Novalis und Sophie von Kühn.

Von diesem Buche wurden im Januar 1906 1000 Exemplare als I. Auflage gedruckt bei Oscar Brandstetter in Leipzig.

Johannes Schlaf

Novalis und Sophie von Kühn.

Eine psychophysiologische Studie.

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1906. Verlegt bei E. W. Bonseis, München -Schwabing.

Das Werk ist Eigentum des Verlages und alle Rechte sind vorbehalten.

Vorbemerkung.

Wir haben bis daher noch keine zureichende Biographie von NovaHs. Von den Romantikern konnten wir sie nicht verlangen; sie besaßen noch nicht die nötige Distance zu ihm; zudem ragte er viel zu sehr über sie hinaus. Die Jahrzehnte nach den Romantikern, die Periode des «Jungen Deutschland»: dürfen wir ihr eine ausreichende und unvor- eingenommene Biographie von Novalis zumuten? Ihr sicher am allerwenigsten. Erst in unserer jüngsten Gegen- wart scheint der Augenblick gekommen, wo eine solche Biographie möglich wird. Dennoch bieten selbst die jüng- sten Biographien oder biographischen Versuche kaum einen ersten kleinen Ansatz zu dem, was hier zu leisten wäre. Vor allem erhellt das aus der Art, wie zumeist das Ver- hältnis von Novalis zu Sophie v. Kühn behandelt wird. Man muß schon sagen : verständnislos. Überhaupt, man weiß vom Trubel der «Zeitprobleme» her wohl gar manches von No- valis als einem der ersten Anreger und Seher unserer neueren europäischen Kulturzustände beizubringen, aber dem Wich- tigsten ist man nicht gewachsen: man zeigt sich unfähig, den Menschen NovaHs zu verstehen; man versteht sich nicht auf seine Psychophysis. Wo aber hätte man diesen Menschen Novalis, mit allem, was er persönlich, geistig, see-

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lisch, dichterisch war und bedeutete, prächtiger, als in diesem tiefsten und intensivsten Erlebnis seiner Seele: in diesem Verhältnis zu Sophie?

Es ist Zweck und Ziel dieser Monographie, ein Scherf- lein für eine wahrhaft moderne und vollkommene Novalis- Biographie beizutragen. Möchte das wenigstens in etwas er- reicht sein! Und möchte diese Arbeit zugleich zu einem bescheidenen Teil wissenschaftliche Methoden anregen, die uns in solchen Fällen, wie der vorliegende, zwar unumgäng- lich sind, die aber einerseits noch sehr im argen liegen, und andererseits, soweit sie ausgebaut wären, noch lange nicht in der gehörigen Weise berücksichtigt zu werden pflegen.

Weimar, Herbst 1905.

Johannes Schlaf.

Am 17. November 1794 kommt Novalis, ein Zweiund- zwanzigjähriger, von Tennstedt, wo er damals unter Lei- tung des Kreisamtmanns Just das sächsische Salinenwesen studierte, in Geschäften nach Grüningen ; lernt dort die drei- zehnjährige Sophie V. Kühn, die Stieftochter des Herrn von Rockenthien kennen, und kommt mit ihr in ein Verhältnis, das wohl eins der seltsamsten und eigenartigsten ist, das jemals ein Dichter mit einem Weibe erlebt hat!

Gar manches ist über dieses Verhältnis seit Ludwig Tieck bis in unsre jüngste Gegenwart herein, und unter- schiedliches geschrieben worden; abschließendes bis daher aber wohl kaum.

Auf zweierlei Arten hat man sich mit dem Problem ab- zufinden gesucht: eine, wohl zuerst von Tieck aufgebrachte poetisch-gefühlhafte, die vielleicht auch in diesem und jenem Punkte intuitiv mal an sein eigentliches Wesen rührt, im übri- gen aber durchaus unkritisch ist; und ferner, besonders in unseren neuesten Zeiten, eine kritische Betrachtungsweise, die ihrerseits wieder in vielen Punkten zu skeptisch ist und so sehr sie sich auch wissenschaftlich geberdet, dennoch sich als wissenschaftlich unzureichend erweist, weil sie nicht die hier vor allem in Rücksicht kommende wissenschaftliche Methode in Anwendung bringt.

Die Skepsis solcher wissenschaftlich kritischen Art, die wir haben monieren müssen, wird das Verhältnis von No- valis zu Sophie lediglich aus jenen Zeitverhältnissen heraus erklären; sie wird es mit dem Freundschafts - Enthusias- mus der romantischen Richtung zugleich als eine Verirrung,

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einen närrischen Schwärm von Novalis bezeichnen, als einen Tribut an die Mode jener «exaltierten» Periode. Sie wird auf verschiedene «Realitäten» und wohl auch Ernüchterungen jenes Verhältnisses, sie wird schließlich auch auf Novalis' spätere Verlobung mit Julie v. Charpentier hinweisen; sie wird Novalis' «Schwärmerei» vielleicht auch mit hektischer Disposition in Verbindung bringen, Sie wird mit alledem sicher auf diesen und jenen nicht unwichtigen Faktor auf- merksam gemacht haben; sie wird im einzelnen recht haben, aber im ganzen das Richtige, das Wesen des Problems durchaus verfehlen ; und ihre Befangenheit in gewissen neue- ren wissenschaftlichen Doktrinen wird sie gehindert haben, jene umfassendere, wissenschaftlich kritische Methode in Anwendung zu bringen, die den tieferen und wesent- lichsten Faktoren des Problems einzig und allein gerecht zu werden vermag: auf die es A^or allem anderen hier ankommt.

Immerhin mag solche Richtung einen guten Schritt auf die richtige Lösung der Aufgabe zu bedeuten; denn mit der poetisch gefühlhaften Art, die von Tieck eingeleitet wurde, und die seither alle guten Menschen und schlechten Musi- kanten fortsetzten, werden wir gar nichts anfangen können.

Tieck schreibt da etwa: «Der erste Anblick dieser schö- nen und wunderbar lieblichen Gestalt entschied für sein Leben, ja man kann sagen, daß die Empfindung, die ihn durchdrang und beseelte, der Inhalt seines ganzen Lebens ward. . . . Alle diejenigen, welche diese wunderbare Ge- liebte unseres Freundes gekannt haben, kommen darin über- ein, daß es keine Beschreibung ausdrücken könne, in wel- cher Grazie und himmlischen Anmut sich dieses überirdische Wesen bewegt, und welche Schönheit sie umglänzt, welche Rührung und Majestät sie umkleidet habe.»

Was beginnen wir mit solchen Floskeln! Mag es mit dem ersten Satz dieser Phantasie auch seine Richtigkeit haben; mag der erste Anblick Sophiens für Novalis' Leben 8

und nur zu sehr! entscheidend gewesen sein, so ist alles übrige doch nichts als ein unbedachter Überschwang, der noch dazu auf dem besten Wege ist, die Note der Ro- mantik in das im üblen Sinne Literarische hinüberzuspielen.

Was beginnen wir mit solch unmöglicher Hyperbel, der so und so vieler Tatsachenbestand positiv widerspricht und entgegensteht !

Halten wir uns von ihr fern; und halten wir uns gleicherweise fern von der materialistischen Skepsis einer sogenannten Kritik, die in ihrer prinzipiellen Befangenheit nicht minder an dem Wesen des Problems vorbeischießt. Bestreben wir uns, dieses so ungewöhnliche Problem unter die Gesichtspunkte zu rücken, die ihm adäquat sind.

Das Tatsächliche von Novalis' Verhältnis zu Sophie V. Kühn und seines Lebens alsdann von ihrem Tode bis zu seinem eigenen ist in knappsten Zügen folgendes.

Am 17. November 1794 kommt Novalis in Geschäften von Tennstedt nach Grüningen, zum Herrn von Rocken- thien, lernt die dreizehnjährige Stieftochter desselben, Sophie V. Kühn, kennen und faßt zu ihr sofort die tiefste Neigung. Sehr oft macht er in der Folgezeit den neun Viertelstunden langen Ritt von Tennstedt nach Grüningen und verlebt hier, besonders im Frühling und Sommer 1795 die seligsten Tage. Kurz darauf erhält er von seinem Vater das Jawort zur Ver- lobung mit Sophie. Am 19. März 1797 stirbt Sophie, nach unglücklich verlaufener Operation an einem Lebergeschwür, an dem sie eine Zeitlang gelitten. Im Dezember des gleichen Jahres begibt Novalis sich nach Freiberg in Sachsen, um an der dortigen Bergakademie das Studium der Natur- wissenschaften zu betreiben. Er beginnt zu kränkeln. Er lernt in Freiberg Julie, die Tochter des Berghauptmanns v. Charpentier, kennen, verlobt sich mit ihr und ist in näch- ster Zukunft darauf bedacht, sich ein bürgerliches Glück zu

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bauen. 1799 kehrt er nach Weißenfels heim, und wird As- sessor an der kürfürstlich sächsischen Saline. Schon ist er im Begriff, eine Anstellung als Amtshauptmann anzutreten, als ihn im Herbst 1800 ein starker Bluthusten überfällt. Als er die erschütternde Nachricht erhält, sein vierzehnjähriger Bruder sei in der Saale ertrunken, bekommt er einen Blut- sturz. Vom 19. März 1801, dem Todestag Sophiens ab, wird er auffallend schwächer, und am 25. März dieses Jahres stirbt er im 29. Lebensjahr.

Vergegenwärtigen wir uns diese Daten, so werden wir beim ersten Blick wohl sogleich geneigt sein, der Skepsis, die man der romantischen Auffassung von NovaUs' Verhältnis zu Sophie früher und heute entgegengesetzt hat, beizu- pflichten. Wie ist es möglich, müssen wir uns fragen, wenn man das so berühmt gewordene Tagebuch von Novalis, wenn man seine «Hymnen an die Nacht» und andere Gedichte, und wenn man seine sonstigen Äußerungen in jener Periode in Rücksicht zieht, daß er sich mit Julie v. Charpentier ver- loben, daß er daran denken konnte, eine bürgerliche Exi- stenz zu begründen und sich mit Julie zu verheiraten? Wie stimmt das mit dem «Entschluß», mit dem «Zielgedanken», von dem er so oft spricht, Sophie in den Tod nachzufolgen? Wie sollen wir uns solchen klaffenden, anscheinend durch- aus unfaßbaren Widerspruch erklären?

Es ist vor allem die, Frage, wie wir Novalis' Wesen auf- zufassen haben. Wir haben hier den herrenhutisch-pietisti- schen Einfluß und das äußere Milieu seines Elternhauses und haben die Erziehung zu berücksichtigen, die ihm sein strenger Vater in erster Jugendzeit zuteil werden ließ. Wir haben vielleicht auch eine pathologische Veranlagung zu be- denken. Doch ist dies keineswegs so sicher! Aus manch einem Grunde wird man sie nicht annehmen dürfen. Wir wissen nichts von einer etwaigen längeren Genese seiner 10

späteren Lungenkrankheit. Man kann sehr gut annehmen: er ist für seine Jahre zu schnell in die Höhe gewachsen; und gerade in der Zeit dieses Wachstums verlebte er die lustigen Semester von Jena und Leipzig, wo er sich in Kneipen, Paukboden und Tanzsaal tummelt. Es ist denk- bar, daß dieses Treiben seine Lungen etwas affiziert hat. Aber wohl kaum bedenklich. Man kann sich gar wohl vor- stellen, daß er später noch hätte in die Breite wachsen, und daß seine Lungen, bei einer verständigen Lebensweise, deren er sich seit seiner Wittenbergischen Zeit befleißigte, hätten erholen können. Ich glaube kaum, daß man das Stigma einer Detraquiertheit von vornherein bei ihm suchen darf. Immer- hin: seine Brust war seinem übrigen Wachstum noch nicht nachgekommen. Irgend ein Zufall konnte ihm gefährlich werden. Und er ist ihm gefährlich geworden.

Auf solcher Grundlage beruht sein Wesen ; und sie muß ihn, nachdem er in Jena von Schiller und Fichte doch zu- vor noch solidere Einflüsse erfahren hat, später in Leipzig sogleich an die Schlegel und die Romantik bringen und fesseln, die dann das übrige zur Entwicklung dieses Wesens tun; gerade in der Zeit seines jungen Werdens. Aber dies ist doch auch wieder nur ein Teil seiner Natur; es ist nicht die ganze, wennschon, wie wir sagen müssen, die fatuelle.

Goethe hat von Novalis gesagt: «Novalis war noch kein Imperator, aber mit der Zeit hätte er auch einer wer- den können.» Sicher hat Goethe das nicht im Hinblick auf Novalis, den Romantiker, gesagt; mochte er immer auch eine Zeitlang für die Romantik etwas übrig haben. Sondern sicher hat er es gesagt mit Hinblick auf die posi- tive, wissenschaftliche Seite von Novalis' Wesen, und mit Hinblick auf jenen Wahrheitstrieb und jene tiefe Wahr- haftigkeit, die das vornehmste Kennzeichen jedes wahrhaft genialen und jedes Höhenmenschen sind, und die Novalis im hohen Maße eigen waren; während sie bei den eigent-

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liehen Romantikern immer wieder in Pose und in alles mög- liche Narzissen- und Haselantentum verdunsteten. Die eigentlichen Romantiker! Denn: es steht sehr in Frage, ob wir Novalis überhaupt so recht einen Romantiker heißen dürfen; und ob seine bisherige literarhistorische Schätzung nicht nachträglich noch eine gründliche Revision und bedeutende Umwertung erfahren muß. Es läßt sich in neuerer Zeit sehr danach an. Es ist dieser solide, positive wissenschaftliche Zug, diese auf eine neue, höhere, differenziertere Realität gerichtete Klarheit seiner intellektuellen Gehirnkräfte; es ist diese edle Wahrhaftigkeit seines Wesens; es sind ferner jener gesunde Egoismus und klare Selbsterhaltungs- trieb, mit denen er weit über die Romantik hinausragt, und die ihn sicher, war' er zu Jahren gekommen, mit ihr noch auseinandergebracht hätten. Wir müssen ferner bedenken, daß er als Mensch neben aller Mystik und Romantik doch zugleich den Eindruck einer tüchtigen, gesunden und leben- zugewandten Natur bietet, mit den besten Eigenschaften von Vernunft und Verständigkeit. «War* er hinaufgekommen Indessen: jene andere Anlage war sein Schicksal und sollte es sein. Und an der Romantik sollte er scheitern; sie sollte das in Pathologie hinüberwandeln, was vielleicht die Signatur einer neuen Seele und Individualität hätte wer- den können, und ein Sieg reiner Modernität. Wie es nun einmal mit ihm kommen sollte und wurde, bestimmt und rundet gerade jene fatuelle Eigenschaft seines Wesens das geistige und menschliche Bild, das wir von ihm haben; wird sie die Logik seiner Erscheinung und rundet diese zu dem seltsamsten, interessantesten und einzigsten Schicksal und Erlebnis ab. Und hier ist auch der Kern und das Wesen seines so eigenartigen Verhältnisses zu Sophie. Jener andere, gesunde, «normab-diesseitige Zug seiner Na- tur aber, der ihn so bedeutend und bedeutsam über die Romantik hinausragen läßt, hineinragen läßt gerade in unsere lebendigste Gegenwart: eine wie große Bedeutung er auch 12

besitzt, er ist ohnmächtig; ja, er ist hier geradezu neben- sächlich. Wie markant erweist sich diese Nebensächhch- keit in seinem nachherigen Verhältnis zu Julie v. Charpen- tier! \X^elch ein durchaus neues Erlebnis hätte es für den doch so sensiblen und spontanen Novalis bedeuten müssen! Wie hätten seine damaligen Tagebücher, Briefe und sonstigen Lebensäußerungen seiner voll sein und v^ider- hallen müssen! Aber das alles ist nicht der Fall. Das Material ist hier gering und spröde. Wir wissen kaum etwas damit anzufangen. Und einer seiner jüngsten Mono- graphisten, Franz Blei (Novalis. Die Literatur. VI.) hat recht, wenn er sagt, daß alles, was Novalis damals tat und unternahm, nicht eigentlich «mit bewußter Absichtlichkeit» geschieht.

Jedoch geht ein anderer seiner neuesten Biographen, Willy Pastor (Novalis. Die Dichtung. XVII.), fehl, wenn er NovaUs' Verhältnis zu Sophie damit abtut, daß er es gänzlich mit dem in Zusammenhang bringt, was er eine «Wertherromantik» der romantischen Dichtung nennt. Pastor sagh «Die Wertherromantik, die war dem wirklich bedeu- tenden Novalis tiefinnerlich fremd, Wertherromantik, das ist für das Gesamtwerk des Novalis, was Sophie v. Kühn dem Menschen war. Er hat diese Romantik geliebt, er hat sich Liebe zu ihr erzwungen. Aber treu hätte er ihr ein langes Leben hindurch nicht bleiben können. Früh oder spät einmal hätte er sich von ihr wenden müssen, nach allem, was seine eigentlichen Gedanken dem tiefer Forschenden enthüllen.»

Pastor hat recht und hat nicht recht. Der Romantik selbst würde Novalis sich ja wohl sicher mit der Zeit ent- fremdet haben, und unter allen Umständen der Werther- romantik; sein Verhältnis zu Sophie v. Kühn aber war keine Wertherromantik; es war etwas ganz anderes.

