) IN SU \ N \ ‘ % I N u am N N f N r un 3 i * AR; SR BORN ARTUR RANFT, LEIPZIG. PHOTOGRAPHIE-VERLAG REGLAMS UNIVERSUM, PFLÜGER® ARCHIV FÜR DIE GESAMMTE PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN UND DER TIERE. HERAUSGEGEBEN VON MAX VERWORN PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE UND DIREKTOR DES PHYSIOLOGISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT BONN UNTER MITWIRKUNG VON PROF. BERNHARD SCHÖNDORFF IN BONN. BAND HUNDERT UND SECHSUNDDREISSIG. MIT 21 TAFELN, 70 TEXTFIGUREN UND EINEM BILDNIS EWALD HERING’S. Zur Ehrung Ewald Hering’s. BONN, 1910. VERLAG VON MARTIN HAGER. BEITRÄGE ZUR PHYSIOLOGIE. EWALD HERING ZUR FEIER SEINES GOLDENEN DOKTORJUBILÄUMS GEWIDMET VON SCHÜLERN UND ARBEITSGENOSSEN. Inhalt. Ausgegeben am 30. Dezember 1910. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. Von Professor Dr. med. Georg Köster (Leipzig). (Hierzu Tafel I und II.) (Aus dem Be Institut der Universität Leipzig) Die elektrischen Erscheinungen am Kallan ee Yon R. F. Fuchs (Erlangen). (Hierzu Tafel II und IV.) (Aus der physiologischen Abteilung der Er Station in Neapel). Zur Psychologie des Eongenterkch ebenen. Gesichtefeldes. Von A. Pick. (Vorgetragen auf dem Kongresse für exper. Psychologie in Innsbruck 1910) RAR IE Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. Von Privat- dozent Dr. Hugo Wiener. (Aus dem Institute für allg. und exp. Pathologie der deutschen Universität in Prag) Über die Eireifung bei den Alcyonaceen. Von Dr. Robert Müller, Elberfeld. (Mit 4 Textfiguren) . Über die Abbe’sche Sinusbedingung. Von Otto Fischer (Leipzig). (Mit 9 Textfiguren). Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung: Über die siehe Verdauung des Kaseins. Von M. Siegfried. Nach ge- meinschaftlich mit ©. Lindner ausgeführten Versuchen. (Aus der chemischen Abteilung des physiol. Institutes der Universität Leipzig) Über die Darstellung von Curarin in Elena Mesa, Von R. Boehm, Leipzig » : \ Chemische und ikeoskopniche Untersntehungeh über es Pett- transport durch die Darmwand bei der Resorption. Von A. Noll. (Hierzu Tafel XI und XII.) (Aus dem > siologischen Institut der Universität Jena) . Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung des. op- tischen Raumsinnes. Von Professor F. Best (Dresden) . Seite 65 101 VI Inhalt. Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche a Von Ernst Mach ö BHO Der laugige Geruch. Von M. von Frey Ward) (Mit 1 Textfigur) { Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. Von Professor ©. Hess. (Mit 7 Textfiguren und Tafel V—X). } Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Taastgefühls. Von Dr. Adolf Basler, Privatdozent und Assistent am physiologischen Institut in Tübingen. (Mit 10 Textfiguren) Zum Nachweis der hemiopischen Pupillarreaktion. Von Dr. Moriz Sachs, Privatdozenten der Augenheilkunde in Wien. (Mit 1 Textfigur) | Studien über antagonistische Nerven. VI. Von Leon Asher. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Bern) Der Einfluss der höheren Hirnteile auf die Reflextätigkeit des Rückenmarks. Nach Versuchen mit Ausschaltung durch Abkühlung Von Wilhelm Trendelenburg. (Mit 3 Textfiguren.) (Aus dem physiologischen Institut der Universität Freiburg i. B.) a RE Sphygmo-tonographische Studien. Von Prof. Dr. Egmont Münzer (Prag). (Mit 11 Textfiguren) Über sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize des Herzens und ihre Beziehung zur Heterodromie. Von Prof. H. E. Hering (Prag). — Anatomisch-histologische Untersuchung der ver- schorften Gegend des Keith-Flack’schen Knotens. Von Oberarzt Dr. Walter Koch. (Hierzu Tafel XIII und XIV). (Aus dem pathol. Institute der Universität zu | Ereir burg i. Br.) : i Ba: i Die kolloiden Zustandsänderungen von Eiweiss und ihre a siologische Bedeutung. Von Wolfgang Pauli. (Aus der physik-chem. Abteilung der biolog, Versuchsanstalt in Wien) ; ET ; Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten la IV. Über die Wirkungsweise der fördernden und hemmen- den Nerven. (Nach Versuchen am M. retractor penis des Hundes.) Von Dr. Ernst Th. v. Brücke und Dr. Soroku Oinuma. (Mit 6 Textfiguren und Tafel XV und XVI.) (Aus dem physiologischen Institut der Uni- versität Leipzig). . . » Seite 263 275 282 368 402 411 429 443 466 483 502 Inhalt. Weitere Untersuchungen über die Aktionsströme des Nervus phrenicus bei natürlicher Innervation. Von Dr. med. Rudolf Dittler, Privatdozent und Assistent am phy- siologischen Institut. (Hierzu Tafel XVII und XVIII. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Leipzig) Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung des Nervenstromes nach elektrischer Reizung. Von Sieg- fried Garten. (Mit 4 Textfiguren und Tafel XIX, XX.) (Aus dem physiologischen Institut der Universität Giessen) Über die Möglichkeit einer stereoskopischen Projektion ohne Ablenkungsprismen mit weissen Teilbilden. Von Otto Wiener. (Mit 2 Textfiguren) BE re HER Kun Über die Zuckerbildung in der Leber. Von M. Loewit. (Hierzu Tafel XXI.) (Aus dem Instiute für experim. Patho- logie an der k. k. Universität Innsbruck) . Weitere Versuche über die Wirkung des ultravioletten Tichtes auf die Netzhaut. Von Prof. A. Birch-Hirschfeld (Leipzig) und Dr. Nobuo Inouye (Tokio) . a. Über dio Sichtbarkeit des blinden Fleckes. Von Dr. A. Brückner, Privatdozent und Oberarzt der Klinik. (Mit 5 Textfiguren.) (Aus der Universitäts-Augenklinik zu Königsberg i. Pr.) . BR NE NEE : Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Inner ationen der Augen- muskeln. Von Dr. med. A. Bielschowsky, a. o. Pro- fessor und erstem Assistenten an der Universitäts-Augenklinik zu Leipzig. 5 o REN IE I DIT ER Über bioelektrische Aueskerune des aaaslonus: Studien über tonische Innervation. II. Mitteilung. Von A. v. Tscher- mak, Wien. (Mit 4 Textfiguren) a RS BR Ta Zur Kenntnis der Carbaminoreaktion. Von Walter Sulze. (Aus der chem. Abteilung des physiol. Instiuts der Uni- versität Leipzig) . en: Über den Einfluss schräger Koniaren anf die Sptische Bela sation bei seitlicher Kopfneigung. Einleitende Versuche. Von F.B. Hofmann. (Mit 1 Textfigur.) (Aus dem phy- siologischen Institut der Universität Innsbruck) : Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. Von Richard Burian. (Mit 2 Textfiguren). (Aus der physiologischen Abteilung der zoologischen Station zu Neapel) ; va Seite 533 545 595 610 6585 692 712 724 741 (Aus dem physiologischen Institut der Universität Leipzig.) Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. Von Professor Dr. med. Georg Köster (Leipzig). (Hierzu Tafel I und II.) Beobachtungen am Menschen. Nachdem ich in v. Graefe’s Archiv für Ophthalmologie 1910 mit A. Bireh-Hirschfeld über unsere gemeinschaftlichen Unter- suchungen an dem Sehorgane des chronisch mit Atoxyl vergifteten Menschen und Tieres berichtet habe, will ich jetzt die Wirkung dieses Giftes auf das Nervensystem und die inneren Organe einer Erörterung unterziehen. Zu einer gesonderten Besprechung der Giftwirkungen am Sehorgane fühlten wir uns um so eher berechtigt, weil sie in keiner gegenseitigen Abhängigkeit von den Atoxyleffekten an dem übrigen Nervensystem und den Eingeweiden stehen. Zwar ist die Erblindung ein besonderes häufiges, unvorhergesehenes und daher überaus zu fürehtendes Symptom, aber auch viele andere Teile des Körpers können schwer durch chronische Zufuhr von Atoxyl geschädigt werden, und zwar ganz unabhängig von den Läsionen des Sehorganes. Denn das Atoxyl wird in der Blutbahn an alle Gewebe des Körpers getragen und macht je nach Disposition des durchspülten Teiles und der Menge des zugeführten Mittels früher oder später Erscheinungen, die als koordinierte Giftwirkungen anzusehen sind. Die unverkennbare, besonders intensiv entwickelte Affinität des Atoxyls zur Retina und dem Sehnerven darf uns aber nicht veranlassen, die vielen Gefahren, welche die Anwendung dieses „Heilmittels“ für die andern Teile des Gesamtorganismus mit sich bringt, zu unterschätzen. Hierfür liefern die zwei von Birch- Hirschfeld und mir zusammen beobachteten Fälle den besten Beweis. Es handelt sich um zwei Männer, in deren Vergangenheit Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 1 2 Georg Köster: der Alkoholabusus und bei einem auch noch eine weit zurück- liegende luetische Infektion eine Rolle spielen. Sie wurden von einem Dermatologen wegen Psoriasis vulgaris mit Atoxyl gespritzt und dadurch blind. Während einer noch lebt, ist der andere (Fl.) zur Sektion gekommen und wies eine hochgradige Degeneration im N. opticus und der Retina auf. Da wir über diese Degenerations- vorgänge bereits ausführliche Mitteilung gemacht haben, so werde ich jetzt bei der Krankengeschichte nur ein kurzes Referat der Störungen des Sehorganes geben. Zunächst lasse ich die Krankengeschichten der Fälle folgen. S. Moritz. 40 Jahre. Zimmermann. Diagnose: Chronische Atoxylvergiftung. S. hatte wegen Psoriasis vulgaris von einem Dermatologen Atoxylinjektionen erhalten, und zwar vom 28. Mai bis 25. Juli etwa 45 Injektionen einer 20°/oigen Atoxyllösung, im ganzen also 9,0 Atoxyl. In der dritten Injektions- woche klagte er über Abnahme der Sehkraft und wurde daher am 12. Juli 1907 in der Augenklinik untersucht. Hierbei war er sehr erregt, zitterte am ganzen Körper und machte widersprechende Angaben, was die Untersuchung sehr er- schwerte. Die Krankheitsentwicklung gestaltete sich kurz zusammengefasst folgendermaassen: 12. Juli 1907. Visus rechts ©/s, links 5. Kein zentrales Scotom. Völlig normaler Augenhintergrund und normale Pupillenreaktion. 17. Juli 1907. Visus rechts 6ı2, links %s. Ganz schwankende Angaben. Pupillen und Augenhintergrund normal. 22. Juli 1907. Visus rechts eo, links ®s. Hochgradige Einengung des Gesichtsfeldes am rechten Auge. Ophthalmoskopisch noch negativer Befund. 14. Oktober 1907. Seither von anderer augenärztlicher Seite behandelt. Jetzt völlige Amaurose des rechten Auges, links Visus 6/20. Beiderseits Sehnerven- atrophie (grauer Opticus mit engen Arterien). Links hochgradige Einengung des Gesichtsfeldes.. Trotz Amaurose des rechten Auges deutliche aber herabgesetzte Pupillenreaktion. Konsensuelle Reaktion vom linken Auge aus lebhaft und ausgiebig. 15. Oktober 1907. Erste neurologische Untersuchung. Hierbei gab S. an, dass er nach den Einspritzungen mehrfach Schwindelgefühl und Übelkeit und in der vierten Injektionswoche erstmalig die Unfähigkeit bei sich bemerkte, den Urin zu halten. Er hatte wohl den Drang zum Urinieren, doch ging der Harn unfreiwillig ab in die Hose, wenn er nicht sofort ein Nachtgeschirr zur Verfügung hatte. Auch jetzt muss er sich beim ersten Harndrang beeilen, um den Urin nicht zu verlieren. Der Stuhl war während der Atoxylkur verstopft ohne Kopf- schmerzen. Schmerzen und Gefühlsvertaubungen hat er niemals gehabt. Auch eine Unsicherheit beim Gehen soll nicht bestehen, sondern nur eine aus der Amaurose heraus entstandene Ängstlichkeit. G. gesteht zu, dass er früher täglich für 30 Pfennig Schnaps und sechs Flaschen Bier genossen habe. Tabakgenuss und luetische Infektion werden negiert. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 3 Status vom 15. Oktober 1907. Kräftiger, mässig genährter Mann mit ausgebreiteter Psoriasis vulgaris. Der Pupillenbefund ist wie am 14. Oktober. Die Hirnnerven sind im übrigen frei von Besonderheiten. Die inneren Organe sind normal, nur der Puls ist beschleunigt (90), aber regelmässig. Spasmen sind in den Extremitäten nicht nachweisbar; doch besteht Patellarklonus und Fussklonus beiderseits. Der Fusssohlenreflex ist auf beiden Füssen mit Beugung aller Zehen verbunden. Cremaster- und Bauchdeckenreflex lebhaft vorhanden. Die Bein- kleider und das Hemd sind trocken. Das Rombergsche Phänomen ist nicht deut- lich. Der Gang ist nicht ataktisch. 22. November 1907. Seit einiger Zeit kann G. den Urin wieder gut halten. Der Stuhl soll jetzt nicht mehr verstopft sein. Rechtes Auge amaurotisch. Die rechte Pupille reagiert jedoch auf Belichtung wenig ausgiebig aber deutlich und deutlicher bei Belichtung des linken Auges. Die konsensuelle Erregbarkeit der linken Pupille von der rechten aus ist nur sehr gering. Bei direkter Be- lichtung zieht sich die linke Pupille gut zusammen. Nervenstatus unverändert. 10. Januar 1903. G. hat nur noch auf dem linken Auge einen schwachen Lichtschein. Eine Änderung im Befunde ist gegen früher nicht eingetreten. Auch die Psoriasis ist unverändert. Fl. Heinrich. 55 Jahr. Bierbrauer. Diagnose: Chronische Atoxyl- vergiftung. Fl. wurde wegen Psoriasis vulgaris von einem Dermatologen mit Atoxylinjektionen behandelt. Er bekam im ganzen 32 Einspritzungen einer 20°oigen Atoxyllösung —=6,4 g Atoxyl. Nach der 32. Einspritzung bekam er Sehstörungen und konnte weder Urin noch Stuhl halten. Zweimal hatte er un- freiwilligen Abgang von Stuhl, ohne dass Durchfall bestand. 12. Juli 1907. Am rechten Auge beginnende, am linken schon vor- geschrittenere Katarakt, die natürlich mit den Atoxylinjektionen keinen Zu- sammenhang hatte. Sicherer Nachweis einer Sehstörung noch nicht möglich. Pupillen und Augenbhintergrund normal. Visus rechts €ı0, links Finger auf 2 m. 30. August 1907. Behauptet blind zu sein. Visus rechts Yao. 5. September 1907. Visus rechts ?/ıo. 2. Oktober 1907. Visus beider Augen seither bis auf einfache Licht- empfindung gesunken. Rechts Abblassung der Papille mit Verengerung der Arterien. Links wegen zunehmender Katarakt Spiegeluntersuchung unmöglich. Pupillenreaktion beiderseits prompt, direkt auf Licht und konsensuell. 10. Oktober 1907. Erstmalige neurologische Untersuchung. Hierbei gab F. an, dass er nicht syphilitisch gewesen sei, früher täglich zirka drei Zigarren geraucht und ca. 6 1 Bier und für 5 Pfennig Schnaps getrunken habe. In früheren Jahren will er wiederholt „Rheumatismus“ in den Füssen gehabt haben. Bereits im Jahre 1899 soll eine Lebervergrösserung bei ihm festgestellt worden sein. Während der Atoxylbehandlung wurde er nach der Einspritzung müde, schwindlig, von Übelkeit gequält und sein Stuhlgang verstopft. Trotzdem verlor er ihn zweimal. Die anfängliche Neigung zur Incontinentia urinae machte nach einigen Wochen einer Erschwerung der Urinentleerung Platz. Gefühlsvertaubungen und Schmerzen haben sich während der Atoxylkur nie eingestellt. Jedoch merkte er zunehmend eine Mattigkeit und Unsicherheit beim Stehen und Gehen, die 18 4 Georg Köster: nicht nur als Folge der fortschreitenden Erblindung vom Patienten selbst auf- gefasst wurde. Status vom 10. Oktober 1907. Kräftiger, korpulenter, blasser Mann. An den Armen und Schläfen besteht eine mässige Arteriosklerose. Ausgebreitete- Psoriasis vulgaris. Die Hirnnerven sind, abgesehen vom N. opticus, normal. Am. Herzen Verstärkung des zweiten Aortentones. Puls 72, regelmässig, etwas ge- spannt. Leber bis zum Nabel herabreichend, Leberrand hart, glatt und un- empfindlich, Milz nicht fühlbar. Die Patellarreflexe sind lebhaft gesteigert, aber es besteht kein Patellar- und Fussklonus. Bei Augenfussschluss deutliches- Romberg’sches Phänomen. Keine Nervendruckpunkte oder Gefühlsstörungen. 12. November 1907. In den letzten Tagen mehrfach unfreiwilliger Ab- gang von etwas Urin in die Hosen, die in der Tat feucht sind und stark ammoniakalisch riechen. Er hat Urindrang, kann aber den Abgang nicht ver- hüten, wenn er nicht sofort das Nachtgeschirr oder den Abtritt benutzen kann. 19. März 1908. Nachdem er in letzter Zeit frei von Beschwerden gewesen war, trat letzthin wieder die Neigung zu Incontinentia urinae hervor. Gestern verlor er auch den Stuhl in die Hose. 11. April 1908. Kann jetzt das Wasser besser halten. Die Reflexe sind gesteigert, jedoch nicht bis zum Patellar- oder Fussklonus. Deutliche Ataxie beim Gehen und Schwanken beim Stehen mit geschlossenen Füssen. Stuhlentleerung, in Ordnung. 25. Mai 1908. Seit 2 Wochen Anschwellen der Füsse bis zu den Knöcheln. Puls 90, irregulär und inäqual. — Digitalis. 19. September 1908. Füsse abgeschwollen nach längerem Digitalis- gebrauch. Puls 66—72 irregulär und inäqual. Er muss jetzt bis zu '/4 Stunde stehen und pressen, bevor er den Urin entleeren kann. Prostata nicht hyper- trophisch. Die linke Pupille ist entrundet, beide reagieren nur bei ganz greller- Belichtung der vorher dunkeladaptierten Augen. Urin frei. 8. März 1909. In der Zwischenzeit sind die Beine abwechselnd an- und abgeschwollen. Der Puls ist schlecht wie immer, und die Erschwerung der Urin- entleerung hält an. 17. April 1910. Stark geschwollene Füsse. Puls 96, irregulär, inäqual. Urinbeschwerden unverändert. Pupillenreaktion bei Belichtung deutlich, wenn auch nicht sehr ausgiebig. Dabei ist Patient völlig erblindet. 13. Juni 1910. Exitus nach vorausgegangener fieberhafter Bronchitis im. Pflegehause, wo er wegen seiner Hülflosigkeit untergebracht worden war. Sektionsbefund. Die Autopsie wurde 4 Stunden nach dem Tode durch Dr. Droczinski vorgenommen. Ein Auszug aus dem Protokoll sei kurz. mitgeteilt. Fettpolster stark entwickelt. Brustkorb fassförmig ausgedehnt. Ausgedehnte- Psoriasis vulgaris. Leichte Schwellung der Knöchel. Am Penis kleine Narben. Kopfhöhle: An der Kopfhaut nichts Besonderes. Schädeldach symmetrisch, Nähte verstrichen, Knochen von mittlerer Dicke. Die Pachymeninx haftet im ganzen hinteren Umfang dem Schädeldach ziemlich fest an. In den venösen Sinus wenig flüssiges Blut. Die Leptomeninx ist hauptsächlich in der Gegend der Parietallappen, aber auch im hinteren Umfange des Gehirns intensiv weisslich Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 5 werfärbt und verdickt. Windungen des Gehirns normal entwickelt. Auf dem Durchschnitt ist das Gehirn feucht und weist zahlreiche Blutpunkte auf. Herde sind nirgends vorhanden. Die Ventrikel sind glattwandig und enthalten wenig Flüssigkeit. Das Rückenmark wird im Zusammenhang mit den Hüllen heraus- :genommen. Weder an den Meningen noch am Rückenmark, durch das in ver- schiedenen Höhen Querschnitte gemacht wurden, ist makroskopisch etwas Patho- logisches zu entdecken. Die Zeichnung ist überall deutlich. Herz: Am Epicard weissliche Verdickungen. Herz gross, kräftig, Klappen ‚schlussfähig, weissliche Streifen im Anfangsteil der Aorta. Lunge: Ödem der Unterlappen, bronchopneumonische Herde. Eitrige Bronchitis. Leber (Doz. Dr. Verse) etwas verkleinert, Oberfläche grobhöckrig. Zwischen einzelnen grossen Knoten von dunkelroter Färbung erheben sich zahl- reiche kleinere Granula. Auf dem Durchschnitt findet sich die grobknotige Be- schaffenheit des Leberparenchyms wieder. Zwischen den Knoten Bindegewebs- streifen. Auf einem Durchschnitt durch den vorderen Rand des rechten Lappens ‚und medianwärts von der Gallenblase, wo schon äusserlich eine starke Schrumpfung und kleinhöckrige Beschaffenheit dieser rötlicher gefärbten Partie hervortrat, findet sich ein fünfmarkstückgrosser heller Knoten, aus käsigen gelben Massen bestehend, dessen Rand etwas gelappt erscheint. (Diagnose: Hepatitis inter- stitialis aleoholica et gummosa.) Magen. Darm: Schleimhaut glatt, keine Blutungen. Nieren: leicht granuliert. Kapsel schwer abziehbar, Parenchym blassrot. Rinde und Mark ohne auffallende Veränderungen. Harnblase: enthält wenig klaren Urin. Schleimhaut blass und glatt. Hoden: Auf dem Durchschnitt einige stärker ausgeprägte fibröse Streifen. Das übrige Parenchym OÖ. B. Von den Organen des Fl. wurden uns zur histologischen Untersuchung nur die Sehnerven bis zu den äusseren Kniehöckern und die Augäpfel überlassen. Wir verdanken dies Material dem Entgegenkommen der Herren San.-Rat Dr. Lohse und Dr. Droczynski. Die Bulbi und Nn. optici werden in Zencker’scher Lösung fixiert, zum Teil in Paraffin, zum Teil in Celloidin gebettet und nach Wolters-Kulschitzky “(modifiz. Weigert), nach Marchi, nach van Gieson, nach Nissl-Held (Thionin- Erythrosin) und mit der Held’schen Gliafärbung gefärbt. Aus dem histologischen Befund sei kurz folgendes hervorgehoben. In der Netzhaut ist die Nervenfaser- schicht fast ganz verschwunden und durch Glia ersetzt. Die Ganglienzellen fast alle _ untergegangen, besonders im Bereich der Macula. Nur vereinzelte geschrumpfte Kerne oder vakuolisierte Protoplasmareste sind vorhanden, die Netzhautgefässe haben verdickte Wandungen von teilweise hyalinem Aussehen. Die Körner der inneren Körnerschicht liegen unregelmässig und sind vielfach rundlich, dunkel gefärbt und frei von der normalerweise vorhandenen retikulären ‚Zeichnung. Die in der Mitte gelegenen Körner der inneren Körnerschicht ent- halten vielfach gehlähte hellere Zellen. Die Zwischenkörnerschicht ist vielfach mit feinen Vakuolen versehen, wahrscheinlich als Folge einer Entspannung des gliären 6 Georg Köster: Fadengerüstes der Netzhaut durch Schwund eines grossen Teiles ihrer nervösen Elemente. Die äusseren Körner sind in der Netzhautperipherie meist klein, rundlich, chromatinreich, ohne das in der Norm zu beobachtende feine Chromatin- netz, und zeigen eine Kernschrumpfung. Die äusserste Reihe der äusseren Körner an der Membrana limitans externa ist gut erhalten. Es sind Zapfenkörner, die auch im Bereiche der Fovea ihre normale Struktur aufweisen im Gegensatz zu den degenerierten Stäbchenkörnern. Chorioidea und Sclera zeigen nichts Besonderes. Die Sehnerven weisen mit Marchi-Färbung nur ganz vereinzelten frischen Markscheidenzerfall auf. Bei Wolters-Kulschitzky-Färbung (modifiz. Weigert) sieht man, dass fast alle Nervenfasern geschwunden, und dass die noch vorhandenen häufig varikös verdickt oder eingeschnürt sind. Nach hinten zu werden die im ganzen (uerschnitt des Sehnerven gleichmässig be- obachteten Erscheinungen des Nernenfaserschwundes etwas geringer. Das papillo- makuläre Bündel war bei der vorgeschrittenen Atrophie auch mit degeneriert. Die Glia ist im Sehnerven stark vermehrt und bildet einen dichten Filz mit ge- streckten longitudinalen oder schräg verlaufenden Fasern. Ein Teil der Glia- kerne ist geschrumpft. Das Bindegewebe ist gewuchert und lässt die im Quer- schnitt des N. opticus sonst vorhandene radiäre Anordnung vermissen. Die Wandungen der kleinen Gefässe und der A. centralis und V. centralis N. optieci sind verdickt und hyalin entartet. Die Ganglienzellen des Corpus geniculatum externum zeigen bei gut erhaltenem Kern beginnende Klumpung oder Zerstäubung der chromato- philen Elemente, ferner Vakuolisierung des Protoplasmas, völlige Chromatolyse, Kernschrumpfung und -zerfall. Bei Durchsicht der Literatur begegnet uns eine ganze Anzahl von Fällen, bei denen sich, von der Erblindung abgesehen, mehr oder weniger schwere Vereiftungserscheinungen finden. Während sich einige Autoren z. B. v. Notthafft!) mit der Feststellung beenügten, dass leichtere Intoxicationserscheinungen in der Hälfte aller Versuche beobachtet werden, finden wir bei andern Autoren sehr genaue Angaben. Schon nach wenigen und kleinen Atoxyl- dosen, ja sogar nach einer einzigen Einspritzung können sich Ver- giftungssymptome einstellen, und es stimmen alle Autoren darin überein, dass man das Auftreten der bedrohlichen Erscheinungen nicht berechnen kann. Dies liegt teils in individuell verschiedener Toleranz gegenüber dem Atoxyl, teils in seiner kumulierenden Wirkung, teils daran, dass gelegentlich zersetzte Lösungen verwendet 1) v. Notthafft, Beiträge zur Kenntnis der Atoxylwirkung bei Syphilis, besonders bei ausschliesslich lokaler Applikation. Münch. med. Wochenschr. 1909 Nr. 6. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 7. worden sind, deren gesteigerte Toxizität von den verschiedensten Seiten aus betont wird. Die Störungen von seiten des Auges sind keineswegs immer früher vorhanden als die Symptome von seiten anderer Organe. Meist ist sogar das Umgekehrte der Fall. Be- sonders die sogenannten Allgemeinsymptome stellen sich frühzeitig und nicht selten in direktem Anschluss an die Atoxylinjektion ein, um entweder in einigen Tagen abzuklingen oder dem Kranken fernerhin treu zu bleiben. Da bisher im wesentlichen nur die Fälle mit Erblindung publiziert worden sind, bei denen die Er- scheinungen von seiten der übrigen Organe, mindestens aber die leichteren Allgemeinsymptome, meist nur kurz erwähnt: werden, so können wir wohl als wahrscheinlich ansehen, dass wir aus dem bisher vorliegenden Material ein ganz klares Bild über die Häufig- keit der sogenannten Allgemeinsymptome nicht erhalten. Denn die Fälle mit leichteren Intoxikationserscheinungen werden nicht ver- öffentlichtt. Wenn wir das vorliegende klinische Material durch- mustern, so scheint der Schwindel eines der häufigsten Symptome zu sein. Denn er wurde von R. Koch!) in vielen Fällen, von Watermann?) in drei Fällen, von Schild°®), Lassar*), Do- beioswolski®), Brennie®°), Bornemann”), Nonne), Schwarz?) in je einem Falle und von uns in zwei Fällen be- obachte. Watermann fand bei einem seiner Kranken den Schwindel mit Nystagmus vereinigt vor. Bei der öfters nur kurzen Erwähnung des Symptomes kann man nicht mit Bestimmtheit 1) R. Koch, Deutsche med. Wochenschr. 1906 Nr. 51, 1907 Nr. 2. 2) Watermann, Berliner klin. Wochenschr. 1907 Nr. 35. 3) Schild, Das Atoxyl (Metaarsensäureanilid), ein neues Arsenpräparat und dessen dermotherapeutische Verwendung. Berliner klin. Wochenschr. 1902 Nr. 13. 4) Lassar, Atoxyl bei Syphilis. Berliner klin. Wochenschr. 1907 Nr. 22. 5) Dobrowolski, Einige Beobachtungen über die Wirkung des Atoxyls auf die Sekundärerscheinungen der Syphilis usw. Wratsch 1907 Nr. 41. Ref. Fortschritte der Medizin 1908 S. 59. 6) Brennig, Zwei Fälle von Atoxyl-Intoxikation. Dermatol, Zentralbl. 1907 Nr. 5. 7) Bornemann, Ein Fall von Erblindung durch Atoxylinjektionen bei Lichen ruber. Münchner med. Wochenschr. 1905 Nr. 22. 8) Nonne, Anatomische Untersuchungen eines Falles von Atoxylerblindung. Med. Klinik 1903 Nr. 20. 9) E. Schwarz, Über Atoxyl-Polyneuritis und Atoxyl-Amblyopie. St. Peters- burger med. Wochenschr. 1909 Nr. 16. 8 Georg Köster: sagen, ob der als Schwindel bezeichnete Zustand ein echter Schwindelzustand war, der durch Störungen der Zirkulation im Augenmuskelkerngebiet oder durch Labyrinthreizung hervorgerufen wurde, oder ob wir es mit einer durch gleichzeitig vorhandene Magendarmsymptome bedingten Teilerscheinung der Nausea zu tun haben. Schliesslich wäre es auch möglich, dass durch gleich- zeitig vorhandene Schwäche oder Mattigkeit ein Schwindelgefühl vorgetäuscht würde. Bei Watermann und Schild finden wir bei dem Schwindel keine Magen- oder Ohrsymptome angegeben. Bei einem Kranken Brennigs kam es aber zur Schwerhörigkeit, bei Bornemann und Schwarz in je einem Falle zu gleich- zeitigsem Ohrensausen, und bei Nonne machte das anfängliche Öhrensausen einer Taubheit Platz. In diesen Fällen würde es nahe liegen, den Schwindel mit der Ohraffektion in kausale Be- ziehung zu bringen, wenn bei Brennig und Nonne nicht auch Erbrechen und bei R. Koch Kolik, bei Dobrowolski Übel- keit und Erbrechen daneben angeführt wurden. Hier muss es offen bleiben, aus welchem Zusammenhange heraus der Schwindel ent- standen ist. Umgekehrt wird auch von Nausea und Kolik [Darrier)] oder Magenschmerzen und Durchfällen [Arensberg?)] ohne gleich- zeitiges Schwindelgefühl berichtet. Bei unsern zwei Patienten traf das Schwindelgefühl mit einer Magenverstimmung zusammen, denn beide Kranken klagten über gleichzeitige, bald vorübergehende Übelkeit. Die in der klinischen Pathologie so oft beobachtete Koinzidenz der Allgemeinsymptome: Schwindel, Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerz, wird auch bei der Atoxylvorgiftung nicht vermisst, wenn sich auch die Erscheinungen nicht in jedem Falle sämtlich vereinigt vorfinden. So konstatierten Darrier und Hallopeau?) Kolik, Nausea und Erbrechen, Spiethoff*) Erbrechen und Durch- fall, Lassar Schwindel und Nausea, Schild Schwindel und Kopf- schmerz. Bei Moller und bei Bieringer trafen Übelkeit, Erbrechen und Kopfschmerz zusammen, während Uhlenhut, 1) Darrier, On Atoxyl in ocular syphilis. The ophthalmoskope 1907 S. 356. 2) Arensbersg, Über die Wirksamkeit des Atoxyls usw. Berliner klin. Wochenschr. 1903 Nr. 14. 3) H. Hallopeau, Gazette medic. de Paris 1907 Jan. 15. 4) Spiethoff, Atoxyl bei Syphilis. Deutsche med. Wochenschr. 1908 Nr. 6. 5) Moller, Über Atoxyl und dessen intramuskuläre und endovenöse An- wendung. Berliner klin. therap. Wochenschr. 1904 Nr. 9. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 0) Hoffmann und Roscher!) Kolik und in vier Fällen Diarrhöe erwähnen. Ebenso nahm Arensberg bei seinem Kranken Magen- schmerzen und Durchfälle wahr. Bei Dobrowolski’s Kranken fehlt der Kopfschmerz, aber Übelkeit, Erbrechen, Leibschmerz und Durchfall finden sich gleichzeitig vor. Brennig und auch Nonne sahen Schwindel mit Erbrechen verbunden, R. Koch Schwindel und Koliken, Schwarz Schwindel und Kopfschmerzen. Interessant ist das mehrfach beobachtete Auftreten von Fieber, in einem Falle mit Hämatemesis, wovon Spiethoff berichtet. Das Blutbrechen schiebt er auf eine primäre Gefässalteration oder Schleimhautläsion. Auch Lassar und Brennig konnten im Anschluss an Atoxyl- injektionen fiebriges Gefühl resp. Fieber gleichzeitig mit den eben angeführten Symptomen konstatieren. Und ebenso kam es bei dem tödlich verlaufenen Falle akuter Atoxylvergiftung Schlechts?), abgesehen von anderen Erscheinungen zu üblem Allgemeinbefinden, Fieber und Erbrechen. Aber auch Kältegefühle resp. Algidität nach Atoxylanwendung werden berichtet von Hallopeau und Moller. Es liegt uns ferne, der Koinzidenz von Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen oder Übelkeit eine ganz besondere Bedeutung für die Symptomatologie oder die Erkennung der Atoxylvergiftung beizumessen. Aber wie ich bei der chronischen Schwefelkohlen- stoffvergiftung nachgewiesen habe), dass die einzelnen CS,-Räusche ebenso viele akute Einzelvergiftungen darstellen, die jede für sich harmlos sein kann, die aber durch regelmässige Wiederholungen zu einem chronischen Vereiftungsbilde führt, so meine ich auch hier, dass Kopfschmerz, Schwindel und Erbrechen die relativ häufigsten Folgeerscheinungen der akuten Einzelintoxikation sind. Durch ständig erneute Zufuhr weiterer Atoxylmengen werden einige Symptome mehr oder weniger permanent, besonders Kopfschmerz und Schwindel und eine bis jetzt noch nicht besprochene Allgemein- erscheinung, die Mattigkeit. Die allgemeine Mattigkeit, Schwäche 1) P. Uhlenhut, E. Hoffmann und K. Roscher, Untersuchungen über die Wirkung des Atoxyls auf die Syphilis. Deutsche med. Wochenschr. 1907 Nr. 22. 2) Schlecht, Über einen tödlich verlaufenen Fall von Atoxylvergiftung. Münchner med. Wochenschr. 1909 Nr. 19. 3) G. Köster, Ein klinischer Beitrag zur Lehre von der chronischen Schwefelkohlenstoffvergiftung. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 26. 1903. 10 Georg Köster:. oder Gliederschwere wurde von Watermann, Wälsch!), Moller, Bieringer, Brennig, Bornemann, Schwarz, Knopf und Fabian’) und im Falle Fl. von uns beobachtet, entweder in verschiedener Kombination mit den andern bereits erwähnten Allgemeinsymptomen oder zusammen mit Unsicherheit beim Gehen (unser Fall Fl.) oder für sich allein (Knopf und Fabian).. Auch die Mattiekeit oder Gliederschwäche schliesst sich an die Injektion der einzelnen Atoxyldosis an, um aber bei weiterer Giftzufuhr den Kranken auf längere Zeit nicht wieder zu verlassen. So leiten die Allgemeinsymptome der akuten Einzelvergiftung allmählich zu dem Bilde der chro- nischen Vergiftung hinüber, aus dem als ausser- ordentlich bedeutungsvolle Dauererscheinungen die Erblindung, die mit Reflexsteigerung verbundene Ataxie und die Blasen-Darmstörungen bei einer mehr oder weniger grossen Zahl der Fälle hervorragen. Auf diese Störungen werde ich weiter unten näher eingehen. Eine künstliche Abtrennung der Symptome: Kopfschmerz, Schwindel, Er- brechen und Mattigkeit liegt mir um so ferner, als sich gleichzeitig mit oder unmittelbar nach ihnen auch andre Erscheinungen ent- wickeln, die mehr oder minder auf bestimmte, durch das Atoxyl geschädigte Körperteile resp. Organe hinweisen. Abgesehen von der tiefen Bewusstlosigkeit in dem akuten Ver- giftungsfalle Schleceht’s, beobachtete Brennig zweimal Somno- lenz. Fehr beschreibt zweimal Depression, in einem Falle mit hochsradiger Nervosität verbunden. Auch der Schirmer- Ransohoff’sche Patient zeigte ein leicht aufgeregtes, fahriges Wesen. Relativ häufig sind Schmerzen, die teils als Kolik angegeben werden (Darrier, Uhlenhut, Hoffmann und Roscher, R. Koch), teils als Leibschmerz (Dobrowolski). Von Magen- schmerzen berichtet Arensberg, von epigastrischem Schmerz Dobrowolski und Gifford?°), von gastrointestinalen Schmerzen Hallopeau. Starke Schmerzen in Armen und Beinen in einem Falle und Beinschmerzen in drei Fällen beschreibt Watermann; 1) Wälsch, Ein Fall von Atoxylvergergiftung. Münchner med. Wochen- schrift 1907 Nr. 19. 2) Knopf und Fabian, Berliner klin. Wochenschr. 1909 Nr. 3. 3) Gifford, On the possible use of atoxyl and other preparations etc. Ophthalm. Rec. March. 1908. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 19 Wälseh teilt Gliederschmerzen, Hallopeau unangenehme Emp- findungen in den Extremitäten, Fehr!) Schmerzen in Brust und Rücken eines Patienten mit, und die Unterschenkelschmerzen in dem von Schwarz beschriebenen zweiten Falle finden ihre Erklärung in einer vollentwickelten, durch das Atoxyl bewirkten Polyneuritis. Dieser Kranke ist aus mehrfachen Gründen sehr interessant. Erstens ist er bis jetzt der einzige Fall von peripherer Atoxyl- neuritis, zweitens beschränkte sich die Erkrankung auf das Gebiet beider Nn. Ischiadiei und verursachte in deren Endausbreitungen die hochgradigsten Störungen, während das ganze Cruralisgebiet beiderseits frei blieb. Ausser dem entsprechenden Funktionsausfall fand sich in den Unterschenkelmuskeln, den kleinen Fussmuskeln, den Kniebeugern und dem unteren Teile der Glutaei maximi eine Mittelform der E. A. R. Die kleine Fussmuskulatur wurde schliess- lich ganz atrophisch. Aber nicht nur die motorischen Neurone waren erkrankt, wie z. B. bei der als Neuritis bezeichneten doppel- seitigen Bleilähmung, sondern auch die sensibeln Neurone wiesen schwere Störungen auf. Abgesehen von starken Schmerzen im Verlaufe der Nn. Ischiadiei bestand an beiden Füssen eine bis zu den Fussgelenken hinaufgehende Anaesthesia dolorosa, durch die jeder Zweifel an der peripher neuritischen Natur des Krankheits- prozesses beseitigt wird. Der Endausgang war eine Heilung mit Defekt. Schwarz macht bereits darauf aufmerksam, dass das von ihm beobachtete Krankheitsbild der peripheren Extremitäten- neuritis mit einer Arsenpolyneuritis durchaus vereinbar sei, wenn auch „das Freibleiben des Cruralisgebietes mit Erhaltenbleiben des Kniephänomens sehr auffallend und ungewöhnlich ist“. Dies ist gewiss zutreffend, aber durch die Seltenheit der Lokalisation wird der Wert des Schwarz’schen Falles nur gesteigert. Schwarz selber zitiert den Bury’schen Fall, wo bei einem Arsenarbeiter sich Schwäche der Unterschenkelmuskeln, Hypästhesie der Hände, Füsse und der Aussenseite der Unterschenkel mit einer Steigerung der Patellarreflexe verband. Ob in dem Bury’schen Falle wirk- ‚lich eine periphere Neuritis vorlag, möchte ich dahingestellt sein lassen, denn wir wissen, dass gerade bei den Intoxikationen viele anscheinend rein peripher bedingte Symptome (Ataxie, Gefühls- 1) Fehr, Sehnervenerkrankung dürch Atoxyl. Deutsche med. Wochenschr. 1907 Nr. 49. 12 Georg Köster: störungen, Atrophie der Muskeln, Lähmung) zentralen Ursprunges sein können. Bei meinen Untersuchungen über die chronische Schwefelkohlenstoffvergiftung habe ich der Aufklärung dieser Punkte mein besonderes Interesse zugewendet!). Vorgreifend will ich darauf hinweisen, dass mir die experimentelle Erzeugung einer Atoxylneuritis nicht gelungen ist, dass ich aber in Analogie zur ‚chronischen CS,-Vereiftung Lähmungen und Ataxie bei dem Ver- suchsmaterial hervorzurufen vermochte, die den histologischen Be- funden nach nur zentralen Ursprunges sein konnten. Das schliesst natürlich nicht aus, dass gelegentlich auch eine periphere Neuritis bei subkutaner Einverleibung von Atoxyl beim Menschen entstehen kann; denn das im Blute zirkulierende Gift wird überall hin- getragen und erzeugt bei vorhandener Disposition, wie z. B. bei dem 'Kranken von Schwarz, eine Neuritis. Es fragt sich nur, ob nicht die bei dem Schwarz’schen Patienten zugrunde liegende Recurreus-Erkrankung die Disposition zur Entwicklung der Atoxyl- neuritis gegeben hat. Bei unsern beiden Kranken fehlte jedwede Störung seitens der peripheren Nerven, obwohl sie als frühere Potatoren nach der allgemein gültigen Anschauung zum Auftreten peripher neuritischer Symptome durch ihren Alkoholabusus hin- reichend hätten disponiert sein müssen. Die Launenhaftigkeit des Atoxyls ist eben auch nicht geringer als die andrer Gifte?). Neben typischen (Retina, Sehnerv) werden auch gelegentlich ganz atypische Lokalisationen geschaffen. Und da wir nicht wissen, warum im Schwarz’schen Falle sich das Atoxyl gerade die beiden Nn. Ischiadiei als primären Angriffspunkt ausser dem Sehnerven gewählt hat, so müssen wir abwarten, ob sich im Laufe der Zeit noch weitere Atoxyl- neuritiden beobachten lassen, und welche Lokalisation diese haben werden. Auf die von Schwarz erwähnte Steigerung der Patellar- reflexe bei seinem Kranken komme ich weiter unten wieder zurück. Nur in diesem einen Falle von Atoxylneuritis wurde eine objektive Gefühlsstörung festgestellt, die der peripheren Natur des 1) G. Köster, Beitrag zur Lehre von der chronischen Schwefelkohlenstoff- vergiftung. Arch. f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten Bd. 32 H. 2 und 3. — G. Köster, Zur Lehre von Schwefelkohlenstoffneuritis. Arch. f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten Bd. 33 H. 3. 2) So konnte ich z. B. einmal eine primäre Lokalisation der Bleilähmung in den Mm. interossei und abductores hallucis beider Füsse beobachten, die bis jetzt ein Unikum bildet. Münchner med. Wochenschr. 1902 Nr. 26. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 13. Leidens entsprechend als Anaesthesia dolorosa auftrat. Sonst berichten noch Spiethoff, Dobrowolski und Bornemann von einfachen Parästhesien in den Gliedern im Anschluss an Atoxylinjektionen. Mehrfach wurde »ein für die Kranken sehr lästiges Symptom gefunden: eine Störung der Blasen- oder Darm- entleerung. Ein Patient Wälsch’s litt im Verlaufe der Atoxylkur an Harnbeschwerden; Hallopeau sah wiederholt vorübergehende Dysurie, und Brennig beobachtete in zwei Fällen völlige Harn- verhaltung, bei denen gleichzeitig Somnolenz bestand. Würde man auch hier geneigt sein, die Retention des Urins mit der Somnolenz kausal zu verknüpfen, so lag der zweite Patient Schwarz’s bei klarem Bewusstsein im Bett, litt an Durchfällen und gab an, dass er den Stuhl nicht halten und dass er beim Urinieren den Harn nicht sofort entleeren könne, wenn das Bedürfnis hierzu komme. Wie lange diese Störungen bestanden haben, ist aus der Kranken- geschichte nicht klar zu ersehen. Ende Januar werden sie auf- geführt, und Ende Mai heisst es, dass Blase und Mastdarm normal seien. Schwarz selber schätzt die Intensität der Blasen- und Darmstörung seines Kranken offenbar nicht sehr hoch ein, denn er meint, dass ausser den andern oben angeführten Symptomen „der Mangel irgendwie greller hervortretender Blasen- und Mastdarm- symptome“ für die peripher neuritische Natur der Beinerkrankung spreche. An sich hatte es nichts Erzwungenes, wenn man die Blasen - Darmstörung dieses Kranken auf eine leichtere Beteiligung des sakralen Anteiles des Plexus ischiosacralis am neuritischen Krankheitsbilde beziehen wollte. Da wir aber wissen, dass das- Gift an vielen Punkten zugleich angreifen und koordinierte Symptome hervorrufen kann, so werden wir die Blasen-Darmerscheinungen als eine koordinierte zentrale Störung auffassen. Und wir werden dies um so mehr, als wir bei unsern beiden Fällen, die sicherlich keine peripher bedingten Nervensymptome ausser der Erblindung aufwiesen, dieselben Blasen- und Darmstörungen beobachteten. Bei dem. Kranken G. Moritz stellte sich in der vierten Injektionswoche erstmalig die Unfähigkeit heraus, den Urin zu halten. Der Urin ging (bei erhaltenem Harndrang) unfreiwillig ab, wenn Patient nicht Gelegenheit hatte, sofort zu entleeren. Noch fünf Monate nach dem ersten Auftreten bestand dieselbe Blasenschwäche, um sich erst einen Monat später zu verlieren. Eine Unfähigkeit, den Stuhl zu halten, hatte dieser Kranke nicht. Vielmehr gab er an, dass er 14 Georg Köster: während der Atoxylkur ohne Kolikschmerzen verstopft wurde, was sich auch erst mehrere Monate später verlor. Dies Verhalten steht im Gegensatz zu den Beobachtungen Uhlenhut’s, Hoffmann’s und Roseher’s, Dobrowolski’s und Arensberg’s, deren Kranke Durchfälle bekamen. Es handelte sich aber bei den Fällen ‘dieser Autoren nur um einfache toxisch bedingte Diarrhöen und nicht um eine zentral bedingte Störung des Darmschlusses. Eine solche zeigte uns der Kranke Fl. Heinrich zugleich mit einer zentralen Störung des Blasenverschlusses. Auch dieser Kranke wurde durch die Atoxyleinspritzungen verstopft, und trotzdem verlor er den Stuhl zweimal unfreiwillie. Ja sogar zehn Monate nach dem erstmaligen Stuhlverluste wiederholte sich dies nieder- .drückende Ereignis. Als noch hartnäckiger erwies sich bei ihm die ‚Störung der Harnentleerung, die im Laufe der Zeit mehrfachem Wechsel unterworfen war. Anfangs konnte er den Urin nicht halten, während sich im Laufe der nächsten Monate eine Erschwerung der Entleerung bemerkbar machte. Nach einem weiteren Monat verlor :er bei erhaltenem Drange wieder den Urin unfreiwillig, wenn er nicht sofort das Geschirr erreichen konnte. Bei der Untersuchung waren die Beinkleider feucht und rochen stark ammoniakalisch. Dann traten die Blasenstörungen einige Monate hindurch nicht deutlich auf, kamen aber dann in Form von leichter Inkontinenz wieder. Im Laufe der nächsten Monate entwickelte sich eine Dysurie. Er musste bis zu ‘a Stunde stehen und pressen, bis der Urin gelaufen kam, und diese Erschwerung hielt an, solange wir den Kranken beobachten konnten (zwei Monate vor seinem Tode). Im ganzen hat er fast ein ‚Jahr lang an der Störung der Stuhlentleerung und fast drei Jahre an der der Harnentleerung gelitten. Ich bemerke, dass Prostatahypertrophie und Cystitis auszuschliessen waren. An der zentralen Natur der Blasen- Darmstörungen bei unsern Kranken dürfte kein Zweifel obwalten. Hatten wir es soeben mit zentralen Ausfalls- erscheinungen zu tun, so finden wir auch zentrale dureh das Atoxyl bewirkte Reizerscheinungen, die Steigerung der Sehnenreflexe. Bei seinem akut mit Atoxyl vereifteten Kranken beobachtete Schlecht Trismus, tonische Spannung aller Muskeln und dann klonische Zuckungen. Während der Bauchdeckenreflex fehlte, war Patellarklonus und Babinski-Neigung vorhanden. Von den chronisch vergifteten Kranken fällt uns der von Schwarz beschriebene auf, Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung, 5 bei dem Steigerung der Patellarreflexe verzeichnet ist. Und der Schirmer-Ransonoff’sche!) Fall hatte eine so hochgradige Steigerung der Patellarreflexe, dass an das Bestehen einer eventuellen Seitenstrangdegeneration gedacht wurde. Auch bei unserm Patienten S. Moritz bestand beiderseits Patellar- und Fussklonus; doch liessen sich keine Spasmen in den Beinen nachweisen, und der Fusssohlen- reflex war mit Beugung aller Zehen verknüpft. Bei Fl. Heinrich fand ich eine lebhafte Steigerung der Patellarreflexe, aber keinen Patellar- oder Fussklonus. Bei demselben Kranken konnte ich neben der Steigerung der Sehnenreflexe eine Ausfallserscheinung durch Jahre hindurch verfolgen, die ungefähr gleichzeitig mit der Seh- störung einsetzte, eine zunehmende Gliedermattiekeit und Unsicher- heit beim Gehen und Stehen. Bei diesem Falle wurde die mehrfach im Anschluss an die einzelne Atoxylinjektion empfundene Mattigkeit zum Dauersymptom, das vielleicht einen ungünstigen Einfluss auf die Sicherheit des Gehens und Stehens ausübte. Dass es sich bei dieser Unsicherheit nicht etwa um einen einfachen Effekt der fort- schreitenden Erblindung handelte, geht daraus hervor, dass bei Augenfussschluss ein typisches Schwanken auftrat. Auch war der Gang nicht nur vorsichtig tastend, wie bei andern Blinden, sondern ausgesprochen ataktisch. Vorgreifend sei darauf hingewiesen, dass ich die Vereinigung von Ataxie und Reflexsteigerung bei chronisch mit Atoxyl vergifteten Hunden und Kaninchen experimentell er- zeugen konnte. Dieser Vereinigung von Reiz- und Ausfalls- erscheinungen, die wir z. B. bei der chronischen Alkohol- und besonders bei der Schwefelkohlenstoffvergiftung in charakteristischer Weise antreffen, werden wir bei allen Vergiftungen begegnen können, bei denen das Gift im Blut- kreislauf im ganzen Körper herumgetragen wird und je nach Alter, Disposition und Giftdosis hier reizend, dort lähmend auf die verschiedenen Teile des Nervensystems wirkt. So sehen wir denn, dass, vielleicht mit Ausnahme des Fiebers, alle bis jetzt besprochenen Symptome am Nervensystem zur Entwicklung gelangten, und dass einer grösseren Zahl von Reizerscheinungen eine geringere von Lähmungs- erscheinungen gegenüberstehen. Unter die Symptome der Lähmung gehören die Erblindung als klinischer Ausdruck der anato- 1) Schirmer-Ransohoff, zitiert bei J. Igersheimer, Über die Wirkung des Atoxyls auf das Auge. v. Gräfe’s Arch, f. Ophthalm. Bd. 61. 1909. 16 Georg Köster: mischen Destruktionen in Retina und N. optieus, die Taubheit, die Blasen-Darmstörungen, die Ataxie und Mattigkeit. Dagegen sind die Schmerzen in Kopf, Rumpf und Gliedern, der Schwindel, das Erbrechen, die Durchfälle, die Reflexsteigerungen exquisite Reizerscheinungen.. Damit ist aber die Reihe der Schädigungen, die die Atoxyl- verabreichung hervorruft, noch keineswegs erschöpft. Denn es sind beim Menschen auch Störungen an den inneren Organen hervor- gerufen worden. Moller berichtet von Stichen in der Herzgegend. Präziser drückt sich Sehild aus, der Dyspnöe nach Atoxylzufuhr bei schon vorher vorhandener Herzkrankheit beobachtete. Watermann und Bornemann betonen das Auftreten von Herzschwäche. Die Herz- affektion unsres Falles Fl. Heinrich möchte ich dem Atoxyl nieht ohne weiteres auf Rechnung setzen. Der Kranke bekam erst zehn Monate nach der Atoxylkur eine Reihe von Herzbeschwerden, die als die Folgen einer Myokarditis gedeutet werden müssen und bei dem 55jährigen, dem Alkohol früher stark ergebenen Manne durchaus begreiflich sind. Dass jedoch der Fortschritt der Herz- affektion durch die Atoxylvergiftung eine Beschleunigung erfahren haben mag, ist mir nach den klinischen Erfahrungen und nach unsern Herzbefunden an den Versuchshunden nicht zweifelhaft. Von seiten der Niere beobachtete Spiethoff Albuminurie bei Fällen, in diesen diese Organe durch frühere Erkrankungen bereits geschwächt waren. Uhlenhut, Hoffmann und Roscher fanden bei einem Kranken eine beschwerdefrei verlaufende Albuminurie mit Ausscheidung von granulierten Zylindern und roten und weissen Blutkörpern. Ebenso wurden bei dem akuten Falle menschlicher Atoxylvergiftung (Schlecht) als Zeichen der Nierenreizung Eiweiss und Zylinder konstatiert. Auch ein Ikterus, verbunden mit Darmkatarrh, wird von Watermann beschrieben mit der ausdrücklichen Hervorhebung des Umstandes, dass kein Diätfehler vorausgegangen sei. Und ebenso teilt Spiethoff einen Fall von hepatogenem Ikterus mit, den er auf eine kumulative Wirkung des Atoxyls schiebt. Was sonst noch bei der chronischen Atoxylvereiftung an Symptomen beobachtet wurde, ist zwar ungefährlicherer Art, aber immerhin lästig genug. Wir finden in den Krankengeschichten ver- zeichnet: Bindehautkatarrh (Wälsch), Kratzen im Hals (Schild), Husten (Moller), Trockenheit im Halse (Brennig, Bornemann) Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 17 und Juckreiz [v. Krüdener!)]. Wenn wir von den zuletzt genannten leichteren Symptomen absehen, so müssen wir unter kritischer Würdigung des bisher vorliegenden klinischen Materiales den Schluss ziehen, dass der Mensch durch die Anwendung des Atoxyls schweren Gefahren überliefert wird. Denn wir dürfen uns der Tatsache nicht ver- schliessen, dass das Auftreten von Vergiftungserscheinungen in keinem Falle voraus berechnet und dementsprechend verhütet werden kann. Auf die Frage, ob das Mittel unter Umständen auch wirklich heilend auf irgendwelehe Krankheits- erscheinungen wirken kann, will ich hier nicht eingehen. Die Beantwortung dieser Frage muss zunächst unterbleiben gegenüber der Feststellung, dass das angebliche Heilmittel die damit be- handelten Menschen der unheilbaren Erblindung, jahrelangen schweren Blasenstörungen, anhaltenden Nierenschädigungen und vielen anderen Nervensymptomen aussetzt, auch wenn nur vorsichtig kleine Atoxyl- mengen gegeben werden. Und wir haben bei der relativ kleinen Zahl der bisher mitgeteilten Fälle von Atoxylvergiftung sicher noch nicht alle Symptome kennen gelernt, die das Mittel überhaupt her- vorzurufen imstande is. Wir sind auch, abgesehen von dem Nonne’schen Falle und unseren Patienten Fl. Heinrich noch nicht im Besitze von menschlichem Sektionsmaterial, so dass unsere Vorstellungen von der Wirkung des Giftes auf. die Organe noch recht lückenhaft sind, zumal als nur einzelne Teile zur Unter- suchunng gelangten (bei Nonne Oceipitalhirn, Rückenmark und Nn. optiei, bei uns Corpora genieulata, Nn. optiei und die Bulbi). Es ist daher zur Ergänzung der Symptomatologie, zur Bestätigung der vielseitigen bisher beobachteten Symptome als Atoxyleffekt, zur Gewinnung klarer Vorstellungen von der Pathogenese der ver- schiedenen Symptome resp. der toxischen Schädigung der ver- schiedenen Organe die Heranziehung des Tierexperimentes unerläss- lich. Die beim Menschen erhobenen histologischen Befunde werden wir bei den entsprechenden Befunden am Tiere zum Vergleich heranziehen. Beobachtungen am Tier. In unserer Arbeit über die Wirkung des Atoxyls auf das Auge hatten A. Birch-Hirschfeld und ich zusammen gezeigt, dass eine 1) v. Krüdener, Über Erblindung durch Atoxyl, Methylalkohol, Schwefel- kohlenstoff und Filix mas. Festschrift für Kuhnt. Zeitschr. f. Augenheilk. Suppl. 1906. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 2 18 Georg Köster: weitgehende Übereinstimmung zwischen Mensch und Tier sowohl in dem klinischen Bilde als auch in den anatomischen Veränderungen an Retina, N. optieus und den zur optischen Leitungsbahn gehörenden Gehirnabschnitten besteht. Wir werden im folgenden sehen, dass diese Übereinstimmung nicht bloss bezüglich der Augensymptome, sondern auch für zahl- reiche andere Störungen seitens des Nervensystems und der inneren Organe vorhanden ist. Dies ist nun nicht so zu verstehen, als ob die Intoxikationsbilder der Versuchstiere Zug um Zug denen des Menschen gleichen müssten. Gleicht doch schon kein Fall mensch- licher Atoxylvergiftung dem anderen, weil ausser dem zugeführten Giftquantum die individuelle Disposition eine Rolle spielt. Und bei den Tieren kommt ausser derselben persönlichen Idiosynkrasie noch eine verschieden grosse Disposition der Spezies in Betracht. Aber in allen wesentlichen Punkten werden wir im Krankheitsbilde des mit Atoxyl chronisch vergifteten Menschen und Tieres einen prinzipiellen Unterschied nicht entdecken. Ich lasse zunächst die Krankengeschichten unserer Versuchstiere folgen. Obwohl ich auf die Störungen am Sehorgane hier nicht ein- gehen werde, habe ich überall eine kurze auszugsweise Schilderung der okulären Symptome zur besseren Veranschaulichung der Gift- wirkung beigefügt. Foxhündin I. 1. Juni 1908. Bekommt zum ersten Maie 30 g Nordhäuser mittels Magen- schlauches zugeführt. Beiderseits sind die Papillen dunkelrot und etwas un- regelmässig nach unten ausgezogen. Die Gefässe des Augenhintergrundes bieten nichts Besonderes dar. 2. November 1908. Nachdem der Hund seither regelmässig, anfangs 30 g, später 50 und zuletzt 75 g Nordhäuser zugeführt erhalten und an Gewicht er- heblich zugenommen hat, bekommt er von jetzt ab ausser dem Alkokol noch 0,05 Atoxyl in 10°%oiger Lösung unter die Haut gespritzt. 17. Dezember 1908. Von jetzt ab ausser 30 g Alkohol noch 0,1 Atoxyl. Andauernd guter Ernährungszustand. 8. Januar 1909. Von jetzt ab nur noch Atoxylinjektionen. 20. April 1909. Bekommt, weil er andauernd sehr wohlgenährt und munter geblieben ist, von jetzt ab oft 0,2 Atoxyl täglich eingespritzt. Augenhintergrund andauernd normal geblieben. 7. Juni 1909. In den letzten 2 Wochen ist der regelmässig mit 0,1—0,2 täglich vergiftete Hund abgemagert. Er hat eine trockne Schnauze, Durchfälle, starke Konjunktivitis und frisst schlecht. Der Gang ist in den letzten Tagen zu- uehmend ataktisch geworden. Der Hund schleppt die Hinterbeine und ist so Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 19 schwach, dass er nur mit Mühe eine Treppe steigen kann, Die Sehnenreflexe sind dabei gesteigert. Das Verhalten der Pupillen ist auf beiden Augen normal, Die rechte Papille zeigt die früher vorhanden gewesene rote Färbung, während die linke blasser geworden ist. Das Tier kann den Urin uicht halten und nässt, entgegen seinen früheren Gewohnheiten, die Stuben voll. 16. Juni 1909. Ist bei sehr schlechtem Appetit gewesen, hat seit dem 7. Juni im wesentlichen nur Milch genossen. Ataxie und Mattigkeit fortgesetzt zu- nehmend. Reflexsteigerung nach wie vor, Eine Treppe kann er nicht mehr hinaufsteigen. Die Abblassung der linken Papille ist deutlich. 17. Juni 1909. Tötung durch Herzstich. Im ganzen hat das Tier in 6 Monaten 3962 g Nordhäuser und 9,93 g Atoxyl in 93 Tagen bekommen. Sektionsbefund: Makroskopisch findet sich an Augen, Herz, Lunge, Milz und Gehirn nichts Besonderes. Höchstens ist die Blutfülle des Zentral- nervensystemes zu erwähnen. Im Darmkanal sind hier und da leichte Blutungen nachweisbar. In der Leber fällt die Verfettung des Organes durch seine gelb- fleckige Verfärbung und den fettigen Beschlag des Messers sofort auf. In der Niere sind reichliche frische und ältere Blutungen an der Grenze zwischen Rinde | und Mark zu sehen. Der in der Blase des Tieres gefundene Urin enthält Eiweiss, aber keinen Zucker. Von allen Organen werden Stücke in Zencker’scher und Flemming’scher oder Müller’scher Lösung fixiert. Mikroskopischer Befund. Leber: Verfettung. Epithelien fetttropfen- gefüllt, oft intensiver in der Peripherie der Acini, oft aber um das zentrale Ge- fäss herum am intensivsten. Zwischen einzelnen relativ fettfreien Acinis liegen stark verfettete. Makroskopisch gelbliche Fleckung der Leber. Verfettung der Epithelien der Gallengänge. In den Lebervenen vielfach grosse Fetttropfen. Die Leberzellen stellenweise gequollen, trübe, der Kern dann nur undeutlich. Herz: Makroskopisch O0. B. Mikroskopisch (Flemming-Fixierung) stellenweise Verfettung. Das Fett sitzt in den Muskelfasern in Gestalt kleiner Körnchen, dichtgelagert. Die Zahl der erkrankten Muskelfasern ist gegenüber der der gesunden geringer. Niere: Makroskopisch kleine vereinzelte Blutungen und grosse keilförmige Infarkte. Mikroskopisch kolossale Verfettung der Epithelien; auch in den Epithelien der Glomeruli Fett. In einigen Präparaten sehr starke Verfettung der Glomeruli oder trübe Quellung ohne Verfettung. Hyaline und Körnchenzylinder mit Fetttröpfehen. In den Venen sehr viele und grosse Fetttropfen. Auch ver- einzelt in den Arterien Fett. Die Nierenepithelien vielfach trübe, gequollen und mit runden geblähten oder geschrumpften Kernen versehen. Stellenweise sind die Grenzen der Nierenepithelien völlig verwischt und das Epithel aufgelöst. Mehrfache Blutungen und Wucherungen von Bindegewebe zwischen den Kanälen und besonders an der Grenze zwischen Mark und Rinde. Das Bindegewebe hat zum Teil lange Kerne, ist also schon älter. Gehirn: In Flemming fixierten und mit Saffranin nachgefärbten Präpa- raten des Grosshirns sieht man Fett in sehr vielen Ganglienzellen der Grosshirn- rinde in Form von diffusen zahlreichen Kügelchen. Eine Verwechselung mit lipochromer Substanz, die sich auch findet, ist ausgeschlossen, da diese in der Zellbasis als kleines bräunlich-schwarzes Konglomerat zusammenliegt. Ferner 2* 20 Georg Köster: ist Fett in den perivaskulären Lymphscheiden in Form grosser schwarzer Klumpen und ebenso im Innern der Rindengefässe vorbanden. In der Rinde sieht man,. was unter normalen Verhältnissen nicht der Fall ist, oft spindelförmig oder periodisch varikös aufgetriebene, grau bis grauschwarz gefärbte Nervenfasern. Derartig veränderte Nervenfasern sind in der grauen Substanz sehr zahlreich. Auch in der grauen Substanz findet sich Fett um die Gefässe und innerhalb der- selben. Bei Nissl-Held’schen Färbungen sind an den Ganglienzellen die verschiedenen Stadien der Chromatolyse (partielle, totale, periphere Ringbildung), vereinzelte Vakuolisierungen des Protoplasmas und Kernquellungen zu sehen. Mehrfach sind die ganzen Zellen geschrumpft und überfärbt. Auch der Kern ist nicht selten gequollen oder unregelmässig geschrumpft und verlagert. Rückenmark. Mit Weigert im Brustmark beginnende und im mittleren Halsmark sich verlierende Degeneration der Goll’schen Stränge. Es besteht ein Faserschwund zu beiden Seiten der hinteren Längsfurche, und viele Fasern sind ganz erheblich gequollen und unregelmässig gebläht, eine noch grössere: Zahl geschrumpft. Auch im rechten (Kleinhirn) Seitenstrang ist derselbe Faser- - ausfall und Schrumpfung zu konstatieren. Die hellen Partien sind schon makro- skopisch gut sichtbar. Es handelt sich also um einen schon mehrere Wochen alten Degenerationsprozess. Mit der Marchi-Methode oder Flemming- Fixierung sieht man, besonders im Hinterstrangbereiche, aber auch sonst über den Querschnitt verteilt gequollene und partiell oder total geschwärzte Nervenfasern. Längsgetroffene Fasern z. B. zu der hinteren Kommissur sind oft stark varikös, abgebrochen, zerfallen und zu- weilen aus fortlaufenden Auftreibungen zusammengesetzt wie ein Rosenkranz. Auch die Reflexkollateralen in der grauen Substanz zeigen vielfach dieselben Ver- änderungen. Im Hinterstrangbereiche des Brustmarkes sind die Fasern weniger dicht, zum Teil riesenhaft gequollen, zum Teil atrophisch. Die Nervenzellen der Vorderhörner zeigen schöne fettige Degeneration. Ausser den an einem Zellpole angenäuften lipochromen Substanzen und mit diesen nicht zu verwechseln sind im ganzen Zelleibe diffus verstreute kleine schwarze: runde Körnchen sichtbar, die in den verschiedensten Ebenen liegen, also die ganze Zelle durchsetzen. Mit Nissl-Held’schen Färbungen lassen sich an den Zellen des Rücken- marks ausgesprochene Veränderungen nachweisen, Chromatolyse und selten Kern- verlagerungen, Kernquellungen oder Auflösung. Völlige Auflösung der Zellen ist relativ selten, dagegen sind die einfache Chromatolyse, die partielle oder voll- ständige Klumpung der Nissl-Körper häufig und meist auch mit mehr oder weniger ausgesprochenen Kernveränderungen verbunden. Auch Vakuolisierungen: des Zelleibes werden beobachtet. Überhaupt treten die Zellveränderungen bei der Nissl-Held’schen Methode weit deutlicher hervor als bei jeder anderen. Spinalganglien. In Flemming -Präparaten sieht man, dass eine kleine Zahl von Zellen fettig degeneriert ist. Der Zellkern ist in diesen Zellen öfters anscheinend unverändert, zuweilen verlagert, gequollen oder zackig. Auch die Zellen des Zellkorbes weisen vielfach schwarze Körnchen auf. Die durchziehenden Nervenfasern sind oft gequollen und streckenweise grau oder schwarz gefärbt. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 21 Bei Heidenhain- und Nissl-Held’schen Färbungen sieht man die Kerne zuweilen gequollen und verlagert, seltener aufgelöst. Das Kernkörperchen ist öfters auffallend blass. Das Protoplasma ist vielfach entweder in einem Teil des Zelleibes oder in der ganzen Ausdehnung der Zelle zerkrümelt (Chromatolyse unter Violettfärbung der Zelle). Zuweilen ist das Protoplasma von Vakuolen durchsetzt. Die Veränderungen tragen den Charakter frischer, d. h. noch nicht Jängere Zeit bestehender Degeneration. Kleinhirn. Auf Flemming fixierten Präparaten, die mit Safranin nach- ‚gefärbt sind, ist Fett in diffusen grösseren Klumpen um die Gefässe der grauen Substanz herum nachweisbar. Ebenso ist an der Grenze zwischen Rinde und grauer Substanz vielfach in den kleinen Zellen der letzteren eine Anhäufung von kleinsten schwarzen Körnchen zu sehen, von denen es offen bleibt, ob sie fettige Degeneration oder lipochrome Substanz bedeuten. In der Rinde des Kleinhirns sind gequollene Nervenfasern nur vereinzelt zu treffen, dagegen ist die graue Substanz erfüllt mit stark varikös aufgetriebenen in toto geschwärzten Nerven- fasern versehen. Ganz abenteuerliche Formen (Rosenkranz, Baumast) werden be- ‘obachtet. Die Riesenzellen der Rinde lassen weder Verfettungen noch wesent- liche Veränderungen ihrer Kerne erkennen, nur ab und zu ist der Kern zackig ‘oder gequollen. Mit der Nissl-Held’schen Färbung erweisen sich die Riesen- zellen aber als deutlich entartet. Die chromatophilen Elemente zeigen bei vielen Zellen ein Konfluieren, so dass mehr oder weniger konzentrische Bänder von chromatophiler Substanz sich um den Kern legen. In anderen Fällen ist die chromatophile Substanz mehr oder minder aufgelöst und über die nunmehr lila gefärbte Zelle zerstiebt. Oder die Zelle ist geschrumpft und überfärbt. Der Kern ist dann meist auch geschrumpft, der Kernkörper überfärbt oder gequollen und verlagert. Die entarteten Zellen sind zahlreich. Neben den verschieden ent- ‚arteten Zellen liegen ganz normale. Kurz erwähnt sei der Befund der Sehorgane.e Am Sehnerv findet sich mit der Marchi-Methode ein ausgedehnter Markscheidenzerfall, während mit Wolters-Kulschitzky kein Faserausfall nachweisbar ist. Die Retina zeigt starke Degenerationsvorgänge in den Ganglienzellen, der inneren und äusseren Körnerschicht. Am Blut konnten auf den Nissl-Held’schen Präparaten eindeutige Be- ‘obachtungen nicht gemacht werden, da das Tier durch Herzstich getötet wurde und einen Teil seines Blutes verloren hatte. Die Gefässe enthielten daher nur wenig Blut. Da aber die weissen Blutkörper sich bei dem sterbenden Tiere an- scheinend mit Vorliebe in der Nähe der Gefässwand ablagern, so trifft man in ‚dem sonst leeren Gefässe hier und da einen wandständigen Leukocyten. II. Dalmatinerhündin. 30. Oktober 1907. Bekommt erstmalig 2 g einer 10°%ojgen Atoxyllösung. Beiderseits ist die Pupille rötlich und völlig normal. Gefässe des Augen- hintergrundes ohne Besonderheiten. 23. November 1907. Hat bis jetzt regelmässig 0,1—0,2 Atoxyl täglich bekommen. Seit ca. 5 Tagen Abmagerung trotz guter Fütterung. Durchfälle. Appetitlosigkeit. 2) Georg Köster: 30. November 1907. Zeigt seit einigen Tagen bei regelmässiger Injektion von 0,1—0,2 Atoxyl eine zunehmende Ataxie bei gesteigerten Reflexen und ver- liert oft den Urin. 2. Dezember 1907. Ist seit 2 Tagen stark abgemagert, schwach und hochgradig ataktisch an allen Extremitäten. Dazu besteht eine erhebliche Reflex- steigerung, und bei passiven Bewegungen hat man den Eindruck leicht federnder Spasmen. Am linken Auge ist die Papille ziemlich blass und nur im Zentrum etwas rötlicher. Die Venen des Augenhintergrundes sind ausserordentlich verbreitert (um das Dreifache. Am rechten Auge ist die Papille normal rötlich gefärbt. Auch hier sind die Venen verbreitert, aber nicht so stark. Die Arterien sind auf beiden Augen auffallend eng. Tötung durch Herzstich in leichter Narkose. Im ganzen hat das Tier in 26 Injektionstagen 3,45 g Atoxyl erhalten. Sektionsbericht. Leber verfettet. Die Nieren zeigen teils frische, teils alte Blutungen, am intensivsten an der Grenze zwischen Mark und Rinde. Am Herzen und dem Zentralnervensystem, den Sehnerven und den Augäpfeln ist nichts Besonders festzustellen ausser einer Blutfülle des Gehirnes und Rückenmarkes. Gewebsstücke aller Organe kommen in Zencker’sche oder Flemming’sche Lösung. Mikroskopischer Befund. Es sei kurz erwähnt, dass am Sehnerven ausgedehnter frischer Markscheidenzerfall im ganzen Verlauf bis zum Tractus opticus sich findet. Im Gegensatz hierzu sind die Ganglienzellen der Netzhaut nur wenig geschädigt. Die Körnerschichten der Netzhaut sind normal. Die Ge- fässe zeigen in der Netzhaut eine pralle Füllung und in einer Reihe von Präpa- raten eine geradezu hervorragende Menge von Leukocyten. Unverkennbar ist die starke Vermehrung der Leukocyten. In jedem Gefäss- querschnitt trifft man sie an und zuweilen so stark vermehrt, dass man einen pathologischen Zustand annehmen muss. Die leuchtend rot gefärbten Zelleiber mit dem blauen Kern fallen sofort auf, und zwar sind an den blauen Kernen alle möglichen Stadien der Degeneration (Kernteilung?) zu sehen. Gehirn: Die Ganglienzellen des Grosshirnes erweisen sich auf Nissl- Held’schen Färbungen vielfach degeneriert. Gequollene Zellen liegen neben geschrumpften, die dann auch meist überfärbt sind und nur eine geringe Unter- scheidung zwischen Kern und Zelleib gestatten. Oft ist der Kern kugelig ge- worden, zuweilen auch unregelmässig geschrumpft. Die chromatophilen Elemente sind vielfach zerstiebt, mehrfach in Bandform um den Kern zusammengelaufen, das Protoplasma oft vakuolisiert und nicht selten bis auf spärliche Reste ver- schwunden. Man sieht die verschiedensten Kombinationen der Entartung von Zellkern und Zelleib. Dieselben Bilder sieht man bei Färbung nach Heiden- hain, nur dass sich hier die Nervenfasern bis zu den stellenweise gequollenen Tangentialfasern der Rinde und die Glia gleichzeitig bläulich-schwarz mitfärben. Die Riesenzellen des Kleinhirns sind auf Nissl-Held-Präparaten auch als degeneriert zu erkennen. Vakuolen sind hier seltener, aber ein eigentümliches bandförmiges Zusammenlaufen der in mehrfachen unregelmässigen Kreisen um den Kern gelagerten Nissl-Körper ist häufig. Öfter verdecken die unregelmässig, Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 23 konfluierenden chromatophilen Elemente den Kern ganz, der seinerseits in vielen Fällen gequollen, seltener geschrumpft, öfters verlagert ist. Dieselben Be- obachtungen über die Riesenzellen kann man an Flemming-Präparaten an- stellen, die mit Thionin nachgefärbt sind. Auf den nach Nissl-Held gefärbten Präparaten kann man sich von der grossen Häufigkeit der weissen Blutkörper in den Gefässquerschnitten überzeugen. Auf den nach Flemming fixierten und mit Thionin oder Safranin nachgefärbten Präparaten aus dem Kleinhirr ist an den Riesenzellen eine ein- wandsfreie Verfettung nicht zu sehen. Man erblickt zwar öfters feine schwarze Kügelchen in dem Zellprotoplasma, doch liegen sie verhältnismässig vereinzelt und nur in einer kleinen Zahl Zellen. Schliesslich sind sie in dünnen Schnitten seltener, so dass der Verdacht nicht ungerechtfertigt ist, dass die schwarzen Kügelchen hinter der betreffenden Riesenzelle liegen könnten. Dagegen finden sich in der Körnerschicht des Kleinhirnes und besonders häufig an der Grenze zwischen Riesenzellen- und Körnerschicht sehr viele kleinere Zellen (anscheinend Zellen der Körnerschicht), deren Protoplasma mit dichtgedrängten feinsten schwarzen Tröpfchen erfüllt ist, so dass man meist keinen Kern sieht. Wo ein Kern sichtbar ist, erkennt man, dass es sich wirklich um fettig entartete Körner- schichtzellen handelt. Die Ganglienzellen des Grosshirnes zeigen im Gegensatz zu den nicht mit Sicherheit als verfettet nachweisbaren Riesenzellen des Kleinhirnes die aus- gesprochenste fettige Degeneration (Flemming-Fixierung, Safraninfärbung). Die oben erwähnten und bei Nissl-Held-Färbung zutage tretenden Verände- rungen am Kern und Protoplasma der Zelle sind auch hier erkennbar, dazu aber noch im Protoplasma sehr vieler Ganglienzellen eine mehr oder minder grosse Zahl feinster schwarzer Kügelchen. Diese schwarzen Kügelchen liegen diffus im ganzen Zelleibe verstreut in den verschiedensten Ebenen und sind mit der lipochromen, meist bräunlich gefärbten und meist in der Zellbasis zusammen- geklumpten lipochromen Substanz nicht zu verwechseln. In der Rinde des Gross- und Kleinhirnes sind auf Flemming- Präparaten periodisch aufgequollene und grauschwarz bis tiefschwarz gefärbte Nervenfasern anzutreffen. Dies gilt noch viel mehr für die mit markhaltigen Fasern erfüllte weisse Substanz, in der ganz ausserordentlich geblähte Nervenfasern vorkommen. In den erweiterten perivaskulären Lymphräumen liegt fast immer im Gross- und Kleinhirn Fett in grossen Ballen, die sich zuweilen zu einer langen Reihe aneinanderfügen. Ebenso wird sehr oft Fett im Innern der Gefässe angetroffen (Fettembolie). Das Gefässlumen wird durch mehrere hintereinander gelagerte grosse schwarzgefärbte Fettballen völlig verlegt. Schliesslich ist streckenweise der Gehirnschnitt mit feinsten schwarzen Kügelchen durchsetzt (NB. nicht bestäubt!), ohne dass man sagen könnte, zu welchen Gewebsteilen die Tröpfchen gehörten. Auch die Pia mater weist eine starke fettige Degeneration auf. Grosse und zahlreiche Fetttropfen liegen in ihr. In den an die Pia unmittelbar angrenzenden Rinden- schichten liegen Zellen, die mit feinsten schwarzen Tröpfchen dicht gefüllt sind und den fettig degenerierten Zellen der Körnerschicht des Kleinhirns ähnlich sind. Solche Zellen finden sich auch vielfach in der weissen Substanz des Gross- hirnes zwischen den Nervenfasern liegend. 24 Georg Köster: Herz: Auf Heidenhain-Eosinpräparaten sind stellenweise kleine Blutungen zu erkennen, die die Herzmuskelfasern auseinander drängen. Auf den nach Flemming fixierten Präparaten fällt an den Polen sehr zahlreicher Sarkolemmkerne eine Anhäufung feinster schwarzer Tröpfchen auf. Auch sonst ist zwischen den Muskelfasern hier und da Fett in gehäuften Gruppen kleiner Kügelchen zu finden. Leber: Mit Flemming-Fixierung und Safraninfärbung erkennt man eine ausserordentliche Verfettung der Leberzellen, und zwar ist das meiste Fett in der Peripherie der Acini angehäuft in Form grosser zusammengelaufener Tropfen. Bei einer kleinen Zahl der Leberacini ist die reichlichste Fettansammlung um das zentrale Gefäss des Acinus am stärksten. In vielen Blutgefässen ist Fett enthalten. d. h. es liegen zwischen den Blutkörperchen grössere und kleinere Fetttropfen, Auf Heidenhain-Eosinpräparaten, dienach Zencker fixiert sind, sieht man statt der Fetttropfen Hohlräume, so dass das Lebergewebe wie ein Schwamm aus- sieht. Aus Mallory-Präparaten und Held’schen Gliafärbungen geht hervor, dass das Bindegewebe der Leber gegenüber der Norm nicht vermehrt ist. Darm: Auf Flemming-Safraninpräparaten erweist sich das Epithel durchgängig gut erhalten. Die Zotten des Dünndarmes sind in Fettverdauung begriffen. Geschwärztes Fett erfüllt die Resorptionsepithelien, den Zentralkanal der Zotten und die in der Submucosa gelegenen Chylusgefässe. Niere: Auf Flemming- Präparaten, die mit Fuchsin gefärbt sind, findet man Fett in den Nierenepithelien als kleine und grössere Tröpfchen in relativ mässiger Menge. In den Gefässen liegt gleichfalls hier und da Fett. Aut Heidenhain-Eosinpräparaten sieht man schon mit blossem Auge, dass zwischen Mark und Rinde der Niere ausgedehnte Blutungen eingetreten sind. Mit schwachen Vergrösserungen schon treten die geschwärzten Blutkörper deutlich hervor, verdrängen und überlagern das Nierenparenchym und schieben sich weit in das Mark herunter, indem sie nach den Papillen der Niere zu allmählich spitzer werden. Auch in der Rinde sind zahlreiche Blutungen sichtbar und ebenso in den Glomerulis. Viele Glomeruli sind geschrumpft, und es macht den Ein- druck, als ob sie geplatzt wären. Denn der grösste Teil des für den Glomerulus bestimmten Hohlraumes ist mit einer homogenen rötlich gefärbten Masse erfüllt. Noch deutlicher treten die angeführten Erscheinungen auf Mallory-Präparaten hervor. Die Blutkörper färben sich leuchtend rot oder orange, und die Fülle der Blutergüsse ist ebenso imposant wie die reichliche Vermehrung des blau ge- färbten Bindegewebes. Letzteres ist auch an der Grenze zwischen Mark und Rinde am meisten gewuchert, geht aber auch weit in die Rindenpartie der Niere hinauf, indem es das Nierenparenchym umwuchert und abschneidet. In den Harnkanälen der Rinde und des Markes sieht man viele violettrot, leuchtend rot und hellrot gefärbte hyaline, aber auch zahlreiche rosa gefärbte körnige Zylinder zum Teil von beträchtlicher Ausdehnung. Die Blutergüsse in den Glomerulis treten deutlich hervor. Die neben den geschrumpften Glomerulis liegende homogene oder leicht gekörnte Masse färbt sich nach Mallory rötlich bis violett und enthält öfters leuchtendrot gefärbte Überreste von Blutkörperchen. Die Struktur der Nierenepithelien ist meist gut erhalten. Nur ist öfters eine trübe Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 35 ‘Schwellung vorhanden. Am intensivsten ist die Schädigung der Epithelien in ‚der Gegend der grossen Blutergüsse und Bindegewebswucherungen. Spinalganglienzellen: Die Spinalganglienzellen sind (Nissl-Held’sche Färbung) zum Teil normal, zum Teil degeneriert. Neben leichteren Degenerations- formen der partiellen Chromatolyse (Sektor oder zirkuläre Randzone) finden sich völlig chromatolytische Zellen entweder mit normal gelagertem oder exzentrisch verlagertem Kern. Auch bandförmige Klumpung der Nissl-Körner ist nicht selten. Schwerer als die grossen sind die kleineren Zellen vom dunkleren Typus geschädigt. Völliger Zerfall der Zelle ist hier öfters anzutreffen, so dass nur ein Kernrest übrig bleibt. Dass auch öfters Ganglienzellen ganz untergegangen sind, erkennt man an der Häufung konzentrisch geordneter Korbzellen an den Stellen, die früher von -Ganglienzellen eingenommen waren. Rückenmark: Weder auf Weigert-Präparaten noch auf Flemming- ‘oder Marchi-Präparaten ist ein besonders ausgesprochener Faserausfall im Bereich der Hinterstränge zu erkennen. Es geht auf Marchi-Präparaten mehrerer Blöcke eine mehr oder weniger helle, mit geschwärzten Faserquerschnitten besetzte Zone am Rande des ganzen Rückenmarkes herum. Dies ist aber ein Kunstprodukt, entstanden durch Quetschung beim Herausnehmen. Auf dem Querschnitt der Flemming- oder Marchi-Präparate sieht man in der weissen Substanz eine grosse Zahl unregelmässig gequollener Fasern und in der grauen Substanz viele mehr oder minder spindelförmig geblähte Fasern von rauchgrauer Farbe und in der weissen Substanz eine diffuse Schwärzung einer Minderzahl von Nervenfasern. Eine fettige Degeneration der Vorderhornzellen ist nicht nach- weisbar, sondern nur die gewöhnlich vorhandene Anhäufung lipochromer Substanz an einem Pole der Zellen. Bei Anwendung der Nissl-Held’schen Färbung sieht man die grossen Vorderhornzellen fast immer normal. Dagegen sind die kleineren Zellen der Seitenhörner öfters degeneriert. Partielle Chromatolyse und Klumpung der Nissl-Körper an der Zellperipherie, Verlagerung, Quellung oder Schrumpfung des Kernes werden beobachtet. III. Grosser schwarzer Hund. 1. Dezember 1907. Beginn der Atoxylvergiftung mit 1 g 10 %Yoiger Atoxyl- lösung. Beiderseits scharf begrenzte rötliche Papillen. Die Gefässe sind am Augenhintergrund ohne Besonderheiten. 24. Februar 1908. Hat bis jetzt regelmässig täglich 0,1 Atoxyl ein- gespritzt erhalten. Ist seit ca. 4 Tagen ataktisch geworden und frisst schlecht. Diarrhöe. 27. Februar 1908. Frisst nichts, hat trockene Nase. Sehr schwach und an allen vier Extremitäten bei gleichzeitiger Reflexsteigerung hochgradig ataktisch, Augenhintergrund in jeder Beziehung normal. Bei ruhigem Daliegen des Tieres öfters klonische Zuckungen der Glieder. 3. März 1903. Tötung durch Narkose. Das Tier hat im ganzen in 77 Injektionstagen 6,7 g Atoxyl bekommen. Sektionsbefund: Auffallend sind nur Veränderungen in den Nieren, in denen sich frische hämorrhagische Infarkte neben alten Blutherden finden. Grosse 26 Georg Köster: frische Blutungen liegen besonders an der Grenze zwischen Rinde und Mark der Niere. Der in der Blase des Tieres befindliche Urin enthält viel Eiweiss, keinen Zucker. Die Bulbi sowie Stücke vom Gehirn, Medulla, Nieren, Leber und Herzen kommen in Zencker’sche und Flemming’sche Lösung, Teile des Sehnerven werden nach Marchi behandelt. Mikroskopischer Befund: Kurz erwähnt sei ein geringfügiger be- ginnender Markscheidenzerfal am Sehnerven (Marchi-Färbung) und eine relativ schwere Degeneration der Ganglienzellen in der Netzhaut. Auch die Körnerschichten zeigen sich zum Teil entartet. Rückenmark: Mit der Weigert-Methode lässt sich, im unteren Brust- mark beginnend, im Halsmark abnehmend, eine Degeneration in den Hinter- strängen nachweisen. Man sieht ein dreieckiges, helles Feld (vgl. Photographie). im Bereich der Goll’schen Stränge, innerhalb dessen die markhaltigen Fasern recht erheblich gelichtet sind. Die vorhandenen Fasern sind atrophisch, einzelne auch riesig gequollen. An Flemming- oder Marchi-Präparaten ist in der entsprechenden Hinterstranggegend eine grosse Faserarmut (helles Feld) und eine mehrfache partielle oder totale Schwärzung der Querschnitte an den noch vorhandenen Nervenfasern zu beobachten. Es handelt sich somit um einen schon mehrere Wochen alten Degenerationsprozess. Auch die hinteren Wurzeln zeigen eine un- regelmässige Quellung ihrer Fasern und eine partielle Schwärzung der Mark- scheiden in nicht wenigen Faserquerschnitten. Die nach Nissl-Held oder nach Heidenhain gefärbten Präparate lassen an den motorischen Vorderhornzellen Degenerationen erkennen. Die Schrumpfungs- bilder mit Überfärbung der Zelle sind ebenso häufig wie die homogene Schwellung mit Quellung und Verlagerung des Kernes. Auf den nach Nissl-Held ge- färbten Präparaten fällt die pralle Füllung der Blutgefässe, besonders der Venen auf. Die Zahl der weissen Blutkörper ist offenbar vermehrt, denn in jedem Ge- fäss liegen zahlreiche rot gefärbte Leukocyten mit der charakteristischen blau- gefärbten Kernsubstanz. Es werden die verschiedensten Kernteilungsfiguren an den Leukocyten sichtbar. Das Gehirn zeigt auf den Nissl-Heid gefärbten Präparaten an vielen Zellen der Rinde und des Hirnstammes eine Chromatolyse und Quellung oder Schrumpfung des Kernes, nur selten Vakuolenbildung. Auf Flemming- Präparaten, die mit Safranin nachgefärbt sind, sieht man Fett in den perivaskulären Räumen, zuweilen auch im Innern der kleinsten Blut- gefässe. Auch findet sich in vielen Zellen eine fettige Degeneration der Ganglien- zellen, charakterisiert durch das Auftreten kleinster schwarzer Kügelchen im Zell- leibe. In der Rinde sieht man nicht selten periodisch spindelförmig aufgetriebene Nervenfasern von grauschwarzer und zum Teil tiefschwarzer Farbe. Derartige Nervenfasern sind in der weissen Substanz viel häufiger und intensiver entwickelt. Auf Nissl-Held’schen Präparaten sieht man in fast allen Gefäss- querschnitten zahlreiche Leukocyten mit blauem Kern und rotgefärbtem Zelleibe. Herz: Fettige Degeneration des Herzmuskels konnte nicht beobachtet werden, dagegen waren mit Heidenhain-Eosinfärbungen mehrfache kleinere und grössere Blutergüsse in die Herzmuskulatur nachzuweisen. Die schwarz ge- Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. an färbten roten Blutkörper drängen sich zwischen die Muskelfasern, die sie bei Seite geschoben und aus ihrem Zusammenhang mit den Nachbarfasern ge- bracht haben. Leber: Auf Flemming-Saffraninpräparaten lässt sich kein wesent- licher Unterschied vom vereinzelt normalen Verhalten erkennen. Fett ist nur in den Leberzellen nachweisbar. Auf Heidenhain-Eosinfärbungen des in Zencker fixierten Materials sieht man entsprechend der geringen fettigen In- filtration der Leberzellen hier und da Vakuolen im Inneren des Zelleibes, im übrigen aber ein normales Verhalten der Leberzellen, der Blutgefässe usw. Auf Thionin-Erythrosinpräparaten werden die genannten Beobachtungen be- stätigt. Da in jedem Gefässquerschnitt weisse Blutkörper mit verschieden ge- formtem Zellinhalt zu sehen sind, so scheint eine Vermehrung der Leukocyten vorzuliegen. Niere: Auf Flemming-Safraninpräparaten sieht man eine vielfache fettige Degeneration der Nierenepithelien von den Glomerulis an. bis zu den Papillen, die von schwarzen Tröpfchen erfüllt sind. Ebenso ist reichliches Fett in den Blutgefässen in Gestalt von kleinen und grossen Tröpfchen. Ferner er- blickt man von der Rinde bis zur Ausmündung der geraden Kanäle in den Papillen sehr zahlreiche hyaline Zylinder, granulierte Zylinder mit und ohne Fetttröpfchen verschiedenen Kalibers und Zylinder, die aus roten Blutkörpern zusammengesetzt sind. Zwischen Mark und Rinde sind kolossale Blutungen zu sehen, die das Gewebe zertrümmern oder überdecken. Kleinere Blutungen sind hier und da in der Rinde häufig, während sich die andere Grenze zwischen Rinde und Mark gelegenen Blutungen weit in letzteres hinab erstrecken. Da sich sowohl Bindegewebskerne als Blutkörper mit Safranin rot färben, wurden Heidenhain-Eosinpräparate hergestellt. Hier sah man erst die enorme Aus- dehnung der Blutungen an der meist tiefschwarzen Tintenfärbung der Blut- körperchen. Es fallen zunächst auf die pralle Füllung der Glomeruli mit Blut und mehrfache Blutergüsse in den Glomerulis, ferner pralle Füllung aller Blut- gefässe, vielfache Blutungen in der Nierenrinde und nicht minder im Mark. Die kolossalen Blutergüsse an der Grenze zwischen Mark und Rinde sind schon makroskopisch als grosse Infarkte sichtbar. Ausser den Blutergüssen, die offen- bar frisch sind, finden sich aber noch viele Stellen mit mehr oder minder dunkelschwarzgefärbten und langgestreckten Kernen, die nach Bindegewebs- wucherung aussehen. Die Kerne der Nierenepithelien werden bei Heidenhain- Färbungen zart schwarz gefärbt und unterscheiden sich leicht von der massiven Färbung der Blutkörper. Sie sind oft gequollen oder geschrumpft. Das rot- gefärbte Protoplasma der Nierenepithelien ist oft trübe und verwaschen gefärbt mit gequollenen oder atrophischen Kernen und zwar wechseln sowohl in der Rinde als im Mark die erkrankten und gesunden Stellen des Nierenparenchyms miteinander ab. Um die Ausdehnung der Bindegewebswucherung in der Niere exakt festzustellen wurde die Mallory-Färbung benutzt. Schon makroskopisch kann man an der charakteristischen Blaufärbung sehen, dass besonders an der Grenze zwischen Mark und Rinde eine starke Bindegewebsentwickelung besteht. Dicke, wellige Züge von blaugefärbtem Bindegewebe nehmen hier vielfach den Platz des zum Schwinden gebrachten oder zu geringfügigen strukturell arg 98 Georg Köster: gestörten Resten umgewandelten Nierenparenchyms ein. Auch elastische Fasern ‚erkennt man an ihrer roten Farbe. Das Nierenparenchym färbt sich nach ' Mallory rot, sowohl Kerne als Protoplasma. Wegen der trüben Schwellung der Nierenepithelien kann man Kern und Leib der Nierenzellen oft nur schwer oder ‘gar nicht unterscheiden. Die Ausdehnung der Blutung erkennt man mühelos, weil die roten Blutkörper sich leuchtend rot oder orange färben. Die Fibrin- zylinder sehen leuchtend rot, dunkelmagentarot oder lila bis blau, die Körnchen- zylinder hell- :bis dunkelmagentarot aus. Auch der blaugefärbte Überzug der Niere erscheint gegenüber normalen Präparaten und den von anderen atoxyl- vergifteten Tieren stammenden Präparaten verdickt. IV. Kleiner Atoxylhund. 7. November 1907. Beginn der Vergiftung. Bekommt 1 g 10oige Atoxyllösung subkutan eingespritzt. Augenhintergrund beiderseits ohne Be- sonderheiten. Rechts alte Hornhauttrübung. 13. November 1907. Hat seither regelmässig täglich 0,2 g Atoxyl ein- gespritzt erhalten. Frisst nichts, macht matten Eindruck, wird daher nicht gespritzt. 15. November 1907. Zunehmende Mattigkeit, Ataxie und gleichzeitig Reflexsteigerung. Papillen beiderseits etwas blass. Pupillen reagieren träge. 16. November 1907. Wird, weil er moribund ist, mit Chloroform getötet. Im ganzen hat der Hund in vier Tagen 0,9 g Atoxyl bekommen. Aus dem Sektionsbefund ist hervorzuheben die Hyperämie der Hirnhäute sowie des gesamten Zentralnervensystems. Sonst ist makroskopisch am Gehirn und Rücken- mark nichts Abnormes zu erkennen. Im Darmkanal finden sich vereinzelte Blutungen. Leber, Milz und Lunge sind ohne Befund. Dagegen besteht eine ausgesprochene hämorrhagische Nephritis. Grosse Blutungen sind in beiden Nieren, besonders an der Grenze von Rinde und Mark erkennbar. Von Gehirn, Rückenmark, peripheren Nerven, Darm, Leber, Nieren kommen einzelne Stücken in Zenker’sche Lösung. Die Bulbi und die Sehnerven werden gleichfalls in Zenker’scher Lösung fixiert. Mikroskopischer Befund: Niere: Es wurden nur Mallory- Präparate hergestellt. Die Nierenepithelien sind vielfach gequollen und getrübt, doch ist Kern und Protoplasma auch da meist deutlich zu unterscheiden, wo die trübe Schwellung einen höheren Grad erreicht hat. Neben dunkelschwarzrot gefärbten Zylindern sieht man leuchtend ziegelrote in den verschiedensten Grössen. Daneben finden sich schattenhaft rosa gefärbte dünne körnige Zylinder. In den Glomerulis ist eine starke Hyperämie und mehrfach eine Hämorrhagie vorhanden. Alle Nierengefässe sind prall gefüllt, und Blutaustritte sind häufig. Besonders an der Grenze zwischen Rinde und Mark sind ganz ausserordentlich grosse, frische (glänzend rot) gefärbte Blutungen zu sehen. Auf sehr grosse Strecken erkennt man zunächst nichts als rote Blutkörper und von diesen ver- deckt oder beiseite gedrängt das Nierengewebe in mehr oder weniger unsicherer Zeichnung. Bindegewebshäufungen finden sich nur um die Gefässe herum und scheinen die Norm nicht zu überschreiten. Die Blutungen sind schon makro- skopisch erkennbar. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 29: Leber: Die Leber bietet nichts Abnormes dar auf Eisenlack-Eosin- präparaten. Herz: Im Herzen ist nichts Krankhaftes zu finden. Grosshirn. Auf Weigert-Präparaten erkennt man den grossen Blut- reichtum des Gehirnes, dessen Gefässe alle prall gefüllt sind. Die Rinde enthält viele und gut erhaltene Tangentialfasern, aber auch viele varikös aufgetriebene oder spindelförmig geschwollene. In der weissen Substanz ist die Zahl der auf- getriebenen und zum Teil stark deformierten Fasern weit grösser, aber auch in den radiar zur Rinde und durch diese hindurchziehenden markhaltigen Fasern sind nicht wenige Exemplare, die spindelförmig oder periodisch varikös ge- bläht sind. Der Blutreichtum sowie eine Erweiterung der perizellulären Räume tritt auch auf Heidenhain-Eosinpräparaten klar zutage. Die Ganglienzellen sind meist ohne wesentliche Veränderungen, doch kann man an einer Minderzahl Unregelmässigkeiten des Kernes beobachten, der eckig oder geschrumpft erscheint. Öfters ist in solchen Fällen auch das Protoplasma des Zelleibes dichter, die ganze Zelle dunkler gefärbt. Chromatolyse ist häufig. Oft sieht man voın Protoplasma nur schwach gefärbte, spärliche homogenisierte Reste, während der scharf gezeichnete und anscheinend gequollene Kern gut sichtbar ist. Rückenmark: Auf Nissl-Held’schen Präparaten sehen die Vorder- hornganglienzellen zunächst normal aus. Bei Anwendung der Ölimmersion sieht man aber, dass in vielen Zellen die chromatophilen Elemente zu abnorm grossen, dicken Klumpen zusammengelaufen sind, die den Zelleib erfüllen. Der Kern ist oft nicht scharf begrenzt und rotviolett gefärbt wie das Protoplasma. Mehrfach ist der Kern verlagert. Das Kernkörperchen ist entrundet, unregel- mässig gestaltet und hellblau gefärbt. Auf Heidenhain-Eosinpräparaten werden diese Beobachtungen bestätigt und zum Teil noch erweitert. Es zeigen sich nämlich auch vielfach Zellen mit völliger Chromatolyse neben stark über- färbten und geklumpten Zellen. In letzteren bildet eine dunklere unregelmässige Masse den Kern. Wo in den homogen gequollenen Zellen der Kern sichtbar ist, tritt er als Kugel oder auch unregelmässig eingeballt und verlagert auf. Auf Nissl-Held’schen Präparaten des Gehirnes und Rückenmarks sind in den prall gefüllten Gefässen abnorm viele Leukocyten zu finden, besonders in der Nähe der Gefässwand. Der Sehnerv zeigt auf Weigert-Präparaten ein normales Verhalten. Auf fettige Entartung der Markscheiden wurde nicht untersucht. Bindegewebe- und Glia liessen auf Held’schen Gliafärbungen keine Veränderungen erkennen. Die Netzhaut: Zunächst fällt die starke Blutfüllung im ganzen Auge und besonders in der Netzhaut auf. Auf Heidenhain-Eosinpräparaten und Thionin-Erythrosinpräparaten sieht man neben gut erhaltenen Ganglien- zellen noch mehr degenerierte in den verschiedensten Degenerationsstufen Homogene Schwellung mit und ohne Kernverlagerung und Blähung des Kernes, Auflösung des Zellprotoplasmas und Faltung des geschrumpften Kernes sind die gewöhnlichen Degenerationsbilder. Oft ist nur der geschrumpfte Kern allein in dem Hohlraum übrig geblieben, den vorher die Zelle ausfüllte. Viele Zellen sind völlig untergegangen und der entstandene Hohlraum zuweilen mit ver- 30 Georg Köster: mehrtem kernreichen Bindegewebe ausgefüllt. Letzteres ist mit Held’schen Gliafärbungen deutlich zu erkennen. Die innere Körnerschicht zeigt neben normalen auch viele geschrumpfte Zellen, die dann meist überfärbt sind. Die ‚äussere Körnerschicht weist vielfach eine Verschmelzung der beiden Haupt- -chromatinklumpen auf. XIV. Grosses braunes Kaninchen. 21. Oktober 1907. Beginn der Atoxyleinspritzungen mit 1 g einer 10°%/%igen Atoxyllösung. Der Augenhintergrund ist dunkel, der Sehnerv hat die gewöhnliche Färbung. Es besteht keine Hyperämie des Augenhintergrundes. 1. November 1907. Hat bisher täglich 0,2 g Atoxyl bekommen, macht ‚sehr schwachen und ataktischen Eindruck. 5. November 1907. Ist die letzten Tage mit je 0,1 g Atoxyl gespritzt worden. Die Ataxie hat zugenommen. Die Hinterbeine werden nicht mehr unter den Leib angezogen, sondern nach rückwärts auseinander gespreizt und gestreckt gehalten. Das Tier kann nicht mehr springen. Dabei ist keine schlaffe ‚Lähmung vorhanden, sondern es bestehen Spasmen in den Beinen. Die Reflexe sind gesteigert. Wenn das Tier sich fortbewegt, geht es langsam, spastisch, paretisch und dabei ataktischh Der Kopf ist opisthotonisch in den Nacken geschlagen. Die linke Pupille ist eiförmig entrundet, kontrahiert sich bei Be- Hichtung von 7 auf 5 mm, die rechte von 9 auf 4 mm. Beide Pupillen reagieren ‘träge. Der Augenhintergrund ist unverändert. 9. Dezember 1907. Die starke Ataxie hat trotz täglicher Einspritzung von 0,1 g Atoxyl seit dem 27. November nachgelassen, die Reflexsteigerung und leichte Spasmen sind geblieben. Auch der Opisthotonus ist gering geworden ‚und tritt nur ab und zu auf. 8. Januar 1908. Seither regelmässig mit 0,1 g Atoxyl gespritzt. Die rechte Papille ist normal gefärbt, die linke etwas blasser, aber scharf. 14. Februar 1908. Regelmässig täglich 0,1 g Atoxyl. Auf dem rechten Auge ist die Papille rosarot. Die Gefässe sind frei von Besonderheiten. Die peripheren Abschnitte der temporalen Markstrahlen zeigen eine körnige unregel- mässige Beschaffenheit. Die linke Papille ist blasser als die rechte, die Mark- strahlen sind aber frei von Besonderheiten. 7. April 1908. Seither regelmässig täglich 0,1 g Atoxyl. Beide Papillen ‚sind in der letzten Zeit blasser geworden. Die Markstrahlen sind auf beiden Augen in den peripheren Teilen wie angenagt und teilweise verwaschen. Die Pupillen reagieren träge. In den letzten Wochen ist die Ataxie zunehmend stärker geworden und überwiegt die Erscheinungen der verhältnismässig wenig ausgesprochenen Gliedersteifigkeit bei weitem. Es besteht eine allgemeine Reflexsteigerung. Springen ist unmöglich. Vielmehr bewegt sich das Tier müh- sam kriechend und unsicher, sitzt meist krätschbeinig da, ist abgemagert und frisst schon seit ca. 2 Wochen sehr wenig. Der Opisthotonus ist in letzter Zeit ‚zurückgekehrt. Tötung durch Herzstich. Im ganzen hat das Tier an 132 Tagen 14 g Atoxyl eingespritzt erhalten. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. Sl: Sektionsbefund. An den Sehnerven, den Augäpfeln, dem Herzen, der Leber und dem Zentralnervensystem konnten grobe Veränderungen nicht nach- gewiesen werden. Nur die Nieren zeigen mehrfache frische Blutungen an der Grenze zwischen Mark und Rinde oder ausschliesslich in letzterer. Von allen genannten Organen kommen Stücke in Zencker’sche oder Flemming’sche Lösung. Der Sehnerv wird zum Teil nach Marchi behandelt, Mikroskopischer Befund. Vom Sehnerven sei kurz erwähnt, dass bei Anwendung der Marchi-Methode sich ein diffuser frischer, aber im ganzen geringfügiger Markscheidenzerfall nachweisen liess. Die Netzhaut ist dagegen schwer geschädigt, und die Retinalganglien- zellen zeigen die verschiedensten Degenerationsformen. Ebenso sind die Zellen ‚der Körnerschichten zum Teil degeneriert. Herz: Aut Heidenhain-Eosinpräparaten und auf Flemming- Safraninpräparaten konnte etwas Abnormes nicht nachgewiesen werden. Leber: Flemming-Safraninpräparate liessen eine fettige Degeneration ‚der Leber nicht erkennen, Niere: Auf Flemming-Safraninpräparaten finden sich mehrfach fettige Degenerationen der Nierenepithelien und hier und da Zylinder, die Fett- tröpfchen enthalten. Auch in den Blutgefässen (Venen) sind vereinzelte Fett- röpfchen zu sehen. Auf Heidenhain-Eosinpräparaten sieht man zwischen Mark und Rinde mehrfach Blutungen von mässiger Ausdehnung. Da das Nieren- parenchym durch die Blutaustritte einfach verdrängt oder zerstört ist, ohne dass nennenswerte Bindegewebsentwickelungen sich entwickelt haben, so ergibt sich der frische Charakter der Blutungen ohne weiteres. Auf Mallory-Färbungen trifft man die Nierenepithelien vielfach trübe geschwollen, so dass die Zeichnung des Gewebes auch auf dünnen Schnitten nicht deutlich ist. Neben den getrübten Epithelpartien liegen solche von sehr klarer Zeichnung. Hyaline Zylinder und Körnchenzylinder sind häufig, erstere leuchtend rot, letztere violettrötlich gefärbt. Auf den Mallory-Präparaten kann man sich gleichfalls überzeugen, dass die Menge des blau gefärbten Bindegewebes nicht vermehrt ist. Spinalganglienzellen. Es wurden Nissl-Held’sche und Heiden- hain-Eosinfärbungen ausgeführt, und stets wurden gute Degenerationen der Ganglienzellen beobachtet. Der Zelleib zeigt nur selten Vakuolen, die Nissl- Körner sind vielfach so zusammengelaufen, dass die Zelle den Eindruck eines vielporigen Schwammes macht, dessen Gerüst durch die konfluierenden chroma- tophilen Elemente gebildet wird. Auch völlige Chromatolyse ist ebenso häufig wie Zellschrumpfung. Der Kern ist daher geschrumpft oder kugelig gebläht und zuweilen so exzentrisch verlagert, dass er wie eine Hernie sich aus dem Zell- leibe vorstülpt. Vereinzelt sind Spinalganglienzellen ganz untergegangen. Die Hälfte der Spinalganglienzellen etwa ist normal. Rückenmark: Die Vorderhornzellen sind auf Nissl-Held-Präparaten und bei Heidenhain-Eosinfärbungen zum Teil als geschädigt erkennbar. Neben Chromatolyse ist Klumpung der chromatophilen Elemente am häufigsten anzutreffen. Auflösung des Zelleibes ist selten. Der Zellkern ist oft kugelig gebläht, seltener geschrumpft, noch seltener zerstört. In den Nissl-Held- 32 ; Georg Köster: Präparaten des Rückenmarkes fällt die grosse Zahl der in den Gefässquerschnitten: befindlichen Leukocyten auf. Auch wo ein grösseres Blutcoagulum zufällig neben dem Gefäss liegt und geschnitten wurde, fällt die grosse Zahl der darin ent- haltenen weissen Blutkörper auf. Als Curiosum sei erwähnt, dass sich in der Pia mater einmal eine versprengte Ganglienzelle von normaler Beschaffenheit findet.. Auf Weigert-Kulschitzky-Präparaten ist etwas Abnormes nicht zu erkennen, ausser dass in der grauen Substanz durchziehende Nervenfasern, ins- besondere längsgetroffene Reflexkollateralen eine temporäre spindelförmige Auf- treibung aufweisen. Gehirn: Bei Färbungen nach Nissl-Held erweisen sich die Ganglien- zellen des Hirnstammes und der Rinde vielfach als normal. Aber eine nicht unbeträchtliche Anzahl ist degeneriert. Das Protoplasma ist öfters vakuolisiert und zwar handelt es sich um echte Vakuolen kleinsten Kalibers mitten im Zell- leibe, nicht etwa um randständige durch Schrumpfung des Protoplasmas ent- standene Hohlräume. Die Nissl-Körper sind oft zerstiebt, mehrfach auch in groben Schollen zusammengeklumpt. Der Zellkern ist dann meist gequollen und kugelig. In anderen Zellen ist der Zelleib geschrumpft, stark blau gefärbt und der Kern gleichfalls geschrumpft und überfärbt. Sogar der Achsenzylinder dieser Zellen ist eine beträchtliche Strecke als überfärbter blauer Strang sichtbar. Auf Weigert-Präparaten sieht man in der grauen Rinde vielfach varikös auf- getriebene Nervenfasern. Auffallend ist der Schwund der Tangentialfasern. Das Kleinhirn lässt bei Nissl-Held’schen Färbungen die Riesenzellen zumeist als normal erkennen. Jedoch ist ein nicht geringer Teil geschrumpft, überfärbt und zeigt einen unregelmässig geschrumpften überfärbten Kern. Partielle oder totale Chromatolyse ist mehrfach und dann gewöhnlich mit kugeliger Quellung des Kernes vereinigt anzutreffen. Wiederholt trifft man in Gefässquerschnitten oder zufälligen Blutaustritten eine auffallend grosse Zahl von weissen Blut- körperchen. XV. Silbergraues Kaninchen. 2. November 1907. Bekommt erstmalig 1 g 10%oige Atoxyllösung ein- gespritzt. Hat beiderseits weisse Papillen und normales Verhalten der Gefässe und Markstrahlen. 17. Januar 1908. Hat seither täglich 0,1 g Atoxyl bekommen und ist in den letzten Wochen stark abgemagert, während es immer ataktischer wurde. Fresslust gering, Schwäche gross, so dass es z. B. fortgesetzt mit dem Kopfe wackelt. Dabei sind die Reflexe kolossal gesteigert, so dass z. B. ein heftiger Schlag auf den Tisch oder ein leichtes Anstossen genügt, um das Tier zum Umfallen zu bringen. Es zuckt heftig dabei zusammen und rollt unaufhaltsam auf dem Tisch weiter, bis es durch irgendein Hindernis aufgehalten wird. Von selbst kann es nicht mehr springen. 29. Januar 1908. In letzter Zeit fast gar nicht gespritzt. Daher Abnahme der Ataxie, Steigerung der Fresslust. Reflexerhöhung nach wie vor sehr gross. 14. Februar 1908. Papillen blass, aber scharf begrenzt und nicht als pathologisch anzusprechen. Am linken Auge sind die Markstrahlen oberhalb der Papille etwas undeutlich geworden. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 33 1. Juni 1908. Hat, abgesehen von gelegentlichen, durch Schwäche und mangelnden Appetit bedingten Unterbrechungen der Injektionen, durchschnittlich 0,05—0,1 g Atoxyl täglich bekommen. Ataxie und gesteigerte Reflexerregbarkeit bestehen nach wie vor. Meist hat das Tier die Hinterbeine nach rückwärts ausgestreckt und kann sie nur mühsam an den Leib heranziehen. Es bestehen in den Hinterbeinen Spasmen. 16. Juli 1908. Die Pupillen reagieren normal. Die Papillen sind beider- seits blass wie von jeher, aber die Markstrahlen sind auf beiden Augen wie an- genagt und in ihren peripheren Abschnitten verwaschen. Schwäche, Abmagerung und Ataxie des Tieres sind hochgradig, Fresslust minimal. Meist liegt das Tier mit ausgestreckten Hinterbeinen im Käfig und beim geringsten Gehversuch (springen kann es gar nicht mehr) stolpert es und rollt um die eigene Längs- achse, bis es auf ein Hindernis stösst. 27. Juli 1908. Seither regelmässig täglich 0,1 g Atoxyl. Hat bis jetzt im ganzen in 166 Injektionstagen 15,95 g Atoxyl bekommen. Tötung durch Herzstich. Sektionsbefund. Auffallend ist die Blutfülle im Zentralnervensystem und seinen Häuten, In keinem Organ ist etwas Abnormes zu finden, bis auf die Nieren, in denen zahlreiche kleinere, frische Blutungen im Mark und auf der Grenze zwischen Mark und Rinde sich nachweisen lassen. Stücke von den Nieren, der Leber, dem Herzen, dem Zentralnervensystem, den Sehnerven und die Bulbi werden in Zenker’sche oder Flemming’sche Lösung gelegt. Auch werden Stücke des Zentralnervensystems und der Sehnerven nach Marchi behandelt. Mikroskopischer Befund. Kurz sei erwähnt, dass sich im Seh- nerven ein diffuser frischer Markscheidenzerfall (Marchi-Methode) und eine variköse Auftreibung vieler Fasern findet. In der Netzhaut zeigt sich eine schwere Degeneration der Ganglienzellen, zuweilen bis zur völligen Auflösung. Auch die Körnerschichten sind mehr oder weniger geschädigt. Rückenmark. Weigert-Färbungen ergeben überall normale Verhältnisse bis auf die Lissauer’sche Randzone der Hinterhörner im Lumbal- und Dorsal- mark, die mehrfach einen deutlichen Faserausfall erkennen lässt. Auf Flemming- und Marchi-Präparaten zeigt sich in der Eintrittsstelle der hinteren Wurzel in das Hinterhorn (Lissauer’sche Randzone) eine ausgebreiteter Markscheiden- zerfall, ebenso ist die gesammte Hinterstrangsgegend erfüllt mit diffusen Mark- ballen. Das übrige Rückenmark enthält nur wenige schwarze Markballen. Es handelt sich demnach um einen relativ frischen Degenerationsprozess. Die hinteren Wurzeln und die Hinterstränge enthalten viele unregelmässig gequollene Fasern. Eine fettige Degeneration der Vorderhornzellen besteht nicht. Auf Heidenhain-Eosinfärbungen und auf Nissl-Held-Präparaten sieht man die motorischen Vorderhornzellen meist normal. Die fast einzig vorhandene Form der Entartung besteht in einer partiellen Chromatolyse, wobei eine Klumpung der Nissl-Körper in der Zellperipherie stattgefunden hat. Oder bei sonst intakter Zelle ist ein Sector des Protoplasmas frei von chromatophilen Elementen geworden. Eine eigentümliche Neigung zur Bildung grober Nissl-Körper und zur Konfluenz derselben ist nicht zu übersehen. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136 3 34 Georg Köster: Leber: Das Lebergewebe weist auf Heidenhain-Eosinpräparaten, auf Mallory-Präparaten und auf Flemming-Safraninpräparaten keinerlei krankhafte Veränderungen auf. Herz: Am Herzen ist auf Flemming-Safraninpräparaten nichts Krank- haftes festzustellen ausser mehrfachen kleinen Blutungen, durch die die Muskel- fasern auseinander gedrängt wurden. Niere: Auf Flemming-Safraninpräparaten findet sich eine partielle Verfettung und trübe Schwellung der Nierenepithelien an vielen Stellen. Auch in den zahlreich vorhandenen Nierenzylindern (hyaline und körnige) sowie in den Querschnitten der Gefässe ist verschiedentlich Fett in Form grösserer Tropfen zu finden. An der Grenze zwischen Rinde und Mark sind frische, nicht allzu ausgedehnte Blutungen zu sehen. Wie aus Heidenhain-Eosinpräparaten hervorgeht, sind die Blutungen frisch, haben das Nierengewebe verdrängt oder zertrümmert, ohne dass bereits Resorptionserscheinungen im Blutherde. zu be- merken waren. Das Bindegewebe der Niere ist nicht vermehrt. Gehirn: Das Grosshirn zeigt auf Flemming-Safranin-Präparaten keine fettige Degeneration der Ganglienzellen. Die Kerne der Ganglienzellen sind oft kugelrund gequollen, zuweilen geschrumpft, der nicht mitgefärbte Zell- leib ist vielfach vakuolisiert. Die perivaskulären Lymphräume sind erweitert, und es liegt mehrfach Fett in grösseren Tropfen in ihnen. Im Inneren der Gefässe war bei diesem niemals Fett zu sehen. In der weissen Substanz sind nicht wenige Nervenfasern auf dem Querschnitt unregelmässig gequollen und grau bis schwarz gefärbt, auf dem Längsschnitt sind diese mehr oder minder ge- schwärzten Fasern temporär spindelförmig aufgetrieben. Färbungen nach Nissl- Held lassen eine relativ grosse Zahl der Ganglienzellen als chromatolytisch er- kennen. Meist ist in diesen Zellen der Kern kugeiig gebläht, seltener geschrumpft. Entweder ist die Chromatolyse der Zellen, die einen lila Farbton angenommen haben, eine vollständige, oder die Nissl-Körper häufen sich an der Peripherie der Zelle in klumpigen Streifen an. Auch völlige Auflösung der Zelle unter Vakuolenbildung im Inneren des Zellrestes wird beobachtet. Die Gefässe ent- halten auffallend viele Leukocyten mit mehrfach variiertem blaugefärbten Inhalt. Kleinhirn: Bei Safraninfärbungen des nach Flemming fixierten Materiales ist an den Riesenzellen des Kleinhirnes mehrfach, aber nur bei einer Minderzahl der Riesenzellen eine unregelmässige Gestaltung des Kernes zu sehen, während eine fettige Degeneration der Zellen fehlt. Dagegen finden sich an der Grenze der Riesenzellenschicht vereinzelte kleine Zellen, deren Leib mit dichten schwarzen Tröpfchen besetzt ist. Die Schicht der kleinen Zellen enthält vereinzelte Fetttröpfchen und mehrfach geblähte, unregelmässig aufgetriebene Nervenfasern von rauchgrauer Färbung. Die Zellen des im vierten Ventrikel befindlichen Plexus Chorioideus zeigen eine deutliche Verfettung. Sie enthalten grosse und reichliche Fetttropfen. Auf den nach Nissl-Held gefärbten Präparaten erweisen sich die Riesen- zellen meist normal. Eine kleinere Zahl von Zellen zeigt dagegen Chromatolyse oder Klumpung der chromatophilen Elemente am Rande der Zelle mit Blähung oder unregelmässiger Schrumpfung der Zellen. Die Schicht der kleinen Zellen weist nichts Bemerkenswertes auf. Dagegen sind die verschiedenen Zellgruppen Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 35 ‚der anstossenden Medulla oblongata in verschieden intensiver Weise entartet. Neben normalen Zellen liegen sehr schwer degenerierte mit Chromatolyse, Kernverlagerung und stellenweise Vakuolenbildung im Zelleibe. Quellung und ‘Schrumpfung des Kernes verbinden sich öfter auch mit Auflösung des Zell- protoplasmas. Die Gefässe enthalten fast in jedem Querschnitt Leukocythen. Spinalganglien: Auf Nissl-Held’schen Präparaten sieht man die 'Ganglienzellen in verschiedenster Weise degeneriert. Die Mehrzahl ist intakt, eine Minderzahl zeigt Chromatolyse entweder in Staubform oder mit Konfluieren der Nissl-Körper zu blauen um den Zellkern konzentrisch gelagerten Ringen. Der Zellkern ist verlagert, öfters aufgelöst, so dass nur das Kernkörperehen übrig geblieben ist. Oder der Kern ist geschrumpft, im ganzen gefärbt, der Zell- leib dann meist auch überfärbt. Vakuolen fehlen. An Flemming-Safranin- präparaten werden die Kernveränderungen bestätigt, eine fettige Degeneration der 'Ganglienze:len ist nicht nachweisbar, nur die Anwesenheit lipochromer Substanzen wird in einer Reihe von Zellen konstatiert. Meine Untersuchungen habe ich im physiologischen Institut zu Leipzig angestellt, und es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle Herrn Geh. Rat Hering für die freundliche Überlassung der Institutsmittel meinen Dank auszusprechen. Ich benutzte als Versuchstiere Hunde und Kaninchen und konnte in Bestätigung meiner Bemerkungen über die verschiedene Empfäng- lichkeit der Tierarten gegenüber dem Atoxyl die geringere Widerstands- fähigkeit der Hunde feststellen. Denn die sieben vorzeitig von elf Versuchshunden eingegangenen Exemplare hatten nur kleine, zum Teil sehr geringe Dosen Atoxyl erhalten. Es wurde eine 10 /oige in dunkler Flasche und im dunkeln Zimmer aufgehobene Lösung (des deutschen Präparates verwendet und den Tieren durchschnittlich (0,1—0,2 Atoxyl pro Dosis eingespritzt, ohne dass jemals örtliche Erscheinungen bemerkt wurden. Doch ging Hund 11 schon nach 0,2 Atoxyl innerhalb von 4 Tagen, Hund 9 nach 0,4 innerhalb von 3 Tagen ein. Im Vergleich hierzu sind die Kaninchen gegen Atoxyl unempfindlicher. Denn die am frühesten eingegangenen Tiere hatten doch bei einem Verbrauche von 2,8 und 1,9 Atoxyl 1 Woche resp. 1'/g Wochen gelebt!). Ich stimme Igersheimer?) zu, wenn er die Ursache für den auch ihm begegneten plötzlichen Tod der Ver- 1) Bezüglich der bei den einzelnen Tieren verbrauchten Gesamtmengen Atoxyl, der klinischen Erscheinungen und der anatomischen Befunde verweise ich auf die Übersichtstabelle (S. 36 und 37). Ich habe zur besseren Orien- tierung die Art der Augenstörung daselbst kurz mit angeführt. 2) Igersheimer, Über die Wirkung des Atoxyls auf das Auge. v. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. 1909. 3 * jeb) (02) Tiersorte Foxhündin Dalmatiner- hündin grosser schwarzer Jagdhund kleiner gelber Hund Dobermann- pintscher kleiner Terrier grosser Hund älterer Fox kleiner lang- haariger Hund Fox Dachshund geschecktes Kaninchen schwarzes Kaninchen grossesbraun- schwarzes Kaninchen Silber- kaninchen der Ver- giftungs- tage 93 26 77 26 166 a ——————————————————————————————————————————————————————————————————————————————————— . [Gesamtmenge des ver- brauchten Atoxyls bei 0,1—02, Einzeldosis 9,93 Bei Lebzeiten nachgewiesene Augen- veränderungen Abblassung der dazu 3962 g | linken Papille, nor- Alkohol in 6 Monaten 3,45 0,9 0,7 0,4 2,9 15,95 male Pupillen- reaktion Abblassung einer Papille, normale Pupillenreaktion Träge Pupillen- reaktion, Abblassung der Papillen 0 0 0 Degeneration der Markstrahlen, Ab- blassung der Papillen, träge Pupillenreaktion normales Verhalten der Pupillen und Papillen. Degeneration der Markstrahlen sts sie ee ee tr lee en ee et mn nn Bei Lebzeiten nach- gewiesene Veränderungen der inneren Organe und des Nervensystems Ataxie, Schwäche, Reflex- steigerung, Eiweiss im Urin, Enuresis Appetitlosigkeit,Durchfälle, Mattigkeit, Ataxie, Reflex- steigerung und leichte Spasmen. Eiweiss im Urin, Inkontinenz Durchfall, Mattigkeit, Ataxie, Steigerung der Sehnenreflexe, Glieder- zuckungen bei ruhigem Daliegen. Eiweiss im Urin Mattigkeit, Ataxie, Reflex- steigerung, Durchfälle häufiger. Urinverlust, Ab- magerung, Appetitverlust, zunehmende Ataxie, Mattig- keit, lebhafte Reflexe 0 Ataxie aller Extremitäten, krätschbeiniger Gang, Durchfälle, Mattigkeit Durchfälle 0 Harnträufeln, Schwäche, Ataxie, gesteigerte Reflexe, 0 0 Schwäche, Ataxie und Parese der Hinterbeine ÖOpisthotonus, Spasmen, Ataxie, Konvulsionen, Un- fähigkeit zu springen, Re- flexsteigerung, Abmagerung, Eiweiss im Urin Kopfwackeln, Reflex- steigerung, Spasmen, Kon- vulsionen, Ataxie, Unfähig- keit zu springen, Ab- magerung, Eiweiss im Urin Anatomisch nachgewiesene Augen- veränderungen Degeneration in Retina und Opticus do. do. do. 0 0 Degeneration in Retina und Optieus do. Anatomisch nachgewiesene Gesamtdauer Veränderungen der inneren Organe Todesart der Be- und des Nervensystems obachtung kleine Darmblutungen, Leberverfettung, Herzstich 1 Jahr Herzmuskelverfettung, Nierenblutung, 2 Wochen Schwellung und Verfettung und Zylinder- bildung in der Niere, Verfettung und sonstige Degeneration der Gehirn- und Spinalganglien- Vorderhornzellen. Hinterstrangdegeneration im Brustmark, Fettembolie der Gehirn- gefässe kapillare Blutungen im Herzfleisch, starke Nierenblutungen, Verfettung, Bindegewebs- vermehrung und Zylinderbildung in der Niere, Verfettung der Leber, Verfettung der Gehirnzellen, Fettembolie der Gehirngefässe, Fett im perivasculären Lymphraum der Ge- hirngefässe, Entartung der Nervenzellen kapillare Blutungen im Herzfleisch, Leber- verfettung, Verfettung und trübe Schwellung der Nierenepithelien, Oylinderbildung, Fett- embolie der Gehirngefässe, Degeneration der Vorderhorn- und Gehirnganglienzellen, Degeneration der Hinterstränge im Brust- mark, Quellung der Nervenfasern Degeneration der Ganglienzellen im Gehirn und Rückenmark, hämorrhagische Infarkte in der Niere, Trübe Schwellung der Nieren- epithelien, Zylinderbildung 0 0 0 Verfettung der Nierenepithelien, Nieren- blutungen, Zylinderbildung, Degeneration der Spinalganglienzellen, der Gehirn- und Vorderhornzellen Schwellung und fettige Degeneration der Nierenepithelien, Nierenblutungen und Zylinderbildung, Degeneration der Ganglien- zellen in Grosshirn, Rückenmark und Spinalganglien, Degeneration der Lissauer- schen Randzone im Brust- und Halsmark Herzstich in leichter Narkose Chloroform do. plötzlich krepiert, nicht untersucht nachts krepiert, nicht untersucht do. do. plötzlichkrepiert, nicht untersucht do. do. do. do. Herzstich do. 1 Mon. 3 Tage 3 Monate 10. Tage 1 Monat 1 Woche 3 Wochen 1 Woche 3 Tage 2 Wochen 4 Tage 1 Woche 3 Tage 1 Woche 5 Monate und 2 Wochen 8 Monate und 2 Wochen 38 Georg Köster: suchstiere in einer Wirkung auf das Zentralorgan sucht. Jedenfalls hat der unvorhergesehene Exitus der Tiere neunmal die Gewinnung von brauchbarem Sektionsmaterial verhindert. Denn nur diejenigen Tiere wurden zur histologischen Untersuchung verwendet, die ich selbst getötet und deren Organe ich blutwarm in die Fixierungs- flüssiekeit übertragen habe. Immerhin gaben auch die zu früh krepierten Tiere eine nicht zu verachtende klinische Ausbeute. Planmässige chronische Atoxylvereiftungen hat ausser Birch- Hirschfeld und mir am Hunde nur Igersheimer!) angestellt, der die Tiere einige Wochen bis 3 Monate am Leben erhalten konnte. Uns gelang es, Hund 2 1 Monat und 3 Tage, Hund 3 3 Monate und Hund 1 1 Jahr und 2 Wochen nach Vergiftang mit Atoxyl am Leben zu erhalten, und hieraus erklären wir uns zum Teil die Unterschiede in unseren beiderseitigen Beobachtungsresultaten. Igersheimer fasst die Symptomatologie der Atoxylvereiftung des Hundes kurz dahin zusammen: DBei akuten Vergiftungen kommt es zu Nausea, Erbrechen und vereinzelt auch Durchfall. Bei chronischer Vergiftung treten diese Erscheinungen zurück, und es entwickeln sich die Symptome der chronischen Arsenvergiftung, Schleimhautent- zündungen, Konjunktivitis und trophische Störungen der Haut. Er sagt dann weiter: „Lähmungen in der Art der Arsenlähmung konnten wir nie mit Sicherheit konstatieren. Allerdings fanden wir bei einem 3 Wochen lang vergifteten Tiere am Todestag Parese aller vier Extremitäten (das Tier suchte sich kriechend nach dem Wasser hinzubewegen), doch trug in diesem Fall die allgemeine Mattigkeit wohl die Hauptschuld an diesem Phänomen“. Ich konnte in Übereinstimmung mit diesem Autor bei Hund 6, 8, 9 und 11 nach einer Atoxyleinwirkung von 3—7 Tagen auch nichts Besonderes feststellen, aber bei anderen Tieren, und nicht nur den lange Zeit überlebenden, habe ich eine ganze Reihe von Symptomen beobachtet. Hund 2 lebte mit 0,6 Atoxyl 2 Wochen und bekam bei gesteigerten Sehnenreflexen in den letzten 5—4 Tagen Harnträufeln, Schwäche und Ataxie. Hund 7 wurde 3 Wochen ver- giftet und zeigte in den letzten 3 Tagen zunehmende Ataxie aller 1) Igersheimer und Itami, Zur Pathologie und pathologischen Ana- tomie der experimentellen Atoxylversiftung. Arch. f. exper. Path. u. Pharm. Bd. 61. 1909. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 39 Extremitäten, Durchfälle und Mattigkeit. Hund 5 verbrauchte in 1 Monat 0,7 Atoxyl und hatte in der letzten Woche Abmagerung, Harnträufeln, wachsende Ataxie und Mattigkeit. Hund 2 erhielt in 1 Monat 3,45 Atoxyl, magerte nach 2 Wochen trotz guter Fütterung ab, wurde ca. 12 Tage vor der Tötung ataktisch, verlor den Urin oftmals und hatte gesteigerte Sehnenreflexe und leicht federnde Spasmen. Bei dem 3 Monate vergifteten Hunde 3 stellten sich 2 Wochen vor seinem Tode Ataxie, Appetitmangel und Durchfall ein. Die Ataxie und Schwäche steigerten sich allmählich, und trotz- dem waren die Sehnenreflexe gesteigert, und bei ruhigem Daliegen konnte ich wiederholt klonische Zuckungen der Glieder beobachten. Hund 1 schliesslich, der über 1 Jahr unter Vergiftung stand, magerte 4 Wochen vor seinem Tode ab, bekam eine trockene Schnauze, Konjunktivitis und schlechten Appetit. Das Tier verlor oft den Urin, wurde ataktisch, schleppte seine Hinterbeine und war sehr schwach. Obwohl diese Erscheinungen bis zu seiner Tötung fortgesetzt zu- nahmen, blieben die Sehnenreflexe andauernd lebhaft und waren sogar gesteigert. Es soll nun keineswegs bestritten werden, dass die allmählich immer deutlicher hervortretende Schwäche unsrer Hunde zu einer Unsicherheit beim Laufen beigetragen und die Zuverlässigkeit des Blasenschlusses beeinträchtigt haben mag. Ebenso muss anerkannt werden, dass sich Inkontinenz, Mattigkeit und Ataxie erst in der letzten Zeit der Vergiftung einstellten, weil eben die chronische Intoxikation allmählich ihren Höhepunkt erreichte. Deshalb darf man aber meiner Ansicht nach die genannten Symptome nicht als einfache Folge einer terminalen toxisch bedingten Mattigkeit auf- fassen. Vielmehr handelt es sich bei unsern Hunden um wohl- präzisierte und koordinierte Erscheinungen, die sich zwar gegenseitig naturgemäss beeinflussen, deren Selbständigkeit bei genauer Be- obachtung aber nicht zu verkennen ist. Zunächst traten die frag- lichen Symptome 3 Tage bis 4 Wochen vor der Tötung des Tieres auf, so dass genügend Zeit zur Beobachtung vorhanden war. Und was man sah, war nicht nur ein müdes Schleppen der Glieder, so dass die Tiere Mühe hatten, einen längeren Weg zurückzulegen, und sich weigerten, Treppen zu steigen, sondern eine unzweifelhafte Ataxie, wie ich sie bei Hunden gelegentlich anderer Untersuchungen nach doppelseitiger Durchschneidung sämtlicher hinterem Lumbal- wurzeln beobachten konnte. Wer jemals ataktische Hunde gesehen 40 Georg Köster: hat, wird Ataxie und ein Taumeln aus Mattiekeit nicht ohne weiteres miteinander verwechseln. Die Unsicherheit begann stets auf den Hinter- beinen, um dann erst auf die Vorderbeine überzugehen. Der Gang wurde in extremen Fällen ausgesprochen krätschbeinig. Eine vollkommene Lähmung habe auch ich ebensowenig erzeugen können wie Igers- heimer, aber dass die Schwäche und erschwerte Gebrauchsfähigkeit der Hinterbeine bei den längere Zeit vergifteten Hunden von einer Parese nicht zu unterscheiden war, kann als sicher bezeichnet werden. Man hätte erwarten dürfen, dass bei der Muskelschwäche und Ataxie eine Abschwächung oder ein Erlöschen der Sehnenreflexe sich ent- wickeln würde. Aber wir haben gesehen, dass das Gegenteil der Fall war; denn meist waren die Sehnenreflexe gesteigert, und bei Hund 2 konnten sogar leichte Spasmen nachgewiesen werden. Ebenso bestanden bei Hund 3 klonische Zuekungen in den paretischen und ataktischen Hinterbeinen. Diese Vereinigung von Reiz- und Lähmungssymptomen, die an- scheinend einander ausschliessen, finden wir bekanntlich mit Vorliebe bei den nachgewiesenen Intoxikationen des Zentralnervensystems und in der klinischen Pathologie bei den Krankheiten, deren Symptome mit Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit einer Giftwirkung auf nervöse Apparate zuzuschreiben sind (z. B. Morbus Basedowii, Myasthenie). Wir werden daher über das gleichzeitige Auftreten von Reiz- und Lähmungserscheinungen bei chronisch mit Atoxyl vergifteten Hunden um so weniger erstaunt sein, als wir derselben Koinzidenz bereits bei der chronischen Atoxylvergiftung des Menschen begegneten. Wir haben hier eine glatte Bestätigung der von anderen Autoren und uns am Menschen gemachten Beobachtungen durch das Tierexperiment vor uns. Während im ganzen bei dem chronisch vereifteten Hunde die Ausfallserscheinungen (Schwäche bis zur Parese, Ataxie, In- kontinenz) stärker hervortreten als die Reizerscheinungen (Reflex- steigerung, leichte Spasmen, klonische Zuckungen), berichtet Igers- heimer von der mit Atoxyl vergifteten Katze gerade das Gegenteil. Er konnte Langsamkeit aller Bewegungen, ataktische Störungen, klonische Zuckungen, ausgesprochene Spasmen und „in vielen Fällen daran anschliessend spastische Paresen“ erzeugen. Bei akut ver- eifteten Katzen kam es nur zur Ataxie. Wegen der vorwiegend spastischen Erscheinungen und der niemals beobachteten Inkontinenz nimmt Igersheimer einen zentralen Sitz der Affektion an. Auch an Kaninchen und Ratten nahm Igersheimer nach Atoxylzufuhr Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 41 ‘eine Reihe nicht geringfügiger nervöser Symptome wahr. Starkes Zittern, Ataxie und bei Ratten halbseitige Lähmungen sowie Reit- 'bahn- und Drehbewegungen um die Längsachse setzen das von ihm gewonnene klinische Bild zusammen, das seiner Meinung nach eine Mittelstellung zwischen Hund und Katze einnimmt). Dieser Ansicht wird man zustimmen müssen, denn auch bei unsern Kaninchen traten die Reizerscheinungen weit intensiver hervor als bei unsern Hunden. Kaninchen 13 hatte nach einer Woche bei einem Konsum von 1,9 Atoxyl ausser allgemeiner Schwäche noch Ataxie und schlaffe Parese der Hinterbeine. Bei Kaninchen 14 zeigte sich während der :9%/a Monat dauernden Vergiftung ein wechselndes Verhalten. Nach lltägiger Vergiftung entwickelte sich eine Ataxie und Schwäche der Extremitäten. Das Tier konnte nicht mehr springen, sondern nur noch kriechen, die Reflexe waren erhöht, und es bestanden Spasmen. Sogar ein Opisthotonus hatte sich eingestellt, so dass das Tier den Kopf unausgesetzt steil nach oben gerichtet hielt. Dann verschwanden in den nächsten Wochen die Ataxie und der Opisthotonus, während ‚die spastische Parese der Extremitäten und die Unfähigkeit zu springen blieb, um in den letzten Lebenswochen unter Wieder- auftreten der Ataxie eine Steigerung zu erfahren. Kaninchen 15 bot ein teilweise noch extremeres Bild dar. Nach ca. 1!/s monat- licher Vergiftung war das Tier nicht nur abgemagert und ataktisch geworden, sondern hatte auch einen Wackeltremor des Kopfes und eine so kolossale Steigerung der Reflexerregbarkeit, dass es bei leichtem Berühren oder bei einem Schlag auf den Tisch zusammen- zuckte und um die eigene Längsachse auf dem Tische weiter rollte, bis es an ein Hindernis stiess. Nach mehrmonatlicher Besserung der Erscheinungen trat eine Verschlimmerung ein; es entwickelte sich eine spastische Parese der Hinterbeine, die Ataxie nahm zu, die Springfähigkeit war ganz erloschen, die Konvulsionen stellten sich wieder ein, so dass das stark abgemagerte Tier nach 8!/;, Monaten ‚getötet werden musste. So sehen wir denn, dass auch bei den 1) Es sei hier darauf hingewiesen, dass Räthig (Frankfurter Zeitschr. f. Path. 1909) an Mäusen durch Injektionen von Arsacetin dauernde Kreisbewegungen hervorrufen konnte, wie man sie bei den japanischen Tanzmäusen sieht. Ataktisch wurden die Tiere nicht. Bei der anatomischen Untersuchung fanden sich geringe, aber deutliche Veränderungen an den Zellen des Deiter’schen Kernes sowie des dorsalen und ventralen Acusticuskernes. Dazu kam noch eine konstante Marchi-Degeneration im N. vestibularis und bei zwei Tieren auch im N. opticus. 42, Georg Köster: chronisch mit Atoxyl vergifteten Kaninchen sich Ataxie und Reflex- steigerung einstellen wie bei dem Menschen, nur dass die Neigung zur Entwickelung von Spasmen beim Kaninchen grösser ist. Wir werden uns aber stets zu vergegenwärligen haben, dass wir, abgesehen von der unzweifelhaft verschiedenen Disposition der Tierspezies, beim Menschen ängstlich darauf bedacht sind, jede kleine Intoxikations- erscheinung zu vermeiden, beim Tierexperiment aber das Bild der ‚Vergiftung so intensiv wie möglich herauszuarbeiten. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass der Zufall in Zukunft noch Krankheits- bilder von chronischer Atoxylvergiftung des Menschen entstehen lässt, die den experimentell erzeugten auch bezüglich der Entstehung von Spasmen oder spastischen Paresen gleichen. Denn dass die lebhafte: Steigerung der Sehnenreflexe bei unseren und den Patienten anderer Autoren kein Zufall ist, bedarf wohl nach der Darlegung unserer experimentellen Erfahrungen keines Hinweises mehr. Bei einer Katze erhielt Igersheimer nach akuter Vergiftung (in 5 Tagen 1,1 Atoxyl) eine stark ikterische Verfärbung der Binde- häute, der Schleimhäute und serösen Häute. Wir konnten klinisch niemals eine Läsion der Leber nachweisen. Wohl aber erwiesen sich bei unseren Hunden und Kaninchen die Nieren stets als erkrankt. Denn ich habe in allen Fällen den in der Blase der getöteten Tiere befindlichen Urin untersucht und stets Eiweiss und mehrfach rote Blutkörper sowie hyaline und granulierte Zylinder in ihm gefunden. Zucker fehlte stets. Igers- heimer beschreibt bei einem Hunde die Anwesenheit von blutigem Urin und einem hühnereigrossen Blutgerinnsel in der Blase. Wir erinnern uns hierbei der analogen Beobachtungen am atoxylver- gifteten Menschen und begnügen uns mit der Konstatierung gegen- seitiger voller Übereinstimmung. Wie beim Menschen, so sind auch beim Tier chronische Katarrhe der Bindehäute (Igersheimer Hund 12, unser Hund 1) und trophische Störungen der Haut (Igersheimer Hund 12 Haarausfall, Katze 3 struppiges Aussehen) beobachtet worden. Ähnliche Beob- achtungen habe auch ich gemacht, und die von Igersheimer als. schweres Vergiftungssymptom richtig gedeutete Nahrungsverweigerung ist mir ebenso wie das Auftreten von Diarrhöen oft ein Gegenstand der Sorge gewesen. In schwersten Fällen nahmen die Tiere nicht einmal mehr gewärmte Milch zu sich, sondern nur noch Wasser, so: dass ich mehrfach Jie Tiere töten musste, um nicht das wertvolle Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 48 Untersuchungsmaterial zu verlieren. Dass bei Durchfall der Durst oft erheblich war, wunderte mich nicht, aber ich habe oft beobachtet, dass die Hunde unmittelbar nach einer Atoxylinjektion an ihr Wasser- gefäss gingen und gierig tranken. Die in der klinischen Pathologie gewonnene Erfahrung, dass durch die vorausgegangene Zufuhr eines Giftes eine Disposition gegen- über einem später beigebrachten andersartigen Gifte geschaffen wird, suchte ich für die Erzeugung eines besonders ausgesprochenen klinischen Bildes der Atoxylvereiftung zu verwenden. In der Anamnese der mit Atoxyl vergifteten Menschen findet sich mehrfach, unter anderem auch bei unseren Fällen, ein Abusus alcoholieus. Da der chronische Missbrauch des Alkohols sowohl das Nerven- system als auch die inneren Organe in mikroskopisch nachweisbarer Weise schwer schädigen kann, so durfte man hoffen, auch experimentell bei Zuführung von Alkohol und dann von Atoxyl eine besonders reiche Ausbeute in klinischer und anatomischer Hinsicht zu erhalten. Daher erhielt Hund 1 zunächst durch 5 Monate täglich in allmäh- lichem Anstieg erst 30, dann 50 und 70 g Fuselschnaps und einen weiteren Monat hindurch täglich SO g Alkohol und 0,05 Atoxyl. Im ganzen verbrauchte der Hund 3962 g Fuselschnaps, ohne dass ausser den Erscheinungen des akuten Rausches etwas Abnormes an ihm beobachtet werden konnte. Im Gegenteil schien sich der Hund auf sein Alkoholquantum zu freuen, liess sich willig den Magenschlauch einführen und nahm an Körpergewicht erheblich zu. Auch in den nächsten 4 Monaten, in denen er täglich 0,1—0,2 Atoxyl injiziert erhielt, war er sehr munter und bei Appetit. Erst in den letzten 6 Lebenswochen erkrankte er und bot das Krankheitsbild, das ich oben beschrieben habe. Dass die Symptomatologie dieses 1 Jahr und 2 Wochen beob- achteten Hundes wesentlich reichhaltiger gewesen wäre als das der anderen zum Teil erheblich kürzer vereifteten Tiere, kann ich nicht behaupten. Und das Gleiche gilt auch für den anatomischen Befund, worauf ich weiter unten zurückkommen werde Wie Birch- Hirschfeld und ich aber bereits in unserer, den okulären Störungen gewidmeten Arbeit hervorhoben, verhält sich der Hund dem Alkohol gegenüber vielleicht anders als der Mensch, und vielleicht würden weitere, jedenfalls aber sehr zeitraubende Versuche über die dispo- nierende Eigenschaft des Alkohols an anderen Hunden ein positiveres. Resultat ergeben. 44 Georg Köster: Wir wenden uns nunmehr zur Schilderung der von anderen Autoren und uns erhobenen anatomischen Befunde. Igersheimer beobachtete, dass Kaninchen durch aufsteigende Dosen Atoxyl (0,05—0,3) anämisch wurden, und dass ein Sinken (des Hämoglobingehaltes und der roten Blutkörper eintrat. Er sah Polychromatophilie, Anisocytose und Poikilocytose, während eine Leukocytose nicht eintrat. Bei einem Kaninchen kam es zu Leuko- penie, wobei sich das Verhältnis der polynukleären zu den mono- nukleären Formen sehr zuungunsten der ersteren änderte. Auch erwähnt er einen menschlichen Fall, bei dem Leukopenie und Eosinophilie eintrat. Schlecht fand bei seinem akut vergifteten Patienten sowohl den Untergang von roten Blutkörpern, als auch Polyeythämie und Leukocytose. Stieker!) hat im Gegensatz zu Igersheimer nach kleinen Atoxylinjektionen eine Vermehrung der neutrophilen Leukocyten beim Hund beobachtet. Ich selbst habe leider keine systematischen Zählungen der Blutkörper bei meinen Hunden und Kaninchen vorgenommen, darf aber nicht unerwähnt lassen, dass ich von der oft grossen Zahl der neutrophilen Leukocyten in den prall gefüllten Gefässquerschnitten (bei Hund 2, 3, 4, Kaninchen 14, 15) überrascht war. Fast in jedem Gefässquerschnitt begegnete ich weissen Blutkörpern mit verschieden geformtem Zell- inhalt (Kernteilung oder Degeneration ?), die zumeist nahe an der Wand des Gefässes lagen und mitunter einen wahren Kranz bildeten. Auch vereinzelte eosinophile Zellen wurden gefunden. Die an- scheinende Vermehrung der Leukoeyten traf ich in allen von uns untersuchten Organen (Auge, Gehirn, Rückenmark, Niere, Leber), und auch zerfallene rote Blutkörper habe ich hier und da gefunden. Da ich aber keine Untersuchungen über das Zahlenverhältnis von weissen und roten Blutkörperproben bei Hund und bei Kaninchen angestellt habe, so kann ich zur Entscheidung der Frage, ob eine Vermehrung der Leukocyten auf Grund der Atoxylvergiftung bei diesen Tieren stattfindet, nichts Entscheidendes beitragen. Immerhin glaubte ich, da der Befund konstant ist und des Interesses nicht entbehrt, ihn nicht einfach ignorieren zu dürfen. Im Darmkanal habe ich makroskopisch nur bei Vorhandensein starker terminaler Diarrhöen die bekannten Bilder der Schleimhaut- schwellung und Hyperämie gefunden, und ich kann Igersheimer 1) Sticker, Berliner klin. Wochenschr. 1908 S. 1391. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 45: zustimmen, wenn er Blutungen in den Darm bei der chronischen Atoxylvergiftung für selten hält. Wenn sie einmal angetroffen werden, sind sie geringfügig. Bei seinem akuten Fall fand Schlecht die Schleimhaut des: Magens grau und verdickt, aber gut erhalten. An einigen Stellen. waren Blutungen vorhanden. Das Duodenum und die ersten 2!/, m des Dünndarmes zeigten Melanose, die Schleimhaut des Ileums war dünn, und der Dickdarm hatte in der Submukosa eine starke Venen- füllung. Am Herzen habe ich makroskopisch nie etwas Abnormes beob- achten können, während Igersheimer beim chronisch vergifteten Hunde fleckige Blutungen in den Trabekeln und einzelne auch in der Herzwand sowie subendokardial in der Nähe der Aortenklappen fand. Mikroskopisch nachweisbare Blutungen begegneten mir aber mehr- fach (Heidenhain-Eosinfärbung). Die Muskelfasern waren durch die Blutergüsse auseinander gedrängt (Hund 2 und 5), und bei Hund 1 und 2 erwiesen sich zahlreiche Muskelfasern als fettig degeneriert (Flemming-Safraninfärbung). Dicht gedrängte Fett- tröpfchen erfüllten, besonders in der Nähe der Sarkolemmkerne, die Muskelfasern an vielen Stellen. Auch Igersheimer erwähnt bei einer chronisch vergifteten Katze und einem akut vergifteten Hunde einen ähnlichen Befund, fügt aber bei letzterem hinzu: „pathologisch?“ Ich halte den Fettnachweis im Herzfleisch unserer Hunde für eine direkte Atoxylwirkung. Denn abgesehen davon, .dass der histologische Befund dem gewöhnlichen Bilde einer fettigen Degeneration des Muskels entsprach, so wäre bei Annahme eines physiologischen Zu- standes nicht zu verstehen, warum nicht alle Hunde die Fetttröpfehen im Herzmuskel zeigten, auch solche nicht, die nie mit Atoxyl in Berührung gekommen waren, deren ich mehrere vergeblieh daraufhin untersuchte. Die Herzen unserer 5!/2 resp. 8!/s Monate vergifteten Kaninchen liessen keine Verfettung, wohl aber Blutaustritte (Kaninchen 15) erkennen. Durch akute Vergiftung mit Atoxyl wird das Herz offen- har schwerer geschädiet, denn Sehlecht fand die Herzmuskulatur seiner Kranken sehr schlaff, von rosabräunlicher Farbe und unter dem Endokard überall feinste strieh- und punktförmige Blutungen. Wie ich bereits im klinischen Teile dieser Arbeit ausgeführt habe, ist es meine Überzeugung, dass das Atoxyl die Myokarditis unseres Kranken F]. Heinrich verschlimmert und beschleunigt hat. Wenn 46 Georg Köster: wir wissen, dass Herzschwäche, Blutungen in den Herzmuskein, fettige Degeneration der Fibrillen durch Atoxyl bewirkt werden kann, so werden wir in dieser Annahme nichts Erzwungenes finden. Wissen wir doch, dass bei schon vorhandener luetisch bedingter Opticus- atrophie durch eine Atoxylbehandlung in kürzester Zeit volle Fr- blindung herbeigeführt wird. Weit intensivere Veränderungen als im Herzen sind von uns und später von Igersheimer an der Leber festgestellt worden. Bei den Hunden dieses Autors waren entweder nur an einigen wenigen Stellen die Leberzellen verfettet oder waren herdförmig ziemlich reichlich mit Fett infiltrier. Auch eine kleine Blutung in das im übrigen unveränderte Leberparenehym konnte er beobachten, ebenso bei einer Katze ausser herdweiser Verfettung als Zeichen der Degeneration eine Kernarmut der Leberzellen. Bei unserem Hund 1 und 2 fiel die Verfettung durch die gelblich-Neckige Farbe und den Fettbeschlag des Messers schon bei der makroskopischen Untersuchung auf. Dementsprechend war auch die mikroskopische Ausbeute reichlich. Die Aecini zeigten sich diffus durch die ganze Leber stark fettig infiltriert, so dass die dazwischen liegenden, relativ fettfreien Acini die Minderzahl bildeten. Das meiste Fett sammelt sich in den peripheren Teilen der Acini an, oft war freilich die Häufung des Fettes um das zentrale Gefäss herum am intensivsten. Die Leberzellen waren stellenweise trüb gequollen und der Kern dann undeutlich, anderseits in stark fettig infiltrierten Zellen ganz scharf erkennbar. Die Epithelien der Gallengänge wiesen bei Hund 1 mehrfach fettige Degeneration auf und in den Blutgefässen der Leber fand ich bei Hund 1 und 2 oft Fetttropfen von verschiedener Grösse (Flemming- Safraninpräparate). Während Hund 3 nur vereinzelte Fetthäufungen in den Aeinis erkennen liess, bei makroskopisch normalem Verhalten der Leber, war bei Hund 4 und den untersuchten Kaninchen weder bei der groben noch bei der histologischen Untersuchung etwas Abnormes zu finden. Dass auch starke Hämorrhagien in der Leber beim Kaninchen vorkommen können, beweist eıne Beobachtung Blumen- thal’s (Kaninchen 18). In keinem Falle, auch nicht in den schwer geschädigten Lebern von Hund 1 und 2 konnte ich mit der Heiden- hain-oder mit der Mallory- Färbung eineWucherung desBindegewebes konstatieren. Das anatomische Bild unseres Falles Fl. Heinrich kann ich nicht zum Vergleiche heranziehen, weil es durch die nach- Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 47 gewiesene alte Lues völlig beherrscht wird. Aber der Schlecht’sche Fall akuter Atoxylvergiftung des Menschen gab einen histologischen Befund, der sich von dem unserer Atoxylhunde nur durch die stärkere Entwicklung seiner anatomischen Details unterscheidet. In der Leber schienen die Veränderungen überhaupt am hochgradigsten zu sein, denn Schlecht beschreibt eine grosse, weiche, ockergelbe Leber und histologisch trübe Schwellung und fettige Degeneration der Leberzellen, starken Zerfall von roten Blutkörpern und Haemo- siderose — alles Erscheinungen, wie sie bei der Arsen- und Phosphor- vergiftung gefunden werden. Ebenso wie bei den Sehädigungen der Leber ergibt sich auch bei denen der Niere eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Mensch und Tier, nur dass die Niere des Hundes anscheinend noch empfindlicher auf Atoxyl reagiert als die des Menschen. Wir er- innern uns der klinischen Befunde von seiten der Niere bei Mensch und Hund (Eiweiss, Zylinder, Blut in Urin), begegnen aber auch schweren Atoxylvergiftungen (z. B. unser Fall Fl. Heinrich), bei denen eine Schädigung der Nieren nicht stattgefunden hat. Dieser Kranke hatte kein Eiweiss im Urin, und ausser einer leichter Granu- lierung und schweren Abziehbarkeit der Nierenkapsel waren keine Abweichungen von der Norm zu verzeichnen. Der Schlecht’sche (akute) Fall wies grosse, weiche, sehr blutreiche und schlaffe Nieren auf von glatter Oberfläche. Auch hier war die Kapsel schwer ab- zuziehen, und die Rinde zeigte an den Polen eine gelbe Fleckung im inneren Abschnitt. Die Degenerationen in den Nieren der akut atoxylvergifteten Katze beschreibt Igersheimer folgendermaassen: Fpithelien der gewundenen Harnkanälchen grösstenteils deseneriert (Kernarmut), die der geraden meist gut erhalten. Im Kapselraum vieler Glomeruli desquamierte Epithelien. Keine pathologische Fettvermehrung. Bei der chronisch vergifteten Katze (Igersheimer, ]. ec.) im grossen und ganzen Epithelien gut erhalten, nur in der äussersten Rinden- schieht Kernarmut. Sehr reichliche Fettablagerung in der Rinde, aber auch im Mark, geringe, aber sichere auch in den Glomeruli. Reichliche Rundzellenanhäufungen in der Rinde. Einzelne Glomeruli mit Exsudat (Eiweiss) erfüllt. Blutfüllunge nicht stark, nirgends Hämorrhagien. Ähnliche Veränderungen und dazu Blutungen sah dieser Autor in den Nieren von chronisch vergifteten Kaninchen und Ratten. Auch 48 Georg Köster: Blumenthal beobachtete noch früher als Igersheimer bei Kaninchen in fünf Fällen schwere hämorrhagische Nephritis. Noch stärker als bei Ratten und Kaninchen sind bei den Hunden die Nierenblutungen, die zuerst von Blumenthal!), dann von uns?) und schliesslich von Sticker und von Igersheimer beschrieben wurden. Diese Blutergüsse sind von allen Autoren sowohl bei akuter als bei chronischer Atoxylvergiftung schon makroskopisch beobachtet. worden, und zwar besonders in der Grenzschicht zwischen Rinde und Mark. Auch der Blutreichtum des Organs ist schon bei oberfläch- licher Betrachtung den Untersuchern stets aufgefallen. Igersheimer,, der sich eingehend mit den Nierenveränderungen befasst, meint, dass die Blutungen beim Hunde durchaus im Vorgergrunde des patho- logisch-anatomischen Bildes stehen. Als Durchsehnittsbild führt er den Befund des Hundes 12 an, bei dem die Niere äusserlich stahlblau und die Kapsel enorm ge- spannt war. Die Grenze zwischen Mark- und Rindenschicht war ganz Schwarzbraun verfärbt, die Zeichnung verwischt und das Nieren- becken voll Blut. Mikroskopisch konnte er die Hämorrhagie be- stätigen, innerhalb deren die Harnkanälchen nahezu verschwunden waren. Die restierenden Kanälchen sind unter dem Druck der Blut- massen atrophisch geworden. An der Grenze zwischen Rinde und Blutungszone lagen wallartie Leukocyten und Kerntrümmer. Kleine Blutherde waren schon subkapsulär anzutreffen, reichlichere in der Rinde. Die Fpithelien der Harnkanälchen waren auch ausserhalb des grossen Blutherdes degeneriert und verfettet, auch im Mark. Nur die Glomeruli waren frei von Verfettungen. In den Kapsel- räumen der Glomeruli, in den gewundenen Harnkanälchen und im Papillengebiete fanden sich zum Teil eosinrot gefärbte Exsudatmassen. Thromben waren in den prall gefüllten Gefässen nicht zu sehen. Die Nierenveränderungen bei der akuten Atoxylvergiftung waren nur; dureh das Fehlen einer fettigen Degeneration der Epithelien von denen der chronischen unterschieden. Hier fand sich nur der beim Hunde gewöhnliche Fettgehalt der Epithelien. Bindegewebswucherung sah er niemals. Soweit die Ausführungen Igersheimer’s. 1) Blumenthal, Über die Anwendung des Atoxyls in der inneren Medizin. Mediz. Klinik 1907 Nr. 12. 2) A. Birch-Hirschfeld und G. Köster, Zur pathologischen Anatomie: der Atoxylvergiftung. Fortschr. d. Med. 1908 Nr. 22. i Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 49 In unserer vorläufigen Mitteilung vom Jahre 1908 berichteten Bireh-Hirschfeld und ich in den Nieren des Hundes nur von fettiger Degeneration der Epithelien, Verstopfung der Harnkanäle mit zahlreichen Fettkörnchenzylindern und ausgedehnten Hämorrhagien. Seitdem haben sich die Befunde wesentlich erweitert. Die Ver- änderungen in den Nieren der Kaninchen sind, wie ich in Überein- stimmung mitIgersheimer konstatieren muss, tatsächlich wesentlich geringer als bei den Hunden. Zwar konnte dieser Autor einmal 5 Minuten nach intravenöser Injektion von 0,2 Atoxyl in der Niere eines Kaninchens eine streifige Hämorrhagie nachweisen. Ich glaube aber nach unseren Befunden am Kaninchen nicht, dass diese enorm frühe Schädigung der Regel entspricht. Denn unsere 5'/s und S!/s Monate vereifteten Kaninchen zeigten zwar schwere Nierenveränderungen, aber die Blutergüsse in den Nieren waren nicht so gross, wie man sie nach einer derartig langen Vergiftungsdauer und bei der An- wesenheit anderweitiger ernster Symptome vielleicht hätte erwarten dürfen. Die Blutergüsse waren an der Grenze zwischen Mark und Rinde der Nieren zahlreich, aber von mässiger Ausdehnung. Sie trugen einen frischen Charakter, denn sie hatten das Nierenparenchvm einfach verdrängt oder vernichtet, ohne dass es zu einer Leukocyten- anhäufung oder einer reaktiven Bindegewebsentwicklung gekommen wäre. Dieser Befund steht in offenbarem Gegensatz zu der von Igersheimer beobachteten, fast momentanen Nierenblutung. Es gibt eben auch Kaninchen, deren Nierengefässe lange Zeit gegen Atoxyl tolerant sind. Die Nierenepithelien sind oft trübe geschwollen verfettet und lassen die Zeichnung nur schwer erkennen, aber neben den gequollenen oder atrophischen und ihres Kernes beraubten Parenchymabschnitten liegen solche mit klarer Zeichnung. In den gewundenen und geraden Harnkanälen liegen hyaline und Körnchen- zylinder, letztere hier und da mit Fetttröpfehen durchsetzt. Auch in den Gefässquerschnitten (Venen) fanden wir Fetttropfen von ver- schiedener Grösse. An Färbungen habe ich verwendet: Eisenlack- Eosin mit Flemming-Safranin und Mallory-Färbung. Die Läsionen der Nieren beim Hunde, insbesondere die Blutungen, waren freilich weit grösser als die des Kaninchens. Schon bei der Sektion konnte man bei grober Prüfung bei allen Hunden die aus- gedehnten Blutungen an der Grenze zwischen Rinde und Mark und überhaupt die starke Hyperämie des ganzen Organes erkennen. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 4 50 Georg Köster: Hund 4 zeigte ähnlich wie die akut vergifteten Hunde Igers- heimer’s keine Verfettungen der Epithelien, wohl aber ausser den erwähnten frischen hämorrhagischen Infarkten kleine Blutungen in die Glomeruli. Die Nierenarterien waren bis in die Glomeruli hinein strotzend gefüllt. Die trübe Schwellung der Nierenepithelien und ihre mechanische Schädigung durch die Blutergüsse boten nichts Ungewöhnliches. Bei den chronisch vergifteten Hunden 1—3 fanden sich in jeder Hinsicht noch gewaltigere Veränderungen. Bezüglich der individuell verschiedenen Details verweise ich auf die Kranken- geschichten der Tiere. Zusammenfassend sei aber hervorgehoben die ausserordentliche Ausdehnung der Blutergüsse, die zum Teil frischen Datums, zum Teil aber schon älter sind. Bereits bei Anwendung der Heiden- hain- Eosinfärbung fielen eine Reihe von Stellen auf, die der Herd alter Blutungen zu sein schienen. An diesen Stellen fanden sich ausser zertrümmerten Blutkörpern sowohl junges als altes Binde- gewebe, kenntlich an den runden resp. langgestreckten Kernen vor. Da aber bei der gleichmässigen Schwarzfärbung von Blut und Binde- gewebskernen immer noch ein Irrtum möglich und die Annahme einer Bindegewebsvermehrung hinfällig gewesen wäre, verwendete ich die Mallory-Färbung. Bei dieser färbt sich das Bindegewebe blau, und so sah man, dass in der Tat im Gegensatz zu Igersheimer an den Stellen älterer Blutungen, zumal an der Grenze zwischen Mark und Rinde, dicke Züge welligen Bindegewebes sich entwickelt hatten, in deren Bereich das Nierenparenchym ganz untergegangen oder nur in Resten zu treffen war. Die Bindegewebswucherung streckte sich weit in die Rinde hinauf und eine Streeke weit in das Mark hinab, ja sogar der normalerweise sehr zarte Überzug der Rinde war verdickt. Auch leuchtend rot gefärbte elastische Fasern waren unter dem blau gefärbten Bindegewebe anzutreffen. Ausser den grossen hämorrhagischen Infarkten fanden sich sowohl im Papillengebiete als auch in der Rinde und den Glomerulis kleinere Blutungen. Vielfach waren die Glomeruli geschrumpft und an- scheinend geplatzt. Denn der grösste Teil des für den Glomerulus bestimmten Raumes war mit einem dureh die Mallory-Färbung rötlich bis violett gefärbten homogenen Inhalt erfüllt. Die Nierenepithelien waren vielfach trüb geschwollen und zum Teil in allen Abschnitten der Niere, auch in den Glomerulis, so stark verfettet, dass der patho- Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 51 logische Charakter der Fettanhäufungen gar nicht diskutiert zu werden braucht. Der Untergang des Nierenparenchyms (Schrumpfung, Kern- schwund oder völlige Auflösung) gab zu sekundären Bindegewebs- wucherungen e vacuo Veranlassung. Die Anhäufung von Fett in den Gefässen (Arterien und Venen) war bei den Hunden 1—3 grösser als bei den übrigen Tieren. Das in den Venen angetroffene Fett entstammte wohl den Nieren selbst, während das Fett in den Arterien im grossen arteriellen Kreislauf in die Niere gelangt sein musste. Diesem kann es entweder durch die Niere selbst oder durch die Lebervenen zugeführt worden sein. Wirkliche Fettembolien der kleinsten Nierenarterien haben wir nicht beobachtet. Die sehr reich- lichen Zylinderbildungen waren entweder hyaliner Natur (nach Mallory leuchtend rot, magentarot, lila oder blau gefärbt), oder es handelte sich um Körnchenzylinder (hell bis dunkel magentarot), die mit Epithelien oder Fetttröpfehen besetzt waren. Mehrfache Schnitte, die von der makroskopisch stets unveränderten Milz unserer Hunde und Kaninchen angefertiet wurden (Zenker- fixierung, Heidenhain-Eosinfärbung), zeigten den Blutreichtum des Organs und einen partiellen Untergang der Follikel beim Hunde, während sich beim Kaninchen ein mässiger Grad von Hämosiderose (Untergang roter Blutkörper) fand. Blockweise Serienschnitte wie bei den anderen Organen habe ich von der Milz nicht angelest. Schlecht's Patient wies starken Zerfall der roten Blutkörper und Hämosiderose der Milz auf. Igersheimer hat systematisch auch die Milz untersucht und beim Hund mangelhafte Entwicklung der Keimzentren, verstreut degenerierte Lymphocyten, Kerntrümmer bei akut vergifteten Hunden gefunden, während bei chronischer Ver- eiftung starke Degeneration in der Mitte der Follikel und vereinzelte in der Pulpa im Vordergrund standen. Bei der akut vereifteten Katze traf er neben nur vereinzelten Lymphocyten gequollenes Retikullum und in jedem Follikel hyaline Kugelklumpen, bei chronischen vergifteten Katzen Zellarmut, Verstärkung des Retiku- lums. Beim Kaninchen und der Ratte sah er „reichliche Anhäufung von eisenhaltigem Pigment“. Ganz besondere Sorgfalt widmete ich der Durchsuchung des Nervensystems, weil ja sehr viele Symptome der Atoxylvergiftung eine Schädigung desselben von vornherein erwarten liessen. Bei allen unseren Versuchstieren habe ich die peripheren Nerven 4 * 59 Georg Köster: nach Marechi oder Flemming behandelt, aber stets erfolglos nach einer Neuritis gefahndet. Auch der 5 Monate lang zuvor mit Alkohol vergiftete Hund 1 zeigte nur dieselben geringfügigen Veränderungen wie die übrigen Versuchsobjekte.e Entweder fanden sich nur die bei allen Marchi- Färbungen physiologisch auftretenden schwarzen Kügelchen, teils am Rande, teils in der Mitte der Nervenfaser, aber immer auf der Markscheide. Oder man stiess auf gelegentliche kurze Strecken, wo 2—4 reihenweise geordnete geschwärzte Schollen als Ausdruck eines geringfügigen Markscheidenzerfalles lagen. Der Achsenzylinder war hierbei intakt. Vermutlich hat Igersheimer ein ähnliches Bild! im Auge, wenn er von einer geringen Marchi-Degeneration im peri- pheren Nerven spricht. Wenn sich dieser Befund auch bei allen. chronisch vergifteten Tieren in den verschiedensten peripheren Nerven wiederholte, so kann von einer peripheren Neuritis doch keine Rede sein. Die degenerierten Markscheidenpartien sind allerdings zu häufig, um sie als die von Siegmund Mayer!) gefundene physiologische. Degeneration des Nerven anzusprechen, anderseits aber zu gering- fügig, um eine toxische periaxiale Nervenentzündung im Sinne Gombault’s anzunehmen. Immerhin zweifeln wir nicht, dass wir es hier mit einer durch das Atoxyl bewirkten Schädigung der Mark- scheiden zu tun haben. Denn das Gift gelangt im Kreislauf zu allen Teilen des Nervensystems, nur dass die peripheren Nerven offenbar: relativ widerstandsfähig sind. Die Gombault’sche Entdeckung, dass die Markscheide der primäre Angriffspunkt bei toxischen Neuri- toden ist und der Achsenzylinder zunächst intakt bleibt, wird jeden- falls durch unsere Wahrnehmungen für das Atoxyl bestätigt. Es sei hier der Hinweis erlaubt, dass ich bei meinen experimentellen Unter- suchungen über die chronische CS,-Vergiftung an Kaninchen nach häufiger Einatmung des Schwefelkohlenstoffes ganz ähnliche Befunde erheben und ähnliche Schlüsse ziehen musste. Dort wie auch hier beim Atoxyl wiesen die klinischen Erscheinungen viel gebieterischer auf zentrale Läsionen hin. Von nervösen peripheren Organen wurden noch die Spinal- sanglien untersucht und ergaben eine Reihe von degenerativen Ver- änderungen, wobei wiederum die Hunde die Führung übernahmen. Bei 1) S. Mayer, Virchow’s Arch. 1831. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 53 Hund 1 fanden wir eine kleine Zahl von Zellen fettig degeneriert. Diese diffuse Durchsetzung mit feinen schwarzen Körnchen (Flemming- Safraninfärbung) ist nicht zu verwechseln mit der beim Hund auch beobachteten polaren Anhäufung lipochromer Elemente. Erstens sind die echten Fetttröpfehen direkt schwarz, während die lipo- chromen Substanzen bräunlich aussehen, und zweitens liegen letztere im Gegensatz zu den diffus durch alle Ebenen des Zelleibes ver- streuten Fetttröpfchen an einer Stelle in einem traubenartigen Klumpen beisammen. Der Kern der fettig entarteten Zellen war öfters zackig geschrumpft oder gequollen. Auch die durchziehenden Nervenfasern waren vielfach .spindelförmig aufgetrieben und grau bis schwarz gefärbt, ohne Schollen zu enthalten. Mit der Eisenlack- Eosinfärbung und der Nissl-Held’schen Färbung liessen sich die gewohnten Bilder der verschiedenartig kombinierten Degeneration von Kern und Protoplasma bis zum völligen Zelluntergang und ent- sprechender Zuwucherung des Zellraumes durch die Korbzellen nach- weisen. Bei den übrigen Tieren (Hund und Kaninchen) fehlte die fettige Degeneration, dagegen waren die chromatolytischen Ver- änderungen und die Vakuolen des Zelleibes sowie die Kern- entartungen verschieden vereint und abgestuft vorhanden. Bezüglich der Einzelheiten verweise ich auf die Protokolle. Sehr ausgesprochene und zum Teil recht schwere Destruktionen ergab die Untersuchung des Zentralnervensystems. Zuvor sei noch der Igersheimer’sche Befund an atoxylvergifteten Katzen er- wähnt. Dieser Autor fand chromatolytische Zustände vom geringen bis zum höchsten Grade, Protoplasmaschwund, Vakuolisation, Neurono- phagie, Kernschrumpfung, Chromatophilie und die schwersten Ver- änderungen im Thalamus. Irgend eine Faserdegeneration im Rücken- mark vermochte er nicht festzustellen. Dagegen sagt er, dass eine heftige Degeneration der Zellen sehr wahrscheinlich, doch nicht sicher nachzuweisen sei, weil das Gehirn in 96%o Alkohol konserviert war. Mir ist es nicht klar, wie Igersheimer an alkoholfixiertem Material so feine Vorgänge wie die fettige Degeneration von Gehirnganglien- zellen überhaupt nachweisen will. Ich halte es zwar für möglich, aus den riesigen Vakuolen in den Leberzellen eines in Alkohol fixierten Leberstückes auf extrahiertes Fett zu schliessen, aber die Fetttröpfchen in den Ganglienzellen des Zentralorganes sind stets so klein, dass man die bei extrahierten Fixierungen etwa entstehenden 54 Georg Köster: Vakuolen entweder nicht deutlich sieht oder aber nicht entscheiden kann, ob nicht die winzigen Lücken ganz gewöhnliche Vakuolen vorstellen. Selbst bei der beispielsweise angeführten Leber würde als Gegenprobe eine Osmiumfärbung notwendig sein. Zum Nach- weis der fettigen Degeneration in den ganglionären Elementen des Gehirns und Rückenmarkes ist aber eine Osmiumfärbung ganz un- erlässlich wegen der ausserordentlichen Subtilität des histologischen Vorganges, wegen der hohen Beweiskraft der osmierenden Färbungen und wegen der grossen Unzuverlässigkeit der Sudanfärbung am frischen Präparat. Das Zentralnervensystem seiner Kaninchen und Ratten hat Igersheimer nicht untersucht; wenigstens ist dies aus seinen Ausführungen, in denen er nur vom klinischen Bilde spricht, nicht ersichtlich. Dasselbe gilt von dem Zentralnervensystem des Hundes, dessen histologische Prüfung nicht erwähnt wird, während die anatomischen Störungen der inneren Organe ausführlich erforscht wurden. Es will uns scheinen, als ob die Anwesenheit nervöser Symptome bei der Katze und die der Nierenerscheinungen beim Hund von vornherein bei Igersheimer für die Richtung seiner Untersuchung bestimmend gewesen sei. Aus seinen Schlusssätzen geht dies offenbar hervor, wenn er sagt: „Für die Atoxylvereiftung beim Hunde sind charakteristisch die schweren Nierenblutungen“ und ferner: „Die Katze reagiert auf Atoxylverabreichung mit stets wiederkehrenden nervösen Symptomen, als deren Sitz das Zentral- nervensystem anzusehen ist.“ Dagegen haben Igersheimer und Rothmann die Organe und das Zentralnervensystem von atoxyl- vergifteten Hunden, Kaninchen und Katzen chemisch auf ihren As- Gehalt untersucht und berichten, „dass beim Kaninchen und Hund ziemlich ansehnliche As-Mengen in den Organen gefunden wurden, während in den inneren Organen der Katze sich nur Spuren As fanden. Dagegen waren Rückenmark und Gehirn der Katze arsen- haltig, Zentralnervensystem des Hundes dagegen arsenfrei!). Das Vorwiegen des As im Nervensystem der Katze einerseits und in den inneren Organen des Hundes anderseits steht in gutem Einklang mit den klinischen und pathologisch-anatomischen Befunden bei diesen beiden Tiersorten.“ Dass Igersheimer und Rothmann 1) Igersheimer und Rothmann, Über das Verhalten des Atoxyles im Organismus. Hoppe-Seyler’s Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 59. 1909. Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 55 im Zentralnervensystem des Hundes kein As fanden, bezweifle ich nicht im geringsten, dass aber dieser Mangel „in gutem Einklang“ zu meinen reichhaltigen und schweren histologischen Veränderungen im Zentralorgane des Hundes stünde, kann ich ebensowenig be- haupten. Weist doch schon die Symptomatologie des atoxyl- vergifteten Hundes nicht nur auf die Untersuchung der inneren Organe, sondern vor allem auf das Nervensystem hin. Und die von mir experimentell erzeugten anatomischen Destruktionen im Zentral- organe des Hundes sind, wie wir sogleich sehen werden, weit schwerer als die durch Igersheimer bei der Katze gefundenen. Es bleibt immer gefährlich, negative Resultate experimentell-pathologischer Untersuchungen vorzeitig für Schlussfolgerungen zu verwenden, diedurch die Macht neuer Tatsachen jederzeit umgestossen werden können. Dass ich glücklicher war als Igersheimer, und klinisch wie anatomisch intensive Störungen des Nervensystems beim atoxyl- vergifteten Hunde zu beobachten Gelegenheit hatte, rechne ich mir gewiss nicht als Verdienst, aber es muss mir an der Feststellung liegen, dass die Igersheimer’schen Thesen über die Verteilung der durch das Atoxyl bewirkten Schädigungen auf die inneren Organe und das Nervensystem bezüglich des Hundes nicht zutreffend sind, und dass der Hund die schwersten Läsionen in Gehirn und Rücken- mark durch Atoxyl erwerben kann, auch wenn Igersheimer in diesen Organen kein As zu finden vermochte. Makroskopisch konnte ich in keinem Falle ausser einer auffallenden Blutfülle etwas Ab- normes am Zentralnervensystem wahrnehmen. Dagegen war die Ausbeute der histologischen Untersuchung sehr ergiebig. Bei allen Hunden erwiesen sich nach Anwendung der Nissl- Held’schen Färbung die Vorderhornzellen in der verschieden- artigsten Weise geschädigt. Bei Hund 4, der nur 10 Tage unter dem Einfluss des Giftes gestanden hatte, sahen bei schwacher Ver- grösserung die motorischen Vorderhornzellen zunächst normal aus. Mit starken Vererösserungen erkannte man aber vielfach eine Klumpung und Überfärbung der ehromatophilen Elemente oder ver- schieden abgestufte Chromatolyse bei gleichzeitiger Quellung oder unregelmässiger Schrumpfung des Kernes, alles also initiale Ver- änderungen. Noch geringer waren die Zelldestruktionen bei Hund 2, bei dem die grossen Vorderhornzellen fast immer ein normales Ver- halten zeigten, während die kleineren Zellen der Seitenhörner öfters 56 Georg Köster: degeneriertt waren. Auch in diesem Falle liessen sich initiale Störungen wie bei Hund 4, vorwiegend partielle Chromatolyse und Klumpung der Nissl-Körper an der Zellperipherie mit geringen Kernalterationen beobachten. Dagegen waren die Destruktionen der Vorderhornzellen bei Hund 1 und 3 erheblich. Hier vereinigten sich die verschiedensten Stadien der Chromatolyse und Vakuolisierung des Zelleibes mit Kernverlagerung- Quellung oder Auflösung bis zum Untergang der ganzen Zelle. Die Bilder der Zellschrumpfung waren ebenso häufig wie die der homogenen Schwellung. Bei Hund 1 befanden sich auch die Vorder- hornzellen vielfach in schöner fettiger Degeneration. In allen Ebenen des Zelleibes, wie das Spiel an der Mikrometerschraube ergab, Jagen diffus verteilte feine schwarze Tröpfchen, die sich von den bräunlich-schwarzen lipochromen Massen eines Zellpoles ohne weiteres unterschieden. Bei den Hunden 1I—3 (Hund 4 wurde daraufhin nicht untersucht) sahen wir nach Marehi-Behandlung auf Querschnitten diffus verstreute verschieden intensiv gequollene und teilweise oder ganz geschwärzte Nerven- fasern. Wo die Fasern längs getroffen waren, z. B. an der hinteren Kommissur, oder wo sie im Schnitt liefen, z. B. die Reflexkollateralen, zeigten sie sich stark varikös aufgetrieben, abgebrochen, zerfallen und grau bis schwarz gefärbt, so dass die einzelnen Auftreibungen wie Perlen einer Kette hintereinander liegen. Dabei war wirklicher Mark- scheidenzerfall nicht in den geschwärzten und temporär geblähten Nervenfasern zu beobachten. Wir hatten also die bereits erwähnte und auch im N. optieus von Birch-Hirschfeld und mir beobachtete Marchi-Reaktion vor uns. Im Hinterstrangbereiche des Brust- markes waren bei Hund 1 und 3 die quergetroffenen Nervenfasern teils atrophisch, teils enorm unregelmässig gequollen und weniger dicht gelagert. Dieselbe unregelmässige Quellung und partielle Schwärzung war in den Fasern vieler hinteren Wurzeln zu sehen. Mit der modifizierten Weigert- Methode (W olters-Kulschitzky) konnte ich bei Hund 1 und 3 eine im unteren Brustmark beeinnende und im mittleren Halsmark sich verlierende Degeneration der Goll- schen Stränge nachweisen. Zu beiden Seiten der hinteren Längs- furche fand sich im hinteren Abschnitt der Goll’schen Stränge eindegenerierteshellesFeld, innerhalb dessen vieleFasern untergegangen, viele erheblich gequollen Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 57 und noch zahlreichere geschrumpftwaren. BeiHundl konnte iehauchimrechtenKleinhirnseitenstrangeine nach dem Halsmark hinauf abnehmeude Rarefikation der Fasern beobachten. Vergleicht man mit diesem Weigert- Befund den auf Marchi-Präparaten des Brustmarkes von Hund 1 und 3 erbrachten Nachweis eines Faserschwundes im Hinterstrang- bereiche, so muss man zu dem Schluss kommen, dass wir bei diesen Hundeneinen wenigstensmehrere Wochenalten DegenerationsprozessdesRückenmarkesvor uns haben. Und wenn man sich weiter erinnert, dass ich ausgesprochene Degene- rationen der Spinalganglienzellen bei denselben Tieren beobachtet habe, so könnte man versucht sein, die Entartung der Hinterstränge mit (der der Spinalganglienzellen kausal zu verknüpfen und von einer ‚experimentell erzeugten initialen Atoxyltabes zu reden, wenn man nicht wüsste, dass das Gift eine Neigung zur Produktion koordinierter Veränderungen besitzt. Wir kennen auch denjenigen Zustand der Spinalganglienzellen nicht, der eine sekundäre Degeneration der Hinterstränge zur Folge haben muss, und konstatierten sehr ähn- liche Zelldegenerationsbilder auch bei den Tieren ohne Hinterstrang- erkrankung. Das eine ist jedenfalls gewiss, dass meine experimentell erzeugten Atoxyldegenerationen der Hinter- stränge prinzipiell übereinstimmen mit deneu bei Nonne’s Patienten. Auch in diesem Falle war makroskopisch nichts an der Medulla zu sehen, und es zeigte sich bei Weigert- Färbung eine leichte, aber deutliche Richtung der Goll’schen Streifen im Hals- und oberen Dorsalmark. Der Einwand, dass es sich bei Hund 1 um eine alkoholisch bedingte Schädigung der Hinterstränge handle, wird dadurch widerlegt, dass Hund 3 die gleiche Veränderung auf- wies, ohne mit Alkohol in Berührung gekommen zu sein. Und nicht nur beim Hund, sondern auch beim Kaninchen (15) erwies sich die Medulla als geschädigt. Denn ich konnte mit der Weigert- Methode bei sonst normalem Querschnittsbilde im Lumbal- und Dorsal- mark mehrfach einen deutlichen Faserausfall in der Lissauer’schen Randzone erkennen. Auf Flemming- und Marchi-Präparaten dieses Tieres zeigte sich an der Eintrittsstelle der hinteren Wurzeln in das Rückenmark mehrfach ein ausgebreiteter Markscheidenzerfall. Und während das gesamte Hinterstrangfeld von diffusen Markballen erfüllt war, enthielt das übrige Rückenmark nur wenige schwarze Schollen. 58 Georg Köster: Die Hinterstränge und die hinteren Wurzeln enthielten viele unregel- mässig gequollene Fasern. Bei diesem 8!