[2 Rs Ei TR Palaeontologie | und Descendenzlehre. „= Vortrag => } gehalten in der allgemeinen Sitzung der naturwissenschaftlichen Hauptgruppe der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in: Hamburg am 26. September 1901 von Ernst Koken, Professor _der Geologie und Palaeöntologie in Tübingen. —— Mit 6 Figuren im Text Verlag von Oustav Fischer in: Jena. 1902. VERLAG VON GUSTAV FISCHER IN JENA. Die Naturwissenschaftliche Wochenschrift, Redaktion Prof. Dr. H. Potoni6, die vom 1. Oktober ab aus dem Ferd. Dümmler’schen Verlag zu Berlin in den Verlag von Gustav Fischer in Jena überging, eröffnete hiermit einen neuen Jahr- gang. Der Jahrgang wird künftig vom 1. Oktober bis 30. September laufen. Gleichzeitig ist eine wesentliche Erweiterung der Ziele der Natur- wissenschaftlichen Wochenschrift eingetreten. Fortan ist es das Be- streben, auch die sogenannten exakten Disciplinen in gleichem Masse zu pflegen wie die übrigen Zweige der Naturwissenschaft. Zu diesem Zweck ist ein besonderer Mitredakteur in der Person des Herrn Oberlehrer Dr. F. Koerber gewonnen worden. Ferner besteht die Absicht, neben Aufsätzen über eigene Forschungen, sofern sie für weitere Kreise ein Interesse haben, insbesondere Zusammenfassungen über bestimmte Forschungsgebiete zu bringen, die die Gegenwart in besonderem Maasse in Anspruch nehmen, sowie kleinere Mitteilungen über die neuesten Fortschritte sowohl der reinen Wissenschaft als auch ihrer praktischen Anwendung. Unter Berücksich- tigung dieser Gesichtspunkte gestaltet sich nunmehr das Programm der Natur- wissenschaftlichen Wochenschrift folgendermassen. Es sollen gebracht werden und zwar in erster Linie, sofern es sich um allgemein interessante, aktuelle und die Wissenschaft bewegende Dinge handelt: 1. Original-Mitteilungen. 2. Zusammenfassungen (Sammelreferate) über bestimmte Forschungsgebiete. 3. Referate über einzelne hervorragende Arbeiten und Ent- deckungen. 4. Mitteilungen aus der Instrumentenkunde, über Arbeitsmethoden, kurz aus der Praxis der Naturwissenschaften. 5. Bücherbesprechungen. ö. Mit- teilungen aus dem wissenschaftlichen Leben. 7. Beantwortungen von Fragen aus dem Leserkreise. Die Naturwissenschaftliche Wochenschrift wird sich bemühen, ein Repertorium der gesamten Naturwissenschaften zu sein, und zwar diese im weitesten Sinne genommen. Wenn demnach auch der wissenschaftliche Charakter der Wochensehrift durchaus gewahrt bleiben soll, so ist es doch die Absicht, den Text nach Mög- lichkeit so zu gestalten, dass der Inhalt jedem Gebildeten, der sich ein- gehender mit Naturwissenschaften beschäftigt, verständlich bleibt. Mitteilungen über neue Thatsachen werden so zur Darstellung gebracht, dass die- selben durch einige geeignete einleitende Worte in das richtige Licht gerückt, in Zusammenhang mit bereits allgemein Bekanntem gesetzt werden, und es wird endlich darauf geachtet, dass das Verständnis durch Beigabe von Abbildungen nach Möglichkeit erleichtert werde. Die Verlagshandlung bringt in Anbetracht des von Jahr zu Jahr steigenden Interesses weiterer Kreise für die Naturwissenschaften die Zeitschrift zu einem Preise in den Handel, durch welchen die Verbreitung in allen Teilen der Bevölkerung ermöglicht wird. Vom 1. Oktober 1901 ab wird die „Naturwissenschaftliche Wochen- schrift“ anstatt zum bisherigen Preise von 16 Mark jährlich zu dem ganz ausser- ordentlich niedrigen Preise von 1 Mark 50 Pf. für das Vierteljahr, also 6 Mark für den ganzen Jahrgang abgegeben. Es ist das Bestreben, die Naturwissenschaftliche Wochenschrift trotz des niedrigen Preises in der äusseren Ausstattung, namentlich auch hinsicht- lich der Abbildungen wesentlich zu vervollkommnen. Es steht zu hoffen, dass auf diese Weise der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift weite Kreise erschlossen werden, welche bisher mit Rücksicht auf den hohen Preis trotz allen Interesses auf die Anschaffung verzichten mussten. Palaeontologie und Descendenzlehre. = Vortrag = gehalten in der allgemeinen Sitzung der naturwissenschaftlichen Hauptgruppe der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in Hamburg am 26. September 1901 von Ernst Koken, Professor der Geologie und Palaeontologie in Tübingen. —— Mit 6 Figuren im Text. Verlag von Gustav Fischer in Jena. 1902. Alle Rechte vorbehalten. . MUS. COMP. ZUOL.| LIBRARY HARVARD. UNIVERSITY Durch die ersten Erfolge der im Anfange des 19. Jahrhunderts aufblühenden historischen Geologie, durch die Beobachtungen über den Zusammenhang der grossen, versteinerungsführenden Formationen und über das Ausharren mancher Arten durch mehrere geologische Zeitabschnitte wurde das alte biblische Dogma schwer erschüttert. Der Ausbau der Schöpfungslehre mit Berücksichtigung jener That- sachen führte zu immer komplizierteren Annahmen. Die Kataklysmen- und Katastrophentheorie, welche man noch mit den Schöpfungstagen der Mosaischen Lehre in Einklang zu bringen versucht hatte, erwies sich in ihrer starren Form als unhaltbar und ste verlangte eine solche Menge von Zusatzparagraphen, dass die Ueberzeugung, es müsse eine einfachere Auslegung des Werdeganges des Lebens geben, sich immer fester einnistete. Lamarck’s genialer Versuch, dem Gedanken einer von den einfachsten (Gesetzen geleiteten Entwickelung Eingang zu verschaffen, wurde von der Majorität erstickt, aber in allen Ländern, wo Palaeon- tologie getrieben wurde, glimmten die Funken seiner Lehre nach. Wie ein Sturmwind ging dagegen die von Darwin entfachte Bewegung durch unsere Wissenschaft. längst zusammengetragene Beobachtungen über die Tiergeschlechter früherer Erdperioden er- schienen in neuem Lichte, und mit erhöhtem Interesse wurden ihre Beziehungen zu einander erörtert. Dass viele der damals entworfenen Stammbäume wesenlos und viele Folgerungen unhaltbar waren, hat sich bald gezeigt, aber dennoch ist die Ueberzeugung von der inneren Berechtigung der Abstammungslehre in der Palaeontologie stärker gefestigt denn je. und wenn die Selektionslehre, wie sie Darwin geschaffen hat, unter 1 * Ve den Palaeontologen weniger Vertreter hat und die Form der Ab- stammungslehre, wie sie allmählich sich bei uns entwickelt hat, mehr auf Lamarck zurückweist, so ist doch der Name Darwin’s inniger ınd unvergesslich mit unserer Wissenschaft verbunden. Der Palaeontologe ist nicht in der Lage, über Vererbung und Variabilität Versuche anzustellen — sein Material ist ein totes. Er kann auch seine Untersuchungen nicht auf beliebige Teile der früheren Organismen ausdehnen, denn meist liegen ihm nur die den Körper stützenden oder schützenden Hartgebilde und auch von diesen oft nur Fragmente vor, die mühsam in Zusammenhang ge- bracht werden müssen. In vielen (Gresteinen, und leider gerade in den ältesten, wo wir mit erhöhtem Interesse den Formen des Lebens nachspüren, sind durch geologische Vorgänge, Faltungen und Schie- ferung, Streckung und Pressung des Gesteins, durch allmählich auf- steigende Erhitzung und chemische Umwandlung oder durch Kon- takt mit glühenden Magma- und Lavamassen die Versteinerungen entstellt oder ganz zerstört. Dennoch, und trotzdem noch viele andere Umstände eine grosse Lückenhaftigkeit des (resamtmaterials bedingen — es sei nur auf die Schwierigkeit der Erhaltung von Tiefseetieren und auf die nur unter gewissen Umständen mögliche Erhaltung der auf dem Lande sterben- den Organismen verwiesen — dennoch ist das Material ein ausser- ordentlich grosses und dadurch, dass es zeitlich genau geordnet ist, ein unschätzbar wertvolles. Zum exakten Beweis der Abstammungs- lehre wollen wir es gar nicht verwenden. Wir stellen uns auf den Boden der Descendenzlehre, die den komplizierten Erscheinungen in der Aufeinanderfolge der Organismen gerecht wird und unser Kausal- bedürfnis befriedigt. Wenn wir als Palaeontologen zum Ausbau der Descendenzlehre beitragen wollen, so müssen wir den Vorteil ausnutzen, dass wir die Organismen in ihren Veränderungen durch eine ungeheuere Zeit be- gleiten können und dass wir zugleich in der Lage sind, das Bild der Erdgeschichte, der Entwickelung der physikalischen Bedingungen, welche die Organismen umgaben, anregten und beherrschten, zur Seite zu stellen. Der Zug des Todes ordnet sich in einer Weise, welche zum Nachdenken über diese Anordnung und über das einstige Leben der Formen auffordern muss. Die (Gresteine, in denen unsere Toten liegen, bewahren die Züge, welche damals die Erde kennzeichneten. Wir können die abradierten Falten der alten Grebirge und den stein- gewordenen Boden der Tiefsee betreten, und diese (sesteine halten der Betrachtung stand, wenn wir uns in das entlegenste Altertum verlieren, und begleiten uns an die Schwelle der Gegenwart. Unsere weitere Aufgabe ist, zu ergründen, wie in dieser Folge der Organismen die Fäden des Zusammenhanges geschürzt sind. Wir untersuchen den Gang der Entwickelung in grösseren Abteilungen, wir verghenleic die verschiedenen Stämme miteinander, wir fragen, ob Reihenfolge oder Richtung auf gewisse Impulse, sei es mechanische oder geologische, zurückgeführt werden kann. Die Formen, unter denen die Entwickelung oder Descendenz uns entgegentritt, sind nicht das eigentliche (Gesetz, welches den Zu- sammenhang bewirkt und regelt, aber für unsere Auffassung ist es von höchster Wichtigkeit, sie kennen und auseinanderhalten zu lernen. Jedes Phylum zeichnet sich hierin vor dem andern aus und es ist nicht richtig, das im Einen als hervorstechend und massgebend erkannte auf die anderen zu übertragen. Diese palaeontologische Methode hat uns mehr von Darwin entfernt, als in den ersten Jahrzehnten nach dem Erscheinen seines Werkes für möglich gehalten werden konnte. Damals wurde die Palaeontologie überrumpelt. Man griff kühn in ihre Vorräte hinein, um den lebenden Organismen die geforderten Ahnen zu geben, und noch viel kühner ergänzte man die Stammbäume nach den Vor- gängen in der Ontogenie, nach dem biogenetischen Grundgesetze. Die Palaeontologie, welche auf die Ergänzung ihres Materials durch glückliche Funde warten muss, wurde eine Zeit lang: mitgerissen. Ganz allmählich entstand aber eine Strömung, welche die Palae- ontologie von der eigentlich Darwin’schen Lehre entfernte Der Kampf um’s Dasein und die Naturzüchtung schienen an Bedeutung zurückzustehen hinter anderen