Oeean und Mittelmeer. er Heifebriecfe von Carl Vogt. Erſter Band. 0 Frankfurt am Main. Literariſche Anſtalt. (J. Rutlen.) 4 8. N * 8 8 65 ff 7 4 I" 5 y e * x 1 ** * BE ER a er * * 363 8 17 u dacht' ich, nach vielem Rennen und Laufen * * ar 8. Statt einer Porrede. Pornic, 19. September 1847. Lieber Freund und Reiſegefährte! Eben wollte mein gewöhnlicher Secretär ſich hinſetzen und Ihnen ſchreiben, als ſich denn doch ein ſchwaches Schamgefühl meiner bemei— ſterte, und mir den heroiſchen Entſchluß beibrachte, eigenhändig das kleine Geſchäft zu vollbringen. Ich thue es weniger, um Ihnen von mir Nach— richt zu geben, als in der Hoffnung, auf dieſe Weiſe bald ein Lebenszeichen von Ihnen zu erhalten. Seit der letzten flüchtigen Erſcheinung Ihrer Schweſter iſt uns das ganze Haus Vogt BG jo zu ſagen abhanden gekommen; — nur von den zoologiſchen Succeſſen des würdigen Pro— feſſors dringt zuweilen durch die Allgemeine ein Wort zu uns. Selbſt von dem erſten Akte der Komödie, d. h. der beſprochenen Inauguralrede haben wir bis zur Stunde noch nichts vernom— men, und bitten um dieſe, fo wie um die Fort- ſetzung der übrigen berühmten Werke. Apropos! Was hat's denn fuͤr eine Bewandtniß mit den angekündigten phyſiologiſchen Briefen vom Meere? Saint Malo? Nizza? Im letzteren Falle, wie ſchade, daß wir unſere Reiſe nicht erſt dieſen Winter machen! Der Papſt und der Sarde nehmen das Maul recht voll, und ich könnte als Pendant politiſche Briefe vom Meere ſchreiben und Sie dadurch gelegentlich ein bischen compromittiren, aus Rache dafür, daß es heißt, ich ſei in Ihrem Umgange der Politik abſpenſtig geworden. Die ſchlechte Welt! Wenn ſie wüßte, mit welcher Höllengeduld ich die Maidenſpeechs der preußiſchen Cicerone und Demoſthene drei Monate lang ge— leſen und in verſtändliches Franzöſiſch vergebens zu übertragen verſuchte! Paris iſt, wie Sie ſo gut wiſſen, als ich, . ſeit einiger Zeit das gelobte Land des Scan— dals: Mord, Todtſchlag, Läſterung, falſches Zeugniß, und ſo haben wir uns denn am Schluſſe des Monats Juli hierher in einen ganz ſtillen Winkel der Welt gerettet, um, wenn die allge— meine Schlappſchwänzerei uns nicht allzu tief angeſteckt, wieder einmal ein Stück wegzuarbeiten. Was den beſtialiſchen Theil der diesjährigen Pilgerfahrt betrifft, der Sie allein intereſſiren kann, ſo muß ich Pornic, obſchon weniger ſchön gelegen als Saint Malo, doch für weit reicher erklären, als ſeinen Nebenbuhler an der Manche. Die Inſel Noirmoutiers vis à vis von uns auf zwei Stunden Entfernung, iſt überreich an Wirbel— loſen aller Art. Es war juſt allgemeine Hoch— zeit im Thierreiche, als ich ankam, und die natuͤr— liche Begattung der Cirrhipedien, Planarien, Eolidien und anderen Zeugs fo leicht zu haben, daß ich an die künſtliche Befruchtung nicht dachte, ausgenommen bei einer Art großer ſtacheliger Ophiuren, die ich zu Hunderten mit dem Schlepp⸗ netze fiſchte, und die von Eiern ſtrotzten. Ich bin indeß nicht glücklicher geweſen, als Sie mit den Igeln. Gaſteropoden (Doris, Colis, Am— er phorina, und verfchiedene, die durchaus mit Hülfe meines Handbuches nicht zu beſtimmen ſind) und Gaſteropodeneier die Fülle. Leider iſt alle Muͤhe, dieſe Thierchen nach dem Ausſchlüpfen aus der Schale am Leben zu erhalten und die weitere Metamorphoſe zu beobachten, umſonſt, wie es mir auch mit den Embryonen der Planarien und Cirrhipeden erging, bei welchen erſteren ich indeß noch die Entſtehung des einen Otolithen aus der Verſchmelzung zweier Bläschen mit Sicher- heit behaupten kann. Ueberhaupt hätte ich man⸗ ches, wie ich glaube, Intereſſantes, mitzutheilen. Fiſche gibt's — unglaublich — faſt keine als Soles, die tägliche Speiſe. Ich wollte, ich hätte eine Kanone, ſtatt meines Mikroſkopes und könnte die Mollusken unſeres lieben Vaterlandes viſiren. Erzählen Sie recht umſtändlich, wie Ihre Honigmonde im Amte vorübergegangen find, und wie das Bhilifterium ſchmeckt. Adieu! Ihr Herwegh. Gießen den 4. October 1847. Lieber Freund! Ein wahres Glück, daß Ihrer Briefe ſo wenige ſind, und daß nur von Jahr zu Jahr einmal ein ſolcher Vogel Einem über die Schwelle fliegt. Ich triumphirte im Stillen, und dachte, Sie ſeien jetzt über und über in Discuſſionen über das moraliſche Element in der Praslin'ſchen Geſchichte und über ähnliche Dinge der Art ver— wickelt, während ich in den Ferien, die mir die Regierung etwas karg zumißt, die Studenten aber glücklicher Weiſe verlängern, der Ausſpin— nung einiger Lieblingserinnerungen ruhig nach— hängen könnte. Da kommt Ihr Brief und ſchleudert mich aus dem Himml meines Ueber- muthes hinab auf trockenes Land; — in die Mitte des leidigen Continentes, während Sie in ar leichtem Bote auf purpurner Fläche fich ſchau— keln, und ohne mich all den niedlichen Dingen nachgehen, welche die Ebbe auf den Felſen zu— rückläßt. Wäre ich doch bei Ihnen, zumal jetzt, wo es mir geht, wie meinem Freunde, dem Lord Stuart, der behauptete, ein vortrefflicher Seemann zu ſein, weil ſein Magen gut, ſeine Beine aber ſchwach wären. Ich habe beim Empfange Ihres Briefes mit einer Art ſtummen Reſignation in die Schublade geſchaut, welcher ich meine paare Batzen anzuvertrauen pflege. Complette Ebbe! Nur hier und da kriecht einiges Gewürme aus der niederſten Stufe des Geld— reiches, in verdächtigen rothen Farben ſchillernd, auf dem verlaſſenen Boden umher. Sie wiſſen wohl noch nicht, lieber Herwegh, daß der conſti⸗ tutionelle Staat zwar Mittel hat, feine Profeſ— ſoren zu beſolden, aber auch noch weit mehr Mittel, ihnen die Beſoldung wieder abzunehmen. Ich komme faſt zu der Ueberzeugung, daß dieß einigermaßen mit der Tendenz des chriſtlich en Staates zuſammenhängt, in welchem nach dem Evangelium die Linke nicht wiſſen ſoll, was die Rechte thut. So haben wir denn auch ER hier eine Rechte, die Hauptſtaatskaſſe, und eine Linke, die Civildienerwittwenkaſſe, die einander mit ſo rührender Einigkeit in die Hände arbei— ten, daß der Profeſſor nur gleichſam ein Prisma darſtellt, durch welches die ſilbernen Lichtſtrahlen, mehr oder minder gebrochen, hindurchgehen. Ich muß wirklich vom reinſten Flintglaſe gebaut ſein, da es mir nicht gelungen iſt, einige Licht— ſtrahlen aufzuhalten und mit deren Hülfe mich irgendwo am Seeſtrande zu reflectiren. Sie haben da wieder ein Beiſpiel, wie die verſchiedenſten Dinge in der Welt mit einander urſächlich zuſammenhängen können, und ſehen auf der Stelle den Grund ein, weshalb ich Briefe vom Meere muß drucken laſſen, während ich hier auf trockenem Lande ſitze. Was das Wort „Phyſiologiſche“ betrifft, ſo iſt das eine ſchlaue Zugabe meines Verlegers, über deren Ratification ich noch einigermaßen im Zweifel ſtehe. Wir wollen alte Sünden nicht wieder erneuern, und da nach der Verſicherung der berliner literariſchen Zeitung der Materialismus in meinen phyſiologiſchen Briefen zarte Seelen unſanft berührt hat, ich aber ſeit meiner An— ge A ua ſtellung weit ſanfter, ich möchte faft jagen, im— materieller und ätherifcher geworden bin, jo wird es wohl am beſten ſein, das Wort „Phyſiolo— giſche“ gänzlich vom Titel wegzulaſſen, und damit meine beabſichtigte Wiedergeburt anzu— deuten. Das iſt ja eben das Unglück, daß be— ſagter roher Materialismus ſo tief in der Phy— ſiologie begründet iſt, daß man ſich mit der einen nicht beſchäftigen kann, ohne die häßlichen Flecken des andern an Leib und Seele davon zu tragen. Zwar erinnere ich mich, daß nicht nur mir, ſondern auch meinen Genoſſen ſchon in der Schule dieſer häßliche Materialismus anklebte. Viel— leicht war dies eine Folge der eigenthümlichen Erziehungstheorie unſeres Lehrers, der ebenfalls durch die dicke Hülle der Materie auf unſer Gei— ſtiges zu wirken beſtrebt war. Der Mann, er war ein Candidat der Theologie, hatte ſich eine eigenthümliche Straftheorie gebildet. Er behaup— tete, die böſen Gedanken ſäßen in dem Menſchen etwa wie Nägel in einem Brette, und um ſie herauszubringen, müffe man in ganz ähnlicher Weiſe verfahren, wie bei einem vernagelten Stücke e Holz. Man müſſe jo lange auf die hintere Seite klopfen, bis die Nägel vorne loſe würden und herausgezogen werden könnten. Das that er denn auch mit redlichem Eifer. Er hatte ſogar von dieſem Geſichtspunkte aus die Strafmethoden der verſchiedenen Völker kritiſch unterſucht, und gefunden, daß dieſe in enger Beziehung zu dem Glauben der Völker über den Sitz der Seele und den Urſprung des Böſen im Menſchen ſtünden. Die Türken, behauptete er, ſchlügen deßhalb auf die Fußſohlen, um die böſen Ge— danken in diametraler Richtung aus dem Kopfe hervorzutreiben; — ein Verfahren, welches nicht ganz zu billigen ſei, da die Einwirkung der Schläge durch die ganze Längsachſe des Körpers hindurch bedeutend geſchwächt werde, und man daſſelbe Reſultat mit weit geringerer Mühe erzielen könne, indem man geradezu hinter die Ohren ſchlage, wo denn, dem oben angeführten Geſetze gemäß, die in den großen Hemiſphären des Gehirns aus— gebrüteten böſen Gedanken unmittelbar aus der Stirn hervorgetrieben würden. Nach meines Lehrers Anſicht ſuchen die Ruſſen den Sitz des Böſen in der Bruſt und in dem Herzen, weß— BUNTE halb fie die Action der Knute vorzugsweiſe dem Rücken zuwenden; und aus der Prügelweiſe der Oeſtreicher, welche vorzugsweiſe die Sitzorgane durchbläuen, ſchloß er, daß dieſe weiſe Nation noch in einem ganz anderen Theile des Körpers den Sitz alles Uebels zu finden glaube. Doch laſſen wir dieſe heikele Frage, die, wie Sie ſehen, auf den kraſſeſten Materialismus nothwendig hinführt, und wenden wir uns zu der fürchterlichen Drohung, die Sie in Ihrem Briefe ausſtoßen. Sie haben die Abſicht, mich ein wenig zu compromittiren? Du lieber Gott, als ob ich durch meine Griftenz nicht ſchon hinlänglich mich ſelbſt compromittirt hätte, und täglich in dieſem edlen Werke der Selbſtzer— ſtörung die glänzendſten Reſultate erzielte! Durch politiſche Briefe wollen Sie mich compromitti— ren? Bedenken Sie denn nicht, daß ich Cor— reſpondent der A. Zeitung war und als ſolcher mit Katzenfingen ausrufen kann: Auch neigt mein Geiſt zur Politik ſich hin, Was ſchändlich iſt. Ach ich geſteh's mit Wehmuth! Sehen Sie nicht ein, kurzſichtiger Freund, daß gerade Ihr Brief, den ich jetzt drucken laſſe, der BE ſchönſte Beweis meiner Loyalität ift, und daß ich den Dank des geſammten monarchiſchen Europa’s verdiene, dadurch, daß ich Sie der Politik ab— ſpenſtig zu machen verſucht habe? Welch Un— glück, daß ich nicht ſchnupfe; der Kaiſer von Rußland würde mir ſicher eine goldene Tabatiere zur Belohnung meiner Verdienſte um das ab— ſolute Princip zuſtellen laſſen. Item, hier erhalten Sie die Seebriefe. Alles was wir am Strande des Meeres vor zwei Jahren in Saint Malo und im letzten Winter in Italien durchlebt haben, trat mir in ſo lebendiger Erinnerung vor die Seele, daß ich nicht umhin konnte, Notizen und Briefe, wie ſie damals geſchrieben wurden, zuſammenzuſtellen und daraus ein Buch zu machen, das dem Laien andeuten mag, in welcher Weiſe der Meeres— ſtrand eine ſtete Quelle der Belehrung, eine unerſchöpfliche Fundgrube für die Wiſſenſchaft ſein kann. Wir haben manchmal, wie Sie ſich er— innern werden, in unſeren verlorenen Stunden darüber hin und her geſchwatzt, ob es vielleicht möglich wäre, ohne jene ſyſtematiſche Trockenheit, ohne jenes endloſe Eingehen in Einzelnheiten, ED welches unſeren zoologiſchen Wiſſenſchaften ans hängt, in großen Zügen ein Bild des üppigen Lebens zu entwerfen, welches ſich auf der Ober— fläche des Meeres und an feinen Ufern concen- trirt. Es ſchwebten uns als Ideale einer ſolchen Behandlungsweiſe jene gewaltigen Gemälde vor, die, Meiſterſtücke des Styls und der Sprache, uns die Natur der Savannen und der Hochge— birge Südamerika's ſchildern. Allein die An— ſchauungen, welche das Meer in ſeinem thieriſchen Leben bietet, ſind zu mannichfaltig, die einzelnen Scenen folgen einander zu raſch, und in zu grel— ler Abwechſelung, als daß es gelingen könnte, größere Linien zu einem Gemälde daraus zu— ſammenzuſetzen. Wie die Kunſtanſchauung unſerer Zeit ſich in hundert kleinen Genrebildern zer— bröckelt, welche den großartigen hiſtoriſchen Ge— mälden älterer Meiſter gegenüber nur als ein endloſes Gewirr unbedeutender Thatſachen er— ſcheinen, und erſt durch ihre Menge eine gewiſſe Geltung erhalten können, ſo ſetzt ſich auch das Leben am Meere erſt aus einer Menge kleinerer Individualitäten zuſammen, während in den Steppen und auf den Continenten überhaupt — 17 gerade die Einförmigkeit es iſt, welche eine ruhigere Anſchauungsweiſe begünſtigt. An dieſen Verhältniſſen mag vielleicht mein Verſuch ge— ſcheitert ſein. Sie werden aus dem Büchlein ſehen, daß ich mich wenigſtens etwa ſo gegeben habe, wie die Reiſe ſelbſt und der vielfache Wechſel der Be— ſchäftigung mich gerade geſtaltete. Es iſt nicht die Natur allein, und noch weniger die be— ſchränkte thieriſche Natur, welche uns unaus— ſchließlich auf unſern Wanderungen beſchäftigte. Sie wiſſen wohl, lieber Herwegh, daß wir nicht blos Zoologen waren, und ich finde es gar nicht nöthig, ſolches den Leuten glauben zu machen. Wir haben Tage lang wacker gearbeitet mit Microſcop und Skalpell; wir haben ſelbſt gefiſcht und gefangen, und unſere Thiere nicht nur in dem Gefäße, in welchem der Fiſcher ſie uns brachte, ſondern auch draußen in ihrem freien Leben und Treiben zu beobachten geſucht. Das hatte dann manchen Reiz für uns, den der— jenige nicht kennt, der ſeine ganze Thätigkeit auf den engen Raum beſchränkt, in welchem er gerade ſeinen Secirtiſch aufgeſtellt hat. Seit Vogt's Briefe J. 2 8 Jahren wandern wir deutſchen Zoologen und Naturforſcher von unſerem ärmlichen Feſtlande hinab nach den Geſtaden des Meeres, und jeder Wanderer bringt eine reiche Ernte zurück, von der er oft Jahre lang zehrt. Allein leider gibt es ſo Viele, die den beſchränkten Geſichtspunkt, den ſie ſich in der Armuth ihres Materials an— eignen mußten, mitbringen in die reiche Fülle, und die, ſtatt ſich auszudehnen, im Gegentheile auf einen einzigen Punkt ihre ganze Aufmerk- ſamkeit concentriren. Gar Mancher dieſer Arbei— ter im zoologiſchen Weinberge wird das Product, welches ich Ihnen heute ſende, mit Achſelzucken bei Seite legen und ſagen: „Schade, der Menſch zerſplittert ſich zu viel.“ Ich könnte darauf eigentlich nur die egoiſti— ſche Antwort geben: Was geht es Euch an, wenn es mir ſo gefällt? Damit wäre die Sache denn auch auf den richtigen Standpunkt gebracht. Es iſt wirklich ſonderbar, daß ſo Viele, ich glaube ſogar die Meiſten unſerer Gelehrten ſich einbilden, ſie beſchäftigen ſich mit Wiſſenſchaft nicht ihretwegen, ſondern um der Welt willen, und ſie hätten Vorwürfe, ja ſogar eine Art von 9 Gericht zu gewarten, wenn ſie ihre Kräfte auch nur momentan anderen Dingen, als gerade ihrer ſpeciellen Wiſſenſchaft zuwendeten. Die große Klaſſe von Gelehrten, die vor allen Dingen Ge— lehrte, und dann erſt Menſchen ſein wollen, ſind eben Schuld daran, daß die Wiſſenſchaft nicht mehr in das Volk eindringt. Es iſt ihre unbe— wußte Schuld, wenn unſere Jugend, ſtatt von früheſter Zeit an zu den Naturwiſſenſchaften hin— geleitet zu werden, mit dekliniren von mensa, conjugiren von rurro zuerſt geiſtig verdummt wird, ehe es ihr möglich iſt, gegen ein ſolches Verfahren mit Erfolg zu proteſtiren. Man ſchreit allgemein, unſere Epoche ſei die Blüthe der Naturwiſſenſchaften; nicht nur die näher damit in Beziehung ſtehenden Zweige, ſondern auch Philoſophie und Theologie erwarteten ihre Re— generation von dieſem Standpunkte des exacten Wiſſens her. Wenn man dies aber anerkennt, warum baſirt man nicht unſer ganzes Leben auf dieſen Grund, um auf ihm ſelbſtſtändig fortzu— ſchreiten und aus ihm die Zukunft unſeres ganzen Lebens zu entwickeln? Aber da liegt eben der Haaſe im Pfeffer. Der chriſtliche Staat, dieſer Inbegriff zarter Seelen, wird durch den Materialismus, der in den Naturwiſſenſchaften liegt, ſo unſanft berührt, (die berliner literariſche Zeitung verſichert es wenigſtens) daß er ſogar vor dieſer unſanften Berührung in Staub zerfallen müßte, wenn es einzig des Anſtoßes der Vernunft bedürfte, um die alte Feſtung umzuwerfen. O! wenn ſie es wüßten, dieſe lojalen Profeſſoren der Natur— wiſſenſchaften, daß ſie es eigentlich ſind, welche mit jedem Zuge ihres Skalpells dem chriſtlichen Staate in den Eingeweiden wühlen, daß ſie es ſind, welche mit ihren Mikroſkopen die feinſten Elemente darlegen, aus denen das Truggewebe unſerer ſocialen Einrichtung geſprungen iſt; wenn ſie wüßten, daß jedes neue Geſetz, welches ſie aufſtellen, jede neue Wahrheit, die ſie entdecken, vernichtend gegenübertritt den Sätzen, die wir im Katechismus und bürgerlichen Geſetzbuch uns haben einlernen müſſen; wenn ſie das wüßten, lieber Herwegh, ſie würden mit Schau— dern manchmal die Inſtrumente ergreifen, welche ſie bisher zur innigſten Befriedigung ihrer Unter— thänigkeit handhabten. ER Aber fie wiſſen's nicht! Sie träumen immer noch von der Scheidewand zwiſchen Materiellem und Immateriellem, ſie glauben noch immer daß die Naturwiſſenſchaft da aufhöre, wo der erſte Band des Kosmos ihr den Strich gezogen hat! Und bei dem Glauben wollen wir ſie auch laſſen. Es geht hier, wie mit den Eiſenbahnen; man muß welche bauen, um das materielle In— tereſſe des Volkes zu wahren, und kann dabei nicht verhindern, daß mit Guͤtern und Perſonen auch Ideen als Schmuggelwaaren in das Land hereingebracht werden, eben deßhalb weil unſere Zeit die Grenzmauern zwiſchen Materiellem und Immateriellem niedergeriſſen hat, und deren Trennung nicht mehr anerkennt. Doch ich muß ſchließen. Sieht es ja faſt aus, als wollte ich Ihnen eine Rede halten über die Tendenzen unſerer Zeit und den Vor— ſchub, den dieſelben von den Naturwiſſenſchaften erwarten, eine Rede, die hier am allerwenigſten am Platze wäre, da wir uns oft genug unter vier Augen darüber beſprochen, und unſere Meinungen darüber ausgetauſcht haben. Hoff— n nungen aber ſoll man nicht ſo laut ausſprechen! Sie können allzuleicht getäuſcht werden. Ich ſehe aus dem, was Sie über Noirmou— tiers ſagen, daß wir noch immer einigermaßen kurzſichtige Narren ſind, wenn wir glauben, daß es vollkommen gleichgültig ſei, dieſen oder jenen Ort am Meeresſtrande aufzuſuchen. Welchen Unterſchied fanden wir nicht ſchon zwiſchen Saint Malo und Nizza? Dort ein ewig unruhiges Meer, das nur hier und da eine Qualle an den Strand warf, aber bei ſeniem täglichen Rückzuge den Grund bis auf große Tiefen hin entblößte, und uns überreiche Ernte bot an allen Thieren, die feſtgebannt auf dem Grunde ſitzen oder nur kriechend ſich weiter bewegen. Hier im Gegen theile eine faſt ſtets heitere Spiegelfläche, deren Niveau ſo ziemlich unverändert blieb, und auf welcher Myriaden von ſchwimmenden Thieren ſich im Sonnenſcheine tummelten, während der belebte Grund nur ſchwer unſeren Nachforſchungen zu— gänglich war. Noirmoutiers ſei noch reicher als Saint Malo!? Die Thiere müſſen ja wahrhaftig drei oder vierfach über einander ſitzen, wenn Ihr Ausſpruch ſich bewahrheiten ſollte! War denn u er in Saint Malo nicht jeder Stein, jedes Blatt bedeckt von Geſindel aller Art, das in tollem Wirrwarr über einander herkroch? Indeſſen ich will Ihnen glauben, und wenn im nächſten Jahre mein Blutegel, genannt Wittwenkaſſe, geſättigt von mir abgefallen ſein wird, ſo mögen die Beſtien von Pornic ſich wohl in Acht nehmen, denn es wäre möglich, daß ihnen unverſehens einige Bar— baren aus germaniſchem Stamme über den Hals kämen und gräßliche Verwuͤſtungen unter ihnen anrichteten! Denn im Vertrauen geſagt, ich gebe mir hier alle Mühe, eine Auswanderungsgeſell— ſchaft nach dem Meeresſtrande zu organiſiren, in der Chemiker, Phyſiker, Anatomen, Phyſiologen und Botaniker jeder ſeine Rolle ſpielen ſoll. Das ewige Einerlei mit Seciren und Mikroſkopiſiren fängt an, mich zu langweilen, und ich meine es müßte noch etwas recht Hübfches zu leiſten fein, wenn einmal ein Häufchen befreundeter Natur— forſcher aus den verſchiedenen Zweigen ſich zu— ſammenthäten, um in Gemeinſchaft die Lebens— erſcheinungen jener Thiere zu unterſuchen, deren äußere Formen und innere anatomiſche Beſchaf— fenheit wir zwar nothdürftig kennen, von deren 3 Lebensmechanik wir aber gerade ſo viel wiſſen, wie der Blinde von der Farbe. Da werden Sie denn auch wohl mit uns ſein wollen, trotz der gefährlichen Verſuchung, für einige Zeit den Welthändeln untreu zu werden. Bis dahin vertiefen Sie ſich nicht allzuſehr in italiäniſche Politik, die eben zwar aufſchäumt, wie friſcher Champagner, der aber Louis Phi— lippe und Metternich bald wieder Stopfen mit gehörigem Drahte aufzuſetzen wiſſen werden. Metternich iſt freilich alt geworden, das ſieht man aus feinem plumpen Dreinfahren mit öſtreichi— ſchen Bajonetten. Louis Philippe aber hat ſeinen gewöhnlichen Weg eingeſchlagen, indem er die Corruption in Geſtalt des Herrn Granier de Caſſagnac nach Rom ſchickt und den Globe als Courier de Rom wieder erſtehen laſſen möchte. Das erweckt die ſchönſten Hoffnungen und ich zweifle nicht, daß S. Heiligkeit trotz alles jetzigen Enthuſiasmus bald wieder den alten Weg ein— ſchlagen wird, den ſeine Vorfahren mit fo rühmlichem Erfolge betraten. Die Italiäner dauern mich. So vielen Enthuſiasmus ver— puffen zu müſſen, nur um ſich einen Granier de Caſſagnac in's Land zu ziehen und den Prinzen von Canino zu verbannen! Man ſoll zwar einem Prinzen nicht trauen, ſelbſt wenn er Zoologe wäre, wie der Canino, was freilich in meinen Augen ein günſtiges Vorurtheil er— weckt. Aber ich habe den Mann vor Jahren ſchon in Freiburg auf der Naturforſcherver— ſammlung geſehen, wo er ſich in entſchieden re— publikaniſchem Sinne ausſprach und einem Höf— lichkeits-Commiſſär eine Lection über die Gleichheit aller Naturforſcher mit praktiſcher Nutzanwendung gab, die mich höchlich ergötzte. Man wollte ihn, als Prinzen, allein in einen Wagen ſetzen, um ihn, der Würde feines Ranges gemäß, auf lang— weilige Weiſe nach Badenweiler zu ſchleifen. — Der Herr Commiſſär erſtaunte aber nicht wenig, als ihm S. Durchlaucht erklärten, Sie würden ſich mit Agaſſiz und einigen Andern auf die Im— periale eines Blamagewagens ſetzen, was denn auch ſofort geſchah. Der Winter rückt mit Macht heran. Während Sie gewiß noch im Garten des Palais Royal eine Taſſe Kaffee trinken können, ohne zu frieren, ſchlottern wir ſeit 14 Tagen ſchon hinter warmen a Oefen, und ſuchen das Einerlei des Vorleſens und Stundengebens durch gelegentliche Zänkereien über Studienfreiheit nnd Examenordnungen ein wenig zu unterbrechen. Aber die Novembertage bringen auch Rebel in den Köpfen und nicht blos auf den Wieſen. Schnee wird's auch bald geben und dann haben wir die rechte Zeit, wo wir wieder die luſtigen Buben ſpielen und den Vorübergehenden, die mit den Stangen im Nebel fiſchen, ein Paar Schneeballen anwerfen können. O mein Vaterland! Soll ich ausrufen: Was würde aus dir geworden ſein, wenn du ein an— deres Clima gehabt hätteſt!? Leben Sie wohl! St. Malo, den 28. Auguſt 1845. Nach beinahe dreitägiger Pilgerfahrt durch die Normandie find wir heute an unſerm Beſtimmungs— orte angelangt. Wenn ich irgend einen Guide de voyageur in die Taſche genommen hätte, ſo würde ich Dir einige intereſſante Notizen von Evreux, Liſieur und Caen, der alten Hauptſtadt der weſt⸗ lichen Normandie, welche wir auf unſerer Fahrt berührt haben, mittheilen können. Ich würde Dir vielleicht viel zu ſchreiben wiſſen von der politiſchen Stimmung in Liſieux, dem Wahlorte Guizot's, von den alten normaniſchen Bauwerken in Caen, und von der Schönheit der Normandie überhaupt, welche für die Franzoſen das Eldorado der Landwirthſchaft iſt. Wenn man freilich nur die kahlen Gegenden der Champagne und die verbrannte Ebene der Pro⸗ vence kennt, ſo kann man die Normandie etwa zum Garten Edens erheben. Mein Reiſegefährte Roß a aber, der in Holſteins blühenden Auen feine Jugend verlebte, will behaupten, daß in dieſen das Gras noch weit grüner ſei, als hier, und ich finde, daß unſere Wetterau auch im Anbau des Getraides einen nicht kleinen Schritt vorwärts hat. Das Land iſt großentheils höͤchſt eben, und nur hie und da zeigen ſich einige Terraſſen, bedingt durch die Abſonde— rungen der juraſſiſchen Geſteine, welche faſt durch— gehends den Boden bilden und an den Hügeln der Bretagne anlagern, von denen einige wenige ſich vor den übrigen auszeichnen. Avranches namentlich, die letzte Hauptſtation vor St. Malo, liegt auf dem Rücken eines ſolchen Hügels, der höchſtens einige hundert Fuß über dem umgebenden platten Lande erhaben iſt. Wir hatten Zeit, von dem freien Platze, der an dem ſenkrechten Abſchnitte dieſer Terraſſe liegt, einen Blick auf das umgebende Land zu werfen. Es iſt eine jener Panoramaausſichten, welche vielen Leuten gefallen, die mir aber immer vorkommen, wie gemalte Landkarten, auf denen man durch hel— leres oder dunkleres Grün Felder und Wälder von einander abgeſtuft hat. Schon lange vor Avranches iſt man in das eigentliche Gebiet der Bretagne ein— getroffen. Der Kalk macht dem Granite und den 1 Dachſchiefern Platz, und die Chauſſee durchſchneidet in querer Richtung die gewellten Hügelzüge, in welchen die Oberfläche der Schiefergebilde ſich ge— bogen hat. Hat man einen ſolchen Höhenzug er— klettert, ſo iſt dies nur geſchehen, um ihn auf der andern Seite wieder hinabzurutſchen, und jenſeits dieſelbe Fahrt von Neuem zu beginnen. Das töd— tende Einerlei dieſer faſt geradelinigen Hügelrücken, auf welchen nur hie und da einige Bäume ſtehen, welche bis zum Gipfel hinaus geputzt, etwa aus— ſehen, wie die Kirchweihbäume, die man in unſeren Dörfern pflanzt; dieſes tödtende Einerlei wird nur hie und da unterbrochen durch einen Blick auf das Meer, dem man nun mit raſchen Schritten ſich nähert. Die Bucht von Mont St. Michel war der erſte Seeſtrand, den ich von der Höhe der Diligence aus erblickte. Es war gerade Ebbe. Mitten aus einem öden Sandlande, das ſich meilenweit in voll— kommen geebneter Fläche hinzog, ſtarrte der Fels des Mont St. Michel mit ſeinen Baſtionen und Zinnen hervor. Er war umgeben von einer mehre Quadratmeilen großen Strecke grauen Landes, das nur ſo allmählig unter den Spiegel der See ſich verlief. Ein höchſt trauriger Anblick! Ich hatte erwartet, den Strand bedeckt zu ſehen mit Fiſchern, ich hatte geglaubt, Schwärme von Reihervögeln auf den Dünen und von Möven in der Luft zu erblicken. Von allem dieſem keine Spur. Auch kein Schiff, keine Barke ließ ſich auf der weiten Fläche ent— decken; — ſie hatten ſich alle vor der Ebbe zurück— gezogen und warteten der Fluth, um ſich mit dieſer dem Lande zu nähern. Ich kann kaum glauben, was unſer Conducteur uns erzählte, daß bei der Fluth ſelbſt große Schiffe zwiſchen dem Mont St. Michel und dem Lande durchſegeln können, und daß die ganze weite Strecke, welche vor uns liegt, von dem Gewäſſer überdeckt wird, welches mit ſolcher Schnelligkeit heranrauſcht, daß ein Reiter auf ſeinem Pferde Mühe haben ſoll, ihm zu entrinnen. Der Conducteur iſt überhaupt ein recht unter⸗ haltſamer Reiſegefährte, der ganz ſelig iſt, wieder einmal deutſch reden zu können. Er iſt ein Elſäſſer aus der Nähe von Hagenau und hatte früher die Route zwiſchen Strasburg und Paris zu befahren, die er dann, Gott weiß, aus welchem Grunde, mit der äußerſten weſtlichen Straße von Caen nach Breſt vertauſchen mußte. Er beklagt ſich ſehr, daß ſeine jetzige Stellung bei weitem nicht jo luerativ durch 8 Nebenverdienſte ſei, als die frühere; die Bretagne biete auch gar nichts zu ſchmuggeln, während er früher fettes Geflügel aus der Bourgogne und Wild aus der Champagne in großen Quantitäten nach Paris habe einführen können. Auf unſere Bemer— kung, daß der Gewinn an ein Paar Feldhühnern doch nicht gar groß geweſen ſein könne, erzählt er uns, nachdem wir ſein Vertrauen durch einig gute Cigarren gewonnen haben, daß die Conduc— teure aus dem Elſaß auch noch einen andern Er— werbszweig hätten, der freilich weit Tuerativer ſei, als das Schmuggeln von Feldhühnern. Sie brächten nämlich junge Mädchen aus dem Elſaß in gewiſſe Anſtalten in Paris, von welchen ſie, je nach der Schönheit der gelieferten Waare, äußerſt anſtändig honorirt würden. Unſer Conducteur erzählt uns mit großer Naivetät, und wie wenn ſich das ganz von ſelbſt verſtünde, die Geſchichte dieſer Lieferungen. Es wird den armen Schlachtopfern der Civiliſation ein Dienſt in Paris angeboten, und der Conducteur, der ihnen dieſe Anerbietungen macht, erklärt ſich bereit, das Mädchen, für das er ein beſonderes In— tereſſe hat, gratis nach Paris mitzunehmen. Dort liefert er es ab und meiſt erfährt die Betrogene 00 A erſt in dieſem Augenblicke, zu welchem Dienſte man ſie beſtimmt habe. Sie iſt an die Anſtalt gekettet, deren Beſitzerin von ihr erſt die Rückzahlung der Fracht nach Paris und der Atzungskoſten verlangt, welche während der Lehrzeit aufgelaufen ſind. Be— greiflicher Weiſe ſind aber dieſe Berechnungen ſo eingerichtet, daß das arme Geſchöpf niemals dazu gelangt, ſeine Schuld gänzlich abtragen zu können, und deßhalb ſo lange Sclavin ſein muß, bis ſie als untauglich entlaſſen wird. Wie geſagt, unſer Conducteur, der im Uebrigen ein ſehr honetter und gutmüthiger Mann ſchien, beklagte außerordentlich das Eingehen dieſes Erwerbszweiges, zu deſſen Fort— ſetzung auf ſeiner jetzigen Route auch nicht die mindeſte Möglichkeit gegeben ſei. Die Mädchen und Frauen in der Bretagne und Normandie wären häßlich wie die Nacht, verſichert er, und drückt uns ſein tiefes Mitgefühl aus, als er erfährt, daß wir uns etwa einen Monat in St. Malo aufzuhalten gedächten. Bei der Ankunft fanden wir Freund Herwegh ſchon inſtallirt, und es iſt uns geglückt, in ſeiner Nähe eine recht angenehme Privatwohnung zu finden, die für unſere Zwecke vortrefflich gelegen Er ſcheint. St. Malo ſelbſt ift ein häßliches altes Neſt mit ſechs Stockwerk hohen Häuſern und engen winkeligen Straßen. Die Stadt liegt auf der Höhe eines ziemlich buckeligen Felſens, der nur durch eine höchſt ſchmale Erdzunge mit dem feſten Lande verbunden iſt. Gewaltig hohe Wälle und Ringmauern umgeben das Ganze, nirgends hat man einen freien Blick hinaus auf die See, und in den Häuſern ſieht man auch vom Himmel nur gerade ſo viel, als nöthig iſt, um eine Stube zu bürger— lichen Zwecken zu erleuchten. Es wird außer den Manſarden wohl keine zehn Zimmer in ganz St. Malo geben, in welchen man ein Mikroſkop auf— ſtellen könnte. Wir ſind deßhalb ſogleich ent— ſchloſſen, uns hinüber auf die andere Seite des Hafens nach St. Servan zu begeben, wo wir wenig— ſtens freie Ausſicht und unbeſchränkten Zugang zu dem Meere finden. Madame G., an die wir uns nach vielem Her— umlaufen wenden, ſcheint eine recht gemüthliche Frau, die aber gewiß neben dem Wein- und Brand— weinladen, dem ſie vorſteht, auch noch das Regiment im Hauſe führt. Sie ſetzt uns die Vortheile der bei ihr befindlichen Wohnung in ſehr mürriſcher Vogt's Briefe J. 3 ER Weiſe auseinander, wahrſcheinlich um uns anzu— deuten, daß ſie nur aus beſonderer Gnade dieſelbe vermiethe. Nur zuweilen geſchehe dies und zwar meiſt an Engländer, welche immer prompt be— zahlten, und überhaupt in dieſer Gegend in weit höherem Anſehen ſtünden als die Franzoſen. Roß wirft ſich, ſo wie er dieſe Worte hört, ſogleich be— deutend in die Bruſt, und giebt zu erkennen, daß ſeine Familie urſprünglich eine engliſche, Capitän Roß der Weltumſegler ſein Vetter, und Graf Roß, der Beſitzer von Glasgow, ſein ſehr lieber Verwandter ſei, was ihm um ſo eher geglaubt wird, als ſein Franzöſiſch in der That einen ſtarken inſulariſchen Beigeſchmack zeigt. Wir werden endlich mit unſerer Weinhändlerin, deren Geſicht ſtufenweiſe an Freundlichkeit zunimmt, Handels einig und beziehen auch ſogleich unſer neues Quartier. Vornen nach der Straße hinaus haben wir einen kleinen Salon mit roth ausge— ſchlagenen Plüſchmöbeln und einem paſſabel ver— ſtimmten Claviere, auf dem wir zuweilen in den Dämmerungsſtunden unſere Sehnſucht nach der Hei— math auszuhauchen gedenken. Hinter dem Salon eine Küche, welche für ein Regiment geräumig genug 3 ſein könnte. Madame G. läßt uns bemerken, daß alles Küchengeräthe vollſtändig vorhanden ſei, ſo daß wir, wenn wir wollten, unſere Mahlzeiten ſelbſt bereiten könnten, ein Vorſchlag, auf den wir groß— müthiger Weiſe verzichten. Es wird uns dieſe Küche außerordentlich bequem ſein, um unſere kleinen Me— nagerieen in derſelben aufzuſtellen. Endlich das Hauptſtück unſerer Wohnung iſt das hintere Zimmer mit der Ausſicht nach dem Meere, welches wir ſo— gleich zum Arbeitszimmer beſtimmen. Es liegt ge— rade nach Weſten; die Sonne ſinkt unſerem Arbeits- tiſche gegenüber in das Meer hinab. Eine Treppe führt aus dem Zimmer nach dem Strande und bei hoher Fluth, wie ſie eben iſt, beſpült das Meer ſogar unmittelbar die Fundamente des Hauſes. Du kannſt Dir denken, welche Bequemlichkeit uns auf dieſe Weiſe gewährt iſt. Bei der Ebbe wird von unſerem Hauſe eine große Strecke ſandigen Landes abgedeckt, aus welchem hie und da abgerundete Felſen hervorragen, die von einer Menge Meerespflanzen überdeckt, eine reichliche Ausbeute an kleineren Thieren gewähren müſſen. An denſelben Orten, wo wir bei der Ebbe jagen, werden wir bei der Fluth unſere Bäder nehmen, wobei wir die Vequemlichkeit haben, a daß wir unſere Toilette vor und nach dem Bade in unſerem Zimmer verrichten können. Unſere Gefäße und Inſtrumente ſind vollkommen glücklich angelangt. Du weißt, daß Milne-Edwards die Güte hatte uns eine ziemliche Anzahl großer Glasgefäße, fo wie eine kleine tragbare Auſtern— ſchleppe anzuvertrauen, mit welcher wir den Meeres— grund abzufragen gedenken. Wir hatten ſchon jo viel Uebergewicht, daß wir beſchloſſen, die eiſernen Stäbe unſerer Auſternſchleppe gleich Stöcken oder Regenſchirmen unter den Sitz der Imperiale zu ſchieben, welche wir der freieren Ausſicht wegen gewählt hatten. Der Conducteur hatte ſehr wohl gemerkt, daß die Stöckchen, welche ich beim Aufladen nicht ihm, ſondern nur Freund Roß anvertraut hatte, ein ziemlich bedeutendes Gewicht beſäßen, allein in Berückſichtigung der guten Cigarren, der deutſchen Sprache und der ſpäter geſchloſſenen Freund— ſchaft hatte er unſere Auſternſchleppe durchſchlüpfen laſſen, und uns nur beim Abladen in St. Malo mit einer Art ſpitzfindigen Lächelns bemerkt, unſere Regenſchirme müßten wohl von einer neuen deutſchen Erfindung ſein, denn ſie ſchienen gewaltig ſchwer und unbequem zu handhaben. Den 2. September. Wir haben uns nun ſchon völlig eingewohnt und ſo vollauf zu thun gefunden, daß wir kaum wiſſen, wohin unſere Aufmerkſamkeit zuerſt wenden. Ein Paar Excurſionen in der Nähe, ſo wie ein Ausflug auf eine etwas entferntere Felſengruppe, der jardin genannt, haben uns eine überreiche Aus— beute von Thieren aller Art geliefert. Unſere großen Glasgefäße bieten einen herrlichen Anblick dar. Wir haben ſie mit grünen, weißen und rothen Tangarten ausgefüllt, deren zarte Farben einen herrlichen Grund bilden für all das Gethier, welches auf ihnen herum— klettert. Zu genauerem Anſehen ſind wir noch nicht gekommen. Ich hatte geglaubt, mir eine ziemliche Ueberſicht der verſchiedenen Formen verſchafft zu haben, welche die Thierwelt an den weſtlichſten Küſten Frankreichs darbietet; ich hatte zu dieſem Endzwecke ſowohl die Bibliothek, als auch einige Thierklaſſen in der Sammlung des Pflanzengartens zu Paris durchmuſtert; — jeder neue Fund aber überraſcht mich in meiner Unkenntniß, und oft erſt nach langem Hin- und Herſinnen finde ich, daß das vor mir liegende räthſelhafte Thier aus Büchern und Abhandlungen ein alter Bekannter iſt, zu deſſen EBENEN Erkennung freilich oft eine nicht geringe Divinations— gabe gehört, da die Abbildungen von Seethieren, welche wir beſitzen, meiſt nur verzerrte Carrikaturen ſind. Mit jeder Ebbe rücken wir hinaus, dem zurück— weichenden Waſſer nach, welches ſtundenweite Strecken vor uns abdeckt. Ein äußerſt feiner, aber dennoch feſter Granitſand bildet den Boden und bietet uns eine reiche Ausbeute von Würmern, die in tiefen Röhren innerhalb des beweglichen Elementes hauſen. Ueberall zeigen ſich kleine Löchlein, etwa wie Löcher der Regenwürmer, in unſerm Gartenlande, aus denen bei der Annäherung helles Waſſer hervorzuquillen ſcheint. Beim Nachgraben entdeckt man, daß alle dieſe Löcher von Kiemenwürmern bewohnt ſind, welche während der Ebbe ſich zurückziehen, und von den Fiſchern eifrig als Köder geſucht werden. Der jogenannte Pierer (Carenicola piscatorem Linné's), der Dir ohne Zweifel von der Nordſee her bekannt iſt, findet ſich hier in ungeheuerer Menge. Es iſt ein häßlicher Wurm von dunkelbrauner, nach hinten mehr grünlich gelb ſchillernder Farbe, deſſen Kopfende bedeutend dicker, als das ziemlich zerbrechliche Hinter— ende iſt. Mit den kurzen Borſten, welche in Doppel— . reihen auf beweglichen Höckern längs des Leibes ſtehen, vermag das Thier ſich mit großer Schnel— ligkeit in dem Sande hinabzuarbeiten, ſo daß es ziemlich ſchnellen Grabens bedarf, um vollſtändige Exemplare herauszubefördern. Einen wunderſchönen Anblick gewähren die büſchelartigen Kiemen, welche paarweiſe in der Mitte des Leibes ſtehen, und abwechſelnd ſich ſtrotzend mit hellrothem Blute an— füllen und dann wieder farblos zuſammenfallen. Wir haben mehre Exemplare dieſer Thiere tagelang in unſeren Glasgefäßen lebendig erhalten und uns des Anblickens dieſer Kiemen erfreut, die als ganz unſcheinbare Quäſtchen ſchlaff herabhängen, ſobald man den Wurm aus dem Waſſer zieht oder ihn in Weingeiſt aufbewahrt. Wiſſen möchte ich, wovon das Thier eigentlich lebt. Es hat, wie du wohl weißt, einen vollkommen geraden cylindriſchen Darm, der beſtändig mit Sand und Granitfragmenten angefüllt iſt und es ſcheint ein wahres Wunder, daß die feinen Häute des Darmes nicht beſtändig von dieſen eckigen Fragmenten verwundet und zerriſſen werden. Das Gewicht dieſes Darminhaltes iſt ſo bedeutend, daß das hintere Ende des Wurmes meiſtens abreißt, ſobald man den Wurm an dem vorderen Ende packt und frei in die Höhe bebt. Eine ſolche Verſtümmelung ſcheint indeſſen nur von geringem Einfluſſe auf das Leben der Beſtie zu ſein, wenigſtens haben die verſtümmelten Exemplare eben ſo lange in unſeren Gefäßen gelebt, als die vollkommen unverſehrten. Ebbe und Fluth ſind hier in St. Malo mit am bedeutendſten auf dem ganzen Erdenrunde. Der Umfang derſelben wechſelt ebenſowohl, wie die Stunde ihres Eintrittes, von Tag zu Tag, und die ſtete Ver— änderung, welche die Landſchaft unter dem beſtändigen Wechſel darbietet, könnte allein ſchon hinreichen, uns Tage lang zu beſchäftigen. Die Bucht, an deren Ufer St. Servan ausgebreitet liegt, beſchreibt einen weiten nach Weſten geöffneten Halbkreis, der einerſeits von der umwallten Häuſergruppe St. Malo's, andrerſeits von einem weit vorſpringenden Felſen geſchloſſen wird, auf welchem das Fort von St. Servan die Einmündung der Ranee, eines kleinen Fluſſes, beſtreicht. Der verwitterte Granit bildet eine Unzahl von Klippen, die meiſtens bei hoher Fluth von dem Meere überdeckt werden, bei Ebbe hingegen einen wahren Archipelagus kleiner Inſelchen bilden, an denen die Wellen ſchäumend branden. In weiterer Entfernung ſtreckt ſich unſerem Fenſter Er gegenüber die Küſte der Bretagne in das Meer hinein, die man zu Schiffe in einigen Stunden erreichen kann. Gerade vor uns liegt, auf einer von allen Seiten vom Meere umſpülten Inſel, die feſte Harbourg, auf deren Zinnen die dreifarbige Fahne flattert. Hinter dem Hafendamme von St. Malo erheben ſich in unmittelbarer Nähe des Landes einige Felſenriffe, welche ebenfalls theilweiſe von Feſtungswerken gekrönt ſind. Bei der Ebbe kann man ſich trockenen Fußes von dem feſten Lande aus auf dieſe Felſen begeben, während bei der Fluth die Dampfſchiffe zwiſchen ihnen und dem feſten Lande durchſteuern mit eben ſo großer Sicher— heit, als ſeie nie etwas anderes, denn Waſſer an dieſer Stelle geweſen. Der Eine dieſer Felſen heißt der Grand Be, und auf dieſem hat Chateaubriand, der in St. Malo geboren wurde, ſich einſtweilen ſein Grab— mal anlegen laſſen. Die badende Welt pilgert, wie Du Dir leicht denken kannſt, bei jeder Ebbe in Schaaren nach der niedrigen Mauer, die einſt die Reſte des berühmten Schriftſtellers umſchließen ſoll, für deſſen Ruf es vielleicht beſſer geweſen wäre wenn er ſich hineingelegt hätte, ehe das Leben des Trappiſten Rancé geſchrieben war. Uns intereſſirte weit weniger die Grabesſtätte da oben, als das leben— dige Treiben der zahlreichen Thiere, welche in den Felſenſpalten an dem Fuße des Grand Be während der Ebbe ſich einniſten. Vorgeſtern machten wir die erſte Excurſion zu Schiffe nach der Felſengruppe des Jardin, den uns die Pariſer Freunde als beſonders reich em— pfohlen hatten. Da wir den ganzen Tag draußen bleiben wollen, ſo hat uns Frau Herwegh ein reichliches Frühſtück in die Barke eingepackt, und ſich ſogar ohne Mühe entſchloſſen, uns auf der Fahrt zu begleiten. Man hat uns vor den Fiſchern von Profeſſion gewarnt, dagegen gerathen, uns an Leute zu wenden, welche in den Ueberfahrtsbarken des Hafens ihre beſcheidene Nahrung verdienen und nachgiebiger ſein ſollen, als die Fiſcher, bei wel— chen Arroganz und Unwiſſenheit in gleichem Ver— hältniß ſtehen ſoll. Der Patron unſerer Barke iſt ſchon ein ältlicher Mann mit ziemlich verwittertem Geſichte, aber gutmüthigem Ausdrucke. Er ſtitzt ebenſo, wie ſein Matroſe, mit bloßen Füßen in der Barke, und nachdem er Madame dieſer Unſchicklich— keit wegen um Verzeihung gebeten, gibt er uns den a guten Rath, feinem Beiſpiele zu folgen, da wir leicht einige Wellen über Bord bekommen könnten und das Schuhwerk von dem Seewaſſer ganz außer— ordentlich angegriffen werde. Nach einer ſtundelangen Fahrt etwa langen wir auf den niedrigen Felſen an, welche nur eben kaum von dem Meere entblößt ſind, das ſie während der Fluth überſpült. Das Geſtein iſt überdeckt von einem wahren Walde von Meergewächſen, unter denen ſich an dem Rande des Waſſers namentlich die handbreiten Blätter der Laminarien auszeichnen. Unter jedem Tritte knirſchen die Balanen, welche alle leeren Stellen überziehen. Die Barke wird in einem ſicheren Einſchnitte des Felſens unter dem Schutze des Matroſen zurückgelaſſen und wir zer— ſtreuen uns auf der Oberfläche dieſes Gartens mit Gläſern, Blechbüchſen und Fangnetzen bewaffnet. Durch das Anſchlagen der Meereswellen ſind die Felſen überall abgerundet und die leichter ver— witterbaren Stellen ausgewaſchen. Ueberall find kleine Tümpel mit kriſtallhellem Waſſer angefüllt zurückgeblieben, in welchen zahlreiche Thiere aller Art ſich umhertreiben. Die loſen Steine und die größeren Felsblöcke ſind auf ihrer Oberfläche mit Be Balanen bedeckt, während unten, wo fie in dem Waſſer ſtehen, ſich eine Unzahl feſt ſitzender Meer— thiere angeſiedelt hat. Es iſt unmöglich, eine reichere Farbenpracht, eine größere Mannichfaltig— keit von Formen und Geſtalten aller Art zu er— finden, als die Unterflächen der Steine bieten, die wir umkehren und ableſen. Die einfachen und zuſammengeſetzten Seeſcheiden (Aſeidien) find es beſonders, welche zuerſt unſere Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen. Ueberall ſitzen größere oder kleinere Maſſen dieſer gelatindfen Weſen, die aus hunderten von Individuen zuſammen— geſetzt ſind und auf deren bunter Oberfläche meiſt ſternartige Figuren in glänzenden Farben ſich auszeichnen. Zwiſchen ihnen zeigen ſich kleinere iſolirte Seeſcheiden, deren kriſtallhelle Körper mit der größten Leichtigkeit ſämmtliche Organe wahr— nehmen laſſen, welche ſich im Innern der Leibes— höhle finden. Mit dem flach gehaltenen Meſſer werden dieſe Körper ſo vorſichtig als möglich abge— hoben, um die Unterfläche, mit welcher ſie auf den Steinen feſtſitzen, nicht zu verletzen. Einige kleinere mit beſonders hübſchen Formen beſetzte Steine ſchleppt der Schiffspatron in den Zuber an Bord — 1 Anfangs lächelt der gute Mann über unſer ſchein— bar thörichtes Beginnen und begreift nicht, wie wir ihm einen Thaler bezahlen können, nur um uns ſo gemeines Zeug zu verſchaffen, deſſen man an allen Felſen im Ueberfluſſe finden könne; ſpäter aber ſindet er ſelbſt Intereſſe daran und bezeugt eine große Freude über jede neue Art, die er entdeckt. Eine Anzahl räthſelhafter Gebilde, welche zwiſchen den Aſeidien an den Steinen feſtgewachſen ſind, erregt eine lebhafte Discuſſion, deren Schlicht— ung mit den vereinigten Kenntniſſen des ſuchenden Kleeblattes unmöglich wird. Kleine, weißgelbe ſpindelförmige Körper, Reiskörnern nicht unähnlich, ſitzen dichtgedrängt an den Felſen und laſſen ſich nur mit Mühe von denſelben lostrennen. Die meiſten dieſer Körner ſind an dem freien Ende ver⸗ ſchloſſen, einige indeſſen durch ein kleines rundliches Loch geöffnet. In den verſchloſſenen Kapſeln, die eine lederartige Conſiſtenz haben, zeigen ſich einzelne Körper von weißlich gelber Farbe, die etwa die Größe eines kleinen Stecknadelkopfes haben. Wir geben uns viele Mühe, die Natur dieſer eigenthüm— lichen Körper zu enträthſeln, die der Eine für Aſci— dien, der Andere für Polypenkapſeln, der Dritte 1 vielleicht gar für vegetabiliſche Organismen zu halten geneigt iſt. Erſt eine aufmerkſamere, mikroſkopiſche Unterſuchung, die wir zu Hauſe anſtellen, belehrt uns, daß die Reiskörner nichts anderes ſind, als Eierkapſeln, und die in ihnen enthaltenen weißen Körperchen Embryonen irgend einer Schnecke, von welchen mannigfaltige Arten auf dem Boden der kleinen Tümpel umherkriechen. Doch mit dieſen verſchiedenen Weſen iſt die Fauna der Geſchöpfe, welche wir auf der Unter— fläche der Steine finden, noch bei Weitem nicht beendet. Hie und da zeigt ſich ein ſchön ſchwefel— gelber Gallerthaufen, etwa von der Größe einer halben Wallnuß, auf deſſen Oberfläche ſich zierliche Zeichnungen befinden, die etwa wie die Sparren eines Gebälkes in einander greifen. Das Thier ſitzt mit einer breiten Sohlenfläche auf den Steinen auf, und läßt beim Umdrehen an der vorderen Hälfte zwei cylinderiſche Fühlhörner gewahren, an deren Baſis ein Paar kleine punktförmige Augen ſitzen. Offenbar iſt es eine Schnecke. Bei näherer Unter- ſuchung finden wir auch rechts in einem Schlitze zwiſchen dem ſchwefelgelben Mantel und dem breiten Fuße einen Büſchel freier Kiemen und auf dem A) Rücken in den Mantel ſelbſt eingeſchloſſen eine äußerſt durchſichtige dünne Schale, die nur ein zartes ovales Blättchen darſtellt. Wir erkennen einen Bleurobranchus, und Roß, den die zarte Färbung und die gallertartige Durchſichtigkeit unſerer Schnecke anziehen, beſchließt, ſich intenſiv mit ihrem Studium zu beſchäftigen. Es fällt uns auf, daß wir ſo wenig Thiere aus der Claſſe der Echinodermen oder Stachelhäuter finden. Kein Seeigel, kein Seeſtern, die doch weiter nördlich an der normaniſchen Küſte in ſo großen Quanti⸗ täten vorkommen ſollen, daß man ſie als Dünger auf den Feldern benutzt. Nur eine ganz kleine Art kurzarmiger Seeſterne, die faft ein reguläres Fünfeck darſtellen und höchſtens den Umfang eines Gulden— ſtückes erreichen, findet ſich hie und da feſtgeſogen auf den glatten Steinen. Sie laſſen ſich nicht leicht von denſelben lößen, ohne einige der zahlloſen ge— ſtielten Saugnäpfe zurückzulaſſen, durch deren Hülfe ſie ſich anheften und weiter ziehen. Wir haben uns manchmal an