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Alexander Puſchkin

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Deutſch von Johannes v. Guenther

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München C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung Dskar Beck

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Thomas Mann dem tiefen Kenner ruſſiſcher Dichtung in Dankbarkeit und Bewunderung

gewidmet vom Überfeger

Inhalt

Die Erzählungen Bjelkins. 1

110 Der Schneeſtum .. 33 Der Sargmacher 56 Der Pofthalter .. .. 70

Das Fräulein als Bäuerin 93 Dubromslij .. .. 129 Pique Dame .... ... 261

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Bom Herausgeber

. wir die Herausgabe der Erzählungen J. P. Bjelkins auf uns nahmen, die hier dem Publikum рог: gelegt werden, hegten wir gleichzeitig den Wunſch, eine wenn auch nur kurze Lebensbeſchreibung des verſtorbenen Verfaſſers beifügen zu können, um hiermit die gerechte Neugier der Liebhaber unſerer ruſſiſchen Schriftkunſt zu befriedigen. Wir wandten uns zu dieſem Zwecke an Marja Alexejewna Trafi— lina, die nächſte Anverwandte und Erbin Iwan Petro⸗ witſch Bjelkins; allein zu ihrem Bedauern war es ihr unmöglich, uns Nachrichten von ihm zu übermitteln, da der Verſtorbene ihr völlig fremd geblieben war. Sie riet uns aber, uns in dieſer Angelegenheit an einen ehrenwerten Herrn zu wenden, der mit Iwan Petrowitſch in freundſchaftlichen Beziehungen ge— ſtanden hatte. Wir befolgten dieſen Rat und erhielten auf unſer Schreiben die gewünſchte unten folgende Antwort. Wir drucken ſie hier ohne die geringſte Ver⸗ änderung und ohne Anmerkungen ab, als ein koſt— bares Denkmal edler Geſinnung und rührender Freund— ſchaft, gleichzeitig aber auch als eine durchaus befriedi⸗

gende biographiſche Nachricht.

Mein ſehr geehrter Herr Ihr verehrliches Schreiben vom 15. dieſes Monats hatte ich die Ehre am 23. dieſes Monats zu erhalten,

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Die Erzählungen Bjelkins

darin Sie den Wunſch äußern, von mir genaue Nachrichten über den Geburts- und Todestag, als auch über die Dienſtzeit, die häuslichen Umſtände, die Beſchäftigungen und den Charakter des verſtorbenen Iwan Petrowitſch Bjelkin, meines aufrichtigen Freun⸗ des und Gutsnachbarn, zu erhalten. Mit großer Ge⸗ nugtuung komme ich dieſem Ihren Verlangen nach und übermittele Ihnen, mein ſehr geehrter Herr, bei- folgend alles, was ich aus Geſprächen mit ihm ent⸗ nommen und aus eigenen Beobachtungen geſchöpft habe. 5

Iwan Petrowitſch Bjelkin wurde als Sohn acht⸗ barer und edler Eltern im Jahre 1798 auf dem Gute Gorochino geboren. Sein verſtorbener Vater, der Ge: kundmajor Pjotr Iwanowitſch Bjelkin, verehelichte ſich mit der Jungfrau Pelageja Gawrilowna aus dem

Hauſe Trafilin. Er war nicht wohlhabend, aber mäßig

und in allen wirtſchaftlichen Dingen ſehr bewandert. Der Sohn erhielt den erſten Unterricht vom Dorf— küſter. Dieſem verehrungswürdigen Manne verdankt er offenbar ſeine Luſt am Leſen und an der Beſchäf— tigung mit der ruſſiſchen Schriftkunde. Im Jahre 1815 trat er in ein Infanterie-Jägerregiment (an die Nummer kann ich mich nicht mehr erinnern) und ег: blieb in dieſem bis zum Jahre 1823. Der faſt gleich⸗ zeitig erfolgende Tod ſeiner beiden Eltern nötigte ihn, den Abſchied zu nehmen und ſich auf dem Gut Goro— chino, ſeiner Geburtsſtätte, niederzulaſſen.

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Bom Serausgeber

Als Iwan Petrowitſch die Verwaltung des Gutes übernahm, brachte er die wirtſchaftlichen Verhältniſſe infolge der ihm mangelnden Kenntniſſe und ſeiner Weichherzigkeit bald herunter und vernachläſſigte die ſtrenge Ordnung, die ſein verſtorbener Vater ein— geführt hatte. Er ſetzte den zuverläſſigen und де: ſchickten Dorfälteſten ab, da die Bauern (wie das ſo ihre Gewohnheit iſt) mit dieſem unzufrieden waren, und ließ das Dorf von ſeiner alten Beſchließerin verwalten, die durch ihre Kunſt, Geſchichten zu erzählen, ſein volles Vertrauen gewonnen hatte. Dieſe törichte Alte war nicht einmal imſtande, einen Fünfundzwanzig— Rubelſchein von einem Fünfzig⸗Rubelſchein zu unter⸗ ſcheiden; die Bauern, zu deren jedem ſie in gevatter— lichen Beziehungen ſtand, hatten nicht den geringſten Reſpekt vor ihr; der Alteſte aber, den ſie ſich erwählt hatten, war ſo nachſichtig gegen ſie und gleichzeitig ſo betrügeriſch, daß Iwan Petrowitſch ſich bald ge— zwungen ſah, den Frondienſt aufzuheben und den Bauern ſehr mäßige Abgaben aufzuerlegen; aber auch hier verſtanden es die Bauern, im erſten Jahre eine ſehr willkürliche Milderung herbeizuführen zund zahlten in den folgenden mehr als zwei Drittel der Abgabe in Nüſſen, Preiſelbeeren und ähnlichem; und ſelbſt hier— bei gab es noch beträchtliche Rückſtände.

Da ich ein Freund von Iwan Petrowitſchs ver— ſtorbenem Vater war, hielt ich es für meine Pflicht, auch dem Sohn mit meinem Rat beizuſtehen, und bot

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Die Erzählungen Bjelkins

mich mehrfach an, die vormaligen, nunmehr in Un⸗ ordnung geratenen Zuſtände wiederherzuſtellen. Eines Tages beſuchte ich ihn zu dieſem Zweck und ließ mir die Haushaltungsbücher vorlegen, wobei ich gleich— zeitig den betrügeriſchen Alteſten kommen ließ, und begann in Iwan Petrowitſchs Anweſenheit die Bücher durchzuſehen. Der junge Hausherr wohnte anfangs mit großer Aufmerkſamkeit und vielem Eifer der Unter⸗ ſuchung bei; als ſich aber dann nach den Berechnungen herausſtellte, daß in den letzten zwei Jahren die Zahl der Bauern ſich vergrößert, die Zahl des Geflügels jedoch und des Viehs wie mit einer gewiſſen Abſicht ſich verringert hatten, war Iwan Petrowitſch von der erſten Mitteilung bereits ſcheinbar voll und ganz Бе: friedigt und hörte mir gar nicht erſt weiter zu, denn im gleichen Augenblick, als ich durch mein Nachforſchen

und das ſtrenge Verhör den betrügeriſchen Alteſten

in äußerſte Verwirrung und zu völligem Schweigen gebracht hatte, mußte ich zu meinem gewaltigen Arger wahrnehmen, daß Iwan Petrowitſch auf ſeinem Stuhl ſitzend kräftig ſchnarchte. Seit jener Zeit unterließ ich es, mich jemals wieder um feine Haushaltungsangelegen⸗ heiten zu kümmern, und überantwortete ſeine Sache (wie er ſelber es tat) dem Willen des Höchſten. Dieſer Umſtand beeinträchtigte unſere freundſchaft— lichen Beziehungen nicht im mindeſten; denn trotzdem ich die Schwäche und die verderbliche Fahrläſſigkeit Iwan pPetrowitſchs, die eine Eigenſchaft unſeres ganzen

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Vom Herausgeber

jungen Adels iſt, ſehr bedauerte, hatte ich ihn dennoch aufrichtig gern; es wäre auch unmöglich geweſen, einen fo ſanften und ehrlichen Menſchen nicht lieb zu haben. Seinerſeits reſpektierte Iwan Petrowitſch meine Jahre und zeigte eine herzliche Neigung zu mir. Er ſuchte mich faſt jeden Tag bis zu ſeinem Verſcheiden auf und ſchätzte die einfache Unterhaltung mit mir, gingen wir auch in unſeren Gewohnheiten, unſerer Denkart und unſeren Sitten in den meiſten Fällen weit auseinander.

Iwan Petrowitſch führte das allergeordnetſte Leben und vermied jedes Übermaß ; ich habe ihn niemals an⸗ geheitert geſehen (was man in unſerem Lande als ein unerhörtes Wunder betrachten kann); er hatte für das andere Geſchlecht eine große Neigung, doch war er dabei von einer Гай mädchenhaften Schamhaftigkeit. 1

Außer den Erzählungen, von denen Sie in Ihrem gefälligen Schreiben ſprechen, hat Iwan Petrowitſch noch eine Menge von Handſchriften hinterlaſſen, die ſich zum Teil in meinem Beſitz befinden, zum Teil von ſeiner Beſchließerin für allerlei Haushaltungsdinge verwendet worden ſind. So hat ſie zum Beiſpiel im vergangenen Winter die Fenſterrahmen in ihrem Flügel mit dem erſten Teil eines Romanes verklebt,

1 Hier folgt eine Anekdote, die wir nicht einrücken, da wir ſie für überflüſſig halten, doch beeilen wir uns, den Leſer zu benach- richtigen, daß in ihr nichts enthalten №, was das Andenken Jwan Petrowitſch Bjelkins irgendwie zu ſchmälern geeignet wäre. (An⸗ merkung des Verfaſſers.)

Die Erzählungen Bjelkins

den er nicht zu Ende geführt hat. Die oben erwähnten Erzählungen waren, wie mir ſcheint, ſeine erſten Ver— ſuche. Sie ſind, wie Iwan Petrowitſch zu ſagen pflegte, größtenteils wahrheitsgemäß und nach Berichten ver⸗ ſchiedener Perſonen aufgezeichnet.! Freilich ſind alle Namen in den Erzählungen immer von ihm felber er: funden, die Namen der Dörfer und Güter ſtammen dagegen aus unſerer Gegend, wieſo es denn auch kommt, daß an einer Stelle ſogar mein Gut erwähntiſt.

Im Herbſt des Jahres 1828 zeigten ſich bei Iwan Petrowitſch Erkältungserſcheinungen, die in ein hitziges Fieber übergingen, an dem er ſchließlich ſtarb, trotz aller unermüdlichen Bemühungen unſeres Kreisarztes, eines, zumal in der Heilung eingewurzelter Krank— heiten, wie zum Beiſpiel Hühneraugen und dergleichen, ſehr geſchickten Mannes. Er war dreißig Jahre alt geworden, als er in meinen Armen ſtarb, ſeine Ruhe⸗ ſtätte fand er in der Dorfkirche von Gorochino neben ſeinen verſtorbenen Eltern.

Iwan Petrowitſch war mittelgroß, ſeine Augen⸗ farbe war grau, die Haare blond, die Naſe gerade; ſein Antlitz war blaß und hager.

1 In der Tat НЕ in den Handſchriften des Herrn Belkin unter jeder Erzählung eine Notiz von der Hand des Verfaſſers: Ver⸗ nommen von der und der Perſon (folgen Titel oder Rang und die Initialen des Namens). Wir laſſen fie hier folgen, um die Neugier von Intereſſierten zu befriedigen; Der Poſthalter wurde erzählt von dem Titularrat A. P. N., der Schuß vom Oberſtleutnant J. P. L., der Sargmacher vom Kommiß B. W., der Schneeſturm und das Fräulein vom Fräulein K. J. T. (Anmerkung der Verfaſſers.)

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Vom Herausgeber

Das, mein ſehr geehrter Herr, iſt alles, was ich von der Lebensart, den Beſchäftigungen, den Sitten und dem Äußeren meines verflorbenen Nachbarn und Freundes weiß. Für den Fall, daß Sie es für richtig befinden ſollten, meinen Brief in irgendeiner Form zu benutzen, bitte ich Sie allerergebenſt, meinen Namen unter keinen Umſtänden erwähnen zu wollen, denn, wenn ich auch den Stand der Schriftſteller außer: ordentlich achte und reſpektiere, halte ich es doch für überflüſſig, mir dieſen Titel anzueignen, und ſogar für unziemlich in meinen Jahren.

Ich verbleibe mit aufrichtiger Eigebenheie uſw.

Den 16. November 1830, Gut Nenaradowo.

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Wir halten es für unfere Pflicht, den Willen des verehrten Freundes unſeres Verfaſſers zu reſpektieren, ſprechen ihm jedoch gleichzeitig unſeren tiefſten Dank für die uns übermittelten Nachrichten aus, und hoffen, daß das Publikum ihre Aufrichtigkeit und ſchöne Ge: ſinnung zu ſchätzen wiſſen wird.

A. P.

Der Schuß

Wir ſchoſſen uns. Baratynskij

Ich ſchwor, ihn nach den Geſetzen des Duells niederzuſchießen (ich bin ihm noch einen Schuß ſchuldig geblieben).

Ein Abend im Biwak

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Wir lagen in der Ortſchaft ?“. Ein jeder kennt das Leben eines Armeeoffiziers. Am Vormittag exer⸗ zieren und auf die Manege; zum Mittag beim Re: gimentskommandanten oder in der jüdiſchen Kneipe; abends Punſch und Karten. In ®®® gab es kein ет: ziges gaſtfreies Haus, ja nicht einmal ein einziges Mädchen, das man hätte verehren können; ſo ver— ſammelten wir uns denn immer einer beim andern und bekamen nie etwas anderes zu Geſicht außer unſeren Uniformen. | Lediglich ein einziger Menſch, der kein Militär war, gehörte zu unſerer Geſellſchaft. Er mochte fünfund- dreißig Jahre alt ſein, und wir zählten ihn aus dieſem Grunde bereits zu den Greiſen. Seine Erfahrung gab ihm vor uns mancherlei Vorzüge; und ſowohl ſeine gewöhnliche finſtere Verſchloſſenheit, als auch ſeine ſchroffe Art und ſeine böſe Zunge übten auf unſere jungen Köpfe einen gewaltigen Einfluß aus. Etwas Rätſelhaftes lag in feinem Schickſal; er ſchien zwar

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Der Schu ß |

ein Ruſſe zu fein, doch klang fein Name ausländiſch. Er hatte in früherer Zeit bei den Huſaren gedient und ſogar Erfolg gehabt; doch kannte keiner die Urſache, die ihn bewogen hatte, ſeinen Abſchied zu nehmen und ſich in dieſer armen Ortſchaft niederzulaſſen, in der er ein gleichzeitig armſeliges und verſchwenderiſches Da⸗ ſein führte: man ſah ihn nie anders als zu Fuß in einem längſt abgetragenen ſchwarzen Leibrock, und деп: noch war ſein Tiſch ſtets für alle Offiziere unſeres Regimentes gedeckt. Beſtand auch das Mittageſſen тей nur aus zwei oder drei Gängen, die ein verab— ſchiedeter Soldat zubereitete, ſo floß doch der Cham⸗ pagner dazu in Strömen. Niemand wußte Beſcheid über ſein Vermögen oder über ſeine Einkünfte und kein einziger hätte je gewagt, ihn danach zu fragen. Er beſaß mehrere Bücher, die zum größten Teil mili⸗ täriſchen Inhaltes waren, freilich waren auch Romane darunter. Er lieh ſie gern aus, wenn man ſie leſen wollte, und verlangte ſie nie zurück; dafür jedoch gab auch er niemals ein Buch zurück, das er entliehen hatte. Seine Hauptbeſchäftigung beſtand im Piſtolen— ſchießen. Die Wände ſeines Zimmers waren mit

Kugeln geradezu beſpickt und voller Löcher, ſo daß ſie Honigwaben ähnlich ſahen. Der einzige Luxus in der ärmlichen Behauſung, in der er lebte, war eine reiche Piſtolenſammlung. Die Fertigkeit, die er erreicht hatte, war ſo außergewöhnlich, daß, wenn er ſich hätte anſchicken wollen, mit der Kugel eine Birne von der

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Die Erzählungen Bjelkins

Mütze eines von uns herabzuſchießen, keiner aus un⸗ ſerem Regiment auch nur einen Augenblick gezaudert hätte, ihm den eigenen Kopf darzubieten. Unſere Ge— ſpräche berührten häufig das Thema der Zweikämpfe; allein Sylvio (ſo will ich ihn nennen) beteiligte ſich niemals an ſolchen Unterhaltungen. Fragte man ihn, ob er ſich jemals duelliert habe, dann pflegte er trocken zu antworten, er habe ſich duelliert, aber er vermied dabei, auf Einzelheiten einzugehen, und es war nur zu offenſichtlich, daß ſolche Fragen ihm unangenehm waren. Wir nahmen darum an, daß irgendein un⸗ ſeliges Opfer ſeiner furchtbaren Geſchicklichkeit ſein Gewiſſen belaſte. Übrigens wollte es keinem von uns jemals in den Kopf, in ihm etwas, das vielleicht nach Feigheit ausſehen mochte, auch nur zu vermuten. Es gibt Menſchen, deren Äußeres allein bereits jeden ſolchen Verdacht widerlegt. Ein unerwarteter Vorfall ſetzte uns darum alle in Erſtaunen.

Einmal ſpeiſten wir Offiziere bei Sylvio, zehn Köpfe hoch. Wir tranken wie immer, das heißt mit anderen Worten, wie immer ſehr viel; nach dem Eſſen überredeten wir den Hausherrn, die Bank zu halten. Er lehnte es anfangs beharrlich ab, denn er ſpielte faſt nie; ſchließlich jedoch befahl er, Karten herbei⸗ zubringen, warf ein halbes Hundert Goldſtücke auf den Tiſch und nahm Platz. Wir ſcharten uns um ihn, und das Spiel begann. Es war Sylvios Gewohn⸗ heit, beim Spiel völliges Schweigen zu beobachten,

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Der Schu ß

er ſtritt nie und ließ ſich auch niemals auf irgendwelche Erklärungen ein. Wenn einer der Spieler ſich ver: rechnet hatte, ſo zahlte er entweder ſogleich den Reſt aus, oder er ſchrieb die Differenz auf. Das kannten wir bereits und darum hinderte ihn keiner von uns je, auf ſeine Art zu ſchalten; dieſes Mal doch befand ſich ein Offizier in unſerer Mitte, der erſt vor kurzem zu uns verſetzt worden war. Er ſpielte gleichfalls und bog aus Zerſtreutheit bei einer Karte eine Ecke zu viel um. Sylvio nahm die Kreide und glich nach ſeiner Gewohnheit die Rechnung aus. Da der Offizier dachte, daß jener ſich geirrt hätte, wollte er ſich auf eine Aus⸗ einanderſetzung einlaſſen. Stumm jedoch fuhr Sylvio fort, die Bank zu halten. Der Offizier verlor die Ge⸗ duld, ergriff eine Bürſte und wiſchte das, was ihm als überflüſſig vorkam, fort. Sylvio dagegen nahm aufs neue die Kreide und ſchrieb es wieder auf. Da der Offizier, erhitzt vom Wein, vom Spiel und vom Gelächter der Kameraden, ſich hierdurch bitter be— leidigt empfand, packte er im Zorn einen auf dem Tiſch ſtehenden kupfernen Leuchter und warf ihn ſo heftig auf Sylvio, daß dieſer kaum imſtande war, dem Schlag auszuweichen. Wir alle waren beſtürzt. Sylvio erhob ſich, bleich vor Zorn, und ſprach mit funkeln— den Augen: „Mein Herr, haben Sie die Güte, uns zu perlaſſen und danken Sie Gott, daß dies in meinem Hauſe geſchehen iſt.“

Wir waren nicht einen Augenblick im Zweifel, was

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Die Erzählungen Bjelkins

jetzt geſchehen würde, und ſahen unſeren neuen Kame— raden bereits für tot an. Der Offizier verließ das Haus, indem er hinzufügte, daß er bereit wäre, für die Beleidigung jede Genugtuung, die dem Herrn Bankhalter erwünſcht wäre, zu geben. Das Spiel wurde nur noch einige Minuten fortgeſetzt: da wir nur zu gut fühlten, daß dem Hausherrn der Sinn jetzt nicht danach ſtand, gab einer nach dem andern die Sache auf, und ſo gingen wir denn bald darauf heim, indem wir uns über die neue Vakanz unterhielten.

Als wir uns am nächſten Tage in der Manege ver— ſammelten, wurde bereits die Frage aufgeworfen, ob wohl der neue Leutnant noch am Leben ſei, doch da trat er auch ſchon ſelber in unſere Mitte; wir richteten mithin die gleiche Frage an ihn. Er entgegnete, daß er von Sylvio noch nicht die geringſte Nachricht er: halten hätte. Wir wunderten uns darüber. Wir gingen bald darauf zu Sylvio und fanden ihn auf ſeinem Hof damit beſchäftigt, eine Kugel nach der andern in ein zu ſchießen, das er ans Tor geklebt hatte. Er empfing uns wie gewöhnlich, doch fiel kein Wort über den geſtrigen Vorfall. Auf dieſe Weiſe vergingen drei Tage, und der Leutnant war immer noch am Leben. Erſtaunt fragten wir uns, ob es möglich ſei, daß Sylvio ſich nicht duellieren wolle? Und freilich duel⸗ lierte ſich Sylvio nicht. Er begnügte ſich mit einer ge⸗ ringen Erklärung und ſchloß Frieden.

Diefer Umſtand ſchadete ihm anfangs bei uns jungen

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Leuten ſehr. Junge Leute, die gewöhnlich in der Tapfer— keit den Gipfel der menſchlichen Tugenden und die Entſchuldigung für alle nur erdenklichen Laſter finden, verzeihen am wenigſten einen Mangel an Verwegen— heit. Nach und nach aber geriet auch dieſes in Ver— geſſenheit, und Sylvio gewann ſeinen früheren Ein— fluß zurück.

Einzig ich konnte nicht mehr die früheren Beziehungen zu ihm gewinnen. Da ich von Hauſe aus über eine romantiſche Einbildungskraft verfügte, hatte ich mich an dieſen Menſchen noch näher als die andern an— geſchloſſen, denn ſein Leben war rätſelhaft und er kam mir wie der Held einer geheimnisvollen Geſchichte vor. Er hatte mich ſehr gern; zum mindeſten ließ er einzig vor mir ſeine gewohnheitsmäßig beißende Bos⸗ heit fahren und wußte auch von anderen Dingen ſehr einfach und ungewöhnlich angenehm zu reden. Nach dem unglückſeligen Abend aber wollte der Gedanke, daß ſeine Ehre befleckt und trotzdem nicht durch eigenen Antrieb reingewaſchen worden ſei, dieſer Gedanke wollte mir nicht aus dem Kopf und hinderte mich daran, mit ihm ſo zu ſein, wie ich vormals geweſen war; ja, mir war es jetzt ſogar läſtig, ihn anzuſchauen. Sylvio hingegen war viel zu klug und zu erfahren, um das bemerkend, nicht auch ſogleich den Grund zu erraten. Es ſchien ihn ſogar zu bekümmern, zum mindeſten bemerkte ich zweimal den Wunſch bei ihm, mit mir darüber zu ſprechen; da ich jedoch eine jede ſolche

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Die Erzählungen Bjelkins

Möglichkeit vermied, ließ Sylvio ſchließlich von mir ab. Seit jener Zeit ſah ich ihn nur noch, wenn wir im Kreiſe meiner Kameraden waren, und unſere vormaligen offenherzigen Unterredungen hatten ein Ende.

Die ewig abgelenkten Bewohner der Hauptſtadt können ſich keinen Begriff von mancherlei Empfin⸗ dungen machen, die den Bewohnern der Dörfer oder kleinen Städtchen nur zu gut bekannt ſind, wie zum Beiſpiel das Warten auf den Poſttag: am Dienstag und am Freitag war unſere Regimentskanzlei immer voll von Offizieren; der eine erwartete Geld, jener Briefe, ein dritter Zeitungen. Die Pakete wurden meiſt an Ort und Stelle erbrochen, man teilte ſich die Neuig⸗ keiten mit und an dieſen Tagen bot die Kanzlei das belebteſte Bild. Die Briefe, die Sylvio erhielt, waren an unſer Regiment adreſſiert und darum war er ge— wöhnlich auch da. Eines Tages erhielt er eine Sen— dung, von der er ſogleich mit dem Ausdruck der größten Ungeduld das Siegel herunterriß. Er überflog den Brief und ſeine Augen blitzten. Die Offiziere, deren jeder mit feinen eigenen Briefen beſchäftigt war, be- merkten nichts. „Meine Herren,“ ſprach Sylvio zu ihnen, „die Umſtände erfordern meine unverzügliche Abreiſe; ich reiſe noch heute nacht; ich hoffe, ſie wer⸗ den es mir nicht abſchlagen, zum letztenmal bei mir zu ſpeiſen. Ich erwarte auch Sie,“ fuhr er, zu mir gewendet, fort, „ich erwarte Sie beſtimmt.“ Mit dieſen

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Worten verließ er uns eilig; und auch wir gingen, nachdem wir beſchloſſen hatten, uns bei Sylvio wieder zu ſehen, ein jeder in ſeiner Richtung.

Ich kam um die feſtgeſetzte Stunde zu Sylvio und fand bei ihm faſt das ganze Regiment vor. Sein Hab und Gut war bereits gepackt; nicht viel mehr als die nackten zerſchoſſenen Wände war zurückgeblieben. Wir ſetzten uns zu Tiſch; der Hausherr war außer— gewöhnlich gut gelaunt, ſeine Heiterkeit ſteckte bald die andern an; jede Minute knallte ein Pfropfen, unab⸗ läſſig ſchäumten die Gläſer, und mit allem nur erdenk— lichen Eifer wünſchten wir dem Abreiſenden eine glück— liche Reiſe und alles mögliche Gute. Als wir uns vom Tiſch erhoben, war es bereits ſpät am Abend. Wäh— rend wir nach unſeren Mützen ſuchten, hielt Sylvio, der derweilen von den anderen Abſchied genommen hatte, mich in dem Augenblick, als ich mich anſchickte fortzugehen, am Arm zurück. „Ich habe noch mit Ihnen zu ſprechen“, ſagte er leiſe. So blieb ich denn.

Die Файе verſchwanden; wir waren zu zweit, wir nahmen einander gegenüber Platz und ſetzten ſchweig⸗ ſam unſere Pfeifen in Brand. Sylvio ſchien bedrückt zu ſein; von der früheren ein wenig krampfhaften Heiterkeit war nichts mehr zu bemerken. Seine finſtere Bläſſe, die funkelnden Augen und die dicken Rauch- wolken, die ſeinem Munde entſtrömten, verliehen ihm das Ausſehen eines wirklichen Dämons. Es vergingen einige Minuten, bevor Sylvio ſein Schweigen unter⸗

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Die Erzählungen Bjelkins brach. „Es könnte ſein, daß wir uns nicht mehr wieder ſehen, ſagte er ſchließlich: „Bevor wir uns jetzt trennen, möchte ich Ihnen daher einige Erklärungen geben.

Sie konnten wahrnehmen, wie gering ich die Anſichten

der anderen einſchätze: Sie jedoch habe ich gern, und ich fühle es, daß es mir peinlich ſein würde, in Ihrem Geiſt eine ungerechte Anſicht über mich zurückzulaſſen.“

Er hielt ein und ſtopfte ſich ſeine ausgebrannte Pfeife von neuem; ich ſchwieg mit niedergeſchlagenen Augen.

„Es iſt Ihnen ſeltſam vorgekommen,“ fuhr er fort,

„daß ich von dieſem Wirrkopf R. .. keine Genug: tuung verlangt habe. Sie werden mir zuſtimmen, daß,

da ich das Recht der Waffenwahl hatte, ſein Leben

in meiner Hand lag, das meinige dagegen ſo gut wie ungefährdet war. Es wäre mir ein leichtes, dieſe meine Mäßigung durch Großmut zu erklären. Aber ich will nicht lügen. Wäre es in meiner Macht geweſen, R.. zu züchtigen, ohne im geringſten mein Leben dabei aufs Spiel zu ſetzen, ſo hätte ich ihm unter keinen Um⸗ ſtänden Verzeihung gewährt.“ \

Erſtaunt blickte ich Sylvio an. Diefes Geſtändnis brachte mich vollends in Verwirrung. Sylvio fuhr fort.

„So iſt es: ich habe kein Recht, mein Leben aufs Spiel zu ſetzen. Vor ſechs Jahren erhielt ich eine Ohr⸗ feige, mein Feind aber iſt noch immer am Leben.“

Meine Neugierde war aufs äußerſte beſchäftigt. „Und Sie ſchlugen ſich nicht mit ihm?“ fragte ich. „Vermutlich haben die Umſtände Sie getrennt?“

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„Ich ſchlug mich allerdings mit ihm“, entgegnete Sylvio. „Und hier ИЕ das Andenken an unferen тре: kampf.“

Sylvio erhob ſich und entnahm einer Schachtel eine rote Mütze mit goldener Troddel und einer Treſſe (die Franzoſen nennen das bonnet de police); er ſetzte ſie auf; ſie war einen Zoll über der Stirn von einer Kugel durchlöchert.

„Sie werden ſich erinnern,“ fuhr Sylvio fort, „daß ich im ... ſchen Huſarenregiment gedient habe. Meine Charaktereigenſchaften ſind Ihnen ebenfalls nicht un— bekannt: ich bin daran gewöhnt, der erſte zu ſein, und dieſer Trieb war, als ich noch jung war, geradezu eine Leidenſchaft in mir. Zu unſerer Zeit waren Toll⸗ heiten die große Mode: und ich war der tollſte Burſche in der ganzen Armee. Wir prahlten mit unſerer Trink⸗ fähigkeit: ich habe ſogar den berühmten Burzow, den noch Denis Dawydow beſungen hat, unter den Tiſch getrunken. All' Augenblick gab es in unſerem Regiment irgendein Duell. Und bei jedem war ich entweder als Sekundant zugegen oder als handelnde Perſon. Meine Kameraden vergötterten mich, dagegen ſahen mich die Regimentskommandeure, die ununterbrochen wechſel— ten, wie ein unvermeidliches Übel an.

Ich ließ mir dieſen Ruf ruhig (oder unruhig) ge— fallen, als eines Tages ein junger Mann aus einer reichen und berühmten Familie (ich will ſeinen Namen nicht nennen) zu uns verſetzt wurde. Ich war noch

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Die Erzählungen Blelkins

nie in meinem Leben einem ſo glänzenden Glückspilz begegnet! Denken Sie ſich Jugend, Verſtand, Schön⸗ heit, wildeſte Luſtigkeit und ſorgloſeſte Tapferkeit ver⸗ eint mit einem klingenden Namen und Geldern, die er im Überfluß beſaß, und die ihm niemals fehlten, und ſtellen Sie ſich dazu vor, welchen Eindruck er auf unſere Schar machen mußte. Meine führende Stellung war erſchüttert. Zwar ſuchte er anfangs, von meinem Ruf verlockt, meine Freundſchaft, da ich ihm aber kalt be⸗ gegnete, zog er ſich, ohne den geringſten Kummer zu empfinden, von mir zurück. Ich begann ihn zu haſſen. Seine Erfolge im Regiment und bei den Frauen brachten mich völlig zur Verzweiflung. Ich ſuchte Streit mit ihm; aber er antwortete auf meine Spottverſe mit. Spottverſen, die mir immer viel unerwarteter und treffender vorkamen als die meinigen, und die пай: lich ganz unvergleichlich viel luſtiger waren: er ſcherzte ja nur, ich aber, ich wütete. Und als ich ſchließlich eines Abends auf einem Ball bei einem polniſchen Gutsbeſitzer ſehen mußte, daß nur er der Gegenſtand der Aufmerkſamkeit aller Damen war und zumal der Hausfrau ſelber, mit der ich damals in Verbindung ſtand, nahm ich die Gelegenheit wahr und ſagte ihm irgendeine platte Grobheit ins Ohr. Er flammte auf und gab mir eine Ohrfeige. Wir ſtürzten zu den Sä⸗ beln; die Damen fielen in Ohnmacht; man zerrte uns auseinander, und noch in der gleichen Nacht begaben wir uns an den Ort, an dem wir uns duellieren ſollten.

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Es war um die Zeit der Dämmerung. Ich ſtand mit meinen drei Sekundanten an der verabredeten Stelle. Mit einer unſagbaren Ungeduld wartete ich auf meinen Gegner. Die Frühlingsſonne ging auf, und es wurde allmählich heiß. Endlich wurden wir ſeiner gewahr. Er kam zu Fuß, von einem einzigen Sekundanten begleitet und hatte ſeinen Uniformsrock an den Säbel gehängt. Wir ſchritten ihm entgegen. Er näherte ſich uns, in der Hand die Mütze, die voll von Kirſchen war. Unſere Sekundanten ſchritten die zwölf Schritte ab. Ich hatte als erſter zu ſchießen; da mich aber die Wut noch immer ſo heftig ſchüttelte, daß ich mich nicht auf die Sicherheit meiner Hand verlaſſen konnte, trat ich, um mir Zeit zu laſſen, kühler zu werden, ihm den erſten Schuß ab; allein mein Gegner ging darauf nicht ein. Es wurde beſtimmt, das Los entſcheiden zu laſſen: und der erſte Schuß fiel ihm, dem ewigen Liebling des Glückes, zu. Er zielte und durchlöcherte meine Mütze. Die Reihe war an mir. Nun lag ſein Leben endlich in meiner Hand; gierig hing ich an ſeinem Geſicht, beſtrebt, wenigſtens einen Schatten von Unruhe darin zu erblicken. Aber er ſuchte, trotzdem meine Piſtole auf ihn gerichtet war, gleichmütig die reifſten Kirſchen aus ſeiner Mütze und ſpuckte ruhig die Kerne aus, die faſt bis zu mir rollten. Sein Gleichmut brachte mich nur noch mehr auf. Was nützt es, mußte ich denken, ihm jetzt das Leben zu nehmen, das ihm noch nicht einmal teuer geworden

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Die Erzählungen Bjelkins

iſt? Ein boshafter Gedanke ſchoß durch meinen Kopf, Ich ließ die Piftole ſinken. Sie ſcheinen jetzt noch nicht auf Tod eingeſtellt zu fein,‘ Гаде ich zu ihm: „Sie belieben noch zu frühſtücken; ich will Sie dabei nicht ftören.‘ , Sie ſtören mich nicht im mindeſten, entgegnete er: ‚fchießen Sie nur; im übrigen ſteht es Ihnen frei, zu handeln wie Sie wollen: Ihr Schuß ſoll Ihnen verbleiben; ich ſtehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.“ Ich wendete mich darauf zu den Ge: kundanten und erklärte ihnen, daß ich gegenwärtig nicht die Abſicht hätte, zu ſchießen, womit zunächſt unſer Zweikampf zu Ende war..

„Ich nahm den Abſchied und begab mich an dieſen Ort. Aber kein Tag iſt ſeit jener Zeit vergangen, an dem ich nicht an meine Rache gedacht hätte. Und jetzt iſt meine Stunde gekommen ...“

Hierbei zog Sylvio den Brief aus ſeiner Taſche, den er am Morgen bekommen hatte, und gab ihn mir zu leſen. Jemand (es ſchien ſein Bevollmächtigter zu ſein) ſchrieb ihm aus Moskau, daß die bewußte Per⸗ ſon in kurzer Zeit mit einem jungen und ſchönen Mäd⸗ chen in den Stand der Ehe zu treten beabſichtige.

„Sie erraten,“ ſagte Sylvio: „wer die bewußte Perſon iſt. Ich reiſe nach Moskau. Ich will doch ſehen, ob er kurz vor der Hochzeit genau ſo gleichgültig ſeinen Tod erwarten wird, wie er es ſeinerzeit tat, als er die Kirſchen aß!“

Bei dieſen Worten erhob ſich Sylvio, warf die Mütze

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Der Schu ß

zu Boden und ſchritt im Zimmer erregt auf und ab, als wäre er ein Tiger in ſeinem Käfig. Regungslos hatte ich ihm zugehört; ſonderbare und auffällig ein— ander widerſprechende Gefühle hatten mich während ſeiner Erzählung bewegt.

Der Bediente trat ein und meldete die Pferde. Sylvio drückte mir kräftig die Hand; wir küßten einander zum Abſchied. Er ſtieg in den Wagen, in welchem zwei Käſten bereit lagen, der eine mit den Piſtolen, der andere mit ſeinen Habſeligkeiten. Wir nahmen noch einmal Abſchied, dann zogen die Pferde an.

II

Einige Jahre vergingen, häusliche Umſtände zwan— gen mich, mich auf einem ärmlichen Gütchen, das im N. . . ſchen Kreiſe lag, niederzulaſſen. Ich mußte mich viel mit wirtſchaftlichen Fragen abgeben, hörte aber in der Stille nicht auf, meinem früheren geräuſch— vollen und ſorgloſen Leben nachzuſeufzen. Am ſchwer— ſten waren mir die Frühlings- und Winterabende in dieſer völligen Einſamkeit. Bis zum Mittageſſen konnte ich mir noch irgendwie die Zeit vertreiben, indem ich mit dem Dorfälteſten ſchwatzte, die Feldarbeiten be— ſichtigte oder mich zu den Neubauten begab. Sobald es aber zu dämmern begann, wußte ich überhaupt nicht mehr, wohin mit mir. Die wenigen Bücher, die ich unter den Schränken und in der Voratskammer fand, kannte ich bald auswendig. Die Märchen, an die ſich meine

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Die Erzählungen Bjelkins

alte Beſchließerin Kirillowna erinnern konnte, waren bald erzählt; die Lieder der Weiber machten mich ſtets traurig. Ich machte mich an die ungeſüßten Frucht⸗ ſchnäpſe, aber ſie verurſachten mir nur Kopfweh; zu⸗ dem, ich geſtehe es, fürchtete ich, ein Säufer aus Ver⸗ ztpeiflung zu werden, die ja die allerverzweifeltſten Säufer find; Beiſpiele hierfür hatte ich in unſerem Kreiſe mehr als genügend zu Geſicht bekommen.

In meiner Nähe lebten keine Nachbarn, mit Aus⸗ nahme eben von zwei oder drei dieſer Verzweifelten, deren Geſpräch hauptſüchlich aus Aufſtoßen und Auf— feufzen beſtand. Da war die Einſamkeit noch erträg— licher. So beſchloß ich denn, mich ſo früh als möglich zu Bett zu begeben und ſo ſpät als möglich zu ſpeiſen; auf dieſe Weiſe verkürzte ich den Abend und verlängerte ich den Tag, und ich ſah, daß es ſehr gut war.

Vier Werſt von mir befand ſich ein reiches Gut, das der Gräfin B. .. gehörte; freilich lebte dort nur der Verwalter, denn die Gräfin hatte ihre Зе: ſitzung nur einmal, im erſten Jahr ihrer Ehe, beſucht und war nicht länger als einen Monat dort geblieben. Plötzlich jedoch entſtand im zweiten Frühling meines Einſiedlerdaſeins das Gerücht, die Gräfin käme mit ihrem Gatten aufs Gut, um dort den Sommer zu ver⸗ bringen. Und ſo war es auch, die beiden trafen im Anfang des Juni ein.

Die Ankunft eines reichen Nachbarn bildet ſtets für die Dorfbewohner eine wichtige Epoche. Die Фив:

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beſitzer und ihr Hausgeſinde ſchwatzen ſchon zwei Monate zuvor darüber und noch drei Jahre nachher. Was mich felber betrifft, fo berührte, ich muß es де: ſtehen, die Nachricht von der Ankunft der jungen und ſchönen Nachbarin mich ſtark; ich brannte vor Цпде: duld, ſie zu ſehen, und begab mich darum bereits am erſten Sonntag nach ihrer Ankunft nach Tiſch zum Dorf““, um mich ſeiner und ihrer Durchlaucht als nächſten Nachbarn und ergebenſten Diener vorzuſtellen.

Ein Kammerdiener führte mich ins Kabinett des Grafen und verließ mich, um mich anzumelden. Das geräumige Kabinett war mit aller nur erdenklichen Pracht ausgeſtattet; an den Wänden ſtanden Schränke mit Büchern und auf jedem ragte eine bronzene Büſte; über dem marmornen Kamin hing ein breiter Spiegel. Der Boden war mit grünem Tuch beſpannt, auf dem viele Teppiche lagen. Da ich in meiner ärmlichen Be- hauſung mich längſt von aller Pracht entwöhnt und ſchon lange keinen fremden Reichtum mehr geſehen hatte, machte dieſer Anblick mich faſt ſchüchtern, und ich erwartete den Grafen mit genau der gleichen Auf— regung, mit der ein Bittſteller aus der Provinz das Erſcheinen des Miniſters erharrt. Die Tür ging auf, und ein ſchöner Mann von zweiunddreißig Jahren trat ein. Der Graf näherte ſich mir mit offener und freundſchaftlicher Miene; ich gab mir Mühe, mich zu faſſen, und wollte damit beginnen, mich vorzuſtellen, aber er kam mir zuvor. Wir nahmen Platz. Seine freie

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und liebenswürdige Unterhaltung bewirkte bald, daß ich meine verwilderte Verlegenheit ablegte. Ich war bereits im Begriff, meine gewöhnliche Laune wieder⸗ zugewinnen, als plötzlich die Gräfin eintrat, und meine Verwirrung noch größer wurde als zuvor. In der Tat, ſie war ſehr ſchön. Der Graf ſtellte mich vor; ich wollte ungezwungen erſcheinen, aber je mehr Mühe ich mir gab, dieſen Eindruck zu machen, um ſo ver⸗ legener wurde ich. Um mir Zeit zu laſſen, mich zu faſſen und mich an die neuen Bekannten zu ge: wöhnen, plauderten die beiden miteinander, wobei ſie mit mir wie mit einem guten Nachbarn ohne alle Steifheit umgingen. Ich ſchritt derweilen auf und ab und betrachtete die Bücher und die Bilder. Ich bin kein Kenner von Bildern, doch zog eines von ihnen ſogleich meine Aufmerkſamkeit an. Es ſtellte irgendeine Schweizerlandſchaft dar; aber es war nicht die Malerei, die mich überraſchte, ſondern der Umſtand, daß das Bild von zwei Kugeln durchbohrt war, von denen die eine auf der andern ſaß. „Ein trefflicher Schuß“, meinte ich zum Grafen. „Allerdings,“ entgegnete er: „ein ſehr bemerkenswerter Schuß. Wie iſt es, ſchießen Sie gut?“ fuhr er fort. „Beſſer als der Durchſchnitt“, entgegnete ich, erfreut, daß das Geſpräch endlich einen mir vertrauten Gegenſtand berührte. „Ich fehle auf dreißig Schritt keine Karte, freilich nur aus einer Piſtole, mit der ich bereits geſchoſſen habe.“ „Wirklich?“ fragte die Gräfin mit großer Aufmerk⸗

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ſamkeit: „Und du, mein Freund, kannſt du wohl eine Karte auf dreißig Schritt treffen?“ „Wir wollen es einmal ſpäterhin verſuchen,“ entgegnete der Graf: ſeinerzeit ſchoß ich nicht ſchlecht; aber es find jetzt vier Jahre her, daß ich keine Piſtole mehr in die Hand ge— nommen habe.“ „Oh, in dieſem Falle möchte ich wetten,“ warf ich ein: „daß Erlaucht auch auf zwanzig Schritte keine Karte treffen würde: die Piſtole erfor— dert tägliche Uebung. Das weiß ich aus Erfahrung. In unſerem Regiment galt ich als einer der beſten Schützen. Einmal jedoch traf es ſich, daß ich einen ganzen Monat hindurch keine Piſtole zur Hand nahm: die meinigen befanden ſich in Reparatur; und was denken Sie wohl, Erlaucht? Als ich das erſtemal wieder ſchoß, fehlte ich viermal nacheinander eine Flaſche auf zwanzig Schritt. Bei uns war damals ein Rittmeiſter, ein luſtiger und witziger Kerl; er war zugegen, als das geſchah, und ſagte: ‚Da ſieht man's, Bruder, du kannſt deine Hand gegen keine Flaſche erheben.“ Nein, Erlaucht, dieſe Beſchäftigung ſoll man nicht vernachläſſigen, ſonſt kommt man ſofort aus der Übung. Der beſte Schütze, dem ich jemals begegnet bin, pflegte jeden Tag zum mindeſten drei: mal vor dem Mittageſſen zu ſchießen. Das war ſo ſeine Gewohnheit, wie ein Schnaps vor dem Eſſen.“ Der Graf und Gräfin freuten ſich, daß ich geſprächig geworden war. „Und wie ſchoß er denn?“ fragte mich der Graf. „Das kann ich Ihnen ſagen, Er—

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laucht: wenn er zum Beiſpiel bemerkte, daß auf der Wand eine Fliege ſaß ... Sie lachen, Gräfin? Weiß Gott, es ИЕ wahr ... Wenn er fo eine Fliege ſah, rief er auch ſchon: ‚Kuſjka, meine Piftole!‘ und Kuſjka brachte ihm augenblicks die geladene Piſtole. Ein Knall, und die Fliege [аб tief in der Wand!“ „Erjtaun: lich!“ meinte der Graf: „Und wie hieß er denn?“ „Sylvio, Erlaucht.“ „Sylvio!“ rief der Graf und ſprang von ſeinem Platz auf: „Kannten Sie Sylvio?“ „Wie ſollte ich ihn nicht kennen, Erlaucht, wir waren ja Freunde; er war von meinem Regiment wie einer unſeresgleichen aufgenommen worden; allerdings iſt es bereits fünf Jahre her, daß ich nicht die geringſte Nachricht von ihm habe. Ich darf wohl mithin an— nehmen, daß auch Sie, Erlaucht, ihn kannten?“ „Ich kannte ihn ſehr genau. Hat er Ihnen niemals von einem ſehr ſonderbaren Vorfall erzählt?“ „Meinen Sie etwa die Ohrfeige, Erlaucht, die ihm auf irgendeinem Ball von einem Tollkopf verſetzt wurde?“ „Und hat er Ihnen nicht ben Namen dieſes Tollkopfes geſagt?“ „Nein, Erlaucht, den hat er mir nicht geſagt ... Ach, Erlaucht!“ fuhr ich fort, denn ich erriet die Wahrheit: „Verzeihen Sie .. ich wußte nicht .. waren Sie es am Ende?“ „Ich war es“, entgegnete der Graf mit einer außergemöhn: lich verſtimmten Miene: „Und das zerſchoſſene Bild dort НЕ ein Andenken an unſere letzte Begegnung.“ „Ach, Liebſter,“ rief die Gräfin, „um Gottes Willen,

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erzähle es nicht, es iſt mir ſchrecklich, davon zu hören.“ „Nein, ich muß es erzählen“, erwiderte der Graf: „Er weiß, auf welche Weiſe ich ſeinen Freund gekränkt habe, ſo ſoll er denn auch wiſſen, wie Sylvio ſich an mir gerächt hat.! Der Graf rückte mir einen Seſſel heran, und mit lebhafteſter Spannung lauſchte ich folgender Erzählung.

„Ich heiratete vor fünf Jahren. Den erſten Monat, the honeymoon, verbrachte ich hier auf dieſem Dorf. Ich verdanke dieſem Hauſe die ſchönſten Minuten meines Lebens und gleichzeitig eine der allerſchwerſten Erinnerungen.

Eines Abends ritten wir beide aus; das Pferd meiner Frau bockte: es hatte ſich über irgendetwas erſchreckt; ſie gab mir die Zügel und ging zu Fuß nach Hauſe. Ich ritt voran. Auf dem Hofe erblickte ich einen Reiſe⸗ wagen; man teilte mir mit, in meinem Kabinett ſäße ein Menſch, der ſeinen Namen nicht geſagt, ſondern einfach erklärt hätte, daß ihn ein Anliegen zu mir führe. Ich trat in dieſes Zimmer hier ein und erblickte in der Dunkelheit einen von Reiſeſtaub bedeckten bärtigen Mannz er ſtand hier an dieſer Stelle vor dem Kamin. Ich näherte mich ihm und verſuchte vergeblich, mich ап fein Geſicht zu erinnern. ‚Du erkennſt mich nicht, Graf?‘ fragte er, und feine Stimme bebte. —, Sylvio! rief ich, und ich muß geſtehen, ich fühlte, wie mir die Haare plötzlich zu Berge ftiegen. ‚Sch bin es‘, fuhr er fort: Ich habe noch einen Schuß gut und reiſte Бег,

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um meine Piſtole abzuſchießen; biſt du bereit?“ Ich bemerkte jetzt erſt, daß aus ſeiner Seitentaſche eine Piſtole hervorſchaute. Ich maß zwölf Schritte ab und ſtellte mich dorthin in die Ecke, wobei ich ihn bat, mög⸗ lichſt ſchnell zu ſchießen, ehe meine Frau zurückkäme. Er zauderte; ſchließlich bat er um Licht. Die Kerzen kamen, ich ſchloß die Türe und gab den Befehl, niemand hereinzulaſſen, darauf bat ich ihn aufs neue, doch endlich zu ſchießen. Er zog die Piſtole aus der Taſche und zielte ... Ich zählte die Sekunden ... Ich dachte nur an meine Frau... Die Minute war furcht⸗ bar! Sylvio ſenkte den Arm. ‚Ich muß bedauern, ſagte er: ‚daß die Piſtole nicht mit Kirſchkernen де: laden iſt ... die Kugel ИЕ zu ſchwer. Es will mir ſcheinen, daß es kein Duell iſt, das hier ſtattfindet, ſondern ein Totſchlag: ich bin nicht imſtande, auf einen Unbewaffneten zu ſchießen. Fangen wir von neuem an; laſſen wir das Los entſcheiden, wer als erſter ſchießen fol.‘ Mein Kopf drehte ſich ... ich glaube, daß ich mich zunächſt nicht damit einverſtan⸗ den erklärte ... Aber endlich wurde noch eine Piſtole geladen; zwei Papiere wurden gefaltet, und er tat dieſe in ſeine Mütze, die ich einſt durchlöchert hatte; ich zog das erſte Los. ‚Du haft ein teufliſches Glück, Graf‘, ſagte er mit einem höhniſchen Lächeln, das ich niemals vergeſſen werde. Ich kann freilich auch heute noch nicht verſtehen, was damals mit mir geſchehen war und auf welche Weiſe er mich dazu

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brachte ... immerhin ich ſchoß und traf das Bild hier.“ (Der Graf wies bei dieſen Worten auf das zer ſchoſſene Bild; fein Geſicht brannte wie Feuer, die Gräfin war blaſſer als ihr Tuch; ich ſtieß einen Aus⸗ ruf aus.) |

„So ſchoß ich denn“, fuhr der Graf fort: „und traf, Gott fei Dank, nicht; und nun begann Sylvio ... (und in dieſem Augenblick war er wahrhaft furchtbar), Sylvio begann auf mich zu zielen. Plötzlich öffnet ſich die Türe, Maſcha fliegt herein und ſtürzt mir mit einem Wimmern um den Hals. Ihre Anweſenheit gab mir die Geiſtesgegenwart zurück. Liebſte,“ ſprach ich zu ihr: ‚ſiehſt du denn nicht, daß wir nur Spaß machen? Wie du dich erſchreckt haſt! Geh, trink ein Glas Waſſer und komm darauf wieder zu uns; ich will dir dann auch meinen alten Freund und Kame— raden vorſtellen.“ Aber Maſcha wollte nicht daran glauben. ‚Sagen Sie, ſpricht mein Mann die Wahr: beit?‘ fragte fie, indem fie ſich zum drohenden Sylvio wandte: ‚ft es wahr, daß Sie nur Spaß treiben?“ ‚Er, Gräfin, treibt immer feinen Spaß“, entgegnete Sylvio: ‚Er gab mir einmal aus Spaß eine Ohrfeige, aus Spaß durchlöcherte er mir dieſe Mütze hier, noch ГоеБеп ſchoß er aus Spaß an mir vorbei; fo iſt denn auch mir die Luft gekommen, einmal zu ſpaßen ... Und bei dieſen Worten wollte er wieder auf mich zielen .. trotz ihrer Anweſenheit. Maſcha lag zu feinen

Füßen. ‚Steh auf, Maſcha, und ſchäm dich!“ ſchrie 31

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ich, faſt toll vor Wut: ‚Und Sie, mein Herr, wollen Sie wohl aufhören, eine arme Frau zu verhöhnen? Werden Sie jetzt ſchießen oder nicht?“ Ich will nicht, entgegnete Sylvio: ‚ich bin befriedigt: ſah ich doch deine Verwirrung und deine Zaghaftigkeit; iſt es mir doch ſogar gelungen, dich zu veranlaſſen, auf mich zu ſchießen. Das genügt mir. Du wirſt an mich denken. Ich überlaſſe dich deinem eigenen Gewiſſen.“ Mit dieſen Worten wandte er ſich, um hinauszugehen, machte jedoch in der Türe halt, blickte das zerſchoſſene Bild an und ſchoß darauf, faſt ohne zu zielen, worauf er verſchwand. Meine Frau lag in tiefer Ohnmacht. Meine Leute wagten nicht, ihn aufzuhalten, und ſahen ihm voll Entſetzen nach; er trat vors Haus, rief ſeinem Kutſcher und fuhr fort, noch eh ich recht meine Geiſtesgegenwart wiedererlangt hatte.“

Der Graf verſtummte. Dies alſo war das Ende einer Geſchichte, deren Anfang mich einſtmals ſo ſehr überraſcht hatte. Ihrem Helden bin ich nicht mehr be⸗ gegnet. Man hat mir ſpäter erzählt, daß Sylvio zur Zeit des Aufſtandes Alexander Ypſilantis eine Ab⸗ teilung der Heteriſten befehligte und in der Schlacht bei Skulleni gefallen ſei.

Der Schneeſturm

Durch den wildverwehten Schnee Meine Roſſe jagen ..

Seitlings von der Straße ſeh Ich die Kirche ragen.

Plötzlich brauſt ein Schneeſturm her;

Dichte Flocken ſchütten;

Schwärzlich ſchwingt ein Rabe ſchwer

Über meinem Schlitten;

Was er krächzt iſt nichts als Leid!

Meine Roſſe ſchauen

Achtſam in die Dunkelheit,

Faſt erſtarrt vor Grauen Schukowskij

Gegen Ende des 181 ften Jahres, in jener Epoche alſo, die für uns ſo denkwürdig geworden iſt, lebte auf ſeiner Beſitzung Nenaradowo der brave Gaw— rila Gawrilowitſch R... Seine Gaſtfreundſchaft und Freigebigkeit waren im ganzen Umkreiſe bekannt, und es verging kein Tag, an dem nicht die Nachbarn ihn beſuchten, um bei ihm zu eſſen und zu trinken oder mit feiner Frau Praskowja Petrowna um fünf Ko: peken Boſton zu ſpielen, oder ſchließlich um die Tochter der beiden, Marja Gawrilowna, anzuſchauen, ein ſchlankes, blaſſes, ſiebzehnjähriges Mädchen. Sie galt allgemein als ein reiches Bräutchen, und viele kamen mit der Abſicht hin, ſie heimzuführen oder für ihre Söhne um ſie zu werben.

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Marja Gawrilownas Erziehung ſtand unter dem Einfluß franzöſiſcher Romane, und daher war es kein Wunder, daß ſie verliebt war. Ihr Erkorener war ein armer Armeeleutnant, der ſich derzeit auf Urlaub Бе: fand und ſein Gütchen bewirtſchaftete. Es verſteht ſich von ſelber, daß der junge Mann von gleicher Leiden: ſchaft verzehrt wurde, und daß die Eltern ſeiner Lieb⸗ ſten dieſe beiderſeitige Neigung bald bemerkten und ihrer Tochter unterſagten, an ihn auch nur zu denken; er wurde in ihrem Hauſe von da ab unfreundlicher als etwa der geringſte verabſchiedete Beiſitzer auf: genommen.

Unſere Liebenden ſtanden in ſtändigem Briefwechſel miteinander und hatten täglich heimliche Zuſammen— künfte in einem Fichtenwäldchen oder bei der alten Kapelle. Dort ſchworen ſie einander ewige Liebe, dort haderten ſie mit dem Schickſal und ſchmiedeten die verſchiedenſten Pläne. Brieflich und mündlich kamen fie (mie es immer geht) auf dieſe Weiſe nach und nach zu folgender Überlegung: da wir ohne einander nicht mehr atmen können, der Wille unſerer grauſamen Eltern jedoch unſerem Glück entgegenſteht, wäre es nicht vielleicht denkbar, daß wir ſchließlich auf dieſe verzichten könnten? Es iſt klar, daß dieſer glückliche Gedanke zunächſt im Kopfe des jungen Mannes ent⸗ ſtand, und daß er der romantiſchen Phantaſie Marja Gawrilownas außergewöhnlich zuſagen mußte.

Der Winter brach an und machte ihren Zuſammen⸗

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fünften ein Ende; um fo lebhafter wurde nunmehr ihr Briefwechſel. In jedem Briefe flehte Wladimir Niko⸗ lajewitſch ſie an, endlich die Seine zu werden und ſich heimlich mit ihm trauen zu laffen; er ſchwor ihr, daß ſie, nachdem ſie ſich einige Zeit hindurch verborgen ge— halten, ſich zu den Füßen der Eltern niederwerfen woll— ten, und verſicherte ihr, daß dieſe ſchließlich, von der heroiſchen Beſtändigkeit und dem Ungemach der Liebenden gerührt, ihnen zweifellos ſagen würden: „Kinder! Kommt in unſere Arme.“

Marja Gawrilowna zauderte lange; ſie verwarf immer wieder die verſchiedenſten Pläne, auf welche Weiſe die Flucht zu bewerkſtelligen wäre. Aber end— lich gab ſie ihre Einwilligung: ſie ſollte an dem feſt— geſetzten Tage auf das Abendeſſen verzichten und ſich unter dem Vorwand heftigen Kopfwehs in ihre Ge— mächer zurückziehen. Ihre Kammerjungfer war in alles eingeweiht worden; die beiden ſollten durch die Hintertüre in den Garten, hinter dieſem würden ſie einen Schlitten finden, in dem ſie Platz zu nehmen und auf ihm die fünf Werſt zwiſchen Nenaradowo und dem Dorf Schadrino zurückzulegen hätten; dort an- gelangt, ſollten ſie geradewegs vor die Kirche fahren, in welcher Wladimir ſie bereits erwarten wollte.

Am Vorabend des entſcheidenden Tages fand Marja Gawrilowna während der ganzen Nacht keinen Schlaf; ſie packte ihre Sachen, ſie legte ihre Wäſche und ihre Kleider zuſammen und ſchrieb ſchließlich einen langen

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Brief an ihre Freundin, die ein ſehr empfindſames Fräulein war, und einen zweiten Brief an ihre Eltern. In den allerrührendſten Ausdrücken nahm ſie von dieſen Abſchied, ſie entſchuldigte ihr Vergehen mit dem unüberwindlichen Trieb ihrer Leidenſchaft und ſchloß damit, daß ſie jene Minute für die glücklichſte ihres Lebens anſehen wolle, da ihr erlaubt würde, ſich zu den Füßen ihrer teuerſten Eltern Vergebung zu er— flehen. Nachdem ſie die beiden Briefe mit ihrem Siegel tulaſcher Arbeit, auf dem zwei lodernde Herzen mit einer geziemenden Überſchrift verſehen abgebildet waren, verſiegelt hatte, warf ſie ſich kurz vor der Morgendämmerung aufs Bett und nickte ein; aber ſie fand auch jetzt keinen Schlaf, denn furchtbare Traum: geſichter weckten ſie unabläſſig auf. Bald war es ihr, als hielte ihr Vater ſie im gleichen Augenblick, da ſie in den Schlitten einſteigen wollte, um zur Trauung zu fahren, zurück und zöge ſie mit einer qualvollen Schnelligkeit über den Schnee und ſtieße ſie in ein dunkles, bodenloſes Erdgewölbe ... und als flöge fie Hals über Kopf mit einem unerklärlichen Erſterben des Herzens herab; bald wieder ſah ſie ihren Wladimir bleich und blutüberſtrömt auf dem Graſe liegen. Ster⸗ bend flehte er ſie mit einer durchdringenden Stimme an, ſich doch in größter Eile mit ihm trauen zu laſſen . . aber es waren auch noch andere grauenhafte und ſinnloſe Erſcheinungen, die an ihr vorüberglitten. Noch blaſſer als ſonſt erhob fie ſich endlich mit einem ſchreck⸗

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Der Schneeſturm

lichen, völlig ungekünſtelten Kopfweh. Der Vater und die Mutter bemerkten ihre Unruhe; ihre zärtliche Auf— merkſamkeit und ihre immer wiederkehrenden Fragen: „Was haſt du, Maſcha? Biſt du nicht krank, Maſcha?“ zerriſſen ihr faſt das Herz. Sie gab ſich Mühe, ſie zu beruhigen und heiter zu erſcheinen, jedoch es gelang ihr nicht. Der Abend brach an. Der Gedanke, daß ſie heute zum letzten Male im Kreiſe ihrer Familie wäre, wollte ihr faſt das Herz abdrücken. Sie war wie leblos; insgeheim nahm ſie von allen Perſonen und allen Gegenſtänden, die ſie umgaben, Abſchied. Es kam die Stunde des Abendeſſens; ihr Herz klopfte heftig. Mit bebender Stimme ſagte ſie, ſie wolle nicht eſſen, und begann darauf, ſich von Vater und Mutter zu verabfchieden. Dieſe küßten fie und ſegneten fie, wie ſie es immer taten; das Mädchen konnte nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten. Als ſie endlich in ihrem eigenen Zimmer war, warf ſie ſich in einen Seſſel und brach in Schluchzen aus. Die Jungfer redete ihr zu, ſich doch zu beruhigen und Mut zu faſſen. Alles war bereit. Nach einer halben Stunde ſollte Maſcha auf immer ihr Elternhaus verlaſſen, ihre Stube und ihr ſtilles Mädchenleben ... Draußen wütete ein Schnee— ſturm; der Wind heulte, die Fenſterläden lärmten und klapperten; wie eine Drohung erſchien ihr das und wie eine traurige Vorbedeutung. Nach kurzer Zeit verſtummte das ganze Haus in tiefem Schlaf. Maſcha hüllte ſich in ihren Shawl, warf einen warmen Mantel

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über, nahm ihre Schatulle und ging durch die Hinter— türe aus dem Hauſe. Die Jungfer trug die zwei Ge⸗ päckſtücke. So kamen ſie in den Garten. Der Schnee⸗ ſturm hatte keineswegs nachgelaſſen; der Wind blies ihr ins Geſicht, als wäre es ſeine Abſicht, die junge Sünderin aufzuhalten. Mit Müh und Not erreichten fie die Gartenpforte. Der Schlitten erwartete fie Бе: reits. Die frierenden Pferde wollten nicht länger ruhig ſtehen; Wladimirs Kutſcher mußte ſich unabläſſig an der Deichſel zu ſchaffen machen, um die unruhigen Tiere zurückzuhalten. Er half dem Fräulein und ihrer Jungfer einſteigen und brachte auch das Gepäck und die Schatulle unter, dann faßte er die Zügel, und in einem Nu flogen die Pferde dahin. Wir aber wollen, nachdem wir das Fräulein der Führung des Schickſals und der Kunſt Tereſchkas, des Kutſchers, anvertraut haben, uns nunmehr unſerem jugendlichen Liebhaber zuwenden.

Wladimir war den ganzen Tag über unterwegs. Am Morgen war er zum Prieſter von Schadrino де: fahren und hatte dieſen nur mit großer Mühe zu überreden vermocht; darauf begab er ſich zu den bee nachbarten Gutsbeſitzern auf die Suche nach Trau⸗ zeugen. Der erſte, zu dem er kam, der verabſchiedete vierzigjährige Kornett Drawin, willigte mit Vergnügen ein. Er beteuerte, daß dieſes Abenteuer ihn an frühere Zeiten und Huſarenſtreiche erinnere. Er überredete Wladimir, bei ihm zu Mittag zu ſpeiſen, und erklärte

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ihm, daß es ein Leichtes fein würde, die zwei übrigen Zeugen herbeizuſchaffen. Und in der Tat, ſogleich nach dem Mittageſſen erſchien, ſchnurrbärtig und ſporenklirrend, der Feldmeſſer Schmitt, mit ihm kam der Sohn des Kreishauptmanns, ein ſechzehnjähriger Burſche, der erſt vor kurzem zu den Lllanen gekommen war. Dieſe nahmen nicht nur alsbald Wladimirs An erbieten an, ſondern ſchworen ihm ſogar ihre Bereit⸗ willigkeit zu, für ihn ihr Leben zu laſſen. Wladimir umarmte ſie begeiſtert und fuhr nach Hauſe, um ſeine Vorbereitungen zu treffen. | Die Abenddämmerung war längft hereingebrochen. Er entſandte ſeinen zuverläſſigen Tereſchka mit der Troika nach Nenaradowo und gab ihm die genaueſten und eingehendſten Verhaltungsmaßregeln mit, für ſich ſelber aber ließ er den kleinen einpferdigen Schlitten an⸗ ſpannen und begab ſich allein und ohne Kutſcher nach Schadrino, da Marja Gawrilowna nach zwei Stunden dort eintreffen mußte. Die Straße war ihm wohlbekannt, er hatte nicht mehr als zwanzig Minuten zu fahren. Allein kaum war Wladimir aus dem Dorf ins Freie gekommen, als der Sturm ſich erhob und ein ſolches Schneetreiben begann, daß er nichts mehr im Umkreiſe erblicken konnte. Nach einer Minute war die Straße pöllig verweht; die Umgebung verſchwand im trüben gelblichbleichen Dunkel, durch welches unabläſſig die weißen Schneeflocken fegten; Erde und Himmel waren eines; Wladimir befand ſich gleich darauf auf offenem

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Felde und gab ſich vergebens Mühe, die Straße wieder zu gewinnen; das Pferd taſtete ſich auf Gutglück vor: wärts und mußte bald über Anhöhen klettern, bald wieder ſtolperte es in eine Grube. Keine Minute verging, ohne daß nicht der Schlitten umſtürzte. Wladimirs einzige Sorge war nur, die Richtung nicht zu verlieren. Doch ſchon war mehr als eine halbe Stunde verſtrichen, und er hatte immer noch nicht das Gehölz von Scha— drino erreicht. Weitere zehn Minuten vergingen und noch immer war nichts vom Gehölz zu ſehen. Wladimir fuhr jetzt über ein Feld, das von tiefen Gräben durchfurcht war. Der Schneeſturm ließ nicht nach, und auch der Himmel wollte ſich nicht aufklären. Sein Pferd ermattete nach und nach, und auch er war bereits von Schweiß durchnäßt, trotzdem er unabläſſig bis an den Gürtel im Schnee ſtak.

