lange (1886), Churton (1899), Lazarus- Barlow (1899), Chiari (1899; drei Fälle, wovon der erste mit dem von v. Maschka identisch ist) Lichtenstern (1900), Moore (1902), Meystre (1901 und 1904) und Hefs (1905). Von diesen Autoren erwähnen v. Maschka, Chiari, Lichtenstern, Meystre und Hefs ausdrücklich proliferierende endophlebitische Prozesse. Im übrigen haben ihre Fälle und auch einige der anderen Autoren mit dem unsrigen eine derartige, oft sich bis auf kleine Details erstreckende Ähnlichkeit, dafs wir ihre Annahme nur bestätigen und bekräftigen können. Ob dabei die Endophlebitis mehr die Einmündungsstelle oder weiter rückwärts gelegene Äste betraf, wodurch sich dann das Krankheitsbild etwas verschieden gestaltete, ist ohne Belang. Eppingers Arbeit war mir im Original nicht zugängig, aber nach dem Referate Penkerts kann es sich auch nur um einen ganz analogen Proze/s gehandelt haben. Aus der Beschreibung, die Lange von seinem Fall gibt, lielse sich wenn er allein da stände, nicht viel entnehmen, aber im Verein mit den anderen Fällen brauchen wir seine Ätiologie durchaus nicht, wie Lange es damals ausdrückte, als völlig dunkel zu bezeichnen und nur an die Möglichkeit einer Syphilis zu denken, sondern können ihn heute mit einiger Sicherheit als einen Fall von syphilitischem Lebervenenverschlufs bezeichnen, zumal da ein recht typisches Zeichen der Syphilis, nämlich die Schwellung der Cervicaldrüsen, von dem klinischen Beobachter festgestellt worden war. Es bleiben dann noch die beiden Fälle Frerichs (1861), ferner der Fall von Rosenblatt (1867), Gee (1871), Schüppel (1880), Hainski (1884), Thran (1889), Rendu et Poulain (1902), Penkert (1902), Fabris (1904), Umbreit (1906) und Kretz (1902). 1) Den Fall von Budd, der mir nur aus verschiedenen Referaten bekannt ist, führe ich seiner Unklarheit wegen nicht mehr auf. 3 18 Huebschmann, Der erste Fall Frerichs (S. 94) bei dem eine ausgesprochene chronische Peritonitis bestand, ist fast der einzige von den genauer be- sehriebenen, bei dem man an der syphilitischen Natur des Leidens zweifeln könnte. Es ist in diesem Falle immerhin möglich, dafs der klappenartige Verschluls der Lebervenen durch das Übergreifen des perihepatilischen Prozesses auf ihre Scheiden zustande kam. Für seinen zweiten Fall (S. 409) gibt Frerichs selbst nicht, wie spätere Autoren es ausführen, eine solche Erklärung ohne weiteres, obwohl auch eine circumskripte Perihepatitis vorlag. Es geht dies aus seinen Aus- einandersetzungen auf S. 408 hervor. Frerichs sagt da: die Phlebitis hepatica adhaesiva ist „meistens') die Folge einer Entzündung der Kapsel — —, die sich auf die Venenwand fortpflanzt“. Der später folgende Satz „der folgende Krankheitsfall wird diese Verhältnisse genau erörtern“, bezieht sich dann m. E. im wesentlichen auf den vorhergehenden Hinweis auf die Stauungssymptome. Im übrigen ist dieser Fall sehr ähnlich dem unsrigen und vielen anderen. Aus der Beschreibung ersieht man deutlich, dafs ein endophlebitischer Prozef[s vorlag, bei dem nichts gegen Syphilis spricht. Im Falle Schüppels (8. 