der Art und Weiſe ergötzt, wie ſie an den glatten Wänden unſerer Glasgefäße in die Höhe kriechen. Die Ambulakren, wie dieſe ge— ſtielten Saugnäpfe in der zoologiſchen Kunſtſprache — MB genannt werden, verlängern ſich fo ungemein, daß ſie dünnen Zwirnfäden gleichen. In dieſer Geſtalt taſten ſie wurmartig umher, bis das kleine Scheib— chen, welches an dem vorderen Ende befeſtigt iſt, einen geeigneten Anhaltspunkt gefunden hat. Es heftet ſich an. Eine Menge anderer Ambulafren , die ſich in der Nachbarſchaft hervorſchieben, folgen ſeinem Beiſpiel. Sobald eine hinlängliche Anzahl dieſer Organe ſich feſtgeſogen hat, laſſen die übrigen los, die feſtgehefteten ziehen ſich zuſammen und jo wird, wie durch Taue, der ganze ſcheibenförmige Körper heraufgewunden, feſtgeſtellt und durch die Wieder- holung desſelben Manövres auf's Neue eine Strecke weiter gezogen. Auch einigen Ophiuren oder Schlangenſternen begegnen wir in den Ritzen der Steine. Du weißt, daß ſie ſich von den gewöhnlichen Seeſternen da— durch unterſcheiden, daß ſie eine faſt runde Scheibe beſitzen, an welcher mehre verhältnißmäßig ſehr lange Arme befeſtigt ſind, welche eine bedeutende Beweg— lichkeit beſitzen und nicht, wie bei den Seeſternen, Fortſetzungen des Magens und der Eierſtöcke in ſich aufnehmen. Der Name „Ophiure“, „Schlangenſtern“ iſt in der That recht glücklich gewählt; denn dieſe BI. — Arme ſchlängeln und winden ſich beſtändig nach allen Richtungen hin, und brechen eben ſo leicht wie unſere Blindſchleichen bei dem geringſten An— faſſen in Stücken. An einigen Ophiuren, die wir finden, bemerken wir grüne Säcke, die feſt an der Baſis des Armes hängen, und die ich in meiner Leidenſchaft für Eier und Embryonen, ſogleich als Eierſäcke reelamire. Ich kann kaum die Nachhauſe— kunft erwarten, um dieſen wichtigen Fund genauer zu unterſuchen. Mit welcher geſpannten Erwartung ich an das Werk gehe! Die nothdürftigen Notizen von Sars über die Entwickelung der Seeſterne ſind das einzige, was wir von der Embryologie der ganzen ſo wichtigen Claſſe der Echinodermen beſitzen. Jetzt habe ich ein reiches Material in Händen, denn drei oder vier Exemplare ſolcher Ophiuren mit Eierſäcken ſind ſchon gefunden und es läßt ſich er— warten, daß noch mehrere werden in unſere Hände fallen. Wir beſprechen uns ſchon über Art und Weiſe der Publication einer grandioſen Abhandlung, welche die Entwicklungsgeſchichte der Ophiuren be— betreffen wird. All unſere Kunſt ſoll aufgewendet werden, die Zeichnung ſo glänzend als möglich aus— zuſtatten; die Akademie wird uns ohne Zweifel das Vogt's Briefe J. 4 zum Stiche der Tafeln noͤthige Geld bewilligen und den Druck des Werkes übernehmen. Alles dies wird beim Frühſtücke verhandelt, das wir auf der Spitze der Klippe, rund um unſere freundliche Wirthin gelagert, einnehmen. Der Him— mel iſt hell und klar, und die Sonne ſo warm, als wären wir im Anfange des Auguſt und nicht in den erſten Tagen des September. Zu unſeren Füßen ſpielen die Wellen, in denen ein unbeſtimmtes Schwanken der Oberfläche ſich kund gibt, da es gerade die Zeit der höchſten Ebbe iſt. Weit von uns, draußen über den letzten Felſen, welche aus der blauen Fläche hervorſtarren, hinter dem Fort de la Conchée, dem letzten Vorpoſten des feſten Landes, ſchaukeln ſich einige Schiffe, welche die Fluth er— warten, um mit ihr in den Hafen einzulaufen. In unſerer Nähe ſtehen, halb in Waſſer getaucht, die zahlreichen Glasgefäße, denen wir unſeren Fang anvertraut hahen. Schon während unſeres Umher— ſuchens haben wir einigermaßen ſortirt, und jetzt wird, während einer dem andern ſeine Beute zeigt, mit dieſer Trennung fortgefahren, die ſchon um deß— willen nothwendig iſt, weil viele dieſer Thiere ſelbſt in der Gefangenschaft die andern anfallen und verzehren. ne Das eine Glas nimmt die Würmer auf. Wir haben deren eine große Anzahl unter den Steinen gefunden und können uns nun ſchon mit den ein— zelnen Typen dieſer Thierklaſſe vertrauter machen. Die Einen ſind Röhrenbewohner, ſie bauen ſich in den Ritzen der Steine, in dem Sande, welcher hie und da den Boden der kleinen Tümpel bildet vielfach gewundene Röhren, die aus verklebten Muſchelſtückchen, Sandkörnern, Steinchen und an— derem Material dieſer Art beſtehen. Der Wurm, welcher dieſe zarten, leicht gebrechlichen Röhren be— wohnt, wird zuweilen fingerdick, und im Zuſtande der Ausdehnung bis über eine Elle lang. Er hat, wie alle übrigen röhrenbewohnenden Würmer, keinen deutlich geſonderten Kopf, und keine anderen Sin— nesorgane in der Nähe des Mundes, als nur einen Kranz außerordentlich contractiler Fangfäden. Wir haben oft Stunden lang in unſeren Gefäßen dem Spiele dieſer Fangfäden zugeſchaut. Sie ſcheinen wahrlich ein faſt unabhängiges Leben zu beſitzen, da ſie ſelbſt mehre Tage lang nach der Trennung von dem Thiere ſich ebenſo bewegen, zuſammenziehen und ausdehnen, wie wenn ſie noch mit demſelben zuſammenhingen. Hat man das Thier aus ſeiner 3 Röhre genommen, ſo bedient es ſich vorzüglich dieſer Fangfäden, um ſich von einer Stelle zur andern zu bewegen und ſchwimmt ſogar mittelſt derſelben langſam an der Oberfläche des Waſſers hin. Zu dieſem Endzwecke breitet es die ganze Büſchelkrone der Fangfäden an der Oberfläche des Waſſers aus, und während dieſe vorzugsweiſe nach einer beſtimmten Richtung hin angelnd ſich ausdehnen und zuſammen— ziehen, wird der ſpiralförmig aufgewundene und möglichſt zuſammengezogene Leib ſchwebend an der Oberfläche des Waſſers hingeſchleppt. Die Weichheit dieſer Würmer iſt außerordentlich. Ihr Körper zerreißt bei der leiſeſten Berührung und ihre Fang— fäden ſind fo ſchwach, daß fie faſt bei jedem Ver— ſuche, ſie zu brauchen, einige dieſer Fäden verlieren. Lange haben wir die Thiere niemals in unſern Gefäßen erhalten können. Es fehlte ihnen, wie es ſchien, an der gehörigen Nahrung und nach wenigen Tagen zer— floſſen die weichen Leiber und ſteckten durch ihre Fäul— niß noch obenein das Waſſer des ganzen Gefäßes an. In weit geringerer Menge fanden ſich diejenigen Würmer, welche frei unter Steinen umherſchweifen und im Gegenſatze zu den Röhrenbewohnern eine große Beweglichkeit zeigen. Alle dieſe Thiere winden ſich 5 mit überraſchender Behendigkeit zwiſchen Steinen und Pflanzen durch, wobei ihnen die kurzen Borſten, welche zu beiden Seiten ihrer Leibesringe ſtehen, vortrefflich zu Statten kommen. Es waren beſonders die kleineren Arten ſolcher Würmer, die ſich in den Tümpeln des Jardin ziemlich häufig fanden. Wir haben bis jetzt noch nicht daran denken können, ſie genauer zu ſtudieren, da uns andere Dinge mehr angezogen haben, und uns auch faſt alle Hülfsmittel abgehen, um dieſe kleineren Thiere genauer zu be— ſtimmen. Den krebsartigen Geſchöpfen iſt ein anderes Glas angewieſen worden. Die Krabben, die Gar— neelen, welche von den hieſigen Einwohnern „Cre— vetten“ genannt werden, und die ſchmarotzenden Eremitenkrebſe zeichnen ſich beſonders durch ihre Menge aus. Hummer und andere große Seekrebſe habe ich noch nicht zu ſehen bekommen, wie man denn überhaupt in St. Malo nicht hoffen darf, diejenigen Seethiere auf dem Markte zu erhalten, welche in Paris käuflich ſind. Die Gourmands wiſſen recht wohl, daß man die ſchönſten Seefiſche nicht in Havre, ſondern in Paris ißt, und zu den Fiſchen gehören ja bekanntlich, der kirchlichen Zoo— N logie zufolge, nicht nur die Ottern und die Waſſer— vögel, ſondern auch die Krebſe. Doch das nur im Vorbeigehen! Den Fang der Garneelen und anderer kleiner Krebſe, die zu dieſer Familie gehören, können wir füglich den Bewohnern von St. Malo und St. Servan überlaſſen, welche in dieſem Geſchäfte eine große Gewandtheit beſitzen und ſchaarenweiſe der Ebbe nachziehen, um in den Gräben und Vertiefungen des Strandes dieſe behenden Schwimmer aufzufiſchen. Es haben uns dieſe Thiere mannichfach hintergangen. Wie der Blitz ſchießen ſie durch das Waſſer von einer Stelle zu der andern, ſo daß man kleine Fiſche vor ſich zu ſehen glaubt. Zu dieſer Täuſchung trägt noch die lange geſtreckte Geſtalt und die, Milchglas ähnliche Durchſichtigkeit nicht wenig bei. Nach dem Tode werden ſie roth, ebenſo wie durch's Kochen, und da wir bis jetzt nur rothe Garneelen geſehen und ges geſſen hatten, ſo waren wir nicht wenig überraſcht, am andern Tage in den geſtorbenen Exemplaren alte Bekannte wiederzufinden, welche wir in dem Kleide des Lebens durchaus nicht wieder erkannt hätten. Dieſe Unähnlichkeit zwiſchen einer lebendigen und todten Garneele iſt ſogar ſo auffallend, daß ſie uns geſtern einen nicht geringen Spaß bereitete. Freund r Bakunin, welcher uns ebenfalls hierher gefolgt iſt, und unendliche Thaten morgens beim Frühſtücke an den Crevetten thut, die er außerordentlich gern ißt, kam geſtern athemlos mit der Nachricht, er habe beim Baden ein höchſt merkwürdiges Thier gefangen, das etwa eine Geſtalt habe wie ein Krokodill, aber mit ganz langen Hörnern verſehen ſei, die ihm aus dem Kopfe hervorſtünden, und mit denen es ganz ſeltſam um ſich fahre. Er verlangte, daß wir ſo— gleich einen neuen Genus-Namen für daſſelbe aus⸗ denken und die Art ihm widmen ſollten. Nach langem Beſchreiben der außerordentlichen Merkmale, welche dieſes Thier beſitzen ſollte, läßt er ſich end⸗ lich bewegen, es aus ſeiner Wohnung herüberzuholen, wo er es in einem Gefäße mit Waſſer aufbewahrt hat. Welch unauslöſchliches Gelächter ergriff uns, als er eine lebende Crevette beibrachte! Erſt nachdem wir das Krebslein in ſiedendes Waſſer geworfen, erkannte er die Richtigkeit unſerer Diagnoſe an, und verſpeiſte ſein Krokodill en miniature mit nicht geringem Appetite. Die Bernhardinerkrebſe, die ſich zu hunderten in jeder Lache finden, beſchäftigen unſern Freund Bakunin ebenfalls ſehr. Er hat ſich eine ganze i Sammlung von verſchiedenen Muſchelarten, die alle von ſolchen Schmarotzerkrebſen bewohnt ſind, in einigen Schüſſeln auf ſeiner Stube angelegt, und ſtudirt nun mit großem Eifer die Sitten und Ge— bräuche dieſer kurioſen Geſchöpfe, die ſich in ihren geborgten Gehäuſen eben ſo wohl befinden, als andere Schnecken in der ſelbſtgebauten Wohnung. Bakunin hat daraus den Schluß gezogen, daß der Communismus in der natürlichen Ordnung der Dinge vollkommen begründet ſei, und daß diejenigen Menſchen, deren Anlagen mit den Bernhardiner- krebſen einige Analogie hätten, auch vollkommen berechtigt ſeien, die Häuſer Anderer, als die ihrigen anzuſprechen. Nun ſei aber gerade der Neid eine der weſentlichſten Grundeigenſchaften des menſch⸗ lichen Gemüthes, das ſtets dasjenige zu beſitzen wünſche, was ſchon Anderen angehöre und aus dieſem Grunde müſſe man denn auch anerkennen, daß der Communismus nothwendig dem Menſchen— geſchlechte im Ganzen vindicirt werden müſſe. Um aber bei den Bernhardinerkrebſen ſtehen zu bleiben, ſo könne man doch wahrlich nicht verlangen, daß Geſchöpfe mit jo weichem Hinterleibe, wie dieſe Eremiten, ſich ohne eine Hülle ihres Hinterleibes a Na 4 allen Gefahren des Meeres preisgeben ſollten, und auch aus dieſer Nothwendigkeit fließe demnach ihre Berechtigung, die Muſcheln ihrer Schale zu be— rauben, und ſich ſelbſt dafür hineinzuſetzen. Indeß darf ich nicht übergehen, daß die pſyhchologiſchen Studien Bakunins über die Bernhardinerkrebſe ſchon zu dem Reſultate geführt haben, daß dieſe Herrn Nachts ihre Gehäuſe verlaſſen und frei draußen herumſpazieren. Vorgeſtern iſt nun einigen dieſer nächtlichen Spaziergänger ein fataler Streich begegnet. Wäh— rend ihrer Abweſenheit von dem Gehäuſe hatten ſich einige jüngere Genoſſen in die verlaſſenen geräumigeren Schalen geräuſchlos eingemiethet, und als die Beſitzer dieſelben beim Anbruche des Tages wieder beziehen wollten, vertheidigten ſich die Uſur— patoren fo mannhaft gegen die rechtmäßigen Beſitzer, daß die Belagerer unverrichteter Sache abziehen mußten. Bakunin hatte während der Nacht einen gräulichen Rumor in der Schüſſel gehört und fand nun am Morgen die zwei Ausgetriebenen nackt und blos vor den Gehäuſen ſitzen, welche man ihnen zurückgelaſſen hatte, die aber zu enge waren, als daß ſie hätten bezogen werden können. Baku⸗ LE nin verficherte, daß die Unglücklichen ihn ganz melancholiſch aus ihren dunkelgrünen Augen ange— ſehen hätten und daß er manchmal im Begriffe ge= weſen ſei, ſie in den legitimen Beſitz ihrer alten Gehäuſe wiedereinzuſetzen. Doch hatte er auf der anderen Seite wieder einige und auch ſcheinbar ſehr gegründete Zweifel an dieſer ſupponirten Legitimi⸗ tät der Vertriebenen, und ſo verhielt er ſich ganz wie Louis Philipp und Metternich; er betrachtete die Sache als ein fait accompli und erhielt den status quo. Das ging dann aber den Vertriebenen ſo zu Herzen, daß ſie noch deſſelbigen Tages das Zeitliche ſegneten, wodurch ihm auf's Neue ein ſchwerer Stein vom Herzen fiel, indem er nun nicht mehr für die vertriebenen Legitimen zu ſorgen hatte. Von den Krabben werde ich Dir noch Vieles erzählen müſſen. Die übrigen Krebſe gehen alle rückwärts und zwar in plumper Weiſe geradezu rückwärts, weßhalb ſie auch zum Geſpötte der Welt geworden ſind. Die Krabben ſind bei weitem klüger, fie haben zwar ebenfalls die Tendenz rück⸗ wärts zu gehen, laſſen ſich's aber nicht gerne merken, und laufen deßhalb mit ſpitz nach unten gekruͤmmten Beinen auf die Seite, und dann wieder auf die andere, bis fie endlich in mehren Zickzacklinien doch um ein Erkleckliches rückwärts gekommen ſind. Nichts Lächerlicheres als ſo ein Taſchenkrebs, der mit ſeinen zehn Beinen ebenſo gelenk auf die Seite traverſirt, als der geübteſte Tänzer im chasse croisé. Die langen Augenſtiele werden dabei ge— rade nach vornen ausgeſtreckt und da man dieſer ſeitlich ſchnellen Bewegung gar nicht gewärtig iſt, ſo entwiſcht die Krabbe mit großer Leichtigkeit und iſt im Nu unter dem Sande oder in einer Felſen— ritze verſchwunden. Von den Mollusken, Schnecken und Muſcheln und den herrlichen Polypen, die wir gefiſcht haben, erzähle ich dir ein andermal, zumal da ich einige kleine Thierchen aus der Familie der Nacktkiemer gefunden habe, die mich vielleicht noch längere Zeit beſchäftigen werden, wenn anders die Ophiureneier mir die Zeit dazu übrig laſſen. Die Heimfahrt von dem Jardin nach St. Malo war entzückend ſchön. Die Wellen der heranbrauſenden Fluth trugen uns faſt ohne Ruderſchlag an der Inſel Césambre vor- über ſchaukelnd dem feſten Lande entgegen, und wir waren ſo reich an neuen Eindrücken, daß wir Ba trotz unſerer Müdigkeit noch bis ſpät in die Nacht hinein bei einem Glaſe Grog von all den ſchoͤnen Dingen plauderten, die wir erfahren hatten. Den 13. September. Die Zeit des Sammelns ſcheint für mich ſchon beinahe vorüber. Den ganzen Tag ſitze ich wie angekettet hinter Mikroskop und Zeichenbrett ſo an— geſtrengt und fleißig, daß ich mir kaum die Zeit zum Seebade nehme und Roß behauptet, die Augen ſtünden mir Abends vollkommen quer im Kopfe. Herwegh geht freilich alle Tage regelmäßig hinüber nach St. Malo, wo die Wellen der andringenden Fluth weit ſtärker und heftiger ſind, als in der ſtillen Bucht von St. Servan, die durch den Felſendamm St. Malo's gegen den unmittelbaren Anſtoß der Fluthwellen geſchützt iſt. Zum Erſatz für die fehlen⸗ den Wellen haben aber Roß und ich die Satisfac⸗ tion, daß das halbe Städtchen am Strande zu= ſammenläuft, um unſere Schwimmkünſte zu bewun⸗ a dern, die für St. Servan ganz außerordentlich find. Unſere Hauswirthin hat uns erzählt, daß ihr Mann faſt der einzige Eingeborne von St. Servan ſei, welcher ſchwimmen konne, während alle Uebrigen, Matroſen und Fiſcher nicht ausgenommen, dieſer edlen Kunſt vollkommen baar und blos ſeien. Es iſt das kaum glaublich, aber doch vollkommen wahr und an den Schweizerſeen habe ich ganz analoge Erfahrungen gemacht. Sämmtliche Bootsführer von Neufchatel z. B., die doch ihr ganzes Leben auf dem Waſſer zubringen, und ſcheinbar durch ihre Beſchäftigung darauf angewieſen ſind, können durch— aus nicht ſchwimmen, eine Indolenz, die in der That unbegreiflich erſcheint. Doch um auf meine Beſchäftigung zurückzukom— men. Du glaubſt wohl, ich ſäße hinter den Eiern der Ophiuren, und beobachtete deren Entwicklung mit jo unverwuͤſtlichem Eifer; ich muß Dir be— ſchämt meine Täuſchung eingeſtehen. Die vermeint— lichen Eierſäcke waren nichts anderes, als ſchma— rotzende kleine Krebschen, die ſich an den Armen der Ophiuren feſtgehackt hatten, und zu der Familie jener ungeſtalteten Lernäen gehören, deren Krebs— natur erſt in neuerer Zeit feſtgeſtellt worden iſt. u N Dahin find unfere ſchönen Träume von außerordent- lichen Entdeckungen; ich war ſo zornig über mich ſelbſt, daß ich Ophiuren und Lernäen zum Fenſter hinauswarf, und mich gar nicht mehr damit ab— geben mochte. Doch Du wirſt mich fragen, worin denn eigent— lich nach dem Verluſte der Ophiureneier meine Arbeit beſtehe. Wir haben auf Steinen, die mit einem ganz eigenthümlichen feinfaferigen Ueberzuge grüner Algen bedeckt ſind, ein kleines Schneckchen gefunden, das gerade jetzt in Paris mannichfachen Spektakel erregt hat und uns deßhalb doppelt in— tereſſant iſt. Die größten Exemplare, welche wir beſitzen, ſind etwa von der Länge eines Nagelgliedes und im Allgemeinen von einer Geſtalt, die derjenigen unſerer gewöhnlichen nackten Gartenſchnecke ähnelt. Das Thier iſt vollkommen nackt, es trägt weder auf dem Rücken, noch in der Haut deſſelben eine Spur von Schale, der vordere Theil des Körpers iſt ziem— lich cylindriſch, gerade abgeſtutzt, und an der unte— ren Fläche mit einer kriechenden Sohle verſehen, mittelſt deren das Thierchen ſich bewegt. So weit gliche Alles etwa unſeren gewöhnlichen Garten— ſchnecken. Die Fühlhörner aber ſind in ganz anderer Weiſe geſtaltet. Unſer Thierchen beſitzt deren nur zwei, die zu beiden Seiten des Kopfes ſchief nach Außen gerichtet ſtehen und aus einer eingerollten Lamelle gebildet find. Sie können wohl ein wenig verkürzt und verlängert, aber nicht in der Weiſe eingezogen werden, wie die Fühlhörner unſerer Gartenſchnecken. In ziemlicher Entfernung hinter den Fühlhörnern ſitzen in der Haut des Rückens zwei ſchwarze glänzende Punkte, die Augen. Nach hinten zu läuft der Mitteltheil des Körpers ſchein— bar in einen Sack aus, an den ſich ein breites blattartiges Gebilde ſetzt, welches ſich in Lanzettform nach hinten zu verſchmälert, und mit einer feinen braunen Spitze aufhört. Dieſe blattartige Verlän— gerung des Körpers, welche um das Dreifache breiter iſt, als der Kopf, wird von dem Thierchen meiſtens nach oben zuſammengeſchlagen, ſo daß es beim Kriechen gleichmäßig von vornen nach hinten ver— ſchmälert erſcheint. Eine lebhaft blaßgrüne Farbe, welche hie und da durch hellblaue und weiße Flecken erhöht iſt, läßt das Thierchen unter den grünen Algen ſehr leicht überſehen. Herwegh war beſonders glücklich in Auffindung deſſelben, da er den für feinere naturwiſſenſchaftliche Unterſuchungen unſchätz— N, baren Vorzug der Kurzſichtigkeit im hohen Grade beſitzt. Mit ſeiner Hülfe hatten wir bald eine ganze Menagerie von Actaeons, ſo heißt das Thierchen, zuſammengebracht, und da ſie gerade in der Fort— pflanzungszeit ſich befanden, fo erhielten wir all— nächtlich von den Gefangenen ziemlich große Quan— titäten von Eiern, die denn, wie Du leicht denken kannſt, mich weſentlich in den letzten Zeiten beſchäf— tigten. Der Actaeon gehört zu derjenigen Gruppe von Mollusken mit freien Kiemen oder auch ohne ſicht— bare Reſpirationsorgane, welche in der neueſten Zeit namentlich den lebhafteſten Streit erregt hat. Du weißt, daß zwei jüngere Vorkämpfer der naturfor— ſchenden Parteien in Paris, die Herrn Quatrefages und Souleyet, ſeit einiger Zeit wegen der Anatomie der Mollusken mit nackten Kiemen einander in den Haaren liegen. Der ganze Streit iſt viel zu heftig, wird mit zu viel Erbitterung geführt, als daß man glauben könnte, die Perfönlichkeiten dieſer Herrn ſeien allein dabei betheiligt. Die wiſſenſchaftlichen Streitigkeiten der Haupt— ſtadt unterſcheiden ſich gerade dadurch von den Kämpfen der homeriſchen Helden, daß bei dieſen letzteren die Haupthelden im Vordertreffen kämpften, während die Untergebenen und das gemeine Volk hinter ihnen ſich in weniger activer Weiſe an dem Kampfe betheiligten, aber deſto mehr ſchimpften und ſchrieen. In Paris aber werden die Vorpoſtengefechte von den geringeren Adepten der ſtreitenden Parteien geführt, und die Streiche gelten vorzüglich den Matadoren, welche im Hintertreffen commandiren, aber nur höchſt ſelten in eigner Perſon hervortre— ten. So geht es denn auch hier. Aendere die bei— den oben genannten Namen um in diejenigen von Milne⸗Edwards und Blainville, und die ganze Be— deutung des Streites, ſeine hartnäckige Führung wird Dir mit einem Blicke klar werden. Blainville iſt der Repräſentant einer veralteten Anſicht in der Zoologie. Er behauptet, die Thiere bildeten eine einzige Stufenleiter, welche ſich von dem niedrigſten Infuſorium bis zu dem höchſten Geſchöpfe, dem Menſchen, hinanziehe. In dieſer Stufenleiter ſei keine Unterbechung, nicht einmal ein gewiſſer Parallelismus einzelner Bildungen zu finden. Von einer jeden Art könne man unbedingt nachweiſen, in wiefern ſie immer andern unterge- ordnet oder vorgezogen werden müſſe. In dieſer Vogt's Briefe J. 5 = ae Weiſe conſtruirt er auch wirklich in ſeinen Vor— leſungen die thieriſche Welt. Daß er dabei mit ungemeiner Willkührlichkeit zu Werke geht, iſt von vornherein erſichtlich. Doch dies iſt nicht die ein⸗ zige Seite, welche Herrn Blainville von jeher die manichfachſten Gegner zugezogen hat. Die Perſön⸗ lichkeit dieſes Mannes hat ebenfalls mächtig dazu beigetragen, feiner Schule, die er ſelbſt die „finali⸗ ſtiſche“ nennt, mehr Gegner als Schüler zu ge— winnen. Blainville iſt jetzt der finſtre Geiſt, der, das jeſuitiſche Glaubensbekenntniß in der Hand, in den naturwiſſenſchaftlichen Beſtrebungen Frankreichs den verderblichſten Einfluß ausübt. Ausgerüſtet mit großem Scharfſinne und umfaſſenden Kennt- niſſen, die er ſich durch eine eiſerne Beharrlichkeit erwarb, benutzt er dieſe Hülfsmittel nur um Alles zu begeifern, was ſeiner Alleinherrſchaft in der Zoologie hindernd in den Weg treten könnte, und wenn Andere in Frankreich ihren Weg dadurch machen, daß ſie ſich den Männern anſchließen, durch deren Einfluß ſie vorwärts zu kommen ſuchen, ſo hat Blainville ſich dadurch emporgearbeitet, daß er ſeine Wohlthäter an ihre Feinde verrieth, und auf dieſe Weiſe den Haß zu benutzen wußte, den . er oft ſelbſt erregte. Im vorigen Jahre hat Blain— ville ein Buch geſchrieben, das mir als Zeichen der Zeit zu merkwürdig erſchien, als daß ich es in der Allg. Zeitung hätte unerwähnt laſſen können. Früher vollkommner Atheiſt aus dem einzigen Grunde, weil Cuvier Deiſt war, hat er ſich jetzt der jeſuitiſchen Richtung angeſchloſſen, und das erwähnte Buch mit einem glatzköpfigen Pfaffen herausgegeben, der in ſeinen Vorleſungen ſtets vornenan ſitzt. Man ſtaunt wirklich bei dem Leſen dieſes dicken dreibändigen Werkes über den Unſinn, den man in unſerer Zeit noch zu Tage fördern darf. „Das Studium der Thatſachen ſei jetzt voll— kommen beendigt“ erklärt Herr Blainville in dürren Worten, und durch die katholiſche Theſe, die er, Herr Blainville, in die Wiſſenſchaft eingeführt, ſei auch die Philoſophie derſelben vollkommen abge= ſchloſſen, ſo daß den Nachfolgern nichts mehr zu thun übrig bleibe. Mit dieſem einen Satze haſt Du das ganze Princip der ſ. g. finaliſtiſchen Schule. Materiell wie geiſtig iſt nach den Prineipien ihres Meiſters kein Fortſchritt mehr möglich, und ſomit auch die ganze Schule zu ewiger Sterilität verdammt. KR Wenn du nun bedenkſt, daß der Mann, welcher zu ſolchen Principien ſich bekennt, durch ſeine Stellung in der wiſſenſchaftlichen Hierarchie einen bedeutenden Rang einnimmt, daß er in der Akademie ſich durch ſeinen beißenden Witz eine Partei gemacht hat, die ihn zu ſehr fürchtet, um es wagen zu dürfen, an— derer Meinung zu ſein, daß er eine gewiſſe Anzahl von Journalen an der Hand hat, die ihn aus Intreſſe für ſeine legitimiſtiſche und religibſe Parteiſtellung vertheidigen, ſo wirſt Du einſehen, daß es ſchon der Mühe werth iſt, ſich gegen einen ſolchen Geg— ner mit allen Stücken zu wappnen und bis zum letzten Ende gegen ihn anzukämpfen. Dieſe Rolle der Oppoſition hat Milne-Edwards, vielleicht mehr nothgedrungen als abſichtlich übernommen, und bis jetzt auch meines Erachtens ſiegreich durchgeführt. Von allen Mitgliedern der Akademie iſt Milne- Edwards wirklich der Einzige, dem es um den Fortſchritt in der Zoologie Ernſt iſt, und der auch jüngere Talente an ſich heranzuziehen und in jeder Weiſe zu unterſtützen ſucht. Er erkennt in der Schöpfung, ganz in ähnlicher Weiſe wie Cuvier, mehrfache verſchiedene Typen der Organiſation, welche nicht abſolut einander untergeordnet werden können, und verwirft aus dieſem Grunde die Blain— ville'ſche Sufenleiter. Den neueren Ideen über den Einfluß der Entwickelungsgeſchichte auf die ſyſtema⸗ tiſche Zoologie hat er beſondern Vorſchub geleiſtet und gewiß iſt es ſeine Schuld nicht, wenn die ſog. phyſiologiſche Schule, wie die Franzoſen feine Rich— tung nennen, nicht ſchnellere Fortſchritte unter ſeinen Landsleuten macht. ä Bei einem Kampfe, welcher ſcheinbar nur in den wiſſenſchaftlichen Regionen ausgekämpft wird, gilt es doch in Paris weſentlich noch ganz andere Dinge, die mit der wiſſenſchaftlichen Stellung in engſter Beziehung ſtehen; es gilt um den ganzen Einfluß, welchen ein Mann in der Adminiſtration, in der Beſetzung der Stellen, in den öffentlichen Angelegenheiten ausüben kann. Der Sieger in dem wiſſenſchaftlichen Streite, der die öffentliche Meinung für ſich gewinnt, wird dadurch zugleich eine einfluß— reiche Perſon im Staate, und wenn er auch weiter gar keine officielle Stellung hätte. Man befragt ihn über die Perſönlichkeit der Bewerber um Stellen, die in ſein Fach einſchlagen, ſeiner Verwendung gelingt es leicht, Schüler und Freunde durch Em= pfehlung nach allen Richtungen hin unterzubringen, Sl und jo feine Anſichten in weiteren Kreiſen zu vers breiten. In der Akademie, in den Miniſterien, in der Kammer finden ſeine Anſichten Geltung und Anerkennung. Der Vorpoſtenkampf, welcher zwiſchen den beiden oben characteriſirten Parteien ſich entſponnen hat, dreht ſich mit um das kleine Schneckchen, das ich Dir im Anfange dieſes Briefes beſchrieb. Quatre— fages, der ſich zu wiederholtenmalen an der franzö⸗ ſiſchen Seeküſte aufhielt, behauptete, daß bei einer ganzen Gruppe von Mollusken der Blutumlauf mehr oder minder unvollkommen ſei, indem ſtatt wirklicher Gefäße mehr oder minder große hohle Räume zwiſchen den Organen eriftirten, innerhalb welcher das Blut eireulire. Dieſe Unvollkommen— heit, behauptete er, ſtehe in gerader Beziehung zu der Veräſtelung, welche der Darmkanal darbiete; bei einigen Arten fänden ſich an dem ſonſt wohl ausgebildeten Darme hie und da einzelne Blindſäcke, in welche der Nahrungsſtoff eindringe. Bei den Thieren, wo dieſe Veräſtelung des Darmes Statt finde, fehlten dann meiſtens die rückführenden Venen, an deren Stelle der Raum der Leibes⸗ höhle fungire. In dieſen Raum ergöſſe ſich das Blut, welches auf dieſe Weiſe alle Organe umſpüle, und dann durch eigene trichterförmige Gefäße in das Herz eindringe. Je weiter nun die Veräſtelung des Darmkanales gehe, deſto mehr trete in demſelben Verhältniſſe die Vollkommenheit des Blutumlaufes zurück, ſo daß bei Einigen dieſer Mollusken nur noch ein Herz exiſtire, welches das in die Höhlen— räume des Körpers frei ergoſſene Blut in eine un— beſtimmte Bewegung verſetze; bei einigen Mollusken fehle ſogar das Herz durchaus, und zu dieſen zählte er namentlich den Actaeon, den er ebenfalls an den Küſten der Manche in reichlicher Anzahl ge⸗ troffen hatte. Quatrefages hatte bei ſeinen Beobachtungen faſt einzig das Mikroſkop benutzt, und, man darf dies jetzt wohl ſagen, wirklichen Mißbrauch mit demſelben getrieben. Er ſuchte die kleinſten Exemplare ſolcher Schnecken heraus, quetſchte dieſelben zwiſchen den zwei Glasplatten eines Compreſſoriums ſo lange, bis ſie durchſichtig genug erſchienen, und ſuchte dann an dieſem gequetſchten Präparate die Structur der inneren Theile zu erforſchen. Allein ich kann Dich jetzt aus eigner Erfahrung verſichern, daß dieſe Methode gewiß höchſt ungeeignet iſt zur Unterſuchung e von ſolch kleineren Mollusken. Die Haut, welche dieſe Thiere einhüllt, iſt zu dick, zu undurchſichtig, und zu ſehr mit Pigmenten aller Art durchſäet, als daß es möglich wäre, ſich eine klare Anſchauung der innern Theile zu verſchaffen. Man bekommt nur verworrene, unklare oder durch die ſtarke Quetſchung ü dergeſtalt verzerrte Bilder, daß es bei einziger An— wendung dieſer Unterſuchungsmethode unmöglich iſt, keine Fehler zu begehen. Die Franzoſen ſind in mancher Beziehung merkwürdige Leute, und ſtets wahre Sklaven einer einzigen Unterſuchungsmethode. Quatrefages, der ein recht genauer Mikroſkopiker iſt, wendet ſein Mikroſkop überall an, wo es gar nicht am Platze iſt und ſein Gegner Souleyet will nur mit Skalpell und Lupe unterſuchen und nirgends das Mikroſkop anwenden. Du haſt dasſelbe Verhältniß in dem Streite der beiden Botaniker Mirbel und Gaudichaut. Der Eine unterſucht die Structur der Stämme nur durch Maceration, der Andere nur mittelſt des Mikroſkopes, indem er Längs- und Querſchnitte der friſchen Stämme unterſucht, und ſo laufen Beide auf demſelben Felde der Unterſuch— ung ſtets neben einander her, ohne daran zu denken, daß für ein jedes Object die Methode der Untere 3 ſuchung eine andere ſein müſſe. Einer meiner jüngeren Freunde hat durch Injectionen von Mol— lusken und Würmern ſehr ſchöne Reſultate zu Tage gefördert. Er meint nun, dieſe Methode über— all anwenden zu müſſen, und quält ſich ſchon ſeit längerer Zeit damit ab, Inſtrumente zu erfinden, die fein genug wären, um auch die größern Räder⸗ thiere und polygaſtriſchen Infuſorien zu injieiren, wenn ſie gleich nur höchſtens einen Durchmeſſer von einem Zehntel einer Linie beſitzen. Er iſt eben Sklave ſeiner Methode. Doch um auf meine Mollusken wieder zurück zu kommen, ſo war es natürlich, daß Souleyet, wel— cher Jahre lang ſich mit der Anatomie der Mollusken abgegeben hat, eine Menge von Fehlern nachweiſen konnte, die Quatrefages bei ſeiner beſchränkten Un— terſuchungsmethode begangen hatte. Jetzt, wo ich den Actäon ſelbſt zu unterſuchen Gelegenheit habe, uͤberzeuge ich mich mehr und mehr von der Genau— igkeit der Beobachtung des Letzteren. Der Darm— kanal dieſes Thieres veräſtelt ſich überall hin in den ganzen Körper mit einer unendlichen Menge feiner Verzweigungen, welche ringsum mit grünen Koͤrnern beſetzt find, die eben durch die zarte Körperhaut Bu. durchſchimmern und auf dieſe Weiſe dem Thierchen die grüne Farbe verleihen. Allein trotz dieſer Ver— äſtelung des Darmkanales hat der Actäon ein Herz, welches unmittelbar unter der Haut des Rückens liegt, und ſogar eine ſo anſehnliche Größe beſitzt, daß man es mit bloßem Auge pulſiren ſehen kann. Allein gerade aus dieſem Grunde, weil es fo uns mittelbar unter der Haut des Rückens über allen anderen Eingeweiden liegt, mußte Quatrefages dieſes zarthäutige Herz überſehen, welches bei dem erſten Drucke der Glasplatten zuſammengequetſcht, und fernerer Contractionen dadurch unfähig wurde. Ich ſagte Dir vorhin, daß die Actäons, welche wir in ziemlicher Anzahl in unſeren Gefäßen ver⸗ ſammelt haben, allnächtlich Eier legen, und daß dieſe Eier mir jetzt ſo vollauf zu thun geben, daß ich an weitere Arbeit nicht wohl denken kann. Jedes Thier legt auf einmal eine ungemeine Anzahl kleiner mikroſkopiſcher Eierchen, welche durch einen gallert⸗ artigen Ueberzug zu einer langen Schnur vereinigt ſind, die in Spiralform an die Unterfläche der Steine und Blätter oder auch an die Wände unſerer Glasgefäße abgeſetzt wird. Eine ſolche Eierſpirale hat etwa den Umfang eines Kreuzers, und die Dicke 8 eines mäßigen Zwirnfadens; ſie iſt vollkommen klar, durchſichtig und farblos, und aus dieſem Grunde ziemlich ſchwierig zu unterſcheiden. Unſere Augen ſind indeſſen ſchon ſo geübt, daß uns nicht leicht eine ſolche Eierſpirale auf einem Steine entgeht, und da wir einzelne beſtimmte Tümpel an dem Felſen kennen, wo ſich Actäons aufhalten, ſo können wir dieſe als Reſervemagazine betrachten, im Falle durch einen unglücklichen Zufall die in unſeren Ge— fäßen gehaltenen zu Grunde gehen ſollten. Den 19. September. Heute Morgen war großer Aufruhr unter der ganzen wiſſenſchaftlichen Colonie, die in St. Servan verſammelt iſt. Noch war der Kaffee nicht gebraut, um deſſen Herſtellung ſich Roß täglich die glän⸗ zendſten Verdienſte erwirbt, als auch ſchon Herweghs dienender Geiſt mit einem Zettel eintritt, der uns zu einer höchſt wichtigen Beobachtung einladet. Wir eilen mit beflügelten Sohlen zu ihm und finden EN ihn mit großer Andacht über ein Waſſerglas ge— beugt, in welchem einige Actäons ſich umhertreiben. Zwei derſelben ſind im Begriffe ihr Geſchlecht fort— zupflanzen, und da die Mollusken hierin ſowohl wie in allen andern Dingen ſich durch eine löbliche Langſamkeit auszeichnen, ſo haben wir noch immer vollſtändige Muſe, um uns bei der Beobachtung dieſes Actes zu betheiligen. Unſere Schneckchen find vollſtändige Zwitter, ganz wie unſere gewohn- lichen Landſchnecken, und die Begattung iſt eben ſo wechſelſeitig, wie bei dieſen. Die männliche Geſchlechtsöffnung, welche man bei gewöhnlichem Zuſtande von Außen wohl ſchwerlich entdecken könnte, beſindet ſich unmittelbar hinter dem rechten Fühlhorne, die weibliche viel weiter hinten, an dem Orte, wo die blattartige Verlängerung des Körpers beginnt. Die beiden Thiere ſind ſpiraliſch zu— ſammengewickelt und ihre Vorderleiber ſo gegenein— andergekehrt, daß die betreffenden Geſchlechtsöffnun⸗ gen ſich berühren. Sie ſchwimmen, wie ſie dies oft thun, an der Oberfläche des Waſſers mittelſt eines ſchleimigen Fadens, der von der hinterſten Spitze ihres Leibes ausgeht. Nach Verlauf einer Stunde etwa trennen ſich die beiden Thiere, deren u Vergnügen wir ohne Zweifel durch öfteres Hin- und Herwenden abgekürzt haben, und wir können uns nun überzeugen, daß beide Thiere ſowohl die Rolle des Männchens, als die des Weibchens geſpielt haben, wie dies überhaupt bei unſeren Schnecken der gewöhnliche Fall iſt. Nach der Anatomie der inneren Geſchlechtstheile ſollte man ſogar glauben, daß die Begattung bei den in Rede ſtehenden Thieren zum Legen befruchteter Eier durchaus nicht nöthig ſei, da die Canäle von den Eierſtöcken wie von den Hoden an einem gewiſſen Punkte zu— ſammentreffen, und während einiger Zeit gemein— ſchaftlich mit einander verlaufen, ſo daß demnach eine Befruchtung der Eier innerhalb des Indivi— duums, ohne Dazwiſchenkunft eines Andern wohl möglich iſt. Durch dieſe Beobachtungen iſt nun der Kreis meiner Unterſuchungen über die Entwicklungsge— ſchichte des Actaeons fo ziemlich vervollſtändigt, und bis zu einem gewiſſen Punkte glaube ich ſchon ab— ſchließen zu können. Schon jetzt tritt aus meinen Unterſuchungen wenigſtens das Reſultat mit über— zeugender Sicherheit hervor, daß dieſe Schnecken eine vollſtändige Metamorphoſe durchmachen, welche u a nicht minder merkwürdige Stufen durchläuft, als diejenige eines Schmetterlings, oder irgend eines andern Inſectes. In neun Tagen etwa ift die Aus— bildung dieſer Larven vollendet, und da ich ſtets Eierſchnüre von verſchiedenem Alter zur Diſpoſttion habe, ſo iſt es mir möglich geweſen, bis jetzt ſchon eine faſt vollſtändige Reihe von Beobachtungen zu— ſammenzubringen, welche die einzelnen Phaſen dieſer Ausbildung ziemlich vollſtändig darſtellt. Du kannſt Dir nicht denken, welch eigenthümlichen Anblick dieſe Larven gewähren, die in allen Stücken gerade das Gegentheil von ihren Eltern ſind. Das ausge— bildete Mollusk iſt ein träges, langſames Vieh, das auf dem Boden des Gewäſſers zwiſchen Steinen und Pflanzen umherkriecht, unfähig ſich in weiteren Strecken fortzubewegen. Stumpfheit ſcheint der weſentliche Charakter feiner Lebensäußerungen, und es iſt wahrlich nicht ohne Grund, daß das Wort „mollusque“ in die neuere franzöſiſche Volksſprache zur Bezeichnung eines trägen, ſaumſeligen Menſchen übergegangen iſt. Nichts Beweglicheres kannſt Du im Gegentheile ſehen, als die Larven derſelben Thiere nachdem ſie ihre Eihüllen verlaſſen haben und frei in dem Waſſer umherſchwärmen. Unſere ſämmtlichen Bes DT kannten ſowohl, als auch meine Hauswirthin mit ihren Freundinnen kommen jetzt faſt täglich, um ſich unter dem Mikroſkope an den Evolutionen dieſer niedlichen Thierchen zu ergötzen. So wenig als durch ihr Betragen gleichen ſie auch durch ihre Form ihren Eltern. Sie beſitzen nämlich eine Schale von einer Form, die etwa derjenigen des Nautilus oder Schiffsbootes ähnlich iſt, obgleich ſich keine Spur von ſpiralförmiger Umrollung zeigt. Ich kann die Schale am Ende mit nichts beſſerem vergleichen, als mit den Häubchen unſerer Bäuerinnen aus dem ſo— genannten Hinterlande, welche ebenfalls nach hinten zu rund, beutelförmig ausgeſchweift ſind, und mit ihrer weiten vorderen Oeffnung gerade den Scheitel bedecken. Eine ſolche Schale nun beſitzen auch unſere Larven, und zwar können ſie ſich ganz vollſtändig in dieſelbe zurückziehen, und ſogar die Oeffnung des Gehäuſes mit einem Deckel verſchließen, welcher an der unteren Fläche einer zungenförmigen Verlänge- rung ihres Körpers angebracht iſt. Der mützen— förmig zugerundete Theil der Schale iſt angefüllt mit den Eingeweiden, unter welchen ſich beſonders eine große rundliche, aus hellen Zellen beſtehende Leber und ein weiter birnförmiger Magen bemerklich 3 machen. Die merkwürdigſten Organe unſerer Thier— chen beſtehen aber in zwei großen Rädern, welche oben auf dem Kopfe zu beiden Seiten des Mundes ſich befinden und in vieler Beziehung denjenigen Organen gleichen, welche bei den Räderthieren Grund des Namens der ganzen Claſſe geworden ſind. Es ſind dieſe Räder aus zwei großen Lappen gebildet, welche halb kreisförmig gegen einander gekrümmt und mit einem dick geſäumten Rande verſehen ſind, auf welchem in dichter Reihe lange Flimmerborſten ſtehen, die nach der Willkür des Thieres ausgeſtreckt oder eingezogen werden können. — Mittelſt dieſer Räder nun ſchwimmt das Thierchen mit äußerſter Behendigkeit im Waſſer umher, ſchwenkt und dreht ſich nach allen Richtungen je nach Belieben und tummelt ſich im Glaſe herum, daß man wohl ſieht, es ſeie jetzt darauf angewieſen, in ſolch friſcher Be— wegung während dieſes Stadiums ſeines Lebens zu verharren. Bei der kleinſten Erſchütterung ziehen die Thierchen ihre Räder in die Schale zurück, klappen den Deckel vor, mit dent fie die Oeffnung ſchließen und laſſen ſich ſo langſam auf den Grund des Glaſes hinabſinken. Nach einiger Zeit wird leiſe und langſam der Deckel ein wenig geſenkt, die — — Fäden der Räder verlängern ſich taſtend und ſpie— lend aus der klaffenden Spalte hervor, welche zwiſchen Deckel und Schale jetzt offen gelaſſen iſt. Plötzlich, wenn Alles ungefährlich erſcheint, klappt ſich der Deckel vollſtändig auf, die Räder werden hervorge— ſchnellt, die Schwimmborſten entwickelt, und nun hebt ſich das Thierchen von Neuem in ſchnellen Kreiſen nach der Oberfläche des Waſſers, an der es, beſonders wie es ſcheint, ſeine aus Infuſorien be— ſtehende Nahrung aufjucht. Wir kennen ſchon eine Menge ähnlicher Ber obachtungen, beſonders über die nackten Schnecken, welche auf das Ueberzeugendſte darthun, daß alle dieſe Thiere analoge Metamorphoſen durchmachen, und daß namentlich alle während ihres Larvenzu— ſtandes ein Paar ſolcher Räder und eine Schale beſitzen, mögen ſie nun auch in der ſpäteren Zeit die abweichendſten Formen haben, die man ſich nur denken kann. Ich erinnerte mich nur ziemlich dunkel, eine Abhandlung von Sars geſehen zu haben, worin dieſer emſige Naturforſcher ähnliche Larven von Seehaſen (aplysia), von Doris, EColidia und andern nackten Mollusken dieſer Art beſchreibt. Milne⸗Edwards, dem ich vor einigen Tagen eine Vogt's Briefe I. 6 RB — Skizze meiner Larven zuſchickte, benachrichtigt mich, daß er ſelbſt ſchon ähnliche Weſen beobachtet habe und auch Quatrefages Zeichnungen analoger Lar— ven aus Sieilien beſttze. Es kann demnach wohl jetzt ſchon keinem Zweifel unterworfen ſein, daß dieſe Larvenmetamorphoſe der Mollusken und na— mentlich der kopftragenden Mollusken ein allgemeines Geſetz ſei, und daß alle dieſe ſo trägen und an einen geringen Raum gebannten Thiere in ihrer Jugend eine ungemein große Beweglichkeit beſitzen, welche ſie fähig macht, größere Reiſen zu unternehmen. Dieß ſcheint mir aber ein höchſt wichtiges Moment in dem Haushalte dieſer Thiere, welche in jo großer Anzahl die Ufer des Meeres bevölkern. Meine Larven bilden innerhalb der ihnen angewie— ſenen Gefäße ganze Schwärme, welche etwa wie Bienenſchwärme nach gewiſſen Richtungen hin zu wandern ſuchen. Es bleibt mir kein Zweifel, daß fie im Freien ähnliche Auswanderungsverſuche vor= nehmen. Es gibt dies vielleicht den Schlüſſel zu einer Erſcheinung, welcher die Fiſcher ſchon mehr Aufmerkſamkeit zugewendet haben, als die Naturforſcher, die aber wohl einer weitern Berück— ſichtigung von Seiten dieſer Letzteren werth wäre. Ich meine die Anſtedlung folder Molluskenſchwäme an beſtimmten Gegenden, wo ſie ſpäter ſ. g. Bänke bilden, und ebenſo das ſ. g. Verſchlagen ſolcher Thiere an Standorte, welche ihnen früher fremd waren. Man muß nur einmal das Betragen der Meerſchnecken beobachtet haben, um ſich zu überzeu— gen, daß keine Woge im Stande iſt, dieſelben weg— zuſpülen und auf weite Strecken hin fortzuführen. Selbſt wenn ſie kriechen, ſitzen ſie ſo feſt mit ihrem breiten Fuße an der Oberfläche der Felſen, daß man nur mittelſt eines untergeſchobenen Meſſers ſie losreißen kann, und wenn dies gelingt, ſo fallen ſie gleich einem Stücke Stein auf den Grund, an welchen ſie ſich aufs Neue feſtſaugen. Viele Muſcheln nun gar ſind förmlich auf den Boden feſtgewachſen und können von demſelben nur durch Anwendung großer Gewalt losgeriſſen werden. Die Auſtern z. B. ſind in dieſem Falle. Man hat frei— lich ihre Entwickelungsgeſchichte noch nicht beobachtet, und ſogar vernachläſſigt, Unterſuchungen dieſer Art über andere Muſchelthiere des Meeres zu machen, fo daß wir nur von den Schnecken auf dieſelben zu— rückſchließen können. Allein die ökonomiſche Wich— tigkeit der Auſternbänke hat Beobachtungen im ER.) >), Wo Großen anftellen laſſen, welche uns erlauben, an— zunehmen, daß auch die Auſtern einen Larvenzuſtand durchmachen, während deſſen ſie mehr oder minder beſchränkte Wanderungen vornehmen können. Die Fiſcher wiſſen ſehr wohl, daß die Auſternbänke ihren Platz verändern und glauben deßhalb, die erwachſe— nen Auſtern riſſen ſich von Zeit zu Zeit los, um nach andern Orten hin auszuwandern. Das ift nun freilich unmöglich, aber die Fiſcher können auch die mikroſkopiſchen Embryonen und Larven der Auſtern nicht kennen, und ſie müſſen deßhalb die feſtgeſtellte Thatſache der Wanderung auf ihnen be— kannte Objecte übertragen. Die Bucht von Cancale iſt nur wenige Stunden von hier und vor unſerem Fenſter wird ebenfalls die Auſternfiſcherei ziemlich ins Große getrieben. Ich habe demnach einige Nachrichten über dieſen Punkt einziehen können, und alle beſtätigen ſich darin, daß ſie die Lokalitäten der Auſternbänke als ſehr wechſelnd darſtellen, und das Wandern der Auſtern als eine unbeſtrittene Thatſache annehmen. Die Auſternfiſcherei belebt überhaupt die Ausſicht vor unſerem Fenſter außerordentlich. Wir ſehen oft 60 und mehr Barken, welche mit geſchwellten — Segeln vor unſerem Fenſter hin dieſen Fang be— treiben, und wir haben neulich bei einer Excurſion mehre dieſer Barken angeſprochen und uns die Einrichtung derſelben angeſehen. Unſere Hoffnung, andere Thiere als Auſtern von ihnen zu erlangen, ging freilich nicht in Erfüllung und aus dieſem Grunde haben wir auch das Projekt fallen laſſen, einmal einen Tag über einen ſolchen Fiſchfang mitzumachen. Die Barken benutzen außer dem Winde noch ſtets die Ebbe und Fluth, welche mit einer gewiſſen Kraft das Schifflein vorwärts treiben. Auf der einen Seite befindet ſich eine ſehr einfach gebaute Winde, mittelſt welcher die Schleppkratze (drague) in die Tiefe gelaſſen und wieder herauf geleiert werden kann. An der untern Seite dieſes Schleppnetzes, welches ſtark mit Blei beſchwert iſt befindet ſich eine dicke eiſerne Klinge, die horizontal über den Meeresboden geſchleift wird. Alles was dieſe Klinge abkratzt, fällt in den Beutel des Schleppnetzes und wird dann in die Höhe gewun— den. Allein, wie geſagt, die Ausbeute an anderen Thieren als Auſtern ſoll ſehr gering ſein, und nur zuweilen ein Seeſtern oder ein größerer Krebs mit zu Tage gefördert werden. Den 21. September. Ich habe Dir in meinem letzten Briefe von der Wanderung der Mollusken während ihres Larven— zuſtandes geſprochen und knüpfe daran einige Be— merkungen, welche Dir vielleicht, wenn Du ſelbſt einmal die Meeresufer beſuchſt, von Intereſſe ſein können. St. Malo iſt der ungemeinen Ausdehnung der Ebbe und Fluth wegen vielleicht einer der geeignet— ſten Orte, um Beobachtungen über die Zo nen— vertheilung der Meeresbewohner anzuſtellen. Es geht hier ganz, wie auf dem feſten Lande, wo eben— falls, abgeſehen von den Einflüſſen des Bodens, die Vertheilung der Thiere von der Höhe der Locali— täten über dem Meere abhängt. Die Gemſe geht nicht über eine gewiſſe Höhe der Alpen herab und das Reh nicht über eine gewiſſe Grenze hinauf. In ähnlicher Weiſe zeigen ſich ſehr beſtimmte Unter⸗ ſchiede in der Thierwelt des Meeres, je nachdem man mehr oder minder tief unter den Spiegel der Gewäſſer hinabgeht, und man kann ſticher ſein, daß man dieſe oder jene Species nur in einer be— ſtimmten Höhenzone findet, deren Kenntniß dem Naturforſcher begreiflicher Weiſe von der höchſten Wichtigkeit ſein muß. In St. Malo, wo der Unterſchied zwiſchen der höchften Fluth und der tiefſten Ebbe in ſenkrechter Richtung etwa 40 Fuß beträgt, hält es weit leichter, ſich einen Ueberblick dieſer Zonen zu verſchaffen, als in anderen Meeren, wo der Wechſel in dem Niveau weit geringer iſt. Die Stärke der Fluth wechſelt bekanntlich mit dem Stande des Mondes und nur in den Syzygien treten dieſe bedeutenden Unterſchiede ein. Allein in St. Malo findet ſelbſt dann ein Unterſchied von 5—6 Fuß ſtatt (die gewöhnliche Fluth in der Nordſee), wenn die Bewohner von St. Servan ſagen, es ſei „todtes Waſſer“ (mer morte) ein- getreten. Die äußerſte Höhengrenze der Fluth wird von unzähligen Balanen bezeichnet, welche dicht an ein— ander gereiht die Felſen bedecken. Die größten, welche in der hieſigen Gegend vorkommen, mögen etwa den Umfang einer Haſelnuß haben, meiſtens find ſie, zumal gegen die obere Grenze hin, weit kleiner und ſcheinbar verkümmert. Ich muß geſtehen, daß ich mir eigentlich nicht klar machen kann, wie dieſe Thiere, welche die größte Zeit ihres Lebens über „ vom Waſſer unbedeckt ſind, athmen und ſich er— nähren können Du weißt, daß dieſe Balanen wahre Krebsthiere ſind, welche in ibrem ſpäteren Alter ſich feſtſetzen und nun eine eigenthümliche Schale erhalten, die eine tulpenförmige Geſtalt hat und aus ſechs einzelnen mit einander verwach— ſenen Stücken zuſammengeſetzt iſt. Die Schale kann durch einen Deckel