/s Monat vergifteten Tiere war es also sehr spät zu einer frischen, ganzinitialen Schädigung der Hinterstränge durch Atoxyl gekommen. Die temporär varikös aufgetriebenen Nervenfasern wurden auch in der Medulla der Kaninchen nicht vermisst, wenngleich sie nicht so zahlreich und intensiv gequollen auftreten wie beim Hund. Und auch die Degeneration der Vorderhornzellen ist nicht so schwer, denn fettige Entartung oder Vakuolenbildung sah ich nie, und neben leichteren Formen der Chromatolyse und kugeliger Kern- quellung fand ich ausser einem guten Teil normaler Zellen nur vielfache Klumpungen der chromatophilen Elemente mit Über- färbung der Zellen. Zellenuntereang ist selten. Aber die Unter- scheidung des letztgenannten Degenerationstypus von den für normal. gehaltenen ist bei diesen Kaninchen insofern nicht leicht, als auch bei den normalen Zellen die chromatophilen Elemente oft dicht ge- drängt liegen, und die rotgefärbte, zwischengeschaltete Masse des- Zelleibes ungewöhnlich schmal ist. Diese Zellen erinnern an den Typus der erregten Zelle, wie wir ihn bei der Strychninvergiftung in exquisitester Entwicklung vorfinden, und bei der ausserordentlich gesteigerten Reflexerregbarkeit und der hervorragenden Disposition unserer Atoxylkaninchen zu Krämpfen liegt es nahe, das histologische Zellbild mit den klinischen Symptomen kausal zu verknüpfen. Auch bei den Hunden begegneten wir diesem Typus der gedrängten und daher dunkler gefärbten Zelle nicht selten, aber doch längst nicht in dieser relativen Ausschliesslichkeit. Die bisher am Gehirn des atoxylvergifteten Menschen be- obachteten Schädigungen sind bald aufgezählt. Schlecht’s akuter Fall hatte in der Grosshirnrinde stellenweise Gliawucherungen und frische degenerative Veränderungen an den Gefässen, die vom Autor selbst für nicht spezifisch gehalten werden. Ich meine, dass die gefundenen Veränderungen des luetischen Patienten spezifisch syphilitisch, aber keine spezifischen Atoxyleffekte gewesen sind. Von unserem Kranken Fl. Heinrich konnten leider nur die Corpora genieulata externa untersucht werden, deren Zellen alle nur möglichen Stadien der Degeneration aufwiesen. Wir fanden bei gut erhaltenem Kern beginnende Klumpung oder Zerstäubung der chromatophilen Elemente, Vakuolisierung des Protoplasmas, völlige Chromatolyse, Kern- Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 59 schrumpfung und Kernzerfall. Bei Nonne’s Patientin war dagegen der Cuneus in jeder Hinsicht normal. Meine bei Hunden und Kaninchen im Gehirn nach Atoxyl- vergiftung nachgewiesenen Zelldestruktionen gleichen denen des Menschen durchaus. Aber wie Birch-Hirschfeld und ich be- reits in unserer Arbeit über die Schädigungen des Auges durch Atoxyl erörterten, haben die Läsionen der Ganglienzellen nichts für Atoxyl Charakteristisches, weil die Nervenzellen bis zu ihrem Unter- gange auf die verschiedensten Noxen stets mit ähnlichen Degenerations- bildern reagieren. Und es wird ferner kein Teil des Gehirnes vor einem anderen gesetzmässig intensiver oder schwächer durch Atoxyl geschädigt, vielmehr ist bei einem Tiere mehr die Rinde, bei einem anderen mehr der Hirnstamm, bei einem dritten Rinde und Stamm gleichmässig betroffen. Auch das Rindengebiet der Sehstrahlung macht trotz der erwiesenen Affinität des Atoxyls zum Sehnerven nach meinen Untersuchungen hiervon keine Ausnahme und kann, wie auch der Nonne’sche Fall beweist, trotz ausgesprochener Ent- artung des Sehnerven ganz normal sein. Aber der Nachweis, dass durecb die experimentelle Atoxylvergiftung die Ganglienzellen und Nervenfasern des Gehirnes in histologisch greifbarer Weise geschädigt werden, ist von fundamentaler Bedeutung für unser Verständnis der Atoxylvergiftung. Dass individuelle oder in der Tierspezies begründete Verschiedenheiten den pathologisch-anatomischen Befund variierend beeinflussen, ist zwar interessant, aber doch nur von sekundärem Wert. Eine besonders starke Schädigung der Zellen des Thalamus, wie sie Igersheimer bei der Katze fand, haben wir bei unsern Tieren nie gesehen. Wohl aber waren die Gehirnzellen bei dem einen Tiere mehr geschädigt als bei einem andern, je nach der Disposition des Tieres und der verbrauchten Atoxylmenge. Die mit der Nissl-Held’schen oder der Heidenhain’schen Färbung bei unserem Versuchsmaterial nachweisbaren Zelldegenera- tionen sind die bekannten verschiedenen Stadien der Chromatolyse (partielle oder totale Auflösung der Nissl-Körper, Klumpung der aufgelösten Nissl-Körper um den Zellkern oder an der Peripherie des Zelleibes) Vakuolenbildung im Protoplasma, Kern- quellung oder Schrumpfung, Schrumpfung oder Auflösung der ganzen Zelle. Ganz analoge Veränderungen fanden sich auch an den Riesenzellen des Kleinhirnes, nur dass hier Chromatophilie 60 Georg Köster: und bandartige Lagerung der geklumpten Nissl- Körper sich mit leichteren Kernläsionen (Quellung und Verlagerung) verbanden. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass auch im Gehirn des nur 10 Tage unter Atoxyleinfluss stehenden Hundes 4 eine Minderzahl von Ganglienzellen, Chromatolyse, Kernquellung oder Schrumpfung und sogar Auflösung des Zelleibes aufwies. Bei den Kaninchen ver- hielten sich die Riesenzellen des Kleinhirns meist normal, doch waren auch nicht wenige chromatolytische und vakuolisierte Zellen mit ent- sprechenden Kernveränderungen zu sehen. Die Grosshirnganglien- zellen der Rinde und des Hirnstammes zeigten dieselben Verände- rungen wie bei den Hunden 1 und 2, also nicht nur chromatolytische Zustände, sondern auch Vakuolisierungen und Auflösungen oder Schrumpfungen der Zellen. Zwischen dem geschrumpften überfärbten Degenerationstypus und den einfach dicht gebauten (erregten) Zellen von anscheinend normaler Beschaffenheit liegen viele Übergangsformen, bei denen allen der mitgefärbte Achsenzylinder eine längere Strecke weit zu ver- folgen ist. Mit der Flemming-Safraninfärbung konnte ich in der Grosshirnrinde der Hunde 1—3 eine fettige Degeneration der Ganglienzellen konstatieren. Während die Verfettung der Rinden- zellen der Hunde an ausserordentlich vielen Zellen nachweisbar war, wurde sie bei den Kaninchen und an den Riesenzellen des Klein- hirns auch bei den Hunden vermisst. Dagegen traf ich bei Hund 1 und 2 an der Grenze zwischen Riesenzellen und Körnerschicht auf kleine runde Zellen, die derart mit feinen schwarzen Tröpfchen erfüllt waren, dass der Kern oft verdeckt wurde. Anscheinend handelte es sich hier um verfettete Zellen der Körnerschicht, ‘obwohl bei Hund 1 an mehreren Stellen wegen der Kleinheit der Zellen und der daher notwendigen dichten Drängung der schwarzen Körner nicht sicher zu entscheiden war, ob eine echte fettige Degeneration oder eine Anhäufung lipochromer Substanz vorlag. Auf dem ganzen Schnitt durch das Gehirn sah man bei den Hunden und in abgeschwächter Form auch beim Kaninchen auf Flemming- oder Marchi-Präparaten zahlreiche feine und aller- feinste Fetttröpfehen im Gewebe verstreut liegen, ohne dass man sie bestimmten Nervenfasern zusprechen konnte. Wahrscheinlich waren ‚diese feinen Tröpfehen die allerersten Ausschwitzungen der initial Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 61 degenerierenden Markscheiden, wie sie z. B. Elzholz!) am zentralen Stumpf durchschnittener peripheren Nerven beschrieben hat. Dass in der Tat das aus den zerfallenen Ganglienzellen und degenerierenden Nervenfasern stammende Fett eine recht ansehnliche Gesamtmenge bereits in der Gehirnrinde darstellt, ergibt sich ohne weiteres aus der Tatsache, dass in den perivaskulären Lymphscheiden vieler Ge- hirnrindenkapillaren (Gross- und Kleinhirn) reichliche Fettanhäufungen in Form verschieden grosser Tropfen bei Hund 1—3 und Kaninchen 15 beobachtet wurden. Dies Fett innerhalb der perivaskulären Lymph- scheiden muss aus dem Gehirn selbst stammen, während das gleich- falls bei den genannten Tieren oft von mir im Innern der Kapillaren und grösseren Gehirnarterien nachgewiesene Fett aus dem grossen Kreislauf stammen muss. Diese echte Fettembolie der Gehirngefässe verdankt vermutlich den fettig entarteten Organen (Niere, Leber) ihre Entstehung. Hiermit ist aber die Reihe der durch das Atoxyl hervorgerufenen anatomischen Veränderungen im Gehirn noch nicht beendet. Denn bei allen Versuchstieren (Hunden und Kaninchen) konnte ich mit der Weigert-Methode (Wolters-Kulschitzky) einen verschieden intensiven Untergang der Tangentialfasern in der Grosshirnrinde feststellen. Oft waren diese Fasern ganz unter- gegangen, oft fehlte nur ein Teil, während der andre abnorme kolbige Auftreibungen aufwies, oft fanden sich varikös geschwollene neben normalen Fasern. Auch die radiär die Rinde durchziehenden Fasern, die unter normalen Verhältnissen nur als feinste Striche sichtbar sind, zeigten die spindelförmigen Verdickungen. Denselben Auf- treibungen und kolbigen Verdickungen begegnete ich an den Nerven- fasern der weissen Substanz bei allen Versuchstieren. Durch die Flemming-Safraninfärbung wurde der Befund der krankhaft ver- änderten Nervenfasern im Gross- und Kleinhirn aller Tiere bestätigt. Sowohl in der grauen Rinde als auch in der weissen Substanz traf ich auf zahlreiche grau bis schwarz gefärbte Nervenfasern, die zum Teil ausserordentlich unregelmässig gebläht und temporär varikös geschwollen waren, aber keine Schollen enthielten. In der Rinde des Kleinhirns waren diese geschwärzten und pathologisch deformierten Fasern weniger zahlreich als in der des Grosshirns, während selbst- 1) Elzholz, Zur Kenntnis der Veränderungen im zentralen Stumpf lädierter gemischter Nerven. Jahrb. f. Psychiat. u. Neurol. Bd. 17. 1898. 62 Georg Köster: verständlich die starken markhaltigen Faserzüge der weissen Substanz eine bequeme Gelegenheit boten zum Nachweis ihrer häufigen De- formierung. Schliesslich darf nicht unerwähnt bleiben, dass ich bei den Kaninchen und bei den Hunden I—3 auch eine fettige Degeneration der Zellen der Plexus Chorioidei beobachten konnte, und dass sich an den verschiedensten Hirnstellen in verschiedener Stärke eine Anhäufung schwarzer Tropfen in und unmittelbar unter der Pia mater fand. Bezüglich der histologischen Details bei den einzelnen Tieren, wozu noch die in dieser Arbeit gar nicht erwähnten, verschieden ent- wickelten anatomischen Destruktionen in Retina und N. opticus kommen, verweise ich auf die Protokolle. Soweit bis jetzt Untersuchungen am Gehirn des Menschen vor- liegen, erfahren sie durch unsere experimentellen Forschungen eine Bestätigung, und ich zweifle nicht, dass durch künftige klinische und ‚anatomische Untersuchungen weiterer Fälle von menschlichen Atoxyl- vergiftungen die weitgehende Übereinstimmung zwischen Mensch und Tier immer von neuem dargetan werden wird. Denn dass bei der grossen, mir freilich nieht recht begreiflichen Begeisterung der Ärzte für dieses „Heilmittel“ noch neue schwere Fälle von Vergiftung zur Beobachtung und Autopsie gelangen werden, ist mir sehr wahr- scheinlich. Nachdem aber nicht nur ich allein gezeigt habe, was für schwere Krankheitsbilder und vielseitige anatomische Schädigungen durch das Atoxyl geschaffen werden können, sollte man ernstlich der Frage näher treten, ob man dies gefährliche Medikament nicht lieber ganz wieder fallen lässt oder Verwendung nur auf die Schlaf- krankheit beschränkt. Bei dieser verheerenden Seuche scheint das Atoxyl wirklich als Heilmittel sich bewährt zu haben, und die Er- blindung selbst zahlreicher Patienten würde gegenüber der Rettung weit gerösserer Mengen von Schlafkranken nicht sehr erheblich in Frage kommen. Aber, ohne auf die reine therapeutische Literatur über Atoxyl hier eingehen zu wollen, scheint mir das Mittel bei Be- handlung der Syphilis durchaus entbehrlich, und ich verwende es nicht, obwohl die Kranken selbst, aus Furcht vor Hg-Vergiftung, oder weil sie von angeblichen Erfolgen des Atoxyls gehört haben, zu einer Atoxylkur drängen. Geradezu für fehlerhaft aber muss ich den Gebrauch des Atoxyls bei zahlreichen harmlosen Haut- krankheiten, bei Basedow, Anämie usw. halten. Denn wir wissen Beiträge zur Lehre von der chronischen Atoxylvergiftung. 63 nie, ob der Kranke, den wir vor uns haben, nicht besonders emp- findlich gegenüber dem Atoxyl ist. Wir haben gesehen, wie tückisch das Mittel in der Erzeugung irreparabler Störungen (Auge, Nerven- system, Blase) sein kann, und wir müssen es für leichtsinnig halten, ein derart gefährliches „Heilmittel“ bei Krankheiten zu verwenden, die mit wirksamen und unschädlichen Methoden gebessert oder ge- heilt werden können. Mir scheint, abgesehen von der Schlafkrankheit, der Nutzen des Atoxyls in allen Fällen gering im Vergleich zu den unberechenbaren und unvermeidlichen Gefahren, denen wir durch seine Verwendung den Kranken aussetzen. Verzeichnis der Abbildungen Tafel I und 11. Die Bilder wurden nach meinen Präparaten vom Kunstmaler Herrn A. Kirchner hergestellt. Fig 1. Spinalganglienzellen in verschiedenen Degenerationsstadien von dem 5!/g Monat vergifteten Kaninchen 14 (Leitz’ Ölimmersion Okular 1. Nissl- Held’sche Färbung). Man sieht partielle und totale Chromatolyse, Vakuo- lisierung, Kernverlagerung und Quellung, in einem Falle hernienartige Vor- stülpung des Kernes. Fig. 2. Vorderhornzellen des Hundes 1 (Vergiftungsdauer 1 Jahr 2 Wochen. Nissl-Held’sche Färbung. (Leitz’ Ölimmersion, Okular 1). Verschiedene Stadien der Chromatolyse. Fig. 3. Pyramidenzellen der Grosshiınrinde von Hund 3. Vergiftungsdauer 3 Monate. Nissl-Held’sche Färbung. (Leitz’ Ölimmersion, Okular 1). Ausgesprochene Chromatolyse. Zell- und Kernschrumpfung mit pathologischer Überfärbung der Zellen. Fig. 4a. Fettig degenerierte Ganglienzellen der Grosshirnrinde von Hund 2 (Vergiftungsdauer 1 Monat 3 Tage) Flemmingfixierung, Safraninfärbung. (Leitz’ Ölimmersion, ÖOkular 1). Reichliche schwarze Fetttröpfchen in dem Zell- leibe. Diffuse Fetttröpfehen im Gewebe zwischen den Zellen. Fig. 4b. Fett in den perivaskulären Lymphräumen des Grosshirnes von Hund 2. Flemmingfixierurg, Safraninfärbung. (Leitz’ Ölimmersion, Okular 1.) Neben der längs- und quergetroffenen Rindenkapillare Fett in grösseren Tropfen- anhäufungen. Desgleichen diffuse Fetttröpfchen in der Gehirnsubstanz und in den fettig degenerierten Ganglienzellen. Fig. 4c. Fettembolie einer Gehirnrindenkapillare von Hund 2. Flemmingfixierung, Safraninfärbung. (Leitz’ Ölimmersion, Okular 1). Fett im Lumen des Gefässes. Desgleichen Fett in den Ganglienzellen. 64 Georg Köster: Beiträge zur Lehre von der chron. Atoxylvergiftung. Fig. 5. Detail aus einem Rückenmarksquerschnitt von Hund 3 (Vergiftungsdauer- 3 Monat). Flemmingfixierung. Bleistiftzeichnung. (Leitz’ Ölimmersion 3: Objekt D-Linse.) Der Schnitt geht durch das Brustmark. Zwischen den divergent verlaufenden Hinterhörnern sieht man die Hinterstränge, in deren Peripherie ein deutlicher Faserschwund zu beiden Seiten der hinteren Längs- furche im Gebiete der Goll’schen Stränge besteht. Fig. 6. Querschnitt aus dem Dorsalmark von Hund: 3. Übersichtsbild. Weigert- färbung. (Leitz’ Objekt 3, Okular 1.) Abstand der Mattscheibe vom Ob- jektiv 50 cm. Exposition 3 Sek. Im Bereiche der G oll’schen Stränge ein. helles degeneriertes Feld. Pflüger’s Archiv für die ges. Physiologie, Akrchner ‚gez. Verlag von Martin Hager,Bonn . Kunslanstalf v. A.Kirchner, Leipzig. & Tafel II üger’s Archiv für die ges. Physiologie. Ba. 186. PR Verlag von Martin Hager, Bonn (Aus der physiologischen Abteilung der zoologischen Station in Neapel.) Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. Von R. F. Fuchs (Erlangen). (Hierzu Tafel III und IV.) So eingehend auch die elektrischen Erscheinungen am quer- sestreiften Muskel seit den bahnbrechenden Untersuchungen von Matteuci und Emil du Bois-Reymond untersucht wurden, so wenig befasste sich die physiologische Forschung mit dem elektri- schen Verhalten der glatten Muskulatur, so dass Ren& du Bois- Reymond!) im Nagel’schen Handbuch der Physiologie seine kurzen Ausführungen über die elektromotorischen Leistungen des glatten Muskels mit folgenden Worten beginnt: „Über das elektromo- torische Verhalten der glatten Muskulatur fehlt merkwürdigerweise fast jede Angabe.“ Ganz ähnlich äussert sich auch P. Grützner?) in den Ergebnissen der Physiologie: „Wie sich der glatte Muskel bei der Tätigkeit verhält, darüber sind mir keine Untersuchungen bekannt.“ Die Gründe für die Beiseitelassung dieser Untersuchungsobjekte sind wohl im wesentlichen zweierlei Art. Ein grosser Teil der sich für die bioelektrischen Ströme interessierenden Forscher nahm wohl von vornherein an, dass sich der glatte Muskel bezüglich seines elektrischen Verhaltens ganz übereinstimmend mit dem quergestreiften Muskel verhalten müsse, zumal die Untersuchungen an den Nerven, Drüsen, sowie an der Netzhaut ganz analoge elektrische Vorgänge aufdeckten, wie sie an den quergestreiften Muskeln gefunden worden waren. So schied für eine grosse Anzahl von Forschern der glatte 1) R. du Bois-Reymond, Allgemeine Physiologie der glatten Muskeln. Nagel’s Handb. d. Physiol. des Menschen Bd. 4, Hälfte 2, Teil 1. Braun- schweig 1907. 2) P. Grützner, Die glatten Muskeln. Ergebnisse der Physiologie, 3. Jahrg. Abt. 2. 1904. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. b) 66 RSOBR@RBLICHISE Muskel aus dem Kreise der Untersuchungsobjekte vollständig aus. Der zweite Grund ist wohl dadurch gegeben, dass die glatten Muskeln kein für solehe Untersuchungen bequem zu handhabendes Präparat darbieten, denn die Herstellung guter Präparate von glatten Muskeln aus dem Magen-Darmkanal des Frosches und anderer Wirbeltiere sowie des wohl zuerst von Sertoli!) benutzten glatten Retraktor penis hat einige Schwierigkeiten, da sich Zerreissungen der Gewebe, Anhaften von anderen Gewebsteilen und gröbere Ver- letzungen der zur Untersuchung selbst zu benützenden Muskeln oft schwer vermeiden lassen. Es war daher schon frühzeitig der Ver- such unternommen worden, Präparate von Wirbellosen zum Studium der Physiologie der glatten Muskeln heranzuziehen, vor allem den Schliessmuskel von Anodonta, wie es A. Fick?) und Bieder- mann?) zuerst getan haben. Trotzdem all die zahlreichen Unter- suchungen an glatten Muskeln, die sich fast ausschliesslich mit der Mechanik des Kontraktionsorganes beschäftigen, eine grosse Reihe interessanter Erscheinungen aufdeckten, wurden systematische Untersuchungen über die bioelekrischen Ströme dieser Muskeln eigentlich fast nicht vorgenommen, obgleich kein geringerer als A. Fick angab, dass er keine negative Schwankung des gereizten Muschelschliessmuskels nachweisen konnte und seine Abhandlung mit den Worten schliesst: „dass man sich darauf gefasst zu machen hat, in dem Muschelmuskel ein irritables Gebilde kennen zu lernen, dessen Zusammenziehung ohne Verminderung seiner elektromotori- schen Wirksamkeit verläuft.“ Gerade diese Ausnahmsstellung der glatten Muskulatur bezüglich ihres elektrischen Verhaltens hätte die Physiologen zu einer ein- gehenden Untersuchung veranlassen müssen, zumal die Theorien, welche über die Ursachen der bioelektrischen Vorgänge ausgesprochen worden sind, sich mit einer solchen Ausnahmestellung des glatten Muskels in keiner Weise abzufinden vermögen; dann hätten aber alle diese Hypothesen ihre Existenzberechtigung ver- 1) E. Sertoli, Contribution aä la physiologie generale des muscles lisses. Arch. Ital. de Biol. t.3. 1883. 2) A. Fick, Beiträge zur vergleichenden Physiologie der irritablen Sub- stanzen. -Braunschweig 1863. — Ges. Schriften Bd. 3. Würzburg 1904. 3) W. Biedermann, Über die elektrische Erregung des Schliessmuskels von Anodonta. Sitzungsber. d. k. Akad, z. Wien, math.-naturw. Klasse Bd. 91 Abt. 3. 1885. Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel, 67 loren, weil, wie E. Mach!) hervorhebt, „durch einen einzigen Fall, der sich aus einer Hypothese nicht erklären lässt, diese ge- stürzt ist“, Und in der Tat sind alle Hypothesen über das Zu- standekommen der bioelektrischen Ströme stilischweigend über das elektrische Verhalten des glatten Muskels hinweggegangen; man hat die Angabe A. Fick’s einfach ignoriert, ohne ihre Unrichtigkeit zu erweisen, was unbedingt notwendig gewesen wäre; denn Fick sagt: „Fs würde natürlich das ganze Gebäude von Vorstellungen und Erklärungsansichten, das auf die Erkenntnis der elektromotorischen Wirksamkeit des Muskels gegründet ist, erschüttern, wenn es auch nur eine kontraktile Substanz gäbe, deren Strom bei der Zusammen- ziehung keine negative Schwankung erlitte.“ Die in der Literatur niedergelegten wenig zahlreichen Angaben über das bioelektrische Verhalten der glatten Muskeln haben folgende Ergebnisse gezeitigt. Emil du Bois-Reymond?) hat bei Ab- leitung des natürlichen Längs- und künstlichen Querschnittes normal gerichtete Längsquerschnittströme erhalten, die „im Verhältnis zu der Muskelmasse, von welcher sie ausgehen, äusserst schwach zu nennen waren. Die Negativität des natürlichen Querschnittes an den schönen Sehnenspiegeln dieses Magens nachzuweisen, wie überhaupt das Gesetz des Muskelstromes in etwas grösserer Vollständigkeit zu be- stätigen, gelang nicht nach Wunsch wegen der Unregelmässigkeit der Faserrichtungen sowohl als der Unbeständigkeit des Stromes“. Ferner hat E. du Bois-Reymond vom Froschmagen und Darm, vom Kaninchen Uterus und Ureter, sowie vom Oviduet des Frosches schwache Längsquerschnittströme abgeleitet, die mit den Strömen der quergestreiften Muskelfaser identisch sind, „obgleich schon eine ungeheure Kluft sie der Stärke nach von diesem und von dem Nervenstrom trennt. ... Sie stellen sich gewissermaassen dar als eine niedere Entwicklungsstufe jenes Stromes, völlig entsprechend der tiefen Stufe mechanischer Leistungsfähigkeit und morphologischer Ausbildung, auf welcher das Gewebe, von Aieu sie ausgehen, stehen geblieben ist“. 1) Ernst Mach, Kompendium der Physik für Mediziner. Wien 1863. 2) Adolf Fick, Vorläufige Ankündigung einer Untersuchung. über die Physiologie der glatten Muskelfaser. Wiener med. Wochenschr. Jahrg. 10. 1860. — Ges. Schriften Bd. 3. Würzburg 1904. 3) Emil du Bois-Reymond, Untersuchungen über tiefische Elektrizität. Bd. 2, Hälfte 1. Berlin 1849. Br 63 R. F. Fuchs: Mehr als zehn Jahre verstrichen, bis neue Untersuchungen über die elektrischen Ströme des glatten Muskels erschienen. Adolf Fiek!) hatte die Muskel der Wirbellosen, den Schliessmuskel von Anodonta einem eingehenden Studium unterworfen und dabei auch den bioelektrischen Strömen seine Aufmerksamkeit zugewendet. Die diesbezüglichen Resultate lauten dahin, dass der natürliche und künstliche Längsschnitt sich positiv gegenüber dem künstlichen Querschnitt verhält. „Die elektromotorische Wirksamkeit des Muschel- muskel erschien mir in allen Fällen, wo ich Vergleiche angestellt habe, beträchtlich kleiner als die Wirksamkeit des Froschmuskels.“ Dabei zeigte das Verhalten des Ruhestromes eine solche Konstanz, dass Fick sagt: „Der Versuch wird keinem misslingen, der auch nur wenig in der Anstellung tierisch-elektrischer Versuche geübt ist.“ Dagegen ergaben sich bei der Prüfung der negativen Schwankung ausserordentliche Schwierigkeiten. „Ich will gleich an- geben, dass ich keine deutliche negative Schwankung des Muskel- stromes beobachtet habe, wenn ich Reize auf den Muskel einwirken liess. Ich kann aber gleichwohl nicht behaupten, dass die elektro- motorische Wirksamkeit des Muschelmuskels bei der Zusammen- ziehung keine Verminderung erfährt. In den Fällen nämlich, wo der Muskel auf den Bäuschen des Multiplikators auflag, konnte ich mich nicht überzeugen, ob derselbe auf Reizung mit Zusammen- ziehung antwortete.“ Aber alle Versuche, in denen der Aktions- strom untersucht wurde, hatten ein negatives Resultat, das Fick dahin zusammenfasst: „Kurz, ich kann diese Versuche, die negative Schwankung zu erweisen, als fehlgeschlagen ansehen.“ An diesem Ergebnisse wurde auch nichts geändert, als Fick den Muskel vom Nerven aus reizte und sichtbare Kontraktionen erhielt, so dass er mit den Seite 3 angegebenen Worten seine Abhandlung beschliesst. Abermals verstreichen nahezu anderthalb Dezennien, bis die nächsten Untersuchungen über die elektrischen Ströme der glatten Muskel . veröffentlicht werden. Engelmann?) untersuchte die elektromotorischen Erscheinungen des Herzens und der glatten Muskeln, wozu er als Präparat die von der Schleimhaut lospräparierte 1) A. Fick, Beiträge zur vergleichenden Physiologie der irritablen Sub- stanzen. 1. c. 2) Th. W. Engelmann, Vergleichende Untersuchungen zur Lehre von der Muskel- und Nervenelektrizität. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Ba. 15. 1877. z Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 69 Museularis des Froschmagens benützte. Das Muskelpräparat, das einem soeben getöteten Frosch entnommen wurde, zeigte unmittelbar nach der Präparation einen Längsquerschnittstrom. Die geringe Intensität dieses Stromes führt Engelmann darauf zurück, dass am frischen Präparat der Magen krampfartig zusammengezogen ist. Engelmann nimmt an, dass sich bei dieser Kontraktion ein starker Aktionsstrom entwickelt, dessen langandauernde negative Schwankung den Längsquerschnittstrom des ruhenden Muskels stark abzeschwächt habe, so dass nur noch der schwache Rest des Alterationsstromes am Galvanometer zu konstatieren ist. Obgleich Engelmann einen direkten Nachweis des Aktionsstromes nicht versucht hat, wenigstens ist davon in der Abhandlung nichts er- wähnt, so ist er doch bemüht gewesen, die geäusserte Anschauung wenigstens indirekt durch Versuche zu stützen. Denn an Fröschen, bei denen nach dem Töten eine längere Zeit verstrichen war bis zur Anfertigung des Magenpräparates, hatte der Längsquerschnitt- strom eine wesentlich grössere Intensität als in den ersten Fällen. Obgleich manche Momente gegen diese Deutung sprechen, so vor allem die lange Dauer der angenommenen negativen Schwankung, die mit allen anderen Erfahrungen in Widerspruch steht, so muss doch die Möglichkeit der Engelmann’schen Annahme unbedingt zugegeben werden, solange nicht genaue Messungen am Froschmagen vorliegen und der Aktionsstrom der Magenmuskulatur untersucht ist, was bis jetzt noch nicht geschehen ist. Als eine besonders be- merkenswerte Beobachtung muss aus Engelmann’s Versuchen hervorgehoben werden, dass in jenen Fällen, wo am Magenpräparat ein starker Alterationsstrom nach Anlegen des Querschnittes zu finden war, seine Intensität rasch abnimmt und bereits nach ver- hältnismässig kurzer Zeit auf null gesunken ist. Wird aber an einem solchen Präparat ein frischer Querschnitt angelegt, dann steigt der Strom wieder zur ursprünglichen Höhe an, oder er erfährt zum mindesten eine sehr starke Verstärkung. Auch am Herzmuskel wurde genau die gleiche Beobachtung gemacht. Diese Erscheinung führt Engelmann darauf zurück, dass beide Gebilde, Herz und Magenmuskelpräparat, aus einzelnen abgegrenzten Muskelzellen be- stehen, von denen eine Anzahl durch den Schnitt getroffen werden und dadurch eine starke Negativität gegenüber den unverletzten Zellen erlangen. Die verletzten Muskelzellen starben aber rasch ab und verlieren wie jeder abgestorbene Muskel ihre elektromotorische 70 R. F. Fuchs: Wirksamkeit. Aus diesen Versuchen leitet Engelmann endlich den Schluss ab, „dass die glatten Muskelfaserzellen (zunächst des Froschmagens) im unversehrten ruhenden Zustand nicht merkbar elektromotorisch nach aussen wirken“. Erst nach 30 Jahren (1907) wird das elektromotorische Ver- halten der glatten Muskeln wieder einer neuerlichen Untersuchung unterworfen, indem Tschachotin!) die bioelektrischen Ströme bei Wirbellosen im pharmakologischen Institut der Universität Messina studiert. Seine Ausführungen über die Hautströme kann ich hier übergehen und mich bloss auf die Ruheströme der Muskeln beschränken. Von Gastropoden wurde der muskulöse Darm von Carinaria mediterranea, Pterotrachea mut. sowie der kontraktile schwanzartige Anhang des Metapodiums der Pterotrachea coronata untersucht und in allen Fällen „keine Spur irgendeines Läsions- stromes konstatiert“. Die gleichen negativen Resultate lieferten ein Darmstück sowie ein Stück des muskulösen Sipho von Octopus vulgaris, die langen Tentakel von Sepia offieinalis sowie die Museuli retraetores byssi von Mytilus edulis. Auch die kleinen Kaumuskeln von Strongylocentrotus lividus zeigten keinen Demarkationsstrom, während verschiedene quergestreifte Muskeln von Crustaceen (Pali- nurus vulgaris, Maja squinado) und Insekten (Acridium) mit der gleichen Methode (Poggendorff’sche Kompensationsmethode mit Ableitung zu einem Ostwald’schen Kapillarelektrometer) unter- sucht deutliche Alterationsströme lieferten. Auf Grund dieser Ver- suche kommt Tscehachotin zu dem Schluss, dass nur die quer- gestreiften Muskeln einen Ruhestrom entwickeln können. Da Tsehachotin keine Angaben über das elektromotorische Ver- halten der glatten Muskeln der Wirbeltiere bekannt sind, (die Arbeit Engelmann’s .wird erst in einem Nachtrag erwähnt, da sie Tschachotin erst nach Beendigung der Arbeit bekannt wurde), so untersucht er auch glatte Muskeln verschiedener Vertebraten, so den Froschmagen, ein Darmstück des Hundes und den Retraktor penis des Hundes. Auch in diesen Versuchen konnten so gut wie keine Alterationsströme gefunden werden, denn die geringen elektro- motorischen Kräfte (+ 3 Millivolt), welche gelegentlich beobachtet wurden, bezieht Tschachotin selbst auf andere Ursachen, z. B. 1) Sergei Tschachotin, Über die bioelektrischen Ströme bei Wirbel- losen und deren Vergleich mit analogen Erscheinungen bei Wirbeltieren. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 120. 1907. Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel, 71 Ungleichheit der Elektroden usw. Diese Ergebnisse sollten nun an einem grösseren Material von glatten Muskeln der Avertebraten noch vervollständigt werden. Da Tschachotin das von v. Ux- küll!) bereits 1896 beschriebene Retraktorenpräparat vom Sipun- eulus sowie die anderen Muskelpräparate von Wirbellosen gleich- falls unbekannt geblieben waren, so versuchte Tschachotin die Muskelströme an ganzen Tieren zu studieren, ohne die Muskeln zu isolieren. Dabei wurde den Tieren eine Verletzung beigebracht, z. B. Abschneiden des Kopfes bei Sagitta oder Abschneiden eines Armes bei einem Seestern (Asterina gibb.) usw., oder ein Körper- querschnitt angelegt und dann von der Verletzungsstelle und einer unverletzten Körperstelle abgeleitet. Mit dieser sehr wenig einwand- freien Untersuchungsmethode fand Tschachotin, „dass die elektrischen Ströme nur in denjenigen Muskeln der Wirbellosen wie Wirbeltiere auftreten können, die einen quergestreiften Bau besitzen ; dagegen hätten sich glatte Muskeln bei Wirbeltieren, wie alle Körpermuskeln der Wirbellosen, die sich im histologischen Bau diesen nähern, als unfähig, Ruheströme zu liefern, erwiesen“. Auch die chemischen Demarkationsströme, wie sie sehr genau von Straub?) und Henze°) untersucht worden sind, fehlen nach Tscehachotin bei Wirbellosen. „Nur in einem Falle gelingt es bei Wirbellosen mit glatter Muskulatur scheinbare Potentialdifferenzen zu beobachten, und zwar, ‘wenn man sie in destilliertes oder in mit destilliertem Wasser ‚verdünntes‘ Seewasser eintaucht.“ Dabei handelt es sich aber um keine bioelektrischen Ströme, sondern nur um eine Veränderung des Leitungswiderstandes der Flüssigkeit, durch die der Strom des Weston-Elementes in der gewählten Anordnung kreisen muss. Ich hielt. es für notwendig, über die Angaben Tschachotins so ausführlich zu berichten, weil sie allen Beobachtungen der früheren Forscher absolut widersprechen. Hätte Tschachotin die Unter- suchungen von Emil du Bois Reymond, Fick und Engel- mann gekannt, dann würden jedenfalls auch ihm selbst schwere Bedenken an der Beweiskraft seiner Versuche aufgestiegen sein, 1) J. v. UÜxküll, Zur Muskel- und Nervenphysiologie von Sipunculus nudus. Zeitschr. f. Biol. Bd. 33, N. F. Bd. 15. 1896. 2) Walter Straub, Pharmakologische Studien über die Substanzen der Filixsäuregruppe. Arch. f. experim. Path. u. Pharm. Bd. 48. 1902. 3) M.Henze, Der chemische Demarkationsstrom in toxikologischer Beziehung. Pflüger’s Arch. d. ges. Physiol. Bd. 92. 1902. 72 R. F. Fuchs: vor allem würde er sich wohl gehütet haben, seine Versuchsergeb- nisse dahingehend zu verallgemeinern, dassdie glatten Muskeln keinen Alterationsstrom liefern. Denn der Widerspruch gegen so erfahrene und anerkannt exakte Forscher ersten Ranges hätte unbedingt zur Vorsicht mahnen müssen. Wo- durch nun die abweichenden Resultate Tschachotin’s bedingt sein können, ist mir allerdings unmöglich zu sagen. In’ den Ver- suchen von Tschachotin wird der auf seine elektromotorischen Kräfte zu prüfende Muskel von einem nicht wunbeträchtlichen konstanten Strom ständig durchflossen. Tschachotin ist der An- sicht, dass für den Muskel wenigstens in bezug auf die elektro- motorischen Eigenschaften eine etwa eintretende elektrotonische Veränderung belanglos sein müsse, weil sich für den Ruhestrom des Froschmuskels kein soleher Einfluss erkennen lies. Was für den quergestreiften Froschmuskel zutrifft, braucht aber keineswegs für die zarten glatten Muskel der Avertebraten zu gelten. Ferner können Abgleichungen der an und für sich schwachen bioelektrischen Ströme durch Neben- schlüsse in und ausserhalb des Präparates vorhanden gewesen sein. Über die Behandlung der Präparate erfährt man eigentlich sehr wenig; und doch muss man bei solchen Versuchen immer den physiologischen Zustand der Präparate kennen. Gerade nach den Untersuchungen Engelmann’s über die rasche Abnahme der Alterationsströme wäre es nötig gewesen zu erfahren, welche Zeit zwischen der Präparation, der Anlegung des Querschnittes und dem eigentlich messenden Versuch verstrichen ist. Ferner wäre es auch wünschenswert gewesen, nähere Angaben über die Erregbarkeitsverhältnisse der Präparate zu machen, da sowohl andere Autoren als auch ich selbst reichlich die Erfahrung gemacht haben, dass die Muskel- präparate der Avertebraten sehr schonend behandelt werden müssen wegen ihrer weit grösseren Empfindlichkeit gegen alle Misshandlungen wie die des Frosches. Da allen diesen Punkten in der Veröffentlichung Tschachotin’s keine eingehende Darstellung zuteil geworden ist, ist es natürlich auch unmöglich zu erfahren, welche Momente die geschilderten, von den Ergebnissen der anderen Autoren abweichenden Versuchsresultate veranlasst haben können. Die Inkongruenz der Befunde Tsehachotin’s und der anderer Forscher veranlasste mich, gelegentlich meines Aufenthaltes an der Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 73 zoologischen Station zu Neapel im Frühjahr 1905 dem Vorschlage meines sehr verehrten Freundes Dr. Richard Burian, Vorsteher ‚der physiologischen Abteilung der zoologischen Station in Neapel, zu folgen und das bioelektrische Verhalten der glatten Muskel der Avertebraten einer erneuten Untersuchung zu unterziehen, zumal über den Aktionsstrom dieser Muskel keine Angaben ausser den negativen von Fick vorlagen und selbst diese uns beiden damals unbekannt waren. Über meine Versuche habe ich in einer vor- läufigen Mitteilung!), sowie auf der Versammlung der Deutschen Physiologischen Gesellschaft zu Würzburg (1909) kurz berichtet. Auf diese Angaben brauche ich hier nicht näher einzugehen, sie seien nur der chronologischen Reihenfolge wegen erwähnt. Als letzte der mir bekannt gewordenen Untersuchungen über die elektrischen Ströme der glatten Muskeln sei die Veröffentlichung von Buytendyk°) genannt. Der genannte Autor untersuchte gleich- falls an der Neapeler zoologischen Station den Einfluss gewisser Salz- lösungen auf den Kontraktionsakt der Retraktoren von Sipuneulus, wobei er auch die elektrischen Vorgänge in diesem Muskel in den Kreis seiner Untersuchungen mit einbezog. Er berichtet darüber Folgendes: „Mit dem Saitengalvanometer (Edelmann’s) lässt sich leicht eine negative Schwankung des Muskels aufzeichnen. Auf die photographische Platte, welche die Bewegungen der Saite registrierte, wurde auch ein Schattenbild vom Schreibhebel geworfen, so dass die Zuckungskurve auf derselben Platte aufgezeichnet wurde. Man konnte so die Latenzzeiten der Muskelzuckung und des Aktionsstromes aus- messen; denn auch ein elektrisches Signal verzeichnete das Moment der Reizung, und eine Stimmgabel gab die Zeit in !/so Sekunde an.“ Buytendyk hat in seinen Versuchen genau die gleiche Methode angewendet, wie ich sie später beschreiben werde, die von mir unter Mitwirkung von Burian ausgearbeitet worden ist; jedoch hält er es nicht für notwendig, dies anzugeben, ja seine Darstellung könnte sogar den Eindruck erwecken, als sei er der erste, der den Aktionsstrom des glatten Muskels verzeichnet habe. Und doch war Buytendyk vor Beginn seiner Versuche durch den verehrten Kollegen Burian mit vollem Recht genau davon unter- 1) R. F. Fuchs, die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. Sitzungsber. d. physikal. med. Sozietät in Erlangen Bd. 40. 1908. 2) F. J. J. Buytendyk, Beiträge zur Muskelphysiologie von Sipunculus audus. Biol. Zentralbl. Bd. 29. 1909. 74 R. F. Fuchs: richtet worden, dass ich ein Jahr vorher die Aktionsströme des. glatten Muskels untersucht hatte und gerade mit der von Burian und mir weiter ausgestalteten mechanischen Reizung des Gehirns die besten Erfolge erzielt hatte. Dass Buytendyk meine Mit- teilung über diesen Gegenstand nicht kannte, ist nicht zu verwundern, da sie an einer nicht leicht zugänglichen Stelle erfolgt ist, so dass. ihm nach dieser Richtung hin nicht der geringste Vorwurf zu machen ist. Aber dafür, dass er meine Versuche trotz der Angaben Burian’s- unberücksichtigt lässt, kann ich ihm einen Vorwurf nicht ersparen. Die Bemerkung Buytendyk’s, dass die negative Schwankung des. Muskels „leicht“ zu verzeichnen ist, bestätigt die Konstanz der Er- scheinungen einerseits und spricht für Brauchbarkeit der zu be- schreibenden Methode. Buytendyk bestätigt meine Befunde über die Konstanz der Latenzzeit für die elektrischen Vorgänge, sowie über den Einfluss der Ermüdung, ferner die Beobachtung, dass das mechanische Latenzstadium des Muskels grösseren Schwankungen unterliest als das elektrische Latenzstadium. Von den Befunden Buytendyk’s, soweit sie für die elektromotorischen Erscheinungen der glatten Muskeln in Frage kommen, seien folgende hervorgehoben. CaCl, erzeust eine Verkürzung des mechanischen Latenzstadiums. Eine wesentliche Veränderung der elektrischen Latenzzeiten kann ich aus den angegebenen Versuchen nicht entnehmen, denn es betragen die Latenzzeiten vor der Behandlung mit CaCl, bei zwei Muskeln 0,035 beziehungsweise 0,028 sec, nach der Einwirkung des CaCl. hingegen 0,03 beziehungsweise 0,025 sec. Solche Differenzen sind auch sonst ohne CaC],-Einwirkung bei Wiederholung von Versuchen am gleichen Präparat zu konstatieren. KCI gibt eine beträchtliche Verkürzung des Muskels, wobei „diese langsame Kontraktion keine Spur von einem Aktionsstrom erzeugt“. Es wäre dieser Befund eine sehr bemerkenswerte Tatsache, wenn sie über jeden Zweifel erhaben wäre, wenn man nicht an Zufälligkeiten denken müsste. Denn ich habe in meinen Versuchen ohne KC]1 die gleiche Be- obachtung mehrfach zu machen Gelegenheit gehabt, sowohl bei langsamen als guten, rasch vor sich gehenden Kon- traktionen. Ich habe diese Erscheinungen immer als durch irgend- welche Versuchsfehler bedingte angesehen, wenn das Galvanometer keinen Aktionsstrom anzeigt. Buytendyk erwähnt, dass man „öfter bei schwacher Reizung nach KCl-Wirkung einen Aktionsstrom verzeichnen kann, ohne dass die geringste Spur von Kontraktion Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 75 eintritt. Auch dieses Verhalten ist nicht durch die KC1-Wirkung hervorgebracht, denn ich habe sie ohne solche gleichfalls nicht selten gesehen, worauf später näher ein- gegangen werden wird. Wenn ich also das Resum6 der Buyten- dyk’schen Untersuchungen, soweit sie die Aktionsströme behandeln, ziehe, so muss ich konstatieren, dass sie einen Fortschritt gegenüber meinen Versuchen nicht gebracht haben, wohl aber einzelne Punkte meiner Versuche bestätigen. Anmerkung bei der Korrektur. inzwischen ist es E. Th. von Brücke!) gelungen, auch beim glatten Muskel der Warmblütler (Retractor penis und Ureteren) den Aktionsstrom nach- zuweisen. Endlich hat H. Straub?) auf Grund seiner verschiedenen Versuche einen Aktionsstrom der glatten Gefässmuskeln als wahr- scheinlich angesehen. Versuchsanordnung. Als hauptsächlichstes Untersuchungsobjekt für meine Versuche diente das von J. v. Üxküll®) in die Physiologie eingeführte Retraktorenpräparat von Sipuneulus nudus, einer Ge- phyree, die im Golf von Neapel während der Monate Februar bis Anfang Mai in genügender Anzahl und in hinreichend grossen Exemplaren gefangen wird. Die Herstellung des Retraktorenpräparates erfolgt genau in der von v. Uxküll angegebenen Weise, wobei be- sonders zu beachten ist, dass nach der Eröffnung der Leibeshöhle die starke Kontraktion der Retraktoren vollständig vorübergegangen sein muss, bevor man an die eigentliche Präparation der Retraktoren selbst geht, da man sonst ein Präparat erhält, das seine Kontraktion dauernd beibehält, worauf v. Uxküll bereits hingewiesen hat. Will man das. Präparat vom Gehirn aus reizen, dann muss auch bei der Abtragung der Poli’schen Blase vorsichtig verfahren werden, denn bei raschem Abziehen dieses Organes werden offenbar die vom Gehirn zu den Muskeln ziehenden nervösen Verbindungen leicht durchrissen, so dass 1) E. Th. von Brücke, Beiträge zur Physiologie d. autonom innervierten Muskulatur. I. Mitt. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 133. 1910; II. Mitt. gemeins. mit Lewon Orbelli, ebenda. 2) H. Straub, Ein wahrscheinlicher Nachweis von Aktionsströmen der Ge- fässe durch das Saitengalvanometer. Zeitschr. f. Biolog. Bd. 53. 1909. 3) J. v. Üxküll, Zur Muskel- und Nervenphysiologie von Sipuneulus nudus. Zeitschr. f. Biol. Bd. 33, N. F. Bd. 15. 1896. — Studien über den Tonus. I. Der biologische Bauplan von Sipunculus nudus. Zeitschr. f. Biol. Bd. 44, N. F,26. 1903. 76 R. F. Fuchs: dann das Präparat auf Hirnreizungen nicht mehr reagiert. Ich habe an- fangs durch Ausserachtlassung dieser Vorsichtsmaassregel eine ganze Reihe von Präparaten verloren. Man tut am besten, den vordersten Teil der Poli’schen Blase am Präparat zu belassen und das Organ vor seinem vorderen Ende vorsichtig mit der Schere zu durchschneiden. Für gewöhnlich habe ich alle vier Retraktoren gleichzeitig be- nutzt. Unmittelbar an der Ursprungsstelle der Retraktoren am Haut- muskelscehlauch wird unter alle vier Muskel ein Baumwollfaden gelest und dann geknotet, so dass die Retraktoren zu einem Paket vereinigt sind. Zwischen der Ligatur und der Haut werden dann die Muskel durehschnitten. Der Unterbindungsfaden dient bei Verzeichnung der Verkürzung zur Verbindung mit dem Registrierhebel. Will man die Verkürzung nicht registrieren, dann empfiehlt es sich, die Muskeln ohne vorhergehende Unterbindung mit einem Stück des Hautmuskelschlauches in Zusammenhang zu lassen, wie es v. Uxküll in seinen Versuchen getan hat, der eine bequeme Befestigung auf der Unterlage gestattet. Ich habe die Muskeln deshalb vom Hautmuskelschlauch ab- getrennt, um die ausserordentlich dehnbaren Muskeln möglichst wenig zu belasten, den Eintritt der Verkürznng möglichst wenig durch die Registrieranordnung zu verzögern, um so der isotonischen Versuchs- anordnung tunlichst zu entsprechen. Das fertiggestellte Retraktorenpräparat wird auf einen mit See- wasser stark befeuchteten Objektträger gelegt, der auf einem kleinen Trog aus Paraffın sitzt, so dass das beim ständigen Befeuchten des Präparates überschüssige Seewasser in den Trog ablaufen kann. Am Rüsselende wird das Präparat mit ein oder zwei Stecknadeln in der Paraffinwand des Troges festgesteckt, während das andere freie Ende des ohne Zerrung auf dem Öbjektträger ausgestreckten Präparates durch den Faden mit der Registriervorrichtung verbunden wird. Soll auf die Verzeichnung der Verkürzung verzichtet werden, dann wird das mit den Muskeln in Verbindung gelassene Stück des Hautmuskel- schlauches gleichfalls mit mehreren Nadeln an der Wand des Paraffın- troges festgesteckt. Zur Ableitung der von den Muskeln gelieferten Ströme wurden um das Muskelpaket (alle vier Retraktoren) zwei entfettete, mit Seewasser getränkte Baumwollfäden gelegt, die auf den Tonstiefeln der un- polarisierbaren Elektroden befestigt wurden. Der Ton der un- polarisierbaren Elektroden war gleichfalls mit Seewasser durchtränkt. Die Elektrodenströme waren ausserordentlich gering, sie betragen Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 77 zwischen 0—6 Teilstriche der Skala des Thomson ’schen Spiegel- galvanometers, bei dem ein Ausschlag von 1 Skalenteil einer Intensität von 6><10-" entspricht. Da späteı die Elektroden stets. wenigstens einehalbe Stunde vor Beginn der Versuche angefertigt worden waren und die ganze Zeit über in sich geschlossen blieben, so dass sie sich ausgleichen konnten, war der Elektrodenstrom fast immer Null, so dass eine Kompensation des Elektrodenstromes nicht notwendig war. Die ersten orientierenden Versuche wurden mit dem Thomson- schen Spiegelgalvanometer angestellt. Als Untersuchungsobjekte hier-- für dienten das Retraktorenpräparat, sowie ausgeschnittene Stücke des Hautmuskelschlauches von Sipuneulus nudus, ferner der glatte Schliessmuskel von Peeten Jacobaeus. Die unverletzten, möglichstsorgfältig präparierten Retraktoren ergaben keinen, oder einen nur ganz schwachen Strom bei der Ableitung von verschiedenen Punkten der Muskeloberfläche; eine deutliche Verstärkung des vom Präparate ableitbaren Stromes trat ein bei Anätzen einer Stelle des Muskels mit Kreosot oder Verbrennen mit einem heissen Glasfaden. Es ist wohl auch hier anzunehmen, dass der vollkommen unverletzte ruhende Muskel an seiner Oberfläche keine Potentialdifferenzen aufweist, dass sie aber durch Verletzungen auf- treten; und zwar wird dererhaltene Strom um so stärker, je ausgiebiger dieAlteration des Muskelsist. Der glatte Muskel zeigt also in dem Verhalten der Ruheströme eine voll- kommene Übereinstimmung mit dem quergestreiften Muskel, indem die Stromstärke mit dem Grade der Schädigung zunimmt, wie aus den Ver- suchen von Straub und Henze am quergestreiften Muskel hervorgeht. Die Hautmuskelstücke zeigten dasselbe Verhalten wie die Retraktoren; ein Unterschied bestand nur insofern, als es in den allerdings nicht sehr zahlreichen Versuchen nicht gelang, ein vollständig stromloses Präparat zu finden, was wohl damit zu- sammenhängt, dass die viereckigen Hautmuskelstücke in meinen Ver- suchen von vier Schnittflächen begrenzt wurden. Abgeleitet wurde mit beiden Elektroden von der inneren Seite des Hautmuskels. Ferner war der von diesem Präparat gelieferte Strom stärker als jener des Retraktorenpräparates. Endlich wurde auch der Längsquerschnittstrom des glatten Schliessmuskels von Pecten geprüft, der einen kräftigen Strom liefert. 78 R. F. Fuchs: Alle diese orientierenden Versuche zeigten zur Genüge, dass die Angaben von Tschachotin, der glatte Muskel der Wirbellosen gebe keine Ruheströme, unzutreffend sind, wodurch natürlich auch alle von ihm ausgesprochenen Hypothesen über das Zustande- kommen der bioelektrischen Ströme als Folge der Anordnung doppel- brechender und einfachbrechender Subsauzen im Muskel ihre experi- mentelle Stütze verlieren. Nachdem die Existenz der Ruheströme keinem Zweifel mehr unterlag, wandte ich mich dem elektrischen Verhalten des tätigen Muskels zu, indem ich auch hier zuerst das Thom- son’sche Spiegelgalvanometer zum Nachweis benutzte. Beim Re- traktorenpräparat, wie bei Reizung des Hautmuskelschlauches wurde die indirekte Reizung vom Nerven aus durch Tetanisieren vermittels Induktionsströmen bewirkt. Für die Retraktoren kann man als Nerven denjenigen Teil des Bauchstranges präparieren, der sich aus den beiden Kommissuren zusammensetzt und dann ein Stück weit als „freier Bauchstrang“ durch den vordersten Abschnitt der Leibeshöhle verläuft, und von dem die Rüsselnerven abgehen (siehe v. Uxküll, Zeitschr. f. Biologie Bd. 33). Für den Hautmuskelschlauch wird ein Stück des „verwachsenen Bauchstranges“ von der Muskulatur abgezogen und stellt dann den zum Präparat gehörigen Nerven dar, Das Galvanometer zeigte meist zu Beginn der tetanischen Reizung eine kurz- dauernde Schwankung, welche manchmal eine negative, manchmal aber eine positive Schwankung war. Da durch Kontrollversuche festgestellt wurde, dass diese kurzdauernden Schwankungen nicht von Stromschleifen herrührten, und sie ausser- dem auch bei der nach mechanischer Reizung des Gehirns eintretenden starken Retraktorenkontraktion zu beobachten waren, so mussten die vom Galvanometer angezeigten Ströme unzweifelhaft von der Muskeltätigkeit herrühren. Jedoch zeigte es sich sehr bald, dass das Thomson-Galvanometer wegen seiner Trägheit zum ge- naueren Studium dieser Ströme nicht hinreichte, weshalb die weitere Untersuchung mit dem kleinen Edelmann’schen Saitengalvano- meter vorgenommen wurde. Bei der Ausarbeitung der Versuchs- anordnung, sowie bei der Ausführung der Versuche selbst hat mich mein verehrter Freund Richard Burian in liebenswürdiger Weise unterstützt, wofür ich ihm zu herzlichstem Danke verpflichtet bin, Die Versuchsanordnung zur Registrierung mit dem Saitengalvano- Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 79 aneter, bei dem ein Ausschlag von 1 mm auf dem photographischen Papier einer Intensität.von 4>< 10 entspricht, war folgende: Das Re- traktorenpräparat wird auf der Glasplatte (Objektträger) des Paraffin- troges ausgestreckt und in der angegebenen Weise befestigt. Der Baumwollfaden, mit dem die Retraktoren an ihrem Ursprung am Hautmuskelschlauch abgebunden worden sind, wird mittels eines kleinen Wachsstückchens mit einem zweiten Faden verbunden, der äber eine Reduktionsrolle läuft, die ihre Bewegungen auf eine zweite Rolle überträgt, welche die Bewegungen des Muskels etwa auf die Hälfte ihrer Grösse verkleinert. An der zweiten Rolle ist eine Borste angeklebt, welche sich vor dem Spalt der Registriervorriehtung (Grammophonmotor von Edelmann) bewegt und ihren Schatten auf dem sich bewegenden photographischen Papier verzeichnet. An der mit dem Muskel verbundenen Rolle ist als Belastung für den Muskel ein Wachskügelchen angebracht, das den Muskel gerade zu strecken vermag, ohne ihn wesentlich zu dehnen. Denn man kann die Retraktoren durch relativ kleine Belastungen zu ganz dünnen Strängen ausziehen, worauf schon v. Uxküll aufmerksam gemacht hat. Es genügt schon das Eigengewicht des Muskels, um bei vertikaler Aufhängung eine erhebliche Verlängerung des Muskels herbeizuführen. Das Präparat wurde durch elektrische Reizung des freien Bauch- stranges in Erregung versetzt, wobei sowohl einzelne Induktions- schläge als auch tetanisierende Reize angewendet wurden. Die bei diesem Verfahren gewonnenen Kurven zeigten zunächst ein kompli- ziertes und wechselndes Verhalten, so dass ein weiteres Studium der beobachteten Erscheinungen neuen Untersuchungen vorbehalten bleiben muss. An Stelle der elektrischen Reizung des Bauchstranges wurde in den späteren Versuchen die mechanische Reizung des Gehirns angewendet, die eine rasch einsetzende, kräftige, lanedauernde Kontraktion des Retraktorenpräparates bewirkt. Die auf diese Weise erhaltenen Galvanometerkurven zeigen ein wesent- lich konstanteres und einfacheres Verhalten als die durch Bauch- strangreizung erhaltenen, weshalb ich bei der weiteren Durchführung der Untersuchung fast ausschliesslich die mechanische Gehirnreizung anwandte. Um eine möglichst gleichmässige mechanische Reizung des Ge- hirns vorzunehmen, wurde das Gehirn durch sanftes Berühren mit einem leichten, mit Seewasser befeuchteten Glasstäbehen errest, das an den Anker eines Elektromagneten vermittels eines kurzen Strob- 80 R. F. Fuchs: halmes angesetzt war; diese Reizvorrichtung ist nichts anderes als. ein etwas veränderter Tetanomotor. Der etwa 10 em lange Glas- hebel war so dünn, dass er schon bei einem leichten Druck sich durchbog, wodurch ein Zerdrücken des sehr verletzlichen Gehirns: bei der Berührung vermieden werden konnte. Der Glashebel wurde so über dem Gehirn eingestellt, dass er schon bei einer kleinen Be- wegung des Ankers das Gehirn gerade berührte. Durch die be- deutende Länge des Hebelarmes war es möglich, den Anker des. Elektromagneten sehr nahe an die Pole des Magneten einzustellen und dadurch die Latenzzeit des Magneten so klein zu gestalten, dass sie mit dem im gleichen Stromkreis eingeschalteten elektro- magnetischen Reizmarkierer gut übereinstimmte. Mit diesem Tetano- motor wurden sowohl einzelne Schläge dem Gehirn erteilt, als auch tetanisierende Reizungen vorgenommen. Bei der Einzelreizung sind zwei Arten der Reizung zu unterscheiden, erstens der Be- lastungsreiz, welcher beim Anziehen des Ankers zustande kommt, und zweitens der Entlastungsreiz, welcher bei der Entfernung des Glasstäbehens vom Gehirn zustande kommt. Beide Reize sind wirk- sam, wie die Versuche ergeben haben. Ob aber der Entlastungsreiz. dadurch wirksam wird, dass das plötzliche Aufhören eines bestehenden eleichmässigen Druckes als solchen auf das Gehirn reizend wirkt,’ wage ich nicht zu behaupten, da mechanische Erschütterungen des: Gehirns beim Sichabheben des Glasstäbehens nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können. Die rasche Folge der Belastungs- und Entlastungsreize wurde durch Drehen eines in den Tetanomotor-Signalkreis eingeschalteten Blitzrades bewerkstelligt. Da die Bewegungen des Blitzrades mit der Hand erfolgte, so war sie nicht ganz gleichmässig, jedoch folgte der Tetanomotor sowie das Signal genau den einzelnen Strom- schwankungen, die nach Belieben bald rascher, bald langsamer erteilt werden konnten. Die Ableitung des Präparates zum Saitengalvanometer erfolgte durch die schon erwähnten Seilelektroden, die den Bewegungen des. sich kontrahierenden Muskels so gut wie keinen Widerstand ent- gegensetzten und dabei doch so fest an dem Muskelpaket anlagen, dass bei der Kontraktion eine Verschiebung der Elektroden am Muskel selbst nicht eintrat, so dass im einzelnen Versuch sowohl während der Ruhe als im Kontraktionsstadium stets die gleichen Stellen der Muskeloberfläche zum Galvanometer abgeleitet wurden. Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel, Ss] Bei den Versuchen zur Registrierung der Aktionsströme waren die beiden Ableitungselektroden je nach der Länge der Muskeln 20—40 mm voneinander entfernt, der Abstand der ersten Seilelektrode vom Gehirn betrug 10—15 mm, so dass die bei Berührung des Gehirns auftretende geringfügige mechanische Erschütterung des Präparates an der Ableitungsstelle sicherlich keinen störenden Einfluss geltend machen konnte. Sollten einphasische Ströme abgeleitet werden, dann wurden die einzelnen Muskeln in der Nähe des Unterbindungs- fadens so weit mit einem heissen Glasstab verbrannt, bis sie ein vollständig trübes Aussehen auf eine !/a„—1 cm weite Strecke dar- boten. Die verbrannte Stelle wurde gut mit Seewasser befeuchtet und dann an sie die eine Seilelektrode angelegt. Bei den Versuchen über die Bestimmung der Fortpflanzungszeit der Erregung im Muskel, sowie bei jenen zum Nachweis des Dekrementes wurden an den Muskel hintereinander drei Seilelektroden in Abständen von 10—25 mm angelegt; durch Verwendung von Umschaltern (Pohl’sche Wippen ohne Kreuz) war es in bequemer Weise möglich, die Elektroden 1 und 2, oder 2 und 5, oder 1 und 3 zum Galvanometer abzuleiten. In allen denjenigen Versuchen, in welchen bei Ableitung des Präparates kein oder nur ein geringer Elektroden- und Ruhestrom (bis 2 mm Ablenkung des Fadens — 2 X 10-7 Amp.) gefunden wurde, wurde von einer Kompensation des Ruhestromes abgesehen; sobald aber der Ruhestrom grössere Werte erreichte, was namentlich nach den Verbrennungen des Muskels der Fall war, wo in einzelnen Fällen das Fadenbild aus dem Beleuchtungsfeld sogar vollständig verschwand (also ein Ausschlag von über 50 mm bestand), wurde der Ruhestrom vermittels eines Monochordes vollständig kompensiert. Vor jedem einzelnen Versuch wurde der Ruhestrom bestimmt und, falls es nötig war, die Kompensation vorgenommen. Zur Zeitmarkierung wurde ein Jaquet’scher Chronograph ver- wendet, der Fünftelsekunden anzeigte. Alle Registrierapparate waren vor dem Spalt des Grammophonmotors so aufgestellt, dass ihre Zeiger feine, aber genügend scharfe Schatten auf dem Beleuchtungsfelde ent- warfen. Auf den abgebildeten Kurventafeln, welche aus Rücksicht auf die Reproduktionskosten umgezeichnet wurden, folgen, sofern nichts anderes ausdrücklich angegeben ist, in der Reihe von unten nach oben: unterste Zeile der Chronograph, dann der Reizmarkierer, sodann der Galvanometerfaden und endlich der -Verkürzungshebel des Muskels. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 6 82 R. F. Fuchs: In meinen Versuchen hat sich eine sehr grosse Konstanz der Bewegungen des Edelmann’schen Grammophon- motors und des Jaquet’schen Chronographen heraus- gestellt. Auf Grund von 30 diesbezüglichen Versuchen hat sich er- geben, dass die Wegstrecke von 1 mm des bewegten Papieres in 16 Versuchen einer Zeit von 0,0074 Sekunden entspricht; sechs- mal wurde der Wert von 0,0075 Sekunden, siebenmal jener von 0,0073 Sekunden gefunden. Nur zweimal fand sich ein Wert von 0,0071 und einmal ein solcher von 0,0080 Sekunden. Trotzdem diese Geschwindigkeiten des Motors verhältnismässig geringe sind, so zeigt das Resultat dieser Bestimmungen eine sehr gute Konstanz der Bewegung. Bei noch langsamerem Gange beginnt der Motor ungleich- mässig, manchmal sogar ruckweise zu laufen, bei schnellerem Gang, als dem in meinen Versuchen angewendeten, ist die Konstanz der Bewegung zum mindesten ebensogut, wenn nicht noch besser, als in meinen Versuchen. Die Aktionsströme des glatten Muskels. Zunächst soll das Verhalten derdoppelphasischen Aktions- ströme analysiert werden. Vor allem fällt die Verschiedenartigkeit der Form der zweiphasischen Aktionsströme auf, die zunächst einen geradezu verwirrenden Formenreichtum darbieten, welcher anfangs jeder Erklärung unzugänglich zu sein scheint. Und in der Tat vermag ich auch heute noch nicht alle Einzeltypen der beobachteten Formen zu erklären, dazu bedarf es weit grösserer Untersuchungsreihen, als ich sie während meines zweimonatigen Aufenthaltes an der Neapler Station anzustellen in der Lage war. Denn meine Versuche können nichts weiter sein als die ersten orientierenden Versuche auf diesem bisher so gut wie unerforschten Gebiet, die sich damit begnügen müssen, nur die allergröbsten Gesetzmässigkeiten zu erschliessen, soweit solche aus dem von mir gesammelten, allerdings nicht geringen Beobachtungsmaterial ableitbar erscheinen. Ich bin mir dessen wohl bewusst, dass bei einer feineren Ausbildung der Versuchsmethodik wohl viele von meinen Befunden erweitert und vielleicht auch anders gedeutet werden müssen, als ich es im gegebenen Zeitpunkt zu tun vermag. Diese Erkenntnis von der Unvollkommenheit meiner Ver- suche, welche ich selbst nur als ein erstes dürftiges Provisorium ansehe, war auch der Grund dafür, dass ich mich wegen der vor- handenen Lücken der Beobachtungen so lange scheute, die Versuche ausführlich zu veröffentlichen, denn seit meinem Aufenthalt an der Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 83 Neapler Station (Frühjahr 1908) sind bereits mehr als zwei Jahre verstrichen. Leider konnte ich meinen Wunsch, die Versuche weiter fortzusetzen, bisher noch nicht verwirklichen. Trotz der verschiedenen Form der registrierten zweiphasischen Aktionsströme kann aber über deren Existenz kein Zweifel mehr bestehen, da eine jede andere Erklärung der beobachteten nach mechanischer Gehirnreizung auftretenden Galvanometerschwankung ausgeschlossen erscheint. In allen Versuchen zeigen die beiden Phasen insofern eine Gesetzmässigkeit, dass die erste Phase die negative ist, einen steileren Verlauf hat und von wesentlich kürzerer Dauer ist, als die oft sehr langgestreckt verlaufende zweite, positive Phase (Fig. 1). Es zeigt mithin der zweiphasische Aktionsstrom des glatten Muskels eine prinzipielle Übereinstimmung mit dem Verlauf des Aktionsstromes am quergestreiften Muskel, wie er zuerst von Bernstein!), S. Mayer?) und Her- mann?) festgestellt worden ist. Ja, der Aktionsstrom des glatten Muskels zeiet meist eine vollkommene Übereinstimmung mit dem von Burdon Sanderson) vermittels des Kapillarelektrometers am quergestreiften Muskel ermittelten Verhalten, indem die erste Phase oft deutlich die Form eines Spiesses (spike) hat, an die sich die zweite Phase als langgezogener Buckel (hump) anschliesst. In der Mehrzahl der Fälle zeigen beide Phasen einen asymmetrischen Verlauf, indem der absteigende Schenkel der ersten Phase gewöhnlich wesentlich steiler verläuft als der aufsteigende. Bei der zweiten Phase ist der aufsteigende Schenkel kürzer und steiler als der langgezogene ab- steigende Ast der Schwankungskurve. 1) J. Bernstein, Untersuchungen über den Erregungsvorgang im Nerven- und Muskelsysteme. Heidelberg 1871. 2) Sigmund Mayer, Über den zeitlichen Verlauf der Schwankung des Muskelstromes am Musc. gastrocnemius. Arch. f. Anatom. u. Physiolog. 1868. 3) L. Hermann, Untersuchungen über die Aktionsströme des Muskels. Ptflüger’s Arch f. d. ges. Physiol. Bd. 16. 1878. 4) J. Burdon Sanderson, Photographische Darstellung der mechanischen und elektrischen Veränderungen, welche während der sogenannten Latenzzeit im Muskel stattfinden. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 4. 1890. — The electrical response to stimulation of muscle and its relation to the mechanical. response. Journ. of physiol. vol.18. 1895. — Über. Anwendung des Kapillarelektrometers für das Studium der muskulären Einzelschwankung. Zentralbl. f. Physiol. Bd.12. 1898. — The electrical response to stimulation of muscle. Part II. The monophasic and diphasic variation of the sartorius. Journ. of physiol. vol. 23. 1898/1899. 6 * 84 R. F. Fuchs: Vergleicht man die mit dem gleichen Instrument in Neapel ver- zeichneten Aktionsströme, welche nach Reizung des Nervus Ischiadieus vom Gastroenemius einer Rana esculenta abgeleitet wurden (Fig. 2, Taf. II), dann fällt sofort auf, dass die vom quergestreiften Muskel gelieferten Aktionsströme von wesentlich kürzerer Dauer sind als die vom Retraktorenpräparat gewonnenen. Ferner verläuft beim Gastroenemius die erste, die negative Phase, sowie der Anstieg der zweiten, positiven Phase viel steiler als beim Sipuneulusretraktor. Diese Unterschiede dürften wchl mit der Zuckungsdauer der beiden Muskelarten zusammen- hängen, indem sich beim rasch zuckenden quergestreiften Muskel die Erregung sehr viel rascher fortpflanzt als beim träge sich zu- sammenziehenden glatten Muskel, worauf später noch ausführlich eingegangen werden wird. Noch ein anderer sinnfälliger Unterschied des Verlaufes der Aktionsströme der beiden Muskel ist zu konstatieren. Beim glatten Muskel ist die zweite Phase im Ver- hältnis zur ersten wesentlich länger als beim quer- gsestreiften Muskel, so dass also der Aktionsstrom des glatten Muskels eine relativ längere zweite Phase hat als der des quer- gestreiften Muskels. Der glatte Muskel kann manchmal auch einen deutlich aus- geprägten dreiphasischen Aktionsstrom zeigen (Fig. 3 u. 4, Taf. II), indem auf die erste negative Phase eine etwas längere positive zweite und auf diese wiederum eine sehr langgezogene negative dritte Phase folgt. Welche Momente für die Entstehung des dreiphasischen Aktionsstromes maassgebend sind, wage ich nicht anzugeben, da ich systematische Untersuchungen über diesen inter- essanten Punkt nicht angestellt habe. Ich begnüge mich, darauf hinzuweisen, dass am Gastrocnemius und anderen gefiederten Muskeln des Frosches bei Ableitung von einem mittleren Querschnitt und der distalen Sehne F. S. Lee!) unter Leitung M. v. Frey ’s dreiphasische Aktionsströme beobachtet hat. Auch in den Photogrammen der Aktionsströme des Gastrocnemius, welche J. v. Kries?) veröffentlicht 1) F. 8. Lee, Über die elektrischen Erscheinungen, welche die Muskel- zuckung begleiten. Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. 1887, 2) J. v. Kries, Über einige Beobachtungen mit dem Kapillarelektrometer. Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. 1895. Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 85 hat, ist eine dritte Phase angedeutet, worauf v. Frey!) aufmerksam gemacht hat. Allerdings muss ich hier. besonders hervorheben, dass der Sipunculusretraktor nach den bisherigen histologischen Unter- suchungen nicht als gefiederter Muskel anzusprechen ist, denn er besteht aus lauter 2 m langen, pallisadenförmig angeordneten Muskelfasern ?). Auch beim glatten Muskel besteht eine gewisse Beziehung zwischen der Stärke des Reizes und der Grösse des Aktionsstromes. Die von mir nach dieser Richtung hin unter- nommenen Versuche wurden zunächst so angestellt, dass einmal der Elektromagnet verstärkt wurde durch Einschaltung einer grösseren Anzahl von Elementen, so dass der Anker mit grösserer Kraft an- gezogen wurde und das Gehirn durch den Glashebel stärker beklopft wurde. Wegen der Biegsamkeit des Glashebels waren weitgehende und systematische Variationen der Reizstärke nicht möglich, aber alle Versuche zeigten eine Zunahme des Aktionsstromes bei Verstärkung der mechanischen Hirnreizung. Am auf- fallendsten waren diese Erscheinungen, wenn man auf das Gehirn einen Schlag mit einem befeuchteten Pinsel vermittels der Hand aus- übte, der viel kräftiger wirkt als der durch den Tetanomotor er- zeugte. Mit dieser Reizung habe ich die stärksten Aktionsströme erhalten, wie die Fig. 1, 3, 4 zeigen. Grosse Ausschläge habe ich bei Reizung mit dem Tetanomotor nur ganz ausnahmsweise erhalten. Leider war das Beklopfen mit dem Pinsel zu messenden Versuchen nicht zu brauchen, weil die Reizmarkierung mit der anderen Hand oder durch eine zweite Person vorgenommen werden musste, und dadurch der Reizmoment nicht genau bestimmt werden konnte, wie z. B. Fig. 1 zeigt, wo der Moment des Reizes erst nach Beginn der negativen Schwankung markiert wurde. Die Fig. 1, 3, 4 stellen Aktionsströme nach Beklopfen des Gehirns mit dem Pinsel dar. Da für den quer- gestreiften Muskel nach den Untersuchungen von Bernstein und Tsehermak?°) eine Zunahme des Aktionsstromes bei Zunahme der Leistung des Muskels innerhalb gewisser Grenzen eintritt, so zeigen 1) M. v. Frey, Allgemeine Physiologie der quergestreiften Muskeln. Nagel’s Handb. d. Physiol. Bd. 4 Hälfte 2. Braunschweig. 1907. 2) J. v. Uxküll, Zeitschr. f. Biol. Bd. 33. 1896. 3) J. Bernstein u. A. Tschermak, Über die Beziehung der negativen Schwankung des Muskelstromes zur Arbeitsleistung des Muskels. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 39. 1902. 86 R. F. Fuchs: auch in diesem Punkte die glatten und quergestreiften Muskel ein übereinstimmendes Verhalten. Wie die abgebildeten Figuren sowie alle meine übrigen Be- obachtungen zeigen, fällt der Hauptvorgang der elektrischen Phänomene in das mechanische Latenzstadium des Muskels. Die negative Phase ist stets vollständig beendigt, bevor der Muskel sich zu kontrahieren beginnt. Die zweite positive Phase des Aktionsstromes zeigt in diesem Punkt ein nicht ganz konstantes Verhalten, indem ein mehr oder weniger grosser Anteil derselben noch in das mechanische Latenzstadium des Muskels fällt. Ja, es kann sogar vorkommen, dass das Maximum der zweiten Phase noch in das Latenzstadium des Muskels fällt, ein Verhalten, das nicht cerade selten zu beobachten ist; anderseits kann aber auch die Ver- kürzung des Muskels mit dem Beginn der zweiten Phase einsetzen. In der Mehrzahl der Fälle pflegt die Verkürzung kurz nach dem Beginn der positiven Phase einzusetzen, bevor die letztere ihr Maximum erreicht hat. Ein ganz analoges Verhalten zeigen auch die mit dem Saitengalvanometer verzeichneten Aktionsströme des Gastroenemius vom Frosch, wie Fig. 2 lehrt. Auf Grund von Rheotom- versuchen, sowie Beobachtungen am Kapillarelektrometer haben so- wohl Bernstein!), als auch Burdon Sanderson?), sowie Garten?) die gleichen Beobachtungen am quergestreiften Muskel semacht. Es gilt demnach auch für den glatten Muskel die gleiche Gesetzmässigkeit wie für den quergestreiften, dass die elektrischen Erscheinungen bereits vor Beginn der Verkürzung eintreten. Die verschiedene Form der registrierten doppelphasischen Aktions- ströme legte die Vermutung nahe, dass auch im Retraktorenpräparat der Aktionsstrom ein Dekrement aufweise, denn häufig wurde trotz zweiphasischer Ableitung nur ein einphasischer Strom verzeichnet, was namentlich dann der Fall war, wenn das Präparat ziemlich lang war und die beiden Ableitungselektroden weit auseinander lagen (Fig. 5, Taf. II). Um das Verhalten des Dekrementes genauer zu 1) J. Bernstein, Zur Theorie der negativen Schwankung. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 67. 1897. 2) J. Burdon-Sanderson, |. c. Physiol. Zentralbl. Bd. 4. 1890 u. Journ. of physiol. vol. 18. 1895. 3) Siegfried Garten, Über das elektromotorische Verhalten von Nerv und Muskel nach Veratrinvergiftung. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bdaıu1899: - Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 87 untersuchen, wurde der Strom an drei hintereinander gelegenen Stellen des Präparates abgeleitet und der Aktionsstrom der Ableitungsstellen 1 und 2, 2 und 3, sowie 1 und 3 verzeichnet. Wenn der Aktions- strom ein Dekrement besitzt, dann ist zu erwarten, dass ein bei Ab- leitung der Elektroden 1 und 2 vorhandener doppelphasischer Aktions- strom bei Ableitung der Elektroden 1 und 3 eine wesentliche Abschwächung der zweiten Phase zeigen wird, oder dass die zweite Phase eventuell ganz fehlt. Dieses theoretisch sehr einfach ableitbare Verhalten wird aber bei der Durch- führung der Versuche durch mancherlei Faktoren kompliziert, denn der Abstand der Elektroden voneinander, als auch vom Orte der Reizung spielt eine sehr wesentliche Rolle. Diese Faktoren können einen in Wirklichkeit zweiphasischen Aktionsstrom durch Inter- ferenz so ändern, dass er in der registrierten Kurve einphasisch wird. Liegen die beiden Elektroden nahe beieinander, dann wird die zur ersten Elektrode abgeleitete Stelle noch im Zustand der Erregung, also negativ sein zu einer Zeit, wo die zur zweiten Elek- trode abgeleitete Stelle gleichfalls bereits in Erregung gerät. Dann muss aber die erste Phase verkürzt werden, ja sie kann eventuell nur ganz schwach angedeutet sein, während die zweite Phase mehr oder weniger deutlich vorhanden ist (Fig. 6); denn zu der Zeit, wo die erste Stelle bereits wieder unerregt ist, ist die zweite noch in Erregung, so dass also eine deutliche Potentialdifferenz zwischen beiden Stellen besteht, die sich als zweite Phase an der Galvano- meterkurve kundeibt. Wenn nun ein Dekrement vorhanden ist, dann wird, wenn die erste und zweite Elektrode nahe aneinander liegen, die Abschwächung des Aktionsstromes während seiner Fortpflanzung von der ersten zur zweiten Elektrode geringer sein, als wenn die Elektroden weiter voneinander entfernt sind. Deshalb müsste bei näherer Distanz der beiden Elektroden eine stärkere zweite Phase ausgebildet sein als bei grösserem Elektrodenabstand. Da aber die Erregung bei ihrer verhältnismässig langen Dauer erst dann an der ersten Elektrode ganz geschwunden ist, wenn die Erregung an der zweiten Elektrode gleichfalls schon stark im Rückgang begriffen ist, so wird unter diesen Bedingungen in der Galvanometerkurve nur noch das letzte Abklingen der Erregung als schwache zweite Phase zum Ausdruck kommen können (Fig. 7). Liegen nun die beiden Elektroden so zueinander, dass das Maximum der Erregung an der ersten Elektrode gerade eingetreten ist, wenn an der zweiten Elek- 88 R. F. Fuchs: trode die Erregung beginnt, dann zeigt die erste Phase der Kurve des Aktionsstromes einen steilen Verlauf, in der die Negativität nach erreichtem Maximum sofort wieder abnimmt, so dass die erste Phase in Form einer Spitze erscheint. Die zweite Phase zeigt einen steilen Anstieg zum Maximum, welches eventuell erst eintritt, wenn die Erregung an der ersten Elektrode erloschen ist, und den ganzen Abfall der zweiten Phase, der sich als langgezogener Buckel in der Kurve markiert (Fig. 3). Durch die geschilderten Interferenzen sind offenbar die verschiedenen Formen der verzeichneten doppelphasischen Aktionsströme zustande gekommen. Ferner muss bei der Analyse der erhaltenen Galvanometerkurven auch noch der Abstand der ersten Elektrode vom Ort der Reizung, in meiner Ver- suchsanordnung vom Gehirn, berücksichtigt werden; denn wenn ein Dekrement vorhanden ist, dann wird die Negativität der ersten Stelle um so kleiner ausfallen, je weiter entfernt vom Gehirn die Ab- leitung erfolet. Endlich besteht noch eine Möglichkeit, welche modifizierend auf die Form der Galvanometerkurven einwirkt, näm- lich, dass nicht nur die Intensität der Erregung, sondern auch ihre Fortpflanzungsgesehwindigkeit und Dauer mit ihrem Fortschreiten sich ändert. So viel mir bekannt ist, liegen über den letzten Punkt für den Muskel keine Untersuchungen vor. Ich beabsichtige aber, bei der Fortführung dieser Untersuchungen systematische Versuche nach dieser Richtung hin anzustellen. Da ich die voranstehend erörterten Faktoren bei der Ausführung meiner Versuche nicht entsprechend berücksichtigt habe, konnten meine Versuche mit doppelphasischen Aktionsströmen keine sichere Entscheidung darüber bringen, ob ein Dekrement beim Retraktoren- präparat besteht. Zwar habe ich eine Umwandlung eines bei Ableitung von Elektrode 1 und 2 zweiphasischen Aktionsstromes in einen einphasischen gesehen bei Ableitung von den Elektroden] und3, aber ich habe auch eine zunächst unerklärbare Zunahme der zweiten Phase unter diesen Umständen gelegentlich beobachtet. Da bei den Versuchen mit einphasischer Ableitung die Ver- hältnisse weniger kompliziert liegen, weil die Interferenz der beiden Phasen wegfällt, so habe ich die Frage nach der Existenz eines Dekrementes an einphasischen Aktionsströmen bei Ableitung von drei Stellen untersucht. Ist ein Dekrement vorhanden, dann muss die Ableitung der Elektroden 1 und 3 einen stärkeren Ausschlag geben Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 89 als die Ableitung von 2 und 3, In allen angestellten Versuchen war das der Fall; der Unterschied ist ein sehr deutlicher wie aus den Fig. 9 und 10 hervorgeht, so dass es keinem Zweifel anterliegt, dass der Aktionsstrom desglatten Muskels ein Dekrement aufweist und auch in diesem Punkte mit dem ausgeschnittenen quergestreiften Muskel des Kaltblüters überein- . stimmt. Der Einfluss der Ermüdung auf den Aktions- strom liess sich sehr deutlich erkennen. Bei zweiphasischen Aktionsströmen war in der Regel eine Verkürzung der ersten Phase und eine Verlängerung der zweiten Phase zu konstatieren (Fig. 11, 12). Ja die erste Phase kann sogar in manchen Fällen vollständig verschwinden, während die zweite Phase deutlich hervortritt (Fig. 13). Auch kann man eine Verminderung der Gipfelhöhe sowie Verspätung des Gipfels bei Er- müdung konstatieren, wodurch die Kurve des Aktionsstromes beim ermüdeten Muskel verflacht wird. Bei einphasischer Ableitung zeigt der Aktionsstrom eine deutliche Abnahme seiner Intensität sowie eine Verspätung des Gipfels (Fig. 14). Die Verkürzung der ersten Phase beim Aktionsstrom des er- müdeten Muskels kann dadurch erklärt werden, dass beim ermüdeten Muskel die Erregung langsamer anwächst und zurückgeht als beim unermüdeten Muskel. Es wird dann bei geeigneter Orientierung der Elektroden die erste Stelle noch in Erregung sein, eventuell noch nicht einmal das Maximum ihrer Erregung erreicht haben zu einer Zeit, wo bereits die Negativität der zweiten entfernteren Ab- leitungsstelle beginnt. Dadurch treten wieder die bereits erörterten Interferenzerscheinungen auf, die eine Verkleinerung beziehungs- weise ein vollkommenes Verschwinden der ersten Phase herbeiführen können, während die zweite Phase deutlich hervortritt. Die Ver- längerung des Erregungszustandes am ermüdeten Muskel kann aber nur dann zu der beschriebenen Veränderung der ersten Phase führen, wenn sich durch die Ermüdung die Dauer und die Fortpfanzungs- geschwindigkeit nicht gleich stark verändern. Erst dadurch kommt die erforderliche Phasenverschiebung zustande, welche zur Verkürzung der ersten Phase führt. Wäre diese Inkongruenz in der Veränderung der beiden Grössen nicht vorhanden, dann würde sich der Grundtypus der Kurve, das relative Verhalten der einzelnen Kurvenabschnitte zueinander, nicht ändern können, 90 R. F. Fuchs: da keine Phasenverschiebung zwischen der Kurve des nicht er- müdeten und ermüdeten Muskels eingetreten wäre; die Kurve des zweiphasischen Aktionsstromes beim ermüdeten Muskel könnte dann wohl gedehnter sein, niedrigere Gipfel aufweisen, aber die relative Beziehung der ersten Phase zur zweiten würde keine Änderung - erleiden können. Analoge Erscheinungen der Ermüdung, wie die am Aktionsstrom des glatten Muskels beobachteten, sind auch für den quergestreiften Muskel beschrieben worden, so dass auch bezüglich der Ermüdungs- erscheinungen zwischen den Aktionsströmen der glatten und quer- gestreiften Muskulatur eine weitgehende Übereinstimmung besteht. Die Versuche mit Ableitung des: Aktionsstromes an drei Stellen gestatten die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Er- regung im glatten Muskel zu messen, wenn wir das einemal die Elektroden 1 und 2, das anderemal die Elektroden 2 und 3 mit dem Galvanometer verbinden. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit. der Erregung im Retraktorenpräparat beträgt im Mittel aus 15 Ver- suchen berechnet den sehr geringen Wert von 1054 mm in der Sekunde. Je einmal wurden als Maximalwerte 3061 bzw. 4032 mm beobachtet, während als Minima je einmal Geschwindigkeiten von. 413 bzw. 501 mm gefunden wurden. Bei der Mehrzahl der Ver- suche liegst der Wert um 800 mm in der Sekunde. Die Ermüdung scheint wenigstens nach meinen bisherigen Ver- suchen einen beschleunigenden Einfluss auf die Fortpflanzungs- seschwindigkeit zu haben, denn in sechs diesbezüglichen Versuchs- reihen wurde fünfmal eine wesentliche Zunahme der Fortpflanzungs- geschwindigkeit der Erregung gefunden; einmal war keine wesentliche Zunahme und einmal sogar eine Abnahme konstatiert worden, wie die nachstehende Übersichtstabelle zeigt. VI V 1538 \Y IV 1268 Versuchs- Ableitung | Fort- ‚Ableitung Fort- reihe der Elektroden pflanzungs- der Elektroden | Pflanzungs- - ——. geschwindig- geschwindig- 1908 lund2 | 2und3 keit 2und3 | Lund keit Kar ihn sı u I 413 22. April V IE VE 965 IV V 844 v1 VII 1335 VI IX 4032 99 ) I 11 893 II II 820 N | vu V. 1270 IV \Y 640 200% N N ul \ unbrauchbare Versuchsreihe 08 | I II 829 II III 693 % ” Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel, 9] In dieser Tabelle bedeuten die römischen Zahlen die aufein- ander folgenden Nummern der Zuckungen, aus denen die Fort- pflanzungsgeschwindigkeiten berechnet wurden. Ausser dieser Zunahme der Fortpflanzungsgeschwindigkeit in den späteren Zuckungen war in den allerdings nur vier Serien um- fassenden Versuchen stets zu konstatieren gewesen, dassim Beginn der Versuche die Fortpflanzungsgeschwindigkeit zu- nächst abnimmt, wie das auch aus der Tabelle zu ersehen ist, indem in den angeführten Versuchen die aus der ersten und zweiten Zuckung berechnete Fortpflanzungsgeschwindigkeit grösser ist als die aus der zweiten und dritten Zuckung berechnete. Es würde sich auf Grund aller angestellten Versuche also ergeben, dass im Beginn der Versuche die Fortpflanzungsgeschwindigkeit eine geringe Abnahme erleidet, um später bedeutend zuzunehmen. Diese Ver- änderungen der Fortpflanzungsgeschwindigkeit lassen sich auf Grund verschiedener nicht unwahrscheinlich erscheinender Hypothesen erklären. Trotzdem verzichte ich auf eine theoretische Erklärung dieser Erscheinungen, weil ich die Zahl der Gesamtversuchsreihen noch für zu klein ansehe, um die beobachteten Erscheinungen als allgemein gültig ansehen zu dürfen. Wenn weitere Versuche über Ermüdung des Retraktoren- präparates die Beschleunigung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit als allgemein gesetzmässig ergeben sollten, dann bestünde hier ein bemerkenswerter Unterschied gegenüber dem quer- gestreiften Muskel. Denn die Versuche von E. Th. v. Brücke!) haben für den quergestreiften Muskel eine Abnahme der Fort- pflanzungsgeschwindiekeit mit der Ermüdung ergeben. Man müsste dann daran denken, dass dieser Unterschied in meinen Versuchen wohl durch die Gehirnreizung wesentlich bedingt sei. Übrigens sei hier noch besonders betont, dass das Retraktorenpräparat sehr leicht ermüdbar ist. In meiner vorläufigen Mitteilung hatte ich als Wert der Fort- pflanzungsgeschwindigkeit der Erregung 700 mm/see angegeben, weil ich die durch die Ermüdung bedingten hohen Werte in die Berechnung des Mittelwertes nicht mit einbezogen hatte, während sie bei der Ermittelung des Wertes von 1034 mm/see mitgerechnet worden sind. l) Ernst Th. v. Brücke, Über die Beziehung zwischen Aktionsstrom und Zuckung des Muskels im Verlaufe der Ermüdung. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 124. 1908. R. F. Fuchs: Ne) D Das Latenzstadium der elektrischen Vorgänge lässt sich bestimmen, wenn der Abstand der ableitenden Elektrode vom Ort der Reizung sowie die, Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im Muskel bekannt ist. Auf Grund von 25 brauchbaren Versuchen hat sich als Mittelwert für das Latenzstadium des Aktionsstromes die Zeit von 0,0355 sec ergeben. Als kleinster Wert wurde 0,0211 sec und als grösster 0,0629 see bestimmt. Die Mehr- zahl der Beobachtungen (14 von 25) ergibt Werte von 0,03 bis 0,035 sec. In meinen Versuchen konnte häufig, allerdings nicht immer, eine wesentliche Verlängerung des Latenz- stadiums mit der Ermüdung des Präparates beobachtet werden, und gerade die höheren Werte wurden bei den späteren Zuckungen gefunden. Das angeführte Maximum von 0,0629 see ist bei der neunten Zuckung einer Ermüdungsreihe gefunden worden, deren erste Zuckung ein Latenzstadium des Aktionsstromes von 0,0298 sec ergibt. In dem oben angeführten Mittelwert von 0,0355 sec sind auch die Ermüdungsversuche mit eingerechnet worden, weshalb dieser Wert erheblich höher ist, als der in meiner vorläufigen Mitteilung angegebene, der nur aus einigen ersten Zuckungen verschiedener Präparate bestimmt worden war. Bei der Beurteilung des angegebenen Mittelwertes muss aber noch berück- sichtigt werden, dass er sich auf die Latenzzeit nach einer mecha- nischen Reizung des Gehirns bezieht. Er ist deshalb sicher- lich etwas zu gross, da ja in diesem Latenzstadium auch noch die unbekannte Latenzzeit der im Gehirn nach der Reizung vor sich gehenden Erresungs- und Überleitungsprozesse mit inbegriffen ist. Und in der Tat haben Versuche mit elektrischer Reizung des freien Bauchstranges wesentlich kürzere Latenzzeiten er- geben als nach mechanischer Gehirnreizung. Da aber das Versuchs- material noch nicht ausreicht, um einen guten Mittelwert für die Latenz bei Reizung des Bauchstranges anzugeben, sehe ich von der Mitteilung dieser Zahlen ab. Ich möchte nur noch erwähnen, dass sich aus dem Vergleich der Latenzzeiten bei direkter Gehirnreizung und Bauchstrangreizung Aufschlüsse über den zeitlichen Verlauf der Erregungsprozesse im Gehirn des Sipunculus gewinnen lassen. Gerade auch nach dieser Richtung hin hoffe ich später diese Untersuchungen fortsetzen zu können. Wie bereits hervorgehoben wurde, ist das Latenzstadium der Muskelverkürzung, das mechanische Latenz- Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 93. stadium, ein wesentlich grösseres als jenes der elek- trischen Vorgänge. Auf Grund von 28 Versuchen ergab sich als Mittelwert für das mechanische Latenzstadium des Retraktoren- präparates die Zeit von 0,1276 see. Das Maximum der Latenzzeit wurde bei einem ermüdeten Präparat mit 0,4088 see beobachtet, dessen erste Zuckung eine Latenzzeit von 0,1554 see aufwies; als Minimum wurden 0,0646 sec beobachtet, die Mehrzahl der Versuche zeiete Werte zwischen 0,08—0,09 see. Eine so regelmässige Ver- änderung des mechanischen Latenzstadiums durch die Ermüdung, wie sie bei jenem der elektrischen Vorgänge beobachtet werden konnte, trat in meinen Versuchen nicht deutlich hervor. Es rührt dies zweifellos davon her, dass die Präparate manchmal sehr geringe und ausserordentlich träge verlaufende Zuekungen ausführten, deren Beginn schwer ganz genau zu bestimmen ist. Jedenfalls variiert die Dauer des mechanischen Latenzstadiums innerhalb sehr viel weiterer Grenzen als jene des elektrischen Latenzstadiums. Vermutlich wird die Dauer des mechanischen Latenzstadiums sehr wesentlich durch die Dehnung des ausserordentlich dehnbaren Prä- parates beeinflusst, welche bei der sorgfältigsten Präparation nicht ganz zu umgehen ist. Auch andere Faktoren scheinen von Einfluss zu sein, so dass gerade über die Veränderungen der Dauer des mechanischen Latenzstadiums neue systematische Untersuchungen wünschenswert erscheinen. Sowohl v. Uxküll, als Buytendyk geben für den unermüdeten Muskel das mechanische Latenzstadium auf Y/sı see — 0,042, bzw. 0,045 — 0,055 an, doch finden sich bei Buytendyk auch Werte von 0,08 — 0,09 see für ermüdete Prä- parate. In meiner vorläufigen Mitteilung hatte auch ich die Dauer des mechanischen Latenzstadiums auf 0,04 see angegeben, aber dieser kleine Wert ist durch einen Rechenfehler bedinet, indem ich die Zeitmarkierung anstatt mit 0,2 see irrtümlich mit 0,1 sec in die Rechnung einsetzte, so dass also die häufigsten Werte von 0,08 — 0,09 see sich auf die Hälfte reduzierten. Aus allen meinen Versuchen über das Verhalten des Aktions- stromes bei der langdauernden Kontraktion der Retraktoren, welche nach einer einzelnen mechanischen Gehirnreizung eintritt, und die ganz den Anschein einer tetanischen Zusammenziehung zeigt, geht hervor, dass diese Kontraktion trotzihrerlangen Dauer kein Tetanus ist, sondern einer Einzelzuckung ent- spricht. Denn alle Untersuchungen über die Aktionsströme bei 94 R. F. Fuchs: tetanischer Zusammenziehung der quergestreiften Muskulatur (v.Frey!), Wedenskii?), Garten?), Buchanan) u. a.) haben als gesetz- mässig einen oszillatorischen Charakter der Aktionsströme ergeben, während in meinen Versuchen bei der langdauernden Kontraktion ‚der Retraktoren nur eine einzelne Stromschwankung auftritt. Dieses Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist aber in einem Punkt besonders bemerkenswert. Alle Untersuchungen seit Helm- holtz haben ergeben, dass sowohl die willkürlichen wie auch die reflektorischen Kontraktionen des quergestreiften Muskels, oder solche durch direkte Reizung der nervösen Zentralorgane ausgelöste stets einen tetanischen Charakter haben, während in meinen Versuchen ‚das Retraktorenpräparat vom Sipuneulus nach mechanischer Gehirn- reizung eine allerdings sehr lange dauernde, aber doch einfache Zuckung ausführt. Dieses Verhalten kann in zweierlei Weise be- sründet sein; einmal dadurch, dass das Zentralnervensystem der Würmer bei direkter oder auch indirekter Einzelreizung nicht wie jenes der Vertebraten rhythmische, sondern einzelne Impulse den Erfolgsorganen zugehen lässt, oder zweitens dass das Retraktoren- präparat nicht imstande ist, eine tetanische Verkürzung auszuführen, selbst wenn ihm rhythmische Impulse zugeleitet werden. Bereits bei den Versuchen mit Einzelschlägen auf das Gehirn zeigte es sich, dass in manchen Fällen nach Abheben des Glas- hämmerchens vom Gehirn eine neue elektrische Stromschwankung auftrat, in anderen Fällen aber nicht. Der Kürze halber will ich diese Erregung „Entlastungserregung“ nennen, obgleich ich, wie be- reits angegeben wurde, glaube, dass die bei der Entlastung er- folgende Erschütterung (mechanische Reizung) des Gehirns die Reizung bewirkt. Die weiteren Versuche zeigten nun, dass bei ein und demselben Präparat eine zu einem gegebenen Zeitpunkt un- wirksame Entlastungsreizung wirksam wurde, wennsiespäter 1) M. v. Frey, Über die tetanische Erregung von Froschnerven durch den konstanten Strom. Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. 1883. 2} N. Wedenskii, Über die telephonischen Erscheinungen im Muskel bei künstlichem und natürlichem Tetanus, Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. 1883. 3) Siegfried Garten, Über rhythmische elektrische Vorgänge im quer- ‚gestreiften Skelettmuskel. Abhandl. d. math.-physik. Klasse d. k. sächs. Gesellsch. .d. Wissensch. zu Leipzig Bd. 26. 1901. 4) Florence Buchanan, The electrical response of muscle in different kinds of persistent contractions. Journ. of physiol. vol. 27. 1901. Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 95 erfolgte, oder dass in manchen Versuchen die erste Belastungs- reizung wirksam war, die darauf folgende Entlastungsreizung un- wirksam blieb, aber eine dieser kurz folgende neue Belastungs- reizung wieder eine Erregung hervorrief (Fig. 15). Immerhin könnte man gegen diese letztere Versuchsanordnung den Einwand geltend machen, dass vielleicht der Entlastungsreiz schwächer ist als der Belastungsreiz, weil der Elektromagnet den mit dem Glashämmerchen versehenen Anker infolge des remanenten Magnetismus nicht ganz so plötzlich loslässt, wie der Anker angezogen wird. Obgleich dieser Einwurf nicht sehr schwerwiegend erscheint, so ist er doch wenigstens für die zuerst beschriebene Anordnung, wo es sich in beiden Fällen um Entlastungsreize handelt, hinfällig. Es gibt dem- nach eine Zeit, in der eine einer vorausgegangenen wirksamen Ge- hirnreizung folgende neue Reizung unwirksam ist. Wir haben es also auch hier mit einem Refraktärstadium zu tun, wie es aus zahlreichen Versuchen am Herzen bekannt ist. Allerdings lässt sich auf Grund dieser Versuche nicht entscheiden, ob dieses Refraktär- stadium den nervösen Elementen des Gehirns oder dem Muskel selbst zuzuschreiben ist. Für die glatte Muskulatur des Froschmagens stellt zwar Paul Schultz!) die Existenz eines Refraktärstadiums in Abrede, denn er hat in seinen Versuchen selbst für Zeitabstände von 10” see eine Steigerung der Zuckungshöhe durch den zweiten Reiz beobachtet. Aber selbst wenn das von P. Schultz für den Frosehmagen angenommene Fehlen eines Refraktärstadiums zutrifft, so würde daraus noch nicht gefolgert werden dürfen, dass die Retraktoren von Sipuneulus kein Refraktärstadium besitzen. Da ich bei direktem Tetanisieren des freien Bauchstranges mit Induktions- strömen, also bei Ausschluss der Gehirnreizung, auch Er- scheinungen beobachtet habe, die gleichfalls für ein Refraktär- stadium sprechen und den später zu beschreibenden, bei tetanischer mechanischer Gehirnreizung eintretenden ganz analog sind, so glaube ich allerdings die Frscheinungen des Refraktärstadiums auf die glatten Muskeln des Sipunculus-Retraktors selbst be- ziehen zu können. Am quergestreiften Froschmuskel konnte in den analogen Ver- suchen ein solches Refraktärstadium nicht nachgewiesen werden, wie I) Paul Schultz, Zur Physiologie der längsgestreiften glatten Muskeln der Wirbeltiere. IV. Beitrag. Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. Suppl. 1903. 96 R. F. Fuchs: Fig. 16 zeigt. Damit ist aber noch keineswegs erwiesen, dass der quer- gestreifte Muskel kein Refraktärstadium besitzt. Es könnte ein solches vorhanden sein, aber von wesentlich küzerer Dauer als beim slatten Muskel, was durch besondere Versuche nachzuweisen wäre. Wie ich er- fahren habe, haben die Herren Prof. Garten und Hofmann solche Versuche angestellt, ohne sie veröffentlicht zu haben, da sie ihre Versuche aus äusseren Gründen vorzeitig abbrechen mussten. Wir wenden uns im folgenden dem Verhaltender Aktions- ströme des Retraktorenpräparates bei tetanischer, mechanischer Gehirnreizung zu. Auch in diesen Versuchen wurden sowohl zweiphasische wie auch einphasische Aktionsströme ab- geleitet. Trotz der grossen Mannigfaltigkeit der Bilder, welche die registrierten Aktionsströme auch hier aufwiesen, war ein charakte- ristisches Verhalten allen gemeinsam, die verzeichneten Strom- schwankungen folgten nurineinzelnen grösseren, aller- dings nicht gleich langen Intervallen aufeinander. Von- einem Rhythmus der Oszillationen war nichts zu erkennen, weder handelte es sich um einen Einzelrhythmus der Stromschwankungen noch um eine Übereinstimmung mit der Zahl der Reizungen, wie solche in den Versuchen von Burdon Sanderson, Buchanan, Garten, Bernstein und Tschermak u. a. beobachtet wurden. Wie die Figuren 17 und 18 zeigen, folgen in den Kurven einzelne Stromschwankungen, welche durch lange Intervalle mehr oder minder vollkommener Stromlosiekeit getrennt sind. Ja es kann sogar vor- kommen, dass auf die erste Stromschwankung während der ganzen Dauer der Registrierung keine einzige neue erfolgt, wie Fig. 19 zeigt. Diese Versuche zeigen also eine voll- ständige Übereinstimmung mit denen bei sich in grösseren Zeitabständen folgenden Belastungs- und Entlastungsreizungen; sie zeigen, dass durch mechanische Gehirnreizung kein Tetanus des Retrak- torenpräparates zu erzielen ist. Wie bei den Einzelreizungen konnten auch bei tetanischer Hirnreizung häufig sehr deutliche drei- phasische Aktionsströme registriert werden (Fig. 20), bei denen namentlich die dritte Phase sehr langdauernd ist, Auch beim Fehlen jeglicher Zusammenziehung konnten noch Aktionsströme beobachtet werden. Diese Beobachtung wurde wiederholt sowohl bei Einzelreizungen als auch bei Tetanisieren des Gehirns gemacht (Fig. 20a und b). Manchmal war das Ein- treten einer. neuen Stromschwankung von einer entsprechenden Ver- Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. 97 stärkung der Verkürzungskurve gefolgt, so dass diese dann einen mehr oder weniger deutlichen Knick zeigte. Ähnliches wurde auch bei Aufeinanderfolge der Belastungs- und Entlastungsreize gelegent- lich konstatiert. Die später eintretenden Stromschwankungen wurden stets all- mählich kleiner und kleiner, die erste Schwankung war die grösste (Fig. 18). Martius!) hat bei tetanischer Reizung des quergestreiften Muskels gleichfalls eine rasche Abnahme der Einzel- schwankungen gesehen, ja sie verschwinden sogar nach einigen Sekunden ganz, trotzdem der Tetanus im Muskel fortbesteht. Wenn auch in meinen Versuchen eine gewisse Ähnlichkeit mit den Beobachtungen von Martius besteht, so unterscheiden sie sich doch wesentlich darin, dass tetanische Schwankungen desAktionsstromes von vornherein nicht vorhanden sind. Bei zweiphasischen Aktionsströmen zeigte sich vor allem auch die starke Abnahme der ersten Phase; es sind das Erscheinungen, die ich bereits bei Analyse der Ermüdungsphänomene des Aktionsstromes nach Einzel- reizen besprochen habe. Eine der merkwürdigsten Erscheinungen war das häufige Auftreten von Doppelschwankungen bei teta- nischer Reizung (Fig. 21). Die Kurve des Aktionsstromes sieht dann einer zweigipfligen Summationskurve einer Muskelzuckung ähnlich. Manchmal folgen sich geradezu Serien von Doppelschwankungen (Fig. 22). Bei mechanischer Einzelreizung habe ich diese eigen- artigen Doppelschwankungen nie beobachtet. Ich vermute deshalb, dass sie mit der raschen Reizfolge zusammenhängen. Eine durch Versuche gestützte Erklärung für ihr Zustandekommen kann ich allerdings noch nicht geben. Vielleicht kann man annehmen, dass im ersten Beginn der Erregung ein neuer Reiz noch wirksam ist, während er von einem gewissen Stadium der Erregung an seine Wirksamkeit verliert. Durch ein solches Verhalten könnten Doppel- schwankungen erzeugt werden. Ist dann das Refraktärstadium des Muskels vorüber, so beginnt das Spiel von neuem, wodurch einander folgende Serien solcher Doppelschwankungen auftreten würden. Ich hoffe später diese Vermutung einer experimentellen Prüfung unter- ziehen zu können. Durig?) hat am wasserarmen quergestreiften 1) F. Martius, Historisch kritische und experimentelle Studien zur Physio- logie des Tetanus. Arch. f. Anat. u, Physiol., physiol. Abt. 1883. 2) Arnold Durig, Über die elektromotorischen Wirkungen wasserarmer Muskeln. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 97. 1903. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bü. 136. Ü ge 98 R. F. Fuchs: Muskel beobachtet, dass nach einer Einzelreizung nicht eine ein- fache Stromschwankung eintritt, sondern dass der ersten Schwankung eine oder mehrere wellenförmige Schwankungen nachfolgen. Aller- dings muss ich ausdrücklich betonen, dass in meinen Versuchen eine Austrocknung der Präparate nicht stattgefunden hat, da die Muskeln in ganz kurzen Abständen mit Seewasser befeuchtet wurden. Ausser- dem spricht in meinen Versuchen gegen eine Wasserverarmung des Muskels der Umstand, dass die Doppelschwankungen nur bei teta- nischer Reizung beobachtet wurden. Nun hat E. Th. von Brücke gleichfalls analoge Doppelschwankungen (Adventivschwankungen) an frischen, nicht wasserarmen, quergestreiften Muskeln beobachtet, bei denen eine Doppelreizung des Präparates vielleicht stattgefunden hat. Eine solche Deutung würde mit der von mir oben angeführten gut übereinstimmen. Über die Dauer des Refraktärstadiums kann ich zunächst noch keine Angaben machen; jedoch geht aus meinen Versuchen bereits hervor, dass es bei verschiedenen Präparaten sehr verschieden lange dauert, ja es wechselt sogar bei ein und demselben Präparat. Welche Momente hierfür von wesentlichem Einfluss sind, vermag ich einstweilen noch nicht mit Sicherheit anzugeben. Doch habe ich auf Grund der bisher angestellten Versuche den Eindruck gewonnen, dass die Reizstärke, Grösse und Dauer einer vorangegangenen Er- regung sowie die Ermüdung eine wesentliche Rolle bei der Ver- änderung der Dauer des Refraktärstadiums spielen. Endlich sei noch erwähnt, dass auch vom Hautmuskel- schlauch des Sipuneulus mittels des Saitengalvano- meters Aktionsströme verzeichnet werden konnten. Die Fig. 23 zeigt einen solchen Versuch bei einer Muskelkontrak- tion nach mechanischer Reizung des Bauchstranges. Da meine Ver- suche über das Verhalten des Hautmuskelschlauches noch nicht ab- geschlossen sind, will ich mich mit dieser Bemerkung einstweilen begnügen. Der Vollständiekeit der Versuche wegen will ich erwähnen, dass ich auch versucht habe, vom hinteren glatten Schliessmuskel von Pecten Aktionsströme mit dem Saitengalvanometer zu verzeichnen. Leider sind bisher alle an diesem Objekte angestellten Versuche resultatlos verlaufen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass dieses Misslingen nur durch eine mangelhafte Methodik bedingt ist, da ich meine Versuche bisher am ganzen Tier angestellt habe. Untersuchungen Die elektrischen Erscheinungen am glatten ‚Muskel, 99 an isolierten Nervmuskelpräparaten, analog denen von Anodonta, dürften vielleicht positive Resultate ergeben. Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel, insbesondere das Vorhandensein einer Refraktärperiode zeigen eine gewisse Ähn- lichkeit mit dem Verhalten des Herzmuskels, so dass die Vermutung nahe gelest wird, dass der Herzmuskel nicht nur in anatomischer, sondern auch in physiologischer Hinsicht eine Über- gangsstufe vom glatten zum quergestreiften Muskel darstellt. Ausser- dem zeigen die Versuche, dass den anatomischen Strukturunterschieden der verschiedenen Muskelarten auch feinere Unterschiede der Funk- tion entsprachen, se dass wir, auf den Anschauungen der Entwick- lungsmechanik fussend, vielleicht annehmen dürfen, dasssich mit der Veränderung der Funktion allmählich aus den glatten Muskeln die quergestreiften als höhere Diffe- renzierungsprodukte im Laufe der Phylogenese ent- wickelt haben. Tafelerklärung. Fig 1. Zweiphasischer Aktionsstrom vom Sipunculus retractor.. Von oben nach unten folgen: Zeitmarkierung, Reizmarkierung, Galvanometerschwankung. Verkürzung. Von links nach rechts zu lesen, alle folgenden Figuren von rechts nach links, Fig. 2. Zweiphasischer Aktionsstrom vom Gastrocnemius des Frosches nach Nervenreizung. Fig 3. Dreiphasischer Aktionsstrom vom Sipunculus retractor,. Von oben nach unten folgen: Galvanometerschwankung, Verkürzung, Reizmarkierung, Zeit- markierung. Fig. 4. Wie Fig. 3. Fig. 5. Aktionsstrom vom Sipunculus retractor, doppelphasischer Ableitungs- versuch mit grossem Abstand der Elektroden, wodurch einphasische Kurven erhalten wurden. Fig. 6. Zweiphasischer Aktionsstrom vom Sipunculus retractor, Verkleinerung der ersten Phase bei kurzem Abstand der Elektroden voneinander. Fig. 7. Zweiphasischer Aktionsstrom vom Sipunculus retraetor, Schwache zweite Phase bei kurzem Abstand der Elektroden voneinander. Fig. 8. Zweiphasischer Aktionsstrom vom Sipunculus retractor. Steiler Anstieg der ersten Phase, gedehnter Abfall der zweiten Phase. Fig. 9. Einphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor. Ableitung der Elektroden 1 und 3. Zuckung Nr. I. 1% 100 R.F. Fuchs: Die elektrischen Erscheinungen am glatten Muskel. Fig. 10. Dasselbe Präparat wie Fig. 9. Ableitung der on 2 und 3. Fig. Fig Fig. Fig. Fig. Zuckung Nr. II. Nachweis des Dekrements. 11. Zweiphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor. Zuckung Nr. I. 12. Dasselbe Präparat wie Fig. 11, Zuckung Nr. IV. Verminderung der ersten Phase, Verstärkung der zweiten Phase. | 13. Dasselbe Präparat wie Fig. 11, Zuckung Nr. VI. Fehlen der ersten Phase. 14. Einphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor. Dasselbe Präparat wie Fig. 9. Zuckung Nr. VI. Abnahme des Aktionsstromes durch Er- müdung, 15. Zweiphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor. Refraktärstadium. Ein wirksamer Belastungsreiz, der folgende Entlastungsreiz ist unwirksam, der spätere Belastungsreiz ist wieder wirksam. . 16. Zweiphasischer Aktionsstrom vom Gastrocnemius des Frosches. Die beiden einander folgenden Reize sind wirksam. . 17. Zweiphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor bei tetanischer Gehirnreizung. Refraktärperiode. . 18. Zweiphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor bei tetanischer Gehirnreizung. Refraktärperioden und Doppelschwankungen. Verstärkung der Kontraktion nach dem Eintritt neuer Stromschwankungen. . 19. Zweiphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor bei tetanischer Gehirnreizung. Auftreten einer einzigen Schwankung. . 20. Zweiphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor mit langer dritter Phase nach tetanischer Gehjrnreizung. Auftreten einer einzigen Schwankung. . 20a. Einphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor bei fast fehlender Kontraktion. . 20b. Desgleichen wie Fig. 20a. . 21. Einphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor. Anfangs Doppel- schwankung dann Refraktärperioden mit einfachen Schwankungen. . 22. Einphasischer Aktionsstrom des Sipunculus retractor mit Serien von Doppelschwankungen bei tetanischer Gehirnreizung. . 23. Aktionsstrom des Hautmuskelschlauches von Sipunculus nach mecha- nischer Einzelreizung des Bauchstranges. Pflüger Archiv für die ges Physiologie. Bä.136. RED fig1 aa — — — — — 000 Mu nn BE Fig3 ee . nz m a m —— ——Yappnn — mM ea —, I MG r\% 101 Zur Psychologie des konzentrisch eingeengten Gesichtsfeldes. Von A. Pick. (Vorgetragen auf dem Kongresse für exper. Psychologie in Innsbruck 1910.) Seit der Auffindung der funktionellen konzentrischen Gesichts- feldeinengung'!) haben in der Deutung derselben und ihrer Folgen psychologische bzw. psychogene Theorien bis in die neueste Zeit eine überwiegende Rolle gespielt; wenn dementsprechend die Psyche des Kranken oder präziser die durch die Auffassung des Gesichtsfeldes zustande gekommene Vorstellung von demselben seitens des Kranken dabei die Hauptrolle spielt, muss es erst recht auffallen, dass, soweit ich sehe, keiner der mit dieser Frage befassten Autoren diesem Gesichtspunkte Rechnung getragen; ich habe mich in der betreffenden Literatur ziemlich genau umgesehen und finde mit einer Ausnahme nirgends auch nur eine Andeutung darüber, dass einer der Autoren den Kranken über sein Gesichtsfeld befragt hätte. Bei Fall 79 von v. Reuss (Das Gesichtsfeld bei funkt. Nerven- leiden 1902 p. 41) findet sich folgendes: „Zu notieren ist, dass er (se. der Pat., nichttraumatischer Neurastheniker) während der Untersuchung fragt: Wie kommt es, dass mein Gesichtsfeld immer enger wird? Er beschreibt nachher, was er unter Gesichtsfeld ver- steht: ‚Die Fläche, in welche die Marke hineinrückt, wird immer kleiner‘ und modelliert dabei mit den Händen die halbe Kugelfläche des Perimeters.“ — Eine Verwertung hat diese interessante Beob- achtung nicht gefunden ’?). 1) In der Folge abgekürzt: k. G.-E. 2) Vielleicht mag sich auch noch da oder dort in der weitschichtigen und verstreuten Literatur etwas dem hier Berichteten Identisches finden; aber gewiss ist die Kenntnis davon keine allgemeine, in die Lehr- und Handbücher ist sie gewiss nicht übergangen. 102 A. Pick: Die nachfolgenden Zeilen sind nun bestimmt, von einschlägigen Tatsachen Kenntnis zu geben, die gewiss für die ganze Auffassung der k.G.-E. nicht ohne Belang sind. Seit vielen Jahren pflege ich in einschlägigen Fällen die Kranken nach der Form ihres Gesichtsfeldes zu fragen. Natürlich wird die Frage nicht so, wie sie hier formuliert ist, gestellt, sondern in einer dem Intellekt des Betreffenden angepassten Form; es gelingt ganz regelmässig durch die zuweilen noch etwas erläuterte Frage: „Was sehen Sie von mir, wenn Sie mir ruhig ins Auge blicken?“ von dem dem Examinierenden gegenüber sitzenden Kranken eine zutreffende Antwort zu bekommen, auch dann, wenn es sich, wie so oft, um ein Individuum von ganz einfacher Bildung handelt. - Ob eine besondere Veranlassung zu dieser Gepflogenheit geführt, ist mir nicht erinnerlich, ich darf vielmehr annehmen, dass sie ihren Ausgangspunkt genominen von der von mir Seit jeher gepflegten Methode, den Kranken selbst nach dem Subjektiven seiner ver- schiedenen seelischen Vorgänge zu fragen; es handelt sich dabei offenbar um ein Analogon zu der jetzt neuerlich namentlich von der Würzburger Schule ausgebildeten „Ausfragemethode‘, nur hier auf das von der Natur am Menschen angestellte Experiment angewendet. Entsprechend der seit vielen Jahren geübten Gepflogenheit (die Be- obachtung von v. Reuss, die später kam, bot eine befriedigende Übereinstimmung) sind die hier mitzuteilenden Tatsachen auch den Herren an der Klinik als etwas Bekanntes geläufig; aus diesem Grunde kann ich auf die Mitteilung einzelner klinisch wiederzugebender Fälle hier verzichten, vielmehr stellt das Nachstehende im all- gemeinen den Niederschlag dessen dar, was sich in den Jahren, seit darauf geachtet worden, bezüglich der pathologischen Fälle er- geben hat. Bei solchen Kranken, die bezüglich ihres Gesichtsfeldes nichts Abnormes darbieten, lautet ebenso wie bei Gesunden die Antwort auf die zitierte Frage, dass sie den ihnen gegenübersitzenden Exami- nierenden in ganzer Figur sehen, zuweilen werden die untersten Partien als undeutlich gesehen angegeben; die Kranken mit ver- schiedenen Formen funktioneller Gesichtsfeldeinschränkung dagegen machen Angaben, aus denen hervorgeht, dass der Umfang dessen, was sie sehen, je nach der Grösse ihres früher oder später durch genauere Untersuchung am Perimeter festgestellten Gesichtsieldes in entsprechenden Grenzen schwankt. Die Antworten erfolgen prompt, Zur Psychologie des konzentrisch eingeengten Gesichtsfeldes, 103 meist ohne längere Überlegung und lassen schon wegen der Art der Beschreibung („bis hierher!“ mit der Hand markiert, oder „bis unter die Krawatte!“) einen Zweifel bezüglich ihrer Richtigkeit und Glaub- würdiekeit nicht aufkommen. Es ergibt sich nun, wie gesagt, meist ein Gleichgang zwischen der am Perimeter festgestellten Gesichtsfeldeinschränkung und Um- fang des subjektiven Gesichtsfeldes; besopders schön und ausser- ordentlich belehrend lässt sich gelegentlich bei langsam schwindenden Dämmerzuständen nach hysterischen Anfällen oder ähnlich verlaufenden Ganserzuständen (Haftpsychosen) beobachten, wie mit der allmäh- lichen Ausbreitung des objektiven Gesichtsfeldes auch der Kreis des „Gesehenen“ sich in gleichem Maasse ausweitet; bei einseitiger stärkerer Gesichtsfeldeinengung (es wird natürlich auch jedes Auge für sich geprüft) zeigt sich z. B., dass der Kranke mit dem der stärkeren Einengung entsprechenden Auge vom Examinierenden nur den Kopf samt Halskragen sieht, während er für das andere Auge mit dem weiteren, aber doch eingeengten Gesichtsfelde die untere Grenze des Gesehenen in die untere Thoraxgrenze des Examinierenden verlegt). Besonders lehrreich war die nachstehende Beobachtung, die über- dies zeigt, wie prägnant sich die Erscheinungen selbst bei geringer Intelligenz darstellen. Es handelte sich um einen Tagelöhner, der uns von früheren Aufenthalten auf der Klinik als traumatischer Hysterikus bekannt?) war und letztlich wegen eines abortiv verlaufenden Delirium tremens zur Klinik gekommen war; er zeigte auch diesmal auf der Seite der verletzt gewesenen und an der Narbe des amputierten Fingers ausserordentlich schmerzhaften Hand sensible und sensorische Hemi- 1) Von einer neuesten Beobachtung ausgehend, will ich noch bemerken, dass die Kranken die Partien rund um das eingeschränkte Gesichtsfeld in der Regel nicht seheu; in diesem Falle jedoch gab die Kranke spontan an, dass sie um das Gesehene herum ganz schwarz sehe; nach der Ausdehnung des „Schwarzen“ näher befragt, umschrieb sie dasselbe durchaus dem normalen Umfang des Ge- sichtsfeldes entsprechend, also nach aussen weiter reichend. Ich will nur be- merken, dass vereinzelt ähnliche Beobachtungen auch bei der Gesichtsfeld- einschränkung in der Hemicrania concomitata gemacht worden sind. 2) Zur Vorsicht sei hier ausdrücklich angemerkt, dass er seit langem für den fehlenden Finger Rente bezieht, im übrigen aber seiner Arbeit nach- geht und niemals seither in die Lage kam, wegen seiner kleinen Rente „queru- lieren“ zu müssen. 104 A. Pick: anästhesie in typischer Anordnung starke Gesichtsfeldeinschränkung auf dem eleichseitigen Auge, bei solcher mässigen Grades an dem anderen Auge. Es lag nun nahe, bei diesem Kranken den bekannten von Mach (Analyse der Empfindungen, letzte Auflage, S. 13) be- schriebenen und illustrierten Versuch der Krause’schen „Selbst- schauung“ zu wiederholen; das Resultat desselben entsprach durchaus der Erwartung; der Kranke gab beim Sehen mit dem stärker ein- geengten (s. v. v.) Auge an, dass er nur seine Fussspitzen sehe, während beim Sehen mit dem anderen Auge auch noch die Vorder- fläche der Oberschenkel als gesehen angegeben wurde. Mit Rücksicht auf die bekannten von kampimetrischen Unter- suchungen hergenommenen Einwendungen Schmidt-Rimpler’s gegen die Bedeutung der k.G.-E. wurden auch solche gelegentlich an entsprechenden Fällen vorgenommen. Das Resultat derselben war ein verschiedenartiges; in einzelnen Fällen ergab sich bei Prüfung aus grösserer Entfernung auch die erwartete Erweiterung des subjektiven Gesichtsfeldes; in einzelnen Fällen blieb es bei dem „röhrenförmigen“ Gesichtsfelde; doch habe ich, ohne das durch Zahlen präziser belegen zu können, den Eindruck, dass das letztere seltener vorkommt. Die hier mitgeteilten Tatsachen geben Anlass zu mancher Korrektur der hisher bezüglich der k. G.-E. geläufigen Anschauungen. Zunächst bezüglich des angeblichen Nichtwissens der Kranken von ihrer G.-E., das mit dem hier mitgeteilten in vollem Widerspruch steht; richtig ist nur, dass die Kranken sich spontan nicht bezüglich ihres Gesichtsfeldes äussern, offenbar weil sie die Form desselben nicht weiter beachten !); sie verhalten sich aber diesbezüglich nicht anders als gelegentlich Kranke mit organisch bedingten Hemianopsien, die ihren Gesichtsfelddefekt ebenfalls kennen, ihn aber nicht be- achten bzw. nichts über denselben sagen; dass aber anderseits ebenso wie z. B. Hysterische von ihrer k.G.-E., auch Kranke mit organisch bedingter Hemianopsie nichts von ihrem Gesichtsfelddefekt wissen, ist wohl allgemein bekannt. Wie prägnant aber das Bewusstsein von der Form des Gesichts- feldes gelegentlich ist, zeiet die Antwort einer offenbar etwas 1) Gelegentlich klagen die Kranken über das nachträglich als mit stärkerer k.G.-E. behaftet erwiesene Auge; es stellt sich aber die dann stärkere Herab- setzung des Visus als Ursache der Klage dar (vergleiche dazu eine alte Be- obachtung von Thomsen und Oppenheim. Arch. f. Psych. Bd. 15 3. 580). Zur Psychologie des konzentrisch eingeengten Gesichtsfeldes. 105 künstlerisch veranlagten Hysterika, die in der beschriebenen Weise befragt, sofort antwortete, sie sehe den Fragenden wie „ein Bild im Medaillon“. Das zuvor Gesagte gilt übrigens per parenthesin auch bezüglich anderer Anästhesien der Hysterischen, indem sie aller- dings öfter nichts von diesen wissen; es gibt aber doch genug solcher Kranker, die recht wohl Kenntnis vom Zustande ihrer Sensi- bilität haben. Sieht man nun zu, woher sich die landläufige Ansicht ableitet, so zeigt sich, dass es sich dabei nicht um den eigenen Angaben der Kranken entstammende Feststellungen handelt, sondern um eine aus ‚dem objektiven Verhalten der Kranken, aus der normalen Orientierung ‚derselben gezogene Schlussfolgerung. Erst durch die hier gemachten Mitteilungen erscheint mithin die bisher allgemein festgehaltene An- sicht über die Vorstellung der Hysterischen von ihrem Gesichtsfelde als berechtigt erwiesen. Aber auch die bezüglich der Orientierung bei funktioneller k. G.-E. allgemein festgehaltene Ansicht ist nicht durchaus zutreffend ; . vielmehr ist die von einzelnen Autoren (v. Reuss, Oppenheim u.a.) gemachte Angabe, dass die Orientierung gelegentlich eine mangel- hafte ist, die richtige. Es scheinen dabei verschiedene Momente von Bedeutung; einmal der Bewusstseinszustand: in Fällen von Haft- psychose ist zur Zeit stärkerer Bewusstseinstrübung bei stärkerer k. G.-E. die Orientierung oft recht mangelhaft; die Kranken stossen z. B. an die Türpfosten, an schräg gegen sie herankommende Per- sonen; ähnlich wirkt auch Herabsetzung der Sehschärfe; so berichtet schon v. Reuss (l. ec.) von Störungen der Orientierung bei K. G.-E. mit Visus °ıs; es erscheint mir sogar wahrscheinlich, dass dieses Moment in der Wirkung der Bewusstseinstrübung das wesentliche ist. Später tritt anscheinend Gewöhnung an die k.G.-E. ein, und in solchen für die allgemein festgehaltene Auffassung offenbar vor- bildlich gewordenen Fällen ist die Orientierung dann eine prompte; €s zeigt sich demnach, dass auch in dieser Hinsicht die Kranken mit funktioneller k. G.-E. sich nicht so prinzipiell von den Kranken mit organisch bedingten Gesichtsfelddefekten unterscheiden, wie man das früher angenommen. Zum Schluss möchte ich noch ein Wort sagen bezüglich des gerade bei der k. G.-E. so viel diskutierten Einflusses der Suggestion und ihrer Bedeutung für die Untersuchung des Gesichtsfeldes. In dieser Hinsicht scheint mir die hier beschriebene Methode die ein- 106 A. Pick: Zur Psychologie des konzentrisch eingeengten Gesichtsfeldes. wandfreieste; sie gibt, den übrigen vorangeschickt, namentlich durch ihre Übereinstimmung mit den Resultaten dieser, einen weiteren gewichtigen Anhaltspunkt für die Gesamtbeurteilung des einzelnen Falles. So leicht sich die hier mitgeteilten Beobachtungen der einmal darauf gerichteten Aufmerksamkeit darstellen, ebenso einfach, hoffe ich, wird sich die Bestätigung derselben seitens anderer Beobachter gestalten; dass dieselben auch nach dem neuesten Versuche von Jaensch zur Wiederaufnahme der Deutungen der k.G.-E. Ver- anlassung geben, scheint mir ebenfalls ausser Zweifel. Nachsehrift. Nachdem das Vorstehende niedergeschrieben, finde ich in einem Referate über den Vortrag von F. Krause, Hirnphysiologisches im Anschlusse an operative Erfahrungen. (Monatsschr. f. Psych. Bd. 26 S. 5. 1909) erwähnt, dass ein Kranker mit Hemianopsie durch Oeceipitaltumor und begleitender homolateraler Gesichtsfeldeinschrän- kung angab, er sehe alles wie durch ein „Rohr“. (In dem offiz. Vereinsberichte | Deutsch. Zeitschr. f. Nervenhlkd. Bd. 38 H. 3/4 S. 266] ist die Tatsache nicht erwähnt.) 107 (Aus dem Institute für allg. und exp. Pathologie der deutschen Universität in Prag.) Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. Von Privatdozent Dr. Hugo Wiener. Wie bei jedem als lebenswichtig erkannten Organe, dessen Funktion nicht von vornherein aus seiner Lage, seinen Verbindungen oder seiner anatomischen Struktur ersichtlich ist, so wurden auch bei der Schilddrüse theoretisch zwei Möglichkeiten erwogen, wie dieselbe ihre Funktion ausübt. Entweder sollte sie einen für den normalen Lebensablauf notwendigen Stoff sezernieren, der in den Kreislauf und durch diesen zu den einzelnen Geweben gelangt, wo- selbst er die feineren Stoffwechselvorgänge reguliert, oder aber sollte sie einen im normalen Stoffwechsel entstehenden Giftstoff in sich aufnehmen und entgiften. Im Laufe der Zeit wurden viele Tatsachen gefunden, die teils in dem einen, teils in dem anderen Sinne gedeutet wurden und bald schien sich die Wagschale zugunsten der einen, bald zugunsten der anderen Theorie zu neigen. Während aber der Streit um diese beiden Theorien gerade am heftigsten war, erkannte man, dass es verfrüht sei, diese Frage entscheiden zu wollen, indem es sich herausstellte, dass die Schild- drüsenexstirpation, wie man sie gewöhnlich übte, ein komplizierter Eingriff war, bei dem man nicht nur die Schilddrüse, sondern meist gleichzeitig ein anderes, in der Sehilddrüse gelegenes Organ, die Epithel- körperchen, entfernte und daher die Erscheinungen, die man nach der Schilddrüsenexstirpation beobachtete und für die Entscheidung der Art der Funktion der Schilddrüse verwertete, nicht nur auf den Ausfall der Schilddrüse, sondern auch auf den der Epithelkörperchen zu beziehen waren. Es musste daher zunächst eine Scheidung der ersteren Erscheinungen von letzteren durchgeführt werden. 108 Hugo Wiener: Dies ist durch die Arbeiten des letzten Jahrzehntes geschehen. Wir wissen heute genau, welche Erscheinungen auf den Schilddrüsen- verlust, welche auf den Epithelkörperchenverlust zu beziehen sind, und auf Grund dieser Kenntnisse sind wir jetzt erst in der Lage, der Frage nach der Funktion der Schilddrüse näherzutreten. Da hat es sich nun herausgestellt, dass gerade jene von den nach Schilddrüsenexstirpation beobachteten Erscheinungen, die als Hauptstütze für die Entgiftungstheorie dienten, nicht durch den Wegfall der Schilddrüse, sondern den der Epithelkörperchen bedingt sind. Durch dieses negative Moment hat die Sekretionstheorie an Anhängern gewonnen. Aber auch andere, für diese Theorie direkt sprechende Tatsachen wurden inzwischen gefunden. . Ich habe bereits an anderer Stelle!) ausgeführt, dass eigentlich nach beiden Theorien eine Sekretion der Schilddrüse vorhanden sein sollte, nur müsste nach der Sekretionstheorie die Schilddrüse ein Sekret mit spezifisch-physiologischer Wirksamkeit, nach der Ent- eiftungstheorie ein physiologisch unwirksames Sekret liefern. Nun ist ein solcher physiologisch wirksamer Stoff tatsächlich durch Oswald?) aus der Schilddrüse dargestellt worden, wodurch die Sekretionstheorie wesentlich gefestigt wurde. Trotzdem hat aber die Enteiftungstheorie noch nicht alle Anhänger verloren. Es fragt sich nun, ob nicht eine teilweise Überbrückung dieser gegensätzlichen Standpunkte insofern möglich wäre, dass man für die Schilddrüse die Sekretionstheorie, für die Epithelkörperchen da- gegen die Entgiftungstheorie akzeptiert. Diese letztere Auffassung hat Vieles für sich; erstens das schon erwähnte Moment, dass gerade jene von den nach Schilddrüsen- exstirpation beobachteten Erscheinungen, welche für eine entgiftende Funktion der Schilddrüse am meisten sprachen und die tatsächlich einem Vergiftungsbilde am meisten ähneln — die Tetanieerschei- nungen —, wie wir heute wissen, auf den Epithelkörperchenwegfall zurückzuführen sind; zweitens, dass man die durch den Schilddrüsen- wegfall selbst bedingten Erscheinungen durch Transplantation der Schilddrüse, durch Injektion von gewebsfreiem Schilddrüsensaft oder 1) H. Wiener, Über den Thyreoglobulingehalt der Schilddrüse nach experimentellen Eingriffen. Arch. f. exper. Path. u. Pharmak. Bd. 61 S. 298. 1909. 2) A. Oswald, Die Eiweisskörper der Schilddrüse. Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 27 S. 14. — Zur Kenntnis des Thyreoglobulins. Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 37 8. 121. Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 109 durch Verfütterung von Schilddrüsensubstanz prompt beseitigen kann, während es nicht ohne weiteres gelinet, die Tetanieerscheinungen durch die gleiche Einverleibung von Epithelkörperchenstoffen zum. Schwinden zu bringen. Nur die Transplantation von Epithelkörperchen scheint, wie aus den Versuchen von Leischner!) sowie aus denen von Pfeiffer und Mayer?) hervorgeht, von Erfolg begleitet zu sein, die subkutane, intraperitoneale oder stomachale Darreichung von Epithelkörperehenextrakt oder Epithelkörperchensubstanz, ist, wie aus den exakten Versuchen von Pineles?) mit absoluter Sicher- heit hervorgeht, völlig wirkungslos. Und doch hätte hier ein Erfolg viel mehr für eine sekretorische Tätigkeit der Epithelkörperchen gesprochen, als der Erfolg der Transplantation, der auch mit der Annahme einer enteiftenden Tätigkeit ohne weiteres vereinbar ist. Durch die erwähnten Versuche von Pineles ist die Erfolg- losigkeit der Epithelkörpercheninjektion oder -verfütterung dargetan und damit die gegenteiligen Angaben früherer Autoren gegenstands- los geworden. Der Grund, warum von vielen Seiten über günstige Erfolge bei der Epithelkörperehenbehandlung der Tetanie berichtet wurde, lag offenbar darin, dass die betreffenden Autoren für die Beurteilung einer Wirkung ungünstige Versuchsobjekte wählten, bei denen der Verlauf der Tetanie spontane Remissionen und Intermissionen, ja auch Heilungen zeigt, die dann fälschlich der betreffenden Behandlung zugeschrieben wurden. Auf denselben Umstand ist auch der Widerspruch in den An- gaben aus älterer Zeit, da man noch nicht den Unterschied zwischen der Schilddrüsen- und Epithelkörperchenwirkung kannte, über die Wirkung von Schilddrüsenverfütterung auf die Tetanie zurückzuführen. Auch da stellte es sich auf Grund exakter Nachuntersuchungen her- aus, dass die Zufuhr von Schilddrüsensubstanz keine günstige Wirkung auf die Tetanie hat, ja es scheint sogar gerade das Umgekehrte der Fall zu sein, wie aus den Angaben Calcar's*) hervorgeht, nach 1) Leischner, Über Epithelkörperchentransplantation und deren prak- tische Bedeutung für die Chirurgie. Arch. f. klin. Chirurgie Bd. 84. 1907. 2) Pfeiffer und Mayer, Über funktionstüchtige Einheilung von trans- plantierten Epithelkörperchen. Wiener klin. Wochenschr. Bd. 20 Nr. 23. 1907. 3) Friedrich Pineles, Über die Funktion der Epithelkörperchen. Sitzungsber. d. k. Akad. d. Wissensch. Bd. 117 Abt. 3 S. 1. 1908. 4) van Calcar, Immunitätsreaktionen und einige ihrer praktischen Ver- wendungen S. 97. Leipzig 1908. 110 Hugo Wiener: denen das Zurücklassen von Schilddrüsensubstanz bei totaler Epithel- körperchenexstirpation die Tetanie viel heftiger in Erscheinung treten lässt, als wenn man die Schilddrüse gleichzeitig mit total entfernt und ferner die nachträgliche Entfernung der Schilddrüse nach voraus- gegangener totaler Epithelkörperchenexstirpation die eingetretene Tetanie wesentlich abschwächt. Auf Grund eigener Versuche kann ich diese Tatsache bestätigen. Die totale Entfernung der Schilddrüse und der Epithelkörperchen hatte zwar auf den Verlauf der Krankheitserscheinungen und die Lebensdauer meiner Tiere keinen wesentlichen Einfluss; es traten aber bei diesen Tieren die akuten Reizerscheinungen des Nervensystems, das Zittern und die Krämpfe, welche zu dem Bilde der Tetania parathyreopriva gehören, sehr stark in den Hintergrund, während gerade diese letzteren bei Tieren, denen ein Teil der Schilddrüse zurückgelassen wurde, das Krankheitsbild beherrschten. Alle bisherigen Untersuchungen haben demnach nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine sekretorische Tätigkeit der Epithel- körperchen ergeben, und es erhebt sich die Frage, ob man einen solchen für eine entgiftende Tätigkeit gefunden hat. Die wichtieste Stütze für letztere Annahme wäre der Nachweis eines im Körper nach Epithelkörperchenexstirpation vorhandenen Giftes. Wie schon erwähnt, sprechen die parathyreopriven Er- scheinungen selbst dafür, dass ein Vergiftungsbild vorliegt. Nicht nur die Art derselben, sondern auch die Verschiedenheit in der Zeit des Eintrittes derselben, in ihrer Dauer und Intensität lässt sich am besten mit der Annahme einer Vergiftung in Einklang bringen. Aber auch der direkte Nachweis eines im Körper vorhandenen Giftes als Ursache der Tetanieerscheinungen ist gelungen. In dieser Beziehung sind schon eine Reihe älterer Angaben, die aus einer Zeit stammen, in der man die Tetanie auf den Schilddrüsenausfall bezog, zu verwerten. Ich will hier ganz von der Arbeit Laulanie’s') absehen, der bei Tetanietieren eine vermehrte Harngiftickeit kon- statierte.e Hingegen wäre zu erwähnen die Arbeit von Vassale und Rossi?°), die an gesunden Hunden nach Einspritzung eines Muskelextraktes thyreoidektomierter Hunde schwere Vergiftungs- 1) Laulanie, Nouveaux faites pouvant servir a la determination du röle du corps thyroide. Gazette de Paris t.8 p. 253. 1891. 2) Vassale Giulio e Rossi Cesare, Sulla tossicita del succo muscolare ‚degli animali tiroidectomizzati. Rivista sperimentale t. 19 p. 403. 1893. Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. all erscheinungen beobachteten, die sie bei Verwendung von Extrakten ermüdeter Muskeln gesunder Tiere vermissten'). Auch die Resultate der Versuche von Fano und Zanda?) sowie weiterer von Zanda?), die bei Tetanietieren nach Aderlass mit oder ohne nachträgliche Transfusion von Blut gesunder Tiere ein vorübergehendes Schwinden der Tetanieerscheinungen sahen, sprechen im Sinne des Kreisens eines Giftes im Blute solcher Tiere. Aber auch aus neuerer Zeit stammen positive Angaben in dieser Richtung. Baldi*) konstatierte nach totaler Epithelkörperchenexstirpation ein Zurückgehen der par- athyreopriven Erscheinungen durch einen Aderlass und Ffeiffer und Mayer’), die die Beweiskraft der Injektionsversuche mit Muskel- extrakt bestreiten, konnten in 17 Fällen bei Tieren mit nur partieller Epithelkörperchenexstirpation 6 mal durch Injektion von Serum von Tetanietieren Tetanieerscheinungen erzeugen. Auffallend bleibt in diesen Versuchen der relativ geringe Prozentsatz der positiven Resultate, der in Übereinstimmung mit vielfach negativen Resultaten anderer Autoren steht. So erhielt auch ich in einem Falle, in dem ich einer normalen Katze 10 cem eines Serums injizierte, das ich von einer anderen, auf der Höhe der parathyreopriven Tetanie verbluteten Katze erhalten hatte, ein vollkommen negatives Resultat. Von der Erwäcung ausgehend, dass vielleicht das Vorhandensein der Epithelkörperchen die tetaniemachende Wirkung dieses Serums verhindert hätte, indem die Epithelkörperchen, die nach der Annahme eine entgiftende Funktion hätten, auch die Entgiftung erösserer, auf einmal einver- leibter Giftmengen bewerkstelligen könnten, wiederholte ich diesen Versuch an Katzen, denen vorher sämtliche Epithelkörperchen ent- fernt worden waren, die aber trotz dieses Eingriffes frei von Er- 1) Vassale Giulio e Rossi Cesare, Sulla tossieita del succo muscoli affaticati. Rivista sperimentale t. 19 p. 676. 1893. 2) Fano und Zanda, Üontributo alla fisıologia del corpo tiroide. Archivio med. t. 13 p. 365. 1839. 3) L. Zanda, Sul rapporto funzionale fra milza e tiroide. Lo sperimen- tale p. 14. 1893. 4) Baldi, Si la thyreoide detruit un poison qui se formerait normalement ‚dans l’organisme, Arch, ital. de Biol. t.31 p. 281. 1899. 5) Pfeiffer und Mayer, Experimentelle Beiträge zur Kenntnis der Epithelkörperchenfunktion. Mitteilungen a. d. Grenzgebieten d. Med. u. Chirurgie Bd. 18 S. 377. 1907. 112 Hugo Wiener: scheinungen geblieben waren. Ich hoffte um so mehr auf ein posi- tives Resultat, als Pfeiffer und Mayer schon bei Injektion an Tieren mit partieller Epithelkörperchenexstirpation ein solches ge- sehen hatten. Der Versuch verlief folgendermaassen: Katze 32. Öperiert am 22. Februar 1910. Beiderseits werden die oberen. zwei Drittel der Schilddrüsen mit den vier Epithelkörperchen entfernt. Das Tier zeigt keine Erscheinungen, ist vom 25. Februar vollkommen normal und munter und bleibt so während der ganzen Beobachtungszeit. Katze 54. Operiert am 10. März 1910. Rechts wird die ganze Schild- drüse, links das mittlere Drittel derselben mit beiden in ihm enthaltenen Epithel- körperchen entfernt. Das Tier zeigt keine Erscheinungen, ist vom 14. März voll- ständig normal und munter und bleibt so während der ganzen Beobachtungszeit. Am 31. März 1910 bekommen diese beiden Katzen subkutan je 10 cem eines Serums, das von einer auf der Höhe Jder parathyreopriven Tetanie, 5 Tage nach der totalen Epithelkörperchenexstirpation verbluteten Katze gewonnen wurde. Beide Tiere zeigen nicht die Spur einer Krankheitserscheinung. Sie wurden 24 Stunden später getötet. Die mikroskopische Untersuchung der zurück- gelassenen Schilddrüsenreste ergab, wie zu erwarten war, das Fehlen von Epithel- körperchen in denselben. Trotz der Setzung scheinbar günstigerer Bedingungen für die Wirkung des hypothetischen Tetaniegiftes fielen meine Versuche negativ aus und stimmen daher mit früheren gleichartigen Versuchen Baldi’s überein, der zu den Injektionsversuchen mit Tetanieserum ebenfalls parathyreoidektomierte Katzen, die ohne Erscheinungen ge- blieben waren, verwendete und keine Krämpfe an ihnen auftreten sah. Er glaubte aber fälschlich, dass durch diese Seruminjektionen die Tetanieerscheinungen, die aber, wie zahlreiche meiner Versuche ergaben, überhaupt nicht eingetreten wären, verhütet wurden, wo- durch er zu der Annahme gelangte, dass bei der Tetanie ausser einem Gifte gleichzeitig ein Gegengift im Blute entstehe. Freilich fand er weiter, dass dieselbe Wirkung auch normales Serum hatte, was wieder nach meinen Versuchen selbstverständlich erscheint, so dass er in seiner früheren Annahme wieder schwankend wurde. Es stehen somit auch in diesem Punkte positiven Angaben ziemlich zahlreiche negative entgegen. Wenn auch zugegeben werden muss, dass in dieser Beziehung wenige einwandfreie positive Resultate viel beweiskräftiger sind als viele negative, und speziell meinen wenigen negativen Versuchen vielleicht noch der Einwand gemacht werden könnte, dass zu geringe Serummengen verwendet wurden, Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 113 so ist doch das Streben gerechtfertigt, eine andere Methode des Gift- nachweises bei der Tetanie zu finden, die nicht so oft versagt, oder wenigstens die Ursache des häufigen Versagens der bisher verwendeten Methode aufzudecken. In dieser Absicht sind meine Versuche unternommen worden. Um einen sicheren Aufschluss über etwaige experimentell erzeugte Verlaufsänderungen der Tetania parathyreopriva zu erhalten, musste ich zu den Versuchen solche Tiere wählen, bei denen die Erkrankung einen mehr gleichmässigen Verlauf oder wenigstens einen konstanten Ausgang zeigt. Nach allen bisherigen Erfahrungen erfüllen die Katzen am ehesten diese Forderungen. Nach Entfernung der Schilddrüse und aller Epithelkörperchen sah zwar Munk!) bei einer Reihe von Katzen die eingetretenen Tetanieerscheinungen wieder schwinden, allen späteren Beobachtern gingen aber alle Katzen, die überhaupt Tetanieerscheinungen bekamen, ausnahmslos oder fast ausnahmslos an denselben ein, namentlich wenn bei der Epithelkörperchenexstirpa- tion ein Teil der Schilddrüse zurückgelassen worden war. Die Katzen in den Versuchen de Quervain’s?) starben innerhalb der ersten 9 Tage; in den Versuchen Kishis°?) meist zwischen dem 3. und 6. Tage, zwei erst nach 14 Tagen; in den Versuchen Vincent’s*) überlebte nur eine Katze, die Tetanieerscheinungen gehabt hatte, nach Wijederverschwinden derselben den Eingriff sehr lange Zeit, und Pineles°’) berichtet ebenfalls, dass alle seine Katzen an akuter Tetanie eingingen. Aus diesem Grunde wählte ich zu meinen Versuchen ausschliess- lich Katzen, ausserdem aber auch deshalb, weil bei ihnen keine versprengten Epithelkörperchenreste ausserhalb der Schilddrüse vor- kommen sollen, wie dies vielfach von anderen Tieren berichtet wird, 1) H. Munk, Zur Lehre von der Schilddrüse. Virchow’s Arch, Bd. 150 S. 271. 1897. 2) de Quervain, Über die Veränderungen des Zentralnervensystems bei experimenteller Cachexia thyreopriva bei Tieren. Virchow’s Arch. Bd. 133 S. 481. 1898. 8) Kishi, Beiträge zur Physiologie der Schilddrüse. Virchow’s Arch. Bd. 176 S. 260. 1900. 4) Vincent, Some observations upon the functions of the thyroid and parathyroid glands. Journ. of physiol. vol. 32 p. 65. 1905. 5) Pineles, Beitrag zur Physiologie der Schilddrüse und der Epithel- körperchen. Mitteilungen a. d. Grenzgebieten d. Med. u. Chirurgie Bd. 14 S. 120. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 8 114 Hugo Wiener: und ich daher nicht nur einen konstanten, nämlich tödlichen Aus- sang der Tetania parathyreopriva, sondern auch ein konstantes Auf- treten derselben erwarten durfte. In letzterer Beziehung sah ich mich freilich, wie meine Versuche zeigen, getäuscht. Meine Versuche wurden in folgender Weise ausgeführt: Die Tiere wurden in Äthernarkose operiert. Die Haut am Halse wurde rasiert, desinfiziert und durch einen medianen Längsschnitt gespalten. Hierauf wurden die oberflächlichen Muskeln ebenfalls median gespalten und auseinander- gezogen, so dass die Trachea blosslag. Dann ging ich mit Pinzetten zu beiden Seiten der Trachea ein und holte die beiden Schilddrüsenlappen hervor. In vielen Fällen sieht man nun an der Aussenseite der Schilddrüsen die äusseren Epithelkörperchen, die sich durch ihre blassere Färbung von der Schilddrüsen- substanz scharf abheben. Meist liegen sie im oberen Drittel der Schilddrüse, und ziemlich in der gleichen Höhe im Innern der Drüse, wie ich mich nachträglich überzeugte, die inneren FEpithelkörperchen. In diesen Fällen präparierte ich den oberen Pol der Drüsen frei, unterband die in den oberen Pol eintretenden Gefässe, legte eine zweite Ligatur um die Drüse unterhalb des äusseren Epithelkörperchens, meist am Übergang des mittleren in das untere Drittel der Drüse, um auch sicher das ganze innere Epithelkörperchen, welches manchmal weiter nach unten reicht als das äussere, zu entfernen. Nach Zuziehen dieser Ligatur schnitt ich knapp über derselben die Drüsensubstanz durch und entfernte die oberen zwei Drittel der Drüse. Lag, wie dies in manchen Fällen vorkommt, das äussere Epithelkörperchen in der Mitte der äusseren Kante der Drüse, so entfernte ich nach Anlegung zweier Ligaturen durch die Diüsensubstanz das mittlere Drittel der Drüse und liess den oberen und unteren Pol stehen. In seltenen Fällen, bei Lagerung des äusseren Epithelkörperchens im unteren Drittel der Drüse, beschränkte ich mich oft auf die Entfernung des unteren Drittels. Da die Lage des inneren Epithelkörperchens meist mit der des äusseren korrespondiert, so gelang mir auf die beschriebene Weise meist die beabsichtigte Entfernung aller Epithelkörperchen. Freilich liegt das innere Epithelkörperchen etwas häufiger im oberen Drittel der Schilddrüse als das äussere, so dass bei Entfernung der oberen zwei Drittel der Schilddrüse die Entfernung aller Epithel- körperchen häufiger gelang als bei Entternung des mittleren oder unteren Drittels der Schilddrüse. Letztere Versuche mussten dann nachträglich selbstverständlich ausgeschieden werden. In wenigen Fällen endlich waren die Epithelkörperchen bei der Operation nicht zu sehen. Da entfernte ich auf gut Glück die oberen zwei Drittel der Schilddrüse und überzeugte mich erst nachträglich durch die mikroskopische Untersuchung, ob die Totalexstirpation der Epithelkörperchen gelungen war. Die durchtrennten Halsmuskeln wurden dann durch Knopfnähte vereinigt und die Hautwunde genäht. In den ersten operierten Fällen untersuchte ich dann sowohl die exstirpierten als auch nach der Tötung der Tiere die zurückgelassenen Schilddrüsenteile auf Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 115 (das Vorhandensein von Epithelkörperchen, in den späteren Fällen beschränkte ich mich auf die Untersuchung der zurückgelassenen Schilddrüsenreste. Stets nahm ich eine mikroskopische Untersuchung in Serienschnitten vor!), nachdem ich mich überzeugt hatte, dass nur auf diese Weise ein sicheres Urteil möglich ist, ob Epithelkörperchensubstanz zürückgeblieben ist oder nicht. Ich fand nämlich in einem Falle ausser den vier Epithelkörperchen noch ein fünftes, ausser- ordentlich kleines, im Innern der Drüsensubstanz, ziemlich weit entfernt und ganz abgesondert vom inneren Epithelkörperchen liegend, welches nur durch die Unter- suchung in Serienschnitten entdeckt werden konnte. Die Resultate meiner Versuche waren folgende: Unter 45 operierten Katzen, denen ich sämtliche Epithel- körperchen entfernt hatte, bekamen nur 36, also 80 %o, Tetanie, 9, also 20 Yo, blieben, ohne je Erscheinungen zu zeigen, dauernd gesund und wurden dann nach verschiedener Zeit getötet. Von den 36 Tetanietieren gingen 35 spontan unter Krämpfen zugrunde. Die längste Lebensdauer betrug, und zwar in einem einzigen Falle, 63 Tage, ein Tier lebte 25, eins 22, eins 21, zwei 19, eins 18, eins 17 Tage. Alle übrigen gingen zwischen dem 1. und 14. Tage ein. Ein einziges von den Tetanietieren genas, nachdem es bloss während eines Tages angedeutet leichtes Zittern, sonst aber keine ‚anderen Erscheinungen von Tetanie gezeigt hatte. Der Verlauf der Tetanie war bei allen Tieren ein gleicher, typischer, nur die Intensität der Erscheinungen schwankte. Die Tiere, die an Tetanie erkrankten, zeigten meist schon unmittelbar nach der ‘Operation ein eigentümliches Verhalten. Sie sassen zusammengekauert im Käfig, ohne sich zu rühren, und hörten auf zu fressen. Wenn man sie aus ihrer Ruhe aufstöberte, so blieben sie an einem Orte ‚stehen, ohne sich zu rühren und kauerten sich dann wieder zu- sammen. Sie zeigten überhaupt kein Interesse für ihre Umgebung und schienen sich in einem gewissen Stupor zu befinden. Nach verschieden langer Zeit, meist schon am Tage nach der Operation, manchmal erst am 2. oder 3. oder 4. Tage, in zwei Fällen erst am 7. Tage, konstatierte man am Rücken und am Nacken einen fein- schlägigen Tremor, ein Zittern, als ob die Tiere frieren würden. Wurde dieses Zittern stärker, so teilten sich diese zitternden Be- wegungen auch dem Kopf mit und gingen auch auf eine oder mehrere 1) Bei den ersten Untersuchungen unterstützte mich Herr Prof. A. Kohn mit seiner reichen Erfahrung auf diesem Gebiete, wofür ich ihm an dieser Stelle meinen besten Dank ausspreche. g%# 116 Hugo Wiener: Extremitäten über. Manchmal begann das Zittern in den Extremi- täten. Dabei boten die Tiere ein schwer krankes Aussehen dar, ihr Fell wurde struppig. Diese Erscheinungen dauerten bis zum Tode an. Die Tiere wurden immer schwächer, konnten sich schliesslich nicht erheben, blieben auf einer Seite liegen und gingen allmählich zugrunde. Neben diesen Erscheinungen traten in vielen Fällen von Zeit zu Zeit klonisch-tonische Krämpfe des ganzen Körpers von epileptischem Charakter ein. Nach einem solehen Krampfanfall blieben die Tiere auf einer Seite liegen, waren viel matter als zuvor, machten oft einen moribunden Eindruck, erholten sich aber bald auf den Status vor dem Anfalle. In einigen Fällen zeigten die Tiere auch eine tonische Starre der Extremitäten, so dass, wenn man sie zum Aufstehen zwang, sie wie auf Stelzen standen. Jede Irritierung steigerte vorübergehend die Hinfälligkeit der Tiere. Namentlich während der Anfälle war die Atmung beschleunigt und erschwert. Die Wahl der Katzen zu Versuchstieren hat sich also insofern be- währt, als dieselben mit einer einzigen Ausnahme einen typischen Verlauf der parathyreopriven Erscheinungen und einen konstanten, nämlich tödlichen Ausgang derselben zeigten. Der erwartete konstante Eintritt der Erscheinungen war aber nicht vorhanden, und es ist die relativ grosse Zahl von Tieren, die keine Erscheinungen bekommen hatten, auffallend, trotzdem, wie die nachträgliche Untersuchung ergab, auch bei ihnen sämtliche Epithelkörperchen entfernt worden waren, eine Tatsache, die nicht ohne weiteres mit der Annahme der Lebens- wichtiekeit dieser Organe vereinbar ist. | Die vollständige Erfolelosigkeit der Operation kommt also, wie ich entgegen den Angaben Schulz’s!) betonen muss, auch bei Katzen, und zwar in einem ziemlich hohen Prozentsatz, vor. Freilich widerspricht diese Tatsache eigentlich nicht direkt den Erfahrungen Schulz’s, denn dieser hatte in seinen Versuchen stets nicht nur die Epithelkörperchen, sondern auch die Schilddrüse total entfernt, wodurch die Verhältnisse kompliziert wurden, so dass von seinen Versuchstieren jene, welche keine Tetanie, wohl aber einen thyreo- priven Kretinismus bekommen hatten, in Analogie mit den gesund gebliebenen meiner Versuchstiere zu setzen wären. Meine Beobachtungen stimmen aber mit denen Vincent’s 1) Oscar Schulz, Beiträge zur Physiologie der Schilddrüse. Sitzungsber. d. physik.-med. Sozietät in Erlangen. 1900. Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 117 vollkommen überein, der unter 15 Katzen, denen er die Epithel- körperchen total entfernte, bei drei Tieren keine Erscheinungen eintreten sah. Noch viel grösser gestaltet sich dieser Prozentsatz, wenn man andere Tiere zu den Versuchen wählt. Das Versagen der Operation in manchen Fällen war allen auf diesem Gebiete experimentierenden Forschern bekannt. Es war auch der Hauptgrund, weshalb Munk die Lebenswichtigkeit der Schild- drüse leugnete. Verschiedene Autoren gaben hierfür eine ver- schiedene Erklärung. Zur Zeit als, man den Unterschied zwischen Schilddrüse und Epithelkörperehen nicht kannte und nach Total- exstirpationeu der Schilddrüse in manchen Fällen jegliche Er- scheinungen ausbleiben sah, glaubte man als Ursache das vikari- ierende Eintreten akzessorischer Schilddrüsen, die sich z. B. beim Hunde am Aortenbogen, an der Zungenwurzel oder in der Nähe der Hauptdrüse selbst finden, dafür verantwortlich machen zu können. Bei Katzen aber, wo solche akzessorische Drüsen nicht gefunden wurden, wo also obige Annahme nicht ohne weiteres statthaft war, zog man wieder eine eventuelle vikariierende Funktion von der Schilddrüse ähnlich gebauten Drüsen, speziell, wie dies Rogowitsch!) tat, der Hypophysis heran, zumal dieser Autor nach Schilddrüsen- exstirpation eine Hypertrophie des vorderen Lappens der Hypo- physis konstatiert haben wollte, eine Anschauung, die aber bald von Gley°) widerlegt wurde. Andere wieder, wie Fano°) und Landat), glaubten, dass eine Störung der. Milzfunktion, die nach ihrer An- sicht in gewissem Sinne der Schilddrüsenfunktion entgegenwirken sollte, die Tiere vor den thyreopriven Erscheinungen schütze, da sie beobachteten, dass diese Erscheinungen nach vorheriger Milz- exstirpation ausblieben. Allein auch diese Anschauung wurde durch die Versuche von Vassale und Brazza°) widerlest, in denen trotz Entfernung der Milz kein Tier den Folgen der Thyreoidektomie entging. 1) Rogowitsch, Schilddrüse und Hypophyse. Beitr. z. pathol. Anatomie Bd. 4 S. 453. 2) Gley, Recherches sur la function de la glande thyroide. Arch. de physiol. t.4 p. 311. 1892. 3) Fano, Sulla funzione e sui rapporti funzionale del corpo tiroide. Rivista clin. ital. t. 32 p. 519. 189. > 4) L. Zanda,ll.c. 5) Vassale Giulio e Pio di Brazza, Sulla spleno-tireoidectomia nel cane e nel gatto. Rivista sperimentale t. 19 p. 378. 189. 118 Hugo Wiener: Als dann der Unterschied zwischen den thyreopriven und para- thyreopriven Erscheinungen entdeckt wurde, glaubte man das Aus- bleiben der Tetanie nach Epithelkörperchenexstirpation auf das Zurücklassen von versprengten, ausserhalb der Schilddrüse gelegenen, Epithelkörperchen beziehen zu müssen, eine Erklärung, die gewiss für das Ausbleiben der Tetanie bei Herbivoren nach Schilddrüsen- exstirpation stichhaltig ist, für die Verhältnisse bei Ratten, wie dies Erdheim!) nachgewiesen hat, ebenfalls passen dürfte, für Hunde und namentlich für Katzen aber nicht verwendbar ist, da noch von keiner Seite solche versprengte Epithelkörperchen gefunden wurden. Die richtige Erklärung scheint mir, wie auch meine Versuche, auf die ich später eingehen werde, ergeben, Blum?) gefunden zu haben. Er konstatierte nämlich, dass die Injektion von Serum thyreoidektomierter Hunde, die dauernd ohne Erscheinungen ge- blieben waren, bei anderen, nach der Thyreoidektomie an Tetanie erkrankten Hunden, auf die Tetanie heilend wirkte, dass sich also in dem Serum ersterer Tiere Immunkörper gegen das Tetaniegift gebildet hatten, dass sich also diese Tiere gleichsam selbst gegen die Tetanie immunisiert hatten. Auf diese Selbstimmunisierung bezog Blum das Ausbleiben der Tetanie nach Thyreoidektomie, sowie er auch das spontane Verschwinden der Tetanie bei anfänglich nach der Thyreoidektomie erkrankten Tieren auf dieselbe Weise erklärte, ein Vorkommen, das ich, wie schon erwähnt, bei Katzen mit einer einzigen Ausnahme nicht beobachtet hatte. Freilich brachte Blum alle diese Tatsachen mit der Schilddrüsenexstirpation in Zusammenhang, da ihm der Unterschied zwischen der Schilddrüsen- und Epithel- körperchenfunktion nicht bekannt war, doch kann auch heute seine Anschauung mutatis mutandis auch für die Erscheinungen nach Epithelkörperchenexstirpation aufrecht erbalten werden. Von einer ähnlichen Überlegung ging ich bei dem Streben aus, den Nachweis eines Giftstoffes, der die Tetanie hervorruft, zu liefern, einen Nachweis, der nicht so oft im Stiche lassen sollte, wie die bis- herigen Methoden. Wenn die Tetanie durch einen im Blute kreisenden Giftstoff 1) J. Erdheim, Tetania parathyreopriva. Mitteilungen a. d. Grenzgebieten d. Med. u. Chirurgie Bd. 16 p. 632. 1906. 2) J. Blum, Neue experimentell gefundene Wege zur Erkenntnis und Be- handlung von Krankheiten, die durch Autointoxikationen bedingt sind. Virchow’s Arch. Bd. 162 S. 392. Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 119 erzeugt ist, dann war zu erwarten, dass dieser, einem anderen Tiere einverleibt, einen Antikörper erzeugen dürfte. Man konnte also an- nehmen, dass man durch wiederholte Injektionen kleiner Mengen des Serums des an Tetanie erkrankten Tieres ein anderes, gesundes gegen dieses Gift immunisieren und in dem Blute des letzteren einen hohen Gehalt an Gegengiften schaften könnte, die dann auf die Vereiftungserscheinungen eines an Tetanie erkrankten Tieres bessernd oder heilend wirken müssten. Die Versuche wurden in folgender Weise ausgeführt: Eine Katze wurde, nachdem ihr die Epithelkörperchen auf die früher geschilderte Weise total ex- stirpiert worden waren und dieselbe an Tetanie erkrankt war, auf der Höhe der Erscheinungen unter aseptischen Kautelen aus der Karotis durch eine Kanüle verblutet und das Blut direkt in sterilen Glasdosen aufwefangen. Bei Eintritt der Gerinnung wurde der Blutkuchen mit einem ausgeglühten Drahte überall von den Gefässwänden abgelöst, damit er sich besser zusammenziehen und das Serum aus- pressen könne. Nach 24—48 Stunden wurde dann das Serum mittelst. steriler Pipetten abgezogen und in sterile kleine Glasfläschchen mit breitem Halse und Glasstöpsel gefüllt. Mit dem in verflüssigtes Paraffin getauchten Glasstöpsel wurden die Fläschchen geschlossen. Wenn man dieselben an einem kühlen Orte aufbewahrt, dann gelingt es auf diese Weise ohne jeden antiseptischen Zusatz das Serum durch Wochen und Monate unverändert zu behalten. Um es dann zur Injektion zu verwenden, wird der Hals des Fläschchens leicht erwärmt, worauf es leicht gelingt, den Stöpsel zu entfernen und mit einer ausgekochten Spritze die Menge Serum, die man braucht, zu entnehmen. Bleibt ein Rest des Serums im Fläschchen zurück, den man später noch verwenden will, dann braucht man nur den Stöpsel über einer Flamme zu erwärmen, bis das an ihm haftende Paraffin schmilzt, und das Fläschchen wieder zu schliessen. ‚Die Injektionen wurden stets so ausgeführt, dass in Pausen von 2—3 Tagen immer 1 ccm des Tetanieserums normalen Katzen nach Rasierung und Des- infizierung der Rückenhaut subkutan eingespritzt und die Einstichöffnung mit einem Tropfen Collodium dann verschlossen wurde. Ich habe selbstverständlich nie eine Abszedierung gesehen. Im ersten Versuche machte ich aus äusseren Gründen die Injektionen in Äthernarkose, in den übrigen Fällen sah ich aber davon ab und liess das Tier bloss halten. Nach einer bestimmten Zeit wurde das betreffende Tier in der beschriebenen Weise verblutet und das Serum gewonnen und aufbewahrt, um Tetanietiere damit zu injizieren. i Ich lasse nun die Versuche selbst folgen: Katze 27. Operiert am 16. Nov. 1908. Epithelkörperchen beiderseits sichtbar, links im oberen Drittel, rechts direkt am oberen Pole der Schilddrüse. Beiderseits werden die oberen zwei Drittel der Schilddrüse entfernt. 17. Nov. Ausgesprochene Tetanie, Zittern am ganzen Körper, Krämpfe. Das Tier wird durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. 129 Hugo Wiener: Katze 28. Operiert am 16. Jan. 1909. Epithelkörperchen nicht sichtbar. Beiderseits werden die oberen zwei Drittel der Schilddrüse entfernt. 17. Jan. Leichtes Zittern am ganzen Körper. 18. Jan. Starkes Zittern, schwere Krämpfe. Das Tier wird durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. Katze 29 erhält am 7., 10., 14., 17., 20., 24., 28. Dez. 1908 je 1 ccm des Serums der Katze 27, am 20., 23., 26., 30. Jan., 3., 6., 9., 12., 16., 20., 23. Febr. 1909 je 1 ccm des Serums der Katze 28 subkutan. 27. Febr. Das Tier vollständig munter und normal, leicht abgemagert, wird durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. Katze 30 erhält am 3., 6., 9., 12., 17., 20., 23., 27. Febr., 2. März 1909 je 1 cem des Serums der Katze 23 subkutan. Vom 20. Febr. an magert das Tier rapid ab, wird immer schwächer, kann sich in den letzten Tagen kaum erheben und wird am 6. März moribund im Käfig gefunden. In diesem Zustande wird es durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. Katze 32. Operiert am 24. Mai 1909. Epithelkörperchen beiderseits im oberen Drittel der Schilddrüse sichtbar. Beiderseits werden die oberen zwei Drittel der Schilddrüse entfernt. 25. Febr. Ausgesprochene Tetanie, Zittern, Krämpfe, das Tier rührt sich nicht von der Stelle. 12 Uhr vorm. Injektion von 4 ccm Serum der Katze 30 in Narkose. Weder unmittelbar nach der Injektion, noch am Nachmittag irgendwelche Änderung im Verhalten. 26. Mai. Derselbe Befund. 12 Uhr vorm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 29 in Narkose. Nachm. Kein Zittern, keine Krämpfe vorhanden. Das Tier, das sich vorm. nicht vom Platze gerührt hat, geht jetzt munter im Käfig herum. 27. Mai. Die Munterkeit hat etwas nachgelassen, schwaches Zittern wieder vorhanden. 12 Uhr vorm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 29 in Narkose. Nachm. Zittern geschwunden, Tier munter. 28. Mai. Sehr starkes Zittern und klonisch-tonische Krämpfe. 5 Uhr nachm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 29 in Narkose. Eine halbe Stunde danach ist das Tier wieder munter, zeigt keine Krämpfe, kein Zittern. 29. Mai. Tier munter, zeigt keine Krankheitserscheinungen. 30. Mai. Der gleiche Befund. Nachm. Leichtes Zittern wieder aufgetreten. 31. Mai. Starkes Zittern und schwere Krämpfe. 1. Juni. Der gleiche Befund. 11 Uhr vorm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 30 in Narkose. Kein Nachlass der Erscheinungen. 2. Juni. Starkes Zittern, das Tier rührt sich nicht von der Stelle. Nachm. Tot im Käfig gefunden. Die mikroskopische Untersuchung der nirekgelaseinen Schilddrüsenreste ergibt die Abwesenheit von Epithelkörperchen. Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 121 Die Immunisierung der beiden Katzen 29 und 30 konnte nicht in der gewünschten Weise durchgeführt werden. Das Serum der Katze 27, mit dem ursprünglich die Immunisierung der Katze 29 durchgeführt wurde, ging nach der 7. Injektion aus, und da momentan kein anderes Serum vorrätig war, musste die weitere Immunisierung bis zur Beschaffung frischen Tetanieserums auf ea. 3 Wochen unter- brochen werden. Trotzdem erwies sich das Serum der Katze 29 wirksam. Stets trat nach der Injektion mit demselben ein deutlicher Nachlass oder ein zeitliches Verschwinden in den Erscheinungen ein, ein Verhalten, das ich bei spontanem Ablaufe der Tetanie trotz zahlreicher Beobachtungen nie gesehen hatte. Freilich traten nach relativ kurzer Zeit die Erscheinungen wieder auf und führten schliess- lieh zum Tode, ohne dass ich dieselben zuletzt durch eine weitere Injektion beeinflussen konnte, da ich dieses Serum bereits ver- braucht hatte. Die Immunisierung der Katze 30 fiel bei weitem unbefriedigender aus. Nach neun Injektionen ging das Tier bereits zugrunde und, um das Serum überhaupt noch zu retten, wurde das Tier in mori- bundem Zustande verblutet. Tatsächlich zeigte sich dieses Serum vollständig wirkungslos. Nach der ersten, mit demselben an Katze 32 vorgenommenen, Injektion blieb jede Wirkung aus. Dies war auch der Grund, weshalb ich für die weiteren Injektionen das Serum der Katze 29 verwendete. Als dann dieses verbraucht war, und ich daher zu dem Serum der Katze 30 zurückkehren musste, wurde abermals jede Wirkung vermisst. Das Serum der Katze 29 zeigte aber eine deutliche Wirkung, und wenn auch durch dasseibe die Tetanieerscheinungen bei Katze 32 nieht dauernd beseitigt wurden, so war doch eine geradezu in die Augen springende vorübergehende günstige Beeinflussung nachweisbar. Freilich musste noch entschieden werden, ob dieselbe vielleicht auf die Narkose bei der Injektion und nicht auf die Injektion selbst zu beziehen war und ferner, wenn das Serum selbst diesen Effekt hatte, ob nieht auch ein normales Serum dieselben Eigenschaften besitze. Diese beiden Eventualitäten schienen nicht sehr wahrscheinlich, zumal gerade nur nach den Injektionen mit Serum der Katze 29 und nicht mit Serum der Katze 30 ein Nachlass der Erscheinungen eintrat. Dennoch hielt ich es für notwendig, durch direkte Versuche diese beiden möglichen Einwände zu entkräften. Um den ersten Einwand zu widerlegen, erzeugte ich bei einem 122 Hugo Wiener: Tiere dureh Epithelkörperchenexstirpation eine Tetanie und narkoti- sierte dasselbe mehrere Tage hindurch einigemal bis zur vollen Reflexlosiekeit. Die Narkose hatte absolut keinen Einfluss auf den Verlauf der Erscheinungen. Diese traten stets sofort nach dem Er- wachen des Tieres aus der Narkose in ihrer früheren Intensität wieder auf, und das Tier erlag, wie ein unbehandeltes, sogar nach relativ kurzer Zeit (2 Tage) der Tetanie. Um aber den erwähnten Einwand überhaupt zu beseitigen, narkotisierte ich in den weiteren Versuchen die zu injizierenden Tiere überhaupt nicht. Was den zweiten Einwand betrifft, so werde ich auf denselben noch zurückkommen und will vorläufig in der Anführung "meiner Versuche fortfahren. Katze 34. Operiert am 1. Okt. 1909. Epithelkörperchen beiderseits im oberen Drittel der Schilddrüse sichtbar. Beiderseits werden die oberen zwei Drittel der Schilddrüse entfernt. 2.Okt. Das Tier hockt auf einer Stelle, kein Zittern, keine Krämpfe vorhanden. 3.4, 5., 6., 7. Okt. Derselbe Befund. 8. Okt. Starkes Zittern am ganzen Körper, Krämpfe. Das Tier wird durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. Katze 35. Operiert am 15. Okt. 1909. Epithelkörperchen nicht sichtbar. Entfernt werden beiderseits die oberen zwei Drittel der Schilddrüse. 16. Okt. Schwere allgemeine Krämpfe. Das Tier wird durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. Katze 36. Operiert am 7. Dez. 1909. Epithelkörperchen beiderseits im oberen Drittel der Schilddrüse sichtbar. Entfernt werden beiderseits die oberen zwei Drittel der Schilddrüse. 8. Dez. Keine Tetanie. 9. Dez. Schwere allgemeine Krämpfe. Das Tier wird durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. Katze 37 erhält am 18., 21., 25., 28. Okt., 2., 5. 8., 11., 15., 18. Nov. je- 1 ccm Serum der Katze 34, am 21., 25., 29. Nov., 2., 6., 9., 13., 16., 20., 24. Dez.. je 1 ccm Serum der Katze 35 und am 27., 30. Dez. 1909, 2. Jan. 1910 je 1 ccm Serum der Katze 36 subkutan. In der letzten Zeit magert das Tier ab, ist aber vollkommen munter und normal und wird am 7. Jan. durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. Katze 38 erhält am 18., 21., 25., 28. Okt., 2., 5., 8., 11., 15., 18., 21., 25., 29. Nov., 2., 6., 9., 13., 16., 20., 24. Dez. 1909 je 1 ccm Serum der Katze 35, am 27., 30. Dez. 1909, 2., 7. Jan. 1910 je 1 ccm Serum der Katze 36 subkutan. Das Tier zeigt keinerlei Erscheinungen, ist vollständig normal und munter, auch nicht abgemagert und wird am 11. Jan. 1910 durch Verbluten getötet, das Serum gewonnen. Katze 42. Operiert am 13. Jan. 1910. Epithelkörperchen nicht sichtbar. Entfernt werden beiderseits die oberen zwei Drittel der Schilddrüse. Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 123 14., 15., 16. Jan. keine Erscheinungen, nur dass das Tier zusammengekauert dasitzt und sich nicht rührt. 17. Jan. Zittern am ganzen Körper, Krämpfe und tonische Starre der hinteren Extremitäten. 12 Uhr mittags. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 38. 5 Uhr nachm. Das Tier munter, läuft im Käfig herum, zeigt keine Krämpfe, keine Starre der Extremitäten, kein Zittern. 18. Jan. Zittern am ganzen Körper, tonische Starre der vorderen Ex- tremitäten. 10 Uhr vorm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 8. Nach der Injektion stellt sicb das Tier, das früher zusammengekauert dasass, auf. Das Zittern uud die Starre der Extremitäten sind verschwunden. Nachm. ist wieder leichtes Zittern vorhanden, das Tier aber munter, zeigt Interesse für die Umgebung. 5 Uhr nachm. Injektion von Sccem Serum der Katze 37. 19. Jan. Tier munter, frisst mit Appetit, zeigt aber leichtes Zittern. 11 Uhr vorm. Injektion von 9 ccm Serum der Katze 37. 5 Uhr nachm. Das Zittern verschwunden, das Tier aber weniger munter, sitzt zusammengekauert. 20. Jan. Tier vollständig normal und munter, läuft herum, frisst mit Appetit, zeigt kein Zittern, überhaupt nicht die geringsten Krankheitserscheinungen. So bleibt das Tier bis zum 5. Febr. 6. Febr. Mitten im besten Wohlsein zeigen sich leichte Lähmungs- erscheinungen an den Extremitäten, der Kopf sinkt beim Sitzen auf die Unterlage, das Tier fällt auf die Seite. Kein Zittern, keine Krämpfe. Am Nachmittag liegt das Tier auf einer Seite, kann sich nicht erheben. 7. Febr. Früh tot gefunden. Die Sektion ergibt niehts Besonderes, die mikroskopische Untersuchung der zurückgelassenen Schilddrüsenreste zeigt Abwesenheit von Epithelkörperchen. Wenn auch die Lebensdauer dieses Tieres nicht grösser war als die eines unbehandelten, so war doch eine deutliche Beeinflussung, und zwar nach den ersten Injektionen mit dem Serum der Katze 38 eine vorübergehende, dann aber nach den Injektionen mit dem Serum der Katze 37 eine dauernde, nachweisbar. Ja man kann sogar be- ‚.haupten, dass eine vollständige Heilung eingetreten war, denn das Tier zeigte weiter absolut keine Krankheitserscheinungen, die sonst ‚bei unbehandelten Tieren nie verschwinden, so dass dieselben, auch wenn die Tetanie viel länger verläuft, während der ganzen Zeit einen schwer kranken Eindruck machen. Die zum Schiusse ein- getretenen Erscheinungen, die nach kurzer Zeit zum Tode führten, stehen gewiss nicht mit der Fpithelkörperchenentfernung im Zu- sammenhang, sondern dürften auf eine zu dieser Zeit im Stalle, 124 Hugo Wiener: wohin das Tier gebracht worden war, ausgebrochene Epidemie zurück- zuführen sein, da zu derselben Zeit fast alle in diesem Stalle be- findlichen, auch nicht operierten, Katzen unter ganz gleichen Er- scheinungen erkrankten und zugrunde gingen. Katze 43. Operiert am 1. Febr. 1910. Rechts Epithelkörperchen im oberen Drittel, links in der Mitte der Schilddrüse sichtbar. Entfernt wurden beiderseits “lie oberen zwei Drittel der Schilddrüse. 2. Febr. vorm. Keine Erscheinungen. 2. Febr. nachm. Zittern am ganzen Körper und schwere Krämpfe. 5 Uhr nachm. Injektion von lO ccm Serum der Katze 38. Abends keine Krämpfe, kein Zittern. 3. Febr. Starke tonisch-klorische Krämpfe, das Tier liegt auf einer Seite. -11 Uhr vorm. Injektion von 12 ccm Serum der Katze 38. Nach derselben Krämpfe verschwunden. Das Tier geht im Käfig herum, putzt sich das Gesicht mit den Vorderpfoten. Nachm. Wieder schwere Krämpfe vorhanden. 5 Uhr nachm. Injektion von 11 ccm Serum der Katze 38. 4. Febr. Leichtes Zittern, keine Krämpfe. 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 38. Nachm. Starke Krämpfe. 5 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 38. Nach der Injektion kein deutlicher Nachlass der Erscheinungen. 5. Febr. Das Tier sehr matt, liegt auf der Seite, kann sich nicht auf- richten, zeigt allgemeines Zittern und von Zeit zu Zeit schwere tonisch-klonische Krämpfe, 11 Uhr vorm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 38. Nach der Injektion keine Veränderung. Nachm. Starke Krämpfe, das Tier liegt auf der Seite, reagiert kaum. 5 Uhr nachm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 3%. 6. Febr. Das Tier liegt auf der Seite, reagiert nicht. Von Zeit zu Zeit treten heftige Streckkrämpfe der Extremitäten und des Rumpfes auf. Nachmittag wird das Tier im Käfig tot gefunden. Das in diesem Versuche verwendete Serum der Katze 383 zeigte aur bei den ersten Injektionen eine Wirkung, erwies sich aber bei den späteren vollkommen wirkungslos. Die Immunisierung dieser Katze war offenbar nicht in der gewünschten Weise gelungen. Dies zeigte sich auch schon bei den Injektionen an Katze 42, bei der dieses Serum auch nur eine vorübergehende Wirkung zeigte. Eıst nach Injektion mit Serum der Katze 37 wurde dieses Tier geheilt. Für eine ungenügende Immunisierung der Katze 38 sprach auch der Umstand, dass dieses Tier während des Immunisierungsverfahrens Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 125- nicht abmagerte, im Gegenteil an Gewicht zunahm, während die übrigen gut immunisierten Tiere, wie dies auch bei anderen Im- munisierungsversuchen beobachtet wird, eine deutliche Abmagerung zeigten. Katze 39. Operiert am 21. Nov. 1909. Epithelkörperchen nicht sichtbar. Entfernt wurden beiderseits die oberen zwei Drittel der Schilddrüse. 22. Nov. Keine Erscheinungen. 23. Noy. Leichtes Zittern am ganzen Körper. 24. Nov. Schwere allgemeine Krämpfe. Das Tier wird durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen, Katze 40 erhält am 29. Nov., 2., 6., 9., 13., 16., 20., 24., 27., 30. Dez. 1909, 2., 7., 11., 14., 17., 20., 24., 28. Jan., 1., 4., 8. Febr. 1910 je 1 ccm Serum der Katze 39 subkutan. Das Tier vollkommen munter, nur in der letzten Zeit stark abgemagert wird am 11. Febr. durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. Katze 41 erhält am 13., 16., 20., 24., 27., 30. Dez. 1909, 2., 7., 11., 14., 17., 20., 24., 28. Jan., 1., 3, &, 11. Febr. 1910 je 1 ccm Serum der Katze 36 subkutan. Das Tier vollkommen normal und munter, nur in der letzten Zeit stark ab- gemagert, wird am 15. Febr. durch Verbluten getötet und das Serum gewonnen. Katze 44. Operiert am 25. Februar 1910. Epithelkörperchen nicht sicht- bar. Entfernt wurden beiderseits die oberen zwei Drittel der Schilddrüse. 26. Febr. Keine Erscheinungen. Nachm. Zittern in den Extremitäten, tonische Starre derselben. Das Tier versucht mit den Vorderpfoten sich die Schnauze zu putzen, kann aber mit der Pfote nicht zum Munde gelangen, da es die tonisch gestreckte Extremität im Ellbogen nicht beugen kann. Das Tier versucht zu gehen; beim Versuche, die Extremitäten vom Boden zu erheben, tritt starkes Schütteln in denselben ein. 5 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 40. 