Prinzipien, welche für Darwin nur ee We auxiliäre sind, denen er, ohne sie ganz zu verwerfen, nur neben- sächlichen Wert zuerkennt. Es war wohl selbst manchen Palaeontologen, die sich für Dar- winianer hielten, entgangen, dass die Pointierungen der allermeisten palaeontologischen Monographien nicht im eigentlich Darwin’schen Sinne ausfielen, dass die Art der Veränderungen meist auf Anpassung subjektives Anpassen), auf physikalische Beeinflussung und mecha- nische Wirkungen und Gegenwirkungen zurückgeführt wurde, dass mit dem Kampf um’s Dasein, der so häufig genannt wurde, nicht der zwischen den Individuen einer Art gemeint war, sondern jene allgemeine Konkurrenz zwischen ganz verschiedenen Arten, der viel mehr in Lamarck’s Anschauungsweise eine Rolle spielt als in Darwin’s Selektionsprinzip. Man hat nicht auf Lamarck zurückgegriffen, weil man der Darwin’schen Lehre müde war, sondern weil die Betrachtung grosser Reihen von Fossilien (Säugetiere und Reptilien besonders) uns in jene Bahn der Erklärung verwies, die auch die seine war. Ohne das grosse thatsächliche Material vor Augen zu haben, hätte man schwer- lich diese entschiedene Wendung gemacht. Die Lamarck’schen Gredanken sind aber auch nicht bedingungs- los übernommen, sondern sie sind verändert nach den eigensten Re- sultaten palaeontologischer Forschung. So entstand, und zwar zuerst und besonders in Nordamerika, wo die Zufuhr an neuem Material selbst die Arbeitskräfte der begeisterten Forscher überwältigt, die Neolamarck’sche Schule Und auch hier erlebten wir, dass einer Lehre, welche rein mechanisch erklären wollte, metaphysische Zu- thaten sich beimischten, wie überall, wo vollständige Abrundung der Weltanschauung das System krönen soll. In den Lehren des Neolamarckianismus ist aber die Palaeon- tologie nicht stehen geblieben; sie sind nie zum Dogma geworden, wenigstens nicht bei uns, und es ist auch unnötig, ein Schlagwort zu erfinden, mit dem man die Entwickelungslehre, wie sie jetzt von vielen Palaeozoologen vertreten wird, bezeichnen soll. Wir wollen nunmehr einiges aus dem überreichen Material herausgreifen. - ; Von unserem Archiv ist freilich ein grosser Teil zerstört und zwar besonders der die ältesten Urkunden umfassende. Die Zeit geht auch an den festen (resteinen nicht spurlos vorüber. Wir kennen im allgemeinen keine Versteinerungen, die älter sind als das cam- brische Schichtensystem, aber wir kennen ungeheuere Massen von Gesteinen, die noch älter sind, die sich ursprünglich unter solchen Umständen angelegt haben, dass sie wohl Fossilien einschliessen könnten, aber uns keine Spur von ihnen enthüllen. Demnach kann es an sich nicht überraschen, wenn die cam- brischen Fossilien nicht „primordiale“ sind im eigensten Sinn des Wortes, sondern schon eine lange Entwickelung voraussetzen, und wenn bis auf die Wirbeltiere die grossen Phyla des Tierreiches (von den Pflanzen müssen wir zunächst absehen) schon gesondert ver- treten sind. Möglich ist auch, dass die noch älteren Organismen erhaltungs- fähiger Teile entbehrten. Ueberblicken wir die Gresamtheit der fossil bekannten Tiere vom Cambrium bis zum Tertiär, in dessen letzter Phase wir gleichsam stehen, so ist der unmittelbare Eindruck der des Fortschrittes und zwar eines Fortschrittes, der sich in den nach unserer Anschauung höheren Tieren um das Vielfache rascher geltend macht als in den niederen Gruppen. Der Fortschritt mag in vieler Beziehung nur ein Differenzierungsprozess sein, der die Einrichtungen der Organismen kompliziert und specialisiert, er ist aber auch nachweisbar an Sinnes- organen und speciell bei den Säugetieren an der Zunahme und Komplizierung des Gehirnes, wodurch eine direkte Ueberlegenheit in sinnlicher oder geistiger Beziehung hervorgerufen wird. Am weitesten lässt sich die Geschichte des Wirbeltierstammes übersehen, denn diese spielt fast von ihren Anfängen an in den post- cambrischen Zeiten; und wenn man von einem Zeitalter der Fische, Rep- tilien, Säugetiere spricht, so ist das nicht unberechtigt. Es ist ja mög- lich, dass die Anfänge der Reptilien viel weiter zurückreichen, als die jetzt bekannten Reste annehmen lassen, aber das wird nichts daran ändern, dass im Obersilur, Devon und Carbon die Fische die dominierende Abteilung die Vertebraten sind und dass die Säuge- Be tiere erst im Beginn der Tertiärzeit die Reptilien in der Herrschaft ablösen. Auch in den anderen Stämmen sehen wir zu bestimmten Zeiten diese oder jene Gruppe auffallend breit entwickelt und im allgemeinen solche früher auftreten, bei denen wir die ursprüngliche Organisation voraussetzen können. Vor allem aber bemerken wir, dass die grösse- ren geologischen Formationen sich palaeontologisch scharf charakterisieren lassen, und.doch sind sie durch keine Katastrophen geschieden und niemals reissen die Fäden des Zusammenhanges ganz ab; auch die grössten Abschnitte gehen hier oder dort kontinuierlich ineinander über, wie die palaeozoische Aera in der Salzkette Indiens unmerklich in die mesozoische hinübergleitet. Die Gattung Lingula lebte in den cambrischen und lebt noch in den gegenwärtigen Meeren, Atrypa reticularis geht wenig verändert vom obersten Untersilur bis in den Kohlenkalk, viele Foraminiferenarten haben ganze Serien geolo- gischer Zeitabschnitte überdauert. Wenn trotzdem die von uns stratigraphisch getrennt gehaltenen Zeiten auch in der Ausgestaltung des organischen Lebens deutlich getrennt bleiben, trotz des vorausgesetzten gleichmässigen Flusses der Entwickelung der Arten ihre Abstände halten, so führen wir dies gleichsam auf Interferenzen der biogenetischen und geologischen Ent- wickelung zurück, auf das Eingreifen von „Umgebungsreizen“, welche teils direkt, teils (besonders bei höheren Typen) durch Anstachelung der Instinkte wirken und in letzter Linie mit den grossen geologischen Veränderungen zusammenhängen. Bei der Verwertung der Palaeontologie für die Descendenzlehre ging man nicht hiervon aus, sondern richtete das Augenmerk mehr auf die kontinuierlichen Reihen. Es ist nicht schwer, die Beweiskraft einer solchen palaeontolo- gischen Reihe anzufechten, indem man sich darauf bezieht, dass wir nicht die ganzen Tiere mit allen ihren Organen untersuchen konnten, sondern nur wenige Reste vorführen, dass einige wichtige Stadien des Entwickelungsweges nur aus dürftigen Resten erschlossen sind, dass wir in grösseren Reihen nicht von Art zu Art die Linien führen, sondern Gattung an Gattung reihen, also abstracta pro concretis, und schliesslich, dass die Palaeontologen selbst in der Ausrichtung ihrer Reihen dissentieren. Wenn in dieser indirekten Weise diskutiert werden sollte, so muss man schliesslich die Frage aufwerfen, wie denn die Gegner der Descendenz, nachdem sie alle Beweiskraft der palaeontologischen Forschung abgetötet haben, sich die Reihenfolge der fossilen Arten und Gattungen ihrerseits zurechtlegen, welche Bedeutung sie dieser merkwürdigen Folge unterschieben, welche zugleich eine ganz be- ständige und gerichtete Aenderung der Organe verrät und so häufig zu einer physiologischen Vervollkommnung hinführt. Ist auch nicht der ganze Körper erhaltungsfähig, so muss doch auch in den erhaltenen Skelettteilen der gesuchte Zusammenhang durch Abstammung zum Ausdruck kommen. Es liessen sich in der That zahlreiche Beispiele palaeontologischer Reihen aufführen, deren einzelne Glieder sehr eng verbunden sind und wo die Stärke oder Verschieden- heit der Grösse des Zeitabschnittes entspricht, der sie trennt. Waagen hat sich eingehend, an den etwas weiter gefassten Begriff der Reihe bei Beyrich anknüpfend, mit solchen Zusammen- hängen beschäftigt und für die zeitlich aufeinanderfolgenden Varie- täten, durch welche allmählich der Typus einer Art umgestaltet wird, den Ausdruck Mutation eingeführt. Varietäten gruppieren sich um eine Art während einer bestimmten Zeit, sind geologisch gleich- zeitig — Mutationen durchragen die Zeit, ersetzen sich oder lösen sich ab und stellen die Bindung zeitlich getrennter Arten, die kleinen Schritte, welche bei der Artbildung gemacht werden, dar. Waagen’s Untersuchungen knüpften an Ammoniten an, doch lassen sich zahl- reiche Beispiele auch aus anderen Klassen anführen. Nach Waagen bilden zwei durch solche Mutationen zusammengehaltene Formen nur eine gute Art; nach neueren Untersuchungen reicht der kon- tinuierliche Zusammenhang durch Mutationen auch oft darüber hinaus, aber nicht unbeschränkt. Die Lückenhaftigkeit unserer palaeontologischen Urkunden mag öfter eine Diskontinuität vortäuschen, wo in der Natur keine war, aber wenn wir die Summe unserer gegenwärtigen Erfahrung ziehen so scheint doch vieles darauf hinzuweisen, dass die gleichmässige Abschattierung einer kontinuierlichen Reihe nicht sehr weit reicht. Fine Verbindung grösserer Gruppen durch die kleinen Phasen der Mutationen gelang noch nie. Und selbst wenn wir von den Muta- tionen absehen und genetische Zusammenhänge konstruieren, wo die Arten unverbunden sind, aber doch nach dem Grade der Aehnlich- keit und der zeitlichen Folge aneinander gereiht werden können, dehnt sich ein solcher Zusammenhang fast nie über mehr aus, als dem Umfang einer Klasse des zoologischen Systems entspricht und lässt in jedem Falle die grossen „Phyla“ unberührt. So kann man nach den vorliegenden Funden annehmen, dass mit Ausnahme der Monotremata alle Säugetiere von Formen aus- gehen, welche den Insektivoren nahestanden, dass aus diesen sich primitive Carnivoren oder Creodontia!) entwickelten und erst von diesen aus die Spaltung in Marsupialia und Placentalia erfolgte. Auch die peripherisch stehende Gruppe der Edentaten kommt durch die Ganodontia zum Anschluss, die Phociden können mit Wahrschein- lichkeit von den Creodontia abgeleitet werden und auch für die Zahnwale erscheint eine derartige Abstammung möglich. In den letzteren Fällen muss man allerdings schon recht konstruktiv vor- gehen, da das vorhandene Material äusserst lückenhaft ist, aber bei dem nachweisbar engen Zusammenhange anderer Säugetierlinien ist vorauszusetzen, dass diese Lücken nur zufällige sind und keinen Abbruch der Beziehungen bedeuten können. Auch in anderen Klassen liess sich der phyletische Zusammen- hang, den wir voraussetzen, bestätigen, so bei den eigentlichen (rastropoden; aber weder haben wir bisher fossile Formen nachweisen können, welche einen Zusammenhang der Scaphopoden und Ptero- poden mit ihnen illustrierten, noch existieren auch nur andeutungs- t) Die Creodontia sind nicht scharf von den Carnivoren geschieden und die Eigen- schaften, die man als charakteristisch für sie aufführt, verlieren sich teils bei den jüngeren Formen, teils werden sie von den ältesten Carnivoren aufgenommen. Viele Merkmale können nur als transitorische beurteilt werden. Die fast glatten Hirnhemisphären der älteren Formen sind bei Hyaenodon im Oligocän schon intensiv gefurcht; Scaphoid, Lunare und Centrale verwachsen wie bei den Carnivoren. Und die ältesten echten Carnivoren haben relativ weniger gefurchte Hemisphären und deutliche Nähte zwischen den genannten Ele- menten des Carpus. _— I I .