Pastor sollte ferner diesen hypothetischen Fall über- haupt gar nicht setzen. «Treu hätte er ihr ein langes Leben

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hindurch nicht bleiben können.» Er zeigt damit, daß er diese Gestalt und ihre geistige Tragik gar nicht recht wahr- nimmt. Diese Tragik aber liegt gerade darin, daß Novalis so sehr über die Romantik hinausragte; daß seine geistige Physiognomie gerade erst in unserer Zeit heimisch zu wer- den beginnt, und daß er hier ein Bürgerrecht zu genießen beginnt, das kaum irgend einem anderen seiner roman- tischen Zeitgenossen auch nur noch entfernt zukommt. Ge- rade diese große Tragweite seines Geistes war sein Ver- hängnis. Novalis' tiefinnerstes Wesen ist, wie er sich dessen gelegentlich auch selbst mit aller Klarheit bewußt ist, an einen Knick geraten; und mußte an diesen Knick geraten. Dieser Knick aber lag in den sozialen und politischen Ver- hältnissen und Zuständen jener Zeit; wessen Novalis sich allerdings nicht so deutlich bewußt ist. Es war erst die destruktive Arbeit des die Romantik ablösenden «Jungen Deutschland» vonnöten; es war die Revolution vonnöten, die Periode der drei Kriege; es war der Aufschwung der exakten Wissenschaften vonnöten, damit eine soziale Basis Deutschlands zustande kam, auf der Novalis durchaus lebens- fähig, auf der er «Imperator» hätte sein können. Be- denken wir doch : Nietzsche kam nach dem «Jungen Deutsch- land» und kam nach alledem : und doch ist selbst er, der das neue Werk so groß hingestellt hat, nicht völlig über den alten Knick hinausgekommen, und ist vielleicht sogar, trotz aller «Überwindungen», seiner Tragik erlegen. Ich sage also: hätte Novalis sicher auch im Laufe der Zeit mit der Romantik gebrochen: unmöglich hätte er doch ganz über deren Knick hinauskommen können. Dieser Knick wäre ihm unausweichlich mit ihr gemein geblieben. Und dieser Knick war es, der mit den übrigen Umständen, ge- rade bei seiner so überaus weitragenden Individualität, sein Wesen ins Pathologische umbiegen mußte.

Das so sehr Interessante an seiner Erscheinung ist nun aber trotz alledem, daß sein kurzes Leben in einem gewissen 14

Sinne dennoch ein rundes und, wenn auch natüdich in einem wesentHch anderen Sinne als das Schicksal Goethes, ein harmonisches war. Novalis hat nicht gelitten. Oder, wenn er gelitten hat, doch in einem ganz eigenartigen und besonderen Sinne: nämlich an der Überfülle einer ganz neuen, tiefen Glücksbeseligung, in deren tief erweiterten, so staunend neuen Weltenbezirk er eingetreten war, um in tiefseligem Bangen in ihn zu vergehen und einzugehen. Das so sehr Interessante seines Schicksals ist, daß seine Tragik ihm nicht ins Bewußtsein schlagen, daß sie ihn nicht überwältigen durfte; daß Grauen und allertiefstes Leid ihm in die höchste Wonne umschlagen mußten; und daß sie ihn nur vom Unterbewußten her fast unmerklich verzehrten, um ihn in die dunkel erhellten, heilig erdämmernden Zu- sammenhänge des Einen und der Einen hinüberzutragen.

So werden wir ihn sehen und auffassen müssen. Dies ist sein Leben und sein Schicksal. Und sein Leben und Schicksal ist Sophie!

Betrachten wir es, dieses Leben und dieses Schicksal. Wir werden nichts verschweigen und übergehen, was die Kritik und die Skepsis späterer Forschung, was im be- sonderen auch Pastor diesem seltsamen Verhältnis von No- valis zu Sophie an Trivialität, scheinbarer Inkonsequenz und banaler Alltäglichkeit hat nachweisen müssen. Wir werden das nicht verschweigen: aber wir werden es in einem ganz anderen Lichte sehen, als es solcher Kritik und Skepsis je zugänglich sein kann.

Wenn wir offen sein wollen, so wird unsere Stellung zu einem Problem fast stets durch eine ganz bestimmte, oft scheinbar kleine und geringfügige Impression von vornherein bestimmt und geleitet; und in den seltensten Fällen wird uns eine kritische Revision des sonstigen Materials, wie umfang- reich es auch sein mag, nötigen, diese Impression aufzu-

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geben. Sie ist eine Art von Mystik, der der unbestechlichste Forscher unterhegt, ja die ihm wohl erst der notwendige Ausgangspunkt zu allem anderen ist. An irgend einer Stelle muß sich ja auch das Geheimnis und Wesen eines Problems ganz besonders konzentrieren; irgendwo wird es überhaupt völlig unmittelbar zutage liegen. Das ist der Humor von jedem einzigen Problem. Es sagt sich dem, der Auge und Ohr hat, unmittelbar sogleich selbst mit seinem Geheimnis.

Solche fruchtbare Impression, der Schlüssel zu allem übrigen, war in unserem Falle für mich das Porträt Sophie V. Kuhns und jene kurze Tagebuchnotiz von Novalis: «Ihr Gesicht bei Zoten.»

Dieser Kopf! Dieses Gesicht! Und diese Notiz da: was alles mag hinter ihr leben? Ich frage dieses Porträt: und was für eine Fülle von Einsichten und Klarheiten scheint sich entfalten zu wollen!

Was hat Novalis da gelebt!

Und doch: diese Sophie! Gewiß! Ein dreizehnjähri- ger Backfisch, mit einem dürftig entwickelten Körperchen. Ihre Tagebuchfetzen wimmeln von einem Überfluß von Mangel an Geist. Es scheint ihr zudem nur mal solch ein vorüberhuschender Einfall gewesen zu sein, ein Tagebuch zu führen. Sie wird kaum die Stetigkeit vermögen, diesen Einfall akurat und konsequent durchzuführen. Denn diese Notizen wirken recht schnuddlig und huschig. Auch ihre Briefe sind so. Es wird gesagt, daß sie eine kritzliche, flüchtige Handschrift hatte. Ihre Orthographie ist unmöglich.

Kurzum: ein Dingchen! Eine Kleine!

Der so unbestechlich veristische Blick unserer neuen kritischen Methoden weist darauf hin, und sämtliche Roman- tik scheint zerstäuben zu wollen wie Zunder; irgend eine Poetenkaprice scheint sich wirklich enthüllen zu wollen. Zu- mal wir erfahren müssen, daß Novalis, nachdem der erste Schwärm vorüber ist, andere Liebeleien anknüpft. Daß er diesbezügliche Vorhaltungen Sophiens mit einem «sie drei- 16

zehnjähriges Ding sollte nur ganz still sein» zurückweist, und daß er seinen Bruder Erasmus, der sich ihm gegenüber über die Grüninger ganz begeistert äußert, auf den »schmutzi- gen Revers» dieses Verkehrs aufmerksam macht.

Wie hat dieses Wesen, dieser Backfisch, diese Kleine also sein Schicksal werden können?

Betrachten wir zunächst dieses Schicksal selbst; sehen wir uns seinen Gang und seine Entwickelung an, und wen- den wir uns jenem so berühmt gewordenen Tagebuch zu. «II est l'orloge qui a marque quelqu'une des heures les plus subtiles de l'äme moderne.» (Maeterlink.)

Willy Pastor freilich spricht sich in seiner oben erwähn- ten Monographie über dieses Tagebuch anders aus. Er sagt: «In der geschwätzigen Art der Literatur damals spricht No- valis von den Empfindungen, die ihn bei den Gedanken an die verstorbene Geliebte überkommen. Die wesent- lichsten Aufzeichnungen seien hier wiedergegeben. ,Ein wenig gerührt'; ,heute früh lebhafte Sehnsucht'; ,früh weint ich sehr' ; ,kalt und sehr in der Stimmung des Alltags' ; ,zwar kalt, aber doch weinte ich'; ,innig mit ihr'; ,mehr als ge- wöhnlich ängstlich beim Gedanken an Sophie'; ,am Grabe nachdenkend, aber meistens ungerührt'; ,recht gerührt, recht innig bei ihr gewesen'; ,wie kann ich nur oft lau und kalt sein?'; ,am Grabe nicht gerührt'; , Rührungen fielen gar nicht vor'.»

Pastor knüpft daran diese Bemerkung: «Als Advokat des überkommenen Urteils über Novalis mag man in den Stimmungen, die so angedeutet sind, ein Spielen mit dem Schmerz erblicken. Der Vorurteilsfreie aber muß sich sagen : Das ist kein Spielen mit dem Schmerz, das ist ein falscher, unwahrer, ein grundverlogener Schmerz. Diesen Schmerz hat Novalis wie sagt man am besten ? sich erzwungen, sich abgenötigt.»

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Muß der «Vorurteilsfreie» das wirklich? Ich für mein Teil meine, daß, wie das Wesentliche des Verhältnisses von Novalis zu Sophie Pastor überhaupt entgeht, ihm auch der wahre Charakter dieses Tagebuches verborgen bleibt.

Pastor sprach an anderer Stelle, wie wir sahen, von der «Wertherromantik» der damaligen Zeit. Er vergißt, um näher auf seine Ansicht von Novalis' Tagebuch, die nach einer gewissen Richtung hin typisch ist, einzugehen; er ver- gißt zu berücksichtigen, daß gerade diese «Wertherromantik», oder wollen wir gleich sagen, diese beständige subtile Selbst- analyse und Selbstbespiegelung der Romantiker eins ihrer wichtigsten und bedeutsamsten Merkmale ist, mit dem sie sich in einer sehr beachtenswerten Weise von der vorauf- gegangenen Klassik ablösen; und mit der sie die lebendige Entwickelung der deutschen Seele und Moderne von einem Notkompromiß resolut befreien, als welchen die Klassik, was endlich ins Auge zu fassen recht nottut!, sich bei Licht be- sehen in so manch einer Hinsicht darstellt. Wir dürfen aller- dings, angesichts Goethes, für diesen Kompromiß Gott dan- ken; aber nichtsdestoweniger bleibt er ein Notkompromiß von Gnaden günstiger äußerer Entwickelungsbedingungen und der Antike. Zudem ist sehr "zu bedenken, wie außer- ordentlich viel Rokoko Goethe und die übrige Klassik noch einschließt; und ein wie großer Teil Aufklärungs-Zufrieden- heit und «Moralin» ihr noch anhaftet. Damit mußte aufge- räumt werden, wenn es vorwärts gehen sollte. Im übrigen war der eigentliche «Werther» eine nur zu bedeutsame Anti- zipation, die noch lange nicht abgetan war; legte er eine Krise der modernen und deutschen Seele bloß, die erst noch gründlich zu bestehen war, und die mit Notwendig- keit wieder aufbrechen und aufgenommen werden mußte; und die aufgenommen wurde, sobald jene Notbrücken der Antike und die Überbleibsel des Rokoko sich den tatsäch- lichen sozialen und politischen Beständen und Zuständen gegenüber als unhaltbar, ja als unmöglich und lebenshem- 18

mend erwiesen; sobald deutsches Wesen und deut- sches Empfinden, sobald deutsche Seele wieder zu sich selbst kam und sich auf sich selbst gestellt sah. Es ist selbstverständlich, daß des «jungen Werthers» persönliches Schicksal, seine «Unmännlichkeit» usw. uns hier unwesent- lich sind. Das wesentliche ist uns seine Selbst- a n a 1 y s e , seine Selbstbespiegelung, sein son- derbarer Trieb auf den Grund seines eigenen Wesens zu kommen, sich selbst zu erkennen. Und diese Eigenschaften wurden, wie die Pein, so auch zu- gleich der neue abräumende und aufbauende Faktor für die Generation nach der Klassik und auch für die nächsten Generationen bis zu unserer Gegenwart her.

Also, mir scheint: Pastor macht hier der Romantik etwas zum Vorwurf, was, so paradox es sich für viele ausnehmen mag, gerade eine der wesentlichsten Tugenden der Ro- mantiker war; so viel Pose, Spielerei und Haselantentum ihnen dabei auch mit unterlaufen mochte.

Erstens ist dies zu bedenken. Dann aber müssen wir doch wohl gerade Novalis hier in einem Gegensatz zu den Romantikern stellen. Wir haben bereits oben die Eigen- schaften angedeutet, die uns dazu nötigen. Gewiß trieben die Romantiker mit jener Selbstbeobachtung gar vielen Un- fug; auch besaßen sie kaum den nötigen Ernst, die nötige stete Energie und wissenschaftliche Akribie, auf die es eigentlich, wie die spätere Entwickelung gezeigt hat, gerade ankam und hinauswollte. Sie bemühten sich nicht, einen guten Fond von neuen Resultaten solcher Geistesrichtung zu sammeln und auf eine neue Formel zu bringen. Aber gerade darin ragte ja Novalis so mächtig über sie hinaus. Gerade diesen Ernst, diesen Charakter, diese solide Wissen- schaftlichkeit nahm er als wichtiges und wie wertvolles Erbe von den Klassikern, insbesondere von Goethe, auf; und be- tätigte sie doch bereits in einer ganz neuen, erstaunlich neuen und eigenartigen Weise, die es völlig rechtfertigt, wenn 2- 19

Maeterlink von den «scharfen Felsgraten des Gehirns» spricht, auf denen seine Mystik wandelt. Solche Wandler waren die Romantiker wahrhaftig nicht. Gerade hierin be- steht seine Genialität, seine einzige Stellung und zugleich seine in einem ganz besonderen und neuen Sinne so mäch- tige und große geistige Gesundheit. Und diese Eigen- schaft zeigt sich völlig deutlich in diesem Tagebuch!

Pastor spricht von einem «falschen, unwahren, grundver- logenen Schmerz», den Novalis sich in dem Tagebuch «er- zwinge» und «abnötige». Wie unzugänglich ist es ihm, wenn er das tut! Ich frage: wo ist dieser Schmerz? Und ist er ein Schmerz in dem Sinne, wie man ihn um einen geliebten Verstorbenen oder eine geliebte Verstorbene empfindet? Nein; sondern er ist etwas ganz anderes; er ist etwas ganz Besonderes. Er ist ein ganz eigenartiges Ringen eines ganz seltsamen und höchst ungewöhnlichen Zu- standes.

Die Periode des Schmerzes, den Pastor meint, hatte Novalis bereits hinter sich, als er diese Aufzeichnungen be- gann. Diese Aufzeichnungen aber sind der nur zu wahre, erstaunliche und vielleicht bis dahin unerhörte Reflex einer höchst merkwürdigen Pathologie, die zugleich, so paradox sich das ausnehmen mag, eine ganz eigene Art sublimer Gesundheit und potenzierter Gehirnkraft bedeutet.

Um es sogleich und kurz zu sagen : Novalis lebt und er- trägt hier vor uns den Zustand eines doppelten .Be- wußtseins. Seine eigene, wie mächtige ! Bewußtheit ringt hier und ist zugleich geeint mit einer anderen, unterbe- wußten: mit der Sophiens.

Wir suchen dies jetzt an der Hand einer Analyse des Tagebuches darzutun.

Dieses Tagebuch gliedert sich in drei Teile. Es wird eingeleitet durch ein Blatt, das offenbar in der ersten Zeit 20

des Verhältnisses und vor der Erkrankung Sophiens in Tenn- stedt geschrieben wurde. Der zweite, umfangreichste Teil ist das Tagebuch, das Novalis nach dem Tode Sophiens geschrieben und dessen Tage er vom 31. Tage nach dem Abscheiden Sophiens bis zum 110. Tage benennt und da- tiert. Es geht im übrigen vom 18. April bis zum 3. Juli 1798. Der dritte Teil ist vom 14. April 1799 ab bis zum 16. Oktober dieses Jahres geführt. Zwischen den dritten und den zweiten Teil fällt seine Verlobung mit Julie v. Char- pentier.

Der erste Teil, jenes einleitende Blatt, das vor dem Tode Sophiens in der Blütezeit des Verhältnisses geschrieben ist, geht uns hier weiter nichts an. Es interessieren uns nur die beiden anderen Teile.

Gleich die erste Eintragung vom 18. April und 31. Tage nach Sophiens Tode kann als charakteristisch gelten für das ganze weitere Tagebuch. Novalis schreibt: «Früh mancher- lei Gedanken über Sie und mich. Philosophie. Heiter und leicht. Der Zielgedanke stand ziemlich fest. Gefühl von Schwäche. Aber Extension und Progression. Bei Tisch nachher heiter und gesprächig. Just spielte das Lied: «Sing, o Lied und Zitherspiel.» Im Wilhelm Meister fiel mir eine passende Stelle im vierten Buche, ein Selbstgespräch Meisters auf. Nachher ging ich hinauf und schrieb an den Erinnerungen. Recht aufgelegt zum Denken und Arbeiten war ich nicht, scheine es überhaupt nachmittags nicht zu sein; vielleicht hindert mich auch die Gesellschaft. Alle Ge- sellschaft, wo ich nur gebe, bekommt mir nicht.»

Was uns hier sogleich in die Augen fällt, ist ein, man möchte sagen, ganz neuer Stil; ein Stil von einer schlichten, wissenschaftlichen Trockenheit, wie er niemand ferner ist als den sentimentalischen und posierenden Romantikern. Er

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macht Notizen wie ein Chemiker oder ein Physiolog unter seinem wissenschaftHchen Experiment.

Er hat also Gedanken über Sophie und sich selbst ge- habt. Aber er hat sich mit Philosophie beschäftigt. Ist «heiter und leicht». Offenbar also hat er sich keinerlei Sentimentalität hingegeben; noch hat ihn Schmerz gequält. Es ist der 31. Tag nach ihrem Tode; da hat sich der trübste und gröbste Schmerz beruhigt. Wie nun aber ist sein Zustand? Suchen wir in diese schlichten, abgerissenen No- tizen hineinzublicken; suchen wir ihrer Nuance habhaft zu werden. Nehmen wir zu dem Zweck den nächsten Satz hinzu: «Der Zielgedanke stand ziemlich fest.» Er meint mit diesem «Zielgedanken» an anderen Stellen spricht er dafür von dem «Entschluß» seinen Vorsatz, Sophie in den Tod nachzufolgen. Wir wissen aber aus seinen sonsti- gen Aufzeichnungen aus der Zeit, daß er hier an keinerlei Art von Selbstmord denkt. Was also meint er mit diesem «Entschluß», was meint er mit diesem «Zielgedanken»? Wie haben wir das zu verstehen?