27. Febr. Extremitäten in tonischer Starre. Das Tier steht wie auf Stelzen. Zittern in den Extremitäten. 10 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 40. Nachm. Starre der Extremitäten geschwunden, das Tier geht herum, beim Abheben der Extremitäten vom Boden leichtes Zittern derselben wahrnehmbar. 5 Uhr nachm. Injektion von Scem Serum der Katze 40, 7 Uhr abends. Tier munter, ist bereits imstande, sich mit den Vorderpfoten die Schnauze zu putzen. 28. Febr. Wieder leichtes Zittern und leichte tonische Starre der Extremi- täten aufgetreten. 9 Uhr vorm. Injektion von 10 cem Serum der Katze 40. Nachm. Hier und da leichtes Zittern in einer hinteren Extremität angedeutet, Starre der Extremitäten geschwunden, das Tier läuft munter im Käfig herum,. frisst zum ersten Male mit Appetit. 4 Uhr nachm. Injektion von S ccm Serum der Katze 40. 126 Hugo Wiener: 1. März. Immer noch Zittern in einer hinteren Extremität angedeutet. 1 Uhr nachm. Injektion von 4 ccm Serum der Katze 41. 5 Uhr nachm. Zittern ganz geschwunden, Katze frisst mit Appetit. 6 Uhr nachm. Wieder leichtes Zittern in einer hinteren Extremität. 6 Uhr nachm. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 41. 2. März. Kein Zittern vorhanden, Tier munterer. 3. März. Zittern angedeutet, Katze matt, wird durch die Sonde mit Milch gefüttert. 11 Uhr vorm. Injektion von 5 cem Serum der Katze 4. 4. März. Zittern verschwunden, Katze noch matt, wird nochmals mit Sonde gefüttert. - 5. März. Tier viel munterer und kräftiger, kein Zittern. 6. März. Der gleiche Befund. 7. März. Katze vollständig munter und normal, läuft im Käfig herum, frisst sehr viel, zeigt kein Zittern. '.So bleibt das Tier vollkommen gesund und wird am 30. März bei voll- ständigem Wohlbefinden durch Verbluten getötet. Bei der mikroskopischen Untersuchung der zurückgelassenen Schilddrüsen- reste keine Epithelkörperchen nachweisbar. Katze 45. Operiert am 15. März 1910. Epithelkörperchen nicht sichtbar. Entfernt wurden beiderseits die zwei oberen Drittel der Schilddrüse. 16. März. Keine Erscheinungen. 17. März. Zittern in allen Extremitäten, tonische Starre derselben und der Halsmuskulatur. 12 Uhr mitt. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 4l. Nachm. So ziemlich derselbe Befund. 5 Uhr nachm. Injektion von 8 ccm Serum der Katze Al. 18. März. Tier etwas munterer, sonst keine wesentliche Veränderung. 11 Uhr vorm. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 41. Die Erscheinungen haben nachgelassen, Tier munterer. 5 Uhr nachm. Injektion von 4 ccm Serum der Katze 41. 19. März. Tier viel munterer, frisst mit Appetit, die tonische Starre voll- ständig geschwunden. Hier und da leicht angedeutetes Zittern in den Ex- tremitäten. 12 Uhr mitt. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 4l. Nachm. Tier vollständig munter, läuft im Käfig herum, hier und da leichtes Zittern in den Hinterbeiuen. 5 Uhr nachm. Injektion von 4 ccm Serum der Katze 4I. 20. März. Tier vollständig normal und munter, zeigt nicht die geringste Krankheitserscheinung und bleibt so bis zum 25. April. An diesem Tage wird ‘es durch Verblutung getötet, das Serum gewonnen. Die mikroskopische Untersuchung der zurückgelassenen Schilddrüsenreste lässt Epithelkörperchenreste vermissen. Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 127 Über die beiden letzten Versuche (Katze 44 und 45) ist nicht viel zu sagen. In beiden Fällen gelang es durch Injektion von Immunserum die Tetanieerscheinungen zunächst vorübergehend, dann dauernd zu beseitigen. Überblickt man diese Versuchsreihe, so konstatiert man in allen Fällen einen günstigen Einfluss der Seruminjektionen, der anfangs immer ein vorübergehender ist, indem die Tetaniesymptome nach- lassen oder verschwinden, um aber nach wenigen Stunden wieder aufzutreten, dann aber in drei von fünf Fällen ein dauernder wird, so dass diese drei Tiere als völlig geheilt angesehen werden müssen. Die Lebensdauer derselben überschritt zwar nicht die unbehandelter Tiere, sie betrug bei Katze 42 bloss 24, bei Katze 44 bloss 33 und bei Katze 45 bloss 41 Tage, allein erstens wurden die zwei letzten Tiere bei bestem Wohlbefinden aus anderen Gründen getötet und hätten, da sie ganz wohl waren, weitergelebt, während die Katze 42 an einer interkurrenten Krankheit zugrunde ging; zweitens aber ist die Lebensdauer unbehandelter Tiere nur ein langsames Hinsiechen bei stets vorhandenen Tetaniesymptomen, während diese Tiere sich des besten Wohlseins erfreuten und sich durch nichts von normalen unterschieden. Noch deutlicher tritt der günstige Einfluss in Erscheinung, wenn man das injizierte Serum berücksichtigt. Die Sera der Katze 29, 37, 40, 41 waren offenbar hochwertige Immunsera, und dementsprechend wurden die mit denselben behandelten Katzen 42, 44, 45 dauernd geheilt. Die mit dem Serum der Katze 29 behandelte Katze 32 war eben- falls auf dem besten Wege zur Heilung, indem die Erscheinungen immer deutlicher sistierten. Da ging aber dieses Serum aus, und es musste zum Serum der Katze 30 gegriffen werden, das einem moribunden Immuntiere entnommen worden war und sich schon bei der ersten Injektion an dieser Katze als völlig wirkungslos gezeigt hatte. Mit diesem Serum waren aber die wieder aufgetretenen Tetaniesymptome nicht mehr zu bannen und führten schliesslich zum Tode des Tieres. Ganz ähnlich, wenn auch nicht so vollkommen wirkungslos erwies sich das Serum der Katze 38, die schon äusser- lich nicht den Eindruck eines gut immunisierten Tieres machte, indem sie nicht abgemagert war. Mit diesem Serum liessen sich bei Katze 42 die Erscheinungen der Tetanie nur vorübergehend be- seitigen und schwanden erst dauernd, als ein anderes Immunserum angewendet wurde. Bei Katze 43, die nur mit diesem Serum be- 128 Hugo Wiener: handelt wurde, konnte überhaupt kein dauernder Fffekt erzielt werden. Nach allem steht also die heilende Wirkung solcher Immunsera über jedem Zweifel, und es war nur noch die Frage zu entscheiden, ob diese Wirkung dem Serum als solchen und nicht den in ihm etwa enthaltenen Antikörpern zukommt. Wenn auch die Tat- sache, dass nicht alle verwendeten Sera die erhoffte Wirkung hatten, schon direkt gegen letztere Annahme sprach, so schienen doch eigene Kontrollversuche in dieser Richtung geboten. Es wurden daher folgende fünf Versuche angestellt; vier davon fielen gleichsinnig aus und zwar: Katze 59. Normales Tier, wird am 29. April 1910 durch Verbluten aus der Karotis getötet, das Serum gewonnen. Katze 60. Operiert am 3. Mai 1910. Beiderseits Epithelkörperchen in der Mitte der Schilddrüsen sichtbar. Entfernt werden beiderseits die oberen zwei. Drittel der Schilddrüse. 4. Mai. Schwere allgemeine Krämpfe und Zittern. 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 59. Nachm. Das Tier kaum munterer, starkes Zittern vorhanden. 5 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 59. 5. Mai. Schwere allgemeine Krämpfe und Zittern, 11 Uhr vorm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 59. Während der Injektion tritt starker allgemeiner Tetanus ein. Nach der Injektion wieder- holen sich einigemal diese starken allgemeinen Streckkrämpfe. In einem solchen Anfalle erfolgt exitus. Katze 65. Normales Tier, am 6. Mai 1910 durch Verbluten aus der Karotis getötet, Serum gewonnen. Katze 66. Operiert am 17. Mai 1910. DBeiderseits Epithelkörperchen im: oberen Drittel der Schilddrüse sichtbar. Entfernt wurden beiderseits die oberen zwei Drittel der Schilddrüse. 18. Mai vorm. Keine Erscheinungen. Nachm. Das Tier liegt auf der Seite, zeigt erschwerte und beschleunigte Respiration, starkes Zittern und schwere allgemeine Krämpfe. 5 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 65. Nach der Injektion keine Änderung des Zustandes. 19. Mai. Starkes Zittern, tonische Starre der vorderen Extremitäten. 11 Uhr vorm. Injektion von 11 ccm Serum der Katze 6. Nachm. Dieselben Erscheinungen. 5 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 6». 20. Mai. Keine Änderung. 1 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 65. Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 129 Nachm. Dieselben Erscheinungen. 5 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 65. 21. Mai. Kein Nachlassen der Erscheinungen. 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 6». 22. Mai. Starkes Zittern, Tier hockt immer noch auf einer Stelle. 23. Mai. Zittern etwas nachgelassen, sonst derselbe Befund. 23. Mai nachm. Zittern wieder stärker. 24. Mai. Starkes Zittern, sonst der gleiche Befund. 11 Uhr vorm. Injektion von S ccm Serum der Katze 65. 25. Mai. Starkes Zittern, das Tier wird mittelst Sonde gefüttert. 26. Mai. Starkes Zittern, Tier sehr matt, kann sich kaum aufrichten. 27. Mai. Früh tot gefunden. Katze 67. Normales Tier, am 18. Mai 1910 durch Verbluten aus der Karotis getötet, Serum gewonnen. Katze 68. Öperiert am 18. Mai 1910. Rechts Epithelkörperchen im unteren Drittel, links in der Mitte der Schilddrüse sichtbar. Entfernt wurde rechts die ganze Schilddrüse, links das mittlere Drittel. 19. Mai. Keine Erscheinungen. 20. Mai. Das Tier liegt auf der Seite, zeigt starkes Zittern und schwere allgemeine Krämpfe. 11 Uhr vorm. Injektion von 11 cem Serum der Katze 67. Nachm. Zittern vielleicht etwas schwächer, das Tier hockt auf einer Stelle. 5 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 67. 21. Mai. Dieselben Erscheinungen. 11 Uhr vorm. Injektion von lO ccm Serum der Katze 67. 22. Mai. Zittern etwas schwächer. 23. Mai. Zittern wieder stärker. 24. Mai. Zittern wieder nachgelassen. 25. Mai. Derselbe Befund. 26. Mai. Zittern wieder viel stärker. 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 67. Nachm. Keine Änderung, das Tier wird mittelst Schlundsonde gefüttert, ist sehr matt. 5 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 67. 27. Mai. Erscheinungen unverändert, das Tier wird abermals mittelst Schlundsonde gefüttert. 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 67. Nachm. Keine Änderung. 5 Uhr nachm. Injektion von 8 ccm Serum der Katze 67. 28. Mai früh im Anfalle Tod. Katze 69. Normales Tier, am 25. Mai 1910 durch Verbluten aus der Karotis getötet, Serum gewonnen. Katze 70. Operiert am 25. Mai 1910. Rechts Epithelkörperchen in der Mitte, links im oberen Drittel der Schilddrüse sichtbar. Entfernt wurden rechts das mittlere, links die oberen zwei Drittel der Schilddrüse. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 5) 130 Hugo Wiener: 26. Mai. Das Tier liegt auf der Seite, hat beschleunigte und erschwerte Respiration, schwere allgemeine Krämpfe und Zittern, 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 69. Nachm. Zittern sehr stark, Lähmung der hinteren Extremitäten. 9 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 69. 27. Mai. , Dieselben Erscheinungen. 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 69. Nachm. Keine Veränderung. 5 Uhr’nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 69. 28. und 29. Mai. Dieselben Erscheinungen. 80. Mai. Die Erscheinungen die gleichen, nur liegt das Tier auf der Seite, kann sich nicht erholen, ist sehr matt. Es wird mittelst Schlundsonde gefüttert. 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 69. 1. Juni. Zittern gleich, Mattigkeit zugenommen, tonische Starre der vorderen Extremitäten. Das Tier wird abermals mittelst Schlundsonde gefüttert, 2. Juni. Derselbe Befund. 3. Juni. vorm. Derselbe Befund. Das Tier wird gefüttert. Nachmittag wird das Tier im Käfig tot gefunden. Aus diesen vier Versuchen geht demnach hervor, dass. weder dem Serum als solehem eine wesentliche Beeinflussung der Tetanie zukommt, noch dass das normale Serum jene Gegenkörper enthält, die in den Immunisierungsversuchen die Tetanieerscheinungen zu beseitigen imstande waren. Unter den fünf, mit Serum von normalen Tieren unternommenen Versuchen fielen aber nicht alle in der gleichen Weise aus. Ein Versuch, den ich jetzt anführen will, ergab ein anderes Resultat. Katze 63. Normales Tier, am 4. Mai 1910 durch Verbluten aus der Karotis. getötet, Serum gewonnen. Katze 64. Operiert am 6. Mai 1910. Rechts Epithelkörperchen in der Mitte, links im oberen Drittel der Schilddrüse sichtbar. Entfernt wurden rechts das mittlere, links die oberen zwei Drittel der Schilddrüse. 7. Mai vorm. Keine Erscheinungen. Nachm. Starke allgemeine Krämpfe und Zittern. 5 Uhr nachm. Injektion von 12 ccm Serum der Katze 62. 8. Mai. Zittern wesentlich nachgelassen, Tier etwas munterer, frisst mit Appetit. 11 Uhr vorm. Injektion von 12 ccm Serum der Katze 69. Nachm. Zustand weiter gebessert, leichtes Zittern noch immer vorhanden, 5 Uhr nachm. Injektion von 9 ccm Serum der Katze 6. 9. Mai. Tier vollständig munter und normal, hat gar keine Erscheinungen frisst mit Appetit. 10., 11. Mai. Tier vollständig normal. Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 131 12. Mai. Tier weniger munter, hat aufgehört zu fressen, zeigt aber kein Zittern. 13. Mai vorm. Derselbe Befund. Nachm. Tier hockt zusammengekauert, zeigt sehr starkes Zittern. 5 Uhr nachm. Injektion von 9 cem Serum der Katze %. 14. Mai. Sehr starkes Zittern vorhanden. ll Uhr vorm. Injektion von 9 ccm Serum der Katze 63. Nach der Injektion Tier munter, Zittern verschwunden, das Tier frisst mit Appetit. Nachm. Wieder leichtes Zittern aufgetreten. 5 Uhr nachm. Injektion von 9 ccm Serum der Katze %. 15. Mai. Zittern vollständig geschwunden, Tier munter. 16. Mai. Tier vollständig normal, bleibt so bis zum 28. Mai, an welchem Tage es bei bestem Wohlbefinden durch Verbluten getötet wird. Es gelingt demnach, wie dieser Versuch zeigt, auch durch In- jektionen von normalem Serum unter Umständen die Tetanie dauernd zu beseitigen. Freilich unterscheidet sich das Verhalten des Tieres in diesem Falle von jenem, das wir bei den Versuchen mit Immun- serum zu sehen gewohnt waren. Wenn man von den vorübergehenden kurzdauernden Besserungen in den Erscheinungen und im Befinden der Tiere, wie sie nach den ersten Injektionen auftraten, ab- sieht, kam es in den Versuchen mit Immunserum schliesslich zu einer dauernden Heilung, d. h. sobald die Krankheitserscheinungen vollständig geschwunden waren und die Tiere, worauf ich das Hauptgewicht legen möchte, nicht mehr einen schwer kranken, sondern einen völlig normalen Eindruck machten, kehrten die Krämpfe, das Zittern und die Störungen im Allgemeinbefinden nicht wieder. Anders in dem letzten Versuche. Hier wurde zunächst genau so wie in den früheren Versuchen eine vollkommene Heilung erzielt; allein diese war keine dauernde, sie währte nur drei Tage. Nach dieser Zeit kehrten sämtliche Erscheinungen in der früheren Intensität zurück, um erst nach weiteren wiederholten Injektionen, und diesmal dauernd zu verschwinden. Um es also kurz auszudrücken, besteht der Unterschied zwischen den Versuchen mit Immunserum und dem einen Versuche mit Normal- serum darin, dass in jenen nach einer gewissen Zahl von Injektionen eine dauernde, in diesem zunächst eine rasch vorübergehende und erst dann nach noch weiteren Injektionen eine dauernde Heilung erzielt wurde. Dieser Unterschied scheint dafür zu sprechen, dass in den Immunseris grössere Mengen von dem Gegengift enthalten 9* 132 Hugo Wiener: sind, als in einem normalen Serum, wenn auch letzteres unter Um- ständen eine gewisse Menge solcher Stoffe enthält. Ich glaube, dass diesem Unterschiede eine grosse Bedeutung zukommt und derselbe nieht unterschätzt oder gar vernachlässigt werden darf, zumal gerade dieses Verhalten — das Eintreten eines Rückfalles nach bereits erfolgter Heilung — sich in weiteren analogen, später anzuführenden Versuchen immer wieder ge- zeigt hat. Der positive Ausfall des letzt angeführten Versuches mit Normal- serum könnte bei der ersten Betrachtung geeignet erscheinen, die Bedeutung der Immunserumversuche abzuschwächen oder gar in Frage zu stellen. Man könnte mit der Möglichkeit rechnen, dass man zur Gewinnung des vermeintlichen Immunserums zufällig gerade solche Tiere gewählt hätte, die schon von vornherein, wie Katze 63. in ihrem Serum Gegenkörper gegen das Tetaniegift enthielten und diese nicht erst durch die längere Zeit durchgeführten Injektionen von kleinen Mengen Tetanieserums erzeugt wurden oder erzeugt werden mussten, diese vermeintliche Immunisierung des Tieres also durch die Injektionen nicht stattgefunden hatte, sondern vor denselben bereits eine Immunität vorhanden war. Gegen diesen Einwand, der meinen Versuchen gemacht werden könnte, sprechen aber zwei Momente, Erstens der schon hervor- gehobene Unterschied in der Wirksamkeit von wirksamem Normal- serum und von Immunserum, zweitens noch der Prozentsatz der Erfolge, der bei den Versuchen mit Immunserum ein viel höherer ist, als bei denen mit Normalserum. Bei ersteren erhielt ich in drei von fünf Fällen, also in 60°/o der Fälle ein positives Resultat, und der Prozentsatz wird noch günstiger, wenn man die einzelnen Fälle näher betrachtet, da dann von den negativen Fällen der eine oder der andere ausgeschaltet werden muss; bei letzteren erhielt ich nur in einem einzigen von fünf Fällen, also bloss in 20/0 der Fälle ein positives Resultat. Betrachtet man letzteren Prozentsatz, so fällt sofort seine absolute Übereinstimmung mit jenem auf, in dem nach totaler Epithelkörperchen- exstirpation Tetanieerscheinungen ausblieben. Dieser Umstand legt den Gedanken nahe, ob nicht hier ein innerer Zusammenhang be- steht, d. h. ob wir nicht in der Untersuchung normaler Sera die Erklärung für das Ausbleiben jeglicher Erscheinungen nach totaler Epithelkörperchenexstirpation bei manchen Tieren, trotz der an- Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 133 erkannten Lebenswichtigkeit dieser Organe, gefunden haben. Dies ist um so wahrscheinlicher, als der schon erwähnte Versuch Blums vorliegt, in dem er an einem Serum eines Hundes, der nach Epithel- körperchenexstirpation frei von Erscheinungen geblieben war, immunisierende Eigenschaften gegen das Tetaniegift nachgewiesen hatte. Dieser Versuch zeigt noch insofern eine Übereinstimmung mit meinen Versuchen mit Normalserum, als die mit diesem Serum bewirkte Heilung, genau wie in meinen Versuchen zunächst eine bloss vorübergehende war. Zur Sicherung dieser Anschauung habe ich einen gleichen Ver- such unternommen. Katze 5%. Operiert am 1. März 1910. Epithelkörperchen nicht sichtbar. Entfernt wurden beiderseits die zwei oberen Drittel der Schilddrüse. 2. März. Keine Erscheinungen. 3. März. Tier vollständig normal und munter. So bleibt das Tier ohne die geringsten Erscheinungen zu zeigen, bis zum 15. März am Leben und wird an diesem Tage durch Verbluten aus der Karotis getötet, das Serum gewonnen. Katze 55. Operiert am 19. März 1910. Epithelkörperchen nicht sichtbar. Entfernt wurde rechts die ganze Schilddrüse, links die oberen zwei Drittel derselben. 20. März. Keine Erscheinungen. 21. März. Tier vollständig normal und munter. So bleibt das Tier bis zum 30. März und wird an diesem Tage durch Verbluten aus der Karotis getötet, das Serum gewonnen. In beiden Fällen ergibt die mikroskopische Untersuchung der zurück- gelassenen Schilddrüsenreste das Fehlen von Epithelkörperchen in denselben. Katze 58. Operiert am 25. April 1910. Epithelkörperchen beiderseits in der Mitte der Schilddrüsen sichtbar. Entfernt wurden beiderseits die oberen zwei Drittel der Schilddrüsen. 26. April. Keine Erscheinungen. 27. April. Schwere allgemeine Krämpfe und starkes Zittern. 11 Uhr vorm. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 55. Unmittelbar nach der Injektion deutliches Nachlassen der Erscheinungen. Nachm. Kaum merkbares Zittern vorhanden, keine Krämpfe. d Uhr nachm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 55. Während der Injektion allgemeiner Tetanus, nach derselben fast keine Erscheinungen. 28. April. Starke Krämpfe und allgemeines Zittern vorhanden. 10 Uhr vorm. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 55. Nachm. Zittern und Krämpfe vorhanden, aber etwas schwächer. 5 Uhr nachm. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 55. 134 Hugo Wiener: 29. April. Zittern noch immer vorhanden, Tier entschieden munterer. 12 Uhr mitt. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 55. Nachm. Kein Zittern, keine Krämpfe, Tier munterer. 5 Uhr nachm. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 55. Nach der Injektion wird das Tier mittelst Schlundsonde gefüttert. 30. April. Zittern noch vorhanden, Tier aber vollständig munter, geht im Käfig herum, hat volles Interesse für die Umgebung, frisst mit Appetit. 11 Uhr vorm. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 55. Nachm. Dieselben Erscheinungen. 5 Uhr nachm. Injektion von 7 ccm Serum der Katze 5. 1. Mai. Das Tier vollkommen normal und munter, frisst mit Appetit. 11 Uhr vorm. Injektion von 7 ccm Serum der Katze 593. Nachm. Keine Erscheinungen. 2. Mai. Tier vollständig normal. 3. Mai. Tier hockt zusammengekauert, frisst nicht, hat leichtes Zittern. Nachm. Tier liegt auf der Seite, zeigt starkes Zittern. 4. Mai vorm. Starkes Zittern und allgemeine Krämpfe. Nachm. Zwei Anfälle von allgemeinem Tetanus, im zweiten Anfalle Tod. Dieser Versuch stimmt also mit jenem Blums vollständig über- ein. Auch hier wurde mit dem Serum von Tieren, die nach Epithel- körpercehenexstirpation ohne Erscheinungen gebliebeu waren, Heilung der Tetanie und zwar wie im Blum’schen Versuche, nur eine vorüber- gehende erzielt, und somit sind auch hier in einem solchen Serum Anti- körper nachgewiesen. Leider hatte ich nach der zunächst eingetretenen Heilung die ganze Menge der betreffenden Sera verbraucht, und es standen mir keine weiteren Mengen mehr zur Verfügung. Vielleicht wären — und das war nach dem Ausfalle des Versuches mit der Katze 64 resp. mit dem Serum der Katze 63 zu erwarten — durch weitere Injektionen auch die wiederaufgetretenen Erscheinungen zu bannen gewesen, und das Tier wäre dann vielleicht dauernd geheilt worden. Der Ausfall des Blum’schen und auch meines Versuches liessen die Deutung, die auch Blum gegeben hat, zu, dass die betreffenden Tiere deshalb frei von Tetanie geblieben waren, weil sie sich nach der Epithelkörperchenexstirpation spontan gegen das Tetaniegift immunisiert hatten. Nach meinem Versuche mit dem Serum der Katze 63 ist aber viel eher anzunehmen, dass diese Tiere aus irgend- einem Grunde schon vor der Epithelkörperchenexstirpation bereits immun waren. Diese Annahme gibt eine ungezwungene Erklärung erstens für die Tatsache, dass nicht alle Tiere nach Epithelkörperchenexstirpation Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 135 an Tetanie erkranken, und ferner für die Tatsache, dass Injektion von Serum tetaniekranker Tiere nicht bei allen Tieren Tetanie- erscheinungen erzeugen. Die Tiere, bei welchen diese Injektionen erfolglos waren, wären wahrscheinlich auch nach Epithelkörperchen- exstirpation nicht an Tetanie erkrankt. Nur noch ein Moment bleibt in meinen Versuchen einer Auf- klärung bedürftig, nämlich das, wieso die Tiere durch die Injektionen mit Immunserum dauernd geheilt wurden. Wenn man annimmt, dass ein solches Serum Gegengifte gegen das Tetaniegift enthält, so sollte man meinen, dass durch dieselben zunächst das im Körper vorhandene Gift unschädlich gemacht wird und die Tetanie- erscheinungen schwinden, dann aber, da die Bedingungen für die weitere Giftproduktion noch weiter bestehen, wieder auftreten. Dass sie aber, wie dies tatsächlich der Fall ist, dauernd verschwinden, kann nur auf zweierlei Weise erklärt werden. Entweder hört die weitere Giftproduktion auf, eine Annahme, die nichts Unmögliches an sich hat, da wir ein analoges Verhalten des Organismus unter verschiedenen ähnlichen Verhältnissen kennen, oder aber die Er- klärung liegt darin, dass wir durch die Injektionen dem Körper über eine kritische Zeit hinweghelfen und er inzwischen Zeit ge- funden hat, sich selbst zu immunisieren. Manche Tierarten, bei denen vielleicht die Giftproduktion eine langsamere oder die Reaktion des Oreanismus auf das Gift eine raschere ist, könnten vielleicht - ohne Nachhilfe selbständig mit dem Gifte fertig werden. Darauf dürfte die oft beobachtete Spontanheilung der Tetanie beruhen. Andere Tierarten hingegen, wie z. B. die Katzen, bei denen eine Spontanheilung nur canz ausnahmsweise beobachtet wird, würden einer Nachhilfe für die erste Zeit bedürfen, um sich im weiteren Verlaufe dann erst selbständig zu immunisieren. Zur Entscheidung, welche dieser beiden Möglichkeiten vorliegt, habe ich folgende Versuche unternommen: Zunächst verwendete ich das Serum eines durch Injektion mit Immunserum geheilten Tetanietieres (Katze 45), dessen Krankengeschichte bereits ausführlich oben angeführt wurde. Katze 62. Operiert am 29. April 1910. Epithelkörperchen beiderseits in der Mitte der Schilddrüse sichtbar. Entfernt wurden beiderseits die oberen zwei Drittel der Schilddrüsen. 30. April. Tier hockt zusammengekauert, hier und da leichtes Zittern angedeutet. 1. Mai. Ausgesprochene Tetanie, Tier liegt auf der Seite. 11 Uhr vorm. Injektion von 6 ccm Serum der Katze 45. Nach der Injektion erhebt sich das Tier, Zittern nachgelassen. 136 Hugo Wiener: Nachm. Galoppatmen, Tier liegt auf der Seite, rührt sich kaum, zeigt starkes Zittern. 5 Uhr nachm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 45. 2. Mai. Früh tot im Käfig gefunden. Katze 51. Operiert am 3. Mai 1910. Epithelkörperchen beiderseits in der Mitte der Schilddrüse sichtbar. Entfernt wurden beiderseits die oberen zwei Drittel der Schilddrüsen. 4. Mai. Keine Erscheinungen. So bleibt das Tier bis zum 13. Mai. 14. Mai. Tier hockt zusammengekauert, hat aufgehört zu fressen. 15. Mai. Leichtes Zittern in den Extremitäten, aber nur angedeutet. 16. Mai. Zittern deutlich vorhanden. 11 Uhr vorm. Injektion von 4 ccm Serum der Katze 45. Während der Injektion allgemeiner Tetanus. Nach derselben Zittern nachgelassen. Nachm. Zittern wieder stärker geworden. 5 Uhr nachm. Injektion von 5 cem Serum der Katze &5. - 17. Mai. Tier vielleicht etwas munterer, Zittern vorhanden. 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze45. Während der Injektion abermals allgemeiner Tetanus, nach derselben Zittern etwas schwächer. Nachm. Keine wesentliche Besserung vorhanden. 5 Uhr nachm. Injektion von 7 ccm Serum der Katze &. 18. Mai. Das Tier scheint etwas munterer, zeigt kein Zittern, keine Krämpfe. Versucht man es aber im Käfig herumzutreiben, bekommt es tonische Krämpfe in den vorderen Extremitäten, die in einen allgemeinen Tetanus übergehen. 11 Uhr vorm. Injektion von 4 ccm Serum der Katze &. Nachm. zeigt das Tier dasselbe Verhalten wie am Vormittag. 19., 20. Mai. Kein Zittern, bei der leisesten Berührung allgemeiner Tetanus. 21. Mai. Dieselben Erscheinungen. 11 Uhr vorm. Injektion von 8 ccm Serum der Katze 4. Nachm. Keine Veränderung. 22. Mai. Tot im Käfig gefunden. In diesen beiden Versuchen, die eigentlich nur einen doppelten Versuch mit einem einzigen Serum darstellen, war ein Gegengift in demselben, also eine Immunisierung des von der Tetanie geheilten Tieres nieht nachweisbar. Die beiden Versuche ergaben ein gleiches Resultat. Ich habe aber deshalb beide angeführt, weil es das einzige- mal war, dass ich so viel Serum zur Verfügung hatte, um ein Serum an zwei Tieren ausprobieren zu können. Die Übereinstimmung der Resultate in beiden Versuchen gibt aber meinen übrigen Ver- suchen eine erhöhte Beweiskraft und schliesst Zufälligkeiten bei den- selben aus. Den nächsten Versuch stellte ich mit dem Serum eines ebenfalls durch Seruminjektionen geheilten Tetanietieres an, das aber nicht Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. 137 durch Injektionen von Immunserum geheilt worden war, sondern es handelt sich um das Serum jenes einen Tieres, bei dem nach Injektionen mit normalem Serum Heilung der Tetanie eingetreten war (Katze 64). Katze 71. Operiert am 30. Mai 1910. Rechte Schilddrüse viel kleiner als die linke, rechts Epithelkörperchen am unteren, links am oberen Pole sichtbar. Entfernt wurde rechts die ganze Schilddrüse, links die obere Hälfte. ol. Mai. Starkes allgemeines Zittern und tonische Starre der vorderen Ex- tremitäten. 11 Uhr vorm. Injektion von 10 ccm Serum der Katze 64. Nach der Injektion keine Veränderung. Nachm. Zittern zugenommen, Respiration erschwert. 5 Ubr nachm. Injektion von 11 ccm Serum der Katze 64. Nach der Injektion Zittern schwächer, Tier entschieden viel munterer, Respiration noch erschwert. 1. Juni. Starkes Zittern und Krämpfe. 11 Uhr vorm. Injektion von 8 ccm Serum der Katze 64. Nachm. Zittern nachgelassen. 5 Uhr nachm. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 64. Nach der Injektion Zittern verschwunden, Tier läuft munter im Käfig herum. 2. Juni. Tier vollständig munter, Zittern wieder vorhanden, aber kaum an- gedeutet. 11 Uhr vorm. Injektion von 8 ccm Serum der Katze 64. Nachm. Tier munter, keine Erscheinungen. 3. Juni vorm. Derselbe Befund. Nachm. Tier hockt wieder zusammengekauert, leichtes Zittern wieder auf- getreten. 5 Uhr nachm. Injektion von 5 ccm Serum der Katze 64. 4. Juni. Zittern viel stärker, beim Ergreifen des Tieres allgemeiner Tetanus. 11 Uhr vorm. Injektion von 7 ccm Serum der Katze 64. Nachm. Zittern kaum angedeutet. 5 Uhr nachm. Injektion von 7 ccm Serum der Katze 64. Nach der Injektion Zittern verschwunden, Tier munter, geht ruhig im Käfig herum. 5. Juni. Zittern wieder ziemlich stark aufgetreten. Tier hockt zusammen- gekauert, frisst nicht. 6. Juni. Zittern noch viel stärker, Krämpfe. 7. und 8. Juni. Derselbe Befund, Tier wird gefüttert. 9. Juni. Das Tier liest auf der Seite, kann sich nicht erheben. 10. Juni. Tot im Käfig gefunden. Dieser Versuch fiel nicht so negativ aus wie der vorige Es liess sich in diesem Serum eis Gegenkörper nachweisen, der aber nicht in grosser Menge vorhanden zu sein schien, da zwar zweimal nach aen Injektionen ein vollständiges Verschwinden aller Er- scheinungen beobachtet wurde, das einemal aber diese Pause nur 138 Hugo Wiener: 24 Stunden, das andremal noch viel kürzer dauerte und das Tier schliesslich doch der Tetanie erlag. Es wurde demnach in zwei Versuchen einmal ein negatives, einmal ein schwach positives Resultat in bezug auf den Gehalt an Gegengiften gegen das Tetaniegift in mit Serum endgültige von der Tetanie geheilten parathyreopriven Tieren erzielt. Fin Versuch spricht also für die zweitangeführte Erklärungesmöglichkeit einer dauernden Heilung, ein Versuch spricht wenigstens nicht dagegen, da ja vielleicht die Anwesenheit geringer Gegengiftmengen durch das Tierexperiment nicht nachzuweisen ist. Dennoch möchte ich aber vorläufig die Entscheidung in dieser Frage offen lassen und sie eventuellen weiteren Versuchen anheimstellen. Durch meine Versuche ist also auf dem Umwege durch Er- zeugung eines Antikörpers der Nachweis eines bei der Tetanie im Blute kreisenden Giftstoffes, der die Tetanieerscheinungen hervor- ruft, gelungen und zwar in viel konstanterer Weise, als es mit früheren Methoden möglich war. Diese Tatsache ist von theoretischer Bedeutung, da sie einen weiteren Anhaltspunkt für die entgiftende Funktion der Epithel- körperchen bildet. Aber auch damit ist die Entgiftungstheorie für die Funktion der Epithelkörperechen noch nicht absolut sicher be- wiesen. Denn das Kreisen eines Giftstoffes im Körper bei der Tetanie wäre auch mit der Sekretionstheorie ganz gut vereinbar. Man könnte sich vorstellen, dass bei fehlendem Sekret der Epithel- körperchen der Stoffwechsel in abnorme Bahnen geleitet wird und auf diese Weise Giftstoffe entstehen, die im normalen Stoffwechsel überhaupt nicht vorkommen. Um die Entgiftungstheorie sicher zu beweisen, genügt demnach der Nachweis eines während der Tetanie im Körper vorhandenen Giftstoffes nieht. Man müsste ausserdem noch nachweisen, dass dieser Giftstoff auch normalerweise vorhanden ist, nur dass er eben normalerweise durch die Epithelkörperchen unschädlich gemacht wird. Dieser Nachweis ist aber bisher noch nicht erfolgt. Blum macht zwar diese Annahme und schreibt diesem Gifte einen enterogenen Ursprung zu, auf Grund der von ihm ge- machten Beobachtung, dass milchgefütterte Tiere seltener an Tetanie erkranken und die Tetanie bei ihnen keinen so stürmischen Verlauf nimmt wie z, B. bei fleischgefütterten Tieren, und er glaubt, dass dieses Gift normalerweise im Darm durch Einwirkung der Bakterien- Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen, 139 flora des Darmes auf die genossenen Nahrungsstoffe gebildet und von da aus resorbiert wird. Möglich ist diese Annahme, bewiesen aber ist sie auch durch Blum nicht. Trotz des fehlenden Nachweises bleibt aber kaum eine andere Annahme übrig, als auch unter normalen Umständen die Bildung eines Giftes — ob es enterogenen oder anderen Ursprunges ist, mag dahingestellt bleiben — anzunehmen; denn da für die Epithel- körperchen nur eine sekretorische oder eine entgiftende Funktion möglich ist, für erstere aber kein Anhaltspunkt gewonnen werden konnte, so bleibt per exclusionem nur letztere übrig, für die aber, wenn sie zu Recht bestehen soll, ein zu entgiftender Stoff, ein Gift vorhanden sein müsste. Um dieses Gift, sowie jedes andere unschädlich zu machen, bleiben dem tierischen Körper, wenn man von der Ausscheidung des Giftes absieht, nur zwei Wege offen. Entweder er verändert das Gift selbst, indem er es durch Oxydation, Paarung usw. in eine andere, und zwar unschädliche Substanz überführt, oder aber er lässt das Gift intakt, neutralisiert es aber durch ein Gegengift, das er selbst produziert, d. h. er wehrt sich gegen das Gift so, wie er sich gegen Toxine, namentlich Bakterientoxine, zu wehren ge- wohnt ist. Die gefundenen Tatsachen würden dann in folgender Weise am besten eine ungezwungene Frklärung erfahren: Normalerweise würden die Epithelkörperchen direkt oder indirekt die Aufgabe haben, den Organismus auf die erstere Art zu entgiften. Daher hätte derselbe keine Veranlassung, aber auch keine Möglichkeit, auf das in ihm kreisende Gift mit der Produktion von Gegengift zu antworten. Infolgedessen ist auch in den meisten Fällen von nor- malem Serum ein solches Gegengift nicht nachweisbar. Dass auch das Gift nicht nachgewiesen werden konnte, hängt vielleicht mit dem Umstande zusammen, dass immer nur minimale Mengen des- selben vorhanden sind, die gleich wieder weiter verändert werden. Nur in einer beschränkten Zahl von normalen Fällen (in meinen Versuchen in 20°/o) wählt der Organismus den zweiten Weg der Entgiftung, vielleicht weil ihm der erste, eventuell durch ein all- mähliches Nachlassen der Funktion der Epithelkörperchen, nicht offen steht. In diesen Fällen bildet er Antitoxin, das dann auch nachweisbar ist, und diese Fälle sind es offenbar auch, die wegen ihrer bereits vorhandenen Immunisierung nach Exstirpation 140 Hugo Wiener: Über die Art der Funktion der Epithelkörperchen. der Epithelkörperchen von der Tetanie verschont bleiben. Die anderen Tiere aber erkranken an Tetanie und gehen an derselben zugrunde oder aber, was bei Katzen nur ausnahmsweise geschieht, sie überstehen die Erkrankung, indem sie, wie man annehmen muss, sich nachträglich immunisieren. Wenn man normalen Tieren kon- stant, wenn auch immer geringe Mengen von Tetaniegift durch längere Zeit einverleibt, dann ist doch offenbar immer wieder mehr Gift vorhanden, als die Epithelkörperchen, wenn sie auch normal funktionieren, bewältigen können, und es wird der Organismus gleichsam gezwungen, auch den zweiten Weg der Ent- giftung zu betreten und Antitoxin zu bilden. Für diese kleinen Giftmengen reicht diese allmähliche Antitoxinbildung aus. Wenn aber durch Wegnahme der Epithelkörperchen der Organismus seines ersten Entgiftungsmechanismus beraubt wird, dann reicht der zweite für die ganze jetzt vorhandene Giftmenge, wenigstens bei den Katzen, fast nie aus. Die Tiere erliegen der Vergiftung, können aber durch Zufuhr von vorgebildetem Antitoxin gerettet werden. Meine Versuchsresultate können aber auch von praktischer Be- deutung sein, da man aus ihnen eine Anwendung beim Menschen ableiten könnte. Die meisten Formen der Tetanie beim Menschen haben einen gutartigen Charakter; sie heilen spontan aus und dürften kaum eine besondere Beeinflussung erfordern. Bei den schweren und den chronischen Fällen aber, namentlich bei den nach. Kropfexstirpationen auftretenden, könnte eine auf dieser Grundlage beruhende Therapie versucht werden. Vielleicht beruht das Geheimnis der Funktion anderer „Drüsen mit innerer Sekretion“ auf ähnlichen Prinzipien. Jedenfalls bin ich im Begriffe, diesbezügliche Versuche aufzunehmen. Zum Schlusse ist es mir eine angenehme Pflicht, dem Vorstande des Instituts, Herrn Professor H. E. Hering, für die Förderung der Arbeit, dem Assistenten des Instituts, Herrn Priv. Doc. Rihl, für die werktätige Mithilfe bei den Versuchen meinen besten Dank abzustatten. 141 Über die Eireifung bei den Alceyonaceen. Von Dr. Robert Müller, Elberfeld. (Mit 4 Textfiguren.) Das Wachstum der Keimzellen der Aleyonaceen im elterlichen Organismus verläuft sehr langsam; bei Aleyonium digitatum, bei dem die Eiablage im Dezember und Januar erfolgt, sind, wie Hickson angibt, bereits im vorhergehenden Mai die Eizellen in den kurzen Filamenten als Gruppen kleiner heller runder oder polygonaler Zellen nahe an deren freiem Rande zu erkennen. In gleicher Weise beginnt die Entwicklung der männlichen Keimstöcke, so dass die erste Anlage eines Hodens und eines Ovariums beispiels- weise bei Aleyonium digitatum nicht zu unterscheiden ist. Die ursprüngliche Lagerungsstätte der Eizellen ist die Entoderm- bekleidung der kurzen Filamente, einerlei ob die Polypen aus Larven oder durch Stolonensprossung entstanden sind. In diesem Stadium ist es aber kaum möglich, die Eizellen mit Sicherheit zu erkennen, da die Zellformen, welche in diesem Entodermbelag auftreten, recht vielgestaltig sind ; namentlich sind es die Zoochlorellen und wandernde Mesodermzellen, welche das Entoderm durchdringen, die zu Ver- wechslungen Anlass geben können. Es zeigt sich nun ganz allgemein, dass die Eireifung in den unteren Abschnitten der kurzen Filamente bis zu einem gewissen Stadium verläuft, und diesen kommt daher eine doppelte Funktion zu, einerseits eine digestorische, andererseits eine Funktion als Gonade. Die Bedeutung der kurzen Filamente als Verdauungsorgane ist von Edith M. Pratt?) eingehend untersucht worden. Bereits 1) S. J. Hickson, The anatomy of Aleyonium digitatum. Quart. journ. of microscop. science. New Ser. vol. 37 p. 343—383. 1895. 2) E. M. Pratt, The digestive Organs of the Alcyonaria and their rela- tion to the Mesogloeal cell plexus. Quart. journ. of microscop. science. New Ser. vol. 49 p. 328. 1906. 142 Robert Müller: 1835 hatte Milne-Edwards den Filamenten der Alcyonarien digestorische Funktionen zugeschrieben; das Vorkommen von Drüsen- zellen in den ventralen Filamenten wurde zuerst von E. B. Wilson 1884 festgestellt bei Paraleyonium elegans. Dem oberen Teile der kurzen Filamente kommen, nach der histologischen Struktur zu urteilen, ausschliesslich digestorısche Funktionen zu, während der untere Abschnitt sowohl diese besitzt wie die Funktion als Keim- stock. Das oberflächliche Entoderm des unteren Abschnittes zeigt bei dem entwickelten Polypen denselben Bau wie die oberen, mehr oralwärts gelegenen Partien. Es enthält viele Drüsenzellen, die zahlreiche runde Granula einschliessen, die sich mit Eisenhämotoxylin tief schwarz färben. Der Kern sitzt nahe der Basis der Zelle, das Protoplasma zeigt eine feine Netzstruktur, in der die Granula liegen. Die oberflächlich gelegenen Drüsenzellen zeigen meist mehr Granula wie die jüngeren, tiefer gelegenen. Zwischen den Drüsenzellen ver- streut finden sich einzelne Schleimzellen und Nesselzellen. Wie Pratt angibt, ist das Bild der Drüsenzellen ein verschiedenes, je nachdem es von hungernden Polypen stammt, oder von solchen, ' welche Nahrung aufgenommen haben; in letzterem Falle sind die Drüsenzellen leer oder enthalten nur spärliche Granula. Ebenso ist die Häufiekeit der Schleimzellen eine verschiedene, abhängig von der untersuchten Spezies und deren Lebensgewohnheiten. So besitzen die tropischen Aleyonaceen, wie Sarcophytum glaueum oder Sklero- phytum palmatum, sehr zahlreiche Schleimzellen, während sie bei Aleyonium digitatum von der englischen Küste nur spärlich vorhanden sind. Auch bei derselben Art können diese Verhältnisse je nach dem Standort wechseln; so zeigte Aleyonium pachyclados vom Kap wohl- entwickelte kurze Filamente, während die Filamente bei Stöcken von den Maldiven sehr klein waren oder völlig fehlten; es hängt dies von der Symbiose mit Aleenzellen, den Zoochlorellen, ab. Während also das oberflächlich gelegene Entoderm der kurzen Filamente in seiner ganzer Ausdehnung im wesentlichen den gleichen Bau zeigt, werden die Verhältnisse in der tieferen Schicht des Entoderms der unteren Abschnitte der ventralen Filamente kom- pliziert durch die dort stattfindenden Vorgänge der Eientwicklung. Die ursprünglich dem oberflächlichen Entoderm angehörigen Ureier sinken in das Entoderm ein und liegen der Mesodermlamelle des Filaments auf. Man kann die Entwicklungsphase, welche sich von der Ein- Über die Eireifung bei den Alcyonaceen. 143 senkung bis zum Ende der Lagerung in den unteren Abschnitten der kurzen Filamente erstreckt, als die erste Phase der Eireifung bezeichnen. In ihrem Anfang erscheinen die Eizellen als Gruppen heller Zellen. Bei Tubipora ehamissonis liegen zwei bis fünf Zellen zusammen, die Zellkerne dieser Zellen sind relativ gross und zeigen einen mit zahlreichen körnigen Chromosomen versehenen Kern. Das Protoplasma, welehes den Kern umgibt, ist fein granuliert, im übrigen homogen. Es findet nun zunächst das weitere Wachstum der Eizelle da- durch statt, dass eine Verschmelzung mit benachbarten Eizellen erfolgt. Soviel sich feststellen liess, wird bei Tubipora chamissonis eine Nährzelle aufgenommen; dafür, dass dies allgemein so ist, spricht als Argument, dass die Entwicklung innerhalb des Filaments nur bis zu einer relativ geringen Grösse führt; der Eidurch- messer am Ende der ersten Entwicklunges- phase beträgt bei Tubipora, gemessen an in Formalin-Seewasser und in -Essigsäure-Subli- mat fixierten Präparaten 4—50 u, während das reife Ei einen Durchmesser von etwa 175 u hat Ei range Rirellereit Für Aleyonium digitatum gibt Hiekson zwei Kernen. Der grosse hierüber folgendes an: „In the smaller groups ee an - persi the cells were all of approximately the same stierende Kern, der ge- | 5 £ lappte, homogen gefärbte size, but in some of the larger groups a der in Auflösung begriffene few of the cells are very much larger than Kern der Nährzelle, Neben { der Eizelle zwei Zoochlo- the others and contain two instead of one rellen. Tubipora chamis- NE sonis. Bei 800 facher Ver- nucleus. An examination of such a group erösserung gezeichnet. with an immersion lens shows that the nuclei are of two different kinds and take up the staining rea- gents differently. Some present a wel] marked nuelear imembrane and a number of highly refracting chromatin granules, giving the characteristic appearance of a resting nucleus; the others are perfeetly homogeneous, staining deeply in haematoxylin and presenting no granules, nucleoli or other structure. In the cases of the larger cells which present two nuclei, one of them is invariably of the former description and the other of the latter. The explanation of these facts seems to be that some of the young ova, namely these containing the homogeneous nuclei, cease to grow and divide at an 144 Robert Müller: early stage in their development and these become absorbed by the others, which eontinue to grow.“ Diese Art des Eiwachstums durch Resorption von anderen Ei- zellen ist besonders bei den Arthropoden weit verbreitet und zeigt insbesondere bei den Insekten eine aufsteigende Skala. Bei dem Ei von Cypris findet sich nur eine Nährzelle, bei Dytiscus sind vier vorhanden, bei Rhizotrogus, Lithobius, den Collembolen und der Bienenkönigin findet sich die Eizelle von einer grossen Anzahl von Nährzellen umlagert!). Nach Paulcke hängt die Zahl der Nähr- zellen mit der zu produzierenden Eiermenge zusammen. Bei Apis sind es 48 Nährzellen, die auf ein Ei kommen, Jedes Ei wird so- dann vom Follikelepithel in eine Eikammer eingekammert, durch einen Fortsatz steht das Ei mit der Gruppe der zugehörigen Nähr- zellen in Zusammenhang. Bei Beginn des Ernährungsprozesses werden die Kerne der Nährzellen lappig, es findet ein Einströmen des Nährzelleneytoplasmas in die Eizelle statt, und die Kernfragmente werden gleichfalls aufgenommen; das gesamte aufgenommene Material erfährt weitere Umwandlungen, die zur Dotterbildung führen. Während nun im Aleyonaceenei der Kern der Nährzelle zu- erunde geht, wandelt sich der Kern der persistierenden Zelle weiter- hin um, indem es zur Bildung eines Binnenkörpers im Kern kommt, indem sich der Kern in „Keimbläschen“ und „Keimfleck (nuclear spot)“ differenziert. Dieser Binnenkörper erhält sieh bis zum Beginn der Chromatinreduktion; der Eikern ist von kugeliger bis ovaler Gestalt und von einer feinen Kernmembran umgeben, der Binnen- körper ist meist kugelig. Während der Eikern sich mit Kernfarb- stoffen kaum färbt, so dass er heller erscheint als der Eileib, färben sich in dem Binnenkörper die Chromatinnueleolen ausserordentlich stark; das achromatische Gerüstwerk des Kernes ist sehr spärlich und äusserst empfindlich gegen Essigsäure. Über die Grössen- verhältnisse geben einige Messungen an Eiern von Tubipora chamissonis Auskunft. Es maassen (fixierte Präparate, Oc. 3, Obj. 6, Leitz) im Durchmesser: 1) Vgl. Lubosch, Über die Eireifung der Metazoen, insbesondere über die Rolle der Nucleolen und die Erscheinungen der Dotterbildung. Ergebnisse der Anatomie und Entwicklungsgeschichte von Merkel und Bonnet Bd. 11 S. 709—783. 1902. Über die Eireifung bei den Alcyonaceen. 145 a) nn Den June a) reifes Ei | b) reifes Ei i i das ganze Ei mit Follikel 84 u | ohne Follikel | ohne Follikel Eidurchmesser Eidurchmesser 74 u | 104:102 u 172:150 u | 157:152 u Follikeldicke 3 « | Nucleus 46:36 « | Nucleus 51:32 u | Nucleus 52:52 u Nucleus Binnenkörper Binnenkörper Binnenkörper 81:33 u | 5 u 107 (7 Binnenkörper 5 u | _ — 1 Die Nucleolen liegen ganz vorwiegend auf der Oberfläche des Binnenkörpers. und prominieren direkt über diesen, im optischen Querschnitt erscheinen sie in der Peripherie angehäuft.. Die Nucleolen sind feine Granula bis zu Staubfeinheit bei 300 facher Vergrösserung; ein Kerngerüst ist im Binnenkörper ebenso spärlich wie im Kern, der als Perinucleus bezeichnet werden mag, entwickelt. In diesem Binnenkörper findet sich das gesamte, mit Kernfarbstoffen färbbare Chromatin in Form dieser Nucleolen, der Perinucleus ist völlig frei davon. Diese Verhältnisse bieten ein gewisses Analogon zu den Kernen mancher Protozoen, welche morphologisch das Bild eines Kernes im Kerne zeigen: „Solche Kerne zeigen meist peripher Chromatin in verschiedenartiger Anordnung auf dem Kerngerüst verteilt. Das Kerngerüst kann entweder als kontinuierliche Schaummasse den peripheren Teil des Kernes einnehmen oder in mehr oder weniger radiär angeordneten, durch grössere Kernsaftvakuolen getrennten Strängen zwischen Kernmembran und PBinnenkörper ausgespannt sein. Das peripher im Kerne gelegene Chromatin kann in ganz feinen Granulationen (Amöben) oder in Form von groben Klumpen vorhanden sein (Chilodon). Der Binnenkörper selbst zeigt eine membranartige Aussenschicht, ein retikuläres Gerüst und auf diesem fein verteilt in Form von Granula Nucleolarsubstanz und Chromatin. Wahrscheinlich ist die Gerüstsubstanz übereinstimmend mit derjenigen des eigentlichen Kern- gerüstes, so dass diese Binnenkörper sowohl in ihrem morphologischen Aufbau als auch in den sie zusammensetzenden Substanzen mit Kernen übereinstimmen. In manchen Fällen sind zentrale, kern- artige Verdichtungen (Centriolen) in den Binnenkörpern nachgewiesen worden (z. B. Entamoeba africana, Hartm.). Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 10 146 Robert Müller: Nachdem Schaudinn und Siedlecki in ihren Arbeiten über Coceidien den grossen Amphinucleus dieser Organismen infolge seines eigenartigen morphologischen Verhaltens bei der Bildung der Gameten als Karyosom unterschieden hatten, bürgerte sıch dieser Ausdruck für die hauptsächlich bei Rhizopoden, Flagellaten und Sporozoen vorkommenden Binnenkörper der bläschenförmigen Kerne ein. Da aber die meisten dieser Binnenkörper sich morphologisch anders verhalten als die Karyosome der von Sehaudinn und Siedlecki zuerst untersuchten Coceidienarten, da ferner für viele Protozoen ihr morphologisches Verhalten noch gar nicht bekannt ist, so empfiehlt es sich, den Ausdruck Karyosom entweder ganz zu vermeiden oder ihn auf diejenigen Formen zu beschränken, bei denen der Amphi- nucleus wie bei jenen Coccidien bei der Gametenentwicklung in tote ausgestossen wird. In allen anderen Fällen genügen vorläufig die Bezeichnungen: Amphinucleus, Nucleolus oder die indifferente Be- zeichnung als Binnenkörper. Die kritiklose Anwendung des Wortes Karyosom verleitet zu voreiligen Homologisierungen, zu welchen die sehr verschiedenartige stoffliche Zusammensetzung, der wechselnde morphologische Aufbau und die sehr vielfältigen Schicksale im Leben der Zelle in keiner Weise berechtigen !).“ Während dieser Vorgänge liegen die Eier in den untersten Abschnitten der kurzen Filamente und zwar in der Tiefe derselben, an deren Mesodermlamelle. Indem nun der Polyp in die Länge wächst und dabei die Filamente sich nach oben verschieben, gelangen die Eier an das unterste Ende der kurzen Filamente, und indem sie das Filamentendothel vor sich herschieben, erhalten sie ein Follikel- epithel. Diese Follikelbildung bereitet sich schon im Filament vor, indem sich kleine indifferente Zellen, welche von dem Entoderm abstammen und fast wie Lymphocyten aussehen, um die Eizelle anhäufen. (Fig. 2.) Was die Herkunft der Follikelepithelzellen anbelangt, so geben Korschelt, Pauleke, de Bruyne, Tönniges und Miss Claypole für die von ihnen untersuchten Objekte an, dass sie .aus der indifferenten Keimzellenmasse hervorgingen. Giardina hat auf Grund seiner Untersuchungen an Mantis religiosa und an Dytiscus dieser Auffassung widersprochen und hält die Follikelepithelzellen für gewöhnliche somatische Zellen. Bei den Aleyonaceen unterliegt 1) Doflein, Lehrbuch der Protozoenkunde S. 20 u. 22. 1909. Über die Eireifung bei den Aleyonaceen. 147 es keinem Zweifel, dass die Follikelepithelzellen von dem Filament- entoderm abstammen. Es ist mir wahrscheinlich, dass die Herkunft der Follikelepithelzellen bei den verschiedenen Tierformen eine ver- schiedene sein kann; gemeinsamer Ursprung von Ei- und Follikel- zellen gilt ja beim Säugetierei als eine Fundamentaltatsache. Die Eier werden nun gestielt und prominieren dann frei, nur vom Follikelepithel überzogen, in die Gastralhöhle. Meist bilden sich Eiträubehen, in denen die Eier von sehr verschiedener Grösse sind; die Anzahl der Eier in den Eiträubchen ist eine sehr wechselnde, Fig. 2. Gruppierung der follikelbildenden Zellen um eine Eizelle im Filament. Bei 800facher Vergrösserung gezeichnet. Tubipora chamissonis. je nach der Spezies. Bei Tubipora ergab beispielsweise die Aus- messung der Eier die an einem Filamente sich fanden, folgende Werte: Ovulum VG DA on - 0 7 8 BA) Durchmesser 40 50 50 70 80 140 120 130 190 150 a. Dabei sind die Eier in der Reihenfolge von oben nach unten numeriert. Die Entwieklungsphase vom Beginn der Bildung des Follikel- epithels bis zur Chromatinreduktion wollen wir als zweite Phase bezeichnen. In dieser Phase wachsen nun die Eier zu einer relativ beträcht- lichen Grösse heran, und zwar beruht die Grössenzunahme im wesentlichen auf der Dotterbildung. Die Anordnung in Eiträubehen bleibt entweder mehr minder vollkommen bis zum Schluss der Ei- reifung erhalten oder durch weiteres Längenwachstum der Scheide- wände werden die gestielten Eier einzeln reihenförmig angeordnet. In diesem Stadium ist das Protoplasma der Eizelle mit zahlreichen 10 148 Robert Müller: sphärischen oder unregelmässig geformten Dotterschollen angefüllt, welche sich mit Osmiumsäure tief schwarz färben. Das Ei ist von einer einschichtigen Lage von Endothel überzogen, dies ist das Follikelepithel, welches an seiner Basis eine kutikulare Basalmemıbran ausscheidet. Diese ist zweischichtig, eine direkte Lamelle ist den Follikelzellen zugewandt, die dem Ei anliegende Schicht ist dicker, lockerer und besteht aus mehreren Lamellen. Die äusserste Schicht des Eiprotoplasmas ist dieht und fein granuliert. Die Dotterschollen reichen nicht ganz bis an die Peripherie. Indem die Dottermassen sich in einem Teile des Eies stärker anhäufen können wie in einem anderen, findet eine unvollkommene Sonderung einer animalen und vegetativen Eihälfte statt; die Lage des Kernes ist aber eine wechselnde, indem er bald in der dotterreicheren, bald in der dotterärmeren Zone liest. Bis zur Follikelbildung ist das Ei von einem Durchmesser von etwa 4 u, der sich schätzungsweise für die Ureizelle annehmen lässt, bis 40— 50 u Durchmesser herangewachsen. Erst mit der Bildung des Follikels beginnt die Dotterbildung und die Ausscheidung der Dotterkörnchen; daraus lässt sich schliessen, dass die Dotterbildung auf einer sekretorischen Funktion des Ei- follikels beruht. Die Vorgänge der Dotterbildung bei den Metazoen verlaufen keineswegs nach demselben Schema, vielmehr kommen für dieselbe eine ganze Reihe von Möglichkeiten in Betracht. Zunächst ist daran zu denken, dass die Vorgänge im Zellkern zur Dotterbildung in näherer Beziehung stehen können, indem Kernchromatin auswandert und sich in Dotterkörnehen umwandelt. Bereits 1894 wies Born auf den Zusammenhang der Nucleolen des Kerns mit dem Ablauf der vegetativen Vorgänge in der Eizelle, Wachstum, Assimilation und Deutoplasmabildung hin, welche eine feinere Verteilung des Chromatins zur Folge haben sollen, als dies in dem gewöhnlichen Ruhestadium der Zelle der Fall ist. Die Bildung und Anordnung der Dotterkörner erfordert eine spezielle und lebhafte Kerntätigkeit. Darüber, wie die Nucleolen sich zur Deutoplasmabildung verhalten, macht Born keine näheren Angaben, er scheint nur einen dirigierenden Einfluss der Nucleolen auf die Zelltätigkeit an- zunehmen. Zu einer ähnlichen Auffassung war auch Rückert 1892 bei der Untersuchung des Selachiereies gekommen. Dieser betont weiterhin, dass die Nucleolen in Beziehung zur individuellen Existenz der Eizelle und nicht zur Fortpflanzung stehen, da sie beim Beginn Über die Eireifung bei den Alcyonaceen. 149 der Mitose verschwinden, um nach deren Ablauf im Ruhestand des Kernes wieder aufzutreten. Viel weiter ins einzelne gehend sind die Angaben von Carnoy und Lebrun, welche Moroff!) folgendermaassen referiert: „Viel demonstrativer tritt die Beteiligung der Nucleolen an den vegetativen Prozessen des reifenden Amphibieneies nach den Untersuchungen von Carnoy und Lebrun auf, welche im Gegensatze zu Born und Rückert festgestellt zu haben glauben, dass das letzte Spirem sich vollkommen in eine Anzahl von Nucleolen verwandelt. Letztere weisen jedoch einen kurzen Bestand auf, da sie sich bald selbst in neue fädige Elemente umwandeln; diese nehmen eine sehr ver- schiedene Form an und treten uns in Gestalt von Flaschenbürsten, Pates d’oix usw. entgegen. Nach abermaligem Zerfall dieser chromo- somenähnlichen Gebilde werden Nucleolen zweiter Ordnung gebildet. So setzt sich dieser Prozess weiter fort, indem mehrere miteinander abwechselnde Generationen von Chromatinfäden und Nucleolen sich ablösen, bis schliesslich die definitiven Chromosomen gebildet werden. Während dieser ganzen Umbildung entstehen die Nucleolen an der Oberfläche des Kerns und wandern dann gegen seine Mitte. Dort erleiden sie ikre Umwandlung, indem sie sehr oft bei ihrem Zerfall in Trümmer einen Haufen von Chromatinkörnchen in der Kernmitte bilden. Wir sind überzeugt, dass die Bildung und Zerstörung der Nucleolen mit der Produktion des für die Dotterbildung nötigen Chromatins in Zusammenhang steht. Die Nucleolen bilden sich an der Kernoberfläche, lösen sich gegen die Kernmitte auf, indem sie zuerst in Körnchen oder Fäden zerfallen. Die so entstandene chromatische Substanz wandert aus dem Kern heraus; einige der übriebleibenden Chromatinkörnchen wachsen zu neuen Nucleolen her- an, welche das Schicksal ihrer Vorgänger teilen; so wiederholt sich der Prozess, bis das Eiwachstum beendigt ist.“ Diese Beteiligung des Kernehromatins an der Dotterbildung kann sich hinsichtlich der Einzelheiten verschieden vollziehen (vgl. Lubosch, |. e. S. 753; Moroff.c. S. 159). Der zweite Modus der Dotterbildung ist der durch Aufnahme von Nährzellen, der dritte der bei den Aleyonaceen vorliegende durch die Tätigkeit des Follikelepithels. Das Follikelepithel kann - 1) Moroff, Die bei den Cephalopoden vorkommenden een. Arch. f. Protistenkunde Bd. 11 H.1 S. 157. 1908. 150 Robert Müller: weiter besondere Zellen aus sich differenzieren, als solche sind wohl die Testazellen der Tunicaten aufzufassen. Diese Dotterbildung vollzieht sich bei den Aleyonaceen in der Weise, dass die Dottersubstanzen in Form rundlicher oder ovoider Schollen in dem Eiprotoplasma ausgeschieden werden. Es ist wohl anzunehmen, dass diese Dottersubstanzen in gelöstem Zustand in die Eizelle eintreten, da das Follikelepithel durch eine kutikulare Basal- membran von dem Ei getrennt ist. In der Eizelle findet dann, in- dem die Löslichkeitsgrenze dieser Substanzen überschritten wird, die Abscheidung in Schollenform statt. Eine doppelte Dotterbildung ist bei der Tunicate Distaplia occidentalis Ritter vorhanden. Hier findet eine zentrale Dotter- bildung um den Kern herum statt, indem zuerst ein homogener Mantel um den Kern entsteht. „Der Kern verliert dabei seine Membran nicht, morphologisch tritt kein Inhalt nach aussen. Das Keimbläschen wird nur kleiner, was Baneroft auf Stoffabgabe be- zieht. Es wäre dies also eine dotterkernähnliche Bildung. Indessen kommt dieser Dotterkern erst zur Erscheinung, nachdem bereits peripherisch Dotter entstanden ist. Dieser peripherischen Dotter- bildung gehen aber Veränderungen der Testazellen vorher. Nach Bancroft stammen diese Zellen aus dem Follikelepithel. Sie be- geben sich ins Innere und unterliegen hier deutlich Degenerations- vorgängen, verlieren ihren Kern und werden vakuolisiert. In gleicher Zeit beginnt die Dotterausscheidung an der Peripherie des Eies. Baneroft meint, diese Zellen führten dem Ei Nahrungsstoffe zu“ (Lubosch, 1. e. S. 749). Wenn die Eireifung so weit fortgeschritten ist, kommt es ent- weder zur Ausstossung des Eies, oder die weiteren Vorgänge bis zur Befruchtung finden in der Leibeshöhle des mütterlichen Tieres statt, in der sich dann auch die Befruchtung, die Furchung und die ersten Stadien der Larvenentwicklung abspielen. Die Zeit der Eiablage ist eine sehr verschiedene, bei Aleyonium digitatum erfolgt sie im Dezember und Januar; für Aleyonium palmatum gibt Lo Bianco!) an, dass sich reife Eier im Februar und März fanden, dass sich aber die Eiablage im September und 1) Salvatore Lo Bianco, Notizie biologiche riguardanti specialmente il periodo di maturitä sessuale degli animali del Golfo di Napoli. Mitteil. a. d. zool. Station Neapel Bd. 8 S. 386. Über die Eireifung bei den Alcyonaceen. 151 Oktober vollzieht. Die Eiablage von Clavularia ochracea erfolgt in der zweiten Hälfte des Juni, die von Paraleyonium in der zweiten Hälfte des Juli. Bei Aleyonium coralloides fanden Marion und Kowalewsky die Furehung im Muttertiere am 18.—20. Mai, während der Larvenaustritt am 10.—15. Juni erfolgte. Bei Clavularia ochracea werden die Eier in der Weise aus- gestossen, dass sie in eine dichte Schleimmasse zusammengeballt werden. Der obere Abschnitt des Polypen retrahiert sich, der Ei- ballen wird durch das Stomodaeum durchgepresst und erscheint an der Oberfläche. Indem sich dann die Tentakel wieder entfalten, wird der Eiballen durehbohrt und sitzt als Kranz unterhalb des Tentakelringes an der Aussenseite des Polypen; dort finden dann dıe weiteren Vorgänge statt. Bei anderen Formen verbleiben die Eier in der Gastralhöhle des Muttertieres. Dahin gehört auch die Clavularia petricola von Marion und Kowalewsky. Dazu einige Bemerkungen. A. Ko- walewsky und A. F. Marion haben in ihrer klassischen Ab- handlung über die Entwicklungsgeschichte der Aleyonaceen !) drei mediterrane Formen behandelt, welche sie als Clavularia crassa, Cl. petricola und Sympodium coralloides bezeichnen. Clavularia crassa soll nach ihrer Annahme identisch sein mit Cornularia erassa von Milne-Edwards’). Nun hat bereits Sars 1852 darauf hin- gewiesen, dass diese Cornularia erassa wohl identisch ist mit Rhizoxenia rosea von Dana. Dagegen wurde eine Clavularia von G. v. Koch von Neapel als Clavularia ochracea beschrieben ?). Auf Grund der Untersuchung von Cl]. ochracea, welche ich Professor G. v. Koch verdanke, und der von Kowalewsky und Marion als Cl. erassa bezeichneten Form, welche Professor Vayssi6ere in Marseille gütigst für mich sammeln liess, und welche in typischer Weise auf den Rhizomen von Posidonia cavolini aufsass, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass beide identisch sind und demgemäss 1) A. Kowalewsky et A.F. Marion, Documents pour l’historie embryo- genique des Alcyonaries. Annales du Musde d’historie naturelle de Marseille. Zoologie no. 4. 1883. 2)Milne Edwards, Atlas de la grande Edition du Regne animal de Cuvier. Zoophytes pl. LXXV fig. 35, 34, 35. Hist. nat. des Coralliaires 121857: 3) G,v. Koch, Anatomie der Clavularia prolifera nebst einigen vergleichenden Bemerkungen. Morphol. Jahrb. 1881 H. 3. 152 Robert Müller: als Olavularia ochracea G. v. Koch bezeichnet: werden müssen. Auch Clavularia petriecola scheint so wenig morphologisch different zu sein, dass die Aufstellung einer eigenen Art, die sich ’nur auf die Verschiedenheit in der Fortpflanzung als wesentliches Merkmal stützt, kaum gerechtfertigt ist. Es lassen sich dennoch bei Cl. ochracea zwei konstante Rassen unterscheiden, Cl. ochr. ovipara und Cl]. ochr. larvipara, wozu als weitere konstante Varietät Cl. ochracea var. Marioni G. v. Koch tritt. Dass Sympodium coralloides nach den Untersuchungen von G. v. Koch als Aleyonium coralloides zu be- zeichnen ist, braucht hier nur erwähnt zu werden. Zu den larviparen Clavularien gehört auch die GOlavularia pregnans J. A. Thomson und W. D. Henderson). Diese geben an: „Many of the polyps show at a short distance below the ten- tacles a prominent expansion of the tube containing up to three embryos. As these grow, one side of the expansion becomes thin- walled and is readily ruptured. It may be suggested that the ex- pansions figured by May in Cl. longissima and C. strumosa are also reproductise swellings.“ Übrigens können diese Auftreibungen auch als anormale Er- scheinungen auftreten, wie zuerst Marshall in seiner Monographie der Oban-Pennatuliden betonte. Dieser sah, «dass die Polypen von in Gefangenschaft gehaltenen Stöcken anschwollen und ihre taktile Empfindlichkeit verloren, und führte dies, da diese Pennatuliden tiefes Wasser bewohnen, auf die Verschiedenheit des Wasserdruckes zurück. Indessen zeigten nach E. M. Pratt auch Kolonien von Aleyonium digitatum in der Gefangenschaft diese Erscheinung. Pratt bemerkt dazu weiter: W. May 1899 p. 44 deseribes a new species of Clavularia, which he names Cl. inflata because of its swollen and bloated appearance; as it appears to agree with Ol. viridis in every other respect, howewer, it cannot be regarded as a distinet species.“ Auch Clavularia parvula Thomson und Hen- derson von den Kap-Verde-Inseln ist larvipar. Grosse Larven fand ich auch in den Leibeshöhlen von Sklerophytum polydactylum Dana von Dar-es-Salam. Auch bei anderen Aleyonaceenarten kann die Eientwicklung im Muttertier zu wesentlichen Gestaltveränderuugen führen. So schreibt 1) Thomson and Henderson, The marine fauna of Zanzibar and British East Africa. Alcyonaria. Proceed. of the zoolog. soc. of London 1906 p. 407. Über die Eireifung bei den Aleyonaceer. 153 . Danielssen!) über Nephthya flavescens folgendes: „In several of the groups of polyps there may be observed one or more strongly turnefied polyps, which have assumed the forme of a helmet plume (Tab. XI, Fig. 5). The entire body and especially its anterior part, is dilatated and, here, it attains a breadth of 3—4 mm, whilst the rest of the general body of the polyps attain, in the same situation, only a little more than 1 mm in breadth. The tentacles are glued together, and their extremities are eurved inwards, causing the access to the oral aperture to be completaly closed.“ Ähnliches fand sich bei einem weiblichen Stocke von Nephthya rosea (ibid. p. 38, Tab. XII, Fig. 2a). Das Ei von Clavularia ochracea unmittelbar nach der Ablage beschreiben Kowalewsky und Marion folgendermaassen: „La masse vitelline est contenue par une fine pellicule sur laquelle est appliquee une sorte de calotte, formee par des amas cellulaires, derniers vestiges du follieule. Plus exterieurement, la substance glaireuse est stratifi6e en couches concentriques inggulieres, contenant des d&bris de cellules, et rappelant les d&pöts euticulaires, e’est-A-dire des seeretions Epitheliales des divers Coelenteres.“ Sie finden nun weiter folgende ganz sonderbare Erscheinung: „Observes immediatement apres la ponte, les ceufs n’offrent plus anceune trace de v6sicule germinative. Cet el&ment de l’ovule s’est d6ja detruit, mais le noyau de l’&uf qui doit lui succeeder, ne se laisse r&eveler par aucun des reactifs ordinairement employ6s daus ce genre de recherches. C’est la une partieularite physique et histo- ehimique fort remarcable, contre laquelle nous nous sommes con- stamment heurtes plusieurs anndes cons6cutives, alors que nous observions des aufs recemment rejetes par les Clavulaires, dans le but special de colorer les noyaux qui doivent presider aux premiers phenomenes &volutifs. Nous allons voir en effet que cette diffieulte de teindre les &lements nucleaires persiste durant les premieres periodes de la segmentation.“ Bei der Untersuchung der Entwicklungsgseschichte von Disticho- pora und Aleyonium fand Hieckson?) später dasselbe. Dessen Unter- 1) Danielssen, Den Norske Nordhavs Expedition. Alceyonida p. 82. 2) S. J. Hickson, Fragmentation of the oosperm nucleus in certain ova. Proc. Cambridge Philos. Soc. vol. 8. — Developement of Distichopora. Quart. journ. of mierosc. science vol. 35. — Embryology of Alcyonium. Rep. British Assoc. Bristol 1892 p. 585. 154 Robert Müller: suchungen wurden an Aleyonium dieitatum fortgesetzt von Hill). Dieser hatte mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen namentlich bei der künstlichen Befruchtung der Eier, aber auch bei deren histologischen Untersuchung, und er macht das Zugeständnis: „In fact for eytological studies the egg of Aleyonium proved a most unfavourable objeet“, ein Satz, der leider für die Eier sämtlicher Aleyonaceen und für deren gesamte Entwicklungsgeschichte gilt. Hill gibt nun folgende Darstellung der Reifeteilungen: „The changes that now take place, are quite unlike any that have hitherto been figured or described. Instead of the nuclear membrane dis- solving and two mitoses taking place without an intermediary resting stage, nothing of the kind happens. Of this fact I feel convinced. Of the large number of eggs examined I have never seen the smallest trace of anything that can be called „polar body“. Of what actually does take place there of I am not equelly sure, but if I interpret my preparations correctly it is somewhat as follows: The lump of chromatin divides into halves amitotically. The nucleus becomes eonstrieted into two, though there is no vestige of spindle or centro- some. A slight modification and absence of yolk in the protoplasm surrounding the nucleus may represent a modified archoplasm. I have never discovered the least trace of a radiate protoplasmatie strand. One of the halves thus formed remains unaltered except that the round chromatin mass breaks up into small bits, which soon dissolve or at least no longer take the stain. The nuclear membrane is not reformed. The remaining. half divides again in the same way and almost immediately disappears. The chromatin seems to be rapidly disintegrated becoming a faintly staining granular mass and than all trace of this half of the orieinal nucleus is lost. The other moiety is longer lived and may be now called the female pronucleus. It comes to lie on the extreme periphery of the cell, alımost suggesting that it will be thrown out, but its fate is otherwise, I gradually dwindles to the smallest hollow vesiele just discernible and than disappears leaving no trace of its presenee. The deeply staining yolkless protoplasm, referred to as beeing possibly a ınodified archoplasm, also vanishes.. The egg is now without any nucleus and in this state leaves the polyp.“ | 1) Hill, Notes on the maturation of the ovum of Alcyonium digitatum. Quart. journ. of microsc. science vol. 39 p. 493—503. Über die Eireifung bei den Alcyonaceen. 155 Diese Darstellung kommt dem tatsächlichen Sachverhalt einiger- maassen nahe, ist aber keineswegs ganz zutreffend, wobei mitwirkt, dass Hill zu sehr nach einer Analogie mit dem als Schema fest- gelegten Verlaufe der Vorgänge suchte und dadurch etwas befangen war. Ich habe über 160 Serien von Eiern von Clavularia ochracea und Paraleyonium elegans aus diesem Stadium angefertigt; ferner stellte mir Professor v. Koch seine Präparate von Cornularia cornucopiae, Aleyonium palmatum und Corallium rubrum zur Ver- fügung. Soviel sich auf Grund dieses umfangreichen Materials fest- Fig. 3. Teil eines halberwachsenen Eies von Tubipora chamissonis. Bei S00facher Vergrösserung. fo Follikelepithel, do Dotterschollen. stellen liess, verläuft der Vorgang folgendermaassen:: Die Membran des Binnenkörpers löst sich auf, und die Chromosomen desselben schwellen beträchtlich an. Da der Binnenkörper aus einem zentralen Anteil von Nuclearsubstanz und peripher aufgelagerten Chromatinkörperchen be- steht, so wird offensichtlich die Nuclearsubstanz dabei in Chromatin um- gewandelt. Die Chromatinkörnchen verkleben miteinander zum Teil zu Schollen und weichen auseinander. Dann findet eine Abbröcklung oder Loslösung des Chromatins in Form feinster Körnchen statt, welche in das Eiprotoplasma auswandern, während gleichzeitig die Kerngrenzen verschwinden; das Kernterritorium geht infolgedessen kontinuierlich in das umgebende Protoplasma über, das in der Um- 156 Robert Müller: sebung des Kernes meist etwas dotterärmer ist. Dieser Vorgang vollzieht sich völlig stetige. Ein Analogon zur Bildung der Pol- körperchen besteht nicht, die Eireifung findet ohne Reifeteilungen, ohne Reduktionsteilungen statt. Indem das auswandernde Chromatin zunächst noch seine Färbbarkeit mit Kernfarbstoffen bewahrt, ist die Region, wo der Zellkern lag, intensiver färbbar. Das Chromatin des Zellkerns verwandelt sich also zum Teile in Chromidien, in Chromatinmassen, welche den Kern verlassen und in das Ei- protoplasma auswandern. Nach der Lehre von der Dualität des Zellkerns, welche von Schaudinn!) für die Protozoen begründet wurde und von Lubosch (l. e.) und von Goldschmidt?) als generell gültig entwickelt wurde, und nach welcher das Kern- chromatin in zwei Arten, das Idiochromatin, welches vor allem Träger der Vererbungserscheinungen ist, und das Trophochromatin, welches zu den Vorgängen des Zellkörpers in Beziehung steht, zer- fällt, ist dieses auswandernde Chromatin wohl als Trophochromatin aufzufassen, welches in den weiteren Funktionen der Zelle benutzt und aufgebraucht wird. Wenn die Reduktionsteilungen, von anderem abgesehen, auf- gefasst werden als eine Einrichtung, welche die Menge chromatischer Substanz in den Geschlechtszellen so weit vermindert, dass dieselbe durch die Befruchtung wieder auf die Norm gebracht und dadurch konstant erhalten wird, wenn andererseits das auswandernde Chromatin sieh zellphysiologisch als Trophochromatin erweist, so folgt daraus, dass hier eine unmittelbare Umwandlung von Idio- chromatin in Trophochromatin vorliegt. Es würde hier zu weit führen, die Frage nach der Umwandlung des Idiochromatins in Trophochromatin allgemeiner zu behandeln; nur soviel sei erwähnt, dass dieselbe möglicherweise ‘eine weit- verbreitete Erscheinung ist, die sich in den somatischen Zellen des Metazoenkörpers als Umwandlung des Reserveidioplasmas im Gegen- satze zu den Geschlechtszellen mehr minder weitgehend vollzieht. Während nun die Reduktion des Kernchromatins dadurch zu- stande kommt, dass ein Teil des Chromatins in Chromidien ver- l).F. Schaudinn, Untersuchungen über die Fortpflanzung einiger Rhizo- poden. Arb. a. d. kaiserl. Gesundheitsamt Bd. 19 S. 547—576. 1903. 2) R. Goldschmidt, Chromidialapparat lebhaft funktionierender Gewebs- zellen. Zool. Jahrb. Abt. f. Anat. Bd. 21 S: 1—-100, Taf. 1-6. 1904. Über die Eireifung bei den Alcyonaceen. 157 wandelt als Trophochromatin in den Zelleib auswandert, bleibt ein Teil des Chromatins noch einige Zeit unverändert. Dann verfällt auch dieses, nachdem es an die äusserste Zellperipherie verlagert ist, einer weitergehenden Uınwändlung, die darin ihren Höhepunkt findet, dass die Färbbarkeit mit Kernfarbstoffen völlig verschwindet. Dieser Vorgang war es, der für Kowalewsky und Marion so rätselhaft war, und für den auch Hill keine zulängliche Deutung zu geben vermochte. So sonderbar dieser Vorgang aber auch er- scheinen mag, so scheint es doch möglich, denselben im Zusammen- hange mit anderen bekannten Vorgängen dem Verständnis näher zu bringen. Nach den neueren Anschauungen, wie sie namentlich von R. Hertwig entwickelt wurden, besteht das ursprüngliche Kern- gerüst sowohl des Keimbläschens, des Eikernes, wie des Protozoen- kerns aus einer achromatischen Grundlage, dessen Substanz als Linin bezeichnet wird und ein Maschenwerk bildet. Dieses ist von der Nuclearsubstanz überzogen, welcher das Chromatin aufgelagert ist. Dieses Schema ist aber in Wirklichkeit selten realisiert, da sich das Chromatin entweder allein oder mit einem Teil der Nuclear- substanz an einer oder mehreren Stellen des Kernes ansammelt und so die Nuceleolen bildet. Auch ohne Beimengung von Chromatin kann sich die Nucleolarsubstanz in Form von plasmatischen oder Plastinnucleolen konzentrieren. Nun zeigt das Ei der Aleyonaceen in dieser Hinsicht eine weitgehende Differenzierung. Ein Kerngerüst ist kaum oder nur andeutungsweise zu erkennen, was sich dahin deuten lässt, dass dasselbe so hochgradig gequollen ist, dass es homogen oder fast homogen erscheint. Der im Zellkern gelegene Binnenkörper, der Keimfleck, welcher sich vom umgebenden Kern durch grössere Kompaktheit. unterscheidet, besteht im wesentlichen aus Nucleolarsubstanz, welcher das Chromatin in Form von Körnchen peripher aufgelagert ist. Sowohl die intensive Färbbarkeit der Chromatinkörner wie ihre Grösse und Lagerung machen es wahr- scheinlich, dass sie ganz oder fast ausschliesslich aus Chromatin ohne Beimengung von Nucleolarsubstanz bestehen. Während diese Scheidung der drei Substanzen Linin, Nucleolarsubstanz und Chromatin in der ruhenden Eizelle der Alcyonaceen eine scharfe ist, lässt sich aus der Bildungsweise des Karyosoms bei Protozoen, wie sie für Eimeria schubergi, Adelea zonula, Aggregata und die Gregarine Echinomera festgestellt ist, schliessen, dass eine Umwandlung von Chromatin in Nucleolarsubstanz sich vollziehen kann, dass in diesen 158 Robert Müller: Fällen speziell Nucleolarsubstanz aus Chromatin hervorgehen kann. Das Chromatin ist nun der Zellkernanteil, der sich mit Kernfarbstoffen färbt. Wenn nun bei der Reifung des Aleyonaceeneies die Färbbarkeit des Kernes völlig verschwindet, so lässt sich dies dahin interpretieren, dass eine völlige Umwandlung des Chromatins in die diesen chemische nahe verwandte Nucleolarsubstanz, welehe aber mit Kernfarbstoffen nicht färbbar ist, erfolgt. Wir kommen also zu folgender Zusammenfassung des Tat- bestandes: die mit der Eireifung verbundene Chromatinreduktion vollzieht sich unter Umwandlung von Idiochromatin in Tropho- chromatin dureh Chromidien, welche in den Eikörper auswandern, Fig. 4. Clavularia ochracea. Färbung mit Eisenhämatoxylin nach Benda. Bei S00facher Vergrösserung gezeichnet. Zerfall des Kernes und Auswanderung der Ohromidien. der reduzierte Kernanteil wird völlig in Nucleolarsubstanz verwandelt. Dieser Anteil entspricht dem weiblichen Pronueleus. (Fig. 4.) Dass zunächst die tatsächlichen Verhältnisse bei den Aleyonaceen nicht völlig isoliert stehen, sondern bei anderen Coelenteraten ihr Analogon haben, geht aus der von Hill herangezogenen Unter- suchung von Hargitt!) an Pachycordyle Weissmanni hervor, welcher schreibt: „I was unable to demonstrate any of the ordinary features of this process (i. e. maturation) either in living eggs or in those sectioned and stained. Intimately associated with these changes were nuclear modifications of a more or less remarkable character. 1) C. W. Hargitt, Notes on the Hydromedurae of the Bay of Naples. Mitteil. a. d. zool. Station Neapel Bd. 16 H. 4 8. 562. Über die Eireifung bei den Alcyonaceen. 159 Prominent among them is the dissociation of the nuclear membrane which occeurs shortly before the birth of the medusae and the discharge of eegs. Following this there occurs a marked decrease in the mass of nuclear substance, probably due to the loss of nuclear _ sap or a dispersal of matter through the cytoplasm, so that the nucleus measures only about half that of an ovarian eeg. Of still greater importance is the change which occurs in the chromatin network of the nucleus, which appears to wholly disintegrate and to disperse through the eytoplasm. Not the slightest traces of chromosomes or chromatin substanee can be demonstrated in the nuclei or eytoplasm at the time of the liberation of the medusa. The nucleus itself, greatly reduced in size, may still be seen as a definite area of a very homogeneous texture, but indefinitely emerging into the surrounding . eytoplasm, there being no trace of nuclear membrane.“ Es würde die Grenzen unserer Aufgabe überschreiten, die zahl- reichen Analogien, welche sich in der Entwieklungsgeschichte der Protozoen zu den einzelnen Vorgängen der Entwicklung des Aleyonaceeneies finden, ausführlich zu behandeln; soweit sie un- mittelbar zum Verständnis der letzteren erforderlich waren, ist dies geschehen. Es lässt sich sagen, dass die Vorgänge bei der Eireifung der Aleyonaceen, so sehr sie, wenn man sie zuerst kennen lernt, von den uns als typisch geläufigen Vorgängen der Eireifung ver- schieden erscheinen und so rätselhaft sie den früheren Beobachtern waren, sich gerade auf Grund der neueren Ergebnisse der Cytologie in allgemeine Zusammenhänge bringen lassen und dadurch verständ- licher werden. Hill schrieb: „If the foregoing statements be only partially true, it is obvious, that a great gulf is fixed between the maturation processes in the egg of Aleyonium and all hitherto described cases.“ Dieser vor fünf Jahren ausgesprochene Satz gilt heute nicht mehr, obgleich die im vorhergehenden gegebene Dar- stellung sich noch wesentlich weiter von den gewohnten Schemata unterscheidet, als dies bei Hill der Fall ist. Die morphologischen Erscheinungen, welche uns im Eie der Aleyonaceen entgegentreten, sind bedingt durch die biologischen Verhältnisse. Die Entwicklung der Larve bis zur Fähigkeit der Nahrungsaufnahme, die beispielsweise bei Paraleyonium elegans von der Eifurchung an etwa 14 Tage dauert, erfordert ein reichliches Reservematerial, welches im Dotter gegeben ist; andererseits bedarf 160 Robert Müller: die Dottermasse zu ihrer Umordnung und Verarbeitung während der Furchung und Entwicklung der Larve der Beteiligung der Kern- substanz, welehe sich in der Form von Chromidien vollzieht. Die Vorgänge im Aleyonaceenei lassen sich auffassen als eine Anpassung an die speziellen Bedingungen der Entwicklung dieser Tiere. In dieser Hinsicht baben die Geschlechtszellen gewissermaassen eine Phylogenie für sich selbst, die sich unabhängig von der Stammes- geschichte der Art, der sie angehören, vollzogen hat. Darin liest auch der Grund, dass vielfach die Fortpflanzungsvorgänge bei phyletisch weit entfernten Formen zueinander die überraschendsten Analogien bieten können, und daraus folgt weiter, dass es nicht statthaft ist, zur Begründung der systematischen Stellung einer Tierart die Struktur der Keimzellen in ausgedehnterem Maasse zu benutzen. Die Keimzellen besitzen dem elterlichen Organismus gegenüber eine weitgehende Selbständigkeit, in ihnen kehrt sozusagen der Metazoenkörper in zyklischer Abfolge aufs Protozoenstadium zurück, und sie haben daber in vielen Beziehungen Ähnlichkeiten mit den Protozoen, namentlich manchen Sporozoen und Coceidien welche demgemäss mit Vorteil zum Verständnis der ersten Ent- wicklungsphasen herangezogen werden können. Auch für die Furchung des befruchteten Eies ereibt die Parallele mit den Protozoen manches Interessante (Schicksale des Makro- und Mikro- nucleus der Ciliaten und Frage der erbungleichen Teilung). Aber in allen diesen Fällen dürfen wir nicht vergessen, dass es sich nur um Analogien handelt, bei denen scharf auseinanderzuhalten ist, ob ihnen gemeinschaftliche phylogenetische Beziehungen zugrunde liegen, oder ob von vornherein analoge Entwicklungsbedingungen bestanden, oder ob schliesslich die Analogie eine Konvergenz- erscheinung ist. Eine solche liegt beispielsweise vor in der Reduktion der Sexualität der Auxosporenbildung gewisser Diatomeen und der Parthenogenese, welche auch für Protozoen von Le&eg6r für Ophryocystis nachgewiesen ist. _So weitgehend diese Analogien sein mögen und so wichtig für das Verständnis, immer müssen wir daran festhalten, dass die Entwieklung einer Form sich doch in letzter Linie nach den inhärenten spezifischen Eigenschaften einer Art voll- zieht, wie dies Hering so prägnant formuliert hat. „Man darf nicht einwenden, es lasse sich nicht denken, dass in einem Keime, der jedem anderen so vollkommen gleiche, wie der Augenschein es lehre, die spezifische Art seiner materiellen Zusammensetzung und Über die Eireifung bei den ‚Alcyonaceen. 161 nicht vielmehr ein immaterielles Etwas das Bestimmende seiner künftigen Entwicklung sei. Die Gestalten der Kurven und Flächen, welche der Mathematiker teils denkt, teils denkbar findet, sind zahlloser und mannigfaltiger als die Gestalten der organischen Welt. Denken wir uns aus jeder möglichen Kurve je ein nahezu unendlich kleines Stück herausgebrochen, so werden alle diese kleinen Bruch- stücke sich ähnlicher sehen als ein Keim dem anderen; und doch schlummert in jedem solchen Bruchstücke die ganze Kurve, und wenn der Mathematiker es wachsen lässt, so wächst es eben nur in die Bahnen hinein, die schon durch die Eigentümlichkeiten des kleinen Fragmentes bestimmt sind. Darum ist es ein Irrtum, dass so feine Verschiedenheiten der Keime, wie sie die Physiologie an- nehmen muss, weit über die Grenzen des Denkbaren hinauslägen.“ !) l)E. Hering, Über das Gedächtnis als allgemeine Funktion der organi- sierten Materie. Vortrag, gehalten in der feierlichen Sitzung der kaiserl. Akad. d. Wissensch. am 30. Mai 1870. Almanach d. Wiener Akad. Bd. 20. 1870. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 11 162 Otto Fischer: Über die Abbe’sche Sinusbedingung. Von Otto Fischer (Leipzig). (Mit 9 Textfiguren.) Bekanntlich lässt sich die punktweise Abbildung eines nach allen drei Dimensionen ausgedehnten Raumteiles durch weit geöffnete Strahlenbündel mit den zur Verfügung stehenden optischen Mitteln nicht verwirklichen. Bei Beschränkung auf sehr enge Strahlenbündel ist wohl unter Umständen die Abbildung eines fadenförmigen Raumes oder einer ausgedehnten Fläche mittelst Brechung und Reflexion herzustellen; sobald aber die Öffnung der Strahlenbündel über eine bestimmte Grenze hinausgeht, kann man z. B. bei zentrierten optischen Systemen entweder nur ein unendlich kleines Stück der Achse oder ein auf der Achse senkrecht stehendes, unendlich kleines Flächen- element mit ausreichender Schärfe abbilden. Dass man nicht beide Forderungen gleichzeitig erfüllen und demnach nicht einmal ein unendlich kleines Raumelement mit beliebig weit geöffneten Strahlen- bündeln scharf abbilden kann, ist darauf zurückzuführen, dass, wie Czapski nachgewiesen hat, für die Abbildung eines unendlich kleinen Achsenstücks die Sinus der halben Achsenwinkel konjugierter Strahlen ein konstantes Verhältnis aufweisen müssen, während zur Abbildung eines zur Achse senkrechten Flächenelements das Ver- hältnis der Sinus der ganzen Achsenwinkel konstant sein muss, eine Forderung, welche eben kurz als die Sinusbedingung be- zeichnet wird. Über die Bedeutung der Sinusbedingung für den Strahlenverlauf im Objekt- und Bildraum kann man sich am besten Rechenschaft geben, wenn man zum Vergleich die Strahlenrichtungen heranzieht, wie sie sich bei der optisch nicht realisierbaren kollinearen Abbildung endlicher Raumteile mittelst beliebig weit geöffneter Bündel gestalten würden. In diesem Falle müssten die sämtlichen zu zwei konjugierten Achsenpunkten gehörenden Abbildungsstrahlen bekanntlich die Be- Über die Abbe’sche Sinusbedingung. 163 dingung erfüllen, dass die trigonometrischen Tangenten ihrer Achsen- winkel ein konstantes Verhältnis besitzen. Diese sogen. „Tangenten- bedingung“ findet ihren geometrischen Ausdruck ı.. der Eigenschaft der Gauss’schen Hauptebenen, dass jeder Punkt in der einen das Bild eines Punktes in der anderen Hauptebene darstellt, welcher den gleichen Achsenabstand besitzt und mit ihm in derselben Achsen- ebene liegt. Stellen A und A’ zwei konjugierte Punkte auf der Achse eines zentrierten Systems dar (vgl. Fig. 1), 7, H' die Haupt- punkte und 9, 9’ die Hauptebenen des letzteren, so treffen irgend - zwei konjugierte Strahlen durch A und A’ die zugehörigen Haupt- Fig. 1. ebenen in Punkten E, E’ in der Weise, das HE = H'E, und tan u tan u’ Strahlen, und unter s, s’ die Hauptpunktsabstände ZA und H’A’ der. beiden konjugierten Punkte verstanden. Da die Hauptpunktsabstände durch die beiden Brennpunkte F\ F” des Systeins in gleichem Ver- hältnis (nämlich dem Verhältnis von Bildgrösse y’ und Objektgrösse %, dessen Wert # man bekanntlich als die Lateralvergrösserung be- zeichnet) geteilt werden, so hat man auch s’ 1% ui demnach ! Ss i E N is ist, unter «, « die Achsenwinkel konjugierter s m > wenn x, x die Brennpunktsabstände von A, A’ und f, f' die. Brenn- IE 164 Otto Fischer: weiten bedeuten, sofern man beide Arten von Strecken an den Brenn- punkten beginnen lässt und sie konsequent in der Richtung des einfallenden Lichtes, also in Fig. 1, von links nach rechts positiv rechnet. DBeachtet man, dass die Lateralvergrösserung %, wie sich aus Fig. 1 unmitttelbar ergibt, durch die Quotienten 2 bzw. = gemessen werden kann, und dass allgemein 7; = — 2 ist, SO er- hält man durch Erweitern der beiden Werte von z mit f bzw. f’ für das Tangentenverhältnis den bekannten Wert tan u n mem Die Sinusbedingung, welche für die Abbildung eines zur Achse im Punkte A senkrechten Flächenelementes mittelst weitgeöffneter Strahlenbündel erfüllt sein muss, unterscheidet sich von dieser Tangentenbedingung nur dadurch, dass an Stelle der trigonometrischen Tangenten die Sinus treten; sie lautet demnach für alle an der Abbildung beteiligten konjugierten Strahlen sin % n sinu n Wie man die Strahlenrichtungen im Bildraum, welche der Tangentenbedingung entsprechen würden, aus den Strahlenrichtungen im Objektraum mit Hilfe der Hauptebenen leicht ableiten kann, so lassen sich auf gleich einfache Weise die der Sinusbedingung ent- sprechenden konjugierten Strahlenrichtungen mit Hilfe zweier Kugel- flächen gewinnen, welche die Hauptebenen zu Tangentialebenen und die konjugierten Punkte A und A’ auf der Achse zu Mittelpunkten, und daher die Hauptpunktsabstände s und s’ der konjugierten Punkte A und A’ zu Radien besitzen. Diese Kugelflächen mögen daher als „Hauptkugelflächen“ bezeichnet sein. Wie die eine Hauptebene (9) dem Objektraum und die andere (9) dem Bildraum zugehört, so ist auch die Hauptkugelfläche mit dem Mittelpunkt A und der Tangentialebene 9 als Bestandteil des Objektraumes und die andere mit dem Mittelpunkt A’ und der Tangentialebene $' als Bestandteil des Bildraumes aufzufassen. | Zur Konstruktion des Bildstrahles zu einem von A ausgehenden Strahl hat man letzteren bis zum Schnittpunkte E mit der. Haupt- kugelfläche des Objektraumes (vgl. Fig. 2) fortgesetzt zu denken, dann von E parallel zur Achse bis zu dem Punkte E’ der anderen Über die Abbe’sche Sinusbedingung. 165 Hauptkugelfläche weiterzugehen und schliesslich 2’ mit A’ zu ver- binden; dann stellt E’A’ den zu AE konjugierten Bildstrahl dar; denn aus der Gleichheit der Lote von EZ und E’ auf die Achse folgt unmittelbar s. sin u = s’. sin vu’ oder D r ’ sın u S n N ER ß. Sina mus n Diese Konstruktion ist in Fig. 2 für eine Reihe von Strahlen des von A ausgehenden Bündels ausgeführt worden. Um einen Ver- gleich mit dem Strahlenverlauf bei Gültigkeit der Tangentenbedingung Fig. 2. zu ermöglichen, findet sich in der Figur für den obersten Strahl derselbe durch Punkte angedeutet. Wie man sieht, übernehmen bei Erfüllung der Sinusbedingung die Hauptkugelflächen die Rolle, welche bei Geltung der Tangentenbedingung die Hauptebenen für die Ableitung konjugierter Strahlenbündel spielen. Dagegen kann man auch bei weitgeöffneten Bündeln die Hauptebenen mit den Brennpunkten zur Konstruktion des Bildortes heranziehen, wenn man sieh nur dabei bewusst bleibt, dass dann die Konstruktionsgeraden nicht optischen Strahlen zu entsprechen brauchen, sondern nur rein geometrische Bedeutung beanspruchen können. Die Sinusbedingung kann von einem zentrierten optischen System bekanntlich immer nur für ein einziges Paar konjugierter Punkte A, A’ auf der Achse erfüllt werden. Dementsprechend ändern sich die 166 Otto Fischer: beiden Hauptkugelflächen mit der Lage der konjugierten Punkte; sie gehen zwar stets durch die Hauptpunkte und haben die Haupt- ebenen zu Tangentialebenen, aber ihre Radien vergrössern oder ver- kleinern sich mit den Hauptpunktsabständen s, s’ der konjugierten Punkte. Fällt insbesondere A mit dem Brennpunkte F' zusammen, so rückt.A’ ins Unendliche, und die Hauptkugelfläche des Bildraumes geht bei Erfüllung der Sinusbedingung für diesen Fall in die ent- sprechende Hauptebene über, während der Radius der Hauptkugel- fläche des Objektraumes gleich der Brennweite f des letzteren Raumes wird. Zu einem unter dem Winkel « gegen die Achse geneigten Strahl durch F gehört dann ein zur Achse paralleler Bildstrahl, dessen Entfernung A von der Achse gleich fsin« wird. Die Brenn- r weite wird daher in diesem Falle durch ine gemessen, während r bei Erfüllung der Tangentenbedingung der Quotient : k nach Gauss an u das Maass für dieselbe darstellt. Rückt andererseits A ins Unend- liche, so fällt A’ mit dem Brennpunkte F’ des Bildraumes zu- sammen; dann geht die Hauptkugelfläche des Objektraumes in die entsprechende Hauptebene über, während die andere Hauptkugel- fläche die Brennweite f’ des Bildraumes als Radius erhält. Zwischen dem Achsenabstand h eines der Achse parallelen Strahles des Objekt- raumes und dem Winkel «’, unter welchem sein konjugierter, durch F' gehender Strahl des Bildraumes gegen die Achse geneigt ist, besteht dann die Beziehung f’ = nn während bei der kol- linearen Abbildung nach Gauss als Definition dieser Brennweite ng silt. Solange der Punkt A ausserhalb der Brennweite, also in Fig. 1 links von F, liegt, befindet sich sein Bildpunkt A’ ebenfalls ausser- halb der Brennweite des Bildraumes, also in Fig. 1 rechts von ”. Die beiden Hauptkugelflächen sind infolgedessen nach entgegengesetzten Riehtungen gekrümmt und wenden ihre konvexen Seiten einander zu. Liegt dagegen A zwischen F' und H, so befindet sich sein Bildpunkt A’ links von ZH’, und die Hauptkugelflächen wenden beide ihre konkaven Seiten den einfallenden Strahlen zu. Dieses Ver- halten gilt zunächst für ein Kollektivsystem, wie es durch Fig. 1 angedeutet ist. Bei einem Dispansivsystem liegen die Brennpunkte Über die Abbe’sche Sinusbedingung. 167 nach der entgegengesetzten Seite wie in Fig. 1 von ihren Haupt- punkten entfernt. Für jede Lage des Punktes A auf der Achse links von H liest dann A’ ebenfalls links von HZ’, so dass hier stets die beiden Hauptkugelflächen ihre Konkavität den einfallenden Strahlen zuwenden usw. Es ist also nur nötig, sich die bekannten Lage- beziehungen zwischen Objekt- und Bildpunkt und den beiden Haupt- punkten bei einem zentrierten optischen System zu vergegenwärtigen, um sich auch in den noch nicht hervorzehobenen Fällen, wenn z. B. A rechts von A liest oder die einfallenden Strahlen nach einem Punkte A auf der Achse konvergieren, über das Verhalten der Haupt- kugelflächen Rechenschaft geben zu können. Die Resultate modifizieren sich natürlich in entsprechender Weise, sofern 4’ vor H liegen sollte. Fallen die beiden Hauptpunkte zusammen, wie z. B. bei der Brechung an einer einzigen Kugelfläche, so vereinfachen sich im Falle der Gültigkeit der Sinusbedingung für zwei konjugierte Punkte die Beziehungen nur insofern, als dann die beiden Hauptkugelflächen im gemeinsamen Hauptpunkte einander berühren. Es lässt sich nun zeigen, dass das an und für sich schon sehr einfache Verfahren zur Konstruktion konjugierter Strahlenbündel, welche der Sinusbedingung entsprechen, eine noch weitere Verein- fachung erfahren kann, durch welche nicht nur die Sinusbedingung auf den durchsichtigsten geometrischen Ausdruck gebracht, sondern zugleich ein sehr anschauliches Kriterium für die Erfüllung derselben gewonnen wird. Um dies einzusehen, erweist es sich als zweck- mässig, zunächst wieder auf die Tangentenbedingung zurückzugreifen. Denkt man in Fig. 1 je zwei durch A und A’ gehende konju- gierte Strahlen bei Gültiekeit der Tangentenbedingung über die zugehörigen Hauptebenen hinaus fortgesetzt, bis sie sich schneiden, so liegen alle diese Schnittpunkte in einer zu den Hauptebenen parallelen Ebene 9,, deren Abstände von den Punkten A und A’ und daher auch von den Hauptebenen $ und $ im Verhältnis der Hauptpunkts- abstände s, s’ der Punkte A und A’ stehen. Dies ist an der Hand von Fig. 3 unmittelbar einzusehen; denn schneidet eine zur Achse senkrechte Ebene 9, die Achse im Punkte H,, so gilt für die Achsen- winkel u, « je zweier in einem Punkte der Ebene 9, zusammen- treffender Strahlen durch A und A’ die Beziehung tan w:tan « — H,4': H,4A; dieselben erfüllen also die obige Tangentenbedingung, sofern H,A’: HHA=s:s ist; es teilt daher nach einem bekannten Satz der Proportionslehre auch der Punkt H, die Strecke HH’ im 168 Otto Fischer: Verhältnis s: s. Die Ebene $,, welche Ferraris!) den perspek- tivischen Durchschnitt der beiden Strahlenbündel nennt, soll im folgenden als die „reduzierte Hauptebene“, und der Punkt H, als der „reduzierte Hauptpunkt“ bezeichnet werden, da sie die beiden Hauptebenen bzw. Hauptpunkte bezüglich ihrer Ver- wendung zur Konstruktion konjugierter Strahlen vollkommen er- setzen, sobald es sich um ein bestimmtes Paar konjugierter Achsen- punkte handelt. Zur Konstruktion des zu einem Punkte A konju- a Fig. 3. gierten Punktes A’ muss man dagegen auf die Gauss’schen Hauptebenen zurückgreifen, da die reduzierte Hauptebene ihre Lage mit dem Ort des Punktes A ändert. Solange A und A’ sich auf verschiedenen Seiten ihrer Haupt- ebenen befinden, liegt der reduzierte Hauptpunkt A, innerhalb der Strecke HH’. Liegen dagegen die konjugierten Punkte entweder beide links oder beide rechts von ihren Hauptebenen, so befindet sich A, ausserhalb AH’ und teilt diese Strecke aussen im Ver- hältnis s: s. Deckt sich A mit dem Brennpunkte F} und ist dem- nach A’ ins Unendliche gerückt, so fällt HA, mit HZ zusammen; in ent- 1) Vgl. Ferraris, Die Fundamental-Eigenschaften der dioptrischen In- strumente. Leipzig 1879. S. 207. Über die Abbe’sche Sinusbedingung. 169 sprechender Weise rückt A, nach H', falls A’ in F", und daher A im Unendlichen liest. Bezeichnet man den Abstand 4A’ der beiden Hauptebenen mit n (vel. Fig. 1) so ergibt sich unter Berücksichtigung der Vorzeichen der Hauptpunktsentfernungen s, s' in dem durch die Fieg. 1 und 3 dargestellten Falle für den Abstand AH, des reduzierten Haupt- punktes vom Hauptpunkt des Objektraumes, welcher mit s, be- zeichnet sein soll (vgl. Flg 3), der Wert Be Ben en Unter Berücksichtigung von BL lässt sich dieser Ausdruck auch in der Form schreiben: a Nean IT e—nf" Aus dieser Formel ergibt sich unmittelbar, dass der Abstand s, gleich Null oder gleich 7 wird, also 4, mit H oder H’ zusammen- fällt, je nachdem x den Wert Null oder unendlich besitzt, d.h. also je nachdem A mit F oder A’ mit F’ zusammenfällt, wie oben schon angedeutet wurde. Man erkennt weiter aus derselben, dass s, den Wert 5 annimmt, /, also in der Mitte zwischen den beiden Hauptpunkten liegt, wenn «ff wird; da hierzu der Wert «= f gehört, so befindet sich in diesem Falle bei einem Kollektivsystem der Objektpunkt A in einem Abstand gleich der hinteren Brennweite vor dem vorderen Brennpunkt, und sein Bild- punkt A’ in einem Abstand gleich der vorderen Brennweite hinter dem hinteren Brennpunkt. Für = + — f = — f' und dementsprechend x — — f wird s, unendlich gross; der reduzierte Hauptpunkt rückt also dann ins Unenäliche. Dies entspricht dem Fall, dass A mit dem vorderen, und A’ mit dem hinteren Knotenpunkt des Systems zusammenfällt. Solange x negativ ist, nimmt nach der obigen Formel bei einem Kollektivsystem, welches ja durch einen positiven Wert von f eharakterisiert ist, s, einen positiven Wert an, der kleiner oder (für £&— — oo) höchstens gleich 7 ist. Demnach fällt bei einem Kollektivsystem der reduzierte Hauptpunkt zwischen Z und H 170 Otto Fischer: (sofern H vor H’ liegt), solange sich A vor dem vorderen Brenn- punkt F' befindet. Ist dagegen x positiv, so sind zwei Fälle zu unterscheiden, je nachdem »nx kleiner oder grösser als ”»’f ist. Im ersten Falle wird s, negativ, im zweiten dagegen positiv, wobei es aber dann einen grösseren Wert als n annimmt. Es liegt demnach unter den obigen Voraussetzungen H, ausserhalb der Strecke HH", und zwar im einen Falle vor 4, im anderen dagegen hinter HZ. Bei einem Dispansivsystem, welches durch einen negativen Wert von f charakterisiert wird, liegen die Verhältnisse gerade umgekehrt. Hier wird s, positiv, aber kleiner wie n, solange x positiv ist, ein Fall, welcher z. B. bei einer einzigen Dispansivlinse nur durch konvergentes Einfallen der Lichtstrahlen verwirklicht werden kann. Bei negativem x wird dagegen s, negativ oder positiv, aber im letzteren Falle dann grösser wie n, je nachdem der absolute Wert von nx kleiner oder grösser wie der von »’f ist. Diese Erörterungen über die Lage des reduzierten Haupt- punktes 7, hatten zunächst zur Voraussetzung, dass die abbildenden Strahlen der Tangentenbedingung entsprechen; sie behalten jedoch ihre Bedeutung auch im Falle der Erfüllung der Sinusbedingung bei, wie sich im folgenden zeigen wird. Denkt man bei Gültigkeit der Sinusbedingung je zwei durch A und A’ gehende konjugierte Strahlen über die zugehörigen Haupt- kugelflächen (vgl. Fig. 2) hinaus fortgesetzt, bis sie sich schneiden, so liegen alle diese Schnittpunkte nicht mehr, wie bei Erfüllung der Tangentenbedineung, in einer Ebene, sondern im allgemeinen auf einer Kugelfläche. Von dieser bemerkenswerten Tatsache kann man sich auf folgende Weise Rechenschaft geben. Fällt man vom Sehnittpunkte 8 zweier konjugierter Strahlen das Lot auf die Achse (vgl. Fig. 3 und die umstehende Fig. 4), so ent- stehen zwei rechtwinklige Dreiecke, in denen die den Achsenwinkeln w und « gegenüberliegenden Katheten gleich sind. In solchen Dreiecken verhalten sich die anliegenden Katheten umgekehrt wie die trigonometrischen Tangenten, die Hypotenusen dagegen umgekehrt wie die Sinus der Winkel « und «. Sollen für verschiedene Paare konjugierter Strahlen durch A und 4’ die trigonometrischen Tangenten der Winkel « und «,das gleiche Verhältnis besitzen, wie es der Tangentenbedingung entspricht, so müssen ‚daher die Fusspunkte aller von den Schnittpunkten konjugierter Strahlen auf die Achse gefällten Lote in einen Punkt zusammenfallen, nämlich in den redu- Über die Abbe’sche Sinusbedingung. il zierten Hauptpunkt H,. Sollen dagegen für verschiedene Paare konjugierter Strahlen die Sinus von « und « das gleiche Verhältnis aufweisen, wie es der Sinusbedingung entspricht, so ergibt sich, dass die Abstände aller Schnittpunkte 5 konjugierter Strahlen von A und A’ in demselben Verhältnis stehen müssen. Nun ist bekannt, dass in einer Ebene der geometrische Ort aller Punkte, deren Abstände von zwei festen Punkten ein gegebenes Verhältnis haben, ein Kreis ist, der die Strecke zwischen den beiden festen Punkten nach diesem Verhältnis sowohl innen als auch aussen teilt und den Abstand der Teilpunkte zum Durchmesser hat (Apol- loniseher Kreis). Wendet man dieses Resultat auf alle durch die Fig. 4. Achse des optischen Systems hindurchgehenden Ebenen an, so er- kennt man, dass die Schnittpunkte aller Paare konjugierter Strahlen durch A und A’, welche der Sinusbedingung genügen, auf einer Kugelfläche liegen, die ihren Mittelpunkt M auf der Achse hat und in ihren Sehnittpunkten mit der Achse die Strecke AA’ innen und aussen im Verhältnis s: s’ teilt. Diese Kugelfläche soll als die „reduzierte Hauptkugelfläche“ bezeichnet sein, weil sie die beiden Hauptkugelflächen bezüglich ihrer Verwendung zur Kon- struktion konjugierter Strahlen, welche der Sinusbedingung ent- sprechen, vollkommen ersetzt. Da der reduzierte Hauptpunkt AH, die Strecke AA’ im Verhältnis s: s’ teilt, so gehört er der redu- zierten Hauptkugelfläche an und stellt den einen Schnittpunkt der- selben mit der Achse dar. Der andere Schnittpunkt N mit der Achse bildet den vierten harmonischen Punkt zu A, A’ und H,. 172 Otto Fischer: In Fig. 4 ist für einen bestimmten Fall die reduzierte Haupt- kugelfläche in ihrem Durchschnitt mit einer Achsenebene dargestellt. Entsprechend den harmonischen Eigenschaften des Kreises liegt A auf der Berührungssehne der beiden von A’ an den Kugeldurchschnitt gezogenen Tangenten und halbiert dieselbe. Ferner teilt der Mittel- punkt M die Strecke AH, in demselben Verhältnis aussen, wie die Strecke AA’ durch FH, innen bzw. durch N aussen geteilt wird, so dass also unter Berücksichtigung der Vorzeichen von s und s’ gilt: MA: MH, = (— s):s. Schliesslich hat man auch: MH,:MA=(—s):JS, da MH, die mittlere Proportionale zu MA und MA’ ist. Diese bekannten Beziehungen zwischen harmonischen Punkten geben nun zunächst das Mittel an die Hand, den Mittelpunkt der reduzierten Hauptkugelfläche auf der Achse für jedes beliebige Paar zugeordneter Punkte A, A’ zu konstruieren, nachdem man den reduzierten Hauptpunkt #, mit Hilfe der Hauptebenen 9, 5 ge- funden hat. Damit hat man aber dann die reduzierte Hauptkugel- fläche selbst gewonnen. Man braucht zu diesem Zwecke nur in A eine Strecke AB etwa senkrecht zur Achse abzutragen (vgl. Fig. 5), von dem End- punkt derselben eine Gerade durch ZH, zu ziehen und die letztere bis zum Schnittpunkte 5’ mit einer in A’ ebenfalls senkrecht zur Achse gezogenen Geraden zu verlängern. Dann hat man zunächst in AB und A’B’ zwei Strecken, welche im Verhältnis s : s’ zuein- ander stehen. Es ist hierbei zu beachten, dass A’B’ nur dann das Bild y’ der Strecke AB —= y darstellt, wenn die Breehungs- indices des ersten und letzten Mittels des optischen Systems ein- ander gleich sind; denn nur dann gibt der Quotient - die Lateral- vergrösserung 8 an. Da derselbe im allgemeinen Falle dagegen mit —ß identisch ist, so besitzt A’B’ die Länge - y', falls AB gleich y genommen wird. Trägt man nun in H, die Strecke A’B’ in ent- gegengesetzter Richtung an (H,C in Fig. 5), so schneidet die Ver- bindungslinie des Endpunktes C dieser Strecke mit B die Achse im Mittelpunkte M der reduzierten Hauptkugelfläche. Man kann auch so verfahren, dass man in H, die Strecke AB in entgegen- gesetzter Richtung abträgt (H,C’ in Fig. 5) und den Endpunkt C’ Uber die Abbe’sche Sinusbedingung. 173 derselben mit B’ verbindet; dann geht diese Verbindungsgerade ebenfalls durch M. Schliesslich kann man auch direkt den zweiten Schnittpunkt N der reduzierten Hauptkugelfläche mit der Achse aufsuchen und dann M durch Halbieren des Kuzeldurchmessers NAH, finden. Zur Konstruktion von N braucht man nur die Strecke A’B' von A’ aus nach der entgegengesetzten Richtung abzutragen (A’D in Fig. 5) und deren Endpunkt D mit B zu verbinden, dann ergibt sich N als Durchschnittspunkt dieser Verbindungsgeraden mit der Achse. Da die Schnittpunkte HZ, und N der reduzierten Hauptkugel- fläche die Strecke AA’ harmonisch teilen, so folgt unmittelbar, dass Fig. 5. der Kugelmittelpunkt M stets ausserhalb der Streeke AA’ zu suchen ist, unabhängig davon, ob der reduzierte Hauptpunkt 4, zwischen A und A’ oder ebenfalls ausserhalb der Streeke AA’ liest; denn von den beiden Punkten, welche eine Strecke harmonisch teilen, ist der äussere Teilpunkt immer weiter von dem zunächst liegenden Endpunkt der Strecke entfernt wie der innere. Zu jeder Lage des Mittelpunktes M auf der Achse gehören immer zwei Orte des redu- zierten Hauptpunktes; denn wenn der letztere die Lage einnimmt, welche vorher der andere Teilpunkt N hatte, so rückt dieser an den früheren Ort von H,, so dass M als der Mittelpunkt der Strecke NH, seinen Ort beibehält.e. Der Punkt M befindet sich auf der Verlängerung der Strecke AA’ über A oder über A’ hinaus, je nachdem der reduzierte Hauptpunkt H, sich näher an A oder 4’ befindet. Liegt 4, insbesondere in der Mitte zwischen A und A', 174 Otto Fischer: ’ was für = — —1,d.h.also für = — eintritt, so fällt M ins Unendliche, und die reduzierte Hauptkugelfläche geht in eine Ebene über, welche in der Mitte von AA’ auf der Achse senkrecht steht. Das gleiche findet statt, wenn ZH, selbst im Unendlichen liest, wie es dem Fall entspricht, dass A und A’ die Knotenpunkte des Systems darstellen. Die vorstehenden allgemeinen Angaben über den Ort des Mittel- punktes M der reduzierten Hauptkugelfläche gelten ganz unabhängig von der gegenseitigen Lage der konjugierten Punkte A und A’ auf der Achse; sie behalten insbesondere ihre Gültigkeit bei, wenn einer dieser beiden Punkte ins Unendliche und demnach der andere in den Brennpunkt seines Raumes fällt. In diesem Falle rücken die beiden harmonischen Teilpunkte 4, und N in gleiche Entfernung von dem letzteren Brennpunkt, wobei sie aber immer noch auf ver- schiedenen Seiten desselben liegen. Infolgedessen fällt dann der Mittelpunkt M mit dem betreffenden Brennpunkte zusammen. Zur exakten Berechnung der Lage des Punktes M auf der Achse kann man seinen Abstand s„ vom vorderen Hauptpunkte 7 (vel. Fig. 5) verwenden. Rechnet man diesen als Strecke, welche wie der Hauptpunktsabstand s des Punktes A in H beginnt, so ergibt sich für s„ die Beziehung (vgl. Fig. 5): (— Sm + 5) :— Sm ts) = s': (— SS), woraus unter Berücksichtigung des Wertes von s, (vgl. S. 169) folgt: r 2 U 2 en ee, Er Der Abstand des Punktes M von Hy, gibt den Radius o der reduzierten Hauptkugelfläche (vgl. Fig. 5) an. Rechnet man den- selben positiv oder negativ, je nachdem M (in Fig. 5) rechts oder links, d. h. also allgemein in der Richtung oder entgegen der Richtung der einfallenden Strahlen von H, aus zu finden ist, so erhält man ss’ ss’ a@ß nn'ß PTR ER er ntnB° nn EI In diese Formeln kann man wieder die vordere Brennweite f und den Brennpunktsabstand x des Punktes A einführen, indem man beachtet, dass s—= x — f (vgl. Fig. 1) und $ = Ä ist. Es 0 — Sm SH = ergibt sich dann A) n?x? ep” Mm Über die Abbe’sche Sinusbedingung. 175 n (& — f) nnxf The Inf a —n?f: . Für die Brennpunktsabstände am und FM der Punkte H, und M, welche bzw. mit x, und x. bezeichnet werden sollen, ergibt sich hieraus n—=f+ts=f+ et Im — Sm =p N RT n22? — n?f? N Alle diese Formeln gelten ganz allgemein für jedes zentrierte optische System. In den Fällen, in welchen entweder, wie z. B. bei einer einzigen brechenden Fläche, die beiden Hauptebenen zu- sammenfallen, oder in denen sie doch einander so nahe liegen, dass ihr Abstand gesenüber den anderen Grössen mit genügender An- näherung vernachlässiet werden kann, kommt in allen Formeln das zweite, mit n behaftete Glied in Wegfall. Die Formeln vereinfachen sich aber auch schon etwas, wenn es sich um ein zentriertes dioptrisches System handelt, bei welchem der erste und letzte Brechungsindex einander gleich sind; sie nehmen dann folgende Gestalt an: c—f x” Sm en p" RR LH: zer 72 pe w=f+, N 23x x? m ee a Durch die Einführung der reduzierten Hauptkugelfläche hat man nun ein sehr einfaches geometrisches Kriterium für die Er- füllung der Sinusbedingung gewonnen. Es genügt hierzu natürlich nicht, nächzuweisen, dass die Schnittpunkte entsprechender Strahlen zweier konjugierter Strahlenbüschel alle auf einer einzigen Kugel- fläche liegen, sondern es muss ausserdem noch gezeigt werden, dass diese Kugelfläche ihren Mittelpunkt auf der Verbindungsgeraden der beiden konjugierten Strahlenzentren A und A’ besitzt und durch ihre Schnittpunkte mit dieser Geraden die Strecke AA’ harmonisch teilt. Erst durch Erfüllung dieser rein geometrischen Bedingungen stellen sich die Punkte A und A’ als aplanatische Punkte im Abbe’schen Sinne heraus. 176 Otto Fischer: Man sehe sich hierauf hin z. B. die beiden aplanatischen Punkte an, welche bei der Brechung an einer einzigen Kugelfläche vorhanden sind. In Fig. 6 sei M der Mittelpunkt dieser brechenden Fläche vom Radius r, welche zwei Mittel von den Indices 3» und n’ trennt, wobei der Brechungsindex n der vorderen Fläche der grössere sein soll. Dann liegen die beiden aplanatischen Punkte A und A’ auf der durch M gehenden Achse MH, des Systems bekanntlich in den Abständen er und nr links von M. Denkt man die brechende Fig. 6. Fläche zu einer Vollkugelfläche vervollständigt, so würde dieselbe die Achse zum zweitenmal in einem zwischen A und A’ liegenden Punkte N schneiden. Die Abstände der Punkte A und A’ von H, sind bzw. r + - r undr-+ ar und stehen daher, wie man leicht bestätigt, im Verhältnis »:n. Die Abstände des Punktes N von A und A sind dagegen bzw. r—or und art; auch diese be- sitzen das Verhältnis ”’:». Es teilen daher H, und N die Strecke AA’ harmonisch. Hieraus folgt aber, dass die beiden Strahlenbündel in der Tat der Sinusbedingung genügen, und dass die brechende Über die Abbe’sche Sinusbedingung. 177 Fläche, in der sich ja im vorliegenden Falle entsprechende Strahlen durch A und A’ schneiden, selbst die reduzierte Hauptkugelfläche und H, den reduzierten Hauptpunkt darstellt. Wenn der eine der beiden konjueierten Punkte A, A’ im Un- endlichen liegt, so dass die Strahlen im Objektraum oder im Bild- raum parallel der Ächse verlaufen, so fällt nach den obigen Er- örterungen im Falle der Erfüllung der Sinusbedingung der Mittel- punkt der reduzierten Hauptkugelfläche mit dem anderen Punkte zusammen, der dann ausserdem mit dem Brennpunkte des be- treffenden Raumes identisch ist. Das Kriterium für die Erfüllung der Sinusbedineung gestaltet sich daher in diesem Falle besonders einfach. Auch hierfür möge noch ein Beispiel angeführt werden. In neuerer Zeit ist von der Firma Carl Zeiss in Jena nach den Angaben von Dr. Siedentopf eine gegenüber der ursprüng- lichen Einrichtung nach Siedentopf und Zsigmondy verein- fachte, aber besonders lichtstarke Einrichtung zur Sichtbarmachung ultramikroskopischer Teilchen in Flüssigkeiten hergestellt worden, welche von derselben als Kardioidultramikroskop bezeichnet wird. Diese Bezeichnung soll darauf hinweisen, dass bei dem wesentlichsten Teil der Einrichtung, dem Kardioidkondensor, eine besondere Eigenschaft der Kardioide benutzt ist, auf welche zuerst Dr. Siedentopf aufmerksam gemacht hat. Da der Weg, auf welchem der letztere die betreffende Eigenschaft der Kardioide ab- leitet), mehr für Mathematiker von Fach berechnet sein dürfte, so soll zunächst gezeigt werden, dass man auf ganz elementare und anschauliche Weise, und zwar ohne Anwendung der Differential- rechnung, zu derselben gelangen kann. Es wird dabei auch un- mittelbar ersichtlich, dass die konjugierten Strahlenbündel beim Kardioidkondensor gemäss dem zuletzt angeführten Kriterium der Sinusbedingung genügen, so dass also eine aplanatische Strahlen- vereinigung vorhanden ist. Die Kardioide ist eine besondere Art einer Rollkurve, und zwar ist sie diejenige Kurve, welche ein Punkt der Peripherie eines Kreises beschreibt, während dieser auf einem feststehenden Kreise von gleichem Radius abrollt. In Fig. 7 sei Oder Mittelpunkt des festen 1) Vgl. hierzu H. Siedentopf, Über einen neuen Fortschritt in der Ultra- mikroskopie. Verhandlungen der deutschen physikalischen Gesellschaft 12. Jahrg. 1910 Nr.1 S.6 und 7. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 12 178 Otto Fischer: Kreises mit dem Radius 0A = r, welcher in der Figur durch Sehraffierung vor den anderen Kreisen kenntlich gemacht ist. Beim Abrollen des beweglichen Kreises beschreibt dessen Mittelpunkt eine Kreisbahn DE, deren Radius doppelt so gross wie der Radius beider Kreise, also gleich 2r ist. Ein Punkt, welcher der Peripherie des beweglichen Kreises fest angehört, falle in der durch den Ort D seines Mittelpunktes gegebenen Stellung des beweglichen Kreises mit dem Berührungspunkte A zusammen. In irgendeiner anderen Stellung des beweglichen Kreises, z. B. der dem Ort E seines Mittelpunktes nach A Rig! 7. (vel. Fig. 7) entsprechenden, besitzt dann der betreffende Punkt P auf der Peripherie einen Bogenabstand von dem neuen Berührungspunkte 5, weleher infolge des Abrollens gleich dem Bogen A B auf der Peripherie des feststehenden Kreises ist. Die Radien EB und EP des be- weglichen Kreises bilden daher in jeder Stellung denselben Winkel miteinander wie die Radien OA und CB des festen Kreises. Da B den Berührungspunkt der beiden Kreise darstellt, so liegen ausser- dem C, B und E in gerader Linie, und das Viereck ACEP stellt infolge der Gleichheit der Winkel bei C und E ein symmetrisches Trapez dar, bei welchem auch die Winkel bei A und P gleiche Grösse besitzen. Verbindet man in diesem Trapez den Mittel- punkt B der einen der beiden parallelen Seiten mit den End- Über die Abbe’sche Sinusbedingung. 179 punkten A und P der anderen parallelen Seite, so erkennt man leicht aus dem Umstand, dass die Strecken CB und CA einerseits und EB und EP andererseits als Radien der Kreise gleich sind, dass sowohl die Gerade BA den Winkel bei A, als auch die Gerade BP den Winkel bei / halbiert. Zieht man durch E eine Parallele zum Radius CA, so schneidet dieselbe AP in einem Punkte $, welcher auf der Peripherie des beweglichen Kreises liegt; denn das Viereck ACES stellt ein Parallelogramm dar, so dass ES= CA, also gleich dem Radius r der beiden Kreise ist; ausser- dem isst AS—= CE, also gleich dem doppelten Radius 2r. Die Fortsetzung E_E’ dieser Parallelen über E hinaus bildet dann mit der Verlängerung EB’ des Radius EB denselben Winkel wie der Radius EP, daX BEE’ gleich dem Trapezwinkel an der Ecke A und X b’EP gleich dem Trapezwinkel an der Ecke P ist, und beide die gleiche Grösse « besitzen. Es liest nun im Wesen des Abrollens, dass der Übergang des beweglichen Kreises aus der in Fig. 7 gezeichneten Stellung EBSP in eine unendlich benachbarte Stellung einer unendlich kleinen Drehung des Kreises um seinen Berührungspunkt 5 entspricht. Jeder Punkt dieses Kreises wird sich daher im ersten Moment in einer Richtung weiter bewegen, welche auf seiner Verbindungslinie mit dem instantanen Drehpunkt D senkrecht steht. Diese letztere Verbindungslinie stellt infolgedessen die momentane Normale der Bahnkurve des betreffenden Punktes dar. So steht BE auf dem Bahnkreis des Mittelpunktes des beweglichen Kreises an der Stelle E senkrecht, wie ohne weiteres ersichtlich ist. Es stellt aber auch BP die Normale zu der Bahnkurve des Punktes P, d. h. also zu der Kardioide an der Stelle P dar; die Tangente an die Kardioide im Punkte P würde demnach auf BP senkrecht stehen. Denkt man Fig. 7 um die Gerade NDACH, als Achse herum- gedreht, so beschreibt der Kreis DE eine Kugelfläche und die Kardioide AP eine Rotations-Kardioidfläche, welche insbesondere in A eine nach einwärts gehende Spitze besitzt. In jedem Durch- schnitt der beiden Flächen mit einer durch die Achse N H, gehenden Ebene hat man dann immer wieder die gleichen geometrischen Ver- hältnisse wie in Fig. 7, welche jetzt ebenfalls als ein solcher Durch- schnitt aufzufassen ist. Es sei nun eine Einrichtung getroffen, welche es einem von der Spitze A der Kardioidfläche ausgehenden Strahle gestattet, ohne Ab- 12 * 180 Otto Fischer: lenkung bis zu der Kardioidfläche vorzudringen und an der letzteren eine Reflexion zu erfahren; dann wird ein solcher Strahl nach den angegebenen geometrischen Figenschaften der Kardioide in seinem Einfallspunkte P gerade in die Richtung PE abgelenkt, da PB das Einfallslot in P darstellt; der Einfallswinkel und Reflexionswinkel besitzen dabei die Grösse falls der Strahl AP gegen die u 5° Rotationsachse A H, um den Winkel « geneigt ist. Nun soll weiter- hin der reflektierte Strahl PE im Punkte E eine abermalige Reflexion an der Aussenseite der Kugelfläche DE erfahren können, dann wird derselbe schliesslich in eine Richtung EE' gebracht, welche der Rotationsachse beider Flächen parallel läuft; Einfallswinkel und Reflexionswinkel haben bei dieser Reflexion die Grösse «, da das Einfallslot im Punkte X der Kugelfläche die Verlängerung des Radius CE darstellt. Bringt man die durch die doppelte Reflexion entstehende Strahlen- richtung EE’ durch Rückwärtsverlängern zum Schnitt mit dem ein- fallenden Strahl AP, so ergibt sich nach den obigen Betrachtungen, dass der Schnittpunkt $ stets den Abstand 2r von A besitzt, ganz unabhängig davon, in welcher Richtung der ursprüngliche Strahl von A aus verläuft. Es liegen daher die sämtlichen Schnittpunkte & auf einer Kugelfläche um A als Mittelpunkt mit dem Radius e—=2r. Diese Kugelfläche trifft die Achse in den Punkten H, und N. Da die von A ausgehenden Strahlen nach der Reflexion sämtlich der Achse parallel laufen, d. h. nach dem unendlich fernen Punkte A’ derselben gerichtet sind, so folgt nach dem früher angeführten Kriterium, dass die durch A und A’ gehenden konjugierten Strahlen- bündel die Sinusbedingung erfüllen. Es ergibt sich weiterhin, dass H, den reduzierten Hauptpunkt, die durch 4%, gehende Kugelfläche um A als Mittelpunkt die reduzierte Hauptkugelfläche, A selbst den Brennpunkt F und der Radius e—=2r die Brennweite f des be- treffenden optischen Systems darstellt. Nach dem Prinzip der Umkehrbarkeit der Strahlenwege lassen sich natürlich auch die der Achse parallelen Strahlen in der um- gekehrten Richtung E’E als einfallende Strahlen auffassen; dieselben schneiden sich dann nach der doppelten Reflexion an der Aussen- seite der Kugelfläche um C und der Innenseite der Kardioidfläche genau im Punkte A, so dass dieser als Bildpunkt des unendlichen fernen Punktes der Achse aufgefasst werden kann, wobei die ab- Über die Abbe’sche Sinusbedingung. 181 bildenden Strahlen wieder dem oben angeführten Kriterium für die Sinusbedingung genügen. Der letztere Strahlengang hat bei dem Kardioidkondensor der Firma Zeiss Verwendung gefunden. Es ist an der Hand von Fig. 7 leicht ersichtlich, dass man die Kugelfläche mit dem Mittelpunkte C und daher auch die Kardioid- fläche nicht in ihrer ganzen Ausdehnung als spiegelnde Flächen ver- wenden kann, wenn die vom Punkte A ausgehenden bzw. die nach diesem Punkte hinzielenden Strahlen auf ihrem Wege zwischen A und der Kardioidfläche ohne Ablenkung geradlinig verlaufen sollen. Um den in Fig. 7 gezeichneten Strahl AP ungehindert von A nach P gelangen zu lassen, darf z. B. der spiegelnde Teil der Kugelfläche nicht bis an denselben heranreichen. Daher kann immer nur ein verhältnismässig beschränkter Teil des von A ausgehenden Strahlen- büschels innerhalb jeder durch die Achse NA, hindurchgehenden Ebene der doppelten Reflexion unterworfen werden, so z. B. in Fig. 7 nur alle Strahlen, welehe entweder nach der ersten Reflexion an der Kardioidfläche auf Punkte der Kugelfläche auftreffen, die zwischen E und AP fallen, oder falls der spiegelnde Teil der Kugel- fläche schon in E aufhört, nur solche Strahlen, welche zwischen AP in Fig. 7 und der Verbindungslinie von A und E liegen. Natürlich würde in derselben Achsenebene noch auf der anderen Seite der Achse ein symmetrisch zu demselben gelegener Teil des Strahlen- büschels und überhaupt eine aus dem begrenzten Strahlenbüschel in der Ebene der Fig. 7 durch Rotation um die Achse entstehende Strahlenzone in Frage kommen. Bei dem Kardioidkondensor, bei welchem ja die Strahlen in umgekehrter Richtung verlaufen, ist dies dadurch erreicht, dass zwischen A und dem allein für die Reflexion in Betracht kommenden Teil der Kardioidfläche !) das gleiche Medium angebracht ist, während der zur Reflexion verwendete Teil der Kugelfläche die Grenze zwischen Glas und einem im Innern des Apparates freigelassenen Luftraum darstellt, so wie es Fig. 8 ver- anschaulicht, in welcher auch die entsprechenden Strahlenbüschel in ihrem Verlaufe angedeutet sind. Dass der Kondensor aus zwei Teilen zusammengekittet werden musste, weil der innere Luftraum sonst nicht herzustellen war, ist für die Wirkungsweise desselben 1) In Wirklichkeit handelt es sich bei demselben gar nicht um eine Kardioid- fläche, sondern ebenfalls um eine, der Kardioidfläche allerdings in dem be- treffenden Teile sehr nahe kommende Kugelfläche. 182 Otto Fischer: belanglos. Es hat auch auf den Strahlenverlauf bis zum Punkte A natürlich nicht den geringsten Einfluss, dass das Medium, in welchem sich die von der Kardioidfläche reflektierten Strahlen bis A fort- gepflanzt haben, beim Kardioidkondensor in einer dieht hinter A liegenden, zur Achse senkrechten Ebene (welche sich in Fig. 8 dureh eine durehbrochene Linie angedeutet findet) aufhört, um durch die totale Reflexion an dieser ebenen Grenze zu einem dünneren Mittel die Dunkelfeldbeleuchtung zu realisieren. Ausser für einen Kondensor kann das aus Kardioidfläche und Kugelfläche zusammengesetzte katoptrische System jedenfalls noch die mannigfaltigste Verwendung zur Erzeugung eines aplanatischen Strahlenganges finden. Seine Verwendbarkeit wird durch den Um- stand sehr gesteigert, dass es gar nicht nötig ist, das an der Kardioid- fläche beginnende Medium bis zum Punkte A fortzusetzen. Denn, wie man unmittelbar einsehen wird, braucht man dasselbe ja nur nach A hin durch eine Kugelfläche um A als Mittelpunkt von be- liebigem Radius zu begrenzen, damit die Strahlen beim Austritt keine Brechung erfahren. Bei geeigneter Wahl des Radius dieser Begrenzungsfläche kann sich dieselbe direkt aussen an die verwendete Zone der spiegelnden Kugelfläche (mit dem Mittelpunkte C in Fig. 7) anschliessen. Man erhält dann z. B. einen Glaskörper, welcher durch Rotation der schraffierten Fläche in Fig. 9 hervorgebracht Über die Abbe’sche Sinusbedingung. 183 werden kann; natürlich muss man etwa durch Versilbern der ganzen Calotte der spiegelnden Kugelfläche dafür sorgen, dass nur in der zu der Kugelfläche um den Mittelpunkt A gehörenden Zone Strahlen von A in das System eintreten bzw. nach A gerichtete Strahlen aus demselben austreten können. Man kann also auf diese Weise die von einem in Luft befindlichen leuchtenden Punkte A aus- gehenden Strahlen einer bestimmten Randzone genau parallel machen, bzw. parallele Strahlen, welche einer bestimmten ringförmigen Zone angehören, zu einer exakt aplanatischen Vereinigung in einem Punkte in Luft bringen. Wie gross die Öffnung der von A ausgehenden Zone, d. h. die Öffnung eines jeden der beiden symmetrisch zur Achse gelegenen Strahlenbüschel innerhalb einer Achsenebene höchstens sein kann, lässt sich leicht berechnen. Ist in Fig. 7 AP der äusserste Strahl des Büschels, so würde der gegen die Achse am wenigsten geneigte Strahl höchstens in die Richtung AE fallen können. Der maximale - Öffnungswinkel « des Strahlenbüschels stellt sich also in Fig. 7 als der Winkel dar, welchen die Diagonale AE des Parallelogramms ACES mit der Seite AS bildet. Da der Winkel an der Ecke A den Achsenwinkel « des äussersten Strahles AP darstellt, und die Seiten AC und AS des Parallelogramms bzw. die Längen r und 2r besitzen, so gelangt man unter Anwendung des Sinussatzes und Kosinussatzes der ebenen Trigonometrie ohne Mühe zu der Formel für «: 184 Otto Fischer: Über die Abbe’sche Sinusbedingung. sin u V5 +4 cos u Aus dieser Formel ist zunächst zu ersehen, dass die maximale Öffnung « des verwendbaren Strahlenbüschels bzw. der Strahlen- zone von den Dimensionen des optischen Systems unabhängig ist; ferner erkennt man, dass sie mit dem Achsenwinkel « des äÄussersten Randstrahles immer mehr zunimmt; denn bei Vergrösserung von % wird der Zähler des Bruches grösser und der Nenner kleiner. In der folgenden Tabelle finden sich für alle um je 5° voneinander verschiedenen Werte von u zwischen 0° und 90° die zugehörigen, nach der obigen Formel berechneten Öffnungswinkel auf Winkel- minuten abgerundet angegeben: sin ad —= % [04 U & U & 05 20.28002 3909011207505 209075210517 9:0 RA 40:00 7130.09. Mae 2280 ngR 03 07205 45% 14938’ 80% 249 22’ 150 2.4.0759" 50:0 91692107 8a 2a 2010 16. 0..98,- Do RD 90% 26° 34’ 29,008. 07 16% EOTTLITETGN 8004729 9154” 690 320. 07504 In Wirklichkeit werden die Öffnungswinkel bei der Verwendung eines Kardioidsystems etwas kleiner als die angegebenen Werte sein müssen, damit sich der der Achse am nächsten liegende Rand- strahl AP und der an der Kardioidfläche reflektierte Strahl des äussersten Randstrahles nicht stören können. Immerhin sieht man aus der Tabelle deutlich, dass sich ein derartiges katoptrisches System nur für Randstrahlen gut eignet, deren Neigung gegen die Achse nicht zu klein ist. (Aus der chemischen Abteilung des physiol. Instituts der Universität Leipzig.) Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung: Über die tryptische Verdauung des Kaseins. Von M. Siegfried. Nach gemeinschaftlich mit O. Lindner ausgeführten Versuchen. Die zuerst von Schützenberger aufgestellte Lehre, dass die Proteinkörper bei der Hydrolyse nicht gleichzeitig in die letzten Spaltungsprodukte zerfallen, sondern dass manche Gruppen leichter abgespalten werden als andere, ist von W. Kühne zu der Theorie der Anti- und Hemigruppe ausgebildet worden. Die Beobachtung, dass das leicht isolierbare Tyrosin bei der weniger tiefgreifenden Pepsinverdauung nicht, bei der Trypsinverdauung jedoch sehr leicht abgespalten wird, und dass selbst bei anhaltender Trypsinverdauung Peptone zurückbleiben, während hierbei ein Teil des Eiweisses in die einfachen Aminosäuren gespalten wird, führten Kühne zu der Annahme, dass das Eiweissmolekül aus zwei etwa gleichgrossen Komplexen bestehe, der Hemi- und der Antigruppe. Die Hemigruppe sollte der leicht spaltbare Teil des Eiweisses, der die Tyrosingruppe enthält, sein, hingegen die Antigruppe gegenüber Trypsin völlig widerstandsfähig, durch das Trypsin als Antipepton aus dem Ei- weiss herausschälbar. Diese Theorie hat sich in ihren Einzelheiten nicht als haltbar erwiesen. Die Beobachtung verschiedener Forscher, dass bei der Selbst- verdauung der Pankreas die Biuretreaktion schliesslich verschwindet, hätte, auch wenn das Verschwinden der Biuretreaktion, wie man früher irrtümlich annahm, die Aufspaltung der Eiweisskörper in ihre letzten Spaltungsprodukte anzeigen würde, die Anschauung Kühne’s nur unwesentlich geändert, da schon damals bekannt war, dass bei der Trypsinverdauung die Tyrosingruppe nicht enthaltende Peptone 186 M. Siegfried: entstehen, welche im Gegensatze zu einem Teile des Eiweisses, der sehr rasch durch Trypsin verdaut wird, selbst wochen- und monate- langer Trypsinwirkung widerstehen. Durch Ersatz der „völligen“ Widerstandsfähigkeit, durch „grosse“ Widerstandsfähigkeit wäre die Theorie Kühne’s nur modifiziert, aber nicht umgestossen worden. Hingegen sind folgende Tatsachen mit der Theorie Kühne’s nicht vereinbar. Bei der tryptischen Verdauung von Eiweiss entstehen mehrere hartnäckig widerstandsfähige, tyrosinfreie Peptone!) und nicht eins, wie die Theorie Kühne’s fordert. Ferner liefern verschiedene Proteinkörper verschiedene Trypsinpeptone. So sind die aus Fibrin ?) entstehenden ganz verschieden von den aus Glutin entstehenden. Ja man sollte erwarten, dass durch Pepsinverdauung des Glutins, eines ausgesprochenen Antieiweisses im Sinne Kühne’s, ein mit Trypsinpepton identisches Pepton gebildet würde. Dies ist aber nicht der Fall?). Und die Heteroalbumose aus Fibrin, die Antialbumose nach Kühne, liefert bei der tryptischen Verdauung nur das eine Pepton, das Trypsinfibrinpepton «*). Im Gegensatz zum Glutin ist das Kasein ein Hemieiweiss im Sinne Kühne’s. Es liefert bei der Hydrolyse grosse Mengen Tyrosin, aber kein Glykokoll und wird leieht dureh proteolytische Enzyme verdaut. Nach der Theorie Kühne’s sollte das Kasein bei anhaltender tryptischer Verdauung kein Pepton liefern. Deshalb wurde versucht, mit Hilfe der Eisenmethode aus den bei der tryptischen Verdauung aus Kasein entstehenden Produkten ein Pepton zu isolieren. Um von Zufälliekeiten nicht getäuscht zu werden, werden sechs Verdauungsversuche mit im ganzen 7 kg reinsten nach Hammarsten dargestellten Kasein ausgeführt. In allen Fällen wurde selbst nach 3—4 wöchentlicher Verdauung ein Pepton isoliert. Nachdem nachgewiesen war, dass Trypsinkaseinpepton existiert, galt es zunächst zu versuchen, ein einheitliches Produkt darzustellen. 1) M. Siegfried, Berliner Ber. Bd. 33 S. 2851. 1900, u. Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 35 8.164. 1902. 2) M. Siegfried, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 38 S. 259. 1903. — F. Müller, ebenda Bd. 33 S. 265. 1903. — Th. R. Krüger, ebenda Bd. 38 S. 320. 1903. 3) W. Scheermesser, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 41 S. 68. 1904. 4) R. Adler, Dissertation. Leipzig 1907. Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung etc. 187 Es gelang auf verschiedenen Wegen mit grosser Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, dass das beschriebene Pepton einheitlich ist. Dadurch ergab sich die weitere Aufgabe, Spaltungsprodukte des Peptons zu isolieren und damit die Grundlage für ein späteres Studium der Chemie des Peptons zu legen. Die Darstellung des Peptons. 1. Versuch. 1 kg reinstes Kasein nach Hammarsten (E. Merck) wurden mit Wasser bei gewöhnlicher Temperatur verrührt, im ganzen in 20 Liter Wasser suspendiert mit Natronlauge (4,6 g NaOH) bis zur deutlich alkalischen Reaktion; hierzu wurden 20 g Natriumkarbonat (wasserfrei) und 20 g Trypsin Rhenania gegeben. Die Lösung war und blieb während der Verdauung trübe. Durch Chloroform und alkoholische Thymollösung wurde sie steril gehalten. Die Ver- dauung geschah im grossen Verdauungsapparate des Institutes unter ununterbrochenem Rühren bei 37—38° C. Nach 8 Tagen wurden weitere 10 g Trypsin zugesetzt. Durch zeitweisen Neuzusatz von Natriumkarbonatlösung wurde die während der Verdauung neutral werdende Reaktion wieder stark alkalisch gemacht. Nach 24 Tagen wurde die Verdauung unterbrochen. Kontrolle der Verdauung. Das Fortschreiten der Peptonbildung wurde nach der im hiesigen Laboratorium schon früher!) angewandten Methode durch Titrieren mit ammonsulfatgesättigtem Ferriammonalaun ausgeführt. Da es schwierig ist, die ammionsulfatgesättigte Peptonlösung vor dem Zusatze der Titerlösung genau zu neutralisieren, wurde das schwefelsaure Filtrat von der Albumosefällung mit Ammoniak über- sättigt und im Exsikkator über ammonsulfatgesättigter Schwefelsäure vom überschüssigen Ammoniak befreit. Es wurde folgendermaassen verfahren: In je 60 cem der Verdauungsflüssigkeit: wurden nach Ansäuern mit Schwefelsäure 4,8 & Ammonsulfat bei ca. 50°C. gelöst; zwecks Abscheidung der fein suspendierten Albumosen wurde nach dem Erkalten mit Filterpapierschnitzeln geschüttelt, das vollkommen klare 1) W. Scheermesser, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 41 5.68. 1904. — M. Siegfried und H. Schmitz, ebenda Bd. 65 S. 296. 1910. 188 M. Siegfried: Filtrat mit Ammoniak in geringem Überschusse versetzt und im evakuierten Fxsikkator über mit Ammonsulfat gesättigter verdünnter Schwefelsäure 24 Stunden stehen gelassen. Hierauf wurden je 10 eem mit steigenden Mengen der Titerflüssigkeit versetzt (50 g Ferriammonalaun, 200 & Ammoniumsulfat, 250 cem Wasser). Nach dem Filtrieren wurden zu je 5 eem des Filtrates wieder 0,1 cem Titerflüssigkeit gegeben. Es wurden so zwei Zahlen erhalten, zwischen denen der der vollständigen Peptonfällung entsprechende Wert lage. Je 10 ccm des Filtrates der Albumosefällung erforderten: nach 1 Tage zwischen 0,1 und 0,2 eem Ferriammonsulfatlösung, # 2ullacen. 0 es n Non 6 092,220 5 A : ATS Dar 5 RT = 0,4250: n Musa me h Da 200 0 r IST SE R 0920 » Nas N 010 s 5 016, 20T: 5 0, h O0, s a) ER Ri Ta RS; n Ba 2 Ne S 020.8. ” Br ar e 07.2. 052.,.058 5% » a NEN ; NS, " a a 5 0585200 „ el " 0,8 0,2000 5 le es 5 HINErL 0, . BE Kon 4 0,95 221,055 N Es ® 0:9... 108 35 5 ABS: x 10, Rs 5 a2ln Ha 3 1.0, 0, r AN PAR ; DE n 23 a Ob un a nee 5 2a, % Ne Nero n Die Bildung des Peptons geschieht also im Anfang verhältnis- mässig rasch und hat nach 20 'Tagen das Maximum erreicht. Von da an nimmt die Menge des Peptons wieder langsam ab. Entsprechende Werte wurden auch bei den später ausgeführten Verdauungsversuchen erhalten. Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung etc. 189 Verarbeitung des Verdauungsgemisches, Zum Aussalzen wurden 16 kg Ammoniumsulfat gebraucht. Es wurde in neutraler, saurer und ammoniakalischer Lösung aus- gesalzen; die fein suspendierten Albumosepartikelchen, welche sich nach Ausscheidung der Hauptmasse der Albumosen als zähe klebrige Masse nicht absetzten, wurden durch Einrühren von in gesättigter Ammoniumsulfatlösung gekochten Filterpapierschnitzeln entfernt. Zur Darstellung des Peptons wurde nur der erste Eisenniederschlag ver- wendet. Dieser ist sehr viel leichter rein als der zweite Eisen- niederschlag zu erhalten. Er wurde in bekannter Weise umgefällt. Die aus dem umgefällten Eisenniederschlage erhaltene Peptonlösung wurde im Vakuum bei 30—33° C. eingedampft. Der Rückstand wurde in 70 cem warmem Wasser gelöst, von etwas Tyrosin ab- filtriert, mit 20 ccm Wasser nachgewaschen, das Filtrat und Wasch- wasser nach Zusatz von 2 cem Eisessig tropfenweise in 5 Liter 99 °/oigem Alkohol eingerührt. Das mit 99 /oigem Alkohol und über Natrium destilliertem Äther ausgewaschene Pepton wurde nach dem Trocknen über Schwefelsäure im Vakuum in wenig Wasser gelöst und die Lösung mit dem gleichen Volum Alkohol vermischt. Beim Stehen schied sich noch etwas Tyrosin aus. Das Filtrat von diesem wurde in 3 Liter 99 /oigem Alkohol tropfenweise eingerührt. Das fein suspendierte Pepton setzte sich auch beim langen Stehen nur unvollkommen ab und erforderte zum Absaugen 14 Tage und Nächte. Bei späteren Darstellungen wurde auch beim Umfällen Essigsäure zugesetzt und dadurch erreicht, dass das Absaugen weniger Zeit beanspruchte. Übersicht der einzelnen Darstellungen. I. Verdauung. 500 & Kasein (wie auch in den übrigen Dar- stellungen purissimum nach Ham marsten von E. Merck) in 10LLiter Wasser unter Zusatz von 2,9 g Natronhydrat gelöst, mit 15 g Trypsin Rhenania. Gehalt der Lösung an NasC0;: 0,2°0. Dauer 26 Tage. Ausbeute: 5 g Pepton. II. Verdauung. 500 g Kasein, ebenso wie I. Dauer 27 Tage. Ausbeute: 6 @. II. Verdauung. 1 kg Kasein, 20 Liter Wasser, 6 g Ätz- natron, 35 g Trypsin. Na5C0,;: 0,2%. Dauer 25 Tage. Aus- beute: 10 g. 190 M. Siegfried: IV. Verdauung. 2 kg Kasein, 40 Liter Wasser, 12 g Ätz- natron, 60 g Trypsin in 2 Gefässen. Dauer 21 Tage. Ausbeute: 31. V. Verdauung. 1,5 kg Kasein, 20 Liter Wasser, 8,5 g Ätz- natron, 45 g Trypsin. Ausbeute: 18 g. VI. Verdauung. 2 kg Kasein, 40 Liter Wasser, 12 g Ätz- natron in 2 Gefässen, a) mit 35 g Trypsin, b) mit 20 g Trypsin. Bei der ersten Fällung wurden gleichgrosse Mengen Pepton erhalten; zusammen umgefällt 33 g. Über den Einfluss von Alkalien auf die tryptische Verdauung des Kaseins. Während dieser Untersuchungen erschien eine Mitteilung von Kudo!), nach der entgegen der herrschenden Annahme Kasein bei neutraler Reaktion schneller verdaut werden soll als bei alkalischer. Bekanntlich hat im hiesigen Laboratorium Dietze?) nach- gewiesen, dass Fibrin bei alkalischer Reaktion schneller von Trypsin selöst wird als bei neutraler Reaktion. Die Befunde Dietze’s und Kudo’s stehen nieht im Widerspruch. Denn Kudo stellt nur fest, unter welchen Verhältnissen das Kasein soweit verändert wird, dass es durch Essigsäure nieht mehr gefällt wird. Dies zeigt natür- lich nur ein gewisses Anfangsstadium der Verdauung an, das ein ganz anderes sein kann als das, bei dem Fibrin gelöst wird. Aus den Ergebnissen der Untersuchungen von Dietze einerseits und Kudo anderseits ist zu schliessen, dass die Bedingungen, unter denen Trypsin Kasein in nicht mehr durch Essigsäure fällbare Produkte am schnellsten überführt, andere sind als die, unter denen Trypsin Fibrin am schnellsten löst. Für die Darstellung des Kaseinpeptons kam eine ganz andere Frage in Betracht, nämlich die: unter welchen Bedingungen entsteht in bester Ausbeute das Pepton ? Deshalb wurden folgende Versuche ausgeführt: 150 g Kasein wurden unter Zusatz von möglichst wenig Natronlauge in 3 Liter Wasser gelöst, die Lösung wurde mit Salzsäure neutralisiert und in ihr 3 g Trypsin aufgelöst; je 1 Liter wurde bei neutraler Reaktion nach Zugabe von 1 g Natriumkarbonat und nach Zugabe von 2 g Natriumkarbonat 22 Tage verdaut. Als Desinfektionsmittel 1) Biochem. Zeitschr. Bd. 15 S.,473. 1909. 2) Albert Dietze, Dissertation. Leipzig 1900. Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung etc. 191 dienten Chloroform und Thymol. Alle zwei Tage wurde in der oben beschriebenen Weise durch Titration mit ammonsulfatgesättigter Ferriammonsulfatlösung in den drei Lösungen die gebildete Menge Peptons bestimmt. Übereinstimmend wurden folgende Zahlen für verbrauchte Kubikzentimeter Ferriammonsulfatlösung erhalten: a Ba un n nn ne = lösung cem = lösung cem 2 0,2—0,3 14 0,8—0,9 4 0,4—0,5 16 0,8—0,9 6 0,5—0,6 18 0,9—1,0 8 0,6—0,7 20 10-11 10 0,6—0,7 92 ) 12 Ds Am Ende des Versuches war nur in der Lösung, die mit einem Gehalte von 0,2 Na,CO, angesetzt war, das Kasein vollständig in Lösung gegangen, in den anderen beiden Lösungen hatte sich etwas Kasein ausgeschieden, und die Reaktion war sauer. Zum Teil rührt diese saure Reaktion von der Zersetzung des Chloroforms durch Hydroxylionen her, zum Teil auch von der Entstehung von Wasser- stoffionen aus Kasein bei der tryptischen Verdauung. Es empfiehlt sich aus dem ersten Grunde Chloroform als Antiseptikum nicht zu verwenden. Eigenschaften des Peptons. Das Pepton ist ein farbloses Pulver, das sich völlig klar in Wasser und gesättigter Ammoniumsulfatlösung löst. Die wässrigen Lösungen färben Lackmus stark rot. Positiv fallen aus: die Biuretreaktion, Glyoxylsäurereaktion, Xanthoproteinreaktion, schwach die Millon’sche Reaktion, negativ Molisch. Es fällen nicht: Bleiessig, Silbernitrat und Barythydrat, Salpeter- säure, Ferrocyanwasserstoffsäure, Pikrinsäure, Metaphosphorsäure, Mercurisulfat in 5 °/oiger Schwefelsäure. Phosphorwolframsäure fällt in stark verdünnten Lösungen nicht, Gerbsäure gibt eine starke Fällung, die in Essigsäure leicht löslich ist. Das spezifische Drehungsvermögen des Peptons. Das Trocknen geschah hier wie später bei den Elementar- analysen in der für die Peptone von mir vorgeschriebenen Weise: 192 M. Siegfried: Das auf Schiffehen verteilte Pepton wird zunächst über Schwefel- säure im Vakuum mehrere Tage getrocknet, dann in dem von mir angegebenen Trockenapparate unter Benutzung von Alkohol als Siedemittel bis zum konstanten Gewichte. Die Konstanz trat nach 4 bis 6 Tagen ein. Präparat der IV. Verdauung: — L5llrl 2,0. — — 1,15% (22.0.0100, 38:05%0 Träparat der V. Verdauung: e — 1,2060. 2,05. 0,960 (1002)... an — - 91.92.9 Präparat der VI. Verdauung: ce — 1108) — 2008 — —- 0.870 (8,02) en — 0024) «7, im Mittel: — 37,74 ° Elementare Zusammensetzung des Peptons. Die Präparate wurden zur Analyse wie oben angegeben sorg- fältigst bis zum konstanten Gewichte getrocknet. Bei den Kohlen- stoff- und Wasserstoffbestimmungen wurde aus Kupferoxyd durch Reduktion im Wasserstofistrom dargestelites Kupfer vorgelegt, vor dasselbe wieder eine Schicht Kupferoxyd. Präparat der IV. Verdauung: I. 02176288 0,3774 g CO, und 0,1402 & H,O IT. 0,2755 ” ” ” 0,4776 ” ” N 0,1773 ” ” II. 0,2053 „ „ „ erf. 20,96 eem m S Präparat der V. Verdauung: IV. 0,3100 & Sg. 0,5379 & CO, und 0,1998 & H,O V. 0,2489 , „ „erf. 25,44 cem m S Gefunden: 6? 44,50.%/0:.44,28010.4,32.002 HH: — 37.21.0103 90,1920/0879:0.02.0108 N = 14.29 %o; 14,31.%0. Auffallend ist der niedrige Stickstoffgehalt, der von dem anderer Peptone beträchtlich abweicht. Bariumwerte der Bariumsalze. Aus den zur Polarisation verwendeten Lösungen wurden, wie früher angegeben), die Bariumsalze dargestellt. Die in den Platin- 1) M. Siegfried, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 45 S. 257. 1905. Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung etc. 193 tiegeln eingedampften Bariumsalze wurden bei 95° getrocknet und waren nach 6—S Tagen konstant. Präparat der IV. Verdauung. I. 0,1850 & Bariumsalz gaben 0,0708 g BaSO,, II. 0,4708 „ R keller Präparat der V. Verdauung. III. 0,1321 & Bariumsalz gaben 0,0503 g BaSO,, EV 0,2501, > 22:0,09592,. 5, Präparat der VI. Verdauung. V. 0,1561 g Bariumsalz gaben 0,0593 ga BaSO,. ie Q Gefunden: Ba: 22,53 °/o, 22,58%o, 22,410, 22,47 lo, 22,36 Jo, im Mittel 22,47 °/o. Ich unterlasse es, eine Formel aus den gefundenen Werten ab- zuleiten, da bei der unbekannten und unbestimmbaren Molekular- grösse eine solche unsicher sein würde. 00; 7 Die Bestimmung geschah nach der von Siegfried und Neu- mann angegebenen Methode !). Die Präparate waren zur völligen Austreibung etwa noch vor- handenen Ammoniaks ebenso wie für die Bestimmung des spezifischen Drehungsvermögens und für die Elementaranalyse bis zum konstanten Gewichte getrocknet. Der Quotient Präparat der IV. Verdauung. I. 0,1130 g CaCO, 26,35 cem 2 S x=2,33 19.0.0873, oe 986 Präparat der V. Verdauung. II. 0,1062 & CaCO, 25,05 cem 28 x=236 10 IV 00672, 15,55 |, „5 za Präparat der VI. Verdauung. V. 0,1195 g CaCO, 29,09 eem = S x=243 COS Im Durchschnitt: N 336 1)M. Siegfried und K. Neumann, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 54 S. 423. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 13 194 M. Siegfried: Das bisher Mitgeteilte zeigt, dass bei verschiedenen Darstellungen Pepton von übereinstimmenden Eigenschaften erhalten wird, und zwar sind identisch: | 1. die elementare Zusammensetzung; 2, die Bariumwerte der Bariumsalze; 3. das spezifische Drehungsvermögen ; a Somit ist es sehr wahrscheinlich, dass das mit der Eisenmethode dargestellte und mit viel Alkohol wiederholt gefällte Pepton ein Individuum ist. Es fragte sich nun: lässt sich vielleicht doch das Pepton durch fraktionierte Fällungen seiner Derivate trennen? Hier kam in erster Linie die Carbaminomethode in Betracht, d. h. die fraktionierte Ab- scheidung als Bariumsalz der Peptonkarbonsäuren. Diese Methode ist zuerst von mir zur Trennung von Glykokoll und Alanin !), welche fast quantitativ ist, angewandt worden. Sie hat sich ferner zur Ab- scheidung der Glutaminsäure?) und Reindarstellung des Leueins®) im hiesigen Laboratorium bewährt. Vor allem ist es gelungen, mit Hilfe dieser Methode zu bestätigen”), dass das Pepsinglutinpepton ein einheitlicher Körper ist; denn aus den einzelnen Fraktionen, welche nach der Methode aus Pepsinglutinpepton gewonnen werden, wird immer wieder dasselbe Pepton regeneriert, während ein Peptongemenge aus den einzelnen Fraktionen verschiedene Produkte liefert. Zweitens sollte die Silberbarytmethode Kossel’s angewendet werden. Mit Hilfe dieser Methode lässt sich nicht nur Arginin abscheiden, sondern es lassen sich auch aus den Protongemischen die Protone, welche Arginin bei der Spaltung liefern, von den Protonen, welche kein Arginin liefern, trennen *). Da das Trypsinkaseinpepton sowohl Arginin als Lysin bei der Säurehydrolyse gibt, bestanden bei Anwendung der Methode auf das Pepton drei Möglichkeiten: 4. der Quotient 1) M. Siegfried, Berliner Ber. Bd. 39 S. 397. 1906. 2) M. Siegfried und H. Schmitz, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 65 S. 295. 1910. 3) F. J. Birchard, Ein Beitrag zur Kenntnis der Protoalbumose des Fibrins. Dissertation. Leipzig 1909. 4) A. Kosselund H. Pringle, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 49 S. 301. 1906. Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung etc. 195 1. das Pepton wird in zwei Fraktionen getrennt, weil es ein Gemenge ist; 2. das Pepton wird in zwei Fraktionen getrennt, weil es bei Anwendung der Silberbarytmethode gespalten wird; das Pepton wird nieht getrennt, weil es einheitlich ist. > Fraktionierung mit der Carbaminomethode. I. Versuch. 4 g Rohpepton aus der ersten und zweiten Darstellung wurden mit 2,5 g Pepton aus den Mutterlaugen der ersten und dritten Darstellung vermischt. 6 g hiervon wurden in 120 cem Barytwasser gelöst, eisgekühlt, Kohlensäure, 10 g fein gepulvertes Barythydrat, Kohlensäure, 50 eem gesättigte Barytlösung abgesaugt. Sowohl Triehter als Kolben wurden mit Eis gekühlt, ersterer, um die Zer- setzung der Carbaminoverbindung, letzterer, um die des Peptons im Filtrate zu vermeiden. Nachgewaschen wurde mit 20 cem halb- gesättigtem, in Eis gekühltem Barytwasser. In dem Filtrate wurden in derselben Weise unter Verwendung von je 10 g Barythydrat usw. noch zwei Fraktionen dargestellt. Jede Fraktion sowie das Filtrat der dritten Fraktion wurde mit Ammon- karbonat zersetzt, die regenerierte Peptonlösung im Vakuum ein- sedampft, durch Fällen in Alkohol wurde das Pepton abgeschieden. So wurden erhalten aus: Fraktion I 1,4 g, Fraktion II 0,1 g, Fraktion III Spuren, Fraktion IV (Filtrat) 2,8 e. Da die zweite und dritte Fraktion wegen der geringen Mengen nicht in Betracht kam, wurden nur das Pepton der ersten und der vierten Fraktion (Filtrat) polarisiert. Pepton der I. Fraktion: Er srl 2, 0: 210920001). or = 5908 Pepton der IV. Fraktion: lol, 2... — = 123%. (005) 2 e2 — >3915% Für das reine Pepton war im Mittel gefunden . @) = — 37,74°. Man sieht also, dass die Verunreinigungen des unreinen Produktes durch die Carbaminomethode abgeschieden werden, während das Trypsinkaseinpepton ein leicht lösliches Bariumsalz seiner Carb- aminosäure bildet und deshalb im Filtrat erscheint. 15 * 196 M. Siegfried: II. Versuch. Das nur einmal durch Einrühren in Alkohol gefällte Pepton der fünften Verdauung besass ein spezifisches Drehungsvermögen von nur — 23,75%, es enthielt also noch Verunreinigungen. 25 g dieses Präparates wurden in ganz entsprechender Weise wie das Pepton im Versuche 1 behandelt: in 800 cem gesättigtem Barytwasser gelöst, jedesmal 40 g feingepulvertes Baryt zu- gesetzt. Drei Fraktionen -und das Filtrat der dritten_Fraktion —= Fraktion IV. Ausbeute: I. Fraktion: 5,54 g. II. Fraktion: 2,18 g. III. Fraktion: 2,0 g. IV. Fraktion: 10,78 e. Pepton der I. Fraktion: ce 19215 1 2.0 = —- 055%. (2.001). 4. 0, Do Pepton der Il. Fraktion: e:=.0,9120, 5:2, e = — (0,302(E0,01) 2.0, = = 16,45%. Pepton der IIl. Fraktion: c = 0,7920, 1 = 2, « = —.0,35° (+0,02) >. 0. — 99.000, Pepton der IV. Fraktion: e — 1,1200,1 — 2,0: 0,8650. (5.000 .. „on, — 50050. Es ist also auch hier wieder das reine Pepton aus dem Filtrate der dritten Fraktion erhalten worden. Auffallend ist, dass die aus den Fraktionen I bis III erhaltenen Präparate für «, Werte er- geben haben, deren Grösse sich nicht allzuweit von der des Aus- gangsmateriales entfernt, während doch die Hauptmenge des letzteren, das reine Pepton, ein viel grösseres spezifisches Drehungsvermögen besitzt. Man hätte erwarten sollen, dass der Durchschnitt der Werte für &, der vier Fraktionen unter Berücksichtigung der relativen Quantitäten etwa dem Werte des Ausgangsmaterials entsprechen würde. Dieser auffällige Befund dürfte dadurch erklärt werden, dass geringe Mengen Verunreinigungen das spezifische Drehungsvermögen des Peptons unverhältnismässig stark beeinflussen. So wird z. B. das spezifische Drehungsvermögen des Pepsinglutinpeptons durch Spuren von Ammoniumsulfat erheblich herabgesetzt. Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung etc. 197 Die Anwendung der Silber-Barytmethode auf das Trypsinkaseinpepton. Versuch l. Verwendet wurde das aus den Mutterlaugen der I., II. und III. Darstellung durch Eindampfen derselben im Vakuum und Fällen der konzentrierten verdünnt alkoholischen Lösung des erhaltenen Rückstandes in Alkohol erhaltene Rohpepton. Dasselbe gab bei der Polarisation folgenden Wert: cc 1205.05 2,0 = 1440002): a — — 506,948. Etwas über 4 & dieses Rohpeptons wurde nach Kossel mit 'Silbersulfat und Barythydrat behandelt. Sowohl der Silberbarytniederschlag als das Filtrat desselben — zur Vermeidung von Zersetzungen wurde nach Eintragen des Silbersulfates gut gekühlt — wurden mit Schwefelsäure, Schwefel- wasserstoff, Luft, Barythydrat, Ammonkarbonat der Reihe nach be- handelt und die resultierenden Lösungen im Vakuum eingedampft. Der Rückstand, der aus dem Niederschlag erhalten war, wurde in wenig Wasser gelöst, die Lösung in Alkohol eingerührt. Es ent- stand nur eine geringe Trübung, durch Zusatz von viel Äther wurde eine gelbliche Fällung erhalten, die nach Absaugen und Trocknen im Vakuum über Schwefelsäure ca. 0,2 g wog. Durch Silberbaryt werden also aus dem KRohpepton dieselben Beimengen nieder- geschlagen, welche beim Umfällen des Peptons in den alkoholischen Mutterlaugen bleiben. Hingegen lieferte das Filtrat der Silberbarytfällung reines Trypsinkaseinpepton in einer Ausbeute von 2,9 g, wie aus folgenden Bestimmungen hervorgeht. 1. Bariumsalz: 0,1179 & Bariumsalz g. 0,0458 g BaSO,, Ba — 22,86 o. Im Mittel war für das reine Pepton gefunden: 22,47 °/o (S. 193). 2. Spezifisches Drehungsvermögen: 5 2, u WARTE 0,02), 2 0 —3101°. «7, im Mittel für das reine Pepton: — 37,74° (S. 192). & CO,, 3. Quotient EI CaCO, — 0,11% g, m S, 27,54 ccm, — = 55 CO, 1 3 N im Mittel für das reine Pepton: 198 M. Siegfried: Versuch Il. Ausgangsmaterial: Rohpepton der V. Darstellung (en = — 23,75 °). Pepton aus dem Filtrate der Silberbarytfällung. 1. Spezifisches Drehungsvermögen: c=1435°%,1=2,.a= — 109 (+ 0,092) ... ap = —37,89°. 2. Elementaranalyse: I. 0,1827 gS gef. 0,3167 & CO, und 0,1213g Hs0, C —= 47,42 °/o, H = 7,43. II. 0,1288 @ S erf. 13,17 cem — 8, N= 14,31%. 10 Von dem Pepton, welches im ersten Versuche aus dem Filtrate der Silberbarytfällung erhalten war, wurde die Lösung eines halben Grammes wiederum mit Silber und Barythydrat behandelt; der geringe dunkle Silberbarytniederschlag enthielt keine Spur Pepton. Hieraus geht hervor, dass das reine Pepton durch Silber-Barythydrat auch nicht teilweise gefällt wird. Die Versuche mit der Silberbarytmethode haben also ergeben, dass von den auf S. 195 erörterten Möglichkeiten die dritte statt hat, dassalso das TrypsinkaseinpeptondurcehdieSilber- barytmethode nicht getrennt wird, weil es einheit- lich ist: Spaltung des Trypsinkaseinpeptons durch Schwefelsäure. 20 g exsikkatortrockenes Pepton (VI. Darstellung, zweimal mit Alkohol umgefällt) wurden mit der Mischung von 120 ecem Wasser und 60 g H,;SO, 12 Stunden am Rückflusskühler gekocht, mit Wasser verdünnt und mit Phosphorwolframsäure ausgefällt. Es waren 400 eem einer 20 °%oigen Lösung der Phosphorwolframsäure nötig. I. Spaltungsprodukte des Phosphorwolframsäure- niederschlages. Der Phosphorwolframsäureniederschlag wurde in der im hiesigen Laboratorium üblichen Weise zersetzt und das erhaltene Basen- gemisch auf Histidin, Arginin und Lysin nach Kossel verarbeitet. Wie schon ein früherer Spaltungsversuch mit 10 gj Pepton ergeben hatte, war durch Quecksilbersulfat aus dem durch Silberbaryt er- Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung etc. 199 haltenen Niederschlag kein Histidin nachzuweisen. Aus 10 g Pepton war nach der Vorschrift von Kossel und Patten!) nur eine ganz geringe Fällung mit Quecksilbersulfat zu erhalten, die nur 0,036 & Substanz lieferte. Arginin wurde als Argininsilbernitrat isoliert. 0,1015 8 S, gef. 0,0271. Ag —= gef. 26,69 °/o, ber. 26,55 lo, Ep 1.00.2. Das Lysin wurde aus dem Filtrate der Silberbarytfällung mit Phosphorwolframsäure ausgefällt und als Platinchloriddoppelsalz isoliert. 0,1921 g der über Schwefelsäure bis zum konstanten Gewichte getrockneten Substanz gaben 0,0625 g Pt, Pt gef. 32,53 %/o, ber. für &H2N.0, -Bt Cl,H, + CH,0H7— 32,32.,%/0. Die Analyse zeigt zugleich, dass nicht das racemische, sondern das aktive, rechtsdrehende Lysin vorliegt, da, wie von mir nach- gewiesen ?) und seitdem oft von meinen Schülern bestätigt worden ist, das Platinsalz der aktiven Modifikation nach dem Trocknen über Schwefelsäure 1 Mol. Kristallalkohol enthält, während die racemische Modifikation nach dem Trocknen über Schwefelsäure keinen Kristallalkohol enthält. II. Spaltungsprodukte des Filtrates vom Phosphor- wolframsäureniederschlage. Es handelte sich in erster Linie darum, zu prüfen, ob Glu- taminsäure unter den Spaltungsprodukten vorkommt. Diese Säure ist bisher bei allen Peptonen und Kyrinen gefunden worden. Wie ich schon früher?) hervorgehoben habe, ist der Komplex der Protein- körper, welcher die Glutaminsäure liefert, sehr widerstandsfähig gegen Säuren und Enzyme. Da sich erst vor kurzem*) die fraktionierte Fällung mit der Carbamino-Barytmethode vorzüglich zur Abscheidung der Glutamin- säure bewährt hat, wurde sie auch in diesem Falle angewandt und zwar, wie folgendes zeigt, ebenfalls wieder mit bestem Erfolge. 1) Kossel und Patten, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 38 S. 39. 1902. 2) M. Siegfried, Berliner Ber. Bd. 24 S. 429 und Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 43 S. 363. 1904. 3) M. Siegfried, Ber. d. math.-physik. Klasse d. kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 1903 S. 86. 4) M. Siegfried und H. Schmitz, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 65. S2 9081910: 300 M. Siegfried: ‘Das phosphorwolframsäure- und barytfrei gemachte Filtrat vom Phosphorwolframsäureniederschlage wurde zum Sirup eingedampft. In die Lösung desselben, in 700 cem Wasser und 20 g Barythydrat wurde unter Eiskühlung Kohlensäure eingeleitet, bis die rote Farbe des Phenolphthaleins verblasste, dann wieder 20 & Barythydrat ein- getragen, Kohlensäure, 20 & Barythydrat, Kohlensäure, 20 g Baryt- hydrat. Über Nacht wurde die Mischung im Eisschrank aufbewahrt und dann bei — 2° abgenutscht und mit 500 eem eisgekühltem Baryt- wasser nachgewaschen. Niederschlag und Filtrat wurden mit Kohlen- säure und Ammoniumkarbonat zersetzt. Aus dem Niederschlage wurden 3,2g Glutaminsäurechlorhydrat gewonnen, das nach Umkristallisieren mit Salzsäure analysiert wurde. 0,2254 g& S, gef. 0,1750 g AgCl. Cl gefunden: 19,19 °/o, berechnet: 19,33 lo. 'Spezifisches Drehungsvermögen: e = 15230 1, 2 a 10.710700) — I 23.282 woraus für sich freie Glutaminsäure berechnet; «9 —= + 29,01°. Aus dem Filtrate liess sich durch Alkohol eine Substanz auskristallisieren, die nach Umkristallisieren aus Wasser mit Alkohol bei der Analyse Werte gab, die den für Oxypyrrolidinkarbonsäure berechneten entsprachen- I. 0,1403 g der über H,;SO, b. f. k. Gew. getr. S gef. 10,72 cem ns 10 il. 0,2188 »» ” ” 2 » HE DER Seh 0,3088 g CO, und 0,1292 g H;O. Gefunden: ee 2 G 45,97% 45,80 %o H: 6,61% 6,86 0/0 N 10,69 lo 10,69 %/o Zersetzungsschmelzpunkt: 250°. Die Säure gab ferner die charak- teristische Fichtenspanreaktion. Die Oxy-«-pyrrolidinkarbonsäure hat E. Fischer!) unter den Spaltungsprodukten der Gelatine und des Kaseins gefunden und zwar aus 1 kg des letzteren nur 2,3 g. Es ist bemerkenswert, dass aus 20 g des Trypsinkaseinpeptons die Reindarstellung dieser Säure gelang, während 1 kg Kasein nur 2,3 g der Säure lieferte. 3) E. Fischer, Berliner Ber. Bd. 35 S. 2660. 1902. — Zeitschr. f. phys. Chemie Bd. 39 S. 155. 1903. Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung etc. 201 ud Es konnte ferner sicher nachgewiesen werden, dass Prolin nicht bei der Spaltung des Trypsinkaseinpeptons entsteht. Prolin, das Emil Fiseher und Abderhalden!) bei gegen Trypsin sehr resistenten komplexen Eiweissspaltungsprodukten gefunden, und das auch ein Spaltungsprodukt des Pepsinglutinpeptons ist?), fehlt also unter den Spaltungsprodukten des Trypsinkaseinpeptons. Die Verteilung des Stickstofls der Zersetzungsprodukte. Zur Zersetzung für die Bestimmung des Ammoniaks, des durch Phosphorwolframsäure und des durch Silbersalz und Barythydrat fällbaren Stickstoffes ist es notwendig, das Pepton erst über Schwefel- säure, dann im Alkoholsiedeapparate bis zum konstanten Gewichte wie zur Elementaranalyse und zur Bestimmung des spezifischen Drehungsvermögens zu trocknen, um sicher zu sein, dass das Pepton ammoniakfrei ist. Versuch I. 0,9935 8 b. g. k. Gew. getr. Pepton der IV. Darstellung wurde mit der Mischung von 20 cem Wasser und 10 & Schwefelsäure 12 Stunden vor dem Rückflusskühler gekocht, die Reaktionsmischung auf 100 eem aufgefüllt. Gesamt-N: 10 cem erf. n. Kjeldahl im Mittel 10,11 cem m Das Ammoniak wurde durch Destillation mit Magnesia usta unter Befolgung der von F. Müller?) gegebenen Vorschrift bestimmt: 10 cem erf. 1,08 eem = S. 30 5, nach der früher *) gegebenen Vorschrift: im PWS Nieder- schlage im Mittel von zwei Bestimmungen: £ n + 6,95 eem 10 Korzektione .. . y ter 151.0 abzüglich der Hälfte der für NH, Sefondenet ccm 5) — 1,62 N ” ” ” 7,09 cem ——- = 10 1) E. Fischer und E. Abderhalden, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 39 S. 81. 1903. 2) M. Siegfried und H. Schmitz, ebenda Bd. 65 S. 295. 1910. 3) F. Müller, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 38 S. 286. 1902. 4) M. Siegfried, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 43 Bd. 57. 1904. 5) E. Hitschmann, Inaug.-Diss. S. 65 ff. Leipzig 1907. 202 M. Siegfried: Beiträge zur Kenntnis der Trypsinwirkung etc. im Filtrate des PWS-Niederschlages im Mittel zweier Bestimmungen: + 23,27 eem Korrektion 2 20%... 20 2er 0 abzüglich der Hälfte der NH,-N — 1,62 „ Versuch Il. 1,1307:& b. z. k. Gew. getr. Pepton der IV. Darstellung wurde mit ‘der Mischung von 20 cem Wasser und 10 g Schwefelsäure 12 Stunden am Rückflusskühler gekocht, die Lösung auf 100 cem aufgefüllt. In je 50 eem wurde mit Silbernitrat und Barythydrat der Silberniederschlag nach Kossel erzeugt, abgesaugt, mit Barytwasser gewaschen und kjeldahlisiert. Gefunden: I. 9,93 eem. TIL. 9,3 ceem mE für 100 cem also: AT n 8) OR 19,73 cem 10 S Da das Pepton 14,28°o N enthält, entspricht der Gesamt-N 1,1307 - 14,28 n des zersetzten Peptons: 100 - 0,0014 ccm 7 S. Somit ist der durch Silberbaryt fällbare N —= 17,1°/o vom Gesamt-N. Es wurden somit in Prozenten vom Gesamtstickstoff gefunden: Durch PWS | Durch Silberbaryt NH,-N | Durch PWS fällbarer N nicht fällbarer N fällbarer N 10,7 9/0 | 23,4 %/o | 65,6 9/0 | 17,1 %0 Das Trypsinkaseinpepton liefert also bei der Hydrolyse von allen bisher untersuchten nach der Eisenmethode dargestellten Pep- tonen die grösste Menge Ammoniak und die kleinste Menge des durch Phosphorwolframsäure fällbaren Stickstoffs. Über die Darstellung von Curarin in kleinem Maassstab. Von R. Boehm, Leipzig. Vor mehr als 25 Jahren habe ich es unternommen, den wirk- samen Bestandteil des Curare der chemischen Untersuchung zu unterziehen. Nicht ohne Mühe und mancherlei Schwierigkeiten ist es mir gelungen, Curarin, oder präziser gesagt, verschiedene Curarine als chemische Individuen zu isolieren und, soweit es bei der Kostbarkeit und Seltenheit des Rohmaterials möglich war, auch dureh die Analyse chemisch genauer zu charakterisieren. Hinsiehtlich der chemischen Details meiner Ergebnisse muss ich auf meine früheren Publikationen verweisen !). Der Gesichtspunk t von dem aus ich mich entschlossen habe, an dieser Stelle auf meine Curarinuntersuchungen zurückzukommen, ist folgender. Das Curare ist nach wie vor ein unentbehrliches Hilfsmittel der experimentell physiologischen Forschung. Alle Versuche, ein einiger- maassen gleichwertiges Surrogat aufzufinden, sind fehlgeschlagen ebenso wie meine Bemühungen, nach meiner Methode darzestelltes reines Curarin in den Handel zu bringen. Die Ursache für das Misslingen letzterer Versuche liegt lediglich an der Unmöglichkeit der Beschaffung der für die fabrikmässige Herstellung erforderlichen Mengen von Rohmaterial. Nun gebe ich ohne weiteres zu, dass für eine grosse Zahl physiologischer Zwecke reines Curarin entbehrlich ist. Dank der ausserordentlichen Wirkunssintensität dieses Alkaloids sind von guten Curaresorten, die 5—9°/o des Alkaloids enthalten, immer noch so geringe Mengen von Curare ausreichend, dass die Nebenbestandteile nicht in Betracht kommen, wenn z.B. die Versuchs- tiere nur eben bis zur Aufhebung der indirekten Muskelreizbarkeit 1) Das südamerikanische Pfeilgift Curare. Teil I und II in ‚Abhandl..d. math.-phys. Klasse der kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissensch. Bd. 22 S. 201 und Bd. 24 S.1. Hirzel, Leipzig. 