Endlich mußte er erkennen, daß er in der falſchen Richtung fuhr. Wladimir hielt an: er überlegte hin und her und kam ſchließlich zur Überzeugung, daß er mehr nach rechts halten müßte. So fuhr er denn nach rechts. Sein Pferd wollte kaum mehr weiter. Er war bereits mehr als eine Stunde unterwegs. Schadrino mußte ganz in der Nähe ſein. Aber immer noch ging es weiter und weiter, und das Feld wollte nicht enden. Immer noch nichts als Gräben und Schneewächten; unabläſſig ſchlug der Schlitten um, und unabläſſig mußte er ihn aufrichten. Die Zeit ver⸗ ging; Wladimir war in großer Unruhe.

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Endlich trat auf einer Seite etwas Dunkles hervor. Wladimir lenkte dorthin. Als er näher kam, ſah ег * ein Gehölz. Gott ſei Dank, dachte er, jetzt iſt es ganz nah. Er fuhr längs des Gehölzes, denn er wußte, daß er entweder ſogleich auf die bekannte Straße kommen, oder aber um das Gehölz herumfahren mußte, denn Schadrino lag gleich dahinter. Bald darauf fand er die Straße und fuhr in das Dunkel der Bäume, die der Winter entblättert hatte. Hier konnte der Sturm nicht ſo wüten, darum war auch die Straße leichter fahrbar; das Pferd wurde munterer, und auch Wladimir beruhigte ſich.

Aber er fuhr und fuhr, und kein Schadrino zeigte ſich; das Gehölz nahm kein Ende. Mit Schaudern bemerkte Wladimir, daß er in einen unbekannten Wald geraten war. Er war ganz verzweifelt. Er ſchlug aufs Pferd ein; das arme Geſchöpf verſuchte, ſich in Trab zu ſetzen, aber nicht lange, und es verſagte, und nach einer Viertelſtunde ging es trotz aller Anſtrengungen des unglücklichen Wladimir nur mehr im Schritt.

Endlich lichteten ſich die Bäume, und Wladimir ließ den Wald hinter ſich, aber vor ihm lag kein Schadrino. Es mußte bereits gegen Mitternacht ſein. Die Tränen fprangen ihm aus den Augen; er fuhr jetzt nur noch aufs Geratewohl dahin. Das Unwetter ließ nach, die Wolken teilten ſich; vor ſeinen Augen breitete ſich eine von einem weißen, ſchöngewellten Teppich bedeckte Ebene. Die Nacht war ziemlich klar. Er gewahrte

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ein Dörfchen in der Nähe, das aus vier oder fünf Ge⸗ bäuden beſtand. Wladimir fuhr hin. Kaum hatte er die erſte Hütte erreicht, da ſprang er aus dem Schlitten, eilte zum Fenſter und begann zu klopfen. Nach eini⸗ gen Minuten wurde der hölzerne Fenſterladen auf— gemacht, und in der Öffnung zeigte ſich ein alter Mann mit grauem Bart. „Was willſt du?“ „Iſt es noch weit bis Schadrino? ! „ОБ es noch weit bis Schadrino iſt? „Freilich! Ob es noch weit iſt? „Nicht ſchlimm: an die zehn Werſt.“ Als Wladimir dieſe Antwort hörte, raufte er ſich die Haare und ſtand regungslos da wie ein zum Tode Verurteilter.

„Von wo kommſt du?“ fuhr der Alte fort. Wladi⸗ mir war es nicht danach, jetzt auf Fragen zu antworten. „Sag mal, Alter,“ ſagte er, „kannſt du mir Pferde verſchaffen, um nach Schadrino zu kommen?“ „Was da, Pferde bei uns“, entgegnete der Bauer. „Könnte ich wenigſtens einen Führer bekommen? Ich zahle wieviel er verlangt.“ „Wart' mal,“ meinte der Alte, den Fenſterladen zuſchlagend, „ich ſchick dir meinen Sohn, er wird dich führen.“ Wladimir wartete. Noch war keine Minute verſtrichen, da klopfte er aufs neue. Der Fenſterladen ging auf, und der Bart kam aufs neue zum Vorſchein. „Was willſt du?“ „Nun, und dein Sohn?“ „Kommt gleich, zieht ſich nur die Stiefel an. Wenn du kalt haſt, komm herein, wärm dich.“ „Danke; ſchick mir nur ſchneller deinen Sohn heraus.“

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Die Pforte knarrte; ein Burſche mit einem Knüppel trat heraus und ging voran; er wies den Weg und fand ihn immer, obwohl die Schneewächten ihn oft verſteckten. „Wie ſpät iſt es?“ fragte Wladimir. „Es wird bald dämmern“ , entgegnete der junge Bauer. Wladimir vermochte kein Wort mehr zu ſagen.

Die Hähne krähten, und es war bereits hell, als ſie Schadrino erreichten. Die Kirche war verſchloſſen. Wladimir entlohnte den Führer und fuhr zum Haus des Prieſters. Sein Dreigeſpann ſtand nicht auf dem Hof. Und welch eine Nachricht erwartete ihn!

Doch kehren wir wieder zu unſeren braven Nena— radowſchen Gutsbeſitzern zurück, und ſchauen wir, was ſich inzwiſchen bei ihnen ereignet hat.

Eigentlich nichts von Belang.

Nachdem die Eltern erwacht waren, gingen ſie wie immer ins Speiſezimmer, Gawrila Gawrilowitſch in ſeiner Nachtmütze und warmen Joppe, Praſkowja Petrowna dagegen im wattierten Schlafrock. Der Sſamowar kam, und Gawrila Gawrilowitſch ſchickte die Jungfer, zu erfahren, wie Marja Gawrilowna fi) befände und wie fie geruht hätte. Die Jungfer kehrte zurück und meldete, daß das Fräulein ſehr ſchlecht geſchlafen hätte, doch daß es ihr jetzt beſſer ginge und daß ſie gleich erſcheinen würde. Und in der Tat öffnete ſich alsbald die Türe, und Marja Gawrilowna trat ein, um Vater und Mutter zu begrüßen.

„Was macht dein Kopf, Maſcha?“ fragte Gawrila

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Gawrilowitſch. „Schon beſſer, Papa“, entgegnete Maſcha. „Du haſt ſicher geſtern zu viel Ofendunſt eingeatmet, Maſcha“, meinte Praſkowja Petrowna.— „Kann ſein, Mama“, entgegnete Maſcha.

Ruhig verging der Tag, zur Nacht aber wurde Maſcha ſehr krank. Man ſchickte in die Stadt nach dem Doktor. Er traf ein, als die Kranke bereits im hohen Fieber lag. Es war ein heftiger Fieberanfall, und zwei Wochen lang ſchwebte die arme Kranke am Rande des Grabes.

Niemand im Hauſe wußte auch nur das geringſte von der beabſichtigten Flucht. Die Briefe, tags zu⸗ vor geſchrieben, waren längſt verbrannt, und die Zofe ſprach zu keinem Menſchen ein Sterbenswörtchen, da ſie den Zorn ihrer Herrſchaft fürchten mußte. Der Priefter, der verabſchiedete Kornett, der ſchnurr⸗ bärtige Landmeſſer und der kleine Ulan waren zurück⸗ haltend und hatten wohl auch Grund dazu. Te⸗ reſchka, der Kutſcher, hingegen ſprach niemals ein übriges Wort, nicht einmal, wenn er betrunken war. Auf dieſe Weiſe wurde das Geheimnis bewahrt, ob— wohl die Zahl der Verſchworenen ein halbes Dutzend überſtieg. Zwar verriet Marja Gawrilowna in ihren unabläſſigen Fieberreden ſelber ihr Geheimnis. Doch da ihre Worte völlig unwahrſcheinlich klangen, ent⸗ nahm die Mutter, die nicht von dem Krankenlager wich, ihnen nur, daß ihre Tochter ſterblich in Wladi⸗ mir Nikolajewitſch verliebt fei, und daß aller Wahr:

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ſcheinlichkeit nach die Urſache dieſer Krankheit Liebe fei. Sie beriet ſich mit ihrem Gatten und einigen Nach: barn, und ſchließlich wurde einſtimmig befchloffen, dies wäre augenſcheinlich Marja Gawrilownas Schickſal, und man könnte dem Erkorenen nicht einmal zu Pferde entrinnen, Armut ſei kein Laſter, und man habe nicht mit dem Reichtum, ſondern mit dem Menſchen zu leben und dergleichen mehr. Dieſe moraliſchen Redens⸗ arten können in Fällen, in denen wir ſelber nichts Rechtes zu unſerer Rechtfertigung erſinnen können, manchmal von erſtaunlichem Nutzen ſein.

Derweilen genas das Fräulein nach und nach. Wladimir hatte ſich im Hauſe Gawrila Gawrilowitſchs lange nicht mehr blicken laſſen. Der Empfang, den er dort immer gefunden, hatte ihn wohl abgeſchreckt. So wurde denn beſchloſſen, ihn holen zu laſſen, um ihm das unerwartete Glück mitzuteilen, daß man ihm die Einwilligung zur Ehe nicht länger vorenthalte. Wie groß jedoch war das Erſtaunen der Nenaradowſchen Gutsbeſitzer, als ſie einen halb tollen Brief von ihm als Antwort auf ihre Einladung erhielten! Er erklärte ihnen darin, daß ſein Fuß niemals wieder ihr Haus betreten würde, und bat, den Unſeligen zu vergeſſen, dem als einzige Hoffnung nur noch der Tod geblieben ſei. Wenige Tage darauf erfuhren ſie, daß Wladimir zur Armee abgereiſt wäre. Dies alles geſchah im Jahre 1812.

Noch lange danach wagte es keiner, dieſen Umſtand

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der geneſenden Maſcha mitzuteilen. Sie ſelber er— wähnte Wladimirs Namen niemals. Aber einige No: nate darauf fiel ſie, als ſie ſeinen Namen unter der Zahl derjenigen fand, die ſich bei Borodino ausge⸗ zeichnet hatten und ſchwer verwundet worden waren, in Ohnmacht, und man fürchtete, das Fieber könnte ſie aufs neue packen. Allein die Ohnmacht hatte, Gott ſei dank, keine üblen Folgen.

Dagegen ſuchte ein anderer Kummer ſie heim: Gaw⸗ rila Gawrilowitſch ſtarb und ließ ſie als Erbin ſeiner Beſitztümer zurück. Aber das Erbe war ihr kein Troſt: ſie teilte den bitteren Kummer der armen Praſkowja Petrowna und ſchwur, ſich niemals von ihr trennen zu wollen; beide verließen Nenaradowo, den Ort ſo vieler trauriger Erinnerungen, und begaben ſich auf das . .. ſche Gut, um fürderhin dort zu leben.

Allein auch dort gab es viele Bewerber, die das liebenswürdige und reiche Bräutchen umſchwirrten; doch gab ſie keinem einzigen von dieſen jemals auch nur zur geringſten Hoffnung Anlaß. Die Mutter redete ihr zwar gelegentlich zu, ſich doch nach einem Kamera— den umzuſehen, aber Marja Gawrilowna ſchüttelte ſtets den Kopf und wurde nachdenklich. Wladimir war längſt nicht mehr am Leben; er war kurz vor dem Einzug der Franzoſen in Moskau geſtorben. Sein Andenken ſchien Marja heilig zu ſein; ſie hatte alles, was an ihn erinnern konnte, ſorgfältig aufgehoben: die Bücher, die er einſtmals geleſen, ſeine Zeichnungen,

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aber auch die Noten und die Gedichte, die er für ſie abgeſchrieben hatte. Die Nachbarn, die natürlich alles wußten, wunderten ſich über eine ſo große Beſtändig⸗ keit und erwarteten voll Neugierde jenen Helden, der ſchließlich und endlich über die traurige Treue der jungfräulichen Artemis obſiegen mußte.

Der Krieg war unterdeſſen ruhmreich zu Ende ge— führt worden. Unſere Regimenter kehrten aus dem Ausland zurück. Das Volk ſtrömte ihnen entgegen. Die Muſik ſpielte die während des Feldzuges erlernten neuen Lieder: Vive Henri- Quatre, Tiroler Walzer und Arien aus der Joconde. Die Offiziere, die zu Beginn des Krieges noch faſt als Jünglinge ins Feld gezogen waren, kehrten, in der Luft des Kampfes zu Männern gereift, mit Orden geziert, zurück. Heiter plauderten die Soldaten miteinander und mengten unabläſſig in ihre Rede deutſche und franzöſiſche Worte. Unver— geßliche Zeit! Zeit des Ruhmes und des Rauſches! Wie ſtark pochte das ruſſiſche Herz beim Namen Bater: land! Wie ſüß waren die Tränen des Wiederſehens! Mit welcher Eintracht verbanden wir damals das Ge: fühl des Nationalſtolzes mit der Liebe zum Herrſcher! Und für dieſen ſelber welch eine Minute für ihn!

Die Frauen, die ruſſiſchen Frauen, waren damals unvergleichlich. Ihre gewöhnliche Kühle war ver— ſchwunden. Ihre Begeiſterung war wahrhaft berau⸗ ſchend, zumal als ſie, die Sieger begrüßend, hurra riefen

„Und in die Luft die Hauben warfen“.

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Die Erzählungen Bjelkins

Iſt wohl einer unter den damaligen Offizieren, der nicht geſtehen wollte, daß er ſeine beſte, ſeine köſtlichſte Belohnung von der ruſſiſchen Frau erhielt?

In jener glanzvollen Periode lebte Marja Gawri⸗ lowna mit ihrer Mutter im ... Gouvernement und ſah wenig davon, wie die beiden Hauptſtädte die Rück⸗ kehr der Heere feierten. Freilich war die allgemeine Begeiſterung in den Landkreiſen und Dörfern vielleicht noch ſtärker. Wenn nämlich ein Offizier an dieſen Orten erſchien, ſo war es ein wahrhafter Triumph⸗ zug für ihn, und ſchlecht ging es in feiner Nachbar: ſchaft dem Liebhaber im Frack.

Wir erwähnten bereits, daß Marja Gawrilowna trotz ihrer Kälte nach wie vor von Bewerbern um— ringt wurde. Aber ſie alle mußten abtreten, als der verwundete Oberſt Burmin mit dem Georg im Knopf: loch in ihrem Palais auftauchte; er war, wie die dortigen Fräuleins ſich ausdrückten, von einer beſon⸗ ders intereſſanten Bläſſe. Er mochte gegen ſechs— undzwanzig Jahre alt ſein. Er war auf ſeine Güter beurlaubt, die in der Nachbarſchaft von Marja Gawrilownas Beſitzung lagen. Marja Gawrilowna zeichnete ihn ſehr aus. Ihre gewöhnliche Verſonnen⸗ heit belebte ſich ein wenig, wenn er in ihrer Nähe war. Man konnte nicht ſagen, daß ſie mit ihm kokettiert hätte; doch wäre ein Dichter, ihr Benehmen gewahrend, ſicherlich in folgende Worte ausgebrochen:

Se amor non 6, che dunche?...

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Burmin war in der Tat ein ſehr liebenswürdiger junger Mann. Er verfügte über jenen Geiſt, der den Frauen ſo gut gefällt: der Geiſt des Anſtandes und der Aufmerkſamkeit, niemals fordernd und ewig forg: los ſpöttiſch. Sein Verhalten Marja Gawrilowna gegenüber war frei und einfach; allein, was immer dieſe auch ſagen oder tun mochte, ſeine Seele und ſeine Blicke folgten ihr hartnäckig. Er ſchien von ſtiller und beſcheidener Gemütsart zu ſein, obwohl ihm das Ge⸗ rücht nachſagte, daß er vormals ein ſchrecklicher Tauge⸗ nichts geweſen, doch ſchadete ihm dieſer Umſtand bei Marja Gawrilowna nicht im mindeſten, denn dieſe wie überhaupt alle jungen Damen entſchuldigte mit Vergnügen all die Schelmereien, die von Verwegen— heit ſprachen und von einem leichtentflammbaren Cha- rakter.

Am meiſten jedoch ... (und zwar mehr als feine Zartheit, mehr als ſeine angenehme Unterhaltung, mehr als ſeine intereſſante Bläſſe, ja mehr noch als ſein verbundener Arm) am heftigſten wurden ihre Neugierde und ihre Phantaſie von der Schweigſam— keit des jungen Huſaren angeregt. Sie konnte es ſich nicht länger verhehlen, daß ſie ihm außergewöhnlich gut gefiel; und vermutlich hatte auch er bei ſeinem Verſtande und ſeiner Erfahrung bereits die Beobach— tung machen können, daß ſie ihn auszeichnete; wie alſo kam es, daß ſie ihn immer noch nicht zu ihren Füßen erblickt und noch immer nicht ſein Geſtändnis

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zu Ohren bekommen hatte? Was hielt ihn wohl zurück? War es die Scheu, die unzertrennbar von wahrer Liebe iſt, war es Stolz oder gar nur das Spiel eines ſchlauen Wüſtlings? Dies war ein Rätſel für ſie. Nachdem ſie ſich den Fall gehörig überlegt hatte, kam ſie zum Eutſchluß, daß der einzige Grund hierzu ſeine Scheu war, und beſchloß darum, ihn durch noch

größere Aufmerkſamkeit, ja, wenn die Gelegenheit es

ergeben ſollte, ihn ſogar durch Zärtlichkeit aufzumun⸗ tern. Sie war auf die allerunwahrſcheinlichſte Löſung des Geheimniſſes gefaßt und erwartete voll Ungeduld die Minute feiner romantiſchen Erklärung. Jedes Фе: heimnis, es ſei wie es wolle, laſtet immer auf dem weiblichen Herzen. Ihre Strategie hatte den ge— wünſchten Erfolg: Burmin wurde zum mindeſten ſo ungemein nachdenklich und heftete ſeine ſchwarzen Augen mit ſolchem Feuer auf Marja Gawrilowna, daß es den Anſchein erwecken mußte, die entſcheidende Minute ſei bereits ſehr nahe herangerückt. Die Nach⸗ barn ſprachen ſchon von der Hochzeit, als von einer beſchloſſenen Tatſache, und die gute Praskowja Pe- trowna freute ſich, daß ihre Tochter endlich einen Bräutigam gefunden, der ihrer würdig war.

Die alte Dame ſaß eines Tages im Wohnzimmer und legte eine Grande-Patience, als Burmin das Ge: mach betrat und ſich ſogleich nach Marja Gawrilowna erkundigte. „Sie iſt im Garten,“ entgegnete die Alte, „gehen Sie nur zu ihr, ich werde derweilen hier auf

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Sie warten.“ Burmin verließ fie, die Alte aber Бе: kreuzigte ſich und dachte: vielleicht geht die Sache heute zu Ende!

Burmin fand Marja Gawrilowna am Teich, wo ſie in ihrem weißen Tuch, ein Buch in der Hand, unter einer Weide wie eine wirkliche Romanheldin ſtand. Nach— dem die erſten Fragen beantwortet waren, unterließ es Marja Gawrilowna mit einer gewiſſen Abſicht, das Geſpräch weiter im Gang zu halten, und verſtärkte hierdurch die beiderſeitige Verwirrung nur noch mehr, ſo daß, um ſie zu löſen, nur noch eine plötzliche und entſcheidende Erklärung möglich war. Das geſchah auch: Burmin, der die ganze Schwierigkeit ſeiner Lage empfand, teilte ihr mit, daß er ſchon längſt nach einer Gelegenheit geſucht hätte, ihr ſein Herz zu enthüllen, und bat um eine Minute der Aufmerkſamkeit. Marja Gawrilowna ſchloß das Buch und ſchlug zum Zeichen des Einverſtändniſſes die Augen nieder.

„Ich liebe Sie“, ſagte Burmin: „Ich liebe Sie mit aller Leidenſchaft ...“ (Marja Gawrilowna errötete und ſenkte den Kopf noch ein wenig tiefer.) „Ich handelte unvorſichtig, als ich mich der lieben Gewohn— heit hingab, der Gewohnheit, Sie täglich zu ſehen und zu hören ..“ (Marja Gawrilowna mußte hierbei an den erſten Brief des St. Preux denken.) „Es iſt be— reits zu fpäf, mich meinem Schickſal zu widerſetzen; die Erinnerung an Sie, Ihr liebliches und unvergleich— liches Bildnis wird von nun ab die Qual und die

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Freude meines Lebens ſein; und ſo bleibt mir jetzt nur noch das eine, Ihnen zur Erfüllung einer ſchrecklichen Pflicht ein gräßliches Geheimnis zu enthüllen und zwiſchen uns beiden eine unüberwindliche Schranke auf⸗ zurichten ...“ „Die hat immer ſchon beſtanden“, unterbrach ihn Marja Gawrilowna lebhaft: „Ich hätte niemals Ihre Frau werden können ...“ „Ich weiß es“, entgegnete er ſtill: „Ich weiß, daß Sie einmal geliebt haben, aber der Tod und drei Jahre der Klage ... Teure Geliebte, Marja Gawrilowna, nehmen Sie mir nicht den letzten Troſt: den Gedanken, daß Sie vielleicht einverſtanden geweſen wären, mein Glück zu teilen, wenn ...“ „Schweigen Sie, um Gottes willen, ſchweigen Sie. Sie peinigen mich.“ „Ja, ich weiß es, ich fühle es, daß Sie die Meine hätten werden können, aber ich bin das unſeligſte Geſchöpf ... ich bin verheiratet.“

Marja Gawrilowna blickte ihn überraſcht an.

„Verheiratet bin ich“, fuhr Burmin fort: „Ich bin bereits das vierte Jahr verheiratet und weiß nicht, wer meine Frau iſt und wo ſie weilt und ob es mir jemals befchieden fein wird, mit ihr zuſammenzutreffen!“

„Was ſagen Sie da?“ rief Marja Gawrilowna: „Wie ſeltſam das iſt! Aber fahren Sie fort; ich muß Ihnen nachher etwas erzählen ... fahren Sie fort, ſeien Sie ſo gut.“

„Es war zu Beginn des 1812 ten Jahres“, erzählte Burmin: „Ich eilte gerade nach Wilna, wo ſich да:

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mals mein Regiment befand. Eines Abends langte ich auf einer Poſtſtation ſpät an und erteilte gerade den Befehl, die friſchen Pferde möglichſt ſchnell an— zuſpannen, als ſich plötzlich ein furchtbarer Schnee— ſturm erhob und der Aufſeher und die Kutſcher mir ſogleich rieten, noch ein wenig zu warten. Ich ließ mich überreden, obwohl eine unerklärliche Unruhe von mir Beſitz ergriff; mir war, als würde ich von ци: ſichtbarer Hand auf etwas zugeſtoßen. Das Wüten des Schneeſturms draußen ließ nicht nach; ſchließlich hielt ich es nicht länger aus und befahl aufs neue an⸗ zuſpannen und fuhr mitten im Sturm davon. Mein Kutſcher faßte den Entſchluß, über den Fluß zu fahren, was unſeren Weg um drei Werſt verkürzen mußte. Da die Ufer völlig verſchneit waren, fuhr der Kutſcher an der Stelle, auf der man ſonſt abbiegt, um wieder die Straße zu gewinnen, vorbei, und unverhofft be- fanden wir uns plötzlich in einer unbekannten Gegend. Der Sturm wollte immer noch nicht nachlaſſen; da ſah ich ein Licht und befahl dem Kutſcher, darauflos zu fahren. Wir kamen bald danach in ein Dorf; in der Dorfkirche war Licht. Die Kirchentür ſtand offen; hinter der Kirchenmauer hielten mehrere Schlitten; unter dem Portal bewegten ſich einige Menſchen. „Hierher! Hierher!“ riefen Stimmen. Ich befahl dem Kutſcher, dorthin zu fahren. „Ich bitte dich, wo warſt du ſo lange?“ redete mich jemand an: „Die Braut liegt in tiefer Ohnmacht; der Prieſter weiß nicht mehr,

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was tun; wir waren ſchon drauf und dran heim⸗ zufahren. Komm ſchnell.“ Stumm ſprang ich aus dem Schlitten und trat in die Kirche, die von zwei oder drei Kerzen düſter erleuchtet war. Auf einer Bank in einer dunklen Kirchenecke ſaß ein Mädchen; eine andere rieb ihr die Schläfen. „Gott ſei Dank!“ ſprach dieſe: „Endlich ſind Sie gekommen. Sie hätten faſt unſer Fräulein getötet.“ Und ſchon näherte ſich mir der bejahrte Prieſter mit der Frage: „Belieben Sie, daß wir beginnen?“ „Beginnen Sie nur, beginnen Sie, Hochwürden“, entgegnete ich zerſtreut. Man richtete das Mädchen auf. Sie ſchien mir hübſch zu fein ... Unbegreiflicher, unverzeihlicher Leichtſinn ... ich ſtellte mich neben ſie vor den Altar: der Prieſter hatte große Eile; die drei Männer und die Jungfer ſtützten die Braut, und waren lediglich mit ihr be— ſchäftigt. So wurden wir getraut. „Jetzt müßt ihr euch küſſen“, ſagte jemand. Meine Gemahlin wendete mir ihr bleiches Geſicht zu. Ich wollte fie küſſen ... Da ſchrie ſie: „O weh, es iſt nicht er! Nicht er iſt's!“ und ſtürzte beſinnungslos nieder. Die erſchreckten Augen der Zeugen lagen auf mir. Ich drehte mich um, verließ unbehindert die Kirche, ſprang in den Wagen und ſchrie: „Vorwärts!“

„Mein Gott!“ rief Marja Gawrilowna: Na Sie wiſſen alſo nicht, was aus Ihrer armen Gemahlin geworden ИЕ?“

„Ich weiß nichts von ihr,“ entgegnete Burmin, „ich

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Der Schneeſtur m

weiß nicht einmal, wie das Dorf heißt, in dem ich getraut wurde, und erinnere mich auch nicht, welche Poſtſtation es war, von der ich abfuhr. Zu jener Zeit legte ich meinem verbrecheriſchen Streich ſo wenig Bedeutung bei, daß ich ſogar, gleich nachdem die Kirche hinter mir lag, eingeſchlafen bin und erſt am nächſten Morgen erwachte, als wir bereits die dritte Pofthalte: ſtelle erreicht hatten. Der Diener, den ich damals bei mir hatte, fiel während des Feldzuges, ſo daß ich nicht die geringſte Hoffnung mehr habe, jene wiederzufinden, der ich ſo grauſam mitgeſpielt habe, und die jetzt ſo grauſam an mir gerächt iſt.“

„Mein Gott, mein Gott!“ rief Marja Gawrilowna und ergriff ſeine Hände: „Sie alſo waren es! und Sie erkennen mich nicht?“

Burmin erblaßte ... und lag zu ihren Füßen.

Der Öargmakder

Sehn wir nicht Särge jedes Jahr Wie welken Weltalls graue Haare? Derſchawin Des Sargmachers Adrian Prochorow letztes Hab und Gut wurde auf den Leichenwagen geſtapelt, und die zwei dürren Klepper ſchleppten ſich zum pierfenmal von der Basmannaja nach der Nikitskaja, denn nach dorthin zog der Sargmacher mitſamt feinem ganzen Haufe um. Er ſchloß den Laden und Бе: gab ſich, nachdem er zuvor an das Haus eine Bekannt⸗ machung genagelt hatte, es wäre zu verkaufen oder zu vermieten, zu Fuß nach ſeiner neuen Behauſung. Aber als er ſich dem gelben kleinen Hauſe, das ſchon ſo lange ſeine Einbildung verlockt und das er ſchließlich für eine anſtändige Summe erworben hatte, näherte, da fühlte der alte Sargmacher plötzlich nicht ohne Ver— wunderung, daß in ſeinem Herzen keine Freude war. Und als er gar die noch ungewohnte Schwelle über: ſchritt und in ſeiner neuen Wohnung nichts als Wirr⸗ warr vorfand, da ſeufzte er faſt ſeinem verwitterten Häuschen nach, denn im Laufe von achtzehn Jahren hatte dort die allerſtrengſte Ordnung geherrſcht; er begann auf ſeine zwei Töchter und die Bedienerin ihrer Saumſeligkeit wegen zu ſchelten und legte ſelber mit Hand an. Die Ordnung war bald hergeſtellt; der Schrein mit den Heiligenbildern, der Geſchirr⸗

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Der SGargmadhıer

ſchrank, ЗИФ, Sofa und Bett ftanden in den gehö— rigen Ecken des hinteren Zimmers; Küche aber und Wohnzimmer wurden von den Erzeugniſſen des Haus— herrn gefüllt: Särge in den mannigfaltigſten Farben und in jeder Größe, ebenſo aber Schränke, voll von Trauerhüten, Trauergewändern und Fackeln. Über dem Haustor prangte ein Schild, auf dem ein Amor dargeſtellt war, in der Hand eine zur Erde geſenkte Fackel, die Unterſchrift aber lautete: „Särge, einfache und angeſtrichene, werden hier verkauft und tapeziert, auch verliehen, und alte werden wieder neu hergerichtet.“ Die Mädchen gingen in ihr Zimmer; Adrian aber ſchritt durch ſeine ganze Behauſung, endlich nahm er am Fenſter Platz und befahl, den Sſamowar aufzu: tragen.

Der aufgeklärte Leſer weiß, daß ſowohl Shake⸗ ſpeare wie auch Walter Scott ihre Grabgräber als luſtige und ſchelmiſche Menſchen ſchilderten, um unſere Phantaſie durch dieſen Kontraſt nur noch heftiger zu treffen. Wir jedoch wollen aus Reſpekt vor der Wahr⸗ heit ihrem Beiſpiel nicht folgen und ſind gezwungen, zu bekennen, daß die Lebensart unſeres Sargmachers ſeinem düſteren Gewerbe völlig entſprach. Adrian Prochorow war meiſtens finſter und nachdenklich. Sein Schweigen unterbrach er eigentlich nur, um auf ſeine Töchter zu pochen, wenn er ſah, daß ſie untätig durchs Fenſter auf die Vorübergehenden guckten, oder um für ſeine Erzeugniſſe jenen, die das

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Die Erzählungen Bjelkins

Unglück (oder auch zuweilen das Vergnügen) hatten, ihrer zu benötigen, geſalzene Preiſe abzufordern. Und ſo ſaß denn Adrian am Fenſter und trank, wie es ſeine Gewohnheit war, die ſiebente Taſſe Tee, ganz ver⸗ ſunken in ſeine ſorgenvolln Gedanken. Er dachte an den Platzregen, der, eine Woche war es her, alle Per: ſonen, die zur Beerdigung des verabſchiedeten Bri⸗ gadiers gekommen waren, noch vor dem Schlagbaum überraſcht hatte. Viele Gewänder waren nachher ein⸗ geſchrumpft, und viele Hüte hatten Krümmungen be⸗ kommen. Er ſah unvermeidbare Ausgaben bevor, denn fein uralter Vorrat an Gewändern zu Leichen: begängniſſen geriet allmählich in einen kläglichen Zu: ſtand. Freilich hoffte er, dieſen Verluſt durch die alte Kaufmannsfrau Trjuchinga wieder hereinzubringen, denn dieſe lag bereits ſeit Jahresfriſt im Sterben. Aber es war ein entferntes Stadtviertel, in dem die Trjuchina ihrem Ableben entgegenſah, und Prochorow fürchtete, daß die Erben, entgegen ihrem Verſprechen, zu läſſig ſein würden, ihn aus einer ſolchen Ent⸗ fernung holen zu laſſen, und daß ſie am Ende mit einem näher wohnenden Lieferanten handelseins wer⸗ den könnten.

Dieſe Gedanken wurden unverſehens durch ein dreimaliges freimaureriſches Klopfen unterbrochen. „Wer da?“ fragte der Sargmacher. Die Tür ging auf, und mit fröhlicher Miene trat ein Mann, dem man bereits auf den erſten Blick den deutſchen

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Der Sargmadher

Handwerker anſah, ins Zimmer und näherte ſich dem Sargmacher. „Um Vergebung, mein werter Herr Nachbar,“ ſagte er mit einer Ausſprache des Ruſ— ſiſchen, die wir auch heute noch nicht, ohne lachen zu müffen, hören können. „Um Vergebung, daß ich Sie ſtöre ... ich beeilte mich, Ihre Bekanntſchaft zu machen. Ich bin ein Schuſter meines Gewerbes und heiße Gottlieb Schulz, ich wohne auf der anderen Seite der Straße in jenem Häuschen, das Ihren Fenſtern gerade gegenüberliegt. Und morgen, da feiere ich meine Silberhochzeit, und wollte Sie und Ihre Töchter gebeten haben, bei mir Ihre Mittags⸗ mahlzeit einzunehmen.“ Dieſe Einladung wurde wohl— wollend angenommen. Der Sargmacher forderte den Schuſter auf, Platz zu nehmen und eine Taſſe Tee zu trinken, und ſchon bald darauf war, dank Gottlieb Schulzens offenherzigem Weſen, ein freundſchaftliches Geſpräch im Gange. „Wie ſteht es mit dem Handel von Euer Liebden?“ fragte Adrian. „Hm,“ ent⸗ gegnete Schulz, „fo fo, ich kann nicht klagen. Aller: dings hält meine Ware keinen Vergleich mit der Ihrigen aus: der Lebende kann auf Stiefel verzichten, der Tote aber kann nicht ohne Sarg ableben.“ „Wahr, wahr,“ warf Adrian ein, „doch wenn der Lebende kein Geld hat, um ſich Stiefel zu kaufen, dann iſt das nicht zu ändern, dann geht er eben barfuß; der Tote aber, der nichts hat, der nimmt ſich eben ſemen Sarg ohne Bezahlung.“ Und auf dieſe Weiſe ſetzte ſich das

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Die Erzählungen Bjelkins

Geſpräch noch einige Zeit hindurch fort, bis endlich der Schuſter aufſtand und vom Sargmacher Abſchied nahm, wobei er nicht verſäumte, ſeine Einladung zu wiederholen.

Pünktlich um die zwölfte Stunde des anderen Tages ſchritten der Sargmacher und ſeine Töchter durch das Pförtchen des neuerworbenen Hauſes und begaben ſich zum Nachbarn. Aber weder gedenke ich hier Adrian Prochorows ruſſiſchen Kaftan noch Aku— [паз und Darjas europäiſierte Kleider zu beſchreiben und weiche in dieſem Falle von den zur Gewohnheit gewordenen Gepflogenheiten der gegenwärtigen Er: zähler ab. Dennoch halte ich es nicht für überflüſſig hinzuzufügen, daß die beiden Mädchen gelbe Hüte trugen und rote Schuhe angezogen hatten, was von ihnen nur bei beſonders feierlichem Anlaß getan wurde.

Die enge Wohnung des Schuſters war voller Gäfte, es waren zum größten Teile deutſche Handwerker, die ihre Frauen und ihre Geſellen mitgebracht hatten. Die ruſſiſche Beamtenſchaft war durch einen Polizei⸗ wächter vertreten, den Finnländer Jurko, der, un⸗ geachtet ſeiner beſcheidenen Stellung, es dennoch ver⸗ ftanden hatte, das beſondere Wohlwollen des Haus: herrn zu erringen. Mit Treu und Glauben, wie jener Poſtillon des Pogorjelskij, verſah er ſchon fünf: undzwanzig Jahre lang ſeinen Poſten. Als die Feuers⸗ brunſt des Jahres 1812 die Hauptſtadt vernichtete, ging auch ſein erbärmliches Hüttchen mit drauf. Aber

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Der Sargmacher

als der Feind vertrieben worden war, erſtand auf der gleichen Stelle ein neues Häuschen, grau mit weißen Kolonnen im doriſchen Stile, und ausgerüſtet mit feiner „Hellebarde“ und dem „Panzer aus Bauern: tuch“ ſchritt Jurko wiederum auf und ab davor. Die meiſten Deutſchen, die in der Nähe des Nikitatores wohnten, kannten ihn: manch einem von ihnen war es bereits zugeſtoßen, die Nacht vom Sonntag auf Montag bei Jurko verbringen zu müſſen. Adrian ſchloß mit ihm, als mit einem Manne, den man früher oder fpäfer doch nötig haben würde, ſogleich nähere Bekanntſchaft, und ſetzte ſich, als die Gäſte darauf zu Tiſch gebeten wurden, neben ihn. Herr und Frau Schulz und ihre Tochter, das ſiebzehnjährige Lottchen, ſpeiſten mit ihren Gäſten am gleichen Tiſche, bewir— teten ſie eifrig und halfen gleichzeitig der Köchin auf— tragen. Bier floß in Strömen. Jurko für vier, und Adrian ſtand ihm in nichts nach, ſeine Töchter jedoch zierten ſich; das in der Hauptſache deutſch ge— führte Geſpräch wurde von Stunde zu Stunde ge— räuſchvoller. Plötzlich bat der Hausherr um Auf— merkſamkeit und rief, einer gut verſiegelten Flaſche den Hals brechend, laut und in ruſſiſcher Sprache: „Auf die Geſundheit meiner guten Luiſe!“ Der Halb— champagner ſchäumte. Zärtlich drückte der Hausherr einen Kuß auf das friſche Geſicht ſeiner vierzigjährigen Freundin, und geräuſchvoll tranken die Gäſte auf die Geſundheit der guten Luiſe. „Auf die Geſundheit

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meiner lieben Gäſte!“ rief der Hausherr und öffnete die zweite Flaſche und die Gäſte bedankten ſich, indem ſie aufs neue ihre Becher leerten. Und nun folgte eine Geſundheit der anderen; man trank auf das Wohl eines jeden einzelnen der Gäſte, man trank auf das Wohl Moskaus und eines ganzen Dutzends deutſcher Städtchen, man trank auf das Wohl ſämt⸗ licher Innungen im allgemeinen und einer jeden ein— zelnen im beſonderen, und man trank auf die Meiſter und auf ihre Geſellen. Adrian trank mit großem Eifer und war ſchließlich ſo luſtig geworden, daß er ſelber einen ſcherzhaften Trinkſpruch ausbrachte. Zuguter⸗ letzt ſchwenkte einer der Gäſte, ein dicker Bäcker, ſeinen Becher und ſchrie: „Die Geſundheit derer, für die wir arbeiten, unſerer Kundleute!“ Freudig und einmütig, wie alle zuvor, wurde auch dieſer Vorſchlag auf— genommen. Die Gäſte verbeugten ſich voreinander, der Schneider vor dem Schuſter, der Schuſter vor dem Schneider, der Bäcker vor beiden, und alle anderen vor dem Bäcker, und ſo ging es weiter. Und durch den Wirbel dieſer allgemeinen Verbeugungen ſchrie Jurko, ſich zu ſeinem Nachbarn wendend: „Nun, und du? trink, Väterchen, auf die Geſundheit deiner Toten!“ Die anderen brachen in ein Gelächter aus, aber der Sargmacher, der ſich für gekränkt hielt, run⸗ zelte die Brauen. Allein niemand bemerkte es, die Gäſte fuhren fort zu zechen, und erſt als die Abendglocken zu läuten begannen, erhob man ſich vom Tiſch.

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Der Sargmacher

Es war ſchon ſpät, als die Gäfte gingen; die meiften von ihnen waren angeheitert. Jurko wurde von dem dicken Bäcker und einem Buchbinder, deſſen Antlitz rötlich wie ein Saffianeinband glühte, unter den Armen gefaßt und zu ſeinem Häuschen geſchleppt, wobei ſie in die ſem Falle die Weisheit des ruſſiſchen Sprichwortes befolgten: Schulden werden ſchön, wenn man ſie zahlt. Betrunken und ärgerlich kam der Sargmacher nach Hauſe. „Was ſoll das, wahrhaftig?“ ſprach er laut. „Worin iſt mein Gewerbe weniger ehrenhaft als das der anderen? Oder iſt der Sargmacher etwa ein Bru— der des Henkers? Worüber lachten die Heiden? Es war meine Abſicht, ſie zur Einweihung der neuen Wohnung einzuladen und ein großes Gelage zu ver— anſtalten, aber nichts dergleichen jetzt! Ich will die einladen, für die ich arbeite: die rechtgläubigen Toten will ich einladen.“ „Was ſoll das, Väterchen?“ unterbrach ihn die Bedienerin, die ihm derweilen die Stiefel auszog: „Was ſchwatzeſt du da? Bekreuzige dich! Tote zur Einweihung der neuen Wohnung zu laden! Hat man fo was gehört!“ „So wahr mir Gott helfe, ich will ſie einladen,“ fuhr Adrian ſort, „und zwar ſchon auf morgen. Erweiſt mir die Ehre, meine Wohltäter, und kommt morgen mich beſuchen; ich will euch vorſetzen, was Gott beſcheert hat.“ Nach: dem er dieſe Worte geſprochen, warf ſich der Sarg— macher auf ſein Bett und ſchnarchte bald darauf. Draußen war es noch ſtockdunkel, da wurde Adrian

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Die Erzählungen Bjelfins

bereits wieder geweckt. Die Kaufmannsfrau Trju⸗ china war in der Nacht geſtorben, und ein Eilbote ihres Verwalters überbrachte Adrian dieſe Nachricht. Der Sargmacher gab ihm ein Zehnkopekenſtück als Trinkgeld, zog ſich in aller Eile an, nahm eine Droſchke und begab ſich dorthin. Vor dem Tore hielt die Po- lizei Wache, und wie Krähen, die einen Leichnam ſpüren, ſchritten Händler auf und ab davor. Gelb wie Wachs, wenn auch noch nicht von der Verweſung ver— unſtaltet, lag der Körper der Verſtorbenen auf einem Tiſch aufgebahrt. Die Verwandten, die Nachbarn und das Geſinde ſcharten ſich im Kreiſe. Alle Fenſter waren geöffnet, Kerzen flackerten, und Prieſter ſprachen ihre Gebete. Adrian näherte ſich dem Neffen der Trju⸗ china, einem jungen Kaufmann in einem eleganten Gehrock nach der Mode, und benachrichtigte ihn, daß der Sarg, die Kerzen, der Überzug und all die anderen zum Leichenbegängnis notwendigen Gegenſtände von ihm ſogleich, und zwar mit der peinlichſten Genauig⸗ keit, herbeigeſchafft werden würden. Der Erbe dankte ihm ein wenig zerſtreut und warf hin, daß er wegen des Preiſes nicht feilſchen wolle, ſondern daß er ſich in allem auf ſeine Rechtſchaffenheit verlaſſe. Der Sargmacher rief daraufhin, wie er dies immer tat, Gott zum Zeu⸗ gen an, daß er nichts Überflüffiges berechnen würde, tauſchte aber gleichzeitig einen bedeutungsvollen Blick mit dem Verwalter und eilte dann fort, alles zu be⸗ ſorgen. Der ganze Tag verging, indem er raſtlos

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Der Sargmader

von jenem Stadtteil zur Nikitapforte hin und her fuhr, gegen Abend aber war endlich alles erledigt, und er begab ſich, nachdem er den Kutſcher bezahlt, zu Fuß nach Hauſe. Die Nacht war mondhell. Ungefährdet erreichte der Sargmacher das Nikitator. An der Himmelfahrtskirche rief ihn der uns bereits bekannte Jurko an, aber als er den Sargmacher erkannte, wünſchte er ihm nur eine geruhſame Nacht. Es war ſchon ziemlich ſpät. Der Sargmacher näherte ſich be- reits ſeinem Hauſe, da war ihm plötzlich, als ſähe er jemand durch das Tor treten, die Türe öffnen und im Innern verſchwinden. „Was ſoll denn das nun wieder?“ überlegte Adrian. „Hat ſchon wieder jemand etwas von mir nötig? Oder ſchlich ſich ein Dieb ein? Oder am Ende Galane, die ſich zu meinen När⸗ rinnen ſtehlen? Jedenfalls nichts Gutes!“ Und ſchon wollte der Sargmacher ſeinen Freund Jurko zu Hilfe rufen. Aber in dem Augenblick näherte ſich wieder einer dem Tor und ſchickte ſich an, hineinzugehen, blieb jedoch, als er den herbeieilenden Hausherrn wahrnahm, ſtehen und lüftete den Dreiſpitz. Das Ge⸗ ſicht kam Adrian bekannt vor, obwohl er in ſeiner Haſt unterließ, ſich die Züge genauer anzuſehen. „Sie geruhten, mich aufzuſuchen,“ ſtieß Adrian noch atem— los hervor, „erweiſen Sie mir doch die Ehre und treten Sie näher.“ „Keine Umſtände, mein Väter⸗ chen“, erwiderte jener dumpf. „Geh nur voran und zeige den Gäſten den Weg!“ Adrian hatte auch gar 5

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Die Erzählungen Bjelkins

nicht die Abſicht, Umſtände zu machen. Die Tür ſtand offen, er ſchritt die paar Stufen hinan, und jener folgte ihm. Adrian ſchien es dabei, als höre er Men⸗ ſchen in ſeiner Wohnung auf und ab gehen. „Was für ein Teufelsſpuk!“ dachte er und beeilte ſich einzu⸗ treten ... aber da verſagten ihm die Beine den Dienſt. Das Zimmer war voll von Toten. Der Mond ſchien durchs Fenſter auf gelbe und bläuliche Geſichter, er zeigte klaffende Münder, gebrochene Augen und ſpitzige Naſen ... Und mit Entſetzen erkannte Adrian eben jene in ihnen, die vermittels feiner Bemühungen Бе: erdigt worden waren; der Gaſt aber, der mit ihm gleichzeitig eingetreten, war jener Brigadier, der während des Platzregens beſtattet worden war. Mit Verbeugungen und Begrüßungen umringten ſie alle, Frauen ſowohl wie Männer, den Sargmacher, und nur ein allerärmſter, der kürzlich umſonſt beerdigt worden war, ſtand zerknirſcht und ſich ſeines Hemdes ſchämend, demütig in einer Ecke und näherte ſich nicht. Die anderen waren alle mit großem Anſtand gekleidet: die Frauenleichname trugen Häubchen und Bänder, die verſtorbenen Beamten hatten ihre Uniform an, freilich waren ihre Bärte ungepflegt, die toten Kaufleute aber wandelten in ihren Feiertagskaftanen. „Siehſt du, Prochorow,“ redete ihn der Brigadier im Namen der ganzen reſpektablen Geſellſchaft an, „auf deine Ein⸗ ladung hin ſind wir alle gekommen, und nur die ſind zu Hauſe geblieben, die ſchon gar nicht mehr konnten,

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Der Gargmader

die ſchon ganz und gar zerfallen find, und jene, die nur noch aus Gerippe ohne Haut beſtehen; aber auch von dieſen wollte einer nicht ſtill halten ſo ſehr verlangte es ihn danach, bei dir zu ſein ..“ Und in dieſem Augenblick drängte ſich ein kleines Skelett durch die Schar und näherte ſich Adrian. Sein Schädel grinſte den Sargmacher liebenswürdig an. Fetzen hellgrünen und roten Tuches und morſcher Leinwand baumelten an ihm wie an einem Gerüſt, und die Beinknochen ſchlotterten in den viel zu weiten Stulpenſtiefeln wie eine Keule im Mörſer. „Du erkennſt mich nicht mehr, Prochorow“, ſagte das Skelett. „Aber erinnerſt du dich nicht an den verabſchiedeten Gardeſergeanten Pjotr Petrowitſch Kurilkin, an jenen, dem du noch im 179 er Jahre deinen erſten Sarg verkaufteſt und dazu noch einen aus Fichtenholz ſtatt aus Eiche?“ Und mit dieſen Worten wollte ihn der Tote in ſeine knöcherne Umarmung ſchließen, aber da nahm Adrian all ſeine Kraft zuſammen, ſchrie auf und ſtieß ihn fort. Pjotr Petrowitſch taumelte, fiel und war auf einmal ganz und gar zerfallen. Ein unwilliges Gemurmel erhob ſich unter den Toten; alle traten für die Ehre ihres Kameraden ein, und rückten Adrian mit Scheltworten und Drohungen zu Leibe, der arme Hausherr aber, betäubt von ihrem Schreien und faſt zerquetſcht, war wie von Sinnen, fiel über die Knochen des verabſchiedeten Gardeſergeanten und verlor das Зе: wußtſein.

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Die Erzählungen Bjelkins

Die Sonne ſchien ſchon lange auf das Bett, in dem unſer Sargmacher lag. Endlich öffnete er die Augen und erblickte die Bedienerin vor ſich, die damit be- ſchäftigt war, den Sſamowar anzufachen. Voller Grauen gedachte Adrian der geſtrigen Erlebniffe. Dunkel kam ihm die Erinnerung an die Trjuchina, an den Brigadier und an Kurilkin, den Sergeanten. Er ſchwieg und wartete darauf, daß die Bedienerin zu ſprechen anfange und ihm von den Folgen des nächtlichen Abenteuers erzähle.

„Väterchen Adrian Prochorowitſch, du haſt dich aber verſchlafen“, ſagte Axinja und reichte ihm feinen Schlafrock. „Der Nachbar, der Schneider, kam vorüber, und der Polizeiwächter kam mit der Nachricht, daß heute der Namenstag des Revier aufſehers ſei, aber du ſchliefſt in einem fort, und wir wollten dich nicht wecken.“

„Und von der verſtorbenen Trjuchina, iſt da jemand gekommen?“

„Von der verſtorbenen? Ja, iſt ſie denn geſtorben?“

„Närrin! Als ob nicht du mir geſtern geholfen hätteſt, alles zu ihrer Beerdigung vorzubereiten?“

„Was ſoll denn das, Väterchen, haſt du wohl gar den Verſtand verloren, oder iſt der geſtrige Rauſch immer noch nicht vergangen? Was für eine Beerdi⸗ gung war denn geſtern? Den ganzen Tag über zechteſt du bei dem Deutſchen, kamſt betrunken nach Hauſe und fielſt geradezu ins Bett und haſt bis zu dieſer

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Der Sargmader

Stunde durchgeſchlafen, da doch ſchon die Glocken das Ende des Mittagsgottesdienſtes geläutet haben.“ „Was du nicht ſagſt!“ meinte erfreut der Sarg⸗ macher. „Freilich, freilich“, entgegnete die Bedienerin. „Nun, wenn ſich das ſo verhält, dann ſchneller her mit dem Tee und ruf meine Töchter.“

Der Poſthalter

Zwar nur Kollegienregiſtrator, Doch in der Poſtſtation Diktator. Fürſt Wjaſemskij

Wer von uns hat noch nie die Poſthalter ver— wünſcht, wer von uns noch nie mit ihnen gehadert? Wer von uns hat in den Augenblicken des Зог: nes ihnen noch nicht jenes ſchickſalvolle Buch ab⸗ gefordert, um feine völlig nußlofe Klage über aller⸗ hand Bedrückungen, Grobheit und Unzuverläſſigkeit hineinzuſchreiben? Und wer endlich hat ſie nicht für den Abſchaum des Menſchengeſchlechtes gehalten, zu vergleichen nur den Amtsſchreibern der alten Zeit, oder zum mindeften den Räubern aus Murom? Allein ſeien wir dieſes Mal gerecht und bemühen wir uns, in ihre Lage einzudringen, um darauf ein bedeutend gemäßigteres Urteil zu fällen. Was ſtellt eigentlich ſo ein Poſthalter vor? Wahrhaftig, er iſt der Märtyrer der vierzehnten Beamtenrangklaſſe, den ſein Titel eigentlich vor nichts als vor Prügeln bewahrt, und auch dieſes nicht einmal immer. (Ich appelliere hier⸗ bei an das Gewiſſen meiner Leſer.) Und welches iſt wohl das Amt dieſes Diktators, wie ihn der Fürſt

Wjaſemskij zum Scherz benannt hat? Wahr und wahrhaftig, iſt es nicht etwas in der Art eines Zucht⸗ hauſes? Keine Ruhe, weder bei Tag noch bei Nacht. Aller Arger, der ſich im Reiſenden während der Dauer

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Der Poſthalter

des langweiligen Wagenfahrens aufgefpeichert hat, wird an dem Poſthalter ausgelaſſen. Ob das Wetter ſchlecht, die Wege abſcheulich, der Kutſcher eigenſinnig, oder ob die Pferde nicht laufen wollen ſchuld an allem ift der Poſthalter. Der Reiſende, der die dürf— tige Behauſung betritt, ſieht ihn als ſeinen Feind an; es ИЕ ein Glück für ihn, wenn es ihm gelingt, den ип: gebetenen Gaſt ſchnell los zu werden; wie aber, wenn er zufällig keine Pferde hat? .. Oh Gott! welche Be⸗ ſchimpfungen, welche Bedrohungen hageln dann auf ſein Haupt herab! Trotz Regen und kotigen Straßen iſt er gezwungen, von Hof zu Hof zu laufen; und wie oft pflegt er bei Sturm oder beim tollſten Froſt auf den Flur hinauszugehen, um nur vor den Schreien und den Püffen des erbitterten Eindringlings Ruhe zu haben. Und wenn erſt ein General kommt; zit⸗ ternd überläßt ihm der Poſthalter ſeine zwei letzten Dreigeſpanne und darunter womöglich ſogar das für die Kuriere beſtimmte. Der General reiſt ab, ohne ſich zu bedanken. Nach fünf Minuten aber Schlitten⸗ glöckchen! ... und ſchon tritt ein Feldjäger herein, der ihm feine Reiſeordre auf den Tiſch haut! ... Überlegen wir ung das einmal gehörig und ſtatt Un— willen zu empfinden, werden unſere Herzen ihn voll aufrichtigen Mitgefühles beklagen. Noch einige Worte: im Verlauf der letzten zwanzig Jahre durchſtreifte ich Rußland nach allen Richtungen; faſt alle Poft: ſtraßen habe ich befahren; mehrere Geſchlechter von

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Die Erzählungen Bjelkins

Kutſchern ſind mir bekannt geworden; es dürfte nur wenige Poſthalter geben, die ich nicht geſehen, nur wenige, mit denen ich nicht zu tun gehabt hätte; den erſtaunlichen Vorrat meiner Reiſeerinnerungen hoffe ich in abſehbarer Zeit herausgeben zu können; für dieſes Mal will ich mich darauf beſchränken zu ſagen, daß bisher das Amt des Poſthalters der Allgemein⸗ heit völlig verkehrt geſchildert worden iſt. Denn dieſe ſo verleumdeten Poſthalter ſind durchweg friedliche Menſchen, von Haus aus dienſtfertig, menſchenliebend, beſcheiden in ihrem Ehrgeiz und keineswegs zu hab⸗ gierig. Aus ihrer Unterhaltung (die ſo häufig von den Herren Durchreiſenden gering geſchätzt wird) kann man viel Merkwürdiges und Belehrendes ſchöpfen. Was mich perſönlich anbelangt, ſo muß ich geſtehen, daß ich die Unterhaltung mit ihnen durchaus dem Ge⸗ ſpräch mit irgendeinem Beamten der ſechſten Rang⸗

klaſſe, der in Staatsdienſten reiſt, vorzuziehen ge⸗

neigt bin. |

Ein jeder kann leicht erraten, daß ich unter dieſem allerehrenwerten Stande der Poſthalter einige Freunde habe. Und in der Tat, ſo iſt es, das Andenken eines von ihnen iſt mir auf immer teuer. Die Umſtände brachten uns einmal zuſammen, und ich habe jetzt die Abſicht, den freundlichen Leſern von ihm zu erzählen.

Es war im Jahre 1816 im Monat Mal, als ich im .. . ſchen Gouvernement auf einer Poſtſtraße, die heuer aufgelaſſen worden iſt, zu fahren hatte. Ich

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Der Poſt halter

war damals ein kleiner Beamter, benutzte die gewöhn⸗ liche Poſt und konnte für nicht mehr als für zwei Pferde zahlen. Die Poſthalter kümmerten ſich infolge— deſſen nicht ſehr um mich, und wie häufig mußte ich mir mit den Fäuſten das erkämpfen, was mir meiner Anſicht nach mit Recht und Billigkeit zuſtand. Da ich damals noch jung und leicht erregbar war, ſchalt ich häufig über die Niedrigkeit und Engherzigkeit des Poſthalters, wenn dieſer letztere das für mich bereif: geſtellte Dreigeſpann vor den Wagen eines höheren Beamten ſpannen ließ. Freilich hat es ebenſolange gedauert, ehe ich mich daran zu gewöhnen vermochte, daß ein allzu wähleriſcher Diener mich während des Diners beim Gouverneur bei einem Gang überging. Jetzt allerdings ſcheint mir ſowohl das eine wie das andere in der Natur der Sache zu liegen. Denn in der Tat, was würde wohl aus uns werden, wenn ſtatt der allgemeinen und bequemen Regel: der höhere Rang hat den Vorrang, etwa ein anderes zum all— gemeinen Gebrauch erhoben würde, wie zum Beiſpiel: der größere Verſtand hat den Vorrang? Welche Strei— tigkeiten müßten hieraus entſtehen! Und bei wem würden wohl die Diener mit dem Servieren beginnen? Aber ich wende mich wieder meiner Erzählung zu.

Es war ein heißer Tag. Wir hatten noch drei Werft bis zur Station“ , als es zu tröpfeln begann, und nach einer weiteren Minute hatte mich ein Platzregen bereits durch und durch durchnäßt. Als wir endlich

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Die Erzählungen Bjelkins

. anlangfen, war es mein erſtes, mich möglichſt ſchnell umzuziehen, darauf beſtellte ich mir einen Tee. „He, Dunja!“ ſchrie der Poſthalter: „Schnell den ©{а: mowar her, und hol Rahm.“ Bei dieſen Worten trat ein vierzehnjähriges Mädchen hinter der ſpaniſchen Wand hervor und lief auf den Flur. Ihre Schönheit überraſchte mich. „Iſt das deine Tochter?“ fragte

ich den Poſthalter. „Freilich iſt es meine Tochter,“ erwiderte er mit der Miene zufriedenen Selbſtgefühles: „Und ſo verſtändig iſt ſie, ſo flink, ganz wie die ver⸗ ftorbene Mutter.“ Er machte ſich daran, meine Reife: ordre in ſein Buch zu ſchreiben, ich aber beſchäftigte mich derweilen mit dem Betrachten der Bilder, die ſeine beſcheidene, aber ſaubere Behauſung ſchmückten. Sie ſtellten die Geſchichte des verlorenen Sohnes dar; auf dem erſten Bild ſah man einen ehrwürdigen Greis mit Schlafrock und Schlafmütze den ruheloſen Jüng⸗ ling ziehen laſſen, der nur noch in aller Eile den väter⸗ lichen Segen und den Beutel mit dem Golde entgegen⸗ nahm. Das zweite Bild ſtellte in grellen Farben das laſterhafte Verhalten des jungen Menſchen dar; er tafelte, umgeben von lügneriſchen Freunden und ſcham⸗ loſen Weibern. Auf einem weiteren Bilde war zu ſehen, wie der ruinierte Jüngling in grober Gewandung, einen Dreiſpitz auf dem Haupt, die Schweine hütete und das Futter mit ihnen teilte; tiefe Trauer und Reue waren auf ſeinem Geſicht zu leſen. Und ſchließlich gab es dann noch die Rückkunft zu ſeinem Vater: immer

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Der Poſthalter

noch in der gleichen Nachtmütze und vom gleichen Schlafrock bekleidet, eilte der gute Alte ihm entgegen; der verlorene Sohn lag auf den Knien; auf dem Hintergrunde des Bildes ſah man den Koch ein ge— mäftetes Kalb ſchlachten und den älteſten Bruder die Diener über die Urſache des Freudenfeſtes befragen. Unter einem jeden der Bilder las ich die dazu paffen: den deutſchen Verſe. Bis zum heutigen Tage hat ſich dieſes in meiner Erinnerung erhalten, genau ſo wie die Blumentöpfe mit den Balſaminen, und das Bett mit dem bunten Vorhang und all die übrigen Gegenſtände, die mich damals umgaben. Und als wäre es heute, ſehe ich immer noch den Hausherrn vor mir, einen Mann von fünfzig Jahren, friſch und rüſtig, im langen grünen Leibrock mit den drei Medaillen an den verblichenen Ordensbändchen.

Ich hatte meine Rechnung mit meinem alten Kutſcher noch nicht ausgeglichen, da kehrte Dunja bereits mit dem Sſamowar zurück. Die kleine Kokette bemerkte ſchon beim zweiten Blick den Eindruck, den ſie auf mich gemacht hatte; ſie ſchlug die großen blauen Augen nieder; ich zog fie ins Gefpräch; fie antwortete mir wie ein Mädchen, das ſchon aller hand von der Welt де: ſehen hat, ohne jede Scheu. Ich machte ihrem Vater den Vorſchlag, ein Glas Punſch mit mir zu trinken; Dunja dagegen bot ich eine Taſſe Tee an, und ſo kamen wir nach und nach zu dritt ins Geſpräch, als wären wir bereits ſeit Ewigkeit bekannt.

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Die Erzählungen Bjelkins

Längſt warteten die Pferde auf mich, aber immer noch wollte ich mich vom Poſthalter und ſeiner Tochter nicht trennen. Endlich ſchieden wir. Der Vater wünſchte mir eine gute Reiſe und die Tochter wollte mir bis zum Wagen das Geleit geben. Ich blieb auf dem Flur ſtehen und bat um Erlaubnis, ihr einen Kuß geben zu dürfen; Dunja willigte ein... Wie viele Küſſe könnte ich aufzählen,

„(ей ich mit derlei mich befaſſe“, doch hat nicht einer von allen eine ſo lange und ſo angenehme Erinnerung in mir zurückgelaſſen.

Einige Jahre vergingen, und wieder einmal führten mich die Umſtände auf der gleichen Poſtſtraße durch die gleichen Ortſchaften. Ich gedachte der Tochter des alten Poſthalters und freute mich bei dem Gedanken, ſie wiederzuſehen. Freilich dachte ich kann es leicht möglich ſein, daß der alte Poſthalter bereits ab⸗ geſetzt iſt, und vermutlich hat ſich Dunja derweilen verheiratet. Auch ſchoß mir der Gedanke an den Tod des einen oder des andern durch den Kopf, und frau: rige Vorgefühle waren es, mit denen ich mich der Poſtſtation näherte. Endlich hielten meine Pferde vor dem Poſthäuschen. Als ich das Zimmer betrat, er— kannte ich ſogleich die Bilder, welche die Geſchichte des verlorenen Sohnes darſtellten, wieder; der Tiſch und das Bett befanden ſich immer noch am gleichen Platz, aber keine Blumen ſchmückten mehr die Fenſter, und ringsum ſprach alles von Hinfälligkeit und Unacht⸗

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ntpſsiĩ tts r h

Der Poftbalter

ſamkeit Der Poſthalter ſchlief, von ſeinem Schafspelz zugedeckt; meine Ankunft weckte ihn und er erhob ſich ... Ja, es war Sſimeon Wyrin, aber wie ſehr hatte er inzwiſchen gealtert! Während er ſich anſchickte, meine Reiſeordre zu kopieren, betrachtete ich ſein graues Haar, die tiefen Runzeln auf dem ſchon ſeit langer Zeit nicht mehr raſierten Geſicht und den gebückten Rücken ich konnte mich nicht genugſam darüber wun— dern, wie ſchnell die drei, vier Jahre vermocht hatten, den rüſtigen Mann in einen ſiechen Greis umzuwan— deln. „Haſt du mich nicht wieder erkannt?“ fragte ich ihn: „Wir beide find doch alte Bekannte.“ „Kann fein,“ entgegnete er rauh: „Dies iſt eine große Straße; viele Durchreiſende find hier ſchon vorüber gekom— men.“ „Und deine Dunja, ift Пе geſund?“ fuhr ich fort. Das Geſicht des Alten verfinſterte ſich. „Gott weiß,“ entgegnete er. „Dann hat ſie ſich wohl verheiratet?“ meinte ich. Aber der Alte gab ſich den Anſchein, meine Frage überhört zu haben, und fuhr murmelnd fort, meine Reiſeordre zu entziffern. Ich ſtellte mein Fragen ein und bat um Tee. Die Neu— gierde plagte mich ſehr, und ich hoffte nur das eine, daß vielleicht der Punſch die Zunge meines alten Be— kannten löſen würde.