—- weise Uebergänge zu den Cephalopoden oder zwischen Gastropoden und Zweischalern. Da diese Gruppen alle in das Cambrium zurück- reichen, muss ihre Trennung vom gemeinsamen Stamm der Mollus- ken in noch früherer Zeit geschehen sein. ‚Nur sehr selten haben sich Uebergänge der Klassen und Ord- nungen direkt nachweisen lassen: mit Recht betont daher Jaekel die Wichtigkeit einer Form wie Cystoblastus, welche die Abzweigung der Ordnung der Blastoidea aus den Cystideen nicht länger bezweifeln lässt. Noch höhere Bedeutung: hat Archaeopteryx für die Genealogie der Vögel. Sie giebt uns das Bild eines Vogels, wie man es zeichnen müsste, wenn man anerkennt, dass von den embryonalen und jugend- lichen Merkmalen und Zuständen der lebenden Vögel ein Teil die ausgewachsenen Vögel der längst entschwundenen Jurazeit charakte- risierte, und zeigt dazu eine Reihe reptilischer Merkmale, welche noch vorhanden sein müssen, wenn wir uns der Abzweigung der Vögel aus dem Reptilstamme nahe befinden. Nach den Forschungen der letzten Jahrzehnte ist auch ein Zu- sammenhang der Reptilien mit den Säugetieren einerseits und durch die Stegocephalen mit den Amphibien andererseits annehmbar ge- worden. Oder wir können auch das Verhältnis so deuten, dass wir den Stegocephalen eine centrale Stelle einräumen und von ihnen über die Reptilien zu den Säugetieren die Verbindungen ziehen und dann wieder zu den Amphibien, deren Jugendzustand mit Kiemenatmung eine Neuerwerbung sein dürfte. Granz abgesehen davon, dass wir hier schon vielfach subjektiv verfahren und grosse Lücken überspringen, ganz abgesehen davon, dass unter den Reptilien selbst die Zusammenhänge noch durchaus nicht klar gestellt sind und Chelonier, Ichthyosaurier, Pareiasaurier und Dinosaurier sehr scharf geschiedene Gruppen sind, deren Verbindungen erst gefunden sein wollen, sind wir damit vorläufig am Ende der Möglichkeit phylo- genetischer Konstruktion angekommen. Eine weite Kluft scheidet die Fische von allen vierfüssigen Wirbeltieren, eine Kluft, die sicher durch die amphibische Lebensweise und Lungenatmung der Dipnoer auch nicht annähernd überbrückt wird. Die Dipnoer sind uralte Formen und haben manche wichtige Aehnlichkeit mit den holostomen Fischen 1), ihre Differenzierung in lungenatmende Tiere hat einen terripetalen Charakter, während die Kiemenatmung der Amphibien eine sekundäre Erwerbung ursprüng- lich lungenatmender Tiere ist. Irgend eine fossile Form, die als Uebergang vom Vertebraten- stamm zu einem anderen Phylum gedeutet werden könnte, ist bisher "nicht gefunden, wenn man nicht Traquair’s Urocordylus diese Be- deutung beilegen will. Diese Reste sind aber oft so schattenhaft, dass eine präcise Beurteilung unmöglich ist. Scharf getrennt reichen alle die grossen Phyla bis in das Cam- brium zurück und aus jenen Zeiten, wo sie noch verbunden gewesen sein könnten oder wo sie sich aus gemeinsamer Wurzel abzweigten, fehlen die Berichte. Wollen wir über die Art und Weise des Entwickelungsganges Studien machen, so müssen wir uns auf enger gefasste Gruppen beschränken, wo das Material eine Analyse der Stammesgeschichte erlaubt. Die folgenden Bemerkungen stützen sich zunächst auf die Palaeontologie der Evertebraten, speciell der Mollusken. Nach Darwin werden beliebige Varietäten erzeugt und die besten von der natürlichen Züchtung ausgewählt und zu neuen Arten ausgebildet. Da dies nur geschehen kann, wenn die Abänderung als überlegen sich erweist, so soll die Stammart untergehen, während die Extreme sich fortpflanzen. Die Palaeontologie kennt aber zahlreiche Fälle, wo die Stammart neben den Zweigarten bestehen bleibt, ja schliesslich noch persistier, wenn diese wieder ver- schwunden sind — und das in einem eng umgrenzten Bezirk, wo die Principien der Isolierung und Wanderung nicht in Frage kommen. 1) Die Autostylie der Holocephalen und der Lungenfische wird von Dollo als eine Konvergenzerscheinung gedeutet, hervorgerufen durch ähnliche Entwickelung des Gebisses (Mylodontie. „Par consequent — l’autostylie n’a rien de radicalement different de l’hyostylie — dont elle provient — et dont elle n’est qu’une adaptation a un regime triturateur tres specialise — dans un but de consolidation de l’appareil masticatoire (Bull. soc. belge de Geol. IX, 1895, M&m. 79 ff, p. 110.) Das könnte sein, erklärt aber noch immer nicht die auffallende Aehnlichkeit in der Organisation des Gehörs, eines für die Aufdeckung ver- wandtschaftlicher Linien ausserordentlich wichtigen Organes, welches den Anpassungen wenig unterworfen ist. (Koken, Otolithenstudien. Zeitschr. d. deutsch. geol. Ges., 1891, S. 156.) Hier knüpft die von mir als iterative Artbildung bezeichnete Erscheinung an!). Eine persistente Art treibt von Zeit und Zeit Va- rietäten, die gleichsam schwarmartig auftreten, während dazwischen mehr oder weniger lange Ruhephasen liegen. Ich beobachtete dies zuerst bei älteren Gastropoden, aber auch bei Craniaden, Pectiniden ?) etc. sind Fälle iterativer Artbildung beschrieben. Die Dauerformen können sich verbreiten und in verschiedenen Meeren ansiedeln und eine Periode der Artbildung durchmachen. Da die Varietätenbildung nicht unbeschränkt ist, so treten uns dann nicht nur in verschiedenen geologischen Zeiten, sondern auch in ver- schiedenen Provinzen Gruppen ähnlicher Arten entgegen. Die Wor- thenien oder Lophospiren und die Raphistomen des baltischen und des nordamerikanischen Untersilurs, unter denen einige kaum zu unterscheiden sind, haben sich unter fast gleichen Bedingungen aus fast oder ganz gleichen Mittelformen entwickelt. Bei Annahme kom- plizierter Wanderzüge eng verwandter Arten muss man sich daher grössere Reserve auferlegen, als gewöhnlich geschieht. Auch die sog. persistenten Typen, unter denen Lingula und Pleurotomaria so oft genannt werden, können in diesem Zusammen- hang angeschlossen werden. Es sind durchaus nicht indifferente Formen, die auf keinen Reiz reagieren; eine grosse Anzahl von Arten, die allerdings nur wenig differieren, setzt z. B. die Lingula- ı) Die Beobachtung, dass mitunter eine bestimmte Gestait sich durch lange Perioden fast ungeändert fortsetzt, aber wiederholt der Ausgangspunkt einer nach allen Seiten fort- wuchernden Artbildung wird, wurde von mir 1889 in „Entwickelung der Gastropoden vom Cambrium bis zur Trias‘ beschrieben. 1896 führte ich die Bezeichnung iterative Art- bildung ein. „Diese Schwärme von Varietäten und Arten liegen gleichsam stockwerk- artig übereinander, ohne, wie es scheint, direkt genetisch verbunden zu sein. Aehnliche Formen wiederholen sich, indem sie zu verschiedenen Zeiten aus dem konservativen Stamm- halter hervorgehen, aber nicht, indem sie eine der anderen die Existenz gaben.“ (Jahrb. d. K. K. geol. Reichsanst. 1896, S. 40.) 2) „Der Vola-Typus, mit vertiefter Unterschale und flacher Oberschale, tritt einmal im Lias, das zweite Mal in der Kreide und das dritte Mal im Tertiär auf. Zwischen Lias und Kreide und Kreide bis Oligocän klaffen riesige Lücken, aus denen uns von Vola keine Spur bekannt geworden ist. Die drei Vola-Typen sind trotz der Uebereinstimmung in einem Merkmal nicht miteinander direkt verwandt, sondern entstehen getrennt vonein- ander aus dem persistierenden Stamme der normalen Pectiniden.“ (Philippi, Sitz.-Ber. Naturf. Freunde, Berlin 1899, S. 89.) Vgl. auch Fr. v. Huene, Die silurischen Craniaden der Ostseeländer, S. 326 u. a. 1899" Reihe zusammen. Bei Pleurotomaria ist die Amplitude des Variierens und der Artbildung schon grösser und man kann eine Anzahl Genera absondern — aber doch erhält sich der Typus mit grosser Zähigkeit und weicht in minimalen Abänderungen den umgestaltenden Faktoren aus. Auch hier erfolgt die Varietätenbildung in Intervallen und nicht ohne Beziehung zu geologischen Daten. Der Kampf um’s Dasein und die natürliche Auslese können in den bisher angeführten Fällen nicht stark eingegriffen haben, sondern die Artbildung scheint abhängig von der Konstitution und von aussen herantretenden Einflüssen. Grösseres Interesse, als diese in kleinem Rahmen sich voll- ziehenden Vorgänge, rufen gewöhnlich die Fälle intensiver Ab- änderungen hervor, wie sie im Stamme der höheren Vertebraten beobachtet werden. Oft besprochen ist die merkwürdige Umformung des Reptiltypus bei den Ichthyosauriern und bei den ÖOrnithosauriern, die Abstammung des Pferdes von fünfzehigen, höckerzähnigen Vor- fahren u. a. Im allgemeinen sucht man die Ursache so einschneidender Um- änderungen in der Richtung des Nützlichen. Die Umänderung kann eingeleitet werden einmal durch ein aktives Sich-Anpassen, durch Wollen und Gewöhnen, was eine gewisse Herrschaft des Tieres über seinen Körper voraussetzt, dann aber auch durch eine passive An- passung, wobei der Körper des Tieres abhängig von der Umgebung (im weiteren Sinne) wird. Das erstere ist möglich besonders dort, wo es sich um ganz allgemeine Funktionen, um die Art der Bewegung, wie Schwimmen, Fliegen, Laufen, handelt, und man kann die Geschichte der Huf- tiere als Beispiel heranziehen. Der zweite Fall müsste zu schrankenloser Umbildung des Körpers führen, wenn nicht die dem Stamme eigene Konstitution die Führung übernimmt oder doch Grenzen zieht, wie es ja auch im ersten Fall geschieht. Als Resultierende aus Konstitution und Anpassung kommt eine Richtung der Entwickelung zu stande, welche eine Zeitlang konstant zu sein pflegt. Hiernach werden in der Palaeontologie zuweilen die Genera gebildet, indem man alle Arten zusammenfasst, deren