204 R. Boehm: vergiftet werden sollen. Trotzdem wird man nicht bestreiten können, dass auch dann der Experimentator, der sonst alles aufbietet, um alle Fehlerquellen zu vermeiden, mit einem nicht genau qualitativ bekannten und quantitativ messbaren Hilfsmittel arbeitet. Um so mehr ist dies aber der Fall und um so erheblichere Fehler werden in die Untersuchung eingeführt, je mehr man ÖCurare braucht und je höher die Dosis gesteigert wird. Ich könnte mehrere Beispiele dafür anführen, wie auf diese Weise, wenn nicht geradezu falsche, so doch jedenfalls zweifelhafte und unsichere Versuchsresultate an den Tag gekommen sind. Die Gründe hierfür sind mehrfache. Für’s erste sind die im Handel befindlichen Curaresorten verschieden. Wer die Droge nicht in der Originalemballage — etwa in einer Kalebasse (Kürbis) — bezogen hat, kann nicht ohne genauere chemische Untersuchung ent- scheiden, ob Kalebassen-, Topf- oder Tubocurare vorliegt. Das letztere, reichlich im Handel befindliche muss ich als für physio- logische Zwecke ganz unbrauchbar bezeichnen. Abgesehen von der geringen Intensität seiner lähmenden Wirksamkeit ist das darin als hauptsächlich wirksamer Bestandteil enthaltene Tubocurarin, wie Jakabhazy!) in meinem Laboratorium nachgewiesen hat, ein direktes Muskeleift. Ich habe ferner durch genaue Aschenanalysen nachgewiesen (l. e. S. 209 u. 8), dass auch das sonst am meisten empfehlenswerte Kalebassencurare durchschnittlich 6°/o Mineralbestandteile und die Hälfte davon Kaliumsalze enthält, die zum grössten Teil in die wässerige Lösung übergehen; erst in allerneuester Zeit ist von ein- zelnen Physiologen auf diesen Umstand einigermaassen Rücksicht senommen worden. Aber nicht bloss die Kalisalze sind unter Umständen, insbesondere wenn man konzentriertere Curarelösungen Warmblütern intravenös injiziert, Fehlerquellen, wahrscheinlich ebenso gilt dies von der viel grösseren Menge (ca. 800) gänzlich undefinierbarer organischer Substanzen, wie sie in rohen Pflanzenextrakten immer enthalten sind. Ich kann ihnen zwar keine bestimmte Wirkung zuschreiben, aber man würde sicher Bedenken tragen, bei exakten Unternehmungen ein ähnliches Stoffgemenge in beträchtlicher Menge dem Tierkörper ein- zuverleiben. 1) Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. Bd. 42 S. 10. L$ Über die Darstellung von Curarin in kleinem Maassstab. 20: Der Hauptzweck dieser kurzen Mitteilung ist es nun, die An- reeung dazu zu geben, dass biologische Forscher es versuchen möchten, im kleinen Maassstabe sich reines Curarin selbst dar- zustellen oder in ihren Laboratorien durch geeignete Hilfskräfte dar- stellen zu lassen. Es ist mir im Laufe der letzten Jahre gelungen, das Darstellungsverfahren noch zu vereinfachen, und ich möchte es durch nachstehende genaue Beschreibung allgemein zugänglich machen. Als Rohmaterial kann nur Kalebassenceurare (in Kürbissen, Gourds) in Betracht kommen. Wenn irgend möglich, sollte man es in der Originalemballage beziehen. Mit einer Kalebasse (S0—130 g Inhalt) kann man auch bei reichlichem Bedarf jahrelang ausreichen. Zu einer Curarindarstellung verwendet man zweckmässig nicht mehr als 15-—25 g Kalebassencurare. Curarin ist in Wasser und in Alkohol in allen Verhältnissen löslich. Es handelt sich in erster Linie darum, eine konzentriertere Lösung herzustellen, die möglichst frei ist von Stoffen, die für sich in Wasser und in Alkohol unlöslich sind. Man erreicht dies folgender- maassen. Das in kleinen Stücken vorher über Schwefelsäure gut ge- troeknete und darn pulverisierte Curare wird in einem Kolben mit 25 Teilen Alkohol von 70 Vol. /o übergossen und gut verschlossen unter häufigem Umschütteln 8 Tage lang an einem warmen Orte stehen gelassen. Man filtriert sodann, versetzt nach vollständigem Abtropfen das Filtrat mit noch 15 Teilen absoluten Alkohols, lässt den dadurch erzeugten braunen Niederschlag gut absetzen, filtriert dann abermals und destilliert von dem Filtrate den Alkohol grösstenteils ab. Der noch flüssige Rückstand wird in eine Porzellan- schale ausgegossen und auf dem Dampfbade zur Trockne eingedampft. Aus diesem alkoholischen Curareextrakt müssen nun noch die in Wasser unlöslichen Stoffe nach Möglichkeit eutfernt werden. Zu diesem Behufe wird der Rückstand in der Schale erst mit vier Teilen (auf das Gewicht des in Arbeit genommenen Curare be- zogen) Wasser aufgenommen und von der dabei erfolgenden flockigen Abscheidung durch ein kleineres Filter abfiltriert. Bleibt das Filtrat auf weiteren Zusatz von abermals vier Teilen Wasser nicht ganz klar, so muss eventuell nochmals filtriert werden. Ist so eine wässerige Lösung erzielt, die sich mit Wasser ohne weitere Trübung mischt, so wird diese nun mit einer 10 °/oigen 206 | R. Boehm: wässerigen Platinchloridlösung in möglichst geringem Überschuss gefällt (eine abfiltrierte Reagenzglasprobe darf sich auf Zusatz von Platinchlorid nicht mehr trüben). Den lehmfarbenen Platinchloridniederschlag sammelt man auf einem Hartfilter, saugt ihn gut mit der Wasserstrahlluftpumpe ab und wäscht ihn dann wiederholt zuerst mit Alkohol von 90 Vol. °/o, zuletzt mit absolutem Alkohol aus. Hierdurch soll nach Mösglich- keit alles Wasser aus dem Niederschlag verdrängt werden. Zuletzt wird wieder der Alkohol möglichst abgesaust, und der Niederschlag dann noch feucht mit dem Spatel vom Filter abeenommen und möglichst fein in 20—25 cem absolutem Alkohol verteilt. Man digeriert ihn hierauf auf dem kochenden Wasserbad 10—15 Minuten lang unter tropfenweisem Zusatz von soviel spiri- tuösem (wasserfreiem!) Ammoniak, dass das Gemenge stark alkalisch reagiert. Hierbei wird unter Dunkelfärbung das Curarirplatin- chlorid zersetzt und das Öurarinchlorid in Freiheit gesetzt. Von den schwarzbraunen Platinverbindungen filtriert man die intensiv gelbe Curarinlösung durch ein kleines Hartfilter ab und wäscht mehrmals mit wenig heissem absoluten Alkohol nach. Aus dem alkoholischen Filtrat wird das Curarin als Öurarin- ehlorid durch S—10 Volumina Äther vollständig in Form eines hellgelblichen flockigen Niederschlags ausgefällt; vorhandenes Curin bleibt in Äther gelöst. Die Curine sind die tertiären Basen, von welchen die quaternären Curarine in den meisten Curaresorten begleitet sind; sie sind von mehr oder weniger schwacher Wirkung, einzelne so gut wie wirkungslos. Auch das Kalebassencurare enthält wechselnde Mengen eines solchen Curins, das schwach lähmend wirkt. Das Curare einer kürzlich von mir untersuchten Kalebasse ent- hielt 2,5 °/0 von diesem Curin; gewöhnlich sind viel geringere Mengen vorhanden. Versetzt man die konzentriertere wässerige Lösung des Curare mit einigen Tropfen Ätzammoniak, so fällt Curin als mehr oder weniger voluminöser Nieder- schlag aus, der beim Ausschütteln leicht von Äther aufgenommen wird. Die nach dem Verdunsten des Äthers verbleibende freie tertiäre Base ist farblos, unlöslich in Wasser, leicht löslich in Äther, Alkohol und verdünnten Säuren. Sind reichlichere Mengen von Curin vorhanden, so ist es nicht unzweckmässig (aber keineswegs notwendig), das tertiäre Alkaloid der mit Ammoniak versetzten wässerigen Curarelösung zunächst durch wiederholtes Ausschütteln mit Ather zu entziehen. Man verjagt hiernach den Äther aus der wässerigen Flüssigkeit durch Luit,; säuert mit einem geringen Überschuss von Salzsäure an und nimmt erst. dann die Fällung des Curarin. durch Platinchlorid vor. Näheres über Curine findet sich in meiner oben zitierten Monographie. Über die Darstellung von Curarin in kleinem Maassstab. 207 Der auf einem Filter gesammelte Curarinniederschlag hat grosse Neigung, durch Wasserkondensation zu zerfliessen. Die Filtration der ätherischen Flüssigkeit muss daher möglichst rasch geschehen und das Filter mit dem Niederschlag nach dem Abtropfen sofort unter die Glocke eines geräumigen Schwefelsäureexsikkators gelegt werden, wo das Curarin langsam trocken wird. Sollte es aber, was zuweilen nicht zu vermeiden ist, auch so- noch auf dem Filter ganz oder teilweise zerfliessen, so lässt man es trotzdem unter dem Exsikkator ganz trocken werden, zerschneidet dann das Filter in kleine Stückchen und entzieht diesen das anhaftende Curarin durch das unten be- zeichnete Lösungsmittel. Zur letzten Reinigung, namentlich von Chlorammonium, nimmt man das Alkaloid in einer Mischung von 9 Teilen Chloroform mit 1 Teil absoluten Alkohols auf, filtriert und lässt die Lösung an der Luft eintrocknen; das Curarinchlorid verbleibt dann in rot- braunen, leicht zu Pulver zerfallenden, wenig hygroskopischen La- mellen, leicht löslich in Wasser, Alkohol und alkoholhaltigem Chloro- form, unlöslich in Äther. Die wässerigen Lösungen sind unbegrenzt haltbar; für Säugetiere ist eine Lösung von 1:1000; für Frösche eine solche von 1:10000 zweckmässig. Die Normaldosis (kleinste vollständig lähmende Menge) ist für Frösche 0,285 mg pro Kilo, die kleinste tödliche Dosis für Kaninchen ea. 0,54 mg pro Kilo. 208 A. Noll: (Aus dem physiologischen Institut der Universität Jena.) Chemische und mikroskopische Untersuchungen über den Fetttransport durch die Darmwand bei der Resorption. Von A. Noll. (Hierzu Tafel XI und XII.) Inhaltsverzeichnis. Einleitung ee ee ee 208 Der Resorptionsweg des mikroskopisch nachweisbaren Fettes. ...... 210 I. Die Verteilung des Fettes in der Schleimhaut auf Epithel und Abführ- wege. (1. Versuchsreihe)et ur ae a Ale ibeer een Meteo 214 A. Bestimmung des Fettgehaltes durch Extraktion mit Petroläther . . 216 Der: Kettgehalt ar. a ee ee 218 Der Fettgehalt in Rücksicht auf das Aussehen der Chylusgefässe . 220 Der Gehalt der Schleimhaut an Trockensubstanz . ........ 221 B. Die Verteilung des Fettes im mikroskopischen Präparat ..... 221 0. Zusammenfassung. „rate ln Der De Ne 224 II.. Der. Chemismus-des' Ketttransportes. „2.2. 0. mn. 227 A. Bestimmung der freien Fettsäure im Petrolätherextrakt und des nach Verdauen des Rückstandes noch extrahierbaren Fettes. (2. Versuchs- relhe)e: ee ee ee Rene EEE Eee 230 Die-freie Bettsaurer.. an... ee ee 232 Das: nach VerdauenJextrahierbare Ketten. ae 234 B. Unterscheidung von Fett, Fettsäure und Seife im mikroskopischen Präparat. (@. Versuchsreihe) 02.0000 Sea 236 Schlussbetrachtungen‘. x... wa Dee ee 245 In der vorliegenden Arbeit habe ich untersucht, wie sich das aus dem Darminhalt resorbierte Nahrungsfett auf seinem Durchgang durch die Wand des Dünndarms verhält, wenn man Kaninchen grössere Mengen von Olivenöl oder Triolein in den Magen einführt. Ich berühre hier nicht die Frage, wie das Fett aus dem Darm- inhalt in die Darmschleimhaut übertritt. Meine Untersuchungen betreffen Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 209 vielmehr lediglich das Schicksal des Fettes erst von dem Augen- blick an, wo es von der Darmwand aufgenommen ist, und sind vor- nehmlich auf folgende Punkte gerichtet: 1. Wie ist das Fett zu verschiedenen Zeiten der Resorption in den Geweben und Bahnen der Schleim- haut verteilt? 2. Wie vollzieht sich der Chemismus des Fett- transports? Hierbei geht man am besten von der vollständig gesicherten Beobachtung aus, dass nach reichlicher Fettzufuhr beim Tier, und zwar wie die bisherigen Untersuchungen lehren bei fast allen unter- suchten Tieren, zwei ganz charakteristische sichtbare Merkmale zu erkennen sind, nämlich ein hoher Fettgehalt der Zotten und ein bedeutender Fettreichtum des Chylus. Der Fettgehalt der Zotten auf der Höhe der Resorption dokumentiert sich durch ein gedunsenes Aussehen der weisslichen Schleimhaut, und derjenige der Chylus- gefässe im Mesenterium durch die milchig-weisse Färbung ihres Inhalts. Geht man nun von diesen beiden experimentell leicht zu er- zeugenden sichtbaren Erscheinungen aus, so hat man zu entscheiden, wie sich zu verschiedenen Zeiten die Fettmengen auf das Epithel und Stroma der Zotten und andererseits auf die Chylusbahnen ver- teilen, und in welcher Beziehung das Fett an beiden Orten zueinander steht. Diese Frage ist bisher noch nicht systematisch untersucht worden. Was die chemische Seite des Vorganges betrifft, so hatte ich in einer früheren Arbeit beim Frosch zeigen können, dass die Fett- tröpfehen in den Epithelzellen stets sogenanntes Neutralfett sind, sei es dass Trielyzeride, Fettsäure oder Seife verfüttert waren. Ob dies Fett auf dem weiteren Transport noch Veränderungen erleidet, und ob sich irgendwo in der Schleimhaut Fettsäure und Seife finden, ist nicht bekannt. Man weiss nur durch übereinstimmende Unter- suchungen einiger Autoren, dass sich im Chylus, selbst nach Fütterung von Fettsäure, in der Hauptsache stets Neutralfett findet. Damit ist aber nicht gesagt, dass vorher in der Schleimhaut nicht eine Spaltung und nochmalige Synthese erfolgt. An diese Möglichkeit ist um so mehr zu denken, als noch ganz unklar ist, wie sonst das Fett aus den Epithelzellen herausgelangt. Auf diesen letzteren Punkt haben mit Recht die Histologen besonderen Nachdruck ge- Pflüger "s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 14 210 A..Noll: lest. Es wäre also zu entscheiden, ob sich in der Darmschleimhaut nur Neutralfett oder auch Fettsäure und Seife findet. Wenn man die Fragen in dieser Weise histologisch präzisiert, so liegt es auf der Hand, dass man ausser rein chemischen Methoden auch das Mikroskop zu Hilfe nehmen muss. So habe ich bei meinen Untersuchungen nicht nur durch die Extraktion im Grossen Fett- bestimmungen ausgeführt, sondern auch im mikroskopischen Schnitt- präparat die Lokalisation des Fettes im Gewebe festgestellt und es mikrochemisch zu analysieren versucht. In der ersten Versuchsreihe wurde der Fettzehalt grösserer Darmabschnitte durch Extraktion mit Petroläther quantitativ bestimmt und auf den jeweils schon makroskopisch erkennbaren Fettgehalt der Zotten und der Chylusbahnen bezogen. Ausserdem wurden Stückehen derselben Därme histologisch verarbeitet zur genaueren Lokalisation des Fettes im Epithel, Zottengewebe und Abführwegen. In der zweiten Versuchsreihe wurde der Gehalt des Petrol- ätherextrakts an freier Fettsäure bestimmt und ferner geprüft, wie viel Fett sich nach Verdauen des Rückstandes noch findet. In der dritten Reihe versuchte ich mikrochemisch den qualita- tiven Nachweis von Neutralfett, Fettsäure und Seife im Schnitt- präparat. Auf diese Weise elaube ich eine Reihe sicherer Befunde zur Lösung der gestellten Fragen beibringen und eine begründete Auf- fassung über die Art des Fetttransportes durch die Gewebe der Dünndarmschleimhaut äussern zu können. Der Resorptionsweg des mikroskopisch nachweisbaren Fettes. Die Widersprüche, welche eine Zeitlang bezüglich des Weges herrschten, den das mikroskopisch nachweisbare Fett in der Darm- schleimhaut einschlägt, sind heute grösstenteils als gelöst zu betrachten. Dies gilt in erster Linie von der Beteiligung des Zottenepithels. Es lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass die Epithelzellen in Fällen ergiebiger Fettresorption Fetttröpfehen enthalten. Offenbar hängt es von der zugeführten Fettmenge ab, ob man Fetttröpfehen im Epithel antrifft oder nicht. Dies geht schon aus der Arbeit von Letzerich!) hervor, wenn auch sonst seine Schilderungen nicht 1) Letzerich, Über die Resorption der verdauten Nährstoffe (Eiweiss- körper und Fette) im Dünndarm. Virchow’s Arch. Bd. 37 S. 232. 1866. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport ete. 211 mehr durchaus zutreffend sind; ferner hat Preusse!) dies beim Frosch bemerkt, und später äusserte R. Heidenhain’) die näm- liche Auffassung. In welchem Maasse sich die Zellen mit Fett be- laden können, ersieht man sehr gut aus den Abbildungen von Krehl°), Nicolas*), Reuter’). Die Anreicherung des Fettes vollzieht sich in der Darmepithelzelle nach Altmann®) und Krehl’), ebenso wie nach Metzner’s°®) und nach Arnold’s’) Beobachtungen auch an anderen Zellen, unter wesentlicher Beteiligung der Zell- oranula. Im allgemeinen findet sich das Fett zunächst in der Über- kernzone, später aber, wie schon Eimer!) beobachtete, auch in dem tieferen Zellabschnitt. Bemerkenswert ist, dass eewöhnlich nicht alle Zellen derselben Zotte den gleichen Fettgehalt zeigen, in der Regel sind die an der Zottenspitze liegenden Zellen die gefülltesten. Diese Anfüllung des Epithels mit Fetttropfen ist die erste mikro- skopisch sicher nachgewiesene Erscheinung bei der resorbierenden Tätigkeit der Schleimhaut. Der nächste Ort, an deın Fett, wenn auch nicht von allen Autoren, so doch mit Sicherheit nachgewiesen ist, sind die Spalten zwischen den Epithelzellen. Über die Frage aber, wie das Fett dorthin gelangt, gehen die Ansichten auseinander. Während Watney!!) 1) Preusse, Die Fettresorption im Dünndarm. Arch. f, wissensch. und prakt. Tierheilk. Bd. 11 S. 175. 1885. 2) R. Heidenhain, Beiträge zur Histologie und Physiologie der Dünn- darmschleimhaut. Pflüger’s Arch. Bd. 43 Suppl. S. 82. 1888. >) Krehl, Ein Beitrag zur Fettresorption. Arch. f. Anat. (u. Physiol.) 1890 8. 97. 4) Nicolas, Recherches sur l’epithelium de l’intestin gröele. Internat. Monatsschr. f. Anat. u. Physiol. Bd.8 S.1. 1891. 5) Reuter, Ein Beitrag zw Frage der Darmresorption. Anat. Hefte Bd. 21 S. 121. 1909. 6) Altmann, Die Elementarorganismen usw., 2. Aufl. Leipzig 1894. , dukeriehl, I.c. 8) Metzner, Über die Beziehungen der Granula zum Fettansatz. Arch. f. Anat. (u. Physiol.) 1890 S. 82. 9) Arnold, Weitere Beispiele granulärer Fettsynthese. Anat. Anz. Bd. 24 S. 389. 1903. 10) Eimer, Zur Fettresorption und zur Entstehung der Schleim- und Eiter- körperchen. Virchow’s Arch. Bd. 38 S. 428. 1867. — Eimer, Die Wege des Fettes in der Darmschleimhaut bei seiner Resorption. Virchow’s Arch. Bd. 48 S. 119. 1869. 11) Watney, The minute Anatomy of the Alimenty Canal. Philos. Transact. R. Soc. London vol. 166 part II p. 451. 1876. 14 * 212 Ä A. Noll: meinte, dass es direkt aus dem Darminhalt stamme, und Kischensky!) dies auch neuerdings für neugeborene Katzen annimmt, leiten es die meisten Autoren von dem Epithelfett ab. Was in diesem Falle die Art seines Austritts aus den Zellen betrifft, so ist in den letzten Jahren, soweit ich sehe, nur Wuttig?) der Meinung gewesen, es trete korpuskulär aus, andere aber fassen den Austritt so auf, dass er in Lösung geschehe. Die Schwierigkeit beruht darin, dass man den Vorgang selbst nicht sehen kann. Wenn nun das Fett in die interepithelialen Spalten gelangt ist, so sind es wieder zunächst feine Tröpfehen, wie sie Reuter an Querschnittsbildern des Rattendarms am überzeugendsten abbildet. Man hat den Übertritt des Epithel- fettes zottenwärts auch als „innere Sekretion“ bezeichnet, eine Be- zeichnung, die aber Oppel?) mit Recht für unzutreffend erklärt. Auf einen für die Beurteilung dieser interepithelialen Fetttröpfchen wichtigen Punkt hat zuerst v. Basch*) aufmerksam gemacht. v. Basch denkt nämlich an die Möglichkeit, dass intra vitam diese Tröpfehen durch „Regureitation“ aus dem Zotteninnern zurückbefördert seien, da er bei künstlicher Injektion in die Blut- oder Chylusbahn unter stärkerem Druck die Injektionsmasse zwischen die Epithelzellen gelangen sah. Auch R. Heidenhain?) hält einen derartigen Vorgang für zutreffend. Nach Heidenhain aber würde er erst während der Fixierung durch Kontraktion der Zotte erfolgen, also nicht intra vitam, in der Weise etwa, wie v. Basch eine andere Firscheinung, nämlich ein Extravasieren von Fett zwischen Epithel und Zottenstroma sich erklärte. Als Beweis führt Heiden- hain an, dass er bei Tieren mit muskellosen Zotten die Fett- tröpfehen zwischen den Zellen nie gesehen habe. Im neuester Zeit schliesst sich Köster‘) dieser Erklärung an, weil er die inter- epitheliale Fettanhäufung nur da sah, wo das Zottenstroma vom l) Kischensky, Zur Frage über die Fettresorption im Darmrohr usw. Beiträge zur pathol. Anat. u. allgem. Pathol. Bd. 32 S. 197. 1902. 2) Wuttig, Experimentelle Untersuchungen über Fettaufnahme und Fett- ablagerung. Beiträge zur pathol. Anat. u. allgem. Pathol. Bd. 37 S. 378. 1905. 3) Oppel, Ergebnisse d. Anat. u. Entwicklungsgesch. Bd. 12 S. 99. 4) v. Basch, Die ersten Chyluswege und die Fettresorption. Sitzungsber. d. Wiener Akad., mathem.-naturwissensch. Kl. Bd. 62 Abt. 2 S. 617. 1870. oyalzc. 6) G. Köster, Fettresorption im Darm und Gallenabsonderung nach Fett- darreichung. Leipzig 1908. (Verlag Klinkhardt). Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 213 Epithel abgelöst war und sich die Fetttröpfehen keilförmig, mit der Spitze darmlumenwärts, zwischen die Zellen vordrängten. Nach diesen Autoren würde also ein histologisches Kunstprodukt vor- liegen. Auf der anderen Seite gibt Kischensky!) an, dass auch dann sich Fett zwischen den Epithelzellen findet, wenn der Fett- reichtum im Stratum proprium der Zotten relativ gering ist. Ich will hier schon erwähnen, dass auch bei meinen Versuchen gerade in Fällen, wo wenig Fett im Zotteninnern war, die Tröpfchen sich zwischen den Epithelzellen zahlreich fanden und bei maximaler Füllung der Zottenbahnen dort fehlen konnten. Wie dem auch sei, ob die Tröpf- chen rückwärts aus der Zotte oder aber aus den Epithelzellen dort- hin gelangen mögen, so sind jedenfalls die Spalten, in denen sie liegen, die Strasse, auf der das Fett von den Epithelzellen in das Innere der Zotte sich bewegen muss, ein Weg, den natürlich auch diejenigen gelten lassen müssen, nach deren Meinung das Fett mit Umgehung der Epithelzellen aus der Darmhöhle direkt in die Zotte gelangt. Die Anwesenheit des Fettes innerhalb des Bindegewebes der Zotte ist ebenfalls erwiesen. Wie sich seine Bahn zu den histo- logischen Bestandteilen des Gewebes genauer verhält, braucht hier nicht erörtert zu werden, weil diese Frage für unsere Zwecke nicht wesent- lich ist. Es sei nur angeführt, was R. Heidenhain?) darüber-im Jahre 1888 schrieb: „Innerhalb des Zottenparenchyms bewegt sich das Fett, abgesehen von den geringen durch gefrässige Leuko- eyten aufgenommenen Mengen nur in den pericellulären mit Flüssig- keit erfüllten Räumen, welche durch die Bälkchen des bindegewebigen Stromanetzes unvollkommen gegeneinander begrenzt werden.“ Es sei hier auch nicht der Streit berührt, ob die Spalten, welche das Fett im Zottenparenchym passiert, in offener Kommunikation mit dem zentralen Chylusgefäss stehen oder nicht. Wichtiger ist für uns die Feststellung, dass das Fett weiterhin ausschliesslich in den Chylusgefässen der Zotten, der Drüsenschieht und der Submukosa, und nicht in der Blutbahn zu sehen ist?). Abbildungen von ne: DC S93: 3) Die Beobachtung Eysolt’s (Inaugural-Dissertation. Kiel 1885), welcher ebenso, wie vor ihm schon Bruch, in den Blutkapillaren der Zotten Fett in feinster Emulsion beschrieb, fist von R. Heidenhain für fehlerhaft erklärt worden. In neuerer Zeit hat nun noch Kischensky (l. c.) Fett in der Blut- bahn, und zwar bei einer jungen Katze gefunden. 914 A. Noll: fetterfüllten Chylusbahnen finden sich zahlreich in der Literatur, z. B. schon bei Funke), Watney?), Kirschensky?), Köster). Letzterer beschreibt den Inhalt nach Behandlung mit Flemming- scher Lösung als bestehend aus mehr oder weniger intensiv ge- schwärzten Tropfen von verschiedener Grösse und mattgrauer, homo- gener Inhaltsmasse und meint, wie ich glaube mit Recht, dass die grossen Fetttropfen erst sekundär aus kleinen und vielleicht erst bei der Fixierung entstanden seien. Soweit dürfte im ganzen Klarheit herrschen über den vom Fett eingeschlagenen Weg. Etwas schwieriger dagegen ist es, die Be- deutung der Lymphzellen für den Fetttransport zu würdigen. Die wesentliche Rolle, welche ihnen Zawarykin?) und auch Schäfer) beigemessen haben, trifft sicherlich nicht zu, wenn auch richtig ist, dass sie während der Fettresorption zahlreicher sich finden als in der nüchternen Schleimhaut. Für die Fälle intensiver Resorption, von denen hier gehandelt wird, kommen sie jedenfalls im Vergleich zu den geschilderten Bahnen, wie auch Wiemer?°) und Heidenhain?) meinten, nur nebenher in Betracht. Ob sie unter physiologischen Verhältnissen grössere Bedeutung haben, wäre noch zu entscheiden. Für die folgende Darstellung empfiehlt es sich, da wo es auf die genauere Lokalisation nicht ankommt, das in der Epithelschicht liegende Fett dem gesamten Fett der tieferen Schleimhautpartien gegenüberzustellen. Ich werde das erstere auch kurz als „Epithel- fett“, das übrige als das „Fett der Ausführwege“ bezeichnen. I. Abschnitt. Die Verteilung des Fettes in der Schleimhaut auf Epithel und Abführwege. (1. Versuchsreihe.) Zu diesen Versuchen dienten acht Kaninchen. Die Verdauungs- zeit betrug 2!/a, 5, 7Y/e, 9Ye, 10, 121/e, 14 und 16"/s Stunden. 1) Funke, Beiträge zur Physiologie der Verdauung. Zeitschr. f. wissensch. Zoologie Ba. 6 S. 307. 1855. 2) 1. c. 3) Zawarykin, Über die Fettresorption im Dünndarm. Pflüger’s Arch. Bd. 31 8. 231. 1888, | 4) Schäfer, On the part played by amoeboid cells in the process of in- testinal absorption. Internat. Monatsschr. f. Anat. Bd.2 S.6. 1885. 5) Wiemer, Über den Mechanismus der Fettresorption. Pflüger’s Arch Bd 33 8.515. 1884. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 215 Sämtliche Kaninchen dieser wie auch der folgenden Reihen hatten 36—48 Stunden lang vor der Öleingabe kein Futter be- kommen, damit in dieser Richtung die gleichen Bedingungen herrschten. 20 cem Olivenöl wurden mit der Schlundsonde in den Magen ge- geben. Bestimmte Zeit danach wurde das Tier durch Kopfschlag getötet. Nach sofortiger Eröffnung der Bauchhöhle schnitt ich dann den Darm heraus. Zu den Versuchen der ersten Reihe wurde dieser in der folgenden Weise verarbeitet. Es wurde derjenige Abschnitt des Dünndarıns aufgesucht, welcher nach dem Aussehen der mesenterialen Chylusgefässe die deutlichsten Resorptionserscheinungen darbot, und nur dieser Teil wurde weiter- behandelt. Den Versuchen dieser Reihe liegen also ausschliesslich resorbierende Abschnitte zugrunde, und die für den Fettgehalt ge- fundenen Zahlen geben annähernd den höchstmöglichen Fettgehalt eines Teiles der gesamten Dünndarmschleimhaut in der betreffenden Stunde an. In diesem Sinne sind die Zahlen untereinander zu ver- gleichen. Von der Darmwand wurden zunächst Stückehen zur mikro- skopischen Untersuchung in die Fixierungslösung gelegt. Dann er- folgte die Weiterbehandlung, welche auf S. 216 beschrieben ist. Zum Schluss wurde der Magen eröffnet und nachgesehen, ob er ausser dem stets vorhandenen festen Inhalt auch noch Öl enthielt. Der Darminhalt war fast in allen Fällen im oberen Abschnitt flüssig, oft schleimig und manchmal grünlich gefärbt und enthielt stellen- weise weiche bräunliche Beimengungen. In dem unteren Abschnitt war er fester, kotähnlich. Niemals sah ich emulgiertes Öl darin. Im Falle Nr. S war eine Schlinge und im Falle Nr. 11 der ganze obere Teil leer. Der braune, ziemlich trockene Mageninhalt reagierte auf Lackmus sauer. Im Fall Nr. 7 fand sich ziemlich viel sauer reagierende Flüssigkeit, bei Nr. 6 viel Gas, welches die Wandung stark auf- gebläht hatte. Nur bei diesem Tiere sah ich Öl, bei den anderen Tieren dagegen nicht oder nur wenige dem Mageninhalt beigemengste Fetttropfen. Nach diesen Befunden wird man sagen dürfen, dass die 20 ecem Öl für die Tiere nicht zuviel waren, denn Magen und Darm bewältigten sie offenbar leicht. 216 A. Noll: A. Bestimmung des Fettgehalts durch Extraktion mit Petroläther. Der zur Bestimmung genommene Dünndarmabschnitt, dessen Länge im einzelnen Fall 100—175 em betrug, wurde von oben bis unten eröffnet und auf Fliesspapier ausgebreitet. Sodann wurde die Schleimhaut mit destilliertem Wasser unter sanftem Streichen mit dem Finger von anhaftendem Darminhalt gereinigt, bis sie sauber erschien. Nun wurde die Schleimhaut mit Fliesspapier trocken ge- tupft, mit einem Skalpell von der Muskelhaut abgeschabt und in einer Porzellanschale gesammelt und gewogen. Die Wägung ergab das feuchte Gewicht. Danach wurde sie in der Schale zunächst auf ganz mässig erwärmtem Wasserbad, dann über Schwefelsäure im Vakuum bis zur Gewichtskonstanz getrocknet, in der Reibschale fein zerrieben und zur Bestimmung des Trockengewichts abermals gewogen. Das trockene Pulver wurde alsdann mit Petroläther (Kahl- baum) im Soxhlet-Apparat vollständig extrahiert. Nach Verdunsten des Petroläthers wurde der Rückstand von neuem in Petroläther aufgenommen, filtriert, getroeknet und gewogen. Das extrahierte Fett stellte in den meisten Fällen und zwar stets dann, wenn die Schleimhaut sehr fett- reich war, in der Hauptsache ein gelbliches Öl dar. Bei geringerem Fettgehalt erhielt ich eine salbenartige weissliche Masse mit unscharfem Schmelzpunkt. Letzterer lag dann etwas über 20°, denjenigen des Fettes eines nüchternen Tieres bestimmte ich zu 33—41°. Die bei der Extraktion in den Petroläther übergehenden Fett- substanzen, nämlich Neutralfett, Fettsäure, Leeithin und andere Lipoide brauchen hier nicht weiter unterschieden zu werden. Ich bezeichne sie im ganzen als „Fett“. Seife wird vom Petroläther im Gegensatz zum Äthyläther nicht extrahiert. Frank und Ritter!) halten es aber für möglich, dass Seifen bei Gegenwart von Fettsäure in den Petroläther übergehen. Nachdem ich in der zweiten Ver- suchsreihe gefunden hatte, dass stets etwas, allerdings nicht viel freie Fettsäure sich im Extrakt findet, habe ich auch selbst nach- geprüft, ob bei den hier in Betracht kommenden Fettsäuremengen tatsächlich Seife vom Petroläther aufgenommen wird. Zu dem Zwecke nahm ich Olivenöl und Ölsäure in dem gefundenen Ver- 1) O0. Frank und Ad. Ritter, Einwirkung der überlebenden Dünndarm- schleimhaut auf Seifen, Fettsäure und Fette. Zeitschr. f. Biol. Bd. 47 S. 251. 1906. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport ete. 217 hältnis, löste sie in Pretoläther und setzte 0,2 g Seife hinzu, die ich aus Olivenöl durch Verseifung nach Kossel und Obermüller dargestellt hatte, und liess das Ganze einige Zeit auf dem Wasser- bade. Nach dem Filtrieren und Verdunsten des Petroläthers resultierte in zwei derartigen Versuchen nur ein vollständig klares Öl, und die Wägung ergab keine Gewichtszunahme. Danach halte ich es für ausgeschlossen, dass bei den geringen Mengen Fettsäure, wie sie in meinen Versuchen vorliegen, Seife in den Petroläther übergeht. In den nun mitzuteilenden Protokollen sind angegeben: Das Aussehen der Darmschleimhaut und der Chylusgefässe, das Gewicht (der Schleimhaut und ihr Fettgehalt, letzterer ausgedrückt in Prozent der trockenen Schleimhaut. Die Fälle sind nach der Verdauungszeit geordnet, vorangestellt sind drei nüchterne Tiere, die ebenfalls 536 Stunden vor dem Tode ohne Futter geblieben waren. Versuch Nr. 1. Kaninchen, männl., 2150 g schwer, nüchtern. Gewicht der Schleimhaut, feucht, 15 g, nach dem Trocknen 2,0335 g — 13,56 °/o Trocken- substanz. Fettgehalt 0,1020 g — 5,01 °o. Versuch Nr. 2. Kaninchen, männl., 1700 g schwer, nüchtern. Gewicht der Schleimhaut, feucht, 12,5 g, getrocknet 1,9744 g —= 15,79 %/o Trockensubstanz. Fettgehalt 0,1118 g = 5,66 °/o. Versuch Nr. 3. Kaninchen, weibl., 1850 & schwer, nüchtern. Schleim- haut, feucht, 20 g, getrocknet 3,3004 g — 16,50 %/o Trockensubstanz. Fettgehalt 0,1570 g —= 4,16 'o. Versuch Nr. 4. Kaninchen, weibl., 2'/s Stunden nach Eingabe von 20 ccm Olivenöl getötet. Schleimhaut strichweise weisslich. Genommen 125 cm Dünn- darm. Schleimhaut, feucht, 8,3 g, trocken 1,5460 g — 17,57 %/o Trockensubstanz. Fettgehalt 0,1720 g = 11,12 %. Versuch Nr. 5. Kaninchen, männl., 1520 g schwer. Nach 5 Stunden getötet. Schleimhaut weiss. Chylusgefässe des Mesenteriums mit etwas fett- haltigem Inhalt. Genommen 140 cm Dünndarm. Gewicht der Schleimhaut, feucht, 8,7 g, trocken 1,6857 g —=. 19,37 0 Trockensubstanz. Fettgehalt 0,3664 & —= 21,74%. Versuch Nr. 6. Kaninchen, weibl., 2100 g schwer. Nach 7!/a Stunden getötet (17,5 cem Öl). Schleimhaut deutlich weiss. Chylusgefässe des Mesen- teriums milchig weiss. Genommen 140 cm Dünndarm. Schleimhaut, feucht, 12,1 g, trocken 2,3397 g = 19,33 Yo Trockensubstanz. Fettgehalt 0,7595 g — 32,46 °/o. Versuch Nr. 7. Kaninchen, weibl., 2000 g schwer. Nach 9'/eg Stunden getötet. Schleimhaut weiss. Chylusgefässe des Mesenteriums und der Darmwand stark milchig. Genommen 100 em Dünndarm. Schleimhaut, feucht, 10,5 g, trocken 1,8696 g = 17,30% Trockensubstanz. Fettgehalt 0,2415 g = 12,91 %o. 218 A. Noll: had Versuch Nr. Ss. Kaninchen, weibl., 2300 g schwer. Nach 10 Stunden getötet. Schleimhaut weiss. Chylusgefässe des Mesenteriums und der Darmwand milchig. Gewicht der feuchten Schleimhaut 9,5 g, nach dem Trocknen 1,8477 g — 19,45 0/0 Trockensubstanz. Fettgehalt 0,3418 g — 18,49 %/o. Versuch Nr. 9. Kaninchen, männl., 1900 g schwer. Nach 12!/e Stunden getötet. Schleimhaut weiss und gedunsen. Chylusgefässe des Mesenteriums und des Darms stark milchig. Genommen 175 cm Dünndarm. Schleimhaut, feucht, 12 g, trocken. 2,6040 g —= 21,70°/o Trockensubstanz. Fettgehalt 0,8104 g — 31,12 %. Versuch Nr. 10. Kaninchen, weibl., 2500 g schwer, nach 14 Stunden getötet. Schleimhaut nur im oberen Abschnitt weiss. Chylusgefässe allenthalben milchig. Genommen 130 cm Dünndarm. Gewicht, feucht, 6 g, trocken 1,0921 g —= 18,20 %/0 Trockensubstanz. Fettgehalt 0,2280 g = 20,85 /o. Versuch Nr. 11. Kaninchen, weibl., 2000 g schwer, nach 16'/e Stunden getötet. Schleimhaut nirgends weiss. Chylusgefässe des Mesenteriums und stellenweise in der Darmwand milchig. Genommen 132 cm Dünndarm. Schleim- haut, feucht, 6,5 g, trocken 1,2068 g = 17,75 °/o Trockensubstanz. Fettgehalt 0,1264 g = 10,47 %. Zur besseren Übersicht sind die Zahlen für den Gehalt an Trockensubstanz und an Fett in der folgenden Tabelle nochmals zusammengestellt. Tabelle Il. R Gehalt der Gehalt der Ne: Salon mich Schleimhaut an | trockenen Schleim- Eingabe des Ols Trockensubstanz | baut an Fett 1 nüchtern | 13,56 °/o 5,01 °/o 2 is 15,79 %o | 5,66 °/o 3 ” 16,50 %/o | 4,76 °/o | 4 2!/ı Stunden 11,02.0/0 11,12 0/0 5 #9 a 19,37 9/0 21,74 9/0 6 Tlle „ | 19,33 %/o 32,46 ®/o 7 91/g MN 17,80 °/o 12,91 90 8 10 e 19,45 °/o | 18,49 °/o 9 121/g a 7211010 | 31512:9/0 10 14 5; 18,20 %/o | 20,83 9/0 ll 16'/a “ 17,75 %o 10,47 °/o Der Fettgehalt. Bei den drei nüchternen Tieren beträgt der Fettgehalt zwischen 4,76°/o und 5,66 °/o vom Gewicht der getrockneten Schleimhaut. In allen Fällen nach Eingabe von Olivenöl ist eine erhebliche Zunahme des Fettgehalts gefunden worden. in den ersten 8 Stunden (Nr. 4—6) zeigt sich mit zunehmender Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 219 Verdauungszeit ein kontinuierlicher Anstieg. Von da ab sind die Zahlen zunächst schwankend. Während nach 9!/s und 10 Stunden (Nr. 7 und 8) verhältnismässig niedrige Werte erscheinen, findet sich nach 12!/g Stunden wieder ein sehr hoher Fettgehalt. In den beiden letzten Fällen (Nr. 10 und 11) ist der Fettgehalt nach 14—17 Stunden im Vergleich zu den höchsten Werten gering, so dass er in der 17. Stunde kaum noch so hoch ist wie in der 3. Stunde. Beim Vergleich der Zahlen untereinander ist aber zu beachten, dass es sich jedesmal nur um ein einziges Tier handelt. Individuelle Eigentümlichkeiten bei der Fettresorption sind ohne weiteres zu- zugeben. So könnten sich die stark abweichenden Zahlen der Fälle 7, 8, 9 durch eine individuell verschiedene Schnelliekeit in der Verdauung und Aufsaugung des Öls erklären. In der Tat zeigte die mikroskopische Untersuchung, dass bei Nr. 7 das Fett sich noch in der Phase der Anreicherung befand; hier war also offenbar die Aufnahme langsam. Fall Nr. 8 dagegen befand sich in einem weiter vorgerückten Stadium. Hier kann der Höhepunkt bereits über- schritten gewesen sein. Bei Nr. 9 handelt es sich sicherlich wieder um eine Verzögerung im Ablauf der Vorgänge, so dass hier erst in der 13. Stunde ein Fettgehalt wie etwa bei Nr. 6 in der 8. Stunde angetroffen wird. Was die beiden letzten Fälle (Nr. 10 und 11) betrifft, so ist auf Grund der mikroskopischen Befunde mit Sicher- heit zu sagen, dass in der Fettaufnahme der Höhepunkt über- sehritten war. Bei Beurteilung der absoluten Fettmengen ist zu beachten, dass bei den resorbierenden Tieren in den Zahlen auch dasjenige Fett, welches sie im nüchternen Zustande haben, mit inbegriffen ist. Um die wirklich resorbierten Mengen zu finden, müsste man eine Umrechnung vornehmen. Dies ist jedoch bei der vorliegenden Versuchsreihe nicht unbedinet nötig, weil die Zahlen in den ein- zelnen Fällen so weit voneinander differieren, dass sie trotz der erwähnten Ungenauigkeit die Verhältnisse im grossen Ganzen richtig wiedergeben. In der nächsten Reihe, wo es auf die absolute Menge der im Extrakt enthaltenen Fettsäure genauer ankommt, ist eine solche Umrechnung für die Fettsäure wie auch für das Gesamtfett geschehen. Die Tabelle scheint mir den allgemein gültigen Schluss zu gestatten, dass sich das Fettin den ersten Stunden in der Schleimhaut in beträchtlichem Maasse 2230 A. Noll: anreichert, und dass es dann allmählich wieder schwindet, ohne dass das Maximum der Anhäufung länger bestehen bleibt. Der Fettgehalt in Rücksicht auf das Aussehen der Chylusgefässe, Wie oben in den Versuchsprotokollen angegeben ist, erschien erst bei dem Tier, welches fünf Stunden nach der Öleingabe getötet war, der Chylus etwas fetthaltig, während nach zwei Stunden dies noch nicht der Fall war. Um dies etwas auffallende Resultat der ersten Stunden durch weitere Beobachtungen zu stützen, habe ich noch andere Kaninchen nach 1!/s, 2 und 3°/ı Stunden auf das Ver- halten ihrer Chylusgefässe geprüft. Aber in keinem Falle hatte der Chylus das charakteristische milchige Aussehen. Auch mikroskopisch fand sieh in den Gefässen der Schleimhaut kein Fett. Es lässt sich also mit Bestimmtheit sagen, dass in meinen Versuchen der Chylus erst um die 5. Stunde einen für das Auge deut- lichen Fettgehalt erreichte. Je mehr dann der Fettgehalt der Schleimhaut steigt, um so mehr wächst auch der Fettgehalt des Chylus, die mesenterialen Gefässe treten dann als feine, weiss inizierte Bahnen selbst bei solchen Tieren hervor, deren mesenteriales Fettgewebe stark entwickelt ist. Es fällt nicht schwer, dann auch die Chylusgefässe der Darmwand von aussen deutlich hervortreten zu sehen. Dieser Zustand hält an, solange sich noch Fett in nennenswerter Menge aus der Schleimhaut extrahieren läst. Ja, es schien mir sogar, als wenn gerade in den spätesten Stadien (nach 14 und 16!/s Stunden) die Injektion der Chylusgefässe am stärksten gewesen wäre. Wenn man nun das Aussehen des Chylus mit dem auf dem Weoe der Extraktion gefundenen Fettgehalt der Schleimhaut ver- gleicht, so kommt man zu folgenden bemerkenswerten Ergebnissen: l. Die Schleimhaut erreichte bereits einen nicht unbedeutenden Fettgehalt, bevor eine Abführung von Fett durch die Chylusbahnen sich erkennen liess. 2. Es folgt ein Stadium, in dem der Fettgehalt der Schleimhaut weiter zunimmt, gleichzeitig nun auch die Fettabfuhr einsetzt, um in der Folge mehr und mehr anzusteigen. Letztere beginnt also nicht erst dann, wenn der Fettgehalt sein Maximum er- reicht hat. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 22] 3. Wenn in späteren Stunden der Fettgehalt sinkt, bleibt die Abfuhr auf der Höhe bestehen. Diese Ergebnisse werden durch die mikroskopischen Befunde, wie gleich gezeigt werden soll, vollauf bestätigt. Der Gehalt der Schleimhaut an Trockensubstanz. Es erübrigt, noch kurz auf die Zahlen der vorletzten Spalte der obigen Tabelle (S. 218) einzugehen. Die Schleimhäute der nüchternen Tiere haben, wie die Zu- sammenstellung ergibt, durchweg den geringsten Gehalt an Trocken- substanz. Während der Resorption fällt im allgemeinen ein hoher Gehalt an Trockensubstanz mit einem hohen Fettgehalt zusammen. Dies kann nur darauf beruhen, dass bei der Resorption Substanz angereichert wird, und die nächstliegende Erklärung wäre, es sei dies vor allem das aufgenommene Fett selbst. Es ist aber möglich, dass gleichzeitig auch noch Blutbestandteile in den Schleimhaut- geweben zurückgehalten werden. B. Die Verteilung des Fettes im mikroskopischen Präparat. Die Fixierung der Darmstückchen geschah in Flemming scher Lösung (4 Teile 2°o Osmiumsäure, 15 Teile 1°/o Chromsäure, 1 Teil Eisessig). Diese Lösung ist für den vorliegenden Zweck voll- ständig ausreichend. Da sie nämlich am nüchternen Darm, wie ich mich überzeugte, gar nicht oder höchstens ganz selten einmal in dem Epithel ein schwarzes Körnchen zeigt, an den resorbierenden Därmen dagegen in der ausgiebigsten Weise, wie die Abbildungen auf Tafel XI dartun, geschwärzte Fettmassen darstellt, so bringt sie gewiss alles zutage, was für die hier in Betracht kommende quanti- tative Schätzung des Fettgehaltes in Frage steht. Ich betone dies, weil zur Zeit von den pathologischen Anatomen für den Fettnachweis die Fixierung mit Formol und folgende Färbung mit Sudan III oder Scharlach R. bevorzugt wird. Bei der Osmiummethode besteht nur die Gefahr, dass im Laufe der Einbettung osmiertes Fett wieder gelöst wird. Um in dieser Hinsicht keinen Fehler zu machen, habe ich in einigen Fällen von den fixierten Darmstückchen Gefrierschnitte angefertigt, bevor sie mit Alkohol in Berührung kamen. Die Bilder deckten sich aber dann mit denen der frischen Balsampräparate. Erst bei längerer Aufbewahrung im Kanadabalsam wurde osmiertes 939 A. Noll: Fett extrahiert. Ich verwendete deshalb schliesslich reinen, un- gelösten Balsam; in diesem sind die Präparate haltbar. Bemerkt sei noch, dass ich zur Einbettung meist Celloidin nahm, da der Äther-Alkohol keine lösende Wirkung hatte !). — Da beim nüchternen Tiere so gut wie keine Osmiumreaktion eintrat, fällt das fernere Bedenken fort, es könne nicht alles, was im Präparat schwarz ist, Fett sein. Ich halte es also auch für ausgeschlossen, dass nach meinen Präparaten auf zuviel Fett geschlossen werden kann. Es fand sich folgendes: Versuch Nr. 4. Sämtliche Zotten im Schnittpräparat haben geschwärztes Epithel, hauptsächlich im Bereich der Zottenspitzen. Die Tropfen sind meist klein und liegen vornehmlich in der Überkernzone. Kein Fett im Zottengewebe und den Abführwegen. Versuch Nr. 5. Schwärzung des Epithels allenthalben nur mässig stark. Die Fetttropfen von mittlerer Grösse. Stellenweise in den Chylusgefässen der Submukosa geschwärzter Inhalt. Versuch Nr. 6. Sämtliche Zotten enthalten meist bis an den Grund hin schwarzes Epithel. Die Tropfen liegen in der Überkernzone reichlicher als in der Unterkernzone und sind dort grösser. In den Chylusgefässen, besonders in denen der Submukosa, grauer und schwarzer Inhalt. Versuch Nr. 7. Alle Zotten mit schwarzem Epithel. Die Fetttropfen sind vornehmlich in den Zellen der Zottenspitzen, aber auch an den Rändern, hier jedoch nicht so gross und zahlreich. Die Tropfen finden sich in der Überkern- zone reichlicher als in der Unterkernzone. Fettmassen auch im Zottenstroma. In den zentralen Chylusgefässen grauer, feinkörniger Inhalt und grössere schwarze Tropfen. Desgleichen in den Chylusgefässen der Submukosa und des Mesen- teriums. Versuch Nr. 8. An’ allen Zotten zeigt das Epithel ausgedehnte Resorption. Intensive Schwärzung des Fettes. Im Zottenipnern viel Fett. In den Chylus- gefässen ebenfalls reichliche geschwärzte Fettmassen. i Versuch Nr. 9. Am Gefrierschnitt erscheint der Epithelsaum tief dunkel- braunn. Grosse Tropfen im Epithel sichtbar. In den Gefässen der Submukosa schwarze Inhaltsmassen. Am Paraffinschnitt: Schwärzung des Epithels vornehm- lich in den oberen Abschnitten der Zotten. Dortselbst sehr grosse Tropfen yor allem in der Überkernzone. Schwarzer Inhalt in den Chylusgefässen. Versuch Nr. 10. Gefrierschnitt: Etwas Schwärzung im Epithel, jedoch kaum noch in der Überkernzone. In den Abführwegen viel Fett. Celloidin- schnitt: Epithel wie im Gefrierschnitt. Desgleichen im Zottenparenchym und in den Chylusbahnen viel Fett. Versuch Nr. 11. Epithel fast frei von Fett. Sehr viel geschwärzte Fett- massen im Zottenstroma und in den abführenden Wegen. 1) Bei der Herstellung der Präparate wurde ich in freundlicher Weise von Herrn cand. med. Kowler unterstützt. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 223 Das bemerkenswerteste Ergebnis der mikroskopi- sehen Untersuchung besteht darin, dass sich zwei ent- gegengesetzte Zustände in der Schleimhaut vorfinden können. Ersterenfalls liegt das Fett ausschliesslich oder vorwiegend im Epithel; so in den ersten Stunden nach der Öleingabe. Andern- falls ist es vorwiegend in den Abführwegen, nämlich in den letzten Stunden. Übergänge zwischen beiden Zuständen kommen vor, so dass sowohl Epithel als auch Chylusbahnen fetthaltig sind. Des genaueren ergibt sich, dass das Fett der Epithelzellen so- wohl hinsichtlich der Verteilung über die Zotten als auch bezüglich der Grösse der einzelnen Tropfen von kleinen Anfängen innerhalb der ersten Stunden an mehr und mehr zunimmt. Bevor die Fettinfiltration des Epithels das Höhestadium erreich hat, zeigt sich schonetwasFettinden Chylusgefässen an beiden Orten erfolet sodann eine Zunahme. Dann beginnt das Fett aus dem Epithel zu schwinden, aber die Chylusbahnen bleiben bis zuletzt stark gefüllt. Diese Resultate, insbesondere den Mange fetthaltigen Inhalts der Chyluswege in den ersten Stunden, habe ich noch in anderen Fällen, die oben nicht mit angeführt sind, bestätigt gefunden. Die Art, in der die allmähliche Zunahme des Fettgehalts der Epithelzellen dem Auge sich darbietet, ist bereits histologisch ge- nauer untersucht, seitdem Altmann!) und Krehl!) die Beteiligung der Zelleranula erkannt hatten. Aber auch über die zeitlichen Be- ziehungen des Auftretens des Chylusfettes zum Epithelfett finden sich in der Literatur schon Angaben. Richtig schildert v. Basch!) nach Beobachtungen an Igeln, Hunden, Katzen und Ratten, dass man Zottenepithel, Zottensubstanz und zentralen Zottenraum gleich- zeitig oder auch die beiden letzteren allein fetthaltig findet, oder dass die Verteilung des Fettes innerhalb ein und derselben Zotte variieren kann bei gleichzeitig wechselndem Fettgehalt des Epithels. Auch auf Übergange zwischen diesen Formen weist v. Basch hin. Auch Kischensky') sah den Füllungszustand des Epithels und des Strat. proprium wechselnd und führt dies auf verschiedene Perioden in der Resorption zurück. Zuletzt ist Köster!) auf diese Verhältnisse zurückgekommen. Bei denjenigen Tieren, die Ölemulsion mit Pankreonzusatz bekommen hatten, konnte der Zentralkanal Fett Dee 224 A. Noll: enthalten, während Epithel und Stroma davon frei waren, oder das Stroma war fetthaltig bei fettfreiem Epithel. Wie sich in meinen Versuchen das Fett in den einzelnen Phasen in der Schleimhaut verteilt, illustrieren die Abbildungen 1—4 auf Taf. XI. Fig. 1 stammt von Fall 4. Man sieht das für das frühe Resorptionsstadium charakteristische Bild: Geschwärzte Fetttropfen nur im Epithel, und zwar vorwiegend an den Zottenspitzen; die Tröpfehen sind noch klein. Fig. 2 entspricht bezüglich des Fett- gehaltes des Epithels dem Höhestadium. Die Zellen nicht nur der Zottenspitzen, sondern auch der Seiten sind erfüllt mit zum Teil sehr grossen Tropfen, so dass der Epithelsaum einen tiefschwarzen Kontur darstellt. In Fig. 3 (Nr. 7) ist das Überganesstadium zu sehen. Das Epithel enthält stellenweise noch Fetttropfen, in einer Zotte (rechts) sogar noch reichlich, in den beiden anderen vornehm- lich nur im Grunde und ferner im Zottenstroma. Die stark er- weiterten zentralen Chylusgefässe enthalten Fetttropfen. Es kommt hier leider nicht mehr die ursprünglich im frischen Präparat deutlich gewesene grauschwarze Färbung des übrigen Inhalts der Chylus- sefässe zum Ausdruck. In Fig. 6, wo das ursprüngliche Bild er- halten ist, sieht man den Inhalt und erkennt ausserdem auch genauer die Fetteinlagerungen im Epithel und Zottenstroma. In Fig. 4 (Nr. 10) ist das Epithel ziemlich fettarm, dafür findet sich viel Fett in den tieferen Gewebsschichten. Vor allem an den schräg durchsehnittenen Zotten sind die zentralen Partien schwarz, der Epithelsaum dagegen hell, und viel Fett liegt in den zentralen Chylusbahnen. Genauer noch sieht 'man in Fig. 7, die vom selben Tier stammt, dass hier nur Reste von Fetttropfen in der epithelialen Zone liegen, und dass Zottengewebe und Chylusbahnen voll da- von sind. Um auch anschaulich zu machen, wie die Gefässe der Submukosa in den späteren Stadien von Fett erfüllt sein können, füge ich noch Abbildung 5 bei. Die Fixierung geschah hier mit Formol, die Färbung mit Sudan III. Alles, was in der Figur schwarz ist, ist rot gefärbtes Fett des Präparats. Dieser Fall ist der zweiten Versuchs- reihe entnommen. C. Zusammenfassung. Ich stelle die Ergebnisse der Fettextraktionen mit den mikro- skopischen Befunden zusammen. Es ergibt sich folgendes. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 225 Das Fett, welches die Darmschleimhaut im nüchternen Zu- stand enthält, wird durch Flemming ’sche Lösung nicht geschwärzt. Es kann sich hier vielleicht um Lipoide handeln. Bezüglich der resorbierenden Därme herrscht eine gute Über- einstimmung insofern, als dem mit blossem Auge wahrnehmbaren Fettgehalt der Zotten und Chylusgefässe in jedem einzelnen Falle ein gleicher mikroskopisch nachweisbarer Fettgehalt des Epithels und der Abführwege entspricht. Vor allem ergibt ein Vergleich, dass sich im Schnittpräparat erst dann Fett in dem Chylus findet, wenn der Chylus der mesenterialen Gefässe das charakteristische milchweisse Aussehen hat. Nimmt man hierzu vun die Zahlen für den Fettgehalt der Tabelle I, so sieht man, dass die ansteigen- den und hohen Zahlenim wesentlichen dasEpithelfett, die fallenden Zahlen aber im wesentlichen das Fett der Abführwege anzeigen. Wenn, wie bei Nr. 11, die Schleim- haut nicht mehr weiss aussieht und mikroskopisch im Epithel kaum noch Tropfen vorhanden sind, dann drückt die Zahl fast nur das Chylusfett aus. Je mehr dann das Fett durch die Lymphe abgeführt wird, um so mehr muss sich der Fettgehalt der Schleimhaut dem des nüchternen Tieres wieder nähern. Es besteht also eine unverkennbare Beziehung zwischen Epithel- und Chylusfett. Wie dies Verhältnis aufzufassen ist, bedarf jedoch noch einer näheren Erörterung. Einfach lägen die Dinge. wenn die Epithelzellen sich zunächst ad maximum füllten und dann erst das Fett in den Chylus weiter- gäben. Dem ist aber nicht so. Denn, wie wir sahen, lässt sich Fett im Chylus bereits dann nachweisen, wenn das Epithel noch in zunehmender Resorption begriffen ist. Es bleibt nun zu entscheiden, ob das in diesem frühen Stadium auftretende Chylusfett doch von dem Epithelfett oder etwa direkt aus dem Fett des Darminhalts auf dem Wege interepithelialer Resorption stammt. Gewiss ist gegen die letztere Möglichkeit ein direkter Gegenbeweis nicht ohne weiteres zu bringen. Denn wollte man auch anführen, dass man in den ersten Stunden Fetttröpfehen nie zwischen den Epithelzellen sieht, so muss man andererseits doch zugeben, dass auch im Zottenstroma, das unter allen Umständen das Fett passieren muss, um in die Chylusbahn zu gelangen, zu dieser Zeit auch kein mit Osmium sich schwärzendes Fett liest. Vollkommen ausschliessen lässt sich also dieser Vorgang einstweilen nicht. Aber man kann mit ziemlicher Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 15 226 A. Noll: Bestimmtheit dennoch sagen, dass in der Hauptsache das erste sicht- bare Chylusfett wirklich aus dem Epithel kommt. Aus folgendem Grunde: Es lässt sich nämlich das verhältnismässig späte Auftreten des Fettes im Chylus nur durch die Einschaltung eines cellularen Prozesses in den ganzen Resorptionsvorgangerklären. SeinHineingelangen in die Chylusbahn muss von der Tätigkeit der Epithel- zellen unmittelbar abhängen. Allein schon die mikro- skopischen Befunde zwingen zu dieser Annahme. Ferner aber fällt auch eine chemische Tatsache mit ins Gewicht. Bei der Annahme einer regen interepithelialen Resorption von emuleiertem Fett nämlich müsste man die mit der heutigen Auffassung in direktem Widerspruch stehende Voraussetzung machen, dass das Fett un- gespalten in die Darmwand einträte. Denn, wie ich noch zeigen werde, stellt das interepitheliale Fett keine Seife und keine freie Fettsäure dar. Hieraus ergibt sich folgende Auffassung: Während noch die Fetttropfen in den Epithelzellen sich vergrössern, wird auch schon Fett aus den Zellen fortgeschafft. Demnach hätte man zwei Vorgänge in den Zellen zu berücksichtigen. Erstens die Aufspeicherung eines Teils des von den Zellen resor- bierten Fettes in Tropfenform und zweitens die Weiterbeförderung eines anderen Teils, der die Zelle schneller passiert. Der letztere Vorgang wäre der wesentlichere, wenn er auch histologisch nicht so hervortritt wie der andere, die Ansammlung der Tropfen aber ein Parallelvorgang, der nur die stark gesteigerte Zelltätigkeit anzeigt. Die beiden Vorgänge würden nebeneinanderher verlaufen, bis nichts mehr aus dem Darm aufgenommen wird. Alles Fett, das sich dann noch in den abführenden Gewebsspalten und -bahnen findet, muss ausschliesslich aus den Fetttropfen der Zellen stammen. Dieser den sichtbaren Resorptionsvorgang beschliessende Vorgang liegt den Bildern z. B. in Fig. 4 zugrunde, wo das Epithel fast leer, die Ab- führwege aber noch sehr fetthaltig sind. Ausschliesslich auf dieses Stadium beziehen sich auch die oben zitierten Angaben von v. Basch, Kischensky und Köster. Die Fetttropfen des Epithels haben bereits seitens einiger Autoren eine ähnliche Beurteilung gefunden, wie ich sie gebe. Dass sie als Ausdruck gesteigerter Resorption aufgefasst wurden, ist oben schon angeführt. Dass sie aber auch hierbei nicht die wesentlichste Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 297 Phase des Vorganges markieren, ist schon von Histologen klar aus- gesprochen worden. Es ist vor allem Oppel gewesen, der des öfteren betonte, „dass die während der Resorption in der Darm- epithelzelle auftretenden Fetttröpfehen eine dem eigentlichen Wesen der Resorption mehr fernstehende Bedeutung besitzen und als Auf- speicherungen aufzufassen sind, wie sie ja auch in anderen Zellen, z. B. den Fettzellen, unter günstigen Ernährungsverhältnissen beob- achtet werden“ (Ergebn. d. Anat. u. Entwicklungsgeschichte IX, S. 135). Die in der Epithelzelle sich abspielenden chemischen Vor- gänge fasse ich allerdings anders auf als Oppel, worauf ich noch zurückkomme. Schon früher hatte sich R. Heidenhain!t) folgender- maassen geäussert: „Freilich kommt es vor, dass man im Zotten- stroma Fett antrifft, während dasselbe in den Epithelzellen fehlt, dann nämlich, wenn die Nahrung nur geringe Fettmengen enthielt. Der Grund liegt wohl darin, dass bei mässiger Aufnahme die Epithel- zellen das Fett in dem Maasse, als sie es aufnehmen, auch weiter befördern, so dass es zu einer Anhäufung in ihrem Innern nicht kommen kann.“ Mit diesen Worten wird eine Analogie angedeutet zu dem Verhalten der sezernierenden Nierenzellen, welche bei einer Überschwemmung der Blutbahn mit injiziertem Farbstoff in ihren Granula den Farbstoff aufspeichern, da sie ihn nicht ebenso schnell weiterzugeben vermögen (Ergebn. d. Physiol. VI, S. 25). II. Abschnitt. Der Chemismus des Fetttransportes. Bestimmungen des Mengenverhältnisses von freier Fettsäure und Neutralfett in der Darmschleimhaut sind bisher nur von Moore?) und von Saito®) in dem Ätherextrakt von Hundedärmen gemacht worden. Moore bestimmte nach Eingabe von Olivenöl die Fett- und Fettsäuremenge nicht nur in der Schleimhaut, sondern auch in der Lymphe, die er an denselben Tieren aus den mesenterialen Chylus- gefässen gewann. In einem Falle fand er 6 Stunden nach Eingabe 1) Pflüger’s Arch. Bd. 43. Suppl. 8. 87. 2) Moore, On the Synthesis of Fat accompanying Absorption from the intestine. Proceed. of the Royal Soc. vol. 72 p. 134. 1903. 3) Saito, Studien über die Spaltung und Resorption des Nahrungstfettes. Inauguraldissertation. Würzburg 1905. 19% 228 A. Noll: von 100 g Olivenöl in der Schleimhaut 15,7 °/o, in der Lymphe 4,7 %o freie Fettsäure (vom Gesamtfett), in einem zweiten Falle 7 Stunden nach Eingabe von 50 g Olivenöl 35,4 0o resp. 3,9/o freie Fettsäure. Saito hat in der grösseren Zahl seiner Versuche die ganze Darm- wand, also auch die Muskelhaut, mit extrahiert. Die Schleimhaut allein wurde aber auch in zwei weiteren Fällen verarbeitet. Diese beiden lieferten im Mittel für die obere Hälfte des Dünndarms, und zwar ihren oberen Abschnitt 41,57 °/o, ihren unteren Abschnitt 39,80 %/o und für die untere Hälfte 33,650/0 freie Fettsäure (als Ölsäure). Ausserdem bestimmte Saito, wieviel Fettsäure sich noch nach Ansäuern des Ätherextrakts fand. Verfüttert wurde Schweinefett, dem Ölsäure beigemengt war. Beide Autoren fanden also ziemlich viel Fettsäure in der Schleimhaut, in der Lymphe dagegen Moore wesentlich weniger. Mehr Bearbeitung hat der Chylus des Ductus thoracieus ge- funden. Hier galt es hauptsächlich zu entscheiden, wie seine Zusammensetzung nach Verfüttern von freier Fettsäure sich verhielt. In den meisten Experimenten erhielten die Hunde deshalb Fett- säuren. Alle Autoren, I. Munk!), Lebedeff?), v. Walther), Frank*), fanden dann stets mehr Neutralfett als Fettsäure. Lebedeff, welcher Leinölsäure verfütterte, fand sogar fast nur Neutralfett und keine Fettsäure. Munk dagegen, dessen Be- stimmungen sich auf verschiedene Verdauungsstunden beziehen, nur 6—17 mal so viel Fett als Fettsäure, Frank um die 9. und 10. Stunde noch mehr Fettsäure. In einem Versuch, bei dem ein Hund mit der Nahrung ausser Fettsäure (54,5 g) auch Neutralfett (45,5 g) erhalten hatte, bestimmte v. Walther die in 100 Teilen Chylus enthaltene Menge sauren Fettes zu 0,09 & und neutralen Fettes zu 1,96 g, also etwa 4,40 Fettsäure. Diese Zahl stimmt gut überein mit den von Moore 1) I. Munk, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1879 8. 371. Virchow’s Arch. Bd. 80 8. 10. Ferner: Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1883 S. 273. Virchow’s Arch. Bd. 95 S. 407. 2) Lebedeff, Studien über Fettresorption. Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1883 S. 488. 8) v. Walther, Zur Lehre von der Fettresorption. Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1890 S. 329. 4) Frank, Zur Lehre von der Fettresorption. Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1894 8. 297. Ferner Zeitschr. f. Biol. Bd. 36 S. 568. 1898. Chem. und mikroskop. ‚Untersuchungen über den Fetttransport etc. 229 erhaltenen Werten (4,7 °/o bzw. 3,9 °/o Fettsäure in der mesenterialen Lymphe). Seife fand sich bei den erwähnten Versuchen, soweit darauf geachtet wurde, im Chylus während der Fettresorption kaum oder gar nicht mehr als sonst. Auch menschlicher Chylus wurde untersucht. In dem bekannten Fall von I. Munk und Rosenstein!), wo eine Chylusfistel am Unterschenkel eines Mädchens bestand, betrug der Gehalt des aus- fliessenden Chylus an Fettsäure nach Eingabe von Olivenöl, das 6,4%/o freie Ölsäure enthielt („Lipanin“), 2,4°0. In einem Fall von Chylurie fand Erben?) nach Darreichung von gemischter Kost den Fettsäuregehalt gleich 1,680 des Ätherextrakts. In dem Falle von I. Munk und Rosenstein wie auch in einem Falle von Minkowski°®), wo chylöser Aseites untersucht werden konnte, fand sich übrigens, wie beim Hund, nach Fettsäureeingabe Neutralfett im Chylus. Da ich bei meinen Kaninchen nur Olivenöl nahm, kommen von den mitgeteilten Tierversuchen streng genommen vergleichshalber nur diejenigen in Betracht, bei denen nicht oder nicht ausschliesslich freie Fettsäuren gegeben wurden, also diejenigen Moore’s, Saito’s und der eine Versuch von v. Walther. Bei diesen war im Chylus stets wenig Fettsäure, im Mittel etwas über 4°/o des Gesamtfettes. In der Darmschleimhaut dagegen war der Fettsäuregehalt erheblich höher. Aus der Zunahme des Neutralfettes auf dem Wege von der Darmschleimhaut nach den Chylusgefässen folgert Moore, dass in der Schleimhaut eine Synthese erfolet. Die in ihr noch nicht voll- ständig gebundene Fettsäure wäre es dann, welche sie reicher an Fettsäure macht als die abfliessende Lymphe. Was den Ort der Synthese betrifft, so habe ich durch mikro- skopische Reaktionen am Froschdarm zeigen können, dass jedenfalls die Epithelzellen befähigt sind, aus Fettsäure Neutralfett zu bilden ®). Man kann nach alledem im Hinblick auf den Chemismus des 1) I. Munk und Rosenstein, Zur Lehre von der Resorption im Darm, nach Untersuchungen an einer Lymph(Chylus-Jfistel beim Menschen. Virchow’s Arch. Bd. 123 S. 230. 1891. 2) Erben, Die chemische Zusammensetzung menschlichen Chylusfettes. Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 30 S. 436. 1900. 3) Minkowski, Arch. f. experim. Pathol. (Schmiedeberg) Bd. 21. 4) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1903 Suppl. S. 145. 230 A. Noll: Fetttransportes mit zwei Tatsachen rechnen: 1. der Fähigkeit des Zottenepithels, Fett zu synthetisieren, und 2. der Tatsache, dass während der Resorption von Fett in der Darmschleimhaut und im Chylus mehr Neutralfett als fireie Fettsäure, im Chylus sogar ganz erheblich mehr sich findet. Welche chemischen Vorgänge sich nun in den Epithelzellen abspielen, in welcher Form das Fett aus ihnen herauskommt und in die Chylusbahn ge- langt, das sind die wesentlichsten Fragen, die die beiden folgenden Versuchsreihen beantworten sollen. In der nächsten Versuchsreihe wurde die Fettsäure im Petrol- ätherextrakt titrimetrisch bestimmt. Ferner habe ich noch die Rück- stände der künstlichen Verdauung unterworfen und das alsdann noch extrahierte Fett gewogen '). Wenn auch von vornherein keine grossen Quantitäten solchen Fettes zu erwarten waren, so musste doch der Vollständigkeit halber nachgesehen werden, ob auch in dieser Beziehung Unterschiede zwischen nüchternen und resorbierenden Därmen bestehen. In der letzten Versuchsreihe habe ich die mikrochemische Analyse des Fettes versucht. A. Bestimmung der freien Fettsäure im Petroläther- extrakt und des nach Verdauen des Rückstandes noch extrahierbaren Fettes. (2. Versuchsreihe.) Zu diesen Versuchen dienten fünf Kaninchen, von denen eins 4!/e Stunden, eins 5 Stunden, zwei weitere 8 Stunden und das letzte 12 Stunden nach Eingabe von 20 cem Öl getötet wurde. Zum Teil hatten die Tiere Olivenöl, zum Teil Triolein erhalten. Bei den beiden ersten Tieren (5. Stunde) rechnete ich nach den Resultaten der ersten Versuchsreihe darauf, das Fett in der Hauptsache im Epithel anzutreffen, bei den beiden folgenden (8. Stunde) erwartete ich es ausserdem auch schon in grösserer Menge in den Abführwegen, und im letzten Falle (nach 12 Stunden) musste das Epithel schon im wesentlichen entleert, dagegen gerade die Chylusbahn noch stark gefüllt sein. In der Tat lagen nach den Sektionsbefunden und nach 1) Vgl. die Arbeit von F. N. Schulz in Pflüger’s Arch. Bd. 66 S. 145. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 231 der im letzten Falle angestellten mikroskopischen Untersuchung bei sämtlichen Tieren die erwarteten Stadien vor. Bis zur Wägung des extrahierten Fettes verfuhr ich genau so wie in der ersten Versuchsreihe, nur mit der Änderung, dass ich, um eine während des Trocknens der abgeschabten Schleimhaut möglichenfalls eintretende Bildung von freier Fettsäure durch Enzym- wirkung zu verhindern, den herausgeschnittenen Darm sofort in toto für 10 Minuten in kochendes Wasser tat. Das sesamte exträhierte Fett wurde in Äther-Alkohol gelöst und unter Zusatz einiger Tropfen Phenolphthalein als Indikator zur Bestimmung der freien Fettsäure mit wässriger Y/ıo-Normal-Natronlauge titriert. Die Be- rechnung geschah auf Ölsäure. Der in Petroläther unlösliche Rückstand wurde mit 100 cem Pepsin-Salzsäure im Thermostaten bei 39° C. 24 Stunden lang ver- daut, die Flüssigkeit vom Ungelösten abgegossen und mit Petroläther ausgeschüttelt, das ungelöst Gebliebene getrocknet und im Soxhiet- Apparat mit Petroläther wieder extrahiert. Nach Vereinigung beider Extrakte wurde dann das Fett gewogen. Zu diesen fünf Versuchen nahm ich immer die Schleimhaut des ganzen Duodenums und Dünndarms, um bei den zu erwartenden geringen Fettsäurequantitäten möglichst viel Ausgangsmaterial zu haben. Da in der ersten Versuchsreihe nicht die ganzen Därme, sondern nur die jedesmal in stärkster Resorption befindlichen Dünn- darmabschnitte gebraucht wurden, sind die Zahlen für den Gesamt- fettgehalt in beiden Reihen nicht direkt vergleichbar. Naturgemäss müssen sie in der zweiten Reihe ceteris paribus niedriger ausfallen. Ausserdem machte ich dieselben Bestimmungen auch an zwei nüchternen Tieren. Es sind dies die oben angeführten Tiere der Versuche Nr. 2 und 3. Versuch Nr. 2. (Siehe oben.) Fettgehalt der Schleimhaut —= 5,66 %o. 0,1096 & des Fettes enthalten 0,0142 g Olsäure = 12,96 °/o. 1,8626 g des Rück- standes geben nach dem Verdauen noch 0,0789 g Fett — 4,23 %o. Versuch Nr. 3. (Siehe oben). Fettgehalt der Schleimhaut 4,76 °/o. 0,1548 g des Fettes enthalten 0,02486 g Ölsäure — 16,06%. 3,1039 g des Rück- standes geben nach der Verdauung noch 0,0880 g Fett — 2,83 !/o. Versuch Nr. 12. Kaninchen, weibl., 1920 g schwer. 4'/e Stunden nach Eingabe von 20 ccm Provenceröl getötet. Chylusgefässe des Mesenteriums nirgends imilchigweiss. Im Magen keine Ansammlung von Öl. Gewicht der feuchten Schleimhaut 13,5 g, nach dem Trocknen 2,4654 g. Fettgehalt 0,2964 g — 232 A. Noll: 12,02%. Diese 0,2964 g Fett enthalten 0,02997 g Ölsäure = 10,11%. 2,0136 g des Rückstandes geben nach der Verdauung 0,0715 g Fett = 3,55 %o. Versuch Nr. 13. Kaninchen, weibl., 2000 g schwer. 5 Stunden nach Ein- gabe von 20 ccm Triolein getötet. Einzelne mesenteriale Chylusgefässe zeigen etwas milchigweisse Färbung. Im Magen etwas Öl. Gewicht der feuchten Schleimhaut 16 g, nach dem Trocknen 3,2098 g. Fettgehalt 0,7223 g = 22,50 %o. 0,7188 g dieses Fettes enthalten 0,036408 g Ölsäure = 5,06%. 2,4798 g des Rückstandes, geben nach der Verdauung noch 0,0450 g Fett = 1,81 %o. Versuch Nr. 14. Kaninchen, männl., 2100 g schwer, 8 Stunden nach Ein- gabe von 20 cem Provenceröl getötet. Mesenteriale Chylusgefässe deutlich fett- haltig. Im Magen kein Öl. Feuchte Schleimhaut = 20 g, trocken 4,2513 g. Fettgehalt 0,7856 g — 18,48%. 0,7830 g dieses Fettes enthalten 0,053742 g Öl- säure — 6,86 °/o. 2,0534 g des Rückstandes geben nach dem Verdauen noch 0,0592 g Fett = 2,83%. Versuch Nr. 15. Kaninchen, männl., 1850 g schwer, 8 Stunden nach Ein- gabe von 20 ccm Triolein getötet. Mesenteriale Chylusgefässe deutlich fetthaltig. . Im Magen kein Ol. Schleimhaut feucht 20 g, trocken 3,7488 g. Fettgehalt 0,7357 g = 19,62 9/0. 0,7310 g dieses |Fettes enthalten 0,049728 g Ölsäure = 6,80 9/o. 2,8848 g des Rückstandes geben nach dem Verdauen noch 0,0854 g Fett — 2,96 °/o. Versuch Nr. 16. Kaninchen, weibl., 2200 g schwer, 12 Stunden nach Eingabe von 20 ccm Provenceröl getötet. Mesenteriale Chylusgefässe sehr fett- haltig. Desgleichen in den Gefässen der Darmwand milchweisser Chylus. Im Magen vereinzelte Öltropfen. Schleimhaut feucht 21 g, trocken 4,2599 g. Fett- gehalt 0,6617 g = 15,53 Yo. 0,6598 g dieses Fettes enthalten 0,03552 g Ölsäure — „8 lo. 3,2682 g des Rückstandes geben nach dem Verdauen noch 0,0919. g Fett = 2,81%. Der Gehalt des Petrolätherextraktes an freier Fettsäure. Die gefundenen Zahlen sind in der folgenden Tabelle unter- einander geordnet. Tabelle II. 1. 2: h Ohne Verdauen ex- Nr. Re Be trahiertes Fett in °/o Darin freie ingabe des Ols d E n e er trockenen Fettsäure Schleimhaut 2 nüchtern 5,66 °/o 12,96 %o 3 h 4,76 /o 16,06 °/o 12 nach 4" Stunden 12,02 0/0 10,11 Vo 13 ae A 22,50 %/o 5,06 %/o 14 “ 8 en 18,48 °/o 6,86 %/o 15 a 8 $ 19,62 %/o 6,80 9/0 16 Be 1 4 15,53 0/0 5,38 /o Die Zahlen der Spalte 1 zeigen den grössten Fettgehalt der ganzen. Schleimhaut zwischen der 5. und 8. Stunde an. Hiervon Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 233 entfallen nach dem makroskopischen Befund die 22,5 °/o der Nr. 13 fast ausschliesslich auf das Epithel; denn die mesenterialen Chylusgefässe enthielten in diesem Fall sehr wenig Fett. Bei den beiden nächsten Tieren bezeichnen die 18,48 %o und 19,62 0 das Epithel- und Chylusfett. Nr. 12 und 16 stellen direkt entgegengesetzte Zustände dar. Ersterenfalls nämlich konnte nur Epithelfett, letzterenfalls fast nur Chylusfett sich im Extrakt finden. Spalte 2 gibt die Fettsäuremengen an. Um diese Zahlen unter- einander annähernd richtig vergleichen zu können, müsste man sie auf gleichen Gesamtfettgehalt umrechnen. Denn es ist ohne weiteres ersichtlich, dass sie durch einen Anstieg des Fettgehaltes der Schleim- haut heruntergedrückt werden und umgekehrt. Daher der an- scheinend bedeutende Fettsäuregehalt der nüchternen Därme. Aber auch dann bliebe noch eine Ungenauigkeit, insofern als bei den resorbierenden Därmen der Fettsäuregehalt des nüchternen Zustandes in den Zahlen noch mitenthalten ist. Es wurde deshalb folgende Umrechnung vorgenommen, Zu- nächst berechnete ich nach Nr. 2 und 5, wieviel Säure zu 100 Teilen fettfreier, nüchterner Trockenschleimhaut hinzukommt. Es sind im Mittel 0,78 Teile; ich nenne diesen Anteil kurz „Bestand- säure“. Sodann berechnete ich für Nr. 12—16, wieviel Säure die resorbierende trockene fettfreie Schleimhaut (also Trockenschleimhaut weniger extrahiertem Fett) im ganzen addierte, und fand durch Ab- zug der Bestandsäure von der berechneten Säuremenge die wirk- lich auf Resorption zurückzuführende Säure (Ölsäure). Die erhaltenen Zahlen gibt die folgende Tabelle in Prozent auf 100 Teile fettfreier, trockener Schleimhaut an (Spalte 2). Dieselbe Umrechnung habe ich hier auch für das Gesamttfett vorgenommen und die Werte in Spalte 1 der Tabelle angeführt. Hiernach gestaltet sich die Sache folgendermaassen: Tabelle II. 10% Teile trockener fettfreier Schleimhaut haben aufgenommen: | Gesamtfett | Freie Fettsäure 12 nach 4! Stunden 7,81 Teile 0,57 Teile 13 = 5 A EBEN vr | 64) 5 13 5 8 E lg 5 0742 2, 15 5 8 a IKHOE ,, 083 55 16 2 Ü 1229, Gr 234 A. Noll: Die Fettsäuremengen, welche infolge Resorption in der Schleimhaut tatsächlich angereichert wurden, sind hiernach ausserordentlich gering. Sie erreichen bei weitem nicht die von Moore!) und von Saito!) beim Hund ge- fundenen Werte. In meinen Versuchen enthält die Schleimhaut bei der Resorption etwa nur doppelt so viel Säure als im nüchternen Zustande. . Wenn man die Zahlen der Spalte 2 der Reihe nach durchgeht, so bemerkt man mit zunehmender Verdauuneszeit einen kleinen Anstieg bis einschliesslich zur 8. Stunde. Der Anstieg ist aber zu gering, um irgend etwas Charakteristisches für dieses Stadium er- kennen zu lassen. . Man kann nur sagen, dass das Maximum des Fettsäuregehaltes sich dann fand, wenn die Abführung des Fettes durch die Lymphe in Gang gekommen war. Dass aber diese Fettsäure nicht im Chylusfett selbst enthalten ist, beweist zur Evidenz der Fall 16. Denn hier ist der Fettsäure- gehalt niedrig, während gerade die Füllung der Chylusgefässe am stärksten war. Wo findet sich nun denn die Fettsäure? — Ganz gewiss auch nicht in den sichtbaren Fetttropfen des Epithels. Denn wäre dies der Fall, dann müssten die Anstiege im Fettsäure- und Gesamtfettgehalt bis zur 8. Stunde parallel gehen. Auch durch die Ergebnisse der mikrochemischen Untersuchung, die ganz übereinstimmen mit meinen früheren Beobachtungen am Frosch- epithel, ist diese Möglichkeit ein für allemal ausgeschlossen. Eben- sowenig aber wie im Epithel, lässt sich nach der mikrochemischen Untersuchung die Fettsäure in die Tröpfehen zwischen den Epithel- zellen oder wo sich sonst noch mikroskopisch nachweisbares Fett findet, lokalisieren. Daraus ergibt sich, dass sich diese Fettsäure dem histologischen Nachweis mit Osmium- säure entzieht. Das nach künstlicher Verdauung extrahierbare Fett. Wieviel Fett sich in den obigen Versuchen nach Verdauen des nach der Petrolätherextraktion verbliebenen Rückstandes noch ge- winnen liess, zeigt die folgende Tabelle. 1). c, Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 235 Tabelle IV. Nr Stunden nach Ein- Fett im verdauten gabe des Ols | Rückstand 2 nüchtern 4,23 °/o 3 2 2,83 Yo 12 nach 4!/a Stunden | 3,95 %/o 13 An A 1,81 % 14 ES 5 2,88 °/o 15 RSS R | 2,96 %o 16 ee % | 2,81 %o Die Beurteilung dieser Zahlen ist einfach. Die Werte halten sich bei den resorbierenden Tieren innerhalb der Grenzen derjenigen der nüchternen oder liegen noch etwas tiefer (Nr. 13). Man kann hieraus wohl mit Sicherheit schliessen, dass alles resorbierte Fett, welches die Darmschleimhaut passiert, in einer Form darin ist, die ohne weiteres in den Petroläther übergeht. Ausgeschlossen ist vor allem, dass etwa ein nennens- werter Anteil dieses Fettes in einer unlöslichen Eiweissverbindung ist. Was erst nadh künstlicher Verdauung sich extrahieren lässt, dürfte zu den zum Bestande der Schleimhaut gehörenden Livoiden zu rechnen sein. Dieses Fett wäre also unabhängig von der Fettresorption und betrüge bis 4 °/o und mehr der trockenen, fettfreien Schleimhaut. Es ist auch zu bedenken, dass es sich bei dieser Behandlungs- weise um Abspaltung von Fettsäure aus Seife handeln kann. In der Tat fand sich in den Extrakten zwischen 70 °o und 85 %o freier Fettsäure. Um hierüber mehr Klarheit zu bekommen, habe ich noch folgenden Versuch gemacht. 3 g Trockenrückstand von den Därmen der ersten Versuchs- reihe wurden mit 20 ccm destillierten Wassers verrührt. Nach dem Filtrieren, das übrigens schlecht ging, wurde ein abgemessenes Quantum des Filtrats mit der gleichen Menge 1/oiger Salzsäure versetzt, von der entstandenen Fällung abfiltriert, der Niederschlag mit Salzsäure ausgewaschen, getrocknet und mit Petroläther be- handelt. Es fand sich 0,33 °/o Fett. Unter der Voraussetzung, dass dies aus Seife entstandene Fettsäure war, würde der Versuch zeigen, dass das Mengenverhältnis von Seife zu Lipoiden ein sehr geringes wäre. Seife ist also bestenfalls sehr wenig vorhanden, was auch mit den bisherigen Befunden am Hundechylus vollständig übereinstimmt. 23 A. Noll: 6 B. Unterscheidung von Fett, Fettsäure und Seife im mikroskopischen Präparat. (3. Versuchsreihe.) Im Laufe der letzten Jahre sind einige Methoden angegeben worden, um Fettsubstanzen auf mikrochemischem Wege zu unter- scheiden. Die Methode Fischlers!) erstreckt sich auf die Trennung von Neutralfett, Fettsäure und Sejfe, diejenige Rossi’s?) auf den Nachweis von Fettsäure. DBeide, wie auch eine Methode von Lorrain Smith und Mair°?), welche auf Fettsäure und Chole- sterin abzielt, sind Färbemethoden und werden am fixierten Gewebe angestellt. Am Darmepithel selbst hat Rossi seine Methode angewandt. Er findet in demjenigen Abschnitt der Epithelzellen (beim Frosch), welcher an das Darmlumen stösst, die Reaktion auf Fettsäure positiv. Vergleicht man die Abbildungen Nr. 2 und 3 Rossi’s mit den be- kannten Osmiumbildern, so sieht man ohne weiteres, dass die Fett- säurereaktion im wesentlichen gerade denjenigen Raum freilässt, wo die Fetttropfen liegen sollen. Also auch diese Methode würde zeigen, dass die Fetttropfen selbst keine freie Fettsäure enthalten, dass aber da, wo das resorbierte Fett zunächst in die Zellen gelangt, freie Fettsäure in der Zelle vorhanden ist. | Kürzlich erschien noch eine vorläufige Mitteilung von F.W.Lamb‘), in der über die Anwendung der Methode von Lorrain Smith und Mair am Darmepithel berichtet wird. Dass Fett der intra- cellulären Tropfen soll danach „desaturated“ oder in Verbindung mit Cholesterin sein. Die Methode, welche ich selbst benutzte, zielt direkt auf den Nachweis von Triolein, Ölsäure und ihre Salze ab. Um Seife zu erkennen, hat man Schnitte nach Behandlung mit reiner 1°%oiger Osmiumlösung und solche nach Behandlung mit Flemming’scher Lösung miteinander zu vergleichen. Denn 1) Fischler, Zentralbl. f. allgem. Pathol. Bd. 15 S. 913. 2) G. Rossi, Sull’ Assorbimento dei Saponi e degli Acidi grassi. Arch. di Fisiol. vol. 4 p. 429. 1907. 3) Zit. nach Schmorl, Die pathologisch- histologischen Untersuchungs- methoden, 5. Aufl., S. 145, 4) F. W. Lamb, Some Öbservations on Fat Absorption. Journ. of Physiol. vol. 40 p. XXiii. Proceed. of the physiol. Soc. Febr. 1910. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 937 Osmiumsäure allein schwärzt nur das Öl und die Ölsäure, aber nicht Seife. Die Flemming’sche Lösung dagegen zerlegt vermöge ihres Gehaltes an Chrom-Essigsäure die Seife und schwärzt die dabei ent- standene Ölsäure. Eine Mehrschwärzung im Flemming ’schen Präparat kann also Seife anzeigen. Um die Ölsäure vom Triolein zu unterscheiden, gehe ich von der zuerst von Altmann!) gemachten Beobachtung aus, dass die Ölsäure-Osmiumverbindung in Alkohol löslich ist, die Triolein-Osmium- verbindung aber nicht. Bereits früher habe ich dies differentialdiaenostische Moment beim Frosch verwendet. Am schärfsten stellt sich die Methode in folgender Weise dar. Tränkt man ein Stückchen Fliesspapier (A) mit Triolein und eins mit Ölsäure (B) und legt beide für 24 Stunden in 1°/oige Osmiumlösung, so kann man die Probe A 24 Stunden wässern und dann in steigenden Alkohol bringen oder aber nach pur kurzem Abspülen in Wasser direkt in 96 °/oigen Alkohol übertragen — beide Male erfolgt keine Extraktion durch den Alkohol. Die Probe B hingegen verträgt zwar auch die Behandlung mit steigendem Alkohol nach vorhergehendem 24 Stunden langem Wässern, aber wenn man sie nur kurz wässert und unmittelbar danach in den 96 P/igen Alkohol legt, dann gibt sie dichte schwarze Wolken an den Alkohol ab. Die osmierte Ölsäure ist also unter diesen Verhältnissen, d. h. wenn die Alkoholbehandlung rasch erfolgt, unbeständig. Wenn man nun osmierte Darmwand in dieser doppelten Weise behandelt — ich spreche der Einfachheit halber vom raschen und langsamen Alkoholverfahren —, so ist die Schwärzung, die sich nach dem raschen Verfahren im Präparat noch vorfindet, nicht durch freie Ölsäure bedingt, sondern muss auf der Gegenwart gebundener Öl- säure, also z. B. des Trigelyzerids beruhen. In diesem Falle wird sie natürlich auch nach dem langsamen Verfahren vorhanden sein. Ist hingegen nach dem kurzen Verfahren weniger Schwärzung da als nach dem anderen Verfahren, oder auch gar keine, so handelt es sich bei dem gelösten Fett vielleicht um Ölsäure, jedenfalls nicht um Triolein. In diesem Falle muss aber die Schwärzung auf Ge- frierschnitten, die man vor der Alkoholbehandlung anfertigt, vor- handen sein. Man kann also auf die eine oder andere Weise Ölsäure oder Triolein ausschliessen. 1) Altmann, Die Elementarorganismen usw. 2. Aufl. S. 118. 238 A. Noll: Das Verfahren gestaltet sich demnach folgendermaassen: Man fixiert Stückchen in Osmiumsäure und solche in Flemming’scher Lösung. Von den osmierten Stückchen fertigt man erstens Gefrier- schnitte an und behandelt zweitens ein Stück nach dem raschen und eins nach dem langsamen Verfahren. Von den Flemming- Stücken würde es, um Seife zu fassen, genügen, wenn man nur die Gefriermethode und das langsame Verfahren einschlüge. Ich habe jedoch bei meinen Versuchen auch das andere Verfahren hinzu- genommen und dabei ein unerwartetes Ergebnis erhalten. Es wurden drei Kaninchen untersucht, von denen jedes 20 ecm Triolein nach 36stündigem Fasten erhalten hatte. Das eine wurde nach 9, das andere nach 12, das dritte nach 14 Stunden getötet. Bei den beiden ersteren war das Epithel noch ziemlich fetthaltig, ausserdem enthielt auch der Chylus Fett. Beim letzteren war das Epithel schon ziemlich fettfrei, dafür aber viel Fett in den Abführ- wegen. Alle Fälle zeigen also das Fett da, wo es überhaupt sein kann, nur entsprechend der verschiedenen Verdauungszeit in ver- schiedener Verteilung. Versuch Nr. 17. Kaninchen, männl., 1970 & schwer, 9 Stunden nach Eingabe von 20 ccm Triolein getötet. Untersucht wurde eine Dünndarmschlinge, deren Schleimhaut weisslich war und deren mesenteriale Chylusgefässe milchigen Chylus enthielten. Je ein Stück Darm eingelegt in 1%oige Osmiumsäurelösung und Flemming’sche Lösung. 1. Osmiumpräparat. Gefrierschnitt: Epithelsaum schwarz; im Zotten- stroma keine Schwärzung, auch nicht in der Submukosa. Nur in zwei Gefässen innerhalb der Drüsenschicht etwas braungefärbter Inhalt. Celloidinschnitt: a) nach Yestündigem Wässern des Objektes und direkter Übertragung in 96%oigen Alkohol: Intensive Schwärzung des Epithelfettes, besonders in der Überkernzone. Kleine schwarze Tröpfchen zwischen den Epithelzellen. Weder im Zottenstroma noch in der Submukosa osmiertes Fett. — b) nach 24stündigem Wässern des Objekts und Weiterbehandlung mit steigendem Alkohol: Dasselbe Bild wie bei a, nur findet sich in einem Chylusgefäss zwischen den Drüsenschläuchen braunschwarzer Inhalt. 2. Flemming-Präparat. Gefrierschnitt: Epithelsaum schwarz. In den Gefässen der Submukosa ziemlich viel schwarzer Inhalt. Celloidinschnitt: a) nach dem raschen Alkoholverfahren: Epithelfett schwarz. Tröpfchen zwischen den Epithelzellen nicht so zahlreich wie in dem gleich behandelten Osmiumpräparat. Nur in einem Gefäss der Submukosa etwas grauer Inhalt, sonst nirgends. — b) Nach dem langsamen Alkoholverfahren: Im Epithel tiefschwarze Tropfen. Interepitheliale Tröpfchen vorhanden. Sowohl in den zentralen Chylusgefässen als auch in den tieferen Abführbahnen und den mesenterialen Chylusgefässen diffus schwarzgrauer Inhalt und schwarze Tropfen. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 239 Versuch Nr. 18. Kaninchen, männl., 1800 g schwer, 12 Stunden nach Eingabe von 20 ccm Triolein getötet. Genommen eine Darmschlinge mit weisser Schleimhaut und hochgradig fetthaltigem Chylus. 1. Osmiumpräparat. Gefrierschnitt: Schwärzung nur im Epithel, Celloidinschnitt: a) nach dem raschen Alkoholverfahren: Fett in der Über- und Unterkernzone des Epithels.. Auch Fett zwischen den Epithelzellen. In dem zentralen Chylusgefäss einer Zotte grauer Inhalt. b) nach dem langsamen Verfahren: Epithel wie bei a. In einem Gefäss der Submukosa diffus schwarzer, in einem andern grauer Inhalt. 2. Flemming-Präparat. Gefrierschnitt: Schwarze Färbung findet sich im Epithel, stellenweise im Zotteninnern und innerhalb der submukösen Chylus- bahnen, hier reichlich. Celloidinschnitt: a) nach dem schnellen Verfahren; Epithel schwarz, aber nicht in dem Maasse wie an dem Osmiumpräparat; das osmierte Fett scheint zum Teil extrahiert. Innerhalb der Zotten, zwischen den Drüsenschläuchen und in der Submukosa nur stellenweise schwärzliche Massen. Im Mesenterium ebenso. b) nach dem langsamen Verfahren: Fett des Epithels und interepitheliales Fett wie im ÖOsmiumpräparat. In den Zottenchylusgefässen ziemlich zahlreiche schwarze Tropfen, desgleichen in den Gefässen der Submukosa und des Mesen- teriums. Versuch Nr. 19. Kaninchen, männl., 1520 & schwer, 14 Stunden nach Eingabe von 20 ccm Triolein getötet. Aus der unteren Dünndarmhälfte, deren mesenteriale Chylusgefässe am fetthaltigsten sind, eine Schlinge genommen. Schleimhaut derselben nicht weiss, 1. Osmiumpräparat. Gefrierschnitt: Schwärzung nur im Epithelsaum. Celloidinschnitt: a) nach dem schnellen Verfahren: Schwarze Tropfen nur in der Tiefe der Epithelschicht, nicht zahlreich. b) nach dem langsamen Ver- fahren: Die Tröpfchen des Epithels vornehmlich in der Unterkernzone; ganz ver- einzelt etwas graue Masse im zentralen Chylusgefäss und in den submukösen Bahnen. 2. Flemming-Präparat. Gefrierschnitt: Epithel wie im Osmium- präparat. Ausserdem an vielen Stellen geschwärztes Fett innerhalb der Zotten, in den Gefässen der Submukosa und des Mesenteriums. Gelloidinschnitt: a) nach dem raschen Verfahren: Epithelzellen grössten- teils fettfrei. Unterhalb des Epithels vereinzelte Tröpfchen. Sonst nur ver- einzelte schwarze Tröpfchen in den Bahnen der Submukosa. b) nach dem lang- samen Verfahren: Im Epithel bedeutend mehr Fett als bei a. Fett zwischen den Epithelzellen, im Zottenstroma, den zentralen Chylusgefässen und den Bahnen der Submukosa. Uın die Befunde übersichtlich zu machen, lasse ich eine Zu- sammenstellung folgen, in der angegeben ist, wo jedesmal im Schnitt und in welchem Maasse dort der Nachweis vom Fett gelang. Da eine genaue Lokalisation der Fetttröpfehen zwischen den Epithel- zellen im Gefrierschnitt aus naheliegenden Gründen nicht möglich war, fallen hier die Angaben fort. yaıpqdroa yaıpydıoa UHPURTLIOA U9PURILIOA “ sowesduerf oogosund ) EYANERE)N yqdıu umey umey woageptoy sopsey J Fl ydıpyorda yaıpyd1oa — U9PURILIOA Ser ae 722 SE 1UUOSIELHON) SUnso’TT 9y9s,Surwmwo]T uapungg FI ydeu 5 [4 umey umey U9PURILIOA U9PURILIOA souresdur’] \ Yopaqasurs 6I yqdıu yypıu U9PURILIOA U9PUBLLIOA uoaygjlo‘ Soyasey yypıu yydru — uU9PURYIOA 2er 7 TUUOSIOLIOL) HANBSWNIWSO yaıpydıoa [9lA yoıjwaız UAPURILIOA yaıyaroa “ sowesduerg oyaqasıro OSTIMUALLIIS ISIHMUDLLOIS yypıu 480[93 [Io] wnz wargepIo sopsey J " a yaıpqdIoı U9PURILIOA — yaıpıppıoıa er INUUOSTALHEN) Sunso”] oy9s, SuLuwwoaTd uapungg ZI ydeu « = J9ZUIOAI9A yqdıu U9PURTLIOA yaıydra.ı sowesduer] Yonoqasuro SI = yy>ru yypıu U9PURILIOA yoıpyoToıd wage.‘ Soypsey ° yqdru yypru — yaıpyoı9ıa Se 9° YIOOSTOLLON) © 9ANBSsWnIWs( < U9PUBUIOA U9PURUIOA ayouu yoırqdıoı “ soumsdur’] onaqasuro uney yydru [91A Yyoru yarıy9ıaa usıge]IoA SOyosey ol yaıpyoIoı yaıpıuaız UHPURTLIOA — yaıpqdToa nz pıu9sIonan SunsoTT 9y9s,Surwwory uapunIg 6 peu yyoru Jydru uopuet[IoA yoıydTroAd # sowesäuv’] \ Yopoqauro Ai yypıu yydru UHPURLLIOA yaıpypıoı uaıyepoA SOyOsey yypru yypru — yaııqoıaıa ee nterpejnie)s) YAnEswnrwsg | esoynwqns 0907 erroqypdoasyu] uopjpzpoundA Sunjpuegeg S 3 1 :u9][998 uopu9d]oy ur ME SOFIHTLLSO so pas sH ISSN DUn Se N S “ = = = — res —— — — —= - — = — —— = — N en Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 241 Ich hebe zunächst hervor, was die Osmiumpräparate über das Vorhandensein von Fett und Fettsäure aussagen. Die reine Osmium- säure hat das Fett in den Epithelzellen und die interepithelialen Tröpfehen geschwärzt. Da sich an beiden Stellen die Tröpfehen bei der raschen Aikoholbehandlung haltbar zeigten, ist bewiesen, dass sie nicht aus freier Ölsäure bestehen. Hinsichtlich des Epithelfettes entspricht dies Resultat vollständig dem Ergebnis der Titrierung. Für das interepitheliale Fett war in gleicher Schärfe der Nachweis noch nicht erbracht, erst durch das mikrochemische Verfahren ist bewiesen, dass auch es keine freie Ölsäure ist. Was das Chylusfett anlangt, so hat auffallenderweise die Osmiumsäure überhaupt nicht oder nur ganz schwach mit ihm reagiert). Dass hierbei das Ein- bettungsverfahren ohne Schuld ist, lehrte die Betrachtung der Ge- frierschnitte. Man würde angesichts dieser Tatsachen zu keinem Resultat kommen, wenn nicht schon durch die Titration einwands- frei gezeigt wäre, dass im Chylus keine freie Ölsäure vorhanden sein kaun. Ich verweise hierzu nochmals auf Fig. 5 auf Taf. XI, wo ınan die mächtige Fettanhäufung in den Bahnen der Submukosa sieht, Ölsäure aber sich in dem Extrakt verhältnismässig wenig fand. Bei dem Chylusfett entscheidet also die rein chemische Methode. Hier- nach ist das Resultat dies, dass weder die in der Epi- thelschicht noch die in den abführenden Bahnen liegenden mikroskopisch sichtbaren Fettmassen aus freier Ölsäure bestehen. Was lehrt andererseits der Vergleich der Flemming- und Osmiumpräparate im Hinblick auf die Anwesenheit von Seife? Die Flemming’sche Lösung hat, wie die Gefrierschnitte lehren, in der Tat im Gegensatz zur Osmiumsäure das Chylusfett geschwärzt. Man würde aber einen grossen Fehler machen, wenn man hieraus auf Seife schliessen wollte. Denn erstens weiss man ja, dass es emulgiertes Fett ist, welehes die Lymphe abführt, und zweitens hat sich Seife während der Resorption nicht mehr als im nüchternen Zustand gefunden. Der Vergleich geht also hier deshalb nicht, weil die Osmiumsäure am Chylusfett überhaupt versagt. Im übrigen, speziell am Epithel, zeigt sich zwischen Flemming- und Osmiumpräparaten kein Unterschied. 1) Man erkennt in den Lumina der Chylusgefässe den fixierten Inhalt auch da, wo die Reaktion ausgeblieben ist. Er erscheint ganz schwach getönt, geradeso wie das Blut in den Blutgefässen. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136 : 16 242 A. Noll: Nun lehren aber die Flemming- Präparate in anderer Richtung etwas Neues. Bei dem raschen Alkoholverfahren nämlich wird in ihnen viel Fett gelöst, in den Chylusbahnen stellenweise alles, aber auch etwas von dem Fett zwischen den Epithelzellen und hin und wieder auch von dem Epithelfett selbst. Das kann nur auf einer Veränderung des Fettes bei der Fixierung beruhen. Vielleicht wird es unter: Abspaltung von Ölsäure zerlegt. Jedenfalls ist das ent- stehende Produkt leichter löslich als nach Fixierung in reiner Os- miumsäure; diese Beobachtung hatte auch Flemming!) selbst schon gemacht. Gleichzeitig scheint bei der Fixierung auch eine morpho- logische Veränderung einzutreten. Darauf deuten die ungleichmässigen Formen des geschwärzten Fettes, die zum Teil mehr homogene, weniger intensiv geschwärzte Massen, zum Teil schwarze Tropfen verschiedener Grösse darstellen. Es ist möglich, dass, wie Köster meint, ein Konfluieren der Tröpfehen stattfindet. Eine histologisch-technisch wichtige Tatsache, welche meine Ver- suche ergeben, ist nun die, dass man, um möglichst alles Fett zu fixieren, Osmiumlösungen verwenden muss, denen Säure, wie z. B. in der Flemming’schen Lösung, zugesetzt ist. Ich fand, dass auch der alleinige Zusatz von 1°/oiger Chromsäure schon wirkt, allerdings wird dann das Fett nicht so schwarz wie bei Flemming- scher Lösung. Die Altmann’sche Lösung dagegen hat an den Därmen denselben Effekt wie reine Osmiumsäure gehabt. Eine Kombination von 1/oiger Osmiumlösung mit Cale. salieyl. (in Sub- stanz bis zur Sättigung zugegeben) hatte sehr gute Resultate. Sowohl die Ausgiebiekeit der Fettdarstellung war bedeutend, als auch war bemerkenswert, wie distinkt und gleichmässig die einzelnen Tröpf- chen in den abführenden Bahnen heraustreten. In Fig. 9 sieht man eine Anzahl Chylusgefässe der Submukosa mit solchen Fetttropfen gefüllt. Somit kommeich aufGrundderin diesem Abschnitt geschilderten Befunde zu dem Ergebnis, dass das mikroskopisch nachweisbare, zumeist emulgierte Fett in der Darmschleimhaut nirgends aus freier Ölsäure besteht, und dass auch Seife sich nicht oder kaum 1) Flemming, Über die Löslichkeit des osmierten Fettes und des Myelins in Terpentinöl. Zeitschr. f. wissensch. Mikroskopie Bd. 6 S. 39 und 178. 1889. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport ete. 243 [5 darin befindet. Die tatsächlich konstatierte geringe Zunahme von Ölsäure bei der Resorption ist höchst- wahrscheinlich auf die Epithelzellen zu beziehen. Denn sie ist nachweisbar gerade dann, wenn das Epithel tätig ist. Im übrigen ist nur gebundene Fett- säure vorhanden. Ob aber dieBindungalsTriglycerid oder in anderer Weise erfolgt, können meine Unter- suchungen nicht entscheiden. Schlussbetrachtungen. Die Untersuchungen ergaben, dass das in die Epithelzellen ein- getretene Fett zum Teil die Zellen passiert, ohne erst in Form von Tropfen aufgespeichert zu werden, zum andern Teil zunächst in den Tropfen zurückgehalten wird. Diese Tropfen sind das erste mikroskopisch sichtbare Fett. Sie bestehen gewiss nicht aus freier Fettsäure. Indem es unentschieden bleibt, ob das Triglycerid vorliegt, so steht jedenfalls fest, dass es nach Or fütterung beim Kaninchen ein flüssiges Fett ist. Woraus sich das Fett in der Zelle bildet, ist eine Frage, die aufs engste mit der Frage zusammenhängt, in welcher Form es in die Zelle gelangt. Vollzieht sich, wie man jetzt annimmt, der Übergang in Form der Spaltungsprodukte, so würde eine Synthese in der Zelle erfolgen; dass die Epithelzellen wirklich ein weitgehendes Synthetisierungs- vermögen besitzen, ist für den Frosch wenigstens erwiesen. Stellt man sich nun auf den Standpunkt, dass zunächst etwa Fettsäure in die Zelle gelangt, so wäre es begreiflich, wenn man in ihr neben dem Neutralfett immer noch etwas freie Fettsäure anträfe. Einen positiven Anhaltspunkt hierfür scheinen die oben erwähnten mikro- chemischen Befunde Rossi’s zu liefern. Auch in meinen Versuchen könnte der geringe Mehrgehalt an freier Fettsäure in den resorbierenden Därmen von solcher noch nicht synthetisierter Ölsäure der Epithel- zellen herrühren. Wie ich aber nochmals betonen muss, würde diese Ölsäure im Osmiumpräparat nicht hervortreten. Wenn man sich weiter fragt, wie das Fett aus den Zellen wieder austritt, um in das Zotteninnere zu gelangen, so hat man nach den früheren Ausführungen zwischen dem Fett der Tropfen und demjenigen zu unterscheiden, welches, wie ich mit Oppel an- nehme, die Zelle passiert, ohne erst dort abgelagert zu werden. Ich fasse zunächst die Tropfen ins Auge. Diese verschwinden 16% D44 A. Noll: erst gegen das Ende der Resorption hin und, wie es scheint, ziem- lich schnell. In dieser Phase ist keine Zunahme freier Fettsäure in der Schleimhaut nachweisbar. Daraus folgt, dass dieses Fett vordem Austritt nicht erst gespaltenundals Fettsäure weitergegeben wird, sondern dass esals Neutralfett, und zwar, da sich in Übereinstimmung mit den bis- herigen Erfahrungen niemals austretende Tröpfchen als solche nachweisen liessen, als gelöstes Fett die Zelle verlässt. Erst nach dem Austritt findet es sich zwischen den Epithelzellen wieder in Form mehr oder weniger distinkter Tröpfehen. Die Ansammlung der Tropfen innerhalb der Zellen er- klärt sich als eine Folge übermässigen Fettgehalts des Protoplasmas bei reichlicher Fettzufuhr. Welche Rolle bei diesem Vorgang die Zellgranula spielen, soll hier nicht erörtert werden!). Man muss jedenfalls annehmen, dass schon im Protoplasma, wenn auch viel- leicht nicht auschliesslich dort, eine Synthese erfolgt. Hierbei würde dem Protoplasma der Darmepithelzellen eine aktive Tätigkeit zu- fallen, wie demjenigen vieler Drüsenzellen, wo die Ausarbeitung der in den Sekrettropfen enthaltenen spezifischen Produkte Aufgabe des Protoplasmas ist. Ähnlien verhält es sich mit dem Fett, welches die Zellen passiert, ohne dort erst abgeschieden zu werden. Da das Synthetisierungs- vermögen der Zellen erwiesen ist, ist es von vornherein am wahr- scheinlichsten, dass auch dieses Fett Neutralfett, d. h. irgendwie gebundene Fettsäure ist. Einen tatsächlichen Beweis gegen die An- nahme Oppel’s, wonach die Spaltungsprodukte des Darminhalts unverändert die Zellen passieren sollen, sehe ich darin, dass niemals solche Mengen freier Fettsäure oder Seife in der Darmschleimhaut nachweisbar waren, wie man entsprechend der Annahme Oppel’s erwarten sollte. Zwischen den Epithelzellen trifft man wohl nur solches Fett an, welches aus den Tropfen der Epithelzellen stammt. Ob dies interepitheliale Fett schon vor der Fixierung dort lag oder nach der Herausnahme des Darmes rückläufig hingekommen ist, ist hier nicht die wesentliche Frage. Jedenfalls ist es das nächste siehtbare Fett auf dem Transportweg. Ich habe aber Grund zu der Annahme, dass 1) Vgl. hierzu die Auseinandersetzungen M. Heidenhain’s in „Plasma und Zelle“. v. Bardeleben’s Handb. S..421 ft. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport ete. 245 es nicht zurückgestaut ist; denn es zeigt den charakteristischen Unterschied zu dem Chylusfett, dass es von 1°/o Osmiumlösung ge- schwärzt wird, jenes aber nicht oder nur unvollkommen. Dies dürfte nicht der Fall sein, wenn es einfach zurückgetriebener Chylus wäre. Auch dieses Fett stellt gebundene Fettsäure dar, und es sind keine Merkmale dafür vorhanden, dass es andere Zusammensetzung hätte als das Epithelfett. Schwieriger ist die Beurteilung des Chylusfettes, Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass es hauptsächlich oder ausschliesslich aus dem Fett stammt, welches die Epithelzellen passiert hat, sei es, dass das letztere dort erst abgeschieden war oder nicht. Ebenso sicher ist es, dass es auch keine freie Fettsäure ist. Es zeigt aber die vorläufig noch unerklärte Eigentümlichkeit, sich im Gegensatz zu dem übrigen Fett nieht direkt mit Osmiumsäure zu schwärzen, Darf man hieraus schliessen, dass es chemisch anders zusammengesetzt ist als jenes? Allem Anschein nach haben wir es im Chylus mit einer be- sonderen Form der Fettemulsion zu tun. Der Chylus des Duet. thoracieus vom Hund enthält bekanntlich die Fetttröpfehen in äusserst feiner „staubartiger“ Verteilung. v. Frey!) bestimmte ihre Grösse noch unter Y/s u. Das sind physikalische Verhältnisse, wie sie sich nach v. Frey in einer Schüttelemulsion von neutralem Öl in destillierttem Wasser künstlich nicht herstellen lassen, und nach v. Frey mit ein Grund für die auffallende Beständigkeit der Chylus- emulsion. Über das Aussehen des frischen Chylus der Darmgefässe ist bislang niehts bekannt. Ich selbst habe in dem frisch entleerten Chylus der mesenterialen Gefässe eines meiner Kaninchen diese äusserst feine Emulsion ebenfalls sehen können und nehme an, dass auch schon in der Darmschleimhaut der Chylus das gleiche Aussehen hat. Es wäre möglich, dass diese staubartige Emulsion aus physi- kalischen Gründen die Osmiumfärbung verhindert. Unwahrscheinlich ist es mir, dass die Tröpfehen von irgendeiner Hülle umgeben sind, welche erst durch gewisse Zusätze zur Osmiumsäure, wie z. B. Essig- säure, zerlegt werden müssten, damit die Osmiumsäure an die Tropfen heran kann. Jedenfalls lässt sich bei meinen Versuchen eine Seifenhülle ausschliessen, weil sich die erforderliche Seife gar 1) v. Frey, Die Emulsion des Fettes im Chylus. Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1881 S. 382. 246 A. Noll: nicht hat nachweisen lassen. Um zu einer klaren Kenntnis der Chylusbeschaffenheit zu kommen, sind weitere Untersuchungen un- bedingt nötig. Einstweilen wird man angesichts solcher‘ oder anderer Möglichkeiten ausdemeigenartigen Ver- halten der Osmiumsäure noch nicht folgern dürfen, dass dasChylusfett eine anderechemische Zusammen- setzung habe als das Epithelfett. Es muss daher vorläufig unentschieden bleiben, ob etwa das Fett auf dem Wege vom Epithel in die Chylusgefässe eine chemische Veränderung erleidet. Die bisherigen Betrachtungen bezogen sich ausschliesslich auf diejenigen Fälle, in denen, wie bei meinen Versuchen, sehr viel Fett verfüttert wird. Hält sich die Fettzufuhr in natürlichen Grenzen, so kommt es nach den bisherigen Erfahrungen einiger Autoren nicht zu der starken Anhäufung von Fetttropfen im Epithel. Der Vorgang in den Epithelzellen vereinfacht sich dann insofern, als in ihnen nun vorwiegend die mit der Osmiummethode nicht nachweisbaren Vorgänge der Verarbeitung und sofortigen Weiterbeförderung des aufgenommenen Fettes ablaufen. Ob auch in diesen Fällen die Rolle der Chylusbahnen bei dem Transport eine so grosse und augenfällige ist, scheint mir fraglich. Stickel!) hat wenigstens bei saugenden Hündehen und neugeborenen Kindern das charakteristische milchig- weisse Aussehen der Chylusgefässe nur selten gefunden. So komme ich zum Schluss auf die Frage, ob nicht Fett noch anders als in Form der Emulsion und auf anderem Wege als durch die Chylusbahn aus dem Darm abgeführt wird. Wie zuerst die Ver- suche Zawilski’s?) zeigten, findet sieh im Chylus nicht alles ver- fütterte Fett wieder. Es ist möglich, dass sich auch die Blutbahn bei dem Transport beteiligt. Auch meine Versuche weisen darauf hin, dass die Lymphbahn nicht den einzigen Abführweg darstellt. Es ist nämlich zu auffallend, dass bei den Kaninchen erst ın der fünften Verdauungsstunde der Chylus deutlich fetthaltig war, trotz- dem sich bis dahin in den Epithelzellen schon viel Fett angesammelt hatte. Schlägt das Fett vielleicht zunächst einen anderen Weg ein und kommt erst dann in die Chylusbahn, wenn die resorbierte Menge eine gewisse Grenze überschreitet ? 1) Die Arbeit erscheint im Arch. f. Gynäkol. 2) Zawilski, Dauer und Umfang des Fettstromes durch den Brustgang nach Fettgenuss. Arbeiten der physiol. Anstalt zu Leipzig, 11. Jahrg., 1876 S. 147. Tafel X1 Bd. 186. ogie. ol i er ‚, Phys nte % ie gesam * re ü Ey rchiv. fi A Erg Verlag von Martin Hager, Bonn. LICHTDAUCK VON RÖMMLER & JONAS, DRESDEN Pflüger’s Archiv für die gesamte Physiologie. Bd. 186. Tafel XIL Fig. 6 Fig. 7 uw a I sa 2) Br. ne ; a Fr FÜR v 5 ; f ap 9: F ’ sl 7 Verlag von Martin Hager, Bonn. Chem. und mikroskop. Untersuchungen über den Fetttransport etc. 247 Nach allem, was meine Untersuchungen lehren, komme ich zuder Überzeugung, dass die mikroskopisch nachweisbaren Vorgänge bei der Fettresorption nur einen Teil des gesamten Vorganges darstellen. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Erklärung der Abbildungen auf Tafel XI und XI. Dünndarm des Kaninchens während der Resorption von Öl. 1—4. Mikrophotogramme nach ungefärbten Flemming - Präparaten. Vergr. 110. Man sieht das osmierte Fett in frühen Stadien nur im Epithel (Fig. 1 und 2), später auf dem Transport durch das Zottenstroma in das zentrale Chylusgefäss (Fig. 3 und 4). Genauere Beschreibung Text S. 224. 5. Mikrophotogramm. Fixierung in Formol, Färbung mit Sudan Ill. Vergr. 60. 12 Stunden nach der Eingabe des Öls. Viel Fett in den Chylus- gefässen der Submukosa. (Vgl. Text S. 224.) 6. Eine Zotte aus Fig. 3 bei 170 facher Vergrösserung gezeichnet. (Text S. 224.) .7. Eine schräg durchschnittene Zotte vom nämlichen Fall wie Fig. 4, ge- zeichnet. Ungefärbtes Flemming-Präparat. Vergr. 230. (Text S. 224.) 8. @uerdurchschnittene Zottenepithelien. 1/oige Osmiumlösung. Keine Färbung. Vergr. 580. Interepitheliales Fett. 9. Aus der Submukosa. Fixierung mit 1°%oiger Osmiumsäure + Cale. salicyl. Vergr. 140. (Vgl. Text S. 242.) 248 F. Best: Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung des optischen Raumsinnes. Von Professor. FE. Best (Dresden). Auf die Bedeutung. der Hemianopsie für das optische Raum- problem ist schon häufig aufmerksam gemacht worden. Aber nicht nur in dieser allgemeinen Form ist die Hemianopsie von physiolo- gischem Interesse: auch manche Einzelheiten im Sehen des Hemi- anopikers sind geeignet, zur näheren Untersuchung anzuregen. Ich habe auf einiges bereits in einer früheren Veröffentlichung!) hin- gewiesen. Es gibt Fälle von Hemianopsie, in denen die Grenze zwischen erhaltenem und zerstörtem Gesichtsfeld eine durch den Fixier-- punkt gehende senkrechte gerade Linie bildet. Wenn man der von Lenz?) und mir vertretenen Ansicht folgt, so ist dies Ver- halten die Regel bei Zerstörung des Traetus optieus und der primären Sehzentren (Corpus geniculatum externum). Bei der überwiegenden Mehrzahl der Hemianopsien ist dagegen neben dem Fixierpunkt noch ein „überschüssiges Gesichtsfeld“ in Gestalt einer „Maculaaussparung“ erhalten. Dass meistens nicht der reine Charakter der geradlinigen Ge- sichtsfeldtrennung zutage tritt, liegt an dem so häufigen intracerebralen Sitz der Unterbrechung der Sehbahn. Selbst wenn ein Herd die eine eerebrale Sehsphäre in der Gegend der Fissura calcarina vollständig zerstört, so ist doch infolge der Verbindungsfasern zwischen rechter und linker Gesichtsfeldhälfte, wie sie nach Heine das stereoskopische Sehen verlangt, zum mindesten für das Maculagebiet der Ausfall kein vollständiger. Nur bei Tractus-Hemianopsien kann das Halb- 1) Best, Bemerkungen zur Hemianopsie. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. Bd. 74 S. 400. 2) Lenz, Zur Pathologie der cerebralen Sehbahn. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. Bd. 72 S. 1 und 197. Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung etc. 249 sehen vollständig sein, und selbst hier wäre es möglich, wenn auch bisher noch nicht exakt festgestellt, dass sich gelegentlich ein über- schüssiges Gesichtsfeld zeigte, indem die normalerweise cerebral ver- laufende Kommissur durch frühzeitige Teilung der Maculafasern schon im Chiasma läge. Einerlei, wo nun die Leitungsunterbrechung bei gerader Trennungs- linie des Gesichtsfeldes zu suchen ist, sind für physiologische Unter- suchungen gerade diese ganz vollständigen reinen Hemianopsien am besten zu verwerten. Leider sind unkomplizierte Fälle derart recht selten. In einem solchen, in dem einseitige Blindheit neben Hemi- anopsie des anderen Auges bestand, hatte ich feststellen können, dass (die senkrechte Gesichtsfeldtrennungslinie sehr annähernd genau gerade verlief — mit Abweichungen von höchstens 14 Min. —, sowie dass ihre Lage im Raume im Mittel etwa 2°49’ mit dem oberen Ende nach aussen (temporal) von der objektiv Senkrechten abwich, so dass die Gesichtsfeldtrennung bei Hemianopsie entsprechend dem Längsmittelschnitt der Netzhaut erfolete, wenigstens mit einer ge- wissen Wahrscheinlichkeit. Sofort nach Abschluss der Veröffent- liehung darüber kam eine isolierte Zerstörung des rechten Tractus opticus oder Corpus genieulatum durch Schussverletzung in meine Behandlung, über die die klinische Mitteilung in der Münchener med. Wochenschrift 1910, 8. 1789 erfolgt ist, mit vollständiger links- seitiger Hemianopsie ohne sonstige Komplikation, Sie liegt den tolgenden Ausführungen zusrunde. Zunächst habe ich dabei die früher gestellte Frage wieder auf- genommen: Mit welcher Genauigkeit entspricht die Gesichtsfeld- trennung einer geraden Linie? Wenn man die Gesichtsfeldgrenze in der Weise aufnimmt, dass der Patient einen weissen Punkt in Augenhöhe in Y/e m Entfernung an einer gegenüber befindlichen Wand fixiert, so ergibt sich unter 12 Aufnahmen die grösste Abweichung von 3,5 mm; die beste Aufnahme zeiet nur + Differenzen von 1 mm auf eine Linienlänge von 55 em. Unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten der ruhigen Einhaltung der Fixation und der nor- malen Beobachtungsechwankungen muss man ein derartiges Resultat — Abweichung bestenfalls von nur 7 Min. bis zu einer Fxzentrizität von je 29° nach oben und unten — als sehr bemerkenswert av- sehen. Zu den in der Literatur vorliegenden Angaben , besonders soweit sie das Verhalten der Gesichtsfeldmitte betreffen, muss hier gesagt werden, dass die wohl meistens allein vorgenommene Unter- 250 F. Best: suchung mit den üblichen Perimetern, auch die Bestimmung im Stereoskop nach Haitz, nicht für die Feststellung eines gerad- linigen Verlaufs der Grenze durch den Fixierpunkt genügt, sondern dass eine Prüfung auf grössere Entfernung zur Ergänzung des Befundes heranzuziehen ist. Ich bin so verfahren, dass ich die Grenze auf mattschwarzes Papier mit weissem Kreidestift auf- gezeichnet habe, dessen Spitze gleichzeitig als Reizmarke diente, und zwar auf "/s m Entfernung. Für die Fovea sind noch andere Vorsichtsmaassregeln nötie. Denn bei Erwartung eines Objektes in der Nähe des Fixierpunktes ist die Versuchung für den Patienten zum direkten Fixieren besonders gross. Ausserdem kann ein helles Objekt schon vor Erscheinen durch normalerweise zerstreutes Licht seine. Anwesenheit verraten. Um also das Ergebnis der Gesichts- feldmessung zu kontrollieren, musste der Patient eine kleine weisse Marke an der Wand im (hellen) Untersuchungszimmer monokular fixieren; bei Vorschieben eines Prismas, Basis rechts, welches das Bild der Marke auf die blinde Netzhauthälfte verschiebt, von 1° war die Marke verschwunden. Genauer liess sich ein eventuelles überschüssiges Gesichtsfeld auf folgende Weise ausschliessen. Bei fester Fixation eines der Sehprobenzeichen, z. B. einer Zahl der 7,5-Reihe der Schweigger’schen Proben auf S m, war die be- nachbarte, 2 em entfernte Zahl für den Patienten nicht mehr sichtbar. D. h. die Gesichtsfelderenze verläuft durch den Fixierpunkt oder höchstens 8!/a Min. daneben. — Die Untersuchung der Sehschärfe gibt dagegen kein Kriterium für das Verhalten der Gesichtsfeldgrenze, im Widerspruch zu der Ansicht von Behr: Die Sehschärfe war in unserm Falle auf beiden Augen normal. Behr nimmt an, dass bei Hemi- anopsie mit geradlinigem Verlauf der Trennungslinie durch den Fixier- punkt die Sehschärfe mindestens auf Ya sinken müsse. Vorliegender Fall beweist, dass sich sogar vollständig normale Sehschärfe mit gerader Gesichtsfeldgrenze verträgt, und es ist auch physiologisch kein Gegengrund vorhanden, da die Sehschärfe innerhalb einiger Minuten direkt neben dem Fixierpunkt noch nicht absinkt. Der hiermit festgestellte vollkommen geradlinige Verlauf der Trennungslinie im beiderseitigen Gesichtsfeld ist möglich nur dadurch, dass eine anatomisch exakt vorgebildete und angeborene räumliche An- ordnung der Sehnervenfasern bei ihrer Halbkreuzung vorliegt. Ich möchte den angeborenen Charakter einer vertikal gelegenen scharfen geraden Linie symmetrisch in beiden Gesichtsfeldhälften ganz besonders Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung etc. 251 betonen, weil ich weiss, dass die Helmholtz’sche Lehre der Er- lernung der optischen Raumempfindung durch individuelle Er- fahrung für das Denken von vielen in mehr oder weniger ein- geschränkter Form noch Gültigkeit hat. Die Hemianopsien mit geradliniger Trennungslinie zeigen, bis zu welcher Genauigkeit der angeborene Mechanismus ausgebildet ist, der die Grundlage für die Empfindung rechts oder links von der optischen Medianebene ab- gibt, normale Augen vorausgesetzt. Eine Theorie, die unsern Ge- sichtsempfindungen angeborene Raumqualität abspricht, wird zum mindesten einen vorgebildeten, nach der räumlichen Wertung der Empfindungen geordneten Verlauf der Sehfasern berücksichtigen müssen. Übrigens ist es im Sinne der fötalen Entwicklungs- „mechanik“ nicht schwer auszudenken, dass es in den beiden Netz- häuten eine angeborene Vertikale gibt. Ist doch auch der ganze Körper um eine vertikale Symmetrieebene gebildet, und zeigt doch der Verlauf der sensiblen und motorischen Nerven das Bestehen einer ziemlich scharfen vertikalen Scheide zwischen rechts und links, wenn auch vielleicht nicht ganz so exakt wie das Doppelauge. Die Halbkreuzung des Sehnerven erfolet offenbar, um die von Deckstellen der beiden Netzhäute kommenden Sehnervenfasern ein- ander zu nähern. Die vertikalen Trennungslinien, welche die Scheide zwischen Fasern des rechten und linken Tractus bilden, gehören also zu korrespondierenden Punkten. Es muss daher untersucht werden, ob diese vertikalen Trennungslinien wirklich den mittleren Längs- schnitten der Netzhäute entsprechen. In dem früher veröffentlichten Fall hatte ich dies als wahrscheinlich gefunden und freute mich um so mehr, neuerdings eine Bestätigung vornehmen zu können. Es eibt aber in pathologischen Fällen zahlreiche Hemmnisse für die Untersuchung solcher subtilen Fragen, da sie eine sehr gute Be- obachtungsgabe des Patienten erfordern. Auch war ich auf be- scheidene Hilfsmittel — Fehlen eines Haploskops und genauer Fixiervorriehtungen für den Kopf — angewiesen, so dass ich wegen der technischen Seite der Frage um nachsichtige Kritik bitten muss. Wenn man bei fixiertem Kopf die Gesichtsfeldgrenzlinie jedes Auges bei verschlossenem andern Auge aufnimmt, so erhält man — bei angenäherter Primärstellung der Augen und Untersuchung auf 70 em — eine Divergenz der oberen Enden der beiden vertikalen Linien von 3° 53’ im Mittel von 5 Versuchen. Hierin ist zugleich der Anteil einer eventuellen Drehung der beiden Augen neben der Divergenz 252 F. Best: der Längsmittelschnitte enthalten. Ausserdem ist diese Divergeunz dureh die Konvergenz der Augen auf 70 cm vergrössert. Bestimmt man im halb verdunkelten Zimmer die Stellung einer dem Patienten vertikal erscheinenden Linie, so ist es ziemlich genau die Vertikale; allerdings konnte ich bei den Versuchen die gleich- zeitige Sichtbarkeit anderer vertikaler Konturen nicht ausschliessen, so dass ich diesen Versuchen keinen besonderen Wert beilegen kann. Genauer lässt sich die Neigung der Längsmittelschnitte der Netzhäute haploskopisch bestimmen. Hierzu habe ich teils das Zeiss’ sche (Linsen-)Stereoskop, teils gewöhnliche Prismenstereoskope verwandt. Selbstverständlich ist die Benutzung der letzteren nicht korrekt für wissenschaftlich exakte Untersuchungen. Für die vor- liegende Frage erscheint sie dann zulässig, wenn man sich bewusst ist, dass die Stellung der Augen zueinander (Konvergenz) durch die Prismen eine Änderung erfährt. Leider sind nun die Angaben des Patienten bei diesen stereoskopischen Versuchen recht wenig zuverlässig, und erst nach längerer Einübung waren sie einiger- maassen zu gebrauchen. Die stereoskopische Verschmelzung war für unsern Hemianopiker, der zudem in der Selbstbeobachtung nicht geübt war, eine schwere Aufgabe. Entweder die beiden Gesichts- felder zerfielen auseinander, oder es wurde bald das Bild des linken, bald des rechten Auges unterdrückt. Die Pupillendistanz des Patienten betrug nur 55,5 mm; Divergenz der Augen konnte so gut wie gar nicht aufgebracht werden. Am leichtesten gelang die Ver- schmelzung bei leichter Konvergenz; dies ist verständlich, denn bei leichter Konvergenz gehörte der fixierte Punkt von vornherein in beiden Augen dem erhalten gebliebenen Gesichtsfeld an. Auch war ein vollständiges Erschlaffen der Akkommodation nicht zu erzielen, so dass auch im Linsenstereoskop mit Konvergenz beobachtet wurde. Stereoskopisches Sehen szelang bedeutend leichter im Prismen- stereoskop, das ja die Konvergenz beeünstigt. Die Finübung im stereoskopischen Sehen konnte nur mit zerschnittenen Stereoskop- bildern erfolgen, die ja alle für etwas grössere (meist 60 mm) Pupillardistanz berechnet sind. Dabei zeigte sich zugleich, dass die Tiefensehschärfe mit disparaten Netzhautstellen entschieden gelitten hatte. Anfangs war sie gar nieht, nachher wenigstens für SrOsse Tiefenunterschiede (8 °, 12 ° u. a.) nachzuweisen. Die unterste Grenze habe ich nicht bestimmt; sicher ist sie stärker herabgesetzt als das zentrale Sehen. Denn während der Normaläugige die quere Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung etc. 253 Disparation eines Punktes rechts vom Längsmittelschnitt gegenüber einem solchen links von ihm im andern Auge am häufigsten aus- nutzt, kommen für den Patienten nur disparate Punkte der gleichen (linken) Netzhauthälften in Frage, wobei ausserdem das eine Bild eine grössere Exzentrizität haben muss als im normalen Sehen. Die grossen Schwierigkeiten in der stereoskopischen Beobachtung ver- ringern natürlich den Wert der folgenden Angaben, aber diese Schwierigkeiten werden der Beobachtung pathologischer Fälle wohl immer anhaften. Bestimmt man zunächst die Divergenz der oberen Enden der (Gesichtsfeldgrenzlinien im Stereoskop, nachdem man für möglichste binokulare Verschmelzung durch Ziehen einer Horizontalen gesorst hatte, so ergab sich im Durchschnitt von sechs Messungen 2° 22”. Zieht ınan für beide Augen eine zu verschmelzende Horizontale, für das linke ausserdem eine dazu im Fixierpunkt senkrechte, und bestimmt auf dem rechten Auge durch Substitution die dazu korre- spondierende Linie, so divergiert deren oberes Ende im Mittel von vier Versuchen um 1° 24‘. Gibt man dem Patienten verschiedene Figuren, in denen die Senkrechten für rechtes und linkes Auge gegenüber einer Horizontalen von 0 bis 5° vom rechten Winkel abweichen, so sieht er die Senkrechten im Mittel dann einfach, wenn sie mit den oberen Enden um 2° 45’ divergieren; sonst zerfallen sie in Doppelbilder (infolge der schlechten Tiefenseh- schärfe). Zur Kritik dieser Angaben muss ich erwähnen, dass zahlreiche Versuche abgebrochen und annulliert werden mussten, weil sich her- ausstellte, dass Patient dabei nicht stereoskopisch verschmolzen hatte; oder weil Ermüdung eintrat; oder die Fixation nicht inne- gehalten wurde, usw. usw. Die Vertikalen liegen immer für den Patienten an der Grenze des Gesichtsfeldes, wo die Beobachtung für ihn also sehr erschwert war. Ferner: die Resultate gelten für mittlere (variable) Konvergenz; sind also aus diesem Grunde nicht streng vergleichbar. Nach Hering beträgt die. physiologische Inkongruenz der Netzhäute zwischen 0° und etwa 1° 15’; Konvergenz bewirkt stärkeres Auseinanderweichen der oberen Enden der Längs- mittelschnitte. Dem Sinne nach sind die obigen Ergebnisse hiermit im Einklang, und wenn es mir auch nicht gelungen ist, eine hohe Genauigkeit; in den Angaben des Patienten zu erzielen, so kann man es doch wohl als richtig annehmen, dass die Trennung im 254 F. Best: Gesichtsfeld bei vollständiger Hemianopsie in den Längsmittelschnitten der Netzhäute erfolet. Die Halbkreuzung der Sehnerven ist schon von jeher als Beweis dafür angesehen worden, dass die Raumwerte der einzelnen Netz- hautstellen und ihre Korrespondenz auf Grund eines anatomisch vor- gebildeten Mechanismus dem Menschen angeboren sind. Wenn man will, kann man schon Galen!') als ersten Vertreter dieser Ansicht anführen. Von Hering ist diese Lehre in ihrer jetzigen Gestalt ausgeprägt worden, die Lehre, „dass der gesammte sensorische und motorische Apparat des Sehorgans ein Gebilde ist, an dessen Auf- und Ausbau eine unabsehbar lange Kette bewusster Wesen im Laufe unabsehbarer Zeiten gearbeitet hat; ein lebendiges Werkzeug, dessen Gebrauch der Neugeborene nieht erst mühsam zu erlernen hat, das vielmehr — seinem Wollen und Können bereits durchaus angepasst — ihm mühelos die ersten optischen Kenntnisse seiner Aussenwelt erschliesst und unter der Leitung seines Bewusstseins und der An- regung der Aussenwelt sich zu immer weiteren und ferneren Leistungen ausbildet“ ?). Die genaue Untersuchung der räumlichen Verhältnisse bei Hemianopsie liefert, wie vorstehende Untersuchung zeigt, neue Beiträge zur Richtigkeit der nativistischen Theorie. Be- sonderes physiologisches Interesse würde eine Traetus-Hemianopsie bei Schielen mit anomaler Sehrichtungsgemeinschaft haben. — Neben den hier angeführten Untersuchungen noch auf die in der Literatur niedergelegten Beobachtungen, besonders von Wilbrand, von un- vollständigen homonymen Hemianopsien einzugehen, ist nicht meine Absicht, doch sind auch sie für die angeborene Natur der Korrespondenz beweisend. Gegen die nativistische Theorie ist vor einigen Jahren von Veraguth?) die Art der Lokalisierung diaskleraler Reize eingewandt worden. Seit der Mitteilung von Veraguth habe ich speziell auch in pathologischen Fällen hierauf geachtet und beabsichtigte schon lange, diesen Einwand zurückzuweisen. Das ist nun unter- dessen von Grützner*) geschehen, mit dessen Widerlegung der Ansichten Veraguth’s ich bis auf einzelnes übereinstimme. 1) Helmholtz, Physiol. Optik, 1. Aufl., S. 762. 2) Hering, 35. Versammlung der ophth. Gesellsch. Heidelberg 1906 8. 18. 3) Veraguth, Zeitschr. f. Psych. Bd. 42 S. 162. 1906. 4) Grützner, Pflüger’s Arch. f. Physiol. Bd. 129 S. 298. 1908. Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung etc. 355 Veraguth nimmt an, dass ein diaskleraler Lichtreiz zwar nasal erzeugt nach der temporalen Seite ins Gesichtsfeld verlegt wird, dass aber ein temporal erzeugter diaskleraler Lichtreiz auch temporal lokalisiert werde, und dass dies Ergebnis mit einer nativistischen Theorie nieht vereinbar sei. Ich kann nun zunächst Veraguth’s Ergebnis nicht bestätigen, wenigstens dann nicht, wenn man wirk- lieh diasklerales Lieht scharf von dem nicht ganz auszuschliessenden „diapupillären“ sondert. Am besten verfährt man so, dass man auf die Sachs’sche Durchleuchtungslampe oder auf den Wolff’schen Augenspiegel (mit dem Schornsteinaufsatz zur Untersuchung im um- gekehrten Bild) einen Triehter von schwarzem, photographisch un- durchlässigem Papier aufsetzt, dessen Spitze nur einen Lichtkreis von 1 mm im Durchmesser austreten lässt, der aber dafür äusserst intensiv aufleuchtet. Setzt man diesen Trichter auf die Conjunctiva sclerae auf, so überzeugt man sich im Dunkelzimmer leicht, dass es selbst mit dieser Vorsichtmaassregel nicht gelingt, mit Vollständig- keit alles Licht vom Hornhautrand abzuhalten. Eine Spur. Licht diffundiert immer, je näher dem Hornhautrand, um so mehr, ent- lang der weissen Sklera bis an den Hornhautrand und kann von hier nach dem Augeninnern reflektiert werden. Wir haben also bei grösster Vorsicht doch immer damit zu rechnen, dass zu dem beabsichtigten diaskleralen Licht, das durch den Durchgang durch die Augenhäute stark geschwächt ist, eine Spur diapupilläres Licht hinzutritt. Die Beobachtung ergibt nun folgendes: Lässt man das Auge nasal wenden und setzt weit ab von der Hornhaut auf der temporalen Seite den Trichter auf, so sieht der Untersuchte nasal einen rötlich gefärbten Lichtkreis, der bei Bewegung der Lichtquelle umgekehrt wandert; ausserdem eine allgemeine Erhellung des Ge- sichtsfeldes.. Setzt man den Trichter etwas weiter cornealwärts auf, so ist der diasklerale Lichtkreis nieht mehr bemerkbar, da er die Grenzen des nasalen Gesichtsfeldes, die bekanntlich enger sind als temporal, überschritten hat. Es bleibt aber eine diffuse Erhellung, und hinzu tritt eine nicht scharf begrenzte temporale Liehtempfindung, der die dumpfe rote Färbung des diaskleralen scharfen Lichtbildehens fehlt. Die temporale Lichtempfindung verschiebt sich auch in gleichem Sinn wie die Lichtquelle (z. B. bei Bewegung des Trichters von oben nach unten ebenfalls von oben nach unten), wie schon Veraguth angibt, ein Beweis, dass es sich um diapupilläres Licht handelt und nicht etwa um einen Licht- 256 F. Best: fleck gegenüber der Lichtquelle auf der nasalen Seite nach Durch- setzung des Glaskörpers durch das diasklerale Lichtbündel!) (wie Grützner meint). Ausserdem wird die Beobachtung gestört, und zwar am meisten bei Beleuchtung nahe der Corneoscleralgrenze dureh intensive Erscheinung der Purkinje’schen Aderfigur. Auf der nasalen Seite der Sklera ist nun ein „diapupillärer“ Lichteinfall und entsprechend nasale Lokalisation erst ganz nahe dem Hornhaut- rand zu beobachten. Die Gründe dafür liegen in der Gestalt des (resichtsfeldes.. Nasal ist das scharfe eigentliche diasklerale Licht- bild leichter und auch bei Aufsetzen der Lampe weiter cornealwärts zu beobachten, weil eben das temporale Gesichtsfeld ca. 25° bzw. objektiv die nasale Netzhaut etwa 4 mm weiter reicht; dagegen das diapupilläre Liehtbild wenig störend, weil die nasale Gesichts- feldhälfte eingeschränkter ist. Veraguth sieht in der Art der „Abblendung“ durch die Konfiguration der Bulbusumgebung den Grund für die Verschiedenheit in der Beurteilung diaskleraler Licht- reize. Es lässt sich darüber reden, insoweit als die Bildung der Umgebung des Auges (Nase) gleichzeitig phylogenetisch mit der Ausdehnung des Gesichtsfeldes verknüpft ist. Pathologische Fälle können bei dieser Lage kaum weitere Auf- klärung bringen, höchstens zur Bestätigung herangezogen werden. So wurde bei einer Beobachtung?) von Sehnervenerkrankung, bei der nur ein kleiner peripherer Gesichtsfeldrest temporal oben er- halten war, diasklerale Beleuchtung, gleichgültig von wo sie ein- wirkte, nur entsprechend dem erhaltenen Rest lokalisiert. Bei unserm Hemianopiker wurde Beleuchtung der rechten temporalen Sklera (entsprechend der blinden temporalen Netzhaut) ganz erheb- lich leichter und heller wahrgenommen als der linken nasalen Sklera (entsprechend der blinden nasalen Netzhauthälfte) ; vermutlich weil das Gesichtsfeld des rechten Auges bedeutend grösser ist. Im übrigen wurde der Reiz natürlich rechts wie links in der erhaltenen Gesichtsfeldhälfte lokalisiert bzw. als „Helligkeit vor dem ganzen Auge“ bezeichnet. — Wenn man überlegt, in welchen Beziehungen das räumliche Sehen bei Hemianopsie gestört sein muss, so sind noch verschiedene 1) Ausser der zirkumskripten Beleuchtung am Ort der Reizung kommt es im Augeninnern zu einer fast gleichmässig diffusen Erleuchtung, wie man am lebenden Auge durch Beobachtung des Bildes des rötlich aufleuchtenden Augeninneren erkennt. 2) Best, Arch. f. Augenheilk. 1908 S. 321. Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung etc. 257 binokulare und monokulare Phänomene der Untersuchung wert. Zunächst möchte ich die Störungen in der Fusion erörtern, die durch den halbseitigen Gesichtsfeldausfall hervorgerufen wurden. Es liegen meines Wissens keine Untersuchungen vor über die Aus- dehnung des Bezirks, der zur Fusion der beiderseitigen Netzhaut- bilder anregt. Veranlassung dazu, diese Frage zu besprechen, gibt der Vor- schlag von Schwarz!), die Fusionsbewegungen zur Diagnose des Sitzes einer Hemianopsie zu verwenden. Schwarz nimmt an, diese Fusionsbewegungen als zerebral vermittelte Reflexe würden bei zerebralem Sitz der Hemianopsie erhalten bleiben können, wenn der Herd eine -Steille der Sehbahn nach Abgang der betreffenden Reflexfasern zerstört hat; dagegen müssten sie nach Tractuszerstörung für die blinden Netzhauthälften wegfallen. Hält man unserm Patienten im Dunkelzimmer bei Fixation eines weissen Punktes an schwarzer Wand, die nur matt erleuchtet ist, ein Prisma von 2—12° Basis aussen vor das rechte Auge, so erfolgt keine Einstellbewegung, wie man daraus erkennen kann, dass bei nunmehrigem Verdecken des linken Auges der weisse Punkt für das rechte Auge verschwunden ist; ausnahmsweise kann bei den niederen Prismen, von 1° fast immer, von 2—4° zuweilen, trotzdem Fusion eintreten. Dies liest daran, dass auch die peripheren optischen Eindrücke zur Fusion anregen, und dass sie im mässig erhellten Dunkelzimmer nicht ganz ausgeschaltet werden können. Wenn der Patient die weisse Marke W fixiert auf der schwarzen Wand, auf der noch die Punkte a in 6° Entfernung und 5b markiert sind, so sieht das rechte Auge 114 a b a b m — ————— | Linkes Auge Rechtes Auge bei Vorschalten eines Prismas von 12° Basis aussen die Wand nur von a an. Im Hellen genügen aber die im linken Auge peripheren Eindrücke von a und 5b, um unter Beibehaltung der Fixation von W seitens des linken Auges eine Fusion herbeizuführen, und zwar wird im Sinne einer Konvergenz ein Prisma von 12° äusserstens überwunden, im Sinne einer Divergenz ein Prisma von 3—4°. Diese Versuche beweisen, dass auch die peripheren Netzhautbezirke im Sinne der Fusion wirksam sind, und dass der Schwarz’sche Vorschlag praktisch nur mit Vorsicht ausführbar ist. Übrigens ist 1) Schwarz, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. Sept. 1909. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. Jet [4 ID 58 F. Best: bei unserm Patienten die Fusion doch wohl beeinträchtigt; nur mit Mühe und nach einiger Übung wurden die oben angegebenen Grenzen für Konvergenz und Divergenz erreicht, die überdies nicht sehr hoch sind, und sehr oft zerfallen die beiden Gesichtsfelder schon bei niederen Prismen. Bei der schon erörterten Störung im stereo- skopischen Sehen ist gezeigt worden, dass dieses erheblich gelitten hat; die Veranlassung zu Fusionsbewegungen ist damit natürlich ebenfalls verringert. Patient trägt zurzeit dauernd ein Prisma von 10°, Basis aussen vor dem linken Auge zur Erweiterung des Gesichtsfeldes nach links. Dass er sich damit wohlfühlt und das Prisma gerne trägt, liegt wohl auch nur daran, dass die Tendenz zur Fusion erheblich herabgesetzt ist. Übrigens lässt sich für den Normalen exakt zeigen, dass auch die Netzhautperipherie zu Fusions- bewegungen anregt. Man setze sich vor eine Maddoxskala und stelle vor das eine Auge ein breites Lineal, das für dieses Auge die Mitte der Skala in gewünschter Ausdehnung verdeckt. Werden für mich je 10° nach beiden Seiten vom Fixierpunkt im einen Auge ausgeschaltet, so erfolgt Fusion im Sinne der Konvergenz noch bis zu einem Prisma von 9°, bei Ausschaltung von 2° zentralen Gesichtsfeldes bis zu einem Prisma von 13°, ohne Abblendung 20°. Bei sofortiger Wiederholung!) der Versuche sind die Zahlen für 10° Ausschaltung 12° Prisma, für 2° 16° Prisma, ohne Abblendung 36°. Ich habe eine Esophorie von 1V/a—2°, am Schluss der Ver- suche von 3° an der Maddoxskala. Im Sinne der Divergenz werden von mir überwunden bei Ausschaltung von je 10° zentralen Ge- sichtsfeldes 3° Prisma, bei Ausschaltung von 2° Prisma 6°, bei freiem Blick 10° Prisma. Selbstverständlich alles bei fester Fixation des anderen Auges. Die Herabsetzung des Prismengrades ist der Ausdruck für die abnehmende Fusion veranlassende Kraft bei Aus- schluss eines mehr weniger grossen Teiles des Gesichtsfelde. Man könnte nun annehmen, dass Fusionsbewegungen in erster Linie von den beiden Maculae aus angeregt werden. Das ist aber absolut nicht der Fall, wie folgende Umkehr der Versuche zeigt. Verdeckt man für das eine Auge durch ein enges Rohr das ganze Gesichts- feld mit Ausnahme des fixierten Punktes, so zerfällt dieser für mich ’n der Regel in Doppelbilder, so dass ich auf diese Weise meine 1) Bezüglich des Einflusses der Übung vgl. Hofmann und Bielschowsky, Pflüger’s Arch. Bd. 80. 1900. Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung etc. 259 ÖJ latente Konvergenz von 1!/s° messen kann. Verdecke ich das Ge- sichtsfeld bis auf je 2° vom Fixierpunkt, so überwinde ich im Sinne der Konvergenz 6° Prisma, bei je 5° centralem Gesichtsfeld 9° Prisma, bei je 10° Prisma 14°; ferner im Sinne der Divergenz bei je 2° Gesichtsfeld 2° Prisma; bei 5° Gesichtsfeld 6° Prisma, 10° Gesichtsfeld S° Prisma. Die Versuche sind nicht streng mit den vorigen zu vergleichen, insofern sie mit kreisförmiger Blende vor- genommen wurden, während vorher ein senkrechter Streifen aus dem Gesichtsfeld entfernt wurde. Sie beweisen aber, dass der Macula für die Fusion kein dominierender Einfluss zukommt, dass für die Energie der Fusionsbewegungen vielmehr die Grösse des zu ver- schmelzenden dGesichtsfeldes ausschlaggebend ist. Der fusions- anregende Wert der Macula ist ungefähr der gleiche wie derjenige perizentraler Netzhautbezirke gleicher Grösse; bei einer Ausdehnung des Gesichtsfeldes des einen Auges von ungefähr V/a° zerfällt bei mir fast regelmässig das binokulare Bild in Doppelbilder, ebensogut foveal wie perizentral, bei 1° noch häufig, bei 1'/„—2° nicht mehr. Andrerseits nimmt doch der fusionsanregende Wert gleichgrosser Netzhautbezirke vom Zentrum nach der Peripherie zu ab; wenn man das Gesichtsfeld bis auf je 2° vom Fixierpunkt durch eine Röhre verdeckt und nun ein Konvergenzprisma von 6° vorsetzt, das noch Einfachsehen erlaubt, und wenn man dann die Röhre um 2° nach oben oder unten vom Fixierpunkt richtet, so bemerkt man bereits bei Exzentrizität von 2°, ausgesprochener bei 4° ein leichteres Zerfallen in Doppelbilder als zentral. Der relativ geringe Wert der Fovea zur Anregung von Fusionsbewegungen ist für das Studium der Heterophorien und des Schielens bemerkenswert; physiologisch ist er darin begründet, dass bei jeder Änderung der Konvergenz die bisherige Augenstellung trotz fehlenden Wettstreits und trotz Ein- fachsehens mit den beiden Foveae aufgegeben werden muss, wodurch sich kein beständiger, absolut fester Fusionszwang für die Foveae ausbilden kann. Die Hemianopsie regt zum Studium einer weiteren Frage an — wenn wir das Gebiet der Fusion nunmehr verlassen wollen —, nämlich: Haben die zerstörten Netzhauthälften noch irgend eine Funktion für das räumliche Sehen? Ich glaube einen Einfluss er- blicken zu dürfen in dem Weiterbestehen des Kontrastes, soweit er von der Netzhaut und nicht zentral reguliert wird, und zwar wird er am ehesten erhalten sein, wenn die blinde Netzhauthäfte ze 260 F. Best: nicht atrophiert. Bekanntlich ist vor allem dureh Hering auf die grosse Bedeutung hingewiesen worden, die der Kontrast für das Scharfsehen der Konturen und Grenzlinien hat. Wenn nun beim Hemianopiker Figuren oder Buchstaben an der Gesichtsfeld- srenzlinie liegen, so müssen die nahe jenseits der Grenzlinie liegenden Bilder, wie auch im normalen Auge, durch physikalisch bedingte Aberration in die sehende Hälfte hinüberragen. Im normalen Auge wird das Zerstreuungsgebiet durch Kontrast eingeengt. Im hemianopi- schen Auge, könnte man annehmen, fiele die wechselseitige Wirkung fort, und es müsste hierdurch vor allem die zentrale Sehschärfe wie überhaupt diejenige an der Gesichtsfeldgrenze leiden. Ich habe in unserem Fall nichts davon nachweisen können. Buchstaben und Figuren dieht an der Grenze eines weissen Feldes (mit vertikaler Begrenzung) erscheinen nicht undeutlicher als an der Grenze eines schwarzen Feldes. Eine Kerzenflamme, von der blinden Netzhaut- hälfte aus an den Fixierpunkt herangeführt, wird erst direkt an ihm bemerkt, wenn der Versuch im Hellen gemacht wird, und so, dass der Fixierpunkt selbst keinen für den Normalen merklichen Zuwachs an Helligkeit durch die näher kommende Kerze erfährt; im Dunkel- zimmer wird ihr Schein natürlich schon vorher bemerkt. Nach- weisbare Störungen im Simultankontrast sind also nieht vorhanden; vielleicht sind solche bei Hemianopsie mit Atrophie des Sehnerven in anderen Fällen doch festzustellen. Der eigene Fall lässt sich bezüglich der Sehnervenatrophie nicht sicher beurteilen; jedenfalls war sie ein halbes Jahr nach der Verletzung noch nicht deutlich erkennbar. Die blinden Netzhauthälften sind ferner zweifellos von Einfluss auf das Augenmaass des Hemianopikers. In einer früheren Ab- handlung hatte ich angenommen, dass der Augenmaassfehler der Hemianopiker ausschliesslich dadurch bedingt sei, dass der Hemianopiker nur indirekt und nur mit einer Hälfte des Gesichtsfeldes beobachten kann. Wenn der Normale eine horizontale Linie halbiert, so durch- läuft er sie mit dem Blick, um schliesslich annähernd ihre Mitte zu fixieren und von dort aus im peripheren Sehen gleiche Strecken rechts und links von der Medianebene abzuschätzen. Wird der Normale dagegen aufgefordert, den einen Endpunkt der Linie fest zu fixieren und dabei im peripheren Sehen die Linie zu halbieren, so macht er den Fehler, das zentrale Stück zu klein, die periphere Hälfte zu gross zu machen; er unterschätzt die Ausdehnung der Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung etc. 361 Peripherie und halbiert im indirekten Sehen annähernd so, dass die Winkel gleich sind, unter denen die beiden Hälften der im ebenen Objekt- feld liegenden Linie dem Auge erscheinen. In der Lage, nur den Endpunkt (günstigstenfalls) der horizontalen Linie beim Halbieren fixieren zu können, ist nun der Hemianopiker immer, und ich hatte aus diesem Grunde den Augenmaassfehler des Hemianopikers nur aus der Scheinverkürzung im indirekten Sehen abgeleitet (a. a. O.). Bei dem neu untersuchten Hemianopiker, der der heutigen Abhandlung zugrunde liegt, stellte sich aber heraus, dass der Augen- maassfehler dieses Patienten den normalen Fehler im indirekten Sehen übersteigt. Die Halbierung horizontaler Linien mit möglichst fester Fixation des linken Endpunktes, [die aber bei dem physiologisch doch nicht genügend geschulten Patienten nicht vollkommen ein- wandfrei war], ergibt die folgenden Werte: ınıen ange a er ersuche periphere Hälfte 60 mm rechts 26 27.2132,8 — 21 links 17 24,9/35,1 — 1,41 802 15 rechts 29 36,3/43,7 ——N20 links 19 33,8/46,2 37 00 rechts 25 44,6/55,4 — 1,94 links 31 41,5/58,8 — el 20: rechts 25 53,9/66,1 103 links 25 50,2/69,8 — 599 140.7, rechts 18 59,6/80,4 —— #35 links 13 56,6/83.4 — 1A 1902 rechts 16 67,1/92,9 — +1,38 links 27 69,2/94,8 — 405) Zu den Halbierungsversuchen würde man wohl am besten Tsehermak’s!) Streckentäuschungsapparat verwenden; ich habe einfache schmale Papierstreifen auf dunkler Unterlage in Entfernung von 25 em vom Auge benutzt. Die Resultate genügen jedenfalls für folgende Schlüsse: Der Halbierungsfehler ist für das linke Auge mit kleinerem er- haltenem Gesichtsfeld, und zwar nasalem (entsprechend temporaler Netzhaut), grösser als für das rechte mit dem grösseren (temporalen) 1) Tschermak, Beschreibung einiger Apparate. Pflüger’s Arch. Bd. 119 S. 29. 1907. 262 F. Best: Die Bedeutung der Hemianopsie für die Untersuchung etc. Gesichtsfeld; er ist ferner nieht entsprechend dem Winkel, unter dem die beiden Linienhälften erscheinen, sondern grösser, wenn er auch mit zunehmender Exzentrizität bzw Grösse der Linien zunimmt. Da der Fehler ferner in der temporalen Gesichtsfeldhälfte (rechts) kleiner ist als in der nasalen (links), so wird die physiologische Differenz, nachweisbar beim Kundt’schen Teilungsversuch, durch einen andern, erheblicheren Fehler überdeckt. Dieser Faktor kann wohl nur in Übereinstimmung mit Feil- chenfeld!) in einem Einfluss der blinden Gesichtsfeldhälften ge- sucht werden. Ich stelle mir denselben etwas anders wie Feil- chenfeld vor, und zwar etwa so, wie die Gesichtsfeldgrenze am blinden Fleck überschritten wird. Der blinde Fleck wird durch Elemente aus der Umgebung ausgefüllt, ohne dass sich über das Wie dabei etwas Bestimmtes sagen lässt. Ähnlich, denke ich mir, greifen für den Hemianopiker die Bilder an der Grenzlinie gewissermaassen durch Irradiation noch in die früher tätigen Gesichtsfeldhälften hin- über; und die blinde temporale Gesichtsfeldhälfte des linken Auges zieht dabei noch etwas mehr von der horizontalen Linie an sich als die kleinere nasale Gesichtsfeldhälfte des rechten Auges. Ich habe mir die verschiedensten Möglichkeiten überlegt und keine bessere Erklärung gefunden; wüsste auch nieht, wie die Sache sonst an- zufassen wäre. Dass eine Täuschung durch Augenbewegungen nicht in Frage kommt, ist ja schon lange bewiesen. Für die Einmischung irgendwelcher psychologischer Motive spricht auch nichts. Bis ein anderer Besseres weiss, mag also die obige Erklärung ausreichen. Zusammenfassung. Wenn man das Sehen bei Hemianopsie untersucht, so stösst man auf eine Reihe von Fragen, die unter dem Standpunkt einer nativistischen Lösung des optischen Raumproblems ihre beste Er- klärung finden, so vor allem die Übereinstimmung der vertikalen Trennungslinien bei vollständiger Hemianopsie mit den Längsmittel- linien der Sehfelder. Es werden ferner die Lokalisation diaskleraler Lichtreize, der Wert der Netzhautstelle für die Anregung der Fusion, die eventuelle Kontrastfunktion der blinden Netzhauthälften sowie der Einfluss der blinden Netzhauthälften auf das Augenmaass des Hemianopikers besprochen. 1) Feilchenfeld, Graefe’s Arch. f. Ophthalm. Ba. 53. 1902. ID — w Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe. Von Ernst Mach. Wir finden uns lebend, erfahrend, denkend und handelnd in unserer Umgebung. Die einfachsten Bestandteile unserer sinnlichen Erlebnisse und Erfahrungen, die wir vorläufig nicht weiter zu zer- legen wissen, nennen wir Elemente. Die Erfahrung zeigt uns die Elemente als abhängig voneinander. Ich sehe z. B. ein rotes Papier. Das Rot ist ein solches nicht weiter zerlegbares Element meiner Erfahrung. Soll aber dieses in meiner Erfahrung auftreten, so muss die Sonne, eine Gas- oder Petroleumlampe, also ein genau definierbarer Komplex von andern Elementen, zugleich in meiner Umgebung vorhanden sein. Mit dem Verschwinden der Sonne verschwindet auch das Rot; mit der Änderung der bedingenden Elementenkomplexe, etwa mit dem Ersatz durch eine Natriumlampe, tritt auch an die Stelle des Rot ein anderes Element, etwa Braun oder Gelb, je nachdem das Rot dunkler oder heller war. Dasselbe Element hängt aber auch von einem besonderen Umgebungsbestand- teil, von meinem Leib, insbesondere von meinem Auge, von meiner Netzhaut ab. Der Chemiker John Dalton oder ein anderer rot- blinder Mensch würde das Papier, welches ich als rot bezeichne, etwa schwarz nennen. Nur in dieser besonderen Abhängigkeit der Elemente von den am eigenen Leib aufgefundenen oder noch künftig auifindbaren Elementkomplexen nennt man erstere Empfindungen. Diese zweifache Art der Abhängigkeit lehrt uns unsern Leib von der übrigen Umgebung unterscheiden. Der ganze Gegen- satz besteht eben nur in dieser Verschiedenartigkeit der Abhängigkeit. Ob an oder in unserm Leib etwas vorgeht, ob in der Umgebung etwas geschieht, ob wir oder andere etwas vornehmen, immer er- leben wir hierbei einen Wechsel von Elementen oder vielmehr von Komplexen von Elementen. Nur dadurch, dass wir die Abhängig- 354 Ernst Mach: keit der Elemente voneinander, deren Zusammenhang, die vonihnen eingehaltene Ordnung ermitteln, erforschen, können wir uns in der Welt orientieren. Unmittelbar gewiss sind wir dessen, was wir eben empfinden, weniger dessen, was wir aufmerksam beobachtend erfahren haben und dessen wir uns erinnern, noch weniger dessen, was wir nach Analogie des Erlebten uns als möglich ausmalen, und vollends hat das Ausmalen im Unerlebbaren, Unerfahrbaren keinen fassbaren Sinn und verdient keine allgemeine, (soziale) Wertschätzung. Was wir räumliche und zeitliche Ordnung nennen, ist vom Ver- halten der Elemente abstrahiert. Um ein Element räumlich zu be- stimmen, sagen wir bei und zwischen welchen andern bekannten Elementen es getroffen wird. Zur zeitlichen Bestimmung der Änderung eines Flementes genügt die Angabe, mit und zwischen welchen bekannten Änderungen anderer bekannter Elemente dessen Wandlung eintritt. Jede Bestimmung nach Raum- und Zeitkoordinaten ist nur eine bequemere konventionelle Umschreibung dieses Ver- fahrens. Wenn in bezug auf Raum und Zeit auch bei weitem noch nicht alles klar gelegt ist!), so meinen wir doch etwas Bekanntes 1) Die ursprüngliche Ranmauffassung des Menschen ist durch den Organis- mus der Sinne gegeben. Zur Geometrie führen gemeinschaftliche idealisierte metrische Erfahrungen der Menschen. Schon der antike Astronom Ptole- maeus gibt, wahrscheinlich auf Grund seiner Erfahrungen an Dioptern, das Gesetz des Einfachsehens durch identische (korrespondierende) Sehstrahlen zwar etwas ungenau, aber im wesentlichen doch richtig an: „Illae quidem, quae aspi- eiuntur per radios ordine consimiles, etsi fuerint duo, videntur quasi in uno loco; si vero non aspieiuntur per radios consimiles, etsi fuerit una, videtur quasi in duobus locis* (G. Govi, L’Ottica di Tolemeo, Torino, 1885, p. 70). Mit dieser Untersuchung scheint die klare Unterscheidung des Schraums vom geometrischen Raum zu beginnen. Wenn aber Ptolemaeus vom Durchschnitt der Augenachsen im fixierten Objekt sagt: „Videbitur ergo haec res una, et in ipso loco quo est“ (l. c. p. 69), so wird wieder der geometrische Raum mit dem Sehraum konfundiert, worin Kepler, Descartes und selbst moderne Forscher dem Ptolemaeus folgen. Erst in neuerer Zeit wurde durch Joh. Müller, Panum und insbesondere durch E. Hering diesem Zustand definitiv ein Ende bereitet. Ähnlich wird man zwischen dem metrischen und dem physikalischen (die Zeit mit enthaltendem) Raum zu unterscheiden haben, wie dies schon in meiner Schrift „Erhaltung der Arbeit“ 1872. S. 35, 56 angedeutet, in „Erkenntnis und Irrtum“ 1906. S. 434 ff. teilweise ausgeführt worden ist, in welcher Richtung durch die Arbeiten von A. Einstein und H. Minkowski wesentliche Fort- schritte begründet worden sind. Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe. 265 und fast Selbstverständliches zu sagen mit der Behauptung, dass zwei Elemente im allgemeinen in desto loserer Beziehung zu- einander stehen, je weiter sie räumlich und zeitlich voneinander entfernt sind. Umgekehrt finden wir bei räumlichem und zeit- lichkem Zusammenfallen die innigste Wechselbeziehung der Elemente. Wenn ich z. B. an einem Orte eine Farbe sehe und dlann das Bild meiner Hand mit diesem Farbenfleck zur räumlichen Deckung bringe, so erfährt meine Hand oder auch die daselbst sichtbare oder tastbare Hand eines andern Menschen, wie aus dessen Verhalten hervorgeht, eine Tastempfindung, etwa Wärme, Kälte, Glätte, Rauhiekeit, Druckwiderstand usw. Diese innige Verknüpfung der Elemente in einer zeiträumlichen Stelle nennen wir Materie. Die Materie ist also die zeiträumliche Verknüpfung der verschiedenen Sinnesempfindungen eines Menschen und auch der Sinnesempfindungen verschiedener Menschen untereinander. Achten wir auch nicht auf die Abhängigkeit der Elemente vom Menschenleib, auf die Empfindungen, sondern auf die Wechselbeziehuneen oder Reak- tionen der Elemente überhaupt, so können wir sagen, die zeit- räumlichen Verknüpfungsstellen der Reaktionen der Elemente mögen Materie heissen. Der vorige Ausdruck ist physiologisch oder psycho-physiologisch, der eben vorgebrachte physikalisch; der- selbe fällt mit dem Ostwald’schen zusammen, wenn man alle Reaktionen als energetische auffasst. Ein farbiger Fleck reaciert bei zeiträumlicher Koinzidenz mit einem andern durch Schall oder Bewegungshemmung; ein rotglühender Draht kann ein angenähertes Papier nicht nur beleuchten, sondern auch erwärmen oder entzünden. Verknüpfung von Empfindungen ist nur ein besonderer Fall von Verknüpfung von Reaktionen. Es wäre ganz müssig, sich ausser dieser tatsächlichen und noch weiter erforsch- baren Verknüpfung von Reaktionen unter Materie noch etwas anderes tatsächlich nicht Erfahrbares vorzustellen. Die materielle Welt besteht eben in der Verknüpfung der Reaktionen der Elemente, wovon die Verknüpfung der menschlichen Empfindungen nur ein besonderer Fall ist. Wenn wir solche gleichartige, diehtliegende Verknüpfungsstellen der Elemente durch eine Grenzfläche umschlossen, gegen andersartige Stellen abgeschlossen denken, so haben wir begrenzte Materie, einen Körper vor uns, an welchem der zeiträumlich beschränkte Mensch am besten seine ersten Erfahrungen gewinnt. Den von der 266 Ernst Mach: Grenzfläche umschlossenen Raum nennen wir das Volumen des Körpers. Die einfachsten und nächstliegenden biologischen Tätigkeiten des Menschen bestehen im Gebrauch seiner Sinnes- und Be- wegungsorgane. Schon beim Anfassen eines Körpers treten neue Elemente oder Kombinationen von Elementen auf. Ein er- eriffenes Stück Eisen offenbart uns seine Beweglichkeit, sein Gewicht, seine Starrheit und Volumbeständigkeit; ein Stück Wachs hingegen zeigt sich weich, Kautschuk elastisch usw. Alles dies lässt sich als ein Hervortreten einer Kombination von Elementen, bedingt durch eine andere Kombination von Elementen, beschreiben, z. B. Gestalts- veränderung an Druck an den Fingerspitzen gebunden. Ein schwerer Körper fällt, losgelassen, mit ersichtlich zunehmender Geschwindig- keit vertikal abwärts; je tiefer er aufgefangen wird, einen desto empfindlicheren Stoss übt er auf die Hand aus, und mit desto lauterem Schall schlägt er auf einen harten Körper auf. Schleudert man den Körper in horizontaler Richtung von sich, so beginnt er seine Bewegung horizontal und nähert sich allmählich der vertikal abwärts gerichteten. Beleuchtet die Sonne durch eine kleine Öffnung des Fenstertadens die Rauch- oder Staubteilchen der Stubenluft, so lässt sich die Folge der erleuchteten Teilchen mit einer straff ge- spannten Sehnur zur Deckung bringen. Ein kleiner undurchsichtiger Schirm, in den erleuchteten Staub gebracht, stört die Beleuchtung nieht zwischen dem Schirm und der Fensterladenöffnung, verlöscht aber die weitere Folge der beleuchteten Teilchen. Solche Sätze gesammelt stellen die rudimentäre qualitative und (beginnende) quantitative Physik des primitiven Menschen vor. Sie enthalten nur die Erinnerung an seine durch charakte- ristische Empfindungen begleiteten und geleiteten Bewegungen und an die Empfindungen, die der Körper auslöst, zu welchem er sich in Beziehung setzt. Die in den Organen vorgebildeten Bewegungs- formen, als Anfassen, Loslassen, Auffangen, Schleudern usw., lassen schon etwas Klassifikatorisches, Beeriffliches, auf ein allgemeineres Ziel Gerichtetes erkennen, nicht minder auch die hierdurch aus- gelösten Beobachtungen, wie Fallen, Aufschlagen, Schnurspannen usw. Die einfachste, natürlichste biologische Betätieung genügt zur Be- gründung einer solchen primitiven Physik. Für den Naturmenschen im Urzustande ist die Reaktion der ihm erreichbaren Körper gegen seinen Leib am wichtigsten; auf diese kommt es ihm zunächst an. Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe. 2657 Dass ein Körper gewichtig ist, etwa gewichtiger als ein anderer, dass er sich heiss anfühlt, etwa heisser als ein anderer — dies zu bemerken reicht eine geringe intellektuelle Entwicklung hin. Ein weiterer Blick ist schon nötig, zu beobachten, dass ein Körper durch einen gewichtigeren über eine Rolle hinaufgezogen, dass ein kälterer durch einen heisseren erwärmt, z. B. ein Topf mit Wasser zum Kochen gebracht werden kann. In der fortgeschrittenen Kultur, im Handwerk, in der Technik ergibt sich die Notwendigkeit, ganze Ketten von Körperreaktionen zur Befriedigung der Bedürfnisse ein- zuleiten. Die gewonnene Erfahrung besteht noch immer in der Erinnerung an sämtliche sinnlich beobachtete Vorkehrungen und die zugehörigen sinnlichen Erlebnisse oder Empfindungen. Es macht keinen besonderen Unterschied, dass nicht die Bewegungen unseres Leibes allein in Betracht kommen, dass die auftretenden Empfindungen kein unmittelbares persönliches Interesse mehr haben. Die Qualität der Empfindungen tritt ganz in den Hintergrund vor dem Interesse an der Abhäneigkeit der Elemente der Um- gebung voneinander. Nun wird von hervorragender philosophischer Seite!) eingewendet, 1) Zur Eröffnung des internationalen Kongresses für Psychologie in München, 4. August 1896, hat Prof. Dr. C. Stumpf eine Rede gehalten, in welcher er auch meine Erkenntnispsychologie einer Kritik unterzieht. Ich war zwar als Teilnehmer des Kongresses eingeschrieben, habe aber diesen seines stark hyp- notisch-telepathischen Programms wegen nicht besucht. So kam diese Rede spät zu meiner Kenntnis, als ich mit ganz andern Dingen beschäftigt und bald darauf von einer schweren Krankheit heimgesucht war. In einer Reihe von Auflagen der „Analyse der Empfindungen“ habe ich zwar die Einwendungen Stumpf’s und anderer, die ich weder als persönliche, noch als mutwillige, sondern als typische auffasste, beantwortet, da aber Stumpf’s Rede kürzlich in dritter Auflage erschienen ist, will ich den auf mich bezüglichen Hauptpassus zum Vergleich mit meiner Darstellung hier einfügen. Stumpf’s Ausspruch kann hierdurch nur an Relief gewinnen, für meine Leser ist dies sehr bequem, und auch ich bin mit dieser Art der Auseinandersetzung vollkommen zufrieden. „Fast könnte man die Anhänger dieser Lehre um die Höhe des erkenntnis- theoretischen und psychologischen Standpunktes, den sie so kurzen Weges er- reicht zu haben glauben, beneiden. Aber die beiden Sätze, worauf sie sich stützen, haben selbst keine Stütze in den Tatsachen. Das, woran sich die gesetzlichen Beziehungen finden, die den Gegenstand und das Ziel der Natur- forschung bilden, sind nie und nimmer die sinnlichen Erscheinungen. Zwischen diesen, wie sie jedem das eigene Bewusstsein darbietet, bestent nicht die regelmässige Folge und Koexistenz, die der Naturforscher in seinen Gesetzen 3658 Ernst Mach: die gesetzlichen Beziehungen bestünden „nie und nimmer“ für die unmittelbar gegebenen sinnlichen Erscheinungen, die Gesetz- mässiekeit des Naturforschers sei etwas gänzlich anderes. Der Unbefangene wird schon in den eben angeführten Beispielen den Ausdruck einer Gesetzmässiekeit in den Erscheinungen selbst erkennen. Will man aber Beispiele, welche schlagend Gesetze in den Sinnes- phänomenen' demonstrieren, die auch der philosophisch Vorein- genommene nicht wird übersehen wollen, so denke man an New- ton’s Spektrum, in dem man die Abhäneigkeit der Brechung von der Farbe mit einem Bliek überschaut, an das Newton’sche Glas, dessen Ringe sich fortschreitend zusammenziehen, wenn man nach der roten spektralen Beleuchtung stetig die brechbarere gelbe, grüne, blaue, violette darauf leitet. Und sollte der experimentierende behauptet. Sie besteht lediglich innerhalb der Vorgänge, die wir als jenseits der sinnlichen Erscheinungen, als unabhängig vom Bewusstsein sich voll- ziehende statuieren und statutieren müssen, wenn von Gesetzlichkeit überhaupt die Rede sein soll. Mögen wir auch dieses Wirkliche in sich selbst gar nicht und seine Beziehungen nur in der ganz abstrakten Form von Gleichungen er- kennen, mag selbst die Raumanschauung, in der wir uns die Beziehungen zu versiunlichen pflegen, ein entbehrliches Symbol sein: diese gesetzlichen Be- ziehungen und das darin Stehende bilden die „physische Welt“ der Wissenschaft, während die sinnlichen Erscheinungen, aus denen die physische Welt des gemeinen Bewusstseins sich aufbaut, lediglich die Bedeutung von Ausgangs- punkten für die Erforschung jener rein mathematischen, ich möchte sagen alge- braischen, Welt haben. Es wird mir schwer, einem Kenner der Wissenschafts- geschichte wie Mach gegenüber auszusprechen, er habe die wahre Tendenz physikalischer Untersuchungen verkannt, ja auf den Kopf gestellt. Aber die grösste persönliche und wissenschaftliche Verehrung kann Überzeugungen nicht ändern.“ „Dass aber zweitens die psychische Welt, die wir im Denken, Fühlen, Wollen erleben, durchgängig in Sinneserscheinungen auflösbar sei, dafür liefert die Geschichte der Psychologie bisher keine Gewähr. Im Gegenteil: alle Ver- suche seit den Tagen Condillacs, eine solche Analyse wirklich durchzuführen sind misslungen. Beweist dies nicht ohne weiteres die Unmöglichkeit für alle Zukunft, so wird man doch zugeben müssen, dass noch weniger die dogmatische Zuversicht gerechtfertigt erscheint, mit welcher die Behauptung der Analysier- barkeit gleich einem logischen Axiom, das gar keines Beweises bedürfte, an die Spitze gestellt wird.“ „So löst sich, wenn ich recht sehe, auch dieser sensualistische Monismus in nichts auf. Der wirkliche Gang der Wissenschaft hat seine Behauptungen für die physische Welt sicher widerlegt, für die psychische nicht im geringsten bestätigt.“ Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe. 269 Musiker-Philosoph , von dem obige Einwendung herrührt, sich nicht erinnern, dass von zweien im hörbaren Intervall einer Oktave stehenden Stimmgabeln, die höhere mit der tiefern auf derselben fortgeschobenen Russplatte schreibend, genau halb so lange Wellen in doppelter Zahl zieht als die tiefere? So bemerkte schon Galilei an der Drehbank, dass sein Stichel, sobald dessen Ton in die Oktave überschlug, sofort auch Eindrücke vom halben Abstand an dem gedrehten Stück hinterlies. Gewiss wird man nicht in jeder der sinnlichen Erscheinungen, welche uns der Zufall bunt zusammengewürfelt in den Weg wirft, sofort das Gesetz erschauen. Der Naturforscher aber, dessen Aufgabe es ist, das zufällig Zu- sammengewürfelte zu entwirren, wird das Gesetz doch finden. Selbst wenn die sinnlichen Erscheinungen lediglich die Bedeutung von „Anknüpfungspunkten“ für die Erforschung der „physischen“, „rein mathematischen“, „algebraischen Welt“ (!?) hätten, die wir „als unabhängig vom Bewusstsein bestehend statuieren müssen“ (?), welches Recht hätten wir dann, in diese letztere Gesetze hineinzu- interpretieren, wenn solche in den ersteren nicht wenigstens in deutlichen Spuren enthalten wären? Sehen wir uns nun Stumpf’s rein mathematische Welt näher an! Damit wird wohl die langsam entwickelte Welt der wissenschaftlichen Begriffe im Gegensatz zur unmittelbar gegebenen Sinnlichkeit gemeint sein? Die unter ihren Symbolen verborgenen allgemeinen begrifflichen Züge scheinen die lebendigen sinnlichen einzuhüllen, zu verhüllen, so dass wir zunächst etwas kaum Fassbares, Greifbares vor uns zu haben glauben. Gewiss wird es namentlich dem so scheinen, der die Begriffswelt vorzüglich aus Büchern kennt; anders aber allerdings dem. der sie nicht am Studier- und Schreibtisch, sondern im Verkehr mit der Natur all- mählich erworben hat. Wer die Anfänge der Begriffsbildung bei den Tieren nicht sehen will, für den besteht auch zwischen der menschlichen Sinnen- und Begriffswelt eine tiefe Kluft, die sich aber überbrückt, wenn man der Kontinuität der Entwicklung nachgeht. Empfindungen, z. B. der Anblick der Nahrung oder eines Feindes, lösen wichtige biologische Reaktionen aus. Ch. Darwin schildert lebhaft das Entsetzen der Affen bei Anblick einer Schlange. Wenn aber ein Tier unter verschiedenen Umständen mit demselben Objekt in Be- ziehung tritt, so lernt es zuweilen sehr mannisfaltige Eigenschaften dieses Objektes kennen. Der kleine Säuger Mungo z. B. verzehrt 270 Ernst Mach: die Brillenschlange und weiss diese zur Vermeidung ihres gefähr- lichen Bisses so sicher am Genick zu packen wie der indische Gaukler. Hierzu gehört ein sicheres Erschauen des Zieles, eine genaue sinnliche Leitung der Bewegung, damit das gefasste Objekt die sinnliche Erwartung durch sein Verhalten nicht enttäusche., Man könnte fast sagen, der Anblick der Schlange wecke dem Mungo einen praktisch erworbenen Begriff, erinnere ihn an alle ihre und auch an seine eigenen Reaktionsweisen. Auch der Mensch erwirbt eine Menge Begriffe praktisch, z. B. die etwas verschwommenen, aber zum Teil sehr abstrakten der Vuleärsprache durch den Gebrauch, durch die Benutzung von Gabel, Löffel und anderen Werkzeugen bei den mannigfaltigsten Verriehtungen. Es macht keinen besonderen Unterschied, ob für unsere Zweck- beweeungen die Glieder des Leibes genügen oder durch instrumen- tale Mittel unterstützt werden. Die Reaktion wird immer ausgelöst durch das sinnliche Ziel, geleitet durch die kinästhetischen Emp- findungen und gerechtfertigt durch die Erfüllung der sinnlichen Erwartung. Ob unsere Erwartung durch das Verhalten einer Gift- schlange oder eines Hebels erfüllt oder enttäuscht wird, in beiden Fällen wird der Wert des Begriffes auf die Probe gestellt. Wenn durch ein zentral-sensorisches Leiden uns die führenden sinnlichen Erinnerungen abhanden kommen, wissen wir die Worte nieht mehr richtig zu gebraueben, leiden wir an den verschiedenen Formen der Aphasie; ja, es geschieht, dass wir Gabel und Löffel beim Anblick weder erkennen noch zu gebrauchen wissen, dass wir in die der Aphasie nahe verwandte Apraxie verfallen. Vollkommenere Begriffe bilden sich allmählich. Die rohen biologisch- psychologischen Reaktionen unterscheiden zunächst nur das Gröbste und Auffallendste, etwa die Knickung des Strahles bei Brechung und Reflexion im Gegensatz zu dem sonst geraden Ver- lauf, während andere Eigentümlichkeiten noch unbemerkt bleiben. So jagt die Spinne, der Frosch, der Storch, die Katze erst nur nach dem Schwirrenden, sich Bewegenden. Nach und nach lernen die Lebewesen die das Vorteilhafte vom Nachteiligen unterscheiden- den Züge besser kennen und die irre führenden Ähnlichkeiten zwischen beiden genauer beachten. Die Begriffe klären und ver- schärfen sich durch anhaltende psychische Tätigkeit, durch Sortieren der sinnlichen Merkmale nach ihrer Wiehtigkeit und Rangordnung; sie entstehen aber nur, wenn Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe. Dt sie durch die Sinnlichkeit suggeriert werden. Die sinnlichen Elemente sind für die Begriffe nieht gleichgültig, sondern im Gegenteil von grundlegender Bedeutung. Der leiseste Druck bringt dem Physiker die Existenz einer Masse und einer Beschleunigung zum Bewusstsein; der Anblick der zarten Haidinger’schen Büschel beweist ihm, dass er mit polarisiertem Licht zu tun hat; welche Begriffe durch Ozongeruch, durch den Anblick einer Kristall- form dem Chemiker, durch eine Bakterienform dem Arzt vor das geistige Auge treten, lehrt die Geschichte der Wissenschaft. Galilei hatte nachgewiesen, dass die Schwere eine Beschleunigung einleitet. In Newton’s Prinzipien werden schon alle Kräfte als be- schleunigende behandelt. Woher wusste man das? Waren darüber besondere Versuche angestellt worden? Kaum! Aber jede Kraft konnte als Druck oder Zug empfunden werden, und darin unter- schieden sich Schwere, elektrische, magnetische Kräfte nicht. Es scheint, dass hier de homogene Empfindung den Gedanken suggeriert hat, die auch sonst intellektuell und praktisch förderliche homogene Auffassung aller Kräfte zu wagen. Die begriffliche Zusammenfassung des Tatsächlichen macht gewiss erst eine kompendiöse Naturwissenschaft möglich, die ja ohne dieses Mittel in einer endlosen, unübersichtlichen, kaum brauchbaren Aufzählung von Finzeltatsachen bestünde. Hieraus folgt aber nicht, dass dieses Begriffssystem viel mehr oder gar etwas ganz anderes enthalten müsste als die aufgenommenen sinnlichen Einzeltatsachen:; es enthält sie nur übersichtlich geordnet. Ein geübter Chemiker erkennt wohl viele Stoffe, mit welchen er zu tun hat, unmittelbar an ihren sinnlichen Merkmalen. Um aber der geringsten Gefahr des Irrtums ausgesetzt zu sein und ohne überflüssige Proben in kurzer Zeit zum Ziel zu gelangen, entwirft er die bekannten Tabellen zur qualitativen chemischen Analyse, welche die sinnlichen Merkmale der verschiedenen che- mischen Stoffbegriffe übersichtlich zusammengestellt enthalten. — Eine ähnliche Tabelle zur qualitativen analytischen Bestimmung der Polarisationsarten des Lichtes habe ich selbst entworfen. So- lange die sinnlichen Merkmale eines Begriffes qualitative sind, müssen wir es immer für möglich halten, dass der Begriff durch eine neue Erfahrung korrigiert oder ganz hinfällig wird. Stehen sieh aber die begrifflich zusammenzufassenden Tatsachen so nahe, dass sich deren maassgebende Merkmale nur durch die Zahl gleicher Teile % D 12 Ernst Mach: unterscheiden, in welche sie sieh zerlegen lassen, so kann die weitere begriffliche Klassifikation nach der Zahl dieser Teile statt- finden. Die Messung und die Zählung, oder die mittelbare Zählung, die Rechnung, kurz die mathematische Behandlung tritt ein. Der Vorteil liegt darin, dass die Klassifikation ohne neue Erfindung jeden Augenblick ins Unbegrenzte verfeinert werden kann. Wir wollen ein Beispiel eingehend betrachten. Wenn wir über eine leicht bewegliche Rolle eine Schnur ijegen, die wir beiderseits mit einem Gewicht belasten, so wird das kleinere dureh das grössere nachgezogen. Allmähliche Verkleinerung des grösseren Gewichtes stellt endlich das Gleichgewicht her; und nun finden wir auch nach- prüfend den Druck der beiden Gewichte auf der Hand nicht mehr unterscheidhar. Aber lange bevor an der Rolle, dem Hebel, der Wage Gleichgewicht besteht, können wir den Druck der Gewichte nicht mehr unterscheiden. Es wäre also nieht zweckmässig, da es uns auf das Verhalten der Körper gegeneinander ankommt, die unempfindlichere Prüfung in der Hand zur Bestimmung der Gleich- heit der Gewichte zu verwenden, schen darum, weil es sich auch um Gewichtsgrössen handeln kann, deren Erhebung und Wägung in der Hand überhaupt unmöglich ist. Wir definieren also Gewichte als gleich, die in irgendeinem Gleichgewichtsfall ohne Störung des Gleiehgewichtes einander vertreten können. Hier wird also nieht mehr nach einer Druckempfindung, sondern nach einem sichtbaren Ausschlag oder sogar nach dem Ausbleiben eines solchen geurteil. Analog werden andere physikalische Grössen durch die Reaktion der Körper gegeneinander definiert, z. B. Tem- peraturen, Wärmemengen, Potentiale usw. Die Sinnesempfindungen sind aber deshalb nicht ausgeschaltet, und von einer Welt jen- seits der Sinnlichkeit ist durchaus nicht die Rede. Was bestimmt nun näher den Gleichgewichtsfall am Hebel? Ein Gewicht © am Arm gqg halte einem Gewicht P am Arm p Gleichgewicht. Jede Vergrösserung des einen Gewichtes, aber auch jede Verlängerung des zugehörigen Armes verschafft diesem das Übergewicht. Teilt man P in zwei gleiche Gewichte P/2 und ver- schiebt man diese Halbgewichte symmetrisch um s zu dem früheren Aufhängepunkte, so dass denselben nun die Arme p+s und p—s zukommen, wobei s gauz beliebig ist, so beobachtet man Erhaltung des Gleichgewichts. Man kann sich also den Bewegungsantrieb (das Moment) durch das Produkt aus den Maasszahlen der Gewichte Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe. 2373 nnd der zugehörigen Arme dargestellt oder gemessen denken. Denn es ist 99 = Pp = Pi2. (p+s) + P/2. (p — s). Dies ist der springende Punkt der überlangen Ableitung des Archimedes. Man sieht hier, wie der Physiker durch Beobachtung, Vergleichung, Variation sinnlicher Einzelfälle die maassgebenden Merkmale eines gewissen Verhaltens aufsucht und schliesslich das Verhalten aller dieser Fälle durch eine zweekmässig ausgedachte Regel darzustellen, bzw. nachzuahmen sich bemüht. Die Betrachtung des Gleichgewichts an anderen Maschinen, z. B. der schiefen Ebene, wie sie Stevin oder Galilei durchführt, lehrt uns andere Merkmale des statischen Verhältnisses kennen. Wir finden hier das Produkt aus den Maasszahlen der Gewichte und der zugehörigen virtuellen Falltiefen bestimmend für das Gleichgewicht. Diese Regel zeigt sich aber auf alle Maschinen- formen anwendbar. Und da sich uns wieder mit instinktiver Gewalt die Gleichartigkeit der sinnlichen Druckempfindung aufdrängt, so ge- langen wir mit Joh. Bernoulli zum Satze der virtuellen Ver- schiebungen für jede Art von Systemen und Kräften. Ähnlich trachteten die antiken Astronomen die von ihnen be- obachteten Bewegungen der Himmelskörper durch epizyklische Kon- struktionen nachzubilden. Auch Huygens bildete die Planeten- bewegung durch einen am Faden im Kreise geschwungenen Körper für Newton vor, ohne es zu beabsichtigen. Betrachten wir noch das oben berührte Beispiel des Falles eines schweren Körpers. Vergleichen wir mehrere Bewegungen dieser Art von verschiedener Falltiefe s und der zugehörigen Fallzeit Z, indem wir eine Tabelle von s und # anlegen, was nur durch Unter- stützung instrumentaler Mittel gelingen kann. Die Einzelfälle sind nur durch die Zahl der Wegeinheiten und die Zahl der zugehörigen Zeiteinheiten verschieden. Um aber zu ermitteln, wie die Falltiefe von der Fallzeit abhängt, wäre eigentlich eine unendiiche Zahl von Versuchen nötig. Können wir aber erraten, wie es Galilei ge- lungen ist, dass in gleichen Zeiten gleiche Geschwindigkeiten zu- wachsen (v — gt), so können wir die Tabelle durch eine sehr kom- pendiöse, bequeme Zählregel (s — gt?