Ich täuſchte mich nicht: der Alte lehnte das an— gebotene Glas nicht ab. Ich konnte nur zu bald be— merken, daß der Rum ſeine Finſterkeit ſchwinden machte. Bereits beim zweiten Glaſe wurde er ge—

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Die Erzählungen Bjelkins

ſprächig und jetzt erinnerte er ſich auch meiner, oder gab ſich zum mindeſten den Anſchein, ſich meiner zu erinnern, und ſo erfuhr ich denn von ihm jene Ge⸗ ſchichte, die mich damals ungewöhnlich beſchäftigte und rührte.

„Sie haben alſo meine Dunja gekannt?“ begann er: „Wer hat ſie nicht gekannt. Ach, Dunja, Dunja! War das ein Mädel! Wer immer hier des Weges vorüber kam, ein jeder lobte, keiner tadelte. Die Damen ſchenkten ihr Spitzentücher und Ohrringe. Die durch— reiſenden Herren aber machten unter dem Vorwande, zu Mittag oder zu Abend ſpeiſen zu wollen, häufig halt, geſchah es auch meiſt nur aus dem Grunde, um meine Tochter länger anſchauen zu können. Und wie zornig manch einer der Herren manchmal auch war, er wurde, wenn er ſie erblickte, ſtill und ſprach mit mir im gnädigſten Tone. Ob Sie es glauben oder nicht: ſogar die Kuriere und Feldjäger verplauderten oft halbe Stunden mit ihr. Sie war die Stütze des Hauſes; was auch zu richten und zu machen war, ihr ging alles von der Hand. Und ich alter Narr konnte mich nicht ſatt an ihr ſehen, nicht ſatt freuen konnte ich mich an ihr; hab ich meine Dunja etwa nicht ge⸗ nügend gern gehabt, hab ich mein Kindchen vielleicht zu wenig verwöhnt, war es vielleicht kein gutes Leben, das ſie bei mir hatte? Aber nein, man ſoll das Un⸗ glück nicht ver ſchwören: was fein ſoll, dem entrinnt keiner.“ Und nun erzählte er mir die Geſchichte ſeines

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Der Poſthalter

Kummers mit allen Einzelheiten. Es mochte drei Jahre her fein, da fuhr an einem Winterabend, als der Рой: halter ſich gerade ein neues Buch zurecht linierte und ſeine Tochter ſich hinter der ſpaniſchen Wand ein Kleid nähte, ein Dreigeſpann vor, und ein Reiſender im Militärmantel, eine tſcherkeſſiſche Mütze auf dem Kopf, trat, vom Shawl dicht verhüllt, ins Zimmer und ver⸗ langte Pferde. Aber alle Pferde waren unterwegs. Der Reiſende erhob bei dieſer Auskunft nicht nur ſeine Stimme, ſondern auch ſeine Peitſche; Dunja aber, die an dergleichen Auftritte gewöhnt war, eilte aus ihrem Verſchlag und wandte ſich mit der freundlichen Frage an ihn: „Ob es ihm nicht beliebe, irgend etwas zu ſpeiſen?“ Dunjas Erſcheinen übte die gewohnte Wirkung aus. Der Zorn des Reiſenden verflog; er erklärte ſich einverſtanden, auf die Pferde zu warten, und beſtellte ein Abendeſſen. Er warf ſeine naſſe zottige Mütze ab, wickelte ſich aus dem Shawl und ſtreifte den Mantel ab, und plötzlich kam ein junger ſchlanker Huſar mit einem ſchwarzen Schnurrbärtchen zum Vorſchein. Er richtete ſich beim Poſthalter häuslich ein und begann mit ihm und ſeiner Tochter ein heiteres Geſpräch. Bald darauf kam das Abendeſſen. In: zwiſchen kehrten auch die Pferde wieder heim, und der Poſthalter befahl, ſie augenblicks, ohne ihnen erſt Futter zu geben, an den Wagen des Reiſenden zu ſpannen; als er aber wieder ins Haus trat, ſah er den jungen Mann faſt beſinnungslos auf einer Bank Педей: ihm

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Die Erzählungen Bjelkins

war übel, der Kopf tat ihm weh, und in dieſem Зи: ſtand weiterzureiſen, war für ihn unmöglich... Was tun! Der Poſthalter trat ihm das eigene Bett ab und es wurde beſchloſſen, daß man, wenn es dem Kranken nicht beſſer ginge, am Morgen des andern Tages nach ©... ſchicken wollte, um den Arzt von dort zu holen. Tags darauf fühlte ſich der Huſar ſchlechter. Sein Diener ritt zur Stadt, den Arzt zu holen. Dunja wickelte ihm ein mit Eſſig getränktes Tuch um den Kopf und nahm mit ihrer Näharbeit neben ſeinem Lager Platz. Wenn der Poſthalter zugegen war, ſtöhnte der Kranke beträchtlich und konnte kaum ein Wort hervorbringen, trank aber zum Frühſtück zwei Schalen Kaffee und beſtellte ſich ächzend das Mittageſſen. Dunja wich nicht von ſeiner Seite. Es verging keine Minute, in der er ſie nicht darum gebeten hätte, ihm zu trinken zu geben, und jedesmal brachte ihm Dunja den Krug mit der Limonade, die ſie für ihn zubereitet hatte. Der Kranke benetzte die Lippen und drückte, wenn ег den Krug zu: ` rückgab, zum Zeichen der Dankbarkeit mit ſchwacher Hand Dunjas Hand. Als die Stunde des Mittag⸗ eſſens herankam, erſchien der Arzt. Er fühlte dem Kranken den Puls und fprach darauf einige Zeit hin⸗ durch in deutſcher Sprache mit ihm. Ruſſiſch fügte er hinzu, daß ihm nichts als Ruhe not täte, und daß er ſich nach zwei Tagen bereits wieder auf den Weg machen könnte. Der Huſar händigte ihm für den

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Der Poſthalter

Krankenbeſuch fünfundzwanzig Rubel ein und lud ihn ein, mit ihm zu Mittag zu ſpeiſen. Der Arzt willigte ein; beide ſpeiſten mit großem Appetit, tranken eine Flaſche Wein und ſchieden im beſten Einvernehmen voneinander.

Ein weiterer Tag verging, und unſer Huſar wurde immer lebendiger. Seine Laune war außergewöhn— lich gut, er ſcherzte ohne Unterlaß bald mit Dunja und bald wieder mit dem Poſthalter. Er pfiff, er unterhielt ſich mit den Durchreiſenden, er trug ihre Reiſeordres in das Poſtbuch ein und ſtahl ſich der⸗ maßen in das Herz des rechtſchaffenen Poſthalters, daß es dieſem am dritten Morgen geradezu leid tat, ſich von dem liebenswerten Gaſt zu trennen. Es war ein Sonntag; Dunja ging gerade zur Meſſe. Der Wagen des Huſaren fuhr vor. Er nahm vom Poſt— halter Abſchied, nachdem er ihn zuvor für Aufenthalt und Verköſtigung reich entlohnt hatte. Als er von Dunja Abſchied nahm, ſchlug er ihr vor, ſie bis zur Kirche zu fahren, die ſich am äußerſten Rande des Dörfchens befand. Dunja war unſchlüſſig ... „Wo⸗ vor fürchteſt du dich?“ fragte der Vater. „Seine Hochwohlgeboren iſt doch kein Wolf und wird dich nicht freſſen; fahr du nur ruhig mit ihm zur Kirche.“ Dunja nahm im Wagen neben dem Huſaren Platz, der Diener ſprang auf den Bock, der Kutſcher pfiff und die Pferde zogen an.

Der arme Poſthalter konnte nicht begreifen, wie es

möglich geweſen, daß er ſelber ſeiner Dunja erlaubt

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Die Erzählungen Bjelkins

hatte, mit dem Huſaren zu fahren, und aus welchem Anlaß er ſo mit Blindheit geſchlagen worden war, und was damals wohl mit ſeinem Verſtande geſchehen fei? Es verging keine halbe Stunde, da fing es in feinem Herzen zu bohren an und nach und nach ergriff Unruhe ſo ſehr Beſitz von ihm, daß er es nicht länger aushielt und ſelber in die Meſſe lief. Als er ſich der Kirche näherte, bemerkte er, daß alle Leute bereits fortg ingen, Dunja aber war weder innerhalb der Kirchenmauern noch vor der Kirche zu erblicken. Er eilte in die Kirche: der Prieſter verließ gerade den Altar, der Mesner blies die Kerzen aus; zwei alte Frauen beteten in einer Ecke, allein Dunja war auch in der Kirche nicht zu gewahren; der arme Vater brachte es über ſich, den Mesner zu fragen, ob fie wohl zur Meſſe gekommen ſei? Der Mesner antwortete, fie fei nicht dageweſen. Halbtot kam der Poſthalter nach Hauſe. Eine einzige Hoffnung war ihm geblieben: es konnte immerhin möglich ſein, daß Dunja aus jugendlichem Leichtſinn beſchloſſen hatte, bis zur nächſten Poſtſtation mitzu⸗ fahren, wo ihre Taufpatin lebte. In qualvoller Er⸗ regung erwartete er die Zurückkunft des Dreigeſpanns, mit dem er ſie hatte fortfahren laſſen. Aber der Kutſcher wollte und wollte nicht wiederkommen. Endlich, als es ſchon Abend geworden war, kehrte er allein und betrunken zurück und überbrachte ihm die tödliche Mitteilung: „Dunja iſt von jener Poſtſtation aus mit dem Huſaren weitergefahren.“

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Der Poſthalter

Die ſer Schlag war für den Alten zu ſchwer: er mußte ſich auf der Stelle ins Bett legen, und zwar in das gleiche Bett, in dem noch in der Nacht zuvor der junge Betrüger gelegen hatte. Jetzt erſt erriet der Poſthalter, nachdem er alle Umſtände im Geiſt an ſich vorüberziehen ließ, daß jene Krankheit nur erheuchelt war. Lange lag der Armſte an heftigem Fieber dar⸗ nieder: man transportierte ihn nach © ..., an feine Stelle trat zeitweilig ein anderer. Zufällig kurierte ihn der gleiche Arzt, der zu dem Huſaren gerufen worden war. Er beteuerte dem Poſthalter, der junge Mann ſei damals ganz geſund geweſen, er, der Arzt, hätte freilich ſchon damals feine böswillige Abſicht erraten und nur aus Furcht vor der Knute geſchwiegen. Ob nun der Deutſche die Wahrheit ſprach, oder ob er nur mit ſeiner Weitſichtigkeit prahlte, auf jeden Fall konnte ſeine Mitteilung dem armen Kranken keinen Troſt bringen. Kaum daß er von ſeiner Krankheit geneſen war, erbat ſich der Poſthalter von ſeinem Vorgeſetzten einen achtwöchigen Urlaub und begab ſich, ohne auch nur ein Wörtchen über ſeine Abſicht zu verlieren, zu Fuß auf den Weg, um ſeine Tochter wiederzufinden. Aus der Reiſeordre hatte er erſehen, daß der Rittmeiſter Minskij von Smolensk nach Peters⸗ burg gereiſt war. Der Kutſcher, der ihn gefahren, hatte ausgeſagt, Dunja habe den ganzen Weg über geweint, obwohl es keineswegs den Eindruck gemacht hätte, daß ſie nicht aus eigenem Antriebe mitführe. „Vielleicht,“

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Die Erzählungen Bjelkins

dachte der Poſthalter, „vielleicht bringe ich mein ver⸗ irrtes Schäfchen dennoch wieder heim.“ Mit dieſem Gedanken kam er in Petersburg an und fand Unter⸗ kunft im Hauſe eines verabſchiedeten Unteroffiziers, der ſein alter Regimentskamerad war; von hier aus machte er ſich auf die Suche. Er erfuhr nach kurzer Zeit, daß der Rittmeiſter Minskij in Petersburg weile und im Wirtshaus von Demuth wohne. Der Poft: halter entſchloß ſich, ihn aufzuſuchen.

Es war eine frühe Morgenſtunde, als er das Bor: zimmer betrat und die Bitte ausſprach, man möge Seiner Hochwohlgeboren melden, ein alter Soldat bäte darum, von ihm empfangen zu werden. Der Burſche, der gerade die auf Leiſten geſchlagenen Stie⸗ fel putzte, erwiderte, daß ſein Herr noch ſchlafe, und daß er vor elf Uhr niemand empfangen könnte. Der Poſthalter ging fort und kehrte um die angegebene Zeit wieder zurück. Und dieſes Mal kam Minskij im Schlafrock und roter Mütze ſelber zu ihm heraus. „Was willſt du, Bruder?“ fragte er. Das Herz des alten Mannes kochte, Tränen traten ihm in die Augen, und mit bebender Stimme rief er nichts als dies: „Euer Hochwohlgeboren! ... erweiſen Sie mir die himmliſche Gnade! ... Minskij ſah ihn flüchtig an, errötete tief, packte ihn am Arm und zog ihn in ſein Kabinett, deſſen Türe er hinter ſich ſchloß. „Euer Hochwohlgeboren!“ fuhr der Alte fort: „Was geſchehen iſt, iſt geſchehen;

aber geben Sie mir wenigſtens meine arme Dunja

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Der Poſthalter

wieder zurück. Sie haben ja genugſam Ihre Luſt an ihr gehabt; ſtoßen Sie ſie nicht völlig ins Verderben.“ „Was geſchehen ift, kann man nicht wieder rüd- gängig machen,“ erwiderte der junge Mann in äußer⸗ ſter Verwirrung: „Ich trage eine große Schuld vor dir und bin bereit, dich um Verzeihung zu bitten, aber denke ja nicht, daß ich Dunja je verlaſſen könnte: ich verſpreche dir mit meinem Ehrenwort, ſie glücklich zu machen. Was willſt du von ihr? Sie liebt mich; ſie wird ſich nie mehr in ihre vorherige Lage zurüͤckfinden können. Und weder du noch ſie, keines von euch wird je vergeſſen können, was geſchehen iſt.“ Er ſtopfte ihm darauf etwas hinter den Armelaufſchlag, öffnete die Tür und ſogleich befand ſich der Poſthalter, er wußte ſelber nicht wie, auf der Straße.

Lange ſtand er dort regungslos. Endlich bemerkte er zuſammengefaltetes Papier in ſeinem Armelauf⸗ ſchlag; er nahm es heraus, glättete es und erkannte einige zerknüllte Fünfzig⸗Rubelſcheine. Tränen traten wiederum in ſeine Augen, freilich dieſes Mal Tränen des Unwillens! Er ballte die Papiere in ſeiner Fauſt zuſammen, warf fie zu Boden, ſtampfte mit dem Ab⸗ Гав darauf und ging weiter ... Aber er ging nur wenige Schritte, dann blieb er aufs neue ſtehen und überlegte ... und kehrte zurück ... doch da waren die Scheine bereits nicht mehr da. Ein gutgekleideter junger Mann lief, als er ihn erblickte, zu einer Droſchke, ſprang haſtig hinein und ſchrie: „Vor—

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wärts! ...“ Der Poſthalter dachte nicht daran, ihn zu verfolgen. Er faßte den Entſchluß, wieder zu ſeiner Poſtſtation heimzukehren, allerdings wollte er vorher noch einmal ſeine arme Dunja wiederſehen. Zu dieſem Zwecke ſuchte er nach zwei Tagen Minskij noch einmal auf; doch deſſen Burſche ſagte ihm rauh, daß ſein Herr niemand empfange, und drängte ihn aus dem Vorzimmer, worauf er ihm die Türe vor der Naſe zuſchlug. Der Poſthalter ſtand einige Zeit vor der Türe und ging dann ſeines Weges.

Am Abend des gleichen Tages ſchritt er, nachdem er einem Gottesdienſt in der „Aller-Betrübten: Zuflucht“ Kirche beigewohnt hatte, die Litejnajaſtraße entlang. Plötzlich jagte eine elegante Equipage an ihm vor— über, in welcher der Poſthalter Minskij ſitzen ſah. Die Equipage hielt vor dem Eingang eines dreiſtöckigen Hauſes, der Huſar eilte die Freitreppe hinan. Dem Poſthalter kam ein glücklicher Gedanke. Er ſchritt zurück und fragte den Kutſcher: „Weſſen Pferd iſt das, Bruder?“ und fuhr fort: „Iſt es nicht Minskijs Pferd?“ „Freilich,“ entgegnete der Kutſcher: „Willſt du was von ihm?“ „Hör mal: dein Herr hat mir befohlen, ſeiner Dunja ein Billett zu bringen, und ich habe ganz vergeſſen, wo dieſe Dunja eigentlich wohnt.“ „Na hier doch, im zweiten Stock. Du kommſt mit deinem Billett zu ſpät, Bruder; er iſt be- reits bei ihr.“ „Macht nichts,“ entgegnete der Poſthalter, während ſein Herz unbeſchreiblich pochte:

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„Ich danke dir, daß du es mir geſagt Бай, ich will trotzdem meinen Auftrag ausführen.“ Er ſchritt mit dieſen Worten die Treppe hinan.

Die Tür war verſchloſſen; er läutete. Einige Se— kunden verſtrichen in qualvoller Erwartung. Endlich klirrte der Schlüſſel, man öffnete ihm. „Wohnt hier Amdotja Sſimeonowna?“ fragte er. „Sie wohnt hier“, entgegnete eine jugendliche Zofe: „Was willſt du von ihr?! Der Poſthalter ſprach kein Wort, ſondern betrat ſtumm den Salon. „Das geht nicht; aus: geſchloſſen!“ rief ihm die Zofe nach. „Awdotja Sfi: meonorona hat Beſuch.“ Jedoch der Poſthalter hörte nicht auf ſie, ſondern ſchritt ruhig weiter. Die beiden erſten Zimmer waren dunkel, das dritte war er— leuchtet. Er näherte ſich einer geöffneten Türe und blieb ſtehen. Nachdenklich {аб Minskij in einem präch- tig eingerichteten Gemach, Dunja aber ſaß, nach der letzten Mode gekleidet, auf der Armlehne ſeines Seſſels, wie eine Reiterin auf dem engliſchen Sattel. Ihre Blicke ruhten voll Zärtlichkeit auf Minskij, und ſie wickelte ſeine ſchwarzen Locken um ihre ſchimmernden Finger. Armer Poſthalter! Noch niemals war ihm feine Tochter fo ſchön erſchienen; er blieb unmillfür- lich ſtehen, um den Anblick recht zu genießen. „Iſt dort jemand?“ fragte ſie, ohne aufzuſehen. Er ſchwieg noch immer. Dunja ſchaute, da ſie keine Antwort er— hielt, auf .. . und fiel mit einem Schrei auf den Tep— pich nieder. Der erſchreckte Minskij ſprang auf, um

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ſie aufzuheben, doch ließ er, als er den in der Türe ſtehenden alten Poſthalter bemerkte, Dunja ſein und trat zornbebend an ihn heran. „Was willſt du noch?“ ſprach er und knirſchte mit den Zähnen: „Warum ſchleichſt du mir wie ein Räuber nach? Willſt du mich vielleicht umbringen? Mach, daß du hinauskommſt!“ Mit dieſen Worten packte er den alten Mann mit ſtar⸗ Вет Arm am Kragen undſtieß ihn auf die Treppe hinaus.

Der Alte kam wieder in ſein Abſteigequartier. Der Freund riet ihm, Klage zu führen, aber der Poſthalter überlegte lange und entſchloß ſich zuletzt, es nicht zu tun. Zwei Tage danach verließ er Petersburg und kehrte wieder zu ſeiner Poſtſtation zurück, um dort ſeine Tätigkeit von neuem aufzunehmen. „Es iſt jetzt das dritte Jahr,“ mit dieſen Worten beſchloß er ſeine Erzählung, „daß ich hier ohne Dunja lebe und von ihr keinerlei Nachricht habe, Gott allein weiß, ob ſie noch am Leben iſt. Es iſt alles möglich. Sie iſt nicht die erſte und wird nicht die letzte ſein, die ſo ein durch⸗ reiſender Taugenichts verführt und mit ſich nimmt und zum Schluß verſtößt. Viele ſolcher junger När⸗ rinnen gibt es in Petersburg. Heute gehen ſie in Atlas und Samt, aber ſchon morgen kehren ſie die Straße gemeinſam mit dem Abſchaum aus den Kneipen. Und wenn ich dann zuweilen denke, daß auch Dunja vielleicht auf die gleiche Weiſe zugrunde gehn wird, begehe ich unwillkürlich die Sünde, ihr lieber das Grab zu wünſchen ...“

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Der Poſthalter

Dies war die Erzählung meines Freundes, des alten Poſthalters, eine Erzählung gelegentlich von Tränen unterbrochen, die er, wie der getreue Terentjitſch in der ſchönen Ballade von Dmitrijew, maleriſch mit ſeinem Rockſchoß trocknete. Zum Teil mochte aller— dings wohl auch der Punſch an dieſen Tränen ſchuld ſein, von dem er im Verlauf der Erzählung fünf Gläſer zu ſich nahm; wie dem aber immer ſei, ſie rührten mein Herz. Und als ich mich von ihm trennte, konnte ich den alten Poſthalter lange nicht vergeſſen und dachte noch lange an die arme Dunja zurück

Kürzlich kam ich wieder einmal durch jenes Drt- chen . .. und gedachte aufs neue meines Freundes; aber man teilte mir mit, daß die Poſtſtation, auf der er regiert hatte, jetzt aufgelaſſen worden ſei. Auf meine Frage, ob der alte Poſthalter noch am Leben ſei, konnte ich keine befriedigende Auskunft erhalten. So beſchloß ich denn, die mir wohlbekannte Gegend aufzuſuchen, mietete Pferde und begab mich zum Dorf N.

Es war im Herbſt. Blaßgraue Wolken zogen am Himmel; über die abgemähten Felder fegte ein kalter Wind, der die roten und gelben Blätter von den Bäumen ſchüttelte. Ich kam erſt um Gonnenunter- gang im Dorf an und ſtieg im Poſthäuschen ab. Im Flur (wo mich einſtmals die arme Dunja geküßt hatte) kam mir ein dickes Weib entgegen und antwortete auf

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Die Erzählungen Bjelkins

meine Frage, es ſei ſchon über ein Jahr her, daß der alte Poſthalter geſtorben, und jetzt lebe ein Bierbrauer in dem Haufe und fie ſelber wäre die Frau des ег: brauers. Mir tat leid, daß meine Fahrt vergebens geweſen, und daß ich ſieben Rubel zwecklos aus⸗ gegeben hatte. „Woran iſt er denn geſtorben?“ fragte ich die Frau des Bierbrauers. „Am Trunk, Vä⸗ terchen,“ entgegnete fie. „Und wo hat man ihn begraben?“ „Hier ſelbſt auf dem Friedhof, neben ſeiner verſtorbenen Frau.“ „Wäre es möglich, daß mich jemand zu dem Grabe führt?“ „War: um denn nicht? He, Wanjka! laß jetzt endlich die Katze. Führ den gnädigen Herrn zum Friedhof und zeig ihm das Grab des Poſthalters.“

Bei dieſen Worten lief ein abgeriſſener, rothaariger und einäugiger Bub aus dem Zimmer und führte mich ſchnurſtracks zum Friedhof.

„Haſt du den Verſtorbenen noch gekannt?“ fragte ich ihn, während wir zum Friedhof gingen.

„Ob ich ihn gekannt habe! Er hat mich doch де: lehrt, Rohrpfeifen ſchnitzen. Wenn er (Gott habe ihn felig!) manchmal aus der Schenke kam, liefen wir hinter ihm her und ſchrien: Großväterchen, Groß⸗ väterchen! Nüſſe!“ und immer ſchenkte er uns dann Nüſſe. Immer ſpielte er mit uns.“

„Erinnern ſich eigentlich die Reiſenden noch ſeiner?“

„Jetzt gibt es wenig Reiſende; nur hier und da kommt es vor, daß der Beiſitzer bei uns einkehrt, aber

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Der Poſthalter

der kümmert ſich nicht um Tote. Neulich im Sommer reiſte hier freilich eine Dame durch, die fragte nach dem alten Poſthalter und hat dann auch ſein Grab beſucht.“

„Was war das für eine Dame?“ fragte ich neugierig.

„Eine ſchöne Dame war es“, entgegnete der Bub: „Sie reiſte in einem ſechsſpännigen Wagen, und drei junge Herrchen und eine Amme und ein ſchwarzes Hündchen waren mit ihr, doch als man ihr ſagte, daß der alte Poſthalter geſtorben ſei, brach ſie in Tränen aus und ſprach zu den Kindern: „Bleibt jetzt hier, ich will derweilen zum Friedhof gehen.“ Ich wollte ſie eigentlich hinführen, aber die Dame ſagte: „Ich kenne den Weg.“ Und gab mir einen ſilbernen Fünfer ... So eine gute Dame war das!“

Wir kamen zum Friedhof. Es war ein freier, von keiner Mauer eingezäunter, von keinem Baum be— ſchatteter Platz mit unzähligen Holzkreuzen. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen ſo traurigen Friedhof geſehen.

„Hier iſt das Grab des alten Poſthalters“, ſagte der Bub und ſprang auf einen Sandhügel, auf dem ein ſchwarzes Kreuz mit einem kupfernen Heiligen: bilde ragte.

„Und die Dame, kam ſie hierher?“ fragte ich.

„Sie kam hierher“, entgegnete Wanjka: „Ich be— obachtete ſie von fern. Sie warf ſich nieder und blieb lange liegen. Kurze Zeit danach ging die Dame ins

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Die Erzählungen Bjelkins

Dorf, ließ den Prieſter holen und gab ihm Geld, und dann fuhr ſie fort, nür aber hat ſie einen ſilbernen Fünfer gegeben ... es war eine ausgezeichnete Dame!“

Auch ich gab dem Buben einen Fünfer und be⸗ dauerte nicht mehr, daß ich die Fahrt gemacht, noch die ſieben Rubel, die ich dabei ausgegeben hatte.

Das Fräulein als Bäuerin

In allen Kleidungen gefällſt du, Seelchen, mir. Bogdanowitſch у а Petrowitſch Bereſtows Beſitzung lag in einem der entfernteſten Gouvernements unferes Reiches. Er war in feiner Jugend Gardeoffizier geweſen, hatte zu Beginn des Jahres 1797 ſeinen Abſchied ge— nommen und ſich ſogleich auf fein Dorf begeben, von wo er ſeit der Zeit nicht wieder fortgekommen war. Er hatte ein armes Edelfräulein geheiratet, die bald darauf und gerade zu einer Zeit, da er auf der Jagd war, im Wochenbette ſtarb. Die Be⸗ wirtſchaftung ſeines Gutes tröſtete ihn bald. Er er⸗ baute ſich ein Haus nach ſeinen eigenen Plänen, errichtete eine Tuchfabrik, vermehrte feine Ein: künfte und hielt ſich wahrhaftig für den klügſten Menſchen im ganzen Ulmkreiſe, und feine Nachbarn, die zu ihm reiſten und oft mit ihren ganzen Familien, ja fogar mit ihren Hunden bei ihm logierfen, wider— ſprachen ihm hierin nicht. An Wochentagen trug er eine Plüfchjoppe, an Feiertagen zog er dagegen einen Rock, der aus hausgefertigtem Tuch war, an, und ſchrieb eigenhändig alle Ausgaben ins Buch ein; außer den Senatsnachrichten kannte er keinerlei Lek⸗ türe. Man hatte ihn, obwohl er für ſtolz galt, all—⸗ gemein recht gern. Und nur Grigorij Iwanowitſch

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Die Erzählungen Bjelfins

Muromskij, fein nächſter Nachbar, lebte ewig in Un⸗ frieden mit ihm. Dieſer war ein wahrhaft ruſſiſcher Edelmann. Nachdem er in Moskau den größten Teil ſeines Beſitztums verſchleudert hatte und zuguterletzt Witwer geworden war, begab er ſich auf das letzte Dorf, das ihm verblieben, und fuhr dort fort, Unfug zu treiben, allerdings auf neue Weiſe. Er legte einen engliſchen Garten an, der faſt ſeine geſamten ihm noch verbliebenen Einkünfte verſchlang. Seine Stallknechte kleidete er durchweg in der Art der engliſchen Jockeis. Für feine Tochter engagierte er eine engliſche Haus: dame. Seine Felder ließ er nach engliſcher Methode bearbeiten, „doch auf die fremde Art gedeiht kein Korn in Rußland“,

und fo kam es denn, daß Grigorij Jwanowitſchs Ein: künfte trotz der bedeutenden Verringerung der Aug: gaben keineswegs zunahmen; er fand ſogar noch in der Einöde neue Wege, um neue Schulden zu machen; und dennoch galt er trotz alledem als ein keineswegs dummer Menſch, war er doch der erſte aus der Schar der Gutsbeſitzer dieſes Gouvernements geweſen, der auf die Idee gekommen war, ſeine Beſitzung beim Vormundſchaftsgericht zu verpfänden, was eine Sache war, die zu der damaligen Zeit noch als außerordent⸗ lich verwickelt und verwegen galt. Freilich gab es auch Menſchen, die ihn deswegen verurteilten, und unter dieſen war Bereſtow wohl der ſtrengſte. Ein Haupt⸗

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Das Fräulein als Bäuerin

zug feines Charakters war nämlich fein Haß gegen alle Neuerungen. Es war ihm unmöglich, ſich der Anglomanie ſeines Nachbarn gleichgültig gegenüber⸗ zuſtellen. Darum fand er in allem und jedem eine Gelegenheit, jenen zu kritiſieren. So pflegte er zum Beiſpiel, wenn er irgendeinem Gaſt ſeine Beſitzungen zeigte, als Antwort auf das Lob, mit dem dieſer ſeine wirtſchaftlichen Anordnungen bedachte, nicht ohne ein liſtiges und ſpöttiſches Lächeln zu ſprechen: „Ja, ja! es ИЕ bei mir anders als bei meinem Nachbarn Gri⸗ gorij Iwanowitſch. Warum ſich auf englifche Art zugrunde richten! Wenn man auf ruſſiſche ſatt werden kann.“ Dieſe und ähnliche Späße kamen, dank dem Eifer der Nachbarn, Grigorij Iwanowitſch mit aller: hand Ergänzungen und Erläuterungen zu Ohren. Der Anglomane konnte genau ſo wenig Kritik ertragen wie unſere Zeitungsſchreiber. Er wurde wütend und nannte ſeinen Zoilus einen Bären und einen Finſter⸗ ling aus der Provinz.

Wie man ſieht, waren die Beziehungen zwiſchen den beiden Gutsbeſitzern zugeſpitzt, da kam Bereſtows Sohn zu ihm aufs Gut. Er hatte die... ſche Uni⸗ verſität abſolviert und beabſichtigte eigentlich, zum Militär zu gehen; allein ſein Vater erlaubte ihm das nicht. In Staatsdienſte zu treten behagte dem jungen Mann nicht, denn hierfür fühlte er ſich völlig untaug⸗ lich. Keiner von beiden wollte dem andern nachgeben, und ſo lebte denn unſer junger Alexej zunächſt das

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Die Erzählungen Bjelkins

Leben eines Landedelmanns, ließ ſich jedoch für alle Fälle bereits einen Schnurrbart wachſen.

Alexej war wahrhaftig ein braver Junge. Es wäre in der Tat ſchade darum geweſen, wenn ſein ſchlanker Körper niemals von einem Waffenrock eingeſchnürt worden wäre, oder wenn er, ſtatt maleriſch hoch zu Roß zu ſitzen, ſeine Jugend hätte über Kanzleipapieren gebückt verbringen müſſen. Einſtimmig meinten auch die Nachbarn, als ſie ihn auf den Treibjagden immer als erſten voranſprengen ſahen, daß aus ihm niemals ein brauchbarer Tiſchvorſteher werden könnte. Die jungen Mädchen ſchauten ihm nach und verſchauten ſich wohl auch an ihm: doch da Alexej wenig Auf: merkſamkeit für fie hatte, entſchieden fie, daß der Grund zu dieſer Gefühlloſigkeit offenbar in einer Liebes ſache zu ſuchen ſei. Und allerdings ging die Abſchrift einer Adreſſe von Hand zu Hand, die man auf einem ſeiner Briefe gelefen hatte: „An Akulina Petrowna Фито: kina zu Moskau, gegenüber dem Alexejewſchen Kloſter im Hauſe des Kupferſchmiedes Sſaweljew, mit der gehorſamſten Bitte, dieſen Brief zu übermitteln an A. N. R.“

Keiner meiner Leſer, der nicht auf Gütern gelebt hat, kann ſich jemals vorſtellen, wie hinreißend dieſe Landfräulein find! Aufgewachſen in friſcher Luft, ег: blüht im Schatten der Apfelbäume in ihren Gärten, ſchöpfen ſie ihre Kenntniſſe der Welt und ihr Wiſſen vom Leben einzig aus Büchern. Einſamkeit, Unge⸗

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Das Fräulein als Bäuerin

zwungenheit und Lektüre entwickeln ſchon zeitig jene Gefühle und Leidenſchaften in ihnen, die unſeren zer: ſtreuten Schönen ewig unbekannt bleiben. Für ſolch ein Fräulein iſt der Ton eines Glöckchens bereits ein Ereignis; eine Reiſe in die nächſte Stadt wird als Epoche des Lebens angeſehen, und der Beſuch eines Gaſtes bleibt in langer und zuweilen auch in ewiger Erinnerung. Es ſei freilich einem jeden unbenom— men, über gewiſſe ihrer Eigenheiten zu ſpotten; aber der Spott des oberflächlichen Beobachters, wie könnte er je ihre weſentlichſten Vorzüge ſchmälern, von denen die ins Auge fallendſten gewiß die Eigenart des Charakters und die Selbſtändigkeit ſind (individualité), ohne welche nach der Anſicht Jean Pauls keine menſch— liche Würde beſtehen kann. Es mag ſein, daß die Frauen der Hauptſtadt eine beſſere Erziehung genießen; allein wie raſch ſchleifen die Gewohnheiten der Welt den Charakter ab und bewirken, daß die Seelen genau fo einförmig werden wie etwa der jeweilige Kopfputz. Nicht zum Tadel ſagen wir das und nicht als Ver— urteilung, jedoch nota nostra manet, um einen alter⸗ tümlichen Kommentator zu zitieren.

Es iſt ein leichtes, ſich vorzuſtellen, welchen Eindruck Alexej im Kreiſe dieſer Fräuleins machen mußte. Er war der erſte, der mit einer düſteren Miene als ein Enttäuſchter vor ſie trat; er als erſter ſprach ihnen von verlorenen Freuden und von ſeiner hingewelkten Jugend; und trug er nicht überdies noch einen ſchwar—

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Die Erzählungen Bjelkins

zen Ring mit der Abbildung eines Totenkopfes? All das war in jenem Gouvernement noch unerhört neu. Die jungen Damen waren von ihm hingeriſſen.

Am meiſten aber beſchäftigte er die Phantaſie der Tochter unſeres Anglomanen, die Liſa hieß (oder Betſy, wie fie von Grigorij Iwanowitſch meiſt genannt wurde). Da die Vater einander nicht zu beſuchen pflegten, hatte ſie Alexej noch nicht geſehen, obwohl all ihre jungen Nachbarinnen über nichts anderes ſprachen als ewig von ihm. Sie war ſiebzehn Jahre alt. Schwarze Augen belebten ihr bräunliches und außerordentlich reizendes Geſicht. Sie war das einzige Kind und in: folgedeſſen ſehr verwöhnt. Ihre Munterkeit und ihre nie ausſetzenden Streiche entzückten ihren Vater und brachten die Hausdame, Miß Jackſon, zur Verzweif⸗ lung; letztere war eine vierzigjährige prüde alte Yung: fer, ſie ſchminkte ſich, färbte ſich die Augenbrauen, las zweimal im Jahr die Pamela, erhielt hierfür zwei⸗ tauſend Rubel und ſtarb in dieſem barbarif chen Ruß: land vor Langeweile.

Liſa wurde von einer Zofe namens Naſtja bedient; dieſe war ein wenig älter und ebenſo unbeſtändig wie ihr Fräulein. Liſa hatte ſie ſehr gern, weihte ſie in alle ihre Geheimniſſe ein und machte ſie zur Mitver⸗ ſchworenen all ihrer Streiche; mit einem Wort, auf dem Gut Prilutſchino ſpielte Naſtja eine bedeutend weſentlichere Rolle, als jede beliebige Vertraute in einer franzöſiſchen Tragödie.

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Das Fräulein als Bäuerin

„Darf ich heute ausgehen, um einen Beſuch zu machen“, bat eines Tages Naſtja, während ſie das Fräulein ankleidete.

„Schon gut; wohin gehſt du?“

„Nach Tugilowo, zu den Bereſtows. Die Frau des Kochs feiert ihren Namenstag und kam geſtern her, uns zum Mittageſſen einzuladen.“

„Da ſieht mans!“ ſagte Liſa: „Die Herrſchaft liegt im Streit, aber die Bedienten bewirten einander.“

„Was geht denn uns die Herrſchaft an!“ entgeg⸗ nete Naſtja: „Zudem gehöre ich doch Ihnen und nicht dem Herrn Papa. Und Sie haben ſich ja mit dem jungen Bereſtow noch gar nicht gezankt; mögen ſich die Alten meinetwegen prügeln, wenn ihnen das Ver⸗ gnügen macht.“

„Sieh zu, Naſtja, daß du Alexej Bereſtow zu Ge: ſicht bekommſt, und erzähl mir dann auf das genaueſte, wie er ausſieht, und was er für ein Menſch iſt.“

Naſtja verſprachs, und voller Ungeduld wartete Liſa den ganzen Tag über auf ihre Rückkehr. Naſtja kam abends zurück.

„Alſo, Liſaweta Grigorjewna,“ ſagte ſie, als ſie das Zimmer betrat: „ich habe den jungen Bereſtow geſehen; ich habe ihn zur Genüge betrachten können; wir waren den ganzen Tag beiſammen.“

„Wie das? Erzähl doch, erzähl alles der Reihe nach.“

„Mit Vergnügen: wir gingen alſo, ich, Anisja Jegorowna, Nenila, Dunjka ...“

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Die Erzählungen Bjelkins

„Schon gut, weiß ich: was weiter?“

„Aber bitte, laſſen Sie mich doch der Reihe nach erzählen. Wir kamen gerade zum Mittageſſen. Das Zimmer war ganz voll von Menſchen. Die Kol— binſchen waren da, die Sacharjewſchen, und zwar die Verwaltersfrau mit ihren Töchtern, die Chlu— pinſchen ...“

„Nun, und Bereſtow?“

„Geduld. Wir ſetzten uns zu Tiſch, die Verwalters⸗ frau bekam den Ehrenplatz, und ich wurde neben ſie geſetzt ... ihre Töchter ärgerten ſich zwar darüber, aber darauf ſpuck ich ...“

„Ach, Naſtja, mit deinen ewigen Einzelheiten lang— weilſt du mich!“

„Wie ungeduldig Sie find! Na, alſo, endlich ver ließen wir den Tiſch ... drei Stunden lang hatte es gedauert, und das Mittageſſen war prachtvoll; eine ſüße Speiſe gab es, ein blancmanger, blau, rot und geſtreift ... Wir ſtanden alſo vom Tiſch auf und gingen in den Garten, um Haſchen zu ſpielen, und da kam der junge Herr.“

„Nun, und? Iſt es wirklich wahr, daß er ſo {Фот ИЕ?“

„Erſtaunlich ſchön iſt er; ein ſchöner Mann, das kann man ruhig ſagen. Schlank, hoch, die Wangen rot...“

„Wahrhaftig? Und ich dachte, daß ſein Geſicht blaß wäre. Nun, und? Wie kam er dir vor? War er traurig oder nachdenklich?“

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Das Fräulein als Bäuerin

„Warum denn? Mein Lebtag habe ich noch keinen 1 Tollkopf geſehen. Es kam ihm ſogar in den Kopf, mit uns Haſchen zu ſpielen.“

„Mit euch Haſchen zu ſpielen? Ausgeſchloſſenle

„En nicht gar. Und was er fich dabei alles aus: - dachte! Wenn er eine fing, küßte er fie gleich!“

„Wie du willſt, Naſtja, aber jetzt lügſt du.“

„Wie Sie wollen, aber ich lüge nicht. Nur mit großer Mühe habe ich mich von ihm losgemacht. Auf dieſe Weiſe verbrachte er den ganzen Tag mit uns.“

„Aber warum erzählt man dann, daß er verliebt ſei und kein einziges Mädchen anſchaue?“

„Das weiß ich nicht, aber auf mich hat er feſt де: ſchaut und auch auf Tanja, die Tochter des Verwal⸗ ters, und auch auf Paſcha aus Kolbino, und über⸗ haupt hat er keine einzige zurückgeſetzt, der Schelm, der!“

„Erſtaunlich! Und was ſpricht man im Hauſe von ihm?“

„Ein vortrefflicher Sar, ſagt man, ſei er: und immer ſo gut und ſo luſtig. Und nur das eine ſei nicht ganz in der Ordnung, daß er nämlich den Mädchen zu heftig nachſtelle. Doch das iſt, meiner Anſicht nach, kein Unglück. Er wird mit der Zeit ſchon brav werden.“

„Ach, wie ſehr wünſchte ich doch, ihn zu erblicken!“ meinte Liſa mit einem Seufzer.

„Was iſt denn da dabei? Tugilowo iſt ja ganz in der Nähe nur drei Werſt trennen uns: gehen Sie doch einmal in jener Richtung ſpazieren, oder reiten

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Die Erzählungen Bjelkins

Sie aus; Sie werden ihm beſtimmt begegnen. Jeden Tag begibt er ſich frühmorgens mit dem Gewehr auf die Jagd.“

„Nein, das gefällt mir nicht. Er könnte annehmen, daß ich ihm nachlaufe. Und da unſere Väter nicht gut auf- einander zu ſprechen find, fo iſt es auch für mich unmög⸗ lich, mit ihm bekannt zu werden ... Aber, Naſtja, weißt du was! Ich werde mich als Bäuerin verkleiden!“

„Sehr gut, wahrhaftig: ziehen Sie ein grobes Hemd an und einen Sſarafan und gehen Sie dreiſt nach Tugilowo; ich wette mit Ihnen, daß Bereſtow Sie beſtimmt ins Auge faſſen wird.“

„Und überdies ſpreche ich ausgezeichnet nach der hieſigen Mundart. Ach, Naſtja, liebſte Naſtja! Welch ein herrlicher Gedanke!“ Als Lifa zu Bett ging, hatte ſie bereits den feſten Entſchluß gefaßt, ihren luſtigen Vorſatz beſtimmt auszuführen. Sie machte ſich ſchon am nächſten Tage daran, den Plan zu ver⸗ wirklichen, ſchickte zum Markt und ließ grobe Lein⸗ wand, blauen Nanking und Kupferknöpfe beſorgen; mit Naſtjas Hilfe ſchnitt ſie ſich ein Hemd und einen Sſarafan zurecht, an denen die ganze Mägdeſchar nähen mußte, ſo daß zum Abend alles fertig war. Als Liſa ihr neues Gewand anprobierte, mußte ſie ſich vor dem Spiegel geſtehen, daß ſie ſich noch nie ſo nett vorgekommen war. Eifrig ſtudierte ſie ihre Rolle ein. Sie machte beim Gehen eine tiefe Verbeugung und nickte dann einige Male mit dem Kopf, genau ſo wie

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es die Kater aus Ton fun; fie ſprach mit bäuriſchem Dialekt, lachte, indem ſie ihr Geſicht mit dem Armel verdeckte, und errang ſich ſchließlich Naſtjas volle An⸗ erkennung. Nur eines war ihr zu ſchwer: ſie verſuchte nämlich, barfuß über den Hof zu gehen, aber der Raſen zerſchnitt ihre zarten Fußſohlen, und der Sand und die kleinen Steinchen bereiteten ihr unerträgliche Schmerzen. Doch Naſtja wußte auch hierfür einen Ausweg: ſie nahm Liſa Maß und lief geſchwind ins Feld zu Trofim, dem Hirten, und beſtellte bei dieſem nach dem vorhandenen Maß ein Paar Baſtſchuhe. Liſa erwachte bereits in der früheſten Frühe des an— dern Tages. Noch ſchlief das ganze Haus. Naſtja wartete am Tor auf den Hirten. Die Schalmei er- tönte und die Dorfherde trappelte am Gutshof рог: über. Als Trofim Naſtja ſah, übergab er ihr die kleinen bunten Baſtſchuhe und erhielt von ihr als Be⸗ lohnung einen halben Rubel. Und nun zog Liſa ſich in aller Stille als Bäuerin an, gab Naſtja flüſternd Anweiſungen, wie fie ſich gegen Miß Jackſon zu ver: halten habe, ſchlupfte durch die Hintertür und lief durch den Gemüſegarten ins Feld.

Im Oſten ſchimmerte die Morgenröte, es machte den Eindruck, als erwarteten die goldenen Wolkenzeilen die Sonne, genau ſo wie Höflinge auf ihren Herrſcher warten; der klare Himmel, die Friſche des Morgens, der Tau, der ſanfte Wind und das Zwitſchern der Vögel erfüllten Liſas Herz mit junger Heiterkeit; da

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Die Erzählungen Bjelkins

ſie befürchten mußte, irgend welchen Bekannten zu be⸗ gegnen, war ihr Gang kein Gehen mehr zu nennen, ſondern faſt ein beflügeltes Schweben. Erſt als Liſa ſich dem Gehölz näherte, das ſich an der Grenze des väterlichen Beſitztums befand, wurde ihr Gang etwas langſamer. Es war ihre Abſicht, hier auf Alexej zu warten. Ihr Herz klopfte ſehr, doch wußte ſie wirklich nicht, warum; aber iſt die Angſt, die ſtändige Beglei⸗ terin unſerer Jugendſtreiche, nicht auch gleichzeitig ihr Hauptreiz? Liſa trat in die Dämmerung des Wäld⸗ chens. Ein tiefes hallendes Rauſchen ſchlug dem Mäd⸗ chen entgegen. Ihre Heiterkeit wurde gedämpfter. Nach und nach gab ſie ſich ſüßen Träumereien hin. Sie dachte ... jedoch wer will es unternehmen, genau feſtzuſtellen, woran ein ſiebzehnjähriges Fräulein denkt, das an einem Frühlingsmorgen um ſechs Uhr ſich allein in einem Wald befindet? So ſchritt ſie dahin, ſchritt nachdenklich auf dem Pfade, der von beiden Seiten von hohen Bäumen beſchattet wurde, als ſie plötzlich vom Gebell eines wunderſchönen Jagdhundes geſtellt wurde. Liſa erſchrak und ſchrie unwillkürlich auf. Gleichzeitig ertönte eine Stimme: „Tout beau, Sbogar, iei“... und ein junger Jäger trat hinter dem Gebüſch hervor. „Keine Angſt, mein Kind!“ ſagte er zu Liſa: „Mein Hund beißt nicht.“ Liſa hatte ſich bereits von ihrem Schreck erholt und wußte un⸗ verzüglich die Umſtände auszunutzen: „Nein, nein, gnädiger Herr!“ ſagte ſie, und nahm dabei eine halb

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Das Fräulein als Bäuerin

erſchreckte, halb verlegene Miene an: „Ich fürcht mich dennoch, er ſcheint ſo böſe zu ſein; der geht gewiß wieder auf mich los.“ Alexej (daß er es war, weiß der Leſer wohl ſchon) muſterte unterdeſſen die Bäuerin eingehend. „Wenn du dich fürchteſt, will ich dich gern begleiten“, ſagte er zu ihr: „Erlaubſt du mir, neben dir zu gehen?“ „Keiner hindert dich dran!“ entgegnete Liſa. „Jeder ſoll tun, was er mag, und die Straße iſt für alle da.“ „Woher biſt du?“ „Aus Prilutſchino; ich bin die Tochter des Schmie— des Waſſilij, und kam her, um Pilze zu ſammeln.“ (Liſa trug an einem Schnürchen einen kleinen Korb.) „Und du, gnädiger Herr? Biſt du der Tugilowſche? Was?“ „So iſt es!“ entgegnete Alexej: „Ich bin der Kammerdiener des jungen Herrn.“ Alexej wollte hierdurch den Unterſchied zwiſchen ſich und ihr geringer machen, aber Liſa blickte ihn nur an und lachte: „Schwindle nicht!“ ſagte ſie. „Du haſt keine Nãrrin vor dir. Ich ſehs ja, daß du felber der gnädige Herr biſt.“ „Warum denkſt du das?“ „Das ſeh ich doch aus allem. „Zum Beiſpiel?“ „Wie ſollte ich den Herrn nicht vom Diener unter ſcheiden? Du biſt weder ſo gekleidet, noch redeſt du wie ein Diener und ſogar den Hund haſt du nicht in unſerer Sprache gerufen.“ Von Minute zu Minute machte Liſa unſerem Alexej einen ſtärkeren Eindruck. Da es ſeine Gewohnheit war, mit hübſchen Bauernmädchen nicht erſt lange Umſtände zu machen, wollte er ſie

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umarmen. Aber Liſa entzog ſich ihm und nahm plötz⸗ lich eine ſo ſtrenge und kühle Miene an, daß Alexej zwar lachen mußte, aber von allen weiteren Verſuchen Abſtand nahm. „Wenn Sie wollen, daß wir in Зи: kunft gute Freunde bleiben,“ ſagte ſie nicht ohne Würde: „dann belieben Sie, bitte, ſich nicht mehr zu vergeſſen.“ „Wer hat dich denn dieſe Weisheiten gelehrt?“ fragte Alexej laut lachend: „Am Ende gar Naſtja, meine gute Bekannte, die Zofe Eures Fräuleins? Schau mir doch einer an, auf welchen Wegen die Aufklärung verbreitet wird!! Liſa hatte ein wenig den Eindruck, daß ſie aus ihrer Rolle gefallen war, und gab ſich darum Mühe, den Fehler wieder zu verbeſſern. „Glaubſt du wohl,“ ſagte ſie: „daß ich nie auf dem Gutshof geweſen bin? Keine Sorge. Ich habe alles gehört und alles geſehen. Allein, fuhr Пе fort: „während ich mit dir ſchwatze, ſammle ich keine Pilze. Darum geh du, gnädiger Herr, lieber deines Weges und laß mich meines Weges gehen. Ich bitt um Verzeihung ...“ На wollte ſich entfernen; Alexej ergriff ihre Hand. „Wie heißt du denn, mein Seelchen?“ „Akulina“, entgegnete Liſa, vergeblich bemüht, ihre Finger aus Alexejs Hand zu ziehen: „Und jetzt laß mich gehn, gnädiger Herr, es ИЕ Zeit für mich nach Hauſe.“ „Alſo hör denn, beſte Akulina, ich werde beſtimmt deinen Vater, Waffılij, den Schmied, beſuchen.“ „Was ſagſt du da?“ entgegnete Liſa: „Um Chriſti willen, tu das nicht. Wenn man zu Hauſe erfährt,

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daß ich allein mit dem gnädigen Herrn im Wäldchen geplaudert habe, wird es mir ſchlecht gehen; mein Vater, Waſſilij, der Schmied, wird mich zu Tode prügeln.“ „Aber ich will dich unbedingt wiederſehen.“ „Biel: leicht komme ich wieder einmal her, Pilze ſammeln.“ „Wann denn?“ „Meinetwegen morgen.“ „Liebſte Akulina, wie gern würde ich dich jetzt küſſen, aber ich trau mich nicht. Morgen alfo, um die gleiche Zeit, nicht wahr?“ „Schon gut.“ „Und du wirſt mich nicht betrügen?“ „Ich werds nicht.“ „Schwöre!“ „Alfo beim heiligen Freitag, ich komm.“ |

Die jungen Leute trennten ſich. Lifa verließ den Wald, ſchlich durchs Feld, ſchlüpfte durch den Garten und eilte Hals über Kopf in die Meierei, in der Naſtja ſchon lange auf fie wartete. Sie kleidete ſich um, mo: bei ſie auf die Fragen ihrer ungeduldigen Vertrauten nur zerſtreute Antworten gab, und lief ins Speiſe⸗ zimmer. Dort ſtand der Tiſch gedeckt, das Frühſtück war fertig, und Miß Jackſon, ſchon geſchminkt und mit einer ſo dünnen Taille, daß ſie an ein Weinglas erinnerte, ſchnitt gerade dünne Brotſcheiben. Der Vater lobte ſie, daß ſie ſo früh ſpazieren gegangen war. „Nichts iſt geſünder als dieſes,“ ſagte er: „um die Morgendämmerung aufſtehen.“ Und natürlich wußte er hierbei verſchiedene Beiſpiele menſchlicher Lang— lebigkeit anzuführen, die er aus engliſchen Zeitſchriften geſchöpft hatte. Es ſchien ihm ebenfalls angebracht,

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Die Erzählungen Bjelkins

zu bemerken, daß alle Menſchen, die länger als hundert Jahre gelebt, nie Schnaps getrunken hätten und im Winter ſowohl als auch im Sommer ſtets um die Zeit der Morgendämmerung aufgeſtanden wären. Aber Liſa hörte nicht darauf. In Gedanken wiederholte ſie alle Einzelheiten der Zuſammenkunft dieſes Morgens, das ganze Geſpräch Akulinas mit dem jungen Jäger, und nach und nach begann ihr Gewiſſen zu ſchlagen.

Hieran änderte auch nichts, daß fie ſich ſagte, das Ge-

ſpräch hätte keineswegs die Grenzen des Anſtandes

überſchritten, und daß dieſer Streich überhaupt keine

Folgen haben könnte die Sprache des Gewiſſens war lauter als die Stimme ihres Verſtandes. Am meiſten beunruhigte ſie jenes Verſprechen, das ſie für morgen gegeben hatte; ja, ſie war ſchon halb

und halb entſchloſſen, ihren feierlichen Schwur nicht

zu halten. Wie aber, wenn Alexej, nachdem er ſie ver⸗ geblich erwartet, ins Dorf ginge, um die Tochter des Schmiedes Waſſilij, die richtige Akulina, ein feiſtes pockennarbiges Mädchen, aufzuſuchen und auf dieſe Weiſe hinter ihren leichtſinnigen Schritt käme? Dieſer Gedanke machte Liſa große Sorgen, und darum ent⸗ ſchloß ſie ſich, am nächſten Morgen wieder als Akulina im Gehölz zu erſcheinen.

Alexej war in heller Begeiſterung; den ganzen Wag

über dachte er an nichts als an ſeine neue Bekannte; das Bild der Schönen mit dem bräunlichen Geſicht verfolgte ſeine Einbildungskraft ſogar noch nachts

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Das Fräulein als Bäuerin

im Traume. Es dämmerte kaum, da war er Бе: reits angezogen. Ohne ſich erſt Zeit zu nehmen, ſein Gewehr zu laden, eilte er mit ſeinem treuen Sbogar ins Feld und lief zum Orte der beſprochenen Zu— ſammenkunft. In einem für ihn faſt unerträglichen Harren verſtrich eine halbe Stunde; endlich gewahrte er zwiſchen den Büſchen das Flattern des blauen Sſarafans und ſtürzte ſeiner lieben Akulina entgegen. Als ſie den Rauſch ſeiner Dankbarkeit wahrnahm, mußte ſie lächeln; aber Alexej bemerkte ſogleich auf ihrem Antlitz Spuren der Verſtimmung und der Unruhe. Er wollte die Urſache erfahren. Liſa geſtand ihm, daß ſie ihren Schritt für leichtfertig halte, ja, daß ſie ihn bereits bereue, und daß ſie freilich dieſes Mal noch das Wort, das ſie gegeben, hätte halten wollen, aber daß dieſe Zuſammenkunft allerdings die letzte ſein müßte, und daß ſie ihn bäte, die Bekanntſchaft abzu— brechen, die für beide zu nichts Gutem führen könnte. Es verſteht ſich von ſelber, daß ſie dies alles in der Mundart der Landbevölkerung ſprach; aber dennoch wurde Alexej von dieſen Gedanken und Gefühlen, die für ein einfaches Bauernmädchen ungewöhnlich waren, ſehr überraſcht. Er gebrauchte, um Akulina von ihrer Abſicht abzubringen, ſeine ganze Beredſamkeit; er beteuerte die Unſchuld ſeiner Wünſche, er verſprach ihr, ihr nie auch nur die geringſte Urſache zur Reue zu geben und ſtets in allem folgſam zu ſein, und er

beſchwor ſie ſchließlich, ihm nicht ſeine einzige Freude

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Die Erzählungen Bjelkins

zu nehmen ſie allein zu ſehen, und ſei es auch nur jeden anderen Tag, oder gar nur zweimal in der Woche. Seine Sprache war die der aufrichtigſten Leidenſchaft, man konnte ihn in dieſem Augenblick wahrhaftig als verliebt bezeichnen. Liſa hörte ihn ſtumm an. „Verſprich mir,“ ſagte ſie ſchließlich: „daß du mich niemals im Dorf aufſuchen oder irgendjemand nach mir fragen willſt. Ver ſprich mir, nie andere Zuſammen⸗ künfte mit mir herbeiführen zu wollen außer jenen, die ich ſelber beſtimmen werde.“ Alexej wollte ihr das beim heiligen Freitag beſchwören, aber lächelnd hielt ſie ihn davon ab. „Ich brauche keinen Schwur,“ ſagte Liſa: „mir genügt, wenn du es mir verſprichſt.“ Sie plauderten darauf, im Walde auf- und abgehend, auf das freundſchaftlichſte, bis endlich Liſa ihm ſagte, daß es für ſie Zeit ſei. Sie trennten ſich, doch konnte Alexej, als er wieder allein war, gar nicht faſſen, auf welche Weiſe dieſes einfache Bauernmädchen es in nur zwei Zuſammenkünften vermocht hatte, dieſe große Gewalt über ihn zu gewinnen. Seine Beziehungen zu Akulina hatten für ihn den Reiz der Neuheit, und wenn ihn auch die Vorſchriften des ſeltſamen Bauernmädchens bedrückten, ſo kam ihm doch der Gedanke überhaupt nicht in den Kopf, ſein Wort etwa nicht zu halten. Denn Alexej war trotz des verhängnisvollen Ringes und ungeachtet ſeiner geheimnisvollen Korreſpondenz und der enttäuſchten Düſterkeit ſeiner Miene ein braver und heißblütiger Burſche und hatte das reinſte Herz,

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2

———— дико

Das Fräulein als Bäuerin

das durchaus noch fähig war, unſchuldige Entzückungen zu empfinden.

Wenn ich jetzt nur darauf hören wollte, was mir Vergnügen bereitet, würde ich beſtimmt und mit aller Genauigkeit die Zuſammenkünfte der jungen Leute be⸗ ſchreiben, ihre anſchwellende gegenſeitige Neigung, ihr Zutrauen, ihre Beſchäftigungen und ihre Geſpräche; allein ich weiß nur zu gut, daß der größte Teil meiner Leſer nicht gewillt ſein dürfte, dieſes Vergnügen mit mir zu teilen. Solche Einzelheiten können überhaupt leicht einen zu ſüßlichen Eindruck machen, und ſo laſſe ich ſie denn aus, indem ich nur in aller Kürze hinzu⸗ füge, daß keine zwei Monate vergingen, und mein Alexej bereits toll verliebt war, aber auch Liſa war nicht viel gleichgültiger als er, obwohl ſie viel ſchweig⸗ ſamer war. Beide waren glücklich über die Gegen- wart und dachten wenig an die Zukunft.

Ziemlich häufig war jedem von beiden bereits der Gedanke an eine unauflösliche Verbindung gekommen; aber noch nie hatte eines von ihnen den Mut gefaßt, hierüber mit dem andern zu ſprechen. Der Grund lag auf der Hand: war auch Alexej feiner lieben Akulina ungemein zugetan, ſo mußte er doch immer an den Abſtand denken, der zwiſchen ihm und der armen Bäuerin beſtand; Liſa hingegen war nur zu gut be— kannt, wie ſehr die beiderſeitigen Väter einander haßten, und ſie wagte nicht zu hoffen, daß es zu einem Friedens⸗ ſchluß kommen würde. Zudem wurde ihre Eigenliebe

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SER Bjelkins

insgeheim von der dunklen und romantiſchen Hoffnung aufgeſtachelt, den Tugilowſchen Gutsbeſitzer endlich zu Füßen der Schmiedstochter aus Prilutſchind zu ſehen. Plötzlich jedoch trat ein wichtiges Ereignis ein, das ihre Beziehungen faſt völlig verändert hätte. Iwan Petrowitſch Bereſtow ritt an einem klaren und kalten Morgen (einem jener Morgen, an denen unſer ruſſiſcher Herbſt fo reich ift) ſpazieren und nahm für jeden Fall drei Windhundkoppeln, einen Reitknecht und einige Buben aus dem Gutshof mit, die gegebenen⸗ falls zu klappern hatten. Um die gleiche Zeit befahl, vom ſchönen Wetter verlockt, Grigorij Iwanowitſch Muromskij die Stute mit dem geſtutzten Schweif zu ſatteln und ritt im Trabe durch feine angliſierten Be: ſitzungen. Als er ſich dem Walde näherte, erblickte er feinen Nachbarn, der in feinem mit Fuchspelz gefüt⸗ terten Jagdrock ſtolz zu Pferde ſaß und auf einen Haſen wartete, den die Buben mit Schreien und Klappern ſoeben aus dem Gebüſch aufſcheuchten. Hätte Grigorij Jwanowitſch die Begegnung voraus⸗ geſehen, er wäre ſicherlich vorher beiſeite geritten; ſo aber ſtieß er völlig unverhofft auf Bereſtow und hielt plötzlich in der kleinen Entfernung eines Piſtolenſchuſſes vor ihm. Da war nichts zu machen. Ulm ſich als де: bildeten Europäer zu zeigen, ritt Muromskij an ſeinen Gegner heran und begrüßte ihn höflich. Und Bereſtow erwiderte die Begrüßung mit dem gleichen Eifer, mit dem ein an die Kette gelegter Bär, der Weiſung ſeines

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Führers gehorchend, die anweſenden Herrſchaften Бе: grüßt. Im gleichen Augenblick aber ſprang der Haſe aus dem Walde und ſtrich übers Feld. Bereſtow und der Reitknecht ſchrien laut auf, ließen die Hunde frei und jagten auf feiner Spur übers Feld. Muromskijs Pferd, das noch nie auf einer Jagd geweſen war, er- ſchrak darüber und ging durch. Da Muromskij ſich immer gerühmt hatte, ein ausgezeichneter Reiter zu ſein, ließ er dem Pferd die Zügel und war ſogar innerlich über den Zufall erfreut, der ihn von einer un⸗ angenehmen Unterhaltung befreite. Allein ſein Pferd flog, als es plötzlich auf einen Abhang, den es zuvor nicht bemerkt hatte, zuſchoß, jählings zur Seite und Muromskij vermochte nicht, ſich dabei im Sattel zu halten. Er fiel ziemlich ſchwer auf die hartgefrorene Erde und blieb liegen, wobei er in Gedanken ſeine kupierte Stute verwünſchte, dieſe aber blieb, ganz als wäre fie augenblicks, da fie ſich ohne Reiter fühlte, zur Beſinnung gekommen, ſogleich neben ihm ſtehen. Iwan Petrowitſch ſprengte heran und erkundigte ſich, ob er ſich nicht weh getan hätte. Unterdeſſen führte der Reit⸗ knecht das Pferd, das an dem Sturz ſchuld war, am Zaum herbei. Er half Muromskij in den Sattel ſteigen und Bereſtow lud ihn ein, in ſein Haus zu kommen. Muromskij konnte es nicht gut ablehnen, denn er fühlte ſich ihm verpflichtet, und ſo kam es alſo, daß Bereſtow in vollem Triumph nach Hauſe zurückkehren konnte, denn er hatte nicht nur einen Haſen erlegt,

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Die Erzählungen Bijelktins

ſondern führte auch ſeinen Gegner verwundet und faſt als eine Art von Kriegsgefangenen mit ſich.

Beim Frühſtück kam es zwiſchen den beiden Mad): barn zu einem ziemlich freundſchaftlichen Geſpräch. Muromskij bat Bereſtow um ſeinen Wagen, denn er mußte geſtehen, daß er ſich infolge des Sturzes nicht imſtande fühlte, nach Haufe zu reiten. Bereſtow begleitete ihn bis vors Haus und Muromskij fuhr nicht eher fort, bevor er ihm nicht das Ehrenwort abgenommen, bereits am nächſten Tage in Begleitung feines Sohnes Alexej nach Prilutſchino zu kommen, um dort auf Freundesart zu Mittag zu ſpeiſen. Es machte ſomit den Eindruck, daß die alte und tief ver⸗ wurzelte Feindſchaft infolge des Scheuens einer Фи: pierten Stute auf dem Punkt angelangt war, bei⸗ gelegt zu werden.