geſchloſſen werden, der aus vier dreieckigen, beweglichen Stücken zuſammengeſetzt iſt, welche eine Art von Pyramiden bilden, und bei der Oeffnung der Schale auseinander geklappt werden. Während der ganzen Zeit der Ebbe ſchließt das Thier die Schale hermetiſch zu, und öffnet erſt dann, wenn das Waſſer wieder darüber hinrauſcht. Auch iſt das Thier nur zur Waſſerathmung ge— ſchaffen, und ſeine ganze Organiſation iſt auf das Leben im flüſſigen Elemente berechnet. Der Mund befindet ſich tief im Grunde der Schale, aus deren oberem Ende die gegliederten Rankenfüße, der After und die Eiröhre hervorgeſtreckt werden können. In dieſer Weiſe entfaltet ſich das Thier auch wirklich in dem Waſſer, während es trocken gelegt ſtets die Schale hermetiſch geſchloſſen hält. Nun habe ich aber Stellen geſehen an allen Felſen in der Um— PR 1 gebung von St. Malo, welche dicht bedeckt mit Balanen ſind und gewiß nur zwei oder dreimal im Jahre bei der höchſten Springfluth während wenigen Stunden vom Waſſer bedeckt ſind. Zu meinem größten Erſtaunen waren dieſe Thiere lebendig und entfal— teten ſich, ſobald ſie losgeſprengt und in das Waſſer getaucht wurden. Wie leben dieſe Geſchöpfe, welche vielleicht nur im Ganzen genommen während eines einzigen Tages des Jahres in dem ihnen angewieſenen Elemente ſich befinden? In der unteren Region der Balanen findet man hie und da kleine Tümpel, welche bei der hohen Fluth ſich mit Waſſer füllen und meiſt während der Ebbe angefüllt bleiben. Dort finden ſich denn in großer Anzahl kleine Schneckchen, beſonders Litto— rinen und Aurikulen, die man zu Hunderten aus den Ritzen der Felſen aufleſen kann. Zu ihnen geſellt ſich eine dunkelrothe Art von Seeanemonen (Actinien), deren tiefrothe ins Braune ſchillernde Farbe lebhaft abſticht gegen den grauen Ton, welche der Balanenüberzug dem Granite verleiht. Die Fangfäden dieſer braunrothen Seeanemone find an ihrem Grunde hochblau gefärbt und der Mund ſelbſt mehr fleiſchroth durchſichtig. Die äußere Haut iſt im Gegenſatze zu anderen Anemonen, welche ſich in tieferen Zonen finden, ziemlich weich und durchſichtig, ſo daß man bei vielen Exemplaren die hochrothen Jungen durch die Haut hindurch in der Bauchhöhle gewahren kann. Wir haben oft verſucht, Exemplare dieſer Actinien in unſeren Gefäßen aufzubewahren, allein ſie ſterben ziemlich leicht und faulen auſſer⸗ ordentlich ſchnell, wodurch ſie dann das Verderbniß der ganzen Waſſermaſſe nach ſich ziehen. Zu dieſen Actinien geſellen ſich Haufen von Miesmuſcheln (Mytilus) die man leicht an der dreieckigen Form und der violettblauen Farbe der Schale kennt. Sie ſind mittelſt eines faſerigen Bartes, der neben dem ſpitzen Ende der Schale aus dem Inneren zwiſchen den beiden Klappen hervortritt, an die Felſen an— geheftet und finden ſich meiſt nur da, wo Tümpel zurückbleiben. Man ſucht ſie eifrigſt, da fie ganz gewöhnlich als Nahrungsmittel benutzt werden. Etwa an der Grenze des mittleren Waſſerſtan— des zieht ſich eine Zone von Tangen (Varec) hin, welche täglich mehre Stunden hindurch entblößt und von den Bewohnern von St. Servan in großer Menge als Dünger ausgebeutet wird. Die zackigen Blätter und Zweige mit den knopfartigen . Anſchwellungen daran ſind außerordentlich ſchlüpfrig und haben uns manchen Fall, manchen Burzelbaum gekoſtet. Dem Unerfahrnen begegnet dies um ſo o leichter, als die Balanen einen äußerſt ſichern Halt für den Fuß gewähren und man mit großer Leichtigkeit ſelbſt ſehr ſteile Klippen hinanklettern kann, welche von dieſen Thieren überzogen ſind. In der Region der erwähnten Tange nun verviel— fältigt ſich die Thierwelt außerordentlich. Vor allem gibt es eine große Anzahl kleiner veräſtelter Polypen, Sertularinen aller Art, welche zwiſchen und auf den Tangen ſich angeſiedelt haben, und nur dem aufmerkſamen Beobachter kenntlich ſind. Die Schnecken finden ſich in reicher Fülle, beſonders kleine Kreiſelſchnecken, Purpurſchnecken, Littorinen, und unter den größeren Arten die Napfſchnecken oder Patellen, welche letztere beſonders den är— meren Bewohnern St. Malo's als Speiſe dienen. Die Schale der Patellen bildet einen niedrigen, ſpitzen Kegel, der das Thier von allen Seiten deckt. Mit dem breiten Fuße, welcher die ganze untere Oeffnung der Schale ausfüllt, ſaugt ſich das Thier, ſobald die Ebbe eintritt, an den Felſen feſt, und erwartet ſo die Rückkehr der Fluth. Es ſitzt ſo e ganz wie ein grauer Schröpfkopf auf der Oberfläche des Felſens feſt, und man könnte eher die Schale zertrümmern, als es losreißen. Die armen Kinder, welche ſich mit dem Sammeln der Patellen be— ſchäftigen, ſind mit einem kurzen Eiſen bewaffnet, das unten im rechten Winkel umgebogen und an der äußern Seite meſſerartig zugeſchärft iſt. Dieſe Schneide ſetzen ſie in den Winkel, welchen die Schale der Schnecke mit dem Felſen bildet, und in= dem ſie nun mit einem kurzen Stoße die Klinge vorwärts treiben, lößen ſie die Schnecke von dem Felſen ab. Sie ſammeln in dieſer Weiſe bei jeder Ebbe ganze Säcke voll von Patellen, die freilich eine ſehr geſchmackloſe Speiſe darbieten, ſelbſt wenn man ſie röſtet, wie dies die Wohlhabenderen thun, während die Aermeren ſie roh verzehren. In den Tümpeln, welche in dieſer Zone der Tange zurückbleiben, finden ſich beſonders die kleine— ren Nacktkiemer, Doris, Colidia, Actäon u. a. Die Letzteren ſind, wie ich Dir ſchon oben bemerkte, beſonders in ſolchen Tümpeln zu finden, wo ſich eine grasartige grüne Alge oder auch die einer Hemdekrauſe ähnlichen grünen Ulven angeſetzt haben. Dieſe grüne Pflanze (ulva crispa) empfehle ich beſonders deiner geneigten Berückſichtigung; — ſie iſt das vortrefflichſte Mittel zur Erhaltung des Seewaſſers, das ſo leicht fault, und wir haben in allen unſeren Gefäſſen große Quantitäten dieſes Gewächſes, mit deſſen Hülfe ich mir auch in Paris einige künſtliche Zuchtſtätten von Seethieren anzu— legen gedenke. Ich habe bei Quatrefages Gefäße mit Seewaſſer geſehen, in welchem kleine Thiere ſeit 3 Jahren lebten, und ich denke mir ſo die Gelegenheit zu verſchaffen, in Paris meine Beobach— tungen fortzuſetzen. In denſelben Tümpeln, in welchen Du die er— wähnten Schnecken antriffſt, findeſt Du auch einzelne Garneelen und kleine Krabben, welche die beſonderen Feinde der Nacktkiemer zu fein ſcheinen. Auch Ace tinien finden ſich in reichlicher Zahl; allein andere Arten, als die oben erwähnte Purpuraktinie, welche die Balanenzone bewohnt. Eine wunderſchöne Art, namentlich mit langen grünen Fangarmen, die ſtark neſſeln, findet ſich hier in großer Anzahl, ſo wie tief in den Ritzen der Steine eine ſehr feſte Art mit grau marmorirter Lederhaut, deren kurze Fang— warzen auf eigenthümlichen lappenartigen Verlän— gerungen des Mundrandes ruhen. In gleicher Höhe mit den genannten Thieren, aber auf anderem Boden, finden ſich wieder andere Bewohner. Die Balanen ſowohl, wie die Zone der Tange, mit den ihr angehörigen Geſchöpfen finden ſich nur auf felſigem Boden. Im Sande iſt es aber nicht minder belebt. Zahlloſe Löchlein zeigen die Anweſenheit röhrenbewohnender Würmer oder Anneliden an. Die Arenicole oder der Pierer, von denen ich Dir neulich ſchrieb, die ihm ähnlichen, aber mit Fangfäden verſehenen Würmer, die man Hermellen und Sabellen nennt und die in leder— artigen Gehäuſen wohnen, überziehen ganze Strecken des ſandigen Meergrundes und werden eifrigſt mit Hacke und Grabſcheit zu Tage gefördert, um bei dem Fiſchfange als Köder benutzt zu werden. Kleine Krabben, beſonders zu den breitſchaligen gehörig, laufen in Menge über den feuchten Sand und graben ſich mit großer Schnelligkeit durch ſeitliche Bewegung ihrer Füße in den Sand ein. Auch jene höchſt merkwürdige Art von Synagten, welche Ouatrefages an der Weſtküſte von Frankreich ent— deckt hat, findet ſich unter den Arenicolen und wird zuweilen von der Schaufel zu Tage gefördert. Ueber dieſes merkwürdige Thier, das zwar zu den Echino⸗ er dermen gehört, aber dennoch höchſt eigenthümlich in ſeinem ganzen Weſen daſteht, werde ich Dir in einem ſpäteren Briefe noch einiges mittheilen. Mitten unter den Röhrenwürmern finden ſich auch noch im Sande eingegraben eine ziemliche An— zahl von Muſcheln, die ihre langen Athemröhren bis an die Oberfläche des Sandes ſtrecken, während ſie ſelbſt Kopf über in mehr oder minder bedeutenden Tiefen verborgen find, Die Waſſerſcheiden (Solen), die Venusmuſcheln und andere Thiere aus benach— barten Familien finden ſich zwar nicht allzuhäufig, doch immer noch oft genug an den ſandigen Stellen des Strandes. Auch von den eigenthümlichen Den— talien haben wir mehre Exemplare gefunden. Du kennſt dieſe kurzen koniſch zugeſpitzten, an beiden Enden offenen und etwas gebogenen Röhren, welche in ihrer ganzen Form dem Stoßzahne eines Ele— phanten nicht unähnlich ſehen. Man hielt ſie früher für Gehäuße von Würmern, wurde aber in neuerer Zeit von Deshays überzeugt, daß wirklich höchſt eigen- thümliche Mollusken in dieſen Röhren wohnen. Die— jenigen, welche wir bei St. Malo gefunden haben, waren alle bis auf eine entleert. In dieſer letzteren aber ſteckte ein ganz eigenthümliches Thier mit einem BR VE ausflülpbaren Rüſſel und einer ſonderbaren inneren Structur, welche gewiß nicht diejenige einer Mollus— kenart iſt. Der Rüſſel iſt rundum mit Hacken beſetzt die etwa ausſehen, wie die Hacken an dem Rüſſel der Eingeweidewürmer, welche man gemeiniglich Kratzer — Echinorhynchus — nennt. Ich weiß noch gar nicht was ich aus der Beſtie machen ſoll, einen Wurm jedenfalls, allein was für einen, wäre wahr— lich ſchwierig zu ſagen. Wenn ich nur mehre Exem⸗ plare gefunden hätte, um ſagen zu können, ob das Thier wirklich ein Bewohner der Dentaliumröhren iſt, oder ob es nur durch einen Zufall hineingerieth. Sollte es wirklich Röhren ganz ähnlicher Form geben, von welchen die einen von Würmern, die andern von Mollusken bewohnt werden? Oder wäre meine Beſtie gar ein wirklicher Kratzer, der ſich eine Zeit lang als Partikulier draußen im Freien herumtreibt, um ſpäter wieder als Eingeweidewurm eine Wohnung in irgend einem Fiſch zu beziehen? Alle dieſe Fragen muß ich vor der Hand unbeant— wortet laſſen, und der günſtigen Gelegenheit harren, die mir hoffentlich noch einige Exemplare zuführen wird. Die Zonen, von welchen ich Dir bis jetzt ſchrieb, en. ie werden faſt regelmäßig bei jeder Ebbe abgedeckt. Unter ihnen aber findet ſich eine andere Region, welche meiſt nur in den Syzygien und den Tagen, welche um dieſelben herumliegen, entblößt wird, und die an intereſſanten Thieren noch weit reicher iſt, als die vorher betrachteten. Man kann ſie die Region der Laminarien nennen; denn hier finden ſich jene Wälder von Tangen mit ellenlangen und handbreiten Blättern, welche zu dem eben genannten Genus gezählt werden. In dieſer Region finden ſich die meiſten Mollus— ken, beſonders einſchalige Schnecken. Die Patellen beginnen ſeltener zu werden, und ſind großentheils erſetzt durch die Seeohren (Haliotis) mit ihren platten, innen Perlmutterglänzenden Schalen. Man ſammelt ſie auf dieſelbe Weiſe, wie die Patellen, und verkauft ſie auf dem Markte von St. Malo zu ſehr geringen Preiſen. Allein ich kann Dich verſichern, daß ſie auch dieſen Preis nicht werth ſind, ſo zähe und geſchmacklos iſt das Kautſchuck, welches die Leute aus ihnen zuſammenkochen. Hier finden ſich ferner die nackten Schnecken in großer Anzahl. Wir ſelbſt ſehen zwar keine Seehaſen; allein Milne-Edwards verſicherte uns, er habe einmal in der Mitte des Vogt's Briefe !. 7 > ag, Sommers jo viele dieſer Thiere auf dem Jardin angetroffen, daß man buchſtäblich auf ihnen herum— getreten ſei. Die größeren Arten der Kreiſelſchnecken, der Purpurſchnecken, der Lacunen, Riſſoen, und der Spindelſchnecken finden ſich in dieſer Region in den Ritzen der Felſen. Eine Menge ſchöner Polypen, welche biegſame Sträucher bilden, ſind zwiſchen dieſen Laminarien und den ihnen vergeſellſchafteten Tang— arten angeſiedelt. Nicht ſelten haben wir auch hier die kurzen warzenartigen Stöcke der Alcyonien gefunden, deren kalkiges Skelett gerade weich genug iſt, um mit dem Meſſer geſchnitten werden zu kön— nen. Es eignen ſich dieſe Polypen deßhalb vortreff— lich zu genaueren Unterſuchungen, die wir leider aus Mangel an Zeit nicht anſtellen konnten. In anderen Meeren finden ſich unter dieſen zahlreichen Mollusken der Laminarien-Region noch eine Menge Repräſentanten der Cchinodermen, Seeſterne, See— igel, Holothurien, und anderes Volk; allein St. Malo iſt, wie ich Dir ſchon bemerkte, äußerſt arm an Thieren ſolcher Art, die durch Polypen und Mollusken erſetzt ſcheinen. Die größeren Krabben und andere krebsartige Thiere ziehen ſich ebenfalls in dieſe Region zurück und die benachbarten nor— ur a AL mannifchen Inſeln Jerſey und Guerneſey find be— kannt wegen der ungemein großen Taſchenkrebſe, die an ihren felſigen Ufern gefunden werden. Weiter hinab erſtreckten ſich unſere Forſchungen nicht und nur nach den Erzählungen der Fiſcher können wir uns eine Idee bilden über die Regionen, welche unter dem tiefſten Stande der Ebbe ſtets vom Waſſer bedeckt, ſich vorfinden. Freilich ſind dieſe Kenntniſſe nur mangelhaft, da die Auſtern— fiſcher ſich wohl hüten, ihr Schleppnetz an felſigen Orten zu gebrauchen, wo ſie ſich der Gefahr ausſetzen, dasſelbe zu verlieren. Das kleine Schleppnetzz, welches uns Milne-Edwards anvertraute, wurde nach dem einſtimmigen Urtheile der Fiſcher und Bootsführer zu ſchwach befunden, und wir haben bis jetzt auch nicht den Verſuch gemacht, uns des— ſelben zu bedienen, da wir mit der Beute, welche uns das Suchen an den von der Ebbe entblöſten Stellen verſchaffte, vollkommen hinreichend beſchäf— tigt waren. Die Region der Auſternbänke iſt indeß noch eine ſehr belebte Region, die namentlich an Muſcheln aller Art ungemein reich iſt. Die Jakobs— muſchelm welche man auf dem Markte von St. Malo verkauft, ſind alle mit der Auſternſchleppe — 10 — zu Tage gefördert, und außer ihnen finden ſich noch eine Menge von Repräſentanten aus der Familie der Kammmuſcheln, der Auſtern, der Herzmuſcheln, ſo wie eine große Anzahl von Seeſchnecken, die vorzüglich zu den Schnecken mit kanalartig ausge— zogenem Mundrande gehören. Außerdem bieten die Auſternbänke einen willkommenen Aufenthalt für ſchmarotzende Thiere aller Art. Du kannſt ja kaum eine Auſternſchale finden, auf welcher nicht Colonieen jener polypenartigen Geſchöpfe ſich fän— den, die man in neueſter Zeit mit dem Namen Bryozoen (Moosthiere) belegt, und eher den Mol- lusken, als den Polypen anreiht. Ihre Organiſa— tion bietet in der That die größten Verſchiedenheiten von derjenigen der Polypen dar, und namentlich nähern ſie ſich durch den ſchlauchförmig umgebogenen Darmkanal, welchen ſie beſitzen, den Seeſcheiden oder Aſeidien. Leider ſind die kalkartigen Kruſten, welche dieſe Colonieen bilden, ſo hart, und die Zellen, in welchen die einzelnen Thiere ſitzen, ſo klein, daß die Unterſuchung dieſer Bryozoen mit vieler Schwierigkeit verknüpft iſt. Nicht minder zahlreich find die Röͤhrenbe⸗ wohnenden Würmer, welche ſich auf den Auſtern — 101 — und in ihren Zwiſchenräumen anſtedeln. Hier iſt der wahre Standort der vielfachen Arten von Ser— pula, deren gewundene Kalkröhren ſich allen Un⸗ ebenheiten der Felſen und der Muſcheln, auf denen ſie ſitzen, anſchließen. Hier giebt es auch jene Her mellen, welche für die gefährlichſten Feinde der Auſternbänke gelten, indem ſie mit ihren ledernen Röhren alle freien Plätze beſetzen, die Auſtern ſelbſt überwuchern, die junge Brut verzehren, und fo allmählig das Abſterben der Auſternbänke her⸗ beiführen. Es findet in dieſer Weiſe eine wahre Art von Wechſelwirthſchaft auf dem Boden des Meeres ſtatt; denn ſobald eine ſolche Auſternbank gänzlich von den Hermellen überwuchert iſt, ſterben auch dieſe allmählig ab, und nach einiger Zeit können dann wieder auf den vermoderten Reſten neue Auſternbänke ſich anſiedeln. Die Hummer und Languſten finden ſich ebenfalls etwa in der Tiefe der Auſternbänke, von wo ſie zwar nicht mit dem Schleppnetze, ſondern mittelſt Grundangeln und Stellnetzen gefiſcht werden. In St. Malo freilich ſieht man von dieſen Thieren nur ſehr wenig, und nur einigemal iſt uns gelungen, ſolch einen ſchmack— haften Krebs zu unſerem erſten Frühſtücke zu er⸗ — 102 — halten. Man ſchickt ſie meiſt ganz friſch nach Cancale, von wo fie mit der Auſternpoſt meift noch lebendig in Paris anlagen. Ich ſchließe dieſe lange Schilderung der Meeres- region mit einer gaſtronomiſchen Bemerkung über die Auſtern, die Dir vielleicht nicht unwillkommen ſein mag. Man unterſcheidet hier ganz allgemein die gewöhnlichen Auſtern, welche von den Bänken mittelſt des Schleppnetzes gewonnen werden, und die Felſenauſtern (huitres de roche), welche ver- einzelt in der Region der Laminarien an den Felſen ſitzen. Die Schalen der letzteren find meiſt außer- ordentlich unregelmäßig, was ſicher von dem An— heftungsorte herrüht, da die untere große Schale in alle Unebenheiten des Felſens hineinwächſt, und dieſen gleichſam abklatſcht. Sonſt läßt ſich durch- aus kein Unterſchied zwiſchen dieſen beiden Arten finden, wenn gleich die Leute hier behaupten, daß die Felſenauſtern bei weitem ſchmackhafter ſeien. Unſer Schiffspatron hat eine beſondere Geſchicklich— keit im Auffinden derſelben, und bei jeder Excur— ſion haben wir einige Dutzend verſpeiſen können, die uns gerade nicht beſſer, aber auch nicht ſchlech— ter ſchmeckten, als die gewöhnlichen Auſtern, deren — 103 — wir eine ziemliche Quantität vertilgt haben. Du weißt, daß man gewöhnlich in den Sommermona— ten keine Auſtern genießt, und die Pariſer glauben, es geſchehe dieß aus dem Grunde, weil ſie in der Hitze zu ſchnell verderben. Allein auch die An— wohner der See, welche die Auſtern unmittelbar aus dem Waſſer erhalten können, verſchmähen ſie während der Sommermonate und haben vollkom— men recht daran, wie ich mich noch im Anfange unſeres Hierſeins überzeugen konnte. Die Perl- mutterglänzende Schicht nämlich, welche die innere Fläche der Auſternſchale auskleidet, wird beſonders in den Sommermonaten abgeſetzt, und iſt während dieſer Zeit ganz weich und breiicht. Selbſt im September findet man noch viele Muſcheln, bei welchen dieſe innere Schicht noch nicht gehörig conſolidirt iſt. Mir ſcheinen dieſe Auſtern auch einen weit faderen Geſchmack zu haben, was frei— lich Freund Roß nicht zugeben will, da er ſich über den Geſchmack der Auſtern eine gänzlich ab— weichende Theorie gebildet hat. Er behauptet näm— lich, dieſer Geſchmack rühre einzig von der feinen Vertheilung des Seewaſſers in dem Gewebe der Auſtern her, und da es genüge auf, irgend eine — 104 — Weiſe dieſe Vertheilung zu bewirken, fo könne man ſich ſehr leicht und auf ſehr ökonomiſche Weiſe ein Auſternfrühſtück verſchaffen, wenn man nur das Glück habe, einen Schnurrbart zu tragen und See— bäder zu brauchen. Das Waſſer, welches beim Un— tertauchen am Bart hängen bleibe, ſei gerade in dem hinreichenden Zuſtande der Vertheilung, und ich bemerke in der That, daß er ſeit der Auffindung dieſer Theorie ein paſſionirter Taucher geworden iſt, und regelmäßig nach jedem Tauchverſuche mit großer Bchaglichkeit ſeinen blonden Schnurrbart ausſchlürft. Den 23. September. Man feiert heute, ich weiß nicht welchen katho— liſchen Feiertag und des Gebimmels der Glocken iſt kein Ende. Es iſt ein prächtiger, ſonniger Tag und das Meer glatt wie ein Spiegel. Freund Bakunin, der ſeit einigen Tagen leidenſchaftlicher Angler geworden iſt, kommt von ſeiner Ausfahrt ganz erſtaunt zurück und verſichert uns, ſogar die — 10 — Natur ſei ebenfalls chriſtlich geworden; das Meer halte heute auch ſeinen Sonntag, und amuſire ſich mit lebhaftem Glockenſpiel. Er habe bei ſeiner Fahrt nach Grand BE eine Unzahl von Glocken geſehen, die in den herrlichſten Farben geſchillert hätten, und beſtändig aus der Tiefe wie Seifenblaſen nach der Oberfläche geſtiegen ſeien. Einige dieſer Glocken habe er mit den Händen greifen wollen, ſie ſeien ihm aber faſt wie Gallerte zwiſchen den Fingern zerronnen, und jetzt brennen ihm die Hände, wie wenn er Neſſeln angegriffen hätte. Wir abnen ſogleich, daß er einem Zuge von Meduſen begegnet ſei, und da wir noch keine dieſer Thiere zu beob— achten Gelegenheit hatten, ſo eilen wir mit gröſ— ſeren Gefäßen an den Strand, wo wir einige aus— geworfene Exemplare zu finden hoffen. Unſere Er— wartung wird auch nicht getäuſcht und nach kurzem Suchen kehren wir mit reicher Ausbeute nach Hauſe zurück. ) Trotzdem daß die meiſten Exemplare während mehrer Stunden der Sonne ausgeſetzt am Strande gelegen haben müſſen, beginnen ſie dennoch in einem Zuber mit Seewaſſer ganz luſtig umherzuſchwimmen. Die Thiere haben in der That einen Körper in Lg Form einer Glocke, unter welcher an einem gemein ſchaftlichen Stiele vier ziemlich dicke nach unten veräſtelte Arme hängen, die, wie es ſcheint, keiner eigenthümlichen Bewegung fähig ſind. Die Glocken ſind nicht vollkommen durchſichtig, ſondern zeigen eine bläulich weiße, zuweilen auch ins Röthliche ſpielende Farbe, die etwa einem hellen, opaliſirenden Milchglaſe ähnlich iſt. An dem Rande der glocken— förmigen Scheibe finden ſich zahlreiche, violetblau gefärbte Lappen, zwiſchen denen in genau abgemeſſenen Zwiſchenräumen acht hell zinoberrothe Punkte glän— zen. Die Thiere ſchwimmen offenbar durch ruck— weiſe Zuſammenziehung der Scheibe, deren ganzer Rand mit den blauen Lappen lebhaft nach Innen einklappt. Je nachdem dieſe Contractionen auf der einen oder der andern Seite ſtärker ſind, kann ſich auch das Thier nach verſchiedenen Richtungen hin— bewegen und nach Willkür tauchen oder an die Oberfläche kommen. Ein eigentliches Maul können wir nicht finden, dagegen ſind die 8 Arme von zahlreichen feinen Kanälen durchzogen, welche ſich allmählig vereinigen und in eine große vierſeitige Magenhöhle einmünden, die in der Maſſe der Scheibe ausgehöhlt iſt. Du — 107 — ſtehſt aus dieſer Beſchreibung, daß unſere Meduſen Rhizoſtomen find, die ſich eben durch dieſe zahl— reichen Saugröhren an der Stelle eines Maules vor allen andern Thieren ähnlicher Art auszeichnen. Es ſind freilich kleine Exemplare, da die Scheibe der meiſten nur etwa die Größe einer Hand erreicht. Wenn die Actäonlarven, mit welchen wir noch im— mer eifrig beſchäftigt ſind, uns Zeit übrig laſſen, ſo werden wir der genaueren Unterſuchung dieſer prächtigen Thiere einige Zeit obliegen. Den 26. September. Faſt wäre es nöthig, daß wir uns Feuer an— machen ließen, ſo kalt und unfreundlich iſt das Wetter geworden. Unſere täglichen Seebäder haben wir freilich noch bis geſtern fortgeſetzt, obgleich wir jedes Mal vor Kälte ſchlotternd herauf kamen, und nicht genug Pelzröcke und Decken an uns verſchwen⸗ den konnten, um die Temperatur unſeres Körpers wieder in erträglicher Weiſe herzuſtellen. Mein a Hausgenoſſe, deſſen Haarſchmuck einen gelinden Stich ins Röthliche zeigt, hat ſo großen Gefallen an dem Leben in Frankreich gewonnen, daß er nicht umhin konnte, nach jedem Bade die franzöſiſchen Nationalfarben anzulegen, indem er am ganzen Körper kreiteweiß, blau an den Händen, und roth an dem Kopfe ſich zeigte. Heute wird wohl das Seebaden ſein Ende erreicht haben. Es ſtürmt draußen mit fürchterlicher Macht, und wir haben faſt den ganzen Tag an dem Strande zuge— bracht, um uns das Spiel der Wellen an den Felſen und an dem Hafendamme von St. Malo zu betrachten. Die Schiffe ſind alle in den innerſten Hafen zurückgezogen, und die gewöhnliche Communi⸗ kation zwiſchen St. Servan und St. Malo gänzlich unterbrochen worden, ſo daß wir heute morgen ge— nöthigt waren, den Umweg über Land zu nehmen, um nach unſerer Behauſung zurückkehren zu können. Ich hatte geglaubt, daß die Stürme der Schweizer— ſeeen wenigſtens einigermaßen ein Bild geben könnten von der Anſicht, welche der Ocean in ſeiner Wuth bietet; allein ich muß geſtehen, daß ich mich gewaltig getäuſcht habe. Der ganze Felſen— grund in der Umgegend der Bucht zittert unter dem — 109 — Anſtürmen der Wellen, deren weißer Giſcht gleich Nebelwolken über die brauſende Fläche wegſtiebt. Die Wälle von St. Malo mögen etwa 6 Stock— werke hoch ſein, und ihre Baſis reicht noch um ein Erkleckliches über das Niveau des Meeres her— vor. Nichts deſtoweniger wurden wir, während wir von dieſer hohen Warte aus den Anprall der Wogen betrachteten, vollſtändig durchnäßt von dem Schaume der Wellen, der an dem Walle in die Höhe wirbelte. Ueber den Hafendamm ſtürzten die Wogen, wie wenn er nur einige Fuß hoch aus dem Waſſer hervorragte, und jeden Augenblick glaubten wir, den Leuchtthurm zuſammenſtürzen zu ſehen, deſſen ſchlanke Geſtalt durchaus unfähig ſchien, dem Andrange zu widerſtehn. Ich kann jetzt recht wohl begreifen, warum das ganze Ufer bis ziemlich weit vom Lande weg ſo entblöſt von Vegetation iſt, und namentlich kein Baum ſich weithin erblicken läßt. Der Sturm köpft förmlich die Wogen in dem Augenblicke, wo dieſelben überſtürzend aufſchäumen. Der ganze obere Theil einer Welle wird auf dieſe Weiſe mit— fortgeriſſen und landeinwärts geführt. In den Straßen von St. Servan wird man jetzt fo naß an als ob ein ſtarker Regen vom Himmel fiele und die wenigen Sträucher, die man auf dem Wege von St. Malo hierher ſieht, erſcheinen überall wie mit einer Salzkruſte bedeckt. Man kann auf dieſe Weiſe wirklich ſein Seebad im Freien nehmen. Es iſt unmöglich, etwas zu arbeiten; denn das Haus zittert ſo bedeutend, daß ich nicht im Stande bin, das Mieroſcop aufzuſtellen, oder einen feſten Strich zu zeichnen. Ich ziehe es daher vor, jetzt wo ich meine Augen an dem furchtbar ſchönen Schauſpiele hinlänglich geweidet habe, die Antwort auf einige Fragen zu geben, welche Du in Deinem letzten Briefe an mich richteteſt. Du machſt mir Vorwürfe, daß ich mich nicht hinlänglich umgeſehen und mich allzuſehr mit einem einzigen Gegenſtande, den Actäonlarven, beſchäftige. Von Deinem Standpunkte magſt Du recht haben. Ich würde mich, wäre ich an Deiner Stelle, eben— falls mehr in meinen Unterſuchungen ausgedehnt und richt auf einen einzigen Punkt concentrirt haben; allein Du vergißt, daß meine Stellung in Paris und meine Zukunft dort nicht von dem abhängt, was ich lerne, ſondern im Gegentheile davon, daß ich etwas Neues mitbringe, was den Leuten bewei— — 111 — ſen mag, daß ich im Stande ſei, ſelbſtändige Unter— ſuchungen zu machen. Du vergißt, daß mein Name bis jetzt mit demjenigen eines Meiſters in der Wiſ— ſenſchaft eng verkettet war, und daß Alles, was ich gethan, zu den Leiſtungen dieſes Namens in gewiſſer Beziehung ſteht. Meine Stellung in Paris iſt freilich die freieſte und unabhängigſte, die ein jun— ger Mann haben kann. Ich bedarf der Pariſer nicht, um unter ihnen leben zu können, und der Deutſchen nicht ſo viel, um in meinem Vaterlande wohnen zu müſſen. Ich darf wohl fügen, daß ich mir einen Wirkungskreis geſchaffen habe, in dem ich vollkommen frei bin, wie der Vogel in der Luft, und der mir ein beſſeres Auskommen gewährt, als das manchen deutſchen Profeſſors, der in Amt und Würden ſteht; allein trotz dieſer Freiheit bin ich doch in ſo fern gebunden, als ich ſuchen muß, dieſe meine Wirkſamkeit auch ferner zu behaupten. Schreien ſie doch jetzt ſchon über den Ton meiner Akademie— berichte, der aller Ehrfurcht entbehre und den deutſchen Namen in Mißeredit bringe. Habe ich doch jetzt ſchon eine Menge von Klagen gehört, als ſei ich ungerecht gegen die älteren Männer, deren frühere Verdienſte um die Wiſſenſchaft man aner- — 2 — kennen müſſe, wenn ſie auch jetzt nicht mehr gleichen Schritt mit den jüngeren hielten. Es iſt umfonſt, daß ich dieſen ängſtlichen Gemüthern begreiflich zu machen ſuche, daß das was den deutſchen Namen in Miß— credit bringt, gerade jene Geſchmeidigkeit ſei, welche ruhig zuſieht, wie vaterländiſches Verdienſt von fremder Anmaßung in den Staub getreten wird. Auch Du wirft dies einſehen, wenn Du Dich ein— mal wirſt entſchließen können, Deine ſtille Häus— lichkeit für einige Wochen mit dem lärmenden Treiben des Pariſer Lebens zu vertauſchen. Du wirſt dann jene Renegaten ſehen, die im Stande find, auf deutſche Anrede franzöſiſch zu antworten, und die nur deshalb ihre Nation verläugnen, um deſto leichter von ihrer Errungenſchaft leben zu können. Ich brauche Dir die Namen dieſer Indu— ſtrieritter nicht zu nennen, die gleich Blutegeln an unſerer deutſchen Wiſſenſchaft hängen und ſich da— von ernähren, daß ſie deutſche Arbeiten den Fran— zoſen mundgerecht machen, und in verändertem Kleide als eigene Producte verkaufen. Dieſe Menſchen, deren Zudringlichkeit ſie überall einführt, die für jeden einen Bückling und ein verbindliches Lächeln in Bereitſchaft haben, die einem jeden bedeutenden — 113 — Manne den Speichel lecken, und ihm ins Geſicht Schmeicheleien ſagen, während ſie hinter ſeinem Rü— cken ſeine chronique scaudaleuse debütiren. Dieſe Individuen ſind es, welche den deutſchen Namen in Paris verächtlich gemacht, und dem guten Klange unſerer Namen einen Mißton beigefügt haben. Ein Volk, welches ſo ſehr ſeine eigene Nationalität über Alles ſchätzt, wie die Franzoſen es thun, wird wahrlich nicht beleidigt, wenn man ihm mit dem— ſelben Nationalſtolze entgegen tritt, und ich habe nach mancher hitzigen Debatte, wo ich unſere An— ſprüche vertheidigte, wenigſtens die Anerkennung davon getragen, daß man ſagte: ich hätte zwar Un— recht in der Sache, allein vollkommen Recht, wenn ich die Anſprüche unſerer Nation nicht fallen ließe. Doch ich kehre zu meinem Thema zurück. Glaubſt Du denn, daß ich den Einfluß, den mir die jour— naliſtiſche Beſchäftigung gibt, lange würde behaupten können, wenn ich blos kritiſirend aufträte, und nicht durch ſelbſtändige Arbeit bewieſe, daß ich auch ein Wort mitzureden berechtigt bin? Die haben ganz Recht, welche ſagen, ich behandle gar manche be— rühmte Namen nicht den Verdienſten gemäß, welche ſie früher um die Wiſſenſchaft gehabt hätten. Der Vogt's Briefe 8 — 14 — Journaliſt aber iſt der Mann der Gegenwart und nicht der Geſchichtſchreiber der Vergangenheit. Es liegt ihm nicht ob, Früheres abzuwägen, ſondern vielmehr das Jetzige ans Licht zu ſtellen. Der Ge⸗ ſchichtſchreiber ſoll den Menſchen in ſeinem ganzen Leben in das Auge faſſen und das Reſultat dieſes Geſammteindruckes geben. Der Journaliſt ſoll nur der Spiegel der momentanen Thatſache ſein, in welchem ſie ſich weder vor- noch rückwärts reflectiren. Wenn der Herr A. oder B., der früher eine der erſten Flöten im wiſſenſchaftlichen Orcheſter ſpielte, jetzt falſche Töne bläſt und im Tacte nachhumpelt, ſoll ich dann von meinem journaliſtiſchen Richter— ſtuhle aus entweder ſchweigen oder gar ſagen, der Mann ſei noch der frühere gute Muſiker? Die Ehr- furcht vor dem Alter darf doch wahrhaftig nicht ſo weit gehen, daß wir ihm zu lieb geradezu der übrigen Welt eine Lüge aufbürden. Aber die Welt ſtellt ſich wirklich in ihrer Geſammtheit gerade ſo an, wie der Domherr des Gilblas. Warum ſchweigen die Leute nicht, wenn ſie alt und ſchwach geworden ſind? Sie könnten ſich ruhig verhalten, und die Jungen aufmuntern, welche noch Thatkraft beſitzen. Ich kenne keine ſchönere Rolle als die, welche Einige — 115 — dieſer Herren ſpielen, die mit richtigem Takte erkannt haben, daß die Zeit der ſelbſtthätigen Forſchung für fie vorüber iſt. Sie produciren ſelbſt nichts mehr, nehmen aber mit Wohlwollen Alles auf, was ihnen von Andern geboten wird, unterſtützen dieſe in ihren Beſtrebungen, erklären ſich für incompetent in wiſſen— ſchaftlichen Discuſſionen, deren Tendenzen ſie ferne ſtehen, und werden ſelbſt nicht böſe, wenn früher von ihnen verfochtene Anſichten durch neuere That— ſachen in den Grund gebohrt werden. Solchen ge— müthlichen Alten tritt gewiß Keiner zu nahe. Man freut ſich ihres Wohlwollens, bedauert, daß ſie nicht mehr erfolgreich in der Wiſſenſchaft thätig ſein wollen, und ſucht bei jeder Gelegenheit ihre früheren Verdienſte hervorzuheben. Allein es giebt auch Viele, und dieſe bilden leider die Mehrzahl, welche geradezu die Rolle des Hemmſchuhes in der Wiſſenſchaft ſpielen; ſie weiſen die neuen Tendenzen entweder mit Entſchiedenheit zurück, oder begreifen nicht, daß man darin etwas Neues finden könne. Ihrer Meinung nach iſt das Alles ſchon früher geſagt und gethan worden; was ſie vor 50 Jahren wußten, iſt noch heute wahr ge— blieben und Alles, was Jüngere gethan, dient höchſtens — 16 — dazu, neue Materialen zur Beſtätigung der alten Theorien zu liefern. Was ihnen entgegenſteht, oder ihnen mit ihren verroſteten Ideen unvereinbar er— ſcheint, wird ohne Weiteres als ungenau, ſchlecht und aller Berückſichtigung unwerth zurückgewieſen. Ja ſogar die Berechtigung der Jugend und des jüngeren Mannesalters zu wiſſenſchaftlichen Unter— ſuchungen wird von ſolchen Individualitäten bean- ſprucht. Man müſſe erſt reifere Erfahrungen ge— ſammelt, den Blick in die Ferne geübt haben, ehe man es wagen dürfe, über Dinge mitzuſprechen, welchen ältere Leute einen Theil ihres Lebens gewid— met. Und während ſie ſolche Behauptungen auf— ſtellen, vergeſſen ſie, daß ſie ſelbſt in ihrer Jugend es waren, welche ihren Vorgängern, die doch auch alt geworden, entgegentraten; ſie vergeſſen, daß die Arbeiten, wodurch fie ſich auf den höchften Rang brachten, aus dem Eifer ihrer Jugend hervorgingen und nicht aus der Zähigkeit ihres Alters. Dieſe Individuen ſind es, welche ſich mit der Wiſſenſchaft verkörpern und wie Ludwig XIV. aus- rufen möchten: la science, c'est moi. Ihre Anz ſichten ſind ſo mit ihnen verwachſen, daß ſie jeden Widerſpruch gegen dieſelben, ſei er auch noch fo. — 17 — leife formulirt und mit noch ſo viel Ehrfurcht vor— getragen, als einen directen Angriff gegen ihre Perſon betrachten, und dieſer Anſicht gemäß den Urheber behandeln. Dies, mein Lieber, ſind die gefähr— lichſten Perſönlichkeiten in der Wiſſenſchaft, und der Kampf gegen ſie um ſo mißlicher, als eben durch dieſes Einmiſchen ihrer Perſönlichkeit man es zugleich mit der ganzen altchriſtlichen Moral und den Regeln des Telemach zu thun bekommt. Man mag ſich drehen, wie man wolle, man verdirbt es immer mit der ganzen Hetze moraliſirender Familien- väter, welche eine Verletzung der Pietät ſchon um deswillen nicht hingehen laſſen können, weil ihnen von der nachfolgenden Generation Aehnliches be— gegnen könnte. Doch dies wären noch die geringſten Nachtheile, welche ſolche Individuen der Wiſſenſchaft bringen. Es findet ſich doch immer Einer, welchen das Ver— hängniß dazu beſtimmt, der Katze die Schelle anzu— hängen, und es iſt zuletzt ein geringer Nachtheil, wenn man in den Ruf einer böſen Zunge geräth. Man hat doch wenigſtens die Satisfaction, hie und da gefürchtet zu ſein, und bekommt auch Gelegen— heit genug, ſeine Zähne zu wetzen, daß ſie nicht — 118 — ſtumpf werden. Sehr oft aber behaupten dieſe Männer eine ihrem wiſſenſchaftlichen Rufe entſprechende Stellung in dem öffentlichen Leben. Von ihnen hängt nicht ſelten das Wohl und Wehe der jungen Leute ab, welche die wiſſenſchaftliche Laufbahn ver— folgen, und dann iſt die Excluſtvität, welcher ſolche Männer gehorchen, eine wahre Plage und ein freſſender Krebs für die Wiſſenſchaft eines ganzen Landes. Dies iſt namentlich hier in Frankreich der Fall, wo die Centraliſation auf einen ſo hohen Grad getrieben iſt, und die Beſetzung aller Stellen eines Faches im ganzen Lande oft nur von einem einzigen hochgeſtellten Manne abhängig iſt. Da wird denn Keiner befördert, der nicht in verba magistri ſchwört. Jeder ſelbſtſtändige Geiſt, welcher ſich ſeinen eigenen Weg bahnen will, wird zurück— geſtoßen und entweder ignorirt, oder ſelbſt durch das Gewicht feines hochſtehenden Gegners erdrückt. Unſere politiſche Zerriſſenheit in Deutſchland ſchützt uns glücklicher Weiſe vor der allgemeinen Einwirkung ſolcher verderblichen Einflüſſe, die ſich meiſt nur in beſchränkterem Kreiſe geltend machen können. Das iſt einer der wenigen Vortheile, welche unſere Zer— ſplitterung darbietet; — aber er iſt kein geringer, — 119 — wenn man das gegenſeitige Verhältniß der beiden Länder in das Auge faßt. Jegliche Entwicklung hängt in Frankreich von dem perſönlichen Einfluße desjenigen ab, der an der Spitze ſteht. Unſere Politiker ſind wahrhaftig im Irrthume, wenn ſie behaupten, Frankreich ſeie mehr zur republikaniſchen Verfaſſung geeignet. Es gibt im Gegentheile kein ſo durch und durch monarchiſches Volk, als eben die Franzoſen, und keines, in welchem ſo ſehr von Oben herab jeglicher Einfluß bis in die kleinſten Verhältniſſe hinabdringt. Du magſt die neuere oder ältere Geſchichte Frankreichs nehmen, ſtets wirſt Du das Volk ſo finden, wie diejenigen die an der Spitze ſtanden, feige oder kriegeriſch, großmüthig oder niederträchtig, lüderlich oder tugend— haft, und wie ſich dieſer Monarchismus in den poli- tiſchen Verhältniſſen kund gibt, ſo zeigt er ſich in allen anderen Beziehungen. Sobald ein großer Geiſt in irgend einer Wiſſenſchaft auftritt und unter ihnen den Diktator ſpielt, jo folgt mit Enthuſiasmus ein ganzes Heer von Adepten ſeiner Fahne. Ein reges Leben entfaltet ſich in dieſem Zweige, der mit Sturmeseile gefördert wird, und dem alle Kräfte der Nation ſich zuwenden. Laß aber dieſen Zugführer — 120 — ſterben, ſo wirft Du bald den ganzen Schwarm rathlos in der Irre umhertappen ſehen, bis irgendwo ein neues Licht ſich aufthut, welchem ſich die vor— handenen Kräfte unterordnen können. Aus dieſem Grunde ſiehſt Du niemals bei den Franzoſen eine gleichmäßige Entfaltung aller Wiſſen— ſchaften, oder eine ruhige Fortbildung eines einzigen Zweiges. Alles geſchieht ſprungweiſe, und wenn nach der einen Seite hin ſie um ein Erkleckliches voraneilen, ſo bleiben ſie anderwärts weit hinter dem allgemeinen Niveau der Wiſſenſchaft zurück. Bei uns in Deutſchland iſt das Verhältniß gerade umgekehrt. Wir ſetzen etwas darein, keinem Leitſterne zu folgen, und Jeder von uns, ſo unbe— deutend er im Uebrigen auch fein mag, piquirt ſich ſeine eigene Richtung zu haben. Haben wir irgend einen vorragenden Mann, ſo ſuchen wir vor allen Dingen uns unabhängig von deſſen Einfluß zu zeigen und wählen lieber eine anerkannt ſchlechtere Rich— tung und ein momentan ſterileres Feld der Thätigkeit, nur um dieſe Unabhängigkeit thatſächlich darzuthun. Ich weiß nicht, ob dieſe Eigenſchaft darauf hinweiſen dürfte, daß wir eigentlich mehr zur Republik ge— eignet ſind. Jedenfalls ſehen wir das Reſultat, daß — 121 — die Wiſſenſchaften bei uns weit gleichmäßiger vor— wärts treiben, daß aber auch ſtets der organiſche Zuſammenhang in jedem einzelnen Zweige fehlt, und wir deßhalb viel Zeit und Mühe aufwenden müſſen, um die leitenden Geſichtspunkte aufzufinden, die bei den wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen der Fran— zoſen ſtets von vorne herein gegeben ſind. Den 27. September. Der Sturm hat den Meeresgrund nicht übel aufgewühlt und den Sand an mehren Gegenden ganz anders zuſammengewürfelt. Es iſt mir über— haupt aufgefallen, daß nach jeder hohen Fluth der Strand eine andere Neigung bekommt, und daß im Allgemeinen die hohen Fluthwellen ihn ſteiler machen, während niedere Fluth ihn ſanfter abſchleift. Trotz feiner Feinheit iſt der Sand von St. Malo auſſer— ordentlich ſchwer und gleichſam zähe in Beibehaltung ſeiner Form, und dies ſcheint mir auch der Grund, weßhalb in der Nähe von St. Malo bis St. Michel und weiter hinaus ſich durchaus keine Dünen vor— — 122 — finden, obgleich im Uebrigen alle Bedingungen zur Bildung derſelben gegeben ſcheinen. Vielleicht auch, daß die kryſtalliniſche Beſchaffenheit dieſes aus zerſetztem Granit hervorgegangenen Sandes weſent— lich hierzu beitragen mag, und daß nur derjenige Sand, der mehr aus abgerundeten Körnern beſteht, fähig iſt, Flugſand und Dünen zu bilden. Ich habe in der That, ſo weit ich es mit meinen hieſigen Hülfsmitteln beurtheilen kann, die Ausdehnung der Dünen nur auf ſolche Küſten beſchränkt gefunden, welche, wie die Küſten der Landes, des ſüdlichen und öſtlichen Englands, Belgiens, Hollands, Däne— marks, und des ganzen Norddeutſchlands, aus mehr oder minder geſchichteten Geſteinen, Kalk, Kreide und Alluvialboden beſtehen, während an allen gra— nitiſchen Küſten Frankreichs, Englands, Schwedens und Norwegens die Dünen zu fehlen ſcheinen. Man müßte alle dieſe Küſtenſtriche bereiſen können, um über ſolche Punkte näheren Aufſchluß zu erhalten. Wie dem auch ſei, wir haben die Aufwühlung des Sandes benutzt, um nach Würmern und Sy— napten zu ſuchen, und es iſt uns gelungen, von dieſen letzteren Thieren einige Exemplare zu er— — 13 — halten. Stelle Dir einen Cylinder von etwas röth- lichem Kryſtallglaſe vor, der eine Länge von etwa anderthalb Fuße und die Dicke eines Zolles erreicht, und Du haſt ein Bild dieſes Thieres, welches unter den Arenicolen und anderem Gewürm in dem Sande lebt. So fein und zart auch ſeine Haut erſcheint, ſo baut es ſich doch keine Gallerie, wie viele andere Röhrenwürmer, ſondern windet ſich nach Gefallen durch den Sand hindurch, der meiſt hinter ihm zuſammenrollt. An dem vorderen Ende des Körpers befindet ſich eine unbeſtimmte Anzahl, meiſt 10—12, Ten⸗ takeln oder Fangarme, welche ein- und ausgezogen werden können, und ebenſo vollkommen kryſtallhell und durchſichtig ſind, wie der ganze übrige Körper. Dieſe Theile dienen dem Thiere ſowohl als Taſt— organe wie als Fangfäden und obendrein auch noch als Bewegungsorgan, indem ſich auf ihren inneren Flächen kleine Saugnäpfchen befinden, mittelſt deren ſich das Thier ziemlich feſt an andere Körper an— heften kann. Die Haut iſt trotz ihrer Durchſichtig— keit und ſcheinbaren Zartheit doch ziemlich feſt und unempfindlich. Man kann eine Synapta ziemlich ſtark drücken und kneipen, ohne daß ſie davon im — 124 — mindeſten Unannehmlichkeiten zu empfinden ſcheint. Bei der Lebensart des Thieres ſcheint dies in der That begreiflich. Ein Thier mit zarter und em— pfindlicher Haut hätte ſich wohl inmitten des ſcharfeckigen Granites eben jo wohl befunden, als die preußiſchen Vaterlandsvertheidiger auf den Latten. Allein dieſe Haut zeigt noch eine andere Eigenthümlichkeit. Sie fühlt ſich ganz vollkommen ſo rauh an, wie Kletten, und manchmal hängt das ganze Thier an der berührenden Hand feſt, ohne daß man ſich im erſten Augenblicke Rechenſchaft über dieſes ſonderbare Anheften geben könnte. Unter— ſucht man aber dieſe Haut genauer, ſo findet man, daß eine ganze Menge feiner kalkartiger Conere— tionen in derſelben wurzeln, welche vollkommen die Geſtalt von Ankern haben, die mit ihrem Ringe in eine breite durchlöcherte Platte eingelaſſen find. Ueberall ſtarren dieſe kleinen Doppelanker aus der Haut hervor, und da ihre Wiederhacken ziemlich ſcharf ſind, ſo begreift man dieſes eigenthümliche Anheften an den berührenden Händen. Eine ge— lenkartige Verbindung zwiſchen dem Stiele des Ankers und der Platte, die ihn trägt, ſichert auch erſteren ſo ziemlich gegen das Zerbrechen, — 125 — welchem die ſpröden Stiele in hohem Grade ausge— ſetzt wären. Die kleinſten Beobachtungen können oft dazu dienen, wichtige Schlüſſe an das Tageslicht zu fördern. So ſcheinen auch dieſe Anker zwar ganz intereſſant als eigenthümliche Hautbewaffnung, allein doch von weiter keiner größeren Bedeutung. Den— noch ſind es dieſe unſcheinbaren Organe, durch welche man nachweiſen kann, daß die Synapten ſchon in den Gewäſſern der Juraformation ziemlich häufig verbreitet waren, vielleicht in ähnlicher Menge wie jetzt in den heißen Meeren der Südſee. Man hat nämlich in den Schiefern von Solen— hofen kleine Plättchen gefunden, welche ſo voll— kommen den Ankerplatten der Synapten gleichen, daß an ihrer Identität durchaus nicht zu zweifeln iſt, wenn ſie gleich als Infuſorien in den Kata— logen der berliner Zoologie figuriren. Die innere Structur dieſer Thiere iſt nicht minder merkwürdig, als ihre äußere Form. Der unbewaffnete Mund findet ſich in Geſtalt eines run— den Loches, in der Mitte des Tentakelkranzes, und führt in eine rundliche Erweiterung, die von ſtarken — 126 — durchſichtigen Muskellagen umgeben und mit inneren Längsfalten verſehen iſt. Dieſe magenartige Er— weiterung führt durch eine enge Oeffnung nach hinten in einen geraden Darmſchlauch, welcher un— unterbrochen dieſelbe Weite beibehaltend, ſich bis zu dem hinteren Ende des Körpers fortzieht und dort in einer runden Afterdffnung nach außen zu endet. Der Darm iſt eben ſo durchſichtig, wie die äußere Haut, und ſtets mit Granitſand voll gepfropft, welcher, wie es ſcheint, das Vehikel iſt, mittelſt deſſen alle dieſe Sandbewohnenden Thiere ſich ernähren. Es gewährt ein eigenthümliches Schauſpiel, in dieſem jo durchſichtigen und dünnen Schlauche den ſcharf— kantigen Granit hin und her gleiten zu ſehen, je nach den verſchiedenen Zuſammenziehungen, welche der Schlauch macht, deſſen dünne Wände jeden Augenblick zerreißen zu müſſen ſcheinen. Außer dem Darmſchlauch und den Muskeln, welche man längs der äußeren Haut hinlaufen ſieht, findet ſich in dem Inneren des Körpers nur noch ein einziges Organ— ſyſtem vollkommen ausgebildet, nämlich die keimbe— reitenden Geſchlechtstheile. Dieſe beſtehen in einigen Schläuchen, welche in der Nähe des Mundes enden, und die nach der Beſchreibung von Quatrefages ſo— — 127 — wohl Eier als Samenthiere in ihrem Inneren bilden ſollen. Sie hängen ebenſo, wie der Darm— kanal, frei in einer geräumigen Leibeshöhle, welche durch Oeffnungen von außen her mit Waſſer ge— füllt werden kann. Damit haſt Du in kurzen Zügen die ganze Organiſation des Thieres. Weder Nervenſyſtem, noch Sinnesorgan, weder Reſpirationsorgan, noch ausſondernde Drüſen laſſen ſich entdecken. Statt allen Skelettes findet ſich ein kalkiger Ring um den Mund, an welchem die Muskeln der Haut und der Fangarme ſich feſtſetzen, und ſtatt eines ausgebildeten Gefäßſyſtemes ein häutiger Kranz an der inneren Seite des erwähnten Kalkringes, von welchem fünf unverzweigte Längsgefäße abgehen. Und wie lebt nun dieſes Thier, dem Hirn, Augen, Ohren, Lungen, Herz, Leber, Milz und Nieren fehlen? Es fühlt, bewegt ſich, frißt, verdaut, wächſt und pflanzt ſich fort, und ſein Leben iſt ſo— gar weit weniger von allen äußeren Zufälligkeiten abhängig, als das unſere. Wenn man eine Synapta gefangen hält, erzählt Quatrefages (wir ſelbſt haben noch nicht Zeit gehabt, dieſe Experimente zu wieder— holen) ſo ſchwellt ſie bald den hinteren Theil ihres a. Leibes bedeutend dadurch an, daß fie durch Zuſam— menziehung des Vordertheiles das Waſſer, welches ihre Leibeshöhle erfüllt, nach hinten treibt. Das angeſchwollene Ende wird nun durch weitere Zu— ſammenziehung unmittelbar davon förmlich abge— ſchnürt, und hängt dann wie eine durchſichtige Kugel hinten an dem Leibe an. Die Trennung wird ſtets deutlicher und ſchärfer, das abgeſchnürte Stück dehnt ſich aus, zieht ſich zuſammen, und krümmt ſich hin und her, ganz wie wenn es vollkommen unabhängig von dem Leibe wäre, welcher die Tentakeln trägt. So fahren beide Theile fort, ſich unabhängig von einander zu bewegen, bis endlich die Verbindung ſich ganz löſt und das Stück vollkommen abgeſtoßen iſt; allein dies Stück fährt fort, ſich zu bewegen, hin und her zu kriechen, ganz, wie wenn nichts vorgefallen wäre, und nach den Verſicherungen von Quatrefages leben dieſe Stücke ganz eben ſo lange, wie die vorderen Enden, welche den Tentakelkranz beſitzen, und doch wohl das eigentliche Thier darſtellen. Je länger das Thier in Gefangenſchaft gehalten wird, und je ſchwieriger in den eingeſchloſſenen Ge— fäßen ſeine Nahrung wird, deſto mehr ſolcher Stücke ſtößt es ab, und reducirt ſich ſo allmählig von einem 0 langen Cylinder auf einen kleinen kugelrunden Körper, welcher hinter dem Tentakelkranze als un— bedeutender Anhang hin und her flottirt. Ja ſelbſt ſolche Stücke, welche durch einen Schnitt mit der Scheere in der Weiſe abgetrennt waren, daß der Kalk— ring bloßgelegt erſchien, und mithin gar keine Spur von Darmkanal mehr an dem ganzen Weſen vor— handen war, ſelbſt ſolche Stücke lebten noch Tage lang fort, ehe ſie der endlichen Auflöſung anheimfielen. Du fiehſt, daß die Synapta ſich mit ihren Körper— verhältniſſen ſo ziemlich nach den Zeitumſtänden zu richten verſteht. Geht es ihr gut, draußen im Freien, wo die wechſelnde Ebbe und Fluth ihr ſtets neue Nahrung zuführt, ſo dehnt ſie ſich aus, wächſt und ſchafft ſich allmählich einen langen wurmähnlichen Körper an, mit dem fte bequem im Sand umher kriechen kann; wird aber die Nahrung knapp in dem engen Gefängniß, ſo wirft ſie all— mählig dieſen Körper, den ſie nicht mehr ernähren kann, weg, und beſchränkt ſich auf das Allernoth— wendigſte. Wenn doch das Menſchengeſchlecht nur auch ſo eingerichtet wäre! Wenn es uns doch auch geſtattet wäre, ſo je nach Bedürfniß einen Theil unſeres Leibes in ſchlimmen Zeiten abzuwerfen, um Vogt's Briefe I. 9 — 130 — ihn nicht ernähren zu müſſen! Erfinde dieſe Kunſt, mein Lieber, und Du wirſt den ſchleſiſchen Webern in demſelben Momente mehr genutzt haben, als der König von Preußen es thun konnte, trotz ſeines erhabenen Ausſpruches: „Den Webern ſoll und muß geholfen werden.