/2) ersetzen oder nachahmen. Durch diese Formel lassen sich auch in der Tabelle nicht enthaltene Fälle interpolieren oder extrapolieren. Hierbei macht man noch die Hypothese, dass die Formel auch im unbegrenzt Kleinen ihre Gültig- keit behält, dass also nicht nur für endliche Stufen. sondern auch Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 156. 15 374 Ernst Mach: Sinnliche Elemente und naturwissenschaftliche Begriffe. für beliebige Zwischenstufen ds/dt — gt und d?s/dt? = g gilt. Die Genauigkeit der Übereinstimmung der sinnlichen Tatsachen mit den Folgernngen aus solehen Annahmen begründet lediglich die Wertschätzung der letzteren. Diese Art, die physikalischen Begriffe zu gewinnen, die hier an den einfachsten Beispielen erläutert wurde, ist nieht erdichtet, sondern in jedem Einzelfall historisch nachweisbar. Wir bleiben, so scheint es, mit allen unsern Beobachtungen in der ge- wöhnlichen sinnlichen Welt; ja die Sinnlichkeit selbst drängt uns zur Erweiterung der Begriffe, indem sie uns Vorgänge als gleich- artig erkennen lässt, welche sich von gewissen Seiten wieder als verschiedenartig darstellen. Nur die intellektuellen Regeln, in welche wir eine Summe von sinnlichen Beobachtungen zusammenfassen, ge- hören einer freieren Gedankenwelt an. Der Wert dieser Regeln ist aber nur bestimmt durch die Genauigkeit, mit welcher sie die sinnlichen Beobachtungen darstellen, welche wegen des Fehlens absolut genauer Messungen stets eine begrenzte bleibt. Endlich entstammen auch die Regeln zur mathematischen Darstellung der Sinnlichkeit, mögen sie noch so viel freie Wahl gestatten, doch wieder der Sinnlichkeit selbst. Denn unsere geläufige Zähl-, Rechnungs-, Konstruktions-, kurz Ordnungstätigkeit wurde zuerst an sinnlichen Objekten angewendet, erlernt und eingeübt und ist überhaupt eine sinnlich kontrollierbare. „Jenseits der sinnlichen Erscheinungen“ hat also der Physiker jedenfalls nichts zu suchen. Ob aber der Philosoph immer nötig haben wird, ein unabhängig vom Bewusstsein bestehendes Wirkliches zu statuieren, welches er in sieh gar nicht, dessen Beziehungen er aber nur in der ganz abstrakten Form von Gleichungen zu erkennen vermag, dies zu entscheiden mag ganz den Philosophen überlassen bleiben. Vielleicht fragen sie einmal nach dem Sinn dieser zweifel- haften Beziehungen. Vielleicht erhebt sich sogar die Frage, ob diese Statuierung auch nötig war, und wozu sie eigentlich taugt? Hoffent- lich werden die Physiker des 20. Jahrhunderts durch ihre Ein- mischung diese Untersuchung nicht stören! Ob da der grosse Königs- berger bei seinem methaphysischen Reinemachen nicht eine Schimmel- flocke vergessen, die seither mächtig gewuchert hat? — Viel hat die Physiologie gewonnen, seit E. Hering die sinnlichen Elemente an sich einer Untersuchung gewürdigt hat. Und so hoffe ich, dass durch die genauere Beachtung dieser Elemente auch die Physik etwas gewinnen wird. D 1 OL Der laugige Geruch. Von M. von Frey (Würzburg). (Mit 1 Textfigur.) Bei Gelegenheit von Versuchen über den Geschmack von Laugen, die ich im Frühjahr 1898 ausführte, bemerkte ich, dass es genügt, die verdünnte Lauge in den Mund zu bringen, um die Empfindungen der Süsse, der Bitterkeit und (bei höherer Konzentration) des Brennens herbeizuführen, dass dagegen der eigentlich laugige Ge- schmack in der Regel erst beim Schlucken der Lösung deutlich hervortritt. Dies brachte mich auf die Vermutung, dass die letztere Empfindung nicht durch den Geschmack, sondern durch den Geruch vermittelt werde. Die Wiederholung des Versuchs mit verschlossener Nase ergab denn auch, dass der Lösung das „Laueige“ fehlte, während ihre übrigen Qualitäten ungeschmälert fortbestanden. Seitdem habe ich die Beobachtung von Zeit zu Zeit weiter ver- folgt und über dieselbe in der Sitzung der Physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu Würzburg vom 10. Juli 1902 sowie auf der Natur- forscher-Versammlung zu Cassel 1903?) in Kürze berichtet. Die nachfolgende kleine Studie, in der ich die bisherigen Ergebnisse zusammenfasse, erlaube ich mir Herrn Prof. Hering darzubieten in dankbarer Erinnerung an die Jahre 1395 — 1897, in denen er meinen Arbeiten jede nur wünschenswerte Förderung zuteil werden liess. Die Rolle des Geruchssinnes bei der Wahrnehmung des so- genannten laugigen Geschmacks ergibt sich aus folgendem höchst einfachen Versuch. Man verschliesse die Nase mit einer Klemme und bringe 10 cem einer Natronlauge n normal = 0,4 g im Liter. in den Mund. Es ist gleichgültig, ob die Lösung Zimmer- oder Körper- temperatur hat. Die Lösung schmeckt auf der Zungenspitze süss, 1) Verhandlungen 1903 Bd. 2 S. 409. 2765 M.von Prey: auf dem Zungengrunde schwach bitter; nur angedeutet ist eine brennende Empfindung und bei Bewegungen der Zunge das Gefühl von Glätte. Beim Verschlucken der Lösung kommt kein neuer Ein- druck hinzu. Öffnet man jetzt die Nasenklemme, so tritt der laugige Geschmack hervor, um so deutlicher, je früher nach dem Schlucken die Nase freigegeben wird. Es liegt demnach hier eine Geruchs- empfindung vor, und es ist nur folgerichtig, nieht von einem laugigen Geschmack, sondern von einem laugigen Geruch zu sprechen. Die Laugen, d.h. die reinen Metallhydroxyde, sind, wie jedermann weiss, an sich geruchlos. Die Wirkung auf den Geruch entsteht erst aus ihrer Berührung mit den Wänden der Mund- höhle und des Rachens. Man kann eine solche Gerucehsempfindung eine sekundäre nennen. Ein anderes Beispiel für einen sekundären Geruch ist der metallische, der entsteht, wenn gewisse an sich geruchlose Metallsalze mit den Schleim- häuten in Berührung kommen. Ich habe dar- über an der angeführten Stelle kurz berichtet, und seitdem hat, unabhäneig von mir, auch Herlitzka dieselbe Beobachtung gemacht). Zum Verschluss der Nase verwende ich eine Klemme von nebenstehender Form. Sie ist aus Messingdraht gebogen und an ihren Enden mit kurzen Stücken eines diekwandisen Kautschuk- schlauches überzogen. Es ist nicht vorteilhaft, die Klemme kräftig federnd und damit den Verschluss der Nase dieht zu machen, weil dann beim Schlucken unangenehme Empfindungen in den Ohren entstehen. Es genügt, die Nase so weit zu verschliessen, dass es mit Anstrengung noch möglich ist, Luft hindurchzutreiben. Die Unabhängigkeit des laugigen Geruchs von den begleitenden Geschmacksempfindungen lässt sich nicht nur durch den obigen Ver- such, sondern auch durch die Schwellenbestimmung zeigen. Wie oben erwähnt, ist bei ET NaOH die bittere Komponente (und die brennende Empfindung), die höheren Konzentrationen zukommt, fast n völlig verschwunden; der süsse Geschmack hält sieh bis ungefähr 500' 1) Archivio di Fisiol. vol. 5 p. 217. 1908. Der laugige Geruch. 277 n n 800 ° 1000 (50—40 me im Liter) noch unzweifelhaft vorhanden ist. Für diesen Versuch empfiehlt es sich, das destillierte Wasser, mit dem die Lösung hergestellt und natürlich auch verglichen werden soll, vor- her einige Zeit auszukochen und dann in Flaschen mit eingeriebenen Glasstopfen aufzubewahren, da das gewöhnliche destillierte Wasser wohl stets den Versuch störende Wirkungen auf den Geruchssinn während der laucige Geruch, wenn auch schwach, bei ausübt. Der laugige Geruch kommt nicht nür den Hydroxyden der Alkalimetalle zu; er findet sich auch bei ihren primären und sekundären Karbonaten, bei den Hydroxyden der Erdalkalien und beim Ammoniak. Versuche mit einigen organischen Basen, wie Anilin, Pyridin und Piperidin, haben mir kein Ergebnis geliefert, weil der Eigengeruch dieser Stoffe zu sehr stört. Von den Hydro- xyden der Erdalkalien habe ich die des Baryum und Caleium in n 500 lich laugig riechend gefunden. Ich habe mich ferner überzeugt, dass eine Aufschwemmung von Magnesiumoxyd in Wasser von 40° eine Lösung gibt, die sehr schwach aber unzweifelhaft laugig riecht. Nach E. Schmidt!) löst sich ein Teil MgO in 55368 Teilen n I Lösungen geprüft und sie beim Verschlucken schwach, aber deut- W & iner Konze ion von ungefähr —— asser, was einer Konzentration von ungefähr 1600 5 entspricht. Die Angabe bezieht sich wohl unzweifelhaft auf Zimmer- temperatur; wie viel sich bei 40° löst, ist nicht bekannt, kann aber leicht das Doppelte und mehr betragen. Die den genannten Lösungen gemeinsame Wirkung muss auf einer ihnen übereinstimmend zukommenden Eigenschaft beruhen, als welche nur ihre alkalische Reaktion, d.h. ihr Gehalt an OH-Ionen in Betracht kommen kann. Bestimmt man für einige der Lösungen die Schwellenwerte oder auch solehe Konzentrationen, für welche der laugiee Geruch gleich stark erscheint, so ergibt sich folgendes: KOH und NaOH haben die gleiche Schwelle von ‚und Den 300 bis 1000 Lösungen von gleicher molekularer Konzentration besitzen auch merklich dieselbe Stärke des laugigen Geruches. . Dies entspricht 1) Pharmazeut. Chemie Bd. 1 S. 717. 1898. 278 M. von Frey: der stets parallel gehenden Dissoziation der beiden Stoffe. Für n 400° die hydrolytische Spaltung des Salzes jedenfalls eine sehr weitgehende ist, darf das Leitvermögen als Maass für die Konzentration der Hydroxylionen benutzt werden. Das Äquivalent-Leitvermögen einer Na,C0, liegt die Schwelle etwa bei Da bei dieser Verdünnung on Lösung von NaCO, verhält sich nach Kohlrausch und Holborn!) zu dem des NaOH nahezu wie 1:2, was den angeführten Schwellenwerten genügend entspricht. Versuche mit verdünnten Lösungen von Ammoniak haben mir keine eindeutigen Ergebnisse geliefert, weil der dem Stoffe eigentümliche ammoniakalische oder pyridinartige Geruch mit dem laugigen in Wettstreit tritt. Immerhin lässt sich feststellen, dass die Schwelle des laugigen Geruchs beim Ammoniak höher liegt als bei der Natronlauge, wie auf Grund des Leitvermögens erwartet werden muss. Als ein weiterer Beweis für die Bedeutung der Hydroxylionen für die Entstehung des laugigen Geruchs kann die Erfahrung dienen, dass die sehr verdünnten Laugen. welche den Schwellenreiz darstellen, beim Stehen an der Luft in kurzer Zeit ihre Wirksamkeit einbüssen. Offenbar genügt die Kohlen- säure der Zimmerluft, die Dissoziation so weit zurückzudrängen, dass die Lösung für den laugigen Geruch unterschwellig wird. Es entsteht nun die Frage, welcher bei der Einwirkung der Laugen auf die Schleimhaut auftretende Stoff für den laugigen Ge- ruch verantwortlich zu machen ist. Laugen spalten, wie Nasse zuerst gefunden hat, leicht Ammoniak aus Eiweisskörpern ab. Der folgende Versuch lehrt, dass die menschliche Oberhaut sich ebenso n 10 zwischen den Handflächen, wobei das bekannte Gefühl öliger Glätte entsteht, so kann man unmittelbar hinterher durch den Geruch das gebildete Ammoniak wahrnehmen. Bringt man einen in Salzsäure getauchten Glasstab in die Nähe der Handfläche, so sieht man, am besten vor dunklem Hintergrund, den Salmiaknebel. Ein mit farb- loser Phenolphthaleinlösung befeuchtetes Uhrglas über die Handfläche gestülpt, zeigt bald eine rötliche Färbung. Der laugige Geruch ist indessen nicht einfach ein Geruch nach 2 $ B SE verhält. Verreibt man einige Tropfen einer 5 oder Natronlauge 1) Kohlrausch und Holborn S. 159. Leipzig 189. Der laugige Geruch. 279 Ammoniak. Dies zeigt sich, wie oben erwähnt, beim Verschlucken n 100 laugige Geruch von dem eigentlich ammoniakalischen, pyridinartigen sehr wohl unterschieden werden kann.. Ich verrührte nun in einem verdünnter Ammoniaklösungen (etwa ), wobei der (schwache) x a Do Uhrglas eine kleine Menge Speichel mit einigen Tropfen 10 Natron- lauge, erhielt bei Annäherung eines in Salzsäure getauchten Glas- stabes wieder die Salmiakuebel, fand jedoch, dass die Flüssigkeit nicht nach Ammoniak, sondern nach Heringslake roch. Die Wieder- holung des Versuchs mit dem Speichel einiger anderer gesunder Personen lieferte das gleiche Ergebnis. Der flüchtige Stoff muss dem- nach ein methyliertes Ammoniak sein. Man muss annehmen, dass dasselbe im Speichel vorgebildet, d.h. in salzartiger Bindung vorhanden ist und nicht erst aus einer Vorstufe abgespalten zu werden braucht. Hierfür spricht, dass der erwähnte Geruch sofort nach Zusatz der Lauge auftritt und sehr bald an Intensität verliert. Ist man einmal auf diesen schwachen Geruch nach Heringslake aufmerksam zeworden, so wird man unschwer erkennen, dass der laugige Geruch mit demselben “übereinstimmt oder doch ihn als wesentlichsten Bestandteil enthält. Am überzeugendsten gestaltet sich der Vergleich in folgender Form: Man bereitet sich l. eine Lauge von so grosser Verdünnung, dass sie für den (Geschmack nahezu oder völlig unwirksam ist, aber den laugigen Geruch erzeugt, 2. eine Lösung von Trimethylaminchlorid 1:10000 und ver- dünnt sie so lange, bis sie beim Verschlucken eine gleichstarke Ge- ruchsempfindung auslöst wie die Lauge. Die fraglichen Konzentrationen liegen für mich bei 500 für die Lauge, und bei 1:100000 für das Chlorid des Trimethylamins. Letzteres ist natürlich in dieser Verdünnung zu einem guten Teile hydrolytisch in die freie Base gespalten. Der beim Verschlucken der beiden Lösungen auftretende und sehr bald wieder schwindende Geruch ist für mich nicht zu unterscheiden. Herr Dr. Ackermann der sich freundlicherweise zu einem (unwissentlichen) Versuch erbot, fand ebenfalls die beiden Geruchsempfindungen übereinstimmend. Es handelt sich schliesslich noch um die Frage, ob das methy- ljerte Ammoniak ein ursprünglicher Bestandteil des Speichels ist, 2380 M. von Frey: oder ob es in der Mundhöhle entsteht und sich dort erst dem Speichel beimischt. Um hierüber Klarheit zu erhalten, habe ich die folgenden Versuche ausgeführt: 1. Ich setzte in den Wharton’schen Gang eines Hundes eine Kanüle, reizte die Chorda, sammelte den ausfliessenden Speichel und versetzte ihn sowohl frisch wie nach 48stündigem Stehen mit ver- dünnter Lauge; er blieb in beiden Fällen geruchlos. Von demselben Hunde wurden mit einer Pipette einige Tropfen des gemischten Mundspeichels aufgesogen; sie gaben nach Zusatz der Lauge sofort den Geruch nach Heringslake. | 3, Ich führte ein Neusilberröhrehen von 1,1 mm äusserem Durchmesser in den Stenon’schen Gang meiner linken Wange, sammelte den hervortretenden Speichel auf einem Uhrglase und ver- m NaOH. Er blieb geruchlos. Mein gemischter Mundspeichel gibt, ebenso wie der anderer Personen, unter den gleichen Bedingungen jedesmal den Geruch nach Heringslake. Hieraus folgt, dass das methylierte Ammoniakin der Mundhöhle entsteht und sich dort dem Speichel beimischt. Unlängst haben Ackermann und Schütze den experimen- tellen Beweis erbracht !), dass das Baeterium prodigiosum Trimethyl- amin aus Cholin bzw. Leeithin abspaltet; Methylamin ist als Produkt desselben Bakteriums schon früher von Scheurlen?) nachgewiesen worden. In nächster Beziehung zu den hier mitgeteilten Beobachtungen stehen die Befunde von Zweifel®), welcher das Vorhandensein von Trimethylamin in dem Scheidensekret und in der Waschflüssig- keit der äusseren Genitalien bei normalen Schwangeren nachweisen konnte Takedat) hat mit einem von Kutscher angegebenen Verfahren, menschlichen Harn auf Trimethylamir untersucht und hält dessen Anwesenheit im frischen Harn für zweifelhaft, während seine Entstehung bei der ammoniakalischen Gärung des Harns rührte ihn mit 1) Zentralbl. f. Physiol. Bd. 24 Nr. 6 S. 210. 1910. 2) Arch. f. Hygiene Bd. 26 S. 27. 1896. 3) Arch. f. Gynäkol. Bd. 12 S. 39. 1877; Bd. 18 S. 359. 1881; Bd. 31 S. 361. 1887. 4) Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 129 S. 82. 1909. Der laugige Geruch. 281 sichergestellt ist. Hier sei auch an den Geruch nach Heringslake erinnert, der entsteht, wenn das Smegma praeputii mit Seife entfernt wird. In allen diesen Fällen handelt es sich um Zersetzungs- vorgänge, die durch Desinfektion unterdrückt oder eingeschänkt werden können, und es scheint, dass abgestossene Epithelien und das Sekret der Talgdrüsen ein besonders günstiges Ausgangsmaterial für die Enstehung des Trimethylamins bilden. Es ist daher wahr- scheinlich, dass auch die im gemischten Mundspeichel vorhandenen methylierten Amine durch die Bakterienflora des Mundes aus den Zerfallsprodukten der Epithelien speziell aus dem Leeithin gebildet werden. Das Ergebnis der Versuche lässt sich in folgende Sätze zu- sammenfassen : | 1. Der „laugige“ Eindruck, den alkalische Flüssigkeiten beim Einbringen in die Mundhöhle und namentlich beim Schlucken machen besteht in einer Geruchsempfindung. 2. Der laugige Geruch beruht auf der Entwicklung flüchtiger Basen (methyliertes Ammoniak), die aus den Zerfallsprodukten der Epithelien stammen. Der frisch abgesonderte Speichel enthält diese Basen nicht. 282 C. Hess: Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. Von Professor €. Hess. (Mit 7 Textfiguren und Tafel V—X.) Inhaltsübersicht. I. Untersuchungen an Insekten und Süsswasserkrebsen 1. Versuche an Raupen 2. Versuche an Daphnien ß Eh 3. Versuche an Culex, Musca, Koranda ind Anderen 4. Versuche über die Einwirkung uitravioletten Lichtes . II. Untersuchungen an marinen Wirbellosen . 1. Versuche an Podopsis Slabberi. 2. Versuche an Atylus Swammerdami . 3. Versuche an Cephalopoden. 4. Versuche an Ampbioxus . 5. Versuche an Muscheln Schluss . Seite 283 283 289 296 34 313 314 321 sl 346 350 362 Wenn sich in Tieren etwas Vernunft- ähnliches hervortut, so können wir uns von unserer Verwunderung nicht erholen; denn ob sie uns gleich so nahe stehen, so scheinen sie doch durch eine unendliche Kluft von uns ge- trennt und in das Reich der Notwendigkeit verwiesen. Man kann es daher jenen Denkern nicht übel nehmen, welche die unendlich kunst- reiche, aber doch genau beschränkte Technik jener Geschöpfe für ganz maschinenmässig er- klärten. Goethe. In einer früheren Abhandlung (Archiv für Augenheilkunde, Bd. 64, Ergänzungsheft) habe ich über den Lichtsinn bei wirbel- losen Tieren einige Beobachtungen mitgeteilt, die sich damals erst auf eine verhältnismässig kleine Zahl von Arten erstreckten; meine Ergebnisse standen in Widerspruch zu der herrschenden Meinung, nach der „die Bewegungen der Tiere zum Lichte im grossen und ganzen dieselbe Abhängigkeit von der Wellenlänge des Lichtes zeigen, wie die heliotropischen Krümmungen der Pflanzenstengel zum Lichte*. Es war daher meine nächste Aufgabe, die Versuche auf eine grössere Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbeliosen Tieren. 283 Zahl von wirbellosen Tieren auszudehnen und so festzustellen, ob und in welchem Umfange etwa jenen früher von mir erhobenen Befunden allgemeinere Bedeutung zukommt. Die neuen Unter- suchungen, die den Gegenstand der vorliegenden Abhandlung bilden, erstrecken sich auf etwa 20 Arten von Wirbellosen. Da die Er- gebnisse bei allen im wesentlichen ähnliche bzw. die gleichen sind, ist es wahrscheinlich, dass das von mir gefundene Verhalten unter den Wirbellosen weiter verbreitet ist; doch sei ausdrücklich betont, dass der Schluss auf im wesentlichen eleiches Verhalten aller Wirbellosen nicht zulässig ist. Es wäre Ja wohl denkbar, dass ein mehr oder weniger grosser Teil der bisher noch nicht untersuchten Wirbellosen sich anders verhält, als die im Folgenden besprochenen Arten. I. Untersuchungen an Insekten und Süsswasserkrebsen. 1. Versuche au Raupen. Ich berichte zunächst über Versuche an Raupen, in erster Linie an solchen von Porthesia ehrysorroea, für die seit den be- kannten Untersuchungen von J. Loeb (1885) angenommen wird, dass sie „wesentlich durch die stärker brechbaren Strahlen des uns sicht- baren Sonnenspektruns gezwungen werden, ihre Medianebene in die Richtung der Lichtstrahlen zu stellen uud in dieser Richtung’ sich zur Lichtquelle zu bewegen“. Ich begann wieder wit Untersuchungen im Spektrum. Als Lichtquelle diente hier wie bei den folgenden Versuchen eine 00 kerzige Nernstlampe, die vor der früher benutzten Bogenlampe den grossen Vorzug hatte, auch für länger dauernde Beobachtungen mit genügend gleichmässiger Lichtstärke zu glühen. Die Tiere, die ich in ein Gefäss mit planparallelen Glaswänden gebracht hatte, lagen, solange sie sich in diesem im Dunkeln befanden, meist mehr oder weniger unbeweglich am Boden des Gefässes; wurde dieses seitlich belichtet, so begannen sie an der Glaswand empor- zukriechen und zwar regelmässig an den stärkst belichteten Stellen zuerst und rascher als an den weniger stark belichteten. Bei passender Abstufung der Lichtstärke erreichte ich leicht, dass sie nur an der stärkst belichteten Stelle aufwärts krochen, an den weniger belichteten aber am Boden blieben. Brachte ich ein solches Gefäss, auf dessen Boden etwa 50 bis 60 Raupen lagen, in ein genügend lichtstarkes Spektrum, so fingen 384 C.. Hess: die Tiere an, von der Gegend des Rot oder Orange bis zum Blau und Violett nach oben zu kriechen, und zwar krochen sowohl jene im Rot und Orange wie jene im Blau und Violett in der Richtung nach dem Grün und Gelb. Im Gelberün krochen sie angenähert senkrecht nach oben. In der Regel waren hier nach wenigen Minuten ziemlich viele Tiere nach oben gegangen: nach dem Rot- selb nahm die Zahl der aufwärts kriechenden Tiere rasch ab, doch fehlten sie bei lichtstärkerem Spektrum hier gewöhnlich nicht voll- ständig. Zwischen dem Gelb und dem Grün war oft kein deutlicher Unterschied in der Zahl der Tiere; nicht selten sah man im Grün mehr Tiere als im Gelb, fast nie im Gelb mehr als im Grün. Machte ich das Spektrum durch Spaltverengerung etwas licht- schwächer, doch so, dass für mich seine Farben noch schön hell Fig. 2. sichtbar waren, so krochen fast nur im Gelbgrün die Tiere senk- recht nach oben; auch nach !/a—!/s Stunde fanden sich solche nahezu ausschliesslich zwischen dem Gelb und dem Grün. Im Blau bzw. Violett zeigten wenige Tiere schwache Neigung nach oben und in der Richtung nach dem Grün zu kriechen; im Rot waren jetzt oft gar keine kriechenden Tiere zu sehen. Die nach photographischen Blitzlichtaufnahmen hergestellten Figuren 1 und 2 können eine Vorstellung von der Anordnung der Tiere in einem einzelnen Momente geben'); viel eindringlicher kommt die Neigung, nach dem Gelbgrün zu gehen, bei Beobachtung des Kriechens der Tiere zum Ausdrucke. Sie wenden dabei ihren Körper oft suchend nach rechts und links und kriechen dann in der l) Auf dem Streifen am Boden des Behälters sind einige hier wichtige und leicht zu bestimmende Stellen des Spektrums verzeichnet. a. R (= äusserstes Rot) entspricht dem langwelligen Spektrumende, @, Gr, Bl den Stellen des reinen Gelb bzw. Grün und Blau. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. >85 grossen Mehrzahl der Fälle nach dem Gelbgrün weiter. Verhältnis- mässig selten sieht man Tiere nach einer derartigen suchenden Be- wegung eine kurze Strecke weit etwa aus dem Gelb bzw. Grün nach dem Rot bezw. Blau zu kriechen, fast ausnahmslos kehren solche bald wieder um und gehen wieder nach der Gegend des Gelbgrün. Die Raupen von !Porthesia verhalten sich also’ im Spektrum im grossen und ganzen ebenso wie nach meinen früheren Unter- suchungen jene von Hyponomeuta variabilis. Ein wesentlich gleiches Verhalten sah ich ferner bei Dasychira fascelinva, bei Lasiocampa potatoria und bei Phragmatobia fuliginosa. Ich habe bis jetzt keine Raupe gefunden, die im Spektrum nach dem kurzwelligen Ende gekrochen wäre. Eine Reihe von Raupenarten erwies sich für meine Zwecke unbrauchbar, da sie nicht zum Kriechen zu bringen waren. Auch bei den zuletzt ge- nannten, mit Erfolg untersuchten Arten war die Beobachtung oft mühsam und zeitraubend, weil ich nicht selten lange warten musste, bis sie zu kriechen anfıngen. Von meinen Untersuchungen mit farbigen Glaslichtern bei Porthesia seien nur die folgenden erwähnt. Vor dem Parallelwand- sefässe brachte ich einen schwarzen Karton an, in dem sich ein etwa 8 cm breiter, 10 em hoher Ausschnitt befand, der vor die Mitte der einen Glaswand zu liegen kam und von einer passend aufgestellten Bogenlämpe gleichmässig und stark belichtet wurde. Vor dem Ausschnitte war ein rubinrotes und ein dunkelblaues Glas so aufgestellt, dass jedes der Gläser eine seitliche Hälfte des Aus- schnittes verdeckte und beide in der Mitte in einer feinen Grenz- linie aneinander stiessen. Regelmässig begannen die zunächst auf den Boden des Gefässes gebrachten Tiere zuerst im Blau nach oben zu kriechen, oft waren hier schon sechs bis acht oder noch mehr lebhaft aufwärts kriechende Raupen zu sehen, wenn im Rot keine oder nur vereinzelte langsam zu kriechen begannen. Die aufwärts gekrochenen Raupen wurden mit einem Stäbchen wieder herunter geworfen und die vorgesetzten farbigen Gläser rasch gewechselt, so dass die bisher von rotem Glase bedeckte Hälfte des Ausschnittes von blauem bedeckt war und umgekehrt; die Tiere begannen sofort wieder vorwiegend im Blau nach oben zu kriechen. Dieses Verhalten zeigte sich auch dann, wenn das Blau unserem 286 C. Hess: hell adaptierten Auge viel dunkler erschien als das Rot. Bei ent- sprechender Herabsetzung der Lichtstärken beider Lichter mittels passenden FEpiskotisters erschien unserem dunkel adaptierten Auge das nun farblos gesehene Blau beträchtlich heller als das Rot. Im Hinblieke auf später zu besprechende Untersuchungen war es wünschenswert, die Wirkung des Rot bzw. Orange mit jener des Blau des gleichen Spektrums direkt zu vergleichen. Dies selang mir in der Weise, dass ich vor der Vorderfläche des Parallel- wandgefässes mit den Raupen einen schwarzen Karton mit zwei Ausschnitten aufstellte; durch den einen fiel wesentlich rotes und orangefarbiges, durch den anderen wesentlich blaues Licht. Von den auf dem Boden gleichmässig verteilten Raupen begannen regel- mässig die im Blau liegenden bald nach oben zu kriechen, während jene im Rot und Orange meist am Boden blieben. Bei einigen derartigen Versuchen bestimmte ich die Lage der Kartonränder mittels des Spektroskopes. Gelangte auf der einen Seite Licht von mehr als ca. 590 uu, auf der anderen solches von etwa 500—420 uu in den Behälter, so waren nach wenigen Minuten im Grünblau und Blau zahlreiche Raupen an der Glaswand empor- eekrochen, im Rot und Orange meist keine oder nur einzelne eine kleine Strecke weit. Das Gleiche war der Fall, wenn der eine Ausschnitt vom langwelligen Ende bis zu etwa 600 uu, der andere von etwa 475 uu bis zu 400 uw reichte. Aus allen meinen Versuchen geht hervor, dass für Porthesia das Spektrum in der Gegend des Gelbgrün bis Grün am hellsten ist, und dass seine Helligkeit von hier nach dem langwelligen Ende rasch, nach dem kurzwelligen Ende langsamer abnimmt. Unsere Raupen verhielten sich (ebenso wie die von Hyponomeuta) in sämtlichen von mir angestellten Versuchen so, wie es der Fall sein muss, wenn sie stets zu dem für sie Hellen gehen und die relativen Helliekeiten der verschiedenen Lichter des Spektrums für sie ähnliche oder die gleichen sind, wie für den total farben- blinden Menschen. Loeb hat eine Versuchsanordnung mitgeteilt, bei der die Raupen von Porthesia aus dem Hellen ins Dunkle gehen sollten. Da diese Angabe eine wesentliche Stütze seiner Lehre vom „tierischen Heliotropismus“ bildet und mit allen meinen Erfahrungen in Wider- spruch steht, muss ich auf den fraglichen Versuch näher eingehen. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 287 En Loeb brachte die Raupen in ein Reagenzglas, das er zunächst mit der Längsachse senkrecht gegen die Ebene des Fensters legte; die Tiere sammelten sich jedesmal alle an der Fensterseite des Glases. Er fährt nun fort): „In diesem Falle würden nun diejenigen Autoren, welche die Reaktionen der Tiere so deuten, als ob die letzteren mit menschlichen Empfindungen aus- gestattet seien, behaupten, dass die Tiere zur Lichtquelle gehen, weil sie das „Helle“ lieben, und es an der Fensterseite des Reagenzglases heller sei als an der Zimmerseite. Abgesehen von der Kleinheit der Differenz der Lichtintensität in diesen Fällen lässt sich leicht zeigen, dass es sich bei diesen Vorgängen nicht um die Vorliebe der Tiere für „Hell“ handelt, sondern darum, dass das N SWZZAAS N wr „sonanmnnanuns G FL FRE --2D PR" REGEL DL TE EEE RI BERG r NG DIT DTE 5 WwWw DORF RZ 2 DEREN ATENT £ DONE RLLILLL VREETERNERRER © EITTTT gearumnameooasuwerwusceumesnanmoanneue a 1) e Fig. 3. (Fig. 25 nach Loeb.) Versuchseinrichtung bei dem !Nachweis, dass positiv heliotropische Tiere gegen die Lichtquelle wandern, auch;wenn sie dabei aus dem Sonnenlicht in den Schatten geraten. Licht die Tiere zwingt, ihren Kopf der Lichtquelle zuzudrehen und dann in dieser Richtung sich fortzubewegen, wobei sie natürlich sich zur Lichtquelle hinbewegen müssen. Der Beweis für diese Behauptung liest nun darin, dass diese Tiere sich auch dann zur Lichtquelle hinbewegen, wenn sie dabei aus dem Hellen ins Dunkle gelangen, vorausgesetzt, dass ihr Kopf der Lichtquelle zu- gewendet bleibt. Dieser Beweis lässt sich in folgender Weise führen (s. Textfig. 3). Durch die obere Hälfte des Fensters WW (Textfig. 3) falle Sonnenlicht (5) ein, durch die untere diffuses Tagelsicht D. Die Grenze zwischen Sonnenlicht und Tageslicht auf der Ebene des Tisches in der Nähe des Fensters sei eine scharfe, so dass die eine Hälfte vom Sonnenlicht getroffen wird, die andere Hälfte nur von diffusem Tageslicht. -]) Loeb, Dynamik der Lebenserscheinungen S. 183. 1906. 288 C. Hess: Wir legen nun eine Glasröhre « c so auf den Tisch, dass die eine Hälfte a b im direkten Sonnenlicht, die zweite D c im diffusen Tageslicht sich befindet. Im Anfang des Versuches seien die Tiere (Raupen von Porthesia) alle bei a. Die Tiere gehen nun in diesem Falle alle zur Fensterseite ce des Reagenzglases, wo sie sich sammeln, obwohl sie dabei aus dem „Hellen“ in den „Schatten“ gelangen. Dasselbe findet auch statt, wenn man durch passende Benutzung lichtabsorbierender Schirme die Lichtintensität der Lichtstrahlen in der Nähe des Fensters noch weiter verringert.“ Verfolgen wir aber unsere Raupen auf ihrem Wege von «a nach c im Einzelnen, so ergibt sich folgendes: Die bei « befindlichen Raupen kriechen zunächst in der Richtung nach 5, weil zwischen «a und 5 stets, wenn sie ihren Vorderkörper suchend nach rechts und links wenden, es auf der Seite von b für sie heller ist als auf jener von a. Indem sie weiter kriechen, kommt ihr Vorderkörper zu- nächst eine kleine Strecke weit über die scharfe Schattengrenze in das Gebiet des diffusen Lichtes. Wenden sie nun wieder den Kopf suchend nach rechts und links, so fällt jetzt wesentlich mehr Licht von c her in ihr Auge als von db. Dass dem wirklich so ist, zeigt ein einfacher Photometerversuch: Hält man an Stelle des Reagenz- glases ein gewöhnliches Keilphotometer so, dass die vertikale Grenz- linie der beiden mattweissen Flächen ein klein wenig nach rechts von dem Punkte 5b zu liegen kommt, so erscheint uns die von c her belichtete Photometerfläche deutlich, oft beträchtlich heller als die von a her belichtete (die Grösse des Helligkeitsunterschiedes der beiden Flächen hängt von verschiedenen Nebenumständen, wie Licht- stärke und Färbung der Unterlage und Zimmerwände usw. ab). Somit war von vornherein zu erwarten, dass die zum Hellen gehenden Tiere unter den in Rede stehenden Bedingungen nach c hin kriechen würden. Sie wenden sich erst dann nach db bzw. a, wenn man die Lichtstärke bei c so weit herabsetzt, dass sie bei ihren suchenden Kopfbewegungen auf der Seite von b bzw. a eine grössere Helliekeit wahrnehmen als auf der Seite von c, was z. B. leicht erreicht wird, wenn man bei c ein rotes Glas vorhält, das für die Tiere, wie für den total farbenblinden ‘Menschen, einen sehr geringen Helligkeitswert hat. Die Feststellung der Helligkeitsverhältnisse bei dem Loeb’schen Versuche ergibt somit, dass auch hier die fraglichen Tiere nieht ins Dunkle, sondern zum Hellen kriechen, sich also so verhalten, wie es nach meinen bisherigen Erfahrungen zu er- warten, ja vorauszusagen war. Die Raupen kriechen nach c, nicht, Neue Untersuchungen über den Lichtsinn beı wirbellosen Tieren. 289 weil das Licht „sie zwingt, ihren oralen Pol der Lichtquelle zu- zuwenden“, sondern weil sie stets zu dem für sie Hellen gehen, und weil es unter den fraglichen Versuchsbedingungen, sobald sie von «a über 5b hinaus gekrochen sind, für sie nach e hin heller ist als nach D. Das Ergebnis dieses Loeb’schen Versuches kann bei der in Rede stehenden Anordnung auch dadurch störend beeinflusst werden, dass man “die Tiere in Reagenzeläsern untersucht. Sowohl an der zylindrischen Oberfläche wie an dem abgerundeten Ende solcher Gläser werden die hellen Gegenstände der Umgebung in mannig- fachster Weise gespiegelt. Blickt man durch ein derartiges Reagenz- glas, indem man das offene Ende dicht vor sein Auge hält, gegen eine nur mässig helle Stelle des Zimmers, so sieht man zahlreiche, zum Teile hell glänzende breite und schmale Ringe. Da die Kriech- richtung auch bei diesen Raupen, wie geeignete Versuche zeigen, schon durch verhältnismässig kleine Lichtstärken- bzw. Helligkeits- unterschiede beeinflusst werden kann, ist zu einwandfreier Beobachtung hier wie bei photometrischen Messungsmethoden sorefältige Ver- meidung störender Spiegelungen usw. unerlässlich. 2. Versuche an Daphnien. Die fortgesetzte Beschäftigung mit den durch Belichtung ver- anlassten Bewegungen bei Süsswasserkrebsen führte mich zu einer Reihe neuer Beobachtungen, von welchen im Folgenden die für unsere Fragen wichtigeren kurz mitgeteilt werden mögen. Rädl hat (1901) beobachtet, dass das Daphnienauge auf Be- lichtung mit bestimmten Bewegungen reagiert, und zwar so, dass „bei jeder Lage des Körpers der Scheitel des Auges der Lichtquelle entweder vollständig zugekehrt ist oder diese Orientierung wenigstens einzunehmen sucht“; weiter fand er, dass die Grösse der Augen- drehung auch von der Menge des auffallenden Lichtes abhängig ist. Ich selbst hatte, ohne die Rädl’schen Untersuchungen zu kennen, die gleichen Beobachtungen gemacht, als ich mich mit der Licht- reaktion der Daphnien zu beschäftigen begann. Einige meiner ein- schlägigen Erfahrungen mögen, so weit sie zum Verständnis dieses merk- würdigen Phänomens dienen können, kurz mitgeteilt werden; ein- gehender haben wir uns mit einer von mir gefundenen über- raschenden Abhängigkeit jener Augenbewegungen von der Farbe des Reizlichtes zu beschäftigen. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 19 290 C. Hess: Daphnia besitzt ein einziges, unpaares Auge unter der zarten helmartigen Chitinhülle des Kopfes; letztere ist so durchsichtig, dass man unter dem Mikro- skop selbst bei stärkerer Vergrösserung die für uns hier wichtigen Einzelheiten des Auges, seine Muskeln usw. genügend beobachten kann; das Auge selbst hat bei mittelgrossen Tieren einen Durchmesser von ungefähr 0,1 mm. An seiner Unterseite sieht man eine flache, sattelförmige, von vorne nach hinten ver- laufende Einsenkung. Bei Betrachtung von der Seite her scheint es angenähert kugelig, bei Betrachtung von oben ist sein @Querdurchmesser grösser als der Längsdurchmesser und infolge der erwähnten Einsenkung erscheint seine Gestalt etwa nierenförmig. An der Oberfläche nimmt man eine Reihe kugeliger, stark lichtbrechender Vorwölbungen wahr, die durch Brücken dunklen Pigmentes von- einander getrennt sind. Das Auge wird durch vier lange, schmale Muskeln bewegt, von welchen ich den oberen und den unteren in der Regel etwas stärker gefunden habe als die beiden seitlichen. Die Form der Muskeln erinnert an die zweier dicht anein- ander liegender glatter Muskelzellen; ungefähr in der Mitte ihrer Länge zeigen sie je eine kleine seitliche, anscheinend kernhaltige Verdickung. Diese vier Muskeln entspringen von einer oberhalb des Hirnes gelegenen Stelle und inse- rieren oben und unten, rechts und links in der Peripherie des Auges, anscheinend an einer feinen bindegewebigen Hülle, die den Augapfel umschliesst. In dem so gebildeten Muskeltrichter verläuft ein Bündel feinster Nerven zum Auge, die aus einer pilzförmigen Ausbuchtung des Gehirnes entspringen. An der Spitze eines von hier nach vorn unten verlaufenden spornartigen Auswuchses liegt das kleine, als schwarzes Pünktchen erscheinende Nebenauge. Belichtet man eine auf dem Öbjekttische liegende Daphnie im Dunkelzimmer von der Seite her, etwa mit der von mir angegebenen Nernsthandlampe, so wendet das Auge sich sofort in der Riebtung nach der Lichtquelle und behält (abgesehen von kleinen Zuekungen) diese Stellung bei, solange Riebtung und Lichtstärke des Reizlichtes unverändert bleiben. Beweget ein Mitarbeiter die Licht- quelle im Bogen um das Tier so, dass das Auge immer angenähert gleich stark belichtet bleibt und nur die Richtung des einfallenden Lichtes allmählich geändert wird, so folet das Auge in überraschend erossem Umfange der Lichtquelle; man kann es leicht auf diese Weise um Winkel von ca. 120—150° sich drehen lassen. Halte ich die Handlampe so hinter das Tier, dass die von rück- wärts kommenden Strahlen das Auge der auf der Seite liegenden Daphnie vorwiegend oben tangential treffen, so wendet dieses sich stark nach hinten oben. Drehe ich die Lampe nun um einen sehr kleinen Winkel so, dass die Strahlen jetzt das Auge vorwiegend an seinen unteren, nun stark nach vorne gewendeten Teilen treffen, so dreht sich das Auge rasch so weit nach hinten unten um, dass es Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 29] nicht selten einen Winkel von nahezu 180 ® beschreibt. Man sieht dabei den unteren Muskel sich auf etwa die Hälfte seiner Länge verkürzen, während der Antagonist angenähert doppelt so lang wird, als er vorher erschienen war. Die Augen bleiben im allgemeinen so lange in dieser Endstellung, als die Belichtung unverändert bleibt. Wird ein Daphnienauge, das bei der schwächsten zur Be- obachtung genügenden Belichtung geradeaus gerichtet ist, durch ein Reizlicht von bestimmter Stärke z. B. von der Seite her getroffen, so dreht es sich um einen bestimmten Winkel in der Richtung nach dem Lichte hin. Wird nun die Lichtstärke dieses Reizlichtes bei unveränderter Einfallsrichtung erhöht, so wendet das Auge sich noch weiter in der Richtung zum Lichte; wird die Lichtstärke gemindert, so kehrt es wieder mehr oder weniger weit in der Richtung zu seiner Ausgangsstellung zurück. Da bei diesen Versuchen schon sehr kleine Liehtstärkenunterschiede wahrnehmbare Änderungen der Augenstellung herbeiführen können (s. u.), müssen besondere Vor- sichtsmaassregeln getroffen werden, wenn es sich darum handelt, den Einfluss der Lichtstärkenänderung allein auf die Augenstellung zu verfolgen: Das auf dem Objektträger liegende Tier wird im Dunkel- zimmer dem auffallenden Lichte der Zeiss’schen Bogenlampe aus- gesetzt; zur Abschwächung des Reizlichtes dient ein rauchgrauer Glaskeil von ea. 5° brechendem Winkel. Zunächst wird dieser Keil von einem Mitarbeiter so in den Lichtkegel der Lampe gebracht, dass die Strahlen durch die kantennahen Keilpartien treten, also verhältnismässig wenig abgeschwächt werden; das Daphnienauge ändert die Stellung, die es vorher gehabt hatte, um einen geringen Betrag. Schiebt man nun den Glaskeil allmählich weiter vor, so dass die Lichtstärke immer mehr abeeschwächt wird, so dreht das Auge sich in der Richtung, in der es sich zuerst bei Vorsetzen des Keiles bewegt hatte, weiter; wird der Keil wieder zurückgezogen, und dadurch die Lichtstärke des Reizlichtes wieder erhöht, so dreht das Auge sich wieder in entgegengesetzter Richtung. Um zu ermitteln, welches die kleinsten Lichtstärken- unterschiede sind, die zur Auslösung deutlicher Bewegungen des Daphnienauges eben noch genügen, ging ich in der folgenden Weise vor: Als Reizliceht diente mir die mit Magnesiumoxyd überzogene weisse Fläche des früher beschriebenen Keil-Photometers, die unter einem Winkel von 45° von einer 50kerzigen, in einem geschwärzten Tunnel messbar verschieblichen Glühlampe bestrahlt wurde. Die 19% 292 ©. Hess: Augenstellung und -Bewegung der Daphnien beobachtete ich im durehfallenden Lichte, während ein Mitarbeiter die Lampe um ge- wisse Beträge verschob. Wir wollen im Folgenden die Bewegungen, die bei abnehmender Belichtung des Auges erfolgen, als „Ver- dunkelungsbewegungen“, jene bei zunehmender Belichtung als „Er- hellungsbewegungen“ bezeichnen. Nachdem ich durch einige Vor- versuche die günstigsten absoluten Lichtstärken ermittelt hatte, konnte ich im allgemeinen bei genügend frischen Tieren deutliche Erhellungsbewegung der Augen regelmässig nachweisen, wenn die Lampe z. B. von 50 auf 40 em herangeschoben wurde, während umgekehrt bei Verschieben von 40 auf 50 em deutliche Verdunklungs- bewegung eintrat. In einer Reihe von Fällen hatte auch Verschieben der Lampe von 60 auf 50 em (entsprechend einer Erhöhung der Liehtstärke von 1 auf 1,44) deutliche Erhellungsbewesune, Ver- schieben in entgegengesetzter Richtung in der Rege! deutliche Ver- dunklungsbewegung zur Folge. Bei den bisher mitgeteilten Versuchen wurde lediglich die Licht- stärke des Reizlichtes bei unveränderter Zusammensetzung desselben variiert. Die Augenbewegungen erfolgten bei allen diesen Versuchen im allgemeinen so, dass das Auge jene Stellung einzunehmen suchte, bei der seine beiden seitlichen Hälften angenähert gleich viel Licht erhielten. Der Umfang der Bewegungen war im alleemeinen um so grösser, je grösser die Verschiedenheit der Beliehtungsgrösse beider Augenhälften war. Um zu ermitteln, ob bei passender Versuchsanordnung diese Augenbewegungen über die Helligkeitswahrnehmung der Daphnien noch weiteren Aufschluss geben könnten, studierte ich den bisher nicht untersuchten Einfluss farbiger Lichter auf Stellung und Bewegung des Daphnienauges. Eine erste Reihe von Untersuchungen mit homogenen» Lichtern nahm ich in folgender Weise vor: Ein objektives Spektrum von ea. 20 cm Breite und 5 em Höhe wurde auf einem mattschwarzen Schirme entworfen, in dessen Mitte ein ca. 2 mm breiter, 3 em hoher Ausschnitt angebracht war. Hinter dem Schirme hatte ich das Mikroskop so aufgestellt, dass das durch den Ausschnitt tretende Licht auf den Planspiegel fiel und (ohne Abbe’schen Kondensor) nach oben geworfen wurde. Für den durch das Mikroskop blickenden Beobachter war das Gesichtsfeld von dem jeweiligen homogenen Liehte gleichmässig erleuchtet. Durch kleine Bewegungen einer Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 293 hinter dem Prisma passend aufgestellten Linse konnte das Spektrum so weit seitlich verschoben werden, dass verschiedene homogene Lichter durch den Ausschnitt traten. Zunächst brachte ich ein Daphnienauge z. B. ins homogene Gelbgrün und ermittelte durch Erhöhung bzw. Verminderung der Lichtstärke bei gleichbleibender Liehtart die Richtung der Erhellungs- bzw. Verdunkelungsbewegung des Auges. Bei allen darauf folgenden Versuchen liess ich die Lichtstärke des Spektrums unverändert und variierte nur die Wellen- länge des zum Daphnienauge gelangenden Lichtes in der angegebenen Weise. Wurde das untersuchte Auge so zunächst von Gelbgrün, dann vom Rot des gleichen Spektrums getroffen, so machte es regel- mässig eine ausgiebige Verdunkelungsbewegung:; folgte der Be- strahlung mit Rot eine solche mit Gelberün, so machte das Auge regelmässig eine Erhellungsbewegung. Bei Übergang von Gelbgrün zu Blau machte das Auge eine Verdunkelungsbewegung, die aber nicht so ausgiebig war wie jene bei Übergang von Gelberün zu Rot. Übergang von Blau zu Gelbgrün hatte deutliche, aber nicht sehr ausgiebige Erhellungsbewegung zur Folge. Wurde dureh rasche zuckende Bewegungen der Linse das Daphnienauge aus dem Blau ins Rot des Spektrums gebracht, so machte es eine ausgiebige Verdunkelungsbewegung, bei Übergang aus dem Rot ins Blau eine ausgiebige Erhellungsbewegung. Bei anderen Versuchen, die mit verhältnismässig einfachen Hilfsmitteln sich leicht wiederholen lassen, ging ich in folgender Weise vor: Als Lichtquelle dient das Stäbchen eines Nernstkörpers, das in lichtdichter Hülse vor dem Spalte eines kleinen geradsichtigen Hand- spektroskopes aufgestellt wird. Vor dem Okular des Spektroskopes wird eine Konvexlinse so aufgestellt, dass die von ihr gesammelten und durch den Planspiegel des Mikroskopes nach oben geworfenen Strahlen in der Objektebene ein nur wenige Millimeter breites Spektrum bilden. Durch kleinste Drehungen des Spiegels wird die gewünschte Spektralfarbe auf das Daphnienauge geworfen. Zunächst brachte ich letzteres wieder ins Gelbgrün und ermittelte durch ab- wechselndes Vorschieben und Zurückziehen eines angenähert farblos rauchgrauen Glases die Richtung der Verdunkelungs- und Fr- hellungsbewesung. Wurden danach die erwähnten kleinen Spiegel- bewegungen vorgenommen, so liess sich wieder aufs Schönste zeigen, dass bei Übergang von Gelbgrün zu Rot eine starke, bei Übergang 294 C. Hess: von Gelbgrün zu Blau bzw. Violett eine geringere, aber doch immer deutliche Verdunkelungsbewegung erfolgte. Umgekehrt hatte Übergang von Violett oder Blau zu Gelbgrün verhältnismässig geringe, Übergang von Rot zu Gelbgrün wesentlich ausgiebigere Erhellungsbewegung zur Folge. Die geschilderten Versuche am Spektrum ergänzte ich durch solche mit Glaslichtern: Die Tiere wurden unter dem Mikroskop oder unter der Drüner-Braus’schen Lupe im auffallenden Lichte der Zeiss’schen Bogenlampe untersucht. In passenden Rahmen hatte ich z. B. ein rotes und ein blaues Glas dicht nebeneinander so angebracht, dass bei kleinen Verschiebungen des in den Licht- kegel gehaltenen Rahmens das Tier bald mit dem roten, bald mit dem blauen Lichte bestrahlt wurde. Auch hier machte das Daphnien- auge bei Übergang von Blau zu Rot regelmässig ausgiebige Ver- dunkelungsbewegungen, bei Übergang von Rot zu Blau aus- siebige Erhellungsbewegungen. Meinem helladaptierten Auge erschien das Rot wieder viel heller als das Blau, während dem dunkel adaptierten das durch einen passenden Episkotister betrachtete (jetzt farblos gesehene) Blau heller als das Rot erschien. Bei weiteren Versuchen mit Glaslichtern hatte ich farbige durch- gefärbte Glaskeile (Zeiss) in einem Rahmen nebeneinander ver- schieblich angebracht, so dass ich je nach Bedürfnis ein für mein hell adaptiertes Auge helles Rot mit einem sehr dunklen Blau oder aber ein für mich sehr dunkles Rot mit einem sehr hellen Blau zur abwechselnden Belichtung des Daphnienauges benützen konnte. In anderen Beobachtungsreihen brachte ich neben dem roten einen grünen Glaskeil an und nahm mit dieser Kombination in gleicher Weise wie vorher den Belichtungswechsel vor. Die Ergebnisse zahl- reicher derartiger Versuche stimmten stets darin überein, dass das Rot, wenn es bei passend herabgesetzter Lichtstärke beider Reiz- liehter mittels Episkotisters meinem dunkel adaptierten Auge be- trächtlich dunkler erschien als das Blau bzw. Grün, auch bei den in den fraglichen Versuchen benützten hohen Lichtstärken Ver- dunkelungsbewegungen des Daphnienauges hervorrief, obschon es bei diesen meinem hell adaptierten Auge beträchtlich heller erschien als das Blau bzw. Grün. Doch konnte ich bei dem fraglichen Be- lichtungswechsel auch mit Rot Erhellungsbewegungen und mit Blau Verdunkelungsbewegungen auslösen, wenn ich die Lichtstärke des Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 295 Rot so weit steigerte und die des Blau bzw. Grün so weit herab- setzte, dass auch meinem dunkel adaptierten Auge bei gleichmässiger Herabsetzung der Lichtstärken beider Reizlichter das (nun farblos gesehene) Rot beträchtlich heller erschien als das Blau bzw. Grün. Die mitgeteilten Beobachtungen lehren die überraschende Tat- sache, dass für die fraglichen Augenbewegungen die Helligkeiten, in welehen die farbigen Lichter erscheinen, von ausschlaggebender Bedeutung sind. Bei allen meinen Versuchen zeigten die Augen- bewegungen der Daphnien in den hier wesentlichen Punkten eine solche Abhängigkeit von der Wellen- länge des Lichtes, wie es der Fall sein muss, wenn die relativen Helligkeiten der verschiedenen farbigen Liehter hier ähnliche oder die gleichen sind wie für das total farbenblinde Menschenauge. Es ist wohl wahrscheinlich, dass bei den Daphnien die Augenbewegungen die Stellung bestimmen, die der ganze Körper zum Lichte einnimmt. Beobach- tungen an anderen Krebsen zeigen, dass diese Stellung des Körpers nicht etwa nur durch Vermittelung der Augenbewegungen zustande kommt: unter den marinen Krebsen z.B. sitzen bei Atylus (s. u.), der eine ausgesprochene Neigung zum Hellen zeigt, die Augen als flache, dunkle Masse dem Kopfe seitlich auf und zeigen bei Belichtung keine Bewegung. Bei Podopsis (s. u.) sitzen die Augen auf langen beweglichen Stielen, die bei Belichtung regelmässig Bewegungen zeigen; dıese sind aber so wenig ausgiebig, dass eine Untersuchung der Wirkung verschiedenfarbiger Lichter wie bei den Daphnien mir hier nicht möglich war. Als Bestätigung der hier mitgeteilten Beobachtungen und als Ergänzung meiner früheren Befunde über die Verteilung der Daphnien im Spektrum ist der folgende Versuch von Interesse. Bringt man ein Bassin mit Daphnien 5—10 Minuten in ein Spektrum von kon- stanter Lichtstärke (Nernstlichtspektrum), so sammeln sich die Tiere bald in grosser Zahl in der Gegend des Gelbgrün bis Grün und schwimmen hier am weitesten nach oben, oft bis nahe zur Wasser- oberfläche. Nach dem langwelligen Ende zu nimmt ihre Zahl und die Neigung, nach oben zu schwimmen, rasch, nach dem kurzwelligen Ende etwas langsamer ab. Da die Beobachtung der Anordnung der kleinen Tiere in den lichtschwachen Teilen des Spektrums schwer oder unmöglich ist, habe ich auch hier Blitzlichtaufnahmen gemacht, auf welchen die geschilderte Verteilung der Tiere gut zu sehen ist. Von anderen Süsswasserkrebsen untersuchte ich eine grössere Zahl von Muschelkrebsen (wahrscheinlich Cypridopsis). Unter gewöhnlichen Verhältnissen eilen diese meist dieht über dem 295 C. Hess: Boden ihres Behälters hin und her; wird eine Stelle desselben von oben z. B. mit einer Taschenlampe stärker belichtet, so sammeln sie sich hier bald in grosser Zahl, bleiben aber dabei am Boden des Gefässes. Zur Untersuchung im Spektrum warf ich dieses mittels eines schräg gestellten Spiegels von oben auf das Bassin, dessen Wände und Boden bei diesen Versuchen zur Vermeidung von Reflexen aus mattschwarzem Blech hergestellt waren. Sobald die Tiere von den Strahlen des Spektrums ge- troffen wurden, eilten sie aus dem Rot und dem Blau bzw. Violett dem Gelb und Grün zu und schwammen diesem stets nach, wenn das Spektrum verschoben wurde, blieben dabei aber stets nahe dem Boden des Gefässes. 3. Versuche an Gulex, Musca, Coceinella und Anderen. Bekanntlich kommen die Larven der Stechmücke (Culex pipiens), wenn sie sich einige Zeit in tieferen Wasserschichten aufgehalten haben, an die Oberfläche und heften sich hier, den Kopf nach unten, mit ihrem Atemrohre an. Lässt man das Bassin einige Minuten unberührt, so hängen bald Hunderte von ihnen an der Oberfläche; bei kleinen Erschütterungen, z. B. leichtem Klopfen auf den Tisch, eilen, wie bekannt, die meisten der Tiere in rascher Flucht mit den eigentümlichen peitschenden Bewegungen ihres Körpers zum Boden des Bassins. Ich fand nun die überraschende Tatsache, dass in gleicher Weise, wie bei Erschütterung, die an der Oberfläche hängenden Tiere bei Verminderung der Belichtung, z.B. vorsichtiger Beschattung ihres Bassins, nach unten eilen, auch dann, - wenn von Erschütterung keine Rede sein kann. Ist z. B. das Bassin im Dunkelzimmer 2—3 m von der es bestrahlenden Bogenlampe entfernt aufgestellt, so eilen bei Vorschieben eines Kartons vor die Lampe die Culexlarven sofort in Scharen nach dem Boden. Ver- mehrung der Belichtung löst solehe Fluchtbewegungen nicht aus. Wirft man den schmalen helien Lichtkegel einer passend auf- gestellten Bogenlampe etwa schräg von oben in das Bassin, so sieht man meist schon nach ca. 15—20 Sekunden die im Dunkeln am Boden liegenden Larven lebhaft von beiden Seiten des Bassins auf den Lichtkegel zueilen; sobald sie in diesen gekommen sind, schwimmen sie in ihm nach oben, wobei die aus der einen Bassin- hälfte kommenden Tiere ihre bisherige Schwimmrichtung rasch ändern und in einem spitzen Winkel zu der letzteren nach oben weiter- Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 297 schwimmen. Setzt man, etwa durch Vorhalten passender farblos grauer Gläser, die Belichtungsstärke des Bassins mehr oder weniger stark herab, so schwimmen die Tiere im allgemeinen um so weniger lebhaft, je geringer die Lichtstärke ist; mit Steigerung der letzteren nimmt die Lebhaftiekeit der Schwimmbewegungen sofort zu. Nachdem ich die in den geschilderten Fluchtbewegungen zum Ausdrucke kommende Empfindlichkeit der Tiere gegen Lichtstärken- abnahmen kennen gelernt hatte, bemühte ich mich, mit Hilfe der- selben auch über die relativen Helligkeiten verschiedenfarbiger Lichter für die Culexlarven Aufschluss zu erhalten. Bestrahlte ich die Tiere zunächst einige Zeit mit dem Lichte der Bogenlampe und schob dann ein blaues Glas vor letztere, so flohen die oben angesammelten Tiere nach unten, kehrten aber nach ca. 15—20 Sekunden wieder in ziemlich lebhaften Bewegungen nach oben zurück. Wurde nun an Stelle des blauen Glases ein in passendem Rahmen dicht neben diesem befindliches, uns heller er- scheinendes rotes Glas vor die Lichtquelle geschoben, so flohen die Tiere lebhaft nach unten, ganz so, wie sie es sonst bei Verdunkelung tun. Liess ich das rote Glas längere Zeit vor der Lichtquelle, so begannen die Tiere allmählich, sich langsam nach oben zu bewegen; sobald das rote Glas durch das blaue ersetzt wurde, schwammen sie viel lebhafter, so wie es bei den vorher besprochenen Versuchen mit angenähert farblosem Lichte der Fall zu sein pflegte, wenn dessen Lichtstärke erhöht wurde. Die mitgeteilten Befunde sind schon deshalb von besonderem Interesse, weil sie zum ersten Male zeigen, dass auch das Ver- halten der Tiere bei plötzlicher Abnahme der Be- lichtungsstärke uns wertvolle Aufschlüsse über die Helligkeiten seben kann, in welchen ihnen farbige Lichter erscheinen; es ist wohl möglich, dass bei weiterer Entwicklung solcher Methoden und zweckmässiger Wahl geeigneter Tierarten sich feinere Messungen werden anstellen lassen. Eine auffällige, nicht unmittelbar hierher gehörige Erscheinung ist die, dass bei längerer Fortsetzung der Versuche die Tiere nicht mehr bei Verdunkelung nach unten fliehen, auch wenn sie zu Beginn derselben viele Male hintereinander regelmässig in der geschilderten Weise reagiert hatten. Es war für mich von grossem Interesse, auch die aus den Culexlarven hervorgegangenen Mücken in ähnlicher Weise wie jene zu untersuchen. 298 C. Hess: Da die Mücken bei dem Fange leicht lädiert und dadurch unbrauchbar werden, ging ich in der folgenden Weise vor: Ein grosses Bassin mit Hunderten von Üulexlarven wurde mit einem Karton bedeckt, in dessen Mitte sich ein Ausschnitt von ca. 2 > 6 cm befand; über diesen wurde, mit der Öffnung nach unten, das zur Untersuchung dienende Glasgefäss mit planparallelen Wänden gestülpt. Das Puppenstadium der Culexlarven dauert ca. 12 Tage. Nach dieser Zeit krochen täglich zahlreiche Mücken aus und flogen durch den Ausschnitt in das übergestülpte Gefäss, so dass ich leicht oft 40—50 unverletzte lebhafte Mücken zur Verfügung hatte. Die Neigung der letzteren, zum Hellen zu fliegen, war durch Belichtung einer Ecke des Gefässes, etwa mit der Bogenlampe, leicht nachzuweiser; sofort eilten sie aus allen Teilen des Behälters nach der am stärksten belichteten Stelle; wurde die Lichtquelle nun rasch auf das andere Ende des Gefässes gerichtet, so flogen die Tiere augenblicklich ach dieser Seite. Brachte ich den Behälter ins Spektrum, so flog sofort die grosse Mehrzahl der Mücken nach dem Gelb bis Grün und blieb bei allem lebhaften Hin- und Herfliegen vorwiegend in dieser Gegend; auch bei Verschieben des Gefässes oder des Spektrums eilten die Tiere immer wieder nach dem Gelb bis Grün. Bei weiteren Versuchen mit solchen Stechmücken wurde vor die eine Wand des Behälters ein über Rahmen glatt ausgespanntes Ölpapier, davor neben- einander ein rotes und ein blaues Glas gebracht und die Bogenlampe so auf- gestellt, dass die eine Hälfte des Gefässes von rotem, die andere von blauem Glaslichte bestrahlt war; beide Hälften stiessen in einer feinen vertikalen Grenz- linie aneinander. Wenn ich die Tiere, die sich gerne an die Seitenwände des Gefässes setzten, durch leichtes Klopfen an den Behälter aufscheuchte, so flogen sie lebhaft auf und die grosse Mehrzahl derselben sammelte sich in der blau bestrahlten Hälfte, in der roten sah man stets nur einige wenige. Wurden nun die farbigen Gläser gewechselt, so dass die bisher rot bestrahlte Hälfte blau bestrahlt wurde und umgekehrt, so flogen sofort fast alle Tiere wieder hinter das blaue Glas, das unserem hell adaptierten Auge dunkler, aber dem gut dunkel adaptierten Auge bei genügend herabgesetzter Lichtstärke beträchtlich heller erschien als das rote. Wurde vor das blaue Glas ein zweites, viel dunkler blaues Glas gehalten, so hörte die Ansammlung der Tiere im Blau auf. Einige Mücken flogen zum Rot, aber nicht entfernt in solchen Mengen, wie sie vorher zum Blau geflogen waren. Wurde die eine Hälfte des Gefässes mit farblos hellem, die andere mit dem durch das rote oder das blaue Glas gefärbten Lichte bestrahlt, so eilten sofort die meisten Tiere nach der farblosen Hälfte. Die ausgebildeten Mücken verhielten sich also bei diesen Versuchen mit farbigen Lichtern den Larven insofern ähnlich, als die benutzten roten Lichter einen viel geringeren Helligkeitswert für sie zeigten als die blauen. Dagegen hatte Beschattung, die die Larven in so überraschender Weise zu Fluchtbewegungen veranlasste, auf die ausgebildeten Mücken keine solche Wirkung mehr. Die mitgeteilten Erfahrungen veranlassten mich zu weiteren Versuchen mit anderen Mückenlarven. Zunächst standen mir die roten Larven der Zuckmücke (Chironomus plumosus) in grossen Mengen zur Verfügung; die Tiere haben aus- gesprochene Neigung, zum Lichte zu schwimmen, sammeln sich z. B. in einem Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 299 am Fenster stehenden Bassin ziemlich bald vorwiegend auf der Fensterseite an und sind hier viel lebhafter in ihren Schwimmbewegungen als auf der Zimmer- seite. Wird des Abends im Dunkeln eine Kerze an das Bassin gehalten, so schwimmen sie lebhaft auf diese zu; zu feineren messenden Bestimmungen waren indes die mir zur Verfügung stehenden Tiere nicht geeignet. Sie gingen nicht zur Wasseroberfläche wie die Culexlarven, plötzliche Verdunkelung war ohne sichtbare Wirkung auf sie. An dem gewöhnlichen Marienkäfer (Coceinella septem- punetata), der mir oft in ansehnlichen Mengen zur Verfügung stand, hatte ich wiederholt im Mai und Juli experimentiert, ohne zu ver- wertbaren Ergebnissen zu kommen. Ich nahm die Versuche wieder auf, als ich im Herbste an sehr sonnigen, warmen Tagen 30 und mehr von den Käfern am Fenster meines Arbeitszimmers lebhaft nach oben laufen sah. Waren sie an den oberen Fensterrand ge- kommen, so flogen sie im Bogen herunter, wieder gegen das Fenster, und liefen an demselben von neuem senkrecht nach oben. Dieses Spiel ging, wenn die Sonne auf dem Fenster lag, stundenlang in gleicher Weise fort. Hielt ich vor die Aussenseite des Fensters einen dunklen Schirm, der letzteres etwa zur Hälfte verdeckte, so änderten die Tiere sofort ihre Bewegungsricehtung und liefen zu- einander angenähert parallel, unter mehr oder weniger spitzem Winkel mit der Vertikalen, der hellen Fensterhälfte zu. Mit wesent- lich gleichen Ergebnissen stellte ich solche Versuche oft an, nachdem ich die Tiere in ein Gefäss mit planparallelen Wänden gebracht hatte. In einem solchen Gefässe ins Spektrum gebracht liefen die Coceinellen einerseits aus dem Rot und Rotgelb, andererseits aus dem Blau und Violett schräg nach oben zur Gegend des Gelb bis Grün, im Gelb und Grün selbst liefen sie angenähert senkrecht nach oben. (Zum Gelingen dieser Versuche sind verhältnismässig liehtstarke Spektren er- forderlich). Wurde das Gefäss so verschoben, dass sein eines Ende von gelbgrünem Lichte bestrahlt wurde, die anderen Teile von blauem und violettem oder aber von rotem Lichte, so sammelten sich bald fast alle Tiere an dem im Gelbgrün befindlichen Ende. Stets eilten die Käfer aus dem Rot rascher nach dem Gelb und Grün als aus dem Blau und Violett. Versuche mit blauen und roten Glaslichtern führten zu be- friedigenden Ergebnissen erst, als ich sehr hohe Lichtstärken benützte. Die Tiere verhielten sich in allen hier wesentlichen Punkten so wie die vorher beschriebenen Mücken. 300 C. Hess: Wie für die anderen von mir untersuchten Insekten ist ein blaues Reizlicht, das unserem hell adaptierten Auge beträchtlich dunkler erscheint als ein bestimmtes rotes, für diese Coceinellen wesentlich heller als letzteres und veranlasst sie, die blauen Teile aufzusuchen; wird das Rot so lichtstark bzw. das Blau so licht- schwach gemacht, dass letzteres unserem dunkel adaptierten Auge beträchtlich dunkler erscheint als das Rot, so suchen die Tiere nicht mehr das Blau, sondern eher das Rot auf. Diese Versuche scheinen mir besonders deshalb wichtig, weil es sich hier um ausgesprochene Tag- tiere handelt, die gerade bei heller Sonne lebhaft zu werden pflegen. | | | Violett Blau Grün . Blau Grün Gelb a Rot Fig. 4. Fig. 5. Im wesentlichen die gleichen Ergebnisse wie bei Mücken und Coceinellen erhielt ich bei unseren gewöhnlichen Stubenfliegen, die gleichfalls eine ausgesprochene Neigung zeigen, nach dem jeweils hellsten Teile ihres Behälters zu eilen. Am schönsten sieht man dies, wenn man eine Häfte des letzteren verdunkelt, die andere belichtet: in den ersten Momenten der Belichtung eilen dann die meisten Tiere auf das Licht zu. Bei vielen Versuchen brachte ich eine grössere Zahl von Fliegen in einen Behälter, dessen plan- parallele Glaswände nur ca. 1 cm voneinander abstanden, so dass die Tiere darin bequem laufen, aber nicht fliegen konnten. Die Textfiguren 4 und 5 geben Blitzliehtaufnahmen solcher Tiere wieder, die ich in folgender Weise erhielt: Der Behälter wurde zunächst einige Zeit dunkel gehalten, dann rasch so ins Spektrum gebracht (siehe Fig. 4), dass seine linke Hälfte im Violett und Ultraviolett lage, die rechte im Gelb und Grün. Die meisten Tiere liefen zu- Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 301 nächst rasch nach der letzteren; wurde nun der Behälter rasch um 180 ° gedreht, so dass die vorher dem Gelb und Grün ent- sprechenden Teile ins Violett und Ultraviolett kamen und umgekehrt, so liefen wieder in den ersten Momenten die meisten Tiere rasch nach dem Gelb und Grün. Wurde der Behälter längere Zeit in dieser Stellung gelassen, so verteilten die beständig laufenden Tiere sich, doch blieben in der Regel auch dauernd mehr Tiere in der Gegend des Gelb und Grün wie im Blau und Violett. Fig. 5 zeigt, wie bei einem solchen Versuche die Tiere von der Gegend des Ultrarot und Rot nach dem Gelb und Grün laufen. Wurde in der oben (S. 286) geschilderten Weise vor dem Be- hälter ein schwarzer Karton angebracht, in dem sich zwei etwa dem Orange und dem Blau des Spektrums entsprechende Ausschnitte befanden, so eilte die Mehrzahl der Tiere zum Blau. Auch diese Erscheinung habe ich in photographischen Aufnahmen festhalten können. Weitere Versuche ergaben, dass auch die Bienen sich im wesent- lichen so wie die anderen von mir untersuchten Insekten und durch- aus anders verhalten, als es nach den Anschauungen von J. Loeb der Fall sein müsste. Zu genaueren Messungen war von den bisher besprochenen Insektenarten keine geeignet. Dagegen liessen sich solche bei einer zu den Chaleididen gehörigen Sehlupfwespe von ca. 3 ınm Länge vornehmen, die an warmen Herbst- tagen am Fenster meines Zimmers oft zu Hunderten sich sammelten. Sie liefen wie die Coceinellen Stunden lang angenähert senkrecht nach oben bis zum Gesimse, flogen dann im Bogen nach unten wieder gegen die Glasscheibe und begannen hier von neuem ihren Lauf nach oben. Hielt ich von aussen einen Bogen weisses Papier so vor die Scheibe, dass ein Teil der letzteren leicht beschattet wurde, so wendeten sich sofort fast alle Tiere gegen die unbedeckte Fensterseite und liefen nahezu parallel zueinander auf diese zu; wurde das Papier jetzt hier vorgeschoben, so kehrte augenblicklich die ganze Schar um und lief wieder der jetzt freien Fensterhälfte zu. Da diese Schlupfwespen sich für viele einschlägige Versuche besonders geeignet erwiesen, sei kurz die von mir benützte Fangmethode angegeben. Ich bog ein glattes Papier zu einem weithalsigen Trichter zusammen und fuhr mit dessen Basis von unten nach oben über die Scheibe, an der die Tierchen sassen; dadurch kamen in der Regel 5—10 derselben auf den glatten Bogen und glitten 302 C. Hess: bei leichtem Klopfen in den Hals des Papiertrichters und von da in einen unter- gehaltenen Glastrichter, dessen Hals durch einen Korken in ein zylindrisches Glasgefäss mündete. So liessen sich oft in wenigen Minuten 50—60 und noch mehr Tiere fangen, ohne dass sie im geringsten verletzt wurden. In diesem zylindrischen Glasgefässe war die Bewegung der kleinen, beständig lebhaft laufenden Tierchen stets nach oben und gegen das Helle gerichtet. Wie immer ich das Glasgeräss neigte, stets liefen sie parallel zueinander auf der Lichtseite nach oben. Diese Eigentümlichkeit benützte ich auch, um die Tiere aus dem zylindrischen Gefässe in ein solches mit planparallelen Wänden zu bringen, in welchem die weiteren Untersuchungen vorzunehmen waren. Es genügte, nach Entfernen des Korken einen Trichter mit dem Halse nach oben überzustülpen und über diesen das Parallelwandgefäss zu halten. Sofort liefen alle Tiere an der Lichtseite des Glastrichters durch den Hals nach oben und flogen von der Trichtermündung nach der dem Lichte zugekehrten Glaswand des neuen Gefässes. Wurde im Dunkelzimmer ein lichtstarkes Spektrum auf dieser Glaswand entworfen, so liefen die Tierchen sofort: aus dem Rot und aus dem Blau und Violett rasch nach dem Gelb bis Grün und hatten sich hier bald fast alle angesammelt, so dass im Rot und Orange wie im Blau und Violett oft nur wenige oder gar keine mehr blieben. Kleine Verschiebungen des Gefässes oder des Spektrums hatten zur Folge, dass die ganze Schar sich sofort wieder dem Gelb bis Grün zuwandte. Eine Reihe von Gleichungen zwischen verschiedenen homo- genen und einem messbar variablen Mischliehte wurde nach dem gelegentlich meiner Untersuchungen an Fischen ausgearbeiteten Ver- fahren hergestellt: Von dem Behälter für die Tiere wurde ein Absehnitt mit dem zu untersuchenden homogenen Lichte bestrahlt, ein anderer, in scharfer Grenzlinie an den ersteren anstossender, mit dem messbar variablen Lichte einer Glühbirne). Die Messungen waren nicht mit gleicher Genauigkeit möglich, wie bei den Fischen; die bei wiederholten Versuchen erhaltenen . Ergebnisse stimmten darin überein, dass die grösste Helligkeit für die Tiere der Gegend des Gelbgrün bis Grün entsprach und von hier nach dem langwelligen Ende rasch, nach dem kurzwelligen langsamer abnahm. Setzen wir die zur Herstellung einer Gleichung mit dem Gelb- grün des Spektrums erforderliche Lichtstärke der von der Glühlampe 1) Wegen der Einzelheiten der Versuchsanordnung verweise ich auf die ausführliche Beschreibung (Arch. f. Augenheilk. Bd. 64 Ergänzungsheft S. 18). Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 303 bestrahlten Behälterpartie — 100, so ergaben sich für einige andere homogene Lichter als Mittel aus meinen Messungen die folgenden Werte: Rot — 3,8, rötliches Gelb = 25, Gelb —= 50, Blau = 17,5. Diese Werte zeigen wieder im Wesentlichen grosse Ähnlichkeit mit den früher von mir für Fische gefundenen und mit den ent- sprechenden Helligkeitswerten für das total farbenblinde Menschenauge. Zu gutem Gelingen dieser Versuche war erforderlich, dass die Tiere ge- nügend warm gehalten wurden; in einem kühlen Zimmer waren sie bald so träge, dass sie im Dunkeln wie im Hellen ruhig, fast unbeweglich sitzen blieben; es genügte aber leichtes Erwärmen, um ihre Lebhaftigkeit zu wecken. Ich konnte die Tiere fast nur an dem Tage benützen, an dem ich sie gefangen hatte; am folgenden waren sie meist schon zu matt und dann auch durch Erwärmen nicht mehr genügend lebhaft zu machen. Die hier kurz mitgeteilten Beobachtungen zeigen, dass auch die neuerdings von mir untersuchten Wirbellosen sich in allen hier in Betracht kommenden Punkten so verhalten, wie jene, über die ich früher berichtet habe. Die Meinung, dass „die Bewegungen der Tiere zum Lichte im grossen und ganzen dieselbe Abhängigkeit von der Wellenlänge des Lichtes zeigen, wie die heliotropischen Krümmungen der Pflanzenstengel zum Licht“, hat sich auch für diese Tiere als unzutreffend erwiesen. Die früheren Versuche, Aufschluss über den Lichtsinn der fraglichen Tiere zu bekommen, scheiterten neben der Unzweck- mässigkeit der Methoden vielfach auch daran, dass man die ver- schiedenen Tierarten alle nach einer und derselben Methode untersuchen zu können glaubte. Schon unsere bisher mitgeteilten Beobachtungen, noch mehr die im Folgenden beschriebenen, zeigen, auf wie mannigfache Weise die Frage nach dem Sehen der Tiere in Angriff genommen werden kann. Wir müssen uns mit den Lebensäusserungen und Gewohnheiten jeder einzelnen Art vertraut machen, um die zu den Versuchen zweckmässigste Anordnung zu ermitteln. Die im Vorstehenden beschriebenen Beispiele wurden gewählt, um zu zeigen, auf wie viele wichtige Fragen schon die gewöhnlichen niederen Tiere Antwort geben können, die in unseren Gegenden während eines grossen Teiles des Jahres reichlich zur Verfügung stehen. 304 C. Hess: 4. Versuche über die Einwirkung ultravioletten Lichtes. Lubbock und Forel haben vor mehr als 20 Jahren inter- essante Beobachtungen mitgeteilt, nach welchen für Ameisen und Daphnien die „Sichtbarkeitsgrenzen“ des Spektrums am violetten Ende merklich weiter reichen als für uns. In einem Gefässe, das Lubbock zur einen Hälfte mit ultravioletthaltigem Lichte, zur anderen mit ultraviolettfreiem (von ähnlicher oder fast gleicher Farbe) bestrahlte, sammelte sich die Mehrzahl der Daphnien in der ultravioletthaltigen Hälfte. Auf Grund analoger Versuche an Ameisen kamen Lubbock und Forel zu dem Ergebnisse, dass auch diese für ultraviolette Strahlen empfindlich seien; solches war aber nicht mehr der Fall, wenn man die Augen der Ameisen schwärzte. Forel schliesst daraus: „Die Ameisen scheinen die ultravioletten Strahlen hauptsächlich mittels ihrer Augen wahrzunehmen, das heisst also es zu sehen, da sie sich, wenn ihre Augen vefirnisst sind, fast un- empfindlich dagegen zeigen; deutlich reagieren sie in diesem Zustande nur auf direktes oder mindestens kräftiges Sonnenlicht.“ Im Hinblicke auf die angeführten Beobachtungen hatte ich schon bei meinen ersten Untersuchungen über den Lichtsinn bei Wirbel- losen mich auch mit der Frage nach dem Verhalten der von mir untersuchten Tiere gegenüber violettem und ultraviolettem Lichte zu beschäftigen begonnen. Ich gebe im Folgenden nur einen kurzen Überblick über die wesentlichsten bisher von mir gewonnenen Fr- gebnisse und behalte mir vor, darauf bei anderer Gelegenheit eingehen- der zurückzukommen. Einen Teil meiner Versuche stellte ich so an, dass ich das Gefäss mit den Tieren zunächst den Strahlen einer Bogenlampe aussetzte, vor der sich ein für Ultraviolett besonders durchlässiges „Blau-Uviolglas“ (F 3653 Schott) befand, und dann von der dem Lichte zugekehrten Gefässwand eine seitliche Hälfte mit einer Platte nahezu farblosen bzw. nur sehr schwach gelblichen, das Ultraviolett stark absorbierenden Schwerstflintglases (O 198 Sehott) bedeckte; von dem die Tiere enthaltenden Gefässe war jetzt also eine seitliche Hälfte mit an ultravioletten Strahlen verhältnismässig reichem, uns dunkelblau erscheinenden Lichte bestrahlt, die andere mit einem uns nur sehr wenig dunkler erscheinenden, an ultravioletten Strahlen verhältnismässig sehr armen Blau. Bei anderen Versuchen wurde Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 305 das Schwerstflintglas bald ganz vor das Blauuviolglas geschoben, bald sanz zurückgezogen. [ Das zu meinen Versuchen dienende, für Ultraviolett durchlässige Blauuviol- glas (F 3653) hat in der von mir benützten Dicke von 3 mm nach den Schott’schen Bestimmungen folgende Durchlässigkeitsfaktoren : Für die Wellenlänge: 546 uu — 0,000024 361 uu — 1,0 509 „ — 0,0000015 3407, — 1,0 480 „ — 0,0015 3320 0 50 436 „ —= 0,28 309 „ = 0,54 405 „ = 10 220 „ = 0,0058 384. „= 10 Mein Schwerstflintglas (0 198) hatte eine Dicke von 4 mm; seine Durch- lässigkeitsfaktoren sind nach den Schott’schen Bestimmungen folgende: Für die Wellenlänge von 644 uu — 0,990 480 uu — 0,9712 578 „ — 0,984 36 „ — 0,837 546 „ = 0,984 405 „ —= 0,425 90977, —20,986 334 „ = 0,104 Die Tiere befanden sich in einem Gefässe mit planparallelen Glaswänden. Für die eine Wand, durch welche die Strahlen der zur Untersuchung dienenden Lichtquelle einfielen, benutzte ich zunächst farbloses Uvioltafelelas, das mir von der Firma Schott freundlichst zur Verfügung gestellt worden war, und versah die als Liehtquelle dienende Zeiss’sche Bogenlampe mit einer Quarzlinse ; in einer Reihe von Beobachtungen überzeugte ich mich, dass die im Folgenden mitzuteilenden Versuche kein wesentlich anderes Er- gebnis hatten, wenn Linse und Glaswand aus gewöhnlichem Glase bestanden, das bei 2 mm Dicke im allgemeinen noch Licht bis zur Wellenlänge von etwa 313 uw durchlässt (Schott). Die im Folgenden zu besprechenden Erscheinungen werden also offenbar im wesent- lichen durch den langwelligeren Teil der ultravioletten Strahlen bedingt. Die Absorption der ultravioletten Strahlen im Wasser kommt für die hier ja nur wenige Zentimeter dicken Wasserschiehten kaum in Betracht. Einer freundlichen Mitteilung der Herren Schott- Jena verdanke ich die Angabe, dass, nach Kreussler, für in Jenaer Hartglas aufbewahrtes Wasser bei einer Schichtdicke von 16,97 mm die Absorption für die Wellenlänge —= 300 gu nur 2,5 /o 2602 A200 — 2404 „u, 9,2.9obeträgt. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 20 \ ” 306 C. Hess: Versuche an Daphnien. Vor der das Bassin mit Daphnien bestrahlenden Bogenlampe befindet sich die Blauuviolplatte; nachdem das Licht einige Minuten lang auf die Tiere gewirkt hat, zeigen diese eine bestimmte, gleich- mässige Neigung, nach oben zu schwimmen. Vermehrung der Licht- stärke hat bei der Mehrzahl derselben deutliches Sinken !), Abnahme der Lichtstärke lebhafteres Aufwärtsschwimmen zur Folge. Es genügen zu solchen Änderungen des Schwimmens schon verhältnismässig seringe Änderungen der Lichtstärke. Schiebt man bei konstant bleibendem Reizlichte das Schwerst- flintglas vor das Blauuviolglas, so nimmt die Schwimmbewegung der Tiere nach oben deutlich zu, so, wie ich es sonst bei geringen Licht- stärkeabnahmen beobachtete. Wegziehen der Platte hat vorüber- gehendes Sinken der Tiere zur Folge, wie sonst bei geringer Licht- stärkenzunahme. Schiebt man das Schwerstflintglas nur so weit vor, dass die eine seitliche Hälfte des Bassins mit dem an ultravioletten Strahlen reichen Lichte, die andere mit dem an solchen armen Lichte bestrahlt ist, so sieht man in dieser letzteren Hälfte die Tiere deutlich steigen und nach Wegziehen der Schwerstflintplatte sinken. Die Tiere schwimmen in beiden Bassinhälften angenähert senkrecht nach oben; es zeigt sich keine starke Neigung aus der mit Schwerstflintglas versehenen in die andere Hälfte zu schwimmen, wie es der Fall sein würde, wenn der Helliekeitsunterschied zwischen beiden Hälften für die Tiere beträchtlich wäre. (Vgl. hierüber meine erste Abhandlung.) Wird die ganze Bassinfläche gleichmässig belichtet und dann die eine seitliche Hälfte des Bassins mit der Blauuviolplatte bedeckt, die andere Hälfte unbedeckt gelassen, so schwimmen die Daphnien lebhaft aus der für uns blauen nach der farblosen, uns viel heller erscheinenden Hälfte. Sowie sie in diese gekommen sind, sinken sie stark nach unten. Wird diese freie Hälfte mit dem Schwerst- flintglase bedeckt, so gelangen hier verhältnismässig wenig ultra- violette Strahlen zum Daphnienauge, in der blauen Hälfte dagegen verhältnismässig viele. Aber auch jetzt schwimmen die Daphnien noch lebhaft nach der farblosen Hälfte, doch im grossen und ganzen nicht so lebhaft wie vorher; die in die farblose Hälfte gelaugenden l) In Bezug auf die einschlägigen Einzelheiten des Verhaltens der Tiere bei Änderung der Lichtstärken verweise ich auf meine erste Abhandlung. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 307 Tiere zeigen wieder deutliches, aber nicht so starkes Sinken, als sie gezeigt hatten, bevor das Schwerstflintglas vor diese Hälfte ge- bracht worden war. Werden die Daphnien ohne Vorhalten des Blauuviolglases mit dem Lichte der Bogenlampe gleichmässig bestrahlt, so hat Aus- schaltung der ultravioletten Strahlen durch Vorschieben des Schwerst- flintglases wenig oder fast gar keinen merklichen Einfluss auf die Schwimmbewegungen der Tiere. Zuweilen sieht man sie bei Vor- schieben dieser Glasplatte ein wenig lebhafter nach oben schwimmen und nach Weeziehen derselben etwas sinken, aber dies ist viel weniger ausgesprochen, als es vorher im Lichte des Blauuviol- glases gewesen war; nicht selten ist überhaupt kein sicherer Unter- schied bei Vorschieben bzw. Wegziehen des Schwerstflintglases wahrzunehmen. Wird das Bassin durch Vorhalten eines rubinroten Glases vor die Bogenlampe rot belichtet, so ist: Vorsetzen und \Wegziehen des Schwerstflintglases ohne jeden Einfluss auf das Verhalten der Daphnien. Ebenso zeigen die Daphnien im Rot, Gelb, Grün und Blau des Spektrums keine Änderung ihrer Schwimmbewegungen, wenn das Schwerstflintglas vorgeschoben wird. Auch mit Hilfe der oben (vgl. S. 293) beschriebenen Augen- bewegungen der Daphnien konnte ich die Wirkung des ultra- violetten Lichtes bei diesen Tieren verfolgen: Wird ein Daphnienauge dauernd von einer mit dem Blau- uviolglase versehenen Bogenlampe belichtet und nun das Schwerst- flintglas abwechselnd zwischengeschaltet und weggezogen, so tritt regelmässig bei Vorsetzen des Glases (also Ausschalten eines grossen Teiles der ultravioletten Strahlen) eine Verdunkelungsbewegung, bei Zurückziehen des Glases eine Erhellungsbewegung des Auges ein; für uns ist wieder der Unterschied in der Helligkeit des Blau mit und ohne Schwerstflintglas sehr unbedeutend. Wir haben oben (S. 284) Versuche mit abwechselnder Rot- und Blaubelichtung kennen gelernt und gesehen, dass im allgemeinen Bestrahlung mit dem für uns helleren Rot Verdunkelungsbewegung, Bestrahlung mit dem für uns dunkleren Blau Erhellungsbewegung des Daphnienauges zur Folge hat. Um zu prüfen, ob bei dieser Wirkung des blauen Glaslichtes die ihm hier beigemischten ultra- violetten Strahlen von wesentlichem Einflusse seien, wiederholte ich die Versuche, nachdem ich vor das Blau noch die für Ultraviolett 20 * 308 C. Hess: fast undurchlässige Schwerstflintglasplatte gelegt hatte. Auch jetzt machte das Daphnienauge bei Erscheinen des Rot eine Verdunkelungs- bewegung, bei Erscheinen des Blau eine Erhellungsbewegung, doch waren diese Augenbewegungen weniger ausgiebig als bei den Ver- suchen ohne Schwerstflintglas, d. h. mit ultraviolettreieherem Blau. Das besondere Interesse dieser Beobachtungen liest in dem Nachweise, dass die fragliche Wirkung des ultravioletten Liehtes auch bei den Daphnien dureh das Auge vermittelt wird. Ist doch nicht wohl anzunehmen, dass etwa eine durch die Körperoberfläche der Daphnien vermittelte Wirkung der kurzwelligen Strahlen zu eben solchen Augenbewegungen Anlass gibt, wie wir sie bisher bei Erhellung und Verdunkelung kennen gelernt haben. Bei meinen früheren Untersuchungen mit homogenen Lichtern, bei. welchen es sich mir zunächst um Feststellung der Wirkung der verschiedenen sichtbaren Strahlen des Spektrums handelte, hatte ich mich eines Schwefelkohlenstoffprismas bedient, das die ultra- violetten Strahlen so gut wie vollständig zurückhält. Alle jene früheren Versuche wiederholte ich jetzt an einem Spektralapparate mit Linsen und Prismen aus Quarz. Trotz seines verhältnismässig grossen Reichtums an ultravioletten Strahlen war in diesem Spektrum bei sonst gleicher Versuchsanordnung wie früher die Verteilung der Daphnien keine wesentlich andere als bei jenen ersten Versuchen: Die Tiere zeigten auch hier deut- liche Neigung, aus dem Blau und Violett nach dem Gelbgrün zu schwimmen. Um von der durch diese ultravioletten Strahlen in einem be- stimmten Falle bedingten Helligkeit wenigstens bis zu einem gewissen Grade durch messende Versuche eine Vorstellung zu bekommen, bediente ich mich der folgenden photometrischen Vorrichtung, die mir auch sonst bei meinen Untersuchungen gute Dienste leistete (vgl. nachstehendes Schema, Textfig. 6). Im Inneren eines ca. SO cm langen mattschwarzen Tunnels von rechteckigem Querschnitte (24 x 20 em) sind zwei Nernst- glühkörper N N, von je 500 Kerzen Lichtstärke mittels über Rollen laufender Schnüre messbar verschieblich. Eine vertikale Scheide- wand trennt den Tunnel in zwei gleich grosse seitliche Hälften. Die Vorderwand ist durch eine mattschwarze Metallfläche gebildet, in deren Mitte ein 10 em breiter, 5 em hoher Ausschnitt sich be- findet, der also durch die erwähnte Scheidewand in zwei gleich- Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 309 grosse quadratische Hälften geteilt wird. Die Scheidewand erstreckt ‘sich ausserhalb des Tunnels noch um ca. 20 em nach vorn bis zur Vorderfläche des die Versuchstiere enthaltenden Behälters DB. Vor den Ausschnitten aa, sind Rahmen zur Aufnahme verschieden- farbiger Gläser angebracht. Die Vorrichtung gestattet, die linke Bassinhälfte gesondert mit dem Lichte der Lampe N, die rechte mit jenem der Lampe N, zu bestrahlen und die Lichtstärken beiderseits innerhalb weiter Grenzen beliebig und voneinander un- abhängige zu variieren. Ich verdeckte zunächst die beiden Ausschnitte a und a, zusammen durch eine grosse Platte von dem für Ultra- violett besonders durchlässigen Blau- uviolglase und stellte fest, dass, wenn beide Lampen in 50 cm Entfernung standen, die beiden aneinander grenzen- den Ausschnitte meinem Auge gleich hell erschienen, die Lampen also für unsere Zwecke genügend gleich licht- stark waren. Die Daphnien in dem Bassin B verteilten sich bei dieser An- ordnung in angenähert gleichen Mengen zu beiden Seiten der Trennunsslinie. Schob ich nun vor den rechten Aus- schnitt eine Schwerstflintplatte (wo- durch derselbe für mein Auge nur um eine eben merkliche Spur weniger hell wurde als der linke), so zeigten die Daphnien eine gewisse Neigung aus der jetzt an ultravioletten Strahlen ärmeren nach der anderen Seite zu gehen. Wurde nun aber die rechte Nernstlampe von 50 auf 40 cm herangeschoben, so zeigten die Daphnien schon eine gewisse Neigung, nach dieser jetzt für uns etwas helleren rechten Hälfte zu gehen, obschon sie dabei aus einem an ultravioletten Strahlen relativ reichen Bassinteile in einen an solchen wesentlich ärmeren kamen. In diesem Falle genüste also Erhöhung der Lichtstärke von 1 auf ea. 1,56, um die durch Aus- Fig. 6. 310 C. Hess: schalten der ultravioletten Strahlen bedingte Helliekeitsverminderung für die Daphnien zu überkompensieren. Es bedarf wohl keiner besonderen Betonung, dass die hier an- geführten Werte nur für die eben von mir benützte Lichtstärke und Qualität der Reizlichter Geltung haben. Aber innerhalb dieser Grenzen können sie eine Vorstellung davon geben, wie unbedeutend auch in diesem Versuche die durch die ultravioletten Strahlen bei den Daphnien hervorgerufene Helligkeitswahrnehmung ist. Ebenso wie die Daphnien verhielten sich die auf S. 301 be- schriebenen Schlupfwespen im Quarzspektrum: Sie liefen wie in dem mit Schwefelkohlenstofiprisma erzeugten Spektrum aus dem Violett und Blau lebhaft nach dem Gelbgrün. Niemals war in einem solchen Spektrum eine Ansammlung im Ultraviolett wahrzunehmen. Stellte ich den Behälter mit den Tieren so, dass nur die blauen, violetten und ultravioletten Strahlen zu ihnen gelangen konnten, so sammelten sie sich rasch im Blau; konnten nur violette und ultraviolette Strahlen zu ihnen gelangen, so sammelten sie sich im Violett, trotzdem, wie die folgenden Versuche zeigen, das Ultra- violett bei diesen Schlupfwespen etwas grössere Helligkeitswahrnehmung hervorrufen dürfte als ceteris paribus bei Daphnien. Brachte ich die Tiere bei bedeektem Himmel an das Nord- fenster meines Dunkelzimmers und hielt vor die eine Hälfte ihres Behälters das Schwerstflintglas, so liefen viele von ihnen nach den nicht von diesem bedeckten Teilen des Gefässes; wurde die Schwerst- flintglasplatte nun vor diese vorher unbedeckt gewesenen Teile ge- schoben, so liefen die Tiere wieder nach der anderen, jetzt freien Hälfte. Bei späteren Versuchen, die ieh mit einer Bogenlampe als Lichtquelle, aber sonst in gleicher Weise mit der gleichen Tierart anstellte, hatte Vorschalten des Schwerstflintglases vor die eine Ge- fässhälfte keinen merklichen Einfluss äuf die Verteilung der Tiere. In einem zur Hälfte mit für uns hellrotem, zur Hälfte mit einem ultraviolettdurchlässigen, für uns dunkelblauen Glase bedeckten Behälter sammeln sich die Tiere bald vorwiegend in der Blauhälfte. Dies ist auch dann der Fall, wenn vor das Blau die Schwerstflint- platte geschoben wird; aber die Tiere sammeln sieh jetzt nieht so rasch und vollzählig im Blau, als es vor dem Ausschalten der ultra- violetten Strahlen der Fall gewesen war. Ist der ganze Behälter mit Blauuviolglas bedeckt und wird dann vor die eine Hälfte die Schwerstflintplatte gebracht, so laufen die Tiere nach der nicht von dieser bedeckten Gefässhälfte. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 311 Wurde eine Hälfte des Behälters mit einer Milchglasplatte bedeckt, die andere frei gelassen, so liefen die Tiere nach dieser letzteren; hielt ich vor diese eine Schwerstflintplatte, so ging die Mehrzahl unter die Milchglasplatte zurück. Wurde die eine Hälfte des Gefässes mit der Blauuviolplatte be- deckt, die andere freigelassen, so liefen die Tiere rasch in letztere. Wurde hier die Schwerstflintplatte vorgehalten, so sammelten sie sich auch jetzt noch unter dieser, aber weniger rasch und vollständig als vorher; ein nicht ganz kleiner Teil der Tiere blieb in dem von Blauuviol bedeckten, an ultravioletten Strahlen verhältnismässig reichen Teile. Wurde die eine Hälfte mit für unser Auge hellblauem (für Ultraviolett nur zum Teile durchlässigen) Glase, die andere mit dem für unser Auge dunkleren, aber für Ultraviolett besonders durch- lässigen Blauuviolglase bedeckt, so ging der grössere Teil der Tiere unter letztere; schob ich die Schwerstflintplatte vor diese, so ging die Mehrzahl der Tiere unter das für uns hellere Blau. Mücken (Culex pipiens) sammeln sich in einem zur Hälfte mit rotem, zur Hälfte mit dem für uns dunkleren Blauuviolglase be- deckten Behälter in grosser Zahl im Blau auch dann, wenn die ultravioletten Strahlen des letzteren durch Vorhalten des Schwerst- flintglases zurückgehalten werden, doch ist die Ansammlung im Blau jetzt etwas weniger lebhaft, als sie vor Ausschalten der ultravioletten Strahlen gewesen war. In einem ganz mit Blauuviolglas verdeckten Behälter, vor dessen einer Hälfte die Schwerstflintplatte sich befindet, sammelt sich die Mehrzahl der Mücken in der anderen Hälfte. In einem nur von Bogenlicht (ohne Blauuviolglas) bestrahlten Behälter hat Vorhalten eines Schwerstflintelases vor die eine Hälfte keinen merklichen Einfluss auf die Verteilung der Tiere. Ebenso wie Culex pipiens verhielt sich Culex aunulätus. Bei den Larven von Culex liess sich eine schwache Wirkung der ultravioletten Strahlen in dem folgenden Versuche erkennen: Das Bassin mit den Tieren wurde, mit Blauuviolglas bedeckt, einige Zeit den Strahlen der kleinen Bogenlampe ausgesetzt; bald hatte sich die Mehrzahl der Larven an der Wasseroberfläche gesammelt (s. o. S. 296). Vorschieben der Schwerstflintplatte vor die Lampe hatte deutliches, aber nieht starkes Sinken der Tiere zur Folge, so, wie ich es sonst bei geringer Verminderung der Lichtstärke zu sehen gewohrt war. Waren diese Versuche öfter hintereinander wiederholt worden, 312 C.. Hess: so trat das Sinken bei Verdunkelung nieht mehr ein. Es war aber jetzt immer noch deutlich zu sehen, dass die Tiere bei grösserer Lichtstärke lebhafter, bei geringerer träger schwammen. Solange das Bassin von dem durch das Blauuviolglas gegangenen Lichte bestrahlt war, schwammen die Larven lebhaft, sobald ich aber noch das Schwerstflintglas vorschob, wurden ihre Bewegungen etwas träger oder hörten fast ganz auf. Wegziehen des Schwerstflintglases hatte sofort wieder lebhafteres Schwimmen zur Folge. (In ähnlicher Weise wurden bei abwechselnder Belichtung mit rotem und mit blauem Glaslichte im Rot die Bewegungen träge und langsam, im Blau lebhafter.) Wurde das Bassin mit dem Lichte der Bogenlampe allein (ohne Zwischenschalten von Blauuviolglas) bestrahlt, so hatte Vorhalten des Schwerstflintglases meist keine merkliche Wirkung auf die Culex- larven, zuweilen war nach Weseziehen desselben eine unbedeutende Vermehrung der Lebhaftiekeit ihrer Bewegungen zu sehen. Alle hier mitgeteilten Befunde entsprechen der Annahme, dass die ultravioletten Strahlen bei den von mir untersuchten Tieren zu einer Helligkeitswahrnehmung Anlass geben, die bei den verschiedenen Tierarten nicht ganz gleich gross, aber bei allen ziemlich unbedeutend ist. Genauere Untersuchungen über den wesentlich wirksamen Bezirk des ultravioletten Spektrums habe ich bisher noch nicht angestellt; ich habe den Eindruck, dass vorwiegend etwa Strahlen von ungefähr 400—350 uu in Betracht kommen dürften; eine scharfe Grenze besteht wohl weder nach der langwelligen noch nach der kurz- welligen Seite. Die Helligkeitskurve des Spektrums für die hier untersuchten Tiere entspricht also nach allen bisherigen Untersuchungen in dessen sichtnarem Teile mehr oder weniger jener für das total farbenblinde Menschenauge; in der Nähe des kurzwelligen Endes des für uns sichtbaren Spektrums zeigt die Kurve noch eine bei den verschiedenen bisher von mir untersuchten Tieren verschiedene, stets aber gering- fügige, ziemlich flache Erhebung; schon das Violett des Spektrums ist für sie im Allgemeinen merklich heller als das Ultraviolett. Diese schwache Helligkeitszunahme zeigt sich wesentlich bei jenen Wellenlängen, die, nach unseren bisherigen Kenntnissen, im menschlichen Auge (Linse, Netzhaut) für die Erzeugung von Fluoreszenz Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 313 hauptsächlich in Betracht kommen; die bisher gefundenen Tatsachen stehen gut in Einklang mit der Annahme, dass jene Helliekeits- wahrnehmung bei den fraglichen Tieren durch Fluoreszenz, sei es des perzipierenden Apparates, sei es der vorgelagerten brechenden Medien bedingt ist. Einige Versuche, die ich anstellte, um eine derartige Fluorescenz direkt wahrzunehmen, haben bisher noch nicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt. Für unsere Auffassung vom Sehen der in Rede stehenden Tiere war nach dem Gesagten die Frage von Interesse, ob die von nr bei allen gefundenen relativ grossen Helligkeitswerte vorwiegend blauer Lichter gegenüber den roten etwa allein auf solche Fluoreszenz- erscheinungen bezogen werden könnten. Eben im Hinblieke hierauf habe ich unter anderem solche Versuche angestellt, bei welchen die Behälter zur einen Hälfte mit rotem, zur anderen mit blauem Lichte bestrahlt wurden, und gezeigt, dass für die Tiere das Blau auch dann heller ist, wenn die ultravioletten Strahlen mehr oder weniger vollständig ausgeschaltet sind (bei Glasliehtern durch Vor- setzen eines Schwerstflintglases, bei homogenen Lichtern durch Wahl eines genügend langwelligen Blau, das also ausserhalb des Gebietes der für Erregung von Fluoreszenz wesentlich in Betracht kommen- den Strahlen lag). Alle Versuche zeigen übereinstimmend, dass auch nach tunlichster Ausschaltung eines etwaigen Einflusses von Fluoreszenz die fraglichen blauen Lichter für jene Tiere heller sind als die roten und orangefarbigen, ähnlich so, wie es auch für den total farbenblinden Menschen bei allen Lichtstärken der Fall ist. II. Untersuchungen an marinen Wirbellosen. Der Wunsch, meine Untersuchungen auf eine breitere Grund- lage zu stellen, und die Hoffnung, bei Seetieren noch bestimmtere Antwort auf die mich beschäftigenden Fragen zu erhalten, führten zur Ausdehnung unserer Beobachtungen auf die Fauna des Meeres. Meine Aufgabe wurde mir durch das weitgehende, liebenswürdige Entgegenkommen erleichtert, dessen ich mich auch dieses Mal bei den Herren der zoologischen Station in Neapel erfreuen durfte; immer aufs Neue fühle ich mich vor allem der steten Hilfbereitschaft des Leiters der letzteren, Herrn Dr. R. Dohrn, zum herzliehsten Danke verpflichtet. 314 C. Hess: l. Versuche an Podopsis Slabberi. Ich berichte zunächst über Versuche an Podopsis Slabberi, einer im Neapeler Golfe häufigen, zu den Mysiden gehörenden kleinen Krebsart, deren lebhafte Neigung, nach dem für sie Hellen zu schwimmen, zu besonders schönen Erscheinungen Anlass gab, die ich wieder leicht photographisch festhalten konnte. Die von mir untersuchten Tiere schwammen stets lebhaft nach dem Lichte, z. B. auf eine über ihren Glasbehälter gebrachte Taschenlampe zu; wurde die Lampe unter den Boden des Behälters gebracht, so schwammen sie jetzt lebhaft aktiv nach unten. Bringt man von den ungefähr 1 em grossen, fast ganz durch- siehtigen Tieren 50—100 möglichst frische, einige Zeit dunkel ge- haltene Exemplare in einem Parallelwandbassin ins Spektrum, so sammeln sich bald die meisten an der der Lichtquelle zugekehrten Glaswand und schwimmen teils längs dieser, teils in der vorderen Hälfte der Wasserschicht von beiden Enden des Spektrums nach dem Gelbgrün zu. Nach wenigen Sekunden bietet sich vielfach ein Bild, wie es die photographischen Aufnahmen (Fig. 1 u. 2 Taf. V) zeigen): In der Gegend des Gelbgrün bis gelblichen Grün scharen sich die Tiere, die meist gerne nahe der Wasseroberfläche schwimmen, oft so dieht zusammen, dass ein mehr oder weniger grosser Teil, der oben nicht Platz hat, sich nach unten an die oberen anschliesst; so entsteht hier zuweilen ein schmaler Streif dicht gedrängter Krebse. Ihre Zahl nimmt in der Regel gegen das rote Spektrumende rascher ab als gegen das blaue. Seitliche Verschiebung des Bassins hat zur Folge, dass sofort die Mehrzahl der Tiere dem Gelbgrün rasch nach- schwimmt. Dass es die Gegend des Gelbgrün bzw. gelblichen Grün ist, in der die Tiere sich sammeln, sieht man hier besonders schön, da die Krebse nahezu durchsichtig sind und die am dichtesten zu- sammengedrängten im durchfallenden Lichte gelblichgrün erscheinen. Bliekt man von oben in ein solches Bassin, so nimmt man im all- gemeinen nur das im Wasser zerstreute schwache, angenähert farb- lose Lieht wahr; es erscheint entsprechend der Gegend des Gelbgrün am hellsten, eben da, wo, bei Betrachtung von oben, die hier an- 1) Alle auf den Tafeln wiedergegebenen Abbildungen sind nach Blitzlicht- aufnahmen hergestellt. Am oberen Bassinrande war ein weisser Kartonstreif befestigt, auf dem das langwellige Spektrumende und die Gegend des reinen Gelb, Grün und Blau verzeichnet war. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 315 gesammelten Tiere oft einen wulstartigen Vorsprung von der Glas- wand in die Wasserschicht hinein bilden. Lässt man die Tiere eine Zeitlang im Spektrum stehen, so bleibt das Bild im wesentlichen so, wie es in den ersten Sekunden sich entwickelt hatte; es ist mir dann sogar möglich gewesen, ohne Photographie ein einigermaassen getreues Bild der Verteilung der Tiere zu erhalten, indem ich auf die von der Lichtquelle abgewendete (Rück-) Seite des Bassins einen Streifen Ölpapier auflegte, auf dem die Tiere scharfe Schatten warfen, und nun mit raschen Strichen die Lage der einzelnen Tiere verzeichnete. Auf einer so erhaltenen Zeichnung zählte ich in einem nur etwa 2 cm breiten, dem gelb- lichen Grün des Spektrums entsprechenden Streifen durch mehrere Minuten stets etwa 40 Tiere, während in dem ganzen übrigen, mehr als 16 em breiten Spektrum zusammen nur 24 Tiere gezählt wurden, davon nur 5 auf der Seite nach dem Rot von jenem mittleren Streifen, 19 im Blau und Violett. Es ist für das Ergebnis soleher Versuche gleichgültig, ob man ein Schwefelkohlenstoffprisma oder Linsen und Prismen aus Berg- kristall benützt und die Tiere in dem Gefässe untersucht, dessen eine Glaswand für ultraviolettes Licht besonders durchlässig ist (s. 0.): In einem solchen Spektrum fand ich keine Tiere im Ultraviolett, die Ansammlung im Gelbgrün des sichtbaren Spektrums erfolgte wie bei Benutzung des Schwefelkohlenstoffprismas. Auch die auderen von mir benutzten Versuchsanordnungen zur Prüfung des Einflusses ultravioletten Lichtes hatten hier negatives Ergebnis: wurde das ganze Bassin mit dem Lichte einer Bogenlampe bestrahlt, vor der sich das Blauuviolglas befand, und schob ich nun vor die eine Bassinhälfte die Schwerstflintglasplatte, so blieben die Podopsis in beiden Bassinhälften angenähert gleichmässig verteilt; ebensowenig zeiete sich ein Unterschied zwischen beiden Hälften, wenn das Blau- uviolglas entfernt, also die eine Bassinhälfte mit dem angenähert farblosen und an ultravioletten Strahlen reiehen Lichte der Bogen- lampe bestrahlt war, die andere Hälfte aber, infolge Vorhaltens des Schwerstflintglases, mit an ultravioletten Strahlen verhältnismässig armem Lichte (weitere Versuche behalte ich mir vor). Unsere ersten Versuche am Spektrum zeigen, dass seine hellste Stelle für Podopsis mit jener für den total farbenblinden Menschen annähernd oder genau zusammenfällt, und dass seine Helligkeit von hier gegen das kurzwellige Ende langsam, gesen das langwellige 316 C. Hess: rascher abnimmt. Aber diese Versuche beweisen noch nicht, dass die Kurve der relativen Helligkeiten der verschiedenen homogenen Liehter hier eine ähnliche oder die gleiche ist wie beim total Farbenblinden. Die besonders starke Ansammlung der Tiere im Gelbgrün könnte z. B. dadurch bedingt sein, dass die Kurve für Podopsis von ihrem hier gelegenen Maximum nach beiden Seiten hin steiler abfiele als jene für den total farbenblinden Menschen. Zur Entscheidung dieser Frage waren wieder messende Unter- suchungen nötig, die ich hier in der gleichen Weise vornehmen konnte wie bei den von mir untersuchten Süsswasserfischen: Von einem ea. 5 em breiten Ausschnitte aus den mittleren Teilen des Bassins wurde die eine seitliche Hälfte mit dem zu untersuchenden homogenen Lichte bestrahlt, die andere mit einem messbar variablen Mischlichte; letzteres geschah in der Weise, dass innerhalb eines 3 m langen, innen mattschwarzen Tunnels eine Glühlampe von be- kannter Lichtstärke verschoben wurde). Die foleende Zusammenstellung gibt das Resultat einer der- artiven Reihe von Messungen wieder. Sie lässt zur Genüge er- kennen, dass die Kurve der relativen Helliekeiten der verschiedenen Lichter des Spektrums bei Po«dopsis nicht nur ihr Maximum an ähnlicher oder gleicher Stelle hat, wie jene beim total farbenblinden Menschen, sondern dass sie auch in ihrem Verlaufe mit der letztereu weitgehende Übereinstimmung zeigt. Dass die Podopsis sich in be- sonders grossen Mengen im Gelbgrün anhäufen, ist also nicht etwa auf besonders steilen Anstieg ihrer Helliekeitskurve in dieser Gegend zurückzuführen, sondern darauf, dass diese Krebse schon durch kleinere Helliekeitsunterschiede zu Schwimmbewegungen nach dem für sie Hellen veranlasst werden als viele andere Wirbellose. 1) Über die Einzelheiten der Versuchsanordnung vgl. S. 18 meiner Ab- handlung über den Lichtsinn bei Fischen. Zu den Untersuchungen in Neapel hatte ich mir zwecks bequemeren Transportes ein zerlegbares Gerippe aus matt- schwarzen Stäben herstellen lassen, das mit mattschwarzem Tuche überzogen wurde. Die nach oben gerichtete Tunnelwand hatte einen Schlitz zum Ver- schieben der Glühlampe. Zwei über diesem Schlitze angebrachte leicht federnde Streifen schwarzen Tuches verhüteten für unsere Zwecke genügend vollständig den Austritt störenden Lichtes. Die geschilderte Vorrichtung hat mir auch für andere, im Folgende zu besprechende Untersuchungen gute Dienste geleistet. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 317 Herstellung von Gleichungen zwischen homogenen Lichtern und einem messbar variablen Mischlichte für Podopsis. Die Breite des ganzen Spektrums beträgt etwa 25—30 em, die Breite. des jeweils zur Herstellung der Gleichung ausgeschnittenen Streifs aus dem Spektrum 2,5 em. Im Tunnel wird eine zehnkerzige Mattglasbirne verschoben. Diese belichtet links neben dem mit homogenem Lichte bestrahlten einen gleichbreiten Streifen des Bassins mit dem Mischliehte; zur Einstellung der verschiedenen homogenen Lichter wird der Tunnel jedesmal entsprechend verschoben (das Spektrum also unverändert gelassen). : Es wird zunächst rechts homogenes Gelberün von der mittleren Wellenlänge von ca. 525 uu eingestellt. Links Glühlampe in 20 em: alle Tiere gehen nach links, „ 50 „ : ungefähr gleich viele Tiere auf beiden Seiten. 40 „.: rechts viel mehr Tiere als links. ” ” ” Rechts wird homogenes Rotgelb eingestellt (mittlere Wellen- länge ungefähr 600—590 uu). Links Glühlampe in 200 em: rechts mehr Tiere, a > „ 100 ,„ : ungefähr gleich viele Tiere auf beiden Seiten, 50 „: links viel mehr Tiere als rechts. Rechts wird homogenes Gelblichrot eingestellt (mittlere Wellen- länge etwa 650—620 uu). Links Glühlampe in 300 em: fast alle Tiere links. Rechts wird homogenes Blau eingestellt (mittlere Wellenlänge ungefähr 480 uu). Links Glühlampe auf 40 em: ungefähr gleich viele Tiere auf beiden Seiten, 50: „ : rechts’ mehr Tiere. Rechts wird ein dem Blau ziemlich nahe liegendes Violett ein- gestellt. Links Glühlampe auf 50 em: alle Tiere links, 100 „ : rechts etwas mehr Tiere, 80 „: ungefähr gleich viele Tiere auf beiden Seiten, 70 „: links mehr Tiere. 18 C. Hess: wu Rechts wird ein etwas kürzerwelliges Violett eingestellt, es ent- spricht ungefähr der Mitte zwischen dem reinen Blau und dem kurzwelligen Spektrumende. Links Glühlampe auf 100 em: alle Tiere links, 200 „: ungefähr gleich viele Tiere auf beiden Seiten, z e „ 500 „.: rechts mehr Tiere als links. Die Lichtstärke, die der linken Bassinhälfte gegeben werden muss, damit, wenn die rechte Bassinhälfte mit homogenem Gelbgrün bestrahlt ist, die Krebse sich in beiden Hälften gleich zahlreich ver- teilen, entspricht einem Abstande der Glühlampe —= 30 em. Be- zeichnen wir diese Lichtstärke mit 100, so ergibt sich: für Rotgelb von der mittleren Wellenlänge 600—590 uu eine Lichtstärke — 9, für das gelbliche Rot von der mittleren Wellenlänge 650—620 uu eine Lichtstärke = 1 oder noch weniger, für das angenähert reine Blau von der mittleren Wellenlänge 480 uu eine Lichtstärke — 56, für ein dem Blau naheliegendes Violett eine Lichtstärke — 14, für ein kürzerwelliges Violett eine Lichtstärke — 2. Die graphische Verzeichnung dieser Werte für Podopsis ergibt also wieder einen im grossen und ganzen Ähnlichen Verlauf der Kurve, wie für die von mir untersuchten Fische und Schlupfwespen und für den total farbenblinden Menschen. PL} ” Nach dem Mitgeteilten war zu erwarten, dass unsere Krebse in einem Bassin, das zur einen Hälfte mit einem der übliehen rubin- roten, zur anderen mit einem der üblichen blauen Gläser verdeckt war, sich in der blauen Hälfte ansammeln. Dieses ist in der Tat in. sehr ausgesprochener Weise der Fall, auch wenn das Rot für uns verhältnismässig hell, das Blau für uns sehr dunkel ist. Am schönsten lassen sich die einschlägigen Erscheinungen an der oben (S. 309) beschriebenen photometrischen Vorrichtung verfolgen. Ist hier der eine Ausschnitt mit dem Schott’schen „Rotfilter“, der andere mit dem „Blaufilter“ verdeckt!), so sammeln sich, wenn 1) Die Durchlässigkeitskoeffizienten für diese (3 mm dicken) Gläser sind nach den Schott’schen Bestimmungen die folgenden: Wellenlänge in uu: 644 978 Rotfilter F 4512: 0,83 0,00012 Wellenlänge in wu: 509 480 436 405 384 361 Blaufilter F 3873: 0,006 0,125 0,389 0,328 0,205 0,046. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 319 das Bassin passend vor den Ausschnitt gebracht wird, die Podopsis auch dann fast alle im Blau, wenn z. B. die Nernstlampe hier in 70 em, auf der Rotseite aber in 10 em Entfernung steht, dem- entsprechend das Rot uns leuchtend hell, das Blau tief dunkel er- scheint. Beobachtung mit dunkel adaptiertem Auge nach gleich- mässiger Herabsetzung der Lichtstärken beider Hälften mittels Episkotisters zeigt, dass jetzt auch für unser Auge das Blau deut- ich, wenn auch nicht sehr viel heller ist als das Rot. — Für die mich beschäftigenden Fragen war es weiter von Interesse, womöglich über die absoluten Reizwerte der zur Unter- suchung dienenden Lichter für die Podopsisaugen einigen Aufschluss zu erhalten. Es war ja nicht undenkbar, dass z. B. auch farblose, für uns sehr helle Lichter für die Augen jener Krebse einen sehr geringen Reizwert besässen und diesen entsprechend weniger hell erschienen als uns und daher auch die für uns hellen Lichter des benützten Spektrums den Krebsen nicht heller erschienen als etwa ein sehr lichtschwaches Spektrum unserem dunkel adaptierten Auge, und dass nur deshalb die Tiere sich bei unseren Versuchen ähnlich so verhielten wie ein dunkel adaptierter normaler Mensch bei herab- gesetzter Lichtstärke. Wenn diese Annahme zuträfe, so müsste dies unter Anderem auch darin zum Ausdrucke kommen, dass für Podopsis usw. die sogenannte „Reizschwelle“ wesentlich höher läge als für unser Auge. Ich bemühte mich daher, über diese einigen Aufschluss zu bekommen. Für den Menschen bestimmt man die „Reizschwelle“, indem man die geringste Lichtstärke eines bestimmten Reizlichtes ermittelt, bei welcher der Beobachter noch eben etwas zu sehen angibt. Bei den hier in Rede stehenden Tierarten können wir im allgemeinen nur die geringste Lichtstärke feststellen, die die Tiere zu bestimmten Schwimmbewegungen veranlasst. Diese wird aber im allgemeinen grösser sein als die kleinste von ihnen eben noch wahrgenommene Lichtstärke (= Reizschwelle), und von letzterer um so weniger ver- schieden sein, je lebhafter die Tiere schon auf schwache Reizliehter reagieren. In welcher Weise besondere Eigentümlichkeiten gewisser Tiere die Ermittelung eines der Reizschwelle näher kommenden Wertes erleichtern können, werden wir bei Schilderung des Ver- haltens der sogleich zu besprechenden Amphipoden Atylus sehen. Ich ging bei meinen Untersuchungen so vor, dass ich mit Hilfe des oben beschriebenen Tunnels (s. S. 316) die kleinsten Licht- 320 GC. Hess: stärken aufsuchte, die bei verschiedenen Adaptationszuständen unserer Tiere eben noch genügten, um eine deutliche Ansammlung derselben in den belichteten Teilen ihres Bassins herbeizuführen. Zu diesem Zwecke wurde die Vorderwand des Tunnels mit einer mattschwarzen Metallplatte versehen, in deren Mitte ein rechteckiger Ausschnitt von der gewünschten Grösse (im allgemeinen von ca. 4 X 6 em Seitenlänge) angebracht war. Vor diesem wurde das Bassin auf- gestellt; da bei den meisten von mir so untersuchten Tierarten eine fünfkerzige Mattglasbirne in 3 m Abstand noch ausgesprochene Wirkung hatte, brachte ich zu weiterer Abschwächung des Reiz- lichtes dicht vor dem Ausschnitte einen passenden Episkotister an. Ich berichte zunächst über einige derartige Bestimmungen bei Podopsis. Nach Dunkelaufenthalt von ca. einer Viertelstunde sammeln die Tiere sich noch stark in der dem Ausschnitte entsprechenden Partie des Bassins, wenn die fünfkerzige Lampe in 3 m Entfernung steht und der vor dem Ausschnitte rotierende Episkotister eine Sektorengrösse von 60° hat; selbst bei einer Sektorengrösse von nur 20° ist noch eben eine Ansammlung der Tiere in dem be- strahlten Bassinteile zu erkennen; es sind dies auch für unsere Augen ziemlich schwache Reizliehter. Ähnliche Werte erhielt ich bei Abschwächen des durch den Ausschnitt zum Bassin gelangenden Lichtes mittels rauchgrauer Gläser, deren Lichtabsorption ich photo- metrisch bestimmt hatte. Die Versuche zeigen, wie geringe Lichtstärken schon aus- gesprochene Wirkung auf die untersuchten Krebse haben. Berück- sichtigen wir weiter, dass alle unsere Beobachtungen übereinstimmend bei jenen Tieren innerhalb eines grossen Gebietes der absoluten Lichtstärken eine äusserst feine Unterschiedsempfindlichkeit für Helligkeiten erkennen lassen, so ergibt sich zur Genüge die Un- wahrscheinlichkeit jener vorhin erörterten Annahme, es könnte das charakteristische Verhalten unserer Tiere im Spektrum möglicher- weise dadurch bedingt sein, dass die Reizschwelle für sie beträcht- lich höher läge als ceteris paribus für unser Auge. In dem gleichen Sinne sprechen auch die im Folgenden mitzuteilenden Beobachtungen an anderen Wirbellosen. Die Augen der Podopsis sitzen auf langen, ausgiebig beweglichen Stielen. Belichtung der vorher dunkel gehaltenen Tiere hat regelmässig eine deutliche Augenbewegung zur Folge, doch ist diese nicht entfernt so ausgiebig, wie z. B. bei Daphnien, und daher zur Prüfung der Wirkung verschieden farbiger Lichter Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 321 weniger gut geeignet. Am besten kann man die Augenbewegungen verfolgen, wenn man etwa ein Tier zunächst mit der kleinen Bogenlampe bestrahlt, vor die ein rotes Glas gehalten wird, das genügend Licht durchlässt, um die Augen- stellung bequem zu beobachten. So oft das rote Glas weggezogen wird, erfolgt eine kleine Augenbewegung. 2. Versuche an Atylus Swammerdamii. Eine andere für unsere Zwecke geeignete Krebsart ist Atylus Swammerdamii, ein etwa !/„—®/ı cm grosser Amphipode, der meist in einer Tiefe von nur wenigen Metern in grossen Mengen gefangen wird und mir zu meinen Versuchen gleichfalls häufig zur Verfügung stand. Die Augen sind hier, zum Unterschiede von der vorher geschilderten Form, ungestielt und sitzen als flache, nieren- förmige, unbewegliche Masse dem Kopfe seitlich auf. Die Tiere hielten sich in fliessendem Wasser einige Tage; doch legte ich Wert darauf, die wesentlichen Versuche stets an frisch gefangenen Tieren anzustellen. Die Atylus zeichnen sich durch äusserst lebhaftes Hin- und Herschwimmen aus; dabei ist aber die Neigung, sich in dem für sie Hellen anzusammeln, so ausgesprochen, dass z. B. in einem zur Hälfte belichteten Bassin, obgleich bei dem raschen Hin- und Her- schwimmen immer noch ein Teil der Tiere aus dem Hellen ins Dunkle kommt, schon nach 10—20 Sekunden die grosse Mehrzahl derselben sich in der helleren Hälfte befindet. Oft zeigt ein mehr oder weniger grosser Teil der Krebse Neigung, den Boden des Ge- fässes aufzusuchen und dann hier liegen zu bleiben; auch hier lag bei Verdunkelung einer Bassinhälfte nach kurzer Zeit die Mehrzahl in der helleren Hälfte. Eine merkwürdige Eigentümlichkeit der Atylus ist, dass bei jedem stärkeren Belichtungswechsel, sei es Zunahme oder Abnahme der Belichtungsstärke, die Tiere vorübergehend, kaum eine Sekunde lang, etwas nach unten gehen; am schönsten kann man diese Erscheinung verfolgen, wenn man etwa das ganze Bassin mit der Bogenlampe gleichmässig belichtet und dann ein passendes rotes Glas abwechselnd vorhalten und wegziehen lässt. Besonders beim Wegziehen sinken dann die Tiere für kurze Zeit ein wenig nach unten; aber auch wenn das rote Glas wieder vorgeschoben wird, sinken sie, wenn auch weniger stark, so doch deutlich und konstant, für Ye—1l Sekunde; danach schwimmen sie wieder wie vorher angenähert horizontal hin und her. Zu den Spektrumversuchen brachte ich in der Regel einige hundert frische Exemplare in ein Parallelwandbassin; dunkel adap- Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 21 22 C. Hess: So tierte Tiere waren zu diesen Untersuchungen stets wesentlich besser geeignet als solche, die lange im Hellen gestanden hatten. Schon nach wenigen Sekunden hatten die meisten Tiere sich in der Gegend des Gelbgrün bis Grün gesammelt und blieben auch bei länger dauernder Bestrahlung vorwiegend in diesem Teile des Spektrums; ihre Zahl nahm dann stets nach dem Rot hin rasch, nach dem Blau und Violett hin langsamer ab, im äussersten Rot und Ultrarot blieben meist wenige oder gar keine Tiere. Bei einer Beobachtungsreihe bestimmte ich die Wellenlänge (der Spektrumgegend, in der sich die Tiere am zahlreichsten an- gesammelt hatten, in der folgenden Weise: Ich beobachtete im durch- fallenden Lichte und brachte auf die Rückwand des Bassins einen schwarzen Karton mit schmalem, nur etwa 2 mm breitem, vertikalem Ausschnitte. Letzteren schob ich an die Stelle, wo die Tiere sich am dichtesten zusammendrängten, und bestimmte mittels Spektroskopes die Wellenlänge des durch den schmalen Ausschnitt tretenden Lichtes. Sie entsprach bei wiederholten Versuchen Werten von etwa 530—520 uu. Verschieben des Bassins oder Spektrums hat sofort entsprechendes Wandern der Tiere nach dem Gelbgrün zur Folge; sie schwimmen dabei nicht nur längs der der Lichtquelle zu- gekehrten Bassinwand, sondern in allen Wasserschichten hin und her und nach dem Gelbgrün bis Grün zu. Wir sahen, dass viele von den Atylus die Neigung zeigen, sich am Boden aufzuhalten und sich auch hier wieder an der hellsten Stelle zu sammeln. Bei Versuchen im Spektrum führte dies zur Bildung eines diehten Haufens von Tieren in der Gegend des Gelb- grün; nach dem Rot zu nahm dieser an Dieke rasch, nach dem Blau und Violett langsamer ab; auch hier bilden also die Tiere selbst wieder eine Art von Kurve mit den charakteristischen Merkmalen in Bezug auf Maximum und Absinken nach beiden Seiten. Die Eigentümlichkeit unserer Krebse, beständig hin und her zu schwimmen, gestattete mir die Anwendung einiger messender Methoden, die für andere, weniger lebhaft schwimmende Tiere nicht in Be- tracht kommen. Braechte ich dicht vor die der Lichtquelle zugekehrte Bassinwand einen schwarzen Kartonstreif von solcher Breite, dass sein einer Rand etwa dem reinen Gelb des Spektrums (ca. 575 uu), der andere dem gelblichen Grün (etwa 525 wu) entsprach (diese Werte wurden wieder mit dem Spektroskop bestimmt), so sammelte sich rasch die Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 323 Mehrzahl der Tiere auf der dem gelblichen Grün entsprechenden Seite des durch den Streif im Bassin entworfenen Schattens. Diese ungleiche Verteilung der Tiere lässt sich auch dann noch schön wahrnehmen, wenn man von deu Enden des Spektrums her zwei breite schwarze Kartons mit vertikalen Rändern so weit vorschiebt, dass auf beiden Seiten jenes mittleren Streifs nur je ein etwa 2 cm breiter Teil des Bassins von dem homogenen Lichte getroffen wird. Fig. 3 und 4 (Taf. V) geben photographische Blitzlichtaufnahmen derartiger Versuche wieder. Die Verschiedenheit der Zahl der Tiere in den beiden Abteilungen ist unschwer zu erkennen. Bei dem in Fig. 4 wiedergegebenen Versuche erschien meinem helladaptierten Auge der Bassinteil, der von gelbem und rotgelbem Lichte durch- strahlt wurde, (im durchfallenden Lichte) wesentlich heller als der von den Krebsen bevorzugte, von gelblich grünem bis blauem Lichte durchstrahlte; setzte ich aber die Lichtstärke beider Teile gleich- mässig herab, indem ich durch einen Episkotister mit genügend schmalem Ausschnitte bliekte, so erschien jetzt der dem Gelblichgrün bis Blau entsprechende Teil deutlich heller als der andere. Bei dem in Fig. 3 wiedergegebenen Versuche war der Karton- streif vor der Vorderfläche des Bassins so aufgestellt, dass sein einer Rand dem gelblichen Grün (ea. 525 uu), der andere dem Grünblau (ea. 495 uu) entsprach; durch Vorschieben der beiden breiten seit- lichen Kartons wurden wieder zwei je etwa 2 cm breite Bassinteile dem homogenen Lichte ausgesetzt. In wenigen Sekunden hatte die Mehrzahl der Tiere sich in den dem Gelbgrün entsprechenden Teilen gesammelt (die Tiere bilden hier einen Haufen am Boden des Bassins). Bei wieder anderen Versuchen ermittelte ich diejenige Stellung des vor dem Bassin angebrachten Kartonstreifs, bei der die Tiere in den Bassinteilen rechts und links vom Streifen sich angenähert gleich zahlreich verteilten; für unser Auge war dann auf der einen Streifen- seite Grüngelb, auf der anderen Grün bzw. bläuliches Grün sichtbar. Meinem hell adaptierten Auge erschien diese letztere Seite bei voller Lichtstärke dunkler als die andere, dem dunkel adaptierten er- schienen, nach gleichmässiger Herabsetzung der Lichtstärke mittels Episkotisters, beide Seiten angenähert gleich hell. Wir können von einer „Gleichung“ für die Tiere sprechen, wenn ihre Zahl in beiden Hälften angenähert gleich gross ist; unser Versuch zeigt, dass eine solche Gleichung für Atylus der 216 324 C. Hess: Helligkeitsgleichung für das normale dunkel adap- tierte Menschenauge bei passend herabgesetzter Licht- stärke und jener für den total farbenblinden Menschen bei jeder Belichtung entspricht. Ich ersetzte nun den bisher benutzten schwarzen Kartonstreif, der vor der Vorderfläche des Bassins angebracht war, durch einen wesent- lich breiteren, vom gelblichen Rot bis zum Blau meines Spektrums reichenden; nach entsprechender Aufstellung der seitlichen Kartons er- hielt ich wieder zwei gleich breite Ausschnitte aus dem Spektrum, von welchen der eine mir schön rot und hell, der andere schön blau und beträchtlich dunkler erschien als der rote; die Atylus hatten sich bald wieder in überwiegender Zahl im Blau angesammelt, das meinem dunkel adaptierten Auge nach gleichmässiger Herabsetzung der Licht- stärken beider Felder mittels Episkotisters heller erschien als das Rot. Auf dem geschilderten Wege stellte ich eine weitere Reihe von Gleichungen in der Weise her, dass jedesmal der eine der beiden be- lichteten Bassinteile mit gelblich grünem Lichte von der mittleren Wellenlänge von 525—515 uu, der andere, von dem ersten durch einen mehr oder weniger breiten dunklen Streifen getrennte, mit einem anderen homogenen Lichte von bekannter Wellenlänge bestrahlt wurde; darauf schwächte ich das gelblicherüne Licht mittels Episkotisters so weit ab, bis die Tiere sieh in den beiden belichteten Bassinteilen in angenähert gleicher Zahl verteilten. Bei diesen Versuchen musste für jede neue Gleichung dem schwarzen Streifen vor der Bassinwand eine andere Breite gegeben werden. Dies geschah in der Weise, dass ich zwei gleich breite Streifen übereinander legte und für jede neue Gleichung den einen gegen den anderen so weit verschob, bis beide zusammen die gewünschte Breite hatten. Die Bestimmung der Wellenlängen der Strahlungen für die beiden Bassinteile erfolgte wieder mittels Spektroskopes. Während also bei den meisten anderen bisher von mir unter- suchten Tierarten zur Herstellung von Gleichungen erforderlich war, dass die beiden miteinander zu vergleichenden Bassinteille un- mittelbar aneinander stiessen, haben wir hier infolge des raschen Hin- und Herschwimmens der Tiere den grossen Vorteil, Gleichungen auch dann herstellen zu können, wenn die zu vergleichenden Bassin- teile durch mehr oder weniger breite dunkle Zwischenräume von- einander getrennt sind. In der angegebenen Weise wurden u. a. folgende Gleichungen erhalten: Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 325 1. Der linke Bassinteil wird mit Licht von der mittleren Wellenlänge von ca. 525 uu bestrahlt, der rechte mit einem solchen von ca. 640-590 uu. Die Atylus sammeln sich fast alle links. Rotiert vor dem linken Bassinteile ein Episkotister mit 90° Ausschnitt, so sind noch immer links mehr Tiere als rechts. Hat der Episkotister einen Ausschnitt von 45°, so verteilen sich die Tiere angenähert gleich zahlreich in beiden Hälften, links sind eher noch etwas mehr als rechts. 2. Der rechte Bassinteil wird mit Licht von der mittleren Wellenlänge von ca. 525 uu bestrahlt, der linke mit blauviolettem Lichte von der mittleren Wellenlänge von ca. 470—450 uu. Fast alle Tiere sammeln sich in der rechten Bassinhälfte. Rotiert vor letzterer ein Episkotister mit einem Ausschnitte von 30°, so sind bald links viel mehr Tiere als rechts. Das gleiche ist der Fall, wenn der Episkotister mit einem Ausschnitte von 60° rotiert. Bei einer Sektorengrösse von 180° verteilen sich die Tiere angenähert gleiehmässig in beiden Bassinhälften. 3. Die rechte Bassinhälfte wird mit dem gleichen gelberünen Liehte bestrahlt wie vorher, die linke mit violettem Lichte von einer mittleren Wellenlänge von ca. 430—420 uu. Fast alle Tiere sammeln sich in der rechten Hälfte, auch dann noch, wenn vor dieser der Episkotister mit 90° rotiert; bei einer Sektorengrösse von 60° verteilen die Tiere sich in angenähert gleicher Zahl in beiden Hälften (rechts sind vielleicht noch etwas mehr als links). Bei Sektorengrösse — 30° sind links mehr Tiere als rechts. Die Lichtstärke des homogenen Gelberün musste also zur Her- stellung einer Gleichung mit dem Rotgelb (640—590 uu) des gleichen Spektrums herabgesetzt werden auf weniger als !/s, zur Gleichung mit Blauviolett (470—450 uu) auf etwa Ye, a R „ Violett (430—420 un) „ „I Setzen wir wieder den dem Gelbgrün entsprechenden Wert — 100, so ist jener für Gelbrot von 640—590 uu kleiner als 12, jener für Blauviolett von 470—450 uu etwa — 50, jener für Violett von 450—420 uu etwa — 16. Diese Messungen lassen also er- kennen, dass die Helligkeitskurve, die wir bei Atylus auf einem von dem früher benutzten verschiedenen Wege erhielten, wieder weit- gehende Ähnlichkeit mit jener bei anderen Krebsen, bei Insekten sowie bei Fischen und beim total farbenblinden Menschen zeigt. 326 C. Hess: Gewiss machen die mitgeteilten Werte noch nicht auf sehr hohe Genauigkeit Anspruch. Zu den fraglichen Versuchen bestimmte mich wesentlich der Wunsch, die mich beschäftigenden Aufgaben von möglichst vielen verschiedenen Seiten in Angriff zu nehmen, eine Vorstellung davon zu geben, wie ähnlich, bei so grossen Verschiedenheiten der Lebens- gewohnheiten und des Augenbaues, die dureh das Licht ausgelösten Regungen der nervösen Substanz des Sehorgans bei den ver- schiedenen Tieren sind, und anzudeuten, auf welchen Wesen etwa bei künftigen Untersuchungen eine Förderung unserer Kenntnisse zu erhoffen ist. — Besonderes Interesse beanspruchen die folgenden Versuche über die geringsten Lichtstärken, die noch eben eine Ansammlung der Atylus in den bestrahlten Bassinteilen herbeizuführen vermögen, und über den Einfluss der Adaptation auf diese Lichtstärken. Bei den anderen bisher von mir untersuchten Krebsen wurde die Ansammlung in den belichteten Bassinteilen wohl vorwiegend dadurch hbedinet, dass die Tiere das durch Zerstreuung aus den direkt be- lichteten in die nicht bestrahlten Bassinteile gelangende Licht wahr- nehmen und so auf jenes zuschwimmen. Bei Atylus liegen die Ver- hältnisse infolge ihres lebhaften Hin- und Herschwimmens etwas anders. Sie gelangen bei ihren raschen Ortsveränderungen bald in beschattete, bald in belichtete Bassinteile und können so das die letzteren treflende Licht selbst wahrnehmen; daher wird bei ab- nehmender Lichtstärke das schwächste Reizlicht, das die Tiere noch bestimmt, im bestrahlten Bassinteile zu bleiben, dem Werte näher liegen, der für den Menschen als Reizschwelle bezeichnet wird, als dies bei den anderen von mir untersuchten Krebsen der Fall ist (8. 0.). (Ob auch bei Podopsis solehes mit im Spiele sein kann, lasse ich dahingestellt. Jedenfalls schwimmen diese nicht entfernt in der leb- haften, ruhelosen Weise hin und her wie Atylus.) Von einer Partie frischer Atylus wird eine Hälfte (ea. 100 bis 200 Tiere) in einem Parallelwandbassin für 20 Minuten ins Dunkle gebracht, die andere Hälfte an einem trüben Regentage an ein nach Norden zehendes Fenster gestellt. Zunächst werden die dunkel adaptierten Tiere an dem mehr- erwähnten 3 m langen Tunnel (s. S. 316) untersucht. Steht die 5kerzige Lampe in 3 m Abstand, so ist Ansammlung der Atylus in dem belichteten Bassinteile selbst dann noch deutlich, wenn vor dem Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 327 Tunnelausschnitte der Episkotister mit einer Sektorgrösse von nur 10° rotiert. Einige Tage später wurde ein gleicher Versuch -mit anderen dunkel adaptierten Atylus wiederholt; bei gleichem Lampen- abstande und einer Sektorgrösse von 15° sammelten die Tiere sich noch deutlich im belichteten Teile, bei einer Sektorgrösse von 5° nicht mehr sicher. Die Tiere, die an dem trüben Tage am Nordfenster gestanden hatten, also nur mässig hell adaptiert waren, zeigten keinerlei Neigung, sich im belichteten Bassinteile anzusammeln, wenn die kerzige Lampe ohne Episkotister in 3 m Entfernung stand; auch bei Annäherung der Lampe auf 100 em war noch keine Einwirkung des Lichtes auf die Tiere wahrzunehmen. Bei 70 em Lampenabstand wurde eine unbedeutende Ansammlung im belichteten Teile eben wahrnehmbar, bei 50 em Abstand war sie etwas deutlicher, aber noch sehr schwach, bei 10 em Abstand sehr ausgesprochen. An einem anderen, helleren Tage ergab die Bestimmung an Tieren, die (bei leicht bedecktem Himmel) "/g Stunde an einem Südfenster ge- standen hatten, folgende Werte: Die 5kerzige Lampe steht in 10 em Entfernung: deutliche An- sammlung der Tiere im Hellen. Die Skerzige Lampe steht in 20 em Entfernung: ebenso. 5 „ R IE le & keine Ansamm- lung der Tiere im Hellen. Die Skerzige Lampe steht in 20 em Entfernung: wieder deutliche Ansammlung. Die 5kerzige Lampe steht in 30 em Entfernung: vielleicht eben besinnende Spur von Ansammlung im Hellen. Während also die Grenzbestimmungen bei den dunkel adaptierten Atylus beide Male ziemlich genau gleiche Werte ergaben, zeigten die an einem helleren Tage mehr für Hell adaptierten Tiere erst bei etwa fünfmal grösserer Lichtstärke deutliche Neigung, sich im belichteten Bassinteile anzusammeln, als die an einem trüben Tage weniger für Hell adaptierten Tiere. Bei ersteren musste zur Ansammlung im beliehteten Teile die Lichtstärke mehr als 3000 mal so gross gemacht werden als jene war, die zur Ansammlung der dunkel adaptierten genügte; bei den nicht so ausgiebig hell adaptierten Tieren war zur Ansammlung eine etwa 600 mal grössere Lichtstärke erforderlich als bei den dunkel adaptierten. 328 C. Hess: In einer dritten Versuchsreihe bestimmte ich zuerst die schwächste zur Ansammlung erforderliche Lichtstärke bei dunkel adaptierten Tieren, brachte dann die gleichen Tiere ins diffuse Tageslicht und bestimmte nun wiederum die zur Ansammlung eben hinreichende Lichtmenge; die Werte entsprachen wieder fast genau den früher bestimmten. Unsere Beobachtungen geben ein anschauliches Bild von dem Umfange der adaptativen Änderungen und deren Einfluss auf die in Rede stehenden Vorgänge bei Atylus; sie zeigen ferner, wie geringe Lichtstärken genügen können, um die charakteristische Ansammlung der Tiere herbeizuführen. Endlich wiederholte ich auch hier die bei den anderen Krebsarten zur Ermittelung des Einflusses ultravioletten Lichtes angestellten Versuche (Quarz- spektrum, Blauuviolglas mit und ohne Schwerstflintglas usw.); auch bei Atylus konnte ich, ebenso wie bei Podopsis, einen Einfiuss des ultravioletten Lichtes nicht sicher nachweisen. Weitere Versuche, die ich mit verschiedenen anderen Krebs- arten anstellte, führten in allen hier in Betracht kommenden Punkten zu gleichen Ergebnissen. Ich berichte daher über sie hier nur kurz und nur insoweit sie zur Beseitigung verbreiteter Irrtümer von Interesse sein können. Für die Nauplien von Balanus perforatus geben Groom und Loeb auf Grund von Versuchen mit blauen und roten Gläsern an, dass auch hier wesentlich die kurzwelligen Strahlen die „heliotropisch wirksamen“ seien; das Verhalten dieser Tiere wird danach als Stütze für die Lehre von der angeblichen Identität des tierischen und pflanzlichen Heliotropismus angeführt. Ich fand die mir zur Verfügung stehenden Balanusnauplien für unsere Zwecke weniger geeignet als die bisher geschilderten Krebse, da sie erst durch beträchtlich grössere Lichtstärken- bzw. Hellig- keitsunterschiede zu Ortsveränderungen veranlasst werden als jene. Immerhin liess sich leicht zeigen, dass auch für diese Tiere das Spektrum in der Gegend des Gelbgrün bis Grün am hellsten ist. Man erhält die fraglichen Nauplien leicht, wenn man mit Balanus besetzte Steine in Gefässe mit Seewasser bringt. In der Regel finden sich darunter solche, die nach einigen Stunden ihre frisch aus- geschlüpften, winzigen, mit blossem Auge als feinste helle Pünktchen eben wahrnehmbaren Nauplien zu Tausenden in das umgebende Wasser abgeben, in welchem diese sich bald als eine weisse Wolke Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 229 an der dem Fenster zugekehrten Gefässwand sammeln. Brachte ich nun einige hundert solcher Tiere im Parallelwandgefäss ans Spektrum, so war leicht zu sehen, dass die Tiere aus dem Ultrarot und dem Rot des Spektrums in der Richtung nach dem Gelb und Grün schwammen, aber lange nicht so lebhaft wie unsere anderen Krebse; niemals sah ich sie über das Gelb und Grün hinaus ins Blau und Violett schwimmen. Die im Blau und Violett befindlichen Tiere zeigten deutliche, aber noch geringere Neigung, in der Richtung nach dem Grün zu schwimmen; nie erfolgte Ansammlung im Violett. Arbeitete ich mit breitem, entsprechend lichtschwachem Spektrum, so kam es vor, dass zwar die Wanderung aus dem Rot ins Gelb deutlich wahrnehmbar, jene aus dem Violett und Blau ins Grün aber unmerklich war. Näherte ich dann das Bassin dem Prisma etwas, so dass das Spektrum weniger breit, das „Helligkeitsgefälle“ vom Gelb- grün nach den Seiten hin grösser wurde, so war jetzt die Wanderung aus dem Violett nach dem Blau und Grün in der Regel deutlich sichtbar. Haben die Tiere 1—2 Minuten im Spektrum gestanden, so ist in der Regel ihre Zahl im Gelbgrün bis Grün am grössten und nimmt nach dem Rot rasch, nach dem Blau und Violett langsam ab; immer sind im Violett deutlich weniger Tiere als im Grün. Sie haften stets an der der Lichtquelle zugekehrten Gefässwand; hielt ich eine Taschenlampe an die gegenüberliegende, so eilte die ganze Schar quer durch das Bassin auf sie zu, um sofort nach Entfernen der Lampe wieder umzukehren. Brachte ich dicht vor die vordere Ge- fässwand einen schwarzen Kartonstreifen, der etwa vom Gelbgrün bis zum Blau reichte, so eilten die in dem Schatten des Streifens befindlichen Tiere häufig vorwiegend nach der Seite des Gelbgrün und sammelten sich hier dicht am Schattenrande in grossen Mensen an, während auf der Seite des Blau sich meist weniger Tiere an- häuften. | Man kann die Balanusnauplien, wie Loeb fand, „negativ helio- tropisch“ machen, wenn man sie einem genügend starken Lichte aussetzt; bei meinen Tieren war dies der Fall, nachdem ich ihr Bassin einige Minuten mit der Bogenlampe bestrahlt hatte. Brachte ich sie nun in ihrem Parallelwandbassin ins Spektrum zurück, so sammelten sich jetzt die Tiere an der von der Lichtquelle abgekehrten Bassinwand und konnten von hier mit der Taschenlampe zurück- 330 C. Hess: getrieben werden. Liess ich sie einige Minuten im Spektrum stehen, so waren bald im Gelbgrün bis Grün die wenigsten, im Rot und Ultrarot die meisten Tiere, im Violett mehr als im Grün, aber nicht so viele als im Rot. Also auch bei dieser Umkehrung des ersten Versuches wirkte das Gelbgrün bis Grün so auf die Tiere, wie es der Fall sein muss, wenn das Spektrum hier für sie am hellsten ist. Einige von mir angestellte Versuche mit farbigen Gläsern ent- sprachen durchaus dem, was nach dem bisher Mitgeteilten zu er- warten war: Licht, das durch die üblichen roten Gläser gegangen war, wirkte so, wie sehr geringe Helligkeit auf die Tiere, während durch die cewöhnlichen blauen Gläser gegangenes Licht wie wesentlich grössere Helligkeit wirkte. Die von Groom und Loeb aus dem Verhalten gegenüber roten und blauen Gläsern gezogenen Schlüsse sind nach dem Gesagten nicht mehr haltbar. Ähnlieh wie die Balanusnauplien verhielten sich kleine, kaum 1 mm lange Copepoden, deren Art ich nicht genauer bestimmen konnte, und die ich oft zufällig in zur Beobachtung genügenden Mengen in Gefässen fand, in welchen ich andere Seetiere zur Unter- suchung bekam. Da in allen hier in Betracht kommenden Punkten ihr Verhalten im Spektrum mit dem von Balanus übereinstimmt, ist eine erneute Schilderung nicht erforderlich. Durch Bestrahlen mit der Bogenlampe trat bei diesen Tieren eine Umkehr der Neigung zum Hellen, wie bei Balanus, nicht ein. Wurde die Bassinwand in einer kreisförmigen Fläche von etwa 3—4 em Durchmesser mit dem Lichte der Bogenlampe gleichmässig stark bestrahlt, so sammelten sich bald viele Tiere in diesem Felde. Schob ich nun von einer Seite ein rubinrotes Glas vor, so eilten sie regelmässig aus dem roten in den farblosen Teil der bestrahlten Fläche; nahm ich aber statt des roten ein mir dunkler erscheinendes blaues Glas, so gingen die Tiere weniger oder fast gar nicht aus dem Blauen in den farb- losen Teil des Bassins, (was nach allen unseren früheren Erfahrungen unschwer verständlich ist). Auch diese Tiere schwammen bei meinen Versuchen regelmässig auf die Lichtquelle zu, aus welcher Richtung auch das Licht ins Bassin fiel; liess ich es von unten durch den Glasboden treten, so eilten sie sofort aktiv nach unten zum Lichte. » Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 3; wo jan 3. Versuche an Cephalopoden. Besonderen Reiz musste für mich der Versuch haben, auch über den Lichtsinn bei Cephalopoden Aufschluss zu erhalten, deren wundervolles Auge schon oft Gegenstand anatomischer und physio- logischer Untersuchung war, und in deren Netzhaut das Vorkommen eines sehr lichtempfindlichen, offenbar dem Sehpurpur des Wirbel- tierauges nahestehenden roten Farbstoffes nachgewiesen werden konnte). Da die mir zur Verfügung stehenden erwachsenen Cephalopoden keine Neigung zeigten, zum Lichte zu schwimmen, und da auch Fütterungsversuche sich nicht in einer für meine Zwecke geeigneten Weise vornehmen liessen, suchte ich den mich beschäftigenden Fragen zunächst durch das Studium der Pupillenreaktion näher zu kommen. Von den einschlägigen Vorversuchen sind folgende für die weiteren Beobachtungen von Wichtigkeit: Bestrahlt man das Auge einer frischen Eledone oder Sepia, z. B. mit einer elektrischen Taschen- lampe, die man in stets gleichem Abstande vom Auge in ver- schiedenen Richtungen vorhält, so zeigt sich, dass unter sonst gleichen Bedingungen der Grad der Pupillenverengerung wesentlich von der Richtung des einfallenden Lichtes abhängt; regelmässig fand ich die ‘ Verengerung am stärksten, wenn das Licht gerade von aussen oder etwas schräg von aussen unten ins Auge fiel; hierbei war es ziem- lich gleichgültig, ob das Licht etwas von vorne, gerade von aussen oder etwas mehr von rückwärts ins Auge fiel. Schräg von oben einfallendes Licht hat unter sonst gleichen Verhältnissen deutlich geringere Pupillenverengerung zur Folge als das in der Horizontalen einfallende. Schräg von unten her einfallendes Licht hat im all- gemeinen ausgiebigere Verengerung als von oben einfallendes, aber nicht so starke Verengerung zur Folge als das von aussen oder etwas von aussen unten ins Auge gelangende. Ich habe früher nach- gewiesen, dass der feine Streifen, der bei den meisten CGephalopoden- arten etwas nach oben vom hinteren Pole wagerecht durch die Retina zieht, sich in charakteristischer Weise von der übrigen Netzhaut unterscheidet: die Stäbchen sind hier wesentlich feiner 1) Vgl. C. Hess, Beiträge zur Physiologie und Anatomie des Cephalopoden- auges. Pflüger’s Arch. Bd. 109. 1903, und: Die Akkommodation der Cephalo- poden. Arch. f. Augenheilk. Bd. 64 Ergänzungsheft. 1910. 939 C. Hess: und länger, und die unter dem Einflusse des Lichtes erfolgende Pigmentwanderung geht hier in anderem Tempo vor sich als in der übrigen Netzhaut. Es unterliegt keinem Zweifel, dass wir es hier mit einem „Streifen des deutlichsten Sehens“ zu tun haben, wie ich ihn unter den Fischen z. B. bei Seyllium fand und kürzlich auch für verschiedene Schildkrötenarten nachweisen konnte!). Man hatte früher für die fraglichen Cephalopodenaugen das Vorhandensein einer Fovea centralis behauptet; tatsächlich ist eine solche aber nur bei gewissen Tiefseecephalopoden vorhanden (wo sie von Chun nachgewiesen wurde), während bei den für uns hier allein in Betracht kommenden Oberflächenformen eine Fovea nicht, häufig dagegen der geschilderte Streif des deutlichsten Sehens vor- kommt, der für die meist nach vorwärts und nach rückwärts schwimmenden Cephalopoden von leicht ersichtlicher Bedeutung ist. Die relativ starke Pupillenverengerung bei von aussen oder aussen unten eintretendem Lichte hängt wohl damit zusammen, dass in diesem Falle das Licht auf oder nahe an den Streifen des deut- lichsten Sehens trifft, und dass diese für das Sehen wichtigsten Partien auch die ausgiebigste Pupillenverengerung vermitteln. Wir haben hier eine neue, weitgehende Analogie mit den Verhältnissen im Menschenauge, für welches letztere ich durch messende Versuche nachweisen konnte, dass die fovealen und circumfovealen Netzhaut- partien pupillomotorisch viel wirksamer sind als die übrige Netzhaut. Für unsere weiteren Untersuchungen ergibt sich aus diesen Be- funden, dass bei allen vergleichenden Pupillenversuchen das Reiz- licht stets möglichst in gleicher Richtung in das Auge gelangen muss. Die im Folgenden mitgeteilten Befunde sind vorwiegend an Sepia und Eledone erhoben; erstere eignete sich wegen der Grösse der Pupille und der silberglänzenden Iris besonders gut für meine Zwecke. Da bei allen folgenden Untersuchungen und insbesondere bei den photographischen Aufnahmen erforderlich war, dass die Lichtstärke des Spektrums längere Zeit möglichst unverändert blieb, so benutzte ich auch hier als Lichtquelle für letzteres einen 500- kerzigen Nernstglühkörper. Die Wirkung verschiedener homogener Lichter auf die Sepien- pupille untersuchte ich zunächst in der folgenden Weise: Eine frische Sepia wird in-ein Parallelwandgefäss gebracht und durch an passender 1) Untersuchungen über den Lichtsinn bei Reptilien und Amphibien. Pflüger’s Arch. Bd. 132. 1910. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 333 Stelle angeschobene Glasplatten so weit fixiert, dass sie wenig oder gar nicht vorwärts bzw. rückwärts schwimmen kann. Das Bassin lässt sich auf einer glatten Unterlage leicht gleitend so verschieben, dass alle Erschütterungen des Tieres vermieden werden, die, wie wir aus den interessanten Untersuchungen von Krusius (1909) wissen, schon merkliche Erweiterung der Pupille zur Folge haben können. Die ganze Breite der Pupille beträgt bei mittelgrossen Sepien ca. 8 mm. Bei Untersuchung der Wirkung verschiedener Lichter des Spektrums musste dieses also genügend breit-sein, ‚damit nicht gleichzeitig Lichter von zu verschiedenen Wellenlängen ins Auge fallen konnten. Bei meinen messenden Versuchen benützte ich in der Regel ein Spektrum von ca. 22 cm, gelegentlich ein solches von ca. 14 cm Breite. Zunächst brachte ich eine Sepia in die verschiedenen Strahlen des Spektrums und beobachtete jedesmal die Pupillenverengerung, die bei Wegziehen eines das Auge zwischen den einzelnen Versuchen vor Lichteinfall schützenden schwarzen Kartons eintrat. Ich konnte so Folgendes feststellen: Bei Belichtung mit dem Rot, selbst mit dem Rotorange eines mässig lichtstarken Speetrums tritt auch bei dunkel adaptierten Tieren (s. u.) im allgemeinen ziemlich unbedeutende Pupillenverengerung ein; die im völlig Dunkeln sehr weite Sepien- pupille bleibt bei Bestrahlung mit solehen Lichtern immer noch ziemlich weit. Im Gelb wird bei Wegziehen des Kartons die Pupille deutlich enger als im Rotorange, doch ist die Verengerung auch jetzt noch nicht ausgiebig, auch wenn das gelbe Lieht unserem Auge ziemlich hell erscheint. Im Gelberün wird bei Wegziehen des Kartons die Pupille viel enger, häufig so eng, dass nur noch ein schmaler Spalt von ihr sichtbar bleibt. Im Blaugrün verengt sie sich gleichfalls noch ausgiebig, aber nicht mehr ganz so stark wie im Gelbgrün. Im Blau ist die Ver- engerung etwas weniger ausgiebig als im Blaugrün, aber noch deut- lich stärker als im Rotgelb und Rot des gleichen Spektrums. Im mittleren Violett ist die Verengerung wieder geringer als im Blau, aber im allgemeinen noch stärker als im Rot. Da wegen der starken Verengerung im Gelberün in der Regel nicht mit sehr lichtstarken Spektren zu arbeiten ist, so kann die Beobachtung der Pupillenreaktion im Blau und im Violett wegen ungenügender Helligkeit schwierig werden; in solehen Fällen brachte 334 C. Hess: ich eine mit rubinrotem Glase bedeckte elektrische Taschenlampe so an, dass ihr Lieht möglichst schräg von oben auf die Iris fie]; dieses Licht hatte keine merkliche Wirkung auf die Sepieniris, er- leichterte aber wesentlich die Beobachtung des Pupillenspieles. Noch besser lassen sich die fraglichen Veränderungen auf photo- graphischem Wege verfolgen (s. u.). In anderen Beobachtungsreihen blieb das Sepienauge dauernd von homogenen Lichte bestrahlt, und ich verfolgte die Änderungen der Pupillenweite bei Übergang aus einer Farbe des Spektrums in die andere. Es lässt sich leicht zeigen, dass bei Übergang von Orange zu Gelb verhältnismässig geringe, bei Übergang von Gelb zu Gelb- grün viel stärkere Pupillenverengerung erfolgt; bei Übergang von Violett zu Blau und Blaugrün erfolgt beträchtliche, bei Übergang von Blaugrün zu Gelbgrün deutliche, aber geringere Verengerung der Pupille. Da es mir aus später ersichtlichen Gründen besonders wichtig war, die Pupillenverengerung im gelblichen Grün von zirka 525 uu mit jener im Blaugrün von ca. 500 uu zu vergleichen, wieder- holte ich häufig entsprechende Versuche mit mannigfachen Variationen, stets mit dem Ergebnisse, dass im Gelbgrün die Pupille enger wurde als im Blaugrün. Unter anderem ging ich so vor, dass ich vor der Vorderwand des Bassins einen schmalen vertikalen schwarzen Karton- streifen anbrachte, der von etwa 525 uu bis etwa 500 uu reichte und einen entsprechend breiten Schatten ins Bassin warf; ich setzte die Sepia so, dass ihr Auge zunächst in diesem Schatten sich befand und durch kleine Verschiebungen nach rechts und links ins gelbliche Grün bzw. ins bläuliche Grün kam. Auch hier wurde im gelblichen Grün die Pupille deutlich enger als im bläulichen Grün. Allen diesen Beobachtungsmethoden erwies sich die photo- graphische Aufnahme der Pupillenweiten in den verschiedenen Lichtern des Spektrums wesentlich überlegen. Auf Tafel VI und VII sind Aufnahmen einer Sepia, auf Tafel IX (oben) solche einer Eledone in verschiedenen Lichtern des Spektrums wiedergegeben. Das photographische Verfahren leistete mir weiter wertvolle Dienste, als ich versuchte, die pupillomotorische Wirkung der ver- schiedenen homogenen Lichter bis zu einem gewissen Grade messend zu vergleichen. Die Versuchsanordnung war hierbei im allgemeinen folgende (vergl. Schema Textfig. 7): Das von dem Nernstkörper N durch das Prisma P gelieferte Spektrum gelangt durch den Ausschnitt im Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 335 Schirme A zu dem Gefässe G mit der Sepia. Der Ausschnitt kann durch den leieht beweglichen Schieber $ rasch verdeckt und frei- oe N Fig. 7. gegeben werden; bei einer Reihe von Aufnahmen rotiert (s. u.) vor dem Ausschnitte der Episkotister E. Der photographische Apparat steht bei ©, das Blitzpulver ist bei D in genügender Höhe so an- gebracht, dass sein Licht das Sepienauge von oben her trifft (s. 0.) 336 C. Hess: und die Reflexe von den Glaswänden des Gefässes G die Aufnahmen nicht stören können. Da die Aufnahme einer Serie von Pupillen in verschiedenen Lichtern eine halbe Stunde und mehr in Anspruch nahm, während deren die Tiere vollkommen frisch sein mussten, war erforderlich, diese in fliessendem Wasser, aber doch so zu halten, dass sie nicht hin und her schwimmen konnten. Dies erreichte ich in folgender Weise: Das Tier wurde in den mittleren Teil seines Bassins gebracht und dureh zwei vertikale Glasplatten lose in dieser Stellung fixiert. Die Glasplatten teilten das Bassin also in eine grössere mittlere und in zwei kleinere seitliche Kammern, die durch schmale Spalten zwischen Glasplatte und Gefässwand genügend miteinander kommuni- zierten; bei a strömte dauernd frisches Seewasser zu, der Abfluss befand sich bei db. Auf diese Weise blieben meine Tiere stunden- lang in dem kleinen Bassin genügend frisch. Am oberen Bassin- rande war wieder ein weisser Kartonstreifen angebracht, auf dem die Stelle des langwelligen Spektrumendes (als „äusserstes Rot“ be- zeichnet), sowie die Stelle des reinen Gelb, Grün und Blau ver- zeichnet waren. War das Auge der Sepia durch Verschieben des Bassins in die gewünschte Stellung gebracht, so erfolgte die Aufnahme in der folgenden Weise. Zunächst wurde der Schieber S längere Zeit geschlossen gehalten, so dass das Tier nur dem schwachen zerstreuten Lichte ausgesetzt war, das von Lampe, Linsen und Prisma ausging und für unsere Zwecke nicht störend in Betracht kam, da es für die ganze Dauer der Aufnahmen konstant blieb. Zur Aufnahme wurde dann zunächst der Schieber 5 zurückgezogen, im nächsten Augenblicke die Kappe vom Objektiv des photographischen Apparates genommen, im folgenden das Blitzlickt entzündet. Unmittelbar darauf wurde Schieber S wieder vor- geschoben, so dass bis zur nächsten Aufnahme das Tier wiederum nur dem kon- stanten, schwachen, zerstreuten Lichte im Dunkelzimmer ausgesetzt war. Die Pupille der Sepia wird durch das Blitzlicht nur vorübergehend stark verengt und hat ziemlich bald wieder die Weite wie vor der Blitzbelichtung. Die Pausen zwischen zwei Aufnahmen betrugen ca. 10 Min. In der angegebenen Weise wurden mehrere Serien von Auf- nahmen in verschiedenen Lichtern des Spektrums gemacht. Im gelb- lichen Grün von der mittleren Wellenlänge von ungefähr 525 uu machte ich jedesmal eine Reihe von Aufnahmen bei verschieden starker Herabsetzung der Lichtstärke dieses homogenen Lichtes mit Hilfe des. bei E aufgestellten Episkotisters, der dann jedesmal vor Wegziehen des Schiebers S in. Rotation versetzt wurde. So sind Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 337 z. B. in den auf Tafel VIII wiedergegebenen beiden Serien solehe Aufnahmen einmal ohne Episkotister, dann bei Sektorengrössen von 60°, 180°, 240° hergestellt, also bei voller Lichtstärke des homo- genen Gelbgrün und bei Herabsetzung derselben auf Ye, '/s und ?/a. Die obere Serie (Tafel VIII) zeigt, dass trotz der Herabsetzung der Lichtstärke des Gelberün auf '/s die Pupille in diesem Lichte noch beträchtlich enger wird als im ungeschwächten Rotgelb des gleichen Spektrums. Bei der zweiten Serie sehen wir die Pupille in dem auf !/s abgeschwächten Gelbgrün noch ein wenig enger als im ungeschwächten schwach rötlichen Gelb des gleichen Spektrums. Im ungeschwächten Blau ist sie etwas weiter als in dem auf !/a abgeschwächten Gelbgrün, aber enger als in dem auf !/s abgeschwächten Gelbgrün. In Zusammenhang mit dem bisher Mitgeteilten scheinen mir die olgenden vergleichenden Beobachtungen an Cephalo- poden- und Menschenpupillen bei abwechselnder Bestrahlung mit roten und blauen Glaslichtern von besonderem Interesse. Ich brachte eine Sepia vor den Ausschnittdes „Tunnels“ (s. S.316), in dem eine 50kerzige Lampe während der folgenden Versuche dauernd in einem Abstande von 20 cm aufgestellt war; ein rotes und ein blaues Glas waren in einem Rahmen dicht nebeneinander so angebracht, dass durch leichte Verschiebung des letzteren der Aussehnitt in der Vorderfläche des Tunnels abwechselnd mit dem einen und dem anderen farbigen Glase verdeckt werden konnte. Be- liehtung des Sepienauges ergab konstant, dass bei Erscheinen des Blau die Pupille ziemlich eng, bei Erscheinen des Rot sehr weit wurde. Nun brachte ich an Stelle der Sepia mein eigenes rechtes Auge vor den Ausschnitt, während sich vor meinem linken eine Vorrichtung zur entoptischen Pupillenbeobachtung befand !). Meine Pupille wurde, umgekehrt wie die der Sepia, bei Erscheinen des Blau weiter, bei Erscheinen des Rot beträchtlich enger. 1) Es ist dies der bei meinen früheren Pupillenuntersuchungen benützte kleine Apparat, der im wesentlichen aus einer feinen runden Öffnung in einer dünnen mattschwarzen Platte besteht, hinter der in einem lichtdichten Gehäuse ein Mattglaslämpchen glüht; das Ganze ist lichtdicht über das Auge gebunden. Man beobachtet also die konsensuelle Reaktion bei Belichtung des anderen Auges. Dieses letztere war bei unseren Versuchen immer so gerichtet, dass das Reizlicht auf einer der Fovea ziemlich nahe gelegenen extrafovealen Netzhautstelle zur Ab-- bildung kam, Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 22 C©. Hess: wu N us N Entsprechende Versuche stellte ich ferner mit der auf S.-309 beschriebenen photometrischen Vorrichtung an. Das Licht der rechten Nernstlampe fiel durch ein dunkelrotes Glas („Rotfilter“, Schott 2745), das der linken durch ein blaues Glas („Blaufilter“, Schott 3873), zwischen beiden farbigen Gläsern lief eine etwa 25 em lange Scheidewand bis zur Mitte der Vorderwand des Bassins für die Sepia (bzw. Fledone). Bei kleinen Verschiebungen des Bassins wurde also das untersuchte Auge bald von dem roten, bald von dem blauen Glaslichte getroffen. Auch jetzt trat bei Blaubelichtung beträchtliche Pupillenverengerung selbst dann ein, wenn die Nernst- lampe für das Blau 100 em, jene für das Rot nur ea. 35 em ent- _ fernt war. Besonders überraschend ist hier immer wieder das Weit- werden der Cephalopodenpupille bei Übergang von dem- für uns sehr dunklen Blau in das für uns leuchtend helle Rot. Bei meinem Auge rief wieder der Übergang vom Blau zum Rot beträchtliche Verengerung, der Übergang vom Rot zum Blau Erweiterung der Pupille hervor. Selbst wenn ich die Lampe für das Rot auf 100 em zurückschob, war die durch das Rot hervorgerufene Verengerung meiner Pupille noch merklich grösser als die durch das Blau bedingte. Alle diese Versuche zeigen, dass bei unseren Gephalo- poden die Kurve der pupillomotorischen Reizwerte derversehiedenenhomogenenLichter der Helligkeits- kurve für den total farbenblinden Menschen bei jeder Liehtstärke und für den normalen dunkel adaptierten Menschen bei passend herabgesetzter Lichtstärke in- sofern entspricht, als dort wie hier die Kurve ihr Maximum in der Gegend des gelblichen Grün hat und von da aus nach dem langwelligen Ende rasch, nach dem kurzwelligen Ende langsamer absinkt. Soweit meine bisherigen Messungen ein Urteil gestatten, ist auch die Art des Absinkens der u in beiden Fällen eine ähnliche oder die gleiche. Wir wissen aus schönen Untersuchungen von Sachs (1893), die durch Abelsdorff bestätigt wurden, dass beim Menschen der motorische Reizwert eines Lichtes von seiner scheinbaren Helligkeit abhängt und dass demgemäss beim total farbenblinden Menschen die motorischen Reizwerte den weissen Valenzen der farbigen Lichter entsprechen. Bei abwechselnder Bestrahlung mit passenden roten und--blauen Reizlichtern verenst sich die Pupille des total. Farbenblinden im Blau, jene des normalen Auges im Rot. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 339 Die Pupillenreaktion verhielt sich somit bei den bisher von mir untersuchten CGephalopoden in allen hier in Betracht kommenden Punkten so, wie beim total farbenblinden Menschen. — Ich hatte die Freude, noch auf einem anderen, von dem eben beschriebenen unabhängigen Wege zu gleichen Ergebnissen “über den Lichtsinn der Cephalopoden zu kommen. Es ist lange bekannt, dass junge Cephalopodenlarven die Neigung zeigen, zum Lichte zu gehen; diese Eigentümlichkeit ist aber bisher nieht genauer untersucht worden. Für mich kamen zunächst nur Embryonen von Loligo in Betracht, aus deren Laich in den Bassins des Neapeler Aquariums junge Tiere auskommen. Während der mir dort zur Verfügung stehenden Zeit waren reife junge Loligolarven nicht zu erwarten; doch erreichte ich mein Ziel durch die grosse Freundlichkeit von Herrn Kollegen Naef, der, mit entwicklungs- geschichtlichen Untersuehungen beschäftigt, dem in seinem Aquarium: gehaltenen Laiche zu verschiedenen Zeiten verschieden weit ent- wickelte Embryonen zu Konservierungszwecken entnahm. Er hatte die Liebenswürdigkeit, mir wiederholt die aus den Laichschläuchen entnommenen ca. 20-30 Tiere für meine Versuche zur Verfügung zu stellen. Solehe Lolicoembryonen, die etwa 3—7 mm lang und nach seiner Schätzung noch 2—3 Wochen von der Reife ent- fernt waren, zeigten, im Parallelwandbassin ins Spektrum gebracht, aufs Schönste die Neigung, aus den dunklen Bassinteilen wie aus dem Rot, dem Blau und dem Violett des Spektrums nach dem gelblichen Grün zu schwimmen und sich vorwiegend in diesem zu sammeln, in ähnlicher oder der gleichen Weise, wie wir es bei den verschiedenen Krebsarten und bei Fischen gefunden haben; die Tiere schwammen nicht nur längs der Vorderwand des Gefässes nach der für sie hellsten Stelle, sondern auch in verschieden weit von dieser Wand entfernten Wasserschichten. Auch hier konnte ich die Ansammlung in der Gegend des gelblichen Grün auf photo-- graphischem Wege feststellen (vergl. Tafel IX). Viel sehöner als die nur einen Moment. wiedergebende Aufnahme lässt die längere Beobachtung der schwimmenden Tiere die einschlägigen Verhält- nisse erkennen. In der Gegend des Gelbgrün schwimmen sie vor- wiegend vertikal nach oben, während in den anderen Lichtern des. Spektrums ihre Schwimmrichtung. vielfach eine mehr schräge, vor- wiegend nach dem Gelbgrün gerichtete ist. 2% 340 @. Hess: In einem zur Hälfte mit rotem, zur Hälfte mit blauem Glase bedeckten, von der Bogenlampe gleichmässig belichteten Bassin eilten die Loligo lebhaft zum Blau, auch dann, wenn dieses unserem hell adaptierten Auge dunkler erschien als das Rot; die Tiere verhielten sich also auch hier, wie im Spektrum, so, wie es nach unseren Pupillen- untersuchungen an Sepia und Eledone zu erwarten war, falls der Licehtsinn bei Loligo im wesentlichen der gleiche ist wie bei jenen. In der weitgehenden Übereinstimmung der Ergebnisse von Untersuchungen, die nach zwei ganz verschiedenen Verfahren, das eine Mal an Loligoembryonen, das andere Mal an ausgewachsenen Sepien und Eledonen vorgenommen wurden, dürfen wir wohl ein erfreuliches Zeichen für die Genauigkeit und Zuverlässiekeit unserer Methoden sehen. Versuche über die Wirkung ultravioletten Lichtes mit den früher angegebenen Methoden hatten auch bei Loligolarven stets negatives Ergebnis. Man hat mehrfach versucht, über einschlägige Fragen durch das Studium der bei Belichtung des Auges auftretenden Aktionsströme Aufschluss zu be- kommen. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass nach den bis jetzt vor- liegenden Messungen das Verhalten der Aktionsströme keine Schlüsse auf ent- sprechendes Verhalten der Lichtwahrnehmung bzw. Lichtempfindlichkeit bei den betreffenden Tieren gestattet: Untersuchung der Aktionsströme an den sogenannten „Zapfen-Netzhäuten“ der Hühner (tatsächlich enthalten solche Netzhäute keines- wegs nur Zapfen) hatte ergeben, dass diese einer durch Zunahme der Aktions- ströme gekennzeichneten Empfindlichkeitssteigerung durch Dunkelaufenthalt nur in minimalem Maasse fähig sein sollten; an Schildkrötenaugen liessen sich selbst bei starker Belichtung mit elektrischer Glühbirne nur äusserst schwache Aktions- ströme wahrnehmen. Mit den von mir entwickelten Methoden lässt sich leicht nachweisen, dass Hühner wie Schildkröten einer Dunkeladaptation in ansehnlichem Umfange fähig sind. Bei Untersuchung der Aktionsströme im Eledoneauge fand man stets und konstant das Maximum im Blaugrün (Wellenlänge etwa 500 uu), d. h. von allen Strahlen des benutzten Spektrums sollten die blaugrünen maxi- malen Reizwert für das Eledoneauge besitzen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass auch hier die Aktionsströme über die uns beschäftigenden Fragen nach dem Lichtsinne der Tiere keinen zutreffenden Aufschluss geben. Da man bei Reizung der isolierten Eledonenetzhaut mit rotem Lichte die Aktionsströme beträchtlich stärker fand als bei Reizung des uneröffneten Auges, wurde die Vermutung ausgesprochen, dass im letzteren Falle die langwelligen Lichter durch die möglicherweise grünlich oder bläulich gefärbten Medien zum Teile absorbiert worden seien. Im Hinblicke hierauf habe ich mehrere Linsen von Eledone und Sepia genauer untersucht; ich fand diese ebenso wie den dünn- flüssigen Bulbusinhalt stets farblos, die Linsen zuweilen eine Spur gelblich, niemals grünlich oder bläulich. Zur spektroskopischen Untersuchung brachte Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 341 ich letztere zwischen zwei mattschwarze Kartons mit passenden kreisrunden Ausschnitten und konnte dann in der üblichen Weise leicht zeigen, dass von einer irgend merklichen Absorption langwelliger Strahlen in der Cepha- lopodenlinse nicht die Rede sein kann: Vorhalten der Linsen vor das Spektroskop hat keine merkliche Verminderung der Helligkeit des Spektrums und keine nach- weisliche Verkürzung desselben am langwelligen Ende zur Folge!). Die Ergebnisse der photographischen Untersuchung der Ce- phalopodenpupille im Spektrum führten mich zu entsprechenden Ver- suchen am Vogelauge, über die hier nur kurz berichtet sei. Die Anordnung war im wesentlichen die gleiche wie dort: Die in einem passenden Halter festgebundenen Tauben wurden in das Spektrum eines Nernstkörpers gebracht, dicht über dem Auge befand sich ein wagerechter mattweisser Kartonstreif, auf dem das langwellige Ende des Spektrums sowie die Gegend des reinen Gelb, Grün und Blau verzeichnet waren. Die Negative wurden mittels Projektions- apparates auf eine weisse Fläche entworfen, auf dieser die achtfach vergrösserten Konturen der Pupille aufgezeichnet und danach aus- gemessen. Die Aufnahme erfolgte mittels Blitzlichtes; trotzdem die Vogeliris auf Licht beträchtlich rascher reagiert als die mensch- liche, war doch die Dauer meines Blitzlichtes kurz genug zur Er- zielung scharfer Pupillenbilder. Zwischen den einzelnen Aufnahmen wurde das Auge durch Vorhalten eines grossen schwarzen Kartons längere Zeit vor Lichteinfall geschützt (s. u.) und bei der Aufnahme jedesmal kaum eine Sekunde lang belichtet. In drei solchen Serien ermittelte ich (an den um das Achtfache vergrösserten Pupillen) bei verschiedenen Tauben folgende Werte: Rot | Gelb Grü | (nahe dem ) S | breib- en run- I ine Orange | Gelb | Srün Grün | plau | Blau | Violett Spektrumende) | | | | mm mm ı mm | mm mm | mm ı mm | mm | | | | 1 41 RS En SL. Hr | rar PBAr5 UF Bene II 336 10.30,8.0.10.98 35 ae al | = | — Im ae N |enen Re BZ 1) Bei Untersuchung im violetten und ultravioletten Lichte zeigten solche Linsen deutliche, aber nicht starke Fluoreszenz, die in manchen Fällen auf die Kernschichten der Linse beschränkt war; in dem durch Blauuviolglas gefärbten Lichte einer Bogenlampe hatte man den Eindruck, als ob solche Linsen mit zarter intranuklearer Trübung behaftet seien. Vorschieben eines Schwerstflintglases vor das Blauuviolglas brachte diese „Kerntrübung“ sofort zum Schwinden. 342 C. Hess: Es ergibt sich daraus, dass bei der Taube die stärkste Pupillenverengerung im Orange und im Gelb erfolgt; schon im Gelbgrün ist sie deutlich geringer, noch geringer im Blau und im Violett. Die Kurve der Pupillenweiten in den verschiedenen Lichtern des Spektrums zeigt also bei der Taube einen wesentlich anderen Verlauf als bei den Gephalopoden. Diese photographischen Bestimmungen bestätigen in willkommener Weise meine früheren Beobachtungen über die Pupillenreaktion bei Tagvögeln!), bei welchen ich gleichfalls die stärkste Verengerung im Gelb und Rotgelb gefunden hatte. Sie sind eine wertvolle Erweiterung jener früheren Befunde, bei welchen ich noch auf die Benützung von Bogenlicht angewiesen war und wegen der Un- gleichmässigkeit dieser Lichtquelle von photographischen Aufnahmen absehen musste; denn sie gestatten, noch kleinere Verschiedenheiten zu ermitteln und festzuhalten, als es bei jenen früheren Versuchen möglich war. _ Bemerkenswert ist der verhältnismässig geringe absolute Betrag der Änderung der Pupillenweite bei den untersuchten Tauben: Ich nahm die Pupille einer solchen einmal in einem völlig dunklen Raume auf, dann in der gleichen Stellung, während ich eine heilleuchtende Taschenlampe dicht vor das Auge hielt. Die Photographie ergab für das Dunkelauge einen Pupillendurchmesser von 5 mm, für das stark belichtete einen solchen von ca. 3,3—3,9 mm, die Dunkelpupille wurde also selbst durch so starke Belichtung um kaum mehr als ein Fünftel ihres Durchmessers verkleinert. Bei den von mir untersuchten Cephalopoden hatten, wie wir sahen, kleinere Lichtstärkenunterschiede wesentiich stärkere Verengerung der Pupille, oft bis zu mehr oder weniger völligem Verschluss derselben, zur Folge. Um zu zeigen, dass auch die früher von mir gefundenen Verschiedenheiten der Pupillenreaktion bei Tag- und bei Nachtvögeln auf dem hier vorgeschlagenen Wege weiter verfolgt werden können, machte ich auch bei einer jungen Ohreule einige photographische Aufnahmen in verschiedenen Lichtern des Spektrums. Bei einer derartigen Serie erhielt ich, wiederum bei achtfacher Vergrösserung, folgende Werte: Rotgelb Gelbgrün Grün „ Blaugrün Violett 60,72 mm 56,32 mm 47,5 mm 53,65 mm 58,96 mm Mehrere andere Serien ergaben im Wesentlichen ähnliche oder die gleichen relativen Werte. Die Aufnahmen lassen erkennen, dass das Maximum der Pupillenverengerung hier beträchtlich mehr nach dem Grün zu liegt als bei den Tagvögein. Zwischen den einzelnen Aufnahmen machte ich bei diesen Versuchsreihen jedesmal Pausen von je 10 Minuten, um das Auge wieder genügend für Dunkel adaptieren zu lassen; denn ich hatte bei früheren Untersuchungen gefunden, dass die Vogelpupillen auch nach kurzdauernder Belichtung eine Zeitlang auf neue Lichtreize nur verhältnismässig schwach bzw. gar nicht reagieren. Bei meinen 1) C. Hess, Über das Sehen und über die Pupillenreaktion von Tag- und von Nachtvögeln.