Liſa eilte Grigorij Iwanowitſch entgegen. „Was iſt geſchehen, Papa?“ fragte ſie erſtaunt: „Sie hinken ja? Und wo iſt Ihr Pferd? Und wem gehört dieſer Wagen?“ „Das würdeſt du nie erraten, my dear“, entgegnete ihr Grigorij Iwanowitſch und teilte ihr alles mit, was ſich ereignet hatte. Liſa wollte ihren Ohren nicht trauen. Aber Grigorij Iwanowitſch gab ihr nicht erſt lange Zeit, ſich zu ſammeln, ſondern ſagte, daß die beiden Bereſtows morgen bei ihm zu Mittag ſpeiſen würden. „Was Sie ſagen!“ rief ſie und erblaßte: „Die Bereſtows, Vater und Sohn! Morgen bei uns zu Mittag! Nein, Papa, tun Sie,

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was Sie wollen; ich komme um keinen Preis zu Tiſch.“ „Du bift wohl verrückt geworden?“ erwiderte der Vater: „Seit wann biſt denn du ſo ſchüchtern, oder nährſt du am Ende, wie eine romantiſche Heldin, einen erblichen Haß gegen die beiden. Laß doch die Dumm⸗ heiten ..“ „Nein, Papa, um nichts in der Welt, um keine Schätze der Erde zeige ich mich den Bere— ſtows.“ Grigorij Iwanowitſch zuckte die Achſeln und ſtritt nicht länger mit ihr, denn er wußte, daß man bei ihr durch Widerreden nichts erreichen konnte, er ging darum lieber ins Haus, um ſich von ſeinem bemerkens⸗ werten Spazierritt zu erholen.

Liſaweta Grigorjewna eilte in ihr Zimmer und rief Naſtja. Beide berieten lange über den Beſuch, der morgen kommen ſollte. Was wohl Alexej ſagen würde, wenn er in dem wohlerzogenen Fräulein ſeine Akulina erkennen ſollte? Und was würde er wohl über ihr Betragen denken, ihre Anſtandsregeln, und was müßte er von ihrer Vernunft halten? Andererſeits reizte es Liſa natürlich außerordentlich, zu ſehen, welch einen Eindruck dieſe unerwartete Begegnung auf ihn machen würde ... Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie teilte ihn Naſtja mit; beide freuten ſich darüber und Бе: ſchloſſen, das Vorhaben beſtimmt auszuführen.

Am Tage darauf fragte Grigorij Iwanowitſch ſeine Tochter beim Frühſtück, ob ſie immer noch die Abſicht habe, ſich vor den Bereſtows zu verſtecken. „Lieber Papa,“ entgegnete Liſa: „wenn es Ihnen be-

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Die Erzählungen Bjelkins

liebt, ſo will ich ſie empfangen, allein ich ſtelle eine Bedingung: wie immer ich auch vor ihnen erſcheinen ſollte, und was immer ich tun werde, Sie dürfen mich deswegen nicht ſchelten und keinerlei Zeichen des Er⸗ ſtaunens oder des Unwillens äußern.“ „Sicherlich wieder irgendeiner deiner Streiche!“ ſagte Grigorij Iwanowitſch lachend: „Gut, ſchon gut: ich bin ein⸗ verſtanden, tu was du magſt, mein ſchwarzäugiger Schelm.“ Er küßte ſie bei dieſen Worten auf die Stirn und Liſa eilte, ihre Vorbereitungen zu treffen. Pünktlich um zwei Uhr rollte eine ſechsſpännige, zu Hauſe gebaute Kutſche auf den Hof und bog um den dicht mit Gras bewachſenen grünen Rafen- platz. Der alte Bereſtow ſtieg, unterſtützt von zwei liprierten Dienern Muromskijs, die Freitreppe herauf. Sein Sohn folgte ihm, und beide betraten gleich⸗ zeitig das Speiſezimmer, in welchem der Tiſch bereits gedeckt war. Muromskij empfing ſeine Gäſte auf das zuvorkommendſte, er ſchlug ihnen vor, noch vor dem Mittageſſen den Garten und den Raubtier zwinger zu beſichtigen, und führte ſie auf Wegen, die ſorgfältig geſäubert und mit feinem Kiesſand beſtreut waren. Zwar wurmte es den alten Bereſtow innerlich, daß fo viel Zeit und Arbeit an fo nutzloſe Spielereien рег: ſchwendet worden war, doch er war höflich und ſchwieg. Sein Sohn teilte weder die Unzufriedenheit des berech- nenden Gutsbeſitzers noch die Begeiſterung des alten Anglomanen; ungeduldig wartete er auf das Er—

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Das Fräulein als Bäuerin

ſcheinen der Haustochter, von der man ihm bereits ſo viel erzählt hatte; denn war auch ſein Herz, wie uns bekannt iſt, bereits beſetzt, ſo vermochte doch jede junge Schöne immer noch Platz in ſeiner Phantaſie zu gewinnen.

Als ſie wieder ins Speiſezimmer zurückgekehrt waren, nahmen ſie zu dritt am Tiſch Platz: die alten Herren gedachten der früheren Zeit und tauſchten Anekdoten über ihre Dienſtjahre aus, Alexej dagegen überlegte derweilen, welche Rolle er wohl ſpielen wollte, wenn Liſa erſchiene. Er entſchied ſich dahin, daß kalte Zerſtreutheit in jedem Falle das Angemeſſenſte ſein dürfte, und traf infolgedeſſen ſeine Vorbereitungen hierzu. Die Türe öffnete ſich, und mit ſolchem Gleich—⸗ mut und mit einer ſo ſtolzen Nachläſſigkeit wandte er feinen Kopf hin, daß ſogar das Herz der aller- erfahrenſten Koketten unbedingt hätte erzittern müſſen. Aber zum Leidweſen trat ſtatt der erwarteten Liſa nur die alte geſchminkte und geſchnürte Miß Jackſon mit niedergeſchlagenen Augen und einem kleinen Knicks ein und ſo fiel die vortreffliche militäriſche Taktik Alexejs in nichts zuſammen. Noch hatte er nicht Zeit gefunden, ſich aufs neue zu ſammeln, da öffnete ſich wiederum die Türe, und dieſes Mal trat Liſa ein. Alle erhoben ſich; ihr Vater wollte ihr die Gäſte vorſtellen, aber plötzlich hielt er inne und biß fich ſchnell auf die Lippen . Liſa, ſeine braune Liſa war geſchminkt bis an die Ohren, noch viel ſchlimmer geſchminkt als etwa Miß Jackſon;

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Die Erzählungen Bjelkins

die falſchen Locken, die viel heller waren als ihre echten Haare, waren zu einer Perücke der Zeiten Ludwigs XIV. aufgetürmt; die Ärmel & l’imbeeille ragten fteif wie höchſtens ein Reifrock der Madame de Pompadour; die Taille war ſo eng zuſammengeſchnürt, daß die Geſtalt dem Buchſtaben X glich und an ihren Fingern, ihrem Halſe und an den Ohren ſchimmerten alle Bril⸗ lanten ihrer Mutter, die noch nicht verſetzt oder ver— pfündet waren. Alexej konnte natürlich in dieſem lächer⸗ lichen und prunkvollen Fräulein keineswegs ſeine Aku⸗ lina erkennen. Sein Vater trat heran, um ihr das Händchen zu küſſen, und ärgerlich mußte er es ihm nachtun; als er mit den Lippen ihre weißen Fingerchen berührte, ſchien ihm, daß dieſe leiſe erbebten. Und gleich⸗ zeitig bemerkte er ein Füßchen, das mit Abſicht ein wenig hervorſchaute, und mit aller nur möglichen Koketterie beſchuht war. Dieſer Umſtand verſöhnte ihn ein wenig mit ihrem übrigen Aufzuge. Was {тей lich die Schminke und den Puder betraf, ſo bemerkte er, offen geſtanden, dieſe in der Einfalt ſeines Herzens auf den erſten Blick zunächſt nicht und ſchöpfte hin⸗ ſichtlich ihrer auch ſpäterhin keinen Verdacht. Grigorij Iwanowitſch gedachte feines Verſprechens und gab ſich alle Mühe, nicht kundzugeben, wie ſehr er erſtaunt war; doch amüſierte ihn die Schelmerei ſeiner Tochter ſo ſehr, daß er nur mit großer Anſtrengung das Lachen verbeißen konnte. Aber gar nicht nach Lachen war der affektierten Engländerin zumute. Sie erriet, daß die

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Schminke ſowohl als auch der Puder aus ihrer Kom: mode ſtammten, und purpurne Röte des Argers brach alsbald durch die künſtliche Bläſſe ihres Geſichts. Flammenblicke ſchleuderte fie auf die junge Miſſe— täterin, dieſe jedoch ſtellte ſich, als bemerke ſie nichts, denn ihr lag daran, alle Auseinanderſetzungen auf einen fpäferen Zeitraum zu verſchieben.

Man ging zu Tiſch. Alexej fuhr fort, die Rolle des Zerſtreuten und Nachdenklichen zu ſpielen. Liſa zierte ſich und ſprach mit einem ſingenden Ton durch die Zähne, und zwar gebrauchte ſie nur die franzöſiſche Sprache. Der Vater ſah unentwegt ſeine Tochter an, er begriff zwar nicht, welche Abſicht ſie mit ihrem Spiel verfolge, aber er fand es ſehr ergötzlich. Die Engländerin wütete und ſchwieg. Und nur Iwan Petrowitſch fühlte ſich wie zu Hauſe: er für zwei, er trank ſein gewöhnliches Maß, er lachte über ſeine eigenen Späße und unterhielt ſich von Stunde zu Stunde freundſchaftlicher.

Endlich erhob man ſich vom Tiſch; die Gäſte reiften ab und nun konnte Grigorij Iwan ſeinem Gelächter und ſeinen Fragen Luft machen. „Warum fiel es dir eigentlich ein, ſie zum Narren zu halten?“ fragte er Liſa: „Und überhaupt, weißt du was? Die weiße Schminke ſteht dir ausgezeichnet; ich will nicht in die Geheimniſſe des Damenputzes eindringen, aber an deiner Stelle würde ich mich häufiger ſchminken; nicht übertrieben natürlich, ſondern nur ein wenig.“ Liſa

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Die Erzählungen Bjelkins

war über ihren Einfall entzückt. Sie umarmte den Vater, verſprach ihm, über ſeinen Rat nachzudenken, und eilte, die erzürnte Miß Jackſon zu beſänftigen; fie konnte fie freilich nur mit großer Mühe dazu be⸗ wegen, die Türe zu öffnen und ihre Rechtfertigungen anzuhören. Liſa ſagte, daß es ihr peinlich geweſen ſei, vor den Gäſten mit ihrem bräunlichen Teint zu erſcheinen; ſie ſagte, daß ſie nicht gewagt hätte, darum zu bitten ... doch daß fie überzeugt geweſen wäre, daß die gute, liebe Miß Jackſon ihr verzeihen würde . . . und ähnliches mehr. Als Miß Jackſon zur Über- zeugung gekommen war, daß Liſa nicht etwa die Ab- ſicht gehabt hätte, ſie lächerlich zu machen, beruhigte ſie ſich, küßte Liſa und ſchenkte ihr als Friedenspfand ein Töpfchen mit engliſcher Schminke, welches von Liſa mit dem Ausdruck der aufrichtigſten Dankbarkeit in Empfang genommen wurde.

Der Leſer wird leicht erraten, daß Liſa nicht ver⸗ ſäumte, am Morgen des nächſten Tages im Wäldchen der Zuſammenkünfte zu erſcheinen. „Gnädiger Herr, warſt du geſtern bei unſerer Herrſchaft?“ fragte ſie als erſtes: „Und wie gefiel dir unſer Fräulein?“ Alexej entgegnete, daß er ſie kaum bemerkt hätte. „Schade“, entgegnete Ца. „Warum denn?“ fragte Alexej. „Weil ich dich gerne gefragt hätte, ob es wahr iſt, was man ſagt ...“ „Was ſagt man denn?“ „Ob es wohl wahr iſt, was man ſagt, ich ſähe unſerem Fräulein ähnlich?“ „Welch ein Ци:

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ſinn! Mit dir verglichen iſt fie das ſcheußlichſte Scheu⸗ ſal.“ „Ach, gnädiger Herr, ſchämſt du dich nicht, fo zu ſprechen; unſer Fräulein hat ет fo weißes Фе: ſichtchen und iſt ſo ſchön geputzt! Wie könnte man mich je mit ihr vergleichen!“ Aber Alexej ſchwor ihr, daß fie viel ſchöner {её als alle nur immer erdenk⸗ baren weißen Fräulein, und begann, um ſie vollends zu beruhigen, ihre Herrſchaft mit ſo lächerlichen Zügen zu ſchildern, daß Liſa herzlich lachen mußte. „Immer⸗ hin,“ ſprach ſie darauf mit einem Seufzer: „wenn auch unſer Fräulein möglicherweiſe komiſch iſt, ſo bin ich doch im Vergleich mit ihr nichts als eine ungebil— dete Närrin.“ „Ih!“ meinte Alexej: „Das brauchſt du dir nicht zu Herzen zu nehmen! Und übrigens, wenn du willſt, ich kann dich leicht leſen und ſchreiben lehren.“ „Wahrhaftig,“ meinte Liſa, „ob man es nicht in der Tat verſuchen ſollte?“ „Schon recht, Liebſte; fangen wir meinetwegen ſogleich an.“ Sie ſetzten ſich. Alexej zog einen Bleiſtift und ein Notizbuch aus der Taſche und erſtaunlich ſchnell lernte Akulina das Alphabet. Alexej konnte ſich über ihre Auffaſſungs— gabe nicht genug wundern. Bereits am nächſten Nor: gen äußerte ſie den Wunſch, es mit dem Schreiben zu verſuchen; und wollte auch anfangs der Bleiſtift (Фет: bar nicht recht gehorchen, ſo wußte ſie doch bereits nach wenigen Minuten ziemlich hübſch die Buchſtaben zu malen. „Ein Wunder!“ rief Alexej: „Bei uns geht ja der Unterricht noch ſchneller als nach dem Lancaſter—

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Die Erzählungen Bjelkins

ſyſtem.“ Und tatſächlich vermochte Akulina bereits im Verlaufe der dritten Unterrichtsſtunde „Natalja, die Bojarentochter“ zu buchſtabieren, wobei fie die Lektüre in einem fort mit Bemerkungen unterbrach, die Alexej in das aufrichtigſte Erſtaunen verſetzten. Sie kritzelte außerdem ein großes Blatt mit Apho— rismen voll, die aus der gleichen Erzählung ſtammten.

Noch war keine Woche vergangen, da ſtanden die beiden bereits im Briefwechſel. Als Poſtbureau diente ihnen ein Hohlraum im Stamm einer alten Eiche. Naſtja hatte in aller Stille das Amt des Briefträgers übernommen. Alexej trug ſeine mit großen Zügen geſchriebenen Briefe dorthin und fand ſtets die auf einfaches blaues Papier gekritzelten Krähenfüßchen ſeiner Angebeteten vor. Es war erſtaunlich, wie ſchnell ſich Зита an die feinere Ausdrucksweiſe gewöhnte und wie offenſichtlich ihr Verſtand ſich entwickelte und bildete.

Die Bekanntſchaft zwiſchen Iwan Petrowitſch Be: reſtow und Grigorij Jwanowitſch Muromskij wuchs derweilen immer kräftiger an und verwandelte ſich in Kürze ſogar in Freundſchaft, und zwar aus folgendem Grunde. Muromskij dachte häufig daran, daß nach dem Tode Iwan Petrowitſchs all deſſen Beſitzungen Alexej Iwanowitſch zufallen würden, und daß in dieſem Falle Alexej Iwanowitſch wohl einer der reichſten Gutsbeſitzer ſeines Gouvernements werden dürfte, und daß mithin keinerlei Grund vorliege,

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Das Fräulein als Bäuerin

warum ег Liſa etwa nicht heiraten ſollte. Der alte Bereſtow hingegen leugnete keineswegs die vielen vor⸗ trefflichen Eigenſchaften ſeines Nachbarn, wie zum Beiſpiel ſeine außergewöhnliche Tüchtigkeit, war er auch immer noch der Anſicht, daß Muromskij ein wenig verrückt ſei (oder wie er es nannte, an der eng⸗ liſchen Narrheit litt); Grigorij Iwanowitſch war zu: dem ein naher Verwandter des Grafen Pronskij, der ein bedeutender und einflußreicher Mann war; dieſer Graf konnte unter Umſtänden Alexej von großem Nutzen werden, außerdem durfte Muromskij (fo re: nigſtens dachte Iwan Petrowitſch) ſicherlich über die Gelegenheit erfreut ſein, ſeine Tochter gut zu ver— heiraten. Und ſo lange überlegten die alten Herren dieſen Plan ein jeder für ſich allein, bis ſie ihn ſchließ⸗ lich miteinander beſprachen, worauf ſie ſich umarmten und einander das Wort gaben, die Angelegenheit ge— hörig zu betreiben; ein jeder machte ſich nun daran, ſeinerſeits die notwendigen Schritte zu unternehmen. Muromskij ſtand eine ſchwere Aufgabe bevor: mußte er doch ſeine Betſy überreden, näher mit Alexej, den ſie ſeit dem bemerkenswerten Mittageſſen nicht wieder— geſehen hatte, bekannt zu werden. Es hatte ihm den Eindruck gemacht, als hätten ſie einander nicht ſehr ge— fallen; zum mindeſten hatte Alexej keinerlei Abſicht де: zeigt, wieder einmal nach Prilutſchino zu fahren, Liſa aber ſchloß ſich jedesmal, wenn Iwan Petrowitſch ihnen die Ehre ſeines Beſuches erwies, in ihrem Zimmer

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Die Erzählungen Bjelfins

ein. Wenn aber Alexej dies waren die Gedanken Grigorij Iwanowitſchs erſt täglich in meinem Hauſe verkehren wird, dann wird Betſy ſich beſtimmt in ihn verlieben. Das liegt in der Natur der Sache. Die Zeit wird es ſchon machen.

Iwan Petrowitſch war über den Erfolg ſeines Vorhabens bedeutend weniger beunruhigt. Noch am gleichen Abend befahl er ſeinen Sohn zu ſich ins Kabinett, ſteckte die Pfeife an und meinte nach einem kurzen Schweigen: „Wie iſt denn das, Aljoſcha, du ſprichſt ſchon lange nicht mehr vom Militärdienſt? Oder ſollte wirklich die Huſarenuniform dich nicht mehr ver⸗ locken?“ „Nein, Papa!“ entgegnete Alexej reſpekt⸗ voll: „Ich merke doch, daß es Ihnen nicht erwünſcht iſt, daß ich Huſar werde; und es iſt meine Pflicht, Ihnen zu gehorchen.“ „Schon gut!“ entgegnete Iwan Petrowitſch: „Ich ſehe, daß du ein gehorſamer Sohn biſt; das tröſtet mich ſehr; ſo will ich denn auch meinerſeits dich zu nichts zwingen: ich will dich nicht veranlaſſen ... ſogleich ... in den Staatsdienſt zu treten; ich habe zunächſt einmal die Abſicht, dich zu verheiraten.“

„Mit wem denn, Papa?“ fragte Alexej überraſcht.

„Mit Liſaweta Grigorjewna Muromskaja“, ent⸗ gegnete Iwan Petrowitſch: „Ein vortreffliches Bräut⸗ chen, nicht wahr?“

„Aber, Papa, ich habe noch gar nicht ans Heiraten gedacht.“

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B EN ERLERNEN Ze 2

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Das Sräulein als Bäuerin

„Du nicht; darum habe ich für dich gedacht und alles zu Ende gedacht.“

„Wie Sie wollen, aber Liſa Muromskaja gefällt mir ganz und gar nicht.“

„Sie wird dir ſchon gefallen, Gewohnheit bringt Liebe.“

„Aber ich fühle mich durchaus nicht befähigt, ſie glücklich zu machen.“

„Was geht dich ihr Glück an? Wie? Befolgſt du ſo meinen väterlichen Willen? Sehr gut!“

„Wie Sie wollen, aber ich will nicht heiraten und werde nicht heiraten.“

„Du wirſt heiraten, oder ich werde dich verdammen, und mein Gut fo wahr Gott lebt verkaufen und verſchleudern, ſo daß dir auch nicht ein roter Heller bleiben wird. Ich gebe dir drei Tage zur Überlegung, wage es nicht, mir bis dahin unter die Augen zu treten.“

Alexej wußte nur zu gut, daß, wenn ſein Vater ſich etwas in den Kopf geſetzt hatte, man es ihm, wie Taras Skotinin ſagt, nicht einmal mehr mit einem Nagel aus dem Kopf hauen konnte; aber Alexej war darin wie ſein Vater, und es war genau ſo ſchwierig, ihn zur Räſon zu bringen. Er ſchloß ſich in ſein Zimmer ein und dachte tief über die Grenzen der väter⸗ lichen Gewalt nach, aber auch über Liſaweta Grigor: jewna, über das feierliche Verſprechen des Vaters, ihn zum Bettler zu machen, und dachte nicht zuletzt auch an Akulina. Jetzt, zum erſten Male, erkannte

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Die Erzählungen Blelkins

er auf das allerdeutlichſte, daß er ſie leidenſchaftlich liebte; ihm ſchoß der romantiſche Gedanke durch den Kopf, die Bäuerin zu heiraten und von ſeiner eigenen Hände Arbeit zu leben, und je länger er ап dieſen ent: ſcheidenden Schritt dachte, deſto mehr Vernunft fand er in ihm. Die Zuſammenkünfte im Wäldchen waren infolge des regneriſchen Wetters ſeit einiger Zeit unter⸗ brochen worden. Er ſchrieb daher mit der allerfau- berſten Handſchrift und dem allerraſendſten Stil einen Brief an Akulina, in welchem er ihr von dem Ver⸗ derben, das ihnen beiden drohte, Mitteilung machte, und ihr aufs neue ſeine Hand antrug. Ohne Zeit zu verſäumen, brachte er den Brief zur Poſt, nämlich zu dem Hohlraum im Baum, und begab ſich erſt dann, zufrieden mit ſich ſelber, zu Bett.

Tags darauf ritt Alexej, treu ſeinem Entſchluß, оп am frühen Morgen zu Muromskij, um ſich offenherzig mit ihm auseinanderzuſetzen. Er gedachte an ſeine Großmut zu appellieren, und hoffte, ihn für fi) zu gewinnen. „ЭЙ Grigorij Iwanowitſch zu Hauſe?“ fragte er, nachdem er ſein Pferd vor der Freitreppe des Schloſſes von Prilutſchino zum Stehen gebracht hatte. „Der Herr iſt nicht zu Hauſe,“ ent⸗ gegnefe der Diener: „Grigorij Jwanowitſch beliebte es, bereits am frühen Morgen auszureiten.“ Wie ärgerlich! dachte Alexej. „Iſt wenigſtens Liſaweta Grigorjewna zu Haufe?“ „Das Fräulein find zu Hauſe.“ Alexej ſprang ſogleich vom Pferd, warf dem

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Das Fräulein als Bäuerin

Diener die Zügel zu und trat ein, ohne ſich erft melden zu laſſen.

Nun wird ſich alles entſcheiden dachte er, als er ſich dem Wohnzimmer näherte —, ich werde mit ihr ſelber ſprechen. Er trat ein ... und erſtarrte zu einer Bildſäule: На... nein doch, Akulina, die liebe bräunliche Akulina, ſaß dort zwar nicht im Sſarafan, aber im weißen Morgenkleide am Fenſter und las ſeinen Brief; ſie war ſo ſehr damit beſchäftigt, daß ſie nicht gehört hatte, wie er eintrat. Alexej war nicht imſtande, einen Freudenſchrei zu unterdrücken. Liſa erbebte, hob den Kopf, ſchrie auf und wollte davon. Er eilte ihr nach. „Akulina, Akulina! ...“ Liſa рег: ſuchte vergebens, ſich aus feinen Armen zu winden ... „Mais laissez-moi done, Monsieur, mais etes-vous fou?“ rief fie in einem fort, 14 von ihm abwendend. „Akulinal Geliebte, Akulina!“ ſtammelte er, ihre Hände küſſend. Miß Jackſon, die dieſer Szene als Zeugin beiwohnte, wußte nicht, was ſie denken ſollte. In dieſem Augenblick öffnete ſich die Tür und Grigorij Iwano⸗ witſch trat ein.

„Aha!“ meinte Muromskij: „Na, die Sache ſcheint ja von euch bereits in Ordnung gebracht worden zu ет...“

Die Leſer werden es mir gewiß erfparen, die übri- gen Einzelheiten der Löſung zu ſchildern.

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Erſtes Kapitel

Es iſt mehrere Jahre her, da lebte auf einer ſeiner Beſitzungen der ruſſiſche Edelmann alten Schlages Kirila Petrowitſch Trojekurow. Sein Reichtum, ſein vornehmer Stand und ſeine Verbindungen verliehen ihm in dem Gouvernement, in dem ſich fein Gut Бе: fand, ein großes Anſehen. Da er von allen, die ſich in ſeiner Umgebung befanden, überaus verwöhnt wurde, war es ihm zur Gewohnheit geworden, einer jeden Regung ſeines feurigen Charakters nachzugeben, ebenfo aber auch allen Launen feines ziemlich beſchränk⸗ ten Verſtandes. Seine Nachbarn waren beglückt, wenn fie feinem kleinſten Wunſch genügen konnten; die Gou— bernementsbeamten dagegen zitterten, wenn fie nur ſeinen Namen hörten. Kirila Petrowitſch nahm alle dieſe Beweiſe der Unterwürfigkeit wie einen ihm zu⸗ ſtehenden Tribut entgegen. Sein Haus war immer voller Gäfte, die nur darauf lauerten, feinen adeligen Müßiggang zu ergötzen, indem ſie ſtets bereit waren, die lärmenden und zuweilen wohl auch wilden Ber: gnügungen zu teilen. Keiner wagte je, eine Einladung von ihm abzulehnen, oder etwa an den bewußten Tagen nicht mit dem gehörigen Reſpekt im Dorf Pokrowskoje zu erſcheinen. Kirila Petrowitſch war durch und durch gaſtfrei und litt, trotz ſeiner unge— wöhnlichen phyſiſchen Kräfte, regelmäßig zweimal in der Woche an den Folgen des Überfreffens, es

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Dubrowskij

verging außerdem kein Abend, an dem er nicht be- rauſcht war.

(Es gab nur wenige Mägde unter feinem Hof: geſinde, die den wollüſtigen Angriffen des Fünfzig⸗ jährigen entgangen waren. Außerdem lebten in einem der Flügel des Gutsgebäudes ſechzehn Zofen, die mit nichts anderem als den ihrem Geſchlecht zuſtehenden Handarbeiten beſchäftigt waren. Vor den Fenſtern dieſes Flügels waren Holzgitter; die Eingangstüre war

beftändig verſchloſſen und der Schlüſſel befand ſich in

Verwahrung bei Kirila Petrowitſch. Die jugendlichen Einſiedlerinnen durften nur zu beſtimmten Stunden in den Garten und ergingen ſich dort ſtets unter der

Aufſicht zweier alter Frauen. Von Zeit zu Zeit ver: | heiratete Kirila Petrowitſch einige von ihnen, dann

traten Neue an ihre Stellen. Mit den Bauern und dem Hofgeſinde verfuhr er ſtreng und eigenwillig; trotz⸗

dem aber waren ihm alle ſehr ergeben: ſie prahlten 1

шй dem Reichtum und dem Ruhm ihres Herrn und

nahmen ſich ihrerſeits viele Freiheiten gegen ihre Nach⸗ 4 Баги heraus, да fie auf den ſtarken Schutz ihres Ge-

bieters bauten.)!

Trojekurows einzige und ſtändige Beſchäftigung beſtand im Grunde nur aus Spazierritten, die ihn durch ſeine ausgedehnten Beſitzungen führten, aus endloſen Gelagen und aus allerhand Streichen, die

täglich neu erſonnen wurden und deren Opfer gewöhn⸗

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Das in Klammern Stehende iſt im Ntanuſkript durchgeſtrichen.

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Dubromsfij

lich irgendeiner feiner neuen Bekannten war, obwohl auch ſeine älteren Freunde nicht immer ungerupft davonkamen; die einzige Ausnahme hiervon bildete Andrej Gawrilowitſch Dubrowskij. Dieſer Dubrows⸗ kij, ein verabſchiedeter Gardeleutnant, war fein паф: ſter Nachbar und beſaß nicht mehr als ſiebzig Seelen. Doch Trojekurow, der ſich ſogar gegen Perſonen von allerhöͤchſter Herkunft hochmütig benahm, hatte vor Dubrowskij trotz deſſen geringem Vermögen den größten Reſpekt. Sie hatten vor Zeiten im gleichen Regiment gedient und Trojekurow war der ungedul: dige und entſchloſſene Charakter ſeines Nachbarn wohl bekannt. Das ruhmreiche Jahr 1762 hatte die beiden auf lange getrennt. Trojekurow, der ein Verwandter der Fürſtin Daſchkow war, machte eine glänzende Karriere; Dubrowskij hingegen, deſſen Vermögen ſich in einem verwahrloſten Zuſtande befand, ſah ſich ge⸗ zwungen, den Abſchied zu nehmen und ſich auf ſeine letzte Beſitzung zurückzuziehen. Als dieſer Umſtand Kirila Petrowitſch zu Ohren kam, trug er dem Freunde ſeine Unterſtützung an; Dubrowskij lehnte jedoch dankend ab, denn er zog es vor, arm, aber unabhängig zu ſein. Einige Jahre darauf ließ ſich auch Trojekurow, der als General en chef den Abſchied genommen hatte, auf ſeinem Gut nieder; die Freunde ſahen ſich wieder und empfanden große Freude darüber. Seit jener Zeit war kein Tag vergangen, an dem ſie nicht zuſammen— gekommen wären, und Kirila Petrowitſch, der noch

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Dubromsfij

niemals jemand die Ehre feines Beſuches erwieſen hatte, kehrte häufig im Häuschen ſeines alten Kame⸗ raden ein. (Da ſie gleichalterig waren, dem gleichen Stande entſtammten und ähnlich erzogen worden waren, ähnelten ſich zum Teil auch ihre Charaktere und Neigungen; ja, man konnte ſogar ſagen, auch) t ihr Schickſal ſah ſich einigermaßen gleich: beide hatten aus Liebe geheiratet, beide waren früh Witwer де: worden und jeder von den beiden hatte aus ſeiner Ehe ein einziges Kind. Dubrowskijs Sohn wurde in Petersburg erzogen, Kirila Petrowitſchs Tochter da— gegen wuchs unter den Augen ihres Erzeugers heran, und oft pflegte Trojekurow zu Dubrowskij zu ſprechen: „Hör mal, Bruder Andrej Gawrilowitſch, wenn dein Wladimir einmal ſeinen Weg gemacht haben wird, ſoll er meine Maſcha kriegen, gleichviel, ob er auch der ärmſte Schlucker ſei.“ Aber Andrej Gawrilowitſch ſchüttelte dazu nur den Kopf und antwortete gemöhn: lich: „Nein, Kirila Petrowitſch, mein Wladimir iſt kein Mann für Marja Kirilowna. Ein armer Edel: mann, wie er einer iſt, tut beſſer daran, ein armes Edelfräulein zu heiraten, damit er in ſeinem Hauſe das Haupt ſei, ſtatt der Verwalter eines verwöhnten Weib⸗ chens zu werden.“

Das Einverſtändnis, das zwiſchen dem aufgebla— ſenen Trojekurow und ſeinem armen Nachbarn be— ſtand, war der Gegenſtand des Neides aller und manch

Das in Klammern Stehende iſt im Manuſkript durchgeſtrichen.

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einer wunderte ſich über den Mut Dubrowskijs, wenn er am Tiſch Kirila Petrowitſchs freimütig ſeine Mei⸗ nung gerade heraus äußerte, ohne ſich lange darum zu kümmern, ob dieſe nicht am Ende der Anſicht des Hausherrn widerſpräche. Der eine und der andere verſuchte ſogar, es ihm nachzutun und die Grenzen des geziemenden Reſpektes zu überſchreiten; Kirila Petrowitſch aber wußte in dieſen Fällen allen ſolche Angſt zu machen, daß ihnen auf immer die Luſt zu ähnlichen Unternehmungen verging; Dubrowskij war und blieb der einzige, der außerhalb des all— gemeinen Geſetzes ſtand. Jedoch ein unverhoffter Zufall änderte das und brachte alles aus dem Gleich— gewicht.

Eines Tages, es war im frühen Herbſt, begab ſich Kirila Petrowitſch auf die Jagd. Die Hundewärter und Pferdeknechte hatten ſchon am Abend vorher den Befehl erhalten, um fünf Uhr früh bereit zu ſein. Zelt und Feldküche befanden ſich bereits an Ort und Stelle, nämlich dort, wo Kirila Petrowitſch zu Mittag ſpeiſen wollte. Der Hausherr und ſeine Gäſte begaben ſich auf den Hundehof, auf welchem mehr als fünf— hundert Jagd- und Windhunde zufrieden und gut lebten und Kirila Petrowitſchs Freigebigkeit immerzu in ihrer Hundeſprache prieſen. Dortſelbſt befand ſich auch ein Lazarett für die kranken Hunde, das unter der Aufſicht des „Stabsarztes“ Timoſchka ſtand, und ferner eine Abteilung, in der die Hündinnen ihre

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Jungen warfen und ſpäterhin die Welpen ſäugten. Dieſe trefflich eingerichteten Anſtalten waren Kirila Petrowitſchs ganzer Stolz. Und er verſäumte keine Gelegenheit, vor ſeinen Gäſten damit zu prahlen, wenn auch ein jeder von dieſen die Baulichkeiten min⸗ deſtens zwanzigmal bereits geſehen hatte. Umgeben von ſeinen Gäſten und geleitet von Timoſchka und den Haupthundewärtern ging er auf dem Hundehofe auf und ab und blieb gelegentlich vor einigen Zwingern ſtehen, wobei er bald nach der Geſundheit der Er— krankten fragte, bald wieder mehr oder weniger ſtrenge und gerechte Anordnungen traf; die Hunde, die er ет: kannte, rief er heran und unterhielt ſich zärtlich mit ihnen. Die Gäſte hielten es für ihre Pflicht, in den Ausdrücken des Entzückens von Kirila Petrowitſchs Hundehof zu ſprechen. Nur Dubrowskij ſchwieg finſter; er war ein leidenſchaftlicher Jäger, aber der Zuſtand ſeines Vermögens erlaubte ihm nicht, mehr als zwei Jagdhunde und eine Windhündin zu halten, und darum konnte er ſich beim Anblick dieſer wahrhaft großartigen Zucht eines gewiſſen Neides nicht enthalten. „Warum ſchauſt du fo finfter, Bruder?“ fragte Kirila Petro— witſch, „gefällt dir am Ende mein Zwinger nicht?“ „Nein,“ entgegnete Dubrowskij rauh, „der Zwinger НЕ großartig; aber ich bezweifle, ob alle Ihre Leib⸗ eigenen ein ſolches Leben haben wie Ihre Hunde.“ Dieſe Worte kränkten einen der Hundeknechte. „Dank Gott und unferem Herrn“, ſagte er, „können wir über

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unfer Leben nicht klagen; aber die Wahrheit zu fagen, würde es manchem Edelmann vielleicht nur zum Vor— teil gereichen, ſeinen Gutshof gegen eine beliebige der Hundehütten hier zu verfaufchen; er hätte es hier nicht nur wärmer, ſondern würde auch beſſer genährt werden.“ Die freche Bemerkung ſeines Leibeigenen zwang Kirila Petrowitſch ein lautes Lachen ab, was zur Folge hatte, daß auch die Gäſte in ein Gelächter ausbrachen, wenn auch manche von ihnen ſich des Ge: fühles nicht ganz erwehren konnten, daß der Scherz des Hundeknechtes ſich eigentlich auch auf ſie hätte beziehen können. Dubrowskij erbleichte und entgeg— nete kein Wort. In dieſem Augenblick wurde Kirila Petrowitſch ein Wurf junger Hunde in einem Körb— chen gebracht; er beſchäftigte ſich mit ihnen und wählte zwei von ihnen aus, die anderen befahl er, zu erfäufen. Derweilen jedoch war Andrej Gawrilo— witſch verſchwunden, ohne daß irgendjemand es Бе: merkt hätte.

Bald darauf verließ Kirila Petrowitſch, gefolgt von ſeinen Gäſten, den Hundehof und begab ſich zum Abendeſſen, und hier erſt merkte er, als er Dubrowskij nirgends ſah, daß dieſer verſchwunden war. Die Diener teilten ihm mit, daß Andrej Gawrilowitſch nach Haufe gefahren ſei. Trojekurow befahl fogleich, ihm nachzujagen und ihn unter allen Umſtänden zu— rückzubringen. Es war noch nie vorgekommen, daß er ohne Dubrowskij auf die Jagd gegangen wäre,

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denn dieſer war ein erfahrener und vortrefflicher Kenner aller Hundeeigenſchaften und in allen nur er— denkbaren Jagdͤſtreitigkeiten war feine Entſcheidung immer die einzig richtige. Allein der Diener, der ihm nachgeſchickt worden war, kehrte zurück, während alles noch bei Tiſch ſaß, und meldete ſeinem Herrn, Andrej Gawrilowitſch hätte nicht Folge geleiſtet und beab— ſichtige nicht zurückzukehren. Wie immer erhitzt vom Fruchtſchnaps, ärgerte ſich Kirila Petrowitſch ſehr und ſchickte den gleichen Diener noch einmal Andrej Gawrilowitſch nach und ließ ihm ſagen, daß, wenn er nicht augenblicks nach Pokrowskoje zurückkäme, um daſelbſt zu übernachten, er, Trojekurow, ſich auf ewig mit ihm verzanken würde. Der Diener ſprengte aufs neue fort. Kirila Petrowitſch hob die Tafel auf, ließ die Gäſte gehen und begab ſich ſelber zu Bett. Am Tage darauf war ſeine erſte Frage: „Iſt Andrej Gawrilowitſch da?“ Man überreichte ihm einen in Form eines Dreiecks zuſammengefalteten Brief. Kirila Petrowitſch befahl ſeinem Schreiber, das Billet laut vorzuleſen, und bekam folgendes zu hören: „Mein allerwerteſter Herr!

Ich beabſichtige nach Pokrowskoje ſolange nicht zu kommen, bis Sie mir nicht den Hundewärter Paramoſchka geſchickt haben, damit dieſer ſich vor mir entſchuldige; und wird es in meinem Be- lieben ſtehen, ihn zu beſtrafen oder zu begna— digen; Späße von Ihren Leibeigenen werde ich

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mir keineswegs gefallen laffen und auch von

Ihnen gedenke ich nichts dergleichen zu erdulden,

denn ich bin kein Narr, ſondern ein Edelmann

aus altem Hauſe. Inzwiſchen verbleibe ich als

Ihr zu jedem Dienſt bereiter

Andrej Dubrowskij.“

Nach den heutigen Anſtandsbegriffen wäre dieſer Brief als durchaus ungehörig zu bezeichnen; Kirila Petrowitſch dagegen war weniger über den ſonder— baren Stil und die Ausdrucksweiſe verletzt als über den Inhalt. „Wie?“ ſchrie Trojekurow und ſprang barfuß aus dem Bett: „Meine Leute zu ihm ſchicken, damit ſie ſich entſchuldigen! Er will ſich die Freiheit nehmen, ſie zu ſtrafen oder zu begnadigen! Ja, was fällt ihm denn eigentlich ein? Weiß er wohl, mit wem er es zu tun hat? Ich werd ihm! der ſoll mir noch klein werden! Er ſoll mir erfahren, was es heißt, mit Trojekurow zu ſtreiten.“

Trotzdem jedoch zog ſich Kirila Petrowitſch an und ritt mit dem gewöhnlichen Prunk auf die Jagd. Aber die Jagd war erfolglos; den ganzen Tag bekam man nichts als einen einzigen Haſen zu Geſicht und auch der wurde gefehlt; das Mittageſſen im Zelt war eben- falls nicht geglückt oder zum mindeſten Kirila Petro— witſch nicht nach dem Sinn, denn er prügelte den Koch, beſchimpfte die Gäſte und nahm darauf mit ſeinem ganzen Gefolge den Heimweg abſichtlich über die Fel— der Dubrowskijs.

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Zweites Kapitel

Einige Tage vergingen, doch wurde die Feindſchaft zwiſchen den beiden Nachbarn deswegen nicht geringer. Andrej Gawrilowitſch zeigte ſich nicht mehr in Фо: krowskoje, Kirila Petrowitſch langweilte ſich ohne ihn und äußerte ſeinen Mißmut in den allerverletzendſten Ausdrücken, die natürlich, dank dem Eifer der dort anweſenden Edelleute, Dubrowskij ergänzt und Бе: richtigt zu Ohren kamen. Ein weiterer Umſtand ver: nichtete ſchließlich auch die letzte Hoffnung auf einen Friedensſchluß.

Eines Tages ritt Dubrowskij durch feine kleine Be: ſitzung; er hörte, als er ſich einem Birkenwäldchen näherte, Beilſchläge und gleich darauf den Lärm eines zu Boden ſtürzenden Baumes; er ritt dorthin und überraſchte Bauern aus Pokrowskoje, die in ſeinem Gehölz Waldfrevel trieben. Als ſie ihn ſahen, machten ſie ſich auf die Flucht; allein Dubrowskij erwiſchte mit der Hilfe ſeines Kutſchers einen von ihnen und ſchleppte ihn gefeſſelt mit ſich zurück; außerdem waren dem Sieger noch zwei der feindlichen Pferde als Beute zugefallen. Dubrowskij war wütend; vor dieſem Tage war es noch nie geſchehen, daß Trojekurows Leib⸗ eigene, die bekannte Räuber waren, es gewagt hätten, innerhalb ſeiner Beſitzung ihr Unweſen zu treiben, denn alle kannten ja ſeine nahe Freundſchaft mit ihrem Herrn; jetzt aber mußte Dubrowskij bemerken, daß

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fie das Zerwürfnis zwiſchen ihm und feinem Nach: Баги ſich zu Nutzen machten, und daher entſchloß er ſich, entgegen allen Regeln des Kriegsbrauches, ſeinen Gefangenen mit eben den gleichen Ruten zu züchtigen, die er im Gehölz geſtohlen hatte, die Pferde aber zur Arbeit zu verwenden und ſie dem herrſchaftlichen Pferdebeſtand zuzuteilen.

Das Gerücht hiervon drang noch am gleichen Tage zu Kirila Petrowitſch. Er geriet außer ſich und wollte im erſten Augenblick der Wut mit ſeinem ganzen Hof— geſinde Kiſtenjowka überfallen (ſo hieß die Beſitzung feines Nachbarn), alles in Grund und Boden рег: wüſten und den Beſitzer ſelber in ſeinem Gutshaus belagern; Heldentaten dieſer Art waren für ihn nichts Rares; doch nahmen ſeine Gedanken bald eine andere Wendung. Während er mit ſchweren Schritten im Zimmer auf und ab ging, blickte er zufällig durchs Fenſter und bemerkte vor dem Tore ein Dreigeſpann. Ein Mann in Ledermütze und Friesmantel ſprang aus dem Wagen und begab ſich zum Flügel, in dem der Verwalter wohnte. Trojekurow erkannte in ihm den Beiſitzer Schabaſchkin und ließ ihn rufen. Nach weni⸗ gen Augenblicken ſtand Schabaſchkin vor Kirila Petro⸗ witſch und konnte ſich nicht genug an Verbeugungen tun, er wartete andächtig darauf, was jener ihm zu ſagen hätte.

„Guten Tag ... wie heißt du doch gleich?“ fragte Trojekurow: „Warum biſt du hier?“

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„Ich fahre gerade zur Stadt, Eure hohe Exzellenz,“ entgegnete Schabaſchkin, „und wollte Iwan Dem⸗ janow nur fragen, ob nicht irgendetwas erledigt werden könnte.“

„Du Бай recht getan, hier einzukehren ... wie heißt du doch gleich? Ich brauch dich nämlich; da haſt du einen Schnaps und jetzt hör mal zu.“

Dieſer liebenswürdige Empfang war eine ange— nehme Überrafchung für den Beiſitzer; er lehnte den Schnaps ab und hörte mit dem allerer denkbarſten Eifer Kirila Petrowitſch zu.

„Ich habe einen Nachbarn,“ ſagte Trojekurow, „einen Grobian mit wenig Land; dem will ich ſeine Beſitzung nehmen . . . Was hältſt du davon?“

„Eure hohe Exzellenz, gibt es vielleicht irgend⸗ welche Dokumente? ...

„Schwatz nicht, Bruder, was da Dokumente? Da⸗ für gibt es Geſetze. Das iſt es ja, ich will ihm näm⸗ lich ſein Gut ohne jedes Recht nehmen.“

„Schwer, Eure hohe Exzellenz ...“

„Wart mal! Dieſes Gut hat nämlich vormals uns gehört, es wurde von einem gewiſſen Spizyn gekauft und ſpäterhin an Dubrowskijs Vater verkauft. Könnte man nicht vielleicht dieſen Umſtand verwerten?“

„Schwer, Eure hohe Exzellenz; dieſer Verkauf wurde doch gewiß mit allen geſetzlichen Formalitäten betätigt.

„Alſo denk mal nach, Bruder, ſtreng dich an.“

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„Wie wäre es, Eure hohe Exzellenz, wenn Sie, zum Beiſpiel, es möglich machen könnten, das Schriftſtück, kraft deſſen er ſein Gut beſitzt, von dem Nachbarn zu erhalten, denn dann ...“

„Verſteh ſchon, aber es hat einen Haken: während eines Feuerſchadens ſind alle ſeine Papiere verbrannt.“

„Wie, Eure hohe Exzellenz, feine Papiere find ver- brannt? Ja, was wollen Sie denn noch mehr? In dem Fall können Sie ſogar auf dem Wege des Ge— ſetzes gegen ihn vorgehen: Sie werden ohne Zweifel volle Genugtuung erhalten.“

„Glaubſt du? Alſo, ſchau mal zu, ich verlaſſe mich auf deinen Eifer, an meiner Dankbarkeit ſoll es nicht fehlen.“

Schabaſchkin verbeugte ſich faſt bis zur Erde, ging hinaus und begann noch am gleichen Tage, ſich um die beſprochene Angelegenheit zu kümmern. Dank dem Eifer, mit dem er die Sache betrieb, erhielt Dubrowskij ſchon nach zwei Wochen eine Aufforde— rung aus der Stadt, unverzüglich die notwendigen Papiere einzureichen, da beim Gericht ein Geſuch des Generals en chef Trojekurow eingelaufen ſei, des In⸗ haltes, daß der Beſitztitel auf das Dörfchen Kiſten— jowka ungeſetzmäßig wäre.

Voller Unwillen über dieſe unerwartete Anfrage ſchrieb Andrej Gawrilowitſch noch am gleichen Tage eine ziemlich grobe Antwort, in der er auseinander⸗ ſetzte, daß das Dorf Kiſtenjowka nach dem Tode ſeines

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verſtorbenen Erzeugers ihm zugefallen fei und daß ег es nach dem Rechte der Erbſchaft beſitze, er ſchrieb ferner, daß die ganze Angelegenheit Trojekurow ganz und gar nichts anginge, und daß jeder Anſpruch auf dieſe ſeine Beſitzung nichts als Verleumdung und Betrug ſei. Dubrowskij hatte nicht die geringſte Er⸗ fahrung in Gerichtsſachen. Er ließ ſich in den meiſten Fällen von ſeinem geſunden Verſtande leiten, aber es muß geſagt werden, daß dieſe Leitung nur ſelten die rechte und faſt immer ungenügend iſt.

Dies Schreiben machte auf den Beiſitzer Schabaſch⸗ kin den allerangenehmſten Eindruck; denn erſtens erſah er daraus, daß Dubrowskij nur wenig von ſolchen Geſchäften verſtünde; zweitens aber machte er die Be⸗ merkung, daß es ein leichtes ſein müßte, einen ſo heiß⸗ blütigen und unvorſichtigen Menſchen bald in die allerungünſtigſte Lage zu bringen.

Als Andrej Gawrilowitſch einige Zeit darauf die an ihn gerichtete Anfrage mit größerer Kaltblütigkeit überdachte, erkannte er, daß es unumgänglich not⸗ wendig war, eingehender zu antworten; er ſetzte daher ein neues und ziemlich ſachliches Schreiben auf, aber auch dieſes wurde in der Folge als ungenügend an⸗ geſehen.

Die Sache zog ſich hin. Andrej Gawrilowiſch war von ſeinem Recht ſo ſehr überzeugt, daß er ſich ihrer wenig annahm, außerdem hatte er weder Luſt noch Möglichkeit, mit Geldern um ſich zu ſtreuen, er ſpottete

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über die Verkäuflichkeit der Gewiſſen des Tinten: geſchlechtes und es kam ihm überhaupt nicht einmal der Gedanke, daß er möglicherweiſe ein Opfer dieſer Hinterliſt werden könnte. Seinerſeits dachte Troje- kurow ebenſowenig daran, ob er als Sieger aus der begonnenen Sache hervorgehen würde: für ihn arbeitete ja Schabaſchkin, der in ſeinem Namen wirkte, die Richter kaufte und einſchüchterte und alle möglichen Geſetze und Verfügungen auf jede erdenkbare Art auszulegen beſtrebt war. Wie dem aber auch ſei, am 9. Februar des Jahres 18.. erhielt Dubrowskij durch die Stadtpolizei die Aufforderung, vor dem Landgericht зи ®® zu erſcheinen, um den Entſcheid in der Streitſache zu hören, die zwiſchen ihm, dem Leut⸗ nant Dubrowskij, und dem General en chef Зто]е: kurow hinſichtlich der fraglichen Beſitzung entſtanden ſei, und um mit ſeiner Unterſchrift zu bekunden, daß er den Entſcheid annehme, oder dagegen Berufung einlege. Noch am gleichen Tage begab ſich Dubrowskij zur Stadt; Trojekurow überholte ihn unterwegs; hoch⸗ mütig blickten die beiden einander an und Dubrowskij bemerkte ein boshaftes Lächeln auf dem Antlitz ſeines Gegners.

Andrej Gawrilowitſch wohnte in der Stadt ſtets bei einem Kaufmann, mit dem er bekannt war, er übernachtete auch diesmal bei ihm und begab ſich in der Frühe des nächſten Tages zum Gerichtshof. Nie⸗ mand ſchenkte ihm Beachtung. Bald nach ihm kam

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Kirila Petrowitſch. Die Schreiber ſprangen auf und ſteckten ihre Federn hinters Ohr; die Richter empfingen ihn mit Ausdrücken der tiefſten Ergebenheit und rückten ihm aus Reſpekt vor ſeinem Rang, ſeinen Jahren und ſeiner Abſtammung ſogar einen Seſſel herbei; er ſetzte ſich; Andrej Gawrilowitſch dagegen ſtand, wobei er ſich an die Wand lehnte. Eine tiefe Stille brach an und alsbald begann der Sekretär mit ſchallender Stimme den Entſcheid des Gerichtes vorzuleſen. Wir rücken ihn hier in vollem Umfange ein, da wir ап: nehmen, daß es einen jeden intereſſieren dürfte, eine der Methoden kennen zu lernen, dank welcher wir in Rußland ein Beſitztum verlieren können, auf deſſen Beſitz wir unbeſtreitbare Rechte haben. .. 1

Der Sekretär verſtummte: der Beiſitzer erhob ſich und forderte Trojekurow mit einer tiefen Verbeugung auf, das vorliegende Papier zu unterſchreiben. Tri⸗ umphierend nahm Trojekurow die Feder aus ſeiner Hand und ſchrieb unter die Gerichtsentſcheidung ſein völliges Einverſtändnis.

Nun war die Reihe an Dubrowskij. Der Sekretär trat auch an ihn mit dem Papier heran, aber Зи: browskij verharrte regungslos und mit geſenktem Kopf in der gleichen Stellung. Der Sekretär wieder—

holte die Aufforderung: „Entweder voll und ganz 1 Puſchkin hatte eigentlich die Abficht, hier die authentiſche Ent⸗ ſcheidung des Koslowſchen Landgerichts in Sachen Krjukow gegen

Muratow beizulegen, indem er nur die Namen zu verändern ge- dachte.

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zuzuſtimmen, oder aber ſeinem Nichteinverſtändnis, ſollte ſein Gewiſſen ihm wider Erwarten ſagen, daß ſeine Sache gerecht ſei, aufs deutlichſte Ausdruck zu geben, wenn er nämlich die Abſicht hätte, während der vom Geſetz vorgeſchriebenen Friſt gehörigen Ortes Berufung einzulegen.“

Dubrowskij ſchwieg noch immer ... Aber plötzlich fuhr ſein Kopf in die Höhe, ſeine Augen funkelten, er ſtampfte mit dem Fuß auf und ſtieß den Sekretär mit ſolcher Kraft von ſich, daß dieſer zu Boden ſtürzte, darauf packte Dubrowskij das Tintenfaß, ſchleuderte es auf den Beiſitzer und ſchrie mit der wildeſten Stimme: „Wie, ihr achtet Gottes Gebote nicht! Packt euch hin⸗ aus, ihr Geſchlecht von Lakaien!“ Er wandte ſich Мег: auf zu Kirila Petrowitſch: „ЭЙ es nicht unerhört, Exzellenz, daß die Hundeknechte ihre Windhunde in die Kirche Gottes bringen!“ und fuhr fort: „Jetzt laufen die Hunde bereits in der Kirche herum! Ich wills ihnen ſchon zeigen!“ Alles geriet in Entſetzen. Die Gerichts: diener hörten den Lärm, liefen herbei und konnten den Raſenden nur mit großer Mühe überwältigen. Man führte ihn hinaus und brachte ihn in ſeinem Schlitten unter. Trojekurow folgte, vom ganzen Gerichtshof geleitet; Dubrowskijs plötzlich ausgebrochener Wahn⸗ ſinn hatte einen heftigen Eindruck auf ihn gemacht; er würdigte die Richter, die ſich große Hoffnungen auf ſeine Dankbarkeit gemacht hatten, keines einzigen freundlichen Wortes; insgeheim von ſeinem Gewiſſen

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gequält, begab er fich ſchleunigſt nach Pokrowskoje und man kann nicht ſagen, daß der Triumph, den fein Haß erzielt hatte, ihn ſehr befriedigte. Dubrowskij aber mußte derweilen das Bett hüten; ein Kreisarzt (der übrigens kein völliger Dummkopf war) ließ ihn zur Ader und ſetzte ihm Blutegel an und ſpaniſche Fliegen; abends fühlte er ſich ein wenig beſſer und konnte be⸗ reits am nächſten Tage nach Kiſtenjowka gebracht werden, das ihm eigentlich ſchon faſt nicht mehr gehörte.

Drittes Kapitel

Einige Zeit verging, doch ſtand es mit der Gefund- heit des kranken Dubrowskij immer noch ſchlimm. Die Wahnſinnsanfälle wiederholten ſich freilich nicht mehr, doch nahmen ſeine Kräfte merklich ab. Seine vor— maligen Beſchäftigungen hatte er vergeſſen, ſein Zimmer verließ er nur noch ſelten, aber tagelang konnte er daſitzen und grübeln. Jegorowna, eine gute Alte, die vormals ſeinen Sohn betreut hatte, war jetzt ſeine Wärterin geworden. Sie pflegte ihn, wie man ein Kind pflegt, ſie erinnerte ihn, wenn es Zeit war zu eſſen oder zu trinken, ja, ſie fütterte ihn ſogar und brachte ihn zu Bett. Andrej Gawrilowitſch folgte ihr in allem, denn ſie war überhaupt der einzige Menſch, den er in dieſer Zeit ſah. Er war nicht mehr fähig, an feine Geſchäfte zu denken oder wirtſchaftliche An— ordnungen zu treffen, und darum hielt es die Jegorowna für unumgänglich notwendig, den jungen Dubrowskij,

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der in einem Gardeinfanterieregiment diente, das zu jener Zeit in Petersburg ftand, von allem zu Бепаф: richtigen. Zu dieſem Zweck riß ſie ein Blatt aus dem Wirtſchaftsbuch und diktierte dem Koch Chariton, dem einzigen Schriftkundigen in Kiſtenjowka, einen Brief, der noch am gleichen Tage auf der Poſt in der Stadt aufgegeben wurde.

Allein es wird allmählich Zeit, den Leſer mit dem eigentlichen Helden unſerer Erzählung bekannt zu machen.

Wladimir Dubrowskij hatte feine Erziehung im Kadettenkorps genoſſen, von wo er als Kornett zur Garde kam. Sein Vater gab alles her, damit er dort anſtändig leben konnte, und darum erhielt der junge Mann von zu Hauſe weit mehr, als er eigentlich hätte erwarten dürfen. Da er ehrgeizig und von feuriger Gemütsart war, gewöhnte er ſich bald an allerhand koſtſpielige Neigungen; er ſpielte gern Karten und machte Schulden, kurz, er kümmerte ſich wenig um die Zukunft, und wenn er gelegentlich an ſie dachte, ſo fiel ihm nichts weiter ein, als daß er früher oder ſpäter ein reiches Bräutchen ſuchen müßte.

Eines Abends ſaßen einige Offiziere bequem aus: geſtreckt in ſeiner Wohnung und rauchten aus ſeinen Bernſteinpfeifen, da trat Griſcha, ſein Kammerdiener, ein und überreichte ihm einen Brief, deſſen Aufſchrift und Siegel den jungen Mann aufs äußerſte überraſchen mußten. Haſtig erbrach er den Brief und las folgendes:

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„Wladimir Andrejewitſch, gnädiger Herr, ich, deine alte Amme, erdreiſte mich, dir eine Nachricht über das Befinden deines Papachens zukommen zu laſſen. Es ſteht ſehr ſchlecht mit ihm, er weiß oft gar nicht mehr, was er ſpricht, und ſitzt den ganzen Tag über wie ein töricht Kind da Leben und Tod ſtehen zwar in Gottes Hand, aber dennoch ſollteſt du, unſer hübſcher Falke, kommen und wir wollen dir auch Pferde nach Peſſotſchnoje entgegen⸗ ſchicken. Man ſpricht hier davon, das Landgericht würde demnächſt zu uns kommen, um uns an Kirila Petrowitſch Trojekurow abzutreten, weil wir dem gehören ſollen, aber wir gehören doch euch und haben nie etwas anderes gehört. Könnteſt du nicht, da du doch in Petersburg lebſt, dem Väterchen Zaren hierüber berichten, damit er nicht zuläßt, daß wir gekränkt würden. Und bei uns regnet es jetzt ſchon die zweite Woche und der Hirt Rodja iſt vor kurzem geftorben. Griſcha fende ich meinen müffer: lichen Segen. Biſt du mit ihm zufrieden? Ich ver— bleibe als deine treue Dienerin und Amme

Arina Jegorowna Buſyrjowa.“ Erregt las Wladimir Dubrowskij dieſe ziemlich kon⸗

fuſen Zeilen einige Male durch. Er hatte ſchon in früheſter Kindheit ſeine Mutter verloren und war, ehe er noch ſeinen Vater recht kennen gelernt hatte, mit acht Jahren nach Petersburg gebracht worden. Schon aus dieſem Grunde hatte er eine romantiſche Neigung

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für feinen Vater und war um fo mehr für das Samilien: leben eingenommen, als er ja noch Гай nie die Mög: lichkeit gehabt hatte, ſich an deſſen ftillen Freuden zu ergößen. |

Qual voll drang ihm der Gedanke, daß er vielleicht den Vater verlieren könnte, ins Herz, und ſchaudern machte ihn die Lage des armen Kranken, die er aus dem Brief der Amme eerriet. Lebhaft malte er ſich das Bild des Vaters im einſamen Dorf aus, umgeben von einer törichten Greiſin und dem übrigen Hofgeſinde ... und zu alle: dem bedroht von irgendeinem Ungemach, und in Эна: len des Leibes und der Seele ohne jedwede Hilfe hin— welkend ... Wladimir Andrejewitſch machte ſich jetzt bittere Vorwürfe über ſeine ſträfliche Nachläſſigkeit. Er hatte ſchon geraume Zeit über keine Nachricht von ſeinem Vater erhalten, aber dennoch hatte ihn dieſer Umſtand nicht bewogen, ſich nach ihm zu erkundigen, denn er war der Anſicht, daß der Vater auf Reiſen ſei oder von wirtſchaftlichen Fragen völlig in Anſpruch genommen.

Darum faßte er jetzt ſogleich den Entſchluß, hin— zufahren und ſogar, falls der kränkliche Zuſtand des Vaters ſeine immerwährende Anweſenheit erfordere, den Abſchied zu nehmen. Die Kameraden bemerkten ſeine Unruhe und verließen ihn. Als Wladimir allein war, ſchrieb er alsbald das Urlaubsgeſuch, ſteckte ſeine Pfeife an und verſank in tiefes Nachdenken.

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Wladimir Andrejewitſchs Wagen näherte fich der Poſtſtation, von der aus es nach Kiſtenjowka ging. Sein Herz war voll trüber Vorahnungen: er fürchtete, den Vater nicht mehr am Leben anzutreffen; und nur ungern ſtellte er ſich das traurige Leben vor, das ihn im Dorf erwartete: Einöde, Menſchenleere, Armut und immerwährende Geſchäfte, von denen er auch nicht das geringfte verſtand. Als er das Poſtgebäude Бе: trat, eilte er ſogleich zum Poſthalter und fragte, ob Pferde da wären. Der Poſthalter erkundigte ſich, wo⸗ hin er reiſe, und teilte ihm darauf mit, daß die Pferde aus Kiſtenjowka ihn bereits ſeit vier Tagen erwarteten. Bald darauf erſchien auch der alte Kutſcher Anton, der ihn einſt durch die Stallungen geführt und die Obhut über ſein kleines Pferdchen gehabt hatte. Als Anton ihn erblickte, kamen ihm gleich die Tränen, er verneigte ſich vor ihm tief und meldete, daß der alte Herr noch am Leben ſei, darauf eilte er, die Pferde anzuſpannen. Wladimir Andrejewitſch ſchlug das an⸗ gebotene Frühſtück aus, denn es trieb ihn, weiter zu⸗ kommen. Während Anton ihn auf Nebenſtraßen nach Hauſe fuhr, entſpann ſich zwiſchen den beiden folgen⸗ des Geſpräch:

„Sag mal, Anton, was iſt das für eine Sache, die mein Vater mit Trojekurow hat?“

„Gott allein weiß es, Väterchen Wladimir Andre⸗ jewitſch; der gnädige Herr iſt, wie man ſagt, im Un⸗ frieden von Kirila Petrowitſch gegangen und dieſer

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hat ihn verklagt, obwohl es fonft feine Gewohnheit iſt, ſtets ſelber den Richter zu ſpielen. Aber es iſt nicht an uns, den Bedienten, darüber zu urteilen, was die Herrſchaften für richtig halten; trotzdem jedoch iſt es, weiß Gott, überflüſſig, daß Ihr Väterchen gegen Kirila Petrowitſch zu Felde gezogen iſt: wer kann mit einer Peitſche gegen ein Beil aufkommen?“

„Mithin macht dieſer Kirila Petrowitſch ſcheinbar bei euch alles, was ihm in den Kopf kommt?“

„Freilich, Herr: man ſagt, daß der Beiſitzer ihm keinen Groſchen wert ſei, den Polizeileutnant aber ge⸗ brauche er für Botengänge; und die ganzen Herr— ſchaften aus der Umgebung kommen ja zu ihm, um ihm ihren Reſpekt zu erweiſen, und überhaupt muß man ſagen, wo ein Trog iſt, da finden ſich immer die Schweine.“

„Und iſt es wahr, daß er uns unſer Gut nehmen will?“

„Ach, Herr, wir haben auch ſo was gehört. Noch vor einigen Tagen ſagte der Küſter von Pokrows⸗ koje bei der Kindstaufe zu unſerem Dorfälteſten: ihr habt jetzt die längſte Zeit dem Müßiggang gefrönt; jetzt werdet ihr in die Hände von Kirila Petrowitſch kommen; Mikita, der Schmied, aber entgegnete ihm: laß das, Sſaweljitſch, wozu den Gevatter betrüben und die Gäſte verwirren. Kirila Petrowitſch iſt eines und Andrej Gawrilowitſch iſt ein anderes; und wir gehören Gott und dem Zaren; aber trotzdem iſt es

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immer ſchwierig, einen Knopf auf einen fremden Mund zu nähen.“

„Mit anderen Worten, ihr habt keine große Luſt, zu Trojekurow zu kommen?“

„Zu Trojekurow zu kommen! Der Herr behüte und bewahre uns davor! Seinen eigenen Leuten geht es ja ſchlecht genug, wie ſoll es erſt werden, wenn er nun noch fremde dazu bekommt? Denen wird er nicht nur die Haut, fondern auch gleich das Fleiſch mit ab: ſchinden. Nein, пет, ſchenke Gott Andrej Gawrilowitſch ein langes Leben; aber ſollte es in Gottes Willen ſtehen, ihn fortzunehmen, ſo brauchen wir niemand außer dir, unſer Ernährer. Wenn du uns nur nicht preis: gibſt, wir werden ſchon zu dir halten.“

Anton ſchwang bei dieſen Worten mächtig feine еше, zog die Zügel an und brachte die Pferde in ſchnellen Trab.