324) sind die Details zu wenig ausgeführt, als dafs man sich ein richtiges Bild machen könnte. Es handelte sich um den Verschlufs einzelner Venen des rechten Lappens. Dagegen fügt sich der Fall von Rosenblatt in das durch unseren eigenen und die oben erwähnten gegebene Bild so gut ein, dals er trotz der etwas mangelhaften Beschreibung zu den syphilitischen Endophlebitiden rechnen muls. Die Beschreibung der Leber mit ihrer unregelmäßigen, cirrhotischen Schrumpfung erinnert übrigens durchaus an das Bild der richtigen syphilitischen Cirrhose. Hainski kommt bei Beurteilung seines Falles auf die Erklärung zurück, die Frerichs für seinen ersten Fall gegeben hat, und spricht von einer auf Leber und Lebervenen fortgeleiteten chronischen Peritonitis. Doch dürften in seinem Fall die peritonitischen Erscheinungen nicht den hohen Grad gehabt haben wie bei Frerichs, und man kann sie zusammen mit den frischen, peritonitischen Veränderungen auf die wiederholt vorgenommenen 1) Im Original nicht gesperrt. Über die Endophlebitis hepatica obliterans. 119) Punktionen zurückführen, während die schon 1', Jahr zurückliegenden Abdominalsymptome wohl mit dem damals entstandenen, nicht ganz voll- ständigen Lebervenenverschluls in Zusammenhang stehen. Die diesen zu- grunde liegenden Veränderungen der Venenstämme stimmen aber wieder so sehr mit denen der oben betrachteten Fälle überein, dals gegen die Annahme einer syphilitischen Genese auch in diesem Fall keine stichhaltigen Gründe existieren. Im Falle Thrans spricht schon die Tatsache, dafs die Patientin ein Neunmonatskind gebar, dals drei Wochen nach der Geburt an Schwäche starb, für Syphilis. Wie sich die Lebervenen an ihrer Mündung verhielten, wird nicht erwähnt, nur ein Thrombus des der Leber anhängenden Cavateiles wird vermerkt. Zahlreiche mit frischen 'Thromben ausgefüllte Lebervenen zeigten eine verdickte und zum Teil entzündlich infiltrierte Wand. Die Leberoberfläche zeigte narbige Einziehungen, und auf dem Schnitt sah man unregelmälsig verteilte Bindegewebszüge. Es liegt nach dieser Be- schreibung sehr nahe, eine Syphilis als Ursache der Phlebitis anzunehmen, jedenfalls viel näher, als eine unwahrscheinliche sonorrhoische Infektion auf dem Umwege der Peritonitis als ätiologisches Moment heranzuziehen. Die vorhandenen peritonitischen Veränderungen möchte ich auch in diesem Fall auf die mehrfach vorgenommenen Punktionen zurückführen. Wir kommen nun zu dem Fall von Fabris, der srofse Ähnlichkeit mit dem unsrigen und anderen hat. Denn Verfasser gibt an, dals sämtliche Lebervenenmündungen bis auf eine für eine Sonde kleinsten Kalibers durch- gängige Öffnung verschlossen waren. Im Anschluß daran fanden sich Thrombosen sämtlicher Lebervenen. Wenn Fabris nun diese Veränderungen der Lebervenenmündungen eines 16 jährigen Mannes auf ein vitium primae formationis schiebt, so muls man sagen, dals er für diese unwahrscheinliche Hypothese absolut keine stichhaltigen Gründe bringt. Die Angabe vielmehr, dafs die Caya an der Mündung der Lebervenen einen sehnig weilsen Anblick bot, weist darauf hin, dafs dort ein endophlebitischer Prozefs bestand, der sich wohl auch auf die Lebervenen erstreckte. Dafs man bei einer derartigen lokalisierten Endophlebitis in erster Linie an Syphilis denken muls, ist schon wiederholt betont. In Umbreits Fall waren die Mündungen der Lebervenen frei; wohl 3% 20 Huebschmann, aber waren zahlreiche Äste durch bindegewebige Wucherungen verschlossen, andere mit frischeren Thromben verstopft. Von den älteren Venenverschlüssen nimmt Umbreit an, dals sie durch Organisation von T'hromben entstanden sind. Den Beweis dafür bleibt er aber schuldig. Schon in der mikro- skopischen Beschreibung seiner Präparate spricht er einfach von organisierten Thromben, ohne die Charakteristika solcher Gebilde anzuführen. Speziell wird nirgends erwähnt, dals in diesen „Thromben“ auch Blutpisment vor- handen gewesen wäre. Die Intimaveränderung der Cava aber und die im Verlauf der Lebervenen