Wir müssen bei der Zeile noch länger verweilen. Es könnte hier, zunächst, etwas zum Ausdruck gebracht sein, was man eine «fixe Idee» heißen könnte um eine solche handelt es sich in der Tat; indessen, wir werden sehen: um eine solche mit einem ganz besonderen und eigenen Cha- rakter— ; es könnte sich aber auch um eine romantische Grille, um irgend ein romantisches Narzissentum handeln, das sich hier interessant machen will, das mit «schönen Ge- fühlen» spielt. Wäre aber dies der Fall, dann hätte No- valis wohl sicher nicht geschrieben: der Zielgedanke «stand ziemlich fest». Überhaupt: das ganze Tagebuch würde dann nach solcher Richtung einheitlicher und konsequenter sein, während es in Wahrheit deutlich in die Äußerungen einer zwiegespaltenen Natur zerfällt: sagen wir gleich: einer kaptivierten und einer freieren. Und in der Tat: es handelt sich hier um eine eigenartige Pathologie. 22

Dafür ist sogleich der nächste Satz sehr kennzeichnend: «Gefühl von Schwäche». Wir sehen hier den Zustand und alles was Novalis eben gesagt hat und was folgt, sogleich in einer sehr interessanten Weise ins Physiologische, ins Organische hineinwurzeln. Man blicke von diesem letz- ten Satze aus einmal zurück auf das Vorangehende; im be- sonderen auf das «heiter und leicht». Man könnte diese Äußerung nun zwar damit in Zusammenhang bringen, daß er in der Philosophie Trost gefunden habe. Indessen : ich denke, wir müssen diese Erklärung fallen lassen. Das «heiter und leicht» hat offenbar eine ganz andere, eine ganz besondere Nuance. Denn: betrachten wir wieder das «Gefühl von Schwäche», und nehmen wir den nächsten Satz dazu: „Aber Extension und Progression»: und wir wissen sogleich mit Bestimmtheit, um was es sich handelt, und was das «heiter und leicht» in Wahrheit bedeutet. Man muß hier den Klang, jene mit Worten gar nicht zu definierende Nuance von Novalis' besten Gedichten die gerade in jener Zeit entstanden sind , man muß etwa den Klang, das seltsame mystische Melos des «Gesang der Toten» im Ohr haben, und man hat sogleich die Seele dieser ersten Tagebuchsätze. Man weiß : es handelt sich um einen pathologischen Zu- stand. Ein «Gefühl der Schwäche»? Was für eine Schwäche? Eine ganz besondere Schwäche. Eine seltsame Schwäche, die wir in gewissen Krankheitszuständen empfinden; über die wir uns selbst wundern; ein Gefühl von Getragensein, eines Schwebens, das uns so sonderbar unwillkürlich be- seligt; uns ängstigen möchte: aber jede Angst verhaucht, er- starrt in das Gefühl seligen, «heiteren» Getragenseins. Eine Schwäche, die durchaus sich mit «Extension und Progres- sion» verträgt. Es ist ein Zustand, wie er in der Agonie, kurz vor dem Tode noch einmal alle Lebenskräfte aufleben läßt. Es ist ein Zustand des Übernächtigtseins ; einer ganz sonderbaren Überreiztheit, in der wir soviel «Extension und Progression» entwickeln, und meist eine so außerordentlich

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elastische und präzise. Ich sage also : Wir haben es hier mit einer solchen Überreiztheit von No- valis' Wesen zu tun, und er ist seit dem Tode Sophiens auf diesen Zustand gestimmt!

Es ist nötig, daß wir hier noch länger verweilen.

Je mehr man sich in das Tagebuch hineinliest, und eigentlich auch bereits hier in diesen ersten Zeilen, nehmen wir neben allem anderen ein sehr klares, normales, wissen- schaftliches Bewußtsein von Novalis wahr ich sprach be- reits von dem zwiespältigen Charakter dieser Aufzeich- nungen. — Man wird hier nun, angesichts solchen wachen und normalen Bewußtseins, sagen: gut! mag er kaptiviert sein: weshalb hat er dann aber solche Besessenheit und in solchem direkten Sinne nie irgend einmal konsta^ert und wissenschaftlich in ihren Anzeichen und Äußerungen fest- gehalten? — Darauf kann man antworten, daß er sie aller- dings gelegentlich konstatiert hat; z. B. wenn er im weite- ren Verlauf ausspricht, daß Sophie nicht seine Liebe, son- dern seine Religion sei ; zweitens aber ist zu berück- sichtigen, daß ihm hier noch der präzise, verstandesgemäße Term fehlt, daß dieser ihm noch nicht zu Gebote steht; drittens aber selbst wenn er ihn vermöchte wie ihn die einschlägige Wissenschaft in unserer jüngsten Gegen- wart vermag; wennschon eben auch noch nicht mit völli- ger Sicherheit wäre er nicht imstande, sich seiner zu b e - dienen. Denn: wir kommen auf den rätselhaften, den eigentlichen Charakter seines Zustandes : Dieser «Ziel- gedanke», dieser «Entschluß» ist eigentlich weniger ein solcher, als vielmehr ein Konstatieren, ein Wahr- nehmen eines ungewöhnlichen seelischen Zustandes, das sich in der Form eines bewußten Entschlusses (zu sterben) gibt. Novalis sagt nicht nur und nimmt sich nicht so sehr vor: ich will Sophie nachgehen, ich will sterben : sondern er fühlt eigentlich und konstatiert, mit einem mystisch spontanen Wissen: ich muß, ich 24

werde sterben. Und diese seltsame Komplikation, dieses merkwürdige Zusammenfallen ist dermaßen intensiv und prä- zis; Schreck, Choc und Einsicht in den Zustand fällt der- maßen zusammen, daß Novalis gar nicht dazu gelangt, sie zu trennen und auseinanderzuhalten. Sie verwirren sich so fest und eng miteinander, daß ein erkennendes und schei- dendes Eindringen erstarrt; seine Seele starrt an diesem Punkt, Nun ist zudem die Notwendigkeit des Todes sei- nem mystisch hellsehenden Einblick in die tieferen Zusam- menhänge und höheren Zustände des Daseins überhaupt etwas sehr Vertrautes und ganz etwas anderes als uns ande- ren. — Das Idol aber das, was ihn zum Besessenen macht; wir kommen auf diesen Idolbegriff später noch aus- führlicher zurück , das innere Vorhandensein des Idoles (von Sophie) wird solche Einsichten zudem derartig er- höhen, differenzieren und ungeahnt verfeinern, und wird ihm damit so unaussprechliche seelische Wonnen verursachen man denke nur an die «Hymnen an die Nacht» und den wundersamen «Gesang der Toten» , daß er gar nicht so weit freikommt, um von irgend einer Besessenheit be- wußter und wissenschaftlich detaillierter zu sprechen. Er mag sich selbst besessen fühlen; aber ihm ist diese Be- sessenheit etwas ganz anderes als uns. Sie ist ihm nicht Krankheit ; sie ist ihm vielmehr irgend ein hoher, reiner Zustand von Gesundheit und Normalität. Und weil dies so ist, bestätigt er sogleich, als er fühlt, ich muß, ich werde sterben, solche innere Notwendigkeit mit einem ich will sterben; ich setze mir zum «Entschluß», zum «Ziel- gedanken», Sophien in den Tod nachzugehen ; ich bin ein- verstanden; es ist nicht anders denkbar; und es ist schöner und herrlicher als alles andere.

Wir müssen zu alledem eine unmittelbare Intuition von ihm mit aller Bestimmtheit annehmen; die, daß er allzusehr über seine Zeit hinausragt, als daß solche über- zeitliche Individualität in ihr Raum zur Entwickelung fände.

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Daß dies alles sich so verhält, daß Novalis nicht so- wohl frei sich vorsetzt, Sophie nachzugehen, sondern daß dieser «Entschluß» im Grunde nichts ist als eine unmittelbare Einsicht, daß er dem Tode verfallen ist, daß er sterben muß: dafür sprechen mit aller Deutlichkeit die vielen «Inkonse- quenzen», die nicht bloß nachher der dritte Teil des Tage- buches aufweist wo sie sich häufen , sondern, wie wir noch sehen werden, auch dieser zweite Teil. Jene Inkonse- quenzen, mit denen er aus seinem hellsehenden Trance e r- wacht und mit denen seine sonstige, mit vielen wertvollen und tüchtigen Eigenschaften so diesseitige Natur ihn ins Leben ziehen will. Gerade dieser Umstand zeigt, wie überaus w^ahrhaft diese Aufzeichnungen sind. Man stelle sich Novalis nur vor, wie er ist. Hätte er fest und aus völlig freier Entscheidung den «Entschluß» gefaßt, er würde ihn auch unbedenklich durchgeführt haben. Hätte er sich aber dennoch auf Inkonsequenz und Spielerei er- tappt, er würde sich, irgendeinmal, dermaßen lächerlich und verächtlich vorgekommen sein, daß er all die Läppereien, die er dann also niedergeschrieben haben würde, unter tiefem Schamerröten in Fetzen gerissen hätte.

Kommen wir nun aber, nach solchen sehr notwendi- gen Ausführungen, wieder auf das vorige, auf diese erste Aufzeichnung zurück.

Man lese das Weitere von «Extension und Progression» ab, und man wird beständig jene so seltsame Grundstim- mung fühlen; es wird auf den mystischen Klang gestimmt sein, wie wir ihn am tiefsten besonders aus Novalis' in jener Zeit entstandenen Gedichten heraushören.

Gerade am Schluß der Aufzeichnung treffen wir noch auf Feinheiten. Er schreibt: «Recht aufgelegt zum Denken und Arbeiten war ich nicht, scheine es überhaupt nachmit- tags nicht zu sein.» Schreibt sich das nicht folgender- maßen um: «Ich weiß eigentlich gar nicht wie mir ist?» Ich «scheine» es nachmittags überhaupt nicht zu sein. 26

«Scheine!» Das seltsame Suchen nach einer Erklärung des Zustandes, in dem er sich befindet! Dieses Suchen, dieses eine Erklärung finden wollen; ganz neben dem «Zielgedanken» und abseits von ihm! Dieses den Zustand fixieren wollen! Wie klingt da die beständige, vibrierende, innerlichste seelische Ängstigung hindurch! Wie er sich zu orientieren, zu beruhigen sucht: «Es mag wohl daher kommen, daß ich nachmittags gewöhnlich nicht aufgelegt bin.» Dies sich beruhigen wollen, und dies seltsame sich nicht beruhigen brauchen; dieses Starrsein in dem

Zustand! * *

*

Der Tag darauf. «Früh Mancherlei wegen des Ent- schlusses gewankt und geschwankt.» Da ist es wieder!

Das «ziemlich fest» vom vorigen Tage hat sich inzwi- schen potenziert zu einem «gewankt» und «geschwankt». Hätte er sich den «Zielgedanken» mit vollem freien Bewußt- sein gesetzt, oder hätte er ihn sich bloß vorgemacht, ihn ge- hätschelt, mit ihm gespielt: in beiden Fällen wäre ein sol- ches Schwanken und Wanken nicht aufgezeichnet worden; im ersten Fall, weil dann ein Schwanken gar nicht denk- bar wäre, bei einem wahrhaften Charakter; im zweiten, weil eine solche Lüge immer mit Superlativen wirtschaftet und uns wer weiß was für Wunderdinge von «fester Entschlossen- heit» usw. vorgefabelt hätte. Aber da er den «Zielge- danken» gar nicht aus vollem freien Entschluß gefaßt hat und hegt, sondern da er ihn aus einer dunklen inneren see- lischen Notwendigkeit hegen muß, da der «Zielge- danke» identisch ist mit dem Alb, dem Vampyr, dem Idol: so wird er, in normaleren Zuständen, «wanken» und «schwanken» !

Im übrigen nimmt der Tag mit seinen Alltäglichkeiten seinen Verlauf. Nüchtern, gewissenhaft und doch bei ge- nauem Hinsehen immer mit der gleichen seltsam emotions- losen Eintönigkeit, die der durchgehende Zug der Auf-

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Zeichnung ist, werden sie registriert; hier wie stets und überhaupt. Zwischendurch ist er ein wenig gerührt. Aber er vermag der Kreisamtmännin Sophiens Porträt zu zeigen; vermag viel mit ihr zu sprechen. Ist heiter und ruhig. (Immer wieder dieses seltsame «heiter» und «ruhig»!)

Am nächsten Tage denkt er viel an Sophie; wie er täglich an sie denkt. «Früh nicht aufgelegt, gegen Mittag besser.» Dieser Wechsel des Zustandes, bei welchem man gar keine Übergänge wahrnimmt! «Nachmittag wieder so, nicht recht heiter.» Das ist inter- essant! Sobald er «nicht recht heiter» ist, müssen wir auf- merken. — Er ist nicht recht in dieser sonderbaren Heiter- keit. Die innere schwirrende, vibrierende Untergrundsspan- nung scheint ganz entschieden nachzulassen. Und nun gar der nächste Satz ! «Aber gefühlvoller als sonst.» Nichts kann deutlicher sein ! Er ist «heiter», aber «gefühlvoller als sonst». Es fehlt also unter allen Umstän- den sobald er heiter ist, es fehlt ihm in die- ser »Heiterkeit», die Nuance des Gefühls! Hier bleibt uns also über ihren sonderbaren pathologischen Charakter gar kein Zweifel mehr! Dies «aber» sagt alles. Und Wir verstehen : So- bald er also «nicht recht heiter ist», und dafür «gefühlvoll», befindet er sich im Zustand des Erwachens aus dem Trance. Er wird traurig und gefühlvoll: er be- ginnt normal zu werden. Er fährt fort: «Später ward ich aufgeräumt. Doch befand ich mich nicht wohl.» Es be- stätigt sich weiter: er befindet sich in einem Übergang zwi- schen Trance und Normalität. Er ist «aufgeräumt», also un- ruhig; aber es ist eine normalere, eine entbunde- ne r e Unruhe, denn er befindet sich (physisch) nicht wohl. Die allzulange angespannte Physis erwacht, spürt ihre Müdig- keit und eine normale Abspannung.

Und dieser gegen die Normalität hin geneigte Zustand hält an und steigert sich noch. 28

Am nächsten Tag notiert er «Phantasien». Sie schlagen in philosophische Reflexionen um. «Ich blieb den ganzen Tag in einer gleichgültigen, mithin für die Gesellschaft ziemlich aufgelegten Stimmung.» Das «aufgelegt» von heute paßt zu dem «aufgeräumt» von gestern. Der normale Wach- zustand ist stärker. Novalis ist imstande, im weiteren Ver- lauf des Tages im «Meister» zu lesen. Eine Lektüre, die sehr gesund ist, und die er also vermag, zu der er bestimmte Neigung hat. Es fällt ihm «manches Interessante über seine bisherige Bildung» ein. Er ist also imstande, sich mit sich zu beschäftigen ; und gar in einer Weise, daß er sich mit sich selbst wieder in Zusammenhang bringt; denn: er beschäftigt sich mit dem Gang seiner «bisherigen Bildung». Also : er ist sehr wach und normal. Und um ein übri- ges zu tun, seinen sehr wachen und normalen Zustand zu kennzeichnen : «An Sophie hab' ich oft, aber nicht mit Innig- keit gedacht, an Erasmus (seinen verstorbenen Lieblings- bruder) kalt». Die Toten haben ihn losgelassen; sie halten sich ihm fern.

Die Aufzeichnung des folgenden Tages ist wieder sehr interessant. «Heute viel vernünftiger als gestern.» Dies ist, wenn wir es in den Zusammenhang der folgenden Auf- zeichnungen bringen, besonders der vom 30. April, in dem Sinn zu nehmen, daß dier A 1 b n a c h 1 ä ß t. Er ist «ver- nünftiger». Er hat keine Phantasien gehabt, wie am ver- gangenen Tage. Dennoch ist sein Zustand an diesem Tage nicht dauernd frei. Er «schreibt) zwar im Verlaufe des Tages «viel Gutes nieder»; trinkt nach Tisch im Garten seinen Kaffee. Aber nun: «Recht windstill in mir.» Diese Windstille macht uns bedenklich. Er setzt gar hinzu: «Oft an Sophie und den Entschluß gedacht.» «Abends inYoungs Nachtgedanken geblättert.» Alles in allem aber bleibt der Zustand im ganzen neutral. Der Tag schließt mit der Notiz : «Viel über Meister nachgedacht.»