“ Sie werden abwerfen dieſe läſtigen Beine, die ihnen bei dem Sitzen hinter dem Webeſtuhle doch nichts nützen können, abwerfen dieſen Magen, der ſie beſtändig anknurrt, dieſes Herz, welches ihr Elend empfinden, und dieſen Kopf, der ſie über die Mittel, ihm abzuhelfen, brüten läßt. Sie werden nichts behalten, als die Arme, mit denen ſie weben, und den Hinteren, auf dem ſie ſitzen müſſen. Braucht es denn mehr, um als Unterthan zu exiſtiren? Dieſes Wenige, was ihnen übrig bleibt, werden ſie dann allenfalls anſtändig ernähren konnen, und vielleicht in beſſeren Zeiten Muße haben, ein oder das andere verloren gegangene Stück ſich je nach Bedürfniß oder zum Luxus wieder zu erſetzen. Die Mägen aber, deß bin ich ſicher, werden ſte ſich zuletzt anſchaffen, denn die haben ihnen zu viel Leiden verurſucht! Doch kehren wir zu unſerer Synapta zurück. — Wir conſtruiren unſere Begriffe vom Leben und — 131 — von der Nothwendigkeit einzelner Organe zu dem Umlaufe dieſes Lebens ſtets unwillkührlich nach den Kenntniſſen, von welchen wir ausgehen, und wenn wir über die Functionen der einzelnen Theile Hy— potheſen aufſtellen, ſo geſchieht dies ſtets, indem wir die höheren Thiere und den Menſchen als Grund— lage unſeres Räſonnements annehmen. Es kommt mir wirklich vor, als müßten unſere Anſichten von der Phyſiologie ganz andere werden, wenn wir es einmal dahin bringen könnten, von einer andern Grundlage auszugehen. Allein dies iſt bis jetzt noch ein frommer Wunſch, der erſt dann ſeine Er— ledigung finden wird, wenn einige junge Leute ihren Bildungsgang nicht von oben herab, ſondern von unten hinauf nehmen, und erſt die niederen Thiere der See und des ſüßen Waſſers vollſtändig kennen lernen, ehe ſie dem Studium der höheren Geſchöpfe ſich zuwenden. In der That, find wir Zoologen, vergleichende Anatomen, Phyſiologen und Botaniker nicht alle eigentlich verdorbene Me— dieiner, denen die Praxis einen Widerwillen ein— geflöpt hat, und die allmählig durch Neigung oder Verhältniſſe ſich den naturwiſſenſchaftlichen Studien zugewendet haben? Iſt es nicht die menſchliche — 132 — Anatomie, die menſchliche Phyſiologie, welche die Grundlage alles unſeren Wiſſens, aller unſerer Forſchungen bilden? Ich will nicht in Abrede ſtellen, daß in dieſer Richtung Großes geleiſtet worden iſt und auch noch geleiſtet werden kann. Allein alle dieſe Leiſtungen hängen ab von der Vereinigung ſämmtlicher Mittel, welche die neuere Wiſſenſchaft uns zu Gebote ſtellt, ja ſogar von der Verbindung mehrer in verſchiedenen Zweigen der Wiſſenſchaften thätiger Perſonen. Ana— tomie, Chemie und Phyſik müſſen heut zu Tag zuſam— mengenommen werden, um Etwas in der Phyſiologie leiſten zu können, und ſo wie in dieſer einen Wiſſen— ſchaft geht es in allen übrigen. Unſere Zeit iſt die Zeit der Aſſociation, und auch die Wiſſenſchaft kann ſich dieſem allgemeinen Bedürfniſſe nicht entziehen. So wird auch in der Phyſtologie der niederen Thiere ohne derartigen Aſſociationen nichts Bedeuten- des mehr geleiſtet werden können. Du haſt ſchon aus dem Vorhergehenden erſehen können, welch un— erſchöpfliche Fundgrube von Material das Meer liefert, wie man hier mit vollen Händen ſchöpfen kann, während man auf dem Continente mühſam den Stoff ſammeln muß. Allein was thun wir, — 133 — um dieſe reiche Fundgrube auszubeuten? Wir durch— kreuzen auf ſchnell ſegelnden Schiffen den Ocean, und fiſchen an entlegenen Küſten das ſeltſame Ge— thier auf, welches uns unmittelbar in die Hände fällt. Die Zeit zu genaueren Unterſuchungen fehlt uns, denn der Capitän hat andere Zwecke als der Naturforſcher, und Jenes Commando gehorcht das Schiff. Da wird nun geſammelt, getrocknet und in Weingeiſt aufbewahrt; Kiſten und Gläſer werden zur Heimkehr nach Europa gefüllt. Man langt mit unendlichen Schätzen an, ſetzt Zeichner und Kupferſtecher in Bewegung, füllt ein prächtiges Kupferwerk mit genauen Beſchreibungen der Bälge und der zuſammengeſchrumpften Cadaver an, die man mitgebracht hat, und erntet das Lob der wiſſen— ſchaftlichen Welt durch einige Hundert neue Namen ein, mit welchen man die Kataloge bereichert. Oder wenn man ſich auf das näher Gelegene beſchränken muß, fo packt man Skalpelle, Spritzen und Mi— croſcope ein, eilt im Fluge dem Meeresſtrande zu, und ſchätzt ſich glücklich, wenn man ein paar Wochen hindurch Fiſcher und Bettelbuben in Contribution ſetzen, ſeciren und microfeopiren und mit einer ge— füllten Mappe von Notizen und Zeichnungen nach — 134 — Hauſe zurückkehren kann. Dort zehrt man dann Jahre lang von dem mitgebrachten Gute und meint Wunder was man gethan, wenn man ein Paar neue anatomiſche Thatſachen mitgetheilt hat. Ich habe niemals mehr die Unmächtigkeit und Erfolgloſigkeit dieſes unſeres Treibens eingeſehen, als jetzt, wo unſer Aufenthalt ſeinem Ende naht, und ich die Reſultate überblicken kann, die er uns gebracht hat. Der Stoff iſt ſo reich, daß ich Fragen genug gefunden habe, von denen jede die Bemühung eines ganzen Lebens zur Beantwortung erheiſchen würde. Die meiſten dieſer Fragen aber können von dem Einzelnen nicht einmal gelöſt, und nur durch Mitwirkung Mehrerer ihrer Beantwortung entgegen— geführt werden. Wie iſt nun zu hoffen, daß dies ge— ſchehen koͤnne, wenn nicht der Weg, den man bis— her eingeſchlagen, verlaſſen und eine andere Methode befolgt wird, welche näher zum Ziele führen muß? Die franzöſiſche Regierung iſt bis jetzt die einzige, welche auf Antrag einflußreicher Männer bei größeren Expeditionen Naturforſcher zugezogen und dieſen bedeutende Mittel zur Publication ihrer Arbeiten angewieſen hat. Das Wenige, was Preußen, Oeſt— reich und Baiern in dieſer Hinſicht gethan, läßt — 135 — ſich nicht in Vergleichung ſetzen mit den Reiſe— werken, welche auf Koſten der franzöſiſchen Regierung erſchienen ſind. Allein, wie geſagt, dieſe Bemü— hungen ſind fernerhin fruchtlos, und ein anderer Weg muß eingeſchlagen werden. Wie manchmal haben wir nicht Abends im engeren Kreiſe bei Milne-Edwards um das Kamin herumgeſeſſen, und Pläne geſchmiedet für eine wiſſen— ſchaftliche Expedition an irgend einen Punkt des Südmeeres, welche mit vereinten Kräften durchge— führt werden ſollte. Die Regierung ſollte uns ein Schiff ausrüſten mit Matroſen, welche des Fiſch— fanges, der Auſternfiſcherei, des Tauchens mit der Glocke kundig wären. Alle Apparate zur Explori— rung des Seegrundes, zur Herſtellung eines chemiſchen, phyſikaliſchen und anatomiſchen Laboratoriums ſollten vorhanden, und die Direction des Schiffes von den Naturforſchern, nicht aber von dem Capitän ab— hängig ſein. Eine wahre Elite von Zoologen, Anatomen, Botanikern, Geologen, Phyſikern und Chemikern hatten wir zuſammengeleſen, welche ihre Kräfte auf einige Jahre vereinigen ſollten, um nach allen Richtungen hin irgend einen Punkt auf das Genaueſte hin zu exploriren. Aber unſere Träume — 136 — find Schäume geworden, und es bleibt uns nur die Erinnerung an die ſchönen Abende, die ſie uns verſchafften, und die Hoffnung, daß das Beſſere, was wir wollten, einſt von Andern durchgeführt werden möge. Den 28. September. Wir haben viele Mühe gehabt, den Leuten be— greiflich zu machen, daß wir einige Tintenfiſche zu haben wünſchten, und erſt einer unſerer Tiſchge— noſſen, ſo eine Art verwetterten Piraten, hat aus der Noth geholfen, indem er uns den hier gebräuch— lichen, populären Namen „encornets“ an die Hand gab. Unſere Tiſchgeſellſchaft iſt überhaupt täglich eine Quelle neuen Studiums für uns. Man hul⸗ digt in der Bretagne noch dem alten Syſteme, Mit- tags um 12 Uhr zu Mittag zu ſpeiſen, und weder in St. Malo, noch in St. Servan gibt es table d’höte um 5 Uhr. Da wir aber in unſeren Are beiten und Excurſionen nicht geſtört fein wollten, ſo haben wir uns nothgedrungen dazu verſtehen — 137 — müſſen, die Abendtafel eines Hotels als Hauptmahl— zeit anzunehmen, und unſere Wirthin, die täglich freundlicher wird, zu beauftragen, uns für ange— meſſenes Frühſtück zu ſorgen. So können wir den ganzen Tag in unſerer Klauſe ſitzen, und mit Muſe unſeren Geſchäften nachhängen, um Abends nach einem obligaten Spazier- gange uns an der Unterhaltung der Capitäne und Steuerleute zu ergötzen, welche an unſerem Mahle theilnehmen. Das Prachtſtück von allen war der erwähnte Pirat, der ohne Zweifel als Modell zu den Porträts jener Bukanier geſeſſen hat, deren Be— ſchreibung wir als halbwüchſige Jungen in ver— ſchiedenen Jugendbüchern zu leſen bekamen. Das linke Auge war durch einen Hieb oder Stich voll— kommen zerſtört, und der entſprechende Fenſterladen ausgehängt. Die ganze Geſichtshälfte ſah aus, als wäre dem Manne der dreigetheilte Nerve durch— ſchnitten worden. Du haſt ja mit mir öfters ſolchen Operationen bei Kaninchen beigewohnt und weißt, daß den armen Thieren nach einiger Zeit auf der operirten Seite das Auge verſchwärt, die Haare ausfallen, und überhaupt die ganze Wange ein An— ſehen bekommt, als wäre der Mehlthau hineingefallen. — 138 — Gerade ſo ſah auch des Capitäns Geſicht aus, und der Lebenslauf entſprach dem Ausſehen. Er ſei eigentlich nur noch Capitän aus Liebhaberei, ver— ſicherte er uns, und mache von Zeit zu Zeit, wenn ihn der Pfaffe auf ſeinem Gute zu viel ärgere, eine Reiſe nach Südamerika, um ſich das böſe Blut wieder ein wenig zu vertreiben. Früher habe er in Südamerika in verſchiedenen Republiken den Säbel umhergeſchleift, (j’etais traineur de sabre, ſagte er mit einem gewiſſen verachtenden Ausdrucke). Allein das Metier habe ihm nicht gefallen, weil die Süd— amerikaner feige Hunde ſeien, und keine andere Waffe zu brauchen wüßten, als den Dolch des Meuchlers. Da habe er ſich denn von einem ſo jammervollen Leben wieder zurück in ſein Vaterland geflüchtet, und von den ſpaniſchen Piaſtern, die er erbeutet, ſich bei Dinant ein hübſches Gut gekauft, zu deſſen Beſuch er uns ſehr einlade, zumal da er ſehe, daß Roß kein Engländer, und ich kein Viehhändler aus der Bour- gogne ſei, als wofür er uns anfangs gehalten habe. Ich erlaube mir hier eine kleine Digreſſion über meine Perſönlichkeit, die freilich in ſofern de— placirt erſcheint, als meine Beſcheidenheit dadurch in ein einigermaßen zweifelhaftes Licht geſetzt wird. — 139 — Ich werde nämlich hier allgemein für irgend einen reichen Proprietär, Gutsbeſitzer, Viehhändler oder Mehlſpeculanten angeſehen, und kein Menſch will glauben, daß ich ein Deutſcher ſei. Der Neuf— ſchateller Accent, der mir in meiner franzöſiſchen Ausſprache noch etwas nachhängt, läßt mich viel— mehr als einen Burgunder betrachten, wofür auch außerdem das wohlgenährte Aeußere nicht wenig ſpricht. Dieſe Meinung wird noch unterſtützt durch einen weiten, grauen Sommerpaletot, in den ich meine Figur zu hüllen pflege, und der der Verſiche⸗ rung meines Schneiders zufolge, mir jedenfalls das Anſehen eines reichen Gutsbeſitzers geben muß. Roß dagegen gilt allgemein für einen Engländer, ſo viele Mühe er ſich auch geben mag, dieſes Vorurtheil zu widerlegen. Er hat ſich nämlich einige Mal die unſchuldige Freude gemacht, unſeren Tiſchgenoſſen durch einen Frack, und zwar durch einen ganz neuen pariſer Frack zu imponiren, was beſonders die Auf— merkſamkeit eines Kommis bei der Salzregie erregt hat, der uns Anfangs in ſeinem Bewußtſein, einer der Lions von St. Servan zu ſein, höchſt gering ſchätzend behandelte, nun aber aus der Anſicht dieſes impoſanten Frackes auf die Wichtigkeit unſerer Per— — 140 — ſonen zu ſchließen beginnt, und deshalb uns jetzt die Schüſſel zuerſt präſentirt, während er ſich früher beeilte, uns zuvorzukommen, um damit die Supe— riorität ſeiner ſocialen Stellung der ganzen übrigen Tiſchgeſellſchaft bemerklich zu machen. Außer ihm blühte noch an der Tafel eine Art Kraftgenie, das ſich beſonders durch höchſt kräftige Flüche, rohe Zoten und einen Ueberſchwall der Stimme bemerk— lich machte, bis es bei einer paſſenden Gelegenheit eine ſo derbe Erwiederung von meiner Seite erhielt, daß es für gerathener erachtete, ſich in die Reſerve eines gänzlichen Stillſchweigens zurückzuziehen. Unſer Jüngling war ſo etwas, wie Schiffsjunge, oder Cadett auf einem der zahlloſen Douanierſchiffe, welche in dem Hafen und in der Bucht umherlauern. Der Pirat vollendete ſeine ſociale Niederlage an der Tafel. Er ſchien das bramarbaſirende Heldenkind ſchon von früher zu kennen, und ſpöttelte über ſeinen Muth, über die vielen Duelle, die er ihm andichtete, auf fo unbarmherzige Weiſe, daß unſer Großmaul gerathener hielt, ſich gänzlich aus der Affäre zu ziehen, und den Abendtiſch für ſo lange zu meiden, als die unangenehme exotiſche Geſellſchaft ihn oceu— piren wird. — 141 — Doch ich kehre zu unſeren Seeungeheuern zurück. Die Tintenfiſche ſind jetzt ſelten geworden, und nur die ächten Sepien werden zuweilen noch beim Rück— zuge der Ebbe in dem Hafen gefangen. Nach der Erzählung des Piraten finden ſie ſich weiter oben in der Mündung der Rance und zwar im Brack—, waſſer oft in ungeheurer Anzahl, während ſie jetzt, nachdem ihre Laichzeit vorübergegangen, ſich mehr in die Tiefe zurückziehen. Wir haben geſtern einem Fiſchzuge bei Nacht beigewohnt, welcher uns einige dieſer Thiere verſchafft hat. Der innere Hafen von St. Malo hat einen äußerſt ſchmalen Zugang, der freilich bei hoher Fluth von den größten Schiffen paſſirt werden kann, bei der Ebbe aber gänzlich trocken gelegt wird, ſo daß man dann zu Fuße zwiſchen den beiden Städten circulirt, während man zur Fluthzeit mittelſt Booten übergeſetzt wird. In dieſe Oeffnung nun werden beim Beginne der Ebbe Netze geſpannt, welche Alles auffangen, was mit dem Rückzuge des Waſſers aus dem inneren Baſſin zu entfliehen ſucht, und dieſes nun noch außerdem mit Schleppnetzen ausgefiſcht. Ein ſolcher Fang bei Nacht unter Fackelſchein bietet ein ſchönes bewegtes Bild, zumal wenn einiger Wind geht, und dadurch en die Netze in Unordnung gerathen, wo denn des Schreiens und Tobens auf den Booten kein Ende iſt. Allein die Ausbeute an intereſſanten Fiſchformen iſt wahrlich nur gering, zumal an dem Ufer, wohin ſich die größeren Rochen und Schollen nur ſelten verlieren. So ſind es denn meiſtens nur Tinten— fiſche, Meeraale, kleine Haifiſche mit braun geflecktem Rücken (Rouſſette) und anderes derartiges nichts— würdiges Zeug, welches bei ſolchen Fiſchzügen zu Tage gefördert wird. Wer Fiſche ſtudiren will, darf gewiß nicht hierher kommen, denn er findet auf dem Markte zu Paris reichlichere Ausbeute und größere Mannigfaltigkeiten als hier an dem Strande der See ſelbſt. — 143 — Paris den 5. October. Wir ſind glücklich mit Sack und Pack, arm an Beutel, vielleicht aber reich an Wiſſenſchaft wieder in der Heimath angelangt, ohne daß wir von großer Abenteuern berichten könnten. Du weißt daß ich ſeit langer Zeit her die fatale Gewohnheit an mir habe, nie eher nach Hauſe zurückzukehren, als bis der letzte Kreuzer den Weg alles Fleiſches gegangen iſt, und da ich trotz vieler berühmten Lehrer in der Mathematik und trotz gehörter Zwangs— collegien doch nie ein großer Held in der Kunſt der edlen Rechnung geworden bin, ſo habe ich meiſtens das Vergnügen auf der Rückreiſe irgendwo einen guten Freund aufſuchen zu müſſen, der Zutrauen genug in meine finanziellen Verhältniſſe beſitzt, um mir für den Reſt des Weges das Nöthige anzuvertrauen. Dies— mal aber war Holland wirklich in großer Noth, und hätte ſich nicht ein gutmüthiger Schweizer gefunden, deſſen Namen ich mich dunkel erinnern konnte, ſo hätten wir wahrſcheinlich in Havre unſere Reiſe— effecten in öffentlichen Aufſtrich geben müſſen, um nach Paris gelangen zu können. Allein glücklicher Weiſe erinnerte ich mich einmal von Agaſſiz gehört — 144 — zu haben, daß unter ſeinen Subſcribenten ſich auch ein Kaufmann in Havre befinde, welcher aus reinem Intereſſe für die ſchweizeriſche Wiſſenſchaft ſich entſchloſſen habe, 600 Francs zum Ankaufe eines Exemplars der foſſilen Fiſche zu verwenden. Vielleicht auch hatte ich den Mann einmal in Neuf— chatel vorübergehend geſehen, und wie man denn in der Bedrängniß ſich auch des kleinſten Umſtan— des erinnert, ſo entſchloß ich mich kurz und gut, ihm einen Beſuch zu machen, und ihn um Abhülfe unſerer Noth anzugehen. Ich gelange in ein geräumiges Bureau, in welchem ein halbes Dutzend Commis emſig hinter großen Büchern ſitzen. Auf meine Frage nach dem Principal ſehen mich alle Angen ziemlich ver— wundert an und zwar, wie ich jetzt erſt bemerke, aus dem einfachen Grunde, weil mein Paletot à la proprietaire unter den Excurſionen an dem Meeres— ſtrand ziemlich gelitten hat. Ich muß meine Frage wiederholen, ehe ich in ein Nebenzimmer gewieſen werde, in dem ich endlich meinen Mann finde, der mich mit ziemlich ernſthafter Geſchäftsmiene von Kopf bis zu Füßen muſtert. Ich muß Dir geſtehen, daß ich einigermaßen verlegen ward, wie ich das — 145 — Geſpräch beginnen ſollte; indeß ich faßte mir ein Herz, und begann zuerſt ein Präludium, worin natürlich Agaſſiz der Grundton war. Kaum aber hatte ich dieſen Namen genannt, ſo erheiterte ſich meines Mannes Geſicht, und lächelnd ſagte er: Sie find ohne Zweifel Naturforſcher, haben eine Excur⸗ ſion nach dem Meeresſtrande gemacht, ſich dort länger aufgehalten, als Sie beabſichtigten und wiſſen nun nicht, wie Sie wieder nach Hauſe kommen ſollen? Wie viel ſoll ich Ihnen auszahlen laſſen? Ich ſtehe ganz zu Ihrer Dispofition!” „Sie müſſen Lavaters Phyſiognomik mit außerordentlichem Erfolge ſtudirt haben, erwiederte ich ihm lachend, daß Sie meine Bedürfniſſe ſo auf den erſten Blick errathen haben. Ich danke Ihnen für das Vertrauen, welches Sie in mich ſetzen. — Es iſt nicht das erſte Mal, erwiederte er, daß ich ſolchem Zufalle die Bekannt⸗ ſchaft eines Naturforſchers verdanke. Ich bedaure nur, daß Sie nicht vor ein Paar Tagen eintrafen, wo Buckland mit Leſueur und mir ein Paar hübſche Exkurſionen in der Umgegend machte. Leider bin ich jetzt zu ſehr beſchäftigt, um Ihnen den heutigen Tag widmen zu können, allein Morgen ſtehe ich ganz zu ihren Dienſten, und bin gern erbötig, Sie Vogt's Briefe I. 10 — 146 — an einige verſteinerungsreiche Localitäten der Um- gegend zu führen. Du kannſt Dir denken, mit welchem Jubel ich von meinen ängſtlich harrenden Reiſegefährten em- pfangen wurde, als ich mit klirrenden Taſchen ihnen entgegenkam. Sie hatten mich unterdeß am Hafen erwartet, deſſen reges Gewühl uns während des ganzen Tages auf das Angenehmſte unterhielt. Die Stadt iſt höchſt eigenthümlich gebaut. Der Hafen bildet eigentlich einen langen ſchneckenartig gewun— denen Canal, der gerade breit genug iſt, um zwei Reihen von Schiffen aufnehmen zu können, die längs der Quais vor Anker liegen. Die Häuſer find längs dieſer Quais hingebaut, fo daß die meiſten Straßen nur auf der einen Seite von Häuſern, auf der andern aber von Schiffen begrenzt ſind. Ein engliſcher Capitän, der ſich uns auf der Reiſe von Caen hierher anſchloß, hat die Güte, uns auf einige dieſer Schiffe zu begleiten, unter denen beſonders die Amerikaner ſich durch ſolide Bauart, zweckmäßige, innere Einrichtung und hohes Maſtenwerk vor allen übrigen auszeichnen. Wir werden mit ſehr vieler Zuvorkommenheit auf einem Oſtindienfahrer empfangen, der eben ſeine Ladung — 147 — einnimmt. Einige niedliche Kajüten für den Capitain und etwa ein Dutzend Paſſagiere befinden ſich unter dem erhöheten Hinterdecke, und es kommt uns vor, als könne man ſich in den kleinen engen Stübchen doch ganz wohnlich einrichten. Die Mannſchaft be— ſteht großentheils aus Malaiiſchen Matroſen, unter welchen ein Paar Neger und nur einige gebräunte Europäer ſich befinden. Unter eigenthümlichem Ge— ſange, der von einem Vorſänger oben an der Schiffs— lucke geleitet wird, drehen ſie die Winde, mittelſt welcher die Kaffeeſäcke und Zuckerfäſſer aus dem Raume herausbefördert werden. Ich habe mir große Mühe gegeben, die Melodie zu behalten, allein ſie iſt ſo abweichend von allen Regeln unſerer euro— päiſchen Tonkunſt, daß ich nach einer Stunde ver— geblichen Bemühens von meinem Vorhaben abſtehen mußte. Es muß irgend eine afrikaniſche National— melodie fein, die indeß ziemlich ftereotyp geworden zu ſein ſcheint, da wir ſie von allen Schiffen hören, welche zum Paſſiren der Linie beſtimmt find. Zwiſchen dieſen braunen und ſchwarzen Geſich— tern, die in emſiger Rührigkeit ſich umhertreiben, begegnen wir einer großen Anzahl blauer Augen und flachsblonder Haare, deren Accente wir nicht — 148 — zu hören brauchen, um ſie auf den erſten Blick als Landsleute zu erkennen, welche über See ſich ein neues Vaterland ſuchen. Sie ſitzen in einzelnen Haufen auf den Quais oder auf den Verdecken der amerikaniſchen Schiffe, meiſtens mit Zubereitung ihres Mittagsmahles beſchäftigt. Schon beim Ein⸗ laufen in den Hafen ſtrichen wir an einem Aus. wanderungsſchiffe vorbei, von deſſen Verdecke uns Hunderte von Stimmen mit jubelndem Zurufe be- grüßten. Es muß doch ſo gar hart nicht ſein, dem deutſchen Vaterlande Valet zu ſagen. Die Leute we— nigſtens, welche wir hier geſehen haben, waren alle munter und gutes Muthes, und ſchienen mit voller Zuverſicht in ein beſſeres Loos nach Weſten zu ziehen. Gegen Abend, wo die Ebbe eintrat, begeg— neten wir am Hafeneingange einem Pärchen, wel— ches in einigen Tagen auslaufen ſollte, und zwar auf derſelben Veſta, deren Verdeck wir heute be— ſucht hatten. Sie betrachteten, wie wir, die ſoge— nannte Chaſſe, welche man dort angebracht hat, um der Verſandung des Hafeneinganges entgegenzuar— beiten. Der Hafeneingang iſt nämlich ſo eingerichtet, daß er, ſobald die Fluth ihre größte Höhe erreicht hat, mittelſt gewaltiger Schleußen geſchloſſen werden — 19 — kann. Man erwartet nun, während ſo die ganze Waſſermaſſe, welche den inneren Hafen erfüllt, aufs geſtaut iſt, den Eintritt der Ebbe, und ſobald dieſe den tiefſten Punkt erreicht hat, werden die Schleußen plötzlich geöffnet, und der Hafen in wenig Augen- blicken bis auf ſeinen hinterſten Theil, welcher die Dampfſchiffe aufnimmt und ſtets gefüllt bleibt, ent— leert. Gleich einem wüthenden Bergſtrome ſtürzt bei der Oeffnung der Schleußen die geſtaute Wafler- maſſe hervor und reißt den von der Fluth ange— ſchwemmten Sand mit ſich fort. Man erſpart auf dieſe Weiſe das mühſame und bei Weitem nicht ſo vollſtändige Ausbaggern des Hafens. „Es iſt doch unglaublich, was für Menſchenwerke man draußen ſieht,“ ſagte der junge Bauer, der ſich uns mit ab— gezogener Mütze näherte, ſobald er uns an der Sprache als Landsleute erkannte. Er, wie ſein Schätzchen waren ganz erfüllt von all den Wundern, die ſie auf der Reiſe aus Würtemberg bis hierher geſehen hatten, und vor Allem konnten ſie nicht genug ſtaunen über die Einrichtung der Ebbe und Fluth, die ihrer Meinung nach einzig zu dem Zwecke vor— handen ſei, um eine ſolche Chaſſe anlegen zu können. Doch Du wirſt uns fragen, auf welche Weiſe — 150 — wir nach Havre gelangt ſind, das doch eigentlich nicht auf unſerem Wege liegt. Es war einerſeits die Neugierde, dann aber auch theilweiſe die Noth— wendigkeit, welche uns hierher führte. Die Route der Diligence geht nur von St. Malo bis Caen, wo man einen anderen Wagen zu nehmen gezwun— gen iſt. Beiwägen ſind in Frankreich eine völlig unbekannte Einrichtung und wenn die Diligence beſetzt iſt, wie es bei unſrer Ankunft in Caen der Fall war, fo iſt man gezwungen, entweder zu war— ten, oder aber ein anderes Mittel des Fortkommens zu ſuchen. Dies bot ſich uns in dem Dampfſchiffe, welches nach Havre geht, und wir wählten dieſe Gelegenheit trotz des Umweges um ſo lieber, als die kleine Menagerie, welche wir bei uns führten, uns in dem Wagen mancherlei Unbequemlichkei⸗ ten ausgeſetzt hat. Ich habe mir nämlich vorge— nommen, die Erziehung meiner Larven in Paris fortzuſetzen, und zu dieſem Endzwecke eine große Anzahl von Gierfihnüren und lebenden Larven in einigen Gläſern mitgenommen. Einige lebende Ae— täon's und verſchiedenes kleines Gewürm iſt ebenfalls beigepackt worden, und zur Erhaltung des Seewaſſers ſind einige Lappen jener grünen Ulve, von der ich — 151 — Dir ſchon ſchrieb, beſtimmt. Allein es bedarf beim Transporte ſolcher lebenden Thiere noch mancherlei andere Vorſichtsmaßregeln. Die grünen Algen ent= wickeln nur dann Sauerſtoff, wenn ſie dem Lichte ausgeſetzt ſind, und man muß deßhalb während des Transportes ſie ſtets in ſolcher Art halten, daß dieſe Einwirkung nicht aufgehoben iſt. Man kann ſich alſo keines Flaſchenfutters bedienen, ſondern iſt ge— nöthigt die Gläſer frei in der Hand zu halten, oder irgendwo an einem hellen Orte im Wagen aufzu— hängen. Ferner darf man ſie nicht verſchließen, indem ſonſt die den Thieren nöthige Luft, welche ſich im Seewaſſer befindet, bald verbraucht iſt, und dann dieſelben förmlich dem Erſtickungstode erliegen. Auch Anhäufung vieler Thiere in einem Glaſe iſt aus demſelben Grunde durchaus unthunlich. Du kannſt Dir nun wohl denken, daß der Transport offener mit Waſſer gefüllter Gläſer in einem Wagen man- cherlei Unbequemlichkeiten unterworfen iſt, welche auf dem Schiffe weit weniger fühlbar ſind. Sobald man indeß die eben berührten Vorſichtsmaßregeln befolgt, ſo kann man darauf rechnen, die Thiere auf weite Strecken hin am Leben zu erhalten. Die meinigen ſind wenigſtens ganz munter und wohl— — 152 — behalten in Paris angelangt, und ich weiß ſogar, daß ein bekannter Naturforſcher, Alexander v. Nord⸗ mann, auf dieſe Weiſe Polypen von der Küſte des Oceans nach Odeſſa verpflanzt hat. Paris den 7. October. Meine Actäonlarven find jetzt a l’ordre du jour und ich habe meine liebe Noth, fie all den Neu- gierigen vorzureiten, welche ihr Intereſſe für die Wiſſenſchaft dadurch glauben bezeugen zu müſſen, daß ſie einmal bei mir in das Mikroſkop gucken, und einige verwunderte Ah! bei dieſer Gelegenheit ausſtoßen. Man braucht hier in Paris nur das Geringſte zu Markte zu bringen, um gleich eine Menge, gerade nicht Käufer, aber doch Begaffer zu finden. Die Flaneurs fehlen auch in der wiſſen— ſchaftlichen Welt durchaus nicht, und ich könnte Dir eine ganze Reihe von Leuten nennen, die in dem Rufe gründlicher Gelehrten ſtehen, und denſelben — 153 — nur ihrem guten Fußwerke zu verdanken haben. Sie laufen mit unermüdlichem Eifer von einem Haus in das andere, von einer Geſellſchaft in die andere, fragen einen jeden aus, hören jedem Be— richte aufmerkſam zu und vertragen dann die ge— ſammelten Kenntniſſe wieder in andere Geſellſchaften, wo ſie bei dem Unwiſſenden die Rolle der Einge— weihten ſpielen. Man kann dieſe Leute recht gut als Lärmglocken gebrauchen, und wenn man nur höflich gegen ſie iſt, und ſich nicht merken läßt, zu welchem Zwecke man ſie direct benutzen will, ſo ſind ſie für den gelieferten Zuwachs ihrer Kennt— niſſe außerordentlich dankbar und durchaus nicht ſparſam in Ertheilung excentriſcher Lobſprüche und ſchmeichelhafter Beiwörter. Indeß wird mir doch allmählig des ewigen Wiederholens und Demonſtri— rens zu viel, und ich werde eine paſſende Gelegen- heit benutzen, um meine Thüre zu ſchließen und in gehöriger Ruhe das Memoire auszuarbeiten, welches ich der Akademie zu übergeben gedenke. Der Embryologe Frankreichs, Herr C. . ., hat ebenfalls meine Embryonen betrachtet und ſich höchlich verwundert, daß es ihm noch nicht einge— fallen ſei, eine analoge Arbeit auszuführen. Du — 154 — fragteſt mich neulich über die Mittel und Wege, welche die Franzoſen ſelbſt einſchlügen, um zu Aemtern und Würden zu gelangen? Ich kann Dir als Antwort die Geſchichte dieſes Profeſſors am College de France erzählen, welche Dir einen hinreichenden Begriff geben wird. Vor allen Dingen iſt der Mann ein Provencale oder ein Gaskogner, kurz ein Südfranzoſe mit einer unend— lichen Suada und einem ungemeinen Erfindungs— talente. Du kannſt überhaupt darauf rechnen, daß von ſämmtlichen franzöſiſchen Volksſtämmen nur zwei berufen find, in Paris ihr Gluͤck zu machen: Die Südländer durch ihre unendliche Geſchwätzig⸗ keit, ihre geſellſchaftlichen Vorzüge, welche ſie zu an⸗ genehmen Unterhaltern und Erzählern machen, und durch die edle, an Unverſchämtheit grenzende Dreiftig- keit, mit der fie ſich in allen Geſellſchaften eine drängen, Bekanntſchaften machen und Jedermann zu Gefallen ſprechen; und dann die Normannen durch die ungemeine Zähigkeit, mit welcher ſie ihre Zwecke verfolgen, ihnen im Wege ſtehende Perſön— lichkeiten unterminiren, und jeden, auch den kleinſten Vortheil zu benutzen wiſſen, um einem Andern den Rang abzulaufen. Den Provencalen nun gehört — 155 — unſer Mann an, und Gaskogner könnte er ſein, ſo gut ſtimmen ſeine Eigenſchaften mit denjenigen überein, welche man gemeiniglich dieſem Volks— ſtamme zuſchreibt. Früher ſtudirte er in Mont⸗ pellier, der Pflanzſchule aller ſüdlichen naturforſchen— den oder heilkünſtleriſchen Genie's, und ſchloß ſich dort an einen berühmten Chirurgen an, dem er auch während eines längeren Winteraufenthaltes in Paris an der Seite blieb. Dort hatte nun unſer Pfifficus bald ausgefunden, daß die Embryologie in Frankreich über alle Gebühr vernachläſſiget ſei, und die nächſte Folge dieſer Entdeckung war natürlich die, daß er Embryologe wurde. Das Ausbrüten der Hühnereier wurde ins Große betrieben und da man gerade weder Hennen noch Brütemaſchienen beſaß, ſo ſchlug unſer Mann den einfachen Weg ein, ſeine Eier ſelbſt auszubrüten, was er in der Weiſe bewerkſtelligte, daß er ſich mitten unter ſeine Eier in das Bett legte. Eine ſolche Aufopferung konnte nicht verfehlen, die Aufmerkſamkeit auf den jungen Mann zu lenken. Die lebendigen Anmeldeglocken, von welchen ich Dir eben ſprach, krochen in die kleine Dachſtube hinauf, um den brütenden Studioſen zu beſuchen A und deſſen Eier zu betrachten, und als Herr C. ſeine Auferſtehung feierte, ward er ſchon als be— rühmter Mann von Alt und Jung aufgeſucht. Er verfehlte natürlich nicht, ſeine Lage in jeder Weiſe zu benutzen, und da er gerne und willig tanzte, was unter den jungen Leuten der Hauptſtadt gerade nicht ſo häufig vorkommt, und recht gut zu unterhalten wußte, fo war er ſehr bald tres repandu dans le monde. Daß unſer Gaskogner dies zu benutzen und namentlich mit den einflußreichen Männern in der Adminiſtration vortheilhafte Bekanntſchaften an— zuknüpfen verſtand, dies verſteht ſich wohl von ſelbſt. Die Chefs der Bureaux in den Miniſterien waren eben ſo gut ſeine vertrauten Freunde, als die Präparatoren des Pflanzengartens, und man ſah ihn beſtändig zwiſchen der Akademie, dem College de France, der Fakultät der Medicin, der Sorbonne, dem Pflanzengarten und den Minifterien unterwegs. Er überbrachte zuerſt alle Neuigkeiten aus der adminiſtrativen Sphäre; — die Ernennung zu Aemtern, die Vertheilung von Decorationen erfuhr er durch ſeine Freunde in den Bureaux zuerſt und beeilte ſich den Betreffenden die freudige Botſchaft zu bringen. Mein Gott, rief einmal ein Bureau= — 157 — chef aus, als in ſeiner Gegenwart von der Zukunft unſeres Mannes die Rede war, „für den braucht Ihr nicht zu ſorgen. Ich weiß nicht, ob er etwas im Kopfe hat, allein gute Beine hat er, das kann ich Euch verſichern, und damit wird er ſchon ſein Glück machen“. Und ſo geſchah es auch. Von Stufe zu Stufe drang unſer Mann vor, und es gelang ihm endlich, bei Madame Guizot Zutritt zu erhalten, wo er ſich bald ſo einzuſchmeicheln wußte, daß er als Hausfreund angeſehen wurde. Auch nach dem Tode von Madame Guizot blieb er in Gunſt des Miniſters. Er verlangte Geld zu wifjenfchaftlichen Unterſuchungen; man ſtellte ihm 10,000 Franes zur Verfügung. Er wollte eine vor der Welt geſicherte Stellung; man ſchuf für ihn einen neuen Lehrſtuhl am College de France. Da die Einkünfte eines ſolchen wohl für Herrn Michelet oder Ouinet, nicht aber für ihn ausreichend waren, ſo gab man ihm noch ein Tabaksbureau an einem guten Platze, welches er für einige tauſend Franken an Unterpächter ver⸗ leihen kann. Selbſt zu diplomatiſchen Verhand— lungen wird unſer Profeſſor benutzt und als er neulich Luſt hatte, nach Neapel und Sicilien zu — 158 — reiſen, beauftragte ihn ſein Patron Guizot mit einer geheimen Botſchaft an die Geſandtſchaft in Neapel. Man ſprach damals viel von einer beab— ſichtigten Vermählung der Prinzeſſin Olga mit einem öſtreichiſchen Erzherzoge, ein Ereigniß, was Herr Guizot freilich gerade nicht allzugern geſehen haben würde, und man behauptete, daß er deshalb den Profeſſor des College de France nach Neapel geſendet habe, um der dort anweſenden Großfürſtin die Gefährlichkeit einer ſolchen Verbindung vom embryologiſchen Standpunkte aus recht anſchaulich zu machen. Es geht hier jetzt Alles bunt drüber und drunter, ſeitdem Herr Orfila, der Decan der medieiniſchen Facultät, ſeine neue Schöpfung eines vergleichenden anatomifchen Muſeums dem Publicum geöffnet hat. Ehe wir abreiſten, bat er mich in ſehr zuvorkom— mender Weiſe, ihm ebenfalls einige Präparate für dieſes neue Muſeum zukommen zu laſſen; allein nun, ſeitdem ich dieſe brillante Schöpfung geſehen habe, bin ich feſt entſchloſſen, auch nicht eine Minute dafür zu opfern. Du kannſt Dir keine Vorſtellung von dem Unſinn machen, den man dort zuſammengewürfelt hat, und wie man Hals über Kopf eine Menge von — 159 — Präparaten zuſammgeſtellt hat, die das einzige Ver— dienſt haben gut auszuſehen, ohne viel bedeuten zu wollen. Auch einige gutmüthige deutſche Anatomen hat Herr Orfila über den Löffel barbiert, und von ihnen Präparate zuſammengebettelt, die er Anfangs zwar bezahlen wollte, ſpäter aber um ſo lieber um— ſonſt genommen hätte, als das Miniſterium nicht geneigt ſcheint, für die contrahirten Schulden ein⸗ zuſtehen. Man erzählt mir ſogar, daß Einer dieſer Gutmüthigen von 4000 Frances, die er Anfangs ver— langt habe, allmählig bis zu einem Kreuze der Ehren— legion herabgehandelt worden ſei, und daß er ſich endlich entſchloſſen habe, dieſes Letztere zu nehmen, um nur Einiges aus dem Schiffbruche zu retten. Viel hat er damit freilich nicht; denn Louis Philipp hat die Ehrenlegion ſo abgenutzt, daß die rothen Nelken, welche man früher als Surrogate der De— coration im Knopfloche trug, jetzt ganz im Preiſe gefallen ſind. So unbedeutend dieſes Muſeum der vergleichen— den Anatomie auch iſt, ſo hat es doch genügt, um die Lage der Parteien in der wiſſenſchaftlichen Welt gänzlich zu verändern und lange verhehlte Feind— ſchaften zum offnen Bruche zu bringen. Es iſt näm⸗ — 160 — lich ſtark die Rede davon, eine Profeſſur der ver- gleichenden Anatomie, welche bisher nicht beſtand, an der medieiniſchen Facultät zu gründen, und es beginnt ſchon ein ſtarkes Wettrennen um dieſen Platz, deſſen Gründung noch ſehr in Ausſicht ſteht. Nament⸗ lich hat eine mißtönende Perſon den Mund recht voll genommen, um ihre Verdienſte um die ver⸗ gleichende Anatomie der ſtaunenden Welt, welche davon noch nichts wußte, mit einem Male kund zu thun. Du weißt wohl, daß die naturphiloſophiſche Richtung in Frankreich gerade nicht viel Anhänger hat finden können und daß fie nur deßhalb einiger— maßen reſpectirt wurde, weil Geoffroy St. Hilaire, der Vater, eine höchſt achtungswerthe Perſönlichkeit war, welcher Niemand gerne zu nahe treten mochte. Cuvier ſelbſt hatte aus dieſem Grunde und weil er für Geoffroy die größten Verbindlichkeiten hatte, lange geſchwiegen, bis er endlich gegen ſeinen Willen dazu gezwungen, in einer langwierigen Debatte vor der Akademie ſeinen Gegner auf das Haupt ſchlug, und ihn bei der öffentlichen Meinung wirklich vernichtete. Man hätte glauben können, daß die Partei mit dem Tode Geoffroy's des Vaters, der indeß feinen Collegen . — 161 — Cuvier noch überlebte, zu Grabe getragen ſei; allein fie fand zwei neue Stützen in dem Sohne und in einem andern Individuum, das durch ſeine theatra= liſche Redeweiſe beſonders den Rekruten imponirt, welche aus Neugierde in den Vorleſungen am Pflanzengarten umherſtolpern. Wenn Du einmal nach Paris kommſt, ſo beſuche ja die Vorleſungen des Herrn Serres. Du erſparſt Dir die drei Franken für einen Platz im Parterre und beſuchſt umſonſt eine Komödie, welche im Palais royal oder im Vaudeville nicht beſſer geſpielt werden kann. Du mußt den Mann ſelbſt ſehen, mit ſeiner niedrigen Stirn und dem unbegränzten Querſchlitz im Geſichte, wenn er Beſitz nimmt von dem breiten Lehnſeſſel und nachläſſig die ſtrohgelben Handſchuhe von den Fingern ſtreift, während der Bediente vor ihm das himmelblau eingebundene Heft ausbreitet. Er beginnt mit liſpelnd hinſterbender Stimme, die ſich mehr und mehr er— hebt, während die Geſtikulationen ſtets häufiger und lebhafter werden. So geräth er endlich in den Afſect des höchſten Prophetenthums. Er ſpringt auf, wirft den Lehnſeſſel zurück, den Kopf in den Nacken, und indem er endlich gleich Talma beide Arme mit beſchwörendem Ausdrucke gen Himmel Vogt's Briefe. I. 11 — 162 — hebt, klaſcht der Präparateur und das ganze Audi⸗ torium fällt mit rauſchenden Beifallsbezeugungen ein. In der Akademie ſpielt er dieſelbe Rolle und ergeht ſich ſtets in hochtönenden Phraſen, die An⸗ fangs zwar in einigem Zuſammenhange ſtehen; fobald er aber einige Zeit geſprochen hat, jo ver« wirren ſich ſeine Gedanken, und dann ſtürzen lange Sätze aus dem weitgeöffneten Munde hervor, die alle ſchon in Bereitſchaft zu liegen ſchienen, aber niemals in der geringſten Beziehung zu dem ver— handelten Gegenſtande ſtehen. Trotz dieſer totalen Nullität, die bei jedem Momente klar hervortritt, hat Herr Serres doch einen bedeutenden Einfluß, eben weil ihn Niemand verſteht und die Leute ihn deshalb für” unendlich erhaben über ihre Sphäre halten. Er ſelbſt iſt vollkommen von ſich übere zeugt, daß eräder geiſtreichſte Menſch in Paris, und ſomit auf dem ganzen Erdenrunde ſei, und dieſe Satisfaction gibt er bei jeder Gelegenheit zu er— kennen. Sie ermüden ſich zu ſehr, ſagte ihm neu= lich ein Bekannter, als er nach einer ſolchen Rede aus der Akademie trat. „Vous avez raison, ant⸗ wortete Serres, ces continuelles éjaculations d'es- » prit fatiguent eruellement.“ — 163 — Dieſer Mann nun hat ſich vorgenommen, den Lehrſtuhl der vergleichenden Anatomie an der medi⸗ einifhen Facultät zu erobern, um dort feinen Wahnſinn einem jüngeren und empfänglicheren Auditorium zu predigen, als im Pflanzengarten der Fall iſt. Ihm gegenüber ſtehen eine Menge von Parteien, von denen die eine dieſen, die andere jenen Candidaten im Auge hat, und die Akademie iſt dadurch in eine Menge kleiner Lager geſpalten, die jetzt ſchon ihre Fehden beginnen, aber dann erſt in zwei größere feindliche Heere ſich vereinigen werden, wenn die Errichtung der Stelle von den Kammern genehmigt ſein wird. Du ſiehſt, daß ich jetzt meiner Pflicht als Correſpondent der Allge— meinen mehr als je nachkommen muß, um meine lieben Landsleute draußen im Reiche mit dem Gange der Ereigniſſe vertraut zu halten, was um ſo ſchwieriger ſein wird, als bis jetzt noch der Kampf hinter den Couliſſen geführt wird. Zudem iſt der Winter vor der Thür, wo das wifjenfchaftliche Leben in Paris überhaupt in viel lebhafteren Um- lauf geſetzt wird. Die einzelnen Geſellſchaften er— ſtehen wieder aus der Lethargie des Sommerſchlafes, in welche fie alljährlich verfinfen. Die wiſſenſchaft⸗ 7 — 164 — lichen Salons öffnen ſich auf's Neue und bieten mannichfache Gelegenheit, in das innere Getriebe dieſes ewig ſummenden Bienenſchwarmes zu ſchauen. Ich habe Dir freilich verſprochen, von Zeit zu Zeit über dieſe Gegenſtände zu ſchreiben, allein das Leben iſt hier ſo öffentlich, daß man wirklich eine Sünde an der deutſchen Neugierde begeht, wenn man es nicht auch dem größeren Publikum zugänglich macht. Darum vertröſte ich Dich mit der Fortſetzung un— ſerer Correſpondenz auf nächſten Sommer, wo ich einen längeren Ausflug nach der See beabſichtige. Wohin er gehen wird, wiſſen die Götter. Vielleicht werden zufällige Umſtände weit mehr Einfluß auf den Beſtimmungsort der Reiſe haben, als himmliſche Rathſchlüſſe. Herwegh, der in früheren Jahren Italien als Touriſt bereiſte, möchte es jetzt auch gerne als Naturforſcher kennen lernen. Vielleicht, daß ich mich ihm anſchließe! — Ich habe von jeher, ſobald es kalt wurde, einen inneren Zug nach dem Süden verſpürt, und denke auch jetzt wieder, wo ich für einige Monate ſtill ſitzen muß, an friſche Reiſepläne. a Bern den 1. November 1846. Endlich find unſere Vorbereitungen getroffen, und der Tag zur Abreiſe beſtimmt. Du weißt, daß ich mir dieſen Sommer einmal Bewegung in freier Luft verſprochen hatte, und dieſes Verſprechen habe ich redlich gehalten. Ich brauche Dir nicht zu er— zählen, was für Streifereien in den Vogeſen, dem Schwarzwalde, in dem Jura und auf den Alpen ich in dieſem Sommer mit oder ohne Geleit vor— genommen habe. Es gehören einige dieſer Streif— züge den ſtill vergnüglichen Capiteln an, welche ſich in allen Reiſebeſchreibungen finden, und an die man um ſo lieber zurückdenkt, je weniger man davon ſpricht. Mit dem Beginne des Herbſtes habe ich mich in meine Winterquartiere zurückgezogen und hier in Bern meine Geologie fertig gemacht, die mich einige Zeit an den Schreibtiſch feſſelte. Bern hat eine ganz andere Phyſiognomie befom= men, ſeitdem ſich die letzte Revolution verwirklicht hat. Es geht Alles lebendiger und rühriger durch— einander, und man kann ſich wohl verſucht fühlen, auch ein wenig thätig in die Räder der neuen Staatsmaſchine einzugreifen, zumal da dieſe offen — 166 — vor Aller Augen liegen werden Vor mehreren Jahren ſchon, als die Verfolgungen gegen Wilhelm Snell begannen, welcher der rüſtigſte Vorkämpfer des Radicalismus war und, wie die Herren wohl wußten, nicht nur eine ſchon vorhandene Partei anführte, ſondern auch eine ganz neue unter der jüngeren f Generation bildete, vor mehreren Jahren ſchon, ſage ich, mußte es denen, die dieſe Jüngeren kannten, klar ſein, daß hier eine Partei ſich bildete, welche unmittelbar nach ihrer Mündigkeit den beſtehenden Regierungstendenzen entgegentreten, und deren Um— ſturz bewirken würde. Allein ſo klar dies war, ſo wenig wurde es von denen eingeſehen, welche an der Spitze ſtanden. Man glaubte dieſe jungen Leute hätten keinen Einfluß auf das ruhige, vor Allem langſam reagirende Bernervolk; man achtete keiner Warnung, keiner drohenden Anzeige des Unwetters, das ſich allmählig zuſammenzog, und ließ der Partei alle Zeit zu erſtarken und unter dem Volke ſelbſt Wurzel zu faſſen. Indeſſen wäre auch trotz dieſer Unthätigkeit der Regierung dieſer jüngeren radikalen Partei der Sieg noch ziemlich erſchwert worden, wenn nicht ein glücklicher Zufall ſie geſtärkt und gekräftiget hätte. Dieſer glückliche Zufall aber, welcher — 167 — in allen regenerirten Kantonen der radicalen Partei den bedeutendſten Vorſchub leiſtete, und in Bern ihren endlichen Sieg entſchied, war der mißlungene Freiſchaarenzug. Hätten die Freiſchaaren geſiegt, wären ſie in Luzern eingedrungen, um ſich dort zu behaupten, ſo würden dieſelben Regierungen, die ihre geheime Begünſtigung verläugneten, offen das Reſultat des Freiſchaarenzuges für ſich in Anſpruch genommen, und dadurch in der Volksmeinung ſich auf's Neue befeſtigt haben. So aber, da er miß— lang, und die Regierungen theilweiſe die geblie— benen oder gefangenen Opfer verläugneten, nahm das Volk Partei für die Schwächeren, die dadurch in dem eigenen Kanton ſiegten, während ſie in dem fremden unterlegen waren. Denn ſo viel un— ſere geiſtliche Herren auch reden mögen von chriſt— licher Liebe und Vergebung, ſie werden doch nie— mals das Rachegefühl weder in dem einzelnen Men⸗ ſchen noch in dem ganzen Volke ausrotten, und dieſes Gefühl war es, welches das Volk belebte, als die geſchlagenen Trümmer des Freiſchaarenzuges nach Hauſe zurückkehrten. Das falſche Spiel, welches namentlich die Regierung von Bern geſpielt hatte, empörte um ſo mehr, je weniger man die Möglichkeit — 166 — einſah, unter ſolchen Verhältniſſen die Scharte wieder anszuwetzen und ſo war es der radicalen Partei leicht, ſich der Volksgeſinnung zu bemächtigen, und die beabſichtigte Regierungsänderung durchzuführen. Die Regierung iſt noch zu neu, als daß man ihr die Prognoſe längerer oder kürzerer Dauer ſtellen könnte, was zumal unter einem Volke ſchwierig iſt, dem ein gewiſſer gewaltthätiger Sinn von der Natur gegeben iſt, welchen es unmöglich verläugnen kann. Dieſer gewaltthätige Sinn trat mir ſo recht entgegen bei einem neulichen Anlaſſe, wo ich zum erſten Mal als Vaterlandsvertheidiger die Muskete ſchleppen half. Ich muß Dir dieſe Epiſode aus meinem Kriegsleben erzählen, die der drolligen Scenen manche bot, und mich einige Blicke in den Berner Character thun ließ, welche weſentlich zum Verſtändniſſe mancher Vorgänge beitragen. Weshalb und wie jener Cravall entſtand, weiß ich ſo wenig, als ein Anderer. Es war eben die Zeit der Kartoffeln- und Brodaufſtände, und ſo fand es denn auch in Bern die liebe Straßenjugend, von einigem andern Volke unterſtützt, für gerathen, der Stadt einen ſolchen Auftritt zum Beſten zu geben. Da man gerade nichts Beſſeres fand, ſo leerte man — 169 — einige Wagen mit Obſt und Gemüſe, welche in den Jura transportirt werden ſollten, in die Goſſe, prügelte die Beſitzer und zog dann lärmend und ſingend in den Straßen umher, was dem ſouveränen Volke in einer Republik eigentlich gar nicht ver— boten werden konnte. Hie und dort bildeten ſich kleine Kerne von Volksverſammlungen, wo populäre Redner das Wort führten, und über die Theuerung des Brodes und die Marktordnung ſchimpften. Ein ſolches Häuflein traf ich Nachmittags an einer Straßenecke, als ſie gerade einen mir befreundeten Regierungsrath umzingelten, und dieſen aufforderten ihnen Explicationen und Erläuterungen zu