Charaktere auf eine bestimmte Richtung der Entwickelung zurückzuführen sind. Man kann das nicht einfach mit Eimer „organisches Wachsen“ nennen, sondern es ist meist ein komplizierterer Vorgang und die Richtung ist weniger eine Tendenz- als eine Beharrungserscheinung. Zweifellos vorhanden ist eine Prädisposition für gewisse Fälle des Variierens und gerade das zeugt auch für den Einfluss der Konstitution. Von Arten, die sich in verschiedene Gegenden verbreitet haben, gehen fast dieselben Varietäten aus; wo der Schwä- bische Jura am Hermon heraustritt, wiederholen sich im Ornatenthon auch die Spielarten des Ammonites hecticus. Schliesslich liegt ja auch dasselbe Moment der iterativen Artbildung zu Grunde. Ist aber die Variabilität limitiert, so hat auch die Abhängigkeit der Form von äusseren Einflüssen ihre Grenze und wird auch die Konvergenz beschränkt, welche genetisch sehr verschiedene Reihen infolge der Anpassung an ähnliche oder gleiche Bedingungen einander näher bringt. Von der Konvergenz werden besonders äussere Organe betroffen, während z. B. solche, welche im Innern geborgen, den Beeinflussungen durch Bewegungsart und Medium entzogen sind, wie die merkwürdigen ÖOtolithen der Knochenfische, weniger berührt werden. Die Konvergenz zwischen einem lIchthyosaurus und einem Delphin bleibt eine ganz äusserliche, weil der Bauplan der Tiere zu weit verschieden ist, dagegen führt die Konvergenz bei näher ver- wandten Linien zu Erscheinungen, die schwieriger zu entwirren sind. So sind aus verschiedenen Linien der Selachier zu sehr verschiedenen Zeiten Rochenformen entstanden und wenn man die komplizierte Phylogenie dieser Gruppe nicht kennt, wird man hier eine systema- tische Einheit schaffen, die durchaus polyphyletisch genannt werden muss. Es lässt sich nicht verkennen, dass für viele Gruppen des bisher üblichen Systems der Auflösungsprozess, wenn anders wir ein „natürliches“ System wollen, vorausgesagt werden kann, sowohl bei niederen Tieren (z. B. Pulmonata, Opisthobranchiata, Rhachi- glossa, Taenioglossa, Ptenoglossa etc.) wie bei höheren (z. B. Pha- ryngognathen, Physostomen). ER Dass aber selbst, wie die neuesten palaeontologischen For- schungen ergeben, eine scheinbar so geschlossene Gruppe wie die Feliden diphyletisch ist, muss allerdings auffallen. Eine Diphylie im engeren Sinne d. h. eine Konvergenz heterogener Linien, liegt aller- dings nicht vor, sondern die zwei Stämme der Feliden kommen aus gemeinschaftlicher Wurzel, haben sich aber so wenig von einander entfernt, dass wir sie für einen halten konnten. Dennoch führen sie getrennt bis zum Focän herab. Ein ganz unscheinbarer Spalt im System lässt sich eine enorme Zeit zurück verfolgen. Die ausserordentlich geringe Distanzierung der beiden seit dem Focän nebeneinander herlaufenden, in denselben Ländern heimischen Stämme der Feliden giebt aber vor allem eine Andeutung, wie wenig die natürliche Züchtung eine schon vorhandene Diver- genz auszugestalten vermag, wenn die Lebensweise die gleiche bleibt. Gerade bei Arten, welche nahe verwandt sind, gleiche Anfor- derungen an das Leben stellen und dieselben Gegenden bewohnen, sollte der Kampf ums Dasein nicht eine vollkommene Parallelent- wickelung, sondern eine Differenzierung herauszüchten. Diese ruhige, gleichmässige Fortentwickelung einer typischen Form wird noch bemerkenswerter, wenn wir mit ihr die Verände- rungen kontrastieren lassen, welcheden AenderungenderLebens- weise folgen. Hier sind mächtige Impulse, welche ganz Neues zu schaffen streben und um so mehr erreichen, je weiter die Instinkte und der Willen des Tieres ihnen entgegenkommen. Die Ichthyosaurier sind unter den Reptilien die am meisten um- geänderten. Besonders im Hinblick auf das eigentümliche Gliedmassen- skelett hat man sich lange der Auffassung verschlossen, dass man es hier mit abgeleiteten Formen zu thun habe und vorgezogen, sie an den Anfang der morphologischen Reihe zu stellen. Baur erkannte in Mixosaurus eine Gattung, welche in der Bildung von Ulna und Radius noch an den (sliedmassenbau landbwohnender Wirbeltiere er- innert; Mixosaurus ist die alttriasische Form, Ichthyosaurus die jüngere — damit war die Richtung der Anpassung festgelegt. Man kann das auch aus der Analogie mit anderen Reptilien, welche infolge des Lebens im Meere Umgestaltung der Gliedmassen erlitten haben, folgern. Die Mosasaurier sind Abkömmlinge varanidenähnlicher Formen (Ope- tiosaurus), und selbst einige meerbewohnende Krokodilier der Jura- zeit (Geosaurus, Rhacheosaurus) haben schaufelförmige Vorderextremi- täten mit platten, breiten Knochen. Bei allen diesen tritt zugleich ein vertikales Schwanzflossensegel auf, ein kräftiger Propeller beim Durchschneiden der Wellen. * ö R a a TEC ge Fig. 1. Ichthyosaurus triscissus Qu. Das vollständig erhaltene Exemplar in der geologischen Sammlung der Universität Tübingen (c. '/,,). Aus dem oberen Lias (e) von Holzmaden in \Vürttemberg. Man erkennt deutlich die grosse vertikal gestellte Schwanz- flosse, die Rückenflosse und einen bis zum Kopf sich erstreckenden Hautkamm, welcher durch kleine Knochenstücke versteift wird. Die Extremitäten sind schaufelförmig, sog. „Finnen“, und stecken in einer derben, häutigen Umhüllung. Wir können diese und mit ihnen eng verknüpfte Einrichtungen bis zu einem gewissen (arade als Funktionen der Lebensweise in einem gleichmässig wirkenden Medium, dem Meereswasser, auffassen. Man könnte also sagen, etwas Derartiges musste entstehen, wenn die Reptilien anfingen, sich schwimmend zu bewegen und ihre Beute zu suchen. Wenn wir aber unsere Blicke über die Gruppen der Ichthyo- saurier, der Mosasaurier, der Thalattosuchia und der Plesiosaurier, welche ja auch zweifellos von landbewohnenden Reptilien abstammen, schweifen lassen, so müssen wir uns auch sagen, dass in der Aus- führung der Anpassung sich Verschiedenheiten einstellen, welche nicht allein auf die Rechnung der verschiedenen Konstitution gesetzt werden können — denn in den ersten Anfängen müssen alle diese Linien von Reptilien eine grosse Aehnlichkeit miteinander gehabt haben. Koken, Palaeontologie ete, 2 ’ 8 a 18 ger Es sind auch wohl schwerlich so viel verschiedene und doch gleich- wertige Nüancierungen des Nützlichsten nebeneinander denkbar, dass wir die verschiedene Organisation am Ichthyosaurus, Mosasaurus, Plesiosaurus auf das Wirken der Selektion zurückführen können. Viel näher liegt die Annahme, dass die Tiere von vornherein auf ver- schiedene Weise sich fortzubewegen suchten, dass also instinktives oder gerichtetes Wollen in erster Linie dafür verantwortlich ist, wenn die Anpassung bei Ichthyosaurus derart ausfiel, dass ein Hauptteil der Fortbewegung vom Schwanze übernommen wird, während bei Plesiosaurus mehr die Ruder herangezogen und entsprechend aus- gestaltet sind. Die Anpassung ist bei diesen Tieren so weit getrieben, dass eine Umkehr unmöglich, der Rückzug auf das Land abgeschnitten war. Das prägt sich auch aus in der Viviparität der Ichthyosaurier, einer für Reptilien nicht häufigen Erscheinung. Als die gewaltigen Mosa- saurier und die mit furchtbarem Gebiss ausgestatteten Riesenhaie auf- tauchten (Ende der Kreidezeit), wurden die Ichthyosaurier ausgerottet. Die Anpassung wurde zum Verhängnis, weil sie in den Bau des Skelettes derart eingreift, dass die wichtigsten Teile gleichsam fest- gelegt wurden und einer Beanspruchung von anderer Seite nicht mehr nachkommen konnten. Diese Entwickelungsrichtung lag nicht im Bauplan des Tieres, sie ist ihm octroyiert. Anpassungen, bei denen die ganze Organisation gleichsam auf ein Ziel der Entwickelung fest- gelegt wird, können immer bei einer Verschiebung der Konstella- tionen zum Untergange der Gruppe führen; sie können also auch durchaus nicht einer weiterschauenden, teleologischen Ursache zu- geschoben worden !). 1) Eine ebenso teleologische wie unlogische Auffassung kommt häufig genug zum Ausdruck. Wenn Dollo, indem er die Marsupialier von primitiven Placentaltieren ab- leitet, die Rückbildung der Placenta darauf zurückführt, dass das noch unvolikommene Organ beim Uebergang der Tiere zu der mit lebhaften Bewegungen verbundenen arboricalen Lebensweise Frühgeburten veranlasste, so mag das im Bereich des Denkbaren liegen. Falsch ausgedrückt aber ist der Satz: Et c'est, probablement, pour e@viter ces accidents que cet organ embryonnaire a disparu. Wer hat hier den Zweck gesetzt? Das Organ — doch unmöglich. Das Tier, welches sich durch die rudimentäre Placenta belästigt und gefährdet fühlte? Ich halte es für möglich, dass ein Tier aus Instinkt oder mit Absicht seine Lebens- weise ändert, aber ich halte es für mindestens schief ausgedrückt, einem Tiere zuzuschreiben, Ganz auffallend ist in dieser Beziehung der Untergang der Ornithosaurier. Im Flugvermögen und in der Pneumacität der Knochen, deren Foramina beweisen, dass Ausstüpungen der Bronchien sich in sie hineinzogen wie bei lebenden Vögeln, waren sie schon in der Liaszeit auf einer Stufe angelangt, welche die Vögel erst viel später erreichten. Ihr Untergang mag damit zusammenhängen, dass keine Vorkehrung zum Wärmeschutz getroffen war, ein Mangel der Organi- sation, der besonders fühlbar wurde, als in Jura und Kreidezeit die Klimate der Erde sich schärfer accentuierten, der aber auch von vorn- herein den Flug in die höheren, kalten Regionen der Luft ausschloss. Eine der lehrreichsten Gruppen ist die der Huftiere, die heute in verschiedene pflanzenfressende Gruppen geschieden sind, im älteren Eocän mit den Carnivoren noch zusammenhingen. Hier könnte man an ein vorschwebendes Ideal denken; konsequent nähern sich die Tiere einem Typus, der Schnelligkeit mit Festigkeit vereint und zu- gleich mit Sparsamkeit gebaut ist. Die Equiden sowohl wie die Paar- hufer könnten nach dem Prinzip des selektiven Nutzens gezüchtet sein, aber Gewöhnung an einen bestimmten Gebrauch der Gliedmassen und Zähne werden zu demselben Ziele führen und wir werden diese Erklärung bevorzugen, weil sie sich auch auf aberrante Formen an- dass es über den Schwund eines Organs beschliesst. Damit verlegt man die schaffende Kraft, die man durch die Descendenzlehre ausschliessen will, in deteriorierter Qualität in die Machtsphäre des Individuums. Die Verstrickung in teleologische Anschauungen ist selbst bei einem so scharfen Denker und unübertroffenen Beobachter wie Kowalewsky offenbar. Man vergleiche seine Ausführungen über die Reduktion der Zehen bei Anchitherium (Monographie der Gattung Anthracotherium, S. 161). Ich hebe nur folgenden Passus hervor: „Um diesen weiteren Schritt zu thun, d. h. um die Sejtenzehen gänzlich abzuwerfen, muss man sie vorher unnütz machen, anders wird es keinen Grund zu ihrem Verschwinden geben; unnütz aber können die Seitenzehen nur in einem Falle werden, wenn sie den Boden nicht mehr berühren werden; folglich reduziert sich die nächste Aufgabe darauf, die Seitenzehen vom Boden ab- zuheben.