Bevor wir weitergehen, lohnt es sich, hier noch einen

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Augenblick zu verweilen. Novalis schreibt: «Heute früh viel vernünftiger als gestern.» Wir sahen schon: er meint es in dem Sinne, daß er heute nicht, wie gestern früh, Phan- tasien gehabt hat. Wenn er Phantasien gehabt hat, so bedeutet das wohl soviel, als, er hat sich sehr viel mit Sophie beschäftigt; und zwar aller Wahrscheinlichkeit nach in irgend einer sexuellen Stimmung. Mir wenigstens schei- nen diese «Phantasien», so oft er von ihnen spricht, so ziemlich auf derselben Stufe zu stehen mit den Anfällen von Lüsternheit, die er an anderen Stellen notiert. Jedenfalls doch aber bedeuteten, wie die Lüsternheit, so auch die «Phantasien», in denen er sich übrigens offenbar hat gehen lassen, wie das «vernünftiger» anzudeuten scheint, einen pathologischen Zustand. Doch ist dies nur eine, in diesem Falle verhältnismäßig kleine Äußerung seines gesamten pathologischen Zustandes. Und zwar ist es ein Ausbruch dieses gesamten pathologischen Zustandes im Sinne der physischen Krise. Die andere Seite seiner Pathologie ist die weitaus bedenklichere, ist die eigentliche Pathologie; die in Novalis' Sinn allerdings einen höheren Zustand der Einigung mit Sophie bedeutet. Es sind jene Zustände von Heiterkeit, mit ihrer «Extension und Pro- gression», oder von Extase, oder von seltsamen Ängsten. Sie sind das eigentlich Gefährliche. Denn unter solchen Zuständen arbeitet der Vampyr am intensivsten ins Orga- nische hinein und untergräbt es. Offenbar nun ist Novalis jene erstere Pathologie widerwärtig ; sie bedeutet ihm Trüb- nis, Unreinlichkeit; während er meint, im Zustand der ande- ren Pathologie in Reinheit zu erlöschen und Sophie in den Tod nachzufolgen. Eine Konzentration der Seele auf Sophie in solchem Sinne, meint er offenbar, soll seinen Tod her- beizwingen. — Es ist dies eine sonderbare Naivität von ihm. Er versteht offenbar nicht, daß die eigentliche Ab- sorbationsarbeit, welche diese Konzentration bedeutet, sich in jene anderen Krisen immer wieder entlädt, und daß 30

die letzte Entscheidung sich im trüben Physischen voll- ziehen muß. Hier mag die Sache, so ernsthaft sie ist und so sehr sie Fatum ist, immerhin, im Bewußten von Novalis, einen leichten Stich ins Närrische der sentimen- talischen «Werther-Romantik» haben. Auf der anderen Seite freilich auch wieder hat Novalis doch den richtigen, hellseherischen Instinkt für das Absorbierende des see- lisch-geistigen Zustandes jener Konzentration auf Sophie; und werden ihm also die unbedeutenderen Zustände dieser kleinen psychologischen Krisen und Entladungen mit Recht lästig sein und ihn ungeduldig machen. Der ganze Prozeß vollzieht sich so recht nach dem Motto: „Halb zog es ihn, halb sank er hin.» Der Vers mag hier trivial wir- ken; aber er ist sehr bezeichnend.

In letzter Hinsicht hat Novalis im übrigen recht: alles ist das E i n s s e i n mit Sophie ; alles andere ist lästig und unwesentlich. Alles ist das völlige, ungetrüb- teste, restloseste Einssein. Das ist alle holde Naivität des Lebens und der Geschlechter, dies völlige, un- getrübteste, restloseste Einssein; und es ist zugleich alle Tiefe ihrer Mystik und ihres letzten Geheimnisses. Welch ein unerklärlicher Unsinn und Teufel sind nur immer wie- der diese schlimmen, dunklen Trübnisse!

Der nächste Tag steht wieder noch auf dem Schwebe- punkt. Im ganzen sehr normal, im «diesseitigen» Sinne. «Der Kopf war mir zwar nicht recht heiter, aber doch hatte ich früh eine selige Stunde. Meine Phantasie war zwar zuweilen ein wenig lüstern (hier scheint es sich auszu- sprechen, daß jene Phantasien von vorgestern sexuellen Cha- rakter hatten), doch war ich heute ziemlich gut.»

Hier und nachher auch im folgenden ist er wieder, wie sonderbar unvermittelt!, ein ganz anderer und normaler. Wir merken gar nichts vom «Entschlüsse», vom «Zielgedan- ken». — «Nachmittags war der Kopf hell. Meister be- schäftigte mich den ganzen Tag.» Und nun: «Meine Liebe

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zu Sophie erschien mir in einem neuen Lichte. Sophien wird's immer besser gehen. Ich muß nur immer noch mehr in ihr leben. Nur in ihrem Angedenken ist mir wahrhaft wohl.» Wir haben hier den Eindruck, er meine: er wolle sich lediglich innerlich seelisch mit Sophie rangieren ; in dem Sinne, daß sie sein guter Dämon und Leitstern im Leben sein solle. Nicht in dem Sinne, daß er bewußt inkonse- quent würde, und den «Entschluß» aufgäbe: sondern, er weiß gar nichts vom Entschluß in jenem hellseherisch, fa- tuellen, kaptivierten Sinne. Er ist nicht kaptiviert, und also verschwindet der «Entschluß», d. h. jene sichere Empfindung, daß er sterben muß, ins Unterbe- wußte. —

Dieser normale, diesseitige Zustand kräftigt sich in den nächsten Tagen immer mehr.

Am nächsten Tage, dem 38., schreibt er: «Heute männ- lich und wohl.» Die Unwillkürlichkeit dieses «männlich»: Wie wunderbar! «Früh nichts als Meister.» Immer ist der «Meister» ein gutes Zeichen, im Sinne seiner nor- malen Ausgeglichenheit. «Viel an Sophie gedacht.» Aber er setzt hinzu: «Mutig und frei» hat er an sie gedacht. «Abends» freilich notiert er «einen lebhaften Eindruck ihres Todes». Indessen ist dies normal zu nehmen. In dem Sinne: er denkt mit einem Male lebhaft an ihren Tod; leb- haft steht er ihm vor Augen. Er fühlt etwa so: Gott, die Sophie ist ja gestorben ! So ist sie denn also tot ! Jeden- falls hat dieser Eindruck keinerlei nachteilige Folge.

Denn am nächsten Tage beschäftigt er sich gleich früh mit Meister; exzerpiert und arbeitet dann im Amt. An Sophie hat er fast gar nicht gedacht ; ist fast lustig gewesen. Am Morgen hat er eine Vorempfindung, daß er den Schnupfen bekommt. Der Schnupfen ist eine gute physische Ent- ladung; er wird seinem Wachzustand zustatten kommen.

Am nächsten Tage: Meister; er hat helle und dichte- rische Gedanken; nachmittags liest er Akten, konsultiert 32

den Arzt; ist am Abend munter und «schwatzt über Poli- tik», — Aber: Der Gedanke an Sophie und Erasmus ist wieder einmal recht lebendig gewesen. Er setzt hinzu: «Ich muß immer noch männlicher mit mir umgehn, mir was zu- trauen, nicht kindisch zagen und weich tun und mich ver- ziehen. Schmerz und Weh muß ich besser ertragen lernen.»

Der nächste Tag: «Heute früh lebhafte Sehnsucht.» Wie unwillkürlich und unvermittelt es immer hervorbricht! Aber es kommt ein «Brief von Karl». «Meister muß ich voll- enden.» Offenbar ein Imperativ, den er an sich richtet, und der uns bedenklich stimmt. Die nächsten Zeilen erklären es: «Vollenden muß ich noch lernen. Mit einer Sache aufs reine kommen.» Er blättert in alchymistischen Papieren! Bekommt Besuch. Geht mit diesem in einen neugekauften Garten. Ist bis abends sehr munter. (Normal.) Macht ein Gedicht auf den Gartenkauf. Streitet abends etwas lebhaft während des Essens. (Was aber, in solchem Zusammen- hange, ein gutes Zeichen ist.)

Der nächste Tag, oder vielmehr die Tage vom 30. April bis 4. Mai (der 43. bis 47. Tag). Am Sonntag geht er nach Tisch nach Grüningen. Ist unterwegs heiter und gedanken- voll. (Eine leise Nuance der gefährlichen Pathologie.) Die Nacht schläft er unruhig. Den folgenden Tag regnet es beständig. «Früh weint' ich sehr. Nach Tisch wieder.» Pathologie. «Den ganzen Tag war ich ihrem Andenken heilig.» Bedenklich der Ausdruck «ihrem Andenken heilig». Der Akzent liegt auf ihrer Obmacht. Den 2, Mai be- kommt er von ihren Eltern die Geschenke, die ihr zu ihrem letzten Geburtstag beschert uoirden. «Ich war sehr ge- rührt.» «Dann ging ich zu ihrem Grab und steckte die Blumen darauf, die ich tags zuvor von der Kreisamtmännin erhalten hatte. Nach Tisch eilt' ich nach Tennstedt.» Er «eilt» nach Haus zurück. Es ist, als ob er diesmal vor einem normaleren Ausbruch seines Schmerzes, wie er sich tags zuvor in wiederholtem Weinen kundgegeben, dies-

3 Schlaf, Novalis. 33

mal flieht. Der 3. Mai verläuft, unter allerlei Arbeit und Geselligkeit, durchaus normal. Bei Tisch ißt er viel usw. Ja, er schreibt: «Jetzt schein' ich ebenfalls kalt und zu sehr in der Stimmung des Alltagslebens zu sein.» Der 48. Tag hat einen w^omöglich noch normaleren Verlauf. Seine Stim- mung ist ganz gestillt. Der «irdische» Novalis steht in seltener Deutlichkeit vor uns. Nur spät am Tage hat er einmal «recht lebhaft ihr Bild vor sich gehabt, im Profil, neben mir auf dem Kanapee, im grünen Halstuch». Und dann am Abend, hat er recht innig an sie gedacht. Der 50. Tag verläuft gleichfalls normal. Er hat zwar in der Kirche an Sophie gedacht; indessen «mit wahrer Andacht»; also offenbar in keiner Weise okkupiert. Früh allerdings hat er eine «sonderbare Furcht» gehabt «vor dem gefähr- lich krank werden». (!)

Der nächste Tag indessen, der 53., zeigt sich wieder getrübt. Er ist in Grüningen gewesen, hat bei ihrem Grabe geweilt. «Ich war zwar kalt, aber doch weinte ich.» Das untrügUche Anzeichen der wieder einsetzenden bedenklichsten Pathologie ! «Ich saß eine Zeit auf ihrem Grabe.» «Nach Tisch ward ich wieder sehr bewegt und weinte heftig auf dem Platze.» Diese Stimmung hält an und steigert sich am nächsten, dem 56. Tage. Zunächst: er ist was er des öfteren erwähnt «sehr lüstern» gewesen; ein Zu- stand, der ihn übrigens immer so sonderbar unvermittelt über- kommt. «Abends ging ich zu Sophien. Dort war ich un- beschreiblich freudig. Aufblitzende Enthusiasmus-Momente. Das Grab blies ich wie Staub vor mich hin. Jahrhunderte waren wie Momente, ihre Nähe war fühlbar, ich glaubte, sie solle immer vortreten.» Er ist völlig wieder im Trance! «Wie ich nach Hause kam, hatte ich einige Rührungen im Gespräch mit Machere.» (Wohl unvermittelte Rührun- gen; Abebbungen des Trancezustandes.)

Am 57. Tage ist er abends am Grabe gewesen und hat einige wilde Freudenmomente gehabt. Der Trance 34

hält also an; ja verstärkt sich! Am 59. Tage scheint er ruhiger zu sein. Er hat die Sachen besehen, die er von ihr besitzt, und hat ihre Briefe gelesen. Immerhin bleibt Anschluß an den Trance. Am 61. Tage eine sehr inter- essante Bemerkung : «Heute w^ar ich mehr als ge- wöhnlich ängstlich beim Gedanken an So- p h i e.» «Mehr als gewöhnlich» : also ist der Gedanke an Sophie zuallermeist mit Ängstigungen verbunden. Wenn dies «mehr als gewöhnlich» allerdings nicht bloß «un- gewöhnlich» bedeuten soll. Der Charakter seines ganzen Zustandes enthüllt sich hier auf das allerdeutlichste ! Diese Angst, die wie ein Fühler das innerste Wesen des Zu- standes ertastet, weiß und signalisiert: den mystischen see- lischen Knoten, der der Sitz des Idols ist. Außerdem ist er den ganzen Tag warm und schläfrig gewesen. Wir sehen, der Zustand ist völlig akut; und ist sehr bedenklich. Die organische Unterminierung im Unterbewußten ist in vollem Gange. Gegen Abend hat er dann auch noch, wie übrigens auch schon am Tag zuvor, Kopfschmerzen. Sonderbar wirken die folgenden Sätze: «Ich muß nur immer- mehr um Ihretwillen leben, für Sie bin ich nur, für mich und keinen anderen nicht. Sie ist das Höchste, das Einzige. Meine Hauptaufgabe sollte sein, alles in Beziehung auf Ihre Idee zu bringen.» Das ist nicht so recht völlig und be- stimmt im Sinne des «Entschlusses», des «Zielgedankens». Es ist, als ob es ein wenig von ihm abböge, oder ihm einen anderen, diesseitigeren Sinn gäbe. Und das ist immer der Fall, sobald die Ängstigungen kommen; sobald das phy- sische Leiden mit seinen Trübnissen zum Ausbruch kommt; ein klein wenig zynisch, aber drastisch dürfte man sagen: sobald es ernst wird.

Am 63. Tage weitere Anzeichen des neuen, gesteiger- ten Trancezustandes. «Am Grabe war ich nachdenkend, aber meist ungerührt (!). Seit einigen Tagen ängstigen (!) mich diese Erinnerungen wieder. Ich fühle mich unaus- 3* 35

sprechlich einsam in gewissen Momenten, so entsetzlichen Jammer in dem, was mir begegnet ist.» Beachten wir: er ist «ungerührt» und dabei «nachdenkend»: ein Zeichen für das automatisch Versunkene dieses Nachdenkens; das also sehr gefährlich ist. Und: er spricht wieder von Ängstigung. Die nächsten Sätze mit ihrem Gedanken sind zwar etwas ruhiger und diese Ruhe hat eine leise, ge- sündere Nuance von Sentiment, aber dennoch haben sie die Farbe des Trances; es spricht sich in ihnen, von dem unterbewußten Mysterium des Zustandes her, die Todes- ahnung aus. «Beim Grabe fiel mir ein, daß ich durch mei- nen Tod der Menschheit eine solche Treue bis in den Tod versichere. Ich mache ihr gleichsam eine solche Liebe mög- lich. Ohne sie ist für mich nichts in der Welt. Eigentlich sollte ich auf nichts mehr Wert legen.»

Der 64. Tag ist zwar ruhiger; aber dennoch leise okku- piert. — Der 65. Tag. Allerlei Geschäfte, Lektüre, eine kleine Tour usw. Er ist ruhig. Hat Zerstreuung gehabt und ist normal. Am Abend aber überfällt ihn dennoch wieder für Augenblicke die Unruhe um Sophie. Ganz deutlich ist auch wieder dieser Satz: «Je mehr der sinn- liche Schmerz nachläßt, desto mehr wächst die geistige Trauer, desto höher steigt eine Art von ruhiger Ver- zweiflung.» Da ist es wieder ausgesprochen! Das fatuelle Starren in dem Zustand ! Das eigent- lich beständig vorhanden ist! Er fährt fort: «Die Welt wird immer fremder. Die Dinge um mich her immer gleichgültiger. Desto heller wird es jetzt um mich und in mir.» Wir fühlen förmlich, was für eine Fülle von einzelnen Sensationen der Weltentfremdung hinter diesen schlichten Sätzen steht! Novalis würde sie uns sicher in aller Spezifizierung haben mitteilen können, wenn sie ihm nicht unwesentlich gewesen wären gegen die anderen, wie reichen, tiefen und unsäglichen Sensationen seines Innenlebens, die ihn immer mehr und immer heller okku- 36

pieren. «Bei meinem Entschluß,» fährt er fort, «darf ich nur nicht zu vernünfteln anfangen. Jeder Vernunftgrund, jede Vorspiegelung des Herzens ist schon Zweifel, Schwan- ken und Untreue!» Gänzlich die Sprache des Trances! Die Sprache der Okkupiertheit! Es ist, als ob er nie an dem Schluß «wankend» und «schwankend» gewesen, oder nie ihm einen anderen Sinn gegeben hätte ! Und wie interessant ist es, daß er von der «Vorspiegelung des Herzens» spricht! Er fühlt, daß dies eine Pathologie ist, die die Tendenz hat zu einer, womöglich nach dem Diesseits hin sich entscheidenden seelischen Krise; eine Erscheinung, die, wie wir deutlich wahrnehmen, freilich kaum noch möglich ist. Denn: sein physischer Zustand ist bereits, bei der beständigen minieren- den Wirkung des «Vampyrs» vom Geistigen her ins Orga- nische hinein, hoffnungslos hektisch!

Der 66. Tag. Lektüre, Umgang usw. Aber er spricht vom «Entschluß».

Am 68. Tage ist er in schlechter und unzufriedener Stimmung. «Ging träge spazieren.» Höchstwahrscheinlich hektische Müdigkeit. Es drängt alles zur letzten physiologi- schen Entscheidung hin.

Der 69. Tag. Arbeit, Umgang usw. Und eine sehr interessante Stelle! Er schreibt: «An Sie hab' ich fleißig gedacht, besonders ist mir lebhaft geworden, daß mich die schönsten wissenschafthchen und anderen Aussichten nicht auf der Welt zurückhalten müssen.» (Also wohl auch nicht mehr zurückhalten können!) «Mein Tod soll Beweis mei- nes Gefühls für das Höchste sein, ächte Aufopferung, nicht Flucht, nicht Notmittel. Auch hab' ich bemerkt, daß es offenbar meine Bestimmung ist: ich soll hier nichts erreichen, ich soll mich in der Blüte von allem trennen, erst zuletzt das Beste im Wohlgekannten kennen lernen. So auch mich selbst. Ich lerne mich jetzt erst kennen und genießen eben darum soll ich fort.»

Novalis spricht hier sein eigenstes Pro-

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blem mit vollster Deutlichkeit und klarstem Bewußtsein aus; wie das nur einer von den Großen vermag, die ihr eigenes Geschick klar erkennen. Es ist ein Moment, nicht so pathologischer, als allseitiger Selbsterkenntnis.