geben. Ein Steinmetz und ein Schreiner waren die Haupt— redner des Haufens, und Freund Regierungsrath ſah ſich genöthigt auf ſeinem Weg nach dem Rathhauſe mitten auf der Straße Halt zu machen und 'eine Rede zu halten. Dem Steinmetzen ſchien dieſe Rede zu be— hagen; dem Schreiner aber gefiel ſie durchaus nicht, und nach einiger Zeit erklärte er dem Regierungsrathe mit großer Seelenruhe, er habe hier nichts zu ſagen und moge auf das Rathhaus gehen, um dort zu reden, wo man ihm den Platz dazu angewieſen habe. Heftig erwiederte der Regierungsrath, als Bürger — 170 — der Republik koͤnne er reden, wo er wolle, was der Steinmetz außerordentlich beifällig unterſtützte. Der Schreiner widerſprach ſeinem Freunde Steinmetz nur um ſo heftiger, und es dauerte nicht lange, ſo hatten ſich Beide in den Haaren und prügelten ſich weidlich durch über die Frage, ob der Regierungs— rath auf der Straße oder auf dem Rathhauſe zu reden habe. Der Haufe nahm, wie gewöhnlich, für und wider Partei, und es enſtand eine allgemeine Katzbalgerei, während welcher Freund Regierungs- rath mit einigen Beſonneneren, zu denen auch ich gehörte, einen beſcheidenen Rückzug wählte. Nachmittags indeß wurde die Aufregung immer bedenklicher. Es begannen Gewaltmaßregeln gegen die Bäcker. Einer derſelben wurde auch richtig in feinem offenen Laden überraſcht und nicht übel ge= prügelt. Ja, er wäre vielleicht größeren Mißhand— lungen nicht entgangen, wenn nicht einige entſchloſſene Studenten ihn der tobenden Menge entriſſen hätten, die aus Verſehen auch noch einem ganz unſchuldigen Knopfmacher eine gehörige Tracht Schläge zukommen ließ. Verkehrte Polizeimaßregeln vermehrten, wie immer in ſolchen Fällen, die Aufregung nur um ſo mehr. Es wurden einzelne Arreſtationen gemacht, — 171 — und dann wieder die von nur zwei Gensd'armen be— ſetzte Hauptwache geſtürmt und die Arreſtanten be— freit. Meine Neugierde führte mich auf die Straße, als ein gewaltiger Haufen gerade zum Sturme des zweiten Bäckerladens zog. Voran ein heller Haufen von Straßenjungen, ſingend, pfeifend und lärmend, in ungemeinem Jubel des Unfugs ſich freuend. Hinter dieſen ein kleines Häuflein Studenten, höch— ſtens 20 an der Zahl, welche entſchloſſen waren, dem Andringen der Menge ſich zu widerſetzen, und zuletzt ein ganzer Schwarm mehr oder minder zer— lumpter Geſellen, welche vorzugsweiſe das Corps der Rache zu bilden ſchienen, und von zahlreichen Neugierigen gefolgt waren, denen der bewegte Sam— ſtagnachmittag eine intereſſante Zerſtreuung bot. Nun kennſt Du wohl die Bauart der Stadt Bern. Die Straßen ſind breit, meiſt aber durch einen in der Mitte fließenden Bach in zwei Fahr- ſpuren getheilt, die Trottoirs zu beiden Seiten von Säulengängen überwölbt, die ſich unter den Häuſern hinziehen. Meiſt ſind dieſe Trottoirs um einige Stufen erhöht über der Straße, und auch bei un— ſerem Bäcker war dies der Fall. Die Studenten hatten ſich dieſe günſtige Poſition der Localität ſehr e wohl zu Nutze gemacht, und die Thüre des Hauſes dadurch geſperrt, daß ſie das Trottoir beſetzt hielten, und auf der Treppe Poſte gefaßt hatten. Auf der Straße ſchrie die liebe Jugend, tobte das Geſindel, indem es ſich mit Steinen bewaffnete, und ſo drohte Alles eine äußerſt gewaltſame Scene, als ich mit einigen Bekannten herankam. Ein freier Raum für die Vorkämpfer hatte ſich ſchon gebildet, und in dieſem ſtand ein mir befreundeter Arzt, welcher das Volk anredete und ihm das Thbrichte feines Be— ginnens vorzuhalten ſuchte. Ich unterſtützte ihn redlich in dieſem Beginnen, und indem wir zugleich die Studenten von allen Demonſtrationen zu Feind— ſeligkeiten abhielten, und zu ruhigem Ausharren ermunterten, gelang es uns, den tobenden Haufen, etwa zwei Stunden lang im Schache zu halten. Länger wäre es wohl indeſſen nicht mehr gegangen, ſchon flogen Steine, derer Einer mich traf, allein von dem elaſtiſchen Polſter meines Bäuchleins mit verdoppelter Gewalt auf den Abſender zurückprallte; da erſchallte plötzlich der Ruf: „Volksverſammlung! Draußen auf der Schützenmatte“, und durch dieſe Diverſion waren wir ohne Zweifel gerettet. Es waren einige Freunde, welche mit kluger Berechnung — 173 — dieſen verführeriſchen Ruf ertönen ließen. Der Haufen ſchwankte allmählig und nach geringem Zaudern lößte er ſich auf und marſchirte unter dem jubelnden Vortritte der lieben Jugend zur Stadt hinaus, um dort zu „tagen“, und der Regierung die Beſchlüſſe der Volksverſammlung kund zu thun. Nun erwachte aber auch die Begierde, dieſe Unruhe mit einem Schlage zu unterdrücken. Die Studenten, welche ein eignes Corps bilden, benutzten den kurzen Augenblick, um ſich zu bewaffnen und der Regierung zur Dispoſition zu ſtellen. Die der Regierung ergebenen Bürger traten zuſammen, und bildeten eine Bürgerwache, welche die Wach— poſten an den Thoren und den größeren Plätzen der Stadt beſetzte. Reitende Eilboten riefen die Milizenbataillone der Umgegend unter die Waffen, und man rüſtete ſich, den Feind, der ſich nirgends zeigen wollte, mit Gewalt niederzuſchlagen; denn, wie Alles in der Schweiz, ſo bekam nun auch die Sache eine politiſche Bedeutung, und die großartigſten Gerüchte über eine beabſichtigte Reaction der Ariſto— kraten liefen in dem Publikum um. Das Volk war von ſeiner Verſammlung nur um ſo aufge— regter zurückgekommen, und man ſprach von nichts, als von nächtlichen Angriffen, beabfichtigter Ueber— rumpelung und ähnlichen Dingen, an die wahr— ſcheinlich kein Menſch dachte. Wir träumten indeß auf dem Wachtpoſten, welchen wir bezogen hatten, von lauter Ueberfällen und Vertheidigungsmaßregeln, die wahrſcheinlich zu nichts Großem geführt haben würden, da unſer Commandant, eine luſtige Haut, nur in Allem 20 Mann unter ſeinen Befehlen hatte. Das größte Vergnügen machte uns das Patrouilliren, und das Anſchreien der Patrotouillen, die mit ſolchem Gebrülle empfangen wurden, daß die nächſten Anwohner der Straße gewiß kein Auge während der ganzen Nacht zuſchließen konnten. Ein Fäßchen Bier und eine ziemliche Quantität Wein, zur Erfriſchung des Lebensmuthes, waren begreiflicher Weiſe nicht ver— geſſen worden, und ſo ſahen wir unter fröhlichen Scherzen und Geſängen Mitternacht vorbeiſtreichen, als plötzlich ein Eilbote von dem benachbarten Thore herankam mit der Bitte, uns ja bereit zu halten, da beſtimmte Nachricht eingegangen ſei, die Ariſto— kraten beabfichtigten um 4 Uhr Morgens einen Angriff von unſerer Seite her. Die Gewehre wur— den beſichtigt, allein auf Befehl unſeres Comman⸗ — 175 — danten noch nicht geladen. Einige Eifrige aber begannen Säbel und Dolche zu wetzen, und ſich zum blutigſten Einzelkampfe vorzubereiten. Das Thor wurde geſchloſſen, jedes Fuhrwerk unterſucht, ob es nicht Waffen berge, einige Verdächtige ohne Weiteres arretirt, und wenn man ihres Lamentirens müde war, wieder zur Thüre hinausgeworfen. End— lich mit dem Schalle des verhängnißvollen Glocken- ſchlags hören wir ſchnell auf einander zwei Schüſſe, ein lebhaftes Schreien in einiger Entfernung, und glauben zwei Mann ausſenden zu müſſen, welche die nahende Gefahr auskundſchaften ſollen. Ein langer Murtener und ich werden zu dieſem Behufe auserſehen, damit, wie unſer Commandant ſich ſcherz— haft ausdrückte, leichte Beweglichkeit und imponirende Maſſe in der ausgeſendeten Colonne vereinigt ſeien. Wir dringen im Sturmſchritte vor und finden einen athemloſen Studenten, der emſig ſein Gewehr ladet und wie ein Löwe „Wache heraus“ brüllt. Auf unſer Befragen, wo denn der Feind ſei, antwortete er: das wiſſe er freilich nicht, aber da er oben auf dem Berge einige dunkle Geſtalten geſehen habe, worunter auch eine mit einer Laterne, ſo habe er für räthlich erachtet, Allarm zu ſchlagen und ſich r gegen ſeinen Wachpoſten hin zurückzuziehen. Wäh— rend wir uns noch über den Angriff der Ariſtokraten unterhalten, rücken zahlreiche Patrouillen im Eil- märſchen heran und man beſchließt eine ſtarke Re⸗ cognoſcirungscolonne auf den Berg zu ſenden. Zwar behauptete ein Witzbold, die Laterne beweiſe ſchon, daß die Nahenden keine Ariſtokraten geweſen ſeien, denn die flohen vor dem Lichte, ſtatt ihm zu folgen; allein nichts deſto weniger wird die Ent— ſendung der Colonne beſchloſſen, die denn auch oben eine alte Frau mit einer Laterne findet, welche nach ihren Kühen gehen wollte, aber vor Schrecken über das Schießen einen Anfall von Krämpfen bekommen hatte. Unter beſtändiger Aufregung, denn ähnliche Scenen wiederholen ſich noch öfters, bricht der Tag an und mit ihm ein gewaltiger Scandal die Straßen herauf, unſerem Thore entgegen. Ein Volkshaufen hat die Wägen einiger Zwiſchenkäufer entdeckt, welche die Stadt verlaſſen wollen, und verfolgt dieſe mit Steinwürfen. Nun iſt es an uns, unſeren Heldenmuth zu zeigen. Wir ſtellen uns einige Schritte vor dem Wachthauſe auf, und während die Wagen vorbeiraſſeln, laden wir vor den Augen der Tobenden unſere Gewehre, und machen uns fertig, — 177 — unſerem Befehle zur Ruhe Nachdruck zu geben. Der Haufen zerſtreut ſich wirklich Angeſichts dieſer drohenden Anſtalten, und wir wünſchen uns Glück, nicht weiter auf die Probe geſtellt worden zu ſein. — Drinnen in der Stadt aber ſchien die Aufregung fortzudauern, denn von Zeit zu Zeit ſchlug entferntes Getöſe an unſer Ohr. Wir hätten gewünſcht, unſeren Poſten verlaſſen und dem Mittelpunkte der Stadt zueilen zu können, wo, wie wir erfahren hatten, die unterdeß eingezogenen Truppen aufge- ſtellt waren. Endlich, nach langem Harren, kommt der Befehl uns zum Gefecht bereit zu halten und nach der Hauptwache abzumarſchiren. Die Ordon— nanz berichtet uns zugleich, man habe alle entfern— teren Poſten zurückgezogen, und drinnen in der Stadt ſehe es ſo bedenklich aus, daß man jeden Augenblick den Beginn der Thätlichkeiten erwarte. Wir hatten in der That Mühe unſer Ziel zu er⸗ reichen, denn überall fanden wir ſtarke Volkshaufen, die ſich mit Steinen auf den Empfang der Cavallerie rüſteten, welche die Straßen durchzog. Man hatte die Mitte der Stadt quer abgeſperrt, und eine im- poſante Militärmacht entwickelt, die ſogar von vier Kanonen unterſtützt war. Glaubſt Du wohl, es Vogt's Briefe I. 12 — 18 — hätte ſich auf all den Geſichtern, die auf dem weiten Platze umherſtanden und jeden Augenblick den Befehl zum Dreinſchlagen erwarteten, auch nur eine Spur des Mißbehagens erblicken laſſen? Jeder brannte vor Begierde, ſeine Waffen zu ge⸗ brauchen, und jeder ſchimpfte über den Verzug, den die Commandirenden für räthlich erachteten. Im deſſen es kam nicht dazu. Das Volk zerſtreute ſich nach und nach, die Circulation wurde frei gegeben, die Truppen zurückgezogen, und am Abende deſſel⸗ bigen Tages konnte man ſchon die ganze Geſchichte als beendigt anſehen. Allein, welche Gerüchte hatten ſich auf dem Lande verbreitet! Die Ariſtokraten, hieß es, hätten die Regierung geſtürzt und theilweiſe gefangen ge— nommen, die ganze Stadt ſei in Aufruhr, und man müſſe ſchleunig nach Bern ziehn, um die Gelegen- heit zu benutzen, und das Ariſtokratenneſt von Grund aus zu zerſtören. Wir begegneten des andern Tages einer Abtheilung des Landſturmes, der aus dem Seelande aufgebrochen war, und ſich mit eignen Augen überzeugen wollte, wie es in der Stadt ſtehe. Die Leute waren auf die bunteſte Weiſe bewaffnet, hatten einen Trommler und einen Pfeiffer an der — 179 — Spitze und marſchirten im guten Takte in die Stadt, wo ihr Erſcheinen allgemeine Senſation erregte, und nicht wenig zur Verhütung fernerer Auftritte bei— trug, da man erkannte, welche Stimmung auf dem Lande herrſche. Der ganze Hang zur Gewaltthätigkeit, von dem ich Dir vorhin ſprach, trat in all den eben ers zählten Auftritten ſo überraſchend hervor, daß es mir ſcheint, als müſſe derſelbe bei Beurtheilung des Ganges der öffentlichen Ereigniſſe in der Schweiz vor allen Dingen berückſichtigt werden. Die Schweizer hören lange geduldig zu, allein die letzte Entſcheidung fehlt ihnen, wenn ſie nicht mit materiellen Gründen geleiſtet worden iſt. Das liegt einmal ſo in der Natur dieſes Volkes und die wird man nicht ſobald ändern können. Aus dieſem Grunde auch findeſt Du die ſtete Unruhe, die ſteten Zwiſtig— keiten in der Schweiz, die nur momentan ruhen, ſo lange eine Partei das entſchiedene Uebergewicht beſitzt. Jede ſiegende Partei aber, möge ſie ſein, welche ſie wolle, begeht factiſche Gewaltthätigkeiten, die ihr beim Unterliegen wieder vergolten werden, und fo ſpinnen ſich die Reibungen, wie die Blut- rache in Corſica, ins Unendliche fort. — 180 — Das mag auf der einen Seite ein Fehler ſein, allein jedenfalls gefällt es den Leuten ſo, und ich ſehe nicht ein, warum man ſich das Recht anmaßen ſollte, ihnen dieſe Freude zu ſtören. Es giebt Leute genug, denen es nicht wohl iſt, wenn ſie nicht irgend einen Zwiſt haben, und die erſt dann recht glücklich ſind, wenn ſie ſich nach allen Seiten herumbeißen müſſen. Die ruhigen Gemüther, deren Gleichgewicht durch die geringſte Streitigkeit auf das Tiefſte erſchüttert wird, bedauern ſolche Indi— vidualitäten, welche ſie für höchſt unglücklich halten. Mit den Nationen geht es gerade ebenſo. Die Schweizer finden ſich erſt dann wohl in ihrem eis genen Lande, wenn daſſelbe in Parteien zerſpalten iſt und gegenüberſtehende feindliche Lager bezieht. Je toller es hergeht bei dieſen Parteien, deſto wohler fühlen ſte ſich. Wir Deutſchen im Gegen theile ſuchen überall die Ruhe, und können deren nicht genug haben. Gibt uns aber dieſe Diſpoſition unſeres Geiſtes das Recht, anderen dieſe Sehnſucht nach Ruhe aufzudringen? Sehe Jeder, wie er es treibe! ſollte hier der Wahlſpruch fein, und hoffent⸗ lich wird er auch künftig allgemeiner angenommen werden. — 181 — Mir hat es unter dieſem rührigen Treiben ganz wohl gefallen, und ich würde gerne noch länger verblieben ſein, wenn nicht Italien winkte und der Winter mit allzu rauhem Geſichte herankäme. Ich hoffe eine gehörige Quantität Radikalismus abge- ſchüttelt zu haben, und dadurch eines längeren Auf— enthaltes in Sardinien vollkommen würdig zu fein, Das Gelüſte nach Politik hat ſich vollkommen abge— kühlt, und die Wiſſenſchaft wird wieder in ihre vorigen Rechte eintreten. Genf den 4. December 1846. Du weißt, daß bei uns zu Hauſe, noch mehr aber an dem Rheine unter den älteren weingrünen Herren eine Art fataliſtiſchen Glaubens in Ber ziehung auf den edlen Nektar herrſcht. Die guten Leute ſind innig von der Weisheit und Güte Gottes überzeugt, auch ohne die Bridgewater Bücher geleſen zu haben, allwo Herr Buckland, Hochehrwürden, beſagte Weisheit und Güte nebſt einem großen Zu— — 182 — ſatze von Vorausſicht ſogar aus den Steinkohlen⸗ flögen von England deducirt. Unſere Weingrünen glauben nämlich, es wachſe eine beſtimmte Quan⸗ tität von Wein ſpeciell für ihre Perſon, die jährlich, ja ſogar alltäglich von ihnen conſumirt werden müſſe. Je nach der größeren oder geringeren Ga= pacität des Individuums richtet ſich auch die allgütige Vorſehung hinſichtlich des Regens und Sonnen— ſcheines, den ſie den Weinbergen angedeihen läßt. Wird der Mann unpaß und kann er Abends „ſeinen Wein“ nicht trinken, ſo holt er dieſe Verſäumniß in, geſunden Tagen wieder nach, und man kann ſicher ſein, daß am Ende des Jahres der Bilan ges wiß zu ſeinen Gunſten ſteht, und er im Vertrauen auf die ewige Milde einige Thränen edlen Reben⸗ ſaftes auf die Rechnung des nächſten Herbſtes vor⸗ ausgenommen hat. Warum ich Dir dies erzähle? Vielleicht nur um einen Anfang zu dem Briefe zu finden, und dann um Dir zu ſagen, daß ich, was Reiſen be= trifft, einer ähnlichen fataliſtiſchen Anſicht bin. Ich werde ſchwerlich je Reiſender von Profeſſion werden, habe auch gar keine Anlagen zu einem Mungo Park oder einem Humboldt, aber nichts deſto weniger — 183 — ſind wir (unter dem „wir“ verſtehe ich diesmal nicht nur Höchſtmich, ſondern auch meine Freunde) ſchon weidlich in beſchränktem Kreiſe umhergedrillt worden. Wir haben Poſtwagen, Eiſenbahnen, Dampfſchiffe und ſogar Schuſters Rappen zur Ges nüge genoſſen, und können jetzt aus Erfahrung behaupten, daß einer jeden Reiſe ein beſtimmtes Quantum von Langerweile zugemeſſen iſt, welches nothwendig dabei verarbeitet werden muß. Die Ver— theilung iſt freilich bei den einzelnen Reiſen ſehr verſchieden, und es geht da etwa, wie mit dem Regen in den Reiſeplänen unſeres Freundes Arnold. Du erinnerſt Dich wohl noch, wie lange wir uns die Köpfe über ſeinen Reiſeplan zerbrachen, bis endlich eine gewiſſe freundliche Erinnerung uns den Schlüſſel zu den Hieroglyphen gab. Arnold wollte eine Fußtour von mehren Monaten durch die Alpen machen, er wollte auf allen Päſſen Steine klopfen und Felsarten ſuchen, und feinem Regiſter erſtie⸗ gener Hörner noch einige neue Namen zufügen. Er ſprach uns ſo lange von ſeinem wohl ausge— arbeiteten Plane, in welchem er allen Zufälligkeiten Rechnung getragen habe, daß wir endlich zu eigner Belehrung uns Einſicht deſſelben erbaten. Auf je a fünf Reiſetage in den Alpen hatte Arnold mit weiſer Vorſicht einen ganzen Regentag berechnet, während deſſen er im Quartier ſtill liegen mußte. Die Regentage waren mit vielem Geſchick auf Haupt⸗ ſtationen vertheilt. Plötzlich aber fand ſich ein langer Zug ſchönen Wetters. Durch das endloſe Wallis hinauf über die Grimſel und Furka, über den Gott⸗ hard hinweg und das Rheinthal hinab ſchien be— ſtändig die Sonne; vierzehn Tage hindurch zeigte ſich kein Wölkchen an dem blauen Himmel des Reiſe— planes. Auf dem Albula erſt änderte das Wetter; — eine wahre Sündfluth trat ain. Acht Tage lang fiel der Regen in Strömen, was in dem Reiſeplane ſehr plaſtiſch durch einen dicken ſchiefen Strich ans gedeutet war, auf deſſen beiden Seiten mit großen Buchſtaben „anhaltender Regen“ ſtand. Nach acht Tagen ſchien die Sonne wieder, doch blieb das Wetter noch eine Zeit lang ſehr zweifelhaft, und das Neifeprojeet wußte viel zu jagen von der Un⸗ terſuchung des Paſſes und ſeiner nächſten Umgebung, von Euphotiden, Melaphyren, Gabbro, Flyſch, Lias und anderen exotiſchen Steinarten, welche Freund Arnold dort aufſuchen wollte. Wie ſchon geſagt, wir zerbrachen uns lange die Köpfe über die ſon⸗ — 185 — derbare Vertheilung des Regens und des Sonnen— ſcheines. Keiner von uns war jemals auf dem Als bula geweſen. Endlich erinnerte ſich einer, man habe ihm geſagt, das ſchönſte Mädchen der Schweiz hauſe auf dem Albula, und es ſeie ſchon einzig um dies reizende Geſicht zu ſehen der Mühe werth, den langweiligen Paß zum Uebergange nach Italien zu wählen. Nun, wo der Schlüſſel einmal entdeckt war, fanden ſich bald eine Menge entſprechender Fälle. Die Quantität der atmoſphäriſchen Nieder— ſchläge, welche Arnold vorausſichtlich beſtimmt hatte, ſtand in geradem Verhältniſſe mit der Liebenswür— digkeit der Wirthin. Du kannſt Dir denken, daß Arnold viel gefoppt wurde über ſeinen Regen. Wir bewunderten nichtsdeſtoweniger feinen Scharffinn. Arnold zeichnete die Langeweile nicht auf, er vertheilte ſie nicht im Voraus, er überließ dies Ge— ſchäft der waltenden Vorſehung, welcher er dagegen zum Erſatze die Sorge für den Regen abnahm: Wir haben die Langeweile ebenfalls nicht in unſern Reiſeplan aufgenommen, müſſen aber jetzt ſchon unſern Fehler bitter büßen. Du glaubſt uns wohl jetzt auf dem Mont Cenis in Schnee begraben und frierſt aus Mitleiden für uns? Tröſte Dich, liebe N: Seele, wir ſitzen noch hier am Kamin und gähnen uns gegenſeitig an. Herwegh blättert im Gbthe, ich in dem neuen Teſtamente, das in dem frommen Hötel de la Balance die einzige officielle Lectüre iſt. Welch paſſende Introduction für eine italieniſche Reiſe! Doch laß Dir erzählen. Am Sonntag frühe ſind wir von Montreux abgereiſt und am Dienſtag Abend ſind wir noch immer wohlbehalten in dem ſchweizeriſchen Paris. Drei Tage haben wir gebraucht, um einen Weg zurückzulegen, den man im Sommer auf dem blauen Spiegel des Sees in wenigen Stunden macht. Mein Lieber! Ich habe heute Morgen gewüthet, wie der Löwe im Garn, allein gegen italieniſche Kuriere und ſchwäbiſche Kellner kann auch der größte Held nichts ausrichten. Denke Dir, daß wir einen ganzen Tag in einem engen Poſtkaſten zubrachten, um von Montreux nach Genf geſchleift zu werden; daß wir das Unglück hatten, einem martialiſch ausſehenden Zahnbrecher in die Hände zu fallen, der einen großen Schnurrbart und einen feuerroth ausgeſchlagenen Schafpelz trug, und deßhalb ſtolz von ſeiner Höhe auf mich Aermſten herabſah, der ich nur einen kleinen Schnurrbart und einen in beſcheidenes Grau — 187 — gehüllten Schafpelz beſitze. Herwegh fand gar keine Berückſichtigung, weil er, obgleich höchſt anſtändig beſchnurrbartet, doch keinen Pelz, ſondern nur einen Fußſack, und einen ganz gewöhnlichen Mantel auf— zuweiſen hatte. Der Zahnbrecher erwies uns Beiden die Ehre, mit uns in Lauſanne zu Mittag zu ſpeiſen, und regalirte uns während der Mahlzeit mit Erzäh— lungen von der Genfer Revolution. Leider, er— zählte er uns, ſei er gerade am Tage des Kampfes von ſeinem Bataillon entfernt geweſen, ſonſt würde er ſein beſtes Blut für die geſtürzte Regierung ge— opfert haben, die alle ſeine Sympathieen beſitze, und die auch noch jetzt bei der nation genevoise den größten Anklang finde. Es ſei nur eine Handvoll Radikaler, welche über die wahre Majorität den Sieg davon getragen habe. Aber dieſer Sieg ſei ein blutiger geweſen; denn die Milizen hätten eine Tapferkeit, eine Kaltblütigkeit gezeigt, welche über alles Lob erhaben und der Ahnen vollkommen würdig ſei. Auf unſere Frage, wie es denn überhaupt mög⸗ lich geweſen, daß eine Handvoll ſchlecht bewaffneter Schützen über ſo ausgezeichnet tapfere Bataillone und Kanonen den Sieg davon getragen habe, zuckte Held Zahnbrecher die Achſeln und meinte, man Zr > müſſe die Verhältniſſe, die ſpeciellen Verhältniſſe kennen, dann finde man dieſe allerdings auffallende Thatſache vollkommen begreiflich. Nach einigen auf ſo intereſſante Weiſe gewürzten Stunden glückt es uns endlich von Lauſanne weg— zukommen. Anfangs ſitzen wir bequem zu Vieren im Poſtwagen, jeder in einer Ecke; wir ſchwatzen vom Wetter und von der Ausſicht, von der Occu— pation Krakau's und von dem Mont Cenis, den wir übermorgen paſſiren werden. Plötzlich wird in irgend einem waadtländiſchen Relais, wo der Pferves wechſel ſtets wenigſtens eine halbe Stunde erheiſcht, nach langem Zanke und Spektakel die Wagenthüre aufgeriſſen, und uns erſt ein altes, nach Fuſel duften des Männchen, ſpäter eine nicht minder bejahrte Matrone über die Kniee hinweg in die Mitte ge— ſchoben. Welche Unterhaltung haben wir da erdulden müſſen! Wir haben Beide verſchworen, ſowohl Her- wegh als ich, je wieder in einem waadtländiſchen Poſtwagen zu fahren. Der Herr. Erlauben Sie, Madame, daß ich mein Bein zur rechten Seite des Ihrigen ausſtrecke. Die Dame (hold verſchämt). Monſieur, im Poſt⸗ wagen darf man ſo etwas nicht allzu genau nehmen. — 189 — Der Herr. Sie haben ganz Recht, Madame. Der Poſtwagen iſt eine öffentliche Anſtalt, aus der Demokratie hervorgegangen, und zum Beſten des Publicums. Das ſouveräne Volk des Waadtlandes darf ſich jetzt deſſelben bedienen, während in meiner Jugend nur die Herrn Landvögte von Bern fahren konnten. Das heißt, wir Andern hätten wohl auch fahren können, aber man that es nicht, nein, gewiß Madame, man that es nicht. Das lag ſo im Geiſte der Zeit, daß man nicht fuhr. Jetzt will Jedermann fahren. Die Dame. Das Fahren iſt aber auch recht bequem; nur trifft man zuweilen unangenehme Ge— ſellſchaft im Poſtwagen. Ich war bis hierher in der Rotonde, allein es find einige junge Herrn ein— geſtiegen, ſo daß ich es für gerathener hielt — Der Herr, ſüß lächelnd: Bei uns einzuſteigen. Sie haben ohne Zweifel ſehr wohl gethan, Madame. Ich bin immer galant gegen die Damen, ſtets galant und zuvorkommend. Man macht ſich durch ein höf— liches Betragen in der Welt viele gute Freunde. Die Dame. Ganz gewiß, mein Herr. Der Herr. Aber dieſe Galanterie liegt in unſerer Familie, Madame. Mein Vater war durchaus = ebenſo, ich bin ganz wie mein Vater, und mein Sohn, hoffe ich, wird ebenfalls ſtets galant gegen Damen ſein. Ich habe dies meinem Sohne hundert— male wiederholt. Henri, ſagte ich ihm, die Zuvor⸗ kommenheit gegen Damen iſt, zumal in unſerer Zeit, höchſt nothwendig. Die Dame. Ah, Sie haben einen Sohn? Der Herr. Ja wohl, Madame, einen großen Bengel. Aber ich kann Sie verſichern, ein braver Junge. Er iſt Handlungsreiſender und man iſt ſehr mit ihm zufrieden. Man hat mir dies ſogar in ſeiner Gegenwart geſagt, was mir einigermaßen un— angenehm war; denn junge Leute, wenn man ſie ins Geſicht lobt, werden leicht hochmüthig, und Sie wiſſen wohl, Madame, wie die Schrift ſagt: Hoch⸗ muth iſt die Wurzel alles Uebels. Die Dame, mit einem Blicke nach Oben: Sehr gut bemerkt, mein Herr. Indeſſen zweifle ich nicht, daß Ihr Herr Sohn in guten Principien erzogen iſt, und dann kann ihm der kleine Auftritt, den Sie mir ſo eben erzählen, nur nützen, indem das verdiente Lob ſeinen Charakter ſtärken und befeſtigen wird. Der Herr. Das denke ich auch. Ich bin auch wirklich mit meinem Sohne recht zufrieden, wenn — 191 — er nur etwas mehr Ordnung in ſeiner Stube halten wollte. Die Dame. Die Ordnung iſt gewiß die erſte Bedingung zu einem glücklichen Leben. Sie thun ſehr wohl, darauf zu halten. Der Herr. Ich habe mir von jeher die Mühe gegeben, meinen Sohn dazu anzuhalten, aber ich muß leider geſtehen, mit nicht ſehr großem Erfolge. Ich komme ſo eben von einem Beſuche bei ihm, den ich unerwartet abſtattete. Ich war recht erſchrocken beim Eintritt in ſeine Stube. Alles unter einander. Auf einem feinen ſeidenen Foulard, wie es Hand— lungsreiſende unſerer Zeit Anſtands halber tragen müſſen, lag eine Tabakspfeife. Stellen Sie ſich vor, Madame, eine Tabakspfeife! Ich bitte Sie Madame, eine Tabakspfeife! Die Dame. Wirklich? Das iſt ſchrecklich. Eine Tabakspfeife auf einem Foulard? Aber die Welt iſt jetzt ſo verdorben. So ging es fort; von Morges nach Rolle, von Rolle nach Nyon, von Nyon nach Genf, und an dem Thore Cornavin hatten die beiden alten Schwätzer richtig herausgebracht, daß ſie von mütterlicher Seite her in irgend einem entlegenen Grade mit einander sl je verwandt ſeien. Natürlich, der Waadtländer muß erſt noch erfunden werden, der mit einem andern Gliede der nation vaudoise nicht verwandt wäre. »Wir kommen endlich um fieben Uhr bei ſtock⸗ finſtrer Nacht, geſägt von den Waadtländern, ge— ſchützt von dem Zahnbrecher, in Genf an. Im Vor⸗ beigehn zeigt uns der Letztere das Bureau der Kuriere nach Turin. Wir ſtürmen an die Thüre, ſie iſt verſchloſſen. Der Zahnbrecher ſagt uns, es ſeie heute Sonntag, wo man das Bureau zur Ehre Gottes und zur Heiligung ſeines Sabathes Abends nicht öffne. Wir beklagen unſere Unfrömmigkeit, die uns am Sonntage reiſen läßt, und ſuchen uns beim Nachteſſen zu tröſten. Ein ganzer Schwarm ſchwä— biſcher Kellner bedient uns. Die einzigen im Hotel gehaltenen Zeitungen ſind die „Feuille d'avis de Geneve,, und der ſchwäbiſche Merkur. Der Turiner Kurier, welcher im Hauſe wohnt, wird uns vorge— ſtellt, ein blonder Italiener, der uns in ziſchendem Franzöſiſch erzählt, die Plätze für den Montag ſeien beſetzt, für den Dienſtag aber wolle er uns von Chambery aus Plätze beſtellen. Entſchluß, den Montag in Genf todtzuſchlagen, den Dienſtag aber in einem Zuge, bis nach Turin zu fahren. Sämmt⸗ — 193 — liche Schwaben werden beauftragt, uns für Dienſtag Plätze zu beſorgen. Sämmtliche Schwaben kommen zurück mit der Meldung, wir ſeien eingeſchrieben. Wir laſſen uns in Geſpräche über die Genfer Re— volution ein, und der Eigenthümer des Hotels, ſelbſt ein Schwabe, erzählt uns, er habe vier Kugeln, Sechspfünder, in der Hand gehabt, welche das Zim— mer eines Freundes getroffen hätten, und zwar in das Fenſter hinein, zur Thüre hinaus, über die Stiege hinab und durch die Hausthüre auf die Gaſſe geflogen ſeien. O langer Tag in Genf! Es iſt ſchändlich kalt, eine ſcharfe Biſe ſtreicht über den See. Wir be— ſuchen das Muſée Rath und geben uns alle erdenk— liche Mühe, trotz der Kälte die Gemälde ſo lange als möglich anzuſchauen, nur damit der Tag uns deſto kürzer werde. Man ſpricht jetzt viel von der Genfer Schule in der Landſchaftsmalerei, allein man darf ſie in dieſem Muſeum gerade nicht ſuchen. Sie haben zwar ein gutes Bild von Calame und ein gutes Bild von Diday, damit iſt aber auch die Geſchichte fir und fertig. Alle andern Bilder ſehen gerade ſo aus, als habe man ſie ſchon hundertmal geſehen. Die beiden genannten Meiſter haben für Vogt's Briefe J. 13 — 194 — das Muſée Rath den Sturm gemalt. Der Erſtere in dem Tannenwalde der Handeck, der Letztere in einem ſumpfigen Eichwalde der ebenen Schweiz. Calame's Bild iſt eiſig kalt, wie die Hochgebirgs— gegend, welche er für die Malerei erſt entdeckt hat. Die kurzen verkümmerten Tannenzweige beugen ſich nur ſchwer unter der Wucht des Windes, der einige Stämme geknickt hat. Ueber nackte kahle Granits platten ſchäumt ein kleiner trüber Bach. An den wilden Felſen des Hintergrundes hängen graue, zer— zupfte Nebelwolken, durch deren finſtere Maſſen ein Lichtblick auf die Tannen im Vordergrunde fällt. Keine Staffage, nur die Elemente kämpfen in grim⸗ mer Wuth. Bei Diday derſelbe Kampf, aber auf einem Felde das uns bekannter iſt. Ein rieſiger Eichſtamm iſt entwurzelt, ein anderer ſeiner Blätter beraubt, die über die Ebene hinſtäuben. In der Ferne fliehen Landleute vor dem Gewitter, deſſen Heran nahen der Sturm verkündet. Beide Künſtler zeigen ſich hier in der Behand- lung eines ähnlichen Gegenſtandes und ſomit in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit. Diday hat keinen Schritt über das Gebiet gethan, das Andere vor — 193 — ihm, wenn auch oft mit geringerem Talente, bebaut haben. Calame hat mit ſchöpferiſchem Genie in die traurigſte Gegend des Hochgebirges gegriffen, wo die Tanne ſtirbt, und die Gemſe noch nicht lebt. Das Bild von der Handeck bezeichnet wohl eine neue Epoche in der Landſchaftsmalerei, aber es iſt eine mißmuthige, düſtere Poeſie darin, welche kein ferneres Leben in ſich trägt. Das haben die Nach— folger Calame's nicht begriffen. Wir werden jetzt wahrhaft überſchwemmt mit zwergartig verkrüppelten Gebirgstannen, kahlen Felswänden, polirten Granit— platten, und grauen Himmeln darüber, als ob man in den Alpen nur Stoff zu ſolchen Elegieen finden könnte. Das wird ſehr langweilig. Wir haben auch in der Malerei keine Zeit mehr zu Grabgeſängen. Calame ſelbſt hat neuerdings in dem Hochge— birge Stoff zu weiteren Eroberungen gefunden. Er hat ſeine Palette in die höchſten Regionen getragen, wo kein Baum, kein Strauch mehr grünt, ſondern nur winzige Alpenkräuter nothdürftig den kahlen Boden decken, wo nur nackter Fels und ſtarres Eis in den blauen Himmel hineinragen. Dorthin iſt ihm noch Keiner nachgegangen. Denn dort hören die gewöhn— lichen Begriffe von Landſchaftsmalerei auf; — die — 196 — Schönheit liegt nur in der Gewalt der Maſſen, deren Großartigkeit der Pinſel nicht wiedergeben kann. Auch Calame hat nur einziges großes Bild aus | dieſer letzten Stufe des Hochgebirges gemalt, den Monte Roſa in der letzten Gluth des ſcheidenden Sonnenlichtes. Dieſes Bild hängt aber nicht in dem Muſée Rath. Wir brachten eines Theil des Abends mit James Fazy zu, dem jetzigen Präſidenten der proviſoriſchen Regierung, der perſönlich die Revolution in St. Ger⸗ vais leitete und nicht den glücklichen Ausgang der Bewegung unter dem Bette erwartete, wie An— dere ſeiner jetzigen Collegen. Fazy iſt ganz der Mann dazu, Volksbewegungen anzuregen und zu leiten. Er ſpricht leicht und gewandt, mit Witz, Feuer und Ausdruck. Er hat ſich praktiſch in dem politiſchen Leben ſeit mehr als zwanzig Jahren um— gethan, Journale redigirt, die Feder wie die blanke Waffe geſchwungen, gegen die Bourbons im Jahre 1830, wie heuer gegen die Genfer Ariſtokraten gekämpft, und überall für das demokratiſche Element mit eigener Gefahr eingeftanden. Man discutirt eben die neue Verfaſſung, die auf rein demokratiſchen Grundſätzen beruhen Toll. — 197 — Man darf indeſſen mit vollem Rechte bezweifeln, ob auch bei der radikalſten Conſtitution die Demo— kraten in Genf an dem Ruder bleiben werden, was warlich im Intereſſe der Entwicklung des ſchweize— riſchen Republikanismus ſehr zu wünſchen wäre. Der ganze Canton iſt zu klein, ſo daß die Stadt kein Gegengewicht in der Bevölkerung des Landes finden kann. Durch den Einfluß des Geldes werden aber die reichen Genfer Ariſtokraten in der Stadt allmälig die Herrſchaft wiedererlangen, welche ihnen durch die letzte Revolution entriſſen wurde. Die Bevölkerung, welche die jetzige Revolution gemacht hat und deren noch mehre machen wird, kann den— noch der allmäligen Corruption nicht widerſtehen. Das arbeitende Volk — le peuple travailleur — iſt die Stütze Fazy's. Aber das arbeitende Volk lebt in Genf von ariſtokratiſchem Gelde, und nach und nach wird das Sprichwort „weß Brod ich eß, deß Lied ich ſing“ ſeine Geltung finden. Von Zeit zu Zeit freilich werden ſie aus dem Schlafe erwachen, und dann auf ähnliche Weiſe, wie in dem letzten Jahre, ihr Erſtaunen kund geben. Die Schwaben ſind doch nicht ſo dumm, als ſie ausſehen. Ich ſchelle ſo eben, um Licht zu erhalten, — 198 — weil es vollkommen dunkel geworden, und der Kellner hat merkwürdiger Weiſe ſich gleich gedacht, daß ich aus dieſem Grunde geſchellt hätte, und das Licht ohne Weiteres mitgebracht. Herwegh erwacht ſchon vor ſieben Uhr und be— klagt ſich, Genf ſei ſogar zu langweilig, um dort gut zu ſchlafen, eine Bemerkung, welcher ich voll— kommen beiſtimme. Nachdem ſo die beiden geſetz— gebenden Körper, welche die Verfaſſung unferer Reiſe zu regeln haben, in die rührendſte Ueber— einſtimmung gebracht ſind, beſchließen dieſelben ſich zu erheben, und an den Kurier, die Polizei und die Douane zu denken. Wir wappnen uns gegen die Kälte, die wir, aller Vorausſicht nach, auf dem Mont Cenis treffen werden. Wir verſchwenden Hem— den, Nachtkamiſole, Unterhoſen und andere verborgene Kleidungsſtücke in unſerer Toilette, wir bepacken uns mit Silberzeug, welches wir einſtweilen durch die ſardiniſche Douane zu ſchmuggeln gedenken, um ſpäter allen Ernſtes den franzöſiſchen Gabeloups eine Naſe damit zu drehen, wir ziehen diverſe ge— räucherte Zungen und Würſte hervor, welche Gattin und Mutter uns als zartes Denkmal liebender Für— ſorge für den langen Weg anvertraut haben, wir — 199 — rücken mit Sack und Pack, Koffern, Nachtſäcken, Fuß— ſäcken und Pelzſtiefeln aus dem Hotel aus: Ein Hausknecht rechts, ein Hausknecht links, Die Reiſenden in Mitten. Wir langen auf dem Bureau an und werden — ohne Weiteres abgewieſen. Man habe keine Plätze beſtellt; — die Schwaben hätten wohl ſo etwas geſprochen, der Kurier auch, beſtimmtes ſei aber nicht gemeldet worden, der Wagen beſetzt und kein Mittel vorhanden, heute von Genf nach Cham— ber zu gelangen; wir mögten uns gefallen laſſen, noch einen Tag in dem reizenden Genf zuzubringen. Du kannſt Dir denken, wie ich tobte, in welcher ſtummen Verzweiflung Herwegh war, und mit welchen Geſichtern uns die Schwaben zurückkommen ſahen. Ich hielt eine fürchterliche Strafrede, donnerte und wetterte, daß die Kellner zitterten, das ganze Haus zuſammenlief und der Wirth ſich endlich bittend ins Mittel legen mußte. Alle Wuth aber brachte uns nicht weiter, und wir mußten eben in den ſauren Apfel beißen. Wir haben eine unſägliche Quantität Cigaretten gemacht und geraucht, einen wahren Berg von Journalen durchleſen und hoffen nun, wo ich Dir ſchreibe, allmählig die Stunde des — 200 — Mittageſſens und des Theaters herannahen zu ſehen. Noch ein Tag in Genf und wir morden uns gegen— ſeitig, wie die zwei letzten Teutonen in den teutſchen Geſchichten, nur um etwas Abwechslung in unſeren Zuſtand zu bringen. Ich bringe die zwei Tage Lange⸗ weile einſtweilen auf Rechnung des Quantums, das wir auf der Reiſe durchzumachen haben. Zwei Tage Langeweile! O Arnold, könnten wir doch ſagen, wie Du, zwei Tage Regen! Turin, den 8. Dezember. Ich ſende Dir von hier aus einen Brief, den ich in Chambery begonnen und hier fortgeſetzt habe. Ich brauche ihr nun nur noch mit der Einleitung zu verſehen, um ihn in das gehörige Geleiſe der ge— wöhnlichen Briefpoſt einzufahren. Die Fahrt bis Chambery haben wir zuſammen mit einer Art preußi= ſchen Geldgenies gemacht, der irgend einer Prinzeſſin in Genua, wie es ſcheint, aus der Klemme helfen ſoll. Die ſardiniſche Douane, vor welcher wir uns — 201 — einigermaßen gefürchtet haben, iſt glätter abgegangen, als noch je eine andere, Dank einem Empfehlungs— ſchreiben, welches mir der ſardiniſche Geſandte an— vertraut hat. Ich hatte mich an den guten Mann mit der Bitte gewendet, meine Inſtrumente und Bücher zoll⸗ und eenſurfrei durchgehen zu laſſen. Ich wußte, daß die Regierung Carl Albert's in dieſem Stücke durchaus nicht nachſichtig iſt und ein⸗ mal Einem meiner Bekannten Cuvier's „Discours sur les revolutions du globe“ ohne Weiteres als gefährliches revolutionäres Buch confiscirt hatte. Ich hatte dem Geſandten als Beleg meiner höchſt uns gefährlichen Abſichten meine Abhandlung über den Actaeon, die vor einiger Zeit erſchienen iſt, und den Titel „Embryogenie des Mollusques gasteropodes“ trägt, überſendet. In der ſehr verbindlichen Antwort, welche ich erhielt, bemerkten mir Se. Excellenz, daß Sie zwar der Douane keine Befehle geben könnten, daß aber die ſardiniſche Regierung ſich ſtets zur Aufgabe gemacht habe, Künſte und Wiſſenſchaften zu ſchützen, und deßhalb mit Vergnügen meine Untere ſuchungen in Nizza ſehen werde. Die Angeſtellten der Douane ſollten daher mit möglichſter Schonung gegen mich verfahren, und mich in dem Studium — 202 — der Embryologie der Schnecken fo wenig als möge lich ſtören. Dies Schreiben wirkte denn auch außer- ordentlich günſtig. Man ließ uns Bücher und In— ſtrumente, verlangte die Oeffnung unſerer Koffer nur pro forma und verſprach den Curier ſo lange zu beſchäftigen, bis wir ein frugales Mittageſſen eingenommen hätten. In den Thälern von Savoyen lag zwar trotz der vorgerückten Jahreszeit noch kein Schnee, allein die Kälte war nichtsdeſtoweniger empfindlich. Um ſo mehr dauerte uns das arme Volk, deſſen Klei— dung meiſt nur aus ein Paar zerlumpten Fetzen Leinwand beſteht, welche nothdürftig die Bloͤſen decken, und kaum einigen Schutz gegen die Kälte gewähren können. Die Häuschen gleichen eher be— wohnbar gemachten Erdlöchern. Welch ein Abſtich gegen die benachbarte Schweiz! Ich darf indeſſen an dieſen Unterſchied ſchon gewöhnt ſein, da er ſich auch auf der ganzen Länge der weſtlichen Schweizergrenze bemerklich macht. Man mag ſich mit verbundenen Augen in dem Jura herumführen laſſen, wo man nur will, man wird auf der Stelle beim Oeffnen der Binde ſagen können, ob man ſich auf republikani— ſchem oder monarchiſchem Gebiete befinde. Dort bes — 203 — waldete Bergkuppen, wohlgepflegte Wieſen, ſtattliche Häuſer mit großen, hellen Fenſtern, die ſelbſt im Ueberfluſſe angebracht ſcheinen; hier entblöſte Berg— rücken, kümmerliche Wieſencultur und miſerable Baracken, die oft nur eine Thüre, zuweilen auch einige kleine Fenſterlöcher erhalten, auf deren Zahl und Größe die Fenſterſteuer augenſcheinlich den verderb— lichſten Einfluß geübt hat. Man muß nothwendig dieſen bedeutenden Unterſchied anerkennen, mag man nun daraus auch Folgerungen ziehen, welche man wolle. Die Savojarden zeichnen ſich alle durch eine eigenthümliche Phyſiognomie aus, in welcher beſonders zwei lichtbraune, ſtark gewölbte, hellglänzende Augen hervortreten. Haſt Du in Menagerien ſchon See— hunde geſehen? Die eigenthümliche Lebendigkeit und der Glanz der Augen dieſer Geſchöpfe wird Dir dann gewiß ganz beſonders aufgefallen ſein. Ganz ſolche Rabbenaugen haben dieſe Savojarden. Die Bettel- jungen tragen allgemein ſpitze ſchwarze Hüte und die Mädchen ein vergoldetes Herz an einem ſchwarzen Bande um den Hals. Eine weitere Landestracht habe ich nicht ſehen können, und halte demnach Savoyen gerade nicht für geeignet zu Studien für — 204 — Genremaler, die wie Du wohl weißt, ſtets etwas Beſonderes in den Trachten ihrer Perſonen bedürfen. Das Roth iſt aus Savoyen gänzlich verbannt, und findet ſich höchſtens auf den Backen der frierenden Bettelkinder; ich habe mich vergebens nach rothen Halstüchern, rothen Weſten, oder rothen Mützen umgethan. Etwa eine Stunde vor Rumilly ſchwingt ſich ein Bettelbube an unſeren Kutſchenſchlag, der uns mit einer langen Erzählung über das Elend ſeiner Mutter und ſeiner ganzen Familie regalirt, welche mit ſo viel Lebhaftigkeit vorgetragen wurde, als ſtünde der Redner vor dem Zuchtpolizeigericht, um einen Diebſtahl aus Armuth zu vertheidigen. Seit 16 Jahren ſei ſeine Mutter ſo contract, daß ſie wie ein Knäuel zuſammengeballt im Bette liege, und kein Glied rühren könne. In dem Verlaufe ſeiner Erzählung werfe ich ihm die Frage ein, wie alt er denn ſei, und er antwortet mit der größten Gutmüthigkeit, er habe 14 Jahre, wenn er auch klein ſei. Die kleine Natur rühre aber daher, daß er niemals ordentlich zu eſſen bekommen habe, und deßhalb auch nicht gehörig habe wachſen konnen. Es kommt mir in der That vor, als ſei der Grund — 205 — dieſes kleinen Savojardenjungen ziemlich plauſibel, wenn gleich vielleicht nicht die Kleinheit ſämmtlicher Angehörigen dieſes Stammes daraus erklärt werden dürfte. „Wie kann aber deine Mutter ſchon ſeit 16 Jahren contract ſein in dem Grade wie du es be— ſchreibſt, während du ſelbſt erſt 14 haſt“, fragt Herwegh, und ſcheint in der That bei unſerem Kleinen einige Verwirrung durch dieſe Frage her— vorzubringen. Indeß faßt ſich dieſer ſchnell. Als meine Mutter mich gebar, antwortet er, war ſie ſchon ſeit 2 Jahren in dem beſchriebenen Zuſtande. Dieſe Naivität entzückte uns ſo ſehr, daß wir ihn reich beſchenkt entlaſſen, und uns überzeugt halten, daß ein Junge, der ſo vortrefflich lügen kann, ficher- lich einmal ſein Glück in der Welt machen wird. In Chambery ſteht uns eine Trennung bevor. Der Kurier von Genf nach Turin kann zwar in Genf 2 Plätze vergeben; allein den einen hatte unſer preußiſches Finanzgenie ſchon vorher in Be— ſchlag genommen, ſo daß uns nur übrig blieb, den andern zu belegen, und der Hoffnung zu leben, daß in Chambery noch ein Platz unbeſetzt fein möge. Allein dieſe Hoffnung hat ſich vereitelt. Man kün⸗ digt uns an, daß irgend ein General die Plätze von — 206 — Lyon aus genommen habe, und daß von Chambery aus ſchon längſt ein gewiſſer Herr Peretti einge— ſchrieben ſei. Der Lauf der Diligencen iſt natürlich ſo eingerichtet, daß er mit dem Kurier nicht corre— ſpondirt, und die Reiſenden eine Nacht in Chambery bleiben müſſen. Wir melden uns auf dem Bureau der Diligence. Herr Peretti hat ſich für den letzten Platz einſchreiben laſſen. Bei einer dritten Reiſe— gelegenheit, einer Art Omnibus für Menſchen, Waaren und Vieh iſt ebenfalls Herr Peretti einge— ſchrieben. Wir ſehnen uns demnach außerordentlich die Bekanntſchaft dieſes jungen Mannes zu machen, der ſich ſo in umfaſſendender Weiſe ſein Fortkommen ſichert. Es bleibt endlich keine andere Wahl übrig, wir müſſen einen Tag in Chambery bleiben, und uns dort mit Kavalerieofficieren und Abbé's (dies ſind die einzigen Bewohner von Chambery) zu unterhalten ſuchen. Der Tag iſt vorüber, und die Stadt in allen Winkeln ausgekrochen. Ein Militär-Narr könnte hier ſeine vollſtändige Befriedigung finden. Wo man nur hinblickt, wird exercirt und manövrirt, und den ganzen Tag zieht es mit Militärmuſik durch die Straßen und paukt und trompetet in — al — allen Ecken. Die Gegend ſelbſt muß im Sommer reizend ſein. Jetzt wo nur noch dünner Schnee hie und da ſich angehäuft hat, iſt ſie begreiflicher Weiſe ziemlich kahl und traurig. Die Gebirge um— her haben ganz die Geſtalt der juraſſiſchen Alpen— formation, und die Gruppe der Dent de Nivolet im Norden ſo wie die Geſtalt des Mont Granier im Süden erinnern auffallend an die Formen der Stockhornkette, oder der freiburgiſchen Alpen. Cham— bery ſelbſt liegt in einem Thale, deſſen Boden ganz horizontal mit alpiniſchen Alluvionen ausgefüllt iſt. Das iſt denn ein rechter Tummelplatz für dieſe immerwährende Soldatenſpielerei, die ſich auf dem großen Exercierplatze nach allen Richtungen hin entfalten kann. In dem Gaſthauſe, an welchem Poſten und Kuriere halten, und das wir deßhalb als Stand— quartier vorgezogen haben, iſt eine Dfficierstafel, an welcher beſonders Kavalerieofficiere theilnehmen. Haſt Du auch ſchon draußen in Deutſchland die Beobachtung gemacht, die ſich in Frankreich durch— gehends beſtätigt, daß bei den verſchiedenen Waffen⸗ gattungen die blinde Unterwürfigkeit in umgekehrtem Verhältniſſe zu der Intelligenz und den Kenntniffen — 28 — ſteht? Auf das Genie kann ſich Louis Philipp gar nicht verlaſſen. Die Officiere dieſes Corps ſind meiſtens Socialiſten, Fourieriſten, oder ſelbſt Com⸗ muniſten, und ihr Gehorſam geht nur ſo weit, als die engſte Interpretation ihrer Dienſtpflichten es geſtattet. Die Artilleriſten ſind faſt ſämmtlich Republikaner, und bei der geringſten Gelegenheit, wenn nicht widerſpenſtig, doch ſchwierig. Die Dffi- ciere der beiden genannten Waffengattungen tragen in Frankreich wenigſtens meiſt lieber den bürgerlichen Rock, als die rothe Hoſe, ſie beſchäftigen ſich mit wiſſenſchaftlichen Arbeiten, ſind meiſtens dem Ga— maſchendienſte fremd, und in allen Geſellſchaften, welche den militäriſchen Tick nicht beſitzen, ebenſo— wohl gelitten, als jeder andere Civiliſt. Die Linie iſt meiſtens dem conſtitutionellem Königthume er- geben, ſie zählt zuweilen unter ihren Reihen wohl unterrichtete Männer, begnügt ſich aber im Ganzen mit den Vorfallenheiten, welche Kriegsleben und Garniſonsdienſt ihnen darbieten. Aber die Cava- lerie! Ein unterrichteter Officier iſt ein wahres Phä— nomen. Ihre Rohheit iſt in Frankreich wenigſtens ſprichwörtlich geworden, und ihr Abſolutismus eine anerkannte Thatſache. 