und auch im periportalen Gewebe vorhandenen zelligen Herde deuten, wie der Verfasser auch selbst angibt, auf entzündliche Veränderungen hin, die, soweit sie die Venenintima betreffen, eben als endo- phlebitische zu bezeichnen sind. Syphilis ist als Ursache für diese Ver- änderungen schwerlich auszuschlieisen. Der eigenartige Schrumpfungs- prozels der Leber erinnert zudem sehr an das typische Bild einer syphi- litischen Leber. Ob bei der Entstehung der 'T’hrombosen mechanische Momente im Sinne von Kretz (s. unten) mit im Spiele waren, ist eine andere Frage. Von einer primären 'T'hrombose zu sprechen, dürfte in keinem Falle angebracht sein, obwohl anscheinend ein Herzfehler bestand. Man könnte dabei übrigens an eine retrograde Embolie denken; doch diese Möglichkeit ist, wie schon oben gesagt, kaum in Betracht zu ziehen. Der nichtssagende Ausdruck „idiopathische Lebervenenthrombose“, mit dem Verfasser seine Arbeit schliefst, ist natürlich ebenfalls zurückzuweisen. Penkert bezeichnet seinen Fall gar als „idiopathische Stauungs- leber“. Diesen Ausdruck wollen wir lieber von vornherein ganz und gar aus unserer Nomenklatur entfernen. da er, wie schon Kretz betonte, ganz un- zutreffend ist. Bei Penkert handelte es sich, ebenso wie im Falle von Gee (zitiert nach Penkert u. a.) um ein im zweiten Lebensjahre stehendes Kind. In beiden Fällen handelt es sich um glatte, membranartige Verschlüsse der Lebervenen an ihrer Mündung in die Cava mit Thrombosen. Bei Penkert zeigten sich dabei die Wände der Cava und der Lebervenen verdickt, während sie bei Gee normal gewesen sein sollen; doch wird von narben- artigen Grübchen gesprochen. In beiden Fällen war ferner eine Cirrhose vorhanden. Während nun Gee die Cirrhose für die primäre Ursache hält und die Annahme einer „congenitalen Mifsbildung“ ablehnt, so entscheidet Über die Endophlebitis hepatica obliterans. 21 sich Penkert für diese letztere Erklärung. Meines Erachtens dürfte in beiden Fällen, die übrigens weitgehende Analogien mit dem oben erwähnten von Meystre beschriebenen haben, wieder die Syphilis nicht ohne weiteres auszuschliefsen sein. Auf keinen Fall kann man das, wie Penkert es will, auf Grund anamnestischer Angaben tun; Entzündungserscheinungen waren doch schliefslieh in seinem Fall mindestens in Gestalt von eirrhotischen Veränderungen vorhanden, die nicht ohne weiteres als Folgen der Stauung zu betrachten sind, zumal da sie nur einen Lappen betrafen. Es wären ferner noch Fälle von Lebervenenthrombose zu erwähnen, die sich an primäre Thrombose der Cava anschlossen und wie sie z. B. von Wallgren, Sternberg und Rolleston beschrieben wurden. Solche Fälle zeigen aber schliefslich so weitgehende Differenzen gegenüber den bisher erwähnten, dals sie in diesem Rahmen nicht beachtet zu werden brauchen. Dagegen müssen noch zwei Fälle von Kretz erwähnt werden. Dieser Autor möchte als einen wesentlichen Punkt in der Erklärung der in Frage stehenden Veränderungen ein mechanisches Moment einführen, das durch die „Funktion der Lebervenen als Insertionsapparat der Leber an der Cava“ gegeben sei. Infolgedessen sollen bei Erschütterungen leicht Zerrungen und auch Verletzungen entstehen. Wenn diese Annahme zutreffen sollte, so würde es zu verwundern sein, warum wir Lebervenenthrombosen nicht öfter zu sehen bekommen. Denn diese mechanischen Verhältnisse wären doch, besonders bei älteren Leuten mit schlaffen Bauchdecken und schlaffen Auf- hängebändern der Bauchorgane, recht oft gegeben. Bei Prozessen, bei denen Thrombosen erfahrungsgemäls