- Arch. f. Augenheilk. Bd. 49 H.2. 1908. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 345 neuen Versuchen konnte ich feststellen, dass die Pupille der jungen Ohreulen nach momentaner Belichtung mittels Blitzlichtes 10 Sekunden oder noch länger eng bleibt und dann erst allmählich wieder die frühere Weite bekommt. Sie reagiert dabei nur schwach auf neue Lichtreize. Um eine Vorstellung von dem Umfange dieser Nachwirkung des Lichtreizes zu bekommen, ging ich in der folgenden Weise vor: Nachdem die Ohreule 20 Minuten lang im völlig Dunkeln gehalten war, wurde, ohne vorherige Belichtung, im Dunkeln eine Blitzlichtaufnahme, 10 bis 20 Sekunden später unter genau gleichen Bedingungen eine zweite gemacht. Ich fand den Pupillendurchmesser bei der ersten Aufnahme — 8&—9 mm, bei der zweiten —=5—6 mm. Bei Wiederholung solcher Versuche erhielt ich stets analoge Ergebnisse. Auch die Taubenpupille fand ich bei gleicher Versuchsanordnung .10 Sekunden nach einer Blitzbelichtung noch enger als nach längerem Dunkelaufenthalte. Für das Menschenauge hat Garten (1898) Ähnliches feststellen können. Bei den jungen Ohreulen wird die Sachlage bei Aufnahme in den kürzerwelligen Lichtern des Spektrums noch durch folgenden Umstand kompliziert. Die Linsen dieser Tiere zeigen eine so starke Fluoreszenz, dass z. B. bei meinen Blitzlichtphotographien die Pupille (im Positivabzug) heller grau erscheint als die bei den Tieren leuchtend gelbe Iris. An dem Zustandekommen dieser Fluoreszenz sind vorwiegend die kurzwelligen Strahlen des Spektrums beteiligt. Bringt man das Auge in den Lichtkegel der mit einem Blauuviol- glase versehenen Bogenlampe, so erscheint die Iris jetzt schön rot, die Pupille zeigt einen grünlich-blauen Schimmer, bei abwechselndem Vorhalten und Weeziehen der Schwerstflintplatte erfolgt regelmässig deutliche Erweiterung bezw. Verengerung der Pupille; der Fluoreszenz- schimmer der Pupille wird dabei deutlich schwächer bezw. stärker. Dunkel adaptierte Loligolarven schwimmen sowohl im Spektrum als bei den Glaslichtversuchen wesentlich lebhafter zum Hellen als hell adaptierte: solche, die einige Zeit im Hellen gestanden hatten, konnte ich in einem mässig lichtstarken Spektrum nicht im Gelb- grün sammeln, wohl aber, wenn ich das Spektrum lichtstärker machte. Zu genaueren messenden Untersuchungen der hier zum Ausdrucke kommenden adaptativen Änderungen waren die mir zur Verfügung stehenden Embryonen nicht geeignet; ich beschränkte mich daher darauf, bei einer Gruppe von Tieren, die eine- Viertelstunde dunkel adaptiert waren, das schwächste Reizlicht zu bestimmen, das eben noch genüste, um diese nach dem belichteten Bassinteile schwimmen, zu lassen. Das Bassin mit Loligolarven wurde im 344 C. Hess: Dunkelzimmer vor den Ausschnitt des Tunnels gebracht, während die fünfkerzige Lampe in 53 m Entfernung stand; sie schwammen sofort lebhaft nach dem bestrahlten Bassinteile. Rotierte vor dem Ausschnitte ein Episkotister mit einem Sektor von 90°, so hatte ich auch jetzt noch den Eindruck, dass die Tiere zu dem für unser Auge nur schwach erhellten Bassinteile gingen; doch war die Be- obachtung nicht mehr ganz sicher, da diese jungen Embryonen bald anfangen matt zu werden und zu Boden zu sinken. Die Prüfung der pupillomotorischen Dunkeladaptation bei erwachsenen Cephalopoden führte zu einer Reihe interessanter Ergebnisse. Die Tiere wurden in verschiedenen Adaptations- zuständen im Dunkelzimmer vor den zunächst verdeckten Ausschnitt des Tunnels gebracht und dann ihre Pupillenreaktion bei kurz- dauernder Belichtung durch Öffnen des Ausschnittes geprüft. Zur Untersuchung bei sehr geringen Lichtstärken brachte ich wieder oberhalb des Kopfes der Tiere eine kleine Lampe mit rubinrotem Glase an, deren das Pupillenspiel nicht störend beeinflussendes Licht zur Beobachtung eben hinreichte. Bringt man eine Sepia in helles Licht, so schliesst sich ihre Pupille vollständig, indem die beiden Lappen der oberen Irishälfte (vgl. die Photographien) weit herunter gehen und die untere Iris- hälfte, insbesondere auch der nach oben gerichtete Sporn in deren Mitte, nach oben rückt. Bei nicht sehr hellem Lichte bleibt, wie ich früher eingehender erörtert habe, vorn und hinten noch ein schmaler, vertikaler Spalt ungeschlossen; bei etwas stärkerem Lichte schliesst sich auch dieser, und es ist daher nicht möglich, die Netz- haut mit so hohen Lichtstärken zu bestrahlen wie ceteris paribus z. B. in unserem Auge, dessen Pupille ja auch bei blendendem Reiz- lichte immer noch beträchtliche Lichtmengen durchlässt. Diese Ver- hältnisse sind wesentlich bei Beurteilung des von mir bestimmten Umfanges der pupillomotorischen Adaptation. Bei einer Sepia offieinalis wird das rechte Auge durch Bestrahlen mit dem Lichte einer 25kerzigen Glühbirne aus ca. 20 em Abstand gut hell adaptiert. Die Pupille ist dabei vollständig geschlossen. Nun bringe ich das Tier möglichst rasch vor den Ausschnitt de, Tunrels und ermittele durch Verschieben der 5kerzigen Birne das schwächste Licht, das noch eben deutliche Pupillenverengerung her- vorruft. Dies ist der Fall bei ca. 30 em Abstand der 5kerzigen Birne; bei grösserer Annäherung der letzteren hat jede Belichtung Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 345 eutliche Verengerung zur Folge, bei mehr als 30 cm Abstand ist die Belichtung ohne sichtbare Wirkung auf die Iris. Aber schon nach etwa einer Minute Dunkelaufenthalt liegt die Reaktionsgerenze bei wesentlich kleineren Lichtstärken: die Skerzige Lampe ruft jetzt noch in 1 m Abstand eben merkliche Verengerung hervor. Das andere, linke Auge dieses Tieres, das bei der vorangegangenen Be- lichtung des rechten nur von schwachem zerstreutem Lichte getroffen, aber nicht sorefältig vor Lieht geschützt worden war, zeigt noch bei 2 m Abstand der Lampe deutliche Reaktion. Nach einer Stunde Dunkelaufenthalt zeigen beide Augen unserer Sepia noch deutliche Pupillenreaktion, wenn die 5kerzige Lampe in 3 m Entfernung steht und ausserdem der Episkotister mit einem Sektor von 45° vor dem Ausschnitte rotiert; bei 30° Sektorengrösse ist eben noch schwache Reaktion wahrnehmbar. Bei diesen Versuchen genügte also zur Auslösung eben merklicher Pupillenreaktion im dunkel adap- tierten Sepienauge der 1200ste Teil der Lichtstärke, die im hell adaptierten erforderlich war. Die Sepia wird nun wieder einige Minuten hellem Lichte aus- gesetzt. Danach erfolgt Pupillenreaktion bei Belichtung mit der Skerzigen Lampe erst, wenn diese auf ca. 30 em herangeschoben wird. Nach zwei Minuten Dunkelaufenthalt reagiert die Pupille noch eben bei 100—150 em Abstand der 5kerzigen Lampe, nach drei Minuten noch eben bei 200 em Abstand, nach Dunkeladaptation von fünf Minuten ist noch deutliche Reaktion nachweisbar, wenn die 5kerzige Lampe in 3 m Abstand steht und der Episkotister mit einer Sektorengrösse von 150° vor dem Tunnelausschnitte rotiert. Am folgenden Tage wurde das gleiche Tier nach einhalbstündigem Aufenthalte im Dunkeln aufs Neue untersucht; die Pupille reagierte noch deutlich, wenn die 5kerzige Lampe 3 m entfernt war und der Episkotister mit einem Sektor von 60° vor dem Ausschnitte rotierte. Unsere Versuche zeigen, dass die pupillomotorische Erregbarkeit des hell adaptierten Sepienauges unmittelbar nach Eintritt ins Dunkle zunächst verhältnismässig rasch, weiterhin langsam zunimmt. Nach !/ bis Ye Stunde kann sie um das Vielhundertfache grösser sein als im hell adaptierten Auge. 346 G, Hess: 4. Versuche an Amphioxus. Unter den Tieren mit primitiven Sehorganen beansprucht Amphioxus schon wegen seiner Stellung in der Wirbeltierreihe besonderes Interesse. In einer früheren Untersuchung führte ich den Nachweis, dass die gelben und grünen Lichter des Spektrums hier die stärkste Wirkung üben, war damals aber noch nicht im stande, genauere Angaben über die relativen Reizwerte der fraglichen Lichter zu machen. Ich berichte im Folgenden über die Fortsetzung jener früheren Versuche. Als Maass der Reaktion diente mir wieder die Bewegung der Tiere: Die geringste durch Licht ausgelöste sichtbare Reaktion be- steht darin, dass ein Amphioxus, ohne sich von der Stelle zu be- wegen, seinen Körper ein- oder zweimal leicht krümmt; bei etwas stärkerer Reaktion wird diese Krümmung ausgiebiger und wohl auch mehrere Male wiederholt, ohne dass das Tier seinen Platz verlässt. Noch stärkere Reaktionen kommen in Schwimmbewegungen über mehr oder weniger grosse Strecken zum Ausdrucke, wodurch dann leicht auch andere Tiere zum Aufschwimmen veranlasst werden. Liegen die Tiere bei diesen Versuchen auf Sand, so verkriechen sie sich bei Belichtung vielfach rasch in denselben; je stärker die Licht- wirkung ist, um so grösser ist die Zahl der Tiere, die das geschilderte Verhalten zeigen; bei sehr schwacher Wirkung sieht man oft nur ein einziges oder wenige Tiere direkt reagieren. Nach solchen An- haltspunkten sind die im Folgenden der Kürze halber gewählten Bezeichnungen „schwache“, „mässige*“, „starke“ Reaktion usw. zu beurteilen. Eine erste Versuchsreihe stellte ich am Spektrum in der folgenden Weise an: Ein breiter schwarzer Karton wurde vor dem etwa 50 mässig dunkel adaptierte Amphioxus enthaltenden Parallelwand- gefässe so aufgestellt, dass sein vertikaler Rand dem reinen Gelb des Spektrums entsprach und alles kürzerwellige Licht durch den Karton vom Bassin zurückgehalten wurde. Indem ich letzteres auf der glatten Unterlage vorsichtig verschob, wurden der Reihe nach sämtliche Tiere von rotem, rotgelbem und gelbem Lichte getroffen, und ich konnte so unschwer übersehen, wie die einzelnen Lichter auf die einzelnen Tiere wirkten. Selbst das gelbe Licht hatte nur geringe Wirkung auf die Tiere; ein einziges machte eine schwache Bewegung. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 5347 Nun wurde der Karton vor dem Bassin so verschoben, dass die langwelligen Strahlen bis zum Gelbgrün abgeblendet waren und nur gelbgrünes und kürzerwelliges Licht zu den Tieren gelangen konnte. Bei gleicher Verschiebung des Bassins wie vorher zeisten jetzt die Tiere lebhafte Reaktion, und die Zahl der direkt reagierenden war eine ziemlich grosse. Derartige Versuche habe ich mit längeren Pausen, auch bei verschiedenen Abständen des Bassins vom Prisma, also entsprechend verschiedenen Lichtstärken des Spektrums, häufig mit stets gleichem Ergebnisse wiederholt. Bei einer zweiten Versuchsreihe befand sich vor dem Bassin ein grosser Karton, an dem zwei vertikale, ca. 1 em breite Ausschnitte in solchem gegenseitigen Abstande angebracht waren, dass durch den einen wesentlich die gelberünen, durch den anderen die blauvioletten Lichter des Spektrums traten. Bei Verschieben des Bassins ist schön zu sehen, dass im Blauviolett geringe oder gar keine, im Gelbgrün dagegen lebhafte Reaktion der Amphioxus erfolst. In wieder anderen Versuchsreihen wurde bei grösserer An- näherung an das Prisma ein Karton mit entsprechend schmäleren und dichter beieinander stehenden Ausschnitten vor das Bassin gebracht, so dass durch den einen Ausschnitt die orangefarbigen Liehter bis nahe zum reinen Gelb, durch den anderen das Gelbgrün und Grün des Spektrums gelangten. Bei Vorüberführen des Bassins vor den einzelnen Ausschnitten war leicht zu sehen, dass dureh das Gelbgrün und Grün in der Regel viele Tiere in lebhafte Bewegung gerieten, während Orange und Gelb meist nur bei einigen wenigen schwache Bewegungen hervorrief. Bei wieder einer anderen Versuchsreihe stand vor dem Bassin mit den Amphioxus ein Karton mit einem nur 5 mm breiten, ea. 10 em hohen spaltförmigen Ausschnitte, durch den je nach seiner Stellung verschiedene homogene Lichter ins Bassin gelangten. Fiel durch den Ausschnitt rotes oder rotgelbes Licht, so bewegte sich bei Vorübergleiten des Bassins vor diesem kein einziger Amphioxus; fiel gelbes Licht durch den Ausschnitt, so bewegten sich einige wenige Tiere. Stand der Ausschnitt im gelblichen Grün, so kamen bei Vorübergleiten des Bassins viele Tiere in lebhafte Bewegung. Fiel blaues Licht ein, so bewegten sich noch einige Tiere, aber nicht so viele und diese nicht so lebhaft wie im Grün; bei Bestrahlung mit Violett zeieten noch einzelne Tiere mässige Bewegung. Liess ich nun vor dem Ausschnitte einen Episkotister mit einer Sektorgrösse 348 C. Hess: von 90 ® rotieren und wiederholte die ganzen Versuche, so bewegten sich im Grün noch immer mehrere Tiere lebhaft; im Blau zeigte nur ein einziges noch Bewegung, im Gelb keines mehr. Zahlreiche Versuche, bei welchen ich die Amphioxus abwechselnd mit roten und blauen Glasliehtern bestrahlte, führten über- einstimmend zu dem Ergebnisse, dass auch ein für uns helles Rot auf die Tiere wenig oder gar nicht wirkt, während ein für uns dunkleres Blau lebhafte Bewegungen hervorruft. Sehr hübsch zeigt sich dies z. B., wenn man ein Bassin mit vielen Tieren mit der Bogenlampe gleichmässig bestrahlt, während zunächst ein rotes Glas, etwa Rotfilter, vor letztere gehalten wird: die Tiere bleiben entweder ganz unbewegt oder zeigen vereinzelt schwache Bewegungen. Schiebt man nun rasch und ohne Zwischenbelichtung ein Blauglas, etwa Blaufilter, vor die Lampe, so geraten sofort zahlreiche Amphioxus in lebhafte Bewegung. Um mit verschieden lichtstarken roten und blauen Lichtern arbeiten zu können, benützte ich zunächst die früher beschriebenen farbigen Zeiss’schen Glaskeile und konnte hier noch mit einem für uns sehr dunklen Blau lebhafte Bewegung hervor- rufen, nicht aber mit einem für uns ziemlich hellen Rot. Am schönsten sind auch hier wieder die mit der oben (S. 309) be- schriebenen photometrischen Vorrichtung angestellten Versuche, von welchen einer mitgeteilt werden möge: Die eine Hälfte des: Ausschnittes in der Vorderfläche des Apparates ist mit dem Schott’schen Rotfilter, die andere mit dem Blaufilter verdeckt. Das Bassin mit den Amphioxus wird seitlich so ver- schoben, dass die Tiere erst von rotem, dann, bei weiterem Ver- schieben, von blauem Lichte getroffen'werden. Die Nernstlampe für das Rot steht zunächst in ca. 5 cm Abstand, die für das Blau in ca. 75 em Abstand. Bei Bestrahlung mit dem für uns leuchtend hellen Rot zeigen zwei Tiere schwache Bewegungen; bei Bestrahlung mit dem für uns dunklen Blau tritt gleichfalls nur schwache Be- wegung ein. Wird die Lampe für das Blau auf 65 em heran- geschoben, so ruft Blaubestrahlung deutliche, aber noch nicht sehr starke Reaktion hervor. Nach Heranschieben der Lampe für das Blau auf 55 em ist die Reaktion im Blau schon ziemlich lebhaft geworden. Bei erneuter Bestrahlung mit dem Rot bei 5 cm Lampen- abstand reagieren einige Tiere deutlich, aber schwach, ebenso noch bei 15 em Lampenabstand. Dagegen ist bei 25 em Abstand dieser Lampe keine Reaktion mehr sichtbar. Auch jetzt ist dieses für die Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 349 Tiere unwirksame Rot für unser hell adaptiertes Auge noch sehr viel heller als das ziemlich stark wirkende Blau, dagegen erscheint meinem dunkel adaptierten Auge bei passender Herabsetzung der Lichtstärken beider (mittels Episkotisters in der wiederholt angegebenen Weise) das für mich jetzt farblose Blau heller als das Rot. Eine weitere Reihe von Versuchen stellte ich zur Prüfung der Wirkung ultravioletten Lichtes an; sämtliche in der früher geschilderten Weise öfter wiederholten Versuche ergaben übereinstimmend, dass das ultraviolette Licht auf Amphioxus keine nachweisbare bzw. in Bewegungen zum Ausdrucke kommende Wirkung ausübt. Eine Reihe messender Versuche zur Bestimmung der adaptativen Empfindlichkeitssteigerung durch Dunkelaufenthalt bei Amphioxus wurde wieder am „Tunnel“ (s. S. 316) in der Weise vorgenommen, dass ich durch Verschieben der Lampe das schwächste Reizlicht ermittelte, das bei hell- und bei verschieden lange dunkel- adaptierten Tieren noch eben merkliche Bewegungen hervorrief. Eine Gruppe von etwa 50 Tieren wird für "/s Stunde ans helle Fenster (nieht ins direkte Sonnenlicht) gebracht, danach rasch am Tunnel mit der 50 kerzigen Lampe in der Weise untersucht, dass das dicht vor diesem stehende Bassin mit einem schwarzen Karton verdeckt und letzerer von Zeit zu Zeit rasch weggezogen wird. Bei Bestrahlung mit der 50 kerzigen Lampe aus 15 cm Abstand: bewegen sich regelmässig einige Tiere, HE 30le, „. . :» machen noch zwei Tiere schwache Bewegungen, AUG „ ist eben noch eine Spur von Bewegung zu sehen. Nun werden diese Tiere fünf Minuten dunkel gesetzt. Danach erfolgt bei Bestrahlung mit der 50kerzigen Lampe aus 100 und aus 200 em Abstand bei mehreren Tieren lebhafte Bewegung; bei Be- strahlung aus 300 cm zeigen einzelne noch eine Andeutung von Reaktion. Nach erneutem Dunkelaufenthalte von fünf Minuten zeigen bei Bestrahlung mit der 50kerzigen Lampe aus 300 em Abstand mehrere Tiere lebhafte Reaktion. Die Tiere werden nun abermals fünf Minuten dunkel gesetzt, so dass sie jetzt im ganzen (abgesehen von den kurzen Belichtungen bei den Versuchen) ea. 15 Minuten im Dunkeln waren. Statt der 5Okerzigen Lampe wird die Skerzige Lampe in den Tunnel eingesetzt. 350 C. Hess: Bei Bestrahlung mit der Skerzigen Lampe aus 200 em Abstand: erfolgt deutliche, aber nicht sehr starke Reaktion, 800, „ .. : zeigen. noch mehrere Tiere deutliche, wenn auch. nieht starke Reaktion. | Wird noch der Episkotister mit einer Sektorengrösse von 180 vor das Bassin gehalten, so ist eben noch schwache Reaktion wahr- nehmbar. Eine andere Gruppe von Amphioxus, die über eine Stunde dunkel gehalten worden waren, zeigte bei Bestrahlung mit der ökerzigen Lampe aus 300 em Abstand und Vorhalten eines Episko- tisters von 150 ° deutlichere, aber nicht starke Reaktion. Diese letzteren Tiere bestrahlte ich nun aus ca. 15 em Abstand mit der 50kerzigen Lampe, wodurch zunächst sehr lebhafte Be- wegung unter der Schar entstand. Nach Belichtung während un- gefähr 1—2 Minuten in der angegebenen Weise wurde diese Lampe abgedreht und nun, nach etwa 10—15 Sekunden Dunkelaufenthalt, das Bassin wieder am Tunnel mit der 50 kerzigen Lampe aus 15 em Abstand bestrahlt: einzelne Tiere zeigten schwache Bewegung, bei Bestrahlung aus 20 em war eine solche nicht mehr hervor- zurufen. Bei diesen Tieren war also nach Dunkeiadaptation von etwa einer Stunde zum Herrvorrufen deutlicher Reaktion kaum der 4000 ste Teil jener Lichtstärke erforderlich, die nach starker Hell- adaptation von 1—2 Minuten eben noch Bewegungen hei den Tieren hervorrief. Für die Beurteilung der Genauigkeit und Zuverlässigkeit solcher Bestimmungen ist von Interesse, dass ich, ohne mich der früher er- haltenen Werte zu erinnern, einige Wochen nach jener ersten eine zweite, gleiche Versuchsreihe anstellte und dabei wieder nahezu genau die gleichen Zahlen erhielt. 5. Versuche an augenlosen Muscheln. In grösserem Umfange stellte ich Untersuchungen an solchen augenlosen Muscheln an, deren seit lange als liehtempfindlich bekannte Siphonen sich bei passender Versuchsanordnung für meine Zwecke genügend geeignet erwiesen... Im wesentlichen traf dies zu für Solen ensis, Solen siliqua, Pholas dacetylus und Psammobia vespertina, zum Teile auch für Cardiumttuber- eulatum. | Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 351 So verschieden die Siphonen dieser Muscheln in Bezug auf Grösse, Anordnung und Pigmentgehalt sind, so zeigen doch alle in den uns hier zunächst interessierenden Punkten derart überein- stimmendes Verhalten, dass ich auf gesonderte Beschreibung der Versuche für jede einzelne Art verzichten darf. Über die anatomischen und biologischen Verhältnisse mögen folgende An- deutungen genügen. Sämtliche Arten sind im Neapeler Golfe häufige Tiere- (Pholas kommt nur an bestimmten Stellen in grösseren Mengen vor). Bei Solen ragen die kurzen, mit ziemlich langen Tentakeln versehenen Siphonen etwa !/a bis 1'/e cm aus der langen, schmalen, scheidenförmigen Schale heraus, bei Belichtung ziehen sie sich mehr oder weniger stark zurück, wobei der Sipho sich etwas zu schliessen pflegt. (Ich habe bei meinen hier mitzuteilenden Beobachtungen im allgemeinen nur die charakteristische Belichtungsreaktion zum Gegen- stande der Untersuchung gemacht, dagegen die bei manchen Arten deutliche Reaktion bei Verdunkelung nicht weiter verfolgt.) Bei Cardium tuberculatum!) zeigen die Siphonen an ihrer Basis grosse Mengen dunklen klumpigen Pigmentes, während dieses in den Tentakeln sich in mässigen Mengen und in feinster Verteilung findet. Bei Psammobia sind die an ihrer Spitze mit kleinsten Tentakeln versehenen Siphonen frei von Pigment. Sie ragen bei frischen Tieren als platte, kegelförmige Gebilde vielfach nur 1—2 cm weit aus der Schale, treten aber nicht selten auch als 5—6 cm lange dünne, weissliche Röhren weit hervor; ich fand mehrfach, dass in diesem letzteren Zustande die Siphonen nicht so fein und ausgiebig auf Licht reagierten als im ersteren und stellte daher grössere Versuchsreihen mit Vorliebe bei solchen Tieren an, die ihre Siphonen nicht maximal weit hervor- gestreckt hatten. Bei Pholas sind die beiden Siphonen äusserlich zu einem verhältnismässig mächtigen kegelförmigen, von zwei Röhren durchzogenen Gebilde verwachsen; um die Röhren und an der Spitze des Kegels findet sich meist reichlich Pigment. Bei Belichtung zieht sich der ganze Sipho mehr oder weniger stark zurück. Die Zeit zwischen dem Augenblicke der Belichtung und dem Beginne der Reaktion hängt wesentlich von der Lichtstärke des Reizlichtes und dem Adaptations- zustande des Tieres ab. Bei geringen Lichtstärken ist ceteris paribus die Latenz- zeit im allgemeinen grösser als bei hohen und kann bis zu zwei Sek. und mehr betragen. Ich stellte meine Untersuchungen in der Regel an möglichst frischen Tieren in der Weise an, dass ich sie längere Zeit vor Be- 1) Wie verschieden sich selbst nahe verwandte Arten verhalten, sehen wir z.B. bei Cardium. Während C. tuberc. sich als sehr lichtempfindlich und daher für meine Zwecke gut geeignet erwies, reagierten die von mir untersuchten Exemplare von Cardium Norvegicum auch auf starke Lichtreize wenig oder gar nicht. ; : 352 C. Hess: sinn des Versuches in Parallelwandbassins, deren Boden mit einer mehr oder weniger hohen Sandschicht bedeckt war, in fliessendem Seewasser hielt. Da auch bei Erschütterungen die Siphonen ein- gezogen werden, vermied ich in allen folgenden Versuchen bei den Verschiebungen des Bassins usw. jede derartige Erschütterung aufs Sorgfältigste. Meist hatte ich das Bassin so aufgestellt, dass nach Anzünden der Nernstlampe für das Spektrum die homogenen Lichter schon in ersteres gelangten und zu weiterer Beobachtung nur leichte seitliche Verschiebungen desselben auf der glatten Unterlage erforder- lich waren. Unmittelbar nach Einlegen in das Bassin ziehen alle Tiere die Siphonen ein und schliessen die Schalen; in der Regel pflegen mehrere nach !/«—!/a Stunde ihre Siphonen wieder vorzustrecken; unter diesen findet man meist einige in zur Vornahme der Belichtungsversuche geeigneter Stellung. Bringt man das Bassin mit einer der genannten Muschelarten, nachdem die Tiere längere Zeit im Dunkeln (etwa unter einem schwarzen Tuche) gestanden hatten, so in ein ziemlich lichtstarkes Spektrum, dass die Siphonen eines Tieres von homogenem rotem Lichte getroffen werden, so zeigen diese in der Regel keine oder nur sehr geringe Verkürzung; gleitet das Bassin nun langsam seit- wärts, so dass der Sipho in orangefarbiges Licht kommt, so ist auch jetzt meist nur eine geringe Verkürzung merkbar; bei Be- strahlung mit dem reinen Gelb des Spektrums wird sie deutlich grösser, ist aber noch immer nicht sehr stark; sowie aber bei Weiter- gleiten des Bassins der Sipho ins Gelbgrün bis Grün des Spektrums gelangt, nimmt regelmässig die Verkürzung rasch sehr beträchtlich zu; im Blaugrün des Spektrums fand ich sie niemals grösser, als sie im Gelbgrün gewesen war, doch bleibt sie hier noch ziemlich beträchtlich. Gleitet das Bassin ins Blau und Violett, so kann man, insbesondere bei Psammobia, gelegentlich wahrnehmen, dass der Sipho wieder länger wird, als er im Gelbgrün gewesen war. Eindringlicher als diese letzteren sind solche Versuche, bei welchen man einen vorher nicht bestrahlten Sipho zunächst ins Violett des Spektrums bringt und dann das Bassin so seitlich gleiten lässt, dass er all- mählich von längerwelligem Lichte getroffen wird; dabei zeigt sich regelmässig Folgendes: Bei Bestrahlung mit dem Violett eines licht- starken Spektrums erfolgt deutliche Verkürzung des vorher dunkel gehaltenen Sipho, die stärker als jene im Orange, aber schwächer Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 353 als jene im Gelblichgrün ist. Wird bei Verschieben des Bassins der Sipho nun von blauem Lichte getrofien, so verkürzt er sich etwas mehr, noch mehr bei Übergang zum Blaugrün und gelblichen Grün; in letzterem ist die Verkürzung wieder am stärksten. Wird der Sipho nun weiter ins Gelb und Rot des Spektrums verschoben, so sieht man ihn bei manchen Arten nicht selten deutlich länger werden. Besonders hübsch werden derartige Versuche in solchen Fällen, wo etwa eine Psammobia sich im Sande vergraben hat und einen Sipho 1—2 em weit senkrecht nach oben herausstreckt, so dass .dieser im durchfallenden Lichte bequem beobachtet werden kann. Man sieht dann, während ein Mitarbeiter das Bassin langsam seitlich verschiebt, den Sipho im Gelbgrün am kürzesten, im Blau und Violett deutlich länger, im Orange und Rot am längsten werden. Es schien mir notwendig, diese wichtigsten Tatsachen durch immer neue Änderungen der Versuchsanordnung zu erhärten und, soweit möglich, durch messende Bestimmungen zu erweitern. Zu- nächst ermittelte ich den Einfluss verschiedener Lichtstärken auf die geschilderten Erscheinungen. indem ich teils bei konstant bleibender Breite des Spaltes für das Spektrum den Abstand des Bassins vom Prisma änderte, teils in gleichbleibendem Abstande bei grösserer und geringerer Spaltbreite beobachtete. Es ergab sich, dass die relativen Reizwerte der verschiedenen homogenen Lichter auch bei geringen Lichtstärken keine wesentlich anderen sind als bei höheren. Durch entsprechende Herabsetzung der Lichtstärke erreichte ich z. B. leicht, dass Siphonen, die im lichtstarken Spektrum bei Bestrahlung mit allen Lichtern vom Orange bis zum Violett sich verkürzt hatten, im lichtsechwächeren bei Bestrahlung mit Orange und Violett keine, im Gelb nur minimale und im Blau unbedeutende Verkürzung zeigten, während diese im gelblichen Grün noch ausgiebig war. Bei noch weiterer Herabsetzung der Lichtstärke konnte ich es dahin bringen, dass wesentlich nur das Gelbgrün des Spektrums die Siphonen zur Verkürzung brachte, dagegen alle übrigen, auch die blauen Lichter unwirksam waren. Ich hatte schon bei diesen Versuchen erkannt, dass auch hier der jeweilige Adaptationszustand der Tiere von grösster Bedeutung ist. So liess ich in weiteren Versuchsreihen die Lichtstärke des Spektrums und den Abstand des Bassins unverändert und variierte nur den Adaptationszustand der Muscheln: Ich brachte gut dunkel adaptierte Tiere in ein Spektrum von solcher Lichtstärke, dass bei Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 23 354 0. Hess: kurz dauernder Bestrahlung mit Orange, Blau und Violett noch deutliche Verkürzung der Siphonen eintrat. Nun öffnete ich für einige Minuten den Laden eines nach Norden gehenden Fensters in meinem Dunkelzimmer so weit, dass .die Tiere (die an Ort und Stelle stehen blieben), mässig hellem Tageslichte ausgesetzt waren. Wurden die Spektrumversuche sofort nach Schliessen des Ladens wiederholt, so zeigte sich, dass jetzt die Muscheln nur im Gelbgrün deutlich, im Blau schwach, im Orange, Rot und Violett überhaupt nicht mehr auf Belichtung reagierten. Nun bestrahlte ich die Tiere einige Sekunden mit dem Lichte einer gewöhnlichen Taschenlampe. Sie zogen sofort ihre Siphonen stark ein, streckten sie aber nach Entfernen der Taschenlampe bald wieder angenähert ebenso weit hervor, wie vor der Belichtung mit dieser. Jetzt waren die gleichen srünen Strahlen, die vorher deutliche Verkürzung hervorgerufen hatten, ohne Wirkung auf die Siphonen. Nachdem aber die Muscheln 10 Minuten im Dunkeln gestanden hatten, rief Bestrahlung mit dem gleichen grünen Lichte wieder lebhaftes Einziehen der Siphonen hervor. Auch solche Versuche wurden mit mannigfachen Varia- tionen oft wiederholt; das Ergebnis war stets im wesentlichen das gleiche. Von zahlreichen Beobachtungen, hei welchen die geschilderte Verschiedenheit der Wirkung gelber, gelberüner und blaugrüner Strahlen besonders hübsch in Erscheinung tritt, erwähne ich folgende: Man findet nicht selten die beiden Siphonen einer Psammobia ziem- lich weit voneinander entfernt nach oben aus der Schale ragen; jeder Sipho ist in seinen Beweeungen unabhängig vom anderen; bei isolierter Bestrahlung des einen mit einem feinen Lichtkegel zieht dieser sich mehr oder weniger weit zurück, während der andere unbewegt bleibt. Verschob ich nun in einem Spektrum von passender Breite und Lichtstärke das Bassin mit einem derartigen Tiere vom Rot aus so, dass Sipho I im Gelbgrün war, wenn Sipho II eben ins Rotgelb bis Gelb kam, so zog sich I lebhaft zusammen, während II fast ganz unbewegt blieb; das Umgekehrte erfolgte, wenn ich das Bassin vom kurzwelligem Ende gegen das Grün verschob, so dass Sipho II im Grün oder gelblichen Grün stand, während I noch im Blaugrün war; jetzt wurde Sipho II stark, Sipho I weniger eingezogen. Bei meinen ersten messenden Versuchen benützte ich folgende Anordnung: Vor dem Bassin mit den Tieren war ein mattschwarzer Karton angebracht, aus dessen Mitte ein 4 mm breiter vertikaler Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 355 Spalt ausgeschnitten war, durch welchen die jeweils gewünschten Strahlgemische eines etwa 25 cm breiten Spektrums zu den Tieren gelangten. Ich suchte die geringste zu deutlicher Reaktion erforder- liche Lichtstärke bei verschiedenen homogenen Lichtern auf, indem ich vor diesem Spalte einen Episkotister mit bei verschiedenen Versuchen verschiedener Sektorengrösse rotieren liess. In einer Versuchsreihe reagierten z. B. die Siphonen von Psammobia bei Bestrahlung mit gelblichgrünem Liehte noch deutlich, wenn der Episkotister mit einer Sektorengrösse von 20° vor dem Ausschnitte rotierte; die roten Strahlen dieses Spektrums hatten selbst dann keine Wirkung, wenn sie ungeschwächt zu den Siphonen gelangten; im angenähert reinen Blau war bei 20° Sektorengrösse keine Wirkung, bei 40° deutliche, aber schwache Verkürzung er- kennbar; ein etwas grösserer Sektor war erforderlich, um im Gelb eben merkliche Kontraktion hervorzurufen; im Violett wurde solche erst bei einer Sektorengrösse von etwa 80° deutlich. Ein anderes Mal verglich ich, an einem anderen Spektrum, bei einigen Exemplaren von Solen ensis in der geschilderten Weise die Reizwerte des gelblich-grünen mit jenen eines schwach rötlichgelben Lichtes. Bei häufiger Wiederholung der Versuche hatte dieses schwach rötlichgelbe, ungefähr der Linie D entsprechende Licht auch bei voller Wirkung keine Einziehung der Siphonen zur Folge, während das gelblich-grüne Licht von etwa 525 uu Wellenlänge nach Ab- schwächung auf !/s (— 180° des Episkotisters) noch ziemlich lebhafte, nach Abschwächung auf !/« (= 90° des Episkotisters) noch deutliche, wenn auch schwache Einziehung zur Folge hatte. Bei Abschwächung auf !/s war hier auch im gelblichen Grün keine deutliche Wirkung mehr auf die Siphonen zu sehen. Ein anderes zu messenden Bestimmungen geeignetes Verfahren besteht in Folgendem: Dicht vor der Vorderwand des im Spektrum stehenden Bassins ist ein schwarzer Kartonstreif so angebracht, dass sein einer Rand dem reinen Gelb von ca. 575 uu, der andere dem gelblichen Grün von ea. 525 uu entspricht. Das Bassin steht zu- nächst so, dass die Siphonen des zu untersuchenden Tieres im Schatten des schwarzen Streifs liegen. Bei kleinen Verschiebungen nach rechts und links werden diese also das eine Mal von Licht von 575 wu und den nächst grösseren Wellenlängen getroffen, das andere Mal von Licht von 525 uu und den nächst kleineren Wellen- längen. Reselmässig wurden bei Belichten mit dem Gelbgrün die 99 %* 25 396 C. Hess: Siphonen beträchtlich stärker zurückgezogen als bei Belichten mit Gelb bzw. Rotgelb. Man kann sogar den Streifen noch ein wenig derart verschieben, dass auf der einen Seite ein leicht grünliches Gelb, auf der anderen gelbliches Grün sichtbar ist, und erhält auch jetzt noch bei Beliehten mit diesem letzteren deutlich ausgiebigere Reaktion der Siphonen als bei Belichten mit dem leicht grünlichen Gelb. Schwächt man nun bei jener ersten Einstellung des Streifs das gelbliche Grün mittels eines passend vorgehaltenen Episkotisters so weit ab, dass die Reaktion der Siphonen bei Belichten mit diesem ebenso gross ist, wie bei Belichten mit dem ungeschwächten Gelb, so erhält man eine Art von Gleichung, die uns ein Urteil über die relativen Reizwerte dieser beiden homogenen Lichter ge- stattet. Als Beispiel sei eine Bestimmung bei Pholas daectylus angeführt: Bei Belichtung mit dem ungesehwächten eelblichen Grün ist die Reaktion beträchtlich stärker als bei Belichtung mit dem reinen Gelb von 575 uu. Wird das gelbliche Grün auf !/ı abgeschwächt (Sektorgrösse — 90°), so ist Jetzt die Reaktion hier sehwächer als im Gelb. Bei Abschwächung des Gelberün auf !/a,s (Sektorgrösse — 135 °) ist die Reaktion auf dieser Seite nicht schwächer, vielleicht eher eine Spur stärker als bei Belichtung mit dem ungesehwächten Gelb von 979 uu. Eine entsprechende „Gleichung“ wurde zwischen gelblichem Grün von 525 uu auf der einen Seite und grünlichem Blau von etwa 500—490 uu auf der anderen Seite des Streifs hergestellt. Bei Bestrahlung mit dem ungeschwächten Lichte hat das gelbliche (srün stärkere Wirkung als das grünliche Blau. Bei Herabsetzung der Lichtstärke des gelblichen Grün auf '/s (Sektorgrösse — 180 °) ist die Reaktionsgrösse auf beiden Seiten nicht merklich verschieden. Bei Herabsetzung der Lichtstärke des gelblichen Grün auf '/ı (Sektorgrösse — 90) ist die Reaktion hier deutlich geringer als bei Einwirkung des ungeschwächten grünlichen Blau. Bei einer dritten vergleichenden Bestimmung zwischen gelb- lichem Grün von 525 uu und einem Blau von etwa 470 uu ergab sich, dass der Reizwert des Blau etwas weniger als halb so gross war wie jener des gelblichen Grün. Raphael Dubois hatte (1893) aus Versuchen, die er an Pholas dactylus mit homogenen Lichtern anstellte, geschlossen, dass diese Muschel „est impressionnee par les memes couleurs que nous“. Er fand maximale Kontraktion Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 357 im Gelb des Spektrums. Im Hinblicke auf diese Angaben und die grosse Wichtigkeit der ganzen Frage für unsere Probleme habe ich die eben mitgeteilten messenden Versuche angestellt, die leicht die Irrigkeit jener Angaben von Dubois erkennen lassen. Bei einigen anderen Versuchen an verschiedenen Muschelarten begnügte ich mich mit qualitativen Bestimmungen. Vor dem Bassin wurde ein beträchtlich breiterer Kartonstreif wie bei den eben ge- schilderten Versuchen angebracht. Er reichte vom gelblichen Rot auf der einen bis zum reinen Blau auf der anderen ‘Seite. Wie nach dem Bisherigen zu erwarten war, erfolgte bei Belichten mit Blau starke, bei Belichten mit gelblichem Rot keine oder, bei sehr lichtstarkem Spektrum, geringfügige Reaktion. Entsprechende Versuche stellte ich mit wesentlich gleichen Ergebnissen auch mit passenden roten und blauen Gläsern an. Nach allen diesen Befunden ist es nicht mehr notwendige, darauf hinzuweisen, wie irrig es wäre, aus der stärkeren Wirkung solcher blauer Gläser zu schliessen, „dass die Strahlen vom stärker brechbaren violetten Ende des Spektrums, die chemisch wirksamen Strahlen, die stärkere Reiz- wirkung ausüben“. In besonderen Beobachtungsreihen untersuchte ich wieder die Wirkung des ultravioletten Lichtes mit den früher geschilderten Methoden (Quarzspektrum, Blauuviolglas mit und ohne Schwerstflintglas usw.). Alle Versuche ergaben über- einstimmend, dass ein Einfluss des ultravioletten Lichtes auf die Bewegungen der Siphonen unserer Muscheln nicht nachweisbar war. Im Quarzspektrum liess sich unschwer nachweisen, dass die Siphonen bei Übergang aus dem Ultraviolett ins Violett eingezogen werden. Endlich bemühte ich mich noch, zu zeigen, dass auch hier die photographische Methode zu messenden Untersuchungen gute Dienste wird leisten können. Die mir in Neapel zur Verfügung stehende Zeit gestattete mir leider nicht, diese Versuchsreihen in solehem Umfange, wie ich gewünscht hätte, durchzuführen. Die drei oberen Figuren auf Taf. X stammen von einer Psammobia, die ich im Rot, im Grün und im Blau des Spektrums aufnahm. Der Sipho hat sich im Grün am stärksten verkürzt, im Blau ist er deutlich länger, doch aber noch beträchtlich kürzer als im Rot. Eine zweite Serie (die sechs unteren Figuren auf Taf. X, eleichfalls von Psammobia) nahm ich wieder in ähnlicher Weise auf, wie bei den Cephalopoden (vgl. S. 337). Nach je einer Aufnahme 398 C. Hess: im Rot und im Blau wurden im gelblichen Grün vier Aufnahmen gemacht, eine erste ohne Episkotister, drei andere bei Vorhalten eines solchen mit Sektorengrössen von 240°, 120° und 60°. Man sieht wieder die Siphonen im ungeschwächten Gelblieherün am stärksten eingezogen. Selbst bei Herabsetzung der Lichtstärke des gelblichen Grün auf '/s sind die Siphonen hier nicht ganz so lang ausgestreckt wie im ungeschwächten Rot des Spektrums. Im un- geschwächten Blau sind die Siphonen etwas kürzer als in dem auf !/s abgeschwächten gelblichen Grün und etwas länger als in dem auf °/s abgeschwächten gelblichen Grün. Die Unvollkommenheit der Aufnahmen möge mit den damit verbundenen technischen Schwierigkeiten entschuldigt werden; da man die Tiere nicht in die gewünschte Lage bringen kann und sie gelegentlich, spontan oder von anderen gestossen, ihren Platz ändern, so ist es immer ein nicht eben häufiger Zufall, wenn ein Tier während der zu den Versuchen erforderlichen halben Stunde, ohne seine Lage zu ändern, die Siphonen in einer für die photographische Aufnahme geeigneten Stellung an der Glaswand liegen hat. Das für uns Wichtige ist aus den Bildern unschwer zu ersehen. Der Einfluss der Adaptation auf die uns interessierenden Vor- eänge ist schon aus dem Vorhergehenden ersichtlich. In besonderen Versuchsreihen suchte ich den Umfang der adaptativen Empfindliehkeitsänderungen messend zu bestimmen. Die Bedeutung, die dieser erste Nachweis einer optischen Adap- tation bei Fehlen von Augen, Stäbehen und Sehpurpur (s. unten) auch für unsere Auffassung der entsprechenden physiolo- gischen Vorgänge im Menschenauge haben muss, mag es recht- fertigen, wenn ich einzelne hierher gehörige Versuchsreihen etwas ausführlicher mitteile. Die folgenden Versuche wurden an einer Psammobia angestellt, die während einiger Stunden ihren Platz nicht änderte und deren Siphonen so an der Bassinwand lagen, dass sie bequem in stets gleicher Weise belichtet werden konnten. Das Bassin mit dem Tiere blieb während der ganzen Versuchsreihe unberührt an der gleichen Stelle vor dem Ausschnitte in der vorderen Wand des mehrerwähnten Tunnels. Zwischen Bassin und Ausschnitt befand sich ein grosser mattschwarzer Karton, der, wenn das Tier belichtet werden sollte, jeweils für 2—3 Sek. weggezogen wurde. Die ersten Versuche wurden am hell adaptierten Tiere vorgenommen. Zu dem Zwecke brachte ich über dem Bassin, ca. 30 em von der Psammobia entfernt, eine 25kerzige Mattelasbirne zum Glühen. Das Tier zog Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 359 zunächst seine Siphonen ein; nach einer Belichtung von 1—2 Min. waren sie wieder länger geworden. Nachdem ich in der angegebenen Weise das Tier eine Viertel- stunde lang bestrahlt und darauf die Birne über dem Bassin ab- gedreht hatte, wurde die 50 kerzige Birne im Tunnel zum Glühen gebracht. Zwischen je zwei Beobachtungen wurde, während das Bassin wieder durch den schwarzen Karton verdeckt war, die Lampe verschoben und jedesmal eine Pause von etwa "2 Miu. gemacht. Es ergab sich für das hell adaptierte Tier (die Versuche sind in der Reihenfolge verzeichnet, in der sie angestellt wurden): Abst. der 50kerzigen Lampe —= 25 cm. Bei Belichtung: kräftige Reaktion; Abst. der 50kerzigen Lampe = 40 em. Bei Belichtung: keine Reaktion; Abst. der 5Okerzigen Lampe —= 30 em. Bei Belichtung: Spur Reaktion; Abst. der 50kerzigen Lampe — 25 em. Bei Belichtung: kräftige Reaktion. Nun wird das Tier 10 Minuten dunkel gehalten. Danach er- gibt sich: Abst. der 50kerzigen Lampe — 100 em. Bei Belichtung: sehr lebhafte Reaktion; Abst. der 50kerzigen Lampe — 200 em. Bei Belichtung: noch lebhafte Reaktion; Abst. der 50 kerzigen Lampe — 300 em. Bei Belichtung: schwache, aber deutliche Reaktion. Das Tier wird nun abermals 10 Minuten im Dunkeln gehalten. Danach ergibt sich: Abstand der 50kerzigen Lampe —= 300 em. Bei Belichtung: starke Reaktion; Abstand der 5kerzigeen Lampe —= 300 cm. Bei Belichtung: deutliche, aber schwache Reaktion. Hierauf wird das Tier wiederum den Strahlen einer 30 em ent- fernten 25 kerzigen Glühlampe ausgesetzt, wie zu Beginn des Ver- suches; die Siphonen werden zunächst stark eingezogen, nach 1—2 Minuten stehen sie wieder etwa 1 cm vor (während sie vor- her, nach dem langen Dunkelaufenthalte, ca. 2—2,5 cm lang ge- wesen waren). Nach Bestrahlung während 10 Minuten werden die ° Versuche am Tunnel wieder aufgenommen. Es ergibt sich jetzt: 3650 GC. Hess: Abstand der 5Okerzigen Lampe = 100 em. Bei Belichtung: keine Reaktion; Abstand der 50kerzigen Lampe — 50 em. Bei Belichtung: keine Reaktion; Abstand der 5Okerzigen Lampe — 30 em. Bei Belichtung: unsicher, vielleicht ganz schwache Reaktion; Abstand .der 50 kerzigen Lampe — 20 em. DBei Belichtung: deutliche, ziemlich lebhafte Reaktion. Nach 2 Minuten Dunkeladaptation werden die Versuche wieder aufgenommen und zwar in der Weise, dass in Zwischenräumen von je 1 Minute beobachtet, dazwischen das Tier dunkel gehalten wird. Die letzte Beobachtung des hell adaptierten Tieres hatte um 10 Uhr 50 Min. stattgefunden. Das Tier blieb im Dunkeln bis 10 Uhr 52 Min. Nun ergab sich: Abstand der 50 kerzigen Lampe — 40 em. Bei Belichtung: starke Reaktion; 10 Uhr 53 Min.: Abstand der 50kerzigen Lampe — 1 m. Bei Belichtung: deutliche, aber ziemlich schwache Reaktion; 10 Uhr 54 Min.: Abstand der 50kerzigen Lampe — 2 m. Bei Beliehtung: deutliche, aber schwache Reaktion; 10 Uhr 55 Min.: Abstand der 50kerzigen Lampe = 3 m. Bei Belichtung: keine Reaktion. Nachdem das Tier wieder 1 Minute lang mit der 25 kerzigen Glühlampe bestrahlt war, hatte die 50kerzige Lampe in einem Ab- stande von 50 em keine Reaktion zur Folge. Nach einer halben Minute Dunkelaufenthalt war aus dem gleichen Abstande deutliche, aber schwache Reaktion auszulösen. Aus den mitgeteilten Versuchen ergibt sich also, dass für das durch Belichtung mit einer 25kerzigen Lampe in der angegebenen Weise hell adaptierte Tier die Reaktion bei Bestrahlung mit der 50 kerzigen Lampe aus einem Abstande von ca. 30—40 em an der Grenze der Wahrnehmbarkeit lag. Ich stellte nun einen Versuch in der Weise an, dass ich die 50kerzige Lampe in 3 m Abstand brachte, so dass jetzt die Lichtstärke bei Bestrahlung des Tieres ungefähr den hundertsten Teil der zur Reaktion beim hell adaptierten Tiere erforderlichen betrug. Es wurde nun nach erneuter Hell- adaptation durch Bestrahlung des Tieres mit der 25 kerzigen Lampe letztere rasch abgedreht und in Zwischenräumen von 30 Sek. der Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 361 Karton kurz weggezogen, um zu ermitteln, in welcher Zeit die Licht- empfindlichkeit der Psammobia durch Dunkelaufenthalt ungefähr das Hundertfache von jener des hell adaptierten Tieres erreichte. Nach 30, 60, 90 und 120 Sek. Dunkeladaptation war die 50 kerzige Lampe in 3 m Abstand noch ohne Wirkung. Nach 2/s Min. trat bei solcher Belichtung die erst schwache Reaktion auf; nach 3 Min. war sie wesentlich deutlicher, nach 4 Min. ausgesprochen, wenn auch noch nicht sehr hochgradig. Nun wurde das Tier eine halbe Stunde völlig dunkel gehalten, danach der Versuch mit einer 5 kerzigen Lampe fortgesetzt. Jetzt ergab sich: bei Abstand der Skerzigen Lampe = 300 em bei Belichtung: sehr schwache Reaktion; bei Abstand der 5kerzigen Lampe —= 250 em bei Belichtung: deutliche, aber nicht starke Reaktion; bei Abstand der Skerzigen Lampe —= 200 em bei Belichtung: ziemlich kräftige Reaktion. Der Versuch zeigt, dass die Lichtempfindlichkeit unserer hell adaptierten Muscheln unmittelbar nach Beginn der Verdunkelung verhältnismässig rasch und beträchtlich zunahm, so dass sie schon nach 2!/a Min. angenähert hundertmal grösser war, als zu Beginn der Dunkeladaptation. Weiterhin nahm die Lichtempfindlichkeit wesentlich weniger rasch zu; nach ca. 30 Min. Dunkeladaptation war sie erst um das ca. Zehnfache grösser als 2Y/e Min. nach Beginn der Dunkeladaptation. Diese Zahlen machen gewiss nicht auf all- gemeine Gültigkeit Anspruch, sind aber als Beispiel für den Umfang der adaptativen Änderungen der Lichtempfindlichkeit bei einem normalen augenlosen Tiere wohl von Interesse. . Bei Beurteilung der angeführten Werte ist Folgendes zu berücksichtigen. Nach den bisher vorliegenden Untersuchungen wird angenommen, dass die ganze Oberfläche der Siphonen angenähert gleichmässig für Licht empfind- lich sei. Es können also bei lang ausgestrecktem Sipho mehr empfindliche Ele- mente von Licht getroffen werden als bei mehr oder weniger eingezogenem, ähnlich so, wie etwa am Menschenauge bei durch Lichteinfall bereits verengter Pupille weniger Licht zur Netzhaut gelangen kann als bei weiter. So wenig aber die umfangreichen adaptativen Änderungen im Menschenauge allein auf Wechsel der Pupillenweite zurückzuführen sind, so wenig können, wie eine einfache Über- legung zeigt, die adaptativen Vorgänge bei unseren Muscheln allein auf Ver- schiedenheit der Grösse der jeweils dem Lichte zugänglichen Siphopartien be- zogen werden. 362 C. Hess: Bei einer Solen siliqua war nach Helladaptation von 10 Min. Annäherung der 50 kerzigen Lampe auf 30 em nötig, um deutliche Reaktion auszulösen. Nach Dunkeladaptation von °/a Stunden reagierte das Tier noch lebhaft bei 300 em Abstand der gleichen Lampe; die adaptative Empfindlichkeitssteigerung betrug also auch hier jedenfalls mehr als das Hundertfache. Von zwei gut hell adaptierten Exemplaren von Pholas daetylus zeigte die eine bei 10 em Abstand der S0kerzigen Lampe eben noch Reaktion, die andere bei 20 em keine, bei 15 em eben merkliche Reaktion. Nach Dunkelaufenthalt von einer halben Stunde war bei beiden Tieren die Grenze der Reaktion bei etwa 250 em Abstand der 5Okerzigen Lampe. Dies würde also einer Zunahme der Lichtempfindlichkeit um das etwa 250Fache bzw. 600 Fache entsprechen. Die Wahrnehmung von Änderungen in der Färbung bei Dunkel- aufenthalt (etwa durch Ansammlung von Sehpurpur) wäre bei den weisslichen, unpigmentierten Siphonen von Psammobia am ehesten möglich; ich brachte daher einige solche Tiere für eine halbe Stunde ins Helle, andere ebensolange ins Dunkle. Von letzteren wurden darauf die Siphonen bei dunkelrotem Lichte möglichst rasch präpariert und mit jenen der hell adaptierten Tiere bei gedämpftem, eben zur Beobachtung genügendem Lichte verglichen. Ich konnte dabei keine Farbunterschiede zwischen den Hell- und den Dunkel- siphonen wahrnehmen. Auch sonst habe ich bei den von mir unter- suchten Muschelarten nach längerem Dunkelaufenthalte bisher nichts auf Sehpurpur Deutendes finden können. Schluss. Mit den hier entwickelten Methoden ist es möglich geworden, auf eine Reihe bisher vielfach für unlösbar gehaltener Fragen Ant- wort zu erhalten. Für die viel erörterte Frage nach dem Sehen der niederen Tiere ist in erster Linie die merkwürdige Tatsache von Interesse, dass bei allen bisher untersuchten Wirbellosen die Kurven der relativen Reizwerte der verschiedenen homogenen Lichter annähernd oder ganz übereinstimmen mit der Helliskeitskurve für den total farbenblinden Menschen bei jeder Lichtstärke und für den dunkel adaptierten normalen Menschen bei entsprechend liehtschwachem Reizlichte. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 363 Zum Nachweise dieser Tatsache konnten wir bei den bisher untersuchten Arten vier verschiedene Methoden benützen. Die Ver- teilung der zum Hellen gehenden Tiere im Spektrum brachte bei einer Reihe von Wirbellosen und bei jungen Fischen, die Pupillen- reaktion bei erwachsenen Cephalopoden wertvolle Ergebnisse. Die durch Bestrahlung mit verschiedenen homogenen Lichtern ausgelösten fluchtartigen Bewegungen gaben uns über den Lichtsinn bei Amphioxus, die Retraktionsbewegungen der Siphonen über jenen bei siphoniaten Muscheln wichtige Aufschlüsse. Die auf so verschiedenen Wegen erhaltenen Ergebnisse zeigen in allen hier wesentlichen Punkten überraschende Übereinstimmung. Bei den von mir angestellten Versuchen verhielten sich die bisher beobachteten, Augen besitzenden Wirbellosen wie auch die Fische durchweg so, wie es der Fall sein muss, wenn die von Strahlen verschiedener Wellenlänge in der nervösen Substanz ihres Sehorgans ausgelösten physischen Regungen wie auch deren psychische Korre- late ähnliche oder dieselben sind wie jene, die die ejeichen Strahlen im total farbenblinden uud die entsprechend abgeschwächten im dunkel adaptierten normalen Menschenauge hervorrufen. Ja, hätte jemand eine derartige, zunächst gewiss fernliegende und . unwahrscheinliche Annahme machen wollen, so hätte sich z. B. für die Tiere, von welchen man bisher fast nur wusste, dass sie „zum Lichte“ gehen, das von uns gefundene Verhalten in allen wesentlichen Punkten voraussagen lassen. Bisher waren keine Tatsachen bekannt, die als genügender Beweis für die Annahme einer der menschlichen ähnlichen Hellig- keitswahrnehmung bei den in Rede stehenden Wirbellosen angesehen werden konnten. Wurde doch J. Loeb durch seine Be- obachtungen zu der Meinung geführt, dass „die Tendenz der In- sekten und anderer Tiere, sich zur Lichtquelle zu bewegen, nicht ein Ausdruck einer Vorliebe für Licht ist, sondern nur eine mechanische Liehtwirkung von derselben Art wie die Krümmung heliotropischer Stengel gegen die Lichtquelle“. Eine derartige Auffassung ist heute nicht mehr haltbar; es genüge hier die Anführung dreier wichtiger Punkte, in welchen sie den Tatsachen widerspricht: Nach der Hypothese von der Identität der tierischen Bewegungen zum Lichte mit dem pflanzlichen Heliotropismus sollte das Licht „die Tiere zwingen, ihren Kopf der Lichtquelle zuzukehren und 364 C. Hess: dann in dieser Richtung sich fortzubewegen, wobei sie natürlich sich zur Lichtquelle hinbewegen müssen“; sie sollten sich im wesentlichen bewegen, „als ob sie am Lichtstrahl aufgespiesst wären“. Bei unseren Versuchen mit homogenen Lichtern liessen die Tiere im allgemeinen ein derartiges Verhalten nicht erkennen: Die kleinen Muschelkrebse z. B. (vel. S. 296), die im Dunkeln am Boden ihres‘ Behälters hin und her schwimmen, bleiben auch am Boden, wenn die Strahlen des Spektrums von oben einfallen, sie eilen jetzt angenähert senkrecht zur Richtung der einfallenden Strahlen von beiden Enden ihres Behälters zum Gelbgrün und Grün des Spektrums. Die Daphnien, Podopsis, Atylus und die Loligo- larven schwimmen in ihren Bassins, durch deren Seitenwände die Strahlen des Spektrums einfallen, senkrecht zur Richtung dieser Strahlen und sammeln sich im Gelbgrün und Grün des Spektrums, ganz anders, als es-nach jener Hypothese von der richtenden Wirkung des Lichtstrahles zu erwarten wäre; und auch die von uns unter- suchten Fliegen und Mücken, Käfer und Raupen bewegen sich in ihren von homogenen farbigen Lichtern durchstrahlten Behältern nicht, als ob sie am Lichtstrahle aufgespiesst wären, sondern So, wie total farbenblinde Menschen sich bewegen würden, die stets die für sie jeweils hellsten Stellen im Spektrum aufsuchen wollten. Als weitere Stütze für seine Auffassung führte Loeb die Be- obachtung an, dass die Tiere, die infolge jenes Zwanges sich zur Liehtquelle beweesten, dies auch dann tun sollten, wenn sie dabei aus dem Hellen ins Dunkle gelangten. Die genauere Analyse des fraglichen Versuches (s. S. 287) hat uns gezeigt, dass er nicht in dem von Loeb gewollten Sinne verwertet werden kann. Ferner ist für jene Hypothese wesentlich die (auf Versuche mit roten und blauen Gläsern gestützte) Annahme, „dass die Be- wegungen der Tiere zum Licht im grossen und ganzen dieselbe Abhängigkeit von der Wellenlänge des Lichtes zeigen wie die heliotropischen Krümmungen der Pflanzenstengel zum Licht“. Unsere Untersuchungen an Fischen, Cephalopoden, zahlreichen Insekten- und Krebsarten haben gezeigt, dass auch dies nicht zutrifft, und wie der Irrtum entstehen konnte. Bei allen bisher von mir untersuchten Tieren, die zum Lichte gehen, finden wir die durch verschiedenfarbige Liehter ausgelösten Regungen der nervösen Substanz des Sehorgans in ähnlicher oder gleicher Weise von der Wellenlänge abhängig; alle unterscheiden Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 365 sich von den heliotropischen Pflanzen in charakteristischer Weise, indem sie sich in der Gegend des Gelbgrün und Grün des Spektrums ansammeln, während für die Pflanzen das Maximum der heliotropischen Wirkung im allgemeinen weiter, zum Teile wesentlich weiter nach dem kurzwelligen Ende liegt. Schon hier begegnen wir also einem ein- schneidenden Unterschiede zwischen den heliotropischen Krümmungen und den Bewegungen der Tiere zum Lichte. Dass der merkwürdigen Ansammlung der jungen Fische und vieler wirbelloser Tiere im Gelbgrün und Grün des Spektrums eine Helligekeitswahrnehmung zugrunde liegt, die anscheinend jener im total farbenblinden Menschenauge ähnlich oder gleich ist, wird auch durch Folgendes wahrscheinlich gemacht. Zur Untersuchung des Lichtsinnes in der Wirbeltierreihe ging ich vielfach so vor, dass ich die Futteraufnahme in verschiedenen homogenen Lichtern prüfte. Ich konnte so nachweisen, dass von den Amphibien bis zu den Säugern alle untersuchten Tiere das Spektrum am langwelligen Ende merklich ebensoweit sehen wie wir, dass aber für Fische die langwelligen Strahlen auffallend vielkleineren Hellig- keitswert habenalsfüralleanderen Wirbeltiere: Fische nahmen im Rot des Spektrums befindliches Fleisch auch dann nicht wahr, wenn es uns ziemlich schön rot erschien, schossen aber sofort darauf los, wenn es sich im Grün oder Gelb des Spektrums befand !). Dies entspricht durchaus dem, was zu erwarten ist, wenn die Helligkeitswahrnehmung bei den Fischen im Wesentlichen eine ähn- liche oder die gleiche ist wie beim total farbenblinden Menschen. Das Verhalten jugendlicher Fische im Spektrum steht damit in Ein- klang: die für sie hergestellten Gleichungen zeigen weitgehende Übereinstimmung mit den Helligkeitsgleichungen für den total farben- blinden Menschen, die zum Lichte schwimmenden Fische sammeln sich im Spektrum vorwiegend in der Gegend des Gelbgrün; die hiernach nächstliegende Annahme, dass auch die Verteilung der Tiere im Spektrum durch ihre Helligkeitswahrnehmung bestimmt wird, entspricht sämtlichen bisher gefundenen Tatsachen. Auch die interessanten, umfangreichen adaptativen Änderungen der Liehtempfindlichkeit, die wir bei unseren Tieren nachweisen und bis 1) Genaueres vgl. Hess, Untersuchungen über den Lichtsinn bei Fischen. Arch. f. Augenheilk. Bd. 64 Ergänzungsheft. 366 C. Hess: zu einem gewissen Grade messend bestimmen konnten, stehen wit einer solehen Auffassung gut in Einklang. Im Hinblicke auf gelegentlich geäusserte Bedenken, von Hellige- keitswahrnehmungen bei den fraglichen Tieren zu sprechen, „als ob diese mit menschlichen Empfindungen ausgestattet seien“, mögen noch folgende Erwägungen Platz finden. Wenn der Affe das Spek- trum am langwelligen ‚und am kurzwelligen Ende merklich genau so weit sieht wie wir, wenn sein dunkel adaptiertes Auge im licht- schwachen Spektrum die ausgestreuten Futterkörner nur noch da wahr- nimmt, wo sie auch unserem dunkel adaptierten Auge nur eben noch sichtbar sind, so halten wir es wohl mit Recht für wahrscheinlich, dass beim Affen die Helliekeitswahrnehmung eine ähnliche oder die gleiche ist wie bei uns. Bei den Amphibien treffen wir im wesent- lichen ähnliche Verhältnisse. Die bei den Reptilien und Vögeln ge- fundenen, wesentlich in einer Verkürzung des kurzwelligen Spektrum- endes zum Ausdrucke kommenden Eigentümlichkeiten entsprechen der Vorlagerung farbiger Ölkugeln vor den optischen Empfangs- apparat: die Tiere verhielten sich bei allen unseren Versuchen so, wie ein durch orangefarbige Gläser sehender normaler Mensch. Die Unterschiede zwischen dem Verhalten der Fische und jenem der übrigen Wirbeltiere entsprechen in allen bisher festgestellten Beziehungen den Unterschieden zwischen der Helliskeitswahrnehmusg eines total farbenblinden und der eines normalen, hell adaptierten Menschenauges. Für die bisher untersuchten, Augen besitzenden Wirbellosen konnten wir in ihrem Verhalten gegenüber verschiedenen farbigen Lichtern in allen hier wesentlichen Punkten weitgehende Übereinstimmung mit dem der Fische nachweisen. Danach ist wohl die Annahme die wahrscheinlichste, dass auch die vom Lichte in der nervösen Substanz des Sehorganes ausgelösten physischen Regungen und ihre psychischen Korrelate bei diesen Wirbellosen ähnliche oder die gleichen sind wie bei den Fischen. Sämtliche bisher von mir gefundenen Tatsachen entsprechen einer solchen Annahme, für die wir eine weitere, besonders wertvolle Stütze in dem Verhalten der Pupillenreaktion bei den Cephalopoden gefunden haben. Für die Frage nach der Entwicklung dieser Eigentümlichkeiten des Sehens ist das Verhalten der augenlosen Muscheln von besonderem Interesse. Für die hier besprochenen, so mannigfachen und wunderbaren motorischen Vorgänge, die, durch verschiedenfarbige Lichter aus- gelöst, bei allen von uns untersuchten Wirbellosen das gleiche, streng | Pflüger’s Archiv. für die ges. Physiologie. Rd. 136. TAFEL V. Podopsis = Äußerstes Blau Grün Gelb Rot Big = Äußerstes Blau Grün Gelb Rot Fig. 2 Äußerstes Blau Grün Gelb Rot Fig. 3 Fig. 4 Atylus Verlag von Martin Hager, Bonn. LICHTDRUCK VON RÖMMLER & JONAS, DRESDEN, Pflüger’s Archiv für die ges. Physiologie. Bd. 136. TAFEL Vi. Gelb Äuferstes Rot Rot ER ee Gelb Rot Schwach rötl. Gelb Gelbgrün Verlag von Martin Hager, Bonn. LICHTDRUGCK VON RÖMMLER & JONAS, DRESDEN Pflüger’s Archiv für die ges. Physiologie. Bd. 136. TABRBRNMII Dunkel Schwach rötliches Gelb Rlau Grün Gelb Rot Grün Rlau Verlag von Martin Hager, Bonn. . LICHTDRUCK VON RÖMMLER & JONAS, DRESDEN. ZZ —————— ) Be) 2 ’ _Pflüger’s Archiv für die ges. Physiologie. Rd. 136. TAFEL VII, Äußerstes Gelb Rot en, $ Be 9 Fe Gelbgrün % (= 180° Ggr.) Gelbgrün 1 Gelbgrün % (= 60° Gelbgrün) (= 180° Gelbgrün) (= 240° Gelbgrün) Verlag von Martin Hager, Bonn. LICHTDRUCK VON RÖMMLER & JONAS, DRESDEN Pflüger’s Archiv für die ges. Physiologie. Rd. 136. TAFEL IX. Äußerstes Rlau Grün Gelb Rot Loligo- = 35 A Rlau Grün Gelb Rot larven er BE Ta ar a Th Pr > be % Br WEN, AR BE Verlag von Martin Hager, Bonn. LICHTDRUCK VON RÖMMLER & JONAS, DRESDEN, "Pflüger’s Archiv für die ges. Physiologie. Rd. 136. TAFEL X. Psammobia _ _— Rot Gelbliches Grün Rlau Gelbl. Grün '/, Gelbl. Grün V/, Gelbl. Grün ?/,; E I60W7EDISE:) (= 120° Episc.) ( 240 ° Episc.) Verlag von Martin Hager, Bonn. LICHTERLCK YON AÖMMLER & JONAS, ER=ZSTEN fr ” Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. 367 gesetzmässige Verhalten zeigen, ist das Verständnis angebahnt durch den Nachweis, dass die relativen Reizwerte der verschiedenen farbigen Strahlungen hier ähnliche oder gleiche Abhängigkeit von der Wellen- länge zeigen, wie die Helligkeitswerte für das total farbenblinde und das dunkel adaptierte normale Menschenauge, deren Kenntnis wir Ewald Hering’s klassischen Untersuchungen verdanken. Erklärung der Abbildungen auf Tafel V—X. Tafel V. Fig. 1 und 2. Ansammlung der Podopsis im Gelbgrün des Spektrums (vgl. S. 314). Fig. 3 und 4. Ansammlung der Atylus in den von gelbgrünem Lichte bestrahlten Bassinteilen (vgl. S. 323). Tate,kıN: Eine Sepia in den verschiedenen Lichtern des Spektrums. Die Stellen des äussersten Rot, des reinen Gelb, Grün und Blau des Spektrums sind an einem Streifen am oberen Bassinrande verzeichnet; starke Pupillenverengerung im Gelb- grün (vgl. S. 334). Tafel VI. Sepia im Dunkeln und im Gelb, Grün und Blau des Spektrums. Tafel VII. Die drei oberen Abbildungen entsprechen Aufnahmen im ungeschwächten votgelb und Gelbgrün des Spektrums, ferner in dem durch Episkotister auf "/e geschwächten Gelberün. Auch in letzterem ist die Pupille noch wesentlich enger als im ungeschwächten Rotgelb. Die fünf unteren Figuren zeigen Aufnahmen im schwach rötlichen Gelb und im Blau, ferner drei Aufnahmen im gelblichen Grün bei Herabsetzung von dessen Lichtstärke auf '/s bzw. 2 und °3 mittels Episko- tisters (vel. S. 337). Tafel R. Die drei oberen Figuren zeigen eine Eledone im Rot, Gelb und Grün des Spektrums. Die beiden unteren Figuren zeigen Lolisoembryonen im Spektrum; die Ansammlung vorwiegend in der Gegend des Gelbgrün ist deutlich (vgl. 8. 339). Tafel X. Die drei oberen Figuren zeigen den Sipho einer Psammobia im Rot, Grün und Biau des Spektrums. Auf den sechs unteren Figuren sieht man zum Teile zwei Siphonen. Maass- gebend ist hier wesentlich das Verhalten des vorderen, dem Lichte un- ‚mittelbar ausgesetzten Sipho. Die drei ersten Figuren zeigen diesen im un- geschwächten Rot, gelblichen Grün und Blau des Spektrums, die drei unteren im gelblichen Grün bei Abschwächung desselben auf !/s bzw. !/s und ?/s. Über bzw. unter den Figuren sind zur leichteren Orientierung jedesmal die Konturen des Sipho nach Pausen von der Originalplatte gezeichnet (vgl. S. 357). 368 Adolf Basler: Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. Von Dr. Adolf Basler, Privatdozent und Assistent am physiologischen Institut in Tübingen. (Mit 10 Textfiguren.) In der Fähigkeit, eine Bewegung, die sich ausserhalb unseres Körpers abspielt, wahrzunehmen, zeigt die Haut mehrfache Analogien zu einem anderen Sinneswerkzeug, das in noch höherem Maasse mit dem Raumsinn ausgestattet ist: dem Auge. Da das Auge schon viel häufiger zum Gegenstand von Unter- suchungen gemacht wurde, so sei mir gestattet, zunächst dieses Organ zum Vergleich heranzuziehen. Wenn ein Objekt angesehen werden soll, dann lassen wir dasselbe sich nicht auf einer beliebigen Stelle der Netzhaut abbilden, sondern wir drehen das Auge so, dass das Netzhautbild auf einen ganz bestimmten Bezirk des Augen- hintergrundes zu liegen kommt, nämlich auf die Macula lutea, den Teil der Netzhaut, mit dem wir am deutlichster sehen. Etwas Ähnliches lässt sich auch für die Haut zeigen. Wie die Retina, so besitzt auch die Haut bestimmte Stellen, an denen die Sinnes- eindrücke am besten erkannt und verwertet werden können, und welche vermöge ihrer Lage zum Tasten am geeignetsten sind. Wenn wir mit Hilfe des Tastgefühls einen Gegenstand unter- suchen, dann berühren wir die Oberfläche desselben nieht mit be- liebigen Teilen unseres Körpers, sondern mit den Fingerbeeren, d. h. mit den Volarflächen der Endphalangen. Wir können deshalb diese Hautteile zunächst ansehen als spezifische Tastflächen. Die- selben zeichnen sich in anatomischer und physiologischer Hinsicht von anderen Körperstellen aus. So sind, um nur einige Punkte hervorzuheben, die Fingerbeeren stets frei von Haaren. Das Unter- scheidungsvermögen ist, abgesehen von der Zungenspitze, das beste Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 369 des ganzen Körpers. Schon Weber!) hatte gefunden, dass an den Fingerkuppen zwei Zirkelspitzen als getrennt erkannt oder doch wenigstens als längliche Berührungsfläche empfunden wurden, wenn sie eine Pariser Linie (= 2,2 mm) voneinander entfernt waren. Bei verschiedenen Personen schwankt dieser Wert nach Levy’) zwischen 2 und 4 mm. Mit der grossen Empfindlichkeit dieser Stelle geht parallel die gedrängte Lage der Meissner’schen Tast- körperchen. Hier soll auch eine Berührung bei geringerem Eindruck der Haut gefühlt werden als an anderen Stellen des Körpers?). Mit der relativ grossen Elastizität der Tastflächen hängt wahrschein- lich zusammen, dass die Entlastung der Fingerspitze bedeutend sicherer erkannt wird als z. B. am Arm, wenn ein Gewicht, welches einige Zeit gedrückt hat, entfernt wird ®). Was für die Hand die Fingerbeeren, das sind für den Fuss die Zehenspitzen, wenn auch die Empfindlichkeit derselben für räum- liche Wahrnehmungen eine geringere ist. Nach Weber beträgt die eben erkennbare Distanz zweier Zirkelspitzen fünf P.-L. — 11,2 mm). Dabei sollen individuelle Schwankungen zwischen 5 und 16 mm vor- kommen’). Wenn wir den Fussboden abtasten wollen, so verwenden wir stets dazu die Zehenspitzen, nicht den ganzen Fuss. Obgleich nun alle Finger- und Zehenspitzen denselben anatomischen Bau und auch die ähnlichen physiologischen Eigenschaften besitzen, werden zum gewöhnlichen Tasten doch nicht alle Finger in der gleichen Weise verwendet, sondern in der Regel nur der Daumen, der Zeige- und der Mittelfinger. Ich gab einer grossen Zahl von Personen bei ver- schlossenen Augen verschieden geformte kleinere Gegenstände in eine Hand und liess sie dieselben beschreiben. Dabei wurden die Objekte fast ausnahmslos nur mit den genannten Fingern befühlt, was vielleicht damit zusammenhängt, dass diese Finger auch zum l) E. H. Weber, Der Tastsinn und das Gemeingefühl. R. Wagner’s Handwörterb. d. Physiol. Bd. 3 Abt. 2 S. 481 (539). Braunschweig 1846. 2) S. Levy, Der Raumsinn der Haut S. 23. Inaug.-Diss. München 1891. 3) G. Sergi, Über einige Eigentümlichkeiten des Tastsinns. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane Bd. 3 S. 175 (183). 1892. 4) M.v. Frey, Untersuchungen über die Sinnesfunktionen der menschlichen Haut. Abhandl. d. sächs. Gesellsch. d. Wissensch., math.-phys. Klasse Bd. 23 S. 169 (181 u. 185). 1897. 9) S. Levy, l. c. S.28. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 24 < 79 Adolf Basler: (% Greifen am meisten gebraucht werden. In einigen Fällen wurde auch der vierte Finger mit verwendet, aber nicht zum Tasten, sondern um dem Gegenstand eine andere Stellung zu geben. Dünne Objekte, wie z. B. Münzen, werden gewöhnlich mit Daumen und Mittelfinger von beiden Seiten gefasst, während der Zeigefinger den Rand abtastet. ; Wenn es sich darum handelt, die Oberfläche eines feststehenden Objektes abzutasten, so wird dazu in der Regel der Zeigefinger be- nutzt. Am besten lassen sich derartige Beobachtungen ausführen bei denjenigen Personen, welche auf das Tastgefühl am meisten angewiesen sind: bei den Blinden. Auch die Blinden verwenden zum Lesen der Brailleschrift fast immer den Zeigefinger, wobei die übrigen Finger nur die Führung erleichtern. In der Regel werden zum Lesen beide Zeigefinger verwendet. Dass die Blinden sich dabei ausschliesslich oder fast ausschliesslich des Zeigefingers bedienen, erkennt man daraus, dass sie gewöhnlich gar nicht, imstande sind, mit der Tastfläche eines anderen Fingers, z. B. des kleinen, die Buchstaben zu entziffern. In ähnlicher Weise kann man sieh auch leicht überzeugen, dass beim Abtasten kleinerer Objekte mit dem entblössten Fusse nur die grosse, die zweite und unter Umständen noch die dritte Zehe verwendet wird. Derartige Versuche sind allerdings bei modernen Kulturvölkern, wo der Fuss beständig bekleidet ist und deshalb zum Betasten von kleinen Gegenständen nicht verwendet werden kann, nicht durchaus einwandfrei und aus demselben Grunde auch ohne grösseres Interesse. Aber nicht alle Teile der Haut, die ähnlich gebaut sind wie die Fingerbeeren, dürfen als Tastflächen bezeichnet werden; dahin gehört z. B. der Daumenballen oder die Hautpartien über den Köpfehen der Metakarpalknochen. Denn diese Teile werden beim 'absichtlichen Tasten nie verwendet. Nun lässt sich nicht leugnen, dass diese Stellen auch ein geringeres Unterscheidungsvermögen besitzen als die Fingerspitzen, aber mit einer eben erkennbaren Spitzendistanz von vier P.-L. = 9 mm über dem Metakarpus des Daumens und drei P.-L. — 6,7 mm!) über den Köpfchen der Metakarpalknochen 1) Es mag vielleicht auffallen, dass zur Beurteilung der grösseren oder kleineren Empfindlichkeit der Haut immer nur die sogenannte Simultanschwelle herangezogen wurde und noch dazu die ältesten Angaben, nämlich die von Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 371 der anderen Finger sind diese Flächen empfindlicher als die Zehen- spitzen, die als Tastapparate aufgefasst werden müssen. Die Finger werden aber offenbar der leichteren Beweglichkeit wegen vor- gezogen. Andererseits wird mitunter mit Körperteilen getastet, die nicht als spezifische Tastflächen bezeichnet werden können. So sah ich eine Blinde, welche die Zungenspitze dazu benutzt, um beim Ein- fädeln einer Nähnadel das Öhr zu finden, und die mir dieses Experiment mit grosser Geschicklichkeit vormachte. Dass die Zunge zwei Zirkelspitzen getrennt empfindet, die nur Y/s P.-L. = 1,1 mm voneinander entfernt sind, war schon Weber!) bekannt. Bei aktiver Bewegung ist die Feinheit der Tastempfindung an der Zungenspitze, wie Kassowitz und Schilder?) fanden, ebenfalls grösser als an allen anderen Stellen der Körperoberfläche; in Über- einstimmung damit sind auch die einzelnen Tastpunkte am empfind- lichsten®). Und doch wird, glaube ich, niemand deswegen die Zungenspitze als spezifische Tastfläche bezeichnen. Diese Auseinandersetzung schien mir wichtig, damit ein für allemal festgelegt ist, was unter eigentlichen Tastflächen verstanden werden soll. Meine Untersuchungen beziehen sich fast alle auf eine eigentliche Tastfläche, und zwar auf die Fingerbeere des linken Index; nur zum Vergleich wurden dann und wann andere Hautstellen mit einbezogen. E.H. Weber. Dies geschah deshalb, weil die für mich in Betracht kommenden Hautteile bis jetzt nur auf ihre Simultanschwelle untersucht sind. Die ur- sprünglichen Weber’schen Befunde habe ich zugrunde gelegt, weil die zahl- reichen späteren Prüfungen der Simultanschwelle im wesentlichen doch nur die klassischen Untersuchungen von Weber bestätigen. l)E. H. Weber,l.c. 2) K. Kassowitz, und P. Schilder, Einige Versuche über die Feinheit der Empfindung bei bewegter Tastfläche. Pflüger’s Arch. Bd. 122 S. 119 (126). 1908. 3) F. Kiesow, Über die Tastempfindlichkeit der Körperoberfläche für punktuelle mechanische Reize. Zeitschr. f. Psych. u. Physiol. d. Sinnesorgane Bd. 35.8. 234 (247). 1904. 24 * 372 Adolf Basler: Wie gross muss die Exkursion einer Bewegung sein, damit sie mit den Tastflächen der Finger erkannt wird? Hall und Donaldson!) liessen einen Stift mit verschiedener Geschwindigkeit und in verschiedenen Richtungen über die Haut gleiten und konstatierten, wie weit er wandern musste, um eine deutliche Empfindung der Bewegung und auch ihrer Richtung zu veranlassen. Dabei fanden sie, dass die Geschwindiekeit nur einen geringen Einfluss auf die Grössenschwelle der Exkursion hat. Auf diese Weise wurde die obere und die untere Extremität, der Rücken und die Stirn untersucht. Mit den Finger- und Zehenspitzen wurden keine Versuche ausgeführt. Ich legte mir nun die Frage vor: Wie gross muss die Exkursion einer Bewegung sein, damit die Verschiebung von den eigentlichen Tastflächen, speziell den Fingerbeeren, erkannt wird? Die Versuche, die ich zur Entscheidung dieser Frage anstellte, wurden an einer auderen Stelle ausführlich beschrieben ?). Sie seien deshalb hier nur in aller Kürze erwähnt. Ein senkrecht nach oben stehender Stift aus Hartgummi, dessen obere Fläche einen Durch- messer von ungefähr I mm hatte, wurde durch eine geeignete Vor- richtung um sehr geringe, gleichzeitig aber genau bestimmbare Beträge verschoben. Diese Vorrichtung bestand darin, dass der Stift am kurzen Hebelarm eines einarmigen Hebels angebracht war, während der lange Arm länes einer Skala verschoben werden konnte. Die zu unter- suchende Körperstelle wurde über dem Hartgummistift fixiert, so dass eine Berührung stattfand. Durch eine besondere Anordnung war dafür gesorgt, dass der Druck, den der Hartgummistift ausübte, stets gleich gross war und beliebig variiert werden konnte. Mit dieser Einrichtung wurden nun zahlreiche Versuche vor- senommen, bei denen mit dem Stift sehr kleine, aber verschieden grosse Bewegungen ausgeführt wurden, die mit der Spitze des Zeige- fingers gefühlt werden mussten. Aus solchen Sensibilitätsprüfungen ergab sich, dass mit Hilfe der Zeigefingerspitze von den meisten Personen eine Bewegung er- kannt wurde bei einer Exkursion von 0,02 mm, nicht mehr dagegen 1) G. St. Hall and H. Donaldson, Motor Sensations on the skin. Mind. vol. 10 p. 557. 1885. 2) A. Basler, Über die Grösse der mit der Haut eben wahrnehmbaren Bewegungen. Pflüger’s Arch. Bd. 132 S. 494. 1910. Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 373 bei 0,01 mm. Diese Verschiebungen wurden ausgeführt bei einem Druck von 5 g und 10 g. Die Leistung der Haut erwies sich demnach ebensogut wie die der Augen bei einer Distanz von 30 em; denn bei dieser Entfernung kann eine Be- wegung von 2/ıoo mm, wie ich früher gezeigt habe!), gerade noch gesehen werden. Bei Versuchen, die zum Vergleich am Arm angestellt wurden, liess sich in der Regel die Bewegung erkennen bei einer Exkursion von 1 mm. Wenn Hall und Donaldson?) die Verschiebung am Arm erst nach einer zurückgelegten Strerke von 6—7 mm erkannten, so mag das damit zusammenhängen, dass ich die Bewegung oszilla- torisch ausführte, wobei für jede Beobachtung etwa zehn Einzel- verschiebungen erfolgten, während bei Hall und Donaldson die Lageveränderung nur ein einziges Mal stattfand. Viel schlechter waren die Ergebnisse, wenn es sich darum handelte, mit der Fingerkuppe die Riehtung der Bewegung zu erkennen. Dazu war nämlich eine Exkursion von 0,5, in vielen Fällen sogar bis zu 3 mm notwendig. Zu dieser Untersuchung wurde einfach der beschriebene Apparat oder ein diesem ähnlich gebauter in verschiedene Stellungen gebracht, so dass der Stift sich das eine Mal etwa von rechts nach links bewegte, ein anderes Mal in der Richtung der Fingerachse. Die Versuchsperson musste dabei durch Befühlen mit dem Finger die Richtung angeben können. Was den Mechanismus anlangt. mit dem die Haut die Bewegung empfindet, so sei zunächst daran erinnert, dass die Haut übersät ist mit Punkten, welche der Tastempfindung dienen, und welche als Tastpunkte?) bezeichnet werden, während die dazwischen liegenden Hautpartien für Tastreize unempfindlich sind. Deshalb wird man in erster Reihe versucht sein, auch das Erkenuen der Bewegung in Zusammenhang zu bringen mit diesen Tastpunkten. Nun ist aber zu berücksichtigen, dass wir über die Verteilung der Tastpunkte an 1) A. Basler, Über das Sehen von Bewegungen. II. Mitt. Die Wahr- nehmung kleinster Bewegungen bei Ausschluss aller Vergleichsgegenstände. Pflüger’s Arch. Bd. 124 S. 313 (325). 1908. 2) G. St. Hall and H. Donaldson, Motor sensations on the skin. Mind. vol. 10 p. 557 (563). 1885. | 3) Hinsichtlich der Bezeichnung Tastpunkte vgl. F. Kiesow, Über Ver- teilung und Empfindlichkeit der Tastpunkte. W. Wundt’s Philosoph. Studien Bd. 19 S. 260 (267). 1902. 374 Adolf Basler: den spezifischen Tastflächen so gut wie gar nichts wissen, denn sie stehen so dicht, dass sie bei der Derbheit der sie bedeckenden Haut nieht einzeln gereizt werden können). Es lässt sieh nur — aller- dings mit grosser Wahrscheinlichkeit — vermuten, dass sie überein- stimmen mit der Verteilung der Meissner’schen Körperchen ’?). Ist diese Auffassung richtig, dann lässt sich eine Angabe von Meissner?) verwerten, welcher bei einem erwachsenen Mann im mittleren volaren Teil des Zeigefingerendgliedes im Gebiete einer Quadratlinie (= 5 qamm) 108 Tastkörperchen zählte. Auf 1 qmm kamen in diesem Falle 21 Körperchen zu liegen, so dass ihr durchschnittlicher Abstand !/s bis "/k mm betrug. Nun wissen wir aber, dass die Cutispapillen lediglich längs den Epidermisleistehen angeordnet sind. Meissner?) fand auf Schnitten, die senkrecht zu den Epidermisleistehen geführt und eine Linie (= 2,2 mm) lang waren, ziemlich regelmässig 4—5 Tastkörperehen. Auf 1 mm ent- fallen also in der zu den Leisten senkrechten Richtung rund zwei sen- sible Papillen, so dass wir uns in einem Quadrat von 1 mm Seiten- länge mit annähernder Genauigkeit 20 Tastkörperchen in zwei Reihen zu je zehn angeordnet vorstellen können. Würde nun die Bewegung eines Punktes über die Haut hin nur dann erkannt, wenn seine Lageveränderung so gross ist, dass er zuerst einen bestimmten Tast- punkt in Erregung versetzt und dann einen benachbarten, so müsste die kleinste noch wahrnehmbare Exkursion in der einen Richtung mindestens '/ıo mm, in der dazu senkrechten sogar !/z mm betragen. Bei dieser Erwägung ist allerdings die nicht zutreffende Annahme gemacht, dass alle Tastpunkte der einzelnen Reihen gleichweit von- einander entfernt sind. Aber trotzdem dürfte die Empfindung dieser kleinsten Bewegung sich am einfachsten so erklären lassen, dass bei den Bewegungen der Spitze kleine Verschiebungen der Haut vor sich gehen, die so klein sind, dass sie sich wohl kaum mit dem en En EEE en 1) Vgl. M. Blix, Experimentelle Beiträge zur Lösung der Frage über die spezifische Energie der Hautnerven. Zeitschr. f. Biol. Bd. 21 N. F. Bd. 3 S. 145 (155). 1885. 2) M.v. Frey, Untersuchungen über die Sinnesfunktionen der menschlichen Haut. 1. Abhandl. Druckempfindung und Schmerz. Abhandl. d. kgl. sächs. Gesellsch. der Wissensch., math.-phys. Klasse Bd. 23 S. 169 (254). 1897. 3) G. Meissner, Beiträge zur Anatomie und Physiologie der Haut S. 22- Leop. Voss, Leipzig 1858. 4) G. Meissner, |. e. 8. 21. Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 375 unbewaffneten Auge feststellen lassen. Trotzdem dürften sie an einer Stelle eine Zerrung eines Nervenendapparates, an einer anderen Stelle vielleicht einen kleinen Druck auf einen solchen bedingen, ein Zusammentreffen, welches dann das Bewegungsgefühl verursacht. So wäre auch verständlich, warum die Richtung erst bei so viel grösserer Exkursion erkannt wird als die Bewegung selbst. Übrigens führen schon Aubert und Kammler!) die Wahrnehmung einer kleinen Verschiebung, wenigstens bei grösserer Belastung, auf eine Zerrung der Haut zurück. Über die langsamste mit den Tastflächen erkennhare Bewegung. Nächst der Grösse einer Bewegung kommt ihre Geschwindigkeit in Betracht. Es lässt sich eine Verschiebung denken, die so lang- sam erfolet, dass der sich bewegende (Gegenstand an ein und der- selben Stelle der Haut liegen zu bleiben scheint. Rückt andererseits das Objekt zu schnell vor, dann hat man die Empfindung, dass die ganze Strecke, innerhalb deren die Verschiebung stattfindet, gedrückt wird, oder bei rascher Wiederholung der die Haut treffenden wandernden Reize, z. B. bei Berührung eines sich schnell drehenden Zahnrades, glaubt man, eine glatte Fläche zu berühren ?). Während nun über diese obere Grenze verschiedene Untersuchungen vorliegen, die allerdings auch noch nicht zu einem einheitlichen Ergebnis ge- führt haben, sind mir über die untere Grenze der erkennbaren Be- wegung mittelst der Tastflächen noch keine Angaben begegnet. Denn die Untersuchungen von Hall und Donaldson?°) beziehen sich, wie schon erwähnt, nicht auf die Fingerspitzen. Ausserdem war bei diesen Versuchen die Geschwindigkeit nie kleiner als 0,2 mm in der Sekunde, so dass der Schwellenwert für die Geschwindigkeit gar nieht erreicht wurde. Diese untere Grenze der Geschwindigkeit sollte durch die im folgenden mitgeteilten Versuche bestimmt werden. 1) H. Aubert und A. Kammler, Untersuchungen über den Druck- und Raumsinn der Haut. J. Moleschott’s Untersuchungen z. Naturlehre usw. Bd. 5 5. 145 (177). 1858. 2) G. Valentin, Über die Dauer der Tasteindrücke. Arch. f. physiol. Heilkunde Bd. 11 S. 438 (440). 1852. 3) G. St. Hall and H. Donaldson, Motor sensations on the skin. Mind. vol. 10 p. 557 (563). 1885. 376 Adolf Basler: Ausführungen der Versuche. Die für meine Zwecke notwendige ziemlich langsame Bewegung wurde dadurch erzeugt, dass sich eine horizontale Stange A (Fie. 1) in Schematisierte Ansicht der Versuchsanordnung ungefähr achtmal verkleinert. Fig. 1. > ihrer Längsrichtung verschieden schnell durch ein Uhrwerk verschieben liess. Um diese Bewegung zu ermöglichen, lief die Stange in zwei Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 377 Röhren B und ©, welche an Stativen (auf der Abbildung nicht sicht- bar) befestigt waren. An der Stange A war mit einer Muffe P (Fig. 2) eine Ebonitspitze @ augebracht'), die mit dem Finger R berührt wurde. Auf Fig. 1 ist die Muffe ? durch die Einrichtung D verdeckt. Damit der Finger einen Halt hatte, lag er auf einer über die Ebonitspitze geführten Überdachung D aus Holz und Blech (Fig. 1 und 2), die an dem Tisch, auf welchem die Anordnung auf- gestellt war, mit der Schraube S befestigt wurde. Die Leiste U (Fig. 2) hatte den Zweck. eine Drehung der Muffe P zu verhüten. Aus dem Bleche E, welches den Deckel der Stütze bildete, war ein Loch O von 1 em Durchmesser ausgestanzt. Die Bewegung der Stange A wurde be- wirkt durch das Uhrwerk F (Fig. 1), dessen Achse @ durch eine Transmission unter Dazwischenschaltung der Rad- systeme H und Z, die beide eine grosse Zahl von konzentrisch angeordneten Schnurläufen aufwiesen (an Z Fie. 1; auf der Skizze sichtbar), eine Achse J in Drehung versetzte. Letztere spulte bei ihrer Drehung eine Schnur X auf, die mit dem Ende der Stange A verbunden war. Je nach Kombination der Räder an den Systemen H und Z Fig. 2. Schnitt durch die Stütze D, konnten der Achse J und somit der senkrecht zur Stange A auf die > h Hälfte verkleinert. Bewegung der Stange innerhalb weiter Grenzen recht verschiedene Geschwindigkeiten gegeben werden. Neben dieser Anordnung stand ein Kymographion mit liegender Trommel M, auf weleher die Bewegung der Stange durch eine ge- eignete Schreibvorriehtung N aufgezeichnet wurde. Daneben war ein Jaquet’scher Chronograph (auf der Abbildung nicht zu sehen) angebracht. Die Aufzeichnung musste, vorausgesetzt, dass die Stange A sich wirklich gleichmässig bewegte, eine gerade Linie darstellen. War 1) Das der Einfachheit halber als Spitze bezeichnete Hartgummistück @ stellte streng genommen einen Kegel dar, dessen Spitze so weit abgeschnitten war, dass oben ein Kreis von etwa 1 mm Durchmesser entstand. 378 Adolf Basler: durch irgendeinen Fehler — was übrigens selten vorkam — der Gang unregelmässig, dann wurde der Versuch natürlich nicht ver- wertet. Bei Ausführung der Untersuchungen war, um eine Kälte- empfindung zu vermeiden, welche die Aufmerksamkeit hätte abziehen können, das Blech E mit einer Korkplatte 7 (Fig. 2) bedeckt, welche mit einem Loch versehen war, das gerade auf die Öffnung O in dem Bleche passte. Auf dieses Loch legte die Versuchsperson den Finger fest auf, so dass er sich nieht verschieben konnte. während gleich- zeitig die Ebonitspitze von unten her die Kuppe berührte. Jetzt wurde die Kymographiontrommel M in Gang gesetzt und gleich nachher das Uhrwerk F\, welches die Stange A bewegte. Während dieser Zeit hatte die Versuchsperson anzugeben, ob eine Bewegung gefühlt wird oder nicht. Wenn ich die Versuche an mir selbst anstellte, so machte ich irgendeine Übertragung zurecht, deren Geschwindigkeit ieh nicht näher kannte, führte die Untersuchung aus und protokollierte, ob bei der Geschwindigkeit, welche gleichzeitig auf der Trommel registriert wurde, Bewegungsempfindung auftrat oder nicht. Erst nachdem die ganze Versuchsreihe abgeschlossen war, wurden die Kurven zur zahlenmässigen Ermittlung der Geschwindigkeiten aus- gemessen. Wenn ich Mitarbeiter zur Verfügung hatte, schaltete ich immer eine grosse Zahl von Vexierversuchen ein, indem von Zeit zu Zeit das treibende Rad Z angehalten wurde, wobei angegeben werden musste, wann die Bewegung aufhörte, und wann sie wieder auftrat. Versuche mit dem Zeigefinger. Die Versuche wurden zunächst alle mit der Kuppe des linken Zeigefingers ausgeführt. Die Bewesung erfolete stets quer zur Fingerachse. Schon die anfänglichen Beobachtungen, die ich an meinem eigenen Finger machte, ergaben, dass es von einer unteren Grenze der Geschwindigkeit ab ohne grössere Übung schwer zu sagen ist, ob eine Lageveränderung stattfindet oder nicht. Bei meinen ersten Untersuchungen, bei denen ich noch keine Übung erlangt hatte, erkannte ich aber die Bewegung sofort regelmässig, wenn sich die den Finger berührende Spitze mehr als 0,1 mm in der Sekunde bewegte. Unter dieser Geschwindigkeit fielen die Angaben sehr ver- schieden aus; bald wurde die Bewegung erkannt, bald nieht. Vollzog Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 379 sich indessen die Verschiebung noch langsamer, also etwa nur um 0,05 mm in der Sekunde, dann hatte man stets die Empfindung vollkommenster Ruhe. So erkannte ich z. B. schon bei meinen ersten Versuchen stets eine Bewegung, deren Geschwindigkeit durch die beistehende Kurve Fig. 3 repräsentiert ist. Fig. 4 zeigt eine Geschwindigkeit, die an dem gleichen Versuchstage unter der Schwelle lag. Fig. 3. Die schräge Linie gibt die Bewegung der Stange A wieder. Die Zeit- marken bedeuten Sekunden, Geschwindigkeit 0,12 mm in der Sekunde. Fig. 4. Geschwindigkeit 0,08 mm in der Sekunde. Alles andere wie bei Fig. Bei den späteren Versuchen, bei denen ich schon eine gewisse Übung erlangt hatte, erkannte ich stets eine Bewegung von 0,06 mm in der Sekunde, dagegen nicht mehr eine solche von 0,04 mm. Eine Verschiebung von 0,05 mm in der Sekunde wurde teils gefühlt, teils nicht. Als Beleg sei eine Zusammenstellung der Ergebnisse meiner letzten Versuche in Tabellenform angeführt. Die Reihenfolge der Beobachtungen wurde beibehalten. Geschwindigkeit n Nummer | (Millimeter in der | \ahrnehmbar- Sekunde) keit 1 0,12 ja 2 0,11 ja Bi) 0,08 ja 4 0,05 ja 5 0,08 ja 380 . Adolf Basler: Geschwindigkeit e Nummer (Millimeter in der Wahmebmbar Sekunde) keit 6 0,08 ja 7 0,08 ja 8 0,22 ja 9 0,03 nein 10 0,06 ja 11 0,05 nein 12 0,06 ja 3 0,07 ja 14 0,04 nein 15 0,03 nein 16 0,05 zweifelhaft 17 0,06 ja 13 0,07 ja 19 0,05 ja 20 0,05 nein 21 0,117 ja 22 0,06 ja 3 0,04 nein 24 0,065 ja 25 0,07 Ja 26 0,10 ja 27 0,07 ja Diese Tabelle wurde durch nachträgliche Ausmessung der gleich- zeitig mit den Beobachtungen registrierten Kurven erhalten. Es entspricht also jeder Linie eine Kurve. Der besseren Übersicht halber seien die gleichen Versuche in eine andere Form gebracht, wobei die Geschwindigkeiten stets auf zwei Dezimalen abgerundet sind. Geschwindigkeit | | (Millimeter in der Erkannt Zweifelhaft Nicht erkannt Sekunde) | _ | 2 mal | = er 7 1 mal | 2 El = = SSEEB Rs OoOoOooo2oo2oOo22_2 Derm+Hhoooooo DDHAODD-IDI Or wo u SE u rd A Eine ganz hervorragende Rolle bei der Empfindung langsamer Bewegungen spielt unzweifelhaft die Übung, wie ich nicht nur an mir selbst, sondern an allen, welche die Versuche mit mir aus- führten. feststellen konnte. So erkannte ich, wie erwähnt, im Anfang meiner Versuche eine Bewegung nur, wenn sie schneller erfolgte Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 381 als mit der Geschwindigkeit von 0,1 mım in der Sekunde. Später konnte ich dieselbe regelmässig konstatieren, wenn die Verschiebung in der Sekunde nur 0,06 mm betrug. Dass für den Tastsinn schon im Laufe einer kurzen Versuchs- reihe die Übung von grossem Einfluss ist, haben schon Fechner und Volkmann!) gezeiet, welche die getrennte Wahrnehmung von zwei Zirkelspitzen untersuchten. Weiter sei daran erinnert, dass sich bei Personen, welche aus irgendeinem Grunde den Tast- sinn mehr sebrauchen, derselbe auch besser entwickelt. Dahin ge- hören in erster Linie die Blinden?). Aber auch bei gewissen Be- rufsarten, bei denen an das Tastzefühl höhere Anforderungen gestellt werden, lässt sich, wenn auch weniger ausgesprochen, etwas Ähnliches beobachten. So fand Stern?), dass Buchdrucker im allgemeinen ein höheres Tastgefühl besitzen. Die Empfindlichkeit war durchaus nicht für alle Personen die gleiche, sondern es zeigten sich ziemlich bedeutende individuelle Schwankungen. So konnte einer meiner Mitarbeiter, wie sich mit Hilfe von Vexierversuchen unzweifelhaft feststellen liess, eine Be- wegung noch vollständig sicher erkennen, wenn die Geschwindigkeit 0,04 mm in der Sekunde betrug. Der betreffende Herr ist stark kurzsichtig und hat sich vielleicht dadurch ein besseres Tastvermögen erworben. 2 Bei sehr langsamen Verschiebungen dauerte es oft mehrere Sekunden, bis man die Bewegungen erkannte. Aber trotzdem hatte man nach Ablauf dieser Zeit eine unmittelbare Empfindung von der Bewegung. Diese Beobachtung drängt zu einem Vergleich mit ähnlichen Erscheinungen im Gebiete des Gesichtssinnes. 1) A. W. Volkmann, Über den Einfluss der Übung auf das Erkennen räumlicher Distanzen. Verhandl. d. kgl. sächs. Gesellsch. d. Wissensch., math.- phys. Klasse Bd. 10 S. 38 (42). 1858. 2) Merkwürdigerweise fand H. Griesbach (Vergleichende Untersuchungen über die Sinnesschärfe Blinder und Sehender. Pflüger’s Arch. Bd. 74 S. 577 .und Bd. 75 S. 365 und 523. 1899) bei Blinden kein besseres, sondern eher ein schlechteres Tastgefühl als bei gleich alten Sehenden. Nach diesen Ergebnissen könnte man sich die grössere Geschicklichkeit im Tasten offenbar nur so vor- stellen, dass die Blinden infolge grösserer Übung die empfangenen Eindrücke besser verwerten können. 3) A. Stern, Zur ethnographischen Untersuchung des Tastsinnes der Münchener Stadtbevölkerung. Beitr. z. Anthrop. u. Urgesch. Bayerns Bd. 11 S. 109 (118). München 1895. 382 Adolf Basler: Aubert!) konnte feststellen, dass die optische Schwelle für Bewegungsempfindung „keine ganz bestimmte und scharfe ist, sondern bei ein wenig geringerer Winkelgeschwindigkeit als derjenigen, bei welcher die Bewegungsempfindung sofort deutlich ist, doch nach 1—2 oder 4 Sekunden eine gleichfalls ganz deutliche, qualitativ sanz gleiche Bewegungsempfindung eintritt“. Nicht ‘selten liess sich aber auch eine Erscheinung beobachten, die im Bereiche des Gesichtssinnes von Aubert?) „Wahrnehmung“ der Bewegung genannt wurde. Man hat nämlich nach Ablauf einer bestimmten Zeit zwar die Gewissheit erlangt, dass die Ebonitspitze sich nicht mehr an derselben Stelle des Fingers befindet wie früher, und hieraus zieht mari den Schluss, dass eine Verschiebung statt- gefunden hat, aber der Bewegungsvorgang selbst wird nicht direkt gefühlt, kann nicht gefühlt werden, weil er zu langsam erfolet. Es lässt sich in diesem Falle von Bewegungsempfindung ebensowenig sprechen wie beim Gesichtssinn, wenn das Vorwärtsrücken des Minutenzeigers einer Uhr daran erkannt wird, dass er nach be- stimmter Zeit bei einem anderen Strich des Zifferblattes steht (vgl. 8.397): Versuche an Daumenballen. Um ausser der Tastfläche des Zeigefingers wenigstens eine andere Körperstelle zur Untersuchung heranzuziehen, stellte ich meine Versuche auch noch am Daumenballen an. Auch hier erfolgte die Bewegung stets in der Richtung. quer zur Hand. Die Versuchs- anordnung blieb dieselbe mit dem einzigen Unterschied, dass an der Überdachung D in dem Bleche E S. 9 und 10 bei O ein grösseres Loch angebracht wurde. Dasselbe hatte einen Durchmesser von Sem. Selbst- verständlich war in der darüber gedeckten Korkplatte 7 (Fig. 2) die gleiche Öffnung angebracht. Auf diese wurde der Daumenballen gelegt. Soweit liessen sich die Beobachtungen ohne weiteres in der gleichen Weise anstellen wie mit dem Zeigefinger. Aber Schwierigkeiten zeigten sich von einer anderen Seite. Wurden die Versuche genau so ausgeführt wie am Finger, so hatte man nämlich am Daumen- ballen zwar das Gefühl, dass eine Bewegung vor sich geht, dieselbe erschien aber nicht kontinuierlich, sondern man hatte die Empfindung, 1)H. Aubert, Die Bewegungsempfindung. Pflüger’s Arch. Bd. 39 S. 347 (855). 1886. 2) H. Aubert, l.-c. S. 356. Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 383 als bliebe die Spitze zuerst an einer Stelle liegen und bewege sich dann ganz rasch ein Stück weiter, um in der neuen Lage wieder stehen zu bleiben. Dieses Spiel wiederholte sich, solange der Ver- such fortgesetzt wurde. Eine solche sprungweise Verschiebung war indessen in Wirklichkeit nieht vorhanden, was aus dem vollkommen gleichmässigen Verlauf der Kurve hervorging. Die Erklärung für diese Erscheinung ist leicht zu finden. Im Gegensatz zur Fingerkuppe ist die Cutis an allen übrigen Teilen der Hand weit weniger prall gespannt. Wird deshalb die Ebonit- spitze etwas fest eingedrückt, dann verschiebt sie bei ihrer Bewegung die ganze benachbarte Haut. Erst wenn eine bestimmte Spannung überschritten wird, zieht sich die Haut unter der Spitze hindurch wieder in die normale Lage zurück. Dieses Hinweggleiten über die relativ ruhige Spitze dürfte die Ursache sein für die von Zeit zu Zeit auftretende ruckartige Empfindung. Aus diesem Grund ersetzte ich die Spitze durch ein glattes zylindrisches Hartgummistück, dessen obere kreisförmige Fläche einen Durchmesser von 4 mm hatte. Die Verwendung einer derartigen Form hatte den Nachteil, dass man nach kürzester Zeit überhaupt keine Berührung und auch keine Bewegung mehr wahrnahm. Wurde die Oberfläche aber rauh gemacht, so nahm diese Pelotte die Haut noch mehr mit als eine einfache Spitze. Um einen möglichst gleich- mässigen Kontakt zu erhalten, welcher die Haut aber nicht ver- schiebt, steckte ich mit Hilfe einer geeigneten Verriehtung einen nicht zu starken Bindfaden oder auch eine Schlinge davon senkrecht nach oben stehend in die Muffe P (Fig. 2 S. 377). Aber auch diese Anordnung erwies sich als unbrauchbar, und zwar deshalb, weil, während sich der untere eingeklemmte Teil des Bindfadens mit der Muffe P verschob, das obere die Haut berührende Ende sich längere Zeit entweder gar nicht oder viel langsamer bewegte als die Stange. Der gleiche Missstand ergab sich bei Verwendung eines nach oben stehenden Pinsels. Deshalb wurde schliesslich ein Hartgummistück benutzt, welches oben zu einer ziemlich starken Schneide von 4 mm Länge zugefeilt war. Die Bewegung erfolgte senkrecht zu der oberen Kante. Die Fr- fahrung lehrte, dass ein so geformtes Objekt einerseits leicht über die Haut hinweggleitet, andererseits aber auch stets gefühlt wird. Die Ergebnisse waren nun ausserordentlich schwankend. Im grossen ganzen lässt sich sagen, dass am Daumenballen die Be- wegung, damit sie empfunden wurde, etwa doppelt so schnell er- 384 Adolf Basler: folgen musste wie am Finger. Kam aber das die Haut berührende Hartgummistück gerade auf eine der zahlreichen Hautfalten zu liegen, dann hatte man schon bei einer weit langsameren Bewegung ein Gefühl der Unruhe. Es handelte sich dabei aber nicht um die typische Empfindung einer Verschiebung in einer bestimmten Richtung, sondern eher um ein Kitzeln, das sich ebensogut hätte durch irgend- welche diskontinuierliche Bewegung hervorbringen lassen. Einige Bemerkungen zu den Ergebnissen. Es dürfte nicht ohne Interesse sein, auch die Empfindlichkeit der Haut für langsame Bewegungen zu vergleichen mit der des Auges. Bei seinen optischen Untersuchungen hatte Aubert!) gefunden, dass eine Bewegung sofort erkannt wird, wenn dieselbe eine Winkel- geschwindigkeit von 1 bis 2 Winkelminuten in der Sekunde besitzt, oder wenn das Objekt, wie leicht ausgerechnet werden kann, sich in 30 em Abstand vom Auge um 0,08—0,16 mm verschiebt. Dieses Ergebnis stimmt, wie Aubert hervorhebt, gut überein mit den Untersuchungen von Valentin°), der unter besonders günstigen Bedingungen eine Winkelgeschwindigkeit von 1 Minute genügend fand, um eine Bewegungsempfindung hervorzurufen. Mit der Fingerkuppe des linken Zeigefingers konnte ich die Bewegung nach einiger Übung sicher erkennen, wenn sie in der Sekunde 0,06 mm betrug. Demnach wurde unter günstigen Be- dingungen mit einer spezifischen Tastfläche eine Bewegung etwas besser erkannt als von Aubert mit dem Auge auf 30 em Ent- fernung. Zieht man in Betracht, dass ich eine Bewegung der Ebonit- spitze ohne jede Übung erkannte, wenn die Geschwindigkeit grösser als 0,1 mm in der Sekunde war, so kann man sagen, dass die Schwelle für die Bewegungsempfindung der Haut um den unteren Wert der mit dem Auge auf eine Distanz von 50 em erkennbaren Geschwindigkeit hin und her schwankte. Von Aubert?) wurde auch berechnet, wieviel Zeit mindestens zwischen den Erregungen zweier benachbarter Netzhautelemente 1)°H. Aubertel. cr S2898: 2) G. Valentin, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, 2. Aufl., Bd. 2 Abt. 2 S. 184. Braunschweig 1848. 9),H.:Aubert;:l:ic. 8:30. Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 285 liegen muss, damit wir eine Bewegung empfinden. Er gelangte zu dem Schlusse, dass bei der Verschiebung von einer Winkelminute in der Sekunde etwas mehr als ein Empfindungskreis passiert werden muss). Ich will versuchen, die Überlegung auf die Haut zu übertragen, muss aber gleich von vornherein bemerken, dass diese Erwägungen hier viel geringere Bedeutung haben als bei der Netzhaut, weil die Tast- punkte, die Projektion der perzipierenden Elemente der Haut, bei weitem nicht in der Regelmässigkeit angeordnet sind wie die Zapfen der Retina. Wie oben (S. 374) erörtert wurde, können wir uns nach den Angaben Meissner’s schematisiert die Tastpunkte so angeordnet denken, dass ihre gegenseitige Entfernung in der einen Richtung "ıo mm, in der anderen "/c mm beträgt. Nun wurde die Bewegung sofort unmittelbar erkannt, wenn sie mit einer Geschwindig- ‚keit von 0,1 mm in der Sekunde erfolgte, wenn also die Entfernung von einem Tastpunkte zum anderen in 1 Sekunde passiert wurde. Bei dieser Berechnung ist allerdings Voraussetzung, dass die Be- wegung längs den Epidermisleistehen erfolgte, denn senkrecht dazu würde es bei der gleichen Geschwindigkeit fünfmal so lange dauern, bis ein neuer Tastpunkt in den Bereich des Stiftes gelangt. Nun bedingte aber im Gegensatz zu dieser Erwägung bei Ausführuug der Versuche die Richtung, in welcher die Bewegung erfolgte, keinen Unterschied in der Geschwindigkeitsschwelle. Dieses Verhalten dürfte wohl damit zusammenhängen, dass der verwendete Stift nicht auf einen einzigen Tastpunkt zu liegen kam, sondern eine grössere Gruppe solcher gleichzeitig erregte. ’ Wie schnell muss eine Bewegung erfolgen, damit ihre Richtung erkannt wird ? Der Umstand, dass mit Hilfe des Tastsinns eine Bewegung er- kannt wurde bei einer so kleinen Lageveränderung, bei welcher sich die Richtung in keiner Weise feststellen liess, machte es wünschens- wert, auch bei den langsam verlaufenden Bewegungen, die Wahr- 1) Wenn Aubert weiterhin zu der Auffassung gelangt, dass dabei „etwa sieben Zapfenspitzen in Zeitintervallen von Yr Sek. erregt werden“, so dürfte dieser Schluss auf einem Irrtum beruhen. Da aber die Vorstellung von Aubert für die vorliegende Untersuchung nicht in Betracht kommt, so soll sie an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 25 386 Adolf Basler: nehmbarkeit der Richtung festzustellen. Zu diesem Zweck war es notwendig, eine Anordnung zu treffen, die es ermöglicht, rasch hintereinander, ohne dass die Versuchsperson etwas davon merkt, die Versehiebung in verschiedener Richtung vor sich gehen zu lassen. Versuchsanordnung. Die Aufstellung, die diesen Bedingungen genügte, ist in ihren in Betracht kommenden Teilen von oben gesehen in Fig. 5 schema- tisch wiedergegeben. Es handelt sich dabei um eine Vervollkommnung der früher in Fig. 1 und 2 S. 376 und 377 dargestellten Einrichtung, 5R KH Fig. 5. Schematische Ansicht der Versuchsanordnung von oben, ungefähr achtmal verkleinert. insofern, als der mittelst der Muffe P befestigte Stift, der über den Finger gleitet, nicht direkt an der Stange A angebracht ist wie auf Fig. 2, sondern an einem Rad V, das durch die Stange A mittelst einer Schnur W in Drehung versetzt wird, und dessen Peripherie sich ebenso schnell bewegt wie die Stange. Auf der Fig. 5 sind ausserdem noch die meisten Teile, welche auch auf Fig. 1 dargestellt sind, von oben gesehen wieder zu er- kennen; so die Führung CÜ, das Uhrwerk F, seine Achse @, die Radsysteme 7 und Z und die an letzterem befestigte Achse J, auf welche die Schnur X (auf Fig. 1) aufgespult wird, wodurch die Stange A vorwärts rückt. Die verschiedenen Transmissionen sind, um die Figur leichter verständlich zu machen, nicht eingezeichnet. Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 387 Die Zugrichtung der Schnur W wird durch den neben die Stange A gezeichneten Pfeil angedeutet. Durch diese Schnur wird das Rad so gedreht, wie es durch die vier Pfeile an der Peripherie bezeichnet ist. Um die Schnur W stets in Spannung zu halten, ist ein Gegenzug, der in der Richtung des Pfeiles X wirkt, angebracht. Je nach der Stelle des Rades, an welcher die Muffe P Dyı ist, ist die Richtung der Bewegung eine andere. Die Versuchsanordnung wird vervollständigt durch eine Über- dachung, deren Decke nur aus einigen Latten besteht, und welche über das Rad V gestürzt werden kann. Wie bei der ersten Ver- suchsanordnung S. 376, so zeichnet auch hier wieder die Stange ihre Verschiebung auf einer berussten Kymographiontrommel auf, so dass man sich jederzeit über die Geschwindigkeit der Bewegung orientieren kann. Versuche. Bei Ausführung der Versuche wurde der Muffe P eine bestimmte Stellung gegeben, von der die Versuchsperson natürlich nichts wissen durfte. Dieser wurde vielmehr, während sie die Augen geschlossen hatte, der Zeigefinger gerade über die Hartgummispitze gelegt. Dass die Hand dabei das eine Mal nach rechts, das andere Mal mehr nach links zu liegen kam, liess sich bei verschlossenen Augen nicht im geringsten beurteilen. Die Untersuchung beschränkte sich auf vier Richtungen, nämlich der Stift bewegte sich: 1. in der Fingerachse nach der Fingerspitze hin; diese Richtung wurde in den Protokollen kurz bezeichnet: „nach Spitze“ ; 2. genau in entgegengesetzter Richtung, also von der Finger- spitze gegen die Hand hin („nach Hand“); 3. senkrecht zu der Fingerachse von links nach rechts („nach rechts“); 4. von rechts nach links („nach links‘). Bei Ausführung dieser Versuche liess sich häufig eine Eigen- tümliehkeit beobachten, welche darin besteht, dass die Versuchsperson glaubt, die Bewegung vollziehe sich in einer schrägen Richtung zum Finger. So wurde z. B. oft angegeben: „nach Spitze und rechts“ (statt „nach Spitze“) oder „nach der Hand und links“ (statt „nach links“). Im übrigen ergab sich schon in allerkürzester Zeit ohne Zweifel, dass bei weitem nicht der grosse Unterschied besteht im 25 * 388 Adolf Basler: Erkennen der Bewegung überhaupt und der Richtung derselben, wie dieses der Fall ist bei den Verschiebungen mit sehr kleinen Exkursionen. Weniger leicht ist allerdings die genauere Bewertung der Er- gebnisse. Verlangt man nämlich von einer Versuchsperson eine stets wiederkehrende richtige Angabe, ohne dass Fehler vorkommen, dann musste — für mich wenigstens — die Geschwindigkeit mehr als 0,15 mm in der Sekunde betragen. Andererseits kommen aber auch bei kleineren Gesehwindigkeiten hin und wieder lange Versuchs- reihen vor, bei denen alle Angaben stimmen, wobei höchstens zum Schlusse einmal eine falsche Aussage gemacht wurde. Als Beispiel sei das Ergebnis einer solchen Versuchsreihe in Tabellenform wieder- gegeben. Geschwindigkeit. Nummer | (Millimeter in Wirkliche Richtung Angabe der Sekunde) | 1 0,1 nach links nach links 2 0,1 "erland „ Hand 3 0,09 | R ” x a 4 0,1 | » » » ” 5 0,1 Rt zweifelhaft 6 0,09 „ rechts nach rechts 7 0,1 ” ” ” n 8 0,1 „ Spitze „ Spitze S) 0,11 | „Hand „.; Hand 10 0,13 „. Spitze nichts gefühlt 11 0,11 ” ” ” ” 12 0,06 „ rechts nach rechts 13 0,08 „ Hand „.. Hand 14 0,11 „ rechts „ rechts 15 0,11 „ Spitze | „ Spitze An einem anderen Tage können aber bei der gleichen Ge- schwindigkeit und bei der gleichen Versuchsperson die Angaben viel unzuverlässiger ausfallen. Auch einen solchen Versuch will ich hier mitteilen. Geschwindigkeit Nummer | (Millimeter in Wirkliche Richtung Angabe der Sekunde) 1 0,06 nach rechts nach links 2 0,06 „.. Hand „. . Spitze 3 0,07 „ Spitze links 4 0,1 „ „rechts „ rechts 5 0,08 „Spitze » sslinks 6 0,1 „ rechts „ rechts 7 0,08 „ Hand „ Hand S 0,05 „ Spitze „ links Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 389 Geschwindigkeit Nummer | (Millimeter in Wirkliche Richtung Angabe der Sekunde) 9 0,1 nach Spitze | unbestimmt 10 0,1 > srechts nach Spitze 11 0,1 4 n „ rechts 12 0,1 „u Hand unbestimmt 13 0,1 » rechts nach rechts 14 0,1 b) ” ” BE 15 0,1 „ Spitze unbestimmt 16 0,1 5 | nach links 17 0,1 “Hand unbestimmt 18 0,1 „ Spitze 5 19 0,1 > » nach Hand 20 | 0,08 5 ® „ Spitze Die Verschiedenartigkeit der Ergebnisse hänet offenbar damit zusammen, dass man einmal besser disponiert ist als das andere Mal, ein Umstand, der sich bei der blossen Beurteilung, ob eine Bewegung erfolet oder nicht, bei weitem nicht so fühlbar macht. Es ist auch ganz begreiflich, dass die psychischen Zustände eine um so grössere Rolle spielen, je komplizierter das Urteil ist, das verlangt wird. Jedenfalls lässt sich hier keine so scharf umgrenzte Schwelle finden wie bei den oben erwähnten Versuchen, bei denen es sich nur darum handelte, die Bewegung als solche zu erkennen. Lombroso!) fand die Finger der rechten Hand empfindlicher als die der linken. Auch ich stellte bei den Versuchen, wo die Riehtung erkannt werden musste, einen kleinen Unterschied zu- sunsten des rechten Zeigefingers fest. Soweit es sich nur um das Erkennen der Bewegung überhaupt handelte, war eine derartige Verschiedenheit nicht nachweisbar. Grösse des mit der Tastfläche ausgeübten Druckes. Die Versuche über die Exkursionsgrösse der eben wahrnehm- baren Bewegung wurden bei einem bestimmten während der ganzen Versuchsreihe konstant bleibenden Druck ausgeführt. Im Laufe der Untersuchungen stellte sich aber heraus, dass man in dem Bemühen, etwas zu fühlen, selbst den Finger so hält, dass wahrscheinlich der geeignetste Druck zustande kommt. Ich habe deshalb bei Aus- führung der Versuche über die Geschwindiekeitsschwelle der Be- 1) Lombroso, Tatto e tipo degenerativo in donne normali, criminali ed alienate. Arch. di psichiatr., Scienze penal. ed antrop. vol. 12 p.1. 1891. Ref. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane Bd. 3 S. 71 (72). 1892. 390 Adolf Basler: wegung, um die Anordnung einfacher zu gestalten, auf einen gleich- bleibenden Druck verzichtet. Trotzdem schien es mir wünschens- wert, zu untersuchen, welcher Druck in der Regel beim Tasten ver- wendet wird, und innerhalb welcher Grenzen er sich ändert. Schon früher hatte ich bei allerdings ziemlich rohen Versuchen mit Hilfe der Wage gefunden, dass der Druck, den ich gewöhnlich beim Ab- tasten kleiner Vorsprünge ausübe, ungefähr 3 g beträgt. Ohne jeden Apparat kann man sich davon überzeugen, dass, so- . oft eine Oberfläche von einigermaassen feiner Struktur abgetastet werden soll, der Finger nicht mit grosser Kraft auf den Gegenstand gepresst wird, sondern dass wir ihn nur leicht auflegen, so dass nur das Gefühl einer leichten Berührung zustande kommt. Ob nun nach der Meissner’schen !) Auffassung die Druckempfindung eine andere Sinnesqualität darstellt als die Berührungsempfindung, oder ob es sich dabei nur um verschiedene Intensitäten einer und derselben Sinnesqualität handelt, wie Funke?) und andere annehmen, mag dahingestellt bleiben. Dass übrigens die von Meissner?) selbst als irrtümlich bezeichnete Auffassung, als nähme er eine Tast- empfindung ohne Druck (im pbysikalischen Sinne) an, auch jetzt noch zum Teil besteht *), sei nur nebenbei bemerkt. Zur genaueren Untersuchung, namentlich des Verhaltens während längerer Zeit, bediente ich mich der graphischen Methode. Zu diesem Zweck musste ein Druckschreiber konstruiert werden, der zum Registrieren von ziemlich geringen Spannungen verwendet werden kann. Denn ich hatte ja gefunden, dass der mittlere beim Tasten gebrauchte Druck 3 g beträgt. Nach einigem Probieren wurde dem Apparat die nachstehend beschriebene Form gegeben. In einem Bügel A aus Eisen (siehe 1) 6. Meissner, Beiträge zur Anatomie und Physiologie der Haut S. 28. L. Voss, Leipzig 1853, und G. Meissner, Zur Lehre vom Tastsinn. Zeitschr. f. rat. Med. N. F. Bd. 4 S. 260 (266). 1854. 2) O0. Funke, Schmidt’s Jahrb. Bd. 79 5. 342 (346). 1853, und Bd. 82 S. 287 (290). 1854; vgl. auch O. Funke, Der Tastsinn und die Gemeingefühle. L. Hermann’s Handb. d. Physiol. Bd. 3 II S. 289 (290. F.C. W. Vogel, Leipzig 1880. 3) G. Meissner, Untersuchungen über den Tastsinn. Zeitschr. f. rat. Med. 3. Reihe Bd. 7 S. 92 (94). 1859. 4) Vgl. T. Thunberg, Physiologie der Druck-, Temperatur- und Schmerz- empfindungen. Nagel’s Handb. d. Physiol. Bd. 3 S. 646 (657). Braunschweig 1905 Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 391 untenstehende Figur) dreht sich ein dünnes Holzbrettehen 5 leicht um die Achse C (schwarz gezeichnet), welche in ihrem Lager durch die Schraube D festgehalten wird. In der vorderen Hälfte des Brettchens BD, welche den Schreibhebel £ trägt, ist nahe der Achse © eine Spiralfeder 7’ eingehängt, die an ihrem unteren Ende durch das Stahlstäbehen G@ gespannt werden kann. Dasselbe ist in einem an den Eisenbügel A angebrachten, rechtwinklig abgebogenen An- ALGOTERTT SUGAR a ro Fig. 6. Druckschreiber zur Untersuchung des beim Tasten angewendeten Druckes. satz aus Messing #4 festgeschraubt. An der dem Schreibhebel gegenüberliegenden Seite des Brettchens D ist mit zwei Seidenfäden J, und J, eine Wagschale X aus Aluminium angehängt. Die beiden Punkte :, und ,, in welchen die Fäden an dem Brettchen befestigt sind, liegen in einer zu der Achse parallelen Linie. Dieselbe ist durch einen deutlich sichtbaren Strich auf dem Brettchen 3 markiert. Die Schale X dient zur Auswertung der Hebelausschläge. Denn je stärker die Wagschale belastet wird, um so mehr wird die auf der anderen Seite der Achse liegende Feder F' gedehnt, und um so mehr 399 Adolf Basler: schlägt die Schreibspitze des Hebels # aus. Da nun der Schreib- hebel und die Feder ein gewisses Gewicht besitzen, so muss, damit die Feder überhaupt gespannt wird, die Wagschale von Anfang an mit einem kleinen Gewicht belastet werden. Bei meinen Versuchen wurde die Wagschale stets mit 2 g beschwert und die Feder dann so weit gespannt, dass der Hebel horizontal stand. Damit aber, wenn zufällig einmal das Gewicht von der Wagschale entfernt wird, das Brettehen auf der Seite des Schreibhebels nicht zu sehr nach ab- wärts sinkt, ist ein Anschlag angebracht in der Form eines Drahtes Z (im Gegensatz zur Achse nur konturiert gezeichnet), der auf der vorderen Seite unter dem PBrettehen hindurchgeht. Wie bei Be- lastung der Waeschale, muss natürlich die Schreibspitze auch in die Höhe gehen, wenn mit dem entsprechenden Druck längs der Linie 1%. getastet wird. Bei Ausführung der Versuche wurden verschieden geformte Leisten über der Linie :,, befestigt, und die Versuchsperson musste bei geschlossenen Augen die Oberfläche derselben beschreiben. Da diese Leisten dünn und leicht sein müssen, wurden sie aus Visiten- karten hergestellt. Mit der Schere wurde ein Streifen von etwa !/e em Breite und 7 em Länge abgeschnitten und der eine Rand etwa 1 mm breit rechtwinklig abgebogen. In diesen schmalen Rand wurden nun mit der Schere alle möglichen Figuren eingeschnitten. Zur Befestisung des Streifens dienten zwei Aluminiumklammern M, und M,, welche über den hinteren Rand des Brettehens geschoben wurden. Man hat beim Einsetzen nur darauf zu achten, dass der . umgebogene Rand genau auf die Linie 2,7, zu liegen kommt, da sonst der zugehörige Hebelarm in seiner Grösse geändert wird. Nach jedem Versuch wurden Gewichte auf die Schale gelegt, von 1g, 2 g usw., und mit jedem dieser Gewichte wurde eine Linie dureh die Kurve gezogen, die also einem bestimmten Druck ent- sprach, so dass die ganze Kurve zwischen parallelen horizontalen Linien eingezeichnet war (s. Fig. 7 und 3). Mit dem Messingansatz N wird bei den Versuchen der Apparat an einem beliebigen Stativ befestigt. Die Ausschläge der Schreibhebelspitze waren, wie auch aus den weiter unten abgebildeten Kurven zu ersehen ist, nicht genau proportional den angehängten Gewichten, sondern sie wurden mit zunehmender Spannung verhältnismässig immer grösser. Dieser Fehler hätte sich wohl dadurch beseitigen lassen, dass statt der Spiralfeder eine Federkraft Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 3953 durch Torsion zur Anwendung kam), aber einerseits brauchte ich eine feststehende Achse, andererseits war es schwer, durch Torsion eine so geringe Spannung zu erzielen, wie ich sie nötig hatte. Da die Einstellungen für die verschiedenen Gewichte von 1 g ab bei jedem Versuch verzeichnet wurden, so schadete der Mangel an Proportionalität nichts. Auch kam es für meine Zwecke nicht darauf an, Druckunterschiede von Bruchteilen eines Grammes zu er- kennen. Diese Untersuehungen wurden an einer grossen Zahl von Personen ausgeführt. Bei allen zeigte sich zunächst, dass der Druck nicht genau gleich blieb, sondern während dem Tasten immer etwas auf und ab ging. Dabei schwankte der mit dem tastenden Finger ausgeübte Druck, vorausgesetzt, dass der Hand eine Unterla’gegeboten war, gewöhnlich zwischen Bigrt. Fig. 8. l und 3 g. Die hier abgebildeten typischen Kurven dürften die Verhältnisse am besten zeigen. Auf der untersten Linie sind die Zeitmarken angebracht. Sie bezeichnen ganze Sekunden. Die übrigen horizontalen Linien stellen die Hebelausschläge bei den ent- sprechenden Belastungen dar. Bei manchen Versuchen stieg in dem Augenblick, in welchem der Finger aufgelegt wurde, der Druck höher, bis zu 5 und 6 g. Dies rührt offenbar her von der zunächst noch ungenauen Einstellung der Hand. Sehr wesentlich war es auch, die Hand stets zu unter- stützen; denn sonst wurden die Schwankungen viel grösser. 1) Vgl. K. Bürker, Experimentelle Untersuchungen über Muskelwärme. 3. Abhandl. Ein einfacher Muskelspannungszeichner. Pflüger’s Arch. Bd. 88 S. 107. 1902. ; 394 Adolf Basler: Übrigens besteht ein ziemlich grosser Unterschied in dem an- gewendeten Druck bei den verschiedenen Versuchspersonen. Während die meisten Personen so wie ich tasteten, drückten andere mit viel grösserer Kraft, so dass mitunter eine Spannung bis zu 10 g auf- geschrieben wurde. Erkennen von Bewegungen durch das Muskelgefühl. Mit dem Auge können wir eine Bewegung auf zweierlei Art konstatieren: l. dadurch, dass wir das Auge mittelst seiner Muskeln ruhig stellen und die Abbildung des Gegenstandes auf der Netzhaut über dieselbe wandern lassen. Wir erkennen dann die Bewegung daran, dass während derselben sukzessive andere Netzhautelemente in Er- regung versetzt werden. 2. Wir fixieren den bewegten Gegenstand. Dann wird die Be- wegung beurteilt nach dem Muskelgefühl der Augenmuskeln. Genau dasselbe gilt auch für das Tastgefühl. Alle mitgeteilten Versuche gehören der ersten Art an, denn der Finger war festgestellt und der Gegenstand, in unserem Falle eine Ebonitspitze, wurde über die Haut hin verschoben. Nun können wir in ganz analoger Weise wie beim Auge auch eine Bewegung feststellen, wenn wir die Fingerkuppe unverrückbar auf den bewegten Stift aufsetzen und diesen den Finger verschieben lassen. Die Tastempfindung dient in diesem Falle nur dazu, mit der Spitze stets Fühlung zu halten. Die Verschiebung kommt uns dann dadurch zum Bewusstsein, dass die Muskeln der Hand anders gespannt werden. Derartige Versuche habe ich nicht ausgeführt, weil die ganze Frage in das Gebiet des Muskelgefühls gehört und deshalb ausserhalb des Rahmens dieser Untersuchungen liegt. Absichtliches Abtasten eines Objektes mit dem Finger. Meissner!) hebt hervor, dass zum Erkennen der „stereo- metrischen Verhältnisse“ eines Körpers mit Hilfe des Tastgefühls willkürliche Bewegungen ausgeführt werden müssen. Aber auch, wenn nur die Oberflächenbeschaffenheit eines Objektes untersucht werden soll, etwa, ob sich der Körper rauh oder glatt anfühlt, so 1) G. Meissner, Beiträge zur Anatomie und Physiologie der Haut S. 29. L. Voss, Leipzig 1853. Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 395 lassen wir den tastenden Finger niemals ruhig an einer und der- selben Stelle liegen, sondern wir führen ihn über die zu untersuchende Fläche hin. Dass die Tastflächen bei gleichzeitiger aktiver Bewegung ein weit grösseres Unterscheidungsvermögen besitzen, als wenn sie in Ruhe bleiben, haben Kassowitz und Schilder!) gezeigt. Dabei tritt natürlich der Haut gegenüber die gleiche relative Ver- schiebung auf, wie wenn der Finger in Ruhe wäre und das Objekt sich bewegte. Ob dabei das Objekt sich verschiebt oder der tastende Finger, darüber haben wir im allgemeinen auch hei Ausschaltung des Gesichts ein Urteil nach dem Muskelgefühl und nach anderen Begleitumständen, z. B. dem gleichzeitigen Berühren von anderen Objekten mit der Hand. 17 ei, Fig. 9. Apparat zur Untersuchung der beim Tasten ausgeführten Bewegungen. So beurteilen wir, ob ein Objekt glatt oder rauh ist, je nachdem an seiner Oberfläche kleine Erhabenheiten unsere Haut berühren oder nicht. Wollen wir uns z. B. ein Urteil bilden über die Be- schaffenheit eines Papieres oder Stoffes, so nehmen wir denselben zwischen zwei Finger und führen reibende Bewegungen aus. Es schien mir nun interessant, festzustellen, wie schnell diese tastenden Bewegungen im allgemeinen ausgeführt werden. Dabei war von vornherein zu erwarten, dass je nach der Oberflächen- beschaffenheit des Objektes und dem Temperament der Versuchs- person die Bewegungen sehr verschieden ausgeführt würden. Immer- | I) K. Kassowitz und P. Schilder, Einige Versuche über die Feinheit der Empfindung bei bewegter Tastfläche. Pflüger’s Arch. Bd. 122 S. 119. 1908. 396 Adolf Basler: hin ist es besser, zu wissen, wie schnell eine solche Bewegung in einigen bestimmten Fällen ausgeführt wurde, als ganz im Finstern zu tappen, und deshalb führte ich an verschiedenen Personen einige Bestimmungen aus. Zu diesem Zweck konstruierte ich folgenden einfachen Apparat, der die Aufzeichnung der Bewegung gestattete. In der Mitte des Brettchens A (Fig. 9) ist ein 18 cm hoher Messingstab B befestigt, der an ‘seinem oberen Ende einen ungefähr 15 em langen, an beiden Enden rechtwinklig umgebogenen Blechstreifen C trägt. Die beiden um- sebogenen Stücke sind in ihrer Mitte durehbohrt, und durch die Löcher ist ein Stahlstäbehen D hindurchgesteckt, so dass dasselbe sich leicht in seiner Längsrichtung hin und her schieben lässt. Dieses Stäbchen ist an einem Ende mit einer Schreibeinrichtung E versehen, die es gestattet, die Verschiebungen auf einer horizontal rotierenden Kymographiontrommel zu reeistrieren. Etwa in der Mitte des Stäbehens D ist eine aus dünnem Draht bestehende federnde Klammer F’angebracht, die um den dorsalen Teil des Fingers gelegt wird. Getastet wurden Objekte, die auf dem Tischehen @ mit den beiden Klammern 7, und H, festgemacht wurden. Dieselben be- standen in der Regel aus S cm langen und 1 cm breiten Streifen aus Karton, die in der Querrichtung mit verschieden dickem Faden um- wickelt waren, so dass jede Windung dicht neben die benachbarte zu liegen kam. Je nach der Dicke des Fadens fühlte sich die Ober- fläche mehr oder weniger rauh an. Das Tischehen @ ist mit einer Muffe J an der Stange D angeschraubt und lässt sich beliebig weit nach oben und unten schieben. So kann es gerade so eingestellt werden, dass der Finger, dessen dorsale Hälfte von der Klammer F umschlossen ist, mit der Volarfläche das Tisehehen resp. den auf ihm liegenden Kartonstreifen eben berührt. Bei Ausführung der Versuche wurde ein bestimmtes Kartenblatt auf das Tischehen gelegt, während die Versuchsperson die Augen geschlossen hielt, und es musste angegeben werden, ob das Objekt sich glatt oder rauh anfühlt. Um das zu entscheiden, führte der Befragte natürlich Bewegungen mit dem Zeigefinger aus, und zwar, da die Fäden quer verliefen, stets in der Achsenrichtung des Karton- streifens. Diese Bewegungen wurden nun registriert. Die ganze Anordnung war so leicht gebaut, dass man gar nicht bemerkte, dass am Finger etwas angebracht war. Wenn ich die Versuche nicht an mir selbst ausführen liess, dann erfuhren die Versuchspersonen gar Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 397 nicht, was mit der Anordnung bezweckt wurde, damit sie in keiner Weise beeinflusst waren. Da gleichzeitig mit der Verschiebung des Fingers Zeitmarken aufgeschrieben wurden, so war die Geschwindigkeit der Bewegungen in den einzelnen Zeitabschnitten leicht zu ermitteln. Eine solche Kurve sei als Beispiel hier abgebildet. Durch Ausmessung zahlreicher Kurven fand ich nun, dass am meisten getastet wurde mit einer Ge- schwindigkeit von 30—40 mm in der Sekunde. Die schnellste ausgeführte Bewegung war eine solche, bei der der Finger pro Sekunde einen Weg von 100 mm zurücklegte, bei der lang- samsten wurde ein Wee von 17 mm zurückgelegt. Fig. 10. Bewegungen des Zeigefingers beim Abtasten eines Objektes. Zeitmarken = !/s Sek. Für die verschiedenen Versuchspersonen konnte kaum ein Unter- schied in der Geschwindigkeit des Tastens festgestellt werden. Ebenso schien die grössere oder geringere Rauhigkeit der be- tasteten Flächen kaum einen Einfluss auszuüben. Bei Ausführung vorstehender Untersuchungen hatte ich mich der regen Mitwirkung der Herren stud. med. Stützner, Schlüter und Zeller zu erfreuen. Empfindung und Wahrnehmung der Bewegung. Zum Schlusse sei kurz besprochen, inwieweit das Erkennen der Bewegungen mittelst der Haut als primäre Empfindung aufgefasst werden darf. Bekanntlich besteht schon lange keine Einigkeit darüber, ob die Bewegung eine unmittelbare Empfindung auszulösen imstande ist, oder ob wir dieselbe erst sekundär erschliessen. 398 Adolf Basler: Exner!) war der erste, der die Ansicht vertrat, dass die optisch erkannten Bewegungen, vorausgesetzt dass sie schnell genug erfolgen, eine primäre Empfindung auslösen. Diese Auffassung wurde von Aubert?) geteilt, während andere Forscher den Vorgang auch späterhin sich so vorstellten, dass wir das Wandern eines Punktes nur daran erkennen, dass dieser Punkt zuerst als an einer bestimmten Stelle des Gesichtsfeldes liegend empfunden wird und einige Zeit später an einer anderen Stelle. Erst aus diesen beiden nacheinander erfelgenden primären Empfindungen schliessen wir teils bewusst, teils unbewusst, dass der Punkt vorgerückt ist. Es handelt sich nach dieser Annahme also um einen sekundären psychischen Prozess. Die Exner’sche Auffassung übertrug Vierordt?) auf das Gebiet des Tastsinnes. Auch hier ist diese Darstellung nicht ohne Gegner geblieben. Funke) z. B. lässt nur das sekundäre Er- schliessen einer Bewegung gelten. Er nennt diesen psychischen Prozess eine „Vorstellung“ im Gegensatz zu dem Begriff „Empfindung“. Lassen wir nun zunächst diese beiden Ansichten auf sich be- ruhen, und sehen wir nach, welche Empfindungen bei den ver- schiedenen Arten von Bewegungen auftreten. Wenn sieh ein Stäbchen über die Haut bewegt, so haben wir in der Regel direkt — und jedenfalls, ohne bewusst zu schliessen — die Empfindung einer Bewegung. Nun gibt es allerdings Bewegungen, die nicht diese Bewegungsempfindung hervorrufen. Sie können zu klein sein oder zu langsam. Wenn die Exkursion nahe der Schwelle lag, also wenn sich der Stift nur 0,02 mm oder wenig mehr verschob, dann trat oft eine Empfindung auf, dass etwas geschieht. Aber es handelte sich dabei um eine andere Sinnesqualität. Unbefangene Beobachter gaben in diesem Falle stets an, dass eine Unruhe gefühlt wird, während sonst die Aussage uneingeschränkt „Bewegung“ lautete. Bei noch kleinerer Exkursion wurde stets angegeben: „Ruhe“. 1) S. Exner, Über das Sehen von Bewegungen und die Theorie des zu- sammengesetzten Auges. Wiener Sitzungsber., math.-naturwissensch. Klasse Bd. 72 Abt. 3 8. 156 (160). 1875. 2) H. Aubert, Die Bewegungsempfindung. Pflüger’s Arch. Bd. 39 S. 347 (349 und 356). 1886. 3) K. Vierordt, Die Bewegungsempfindung. Zeitschr. f. Biol. Bd. 12 S. 226 (227). 1876. 4) OÖ. Funke, Der Tastsinn und die Gemeingefühle. L. Hermann’s Handb. d. Physiol. Bd.3 II., S.289 (291). F. C. W. Vogel, Leipzig 1879. Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 399 Ihrer Langsamkeit wegen dagegen wurde eine Bewegung nicht als solehe empfunden, wenn das bewegte Objekt in der Sekunde eine kleinere Strecke zurücklegte als 0,1 resp. 0,06 mm. Im Gegensatz dazu kann unter Umständen eine Bewegungs- empfindung auftreten ohne objektive Bewegung. Wenn z. B. zwei benachbarte Tastpunkte kurz nacheinander einzeln gereizt werden, so glaubt man unter Umständen, dass das reizende Haar .sich von dem ersten nach dem zweiten Punkt verschiebt '). Wenn ich gesagt habe, dass eine Bewegung ihrer Langsamkeit wegen nicht erkannt werden kann, so gilt dies natürlich nur dann, wenn uns nur eine kurze Beobaehtungszeit zur Verfügung steht. Verwendet man aber so viel Zeit auf den Versuch, dass das berührende Objekt, also in unserem Falle die Hartgummispitze, von dem ersten Fingerglied bis auf das dritte wandert, so wird man nach Ablauf dieser Zeit ganz bestimmt sagen können, dass sich jetzt die Spitze an einer anderen Stelle des Fingers befindet als am Anfang des Ver- suches. Hier liegt ein bewusster Schluss vor, und diese Form des Erkennens soll bezeichnet werden als „Wahrnehmung“, eine Be- zeichnung, welche von Exner?) und Aubert?) für den analogen psychischen Prozess bei dem optischen Erkennen von Bewegungen gebraucht wurde (vgl. S. 382). Bei diesen Versuchen kam es nebenbei bemerkt häufie auch zu primären Empfindungen, namentlich dann, wenn der Stift über die Hautfalten zwischen den einzelnen Fingergliedern wanderte. An diesen Stellen trat häufig das Gefühl von Kitzel auf, aber von eigent- licher Bewegungsempfindung kann dabei nicht die Rede sein (vgl. 8.384). Wenn nun in dem Erkennen einer schnellen und einer ganz langsamen Bewegung im Gebiete des Tastsinns so fundamentale Unterschiede bestehen, so scheint mir dieser Umstand ein Grund mehr für die Annahme zu sein, dass man auch in dem Gebiet des Tastsinns in dem ersten Fall wirklich eine Bewegungsempfindung vor sich hat. So leicht die Unterscheidung der primären Empfindung und der Wahrnehmung einer Bewegung in den ausgesprochenen Fällen, d.h. bei 1) Vgl. M. v. Frey und R. Metzner, Die Raumschwelle der Haut bei Sukzessivreizung. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane Bd. 29 S. 161 (179 und 180). 1902. 2) S. Exner, |. c. 3.160. S),H. Aubert, |. c. S. 349. 400 Adolf Basler: ganz schnellen und ganz langsamen Verschiebungen ist, so schwer ist sie in einem gewissen Grenzbezirk. Ich war in solchen Fällen häufig im Zweifel, ob ich wirklich eine primäre Bewegungsempfindung hatte, oder ob nur auf eine Bewegung geschlossen werden musste. Etwas Ähnliches lässt sich übrigens auch im Gebiete des Gesichts- sinnes beobachten. Zusammenfassung der Versuchsergebnisse'). 1. Als eigentliche Tastflächen müssen angesehen werden die Fingerbeeren und die Plantarflächen der Zehenendelieder. Beim gewöhnlichen Tasten werden in der Regel die drei ersten Finger und die drei ersten Zehen verwendet. 2. Mit der Kuppe des linken Zeigefingers wurde die Bewegung eines stumpfen Ebonitstiftes eben empfunden, wenn die Exkursion 0,02—0,03 mm betrug. 3. Eine auch nur ungefähre Schätzung der Grösse schien allen Beobachtern durchaus unmöglich; dagegen konnte von zwei ver- schieden grossen Bewegungen gewöhnlich mit überraschender Sicher- heit angegeben werden, welche die grössere ist. 4. Die Richtung, in welcher die Verschiebung erfolgte, liess sich nur bei sehr viel grösseren Exkursionen angeben. Die Grössen schwankten zwischen 0,5 und 3 mm. 5. Eine Bewegung wurde mit dem linken Zeigefinger unter günstigsten Bedingungen empfunden, wenn das Objekt in der Sekunde einen Weg von 0,06 mm zurücklegte. Unter dieser Geschwindigkeit waren die Ergebnisse schwankend. 6. Die Empfindlichkeit liess sich durch Übung erheblich ver- bessern, so dass nach einiger Zeit eine Verschiebung von kleinerer Geschwindigkeit erkannt wurde, als bei Beginn der Versuche. 7. Auch bei verschiedenen Personen war die Schwelle der Empfindlichkeit nicht gleich. 8. Wenn die Bewegung zu langsam erfolgte, um unmittelbar empfunden zu werden, liess sich nach Verlauf einiger Zeit mitunter fühlen, dass die die Haut berührende Hartgummispitze an einer anderen Stelle des Fingers lag als anfanes (Wahrnehmung der Be- wegung). 1) Dabei sind die Ergebnisse (2—4) der oben erwähnten früheren Ver- öffentlichung des Zusammenhangs wegen mit aufgenommen. Über das Erkennen von Bewegungen mittelst des Tastgefühls. 401 9, Bei den kleinen eben noch erkennbaren Geschwindigkeiten dauerte es häufig längere Zeit, oft mehrere Sekunden, bis die Be- wegung gefühlt wurde. 10. Am Daumenballen waren die Ergebnisse sehr schwankend. Soweit die Versuche einigermaassen rein auszuführen waren, musste die Geschwindigkeit ungefähr doppelt so gross sein wie beim Zeige- finger, wenn die Bewegung erkannt werden sollte. ll. Damit die Richtung der Bewegung mit der Spitze des Zeigefingers erkannt wurde, musste die Lageveränderung im all- gemeinen schneller erfolgen. Ich konnte die Richtung einer Bewegung ohne Fehler erkennen von einer Geschwindigkeit von 0,15 mm in der Sekunde an. 12. Die Grösse des mit dem Finger ausgeübten Druckes bei willkürlichen Tasten schwankte in den meisten Fällen zwischen l und 3 g. Bei einigen Versuchspersonen stieg der Druck mitunter bis 10 @. 13. Für die Haut der Tastflächen selbst muss es, gleiche Ver- suchsbedingungen vorausgesetzt, gleichgültig sein, ob das Objekt ver- schoben wird und der Finger ruhig bleibt, oder ob man den tastenden Finger gegenüber dem feststehenden Gegenstand willkürlich bewegt. Es findet in beiden Fällen die gleiche relative Verschiebung von Haut und Objekt statt. 14. Bei Versuchen, die angestellt wurden zur Ermittlung der Geschwindigkeit, mit der ein Finger zum Zweck des Tastens über Objekte bewegt wird, ergab sich in der Mehrzahl der Fälle eine Bewegung von 30 bis 40 mm in der Sekunde. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es sich bei allen vorgenommenen Versuchen nur um das Erkennen von grösserer oder kleinerer Rauhigkeit handelte. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 26 402 Moriz Sachs: Zum Nachweis der hemiopischen Pupillarreaktion. Von Dr. Moriz Sachs, Privatdozenten der Augenheilkunde in Wien. (Mit 1 Textfigur.) Wernicke’s!) Annahme, dass der Reflexbogen für die Pupillar- reaktion vom Traetus abzweige, zum Kern des Oculomotorius resp. der Iris gehe, um von da zur Iris zu gelangen, liess ihn die Forderung aufstellen, dass die Leitungsunterbrechung des Traetus, welcher Natur sie auch immer sein möge, das Ausbleiben des Pupillarreflexes bei Belichtung der blinden Netzhauthälften zur Folge haben müsse, während eine höher sitzende, Hemianopie bedingende Läsion im Spiel der Pupille keine Veränderungen herbeiführen könne. Einen Fall von nahezu vollständiger Amaurose bei erhaltener Pupillarreaktion erklärte er durch die Annahme, dass der Traetus der einen Seite und die zentralen Endigungen des Sehnerven auf der anderen Seite zerstört seien. Er empfahl, in ähnlichen Fällen die Lichtreaktion der beiden Netzhauthälften getrennt zu untersuchen, um festzustellen, ob nur der eine Traetus opticus oder beide und im ersten Falle, weleher von beiden das Leitungsvermögen eingebüsst habe. Damit hatte Wernicke den Begriff der hemianopischen Pupillar- reaktion aufgestellt und auf die Bedeutung derselben für die topische Diagnose hingewiesen. Die Literatur der folgenden Jahre enthält zahlreiche Mitteilungen über Fälle, in denen der hemianopische Pupillarreflex beobachtet und diaenostisch verwertet worden ist. Ich erwähne insbesondere einen Fall von Leyden?), der aus dem l) Wernicke, Über hemiopische Pupillenreaktion. Fortschritte der Medizin 1883. 2) Leyden, Über die hemiopische Pupillenreaktion Wernicke’s. Deutsche med. Wochenschr. 1892. Zum Nachweis der hemiopischen Pupillarreaktion. 403 Nachweis der hemianopischen Pupillarreaktion auf Traetusaffeetion schloss und diese Annahme durch die Sektion zu verifizieren ver- mochte, bei der ein auf den Hirnschenkel und den einen Traetus optieus übergreifender Erweichungsherd im rechten Linsenkern auf- gedeckt wurde. Es sei weiter auf die Arbeiten Henschen’s!) verwiesen, der die diaenostische Verwertung der hemianopischen Pupillarreaktion unter Berücksichtigung der Annahme eigener, lediglich dem Pupillar- reflex dienenden, im Öptieus zentripetal verlaufenden Fasern einer eingehenden Besprechung unterzogen hat. Während durch diese Arbeiten die Untersuchung auf hemi- anopische Pupillarreaktion für die topische Diagnose an Bedeutung gewann, wurde der Wert der Probe von anderer Seite stark in Frage gestellt. Darauf, dass der Nachweis der hemianopischen Reaktion nicht immer leicht gelingt, hatten zahlreiche Beobachter aufmerksam gemacht — vielfach wurden Vorrichtungen angegeben, die den Nachweis zu erleichtern imstande sein sollten — doch erst Ahlström und Heddaeus gingen so weit, die Existenz einer echten hemianopischen Starre im Sinne Wernicke’s in Zweifel zu ziehen. Heddaeus?) geht bei seinen kritischen Betrachtungen von der bekannten Tatsache aus, dass der Pupillarreflex hauptsächlich vom macularen Bereich der Netzhaut ausgelöst wird; da nun, argumentiert er weiter, eine rein extramaculare Bestrahlung der Netzhaut wegen der Dispersion nicht möglich sei, wären die für eine einwandfreie Hervorrufung eines hemianopischen Reflexes erforderlichen Be- dingungen streng genommen unerfüllbar. Für die Fälle, die bei Belichtung der sehenden Netzhautteile eine ergiebigere Pupillen- verengerung erkennen lassen als bei Belichtung der blinden Ab- schnitte, wäre nach Heddaeus ein Hineinspielen des Haab schen Rindenreflexes in Erwägung zu ziehen. Um diesen auszuschalten, nimmt er die Untersuchung des Patienten so vor, dass er ihn geradeaus auf ein Fixationszeichen (Buchstaben) blicken lässt und 1) Henschen, Klinische und anatom. Beiträge zur Pathologie des Gehirns 1890, 1892, 1894. Upsala. 2) Heddaeus, Über hemiopische Pupillarreaktion. Deutsche medizin. Wochenschr. 1893. — Der Haab’sche Hirnrindenreflex der Pupille in seiner Beziehung ezur hemiopischen Pupillenreaktion. Arch. f. Augenheilk. 1896, 26* 404 Moriz Sachs: zu beiden Seiten je ein Licht aufstellt, das abwechselnd verdeckt wird. Nur solange der Kranke die Aufmerksamkeit auf den Buch- staben gerichtet hält, sei der Haab’sche Reflex ausgeschaltet: Heddaeus ist der Ansicht, dass bei Beachtung dieser Vorsicht mancher hemiopische Reflex als vermeintlicher aufgedeckt werden könnte. ‚In der Besorgnis, dass durch einen Haab’schen Reflex eine hemiopische Pupillarreaktion vorgetäuscht werden könnte, geht Heddaeus so weit, dass er den Untersuchungen auf hemianopische Reaktion bei bewusstlosen Kranken wegen des hier in Wegfall kommenden Rindenreflexes mehr Wert zusprechen möchte. Ahlström') untersuchte einen an Hemianopia dextr. leidenden hemiplegischen Mann mittels einer elektrischen Lampe, die in einem Metallrohr eingeschlossen war, das nur eine "/s qmm grosse Öffnung besass. Er vermutet, dass die hemianopische Pupillarreaktion davon herrührt, dass der Lichteinfall ins Auge eine Akkommodations- bewegung und eine Kontraktion der Pupille hervorruft, die schwächer ausfällt, wenn das Licht den blinden Teil der Netzhaut _ trifft und die geringe Menge des zur Macula gelangenden zentralen Lichtes die Aufmerksamkeit des Patienten in geringerem Grade erweckt. Für mich war die Veranlassung zur Beschäftigung mit der Frage der Nachweisbarkeit der hemianopischen Pupillarreaktion durch den Wunsch des mir befreundeten Nervenarztes, des Herrn Dr. Schüller, gegeben, in einem von ihm als Traetushemiopie aufgefassten Falle durch die Beobachtung der Pupillarreaktion zur Sicherung der Diagnose beizutragen. Dass es eine extramaculär auslösbare Pupillarreaktion gibt, die nicht dem ins Macularbereich gelangenden zerstreuten Lichte ihre Ent- stehung verdankt, darüber bestand für mich kein Zweifel. Meine im Jahre 1890/91 in dem damals unter Prof. Hering’s Leitung stehenden physiologischen Institut der deutschen Universität Prag ausgeführten Untersuchungen ?) hatten nämlich ergeben, dass die Reizwerte, welche farbige Lichter für das pupillomotorische Zentrum l) Ahlström, Über die sogenannten hemiopische Pupillenreaktion. Hygiea Ba.1. 2) Sachs, Über den Einfluss farbiger Lichter auf die Weite der Pupille. Pflüger’s Arch. Bd. 52 8. 79. 1892, und Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. Bd. 22. Arch. f. Ophthalm. Bd. 39. Zum Nachweis der hemiopischen Pupillarreaktion. 405 besitzen, auf der Netzhautperipherie Änderungen erfahren, die den dort auftretenden Änderungen ihrer Helligkeitswerte parallel gehen. Dieses Versuchsergebnis war unvereinbar mit der Annahme, dass die beobachteten Pupillarreaktionen von dem zur Macula gelangenden zerstreuten Licht ausgelöst werden — sie mussten an Ort und Stelle hervorgerufen worden sein. War damit auch die Existenz eines extramaculär auslösbaren Pupillenreflexes bewiesen: die überragende Bedeutung der in der Macularegion einwirkenden exzitomotorischen Reize stand nach wie vor ausser Diskussion. Verwendet man intensivere Strahlungen zur Prüfung der Reflexerregbarkeit peripherer Netzhautpartien, dann besteht die Gefahr, dass zerstreutes Licht in einer pupillomotorisch wirksamen Menge zur Macula gelangt (von der Menge des zerstreuten Lichtes kann man eine gute Vorstellung gewinnen, wenn man in einem Dunkelzimmer eine Kerzenflamme auf den blinden Fleck des einen Auges bei Verschluss des anderen bringt). Die möglichste Vermeidung zerstreuten Lichtes hielt ich damals noch — und darin befand ich mich in Übereinstimmung mit allen bisherigen Autoren — für eine wesentliche Bedingung des Gelingens einer Probe auf hemiopische Reaktion. Daraus ergab sich zunächst die Notwendigkeit, die Evidenz der Pupillarreaktion bei Prüfung exzentrischer Netzhautbezirke statt durch Steigerung der Intensität der Strahlung durch Bestrahlung eines grösseren Areals zu heben. Die Methode, deren ich mich bediente, ist mit dem Verfahren, das ich seinerzeit zur Bestimmung der motorischen Valenzen farbiger Lichter verwendet habe, wesensverwandt. Dieses Verfahren hatte darin bestanden, dass ich im Ausbleiben aer Pupillarbewegung bei abwechselnder Beleuchtung desselben Netzhautareals mit zwei qualitativ verschiedenen Strahlungen einen Beweis für ihre motorische Äquivalenz zu erhalten suchte, resp. dass ich nicht die Pupillen- bewegungen, die durch zwei hintereinander und unabhängig von- einander verwendete Strahlungen ausgelöst wurden, miteinander ver- glich, sondern den Einfluss des Wechsels der Beleuchtung, der Substituierung der einen Strahlengattung durch die zweite auf den Stand der Pupille zum Gegenstand der Beobachtung machte. In ganz analoger Weise verfuhr ich nun bei der Prüfung auf hemiopische Pupillarreaktion. Statt erst die eine Netzhautpartie abwechselnd zu belichten und zu beschatten und die hierbei zu beobachtenden Pupillenphänomene mit denen bei hintereinander er- 406 Moriz Sachs: folgender Belichtung und Beschattung der anderen Netzhautpartie zu vergleichen, suchte ich den Effekt des Austausches der in bezug auf ihre pupillomotorischen Qualitäten zu vergleichenden Netzhaut- areale unmittelbar zu beobachten. Die bei der Hemianopie hinsichtlich der Pupillarreaktion ge- gebene Fragestellung gestattet die abwechselnde Bestrahlung eines ausgedehnten Netzhautareals — einer ganzen Netzhauthälfte. Die Vorriehtung, die ich zur Feststellung der hemiopischen Starre verwendete, bestand aus einer 25 em im Durchmesser haltenden mit mattweissem (Baryt-) Papier überspannten Holzscheibe, in deren Mitte ein rundes Loch mit dem Durchmesser von 4 em sich be- fand. Eine zweite, genau halb so grosse schwarze Scheibe ist mittels einer in der zentralen Öffnung liegenden Führung verschieblich vor der weissen Ganzscheibe angebracht. Die Scheibe wird zwischen Beobachter und Patient gebracht und genau frontal, mit der weissen Fläche dem Patienten, dessen Kopf auf einer Kinnstütze ruht, zu- gekehrt gehalten. Durch die zentrale Öffnung fixiert der Patient das Auge des Arztes, der hinwiederum durch dieselbe Öffnung das Pupillenspiel beobachten kann. (Später brachte ich in der Mitte der Öffnung ein Mignonglühlämpechen als Fixationszeichen an. Das- selbe war an der dem Beobachter zugekehrten Seite geschwärzt; es erleichterte dem Patienten die Fixation und dem Arzt die Beob- achtung der Pupille.) Nun wurde vorerst die schwarze Scheibe so gestellt, dass die rechte Hälfte der weissen Scheibe von ihr verdeckt wird; hierauf wird die schwarze (Halb-) Scheibe mit einem Ruck auf die andere Seite gebracht, so dass jetzt die linke Hälfte der weissen Scheibe verdeckt und die rechte Hälfte freigegeben wird, dann wird wieder die verdeckte Hälfte freigegeben und die vorher weisse Scheibenhälfte verdeckt usf. und dabei immer der Einfluss des Wechsels der beleuchteten Netzhauthälfte auf die Pupille beob- achtet. Durch passend angebrachte Arretierungen wird die vor- zuschiebende Halbscheibe in den Stellungen festgehalten, wo die Grenzlinie genau senkrecht steht. Die Verschiebung der Halbscheibe erfolgt durch Drehung um ihren Mittelpunkt derart, dass in dem Maasse, als die weisse Scheibe für die eine Netzhauthälfte ver- deckt, sie für die andere freigegeben wird. Bei diesen Ver- schiebungen bleibt die Gesamtbeleuchtung der Netz- haut stets gleich; es werden nur die belichteten Netzhauthälften gewechselt und der Effekt des Übergangs der Belichtung von einer Zum Nachweis der hemiopischen Pupillarreaktion. 407 Netzhauthälfte auf die andere in bezug auf das Pupillenspiel be- obachtet. Der Sehüller’sche Fall, den ich anfangs November 1907 zu untersuchen Gelegenheit hatte, betraf einen 17jährigen Weber- sehilfen, der 7 Monate zuvor durch einen Messerstich gegen die linke Schläfe verletzt worden war. Die Narbe nach der Stich- verletzung befand sich in der Mitte zwischen äusserem Orbitalrand und Gehörgang. Von Nervensymptomen waren damals vorhanden: 1. rechtsseitige homonyme Hemianopie mit Aussparung eines kleinen zentralen kreisrunden Feldes, 2. Intentionstremor der rechten oberen Extremität, 3. spastische Parese der rechten unteren Extremität, 4, psychische Veränderungen; auf Grund dieses Symptomenkomplexes nahm Dr. Schüller an, dass die Verletzung den linken Hirnschenkel erreicht und auf dem Wege dahin den linken Schläfelappen (in der Anamnese wurde über vorübergehende Sprachstörungen berichtet) und den linken Traetus optieus getroffen hat. Die Untersuchung mit meiner Vorrichtung ergab evidente hemi- anopische Starre und stützte die Diagnose auf Traetushemiopie. Das Heddaeus’sche Bedenken, dass der Haab’sche Rindenreflex den Ausfall des Versuches trüben könnte, ist dadurch gegenstandslos, dass bei dieser Versuchsanordnung die Beobachtung des Eintrittes der Pupillenerweiterung bei der einen Stellung der Halbscheibe diagnostisch gleichwertig ist der Beobachtung von Pupillenverengerung bei andersseitiger Lage der Halbscheibe. Die Untersuchung von Hemiopen habe ich nach längerer Unter- brechung in diesem Jahre wieder aufgenommen. Durch das freundliche Entgegenkommen des Herrn Hofrat Prof. von Wagner und seines Assistenten, des Herrn Dr. Pötzl, hatte ich Gelegenheit, folgende zwei Fälle zu untersuchen. H. N. 24 Jahre alt. Anamnese vom Mai 1910: Seit 2 Jahren Kopfschmerzen; seit 1908 Facialisparese und Parese der linken Hand; seit Dezember 1909 Hemiparese der linken oberen und unteren Extremität (spastisch); Status praesens: linksseitige Hemianopie; beiderseits Cornealreflex herabgesetzt; VII-Parese und spastische Parese der oberen und unteren Extremität; links Babinski; Bauch- deckenreflex 1<“r. Die klinische Diagnose lautete: Traetushemiopie und Hemiplegia sinistr. verissim. Tumor an der Basis rechts. Ich fand auch hier deutliche hemianopische Starre; bei den wiederholt vorgenommenen Untersuchungen schien uns des öfteren die Pupillen- 408 Moriz Sachs: erweiterung bei Belichtung der blinden Netzhauthälfte ausgiebiger zu sein als die Pupillenverengerung bei Bestrahlung der intakten Netzhauthälfte. Die Untersuchungen wurden sowohl monokular als auch binokular angestellt. Selbstverständlich waren die Reaktionen der Pupille ausgiebiger wenn bei binokularer Fixation die Differenz der exzitomotorischen Valenz von zwei blinden gegenüber zwei seh- tüchtigen ‚Netzhauthälften zur Beobachtung gelangte. Da ferner die Probe um so empfindlicher wird, einen je grösseren Bruchteil der Gesamtheiligkeit des Raumes das im Versuch verwendete vom weissen Schirm reflektierte Licht vorstellt, nahm ich die Untersuchung in einem Dunkelzimmer vor und beleuchtete die Scheibe mittels einer hinter dem Patienten angebrachten Lampe. Der zweite Fall betraf einen hemiplegischen, an cerebraler Hemianopie leidenden 63 jährigen Mann. Bei ihm konnte, wie vorauszusehen war, eine hemianopische Reaktion der Pupille nicht nachgewiesen werden. Ich untersuchte endlich eine in meiner Behandlung stehende 20 jährige, an Hypophysentumor leidende Patientin, bei der seit kurzem rechtsseitige Hemianopie zur Entwicklung gekommen war. Auch hier konnte ich hemianopische Starre nachweisen; begreiflicher- weise konnte in diesem Falle die Probe nur monokular angestellt werden, da die hier vorhandene bitemporale Hemianopie die gleich- zeitige Belichtung beider (sehtüchtigen) temporalen und damit alternierend beider (blinden) nasalen Netzhauthälften erheischt hätte, was mittels meiner Vorrichtung nicht möglich ist. — Da die Fälle von Hypophysentumoren in letzter Zeit nieht nur wegen der durch sie gesetzten trophischen Störungen, sondern ins- besondere auch in Hinblick auf die röntgenologische Nachweisbarkeit und ihre ÖOperabilität an Interesse gewonnen haben, dürfte es sich empfehlen, auch dem Verhalten der Pupillarreaktion bei der Ent- wicklung und weiter bei der eventuellen Rückbildung der Symptome Beachtung zu schenken. Die Frage, ob die Pupillarreaktion dem auf dem Chiasma lastenden Druck früher oder später zum Opfer fällt als die Lichtperzeption, ob sie nach erfolgreicher Operation, wenn sie bereits geschwunden war, mit dem Sehvermögen zugleich oder zeitlich unabhängig von diesem zurückkehrt, besitzt nicht nur theoretisches Interesse: mit Beziehung zur Frage des Bestehens eigener Pupillarfasern und des Verlaufs derselben; wenn die Pupillar- reaktion andere Wege geht wie die Liehtperzeption und bei den Zum Nachweis der hemiopischen Pupillarreaktion. 409 Erkrankungen der Hypophyse ein gesetzmässiges Verhalten verraten würde, dann würden sich daraus auch Anhaltspunkte für die Stellung der Prognose gewinnen lassen. Wie schon bemerkt, gestatten die hierher gehörigen Fälle nieht die binokulare Untersuchung; da die eben skizzierten Fragen unter Umständen eine weitere territoriale Einschränkung des zu prüfenden Netzhautareals ergeben könnten — ich erwähne nur die auf einen Netzhautquadranten beschränkten Ausfallserscheinungen —, verbunden mit einer Erschwerung, der die Untersuchung der Pupillarreaktion bei Verwendung farbiger Liehter be- gesnen würde, war ich bestrebt, die Empfindlichkeit der Probe zu er- höhen. Von vornherein am meisten Aus- sicht versprach die Heranziehung der ex- zitomotorisch weitaus wirksameren zen- tralen Netzhautpartien. Eine einfache Überlegung ergab, dass bei Anwendung meines Untersuchungsprinzips eine Trü- bung der Versuchsergebnisse durch das zerstreute Licht, das alle bisherigen s| Beobachter veranlasst hatte, das macu- lare Gebiet auszuschalten, nicht zu besorgen ist. Denn wenn die bei meinen Versuchen verwendete weisse Scheibe in der Mitte nicht perforiert wäre und behufs weiterer Steigerung der von ihr ausgehenden Lichtmenge aus Milchgelas, das von rückwärts her beleuchtet wird, bestünde, dann würde selbstverständlich bei Verdecken der einen Hälfte dieser Scheibe (und Fixation ihrer Mitte) reichlich zerstreutes Licht auf die gegenüberliegende Hälfte der Netzhaut gelangen, aber nieht mehr resp. ebensoviel, als bei entgegengesetzter Lage der schwarzen Deckscheibe zur anderen Netzhauthälfte gelangen kann. Da auch bei dieser Versuchsanordnung stets die Gesamt- beleuchtung der Netzhaut durch direkte Bestrahlung einer- und durch zerstreutes Licht anderseits unverändert bliebe, fragt es sich nur: Welchen pupillomotorischen Effekt besitzt der Er- satz der Vollbeleuchtung der einen Netzhauthälfte 410 Moriz Sachs: Zum Nachweis der hemiopischen Pupillarreaktion. durch die vergleichsweise geringe Menge des zer- streuten Lichtes bei gleichzeitig sich vollziehender Ersetzung des zerstreuten Lichtes, das zur anderen Netzhauthälfte gelangt, dureh die Vollbeleuchtung derselben. Die Vorrichtung !), die ich mir zu diesem Zwecke anfertigen liess, besteht aus einem etwa 10 cm langen, 7 em im Durchmesser haltenden Metallrohr, das an der dem Patienten zugekehrten Seite von einer Milchglasplatte (a) verschlossen ist. Hinter der Milchglasplatte — im Innern des Rohres — befindet sich eine kleine Glühlampe, deren Zuleitungsdrähte lichtdicht in dem DBlechdeckel eingelassen sind, der das andere Ende des Rohres verschliesst. Unmittelbar vor der Milchglasplatte, deren Mitte durch einen als Fixationspunkt(f) dienenden schwarzen Punkt gekennzeichnet ist, ist eine schwarze, halbkreisförmige, in der Mitte in kleinem Umfang ausgesparte ge- schwärzte Blechscheibe (b) drehbar angebracht (s. nebenstehende Figur). Die Drehung wird vom Beobachter mittels zweier Schnurläufe (ss) voll- zogen, die an zwei am Rande der Halbscheibe angebrachten Ösen befestigt sind. Durch je einen Dorn am oberen und unteren Rand des Rohres wird die Arretierung der Halbscheibe bei genauer Rechts- und Linkslage derselben gewährleistet. (Zur Untersuchung auf „Quadrantenhemiopie“ müsste die Deckscheibe aus einem Dreiviertel- kreis bestehen.) Ich war leider bisher noch nicht in der Lage, diese Vor- richtung bei hemianopischen Patienten zu erproben; doch unterliegt es für mich keinem Zweifel, dass es erst durch die Heranziehung des macularen Bereiches der Netzhaut möglich sein wird, den ganzen mit der Frage der hemianopischen Pupillarreaktion zusammenhängenden Komplex von Problemen in den Kreis exakter Untersuchungen zu ziehen. — 1) Der kleine Apparat kann vom Uriversitätsoptiker A. Schwarz, Wien IX, Spitalgasse 3, bezogen werden. 411 (Aus dem physiologischen Institut der Universität Bern.) Studien über antagonistische Nerven. VI. Von Leon Asher. I. Über die Abhängigkeit der Gefässnervenwirkung vom Spannungszustand der Gefässwand. In einer Reihe voraufgegangener Studien !) haben ich und meine Mitarbeiter die Wirkungsweise der antagonistischen Nerven unter mehrfach variierten Bedingungen untersucht. Das Hauptinteresse, das sich an die Untersuchung der antagonistischen Nerven knüpft, ist die Erforschung des Problems der Erregung und Hemmung, ein Problem, dessen biologische Tiefen und Weiten die Lehren von Ewald Hering weegleitend erleuchtet haben. Ein Fall, wo in scheinbar einfachster Form Erregung und Hemmung durch Nervenreizung vorliegt, ist die Erregung der Gefäss- muskeln durch die Vasokonstriktoren und die Hemmung derselben durch die Vasodilatatoren. Der Fall ist deshalb scheinbar einfach, weil die Gefässe für gewöhnlich keine selbständigen Bewegungen ausführen, die uns nötieten, komplizierte Zentralapparate als Er- zeuger der Automatie anzunehmen, und weil auch die morphologische Untersuchung keine Anhaltspunkte bis jetzt dafür ergab, dass ähn- lich wie z. B. im Herzen und im Darm strukturelle Gebilde von höherer Art als blosse Nervenfasern vorhanden seien. In Wahrheit sind wir aber nicht in der Lage anzugeben, wes- halb die gleiche Reizung des einen Nerven Kontraktion, des anderen Erschlaffung der Gefässmuskulatur macht. Bei der von vielen Physiologen vertretenen Anschauung, dass in allen Nerven der 1) L. Asher, Zeitschr. t. Biol. Bd. 47 S. 87. — K. Pretschistenskaja, Zeitschr. f. Biol. Bd. 47 S. 97. — Ch. Bessmertny, Zeitschr. f. Biol. Bd. 47 S. 400. — L. Asher, Zeitschr. f. Biol. Bd. 52 S. 298. — W. Glur, Zeitschr f. Biol. Bd. 52 S. 479. 412 Leon Asher: fe gleiche Erregungsprozess ablaufe, sind die Schwierigkeiten besonders gross. Man kann sich keine rechte Vorstellung davon machen, wie der nämliche Prozess, wenn er an der kontraktilen Substanz an- langt, das eine Mal sie zur Kontraktion, das andere Mal sie zur Erschlaffung brinst. Es muss dann schon zu der — übrigens unab- hängig von diesem Gesichtspunkt aus — berechtigten Annahme ge- griffen werden, dass zwischen Nervenendigung und kontraktiler Substanz ein Mechanismus eingeschoben sei, welcher die Umwertung des gleichen Prozesses zu ungleicher Wirkung bewerkstellige. Ge- wöhnlich denkt man hierbei an einen nervösen Mechanismus; man muss jedoch sich darüber klar sein, dass mit der Angabe einer be- stimmten Örtlichkeit als Sitz einer Wirkung noch nichts über die Mittel erkannt wird, die zur Erklärung benötigt werden. E. Hering hat die Vorstellung geschaffen, dass im Nerven nicht nur ein einziger qualitativ ganz gleichartiger Vorgang ablaufe, und dass dem, was wir Erregung und Hemmung nennen, entsprechend zwei entgegen- gesetzte Prozesse des Stoffwechsels zugrunde liegen. Es ist bekannt, wie fruchtbar dieser Gedanke in der modernen Biologie sich er- wiesen hat. Es ist von einigen Autoren der Versuch gemacht worden, die genannte Vorstellung heranzuziehen, um dadurch die Erregungs- und Hemmungsnerven unserem Verständnis näher zu rücken, indem behauptet wurde, dass der eine Nerv dissimilatorische, der andere assimilatorische Vorgänge leitee Es würde hierdurch zwar für den Unterschied der beiden Nerven eine Erklärung ge- funden sein, aber leider hat es seine Schwierigkeiten, dieselbe für eine gelungene zu halten. Denn einerseits lässt sich gar kein sicherer experimenteller Anhaltspunkt für diese Art der Verschieden- heit der beiden Nerven aufweisen. Anderseits entspricht, wie ich früher an einer anderen Stelle ausführte!), Gaskell’s Annahme der anabolen und katabolen Nerven nicht der von Hering formu- lierten Anschauung; „denn nach Hering kann ein und derselbe Nerv Leiter von qualitativ verschiedenen Prozessen sein; irgendeine Spezialisierung für zentrifugale, zu muskulösen Gebilden gehende Nerven hat Hering nicht gemacht“. Deshalb bleibt die Aufgabe bestehen, weitere Vorstellungen aus- zubilden, die als Ausgangspunkte der experimentellen Forschung zu dienen vermögen. Ich habe in meiner vierten Studie über ant- nlarc: Studien über antagonistische Nerven. VI. 413 agonistische Nerven!) auf Grund der Erscheinungen, die bei gleich- zeitiger Reizung erregender und hemmender Nerven beobachtet werden, die Hypothese ausgesprochen, dass durch die Reizung der erregenden und hemmenden Nerven zwei verschiedene Stoffe an der Peripherie frei werden. Die Eigenschaften derselben lassen sich so bestimmen, dass die tatsächlich beobachteten Erscheinungen aus denselben sich ableiten lassen würden. Eine andere, aus höchst sinnreichen Experimenten an Wirbellosen erschlossene Anschauung ist diejenige von v. Uexküll. Auch diese verlegt die Ursache der Erregung und Hemmung in die Peripherie, indem sie den Zustand des Erfolgsorganes bestimmend sein lässt für dasjenige, was sich er- eignet. Bekanntlich haben Sherrington und Magnus eine Reihe von Reflexerscheinungen am Säugetier auf die Uexküll’schen Regeln zurückführen Können. Ganz unabhängig aber von der speziellen Form irgendeiner Hypothese bleibt es eine nicht uninteressante Aufgabe der experi- mentellen Forschung, die erregenden und hemmenden Nerven auf Erfolgsorgane einwirken zu lassen, deren Zustand experimentell variiert wird. Ich habe in den oben zitierten Arbeiten dieses Prinzip mannigfach angewandt, und die nachstehenden Versuche sollen sich denselben anreihen, indem sie, wie die früheren, Aufschluss darüber seben, wie sich antagonistische Nerven verhalten, wenn ihr Angrifts- ort in wechselnden Zuständen sich befindet. Die Gefässe verengern sich infolge Reizung der Vasokonstriktoren und erweitern sich infolge Reizung der Vasodilatatoren. Erweiterung und Verengerung lassen sich aber auch rein mechanisch erzielen. Besonders leicht und rein gelingt dies hinsichtlich der Erweiterung, da bei einer arteriellen Blutdrucksteigerung einzelner Gefässgebiete passiv ausgedehnt werden können. Dadurch wird sofort die Möglich- keit geboten, zu untersuchen, wie die antagonistischen Gefässnerven einmal bei relativ unausgedehnten, das andere Mal bei passiv ge- dehnten Gefässwänden wirken, wobei also der Einfluss der Gefässnerven bei einem verschiedenen Ausgangszustand des peripheren Erfolg- sorganes geprüft wird. In meiner vierten Studie hatte ich mich der Wärme und Kälte bedient, um die Gefässe in einen anderen Ausgangszustand zu bringen, auf den die stets gleich gereizten Gefäss- verengerer und -erweiterer einwirken sollten. Es hatte sich ergeben, 1). c. 414 Leon Asher: dass die Erregbarkeit der antagonistischen Nerven unabhängig von dem Zustande des Erfolgsorganes war, eine Tatsache, die nicht dafür sprach, dass die Gefässnerven direkt an der kontraktilen Substanz selbst angriffen. Methode. Zu den nachfolgenden Versuchen dienten Katzen. Dieselben befanden 'sich in Äthernarkose. Um rein mechanisch den Blutdruck zu erhöhen, wurde die Aorta hoch oben am Zwerchfell komprimiert, wodurch in allen kopfwärts gelegenen Gefässgebieten die Gefässe passiv gedehnt werden. Chorda tympani und Sympathieus wurden präpariert und auf Elektroden geleet; um jede Mitreizung des Vagus zu verhüten, wurde eine Strecke weit der Vagus exzidiert. In hekannter Weise isolierte ich den Blutstrom aus der Gland. submax. und liess das Venenblut, nach dem Verfahren von Barcroft, in ein horizontales, mit Teilung versehenes Glasrohr von passendem Durchmesser gelangen. Zur Verhütung der Gerinnung diente Hirudin. Bei der Katze enthält nun nicht allein die Chorda, sondern auch der Sympathieus Gefässerweiterer. So zahlreich sind manch- mal dieselben vertreten, dass bei nicht allzu starken Reizen nur ganz im Anfang eine Verengerung erzielt wird und alsobald eine machtvolle Erweiterung zum Vorschein kommt. Wegen dieses Sach- verhaltes, und weil die Untersuchung der Gefässerweiterer, der hemmenden Nerven, am meisten Interesse darzubieten schien, be- ziehen sich die meisten Versuche auf das Verhalten der Dilatatoren. Der Blutdruck wurde von der Karotis der nicht zur Ausfluss- messung dienenden Seite aufgeschrieben. Ehe ich die bei Beobachtung der Gefässerweiterer erhaltenen Ergebnisse mitteile, zu deren Illustrierung aus meinen Versuchs- reihen einige Beispiele gegeben werden, sei nur kurz konstatiert, dass die Ergebnisse hinsichtlich der Gefässverengerung ganz eindeutig waren. Es kamen einzelne Tiere vor, bei denen die Reizung des Sympathieus ausschliesslich Gefässverengerung verursachte. Gleich- gültig nun, ob der Blutdruck im Gebiete der Speicheldrüse hoch oder niedrig war, stets war die Stromstärke des Reizes, die zur Erzielung einer maximalen Gefässverengerung notwendig war, die gleiche. Dieses Resultat steht im Einklang mit der von mir früher gefundenen Tatsache, dass die Erregbarkeit der Vasokonstriktoren der unteren Extremität konstant bleibt, gleichgültig, ob die betreffende Extremität irgendeine Temperatur von 101/„—40° angenommen hat. Studien über antagonistische Nerven. VI. 415 Nun könnte die Unabhängigkeit der Vasokonstriktorenwirkung von dem Spannungszustande der Gefässwände für eine nur scheinbare gehalten werden. Denn angesichts der oft behaupteten grösseren Erreg- barkeit der Vasokonstriktoren wäre es möglich, dass die Schwankungen derselben infolge des Spannungszustandes am Erfolgsorgane nicht zum Ausdruck gelangten. Auch aus diesem Grunde war es wesent- lich, die entscheidenden Versuche an den Vasodilatatoren ausführen zu können. Reihe I. Katze. Äthernarkose. Ausfluss aus Speicheldrüsenvene Chorda tymp. und Sympathicus auf Elektroden. Kanüle in Karotis. : Ausfluss in Millimetern Mittlerer zur in 5 Sek. Blutdruck Nr elta Kemer ne ne SO ErT,; 9,9, Chorda, 2000 Stromst. 12% 19, D2lH Dis 80 mm Hg Keiner A 34, 29,9, 19,5, | Nr. 1b. Keinen Nenn 14, 12, 13, Chorda, 2000 Stromst. 24, 34, 49, 43,95, 140 mm Hg IK or ee RER 42, 35,9, 30,9, In diesem Versuche steht während der Aortenkompression das Gefässgebiet der Speicheldrüse unter einem 60 mm höheren Blut- druck als vorher ohne Aortenkompression. Demnach erleiden die Gefässe rein mechanisch eine erhebliche Ausdehnung, und die dehn- baren Bestandteile der Gefässwand, wozu in erster Linie die Muskulatur gehört, erleiden eine merkliche Änderung ihres Zustandes. Trotzdem bewirkt eine Chordareizung der nämlichen Stärke wie vorher absolut genommen eine grössere Gefässerweiterung, gemessen an der Ausflussmenge des venösen Blutes. Die tatsächliche Wirkung ist innerhalb der Genauigkeitsgrenzen unserer Methode als gieich- gross zu bezeichnen, da ja die Ausgangsstellung der Gefässe während der Aortenkompression eine erweiterte ist. Reihe II. Katze. Versuchsanordnung wie vorher. Kete Ausfluss in Millimetern | Mittlerer = in 5 Sek. Blutdruck Nrs2ia: Keiner: es Are 8, Ta eh Sympathicus, Reizstärke 900. . 