70. Tag. Nichts von Belang zur Sache.

72. Tag. Arbeit usw. Unfruchtbar war der Tag nicht, aber empfindungslos.»

74., 75., 76. Tag. Er ist «recht gerührt, recht innig bei ihr gewesen», «ohnerachtet es sich im Anfang nicht so anließ.» «Ich habe meinen Entschluß noch einmal beschworen.» «Im Ganzen hab' ich die frohe Hoffnung in meiner Seele, daß ich leichter abkommen' werde, als ich denke.»

77. Tag. «Ich hatte Kopfschmerz und Zweifel ohne Ende.» Wieder die interessante Wahrnehmung, daß, so- bald seine Pathologie ins akut Physische umschlägt, er wan- kend wird, er im «Entschluß» schwankt!

80. Tag. «Heute Abend hatte ich im Garten eine süße, heitre, höchst lebhafte Erinnerungsstunde. Wer den Schmerz flieht, will nicht mehr lieben. Der Liebende muß die Lücke eben offen erhalten. Gott erhalte mir immer diesen unbe- schreiblichen lieben Schmerz, die wehmütige Erinnerung, diese mutige Sehnsucht, den männhchen Entschluß und den felsenfesten Glauben. Ohne meine Sophie bin ich gar nichts, mit Ihr alles.» Trance. Eine stille Ekstase.

81. Tag. Sein Kopf ist hell gewesen. «Abend war ich beim Vater, und ganz spät ging ich ein wenig zum Pastor, nachdem ich eine sehr enthusiastische (!) Viertelstunde der Erinnerung und Sehnsucht zugebracht.»

85. Tag. «Abends hab' ich einige lebhafte Erinne- rungen gehabt. Auf den Herbst freu' ich mich ungeduldig. Gegen Ängstlichkeiten, d. h. gegen willkürliche Wahnbegriffe muß ich auf meiner Hut sein. Ich will fröhlich wie ein junger Dichter sterben.» Wieder die Ängstlichkeit! 38

86. und 87. Tag. «Ich habe mich beide Tage recht lebhaft nach Einsamkeit und baldigem Fortkommen gesehnt. Sie ist gestorben, so sterb' ich auch, die Welt ist öde. Selbst meine philosophischen Studien sollen mich nicht mehr stören. In tiefer heitrer Ruh' Will ich den Augen- blick erwarten, der mich ruft.»

88. Tag. «Wer Sie ausschließt, schließt mich aus. Das Engagement war nicht für diese Welt. Ich soll hier nicht vollendet werden. Alle Anlagen sollen nur berührt und rege sein. Ich fühle mich heut' entsetzlich träge und zu nichts nutze. Indisposition des Körpers, veränderliches Wetter, Lebensart, Gesellschaft, Müßiggang, zu wenig Be- schäftigung mit Ihr sind die Ursachen meiner Unlust.» (Die Ursache wird die sein, daß S i e sich viel zu sehr mit ihm beschäftigt; vom Organischen, von der Lunge, vom Physischen her.)

89. Tag. Der physische Zustand dauert an.

90. Tag. «Ich beschloß künftig, um mich aus meinen schlimmen körperlichen Zuständen zu reißen, häufige körper- liche Anstrengungen» usw. Ist im Harz gewesen. Hat die Roßtrappe bestiegen, was ihn sehr malad gemacht hat.

94. Tag. Nichts von Belang.

96. 100. Tag. Ist in Dessau und Wörlitz gewesen. «Den Nachmittag kramte ich auf und fand mich Abends helldenkend.» (!) Tut dies und das. Sehr benommen. «Mein Entschluß steht ganz unwandelbar» usw.

110. Tag. Nichts Besonderes. «Menschen passen sich nicht mehr für mich, so wie ich nicht mehr unter die Menschen passe.»

Dies ist das Tagebuch. Ich denke, seine Analyse hat gründhch widerlegt, daß es sich hier um irgend welche «Wertherromantik» handle; und sie hat alles bestätigt, was wir weiter oben über seinen Charakter ausgesagt haben.

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Welch einen anderen Eindruck würde es bieten, wenn es sich um irgend einen «grundverlogenen» oder «erzwunge- nen» Schmerz handelte ! Wie sehr spricht schon der völlige Mangel einer Komposition nach solcher Richtung hin da- gegen ! Wie sehr sprechen vor allem die untereinander offen- bar verschiedenen Grundelemente dieser Aufzeichnungen da- gegen! Wir haben gesehen, daß z. B. der «Entschluß» kei- neswegs immer so fest steht; wir haben gesehen, daß er wankt, daß er in einen anderen Sinn gewendet und daß er gelegentlich offenbar überhaupt völlig in Vergessenheit ge- kommen ist; und wir haben gesehen, wie sehr gerade dieser Umstand auf die starke, unterbewußte psycho- physische Nötigung einer Komplikation im Sinne von Be- sessenheit hinweist.

Alle Sicherheit aber gewinnen wir, wenn wir die son- derbare Entwickelung dieser Aufzeichnungen ins Auge fassen! Das Tagebuch beginnt vom 31. Tage, also einen Monat nach dem Tode Sophiens. In diesem Zeitraum pflegt sich der erste wirkliche Schmerz um einen geliebten Ver- storbenen gemildert zu haben. Und wir sehen in der Tat, daß er sich auch hier gelindert hat. Die Aufzeichnungen sind nach solcher Richtung sehr wahr und dem vernünfti- gen, normal-natürlichen Zustande gemäß; bis zu einem Grade, daß sogar der «Entschluß» schwankt. Dieser Zustand der Normalität aber steigert sich sogar noch in den nächsten Tagen und hält im wesentlichen an. Nach außen also wäre alles in ziemlicher Ordnung; und nichts weniger ist zu erkennen, als irgend ein «erzwungener» oder «verlogener», gehätschelter und aufgebauschter Schmerz. Als Untergrund dagegen freilich gewahren wir in einer selt- samen Nuance, die, wie wir sahen, alle Kundgebungen, besonders auch die dichterischen, des Novalis dieser Periode zeigen, gewahren wir ferner in gelegentlichen No- tizen, zunächst leise, das Stigma der Besessenheit. Dieses aber nimmt zu und potenziert sich, gerade immer mehr und 40

immer stärker gegen das Ende des Tagebuches hin ! Wäre das alles verlogen, so würde, nach laller Regel der Psycho- logie, die Entvvickelung der Aufzeichnungen eine ganz andere sein. Das Motiv des «Entschlusses» u^ürde mit aller Be- stimmtheit des betreffenden, sentimentalsten Applombs sehr stark und prätentiös sofort am Anfang einsetzen, würde eine Zeitlang sich auf solcher Stufe halten, um dann an seiner inneren Unwahrscheinlichkeit und Verlogenheit immer mehr zu ermüden, zu verflauen und zu verebben. Ein Spiel oder eine Pose könnte unmöglich den Verlauf und die Ent- wickelung haben, den die Aufzeichnungen tatsächlich auf- weisen. — Das Buch endigt aber mit einem Konstatieren einer stillen starren «Verzweiflung» und einer gänz- lich unmißverständlichen, aus der tiefsten Wahrheit der Per- sönlichkeit kommenden Selbsterkenntnis in dem Sinne ihrer Lebensunfähigkeit.

*

Als ein solcher schließt Novalis diesen Teil seines Tage- buchs ab, und als ein solcher lebt er den Zwischenraum, der zwischen diesen und den dritten Teil des Tagebuchs fällt.

Vom JuU1798 bis zum 14. April 1799 also schweigt das Tagebuch.

Was hat sich in diesem Zeitraum ereignet? Er ist nach Freiberg in Sachsen gegangen, um dort Naturwissen- schaften zu studieren. Er hat Julie v. Charpentier kennen ge- lernt und sich mit ihr verlobt. Dieses Ereignis bot uns zunächst ein Rätsel. Vermögen wir es zu lösen? Ja! Es löst sich in dem Sinne, daß Novalis alles, was er in diesem Zeiträume lebte und tat, wie es Blei gelegentlich so trefflich bezeichnet hat, «ohne Absichtlichkeib) lebte und tat. Daß er überhaupt nach Freiberg ging, um Naturwissen- schaften zu studieren, läßt sich unschwer begreifen. Die äußeren Umstände, seine Stellung zu seinen Angehörigen und was sonst dergleichen, werden ihn zu diesem Schritt

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genötigt haben. Aber wir scheinen denen, die andrer Meinung sind als wir, einen Schritt entgegenzukommen er tat dies alles zudem auch als der «andere Novalis», der «irdische», «erdzugewandte»; aus seinem eingeborenen Trieb zur Wissenschaft und zum Leben heraus. Aber dennoch sicherlich «ohne Absichtlichkeit» und mehr triebhaft und mechanisch, wieviel neue Lebenshoffnung, wieviel Lebens- drang in dieser kurzen Zeit auch immer sich in ihm empor- helfen mochte. Er tat es «ohne Absichtlichkeit» in dem Sinne, daß dieser Schritt bereits nicht mehr die notwen- dige, bewußte Folge einer in sich sicheren, ich möchte sagen stark planvollen, intellektuell-organischen inneren Dis- position war. Diese Disposition vielmehr war in Wirklich- keit nach einer ganz anderen Richtung hin gestimmt und blieb es, soviel Lebensdrang auch immer ihn damals dar- über hinwegzutäuschen schien. Wir finden für diesen «Lebensdrang» übrigens leicht und ungezwungen noch eine andere Erklärung. Er beruht auf der Angst vor der letzten Entscheidung, über die Novalis selbst im unsichern ist und die er doch auch wieder ahnt, und die immer unausweich- licher über ihn hereinbricht: die letzte trübe Lösung und Entscheidung vom Physischen her! Dieser «Lebensdrang» ist die letzte Unruhe vor der Agonie.

Betrachten wir den dritten Teil des Tagebuches, um das alles durchaus und unmißverständlichst bestätigt zu finden.

Der Charakter dieser letzten Aufzeichnungen ist nun allerdings zunächst so, daß Sophie, direkt, kaum an zwei Stellen erwähnt wird. Indessen wird Julie v. Charpentier überhaupt auch nur an zwei Stellen erwähnt, und wir werden sehen, in welcher Weise und in welcher Stimmung!

Was also das Auffallende ist: wir bekommen gar keine rechte Physiognomie von diesem Verhältnis; was bei No- 42

valis, der doch auf alles so subtil achtet und reagiert, um so mehr befremden muß, als dieses Verhältnis doch in ge- wissem Sinne ein tiefneues Ereignis für ihn sein müßte, und als in Julie ihm zum erstenmal in seinem Leben ein reifes Weib entgegentritt, er zum erstenmal in seinem Leben die Neigung eines solchen gewinnt. Aber, wir wissen, daß er sich zuerst gar nichts so Besonderes aus ihr macht. Sie gewinnt ihm erst ein ernstliches Interesse ab, als sie gelegentlich erkrankt. Wir begreifen dies wohl sogleich. Muß sie ihn in solchem Zustand nicht sofort an Sophie erinnern, und muß sie sich nicht für ihn unwillkürlich ge- wissermaßen mit dieser identifizieren? Er verlobt sich zwar dann auch mit ihr. Aber es ist dieses aufflackernde tiefere Interesse nachher schnell wieder erloschen und hat der früheren Gleichgültigkeit Platz gemacht.

Statt dessen begegnen wir in diesem dritten Teil in- direkt überall den Spuren Sophiens. Und: der organische Auflösungsprozeß ist im Vorrücken. Es ist zum erstenmal von Bluthusten und dergleichen die Rede. Und: wir ge- winnen den Eindruck, daß, mit welchem Interesse nach außen hin NovaHs damals sich auch um eine bürgerliche Existenz bemüht, er doch dies alles ganz in der seltsamen «Extension und Progression» jener trancehaften Heiterkeit und inner- lich starren Stille tut, also jener tauben «Extension jund Progression», von welcher er gleich in der ersten Aufzeich- nung des vorigen Teils gesprochen hat. Ich habe stets in diesem dritten Teil, wenn er von jenen Bemühungen um eine bürgerliche Existenz spricht, den Eindruck einer selt- samen, mystischen Ironie gehabt; oder man könnte auch sagen, einer unwillkürlichen Gerechtigkeit und objektiven Akkuratesse seines Wesens, die all solchen Dingen zwar auch noch, bis zum letzten Augenblick, ihr Recht läßt, wenn sie es in irgend einer Weise wollen, im übrigen aber sie ohne Zutrauen treibt.

Daß er also mit Julie überhaupt anknüpft? Nun, wir

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zeigten die Gründe bereits vorhin. Wollen wir noch einen Augenblick bei dem Grunde verweilen, den wir den wahr- haft tragischen nennen müssen ; wollen wir sagen : er knüpft mit Julie an aus dem Trieb jener lebhaften, spon- tanen, erdzugewandten, mit so wertvollem positivem Eifer auf Philosophie und Wissenschaft gerichteten Jüng- lingsnatur, die er vor seiner Bekanntschaft mit Sophie zeigt. Hätte dieser Trieb siegen dürfen! Dürfen wir nicht sagen, daß Novaüs der neue «Imperator» hätte wer- den können? Daß er, von der Notkrücke der Antike los und befreit, wie er war, aus deutscher Seele für deutsche Moderne zu einer neuen Synthese, re- ligiös-sozialer Natur auf die's, wie unsere Gegen- wart zeigt, überhaupt hinaus will hätte gelangen können? Denn: ist es ein Grundgesetz, daß jede geistige Rich- tung von tiefeingreifendem, entwickelungsgeschichtlichem Wert in irgend einer Erscheinung zugleich ihr immanentes Endziel antizipiert, und daß solche Erscheinung zu- gleich der vollendetste Ausdruck des Wesens und der Seele solcher Richtung ist: so ist die deutsche Romantik eine solche Richtung und ist Novalis als eine solche Erscheinung im vollkommensten Sinne zu bezeichnen.

Das immanente Endziel der Romantik aber war wir lernen das neuerdings immer deutlicher erkennen , eine neue Synthese modernen Geistes, zunächst aus aller Tra- dition deutscher Kultur und deutscher Seele heraus ; eine Synthese, die Goethe nur so vorerst, aber keineswegs rein und völlig organisch aus deutschem Wesen hervor zu- stande gebracht. Solche Synthese aber deutet sich in No- valis durchaus unmißkenntlich und am reinsten und bewußte- sten an. Hätte er über den gemeinsamen Knick der Romantiker hinausvermocht! Wäre ihm die politisch-soziale Entwickelungsbasis geboten gewesen, die erst nach vielen Jahrzehnten saurer geistiger und politisch-sozialer Revolution und Arbeit geschaffen werden konnte! 44

Jedenfalls, um wieder zu unserem eigentlichen Thema zurückzukommen: wir sehen, daß die Episode mit Julie V. Charpentier belanglos war; daß sie im Zeichen der «Absichtslosigkeit» stand.

Der dritte Teil des Tagebuches.

Wir mußten betonen, daß das Verhältnis zu Julie ohne Belang war. Dennoch lebt etwas in diesen aphoristischen Notizen wie ein leises Erwachen. Es ist in ihnen ein Auf- atmen, eine Bewegung, als sei ein Hypnotisierter von lieb- reicher Hand angeweht, damit er zu sich zurückkommen solle. Nie zwar spricht sich dergleichen direkt aus; wohl aber blickt es zwischen den Zeilen hervor. Es heißt da z. B. : «Süße Wehmut ist der eigentliche Charakter einer ächten Liebe, das Element der Sehnsucht und der Ver- einigung.» — Zwar: dies wird sicher mehr Beziehung zu Sophie als zu Julie selbst haben; trotzdem aber haben wir, wenn wir diesen Aphorismus lesen, eine deutliche Empfin- dung wie von einer Starre, die sich lösen will; und solche Wirkung geht offenbar von Julie aus.

Ferner schreibt er an anderer Stelle: «Wem es einmal klar geworden ist, daß die Welt Gottes Reich ist, wen einmal diese große Überzeugung mit unendlicher Fülle durchdrang,' der geht getrost des Lebens dunkle Pfade und sieht mit tiefer, göttlicher Ruhe in die Stürme und Gefahren desselben hinein.» Auch hier lebt entschieden eine wärmere, belebtere Empfindung. Nie finden sich im vorigen Teil des Tagebuches so warme und empfindungsgesättigte Ausdrücke wie dies «mit tiefer, göttlicher Ruhe»!

Ferner heißt es etwa: «Ein schuldloses Herz und das Bewußtsein eines guten Willens und einer lobenswerten Tätigkeit steht unter allen beruhigenden Mitteln obenan.» Eine solche Betrachtung wäre im vorigen Teil wiederum un- möglich gewesen. Er spricht von «beruhigenden Mitteln.»

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Immer wieder dieser seltsame Eindruck eines Aufatmens aus dem Bann der Hypnose!

Oder: «Heftige Gewitter und andere Unterbrechungen des bürgerlichen Lebens sind poetische Irruptionen und Heilkräfte des mitschlummernden Lebensgenusses.» «Heil- kräfte des mitschlummernden Lebensgenusses»!

Alles in allem aber sind also diese Betrachtungen durch- aus allgemeineren Inhaltes und Bezuges; wenigstens in die- sem ersten Teil und bis gegen den Herbst dieses Jahres hin. Von da ab aber gewahren wir, wie Juliens Einfluß auffallend nachläßt! Ein einziges Mal wird Julie erwähnt. Und was schreibt er?