Gerührt von der Anhänglichkeit des alten Kutſchers, verſtummte Dubrowskij und gab fich völlig feinen Gedanken hin. So verging mehr als eine Stunde; plötzlich weckte ihn Griſcha mit dem Ruf: „Da iſt Pokrowskoje!“ Dubrowskij ſchaute auf. Sie fuhren am Ufer eines breiten Sees, aus dem ein Flüßchen ſtrömte, das ſich weiterhin zwiſchen den Hügeln ver: lor. Auf einem von dieſen ragte, vom dichten Grün eines Haines faſt verdeckt, das grüne Dach und das Belvedere eines rieſigen Steinhauſes, dort befand ſich ferner ein Kirchlein mit fünf Kuppeln und ein alter:

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tümlicher Glockenturm; in der Umgebung wurden die Dorfhütten mit ihren Gemüſegärten und Ziehbrunnen ſichtbar. Dubrowskij erkannte die Gegend ſofort wieder; er erinnerte ſich ſogar daran, daß er auf dieſem ſelben Hügel mit der kleinen Maſcha Troje— kurowa geſpielt hatte, die zwei Jahre jünger war als er und ſchon damals eine kleine Schönheit zu werden verfprach. Er verſpürte den Wunſch, ſich bei Anton nach ihr zu erkundigen, doch hielt ihn irgendeine Scheu in ſeinem Innern davon ab.

Als ſie ſich dem Herrenhauſe näherten, gewahrte er zwiſchen den Bäumen des Parks ein weißes Ge⸗ wand. Aber gleichzeitig ſchlug Anton heftig auf die Pferde ein und fegte, dem allgemeinen Ehrgeiz fol— gend, der ſowohl den Dorfkutſchern als auch den Stadtkutſchern eigen ift, über die Brücke und am Park vorbei. Ihr Weg führte, nachdem ſie das Dorf im Rücken gelaſſen hatten, bergauf, kurze Zeit darauf ſah Wladimir bereits das Birkenwäldchen und links davon auf einem freien Platz das graue Häuschen mit dem roten Dach; ſein Herz pochte: Kiſtenjowka lag vor ihm und das arme Haus ſeines Vaters.

Zehn Minuten danach fuhr er bereits auf den Gutshof. Mit unbeſchreiblicher Erregung blickte er ſich um: es war mehr als zwölf Jahre her, daß er die Heimat nicht mehr geſehen. Die kleinen Birken, die man noch zu ſeiner Zeit längs des Zaunes gepflanzt hatte, waren jetzt emporgeſchoſſen und hohe dicht—

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belaubte Bäume geworden. Der Gutshof, deſſen Zierde vormals drei regelmäßige Blumenbeete ge: weſen waren, zwiſchen denen ein breiter, ſauber де: haltener Weg führte, hatte ſich jetzt in eine ungemähte Wieſe verwandelt, auf der ein gekoppeltes Pferd wei⸗ dete. Die Hunde bellten, aber ſie verſtummten ſogleich, als ſie Anton erkannten, und wedelten mit ihren buſchigen Ruten. Das Hofgeſinde ſtrömte aus den Geſindehäuſern hervor und umringte den jungen Herrn mit lärmenden Freudenkundgebungen. Nur mit Mühe konnte er ſich durch die eifrige Schar zwängen und flog die morſche Freitreppe hinauf; die Jego—

rowna empfing ihn im Hausflur und umarmte ihren einſtmaligen Zögling weinend. „Guten Tag,

Kinderfrau, guten Tag,“ ſagte er und drückte die wackere Alte ans Herz: „Was macht der Vater, wo iſt er? Wie geht es ihm?“ In dieſem Augenblick trat, mühſam die Beine ſchleppend, ein hochgewach⸗ ſener, blaſſer und magerer Greis im Schlafrock, die Nachtmütze auf dem Kopf, in den Saal. „Wo iſt Wla⸗ dimir?“ fragte er mit ſchwacher Stimme und feurig umarmte Wladimir ſeinen Vater. Allein dieſe Freude war eine zu heftige Erregung für den Kranken, mit einem Male wurde er ganz ſchwach, die Beine ver⸗ ſagten ihm den Dienſt, und er wäre gewiß hingeſtürzt, wenn der Sohn ihn nicht gehalten hätte. „Warum biſt du nur aufgeſtanden?“ meinte die Jegorowna, „er hält ſich nur mit Mühe auf den Beinen und will

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doch immer dorthin, wo die andern Menſchen find.“ Man trug den Alten in ſein Schlafzimmer. Er gab ſich die größte Mühe, mit Wladimir zu ſprechen, aber ſeine Gedanken waren zu wirr und ſeine Worte ganz ohne Zuſammenhang. Nach und nach verſtummte er und nickte ſchließlich ein. Sein Zuſtand verſetzte Wla- dimir in Schrecken. Er ließ ſein Bett im Schlafzimmer aufſchlagen und bat, daß man ihn mit dem Vater allein laſſe. Das Hausgeſinde gehorchte und wandte ſich nunmehr Griſcha zu, der alsbald ins Leutezimmer geführt wurde, wo man ihn nach Dorfſitte mit aller nur erdenklichen Gaſtfreundſchaft bewirtete und ihn gleich- zeitig mit Fragen und Begrüßungen faſt zu Tode quälte.

Viertes Kapitel

Wo Prunk einſt war, ſteht jetzt ein Sarg.

Nachdem einige Tage verſtrichen waren, beabſich— tigte der junge Dubrowskij eigentlich, ſich mit den laufenden Geſchäften zu befaſſen, aber ſein Vater war nicht in der Lage, ihm die nötigen Aufklärungen zu geben, zudem hatte Andrej Gawrilowitſch keinen Be: vollmächtigten. Wladimir verſuchte die Papiere durch- zuſehen, fand jedoch nur den erſten Brief des Beiſitzers und den erſten Entwurf einer Antwort auf dieſes Schreiben. Er vermochte nicht, ſich hieraus ein klares Bild über den Gang des Prozeſſes zu machen, und entſchloß ſich daher, im Vertrauen auf die gerechte Sache, alles Weitere abzuwarten.

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Andrej Gawrilowitſchs Befinden verſchlimmerte ſich derweilen von Stunde zu Stunde. Wladimir ſah den baldigen Tod voraus und wich nicht vom Lager des Alten, der ſchon völlig kindiſch geworden war.

Inzwiſchen war aber die geſetzliche Friſt verſtrichen und keine Berufung war eingelegt worden. Kiften: jowka gehörte mithin Trojekurow. Schabaſchkin eilte zu ihm mit Glückwünſchen und Ergebenheitsbeweiſen und bat um Anordnungen: „Wann es wohl Troje— kurow belieben würde, den Beſitz des neu erworbenen Gutes anzutreten, und ob er das ſelber zu tun wünſche, oder ob er irgendjemand hierzu bevollmächtigen wolle?“ Kirila Petrowitſch geriet in eine gewiſſe Verlegenheit. Er war durchaus nicht habgierig; ſein Verlangen nach Rache hatte ihn ſichtlich zu weit geführt; ſein Gewiſſen murrte. Zudem war ihm ja bekannt, in welcher Ber: faſſung ſich ſein Gegner, ſein alter Jugendfreund be— fand, und ſo war ihm der Sieg, den er errungen, keineswegs nach dem Herzen. Drohend blickte er Schabaſchkin an und ſuchte nach einem Grund, um ihn beſchimpfen zu können, beſchränkte ſich jedoch, da er keinen genügenden Vorwand fand, darauf, ihm wütend zuzurufen: „Pack dich; ich will dich nicht länger ſehen!““ Da Schabaſchkin ſah, daß jener keineswegs guter Laune war, verbeugte er ſich und machte ſich ſchleunigſt davon, Kirila Petrowitſch dagegen begann, als er allein war, heftig im Zimmer auf und ab zu marſchieren, wobei er „Siegesdonner ſoll erſchallen“

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laut vor ſich hinpfiff, was ein Beweis dafür war, daß in ſeinem Innern eine ungewöhnliche Bewegung vor ſich ging.

Es endete ſchließlich damit, daß er den Befehl gab, den leichten Wagen anzuſpannen, er kleidete ſich warm an (es war bereits Ende September) und fuhr vom Hof, wobei er ſelber kutſchierte.

Bald darauf lag Andrej Gawrilowitſchs Häuschen vor ihm. Widerſtrebende Gefühle erfüllten ſeine Bruſt. Befriedigte Rache und Herrſchſucht hatten bisher bis zu einem gewiſſen Grade die edleren Gefühle in ihm erſtickt, endlich aber triumphierten die letzteren dennoch. Er war jetzt feſt entſchloſſen, ſich mit ſeinem alten Nachbarn auszuſöhnen, und indem er ihm ſeine Be— ſitzung zurückgab, die letzten Spuren jeden Zwiſtes auszurotten. Dieſe gute Abſicht machte ihm die Bruſt wieder frei, und nun fuhr Kirila Petrowitſch im Trab dem Gute ſeines Nachbarn zu und fuhr ſchnurſtracks auf den Gutshof.

Um die gleiche Zeit Гав der Kranke in feinem Schlaf— gemach am Fenſter. Eine furchtbare Verwirrung ver— ſtörte ſein Geſicht, als er Kirila Petrowitſch erkannte: die gewöhnliche Bläſſe wich einer tiefen Röte, die Augen funkelten und unverſtändliche Laute drangen aus ſeinem Munde. Sein Sohn, der neben ihm ſaß und ſich gerade mit den Wirtſchaftsbüchern befaßte, blickte auf und war von ſeinem Anblick überraſcht. Mit der Miene des tiefſten Entſetzens und des Zornes

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wies der Kranke mit dem Finger auf den Hof. Im ſelben Augenblick ertönten die Stimme und die ſchweren Schritte der Jegorowna: „Herr, gnädiger Herr! Kirila Petrowitſch iſt da, Kirila Petrowitſch ſteht vor der Tür!“ Die Jegorowna ſtöhnte: „Herr mein Gott! was ſoll das nur? Was geſchieht mit ihm?“ Der Alte verſuchte, ſich aus ſeinem Schlafrock zu wickeln und vom Seſſel aufzuſtehen. Er erhob ſich ſogar, doch ſchlug er gleich darauf hin. Der Sohn eilte auf ihn zu; aber ſchon lag der Vater beſinnungslos auf dem Fußboden und atmete nicht mehr: ein Schlaganfall hatte ihn getroffen. „Schnell, ſchnell zur Stadt, einen Arzt!“ ſchrie Wladimir. „Kirila Petrowitſch läßt fragen, ob Sie ihn empfangen wollen,“ meldete gleich⸗ zeitig ein Diener. Wladimir warf ihm einen furcht⸗ baren Blick zu. „Sage Kirila Petrowitſch, daß er ſich ſo ſchnell als möglich zum Teufel ſcheren ſoll, bevor ich den Befehl gebe, ihn vom Hofe zu jagen .. marſch!“ Freudig eilte der Diener, die Anordnung ſeines Herrn auszuführen. Die Jegorowna ſchlug die Hände зи: ſammen. „Lieber gnädiger Herr,“ ſagte ſie mit weiner⸗ licher Stimme: „Du ſtürzſt dich in dein Verderben! Kirila Petrowitſch wird uns jetzt auffreſſen.“ „Schweig, Kinderfrau,“ ſagte Wladimir zornig: „An⸗ ton ſoll gleich in die Stadt, um einen Arzt zu holen.“ Die Jegorowna verließ das Zimmer. Im Vorzimmer war kein Menſch: alles war auf den Hof geeilt, um Kirila Petrowitſch anzuſchauen. Sie ging auf die Frei⸗

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treppe hinaus und hörte den Diener die Antwort des jungen Herrn überbringen. Kirila Petrowitſch hörte ihn im Wagen ſitzend ſtumm ап; fein Geſicht wurde finſterer als die Nacht; er lächelte verächtlich, ſtreifte das Gutsgeſinde mit einem drohenden Blick und fuhr im Schritt vom Hof. Er ſchaute auch ins Fenſter hin— ein, in dem er noch vor einem Augenblick Andrej Gawrilowitſchs Geſicht geſehen hatte, aber er konnte ihn nicht mehr erblicken. Die Amme ſtand noch immer auf der Freitreppe, ſie hatte den Befehl ihres jungen Herrn ganz und gar vergeſſen. Lärmend unterhielt ſich das Geſinde über den unerhörten Vorfall. Тов: lich trat Wladimir unter ſeine Leute und ſagte mit unſicherer Stimme: „Wir brauchen keinen Arzt mehr mein Vater iſt geſtorben.“

Ungeheure Verwirrung entſtand. Hals über Kopf ſtürzten die Leute ins Gemach des alten Herrn. Er ruhte im Seſſel, Wladimir ſelber hatte ihn dorthin getragen; die rechte Hand hing auf den Fußboden hinab, das Haupt war auf die Bruſt geſunken kein Lebenszeichen war mehr in dieſem Körper, der noch nicht erkaltet, aber ſchon durch den Tod entſtellt war. Die Jego— romna ſchluchzte laut auf, die Diener aber machten ſich eilfertig am Leichnam, der jetzt ihrer Obhut anvertraut war, zu ſchaffen fie wuſchen ihn, fie zogen ihm jene Uniform an, die noch im Jahre 1797 genäht worden war, und betteten ihn dann auf den gleichen Tiſch, an dem ſie ſo lange Jahre hindurch ihren Herrn bedient hatten.

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Sünftes Kapitel

Drei Tage danach fand die Beerdigung ſtatt. Der Körper des armen Greiſes lag von vielen Kerzen um: geben im Sarge, über ihm ein Bahrtuch. Im Speiſe⸗ zimmer drängte ſich das Geſinde, bereit, der Leiche das Geleit zu geben. Wladimir und die Bedienten hoben den Sarg auf. An der Spitze des Zuges ſchritt der Prieſter und hinter ihm ein Meßner, der Begräbnis⸗ geſänge fang. Der Hausherr von Kiſtenjowka verließ zum letzten Male die Schwelle ſeines Hauſes. Der Sarg wurde durch das kleine Wäldchen getragen, hinter dem ſich die Kirche befand. Der Tag war klar und kalt; von den Bäumen hatte der Herbſt ſchon viele Blätter geweht. Als ſie das Wäldchen verließen, wurde die Holzkirche von Kiſtenjowka ſichtbar und der von alten Linden beſchattete Friedhof. Dort ruhte be⸗ reits Wladimirs Mutter; neben ihrem Grabe war am Tage vorher ein friſches Grab gegraben worden. Die Kirche war ganz angefüllt von Bauern aus Kiſten⸗ jowka, die hierher gekommen waren, ihrem verſtorbenen Herrn die letzte Ehre zu erweiſen. Der junge Dubrowskij ſtand neben dem Chor; weder weinte er, noch betete er; der Ausdruck ſeines Geſichtes war furchtbar. Die Trauerzeremonie war zu Ende. Wladimir ſchritt als erſter vom Leichnam Abſchied nehmen, hinter ihm drängte ſich das ganze Hofgeſinde; gleich darauf wurde der Sargdeckel her beigetragen und aufgenagelt.

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Die Weiber heulten laut, doch auch die Bauern wiſchten

ſich mit den Заийеп nicht ſelten Tränen aus den Augen. Geleitet vom ganzen Dorf trugen Wladimir und die gleichen drei Bedienten den Sarg auf den Friedhof. Der Sarg wurde ins Grab geſenkt, jeder der Anweſenden warf ihm eine Handvoll Erde nach, die Grube wurde zugeſchaufelt, eine letzte Verbeugung und gleich darauf

verteilte ſich die Menge. Wladimir entfernte ſich eilig, er

überholte die andern und verſchwand im Wäldchen. Die Jegorowna lud den Prieſter und alle zu ihm Gehörigen in Wladimirs Namen zum Begräbnismahl ein, wobei ſie die Mitteilung machte, daß der junge gnädige Herr nicht beabſichtige, dem Eſſen beizu⸗ wohnen. Und ſomit begaben ſich Hochwürden Aniſſim, ſeine Frau Fedotowna und der Meßner zu Fuß zum Herrenhauſe, unterwegs plauderten ſie mit der Jegorowna über die Tugenden des Verſtorbenen, aber auch darüber, was wohl ſeinem Nachfolger in

allernächſter Zeit augenſcheinlich bevorſtehen mochte.

(Trojekurows Ankunft und der Empfang, der ihm zuteil geworden, waren bereits dem ganzen Kreiſe be⸗ kannt und die dortigen Politiker prophezeiten, daß es

zu ernſthaften Folgen kommen würde.)

„Was geſchehen ſoll, wird geſchehen,“ meinte die Frau des Prieſters: „Trotzdem wäre es bedauerlich, wenn ein anderer als Wladimir Andrejewitſch unſer Herr würde. Man kann nicht anders urteilen, als daß er ein vortrefflicher junger Herr iſt.“

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„Wer außer ihm hätte das Recht, unfer Herr zu ſein?“ fiel die Jegorowna ein: „Kirila Petrowitſch gibt ſich vergebens die viele Mühe er hat es mit keinem Zaghaften zu tun; mein Falke wird ſchon ſeinen Mann ſtellen, und wenn Gott will, werden ihn auch feine Wohltäter nicht im Stiche laſſen. Wie Боф: mütig Kirila Petrowitſch auch ſei, er hat dennoch den Schwanz eingezogen, als mein Griſcha ihm zurief: Hinaus, alter Hund! fort vom Hof!“

„Ach ja, Jegorowna,“ ſagte der Meßner: „Trotzdem =

jedoch würde ich es ſicherlich lieber mit dem Satan zu

tun haben, als mich gefrauen, Kirila Petrowiſch ſcheel

anzuſehen. Wenn man ihn nur anſchaut Schau⸗

dern und Entſetzen befällt einen augenblicks! Und der 1

Rücken krümmt ſich ganz von ſelber, wahrhaftig ganz von ſelber ...“

„Es iſt alles eitel!“ ſagte der Prieſter: „Auch Kirila 1 Petrowitſch wird man einſt zur ewigen Ruhe tragen,

wie wir es heute mit Andrej Gawrilowitſch getan haben; zwar wird ſeine Beerdigung möglicherweiſe prunkvoller ſein und es werden mehr Gäſte zugegen ſein, aber iſt das nicht vor Gott alles gleich?“

„Ach, Väterchen! auch wir beabſichtigten freilich den

ganzen Kreis einzuladen, aber Wladimir Andrejewitſch

hat es nicht zugelaſſen. Wir hätten ja genug dagehabt,

um alle zu bewirten ... aber da war nichts zu wollen. Zum mindeſten kann ich jetzt, da keine andern Gäſte da ſind, euch prächtig bewirten, meine teuern Gäſte.“

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Dieſes liebenswürdige Verſprechen und die Hoff: nung, eine ſchmackhafte Paſtete vorzufinden, beflügel: ten die Schritte der Plaudernden und wohlbehalten langten ſie bald darauf vor dem herrſchaftlichen Hauſe an, in dem der Tiſch ſchon gedeckt und der Schnaps ſchon bereit ſtand.

Derweilen drang Wladimir immer tiefer ins Ge: hölz ein, denn es war ſeine Abſicht, den Kummer ſeiner Seele durch die Bewegung und die hierdurch hervorgerufene Müdigkeit zu erſticken. Er ging, ohne auf den Weg zu achten; unabläſſig ſtellten ſich ihm Zweige in den Weg und zerkratzten ihn, unabläſſig gerieten feine Füße in Sumpfboden er beachtete es nicht. Endlich gelangte er an eine freiliegende Senkung, die rings von dichtem Walde umgeben war; durch die Bäume, die der Herbſt ſchon halb entblättert hatte, rieſelte ſtill ein kleines Bächlein. Wladimir blieb ſtehen, ſetzte ſich auf den kalten Raſen und verfiel in Nach⸗ ſinnen, dunkle Gedanken drängten ſich in ſeiner Seele ... Wie ſehr fühlte er hier feine Einſamkeit, wie dro⸗ hend ſchien ihm ſeine Zukunft von finſteren Wolken verhängt. Die Feindſchaft mit Trojekurow war ein Anzeichen neuen Kummers. Sein ſowieſo ſchon ge— ringes Vermögen konnte am Ende in andere Hände geraten: und war es nicht in dieſem Falle Armut, was ihm bevorſtand? Lange ſaß er regungslos auf dem gleichen Fleck und beobachtete den ſtillen Lauf des Baches, der die welken Blätter davontrug, und leb:

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haft erinnerte ihn dies an das Leben —, ja es ſchien ihm ein getreues und allgemein gültiges Abbild des Lebens zu ſein. Aber ſchließlich bemerkte er, daß die Dämmerung angebrochen warz er erhob ſich und ſuchte den Weg nach Hauſe, doch mußte er noch lange durch den unbekannten Wald irren, ehe er einen kleinen Fuß⸗ pfad fand, der ihn geradewegs zu ſeinem eigenen Haustor führte.

Als er heimkehrte, traten ſoeben der Prieſter und ſeine Angehörigen aus dem Hauſe. Bei ihrem Anblick ſchoß ihm der Gedanke an ſchlimme Vorbedeutung durch den Kopf. Unwillkürlich hielt er ſich abſeits und verbarg ſich hinter den Bäumen. Sie bemerkten ihn nicht und unterhielten ſich mit großem Eifer: „Meide das Böſe und tue Gutes,“ ſagte der Prieſter zu ſeiner Frau: „Wir wollen nicht länger hierbleiben, es geht uns nichts an, wie die Sache auch zu Ende ginge.“ Die Frau entgegnete etwas, aber Wladimir konnte ihre Worte nicht mehr verſtehen.

Als er ſich dem Hauſe näherte, gewahrte er dort

viel Volk: auf dem Gutshof drängten ſich Bauern ſo⸗ wohl als auch das Hofgeſinde. Schon in der Ferne hatte Wladimir ungewöhnlichen Lärm und lautes Sprechen gehört. Vor dem Speicher hielten zwei Drei⸗ geſpanne. Einige fremde Männer in Uniform unter⸗ hielten ſich auf der Freitreppe. „Was ſoll das be- deuten?“ fragte er zornig Anton, der ihm entgegen— gelaufen kam: „wer find dieſe und was wollen пе?“

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„Ach, Väterchen, Wladimir Andrejewitſch,“ entgeg⸗ nete Anton atemlos: „Es iſt das Gericht, das ge— kommen iſt. Man will uns Trojekurow übereignen, man will uns dir fortnehmen! ...“

Wladimir ſenkte den Kopf; die Diener umringten ihren unglücklichen Herrn. „Väterchen, unſer Väter⸗ chen,“ ſchrieen ſie und küßten ihm die Hände: „Wir wollen keinen andern Herrn als dich. Lieber ſterben, als dich verlaſſen. Befiehls nur, Herr, mit dem Ge⸗ richt werden wir ſchon fertig werden.“ Wladimir blickte ſie an, bewegt von finſteren Gefühlen. „Haltet ftill,“ ſprach er zu ihnen: „ich will ſelber mit den Зе: amten ſprechen.“ „Ja, [реф nur, Väterchen,“ rief man ihm aus der Menge zu: „und rede den Ver— dammten ins Gewiſſen.“ Wladimir näherte ſich den Beamten. Stolz aufgerichtet ſtand dort Schabaſchkin, die Uniformmütze auf dem Kopf, und blickte ſich body: mütig im Kreiſe um. Der Polizeileutnant, ein hoch— gewachſener und dicker Mann von etwa fünfzig Jahren mit gerötetem Geſicht und langem Schnurrbart, гаи: ſperte ſich, als er bemerkte, daß Dubrowskij ſich näherte, und ſprach mit heiſerer Stimme: „Ich wiederhole euch mithin, was ich euch bereits geſagt habe: Laut Urteil des s ſchen Kreisgerichtes gehört ihr jetzt Kirila Petrowitſch Trojekurow, deſſen Perſon hier von Herrn Schabaſchkin vertreten wird. Ihr habt jedem ſeiner Befehle Folge zu leiſten; ihr aber, Weiber, ſollt ihn lieben und ehren, denn er iſt ein großer Freund von

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euch.“ Der Polizeileutnant mußte über feinen eigenen pikanten Scherz laut lachen. Schabaſchkin und die übrigen Beamten ſekundierten ihm. Wladimir kochte vor Unwillen. „Darf ich mir die Frage erlauben, was das zu bedeuten hat?“ fragte er mit gekünſtelter Kalt⸗ blütigkeit den heiteren Polizeileutnant. „Das ſoll nichts anderes bedeuten,“ entgegnete der ſcherzhafte Beamte: „als daß wir gekommen find, Kirila Petrowitſch Зло: jekurow in ſein Beſitztum einzuführen und daß wir allen andern Perſonen raten wollen, gutwillig ihres Weges zu gehen.“

„Mir will jedoch ſcheinen, daß Sie, bevor Sie ſich an meine Bauern wandten, eigentlich gut getan hätten, ſich zunächſt mit mir zu verſtändigen, und dem Guts⸗ beſitzer Mitteilung davon zu machen, daß ihm feine Gewalt genommen wird.

„Andrej Gawrilowitſch Dubrowskiß der vormalige Beſitzer dieſes Gutes, iſt nach Gottes Ratſchluß ge⸗ ſtorben; wer biſt denn du?“ warf Schabaſchkin mit einem dreiſten Blick hin: „Wir kennen Sie nicht und wollen Sie auch gar nicht erſt kennen.“

„Euer Wohlgeboren, das iſt unſer junger Herr,“ rief eine Stimme aus der Menge.

„Wer wagt dort, das Maul aufzureißen!“ ſchrie ſtreng der Polizeileutnant: „Was da, Herr? Euer Herr ift Kirila Petrowitſch Trojekurow ... habt ihrs gehört, ihr Schalksnarren?“

„Was du nicht ſagſt!“ rief die gleiche Stimme.

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„Das ift Aufruhr!“ ſchrie der Polizeileutnant: „Heda, Dorfälteſter, hierher!“

Der Dorfälteſte trat zögernd vor.

„Augenblicks finde mir den, der es gewagt hat, mit mir zu ſprechen; dem will ichs beſorgen! ...“

Der Dorfälteſte wandte ſich zur Menge und fragte, wer geſprochen hätte? Alle ſchwiegen. Aber gleich darauf begann in den hinteren Reihen ein Gemurmel, das immer lauter wurde und ſchon nach einer Minute zum gräßlichſten Geſchrei ausartete. Der Polizeileut⸗ nant dämpfte die Stimme, um den Leuten gut zuzu⸗ reden ... „Was gaffen wir noch?“ ſchrie das Hof: geſinde: „Vorwärts, Kinder, packt ihn!“ Die Menge rückte vor. Schabaſchkin und die Beamten des Land— gerichtes flohen ins Haus und ſperrten die Türe zu. „Drauf los, Kinder!“ ſchrie immer noch die gleiche Stimme und ſogleich drang die Menge auf die Türe ein. „Haltet!“ ſchrie Dubrowskij: „Ihr Narren, was tut ihr? Ihr wollt wohl euch und mich zugrunde richten; geht nach Hauſe und laßt mich in Ruhe. Habt keine Angſt, der Kaiſer iſt gnädig: ich werde zu ihm gehen und ihn bitten er wird nicht geſtatten, daß wir gekränkt werden wir find ja alle feine Kinder; wie aber könnte er für euch eintreten, wenn ihr euch wie Aufrührer und Räuber gebärdet?“

Die Worte des jungen Dubrowskij, ſeine ſchallende Stimme und ſein imponierendes Auftreten erzielten alsbald die gewünſchte Wirkung. Das Volk ver⸗

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ſtummte und zerſtreute ſich; der Hof leerte ſich, aber immer noch ſaßen die Beamten eingeſperrt im Hauſe.

Traurig ſchritt Wladimir die Freitreppe hinan. Scha⸗

baſchkin öffnete die Türe und dankte Dubrowskij mit einer tiefen Verbeugung für ſein gnädiges Einſchreiten.

Verächtlich hörte ihn Wladimir an und entgegnete nichts. „Wir haben beſchloſſen,“ fuhr der Beiſitzer fort: „mit Ihrer Erlaubnis hier zu übernachten; es iſt nämlich ſchon dunkel und Ihre Bauern könnten uns leicht unterwegs überfallen. Erweiſen Sie uns die Güte, befehlen Sie, ein wenig Heu im Wohnzimmer aufzuſchütten; ſobald es Tag wird, werden wir unſeres Weges gehen.“

„Tun Sie, was Sie mögen,“ entgegnete Du: bromstij trocken: „Ich bin hier nicht mehr der Haus⸗ herr.“

Mit dieſen Worten entfernte er ſich in das Zimmer ſeines Vaters und ſchloß hinter ſich die Türe.

Sechſtes Kapitel

„Nun iſt alſo alles aus!“ ſprach Wladimir zu ſich ſelber, „noch heute morgen hatte ich meinen warmen Winkel und mein Stück Brot; morgen aber muß ich das Haus, in dem ich geboren bin, verlaſſen. Sogar der Leichnam meines Vaters und die Erde, in der er ruht, werden dem Verhaßten gehören, der an ſeinem Tod und an meiner Armut ſchuld iſt! ...“ Wladimir knirſchte mit den Zähnen, ſtarr hafteten ſeine Augen

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an dem Bildnis ſeiner Mutter. Der Maler hatte ſie in einem weißen Morgengewande, eine Roſe in den Haaren, an einem Treppengeländer lehnend dargeſtellt. „Auch dieſes Bildnis wird dem Feinde meines Ge: ſchlechtes zufallen,“ dachte Wladimir, „er wird es mitſamt den zerbrochenen Stühlen auf den Speicher ſtellen, oder wird es ins Vorzimmer hängen, wo es zum ſtändigen Gegenſtand des Spottes und höhniſcher Bemerkungen ſeiner Hundeknechte werden dürfte; in ihrem Schlafgemach aber, im Zimmer, in dem mein Vater geſtorben ift, wird ſicherlich nunmehr der Ver⸗ walter leben, oder gar deſſen Harem. Nein, nein! nicht ſoll dieſes trauervolle Haus, aus dem man mich jetzt hinausjagt, ſein eigen werden.“ Und wieder knirſchte Wladimir mit den Zähnen; ſchreckliche Фе: danken waren in ſeinem Kopf. Die Stimmen der Be⸗ amten drangen an ſein Ohr; ſie benahmen ſich wie die Herren des Hauſes und forderten bald dieſes und bald jenes und ſtörten ihn peinlich in ſeinen traurigen Überlegungen. Aber nach einiger Zeit wurde alles ſtill.

Wladimir öffnete die Kommoden und Käſten und machte ſich daran, die Papiere des Verſlorbenen zu ordnen. Sie beſtanden größtenteils aus Rechnungen und Wirtſchaftspapieren, doch war auch der eine und der andere Briefwechſel darunter. Wladimir zerriß alles, ohne es erſt zu leſen. Plötzlich fiel ihm ein Paket mit der Aufſchrift: Briefe meiner Frau, in die Hände. Mit lebhafteſter Erregung machte ſich Wla—

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dimir an die Lektüre: die Briefe waren zu der Zeit des Türkenfeldzuges geſchrieben und aus Kiſtenjowka in die Armee geſchickt worden. Sie ſchilderte ihm darin ihr Leben auf dem Gutshof und ihre Haus: haltungsſorgen; voller Zärtlichkeit beklagte ſie die Trennung und rief ihn nach Hauſe zurück, da die Arme ſeiner liebenden Gefährtin ihn längſt erwarteten. In einem der Briefe äußerte ſie ſich beunruhigt über die Geſundheit des kleinen Wladimir; in einem andern ſprach ſie erfreut von ſeinen frühen Begabungen und prophezeite ihm eine glückliche und glänzende Zukunft. Wladimir las und las und vergaß alles auf der Welt, ſo ſehr war ſeine Seele in der kleinen Welt häus⸗ lichen Glückes aufgegangen, er bemerkte nicht einmal, daß die Zeit verſtrich: plötzlich ſchlug eine Wanduhr die elfte Stunde. Wladimir ſteckte die Briefe in die Taſche, nahm eine Kerze und verließ das Kabinett. Die Beamten ſchliefen im Saal auf dem Fußboden. Leere Gläſer ſtanden auf dem Tiſch und ein ſtarker Rumduft wehte durchs Zimmer. Nicht ohne Abſcheu ſchritt Wladimir an ihnen vorüber ins Vorzimmer. Dort war es dunkel. Als er mit dem Licht hereintrat, flüchtete jemand in eine Ecke. Wladimir folgte ihm mit der Kerze und erkannte den Schmied Archip. „Was ſuchſt du hier?“ fragte er überraſcht. „Ich wollte .. ich kam nur, um zu ſchauen, ob alle zu Hauſe ſind?“ entgegnete Archip leiſe und ſtockend. „Und wozu haſt du das Beil bei dir?“

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„Das Beil? Ja, kann man denn heute überhaupt ohne Beil ausgehen? Dieſe Beamten da, das ſind ſolche Halunken, da muß man ſich vorſehen ...“

„Du biſt beſoffen; laß das Beil und leg dich ſchlafen.“ $

„Ich befoffen? Väterchen, Wladimir Andrejewitſch, Gott iſt mein Zeuge, daß ich keinen einzigen Tropfen zu mir genommen Бабе... wer könnte jetzt auch an Schnaps denken? Hat man je was gehört? Be: amte wollen über uns herrſchen, Beamte jagen unſere Herrſchaft aus dem Haufe ... Hör nur, wie fie ſchnarchen, die Verdammten; wenn man ſie alle mit einem Male umbringen könnte, kein Menſch würde was davon merken.“

Dubrowskijs Geſicht verfinſterte ſich.

„Hör mal, Archip,“ meinte er nach einer kleinen Paufe: „Laß dieſe Gedanken; die Beamten find keines⸗ wegs ſchuld. Zünd lieber deine Laterne an und folge mir.“

Archip nahm die Kerze aus der Hand ſeines Herrn, zog hinter dem Ofen die Laterne hervor und ſteckte das Licht darein, gleich darauf ſchritten die beiden ſtumm die Freitreppe hinab und über den Hof. Der Wächter klopfte auf ſein Brett aus Gußeiſen; die Hunde ſchlugen an. „Wer hat die Wache?“ fragte Dubrowskij. „Wir, Väterchen,“ entgegnete ein dünnes Stimmchen, „Waſſiliſſa und Lukerja.“ „Geht nach Hauſe,“ ſagte Dubrowskij, „ihr werdet

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nicht mehr benötigt.“ „Feierabend,“ fügte Archip hinzu. „Vielen Dank, Wohltäter,“ entgegneten die Weiber und begaben ſich ſogleich nach Hauſe.

Dubrowskij ging weiter. Zwei Männer kamen ihm entgegen; ſie riefen ihn an; Dubrowskij erkannte An⸗ tons und Griſchas Stimmen. „Warum ſchlaft ihr nicht?“ fragte er ſie. „Wir finden keinen Schlaf,“ entgegnete Anton, „was wir jetzt erleben müſſen, wer hätte das wohl gedacht ...“

„Still,“ unterbrach ihn Dubrowskij, „wo iſt die Jegorowna?“ a

„Im Herrenhauſe, in ihrer Kammer,“ entgegnete Griſcha.

„Geh, hol ſie her und hol auch alle andern der Unſrigen aus dem Hauſe, nicht eine einzige Menſchen⸗ ſeele, außer den Beamten, ſoll drinbleiben; du aber, Anton, ſpann derweil den Wagen an.“

Griſcha entfernte ſich; eine Minute darauf erſchien er mit ſeiner Mutter auf dem Hof. Die Alte hatte ſich gar nicht erſt zur Nacht ausgezogen; außer den Beamten hatte noch keiner ein Auge zugetan.

„Sind alle hier?“ fragte Dubrowskij, „iſt keiner mehr im Hauſe?“

„Keiner, außer den Beamten,“ entgegnete Griſcha.

„Dann gebt mir Heu oder Stroh her,“ {ад Фи browskij. |

Die Leute liefen zum Pferdeftall und kehrten mit großen Heubündeln zurück.

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„Schüttet Пе unter der Freitreppe aus; ſo iſt's recht. Und nun, Kinder, Feuer her!“

Archip öffnete ſeine Laterne, Dubrowskij ſetzte einen Kienſpan in Brand.

„Schau mal nach,“ ſagte er zu Archip, „ich glaube, daß ich in der Haft die Türe zum Vorzimmer ab: geſchloſſen habe, lauf hin und ſchließ ſie auf.“

Archip lief zum Flur, die Tür war geöffnet. Archip verſchloß ſie, wobei er halblaut murmelte: „Was du nicht ſagſt, ſchließ fie auf, worauf er zu Dubrowskij zurückkehrte.

Dubrowskij näherte den Kienſpan dem Heu, es geriet in Brand, die Flamme ſchlug nach oben und erleuchtete den ganzen Hof.

„Herrje!“ ſchrie die Jegorowna wimmernd, „was tuſt du da, Wladimir Andrejewitſch!“

„Schweig!“ ſagte Dubrowskij, „und nun, Kinder, lebt denn wohl, ich gehe, wohin Gott mich führt; werdet glücklich unter eurer neuen Herrſchaft!“

„Väterchen, Wohltäter,“ ſchrieen ſeine Leute, „eher ſterben, als dich verlaſſen, wir folgen dir, wohin du auch gehſt.“

Die Pferde warteten bereits. Dubrowskij nahm mit Griſcha im Wagen Platz; Anton knallte mit der Peitſche und ſo fuhren ſie vom Hof.

Die Flamme hatte in wenigen Augenblicken das ganze Haus ergriffen. Die Fußböden krachten und ſtürzten ein, brennende Balken fielen zu Boden; roter

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Rauch ftand über dem Dach und alsbald wurde auch ein jämmerliches Schreien und Heulen vernehmbar: „Hilfe, zu Hilfe!“ „Was du nicht ſagſt,“ meinte Archip und ſchaute mit boshaftem Lächeln auf die Brandſtätte. „Archip, Lieber,“ rief ihm die Jego⸗ romna zu: „Rette die Verdammten, Gott wird dich dafür belohnen.“ „Was du nicht ſagſt,“ entgegnete der Schmied. In dieſem Augenblick wurden die Ge— ſichter der Beamten im Fenſter ſichtbar, ſie verſuchten vergebens den doppelten Fenſterrahmen aufzubrechen. Gleichzeitig aber ſtürzte das Dach mit lautem Krachen ein und das Geſchrei verſtummte.

Wenige Augenblicke darauf ſtrömte das ganze Guts⸗ geſinde auf den Hof. Schreiend beeilten ſich die Weiber, ihre Habſeligkeiten zu retten, die Kinder ſprangen luſtig herum und freuten ſich über das helle Brennen. Die Funken flogen wie ein Feuerſturm und ſetzten die nebenan liegenden Hütten in Brand. „So iſts recht!“ meinte Archip, „ſchön brennts, was? Das kann man auch in Pokrowskoje gut ſehen.“ Aber ſogleich zog eine neue Erſcheinung ſeine Aufmerkſamkeit an: eine Katze lief über das Dach des brennenden Speichers und wußte nicht, wohin ſie ſich retten ſollte. Die Flammen umgaben ſie bereits von allen Seiten. Mit kläglichem Miauen bat das arme Tier um Hilfe; die Buben auf dem Hof ſtarben Гай vor Lachen, als fie die Verzweif— lung des Tieres bemerkten. „Was gibts da zu lachen, ihr Teufelsbrut?“ rief zornig der Schmied, „gottlos

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feid ihr, da geht ет Gefchöpf Gottes zugrunde und ihr lacht in eurer Torheit darüber!“ Er ſetzte eine Leiter an das Dach, das ſchon zu brennen begonnen hatte, und kletterte hinauf, um die Katze herunterzuholen; ſie begriff ſeine Abſicht und krallte ſich mit einer haſtigen und dankbaren Bewegung an ſeinen Armel. Halb ver⸗ brannt kehrte der Schmied mit ſeiner Beute nach unten zurück. „Nun, Kinder, lebt alle wohl,“ ſagte er zu dem verwirrten Hofgeſinde, „ich habe hier weiter nichts mehr zu ſchaffen, ich wünſche euch viel Glück und bitte, nicht ſchlecht von mir zu denken.“ Der Schmied entfernte ſich; der Brand wütete noch einige Zeit, aber nach und nach ſank er in ſich zuſammen und fchließ- lich leuchteten nur noch glühende Kohlenhaufen ohne Flammen durch die dunkle Nacht; und vor dieſen ſtanden die abgebrannten Bewohner von Kiſtenjowka.

Siebentes Kapitel

Schon am andern Tage wußte man im ganzen Umkreiſe von der Feuersbrunſt. Die verſchiedenſten Vermutungen wurden laut. Einige beteuerten, es könnten nur die Leute Dubrowskijs geweſen ſein, die ſich beim Leichenſchmauſe angetrunken und aus Un: vorſichtigkeit das Haus angeſteckt hätten, andere be- ſchuldigten die Beamten, den Beſitzwechſel zu ſehr gefeiert zu haben. Freilich waren auch manche dar: unter, die die Wahrheit errieten und verkündeten, nur Dubrowskij ſelber könnte der Urheber der entſetzlichen

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Tat ſein; viele behaupteten, daß er ſelber mitſamt dem Gericht und ſeinem Hofgeſinde verbrannt wäre. Trojekurow beſuchte tags darauf die Brandſtätte und nahm ſelber die Unterſuchung vor. Es ſtellte ſich heraus, daß der Polizeileutnant, der Beiſitzer des Land⸗ gerichtes, der Anwalt und der Schreiber, aber ebenſo auch Wladimir Dubrowskij, die Kinderfrau Jego⸗ romna, der Diener Grigorij, der Kutſcher Anton und der Schmied Archip ſpurlos verſchwunden waren. Das Hofgeſinde ſagte aus, daß die Beamten beim Einſturz des Daches verbrannt wären. Ihre verkohlten Knochen wurden ausgegraben. Die Weiber Waſſiliſſa und Lu: kerja erzählten, daß ſie wenige Augenblicke vor dem Entſtehen des Feuers den jungen Dubrowskij und Archip, den Schmied, geſehen hätten. Der Schmied Archip war, wie alle einſtimmig ausſagten, noch am Leben und vermutlich der Haupt- wenn nicht gar der einzige Urheber des Feuerſchadens. Aber auch auf

Dubrowskij ruhte begründeter Verdacht. Kirila Pe⸗

trowitſch ſchickte dem Gouverneur eine genaue Schil⸗ derung des ganzen Vorfalls, und es entſpann ſich ein neuer Prozeß.

Bald darauf kamen andere Nachrichten, die der Neugierde und den Gerüchten friſche Nahrung gaben. Eine Räuberbande war aufgetaucht und trug all⸗ gemeines Entſetzen durch das ganze Land. Die Maß⸗ nahmen, die gegen ſie ergriffen worden waren, ſtellten ſich als völlig ungenügend heraus. Eine Plünderung

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folgte der andern. Und eine war immer bemerkens⸗ werter als die andere. Überall lauerte die Gefahr, auf den Straßen ſowohl als auch in den Dörfern ſelber. Die Räuber fuhren in mehreren Dreigeſpannen tagsüber durch das Gouvernement und hielten die Reiſenden an und ebenſo auch die Poft, allein ſie drangen ſogar in die Dörfer, plünderten die Häuſer der Gutsbeſitzer und ſetzten ſie ſchließlich in Brand. Der Befehlshaber der Bande zeichnete ſich durch Ver⸗ ſtand, Verwegenheit und einen beſonderen Edelmuf aus. Wunderdinge wurden von ihm erzählt. Du⸗ browskijs Name war auf allen Lippen; ganz all⸗ gemein war man davon überzeugt, daß er und kein anderer der Befehlshaber dieſer tollkühnen Böſewichte ſei. Und nur über das eine konnte man ſich nicht ge⸗ nug wundern: Trojekurows Beſitzungen blieben рег: ſchont; nicht ein einziger ſeiner Speicher wurde von den Räubern geplündert, nicht eine einzige ſeiner Fuhren von ihnen angehalten. Trojekurow ſchrieb dieſe Ausnahme freilich mit ſeinem gewöhnlichen Hoch⸗ mut dem Schrecken zu, den er dem ganzen Gouverne— ment einzuflößen verſtanden, und ein wenig noch der ausgezeichneten Polizei, die er auf ſeinen Beſitzungen eingeführt hatte. Zwar lachten die Nachbarn anfangs über Trojekurows Prahlerei, denn ein jeder erwartete, daß die ungebetenen Gäſte eines Tages dennoch nach Pokrowskoje kommen würden, wo fie Beute genug

finden dürften, aber ſchließlich ſahen ſie ſich gezwungen,

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dasſelbe zu ſagen und einzuſehen, daß die Räuber einen unerklärlichen Reſpekt vor ihm hatten. Troje⸗ kurow triumphierte und ſpottete bei jeder Nachricht von einer neuen Plünderung, die Dubrowskij ins Werk geſetzt hatte, weidlich über den Gouverneur, die Polizeileutnants und die Kompagniechefs, deren Nachſtellung ſich Dubrowskij bisher immer noch ип: beſchadet entzogen hatte.

Unterdeſſen kam der erſte Oktober heran, der Tag, an dem auf Trojekurows Beſitzungen das Feſt der Kirchweihe gefeiert wurde. Doch ehe wir uns an die Schilderung der weiteren Begebenheiten machen, müſſen wir den Leſer mit Perſonen bekannt machen, die ihm noch unbekannt ſind, oder mit ſolchen, die wir am Anfang unſerer Erzählung nur kurz geſtreift haben.

Achtes Kapitel

Vermutlich wird der Leſer bereits erraten haben, daß Kirila Petrowilſchs Tochter, von der wir bisher nur wenig ſagen konnten, die eigentliche Heldin unſerer Erzählung iſt. Zu der Zeit, die wir hier ſchildern, war ſie ſiebzehn Jahre alt, ihre Schönheit ſtand in voller Blüte. Ihr Vater liebte ſie beſinnungslos, aber er behandelte fie mit der ihm angeborenen Launen— haftigkeit, denn zuweilen erfüllte er ihr jeden Wunſch, erſchreckte ſie jedoch zuweilen wieder durch rauhe und manchmal ſogar grauſame Umgangsformen. Er war von ihrer Anhänglichkeit überzeugt, doch gelang es

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ihm niemals, ihr Zutrauen zu erlangen. Sie hatte es ſich zur Gewohnheit gemacht, ihre Gefühle und Фе: danken vor ihm zu verbergen, da ſie ja niemals genau wußte, wie er ihre Worte auffaſſen würde. Sie hatte keine Freundinnen und wuchs in der Einſamkeit auf. Es kam nämlich nur ſelten vor, daß die Nachbarn ihre Frauen oder Töchter zu Kirila Petrowitſch mit⸗ nahmen, da feine üblichen Unterhaltungen und Ber: gnügungen wohl die Geſellſchaft von Männern er: forderten, nicht aber die Anweſenheit von Damen. Unſere junge Schöne zeigte ſich nur ſelten im Schwarm der Gäſte, die bei Kirila Petrowitſch tafelten. Die rieſige Bibliothek, die in der Hauptſache aus Schriften franzöſiſcher Verfaſſer des 18. Jahrhunderts beſtand, wurde eifrig von ihr benutzt. Da ihr Vater niemals etwas anderes außer der „Vollkommenen Köchin“ las, konnte er ihr in der Auswahl der Lektüre nicht an die Hand gehen, und darum verfiel Maſcha, nach— dem ſie Schriften jeder Art durchblättert hatte, ſelbſt— verſtändlich auf Romane. Auf dieſe Art vollendete ſie eine Erziehung, die ſeinerzeit unter der Aufſicht der Mamſell Michaud begonnen, einer Perſon, der Kirila Petrowitſch das größte Vertrauen und Wohlwollen ſo lange entgegengebracht hatte, bis er ſich eines Tages gezwungen ſah, ſie in aller Stille auf eine entfernter liegende Beſitzung ſchaffen zu laſſen, da die Folgen der Freundſchaft nur allzuſehr an den Tag traten. Mamſell Michaud hatte ein angenehmes Andenken

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hinterlaſſen. Sie war ein gutherziges Mädchen де: weſen und hatte niemals den Einfluß, den ſie offenbar auf Kirila Petrowitſch ausübte, mißbraucht, ein Um⸗ ſtand, der ſie von ſeinen anderen Freundinnen, die allaugenblick wechſelten, ſehr unterſchied. Es machte den Eindruck, daß Kirila Petrowitſch ſie lieber hatte als alle jene andern. Und zudem wurde ja auch ein ſchwarzäugiger Bub, ein Schelm von neun Jahren, deſſen Geſicht an die mittäglichen Züge der Mamſell Michaud erinnerte, in ſeinem Hauſe erzogen und war von ihm ſogar als Sohn anerkannt worden, un⸗ geachtet deſſen, daß ein Haufen barfüßiger Kinder, die Kirila Petrowitſch ſo ähnlich ſahen wie ein Tropfen Waſſer dem andern, ſich ſtändig vor den

Fenſtern herumtrieb und dennoch nur zum Hofgeſinde

gezählt wurde. Kirila Petrowitſch ließ ſich für ſeinen kleinen Saſcha einen franzöſiſchen Lehrer aus Moskau kommen, der um die gleiche Zeit in Pokrowskoje ein⸗ traf, in der die Begebniſſe vorfielen, die wir nunmehr zu ſchildern gedenken.

Dieſer Lehrer gefiel Kirila Petrowitſch durch ſein angenehmes Außere und ſeine ſchlichten Umgangs⸗ formen. Er überbrachte Kirila Petrowitſch verſchie⸗ dene Zeugniſſe, unter anderem aber auch den Brief eines Verwandten von Trojekurow, in deſſen Hauſe er vier Jahre als Erzieher zugebracht hatte. Kirila Petrowitſch ſah die Papiere durch und war zufrieden, nur die Jugend unſeres Franzoſen ſchien ihm nicht

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recht zuſagen zu wollen, allein nicht etwa aus dem Grunde, weil er angenommen hätte, daß dieſer liebens⸗ würdige Fehler unvereinbar ſei mit der Geduld und der Erfahrung, die für den unglückſeligen Beruf des Lehrers unumgänglich ſind, nein, ſondern er hatte ſeine eigenen Zweifel, und war ſogleich entſchloſſen, ſie ihm zu verſtehen zu geben. Zu dieſem Zweck ließ er Maſcha holen. (Da Kirila Petrowitſch die fran⸗ zöſiſche Sprache nicht beherrſchte, diente ſie ihm als Dolmetſcherin.) „Komm Бег, Maſcha, und ſag dieſem Musje, daß alles in Ordnung iſt und daß ich ihn ап: ſtelle, doch nur unter einer Bedingung: er ſoll es nicht wagen, jemals meinen Mädchen nachzuſtellen, ſonſt werde ich ihn, den Hundeſohn ... überſetz ihm das, Maſcha.“

Maſcha errötete und ſagte zum Lehrer auf fran— zöſiſch, daß ihr Vater auf ſeine Beſcheidenheit und ſeine anſtändige Aufführung rechne.

Der Franzoſe verneigte ſich und entgegnete, daß er feinerfeits ſich Reſpekt zu erringen hoffe, ſelbſt wenn man ihm jedes Wohlwollen zu verſagen gedächte.

Dieſe Antwort überſetzte Maſcha Wort für Wort.

„Gut, ſchon gut,“ meinte Kirila Petrowitſch, „wozu redet er von Wohlwollen oder von Reſpekt? Seine Sache iſt es, Saſcha zu beaufſichtigen und ihn in Grammatik und Geographie zu unterrichten ... über⸗ ſetz ihm das.“

Marja Kirilowna überſetzte die groben Worte ihres

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Vaters weſentlich gemildert. Kirila Petrowitſch be⸗ fahl darauf, dem Franzoſen den Weg zum Flügel zu weiſen, wo man ihm ein Zimmer eingerichtet hatte.

Auf Maſcha hatte der junge Franzoſe nicht den geringſten Eindruck gemacht. Da fie in den Bor: urteilen der Ariſtokratie aufgewachſen war, ſtellte ihr ein Lehrer nicht anders dar als etwas in der Art eines Bedienten oder Handwerkers, ein Bedienter aber oder Handwerker waren für ſie keine Männer. Somit bemerkte ſie natürlich auch den Eindruck nicht, den ſie auf Monſieur Deforges gemacht hatte, weder ſeine Verwirrung, noch daß er erbebte, ja nicht einmal, daß ſeine Stimme ſich veränderte. Sie begegnete ihm in den nächſten Tagen ziemlich häufig, aber ſie würdigte ihn nach wie vor keines Blickes. Auf die unerwartetſte Weiſe erhielt ſie einen neuen Eindruck von ihm.

Auf Kirila Petrowitſchs Gutshof wurden gewöhn— lich mehrere junge Bären gehalten, die dem Guts⸗ beſitzer von Pokrowskoje einen Hauptſpaß machten. Wenn die Bären noch ganz jung waren, wurden ſie täglich ins Wohnzimmer geführt, und ſtundenlang konnte ſich Kirila Petrowitſch mit ihnen abgeben, in- dem er ſie auf Katzen und junge Hunde hetzte. Wenn ſie dann heranwuchſen, wurden ſie, in Erwartung einer wirklichen Hetzjagd, an die Kette gelegt. Hie und da wurden ſie auch vors Herrenhaus geführt, man rollte ihnen ein leeres Weinfaß, das dicht mit Nägeln beſpickt war, hin; der Bär beſchnupperte es

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und verſuchte es vorſichtig zu berühren, wobei er ſich in die Pfoten ſtach, darauf wurde er wütend und ſtieß heftiger zu und heftiger wurde natürlich auch ſein Schmerz. Er geriet allmählich in völlige Raſerei und ſtürzte ſich heulend ſo lange auf das Faß, bis man dem armen Tier den Gegenſtand ſeiner vergeblichen Wut fortnahm. Manchmal wieder wurden zwei Bären vor einen Wagen geſpannt, in welchem Gäſte frei— willig oder gezwungen Platz nehmen mußten, und dann gings unaufhaltſam über die Felder dahin. Am meiſten Vergnügen aber machte Kirila Petro— witſch folgender Spaß:

Man pflegte einen hungrigen Bären gelegentlich in ein leeres Zimmer zu ſperren, wo man ihn mit einem Strick an einen Ring, der in die Wand ge— ſchraubt war, band. Der Strick war faſt ſo lang wie das ganze Zimmer, ſo daß einzig die entgegen— geſetzte Ecke Schutz vor den Angriffen des ſchrecklichen Tieres bot. Man pflegte dann meiſtens einen Neu— ling vor die Tür dieſes Zimmers zu bringen, ſtieß ihn unverhofft zum Bären herein, ſchloß die Türe und ließ das unſelige Opfer mit dem zottigen Ein: ſiedler allein. Mit zerriſſenem Rockſchoß und zer: kratzter Hand fand der arme Gaſt die gefahrloſe Ecke natürlich bald, aber es konnte geſchehen, daß er dort eng an die Wand gepreßt drei Stunden lang ſtehen mußte und die ganze Zeit über das gereizte Tier zwei Schritt vor ſich ſehen mußte, wie es ſprang, ſich auf-

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richtete, brummte und aus ganzer Kraft beſtrebt war, ihn zu erreichen. Das waren fo die vornehmen Ber: gnügungen eines ruſſiſchen hohen Herrn! Wenige Tage nach der Ankunft des Lehrers erinnerte ſich Trojekurow an ihn und beſchloß, ihn mit dem Bären⸗

zimmer zu bewirten. Zu dieſem Zwecke ließ er ihn р

eines Morgens holen und führte ihn durch die дип: kelſten Gänge; plötzlich öffnete ſich eine Seitentüre, zwei Diener ſtießen den Franzoſen hinein und ſchloſſen fie hinter ihm. Als der Lehrer feine Geiſtesgegen⸗ wart wieder gewonnen hatte, bemerkte er den an: gebundenen Bären; das Tier ſchnaufte ſchwer und ſchnupperte von fern nach dem Gaſt, richtete ſich dann plötzlich auf ſeinen Hinterpfoten auf und ging auf ihn los ... Aber der Franzoſe war hierüber nicht erſchrocken und floh nicht, ſondern erwartete den An: griff. Der Bär näherte ſich; Deforges zog eine kleine Piſtole aus der Taſche, ſetzte ſie dem hungrigen Tier ans Ohr und drückte ab. Der Bär ſtürzte nieder. Alles eilte herbei, die Türe ging auf und Kirila Petro: witſch trat ein, ganz erſtaunt über den Ausgang des Spaßes.

Kirila Petrowitſch wünſchte unbedingt die ganze Angelegenheit aufgeklärt zu ſehen. Wer mochte es wohl geweſen ſein, der Deforges von dem Scherz, der ihn erwartete, Mitteilung gemacht hatte, und wie⸗ ſo kam es, daß ſich in ſeiner Taſche eine geladene Piſtole befand? Er ließ Maſcha rufen. Maſcha eilte

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herbei und überſetzte dem Franzoſen die Fragen, die ihr Vater an ihn richtete.

„Ich habe noch nie zuvor vom Bären gehört,“ entgegnete Deforges: „allein ich trage beſtändig Pi⸗ ſtolen bei mir, denn es iſt nicht meine Art, Krän⸗ kungen hinzunehmen, für die ich in meiner Stellung keine Genugtuung verlangen kann.“

Erſtaunt blickte ihn Maſcha an und überſetzte Kirila Petrowitſch dieſe Worte. Kirila Petrowitſch entgegnete nichts, ſondern befahl bloß, den Bären hinauszuſchaffen und ihm das Fell abzuziehen; darauf wandte ег ſich zu feinen Leuten und ſagte: „Wie де: fällt euch der Burſche? er iſt nicht verzagt, weiß Gott, er ИЕ nicht verzagt. Und von dieſem Augenblick an hatte er Deforges lieb und dachte nicht mehr daran, ihn jemals wieder auf die Probe zu ſtellen.

Auf Marja Kirilowna hatte der Vorfall einen noch größeren Eindruck gemacht. Ihre Phantaſie Бе: gann zu arbeiten: ſie ſah den toten Bären vor ſich und Deforges, der ruhig neben dem Leichnam ſtand und ſich ruhig mit ihr unterhielt. Sie mußte einſehen, daß Tapferkeit und ſtolzes Selbſtbewußtſein nicht nur das ausſchließliche Vorrecht des einen Standes ſeien, und begann ſeit der Zeit den jungen Lehrer mit einem Reſpekt zu behandeln, der von Stunde zu Stunde herzlicher wurde. Zwiſchen den beiden kam es ſogar zu einer gewiſſen Verbindung. Maſcha hatte eine herrliche Stimme und verfügte zudem über große

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muſikaliſche Fähigkeiten: Deforges erklärte ſich ſofort bereit, ihr Stunden zu geben. Und nun wird es dem Leſer gewiß nicht mehr ſchwer fallen, zu erraten, daß Maſcha ſich natürlich in ihn verliebte, ohne es noch ſelber recht zu wiſſen.

Neuntes Kapitel

Der größte Teil der Gäſte kam bereits am Vor⸗ abend des Feſtes nach Pokrowskoje. Einige wurden im Herrenhauſe und in den Flügeln untergebracht, andere beim Verwalter, mehrere beim Geiſtlichen und einige ſchließlich bei den reicheren Bauern; die Pferde: ſtälle ſtanden voll von Wagenpferden, die Höfe und die Speicher von den verſchiedenartigſten Wagen. Um neun Uhr morgens riefen die Glocken zur Meſſe und alles drängte ſich zur neuen Steinkirche, die Kirila Petrowitſch erbaut hatte und die er alljährlich weiter ausſchmückte. Es hatte ſich eine ſo große Anzahl hochgeſtellter Gottesfürchtiger eingefunden, daß die einfachen Bauern keinen Platz in der Kirche hatten, ſondern gezwungen waren, vor der Kirchentür und innerhalb der Kirchenmauern zu ſtehen. Die Meſſe hatte noch nicht begonnen: man wartete noch auf Kirila Petrowitſch. Er fuhr ſchließlich in einem ſechs⸗ ſpännigen Wagen vor und begab ſich, von Marja Kirilowna geleitet, feierlich auf den ihm zukommenden Platz. Die Blicke der Männer und der Frauen hingen an dem jungen Mädchen, die erſteren ſtaunten

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über ihre Schönheit, die zweiten betrachteten auf: merkſam ihre Kleidung. Die Meſſe begann; die zu Hauſe geſchulten Sänger ſangen auf dem Chor, Ki— rila Petrowitſch brummte mit und betete, ohne nach rechts oder links zu ſchauen, und verneigte ſich mit einer ſtolzen Demut bis zur Erde, als der Diakon ſchallend den Stifter des Tempels erwähnte.

Die Meſſe war zu Ende. Kirila Petrowitſch näherte fi) dem Kreuz als erfter. Alle folgten ihm; die Бе: nachbarten Gutsbeſitzer machten ihm ihre Aufwartung, die Damen hingegen umringten Maſcha. Als Kirila Petrowitſch die Kirche verließ, lud er alle ein, bei ihm zu Mittag zu ſpeiſen, ſetzte ſich darauf in ſeinen Wagen und fuhr nach Hauſe. Sämtliche Anweſende folgten ihm alsbald. Die Zimmer füllten ſich immer dichter mit Gäſten; keine Minute verging, ohne daß neue Perſonen eintraten, die ſich nur mit Mühe zum Hausherrn durchzudrängen vermochten. Würde⸗ voll nahmen die Damen in einem Halbkreiſe Platz, und waren auch ihre Gewänder nach veralteter Mode, und waren ſie auch teils abgetragen, teils überladen, fo ſtrahlten doch alle Frauen von Perlen und Bril- lanten; die Männer dagegen drängten ſich um den Tiſch, auf dem der Kaviar und der Schnaps ſtanden und unterhielten ſich mit geräuſchvoller Mannigfal— tigkeit. Im Saal wurde derweil ein Tiſch für achtzig Perſonen gedeckt; die Bedienten eilten geſchäftig hin und her, ſtellten Flaſchen und Karaffen auf und

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teten die Tiſchdecken. Endlich rief der Haushofmeiſter: Das Effen iſt ſerviert worauf ſich Kirila Petro- witſch als erſter zum Tiſch begab, hinter ihm die Damen, die mit großem Ernſt Platz nahmen, wobei ſie eine gewiſſe Altersordnung beobachteten; die jungen

Mädchen drängten ſich ſchüchtern, wie eine ſcheue

Schar von jungen Ziegen, und wählten ihre Plätze ſo, daß immer eine neben der andern zu ſitzen kam;

ihnen gegenüber ſetzten ſich die Männer; am unteren

Ende der Tafel nahm der Lehrer neben dem kleinen

Saſcha Platz.

Und nun begannen auch die Diener die Teller dem

Rang entſprechend zu ſervieren, wobei ſie ſich in

Zweifelsfällen von den Vermutungen Lavaters leiten ließen und Гай immer das Richtige trafen. Teller⸗ klappern und Löffelklirren verſchmolz mit dem ge⸗

räuſchvollen Geſpräch der Gäſte. Heiter ſah ſich Ki⸗ | rila Petrowitſch im Kreiſe um und genoß vollauf | das Glück des freigebigen Gaſtgebers. In dieſem Augen⸗

blick rollte ein ſechsſpänniger Wagen auf den Hof. „Wer

iſts?“ fragte der Hausherr. „Anton Pafnutjitſch“, |

enfgegneten ihm gleich mehrere. Die Tür öffnete fich

und Anton Pafnutjitſch Spizyn, ein fetter Mann von

etwa fünfzig Jahren mit einem runden und pocken⸗

narbigen Geſicht und einem Kinn mit dreifachem Fett⸗

polſter wälzte ſich lächelnd mit vielen Verbeugungen in den Saal, wobei er ganz offenſichtlich alle Vor⸗ bereitungen traf, eine Entſchuldigungsrede zu halten.