5 — — — — 209 — Ich bin faſt geneigt zu glauben, daß dieſe Un⸗ terſchiede zwiſchen den verſchiedenen Waffengattungen mit den Beſchäftigungen der Menſchen ſelbſt in engſter Beziehung ſtehen, und daß der ſtete innige Um⸗ gang mit Pferden und Beſtien anderer Art es iſt, welcher in dieſer Weiſe feinen Einfluß auf die Men— ſchen äußert. Iſt es wohl erſt nöthig, auch in Deutſchland ähnliche Erſcheinungen nachzuweiſen? Vielleicht mag die größere Empfänglichkeit der franzöſiſchen Nation noch grellere Unterſchiede her— vortreten laſſen. Mein Freund Dollfuß hat über dieſen Punkt recht eigenthümliche Beobachtungen angeſtellt, die ihn zu höchſt originellen Schlußfol— gerungen gebracht haben. Er hat mehrmal hinter— einander eine Anzahl gleich befähigter Bauernjungen bei verſchiedenen Geſchäften untergebracht, die Einen bei der Eiſenbahn, Andere bei der Poſt, wieder Andere bei ſeinen Pferden und Einige auch bei den Ochſen und Kühen, die er in ſeiner weitläufigen Oeconomie hält. Alljährlich vereinigt er ſeine Zög— linge bei einem Mittagsmahle, dem er in eigener Perſon präſidirt. Die Eiſenbahnconducteure ſind flink wie der Blitz, der Teller iſt im Nu abgegeſſen, das Glas jedesmal in einem Zuge geleert. Sie ſprechen Vogt's Briefe I. 14 — 210 — ſchnell, in kurzen Sätzen und beſtimmten Ausdrücken, errathen die Bedeutung eines jeden Blickes und haben ihre Nachbaren bedient, ehe dieſe nur ihren Wunſch ausſprechen konnten. Ganz das entgegen— geſetzte Extrem bilden die Ochſenknechte; — ſie kauen noch am Rindfleiſche, während jene ſchon ſich mit dem Deſſert beſchäftigen, ſie ſprechen langſam in unendlich breiten, verwickelten Perioden, deren letzte Hälfte gewöhnlich ausbleibt, weil fie den An— fang über die Länge der Periode vergeſſen haben. Sie ſchlürfen viertelftundenlang an einem Glaſe Wein, und begreifen einen Befehl erſt, nachdem man ihn dreimal wiederholt hat. Kurz, nach dem Aus— drucke meines Freundes Dollfuß, ſie ſind Rindvieher geworden, wie die Wiederkäuer, mit welchen ſie fahren. Zwiſchen dieſe beiden Extreme ſtellen ſich dann die verſchiedenen Abſtufungen, welche von den übrigen Geſchäften erzeugt werden, und deren Be— ſchreibung ich Dir erlaſſe, da Du Dir ſelbſt aus den vorhandenen Elementen die entſprechenden Bilder zuſammenſtellen kannſt. Wir genoſſen in Chambery die Unterhaltung einer Menge von Officieren der Kavalerie, welche mich in meinen in Frankreich gewonnenen Anſchau— — 211 — ungen nur beſtärkten. Ich war herzlich froh, als der Abend herankam, und wenigſtens Einem von uns Erlöſung brachte. Wir haben brüderlich das Strohhälmchen gezogen, und Herwegh das beſſere Theil getroffen. Er wird heute mit dem Kurier nach Turin voraneilen, und ich morgen früh mit der Diligence nachrutſchen. Schade, daß wir den Ueber— gang des Mont Cenis nicht gemeinſchaftlich machen können. Er ſoll nach den eingelaufenen Nachrichten durch Schneegeſtöber und alles mögliche Ungemach recht intereſſant geworden ſein. Ich habe mir die Elephanten an dem Spring— brunnen des Herrn de Boigne noch einmal während des Morgens von allen Seiten her betrachtet, und habe zu keinem genaueren zoologiſchen Reſultate über dieſelben kommen können. Man hat nämlich dem genannten General, welcher ſich im vorigen Jahrhunderte bei irgend einem Nabob Oſtindiens ungezähltes Geld verdiente, und dieſes nachher ſeiner Vaterſtadt Chambery vermachte, ein Monument ge— ſetzt, an dem man vier Elephanten anbringen wollte die nach den vier Weltgegenden Waſſer ſpritzen ſollten. Die Thiere haben ſo hohe Beine, daß man nur aus der Eriſtenz der Rüſſel auf eine Elephanten⸗ — . natur ſchließen kann, und ob es aſiatiſche oder afrikaniſche Elephanten fein ſollen, iſt ganz unent⸗ ſchieden, da ſie hochgewölbte Stirnen und kleine Ohren haben, während der afrikaniſche Elephant zwar gewölbte Stirn, aber ſehr große Ohren, und der aſiatiſche kleine Ohren, aber eine hohle Stirn beſitzt. Der Elephant auf dem Baſtillenplatze in Paris iſt doch wenigſtens ein ächter afrikaniſcher Elephant, und ich weiß nicht, warum er garſtiger ſein ſollte, als dieſe verſtümmelten Undinge, die gar Nichts ähnlich ſehen. Damit will ich indeß noch nicht ſagen, daß die Pariſer in allen Stücken und überall die Natur treulich kopirten. An dem Brunnen, den man Cuvier zu Ehren an der Ecke des Jardin des plantes errichtet hat, und wo eine nackte weib— liche Figur, welche die Natur vorſtellen ſoll, auf einem Throne über allerhand Gethier ſitzt, hat der Künſtler ein Crocodil angebracht, welches den Kopf um 180 Grade herumdreht, und nach einem Fiſche ſchnappt, der ſich auf ſeinem Rücken befindet. Sogar der Wendehals könnte eine ſolche Drehung nicht ausführen, und nun gar das Crocodil, deſſen ſteifer Hals ſprichwörtlich geworden iſt. Ihm gegenüber verzehrt ein Wallroß, das ſich nur von Muſcheln — 213 — nährt, einen gewaltigen Fiſch. Anfangs wollte ſogar der Künſtler dem Crocodil einen hohen Drachenkamm über den ganzen Rücken hinaus aufſetzen, und nur mit Mühe gelang es einigen Profeſſoren des Pflan— zengartens, ihn zum Abmeiſeln dieſes Kammes zu bewegen. Dies war aber auch das einzige, was fie er= reichen konnten. Der verdrehte Hals des Crocodils und der Fiſch im Rachen des Wallroſſes blieben trotz aller Vorſtellungen, welche die Herrn Profeſſoren machten. Von dem Mont Cenis hat man uns nicht zu viel geſagt. Wir langten Abends an dem Fuße deſſelben an, und wurden in verſchiedene kleine Schlitten gepackt, welche der Gefahr des Umwerfens weniger ausgeſetzt ſchienen. Ein furchtbarer Sturm empfing uns etwa auf der halben Höhe des Berges, und nahm mehr und mehr zu, je näher wir dem Gipfel kamen. Ich ſitze in einem kleinen Schlittchen mit 2 ältlichen Damen, welche ſämmtliche Schnupf— und Halstücher, über die ſie disponiren konnten, benutzt haben, um die Ritzen zu ſtopfen, durch welche uns der feine Schneeſtaub hereingewirbelt wird. Es iſt ein förmlicher Gux, wie wir ihn ſchon öfter auf dem Aargletſcher erlebt haben, und da hier Er— gebung das einzige Mittel bleibt, ſo hülle ich mich — 214 — ruhig in meinen Pelz und ſchlafe der Piemonteſi— ſchen Ebene entgegen. Plötzlich aber wird die Thüre aufgeriſſen, und man fragt uns, ob wir denn ewig hier ſitzen bleiben wollten. Die übrige Reiſegeſell— ſchaft habe ſchon ſeit einer halben Stunde in einem Zufluchtshäuschen ſich untergebracht, da es unmöglich ſei, bei ſo fürchterlichem Wetter weiter zu fahren. Ich ſtrecke unbedachtſamer Weiſe, da ich der Thüre zunächſt ſitze, meinen Kopf hinaus, um mich nach dem Zufluchtshäuschen umzuſehen, und verliere in demſelben Augenblicke meinen Hut, den ein Wind— ſtoß mit raſender Schnelligkeit in die Höhe wirbelt. Es wäre unnöthige Mühe geweſen, ihn in der ſtock— finſteren Nacht unter dem Schneegeſtöber zu ſuchen, mit dem er die Bergabhänge hinabrollt. Grüß' mir Italien, Freund! In dem Zufluchtshauſe iſt eine recht tolle Wirth⸗ ſchaft, die einem Teniers unerſchöpflichen Stoff ge— geben hätte. Die Reiſegeſellſchaft, in die abentheuer— lichſten Koſtüme gehüllt, drängt ſich um das kleine eiſerne Defchen, auf welchem eine ſchwärzliche Brühe brodelt, die man uns unter dem ſchmeichelhaften Titel „Fleiſchbrühe“ anbietet. Andere Victualien ſcheinen nicht vorhanden. Doch entdecken wir nach — 215 — einigem Suchen in einer Ecke einige Bindfaden mit aufgereihten Knoblauchswürſten, unter denen wir zum großen Mißvergnügen der alten Wirthin eine gräß— liche Verheerung anrichten. Um den Tiſch ſitzen einige Wegemeiſter, welche ſich an einem herben rothen Weine laben, der etwa wie Tinte ausſieht und nicht viel beſſer ſchmeckt. Sie rauchen aus kurzen Thonpfeifen einen peſtilenzialiſchen Knäller deſſen Dampf das enge Stübchen erfüllt, welches ſo voll Menſchen gepfropft iſt, daß man ſich weder drehen noch wenden kann. Um die Scene zu ver⸗ vollſtändigen, hat ſich auch ein Junge mit einer Drehorgel eingefunden, der mit unermüdlichem Eifer uns die Ohren volldudelt, und gerne einen Platz finden mögte, um ein Murmelthier tanzen zu laſſen, das ganz ausgezeichnete Eigenſchaften beſitzen ſoll. Wir halten mehre Stunden in dieſer fürchterlichen Atmoſphäre aus, und werden nun, da das Unge— witter nachgelaſſen, eingeladen, unſere Plätze aufs Neue einzunehmen. Mit reißender Schnelligkeit geht's über den hart gewordenen Schnee nach der piemonteſiſchen Ebene hinab, die wir bald erreicht haben; allein wir ſehen nichts in dieſer herrlichen Ebene, als Schnee. Die Wein und Getreidefelder, die Zone — 216 — der Kaſtanien, der Eichenwaldungen, der Tannen, und der Alpenwieſen an den höchſten Berggipfeln ſind alle von demſelben uniformen Weiß überdeckt, und ein ſchneidender Wind ſtreicht über das platte Land, das in eine ſibiriſche Einöde verwandelt er= ſcheint. Von Turin kann ich Dir auch nicht viel er⸗ zählen. Es iſt eine ſchöne Stadt mit breiten Straßen und hohen Palläſten, in welcher daſſelbe militäriſche Schauſpiel fortdauert, welches uns ſchon in Chambery empfing. Wir haben unſere Vereini⸗ gung wieder bewerkſtelligt, und benutzen die Zeit welche uns bis zum Abgange des Kuriers nach Nizza bleibt, um die Gemäldegallerie ein wenig in Augenſchein zu nehmen. Sie hat alle unſere Er⸗ wartungen übertroffen, die um ſo geringer waren, als wir dieſe Gallerie noch nirgends mit Auszeich⸗ nung erwähnt gefunden hatten. Man muß nach Turin gehen, um Rembrandt und Paul Veroneſe in ihrem Glanze zu ſehen. Von Erſterem ſind namentlich zwei Porträts vorhanden, die gewiß zu dem Höchſten gehören, was er je geleiſtet hat. Ein jüdiſcher Rabbi, in Lebensgröße, das Haupt mit einem morgenlän⸗ diſchen Turbane bekleidet, und irgend ein Bürger⸗ — 217 — meiſter von Saardam in ſchwarzer Amtstracht, ein uralter Mann, deſſen Kopf etwa die Größe der hohlen Hand haben mag. Der vergelſterte Ausdruck im Geſichte des Alten, der eben eine höͤchſt wichtige Neuigkeit hört, hat uns Beide den ganzen Tag über verfolgt, und wir konnten nicht umhin, uns gegen- ſeitig mit ähnlichem Ausdrucke anzuſtarren, ſobald Einer den Anderen anrief. Dem Bürgermeiſter gegenüber hängt ein Porträt von Titian, das ſich auch in Florenz befinden ſoll, und von dem jede Gallerie behauptet, daß ſie das Ori— ginal beſitze. Mir iſt völlig einerlei, wer von Beiden Recht hat, aber ſo viel kann ich ſagen, daß mir noch nie eine menſchliche Figur einen ſo abſchreckenden Eindruck gemacht hat, als dieſes Bild Paul's III. Das magere, von allen Linien des Fanatismus durch furchte Geſicht ſchaut wie ein Baſiliskenkopf aus dem rothſammetnen Ueberwurfe hervor, und eine knöcherne Hand, an deren langen Spinnenfingern eine Menge von Ringen glänzen, ſtreckt ſich über die Lehne des Seſſels hinaus, als ſuche ſie heimlich etwas zu erhaſchen. Man ſieht, daß ein ſolcher Pfaffe es fein mußte, welcher die Inquifition erfand. Herwegh meint, heut zu Tag könne man zwar ähnliche — 218 — Charactere finden, man dürfe ſie aber nicht malen, weil die Beſitzer ſolcher Teufelsphyſionomieen es nicht erlaubten; deshalb werde das Porträt jetzt ſo ſaft⸗ und kraftlos, weil ein Jeder ſich von dem Maler ſo malen laſſe, wie er ſein mögte, und nicht ſo, wie er wirklich wäre. Er hat in dieſer Beziehung wirk- lich das Rechte getroffen. Ein modernes Porträt (von den Pfannkuchen, welche zu einigen Louisdors per Stück in allen größeren und kleineren Städten an Bürger und Beamten verzapft werden, rede ich natürlich nicht) ein modernes Porträt kommt mir ſtets vor, wie eine aus verſchiedenen Stücken zu= ſammengeflickte Muſterkarte, welche nur einen Ab- klatſch, nicht aber den Mann, wie er iſt, darſtellt. Das Geſicht wird nothdürftig in die Proportionen der Schönheit gebracht, welche ſo ziemlich allgemein angenommen ſind; die Farbe nach irgend einem conventionellen Typus behandelt, der in den ver— ſchiedenen Schulen verſchieden, aber ſtets für alle Perſönlichkeiten über denſelben Leiſten geſchlagen iſt. Die Manier des Malers iſt dieſelbe, mag auch die Individualität, welche er darſtellen ſoll, noch ſo ver— ſchieden ſein; die übrigen Stücke, Kleidung, Hem— den u. ſ. w. werden an dieſen conventionellen Kopf — 219 — nach der Puppe und nach Modellen angefügt. Es gibt in Paris Frauenzimmer, welche nur davon leben, daß ſie mit ihren ſchönen Händen für Männer— porträts Modell ſitzen, und andere, welche aus der Farbe ihres Geſichtes eine gleiche Erwerbsquelle machen. Daher kommt denn dieſe troſtloſe Eintönig— keit des Porträts, aus deren Menge ſtets hinter einer mehr oder minder verzerrten Maske daſſelbe Geſicht uns anſchaut. Daß eine jede Perſönlichkeit eine andere Manier der Behandlung, einen anderen Pinſelſtrich erfordere, ſcheint den van Dyks unſerer Zeit nicht in den Sinn zu kommen. Der Eine legt erſt die Fleiſchtöne an, und bringt dann durch Uebermalung die Schatten hinein, weil Raphael auf dem berühm⸗ ten Porträt Leos X. es ſo gemacht hat; — der Andere legt erſt mit Weiß und Grau die Schatten wie an einer Gypsbüſte an und laſtrt dann die Fleiſchfarben darüber. Er kann ſich auf Titian berufen, deſſen Weiber ſtets in dieſer Art behandelt ſind. Ein Dritter endlich ſetzt geradezu Fleiſchfarben und Schat— ten neben einander, und meint, er ſei dadurch ein Nachfolger von Rubens geworden. Ein jedes Ge— ſicht will aber ſeine eigene Behandlung, und der— jenige nur kann Anſpruch darauf machen, daß ſeine — 20 — Porträts zugleich auch als Kunſtwerke gelten, der eben der Individualität des Darzuſtellenden ſeine Be⸗ handlungsweiſe unterzuordnen verſteht. Doch ich kehre zurück zu unſerer Turiner Gallerie. Ihr Prachtſtück iſt ein Paul Veroneſe, der zwar ſeine 12 Fuß in der Länge halten mag, allein dennoch im Vergleich zu andern Werken dieſes Künſtlers als klein bezeichnet werden muß. Das Gemälde ſtellt die Fußwaſchung vor. Auf der einen Seite ſitzt Freund Judas ganz im Schatten und unterhält ſich mit einigen Apoſteln über die Marktpreiſe des Oels, womit die beiden Magdalenen dem Heiland die Füße ſalben. Die beiden Schweſtern ſehen einander ziem⸗ lich ähnlich. Es ſind ächte Venetianerinnen, deren üppige Geſtalten aus den ſeidenen golddurchwirkten Feſtgewändern hervorzuquellen ſcheinen und Chriſtus hat eine ſo weltlich wohlgenährte Wade, und ein ſo ſchön geformtes Bein, daß man auf der Stelle be⸗ greift, weßhalb er ſich in ſolcher Geſellſchaft wohl befinden mogte. Es iſt freilich entſetzlich, wie une gemein ſich der gute Paul von dem Typus entfernen konnte, den ältere Maler und neuere Nazarener als den einzig chriſtlichen annehmen wollen. Er hat einen prächtigen Mann gemalt im Vollgenuſſe ſeiner — 221 — Kraft, dem das Wohlbehagen, von ſo ſchönen Weibern bedient zu ſein, aus jedem Zuge des Geſichtes ſpricht. Das iſt keine ausgemergelte Leichengeſtalt mit lang gezogenen Händen und Füßen, vorſtehenden eckigen Knöcheln und abgezehrten Waden, um welche ein zierlich in Falten gelegter himmelblauer Mantel hängt, wie ein Cachemirſhawl um eine Vogelſcheuche; das iſt kein Armenſündergeſicht mit grauen Lippen und eingefallenen Wangen, die von geſcheiteltem Locken— haar umfaßt ſind, welches ganz friſch friſirt und wie der zweizipfelige Bart eben erſt mit dem Eiſen gebrannt ſcheint. Es iſt im Gegentheil ein Mann, der ſich des Lebens noch freuen kann, und in dieſem Augenblicke auch gerade in der Stimmung iſt, daß er ſich des kleinſten Genuſſes nicht entſchlagen mögte. Man ſieht's ihm an, daß er gar nicht daran denkt, es werde einſt in der Bibel von dieſer unbedeutenden Scene geſprochen werden, ſondern daß er von ſeinen Jüngern erwartet, fie werden Diseretion genug be— ſitzen, um ſolche Vorfallenheiten, die in den Kreis des allgemein Menſchlichen gehören, nicht in alle Welt hinauszupoſaunen. Das iſt's eben, was mich bei unſeren Nazarenern ſo entſetzlich langweilt, daß ihr Herr Chriſtus überall Modell ſitzt, mit einem Aus— — 222 — drucke, als habe er zu ſich geſagt: du mußt eine Stellung einnehmen, welche das Weltbewegende dieſes tomentes hinlänglich ausdrückt. Sie können ihn nicht ſpazieren gehen, nicht gemüthlich ſchwatzen laſſen, wie einen andern vernünftigen Mann auch, ſondern müſſen ihn ſtets hinſtellen, als träte er dem Teufel auf den Kopf, oder hielte eine Bergpredigt bei der geringſten Gelegenheit. Bei den älteren Malern fehlt dieſes Bewußte, welches in das Klein— liche eine übermenſchliche Bedeutung zu legen ſucht, und deßhalb ſprechen uns auch ihre Gemälde an, ſelbſt wenn wir den Glauben nicht theilen, aus dem ſie hervorgegangen ſind. f Der Paul Veroneſe in Turin zieht beſonders deßhalb ſehr an, weil die wunderbare Behandlung der Farbe durch eine einfache Compoſition gehoben iſt, und man nicht zuerſt eine Art Verwirrung be— meiſtern muß, welche in den großeren Gemälden deſſelben Künſtlers durch die Unzahl von Figuren hervorgebracht wird, die er zuſammenzuhäufen pflegt. Ich kann aus dieſem Grunde die Hochzeit von Kanaan, die ſich in Paris befindet, nicht ſehr wohl leiden; hier aber in Turin konnten wir uns gar nicht von unſerem Paul trennen, und kehrten zum — 223 — großen Aerger unſeres Führers, der uns die lang— weilige piemonteſiſche Malerſchule expliciren wollte, immer wieder dahin zurück. Wir haben unſere Karten genommen, um mit dem Kurier über den Col di Tenda nach Nizza zu gehen. Die Straße ſcheint nicht ſehr befahren, wenigſtens machten die Beamten im Bureau ziemlich verwunderte Geſichter, als wir ihnen unſere Ab— ſichten zu erkennen gaben. Nizza den 11. December. Wir haben nun vollſtändige Aufklärung über die Verwunderung, welche die Poſtbeamten in Turin zeigten, als wir uns über den Col di Tenda hierher einſchreiben ließen. Wenn Du je einmal in deinem Leben zur Winterszeit nach Nizza gehen wollteſt, ſo wähle lieber jeden anderen Weg, als den, welchen wir zu unſerem Unglücke einſchlugen. Man hat die Gewohnheit, Schwindſüchtige nach Nizza zu ſchicken, und ich rathe unſeren deutſchen Aerzten, — 224 — künftig ihre Patienten über den Col di Tenda im December gehen zu laſſen. Sie können ſicher ſein, daß ſie nicht länger mehr von ihnen incommodirt werden. Ich brauche Dir meine Verdienſte um Alpenreiſen nicht weiter auseinander zu ſetzen, Du wirſt mir aber glauben, wenn ich verſichere, daß die Erſteigung des ewigen Schneehorns von dem Aar— gletſcher aus ein wahrer Spaziergang gegen dieſe Poſtroute des Königreichs Sardinien iſt. Wir haben alle mogliche Mittel des Fortkommens auf dieſem Wege erſchöpft: Wagen, Schlitten, Reitpferde und unſere eigenen Füße, und wundern uns nur, daß man nicht unterwegs irgend einen See ausgegraben hat, um uns auch das Vergnügen der Schifffahrt zu verſchaffen. Ein ganz vortrefflicher Wagen mit einem reich galonirten Conducteure nimmt uns in Turin auf, und wir huſchen mit ziemlicher Geſchwindigkeit über die ſchneebedeckte Ebene nach den ſüdlichen Bergen hin. Abends um 10 oder 11 Uhr langen wir in Cuneo, einer ziemlich großen Stadt an, wo uns unſer Conducteur in das erſte Hotel führt, das Einzige, wie er verſichert, welches zu jo ſpäter Nacht- zeit noch offen ſtehe. Wir treten ein, und finden — — vor einem erftorbenen Kaminfeuer einen langen Menſchen mit kahlgeſchorenem Kopfe, der bei uns ſerer Annäherung erwacht, und mit höoͤchſt mürriſcher Miene unſere geringe Zahl betrachtet. Der Con— ducteur ſucht ihn etwas zu erheitern, indem er ihm eröffnet, die Kälte ſeie ſehr bedeutend, und wir verlangten eine gute Flaſche Wein, um uns gehörig erwärmen zu können. Endlich verſteht ſich unſer Kellner dazu, auch Nachteſſen herbeizuſchaffen. Um uns aber keiner allzugroßen Verführung auszuſetzen, ſchließt er vor dem Hinausgehen die filbernen Löffel, welche auf dem gedeckten Tiſche liegen, in einen Wandſchrank, deſſen Schlüſſel er zu ſich ſteckt. Dies war nun freilich eine unnöthige Vorſicht, da wir das Silbergeſchier einer ganzen Haushaltung bei uns führten, um es ſpäter durch die franzö— ſiſche Douane zu ſchmuggeln; allein Fürſicht iſt zu allen Dingen nutz und in Cuneo ſcheinen andere Sitten zu herrſchen, als in der übrigen civilifirten Welt. Unſer Conducteur ſcheint ſich hier häuslich nie— derlaſſen zu wollen. Auf unſer Befragen erklärt er uns, daß hier der Wagen gewechſelt werde, und wir am frühen Morgen nach Limone gingen, wäh— Vogt's Briefe I, 15 — 20 — rend er nach Turin erſt ſpäter zurückkehre und deß— halb ausſchlafen könne. Nach langem Befragen er— zählt uns der Kellner, der Wagen nach Limone gehe um 4 Uhr ab, und es verlohne deshalb der Mühe nicht, uns vorher in das Bette zu legen, um ſo mehr, da keines bereitet ſei, und er den Wirth um einer ſolchen Kleinigkeit willen nicht wecken dürfe. Der Conducteur hat die Güte, uns bis nach Mitternacht bei einem Glühweine, den wir an dem Kamine bereiten, Geſellſchaft zu leiſten, und wir ſuchen dann auf einigen Stühlen uns ſo gut einzu— richten, als es eben gehen will, um den Morgen zu erwarten. Der Kellner ſchnarcht in der Gaſtſtube unter einigen Pferdedecken. Am Morgen um 4 Uhr ſuche ich ihn zu wecken, um Kaffee, das Lebens— princip des Morgens, zu erhalten. Sobald ich ihm indeß unſeren Wunſch kund gethan, dreht er ſich mit verachtender Miene auf das andere Ohr, während er mit großer Seelenruhe einige unverſtändliche Worte in den Bart brummt. Ein erneuter Angriff auf ſeine Ruhe hat nur das Reſultat, daß er mir ganz kurz erklärt, er fürchte ſich vor mir durchaus nicht, wenn ich ihn auch noch ſo grimmig anſähe, Gaſthäuſer ſeien nicht da, um Kaffee zu ſchenken, — RER — und wenn ich ſolchen wolle, jo möge ich in das gegenüberſtehende Kaffeehaus gehen, das wahrſchein— lich bald geöffnet werde. Es dauert indeß noch zwei peinliche Stunden, bis dieſer Zufluchtsort ſich öffnet, und unſer Conducteur läßt uns auch dort noch eine volle Stunde Zeit, um mit aller Behag— lichkeit den trüben Mocca in Geſellſchaft einiger Fuhrleute zu ſchlürfen, die ſich von der Kälte, dem vielen Schnee, der erſchwerten Communication unterhalten, und uns nebenbei zu unſerem großen Troſte verſichern, daß man jetzt durchaus nicht den Col di Tenda paſſiren könne. Nach langem Harren wird von 3 Maulthieren ein Kaſten vor das Kaffee— haus geſchleift, welcher etwa einem jener Menage— riekäfige gleicht, in denen man wilde Thiere von einem Orte zum anderen transportirt. Das ganze Ding hat etwa 4 Fuß Höhe auf 10 Fuß Länge, und ſteht auf 2 Schlittenläufen, die ſo engſpurig ſind, daß es jeden Augenblick droht, überzukippen. Vorn iſt eine Art Coupé für den Fuhrmann, hinten ein mit Stroh ausgefüllter Raum, an deſſen Seite ſich zwei ſchmale Holzbänke hinziehen. Unſer Con— ducteur ladet uns ſehr höflich ein, dieſen Raum als den unſrigen anzuſehen. Es iſt unmöglich ſich — 228 — anders in dieſem Raume zu arrangiren als kreuz— weiſe, eine Lagerung, welche auf die Länge höchſt unbequem und ermüdend wird. Von Ausſicht iſt keine Rede, denn in dem ganzen Kaſten befindet ſich auch nicht eine Lucke, durch die man hinaus— blicken könnte. Nach einigen qualvollen Stunden langen wir am Fuße des Gebirges in Limone an, einem kleinen Oertchen, in dem ein äußerſt lebendiges Treiben uns empfängt. Die Straßen ſind vollgepfropft mit Schlitten, Maulthieren, Douaniers und ſchimpfenden Maulthiertreibern, deren Gezänke mit dem ſteten Geklingel der Maulthiere einen unerträglichen Spee— takel macht. Limone bildet nämlich die Grenze von Piemont gegen die Grafſchaft Nizza, welche in ihrer ganzen Ausdehnung als Freihafen betrachtet wird, und deshalb durch eine ſtrenge Zolllinie von dem übrigen Königreiche geſchieden iſt. Wir treten zum erſten Male in eine ächt italiäniſche Oſteria, wo Küche, Wohnzimmer, Gaſtzimmer und Hühnerſtall in einem und demſelben Raume vereinigt find. Einem der unglücklichen Vögel wird in unſerer Gegenwart der Hals abgeſchnitten und in einer Viertelſtunde iſt er gerupft, ausgenommen und am — 229 — Spieße gebraten. Der Conducteur macht uns be— merklich, daß es in jetziger Jahreszeit unmöglich ſei, den Paß anders, als auf Maulthieren zu über— ſchreiten, und es bedürfe deshalb einiger Zeit, bis Reitpferde und Laſtthiere bereit ſeien. Nach einigen Augenblicken erſcheint er in ganz verändertem Ko— ſtüme, einer dicken Wolljacke und langen Gamaſchen, die ihm bis an die Hälfte der Schenkel hinan⸗ reichen. Unſer Zug ſetzt ſich bei dem herrlichſten Wetter in Bewegung. Voran einige Laſtthiere, mit un⸗ ſeren Koffern bepackt, jedes von einem Treiber be- gleitet, der mit einem langen, ſpitzigen Stocke be= waffnet iſt und in abgemeſſenen Zwiſchenräumen mit dem Stachel den Hintertheil ſeines Thieres be— arbeitet; dann der Conducteur auf einem gewaltig hochbeinigen Maulthier, über deſſen Hals er die Füße gekreuzt hat, um mit den Abſätzen deſto be— quemer links und rechts hin es lenken zu können; endlich unſere Reitpferde, die zur Auszeichnung mit doppelten Schellenhalsbändern verſehen ſind. Unſere Glieder waren von dem Schlitten noch ſo ſteif, daß wir es vorzogen, einen Theil des Weges zu Fuß zu machen, ehe wir unſere Sättel erkletterten. — 230 — Der Schnee iſt mehre Fuß hoch und dergeſtalt in den Thälern zuſammengeweht, daß der Berg einen faſt gleichmäßigen Abhang darbietet. Der Weg iſt ſo ſteil, daß wir nur mit Mühe mit den Maul— thieren gleichen Schritt halten können und nach kurzem Zufußegehen uns ebenfalls entſchließen, die Sättel zu beſteigen. Unter beſtändigem Schreien: Oh! la grise! En avant la grise! geht es den Berg hinauf. Alle Maulthiere ohne Unterſchied beſitzen nämlich dieſen Collectivnamen, der bei jedem Stiche in ihre mageren Lenden von dem Treiber mit ganz eigenthümlicher Betonung ausgeſtoßen wird. Ueberall begegnen wir kleinen Schlitten, die von einem ein— zigen Manne gelenkt, mit der Schnelle eines Pfeiles über die Schneegehänge hinabſchießen, und mit Waaren beladen ſind, welche aus der Grafſchaft Nizza eingeführt werden. Der Verkehr über den Paß herüber iſt namentlich im Winter äußerſt leb— haft. Die Waaren werden auf Maulthieren bis auf die Höhe des Paſſes gebracht, dort auf kleine Schlit— ten geladen, und dann ohne viele Mühe nach Limone heruntergeleitet. Der Führer des Schlittchens ſitzt vornen, und lenkt mit einem langen Stocke und den Füßen, welche er in den Schnee ſtemmt, ſein Fahr⸗ — 231 — zeug. Ganz in ähnlicher Weiſe bringen auch die Schweizer im Winter das Holz hinab in das Thal, und Du haft gewiß ſchon ein kleines Bildchen ge— ſehen, wenn ich nicht irre von Lory, welches einen ſolchen Holzfäller auf ſeinem Schlitten darſtellt. Auf der Höhe des Paſſes bietet ſich eine über— raſchende Ausſicht nach allen Seiten hin dar. Zu den Füßen breitet ſich die piemonteſiſche Ebene, be— kränzt im Hintergrunde von der Kette des Monte Roſa, deſſen ſchneebedeckte Gipfel ſcharf gegen den blauen Himmel abſtechen. Nach Süden hin über— blickt man die ſtets abnehmenden Hügel der Vor— alpen, die eine wunderſame Farbengradation wahr— nehmen laſſen, da der Schnee mehr und mehr ver— ſchwindet, und das Grün der Wieſen und Wälder nach und nach hervortritt. Man ſoll das Meer von hier— aus erblicken können; uns iſt es verdeckt durch einen leichten grauen Nebel, welcher ſich an dem fernen Horizonte hinzieht. Wir ſind gezwungen, hier unſere Reitpferde zu verlaſſen, und den Weg nach Tenda, das etwa 2 Stunden entfernt ſein ſoll, zu Fuße anzutreten. Der Schnee auf dem Südabhange des Berges iſt ungleich mächtiger angehäuft, als auf dem Nord— 1 abhange, eine Eigenthümlichkeit, die wir auch in den Schweizeralpen beobachten können. Aus dieſem Grunde hält ſich auch der Schnee an den ſüdlichen Abhängen der Alpen weit länger, und die Gletſcher gehen meiſtens weit tiefer herab, als auf der Nord— ſeite. Offenbar beruht dieſe Erſcheinung darauf, daß hauptſächlich die über das Mittelmeer ftreichen- den Südwinde mit Waſſerdünſten beladen ſind, und dieſe an den kalten Spitzen der Alpen da zuerſt abſetzen, wo ſie unmittelbar auftreffen. So wird denn die größte Maſſe wäſſriger Niederſchläge in Geſtalt von Schnee und Eis an den ſüdlichen Ge— hängen der Bergketten abgelagert, und es bedarf einer weit längeren Einwirkung der Sonne, um dieſe mächtigen Anhäufungen während des Sommers zu ſchmelzen. Gerade an der ſüdlichſten Kette der Alpen, welcher der Col di Tenda als Uebergangs— punkt dient, iſt der Unterſchied zwiſchen den beiden Abhängen am grellſten und auffallendſten. Nicht zwei, ſondern nahezu an vier Stunden haben wir gebraucht, um dieſes Tenda zu erreichen, wo wir mit ſinkender Sonne matt und müde, aus⸗ gehungert und ausgefroren anlangten. Du kannſt Dir denken, wie wir durchnäßt waren. Wir wünſchten⸗ — 233 — unſere Fußbekleidung wechſeln zu können, allein erſt nach einer Stunde langte endlich unſer Gepäcke an, und nach einiger Zeit ein erträglicher Wagen, mit dem wir am Morgen früh in Nizza anlangen ſollen. Der Conducteur hat ſich auf's Neue metamorphoſirt und ſteckt jetzt in einer blauen Uniform mit gold— geſticktem Kragen und Aufſchlägen, die ihm ein ſo verändertes Anſehen gibt, daß wir ihn kaum wieder erkennen, als er an unſerem Mittagstiſche Platz nimmt. Was in der Nacht geſchah, wüßten wir wohl ſchwerlich zu ſagen, da wir müde genug waren, um uns von der Auſſenwelt abzuſchließen, und uns dem Schlafe zu überlaſſen. Ich weiß nur ſo viel, daß wir die ganze Nacht hindurch ohne Laternen fuhren, auf der letzten Station aber, wo es ſchon heller Tag war, zwei ungeheure Laternen gebracht wurden, mit welchen wir hier triumphirend unſeren Einzug hielten. — 234 — Nizza den 15. December. Es iſt ein alter Grundſatz, daß der Menſch zwar arbeiten muß, um zu leben, daß er aber auch vor allen Dingen erſt leben muß, um arbeiten zu können. Zur Naturforſchung aber namentlich, und zwar in dem Sinne, wie wir ſie vorhaben, gehört als weſentliches Bedürfniß ein ruhiger Aufenthalts— ort, wo man mit Muſe ſeinen Beobachtungen nach— hängen und ſich heimiſch fühlen kann. Ich habe es bis jetzt noch nicht dazu bringen können, in einem Gaſthauſe zu arbeiten, und fürchte ſehr, daß ich es auch in meinen ſpäteren Jahren nicht lernen werde. Wir haben die verfloſſenen Tage mit Hülfe einiger Eingebornen, unter welchen beſonders ein gefälliger Abbé uns die größten Dienſte geleiſtet hat, eine zweckmäßig eingerichtete Wohnung geſucht, und glauben endlich gefunden zu haben, was uns Noth thut. Die leidigen Engländer, denen man nirgends entfliehen kann, haben in Nizza Alles verdorben; denn wenn ſie auch ihren Sinn für Comfort hierher verpflanzten, ſo haben ſie auf der anderen Seite die ganze Familienlangweile mit— gebracht, welche ſie aller Orten mit ſich herum— ſchleppen. Ein Engländer ohne Frau und Kinder, — 285 — ohne Bedienten und Köchin iſt im Grunde ein völlig undenkbares Weſen. Der Geiſt vermag einen ſolchen Begriff nicht zu faſſen. So giebt es denn in dem ganzen neuen Stadtviertel von Nizza, das ſich weit— hin längs des Strandes erſtreckt, nur Familien- wohnungen, welche für die ganze Saiſon vermiethet werden, und freilich für Leute, die mit einer ganzen Haushaltung kommen, in jeder Beziehung recht bequem eingerichtet ſind. Allein damit iſt denn auch die Geſchichte am Ende. Lohnbediente, Stiefel= wichſer und ähnliche Subjecte, die zu den Bedürf⸗ niſſen der Civiliſation gehören, ſind hier vollkommen unbekannt. Von monatweiſem Vermiethen weiß man auch nichts, und Bedienung im Hauſe, wie in anderen Städten, iſt durchaus unerhört. Im Inneren der Stadt freilich ſind die Wohnungen beiſpiellos wohlfeil und vielleicht auch in dieſer Weiſe einge- richtet zu finden. Es iſt aber auch keinem vernünf— tigen Menſchen zuzumuthen, in dieſen engen Straßen zu wohnen, in welche kaum ein Strahl der Sonne dringt. Endlich haben wir mit Hülfe unſeres Abbé's eine Wohnung gefunden, die unſerem Zwecke ange- meſſen erſcheint, und von welcher aus ich Dir dieſe Zeilen zukommen laſſe. — 236 — Das Haus, welches wir bewohnen, liegt un— mittelbar an dem Meere und lehnt ſich mit ſeiner Rückwand an den ſteilen Felſen des Schloſſes, durch welchen die Stadt gleichſam in zwei Theile getheilt iſt. Die Sonne begrüßt uns des Morgens mit ihren erſten Strahlen, und ſendet uns beim Ver— ſinken in das Meer die letzten zu. Nach Weſten hin dehnt ſich die weite halbkreisförmige Bucht von Nizza aus, die allmälig in das Vorgebirge von Antibes übergeht, deſſen Leuchtthürme unmittelbar aus dem Meere aufzuſteigen ſcheinen, ſo weit ſtreckt ſich dieſe Zunge nach Süden vor. Der Felſen des Schloſſes von Nizza ſelbſt bildet einen bedeutenden Vorſprung, ſo daß wir die ganze Bucht und einen großen Theil der Stadt von unſerem Fenſter aus erblicken können. Von den Häuſern an ſchleift ſich das ſandige Ufer allmählig unter die Oberfläche des Meeres hin ab, und bis in mehre Stunden Entfernung hin koͤnnen wir dieſe Zone grauen Sandes verfolgen, welche nur durch die ſchmale Schaumlinie der anprallenden Wogen von der Waſſerfläche ſelbſt geſchieden erſcheint. Die ent— fernteren Häuſer zeigen großentheils nur ihre oberen Stockwerke. Ihr Fuß iſt verdeckt von dem — 237 — gelblichen Grün der Orangegärten, welche in einem ſchmalen Gürtel längs des Ufers ſich hinziehen. Die Orangebäume hängen voll von reifen Früchten, deren hochgelbe Farbe mit dem ſaftigen Grün der Blätter in einiger Entfernung ſich zu einer ganz eigenthümlichen grünen Tinte verbindet, die einiger— maßen der Färbung unſerer Wälder im Beginne des Herbſtes gleicht, allein weit lebensfriſcher und geſättigter ausſieht. Aus dieſer Uferzone erhebt ſich eine leicht ge— wellte Hügelreihe, deren ſanfte Teraſſen von einem dunkeln trüben Grün bedeckt ſind, das wir ebenfalls in unſeren Gegenden vergebens ſuchen würden. Es iſt die melancholiſche Färbung der Olivenwälder, die ein ziemlich häßliches Element der Landſchaft bilden würde, wenn nicht aller Orten glänzend weiße Land— häuſer oder hochgelb gefärbte nackte Kalkfelſen aus der dunkeln Umgebung hervorblickten. Dieſe Zone der Olivenwälder, die bis zu einer ziemlichen Höhe hinangehen, verdeckt die weiteren Vorberge der Alpen, deren höchſte Spitzen nur mit ihren weißen Schnee— kappen über das dunkle Grün hervorragen. Die Formen dieſer Hochgebirge erſcheinen mir bei weitem nicht jo wild, nicht jo ausgezackt, wie die Geſtalten — 238 — unſerer ſchweizeriſchen Alpen. Die Gehänge ſind einförmiger, die Gipfel mehr kegelförmig oder zucker— hutartig. Dieſer ſchon ſo reichen Gegend verleiht nun die ewig bewegte Fläche des Meeres einen neuen Reiz. Eine Landſchaft ohne Waſſer iſt, wie Brillat-Savarin ſagt, ein Deſſert ohne Käſe. Aber es gibt auch einen Unterſchied zwiſchen Waſſer und Waſſer; — und dieſelbe Landſchaft an dem Ufer eines See's oder dem Ufer des Meeres gelegen würde einen ganz ungemein verſchiedenen Anblick geben. Ich weiß noch nicht, wem ich den Preis zuerkennen ſoll, ob dem Mittelmeere oder dem Oceane, da beide ſo ſehr von einander abweichen, daß es kaum möglich ſein dürfte, hierüber ein entſcheidendes Urtheil zu fällen. Die Farbe ſchon iſt eine durchaus verſchiedene. Hier ein tiefes Blau, welches faſt mit demjenigen des Himmels an Reinheit wetteifern könnte, dort eine mehr grünliche Tinte, die beſonders bei der Bewegung ſtärker hervortritt. In dem Mittelmeere meiſtens völlige Ruhe, kaum merkliches Anſchlagen der Wogen und gar keine Veränderung in der Begrenzung der Strandlinie; an dem Oceane da— gegen ein raſtloſes Drängen und Treiben, das von — 239 — Minute zu Minute die Ufer zu verändern, ihre Ges ſtalt unkenntlich zu machen ſucht. Man könnte faſt ſagen, es ſei der Unterſchied zwiſchen der Claſ— ſteität und der Romantik ſogar in dieſen beiden Meeren ausgeſprochen, welche die weſtlichen und ſüdlichen Ufer unſeres Continentes umſpülen. Hinſichtlich der Bedienung iſt endlich auch Rath geſchafft worden. Unſer Abbe, der bei den Unter— handlungen uns mit dem provencaliſchen Dialekte der Nizzaner weſentlich unterſtützt, hat neben un— ſerem Hauſe einen alten Schuhflicker aufgetrieben, welcher bereit iſt, nebſt ſeiner ganzen Familie, d. h. Frau und Tochter für ein Paar Franken monatlich uns zu Gebote zu ſtehen. Das Ausſehen des Paares iſt ſo eigenthümlich, daß wir Beide bei dem erſten Anblicke unwillkürlich in den Ausruf: Philemon und Baucis! ausbrechen, und da die Namen, welche fie führen, für unſere Mundwerkzeuge ganz unaus— ſprechlich ſind, ſo haben wir beſchloſſen, ihnen auch fortan diefe Benennungen zu belaſſen. Philemon iſt ein kleines Gewächs mit ziemlich gekrümmtem Untergeſtell, dem man ohne Weiteres 60 Jahre geben würde, ſo tief ſind die Furchen ſeines grau in grau gemalten Antlitzes. Ich glaubte — 240 — anfangs, es ſei dies ſeine natürliche Farbe und recht— fertigte in Gedanken die Düſſeldorfer, welche in ſolch bläulichem Grau die Tiefe der Romantik ſuchen; allein bei genauerer Betrachtung fand ich, daß hier nur ein fremdartiger Ueberzug ſei, den Philemon wahrſcheinlich nur alle Charfreitage von der Ober— fläche feiner Haut entfernt. Du kannſt Dir denken in welchem entſprechenden Zuſtande das übrige Koſtüm ſich befindet. Baucis übertrifft, begreiflicher Weiſe, an Eleganz ihren Gemahl, dem fie auch an Körper: größe weit überlegen iſt. Offenbar iſt fie die Re— gentin im Hauſe, und Philemon einer jener glück— lichen Ehemänner, welchen die Frau die Sorge für die Herrſchaft abnimmt. Das dritte Glied der Familie, und nicht ein unweſentliches offenbar, iſt ein kleines Ding von etwa zehn Jahren, das indeß in ſeinen hellen Augen mehr Verſtand zeigt, als beide Eltern zuſammengenommen. Sie iſt auch die Einzige, welche franzöſiſch ſpricht, während Phile— mon zwar behauptet, deſſen mächtig zu ſein, aber Alles falſch verſteht, und Baucis vollkommen unver= ſtändlich iſt, ſo daß wir nur durch den Kanal der Kleinen ihr unſere Wünſche zu erkennen geben können. Baucis hatte ſich mit einem wahren ba= — 1 — byloniſchen Thurmbau von Hauben und falſchen Locken ausſtaffirt, welche ihr offenbar von einer früheren Gebieterin aus dem Beginne unſeres Jahrhunderts zurückgelaſſen worden ſind. Auch ihre Knire, mit denen ſte außerordentlich freigebig iſt, ſcheinen aus jener Zeit her zu ſtammen. Das Paar nebſt ſeinem Sprößlinge iſt ſeit geſtern ſchon in Activität, und heute Morgen hat uns Philemon mit einem Beweiſe feiner Reinlichkeitsliebe überraſcht, der uns wirklich bis zu Thränen rührte. Der Tiſch, auf welchem er das Frühſtück aufſtellen wollte, war nicht ganz ſauber. Philemon ſpukte kurzer Hand durch die Zähne auf die Platte, rieb mit der Ser— viette den Tiſch ab, und deckte dann das Tuch ſo darüber, daß die rein gebliebene Seite uns als Tiſchtuch dienen ſollte. Nur mit großer Mühe konnten wir ihm begreiflich machen, daß er eine ſolche Serviette uns nicht über den Tiſch breiten dürfe, ſondern ſie auch fernerhin zum Abputzen be— nutzen möge. Das weiße Tuch ſchien ihn zu reuen, und als er nachher unſeren Arbeitstiſch ebenfalls reinigen ſollte, benetzte er ihn zwar auf die oben erwähnte Weiſe, bediente ſich aber dann ſeines Rock— zipfels zum Abtrocknen. Vogt's Briefe !. 16 — 242 — Doch ich ſebe, daß ich Dir noch keine Beſchrel⸗ bung unſerer Wohnung gegeben habe. Die Haus frau hat es unter ihrer Würde gehalten, ſelbſt mit uns zu unterhandeln und uns eine alte Bonne auf den Hals geſchickt, eine Pariſerin, die uns mit einer entſetzlichen Zungengeläufigkeit die Vortheile der Wohnung auseinanderſetzte, und uns nicht eher zum Selbſtbetrachten kommen ließ, als bis der Abbe durch einige ſpitzfindige Bemerkungen ſie in einen Zank verwickelt hatte, der ſie gänzlich abſorbirte. Unſer Salon mit Kamin und Fußteppich iſt geräumig genug, einen langen Tiſch aufzupflanzen, der das volle Südlicht von einem großen Fenſter erhält, welches auf das weite Meer hinaus ſchaut. Daneben iſt Herweghs Schlafzimmer, deſſen Fenſter ebenfalls nach dem Meere liegt. Ein kleiner Speiſeſaal gegenüber iſt zu meinem Schlafzimmer metamor— phofirt worden, und eine ziemlich große Küche da— neben dient wie in St. Malo als Vorrathskammer und Bewahrungslocal. Es iſt jo warm, daß wir bis jetzt noch kein Bedürfniß gefühlt haben, Feuer in unſerem Kamin anzumachen, obgleich nach der Verſicherung des Abbé gerade jetzt eine ſtrenge Kälte eingetreten iſt. — 243 — Ich ſagte Dir ſchon, daß unſer Haus ſich an den vorſpringenden Felſen des Schloſſes anlehnt, welcher die Stadt etwa in zwei gleiche Theile theilt, und in der Art in das Meer hineinragt, daß nur eine Fahrſtraße, „les Ponchettes“ genannt, welche vor einigen Jahren längs des Ufers geſprengt wurde, beide Theile verbindet. Der Hafen liegt hinter dieſem Felſen des Schloſſes auf der öſtlichen Seite, ringsum von niederen Häuſern umgeben, in welchen alle jene Gewerbe getrieben werden, die in Beziehung zur Schifffahrt ſtehen. Unſer erſter Ausgang, nachdem wir uns eingewohnt hatten, galt dem Schloſſe, das großentheils nur aus verfallenen Mauern beſteht, aber doch noch eine Beſatzung hat, welche wahrſchein— lich die oben aufgeſtellten Kanonen bewachen muß, damit dieſelben nicht geſtohlen werden. Der Fels ſelbſt bildet oben ein Plateau, welches nach dreien Seiten hin ſteil abfällt, nach dem feſten Lande hin aber eine ſanftere Abdachung hat, an welche ſich haupt— ſächlich die alte Stadt angelehnt hat. Entzückend iſt die Ausſicht, welche man von der Höhe dieſes Plateaus nach allen Seiten hin genießt. Im Oſten taucht der Leuchtthurm von Villa franca über ein zerklüftetes Vorgebirge hervor, welches die Hafen— u — bucht von Nizza von dem Golfe von Villa franca trennt. Im Weſten wird der Horizont von den entfernteren Gipfeln des Eſtérel und der Maures begrenzt, jenen ſüdfranzöſiſchen Bergketten, deren Ausläufer die felſige Küſte von Antibes und Toulon bilden. Zwiſchen dieſen beiden Endpunkten ſpannt ſich in unermeßlichem Vogen der Horizont des Meeres, an welchem beſtändig Dampfſchiffe und Segel in Menge vorübereilen. Zu Füßen liegt die Stadt in weitem Halbkreiſe um den Fuß des Berges herum— gegoſſen; — umgeben von ihren Orangenhainen und den Oelwäldern, welche ſich an den Gehängen der Berge hinaufziehen. Das Bergthal des Var, welcher die Grenze zwiſchen Frankreich und Sardinien bil— det und kaum mehr als eine Stunde von uns entfernt iſt, läßt ſich weit in die Alpenkette hin— ein als eine tiefe Runſe erkennen, die zu beiden Seiten von ſteilen Felswänden eingeſchloſſen iſt. In weiter Ferne glänzen die ſchneebedeckten Zacken der Alpen zwiſchen den meiſt kegelförmigen Gipfeln der Voralpen hervor, unter welchen beſonders der Mont - chauve, eine nackte kahle Pyramide, in das Auge fällt. Und dieſes herrliche Panorama betrachteten wir während eines Decembertages, an — 245 — dem die Sonne ſo warm herabglänzte, daß wir Stunden lang auf dem Raſen liegen konnten, ohne ein anderes Bedürfniß zu fühlen, als dasjenige nach Schatten und Kühle. Unſere trunkenen Augen wandten ſich bald nach den ſcharfen Linien, mit welchen die Gebirge ſich gegen den Himmel abſetzten, bald nach der weichen verſchwimmenden Grenze, wo Meer und Luft in einander überzugehen ſchienen und gar manchmal gedachten wir der Freunde im fernen Norden, die jetzt unter nebeligem Himmel der eiſigen Kälte in geheitzten Zimmern zu trotzen ſuchten. Würden die Pläne, welche wir Beide dort oben ſchmiedeten, Wirklichkeit, wahrlich ich glaube der Winter würde uns nicht oft mehr in unſeren kalten Klimaten überraſchen, ſondern uns jedes Mal im Süden antreffen, wo er ſeine Macht verliert. Wir beneideten jene Unabhängigen, die, gleich den Schwalben, der Sonne nachziehen können, und in ſtetem Kreislaufe zwiſchen Paris, der Schweiz und Italien ihr Leben zubringen können. Die Wege, auf welchen man von dem Schloſſe nach dem Hafen hinabſteigt, ſind meiſtens ſtatt mit Schlehen und Dornſträuchern, mit Hecken von Aloes ä (Agaven) und afrikaniſchen Feigen eingefaßt. An dem unterſten Sockel des Berges erblickten wir einige Bäume, deren ſeltſame Geſtalt ſich unſeren botaniſchen Kenntniſſen nicht fügen wollte. Es waren haus— hohe Stämme, von der Dicke eines Schenkels etwa, gerade aufgeſchoſſen wie Tannen, die oben eine Menge! horizontaler Aeſte trugen, welche leicht förmig gebogen ſchienen. Beim Nähertreten er— kannten wir zu unſerem Erſtaunen in dieſen ver— meintlichen Bäumen Blüthenſtengel der Agaven, die hier im Freien zu ſolcher Höhe herangeſchoſſen waren. Auch einige Dattelpalmen von ziemlich be— deutender Größe ragen hier und da über die Orangen— bäume der Gärten hervor, und unſer Abbe erzählt uns, daß in der Nähe von Monaco, wenige Stunden von hier, ein Dorf ſich befinde, welches ganz von Palmengärten umgeben ſei, und das Privilegium habe, am Palmſonntage die Blätter nach Rom zur Ausſchmückung der Kirchen zu liefern. — Ich weiß noch nicht, ob wir morgen ſchon unſere beabſichtigten Beſchäftigungen werden beginnen können. Der Ein⸗ druck, welchen dieſe herrliche Natur auf mich namentlich gemacht hat, der ſie zum erſten Mal ſieht, iſt ſo gewaltig, daß ich mir einige Tage gönnen — al muß, mich daran zu gewöhnen. Ich wüßte nicht, wo die zum Studium nöthige Ruhe hernehmen! Jeder Sonnenſtrahl würde mich vom Tiſche hinweg in das Freie locken, und mir die Arbeit als eine Tor— tur erſcheinen laſſen. Dazu aber bin ich nicht hier— hergekommen. Morgen müſſen wir nach Villa franca, deſſen Bucht der weſentlichſte Schauplatz unſerer Thätigkeit ſein wird, wenn ich anders den Berichten trauen darf, die mir von den Freunden in Paris und in der Schweiz mitgetheilt worden ſind. In der Bucht von Nizza ſelbſt iſt gar nichts für den Naturforſcher zu holen. Ich habe bei unſerem Hin- und Herlaufen an dem Strande auch nicht ein Stückchen einer Muſchel und überhaupt keine Spur eines lebenden Weſens antreffen konnen. Der Kies, welcher längs des Strandes angehäuft iſt, iſt aus groben Geroͤllen zuſammengeſetzt, welche auch für Röhrenbewohner kein paſſender Aufenhalt ſcheinen. — 248 — Nizza, den 20. December. Wenn Du die Karte der Küſte von Nizza etwas genauer betrachteſt, ſo findeſt Du unmittelbar auf der öſtlichen Seite des Hafens eine Landſpitze, hinter welcher ein tief eingeſchnittener ſchmaler Meeresbuſen, ein wahrer Fiord, in das Land hineinſchneidet. Das iſt die Bucht von Villa franca, der wir heute den erſten Beſuch abzuſtatten gedenken. Man geht zu Lande ſchneller nach Villa franca, als man zur See dahin gelangt, da man den ſchmalen Felsrücken, welcher uns von dem Städtchen ſcheidet, eher übers ſchritten, als umſchifft hat. Der Weg zieht ſich anfangs zwiſchen den Mauern der Orangegärten hin, deren Früchte nur hier und da wie die goldenen Aepfel der Heſperiden über die Einfriedigung her— überglänzen. Dann geht es auf ziemlich ſteilem und holperigem Pfade unter den Olivenbäumen durch, an deren Anblick ich mich immer noch nicht recht ge— wöhnen mag. Hier in Nizza ſind es meiſt hohe Stämme, welche etwa die Größe unſerer gewöhnlichen Aepfelbäume erreichen mögen. Allein ein Apfelbaum iſt ſchon, wie Du weißt, einer von den unſchönen Bäumen, und ein Olivenbaum läßt ſich obenein gar — 249 — nicht mit ihm vergleichen. Die Stämme find meiſt krumm, buckelig, geſpalten und zerriſſen, wie wenn ſie vom Blitze zerſchlagen wären, ſo daß höchſt bi— zarre Formen hervorgehen, die zwar auf einem Spaziergange ſtets beſchäftigen und intereſſiren, allein doch gerade nicht das wohlthuende Gefühl der Schön— heit erregen. Auf dieſen zuweilen ganz geſpenſtiſch ausſehenden Stämmen ſtehen nun die dünnen, ſchwanken Zweige, die nach allen Richtungen hin in die Luft hineinfahren, ohne darauf bedacht zu ſein, daß ſie doch eigentlich eine Krone bilden ſollten. Das Laub iſt in der Nähe geſehen noch weit trau— riger als in der Ferne. Die Oberſeite der Blätter ſchmutziggrün, die Unterſeite vollkommen grau, und die Geſtalt durchaus wie die unſerer gewöhnlichen Weidenblätter. Die wirre Anordnung der Zweige läßt keine Maſſenbildung in der ganzen Krone auf— kommen, und nur durch Vereinigung vieler Bäume auf einer Fläche läßt ſich ein Anſehen gewinnen, welches einigermaßen einem Walde ähnlich iſt, aber durch Monotonie und düſtere Färbung mehr einem Tannenwalde als einem Laubwalde gleicht. So iſt die Olive in der That ein recht unſchönes Element der Landſchaft. Wenn aber die Sonne hell auf — 0 — die verwitterten Kalkfelſen ſcheint, und das Auge überall geblendet ſich abwendet, dann ruht es doch mit Wohlgefallen auf dieſen dunkelgrünen Stellen, die ihm einige Labung gewähren können. Das Geſtein, welches die Felſen des Schloſſes und der übrigen Vorgebirge bildet, die das zackige Ufer zwiſchen Nizza und Monaco zuſammenſetzen, iſt ein heller Kalk, der bald mehr ins Graue, bald mehr ins Gelbe oder Rothe ſpielt, und nur hier und da eine ſehr dünne Decke vegetabiliſcher Erde trägt. Ich würde ihn unbedenklich dem äußeren Anſehen nach für Jurakalk gehalten haben, wenn nicht die Verſteinerungen mit Sicherheit nachwieſen, daß er dem unteren Gliede der Kreideformation an— gehört. Seine Schichten ſtehen meiſt ſenkrecht, und die Schichtenköpfe find fo