6, 5 ei 98 mm Hg Rene 8: 3 We a RE IS DIT ZIG: 416 Leon Asher: , Ausfluss in Millimetern Mittlerer De zung in 5 Sek. Blutdruck Nr. 2b. Aortenkompression. Keine Hain a ae 17,9,.15,9, 12; Sympathicus, Reizstärke 900. Tea te a5 En al, 38, 132 mm Hg Keinei.ci 2 ee SESERnERZ, "22°, 1 a BE er Nr. 3a. Keine een 12% 12, 10,5, Sympathicus, Reizstärke 1000 8,9, .9,9,..18,9, 27; 104 mm Hg Kemer en kenn la 13, Nr. 3b. Aortenkompression. Keinewerr like fe 2 1624,,65:20, 2218; Sympathicus, Reizstärke 1000 1 14,9:7°286, 927,950 Al, 124 mm Hg Keinese. ne ee Ba 90.08: Nr. 4a. Kenner. en We: 19, 16, 18, Sympathicus, Reizstärke 2000 . 12, 5, 18,5, 33,5, 28,5, 31,2 108 mm Hg Keinen ale 16, 18, 14,5, Nr. 4b. Aortenkompression. Keinenznatt nee 14,7 144215, Sympathicus, Reizstärke 2000 1150102514027 122 mm Hg Kennen ee 17,9,..15; 14, Nr. 5a. Keiner. m. ns une 16,9,,20.19,@216,9, Chorda, Reizstärke 2000 30, 1310352198, 105 mm Hg Kenner een : 95, 89, 98, Nr. 5b. Aortenkompression. Keine. an aee er | 23, 20,5, 185, ı Chorda, Reizstärke 2000 36,5, 100, 1135, 127 mm Hg Kenn. EROHENHEEEN 1175,;:5120, 104, 5, Nr. 6a. Keinen na Ne 16,5, 14, 14, 2 5, Chorda, Reizstärke 2000 DO al? 101, 5, 104 mm Hg Keine. re 80,2:68,.2..00) 7 Nr. 6b. Aortenkompression. Keine: 200. re ra 23,9, 22:5, 21,9, Chorda, Reizstärke 2000 33,0 2.119,00 11972110, 127_mm Hg Keine‘. eo. en 110, 85,9, 75, 75, In den Versuchen 2a bis 4b der Reihe II wird der Sympa- thieus gereizt. In jedem einzelnen Falle wurde die Wirksamkeit des Nerven gleichzeitig an dem Eintreten einer maximalen Pupillen- erweiterung geprüft. Aus allen Versuchszahlen geht hervor, dass die Reizung des Sympathicus bei der angewandten Reizstärke zur Studien über antagonistische Nerven. VI. 417 Gefässerweiterung führte. Deshalb fehlte aber die Gefässverengerung nicht. Im allerersten Momente der Reizung trat stets eine Verlang- samung, manchmal sogar eine vollständige Stockung des Ausflusses aus der Vene ein; nur dauerte die ganze Erscheinung nur 1—2 Sek. und wurde dann in den nachfolgenden 3—5 Sek. der ersten Fünf- sekundenperiode zum Teil kompensiert. Einige Male, z. B. in Nr. 3a, 5b und 4a erkennt man noch eine deutliche Vasokonstriktion in der zweiten Fünfsekundenperiode. Ich komme auf die Verhältnisse der Vasokonstriktion und Dilatation infolge Sympathicusreizung noch einmal zurück. Für den Augenblick ist es wichtiger, auf das Haupt- resultat der Versuchsreihe hinzuweisen, nämlich darauf, dass bei niedrigem und hohem Blutdruck, also bei weniger oder mehr aus- gedehnten Gefässen, die Wirkungsstärke der Sympathieusreizung unter sonst gleichen Bedingungen die gleiche bleibt. Nicht minder deutlich ergibt sich die gleiche Tatsache aus den vergleichenden Reizversuchen an der Chorda tympani. Da in der Chorda von Ge- fässnerven nur Gefässerweiterer sich befinden, wie gegenüber hiervon abweichenden interessanten Beobachtungen von O. Loewi einwandfrei von Bayliss bewiesen wurde, sind die absoluten Zahlen für die Aus- flussmengen viel grösser als bei der Sympathieusreizung. In der- jenigen Periode aber, wo durch Aortenkompression der Blutdruck gesteigert ist und daher die Gefässwände ausgedehnt sind, sind die Zahlen für die Ausflussmengen noch grösser. Der Unterschied bleibt auch noch in der ersten Zeit nach dem Aufhören der Reizung sehr deutlich ausgeprägt. Da die gleichstarke Chordareizung während der Gefässausdehnung demnach ebenso kräftig — in einzelnen Bei- spielen sogar noch um ein weniges mehr — gewirkt hat wie bei geringerer Dehnung der Gefässwand, wird man die Erregbarkeit der Gefässerweiterer und die Anspruchsfähigkeit des der aktiven Gefäss- erweiterung zugrunde liegenden Prozesses für im wesentlichen gleich erklären müssen. Es hat wegen einer bestimmten, im zweiten Teile dieser Arbeit näher besprochenen Fragestellung ein gewisses Interesse, gleichzeitig mit der Prüfung der Erregbarkeit der im Sympathicus der Katze verlaufenden Dilatatoren auch auf die etwaige Absonderung von Speichel zu achten. Dies ist in der nachfolgenden III. Versuchsreihe geschehen. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 135. 27 418 Leon Asher: Reihe Ill. Katze. Präparation wie vorher. Äther-Alkohol-Chloroform-Narkose. Kanüle im Speichelgang. a Arterieller : Ausfluss in Milli- Mittel- Reizun 5 a metern in 5 Sek. SuucE Denerkungen mm Hg Nr. 7a. Keiner eitelljg 117,216, 2216, | mäzend der ersten 2 Ser; Sympathicus, Reizst. 500 10, 10, 47, 62, 61, 100 ER, Speichdlaus IE ARE, 7, 28, 14, | Ausss Nr. 7b. Aortenkompression. Keinen m re gehe 39, 34, | Während derersten2 Sek. Sympathicus, Reizst. 500 | 24, 51, 60, 87, 99, 145 | Stockung. Speichelfluss, Keiner an era 8, 47, Nr. 8a. Keine... .2 0... 39, 184.20, Zuger ek ol Erabailiens, Reizst. 2000 12 2 Er 5 76 ker Speichelilaee: al IR RE EAN Nr. 9b. Aortenkompression. Kennen ee 19, 18Ya, 22, Stockung in den ersten Sympathicus, Reizst. 2000 | 121/e,21, 591/e, 73, 116 BESK ORTS BEL Dei]. Kane 82, 2, ‚31, | I Hiernach Injektion von 2°oiger NaFl-Lösung, zweimal 2 ccm. Danach ganz langsamer Ausfluss aus der Vene, der sich durch Sympathicusreizung in keiner Weise beeinflussen lässt. Kein Speichelfluss. Bei der Sektion erweist sich die Drüse im Vergleich zu derjenigen der anderen Seite als vergrössert, prall und hart. In dieser Versuchsreihe ist, im Unterschied zur voraufgehenden, der primäre vasokonstriktorische Effekt des Sympathicus schärfer ausgesprochen als in der II. Versuchsreihe. Ferner ist der durch die Aortenkompression erzielte Druckunterschied besonders in den Versuchsbeispielen 7a und 7b erheblicher als in der früheren Reihe. Im übrigen sind die Versuchsresultate mit den in den früheren Ver- suchen erhaltenen übereinstimmend. Die Zahlenwerte des Ausflusses bei Aortenkompression sind während der Sympathicusreizung, absolut genommen, grösser gegenüber der reizlosen Periode als in den früheren Versuchsreihen. Das bedeutet nun nicht etwa, dass der Effekt der Reizung der Erweiterer während der Aortenkompression grösser sei. Denn infolge der letzteren wird der Durchmesser der Gefässe im untersuchten Gefässgebiet von vornherein erweitert, und Studien über antagonistische Nerven. VI. 419 dementsprechend muss bei nachherigem gleich grossen Effekt der Vasodilatatorenreizung die Ausflussmenge, die ja gemessen wird, grösser sein. Die Methoile erlaubt keine grössere Genauigkeit als angenäherte Werte zu erhalten, die aber hinreichen, um das Wesent- liche zu erkennen. Behufs Analyse der Bedeutung, welehe den vorstehenden Be- obachtungen innewohnt, gehen wir am einfachsten von einer Vor- stellung aus, welche sehr häufig vertreten wird, nämlich derjenigen, dass die Gefässnerven unmittelbar, wie gewöhnliche Muskelnerven, an die Gefässmuskulatur angreifen. Die Dilatatoren würden dieser Vorstellung gemäss einen autonom bestehenden Tonus auf noch unbekannte Weise mindern. Wenn wir passiv dehnen, dem Zustande demnach uns nähern, der durch die Vasodilatatorenreizung herbei- geführt wird, könnte erwartet werden, dass die gleiche Reizung weniger effektiv wäre. Das ist aber, wie die Versuche gelehrt haben, nicht der Fall. Daraus folgt zunächst, dass eine passiv herbeigeführte Dehnung der Gefässmuskulatur keinen modifizierenden Einfluss auf den Vorgang der Gefässerweiterung besitzt, woraus sich weiter ergibt, dass es nicht die Länge des Muskelelementes ist, die für die Wirk- samkeit des hemmenden Mechanismus bestimmend ist. Nun ist aber das, was sich bei der Dehnung ereignet, kein rein passiver Vorgang. Bayliss!) hat nachgewiesen, dass. der arterielle Druck selbst eine kontinuierliche tonische Kontraktion der Gefässmuskeln durch seine dehnende Kraft hervorruft; denn nach einer Drucksteigerung verengern sich die Gefässe eines Gebietes, dessen Gefässnerven durchschnitten wurden, weit über ihren ur- sprünglichen Wert und kehren dann erst langsam zu ihm zurück. Die von Bayliss entdeckte Tatsache, welche Analogien bei anderen glatten Muskeln nach den Untersuchungen von Straub und Wink- ler besitzt, lehrt, dass während der Dehnung die Tendenz zur Kon- traktion entsteht. Die Versuche, wo bei gedehnter Gefässmuskulatur die Dilatatoren gereizt werden, sind demnach als eine Art von Ver- suchen zu betrachten, wo eine Summation antagonistischer Vorgänge geprüft wird, ähnlich wie bei der gleichzeitigen Reizung von Vaso- konstriktoren und Dilatatoren. Von diesem Gesichtspunkte aus be- trachtet stellen die obigen Versuche einen Fall dar, wo die Hemmung trotz verstärkter Tendenz zur Kontraktion obsiegt. Wiederum ergibt 1) W. M. Bayliss, Journ. of Physiol. vol. 28 p. 220. 1902. ZU: 420 Leon Asher: sich hieraus die Unabhängigkeit des durch die Vasodilatatoren- reizung geweckten Vorganges von den Zuständen und Prozessen in der kontraktilen Substanz, und es erwächst durch die obigen Ver- suche der Vorstellung, dass Hemmung und Erregung primär an zwei getrennten Orten zur Ausbildung gelangen, eine neue Stütze. Diese Behauptung schliesst natürlich in sich, dass die Vasodilatatoren und Konstriktoren nicht direkt die kontraktile Substanz beeinflussen, sondern an einem von der Muskulatur funktionell getrennten Zwischen- gliede angreifen. Nachdem durch das Experiment die Unabhängigkeit der Erreg- barkeit der Gefässnerven von dem Zustande der Gefässmuskulatur erwiesen worden ist, möchte ich daran erinnern, dass Bayliss aus biologischen Gründen diese Unabhängigkeit postulierte. Er schrieb '): „Eine naheliegende Überlegung wird zeigen, dass die Reaktion auf Dehnung eine vasomotorische Kontrolle durch das Zentralnerven- system erfordert. Wir wollen annehmen, dass aus irgendeinem Grunde der arterielle Druck so hoch steigt, so dass ein ungebühr- licher Druck auf das Herz ausgeübt wird. Sich selbst überlassen, werden sich die Arteriolen als Reaktion auf diese besondere dehnende Kraft zusammenziehen und den Blutdruck noch höher treiben; wenn ihnen nicht von vasodilatatorischen Nerven entgegengearbeitet wird, würde ein Cireulus vitiosus entstehen.“ Die, Erregbarkeit der Gefässnerven bei wechselnder Spannung der Gefässmuskulatur verhält sich genau so, wie ich dieselbe früher bei sehr verschiedenen Temperaturen gefunden habe. Man bemerkt die durchgängige Analogie der beiden Erscheinungsreihen und wird auch hieraus den Schluss für berechtigt halten, dass die Ursache für die Gleichheit in beiden Fällen die nämliche sei, — die Un- abhängiekeit des hemmenden und erregenden Prozesses, wenn er einmal durch Reizung der betreffenden Nerven ausgelöst wird, von der eigentlichen Muskulatur. Diese Unabhängigkeit würde sich er- klären lassen, erstens allgemein durch die Annahme eines eigenen nervösen Apparates, spezieller zweitens durch meine Hypothese von der Bildung zweier verschiedener Substanzen, welche die Erregung beziehentlich die Hemmung veranlassen, drittens durch Langley’s Hypothese der rezeptiven Substanzen. Eine Entscheidung über diese drei Annahmen ist zurzeit noch nicht möglich. l) W. M. Bayliss, Ergebn. d. Physiol. V. Jahrg. S. 326. 1906. Studien über antagonistische Nerven. VI. 421 En II. Über die Unabhängigkeit der Gefässerweiterung von spezi- fischen Stoffwechselprodukten nebst Bemerkungen über die Lymphbildung. Unter den Hemmungsnerven haben besonders die Vasodilatatoren Veranlassung zu dem Versuche gegeben, ihrem Wirkungsmechanismus durch eine Erklärung beizukommen. Bei den zu ausgesprochener Automatie befähigten Organen begnügst man sich meist damit, dass man die hemmenden Nerven auf eine unbekannte Weise auf die automatischen Zentren wirken lässt. Für die Gefässe genügte offenbar dieses Auskunftsmittel nicht. Da man nun bei der Tätigkeit aller Drüsen eine markante Gefässerweiterung konstatieren kann, auch dann, wenn das betreffende Organ entnervt ist, z. B. bei der Niere, war es naheliegend, daran zu denken, ob nicht die Gefässerweiterung mittelbar oder unmittelbar durch die Stoffwechselprodukte der Drüsentätigkeit zustande komme. In sehr ansprechender Weise hat namentlich Barceroft!) diese Idee ausgeführt. Bayliss?) sowohl wie ich®) haben allerdings diese Idee auf Grund unserer Entdeckung, dass die Depressorreizung reflektorisch die Gefässerweiterer in der Chorda tympani erregt, kritisiert und sie nicht akzeptieren können. Immerhin verlohnt es sich, dieselbe auf eine neue Weise experimentell zu prüfen. Eine neue Methode, um bei Ausschluss der spezifischen Organ- tätigkeit das Verhalten der Vasodilatatoren zu untersuchen, ergab sich durch die Anwendung von Fluornatrium, welches von Bottazzi*) und seinen Schülern als sehr geeignet zur Zerstörung der spezifischen Epithelien eingeführt und zu mannigfachen Versuchszwecken be- nutzt wurde. Das Prinzip des von mir angewandten Verfahrens bestand darin, dass nach voraufgegangener Feststellung der Wirksamkeit der Reizung der Chorda tympani auf Sekretion und Gefässerweiterung Fluor- natrium in den Ductus Whartonianus injiziert und hierauf von neuem der Erfolg der Chordareizung untersucht wurde. Fluornatrium zer- 1) J. Barcroft, Proc. Physiol. Society. Journ. of Physiol. vol. 35 p. XXX. 1907, and vol. 36 p. III. 1907—1908. 2) W. M. Bayliss, Journ. of Physiol. vol. 37 p. 264. 1908. 3) Asher, Zeitschr. f. Biol. Bd. 52 S. 298. 4) F. Bottäzzi, Archivia di Fisiologia t. 1 p. 413. 1904, und d’Errico und Ranalli, Giorn. Intern. delle Scienze mediche, anno XXVII, 1905, p. 1. 492 Leon Asher: stört auf diese Weise das Drüsenepithel, und es konnte so festgestellt werden, ob nach vollständiger Aufhebung der spezifischen sekreto- rischen Tätigkeit, die man auch aus dem Ausbleiben der Speichel- absonderung erkennen kann, Gefässerweiterung noch möglich ist. Da wir im Atropin ein Mittel besitzen, um die Wirkung der Chorda auf die Sekretion aufzuheben, unter Erhaltung ihrer vaso- dilatatorischen Funktion, könnte es als überflüssig erscheinen, ein neues Mittel anzuwenden. Die Frage ist aber durch Atropin nicht gelöst, da wir nicht absolut sicher wissen, ob wirklich jede Art von Stoffwechseltätigkeit der Epithelzelle bei Reizung der Chorda nach Atropinisierung aufgehoben ist. Ich selbst neige mich zwar auf Grund meiner früheren Untersuchungen!) dieser Ansicht zu, glaube aber trotzdem, dass durch Anwendung eines neuen Mittels, das man direkt auf die Epithelzelle wirken lassen kann, und dessen destruktive Wirkung auf dieselben bekannt ist, die Frage noch mehr geklärt werden kann. Die spezielle Methodik war dieselbe wie in dem ersten Ab- schnitt dieser Arbeit. Da ich Katzen verwandte, konnte gleichzeitig der Sympathieus mit untersucht werden. Es ergab sich nun eine eigentümliche Schwierigkeit bei der Injektion der 2 P/oigen NaFl-Lösung in den Duetus Whartonianus, die darin bestand, dass nach derselben ausserordentlich leicht nicht allein der sekretorische, sondern auch der vasomotorische Effekt der Nervenreizung fortgefallen war. Dem- nach dringt das Gift sehr leicht bis zu den Gefässen vor. Ich musste erst lernen, das Gift zu dosieren. Bei vorsichtiger Dosierung ist nun das Ergebnis ein sehr klares, und ich will die nachfolgende Versuchsreihe mitteilen, die genügen wird, um das, worauf es an- kommt, darzulegen. Reihe I. Katze, Äthernarkose. Duct. Wharton. mit Kanüle. Chorda und Sym- pathicus auf Elektroden. Ausfluss aus der Speicheldrüsenvene nach Barcroft’s Methode. Später Injektion von 2°/oeiger NaFl-Lösung. | Ausflus in Millimetern | Reizung ns Bemerkungen Nr. 1. 10 Uhr 24 Min. Keiner)... 0 u Eee | 7a 15, 18) | Starker Speichelfluss. Chorda, Stromstärke 150. 5alle, 87a, 148, Ken ee "151. 15% 100% | 1) L. Asher, Biochem. Zeitschr. Bd. 14 S.1. 1905. Studien über antagonistische Nerven. VI. 423 | Ausfluss in Millimetern | Reizung SS | Bemerkungen Nr. 2. 10 Uhr 32 Min: Keen 2325, | Starker Speichelfluss. Sympathicus, Stromstärke 100 | 11, 74a, 82, 31, Pupille maximal er- TEE . | 228, 251%) 19, | weitert. 10 Uhr 35 Min. Injektion von 0,5 ccm 2°/oiger NaFl-Lösung in den Duct. Wharton. Nr. 3. ° 10'Uhr 37 Min. Keiner nr tr. 107, 105, | Kein Speichelfiuss. Chorda, Stromstärke 200. . ı 100, 93, 99, 88, a RB TEE TE 90, 91, 104%, | Nr. 4. 10 Uhr 52 Min. Kennen. 2] 325544, | Kein Speichelfluss. Chorda, Stromstärke 200 . . 1 97, S7!/e, 95, ee 59, 57175, 431/o, 39, 44, 37, | Nr.292 MUhE03, Min. VIER on Ne OR EEE 29,2 25, 3142, | Kein Speichelfluss. Sympathicus, Stromstärke 150 | 121/s, 7,20!/2,22, 22%/,,1 Pupillen minimal er- Ken a SO TS 15, 151, | weitert. Nr. 6. 11 Uhr 08 Min. Keines es ul Nr. tn | 31,02.27..080, | Keine Spur Speichel. Chorda, Stromstärke 250 . 441/s, 82, 114, ee a 129, 58, 50, | Nr. 7. 11 Uhr 13 Min. 0,6 cem 2%oiger NaFl-Lösung in den Duct. Wharton. 11 Uhr 15 Min. Keine ne ne, | 10 7 Taler Kein Speichelfluss. Chorda, Stromstärke 250. . 28 los 7a, Keinen sg. | TR: Nr. 8. Ausfluss in 10 Sek. in Millimetern. 11 Uhr 23 Min. Keine nenn | 3A 63ja, Pupille maximal er- Sympathicus, Stromstärke 200 | 3Va, 3, 3,835, weitert. Kennen rn ng 37 2lje; 2lje, 3, 2a, Nr. 9. Ausfluss in 15 Sek. in Millimertern. REIT OR RER U & | Kein Speichelfluss. Chorda, Stromstärke 500. . 16, 6, 6, 5, Ken ee | Nr. 1 der vorstehenden Versuchsreihe zeigt die Wirksamkeit der Chordareizung vor der Injektion von Fluornatrium; Nr. 2 die- selbe für Sympathieusreizung. Die letztere erzeugt in der zweiten Fünfsekundenperiode eine Verlanesamung und dann trotz guten Speichelflusses nur eine geringe Zunahme des Blutausflusses. Viel- leicht handelt es sich um die Summation aus erweiternden und ver- engernden Antrieben. Nr. 4 und Nr: 6 zeigen nun, tretzdem keine 4924 Leon Asher: Spur von Speichel zutage trat, die wohlerhaltene Wirkung der Chorda auf die Gefässe. Besonders in Nr. 6 ist die Vasodilatation ausser- ordentlich stark, und trotzdem es sich schon um eine spätere Periode des Versuches handelt, ist die Gefässerweiterung nieht zum mindesten geringer als bei Beginn des Versuches während ergiebiger Speichel- absonderung. Hiermit ist mit Hilfe der unmittelbaren Vergiftung der spezifischen Zellen durch Fluornatrium der Nachweis geliefert, dass die Vasodilatation ohne Vermittlung von Stoff- wechselprodukten allein durch die direkte Einwirkung der Nerven auf die Gefässe zustande kommt. Was schon aus den Erfahrungen am atropinisierten Tiere erschlossen werden konnte, ist durch diese neue Tatsache bekräftigt worden. Der Vergleich zwischen Nr. 2 und Nr. 5 zeigt ferner, dass auch die Wirkung des Sympathieus durch die Vergiftung nicht be- einflusst wurde. Insofern man in den Zahlen der Nr. 5 Erweiterungs- werte erblicken darf, die durch die gleichzeitig konkurrierende Vaso- konstriktion in ihrem absoluten Werte herabzemindert werden, ist auch der Beweis geliefert, dass auch die sympathische Gefäss- erweiterung ohne Mithilfe der aus spezifischen Zellen stammenden Stoffwechselprodukte zustande kommt. Ich möchte noch einmal auf die Erfolge der Sympathieusreizung in den Versuchen des ersten Teiles der Arbeit zurückkommen. Bei der Katze gibt Reizung des Sympathieus, wie gesagt, Erweiterung. Diese Erweiterung tritt nach meinen Erfahrungen viel früher ein, als Bareroft dieselbe be- obachtet hat; es sei z. B. auf Nr. 7b und 9b der Ill. Versuchs- reihe hingewiesen. Vermutlich rühren diese Variationen von indi- viduellen Unterschieden her. Ich habe auch eine Anzahl von Fällen beobachtet, wo die Reizung des Sympathieus bei der Katze gar keine Erweiterung verursachte. Die genannten Momente sprechen durehaus dafür, dass die erweiternde Wirkung des Sympathiecus beruhe auf dem Vorhandensein von echten Dilatatoren und nicht etwa von Stoffwechselprodukten aus den Zellen stamme. Die Vergiftung der Drüse mit NaFl gab noch Veranlassung, eine Reihe von Beobachtungen zu machen, welche keinen eigent- lichen Zusammenhang mit dem Problem der antagonistischen Nerven haben, aber nach einer anderen Richtung hin interessant sind. Da ist erstens die Tatsache, dass schon eine geringe Ver- stärkung der Fluornatriumdosis jede Wirkung der Gefässnerven aufhebt. Ein Beispiel fand sich zum Schlusse des obigen Versuches, Studien über antagonistische Nerven. VI. 425 von Nr.7 an, wo die kurz vorher sehr mächtige Chordawirkung durch Injektion von 0,6 ecem NaFl-Lösung beseitigt wurde. Demnach ver- giftet Fluornatrium sehr bald die Nervenendigungen in den Gefässen. Zweitens aber tritt vor der schweren Form der Vergiftung, die dazu führt, dass die Gefässe ausserdem noch ganz eng werden, ja dass der Blutstrom fast ganz zu stocken droht, eine andere, wichtigere Erscheinung ein, nämlich eine Phase, wo die Gefässe stark .erweitert sind. Man sieht diese Erweiterung aus den Zahlen von Nr. 3 des obigen Versuches, wo sofort nach der Injektion von 0,5 emm der Fluornatriumlösung die Ausflusswerte 107 und 105 betragen. So gross ist der Ausfluss, dass eine schwache, aber wirksame Chorda- reizung dieselbe nicht zu vergrössern vermag. Erst, wenn sich diese Erweiterung gelest hat und die Giftdosis nicht zu stark war, kommt der Effekt der Chordareizung wieder zum Ausdruck. Diese Tat- sache der anfänglichen Erweiterung, deren Bedeutung ich sodann besprechen werde, sei durch einige weitere Versuchsprotokolle belest. Reihe I. Katze. Präparation wie vorher. | Ausfluss in Millimetern | Reizung | nERaE Bemerkungen Nr. 10a. Keine nah ss INNE. 0 Chorda, Stromstärke 1000 18, 41, 611/a, Keinen allen or all ‚ob 21, Nr. 10b. Injektion von 0,6 ccm 2°/oiger NaFl-Lösung in den Duct. Wharton. KEINEN are erkeits old, dl, | Starke Gefässerwei- Chorda, Stromstärke 1200 . ı 61, 58, 60, 44, terung unbeeinflusst Keinen Pe. a | 49, 44, 43, | d. d. Chordareizung. Nr. 10c. Ka ee AR ee DE LORERO) Starke Verengung der Chorda, Stromstärke 1500 DIE OO 25032232, Gefässe, Kal Yo: Do Br Be 2UE2M 2: Reihe IH. Katze. Präparation wie vorher. » Ausfluss in Millimetern Reizung ib, Si Bemerkungen Nr lie. INenere re, | 24, 23.10.2496; | 68 79, 70, 58. 381/6, 31, | IKearng oo N ER 426 Leon Asher: | Ausfluss in Millimetern | Reizung ins seh | Bemerkungen Nr. 11b. Keiner. Ne | Ik MEN ATA | Maximale Pupillen- Sympathicus, Stromstärke 200 1 Il: erweiterung. Keine. ea zz; a le, | Nr. 11c. Injektion von 0,6 cem 2°/oiger NaFl-Lösung; 4 Min. später. Keinen ne Rein | 679, Starke Gefässerwei- Chorda, Stromstärke 2000 . | 74, 70, 61'/a, terung, unbeeinflusst Kenes a ur ee | 55, 55, d. die Chordareizung. Nr. 11d. 6 Min. später. Keine ne re 55, 48, Abklingen der vor- Chorda, Stromstärke 2000 . ı 38, 51, 41, 32, 30, 25, herigen Wirkung. Km ee 22, 22, 2, | Reihe IV. Mittelgrosse Katze. Präparation wie vorher. | Ausfluss in Millimetern | Reizung nes | Bemerkungen Nr. 12a. 10 Uhr 25 Min. Keine. a: 25, DI; Speichelfluss. Chorda, Stromstärke 150 . . | 30, (Sr Sub Keine. ee i 831, 69, 49, Nr. 12b. 10 Uhr 30 Min. Keine... wo eos 129,229, Pupillenerweiterung, Sympathicus, Stromstärke150 130, 34, 41, 26, 131, Speichelfluss. Keiner ri. ua Reel 12, 13, 11,711 11,07 1293, Nr. 12c. 10 Uhr 35 Min. Injektion von 0,4 ccm 2%/oiger NaFl-Lösung in Duct. Wharton. 10 Uhr 33 Min. Kemer men en 54, 56, Starke Gefässerwei- Chorda, Stromstärke 150 . . ı 45!/e, 38, 41!/e, 35, ı terung unbeeinflusst Keine: a re 41, 43a, 37, durch ‚ Chordareizung, kein Speichelfluss. Nr. 12d. 10 Uhr 44 Min. Keine... |% 5 Kein Speichelfluss. Chorda, Stromstärke 200. . 16, 5, 5,0; Keine., „ns ee 4, 4a, 4 4, 5, Nr. 12e. 10 Uhr 52 Min. Keine, ren a ar 5/2208, 20, Kein Speichelfluss. Chorda, Stromstärke 400. . | 4, 41a, Al/a, 4l/o, 41/o, 4, 2 5 ee Keinete 0 AN | In allen Fällen zeigt sich bei der Sektion die Drüse gross und prall gefüllt. a | Studien über antagonistische Nerven. VI. 42 In allen diesen Beispielen ist das erste Symptom der Gefässe eine starke Erweiterung. Daraus geht hervor, dass Fluornatrium, selbst in sehr geringfügigen Dosen, schon die Gefässwände vergiftet. Die Konstatierung dieser Tatsache ist wichtig, weil sie ein Licht wirft auf die Ergebnisse von d’Errico und Ranalli!), welche fanden, dass nach Vergiftung der Speicheldrüse mit Fluornatrium auf Chordareizung, und auch von selbst, ein vermehrter Lymphabfluss aus den Lymphgefässen stattfand. Sie zogen hieraus den Schluss, dass die vermehrte Lymphbildung zustande kommen könne, ohne durch die spezifische Tätigkeit der Drüsenzellen ausgelöst zu werden. Aber dieser Schluss war nicht richtig; denn das Fluornatrium ver- giftet eben sehr rasch die Gefässe und, wie es eine abnorme Er- weiterung macht, so ruft es auch eine abnorme Permeabilität der Gefässe hervor. Hierdurch kommt es zur Entstehung einer patho- logischen Transsudation, ähnlich wie beim Arsen ?), keineswegs aber zu einer normalen Lymphbildung. Solange die Chorda noch nicht ausgeschaltet ist, wird die pathologische Transsudation unter ihrem Einflusse noch verstärkt werden. Die vermehrte Transsudation geht auch aus der prallen Schwellung der Drüse nach Fluornatrium- vergiftung hervor. Die Versuche von d’Errico und Ranalli liefern also keinen Beweis dafür, dass nach alleiniger Ausschaltung der spezifischen Drüsenzellen noch eine physiologische Lymphbildung existiert, und sind daher kein Einwand gegen die zellularphysiologische Theorie der Lymphbildung. Die Erklärung, wonach die Versuche von d’Errico und Ranalli für den Mechanismus der normalen Lymphbildung aus methodischen Gründen nicht verwertbar sind, steht schliesslich in Übereinstimmung mit der von mir in den oben zitierten „Untersuchungen über die physiologische Permeabilität“ nachgewiesenen Tatsache, dass unter physiologischen Bedingungen ausschliesslich die Organtätigkeit jene unmittelbar am Blute beobachtbaren Veränderungen verursacht, welche die Begleiterscheinungen der physiologischen Lymphbildung sind. Zusammengefasst sind die wesentlichen Resultate dieser Arbeit die folgenden: l. Die Erregbarkeit und Leistungsfähigkeit der Gefässnerven, insbesondere der Vasodilatatoren, ändert sich nicht, wenn die Gefäss- DDlerc: 2) L. Asher und W. Gies, Zeitschr. f. Biol. Bd. 40 S. 130. 1900. 428 Leon Asher: Studien über antagonistische Nerven. VI. wände einmal unter der Spannung eines niedrigen, das andere Mal unter derjenigen eines hohen, rein mechanisch erzeugten Druckes stehen. Die Analyse dieser Erscheinung führt zu dem Schlusse, dass der Effekt der Reizung von Vasokonstriktoren und Vaso- dilatatoren unabhängige von dem Zustande der kontraktilen Substanz ist, und liefert weitere Anhaltspunkte für die Annahme, dass die antagonistischen Gefässnerven primär an zwei getrennten Mechanismen oder Substanzen angreifen, die zwischen Nerv und Muskulatur ein- geschaltet sind. 2. Es wird der Nachweis geliefert, dass die Vasodilatation noch zustande kommt, wenn durch vorsichtige Vergiftung mit Fluornatrium die Bildung von Stoffwechselprodukten aus den Drüsenzellen auf- gehoben wurde. Die Vasodilatatoren wirken also direkt, ohne Ver- mittlung von Stoffwechselprodukten, auf die in der Gefässwand ge- legenen Gebilde ein. 3. Das Fluornatrium vergiftet auch schon bei sehr geringfügigen Dosen die Gefässwand. Die erste Phase dieser Vergiftung besteht in einer erhöhten Permeabilität der Gefässwand, wodurch es zu einer pathologischen Transsudation durch die Gefässe kommt. Mit der physiologischen Lymphbildung hat dieser Vorgang nichts zu tun. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Freiburg i. B.) Der Einfluss der höheren Hirnteile auf die Reflextätigkeit des Rückenmarks. Nach Versuchen mit Ausschaltung durch Abkühlung. Von Wilhelm Trendelenburg. (Mit 3 Textfiguren.) Für die Frage nach dem Anteil des Rückenmarks an den Leistungen des gesamten Zentralnervensystems ist es von Bedeutung, zunächst die Tätigkeit des von den übrigen Hirnteilen getrennten Organs für sich zu betrachten und dann erst zu untersuchen, in welcher Weise die höheren Teile modifizierend, anregend und hemmend eingreifen. Zur Herstellung einer völligen funktionellen Isolierung des Rückenmarks steht zunächst die Markdurchschneidung als einfachste Methode zur Verfügung. Die mit ihr erhaltenen Ergeb- nisse würden wohl keinen Anlass zu Zweifeln hinsichtlich der Deu- tung gegeben haben, wenn nicht darin eine sehr eigentümliche Sachlage gegeben wäre, dass die Tätigkeit des isolierten Rücken- marks sich anfänglich anders darstellt wie einige Zeit nach Aus- führung des Schnittes. Besonders nachdem es Goltz und seinen Schülern gelang, Hunde nach Rückenmarkdurchschneidungen längere Zeit am Leben zu erhalten, musste auf Grund der gewonnenen Er- gebnisse die Frage erhoben werden, ob in der ersten Zeit nach dem Eingriff die dem Rückenmark eigenen Leistungen durch ungewollte, als Hemmung oder Shock bezeichnete Nebenwirkungen des Schnittes verdeckt werden und erst später nach dem allmählichen Abklingen dieser Störungen klar zutage treten. Demgegenüber war auch die andere Möglichkeit im Auge zu behalten, dass die anfänglichen Symptome ein ungetrübtes Bild der Rückenmarkleistungen geben, 430 Wilhelm Trendelenburg: welches dann nachträglich durch sekundäre Veränderungen ver- schiedenster Art ein anderes Aussehen erhält. Eine sichere Abgrenzung der shockartigen Wirkungen und mit- hin ein sicheres Urteil über die Leistungen des isolierten Rücken- marks und seinen Anteil an den Leistungen des gesamten intakten Zentralnervensystems wird nur möglich sein, wenn zur funktionellen Trennung der einzelnen an der Gesamtleistung beteiligten Abschnitte eine Methode angewendet werden kann, bei welcher störende Neben- wirkungen ausgeschlossen sind. Man kann in diesem Fall einfach von einer reizlosen Ausschaltung sprechen und versteht darunter zweckmässig eine Ausschaltung, bei welcher die normalen Frregungen herabgesetzt und aufgehoben werden, ohne auch nur vorübergehend einen Zuwachs oder eine Qualitätsänderung zu erfahren. Die Bestrebungen, in dieser Weise weitere Aufklärung in der Frage der Shockwirkung von Rückenmarkdurch- schneidungen auf die Extremitätenreflexe zu gewinnen, stammen erst aus neuerer Zeit. So hat Pike!) die Anämisierung der höheren Hirnteile anstatt der Leitungsunterbrechung durch Schnitt angewandt, und Dubois?) sowie Pike!) haben den Schnitt durch Gefrieren ersetzt. Gegen diese beiden Maassnahmen sind aber wesent- liche Bedenken prinzipieller Art zu erheben, so dass es zweifelhaft erscheinen muss, ob mit diesen Methoden, so sehr sie an sich einen Fortschritt bedeuten, die gewünschte Annäherung an das Ziel er- reicht ist. Dass die Anämie unter der Voraussetzung einer nicht zu tiefen Narkose stark erregend wirkt, ist durch die Versuche von Kussmaul und Tenner?) erwiesen. Aber auch das Gefrieren des Markes ist für unsere Zwecke nicht als einwandfrei zu betrachten, da am peripheren Nerven ein Durchfrieren nicht unbedingt reizlos verläuft, wie besonders aus den Experimenten von Fröhlich‘) her- 1) F. H. Pike, Studies in the physiology of the central nervous system. I. The general phenomena of spinal shock. Americ. journ. of pbysiol. t. 24 p. 124—152. 1909. 2) R. Dubois, Sur les mouvements de la queue coupe&e du lezard anesthesie. Compt. rend. soc. biol. 1893 p. 915—917. 3) A. Kussmaul und A. Tenner, Untersuchungen über Ursprung und Wesen der fallsuchtartigen Zuckungen bei der Verblutung, sowie der Fallsucht überhaupt. Moleschott’s Untersuch. z. Naturlehre Bd. 3 S.1. 1857. 4) Fr. W. Fröhlich, Über die Wirksamkeit verschiedener Ausschaltungs- methoden (Kälte, tripolarer Elektrotonus, Ammoniak und Narkose) auf sensible Höhere Hirnteile und Reflextätigkeit des Rückenmarks. 431 vorgeht. Allerdings gibt Pike an, dass bei den mit Äthylchlorid oder mit flüssiger Luft ausgeführten Durchfrierungen die Tiere keine Bewegungen zeigten; doch sind keine Angaben über die Tiefe der Narkose gemacht worden. In jedem Falle aber fehlt hier der An- nahme des reizlosen Verlaufs der Ausschaltung die grosse Evidenz, welche aus dem Verhalten des peripheren Nerven hervorgehen würde, wenn in diesem die Leitung dureh Gefrieren reizlos auf- gehoben werden könnte. In diesen Beziehungen scheint mir eine Methode überlegen zu sein, welche man schon seit längerem am peripheren Nerven be- nutzte, und welche neuerdings auf das zentrale Nervensystem über- tragen wurde, die einfache Abkühlung oberhalb des Gefrierpunktes'!). Dass durch diese am peripheren Nerven reizlose Ausschaltungen er- zielt werden können, geht, wie an anderer Stelle?) gezeigt wurde, aus den bisher vorliegenden Angaben zur Genüge hervor,. und die Erwartung eines ähnlichen Verhaltens des Zentralnervensystems konnte in meinen bisher an verschiedenen Gegenden ausgeführten Versuchen bestätigt werden. Ohne dass hier auf diesen Punkt noch- mals besonders eingegangen werden kann, sei als weitere, inzwischen festgestellte Tatsache nur erwähnt, dass am Affen nach völliger Er- holung aus der Äthernarkose, die von diesem Tier auffallend schnell überwunden wird, die Armregion der Hirnrinde abgekühlt werden kann, ohne dass die Kältewirkung, abgesehen von den lokalen Aus- fallsymptomen, an irgendwelcher Äusserung oder Änderung des Verhaltens des Tieres erkennbar wird. Es ist da nicht einzusehen, wie an dem Auftreten der lokalen Ausfallsymptome (d. h. der Folgen der Funktionsaufhebung der gekühlten Stelle) irgend etwas beteiligt sein könnte, was als Shock oder Reiz irgendwelcher Art zu deuten wäre. und motorische Kalt- und Warmblüternerven. Pflüger’s Arch. Bd. 113 S. 418 bis 432. 1906. — Fr. W. Fröhlich, Über reizlose Vagusausschaltung. Pflüger’s Arch. Bd. 113 S. 433—464. 1906. 1) W. Trendelenburg, Untersuchungen über reizlose vorübergehende Ausschaltung am Zentralnervensystem. |]. Mitteilung (vorläufiger Bericht). Pflüger’s Arch. Bd. 133 S. 305—312. 1910. 2) W. Trendelenburg, Untersuchungen über reizlose vorübergehende Ausschaltung am Zentralnervensystem. II. Mitteilung. Zur Lehre von den bulbären und spinalen Atmungs- und Gefässzentren. Pflüger’s Arch. Bd. 155 S. 469—505. 1910. 432 Wilhelm Trendelenburg: Es war deshalb angezeigt, der Frage nach der Shockwirkung von Rückenmarkdurchschneidungen mit der Methode der reiz- losen vorübergehenden AusschaltungdurchAbkühlung näherzutreten, und es empfahl sich hierfür am meisten die Methode, die in einer vorigen Arbeit!) unter der Bezeichnung der Rings- kühlung des Marks beschrieben wurde, und bei welcher ein aus dem Darm von jungen Meerschweinchen hergestellter sehr dünnwandiger Schlauch unter dem Mark durchgezogen und mit Eiswasser durch- strömt wird. Sollte der Einfluss der höheren Hirnteile auf das Lendenmark aufgehoben werden (nur an diesem wurde die Prüfung der Reflextätigkeit vorgenommen), so war es nicht nötig, wie bei der früheren Untersuchung der Ateminnervation, die Ringskühlung des Marks schon hoch im Halsmark vorzunehmen, sondern es konnte eine tiefer gelegene Stelle gewählt werden, an der die Anbringung der Kühlvorrichtung mit weniger grossen Schwierigkeiten verbunden war. Die Methode war demnach folgende: Am Kaninchen, welches möglichst flach mit Äther narkotisiert ist?), wird im Bereich des 16.—17. oder 17.—18. Wurzelpaares (d. h. 8.—9. oder 9.—10. Dorsal- wurzel) der Wirbelkanal eröffnet und der Knochen möglichst weit seitlich entfernt. Mit Hilfe eines passend gebogenen Finders wird ein Faden und mit diesem der genannte Schlauch unter dem Mark ausserhalb der Dura durchgezogen. Der Schlauch wird mit Zu- und Ablaufrohr versehen; das erstere kann entweder mit einer Vorrats- flasche mit körperwarmem Wasser oder mit Eiswasser verbunden werden. Die Druckhöhe war in beiden Fällen die gleiche und so gewählt, dass bei einer längeren Durchströmung mit warmem Wasser keine Funktionsänderungen auftraten. Der Hinterkörper des Tieres wurde mittels Unterstützung am Becken etwas höher gelagert, um eine freie Bewegung des Hinterbeins beim Reflex zu ermöglichen. Die Reflextätigkeit des kaudal von der Kühlstelle liegenden Rücken- markabschnittes wurde so geprüft, dass in den Schwanz oder meist in den Ballen der einen Hinterpfote eine Nadeldoppelelektrode ein- 1) Vgl. die Anmerkung 2 auf voriger Seite. 2) Darunter ist hier verstanden, dass während der vorbereitenden Eingriffe die Narkose so tief war, dass keine Reaktionen des Tieres eintraten, dass aber dann die Zufuhr des Äthers abgestellt wurde, so dass die eigentlichen Kühl- versuche am möglichst normalen Tier vorgenommen werden konnten, welches nur noch so weit unter der Äthernachwirkung stand, dass Befreiungsversuche ganz ausblieben. Höhere Hirnteile und Reflextätigkeit des Rückenmarks. 453 gestochen wurde, die mit der sekundären Rolle eines Induktions- apparates verbunden war. Die Stromschliessungen der sekundären Spirale, welche der Wagnersche Hammer besorgte, wurden mittels Schreibmagneten, der Beugereflex des Hinterbeins mit Kapselüber- tragung aufgezeichnet. Die Aufzeichnung des Blutdrucks vervoll- ständigte die Anordnung. Bei den Versuchen wurde zunächst wäh- rend Warmdurchströmung des Schlauches eine Reizstärke aufgesucht, bei welcher ein deutlicher Reflex vorhanden war, und dann die Änderung bei Kaltdurchströmung, also während der reizlosen Aus- schaltung der höheren Teile, festgestellt. Für die Wahl des Kaninchens als fast ausschliesslich (neben der Katze) verwendeten Versuchstieres waren folgende Gründe maass- gebend. Einmal ist es bei diesem Tier besonders leicht, ein Stadium der Nachwirkung der Narkose zu erzielen, in welchem bei Abwesen- heit besonderer Reize und auch bei den immerhin geringen Reizen, die zur Auslösung des Reflexes nötig waren, keine Befreiungsversuche des gefesselten Tieres ausgeführt werden. Dann aber kommt für die genannte Wahl noch ein zweiter, ganz anderer Gesichtspunkt in Betracht. Der einzige Einwand, der mir gesen das eingeschlagene Verfahren noch möglich erscheint, wäre der, dass durch die Rings- kühlung gleichzeitig das in den Längsarterien des Rückenmarks etwa kaudalwärts fliessende Blut gekühlt, das Lendenmark dadurch auf eine etwas niedrigere Temperatur gebracht und hiermit die Reflex- tätigkeit verändert würde. Wenn auch diese Möglichkeit sehr ferne liest, so war doch am Kaninchen sehr günstig. dass offenbar hier diese Längsverbindungen nicht in Betracht kommen können. Hoche!) fand, dass am Kaninchenrückenmark sich vom Lendenmark aus nur lokale Gefässinjektionen erzielen lassen, während bei Mensch und Hund das ganze Rückenmark von dort aus injiziert werden kann. Dass aber hierfür nicht die vielleicht zu grosse Zähigkeit der In- jektionsmasse anzuschuldigen ist, geht aus dem Verhalten bei dem Stenson’schen Versuch der Aortenabklemmung unterhalb der Nierenarterien hervor. Nur beim Kaninchen werden hierbei die Lähmungserscheinungen erhalten, während beim Hunde die Blutzu- fuhr durch die Längsgefässe des Marks genügt, um das Lendenmark vor Anämie zu bewahren. 1) A. Hoche, Vergleichend -anatomisches über die Blutversorgung der Rückenmarksubstanz. Zeitschr. f. Morphol. u. Anthropol. Bd. 1 S. 241. 1399. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136, 238 434 Wilhelm Trendelenburg: Es war aber trotz dieser günstigen Sachlage wünschenswert, noch den direkten Nachweis zu liefern, dass die Ringskühlung der höheren Markstelle die weiter kaudal gelegenen Teile nicht in ihrer Temperatur beeinflusst. Dies konnte durch thermoelektrische Temperaturmessung mit einer sehr feinen Thermonadel ge- schehen.- Die-Lötstelle zwisehen einem-feinen Kupfer- und einem Kon- stantandraht, welche beide hinter der Lötstelle für eine Strecke von etwa 6 cm in feinste Glaskapillaren gefasst waren, wurde in kleine etwas seitlich von der Mitte mit feinem Messer hergestellte Längs- schlitze in das Mark so eingesenkt, dass die Lötung gut von der Marksubstanz umgeben war. Ein Blutaustritt erfolgte nicht aus der _ Schlitzstelle, so dass keine thermische Isolierung der Nadel gegen die Umgebung durch ein Blutkoagulum aszunehmen war!). Die andere Lötstelle zwischen Kupfer und Konstantan war in einem Brei ovn zerkleinertem Eis auf 0° C. gehalten. Das zur Ablesung der Thermoströme dienende Wiedemann’sche Galvanometer war so eingestellt, dass einem Ausschlag von 1 cm, der mittels Fernrohr abgelesen wurde, eine Temperaturdifferenz von 0,77° C. entsprach, so dass die Zehntelgrade noch mit voller Sicherbeit ermittelt werden konnten. Damit genügte die Aufstellung allen Anforderungen des Versuchszweckes. Die Kühltemperatur wurde in diesen Versuchen etwas tiefer als nötig genommen, damit die etwa vorhandenen Ein- flüsse auf fernere Markpartien um so deutlicher zutage treten konnten. Die Stelle. an weleher der Markquerschnitt abwechselnd gekühlt und wieder auf Körpertemperatur mittels des Darmschlauches gebracht wurde, lag zwischen der 16. und 17. Rückenmarkwurzel (8. und 9. Dorsalwurzel). Gleichzeitig mit der Temperaturmessung einer um 5,5 em kaudal von der Kühlzone, d.h. noch 3 cm kraniai von dem ‘Beginn der Lendenanschwellung ?), liegenden Markstelle wurde auf das Vorhandensein oder Fehlen des Reflexes geprüft. Einige Ergeb- nisse dieses Versuches sind in der Tabelle (S. 435) zusammengestellt. Die erste Spalte enthält die Zeit, die zweite die Temperatur der genannten Messstelle, die dritte die Angaben über Kühlung oder 1) Das Fehlen einer solchen Störung ergab auch die Lupenuntersuchung der in Formalin gehärteten Rückenmarkstelle. 2) Die Lendenanschwellung beginnt etwa bei Wurzel 25 (5. Lumbalwurzel). ‚Dies ist auch die erste sich am Lendenplexus beteiligende Wurzel. Vgl. W. Krause, Die Anatomie des Kaninchens 5. 339. Engelmann, Leipzig 1884. Höhere Hirnteile und Reflextätigkeit des Rückenmarks. 43 [si 1 Erwärmung an der Schlauchstelle, und die vierte über Vorhandensein oder Fehlen des Reflexes am Hinterbein. Für die Abkühlungen wurde die Temperatur der aus dem Darmschlauch abfliessenden Flüssigkeit angegeben; diese liegt etwas tiefer als die des Marks; so wurde mit der Thermonadel festgestellt, dass im Markinnern eine Temperatur von + 1,2°C. erreicht wurde, wenn die Salzlösung aus dem Kühlschlauch mit etwa — 1°C. abfloss. Dass die in der Tabelle für die Messstelle angegebenen Werte etwas niedriger sind, als der normalen Körpertemperatur entspricht, liegt zum Teil an dem bei Kaninchen unvermeidlichen Wärmeverlust (die Tiere lagen zwar auf einer Wärmwanne). zum Teil daran, dass die Messstelle des Marks selber nicht vollständig gegen Wärmeverlust geschützt werden konnte. Temperatur Teeinwirk des Markes, mperatureinwirkung = k Zeit 5,8 cm kaudal | an der Schlauchstelle \ des Bein- von der und Dauer derselben LEER ES Schlauchstelle 10h 20°’ 32,70 C seit 3’ körperwarm Reflex vorhanden | p.ı 10h 22’ 32,6° C. seit 2’ kalt (— 3° C.) Reflex fehlt Sch 10h 24’ 32,506. seit 11/a’ körperwarm Reflex vorhanden 10h 25’ 32,5° ( ‚ seit 2/2’ körperwarm | Reflex vorhanden |p.A 10h 27’ 32,60 C seit 1’ kalt — 3° C.) Reflex fehlt gs 105 29’ 32,50 C seit 1’ körperwarm Reflex vorhanden ) "”° (R.-A. bedeutet Rollenabstand) Auch bei einer Kühlung von 5 Min. Dauer zeigte die Messstelle keine Temperaturänderung. Aus den in der Tabelle wiedergegebenen Messungen ergibt sich also, dass die charakteristische Änderung der Reflexe, die gleich noch des näheren beschrieben und abgebildet wird, von einer Temperatur- änderung des Markes unabhängig ist, da eine solche nicht eintritt; sie ist vielmehr die Folge der Ausschaltung der höheren Hirnteile. Die mit der beschriebenen Methode erzielten Ergebnisse seien an einigen Abbildungen von Kurven erläutert. In Fie. 1 (Versuch vom 29. Oktober 1909) ist zu oberst die Zeit in Sekunden, darunter der Karotisdruck (Quecksilbermanometer), weiter der Beuge- ‚reflex, die Kühlmarkierung!) und die am Schwanz angebrachte Reizung aufgezeichnet. Die Reizstärke war während der ganzen l) Es wurde der Moment der Umstellungen der Schlauchverbindungen markiert; dieser fällt nicht ganz mit dem Zeitmoment des Temperaturwechsels . des Markquerschnittes zusammen. 9SSoAFELIILIQ — "MOpur.IsAun ZununeMdstspsı N Ppun Sungynyy I9p 1eq Iqroıq puggsgqeuspfoy Tg 'SISOTSNE Xogodänag uap ayafem zZUemnyg we Zunzey op ‘Bunasiyrewpgny otp ‘suroqzayug sop xope.rsnag ı9p ‘NOnIpsyorey] A9p ‘uopunyag ut 2197 aIp [:usyun yaeu uago UOA ANdLT AOP UL TOIS UOdLOF SC ‘00 sIossemfgny} sop anyersdwa], (ozinmpesiog OT) SI Ppziny Ue susypuaeyy sap SYIewpesıog sap Sunpyaysdung "T 'DLA einen kräftigen Beugereflex Wilhelm Trendelenburg: Man. sieht, dass der Reiz, welcher bei normal- ö 4 NUN TA 5 [fee IN 1 Te, RRMRRRARHR ® AMT. a Na, ee Bere et! 3 TO Eat nr R ya nung PENITTRRRRRREEL EN OWN, 5 { (be 3 E 238 [=] = ur © 2e = ER: © = Ze a ER &n Fü Erw pe] ae © = &n ae 98 SL en 9.08 oo » es on ee] — © © = .g S men © Ve = > WB] RE 2 = oo 8 o: nn = ei) SQN Versuehsstrecke dieselbe, die Reizdauer geht aus der Kurve ün- DZ _ o-—i = B=) © un = © = Sy Br = [o=} = Ss © A © 3>) rs = © Dw-] 7 So = &® = =| {eb} = mittelbar hervor. [MTRRTPITITITTRTTPETTIETTRRERTTTPRREGITTIETGSTIREROTTENISTTETTIREETERTEERTTTEREGSTET ENT Höhere Ilırnteile und Heflextätigkeit des Rückenmarks. 437 sehreitender Kühlung, also Vervollständigung der Ausschaltung, auch bei beträchtlich längerer Reizdauer keinen Reflex mehr auslöst. Kurze Zeit nachdem das kalte Wasser wieder mit warmem gewechselt wurde, kehrte der Reflex zuerst schwach, dann nach vollständiger Erwärmung des Rückenmarkquerschnittes, also Einschaltung der höheren Hirnteile, wieder in voller Stärke zurück. Dass an diesem Ergebnis nicht etwa eine Reflexermüdung beteiligt ist, erscheint schon durch die Länge der zwischen den einzelnen Reizungen ein- geschobenen Pausen ausgeschlossen, und konnte in anderen Fällen durch Kontrollversuche ohne Abkühlung leicht gezeigt werden. Die Blutdruckkurve zeigt eine etwas schwankende Druckhöhe, die aber keinen sicheren Einfluss der Kühlung erkennen lässt. Die während der Warmperioden ausgeführten Reize bewirken eine leichte Blut- druckerhebung, die in der Kühlperiode nicht zu erkennen ist. Fig. 2 (Versuch vom 25. Juni 1910), in welcher die Blutdruckkurve, die keine Veränderungen aufwies, der Raumverhältnisse wegen weg- gelassen wurde, zeigt sonst ganz ähnliche Beziehungen. Auch hier ist die Reflexkurve, ‚welche das in diesem Falle am Zehenballen ge- reizte Hinterbein verzeichnet, während der Kühlperiode stark ver- kleinert, obwohl die Reizdauer beträchtlich länger ist als vorher und nachher bei Körpertemperatur des Rückenmarkquerschnittes. Bei diesem Versuch wurde besonders darauf geachtet, dass bei Durchlaufen von warmem Wasser (Körpertemperatur) durch den Schlauch und bei Anwendung ähnlicher Reizabstände keine Ver- änderungen der Reflexe eintraten, dass also an diesen weder Er- müdung noch Druckwirkungen auf das Mark beteiliet sind. In dem Fall der Fig. 3 (Versuch vom 4. Juli 1910) liegen insofern ein wenig andere Umstände vor, als der Blutdruck durch die Rings- kühlung des Marks, für welche das Wasser diesmal auf — 3° C. tem- periert wurde'), eine Herabsetzung erfährt”). Dass diese reizlos er- 1) Damit ist natürlich nicht gesagt, dass auch der Markquerschnitt diese Temperatur annahm; vgl. die oben gemachten Angaben. 2) Der Ursprung des Splanchnicus liegt vorwiegend kranial von der Kühl- stelle; nach der Zusammenstellung von Langley (Das sympathische und ver- wandte nervöse Systeme der Wirbeltiere [autonomes nervöses System]. Ergebn. d. Physiol. Bd.2 [2] S.819—872. 1903. Darin S. 849 Tab. V.) kommt beim Kaninchen hauptsächlich der 6., 7. und 8. Thorakalnerv in Betracht, d. h. die 14.—16. Wurzel. Hieraus erklärt sich das Fehlen oder der geringe Betrag der Blutdrucksenkung bei den hier ausgeführten Leitungsunterbrechungen im Rückenmark. -9SSoAgTrUNSLIQ — 'Oy910]2 ap SOpLugasıanbyıepy sap Sunwaeaag 1op pun Sunjyny I9p pusigem SI IYARIszI9y al] ‘uapunyag ur oz aıp pun dunzioy Ip ‘Sundoiytewijgnyy oıp Ysofsdsne 9907dı1ayuıp UOTNIS AOp Zunzioy yo9ınp ‘sOxapa1aanag sap 9Aanyy Alp :uayun Moeu Uago UOA UOIS U98[07 ST. IQ. 09 + ımeıadus -Innyf (Jozanmjesiog ‘OT pun 6) '8T pan zT Jpzınay UOTOBIAZ STILLE SEP SNIEWITESIOLL SOp Zungynysdug 5 "But Wilhelm Trendelenbure: 438 -u9gasodIapoIN 9ssoaspemänig, #7; u IST 9AIMY AI — MOPURASAUN WMAHPOIM JATOIq ‘ PISZIOY Hl 'NONIPSYOARM uOp Jqls our 9819g0 dl (TEZAnAJERIE °6 pun '8) yes zT pan 97 [pzany WOgDSsIÄz Yppug (N) og — Ameaadwmayyny) Sunyyny ag 7 Sy ur om Annupiony apmampardsgnug ge BIT TITITTTTTTTTTTTTTTITTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTEITTTTTTTTTTERTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTTITTTDTESTITTGSTTTTTTEERTTTTTTTELTTETTTTTTRITT TESTER w E BT BRRR Ve SA NEFSSR N. TESITEP SE En EN N er = 3 S A o® = n2 = = —_ {eb} >] [b} » = A jan} © = © Pe | t© as 440 Wilhelm Trendelenburg: folgt, geht auch hier wieder aus der Kurve ohne weiteres hervor. Die vorigen Fälle beweisen hingegen, dass eine Drucksenkung zum Zustandekommen der Reflexabschwächung nicht notwendig ist, an ihr also nicht beteiligt sein kann. Das Verhalten der Reflexe schliesst sich ganz dem der vorigen Fälle an. In diesem Versuch wurde ferner die Änderung der Reflexschwelle quantitativ verfolgt und fest- gestellt, dass während der Kühlperiode eine Reizverstärkung von Stärke 35 auf 490, also um mehr als das zehnfache, nieht genügt, um einen Reflex von gleicher Grösse auszulösen wie während der Warmperiode mit dem genannten schwächeren Reiz. Genauere Feststellungen waren wegen der sich bei Reizverstärkung zu sehr einmischenden direkten Muskelreizungen nicht möglich, aber für den vorliegenden Zweck auch nicht notwendig. Es kommt hier weniger darauf an, den Betrag der Reflexverminderung festzustellen oder zu untersuchen, ob bei wirklich vollständiger Ausschaltung der höheren Teile der Reflex überhaupt nicht mehr auslösbar ist (was nach meinen bisher gemachten Erfahrungen nicht der Fall zu sein braucht), als darauf, dass zunächst einmal die Richtung der Änderung der Reflex- tätigkeit einwandfrei festgestellt wird '). Zu der zuletzt gegebenen Kurve sei schliesslich noch erwähnt, dass die Ätherzufuhr seit einer halben Stunde abgestellt war, und dass das Tier niemals durch die Kühlungen oder Wiedererwärmungen unruhig wurde. Überblicken wir die in allen wesentlichen Punkten übereinstimmenden Ergebnisse der Versuche, so können wir den Schluss ziehen, dass dasRückenmark, weit entfernt, von den höheren Hirnteilen aus eine Hemmung zu erfahren, durch deren dauernd ihm zu- fliessende Erregungen einen Erregbarkeitszuwachs erhält, der sich in einer Steigerung der Reflextätig- keit äussert. Dieses Ergebnis entspricht den Ansichten, die Munk°) neuer- dings im Zusammenhang entwickelt hat. Nach Munk halten die übergeordneten motorischen Zentralorgane die ihnen untergeordneten 1) Die direkten Muskelreizungen werden bei Anbringung der Elektroden am Schwanz vermieden; doch waren hierbei nicht immer genügende Beinreflexe zu ’erhalten. Reizung von Nervenästen dürfte geeigneter sein. '2)H. Munk, Über das Verhalten der niederen Teile des Cerebrospinal- systems nach der Ausschaltung höherer Teile. Sitzungsber. d. Berliner Akad. d. Wissensch. Bd. 44 S. 1106-1133. 1909: Höhere Hirnteile und Reflextätigkeit des Rückenmarks. 441 schon in der „Ruhe“ in einem schwachen Erregungszustand oder Zustand erhöhter Erregbarkeit, ein Einfluss, der als „kentrogener“ bezeichnet wird. Nach dessen Wegfall erlangen die niederen Zentren erst allmählich einen Zustand von gegen die Norm erhöhter Erreg- barkeit, so dass schliesslich jene lebhafte Reflextätigkeit eintritt, die man seit den Untersuchungen von Freusberg!) so eingehend studiert hat. Es ist hier nicht der Ort, näher nach der Ursache dieser sekundären Veränderungen zu fragen, für welche Munk eine sanz bestimmte Deutung gibt. Wenn hier die nachträgliche Reflex- steiserung mit Munk als Isolierungsveränderung bezeichnet wird — zweekmässig aber unter Hinzufügung des Beiwortes „sekundär“, um damit den Unterschied gegen die primäre Folge der Isolierung, die Reflexherabsetzung, zu kennzeichnen —, so soll damit nichts über die Ursache dieser Veränderung im Munk’schen Sinne prä- judiziert sein. Für die hier vorwiegend interessierenden Fragen ist noch der Schluss zu ziehen, dass für den Begriff des Shocks nicht viel Platz mehr übrig bleibt, wenn man unter diesem nieht nur die Wirkungen starker Reize auf Herzschlag und Atmung versteht, Wirkungen, wie sie auch z. B. nach Stoss gegen den Bauch eintreten können, sondern Einflüsse, die in einer direkten, nicht durch Blut- und Kreislaufänderungen vermittelten Weise bestimmte Tätigkeits- äusserungen der verletzten Zentralorgane auch fern von der Ver- letzungsstelle herabsetzen. Man wird natürlich auch so noch den Einfluss der reizlosen Ausschaltung als „Shock“ bezeichnen können, wird sich dabei aber klar machen müssen, dass man dann das Wort nieht mehr im üblichen Sinne gebraucht, in welchem es eben nicht die Folgen einer reinen Funktionsaufhebung bedeutet, und dass der weitere Gebrauch des Wortes dann keineswegs dazu dienen kann, klare Vorstellungen herbeizuführen. Natürlich soll damit auch nicht gesagt sein, dass nun jeder Schnitt oder Eingriff am Zentralnervensystem ohne ‚weiteres eine reine Funktionsaufhebung hervorbrinst. Dies wird jedoch voraus- sichtlich um so eher der Fall sein, je tiefer die verwendete Narkose ist, wobei aber die bei Tieren sehr verschiedenen allgemeinen de- pressiven Wirkungen der Narkose zu berücksichtigen sind. Man l) A. Freusberg, Reflexbewegungen beim Hunde. Pflüger’s Arch. Bd. 9 S. 358—391. 1874. 449 Wilhelm Trendelenburg: Höhere Hirnteile und Reflextätigkeit etc. wird aber hinfort nicht ohne weiteres bei Eingriffen am Zentral- nervensystem mit Shockwirkungen rechnen dürfen, um so weniger, je längere Zeit nach dem Eingriff vergangen ist, je mehr also der durch die Narkose etwa geschädigte Allgemeinzustand wieder ein normaler geworden ist. Die Ergebnisse des vorliegenden Beitrags können kurz da- hin zusammengefasst werden, dass die Methode der reizlosen vor- übergehenden Ausschaltung durch Abkühlung zur Entscheidung der Frage nach der Shockwirkung von Markdurchschneidungen auf die Reflextätigkeit des Rückenmarks verwendbar ist. Werden die Ein- flüsse {der höheren Hirnteile auf das Lendenmark durch eine weiter oben vorgenommene Ringskühlung des Markquerschnittes auf etwas über den Gefrierpunkt reizlos ausgeschaltet, so sinkt die Grösse der durch peripheren Reiz ausgelösten Reflexe ab, um nach Wieder- erwärmen des Querschnittes auf Körpertemperatur wieder die nor- male Höhe zu erreichen. Diese bei Durchschneidungen ebenfalls eintretende Reflexschwächung kann deshalb nicht als Shockwirkung gedeutet werden, sondern als die Folge der einfachen Aufhebung des erregbarkeitssteigernden Einflusses, welchen die höheren Hirn- teile auf die Reflexapparate des Rückenmarks im normalen Zu- stand ausüben. Sphygmo-tonographische Studien. Von Prof. Dr. Egmont Münzer (Prag). (Mit 11 Textfiguren.) Im Jahre 1889 erschienen Edgren’s „Kardiographische und sphygmographische Studien“ !), in welchen dieser Autor eingehende Untersuchungen über die Bedeutung der einzelnen Teile des Kardio- und Sphygmogramms sowie ihre Beziehung zueinander anstellte und mitteilte. Eine Wiederholung dieser Untersuchungen schien mit Rücksicht auf die Länge der seither verflossenen Zeit und eine zum Teil andere Technik wünschenswert; doch will ich im nachfolgenden nur einen Teil der hier gewonnenen Resultate erörtern und mich mit der Fortpflanzungsgescehwindigkeit der primären und sekundären (dikrotischen), von Edgren b, und f, bezeichneten Pulswellen be- schäftigen. l. Methodisches. Der Apparat, dessen ich mich zur Pulsaufnahme bediente, war der von mir an anderer Stelle beschriebene Sphygmotonograph, weleher mit einem Kymographion in der in Figur 1 angedeuteten Weise verbunden erscheint. Indem ich bezüglich der eingehenderen Schilderung der Verwendung des Apparates auf meine früheren, besonders auf die im Zentralblatte für Herzkrankheiten erschienenen Ausführungen verweise”), möchte ich hier nur folgendes erwähnen: Die Pumpe P treibt die Luft durch den Verteiler V in die Manschetten M1, 1a bzw. M2, 2a, gleichzeitig aber auch in die 'Ballons E17, 2a bzw. E2, 2a und in das Hg-Gefäss des Manometers (Steigrohrs) st. An letzterem lesen wir den Druck ab, der in den 1) Edgren, Skandinavisches Arch. f. Physiol. Bd. 1 S. 67—151. 1889. 2) Münzer, Zeitschr. f. experim. Pathol. und Therapie Bd. 4. 1907. — Münchener med. Wochenschr. 1907 Nr. 37. — Mediz. Klin. 1908 Nr. 14, 15, 16. — Zentralbl. f. Herzkrankheiten 1910. 444 Egmont Münzer: Manschetten und im Systeme herrscht. Schliessen wir nun die Hähne 12 bzw. 18, so sind die Manschetten mit den Erlanger Ballons und den Schreibern weiter verbunden, aber von der Pumpe ab- Te, geschnitten. Die in den Manschetten zustande kommenden Oszilla- tionen teilen sich den in den Erlanger-Ballons befindlichen Luft- säulen mit und kommen an den Tambours {12 bzw. {2 als Pulse Sphygmo-tonographische Studien. 445 zum Ausdrucke, sobald man die an diesen Tambours befindlichen Seitenhähne schliesst. Man kann nun mit dem Apparate den Blutdruck feststellen, indem man entweder die Manschette M7 am Öberarme, dicht darunter Manschette M2 am Vorderarme anlegt, beide auf einen bestimmten Druck aufpresst und die in beiden Manschetten vor sich gehenden Druckschwankungen verzeichnet; — bei Erreichung des minimalen — diastolischen Druckes werden beide Schreiber relativ grösste Pulswellen, bei Erreichung des maximalen Druckes der der Vorderarmmanschette angehörende Schreiber eine gerade Linie ver- zeichnen, da die Oberarmmanschette das Gefäss jetzt vollkommen abschliesst und ein Puls durch dieselbe nicht mehr hindurchtritt. — Man kann aber auch die an einem Erlanger Ballon befindlichen zwei Manschetten zur Blutdruckaufnahme benützen. Wie der Fig. 1 zu entnehmen, sind mit dem Erlanger-Ballon 7, Za die Man- schetten J, 7a und mit dem Erlanger-Ballon 2, 2a die Man- schetten 2, 2a verbunden. Legt man nun die Manschette 7 um den Oberarm, die Manschette 7a dieht darunter an, dann kann man ebenfalls, indem mittels des Hahnes 51, 1a zunächst die Manschette 7 und nachher die Manschette Za mit dem Frlangerballon und dem zugehörigen Tambour verbunden wird, die in beiden vor sich gehenden Schwankungen nacheinander verzeichnen und so den Blutdruck objektiv bestimmen. Da nun an dem Apparate zwei der- artige Manschettenpaare vorhanden sind, kann mau auch gleichzeitig den Blutdruck an zwei verschiedenen Stellen des Körpers, also z. B. am Oberarm und Oberschenkel graphisch aufnehmen. Dies ist aber für die zu lösende Frage zunächst von Bedeutung gewesen: Will man nämlich die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Pulswellen prüfen, dann muss man dafür sorgen, dass nicht nur die übertragenden Apparate vollkommen gleich sind, es müssen auch für die beiden, die Pulswellen zunächst empfangenden Luftpolster (Manschetten) die gleichen optimalen Bedingungen geschaffen werden. Die optimalen Bedingungen dürften aber dann gegeben sein, wenn der in den Manschetten herrschende Druck dem minimalen Blutdruck ent- spricht. Es war also zunächst die Frage zu erledigen, ob der Blutdruck in der oberen und unteren Extremität gleich ist, d.h. ob der zur Pulsaufnahme anzuwendende Druck in beiden Manschetten der gleiche sein darf. Die diesbezüglichen Unter- suchungen haben mich gelehrt, dass der Druck, welcher nötig ist, 446 Esmont Münzer: die Oberschenkelarterie vollkommen zu schliessen, der sogenannte inaximale oder systolische Blutdruck, ein etwas höherer ist als jener Druck, welcher den gleichen Erfolg am Oberarme erzielt; dagegen schien der minimale oder diastolische Druck in beiden Gefässgebieten gleich hoch zu liegen. Es war also zur Pulsaufnahme in beiden Manschetten der gleiche — minimale oder diasto- lische — Druck einzustellen. Was die Manschetten betrifft, kamen zur Pulsaufnahme nur die schmalen ea. 4 em breiten Manschetten in Verwendung, welche, wie wir [siehe auch v.Recklinghausen’s Ausführungen !)] anzunehmen berechtigt sind, das Arterienrohr mehr oder weniger linear, d.h. an eng umschriebener Stelle treffen, die Pulswelle also möglichst vollkommen zur Aufnahme bringen. Der Herzstoss wurde entweder mit dem Jaquet’schen Kardiographen oder mit einem Trichter aufgenommen, dessen Rand mit einem pneumatischen Ringe versehen war (Fig. 1C). Die Verbindung der einzelnen Teile — der Manschetten mit den Erlanger-Ballons, dieser mit der Pumpe einerseits, den Tam- bours andererseits — wurde durch diekwandigen Gummischlauch „Druckschlauch“ hergestellt; selbstverständlich waren die einander entsprechenden Schlauchteile gleichlang. Ebenso wareu dieErlanger- ‚Ballons von gleicher Qualität und gleicher Grösse, was auch von den umschliessenden Glaskolben gilt. Als Schreiber kamen die Knoll- Hering’schen vertikalen Tambours zur Verwendung, deren Gummi- membran durch die bei Zimmermann (Leipzig) käuflichen Mem- branen mit diekem Rande gebildet wurde. Endlich wäre noch die Geschwindigkeit des Kymographions zu besprechen. Leider war die Bewegung desselben nur bei mittlerer Geschwindigkeit von ca. 4 cm in der Sekunde ziemlich gleichmässig, nahm dagegen bei grösserer Schnelligkeit ständig zu; infolgedessen war es nötig, mittels Jaquet’schen Chronographen genaue Zeit- schreibung durchzuführen und bei der Berechnung der Fortpflanzungs- geschwindigkeit die jedem Pulse zugehörige Geschwindigkeit zu be- rücksichtigen. Bezüglich der Messung der Kurven folgte ich den von Edgren ‚(l. e. S. 80-—82) gegebenen Ratschlägen und bemerke noch, dass l)v. Recklinghausen, Über Blutdruckmessung beim Menschen. Arch. '£ exper. Path. und Pharm. Bd. 46. 1901, und Unblutige Blutdruckmessung. I, II ‚und III. Abhandl. Arch. f. exper. Path. u. Pharm. Bd. 55. .1906. Sphygmo-tonographische Studien. 447 2. Form des Kardiogramms und der Pulskurven. Bezüglich des Kardiogramms ist zu betonen, dass die mit dem Trichter und jene mit Jaqet’s Kardiographen aufgenommenen Herz- stosskurven einander im wesentlichen gleichen, z. B. Fig. 2a, b, und sich mit den von Edgren mitgeteilten Bildern decken (Fig. 3,4, 11a). a) Fig. 21). Herzstosskurve von Fall VIII. a) Aufnahme mit Trichter b) bei Aufnahme mit Jaquet’s Kardiograph. Fig. 3. Normale Herzstosskurve. (Herr S..., 12. April 1910.) (Trichteraufnahme = Edgren’s Fig. 9, 10, 12.) Der Puls wurde an drei Stellen aufgenommen und wurden die Manschetten angelegt: 1. dieht unter der Ansatzstelle des M. peetoralis m. am rechten Oberarm (a. axillaris); 2. über dem linken Handgelenke (a. radialis); 3. im oberen Drittel der rechten Wade. Die an diesen Stellen gewonnenen Pulskurven werden durch die Abbildungen 5—11 wiedergegeben. 2) Die Abbildungen 2—11 wurden aus technischen Gründen in °/s Grösse “wiedergegeben. Egmont Münzer: 448 Die an den ersten zwei Stellen gewonnenen Pulskurven (Fig. 5, 6, 7, 8 und 11e) zeigen nichts Besonderes; dagegen unterscheidet (zuajdpuerg sum opogdsuem :°°IIA TEA) "VArnysreipeyrofewion °, Sid CNUsJPSpue sun opaydsurm :°°* A IE) PAanysıeıpey ofeunon °9 BLı aUpFpurg sun Opaydsuepg °°°* IT III) VAanysıpeıperg ofrunon °C SL] n In CIE DA S,Ua2dp Ag — Auyenpnersggprt) COTEL Enaqay'z "cd 20H) “PAınySsoszıorf Sfeunon °F IT er sich die von der Wade gewonnene Pulskurve (Fig. 9, 10, 11b) doch Der Anstieg erfolgt hoch und wesentlich von den beiden anderen. 449 Sphygmo-tonographische Studien. CeTAaleH HAınysmduape M dfewaon ‘OL LI ( "AL IED HAMYSINduspe A eudoN 6 "LI z (uwaogo uap um oyaydsuepr !°" I Ted) "HAINYSLIBI[IXY SfeundoN 8 BL] 29 Bd. 136." Pflüger’s Archiv für Physiologie. Egmont Münzer -(mEIOgO) BAmysırefIzY (0 amyspnduspem (9 (ef FL S,uDadpy — YWteujnersjyoLLL) 9AanySssolszIaf (m "Pwyeumy uoNoAZ AOp Sn 10454998 pun dayyuny “ropaoıA "A IE "IL LA Sphygmo-tonographische Studien. 451 zeigt keine spitze Erhebung mit raschem Absinken (Schleuderung), sondern ein starkes Plateau und die Rückstosselevation erhebt sich nicht plötzlich aus dem absinkenden Schenkel der ersten Puls- erhebung (Fig. 11), ja es kommt häufig überhaupt nicht zu einer deutlichen zweiten Erhebung (Fig. 9, 10), so dass man das Ein- treten der zweiten Pulswelle „der Rückstosselevation“ (f,) daran erkennt, dass die Form des Absinkens sich ändert, d. h. ganz lang- sam erfolgt oder überhaupt einige Zeit kein Absinken zu konstatieren ist. Es musste also das Eintreten der zweiten Pulswelle an der Wadenpulskurve in diesen Fällen dort angenommen werden, wo das steile Absinken aufhörte, ohne Rücksicht darauf, ob es zu einer wirklichen neuen Erhebung des Schreibers kam oder nicht. 3. Fortpflanzungsgeschwindigkeit der primären und dikrotischen Pulswelle. In der angegebenen Weise wurde nun bei sieben Menschen, welche einen normalen Blutdruck von 110—135 mm Maximal- und 70—80 mm Minimaldruck aufwiesen, der Puls an den bezeichneten Stellen aufgenommen, und zwar: 1. gleichzeitig zwischen Oberarm und Wade (Fig. 11), 2. “ = rs „ Handgelenk und nun die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der bezeichneten Wellen berechnet. Es ergab sich, dass die Fortpflanzungsgeschwindigkeit zwischen Ober- arm und Wade die in der Tabelle auf S. 452 und 453 befindlichen Zahlen betrug. Überblickt man die vorliegende Tabelle, so sieht man, dass die, Fortpflanzungsgeschwindigkeit der ersten Welle von der Aorta zur Wade ca. S—12 m (einmal auch 13 m) beträgt. Vom Herzen zum Handgelenk, also in der oberen Extremität, schwanken die Werte: Drei Bestimmungen ergaben Werte von 7,6; 10,1—10,75 und 10,33 m; in fünf anderen Bestimmungen schien die Fortpflanzungsgeschwindig- keit wesentlich höher und bewegte sich zwischen 17,3—19 m in der Sekunde. Im Falle IV schien diese Pulswelle einmal (20. Februar 1910) eine Geschwindiekeit von 17 m zu haben, während sie am 14. Juli nur eine solche von 10,1—10,75 m zeigte. Und gerade an diesem letzteren Tage wurden eine grössere Anzahl von Pulsen be- rechnet, während am erstgenannten Tage nur fünf Pulse exakt be- rechnet werden konnten. Es bietet eben die Pulsaufnahme am Handgelenke gewisse Schwierigkeiten und wird für diese die Technik 29 * Egmont Münzer: II IV < VI vu VI Name und Alter des Untersuchten. Krankheit Herr A., 42 Jahre alt, „N eurasthenie Herr Direktor F., 31 Jahre alt, gesund Herr F., 46 Jahre alt, Neurasthenie Herr H., 32 Jahre alt, orthotische Albuminurie Herr Ingenieur K., 27 Jahre alt, Neurasthenie Herr M., 26 Jahre alt, gesund Herr S., 36 Jahre alt, gesund Herr Ingenieur S., 30 Jahre alt, Hypertonia vascularis („Reu granulatus“) Zeit der Unter- suchung 19 EN a ee. 80. Januar 9. Februar 13. Februar 20. Februar 14. Juli 20. Februar 10. Mai 12. Juni 26. Februar Puls- frequenz in der Minute 66 60 80 69 64 76 58 12 Druck in den Blutdruck | Manschetten in mm Hg | bei der Puls- 110— 120. 80 135 80—100 120 EN 110 70—80 110 70—80 100—110 70 110 70 150 70—80 185—200 130 aufnahme 80 80 90 70 70 80 70 60 130 Sphygmo-tonographische Studien. 453 Fortpflanzungs- RER? Fortpflanzungs- ae Druck in den Geschwindigkeit zwischen Aorta— | Manschetten | zwischen Aorta—Hand- Bemerkungen Wade in Metern | bei der Puls- gelenk in Metern b,-Welle | fı-Welle | aufnahme b}-Welle fı-Welle 10,5 4,95 90 7,6 5 Fig. 8 (6 Pulse) (6 Pulse) (6 Pulse) (6 Pulse) 1154 2.776,18 — = | — (7 Pulse) | (6 Pulse) | 13,0 5,65 —_ — | — (4 Pulse) (4 Pulse) — |. — 90 17,3 | 941 (3 Pulse) (3 Pulse) 11,3 4,0 80 17,4 116,9 Fig. 5 (16 Pulse) (16 Pulse) 11.077002 1209,92 — _ = Fig. 9 (9 Pulse) | (8 Pulse) 1622| 7,9,20 70 17,6 | 601 (6 Pulse) | (6 Pulse) (5 Pulse) |(4 Pulse) 10,0 8,36 _ E= ıı (6 Pulse) | (5 Pulse) 10,48 5,40 _ _ E Langsamer Gang des (7 Pulse) | (6 Pulse) Kymographions Manschetten gewechselt 1179 3,68 — = | 0 — (7 Pulse) | (7 Pulse) — — _- 10,1—10,75 4,67 (12 bzw.10 Pulse) | (13 Pulse) last 7,1(4,76) _ — _ Fig. 6 (5 Pulse) | (5 Pulse) 11,03 6,89 (4,21) _ _ Fig. 11 (6 Pulse) | (6 Pulse) _- — 70 10,33 _ 8,56 |5,98(4,97) _ — — (5 Pulse) | (4 Pulse) | Manschetten gewechselt 10,3 5,90 (4,09) — — — Fig. 10 (5 Pulse) | (4 Pulse) 9,8l | 5,98 8,5) — — _ (4 Pulse) | (3 Pulse) — _ 65 18,5 — (4 Pulse) 1,92 — = — — Fig. 7 (6 Pulse) 8,00 5,95 — — — (6 Pulse) | (5 Pulse) Manschetten gewechselt I 5,82 _ — — (4 Pulse) | (4 Pulse) — _ 65 19,0 81 (7 Pulse) |(6 Pulse) 16,29 6,11 130 24,43 | 12,76 Fig. 2, Herzstosskurve (6 Pulse) (6 Pulse) (7 Pulse) (7 Pulse) 454 Egmont Münzer: vervollkommt werden müssen. Auch verabsäumte ich es bei Auf- nahme der Pulskurven am Oberarm und Handgelenk die Manschetten der Kontrolle wegen zu wechseln, wie ich dies zwischen Wade und Oberarm wiederholt tat (siehe Tabelle), möchte also aus diesen Ur- sachen die hier gewonnenen Ergebnisse vorderhand unberücksichtigt lassen. Was die zweite Welle „Rückstosselevation“ betrifft, läuft dieselbe durchwegs langsamer als die erste, zeigt sowohl in der Strecke zwischen Aorta und Wade als in der Strecke zwischen Aorta und Handgelenk eine wesentliche Verlangsamung und schwankt die Fort- pflanzungsgeschwindigkeit dieser Welle nach den vorliegenden Daten zwischen 4—7 m, nur in zwei Fällen schien dieselbe eine Höhe von S m zu erreichen und zwar einmal im Falle IV zwischen Aorta und Wade, bei welcher Aufnahme der Gang des Kymographions rasch war und die beiden anderen bei langsamem Gange aufgenommenen Bestimmungen, trotz Manschettenwechsels, sehr schön übereinstimmende Werte von 5,4 und 5,68 m ergaben, sowie zweitens im Falle VII zwischen Aorta und Handgelenk bei einer Aufnahme, bei welcher die erste Welle eine Geschwindigkeit von 19 m zu haben schien. Vergleicht man die hier gegebenen Daten mit jenen der Lite- ratur, so zeigt sich, dass die von mir gefundenen Werte der Fort- pflanzungsgeschwindiekeit der ersten Welle zwischen Aorta und Wade in sehr guter Übereinstimmung mit dem bisher festgestellten stehen. Fortpflanzungs- Arterien geschwindigkeit Autor der Pulswelle' m en in \ 7,92—9,24 m E. H. Weber, 1827 an a \ 11,16 m Czermak, 1864 re | mt ne I 8: en Do (as: vn ER \ 10,97 „ Grunmach, 1879 A ae \ 1 Grunmach, 1879 ee } 90. | MHoorweg, 156 Sphygmo-tonographische Studien. 455 Denn nach den Angaben der Literatur schwankt dieser Wert zwischen Aorta und Wade bzw. Fuss, wie die vorstehende aus Tigerstedt!) ausgezogene Tabelle (S. 385) lehrt, zwischen 7,9—12,4 m, Zahlen, welche den von mir gefundenen Werten sehr gut entsprechen. Die zweite Welle „Rückstosselevation“ läuft, wie dies auch Landois?), v. Kries®) und Edgren (l. ce.) hervorheben, langsamer als die erste; allerdings muss ich letzterem Autor gegenüber betonen, dass diese Verlangsamung der zweiten Welle ebenso in der Bahn Aorta—Handgelenk bemerkbar war als in der Bahn Aorta— Wade. Auch erscheint diese Verminderung der Fortpflanzungsgeschwindiekeit der zweiten Welle wesentlich grösser als in Edgren’s Bestim- mungen, wie eine Betrachtung seiner Tabelle lehrt. Nach Edgren 5.104: Geschwindigkeit der Pulswelle, m b,-Welle fı-Welle Obere Extremität, Th. . 7,63 7,57 BER ee. 132 1,32 Von" Aorta, zur Bemoralıs Ihren ee 6,20 5,20 Pia er 8 ip 6,59 5,24 Edgren fand, wie wir sehen, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der ersten Welle zu 6,2—6,5 m, die der zweiten Welle zu 5,2, wäh- rend in meinen Fällen wohl die zweite Welle eine so geringe Ge- schwindigkeit aufwies, die erste aber wesentlich schneller läuft als nach Edgren. Auch in der oberen Extremität trat, wie bereits erwähnt und wie aus meiner Tabelle ersichtlich, die Differenz der Geschwindigkeit der beiden Pulswellen deutlich hervor, während sie in Edgren’s Bestimmungen kaum angedeutet erscheint. Bezüglich der Ursache dieser langsamen Fortpflanzung der dikrotischen, zweiten Welle bin ich der Meinung, dass es sich um die Folge des wesentlich geringeren Druckes handelt, unter welchem diese Welle läuft, eine Anschauung, welche auch Edgren als möglich ansieht. Dagegen erscheint die von Edgren gemachte Annahme, dass diese Druckverminderung „sich verhältnismässig mehr in den grossen 1) Tigerstedt, Lehrbuch der Physiologie des Kreislaufes. Leipzig 1893. 2) Landois, Die Lehre vom Arterienpuls S. 177. 3) v. Kries, Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abteil. 1887. 456 Egmont Münzer: Gefässstämmen geltend“ mache, wodurch eben in der Bahn Aorta— femoralis die geringere Fortpflanzungsgeschwindigkeit der fi-Welle deutlich werde, deswegen nicht nötig, weil auch in der Bahn Aorta— radialis dieses Zeichen der Druckverminderung — die wesentlich geringere Geschwindigkeit der f;-Welle — nachweisbar ist. Noch einige wenige Worte bezüglich des in der Tabelle an- geführten Falles VIII: Es handelt sich in diesem Falle um einen Menschen mit ausserordentlich erhöhtem Blutdrucke, starker sekundärer Herzhypertrophie, Albuminurie, also jenen Erscheinungen, welche als charakteristisch für „Schrumpfniere“ angesehen werden. Es schien mir zweckmässig, wenigstens durch eine Beobachtung den ganz deutlichen Einfluss krankhaft erhöhten Blutdrucks auf die Fort- pflanzungsgeschwindigkeit der Pulswellen zu dokumentieren, die aus- tührliche Bearbeitung dieses Gebietes, auf welchem einschlägige Untersuchungen von Grunmach!), Keyt?) und Edgren vor- liegen, späterer Zeit vorbehaltend. Hochgeehrter Herr Geheimrat! Die Arbeit Edgren’s erschien im Jahre 1859, zur Zeit als ich noch Assistent des Ihrer Leitung anvertrauten physiologischen Institutes der deutschen Universität in Prag war; ich besprach deren so bemerkenswerte Resultate später (Januar 1892) eingehend im Verein deutscher Ärzte (unter Vorweisung eines, wie ich heute einsehe, zu derartigen Untersuchungen ganz ungeeigneten Instrumentes). Die Beschäftigung mit Technik und Bedeutung der Blutdruck- messung führte mich zu jenem, mich schon seinerzeit interessierenden Thema zurück, und so schliessen die vorliegenden Untersuchungen eng an jene Zeit an, die ich unter Ihrer Leitung zu arbeiten das Glück und die Ehre hatte. Aus diesem Grunde scheinen sie mir auch besonders geeignet, meiner unwandelbaren, dauernden Dankbarkeit Ihnen gegenüber Ausdruck zu geben. l) Grunmach, Arch. f. path. Anat. 1885. 2) Keyt, Sphygmography and Cardiography. 1837. Sphygmo-tonographische Studien. 457 Belege: Fall I. Herr A., 50. Januar 1910. Entfernung: Aorta—Wade..—= 118 cm, Aorta—Oberarm = 35 „ 83 cm = Entfernung Oberarm— Wade, Manschettendruck — 80 mm Hg. » | Die räuml. Differenz d. Be- Bl: | Die räumliche Differenz des 0,2” —in | ginnes d. primär. Pulswellen | 92” —=in | Beginnes der dikrot. Wellen Millimetern | . _..,. beträgt Millimetern’ . _,.. beträgt in Millim. — der Zeit nach in Millim. — der Zeit nach Sek. | SEN 8,00 350%. —..1:0,0849 8,25 7,906, — 50,181 8,00 3:90... 250,0849 825 8.0047. —:12 0,193 825 320, — 0,0710 8.25 79002 E01 8.25 3,00, °—7.0:072 8,50 Sl 2.0116 8,50 8.08 320072 8,50 9,66 -—= 0,1833 8,50 3, 802 4.0,082 8. 50 6000 0,141 0,83: m... ..0,079" 0,478:6—= [0,88 m... I 10052160 as 1 009 x = 0,1675 2230,89- 1100798 210/83. 150, — Also Fortpflanzungsgeschwindigkeit der primären Welle zwischen Aorta und Wade 10,5 m. Entfernung: Aorta—Handgelenk Aorta—Oberarm . . Also Fortpflanzungsgeschwindigkeit [3 dikrotischen Welle = 4,95 m. 35 cm — Entf, Öberarm— Handgelenk. Manschettendruck — 90 mm Hg. 805221920.9,95.42 001054 So os iss ran | 150 00054 8,50 200 = 0,047 8,00 2,29 — 0050 8,50 1500 29005 0,278:6 — 0,046 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der primären Pulswelle zwischen Aorta und Handgelenk = 7,60 m. Fall 11. Entfernung: Aorta—Wade. Aorta—Oberarm — 8,50 3,00 = 0,070 8,75 375 — 008 8,00 30 = 0,05 8,50 16 — 0,039 8.00 35 = 0,081 85070 ao 0,058 0,103:6— 0.067 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der dikrotischen Welle = 5,3 m. Herr F., untersucht 5. Februar 1910. = slili6..cm, 30 ” 86 cm — Entfernung Oberarm — Wade. - Manschettendruck = 80 mm Hg. 11,25 | 4,50: = 0,080 12,00 36T. 2.0061 12,00 | 508 = 008% 12,50 500 — 2.0080 12,50 | 409 = 0065 13,00 500 = 0,077 Tor 5:00 0078 VH2HE 0,075 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der primären Pulswelle zwischen Aorta— Wade = 11,4 m. 11,75 817 — 0189 12.00 on De 12.25 100 = 0,160 12.50 862 — 0,187 12.50 ee 12,75 os 0.88: 0,139 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der dikrotischen Welle zwischen Aorta— Wade —= 6,18 m. 458 Egmont Münzer: Manschettendruck — 90 mm Hg. en, | Die räuml. Differenz d. Be- Re ' Die räumliche Differenz des 0,2” —in | ginnesd. primär. Pulswellen 0,2” — in | Beginnes der dikrot. Wellen Millimetern | , _.,. beträgt Millimetern | , __.,. beträgt in Millim. — der Zeit nach in Millim. = der Zeit nach Pi Sek. Sek. 10,25 300 0.0 10,75 8,0005 22.0148 11,790 Aargau 2.0.0853 12,25 Is: 205 12,00 .| 3,29 ..— 0,054 12,75 1025 = 0,160 12,75 358. == 1.0/036 12,78 9,907, 0 0,264 :4 — 0,610: 4 — 0,066 0,152 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der primären Pulswelle zwischen Aorta— Wade = 19,0 m. Entfernung: Aorta— Handgelenk — 72 cm, Aorta--Oberarm. . 0 - Manschettendruck 12,25 1,50 12,25 1,29 12,75 1.25 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der dikrotischen Welle zwischen Aorta—Wade —= 5,65 m. ” 42 cm —= Entf. Oberarm—Handgelenk. — 90 mm He. 0,024 0,023 0,019 VOR 0,0236 | Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der primären Pulswelle zwischen Oberarm— Handgelenk —= 17,3 m. Fall Il. 12,50 12.50 13,25 | 3,09 II 0,049 0,048 0,037 0,134: 3 = 0,0446 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der dikrotischen Welle zwischen Oberarm— Handgelenk — 9,41 m. Herr F., untersucht 13. Februar 1910. Entfernung: Aorta— Wade... —= 125 cm, Aorta—Oberarm = 35 „ 9,00 10,50 12,00 12,50 12,50 13,00 13,50 13,50 14,00 3,15 4,00 4,15 4,15 4,25 4,75 5,15 5,25 5,75 90 cm — Enfernung Oberarm— Wade. Manschettendruck — 70 mm Hg. 0,083 0,076 0,079 0,076 0,061 0,073 0,085 0,077 0,082 0,692 :9 — 0,077 INN Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der primären Pulswelle zwischen | Aorta— Wade — 4,00 m. Aorta— Wade — 11,80 m. Entfernung: Aorta— Handgelenk Aorta—Oberarm . . 40 cm Manschettendruck — 80 mm Hg. 13,00 13,50 13,50 13,25 12,75 | 0,023 0,019 0,019 0,018 0,019 IA I 10,00 11,50 12,50 13,00 13,25 13,00 13,50 13,50 11,50 11,75 14,25 14,50 16,00 14,75 15,75 14,75 INN AN 0,230 0,204 0,228 0,223 0,241 0,227 0,233 0,218 1,804 :3 — 0,225 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der dikrotischen Pulswelle zwischen 75 cm, 35 ” 13,00 13,25 13,50 | 1350 | 12,50 | 4,75 3,00 4,25 4,00 595 III NM Entf. Oberarm — Handgelenk. 0,076 0,046 0,071 0,059 0,077 Sphygsmo-tonographische Studien. 459 25 \ Die räumliche Differenz i . Die räumliche Differenz des 0,2” — in | des Beginnes der primären | 92” — in| Beginnes der dikrotischen Millimetern Pulswellen beträgt Millimetern Wellen beträgt in Millim. = der Zeit nach in Millim. = der Zeit nach Sek. Sek. 13,50 119% = 40.023 3,50 325 —. 0,048 13,50 125. 2 10:018 13,00 450 = 0,069 13,50 1,50,. 10022 13,50 4:00 — 30:059 13,25 129. =10.019 13,75 4,25 — 0,061 13,50 1,7097 -— 0,025 13,50 3192 °—,0:055 13,75 1,507, —: 20.024 13,50 4,00 = 0,059 13,25 ao, =—110,026 lasse | 9,28 —= 10,076 13,50 2.161. .0,092 1305! 9,29. —ı 0.076 13,75 23 = 0,083 135 | 466 = 0,067 13,50 2,007 — 20,029 13,75 | 3,90. = 0,050 1300| 1,50 — 22.002 Tauoyı, | 4,00 = 0,058 0870216 1007316 00231 . 0,0629 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der primären Pulswellen zwischen | keit der dikrotischen Wellen zwischen Aorta—Handgelenk — 17,4 m. Aorta—Wade = 6,3 m. Fall IV. Herr H. untersucht. 20. Februar 1910. Entfernung: Aorta—Wade. . = 121 cm, Aorta—Oberarm = 28 „ 93 cm = Entfernung Oberarm— Wade. Manschettendruck = 70 mm Hg. 12,00 5,00 = 0,083 12,00 950 = 0,158 12,00 5,00 = 0,083 13,00 1050 = 0,161 13,00 550 = 0,08 13,00 1050 = 0,161 13,00 550 = 0,085 13,50 11,00 = 0,162 13,50 5,5 — 0,085 13,50 11,00 = 0,16 14,00 550 = 0,078 14,00 10,75 = 10,158 13,50 550 = 0,082 14,00 10,00 — 014 13,00 6,00 = 0,092 13,75 11,00 = 0,160 14,00 575 — 0,082 ET 0,7155:9— 0,157 0,084 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- Also die Fortpflanzungsgeschwindig-| keit der dikrotischen Wellen zwischen keit der primären Pulswellen zwischen | Aorta— Wade — 5,92 m. Aorta—Wade = 11,07 m. 2. Aufnahme. 12,00 | 525 = 10,087 125072 | 711,009 2204176 ao | 9,50 —= 0,086 14.00 14,00?)—= 0,200 15,00 | 500 —= 0,0 13,00 12,500 — 2 0,1925: 14,00 5,15 — 0,082 14,00 10,50 = 0,150 14,00 | 9,25 — 01075 14,00 11,00 = 0,157 RO0n 595, — 20005 1350 | 275 = 1.0188 0,482: :6 — 1,063: :6 — 0,080 0,177 Also die Fortpflanzungsgeschwindig- Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der primären Pulswellen zwischen | keit der dikrotischen Wellen zwischen Aorta— Wade = 11,62 m. Aorta—Wade = 5,25 m. 460 Egmont Münzer: Entfernung: Aorta—Handgelenk — 72 cm, Aorta— Oberarm .. = 28 „ 44 cm Entf. Oberarm—Handgelenk. Manschettendruck = 70 mm Hg. AR Die räumliche Differenz | Die räumliche Differenz des 0,2" —=in | des Beginnes der primären | 92” —=in | Beginnes der dikrotischen ll; Pulswellen beträgt Millimetern | Wellen beträgt en in Millim. = der Zeit nach in Millim. — der Zeit nach Sek. | Sek. 9,50 120.0. :.1.0,026 10,50 | 4.00% 7 — 2 2.0,076 11,50 2,00... 0,035 12,50 | 4,50... — 0,072 (2 Pulse 14,00 3:00.02 —1.0,050 ausgefallen) 14,50 929000072 14,00 | 1.79. .— 110,025 0,270:4— 14,00 125 = 0,018 0,0675 14,50 | 1,507 2 — 0,021 k EEE Ds Also die Fortpflanzungsgeschwindig- 0.025 keit der dikrotischen Wellen zwischen ' ’ =" | Aorta— Oberarm = 6,51 m. Also die Fortpflanzungsgeschwindig- keit der primären Pulswellen zwischen Aorta— Oberarm —= 17,6 m. Fall IV. Herr H. untersucht, 14. Juli 1910. Entfernung: Aorta—Wade. . — 121 cm, Aorta—Oberarm = 34 „ 87 cm Entfernung Oberarm— Wade. Manschettendruck = 50 mm Hg. 10,50 8,00% —. 10:095 10,75 5,75 = .0107 11,00 4,15 =. 0,086 11,00 5,190, 5—2.0,104 11,50 450 = 0,078 11,50 6,23. 2. — 120,109 11,50 528 = 009 11,50 | 9,29, — .0,100 11,75 5,25. —. .0,089 12,00 6,007, — 7410,10053 12,00 5,00 =, 0,083 Basen 0,522:6 — 0,104 0,087 Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit | der dikrotischen Wellen zwischen Aorta— der primären Pulswellen zwischen Aorta— | Wade = 8,36 m. Wade = 10,0 m. 2. Aufnahme bei langsamerem Gange der Trommel. 8,00 | ae 3,00 6,00727—775°0,150 3,50 3,20... 2.0.026 8,00 650 = 016 8,50 3291. 2.0076 8,50 6,00% =— 0,141 9,00 3202.02 1.0.0977, 8,50 2.0022 20,168 9,50 4,29. 02 2.0:089 9,00 8.290 0 0,183 9,50 400 = 0,088 9,00 12 0,16 9,00 425 = 0,094 9,965: Ge 0,161 0,083 3 Slate E Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der sekundären (dikrotischen) Wellen der primären Pulswellen zwischen Aorta— |zwischen Aorta—Wade — 5,40 m. Wade —= 10,48 m. Sphygmo-tonographische Studien. 461 3. Aufnahme. Manschetten gewechselt. = Die räumliche Differenz 00" — Die räumliche Differenz 0,2 = des Beginnes ER des Beginnes Ä Au der primären Pulswellen Aa: der dikrotischen Wellen Milli- beträgt La beträgt metern metern in Millim. = der Zeit nach in Millim. — der Zeit nach Sek. “ Sek. 8,00 87 210.079 8,50 6:25, 70 0:147 8,50 250 = (0,059 9,00 750 = 0,166 9,00 250 = 0,055 8,50 6402. 72.0:159 9,00 305 = 008 9,00 6.0007 32:0:133 9,00 3.25.0002 9,50 as 2 sy 9,00 4.25 = 0,09 9,00 61980 12.04150 900 | 325 =..0082 9,00 72 la 0,514:7 — 1,0702. = 0,073 0,153 Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der primären Pulswellen zwischen Aorta— | der dikrotischen Wellen zwischen Aorta— Wade = 11,9 m. Wade = 5,68 m. Entfernung: Aorta—Handgelenk — 74 cm, Aorta— Oberarm .. — 34 „ 40 cm Entf. Oberarm— Handgelenk. Manschettendruck —= 80 mm Hg. 7,50 100 = 0,026 7.50 1,00. = 0,026 8,50 167 = 0,089 8,00 3,507 — 0,087 9,00 1,5077 —2.0,033 8,50 3,2002 2 20:082 9,25 107,2 0:037 9,00 4,00 — 0,088 9,00 2,00 —= 0,044 9,25 400 = 0,086 9,25 2,00 —= 0,043 9,00 4,15. — 0,105) 9,33 1,79. — 0,034 9,50 4,50 = 0,094 9,50 200 = 0,042 9,50 391 = 0,082 9,00 2,00 = 0,04 9,50 4,62. = 0,097 9,50 2,00 = 0,042 9,50 3,79 =. 0,018 9,50 1,75 = 0,034 9,50 4,00 — 0,084 I Teer en 2 0,395/110 bis 0,447:12—| 2,0 Se ; 9,50 3,05 = 0,078 0,0895 bis 0,037 9,00 | 400 = 0,088 : EN 15112513 — Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit 0,0855 der primären Pulswellen beträgt 10,1 m bis 10,75 m. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der dikrotischen Wellen zwischen Aorta und Handgelenk beträgt 4,67 ın. 462 Egmont Münzer; Fall V. Herr K., untersucht 20. Februar 1910. Entfernung: Aorta—Wade. . — 115 cm, Aorta—Oberarm = 35 „ 80 cm Enfernung Oberarm— Wade. Manschettendruck 70 mm Hg. „__, Pie räumliche Diffe- N Die räumliche Differenz des 0,2°=| renz des Beginnes der | 02° — Beginnes der dikrotischen Wellen in primären Pulswellen in er a Millim.| . beträgt Millim, beträgt in mm —= der Zeitnach in Millimetern —= der Zeit nach (Sek.) Sek. 11,75 | 3,92 = 0,066 12,50 | 5,75 (10,50))= 0,092 (0,168) 12,75 | 450 = 0,070 13,00 | 8,83 (12,00) = 0,136 (0,184) 1800 | 475 = 0,073 13,00 | 6,00 (10,50) = 0,092 (0,171) 13.50 | 5,34 = 0,079 1350 | 7,50 (12,5) = 0,111 (0,:88) 13,50 | 4,75 = 0,070 13,50 | 875(875) = 0,129 (0,129) 0,3558: 5— 0,560:5— 0,0716 0,112 bis 0,168 Die Fortpflanzungsgeschwin- digkeit der primären Pulswellen zwischen Aorta—Wade beträgt Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der dikro- tischen Wellen zwischen Aorta— Wade beträgt 7,1 m (4,76 m). m: 2. Aufnahme: 13,00 5,00 = 0,077 13,25 7,50 (11,50) = 0,113 (0,175) 13,25 5,00 = 0,075 13,50 8,00 (13,25) = 0,118 (0,196) 13,50 4,59 —= 0,068 13,75 8,34 (14,09) = 0,121 (0,204) 13,50 4,75 — 0,070 13,50 1,50 (13,05) — 0,111 (0,200) 13,50 4190 20:070 14,00 9,00 (13,00) = 0,128 (0,185) 14,00 5,25. — 0.075 14,00 7,50 (12,75) = 0,107 (0,182) 0,435 :6 — 0,698:6— (1,140: 6) 0,0725 0,116 Die Fortplanzungsgeschwin. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der dikro- digkeit der primären Pulswellen | .- E zwiscken Aorta—Wade beträgt tischen Wellen beträgt 6,89 m (4,21 m). 11,03 m. Entfernung: Aorta—Handgelenk — 75 cm, Aorta—Oberarm... = 35 „ 4) cm — Entf. Oberarm—Handgelenk. Manschettendruck — 70 mm Hg. 11,50 | 2,67 — 0,046 19,755 | 250 = 0,089 13,25 | 325 = 0,049 13,50 | 2,66 — 0,039 1150 | 2,08 — 0,086 12,00 | 250 — 0,041 13,00 | 2,00 = 0,030 13,00 | 2,00 = 0,030 0,310:8— 0,0387 Die Fortpflanzungsgeschwin- digkeit der primären Pulswellen zwischen Aorta—Handgelenk — 10,33 m. 1) Das Eintreten der dikrotischen Wellen schwer zu bestimmen; je nach der Stelle, wo man diese ansetzt, erhielt man zwei Grenzwerte. Sphygmo-tonographische Studien. Fall VI. Entfernung: Aorta—Wade. . = Aorta—Oberarm — Manschettendruck 70 mm Hg. Herr M., untersucht 10. Mai 1910. 115 cm, 30 5 83 cm 463 Enfernung Oberarm— Wade. 09" Die räumliche Diffe- ” | renz des Beginnes der in ER ... | primären Pulswellen ls beträgt metern in mm — der Zeitnach Sek. 13,50 1,28 —= 0,109 14,25 1.92 — 0,111 15,25 19 — 0,101 15,00 6,75 — 0,090 14,25 7,34 — 0,103 0,514 :5—= 0,1028 Die Fortpflanzungsgeschwin- digkeit der primären Puls- wellen zwischen Aorta— Wade — Ve — in Milli- metern 14,25 14,50 14,50 15,50 Die räumliche Differenz des Beginnes des dikrotischen Wellen beträgt 12,50 (15,25) = 0,175 825 (11.08) — 0,113 19,75 015 9.75 (13,25) = 0,125 0,988 :4 47 ’ in Millimetern — der Zeit nach (Sek.) (0,213) (0,152) (0,170) (0,710): 1— \ 177) Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der dikro- tischen Pulsweilen zwischen — 5,98 m (4,97 m). Manschetten gewechselt (2. Aufnahme). 1433 | 641 — 0,089 15.00 | 6.33 — 0.084 1595 |' 7.16 = 0,093 16.00 | 6.66 — 0.083 1550 | 5.88 — 0,075 0.245 0.085 Die Fortpflanzungsgeschwin- digkeit der primären Puls- wellen zwischen Aorta— Wade — 10:3 m. 2. Aufnahme. 14,35 |) ,6,83 — 0,095 14332 100.0,25. 0.084 1550 | 7,33 = 0,094 19,19 | ..6,59:— 10,083 0,3559 :4 = 0,0897 Die Fortpflanzungsgeschwin- digkeit der primären Puls- wellen zwischen Aorta— Wade — 9,81 m. 14,00 14,50 15,33 15,25 15,50 11,00 (15,75) = 0,157 10,84 (15,84) = 0,149 (16,00) — 11,50 (16,75) = 0,150 11,00 (15,84) — 0,141 0,597 :4— 0,149 Aorta— Wade also (0,225) (0,218) (0,208) (0,219) (0,209 = (1,074):5— (0,2148) Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der dikro- tischen Pulswellen zwischen Aorta—Wade also — 5,90 m (4,09 m). 11,50 (19,75) = 0,148 10,50 (18,16) — 0,140 12,25 (20,25) = 0,153 I (0,254) (0,242) (0,253) 0,41:3— (0,79):3 — 0,147 (0,249) Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der sekun- dären Wellen zwischen Aorta—Wade = 5,98 m (3,50 m). 464 Egmont Münzer: Entfernung: Aorta—Handgelenk — 70 cm, Aorta—Oberarm. . = 30 „ 40 cm = Entf. Oberarm—Handgelenk. Manschettendruck —= 65 mm He. BR: Die räumliche Differenz BEN: Die räumliche Differenz des 0,2” —in | des Dane der primären 2" —in Beginnes der dikrotischen Millimet ulswellen beträgt Millimetern Wellen beträgt REF inMillim.—derZeitnach | | in Millim. — der Zeit nach : Sek. 13,25 15992. — 0,026 14,50 1,417 °— 0,019 15,00 14227 — 0,019 15,50 1,75 = 0,022 0,086 :4 — 0,0215 der Fortpflanzungsgeschwindigkeit primären Pulswellen zwischen Aorta— Handgelenk = 18,5 m. Fall VI. Herr S., untersucht. 12. Juni 1910. Entfernung: Aorta—Wade. . = 115 cm, Aorta—Oberarm —= 33 ” 82 cm = Entfernung Oberarm— Wade. Manschettendruck — 70 mm Hg. 1350 | 1.005 770,103 14,50 7,00 = 0,096 14,75 80 = 0,108 15,66 709 ° = 0,09% 16,75 a eo 16,75 800 = 0,095 0,607 :6 = \ 0,101 Fortpflanzungsgeschwindigkeit primären Wellen zwischen Aorta— Wade = 7,92 m. Langsamer Gang des Kymographions. Manschettendruck — 60 mm Hz2. 7,75 450 = 0116 Sek. 8,25 400 = 0,096 8,66 98258 = . 0,121 8,00 3:67. °— 1.0.09 7,66 5,5 = 0150 8,12 409 = 0,100 8,00 525 = 0,131 8,25 4,50 = 0,109 8,12 5,295 = 0,129 8,50 4,4 = 0,10% 8,50 65 = 0158 0,615::6 — 0,689:5 — 0,1025 0,1378 x Fortpflanzungsgeschwindigkeit der primären Wellen zwischen Aorta— Wade | sekundären Wellen zwischen Aorta— = 8,00 m. Fortpflanzungsgeschwindigkeit Wade = 5, der 95 m. . Manschetten gewechselt, d. h. die _vom Oberarm um die Wade gelegt und die von der Wade um den Oberarm. 9,50) 1, 4.08 0.0.0998 9,(25) 6 0 90 | 35 = 000 9,00 | ae le NER as 8,75 65 —= 0,138 8,75..1..200. 2 006091 800... 545: = .:04197 0,329: 1— 0,563:4— 0,0822 0,1407 Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der primären Pulswellen zwischen Aorta— [dikrotischen Wellen zwischen Aorta— Wade = 9,97 m. Wade = 5, 82 m. Sphygmo-tonographische Studien. 465 Entfernung: Aorta—Handgelenk —= 73 cm, Aorta—Oberarm. . = 33 „ 40 cm — Entf. Oberarm—Handgelenk. Manschettendruck = 65 mm Hg. B an: Die räumliche Differenz RR Die räumliche Differenz des 0,2”—in | des Beginnes der primären 02" =in Beginnes der dikrotischen Millimet Pulswellen beträgt Millimete Wellen beträgt PER nMillim.—derZeitnach | | inMillim. — der Zeit nach Sek. SEM 8,50 166° 2 22.0024 8,50 3200 — 220076 8,50 1,0077 —7 20023 8,50 1169 — 70,070) 8,50 Oo —e 0,0 8,50 219 2720:068 8,50 1252..—=272.0:029 8,50 210022 — 32.0047 8,50 1,002. — 20.023 8,50 u 8,50 05507 ,—....0,012 850 1,6402 9.0.0359 9,00 0579, —2.0;016 —0,994:6— OA 0,049 0,021 Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der | dikrotischen Pulswellen zwischen Aorta— primären Wellen zwischen Aorta—Wade | Handgelenk = 38,1 m. ==19:05m: \ Fall VII. Herr Ingenieur S., untersucht 26. Februar 1910. Entfernung: Aorta—Wade. . = 118 cm, Aorta—Oberarm = 30 „ 88 cm Entfernung Oberarm— Wade. Manschettendruck — 130 mm Hg. 11,75 3,25 12,00 8,00 12,00 3,25 13,00 9,50 13,50 4,00 13,50 10,00 13,50 3,25 13,50 10,00 14,00 4,25 14,00 10,50 14,00 3,25 14,00 9,75 Nittel 13,12 21,25:6 = 3,54 = 0,054 | Nittel 13,33 95.19,:1065— 9,025. Fortpflanzungsgeschwindigkeit der 0,144 primären Pulswellen zwischen Aorta— Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Wade = 16,29 m. dikrotischen Pulswellen zwischen Aorta— Wade = 6,11 m. Entfernung: Aorta— Handgelenk — 73 cm, Aorta— Oberarm... = 30 „ 43 cm —= Entf. Oberarm—Handgelenk. Manschettendruck — 130 mm Hg. 11,75 1,3 2,50 12,75 1,25 1,50 13,75 1,34 1,50 14,00 | 1,25 2,66 40 | 13 3,00 13,75 0,92 2,33 14,50 1,00 2,50 Mittel 13,50 ee) Mittel13,50| 15,99:7 — 2,28 i3:5.mm — 022,2also I 135 mm — 0,2”, also 1,19 mm = 0,0176" | 2,23 mm — 0,0837" Also Fortpflanzungsgeschwindigkeit Fortpflanzungsgeschwindiskeit der der primären Pulswellen zwischen Aorta— |! dikrotischen Pulswellen zwischen Aorta— Handgelenk — 24,43 m. Handgelenk — 12,76 m. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 30 4665 H. E. Hering: Über sukzessive Heterotopie der Ursprungs- reize des Herzens und ihre Beziehung zur Heterodromie. Von Prof. HM. E. Hering (Prag). (Aus dem pathol. Institute von Prof. L. Aschoff zu Freiburg i. Br.) Anatomisch - histologische Untersuchung der ver- schorften Gegend des Keith-Flack’schen Knotens. Von Oberarzt Dr. Walter Koch. (Hierzu Tafel XII und XIV.) Als heterotope Ursprungsreize habe ich!) solche bezeichnet, welche nicht am normalen Ausgangspunkte der Herztätigkeit ent- stehen. In derselben Mitteilung, in welcher ich jenen Ausdruck im Jahre 1905 zuerst verwendete, machte ich auch darauf aufmerksam, dass „der Ausgangspunkt der Ursprungsreize sich infolge von Accele- ransreizung ändern kann, und zwar so, dass er sich von den Vor- höfen gegen die Atrioventrikulargrenze verschieben kann, um mit dem Abklingen der Acceleransreizung wieder in umgekehrter Richtung zu wandern. Der Ausdruck Wandern ist natürlich nicht so zu verstehen, dass derselbe Reiz von Ort zu Ort wandert, sondern dass sukzessive andere Stellen des Herzens die Automatie übernehmen. Übrigens veranlasste ich schon im Jahre 1904 Dr. J. Rihl?), die Kurven eines solchen Falles abzubilden (siehe Fig. 21 seiner Mitteilung). 1) Physiol. Zentralbl. Bd. 19 Nr. 5, 3. Juni 1905. 2) Zeitschr. f. experim. Pathol. u. Therapie Bd. 1 S. 50. 3. Dez. 1904. Über sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize des Herzens etc. 467 Seit jener Zeit habe ich der Heterotopie der Ursprungsreize in verschiedenen Mitteilungen Erwähnung getan, so auch in der in diesem Archiv im Jahre 1909 erschienenen Mitteilung, welche ich') mit dem Satze schloss: „Der Ausgangspunkt der Herzreize kann unter pathologischen Bedingungen ein sehr verschiedener sein, in- dem er von dem normalen Bildungsort der Herzreize bis an die Atrioventrikulargrenze und darüber hinaus in die Kammern hinein- wandern kann.“ Im folgenden will ich im wesentlichen die sukzessive Hete- rotopie beschreiben, die ich am Hunde- und am Katzenherzen nach Verschorfung der Gegend des Keith-Flack’schen Knotens beobachtet habe. Methode. Die Tiere wurden in der Äthernarkose nach Einführung der künstlichen Ventilation curaresiert, der Thorax eröffnet, das Perikard gespalten und an die Thoraxwand angeheftet. Verzeichnet wurde nach der Suspensionsmethode das rechte Herzohr und die Basis des rechten Ventrikels; ausserdem stand die linke Karotis mit einem Hürthle’schen Tonometer in Verbindung. Nach Durchschneidung beider Vagi erfoleten die ersten Aufnahmen der Kurven, besonders um das Intervall A—V zu bestimmen; sodann wurde mit einem am Ende glühenden, über 2 mm starken Eisendrahte die Gegend des Keith-Flack’schen Knotens lädiert; trat der Erfolg nicht ein, so wurde die Stelle nochmals gebrannt, bis deutliche Folgeerscheinungen hinsichtlich des Intervalles A—V auftraten. Zur Auslösung von Extrasystolen waren Elektrodenhäkchen in der Nähe der Suspensionshäkchen eingehakt. In allen Versuchen wurden sehr viele Kurven aufgenommen; es kam immer eine Anzahl der 260 em langen Papierstreifen in Ver- wendnng (im Versuch vom 12. November 1909 16 Schleifen). Versuche. 1. Versuch vom 3. November 1909. Hund, 1 ccm einer 0,1 °/oigen Atropinsulfatlösung intravenös injiziert. Intervall A— V vor der Hitzeläsion 0,093. Nach wiederholter Hitzeeinwirkung in der Gegend des Keith-Flack’schen Knotens wurden die Kurven der 1) Pflüger’s Arch. Bd. 127 S. 169. 19. März 1909. 4685 H. E. Hering: Fig. 1 gewonnen. Es schlug V vor A, das Intervall V—A gleich 0,023; bei x kehrt sich die Sukzession um,- es schlägt A vor V. Intervall A— V = 0,034, nächstes Intervall 0,068. Ohne dass weitere Hitzeläsionen gemacht worden wären, wird später Fig. 2 gewonnen. Man sieht zuerst ein Intervall A— V—=0,057 ; bei x wird dieses Intervall kleiner 0,034, nach weiteren 4 Schlägen beträgt 'es 0,023, dann wird es ungefähr gleich Null, und schliesslich schlägt 7 vor A. Nach der momentanen Arretierung der Schreib- trommel zur Verzeichnung der Koinzidenzmarken ist das erste Inter- vall noch V—A, das zweite fast Null, das dritte A— V — 0,023, das vierte 0,047, das fünfte 0,057. In Fig.3 (etwas später) schlägt V in einem sehr kleinen Inter- vall vor A; bei x verkleinert sich das Intervall ein klein wenig, beim nächsten Schlage (y) kommt schon A in einem sehr kleinen Intervall vor V, worauf sich das Intervall A— V beim folgenden Schlage noch etwas vergrössert. In Fig. 4 wird bei x, während V in einem kleinen Intervalle vor A schlägt (V—A = 0,035), mittelst eines Induktionsschlages (R.-A.—=5,5) eine Ventrikelextrasystole ausgelöst. Der A- Rhythmus bleibt erhalten; der Zeitwert des ventrikulären Bigemi- nus ist gleich dem Zeitwert der zwei vorausgehenden Perioden. Da der A-Rhythmus ungeändert erscheint, ist A zur Zeit der Kammer- extrasystole wohl von dem heterotopen atrioventrikulären Ursprungs- reize ausgelöst worden. In Fig. 5 wurden zwei Ventrikelextrasystolen (R.-A.—5,5) ausgelöst. Das Verhalten bei der ersten Ventrikelextrasystole ist so wie in Fig. 4. Bei der zweiten Kammerextrasystole liegen die Verhältnisse anders; sie löste rückläufig eine Vorhofextrasystole aus; nach dieser schlug während zwei Schlägen A vor V, erst beim dritten Schlag geht V wieder A voraus; der Zeitwert des Bigeminus ist verlängert; es tritt für zwei Schläge eine Verzögerung des A-Rhythmus ein. Dieses Verhalten trat immer ein, wenn die Kammerextrasystole rückläufig eine Vorhofsystole auslöste; die einzige Variation bestand darin, dass manchmal nur der erste Schlag nach der Extrasystole ein recht- läufiger, der zweite schon ein rückläufiger war, oder dass die drei ersten Schläge rechtläufige waren und erst der vierte ein rück- läufiger wurde. In Fig. 6 und 7 wurden aurikuläre Extrasystolen aus- gelöst, in Fig. 6. heil R-A.— 16,5, ın WHie!i7.!bei R-AX— 8. In Über sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize des Herzens etc. 469 Fig. 6 wirkte der Schliessungs- und Öffnungsinduktionsschlag; die zwei ersten Schläge nach den Extrasystolen waren rechtläufige; die erste Vorhofextrasystole löste keine Ventrikelsystole aus; hier blieb der Ventrikelrhythmus erhalten, wie in Fig. 4 der Vorhofrhythmus. Die Verzögerung des A-Rhythmus war ebenso vorhanden, wie bei den rückläufig ausgeiösten Vorhofextrasystolen. In Fig. 7 war das Verhalten der der Extrasystole folgenden Schläge anders, es fehlte die Rechtläufiskeit und die Rhythmus- verzögerung. 2. Versuch vom 12. November 1909. Katze. Nach zweimaliger Hitzeeinwirkung an ganz umschriebener Stelle in der Gegend des Keith-Flack’schen Knotens verkürzte sich das Inter- vall V—A, welches vorher 0,096 betragen hatte, auf 0,018. Es be- stand fortan während des Versuches ein kleiner Intervall A—V, ab- gesehen von gewissen ab und zu wiederkehrenden, vorübergehenden Änderungen, welche im folgenden beschrieben werden. Die Vagi waren infolge zu starker Curaresierung relativ wenig wirksam. Fig. S zeigt das kleine Intervall A—V, welches durch Reizung des rechten Vagus (R.-A.—0) sofort von 0.018 auf 0,1 verlängert wurde. Fig. 9 demonstriert die oben erwähnten, ohne besonderen weiteren Eingriff auftretenden sukzessiven Intervalländerungen und zwar nach beiden Richtungen; links von der mittleren Koinzidenz- marke sieht man das lange Intervall 0,096 sich sukzessive auf 0,057, 0,028, 0,019 verkürzen; dieses kurze Intervall wurde einige Zeit- lang beibehalten, worauf es sich wieder auf 0,028, 0,05, 0,096 ver- längerte, wie dies die Kurven rechts von der mittleren Koinzidenz- marke (momentane Arretierung) demonstrieren. Analoges sieht man in Fig. 10 und Fig. 11, welch letztere un- mittelbar nach Fig. 10 aufgenommen wurde. Die Intervalle betrugen mekBie: 10. 0,111, 0,075, 0,0385 0,028; in Eig. 11: 0,023, 0,05, 0,06, 0,117. Die Kurven der Fig. 12 demonstrieren, dass die bei Fig. 3 schon erwähnte, sofort eintretende Verlängerung des Intervalles A—V bei Reizung des rechten Vagus (R.-A.— 0) hier zwar auch eintrat, dass das Intervall aber noch während der Vagusreizung sich wieder verkürzte, um darauf wieder länger zu werden. (Intervalle 0,028, 0,117, 0,117, 0,05, 0,028. 0,028, 0,117, 0,125.) 470 H. E. Hering: Ftwas Ähnliches zeiet Fie. 13, wo sich noch während der Vagusreizung das Intervall verkürzte von 0,05 auf 0,028 und 0,019, um sich sodann auf 0,117 zu verlängern. In Fig. 14 wurde eine Ventrikelextrasystole durch einen Öffnungsinduktionsschlag bei R.-A. — 10 ausgelöst, welche rückläufig eine Vorhofextrasystole hervorrief; das der Extrasystole folgende Intervall A—V ist verlängert (und zwar beträgt es ungefähr gerade so viel als das Intervall V—A zur Zeit der Extrasystole, nämlich 0,085). Die Verlängerung des der Extrasystole folgenden A—V- Intervalles trat auch bei Auslösung von Vorhofextrasystolen ge- wöhnlich ein, nur zuweilen blieb diese Verlängerung aus; ich ver- zichte hier auf die Wiedergabe von Kurven, da beim vorhergehenden Versuche schon entsprechende Beispiele gegeben wurden. In Fig. 15 wurden durch eine schwache faradische Reizung des rechten Ventrikels bei R.-A.—12 die Kammerschläge beschleunigt. Die zwei vorhergehenden Schläge zeigen, dass eben das Intervall anfing, sich zu verlängern (von 0,028 auf 0,038); da setzte die Reizung ein; der erste künstlich ausgelöste Kammerschlag kommt fast gleichzeitig mit der Vorhofsystole, die nächstfolgenden Kammer- systolen lösten rückläufig Vorhofsystolen aus, bis mit der Sistierung der Reizung die postextrasystolische Pause eintrat; der ihr folgende Schlag zeigt ein etwas längeres Intervall (0,047) als vor Beginn der Reizung. Fi2. 16 bilde ich hier mit ab wegen der bei Vagusreizung aufgetretenen Dissoziation von A und V. Es war längere Zeit die künstliche Ventilation ausgesetzt worden, wodurch die Grösse der Vorhofsystolen schon sehr abgenommen, das Intervall A—-V hingegen zugenommen hatte. Obwohl in diesem Versuche bei der Vagusreizung (derselbe Vagus und derselbe R.-A.), wie aus den oben angeführten Beispielen hervorgeht, diese Wirkung vorher nicht aufgetreten war, kam es jetzt bei fehlendem Einfluss auf die Vorhoffrequenz zur Aufhebung der Überleitung und zum Auftreten der Kammerautomatie. Dass bei Vagusreizung Kammerautomatie auftreten kann, ist wohl bekannt; dass jedoch Dissoziation bei unveränderter Vorhoffrequenz durch Vagusreizung bewirkt werden kann, wie bei direkter Läsion des Überleitungsbündels, ist weniger bekannt und bis jetzt nur bei Dieitalisvergiftung !) hier im Institute beobachtet worden. 1) D.v. Tabora, Zeitschr. f. exper. Path. u. Therapie Bd. 3 S. 499, Nov. 1906. Über sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize des Herzens etc. 471 3. Versuch vom 11. November 1909. Hund. Das Intervall A—V war sehon vor der Hitzeeinwirkung etwas kürzer als gewöhnlich, nämlich 0,066. Nach zweimaliger Hitzeeinwirkung an ganz umschriebener Stelle in der Gegend des Keith-Flack’schen Knotens schlug fortan A entweder in einem sehr kleinen Intervalle vor V oder V vor A (0,019). Fig. 17 zeigt zu Beginn das kleine Intervall A—V, dann erfolgte Reizung des linken Vagus bei R.-A.—=0; die Reizung hatte nur wenig Effekt, es trat nur eine geringe Verlangsamung und eine ge- wisse Verlängerung des Intervalls ein. Bei x schlug A und V gleich- zeitig, worauf eine spontane Vorhofextrasystole kam, welcher die Ventrikelsystole in einem grösseren Intervall erst folgte; die nach- folgenden Perioden sind stärker verlängert, bis es bei y plötzlich zur Schlagumkehr kommt, d. h. Y vor A schlägt, und die Perioden kürzer werden. Fie. 18, die unmittelbare Fortsetzung von Fig. 17, bei fort- gesetzter Vagusreizung zeigt bei a wieder eine Vorhofextrasystole mit rückläufigem Intervall; zur Zeit der postextrasystolischen Systole schlägt aber V wieder in einem ganz kleinen Intervall vor A. Nachdem schon eine Anzahl von Sekunden die Vagusreizung sistiert war, fängt am Ende der Kurve beim vorletzten Schlage A in einem kleinen Intervall wieder vor V zu schlagen an. Es sei noch bemerkt, dass solche Intervalländerungen von V—A in A—V und umgekehrt auch ohne Vagusreizung oft bei diesem Herzen zu beobachten waren. 4. Versuch vom 2. November 1909. Hund. Das Intervall A—V betrug vor der Hitzeeinwirkung 0,091, nachher 0,057 bis 0,059, um zeitweilig in die umgekehrte Schlagfolge überzugehen mit einem Intervall V—A = 0,034. Letzteres ist in Fig. 19 zu sehen; Reizung des linken Vagus bei R.-A.—0 bewirkte bei ganz geringer Wirkung auf die Vorhoffrequenz Rechtläufigkeit mit dem Intervalle A—V—0,057, welches sich nach der Vagusreizung auf 0,047 ver- kürzte; bemerkt sei, dass das letzte Intervall V—A, welches noch in die Zeit der Vagusreizung fiel, etwas verlängert war; es betrug etwa 0,047. Im Anschluss an diese Versuche seien noch Kurven eines anderen Experimentes mitgeteilt, in welchem es auch zu ganz analogen Inter- valländerungen zwischen A und V kam. 472 H. E. Hering: 5. Versuch vom 6. Dezember 198 Hund. Bei diesem Hunde war eine hochgradige Trieuspidalinsuffizienz gemacht worden. Suspendiert waren auch in diesem Versuche die rechte Aurikel und die rechte Kammer; ausser dem Karotispulse (links) wurde auch noch der Venenpuls (rechts) verzeichnet und zwar mit Hilfe der Triehtermethode (nachdem die gemeinsame Wurzel der rechten Arteria carotis und subelavia abgebunden worden war); die beiden Vagi waren durchschnitten. Wie Fig. 20—22 zeigen, traten zuweilen Änderungen in der Vorhof- und Venenpulskurve ein. Eine genauere Analyse ergab, dass es sich hier um Intervalländerungen zwischen A und V handelte. In Fig. 20 sieht man, wie das Intervall A—V sich eben wieder all- mählich von 0,009, 0,018, 0,036, 0,045, 0,058, 0,063 bis 0,072 ver- grössert. In Fig. 21 schlägt A und V fast gleichzeitig, und erst gegen Ende der Kurve fängt A wieder mit zunehmendem Intervalle vor V an zu schlagen. Der Übergang von dem längeren Intervalle zu den kürzeren scheint in diesem Versuche nicht allmählich erfolet zu sein; es trat vielmehr, wie es Fig. 22 am Ende der Kurve zeigt und wiederholt gesehen wurde, sofort fast gleichzeitiges Schlagen von A und V ein; zur Zeit der Aufnahme der Kurven von Fig. 22 schlug das Herz schon etwas seltener. Es sei bemerkt, dass die Sektion ausser den Klappenzerreissungen auch Verwundungen im rechten Vorhofe, dar- unter auch solche in der Gegend des Übergangs der rechten Aurikel in die Cava superior ergab, mit welchen Läsionen das zeitweilige Auftreten der Intervalländerungen vielleicht in einem Zusammen- hang stand. Erklärung der beschriebenen Intervalländerungen zwischen A und V. Intervalländerungen zwischen A und V sind seit langer Zeit bekannt. Als Erklärung hierfür nahm man bisher Änderungen in der Überleitungsgeschwindigkeitan. Für die Intervalländerungen der oben beschriebenen Art ist diese Erklärung nicht zutreffend. Sie reichte bis jetzt aus bei einer Verlängerung des normalen Inter- valles A—V; ebenso bei einer Verkürzung desselben bis zu einem gewissen Grade. Wenn jedoch, wie in den oben angeführten Bei- spielen, das Intervall sukzessive, zuweilen auch ohne Frequenz- Über sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize des Herzens etc. 473 änderung von Schlag zu Schlag kleiner wird, verschwindet, um schliesslich sozusagen negativ zu werden, indem V einen kleinen Zeitteil vor A beginnt, da kann man diese Erscheinung nicht anders erklären als durch die Annahme einer Heterotopie des Ursprungs- reizes, d. h. dass sukzessive der Ausgangsort des Ursprungsreizes ein anderer geworden ist. Hinzu kommt, dass in den oben angeführten Fällen jene Intervalländerungen oft ohne jeden weiteren Eineriff auftraten, d.h. ohne einen Eingriff, von dem wir wissen, dass er die Überleitunes- zeit in der bisher bekannten Weise zu ändern vermag. Aber auch dann, wenn es infolge der Vagusreizung, wie in Fig. 8, 12, 13 und 19, zu Intervalländerungen kam, wird es sich im wesentlichen um eine Heterotopie des Ursprungsreizes handeln. Dies ist zweifellos z. B. in Fig. 19 der Fall; hier schlug V in einem kleinen Intervall vor A. Die Vagusreizung bewirkte nun, dass A vor V schlug, und zwar überdauerte diese Umkehr der Sukzession lange Zeit die Vagusreizung. Aber auch in jenen Fällen, in welchen es ohne Umkehr der Sukzession durch Vagusreizung plötzlich zu einer sehr bedeutenden Verlängerung des Intervalles A—V kam, wie in Fig. S und 12, ist das Intervall wohl wesentlich durch Heterotopie des Ursprungsreizes geändert worden. Dafür spricht die Grösse der Intervalländerung (Vergrösserung auf das Vierfache), das längere Bei- behalten des grossen Intervalles auch nach Sistierung der Vagus- reizung (Fig. 13), ferner der Umstand, dass das lange Intervall A—V, welches zur Zeit der Vagusreizung auftrat (Fig. 8, 12 und 13), nieht länger war als das längste Intervall, welches spontan zu einer Zeit erschien, während welcher der Vagus nicht gereizt wurde, wie z. B. in Fig. 11, endlich die Tatsache. dass trotz bestehender Vagusreizung das Intervall vorübergehend wieder kürzer wurde, wie in Fig. 12. Diese Tatsachen, wie auch die besprochenen Intervalländerungen nach Extrasystolen, weisen darauf hin, dass wir uns in Zukunft bei der Erklärung von Intervalländerungen immer die Fragen vorzulegen haben werden, ob es sich in dem jeweiligen Falle um Hetero- dromie (Reizleitungsänderung) oder um eine Heterotopie des Ursprungsreizes bzw. eventuell um beides handelt. Die Entscheidung wird nicht immer so relativ einfach sein, wie in den angeführten Beispielen. Indessen dürfte man wohl in den meisten Fällen die Entscheidung treffen können, wenn man das 474 H..E. Hering: normale Intervall berücksichtigt und in Betracht zieht, dass die heterodromen Intervalländerungen gewöhnlich geringgradiger sind und allmählicher zu erfolgen pflegen, während bei der Heterotopie der Ursprungsreize die mehr sprunehafte Änderung des Intervalles auch in den Fällen von sukzessiver Heterotopie noch hervortritt. So erkennt man auch in dem Falle von Acceleransreizung die mehr sprunghafte Änderung sehr gut an der Form des Venenpulses; beiläufig bemerkt, ist jene Verändsrung des Venenpulses in der zitierten Abbildung auch viel demonstrativer als die des Inter- valles A—V. Über den Ausgangspunkt der Ursprungsreize in den beschriebenen Fällen von Heterotopie der Ursprungsreize. Kürzlich konnte ich den Nachweis erbringen, dass die Über- leitungsverzögerung zwischen Vorhof und Kammer im Tawara- schen Knoten erfolgt, woraus sich weiter ergab, dass im Falle des gleichzeitigen oder nahezu gleichzeitigen Schlagens der Vorhöfe und Kammern die hererotopen Ursprungsreize sich im Tawara’schen Knoten bilden. Demnach wird man auch in den oben beschriebenen Fällen, in denen A und V gleichzeitig schlug bzw. das Intervall A—V oder VY—A ein sehr kleines war, als Ausgangspunkt der Ursprungs- reize den Tawara’schen Knoten ansehen müssen. Macht man die Annahme, dass die normale Überleitungs- verzögerung auf einer längeren Strecke erfolgt, d. h., während die Erregungsleitung den ganzen Knoten passiert, dann lassen sich auch die beschriebenen sukzessiven Intervalländerungen ungezwungen er- klären. Für diese Annahme spricht, dass der Tawara’sche Knoten sich bekanntlich eine ziemliche Strecke lang hinzieht und man an ihm, nach den Angaben Aschoff’s!), deutlich einen Vorhofsabschnitt und einen Kammerabschnitt unterscheiden kann. Die beschriebenen sukzessiven Intervalländerungen rufen übrigens geradezu die Vorstellung hervor, dass die sukzessive Änderung des Ursprunesreizes entlang einer bestimmten Bahn erfolgt. Danach könnte man sich vorstellen, dass A und Y ungefähr gleichzeitig schlagen, wenn sich der Ursprungsreiz beiläufig in der Mitte des Knotens entwickelt; je mehr sich jedoch der Ort des 1) Referat auf dem Pathologentage im April dieses Jahres. Uber sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize des Herzens etc. 475 Ursprungsreizes von der Mitte des Knotens entfernt, desto grösser wird das Intervall, sei es A—V, sei es V—A, werden. Da die Verzögerung im Knoten erfolgt, wird es für die Grösse ‘des Intervalles A—YV keine grosse Bedeutung haben, wo sich im rechten Vorhofe ausserhalb des Tawara’schen Knotens die Ursprungs- reize bilden, d. h. es wird keine grosse Intervalländerung bewirken, wenn der Ursprungsreiz- sich in der Nähe des Knotens statt in der Gegend der Einmündungsstelle der oberen Hohlvene in den rechten Vorhof entwickelt. Mit anderen Worten heisst das: die Änderung des Ausgangs- punktes des Ursprungsreizes bei den beschriebenen sukzessiven Inter- valländerungen dürfte grösstenteils innerhalb des Knotens vor sich gegangen sein. Es stimmt damit überein, dass das Intervall A--V keine sehr wesentliche Änderung erfährt, wo immer man den Vorhof ausserhalb des Tawara’schen Knotens zur Kontraktion z. B. durch einen Induktionsschlag anregt, sei es an der Einmündungsstelle der oberen Hohlvene, sei es in der Nähe des Tawara’schen Knotens. Über das Zustandekommen der heterotopen Automatie bei Läsion in der Gegend des Keith-Flack’schen Knotens. In meinem im April dieses Jahres in Erlangen erstatteten Referate habe ich folgende Bedingungen angeführt, unter denen es zur heterotopen Automatie kommen kann: 1. Wenn die Ursprungsreize am normalen Ausgangspunkte, die nomotopen, sich seltener oder gar nicht mehr entwickeln. 2. Wenn die heterotopen Ursprungsreize durch eine ent- sprechende Ursache zu einer rascheren Reizbildung veranlasst werden als die nomotopen. 3. Wenn die Reizleitung von dem Bildungsort der Homofopen Ursprungsreize funktionell oder anatomisch, zeitweilig oder dauernd aufgehoben ist. Die Versuche, die Gegend des Keith-Flack’schen Knotens zu verschorfen, waren in der Absicht vorgenommen worden, die nomotope Automatie auszuschalten. Dies war insofern auch erreicht worden, als der Eingriff heterotope Automatie zur Folge hatte. Wie jedoch das Auftreten der letzteren in diesen Fällen zu erklären ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Zunächst wissen wir noch nicht Sicher, wo sich die nomotopen Ursprungsreize entwickeln; ist es die 476 H. E. Hering: Gegend des Keith-Flack’scehen Knotens, so käme von den ge- nannten Bedingungen die erste in Betracht; hat jedoch der Knoten normalerweise die Funktion, die Erregung von der oberen Hohlvene zum rechten Vorhof überzuleiten, dann läge die an dritter Stelle genannte Bedingung vor. Wenn nun auch eine dieser Bedingungen das Auftreten der heterotopen Automatie zu erklären vermag, so ist doeh damit nicht erklärt, warum dann besonders der Tawara’sche Knoten die Automatie übernahm. Als Erklärung hierfür kommt vielleicht die von mir gefundene und oben erwähnte Tatsache in Betracht, dass Acceleransreizung heterotope und zwar speziell atrioventrikuläre Automatie zur Folge haben kann. ‘ Hier wäre zu erwähnen, dass in den oben geschilderten Versuchen die Hitze unmittelbar eine Tachykardie hervorrief, die schon von William!) und Adam?) beschrieben wurde. Diese Tachykardie war jedoch eine schnell vorübergehende, und zur Zeit der sukzessiven Heterotopie bestand sie nicht mehr. Wenn nun auch durch die Hitzeeinwirkung gleichzeitig Acceleransfasern mit- gereizt worden sein dürften, so könnte ich doch sonst nichts dafür anführen, dass die Reizung dieser Acceleransfasern die Automatie des Tawara’schen Knoten veranlasst habe. Trotzdem kann es sein, dass der Accelerans bei dem Zustande- kommen der Automatie des Tawara’schen Knotens eine Rolle mitgespielt hat, und zwar könnten die intakten Acceleransfasern durch ihren Tonus das Auftreten der Automatie im Tawara’schen Knoten begünstigt haben, nachdem der Einfluss der nomotopen Automatie infolge der Verschorfung fehlte bzw. herabgesetzt war. Wie die Gegend der nomotopen Automatie, so ist auch die Gegend des Tawara’schen Knotens allem Anschein nach ein Konzentrations- punkt der zentrifugalen Nerven, wofür ihr Nervenreichtum spricht; verliert der Accelerans an ersterer Stelle an Einfluss, so dürften von den supraventrikulären Herzabschnitten diejenige Stelle am leichtesten automatisch tätig werden, welche, nächst der Gegend der nomotopen Automatie, unter dem konzentriertesten Acceleranseinfluss steht; diese Stelle scheint nach allem, was uns darüber bekannt ist, der Tawara’sche Knoten zu sein. 1) Journ. of Physiol. vol. 9 p. 167. 1888. 2) Pflüger’s Arch. Bd. 111 S. 607. 1906. Über sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize des Herzens etc. 477 Um nicht missverstanden zu werden, betone ich, dass ich hier unter Acceleranstonus einen das Auftreten von Automatie begünstigenden Nerveneinfluss verstehe, der es unterstützt, dass die Automatie an einer Stelle erwacht, ähnlich meinem im Jahre 1906 in diesem Archive mitgeteilten Befunde, dass Acceleransreizung das schlaglose Säugetierherz zum automatischen Schlagen bringen kann (siehe auch mein Erlanger Referat). Ob man nun zur Erklärung, dass gerade der Tawara’sche Knoten so leicht die Automatie übernimmt, meine Vermutung be- züglich des konzentrierten und begünstigenden Acceleranseinflusses heranziehen will oder nicht, jedenfalls darf man nicht vergessen, dass der Tawara’sche Knoten eine spezifische Muskulatur besitzt, deren Reizbildungsfähiekeit besonders ausgebildet erscheint. Vergleich der physiologischen Folgen der Verschorfungen mit den durch letztere bedingten anatomischen Veränderungen. Herr Dr. Walter Koch hatte die Freundlichkeit, die durch die Verschorfung bewirkten anatomischen Veränderungen nachzuprüfen, im besonderen festzustellen, ob durch die Verschorfungen die Gegend des Sinusknotens (Keith-Flack’schen Knotens) getroffen worden war und in wie weit der Sinusknoten selbst lädiert war. Wie sich aus dem im nächsten Abschnitte folgenden Berichte von Koch ergibt, war die Gegend des Sinusknotens in allen vier Versuchen (Versuch 1—4) getroffen worden, die histologisch nach- weisbare Läsion des Sinusknotens selbst aber nicht in allen vier Versuchen gleich stark. Bemerkenswert erscheint es mir nun, dass von diesen vier Fällen jene Herzen am kontinuierlichsten heterotope Automatie zeigten, welche die stärksten histologisch nachweisbaren Veränderungen des Sinusknotens aufwiesen; das gilt besonders für den Versuch 2 und 3 (12. und 11. November). Dabei darf man nicht vergessen, dass die starke Hitzeeinwirkung gewiss noch vielmehr funktionell von dem Sinusknoten ausgeschaltet hat, als sich histologisch an Veränderungen nachweisen liess. Hervorgehoben sei speziell der Versuch an der Katze vom 12. November; in diesem Experimente scheint die Läsion des Sinus- knotens so stark gewesen zu sein, dass man wohl mit grösster Wahrscheinlichkeit annehmen darf, dass bei der vorübergehenden Vergrösserung des Intervalles bis zur Norm der Ursprungsreiz nicht 475 H. E. Hering: im Sinusknoten sich entwickelt haben dürfte. Dies stimmt mit den von mir gemachten und im Erlanger Referate erwähnten Beobach- tungen überein, dass auch nach Ausschaltung beider Knotengegenden (Keith-Flack’sche Knoten und Tawara’sche Knoten) der rechte Vorhof automatisch tätig sein kann. Anatomisch-histologische Untersuchung der verschorften Gegend des Keith-Flack’schen Knotens. Von Oberarzt Dr. Walter Koch. Die Untersuchung der übersandten Herzen hat ergeben: Hundeherz am 2. November 1909 in 4°/oiges Formol gelegt. Kräftiges, sehr muskulöses Herz. Rechter Vorhof verhältnismässig klein, rechtes Herzohr gross, macht den Hauptteil des rechten Vorhofs aus. Rechter Ventrikel ca. 8 cm, rechter Vorhof ca. 2 cm lang. Der ganze Cavatrichter vorn und seitlich bräunlich verfärbt bis zur Umschlagsstelle des Perikards am linken Vorhof. Die obersten 4—5 mm des reichlich 1 cm langen Sulcus zwischen Cava und Vorhof sind etwas tiefer bräunlich verfärbt. Auch am unteren Herz- ohrrande in der Nähe des Sulcus coronarius leicht bräunliche Verfärbung. Herzgewicht 91 g. Mikroskopisch zeigt sich, dass in allen Schnitten vom oberen Herzohr- rande an zwar das Perikard verschorft und in seinen Bindegewebsfibrillen eigentümlich homogenisiert ist, dass aber der eigentliche Sinusknoten, der fast in ganzer Ausdehnung durchmustert wurde, in seiner Muskulatur wenig betroffen ist. Die Längsstreifung der Muskulatur ist im allgemeinen gut erhalten. Was die Nervenbündel und Ganglien betrifft, so liegen einzelne davon dicht unter dem geätzten Perikard, dasselbe direkt berührend, ohne selbst bemerkenswerte Veränderungen aufzuweisen. Etwa im ersten Drittel des Sulcus des Cavatrichters an der vorderen Seite ist über eine kurze Strecke die Verschorfung des Perikards eine etwas stärkere. Das Gewebe des Perikards ist bis auf einen schmalen Saum zerstört (Objekt- träger 100). Die Stelle befindet sich dicht oberhalb des eigentlichen Sinusknotens an der Cava superior. Die dieser Stelle anliegenden Muskelfasern, von denen eine Entscheidung, ob sie dem Sinusknoten noch zuzurechnen sind oder nicht, schwer zu fällen ist, erscheinen in den nach van Gieson gefärbten Schnitten dunkler, bräunlicher. Sie sehen etwas glasig aus und lassen die Fibrillen kaum erkennen, im Gegensatz zu andern gleichwertigen Muskelzellen. Die betreffendeu Muskelfasern sind im Querschnitt getroffen: die Kerne derselben sind dunkler, eckiger. Uber sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize des Herzens etc. 479 Im allgemeinen ist die Gegend des Sinusknotens durch die Verschorfung richtig getroffen, wenngleich dieselbe ausserdem noch ziemlich weit nach oben und unten vom Sinusknoten reicht. Wie weit die etwaige Läsion der in Betracht kommenden Nerven oder Ganglien geht, lässt sich aus dem histologischen Bilde nicht feststellen. Jedenfalls ist die direkte grobe Schädigung der Muskulatur des Sinusknotens und seiner Gefässe nur eine sehr geringe. Hundeherz am 3. November 1909 in 4°/oiges Formol gelegt. Kräftiges grosses Herz von 95 g Gewicht. Rechter Vorhof im Verhältnis zu den Ventrikeln ziemlich klein. Rechter Vorhof ca. 3}/’a cm, rechter Ventrikel ca. 6'/s cm lang. Der Sulcus des Cavatrichters ist in ca. 6 mm Breite bräunlich verfärbt. Die braune Farbe reicht bis über die obere Herzohrkante nach hinten und medial (dem Sulcus des Cavatrichters entsprechend) und nach unten aussen bis zur Umschlagsstelle des Perikards dicht oberhalb vom unteren Cavatrichter. Unterhalb des Herzohr-Cavawinkels, dicht unterhalb des Sulcus des Cavatrichters eine gut hanfkorngrosse, mit tieferem Substanzverlust einhergehende Verschorfung. Mikroskopisch zeigt das Perikard in allen Schnitten stärkere Verletzung als im Fall I. Im Bereiche des Sulcus des Cavatrichters ist es in den oberen Schichten bräunlich, schwärzlich gefärbt, wie verkohlt, in den tieferen homogeni- siert. Die Verschorfung beginnt dicht unterhalb der Umschlagsstelle des Peri- kards an der Cava superior und reicht über den Sulcus hinab noch eine Strecke weit auf Herzohr bzw. Vorhof. Beim 100. Schnitt etwa (Öbjektträger 25), vom oberen Herzohrrande an gerechnet (Schnitt ca. 10. und 15 mikr. dick) ist der schon makroskopisch beschriebene Substanzverlust deutlich. Er liegt dicht unterhalb des Sinuskotens und Suleus. Die Zerstörung betrifft auch die ober- flächlichsten Muskelfasern des Herzohres. Dicht oberhalb des Sinusknotens ist das Perikard ebenfalls bis auf einen schmalen Saum zerstört. Die Muskelfasern des Sinusknotens sind nicht, die des Cavatrichters nicht sicher betroffen. Ca. 20 Schnitte weiter (Objektträger 30) greift der Substanzverlust auf den unteren vorderen Pol des Sinusknotens über, von dem mehrere Gruppen von Muskel- fasern verätzt sind. Eine dort dicht unter dem Perikard liegende Arterie ist freigelegt, kontrahiert, die Wand noch unverletzt. In der Herzohrmuskulatur stärkere, wie von Trauma herrührende Blutung. Die von der Verätzung be- troffenen Muskelfasern sehen geschrumpft und in den nach van Gieson gefärbten Schnitten dunkelbraun aus. Weiterhin (Objektträger 35) im wesent- lichen derselbe Befund. Die kleine Arterie läuft frei am oberen Pol des Sub- stanzverlustes einher, die Wand zeigt an der Aussenseite deutliche Schädigung. In den folgenden Schnitten (Objektträger 40) ist der Substanzveriust sehr tief- greifend, Vorhofsmuskulatur deutlich verschorft. Sinusknoten wieder weniger betroffen. Die Blutung in der Muskulatur erstreckt sich bis in die unteren Sinusknotenabschnitte. Weiterhin (Objektträger 55) verschwindet der Substanz- verlust. Das Perikard weist nur mehr oberflächliche Verschorfung auf. Auch die oberhalb des Sinusknotens liegende stärkere Verbrennung betrifft hier im wesentlichen nur das Perikard.. Doch muss erwähnt werden, dass man in einzelnen Schnitten (Objektträger 40, 45) gerade an dieser Stelle dicht unter der oberflächlichen Verschorfung Nervenfasern vorbeiziehen zieht, von denen sich histologisch allerdings eine Läsion nicht sicher nachweisen lässt. In den letzten 480 H. E. Hering: Schnitten nehmen alle Zeichen der Verbrennung ab. Bemerkenswert ist nur eine starke Iymphocytäre Infiltration um das Gefäss des Sinusknotens herum, die in den Schnitten auf Objektträger 75 gut zu beobachten ist. Katzenherz, am 12. November 1909 in 4°/oiges Formol gelegt. Kleines Herz von ca. 14 g Gewicht. Länge des Herzens von der Umschlags- stelle des Perikards an der Cava sup. bis zur Coronarfurche — 16 mm, bis zur Herzspitze — 38 mm. Am rechten Vorhof an der Herzohr-Cavagrenze bräunliche Verfärbung, die an der Cava nach oben bis fast zur Umschlagsstelle des Perikards, eine kurze Strecke auf das freie Herzohr und im Cavatrichtersulcus nach aussen bis über die Hälfte der Cavabreite reicht. Die Verfärbung greift nach hinten und medial etwas über die obere Herzohr-Cavakante hinaus. Direkter Substanzverlust makroskopisch nicht wahrzunehmen. Schnitte abwechselnd 10 und 15 mikr. dick, nach van Gieson gefärbt. In den ersten Schnitten (Objektträger 4) nur Herzohr getroffen. Man sieht im Bereiche der oberen Kante und etwas nach vorn und hinten übergreifend (nach vorn weiter als nach hinten), dass das Perikard geschädigt ist. Es sieht geschrumpft aus, homogenisiert, zum Teil wie verkohlt, letzteres aber nur in den obersten Schichten. An der Vorderseite ist das unter dem Perikard liegende Fettgewebe so gut wie gar nicht geschädigt. An der oberen Kante, sowie an der hinteren Fläche, wo die Zerstörung des Pericards etwas ausgedehnter ist, sehen die oberflächlichsten Muskelbündelchen ebenfalls homogenisiert und dunkler gefärbt aus. Öbjektträger 8. Läsion des Perikards und der darunter liegenden ober- flächlichsten Muskelbündelchen wie bei Objektträger 4. Die Veränderungen und Schädigungen des Bindegewebes reichen bis in einen kleinen Ganglienzellhaufen dicht oberhalb des Sulcus am Cavatrichter. An der Hinterwand besonders grosser Ganglienzellhaufen ohne nachweisbare Schädigung. Öbjektträger 16. Der Sinusknoten ist gut erkennbar. In seinem Bereiche ist die Schädigung des Perikards besonders ausgesprochen. Die Homogenisierung und dunklere Verfärbung des Bindegewebes, welches in den oberflächlichsten Schichten schwarz, wie verkohlt aussieht, geht bis fast durch die ganze Dicke der Cavawand im Bereiche des Sinusknotens, wo sie am stärksten ausgesprochen ist. Ebenfalls sehr deutlich ist in dieser Gegend die Schädigung der Muskel- fasern, besonders im (sebiet des Sinusknotens, was sich durch die dunklere Färbung von Kern und Plasma kenntlich macht. Öbjektträger 20. Sinusknoten ausgesprochener. Die Schädigung des Peri- kards beginnt dicht oberhalb des Sinusknotens und reicht noch ein ziemliches Stück weit nach unten unter den Sulcus, ist aber am stärksten im Gebiet des Sinusknotens, besonders in seinem oberen Abschnitt. Der direkte Substanz- verlust ist stets nur gering und betrifft die obersten Bindegewebslagen. Die Homogenisierung des Bindegewebes reicht aber weit in die Cavawand hinein. Die Veränderungen erstrecken sich bis über die Hälfte des Sinusknotens. Auch die dicht unter dem Perikard liegenden Sinusknoten - Muskelbündelchen zeigen dunklere Verfärbung, Schrumpfung der Fasern und des Kernes. Öbjektträger 24. Sinusknoten mit Gefäss am unteren Pole besonders gut zu sehen. Er ist in seinem vorderen oberen Drittel in seinem Bindegewebe und Über sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize des Herzens etc. 481 seiner Muskulatur geschädigt, was sich aus den gleichen Befunden wie bei Objekt- träger 20 erkennen lässt. Besonders intensiv sind die Veränderungen am oberen Pole und dicht darüber. Öbjektträger 28. Die Zeichen der vorerwähnten Schädigungen nehmen allgemein ab und betrefien im wesentlichen nur noch das Perikard. Der Sinus- knoten, der noch recht deutlich ist, ist in seinen Elementen kaum noch betroffen. Objektträger 32. Nur noch oberflächlichste Perikardschädigung. Der Sinusknoten ist durch die einwirkende Schädigung im allgemeinen sehr stark betroffen, zum Teil bis über die Hälfte deutlich nachweisbar verändert, und zwar sowohl in seinen Bindegewebsfaseren wie auch Muskelbündeln. Das Gefässsystem zeigt keine Veränderungen, wohl aber lassen vereinzelte nervöse Elemente in der Nachbarschaft des Sinusknotens eine Schädigung mit Wahr- scheinlichkeit annehmen. Hundeherz. Am 11. November 1909 in 96°/oigen Alkohol gelegt. Kleines Herz von 32 g Gewicht. Länge des Herzens von der Umschlags- stelle des Perikards an der Cava sup. bis zum Sulcus coronarius = 2 cm, bis zur Spitze = 5,5 cm. Im Bereiche des Cavatrichtersuleus gelbbräunliche Verfärbung längs des Suleus und über demselben in ca. 2 mm Breite. Verfärbung reicht bis zum oberen Herzohrrande und nach rechts aussen bis ungefähr Cavabreite. Sub- stanzverlust makroskopisch nicht sichtbar. Die ganze Partie erscheint dagegen etwas eingezogen. Schnitte ca. 10 und 15 mikr. dick, gefärbt nach van Gieson. Mikro- skopisch ergibt sich folgendes: In den ersten Schnitten (Öbjektträger 12) ist nur Herzohr getroffen. Das Perikard am vorderen und oberen Rande ist zum Teil oberflächlich verkohlt, in seinen tieferen Schichten von homogenem, glasigem Aussehen. An der Kuppe des Herzohres ist auf eine kurze Strecke das Perikard ganz zerstört; die darunter liegenden Muskelfasern sehen dunkelbraun aus und zeigen geschrumpfte Kerne. In den folgenden Schnitten (Objektträger 16) ist Herzohr mit Vena cava sup. getroffen sowie der Cavatrichtersuleus im Flachschnritt. Der Sinusknoten ist im Bereiche des Sulcus schon zu erkennen, nach oben mit einer Spitze an der Cava sup. unter dem Perikard an einer kleinen Arterie endend. Das Perikard ist von dieser Stelle an bis eine beträchtliche Strecke weit unterhalb des Sulcus deutlich geschädigt, homogenisiert. Genau entsprechend dem Sinusknoten und dem Sulcus fehlt es so gut wie ganz. Hier sind auch die oberflächlichsten Muskelfasern betroffen. Sie sehen im Gegensatz zu der übrigen hellgelben Muskulatur dunkelbraun aus, lassen zum Teil keine Kerne, zum Teil geschrumpfte erkennen. Die Tiefenwirkung ist jedoch nur gering. Objektträger 20 zeigt im wesentlichen dasselbe. Einige oberflächlichste Knotenfasern sind direkt von der Schädigung mitbetroffen. Auch an der Hinter- wand Perikard im Bereiche des Sulcus schwärzlich verfärbt. Die im Suleus liegenden Gefässe, Nerven, Ganglien zeigen keine nachweisbare Veränderung. Objektträger 24. Dasselbe Bild. Hauptschädigung im Bereiche des Sinus- knotens. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 31 482 H.E. Hering: Über sukzessive Heterotopie der Ursprungsreize etc. Objektträger 23. Nachweisbare Schädigung schon wieder geringer. Peri- kard lässt sich über den, jetzt in ganzer Breite vorliegenden Sinusknoten hinweg verfolgen, ist allerdings im Bereiche des Sinusknotens bis auf einen schmalen Saum geschrumpfter Fasern zerstört. Oberhalb und unterhalb ist das Binde- gewebe des Perikards sowie auch des Sinusknotens in seinen vordersten Partien homogenisiert. Die oberflächlich liegende Knotenarterie zeigt keine Veränderung. Muskelfasern des Sinusknotens in den oberflächlichsten Schichten leicht geschrumpft. Objektträger 32. Schädigung trifft im wesentlichen nur noch das Perikard, welches in der Gegend des Sinusknotens noch die stärksten Veränderungen auf- weist. Einige wenige, ganz oberflächlich liegende Muskelfäserchen, welche quer getroffen sind, zeigen ebenfalls ein homogenes dunkelbraunes Aussehen und lassen keine Fibrillenstruktur mehr erkennen. Öbjektträger 36. Wie vor. In der Zone des veränderten Bindegewebes liegt zwischen Perikard und Knotenarterie ein stärkerer Nerv, dessen Binde- gewebsgerüst ebenfalls homogenisiert ist. Objektträger 40 fi. Sinusknoten wird sehr viel kleiner. Perikardschädigung noch ausgesprochen, nimmt aber ab. Knoten selbst nicht mehr betroffen. Dem Gesamtbilde nach ist im allgemeinen die Gegend des Sinusknotens gut getroffen. Die Schädigung des Perikards über demselben ist stets die stärkste. Der Knoten selbst ‘st in seinen äusseren Schichten im Bindegewebe deutlich geschädigt; die Muskulatur in der Hauptsache nur wenig verändert. Die Wirkung der Schädigung lässt sich nur für die vordersten, dicht unter dem Perikard liegenden Schichten des Sinusknotens nachweisen. Erklärung der Fig. 1—22 der Tafel XIII und XIV. Aile Kurven sind von links nach rechts zu lesen. Die Zeit ist in Sekunden angegeben. Die Kontraktionen des rechten Atriums (r. A.) und des rechten Ventrikels (". V.) sind mit Hilfe der Suspensionsmethode, die Pulse der linken Karotis (C) mit dem Hürthle’schen Gummimanometer, der Venenpuls (/) auf der rechten Seite mit Hilfe der Trichtermethode verzeichnet. Fig. 1—7 stammen vom Versuch 1 (Hund), Fig. 8—16 vom Versuch 2 (Katze), Fig. 17—1S vom Versuch 3 (Hund), Fig. 19 vom Versuch 4 (Hund) und Fig. 20—2 vom Versuch 5 (Hund). Da zum Zwecke der Publikation die Kurven auf die Hälfte verkleinert werden mussten, prägen sich manche Details, besonders die Intervalle, nicht so auffallend aus, wie in den Originalkurven. Pflüger's Archiv für die ges Physiologie. Bd_136. Fig Aal) 1B1 VINNHDDUENSERENERNANDS “ VRLKNLL == al KIICJERHL U) ANNN UL TTSEIEIEITELRNN Ken e RR 3 50 Di ah en Br ml Taf XII. } N ee N. RR SM ea 1 UNNNUN oe Mh 2 ar Se. A — a = nr NZ Br Rzg.von V. bei RA = 55. Dasselbe wie in Fig. 4 le | \ Fu hs a) In Dasll: Ban | dd “ol aaa ee... 5. SSR A-V=0018. A-V=o7 2 NM WE UM IN in = j Nee NANNNN | INS N N IN N \ NNNN | NN LEN ULVERULUG c Bi St! a KL Sue ul c N j\ N NEN ZEN, N Fi AL farad, Rzg. des rechten Vag. bei RA=0 Te ee ya > Zr m I = 7 EEE Rzg. von A bei RA=6% Se Tg Rzg. von A bei RA = 8. Fig. 13 en nn An AN NER a) ne NN » Da EEE EN EN! aan n AN Men ann Arne nen NE mr N ran pen Eu y 3 rl, ” = / re ae S pie le & Se R 3 aadtnntnununänanititinsssypezjaszjs rs ls Lk 1 — T dsacssesijis jpg — — — Se — —— — Verlag v. Martin Hager‘ Bam mn farad Rzg. des rechlen Vag. bei RA=0. Dasselbe wie in Fig. 12. ‚Rzg. von V. bei RA=%. Lith_Anstv F. Wirtz Iurmstadt. Pflüger's Archiv für die ges. Physiologie. Bd. 136. E EI. in Fig. 16. A el A Ne N A A A A A A A A A-V = 0088, 0'038 V-A = 00686 A-V = 0:047 4 Nm = 4 I | Gel- Umwandlung der Eiweisskörper, und in der Tat findet sich dieser Prozess im allgemeinen dort am stärksten entwickelt, wo die Ent- stehung von Neutralteilchen am ausgiebiesten erfolgt. Sehr lehr- reich ist hier das Verhalten der verschiedenen Säureeiweisse, also die Abhängigkeit der Stabilität von Eiweisssalzen mit elektropositivem Eiweission vom gleichzeitig vorhandenen Anion. Über die hier statt- findende Bildung elektrisch neutraler Partikel belehren Reibungs- und Alkoholfällungsbestimmungen. Genügender Überschuss von Säure bewirkt, wie durch das Wiederauftreten der Alkoholfällbarkeit und Absinken der Reibung angezeigt wird, eine Bildung elektrisch neutraler Eiweissteilchen auf Kosten der vorhandenen Eiweissionen. Dieses Verhalten ist bei verschiedenen Säuren in charakteristischer Weise verschieden und in erster Reihe von der Natur des Anions und nicht von der Stärke der Säure bestimmt. ÖOrdnet man die Säuren nach ihrer Fähigkeit, in mässigen Konzentrationen Viskosität und Alkoholfällbarkeit zu be- einflussen, so gelangt man zu der Reihenfolge: Trichloressigsäure, Dichloressigsäure, Schwefelsäure, Salpetersäure, Salzsäure, Mono- chlor- und Essigsäure. Fortgesetzter Säurezusatz führt schliesslich zur Ausflockung der neutralen Eiweissteilchen zum nicht geringen Anteile durch die Löslichkeitsherabminderung infolge des überschüssigen Anions. Be- stimmt man nun die Fällungsgrenze für verschiedene Säuren (Pauli und Waener) so gelangt man in der Tat zu der gleichen Reihen- folge, wie sie sich tief unter dem Schwellenwerte der Ausflockung für die Neutralteilbildung mittels anderer Methoden bestimmen lässt. Hier lassen sich also lange vor der Koagulation die vorbereitenden Veränderungen zur Instabilität des Eiweisses nachweisen, und da sich herausgestellt hat, dass ähnliche Erscheinungen bei den mannig- faltigen Stabilitätsverschiebungen des gelösten Eiweisses wieder- kehren, so bedarf die grosse Bedeutung solcher Vorgänge für den Physiologen und Pathologen als Grundlage funktioneller Abweichungen kaum der Begründung. 492 Wolfgang Pauli: Die obige Aggregatbildung aus Neutralteilchen gewinnt durch einen ferneren Umstand ein besonderes Interesse. In ihren ersten Anfängen ist sie ein reversibler Prozess — Beseitigung des Anionen- überschusses bringt eine Rückbildung der neutralen Eiweisspartikel mit sich. Vom DBeginne der nachweisbaren Ausflockung wird sie (gegen Verdünnung) irreversibel, der lyophile Charakter der ent- standenen Komplexe geht verloren. Die Natur dieses Vorganges ist noch nicht genau erkannt, doch hat nach manchen Anzeichen die Vorstellung, dass die Verkettung der Neutralteilchen zu Aggregaten an den Stellen erfolgt, die sonst der Wasserbindung dienen, viel Wahr- scheinlichkeit für sich. Die grosse Mannigfaltigkeit der instabilen Eiweiss- komplexe ergibt sich aus der mannigfachen Art der gebildeten Neutral- teile, von denen einige wichtige Typen bereits aufgezählt wurden. ‚Einer besonderen Erwähnung bedarf noch der Einfluss der Temperatur auf die Stabilität von Eiweisslösungen. Höhere Tempe- ratur führt bekanntlich zur Hitzegerinnung des Eiweisses. Die Unter- suchung dieses Vorganges hat ergeben, dass er sich ausschliesslich an (den neutralen Eiweissteilchen vollzieht und in einem irreversiblen Verluste des lyophilen Charakters besteht. Zwischen der Hitze- serinnung und der Ausflockung bei niederen Temperaturen finden sich in vielen Fällen interessante Übergänge. So wirkt die Temj- ratursteigerung als Beförderung der Eiweissflockung durch starke Säuren und ebenso jener irreversiblen Fällung, welche bei der Kom- bination von Säuren niederer Konzentration mit Eiweiss bei Zusatz von Neutralsalzen auftritt. Auf die im letzteren Falle mittels Reibung, Alkoholfällung sowie elektrischer Leitfähigkeitsmessung feststellbare reichliche Bildung neutraler Komplexe wurde bereits hingewiesen. Dagegen wirkt mässige Temperaturerhöhung bei der Kombination von Eiweiss mit schwachen Säuren oder von Säureeiweiss mit Salzen schwacher Säuren der Koagulation entgegen. Diese verschwindet beim Erwärmen, um beim Abkühlen wieder aufzutreten. Hier handelt es sich um Entstehung von Eiweisssalzen, die infolge der schwachen Säurekomponente stärker hydrolytisch dissoziieren. Be- kanntlich wächst die hydrolytische Dissoziation mit steigender Tempe- ratur, und deshalb wird in diesem Falle mit der Erwärmung eine Rückbildung der allein ausfallenden neutralen Partikel ermöglicht. Bei einzelnen Fiweissarten erscheinen die Bedingungen für eine solehe Abhängigkeit der Stabilität ihrer Salze von der Temperatur in gesteigertem Maasse gegeben, so dass dieses Verhalten — Aus- Die koll. Zustandsänderungen von Eiweiss und ihre physiol. Bedeutung. 493 flockung beim Abkühlen, Aufhellung beim Erwärmen — unter ge- wissen Kautelen den Charakter einer spezifischen Reaktion gewinnt. Die Beziehungen von Alkalieiweiss zu Salzen sind, bis auf ge- wisse Einzelheiten (siehe unten) hinsichtlich der Neutralteilbildung, ähnlich denen des Säureeiweisses. Für den Physiologen ist es von Wichtigkeit, in den Wechsel- wirkungen zwischen geladenem Eiweiss und Neutralsalzen eine all- gemeine Salzionenwirkung zu erkennen, die eine funktionell gewiss bedeutsame Steigerung der Empfindlichkeit von Proteinen gegen stabilitätsändernde Einflüsse zur Folge hat. III. Chemische Stabilität des Eiweisses. Während die Änderungen der Lösungsstabilität sich am elek- trisch neutralen Eiweiss vollziehen, gehen nach unseren bisherigen Untersuchungen jene der chemischen Stabilität, welche bis zum hydrolytischen Zerfall des Proteins fortschreiten, am ionischen vor sich. Bei Zusatz von Säure besonders aber Alkali zum Eiweiss kommt es schon bei relativ niedrigen Konzentrationen zu einer mit der Zeit wachsenden Hydratation, die am Eiweisssol als Anstieg der Viskosität, bei gallertigem Eiweiss (Leim, Fibrin) als zunehmende Quellung in die Erscheinung tritt. Dieses Anwachsen der Hydratation geht regel- mässig dem folgenden, durch stetigen Abfall der Reibung sich aus- prägenden Abbau des hochkolloiden Proteins in halbkolloide und kristalloide Produkte voran (K. Sehorr). Der Nachweis, dass die Eiweissionen durch eine ınächtige Hydratation oder Quellung aus- gezeichnet sind, legte die Auffassung nahe, dass an ihnen auch die weitere Steigerung der Hydratation, die Vorbedingung der hydro- lytischen Zersprengung von Eiweiss vor sich gehe. Diese Annahme erhielt durch Beobachtungen eine gute Stütze, nach welchen alle Wege, die zur Bildung elektrisch neutraler Eiweissteilchen aus den Ionen führen, auch jene zeitliche Steigerung der Hydratation und den folgenden Abbau vollständig hemmen. So konnte Schorr bei- spielsweise die bei 0,25 n Natronlaugengehalt erfolgende Erhöhung der Hydratation und den weiteren Eiweisszerfall durch Zugabe von 0,1 n Neutralsalz aufheben, in Übereinstimmung mit der auf die ver- schiedenste Weise dabei erwiesenen Entstehung neutraler Eiweiss- komplexe aus den Eiweissionen. Das elektronegative Eiweission ist chemisch viel instabiler als das elektropositive. 494 Wolfgang Pauli: Die Bedeutung des von den Chemikern geübten Zusatzes hoher Lausen- oder Säurekonzentrationen beim Eiweissabbau dürfte aus den folgenden Darlegungen erhellen. Fügt man zu einer mehr- wertigen schwachen Säure — Eiweiss ist eine solehe — Alkali hinzu, so wird im allgemeinen infolge der relativ starken Dissoziation des ersten H-Ions und der stufenweisen, überaus geringen der folgen- den H-Ionen zunächst so gut wie ausschliesslich nur der erste Wasserstoff der Säure neutralisiert, als ob eine einbasische Säure vorliegen würde. Dementsprechend werden auch fast nur die ei- wertigen Anionen entstehen. So gibt die schwache zweibasische Säure H,S mit Kalilauge versetzt zunächst nur das einwertige Anion - HS neben den Metallionen. Erst bei sehr grossem Überschuss der Lauge bilden sich die Ionen des Salzes K;,S. Auch beim Eiweiss werden erst durch höhere Laugenzusätze grössere Mengen der mehr- wertigen elektronegativen Eiweissionen gebildet. Nach den von Abegg und Bodländer festgestellten Gesetzmässigkeiten müssen jedoch schwache Ionen (geringer elektrischer Haftintensität) unter gleichen Umständen um so mehr Wasser anlagern, je grösser ihre Wertigkeit oder Ladung ist. Die Eiweissionen werden danach mit steigender Wertigkeit stärker hydratisiert und, gemäss dem erhobenen Zu- sammenhange von Hydratation und hydrolytischen Abbau, chemisch um so labiler sein. Der Satz, dass die Eiweissteilchen beim hydro- lytischen Zerfall durch ihre elektrische Ladung schliesslich zersprengt werden, bringt diesen Vorgang nur in einer anderen Form zum Ausdruck. Im Gesensatze zu den elektrisch neutralen Teilen muss also dem ionischen Anteile einer Eiweisslösung eine grosse chemische Instabilität zugeschrieben werden, und da selbst die auf das sorg- samste von Elektrolyten befreite Eiweisslösung eine, wenn auch sehr geringe Zahl von Eiweissionen enthält, so würde eine genügend lange Beobachtung auch hier schliesslich die Entstehung von Zerfalls- produkten erweisen müssen; nur sind die Schwierigkeiten sehr gross, einen solchen Versuch einwandsfrei durchzuführen. Lauge- oder Säurezugabe würde diesen spontanen Abbau nur beschleunigen durch das gewaltige Vermehren der Ionenzahl und damit der hydratisierten Teile, wobei der Überschuss nieht nur, wie schon angeführt, durch die Erzeugung besonders labiler Ionenarten, sondern auch durch die Schaffung einer Reserve für die Säure und Alkali neutralisierenden Abbauprodukte wirksam wird. Die koll. Zustandsänderungen von Eiweiss und ihre physiol. Bedeutung. 495 Im Organismus wird der Eiweissabbau durch Fermente als Katalysatoren vermittelt. Nach den Beobachtungen über die Proteo- lyse durch Säuren oder Basen war die Vermutung naheliegend, dass es sich beim enzymatischen Eiweisszerfall um die Bildung komplexer Salze zwischen Säure- oder Alkalieiweiss und den proteo- lytischen Enzymen handelt, deren Ionen besonders stark der Hydratation unterliegen und damit durch eine hohe Reaktions- geschwindigkeit ihrer hydrolytischen Zersprengung ausgezeichnet sind. Diese Annahme bietet nach den glänzenden Arbeiten Bredig’s über Katalyse und insbesondere der jüngsten mit seinem Schüler Fajans, welche den Parallelismus zwischen den enzymatischen und den leicht übersehbaren einfachen katalytischen Prozessen auf der ganzen Linie hergestellt hat, keine inneren Schwieriekeiten. Sie findet bereits in den vorliegenden Tatsachen manche Stütze. Dass auch der fermentativen Proteolyse wie beim Abbau durch Laugen und Säuren ein Hydratationsvorgang vorhergeht, zeigt schon die makroskopische Betrachtung der peptischen Verdauung ausgesetzter Eiweissgelees. Nach neueren Untersuchungen am Institute (mit R. Wagner) erscheint es nun möglich, mit einem chemisch gekannten Stoffe, dem Koffein, als Katalysator im Sinne von Bredig’s Defini- tion, den Eiweissabbau zu fördern. Die früher am Institute gemachte Beobachtung (H. Handovsky), dass Koffeinzugabe zu Säureeiweiss eine ganz bedeutende Steigerung der Hydratation, kenntlich an einem beträchtlichen Anstieg der inneren Reibung, zur Folge hat, führte uns zu der Annahme, dass das zur Bildung komplexer Salze überhaupt sehr neigende Koffein mit dem Säureprotein unter Entstehung einer stark hydratisierte Ionen ab- spaltenden komplexen Verbindung reagiere. Die weitere Untersuchung hat tatsächlich ergeben, dass durch die Anwesenheit von Koffein eine Säureeiweissmischung eine nachweisliche Beschleunigung ihres Abbaues erfahre. Der hier untersuchte Fall von Eiweisskatalyse !) dürfte sich von 1) Die obigen Anschauungen über den Eiweisszerfall stehen auch in Be- ziehung zur Frage nach der Rolle der freien Salzsäure bei der peptischen Magen- verdauung, die vielfach unzutreffend beurteilt wird. Die Erkenntnis, dass die Eiweissionen Sitz des Eiweisszerfalles sind und die freien H-Ionen nur sekundär durch die Ionisationsbeeinflussung und als Reserven zur Bindung der peptischen Produkte zur Wirkung kommen, ist geeignet, die Verwunderung über den peptischen Zerfall ohne erheblichen H-Ionenüberschuss und über den mangelnden Parallelismus des Ganges der Verdauung mit der Menge der freien Säure auf ‚das riehtige Maass zu reduzieren. 496 Wolfgang Pauli: dem Fajans’schen der Kampfokarbonsäuren darin unterscheiden, dass bei den letzteren die Neutralteile der Alkaloidsalze, beim Eiweiss mit der grössten Wahrscheinlichkeit die Ionen eines komplexen Ei- weisssalzes es sind, die mit gesteigerter Geschwindigkeit zerfallen. Die Wechselbeziehungen von Eiweissalzen und Neutralsalzen der Alkali- und Erdalkalimetalle lassen auch die Rolle der Neutral- salze beim katalytischen Eiweissabbau von neuen Seiten betrachten, und eine gründliche experimentelle Analyse des einschlägigen Mate- rials, an der es zunächst vollständig fehlt, dürfte auch für den Physio- logen wertvolle Hinweise auf Ionenwirkungen bei katalytischen Prozessen ergeben. IV. Der lonenaustausch aus Eiweiss. Es ist für die alle&emeine Physiologie von dem erössten Inter- esse, dass sämtliche Typen der Eiweissteilchen, sowohl die elektrisch neutralen als auch die positiven und negativen Ionen, mit den Salzen der Alkalien und Erdalkalien wenigstens innerhalb weiter Konzen- trationsgerenzen Verbindungen einzugehen vermögen, welche durch ihre reversible Natur und durch ihre gesetzmässige Abhängigkeit vom Gehalte der Salzlösung nach der bekannten Adsorptionsformel charakterisiert sind. Die Zustandsänderuneen der elektrisch neu- tralen Eiweisspartikel durch Salzionen, die Abnahme der inneren Reibung, Steigerung der Diffusibilität, Hemmung der Koagulierbar- keit dureh Hitze und Alkohol haben bereits bei einer anderen Ge- legenheit!) auch nach ihrer physiologischen Seite eine zusammen- fassende Darstellung erfahren. Hier sollen vorerst einige Eigen- tümliehkeiten der Salzbeziehungen von Säure- (positivem) und Al- kali- (negativem) Eiweiss Erwähnung finden, welche als Übergang einer allgemeinen zu einer spezifischen Ionenwirkung angesehen werden dürfen. Eine Reihe von Untersuchungen mit den verschiedensten Me- thoden hat übereinstimmend dargetan, dass der Zusatz von Salzen der Erdalkalien zu Laugeneiweiss eine weit reichere Bildung von Neutralteilchen zur Folge hat als die Zufügung von Alkaliverbindungen. Es wird also durch Salze der Erdalkalien besonders stark die Reibung von Laugenprotein herabgesetzt, gequollene Laugengelatine zur Schrum- pfung gebracht und Hitze- sowie Alkoholkoagulierbarkeit viel aus- 1) Kolloidchemische Studien am Eiweiss. Th. Steinkopff, Dresden 1908. Die koll. Zustandsänderungen von Eiweiss und ihre physiol. Bedeutung. 497 giebiger restituiert als durch Alkalisalze. Infolge der wirksameren elek- trischen Neutralisierung der geladenen Eiweissteilchen wird bei einer Konkurrenz von Alkali- und Erdalkaliionen um das elektronegative Eiweission der Eintritt der Erdalkalien stärker beeünstigt; es werden schon kleine Mengen Erdalkaliion genügen, um Alkaliionen trotz ihrer Anwesenheit in grosser Konzentration aus dem Eiweiss herauszu- drängen, kurz, es werden, wie Versuche lehrten, jene Erscheinungen in vitro am Eiweiss nachweisbar, welche als antagonistische Ionen- wirkungen (J. Loeb) von zahlreichen physiologischen Vorgängen gekannt sind. Neben vielen anderen Beziehungen des Ionenantago- nismus am Eiweiss dürfte die folgende eine der interessantesten sein. Der grosse Unterschied zwischen Bindung von Alkali- und Erd- alkaliion gilt nur für elektronegatives Eiweiss. Wird das Eiweiss durch Säuerung elektropositiv gemacht, dann verschwindet das diffe- rente Verhalten der Metallionen nahezu vollständig. Das Analogon dazu findet sich in Versuchen J. Loeb’s an verschiedenartigen Ob- jekten, in denen der physiologische Einfluss aller Ca-vermindernden Maassnahmen durch Säuerung ersetzt werden konnte, während Lauge- zugabe ähnlich einer Steigerung des Ca-Gehaltes wirkte, Beob- achtungen, die nunmehr ihres fremdartigen Charakters entkleidet sind. Von ganz besonderer Bedeutung für den Physiologen ist die Frage der Permeabilität der Zellsubstanz für Salze, welche unzweifel- haft mit der Lehre von den Ioneneiweissverbindungen in Zusammen- hang steht. Das Problem, wie Salzionen in das Zellinnere gelangen können, steht noch immer in ebenso lebhafter als widerspruchsvoller Diskussion. Eine nieht geringe Schwierigkeit bildet hier, wie es scheint, seine Durchsetzung mit überflüssigem hypothetischem Beiwerk, das, ohne die Übersicht der Tatsachen zu erleichtern, eine freiere Betrachtung der Verhältnisse sehr beengt. Dies gilt von allen spe- ziellen Voraussetzungen über die Struktur einer Grenzmembrän der tierischen Zellen, welche meist teils als eine Lipoidschicht, teils als ein Mosaik aus lipoider und proteinartiger Substanz angesehen wird. Jede Annahme einer besonderen Struktur der Grenzschicht, welche nicht auf die gleichartige Beteiligung des Zellinnern an den die Zelle treffenden physikalisch-chemischen Änderungen verzichten oder demselben nicht eine ganz sekundäre Rolle zumessen will, steht immer wieder vor der Frage, wie sich die in die Grenzschicht ein- tretenden Stoffe aus derselben gegen das Innere ausbreiten, und jede Voraussetzung einer weitergehenden Differenzierung der Ober- E. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 32 498 Wolfgang Pauli: fläche und des Inneren der Zelle schafft somit auch neue Schwierig- keiten einer physikalisch-chemischen Erklärung. Soweit sich sehen lässt, geht die Annahme einer besonders strukturierten Grenzschicht weit über die zugehörigen physikalisch-chemischen Beobachtungen hinaus oder ist nur scheinbar in dem natürlichen zeitlichen Verlauf einer Reaktion in der Zelle von der Grenze gegen das Innere, welcher besondere Eigenschaften der Öberflächenschicht vortäuschen kann, zu begründen. Lehrreich dürfte hier das folgende einfache Bei- spiel sein. Wenn wir etwa einen gequollenen Leimwürfel in eine Glauber- salzlösung tauchen, so kommt es zu einer Schrumpfung desselben unter Erhärtung, die von der Oberfläche des Würfels gegen das. Innere langsam genug fortschreitet, um selbst Formen hervorzubringen, welche den Plateau’schen Ölfiguren, typischen Oberflächen- spannungserscheinungen, zum Verwechseln gleichen. Derselbe homo- gene Gelatinwürfel zeigt, in die Lösung eines Rhodansalzes gebracht, eine mächtige Aufquellung, und auch hier lassen sich unter ge- eigneten Bedingungen typische Oberflächenspannungsformen erzielen. In einem so übersichtlichen Falle wie der geschilderte wird wohl niemand das Verhalten des Leimes mit den Eigenschaften einer besonders strukturierten Grenzschicht in Zusammenhang bringen, während dies für, im Prinzipe nicht verschiedene, Beobachtungen an der tierischen Zelle geschehen ist. Wir wissen, vor allem durch die Versuche Hofmeister’s, dass die differente Durchlässigkeit für Sulfat und Rhodanid nur einen Unterschied des Grades in den Beziehungen der Leim- und Salzteilchen vorstellt, der bei passender Wahl der Konzentrationen vollständig verschwindet, und dass von hier in Betracht kommenden Verschiedenheiten der Leimteilchen in der Oberfläche und im Innern nicht die Rede sein kann. Alle allgemeinen Annahmen über die nähere Beschaffenheit der Lipoidstruktur im Protoplasma beruhen in der Hauptsache darauf, dass erstens das rasche Eindringen von Stoffen in die Zellen mit einer grossen relativen Lipoidlöslichkeit verbunden ist, und dass ferner die Zellen gegenüber lipoidunlöslichen Stoffen sich mehr oder weniger wie Pfeffer’sche Gefässe verhalten, also gemäss dem osmotischen Druekunterschiede Wasser aufnehmen und abgeben. Die Tatsache, dass die Löslichkeitsbeziehungen der Lipoide sich auch der ganzen Zelle weitgehend aufprägen, berechtigt aber nicht zu mehr als zu der Schlussfolgerung, dass im plasmatischen Verbande die Lipoide eine Die koll. Zustandsänderungen von Eiweiss und ihre physiol. Bedeutung. 499 gewisse physikalisch-chemische Eigenart sich bewahrt haben, keines- wegs aber zu verschiedenen, grob mechanischen Vorstellungen über die Art der Lipoid-Eiweissmischung, die überdies auch in dem kolloiden Charakter der Komponenten keine Stütze finden. Vollständig ablehnen wird man jedoch den Rückschluss auf die absolute Undurchlässigkeit der Zellen für gewisse lipoidunlösliche Stoffe, namentlich die meisten ionisierenden Verbindungen, die somit niemals ihre Wirkung im Innern der Zelle entfalten könnten, aus osmotischen Versuchen. Osmotische Versuche an Zellen sind zeitlich sehr begrenzt und weit von jener Genauigkeit entfernt, um auch nur in einem einzigen Falle eine praktisch vollkommene Undurch- lässigkeit erkennen zu lassen. Wir können nur unter Umständen von einem so geringen Umfange oder einer so allmählichen Aus- breitung der Reaktion zwischen Zelle und der einwirkenden Substanz sprechen, dass für eine nicht zu lange Beobachtungsdauer die Gesetze des osmotischen Druckes annähernd erfüllt erscheinen. Zwischen einer im groben osmotischen Versuch und einer physiologisch unwirksamen Stoffmenge muss jedoch ein wesentlicher Unterschied gemacht werden, sowie die im Verhältnis zu den Salzen minimale Diffusionsgeschwindig- keit von Eiweiss wohl zu praktisch für die Reinigung durch Dialyse ausreichenden osmotischen Differenzen führt, aber etwa bei der Be- trachtung der Resorptionsvorgänge oder Wirkung toxischer Eiweiss- stoffe nicht vernachlässiet werden kann. Wir sehen in dem verschiedenen Verhalten der lipoidlöslichen und der lipoidunlöslichen ionisierenden Stoffe nur einen Unterschied in der Reaktionsgeschwindig- keit und in der Einstellung des Gleichgewichts, die für Lipoide und die darin löslichen Stoffe sehr gross, für die Eiweisskörper und die iorisierenden Substanzen verhältnissmässig gering ist. Eine Be- trachtung der Salzbeziehungen der Eiweisskörper wird diese Auf- fassung unterstützen. Wenn wir ein Salz in ein Eiweissgel diffundieren lassen, wird in dem Maasse, in welchem durch Abnahme der freien Flüssigkeit zwischen den Fiweissteilchen die Ausbreitung des Salzes infolge Querschnittsverminderung und Verlängerung des Diffusionsweges gehemmt wird, für diese Ausbreitung die Beziehung der Salzionen zu den Eiweissteilchen immer mehr bestimmend, bis das Salz vor- nehmlich auf dem Weg der Reaktion von Eiweissteilchen zu Eiweiss- teilchen sich weiter bewegt. Aus unseren Versuchen wissen wir jedoch, dass die Proteinteile im allgemeinen nur mit einem sehr 32 * 500 Wolfgang Pauli: kleinen Bruchteile der anwesenden Salzpartikel, allerdings unter sehr auffälligen physikalischen Zustandsänderungen, reagieren. In bedeutendem Grade wird jeloch diese Reaktion behindert sein, wenn das Eiweiss bereits mit Salzionen besetzt ist; neue werden dann die bereits angelagerten nur unter allmählicher Einstellung des Gleich- gewichtes und nur zum Teile verdrängen können, wenn dieser Vor- gang nicht durch spezifische!) Beziehungen erleichtert wird. Für den grossen quantitativen Unterschied in der Aufnahme lipoidlöslicher und ionisierter Stoffe durch die Zellen komınt gewiss noch der Umstand in Betracht, dass die die Zellen umgebende tierische Flüssigkeit im allgemeinen das weit lipoidärmere Material vorstellt. Infolgedessen gehen hier die lipoidlöslichen Stoffe - aus einem weniger guten in ein besseres Lösungsmittel über. Für das Eiweiss, welches nach unserer Auffassung die Reaktionen des Plasmas mit den Ionen vermittelt, ist das Verteilungsverhältnis zwischen Zelle und Medium im Organismus einer Ionenaufnahme in die Zelle wesentlich ungünstiger. Hier besteht bereits eine starke natürliche Ablenkung und Schutzeinrichtung gegen die ionischen Stoffe, wie sie ähnlich durch künstliche Anreicherung des Serums mit Lipoiden für an den Zellipoiden angreifende Stoffe von Meyer und Ransom im Versuche realisiert worden ist. Die hier angedeuteten Vorstellungen über die Rolle der Bio- kolloide bei der Aufnahme von Stoffen in die Zelle dürften gegen- über den geläufigen den Vorzug haben, weniger mit hypothetischen Zusätzen belastet zu sein und sich strenger an die Beobachtungen der Zustandsänderungen der Biokolloide im Reagenzglase anzu- schliessen. Wie grosse Vorsicht bei der Aufstellung von Beziehungen zu den physiologischen Verhältnissen hier nötig ist, das zeigten uns Erfahrungen mit Lezithinemulsionen. Der physikalische Zustand solcher Emulsionen findet im Gegensatze zu den Verhältnissen bei den Proteinen kein Analogon zu der Art, wie Lezithin und die Lipoide überhaupt im Organismus in Lösung gehalten sind, und die Übertragung von den Eigenschaften der einen auf die der anderen Zustandsform führt da leicht auf Irrwege. 1) Solche spezifischen Beziehungen sind nicht der Gegenstand dieser Be- trachtungen, die den allgemein hier waltenden Gesetzmässigkeiten gelten. Sie werden stets Sache einer besonderen Untersuchung und Erklärung bleiben, welcher allgemeinen Vorstellung über die Struktur und Durchlässigkeit der Zellen man auch huldigen möge. Die koll. Zustandsänderungen von Eiweiss und ihre physiol. Bedeutung. 501 Unsere Ausführungen mussten sich an dieser Stelle darauf be- schränken, nur einen kleinen Ausschnitt der Ergebnisse unserer neueren Untersuchungen über die Zustandsänderungen der Eiweiss- körper und ihrer Beziehungen zur allgemeinen Physiologie wieder- zugeben, und manche wichtigen einschlägigen Fragen konnten nicht einmal berührt werden. Es dürfte jedoch heute schon keinem Zweifel unterliegen, dass jene synthetische Richtung, welche aus den Zustandsänderungen der Biokolloide und ihrer Komplexe die Erkenntnis der: Zustands- änderungen der plasmatischen Substanz aufzubauen versucht, ihren Platz neben jener Methode erringen wird, die auf dem entgegen- gesetzten Weg von der Erforschung der Sinnesempfindungen nach dem gleichen Ziele trachtet, und die zuerst bewusst und erfolgreich gehandhabt zu haben ein unvergängliches Verdienst Ewald Hering’s bleiben wird. Auch auf das Verhältnis dieser zwei Forschungsrichtungen passt das Wort unseres Meisters?): „Dass die grossen Aufgaben, welche der Physiologie, insbesondere der Nervenphysiologie, gestellt sind, am zweckmässigsten, ähnlich einer Tunnelbohrung, von zwei Seiten zugleich in Angriff genommen werden, nämlich nicht nur von der physikalisch-chemisehen, sondern auch von der psychischen.“ 1) Zur Lehre vom Lichtsinne S. 106. Wien 1878. 502 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: (Aus dem physiologischen Institut der Universität Leipzig.) i Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. Über die Wirkungsweise der fördernden und hemmenden Nerven. (Nach Versuchen am M. retractor penis des Hundes.) Von Dr. Ernst Th. v. Brücke und Dr. Soroku Oimuma. (Mit 6 Textfiguren und Tafel XV und XVI.) In einer früheren Abhandlung!) hat der eine von uns nach- gewiesen, dass der M. retractor penis des Hundes im Zustande tonischer Kontraktion sehr charakteristische Aktionsströme zeigt. Das Studium dieser Ströme ermöglichte einen Einblick in das Wesen des spontanen und durch Dehnungsreize erhöhten Tonus und- gab vor allem einigen Aufschluss über die Wirkungsweise verschiedener Temperaturen auf den Tonus der glatten Muskulatur. In der folgenden Arbeit sollen Beobachtungen mitgeteilt werden, die wir zum Teil einzeln (Brücke), zum Teil gemeinsam über die Abhängigkeit des Tonus dieses Muskels vom Nervensystem an- stellten. Die Innervation unseres Muskeis wurde zuerst von Langley und Anderson?) studiert. Diese beiden Forscher stellten fest, dass er seine fördernden (motorischen) Fasern aus dem Sympathicus er- hält, und zwar stammen sie beim Hund zum kleineren Teil aus dem I) E. Th. v. Brücke, Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. I. Die elektromotorischen Wirkungen des Musculus retractor penis im Zustande tonischer Kontraktion. Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 133 S. 313. 1910. 1) J. N. Langley and H. K. Anderson, The innervation of the pelvic and adjoining viscera. Part. III. The external generative Organs. Journ. of physiol. vol. 19 p. 85. 1895/1896. Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 503 XII. und XII. Thoracalnerven, zum grösseren aus dem L.