“ Und weiter wird dann ausgeführt, wie dies durch Verlängerung der ersten Phalange der Mittelzehe erreicht wird. Solange die Seitenzehen den Boden noch berühren, sind sie nützlich, können also nicht abgestreift werden; sobald aber die Mittelzehe sich so verlängert, dass die Seitenzehen vom Boden abgehoben werden, würden sie nutzlos — und reduzierbar. Hier ist in den „ÖOrganismus‘‘ eine ganze Welt weitausschauender Gedanken gelegt, und zwar ist die Rolle des zielstrebigen Ueberlegens nicht dem Individuum, sondern der abstrakten, wesenlosen Art zuerteilt, Ix a 20. — wenden lässt, bei denen die Entwickelung in eine ganz neue Rich- tung einbiegt. Geringere Abweichungen stellen sich öfters ein. Unter den bis in die Einzelheiten des Skeletts bekannten Rhi- noceroten des nordamerikanischen Miocäns ist Teleoceras fossiger eine merkwürdige Form, im Habitus fast einem Nilpferd ähnlich. Der von kolossalen Rippen umgürtete, tonnenförmige Leib muss fast die Erde gestreift haben und steht im Missverhältnis zu den zwar stäm- migen, aber sehr kurzen Beinen. An den Füssen verraten die fünf gespreizten Zehen und die Art des Muskelansatzes das Leben im Wasser. Der Umänderung der Lebensweise ist der Bau des Skelettes nachgefolgt. Das Gegenstück liefert Hyracodon, den ungehörnten Acera- therien verwandt. Hier geht der Habitus der Rhinoceroten in den der Pferde über. Am Vorderfuss sind Humerus und Radius, die Carpalien und Metacarpalien, am Hinterfuss entsprechend Tibia, Metatarsalia und selbst die Phalangen verlängert oder höher. Der Rumpf mit kurzen, schmalen Rippen entspricht den schlanken Beinen, an denen nur die mittleren drei Zehen den Boden berührt haben. Hier haben wir ein offenbar schnellfüssiges Tier mit Eigentümlich- keiten, welche auch in der Osteologie des Pferdestammes sich zeigen — einen Bewohner der Prärien oder offenen Landschaft. In allen Eigenschaften, welche dem direkten Einfluss der Umgebung mehr entzogen sind, verraten sich aber die Eigentümlichkeiten des Rhino- cerotenstammes. Ein ganz besonderes Interesse beanspruchen die von Osborn als Ancylopoden zusammengefassten klauentragenden Huftiere des älteren und mittleren Tertiärs, unter denen die Chalicotherien altbekannte und weit verbreitete Formen sind. Hier kommen ganz neue, in gewissem Sinne sogar rückläufige Richtungen zum Ausdruck, allerdings nur an einem ganz beschränkten Teile des Skelettes. Vom Schädel bis zum Carpus und Tarsus herrscht der Bau des Ungulatentypus — die Endphalangen sind scharfe, bei einigen Arten retraktile Klauen. Nach dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse müssen diese Tiere sich schon sehr früh vom Stamme der echten Ungulaten getrennt haben, anscheinend von Formen ausgehend, die wie Menisco- _— 21 —— therium noch den altertümlichen Condylarthra angehören. Eine Rückbildung der Hufe zu Klauen konnte damals noch leichter ge- schehen, da die Differenz noch nicht so weit wie in den jüngeren Zeiten des Tertiärs gediehen war. Immerhin bedurfte es einer ganz energischen Aende- rung der ganzen Gewohn- heiten, um das zu ermög- lichen. Die Erfahrung lehrt, dass die verlassene Entwickelungsrichtung die bessere war; die Ancylo- Fig. 2. Mittlerer Finger von A Chalicotherium san- poda sind sämtlich ausge- saniense Gaudry. ? Artionyx Gaudryi Osb. u. Wortm. storben. Nicht eine Verbesserung des Typus ist hier herausgezüchtet aus dem Ungulatenstamme, sondern Wille und Gewöhnung haben einen Erfolg herbeigeführt, der nur den Instinkten des Tieres zu gute kam, die dauernde Existenz der Arten aber direkt gefährdete. A B Fig. 3. Rechter Fuss, 4 von Artionyx Gaudryi Osb. et Wortm. 2 von Chalicotherium magnum Filhol. Dabei ist nun noch eins bemerkenswert. Die echten Ungulata teilen sich in Perissodactyla und Artiodactyla, Paarzeher und Unpaar- D 5 zeher. Obwohl die Ancylopoda zu einer Zeit sich abgezweigt zu haben scheinen, wo jene Trennung noch nicht vorhanden war, bilden sich unter ihnen zwei ganz parallele Richtungen aus (Chalicotherium und Artionyx): Osborn und Wortman bezeichnen sie als Perisso- nychia und Artionychia. Jene, die alten Chalicotheriiden umfassend, sind Unpaarzeher, wie schon Kowalewsky vermutete; die statische Axe läuft durch Zehe III und der Tarsus ist ganz nach dem Typus der Perissodactyla gebaut; bei diesen haben wir vier Zehen und die Axe läuft zwischen Zehe III und und IV; der Tarsus ist ganz nach dem Plane der Artiodactylen gebaut. So kommen die beiden Ent- wickelungsrichtungen, die zu den Pferden und Ruminantiern hinleiten, auch in dieser ganz aberranten Gruppe zum Durchbruch, ja man kann sagen, dass die Eigentümlichkeiten, welche zur Aufstellung der Ord- nung Ancylopoda geführt haben, einzig an den Phalangen haften, deren Anpassung das übrige Skelett völlig unberührt lässt. „If the foot of Artionyx had the metatarsals cut off halfway down, no one would hesitate to call it truly artiodactyl“ (Ösborn, The Ancylopoda. Americ. Naturalist 1893, S. ı321)). Wir wollen noch ein Beispiel heranholen. Nach Dollo stammen alle Marsupialier von „arboricolen“ Vorfahren; hierauf deuten der opponierbare erste Finger, die Verkleinerung des zweiten und dritten Fingers, das Ueberwiegen des vierten Fingers gegenüber jenen und häufige Syndaktylie von Finger II und II. Mit diesen ererbten Eigenschaften mussten alle Umänderungen sich ausgleichen, die später aus einer anderen Lebensweise resultierten. Neuerdings wurde der I) Scott wies die Identität von Artionyx mit dem schon 1873 von Leidy be- schriebenen Agriochoerus nach und bringt die Gattung in engere Beziehung zu den Oreodon- tiden, die ihrerseits mit Hyopotamiden und Anoplotheriden verwandt zu sein scheinen. Die Oreodontiden führen auf die eocänen Buno-Selenodonten zurück, und die Bridgerformation mag jene Formen ihrer Reihe enthalten, von denen dann die Agriochoeriden abzweigten; vielleicht kennt man eine solche Form schon in Helohyus. (Morpholog. Jahrb., XVI, 319 ff.; Proc. Amer. Philos. Soc. 1894, Bd. XXXIII, p. 243 ff.) Die Ausbildung des ganz und gar artiodactylen Baues wäre bei dieser verwandtschaft- lichen Stellung weniger auffällig, da dann eine engere Beziehung zu Chalicotherium gar nicht mehr besteht. Der Parallelismus in der Ausbildung der Klauen, die im einzelnen starke Unterschiede aufweisen, ist unschwer aus der Lebensweise zu erklären, ein Parallelis- mus, welcher innerhalb der Ordnung Ancylopoda ausgesprochene Artiodactylie entstehen lässt, schwerer begreiflich. ww >) Fuss von Diprotodon australis beschrieben !), einer riesenhaften, fossilen Form, die sich nach Art der Pachydermen bewegte. Hier hat sich das Fussskelett in einer ganz exceptionellen Weise mit den neuen Be- anspruchungen abgefunden. (Gerade die Finger, welche z. B. bei Huf- tieren die Körperlast tragen, waren während der arhoricolen Periode zur Unbrauchbarkeit geschwächt. Sie verkümmerten noch mehr, und vom ersten Finger blieb nur der Metatarsus übrig. Umgekehrt schwollen die beanspruchten Knochen, Astragalus, Calcaneus, Tar- salia und Metatarsalia zu unförmlicher Grösse an und kompensieren den Ausfall. Hier muss der Wille des Tieres ge- radezu bestimmendein- gegriffen haben, um den: Verfolg einer neuen Lebensweise, welcher die Beschaf- fenheit des Skeletts nicht entsprach, zu er- möglichen. Die Um- gestaltungen liegen in keiner „Richtung“, son- dern sind rein adaptiv. en e } A b Die Schwächung wich- Fig. 4. Rechter Fuss .{ des lebenden Trichosurus vulpecul tiger Knochen infolge Kerr (Australien), nach Flower, 2 des diluvialen Dipro- e : todon australis Owen, nach Stirling u. Zietz. « Astra- der früheren Entwicke- : = galus, ce Calcaneum, cd Cuboid, z Naviculare, c!—? die Cunei- lungsrichtung konnte formia. nicht wieder ausgeglichen werden und rückliegende Elemente des Fussskelettes mussten die Last übernehmen. So führte die Abände- rung des Fusses der Adaktylie, der Zehenlosigkeit entgegen, aber die Gattung starb aus, ehe es so weit kam. Wir wollen nun das Thema etwas anders nehmen. Einige Linien der Huftiere sind schon im Tertiär ausgestorben und Kowa- ı) L. Dollo, Le pied du Diprotodon et l’origine arboricole des marsupiaux (Bull. scientif, de la France 1900, XXXIII, p. 278 ff.) lewsky führte in einer wertvollen Arbeit dies auf sog. „inadaptive Reduktion“ zurück!). Bei diesen Formen ist die der Oekonomie des Körpers entsprechende Reduktion überflüssiger Zehen in anderer Weise vollzogen als bei den heute noch existierenden Linien. Die Stummel (Metacarpalia und Metatarsalia) der rudimentären Zehen beanspruchen noch einen breiten Platz am Fusse, und Carpus und Tarsus sind nicht so gut verfestigt, wie bei Hirschen und Rindern. Eigenschaften sind „gezüchtet“, welche gegenüber den Einrichtungen bei den konkurrierenden, in gleichem Sinne sich verändernden Nach- I) Aus den Ausführungen Kowalewsky’s, welche eine ganz neue Strömung in der Säugetierkunde hervorriefen und auf denen auch einige bekannte Arbeiten von Marsh beruhen, hebe ich nur die eine Stelle hervor, welche seine Ansichten und Beobachtungen, wie mir scheint, am besten zusammenfasst: „Wenn wir die Rudimente reduzierter Zehen bei den meisten fossilen Tieren, wie Anoplotherium, Xiphodon, Entelodon, Diplopus betrachten, so finden wir immer, dass die- selben eine dicke, runde, noduläre Form haben, während die Rudimente, welche bei den recenten Ungulaten vorkommen, immer sehr schmächtig und dünn sind; selbst bei Dicotyles ist das Rudiment des Metatarsale V immer ein langer, dünner, platter Knochen und so ist es auch bei den Hirschen und Rehen. Woher kann dieser Unterschied kommen? Mir scheint er nur auf folgende Weise sich zu erklären: Die nodulären Rudimente rühren ja sämtlich von Formen her, die eine inadap- tive Reduktion befolgen; die schmächtigen Rudimente nur von solchen, die einer adap- tiven Reduktion unterworfen sind. Die inadaptive Reduktion besteht aber darin, dass alle Knochen sehr hartnäckig an ihren typischen Verhältnissen halten, dass jedes Meta- carpale und Metatarsale bis zu seinem Verschwinden immer noch die ganze distale Fläche des entsprechenden Carpale und Tarsale einnimmt; wenn aber bei diesen Verhält- nissen ein. Seitenfinger zu schwinden beginnt, dann schwindet er von unten her, wo er frei ist, seine proximale Fläche aber haftet immer an dem verhältnismässig grossen Carpale und Tarsale, dessen ganze untere Facette er einnimmt; das fortgesetzte Schwinden von unten her giebt am Ende ein dickes, noduläres Rudiment, das immer noch an der ganzen distalen Fläche seines Carpale oder Tarsale haftet, wie wir es beim Anoplotherium, Xipho- don, Entelodon sehen. Im Gegenteil, bei den Ruminanten und Suiden, die eine adaptive Reduktion befolgen, wird bei der Vergrösserung der Mittelzehen nicht auf die typischen Verhältnisse geachtet, Traditionen scheinen da keinen Einfluss zu besitzen, das sich aus- breitende III. oder IV. Metacarpale (oder Metatarsale) greift auf die typische Fläche eines Seitenfingers über, eignet sich einen Teil dieser Fläche an; dadurch aber wird die proxi- male Fläche des Seitenfingers verengt und infolgedessen muss der Seitenfinger in seiner ganzen Länge sich verdünnen; der Prozess geht immer in derselben Richtung weiter — die proximale Fläche des Seitenfingers an seinem typischen Carpale oder Tarsale wird immer enger, Millimeter um Millimeter rückt der 3. Finger nach und um so viel verengt sich der Seitenfinger; die Verengung an der proximalen Fläche setzt sich als Verdünnung auf die ganze Länge des Seitenfingers fort; endlich bleibt ihm oben nichts mehr übrig als ein Punkt (wie bei den Traguliden) und die Seitenzehe wird fadenförmig‘“ (1873, Mono- graphie der Gattung Anthracotherium. Palaeontographica NXII, S. 196). barlinien inferior genannt werden müssen. Die „inadaptiv reduzierten“ Huftiere sind allerdings ausgestorben, aber sie haben doch längere Zeit hindurch sich entwickelt und jene Eigenschaften accentuiert. Nach einem Hauptsatz der Darwin’schen Lehre konnte bei herr- schender Konkurrenz eine Weiterentwickelung „inadaptiver Eigen- schaften“ gar nicht stattfinden. A B C Fig. 5. 4 Fussskelett von Anoplotherium (Unteroligocän), inadaptiv reduziert; 5 Fuss- skelett von Dicotyles (recent), C von Gelocus (Oligocän), mit unvollständiger aber adaptiver Reduktion der Seitenzehen (nach Kowalevsky). Wir verstehen die Fälle, in denen Eigenschaften weiter ent- wickelt werden, welche geringerer Qualität sind als die homologen Merkmale gleichzeitiger Konkurrenten, vielleicht eher, wenn wir uns vorher in die Erinnerung zurückrufen, wie oft Eigenschaften zunehmen und abschwellen, bei denen eine Verknüpfung mit dem Nutzen gar nicht ins Spiel kommt. Die wunderbare Formenfülle der Radiolarienskelette, die Man- nigfaltigkeit der Schwammskelette, insbesondere der Obertlächen- nadeln, die Gattungen der palaeozoischen Tabulaten-Korallen ver- dienten wohl in diesem Sinne eine ausführliche Besprechung:'!). ı) Ich möchte hier auf eine treffende Bemerkung hinweisen, welche Dall in seiner Beschreibung der Blake Mollusca macht (Blake mollusca, p. 126): „The absence of struggle which characterizes life in deeps as opposed to that of the shores, and which is illustrated by the absence of the protective operculum in so many species (nämlich Gastropoden), does not limit the variations of external form as they are limited by economical and other reasons where the struggle is intense. In estimating the archibenthal faune this must steadily be kept in view.‘ —,26 — Nach Darwin’'s Prinzip können physiologisch indifferente oder nutzlose Merkmale nicht erhalten bleiben, nach dem Sparsamkeits- prinzip müssten sie verkümmern. Was bedeutet aber der auffallend grosse Sacculus-Otolith für das Gehörorgan des in Holothurien eng eingeschlossen schmarotzenden Bandfisches, welche Funktion wiederum soll er noch ausüben bei den in lautlosen abyssischen Tiefen lebenden Macruriden? Fine fast kontinuierliche Reihe führt von den nucleaten Tere- brateln hinüber zu der auffallenden Pygope mit Durchbohrung beider Schalen; eine ganz analoge Abstufung verbindet Clypeaster mit Scutella und Amphiope. Eigenschaften steigern sich hier, als würden sie in einer Richtung gezüchtet; aber soll man glauben, dass der Kampf ums Dasein, die natürliche Züchtung die Leitung übernommen hat? Hier versagen auch die auxiliaren Prinzipien und die Lamarck- sche Anpassungslehre. Die Metamorphose der Schalen, des Skelettes vollzieht sich in einer Unabhängigkeit, die in der Thatan „organisches Wachsen“ infolge irgend eines Reizes mahnt, und sie beharrt in einer Richtung, bis sie mit einem anderen Prinzip interferiert oder in Kollision kommt. Hier kann man auch an die Geweihbildungen der Hirsche erinnern, welche bei Polycladus und Euryceros als ent- schieden hypertroph bezeichnet werden müssen und schwerlich selektiv nach dem Nutzen herausgezüchtet sind. Ich verweise ferner auf die den Körper überlastende Entwicke- lung des Hautpanzers bei Stegosauriern. Die auf dem Schwanze inserierenden Stachelplatten mögen als Waffen einen Nutzen ge- habt haben, obwohl gleichzeitige Dinosaurier mit besseren Waffen ausgerüstet sind, aber die Riesenplatten über der Mittellinie des Körpers sind Wucherungen und Ballast für den so sparsamen tierischen Körper. Diese Reihen der gewaltig grossen Dinosaurier, deren Be- wegung auf dem festen Lande enormen Kraftaufwand bedingt und viel mehr Kraft verbraucht, als die Bewegung der zum Teil ja noch grösseren Cetaceen im Wasser, diese Dinosaurier, deren Gre- hirn dazu so klein war, dass es durch den Rückenmarkskanal ge- zogen werden konnte, treiben dem Untergange entgegen. Der _-- ZU Kampf ums Dasein, oder richtiger die allgemeine Konkurrenz, mag ihre Tage verkürzt haben, aber gezählt waren sie ohnedies, sobald Fig. 6. A Scelidosaurus Harrisoni Owen; Lias, England. '/,, n. Gr. B Stegosaurus ungulatus Marsh. Oberster Jura (Atlantosaurus-beds), Colorado. '/,, n. Gr. / die gefährliche Richtung ihrer Entwickelung eine umgehemmte wurde. Kein Kampf ums Dasein hat diese Entwickelung gehemmt, die mit Scelidosaurus im Lias beginnt und sich bis in die Kreide fortzieht. Wir wollen hier Halt machen, obwohl noch vieles hervorzuheben wäre, insbesondere die Bedeutung des biogenetischen (Gresetzes in der Palaeontologie!) und die bei niederen Tieren vorliegende Möglichkeit, ı) Die amerikanischen Palaeontologen legen ein grosses Gewicht auf die sog. ontogene- tische Methode, d. h. man überträgt die von Biologen ausgearbeitete Art zu schliessen auf das fossile Material, soweit uns neben der erwachsenen Form auch ihre Jugendzustände aufbewahrt sind. So kennt man fast die ganze Entwickelung einiger Trilobiten, vieler Cephalopoden, Brachiopoden etc. Aus je älteren Schichten die Art enınommen ist, deren Jugendstadien er 28 Far auf einem sonst vorübergehenden Zustand der Ontogenie stehen zu bleiben und in ihm einen Ausgangspunkt für eine neue Entwickelungs- wir zergliedern, desto mehr können wir hoffen, die Ontogenie von den störenden Ein- wirkungen der Tachygenesis, der Abkürzung, der Fälschung etc. befreit zu finden. In allen Fällen stossen wir aber auf einen unlöslichen Rückstand, d.h. gerade dort, wo die Methode uns über die Resultate, welche die bisherige Palaeontologie lieferte, er- heben sollte, hört sie auf, anwendbar zu sein. Mit dem Protoconch der Ammoniten lässt sich nichts weiter anfangen. Das eigentlich embryonale Leben, das sich ın dieser Hülle abspielte, bleibt uns ewig unbekannt, und die Hülle selbst zeigt in ihren an sich so ein- fachen Charakteren doch so viele Schwankungen, dass wir nicht einmal eine Ruhe im Ein- fachsten sehen, sondern finden, wie auch dies den abändernden Einflüssen von je her unterlegen ist. Auffälliger noch sind die Schwankungen, welche das Embryonalgehäuse der Gastropoden zeigt. Wenn die erste Kammerscheidewand eine einfache ist, die des ausgewachsenen Tieres in zerschlitzte Loben und Sättel zerlegt ist, so müssen diese weit anseinanderliegenden Zustände in der Ontogenie durch Zwischenstadien vermittelt werden, wie wir beim Zerlegen eines jeden Ammoniten sehen. Für eine speziellere Phylogenie beweisen die Uebergangs- suturen zunächst nichts, denn auch wenn keine Descendenz die Arten verbände oder keine Rekapitulation der Phylogenie vorläge, müssten sie sich in einer kontinuierlichen Reihe folgen. Wir würden kein Recht haben, auf die Abstammung eines Aegoceras von gephy- rocerasartigen Goniatiten zu schliessen, wenn uns nicht entsprechende Typen aus den in Frage kommenden Erdperioden vorlägen. Der phylogenetische Wert der ontogenetischen Entwickelungsstadien bedarf auch hier im Gebiete der Palaeontologie selbst wieder der Be- stätigung durch andere Resultate der Palaeontologie, d. h. wir kommen keinen Schritt weiter. Und dabei ist der Schritt ein so minimaler von Goniatiten zum Ammoniten, dreht sich das Ganze um eine Spanne des allgemeinen Entwickelungsganges, den die tetrabran- chiaten Cephalopoden durchgemacht haben. Auffallend ist nur, dass man nicht häufiger einen anderen Schluss gezogen hat, der mir notwendig scheint, dass nämlich die Aehnlichkeit der ontogenetischen Entwickelung, welche eine gerichtete und eingeengte ist, mit der geologischen Aufeinanderfolge der Typen (z. B. Goniatites — Ammonites) auch für die phylogenetische Entwickelung, wenn nicht das Vorhandensein einer bestimmten Tendenz erfordert, so doch das Feld des Zufälligen einengt. Greifen wir noch auf die ontogenetische Entwickelung einer anderen Gruppe zurück, nämlich die der Trilobiten, welche durch Barrande seit langer Zeit für einige Arten be- kannt ist. Durch amerikanische Forscher ist sie auch für andere Arten nachgewiesen, so dass wenigstens aus den Hauptgruppen der formenreichen Abteilung Material vorliegt. Jede On- togenie beginnt, nach überwundenem Eistadium (dem wir auch hier nicht näher beikommen können) mit recht einfachen Formen, welche Beecher das Protaspis-Stadium nennt; aber auch