mannichfaltig verwittert und durch einander geworfen, daß alle dieſe Felſen im Kleinen die bizarrſten Formen annehmen, wäh— rend ihre Geſtalten im Großen ſich mehr leicht ge= ſchwungenen Linien unterordnen. Die Bizarrerie der Formen erreicht, wie Du Dir leicht denken kannſt, an denjenigen Stellen den höchſten Grad, wo das Meer ſeine Wirkung mit derjenigen der Atmoſphäre vereint. Die Ufer, welche von dieſen — 251 — Felſen gebildet werden, ſind überall außerordentlich ſteil, ſo daß nur die durch die aufgerichteten Schich— tenköpfe gebildeten Terraſſen das Landen geſtatten. Allein welch verſchiedenen Anblick gewähren die Felſenufer hinſichtlich der organiſchen Welt, der ſie als Baſis dienen, von denjenigen bei St Malo, deſſen Erinnerung uns noch ſo lebhaft im Gedächt— niſſe ſteht! Man ſieht keine Spur jener üppigen Bedeckung mit Tangen und Seepflanzen aller Art, keine Spur jener Balanen, die ſich bis hoch über den Waſſerſpiegel hinaufziehen und die Grenze be— zeichnen, bis zu welcher die Fluth dringt. Hier ſind die Felſen durchaus nackt und bloß und nur in unmittelbarer Berührung des Waſſerſpiegels zieht ſich ein ſchmaler Streif violettrother Seepflanzen hin, die gleich Flechten an der Oberfläche des Ge— ſteines haften, und durchaus jener wogenden Blätter entbehren, welche die Fucus-Arten von St. Malo in das Waſſer hinausſtrecken. Was tiefer unten iſt, kann das forſchende Auge nicht entdecken, da keine Ebbe die Oberfläche der Geſteine in größere Tiefe hin entblöſt. So viel aber geht ſchon aus dem erſten Anblicke hervor, daß dieſe Felſen bei weitem nicht ſo reich an feſtſitzenden und kriechenden Thieren — 252 — ſein können, als diejenigen von St. Malo, und daß es bei weitem ſchwerer halten muß, ſich dieſelben zu verſchaffen. Man ſoll überhaupt denjenigen, welche ſich an das Meeresufer begeben wollen, ſeien ſie nun Zoologen oder Botaniker, den guten Rath geben, ſich vorher eine geologiſche Karte anzuſchauen, ehe ſie ihren Entſchluß faſſen. Sie können ſicher ſein, daß unter ſonſt gleichen Verhältniſſen der Granit und die kryſtalliniſchen Gebilde bei weitem mehr Ausbeute liefern werden, als der Kalk und die Kreide. Doch kehren wir zu unſerem Spaziergange nach Villa franca zurück. Auf der Höhe des Berges angelangt, überblickt man den ganzen Golf, der ſich wie eine ſchmale Zunge in das Land hineinzieht. Sähe man nicht das Städtchen mit den weißen Mauern ſeiner Häuſer, den kleinen Fenſtern und den halbplatten Dächern, ſähe man nicht die großen Kauffahrteiſchiffe, deren einige ſich in der Bucht ſchaukelen, man würde glauben, einen Schweizerſee vor ſich zu haben, fo ruhig und ſpiegelglatt iſt die blaue Fläche, welche die nackten Felſenufer beſpült. Einen entzückenden Anblick gewährt namentlich das Vorgebirg gegenüber, auf deſſen äußerſter Spitze der — 253 — Leuchtthurm aufgerichtet iſt. Schroff und ſteil an ihrer dem Meere zugewandten Spitze ſenkt ſich dieſe Felszunge allmälig gegen das feſte Land hin, mit welchem ſie durch einen ſchmalen Sattel zu— ſammenhängt, der eine Art Oaſe in der Wüſte bil- det, jo lebhaft grünt er im Schmucke herrlicher Ci— tronenbäume, aus denen hier und da ein Johannis— brodbaum ſeine gefiederten Blätter hebt. Wie glück— lich waren wir als Jungen, wenn uns der Apotheker ein Stückchen ſolcher Schote zum Geſchenk machtel Hier füttert man beſonders die Eſel damit, die ganz vortrefflich dabei gedeihen ſollen. Die liebe Straßenjugend von Villa franca hat ſich ſogleich bei unſerer Ankunft an dem Strande in hellen Haufen verſammelt und langweilt uns bedeutend durch die vielfachen Anerbietungen von Barken, welche uns mit heller Stimme gemacht werden. Anfangs begreifen ſie nicht, warum wir manchmal einen Stein aus dem Waſſer nehmen und denſelben betrachten, dann äffen ſie uns nach und betrachten ſich auch Steine, die ſie mit demſelben Kopfſchütteln, wie wir, wieder in das Waſſer hinein— werfen. Unſere Bemühungen ſind in der That fruchtlos, wir finden auch gar nichts an dieſen glatten — 254 — Kalkgeröllen, und entſchließen uns nach kurzem Suchen, einen Kahn zu nehmen, und nach dem gegenüber— ſtehenden Ufer zu fahren, ſei es auch nur, um dieſem Haufen von Jungen zu entgehen, deren Nachfolge uns außerordentlich läſtig zu werden beginnt. Allein bei der Ueberfahrt entfaltete ſich erſt der wahre Reichthum dieſer Bucht, die den Naturforſchern noch lange ein reiches Erntefeld bleiben wird. Aus der Ferne ſchon erblicken wir Stellen auf der Ober— fläche, welche durch eine leichte bräunlich rothe Fär⸗ bung ſich auszeichnen. Wir rudern eiligſt näher, und glauben eine Art Feld zu erblicken, auf welchem Schwämme in Menge emporgeſproßt ſind. So zeigt ſich aus einiger Entfernung ein Schwarm von Meduſen, die in der Nähe des Ufers an der be— ſonnten Oberfläche auftauchen. Es ſind offenbar Pelagien, die wir auf den erſten Blick aus den Zeichnungen von Milne Edwards und Erdl erkennen. Die glockenförmige Scheibe des Körpers erſcheint aus der Ferne braun, weil ihre glashelle Subſtanz auf der äußeren Oberfläche mit hell braunrothen Warzen beſetzt iſt, in welchen vorzüglich die Neſſel— organe verborgen ſcheinen. Durch die helle Koͤrper— ſcheibe hindurch glänzen die Wülſte, welche zu den re Seiten des Magens in Vierzahl angelagert ſind, und in deren gekräuſelten Faltungen ſich die Eier erzeugen. Es fällt uns ſchon aus dem Boote auf, daß dieſe Keimwulſte, wie wir fie nennen wollen, ſehr verſchiedene Farbennüangen darbieten, welche — alle Abſtufungen zwiſchen geſättigtem Roſenroth und hellem Orangengelb durchlaufen. Die vier Fang— arme, welche gleichſam als Stiele unter der Glocke ſtehen und den Strunk des Schwammes darſtellen, ſind mit ähnlichen braunen Warzen beſetzt, wie die Scheibe, an deren Rande auch außerdem noch Fang— fäden ſitzen, die eine purpurrothe ins Violette ſchim⸗ merde Farbe haben. Nichts iſt ſeltſamer, als das Treiben eines ſolchen Meduſenſchwarmes an der Oberfläche des Waſſers. Man ſieht bald, daß fie nicht nur wills kührlich, ſondern ſogar mit ziemlicher Behendigkeit nach allen Richtungen hin ſchwimmen können, wo— bei Fangfäden und Scheibe gleichmäßig in Bewegung geſetzt werden. Die größere Menge hält ſich faſt ſenkrecht an der Oberfläche, fo daß die Wölbung der Scheibe nach Oben, die Fußſtrünke nach Unten gerichtet ſind. Die Fangfäden ſind dabei meiſtens unendlich verlängert, und ſchlängeln nach allen — 286 — Richtungen in dem Waſſer umher. In dieſer fenk- rechten Stellung nun klappt die Meduſe von Zeit zu Zeit ihre Scheibe zuſammen, und hebt ſich dadurch mit halbem Leibe über die Oberfläche hervor, wo— rauf ſie ſich langſam wieder ſinken läßt, um nach einigen Sekunden auf's Neue wieder hervorzutauchen. So ſpielen Tauſende abwechſelnd auf derſelben Stelle, Scheibe an Scheibe gedrängt, und ſcheinen ſich darin zu gefallen, ſich den Strahlen der Sonne auszuſetzen, denen ſie an der Oberfläche begegnen. Hat die Meduſe des Spieles ſatt, ſo wendet ſie ſich mit einem ploͤtzlichen Rucke, mit einer Art von Purzelbaum nach Unten, ſo daß die Scheibe nach dem Grunde, die Fangarme nach Oben gerichtet ſind, und die Fäden gleich langen Spinnewebfäden ge— rade geſtreckt nachgezogen werden. Mit einigen kräf— tigen Klappſtößen der Scheibe verſchwindet dann das Thier in der Tiefe, aus der es indeſſen bald wieder hervortaucht, um ſich von Neuem ſeinen Genoſſen anzureihen. Die Nachzügler eines ſolchen Schwarmes ſcheinen ſehr wohl den Ort zu kennen, wo ihre Genoſſen ſich befinden, denn von allen Seiten her ſieht man Pelagien in ſchiefer Richtung aus der Tiefe hervoreilen, die ihre Richtungslinie nach dem — 257 — Schwarme hin ſehr wohl einhalten, und deren lang geſtreckte Fangfäden in gerader Linie nachgezogen werden, ein Beweis, daß das Thier ſeinen Strich recht gut zu halten verſteht. Welchen Zweck dieſes Spielen an der Oberfläche, dies abwechſelnde Tauchen und Hervorſchießen haben möge, war uns heute unmöglich zu ergründen. Vielleicht, daß eine genauere Bekanntſchaft mit den Sitten und der Lebensweiſe dieſer ſonderbaren Ge— ſchöpfe uns einigen Aufſchluß darüber geben wird. Sie ſcheinen ziemlich ſtumpf von Sinnen, und jeden Falls nicht geeignet, Wahrnehmungen in die Ferne zu machen. Sie ſtoßen wenigſtens in vollem Zuge recht kräftig an einander, oder an fremde Körper, ohne daß man bemerkte, daß ſie ſolchem Anpralle auszuweichen verſtünden. Zeigte nicht diefes geſellige Beiſammenſein in Schwärmen, daß ſte doch ihres Gleichen einigermaßen erkennen können, ſo würde ich ſie für aller edleren Sinne baar und ledig halten müſſen. Wir haben noch nicht bemerken können daß ſie etwa mit ihren Fangarmen, die übrigens ſo ziemlich unbeweglich erſcheinen, oder mit ihren Fang— fäden nach Nahrung umher angelten. Vielleicht iſt ge- Vogt's Briefe I. 17 DE rade jetzt ihre Fortpflanzungszeit, was eine genauere Unterſuchung der Keimwülſte lehren wird. Aus der verſchiedenen Färbung dieſer Organe mögte ich faſt einen Schluß dieſer Art ziehen, und das truppweiſe Zuſammenſein dürfte ſich vielleicht aus dem Bedürf— niſſe der Fortpflanzung erklären laſſen. Jedenfalls bemerkt man auch bei dieſem abwechſelnden Auf— und Niederwogen keine Spur etwaiger Annäherung, und wenn je einmal einige Individuen zufälliger Weiſe durch ihre Fangfäden mit einander verſtrickt ſind, ſo bemerkt man, daß ſie alsbald ſich durch wiederholtes Klappen und Fortſtoßen von einander zu trennen ſuchen, ſelbſt wenn dies mit Verluſt der Fangfäden geſchehen ſollte. Zu unſerem Erſtaunen erblicken wir auch keine Spur von Weſen anderer Art auf der Oberfläche der See, die wir querüber durchkreuzen, um auf dem Vorgebirge zu landen. Das Waſſer iſt fo ſpiegel⸗ klar, daß wir ſchon in geraumer Entfernung von dem Ufer die Beſchaffenheit des Bodens unterſcheiden können, die ſo ziemlich nach verſchiedenen Localitäten wechſelt. An einigen Stellen tritt der Fels mit grauer Farbe zu Tag, und zeigt von dem Boote aus geſehen eine körnige Beſchaffenheit, die er viels — 259 — leicht einer Art Inkruſtirung verdankt. Hier und da liegen auf dieſem Boden wurſtähnliche Korper von etwas dunklerer Farbe, als der Fels, und zu, weilen, wie es ſcheint, von der Länge eines Fußes, die kaum eine Bewegung gewahren laſſen. Wir hätten ſie überſehen, wenn uns nicht die Schiffer darauf aufmerkſam gemacht und uns geſagt hätten es ſeien Thiere, die uns vielleicht bekannt ſein würden. Der Name läßt uns errathen, daß es Holothurien ſind, welche dort unten ihr Weſen treiben, und wir beſchließen, bei der nächſten Excurſion uns eine rechte Quantität dieſer Beſtien einzuſammeln. Meiſtens iſt indeß der Grund in einer Tiefe von 12 und mehr Fuß (tiefer nach unten unter— ſcheidet man nichts mehr) mit grünen Pflanzen be— deckt, welche ganz das Anſehen eines Raſens von Schilfrohr bieten. Hier und da zeigen ſich unter den langen grünen Blättern, welche dieſe Pflanzen beſitzen, grauere Stellen, die, wie unſere Schiffer verſichern, von Korallen und von Schwämmen her— rühren. Zuweilen auch leuchtet uns ein hellrother Punkt in das Auge, und wenn wir uns nicht ſehr irren, ſo läßt er Verzweigungen entdecken, die ihn wohl als Seeſtern characteriſiren dürften. de Wir rudern langſam mit kaum bemerklichen Schlägen und oft lange das Boot anhaltend über all dieſe Reichthümer hinweg, die wir uns jetzt mit den vorhandenen Hilfsmitteln durchaus nicht ver— ſchaffen können. Wir waren ausgerüſtet, wie in St. Malo, nur mit einigen weitmündigen Fläſchchen, die eingeriebene Glasſtöpfel beſaßen und die dort vollkommen hinreichten, um die kleine Beute, welche wir von den Felſen ablaſen, in Empfang zu nehmen Hier aber reichte, wie wir nun wohl einſahen, dieſe Ausrüſtung bei weitem nicht aus. Wir hatten ver— ſucht, einige Meduſen mit den Händen zu nehmen, und in unſere Flaſchen einzuſtopfen. Es waren uns nur unkenntliche Trümmer an den Fingern hängen geblieben, die noch obenein auf die unleid— lichſte Weiſe neſſelten und ſchmerzten. Wir mußten alſo große Glasgefäße mit weiter Mündung beſitzen, mit welchen wir unſere Pelagien ſchwimmend auf— faſſen konnten, ohne ſie weiter durch Berührung zu verletzen. Wir mußten ferner mancherlei Inſtrumente, Netze und Hacken uns zu verſchaffen ſuchen, mit welchen wir die in der Tiefe geſehenen Gegenſtände an Bord herauf holen konnten. So mußten wir alſo die ganze Technik unſerer Expedition durchaus — 261 — verändern, um ſie dem Charakter der Fauna anzu⸗ paſſen, welche uns hier geboten wurde. Erſt an dem Ufer fanden wir St. Malo wieder. Ein kleines Dörſchen, St. Jean de Beaulieu ge— nannt, liegt auf der öſtlichen Seite der Landzunge, welche der Leuchtthurm von Villa franca trägt, und ein von Citronen- und Orangebäumen beſchatteter Weg führt über den Sattel herüber nach einem Landungsplatze, der Villa franca gerade gegenüber liegt und eine ziemlich ſanfte Neigung beſitzt. Um den Booten das Anlanden zu erleichtern, hat man einen kleinen Damm aus zuſammengetragenen Steinen aufgeworfen, der uns einige Ausbeute liefert Wir finden hier einige Actinien, die ſich in den Ritzen zwiſchen den Steinen feſtgeſogen haben. Auch einige Terebellen, in zuſammengebackenen Röhren ſteckend haben ſich dort angeſiedelt. Eine wunderſchöne Species von Ophiuren mit langen ſtacheligen Armen, die ſchwarz und weiß getüpfelt erſcheinen, treibt ebenfalls auf dieſen Steinen ihr Weſen. Auch auf den Felſen in der Nachbarſchaft zeigt ſich einige wenige Hoffnung geringer Ausbeute. Wir finden dort ein Paar Lachen, die, wie es ſcheint, zuweilen von den ſtürmiſch aufgeregten Wellen ge— — 262 — füllt werden. Um dieſe Lachen herum ſehen wir einige Balanen zerſtreut auf den Kalkfelſen ſitzen, und in ihnen eine nicht geringe Anzahl von Sch necken, die indeß alle nur wenigen Arten angehören. Acti— nien, Miesmuſcheln, Patellen, die ſich in ſo großer Menge an den Felsufern von St. Malo fanden, haben wir vergebens geſucht, und wir ſehen ein, daß wir uns hauptſächlich in unſeren Unterſuchungen an die ſchwimmenden Thiere, welche uns die Bucht, und an diejenigen Geſchöpfe, welche uns der Fiſch— markt darbieten kann, halten müſſen. Unter ſolchen Umſtänden konnte die erſte Excur⸗ fion nur als eine Art von Recognoſeirung betrachtet werden, beſtimmt, uns eine Anſchauung der eigen— thümlichen Verhältniſſe der Localität zu geben. Wir beſchloſſen deßhalb unſere Recognoſcirung noch weiter zu treiben, und ohne beſondere Erwartungen über— ſtiegen wir den niederen Sattel, der uns von St. Jean trennte, um uns auch dort die Beſchaffenheit des Strandes in Augenſchein zu nehmen. Wir langten am Ufer an, und ſtanden entzückt vor einer Gegend, welcher ich keine ähnliche, Hewegh, der weitergereiſte, nur diejenige von Neapel an die Seite zu ſetzen wußte. Mannigfaltige Gebirgsformen — 263 — thürmten ſich bis an die äußerſte Grenze unſeres Geſichtskreiſes über einander, und fielen mit ſteilen Wänden in die See hinein ab. Die wunderbarſten Farben zeigten ſich an dieſer prächtigen Gebirgskette, an deren Abhängen man gleich einem Bande die kühne Straße der Cornide hinziehen ſieht, welche Na— poleon längs des ganzen Ufers von Nizza nach Genua anlegte. In der Entfernung glänzen die weißen Häu— ſermaſſen von Monaco und Ventimiglia. Dieſes ganze herrliche Land ſpiegelt ſich in der See, deren Horizont unermeßlich weit geöffnet erſcheint. Was aber das ganze Bild ſo ſchön in ſich ſelbſt abrundet und ſchließt, iſt das Vorgebirg von St. Hoſpiee ſelbſt, deſſen grüne Hügel ſich zur rechten Seite hinziehen und auf der Spitze von einigen Wohnungen und einem runden Thurme gekrönt find, deſſen Platt- form eine Batterie trägt. Wir lagerten uns im Graſe auf einer Raſenbank, die vielleicht einmal von einem liebenden Pärchen errichtet worden ſein mag, und labten unſere Augen an dem entzückenden Schauspiele, bis die untergehende Sonne uns zum Scheiden zwang. — 264 — Nizza den 21. Dezember. Dem Fiſchmarkte galten begreiflicher Weiſe unſere erſten Beſuche. Wir ſind jetzt förmlich darauf eingebürgert und werden von den Fiſchwei⸗ bern als gute Kunden betrachtet. Wir haben dieſen Ort ganz in unſerer Nähe. Von unſerem Hauſe nämlich, das etwas in der Höhe liegt, zieht ſich eine Reihe niedriger Käufer hin, welche durch ge— gemeinſame platte Dächer gedeckt, einen herrlichen Spaziergang längs dem Ufer hin bilden, der einer⸗ ſeits die Ausſicht auf das Meer, andererſeits auf einen kleinen mit Bäumen beſetzten Platz, den |. g. Corſo bietet. An dem Eingange des Corſo nun beſinden ſich einige gewölbte Bogen unter dieſer Terraſſe, und hier wird täglich der Fiſchmarkt abge⸗ halten. Daß das nicht ohne gewaltiges Geſchrei und ſtetes Gezänke geſchehen kann, iſt offenbar. Fiſchweiber ändern ja ihre Natur nicht, mögen ſie nun in Paris an dem Ufer der Seine, oder in Nizza an dem Strande des Meeres ſitzen. Als wir das erſte Mal in guten Röcken mit kleinen Fläſch⸗ chen in der Taſche die Reihen durchſchritten und lange in den Körben wühlten, in welchen die kleinen — 265 — Dinge, Fiſche, Krebſe, Ophiuren und Haarſterne zuſammengeworfen und per Pfund verkauft werden, wurden wir freilich mit ungnädigen Geſichtern em⸗ pfangen; allein nach Spendung einiger Sous für ein Paar einzelne Thiere, die im Pfund nicht ſo viel gekoſtet hätten, änderten ſich alle Geſichter, und ſobald wir nur erſchienen, kamen uns die Verkäufe— rinnen mit den freundlichſten Geſichtern entgegen, um uns dieſes oder jenes anzubieten. Wir erſuchten unſere Gönnerinnen höflichſt, uns melden zu wollen, wenn etwas Selteneres gefangen werden ſollte und verſprachen ein Trinkgeld für jeden größeren Fiſch, den man uns zeigen würde, ſelbſt für den Fall, daß wir denſelben nicht kaufen ſollten. Dieſe Zu⸗ ſicherung gewann uns alle Herzen, und wenig fehlte, daß nicht Eine von ihnen, die ſich beſonders durch Zungengeläufigkeit hervorthat, mir an den Hals ſprang, um mich zu umarmen. „O, Sie Blume der Geſundheit, rief ſie mit großer Emphaſe aus, welch unerwartetes Glück iſt doch unſerer Stadt wieder⸗ fahren, da Sie geruht, ſte zum Aufenthalte zu wählen, während ſonſt nur ſchwindſüchtige und bleiche Geſichter den Winter hier zubringen“! Ich kann die Rede nicht mehr auswendig, die ſie mir „ aus dem Stegreife hielt; allein ſo viel weiß ich, daß mich alle Fiſcher ſpäter unter dem ſchmeichel⸗ haften Epitheton kannten, welches das alte Weib mir beigelegt hatte, und daß mein ehrlicher Familien— name durch das weit Poetiſchere „la fleur de la santé“ vollkommen erſetzt war. Du magſt wohl nirgend in der Welt eine ſo reiche Mannichfaltigkeit von Formen der Fiſche ſehen können, als gerade hier in Nizza, wo ſich Süden und Norden gleichſam die Hand reichen, und beide in ihren weſentlichſten Geſtalten vertreten ſind. In Zeit von acht Tagen lernſt Du hier mehre Fiſche kennen, und zwar in dem Gewande des Lebens kennen, als auf dem ganzen europäiſchen Continente, wenn Du auch denſelben von Nord nach Süd durch— kreuzen wollteſt. Man ſollte glauben, daß es von geringem Intereſſe iſt, Fiſche lebendig zu beobachten, da durch die harte Schuppenbedeckung die Geſtalt derſelben weniger vergänglich, und auch die übrigen Charaktere, wonach man die Arten unterſcheidet, meiſt auf feſte, ziemlich unvergängliche Theile ge— gründet ſind. Auf der anderen Seite aber giebt es nichts Veränderlicheres und doch nichts Conſtanteres im Leben, als die herrlichen Metallfarben, in welchen — 267 — die meiſten Fiſche glänzen. Viele ändern dieſe Farben ſogar in dem Augenblicke ihre Todes, weß— halb auch Agaſſiz, als er feine Süßwaſſerfiſche her— ausgeben wollte, dieſelben alle nach lebendigen im Waſſer ſchwimmenden Exemplaren coloriren ließ. Den alten Römern war dieſe Erſcheinung ebenfalls recht wohl bekannt, und ſie ſchätzten den Mullus hauptſächlich deshalb fo hoch, weil ihnen die Farben— änderung deſſelben in dem Todeskampfe ein ergötz— liches Schauſpiel darbot. Fiſche nun gar, welche in den Muſeen conſervirt find, würde man unmög— lich auf dem Markte wieder erkennen können, wenn man ſich einzig an die Charactere der Farben halten wollte. Das glänzende Roth, das brennende Gelb, die himmelblauen und hellgrünen Farben, welche an manchen dieſer Seefiſche den Leib über und über bedecken, ſchwimmen an den Weingeiſtexemplaren bald in eine einzige ſchmutzig gelbe Tinte zuſammen, an welcher nur größere oder geringere Sättigung den vormaligen Unterſchied erkennen läßt. Ich war ganz erſtaunt, viele meiner alten Bekannten in ſo durchaus veränderter Uniform wieder zu finden, und Herwegh beluſtigte ſich nicht wenig an der Verlegen— heit, in die er zuweilen mich, den Ichthyologen ex — 268 — professo, brachte, wenn er mich an dieſen oder jenen Korb zog, um mir ein Weſen zu zeigen, das mir eben ſo unbekannt war als ihm. Im Verhältniſſe zu dem Markte von Paris oder ſelbſt von St. Malo ſind die Fiſche hier außeror— dentlich wohlfeil, und deßhalb auch in allen Reſtau⸗ rants im Ueberfluſſe anzutreffen. Leider aber ſcheinen mir die Fortſchritte der Kochkunſt nicht im Verhält⸗ niſſe zu der Güte der Fiſche zu ſtehen. Das pro— vencaliſche Volk kennt aus alter Zeit her nur zwei Zubereitungsarten der Fiſche, nämlich das Backen im Oel, und ferner eine eigenthümliche Art von Ragout, „la bouilla baisa“ genannt, die uns ſerem Gaumen nicht recht zuſagen wollte, von den Eingebornen aber mit wahrer Leidenſchaft geliebt wird. Aus dieſer einförmigen Behandlungsweiſe eines weſentlichen Elementes der Gourmaͤndiſe mag es auch herkommen, daß nur wenige Fiſche des Mittelmeeres denjenigen des Oceanes ebenbürtig er= ſcheinen. Den erſten Rang nimmt nach unſerem wie aller Eingeborenen Urtheil die ſogen. Caſtagnole ein, ein Fiſch, der auch deshalb für uns von großem Intereſſe war, als er der einzige Repräſentant einer großen Familie iſt, die in den ſüdlichen Meeren — 29 — dominirt und ſich dadurch auszeichnet, daß die Schuppen des Leibes noch über die Floſſenſtrahlen ſich hinziehen und ſo den größten Theil der Floſſen verdecken. Cuvier nannte dieſe Familie die Squami- pennen, oder Schuppenfloſſer. Es ſind meiſt von den Seiten her plattgedrückte, hohe Fiſche, die zu— weilen die Geſtalt einer Scholle haben, mit großen Schuppen bedeckt find, und meiſt in den lebhafteſten Farben prangen, welche in genau von einander ab— gegrenzten Querbändern ſich über den Körper hin— ziehen. Die Caſtagnole (Brama Raji) theilt mit ihren Familiengenoſſen aus den ſüdlichen Meeren die platte hohe Körpergeſtalt, unterſcheidet ſich aber weſentlich durch das einfache ſchwärzliche Kleid, über das ein ſilbergrauer Schimmer verbreitet iſt. „Ich habe den Ariſtokraten unter den Fiſchen ent— deckt, ſagte mir Herwegd, als er zum erſten Male die Caſtagnole bemerkte. Sehen Sie nur, wäbrend die anderen Narren ſich in alle möglichen Flick— lappen gekleidet haben und mit ihren bunten Farben ausſehen, wie Hanswurſt am Sonntage, ſteckt dies edle Thier in einfach ſchwarzer Sammtkleidung, die kaum mit einiger Silberſtickerei verbrämt iſt, aber um ſo enger und feſter anliegt. Die Schuppen — 270 — paſſen auf einander, wie die Ringe eines wohlge— fügten Panzers, und der kleine Mund zeigt in ſeinen leicht geſchwungenen Kiefern eine Art von Trotz, der dem ſteifen Profile recht wohl anſteht. Betrachten Sie einmal die ſchöne Schwingung dieſer halbmondförmigen Schwanzfloſſe, die ſo tief ausge— ſchnitten iſt, daß ihre Zacken nur des Luxus wegen vorhanden ſcheinen. Ich habe Luſt, mir den Fiſch zum Mittageſſen zu kaufen, fügte Herwegh hinzu, nur ſeines adeligen Ausſehens halber. Ich bin feſt überzeugt, er ſchmeckt gut, er kann kein zähes Fleiſch haben, denn er gibt ſich ſicher nicht viel Mühe, ſeine Nahrung zu erjagen, wie dieſe lumpigen Hai— fiſche, deren Muskeln vor lauter Jagen in ſehnige Fäden verwandelt ſind. Er lebt gewiß ſtill und gemüthlich in tiefen Klüften und heimlichen Felſen— ritzen von ſeiner erbgeſeſſenen Rente, die ihm in Geſtalt weichen Gewürms in der Nähe wuchert“. „Alles ohne Leidenſchaft“, erwiederte ich ihm. „In unſerer Zeit iſt der Adel einigermaßen zurückge— kommen, und gar mancher Herr Von hat ſeine liebe Noth, trotz der Sinecuren an Höfen und in Regimen⸗ tern mit Jagen und Rennen ſein Leben zu erhalten. Was Ihnen ſilberne Stickerei ſcheint, könnten ja auch — 271 — wohl die abgetragenenen Nähte des alten Sammet— kleides ſein, das die Ahnen früher nur bei feſtlichen Gelegenheiten trugen, und die Enkel jetzt im Alltags— gebrauche abnutzen.“ Sie könnten Recht haben, er— wiederte Herwegh, allein diesmal habe ich ausnahms— weiſe Vertrauen zu der Nobleſſe und verſpüre große Luft, daſſelbe thatſächlich darzuthun. „Wenn Sie durch— aus Ariſtokraten verſchlingen wollen, ſo habe ich nichts dagegen, erwiederte ich lachend. Es iſt mir ſogar wahrſcheinlich, daß ich mithalte.“ Der Preis, den man für den Fiſch fordert, überzeugt uns ſogleich, daß mein Skepticismus diesmal fehl geſchoſſen habe, und bei unſerer Ankunft in dem Reſtaurant empfängt der Beſitzer mit ſchalkhaftem Lächeln unſeren Fiſch und meint, wir könnten doch nicht ſo ganz unbekannt ſein mit den Produkten des Landes, wie wir ihn wohl glauben machen wollten, denn aus unſerem Kaufe ginge recht wohl hervor, daß wir wüßten, was gut ſei. Du erlaubſt mir wohl eine kleine Epiſode zu Gunſten des Ehrenmannes, der die Sorge für unſer tägliches Brod übernommen hat, und mit deſſen Beſtrebungen für unſer materielles Wohl wir alle Urſache haben, zufrieden zu ſein. Tages Arbeit, W Abends Gäſte, iſt auch hier unſer Wahlſpruch ge= blieben, und mit jedem Tage ſchätze ich mich glück— lich, noch in fo jungen Jahren aus dem Vaterlande entronnen zu ſein, um meinen Magen an andere Stunden des Mittagstiſches gewöhnen zu können, als ſie bei uns üblich ſind. So lange die Sonne vor unſerem Fenſter wandelt, ſieht ſie uns an unſerem Arbeitstiſche, oder draußen auf der See in leichtem Kahne nach unſerer Beute fiſchend. Wir werden nicht unterbrochen durch die Glocke, welche uns zur Tafel, und nachher zu jener Stunde ruft, welche die Amphibiennatur in dem Menſchen weckt, und ihn zu träumeriſcher Beſchaulichkeit auffordert. Wir ſchreiten deshalb in Deutſchland ſo langſam vor⸗ wärts, weil wir unſere Hauptmahlzeit in der Mitte des Tages halten, und dann gezwungen ſind, in der übrigen Hälfte des Tages unſere Geſchäfte in dem Halbſchlafe der Verdauung zu verrichten. Die poli- tiſch regſamen Völker, Franzoſen wie Engländer und Amerikaner, laſſen den Tag über frei zu Geſchäften, die nüchtern gemacht werden, und beſchließen die Arbeit mit der Mahlzeit. Italien gerieth erſt dann in Verfall und ſank erſt dann von ſeiner Höhe herab, als es die republikaniſche Coena mit dem Re Mittageſſen vertauſchte. Pio nono ſollte das wieder abbeſtellen; es wäre die nützlichſte Reform, die er machen könnte, und unſere deutſchen Liberalen, ſtatt Anträge auf Preßfreiheit, Cenſurfreiheit und Gott weiß was für Freiheiten noch zu ſtellen, die ihnen doch niemals bewilligt werden, ſollten ganz einfach dahin zu wirken ſuchen, daß die Zeit des Mittageſſens verändert würde. Damit gäbe ſich Alles von ſelbſt. Wenn dieſe größte aller Reformen durchgeführt werden könnte, ſo wäre ohne weiteres der Sieg für ſie entſchieden. Ich ſehe Dich ſchon im Geiſte auf Deinen Stod- zähnen lachen und zu Dir ſelbſt ſagen: der Dicke muß einen Aerger gehabt haben, er ergeht ſich heute in Baradoren. Parador hin, paradox her; — wahr iſt es aber doch, daß unſere deutſche Gemüthlichkeit und ausgeartete Lammsgeduld nur in dem ſteten Wiederkäuen begründet iſt, mit dem wir unſere Tage ausfüllen. Die Hälfte von den 24 Stunden, welche jeder Tag uns bringt, verſchlafen wir. Ein Viertel benutzen wir zum Träumen und Verdauen, und in dem letzten Viertel müſſen wir uns die Augen ausreiben und den Kopf hell waſchen, um nur einiger— maßen zu Vernunft zu kommen. Iſt Dir je ein Bons Briefe I 18 — 274 — Menſch bekannt geworden, der nach Tiſche Energie gehabt hätte? Warum ſind denn die diplomatiſchen Eſſen ſo wirkſam? Warum die Zweckeſſen ſo einig? Iſt es nicht einzig aus dem Grunde, weil die Gemüth— lichkeit, die Nachgiebigkeit, das Sichgehenlaſſen in der Verdauungsſtunde aufſproſſen, wie Schwämme auf feuchtem Boden? Du haſt ſelbſt mir einmal zu be— weiſen geſucht, daß die bedeutendſten Ereigniſſe in der Geſchichte von den unbedeutendſten phyſiſchen Uebeln abhängig ſind, und daß Napoleon nur des— halb geſtürzt wurde, weil er fett wurde und Magen- krebs bekam. Und Du willſt nun mein Räſonnement, das auf ein ſo durchgreifendes Element wie die Lebensweiſe geſtützt iſt, zurückweiſen? Du klagſt über. die Abgeſchloſſenheit unſerer deutſchen Wiſſenſchaft, über den Kaſtengeiſt unſerer Gelehrten, über das Unpraktiſche ihres Benehmens dem Volke gegenüber, und willſt nicht glauben, daß dieſes Alles auf dem- ſelben Grunde beruhe? Denke ein wenig nach, und Du wirſt mir unbedingt Recht geben. Ich vergeſſe über dieſe Diatribe gegen die deutſche Zeiteintheilung unſeren Gaſtgeber Vial, der ganz in der Nähe des Fiſchmarktes unter der Terraſſe ſeine Induſtrie ausübt, und den ich Dir von Herzen — 275 — empfehle, wenn Du je einmal in Nizza Deinen Wohnort aufſchlagen ſollteſt. Die Wohlfeilheit der erſten Lebensbedürfniſſe grenzt hier wirklich an das Unglaubliche, beſonders im Sommer, wo keine Fremden da ſind, und der Nizzaner gezwungen iſt, alle Producte ſeines reichen Landes ſelbſt zu ver— zehren, da ihm durch die Douanen gegen Sardinien und Frankreich alle Canäle zum Verkaufe verſchloſſen ſind. Da wir gerade nicht Luſt hatten, uns zu kaſteien (nach Goethe iſt die edle Tugend der Ent⸗ haltſamkeit in Sardinien eine durch die Verhältniſſe gebotene Nothwendigkeit), ſo wollten wir mit Herrn Vial über den Preis eines nicht allzu frugalen Mittagsmahles unterhandeln, und da man a la carte ſpeiſt, ſo wurde uns ein vollſtändiges Mittagsmahl, beſtehend aus Suppe, vier Gerichten, Deſſert und einer Flaſche Wein für Jeden zu 30 Sous, ſage anderhalb Franken angeboten. Daraus magſt Du entnehmen, wie wunderſam wohlfeil die Eingebornen leben können, und wie es erklärlich iſt, daß eine Menge verdorbener Speculanten, zurückgezogener Officiere auf halbem Sold in dieſem Winkel der Erde den Abend ihres Lebens zubringen. Unſer Wirtb iſt zugleich Fiſchhändler, ein Ge— — 276 — ſchäft, welches namentlich im Winter ziemlich eifrig von hier aus betrieben wird. Die größeren Fiſche beſonders, wie Schwertfiſche, Thunſiſche, Boniten, und auch einige Haiarten, die ſich in Nizza nicht gehörig verwerthen laſſen, werden in jetziger Jahres— zeit einfach in Stroh verpackt und über den Co! di Tenda nach Turin geſchafft. So hat unſer Wirth erſt heute einen ziemlich großen Fuchshai gekauft, den die Eingebornen gar nicht zu den Haifiſchen zählen, weil der kegelförmige, ſpitze Kopf, die faſt glatte Haut und die unendlich lange, ſichel— förmige Floſſe des Schwanzes gar nicht mit den Charakteren anderer Haie übereinſtimmen. Das Fleiſch iſt, wie das aller Haifiſche, zähe, trocken und von thranigem Geſchmacke, weshalb auch hier nur das gemeinſte Volk einen ſolchen Fiſch verzehren wird; in Turin aber, ſagt Vial, eſſe man alle Fiſche, ohne Ausnahme, wenn es nur Seefiſche ſeien, und er ſei überzeugt, daß die Officiere des Regimentes von Savoyen ein Feſtmahl zu Ehren dieſer thra— nigen Beſtie veranſtalten würden. Doch Spaß bei Seite! Gerade dieſe Beſchäftigung mit Fiſchhandel macht uns den Mann nützlich, der alle Trivialnamen der Fiſche kennt, mit allen Fiſchern zu thun hat, — Mn und auch einen Begriff von den Bedürfniſſen der Naturforſcher hat, da einige derſelben ſchon früher bei ihm ihre Wohnung aufgeſchlagen haben. Die abweichenderen Formen der Fiſche, welche den Naturforſcher beſonders intereſſiren, gehören glücklicher Weiſe nicht zu den geſchätzten, und ſtehen deshalb auch in geringeren Preiſe. Man hat mir Exemplare von Froſchfiſchen (Lophius piscato- rius) angeboten, in deren Rachen ich mit Bequems lichkeit meinen ganzen Kopf hätte ſtecken können, der doch gerade nicht zu den dünſten gehört, und ge— gewöhnliche Haifiſche oder ſ. g. Engel (Squatina angelus) von 4 und 5 Fuß Länge hätte ich für we— nige Franken auf dem Markte erſtehen können. Du kannſt kaum glauben, welch widerlichen Eindruck der Froſchfiſch macht, ein Thier, das fo zu ſagen ganz Maul iſt Die Farbe der ſchleimigen Haut iſt ein mehr oder minder dunkles Braun, mit unregelmäßigen helleren Flecken marmorirt. Der Körper erſcheint faſt ſchei— benförmig, ſo unbedeutend iſt der kurze dicke Schwanz, der eine kleine verſchrumpfte Floſſe trägt. Die außerordentlich beweglichen Bruſtfloſſen ſtehen ganz hinten zu beiden Seiten der platten Körperſcheibe, auf deren Gipfel die nach Oben gerichteten gelbgrün ſchimmernden Augen ſich befinden. Das Maul nimmt faſt die ganze vordere Hälfte der Scheibe ein und der Unterkiefer, der einen vollſtändigen Halbkreis bildet, ſteht mit ſeinen nach hinten gerichteten ſpitzen Hakenzähnen weit über dem Oberkiefer hervor, fo daß die vielfachen Reihen dieſer Zähne ſich ſogar bei geſchloſſenem Maule zeigen. Auf der Mittellinie des Kopfes ganz nahe an dem vorderen Rande des Maules ſtehen ein Paar lange bewegliche Knochen— gerten, die an ihrem ſchwanken Ende einige dünne, ſchwärzlich gefärbte Hautlappen tragen, welche mei— ſtens zerfetzt erſcheinen und, wie die Fiſcher behaupten, dem Thiere gleichſam als Köder zum Heranlocken kleinerer Fiſche dienen. Ringsum an der ganzen Peripherie des Körpers und der unteren Kinnladen hängen eigenthümliche Hautfranzen, die zwar nur kurz ſind, aber doch dem Thiere ein eigenthümlich zerlumptes, ſchmutziges Anſehen geben. Gegen ein ſolch häßliches Weſen bilden die ſchlanken, ſchönen Geſtalten der Thunfiſche, der Boniten und anderer Fiſche aus der Familie der Scomberoiden einen eigenthümlichen Abſtich. Der Fang des Thunfiſches iſt hier bei weitem nicht jo in der Blüthe, als in den ſuͤdlichen Theilen des — 9 — Mittelmeeres und namentlich an den Küſten von Sieilien, wo alljährlich Tauſende dieſer Fiſche in eigenthümlichen großen Netzen zur Laichzeit gefangen werden. Das einzige Netz ähnlicher Art, in welches hie und da Einer dieſer rieſigen Fiſche ſich verirrt, iſt an der Spitze von St. Hospice aufgeſtellt. Weit häufiger find die Boniten, (Scomber pe- lamys) oder Pelamiden, wie die hieſigen Fiſcher ſie nennen, und die mit dem Thunfiſche viele Aehnlich— keit haben, mit dem ſie die glatte ſilberglänzende Haut und die vielfachen kleinen Floſſen an dem hinteren Ende des Körpers gemein haben, ſich aber auf den erſten Blick durch die weit ſchlankere geſtrecktere Geſtalt unterſcheiden laſſen. Den Mac- quereau (Scomber scomber), dieſen Repräſentanten der Scomberoiden in dem Oceane, der auf allen Straßen in Paris feil geboten wird, habe ich hier vergebens geſucht. Er wird durch einen Verwandten von weit ſchlechterem Geſchmacke erſetzt, deſſen Schwanz mit einer Reihe ſcharf gekielter Schuppen gepanzert iſt, welche eine ſägenartige Kante zu beiden Seiten bilden. Am reichſten vertreten unter allen Familien find hier die Lippfiſche (Labroiden) und die Meer⸗ braſſen (Sparoiden). Erſtere find wirklich die Papa⸗ ie N, gaien des Meeres, jo bunt und vielfarbig ift ihr Kleid. Vorherrſchend find bei ihnen ſmaragdgrüne, himmelblaue und orangegelben Nuancen, die meiſtens in Tüpfeln und Streifen neben einander ſtehen. Es ſind ſchöne geſtreckte Fiſche, etwa von der Geſtalt unſerer Weißfiſche, aber mit langer Rückenfloſſe, welche ſich wohl über 2 der Körperlänge weg— zieht. Die vorderen Strahlen dieſer Floſſe ſind ſtachelige Dornen, die hinteren weich und biegſam, und die Dornen tragen meiſtens an der oberen Spitze ein kleines Hautläppchen, das ausſieht, wie das Fähnlein einer Uhlanenlanze. Du erkennſt die Lippfiſche meiſt an ihren dicken, fleiſchigen, aufge— worfenen Lippen, die gewöhnlich die vorderen Zähne frei laſſen und ſo ein fletſchendes Maul bilden, das gerade nicht von idealer Schönheit iſt. Eine kleine mehr breite Art mit lang vorſtreckbarem Maule iſt außerordentlich häufig auf dem Markte, aber eben ſo wenig geſchätzt als ihre Verwandten, die trotz des ſchönen Kleides nur einen ſehr geringen Werth beſitzen. Gerade im umgekehrten Verhältniſſe ſteht die Familie der Meerbraſſen oder Sparoiden, bei welchen ein entgegengeſetztes Princip der Färbung vorherrfcht- — 281 — Es giebt gar keinen getüpfelten Meerbraſſen. Die meiſten ſind durchaus einfarbig, ſilberweiß oder roth, mit größerer Tiefe der Nuance auf dem Rücken, und hellerer Färbung auf dem Bauche; wenige nur ſind auf ſilberweißem Grunde mit gelben Längs— ſtreifen geziert. Man hat ſicher die Muſter zu jenen goldgeſtreiften Atlasſtoffen, welche die venetianiſche Malerſchule ſo oft bei den Gewändern ihrer Frauen anbringt, von dieſen Meerbraſſen entnommen, die man jetzt nach der Bezahnung in eine große An— zahl verſchiedener Geſchlechter zerſpalten hat. Die meiſten haben nämlich in beiden Kiefern mehr oder minder große, platte Mahlzähne, mit deren flachge= wölbten Kronen ſie beſonders Schalthiere, Muſcheln, Krebſe, Seeigel zermalmen. An dem Außenrande der Kiefer wechſelt die Geſtalt der Zähne ganz un— gemein, bald ſind ſie meiſelartig, unſeren Vorder— zähnen ähnlich, bald ſind es wieder große gekrümmte Fanghacken, oder kleine Hechelzähne, was Alles den Ichthyologen zur Begründung einer großen Menge von Abtheilungen in dem alten Linné'ſchen Genus sparus Veranlaſſung gegeben hat. Sie haben alle mehr breit gedrückte kurze Geſtalten, zuweilen mit — 282 — ſenkrecht abfallendem Profile und ſind allgemein für für die Tafel geſchätzt. Ich komme wieder auf die gaſtronomiſchen Cha— ractere der Fiſche in Nizza zurück, und muß Dir hier den Rivalen der Caſtagnole, den Sonnenſiſch oder Häringskönig, den Zeus faber Linné's vor allen Dingen nennen. Das Thier befindet ſich, und zwar ohne ſelbſt recht zu wiſſen, wie? nach der Claſſification unſerer Naturforſcher in der Familie der Scomberoiden, die es gewiß von Haut und Haar gar nichts angeht. Es iſt wirklich unbegreif— lich, wie ein vollkommen platter, ſehr breiter und hoher Fiſch, der faſt eben ſo hoch als lang iſt, in die Geſellſchaft dieſer Pelamiden und Schwertfiſche kommt, denen er auch nicht in einem einzigen Stücke gleicht. Das Thier iſt ſtachelig, wo man es auch angreifen mag, die Floſſen mit ſparrigen, langen Dornen beſetzt, zwiſchen welchen lange Fäden, aus verlängerten Hautlappen gebildet, herabhängen. Rücken und Bauch tragen Doppelreihen von Knochenplatten, auf welchen kurze, ſpitze Stacheln ſtehen. Die Knochen des Kopfes find mit ſcharfen, eckigen Vorſprüngen überall verſehen, an denen man ſich mit größter Leichtigkeit die Finger aufreißt. Die Knochen des — 283 — Oberkiefers tragen lange Fortſätze, welche in einer Rinne gleiten, die über die ganze Länge der Stirn ausgehöhlt iſt, und ſo eine außerordentliche Verlän— gerung des Maules geſtatten. Der ganze Fiſch iſt häß— lich grau mit ſchmutzig ins Gelbe verwaſchenen Seiten, in deren Mitte ein runder ſchwarzer Fleck ſich befin— det, welcher von einem goldgelben Rande eingefaßt iſt. Es iſt ohne Zweifel dieſer ſchwarze Fleck, welcher am meiſten einem Schmutzflecken ähnlich ſieht, der dem Fiſche den Namen Sonnenfiſch gebracht hat. Hier, wie an dem ganzen Mittelmeere, nennt man ihn St. Petersfiſch, poisson St. Pierre, und weiß auch dieſen Namen vollkommen gut zu rechtfertigen. Ehe beſagter Apoſtel nämlich Menſchen fing, ein Geſchäft, welches ihm zwar mehr Ruf und Namen, aber auch bei weitem mehr Ungelegenheiten ver— ſchaffte als ſein früheres Gewerbe, war er be— kanntlich Fiſcher, und überliſtete mit eben ſo viel Geſchick die dummen Fiſche, wie ſpäter die nicht gejcheidteren Heiden. Bei dem berühmten Fiſch— zuge nun, der in dem neuen Teſtament beſchrieben ſteht, ſoll ſich auch nach der Behauptung der Fiſcher am Mittelmeere ein ſolcher Fiſch befunden haben, den St. Peter, um ſich nicht zu verletzen, nur ſehr — 284 — ſäuberlich von Oben her mit Daumen und Mittel- finger in der Seite packte, um ihn ſo aufzuheben und in den Korb zu werfen. Da die Bibel aus— drücklich ſagt, daß Herr Peter mit ſeinen Brüdern zu der Hefe des Volkes gehörte, jo darf man ſich durchaus nicht verwundern, daß er an jenem denk— würdigen Morgen ſeine Hände noch nicht gewaſchen hatte, und da die Vorſehung für geeignet fand, ein Monument dieſes Ereigniſſes den Gläubigen zur Erhebung, den Ungläubigen zur Bekehrung aufzu— ſtellen, ſo blieben die Eindrücke der ſchmutzigen Finger an dem Orte ſtehen, wo Peter den Fiſch gepackt hatte. Alle Fiſcherfrauen in Nizza können Dir dieſe Legende erzählen, und wenn man etwa einen Blick auf ihre Hände wirft, die gerade nicht zu den ſauberſten gehören, ſo entſchuldigen ſie ſich mit der Bemerkung: das geht in unſerem Gewerbe nicht anders, der Apoſtel Petrus hatte ſie auch ſo, als er noch Fiſcher war. Als ich vor einigen Tagen nach dem Fiſchmarkte ging, rief man mich nach dem Strande, an dem man gerade einen ſ. g. ſchwimmenden Kopf (Ortha- goriscus mola) mit dem großen Schleppnetze her— vorgezogen hatte. Hier an dem Strande gibt dieſer Fiſchfang mit dem Schleppnetze, welches man an das Ufer zieht, meiſt gar keine andere Ausbeute, als kleine Sardellen, die man gewöhnlich zu einer Art Pfannkuchen verbackt. Es lohnt deshalb der Mühe nicht, über ſolche Fiſchzüge ſeine Zeit zu verlieren. Anders verhält es ſich in der weit fiſch— reicheren Bucht von Villa franca, wo ein ſolcher Fiſch— zug zugleich ein prächtiges Genrebild abgeben würde. Zwei Boote, jedes etwa mit 10 oder 12 Mann beſetzt, fahren dicht neben einander bis in eine ziemliche Entfernung vom Ufer, und ſenken nun das Netz ein, welches, indem ſie nun auseinanderweichen, in weitem Halbkreiſe geſpannt wird. Die beiden Seitentheile des Netzes, die ungemein lang ſind, haben etwa 10—12 Fuß Höhe, und werden durch Bleiſtücke ſo beſchwert, daß ſie ſich ſenkrecht in das Waſſer ſtellen, da der andere Rand mit Korkſtücken in die Höhe gehalten wird. In der Mitte vereinigen ſich beide Hälften in einem Beutel, welcher alles Gethier aufnimmt, das von den Seitentheilen um— ſpannt wurde. Sobald das Netz gehörig aufgeſtellt iſt, ſo ſpannen ſich die beiden Boote an die Enden des Netzes, und ſchleppen das Ganze mit taktmäßi— gem Ruderſchlage nach dem Ufer hin, indem ſie ſich — 286 — allmählig nähern, bis ſie an einem beſtimmten Lan— dungsplatze zuſammenſtoßen. Nun wird die Scene erft recht lebendig. Die Ruderer ſpringen theilweiſe an das Land, die Ungeduldigſten bis an den Gürtel in das Waſſer, und Alles zieht aus Leibeskräften, um ſo ſchnell als möglich das Netz an das Land zu be— fördern. Die herrlichen Geſtalten der Burſche mit ihren hoch aufgeſchürzten Aermeln und Hoſen, den rothen Mützen und den kurzen Jacken bilden be— ſonders da prächtige Gruppen, wo, wie bei Villa franca, die Terraſſen des felſigen Ufers keine regel— mäßige Aufſtellung in Reihen geſtatten. Je näher der Grund des Netzes kommt, deſto mehr ſteigert ſich die Ungeduld, das Toben und Schreien, die Spannung in den Geſichtszügen. Endlich iſt der Beutel ſo weit gelandet, daß nichts mehr aus ihm entwiſchen kann, und nun ſtürzen Alle wie die Raubthiere darüber her, um die Falten des Ge— webes zu entwirren, und die Beute in Kübel und Zuber zu vertheilen. Faſt bei jeder Excurſion nach Villa franca waren wir Zeugen ſolcher Fiſchzüge und jedesmal mußten wir uns geſtehen, daß hier Stoff zu einem ähnlichen Bilde vorliege, wie zu — 287 — den Schnittern von Leopold Robert, oder den Fi— ſchern deſſelben Meiſters. Der ſchwimmende Kopf, oder Mondfiſch („poise son lune“ nennen ihn die Fiſcher) den-ſie uns an das Ufer zum Betrachten hingelegt hatten, war ein wahres Pracheremplar von einer Größe, wie ich noch ſelten in Muſeen geſehen hatte. Er gehört auch zu der Klaffe jener Thiere, an welchen der Witz derjenigen Naturforſcher, welche die Weisheit und Güte Gottes in ſeinen Geſchöpfen ſtudiren, eine reiche Ausbeute finden würde. Das Thier iſt fo unbehülflich mit feinem ſchei— benförmigen Körper und dem kleinen Mäulchen daran, daß man kaum recht begreift, wie es ſeine Maſſe ernährt. Es ſchwimmt ſehr ſchlecht mit Mühe und Anſtrengung, iſt häßlich und eckelhaft, des dicken Schleimüberzuges wegen, der ſeine Haut bedeckt, kurz iſt ebenſo eine Art Proletarier unter den Fiſchen, wie das Faulthier unter den Säuge— thieren, von dem auch die Vertheidiger der höchſten Zweckmäßigkeiten in der Natur nachgewieſen haben, daß die Trägheit und Plumpheit ein nothwendiges Requiſit zu feinen Lebenszwecken ſei. So wiſſen ſie auch von dieſem größtentheils im Schlamme liegen— — 28 — den, ſchwimmenden Kopfe, der mit ſeinen elfen— beinernen Kinnladen Schnecken und Schalthiere zer— beißt, daß er gerade durch ſeine Unbehülflichkeit zu ſolcher Nahrung vollkommen befähigt ſei, und denken nicht daran, daß die ſchlanken Sparoiden trotz ihrer großen Floſſen und ihrer Lebhaftigkeit, die ſie zu wahren Schnellſeglern machen, auf dieſelbe Nahrung angewieſen find, Mit demſelben Fiſchzuge, der den Mondfiſch heraufgebracht hatte, war auch ein gewaltiger Meer— engel gefangen worden, der noch zuweilen krampf— haft am Strande aufhüpfte, und mit dem dicken Schwanze hin und her ſchlug Es bietet dieſer Fiſch eine Art Uebergangsform zwiſchen den Rochen und Haien. Der Körper iſt platt, vornen abgerundet, und die Bruſtfloſſen ſtehen, wie bei einem Rochen, an dem Rande dieſes platten Körpers, deſſen Oberfläche ſie nur vergrößern. Indeß ſind fie nicht am Kopfe angewachſen, wie bei den Rochen und deßhalb gehört der Fiſch auch zu der Familie der Haien und nicht zu derjenigen der Rochen, welcher er ſich durch ſeine Körperform und durch die auf der Oberfläche ſtehen— den nach dem Himmel gerichteten Augen anzu— ſchließen ſcheint. Das Maul des Engels gleicht in — 289 — einiger Beziehung demjenigen des Froſchfiſches, iſt aber an Umfang weit beſchränkter und bei weitem nicht ſo formidabel bewaffnet. Bei genauerer Be— trachtung finde ich, daß dieſer Engel auch gerade nicht aller Plage los und ledig iſt. Ein Paar ge— maltige blutegelartige Würmer ſitzen auf feiner Haut feſt, und mehre ſchon ſcheinen durch das Netz ab— geſtreift; denn hier und da ſieht man runde hellere Flecken, die offenbar Anheftungsſtellen ſolcher Würmer waren. Man findet ſo oft ganz unerwartet die ſchönſten und ſeltenſten Sachen an Orten, wo ſie der Unerfahrene nicht vermuthet, und es verlohnt ſich ſtets der Mühe, die Fiſche von außen und innen auf ihre Paraſiten zu unterſuchen. So kannſt Du rechnen, daß unter zehn Lippfiſchen ſich wenig— ſtens Einer befindet, welcher an der Wurzel ſeines Schwanzes Eins jener paraſitiſchen krebsartigen Thiere herumträgt, welche zur Familie der Cymothoen ge— hören. Mit den krummen Krallenfüßen ſind dieſe Thiere durch die Schuppen hindurch fo feſt an die Haut angeklammert, daß man ſie meiſtens herausſchneiden muß, und ſie leicht überſteht, wenn man nicht be= ſondere Acht darauf hat. Noch reichere Ausbeute gewähren die Kiemen Vogt's Briefe !. 