«Ist denn Julie glücklicher und sichrer mit mir als mit Gott?» Spricht sich in diesen Worten nicht deutlich eine Entfernung aus? Sinkt er nicht ganz offenbar in den alten Bann zurück? Ist der Sinn dieser Worte nicht ganz unver- kennbar: «Was hat Julie von mir?» In Wahrheit hat JuHe ihm nur dazu gedient, ihm vollste Klarheit über sein Verhältnis zu Sophie zu verschaffen. Er schreibt: «ich habe zu Sophie Religion, nicht Liebe.» Was sagt das ? Ge- setzt auch, er meinte das etwa so: Liebe empfinde ich zu Julie, nicht aber zu Sophie; zu Sophie empfinde ich Reli- gion: so würde das höchstens bedeuten, daß er Julie das entgegenbringe, was man im bürgerlichen Sinne Liebe heißt. Bedenkt man aber, was gerade für Novalis Religion be- deutet, so spricht sich mit dieser Aufzeichnung aus, daß er Sophie das ungleich stärkere und fatuellere Ge- fühl entgegenbringt; also, daß Sophie ihm ungleich mehr ist als Julie.

Und dies hat bereits seine zwingenden physiologischen Untergründe. Die Lungen! Das minierende Idol, der «Vampyr» ist im Begriff, sein Werk zu vollenden. Die Agonie beginnt. Es ist keine Hoffnung mehr, daß er noch dem Diesseits zu gewinnen wäre. Völlig fehlt es Julie an solcher haltenden Kraft. 46 . -

Der letzte längere Passus der Aufzeichnung vom 27. Juli ist bereits bezeichnend. Seine Stimmung ist unruhig; eine wechselseitig sich bedingende Unruhe des Leibes wie der Seele, die sich in physischen Ängsten kundgibt. Er macht alle Anstrengungen, sich selbst zu beruhigen und zu festigen. Aber die Aufzeichnungen, die nun folgen, reden, trotz eines im allgemeinen «gesegneten Tages» sogleich wieder von diesen sonderbaren Ängsten. Er spricht von «einigen leisen Anwandlungen von ÄngstHchkeit», die er trotzdem an diesem Tage zu bestehen gehabt. Man weiß nicht recht, wie nach solcher Äußerung der gleich darauf fol- gende Satz auf einen wirkt: «Nachher den ganzen Tag un- aussprechlich ruhig, stark, muthig, frei und gelassen.» Das seltsame «unaussprechlich»! Nein, man hat zu diesem Zustand kein Zutrauen. Er fährt freilich fort: «Ich habe Gott recht herzlich gedankt. Ach! um meiner guten Julie willen; auch wegen meiner anderen Lieben.» Aber sicher- lich ist dies nur eine vorübergehende warme Aufwallung. Denn, die folgenden Sätze verraten sogleich wieder sein Verhängnis. «Auch über die Natur der Angst,» schreibt er, «und die Mittel, sie wenigstens zu mäßigen, habe ich einige wohlthätige Erfahrungen gemacht. Sobald eine bestimmte Empfindung kommt, ist die Angst weg.»

Immer wieder die Angst! Im übrigen gibt es hier eine interessante Beobachtung. Was im vorigen Teil des Tagebuchs n i e der Fall war, daß er sich der Grenze von Pathologie und Normalität und des Überganges aus der einen in die andere bewußt wurde, ereignet sich hier: er weiß jetzt, «sobald eine bestimmte Empfindung» in ihm emporkommt, „ist die Angst weg». Wie kennzeichnend diese «bestimmte Empfindung» für den beständigen, mehr oder weniger vorhandenen Zustand der Kaptiviertheit im vorigen Teil des Tagebuches!

Man wird übrigens hier doch indirekt wahrnehmen, wie wohltätig der Einfluß Juliens den Zustand des Trances,

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dieser beständigen, sonderbaren unterbewußten Angst, irri- tiert und scheucht!

Es ist sehr interessant, zu beobachten, wie er sich zu beruhigen sucht; wie er diese Ängste ins Organische, Phy- sische zu projizieren und zu lokahsieren sucht, um sie vor sich selbst unbedeutend zu machen. «Wenn man sich immer nur recht lebhaft sagen könnte, daß die Angst meist körper- lich ist! Mein Magen hat mir lediglich vorgestern und gestern die trüben und unruhigen Stunden verursacht.» Wie sehr sie seelisch sein muß ! Und wie er von ihr los möchte ; der diesseitige Novalis! «Sobald ich den Magen gestärkt, werd' ich unbeschreiblich ruhig und heiter.» Dies «un- beschreibhch» ! Dann folgt ein sehr ausgedehnter Preis der «Ruhe». Er klammert sich förmlich an diesen Begriff an. Indessen, was hilft's? Es ist nichts, als die Agonie! Er wirft bereits Blut aus! «Ich kann noch lange Blut auswerfen (er hofft natürlich, daß dieser Blutaaswurf sich geben wird), aber wird das helfen, daß ich mich jedesmal von neuem ängstige?» Das junge Leben, das sich mecha- nisch gegen seine Vernichtung sträubt! Wie sehr ist er Jüngling! Krampfhaft sucht er sich zu trösten: «Hat es der Doktor nicht zwei Jahre gehabt?» Welche rührende, köstliche Naivität!

Am 8. Oktober geht es in solcher Weise weiter. Am Abend notiert er einen neuen Anfall. Und: «ich wurde sehr ängstlich.»

Am 9. Oktober werden neue Angstanfälle notiert. Er sucht sich zu trösten. Und wie sehr kennzeichnend: Er hat Angst nach Gesellschaft. Er erträgt die Einsamkeit nicht. «Die Ängstlichkeit dauerte bis abends 5 Uhr.» Nachher ist er «äußerst heiter» (!). Später am Abend wechselt dieser Zustand mit einem neuen Angstanfall. Der «Vampyr» ist in rapider Tätigkeit. Er «vermochte» indessen «durch einige religiöse Vorstellungen das fatale Erschrecken zu ver- meiden». — Das «fatale Erschrecken» ! 48

Am 16. Oktober wird notiert, daß er die letzten Tage sich sehr wohl befunden und keine Angstanfälle gehabt. Es folgt ein merkwürdiger Satz: «Dies beweist deutlich, daß alle Ängstlichkeit ganz unabhängig von äußeren Um- ständen ist.» Ohne es zu wissen, sagt er ganz etwas anderes, nämlich: daß seine Ängstlichkeit ganz unabhängig von äußeren Umständen ist. Und er sagt damit unbewußt, daß diese Ängstlichkeit den «Vampyr» bedeutet. Den «Ent- schluß», den «Zielgedanken» hat er gänzlich vergessen wie er ihn bereits im vorigen Teil des Tagebuches so oft vergessen : wie sehr, wiederum, ein Zeichen, daß dieser «Zielgedanke» kein mit freier Bewußtheit gesetzter ist, son- dern ein Konstatieren des «Vampyrs»; nicht ein «ich will», sondern ein «ich werde sterben» !

Er sucht sich durch Gebet zu befreien : «Gebet ist eine universelle Arznei.» Er will sich Opium und Mandelwasser, will sich Lektüre verschaffen; schreibt sich eine seltsame Überfülle von Tätigkeit und Beschäftigung vor. Und der ganze Abschnitt bricht jäh ab mit einer my- stischen Stelle über Sophiens unsichtbare Anwesenheit!

* *

*

Hier endigt das Tagebuch. Es folgt das Jahr 1800 und das letzte Krankheitsstadium. Die Krankheit ist völlig zum Ausbruch gekommen. Sophie vollendet ihren Ruf ins Jenseits. Der Bluthusten hat sich verstärkt. Es tritt der verhängnisvolle Blutsturz hinzu. Er zieht sich noch hin bis zum 25. März 1801, an welchem Tage er vollendet.

Tieck berichtet, daß Novalis' Zustand sich vom 19. März, dem Todestag Sophiens, ab, auffallend verschlimmert habe. Man wird in dieser Mitteilung die Tendenz der Romantiker erblicken, überall etwas Sonderbares und Mystisches zu wit- tern. — Aber, Novalis ist am 25. März gestorben ; es ist also wohl glaublich, daß am 19. März das Stadium der eigent-

4 Schlaf, Novalis. 49

liehen Agonie begonnen hat. Tieck sagt: Novalis sei von diesem Tage an «auffallend schwächer» geworden. Novalis wird doch wohl des Ereignisses dieses Tages gedacht haben; und welche eigene Komplikationen mußte solches Gedenken, in diesem Zustande in ihm verursachen ! Kann man sich nicht durchaus vorstellen, daß diese Komplikation den Ausschlag gab und letal wurde? Man muß berück- sichtigen, daß solche unzweifelhaften Zustände von doppeltem Bewußtsein (Kaptiviertheit) sicherlich ihre besonderen psycho- physiologischen Gesetze haben; Gesetze, denen nachzu- spüren, die einschlägige Wissenschaft nicht verachten sollte, und denen sie sicher früher oder später auch beikommen wird.

Fassen wir nun aber den Sinn des ganzen Tagebuches und alles dessen, was Novalis in diesen letzten Jahren von Sophiens bis zu seinem Tode gelebt hat, zusammen, so wird es dies sein : Seine Lungenkrankheit hat einen be- sonderen Charakter. Man darf bezweifeln, daß er von Anfang an organische Disposition zu Lungenkrankheit hatte. Er war sensibel, spontan, indessen in seinem Empfinden, seinen Gebärden und Handlungen normal. Er lebte die lusti- gen Studentenjahre von Jena und Leipzig, in denen er sich reichlich so viel zumutet, wie junge Leute solchen Alters unter solchen Umständen sich zuzumuten pflegen. Er hätte es sich nicht zumuten können, wohl auch nicht dürfen, wenn er damals Anlage zur Brustkrankheit gehabt hätte. Seine Eltern würden doch wohl sogleich ihr ganzes Veto eingelegt haben. Es wird vielmehr so liegen, daß er damals sehr schnell in die Höhe gewachsen ist und vorderhand noch nicht recht in die Breite. Dies pflegt die Lungen anzugreifen, wäre aber noch nicht bedenklich gewesen. Er hätte sich auswachsen können; seine vernünftigere Lebensordnung von Wittenberg ab hätte ein übriges tun können; zu- mal Novalis offenbar einen sehr ausgepräg- ten Lebensegoismus und eine sehr verstän- 50

dige Sinnesanlage besaß. Aber da gewinnt Sophie über ihn Gewalt. Er verfällt in diesen Zustand des doppelten Bewußtseins; und dieser Zustand frißt mit ihm selbst dunklen Ängsten aus dem Seelischen ins Organische hinein; zerstört seine Lungen, in einer Zeit, wo sie hätten beginnen können zu erstarken, und nimmt ihn hinüber.

Wie nun aber hat dies «Dingchen», diese «Kleine», die- ses «Backfischchen» solch eine dämonische Gewalt über ihn gewinnen können? Das bleibt jetzt zu untersuchen. Und wir kommen zu dem Charakterbild Sophiens.

Wieviel Material bietet sich hier dar, und wie wenig haben die bisherigen Biographen damit anzufangen gewußt! Die früheren sowohl wie die jüngsten. Jenen wäre es wohl eher nachzusehen; diesen, denen doch eine ungleich voll- kommenere Methode der Untersuchung zu Gebote gestanden, hätte, kann man's eigentlich nicht recht. Aber was Me- thode! Man braucht eigentlich hier nur ein wenig aufmerk- sam zu sein, um das Rechte zu sehen.

Prüfen wir zunächst das Material.

Ich meine, wir brauchen nicht mehr, als etwa Blei, Pastor und Bruno Wille (in der bei E. Diederichs erschienenen Novalis-Ausgabe) beigebracht haben. Es ge- nügt, wenn wir dazu noch das den letzten Novalis-Arbeiten beigegebene Porträt Sophiens hinzunehmen, vollkommen. Die Äußerungen Tiecks über Sophie lasse ich beiseite. Sie können uns hier nichts nützen.

Zunächst Tagebuch-Mitteilungen. Sie schreibt in ihrem Kalender unter Januar 1795: «3. diesen Morgen schrieb ich an die Tahnten. Es war keine Schule, weil Herr Graf heusig (heiser) war. 4. waren wir allein. Den Abend woll- den wir bey Magister gehn aber es wurde nichts draus. 5. heute früh fuhr der Vater und Georg nach Sagafstedt, George verdarb mir durch seinen Abschied den ganzen Tag. 4* 51

7. Heute früh ritt Hardenb. noch wieder ford es Bassirde heude weider nichts . .

Ferner Stellen aus Briefen, die sie an Novalis gerichtet. Sie schreibt: «Ja, ja, so mein ich auch es wäre auch der Rede noch, einmal werd wenn wir den Angenehmen Be- such einer andern Ursache zu schreiben könden. Nu wie sind Sie denn nach Haus gekommen lieber Hardenberg doch recht wohl und fitehl? Nun muß ich Sie nur mein Anliegen klagen stelln Sie sich nur mahl vor wie Sie mier die Hare gaben so wickelde ich sie sauber in ein Papier- gen ein und legde sie auf Hanßen seinen Tisch. Den andern Tag wolde ich sie weg nehmen da waren weder Hare noch Papiergen zu sehn nun bittet nochmahls Sich schären zu lassen nähmlich den Kopf Sophie von Kühn.»

Eine andere Briefstelle. «Husten und Schnuden (soll wohl Schnupfen heißen) habe ich aber offenen leibes bin ich doch noch auch denke ich wenn es mir einfällt an Sie Sophia.»

Nehmen wir noch dazu, was Novalis selbst gelegent- lich von ihr berichtet. Es heißt da: «Sie fürchtet sich vor Mäusen und Spinnen. Sie kann zu große Aufmerksamkeit nicht leiden und nimmt doch Vernachlässigung übel. Sie ißt am liebsten Kräutersuppe, Rindfleisch und Bohnen. Sie fürchtet sich vor der Ehe. Sie raucht Tabak und fürchtet sich vor Gespenstern. Sie ist irritabel und sensibel. Sie liebt mit Sorgfalt und Passion das Schickliche. Sie ist eine gute Wirtin. Sie kann sich außerordentlich verstellen.»

Gewiß also: sie ist ein Backfisch; ein kleines unent- wickeltes Mädel, von sehr mangelhafter Schulbildung, das, mit einer entsetzlichen Kritzelhandschrift nicht nur unortho- graphisch schreibt, sondern vergl. oben «Schnuden» für «Schnupfen» sogar auch noch flüchtig; und das sich auch kaum recht überlegt, was es schreibt; so daß ihr Naivi- 52

täten unter- und hinlaufen, die man freilich köstlich finden wird und die wohl auch gelegentlich mal diesem und jenem «älteren Herrn» Pläsir machen würden. Zudem: sie wird im tägUchen Leben auch nichts weniger als korrekt und aristokratisch sprechen; denn es kommt ihr gar nicht darauf an, Worte aus dem Jargon der gemeinen Leute zu gebrauchen, wie z. B. das obige «heusig», das in diesen Landstrichen vom Volk für «heiser» gebraucht wird. Es ist wohl sicher, daß sie weder englisch noch französisch par- lieren kann. Ihr «geistiger Horizont» ist offenbar sehr be- schränkt und trivial

Wie also, müssen wir uns fragen, ist es denkbar, daß sie auf einen Menschen wie Novalis einen so starken, ja ver- hängnisvollen Eindruck machen konnte ? Wir verstehen etwa zur Not, wieweit das, bis zu einem gewissen Grade, von Novalis selbst aus möglich sein konnte; aber wie begreifen wir es von Sophie aus? Jedenfalls: ein Rätsel liegt vor, und es fordert Erklärung. Und es wundert mich sehr, daß die Biographen so leicht damit fertig werden konnten. Oder wäre es vielleicht dermaßen unbegreiflich, daß man sich mit einer Oberflächlichkeit damit abfinden oder es wohl auch gar ganz beiseite schieben müßte?

Ich meine : ganz gut läßt sich ihm beikommen. Und ich sage: bei einigermaßen aufmerksamerem Hinsehen ist nichts klarer und erklärlicher, als daß Sophie auf Novalis so starken Eindruck üben konnte.

Also alles das vom kleinen unorthographischen Mädel stimmt ja wohl Aber machen wir es beileibe nicht zur Sig- natur von Sophie v. Kühn ! Es ist etwas durchaus Sekun- däres; es hat ganz und gar nichts mit ihrem eigentUchen Wesen zu tun; es ist weiter nichts als Produkt des Milieus. Ihr Stiefvater, dieser Herr v. Rockenthien, ist ein sangui- nischer, jovialer, lebenslustiger Landedelmann, in dessen Um-

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gebung «jeder nach seiner Fasson selig werden kann»; in dessen Umgebung jeder sich so frei und von der Leber weg geben darf, wie er selbst. Das wird freilich der «Bildung» und dem «Geist», dem Unterricht Sophiens nicht gerade zu- gute kommen. Indessen : es kommt ihr vielleicht dennoch in anderer, und am Ende auch weit bedeutsamerer Weise zugute. Sie ist die Aufrichtigkeit, die Unverlogenheit, die Wahrheit, sie ist die Natur, die Naivität in Person. Und das ist ein Charme, und ein wie starker und schöner!, mit dem sie Novalis, und gerade ihn, sofort bestricken muß.

Und dann ein anderer Umstand : sie lebtin diesem und gerade in diesem Milieu!

In welchem? Wieder begegne ich hier bei den Bio- graphen einer Auffassung, die man direkt philiströs nennen muß, die aber vor allen Dingen oberflächlich und unwissen- schaftlich ist.