oft auftreten (nach Operationen usw.), mülsten dann doch auch die Lebervenen hier und da einmal mit betroffen sein. Doch davon ist uns nichts bekannt. Ich bin daher, wie schon bemerkt, der Meinung, dals die mechanischen Verhältnisse für das hier erörterte Krankheitsbild höchstens hier und da einmal als unterstützendes Moment in Betracht gekommen sein mögen, dafs ihm aber keinesfalls eine ausschlag- gebende Bedeutung zuerkannt ‘werden kann. Ebenso dürfte es mit der Hypinose des Lebervenenblutes bestellt sein. Dem dritten Punkt Kretz', der entzündlichen Reizung durch Infektionserreger, wollen wir aber, wie ausgeführt, die Hauptrolle zuerteilen und dabei vor allen Dingen die Syphilis im Auge haben. DD Huebschmann, Um noch einmal zu resümieren, so bin ich der Meinung, dals kaum für einen einzigen der bisher veröffentlichten Fälle von Leber- venenverschlu/s die Syphilis als Ursache ausgeschlossen werden kann, dals sie im Gegenteil für fast alle Beobachtungen die beste Erklärung abgibt. Ob man dabei eine erworbene oder eine kon- genitale Syphilis annehmen will, ist eine Frage von sekundärer Bedeutung. Ob meine Annahme, dafs die Syphilis immer die Hauptrolle spielt, Allgemein- gültigkeit hat, muls in späteren Fällen vor allen Dingen durch Vornahme der Wassermannschen Reaktion festgestellt werden. Zum Schlufs möchte ich noch einmal ganz kurz auf die Patho- genese und die klinischen Verhältnisse zurückkommen und möchte vor allen Dingen mit Lichtenstern die Kliniker auffordern sich dieses anscheinend wohl charakterisierten Krankheitsbildes anzunehmen, um es im gegebenen Falle diagnostizieren zu können. Eine Therapie dürfte besonders dann aussichtsvoll sein, wenn es durch den ersten Krankheitsschub noch nicht zu einem vollständigen Verschlufs der Lebervenen gekommen ist, wie es in unserer Beobachtung und mehreren anderen festzustellen war. So erwähnt doch Churton einen Fall, in dem bei einem jungen Mann vier Jahre nach der syphilitischen Infektion eine akute Leberschwellung auftrat, die durch eine Quecksilberkur geheilt wurde. Bei etwa verdächtigen Fällen dürfte auch in der Klinik die Wassermannsche Reaktion von grofser Be- deutung sein. Allzuviel wird zwar von einer 'T'herapie nicht zu erwarten sein. Denn in der Mehrzahl der Fälle war der Verlauf ein derartiger, dafs schwere Symptome anscheinend erst nach vollständigem oder nahezu vollständigem Verschlufs der Lebervenen auftraten. Man mufs dabei annehmen, dafs der endophlebitische Prozefs imstande ist, die Gefälslumina äulserst schnell zu verschlielsen. Das läfst sich schon daraus entnehmen, dals in den meisten Fällen wesentliche Collateralbahnen sich bis zum Tode noch nicht entwickelt hatten. Umfangreichere Collateralen, wie sie sich bei schweren Störungen im Pfortaderkreislauf zu finden pflegen, werden nur bei Thran, Hainski und Rosenblatt erwähnt, und das sind gerade Fälle, bei denen die Sym- ptome des zum "Tode führenden Krankheitsprozesses schon geraume Zeit, nämlich 6!/,, 15 und 3 Monate vor dem Tode einsetzten. In allen anderen, Über die Endophlebitis hepatica obliterans. 