19 — 290 — und der Darmkanal der Fiſche. An den erſteren findet man jene paraſitiſchen Cruſtaceen, die ſogenannten Lernäen, deren Geſtalten ſich im hohen Alter ſo ſehr verändern, daß man ſie früher zu den Mollusken nicht aber zu den Gliederthieren rechnete, bis ihre Entwicklungsgeſchichte Aufklärung über ihr wahres Verhältniß gab. Am Meeresufer iſt gewiß noch mancher reiche Fang und noch manche intereſſante Beobachtung über dieſe Lernäen und die ihnen verwandten Schmarotzer zu machen; denn bis jetzt find eigentlich nur unſere Süßwaſſerfiſche mit Rück⸗ ſicht auf dieſelben gehörig abgelauſt worden, und das Wenige, was man an Meerfiſchen gefunden hat, wurde an Weingeifteremplaren der Muſeen unterſucht. Mit Eingeweidewürmern ſind alle Fiſche ſtets reichlich verſehen, und wenn es je ein unwahres Sprichwort gegeben hat, ſo iſt es das: „ſo geſund, wie ein Fiſch im Waſſer“. Wie gerne würde ich mich mit ihrem Studium beſchäftigt haben, wenn ich nur Zeit dazu gehabt hätte, wenn nur die Mannich- faltigkeit unbekannter Formen, die mir täglich durch die Hände gingen, mir Muſe zu einer ſolchen Zeit- raubenden Unterſuchung gelaffen hätte! Du weißt, daß die Eingeweidewürmer einen der Angelpunkte — 291 — unſerer Wiſſenſchaft bilden, und daß an die Ent— hüllung ihrer fo dunkeln Geſchichte ſich die Löſung einiger weſentlichen principiellen Fragen knüpft, von welchen die Zoologie der niedern Thiere eine wahre Umgeftaltung erwartet. Wie erzeugen ſich dieſe Weſen, deren Exiſtenz an diejenige des Indi- viduums geknüpft erſcheint, auf deſſen Koſten ſie ſchmarotzen? Wie kommen ſie in dieſe Organismen, in deren Innerem ſie leben? Und wie pflanzen ſie ihre Art fort unter ſo vielen Hemmniſſen, welche die Natur ihnen in den Weg gelegt hat? Die Eingeweidewürmer waren der letzte Anker Derjenigen, welche eine noch fortdauernde Schöpfung thieriſcher Organismen behaupteten. Man ftügte ſich auf ihr Vorkommen in dem Innern mancher geſchloſſenen Organe, um zu folgern, daß ſie nur aus der Subſtanz derſelben erzeugt worden ſein könnten. In dem Auge mancher Fiſche wimmelt es von kleinen Eingeweidewürmern, die vollkommen unfähig ſcheinen, ſich von Außen her einen Weg durch die harten Augenhäute zu bohren. In dem Mus— kelfleiſche, in dem Gehirne vieler Thiere finden ſich ſolche Schmarotzer, von denen es unerklärlich ſchien, wie ſie hineingekommen. Man mußte, ehe man die — 292 — ganze Reihenfolge der Erſcheinungen kannte, noth— wendig zu dem Schluſſe gelangen, daß dieſe Weſen nicht von ihres Gleichen abſtammten, ſondern durch eine gewiſſe Schöpfungskraft aus dem Stoffe der Organe hervorgegangen ſeien, welche ſie jetzt be— wohnen. Allein einige Lichtblicke hat die neuere Zeit in dieſes Dunkel geworfen, und jetzt, wo die Thä— tigkeit der Naturforſcher auf dieſen Punkt gelenkt iſt, dürfen wir jeden Tag neue Reſultate erwarten. Wir wiſſen jetzt, daß die Eingeweidewürmer Meta- morphoſen durchmachen während ihrer Entwicklungs- periode, die noch weit merkwürdiger ſcheinen, als diejenigen der Inſecten oder ähnlicher Thiere; daß ſie in verſchiedenen Epochen ihres Lebens auch ver— ſchiedene Thiere bewohnen, und dieſe Wanderungen uns um ſo verborgener ſein müſſen, als ſie unter verſchiedener Geſtalt vollbracht werden. Ja wir ſind über Erſcheinungen belehrt worden, die ſo ſehr außer dem Kreiſe alles Bekannten liegen, daß es der Uebereinſtimmung mehrer Naturforſcher bedurfte, um uns daran glauben zu machen. Daß das Junge ſeinen Aeltern nicht ähnlich ſehen ſollte, ſelbſt dann nicht, wenn es zur Fortpflanzung befähigt iſt, — 293 — widerſprach aller Analogie, widerſprach ſogar dem Begriffe der Art, dem einzigen, den man in unſerer Wiſſenſchaft für feſtgeſtellt halten konnte. Es kamen uns in der letzteren Zeit jene denkwürdigen Unter— ſuchungen über Ammenzeugung, welche uns Zwiſchen— glieder kennen lehrten, die ſich zwiſchen die beiden Endpunkte in der Entſtehungsgeſchichte eines Weſens einſchoben, und als zeugende Weſen auftraten, deren Kinder oder Enkel erſt wieder die Geſtalt bekamen, in welcher wir die Ahnen kannten. Welcher Reiz alſo, ſich mit dieſen Fragen zu beſchäftigen, die nicht nur das Bekannte erweiterten, ſondern auch auf ganz neue Verhältniſſe, auf revolutionäre Elemente in unſerer ſtabil gewordenen Wiſſenſchaft hinlenken! Allein wir ſahen wohl voraus, daß zu einer ſolchen Unterſuchung, wo faſt nur der Zufall Bruchſtück an Bruchſtück reihen kann, uns die Zeit zu kärglich zugemeſſen ſei, und daß jahrelange unausgeſetzte Be— mühungen nöthig ſeien, um einige erkleckliche Re— ſultate auf dieſem Felde zu gewinnen. Du ſiehſt mich da wieder auf meinem alten Steckenpferde, auf welches ich unabweislich zurück— komme, ſobald ich von ausgedehnteren Unterſuchungen zu ſprechen habe. Wenn ich ſo glücklich wäre, — 4 — einige Jahre an dieſer Fundgrube ſitzen zu können, ſtatt einiger Wochen, die nur dazu dienen können, die Sebnſucht zu erwecken, und die Unmöglichkeit ihrer Befriedigung zu zeigen! Allein was half unſer Unmuth, wir mußten uns mit dem Wenigen be— gnügen, das ein hartes Geſchick uns darbot, und Minen unbebaut laſſen, welche von glücklicheren Erdenſöhnen ſpäter vielleicht einmal ausgebeutet werden! Den 25. December. W Wir haben heute unſeren Chriſttag damit ge— feiert, daß wir wieder einmal eine Excurſion nach unſerem lieben Villa franca unternahmen, und dort unſere Pokale zu füllen ſtrebten, welche durch längere Arbeit geleert worden waren. Das Meer war außer- ordentlich ſtill und ruhig und eine Sammlung von Thieren an der Oberfläche, wie wir ſie ſeither noch nicht gefunden hatten. Die Pelagien bildeten wieder die größte Maſſe des Vorhandenen, und ihr wechſelndes Spiel er— — 25 — götzte uns, wie früher, ohne daß wir ihm eine weitere Bedeutung abzugewinnen wußten. Allein zwiſchen dieſen ſchwammartigen Gebilden trieb ſich eine Menge anderer gallertartiger Weſen herum, die zwar ebenfalls zu derſelben Familie der Meduſen oder Quallen gehören, aber äußerſt verſchiedene Charactere boten. Ellenlange Bänder von der voll— kommenſten Durchſichtigkeit und etwa von der Breite dreier Finger ſchwankten mit den leicht bewegten Wellen umher, und es gelang uns anfangs nur ſchwierig, einen ſolchen Gürtel der Venus unver— letzt in unſere Gläſer zu bringen, da ſie äußerſt leicht in der Mitte zerbrachen und ſich in mehre Stücke theilten, die mit derſelben Schlangenbewegung davon— ſchwammen, welche das ganze Thier zeigte. Der Venusgürtel (Cestum Veneris) verdient durch ſeine ſommetriſche Form eine beſondere Aufmerkſamkeit. Er gehört zu der Zahl der Rippenquallen, welche durch Hülfe eigenthümlicher Blättchen ſchwimmen, die in Längsreihen auf dem Körper ſtehen, und bei ihrer Bewegung in den ſchönſten Farben des Regen— bogens ſpielen. Meiſtens haben dieſe Rippenquallen eine gurkenförmige oder ovale Geſtalt, ſtets fehlen ihnen eine Glockenſcheibe mit Randkörpern und — 296 — ſolche ſtrunkartige Fangarme, wie wir fie bei den meiſten Schirmquallen oder Glockenquallen ſehen, wozu die Pelagien und Rhizoſtomen gehören. Ihre Subſtanz iſt meiſt noch zarter und durchſichtiger, auch weit leichter zerſtörbar, als die Subſtanz der Schirmquallen, die beſonders in den Rhizoſtomen einen ziemlich hohen Grad von Feſtigkeit erreicht. Der Venusgürtel iſt ein ungemein breites, aber fehr kurzes Thier. Es iſt nicht, wie man etwa vermuthen ſollte, der Vordertheil des Thieres an dem einen, der Hintertheil an dem anderen Ende des Bandes angebracht, ſondern der Mund liegt ge— nau in der Mitte des Bandes und ihm gegenüber befindet ſich die trichterförmige Auswurfſtelle der Nahrungsmittel. Die beiden langen bandartigen Anhänge find demnach nur die außerordentlich lang ausgezogenen Seiten des Thieres, welche in ihrer ganzen Länge mit äußerſt lebhaft ſchwingenden Schwimmblättchen verſehen ſind. So iſt alſo das Thier vollkommen gleichmäßig gebaut und kann durch einen Schnitt, welchen man quer auf die Achſe des Bandes führt, in zwei vollkommen gleiche Hälften gefpalten werden, in denen ſich auch nicht die min- deſte Spur einer radiären Anordnung erkennen läßt. N — Von dem Munde aus ſieht man einen äußerſt ſchmalen weißen Streifen quer durch die Maſſe des Bandes nach hinten gehen und dort in geringer Entfernung von einer Einbuchtung endigen, welche ſich dem Munde gerade gegenüber befindet. Was ein weißlicher Strang ſcheint, iſt der Magen, eine platte rautenförmige Höhle, die durch einen äußerſt feinen Gang mit dem ſehr engen, kaum einen Stecknadelkopf durchlaflen- den Munde in Verbindung ſteht. Nach hinten ver— ſchmälert ſich der Magen und endet in eine feine Oeffnung, die mit einer trichterartigen Höhle com— munieirt, welche in der erwähnten Einbuchtung nach Außen geöffnet iſt. Der Magen iſt vollkommen platt gedrückt, und der Querdurchmeſſer feiner rauten— artigen Höhle ſteht in der Richtung der Dicke des Bandes, welche höchſtens / Zoll beträgt. Drei Paare von Canälen, welche eine äußerſt durchſichtige Flüſſigkeit führen, erſtrecken ſich von der trichter— förmigen Höhle aus durch die Seitentheile des Körpers bis zu den äußerſten Enden des Bandes hin, wo ſie vielleicht zuſammenmünden. Vier von dieſen Canälen laufen unmittelbar unter den Reihen der Schwimm— blättchen an dem Rande hin, während zwei in der Mitte des Bandes zu jeder Seite verfolgbar ſind. — 298 — Vergebens habe ich Verzweigungen dieſer Canäle zu erkennen geſtrebt. Ihre Exiſtenz will ich darum nicht läugnen, denn es iſt mir auch unbegreiflich, wie die Subſtanz dieſes Thieres von dieſen Canälen aus ohne Verzweigungen derſelben ernährt werden ſoll. In der Dicke der Maſſe ſind noch zu beiden Seiten des Magens zwei dünne Taſchen ausgegraben, in wel— chen eigenthümliche Fangfäden verborgen ſind, die das Thier indeſſen nur bei ganz außerordentlichen Ge— legenheiten vorſtrecken muß. Wenigſtens haben wir unter den vielen Hunderten von Exemplaren, welche wir in mehrfachen Ausflügen ſahen, auch nicht ein Einziges entdeckt, das mit ausgeſtreckten Fangfäden geſchwommen wäre. Innerhalb der Taſche aber ſind die Fangfäden in beſtändiger Bewegung, ſo daß ich anfangs einen Haufen kleiner Würmer vor mir zu ſehen glaubte, welche vielleicht in der Taſche ver⸗ borgen ſein könnten. Die Wandungen des Magens ſelbſt ſind von einer krauſen Membran ausgekleidet, welche etwa wie eine Hemdkrauſe zuſammengefältet erſcheint. Bei den Exemplaren, welche wir unterſuchten, enthielt dieſe Membran in ihrer Subſtanz äußerſt kleine milchweiß glänzende Pünktchen, welche unter einer — 299 — ſtärkeren Vergrößerung ganz deutlich alle conſtitui— renden Elemente eines Ei's erkennen ließen. Der Dotter war außerordentlich lang gezogen, von gelb— lichweißer Farbe, und enthielt in ſeinem Innern einen hellen runden Fleck, der ſich offenbar als Keimbläschen deuten ließ. Dieſer lange ſpindelför— mige Dotter liegt in einer dicken durchſichtigen Schale. Waren dieſe Eier wirklich Eier des Venusgürtels oder gehörten ſie vielleicht Eingeweidewürmern an, welche das Thier wiederum verlaſſen hatten? Ich fand einmal einen ſolchen Eingeweidewurm, ein Doppelloch, das ganz munter im Innern des Trich— ters umherkroch, und ich kann nicht bergen, daß die Aehnlichkeit der Eier mit denen eines Doppelloches ziemlich groß war, während ſie weniger den Eiern von Beroe, einer anderen Rippenqualle, glichen, die ich ebenfalls zu beobachten Gelegenheit hatte. Das Nervenſyſtem des Thieres bildet nur einen einzigen Knoten, der ganz nahe an dem hinteren Rande des Bandes an der Mündung des Trichters liegt, und mit bloßem Auge ſchon als ein höchſt feines, weißes Pünktchen erkannt werden kann. Vor dem Ganglienknoten liegt in einer flimmernden Höhle eine rundliche Kryſtalldruſe, die meiſtens ziem- Er Na lich ſtark bewegt ift, und unaufhörlich um ihr Achſe rollt. Was dieſes Sinnesorgan ſei, ein Auge oder ein Ohr, Beides zugleich, oder keines von Beiden, wüßte Dir ſchwerlich irgend Jemand mit Beſtimmtheit zu ſagen, und ich ſehe bis jetzt auch gar nicht ein, auf welche Weiſe eine ſolche Frage gelöft werden könnte. Wir können überhaupt uns nur von ſolchen Sinnen Vorſtellungen machen, die wir ſelbſt beſitzen, einen ſechſten Sinn uus zu denken iſt rein unmöglich, weil uns keine Objecte bekannt ſind, welche dieſer Sinn uns kund zu machen hätte. Aus demſelben Grunde werden wir auch niemals entdecken koͤnnen, ob es Thiere gibt, welche andere Sinnesorgane beſitzen als wir; es würde uns durchaus jedes Kriterium zur Erkenntniß ſolcher Sinnesorgane abgehen. Die Venusgürtel find nicht die einzigen Reprä- ſentanten der Rippenquallen, welche uns heute be— gegnen. Du haſt wohl ſchon von den Beroiden gehört, den Raubthieren unter den Rippenquallen, welche in ihrer Geſtalt etwa einer Melone, oder einer Gurke gleichen, und nicht viel mehr ſind, als ein hohler Sack aus Gallertmaſſe, der außen umher mit acht Längsreihen von Schwimmblättchen beſetzt — 301 — iſt, und vorne zur Aufnahme der Nahrung weit geöffnet erſcheint. Auch bei dieſem gefräßigen Thiere, deſſen Färbung diejenige eines hellen Milchglaſes iſt, ſteht der weite Magenſack nach Unten durch eine enge Oeffnung mit einer trichterförmigen Höhle in Verbindung, in welcher ſich ein ähnlicher Ner— venknoten befindet, wie bei dem Venusgürtel. Das Thier ſchwimmt mit Schnelligkeit und Behendigkeit, indem es bald die eine, bald die andere Reihe ſeiner Schwimmblättchen ſpielen läßt, und durch Zuſammen— ziehungen des Körpers je nach dieſer oder jener Seite hin die Bewegung unterſtützt. Beſonders der Beginn der Bewegung einer ſolchen Schwimmblätt— chenreihe gewährt einen prächtigen Anblick. Die einzelnen Blättchen find zu klein, als daß man ſte mit bloſem Auge unterſcheiden könnte; da ſie aber bei der Bewegung lebhaft iriſiren, ſo laſſen ſie ſich durch dieſes Farbenſpiel erkennen. Die zarten gelben rothen und blauen Tinten ſchießen dann zitternd wie helle Funken über die ſchwingenden Reihen hin, bis das Ganze unter dem Einfluſſe jo vieler be— wegender Blättchen ruhig und ſicher dahin ſchwimmt. Die Beroen ſcheinen die natürlchen Feinde einer anderen Gattung von Rippenquallen, denen man — DE — den Namen Eucharis beigelegt hat, und die ſich be— ſonders durch vier lappenartige Anhänge auszeichnen, welche an dem hinteren Theile des Körpers ſtehen. Im Uebrigen gleicht die Geſtalt und die innere An— ordnung der Theile wohl derjenigen der Beroe und das Gleiche iſt der Fall mit einer kleinen Gattung (Cydippe), welche wir zu Hunderten in unſeren Gläſern auffingen, wenn wir nach anderen Thieren ſchöpften. Sie waren ſo klein und ſo durchſichtig, daß ſie vom Boote aus unſerem forſchenden Auge gänzlich entgingen. Der intelligente Fiſcher, welchen uns der Abbe empfohlen hat, trägt freilich ſehr viel zu dem Ge— lingen unſerer Nachforſchungen bei. Es iſt gar nicht einerlei, an welchem Orte man fiſcht und ſchöpft. All dieſe Thiere leben mehr oder minder geſellig in Schwärmen, die man aus weiter Ferne her ſchon mit Gewißheit erkennen kann. Du haſt ſchon oft auf den Schweizerſeeen, auf der gekräuſelten Fläche durchaus ſpiegelhelle, glatte Flecken geſehen, die meiſtens eine ziemlich conftante Ausdehnung be— ſitzen und ſelbſt bei leichtem Winde ſich nicht ver- ändern. Am Genfer und Neuchateler See nennt das Volk dieſe Flecken „fontaines“, und da ihre — 303 — Entſtehungsart ungewiß iſt, ſo gaben wir uns damals in Neuchatel viele Mühe, dieſelbe an den Tag zu bringen. Es ſchien uns, als ſei die Glätte des Waſſers durch das Aufſteigen von Infuſorien be— dingt, die vielleicht wie eine fettige Maſſe auf die Kräuſelung der Oberfläche einwirkten. Ganz daſſelbe Phänomen zeigt ſich nun auf der Oberfläche der Bucht von Villafranca und derſelbe Grund, nämlich das Aufſteigen von Thieren in Schwärmen, bedingt die Glätte des Waſſers. Unſer alter Laurent, ſo heißt der Fiſcher, ſtand vornen an der Spitze der Barke an dem Maſte, während wir in der Bucht kreuzten. Er gab ſeinem Sohne, der hinten ſteuerte, die Richtung an, nach welcher zu fahren ſei. Er ſteuerte dann ſtets auf dieſe Courant's los, wie er ſie nannte, und wir waren ſicher, jedes Mal, ſobald wir nur den Rand einer ſolchen glatten Stelle er— reicht hatten, unſere Schöpfgläſer in Bewegung ſetzen zu müſſen. Es iſt gut, eine ſolche Thatſache zu kennen, ſie erſpart viele Zeit und viel unndthige Mühe, und die gewöhnlichen Fiſcher, welche nur das eßbare Zeug intereſſirt, kennen meiſtens ſolche Erſcheinungen zu wenig, als daß man ſich mit Nutzen ihrer bedienen könnte. — 304 — Mein Catalog von heute gefangenen Thieren iſt bei Weitem noch nicht zu Ende. Ein prächtiges Rhizoſtom, demjenigen des Oceanes ähnlich, wenn gleich meines Erachtens ſpecifiſch verſchieden, da mir die Geſtalt der Scheibe eine ganz andere und auch die Anordnung des Stieles abweichend erſcheint, er— wähne ich Dir nur, um Dir zu beweiſen, daß dieſe Form auch neben den Pelagien in Menge vorkommt. Auch die merkwürdige Rüſſelqualle (Geryonia) fingen wir in mehren Exemplaren. Die ziemlich hohe, vollkommen farbloſe Scheibe dieſes Thieres iſt an dem Rande mit ſechs kurzen Fangfäden be— ſetzt, und trägt in der Mitte einen langen nach Unten verſchmälerten, außerordentlich beweglichen Stiel, der verlängert und verkürzt werden kann und mit welchem das Thier nach allen Seiten hin umherſteuert. Es iſt eine Art von Wildheit in dieſem Geſchöpfe, das gewiß das beweglichſte und unru— higſte unter allen Quallen iſt. Wir hatten ein Exemplar in einem größeren Pokale mit Salpen, Euchariden und Pelagien zuſammen. Da war es denn wirklich manchmal lächerlich zu ſehen, wie die Geryonia zwiſchen dieſe Geſellen hineinfuhr, ſie mit ihrer Scheibe links und rechts auseinander — 305 — warf, mit dem Rüſſel umherdrillte, und ſich über— haupt geberdete, als ſeie ſie die Herrin und die an— dern die Knechte. Wenn nun gar eine Salpe bei dem Auf- und Zuklappen ihres Maules unverſtändiger Weiſe das Ende des Rüſſels mit hereingezogen hatte, ſo gerieth die Geryonie offenbar ganz außer ſich, und wirth— ſchaftete in dem Glaſe umher, wie ein ungezognes Kind unter ſeinen Spielſachen. Der Rüſſel iſt nicht hohl, wie man glauben könnte, ſondern vollkommen ſolide aus Gallert gebildet und mit einer roſenroth ſchimmern— den Hautlage überzogen. Sechs zarte Kanäle ſteigen zwiſchen dieſer Haut und der inneren durchſichtigen Maſſe in die Höhe, und vereinigen ſich, in der Scheibe angelangt, zu einer gemeinſamen kleinen Höhle, von welcher wieder ſechs Hauptkanäle aus— ſtrahlen. Merkwürdig iſt in dieſer wie in man— chen anderen Quallen, die keine deutlichen Keim— wülſte beſitzen, die Sechstheilung der Scheibe, während bei den Anderen die Viertheilung vorherrſcht. So finden ſich bei der Geryonie ſechs oberflächliche Ka— näle, die durch den Stiel aufſteigen, ſechs Hauptarme des Magens, welche nach den ſechs Randfäden der Scheibe hin ausſtrahlen, und zwölf farbloſe Rand— körper, die an dem Urſprunge der Randfäden und Vogt's Briefe J. 20 — 306 — in dem Zwiſchenraume zwiſchen je zwei derſelben ſich befinden. Auch ein Exemplar jener ſonderbaren Quallen haben wir gefunden, die nur aus einer ſoliden Scheibe und einem umgeklappten Randſaume zu beſtehen ſcheinen, ohne daß man eine beſondere Mund- oder Magenhöhle an ihnen entdecken könnte. Freilich hat man, aber ich weiß nicht mit welchem Rechte, als Magenhöhle den Raum zwiſchen der Scheibe und dem umgeſchlagenen häutigen Saum anſehen wollen, ſowie als Mundöffnung den ganzen kreisrunden Raum, welchen der innere Rand des Saumes umſchließt. Die Art, welche wir fingen, gehörte offenbar zu dem von Eſchſcholtz aufgeſtellten Genus Cunina. Die vollkommen kreisrunde Scheibe iſt ſehr flach, und nach unten faft ebenſo gewoͤlbt, wie nach oben, fo daß Du ſie der Geſtalt nach ganz wie eine ſtark ge— wölbte Linſe eines Brennglaſes anſehen kannſt. An dem Rande dieſer Scheibe, aber noch auf der oberen Fläche, ſtehen 16 ziemlich ſtarre Fäden, die meiſtens nach unten hin gebogen ſind. Der Randſaum iſt in eine entſprechende Anzahl von Taſchen gefaltet, deren jede ein Ei enthielt, welches etwa die Größe eines Stecknadelkopfes hatte, und trotz feiner vollkommenen Durchſichtigkeit ſich ſehr wohl mit bloſen Augen er— kennen ließ. Bei der mikroſkopiſchen Unterſuchung zeigten ſich dieſe Eier in nichts verſchieden von den— jenigen, welche wir in den Pelagien zu ſehen ge— wohnt waren. Du weißt, daß Dujardin in der neueren Zeit recht merkwürdige Aufſchlüſſe über die Meduſen und deren Entſtehung gegeben hat. Während Siebold und Sars nachgewieſen hatten, daß die Eier der Medu— ſen ſich zu eigenthümlichen polypenartigen Geſchöpfen ausbildeten, welche ſich mit einem Ende feſtfetzten, und an dem andern Ende einen Tentakelkranz er— hielten, zeigte Dujardin auf der anderen Seite, daß gewiſſe Polypen, welche mit der Hydra, unſerem gewöhnlichen Süßwaſſerpolypen, Aehnlichkeit hätten, auf ihrem Stengel eigenthümliche Sproſſen trieben, welche ſich nach und nach entwinkelten, ablöſten, und als vollkommene Meduſen in dem Waſſer ſchwäm— men. Dujardin hatte dieſe Beobachtung, welche ein neues bindendes Glied zwiſchen Polypen und Medu— ſen herſtellte, an Polypen gemacht, die er ſeit Jahren in Seewaſſer aufbewahrt. Wenn ich die Figuren zur Hand nehme, die er von ſeinen Meduſen gibt, — 308 — und ſte mit dieſer Cunina vergleiche, welche wir frei— ſchwimmend im Meere fingen, ſo drängt ſich mir unwillkürlich die Ueberzeugung auf, daß dieſe Weſen nur eben ſolche Entwicklungsformen von Polypen ſeien, die wie viele entwickelten Inſecten nur Träger der Geſchlechtseigenthümlichkeit, nicht aber dazu be— ſtimmt ſind, Nahrung zu ſich zu nehmen. Es ſcheint mir überhaupt, als wenn die Claſſe der Meduſen einer gänzlichen Auflöſung entgegen— gehe, die vielleicht durch ſpätere Unterſuchungen un— abweislich dargethan wird. So wie ſie jetzt exiſtirt, beſteht ſie aus drei verſchiedenen Typen, deren Aehn— lichkeit ich auch bei dem beſten Willen nicht einzu⸗ ſehen vermag. Die Scheibenquallen, Glockenquallen oder Schirmquallen unterſcheiden ſich durch ihre vielfachen Randkörper, durch den ganzen Plan ihrer Organiſation außerordentlich von den Rippenquallen, die vielleicht ein ſpäterer Claſſificator wegen ihres Geſammtbaues und namentlich auch wegen des ein— fachen Nervenſyſtemes, das aus einem einzigen Knoten beſteht, den Salpen und Aſeidien nähern wird. Ges länge es uns demnach zu beweiſen, daß die Rippen— quallen dieſen Thieren, alſo den Molluſkoiden angereibt werden müſſen, während die Scheibenquallen nur „ eine eigenthümliche Entwicklungsform polypenartiger Geſchöpfe darſtellen, jo würde von der ganzen Klaſſe nur noch eine einzige Ordnung übrig bleiben, die Röhrenquallen, über deren Bedeutung ich weit ent— fernt bin, im Klaren zu ſein. Schon bei früheren Excurſionen bemerkten wir unter den umherſchwimmenden Quallen eigenthümlich ſchimmernde Körper, die etwa wie ein Haufen zu— ſammengereihter Flöckchen erſchienen, und von unſeren Fiſchern Federbüſche (plumets) genannt wurden. Man ſah ein ſolch ätheriſches Weſen, deſſen Umriſſe im Waſſer man unmöglich erkennen konnte, etwa über den Raum einer Spanne ausgebreitet. Suchte man aber das Ding zu fangen, ſo fand man nur ein ganz kleines röthlich ſchimmerndes Klümpchen zerfaſerter Gallertmaſſe in dem Glaſe. Man mußte glauben, der Fang ſei verunglückt. Wir hatten eines Tages ein ſolches Federbüſchchen, deſſen Zerſtückelung wir, wie ſchon geſagt, bedauerten, nach Hauſe mitgenommen, und erſtaunten nicht wenig, als wir bei längerem ruhigen Stehen daſſelbe ſich ausdehnen, und auf's Neue jene Länge gewinnen ſahen, welche es in dem Meere gehabt hatte. Nun erinnerte ich mich auch, daß Milne-Edwards mir — 310 — eines Tages eine wunderſchöne Zeichnung vorgelegt hatte, welche eine zuſammengeſetzte Röhrenqualle, eine Stephanomie darſtellte, und ich erkannte auf den erſten Blick ein Original dieſer Zeichnung. An dem heutigen Tage waren die Federbüſche unend— lich zahlreich, und wir fiſchten große Exemplare, die im ausgedehnten Zuſtande wohl mehr als einen Fuß Länge hatten. Da wir uns ſchon vorher mit der genaueren Betrachtung eines ſolchen Weſens viel abgegeben hatten, ſo iſt es mir jetzt möglich, Dir eine etwas genauere Beſchreibung davon zu geben, die zwar etwas ſchwer verſtändlich iſt, da das Thier aus einer Menge von einzelnen Theilen beſteht. Ein weſentlicher Theil des Ganzen beſteht aus einem mittleren contractilen Stiele, der eine walzen— förmige Geſtalt hat, und offenbar in ſeinem Inneren hohl iſt. Dieſer gemeinſchaftliche Stiel hat eine ſchwach roſenrothe Farbe, iſt ſelbſt im Zuſtande der größten Ausdehnung ſpiralförmig gewunden und trägt an ſeinem einen Ende, welches wir das vordere nennen wollen, ein eiförmiges Knöpfchen, welches mit einer Luftblaſe gefüllt iſt. Unmittelbar unter dieſer Luftblaſe ſitzen nun in ſpiraligen Reihen — 311 — vollkommen durchſichtige birnförmige Glocken, die eine knorpelige Conſiſtenz haben, und von Oben nach Unten an Größe zunehmen. Die ausgebildeten unteren Glocken haben eine geräumige innere Höhle mit oberer kreisrunder Oeffnung, die zum größten Theile von einer quer geſpannten Membran ver— ſchloſſen iſt, welche in der Mitte von einer Oeffnung durchbohrt iſt. Stelle Dir einen Augapfel vor, deſſen vordere durchſichtige Haut weggenommen iſt, und Du haſt etwa ein Bild dieſer Glocken. Die Regen— bogenhaut des Auges mit dem Sehloche in der Mitte würde der quer geſpannten Membran entſprechen, welche die vordere Mündung der Glocke theilweiſe verſchließt. Je näher dem oberen Ende des Stieles, deſto unvollkommener ſind auch dieſe Glocken, die ſich aus kleinen Knöſpchen hervorbilden, welche, ans fangs ſolide, ſich nach und nach aushöhlen. 5 Die ausgebildeten Glocken, deren Höhle von einem feſteren Ringe und vier Knorpelſtäbchen be— tragen wird, die nach Unten ſich zu einem Stiele vereinigen, ſind in beſtändiger Bewegung, und ver— mitteln offenbar das Schwimmen des ganzen Weſens. Sie klappen äußerſt lebhaft auf und zu, und be— wegen ſo das Ganze nach allen Richtungen hin in — 312 — dem Waſſer umher, wobei es ſich zugleich ſchrauben— förmig um ſeine Achſe dreht. Wir können deshalb dieſe Glocken füglich die Schwimmglocken nennen. Sie reißen ſich außerordentlich leicht los, und ſchwimmen dann ganz frei und ſelbſtſtändig Tage lang im Waſſer umher, ohne daß man in der Ener— gie ihrer Bewegungen die mindeſte Abnahme erkennen könnte. An einer Stelle ihres Randes befindet ſich ein ſchwefelgelber Fleck, der aus einem Körnerhaufen beſteht, und deſſen Bedeutung wir nicht zu enträth— ſeln vermogten. Der Ring, die Knorpelſtäbchen neben der Höhle und der aus ihrer Vereinigung gebildete Stiel erſcheinen hohl, und vielleicht findet in ihnen eine Circulation waſſerheller Flüſſigkeit ſtatt. Die Schwimmglocken nehmen etwa das obere Drit— tel des gemeinſchaftlichen Stieles ein und bei allen Be— wegungen des Ganzen geht dieſer Theil voran. An den beiden hinteren Dritttheilen des Stieles hängen nun durchaus verſchieden geſtaltete Körper in großer Anzahl, welche eine hellzinnoberrothe Farbe dem bloßen Auge erkennen laſſen, und von den Beobach— tern als die Saugröhren der Stephanomie bezeichnet werden. Ein ſolcher zinnoberrother Körper, iſolirt, würde von Jedem für einen vollſtändigen Polypen — 313 — erklärt werden. Es iſt in gewöhnlichem Zuſtande der Ausdehnung ein birnförmiger Schlauch mit weiter vorderer Mundöffnung, der mittelſt eines langen Stieles auf dem Geſammtſtiele feſtſitzt. Die Mundöffnung führt in eine weite Höhle, deren faltige Wände die Körner jenes zinnoberrothen Pig— mentes enthalten, das dem ganzen Schlauche die Farbe ertheilt. Dieſer ſelbſt iſt einer außerordent— lichen Ausdehnung fähig, taſtet und wühlt beſtändig umher, während der fchwanfe Stiel, auf dem er ſteht, ſich bald ausdehnt, bald zuſammenzieht, und fo die höchſte Beweglichkeit der Saugröhre ver— mittelt. Sehr oft heftet ſich dieſe mit ihrer Mund— öffnung irgendwo an, und dehnt ſich dann dergeſtalt aus, daß der ganze Schlauch etwa die Geſtalt des Blumenkelches einer Glockenblume oder einer Gentiana annimmt. Dann tritt auch in dieſen Augenblicken höchſter Expanſion eine radiäre Anordnung voll— kommen deutlich hervor, indem das trichterförmig ausgeſpannte Mundſtück eine achteckige Geſtalt an⸗ nimmt. Da, wo der zinnoberrothe Schlauch auf ſeinem ſchlanken Stiele aufſitzt, findet man eine ungemeine An— zahl von Fangfäden angeheftet, die überall mit mikroſ— — 314 — kopiſchen Neſſelorganen wie geſpickt erſcheinen, und einen Büſchel von Franzen bilden, der die Baſis der Saugröhre umgiebt, etwa wie ein Franzenbüſchel an einem Glockenzuge, oder an dem Zugſeile eines Vorhanges. Einige dieſer Fangfäden find nur etwas weißlich durch die kleinen Koͤrnchen der Neſſelorgane, welche in ihrer gallertartigen Maſſe zerſtreut ſind. Andere aber tragen größere Kapſeln, in welchen ganz eigenthümliche braune Körper aufgeſchichtet liegen, welche eine eigenthümliche Modification der gewöhnlichen Neſſelkapſel darzuſtellen ſcheinen. So trägt denn ein jedes ſolches Saugröhrenſtück eine ungemeine Anzahl von Fangorganen, die auf das Ganze berechnet, wohl in der Zahl von mehren Tauſenden vorhanden ſein mögen. Doch dies iſt noch nicht Alles. Zwiſchen den ausgebildeten Saugmündungen ſtehen auf ähnlichen Stielen andere, die eine gleiche Beweglichkeit beſitzen, an ihrem vorderen Ende aber geſchloſſen erſcheinen, und vielleicht nur unausgebildete Saugröhren dar— ſtellen mögen. Die Baſis dieſer Organe beſtitzt keine Fangarme, ſondern nur knoſpenartige Aus— wüchſe, die meiner Anſicht nach zu Fangarmen ſich ausbilden mögen. An der Wurzel ihrer Stiele, — 35 — wie an derjenigen der ausgebildeten Saugmündung finden ſich birnförmige hohle Kapſeln, in denen man unter ſtarken Vergrößerungen des Mikroſkopes ent— weder lebhaft bewegte Samenthierchen oder runde Körper entdeckt, welche wohl Eier ſein dürften. Die Höhlung dieſer Kapſeln ſteht mit der Höhlung des Stieles und dieſe wieder mit dem Kanale in Ver— bindung, welcher den gemeinſamen Stiel durchläuft. Eine Menge keilartiger Knorpelſtücke, die ihrer höchſten Durchſichtigkeit wegen uns anfangs entgin= gen, decken von allen Seiten den Stiel, ſo daß die Saugmündungen ſich darunter zurückziehen können. So iſt dieſes ſeltſame Weſen zuſammengeſetzt, deſſen Beobachtung uns manchen Tag beſchäftigte. Da die Magenhöhle der Saugmündungen ſich durch ihren contractilen Stiel nach Innen fortſetzt, jo bil— det der Canal des Geſammtſtieles eigentlich ein ge— meinſames Reſervoir, das mit allen Organen ohne Ausnahme, mit den Schwimmglocken, den Ge— ſchlechtskapſeln und den ernährenden Saugmündungen communicirt. Wie iſt nun die Organiſation eines ſolchen Weſens zu verſtehen? Bei der ungemeinen Complication der Stepha— nomie und der großen Menge von einzelnen Organen, — 316 — welche ſich an einem Stamme befinden, ſcheint dieſe Frage allerdings ziemlich ſchwierig zu beant— worten. Indeſſen fanden wir, wenn auch ziemlich ſelten, zwei andere Organismen ähnlicher Art, welche einige Aufklärungen verſprachen. Der Eine erſchien in dem Meere als ein Zäpfchen, etwa von der Größe einer Haſelnuß, oben gerundet, unten keilförmig zu— geſchärft, aus deſſen ſcharfem Ende einige milchweiße Fädchen heraushingen. Wir fingen mehre dieſer Organismen, und ſahen dann bei genauerer Betrach— tung, daß das Zäpfchen aus mehren knorpeligen Schwimmblaſen beſtand, die in zwei gegenüber— ſtehenden Längsreihen dicht an einander geheftet waren, und ebenſo wie die Schwimmhöhen der Ste— phanomie von oben nach unten an Größe zunahmen. Es mochten in einer Reihe etwa vier bis fünf ſolcher Schwimmblaſen ſich befinden, die an der ausge— höhlten Seite eine weite Oeffnung beſaßen, welche durch einen klappenden Deckel gänzlich verſchloſſen werden konnte und etwa die Geſtalt eines Pferdehufes hatten. Aus dieſem Grunde nannte auch der alte Reiſende Forskal den ganzen Organismus Hippopo— dius. Der gemeinſame Stiel, der an ſeinem oberen Ende ebenfalls ein Luftbläschen und die kleinen Knoſpen trägt, aus welchen ſich die Schwimmblaſen entwickeln, hat in ausgedehntem Zuſtande etwa die Dicke einer Borſte und die Länge von einem Fuße, kann ſich aber gänzlich zwiſchen die Schwimmhöhlen— ſtücke zurückziehen. In dem Raume jedes halben Zolles etwa hängt eine milchweiße Saugröhre, welche ganz in ähnlicher Weiſe organifirt iſt, wie die der Stephanomie, ganz wie dieſe auf einem hohlen Stiele ſitzt, der mit dem gemeinſamen Canale com— munieirt, aber nur einen einzigen langen Fangfaden an ihrer Baſis trägt, welcher von Zeit zu Zeit mit Neſſelkapſeln beſetzt iſt, die an eigenen Fäden auf— gehängt ſind. Deckſtücke, aus Knorpel gebildet, wie bei der Stephanomie, beſitzen die einzelnen Saug— röhren nicht. Wie Du ſiehſt, iſt der Plan der Organiſation ganz der nämliche, und der Unterſchied, abgeſehen von der äußeren Form, nur darin be— gründet, daß die einzelnen zuſammenſetzenden Theile beim Hippopodius weiter auseinandergerückt und dadurch klarer in ihrem Baue ſind, als bei der Stephanomie. Dieſe Individualiſation geht noch weiter bei einem dritten Thiere, von dem wir leider nur ein einziges Eremplar fanden, das aber ein wahres Prachtſtück ge— — 318 — weſen zu fein ſcheint. An dem vorderen Ende be— fanden ſich zwei knorpelige Schwimmblaſen, welche zuſammen die Größe einer welſchen Nuß haben mochten, und die zwiſchen ihren concaven Seiten den Anfang des gemeinſchaftlichen Stieles bargen, welcher ebenfalls mit Knoſpen beſetzt war. Die obere Hälfte dieſer beiden Schwimmblaſen erſchien ſolid bis auf eine kleine Höhlung jederſeits von der Weite eines dicken Stecknadelkopfes, welche nicht Luft, ſondern eine ölartige Flüſſigkeit zu enthalten ſchienen. Nach hinten hin zeigten ſich, ausgehöhlt in der Maſſe, die klappenden Schwimmhöhlen, welche eine runde Oeffnung hatten, deren häutige Einfaſſung ſich ab— wechſelnd zuſammenzog und ausdehnte. Es fanden ſich nur dieſe zwei Schwimmblaſen und die ganze Beſchaffenheit des Thieres zeigte, daß dieſes auch die normale Zahl ſei. Der gemeinſame Stiel, welcher ſich gänzlich zwiſchen die hinteren ausgeſchweiften Flächen der Schwimm— hölenſtücke zurückziehen kann, trug bei unſerem Exemplare eine Anzahl von 38 Saugröhren, die beſonders dadurch merkwürdig waren, daß eine jede derſelben als vollſtändiges Individuum betrachtet werden konnte. Die Größe dieſer Individuen nahm — . 3%, — von Oben nach Unten zu. Das Letzte hatte die Dicke einer bedeutenden Erbſe. Jedes ſolches Individuum beſtand aus einer knorpeligen Deckſchuppe, aus einer klappenden Schwimmblaſe, ähnlich den beiden großen, welche das Ganze bewegten, aus einem Saugröhren— ſtücke mit einem Pakete von Fangfäden, und einer Geſchlechtskap8ſel, welche der Baſis der Saugröhre gegenüber an dem gemeinſamen Stiele feſtſaß. Die knorpelige Deckſchuppe eines ſolchen Einzel— individuums hat etwa die Geſtalt der Blume des Eiſenhutes, und konnte in ihre innere Höhlung das ganze Individuum aufnehmen. In ihrer ziemlich dicken Maſſe befindet ſich ebenfalls als hydroſtatiſches Element ein Bläschen mit dlartiger Flüſſigkeit ge— füllt. Die kleine Schwimmblaſe, welche in dem oberen Ausſchnitte der Knorpelſchuppe befeſtigt iſt, hat eine koniſche Form und ſteckt mit dem ſpitzen Ende in der Knorpelſchuppe feſt, während die abgeſchnittene Baſis die klappende Oeffnung zeigt. Die Saugröhre trägt an ihrer Baſis wurzelartige unentwickelte Fang— fäden und meiſtens einen größeren Fangfaden, an welchem mehre Neſſelkapſeln befeſtigt ſind. Die Structur dieſer Theile wurde uns hier erſt recht klar. Es find nämlich die Fangfäden aus einzelnen — 320 — Gliedern zuſammengeſetzt, welche etwa wie die Theile, eines zuſammenlegbaren Maßſtabes in einander ge— ſchlagen werden können. Da außerdem noch dieſe Glieder eine hohe Contractilität beſitzen, ſo erſcheint ihre Reduction auf einen kleinen Raum um ſo leich— ter begreiflich. Auch die Structur der Neſſelkapſel erkannten wir an dieſem Thiere. Die langen ſpieß— artigen Nadeln von hellbrauner Farbe, welche in dieſen Kapſeln verborgen ſind, können wahrſcheinlich durch einen Spiralfaden, der unter ihnen in Geſtalt einer phrygiſchen Mütze aufgerollt iſt, heraus ge— ſchnellt werden. Es ſitzen dieſe Kapſeln bei unſerem Thiere auf langen Fäden feſt, die ebenfalls ſehr con— tractil find. In den Geſchlechtskapſeln, deren je eine an der Baſis eines Saugmundes ſitzt, finden ſich entweder lebhaft bewegte Samenthierchen oder auch Eier. 5 Du ſiehſt, daß die Abſtufung der allmähligen Individualiſirung unter den drei aufgeführten Typen eine ſehr allmählige iſt, und daß namentlich bei dem letzten wohl nicht in Abrede geſtellt werden kann, daß der ganze Organismus eher als eine Kette zu— ſammen verbundener Individuen, denn als ein ein— ziges Individuum betrachtet werden muß. Es fällt a: keinem Menſchen ein, einen ganzen Polypenftod als ein einziges Individuum zu betrachten; — er iſt eine Sammlung, ein Aggregat von einzelnen Thieren, die nur durch ein gemeinſchaftliches Band an ein— ander gekettet ſind. Iſt nicht bei den meiſten Poly— pen der Magen an ſeinem Grunde geöffnet, und geht nicht dieſe Oeffnung bei den meiſten in Canäle über, welche die ganze Grundmaſſe durchziehen und deren Ernährung bedingen? Sproſſen nicht aus dieſer ge— meinſamen Grundmaſſe bei vielen Polypen jene eigen— thümlich geftalteten, kapſelartigen, geſchlechtlichen In» dividuen, welche einigermaßen den Geſchlechtskapſeln unſerer Röhrenquallen gleichen, und niemals zur Aufnahme von Nahrung beſtimmt ſind? Beſtimmt uns dies in irgend einer Beziehung die Individualität dieſer Einzelthiere wegzuläugnen, und nur ihr ganzes Aggregat als ein Thier, die Individuen aber nur als einzelne Organe zu betrachten? Und wenn nun eine ſolche Polypencolonie, die ſtets feſtſitzt und den Ort nicht verändern kann, ſchwimmend gemacht werden ſoll und zur Locomotion fähig, was bleibt dann anders übrig, als Schwimmblaſen an die Mutterſubſtanz eines ſolchen Aggregates anzuſpannen, und ſo den ganzen Organismus gleichſam am Voal's Briefe !. 21 2 Schlepptaue umherzuſchleifen? Iſt es nicht bei Weis tem einfacher, dieſe Schwimmblaſen als Individuen anzuſehen, und eine ſolche Röhrenqualle als eine Colonie ſchwimmender Polypen, die an einen ge— meinſamen Stiel geheftet in dem Meere umher— ſchwimmen, und aus verdauenden Individuen, den ſ. g. Saugröhren, aus geſchlechtlichen Individuen, den Samen- und Eierkapſeln, und ſchwimmenden Individuen, den Schwimmkapſeln beſtehen? Ich kann mich von dieſer Anſicht nicht trennen, und je mehr ich ſie überdenke, deſto rationeller und folgeſchwerer erſcheint ſie mir, da ihre Durchführung die Aufhe— bung der ganzen Klaſſe der Meduſen bedingen würde. Du wirſt mir freilich einwenden, daß es noch andere Thiere unter den Röhrenquallen gebe, von denen man wohl dieſe Anſicht nicht feſthalten könne. Ich habe genug bedauert, daß jene niedliche Knor— pelquallen, die man Velellen genannt hat, und die manchmal im Winter plötzlich in Schwärmen von Hunderttauſenden an der Küſte von Villa franca erſcheinen, ſich bis jetzt noch nicht haben zeigen wollen, und daß ich vielleicht gar keine Gelegenheit haben werde, ſie zu ſehen. Allein ſind dieſe Thiere — 323 — hinlänglich unterſucht? Kannft Du behaupten, daß fie wirklich wahre offene Saugmündungen ohne einen centralen Mund beſitzen? Weißt Du, ob es nicht vielleicht ſchwimmende Schwammkorallen, oder ſchwimmende Actinien find und ob ihre für Saug— näpfe gehaltenen Organe nicht für Tentakeln, gleich den Fangarmen der Seeanenomen, gehalten werden müſſen? Auf alle dieſe Fragen kann in unſerer Zeit Niemand genügende Antwort ertheilen, und ich meine, wir dürften in der Zoologie einmal den alten Grundſatz anwenden, der ſchon manchem ehr— lichen Manne übers Glatteis geholfen hat. Was ich nicht weiß, das macht mir nicht heiß. Was brauchen wir Rückſicht zu nehmen auf Dinge, die uns nur halb bekannt find, und uns mit dem Val: laſte herumzuſchleppen, ehe wir wiſſen, wo wir ihn abladen ſollen? Nehmen wir uns den Muth, die Stephanomien, die Hippopodien und ihre Verwand— ten als ſchwimmende Polypencolonieen zu betrachten und erwarten wir, was uns die Zeit über die See— blaſen und die anderen Röhrenquallen ſagen wird, deren genauere Unterſuchung ein dringendes Be— dürfniß ſcheint. — 7. Nizza den 28. Dezember 1846. 50 d Seit einiger Zeit iſt faſt täglich muſikaliſcher Spektakel an einem Hauſe der Croix de marbre, welches von irgend einem Mitgliede, wenn ich nicht irre, eines deutſchen Fürſtenhauſes, ich glaube von der Fürſtin v. L. bewohnt wird. Auch ein Prinz ift da, deſſen Erziehung in der franzöſiſchen Schweiz vollendet wurde, und deſſen Andenken in den höheren Geſellſchaftskreiſen der principauté modele de Neu- chätel durch eine eigenthümliche Erfindung noch län— gere Zeit erhalten blieb. Du haſt gewiß ſchon oft, wenigſtens in Deinen Jugendjahren „ſchwarzen Peter“ geſpielt; — in Neuchatel ſpielt ſeit jener Zeit das Publikum d. h. der Extract der Geſellſchaft „weißen Peter“. Das Spiel iſt das nämliche. Die Buben werden ebenfalls entfernt, nur daß ſtatt des Schippen-Buben der Eckſteinbube bleibt, wenn man nur mit Herren, dagegen der Herzbube, wenn man mit Damen ſpielt. Einem Freunde von mir, denn ich ſelbſt hatte nie das Glück, an dieſen intereſſanten Abendunterhal— — 3 — tungen Theil zu nehmen, vertraute der Gouverneur des Prinzen, daß dieſes Wechſeln der Buben eine zarte Anſpielung darauf ſei, daß man gegen Männer ſtolz, gegen Damen herzlich ſein müſſe. Die Strafe für das Ueberbleiben des unglücklichen Buben war ebenfalls verändert, was auch die Umänderung des Namens bedingte. Man bediente ſich nicht jenes widerlich angebrannten Korkſtopfens, um Schnurr— bärte auf die feine Haut zu malen, noch auch jener häßlichen Klemme, welche die Berliner Droſch— kenführer „dem Schafskopp“ aufſetzen, ſondern dem Beſitzer des „weißen Peter“ präſentirte der Bediente einen Teller des feinſten Waizenmehles, in welches er ſein Geſicht ſtecken mußte. Die Gegenwart dieſer fürſtlichen Perſonen läßt uns faſt täglich eine Militärmuſik zu Statten kom- men, welche der Gouverneur von Nizza aus Artig— keit aufſpielen läßt. Wir hatten uns heute unter das Volk gemifcht,, hauptſächlich um uns des An blickes eines orginellen Muſikdirectors zu erfreuen, der ſeinen Muſikern den Tact nicht ſchlug, ſondern kaute. Der Mann hatte nämlich ſehr magere hohle Backen und gewaltig entwickelte Kaumuskeln, die jedes Mal, wenn er die Zähne zuſammenbiß, wie — 326 — zwei dicke Wülſte an feinen Kinnbacken bervortraten. So zeigte er denn den Tact durch das Spiel ſeiner Kaumuskeln recht deutlich, und wenn irgend ein Inſtrument einen faͤlſchen Ton blies, oder nicht zur rechten Zeit einſetzte, ſo zog er den Mundwinkel nach der Seite der Trompete, die den Fehler be— ging, und that einen gewaltigen Biß, der die Backen auseinander zu ſprengen drohte. Sonſt aber ſtand er vollkommen ordonanzmäßig mit beiden Armen ſtramm an den Leib gezogen. Es fiel uns ein Individuum auf, eine wohlge— nährte blonde Geftalt, welche in wahrhaftem Entzücken unter dem Menſchenhaufen umherging, und den rauhen provengalifchen Dialect der Nizzaner mit unendlichem Wohlgefallen zu hören ſchien. Unſer Mann lachte mit dem ganzen Geſichte, guckte die kleinen, häßlichen Weiber und Mädchen an, als wären ſie Ideale von Schönheit und geberdete ſich überhaupt, wie wenn er trunken vor Freude und Entzücken wäre. „Das iſt gewiß ein deutſcher Profeſſor,“ ſagte mir Her— wegh, „der ſo glücklich iſt, höchſtem Urlaube gemäß, einen Winter in Italien zubringen zu dürfen. Er betritt heute zum erſten Mal den klaſſiſchen Boden, den er umarmen und küſſen möchte. Die theoretiſche — 327 — Begeiſterung, die er aus Alten und Neuen geſogen, findet an jedem Grashälmchen Nahrung und wäre ſein Reiſegeld nicht etwas karg zugemeſſen, er würde die Kieſel am Meeresſtrande kaufen, um ſie als An— denken mitzuſchleppen.“ — „Ich glaube, Ihre Anſicht iſt richtig, erwiederte ich ihm. Der gelehrte Philiſter guckt dem Manne wirklich aus allen Ecken heraus. Wir wollen ihn auf die Probe ſtellen.“ Ich ſuchte hinter den Rücken des Enthuſiaſten zu gelangen, und ſagte ganz laut: „Guten Abend, Herr Profeſſor!“ worauf ich mich ſchnell duckte, meinen grauen Räu— berhut etwas auf die Seite ſetzte, und mit Herwegh eine ganz gleichgültige franzöſiſche Phraſe austauſchte. Du hätteſt ſehen ſollen, wie der Profeſſor mit einer Hand den Hut zum Grüßen herabriß, während er mit der andern in die Höhe fuhr, um ſein Erſtaunen, einen Bekannten zu treffen, kund zu thun. „Schönen guten Abend, rief er mit lauter Stimme, indem er ſich umdrehte. Wie habe ich“ — und hier blieb er mit weit geöffnetem Munde ſtehen, da ihm Niemand ins Auge fiel, den er hätte begrüßen können. Drei, viermal rannte er an uns vorüber, den Grüßen— den zu ſuchen, allein unſere Schnurrbärte, die ver— wegenen grauen Hüte, und unſer ganzes Anſehen — ſchien ſo wenig in den Typus der Bekannten des guten Mannes zu paſſen, daß er bald von dem Verſuche abſtand, die Perſon zu ergründen, die ihn ſo freundlich auf italieniſchem Boden bewillkommt hatte. Wir freuten uns noch lange über die Schärfe unſerer Menſchenkenntniß, und wir erörterten beim Abendtiſche mit vieler Heiterkeit die Frage: Woher es doch komme, daß man den deutſchen Profeſſor überall und aller Orten wiedererkennt, und was ihm wohl dieſen unverlöſchlichen Character auf— drücke, der ihn in allen Lebensverhältniſſen auszeich— net? „Der deutſche Profeſſor, meinte Herwegh, iſt erſt Profeſſor, und dann Menſch. Er trägt ſeinen Catheder unſichtbar mit ſich herum, wie der Eng— länder ſeinen Theekeſſel, und wenn man eine Stunde mit ihm zuſammengeweſen iſt, ſo kann man getroſt den Hut ziehen und ſagen: „danke für gütige Be— lehrung!“ — Wo er auch geht und ſteht, er iſt in ſeinem Hörſale oder in ſeiner Bibliothek, und den Schlafrock bekommt er nicht aus, ſelbſt wenn er den Talar anzöge. Haben Sie ſich den Mann an— geſehen? ſagte mein poetiſcher Freund ganz im Feuer. War ihm nicht ſogar in dem weiten Pale— tot die Sehnſucht nach dem Schlafrock ausgedrückt? 38298 Ich möchte ein Gedicht gegen dieſe Schlafröcke ſchreiben, die der Grund des Ruins unſerer deutſchen Ge— lehrten ſind!“ In dieſem Tone ging es weidlich fort und ich muß Dir ſogar mit Beſchämung geſtehen, daß ich zuweilen nicht übel ſecundirte und mich beſtrebte, hinter meinem Freunde nicht zurückzubleiben. Wir kamen vom Hunderſten ins Tauſendſte, und wie es zu gehen pflegt, wenn man einmal im Zuge iſt, | wir recapitulirten unſere ganze Gymnaſial- und Uni— verſitätszeit und hatten uns ſo Manches vom Stift in Tübingen, und vom Gymnaſium in meiner Vater— ſtadt, von Carcer und Examen, Verbindungen und Paukweſen zu erzählen, daß unſer Gaſtwirth am Ende hätte glauben können, wir wären von dem Cham— pagner berauſcht, mit dem wir dieſe Erinnerungen und unſeren Sieg über den deutſchen Profeſſor feierten. Als wir nach Hauſe kamen, fand ich auf dem Tiſche ein ziemlich voluminöſes Paket, hinter dem ich gleich etwas Auſſerordentliches vermuthete, da ſonſt die Correſpondenz meiſt nur gewöhnliche Briefe oder zuweilen Briefchen liefert. Ironie des Schick— ſals! rief ich aus, nachdem ich das Couvert erbrochen Vogt's Briefe. I. Bd. 21 — 330 — und den Inhalt flüchtig angeſehen hatte. Herwegh warf einen Blick hinein, warf die Hände vor das Geſicht, ſteckte ſich ſtillſchweigend ſein Licht an ging in ſeine Kammer und ſchlug die Thüre zu, daß die Scheiben klirrten. — Er ließ mich als Profeſſor ſitzen. Ende des Erſten Bandes. RAR MAR 49 1976 8 2 W ns or 18 a — IIIa ll. s! PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY QL Vogt, Karl Christoph 133 Ocean und Mittelmeer V6 Bd. 1 BioMed.