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„Ein Gedeck!“ rief Kirila Petrowitſch: „Willkommen, Anton Pafnutjitſch, nimm Platz und erzähl uns, was das wohl bedeuten mag: du erſchienſt nicht zur Meſſe und kommſt ſogar zum Mittageſſen zu ſpät? Das ſieht dir ganz und gar nicht gleich, du biſt nicht nur gottesfürchtig, ſondern du liebſt auch ordentlich zu ſpeiſen.“ „Entſchuldigung,“ entgegnete Anton Pafnutjitſch, wobei er die Serviette ins Knopfloch ſeines erbſenfarbenen Leibrockes knüpfte: „Entſchul⸗ digung, Väterchen, Kirila Petrowitſch, ich habe mich rechtzeitig auf den Weg gemacht, doch kaum hatte ich zehn Werſt zurückgelegt, als plötzlich das Eiſen am Vorderrad entzweiging was will man da tun? Zum Glück war ein Dorf in der Nähe, aber bis ich hinkam und einen Schmied erwiſchte und der Schaden irgendwie repariert war, vergingen dennoch drei Stunden, da war nichts zu wollen. Den nächſten Weg durch den Wald von Kiſtenjowka zu nehmen, traute ich mich nicht, mithin mußte ich einen Umweg machen.“ „Aha!“ unterbrach ihn Kirila Petro— witſch, „du gehörſt, ſcheints, nicht gerade zur tapferen Kompanie; wovor fürchteſt du dich eigentlich?“ „Wovor ich mich fürchte, Väterchen, Kirila Petro- witſch? vor dem Dubrowskij fürchte ich mich; wenn man Pech hat, fällt man ihm eins zwei drei in die Klauen. Er iſt ein gewandter Junge und läßt ſich ſo leicht nichts entgehen; mich aber dürfte er unter Шт: ſtänden gleich zweimal ſchinden wollen.! „Weshalb

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denn dir, Bruder, fo eine Auszeichnung?“ „Weshalb mir, Väterchen, Kirila Petrowitſch? nun ſehr einfach, wegen des Prozeſſes des verſtorbenen Andrej Gawri⸗ lowitſch. Habe ich nicht etwa Ihnen zu Gefallen, das heißt, nach Recht und Gewiſſen ausgeſagt, daß die Dubrowskijs an dem Beſitz von Kiſtenjowka keinerlei

Recht haben, ſondern alles Ihrer Gnade verdanken,

wofür der Verſtorbene (Gott habe ihn felig!) ver: ſprochen hat, mit mir kurzen Prozeß zu machen, und da fürchte ich nun, daß das Söhnchen vielleicht das Wort des Väterchens wird einlöſen wollen. Bis jetzt war mir Gott allerdings noch gnädig; er hat alles in allem nur einen meiner Speicher geplündert, aber ſchließlich könnte doch noch einmal das Herrſchafts— haus an die Reihe kommen.“ „Na, und im Herr⸗ ſchaftshaus wird er ein feines Leben haben,“ meinte Kirila Petrowitſch: „das rote Schatullchen dürfte bis an den Rand gefüllt ſein, ſollte ich meinen.“

„Schlimm, ſchlimm, Väterchen, Kirila Petrowitſch;

einſt war es freilich voll, aber jetzt iſt es ganz leer ge |

worden!“ „Warum lügſt du mich an, Anton Paf⸗ nutjitſch? Wir kennen dich doch; was machſt denn du mit deinem Gelde? Du lebſt in deinem Hauſe wie

ein Schwein, haſt niemals Gäſte, ſchindeſt deine Bauern

nichts als ſparen tuſt du, das iſt deine ganze Be⸗ ſchäftigung.“ „Sie belieben immer, Ihre Späßchen zu machen, Väterchen, Kirila Petrowitſch,“ murmelte Anton Pafnutjitſch lächelnd, „wir haben uns in letzter

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Zeit, weiß Gott, ruiniert,“ und hierbei rückte Anton Pafnutjitſch einer fetten Paſtete zu Leibe, um den Witz des Hausherrn hinunterzuſchlucken. Kirila Petrowitſch ließ von ihm ab und wandte ſich zu dem neuen Фо: lizeileutnant, der zum erſtenmal hier zu Gaſte war und am untern Ende der Tafel neben dem Lehrer ſaß.

„Nun, mein Herr Polizeileutnant, willſt du uns nicht deinen Mut zeigen: fang doch mal den Du— bromstij.“

Der Polizeileutnant wurde verlegen, verneigte fich, lächelte, ſtotterte und brachte endlich nur dies eine hervor: „Wir werden uns Mühe geben, Exzellenz.“

„Hm! Mühe geben. Wie lang ſchon gebt ihr euch Mühe, unſere Gegend von den Räubern zu ſäubern. Aber keiner verſteht es, das Ding richtig anzupacken. Ihr habt übrigens recht, wozu auch ihn fangen? Dubrowskijs Räubertaten ſind ein wahrer Gottes— ſegen für die Polizei: Dienſtreiſen, Unterſuchungen, Zuſchüſſe, da fällt einem das Geld ja von ſelber in die Taſche. Man kann ihn nicht erwiſchen! Wozu auch einen ſolchen Wohltäter packen? Iſt es nicht wahr, mein Herr Polizeileutnant?“

„Die reine Wahrheit, Exzellenz,“ entgegnete der völlig beſtürzte Polizeileutnant.

„So, ſo, na ich ſeh ſchon; ich werde mich ſelber dahinter machen müſſen, ohne erſt auf die Hilfe der hieſigen Obrigkeit zu warten.“

Die Gäſte brachen in ein Gelächter aus.

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„Ich lob mir deine Aufrichtigkeit,“ ſprach Kirila Petrowitſch weiter, „dennoch tut es mir leid, daß der vormalige Polizeileutnant Taras Alexejewitſch hin iſt; wenn ſie den nicht verbrannt hätten, würde es jetzt bei uns mehr Ordnung geben. Was hört man übrigens Neues von Dubrowskij? Wo hat man ihn zum letzten Male geſehen?“

„Er war bei mir, Kirila Petrowitſch,“ ſummte die | Stimme einer dicken Dame, „am vorigen Dienstag ſpeiſte er bei mir zu Mittag.“ |

Alle Blicke hefteten [14 auf Anna Sſawiſchna Glo⸗ bowa, eine Witwe von ſchlichter Lebensart, die von allen Leuten ihres gutmütigen und luſtigen Charakters wegen gern geſehen wurde. Alle warteten voll Neu⸗ gierde auf ihre Erzählung.

„Ich muß zuvor erzählen, daß ich meinen Verwalter vor drei Wochen mit einem Brief an meinen Wanja zur Poſt ſchickte. Ich verwöhne zwar meinen Sohn nicht ſehr und wäre auch, wenn ich es wollte, nicht in der Lage, ihn zu verwöhnen; aber Sie werden ja ſelber wiſſen, daß man Gardeoffizieren einen ordent⸗ lichen Zuſchuß geben muß, und ſo teile ich mich denn mit meinem Wanja in meine Einkünfte, ſo gut ich eben kann. Ich ſchickte ihm dieſes Mal zweitauſend Rubel; freilich mußte ich mehrfach an Dubrowskij denken, aber anderer ſeits dachte ich auch: die Stadt iſt doch ganz in der Nähe, es ſind ja keine ſieben Werſt bis dahin, mit Gottes Hilfe wird es vielleicht diesmal

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gehen. Aber was geſchah: am Abend kehrte mein Verwalter bleich, abgeriſſen und zu Fuß zurück. Ich ſtöhnte nur: „Was iſt los? Was iſt mit dir geſche⸗ hen?“ Darauf er: „Mütterchen, Anna Sſawiſchna, die Räuber haben mich geplündert und mich Гай um: gebracht. Dubrowskij ſelber war mit dabei, er wollte mich aufhängen, aber ſchließlich tat ich ihm leid und er ließ mich ziehen. Doch hat er mir alles abgenommen, ſogar das Pferd und den Wagen.“ Ich wurde ganz ſtarr vor Schreck. Himmliſcher Vater! Wie wird es jetzt meinem Wanja ergehen? Allein da ich es nicht ändern konnte, ſchrieb ich ihm einen zweiten Brief, in welchem ich ihm alles erzählte und ihm meinen Segen ohne einen Pfennig Geld ſchickte.

„So verging eine Woche und eine andere. Eines Tages fährt ein Wagen in meinen Hof. Irgendein General erſucht mich, ihn zu empfangen; bitte fchön. Ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren tritt ein, braungebrannt, mit ſchwarzen Haaren, Schnurrbart und Bart, das genaue Abbild von Kulnjow; er ſtellt fi) mir als Freund und Dienſtkamerad meines рег: ſtorbenen Gatten Iwan Andrejewitſch vor; er reiſe gerade durch dieſe Gegend und hätte es nicht über ſich bringen können, am Gut der Witwe vorüberzufahren, denn er wiſſe, daß ich hier lebe. Ich bewirtete ihn, ſo gut es gehen wollte, plauderte mit ihm von dieſem und jenem und kam endlich auch auf Dubrowskij zu ſprechen. Ich klagte ihm mein Leid. Mein General

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ſchaute finſter. „Sonderbar,“ ſagte er: „Ich habe immer gehört, daß Dubrowskij durchaus nicht jeder⸗ mann überfällt, ſondern immer nur die, die dafür bekannt ſind, daß ſie reich ſeien, und auch mit denen

teilt er jedesmal redlich und nimmt ihnen nicht etwa

alles weg. Einen Mord aber hat ihm noch niemand

nachgeſagt; könnte es nicht ſein, daß das Ganze nichts

als ein Schwindel iſt? Befehlen Sie doch, den Ver⸗

walter rufen zu laſſen.“ Man holte den Verwalter. Er erſchien. Kaum ſah er den General, erſtarrte er ö wie eine Bildſäule. „Erzähl uns mal, Brüderchen, auf welche Weiſe Dubrowskij dich beraubt hat und warum er dich aufhängen wollte?“ Mein Verwalter bebte am ganzen Leibe und fiel dem General zu Füßen. „Väterchen verzeih mir: die Verſuchung war zu groß

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. ich habe gelogen.“ „Wenn dem fo iſt,“ ent⸗ gegnete der General: „Dann erzähl mal der gnädigen Frau, wie ſich alles zugetragen hat, ich werde zuhören.“ Der Verwalter war immer noch ganz aus dem Häus⸗

chen. „Nun, erzähl doch,“ fuhr der General fort:

„Wo bift du Dubrowskij begegnet?“ „Bei den

zwei Fichten, Väterchen, bei den zwei Fichten.“ „Und was ſagte er zu dir?“ „Er fragte mich: Wem gehörſt du, wohin fährſt du und warum?“ „Nun und danach?“ „Und danach forderte er mir den Brief und das Geld ab. Und natürlich gab ich ihm Brief und Geld.“ „Und er?“ „Nun, und ег... Väterchen, verzeih mir.“ „Nun, was

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tat er denn?“ „Er gab mir das Geld und den Brief zurück und ſagte: zieh mit Gott und übergib es der Poſt.“ „Und weiter!“ „Väterchen, ver: zeih mir!!“ „Ich werde mit dir, mein Täubchen, kurzen Prozeß machen,“ ſagte der General drohend: „Befehlen Sie doch, gnädige Frau, den Koffer dieſes Betrügers zu unterſuchen und überantworten Sie ihn darauf mir, ich will ihm eine Lehre erteilen. Wiſſen Sie nicht, daß Dubrowskij ſelber ein Gardeoffizier war; wie könnte er einen Kameraden ſchädigen wol— len?“ Ich erriet natürlich alsbald, wer feine Exzellenz war: ich brauchte ihn nicht erſt deswegen zu befragen. Die Kutſcher banden den Verwalter an den Kutſch— bock, und bald darauf fanden wir das Geld; der Ge— neral ſpeiſte mit mir, fuhr jedoch gleich nach dem Eſſen fort und nahm den Verwalter mit. Den Ver— walter fand man am nächſten Tage im Walde ziemlich zer ſchunden an den Stamm einer Eiche gebunden.“

Stumm hatten alle Anna Sſawiſchnas Erzählung angehört, zumal die jungen Mädchen. Einige von ihnen nährten insgeheim eine gewiſſe Neigung für Dubrowskij, weil fie in ihm einen romantiſchen Helden ſahen, und ganz beſonders tat das Marja Kirilowna, dieſe heißblütige Träumerin, aufgewachſen und er— zogen im Bann der geheimnisvollen Schreckenstaten in den Romanen der Radcliffe.

„Du nimmſt alſo an, Anna Sſawiſchna, daß Du— browskij ſelber bei dir war?“ fragte Kirila Petro—

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witſch: „Du täuſchſt dich fehr. Ich weiß freilich nicht, wer bei dir zu Gaſte war, aber Dubrowskij war es beſtimmt nicht.“

„Wie, Väterchen, nicht Dubrowskij? Ja, gibt es denn außer ihm noch jemand, der auf die Landſtraße geht und die Vorüberfahrenden anhält und durch⸗ ſucht?“

„Das weiß ich nicht, aber Dubrowskij war es be- ſtimmt nicht. Ich kann mich noch an ihn erinnern, als er ein Kind war, ich weiß zwar nicht, ob nicht ſeine Haare inzwiſchen ſchwarz geworden ſind, damals war er ein Knabe mit einem blonden Lockenkopf; dieſes eine jedoch weiß ich ganz zuverläſſig, daß Du⸗ browskij nur fünf Jahre älter iſt als meine Maſcha, und mithin kann er unmöglich fünfunddreißig Jahre alt ſein, ſondern höchſtens dreiundzwanzig.“

„Stimmt auffällig, Exzellenz,“ warf der Polizei⸗ leutnant ein: „Ich habe das Signalement Wladimir Dubrowskijs in der Taſche. Darin wird ausdrücklich vermerkt, daß er dreiundzwanzig Jahre alt iſt.“

„Aha!“ rief Kirila Petrowitſch: „Übrigens, lies uns doch das Papier vor, wir wollen es hören: es iſt für uns ganz gut, mit ſeinem Signalement bekannt zu werden, vielleicht kommt er uns mal unter die Augen, dann können wir ihn greifen.“

Der Polizeileutnant zog ein ziemlich verſchmiertes Blatt Papier aus der Taſche, öffnete es würdevoll und las mit ſingendem Tonfall:

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Dubrowsk ii

„Dubrowskijs Signalement, zuſammengeſtellt nach den Ausſagen ſeines vormaligen Gutsgeſindes:

Alter zweiundzwanzig Jahre, Wuchs mittelhoch, Geſichtsfarbe rein, Bart gefchoren, Augen braun, Haare blond, Naſe gerade. Beſondere Kennzeichen: nicht vorhanden.“

„Iſt das alles?“ fragte Kirila Petrowitſch.

„Das iſt alles, antwortete der Polizeileutnant, das Papier zuſammenfaltend.

„Gratuliere, mein Herr Polizeileutnant. Ein aus— gezeichnetes Papier! Nach dieſem Signalement wird es euch ſicherlich nicht ſchwer fallen, Dubrowskij zu finden! Gibt es denn überhaupt einen, der nicht mittelhoch iſt, nicht blondes Haar hat, eine gerade Naſe und braune Augen? Ich wette mit dir, was du willſt: drei Stunden lang wirſt du dich mit dem Dubrowskij unterhalten und nicht erraten, mit wem Gott dich zuſammengeführt hat. Ja, man kann wohl ſagen, geſcheite Köpfe haben die Beamten!“

Der Polizeileutnant ſteckte demütig ſein Papier in die Taſche und machte ſich an die Gans mit Kraut; die Diener hatten derweil ſchon mehrere Male die

Runde gemacht und jedem Gaſt mehrfach das Glas gefüllt. Nun erſchienen auch einige Flaſchen ruſſiſchen Schaumweins, die mit vielem Geräuſch entkorkt und wohlwollend unter der Bezeichnung Champagner be— grüßt wurden; die Geſichter röteten ſich bereits, die

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Geſpräche wurden lauter und luſtiger und verloren nach und nach den Zuſammenhang.

„Wahrhaftig,“ fuhr Kirila Petrowitſch fort, „einen ſolchen Polizeileutnant wie den verſtorbenen Taras Alexejewitſch werden wir nicht ſo bald wieder haben! Der ſchoß keinen Bock und Maulaffen hielt er auch nicht feil. Zu ſchade, daß der brave Junge verbrannt р ift, der hätte keinen aus der ganzen Bande ausgelaſſen. Der hätte fie alle gepackt, und auch Dubrowskij felber = wäre ihm nicht entkommen. Freilich hätte Taras Alexe⸗ jewitſch ruhig Geld von ihm genommen, hätte ihn aber trotzdem nicht freigelaſſen, das war fo die Art des Verſtorbenen. Aber ich ſehe, es iſt nichts dran zu ändern; ich ſeh, daß ich ſelber dieſe Sache anpacken und mit meinem Hausgeſinde gegen die Räuber ins

Feld ziehen muß. Zunächſt will ich einmal zwanzig meiner Burſchen abkommandieren, damit ſie das Diebe: =

wäldchen ſäubern; meine Jungens ſind nicht verzagt, von denen geht jeder einzeln auf einen Bären los, da

wird er wohl auch vor einem Räuber nicht zurück⸗

ſchrecken.“ 2 „Wie geht es denn Ihrem Bären, Väterchen, Kir rila Petromitfch?“ fragte Anton Pafnutjitſch, der fi о bei dieſen Worten an ſeinen zottigen Bekannten und $ einige Späße erinnerte, deren Opfer er ſeinerzeit ge- worden war. * „Miſcha wünſcht 3 zu leben,“ entgegnete Ki⸗ rila Petrowitſch, „er ſelber ſtarb eines ruhmvollen

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Du browskij

Todes von der Hand des Gegners. Dort ſitzt fein Be: zwinger!“ Kirila Petrowitſch zeigte bei dieſen Worten auf den franzöſiſchen Lehrer. „Er hat deinen .. mit Erlaubnis geſagt ... gerächt; erinnerſt du dich noch?“

„Wie ſollte ich das wohl vergeſſen?“ meinte Anton Pafnutjitſch und kratzte ſich: „freilich denk ich noch ſehr daran. Miſcha iſt alſo geſtorben ſchade um Miſcha, bei Gott, ſchade! So ſpaßhaft war er! So geſcheit! So einen Bären gibts nicht ſo bald wieder. Und warum hat der Musje ihn denn getötet?“

Mit ungemeiner Genugtuung verbreitete ſich Kirila Petrowitſch alsbald über die ruhmvolle Tat feines Franzoſen, war ihm doch die glückliche Eigenſchaft im hohen Grade zu eigen, mit allem, was ihn umgab, zu prahlen. Aufmerkſam hörten die Gäſte die Er— zählung von Miſchas Tod an und ſchauten erſtaunt zu Deforges hin, der gar nicht zu ahnen ſchien, daß ſich das Geſpräch ſeiner Tapferkeit zugewandt hatte, ſondern ruhig auf feinem Platz {аб und feinem тип: teren Zögling moraliſche Vorhaltungen machte.

Nachdem es drei Stunden gedauert hatte, ging auch dieſes Mittageſſen zu Ende; der Hausherr legte ſeine Serviette auf den Tiſch, man erhob ſich und ging ins Wohnzimmer, in dem bereits der Kaffee und die Karten warteten, aber auch die Fortſetzung des Trink— gelages, das ſo ruhmvoll im Speiſezimmer begonnen worden war. |

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Zehntes Kapitel

Einige der Gäſte beabſichtigten, bereits um fieben

Uhr abends abzureiſen, allein der Hausherr, den der Punſch in heiterſte Stimmung gebracht hatte, befahl, die Tore zu ſchließen, und erklärte, daß er keinem bis zum folgenden Morgen geſtatte, den Gutshof zu ver- laſſen. Bald darauf erſchallte Muſik, es öffneten ſich die Türen zum Saal und der Ball begann. Der Haus⸗ herr und die ihm Näherſtehenden ſaßen in einer Ecke, leerten Glas um Glas und freuten ſich am Vergnügen, das die Jugend empfand. Die alten Frauen ſpielten Karten. Wie überall, wo nicht etwa zufällig eine Ulanenbrigade ihre Quartiere aufgeſchlagen hat, gab es auch hier weniger Kavaliere als Damen; darum wurden alle Männer, die einigermaßen als Tänzer tauglich erſchienen, dazu kommandiert. Aus ihrer Schar ſtach der Lehrer hervor; die jungen Damen wählten immer nur ihn und meinten, daß es ſich mit ihm am beſten walzen laſſe. Einige Male wirbelte er auch mit Marja Kirilowna durch den Saal und dann folgten dem Paare ſpöttiſch die Augen der anderen Fräulein. Es ging bereits gegen Mitternacht, als der ſchläfrige Hausherr den Tanz abbrach und den Befehl gab, das Abendeſſen zu ſervieren; er ſelber begab ſich zur Ruhe.

Kirila Petrowitſchs Abweſenheit verlieh der ganzen Geſellſchaft mehr Freiheit und Leben; die Kavaliere

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wagten es, ſich neben die Damen zu ſetzen; die jungen Damen lachten und flüſterten mit ihren Nachbarn; dagegen unterhielten ſich die älteren Damen laut über den Tiſch hinüber. Die Männer tranken, ſtritten mit⸗ einander und lachten; kurzum, das Abendeſſen verlief außergewöhnlich heiter und ließ eine Menge von ver— gnügten Erinnerungen zurück.

Nur ein einziger Menſch nahm nicht ап der all: gemeinen Luſtigkeit teil. Finſter und ſchweigſam ſaß Anton Pafnutjitſch auf feinem Platz, er zerſtreut und machte einen ungewöhnlich beunruhigten Eindruck. Die Geſpräche über das Räuberunweſen hatten ihn ungemein aufgeregt. Wir werden bald ſehen, daß er allerdings Grund genug hatte, ſie zu fürchten.

Als Anton Pafnutjitſch Gott zum Zeugen dafür ап: gerufen hatte, daß die rote Schatulle tatſächlich leer ſei, log er nicht und ließ ſich keine Sünde zuſchulden kommen; denn freilich war die rote Schatulle leer: die vormals in ihr aufbewahrten Banknoten waren in eine Leder— taſche gewandert, die er jetzt unter dem Hemde auf ſeiner Bruſt trug. Nur durch dieſe Vorſichtsmaßregel konnte er ſeine ewige Furcht und ſein Mißtrauen gegen alle ein wenig lindern. Da er ſich heute де: zwungen ſah, in einem fremden Hauſe zu übernachten, fürchtete er, daß ihm ſein Nachtlager vielleicht in einem abgelegenen Zimmer angewieſen werden würde, wohin leicht Diebe dringen konnten; ſeine Augen ſuchten nach einem zuverläſſigen Schlafgeſellen und

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wählten endlich Deforges aus. Sein Außeres, das von Kraft ſprach, aber noch mehr ſeine Tapferkeit, die er bei der Begegnung mit dem Bären bewieſen hatte, an welchen der arme Anton Pafnufjitfch nicht ohne Erſchauern denken konnte, waren bei dieſer Wahl maßgebend geweſen. Als man vom Tiſch auf— ſtand, begann Anton Pafnutjitſch Kreiſe um den jungen Franzoſen zu ziehen, räuſperte ſich, hüſtelte und wandte ſich ſchließlich mit folgender Erklärung an ihn.

„Hm hm! wäre es nicht möglich, Musje, in Ihrem Zimmer zu übernachten, denn ſiehſt du mal ...“

„Que desire, monsieur?* fragte Deforges mit einer höflichen Verbeugung. %

„Ach, du Schwerenot, du verſtehſt ja noch nicht ruſſiſch, Musje. Schö mua (фе wu kuſche, ver- ſtehſt du mich.“

„Monsieur, tres volontier,“ antwortete Deforges; „veuillez donner des ordres en conséquence.“

Sehr befriedigt von ſeiner Kenntnis der franzöſiſchen Sprache eilte Anton Pafnutjitſch fort, um die not⸗ wendigen Anordnungen zu treffen.

Die Gäſte ſagten einander Lebewohl und ein jeder begab ſich darauf in das Zimmer, das ihm angewieſen worden war; Anton Pafnutjitſch dagegen folgte dem Lehrer zum Flügel. Die Nacht war dunkel. Deforges wies ihm mit einer Laterne den Weg; Anton Paf: nutjitſch folgte ihm ziemlich tapfer und preßte nur zuweilen die Hand an die Bruſt, um ſich zu über⸗

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zeugen, daß das Täſchchen mit dem Gelde noch рог: handen war. |

Als fie im Flügel angelangt waren, zündete der Lehrer eine Kerze an und ſie zogen ſich aus; Anton Pafnutjitſch ging dabei im Zimmer auf und ab, prüfte die Schlöſſer und die Fenſter und ſchüttelte den Kopf, da die Beſichtigung ihm nur wenig troſtreich erſchien. Die Türe war nämlich nur durch einen Riegel зи рег: ſperren und die Fenſter hatten nicht einmal doppelte Rahmen. Er verſuchte, Deforges ſein Leid zu klagen, doch reichte ſeine Kenntnis der franzöſiſchen Sprache bei weitem nicht aus, etwas ſo Kompliziertes zu er— klären. Der Franzoſe verſtand ihn nicht und Anton Pafnutjitſch mußte wohl oder übel ſein Jammern einſtellen. Die Betten ſtanden einander gegenüber; die beiden legten ſich nieder und der Lehrer löſchte das Licht aus.

„Purkua wu tuſche, purkua wu tuſche?“ rief Anton Pafnutjitſch, indem er nicht ohne Mühe das ruſſiſche Verbum für auslöſchen auf franzöſiſche Art konju— gierte: „Ich kann nicht dormir im Dunkeln.“

Aber Deforges begriff ihn nicht und wünſchte ihm lediglich eine geruhſame Nacht.

„Verdammter Heide!“ brummte Spizyn, ſich feſt in die Decke wickelnd: „Wozu war es nötig, die Kerze auszulöſchen? Er wird wenig Freude davon haben. Ich kann doch nicht ohne Licht ſchlafen. Musje, Musje,“ fuhr er fort: „Schö awek wu parle.“

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Allein der Franzoſe gab keine Antwort und begann bald darauf zu ſchnarchen.

„Da ſchnarcht er ſchon, Beſtie von einem ran: zofen —“ überlegte Anton Pafnutjitſch, „und bei mir iſt kein Gedanke an Schlafen: eins, zwei, drei könnten Diebe durch die offene Türe eindringen oder durchs Fenſter ſteigen, ihn aber, dieſe Beſtie, weckt man nicht einmal mit Kanonen auf. Musje, he Musje! hol dich doch der Teufel.“

Anton Pafnutjitſch verſtummte, Müdigkeit und Weindünſte überwältigten nach und nach feine Элай: lichkeit; er nickte ein und bald darauf überwältigte ihn ein tiefer Schlaf.

Ein ſeltſames Erwachen ſtand ihm bevor. Er fühlte noch im Schlaf, daß jemand leiſe ſeinen Hemdkragen zu⸗ rück ſchlug. Anton Pafnutjitſch öffnete die Augen und ſah beim bleichen Licht des Herbſtmorgens Deforges vor ſich ſtehen: in der einen Hand hielt der Franzoſe die Taſchen⸗ piſtole, während er mit der andern das verheißungsvolle Täſchchen abknöpfte. Anton Pafnutjitſch war ſtarr.

„Keß fe, Musje, keß fe?“ rief er mit bebender

Stimme. „Still! Schweigen!“ entgegnete der Lehrer und ſprach auf einmal das reinſte Ruſſiſch: „Schweigen! oder Sie find verloren. Ich bin Dubrowskij.“

Elftes Kapitel

Es wird nunmehr für uns Zeit, den Leſer um Er: laubnis zu bitten, die letzten Vorfälle in unſerer Er⸗

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zählung durch vorhergegangene Umſtände erklären zu dürfen, die zu berichten wir noch nicht in der Lage waren.

Auf der Station“ ſaß im Haufe des Poſthalters, von dem bereits die Rede war, in ſeiner Ecke ein Vor⸗ überreiſender, ſein Ausſehen war ſtill und geduldig, ſo daß man in ihm ſogleich eine Zivilperſon oder den Ausländer erkennen mußte, das heißt, einen Menſchen, deſſen Stimme auf der Poſt nicht beachtet wird. Sein Wägelchen ſtand auf dem Hof, es mußte friſch ge— ſchmiert werden. Ein kleines Köfferchen ruhte darin, der magere Beweis für ein durchaus nicht genügendes Vermögen. Der Reiſende verlangte weder Tee noch Kaffee, ſondern ſchaute durchs Fenſter und pfiff zum gewaltigen Mißvergnügen der Poſthaltersfrau, die hinter einer ſpaniſchen Wand ſaß, vor ſich hin.

„Da hat uns Gott einen Pfiffikus geſchickt,“ ſagte ſie halblaut: „Wie der pfeift! möge er doch platzen, der verdammte Heide.“

„Warum denn?“ meinte der Poſthalter: „Was machts denn? Mag er doch pfeifen.“

„Was es macht?“ entgegnete geärgert feine Gat: tin: „Iſt dir denn die ſchlimme Vorbedeutung etwa unbekannt?“

„Welche Vorbedeutung? Daß man mit Pfeifen das Geld aus dem Hauſe treibt? Ei, Pachomowna! bei uns kann man pfeifen, wie lange man Luſt hat, Geld gibts doch keins.“

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„Laß ihn doch endlich abfahren, Sſidorytſch. Macht es dir vielleicht Spaß, ihn noch lange hier zu Бе: halten? Gib ihm endlich Pferde und mag er ſich zum Teufel ſcheren.“

„Der kann noch gut warten, Pachomowna; im

Stall hab ich nur drei Dreigeſpanne, das vierte ruht

gerade aus. Wer weiß, ob nicht am Ende noch wich⸗ tige Reiſende kommen; ich will wegen dieſes Franzoſen nicht meinen Hals riskieren. Horch nur! So iſt es auch! da kommt ſchon wer! Oho! und wie ſchnell!

am Ende gar ein General?“

Der Wagen hielt vor der Tür. Ein Diener ſprang vom Bock, öffnete die Wagentür und gleich darauf trat ein junger Mann im Militärmantel und weißer Uniformmütze in das Zimmer des Poſthalters; der Diener folgte ihm, er trug eine Schatulle und ſtellte

ſie aufs Fenſterbrett. „Pferde!“ rief der Offizier gebieteriſch.

„Sofort!“ entgegnete der Poſthalter: „Darf ich 0

um die Reiſeordre bitten.“

„Ich habe keine Reiſeordre. Ich reife für mich ... Erkennſt du mich vielleicht nicht?“

Der Poſthalter hatte es eilig und lief zum Stall, um die Kutſcher anzutreiben. Der junge Mann ging im Zimmer auf und ab und trat auch hinter die Гра: niſche Wand, wo er die Poſthaltersfrau leiſe fragte: „Wer iſt der andere Reiſende?“

„Weiß Gott,“ entgegnete die Poſthaltersfrau: „Ir⸗

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gendein Französchen; jetzt wartet er bereits ſeit fünf Stunden auf Pferde und pfeift in einem fort. Ich hab ihn ſatt, den verdammten Kerl.“

Der junge Mann begann gleich darauf, ſich mit dem Reiſenden in franzöſiſcher Sprache zu unterhalten. „Wohin belieben Sie zu reiſen?“ fragte er ihn.

„Zur nächſten Stadt,“ antwortete der Franzoſe: „Von dort muß ich zu einem Gutsbeſitzer, der mich, ohne mich je geſehen zu haben, als Lehrer angeſtellt hat. Ich glaubte eigentlich, daß ich bereits heute den Ort erreichen würde, aber der Herr Poſthalter hat es ſcheinbar anders entſchieden. In dieſem Land, mein Herr Offizier, iſt es ſehr ſchwierig, Pferde zu be⸗ kommen.“

„Und bei welchem von unſern Gutsbeſitzern treten Sie in Stellung?“ fragte der Offizier.

„Bei Trojekurow,“ erwiderte der Franzoſe.

„Bei Trojekurow? Wer iſt denn dieſer Troje- kurow?“

„Ma foi, monsieur, ich habe wenig Gutes von ihm gehört. Man ſagt, er ſei ein hochmütiger und eigen— artiger Herr, der ſeine Hausgenoſſen grauſam be— handelt, ſo daß keiner es lange bei ihm aushält, denn alle zittern, wenn ſie nur ſeinen Namen hören und mit den Lehrern (avec les outchitels) macht er ſchon gar keine Umſtände.“

„Geſtatten Sie mal! und trotzdem entſchloſſen Sie ſich, bei dieſem Ungeheuer Stellung zu nehmen?“

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„Was tun, mein Herr Offizier? Er gibt mir einen guten Gehalt, dreitauſend Rubel im Jahr beifreiem Auf: enthalt. Es könnte ja möglich ſein, daß ich mehr Glück habe als die anderen. Ich habe eine alte Mutter: die Hälfte meines Gehaltes ſchicke ich ihr, damit ſie leben kann; der Reſt genügt mir, um mir in fünf Jahren ein kleines Kapital zu ſparen, das hinreichend groß iſt, mir für ſpäterhin die Unabhängigkeit zu ſichern, und dann bon soir, dann fahre ich nach Paris und fange einen kleinen Handel an.“

„Kennt Sie jemand im Haufe Trojekurows?“ fragte der Offizier.

„Niemand,“ entgegnete der Lehrer: „Er hat mich engeftellt, weil einer feiner Moskauer Freunde, deſſen Koch mein Landsmann iſt, mich ihm empfohlen hat. Ich muß Ihnen geſtehen, daß ich eigentlich nicht die Abſicht hatte, Lehrer zu werden, urſprünglich wollte ich Konditor werden, aber man ſagte mir, daß in Ihrem Vaterland der Beruf des Lehrers unvergleich- lich viel vorteilhafter wäre ...“

Der Offizier ſchien etwas zu überlegen. „Hören Sie mal,“ unterbrach er den Franzoſen: „Was wür— den Sie dazu ſagen, wenn man Ihnen ſtatt dieſer ungewiſſen Zukunft zehntauſend Rubel in barer Münze verſprechen würde, mit der einzigen Bedingung, daß Sie ſich augenblicks nach Paris zurückbegeben?“

Erſtaunt blickte der Franzoſe den Offizier an und lächelte nur kopfſchüttelnd.

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„Die Pferde ſtehen bereit,“ rief der eintretende Poſthalter.

Der Diener beſtätigte gleich darauf die Nachricht.

„Schon gut,“ entgegnete der Offizier: „Verlaßt uns auf einen Augenblick.“ (Der Poſthalter und der Diener entfernten ſich.) „Es iſt kein Scherz,“ fuhr er darauf in franzöſiſcher Sprache fort: „Die zehntauſend Rubel kann ich Ihnen geben; ich verlange nichts weiter als Ihre Abreiſe und Ihre Papiere.“

Er öffnete bei dieſen Worten ſeine Schatulle und nahm mehrere Stöße von Banknoten heraus.

Der Franzoſe ſtarrte ihn an. Er wußte nicht recht, was er denken ſollte.

„Meine Abreiſe ... meine Papiere,“ wiederholte er erſtaunt: „da find meine Papiere ... aber Sie ſcherzen doch wohl? Was wollen Sie mit meinen Papieren?“

„Das geht Sie gar nichts an. Ich frage, ob Sie einverſtanden ſind, ja oder nein?“

Der Franzoſe, der immer noch nicht ſeinen Ohren trauen wollte, reichte die Papiere dem jungen Offizier, der ſie haſtig durchſah.

„Ihr Paß ... ſehr gut; der Empfehlungsbrief ... wir wollen ſehen; der Geburtsſchein ... vortrefflich. Da haben Sie Ihr Geld, fahren Sie heim. Leben Sie wohl.“

Der Franzoſe ſtand da, als wäre er eingewurzelt. Der Offizier kehrte noch einmal zurück.

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„Ich habe das Wichtigſte vergeſſen: geben Sie mir

Ihr Ehrenwort, daß dieſer Handel ganz unter uns beiden bleibt ... Ihr Ehrenwort darauf.“

„Mein Ehrenwort,“ entgegnete der Franzoſe ... „Aber meine Papiere? Was ſoll ich ohne die be— ginnen?“

„Sagen Sie in der erſtbeſten Stadt, durch die Sie kommen, daß Dubrowskij Sie beraubt habe, man wird Ihnen Glauben ſchenken und Ihnen die nötigen Dokumente ausſtellen. Leben Sie wohl; Gott helfe Ihnen, möglichſt ſchnell nach Paris zu kommen und Ihr Mütterchen in guter Geſundheit anzutreffen.“

Dubrowskij verließ das Zimmer, ſprang in ſeinen Wagen und jagte davon.

Der Poſthalter ſchaute durchs Fenſter und wandte |

ſich, als der Wagen verſchwunden war, zu feiner

Frau mit folgenden Worten: „Pachomowna, weißt

du? das war ja Dubrowskij.“

Hals über Kopf ſtürzte die Poſthaltersfrau ans | Senfter, aber es war ſchon zu ſpät: Dubrowskij war bereits fern. Sie ſchalt auf ihren Mann: „Du Gott⸗

loſer, warum haſt du mir das nicht früher geſagt, damit ich mir den Dubrowskij wenigſtens hätte an: ſehen können, jetzt kann es lange dauern, ehe er wieder hier vorbeikommt. Gewiſſenlos biſt du, wahrhaftig, ganz und gar gewiſſenlos!“

Immer noch ſtand der Franzoſe wie angewurzelt. Das Abkommen mit dem Offizier und das viele Geld

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Dubromstij

es war ihm alles wie ет Traumgeſicht. Aber die Banknotenſtöße waren da, ſie ſtaken in ſeiner Taſche und ſprachen bedeutſam von der Wirklichkeit dieſer erſtaunlichen Begebenheit.

Endlich entſchloß er ſich, Pferde zu nehmen, um zur nächſten Stadt zu fahren. Der Kutſcher fuhr ihn im Schritt und ſo kamen ſie erſt nachts in die Nähe der Stadt.

Noch ehe ſie die Stadtgrenzen erreicht hatten, an der an der Stelle eines Wachtpoſtens nichts als ein zerfallenes Schilderhäuschen ſtand, befahl der Fran— zoſe dem Kutſcher haltzumachen, kletterte aus dem Wägelchen und ging, nachdem er dem Kutſcher durch Zeichen zu verſtehen gegeben hatte, daß er ihm das Wägelchen nebſt dem Köfferchen als Trinkgeld ſchenke, zu Fuß weiter. Der Kutſcher war über dieſe Freigebig— keit genau ſo erſtaunt wie vor kurzem der Franzoſe über Dubrowskijs Vorſchlag. Doch da er aus allem nur den einen Schluß ziehen konnte, daß der Franzoſe plötzlich verrückt geworden ſei, bedankte er ſich mit eifrigen Verbeugungen und fuhr, weil er es nicht für wohlgetan hielt, ſich in der Stadt zu zeigen, zu einem ihm hinreichend bekannten Vergnügungsetabliſſement, deſſen Beſitzer ſein Freund war. Dort verbrachte er die ganze Nacht und begab ſich erſt am Morgen des anderen Tages auf dem Dreigeſpann, aber ohne Köf— ferchen und Wägelchen mit gedunſenem Antlitz und

rot unterlaufenen Augen nach Hauſe.

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Dubrowskij hingegen fuhr, nachdem er ſich, wie A wir gefehen haben, auf diefe Weiſe in den Beſitz der Papiere des Franzoſen geſetzt hatte, dreiſt zu Troje⸗ kurow und ließ ſich in deſſen Hauſe nieder. Welcher й

Art auch feine geheimen Abſichten waren (wir werden

von ihnen weiterhin hören), in ſeinem Verhalten war nicht das geringſte Anſtößige zu gewahren. Zwar be⸗

faßte er ſich wenig mit der Erziehung des jungen | Saſcha, er ließ ihm volle Freiheit, dumme Streiche zu machen, und nahm es auch nicht zu genau mit den

Aufgaben, die er ihm mehr der Form halber auf- ;

alege, dafür aber verfolgte er mit um fo größerer |

Aufmerkſamkeit die muſikaliſchen Erfolge feiner Schü⸗

lerin und konnte oft ganze Stunden mit ihr am Klavier р

verbringen. Alle im Haufe liebten den jungen Lehrer. Kirila Petrowitſch liebte ihn, weil er ſo kühn und geſchickt auf der Jagd war, Marja Kirilowna liebte ihn, weil er grenzenlos eifrig war und ihr ſklaviſch N ergeben, Saſcha weil er ſich nachſichtig зи all feinen Schelmenſtreichen verhielt, und das Geſinde, weil er von einer Freigebigkeit war, die augenſchein⸗ lich nicht recht mit ſeinem Vermögen übereinſtimmte. Es machte allen den Eindruck, daß auch er der Familie ſehr zugetan ſei und ſich bereits als Mitglied derſelben betrachte.

Seit dem Tage ſeines Eintrittes in den Lehrerberuf bis zu jenem bemerkenswerten Feſt war etwa ein Mongat verſtrichen, und noch ahnte niemand, daß

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Dubrowsk ij

hinter dem beſcheidenen jungen Franzoſen der grau— ſame Räuber ſteckte, deſſen Namen allein ſchon ge— nügte, um alle Gutsbeſitzer im Umkreiſe zu erſchrecken. Dubrowskij weilte während dieſer ganzen Zeit beftän- dig in Pokrowskoje, trotzdem aber wollte, genährt von der erfinderiſchen Phantaſie der Dorfbewohner, das Gerücht über feine Räubertaten nicht verſtummen; es war freilich auch möglich, daß ſeine Bande trotz der Abweſenheit ihres Führers ihr Unweſen fortſetzte. Diesmal freilich, da er gezwungen war, mit einem Mann, den er für ſeinen perſönlichen Feind und einen der Hauptſchuldigen an all dem Jammer, der ihn betroffen, halten mußte, im gleichen Zimmer zu übernachten, konnte Dubrowskij der Verſuchung nicht länger widerſtehen. Das Vorhandenſein der Geldtaſche war ihm bekannt geworden und ſo be— ſchloß er, ihrer habhaft zu werden. Und wir ſahen ja bereits, in welchen Schrecken er den armen Anton Pafnutjitſch durch ſeine unerwartete Verwandlung aus dem Lehrer in den Räuber verſetzt hatte.

Zwölftes Kapitel

Am Morgen erſchienen die Gäſte, die in Pokrows— koje übernachtet hatten, gegen neun Uhr im Wohn: zimmer, in welchem ſchon der Sſamowar rauchte; Marja Kirilowna ſaß dort im Morgengewande und Kirila Petrowitſch trank bereits in Filzrock und Pan⸗ toffeln ſeinen Tee aus ſeiner geräumigen Taſſe, die

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Du bro wsk ij

an einen Spülnapf erinnerte. Anton Pafnutjitfch kam als letzter, er war ſo blaß und ſchien ſo ver— ſtimmt zu ſein, daß ſein Ausſehen alle geradezu über— raſchte, Kirila Petrowitſch erkundigte ſich ſogar nach ſeinem Befinden. Spizyn gab etwas zur Antwort, das gar keinen Sinn hatte, und blickte dabei entſetzt den Lehrer an, der dortſelbſt mit der unſchuldigſten

Miene der Welt ſaß. Wenige Minuten darauf trat $

ein Diener ein und teilte Spizyn mit, daß fein Wagen vorgefahren wäre. Anton Pafnutjitſch ſchien es eilig zu haben, Abſchied zu nehmen, denn haſtig verließ er trotz aller Vorhaltungen des Hausherrn das Gemach und fuhr ſpornſtreichs fort. Der Hausherr und die Gäſte konnten nicht faſſen, was mit ihm geſchehen ſei. Und darum entſchied Kirila Petrowitſch die Frage

dahin, daß jener ſich wohl überfreſſen habe! Nach

dem Tee und dem Abſchiedsfrühſtück fuhren auch die übrigen Gäſte fort und bald darauf lag Pokrowskoje wieder verödet da und alles nahm ſeinen gewöhnlichen Gang. Einige Tage verſtrichen, doch trug ſich nichts irgendwie Bemerkenswertes zu. Das Leben in Po: krowskoje war ziemlich einſam. Kirila Petrowitſch ritt täglich auf die Jagd, Marja Kirilowna dagegen Бе: ſchäftigte ſich mit Lektüre, Spaziergängen und ihren Muſikſtunden und mit dieſen letzteren freilich ganz beſonders. Sie lernte nach und nach ihr eigenes Herz verſtehen und geſtand ſich mit unwillkürlicher Erbitte— rung, daß es gegen die Vorzüge des jungen Franzoſen

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nicht mehr gleichgültig war. Er ſeinerſeits überſchritt freilich niemals die Grenzen des Reſpektes und des ſtrengſten Anſtandes und beruhigte hierdurch ihren Stolz und ihre angſterfüllten Zweifel ein wenig. Mit immer größerem Zutrauen gab ſie ſich dieſer anziehen— den Gewohnheit hin. Sie langweilte ſich ohne De: forges; und war er zugegen, ſo mußte ſie ſich jede Minute an ihn wenden, fie гид ihn nach feiner Mei⸗ nung über die verſchiedenſten Dinge und war immer mit feiner Anſicht einverftanden. Es iſt möglich, daß fie noch nicht verliebt war; aber der erſte Schickſals— ſchlag oder das erſte zufällige Hindernis hätten де: nügt, in ihrem Herzen die Flammen der N EEE auflodern zu laſſen.

Als ſie eines Tages den Salon betrat, in welchem der Lehrer auf ſie wartete, bemerkte Marja Kirilowna erſtaunt, daß eine gewiſſe Verwirrung auf ſeinem blaſſen Geſicht zu leſen war. Sie öffnete das Klavier und fang einige Noten; Dubrowskij entſchuldigte ſich jedoch plötzlich unter dem Vorwande, daß ihm der Kopf weh täte, unterbrach die Stunde und ſteckte ihr, während er die Noten ſchloß, heimlich ein Billett zu. Marja Kirilowna nahm es, ohne ſich recht zu über— legen, was ſie tat, in Empfang und bedauerte es nach einem Augenblick; allein Dubrowskij hatte bereits den Salon verlaſſen. Marja Kirilowna begab ſich in ihr Zimmer, erbrach das Billett und las folgende Zeilen:

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„Finden Sie fich heute um fieben Uhr in der Laube am Bach ein: ich muß unbedingt mit Ihnen ſprechen.“

Ihre Neugierde war aufs heftigſte erregt. Sie war längſt darauf vorbereitet, ſein Geſtändnis zu hören, und wünſchte es und fürchtete es doch gleichzeitig. Es wäre ihr angenehm geweſen, die Beſtätigung deſſen zu vernehmen, was ſie ſelber ſchon ahnte; und doch fühlte ſie, daß es für ſie nicht recht anginge, ein ſolches Geſtändnis von einem Menſchen zu hören, der, ſeiner Stellung nach, keineswegs die Hoffnung hegen durfte, jemals ihre Hand zu erlangen. Sie war entſchloſſen, zu der Zuſammenkunft zu gehen. Und nur in einem ſchwankte ſie noch: mit welcher Miene ſie wohl das Geſtändnis des Lehrers anhören ſollte: ob mit ariſtokratiſchem Unwillen, oder mit Freund⸗ ſchaftsbeteuerung, mit luſtigen Späßen, oder mit ſchweigſamer Teilnahme? Dennoch konnte ſie es nicht unterlaſſen, in der Zwiſchenzeit jeden Augenblick auf die Uhr zu ſchauen. Es dämmerte; die Bedienten brachten die Kerzen; Kirila Petrowitſch nahm am Kartentiſch Platz, um mit einigen Nachbarn, die zu Beſuch gekommen waren, Boſton zu ſpielen; die Saal⸗ uhr ſchlug dreiviertel auf ſieben, da ſchlich Marja Kirilowna leiſe zur Freitreppe, ſchaute ſich nach allen Seiten um und lief in den Garten.

Die Nacht war dunkel, Wolken bedeckten den Himmel, man konnte keine zwei Schritt weit ſehen; doch fand fi) Marja Kirilowna trotz der Finſternis

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auf den bekannten Wegen zurecht und ſtand ſchon nach einer Minute vor der Laube; ſie blieb dort ſtehen, um Atem zu ſchöpfen, damit ſie gleichgültig und ruhig vor Deforges treten könnte. Allein da rc Deforges bereits vor ihr.

„Ich danke Ihnen,“ ſprach er mit ſtiller und trau⸗ riger Stimme: „daß Sie meine Bitte nicht abgeſchlagen haben. Ich wäre in Verzweiflung geraten, wenn Sie nicht gekommen wären.“

Marja Kirilowna entgegnete mit einer ſchon vor: her zurecht gelegten Phraſe: „Ich hoffe, Sie werden mich nicht veranlaſſen, meine Herablaſſung zu bereuen.“

Er ſchwieg und es machte den Eindruck, als рег: ſuche er, ſich zu ſammeln. „Die Verhältniſſe verlangen

5... ich muß Sie verlaſſen,“ ſagte er ſchließlich: „es

kann ſein, daß Sie ſchon bald von mir hören werden

allein ich kann nicht anders, ich muß Ihnen vor der Trennung noch einiges ſagen.“

Marja Kirilowna entgegnete nichts. Sie ſah in ſeinen Worten nur eine Art Einleitung zu dem er— warteten Geſtändnis.

„Ich bin nicht der, den Sie in mir ſehen,“ fuhr er fort und ſenkte den Kopf: „ich bin nicht der Franzoſe Deforges ich bin Dubrowskij.“

Marja Kirilowna ſchrie leiſe auf.

„Um Gottes willen, fürchten Sie ſich nicht vor mir; Sie brauchen meinen Namen nicht zu fürchten. Ja, ich bin es, ich bin jener Unglückliche, den Ihr

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Vater, nachdem er ihm das letzte Stück Brot ge: nommen, aus dem väterlichen Hauſe als Räuber auf die Landſtraße jagte, aber Sie brauchen mich nicht zu fürchten, denn ich werde weder Ihnen noch ihm etwas antun. Es iſt alles aus ... ich habe ihm рег: ziehn; Sie haben ihn gerettet. Es war urſprünglich meine Abſicht, ihn zum Opfer meiner erſten Bluttat zu machen. Ich ſtrich um dieſes Haus herum und beſtimmte gerade, wo das Feuer angelegt werden und durch welchen Eingang man in ſein Schlafzimmer dringen ſollte, um ihm alle Möglichkeiten zur Flucht zu nehmen; in dem Augenblick aber ſchritten Sie wie eine himmliſche Erſcheinung an mir vorüber und mein Herz kam zur Ruhe. Ich begriff, daß ein Haus, das Sie bewohnen, geheiligt iſt und daß es nicht in meiner

Macht ſteht, irgendein Geſchöpf, das mit Ihnen durch

die Bande des Blutes verbunden ift, jemals zu ver: dammen. Ich verzichtete auf meine Rache, als wäre ſie nichts als Wahnſinn. Tagelang ſtreifte ich durch die Gärten von Pokrowskoje und hoffte immer, Ihr weißes Gewand von ferne zu gewahren. Wenn Sie Ihre unvorſichtigen Spaziergänge machten, folgte ich Ihnen, von Buſch zu Buſch ſchlüpfend, glückſelig im Gedanken, daß es dort, wo ich heimlich anweſend war, keinerlei Gefahr für Sie gäbe. Endlich winkte mir der erſehnte Zufall ... es gelang mir, in Ihr Haus zu kommen. Dieſe drei Wochen waren lauter Tage des Glückes für mich; es wird die höchſte Freude meines

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F ͤUépb ß)

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betrübten Lebens fein, mich ewig daran zu erinnern ... Heute erhielt ich eine Nachricht, die es mir unmöglich macht, länger hier zu bleiben. Ich muß von Ihnen noch heute ſcheiden, ja ſogar ſofort ... Allein zuvor mußte ich mich Ihnen enthüllen, damit Sie mich nicht verdammen, damit Sie mich nicht verachten. Denken Sie zuweilen an Dubrowskij zurück und denken Sie daran, daß mir eigentlich ein anderes Los beſchieden war, daß meine Seele wohl verſtanden hätte, Sie zu lieben, und daß niemals ...“

In dem Augenblick ertönte ein lautes Pfeifen und Dubrowskij verſtummte. Er ergriff ihre Hand und preßte ſie an ſeine heißen Lippen. Das Pfeifen wieder⸗ holte ſich. „Leben Sie wohl,“ ſagte Dubrowskij: „man ruft nach mir; ſchon der nächſte Augenblick kann mein Verderben bedeuten.“ Er entfernte ſich ein wenig ... Marja Kirilowna ſtand noch immer regungslos. Du— browskij kehrte zurück und ergriff aufs neue ihre Hand. „Sollte es irgendeinmal geſchehen, daß Sie ein Leid träfe und Sie niemand hätten, von dem Sie Schutz oder Hilfe erwarten könnten, verſprechen Sie mir, ſich dann an mich zu wenden und von mir all das zu рег: langen, was zu Ihrer Rettung notwendig iſt? Ver— ſprechen Sie mir, meine Ergebenheit nicht abzulehnen?“

Marja Kirilowna weinte ſtumm. Das Pfeifen ertönte zum dritten Male.

„Sie ſtürzen mich ins Verderben!“ rief Dubrows— kij: „Ich geh nicht von hier fort, bevor Sie mir

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die Antwort geben: wollen Sie mirs verſprechen, oder nicht?“

„Ich verſpreche!“ flüſterte das arme ſchöne Mädchen.

Noch erregt von der Zuſammenkunft mit Dubrows⸗ kij kehrte Marja Kirilowna aus dem Garten zurück. Schon von ferne ſchien ihr, daß viele Menſchen auf dem Hof waren, vor der Freitreppe hielt ein Dreigeſpann, Diener liefen hin und her, das ganze Haus war in Bewegung geraten; ſie hörte Kirila Petrowitſchs Stimme und eilte ins Haus, da ſie fürch⸗ tete, daß man am Ende ihre Abweſenheit bemerkt hätte. Kirila Petrowitſch eilte ihr entgegen; im Salon ſtand der Polizeileutnant, unſer Bekannter, umgeben von einer Schar von Gäſten, die ihn mit Fragen geradezu überſchütteten. Der Polizeileutnant war im Reiſeanzug und ſtarrte vom Fuß bis zum Kopf von Waffen, er antwortete auf alle Fragen mit einer ge: heimnisvollen und beſchäftigten Miene. „Wo ſteckteſt du nur, Maſcha?“ fragte Kirila Petrowitſch: „biſt du vielleicht Monſieur Deforges begegnet?! Maſcha hatte kaum die Kraft, die Frage verneinend zu Бе: antworten. „Stell dir nur vor,“ fuhr Kirila Petro⸗ witſch fort: „der Polizeileutnant iſt hier, um ihn zu verhaften, und beteuert, daß er der geſuchte Фи: browskij wäre.“ „Allen Anzeichen nach, Exzel⸗ lenz,“ meinte ehrfurchtsvoll der Polizeileutnant. „Ach, Brüderchen,“ unterbrach ihn Kirila Petrowitſch: „ſcher dich, du weißt ſchon wohin, mit deinen Anzeichen. Ich

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geb dir meinen Franzoſen nicht heraus, bevor ich die Sache nicht ſelber unterſucht habe. Wie kann man nur dem Anton Pafnutjitſch ſo aufs Wort glauben, er iſt nichts als ein Feigling und ein Bauer: er hat ſicher nur im Traum geſehen, daß der Lehrer ihn be⸗ rauben wollte. Warum hat er denn mir gegenüber nicht am gleichen Morgen ſchon ein Wörtchen darüber fallen laſſen ..“ „Der Franzoſe hat ihn ein: geſchüchtert, entgegnete der Polizeileutnant: „er hatte ihm ſogar einen Schwur abgenommen, zu ſchwei⸗ gen.“ „Nichts als Unſinn,“ meinte Kirila Petro— witſch: „das bring ich euch im Handumdrehen ins reine. Wo bleibt denn der Lehrer?“ fragte er einen eintretenden Diener. „Nirgends zu finden,“ entgeg— nete der Bediente. „Dann ſucht weiter!“ ſchrie Troje— kurow, dem nach und nach Zweifel aufſtiegen. „Zeig mir doch mal dein berühmtes Signalement her,“ ſagte er zum Polizeileutnant, der nicht verſäumte, ihm augenblicks die Papiere zu überreichen. „Hm! hm! dreiundzwanzig Jahre alt und dergleichen. Das ſtimmt ja, aber das beweiſt noch gar nichts. Was iſt denn mit dem Lehrer?“ „Nicht zu finden,“ wurde ihm wieder zur Antwort. Kirila Petrowitſch wurde unruhig; Marja Kirilowna war faſt wie von Sinnen. „Du biſt ſo blaß, Maſcha,“ bemerkte der Vater: „hat man dich ſehr erſchreckt?“ „Nein, Papa,“ ent: gegnete Maſcha: „mir tut nur der Kopf weh.“ „Geh lieber in dein Zimmer, Maſcha, und ſorge dich

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nicht weiter.“ Mafcha küßte feine Hand und eilte fo ſchnell ſie konnte in ihr Zimmer; dort warf ſie ſich aufs Bett und fiel in ein hyſteriſches Schluchzen. Die Zofen eilten herbei, kleideten ſie aus und vermochten nur mit Müh und Not ſie durch kaltes Waſſer und alle möglichen Einreibungen zu beruhigen; man brachte ſie darauf zu Bett und nach und nach ſchlummerte ſie ein.

Der Franzoſe wurde nicht gefunden. Kirila Petro- witſch ſchritt im Zimmer auf und ab und pfiff laut „Siegesdonner ſoll erſchallen“. Die Gäſte flüſterten; der Polizeileutnant ſchien genarrt worden zu ſein; der Franzoſe war nicht zu finden. Es war ihm рег: mutlich gelungen, zu fliehen, gewiß hatte ihn jemand gewarnt. Aber wer nur und wie? dies war allen ein Rätſel.

Die elfte Stunde ſchlug, und noch dachte keiner ans Schlafengehen. Kirila Petrowitſch fuhr ſchließlich den Polizeileutnant zornig an: „Nun, was denn noch? Willſt du vielleicht bis zum Morgen hier bleiben; mein Haus iſt keine Schenke. Mit deiner Gewandt⸗ heit, Brüderchen, fängt man keinen Dubrowskij, wenn es in der Tat Dubrowskij war. Zieh deines Weges und ſei in Zukunft flinker. Und auch für euch iſt es längſt Zeit, nach Hauſe zu fahren,“ fuhr er ſeine Gäſte an: „Befehlt anzuſpannen, ich will ſchlafen.“

Auf dieſe ungnädige Art und Weiſe trennte ſich Trojekurow von ſeinen Gäſten.

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Dreizehntes Kapitel

Einige Zeit verſtrich, ohne daß es zu irgendwelchen bemerkenswerten Vorfällen gekommen wäre. Doch als das folgende Jahr anbrach, kam es zu manchen Veränderungen in Kirila Petrowitſchs Familie.

Dreißig Werſt von der ſeinen entfernt befand ſich die reiche Beſitzung des Fürſten Werejskij. Der Fürſt hatte ſich lange Zeit hindurch im Auslande aufgehalten. Seine Beſitzung wurde von einem verabſchiedeten Major verwaltet und während der Zeit gab es keinerlei Verbindungen zwiſchen Pokrowskoje und Arbatowo. Allein gegen Ende Mai kehrte der Fürſt aus dem Aus: lande zurück und kam auf ſein Gut, das er noch nie geſehen hatte. Da er an ein abwechſlungsreiches Leben gewöhnt war, konnte er die Einſamkeit nicht vertragen und begab ſich daher bereits am dritten Tage nach ſeiner Ankunft zu Trojekurow, mit dem er vormals bekannt geweſen war.

Der Fürſt mochte etwa fünfzig Jahre alt ſein, ſah aber bedeutend älter aus. Vergnügungen mancherlei Art hatten ſeine Geſundheit untergraben und ihm ihren unauslöſchlichen Stempel aufgedrückt. Dennoch war ſein Außeres immer noch angenehm zu nennen und ſogar merkwürdig, und die Gewohnheit, immer in Geſellſchaft zu ſein, hatte bewirkt, daß er zumal mit Frauen beſonders liebenswürdig war. Er hatte

einen unſtillbaren Drang nach Zerſtreuung und lang-

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weilte ſich beſtändig. Kirila Petrowitſch empfand eine außerordentliche Genugtuung über ſeinen Beſuch, denn er erblickte darin ein Zeichen des Reſpektes von einem Menſchen, der die Welt mehr als genügend kannte. Er führte ihn nach ſeiner Gewohnheit überall herum

und brachte ihn ſchließlich auch zum Hundezwinger. Allein der Fürſt wäre faſt in der Hundeatmoſphäre erſtickt und beeilte ſich, ein mit Wohlgerüchen be⸗ ſprengtes Tuch vor die Naſe haltend, ins Freie zu Я kommen. Der altertümliche Garten mit feinen ge- ſtutzten Linden, dem viereckigen Teich und den regel⸗

mäßigen Alleen gefiel ihm ebenfalls nicht; engliſche

Parke konnte er nicht ausſtehen und ebenſowenig die |

ſogenannte Natur, er lobte aber trotzdem alles und

ſchien entzückt zu ſein. Ein Bedienter erſchien mit 1

der Meldung, daß das Eſſen ſerviert ſei. Sie begaben ſich zu Tiſch. Der Fürſt lahmte ein wenig, ermüdet von dem Spaziergang, und war ſchon drauf und dran, ſeinen Beſuch zu bereuen.

Allein da ſah er Marja Kirilowna im Salon und wie überraſcht war der alte Frauenjäger von р ihrer Schönheit! Trojekurow ließ den Gaft ап ihrer Seite Platz nehmen. Ihre Gegenwart brachte neues Leben in den Fürſten, er wurde aufgeräumt und es gelang ihm mehrere Male, mit feinen ſpaßhaften Erzählungen ihre Aufmerkſamkeit anzuziehen. Nach dem Mittageſſen machte Kirila Petrowitſch den Vor⸗ |

ſchlag, ет wenig zu reiten, aber der Fürſt entſchul⸗

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digte ſich, indem er auf feine Sammetſtiefel wies und über fein Podagra ſcherzte. Er machte den Gegen: vorſchlag, eine Spazierfahrt zu unternehmen, denn es war ſein Wunſch, ſich nicht von ſeiner liebens⸗ würdigen Nachbarin trennen zu müſſen. Der Wagen wurde angeſpannt. Die alten Herren und das ſchöne Mädchen nahmen Platz und fuhren. Die Unterhal⸗ tung brach nicht ab. Marja Kirilowna lauſchte mit Vergnügen den ſchmeichelhaften und luſtigen Dingen, die der Weltmann vorzubringen hatte, plötzlich aber fragte Werejskij, zu Kirila Petrowitſch gewandt, was wohl jenes abgebrannte Gebäude zu bedeuten hätte und ob es ihm gehöre? Kirila Petrowitſchs Geſicht wurde finſter: die Erinnerung, die der abgebrannte Gutshof in ihm hervorrief, war ihm unangenehm. Er entgegnete nichts als dies, daß jener Landſtreifen jetzt ihm gehöre, vormals aber im Beſitz von Dubrowskij geweſen ſei. „Dubrowskij?“ wiederholte Werejskij: „Wie, jener berühmte Räuber?“ „Sein Vater,“ entgegnete Trojekurow: „doch auch ſein Vater war mir ein gehöriger Räuber.“

„Wo ſteckt denn jetzt unſer Rinaldo? Hat man ihn erwiſcht, und iſt er überhaupt noch am Leben?“

„Er lebt und iſt frei. Solange unſere Polizei aus nichts als Böſewichten und Dieben beſteht, wird er nicht ergriffen werden. Wie iſt es übrigens, Fürſt! War nicht Dubrowskij auch bei dir in Arbatowo?“

„Ja, mir ſcheint, daß er im vorigen Jahr dort

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irgendetwas angezündet oder geplündert hat. Nicht |

wahr, Marja Kirilowna, es müßte doch ficher inter-

eſſant ſein, mit dieſem romantiſchen Helden näher I bekannt zu werden?“

„Was da, intereſſant!“ bemerkte Trojekurow: „Sie

kannte ihn nur zu gut. Ganze drei Wochen hindurch

erteilte er ihr Muſikunterricht, doch hat er, Gott ſei Dank, für ſeine Stunden nichts erhalten.“ Und nun begann Kirila Petrowitſch die Geſchichte von dem vermeintlichen franzöſiſchen Lehrer zu erzählen, Marja Kirilowna ſaß derweilen wie auf Nadeln. We⸗ rejskij hörte mit tiefer Aufmerkſamkeit zu, er fand das Ganze ſehr ſonderbar und fing ein neues Ge⸗ ſpräch an. Als fie zurückkehrten, befahl er, ſeinen Wagen anzuſpannen, und fuhr, trotzdem Kirila Petro⸗ witſch ihn aufs inſtändigſte darum erſuchte, bei ihm zu übernachten, ſogleich nach dem Tee fort; vorher

jedoch bat er Kirila Petrowitſch, ihn doch mit Marja Kirilowna zu beſuchen, und der hochmütige Troje⸗ kurow verſprach es ihm; denn da jener den Fürſten⸗ titel hatte, zwei Sterne und auf ſeinem Erbgut drei⸗ tauſend Seelen, hielt er den Fürſten Werejskij in ge⸗ wiſſem Sinne für ebenbürtig. f

Vierzehntes Kapitel

Zwei Tage nach dieſem Beſuch begab ſich Kirila N N Petrowitſch mit feiner Tochter zum Fürſten Werejskij. Als ſie ſich Arbatowo näherten, konnte er ſich an den

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reinlichen und luftigen Bauernhäuſern nicht ſatt ſehen und ebenſo an dem ſteinernen Herrenhauſe, das in der Art der engliſchen Schlöſſer gebaut war. Vor dem Hauſe breitete ſich eine tiefgrüne Wieſe, auf der Schweizer Kühe weideten und mit ihren Glöckchen luſtig klingelten. Das Haus war von allen Seiten von einem geräumigen Park umgeben. Der Haus⸗ herr begrüßte die Gäſte auf der Freitreppe und reichte der jungen Schönen ſeinen Arm. Sie traten in einen prunkvollen Saal, in welchem der Tiſch für drei Per: ſonen gedeckt war. Der Fürſt führte die Gäſte zum Fenſter, von wo ſich ihnen ein prächtiger Blick dar— bot. Die Wolga ſtrömte vor den Fenſtern; ſchwer— beladene Barken glitten ſegelgeſchwellt auf der Flut und hier und dort kreuzten die Boote der Fiſcher, die ſo eindrucksvoll Seelenverkäufer genannt worden ſind. Auf der anderen Seite des Fluſſes zogen ſich Hügel und Felder hin; einige Dörfer belebten die Gegend. Man ſchickte ſich darauf an, die Bildergalerie zu be— trachten, die der Fürſt im Auslande zuſammengebracht hatte. Der Fürſt erklärte Marja Kirilowna die Vor— züge der Bilder, ſchilderte ihren Inhalt und erzählte die Geſchichte ihrer Maler; er wies auf die Fehler und auf die Schönheiten hin. Und er ſprach von ſeinen Bildern nicht etwa in der bedingten Sprache des pädagogifchen Kenners, ſondern mit Gefühl und mit Phantaſie. Marja Kirilowna hörte ihm nur zu gerne zu. Man ging zu Tiſch. Trojekurow ließ den

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Weinen und der Kunſt des Koches Amphytrion volle Genugtuung widerfahren, Marja Kirilowna dagegen empfand in der Unterhaltung mit einem Menſchen, den ſie ſoeben zum zweiten Male in ihrem Leben ſah, nicht die geringſte Verwirrung noch Gezwungenheit. Nach dem Eſſen ſchlug der Hausherr feinen Gäſten vor, in den Garten zu gehen. Den Kaffee nahmen fie in der Laube am Ufer eines breiten Sees, in dem viele kleine Inſeln lagen. Plötzlich erſchallte Horn: muſik, ein Boot mit ſechs Rudern legte neben der Laube an. Sie fuhren über den See, umkreiſten die Inſeln und betraten einige ſogar; auf einer fanden ſie eine Marmorſtatue, auf der anderen eine einſame Höhle und auf der dritten ein Denkmal mit einer rätſelhaften Inſchrift, die natürlich Marja Kirilownas mädchenhafte Neugierde erweckte, allein es gelang ihr nicht, dem Fürſten hierüber mehr als einige höfliche nichtsſagende Phraſen zu entlocken. Die Zeit verging unmerklich. Es begann zu dämmern. Der Fürſt be⸗ eilte ſich unter dem Vorwande, daß es kühl würde, nach Haufe zurückzukehren; der Sſamowar brodelte ſchon, als ſie das Haus betraten. Der Fürſt bat Marja Kirilowna, in ſeinem Junggeſellenheim die Hausfrauen⸗ rolle ſpielen zu wollen. Sie ſchenkte den Tee ein und lauſchte dabei den unerſchöpflichen Erzählungen des liebenswürdigen Schwätzers. Plötzlich gab es einen Knall eine Rakete erhellte den Himmel ... Der Fürſt hüllte Marja Kirilowna in den Shawl und bat

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fie und Trojekurow, ihm auf die Teraſſe zu folgen. In der Dunkelheit, die ſich vor dem Hauſe breitete, glühten vielfarbige Feuer auf, drehten ſich, erhoben ſich als Strahlenbündel, fluteten wie Fontänen, ſtürzten als Sternenregen nieder, erloſchen und glühten aufs neue auf. Marja Kirilowna freute ſich wie ein Kind. Ihre Entzückung heiterte den Fürſten Werejskij auf und auch Trojekurow war außerordentlich zufrieden, denn er betrachtete tous les frais des Fürſten als Zeichen des Reſpektes und als Wunſch, ihm zu gefallen. Das Abendeſſen ſtand dem Mittageſſen hinſichtlich der Güte in nichts nach. Die Säfte begaben ſich ſchließ⸗ lich auf die Zimmer, die man für ſie hergerichtet hatte, und trennten ſich von ihrem liebenswürdigen Wirt erſt am Morgen des anderen Tages, indem man einander das Verſprechen gab, ſich ſobald als möglich wieder zu ſehen.