Pastor zitiert da etwa eine Stelle aus Heilborns «No- valis als Romantiken). Es heißt dort: «Das Hardenbergsche Famihenarchiv bewahrt einen Brief des Herrn v. Rockenthien (Sophiens Stiefvater), der freihch wohl kaum je der Öffent- lichkeit übergeben werden kann. Dieser Brief ist in Wort und Zeichnung voll der unflätigsten Obszönitäten. Und die- ser Brief ist an Novalis gerichtet, den Mann, von dem Herr V. Rockenthien wußte, daß er sich um seine Stieftochter be- warb. Schon das läßt die harmlose Fröhlichkeit der Familie in eigenem Lichte erscheinen. Und Novalis selbst notierte in dem Charakterbild, das er von Sophie zu zeichnen ver- suchte, ganz lakonisch: ihr Gesicht bei Zoten.»

Nun ja ! Was aber besagt das ? Ich scheide zunächst mal diese Mitteilung Heilborns in ihre Tatsachen -Be- standteile und in die Subjektivismen, die Heilbom diesen hinzufügt. Die ersteren sind wertvoll; die anderen dagegen unbedeutend und philiströs.

Herr v. Rockenthien hat also einen Brief an Novalis gerichtet, der «in Wort und Zeichnung voll der unflätig- 54

sten Obszönitäten» sein soll. Ich gestatte mir das zu bezweifeln und sage nichts als: Herr v. Ftockenthien hat an Novalis einen sehr freien Brief gerichtet. Wir kennen ja diesen Brief nicht; weil er sicher immerhin dermaßen frei sein wird, daß er sich nicht für die Öffentlichkeit eignet. Aber er kann unmöglich bis zur «unflätigsten Obszönität» gehen. Ich sage, das ist ein philiströser Subjektivismus von Heilborn. Ich habe aber ein Recht, Heilborn Philistrosi- tät vorzuwerfen; und wenn sich solches Recht auch nur auf die Bemerkung stützte : «Novalis selbst notierte» usw. usw. «Ihr Gesicht bei Zoten.» Die Nuance dieses «selbst» ist unbedingt philiströs. Es soll hier wohl soviel besagen, daß auch in der Familie des Herrn v. Rockenthien Zoten gerissen wurden. Nun aber ist zunächst «Zote» ein dehn- barer Begriff. Es wird ja wohl sicher so sein, daß Herr V. Rockenthien kein Blatt vor den Mund genommen hat; aber: wieweit werden denn wohl diese Freiheiten gegangen sein? Wir haben den Maßstab dafür an diesem «ihr Gesicht bei Zoten». Wie wird denn wohl dieses «Gesicht bei Zoten» gewesen sein? Ich meine, so wunderbar amüsiert oder auch so wunderbar dumm wie nur möglich. Sie wird, wie Kinder sind, und gar Kinder von ihrer sensiblen und natürlichen Spontaneität, entweder hell gelacht haben. Aber weshalb wird sie gelacht haben ? Offenbar weil Papa lachte, oder ein kurioses Gesicht machte; weil sein rotes, ge- sundes und gutmütiges Gesicht mit seinen gekniffenen Äugel- chen so urschnurrig aussah. Wenn man mit solch einem Gesicht derartige Ware zum besten gibt, so wird sie sicher relativ harmlos gewesen sein. Oder aber, Sophie wird bei solcher Gelegenheit wohl auch mit stummer Aufmerksamkeit an Papas Gesicht gehangen haben; mit dieser Aufmerksam- keit, die Kindern zu eigen ist, wenn sie Erwachsene von etwas sprechen hören, was sie nicht verstehen und wonach sie auch weiter nicht fragen dürfen. Einzig diese beiden Mög- lichkeiten lassen sich hier vorstellen. Völlig undenkbar

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aber ist es, daß es sich hier, oder in dem an Novalis gerich- teten Brief um «unflätigste Obszönitäten» (Heilborn nimmt ganz und gar schon den Superlativ) gehandelt haben kann. Solche Roheiten v^ürden dieses so «irritable und sen- sible» Kind auf der Stelle bis ins tiefste verletzt und dem Vater völlig entfremdet haben. Wohl vi^eniger, weil sie irgend etwas von dem Sinn solcher Unflätigkeiten verstanden hätte, als weil das Wesen und der Gesichtsaus- druck des Vaters sie unmittelbar bis ins tiefste befremdet haben würde. Offenbar aber ist ihr Verhältnis zum Papa das allerbeste gewesen; und sie hat den gutmütigen und lustigen Herrn sehr gern gehabt; er ist ihr sehr sympathisch gewesen.

Was aber Novahs anbelangt, so spricht auch von dessen Seite alles gegen eine Unfläterei des Herrn v. Rockenthien. Gewisse Freiheiten konnte Novalis ja wohl sicher ver- tragen, unter Umständen wohl auch mal einen rechtschaffe- nen «Puff». Wir wissen ja, daß er tatsächlich durchaus nicht jene «seraphische» Natur war, zu der ihn die liebe Tradition gemacht hat; wir wissen von seinen Suiten in Jena und Leipzig. Es ist imn wohl zwar begreiflich und sicher, daß ihm Herr v. Rockenthien auf die Dauer etwas «auf die Nerven» fiel; aber das schließt noch nicht ein, daß es sich um Unflätereien handelte. Mit einem Schweinigel zu verkehren, würde Novahs wohl nicht einen Augenblick imstande gewesen sein; darin war er reichUch so unschul- digen Sinnes wie Sophie, und, liebe Zeit! am Ende wohl gar der biedere Herr v. Rockenthien selbst! Wir wissen, daß Novalis wegen dieser und jener Prise etwas zu starken «Tabaks» gelegentlich mal den künftigen Schwiegerpapa etwas «shoking» gefunden hat; im übrigen sind die beiden, und auch noch nach Sophiens Tode und bis zu Novalis' eigenem, in ganz guter Harmonie gebUeben.

Also, machen wir's mit dem braven Herrn v. Rocken- thien halbwegs, und sagen wir einfach: Sophie entwickelte 56

sich in einem zwar freien, aber im ganzen ganz gesunden Milieu, aus sich selbst heraus in völliger Freiheit; und das erklärt einerseits ihre äußerlichen Mankos und andrerseits ihre ganz bedeutenden Vorzüge nach anderer ungleich wich- tigerer Richtung. ^ ^

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Ich sprach oben von dem, wichtigen, Umstand, daß Sophie gerade in diesem Milieu lebte; und zwar in dem Sinne, daß dieser Umstand auf Novalis einen ganz be- sonderen Eindruck geübt hat; und ich setze hinzu, daß dieser Umstand Novalis sehr, wohl beständig, innerlich beschäftigt haben muß. Diese beständig auf einen pausbackigen Sensualismus gestimmte Atmosphäre um Herrn v. Rocken- thien: und in ihr dieses völlig unschuldige, dieses durchaus naive Kind! Die Naivität, die Reinheit in der Atmosphäre der «Zoten»! Es ist über jeden Zweifel, daß darin zwar nicht gerade eine offenbare, aber doch eine latente, unter- bewußte Tragik liegt. Zugleich ist es ein notwendiges typi- sches Schicksal! Und zugleich ist es ein ganz eigentümlicher, seltsamer Reiz der Unschuld überhaupt. Ich sage, wenn irgend jemand, so hat gerade Novalis dies empfunden, und muß er es empfunden haben ; und zwar ungleich diffiziler und tiefer als so leicht ein anderer es empfinden würde.

Man könnte sich wundern, daß wir eigentlich keine detaillierteren Reflexionen von ihm gerade über diesen Gegen- stand haben. Er wendet doch sonst allem, was ihm begeg- net, eine so lebhafte und oft bis zur Nüchternheit klare psychologische Wissenschaftlichkeit zu. Aber wenigstens indirekt hat er sich dennoch darüber ausgesprochen.

Deuten nicht Aufzeichnungen, wie die folgenden, un- mißverständhch auf derartige innerliche Reflexionen hin? Z. B. diese Notiz: «Ist nicht die Moral, insofern sie auf Be- kämpfung der sinnlichen Neigung beruht, selbst wollüstig?» Oder: «Es ist sonderbar, daß nicht längst die Assoziation

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von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen auf- merksam auf ihre innige Verwandtschaft und ihre gemein- schaftliche Tendenz gemacht hat.» Oder: «Notzucht ist der stärkste Genuß.» Und gewinnt nicht sogar in diesem Zu- sammenhange — ganz abgesehen, daß er in dem Tagebuch so oft Anwandlungen von Lüsternheit notiert, die offenbar in Beziehung stehen zu Sophie jene Notiz, daß er nicht Liebe, sondern Religion zu Sophie habe, eine ganz eigen- artige Färbung? Ganz entschieden hat er sich also da- mals mit diesem Gegenstand beschäftigt, und zweifellos hat er die Anregungen dazu aus dem Kreise der Rockenthiens empfangen.

Ich sage: gerade dies Problem: Sophie in solchem Mi- lieu, ist der wesentliche Keim zu seinem späteren pathologi- schen Zustande gewesen ! Von ihm aus hat sich alles andere erst entwickelt und kompliziert.

Der Fall kompliziert sich nun aber erst dadurch, daß dieses dreizehnjährige Kind in all seiner Anlage sehr mar- kant Weib war! Sophie v. Kühn war ungleich mehr und markanter Weib und Eva, als die ungleich entwickeltere Julie V. Charpentier. Sophie war pure Eva. Julie v. Charpen- tier dagegen war junge Dame; es bleibt dahingestellt, bis zu welchem Grade von Anlage oder von Erziehung. Dar- über, über diese so überaus wichtige und eigentlich so sehr und gleich in die Augen springende Eigenschaft Sophiens, haben alle Biographen so ganz und gar wegsehen können!

Man darf dies Eva nun aber natürhch nicht mißver- stehen. Gerade heute ist man so sehr dazu geneigt; weil man diesen Begriff viel zu frivol nimmt und viel zu sehr nach der Seite einer prononzierten Sexualität hin. Nein, halten wir uns hier nur an die oben zitierte Tagebuchstelle von Novalis. Sie gibt uns das deutlichste Bild von Sophie und von ihrer ganzen naiven Spontaneität. Und sie zeigt uns, wie markant Sophie Weib und Eva ist. Eva aber stellen wir sie hier mal in Gegensatz zu jenem Begriff, den der 58

Mythus mit «Lilith» setzt! ist naiv und unschuldig. Sie ist dumm, aber völlig Weib. Sie reizt den Mann nie direkt und bewußt: sie reizt ihn indirekt und unbewußt. Sie reizt ihn durch unbewußte, latente Sexualität. Sie reizt ihn durch Unschuld, Und einzig so zieht sie ihn zur Vereinigung.

Dürfen wir Eva solchermaßen charakterisieren, so ist Sophie v. Kühn durchaus Eva; bis zur weibhaften physi- schen Genialität.

«Sie fürchtet sich vor Mäusen und Spinnen.» Wie sehr weiblich! Und wie sehr ist es offenbar bei ihr Natur und nicht Ziererei! Wenn Weiber das aber schon zu posieren pflegen, um nur ja recht weiblich zu erscheinen: wie sehr muß es in der eigentlichen Natur des Weibes Hegen, das den Mann am meisten anzieht! Novalis' Notizen hier aber zu mißtrauen, haben wir nicht den leisesten Grund. Denn abgesehen davon, daß er in solchen Dingen überhaupt einen sehr feinen und rich- tigen Bück hat, stehen diese Notizen über Sophie in dem voll- kommensten, inneren logischen Zusammenhang und bieten unmittelbar ein sehr einheitliches und sicheres Charakter- bild. — Ferner: «Sie kann zu große Aufmerksamkeit nicht leiden und nimmt doch Vernachlässigung übel.» Was für ein durchaus weiblicher Zug und was für ein guter Zug zudem ! Die Weiber, die zuviel Aufmerksamkeit beanspruchen : wir wissen, daß sie nicht die besten sind. Ferner: «Sie ist irritabel und sensibel.» Latente Sexualität! In durchaus nor- malem und weiblichem Sinne. «Sie fürchtet sich vor der Ehe.» Auch ein durchaus kennzeichnender Zug. Hu, nein ! Sie wird sich n i e verheiraten ! Und sie weiß nicht, warum sie sich sträubt; wie sie es unter Umständen gleichfalls nicht weiß, warum sie sich verheiraten will. Es äußert sich indi- viduell verschieden: aber es ist im Grunde das gleiche, «Sie liebt mit Sorgfalt und Passion das Schickliche.» Das deutet auf eine gewisse Intelligenz und Bewußtheit ihres Wesens hin ; es ist aber zugleich auch in jeder wahren

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Eva die Anlage zur Dame oder zur Frau. Und es ist ein schöner und wertvoller Zug. «Sie fürchtet sich vor Gespen- stern.» Gehört in die Rubrik «Mäuse» und «Spinnen»; in die Eigenschaft der Irritabilität und Sensibilität; ist latente, starke Sexualität. «Sie kann sich außerordentlich ver- stellen.» Eva! Wohl auch ein Zug von weiblicher Intelli- genz. Und zudem ein feiner Zug des Weibes, mit dem sie wenn er normal ist den Mann so sehr fesselt, wie er dem Weibe zugleich auch, unter Umständen, eine Waffe gegen den Mann ist. «Sie ist eine gute Wirtin.» Paßt zur Passion für das Schicldiche. «Sie ißt am liebsten Kräutersuppe, Rindfleisch und Bohnen.» Wenn sie schon Backfisch ist, so ist sie also sicher doch nichts weniger als genäschig. «Sie raucht Tabak.» «Kenner» werden hier sofort sagen: sie hat Rasse. Wir wollen dafür, um es etwas sachlicher zu bewerten, aus allem anderen Zusammen- hange heraus sagen: wenn sie sich schon diese einzige Un- tugend aus ihrer Umgebung angenommen hat, so ist sie doch immerhin ein Zeichen, daß die Tugenden, die wir ihr hier zugestehen mußten, nicht hausbacken sind, sondern daß sie ein Original ist. Das pflegt Evchen allermeistens zu sein ; und ich wüßte nicht, daß es ihr von den Männern gerade übel genommen würde.

Kurzum: fassen wir noch einmal alles zusammen, so müssen wir sagen, sie ist bis zur Genialität all ihrer An- lage nach Weib, sie ist durchaus Original und Aus- nahmenatur. Nichts ist selbstverständlicher, als daß sie auf Novalis eine außergewöhnliche Anziehung ausüben muß.

Sie ist zwar noch Kind, Backfischchen, sie ist eine kleine Unschuld: aber sie ist doch in solcher Eigenschaft nicht das dumme Puttelchen; sondern sie ist wirklich unschuldig. Sie ist es erst gerade durch eine ganz offen- bare Intelligenz. Als solches nette, liebe, dumme Puttel- chen würde sie Novalis zwar haben interessieren können, aber doch nur eine Zeitlang und flüchtig. Vielleicht aber 60

auch ganz und gar nicht. Sie ist unschuldig und naiv: hält aber doch zugleich auf Distance; denn: «sie liebt mit Sorg- falt und Passion das Schickliche» und «sie kann sich außer- ordentlich verstellen».

* *

*

Jedoch: wir müssen noch tiefer gehen, wenn wir be- greifen wollen, daß sie Novalis kaptiviert, daß sie ihn in solchen verhängnisvollen pathologischen Zustand versetzt.

Zwar: wir wissen: sie hat ihn für eine Zeitlang des- illusioniert; oder, da dieser Ausdruck unbedingt zu stark ist : sie ist ihm für eine Zeit gleichgültiger gewesen. (Im übri- gen: selbst dies ist nicht richtig.)

Er hat anderweitig sich in Liebeleien eingelassen. Sophie macht ihm brieflich Vorhaltungen darüber, und er antwortet ihr in dem Sinne: sie dreizehnjähriges Ding solle doch nur ganz ruhig sein. Darf man daraus auf eine Entfremdung schließen, die ihn wohl gar für immer von ihr abgebracht hätte ? Nichts berechtigt dazu. Die Sache kann nach allen Anzeichen höchstens so liegen, daß er gelegentlich einmal ein wenig geflirtet hat, wie das schon die gesellschaftliche Höf- lichkeit mit sich bringt es kann wohl gelegentlich auch eine momentane unwillkürliche Sympathie dieser Höflich- keit eine etwas intimere Nuance verleihen , Sophie hat da- von erfahren, und mit etwas altkluger Naivität wird sie ihm brieflich Vorhaltungen gemacht haben. Und das weist er einfach zurück: sie dreizehnjähriges Ding solle doch nur ganz ruhig sein, Die Art imd Weise kann einem gefallen. Muß ihn denn seine Neigung zu ihr und soll sie ihn immer auf einem pathetischen Ton halten? Das pflegt wohl in Romanen so zu sein; im Leben ist es stets ein Zeichen von Ungesundheit. Ich sehe in dieser Briefstelle von Novalis eher einen kleinen Humor ; etwa in dem Sinne : na, nun hört's auf! Jetzt fängst du Backfischchen gar auch schon an! Man will ferner ein Zeichen von Entfremdung in einem

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Briefe gesehen haben, den er gelegentHch an seinen Lieb- lingsbmder Erasmus richtet. Erasmus ist zu den Rocken- thiens gekommen und hat sich enthusiastisch über sie ge- äußert; ein Enthusiasmus, der immerhin ein gutes Kompli- ment für die Rockenthiens ist. Novalis antwortet ihm : «Die Leute (in Grüningen) hebe ich wie mich und euch, aber es sind Menschen, und bei einem so langen Aufenthalt daselbst, wie ich ihn gemacht habe, würde dir der schmutzige Revers gewiß nicht entgehen.» Was aber spricht sich mit dieser Briefstelle aus? Nichts, als daß ihm Herr v. Rockenthiens Art etwas auf die Nerven gefallen ist. Im übrigen sind ihm die Rockenthiens nach wie vor lieb und wert, wie die eigene Familie. Eine beginnende Entfremdung würde sich mit ganz anderer Nuance verraten haben. Wir finden keiner- lei Spur von ihr in der Stelle. Es ist also eine Liebschaft, wie alle, auch die besten, sind: es gibt kleine Mißverständ- nisse. Es hätten ihrer hier sicher mit aller Notwendigkeit im weiteren Verlauf noch weit schärfere sich ergeben müssen ; denn entschieden hätte die kleine Sophie noch viel hinzulernen müssen; und das wäre ohne, selbst tiefere, Verstimmungen unmöglich abgegangen. Hätten sie aber durch solche durch- aus auseinanderkommen müssen? Alles spricht dafür, daß gerade das Gegenteil stattgefunden hätte.