diese einfachen Formen, über die wir unsere Untersuchungen nicht hinausdehnen können, bieten Verschiedenheiten. Protaspis ist für die amerikanischen Forscher der ‚„Phyl- embryo“ der Trilobiten und zugleich ein larvaler Zustand, welcher dem hypothetischen Protonauplius der primitiven, ancestralen, larvalen Form aller Crustaceen sehr nahe steht. Es ist nun gewiss folgerichtig, wenn Beecher mit den aus dem Cambrium bekannten Protaspis-Zuständen diejenigen als die primitivsten, am wenigsten „überarbeiteten“ heraus- sucht, welche die einfachsten Merkmale zeigen und zwar nur solche, welche auch bei allen anderen Protaspisformen wiederkehren. Und doch muss hier ein Trugschluss vorliegen, richtung zu finden!). Auch dass die Artbildung in den verschiedenen denn der bewährte Trilobitenforscher kommt dadurch zu der völlig unhaltbaren Ansicht, dass die Trilobiten von blinden Vorfahren abstammen. Eine Beobachtung will ich dagegen anführen, es ist die, dass der im Alter blinde Trinucieus im frühesten Jugendstadium Augen zeigt. \Venn wir die Öntogenie verwerten wollen, so ist hier ein Punkt, richtig einzusetzen. Wir erfahren dadurch, was uns die breite Entfaltung der Klasse lehrt, dass bei blinden Formen die Augen rückgebildet sind. Das abstrahierende Verfahren, immer das Einfachste aufzusuchen als Ausgangspunkt der Ent- wickelungen, würde irre leiten. So fürchte ich, dass wir auch mit Benutzung der Ontogenie der ältesten bekannten Formen, selbst wenn das Material sich enorm vervollständigt, nicht in das Dunkel sehen können, welches über den präcambrischen Generationen lagert. Bis an diese Grenze leitet uns aber die zeitliche Aufeinanderfolge realer Wesen, die Fleisch, Blut und Skelett gewesen sind, sicherer, als das biogenetische Gesetz. Der Wert, der in dem zeitlich geordneten Urkundenmaterial steckt, muss höher angeschlagen werden. Zweifellos giebt es im Verlaufe der ÖOntogenese Zustände, welche Licht auf den Entwickelungsgang des Stammes werfen. So wenn sich vorübergehend ein Organ höher ausgebildet zeigt, als es spätır beim Erwachsenen auftritt, wenn Organe vorhanden sind, die später absorbiert werden, wenn ein Organ durch einen komplizierten Zustand in einen einfachen hineingleitett — denn derartige Zustände kann die vom Einfachen konsequent fortschreitende Entwickelungstendenz allein nicht erklären, das sind Zuthaten der speziellen Stammesgeschichte. Diesen Beobachtungen kommt der grosse Wert zu, dass sie uns das Recht geben, analog beschaffene fossile Formen, auch wenn sie sporadisch auftreten und durch weite Lücken getrennt sind, in Entwickelungsreihen, welche zu den lebenden hinüber- führen, einzustellen. Es sei erinnert an Archaeopteryx und die Zahnvögel der Kreide, deren sicherer Platz im System wesentlich auf der richtigen Ausnutzung embryologischer Erfahrung beruht. Ueber eine gewisse Entfernung tragen aber diese Erinnerungen in der ÖOntogenie nicht hinaus, wohl nie über die Grenzen einer Klasse des zoologischen Systems. Man betont dagegen das Auftreten der Kiemenspalten des Fisches noch in der On- togenie des Säugetieres. Aber es ist schon mehrfach ausgesprochen, dass die Fische nicht notwendig primitive Formen sein müssen, sondern auch von küstenbewohnenden Landtieren abstammen können. Ich will nicht behaupten, dass es erwiesen sei, aber mindestens ist diese Annahme ebenso möglich wie die entgegengesetzte. Die Kluft zwischen ihnen und den Stegocephalen ist durch keinen Fischtypus, auch nicht durch den der Coelacanthinen zu überbrücken. Die Struktur der Flosse bleibt fundamental verschieden von jener der Extre- mitäten höherer Vertebraten; der Unterschied würde verständlicher, wenn wir annehmen, dass sie in sehr alten Zeiten von Tetrapoden mit Knorpelskelett abzweigten. Die An- forderungen an die Bewegung, welche das Leben im Wasser stellt, arbeiteten die noch einheitlich knorpeligen, durch keine oder wenige Össifizierungen ausgezeichneten Knorpel- stücke des Skeletts in radikaler Weise um. Diejenigen Stegocephalen des Perms, welche ein kiementragendes Stadium durch- machen, sind nur ein kleiner Teil.dieser bedeutenden Gruppe; ihre Kiemen sind eine neue Erwerbung, physiologisch und morphologisch etwas anderes als die Fischkiemen. Der angedeutete Entwicklungsgang der Fische würde also nach einer ganz anderen Richtung vom Ausgangspunkte führen, als die der Stegocephalen, Reptilien und Säugetiere, Wenn einmal triftigere Gründe hierfür vorliegen, kann das Auftreten sog. Kiementaschen im Embryo keinen Gegengrund bilden. 1) Besonders Jaeckel hat in seiner umfassenden Darstellung der Cystoidea für die Phylen mit verschiedenen Mitteln arbeitet, dass durch die höhere Ausbildung der Instinkte und des Wollens bei höheren Typen sich ihr mehr Handhaben bieten, verdiente eine vollere Besprechung. Das Darwin'sche Prinzip der Selektion ist nicht das einzige, das in Betracht kommt und es scheint nicht das wichtigste zu sein. Vielfach vermissen wir in der palaeontologischen Geschichte den Hinweis auf ein Eingreifen des Kampfes ums Dasein und anderer- seits heben sich Richtungen der Entwickelung heraus, welche nicht in Beziehung zu einem Nutzen stehen, in einigen Fällen zu einer Schädigung der socialen Bedingungen führen. Aus dem biogenetischen (resetz liest man heraus, dass die Öntogenie im allgemeinen die Stammesgeschichte rekapituliert. Die Stammesgeschichte aber lehrt uns, dass auch sie nicht planlos ver- läuft, sondern durch das Ausgangsmaterial gerichtet ist, ähnlich wie die Ontogenie durch das Plasma der Eizelle. Aehnlich nur, denn es ist nicht ein festes Ziel, dem ein Organismus durch die Entwickelung entgegentreibt, sondern ein reicher Komplex von Möglichkeiten. Das ist für uns die Bedeutung der Konstitution. Verschieden wirken die Umgebungsreize, Anpassung, Ernährung, Selektion auf die Arten ein; sie können die Richtung der Entwickelung ändern und hemmen, sie können die Entwickelungsbahnen von Arten, die getrennten Stamines sind, einander bis fast zur Berührung nähern, eine Verschmelzung wird durch die Konstitution gehindert. Dass es Perioden giebt, in denen die Artbildung rascher ar- beitet, scheint aus der Gruppierung des palaeontologischen Materials hervorzugehen, obwohl gewisse Fehlerquellen (l.ücken des geologischen Berichtes, Transgression der Faunen) dem abwägenden Urteil nicht entgehen können. Die hervorgehobenen Erscheinungen, dass grosse Möglichkeit eines solchen Entwickelungsganges Material beigebracht. Ich citiere nur eine Stelle, welche für seine Auffassung charakteristisch ist: „Die für die ganze Klärung ent- scheidende Supposition, dass die Sphaeroniden durch Entwickelungshemmung entstanden seien, giebt auch zugleich die Erklärung dafür, dass ihre jüngeren Nachkommen im Gegen- satz zu dem Gros der Dichoporiten z. T. aufsteigende Entwickelungsreihen bildeten. Die Indifferenz ontogenetisch früher Stadien verschaffte ihnen unter obiger Annahme leicht die Möglichkeit, beim Ausbau ihres neuen Hauses Fehler zu meiden, von denen sich die Onto- genie der Dichoporiten anscheinend nicht mehr zu befreien vermochte.“ (Stammesgeschichte der Pelmatozoen, I, S. 371.) Gruppen sich ohne längere Vorbereitung einstellen, dass kontinuierliche Reihen relativ kurz sind, dass ınanche Gattungen und Familien eine kurze auffallende Blütezeit erleben (Fusulinaa Nummulites), reihen sich alle unter diesem Gesichtspunkte ein und es kann nur eine äussere Ursache sein, welche dies veranlasste. Wann es uns gelingen wird —- und ob jemals — einen tieferen Einblick zu gewinnen, ob jemals diese so weit zurückliegenden Vor- gänge sich uns entschleiern, ist mehr als unsicher. Es ist aber auch ganz ungewiss, ob es gerade die imposanten Ereignisse, wie die Ge- birgsbildungen und die periodisch gesteigerten Ausserungen vulka- nischer Thätigkeit sind, die hier in Betracht kommen, oder mehr die Umänderungen der kontinentalen Umrisse und des Klimas, aber etwas Reales scheint zu Grunde zu liegen. Seit den ältesten cambrischen Zeiten, von denen her unsere Ur- kunden datieren, sind auf der Erde dieselben geologischen Faktoren thätige. An den Salzlagern Indiens können wir die chemische Zu- sammensetzung des Meereswassers der cambrischen Zeit prüfen und wir erfahren, dass es dieselben Stoffe sind, welche noch heute den Rückstand des oceanischen Wassers bilden. Die für das Leben nötige Wärme kam von je her nicht aus der Tiefe der Erde, sondern ist ein Ge- schenk der Sonne, die Wärme und Licht in gleicher Menge beständig über die Länder zerstreute. Aber die Umrisse der Festländer und Meere haben sich geändert und ihren Aenderungen folgten solche des Klimas. Die Pole der Erde hüllten sich seit dem Ende des Tertiärs in Eis, während sie vorher oftmals das Gebiet üppigen Pflanzenwuchses waren. Daraus den Schluss zu ziehen, dass einer warmen polaren (regend eine ausserordentlich heisse subtropische und tropische Zone entsprochen habe und demnach, dass damals die Gesamtzufuhr an Wärme durch die Sonne eine grössere war, wäre nicht richtig. Die Verteilung von Wasser und Erde als absorbierende und strahlende Flächen gegenüber dem Sonnenlicht ist von ausschlaggebender Be- deutung. Nach dem Pflanzenwuchs der Steinkohlenzeit zu schliessen, umspannten damals gleichförmige klimatische Bedingungen die ganze nördliche Hemisphäre; wo immer Steinkohlenflötze vorhanden sind, werden sie von denselben oder nahe verwandten Pflanzenarten be- gleitet. Dieses gleichförmige Klima konnte aber nicht das der Tropen sein, denn ein solches verhindert jede Aufspeicherung vegetabilischer Brennstoffe. Unzweideutige Spuren des Frostes und des Eises, ja einer grossen Eiszeit durchsetzen die permischen kohlenführenden Schichten der südlichen Hemisphäre. Hebungen und Senkungen der Kontinente, Einbrüche, Auf- treibungen und Faltungen innerhalb dieser breiten Flächen, Umwand- lung einer Inselwelt in ein grosses Festland, Zersplitterung eines Kon- tinents in einzelne, von seichten Meeren umflossene Inseln, An- sammlung ausgedehnter Binnenmeere in Depressionen der Kon- tinente — alles dieses in beständiger, sich kreuzender Bewegung — bilden das Leben der Erde. Und dieses muss bedeutungs- voll nicht nur für die Verteilung der Organismen, sondern auch für die Artbildung und Descendenz sein. An Versuchen, solchen