Fünfzehntes Kapitel

Marja Kirilowna ſaß in ihrem Zimmer am offenen Fenſter vor dem Stickrahmen. Sie irrte ſich nicht in der Farbe der Seide, wie jene Geliebte Konrads, die in ihrer verliebten Zerſtreutheit einſt eine Roſe aus grüner Seide geſtickt hatte. Fehlerlos wiederholte ihre Nadel auf dem Canevas die Linien der Vorlage; trotzdem aber waren ihre Gedanken nicht bei der Arbeit, ſie flatterten ins Weite.

Plötzlich ſchob ſich eine Hand ſtill durchs Fenſter, jemand legte einen Brief auf den Stickrahmen und

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verſchwand, noch ehe es e Kirilowna recht zum Bewußtſein gekommen war. Im ſelben Augenblick trat ein Bedienter ein und rief fie zu Kirila Petro⸗ witſch. Nicht ohne ein gewiſſes Zittern verbarg ſie den Brief an ihrer Bruſt und eilte zum Vater.

Kirila Petrowitſch war nicht allein. Der Fürſt We⸗ rejskij befand ſich bei ihm. Bei Marja Kirilownas Eintritt erhob ſich der Fürſt und verneigte ſich ſtumm mit einer Verwirrung, die bei ihm ungewöhnlich war. „Komm näher, Maſcha,“ {ад Kirila Petrowitſch: „Ich habe dir eine Neuigkeit mitzuteilen, die dich, wie ich hoffe, erfreuen wird. Hier iſt ein Bräutigam für dich; der Fürſt freit um deine Hand.“

Maſcha erſtarrte; Todesbläſſe bedeckte ihr Antlitz. Sie ſchwieg. Der би näherte ſich ihr, ergriff ihre Hand und fragte mit gerührter Miene, ob ſie damit einverſtanden wäre, das Glück ſeines Lebens zu ſein? Maſcha ſchwieg.

„Natürlich iſt fie einverſtanden,“ ſagte Kirila Petro— witſch: „Aber weißt du, Fürſt, es fällt den Mädchen ſchwer, dieſes Wort auszuſprechen. Nun, Kinder, dann gebt euch alſo einen Kuß und werdet glücklich.“

Maſcha verharrte in ihrer regungsloſen Stellung, der alte Fürſt küßte ihre Hand; aber mit einem Male war ihr blaſſes Geſicht ganz von Tränen überſtrömt. Der Fürſt runzelte ein wenig die Augenbrauen.

„Geh! geh! geh!“ ſagte Kirila Petrowitſch. „Trockne erſt deine Tränen und kehr luſtig zu uns zurück. Sie

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weinen immer, wenn ſie ſich verloben,“ fuhr er zu Werejskij gewendet fort: „das iſt nun einmal ſo her⸗ gebracht bei ihnen. Und jetzt, Fürſt, laß uns vom Geſchãft ſprechen, das heißt von der Mitgift.“

Marja Kirilowna machte ſich die Erlaubnis, das Zimmer zu verlaſſen, ſogleich zunutze. Sie eilte in ihr Gemach, ſchloß ſich dort ein und gab ihren Tränen freien Lauf, denn ſie ſah ſich bereits als Gattin des alten Fürſten; und wie widerlich war er ihr auf ein⸗ mal geworden, wie verächtlich... Die Ehe mit ihm ſchreckte ſie, wie der Gang zur Richtſtätte, wie das Grab! ... „Nein! Nein!“ wiederholte fie verzweifelt: „lieber ins Kloſter, lieber will ich Dubrowskij hei⸗ raten .. Allein da erinnerte fie ſich plötzlich an den Brief und ſchickte ſich haſtig an, ihn zu leſen, denn eine Ahnung ſagte ihr, daß er nur von ihm ſein konnte. So war es auch in der Tat, der Brief war von ihm geſchrieben und beſtand aus folgenden Worten:

„Abends, um zehn Uhr, an der alten Stelle.“

Der Mond ſchien; die ländliche Nacht war ſtill; nur ſelten wehte ein ſanfter Wind, dann lief ein leiſes Rauſchen durch den ganzen Garten.

Unſere junge Schöne näherte ſich wie ein leichter Schatten dem Ort der Zuſammenkunft. Noch war niemand dort zu ſehen, aber plötzlich trat Dubrowskij hinter der Laube hervor. „Ich weiß alles,“ ſagte er mit ſtiller und trauriger Stimme: „gedenken Sie Ihres Ver ſprechens!⸗

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„Sie bieten mir Ihren Schutz an?“ entgegnete Maſcha: „Aber zürnen Sie mir nicht: Ihre Hilfe er⸗ ſchreckt mich. Auf welche Weiſe wollen Sie mir helfen?“

„Ich könnte Sie von dem verhaßten Menſchen be⸗ freien.“

„Um Gottes willen, rühren Sie ihn nicht an. Wagen Sie es nicht, ihm etwas zu tun, wenn Sie mich wirklich lieben: ich will keine Schuld an irgend⸗ einem Unglück tragen ...“

„Gut, ich werde ihm nichts tun, Ihr Wunſch iſt mir heilig. Er verdankt Ihnen ſein Leben. Nie⸗ mals darf eine Miſſetat in Ihrem Namen vollzogen werden. Sie müſſen rein bleiben, ſogar in meinen Verbrechen. Doch auf welche Weiſe könnte ich Sie vor Ihrem grauſamen Vater retten?“

„Es gibt noch eine Hoffnung: ich glaube noch immer daran, daß es mir gelingen wird, ihn mit meinen Tränen und meiner Verzweiflung zu rühren. Er iſt eigenwillig, aber er liebt mich ja.“

„Hoffen Sie nicht umſonſt: dieſe Tränen werden ihm nur wie gewöhnliche Zaghaftigkeit vorkommen und wie der Abſcheu, der allen jungen Mädchen eigen iſt, die nicht aus Liebe heiraten, ſondern aus Erwä⸗ gungen des Verſtandes; wie aber, wenn er ſich feſt vorgenommen hätte, Ihr Glück gegen Ihren eigenen Willen zu machen? Wie, wenn er Sie gewaltſam zum Altare ziehen wollte, um Ihr Schickſal auf ewig mit dem des ſiechen Gemahles zu verbinden? ...“

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„Dann, dann bleibt mir nichts anderes mehr А kommen Sie dann dann will ich Ihre Gattin werden.“

Dubrowskij erbebte; purpurne Röte überſtrömte ſein blaſſes Antlitz, jedoch ſchon nach einem Augenblick war es noch blaſſer als vorhin. Lange ſchwieg er, den Kopf geſenkt.

„Faſſen Sie alle Ihre Kraft zuſammen, flehen Sie Ihren Vater an und werfen Sie ſich ihm zu Füßen; ſtellen Sie ihm das ganze Grauen Ihrer Zukunft vor und Ihre Jugend, die neben einem ſiechen und laſter⸗ haften Greiſe verwelken muß; ſagen Sie ihm, daß Reichtum Ihnen nicht eine glückliche Minute ver— ſchaffen kann; Pracht ſei nur für Bettler ein kurzer Troſt und auch für dieſe nur auf einen Augenblick; laſſen Sie nicht ab von ihm, fürchten Sie weder ſeinen Zorn noch ſeine Drohung, ſolange noch ein Schatten von Hoffnung vorhanden iſt; ich beſchwöre Sie in Gottes Namen, nicht müde zu werden. Wenn aber kein anderes Mittel mehr vorhanden ſein ſollte dann entſchließen Sie ſich, ihm eine grauſame Eröff: nung zu machen: ſagen Sie ihm, daß, wenn er un⸗ erbittlich fein ſollte, daß Sie... daß Sie dann einen ſchrecklichen Schützer finden würden ...“

Dubrowskij verbarg ſein Geſicht in den Händen; es war, als fehle ihm der Atem. Maſcha пение...

„Oh, mein armes, mein erbärmliches Los!“ ſagte er bitter ſeufzend. „Ich hätte für Sie gerne mein

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Leben hingegeben; Sie von ferne erblicken zu dürfen, Ihre Hand berühren zu können, wäre der höchſte Rauſch für mich geweſen; jetzt aber, da ſich mir die Möglichkeit bietet, Sie an mein bewegtes Herz zu drücken und Ihnen zu ſagen: dein auf ewig, jetzt muß ich Armer ſelber der Seligkeit entſagen und muß Sie aus ganzer Kraft von mir ſtoßen! Ich darf nicht wagen, vor Ihren Füßen niederzuſtürzen und dem Himmel für dieſe unverſtändliche und unverdiente Gnade zu danken. Oh! wie müßte ich jenen haſſen, der . .. aber ich weiß ja, daß jetzt in meinem Herzen kein Platz mehr für Haß iſt!“

Sanft umfing er ihren ſchlanken Leib und ſanft zog er ſie an ſein Herz. Zutraulich legte ſie ihr Köpfchen auf die Schulter des jungen Räubers beide ſchwiegen ...

Die Zeit flog. „Es iſt Zeit“, ſprach endlich Maſcha. Dubrowskij erwachte wie aus einem tiefen Schlummer. Er ergriff ihre Hand und ſtreifte einen Ring an ihren Finger. „Wenn Sie den Entſchluß faſſen ſollten, meine Hilfe anzurufen,“ ſagte er: „dann tragen Sie dieſen Ring hierher, legen Sie ihn in die Höhlung dieſer Eiche; ich werde dann wiſſen, was ich zu tun habe.“

Dubrowskij küßte ihre Hand und verſchwand zwiſchen den Bäumen.

Sechzehntes Kapitel

Die Verlobung des Fürſten Werejskij blieb den Nachbarn nicht lange verborgen. Kirila Petrowitſch

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ließ es ſich ſogar gefallen, Glückwünſche entgegen— zunehmen, und ſchon wurden die Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen. Tag für Tag verſchob Maſcha die entſcheidende Auseinanderſetzung. Ihr Verhalten gegen den alten Bräutigam war kalt und gezwungen. Allein das rührte den Fürſten wenig: er kümmerte ſich nicht viel um ihre Liebe, ihr ſchweigendes Ein- verſtändnis war ihm genug.

Die Zeit eilte. Maſcha entſchloß ſich endlich zu handeln und ſchrieb dem Fürſten Werejskij einen Brief. Sie gab ſich darin Mühe, das Gefühl des Großmuts in ſeinem Herzen zu erwecken; ſie geſtand ihm freimütig, daß ſie nicht die geringſte Neigung zu ihm verſpüre; ſie flehte ihn an, auf ihre Hand zu ver⸗ zichten, und bat ihn ſogar, ihr zu helfen, wenn der Vater fie zwingen wollte. Heimlich übergab fie We- rejskij dieſen Brief. Er las ihn für ſich, doch bewegte ihn die Offenheit ſeiner Verlobten nicht im mindeſten. Im Gegenteil, er ſah jetzt die Notwendigkeit auf: ſteigen, die Hochzeit zu beſchleunigen, und hielt es daher für angebracht, den Brief ſeinem zukünftigen Schwiegervater zu zeigen.

Kirila Petrowitſch geriet ganz aus dem Häuschen; nur mit Mühe und Not gelang es dem Fürſten, ihn zu überreden, es Maſcha nicht merken zu laſſen, daß der Brief ihm bekannt ſei. Kirila Petrowitſch ging darauf ein, ihr nichts davon zu ſagen, beſchloß aber, keine Zeit mehr zu verlieren, und ſetzte daher die Hoch—

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zeit für den nächſten Tag feſt. Der Fürſt fand das ſehr verſtändlich und ging zu ſeiner Braut, um ihr zu ſagen, daß ihr Brief ihn ſehr betrübt hätte, aber daß er dennoch hoffe, ihre Neigung mit der Zeit zu erringen; daß der Gedanke, ihr zu entſagen, für ihn zu ſchwer ſei und daß er nicht die Kraft habe, ſein eigenes Todesurteil zu unterzeichnen. Hierauf küßte er ihr ehrfurchtsvoll die Hand und fuhr fort, ohne ihr ein Wort von Kirila Petrowitſchs Entſchluß ge⸗ ſagt zu haben.

Kaum hatte ſein Wagen den Gutshof verlaſſen, da trat der Vater in ihr Gemach und befahl ihr kurz und bündig, ſich für den morgigen Tag bereit zu halten. Noch erregt von den Mitteilungen des Fürſten Werejskij, brach Marja Kirilowna in Tränen aus und warf ſich dem Vater zu Füßen. „Papachen!“ rief ſie mit kläglicher Stimme: „Papachen! ſtoßen Sie mich nicht ins Verderben; ich liebe den Fürſten nicht und will um nichts in der Welt ſeine Gemahlin werden.“

„Was ſoll das heißen?“ ſagte drohend Kirila Petro⸗ witſch: „Bis jetzt haſt du geſchwiegen und warſt mit allem einverſtanden, nun aber, da alles entſchieden iſt, kommt es dir in den Kopf, Launen zu zeigen und auf einmal nicht mehr zu wollen. Keine Torheiten, bitte; auf dieſe Weiſe kannſt du nichts bei mir gewinnen.“

„Stoßen Sie mich nicht ins Verderben!“ wieder⸗ holte die arme Maſcha: „Warum ſtoßen Sie mich

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von ſich fort und wollen mich einem ungeliebten Mann geben? Bin ich Ihnen wirklich ſo zuwider geworden? Ich will ja nichts, als bei Ihnen bleiben, Papachen! Sie werden es traurig ohne mich haben; und noch trauriger, weil Sie wiſſen werden, daß ich unglücklich bin. Papachen, zwingen Sie mich nicht: ich will ja noch gar nicht heiraten.“

Zwar war Kirila Petrowitſch gerührt, allein er verbarg ſeine Verwirrung und ſtieß die Tochter fort, indem er rauh hinzufügte: |

„Nichts als Unſinn, hörſt du? Ich weiß beſſer als du, was du zu deinem Glücke brauchſt. Deine Tränen werden dir nicht helfen; übermorgen iſt die Hochzeit!“ |

„Übermorgen!“ ſchrie Maſcha: „Mein Gott! Nein, nein, unmöglich, das darf nicht geſchehen! Hören Sie, Papa: wenn Sie ſchon entſchloſſen ſind, mich elend zu machen, dann werde ich einen Beſchützer finden, an den Sie bisher nicht gedacht haben; Sie werden ſehen und ſich entſetzen, wohin Sie mich gebracht haben.“

„Was? was?“ ſagte Trojekurow: „Drohungen! mir Drohungen! Freche Dirne! Ja, weißt du denn auch, daß ich mit dir machen kann, was du nicht für möglich hältſt? Du wagſt es, mir zu drohen, du Ци: ſinnige! Laß mal hören, wer dich beſchützen wird.“

„Wladimir Dubrowskij!“ rief Maſcha verzweifelt.

Kirila Petrowitſch dachte nicht anders, als daß ſie

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von Sinnen fei, er blickte fie erſtaunt an. „Schon gut!“ meinte er darauf nach einem kleinen Schweigen! „Wart du nur auf welchen Beſchützer du immer willſt, inzwiſchen aber wirſt du in dieſem Zimmer bleiben und wirſt es bis zur Hochzeit nicht mehr verlaſſen.“ Mit dieſen Worten verließ Kirila Petrowitſch das Gemach und riegelte die Türe hinter ſich zu.

Lange weinte das arme Mädchen, denn ihr war klar geworden, was ſie erwartete; die ſtürmiſche Aus⸗ einanderſetzung hatte ihr ein wenig das Herz erleich— tert, und ſie vermochte jetzt ruhiger an ihr Los und an das, was ihr bevorſtand, zu denken. Das Wichtigſte für ſie war, die verhaßte Heirat unmöglich zu machen; Gattin eines Räubers zu werden ſchien ihr ет Фа: radies im Vergleich zu dem Loſe, das man ihr Бе: ſtimmt hatte. Sie betrachtete den Ring, den Du⸗ browskij ihr gegeben hatte. Flammend ſtieg der Wunſch in ihr auf, ihn heimlich wiederzuſehen und noch einmal vor der entſcheidenden Minute mit ihm lange zu beraten. Eine Vorahnung flüſterte ihr zu, daß ſie Dubrowskij abends im Garten bei der Laube ſehen würde; ſie entſchloß ſich, ihn dort zu erwarten. Als die Dämmerung hereinbrach, traf Maſcha ihre Vorbereitungen; allein die Türe war feſt verſperrt; die Zofe rief ihr hinter der Türe zu, daß Kirila Petro witſch befohlen hätte, ſie nicht herauszulaſſen. Sie war gefangen. Tief verletzt nahm ſie vor dem Fenſter Platz und ſaß ſo bis in die tiefe Nacht hinein, ohne

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ſich auszukleiden, unbeweglich blickte ſie den dunklen Himmel an. Als es Morgen wurde, nickte ſie ein; aber ihr leiſer Schlaf war voll von traurigen Traum—⸗ geſichten und bereits die erſten Strahlen der auf— gehenden Sonne weckten ſie vollends auf.

Siebzehntes Kapitel

Sie erwachte, allein ſchon ihr erſter Gedanke galt dem ganzen Grauen ihrer Lage. Sie läutete, die Zofe trat ein und antwortete ihr auf ihre Frage, daß Kirila Petrowitſch noch geſtern abend nach Arbatowo ge— fahren und ſpät zurückgekommen ſeiz daß er den ſtrengen Befehl erteilt habe, ſie nicht aus ihrem Zimmer zu laſſen und darauf acht zu geben, daß niemand mit ihr ſpreche; und endlich, daß freilich noch keinerlei Zurüſtungen zur Hochzeit getroffen worden ſeien, außer dieſer einen, daß dem Prieſter befohlen wurde, unter gar keinen Umſtänden den Ort zu verlaſſen. Nachdem ſie dieſes berichtet hatte, verließ die Zofe Marja Kirilownas Zimmer und riegelte die Türe hinter ſich zu.

Ihre Worte erbitterten die junge Gefangene. Ihr Kopf kochte, ihr Blut erhitzte ſich; ſie war jetzt feſt entſchloſſen, Dubrowskij Nachricht zukommen zu laſſen und ſuchte nur noch nach einem Mittel, den Ring in die Höhlung der bekannten Eiche zu verſenken. In dieſem Augenblick ſchlug ein kleiner Stein gegen ihr Fenſter, das Glas klirrte und Marja Kirilowna blickte

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hinaus: auf dem Hof gewahrte fie den kleinen Saſcha, der ihr zuwinkte. Sie wußte, wie zugetan er ihr war, und freute ſich. „Guten Morgen, Saſcha; warum rufſt du mich?“ „Schweſterchen, ich kam,

um zu erfahren, ob Sie mich nicht vielleicht brauchen.

Papachen iſt böſe und hat allen Bedienten verboten, Ihnen zu gehorchen; mir aber können Sie befehlen, was Sie wollen, ich werde alles für Sie tun.“

„Ich danke dir, mein lieber Saſcha. Hör mal,

kennſt du die alte Eiche, die neben der Laube ſteht?

„Freilich, Schweſterchen.“

„Wenn du mich liebſt, lauf ſchnell dorthin und leg р diefen Ring in die Höhlung; und ſieh zu, daß niemand

dich dabei ertappt!“

Mit dieſen Worten warf ſie ihm den Ring zu und v

Schloß das Fenſter.

Der Knabe hob den Ring auf und lief ſo ſchnell |

ег konnte fort, fo daß er ſchon nach drei Minuten vor dem Baum war. Dort blieb er atemlos ſtehen,

ſchaute ſich um und legte darauf den Ring in die | Höhlung. Nachdem er dieſes Werk glücklich voll⸗

bracht, war es eigentlich feine Abſicht, Marja Kiri⸗ lowna augenblicks davon zu benachrichtigen; aber plötzlich tauchte ein rothaariger und abgeriſſener Burſche hinter der Laube auf, ſprang auf die Eiche

zu und ſteckte die Hand in die Höhlung. Schneller

als ein Eichkätzchen ſtürzte ſich Saſcha auf ihn und klammerte ſich mit beiden Armen feſt.

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Dh

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Dubromstij

„Was fuft du hier?“ fragte er ihn drohend.

„Was geht dich das an?“ entgegnete der Bub und bemühte ſich, von ihm loszukommen.

„Laß den Ring liegen, Roter,“ ſchrie Saſcha: „oder ich will es dir zeigen.“

Aber zur Antwort ſchlug jener ihn mit der Fauſt ins Geſicht; Saſcha ließ ihn trotzdem nicht los und ſchrie ſo laut er konnte: „Diebe! Diebe! hierher! hierher!“

Der Bub tat, was er konnte, um frei zu kommen. Er war etwa zwei Jahre älter als Saſcha und mithin ſtärker; allein Saſcha war gewandter. So kämpften ſie einige Minuten; endlich bekam der rote Bub die Oberhand. Er warf Saſcha auf die Erde und packte ihn an der Gurgel. Aber im ſelben Augenblick griff eine ſtarke Fauſt in ſeine roten und borſtigen Haare und der Gärtner Stepan hob ihn in die Höhe.

„Ach, du rote Beſtie,“ ſagte der Gärtner: „wie unterſtehſt du dich, den jungen Herrn zu hauen?“

Saſcha ſprang auf und ordnete ſeine Kleidung.

„Du haſt mich mit einem falſchen Griff gepackt,“ rief er: „ſonſt hätteſt du mich nie unterbekommen. Gib jetzt den Ring her, und mach, daß du fortkommſt.“

„Was du nicht ſagſt,“ entgegnete der Rote, drehte ſich geſchwind um und befreite ſeine Borſten aus den Händen Stepans.

Er lief ſchnurſtracks davon, aber Saſcha kam ihm zuvor, ſtieß ihn in den Rücken und der Bub fiel im

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Dubromsfij

vollen Lauf hin, und wieder packte ihn der Gärtner, doch feſſelte er ihn dieſes Mal mit einem Gurt.

„Den Ring her!“ ſchrie Saſcha.

„Halt, junger Herr,“ meinte Stepan: „wir wollen ihn zum Verwalter bringen, der wird mit ihm ſchon fertig werden.“

Der Gärtner führte den Gefangenen auf den Guts = hof und Saſcha ging mit, beſorgt betrachtete er ſeine zerriſſenen und vom Graſe beſchmutzten Hoſen. Plötz⸗ lich ſtanden die drei vor Kirila Petrowitſch, der gerade dabei war, die Pferde zu beſichtigen. |

„Was foll das?“ fragte er Stepan.

Mit wenigen Worten berichtete ihm Stepan über den Vorfall.

Aufmerkſam hörte ihn Kirila Petrowitſch an.

„Du Leichtfuß,“ ſagte er, indem er ſich zu Saſcha wendete, „aus welchem Grunde haſt du mit ihm ge— rauft?“

„Er hat doch den Ring aus der Eiche geſtohlen, За: pachen; befehlen Sie ihm, den Ring herauszugeben.“

„Was für einen Ring? Und aus was für einer

Eiche?“ | „Den mir Marja Kirilowna ... ja, den Ring doch...“

Saſcha geriet in Verlegenheit und ſtockte verwirrt. Kirila Petrowitſchs Geſicht verfinſterte ſich, er ſagte kopfſchüttelnd: |

„Marja Kirilowna ſteckt alfo hinter dieſer Sache.

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Dubrowsk ij

Geſteh mir alles, oder du ſollſt die Rute zu ſchmecken bekommen, daß du nicht mehr wiſſen wirſt, wer du БИ!“ Kurz

„Aber bei Gott, Papachen ... ich, Papachen . Marja Kirilowna hat mir nichts aufgetragen, Pa— pachen.“ |

„Stepan! geh und ſchneid mir hübſche friſche Birkenruten.“

„Halt, Papachen, ich will Ihnen alles erzählen. Ich lief heute über den Hof, da öffnete mein Schwe— ſterchen Marja Kirilowna ihr Fenſter und ich lief herbei und das Schweſterchen ließ ganz ohne Abſicht den Ring fallen und ich verſteckte ihn in der Eiche und ... und... dieſer rote Bub da wollte den Ring

ſtehlen.“

. „Ließ ihn ohne Abſicht fallen, und du wollteſt ihn verſtecken ... Stepan! hol die Ruten.“

„Papachen, warten Sie doch, ich will alles er: zählen. Schweſterchen Marja Kirilowna befahl mir, zur Eiche zu laufen und den Ring in die Höhlung zu ſtecken; ſo lief ich denn hin und verſteckte den Ring, aber dieſer ſchlimme Bub da ...“

Kirila Petrowitſch wendete ſich nunmehr dem ſchlimmen Bub zu und fragte ihn drohend: „Wem gehörſt du?“

„Ich bin vom Gutsgeſinde der Herren Dubrowskij,“ entgegnete dieſer.

Kirila Petrowitſchs Miene verdüſterte ſich.

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Dubromsfij

„Du erkennſt mich, ſcheints, nicht als deinen Herrn an ſchon gut. Und was tateſt du in meinem Garten?“

„Himbeeren tat ich ſtehlen.“

„Aha! der Herr wie der Knecht; wie der Prieſter, ſo iſt auch das Kirchſpiel; aber ſeit wann wachſen denn bei mir die Himbeeren auf den Nn e Haſt du ſchon ſo was gehört?“

Der Bub hatte nichts zu entgegnen.

„Papachen, befehlen Sie ihm doch, den Ring herauszugeben,“ meinte Saſcha.

„Schweig, Saſcha!“ erwiderte Kirila Petrowitſch: „Vergiß nicht, daß ich auch mit dir noch ein Wörtchen zu ſprechen habe. Geh jetzt in dein Zimmer. Du, Schielender, du ſcheinſt mir ein flinker Burſche zu ſein;

wenn du mir jetzt alles geſtehen willſt, werde ich dich

nicht prügeln laſſen, ſondern dir ſogar einen Fünfer geben, damit du dir Nüſſe kaufen kannſt. Gib den Ring her, dann kannſt du gehen.“ Der Bub öffnete die Fauſt und zeigte, daß ſich nichts in ſeiner Hand befand. „Aber wenn du das nicht tun wirſt, dann ſoll dir etwas geſchehen, was du nicht erwarteſt. Nun!“

Jedoch der Bub entgegnete immer noch nichts, er ließ nur den Kopf hängen und gab ſich das Ausſehen eines völligen Narren.

„Schon gut!“ ſagte Kirila Petrowitſch: „Man ſperre ihn irgendwo ein und paſſe gut auf, daß er

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DubromsPfij

uns nicht entwiſcht, fonft laſſe ich dem ganzen Haufe die Haut abſchinden.“

Stepan brachte den Buben zum Taubenſchlag, ſperrte ihn dort ein und befahl der alten Vogelwär⸗ terin Agafja, auf ihn acht zu geben.

„Kein Zweifel mehr: fie unterhält noch immer Зе: ziehungen zu dieſem verwünſchten Dubrowskij. Wenn ſie ihn aber in der Tat um Hilfe gebeten hätte,“ über⸗ legte Petrowitſch, während er in ſeinem Zimmer auf und ab {фей und wütend „Siegesdonner ſoll er: ſchallen“ vor ſich hinpfiff, „dann werde ich zum min: deſten jetzt auf ſeine warme Spur geraten und er wird mir nicht mehr entſchlüpfen. Wir wollen uns dieſen Zufall zunutze machen ... Horch! ein Glöckchen; Gott fei Dank, der Polizeileutnant. Man führe den er: tappten Burſchen vor.“

Unterdeſſen rollte der Wagen in den Hof und völlig beſtaubt trat der uns bereits bekannte Polizei: leutnant ins Zimmer.

„Eine prächtige Nachricht!“ ſagte Kirila Petro— witſch: „Ich habe Dubrowskij gefangen.“

„Gott ſei Dank, Exzellenz!“ meinte der Polizei⸗ leutnant ſichtlich erfreut. „Wo iſt er denn?“

„Das heißt, eigentlich nicht Dubrowskij, ſondern nur einen aus ſeiner Bande. Man wird ihn gleich vorführen. Er kann uns behilflich fein, den Räuber: hauptmann zu fangen. Da iſt er ſchon.“

Allein wie erſtaunte der Polizeileutnant, der einen

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Dubromsfij

wilden Räuber зи ſehen erwartet hatte, als er nichts als einen dreizehnjährigen ziemlich ſchwächlichen Bur⸗ ſchen erblickte. Verwundert drehte er ſich zu Kirila Petrowitſch um und wartete auf die Erklärung. Ki⸗ rila Petrowitſch erzählte ihm den morgendlichen Vor⸗ fall, ohne freilich Marja Kirilowna dabei zu erwähnen.

Auf merkſam hörte der Polizeileutnant zu und ſchaute unabläſſig den kleinen Taugenichts an, der immer noch weiter den Narren ſpielte und ſcheinbar nichts von alledem, was ſich rings um ihn zutrug, beachtete. 1

„Geſtatten Sie mir, Exzellenz, mit Ihnen unter vier Augen zu ſprechen,“ ſagte ſchließlich der Polizei⸗ leutnant. f

Kirila Petrowitſch führte ihn in ein Nebenzimmer und ſchloß die Türe.

Sie betraten erſt nach einer halben Stunde den Saal, in dem der Gefangene das Urteil erwartete, das man über ihn gefällt hatte.

„Der gnädige Herr wollte dich eigentlich in das Stadtgefängnis werfen,“ ſprach der Polizeileutnant zu ihm, „er wollte dich auspeitſchen laſſen und dich nach Sibirien ſchicken, allein ich trat für dich ein und habe deine Begnadigung erwirkt. Man binde ihn N

Der Bub wurde losgebunden.

„Bedank dich beim gnädigen Herrn,“ ſagte der Polizeileutnant. |

Der Knabe näherte ſich Kirila Petrowitſch und küßte ihm die Hand. f

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Du bro wsk i]

„Marſch nach Haufe,“ Гаде ihm Kirila Petro: witſch, „und ſtiehl mir in Zukunft keine Himbeeren mehr aus hohlen Eichenſtämmen.“

Der Knabe verließ das Gemach, ſprang luſtig die Freitreppe hinunter und lief, was er laufen konnte, ohne ſich lange umzuſchauen, übers Feld nach Kiſten— jowka. Als er zum Dorf kam, blieb er vor einer halb: verfallenen Hütte ſtehen und klopfte ans Fenſter. Das Fenſter öffnete ſich und das Antlitz einer Greiſin er— ſchien darin.

„Brot, Großmütterchen!“ ſagte der Bub: „Vom Morgen an habe ich nichts gegeſſen, ich ſterbe faſt vor Hunger.“

„Ach! du biſt es, Mitja; wo ſteckteſt du dan du junger Teufel?“ entgegnete die Alte.

„Ich erzähls dir ſpäter, Großmütterchen; jetzt gib mir um Gottes willen Brot!“

„Komm doch wenigſtens ins Haus.“

„Keine Zeit, Großmütterchen: ich muß gleich wieder fortlaufen. Brot, um Chriſti willen, Brot!“

„Kein Sitzfleiſch,“ knurrte die Alte. „Da Бай du einen Happen Schwarzbrot.“

Gierig biß der Bub hinein und ging kauend fort.

Es begann zu dämmern; durch Gräben und über Felder ſchlich Mitja zu dem Wäldchen von Kiſten— jowka. Als er zu den zwei Fichten gekommen war,

blieb er ſtehen, ſchaute ſich vorſichtig um und pfiff dann kurz mit durchdringendem Zone; ein leiſes, aber

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Dubromsfij

langanhaltendes Pfeifen kam zur Antwort: jemand trat aus dem Wäldchen und näherte ſich ihm.

Achtzehntes Kapitel

Auf und ab ſchritt Kirila Petrowitſch im Saal und pfiff ſein Lied noch lauter als ſonſt. Das ganze Haus war in Aufregung; die Bedienten liefen hin und her und ebenſo die Mägde. Auf dem Gutshof drängte ſich das Volk. Im Ankleidezimmer des Fräuleins ſchmückte eine von Zofen umringte Dame vor dem Spiegel die bleiche, unbewegliche Marja Kirilowna; ſchwermütig neigte dieſe ihren Kopf unter der Laſt der Brillanten; ſie fuhr nur leicht zuſammen, wenn eine unvorſichtige Hand ſie aus Verſehen mit der

Nadel ſtach, aber ſie ſchwieg und ſchaute gedankenlos

in den Spiegel. „Wirds bald?“ ſchallte Kirila Petro⸗ witſchs Stimme durch die Tür. „Im Augenblick!“ erwiderte die Dame: „Stehen Sie jetzt auf, Marja Kirilowna, und betrachten Sie ſich, ob alles auch recht ſitzt? Marja Kirilowna erhob ſich, allein ſie ſchwieg noch immer. Die Tür öffnete ſich. „Die Braut iſt angezogen,“ meldete die Dame Kirila Petrowitſch. „Befehlen Sie, daß der Wagen vorfährt.“ „Mit Gott!“ entgegnete Kirila Petrowitſch und nahm ein Heiligenbild vom Tiſch: „Komm jetzt zu mir, Maſcha,“ ſagte er darauf mit gerührter Stimme: „Ich will dich ſegnen ...“ Das arme Mädchen fiel vor ihm nieder

und ſchluchzte: „Papachen ... Papachen ...“ ſprach

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DubromsPij

fie mit tränenerſtickter und ſchon verſagender Stimme. Kirila Petrowitſch beeilte ſich, fie zu ſegnen; man richtete ſie auf und trug ſie zum Wagen. Mit ihr ſtieg die Dame ein, die bei der Trauung ihre Mutter zu vertreten hatte, und ferner eine der Zofen. Sie fuhren zur Kirche. Der Bräutigam erwartete ſie be⸗ reits. Er eilte der Braut entgegen und war von ihrer Bläſſe und ihrem ſonderbaren Ausſehen nicht wenig überraſcht. Sie betraten zuſammen die kalte Kirche; die Türe wurde hinter ihnen verriegelt. Der Prieſter trat zum Altar und begann alsbald mit der feier⸗ lichen Handlung. Marja Kirilowna ſah und hörte nichts; nur ein Gedanke verfolgte ſie ſeit dem frühen Morgen: ſie wartete auf Dubrowskij; die Hoffnung, ihn zu ſehen, verließ ſie keine Minute. Auch als gleich darauf der Prieſter ſich mit der üblichen Frage an ſie wandte, erſchauerte ſie und war faſt wie von Sinnen, allein ſie zögerte noch immer, denn noch immer war⸗ tete ſie. Jedoch da ſprach der Prieſter, ohne erſt auf ihre Antwort zu warten, bereits die unwiderruflichen Worte.

Die Feierlichkeit war zu Ende. Sie fühlte auf ihren Lippen den kalten Kuß des ungeliebten Gatten; ſie hörte die ſchmeichleriſchen Glückwünſche der Anweſen— den und konnte noch immer nicht glauben, daß nun ihr Leben auf ewig in Feſſeln liege und daß Du— browskij nicht herbeigeflogen war, fie zu befreien. Mit zärtlichen Worten redete der Fürſt ſie an aber ſie

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Dubromsfij

konnte keines davon begreifen; fie verließen die Kirche; vor der Kirchentüre drängten ſich die Bauern aus Pokrowskoje. Flüchtig glitt ihr Blick über die Menge

und erſtarrte dann wieder in der früheren Gefühls- loſigkeit. Das neue Paar nahm im Wagen Platz und fuhr nach Arbatowo, wohin ſich Kirila Petrowitſch

bereits begeben hatte, um dort die Jungvermählten zu begrüßen. Der Fürſt, der nun mit ſeiner jungen Gattin allein war, ſchien keineswegs durch ihre kalte Miene in Verwirrung zu geraten. Er langweilte ſie nicht mit erheuchelten Geſtändniſſen und lächerlicher Seligkeit; ſeine Worte waren einfach und verlangten keine Antwort. Auf dieſe Weiſe legten ſie zehn Werſt zurück; ſchnell eilten die Pferde über die Landwege und der Wagen, der auf engliſchen Federn ruhte, rollte ſanft dahin. Plötzlich ertönten Schreie hinter ihnen, als ob jemand ſie verfolge; der Wagen hielt und wurde augenblicks von einer Schar bewaffneter Leute umringt. Ein Mann in einer Halbmaske öffnete die Wagentüre auf der Seite der jungen Fürſtin und rief ihr zu: „Sie ſind frei! ſteigen Sie aus.“ „Was ſoll das heißen?“ ſchrie der Fürſt: „Wer biſt du? . .. „Es ИЕ Dubrowskij,“ entgegnete die Fürſtin. Der Fürſt verlor keineswegs ſeine Geiſtes⸗ gegenwart, er zog eine Reiſepiſtole aus der Seiten⸗ taſche und ſchoß ſie auf den Räuber in der Maske ab. Die Fürſtin ſchrie auf und ſchlug entſetzt beide Hände vors Geſicht. Dubrowskijs Schulter war рег:

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Du browsk ij

wundet worden; fein Blut ſtrömte reichlich. Ohne Zeit zu verlieren, ergriff der Fürſt eine zweite Piſtole. Aber man erlaubte ihm nicht, fie abzudrücken, die Wagen— türen öffneten ſich, einige ſtarke Arme riſſen ihn aus dem Wagen und entriſſen ihm die Piſtole. Und ſchon blitzten über ihm die Dolche. „Rührt ihn nicht an!“ ſchrie Dubrowskij und ſogleich traten ſeine finſtern Mitverſchworenen beiſeite. „Sie ſind frei!“ fuhr Dubrowskij zur blaſſen Fürſtin gewendet fort. „Nein,“ entgegnete ſie, „es iſt zu ſpät! ich bin ge— traut worden, ich bin die Gattin des Fürſten We⸗ rejskij.“ „Was ſagen Sie da!“ ſchrie Dubrowskij verzweifelt. „Nein, keineswegs ſind Sie ſeine Ge— mahlin, man hat Sie gezwungen, Sie haben Ihre Zuſtimmung nicht freiwillig gegeben ...“ „Ich gab meine Einwilligung und habe es beſchworen,“ entgegnete ſie feſt: „Der Fürſt iſt mein Gatte; befehlen Sie, ihn freizulaſſen, und verlaſſen Sie uns. Ich habe Sie nicht betrogen. Ich habe bis zur letzten Minute auf Sie gewartet ... jetzt aber, ich ſagte es Ihnen ſchon, jetzt iſt es zu ſpät. Verlaſſen Sie uns.“ Allein Dubrowskij hörte es nicht mehr; die ſchmerzende Wunde und die heftigen Gemütserregungen hatten ihm das Bewußtſein geraubt. Er ſtürzte neben dem Wagen nieder; die Räuber umringten ihn. Er war noch gerade imſtande, ihnen einige Worte zuzuflüſtern; ſie ſetzten ihn aufs Pferd, zwei von ihnen ſtützten ihn, ein dritter führte das Pferd am Zaum und ſo zogen

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Dubromsfij

fie fort, während der Wagen mit den gefeſſelten Leuten und ausgeſpannten Pferden mitten auf der Landſtraße ſtehen blieb; es war nichts geplündert worden und das gefloſſene Blut des Häuptlings war durch keinen fremden Blutstropfen gerächt worden.

Neunzehntes Kapitel

Auf der ſchmalen Lichtung mitten im dichten Walde erhob ſich eine kleine Befeſtigung, die aus nicht viel mehr als Wall und Graben beſtand, hinter denen ſich einige Zelte und Erdhütten befanden. Viele Leute, die man nach der Verſchiedenheit ihrer Kleider und der allgemeinen Bewaffnung auf den erſten Blick für Räuber halten konnte, ſpeiſten dort friedlich, mit unbedeckten Häuptern daſitzend, zu Mittag aus einem brüderlichen Keſſel. Auf dem Wall ſaß neben der kleinen Kanone ein Wachtpoſten mit gekreuzten Beinen. Er ſetzte gerade einen Flicken auf einen gewiſſen Be⸗ ſtandteil ſeiner Kleidung und handhabte die Nadel mit ſolcher Kunſt, daß man augenblicks erraten konnte, daß er ein Schneider war; er ſpähte dabei unabläſſig nach allen Seiten.

Obwohl eine gewiſſe Schale ſchon mehrfach die

Runde von Hand zu Hand gemacht hatte, herrſchte

ein ſonderbares Schweigen in der Schar; als die Räuber mit dem Mittageſſen fertig waren, erhob ſich einer nach dem andern und verrichtete ſein Gebet; einige gingen in ihre Zelte, die andern aber zerſtreuten

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Dubromsfij

ſich im Walde, oder ſtreckten ſich nach ruffifcher Фе: wohnheit aus, um zu ſchlafen.

Der Wachtpoſten beendigte ſeine Arbeit, er ſchüt— telte die Fetzen von ſich, betrachtete zufrieden das ge⸗ flickte Kleidungsſtück, ſteckte die Nadel in den Armel, ſetzte ſich rittlings auf die Kanone und ſtimmte aus

voller Kehle das alte melancholiſche Volkslied an:

V„5V Rauſche nicht, o Mütterchen, du grüner Eichen⸗ wald.“

Im ſelben Augenblick aber öffnete ſich eines der Zelte und eine alte, ſorgfältig, ja Гай peinlich ап: gezogene Frau in einer weißen Haube erſchien auf der Schwelle. „Laß das, Stjopka,“ rief ſie ärgerlich. „Der Herr ſchlummert, und du brüllſt: gewiſſenlos feid ihr alle und ohne Mitgefühl.“ „Verzeih, Pe: trowna,“ entgegnete Stjopka: „Schon gut, ich tus nicht mehr, mag unſer Väterchen nur ruhen und ве: ſund werden.“ Die Alte verſchwand, und Stjopka begann auf dem Wall auf und ab zu gehen.

Im Zelt, in dem die Alte verſchwunden war, ruhte hinter einer ſpaniſchen Wand auf ſeiner einfachen Bettſtatt der verwundete Dubrowskij. Neben ihm lagen auf einem kleinen Tiſch ſeine Piſtolen, ihm zu Häupten hing der Säbel. Reiche Teppiche bedeckten den Boden und hingen an den Wänden; in der einen Ecke ſtanden Toilettengegenſtände aus Silber, die nur für eine Frau beſtimmt geweſen ſein konnten, dortſelbſt ragte ein hoher Spiegel. In Dubrowskijs

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DubromsPij

Hand lag ein offenes Buch, allein er hielt die Augen geſchloſſen, und darum konnte die Alte, die den Kopf hinter die ſpaniſche Wand ſteckte, um nach ihm zu ſchauen, nicht erraten, ob er eingeſchlafen war, oder ob er nur nachdachte.

Plötzlich erbebte Dubrowskij. Lärm ſchallte inner⸗ halb der Befeſtigung und gleich darauf ſteckte Stjopka den Kopf durch die Offnung. „Väterchen, Wladimir Andrejewitſch!“ ſchrie er, „die Unſrigen geben das

Signal: man ſucht uns.“ Dubrowskij ſprang aus

dem Bett, griff nach ſeinen Waffen und trat aus dem

Zelt. Draußen drängten ſich geräuſchvoll die Räuber;

als er erſchien, entſtand ein tiefes Schweigen. „Alle zur Stelle?“ fragte Dubrowskij. „Alle, außer den Spähern,“ wurde ihm zur Antwort. „Auf eure Plätze!“ ſchrie Dubrowskij, und alsbald nahm ein jeder der Räuber den Platz ein, der ihm angewieſen worden war. Im gleichen Augenblick näherten ſich

im ſchnellen Laufe bereits die drei Späher. Du⸗ browskij ging ihnen entgegen. „Was gibts?“ fragte

er. „Soldaten im Walde,“ entgegneten jene: „Sie umzingeln uns.“ Dubrowskij befahl, die Pforte zu ſchließen, und eilte, die Kanone zu beſichtigen. Schon wurden Stimmen im Walde hörbar, die ſich immer mehr näherten. Stumm warteten die Räuber. Plötz⸗ lich traten drei oder vier Soldaten aus dem Walde und fuhren ſogleich zurück. Sie ſchoſſen ihre Gewehre ab, um ihre Kameraden zu benachrichtigen. „Fertig

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Du browsk ij

zum Kampf!“ ſagte Dubrowskij; ein leiſes Geräuſch ſtieg auf, aber gleich darauf herrſchte wieder die alte Stille. Sie hörten den Lärm der heranmarſchierenden Truppe; ſchon blitzten Gewehrläufe zwiſchen den Bäu⸗ men auf; einige anderthalbhundert Soldaten ſtrömten aus dem Walde und liefen ſchreiend auf den Wall zu. Dubrowskij ſetzte die Lunte an: der Schuß war gut gezielt er riß dem einen den Kopf ab und рег: wundete zwei andere. Die Soldaten gerieten in Ver— wirrung, allein ihr Offizier ſtürmte vorwärts und da folgten ihm die Soldaten und waren bereits im Graben. Die Räuber ſchoſſen ihre Flinten und Piſtolen auf ſie ab und ſchickten ſich darauf an, mit ihren Beilen den Wall zu verteidigen, den die gereizten Soldaten, die im Graben einige zwanzig verwundete Kameraden zurückgelaſſen hatten, haſtig erſtiegen. Es kam zu einem Handgemenge. Die Soldaten waren bereits auf dem Wall die Räuber begannen zu weichen; da näherte ſich Dubrowskij dem Offizier, ſetzte ihm die Piſtole auf die Bruſt und drückte ab. Der Offizier ſtürzte rücklings zu Boden, einige Soldaten hoben ihn auf und trugen ihn eilig zum Wald zurück; die übrigen blieben, als ſie ihren Befehlshaber verloren hatten, unſchlüſſig ſtehen. Dieſen Augenblick des Zwei⸗ fels benutzten die ermutigten Räuber und trieben ſie vom Wall hinunter und ſtießen ſie in den Graben; die Belagerer flohen; ſie wurden mit wildem Geſchrei von den Räubern verfolgt. Der Sieg war entſchieden.

P. I 17 257 f |

Dubromsfij

Da Dubrowskij eine vollkommene Niederlage des Feindes annehmen konnte, ſammelte er die Seinigen und ſchloß ſich in der Befeſtigung ein. Er verdoppelte die Wachtpoſten, befahl aufs ſtrengſte, daß niemand fortdürfe, und befahl ferner, die Verwundeten herbei⸗ zuſchaffen.

Dieſe Begebenheit bewirkte, daß die Obrigkeit ſich nunmehr im Ernſte mit Dubrowskijs dreiſten Räuber⸗ taten befaßte. Man ſammelte Nachrichten über ſeinen Aufenthalt. Schließlich wurde eine Kompagnie Gol: daten entſandt, um ihn, tot oder lebend, in die Hände zu bekommen. Aber man erwiſchte nichts als einige Leute aus ſeiner Bande und erfuhr von dieſen, daß Dubrowskij ſchon ſeit geraumer Zeit nicht mehr in ihrer Schar weile, denn einige Tage nach dem geſchilderten Vorfall hatte er alle ſeine Genoſſen verſammelt und ihnen mitgeteilt, daß es ſeine Abſicht ſei, ſie auf immer zu verlaſſen, und daß er auch ihnen riete, ihre Lebens⸗

weiſe nunmehr zu ändern. „Ihr ſeid unter meinem

Kommando wohlhabend geworden, ein jeder von euch hat die notwendigen Papiere, mit denen er ungefährdet in ein entferntes Gouvernement gelangen kann, um den Reſt ſeines Lebens in ehrlicher Arbeit und ſogar

im Überfluß zu verbringen. Aber ihr ſeid freilich alle Gauner und werdet vermutlich wenig Luft verſpüren,

euer Handwerk zu laſſen.“ Nachdem er dieſes ge⸗ ſprochen, war er von ihnen gegangen und hatte einzig mit ſich genommen. Niemand wußte, wohin er

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Dubromsfij

fi) gewendet hatte. Zwar wurde die Aufrichtigkeit dieſer Geſtändniſſe anfangs bezweifelt, denn es war ja bekannt, wie ſehr die Räuber an ihrem Hauptmann hingen: man nahm an, daß ihre Ausſagen lediglich bezwecken ſollten, ihn zu retten; allein die Folge gab ihnen recht. Die ſchreckhaften Heimſuchungen, die Brandſtiftungen und Plünderungen ließen nach, die Landſtraßen waren wieder gefahrlos geworden. Aus andern Berichten erfuhr man einige Zeit darauf, daß Dubrowskij ins Ausland geflüchtet war.

Pique Dame

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Brach der Abend herein Fanden alle ſich ein Immer; Setzten Fünfzig und mehr, Bogen Hunderter Бег... Himmel! Den Verluſt und Gewinn Schrieb mit Kreide man hin Flüchtig; So erwies ſich fürwahr Noch ein jeder der Schar Tüchtig. K. Rylejew Bei Narumow, einem Offizier des Gardekavallerie⸗ regiments, wurde Karten geſpielt. Die lange Winter: nacht verging faſt unbemerkt; erſt um die fünfte Stunde des Morgens ſetzte man ſich zum Eſſen. Jene, die де: wonnen hatten, aßen mit großem Appetit, die anderen ſaßen gedankenvoll vor ihren unberührten Gedecken. Doch der Champagner kam, das Geſpräch wurde [еБ: haft, und alle nahmen daran teil. „Nun, und du, Sſurin?“ fragte der Hausherr. „Verloren, wie gewöhnlich. Ich muß ſagen, ich habe kein Glück: trotzdem ich ſtets Mirandole ſpiele, trotzdem ich mich nie aufrege und mich durch nichts aus der Faſſung bringen laſſe, verliere ich dennoch immer!“

„Und du haſt dich wirklich nie hinreißen laſſen? Nie 263

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auf Route geſetzt? ... Eine Feſtigkeit, die mir Er⸗ ſtaunen einflößt! 5

„Was ſagt ihr da erſt zu Hermann!“ warf einer der Gäſte ein, indem er auf den jungen Genieoffizier wies: „er hat überhaupt noch nie Karten in die Hand де: nommen, noch nie in ſeinem Leben ein Paroli gebogen und dennoch ſitzt er bis fünf Uhr hier mit uns und ſchaut unſerem Spiel zu.“

„Kartenſpiel intereſſiert mich ſehr,“ entgegnete Her⸗ mann, „aber ich bin leider nicht in der Lage, der Hoff⸗ nung Überflüſſiges zu gewinnen das Unentbehrliche zu opfern.“

„Er iſt ein Deutſcher, der Hermann: er verſteht zu rechnen das erklärt alles!“ bemerkte Tomskij. „Wen ich jedoch abſolut nicht begreifen kann, das iſt meine Großmutter, Gräfin Anna Fedotowna.“

Die anderen riefen „wie?“ und „warum?“

„Mir iſt unbegreiflich,“ fuhr Tomskij fort, „aus welchem Grunde meine Großmutter nicht pointiert.“

„Das nennſt du unbegreiflich,“ verſetzte Narumow, „wenn eine achtzigjährige Greiſin nicht pointiert?“

„Dann habt ihr wohl noch nichts von ihr gehört?“

„Nie! wahrhaftig nichts!“

„Nun, dann hört mal zu! Vor einigen ſechzig Jahren, müßt ihr wiſſen, reiſte meine Großmutter nach Paris und war dort bald in großer Mode. Man drängte fi), um la Vénus moseovite zu ſehen; ja, Richelieu ſelber machte ihr den Hof und die Großmutter Бе:

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Pique Dame

teuert, er hätte ſich ihrer Unnahbarkeit wegen bald das Leben genommen. Damals war das Pharaoſpiel bei den Damen ſehr beliebt. Nun, und einmal verlor ſie bei Hofe gegen den Herzog von Orleans irgendwie ſehr viel und zwar auf Ehrenwort. Nach Haufe зи: rückgekehrt, teilte ſie dem Großvater, während ſie die Mouchen von ihrem Geſicht löſte und den Reifrock losſchnürte, die Höhe ihres Spielverluſtes mit und ordnete an, es müßte gezahlt werden. Der verſtorbene Großvater war, wenn ich mich recht erinnere, für ſie immer fo etwas wie ет Haushofmeiſter. Er fürchtete ſie wie Feuer: als er jedoch von dieſer enormen Spielſchuld vernahm, geriet er außer ſich, brachte ſeine Aufzeichnungen herbei und rechnete ihr vor, daß ſie in einem halben Jahr eine halbe Million verbraucht hätten, und daß ſie bei Paris nicht ihre Moskauer und ihre Sſaratower Dörfer liegen hätten, und zum Schluß weigerte er ſich ſchlechterdings zu zahlen. Die Groß— mutter gab ihm eine Ohrfeige und ging zum Zeichen ihrer Ungnade allein zu Bett. Am nächſten Morgen ließ ſie ihn rufen, ſie hoffte nämlich, daß die häusliche Züchtigung bereits gewirkt hätte, aber ſie fand ihn unerbittlich. Es blieb ihr nichts übrig, als ſich zum erſten Male in ihrem Leben zu Erklärungen herbei— zulaſſen und mit ihm zu unterhandeln; fie ermahnte ihn, ſie erläuterte ihm herablaſſend, daß die einen Schulden nicht wie die anderen ſeien und daß doch wohl ein gewiſſer Unterſchied zwiſchen einem Prinzen

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und einem Kutſchmacher beſtünde. Umſonſt! der Großvater meuterte. Nein und nein! Die Großmutter

wußte nicht mehr, was tun? Nun war ſie mit einem

ſehr merkwürdigen Manne gut bekannt. Ihr habt gewiß alle vom Grafen von Saint-Germain gehört, von dem ſoviel Sonderbares erzählt wird. Ihr wißt ſicher, daß er ſich für den ewigen Juden ausgab, daß er behauptete, das Lebenselixier entdeckt und den Stein der Weiſen gefunden zu haben, und dergleichen mehr. Man hielt ihn für einen Charlatan und lachte über ihn, andererſeits aber erzählt Caſanova in ſeinen Memoiren, er ſei ein Spion geweſen; übrigens hatte Saint⸗Germain trotz ſeiner Geheimniskrämerei ein Ehrfurcht erweckendes Außeres und galt allgemein als ſehr liebenswürdig. Meine Großmutter iſt noch heute

von ihm hingeriſſen, und kann ſich ſehr darüber ärgern,

wenn man irgendwie wegwerfend von ihm ſpricht. Der Großmutter war bekannt, daß Saint⸗Germain große Geldmittel zur Verfügung ſtanden. Sie ent⸗ ſchloß ſich, ſeine Hilfe anzurufen, und ſchickte ihm ein Billett, in welchem ſie ihn aufforderte, ſie ſofort

zu beſuchen. Der alte Sonderling erſchien unmittelbar darauf und traf ſie in ſchrecklichen Sorgen an. Sie

ſchilderte ihm die Barbarei ihres Gemahls in den ſchwärzeſten Farben und ſagte ſchließlich, ſie ſetze ihre ganze Hoffnung auf ſeine Freundſchaft und ſeine Liebenswürdigkeit. Saint-Germain verſank in Nach: denken. Ich kann Ihnen mit dieſer Summe aus⸗

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helfen,‘ ſagte er endlich: ‚aber ich weiß, es wird Ihnen keine Ruhe laſſen, eh Sie nicht die Schuld beglichen haben, und ich möchte Ihnen nicht neue Verdrießlich⸗ keiten machen. Es gibt ein anderes Mittel: das Ver⸗ lorene im Spiel zurückgewinnen.“ ‚Aber, befter Graf,‘ entgegnete ihm die Großmutter, „ſagte ich Ihnen nicht bereits, daß wir ganz ohne Geld ſeien?“ Man braucht dazu kein Geld,‘ erwiderte Saint⸗ Germain: ‚ich bitte Sie, mich anzuhören.“ Und da war es, daß er ihr ein Geheimnis eröffnete, für das wohl ein jeder von uns gern teuer bezahlen würde..“

Die jugendlichen Spieler verdoppelten ihre Auf: merkſamkeit. Tomskij ſteckte ſeine Pfeife an, rauchte einige Züge und ſetzte dann ſeine Erzählung fort:

„Und am ſelben Abend erſchien meine Großmutter in Verſailles au jeu de la reine. Die Bank hielt der Herzog von Orleans; die Großmutter entſchuldigte ſich leichthin, daß ſie die Spielſchuld nicht mitgebracht hätte, und erzählte zur Rechtfertigung irgendetwas, was ihr gerade einfiel, und pointierte darauf gegen den Herzog. Sie wählte drei Karten und ſetzte eine nach der anderen: und alle drei gewannen, und ſo hatte die Großmutter ihren Verluſt wieder hereingebracht.“

„Zufall!“ ſagte einer der Gäſte.

„Ein Märchen!“ bemerkte Hermann.

„Vielleicht waren die Karten markiert!“ warf ein Dritter ein.

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„Undenkbar,“ entgegnete Tomskij ernſt.

„Wie!“ rief Narumow, „du Бай eine Großmama,

die gleich drei Karten hintereinander errät und biſt f

bis jetzt noch nicht im Beſitz ihrer Kabbaliſtik?“

„Der Teufel!“ entgegnete Tomskij, „vier Söhne hatte fie, darunter war auch mein Vater; alle vier

verzweifelte Kartenſpieler und dennoch hat ſie es keinem anvertraut, obwohl alle und auch ich es gut brauchen könnten. Aber hört noch, was Graf Iwan Iljitſch, mein Onkel, erzählte; er gab fein Ehrenwort, daß die Ge⸗ ſchichte wahr ſei. Der verſtorbene Tſchaplitzkij, der: N felbe, der, nachdem er Millionen verſchleudert, in ent feglicher Armut umkam, hatte einmal, als er noch jung war, an die dreimalhunderttauſend verſpielt und zwar $ ich entſinne mich ап Sſoritſch. Er war in Ver⸗ zweiflung. Meiner Großmutter nun, die ſonſt im alle gemeinen leichtſinnige Streiche junger Leute ſtreng ver⸗ urteilte, tat Tſchaplitzkij irgendwarum leid. Sie nannte ihm die drei Karten, die er eine nach der andern ſetzen ſollte, er mußte ihr jedoch gleichzeitig ſein Ehrenwort geben, nie wieder zu ſpielen. Tſchaplitzkij forderte von feinem glücklichen Partner Revanche: fie ſetzten ſich zum Spiel. Tſchaplitzkij ſetzte fünfzigtauſend auf die erſte Karte und gewann, darauf bog er ein Paroli und ein Paroli⸗pé und gewann beide und alles zurück

und noch etwas dazu ...“

„Aber es iſt Zeit, ſchlafen zu gehen: es iſt ſchon ein Viertel vor ſechs.“

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=.

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Und in der Tat, der Morgen dämmerfe: die jungen Leute tranken ihren Wein aus und fuhren nach Haufe.

II

II parait, que monsieur est décidément pour les suivantes. Que voulez- vous, madame? Elles sont plus fraiches. Ein Geſpräch

Die alte Gräfin“ ®® {аб in ihrem Ankleidezimmer vor dem Spiegel. Drei Kammerzofen umringten ſie. Die eine hielt die Büchſe mit der Schminke, eine Schachtel mit Haarnadeln die andere, und die dritte eine hohe, mit Bändern aus Flammenfarbe verzierte Haube. Die Gräfin konnte nicht den geringſten An: ſpruch mehr auf Schönheit erheben, die war längſt dahin, allein ſie hielt ſich noch immer an die Gewohn— heiten ihrer Jugend und befolgte aufs genaueſte die Mode der ſiebziger Jahre, ſie zog ſich noch genau fo lange und ganz fo forgfältig an wie ſechzig Jahre zuvor. Am Fenſter ſaß vor einem Stickrahmen ihre Pflegetochter, das Fräulein.

VVvS,F Guten Morgen, Grand' maman,“ rief eintretend ein junger Offizier. „Bonjour, Mademoiſelle Life. Grand' maman, ich habe eine Bitte.“

„Und die iſt, Paul?“

„Erlauben Sie mir, Ihnen einen meiner Freunde vorzuſtellen und ihn am Freitag auf Ihren Ball zu bringen.“

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„Bring ihn auf den Ball und ſtelle ihn mir dort

рог. За du übrigens geſtern Бе! деп ® ® ®9« „Freilich! es war ſehr luſtig; wir tanzten bis um fünf. Die Jelezkaja ſah wieder reizend aus!“

„Ih, mein Lieber! Was iſt ſchon an ihr? Da war ihre Großmutter, die Fürſtin Darja Petrowna, doch ganz anders... Übrigens, ich meine, fie muß ſehr gealtert haben, die Fürſtin Darja Petrowna?“ |

„Gealtert?“ entgegnete Tomskij zerſtreut, „ſie iſt doch ſchon ſeit ſieben Jahren tot.“ 1

Das Fräulein hob den Kopf und machte dem jungen И Mann ein Zeichen. Er biß ſich auf die Lippen, denn jetzt erſt erinnerte er ſich, daß man der alten Gräfin Ni den Tod ihrer Altersgenoſſinnen verheimlichte. Aber die Gräfin nahm dieſe neue Nachricht mit völligem 4 Gleichmut auf. 5

„Tot!“ ſagte ſie nur: „und ich wußte es nicht ein⸗ | mal! Wir wurden gleichzeitig zu Hofdamen ernannt, und als wir uns darauf bei Hofe vorſtellten, ſagte die Kaiſerin ...“ р $

Und zum hundertſten Male erzählte die Pro | ihrem Enkel dieſe Anekdote.

„Und nun, Paul,“ ſagte ſie zum Schluß, „jetzt Bit du mir, mich aufrichten. Liebe Liſa, wo eme Fr | tiere?“ |

Geleitet von ihren Kammerjungfern, verſihwanz N die Gräfin hinter einem Wandſchirm, um ihre Toi⸗ lette zu beenden. Tomskij blieb mit dem Fräulein allein.

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„Wer iſt es, den Sie vorſtellen wollen?“ fragte Liſaweta Iwanowna leiſe.