Wir müssen aber wohl noch weiter bedenken, daß No- valis, seinem ganzen Wesen nach, nichts weniger als eine polygyne Natur war; wie z. B. Goethe eine solche gewesen ist. Nie hätte und hat Goethe all sein Wesen je so tief in ein Weib gesenkt wie NovaUs. Ich denke, daß Novalis in seinen Studentenjahren sich mit den Mädels einließ, sagt nicht das mindeste dagegen. Und femer sagen jene erwähn- ten Liebeleien, von deren Charakter wir nichts Bestimmtes oder Wichtiges wissen, und die also sicher kaum besonders über die gesellige Höflichkeit hinausgegangen sein werden, nicht das geringste dagegen. Wo NovaUs liebte, liebte er ganz und ausschließlich. Wir dürfen es also zum min- 62

desten als höchst wahrscheinlich hinstellen, daß er Sophie treu gebheben wäre und sie später geehelicht hätte; zumal seine Geselligkeit und seine menschliche Art bei weitem nicht so diskursiv war, wie die Goethes. Er würde höchstwahr- scheinlich ein stilles bürgerliches Leben geführt haben, und aus dessen Gefriede, an der Seite seiner Gattin, für unsere deutsche Geisteskultur im Sinne einer reinen deutschen Moderne Leistungen hingestellt haben, die sich neben der Leistung Goethes hätten sehen lassen können. Welche er- staunlichsten Möglichkeiten liegen nach solcher Richtung in seinen Fragmenten verborgen!

Ich getraue mich also zu sagen: jede andere Möglich- keit seiner inneren und äußeren Entwickelung ist geradezu ausgeschlossen.

Aber wir wollten noch tiefer begreifen, wie es möglich war, daß ihn Sophie bis zur Pathologie kaptivieren konnte. Suchen wir das feine und außerordentUch diffizile Spiel von Sensationen und Reaktionen wenigstens zu ahnen, das dieser Verkehr notwendigerweise bedeutet haben muß.

Wir müssen hier aber eine ganz besondere «wissen- schaftliche Methode» anwenden. Wir müssen uns ganz und gar in die so subtile Seele des Jünglings Novalis hineinver- setzen. . . .

Ich glaube, wir haben dabei immerhin diese und jene besondere Handhabe. Man kannte früher so etwas wie eine physiognomische Wissenschaft. Sie hat es inzwi- schen ja sicher noch lange nicht zu dem Ehrenprädikat einer «exakten» gebracht; immerhin könnte sie, mein' ich, gar wohl unter Umständen von Nutz sein.

Sophiens Porträt. Was mich beim Anblick dieses Porträts sofort bannte, in einer Weise, daß es mich förm- lich durchfuhr, ist die Formation des Kinnes, der Lippen, der unteren Nase und die Augen dazu. Dies Kinn ist

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wie der ganze Schädel von einer wunderbaren, reinen und klaren Schönheit; wir haben freilich nur das Profil. Es ist aber für ein Weiberkinn hoch zu nennen. Es tritt, in Klar- heit, hervor und wird zum Mund mit einer offenbar sinn- lichen Unterlippe. Der Mund ist also sinnlich; von einer SinnUchkeit jedoch, gehalten nicht sowohl durch die klare Schönheit der unteren Form selbst, als vielmehr vor allem durch das schönste Auge. Ich empfinde deutlich: würde dies Auge mit seinem schönen großen Rund nicht in solch klarer Unschuld stehen, würde es einen blöderen Ausdruck haben, so würde der sinnliche Ausdruck der unteren Partie zu sehr merkbar werden ; während gerade er jetzt einen geradezu magischen, kaum in Worte zu fassenden Reiz übt. Es würde wirken, als rage dieses hohe Kinn vor und bilde mit der schönen, klaren Stirn eine schräge Linie, nach oben konvergierend und nach unten in der Divergenz; während diese Linie doch in Wirklichkeit ungewöhnlich gerade ist, und das Kinn eher, wennschon kaum merkbar, gegen den äußersten Wölbungs- punkt der Stirn zurückweicht; wovon man sich aber nur erst durch das angelegte Lineal überzeugen wird. Wäre diese Wir- kung der Augen ferner nicht, so würde zu den Lippen hinzu die unterste Partie der Nase, mit ihrer leisen Einknickung unter dem sehr reinen und klaren, edlen Nasenbug, diesen Eindruck von Sinnlichkeit noch merkbarer machen und ver- schärfen. — So aber, in solche Harmonie gebracht, fesselt diese Sinnlichkeit, in einer ganz undefinierbaren und unbe- wußten Weise, die Sinnlichkeit des männlichen Beschauers sehr entschieden, und hält sie doch zugleich in einem staunen- den Bann ; und er empfindet sogleich : ein W e i b. Und zwar ein Weib, wie es den Mann festzuhalten pflegt.

Hier liegt der tiefe und geradezu magische Bann, den Sophie auf Novahs übte, zutage. Es liegt jenes Geheimnis in diesem Gesicht, das den Mann unter allen Umständen verweilen macht; man möchte es das Geheimnis Evas über- 64

haupt nennen: diese in geistige Harmonie ge- brachte starke unbewußte Sinnlichkeit.

Wir müssen nur bedenken, daß ein Mensch wie No- vahs sich sicher nicht diesem Bann bloß so gefangen gab, sondern, daß er ihn auch mit unmittelbar intuitivem Ver- ständnis seiner Komponenten fühlend erkannte! Wir müssen bedenken, daß gerade seiner Seele das Unbewußte dieses Gesichtsausdruckes sich mit seinem innersten Geheim- nis mitteilte. Und wir müssen bedenken, daß er, im Bezirk dieses unmittelbaren und differenzierten Verständnisses, diese Sophie in einem ganz besonderen Grade weibhafter Reife sah; und wir müssen bedenken, welch eine Fülle der feinsten, stärksten und tiefsten Sensationen, ihm! das inner- lich ausgelöst haben muß ; Sensationen, die er sicher nicht im entferntesten sich in das deutliche Bevv^ußtsein zu rücken vermocht hätte. Aber wie sehr tönen sie mit ihrem wunder- samen Ton aus dem Melos seiner damaligen Gedichte wieder! Ja, man muß sagen, daß er überhaupt damals erst dieses, sein eigentlichstes Melos, gewann. Und wir müssen sagen, daß er es später nach Sophiens Tode, so oft der Gegenstand seines Dichtens von ihr abschweifte, verlor. Man vergleiche nur die Verse, die er auf Julie gedichtet hat. Sie wirken geradezu matt gegen seine übrigen Meister- gedichte. Sie wirken wie bessere Geburtstagsverse; und stehen kaum so besonders über seinen ersten poetischen Versuchen, die vor die Zeit Sophiens fallen.

Versuchen auch wir uns dieses Gesicht in der Schön- heit und Blüte vorgerückter und vollendeter Weiblichkeit vorzustellen; und stellen wir uns weiter etwa vor eine Sensation, die Novalis unbedingt gelegentlich von ihr gehabt haben wird daß diese Sophie Mutter wäre, die ein Kind vor sich auf dem Schoß hält: und wir haben einen Idealtyp der Madonna vor uns. Das vom Manne höchst und voll beglückte Weib senkt dieses Kinn, diese Lippen, senkt dieses Auge, nur belebter vom Wissen und Nachhauch

5 Schlaf, Novalis. 65

des süßesten wie tiefsten Geheimnisses, auf das Kind her- nieder.

Und noch ein anderer, wie wichtiger!, Gesichtspunkt. Wie tief muß der Ausdruck dieses Gesichtes gerade Novalis sich eingeprägt haben, der so viel Vorahnung hatte von Zu- ständen kommender Kulturvollendungen; die sicher ungleich weniger darin bestehen, daß irgend eine Kunst oder Dichtung oder Wissenschaft zu einer neuen vollkommensten Blüte ge- langt, als vielmehr ein neues, reines Menschentum; das als reinstes Ziel aller Religion in Klarheit tritt ; ein Menschentum, dessen tiefstes und schönstes Wesen sicher darin liegen wird, daß Mann und Weib aus unerhört diffizilen Kulturkompli- kationen sich zur Natur zurück und in einer höheren psycho- physischen Klarheit und Harmonie zusammenfinden. Denken wir etwa an das wundersame Märchen von Sophia im «Heinrich v. Offterdingen».

Wie mußte dieses Gesicht, sagen wir vielleicht noch besser: dieser Typ, sich Novalis in die Seele senken! Wie fühlen wir geradezu, wie er ihn mit allen feinen und feinsten Fibern seines Wesens in sich hinein gefühlt haben muß; mit aller Fülle von Ideen und Offenbarungen, die die unbewußte Grundnote dieses Gesichtes in sich be- schließt! — * *

*

Doch noch immer sahen wir nicht die ganze Tiefe und das letzte Wesen dieses Verhältnisses und von Novalis' Zu- stand.

Man kann sich mal vorstellen, obgleich das, wie wir sahen, bei der entschieden monogamen Veranlagung von Novalis durchaus unwahrscheinlich ist, daß Novalis doch noch von Sophie abgekommen wäre sicher indessen nie völlig; und also höchstens von dieser Sophie, nie aber, da er erst einmal das mit ihm gelebt, von diesem Weibe.

Doch: nun kam noch eins hinzu: und hier haben wir 66

die ganze Tragik von Novalis : dieses Weib war in diesem Falle morbid.

Sophie krankte an einem Lebergeschwür. Es ist nicht unwahrscheinlich, wenn wir diese und jene Nuance ihres Wesens in Rücksicht ziehen, daß Sophie von vornherein die Disposition zu solchem Leiden hatte. Auch scheint uns ihr Gesicht das Stigma derer zu tragen, «die nicht von dieser Welt sind».

Zweifellos aber hat Novalis solche Morbidität gleich von vornherein mit dem übrigen Eindruck ihres Wesens un- bewußt in sich hineingenommen. Wie tief und hell- sehend wohl!

Wir haben erkannt, wie sehr, wie ganz wir das Wesen von Novalis' Krise in das Unterbewußte verlegen müssen; wie sehr sie sich in ihrem wesentlichsten Verlauf in der «vierten Dimension» dieses Unterbewußten abgespielt hat. Die Gesetze, ich möchte sagen, die mystischen psycho- physischen Kurven dieses Prozesses und Verlaufes werden uns sicher mit all ihren rätselhaften, tiefbedeutsamen Einzel- heiten, und immer wieder, hoffnungslos entgleiten: dennoch aber können wir doch bis zu gewissem Grade auf sie schließen, und wenigstens einen kleinen Einblick tun.

Da wird es uns aber feststehen: welche Fülle diffiziler und diffizilster Einzelheiten sie auch bedeuten mögen, so sind diese doch unter allen Umständen in diesem Falle aus- gelöst worden durch die beiden Suggestionen und Keim- begriffe : Weibhaftigkeit und Morbidität; wenn- schon sicher, in der ersten Zeit des Verhältnisses, auch nur jener Begriff ein bewußtheitlicherer gewesen ist. Im übri- gen bricht oder dämmert ja doch in Novalis' Äußerungen aus jener Zeit, welcher Art sie auch immer sein mögen, dieser und jener Lichtschein aus jenen Tiefen, nicht nur in die Bereiche unseres, sondern selbst seines eigenen Intellektes.

Weib und morbid! Zwei so klaffende Gegensätze! Wie kann das Weib morbid sein, wenn es in seinem 5* 67

physischen und geistigen \X'^esen so augenfällig Weib, so sehr Eva ist? Wie verträgt sich solche Klarheit seines Grund- types mit Morbidität? Denn w^äre Morbidität hier hervor- stechendes Merkmal, müßte sie dann nicht abstoßen? Den Mann, der in seinen männUchen Instinkten uns durchaus kein Merkmal einer Abnormität zeigt? Und doch kommt ja in diesem Falle Mann vom Weib nicht los; wird er vom Weib sehr stark und unmittelbar angezogen. Also ist Mor- bidität hier nicht wesentliche Eigenschaft; ich möchte den paradoxen Ausdruck gebrauchen: sie ist hier nicht Normali- tät, sondern sie ist Tragik; sie ist ein Akzidenz, das die- sem Schicksal den Charakter des Tragischen gibt: das Wesent- liche aber ist die augenfälligste Eigenschaft der W e i b - heil

Also, Sophie ist normal und ist Weib von Anlage; und doch ist sie morbid. Wie kommt das? Warum muß das sein? Wie nur kann es möglich sein? Und was bedeutet es in all seinem Sinn und Inhalt? Nur dies: daß sich Mann und Weib in diesem Falle nicht hier zusammenfinden sollen, sondern in anderen tieferen oder höheren Zusam- menhängen und Zuständen. Das nur kann, und mit wel- chem wundersam mystischen Spiel unterbewußter Einzel- heiten !, der innerste Vorgang von Novalis' Krise gewesen und muß er gewesen sein; nach den Äußerungen, die wir von ihm besitzen, und die, so arm sie sind im Vergleich zu den verborgenen Intuitionen des seelischen Vorganges selbst, dennoch hier und da einen deutlichen Lichtschein wundersam empordämmern lassen.

Diese inneren Vorgänge! Ihr gegliederter Rhythmus spielt sich aus und gegen das Bewußtsein herauf in selt- samen seelischen Ängsten und Ängstigungen; diese Ängste sind ihre Rhythmen und Kurven. Und sie einen sich immer wieder, in das immer klarere obmächtigere eine Idol; einen sich zu ihm unter Auslösung von unaussprechlich won- nigen Ekstasen und unentrinnbaren seligen Gewißheiten. 68

O, nicht das, was man Liebe nennt, erweckt ihm diese Sophie was ist diese Liebe nachgerade auch für ein matter, abgebrauchter und konventioneller Begriff; unbewußt und innerlich wird er das in dem Verhältnis mit Julie gelebt haben : sie erweckt ihm das, was ja im Grunde auch einzig das Weib dem Manne und der Mann dem Weibe ist: Religion.

Die erkrankte, die sterbende Sophie! Wenn wir der Eindrücke habhaft werden könnten, die dieser NovaUs da in sich aufgenommen haben muß! Er berichtet dies und jenes von ihrer Ruhe, ihrer Geduld im Leiden. Doch was mag es an Inhalt bergen? Welche Fülle tiefster und diffi- zilster Eindrücke mögen sich dieser so überaus sensiblen und klaren Seele unauslöschlich an diesem Sterbelager ein- geprägt haben?

Ich meine : dies muß der Vorgang solcher fatuellen Emp- fängnis gewesen sein: ein Übermaß von sensibelstem Mit- Leiden, in dem jede Fiber jede Regung und Äußerung dieses geliebten kranken und sterbenden Wesens in sich hinein empfindet, kompliziert sich hier zugleich mit dem stark in- tellektuellen Moment eines wissenschaftlichen, konstatieren- den, unglaublich feinen und unmittelbaren Beobachtens, Sehens und Wahrnehmens. In der engsten Einheit solchen seehschen Zustandes aber versetzt sich der Schmerz in eine unnatürliche Starre; und in irgend einem bestimmten mystischen Moment stetigt sich dieser Anblick eines so teuren sterbenden Wesens im Unterbewußten zum Idol, das Novalis aufzehrt, das ihn hinüberzieht; mit seinem Willen und zugleich gegen ihn. Das letzte Agens von Novalis' Krise wird ein unmittelbares, blitzschnelles Hellsehen einer erstaunlichsten seelischen Kraft gewesen sein ; ein blitz- schnelles, momentanstes Wissen von irgend einer mystischen Notwendigkeit engster Zusammengehörigkeit mit Sophie.

Zwar, in den allerseltensten Fällen wird das Indivi- duum vom Individuum in so durchaus dämonischer

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Weise abhängig sein ; aber immer ist die Individuali- tät von der Individualität in solcher Weise abhängig. Es wird nun zuweilen sich ereignen, daß Individuali- tät sich im Bezirk eines individuellen Falles außergewöhn- lich stark konzentriert ; in solchem Falle wird dann i h r Schicksal zum Schicksal zweier Individuen. Dies ist das Wesen aller Tragik; es ist auch die Tragik von Novalis und Sophie, Denn wie ungemein viel und starke Indi- vidualität war in ihnen beiden!

Und dennoch ist dieses Schicksal in eine göttliche, klare Harmonie gefaßt gewesen. Dennoch hat sich dem JüngUng Novalis nur die göttliche Seite solchen Schicksals in hohen Beseligungen offenbart, und ein freundlicher Genius hat ihn vor den furchtbaren Tiefen dessen bewahrt, was er da gelebt hat. Er hat nichts von den Höllen solchen Schicksals erfahren.

Es ist, wenn mir dieser Schlußvergleich gestattet ist, als ob Adam und Eva sich vor uns gegrüßt hätten als Jüng- ling und Jungfrau, und dann gleich wieder, Hand in Hand, vor unseren Blicken entschwimden wären in die dunkleren und höheren Zusammenhänge ihrer Grundeinheit hinein; ein seliges, mit allen Geheimnissen Gottes begnadetes, reines Paar. Damit es sich dartue und bestätige, daß alles, so wie es ist, in einem höheren Sinne in sich vollendet und vollkommen sei.

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