geo- logischen Vorgängen nachzuspüren, welche in den Entwickelungsgang der Organismen stärker eingegriffen haben und bestimmte Beispiele für solche Wechselbeziehungen herauszufinden, hat es nicht gefehlt, doch kann man nicht sagen, dass sie von besonderem Erfolg begleitet gewesen sind. Zum Teil waren die Unterlagen zu schwach, zum Teil handelt es sich auch nur um ebenso kühne als naive Gedanken, die mehr auf das Wohlwollen eines phantasieliebenden Publikums als auf eine thatsächliche Förderung unserer Erkenntnis berechnet waren. Die Flora, welche um die Wende der palaeozoischen Zeit auf- tritt und nach der Häufigkeit der Gattung (Grlossopteris als Grlosso- pterisflora bezeichnet wird, mag als Mutterflora der späteren triassischen und jurassischen aufgefasst werden können, aber ganz zweifelhaft ist ihre Beziehung zu der „carbonen“ Eiszeit, deren Spuren den permischen Schichten der südlichen Hemisphäre so häufig eingeprägt sind. Waagen sah in ihr die auf alpinen Höhen jener Zeit entstandene Flora, allein seither kennt man sie in weltweiter, zeitlich und örtlich von den carbonisch-permischen Hochgebirgen unabhängiger Ver- breitung von Südafrika bis zu den eisigen Ufern der nördlichen Dwina. Sind diese Konjekturen einer wissenschaftlichen Erörterung fähig und würdig, ernsthaft zu nehmende Ansätze zu einer erklärenden Palaeontologie, so sind die Versuche, die Entstehung der behaarten ZREROIIENT, Säugetiere und den Uebergang von der Oviparität zu der placen- talen Gravidität mit dem vermuteten klimatischen Umschwung jener Zeit in Verbindung zu bringen, vorläufig freie Phantasien. Selbst die in ihren Folgen für die Ausgestaltung unserer Länder so wichtige diluviale Eiszeit hat die Entwickelung der Organismen in keine neuen Bahnen gelenkt; wir beobachten nur eine tiefgreifende Beunruhigung der Organismen, ein rastloses Wandern, Fliehen und Zurückfluten, wobei viele Existenzen vernichtet, viele Ansiede- lungen zerstört und neue Gruppierungen angeregt wurden. Von grosser Tragweite ist die Eiszeit allerdings für die Entwickelung der menschlichen Kultur geworden. Eine wichtigere Beziehung besteht zwischen dem Auftreten und Aufblühen des Stammes der Huftiere und den Veränderungen, welche ihre nordamerikanische Heimat während des älteren Tertiärs betrafen. Die Einengung der grossen Seen, die Ausbildung weiter, mit harten Gräsern bestandener Weideflächen schuf Bedingungen, denen sowohl das Extremitätenskelett wie auch die Bezahnung jener Tiere mechanisch angepasst erscheinen. Es wäre verfrüht, hier eine Abhängigkeit vor- auszusetzen, aber auch das Nebeneinander der Vorgänge ist bedeutungs- voll genug und kann uns ermutigen, dem Zusammenhange weiter nachzuspüren. Die Bedeutung des geologischen Vorganges liegt darin, dass neue Lebensgebiete, neue Möglichkeiten, zu leben, er- schlossen wurden, während die Auftürmung alpiner Gebirge oder die Vereisung weiter Flächen beides einschränkt. Jenes regt die Instinkte, den Willen der Tiere an und zieht die Gewöhnung und damit die Anpassung nach sich, dieses führt zunächst zu einem brutalen Kampfe um die Existenz, der für die morphologische Ausbildung viel weniger befruchtend wirkt. Druck von Ant. Kämpfe in Jena. VERLAG VON GUSTAV FISCHER IN JENA. Boveri, Dr. Theodor, Professor an der Universität Würzburg, Das Problem der Befruchtung. Mit 19 Abbildungen im Text. 1902. Preis: 1 Mark s0 Pf. Münchener Allg. Zeitung, Beilage Nr. 18 vom 23. Januar 1902: ... Der Vortrag ist in hohem Grade geeignet, dem Laien eines der wichtigsten Gebiete des Naturgeschehens zu eröffnen; den Forscher wird er vielleicht an manchen Punkten zum Widerspruch herausfordern, sicher aber anregen und den Studien über das Problem einen neuen Anstoss geben. af Dr. G. H. Theodor, Prof. der Zoologie und vergleichenden Anatomie IMEer, zu Tübingen, Die Antstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften nach den Gesetzen organischen Wachsens. Ein Bei- trag zur einheitlichen Auffassung der Lebewelt. Erster Teil. Mit 6 Abbil- dungen im Text. Preis: 9 Mark. Dr. Osk., Direktor des II. anatom. Institus an der Berliner Universität, Hertwig, Die Antwickelung der Biologie im 19. Jahrhundert, Vortrag gehalten auf der Versammlung deutscher Naturforscher zu Aachen am 17. September 1900. 1900. Preis: 1 Mark. Centralbl. f. d. Grenzgebiete, 1901, Bd. IV, Nr. 4: ... Der Vortrag ist — wie bei einem Aufsatz von Hertwig fast selbstverständ- lich — ausserordentlich anregend geschrieben, und auch diejenigen, welche nicht in allen Punkten mit dem Verfasser übereinstimmen, werden mit Vergnügen seinem Gedankengang folgen. Neue Pädagog. Zeitung 1901, Nr. 9: Die vorliegende Broschüre enthält den Vortrag, den der verdienstvolle Forscher aut der vorjährigen Versammlung Deutscher Naturforscher zu Aachen gehalten hat und der in der gesamten Welt der Naturforscher die höchste Anerkennung gefunden hat. Jeder, der sich für die Entwickelung der „Wissenschaft vom Leben‘ interessiert, wird in dem Dar- gebotenen eine Fülle interessanter Belehrungen finden. Ueber die gegenwärtige Lage des biologischen Unterrichts an böberen Schulen. Verhandlungen der vereinigten Abteilungen tür Zoologie, Botanik, Geologie, Anatomie und Physiologie der 73. Versammlung deutscher Naturforscherfund Aerzte am 25. September 1901 in Hamburg. Preis: 1 Mark. Mm fi Dr. Rudolf, a. o. Professor der Anthropologie an der Univ. Zürich, arliN, Anthropologie als Wissenschaft und Lehrfach. Fine aka- demische Antrittsrede. 1900. Preis: 80 Pf. Naturw. Wochenschrift, Bd. XVI, Nr. 18 vom 5. Mai 1901: Bei dem von verschiedenen Seiten erhobenen Mahnruf nach Errichtung von Lehr- stüblen für Anthropologie auf unseren deutschen Hochschulen verdienen die Aeusserungen der Inhaber einer der wenigen schon bestehenden über „Wesen und Aufgabe‘ seiner Wissenschaft ganz besondere Beachtung. Rudolf Martin hat seine im Sommer-Semester 1900 an der Universität Zürich gehaltene Antrittsvorlesung im Druck erscheinen lassen mit dem ausgesprochenen Wunsche, der Wissenschaft vom Menschen ‚neue Freunde und Mitarbeiter zu werben“. Im grossen und ganzen wird wohl jeder umsichtige und sach- kundige Beurteiler seinen Ausführungen beipflichten. Litterarischer Handweiser 1900, Nr. 649 und 750: Ein akademischer Vortrag, der von warmer Hingebung an die wissenschaftlichen Angaben der Anthropologie getragen ist. VERLAG VON GUSTAV FISEHER-IN JENA... Ü) tt Dr. phil. Benjamin, Prof. an der Kgl. sächs. technischen Hochschule zu | EILET, Dresden: + 2. Januar 1893, Die moderne Weltanschauung und der Mensch. Sechs öffentliche Vorträge. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Ernst Haeckel in Jena. Dritte Auflage. 1901. Preis: steif brosch. 2 Mark, geb. 2 Mark 50 Pf. PN Internationale Litteraturberichte, Leipzig, 14. Mai 1896: Nr ‚Klar und wahr‘ möchte ich ..diesen, 6 Vorträgen des der "Wissenschaft zu früh entrissenen Professors Vetter aufs Titelblatt schreiben. Sie sind das Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, der fest überzeugt ist von der Wahrheit der modernen naturwissen- schaftlichen Weltanschauung. Solche Bücher bekommt man nicht alle Tage zu DS lesen. Man legt sie aber’ auch,nicht nach einmaligem Lesen aus der Hand, sondern greift immer wieder danach und freut sich an dem schönen Seelenfrieden des Ver- fassers. . Jeder Leser schliesst sich sicherlich den Werten Ernst Haeckels an, .der eine, Vorrede zu diesem letzten ‘Werke seines begabten Schülers geschrieben ‚hat. ‚Möge der wertvolle und wohlgeformte Baustein, welchen Benjamin Vetter in diesen Vorträgen zum Ausbau der einheitlichen modernen Weltansschauung geliefert hat, nicht allein seinen Zweck. erfüllen, sondern auch ein bleibender Denkstein für ihn selbst bleiben, eine schöne Erin nerung an’ die wissenschaftliche Ueberzeugungstreue und den Jauteren Charakter des edlen. und feinfühlenden Naturforschers.“ VER EN vlg Soeben erschien: Er Walther, Joh., Professor an der Universität Jena, Geologische Beimats- m — — — — — — — — — — — , kunde von Thüringen. Mit 43- Figuren und 16 Profilen im Text. ‚Preis brosch. 2 Mark: 40 Pf., geb. 3 Mark. " "Inhalt: 1. Bilder aus der Urgeschichte. 2. Geologische Wanderungen. 3. Die Verbreitung nutzbarer Gesteine in Thüringen. --4. Wörterbuch. der Fachausdrücke: 5. Verzeichnis der Ortsnamen. % Cuke, Hack D,M.D. F.R.C.P, L.L.D., Geist und Körper. Studien über die Wirkung der Einbildungskraft. Autorisierte Uebersetzung der 2. Auflage des ‚ englischen Originals von Dr. H. Kornfeld , ‘member of the med.-leg. society of New‘ York, ‚Mit 2 Tafeln. Preis: 7° Mark: ©. Re. Inhalt: Der Verstand. — Die Gefühle. — Der Wille. Einfluss des Geistes auf den Körper bei der Behandlung von Krankheiten. 2 ae A Dr. August, Geh. Rat und Prof. an der Univ. Freiburg i. Br., Weismann, qufsätze über Vererbung und verwandte biologische fragen. Mit 19“Abbildungen im Text. 1892. "Preis; 12° Mark. 1.1, (Eine Reihe dieser Aufsätze ist auch einzeln erschienen.) Inhalt: Ueber die Dauer des Lebens (1882). — ‘Ueber die: Vererbung- (1883). ao —_ "Ueber Leben und Tod (1884).. —. Die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie ‘der Vererbung (1885). — Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung‘ für die Selektionstheorie ‘(1886).-—-Ueber die Zahl der Richtungskörper und aber ihre Bedeutung für die Vererbung (1887).. — Vermemtliche -botanisehe Beweise für \ eine Vererbung erworbener Eigenschaften (1888). — Ueber die’ Hypothese einer Vererbung von Verletzungen (1889), Ueber den Rückschritt in der Natur (1889). — Gedanken “über Musik’bei Tieren. und Menschen ‚(1889), — ‚Bemerkungen zu einigen Tagesproblemen (1890). — Amphimixis oder;die Vermischung der Individuen (1891). Demnächst erscheint: | +. —— Vorträge. über ‚Descendenztheorie schalten an der Universität zu ‚Freiburg 1. Br. Erster'Band.»«Mitv3 farbigen Tafeln ‚und, 130 Textfiguren, Ziegler Dr. Heinrich Ernst, 'Bröf: an 'der Universität" Jena, Ueber den derzeitigen Stand der Descendenzlehre ‚in der ‚Zoologie, Vor trag gehalten in‘ der‘ gemeinschaftlichen Sitzung der naturwissenscha tlichen Hauptgruppe der 73. Versammlung deutscher‘ Naturforscher und Aerzte zu Hamburg am 26. September 1901, mit Anmerkungen und: Zusätzen herausge- geben. 1902. Preis: 1 Mark 50 Pf. Druck von Ant. Kämpfe, Jena. TH,