„Narumow. Kennen Sie ihn?“

„Nein! Iſt er ein Militär oder ein Ziviliſt?“

„Militär.“

„Genieoffizier?“

„Nein! er iſt bei der Kavallerie. Und warum dachten Sie, er wäre Genieoffizier?“ Das Fräulein lachte, aber ſie erwiderte kein Wort.

„Paul!“ rief die Gräfin hinter ihrem Wandſchirm

hervor. „Schick mir doch irgendeinen neuen Roman herüber, aber bitte keinen von den modernen.“

„Was verſtehen Sie darunter, Grand'maman?“

„Alſo keinen von den Romanen, in denen der Held ſeinen Vater oder ſeine Mutter erwürgt und auch keinen, wo Ertrunkene drin vorkommen. Ich fürchte mich fo vor Ertrunkenen.“

„Dieſe Romane gibt es jetzt überhaupt nicht mehr. Oder wollen Sie vielleicht etwas Ruſſiſches?“

„Gibts denn überhaupt ruſſiſche Romane? ... Ach bitte, mein Freund, ſchick mir doch einen herüber.“

„Leben Sie wohl, Grand' maman: ich eile. Leben Sie wohl, Liſaweta Jwanowna! Wie kamen Sie auf die Idee, daß Narumow Genieoffizier ſei?“

Tomskij verließ das Ankleidezimmer.

Liſaweta Iwanowna blieb allein zurück; fie ließ ihre Arbeit ſinken und blickte durchs Fenſter. Und gleich darauf bog auf der einen Seite der Straße ein

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junger Offizier um die Ecke. Ihre Wangen färbten

ſich; ſie machte ſich wieder an ihre Arbeit, tief beugte ſich der Kopf über das Stickmuſter. Und da kam auch ſchon die Gräfin, fertig angezogen.

„Liſa,“ ſagte ſie, „der Kutſcher ſoll anſpannen, wir wollen ſpazieren fahren.“

Liſa erhob ſich von ihrem Stickrahmen und begann ihre Arbeit fortzuräumen.

„Was ſoll das, meine Beſte! Du biſt wohl taub,

was?“ ſchrie die Gräfin ſie an, „ſofort gehſt du an⸗ ſpannen laſſen.“

„Ja!“ entgegnete ſtill das Fräulein und lief ins Vorzimmer. ]

Ein Diener kam und brachte der Gräfin Bücher vom Fürſten.

„Es iſt gut! ich laſſe danken“, ſagte die Gräfin. „Liſa, aber Liſa, wohin läufſt du denn ſchon wieder?“

„Mich anziehen.“

„Dazu findeſt du immer noch Zeit, meine Liebe. Setz dich her. Mach mal den erſten Band auf und lies рог...“

Das Fräulein nahm das Buch und las einige Zeilen. „Lauter!“ befahl die Gräfin, „was haſt du, meine

Зе? Die Stimme verloren.. was? .. Wart mal. . . rück mir den Fußſchemel näher . näher .. endlich!“ Liſaweta Iwanowna las noch zwei Seiten. Die Gräfin gähnte.

„Laß das Buch,“ ſagte fie: „Iauter Unfinn! Schick

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es dem Fürſten Paul zurück, ich ließe danken. Wo bleibt der Wagen?.

„Der Wagen iſt vorgefahren“, ſagte Liſaweta Iwanowna, indem fie auf die Straße hinausſah.

„Und du biſt noch nicht angezogen?“ murrte die

Gräfin, „immer muß man auf dich warten. Das iſt nicht mehr zum Aushalten, meine Beſte!“

Lei.iſa lief in ihr Zimmer. Keine zwei Minuten waren vergangen, da begann die Gräfin aus Leibeskräften zu klingeln. Die drei Zofen flogen durch die eine Türe herein, und der Kammerdiener durch die andere.

„Wo bleibt ihr fo lange, wenn ich klingle?“ herrſchte die Gräfin fie an. „Man melde Liſaweta Jwanowna, daß ich ſie erwarte.“

Allein da trat Liſaweta Iwanowna ſchon in Hut und Mantel ein.

„Endlich, meine Beſte!“ ſagte die Gräfin. „Was für ein Aufzug! Wozu das? ... wen will man betören? .. Wie ИЕ das Wetter? ſcheinbar windig“

„Nein, Ew. Durchlaucht! kein Wind!“ entgegnete der Kammerdiener.

V Ihr ſchwatzt immer ins Blaue hinein! Das Fenſter

öffnen! Dacht ichs doch: Wind! und dazu ein eiſig— kalter! Der Wagen wird ausgeſpannt! Liſa, wir fahren nicht: es war unnütz, ſich zu putzen.“

„Und das iſt nun mein Leben!“ dachte Liſaweta Iwanowna. In der Tat, Liſaweta Iwanowna war ein äußerſt unglückliches Geſchöpf. Bitter iſt бет:

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des Brot, ſagt Dante, und Пей die Stufen fremden | Hauſes; wer aber kannte die Bitternis der Abhängig: | keit beſſer als die arme Pflegetochter der alten Ari: ſtokratin? Die Gräfin“ war gewiß kein böſer Menſch, aber ſie war wie jede von der Welt verwöhnte Frau ſehr launiſch; außerdem war ſie geizig und von jenem kalten Egoismus, wie ihn alle alten Leute, die ihre | Zeit genoſſen und der gegenwärtigen fremd geworden find, haben. Dennoch nahm fie an allen Feſten der vor: | nehmen Geſellſchaft teil; ſie ſchleppte ſich auf alle Bälle und [аб dort geſchminkt und nach alter Mode auf: geputzt wie eine groteske, aber irgendwie unumgäng⸗ | liche Ausſtaffierung des Saales in einer Ecke; die Gäfte traten, als wärs eine vorgeſchriebene Zeremonie, mit tiefen Verbeugungen an ſie heran, um ſich nach⸗ her überhaupt nicht mehr um ſie zu kümmern. In ihrem eigenen Hauſe empfing ſie die ganze Welt, ſie hielt auf ſtrengſte Etikette, erkannte aber keinen Menſchen. Ihr zahlreiches Geſinde, in den Vorzim⸗ mern und Mägdekammern fett und grau geworden, machte, was es wollte, und beſtahl die abſterbende Greiſin unabläſſig. In dieſem Haufe war Liſaweta Iwanowna eine Märtyrerin. Sie ſchenkte den Tee aus und ſteckte die Vorwürfe wegen zu viel Verbrauch von Zucker ein; ſie mußte Romane vorleſen und war Schuld an jedem Fehler des Verfaſſers; fie ber gleitete die Gräfin auf den Spazierfahrten und war nicht nur für das Wetter verantwortlich, nein, auch

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für das Straßenpflaſter. Einen Gehalt follte fie wohl bekommen, aber er wurde ihr nie ausbezahlt; trotzdem jedoch wurde von ihr gefordert, daß ſie wie alle an⸗ gezogen ſein ſolle, das heißt, wie ſehr wenige. Die Rolle, die ſie in der Geſellſchaft ſpielte, war kläglich. Obwohl alle fie kannten, wurde fie von niemand Бе: merkt; auf den Bällen kam ſie nur dann zum Tanzen, wenn irgendwo ein Vis⸗a⸗vis fehlte, und die Damen nahmen ihren Arm, wenn ſie in die Garderobe mußten, um an ihren Kleidern irgendetwas zu richten. Эа: bei war ihr Charakter ſelbſtändig und ſtolz und wußte Beſcheid über ihre Lage: nichts ringsum ent⸗ ging ihr, und voller Ungeduld erwartete ſie einen Be⸗ freier; aber keiner der jungen Männer, die trotz ihrem leichtſinnigen Hochmut ſo berechnend waren, ſchenkte ihr Aufmerkſamkeit, war auch Liſaweta Iwanowna gewiß hundertmal anziehender als jene frechen und kalten Bräute, die ſo begehrt waren. Wie oft verließ ſie insgeheim den prunkvollen, aber langweiligen Salon, um in ihrem armen Zimmer zu weinen, in ihrem Zim⸗ mer, in welchem billige, mit Tapeten beklebte Wand⸗ ſchirme ſtanden, eine Kommode, ein kleiner Spiegel und das angeſtrichene Bett und wo in einem Leuchter aus Meſſing ein Talglicht düſter brannte.

Einmal es war zwei Tage nach jenem Abend, den wir zu Beginn unſerer Erzählung ſchilderten, und eine Woche vor der Szene, in der wir ſtecken geblieben ſind Liſaweta Iwanowna, die wie immer am

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Senfter vor ihrem Stickrahmen ſaß, blickte einmal un: willkürlich auf die Straße hinaus und erblickte dort einen jungen Genieoffizier; er ſtand regungslos da und ſchaute ſie unverwandt durchs Fenſter an. Sie ſenkte den Kopf und machte ſich von neuem an ihre Arbeit; nach fünf Minuten ſah ſie wieder auf der junge Offi⸗ zier ſtand immer noch auf demſelben Fleck. Da es nicht ihre Gewohnheit war, mit den vorübergehenden Offizieren zu kokettieren, ſah ſie nicht mehr hinaus und nähte an die zwei Stunden, ohne den Kopf da⸗

bei zu erheben. Es wurde zu Tiſch gerufen. Sie erhob ſich und begann ihre Arbeit fortzuräumen, als ſie aber dabei zufällig auf die Straße ſchaute, erblickte ſie

wiederum den Offizier. Das berührte ſie ziemlich merk⸗ würdig. Nach dem Mittageſſen trat ſie mit dem Ge— fühl einer gewiſſen Unruhe aufs neue ans Fenſter, doch da war kein Offizier mehr zu ſehen und fo vergaß fie ihn...

Zwei Tage vergingen, fie ſchickte ſich gerade an, $ mit der Gräfin in den Wagen zu ſteigen, да fah ſie

ihn wieder. Er ſtand an der Auffahrt, ein Biberkragen

hielt ſein Geſicht verdeckt, und nur ſeine ſchwarzen |. Augen funkelten unter dem Hut. Liſaweta Jwanowna erſchrak und wußte ſelber nicht worüber, fie ſetzte

ſich mit einem unerklärlichen Beben in die Kutſche.

Kaum war ſie wieder zu Hauſe, da lief ſie zum Fenſter |

der Offizier ſtand auf dem gleichen Fleck und rich: tete ſeine Augen auf ſie: ſie wich zurück, aber nun kam

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die Neugierde über fie und ein Gefühl, das ihr völlig neu таг.

Und nun verging kein Tag, an dem der junge Mann zu der bewußten Stunde nicht vor den Fenſtern des Hauſes erſchienen wäre. Zwiſchen ihm und ihr kam es zu einem unvereinbarten Einverſtändnis. Sie ſaß auf ihrem Platz an der Arbeit und fühlte ſein Kommen ſie hob den Kopf und blickte ihn mit jedem Tage länger und länger an. Und es ſchien, der junge Mann war ihr dankbar dafür: mit dem ſcharfen Blick der Jugend bemerkte ſie, wie jedesmal, wenn ihre Blicke ſich begegneten, eine flüchtige Röte feine bleichen Wan: gen bedeckte. Doch als eine Woche vergangen war, lächelte ſie ihm zu. |

Das Herz des armen Mädchens klopfte, als Tomskij um die Erlaubnis bat, der Gräfin einen feiner Freunde vorſtellen zu dürfen. Allein als ſie erfuhr, daß Narumow kein Genieoffizier ſei, ſondern von der Gardekavallerie, bedauerte ſie, mit ihrer unüberlegten Frage dem leicht⸗ ſinnigen Tomskij ihr Geheimnis verraten zu haben.

Hermann war der Sohn eines in Rußland anfäffig gewordenen Deutſchen und hatte von ſeinem Vater eine kleine Geldſumme geerbt. Hermann, deſſen Ab— ſicht es war, ſich die völlige Unabhängigkeit zu erringen, berührte indeſſen nicht einmal die Zinſen dieſer Erbſchaft, ſondern lebte von ſeinem Offiziersgehalt und erlaubte ſich nichts darüber. Da er übrigens äußerſt verſchloſſen und ehrgeizig war, kamen ſeine Kameraden ſelten in

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die Lage, ihn feiner übermäßigen Sparſamkeit wegen auslachen zu können. Sein Temperament war von Haus aus leidenſchaftlich und ſeine Phantaſie voll Feuer; nur die Feſtigkeit ſeines Charakters konnte ihn vor den üblichen Verirrungen der jungen Jahre be⸗ wahren. Um es an einem Beiſpiel zu erläutern: er war eigentlich eine Spielernatur und rührte trotzdem keine Karte an, denn er hatte ſich ausgerechnet, daß fein Vermögen (wie er ſagte) ihm nicht geſtatte, „der Hoffnung, Überflüſſiges zu gewinnen, das Unentbehr⸗ liche zu opfern,“ aber am Kartentiſch zu ſitzen und mit fieberhafter Erregung die verſchiedenen Phaſen des Spiels zu beobachten, war ihm keine Nacht zu lang.

Die Anekdote von den drei Karten hatte merkwür⸗ dig ſlark auf ihn gewirkt, er mußte die ganze Nacht über daran denken. „Wie“ dachte er, als er am nächſten Abend durch die Straßen Petersburgs wanderte „wie, wenn nun die alte Gräfin mir das Geheimnis entdeckt? oder mir die drei ſicheren Karten nennt! Warum ſoll ich mein Glück nicht verſuchen? Ich könnte mich ihr vorſtellen laſſen, ihre Neigung er⸗ ringen; ſchlimmſtenfalls ihren Liebhaber ſpielen; aber dazu gehört eit und Пе iſt bereits ſiebenundachtzig Jahre alt; ſie kann ſchon nach einer Woche ſterben, ja, nach zwei Tagen!... Und außerdem dieſe Anekdote? . Kann man ihr überhaupt glauben? ... Nein, und nein! Vernunft, Mäßigkeit und Arbeit, das find meine drei ſicheren Kar: ten, ſie werden mein Kapital verdreifachen, ſie werden

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es verſiebenfachen und mir Ruhe und Unabhängigkeit ver ſchaffen! ( Mit ſolchen Gedanken beſchäftigt, ge: riet er in eine der Hauptſtraßen Petersburgs und ſtand plötzlich vor einem altertümlich gebauten Hauſe. Die Straße war voll von Equipagen; ein Wagen nach dem andern fuhr vor dem hellerleuchteten Portale por. Und bald war es das ſchlanke Füßchen einer jugendlichen Schönen, das aus der Kutſche hervorkam, bald ein knarrender Militärſtiefel, bald Strumpf und Lackſchuh eines Diplomaten. An dem majeſtätiſchen Portier wirbelten die Pelze und Mäntel nur fo vorüber.

„Wem gehört das Haus?“ fragte er den Wächter an der Ecke.

„Der Gräfin ® , antwortete dieſer.

Hermann überlief's. Und wieder kam ihm die er⸗ ſtaunliche Anekdote in den Sinn. Er umkreiſte das Haus, unabläffig an die Beſitzerin und an ihre wunder— bare Gabe denkend. Erſt ſpät kehrte er in feine fried- liche Behauſung zurück; lange konnte er nicht ein⸗ ſchlafen, und als endlich die Müdigkeit ihn bezwang, ſah er noch im Traume Karten und Ballen von Bank⸗ noten und Laſten von Goldſtücken. Er ſetzte Karte auf Karte, bog das Paroli mit Entſchiedenheit, де: wann unabläſſig, ſchaufelte das Gold zu ſich und ſtopfte die Banknoten in die Taſche. Spät erwacht, konnte er einen Seufzer über den verſchwundenen Reichtum ſeines Traumes nicht unterdrücken und wieder hielt er vor dem Haufe der Gräfin“ . Es war, als

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zöge ihn eine unſichtbare Macht dorthin. Er blieb ſtehen und ſchaute in die Fenſter. An einem Fenſter erblickte er ein dunkles Köpfchen, das offenbar über ein Buch oder über eine Arbeit geſenkt war. Es rich⸗ tete ſich auf. Hermann ſah ein blühendes Geſichtchen und ſchwarze Augen. Dieſe Minute entſchied über ſein Schickſal. III Vous m’ecrivez, mon ange, des lettres de quatre pages plus vite que je ne puis les lire. Ein Briefwechſel

Liſaweta Jwanowna hatte Hut und Mantel kaum abgelegt, als die Gräfin ſie wieder holen ließ und aufs neue befahl, den Wagen vorfahren zu laſſen. In dem Augenblick, als die zwei Diener die Greiſin auf: hoben und in das Innere des Wagens ſchoben, er: blickte Liſaweta Iwanowna denſelben Genieoffizier ganz in ihrer Nähe; er ergriff ihre Hand; ſie war wie gelähmt vor Schreck, doch der junge Mann war Бе: reits verſchwunden, und nur ein Brief blieb in ihrer Hand zurück. Sie verbarg ihn im Handſchuh und war während der ganzen Fahrt geiſtesabweſend. Dabei hatte die Gräfin die Angewohnheit, jede Mi: nute eine neue Frage zu ſtellen: wer war das, der uns grüßte? wie heißt die Brücke? was ſteht auf jenem Schild? Aber Liſaweta Jwanowna antwortete dieſes Mal auf gut Glück und häufig nicht das Rechte, und die Gräfin wurde ärgerlich.

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„Was haſt denn du, meine Befte! Haft du den Starrkrampf, was? Oder hörſt du mich nicht, oder kannſt du mich nicht verſtehen? ... Gott ſei Dank, ich ſchnarre nicht und verrückt bin ich auch noch nicht!“

Aber Liſaweta Iwanowna hörte nicht. Zu Hauſe angekommen lief ſie in ihr Zimmer und nahm den Brief aus ihrem Handſchuh; er war nicht verſiegelt. Liſaweta Iwanowna las. Der Brief war eine Liebes: erklärung: zärtlich und ehrfurchtsvoll und Wort für Wort einem deutſchen Roman entnommen. Aber Liſa⸗ weta Iwanowna, die kein deutſches Buch kannte, war mit dem Brief ſehr zufrieden.

Immerhin beunruhigte der empfangene Brief ſie außerordentlich. Sie trat zum erſten Male in heim— liche und nahe Beziehungen zu einem jungen Manne. Seine Dreiſtigkeit erſchreckte ſie. Sie machte ſich Vorwürfe, daß ſie unüberlegt gehandelt habe, und eigentlich wußte ſie nicht, was jetzt tun: nicht mehr am Fenſter ſitzen und dem jungen Offizier durch Nicht: beachtung die Luſt zu weiteren Schritten nehmen? oder den Brief zurückgeben? oder kalt und energiſch antworten? Niemand war da, der ihr raten konnte: ſie hatte keine Freundin, keinen Menſchen, deſſen Erfahrung fie ſich anvertrauen konnte. Und Liſa⸗ weta Iwanowna entſchloß ſich, den Brief zu beant⸗ worten.

Sie ſetzte ſich an den Schreibtiſch, legte Papier zu⸗ recht und nahm die Feder zur Hand, und verſank in

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Gedanken. Einige Male fing fie an aber immer wieder zerriß fie das Geſchriebene: bald war es viel zu freundlich, bald viel zu hartherzig. Endlich ge⸗ langen ihr einige Zeilen, die ſie befriedigten. „Ich bin überzeugt,“ ſchrieb fie „daß Ihre Ab: ſichten ehrenhaft find und daß Sie durch Ihren ип: bedachten Schritt mich nicht beleidigen wollten; allein es geht nicht an, daß unſere Bekanntſchaft auf dieſem Wege anfängt. Hier iſt Ihr Brief zurück und ich hoffe, ich werde fürder keinen Grund haben, mich über ип: verdiente Mißachtung beklagen zu müſſen.“

Als Liſaweta Iwanowna am Tage darauf den vorübergehenden Hermann erblickte, ſtand ſie von ihrem Stickrahmen auf, ging in den nebenan liegenden Salon, öffnete dort ein Fenſter und warf den Brief im Ver⸗ trauen auf die Gewandtheit des jungen Offiziers auf die Straße. Und ſchon war Hermann da und hatte ihn aufgehoben und verſchwand in einem Konditor⸗ laden. Er erbrach das Siegel und erblickte ſeinen Brief und ihre Antwort. Mehr konnte er nicht ег: warten, und ganz in die geſchickt angeknüpfte Intrige vertieft kehrte er heim.

Drei Tage darauf brachte ein jung und verſchmitzt ausſehendes Ladenfräulein ein Billett aus einer Mode⸗ handlung für Liſaweta Jwanowna. Dieſe öffnete es ein wenig beſorgt, denn fie erwartete eine Geldfor de⸗ rung vorzufinden, aber da hatte ſie auch ſchon Hermanns Handſchrift erkannt.

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„Es ift ein Irrtum, meine Liebe,“ fagte fie, „das Billett iſt nicht für mich.“

„Nein, es iſt ganz ſicher für Sie!“ entgegnete das dreiſte Mädchen und lächelte durchtrieben. „Bitte, leſen Sie nur!“ |

Liſaweta überflog das Papier. Hermann bat um eine Zuſammenkunft.

»Unmöglich,“ ſagte Liſaweta IJwanowna, ſowohl von der ÜUbereiltheit dieſes Verlangens als auch von der Art und Weiſe der Übermittlung erſchreckt, der Brief iſt beſtimmt nicht für mich.“

Und ſie zerriß ihn in kleine Stücke.

„Wenn der Brief nicht für Sie war, warum haben Sie ihn dann zerriſſen?“ entgegnete das Mädchen, „ich hätte ihn ja dem, der ihn geſchickt hat, zurück⸗ geben können.“

Liſaweta Iwanowna wurde feuerrot. „Liebes Kind, bringen Sie mir weiterhin keine ſolchen Briefe. Und dem, der Sie hergeſchickt hat, ſagen Sie, er ſolle ſich ſchämen.“

Doch Hermann gab keine Ruh. Jeden Tag erhielt Liſaweta Iwanowna bald auf dieſem, bald auf jenem Wege Briefe von ihm. Und jetzt waren es ſchon keine Überfegungen mehr aus dem Deutſchen. Hermann ſchrieb, was Leidenſchaft ihm diktierte, und ſchrieb es mit ſeiner eigenen Sprache: dieſe Briefe waren erfüllt von der Unbeugſamkeit feiner Wünſche und der Zer— fahrenheit feiner ungezügelten Phantaſie. Und Lifa:

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weta Iwanowna dachte nicht mehr daran, fie zurück⸗ zuſchicken: ſie berauſchte ſich an ihnen, ja, ſie ant⸗ wortete ſogar, und mit jedem Male wurden ihre Briefe länger und inniger. Und endlich warf ſie ihm durchs Fenſter folgenden Brief zu:

„Heute ИЕ der Ball beim ***fchen Geſandten. Die Gräfin wird dort ſein. Wir bleiben bis zwei Uhr nachts. Dies gibt eine Gelegenheit, mich allein anzu⸗ treffen. Sobald die Gräfin fort iſt, wird ſicher die Dienerſchaft ausgehen; nur der Portier bleibt da, aber auch er zieht ſich gewöhnlich in ſeine Kammer zurück. Kommen Sie um halb zwölf. Gehen Sie die Treppe hinauf. Wenn jemand im Vorraum iſt, fragen Sie, ob die Gräfin zu Hauſe ſei. Man wird Ihnen ant⸗ worten, ſie ſei nicht zu Hauſe und dann bleibt Ihnen nichts übrig, als wieder umzukehren. Wahr⸗ ſcheinlich jedoch wird Ihnen niemand begegnen. Die Kammerzofen halten ſich um dieſe Zeit alle in ihrem Zimmer auf. Aus dem Vorzimmer geht es nach links, und dann gehen Sie geradeaus bis zum Schlafzimmer der Gräfin. Im Schlafzimmer werden Sie hinter den Wandſchirmen zwei niedrige Türen erblicken: die rechter Hand führt in das Kabinett, das die Gräfin niemals betritt; die linker Hand aber in einen Gang, dortſelbſt iſt eine ſchmale Wendeltreppe: und dieſe bringt Sie in mein Zimmer.“

Den angeſetzten Zeitpunkt erwartend, bebte Her⸗ mann am ganzen Körper wie ein Tiger. Schon um

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zehn Uhr abends ſtand er vor dem Haufe der Gräfin. Es war ein greuliches Wetter: der Wind heulte, in ſchweren Flocken wirbelte naſſer Schnee; die La⸗ ternen brannten trübe; die Straßen waren leer. Hie und da ſchleppte ſich von einem mageren Gaul gezogen eine Droſchke vorbei, deren Kutſcher auf der Lauer nach verſpäteten Fahrgäſten lag. Obwohl Hermann nur im Rock daſtand, ſpürte er weder Wind noch Schnee. Endlich fuhr der Wagen der Gräfin vor. Hermann ſah, wie die Diener die in einen Zobelpelz gewickelte ganz zuſammengeſchrumpfte Gräfin in den Wagen hoben, ihr folgte in einem leichten Mäntel— chen, friſche Blumen im Haar, ihr Pflegekind. Der Wagenſchlag fiel zu. Schwerfällig ſetzte ſich auf dem lockeren Schnee die Kutſche in Bewegung. Der Portier ſchloß die Türe. In den Fenſtern wurde es dunkel. Vor dem leergewordenen Hauſe ſchritt Hermann auf und ab; endlich blieb er vor einer Laterne ſtehen und ſah auf die Uhr: es war zwanzig Minuten nach elf. Er blieb dort unter der Laterne ſtehen, die Augen auf den Uhrzeiger geheftet, um die noch übrig bleibenden Minuten abzuzählen. Punkt halb zwölf ſtieg er die Stufen zum Eingang empor und trat in den hell— erleuchteten Vorraum. Der Portier war nicht zu ſehen. Hermann flog die Treppe hinauf, öffnete die Tür zum Vorzimmer und erblickte dort einen Diener, der vor einer Lampe in einem altertümlichen, ziemlich

ſchäbigen Lehnſtuhl ſchlief. Mit leichtem, aber feſtem 285

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Schritt ging Hermann ап ihm vorbei. Der Salon und das Empfangszimmer waren dunkel. Die Lampe aus dem Vorzimmer gab nur ſpärliche Beleuchtung. Und dann kam das Schlafzimmer. Vor dem ganz mit alten Heiligenbildern angefüllten Schrein brannte ein goldenes Lämpchen. In einer trauervollen Sym⸗ metrie ſtanden an den mit chineſiſchen Tapeten be⸗ ſpannten Wänden die Seſſel mit ihren verblichenen Überzügen und die Sofas mit ihren Flaumkiſſen und der abgeſchabten Goldpolitur. An der Wand hingen zwei von Madame Lebrun in Paris gemalte Porträts. Das eine ſtellte einen Herrn von etwa vierzig Jahren in einem hellgrünen Uniformrock dar, auf ſeiner Bruſt glänzte ein Stern, ſein Geſicht war gerötet und voll; das andere eine junge Schöne mit kühn geſchwun⸗ gener Naſe, die Schläfen frei und eine Roſe im ge— puderten Haar. Überall ſtanden und lagen Porzellan⸗ ſchäferinnen, kleine Tiſchuhren, vom berühmten Leroy gefertigt, Schächtelchen, Fächer und alle jene verſchie⸗ denen Damenbijouterien, die das Ende des achtzehnten Jahrhunderts gleichzeitig mit dem Ballon des Mont⸗ golfier und dem Mesmerſchen Magnetismus uns ge⸗ bracht hat. Hermann ſchaute hinter die Wandſchirme. Dort war ein kleines Eiſenbett und rechts die Tür, die zum Kabinett führte und links die andere zum Korridor. Hermannöffnete dieſe und ſahdieſchmale Wendeltreppe, die zum Zimmer der armen Pflegetochter führte.. Allein er kehrte um und betrat das dunkle Kabinett.

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Die Zeit ging ungeheuer langſam. Im Haufe war alles ſtill. Eine Uhr im Empfangszimmer ſchlug zwölf: mal und eine nach der anderen ſchlugen die Uhren im ganzen Hauſe die zwölfte Stunde darauf war wieder Ruhe. Hermann ſtand an den kalten Ofen gelehnt. Er war ſehr ruhig; ſein Herzſchlag war feſt wie der eines Menſchen, der auf eine gefahrvolle, aber notwendige Sache losgeht. Die Uhren ſchlugen die erſte Stunde und ſchlugen die zweite Stunde, und dann kam von ferne das Raſſeln des Wagens. Eine un: willkürliche Erregung packte ihn. Der Wagen fuhr vor und hielt. Er hörte, wie man den Wagentritt herabließ. Im Hauſe wurde es unruhig. Schritte liefen, Stimmen klangen und es wurde hell. Drei alte Zimmermädchen eilten ins Schlafzimmer, halb: tot folgte ihnen die Gräfin und ließ ſich in einen tiefen Armſeſſel ſinken. Durch eine kleine Türſpalte konnte Hermann alles beobachten. Liſaweta Iwa— nomna glitt vorüber. Hermann hörte, wie fie eilig die Wendeltreppe hinauflief. In ſeinem Innern regte ſich etwas wie Gewiſſensbiſſe, ließ aber ſofort nach. Er war ſteinern.

Die Gräfin wurde vor dem Spiegel ausgezogen. Man nahm ihr die mit Roſen geſchmückte Haube ab; man nahm die gepuderte Perücke von ihrem grauen, faſt kahlgeſchorenen Schädel. Es war ein Regen von Stecknadeln. Das gelbe, mit Silber verbrämte Seiden⸗ kleid fiel zu ihren angeſchwollenen Füßen. Hermann

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wurde zum Zeugen all der widerlichen Geheimniſſe ihrer Toilette; endlich aber war ſie in Schlafrock und Nachthaube und in dieſem Aufzug, der mehr ihrem Alter entſprach, fand er Mi ie weniger abſcheulich und abftoßend.

Die Gräfin litt, wie alle alten Leute überhaupt, an Schlafloſigkeit. Nachdem ſie ausgekleidet war, ſetzte ſie ſich in den tiefen Lehnſtuhl am Fenſter und entließ die Zofen. Die Kerzen wurden hinausgetragen, und wieder beleuchtete nur das eine Lämpchen das Zimmer. Die Gräfin ſaß in ihrem Lehnſtuhl, ſie war ganz gelb, ihre herabhängenden Lippen bewegten ſich ſtumm und ihr Oberkörper ſchwankte bald nach rechts, bald nach links. Aus ihren trüben Augen ſprach kein Schimmer eines Gedankens; bei ihrem Anblick konnte man leicht auf die Vermutung kommen, es ſtammten die Be⸗ wegungen der greulichen Alten nicht aus ihrem Willen her, ſondern von der Einwirkung einer verborgenen galvaniſchen Kraft.

Plötzlich jedoch veränderte ſich das tote Geſicht un⸗ beſchreiblich. Die Lippen hörten auf, ſich zu bewegen, Leben trat in die Augen: ein unbekannter Mann ſtand vor der Gräfin.

„Erſchrecken Sie nicht, um Gottes willen, keine Furcht!“ ſprach er mit deutlicher, aber leiſer Stimme: „Ich kam nicht mit der Abſicht, Ihnen zu ſchaden; ich kam, um Sie um eine Gnade anzuflehen.“

Die Alte ſah ihn ſtumm an, und es war, als hätte

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fie nichts gehört. Hermann dachte, fie könnte vielleicht ſchwerhörig ſein; er beugte ſich zu ihrem Ohr und wiederholte die gleichen Worte. Die Alte ſchwieg wie zuvor.

„Sie können“, ſprach Hermann weiter,, mich glück⸗ lich machen und es wird Sie nichts koſten: ich weiß, Sie haben die Fähigkeit, drei aufeinanderfolgende Karten zu erraten ..“

Hermann hielt ein. Es ſchien, die Gräfin hatte be⸗ griffen, was er wollte; es ſchien, ſie ſuche nach Worten, um ihm zu antworten.

„Nur ein Scherz,“ ſagte ſie endlich: „ich ſchwörs, es war nur ein Scherz!“

„Damit ſcherzt man nicht,“ entgegnete Hermann aufgebracht: „Denken Sie an Tſchaplitzkij und wie Sie ihm geholfen haben, ſeinen Spielverluſt wieder zurückzugewinnen.“

Die Gräfin war ſichtbar beſtürzt. Ihre Züge ver- rieten eine ſtarke Gemütsbewegung; aber nicht lange und fie fiel wieder in ihren vorigen Zuſtand der Ge: fühlloſigkeit.

„Könnten Sie“, fuhr Hermann fort, „mir nicht dieſe drei Gewinnkarten bezeichnen?“

Die Gräfin ſchwieg; Hermann ſprach weiter:

„Für wen hüten Sie dieſes Geheimnis? Für Ihre Enkel etwa? Die ſind ſowieſo reich, ſie kennen nicht einmal den Wert des Geldes. Einem Verſchwender

helfen Ihre drei Karten nicht. Wer nicht einmal das

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väterliche Erbe zu wahren verſteht, wird, mögen ihm auch Dämonen Hilfe leiſten, ſowieſo in Armut um⸗ kommen. Ich dagegen bin kein Verſchwender; ich kenne den Wert des Geldes. Bei mir ſind Ihre drei Karten wohl angewandt. Sagen Sie ſie! ...“

Er verſtummte und wartete bebend auf ihre Ant— wort. Die Gräfin ſchwieg; Hermann fiel vor ihr auf die Kniee.

„Wenn jemals,“ ſprach er, „wenn Ihr Herz je⸗ mals das Gefühl der Liebe erfuhr, wenn Sie die Selig⸗ keiten, die ſie ſchenkt, erkannten, wenn Sie beim An⸗ blick Ihres neugeborenen Sohnes auch nur einmal gelächelt haben, wenn jemals eine menſchliche Regung in Ihrer Bruſt pochte, fo flehe ich Sie an, fo Ве: ſchwöre ich Sie bei den Gefühlen der Frau, der Ge- liebten, der Mutter, ja, bei allem, was im Leben heilig iſt, ſchlagen Sie mir dieſe Bitte nicht ab, ſagen Sie mir Ihr Geheimnis, was kannes Ihnen noch bedeuten? ... Hängt es vielleicht mit einem furchtbaren Frevel zu— ſammen, mit dem Verluſte der ewigen Seligkeit, einem Bund mit dem Teufel? ... Bedenken Sie: Sie find alt; Sie haben nicht mehr lange zu leben ich aber

bin bereit, Ihre Sünde auf meine Seele zu nehmen.

Nur eröffnen Sie mir Ihr Geheimnis. Bedenken Sie, in Ihrer Hand liegt das Glück eines Menſchen; Бе: denken Sie, nicht nur ich, auch meine Kinder, meine Enkel, meine Urenkel werden Sie ſegnen und werden Ihr Angedenken ehren, wie man ет Heiligtum ehrt...“

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Aber die Alte entgegnete kein Wort. Hermann er: hob ſich. „Hexe!“ ſprach er zähneknirſchend, „alte Hexel fo will ich Dich zwingen, mir zu antworten ...“ Mit dieſen Worten zog er eine Piſtole aus der Taſche.

Beim Anblick der Piſtole zeigte die Gräfin zum zweiten Male eine außerordentliche Erregung. Ihr Kopf geriet in Bewegung, ſie erhob die Hand, als wolle fie den Schuß abwehren ... dann ſank fie nach vorn . . . und regte ſich nicht mehr.

„Keine Kindereien,“ ſagte Hermann und ergriff ihre Hand. „Ich frage Sie zum letztenmal: wollen Sie mir Ihre drei Karten bezeichnen? ja oder nein?“

Die Gräfin gab keine Antwort. Hermann bemerkte, daß ſie tot war.

IV

(7. Mai 18**) Homme sans moeurs et sans religion! Ein Briefwechſel

Noch immer in ihrem Ballkleide {ав Liſaweta Iwa⸗ nowna tief in Gedanken verſunken in ihrem Zim— mer. Nach Hauſe gekommen war es ihr erſtes, die verſchlafene Zofe, die ihr ſowieſo nur ungern behilf— lich war, mit den Worten, fie wolle ſich allein aus⸗ kleiden, fortzuſchicken und darauf zitternd in ihr Zim⸗ mer zu eilen, wo ſie Hermann vorzufinden hoffte und eigentlich nicht vorzufinden wünſchte. Schon der erſte Blick zeigte ihr, daß er nicht da war, und ſie dankte ihrem Schickſal für das Hindernis, das dieſe Zuſam—

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Pique Dame

menkunft vereitelt hatte. Sie ſetzte ſich, ohne ſich aus— zukleiden, und dachte ап all die Ereigniffe, die in fo kurzer Zeit Пе jo weit geführt hatten Noch waren keine drei Wochen ſeit jenem Tage vergangen, an dem ſie zum erſten Male den jungen Mann durchs Fenſter erblickt hatte und ſchon ſtand ſie mit ihm nicht nur im Briefwechſel, nein, fie hatte ihm ſogar eine nächt⸗ liche Zuſammenkunft bewilligt! Sein Name war ihr bekannt, weil er einige ſeiner Briefe unterzeichnet hatte; aber noch nie hatte ſie mit ihm geſprochen, nie ſeine Stimme gehört, ja, noch nie von ihm ſprechen gehört... nie, bis zum heutigen Abend. Wie ſonder⸗ bar! Tomskij hatte ſich an dieſem Abend auf dem Ball über die Fürſtin Pauline ®®® geärgert, die, ent⸗ gegen ihrer ſonſtigen Gewohnheit, diesmal nicht mit ihm kokettierte, und beſchloß, ſich zu rächen und den Gleichgültigen zu fpielen: er bat Liſaweta Iwanowna um einen Tanz und ſo tanzten ſie eine jener endloſen Maſurkas. Er neckte ſie mit ihrer Vorliebe für Genie⸗

offiziere, er beteuerte, er wiſſe viel mehr, als fie ап: | |

nehmen könnte, und einige feiner Scherze waren ſo geſchickt gezielt, daß Liſaweta Iwanowna einige Male tatſächlich glaubte, ihr Geheimnis ſei ihm bekannt. „Wer hat Ihnen das alles geſagt?“ fragte fie lachend. | „Ein Freund jener Ihnen bekannten Perſon,“ ent: gegnete Tomskij, „ein ſehr merkwürdiger Menſch!“ „Und wer iſt dieſer merkwürdige Menſch?“

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Dique Dame

„Er heißt Hermann.“

Liſaweta Iwanowna antwortete nichts, aber ihre Hände und Füße wurden zu Eis...

„Dieſer Hermann“, fuhr Tomskij fort, „iſt beſtimmt eine Romanfigur: ſein Profil erinnert an Napoleon und Mephiſto iſt er in ſeinem Innern. Ich denke, er hat mindeſtens drei Untaten auf ſeinem Gewiſſen. Aber wie blaß Sie geworden ſind! ...“

„Ich habe Kopfweh ... Und was ſagte Ihnen denn dieſer Hermann ... oder wie nannten Sie ihn doch ...“

„Hermann iſt mit ſeinem Freunde gar nicht zu— frieden: er hätte an ſeiner Stelle ganz anders ge— handelt, ſagt ег... Ich nehme fogar an, daß Her: mann ebenfalls Abſichten auf Sie hat; zum mindeſten iſt es ihm unmöglich, die verliebten Redensarten ſeines Freundes ruhig anzuhören.“

„Wo hat er mich denn geſehen?“

„In der Kirche, beim Spazierengehen, was weiß ich! ... vielleicht ſogar in Ihrem Zimmer, während Sie ſchliefen: ich traue ihm alles зи...“

Das Geſpräch wurde an dieſer Stelle von drei Damen, die mit der Frage „oubli ou regret!“ heran⸗ traten, unterbrochen, ein Geſpräch, das für Liſaweta Iwanowna quälend intereſſant geworden war.

Tomskij hatte ſich als Dame die Fürſtin Pauline ss erwählt. Sie tanzten einmal um den Saal und ſchon war die Verſtändigung da. Als Tomskij zu ſeinem

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Pique Dame

Platz zurückkehrte, dachte er weder an Hermann, noch

an Liſaweta IJwanowna. Dieſe wollte allerdings das unterbrochene Geſpräch wieder aufnehmen, aber da war die Maſurka zu Ende, und bald darauf brach die alte Gräfin auf.

Die Worte Tomskijs waren nichts als ein Geſchwätz beim Tanz; aber tief ſanken ſie in die Seele der jungen Träumerin. Das Porträt, das Tomskij ſkizziert hatte, ähnelte ſo ſehr jenem Bilde, das ſie ſich ſelbſt gemacht hatte, daß ſie, dank der Lektüre der neueſten Romane, vor dieſem eigentlich ganz gewöhnlichen Geſicht Furcht empfand, zumal es ihre Phantaſie ſtark beſchäftigte. So ſaß ſie gedankenverloren da, die nackten Arme ge⸗ kreuzt und den noch immer mit Blumen geſchmückten Kopf auf die entblößte Bruſt geſenkt ... Plötzlich ging die Türe auf und Hermann trat ein. Sie erſchauerte.

„Wo ſteckten Sie denn?“ flüſterte ſie erſchreckt.

„Im Schlafzimmer der alten Gräfin,“ antwortete Hermann. „Ich komme eben von dort. Die Gräfin iſt tot.“

„Um Gottes willen! ... tot, ſagen Sie? ...“

„Und es ſcheint,“ fuhr Hermann fort, „daß ich die Urſache ihres Todes bin.“

Liſaweta Iwanowna ſah ihn ſchärfer an und fie erinnerte ſich an die Worte Tomskijs: Dieſer Menſch hat mindeſtens drei Untaten auf dem Ge:

wiſſen! Hermann ſetzte ſich auf das Fenſterbrett

und begann, ihr alles zu erzählen.

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Pique Dame

Schaudernd vernahm Liſaweta Iwanowna feinen Bericht. Alſo waren dieſe leidenſchaftlichen Briefe, dieſe flammenden Wünſche, dieſe dreiſte, dieſe beharr—

liche Verfolgung all das war nicht Liebe geweſen!

Nur Geld! danach nur lechzte ſeine Seele! Nicht ſie war es, die ſein Verlangen ſtillen, die ihm das Glück geben konnte! Das arme Pflegekind war nichts anderes als die blinde Verbündete eines Räubers, des Mörders ihrer Wohltäterin! ... In ſpäter, in quälender Reue ſchluchzte fie bitter. Schweigend blickte Hermann ſie an: auch in ſeinem Herzen war Qual; aber weder die Tränen des armen Mädchens noch die wunderbare Schönheit ihres Kummers bewegten ſeine harte Seele. Er fühlte beim Gedanken an die tote Alte keine Gewiſſensbiſſe. Nur das eine entſetzte ihn: daß nun jenes Geheimnis, von dem er Reichtum erwartet hatte, unwiederbringlich ver— loren war.

„Sie ſind ein Ungeheuer!“ vermochte Liſaweta Iwanownc endlich hervorzubringen.

„Ich habe ihren Tod nicht gewollt,“ erwiderte Her⸗ mann, „meine Piſtole war nicht einmal geladen.“

Und ſie verſtummten beide.

Der Morgen kam. Liſaweta Iwanowna löſchte die völlig heruntergebrannte Kerze aus: bleich drang das Licht ins Zimmer. Sie trocknete die verweinten Augen und blickte Hermann an: er ſaß auf dem Fenſter⸗ brett, die Arme gekreuzt und die Stirn düſter gerunzelt.

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Pique Dame

In dieſer Stellung war feine Ahnlichkeit mit dem Porträt Napoleons überraſchend.

„Wie kommen Sie aus dem Haufe?“ fagte Liſa⸗ weta Iwanowna endlich. „Ich wollte Sie eigentlich über die geheime Treppe führen, aber um zu ihr zu gelangen, muß man am Schlafzimmer vorbei und ich fürchte mich.“

„Erklären Sie mir nur, wie ich dieſe geheime Treppe finde; ich komme dann ſchon allein hinaus.“

Liſaweta Iwanowna ſtand auf und holte einen Schlüſſel aus ihrer Kommode, ſie gab ihn Hermann und ſchilderte ihm, wie er hinaus könnte. Hermann nahm ihre Hand, die kalt war und leblos, und drückte einen Kuß auf ihr geſenktes Haupt; dann ging er.

Er ſchritt die Wendeltreppe hinab und trat aufs neue in das Schlafzimmer der Gräfin. Die tote Gräfin ſaß noch in der gleichen Stellung, regungslos wie Stein; ihr Antlitz drückte die tiefſte Ruhe aus. Her⸗ mann blieb vor ihr ſtehen und ſah ſie lange an, als wollte er ſich von der ſchrecklichen Wahrheit über⸗ zeugen; darauf betrat er das Kabinett, taſtete hinter der Tapete nach der Geheimtür und ſtieg von ſonderbaren Gefühlen erregt die Treppe hinab. „Auf dieſer ſelben Treppe“ dachte er ſchlich vielleicht vor ſechzig Jahren um die gleiche Stunde in reichem Gewande, friſiert A l’oiseau royal, den Dreimaſter an die Bruſt gedrückt, ein junger Glückspilz, der ſchon längſt im

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Sarge vermodert ift, zu dieſem felben Schlafzimmer; das Herz aber ſeiner uralten Geliebten hat heute auf— gehört зи ſchlagen ...“

Beim Ausgang der Treppe fand Hermann die Tür, zu der er den Schlüſſel erhalten hatte, und ſtieß auf einen Durchgang, der ihn auf die Straße führte.

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In dieſer Nacht erſchien mir die verſtorbene

Baroneſſe von W“. Sie war ganz in Weiß

und ſprach zu mir: „Guten Abend, Herr Rat!“ Swedenborg

Drei Tage nach jener Schickſalsnacht begab ſich Hermann um neun Uhr morgens zum 5 ſchen Kloſter, in deſſen Kapelle das Totenamt für die ver: ſtorbene Gräfin ſtattfinden ſollte. Wenn er auch keine Reue empfand, dennoch konnte er die Stimme des Gewiſſens, die ihm unaufhörlich zuraunte: der Mör— der der Alten biſt du! nicht völlig erſticken. Es war wenig lebendiger Glauben in ihm, dafür jedoch viel Aberglauben. So glaubte er zum Beiſpiel, daß die tote Gräfin einen verderblichen Einfluß auf fein mei: teres Leben haben könnte, und entſchloß ſich, zu ihrer Beerdigung zu gehen, um womöglich durch dieſe Tat ihre Verzeihung zu erlangen!

Die Kirche war überfüllt. Nur mit großer Mühe gelang es Hermann, durch die Menſchenmenge nach vorn zu kommen. Der Sarg ſtand auf einem reich— geſchmückten Katafalk unter einem Baldachin aus

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Samt. Die Verſtorbene lag darin, die Hände über der Bruſt gefaltet; man hatte ſie mit einer Spitzen⸗ haube und einem weißen Atlasgewand bekleidet. Rings⸗ um ſtanden die Hausgenoſſen: in ſchwarzen Leibröcken, mit breiten Wappenbändern über der Schulter und Kerzen in der Hand die Diener; und in tiefer Trauer⸗ kleidung die Angehörigen, die Kinder, Enkel und Ur⸗ enkel. Keines weinte; Tränen wären ja hier nur une affectation geweſen. Die Gräfin war ſo ungeheuer alt geworden, daß niemand von ihrem Tode erſchüttert wurde, hatten doch ihre Verwandten ſie ſchon lang als etwas Überlebtes angeſehen. Die Grabrede hielt ein junger Biſchof. In einfachen und rührenden Worten ſchilderte er den friedevollen Hingang der Gottſeligen, deren lange Lebensjahre nur eine ſtille, nur eine troſt— volle Vorbereitung auf das Ende einer Chriſtin де: weſen ſeien. „Und ſo betrat ſie der Engel des Todes,“ ſchloß der Redner, „wachend in gottgefälligen Gedanken und erwartend den Bräutigam, der da kommet von Mitternacht.“ Der Gottesdienſt ging mit trauervoller Würde zu Ende. Die Verwandten nahmen als erſte von der Leiche Abſchied. Dann traten all die vielen Bekannten heran, die gekommen waren, jener, die ſo lange an ihren eitlen Vergnügungen teilgenommen, die letzte Ehre zu erweiſen. Danach kamen die Haus⸗ genoſſen. Endlich näherte ſich auch eine uralte Kammer⸗ frau dem Sarge, eine Altersgenoſſin der Verſtorbenen. Sie wurde von zwei Mädchen geführt. Sie hatte nicht

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die Kraft mehr, die vorgeſchriebene Verbeugung bis zur Erde zu machen aber ſie war die einzige, die einige Tränen vergoß, als ſie die kalte Hand ihrer Herrin mit den Lippen berührte. Hermann entſchloß ſich, nach ihr an den Sarg zu treten. Er verbeugte ſich bis zur Erde und lag einige Minuten auf dem kalten mit Tannenreiſig beſtreuten Fußboden; er erhob ſich, bleich wie die Tote, ſchritt die Stufen des Katafalks langſam hinauf und verneigte fi)... Und da war ihm, die Tote blinzele ihm mit einem Auge zu und lächele ſpöttiſch. Hermann wich haſtig zurück, trat fehl und ſtürzte rücklings hin. Er mußte aufge⸗ hoben werden. Gleichzeitig wurde auch die in Ohn— macht liegende Liſaweta Iwanowna hinausgetragen. Die Feierlichkeit der düſteren Zeremonie wurde durch dieſen Zwiſchenfall auf kurze Zeit unterbrochen. Unter den Anweſenden erhob ſich ein verhaltenes Murmeln und ein magerer Kammerherr, ein naher Verwandter der Verſtorbenen, flüſterte einem neben ihm ſtehenden Engländer ins Ohr, der junge Offizier ſei ein unehe— liches Kind der Gräfin, worauf der Engländer trocken und kalt nur erwiderte: Oh?

Den ganzen Tag über war Hermann außergemöhn: lich verſtimmt. Zu Mittag ſpeiſte er in einem abge— legenen Reſtaurant und trank, da er hoffte, es würde ihm gelingen, ſeiner inneren Aufregung Herr zu wer— den, gegen ſeine Gewohnheit unmäßig. Aber der Wein entzündete ſeine Einbildungskraft nur noch viel mehr.

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Nach Haufe gekommen warf er fich, ohne fich aus⸗

zuziehen, aufs Bett und ſchlief ſofort ein.

Mitten in der Nacht wachte er auf: der Mond ſchien in ſein Zimmer. Er blickte auf die Uhr: es war ein Viertel vor drei. Der Schlaf war ihm vergangen; er richtete ſich im Bett auf und dachte an die Beerdi- gung der alten Gräfin.

Da blickte plötzlich jemand von der Straße durchs Fenſter und verſchwand. Hermann beachtete es nicht. Darauf hörte er, wie jemand die Tür zum Vorzimmer aufſchloß. Er dachte, es ſei der Diener, der, betrunken wie gewöhnlich, von einem nächtlichen Ausflug heim: kehre. Aber da vernahm er auch ſchon einen Gang, der ihm unbekannt war: es war, als ſchlurfe jemand in Pantoffeln. Die Tür flog auf: eine Frau, ganz weiß gekleidet, trat ein. Hermann hielt ſie für ſeine alte Kinderfrau und wunderte ſich, was ſie um eine ſolche Stunde wohl hertreiben könnte? Aber die weiße Frau glitt heran und ſtand plötzlich dicht vor ihm und da erſt erkannte Hermann die Gräfin!

„Gegen meinen Willen komme ich zu dir,“ ſprach ſie mit feſter Stimme, „mir wurde befohlen, deine Bitte zu erfüllen. Drei, Sieben und gewinnen eine nach der andern, wenn du täglich nicht mehr als eine Karte ſetzeſt; nie wieder jedoch darfſt du ſpielen. Ich ver⸗ zeihe dir meinen Tod, wenn du mein Pflegekind Liſaweta Iwanowna heirateſt ...“

Nach dieſen Worten drehte ſie ſich unhörbar um,

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glitt zur Tür und verſchwand, mit den Pantoffeln ſchlurfend. Hermann hörte noch, wie die Haustür zu— geſchlagen wurde, und ſah noch, wie jemand durchs Fenſter hereinſah.

Es dauerte lange, bevor er zur Beſinnung kam. Er ging ins Nebenzimmer. Dort ſchlief ſein Diener auf dem Fußboden; Hermann hatte Mühe, ihn aufzu— wecken. Der Diener war betrunken wie immer, und es war unmöglich, von ihm etwas zu erfahren. Die Haustür war verſchloſſen. Hermann kehrte in ſein Zimmer zurück, zündete eine Kerze an und brachte das Erlebnis zu Papier.

VI

In der geiſtigen Welt können zwei fixe Ideen nicht nebeneinander beſtehen, genau fo, wie in der phy: ſiſchen Welt zwei Körper nicht gleichzeitig den gleichen Raum ausfüllen können. Das Bild der toten Alten wurde in Hermanns Phantaſie ſehr bald von Drei, Sieben und verdrängt. Drei, Sieben und Aß, das wich ihm nicht aus dem Kopf und nicht von den Lippen. Sah er ein junges Mädchen, fo ſagte er: „Wie ſchlank ſie iſt! ganz wie Coeur Drei.“ Fragte man ihn: „Wie ſpät iſt es?“ entgegnete er: „Fünf Minuten vor der Sieben.“ In jedem Dickwanſt ſah er das Aß. Noch bis in den Traum hinein verfolgten ſie ihn, die Drei, Sieben und und nahmen alle möglichen Geſtalten an; die Drei erblühte als eine phantaſtiſche

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Wunderblume, die Sieben erinnerte an ет gotiſches Portal, aber das kam dann als eine ungeheure Spinne. In all ſeinen Gedanken war nur das eine das Geheimnis ausnutzen, das ihm ſo teuer zu ſtehen gekommen war. Er gedachte den Abſchied zu nehmen und auf Reiſen zu gehn. In den öffentlichen Spiel⸗ klubs von Paris wollte er der verzauberten Fortung den Schatz entreißen. Ein Zufall erſparte ihm die Mühe.

Unter dem Vorſitz des famoſen Tſchekalinskij, der ſein ganzes Leben mit den Karten verbracht und ſchon Millionen erworben hatte, indem er bares Geld рег: lor, aber Wechſel gewann, unter ſeinem Vorſitz alſo wurde in Moskau eine Geſellſchaft reicher Spieler gegründet. Seine langjährigen Erfahrungen ſicherten ihm das Vertrauen ſeiner Geſellſchafter, ſein offenes Haus jedoch, ſein glänzender Koch und ſeine perſönliche Liebenswürdigkeit und Luſtigkeit verſchafften ihm die Gunſt des Publikums. Er kam nach Petersburg. Die ganze Jugend ſtrömte ihm zu, man vergaß über den Karten die Bälle und zog den Betörungen jeder Liebelei die Verführungen des Pharaos vor. Und hierher wurde Hermann von Narumow gebracht.

Sie ſchritten durch eine Reihe prächtiger Gemächer, überall ſtanden gut geſchulte Lakaien. Die Räume waren überfüllt. Mehrere Generäle und Geheimräte ver— gnügten ſich am Whiſt; die Jugend ſaß auf weichen Diwans, man rauchte ſeine Pfeife und Eis. Im

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Salon faß der Hausherr an einem langen Tiſch, um den ſich einige zwanzig Spieler drängten, und hielt die Bank. Er mochte etwa ſechzig Jahre alt ſein und ſah ſehr würdig aus; ſilberweißes Haar bedeckte ſein Haupt, aus ſeinem vollen und friſchen Geſicht ſprach Gutmütigkeit, ſeine glänzenden Augen lächelten ſtets. Narumow ſtellte ihm Hermann vor. Freundſchaftlich drückte Tſchekalinskij ihm die Hand, bat ihn, ſich ganz wie zu Hauſe zu fühlen, und fuhr fort, die Bank zu halten.

Die Taille wollte nicht enden. Mehr als dreißig Karten lagen auf dem Tiſch. Nach jedem Spiel machte Tſchekalinskij eine kleine Pauſe, um den Spielern Zeit zur Überlegung zu geben, er notierte die Verluſte, hörte höflich jeden Wunſch an und entfernte noch höf— licher eine überflüſſig umgebogene Kartenecke, die von zerſtreuter Hand gebogen worden war. Endlich war die Taille zu Ende. Tſchekalinskij miſchte die Karten und machte Anſtalten, mit einer neuen zu Бе: ginnen.

„Iſt es erlaubt, eine Karte zu ſetzen?“ fragte Her: mann und ſtreckte die Hand hinter einem dicken Herrn, der ebenfalls pointierte, hervor.

Tſchekalinskij lächelte nur und verbeugte ſich ſchwei⸗ gend, zum Zeichen des Einverſtändniſſes. Narumow beglückwünſchte Hermann zur endlichen Entſcheidung nach ſo langem Faſten und prophezeite ihm glücklichen Beginn.

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„Einverſtanden!“ ſagte Hermann und ſchrieb mit Kreide die Summe auf ſeine Karte.

„Wie hoch?“ fragte, die Augen zuſammenkneifend, der Bankhalter. „Vergebung, ich kann es nicht ent⸗ ziffern.“

„Siebenundvierzigtauſend,“ antwortete Hermann. Bei dieſen Worten fuhren im Augenblick alle Köpfe herum und alle Augen richteten ſich auf Hermann.

„Er iſt toll!“ dachte Narumow.

„Geſtatten Sie mir die Bemerkung,“ warf Tſcheka⸗ linskij mit ſeinem unveränderten Lächeln ein. „Ihr Spiel iſt hoch; es iſt hier noch nie höher als zwei⸗ hundertfünfundſiebzig ſimple geſetzt worden.“

„Nun, und?“ erwiderte Hermann. „Nehmen Sie das Spiel an oder nicht?“

Tſchekalinskij verneigte ſich mit dem Ausdruck des gleichen friedfertigen Einverſtändniſſes.

„Ich muß Sie nur noch auf eines aufmerkſam machen,“ ſagte er, „daß, da ich das Vertrauen meiner Geſellſchafter genieße, ich nicht anders ſpielen darf als gegen bares Geld. Ich meinerſeits bin natürlich vollkommen davon überzeugt, daß Ihr Wort genügt, muß Sie aber dennoch der Ordnung des Spieles und der Abrechnung halber erſuchen, Ihren Einſatz auf Ihre Karte zu legen.“

Hermann nahm ein Bankbillett aus der Taſche und gab es Tſchekalinskij, dieſer ſah es flüchtig an und legte es dann auf Hermanns Karte.

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Die Karten fielen. Rechts neun, links drei.

„Gewonnen!“ ſagte Hermann und wies ſeine Karte vor. Ein Gemurmel erhob ſich rings. Tſchekalinskij runzelte die Stirn; aber gleich war fein Lächeln mie- der da.

„Wollen Sie die Summe ausbezahlt?“ fragte er Hermann. a

„Tun Sie mir den Gefallen.“

Tſchekalinskij entnahm ſeiner Taſche einige Bank⸗ noten und zählte die Summe ab. Hermann empfing das Geld und verließ den Tiſch. Narumow war völlig faſſungslos. Hermann trank ein Glas Limonade und ging nach Hauſe. f

Am Abend des andern Tags erſchien er wieder bei Tſchekalinskij. Der Hausherr hielt die Bank. Her⸗ mann trat an den Tiſch, man machte ihm ſofort Platz. Tſchekalinskij begrüßte ihn liebenswürdig.

Hermann wartete auf die neue Taille, dann ſetzte er ſeine Karte und legte ſeine ſiebenundvierzigtauſend und den geſtrigen Gewinn darauf.

Tſchekalinskij gab aus. Rechts fiel ein Bube, die Sieben links.

Hermann zeigte eine Sieben.

Ein Ausruf rings. Tſchekalinskij war ſichtlich ver⸗ ſtört. Er zählte vierundneunzigtauſend ab und über: gab ſie Hermann. Kaltblütig nahm Hermann das Geld entgegen und ging ſofort weg.

Und am folgenden Abend erſchien Hermann wieder.

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Alles erwartete ihn; die Generäle und die Geheimräte verließen fogar ihren Whiſt, um ein fo ungemwöhn: liches Spiel mitanzuſehen. Die jungen Offiziere ſpran⸗ gen von ihren Diwans, ja, ſelbſt die Lakaien drängten ſich in den Salon. Alles ſcharte ſich um Hermann. Die übrigen Spieler ließen ihre Karten und waren voll Ungeduld, wie das enden würde. Hermann ſtand am Tiſch und traf Anſtalt, ganz allein gegen den bleichgewordenen Tſchekalinskij zu pointieren. Jeder von beiden öffnete ein Spiel neuer Karten. Tſcheka⸗ linskij miſchte. Hermann hob ab und ſetzte dann ſeine Karte, die von einem Berg von Banknoten bedeckt wurde. Es war faſt wie ein Zweikampf. Tiefes Schwei⸗ gen war ringsum.

Tſchekalinskijs Hände zitterten, als er ausſpielte. Rechts lag die Dame, links das Aß.

„Aß hat gewonnen!“ ſagte Hermann und wies ſeine Karte.

„Ihre Dame hat verloren,“ entgegnete ihm Tſcheka⸗ linskij.

Hermann erſchauerte: und tatſächlich, er hielt an Stelle eines Aſſes in ſeiner Hand die Pique Dame. Er wollte ſeinen Augen nicht trauen, er konnte nicht be⸗ greifen, wie es möglich geweſen war, daß er ſo fehl⸗ greifen konnte.

Plötzlich war ihm, als hätte die Pique Dame ihm zugezwinkert und gelächelt. Die ungewöhnliche Ahn⸗ lichkeit kam ihm zum Bewußtſein .

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„Die Alte!“ ſchrie er entſetzt.

Ts chekalinskij ſtrich den Gewinn ein. Hermann ſtand regungslos. Als er den Tiſch verließ, wurde das Ge⸗ ſpräch laut. „Vortrefflich geſpielt!“ meinten die Spie⸗ ler. Tſchekalinskij miſchte von neuem: das Spiel nahm ſeinen Lauf.

Zum Beſchluß

Hermann wurde geiſtesgeſtört. Er wurde im Obu⸗ chowſchen Krankenhaus, Nummer ſiebzehn, unter⸗ gebracht; er antwortet auf keine Frage, aber unauf: hörlich murmelt er ungewöhnlich ſchnell vor ſich hin: „Drei, Sieben, Aß! Drei, Sieben, Dame! ...“

Liſaweta IJwanowna hat einen ſehr angenehmen jungen Mann geheiratet; er iſt irgendwo in Staats— dienſten und beſitzt ein hübfches Vermögen: er ift der Sohn eines ehemaligen Angeſtellten der alten Gräfin, eines Verwalters. Liſaweta Iwanowna hat eine arme Verwandte als Pflegekind in ihr Haus genommen.

Und Tomskij avancierte zum Rittmeiſter und hat ſich mit der Fürſtin Pauline verheiratet.

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Herausgegeben von A. Eliasberg und J. v. Guenther

Einband zeichnung von Benno Eggert. In drei Bänden. Band I: Rußland, wie es ward. 335 Seiten mit 8 Bildern. Geb. M 8.—. Band II: Rußland, wie es ſich darſtellt. 376 Seiten mit 8 Bildern. Geb. M 8.—. Band III: Ruß⸗ land, wie es fühlt. 420 Seiten mit 8 Bildern. Geb. Mg —. Bd. I-III in ſchöner Kaſſette M 25.—. Soeben erſchienen

In dieſem dreibändigen Werke unternehmen es die beiden vorzüglichſten Kenner und Überſetzer ruſſiſcher Literatur nach ſachkundiger Auswahl und Zuſammenſtellung der ſtoffreichſten, charakteriſtiſchſten und farbigſten Stücke der erzählenden Literatur Rußlands ein umfaſſendes und ebenſo getreues, wie lebendiges Kulturbild zu komponieren. Der erſte Band zeigt uns feſſelnde Bilder aus der Geſchichte Rußlands, der zweite führt uns in das ruſſiſche Privatleben ein und der dritte erſchließt dem Leſer das Innerſte des Ruſſen, ſein religidjes Leben. Beſtimmend für die Auf- nahme der einzelnen Geſchichten war deren kulturgeſchichtlicher Gehalt. Gleichwohl ergibt ſich, da ſelbſtverſtändlich nur die bedeutenden echten Schriftſteller ihres Landes in Betracht kamen, ein nahezu umſpannendes und äußerſt reichhaltiges Bild der ruſſiſchen Literatur. Es iſt ein über⸗ aus fruchtbarer Gedanke, mit Hilfe der Erzähler die mannigfaltigen Lebensformen des heiligen Rußland uns anſchaulich nahekommenzu laſſen.

Nicht bloß ein Schmuck, ſondern ein weſentliches Mittel zur weiteren Verlebendigung des Gebotenen ſind die den drei Bänden beigegebenen 24 Illuſtrationen. Sie zeigen Porträts von Zaren, Miniſtern, hervor⸗ ragenden Perſönlichkeiten Rußlands und Szenen aus dem intimen Leben der Familie und des Privatlebens. Auch das religiöſe Leben der Ruſſen mit ſeinen Prieſtern, Prozeſſionen, Kulten wird im Bilde dargeſtellt. Das illuſtrative Material iſt hervorragenden ruſſiſchen, zeitgenöſſiſchen Malern entnommen. |

C. H. Зе [фе Verlagsbuchhandlung München C. H. Beckſche Buchdruckerei in Nördlingen

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Novellen. Deutsch von Johannes v. Guenther.

418813

Pushkin, Aleksandr Sergyeevich

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