23 Erwachsene betreffenden Fällen bestanden die erwähnten Symptome erst kürzere Zeit und Collateralen waren nicht oder nur sehr wenig entwickelt. Die Fälle Penkerts, Gees und Meystres bilden dabei eine besondere Rubrik, da es sich um kleine Kinder handelte. In allen drei Fällen, in denen die Syphilis eine kongenitale gewesen sein mülste, war es zu einem umfangreichen Collateralkreislauf gekommen. Mit dieser Betrachtungsweise steht auch die Tatsache in Einklang, dals gerade in den Fällen von Hainski und Rosenblatt stärkere Regenerationserscheinungen von seiten des Leberparenchyms bestanden. - In geringem Malse werden solche auch von anderen Autoren in Gestalt von eireumskripten (knotigen) Hyperplasien erwähnt, und auch in unserem Falle fanden wir sie an einer Stelle, wie aus dem Protokoll hervorgeht. Bei Hainski jedoch war es zur multiplen Knotenbildung gekommen, und mikro- skopisch erinnerten die Zellwucherungen schon an carcinomatöse Strukturen; bei Rosenblatt handelte es sich gar um ein fertiges Lebercareinom. Ich glaube bestimmt, dals dieses aus einer knotigen Hyperplasie hervorgegangen war, dafs es also ein sekundärer Prozefs ist und mit der Entstehung der Endophlebitis nichts zu tun hat. Tafelerklärung. Die Abbildung stellt in natürlicher Gröfse einen Horizontalabschnitt durch die Cava und die anliegenden Leberpartien dar. Links oben sieht man von der Cava aus einen fibrösen Strang (obliterierte Lebervene) ins Innere ziehen. Rechts entsprechend eine stark dilatierte mit frischem Thrombus gefüllte Vene. Aufserdem zahlreiche kleinere und kleinste frisch thrombosierte Venen im innern. Die bisher veröffentlichten Arbeiten über Endophlebitis hepatica obliterans in chronologischer Reihenfolge. Frerichs, Leberkrankheiten. 1861. Bd.2. 8.94 u. 409. Rosenblatt, Über einen Fall von abnormen Verlauf der Lebervenen mit Kirrhose und Careinom der Leber und consecutiver Careinominfiltration des Peritoneums. Diss. med. Würzburg 1867. Gee, St. Barth. Hosp. Reports. 1871. 8. 144. Eppinger, Prag. med. Woch. 1876. Nr. 39 u. 40. Schüppel, Ziemssens Handbuch. Bd.8. S. 324. Hainski, Ein Fall von Lebervenenobliteration. Diss. Göttingen 1884. v. Maschka, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. Bd. 43. 1885. Lange, Ein Fall von Lebervenenobliteration. Diss. Kiel 1886. Thran, Ueber einen Fall von Lebervenenthrombose. Diss. Kiel 1899. Churton, A case of cirrhosis of liver, apparently due to congenital syphilis with thrombosis of the hepatie veins. Transactions of the Path. Soc. London 1899. P. 145. Lazarus-Barlow, Thrombosis of hepatie veins associated with eirrhosis of the liver, pro- pably syphilitice Ebenda. P. 146. Chiari, Ueber die selbständige Phlebitis obliterans der Hauptstämme der Venae hepaticae als Todesursache. Zieglers Beitr. Bd. 26. 1899. Lichtenstern, Ueber einen neuen Fall von selbständiger Endophlebitis obliterans der Haupt- stämme der Vena hepatica. Prag. med. Woch. 1900. 8. 325. Moore, Primary obliterating inflammation of the main trunc of the hepatie veins. Med. Chron. Manchester. July 1902. Rendu et Poulin, Phlebite obliterante ete. Bull. et mem. soc. med. des höp. de Paris. 6. 6.1901. Penkert, Ueber idiopathische Stauungsleber (Verschluls der Venae hepaticae). Virchows Arehiv 169. 1902. Kretz, Ergebnisse von Lubarsch und Ostertag. 1902. Bd. 2. Meystre, Un cas de Thrombose des veines hepatiques. Trav. de l’Inst. path. de Lausanne 1904 und These de Lausanne 1901. Fabris, Sulla ocelusione e trombosi della vene hepatiche. Arch. per le sc. med., Bd. 28, Nr. 17, 1904 und Lav. dell’Ist. di anat. path. di Turino 1904. Hefs, Fatal obliterating endophlebitis of the hepatie veines Amerie. Journ. of med. sc. 1905. Bd.IE Px986. Umbreit, Über einen Fall von Lebervenen- und Pfortaderthrombose. Virchows Archiv 1906. Bd. 183 Nova Acta Acad. C,L.C.G. Nat. Qur. Vol. XCVIL Nr. 16. Huebschmann: Über die Endophlebitis hepatica obliterans. JIMINUNINN I 3 9088 01304 969 SMITHSONIAN INSTITUTION LIBRARIES