—IIl. (IV.) Lumbalnerven. Diese Fasern lassen sich weiter durch den sacralen Grenzstrang in die Nn. pudieci und zum kleineren Teil durch die Nn. hypogastriei verfolgen und schliesslich gelangen sie zum Teil durch den N. dorsalis penis zum Musculus retractor. Am leichtesten ist ein Teil dieser Fasern in der Fossa ischiorectalis in den Nn. pudieis zugänglich. Eine Hemmung des Retractortonus erschlossen Langley und Anderson bei Reizung des N. pelvieus (erigens) aus folgendem Versuch: Der Muskel wurde an seinem präputialen Ende abgetrennt und mit einer Pinzette gefasst; reizten sie nun einen N. pudiecus, so kontrahierte sich der Muskel und leistete dem Zug mit der Pinzette ziemlichen Widerstand; reizten sie aber unmittelbar nach dem N. pudieus den N. pelvieus, so fühlten sie 10—20 Sek. nach Beginn der Reizung eine deutliche Abnahme der Spannung, ein Er- schlaffen des Muskels. Es war zweckmässig die Hunde für diesen Zweck zu curaresieren, da auf diese Weise die störenden Kontrak- tionen der quergestreiften Genito-Analmuskulatur ausgeschaltet werden. Mitunter sieht man nach Langley und Anderson auch einen „unberührten“ Retraetor bei Reizung des N. pelvieus deutlich erschlaffen. Die Konstanz der Versuchsresultate führte diese beiden Forscher dazu, den M. retraetor penis als besonders geeignetes Ver- suchsobjekt für das Studium der Hemmung zu empfehlen. Sie schrieben: „The retractor musele appears to us to offer advantages for the study of inhibition of unstriated museular tissue, presented by no other muscle in which inhibition is known to oceur!).“ Diese doppelte Innervation wurde mehrfach bestätigt. So bildet z. B. Starling?) eine Erschlaffungskurve dieses Muskels als Effekt der Pelvieusreizung ab. W. M. Fletscher?) beobachtete eine voll- kommen analoge Doppelinnervation am M. retraetor penis der Ratte und des Igels; und A. Fröhlich und O. Loewi‘) erzielten Kontrak- elcrp- 121: 2) E. H. Starling, Elements of human physiology p. 156. 1907. 3) W. M. Fletscher, Preliminary note on the motor and inhibitor nerve- endings in smooth muscle. Journ. of physiol. vol. 22 p. XXXVII. 1898. 4) A. Fröhlich und O. Loewi, Untersuchungen zur Physiologie und Pharmakologie des autonomen Nervensystems. Arch. f. exper. Path. u. Pharm, Bd. 59 S. 34 (S. 37 ff.). 1908. 504 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: tion des Retraetors bei Hypogastrieusreizung (Hund); bei Pelvicus- reizung sahen sie geringfügige Erschlaffung (in einem Versuche von Natriumnitritvergiftung allerdings eine schwache Kontraktion). Bei gleichzeitiger Reizung je eines N. pudieus und N. plevicus erhielten sie Kontraktionen, die im Vergleich mit den bei isolierter Pudicus- reizung beobachteten, niedriger waren, steiler abfielen und keinen Verkürzungsrückstand hinterliessen, und deren Kurven oft unter die arsprüngliche Nullinie sanken. In einer eingehenden Untersuchung haben Langley und Anderson!) auch den Unterbrechungsort für diese beiden Faser- arten festgestellt. Allerdings wurden diese Versuche nur an Katzen und Kaninchen angestellt. nach unseren eigenen Versuchen gelten sie aber auch im allgemeinen für den Hund. Sie fanden, dass die überwiegende Mehrzahl der aus dem Lumbal- mark stammenden sympathischen Fasern für die äusseren Genitalien ihre Unterbrechung in den Ganglien des Grenzstranges erfährt und in die Sacralnerven übertritt; die präganglionären, sacral autonomen Fasern (N. pelvieus) enden dagegen an Ganglienzellen, die sich in den einzelnen Nervenstämmehen selbst zerstreut finden, und zwar liegen die ein bestimmtes Organ innervierenden Ganglienzellen meist in seiner nächsten Nähe bezw. in dem betreffenden Organe selbst. Bottazzi?) gibt an, dass nach Untersuchungen von d’Evant sich in den an den M. sphineter angrenzenden Partien des Retractors zerstreut bipolare und multipolare Ganglienzellen finden. Sie liegen hier im intramuskulären Bindegewebe, speziell in der Nachbarschaft der den Muskel der Länge nach durchziehenden Gefässe. Vermut- lich sind dies derartige in die sakral-autonomen Fasern eingeschaltete Ganglienzellen, deren (nach d’Evant sehr zarte) Fortsätze sich dann wohl an der Bildung des die Muskelfasern umspinnenden End- plexus beteiligen dürften. Wir können nach alledem sicher sein, dass wir bei der Reizung der sacralen Wurzeln oder des N. pelvicus nur präganglionäre hemmende Fasern erregen, bei Reizung des N. pudicus in der Fossa 1) J. N. Langley and H. K. Anderson, The innervation of the pelvie and adjoining viscera. Part. V. Position of the nerve cells on the course of the efferent nerve fibres. Journ. of physiol. vol. 19 p. 131. 1895/1896. 2) F. Bottazzi, Recherches sur les mouvements automatiques de divers muscles stries. Journ. de physiol. et de path. gen. vol. 8 p. 193 (p. 205 ff.) 1906. Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 505 ischiorectalis oder bei Reizung der R. anteriores der Sacralnerven dagegen die fördernden Fasern erst in ihrem postganglionären Anteile erregen. Angaben über die Endigungsweise der Nerven im M. retractor penis verdanken wir Fletscher (l.e.). Diesem Forscher gelang es, an den entsprechend zarten Muskeln der Ratte und des Igels mittelst Methylenblaufärbung einen oberflächlichen Nervenplexus nachzuweisen, von dem aus sich feine Nervenfäden in die Tiefe senken und hier ein dichtes, jede Muskelzelle umspinnendes, an- scheinend echtes Netz feinster Nervenfasern bilden. Ganglienzellen sah er in den Muskeln dieser Tiere nicht, und da sich auch niemals spezielle Endapparate oder in die Muskelzellen eindringende Fasern nachweisen liessen, hält Fletscher dieses tiefe Netz für das eigent- liche Endorgan. Wichtig ist die Beobachtung, dass Pudieusdurch- schneidung allein dies Netz nicht zur Degeneration bringt, wohl aber nach kombinierter Pudieus- und Pelvieusdurchschneidung, die beim Igel ohne Störung der Blutversorgung gelang, eine Degeneration des Netzes eintrat. Wie z. B. aus der zusammenfassenden Darstellung F. B. Hof- mann’s!) hervorgeht, stimmt dieser Innervationsmodus vollkommen mit den Befunden über die Nervenverzweigung und Nervenendigung in der gesamten daraufhin untersuchten glatten und der ihr ver- wandten Muskulatur überein. Da wir in den Aktionsströmen des tonisch kontrahierten Muskels feinere und vielseitigere Merkmale für die Beeinflussung des Tonus gewinnen können als durch die Beobachtung der Längen- oder Spannungsänderung des Muskels, hofften wir mit dieser neuen Methode auch nähere Aufschlüsse über den Wirkungsmodus der Förderungs- und Hemmungsnerven eines glatten Muskels zu erhalten. Dass der M. retractor penis unabhängig vom Zentralnerven- system spontane, ausgiebige Tonusschwankungen zeigt, war durch eine Reihe älterer Beobachtungen (Sertoli u. a.) festgestellt worden, die fast durchwegs am ausgeschnittenen, überlebenden Muskel an- gestellt worden waren. Es blieb aber zunächst die Frage zu lösen, ob etwa normalerweise ein dauernder Erresungszustand eines der ER B: Hofmann, Histologische Untersuchungen über die Innervation der glatten und der ihr verwandten Muskulatur der Wirbeltiere und Mollusken. Arch. f. mikrosk. Anat. Bd. 70 p. 301. 1907. OT . 06 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: beiden Nervenpaare besteht, so dass also der Tonus des exstirpierten Muskels sich in irgendeiner Beziehung wesentlich von dem des in situ belassenen Muskels unterschiede. Wir suchten diese Frage mittelst Nervendurchschneidung während der Beobachtung der Muskel- aktionsströme zu entscheiden. Unsere Beobachtungen wurden sämtlich an Hunden angestellt, die in Morphiumchloroformnarkose operiert und dann zu Beginn des eigentlichen Versuches curaresiert worden waren. Die Freilegung des M. retractor, sowie die Beobachtung und Verzeiehnung seiner Aktionsströme geschah hierbei in der gleichen Weise, wie bei den schon früher mitgeteilten Versuchen; es wurde also stets von zwei intakten, etwa 10 mm voneinander entfernten Muskelstellen zum Saitengalvanometer abgeleitet. Zur Freilegung der Nn. pudiei — deren Bedeutung für den Tonus zunächst besprochen werden soll — wurden die Hinterbeine des in Rückenlage aufgebundenen Tieres im Hüft- gelenk maximal flektiertt und nach vorne gebunden. Durch je einen langen Hautschnitt, etwa dem caudalen Rande der medialen Sitzbeinäste (Areus ossium pubis des Menschen) entsprechend, wurde beiderseits die Fossa ischiorectalis breit eröffnet und dann durch stumpfe Präparation der dem M. levator ani anliegende N. pudieus freigelegt. Um eine Blutung bei Durchschneidung dieses Nerven zu vermeiden, muss er zuvor von der ihm dieht anliegenden A. und V. pudenda interna isoliert werden. Beide Nerven wurden mit je einem Faden umschlungen und dann — meist während der Beob- achtung der Aktionsströme des M. retraetor penis oder während ihrer Registrierung bei langsamem Trommelgang — von einem Assistenten ligiert oder durchschnitten. Wie schon in der ersten Mitteilung erwähnt wurde, zeigt das Elektrogramm des M. retractor penis in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle so unregelmässige Schwankungen, dass sich die Frequenz der Erregungswellen aus ihm nicht eindeutig bestimmen lässt. Dieser Umstand erschwert natürlich auch die Beurteilung der Wirkung der Pudicusausschaltung. Abgesehen von wenigen Aus- nahmen haben wir während der Ligatur jedes N. pudiceus eine oder mehrere auffallend steil ansteigende und kräftige Aktionsstromwellen als Ausdruck der mechanischen Erregung des Nerven durch die Ligatur gesehen, ohne dass aber im weiteren Verlauf der Kurven ein deutlicher Einfluss der Pudicusausschaltung zu erkennen ge- wesen wäre. Ein Beispiel eines solehen Falles gibt die Kurve der Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 507 Fig. 1 auf Tafel XV. Der Muskel zeigt zu Anfang dieser Aufnahme ziemlich regelmässige Wellen; bei a wurde der linke, bei b der rechte N. pudicus abgeschnürt. Der Effekt besteht beide Male in be- sonders steilen Schwankungen in der Richtung zu den Marken des Sekunden angebenden Jaquet’schen Zeitmarkierers, und dies ent- sprieht einer Negativitätszunahme der dammwärts gelegenen Ab- leitungsstelle, also einer normal gerichteten Erregungswelle. Die Markierung der Nervenligierung ist nicht ganz exakt, sie dürfte FFTTIITT TI III] GRSRERBNEESHEREREN ENESESERnENNNNEBAnDAndEN KHRHHS HH [177 Fig. 1. beide Male um etwa eine Sekunde zu spät erfolgt sein. Ein typischer Einfluss auf den Verlauf der folgenden Wellen lässt sich nicht er- kennen. Die Wellen werden zwar nach der Durchschneidung des linken N. pudieus unregelmässiger und anscheinend schwächer, doch treten im weiteren Verlaufe, spät nach der Ligatur des zweiten Nerven wieder besonders kräftige Wellen auf. Ein hiervon abweichendes Verhalten beobachteten wir in drei Fällen. Ein einziges Mal (Hund IX /3.) zeigten die Aktionsströme vor und nach der Pudieusligatur eine so regelmässige Rhythmik, dass ihre Frequenz sicher ermittelt werden konnte. In der bei- stehenden Textfigur Nr. 1 sind die zeitlichen Intervalle zwischen je zwei aufeinander folgendenWellen der betreffenden Kurve aufgetragen, 508 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: und zwar entspricht 1 em der Ordinate je einer Sekunde (die Zehntel wurden geschätzt). Um die Abbildung nicht unnötig zu vergrössern, wurden hier nur die für uns in Betracht kommenden Zeitintervalle zwischen 5 und 11 Sekunden aufgetragen. Bei «a und 5b wurden der linke und rechte N. pudieus durchschnitten. Wie die Figur zeigt, sind die Intervalle vor der ersten Pudicusligatur ziemlich inkonstant, jedenfalls finden sich aber hier die kürzesten Intervalle, die überhaupt auf der Kurve verzeichnet sind; nach den beiden Pudieusligaturen nehmen die Intervalle kontinuierlich an Länge zu, so dass in diesem Falle wahrscheinlich die Pudiei dauernd einen positiv chronotropen Einfluss auf die Retraetorwellen ausgeübt hatten, der nach der Ligatur beider Nerven allmählich erlosch. Ein sicherer Einfluss der Nervenausschaltung auf die Höhe der einzelnen Wellen lässt sich in diesem Falle nicht feststellen. In zwei anderen Fällen sahen wir die Aktionsstromwellen des. M. retractor bald nach der doppelseitigen Nervendurchschneidung für einige Zeit verschwinden. Der erste dieser Fälle betrifft eine gelegentliche Beobachtung bei einem Vorversuche. Der Muskel zeigte hier anfangs recht gute Aktionsströme, die aber nach den Pudiecusligaturen allmählich abnahmen, um bald ganz aufzuhören. Wir haben auf das eventuelle Wiederauftreten der Wellen in diesem Falle nicht geachtet, doch findet sich in dem betreffenden Protokoll vermerkt, dass der Muskel später nur mehr auf Dehnung und Pudieusreizung, aber nicht spontan in Tätigkeit geriet. Der zweite derartige Fall ist in Fig. 2 auf Taf. XV wiedergegeben. Der Muskel des betreffenden Hundes zeigte kräftige, aber ziemlich unregelmässige Wellen. Der Moment der ersten Nervendurch- schneidung ist hier nieht markiert worden, doch lässt sich aus der gleichzeitig verzeichneten und mit Coineidenzmarken zum Elektro- gramme versehenen Längenkurve des Muskels ersehen, dass die Durchsehneidung des rechten N. pudieus bei a erfolgte; die des. linken wurde bei 5b ausgeführt. 40 Sek. nach a sehen wir eine auffallend lange, etwa 10 Sek. währende Pause zwischen den Aktions- strömen und 90 Sek. nach Durchschneidung des zweiten N. pudieus setzten die Erregungswellen für anderthalb Minuten vollkommen aus, um dann ohne äussere Veranlassung plötzlich — und zwar ın auffallender Stärke — wiederzukehren. Dieser Stillstand ist an der Längenkurve des Muskels dureh eine deutliche Abnahme des Tonus kenntlich. Wir haben in keinem anderen Falle, weder an einem Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 509 normal innervierten, noch an einem entnervten Retraetor je ein derartiges spontanes plötzliches Aussetzen der Tätigkeit mitten zwischen kräftigen Erregungswellen beobachtet, urd deshalb sind die beiden Pausen in diesem Falle wohl sicher als Folgen der Nerven- durchschneidung anzusehen. Diese Beobachtungen weisen entschieden darauf hin, dass in einzelnen Fällen der Tonus des Muskels von nervösen Erregungs- impulsen mit unterhalten wird, so dass nach Wegfall dieser Impulse eine Verlangsamung im Rhythmus der einzelnen tonischen Erregungs- wellen oder sogar ein vorübergehender Stillstand derselben, also ein Abfall des Tonus auf Null eintreten kann. Dass bei unseren Ver- suchen auch nach der doppelseitigen Pudieusligatur der Tonus in der Mehrzahl der Fälle unverändert blieb, kann deshalb nicht für einen Beweis einer weitgehenden Unabhängiekeit der tonischen Muskeltätigkeit von nervösen Einflüssen angesehen werden, weil — wie wir allerdings erst nach Beendigung dieser Versuche fest- stellten — die Durchschneidung der Nn. pudiei nur einen Teil der den Retractor penis versorgenden motorischen Fasern ausschaltet. Möslicherweise würde die Durchschneidung sämtlicher Nerven, welche motorische Fasern für den M. retractor führen, eine noch weitgehendere Abhängigkeit des Muskeltonus von dauernd dem Muskel zufliessenden Innervationspulsen ergeben, doch wären der- artige Versuche mit grossen technischen Schwierigkeiten verbunden. Wenn andererseits — wie die früheren Beobachter übereinstimmend beschreiben — auch an dem völlig isolierten Muskel fast regelmässig ein dauernder Tonus und Tonusschwankungen zu beobachten sind, so ist dies wohl in erster Linie auf äussere Reize, vor allem auf die Abkühlung und die Dehnung des Muskels zurückzuführen. Eine reizlose Ausschaltung der N. pudiei wäre sicher leicht zu bewirken, doch müsste man auch bei solchen Versuchen auf den so seltenen Zufall streng rhythmischer und regelmässiger Aktions- ströme eines Retraetors warten, um zu sicheren Resultaten zu ge- langen, und da wir aus anderen Reizversuchen wissen, dass elektrische oder mechanische Einzelreize nur selten länger als eine Minute nachwirken, halten wir diese Modifikation der Versuche für ent- behrlich. Die Tatsache, dass in der Regel nicht alle motorischen Fasern für den Retractor ihren Weg durch die Nn pudiei nehmen, fanden wir bei Versuchen, in denen wir, um eine Hemmung des Retraetortonus 510 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: zu erzielen, die Sacralnerven im Becken reizten. Wenn alle post- sanglionären fördernden Nervenfasern, die ja nach Langley und Anderson aus dem sacralen Grenzstrang austreten, weiterhin durch die Nn. pudici verliefen, so wäre es möglich, .durch Reizung der Rami anteriores der sacralen Nerven nach Durchschneidung der Nn. pudieci Hemmungseffekte (von den sacral autonomen Fasern her) zu erzielen, denn es war aus den Beobachtungen A. Fröhlich’s und OÖ. Loewi’s zu entnehmen, dass die hemmenden Fasern nicht durch die Nn. pudiei zum Muskel gelangen. Der Verlauf der. Operationen war bei diesen Versuchen der folgende: An den Hunden wurden in Morphium-Chloroform-Narkose in der schon früher beschriebenen Weise zunächst beide Nn. pudiei entweder bloss isoliert oder gleich ligiert und durchschnitten, der Retractor penis freigelegt und vom Präputium abgetrennt. Dann wurde der Hund wieder in die normale Rückenlage (bei gestreckten hinteren Extremitäten) gebracht, künstliche Atmung eingeleitet und das Tier durch intravenöse Injektion euraresiert. Die Curaresierung ist für die Präparation der Sacralnerven deshalb günstig, weil die nunmehr völlig erschlafften Bauchdecken sich nach der Laparotomie weiter auseinander ziehen lassen, als am nicht euraresierten Tier, wodurch das Arbeiten an den Sacralnerven wesentlich erleichtert wird. Das Abdomer wurde von der Symphyse bis zum Sternum eröffnet, jede Blutung gestillt, und die Eingeweide wurden mittelst eines quer über das Tier gespannten Tuches nach oben gedrängt, oder in einen Leinensack gepackt, so dass die hintere Wand des Beckeus freilag.. Die Blase wurde entleert und ebenso wie das Rectum durch Gewichthaken zur Seite gezogen. Um die Sacral- nerven rasch aufzufinden und sie möglichst tief zu durchschneiden, erwies es sich als zweckmässig, durch stumpfe Präparation den M. flexor caudae longus der betreffenden Seite freizulegen, mit einem Pean zu fassen und medianwärts zu ziehen; man sieht dann sofort die lateral von ihm aus der Tiefe emporsteigenden Rami anteriores der Sacralnerven. Diese wurden mit stumpfen Suchern unter sorg- fältiger Schonung ihrer Verbindungszweige in die Tiefe verfolgt und möglichst tief durchschnitten. Mitunter tritt bei dieser Durch- schneidung eine Blutung auf, weshalb es wichtig ist, die Nerven mit je einem Scherenschlag zu durchtrennen, da das ÖOperationsfeld später unter Blut stehen kann. Der periphere Nervenstumpf wurde in die Höhe geklappt, der Spalt lateral vom M. flexor caudae longus »- Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur, IV. 511 eventuell zur Blutstillung tamponiert, und nun erst legten wir eine Ligatur am äussersten Ende des Nervenstumpfes an, um eine Hand- habe bei der Reizung zu haben. Man gewinnt auf diese Weise eine wesentlich längere freie Nervenstrecke, als wenn man den Nerven vor der Durchschneidung ligiert. Diese Reizung der Sacral- nerven im Becken führten wir an 14 Hunden aus. An zwölf von diesen Tieren erzielten wir auch nach der Durechschneidung beider Nn. pudici bei Reizung des ersten oder zweiten Sacralnerven kräftige Kontraktionen des Retractors. In unseren Protokollen finden wir in fünf Fällen die Erfolge der Reizung der einzelnen Sacralnerven notiert ; es führte der erste Sacralnerv zweimal, der zweite dagegen in allen fünf Fällen fördernde Fasern für den Retractor. Um voll- kommen sicher zu sein, dass wir bei diesen Versuchen nicht durch Stromschleifen auf andere Nerven (etwa auf die Nn. hypogastrici) getäuscht würden, haben wir nicht mit versenkten Elektroden ge- reizt, sondern stets unter Kontrolle des Auges den in die Höhe ge- hobenen Nerven möglichst nahe seinem Querschnitt über Elektroden gebrückt, die mit der Hand geführt wurden. Hierbei, ebenso wie auch während der Operation selbst, wurde die betreffende Gegend mit einer Stirnlampe beleuchtet; wie auch schon frühere Autoren angaben, ist diese Beleuchtung bei Operationen an den Sacralnerven unentbehrlich. Die Möglichkeit, dass etwa passive Verlagerungen der Urethra (etwa durch Blasenkontraktion) uns eine Kontraktion des Retractors vorgetäuscht hätten, ist durch das regelmässige Auftreten ver- stärkter und meist auch frequenterer Retractoraktionsströme aus- zuschliessen. Die positiv tonotropen Effekte der Pudicus- und der Sacral- nervenreizung nach Pudieusdurchschneidung stimmten bis auf die kleinsten Einzelheiten überein, so dass wir sie im folgenden auch gemeinsam besprechen wollen. Unser Ergebnis zeigt, dass der Verlauf der Nerven für die äusseren Geschlechtsorgane beim Hunde von dem bei der Katze und ‘dem Kaninchen etwas abweicht. Bei diesen beiden Tieren verlaufen nach Langley und Anderson diese Nervenfasern zum aller- grössten Teile durch die Nn. pudiei und. die Nn. hypogastrici, während sich in den sacralen Nerven des Hundes fast immer noch sympathische Fasern nachweisen lassen, die auf irgendeinem anderen Wege zum M. retractor penis gelangen. Den weiteren Verlauf dieser 512 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: Fasern haben wir — da dies ausserhalb des Planes unserer Unter- suchung lag — nicht verfolgt. Zwei von den genannten 14 Fällen bildeten insofern Ausnahmen, als wir bei ihnen von den Sacralnerven aus auch eine Hemmung des Retraetortonus erzielen konnten. Bei einem dieser Hunde be- wirkte die Reizung des zweiten Secralnerven zu Anfang des Ver- suches eine Kontraktion des Retractors, die aber später nicht mehr auszulösen war, während der Muskel bei der Reizung des ersten Saeralnerven ausnahmslos erschlaffte.e Bei dem zweiten Hunde sahen wir den Retractor bei Reizung des zweiten Sacralnerven erschlaffen. Offenbar führten in diesen beiden Fällen diese Nerven zufällig keine fördernden sympathischen Fasern, so dass bei ihrer Reizung der Effekt der sacral autonomen Fasern rein zum Vorschein kam, während sonst die Wirkung der fördernden Fasern über die der hemmenden überwog, was ja bei derart gemischten Nerven die Resel ist. Eine andere Möglichkeit, an die wir in diesem Falle dachten, war die, dass es sich bei dieser Erschlaffung des Muskels gar nicht um eine „echte“ Hemmung handelte, sondern dass hierbei durch gleichzeitige Erregung zweier motorisch wirkender Nerven scheinbar Hemmungserscheinungen auftraten, ;wie sie bei anderen Muskeln mehrfach beschrieben wurden. Wir stellten deshalb eine Reihe von Versuchen an, bei denen wir gleichzeitig oder rasch hintereinander einen (durchschnittenen) N. pudieus und einen motorisch wirksamen Sacralnerven reizten, um festzustellen, ob bei solehen Doppelreizungen je ein Hemmungs- effekt eintritt. Es schien uns diese Möglichkeit deshalb nicht a priori ausgeschlossen zu sein, weil Langley und Anderson angaben, dass sie die hemmende Wirkung der Pelvieusreizung be- sonders dann erkennen konnten, wenn der Muskel durch eine un- mittelbar vorangegangene Pudieusreizung stark tonisch kontrahiert war. Auch A. Fröhlich und ©. Loewi konnten bei normalem Tonus an diesem Muskel nur einen ganz geringfügieen Effekt der Pelvieusreizung beobachten, und auch sie wandten deshalb zur Fest- stellung der Erregbarkeit des N. pelvieus die kombinierte Pudicus- Pelvieusreizung an. Sie schreiben!): „Reizt man den N. pudicus allein, so verkürzt sich momentan der Retractor, um dann langsam wieder sich zu entspannen; hierbei erreicht er aber nicht wieder 1) A. Fröhlich und ©. Loewi, 1. .e. S. 33—A0. Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 513 «lie frühere Länge, sondern es bleibt regelmässig ein Verkürzungs- rückstand. Reizt man dagegen Pudieus und Pelvieus gleichzeitig, so ändert sich die Erscheinung folgendermaassen: 1. ist die Kon- traktion geringfügiger als früher, 2. fällt die Erschlaffungskurve steiler ab, 3. bleibt nicht nur kein Verkürzungsrückstand, sondern die Kurve sinkt unter den Fusspunkt vor der Reizung.“ Alle diese Beobachtungen drängten dazu, zunächst einmal die Frage zu entscheiden, ob diese Hemmungseffekte etwa mit jenen peripheren Hemmungen in Analogie zu setzen wären, die zuerst von Schiff und später noch von einer grossen Reihe von Beobachtern festgestellt wurden, und die nach der Auffassung F. B. Hofmann’s auf eine Ermüdung bzw. auf eine Verringerung des Restitutions- vermögens des Nervenendorgans zurückzuführen sind. Wenn wir uns vorstellten, dass im M. retraetor der N. pudicus und jene anderen in den Sacralnerven verlaufenden fördernden Fasern an einem ge- meinsamen Endorgane angriffen, etwa an dem tiefen, jede einzelne Muskelfaser umspinnenden Nervennetze Fletscher’s, so könnte eine als Hemmung imponierende Ermüdung dieses Organes bei Reizung beider Förderungsnerven als Folge einer abnorm hohen Frequenz der Erregungswellen im Endorgan gedeutet werden. Von dieser Idee ausgehend, stellten wir unsere Versuche so an, dass wir durch Pudieusreizung!) oder durch Abkühlung des Muskels den Tonus möglichst steigerten und dann die Reizung eines, vorher motorisch wirksam befundenen Sacralnerven ausführten. Alle diese Versuche, bei denen wir zum Teil neben der In- spektion des Muskels und der Verzeichnung seiner Aktionsströme ihn auch seine Längenkurve schreiben liessen, ergaben ein völlig negatives Resultat. Obwohl wir die Sacralnerven bei den ver- schiedensten Reizstärken faradisch oder mit mehr oder minder fre- quenten Einzelinduktionsschlägen reizten, konnten wir bei Reizung eines Nerven, der einmal eine motorische Wirkung gezeigt hatte, nie eine Tonus-hemmende, fast stets aber eine fördernde Wirkung 1) Bei diesen Versuchen wurde das eine Hinterbein des Tieres im Hüft- gelenk stark flektiert, und das Becken auf dieser Seite durch ein Polster oder ähnliches unterstützt, damit die in einem Stativ fixierten Reizelektroden an den N. pudicus dieser Seite angelegt werden konnten, ohne dass sie das umgebende Gewebe an irgendeiner anderen Stelle berührten; das andere Bein verblieb in gestreckter Stellung, so dass auch die sacralen Nerven von der Laparotomie- wunde aus zugänglich waren. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 33 514 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: beobachten. Auch das von A. Fröhlich und OÖ. Loewi beschriebene Phänomen liess sich auf diese Weise nicht bestätigen: Reizung eines Sacralnerven während oder unmittelbar nach einer Pudicusreizung ergab fast immer eine verstärkte tonische Kontraktion bzw. eine Verzögerung der Erschlaffung des Muskels, nie ein beschleunigtes Absinken. Es &eht aus diesen Beobachtungen hervor, dass eine scheinbare Hemmung bei Reizung zweier motorischer Nerven am M. retractor penis nicht eintritt, so dass wir annehmen müssen, dass die hemmende Wirkung der sacral-autonomen Fasern auf einer spezifischen Eigen- tümlichkeit des in diesem Nerven zum Muskel fortgeleiteten Er- regungsprozesses beruht, wenn wir einen Vorgang, der indirekt die Hemmung einer Muskelkontraktion auslöst, ganz allgemein auch als „Erregung“ bezeichnen wollen. Es kann sich also auch in jenen beiden Fällen, in denen wir bei Reizung eines sacralen Ramus anterior den Retractor penis erschlaffen sahen, nicht um eine schein- bare Hemmung gehandelt haben, wofür schon die Tatsache sprach, dass wir von dem betreffenden Nerven aus niemals Tonussteigerung, sondern immer nur eine Hemmung des Tonus erzielten. Die mecha- nische Reizung des N. pudicus bei der Durchschneidung liess sich, wie gezeigt wurde, am Elektrogsramm des Retractors deutlich er- kennen; überhaupt scheint die mechanische Erregbarkeit der fördern- den Nerven dieses Muskels auffallend hoch zu sein, denn wir sahen wiederholt, dass schon ein leises Zerren an dem ligierten peripheren Nervenstumpf eine Erregung des Retractors bewirkte, ja mitunter genüste hierzu die blosse Berührung des Nerven mit einem Sucher oder das Auflegen auf die Elektroden, also mechanische Reize, durch die z. B. der Froschischiadieus an einer querschnittlosen Stelle kaum je erregt werden könnte. Viel besser als bei mechanischer Reizung lässt sich die Wirkung des N. pudieus auf die Retraetoraktionsströme bei elektrischer Reizung studieren. An allen 22 daraufhin untersuchten Hunden erwies sich der N. pudieus als echter Förderungsnerv für den M. retractor, und zwar ruft jede wirksame Pudieusreizung, wenn wir vom mechanischen Effekte absehen, nach einem gewissen Stadium der Latenz zuerst eine meist auffallend grosse und steile Schwankung im Sinne einer Negativität der oberen Ableitungsstelle hervor. Weiterhin ist aber das Verhalten der Retractorströme in den einzelnen Fällen ganz verschieden. Ebenso wie regelmässige spontane Aktionsstrom- Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 515 wellen nur in Ausnahmefällen zu beobachten sind, treten aueh während einer Reizung des N. pudieus nur sehr selten regelmässig wieder- kehrende Stromschwankungen auf. Fin solcher Fall ist in Fig. 3 auf Tafel XV wiedergegeben. Kurz vor der Reizung traten zwei grössere Wellen auf, deren Intervall etwa 10 Sekunden entspricht, dann folgt eine rudimentäre Welle, und nun beginnt der Reizeffekt . mit einer ausserordentlich kräftigen Schwankung in der Richtung zu den Jaquetmarken, der in Intervallen von etwa je 3 Sekunden eine ganze Reihe weiterer Schwankungen folgt. Die kurze Unterbrechung der ersten Reizung, die den Moment einer Temperaturablesung (24,0 ) markieren sollte, scheint sieh durch eine vorübergehende Verkleine- rung der Wellen bemerkbar zu machen, das neuerliche Einsetzen der Reizung durch das Auftreten relativ grösserer Wellen. Nach der Beendigung dieser ersten Reizung führt die Saite einige regel- lose träge Schwankungen aus, und erst während der neuen Reizung treten wieder kräftige und frequente Aktionsströme auf, die dann wenige Sekunden nach dem Ende dieser Reizung vollkommen er- löschen. i Sehr deutlich ist in diesem Falle eine auch sonst bei diesen Versuchen oft zu beobachtende Dauerablenkung der Saite während und nach der Reizung zu erkennen, die im Sinne einer Negativität der Muskelmitte gegenüber dem präputialen Muskelende verläuft. Die wahrscheinlichste Deutung dieser Dauernegativität ist wohl die, dass die einzelnen Erregungswellen infolge der Fortpflanzung mit einem Dekrement an der ersten Ableitungsstelle (Muskelmitte) kräftiger sind als an der zweiten, und dass deshalb die ersten Phasen der einzelnen Aktionsströome in ihrer Wirkung auf die Galvanometersaite über die zweiten Phasen überwiegen. Wir sehen also eine ausgesprochen positiv inotrope und positiv chronotrope Wirkung der Pudieusreizung auf die tonischen Erregungswellen im M. retractor. Stromschwankungen von so relativ regelmässigem Rhythmus wie in dem eben besprochenen Falle sieht man aber, wie erwähnt wurde, sehr selten; meist folgt, speziell bei starker Reizung, der ersten steilen Schwankung eine Reihe auffallend unregelmässiger Wellen. Sogar in jenen Fällen, in denen die spontanen Frresungswellen sich in ziemlichen gleichmässigen Intervallen folgen, bewirkt eine Pudieus- reizung meist regellose Saitenbewegungen, die wohl dadurch zu er- klären sein wird, dass die beiden Hälften des Muskels oder auch 99 Dorn 516 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: einzelne Faserbündel den Reiz in verschiedener Weise, speziell mit Erreguneswellen in verschiedenem Rhythmus beantworten. Fig. 2 gibt ein Beispiel dafür, wie durch die Pudicusreizung relativ regel- mässige Aktionsströme eines Retraktors in „Unordnung geraten“ können. Zur Reizung des Nerven dienten in diesem Falle einzelne ziemlich rasch aufeinanderfolgende Schliessungs- und Öffnungs- induktionsschläge (vgl. die Marken des in den primären Kreis ge- schalteten Reizsignales). In wenigen Ausnahmefällen haben wir aber auch gesehen, dass sehr unregelmässig verlaufende Aktionsströme eines spontan tätigen Muskels während und einige Zeit nach der Nervenreizung regelmässiger werden können. Die meist zu beobachtende Regellosigkeit der auf Pudicusreizung hin auftretenden Aktionsstromwellen könnte im Verein mit der aus- . { IBEREHB! jEBENERUNNERENNNRERRHDRBERRNNULGLRHBEHHHRN ERETE Fig 2° (Zeitmarken — Sek.) gesprochen positiv inotropen Wirkung dieses Nerven unter Umständen einen positiv chronotropen Effekt vortäuschen, und in der Tat lässt es sich nur in wenigen Fällen entscheiden, ob die Frequenzzunahme derart unregelmässiger Zacken im Retraktorelektrogramm während der Pudieusreizung auf die interferierende Tätigkeit mehrerer abnorm stark erregter Muskelpartien zurückzuführen ist oder auf eine Frequenzerhöhung der den gesamten Muskel passierenden Er- regungswellen. In dem besprochenen Falle (Fig. 3 auf Tafel XV) glauben wir aber doch mit Sicherheit die zuletzt genannte Möglich- keit annehmen zu dürfen; denn wenn es sich hier um die Summe interferierender Wellen von verschiedenem Rhythmus handelte, wäre es unverständlich, warum sich die einzelnen Wellen des Elektro- grammes mit annähernd gleicher Stärke und in genau gleichen Ab- ständen folgten. Was das Stadium der Latenz betrifft, das zwischen dem Beginn einer tetanischen Nervenreizung und dem Einsetzen der ersten ver- Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 517 stärkten Aktionsstromschwankung liegt, so ist seine Dauer ganz ver- schieden je nach der Stärke der Reize. Bei je kleinerem Rollen- abstande wir einen Nerven reizten, desto kürzer wurde ceteris paribus die Latenzzeit. So beobachteten wir z. B. in vier aufeinander- folgenden Reizversuchen bei den Rollenabständen von 150, 180, 200 und 180 mm Latenzzeiten von 0,7, 1,2, 3,0 und 1,0 Sekunden; in einem anderen Falle bei Rollenabständen von 140, 180, 250 und 280 mm Latenzzeiten von 0,4, 0,4, 1,0 und 2—3 Sekunden. Die Zehntelsekunden sind in diesen Versuchen geschätzt (Geschwindigkeit der Schreibfläche 3 mm in der Sekunde). Die Unterschiede sind aber so schlagend, dass sie nicht angezweifelt werden können. Ein ähnliches Verhalten wurde schon von Sertoli!) bei direkter Reizung des M. retractor mit Induktionsschlägen von verschiedener Frequenz beobachtet; er gibt an, dass die Latenzzeit der Muskel- kontraktion mit zunehmender Reizfrequenz sinkt. So beobachtete er in einem Falle bei Tetanisierung des Muskels mit dem Waener’schen Hammer Latenzen von 0,8 bis 0,9 Sek., dagegen bei Reizungen mit 20, 50 und 70 Einzelreizen in der Minute Latenzen von 4,5, 3,5 und 3,2 Sek. | Alle diese Erscheinungen sind auf die am Retractor penis zu- erst von de Zilwa?) erkannte Summierung an und für sich unter- schwelliger Reize zurückzuführen. Diese „addition latente“ lässt sich auch an den Aktionsströmen des Retraktors sehr gut de- monstrieren, wie z.B. Fig. 4 auf Tafel XV zeigt. Der Muskel war in diesem Falle auf über 25° C. erwärmt worden, so dass seine spontanen Erregungswellen erloschen waren. Die ersten vier Schliessungs- und Öffnungsreize auf den N. pudieus erfolgten bei einem Rollenabstand von 10 cm, und wir sehen, dass in diesem Falle erst nach etwa 3 Sek. (nach dem siebenten Reiz) eine Reaktion des Muskels eintrat, und zwar in Form einiger wenig regelmässiger Aktionsströme, deren geringe Wiedererhebung über die Nullinie im Sinne einer zweiten Phase uns dafür zu sprechen scheint, dass die Erregung in diesen Fällen so gut wie vollständig zwischen den Elektroden erlosch. Nach einer Ruhepause wurde neuerdings mit 1) E. Sertoli, Contributions a la physiologie generale des muscles lisses. Arch. ital. de Biol. t.3 p. 78 (p. 88). 1883. 2)L. A. E. de Zilwa, Some contributions to the physiology of unstriated muscle. Journ. of physiol. vol. 27 p. 200 (p. 216). 1901. 518 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: (je sieben) Schliessungs- und Öffnungsschlägen bei gleichem Rollen- abstande gereizt. Der Erfolg der Reizung trat diesmal erst nach noch längerer Zeit ein, nämlich nach 14 Sek. (bzw. nach dem zwölften Reiz), und besteht aus einer einzelnen FErregungswelle, die, nach der Schwäche der zweiten Phase zu urteilen, sich mit einem Dekrement fortgepflanzt haben dürfte. Während der nun folgenden Ruhepause wurde die Saite durch eine Störung für einige Sekunden aus der Ruhelage abgelenkt, worauf der Nerv mit einem einmaligen Schliessungs- und Öffnungsschlag bei einem Rollenabstand von 8 cm gereizt wurde. In diesem Falle genügte schon der kräftige Schliessungsinduktionsschlag, um nach einer Latenz, die kleiner ist als eine Sekunde, zwei äusserst kräftige Erregungswellen auszulösen, denen dann unregelmässige Stromschwankungen folgten. Bei dieser Deutung der eben besprochenen Kurven als ein- bzw. zweiphasische Aktionsströme muss aber immer noch an die Möglich- keit gedacht werden, dass wir es hier mit einem Muskel zu tun haben, dessen Aktionsströme positive Nachschwankungen zeigen könnten. Es ist uns zwar sehr unwahrscheinlich, dass die Er- hebungen der Kurve über die — allerdings nicht ganz konstante — Abszisse ausschliesslich auf solche hypothetische positive Nach- schwankungen zu beziehen wären, aber die auffallende Höhe der zweiten Phase bei den letzten der hier wiedergegebenen Schwankungen könnte immerhin, wie dies der eine von uns schon bei einer früheren Gelegenheit erörterte, durch die Annahme einer positiven Nachschwankung zu erklären sein. Die Tatsache, dass auch die Aktionsströme eines Muskels die Fähigkeit der addition latente besitzen, scheint uns an und für sich bemerkenswert. Bekanntlich haben sich in den letzten Jahren verschiedene Forscher auf den Standpunkt gestellt, dass die dem Aktionsstrome zugrunde liegende chemische Veränderung im Muskel nicht mit jener Reaktion identisch sei, die mit einer Verkürzung, d. h. der Kontraktion des Muskels einhergeht. Nun hätte man ja von diesem Standpunkte aus vermuten können, dass jene sich in ihrem Reizwert summierenden unterschwelligen Reize zwar die elektromotorisch wirksame Reaktion in der Muskelfaser auslösen, dass aber die motorische Reaktion erst nach einer gewissen Anzahl derartiger Erregungen ausgelöst würde. Dagegen zeigt unser Be- fund, dass die Summierung schwacher Erregungen zu einem für die Muskelfaser wirksamen Reiz sich nicht in dieser hypothetischen Teil- Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 519 reaktion der Muskelfaser abspielt, sondern dass die Summierung an einer anderen Stelle im Verlaufe dieses Nervmuskelpräparates er- folgen muss. An eine Mitwirkung von Ganglienzellen können wir nicht denken, da ja die Nn. pudiei nur postganglionäre Fasern führen; demnach hätten wir wohl als wahrscheinlichen Ort der Reiz- summation das nervöse intramuskuläre Netz anzunehmen. Die Kurven der Fig. 4 auf Tafel XV geben gleichzeitig ein Bei- spiel für die von uns oftmals beobachtete Tatsache, dass ein Re- traktor, der aus irgendwelchen Gründen tonusfrei ist, also keine spontanen Aktionsströme zeigt, durch Reizung seiner fördernden Nerven zu spontaner, mitunter streng rhythmischer Tätigkeit ge- bracht werden kann, ohne dass aber seine Rhythmik etwa der der Reize entspräche. Besonders schön zeigt dies, Verhalten die in Fig. 5 auf Tafel XV wiedergegebene Kurve. In diesem Falle wurde nicht ein N. pudieus gereizt, sondern die Kurve stammt von einem jener Versuche, bei denen beide Nn. pudiei durchschnitten waren und dann die fördernde Wirkung der Reizung der Rami anteriores der Sakralnerven studiert wurde. Der betreffende Muskel zeigte keine spontanen Wellen. Die Reizung des Sakralnerven erfolete mit einzelnen Schliessungs- und Öffnungsinduktionsschlägen, die durch ein in den primären Kreis aufgenommenes Sienal auf der Kurve markiert wurden {R.-A. = 150 mm 1 Akk. im primären Kreis). Der erste Doppel- reiz (Schliessung und Öffaung) rief eine einzige Erregungswelle her- vor, die sich in einem zweiphasischen Aktionsstrome äusserte. Die vier nächsten Doppelreize blieben unwirksam, die folgende Gruppe von fünf Doppelreizen bewirkte aber das Auftreten von sieben, in auffallend regelmässigen Intervallen einander folgenden Erregungs- wellen. Die zeitlichen Abstände der Gipfel der nach abwärts ge- richteten Kurven entsprechen 6,0, 5,2, 5,0, 4,8, 4,6 und 4,9 Sek., woraus sich eine mittlere Frequenz von zwölf Erregungswellen in der Minute ergibt. Die Latenz der ersten Stromschwankung beträgt, von dem ersten Reize an gemessen, nur einen kleinen Bruchteil einer Sekunde; bei der nächstfolgenden Reizung mit neun Doppel- reizen beträgt dagegen die Latenz 3 Sek., und dann tritt abermals eine, allerdings kürzere Reihe rhythmischer Erregungswellen von ähnlicher Frequenz auf. Ein Beispiel für die Wirkung einer analogen Sakralnervenreizung auf einen tonisch tätigen Retraktor zeigt die Kurve der Textfig. 3, sie stammt von einem Muskel, der von An- 520 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: fang an sehr unregelmässige Aktionsstromwellen zeigte; beide Nn. pudiei waren durchschnitten, bei a wurde ein Sakralnerv (5, oder &,) 6 Sek. lang faradisch gereizt, worauf eine Reihe kräftiger, etwas Fig. 3. (Zeitmarken —= Sek.) N re EN Fig. 4. (Zeitmarken — Sek.) reselmässigerer Wellen auftritt. Der erste Ausschlag der Saite ist gegen die Marken des Jaquet zu gerichtet, entspricht also wieder einer Negativität des perinealen Muskelendes, wie dies. auch bei Reizung des N. pudieus stets der Fall war. Die verstärkte „tonische“ Frregung überdauert den Reiz etwa um eine halbe Minute. Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 521 Ein charakteristisches Bild von der mechanischen Reaktion des Muskels auf die Reizung seiner Förderungsnerven gibt die Kurve der Fig. 4. Sie zeigt einen Tetanus, der durch eine 22 Sek. lange faradische Reizung des rechten Pudieus hervorgerufen wurde. Die direkte Belastung des Muskels betrug 6 g, die Vergrösserung durch den Schreibhebel war 7,3fach, bei der Reproduktion wurde die Kurve auf zwei Drittel der natürlichen Grösse verkleinert. Nach dem Schluss der Reizung sehen wir eine langandauernde tonische Verkürzung des Muskels fortbestehen, während derer aber der Tonus keineswegs kontinuierlich abnimmt, sondern auch wieder vorüber- gehende Steigerungen aufweist. Aus der hier beschriebenen Wirkung der Pudicus- und Sakralnervenreizung auf das Verhalten der rhyth- mischen Erregungswellen ergibt sieh die Tatsache, dass diese autonomen Förderungsnerven ihren Muskel in ganz analoger Weise beeinflusst, wie die Nn. accelerantes den Herzmuskel: ihre Reizung hat bei einem spontan tätigen Muskel positivino- undchrono- trope Wirkungen auf die rhythmischen FErregungs- wellen und ruft am ruhenden Muskel diese Erregungs- wellen ebenso hervor, wie nach deu Beobachtungen H. E. Hering’s!) das stillstehende Säugetierherz durch Acceleransreizung zum automatischen Schlagen ge- bracht werden kann. Da es uns nur ausnahmsweise gelungen war, durch Reizung der Sakralnerven von der Bauchhöhle her eine Hemmung des Re- traktortonus zu erzielen, mussten wir die Reizung dieser sakral- autonomen Hemmungsnerven in den betreffenden Rückenmarkswurzeln, also im Wirbelkanal, vornehmen. Wir führten diese Versuche an zehn Hunden aus. Die Operation verlief hierbei ic folgender Weise: In Morphium-Chloroformnarkose wurde erst der M. retraetor in der üblichen Weise freigelegt, dann das Tier in Bauchlage gebracht, die Rückenhaut median und die Rückenfascie beiderseits von den Pro- cessus spinosi der letzten Lendenwirbel und des Kreuzbeins gespalten und nun möglichst rasch in grossen Zügen die Rückenmuskulatur in diesem Bereich bis zur Schwanzwurzel hin abpräpariert. Nach 1) H. E. Hering, Acceleransreizung kann das schlaglose Säugetierherz zum automatischen Schlagen bringen. Pflüger’s Arch. Bd. 115 S. 354. 522 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: Unterbindung einiger kleiner Muskelarterien und kurzer Tamponade steht die Blutung in dieser Wundhöhle. und es gelingt unschwer, mittelst Knochenzangen den Wirbelkanal breit zu eröffnen und die Dorsalseite des Rückenmarks vollkommen frei zu legen. Die Höhe, in der die einzelnen Sakralnerven aus dem die Cauda equina um- schliessenden Durasack austreten, wechselt je nach der Rasse der untersuchten Hunde, so dass es schwer fällt, mit Sicherheit schon im Wirbelkanal die präparierten Wurzeln richtig zu numerieren; wir verfuhren deshalb stets so, dass wir bei der Operation die einzelnen Wurzeln aus dem in Betracht kommenden Gebiete mit markierten Fäden ligierten und nach Schluss des Versuches durch Sektion die richtige Numerierung der Nerven feststellten; am einfachsten ge- schieht dies in der Weise, dass vom Becken aus jeder einzelne periphere Nervenstumpf mittelst einer Pinzette aus seinem Foramen sacrale ausgezogen wird, und man feststellt, mit welchem Faden er ligiert war. Waren die Wurzeln ligiert, durehschnitten und von dem ihnen anhaftenden Fettgewebe zur Reizung genügend befreit worden, so wurde das Tier in Seitenlage gebracht, künstlich ventiliert und curaresiert. Das eine Hinterbein des Hundes wurde mittelst eines Statives senkrecht emporgehalten, die beiden Hälften des median gespaltenen Skrotums durch Gewichthacken auseinandergezerrt, der M. retractor mit dem Schreibhebel verbunden und ausserdem mit den Elektroden- wollfäden umschlungen, die zur Ableitung zum Saitengalvanometer dienten. Von den zehn Versuchshunden starb einer unmittelbar nach der Öuraresierung; an diesem Tiere konnten wir von keinem der Sakralnerven her eine Tonushemmung erzielen, und zwar erklärt sich dies offenbar aus der relativ frühzeitigen Erstickung der peri- pheren Ganglien, denn der Nervus pudieus (postganglionär) bewirkte ‘5 Minuten nach dem Tode des Tieres noch eine prompte Tonus- steigerung des Retraktors. In einem anderen Versuche beobachteten wir, dass sechs Minuten nach der Erstickung des Tieres die Reizung der ersten sakralen Wurzel noch hemmend wirkte, nach zehn Minuten aber die Reizung — offenbar eleichfalls wegen der Erstieckung der eingeschalteten peripheren Ganglienzellen — unwirksam war. Bei einem zweiten Hunde hatten wir aus Versehen das erste sakrale Wurzelpaar nicht gereizt und erhielten bei Reizung der Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 523 anderen sakralen Wurzeln und der ersten coceygealen Wurzel keine Hemmung. Der dritte Hund, bei dem es uns nieht gelang, den Retraktortonus von den sakralen Wurzeln aus zu hemmen, war ein sanz junges, noch nicht geschlechtsreifes Tier, dessen Retraktor ausserordentlich zart war und während des Versuches einen sehr seringen Tonus besass. Bei den sieben übrigen Hunden beobachteten wir regelmässig eine sehr deutliche Abnahme des Retraktortonus, und zwar wirkten die ersten drei sakralen Wurzeln in drei Fällen, die zweiten in sechs Fällen, die dritten in zwei Fällen und in einem Falle auch noch die erste coceygeale Wurzel hemmend. Dieser zu- letztgenannte Fall erklärt sich wohl dadurch, dass regelmässig eine Verbindung des ersten Coceygealnerven mit dem letzten Sakralnerven besteht!), durch die in diesem Falle auch einige Hemmungsfasern verliefen. Die nebenstehende Tabelle gibt eine Übersicht über die Ver- teilung der Hemmungsnerven auf die einzelnen sakralen Wurzeln, wie wir sie bei unseren Versuchen beobachteten. Energische Hemmung ist mit A, schwache mit Ah bezeichnet; in jenen Fällen, in denen wir nur den Nerven der rechten Seite ausprobierten, ist dies durch ein eingeklammertes r angezeigt. PaellerT. ee ss arıq,,,:;e TH Verteilung der Hemmungsfasern auf die einzelnen Nummer Rückenmarkswurzeln (7 = energische Hemmung, des h = schwache Hemmung) Versuchshundes S, Sa Sa Cocc, XXXVI — h h h (vr) XXXVII H h — XXXIX — Jul — —_ XL?) — h h. (7)? —_ XLI H — — — XLIV h h — e- XLV H Tal | — —_ Der mechanische Fffekt der Hemmung äusserte sich bei den einzelnen Versuchstieren in verschiedener Weise: In manchen Fällen begann der Muskel’ sich nach einer Latenz von wenigen 1) Ellenberger und Baum, Anatomie des Hundes S. 563. 1891. 2) Hemmung nur angedeutet; der Retraktor dieses alten und sehr fetten Hundes besass minimalen Tonus. 5234 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: Sekunden plötzlich beträchtlich zu verlängern, so dass die in solchen Fällen geschriebenen Längenkurven etwa wie das Spiegelbild einer enereischen Tonussteigerung aussehen. Ein Beispiel hierfür bietet die Kurve der Textfig. 5. Die feinen superponierten Zacken rühren von kleinen Verschiebungen des Tieres durch die künstliche Respiration her. Wir wollten diese Kurve trotz der Verunzierung durch diese Kräuselung reproduzieren, weil sie in sehr charakteristischer Weise den spontanen Wiederanstieg des Tonus auf seine ursprüngliche Höhe zeigt. Dieser Wiederanstieg verläuft nie glatt, sondern zeigt stets mehr oder minder ausgeprägte Stufen oder Wellen; beobachtet man gleichzeitig die Aktionsströme des Muskels, so erkennt man, dass Ne N Fig. 5. Zeitmarken = Sek. jeder einzelnen Stufe im Anstieg auch je eine, meist sehr kräftige Erregungswelle entspricht. In der Regel dauert der Wiederanstieg allerdings etwas länger als in dem hier wiedergegebenen Falle; aber nur ganz selten sahen wir, dass der Tonus nach einer Reizung der sakralen Wurzeln während mehrerer Minuten auf dem Minimum stehen blieb. Derart steile Tonussenkungen, deren Kurven nach unten konvex verlaufen, sind in der voranstehenden Tabelle mit H bezeichnet. Bei manchen Nerven genügten äusserst schwache Reize um diese Form der Hemmung zu erzielen, so sahen wir sie einmal schon: bei Reizung mit einem RA von 400 mm eintreten (1 Akk. und zwei Signale im I. Kreis). In anderen Fällen konnten wir selbst bei stärkster Nervenreizung nie eine solche komplette Hemmung, sondern immer nur eine relativ Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 5925 geringfügige Tonussenkung erzielen. Ein Beispiel einer solchen gibt die Kurve der Textfig. 6, die gleichzeitig zeigt, wie deutlich sich mitunter die einzelnen Erregungswellen (festgestellt am Elektro- sramm) in Form isolierter kurzer Tonussteigerungen zu erkennen geben). Die Kurven der beiden zuletzt besprochenen Figuren sind bei einer achtfachen Hebelvergrösserung und einer direkten Be- lastung des Muskels mit 7 g geschrieben. In der Reproduktion sind sie auf die Hälfte der natürlichen Grösse verkleinert worden. Nach der weitgehenden Übereinstimmung, die sich zwischen der Wirkung der tonusfördernden Nerven auf die rhythmischen Erregungswellen im M. retractor und der Wirkung des Accelerans auf den Herzschlag ergeben hatte, war von vornherein zu erwarten, dass die hemmenden Nerven des Retraktors in ihrer Wirkungsweise Be A Fig. 6. (Zeitmarken = Sek.) eine Verwandtschaft mit den herzhemmenden Vagusfasern erkennen lassen würden. Diese Erwartung hat sich auch vollkommen be- stätigt. Wir sahen in drei von sieben Fällen, in denen wir eine Hemmung des Muskeltonus durch Reizung der sakralen Wurzeln erzielten, ein vollkommenes Erlöschen der Erregungsweilen, was sich durch den Stillstand der Galvanometersaite zu erkennen gab. Als Beispiel eines solchen Falles diene die Kurve der Fig. 1 auf Taf. XVI. Der Muskel zeigte in diesem Falle unregelmässige Aktionsströme; 1) Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die von einem von uns (Brücke) ausgesprochene Vermutung, dass der M. retractor penis mitunter spontan mehr oder minder rhythmische Tetani ausführe, sich bestätigt, hat (vgl. Beitrag 1. Pflüger’s Arch. Bd. 133 S. 337. 1910). Wir beobachteten solche Tetani zu- fällig bei einem Hunde in Form tonischer Kontraktionen, die steil anstiegen, dabei mehrere, kleinere, den einzelnen Erregungswellen entsprechende, super- ponierte Erhebungen zeigten und dann wieder spontan abfielen. Die Intervalle zwischen den einzelnen Tetanis betrugen 160, 128, 85, 70, 77, 83 und 85 Sek. 526 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: während der Reizung der rechten zweiten sakralen Wurzel nimmt die Amplitude der Saitenausschläge immer mehr ab, aber erst nach Schluss der Reizung (etwa eine halbe Minute nach ihrem Beeinn) tritt der vollkommene Stillstand ein. Dieser Stillstand dauert. gleich- falls etwa eine; halbe Minute, und dann treten wieder spontane Erregungswellen auf. Die Ableitungselektroden waren in diesem Falle ausnahmsweise (ebenso wie bei Fig.3 dieser Tafel) so angelegt, dass ein Ausschlag der Saite vom Jaquet weg einer Negativität der dammwärts gelegenen Elektrode entsprach (erste Phase bei normalem FErregungsablaut). Vor dem ersten grösseren Ausschlage in dieser Richtung bei der Wiederkehr des Tonus sehen wir bei a eine kurze „positive Vorschwankung“, die speziell an den Kurven dieses Hundes sehr häufig auftrat, während wir sonst nie etwas Derartiges be- obachteten. In dem eben besprochenen Falle bleibt die Saite während ihres Stillstandes ungefähr in der gleichen Lage, um die sie während der tonischen Tätigkeit des Muskels oszillierte. Dies ist nicht immer der Fall, denn wir beobachteten wiederholt, dass die Galvanometer- saite während eines Stillstandes infolge einer vollständigen Hemmung eine beträchtliche Ablenkung in dem Sinne erfuhr, dass die damm- wärts gelegene Elektrode relativ zur präputial gelegenen positiv wurde; die Richtung dieser Ablenkung war also jener der ersten Phase des normalen Retraktoraktionsstromes entgegengesetzt. Dies Verhalten steht offenbar in enger Beziehung zu der im vorangehenden beschriebenen Erscheinung, dass während einer Pudicusreizung oft eine Dauerablenkung der Saite im Sinne einer Negativität der perinealen Elektrode auftritt. Es scheint, speziell: bei sehr starker tonischer Tätigkeit des Muskels, dauernd eine ge- wisse Negativität der Muskelmitte gegenüber einer weiter präputial- wärts gelegenen Muskelstelle zu bestehen, die bei einer energischen Hemmung des Muskeltonus zurückgeht. Diese Erklärung für die von uns beobachtete „positive Schwankung“ würde prinzipiell mit jener übereinstimmen, die Wedensky!) und Boruttau?) für die von Wedensky!) und Gaskell beobachtete und von Boruttau bestätigte positive Schwaukung des Demarkationsstromes des still- gelegten Schildkrötenvorhofes während der Vagusreizung gab. 1) N. E. Wedensky, Die Erregung, Hemmung und Narkose S. 146 f. An- merkung. Bonn 1904. 2) H. Boruttau, Über die elektrischen Erscheinungen am Herzen bei der Vagusreizung. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 19 S. 301. 1905. Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 527 Ein Beispiel eines solchen Falles gibt die Kurve der Fig. 2 auf Tafel XVI. Der betreffende Muskel zeigte vor der Reizung auch ziemlich unregelmässige Aktionsströme; die Ausschläge zum Jaquet entsprechen einer Negativität der perinealen Elektrode (erste Phase). Während der Reizung sistieren die Erregungswellen, und die Saite wandert in der Richtung von den Jaquetmarken weg, also im Sinne einer Negativitätsabnahme der Muskelmitte relativ zum freien Muskel- ende. Die Nachwirkung der Reizung dauert 27 Sekunden, dann treten wieder kräftige Stromschwankungen auf, und die Saite kehrt wieder in ihre Anfangslage vor der Reizung zurück. Wir sehen in diesem Falle die Aktionsströme nach Ablauf der hemmenden Wirkung mit voller Stärke einsetzen, und nicht etwa eine Trepperbildung; eine solche ist zwar an einzelnen unserer Kurven angedeutet, in der Regel sind aber die ersten Aktionsströome nach dem Ablauf der Hemmung ganz besonders kräftig, ja es kam sogar wiederholt im Verlaufe einer länger dauernden Reizung der sakralen Wurzeln vor, dass noch während der Reizung vereinzelte ganz besonders enereische Erregungswellen auftraten. Eine ausgesprochen negativ chronotrope Wirkung der Reizung eines Hemmungsnerven auf die einzelnen Erregungswellen eines Retraktors zeigt die Fig. 3 dieser Tafel. Dieser Hund zeigte auf- fallend regelmässige, im wesentlichen zweiphasische Aktionsströme (erste Phase nach oben); das Intervall der zwei letzten vor der Reizung beträgt 10 Sekunden. Während und auch noch einige Zeit nach der 13 Sekunden dauernden Reizung der linken zweiten sakralen Wurzel sistieren diese kräftigen Erregungen, und die Saite führt nur geringfügige, unregelmässige Bewegungen aus; erst 30 Sekunden nach der letzten normalen Schwankung tritt wieder eine solche auf, der nach 18 Sekunden eine zweite und nach weiteren 12 Sekunden eine dritte folgt, die vierte und fünfte folgten nach 6 bzw. 7 Sekunden, dann wurde neuerdings die betreffende sakrale Wurzel gereizt. Wir sehen also, dass in diesem Falle die negativ chronotrope Wirkung die Reizung längere Zeit überdauert. In so reinlicher Weise lässt sich dieser negativ chronotrope Effekt nur selten beobachten, weil — wie schon mehrfach erwähnt wurde — derartig regelmässige Erregungswellen nur in Ausnahme- fällen auftreten. Eine negativ inotrope Wirkung ist in diesem Falle nicht vorhanden, denn die unregelmässigen Saitenbewegungen während der Reizung sind wohl nicht als Ausdruck normaler, aber ab- 598 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: seschwächter Erregungswellen aufzufassen. Es scheint hier eine ganz ähnliche Maskierung des hypodynamen Zustandes durch die Frequenz- abnahme vorzuliegen, wie sie am Herzen von F. B. Hofmann!) studiert wurde. Sehr deutlich ist ein negativ inotroper Effekt an der Kurve der Fig. 4 auf Taf. VXI zu erkennen. In diesem Falle verläuft der Aus- schlag der Saite bei Erregung der dammwärts gelegenen Elektrode zum Jaquet; doch lässt sich aus den ziemlich regellosen Saiten- bewegungen über den Ablauf der Erregung im übrigen Muskel nicht viel entnehmen. Sehr deutlich sehen wir aber, dass während der Reizung diese Ausschläge zusehends kleiner werden, schliesslich ganz aufhören und erst 19 Sekunden nach Schluss der Reizung wieder auftreten °). Auffallend sind an dieser Kurve die beiden mit Kreuzchen be- zeichneten nach aufwärts gerichteten Schwankungen. Wir vermuten, dass sich die Hemmungswirkung in diesem Falle nicht über den ganzen Muskel erstreckte, dass z. B. speziell die der präputialen Ab- leitungselektrode anliegende Muskelpartie nicht wesentlich durch die Nervenreizung gehemmt wurde. Es würden sich die beiden erwähnten Zacken dann entweder als isolierte „zweite Phasen“, d. h. Erregungen an dieser Stelle des Muskels, erklären lassen oder als Ausdruck von Erregungswellen, die sich mit einem Inkrement über den Muskel fortpflanzten und deren „erste Phase“ im Elektrogramm kaum oder gar nicht zum Ausdruck kam. Auch diese Erscheinung findet ihre Analogie in den Elektro- 1) F. B. Hofmann, Über die Änderung des Kontraktionsablaufes am Ventrikel und Vorhof des Froschherzens bei Frequenzänderung und im hypody- namen Zustande. Pflüger’s Arch. Bd. 84 S. 130. . 2) Wir wollen nicht unerwähnt lassen, dass wir vor der Erschlaffung des Muskels bei Reizung der sakralen Wurzeln in einigen, allerdings seltenen Fällen eine ganz schwache Kontraktion eintreten sahen, die den Eindruck eines Anfangs- tetanus erweckte. In diesen Fällen sahen wir auch eine anfängliche Verstärkung der Aktionsströme des Muskels. Bei der Seltenheit dieses Versuchsresultates scheint es uns aber wahrscheinlich, dass es sich in diesen Fällen um spontane Tonuszunahmen handelte, wie sie ja immer wieder an diesem Muskel zu be- obachten sind, und da der Hemmungseffekt speziell bei schwacher Reizung erst nach einer gewissen Latenzzeit eintritt, so kann eine solche spontane Tonus- steigerung evertuell auch noch nach Beginn der Reizung, also unmittelbar vor der Erschlaffung eintreten und so den Anschein eines Anfangstetanus erwecken. Eine definitive Entscheidung dieser an für sich sehr wichtigen Frage hoffen wir noch bei späteren Versuchen fällen zu können. Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 529 kardiogrammen bei Vaeusreizung: Die von Fano?) beschriebene Vergrösserung der zweiten Phase des Elektrogrammes des Schild- krötenvorhofes während der Vagusreizung lässt sich nach unseren Beobachtungen gleichfalls durch eine relativ energischere Hemmungs- wirkung der Vorhofmuskulatur in der Gegend der ersten Ableitungs- elektrode erklären. Eine so deutlich ausgeprägte negativ inotrope Wirkung der Reizung der sakralen Wurzeln ist nur an wenigen unserer Kurven zu erkennen; oft fehlt sie vollständig, während die negativ chrono- trope Wirkung sehr häufig zu beobachten ist. Aus all diesen Befunden geht hervor, dass der Wirkungsmodus der den Tonus des M. retraetor penis hemmenden Nervenbisindiekleinsten Details mitdem des N. vagus auf die Herzmuskulatur übereinstimmt. Die hier mitgeteilten Tatsachen regen eine Reihe von Fragen an, deren Beantwortung aber noch weit durch das Gebiet der Hypothesen führen muss. Vor allem drängt sich, speziell im An- schluss an die hier vorgebrachten Beobachtungen, ein Vergleich auf zwischen der Rhythmik der Erregungswellen im Retractor penis und den anderen bekannten rhythmischen Vorgängen an glatten Muskeln und am Herzen. Mit einer einzigen Ausnahme zeigen die Erregungswellen des Retraktors eine höchst ausgeprägte Anologie mit den rhythmischen Kontraktionen des Herzmuskels und verschiedener glatter Muskeln, wie z. B. des Ureters. Alle diese Organe können unabhängig von zentralen Impulsen arbeiten; sie zeigen fast durchweg eine Frequenz- steigerung und eine Verstärkung der Erregungswellen mit zunehmender Dehnung ihrer Muskelfasern, und vor allem stimmt die Wirkunes- - weise ihrer fördernden und hemmenden Nerven in auffallender Weise überein. Wenn wir speziell den Vergleich zwischen dem Herz- muskel und dem Retraktor ins Auge fassen, so können wir sagen, dass der Hauptunterschied zwischen den rhythmischen Einzelkontrak- tionen des einen und dem mehr oder minder stetigen Tonus des anderen in der verschiedenen Geschwindigkeit der Kontraktions- prozesse in diesen beiden Muskeln liegt. Die. rasche motorische 2) G. Fano et Fayod, De quelques rapports entre les propridtes con- tractiles et les proprietes electriques des oreillettes du c@ur. Arch. ital. de biol. t.9 p. 143. 1888. | Pflüger’s Archiv für Physiologie Bd. 135. 34 530 Ernst Th. v. Brücke und Soroku Oinuma: Reaktion des Herzens bedingt es, dass seine Muskulatur zu Beginn einer neuen Systele bereits wieder völlig erschlafft ist, während die träge einer Erregungswelle entsprechende Zusammenziehung einer Retraktorfaser meist noch lange nicht beendet ist, wenn die Faser schon wieder von einer neuen Welle ergriffen wird; deshalb summieren sich die einzelnen Kontraktionen in diesem Falle zum Tonus. Nach den in dem III. Beitrage mitgeteilten Beobachtungen an Schildkröten- herzen ist es wahrscheinlich, dass wir für den Tonus der Gefäss- muskulatur eine analoge Genese annehmen dürfen. Dann würde die histologisch in der Querstreifung sich ausprägende Differenzierung des Herzmuskels an der Funktionsweise dieser modifizierten Gefäss- inuskulatur nichts Wesentliches Ändern; nur die rasche motorische Reaktion unterscheidet ja das Herz von der auf einer primitiven Stufe verharrenden Muskulatur der übrigen Gefässe. Wenn wir andererseits sehen, dass die Wirkungsweise der hemmenden und fördernden Nerven beim Herzen und einem glatten Muskel des äusseren Genitales vollständig identisch ist, so können wir mit einer an Bestimmtheit grenzenden Wahrscheinlichkeit an- nehmen, dass die dem Herzmuskel genetisch noch näherstehende glatte Gefässmuskulatur in analoger Weise vom Nervensystem be- einflusst wird, so dass also die vorliegenden Versuchsresultate auch eine Erklärung für die Funktionsweise der Vasokonstriktoren und Vasodilatatoren bieten. Bei diesen Überlegungen haben wir aber einen wesentlichen Unterschied zwischen den Reaktionen der in rhythmischen Einzel- kontraktionen und der tonisch tätigen Muskulatur ausser acht ge- lassen, nämlich ihr verschiedenes Verhalten gegen thermische Reize. Während die Frequenz des Herzschlages, der Ureterwellen und ähnlicher Kontraktionsvorgänge mit steigender Temperatur zunimmt, zeigen fast alle tonisch reagierenden Muskeln innerhalb des physio- logisch in Betracht kommenden Temperaturintervalles eine Abnahme des Tonus mit steigender Temperatur. Es soll an dieser Stelle nur angedeutet werden, dass dieses scheinbar paradoxe Verhalten u. E. sich durch die Annahme er- klären liesse, dass die Temperatur nicht auf die kontraktile Sub- stanz selbst einwirkt, sondern auf ein histologisch noch nicht näher zu definierendes Element der Muskelfaser, dass wir vorläufig ganz allgemein als Nervenendorgan (oder rezeptive Substanz) bezeichnen wollen. Wir halten diese Beziehung aus verschiedenen Gründen für Beiträge zur Physiologie der autonom innervierten Muskulatur. IV. 531 gerechtfertigt, so sahen wir z. B., dass die Erscheinung der addition latente gleichfalls die Annahme eines solchen summationsfähigen End- organs erfordert. Gleichzeitig scheint uns aber eine solche Annahme unerlässlich, wenn man den Versuch machen will, die bisher als „echte Hemmungen“ beschriebenen Vorgänge am autonomen Nerven- system der Vertebraten in Analogie zu bringen mit den scheinbaren Hemmungen, über die in letzter Zeit so eingehende Untersuchungen von F. Fröhlich angestellt wurden. Von dieser Vermutung über die Wirkungsweise der Temperatur- reize ausgehend soll eine der nächsten Untersuchungen der Frage gewidmet sein, ob es möglich ist, durch Setzung bestimmter Be- dingungen das Herz so zu beeinflussen, dass es sich in seinem Ver- halten gegen thermische Reize der tonisch reagierenden Muskulatur nähert. Zusammenfassung. Der durch das Studium der Aktionsströme des M. retractor penis erbrachte Nachweis einzelner Erregungswellen als Grundlage des mehr oder minder stetigen Tonus dieses Muskels ermöglicht eine Klärung der Wirkungsweise der den Tonus fördernden und hemmenden Nerven. Reizung der fördernden (sympathischen) Nerven bewirkt eine Verstärkung und Frequenzzunahme der dem Muskeltonus ent- sprechenden Erregungswellen. An einem tonusfreien Muskel werden durch Nervenreizung rhythmische Erregungswellen ausgelöst. Reizung der hemmenden (sakral autonomen) Nerven lässt die vorher bestehenden Erregungswellen entweder völlig verschwinden, oder sie bewirkt eine Verkleinerung und Frequenzabnahme derselben (negativ ino- und chronotrope Wirkung). Die Wirkungsweise dieser tonotropen Nerven stimmt demnach vollständig mit jener der Nn. accelerantes und des N. vagus auf die Herzmuskulatur überein, woraus mit grösster Wahrscheinlichkeit auf eine analoge Wirkungsweise der Vasokonstriktoren und der Vaso- dilatatoren zu schliessen ist. Tafelerklärungen. Sämtliche Kurven beider Tafeln sind auf etwa ?/s der Originalgrösse ver- kleinert. Alle Kurven sind von links nach rechts zu lesen, die Zeitmarken ent- 9392 E. Th. v. Brücke und S. Oinuma: Beiträge zur Physiologie etc. sprechen überall Sekunden. Eine Bewegung der Saite in der Richtung zum Jaquet entspricht dem Negativwerden der dammwärts gelegenen Ableitungs- elektrode, hiervon machen bloss die Kurven der Fig. 1 und 3 der Tafel XVI eine Ausnahme, bei denen die Ableitungselektroden vertauscht waren. Die ein- geklammerten römischen und arabischen Zahlen geben die Nummer des Versuchs- tieres und der Aufnahme an. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Tafel XV. 1 (XV/6, 14. Dezember 1909). Bei a und b Ligatur des linken und rechten N. pudicus. Kurzdauernde Erregung des Muskels durch den indirekten mechanischen Reiz. Die Markierung der Ligatur dürfte beide Male um etwa 1 Sekunde zu spät erfolgt sein. 2 (VII/4, 16. November 1909. Bei a und b Durchschneidung des rechten und linken N. pudicus, die ein vorübergehendes Aussetzen der tonischen Tätigkeit des Muskels bewirkt. g. 3 (XL/7, 4. Dezember 1909. Zwei tetanische Reizungen des rechten N. pudicus. Der Muskel war vor der Reizung erwärmt worden, ein dem Muskel anliegendes empfindliches Thermometer zeigte vor der Reizung 23,6° C., während der Reizung bei a 24° C. 4 (X1/5, 4. Dezember 1909). Wirkung von Einzelreizen (S.- und Ö.-Induktions- schläge) auf einen N. pudicus bei Erwärmung des Muskels. (Temperatur anfangs 25,30 C., zuletzt 26,2° C.). R.-A. bei den beiden Gruppen von Doppelreizen 10 cm, bei dem letzten isolierten Doppelreiz 3 cm. Vor den letzten typischen Aktionsströmen wurde die Saite infolge einer Störung für einige Sekunden aus ihrer Ruhelage abgelenkt. 5 (XXV/3, 1. April 1910). Wirkung von Einzelreizen (S.- und Ö.-Induktions- schläge) auf einen vom Becken her freigelegten Sakralnerven: Auftreten rhythmischer Erregungen im Anschluss an kurzdauernde indirekte Reize. R.-A. = 150 mm. Tafel XVL 1 (XXXVIII/2). Wirkung einer faradischen Reizung der rechten zweiten sakralen Wurzel. Vollständige Hemmung der Erregungswellen. (Bei Er- regung an der dammwärts gelegenen Elektrode Ausschlag der Saite vom Jaquet weg!) . 2 (XLV/3, 26. Juli 1910. Wirkung der gemeinsamen faradischen Reizung der zwei ersten Sakralwurzelpaare. Vollständige Hemmung der Erregungs- wellen mit allmählicher Abnahme der Negativität an der dammwärts ge- legenen Elektrode. 3 (XXXVII/5, 26. Juni 1910). Negativ chronotrope Wirkung bei faradischer Reizung der linken zweiten Sakralwurzel. Auch hier entspricht der Er- regung der dammwärts gelegenen Elektrode (erste Phase) ein Ausschlag der Saite vom Jaquet weg. 4 (XLIV/4, 21. Juli 1910). Negativ inotrope Wirkung der faradischen Reizung der rechten ersten Sakralwurzel. Die Schwankungen an den beiden mit Kreuzchen bezeichneten Stellen entsprechen vermutlich Erregungswellen, die nur über die zweite (präputiale) Ableitungsstelle hinwegliefen. Taf. XV. Pflüger's Archiv für die ges. Physiologie. Bd_136. N a “ —- AULLLISLLLILLLLILIDGUGNKIDDLILLIIELE UN Ze \ ! J IERUUNDENEENUNUUNUNUNUNEN ren ——ı u —i: ti rnnnn MAMSUIUIUHUÄUNN Verlag v. Martin Hager, Bon Litli.Anstv. F-Wirtz Darmstadt Taf. XVI. Pflüger's Archiv für die ges. Physiologie. Bd. 136. a .—— Fig.1. TEE ET NR TR RE ee Se en ee ee ee ee ee EN ET EEE EN LEN LEBE ENTE POLEN ORTEN LETTER EN LEN 9 f J Fig.&. ——- 111 Ana. BNUEBUBBERBEREENREEERENENHENEN l [BBHUEN! u f VERELEELENL 1194 Fr u 1 1 Da I HT BR ED DR RR RD ET DR TR TR ER TEN TR RR REN EN ER TER p Verdng v Martin Hager Born en — 1 Lith AnstvF- Wirtz ‚Darmstadt 999 (Aus dem physiologischen Institus der Universität Leipzig.) Weitere Untersuchungen über die Aktionsströme des Nervus phrenicus bei natürlicher Innervation. Von Dr. med. Rudolf Dittler, Privatdozent und Assistent am physiologischen Institut. (Hierzu Tafel XVII und XVIII.) In einer früheren Mitteilung!) habe ich gezeigt, dass die Aktionsströme des Nervus phrenieus bei Innervation vom Zentral- nervensystem aus oszillatorisch verlaufen und dass die Periode ihrer Öszillationen zum mindesten innerhalb sehr enger Grenzen überein- stimmt mit der Periode der Aktionsströme der bis jetzt in willkür- licher Kontraktion untersuchten Skelettmuskeln des Menschen und der höheren Säugetiere?). Aus diesem Befunde konnte der Schluss gezogen werden, dass die willkürliche (tonische) Kontraktion unserer Skelettmuskulatur ihrer Genese nach dem durch (nicht zu frequente) periodische Reizung vom Nerven aus künstlich hervorgerufenen Muskeltetanus gleich zu setzen ist, indem der Muskel in seinen Aktionsströmen hier wie dort die Periode der ihm vom Nerven aus zufliessenden Impulse, wie es scheint, getreu wiedergibt. Wenngleich die erwähnten tatsächlichen Feststellungen durch eine ganze Reihe schlagender Kontrollversuche meines Er- messens als gesichert zu betrachten waren, so wurde die Beweiskraft meiner Versuche doch vielleicht dadurch einigermaassen beein- trächtigt, dass mir der Nachweis der oszillatorischen Phrenieus- aktionsströme aus damals nicht zu ermittelnden Gründen bei den letzten von mir untersuchten Tieren nicht mehr gelang. Bezüglich 1) Dittler, Pflüger’s Arch. Bd. 131 S. 581. 1910. 2) Von den anderslautenden Angaben Garten’s (Zeitschr. f. Biol. Bd. 52 S. 534. 1909) soll hier abgesehen werden. 534 Rudolf Dittler: der theoretischen Verwertbarkeit meiner Ergebnisse blieb infolge des vorzeitigen unfreiwilligen Abschlusses der Untersuchung zugleich eine störende Lücke in der Kette der Beweisführung insofern bestehen, als der unmittelbare Vergleich zwischen Muskel- und Nervenperiode, wie er bei bestehender natürlicher Innervation an Kaninchen und Katze durch Ableitung vom Zwerchfell und vom Phrenicus desselben Tieres möglich ist, zur Zeit meiner ersten Publi- kation noch nicht in systematischer Weise durchgeführt worden war. Ich habe die Versuche darum von neuem aufgenommen und habe sie, nachdem sich herausgestellt hatte, dass nicht eine fehler- hafte oder unzweckmässige Behandlung des untersuchten Objektes, sondern ein Defekt an dem zum Nachweis der Aktionsströme ver- wendeten grossen Saitengalvanometer für das Fehlschlagen meiner früheren Versuche verantwortlich zu machen war, vor allem aueh in der genannten Richtung weitergeführt. Die seinerzeit von mir mit- geteilten Ergebnisse wurden dabei in allen wesentlichen Punkten bestätigt gefunden. Zur Ergänzung der zum Teil an sich nicht sehr gelungenen, zum Teil ausserdem in der Reproduktion nieht gut herausgekommenen Kurvenbeispiele meiner ersten Mitteilung können jetzt Phrenieuskurven von Kaninchen und Katze in besserer Aus- führung beigebracht werden. Methodisch verfuhr ich sowohl beim Nachweis der .Muskel- als der Nervenaktionsströme wieder genau in der früher von mir geübten Weise. Bei Nervenableitung wurden vor allem die zum Schutz vor Erschütterungen und Zerrungen des Nerven seinerzeit getroffenen Vorsichtsmassregeln niemals ausser Acht gelassen. Auch wurde regelmässig durch geeignete Kontrollversuche (s. S. 585 f. der früheren Arbeit) festgestellt, dass die zur Beobachtung gelangenden oszillatorischen Ausschläge der Saite in der Tat auf Nervenaktions- ströme zu beziehen waren. Die Ableitung vom Nerven erfolgte immer von Längs- und Querschnitt). Bei Ableitung der Zwerch- fellaktionsströme zog ich es dagegen in den meisten Fällen vor, doppelphasische Aktionsströme zu registrieren, da sich die ein- zelnen Oszillationen hierbei schöner längs einer Abszisse aneinander- reihen als bei Verzeichnung der negativen Schwankung. Die Präparation des Katzenzwerchfelles lässt sich von der Bauch- höhle aus in ganz ähnlicher Weise ausführen, wie ich es an anderer 1, Die Länge der Ableitungsstrecke am Nerven betrug zwischen 1 und 2 cm. Weitere Untersuchungen über die Aktionsströme des Nerv. phren. etc. 535 Stelle!) für das Kaninchenzwerchfell eingehend beschrieben habe. Dass sich die Herstellung eines Pneumothorax aus anatomischen Gründen bei der Katze allerdings nicht immer vermeiden lässt, sei nur beiläufig erwähnt. Es spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle, da der natürliche Charakter der Atmung der Versuchstiere nicht gewahrt zu werden brauchte. Es wurden drei Serien von Versuchen ausgeführt: 1. Die gesonderte Feststellung der Periode der Phrenieusaktions- ströme bei Kaninchen und Katze (im ganzen 17 Versuche, von denen 13 sicher auszählbare Kurven lieferten); 2. die pisher noch ausstehende Bestimmung der Zwerchfell- periode bei der Katze (6 Versuche, alle mit gutem Ergebnis); 9. die eigentlichen Vergleichsversuche, bei denen an demselben Tiere unter möglichst gleichartigen Bedingungen sowohl vom Muskel wie vom Nerven abgeleitet wurde (7 Versuche, darunter 5 mit ver- wertbarem Resultat). Alle diese Versuche wurden bei natürlicher Innervation vor- genommen. Zur Narkose wurde bei Kaninchen reiner Äther, bei Katzen Billroth’sche Mischung verwendet. Der besonders durch die passive Ventilation bedingte allmähliche Abfall der Körper- temperatur wurde im Rectum verfolgt. Phrenieus und Zwerchfell waren nach der Präparation wegen ihrer relativ grossen Oberfläche sicher immer noch entsprechend niedriger temperiert. Zum eigent- lichen Versuch musste die künstliche Atmung natürlich vorübergehend unterbrochen werden. Wurden bei einem Versuchstier sowohl Zwerchfell- als Phrenicus- aktionsströme abgeleitet, so geschah dies immer möglichst im un- mittelbaren Anschluss aneinander. Dabei wurden entweder (2 Ver- suche) der Zwerchfellschenkel der einen und der (zuvor schon fertig präparierte und den Ableitungselektroden aufgelegte) Phrenicus der anderen Seite oder (5 Versuche) Zwerchfellschenkel und Phrenieus derselben Seite zum Versuche benutzt. Im ersteren Falle wurde die Versuchsanordnung so getroffen, dass durch das Umlegen einer Wippe ohne Kreuz bald der Muskel, bald der Nerv mit der reeistrierenden Saite in Verbindung gebracht werden konnte. Im zweiten Falle wurden, in der Regel bei schon eröffnetem Thorax, zunächst die Muskelaktionsströme abgeleitet, sodann der Nerv so 1) Dittler, Pflüger’s Arch. Bd. 130 8. 404. 1909. 536 Rudolf Dittler: schnell wie möglich durchschritten und präpariert und seinerseits über die Elektroden gebrückt. Darüber vergingen zwar immer einige Minuten, die äusseren Bedingungen für das Versuchstier, speziell auch für die Funktionsweise seines Zentralnervensystens dürften sich inzwischen jedoch kaum wesentlich geändert haben. Wenigstens zeigte die Rektaltemperatur während dieser Zeit keine bemerkens- werten Grade der Abnahme; letztere betrug höchstens wenige Zehntel Grad. Beim Übergang von der Ableitung des Muskels zu der des Nerven musste die Empfindlichkeitseinstellung der Saite (Spannung der Saite und Stärke des magnetischen Feldes) natürlich jedesmal in geeigneter Weise verändert werden, was empirisch geschah. Zu- gleich zeigte sich meist die Einführung eines schwachen Kompensations- stromes erforderlich. Die für den Nachweis der Nervenaktionsströme nach meinen Erfahrungen geeignetste Empfindlichkeit der Saite ist aus der Aichungskurve Tafel XVII, Fig. 1 zu ersehen, die bei einem Elektromagnetenstrom von 5,5 Ampere durch Einschaltung einer E.M.K. von °/ıooo Daniell in den Ableitungskreis, wie er beim Ver- suche bestand, gewonnen wurde. Für den Nachweis der Muskel- aktionströme konnte die Saite bei geringerer magnetischer Feldstärke (höchstens 3 Ampere) bedeutend stärker gespannt werden und reagierte dementsprechend rascher. Wie aus allen bis jetzt vorliegenden Untersuchungen über den Aktionsstromverlauf im tonisch kontrahierten Skelettmuskel voraus- zusehen war, erwuchsen bei der Durchführung eines Vergleiches zwischen der Periode der Aktionsströme des Muskels und seines motorischen Nerven der Deutung der Ergebnisse daraus erhebliche Schwierigkeiten, dass die Periode vor allem der Muskelaktionsströme schwer mit absoluter Sicherheit aus den Kurven ersehen werden kann. Von den Nervenaktionsströmen gilt, nach meinen Erfahrungen freilich in geringerem Masse, das gleiche. Offenbar verlaufen, wenigstens beim Phrenieus, die Erregungswellen der einzelnen Nervenfasern oft enger zu einem Schwarm zusammengehalten (Brücke) über den Nervenstamm hin, als dies beim zugehörigen Muskel der Fall zu sein pflegt, so dass die abzuleitenden Kurven sich nicht selten aus einer langen Reihe auffallend gleichartiger Wellen (event. mit vereinzelten kleinen, als solchen aber leicht erkennbaren superponierten Nebenzacken) zusammensetzen. Gleichwohl bekommt man auch vom Nerven häufig Aktionsstromkurven von streckenweise ganz unregel- Weitere Untersuchungen über die Aktionsströme des Nerv. phren. etc. 537 mässigem Verlauf mit Wellen der verschiedensten Länge und Amplitude zu Gesicht, bei denen man zunächst im Zweifel sein kann, welche Wellenform man als die elementare, d.h. als die der Erregung der Einzelfaser entsprechende betrachten soll. Eine solehe Kurve ist beispielsweise in den Figuren 2 der Tafel XVII wiedergegeben. Bei der Auswertung derartiger Kurven, und zwar der Muskel- wie auch der Nervenkurven, bin ich ebenso wie früher im ent- sprechenden Falle von dem Grundsatz ausgegangen, der Auszählung nur solehe Kurvenstellen zu unterziehen, an welchen mindestens sechs aufeinander folgende glatte Aktionsstromwellen sowohl einen nahezu gleichen zeitlichen Verlauf als etwa gleiche und gegenüber den übrigen Zacken der Kurve verhältnismässig grosse Amplituden aufweisen. Hält man sich an diesen Grundsatz, so wird man meiner Ansicht nach immer mit ziemlicher Sicherheit richtige Periodenwerte ermitteln. soweit dies auf Grund unserer heutigen Vorstellungen vom Erregungsablauf im Muskel und Nerven überhaupt beurteilt werden kann. Der glatte Verlauf der Zacken an den ausgewählten Kurvenstellen sprieht an sich schon dafür, dass ein Interferieren der einzelnen Faserströme mit ungleichen Phasen, wodurch ein falscher Rhythmus vorgetäuscht werden könnte, hier nicht vorliegt, sondern dass die Einzelströme für diese Strecke offenbar auf Phasengleichheit eingestellt sind. Im selben Sinne spricht auch die Grösse der Schwankungsamplituden der betreffenden Aktionsstromwellen. Wo phasengleiches Interferieren der Einzelwellen stattfindet, muss es zu einer vollen Addition derselben, also zu einem Anwachsen der Schwankungsamplituden auf der fraglichen Strecke kommen. Nun finden sich in unregelmässig verlaufenden Kurven häufig auch im Bereich kürzerer Wellen Reihen unter sich mehr oder weniger gleichlanger Aktionsstromschwankungen, die man auf den ersten Blick ebensogut als Elementarwellen zu betrachten geneist sein könnte wie die soeben von mir charakterisierten grossen glatten Wellen. Wo aber in ein und derselben Kurve, was sehr häufig eintritt, dieser Wellentypus neben einer längeren Reihe der grossen glatten Wellen vertreten ist (vgl. Fig. 2), wäre es meines Erachtens nieht ratsam, die kurzen Wellen zur Grundlage der Perioden- bestimmung zu machen. Denn um aus ihnen die Entstehung der langen Wellen durch algebraische Summation abzuleiten, müsste man sehr gekünstelte Hilfsannahmen machen. Gewiss sind, wenig- stens im Tierversuch, worauf schon wiederholt hingewiesen wurde, 538 Rudolf Dittler: die verschiedenen Muskel- bzw. Nervenfasern, je nachdem sie an der Oberfläche oder mehr in der Tiefe liegen, der Schädigung durch äussere Einflüsse in verschiedenem Masse auseesetzt. Ihre Reaktions- weise ist, vor allem was die Leitungsgeschwindigkeit, das Dekrement der Erregung und ihre Persistenz an jeder Querschnittstelle anlangt, also keineswegs als gleich zu betrachten. Der zu beobachtende un- regelmässige Verlauf der meisten Kurven zwingt sogar zur Annahme, dass schon die Periode der Einzelfaser keine ganz konstanten Werte besitzt, und dass die Periode der verschiedenen Fasern nicht voll- kommen miteinander übereinstimmt; es müsste sonst die Dauer und die Form der einzelnen Kurvenwelle in der resultierenden Kurve auf viel längere Strecken hin dieselbe bleiben. Bei diesem Sachverhalt kann unter bestimmten Voraussetzungen die Möglich- keit der Entstehung einzelner Wellen von längerer Periode, als sie (unter der jetzt gemachten Annahme) die elementaren Wellen besässen, also nicht in Abrede gestellt werden. Wollte man aus ihnen aber ganze Reihen unter sich fast voll- kommen gleicher Wellen von doppelter bis drei- und vierfacher Länge aufbauen, so müsste man ein so eigen- artig geordnetes Zusammenwirken gerade jener für die gewöhnliche Regellosigkeit der Kurven in Betracht gezogenen Faktoren annehmen, wie es kaum auch nur ausnahmsweise einmal erwartet werden dürfte. Nun sind derartige Wellenzüge aber bei fast allen untersuchten Tieren wenigstens auf einem Teil der aufgenommenen Platten zu finden, und zwar, worauf das Hauptgewicht zu legen ist, mit einer bemerkenswerten Konstanz ihrer Periode, die sich bei der Katze auf 50—60, beim Kaninchen auf 60—70 beläuft. Diese von mir der Auszählung zugrunde gelegte Wellenform dürfte also schwerlich nur durch Interferenzwirkung in die Ableitungskurve gelangt sein. Nach alledem möchte ich auch dem Umstand keine weitere Bedeutung beimessen, däss ich gelegentlich Kurven erhielt, welche die von mir als die elementare angenommene Wellenform über- haupt nicht zeigen, sondern sich durchgehends aus kürzeren Wellen zusammensetzen, die einander unter Umständen auch einmal auf grössere Strecken hin sehr ähnlich sind. Mit dieser Erscheinung war bei der Fülle verschiedener Superpositionsmöglichkeiten der Einzelströme ja von vornherein zu rechnen. Würde man derartige Kurven, ohne auf die überwiegende Mehrzahl anderslautender Befunde Rücksicht zu nehmen, aus sich selbst heraus beurteilen, so würden Weitere Untersuchungen über die Aktionsströme des Nerv. phren. etc. 539 sich natürlich bedeutend höhere Werte für die Oszillationsfrequenz ergeben, die, wie ich ausdrücklich hinzufügen möchte, in den ver- schiedenen Fällen aber sehr wesentlich voneinander abwichen. Nach meinen bisherigen Erfahrungen gelanste man bei dieser Art des Vorgehens zu Perioden, die ausser den genannten auch alle zwischen 60 und 180 und darüber liegenden Werte auf- weisen könnten. Dieses scheinbar gänzliche Fehlen jeglicher Gesetz- mässigkeit, das höchstens unter der Annahme sehr weitgehender fortgesetzter Frequenzänderungen in der zentralen Innervation ver- ständlich wäre, hat mich, abgesehen von den schon erwähnten Gründen, dazu bestimmt, bei der Entstehung der fraglichen Kurven phasenungleiches Interferieren der einzelnen Faserströme an- zunehmen. Unter diesen für die Deutung der Kurven gemachten Voraus- setzungen ergaben auch meine diesmaligen Versuche fast eindeutig, dass im natürlich innervierten Phrenieus des Kaninchens bei einer der normalen Körpertemperatur sehr nahe kommenden Versuchs- temperatur, wie gesagt, 60—70 Einzelerregungen pro Sek. ablaufen, in jenem der Katze unter entsprechenden Verhältnissen 50—60. In 11 von den 13 überhaupt erfolgreichen Versuchen habe ich vor- wiegend Kurven erhalten, die längere Reihen von Wellen der ge- nannten Perioden aufweisen, wenn auch nicht immer gerade in so reiner Form, wie sie die beigegebenen Tafelfiguren zeigen. Bei den zwei anderen Versuchen wurden ausschliesslich kürzere Wellen ge- funden, die auf eine höhere Frequenz deuten könnten. Ich habe das Ergebnis dieser beiden Fälle gegenüber der grossen Zahl der anders- lautenden vernachlässigt. Die Figeg. 5 und 6 der Taf. XVII geben als Beleg Kurven vom Kaninchen, die Fige. 2 und 3 solche von der Katze wieder. Erstere sind bei eben präparierten Tieren mit einer Analtemperatur von 37° und 37,2° gewonnen und zeigen eine Periode von ca. 56 bzw. ca. 60 pro Sek. Kurve 2 mit einer Periode von ca. 60 stammt von einem ganz frisch präparierten Phrenieus der Katze (Rectaltemperatur 37,4°). Bei Fig. 3 (ebenfalls Katze) war das Versuchstier, wohl infolge einer stärkeren Blutung bei der Thoraxeröffnung, dureh die künstliche Atmung etwas stärker durch- kühlt als gewöhnlich. Die Temperatur im Rectum betrug 36,7 °. Dem entspricht die etwas geringere Oszillationsfrequenz von ca. 45 pro Sek. Ob der Abfall der Temperatur sich dabei schon in der Reaktionsweise des Zentralnervensystems oder erst im peripheren 540 Rudolf Dittler: Nerven äussert, muss dahingestellt bleiben. Auf Grund noch nicht abgeschlossener neuer Versuche ist mir aber letzteres wahrscheinlicher. Beispiele von Kurven mit der besagten scheinbar deutlich kürzeren Oszillationsperiode zeigen die Fieg. 4 und 7, von denen die eine (Katze) ca. 90, die andere (Kaninchen) ca. 125 Aktionsstrom- schwankungen pro Sek. ergeben würde (vgl. dazu S. 539). Die nahezu streng horizontale Aneinanderreihung der einzelnen Teilzacken auf Fig. 4 scheint mir für nicht ganz saubere (Längs-)Querschnitt- ableitung zu sprechen. Es liegt bis jetzt kein Grund vor, bezüglich der Demarkation beim markhaltigen Warmblüternerven ähnliche Verhältnisse anzunehmen, wie sie Garten!) am Hechtolfactorius ge- funden hat?). Für die Periode der Phrenicusaktionsströme des Kaninchens ergaben sich somit Werte, die mit den früher aus einem sehr grossen Tiermaterial unter genau entsprechenden Versuchsbedingungen für die Zwerchfellperiode ermittelten Werten vollkommen übereinstimmen. Wenn die normale Körpertemperatur in meinen Versuchen auch nieht in idealer, für den Warmblüter wohl wünschenswerter Weise gewahrt blieb, so lagen in den beiden Versuchsreihen doch durchaus vergleichbare Verhältnisse vor. Ihre Ergebnisse dürfen einander also sehr wohl gesenübergestellt werden. Wie oben schon erwähnt wurde, habe ich, um für die Katze ein ähnliches Vergleichsmaterial zu schaffen, in einer besonderen Versuchsreihe an sechs Tieren die Oszillationsfrequenz der Zwerchfellaktionsströme festgestellt. Es ergab sich dabei eine Periode, die hinter jener des Kaninchenzwerchfelles durehsehnittlich um denselben Betrag zurückbleibt, wie es für die Phrenieusaktionsströme gefunden wurde. Die Werte bewegen sich bei frisch präparierten Tieren wenig über und unter 55. Also auch hier ergab sich volle Übereinstimmung der Muskel- und der Nervenperiode. Ich begnüge mich mit der Wiedergabe einer einzigen der einschlägigen Muskelkurven (Fig. 10 auf Taf. XVII), die überdies eine unverhältnis- mässig langsame Aufeinanderfolge der Einzelerregungen aufweist. Sie wurde deshalb ausgewählt, weil sie unmittelbar als Parallele zu der Phrenieuskurve Fig. 3 dienen kann. Sie zeigt, dass bei Herabsetzung l) Garten, Beiträge zur Physiologie der marklosen Nerven S. 23ff. Jena 1903. 2) Die Phrenicusströme des Hundes besitzen, wie beiläufig bemerkt sei, unter entsprechenden Bedingungen ebenfalls eine Oszillationsfrequenz von durch- schnittlich 60 pro Sekunde. Auch solche Kurven im Bilde vorzuführen, muss ich mir wegen Platzmangels versagen. Weitere Untersuchungen über die Aktionsströme des Nerv. phren. etc. 541 der Temperatur auch der Erregungsablauf im Katzenzwerchfell ganz wesentlich verzögert wird (Tp im Recetum = 36,2 °). Ein Beispiel für etwas kürzere (normale) Periode wird weiter unten in anderem Zusammenhang noch beigebracht. Das Ergebnis dieser gewissermassen statistischen Feststellungen wollte ich um so weniger unerwähnt lassen, als ein auf diesem Wege gewonnenes Urteil bei der oft sehr schweren Deutbarkeit der Kurven in der fraglichen Sache fast schwerer wiegt als die auf einen un- mittelbaren Vergleich zwischen Muskel- und Nervenperiode desselben Tieres hinzielenden Einzelversuche und ihre Resultate. Opfert man nämlich bei derartigen Versuchen nicht in jedem Falle eine sehr srosse Zahl photographischer Platten, so kann durch die Ungunst der Verhältnisse sehr leicht der Fall eintreten, dass man, sei es vom Muskel oder vom Nerven, keine Kurven mit elementaren Wellen erhält. Trotzdem aber darf meines Ermessens dieses Experimentum erueis im Rahmen meiner Untersuchung gefordert werden, zumal da wohl niemals in jeder Beziehung so vollkommen übereinstimmende Bedingungen für eine vereleichende Untersuchung von Muskel und Nerv hergestellt werden können, als beim Experimentieren am gleichen Tier, wo vor allem auch Störungen durch individuelle Ver- schiedenheiten ausgeschlossen sind. Fünf von den sieben (an drei Katzen und vier Kaninchen) an- gestellten derartigen Versuchen haben brauchbare Kurven ergeben, aus denen wohl mit Sicherheit entnommen werden kann, dass die Periode der Erregung im natürlich innervierten quer- gestreiften Warmblütermuskel und seinem motorischen Nerven die gleiche ist. Von diesen Kurven sind auf der Taf. XVIII drei Paare wieder- gegeben. Die Figg. Sa und b stammen vom Kaninchen und wurden bei Ableitung vom Zwerchfell und Phrenicus derselben Seite ge- wonnen. Die Aktionsstromperiode an den abgebildeten Kurvenstellen beträgt für den Muskel ca. 62, für den Nerven ca. 55. Die Rectal- temperatur sank während der Isolierung des Nerven von 37,6 auf 37,1°. Fig. Se, die etwas später vom Nerven desselben Tieres gewonnen wurde, zeigt entsprechend einer weiteren Temperaturabnahme auf 36,3 C. eine noch etwas geringere Oszillationsfrequenz. Ebenfalls vom Kaninchen stammen die Kurven 9a und b. Hier wurde vom Zwerch- fellschenkel der einen und dem Phrenieus der anderen Seite ab- geleitet. Die Übereinstimmung der Periode ist.auch hierbei höchst 542 Rudolf Dittler: befriedigend; die Muskelaktionsströme besitzen eine Oszillations- frequenz von ca. 60, jene des Nerven nahezu die gleiche. Die ent- sprechenden Verhältnisse bei der Katze sind aus den Figg. 11a und b zu ersehen. Muskel und Nerv derselben Seite zeigen auch hier bei ungefähr gleicher Temperatur (37,7 °) nahezu die gleiche Zahl von ea. 55 Einzelerregungen pro Sek. Bei der Auswahl der Kurvenstellen, die dem Vergleich zu unterwerfen wären, wurde hierbei nach der oben geschilderten Methode verfahren. Von der Brauchbarkeit dieser Methode ist es also ab- hängig, bis zu welchem Grade mein Ergebnis als zuverlässig an- erkannt zu werden verdient. Aus dem oben Gesagten ist einerseits klar, dass man in zusammengehörigen Muskel- und Nervenkurven unter Umständen wiederum Wellenzüge finden könnte, welche für die beiden Gebilde zwar dieselbe, aber eine höhere Oszillationsfrequenz der Aktionsströme ergeben würden (vgl. S. 539). Andererseits liessen sich in jedem Falle natürlich auch Stellen ausfindig machen, welche (allerdings unter Preisgabe jeglicher Konsequenz in der Kurven- deutung) zum Ausgangspunkt einer Beweisführung fürs Gegenteil gemacht werden könnten. Soweit dagegen unter Beachtung gewisser von selbst sich ergebenden Regeln auf dem beschrittenen Wege über- haupt eine Lösung des vorliegenden Problems möglich war, dürfte sie durch die beschriebenen Versuche erbracht sein. Es scheint mir demnach berechtigt, die Ergebnisse dieser Unter- suchung dahin zusammenzufassen, dass der natürlich inner- vierte quergestreifte Warmblütermuskel bei seinen tonischen Kontraktionen prinzipiell unter denselben Bedingungen arbeitet, wie bei (nicht zu frequenter) periodischer Reizung vom Nerven aus, d. h. dass er pro Zeiteinheit eine bestimmte Zahl einzelner Impulse vom Nervenausempfängst, von denen er jeden miteiner gesonderten Erregung beantwortet. Die im willkürlich innervierten Muskel nachweisbare Periode der Erregung darf also, da sie auch der Nerv schon zeigt, nicht ohne weiteres als gleichbedeutend mit der Eigenperiode des Muskels betrachtet werden, wie dies schon Piper!) auf Grund anderer Erfahrungen per exclusionem wahrscheinlich fand. Damit soll aber nicht gesagt sein, 1) Piper, Zeitschr. f. Biol. Bd. 53 S. 140. 1910. Weitere Untersuchungen über die Aktionsströme des Nery. phren. etc. 543 dass die. Muskelperiode, wo sie unter entsprechenden Versuchs- bedingungen in reiner Form hervortritt, notwendig andere Werte aufweisen müsste. Tafelerklärung. Alle abgebildeten Kurven sind von links nach rechts zu lesen. Von Fig. 1 abgesehen ist auf sämtlichen Figuren durch ein Paar veıtikaler Linien die Stelle in den Kurven bezeichnet, welche der Auszählung unterworfen wurde. Die Zeit- marken entsprechen auf allen Platten Sechzigstelsekunden. Fig. 1. Aichungskurve. Einschaltung einer elektromotorischen Kratt von - 8/ıooo Daniell in den Galvanometerkreis mit sofortiger Wiederausschaltung (abgeleitete Nervenstrecke von 1,2 mm Länge im Kreis). Stromstärke im Elektromagneten des Galvanometers 5,5 Ampere. Spannung der Saite wie bei Ableitung der Nervenströme. Fig. 2. Versuch vom 2. August 1910. Katze. Aktionsstrom des Phrenicus während eines ganzen Atemzuges. Richtung der negativen Schwankung des Längsquerschnittstromes nach oben. Temperatur im Rectum 37,4° C. Periode der Aktionsstromoszillationen ca. 60 pro Sekunde. Fig. 3. Versuch vom 27. April 1909. Aktionsstrom des Katzenphrenicus, zu Be- ginn eines terminalen Inspirationskrampfes aufgenommen. Negative Schwankung nach oben. Rectaltemperatur 36,7°C. Periode der Öszillationen ca. 45 pro Sekunde. Fig. 4 Versuch vom 12. August 1910. Aktionsstrom des Katzenphrenicus. Kurze Inspiration. Negative Schwankung nach oben. Temperatur im Rectum 37° C. Periode der Aktionsstromschwankungen ca. 90 pro Sekunde. Fig. 5. Versuch vom 31. August 1910. Kaninchen. Aktionsstrom des Phrenicus während eines kurzen Atemzuges. Negative Schwankung nach oben. Tempe- ratur im Rectum 37° C. Periode der Oszillationen ca. 56 pro Sekunde. Fig. 6. Versuch vom 23. August 1910. Aktionsstrom des Kaninchenphrenicus während eines heftigen Inspirationskrampfes (Dyspnöe). Negative Schwankung nach oben. Rectaltemperatur 37,20 C. Periode der Oszillationen ca. 60 pro Sekunde. Fig. 7. Versuch vom 3. September 1910. Aktionsstrom des Kaninchenphrenicus. Kurze Atmung. Negative Schwankung nach oben. Rectaltemperatur 37,20 C. Periode der Oszillationen ca. 120 pro Sekunde. Fig. 8. Versuch vom 2. September 1910. Kaninchen. Fig.8a. Zweiphasischer Aktionsstrom des rechten Zwerchfellschenkels. Kurze Inspiration bei eröffnetem Thorax. Negativität der zentralen Ab- leitungsstelle ergibt Saitenausschlag nach oben. Temperatur im Rectum 37,6° C. Periode der Aktionsstromschwankungen ca. 62 pro Sekunde. Fig. 8b. Aktionsstrom des rechten Phrenicus desselben Tieres. Kurze, aber kräftige Inspiration. Negative Schwankung des Längsquer- 544 Rudolf Dittler: Weitere Untersuchungen über die Aktionsströme etc. Fig. 9. Fig. Fig. Fig. 10. schnittstromes nach oben. Temperatur im Rectum 37,1° C. Periode der Oszillationen ca. 55 pro Sekunde. Zwischen der Aufnahme von a und b vergingen 12 Minuten. . Sc. Aktionsstrom des rechten Phrenicus desselben Tieres. Negative Schwankung nach oben. Temperatur im Rectum 36,8° C. Periode der Öszillationen ca. 50 pro Sekunde. Zwischen b und c weitere 10 Minuten Pause. Versuch vom 25. August 1910. Kaninchen. 9a. Zweiphasischer Aktionsstrom des rechten Zwerchfell- schenkels. Kurzer Atemzug bei eröffnetem Thorax. Negativität der zentralen Ableitungsstelle ergibt Saitenausschlag nach oben. Rectal- temperatur 37,3° C. Periode der Aktionsstromoszillationen ca. 60 pro Sekunde. 9b. Aktionsstrom des linken Phrenicus desselben Tieres. Forcierter kurzer Atemzug. Negative Schwankung nach oben. Rectal- temperatur 37,50 C. Periode der Öszillationen ca. 60 pro Sekunde. Fig. 9b wurde ca. 1 Minute nach Fig. 9a aufgenommen. Versuch vom 30. August 1910. Aktionsstrom des Katzenzwerchfelles am Ende einer längeren Inspiration. Negativität der zentralgelegenen Elektrode macht Saitenablenkung nach oben. Rectaltemperatur 36,2° C. Periode der Öszillationen ca. 30 pro Sekunde. Fig. 11. Fig. Versuch vom 26. August 1910. Katze. lla. Zweiphasischer Aktionsstrom des Katzenzwerchfelles. Be- ginn einer Inspiration. . Thorax eröffnet. Negativität der zentralen Ab- leitungselektrode gibt Saitenausschlag nach oben. Temperatur im Rectum 37,79 C. Periode der Oszillationen ca. 53 pro Sekunde. Fig. 11b (4 Minuten nach 11a aufgenommen). Aktionsstrom des gleich- seitigen (rechten) Phrenicus desselben Tieres. Ende einer langen forcierten Inspiration. Negative Schwankung nach oben. Rectal- temperatur 37,30 C. Periode der Aktionsstromoszillationen ca. 57 pro Sekunde. Pflüger’s Archiv für die ges. Physiologie. Ba. 186 — bbE 1.2} h = E LLLEIEN | EERFEhbRENk | a | erlag von Martin Hager, Bonn. AL Enge Bes HT art ei FB TER ERIETETERTI TEE Ser: Dez BUS ER TE FI Re ERERZERE IE x © Paare. AR EL ESUEE EB Ann Ba = ge we SE ET Tafel XVI. Pflüger’s Archiv für die ges. Physiologie. Bd. 136. u Tafel XVII, == |" u r pr Bere L_ 2 Sie u BE Tuza MELETZTEBERTLSTIERET - ar sa 3 = PR errang ee Seren et nr 2: HILL iillillilll 9a 9b 1 TTTTEITTTTTETTTRITEAETTTIEN 1la 1 677 || Verlag von Martin Hager, Bonn. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Giessen.) Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung des Nervenstromes nach elektrischer Reizung. Von Siegfried Garten. (Mit 4 Textfiguren und Tafel XIX, XX.) Vor nunmehr 26 Jahren wurden unsere Kenntnisse von den elektrischen Erscheinungen am Nerven, die ja noch immer das einzige äussere Zeichen des Erregungsvorganges am isolierten Nerven- stamm darstellen, durch die bekannte Entdeckung Hering’s!) be- reichert. In einwandsfreier Weise, durch verschiedene Beobachtungs- methoden, stellte dieser Forscher fest, dass nach Schluss einer tetanisierenden Reizung eine positive Nachschwankung der negativen Schwankung des Demarkationsstromes folgt. Diese positive Schwankung war, wie Hering bereits zeigte, im Beginn eines Reizversuches am grössten, um zunächst rasch, später langsamer bei wieder- holten Reizungen abzunehmen. Ihr Verhalten unterscheidet sich demnach von dem der negativen Schwankung, die längere Zeit konstant bleibt. Das Ver- schwinden der positiven Nachschwankung stellt gewissermaassen das erste Er- müdungszeichen des selbst bei langen Reizzeiten nicht merklich ermüdenden markhaltigen Nerven dar. Über den Einfluss der Reizdauer auf die Grösse der der Reizung folgenden positiven Nachschwankung konnte Hering bereits angeben, dass bis zu einer gewissen Grenze die positive Nachschwankung mit der Reizdauer wächst. Sie wurde schon bemerklich, wenn die Reizdauer auch nur ein Bruchteil einer Sekunde betrug, und war nach einer eine Sekunde dauernden Reizung bisweilen schon be- trächtlich.. Bei zu grosser Dauer der Reizung trat aber eine Abnahme der positiven Nachschwankung ein, und bei einer 5 Minuten anhaltenden Reizung 1) E. Hering, Über positive Nachschwankung des Nervenstromes nach elektrischer Reizung. Beitr. z. allgem. Muskel- und Nervenphysiologie. 15. Mitt. Sitzungsber. d. Wiener Akad. Bd. 89, 3. Abt. 1884. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 35 546 Siegfried Garten: zeigte sich sogar schon anstatt der positiven Nachschwankung eine nachträgliche Schwächung des Nervenstromes. Andererseits gelang es nicht, durch einen einzigen Momentanreiz eine positive Nachschwankung auszulösen. Die Dauer der positiven Nachschwankung war, soweit sich diese aus den Ausschlägen des Galvanometers beurteilen liess, sehr verschieden gross. „War die positive Schwankung an sich gross, so können Minuten vergehen, ehe sie völlig ver- klungen ist. Meist berechnet sich ihre Dauer nur nach Sekunden.“ Trotz ‘der Deutung, die die positive Nachschwankung in der von Hering aufgestellten Theorie der Vorgänge in der lebendigen Substanz erhielt, sind nur wenige Untersuchungen zur weiteren Aufklärung der Erscheinung unternommen worden. Oft wurde sie beiläufig beschrieben, doch würde es hier zu weit führen, alle jene Beobachtungen anzuführen. Unter Hering’s Leitung hat Head!) die positive Nachschwankung noch eingehender verfolgt. So konnte er feststellen, dass Verlängerung der Reizdauer bis zu 30 Sekunden noch Zunahme der positiven Nachschwankung gibt, während bei S0 Sekunden bereits mit einer Zunahme der negativen Schwankung eine Verminderung der positiven Nachschwankung auftritt. Auch gelang es Head, eine positive Nachschwankung bei doppelter Längsschnitt- ableitung zu beobachten, wenn die eine Elektrode in der Nähe des Querschnittes gelegen war. Besonders wesentlich für die Deutung der positiven Nach- schwankung war die von Head angestellte Erörterung der Frage, ob die stärker alterierte Strecke in der Nähe des (uerschnittes (gs) oder die von ihm weiter entfernte schwächer oder gar nicht alterierte Strecke (ls) die Ursache der positiven Nachschwankung darstellt. Er diskutiert hier die beiden Möglichkeiten, dass entweder eine länger in qs auftretende Erregung eine Zunahme des Nervenstromes liefern könne oder ein andersartiger an der Stelle Is ein- setzender Prozess ?). Gegen die erstere Möglichkeit macht er geltend, dass während einer länger dauernden Reizung sich ja auch bereits die positive Nachschwankung entwickelt haben müsste?), die sich 1) Head, Über die negativen und positiven Schwankungen des Nerven- stromes. Pflüger’s Arch. Bd. 40 S. 207. 1887. 2) Oder wie Head S. 253 schreibt, „eine Veränderung, welche in elektrischer Beziehung die entgegengesetzte Wirkung hat, wie diejenige Veränderung, welche wir als Erregung zu bezeichnen pflegen“, und weiter unten: „Es liegt nahe, diesen Zustand als einen solchen aufzufassen, in welchem ein Restitutionsprozess statt- findet, durch welchen die von der vorausgegangenen Erregung bedingte Kon- sumption bis zu einem gewissen Grade wieder ausgeglichen wird“. 3) Die hier nicht diskutierte Annahme, dass die der Strecke qs während der Reizdauer zugeleitete äusserst schwache Erregung den lokalen Prozess in gs nicht aufkommen lässt, also während der Reizdauer gewissermaassen hemmend wirkt, hat wohl wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung etc. 547 dann in einer Zunahme des Nervenstromes äussern und durch alge- braische Summation zur negativen Schwankung die Ablenkung des Galvanometers während der Reizdauer herabsetzen würde. Da die negative Schwankung aber, abgesehen von sehr langen Reizzeiten, bis zum Schluss der Reizung konstant bleibt, so könnte’ jene An- nahme nur aufrecht erhalten werden, wenn in Wirklichkeit die negative Schwankung während der Reizung in bestimmter Weise anwüchse Head hält deshalb die zweite Annahme, dass ein Prozess am Längsschnitt, den er mit Hering als Restitutionsprozess auffasst, die Schwankung verursache, für die wahrscheinlichere. Auch würde diese letztere Annahme, wie Head hervorhebt, die Erscheinung gut erklären können, dass bei weiterer Entfernung der Längsschnitts- elektrode (bis zu 15 mm) vom Querschnitt die positive Nach- schwankung grösser wird. Hering!) selbst hat, wohl auf Grund der obengenannten Überlegungen, sich dahin ausgesprochen, dass bei der positiven Nachschwankung am Nerven an der abgeleiteten Längs- schnittstelle die lebendige Substanz eine autonome aufsteigende Ver- änderung erfährt. Die Möglichkeit der Änderungen an der Quer- schnittselektrode hat er niebt nochmals erörtert. Da die Head’schen Ausführungen nur einen Wahrscheinlichkeits- beweis für die Lokalisation des Prozesses am Längsschnitt darstellen, so ist Cremer wohl im Recht, wenn er sich in seiner neuesten Abhandlung?) über die positive Nachschwankung folgendermaassen 1) Hering, Zur Theorie der Vorgänge in der lebendigen Substanz. Lotos 1839 8. 62, 63 u. 69. „Tetanisierende Reizung des Nerven bewirkt ebenfalls periodischen Wechsel auf- und absteigender Änderung, und nach Schluss der Reizung kann, falls die Substanz dabei unterwertig wurde, eine autonome aufsteigende Anderung eintreten (positive Nachschwankung am tetanisierten Nerven).“ 2) So hat Biedermann über das elektromotorische Verhalten des Muschel- nerven bei galvanischer Reizung (Sitzungsber. d. Wiener Akad. Bd. 95, 3. Abt. 1886) an dem marklosen Komissurnerven von Anodonta, am besten bei Reizung durch Kettenströme unter häufigem Polwechsel (rotierender Stromwender) die positive Nachschwankung beobachten können. Er erhielt sie nicht nur bei Längsquerschnittsableitung, sondern auch bei doppelter Längsschnrittsableitung, wenn der eine Längsschnitt. dem Querschnitt verhältnismässig nahe lag. Ich selbst konnte am marklosen Nervus olfactorius des Hechtes (Beiträge zur Physio- logie der marklosen Nerven. Fischer, Jena 1903) die positive Nachschwankung selbst nach Einzelreizung beobachten. Nach Tetanisierung hatte zuvor schon Miss Sowton (Observations on the elektromotive Phenomena of non-medullated nerve. Proced. of the Royal Soc. vol. 66 p. 379. 1900) am gleichen Objekt nach [2 4-4 33 548 Siegfried Garten: äussert .... „Vor allen Dingen lässt sich auch heute noch nicht entscheiden, ob dieselbe (d. h. die positive Nachschwankung), auf stärkerem Positivwerden — was Hering und seine Schüler an- nehmen — der proximalen Elektrode oder auf einem stärker Negativwerden der distalen beruht. An letztere Möglichkeit denkt namentlich Gotch.*“ Und weiter unten: „kurz man kann der Meinung sein, dass die positive Schwankung nur dann vorkommt, wenn der Demarkationsstrom nicht mehr seinen vollen Normalwert hat und Negativitätswellen dementsprechend bis an die zweite Elektrode hindringen können. Es erscheint mir daher bis jetzt nicht erwiesen, dass die positiven Nachschwankungen durch Veränderungen lediglich der proximalen Elektrode bedingt sind. Wäre das letztere aber dargetan, so wäre immer noch nicht gezeigt, dass ein dem Negativwerden entgegengesetztes Geschehen hier Platz greifen muss. Wir wissen nicht, ob die negative Nachwirkung nicht einen dauernden Rückstand hinterlassen kann, der tonischen Kontraktion der Muskeln entsprechend, und ob die Positivität nicht im einfachen vorüber- sehenden Nachlassen eines solchen von früherer Reizung her be- stehenden Nerventonus bestehen könnte.“ Die zuletzt erörterte Mög- lichkeit würde übrigens ganz gut der von Hering gegebenen Deutung entsprechen. Sind nun auch noch eine ganze Reihe anderer!) Unter- suchungen, die zum Teil das Auftreten der positiven Nachschwankung an anderen Objekten bestätigten, vorgenommen worden, so ist doch der Versuch, direkt zu entscheiden, ob die positive Nachschwankung durch einen Prozess am Längsschnitt oder durch einen Prozess am (Querschnitt bedingt ist, bisher nicht zur Ausführung gekommen. Auch hat sich die Frage, ob die positive Nachschwankung ein lokaler, durch den FErresungsvorgang des Nerven an der betreffenden Ab- Beeinflussung durch Kohlensäure oder nach Liegen des Nerven in physiologischer Kochsalzlösung eine positive Nachschwankung gesehen. Während von Hering gerade betont wurde, dass am frischen, ungereizten Nerven die positive Nachschwankung zu erhalten ist, gibt Waller an (Obser- vations on isolated nerves with particular reference to carbon-dioxide. Phil. Transact. Ser. B. 188. 1897), dass bei fortgeschrittener Schädigung die positive Nachschwankung zunimmt. Betreffs der Erklärung dieser Erscheinung sei auf die Darstellung von Cremer in Nagel’s Handbuch Bd. 4 H. 2 S. 903. 1909 verwiesen. 1) Cremer, Allgemeine Physiologie der Nerven. Nagel’s Handbuch Bd. 4 H.2 8.908. Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung etc. 549 leitungsstelle ausgelöster Vorgang ist, oder ob sie, wie die mit Negativität des betreffenden Punktes verknüpfte Erscheinung, als von der Reizstelle fortgeleiteter Vorgang aufzufassen ist, bisher nicht entscheiden lassen 1), Ich hatte hierauf bereits in meinen Unter- suchungen am Riechnerven des Hechtes (S. 52) hingewiesen. Durch die folgenden Versuche kann ich nun den Nachweis er- bringen, dank der raschen Reaktion und ausreichenden Empfindlich- keit des Einthoven’schen Saitengalvanometers, dass tatsächlich, wie es Hering, Head und andere auf Grund der oben wieder- gegebenen Überlegungen annahmen, die positive Nachschwankung durch einen Prozess am Längsschnitt bedinet ist, und dass derselbe nicht durch Fortleitung von der Reizstelle, sondern durch die Er- resung an dem betreffenden Punkte ausgelöst wird. Um zunächst den ersten Punkt, ob der Erregungsvorgang am Längsschnitt oder am Querschnitt die Erscheinung der positiven Nachschwankung bedingt, aufzuklären, beabsichtigte ich ursprünglich, durch wechselnde Kühlung der Elektroden bald am Länes-, bald am (Querschnitt, festzustellen, in welchem Falle eine Verzögerung des Ablaufes der positiven Nachschwankung auftrat. Konnte man doch nach Analogie der hochgradigen Verzögerung der Aktionsströme durch Abkühlung annehmen, dass auch die positive Nachschwankung an einer gekühlten Nervenstelle wesentlich langsamer verlaufen würde. Bei der Voruntersuchung über das Verhalten der positiven Nach- schwankung bei verschiedenen Temperaturen des Nerven stellte sich nun als sehr bemerkenswertes Resultat heraus, dass bei Abkühlung des ganzen Nerven etwa unter S—10° G ?) die positive Nachschwankung vollständig verschwindet, während die negative Schwankung bestehen bleibt. Wiederholter Temperaturwechsel zeigte, dass keine Schädigung vorlag, da nach Wiedererwärmung jedesmal eine Wiederkehr der positiven Sehwankung zu erhalten war. Nach dieser Feststellung konnte der ursprüngliche Versuchsplan in noch viel besserer Form durchgeführt werden. Kühlung der (Querschnittselektrode musste einflusslos bleiben, Kühlung der Längsschnittselektrode musste zu 1) In einer oben zitierten Untersuchung am Muschelnerven (S. 22) tritt Biedermann für die erstere Annahme ein: „Wenn, wie es wohl am wahr- scheinlichsten ist, die positive Nachschwankung auf einer örtlichen Reaktion der Nerven gegen die vorausgehende Erregung beruht.“ 2) Gültig zunächst für die hiesigen im September gefangenen Ranae escul. und die mir aus Ungarn gelieferten Tiere. 550 Siegfried Garten: einem Verschwinden der positiven Nachschwankung führen, wenn die Annahme zu Recht besteht, dass es sich bei ihr um einen Prozess am Längsschnitt des Nerven handelt. Die Aufhebung der positiven Nachschwankung bei Herabsetzung der Temperatur. Um die Temperatur des ganzen Nerven beliebig variieren zu können, wurde der Nerv auf unpolarisierbaren Elektroden in einen Kasten gebracht, bei dem eine strenge Isolation der einzelnen Elektroden auch bei starker Temperaturänderung nach einem früher von mir beschriebenen Prinzip zu erzielen war!). In der Regel wurde der Demarkationsstrom des Nerven zum Saitengalvanoıneter abgeleitet und meist vor dem Versuch möglichst vollständig kom- pensiert. Eine vor dem Spalt des Kymographions angebrachte Borste wurde dann so eingestellt, dass sie möglichst genau der Nullstellung der Saite entsprach. In allen Versuchen wurde die Verbindung so getroffen, dass eine negative Schwankung des Demarkationsstromes durch eine Hebung der Saitenkurve über die Nullinie wiedergegeben wird, eine Senkung unter die Nullinie würde also einer positiven Schwankung entsprechen. Da bisher der Verlauf der positiven Nachschwankung mit einem rasch reagierenden Saitengalvanometer noch nicht verfolet, jedenfalls noch nicht beschrieben wurde, sei in beistehender Textfigur eine besonders schön ausgebildete positive Nachschwankung wiedergegeben, die den gewöhnlichen Verlauf nach einer kürzeren, 15 Sekunden währenden Reizung darstellt, nur ist hier ausnahmsweise, um die Intensität der Ströme zu vergrössern, ein Bündel von 6 Nervi ischiadiei verwendet worden. Am Beeinn der Kurve oszilliert die Saite entsprechend der einzelnen Aktionsströme bei der tetanisierenden Reizung um eine ziemlich weit von der Nullinie entfernte Gleich- gewichtslage. Eine Rückkehr der Saite bis zur Nullinie ist bei der tetanisierenden Reizung ganz ausgeschlossen, da die Saite, um eine genügende Empfindlichkeit zu erzielen, nur schwach gespannt war und infolgedessen ziemlich langsam reagierte. Dabei sind aber ihre Ausschläge noch genügend rasch?), um einen so langsam sich voll- 1) Garten, Beiträge zur Kenntnis des Erregungsvorganges im Nerven und Muskels des Warmblüters. Zeitschr. f. Biol. Bd. 52. 1909. 2) Nach einer gelegentlich vorgenommenen Eichungskurve betrug die Ein- stellungszeit etwa !/ao Sek. Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung etc. 551 ziehenden Vorgang wie den der positiven Nachschwankung ohne grössere Entstellung wiederzugeben. Der Hebel am Fusse der Figur zeigt durch sein Herabgehen das Ende der Reizung an, und man erkennt, wie sofort die Saite weit unter die Nullinie sinkt und etwa nach ?°/5 Sekunde ihren tiefsten Punkt erreicht. Sie kehrt dann, anfangs schneller, später langsamer, zu ihrer früheren Null- stellung mehr oder weniger vollständig zurück. Dass das Anwachsen der positiven Nachschwankung verhältnismässig rasch vonstatten geht, hat bereits Hering aus der Bewegung seines Magneten an der langsam schwingenden Bussole erschlossen. So schreibt er „Ich bemerkte oft, dass der infolge der Reizung des Nerven negativ Fig. 1. (2/3 der Originalgrösse.) abgelenkte Magnet im Augenblicke der Beendigung der Reizung plötzlich einen Anlauf zur Bewegung in entgevengesetzter Richtung nahm, der zur schliesslichen neuen Ablenkung des Maeneten nicht im Verhältnisse stand. Schon hieraus wurde wahrscheinlich, dass der positive Zuwachs des Nervenstromes unmittelbar nach der Reizung grösser ist, als er sich in der schwachen positiven Ablenkung dar- stellt, welche derselbe schliesslich zeigt.“ Dementsprechend konnte von Hering auch eine stärkere positive Ablenkung erzielt werden, wenn man nach Kompensation des Nervenstromes den Bussolkreis während der Dauer der Reizung Öffnete und erst unmittelbar am Ende der Reizung wieder schloss. Da vor dem obigen Versuch der Nervenstrom nahezu wenigstens kompensiert war, so kann man die positive Ablenkung als Zunahme der elektromotorischen Kraft des 552 Siegfried Garten: Demarkationsstromes auffassen. Auf Grund einer Eichungskurve gab ein Millidaniell bei Einschaltung in den gleichen Stromkreis einen Ausschlag von 22 mm. Da die positive Ablenkung im vorliegenden Falle 30 mm beträgt, so würde sie einer Zunahme des Demarkations- stromes von 1,4 Millidaniell entsprechen. Es lässt sich nun leicht zeigen, dass mit Sinken der Temperatur die positive Nachschwankung ungemein stark in ihrem Ausmaass verringert wird, so dass oft schon bei einer Temperatur von 10° C. die Schwankung fast völlig fehlt. Dabei handelt es sich aber nicht um eine dauernde Schädigung des Nerven, denn sobald die Tem- peratur der feuchten Kammer erhöht wird, tritt die positive Nach- schwankung wieder deutlich hervor. Am besten lässt sich das da- durch nachweisen, dass man, ohne an der Lage des Nerven etwas zu ändern, die Temperatur der feuchten Kammer bald durch Ein- packen in Eis herabsetzt, bald auf Zimmertemperatur erhöht. Fig. 2—5 auf Tafel XIX zeigen einen derartigen Versuch, den ich mehrfach mit dem gleichen Erfolg wiederholt habe. In Fig. 2 wurde der Nerv kurze Zeit nach der Präparation bei einer Temperatur von 9,5° C. gereizt, und man erkennt deutlich, dass am Schlusse der Reizung die Quarzsaite nur eben in ihre Nullstellung zurück- ging. In Fig. 3 wurde das Präparat auf Zimmertemperatur erwärmt (Temp. 17,2° C.), und jetzt tritt sofort eine ausgiebige positive Nach- schwankung auf. Durch Beobachtung konnte am Schlusse des Ver- suches festgestellt werden, dass die Saite bis auf !/’s mm genau in ihre alte Nullstellung zurückging. Die dem Leser vielleicht auf- fallende stärkere negative Ablenkung während des Tetanisierens bei der niedrigeren Temperatur braucht nicht, wie man vielleicht meinen könnte, durch eine höhere elektromotorische Kraft der Aktionsströme bedingt zu sein, sondern ist höchst wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass die einzelnen Aktionsströme bei der niedrigen Temperatur länger einwirken. Da die Saite relativ schwach gespannt ist, sich also relativ langsam in ihre alte Nullstellung ein- stellt, gibt sie ähnlich wie ein noch träge reagierendes Galvanometer nahezu wenigstens nur den Integralwert der einphasischen Aktions- ströme an, und dieser kann grösser sein, obgleich, wie es höchst wahrscheinlich auch der Fall ist, die elektromotorische Kraft der einzelnen Aktionsströme abgenommen hat. Nach dem zuletzt be- schriebenen Versuch wurde der Nerv wieder abgekühlt, und bei einer Temperatur von 11° C. wurde die Aufnahme 4 gemacht, die er- Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung etc. 553 kennen lässt, dass auch bereits bei 11° C. sich nur noch eine Spur der positiven Nachschwankung zeigt. Eine sofort daran anschliessende Wiedererwärmung auf 18° C. ergab, wie die Fig. 5 deutlich er- kennen lässt, wiederum eine positive Nachschwankung des Nerven- stromes. Da auch mehrere andere derartige Versuche zu dem gleichen Ergebnis geführt haben, so kann man den Satz aufstellen: Ab- kühlung des Nerven auf eine Temperatur zwischen 0 und 10° C. bringt die positive Nachschwankung zum Verschwinden, doch ist dieselbe leicht bei nachherigem Erwärmen des Nerven auf Zimmer- II III Fiela temperatur wieder zu erhalten. Eine Erhöhung der Temperatur hat nicht diesen Einfluss. So konute ich noch bei 28,5° C. und in einem Fall auch noch bei 31,3° C. eine rasch verlaufende positive Nach- schwankung beobachten. Es erscheint bemerkenswert, dass ein anderer ebenfalls ziemlich langsam ablaufender Prozess im Nerven, nämlich die negative Nach- wirkung des Erregungsvorganges nach Veratrinvergiftung ebenfalls unterhalb von 10° C. unmerklich wird. Dieser Umstand hatte seinerzeit dazu geführt, dass Boruttau!) im Gegensatz zu meinen Beobachtungen eine Unwirksamkeit des Veratrins auf den Nerven- stamm annahm. Später hat er selbst nachweisen können, dass das 1) Boruttau, Pflüger’s Arch. Bd. 84 S. 39. 1901. ZU 54 Siegfried Garten: reine Veratrin bei hoher Temperatur wirksam ist, bei niedriger da- gegen keinen Effekt hat!). Es verhält sich in dieser Richtung der Nerv ebenso wie der Muskel, bei dem nach der Angabe von Lauder Brunton und Cash (influence of heat and cold upon museles poisoned by Veratrine. Journ. of Physiol. vol. 4 p. 23 1883) das Veratrin bei niedriger Temperatur weniger wirksam wird. In beistehender Text- figur 21 ist dieses eigentüm- liche Verhalten des Nerven, wie es von mir [schon früher am Kapillarelektrometer be- obachtet, aber bisher noch nicht beschrieben wurde, durch einen Versuch mit lokaler Ab- kühlung des Nerven veran- schaulicht. Sechs Nerven von drei grossen Ranae exe. waren Zu- nächst unvergiftet auf die Ab- leitungselektroden ab und die Reizelektroden ed gelegt wor- den. In a lagen die ‚Nerven mit ihren Querschnitten der Elektrode an. In b liefen die Nerven über ein Glasrohr, dessen Temperatur durch Zu- fuhr von wärmerem und kälterem Wasser leicht zu verändern war. An dieser Stelle wurde mit einer dem Nerven aufgesetzten Pinselelektrode abgeleitet. Die S Kurven 1—3 der Textfigur 21a wurden bei folgenden Elektrodendistanzen aufgenommen: ab 11, be 35,5, ed 6 mm. Gereizt wurde durch Öffnungsschläge bei Rollen- in > I, U und III vor, IV und V ‚ II und IV ist Längsschnittsstelle auf ca. 20° C. erwärmt, bei II und V mit Eiswasser gekühlt. sche Aktionsströme von sechs Nervi ischiadici. Fig. 21a und b. Einphasi nach Veratrinvergiftung, bei I l) Boruttau, Pflüger’s Arch. Bd. 90 S. 249. 1902. Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung etc. 555 abstand 10 em (Inductorium ohne Eisenkern). Kurve I zeigt zu- nächst zwei einphasische Aktionsströme bei der Kammertemperatur von 17° C. Dann wird in Kurve II die Stelle b durch Eiswasser gekühlt, und man erhält entsprechend der längeren Dauer des Aktionsstromes (nicht zu verwechseln mit einer Zunahme der elektro- motorischen Kraft) einen grösseren Ausschlag des Saitengalvanometers. Erwärmung der Stelle b durch Wasser von 20,7° C. gibt sofort wieder den steilen und kurzen Saitengalvanometerausschlag. Nun werden die Nerven 2 Minuten lang in eine Veratrinlösung 1: 1000 (Veratrin hydrochl. [Merck] in Ringer’scher Lösung ge- löst) gebracht, abgespült und von neuem auf die Elektroden gelest. Die Elektrodendistanzen waren jetzt folgende: ab 9, be 36, ed 6. Kurve IV zeigt die gedehnte negative Schwankung bei Kühlung des Nerven. In letzterem Falle ist, abgesehen von der Grösse, die negative Schwankung nicht merklich von der des normalen Nerven verschieden. Am gleichen Präparat wurde mehrfach die Stelle b erwärmt und gekühlt und jedesmal zeigte der Nerv nach einer lokalen Erwärmung in b die gedehnte Schwankungsform der Kurve IV, während nach Abkühlung der Ablauf der Schwankung wieder ein rascherer wird wie in Kurve V. Übrigens war durch die Ab- kühlung die Veratrinwirkung, namentlich bei den ersten Reizungen, nieht vollkommen beseitigt, aber der Rückstand der Saitenablenkung war gegenüber den Versuchen bei hoher Temperatur ganz un- bedeutend. Ob wegen des gleichen Einflusses der Abkühlung auf Veratrineffekt und positive Nachschwankung auch ein innerer Zu- sammenhang zwischen beiden Vorgängen angenommen werden kann» etwa in der Weise, dass besondere Bestandteile der Nervensubstanz bei beiden Prozessen in Tätigkeit treten — natürlich in verschiedener Weise —, muss hier dahingestellt bleiben. Nachweis der Lokalisation der positiven Nachschwankung durch wechselnde Abkühlung und Erwärmung des Längsschnittes und Querschnittes des Nerven. Um eine lokalisierte Abkühlung am Längsschnitt bzw. Quer- schnitt des Nerven zu erzielen, wurden zwei Glasröhren in zirka 16 mm Entfernung in der Kammer angebracht, die als Unterlage der Elektroden dienen sollten. An dem für den Querschnitt be- stimmten Glasrohr wurde eine ganz dünne Schicht Kochsalzton auf- getragen, die mit der einen Elektrode in Verbindung stand. Bei 556 Siegfried Garten: der Längsschnittselektrode wurde der Nerv direkt auf das Glasrohr selest und der Strom durch Aufsetzen einer feinen Pinselelektrode abgeleitet. Um durch Leitung und Strahlung eine Beeinflussung der beiden Nervenstellen möglichst zu verhindern, waren seitlich, d. h. gegen (@uerschnitts- und Reizelektroden hin, an der Längsschnitts- elektrode zwei mit Siegellack getränkte Kartonblätter angebracht. Durch einen feinen vertikalen Schlitz in denselben wurde der Nerv hindurehgezogen und dann dureh Kochsalzton der übrige Spalt ver- schlossen. Durch eine geeignete Vorrichtung konnte in raschem Wechsel durch die beiden Glasröhren Eiswasser oder Wasser von einer Temperatur von 21°C. geleitet werden. Der Bestandstrom, der hier wegen der lokalen Erwärmung des Nerven von Versuch zu Versuch sich wohl änderte [vel. Grützner!)], wurde vor jeder Reizung kompensiert. Die Figuren 6—10 auf Tafel XIX veranschaulichen den Verlauf eines derartigen Versuches. Fig. 6 zeigt den Schluss einer etwa 15 Minuten dauernden Reizung, nach der eine deutliche positive Nachsehwankung auftritt. In diesem Falle war der Querschnitt des Nerven durch Eiswasser gekühlt worden, während der abgeleitete Längsschnitt der Kammertemperatur von 19° C. ausgesetzt war. Hierauf wurde auch der Längsschnitt durch Eiswasser gekühlt. Die Folge ist, wie Fig. 7 zeigt, eine scheinbare Vergrösserung der Aktionsströme während der Reizung; aber nach Schluss der Reizung tritt nur eine rasche vollständige Rückkehr zur Nullinie ein. Dass es sich nicht um eine Schädigung des Nerven handeln kann, beweist Versuch 8, der 3 Minuten nach dem letzten Versuch aufgenommen wurde, nachdem wieder Wasser von 22° C. an dem Längsschnitt des Nerven vorbeigeleitet worden war. Wie die Fieur zeigt, ist sofort die positive Nachschwankung wieder aufgetreten; es hat also die starke Abkühlung der Länesschnittelektrode zu keiner irgendwie erheblichen Schädigung des Nerven geführt. Ja es konnte sogar der- selbe Nerv, wie Fig. 9 und 10 zeigen, noch einmal abgekühlt und noch einmal erwärmt werden, und wiederum trat das schon oben beschriebene Verhalten hervor, dass die Abkühlung des Längsschnittes bei dauernd gekühltem Querschnitt die positive Nachschwankung zum Verschwinden bringt und das Erwärmen sie sofort wieder auftreten lässt. Noch schlagender ist vielleicht folgender Versuch (Fig. 11—16). Zunächst wurde von dem Nerven bei einer Zimmertemperatur von l) Grützner, Beiträge zur allgemeinen Nervenphysiologie. Pflüger’s Bd. 25 S. 265. 1881. Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung etc. 557 19,5° C. nach einer immer etwa 15 Sekunden dauernden Reizung eine positive Nachschwankung aufgezeichnet (Fig. 11). Dann wurde der Längsschnitt gekühlt, während sich der übrige Nerv in Zimmer- temperatur befand. Wie Fig. 12 zeigt, ist die Ablenkung während der Reizung entsprechend der längeren Dauer der einzelnen Er- regungen vergrössert, die positive Nachschwankung aber gleich Null. Zufuhr von warmem Wasser zur Längsschnittselektrode führt auch hier sofort, wie Fig. 13 zeigt, zur Wiederkehr der positiven Nach- schwankung. Es wird nun der Querschnitt gekühlt, der bisher auf Zimmertemperatur gehalten worden war, und wie Fig. 14 erkennen lässt, ist hierdurch im Verlaufe der positiven Nachschwankung gar keine Änderung eingetreten. Sobald nun aber, wie bei Versuch 15, neben dem Querschnitt auch der Längsschnitt gekühlt wird, fällt die positive Scehwankung vollständig weg. Auch hier liess sich, wie Fie. 16 zeigt, durch alleiniges Erwärmen der Längsschnittsstelle die positive Nach- schwankung sofort wieder erhalten. Auf Grund dieser beiden und noch drei weiterer Versuchsreihen, die ganz das gleiche Ergebnis lieferten, lässt sich also mit Sicherheit sagen, dass die Abkühlung des Querschnittes für die Entstehung der positiven Nachschwankung ohne Einfluss ist, eine Abkühlung des Längsschnittes aber, ebenso wie die Abkühlung des ganzen Nerven die positive Nachschwankung zum Verschwinden bringt. Die positive Nachschwankung bei doppelter Längsschnittsableitung. Bei Ableitung von zwei Längsschnittspunkten des Nerven wird man, nach obigen Befunden zu schliessen, durch umschriebene Ab- kühlung des Nerven an einer Elektrode ebenfalls eine positive Nach- schwankung erhalten müssen. Bezeichnen wir der Reihe nach vom Querschnitt des peripheren Nervenendes ausgehend die beiden Längs- schnittselektroden mit a und 5b und die am oberen Ende gelegenen Reizelektroden mit ce und d, so wird, wenn man a abkühlt, eine positive Nachschwankung im richtigen Sinne zu erwarten sein, da nur b durch seine höhere Temperatur befähigt ist, jenen un- bekannten Prozess, der sich in der positiven Nachschwankung äussert, durchzumachen. Wenn wir, wie in den bisherigen Figuren, und es mag das auch in beistehender Textfig. 22 in gleicher Weise durch- geführt werden, die relative!) Negativität von 5b gegenüber dem 1) Im Vergleich zu dem Zustand vor der Reizung. 558 Siegfried Garten: Punkte a durch eine Erhebung der Saite über der Nullinie andeuten, und eine relative Negativität von a gegen b durch eine Senkung unter die Nullinie, so ist zu erwarten, dass wir in dem erstgenannten Falle nach Schluss der Reizung eine Senkung unter die Nullinie er- halten. Wären beide Elektroden gleich temperiert, so würde die Saite während der Reizung entsprechend der diphasischen Aktions- ströme nur äusserst rasch um die Nullinie schwingen. Da aber an der gekühlten Elektrode a der Aktionsstrom, wenn auch wahr- scheinlich mit geringerer elektromotorischer Kraft, wesentlich länger persistiert, so wird für die Saitenkurve die Negativität dieser Stelle b negativ N eng gegen « Saitenkurve — NM \ Schluß Beer TC bgekühll) 0 |_ I wroNs' is AN ee I(a gericht) ı) | | Saitenkurve | ) I | AN N NN \ Yu MN a negativ gegen b \y Fig. 22. überwiegen, d. h. die Saite wird während der Reizung unterhalb der Nullinie oszillieren. Es ergibt sich also ein Kurvenverlauf, wie er in beistehender Textfigur durch die Kurve I schematisch dargestellt ist. Kühlt man die Elektrode 5 ab, so wird zunächst, was den Effekt während der Reizungsdauer betrifft, der Erregungsvorgang am gekühlten Punkte b wesentlich länger vorhanden sein als an der warmen Nervenstelle a. Infolgedessen wird auch schon, wenn wir von einem etwaigen Dekrement der Erregung in dem gekühlten Nerventeil absehen, der Einfluss der ersten Phase des Aktionsstromes, die ja einer Erhebung der Saitenkurve entspricht, überwiegen müssen. Die Kurve wird also während der Reizung über der Nullinie verlaufen. Die weitere wichtigere Frage ist nun die, kann jetzt überhaupt am Schluss der Reizung eine positive Nachschwankung auftreten ? Die Abkühlungsversuche haben ja ergeben, dass im Punkte 5 der Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwarkung etc. 559 Prozess, der zu einer relativen Positivität des betreffenden Nerven- teiles führt, sich nicht entwickelt. Zum Punkte a gelangt die Er- regung; wohl, ob aber nun der Erregungsvorgang hier ebenfalls wieder jenen Prozess, der zur relativen Positivität des Punktes a führt, auslöst, ist zunächst fraglich. Wäre der Vorgang, der zur positiven Nachschwankung führte, von der Reizstelle fortgeleitet, so würde er ja in 5 vernichtet werden. Ist er dagegen, wie mehrfach vermutet wird, eine lokale Reaktion, die sich an dem Erregungsvorgang an- schliesst, so müsste im Punkte a auch jetzt eine positive Nach- schwankung auftreten. Eine relative Positivität des Punktes a gegen b entspricht aber einer Erhebung der Saitenkurve über die Nullinie, und es würde also, wenn die Annahme richtig ist, dass die positive Nachschwankung eine lokale Reaktion darstellt, die in beistehender Textfigur durch II bezeichnete Kurve auftreten. Die Abkühlungsversuche der einzelnen Nerventeile haben nun zu folgendem Ergebnis geführt. Kurve 17 stellt den Verlauf der Aktionsströme dar bei Abkühlung der distalen Elektrode a. Während der Reizung überwiegen, wie oben auseinandergesetzt war, die zweiten, entsprechend der Abkühlung träger verlaufenden Phasen der Aktionsströme. Man sieht dementsprechend die Saite unterhalb der Nullinie oszillieren. Am Schluss der Reizung erfolgt eine neuer- liche Senkung der Saitenkurve, die auf Grund der oben genannten Abkühlungsversuche auf Zunahme der Positivität der Stelle 5 be- zogen werden muss. In Fig. 18 ist nun umgekehrt der Versuch dargestellt, eine positive Nachschwankung bei Abkühlung der proximalen Elektrode 5 und Erwärmung der distalen @« zu erhalten. Jetzt überwiegen während der Reizung die von der Elektrode b ausgehenden länger dauernden Aktionsströme. Dementsprechend beobachtet man die Saiten- oszillationen hoch über der Nullinie. Nach Schluss der Reizung ist aber eine neue Hebung der Saitenkurve festzustellen, deren Ursache nach den früheren Versuchen durch eine Zunahme der Positivität des Punktes a gegenüber von b bedingt sein muss. In Fig. 19 und 20 ist ein zweiter derartiger Versuch am gleichen Nerven bei grösserer Plattengeschwindigekeit wiedergegeben. Man kann hier besser die Oszillationen der Saite während der Reizung erkennen, allerdings ist, da der Versuch nach 17 und 18 vorgenommen wurde, die posi- tive Nachschwankung schon wesentlich kleiner. Den soeben be- schriebenen Doppelversuch habe ich viermal mit dem gleichen Erfolg 560 Siegfried Garten: ausgeführt. Allerdings dreimal an demselben Nerven. Da die Elektrodenstelle « womöglich 1 em vom Querschnitt entfernt sein muss, und bei den Temperaturversuchen grosse Ableitungsstrecken nötig sind, habe ich den Versuch nur an einem grossen ungarischen Frosch und einem grossen einheimischen Exemplar angestellt. Da die Resul- tate in allen vier Versuchen aber vollständig übereinstimmen, halte ich den Nachweis für gesichert, dass der Erregungsvorgang einen lokalen Prozess auslöst, der zu einer relativen Positivität der betreffenden Nervenstelle führt. Hatte doch in den zuletzt angeführten Versuchen der Erregungsvorgang die gekühlte Nervenstrecke passiert, ohne hier zu einer positiven Nachschwankung zu führen, wie durch die ersten Versuche sicher gestellt war, und rief er doch dann nach Passage der kälteren Stelle jenen Vorgang hervor. Zusammenfassung. Der Prozess der positiven Nachschwankung wird durch Ab- kühlung vollständig aufgehoben, ohne dass dabei eine Schädigung des Nerven eintritt, soweit sich letztere in der positiven Nach- schwankung äussert. Es kehrt bei Erhöhung der Temperatur sofort die positive Nachschwankung in voller Stärke wieder. Dass die positive Nachschwankung durch einen Prozess im Nerven an der Längsschnittelektrode und nieht durch die längere Dauer eines abortiven Erregungsvorganges am Querschnitt bedingt ist, wird da- durch bewiesen, dass lokale Kühlung des Querschnittes ohne Ein- fluss auf die Entwicklung der positiven Nachschwankung ist. Durch Abkühlung des Längsschnittes wird dagegen die positive Nach- schwankung sofort aufgehoben. Bei Ableitung von zwei Längsschnittpunkten des normalen Nerven lässt sich durch wechselnde Abkühlung des oberen, der Reizelektrode näheren, und des unteren wechselweise nach Schluss der Reizung eine Saitenablenkung beobachten, die einer Positivität des unteren gegen den oberen Punkt bzw. des oberen gegen den unteren entspricht. Also jedesmal verhält sich der erwärmte Nerventeil positiv gegen den gekühlten. Dass die positive Nachschwankung von dem unteren Punkte ausgehen kann, nachdem die Erregung eine gekühlte Strecke passiert hat, beweist, dass die positive Nachschwankung eine lokale Reaktion des Nerven auf den Reiz darstellt. Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung etc. 561 Der Wegfall der positiven Nachschwankung bei sehr niedriger Temperatur legt die Frage nahe: ob nicht, wenn im Sinne Herings die positive Nachschwankung mit Restitutionsprozessen im Nerven in Beziehung zu setzen ist, bei niedriger Temperatur Ermüdungs- symptome auch vom normalen markhaltigen Nerven bei Untersuchung seiner Aktionsströme zu gewinnen sind. Erklärung der Abbildungen auf Tafel XIX u. XX und der Textfigur 1. Sämtliche Kurven sind von links nach rechts zu lesen. Eine Erhebung der Saitenkurve über die Nullinie entspricht immer einer Zunahme der Negativität der der Reizstrecke näheren Ableitungselektrode gegenüber der ferneren, die ab- gesehen von den Versuchen von Fig. 17—20 dem Querschnitt anlag. Die ‚Elektrodenstrecken sind in allen Figuren folgendermaassen bezeichnet: c d Reiz- strecke, b c Zwischenstrecke, a b Ableitungsstrecke. Der Elektrode a lag in der Regel der periphere Querschnitt des Nervus ischiadicus an. Zur Verkleinerung des Widerstandes wurden meist die Doppelnerven desselben Tieres in einigen Versuchen auch Bündel von vier oder sechs Nervi ischiadiei benutzt. Zur Reizung diente der faradische Strom eines Induktoriums, aus dem der Eisenkern entfernt war. Von den Aktionsströmen während der Reizung sind in den Figuren nur die der letzten Fünftelsekunden der Reizung sichtbar. Die Reizdauer betrug durchschnittlich 15 Sekunden. Der Schluss der Reizung wurde durch die Herstellung einer Nebenschliessung des sekundären Kreises automatisch durch meinen Kontaktapparat bewirkt. Die Senkung des Hebelschattens 7 am Fusse der Figur gibt diesen Moment genau an. Darüber sind die Fünftelsekunden geschrieben, und meist etwa in der Mitte der Figur findet sich eine breitere hori- zontale Linie ©, die der Nullstellung der Saite entspricht. Diese Saitenlage war vor jedem Versuch durch Kompensation des Demarkationsstromes möglichst genau hergestellt worden. Da derselbe bekanntlich nie ganz konstant ist, sind kleine Veränderungen der Nullage während des Versuches nicht zu vermeiden. Fig. 1. Nervenbündel von sechs Nervi ischiadici von Rana escul., Temp. 18,5° C., ab16,b.c32,cd4, R.-A.5,5 mm, Die grösseren Senkungen während der Reizung sind wahrscheinlich durch Unregelmässigkeiten im Gang des Wagner’schen Hammers bedingt. Am Schluss der Reizung ist eine starke positive Nachschwankung zu beobachten. Eichung mit 1,0 M.-D. (Millidaniell) gibt eine Dauerablenkung von 22 mm.. Fig. 2—5. Versuchsreihe an einem Doppelnerv von einer grossen weibl. Rana escul. wechselnde Erwärmung und Abkühlung des ganzen Nerven. a 5b 12,7, be 275, cd 492. Fig. 2. Temp. 9,5° C., R.-A. 10 cm, keine positive Nachschwankung. Fig. 3. Temp. 17,2° C. R.-A. 10 cm, grosse positive Nachschwankung. Es wird beobachtet, dass die Saite bis auf /? mm zur Nullstellung zurückkehrt. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 36 562 Siegfried Garten: Fig. 4 Temp. 11°C. R.-A. 10 cm. Höchstens ist eine Spur einer !positiven Nachschwankung zu erhalten. Fig. 5. Temp. 18° C., R.-A. 10 cm. Fig. 6—10. Variierung der Temperatur der Ableitungselektroden. Bündel von vier Nerven. a b 11,3 b c 32,5 c d 4,0. Während der ganzen Versuchsreihe wird die Querschnittselektrode durch Eiswasser gekühlt und nur die Temperatur der Längsschnittelektrode variiert. Der Rollenabstand für die Reizung betrug bei allen Versuchen 10 cm. Fig. 6. Längsschnittelektrode 5 auf Kammertemperatur von 19° C. gehalten. Deutliche positive Nachschwankung; 1 M.-D. = 30 mm. Fig. 7. Längsschnittelektrode gekühlt, positive Nachschwankung vollständig auf- gehoben. Fig. 8. 3 Minuten Wasser von 22° C. unter der Längsschnittelektrode hindurch- geleitet. Positive Nachschwankung wieder vorhanden. Fig. 9. Nochmalige Kühlung der Längsschnittelektrode (Temperatur des ab- fliessenden Wassers 6° C., positive Nachschwankung vollständig verschwunden. Fig. 10. Nochmalige Erwärmung der Längsschnittelektrode. Wiederkehr der positiven Nachschwankung. Fig. 11—16. Doppelnerv eines grossen weiblichen ungarischen Frosches. Variierung der Temperaturen beider Ableitungselektroden. a b 12, bc 2, cd3 mm. R.-A. in allen Versuchen 10 cm. Fig. 11. Kammertemperatur 19,5°C. am ganzen Nerven. Positive Nachschwankung deutlich. Fig. 12. Kühlung der Längsschnittelektrode Positive Nachschwankung auf- gehoben. Fig. 13. Erwärmung der Längsschnittelektrode durch Wasser von 21,50 C. Wiederkehr der positiven Nachschwankung. Fig. 14. Querschnittelektrode « gekühlt, Längsschnittelektrode auf 21,5% C. ge- halten, positive Nachschwankung unverändert. Fig. 15. Nun ausser der Querschnitt- auch die Längsschnittelektrode gekühlt, positive Nachschwankung völlig verschwunden (höchstens '/z mm). Fig. 16. Querschnittelektrode gekühlt, Längsschnittelektrode mit Wasser von 21,5° C. erwärmt, positive Nachschwankung tritt sofort wieder auf. Fig. 17 und 13. Doppelnerv eines sehr grossen ungarischen Frosches. Ableitung von zwei Längsschnittpunkten des Doppelnerven, die wechselnd er- wärmt und abgekühlt werden. « b 13mm, bc 34 mm, cd 4 mm; die untere Ableitungselektrode a ist reichlich 1 cm von dem unteren Querschnitt des Nerven entfernt. Die Ableitung von dem in a und b auf den Glasröhren liegenden Nerven geschieht durch zwei Pinselelektroden. Fig. 17. Obere Elektrode b erwärmt (Wasser von ca. 22° C.), untere a gekühlt. Während der Reizung Oszillieren der Saite unter der Nullinie, entsprechend der längeren Dauer der Aktionsströme in a. Nach Schluss der Reizung kräftige positive Nachschwankung im richtigen Sinne, d. h. Zunahme der Positivität des gewärmten Punktes b gegen den gekühlten Teil «. Pfiiüger’s Archiv für die ges. Physiologie. Ba. 186. TSTKEIFETERFLEITETFA FL FE Ta a E) ine Ba nnmarern DrHi ann EN R LITHIA SEELE FELLLEHTERL IDERIEFZRIEHNGRKAESHUHHZUAT RRRITHTATTENGTIITGTRAENNN FINALE UIANTLTELTT EN — EALZNBGHAERGTETZE IIITGIEINERTIATEITGTTATE RES BELLE IAISLUISIHIKLSELLCLHIHLURZS ARARNAIEHTEITENSTEN HEILER EIG HAATTTIEERE HhERASTIBAKELFTIEE MOSER SLMERIEITTERFER rlag von Martin Hager, Bonn. Tafel XIX. Pflüger’s Archiv für die ges. Physiologie. Bd. 186. ri BASSTURTUNSTTENN [FRTPERETERTTTEREFTESER FETT IT Verlag von Martin Hager, Bonn. Tafel XX. sr ze EL LEALTENNTE eT Ein Beitrag zur Kenntnis der positiven Nachschwankung etc. 563 Fig. 18. Kühlung von b und Erwärmung von a. Während der Reizdauer oszilliert die Saite oberhalb der Nullinie, entsprechend dem längeren Be- stehen der Erregungen in dem gekühlten Punkte db. Nach Schluss der Reizung nochmalige Erhebung der Kurve über die Nullinie entsprechend der Zunahme der Positivität des Punkies a über den Punkt b. Fig. 19 und 20. Der gleiche Versuch wie Fig. 17 und 13 bei grösserer Ge- schwindigkeit der Schreibfläche. Da der Versuch später ausgeführt wurde als Versuch 17 und 18, ist die positive Nachschwankung schon etwas kleiner geworden. 564 Otto Wiener: Über die Möglichkeit einer stereoskopischen Projektion ohne Ab- lenkungsprismen mit weissen Teilbildern. Von Otto Wiener. (Mit 2 Textfiguren.) Über stereoskopische Projektionen hat Hering!) in dieser Zeit- schrift einen Aufsatz veröffentlicht, an den anknüpfend es mir vergönnt sein möge, einen kleinen Beitrag zur Feier unseres verehrten Jubilars zu liefern. Unter den verschiedenen Arten der stereoskopischen Projektionen, welche Hering bespricht, ist wohl die einfachste und zweckmässigste die, dass man ein rotes und ein grünes Teilbild auf eine weisse Wand projiziert und die stereoskopisch verschiedenen Bilder mit einer Brille betrachtet, welche auf der einen Seite ein rotes, auf der anderen Seite ein grünes Glas enthält. Sind die Farben so gewählt, dass sie sich spektral ausschliessen, so erblickt man durch das rote Glas die grüne Zeichnung schwarz auf hellem Grunde, während die rote Zeichnung nicht bemerkt wird; mit dem grünen Glas sieht man entsprechend nur das rote Bild schwarz auf hellem Grunde, so dass dadurch die stereoskopische Wirkung erreicht wird. Die farbige Natur der Teilbilder und ihr Wettstreit stört kaum, wie Hering ausführt. Dagegen ist es klar, dass die gleichzeitige Forderung einer stereoskopischen und beliebig farbigen Projektion auf diesem Wege ohne weiteres nieht möglich ist. Ich habe mir nun die Frage vorgelegt, ob eine derartige Projektion doch erzielt werden kann mit Benutzung des von Hering verwendeten Grund- l) E. Hering, Über die Herstellung stereoskopischer Wandbilder mittels Projektionsapparates. Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 87 S. 229. 1901. Dort sind auch über die Verfahren der Herren Rollmann, d’Almeida und Petzold genauere Angaben gemacht, die sich vorher mit der Aufgabe beschäftigt haben. Stereoskopische Projektion mit weissen Teilbildern. 565 satzes der Verwendung einer Brille, von der jedes Glas nur das eine Bild erblicken lässt. Die Aufgabe führt auf dasselbe hinaus, wie die Erzielung einer stereoskopischen Projektion mit weissen Teilbildern ohne Benutzung von Ablenkungsprismen. Da der Pro- jektionsschirm in der Regel das Licht depolarisiert, so ist auch der naheliegende Gedanke der Verwendung von gekreuzten Nikols aus- geschlossen. Die Aufgabe kann gelöst werden durch Benutzung von zwei aus verschiedenen Farben zusammengesetzten Arten von Weiss, welche sich spektral ausschliessen. Denken wir uns (s. Fig. 1) ein Spektrum in eine Reihe aufeinanderfolgender Abschnitte eingeteilt, derart, dass sich zwei benachbarte voneinander in der Farbe nur unmerklich unterscheiden und gleichen Helliekeitswert besitzen. Wir greifen einerseits die ungeradzahligen Streifen und andererseits die geradzahligen Streifen heraus und setzen sie jeweils wieder zusammen, ISZSOSaS dann erhalten wir als Mischfarbe von beiden Teilen zwei Arten von Weiss in gleicher Lichtstärke, aber doch in der Art, dass kein Wellenlängenbereich des einen in den Wellenlängenbereich des anderen hineinfällt. Um einen abgekürzten Ausdruck benutzen zu können, sollen diese beiden Arten von Weiss als sich spektral er- gänzende!) bezeichnet werden, weil ihre Spektren sich zum zusammen- hängenden Gesamtspektrum ergänzen; sie sollen auch als spektral sich ausschliessende bezeichnet werden, weil keines eine Farbe be- sitzt von einem Wellenlängenbereich, den die andere Art von Weiss umfasst. Für den beabsichtigten Zweck ist es nötig, dass die beiden Arten von Weiss sich spektral ausschliessen, jedoch nieht, dass sie sich spektral ergänzen. Dabei ist die beschriebene Anordnung zwar hinreichend, aber 1) Man könnte sie als „physikalisch komplementäre Weiss“ bezeichnen, wenn das Wort „komplementär“ nicht für die Bezeichnung von Paaren bunter Farben vergeben wäre. 566, Otto Wiener: nicht notwendig zur Erreichung des Zieles.. Beschränkt man sich) auf die Forderung, dass die Teilbilder weiss sein sollen, so genügt es, wenn jedes Weiss aus mindestens zwei Farben besteht; fordert man zugleich die Möglichkeit der Wiedergabe von Farben, so muss jedes Weiss aus mindestens drei Farben bestehen. Die Forderung, dass die beiden Arten von Weiss gleiche Lichtstärke haben sollen, muss in jedem Falle durch geeignete spektrale Begrenzung der Farben erfüllt werden. Es sind nun zwar keine Stoffe bekannt, welche derartig einfache Absorptionsspektren besässen. Es gibt aber verschiedene Methoden, mit deren Hilfe man solche Spektra herstellen kann, zum mindesten mit einem gewissen Grad der Annäherung. Freilich wird es dazu jeweils eines besonderen Apparates bedürfen. Der Einfachheit der Darstellung halber wollen wir von Gläsern statt von Apparaten reden, welche ein Weiss der genannten Art hindurchlassen. Denken wir uns also zwei Gläser, welche zwei Arten von Weiss, die sich spektral ausschliessen, hindurchlassen und die wir jetzt als Weiss (1) und Weiss (2) bezeichnen wollen. Dann benutze man zwei Projektionsapparate, von denen der eine das Bild nur in Weiss (1), der andere das stereoskopisch zugeordnete Bild nur in Weiss (2) auf einen weissen Schirm projiziert. Der Zuschauer setzt eine Brille auf, deren eines Glas nur Weiss (1), deren anderes Glas nur Weiss (2) hindurchlässt. Dann erblickt er mit dem einen nur das eine, mit dem anderen nur das andere Bild und erhält so einen stereoskopischen Eindruck. Bei der praktischen Ausführung des Gedankens habe ich zu- nächst das sogenannte „Weiss höherer Ordnung“ ins Auge gefasst, wie es bei nicht sehr dünnen Blättehen infolge der Interferenz des natürlichen Lichtes auftritt, oder bei diekeren Kristallblättehen infolge der Interferenz polarisierten Lichtes, obgleich man mit diesen Methoden zunächst nur sich spektral ergänzende und nicht sich ausschliessende Arten von Weiss herstellen kann. Beginnen wir mit folgendem einfachen Versuch: Wir bringen zwischen gekreuzte Nikols ein Glimmer- oder Gipsblättchen, dessen Hauptelastizitätsrichtungen einen Winkel von 45° mit den Polari- sationsrichtungen der Nikols bilden; das Blättchen erscheint dann im parallelen Lichte gleichmässig gefärbt, wenn es ausreichend dünn ist; im Weiss höherer Ordnung, wenn es dick genug ist. Unter- sucht man aber dies Weiss spektral, so erkennt man, dass in regel- Stereoskopische Projektion mit weissen Teilbildern. 567 mässiger Folge Farben fehlen, die Stellen der Minima der Inter- ferenzen, zwischen denen Maxima liegen. Es ist nicht nötig, das Spektroskop in der Richtung des einfallenden Lichtes zu halten. Man kann auch das Bild irgendeines Diaphragmas auf den Pro- jektionsschirm werfen und das weisse Bild mit dem Spektroskop be- trachten. Dann sieht man die Interferenzstreifen ebenso gut, wie man die Fraunhofer’schen Linien in der Strahlung einer weissen Wolke erkennt. Dreht man den einen Nikol um 90°, so werden die Maxima und Minima miteinander vertauscht. Wir haben .also die gesuchten zwei Arten von Weiss, die sich spektral ergänzen und sich auch wenigstens teilweise spektral ausschliessen. Wir denken uns nun zwei in gleicher Weise eingerichtete Polarisationsapparate, jeder mit zwei Nikols versehen und mit einem an: AA Fig. 2. Gipsblättehen von jeweils gleicher Dicke, in der angegebenen Orientierung. Sind die beiden Nikols parallel, so entsteht das Weiss (1), dessen spektrale Helligkeitsverteilung schematisch in Fig. 2a angegeben ist. Sind die beiden Nikols gekreuzt, so entsteht ein Weiss, dessen spektrale Helligkeitsverteilung unter Fig. 2b an- gegeben ist. Setzt man die beiden Polarisationsapparate hinter- einander, oder betrachtet man durch den zweiten das Weiss, welches durch den ersten auf einen Schirm projiziert wurde, und stellt die Nikols in gleicher Weise ein, z. B. beide parallel, so wird von Apparat (2) das meiste Licht hindurchgelassen, welches der Apparat (1) aussendet. Enthält aber Apparat (1) parallele, Apparat (2) gekreuzte Nikols, so tritt eine erhebliche Abschwächung der Helligkeit ein, indem jetzt doppelt soviel Interferenzstreifen auftreten wie vorher und die dazwischen liegenden Maxima nur noch eine sehr geringe 508 Otto Wiener: Intensität besitzen. Ich habe diesen Versuch mit dem angegebenen Erfolge angestellt!). Setzt man die Intensität des Lichtes bei gleicher Orientierung der Apparate gleich 1, so müsste die Lichtstärke bei entgegengesetzter Orientierung der Apparate nur ein Sechzehntel sein, wie man durch eine einfache Rechnung erfahren kann. Der spektrale Ausschluss, .der für die stereoskopische Projektion erforderlich ist, wird theoretisch somit nicht vollständig erreicht. praktisch in einer durchaus ausreichenden Weise, wenn wirklich dieses Helliekeits- verhältnis erzielt werden könnte. Um darüber nämlich ein Urteil zu erhalten, haben wir zwei normal eingestellte Hefner-Alteneck-Kerzen in 1 bezw. 4 m Abstand von einem Schirm aufzestellt und vor dem Schirm einen schwarzen Stab derartig, dass die Schatten der beiden Kerzen nebeneinander fielen. Der von der entfernteren Lampe ge- worfene Schatten war dann kaum noch zu bemerken; man musste schon genau zusehen, um seines Vorhandenseins bewusst zu werden. Das Helligkeitsverhältnis aber, in dem diese beiden Schatten er- schienen, war nach der Versuchsanordnung 1:16. Bei der praktischen Ausführung des Versuchs mit den Polarisa- tionsapparaten konnten wir nun leider nicht ohne weiteres ein so günstiges Helliekeitsverhältnis erzielen. Wir benutzten Gipsblättehen von rund 2 mm Dicke, deren erster sichtbarer Streifen bei ge- kreuzten Nikols im Rot bei einer Wellenlänge von A = 725 uu, deren fünfundzwanzigster und letzter sichtbarer im Blau bei 4) = 402 uu lag. Leider stimmten die vier erforderlichen Blättehen in der Dicke nicht genau überein. Es wurden daher einige Blättehen gegen die Achse des Apparates so lange gedreht, bis bei je zwei entgegengesetzt orientierten Apparaten die hellen Interferenzstreifen des einen möglichst genau auf die dunkeln des zweiten fielen. Trotz dieser Sorgfalt in der Einstellung gelang es nicht, ein günstigeres Helliekeitsverhältnis bei gleich- uud entgegengesetzt orientierten Apparaten zu erzielen, als das etwa von 1:2 bisetwal:3. Wahr- scheinlich hat der Mangel an Planparallelität der Blättchen und depolarisierende Fehler der Nikols und Blättehen zu dem ungünstigen Ergebnis beigetragen. 1) Bei den hier angegebenen Versuchen genoss ich die dankenswerte Unter- stützung des Herrn Ludwig Schiller, Assistent am physikal. Institut, und des Herrn Universitätsmechaniker Donner. Stereoskopische Projektion mit weissen Teilbildern. 569 Um nun die rot-grüne Brille nachzuahmen, wurden auf einem mit Handgriff versehenen Brettehen zwei Polarisationsapparate mit der beschriebenen Anordnung angebracht, von denen der eine das Weiss (1) und der andere das Weiss (2) hindurchliess. Wurde nun auf den Schirm Weiss (1) projiziert, so erkannte man ganz deutlich, dass das mit Weiss (1) bewaffnete Auge einen grösseren Helliekeits- eindruck empfing als das mit Weiss (2) bewaffnete. Bei einer so mangelhaften Verwirklichung der theoretischen Forderung, wie sie oben angegeben wurde, war natürlich an die praktische Ausführung der stereoskopischen Projektion nicht zu denken. Genauere und seeignetere Blättchen konnten bei der Kürze der verfügbaren Zeit nicht mehr beschafft werden !); aber es musste auch mit dieser un- vollkommenen Einrichtung möglich sein, eine stereoskopische Er- scheinung hervorzubringen. Zu diesem Zwecke wurden zwei Projektionsapparate aufgestellt, welche je einen Spalt gleicher Grösse und Lichtstärke in Weiss (1) und (2) auf den Schirm projizierten. Um den Spaltbildern objektiv die gleiche Lichtstärke zu sichern, wurde tatsächlich nur eine einzige Liehtquelle benutzt, nämlich die Lampe eines von der Firma Zeiss hergestellten Ives’schen Projektionsapparates, welcher das Licht in drei gleichstarke Anteile zu zerspalten gestattet. Benutzt wurden im vorliegenden Fall nur die beiden äusseren Strahlenbündel. Betrachtet man nun das Spaltbild in Weiss (1) mit dem Zwillings- polarisationsapparat durch das mit Weiss (1) bewafinete Auge, so er- blickt man es heller als mit dem mit (2) bewaffneten Auge, während umgekehrt das in Weiss (2) projizierte Spaltbild dem mit Weiss (2) bewaffneten Auge heller erscheint. Damit war aber erreicht, dass die beiden Spaltbilder mit den beiden Augen in verschiedener Weise gesehen wurden, z. B. das rechte Spaltbild mit dem rechten Auge heller, das linke mit dem linken. Daraus folet, dass man beim Sehen mit beiden Augen den Eindruck gewinnen musste von zwei hintereinanderliegenden Bildern, nämlich einem hinteren helleren und einem vorderen dunkleren. 1) Anm. bei der Korrektur. Inzwischen bezogene Biättchen von nur 1 mm Dicke liessen sich besser aufeinander abpassen und zeigten die unten beschriebene Erscheinung vollkommener. Aber auch sie hatten nicht überall die gleiche Dicke, wodurch die möglichste spektrale Ausschliessung der beiden Arten von Weiss vereitelt wird. Das Abschleifen der Blättchen müsste also mit ungleich grösserer Sorgfalt geschehen, wodurch ihr Preis indes eine unverhältnismässige Höhe erreichen würde. i 570 Otto Wiener: Tatsächlich gelang dieses Experiment bei den drei Beobachtern, allerdings erst nach mehr oder weniger grosser Übung. So auf- dringlich wie ein gewöhnliches stereoskopisches Bild trat die Er- scheinung nicht auf. Um daher zu prüfen, ob ein tatsächliches stereoskopisches Sehen vorlag, wurde das folgende Experiment an- gestellt. | Es wurde der Betraechtungsapparat um eine vertikale Achse herumgedreht, derart, dass vor den beiden Augen der Apparat, der Weiss (1) hindurchlässt, vertauscht wurde mit dem, der Weiss (2) hindurchlässt, und umgekehrt. Es musste dadurch der Helligkeits- wert der beiden Bilder vertauscht werden und also das hellere Bild nach vorn rücken, wenn es früher hinten lag. Dieses Experiment gelang deutlich allen drei Beobachtern; auch wurde die Frage nach der Lage des helleren Bildes, ob vorn oder hinten, stets richtig beantwortet, wenn der Beobachter den Betrachtungsapparat von einem anderen in beliebiger Weise in die Hand bekam, so dass er über seine Orientierung von vornherein nichts wusste. Wurde auf dem Projektionsschirm selbst eine Marke zwischen den beiden projizierten Spaltbildern angebracht, so erschien bei Benutzung des Zwillingsbetrachtungsapparates das eine der Bilder, etwa das hellere, hinter der Marke, das dunklere dann davor. Es ist kein Zweifel, dass bei einer sorefältigeren Auswahl bzw. geeignetem Nachschleifen der Gipsblättehen bessere Ergebnisse zu erzielen sein werden: ob sie aber für eine stereoskopische Projek- tion ausreichen werden, lässt sich von vornherein nicht sagen. Aus diesem Grunde seien noch verschiedene Wege angedeutet, die möglicherweise zum Ziele führen. Zunächst wird es möglich sein, durch eine Belegung der beiden Seiten des Gipsblättchens mit durchsichtigen Metallspiegeln die Maxima der Helligkeit im Spektrum schärfer zu begrenzen und somit eine bessere spektrale Ausschliessung der beiden Arten von Weiss zu erzielen. Auch durchsichtige dünne Blättchen, die beiderseitig mit durch- sichtigen Metallspiegeln belest werden und Interferenzen natürlichen Lichtes liefern, werden dem gleichen Zwecke dienen können. Man kann aber noch ein anderes vollkommen sicheres, wenn auch rein mechanisches Mittel benutzen, um solche zwei Arten von Weiss ganz beliebiger Zusammenstellung zu erzwingen. Man braucht nur in der Brennebene eines Spektralapparates eine Blende mit be- Stereoskopische Projektion mit weissen Teilbildern. 571 liebig vielen Schlitzen anzubringen, deren Kanten dem Spalt parallel laufen, und das gesamte übrigbleibende Spektrum wieder durch ge- radsichtige Prismen oder Linsen oder mit Hilfe beider wieder zu vereinigen. Wir haben auf diese Art ein Weiss auf einen Schirm projiziert, das, mit einem Taschenspektralapparat betrachtet, ein sehr wunder- liches Spektrum darbietet, von einer Art, wie es in natürlicher Weise, d. h. durch Absorptions- oder Interferenzspektren nicht hergestellt werden kann. Dem uneingeweihten Fachmann vorgelegt, müsste es nieht geringes Erstaunen hervorrufen. Auf diese Art lässt sich vielleicht die Lösung der gestellten Auf- gabe erzwingen, jedoch durch eine Umständlichkeit der Anordnung, welche mit der Wichtigkeit ihres Zweckes in keinem günstigen Ver- hältnis mehr stehen würde. Ausgeschlossen wäre es indes nicht, dass man jenes wunderliche Spektrum einigermaassen mit Lippmann’schen farbenphotogra- phischen Platten festhalten und diese dann als Farbfilter verwenden könnte, indem man das Licht an zwei solchen reflektieren lässt, wo- durch seine Richtung erhalten bliebe. Wie dem auch sei, die Entwicklung der optischen Technik gibt manchmal so überraschende und einfach herzustellende Hilfsmittel an die Hand, dass es nieht ausgeschlossen erscheint, dass eines der .angegebenen Verfahren tatsächlich noch einmal zum Ziele führen kann. Der dabei benutzte Grundsatz dürfte immerhin beachtenswert genug sein, um die vorliegende Veröffentlichung zu rechtfertigen. M. Loewit: oT | ID (Aus dem Institute für experim. Pathologie an der k. k. Universität Innsbruck.) Über die Zuckerbildung in der Leber. Von M. Loewit. (Hierzu Tafel XXI.) Es darf wohl gegenwärtig als feststehend angesehen werden, dass die Zuckerbildung in der Leber bei Anwesenheit von Glykogen in derselben sowohl intravital als postmortal auf Kosten dieses Materiales erfolgt, und dass der durch fermentative Wirkung ge- bildete Zucker der Hauptsache nach Glukose ist, wobei namentlich bei postmortaler Zuckerbildung Maltose, Isomaltose und vielleicht auch Dextrine als Zwischenprodukte [Borchardt!)] gefunden werden. Weniger gesichert liegen die Verhältnisse der Zuckerbildung bei Abwesenheit, eventuell bei nur spurweiser Anwesenheit von Glykogen in der Leber. Es kann zwar gegenwärtig auf Grund zahl- reicher Beobachtungen, von denen hier nur auf die Arbeiten von Embden?) an der künstlich durchbluteten glykogenfreien Leber und von Pflüger und Junkersdorf?) an glykogenfrei gemachten lebenden Hunden hingewiesen sei, mit grösster Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass die glykogenfreie oder doch praktisch so gut wie glykogenfreie Leber intravital auch aus kohlehydrat- freiem Material Glykogen (eventuell Zucker) zu bilden vermag. Allein die Frage der postmortalen Kohlehydrat- eventuell Zucker- bildung an praktisch glykogenfreien Lebern scheint, soweit ich die Literatur überblicke, bisher noch nicht in entsprechender Weise in Angriff genommen worden zu sein. 1) Pflüger’s Arch. Bd. 100 S. 259 ff. 1903. 2) Hofmeister’s Beiträge z. chem. Physiol. u. Pathol. Bd. 6 S. 44 ff. 1904. Biochem. Zeitschr. Bd. 6 S. 66 ff. 1904. 3) Pflüger’s Arch. Bd. 131 S. 201 ff. 1910. Über die Zuckerbildung in der Leber. 5418 Die bekannten Arbeiten von J. Seegen!) können hier nicht in Betracht kommen, da sie nicht mit glykogenfreiem Materiale durchgeführt sind, und da ihre Resultate im allgemeinen von zahl- reichen Nachuntersuchern nicht bestätigt werden konnten’). Nur Girard°) hat die postmortale Zuckerbildung in der glykogen- (zucker-)freien Leber von Hunden, Kaninchen und einem Igel untersucht und gefunden, dass deren Lebern bei Glykogenzusatz postmortal Zucker zu bilden imstande sind, dass sie jedoch ohne diesen Zusatz oder bei Peptonzusatz keine oder nur Spuren von postmortalem Zucker erkennen lassen, woraus er schliesst, dass nur bei Anwesenheit von Glykogen postmortal Zucker gebildet wird. Aber es handelt sich bei Girard durchwegs um kranke Tiere, die infolge ihrer Krankheit intravital ihr Glykogen verloren hatten; die Hunde waren sämtlich rotzkrank, Kaninchen und Ieel erlagen einer unbekannten Krankheit. Girard's Versuche sind daher durchaus nicht beweisend, wie auch bereits von Seegen*) betont wurde, da sie über die postmortale Zuckerbildung in der glykogen- freien Leber normaler Tiere nichts aussagen. In den folgenden Versuchen wurde angestrebt die Frage der postmortalen Zuckerbildung in glykogenfreien oder doch praktisch so gut wie elykogenfreien Lebern möglichst normaler Tiere (Frösche, Kaninchen) einer Lösung zuzuführen. A. Versuche an Fröschen. Es kamen nur grosse, kräftige ungarische Frösche zur Ver- wendung. und zwar sowohl im Herbst (Oktober) als in den ver- schiedenen Frühlings- und Sommermonaten eingefangene Tiere. Im allgemeinen muss gesagt werden, dass Frösche ihren Glykogenbestand sehr zäh festhalten, und dass es nur schwer gelingt, eine auseiebige Herabsetzung in dieser Beziehung zu erzielen; das hat bereits E. Külz?) in seinen Strychninversuchen an Fröschen entsprechend 1) Gesammelte Abhandlungen über Zuckerbildung in der Leber. Berlin 1904. 2) Vgl. die Zusammenstellung bei F.Röhmann, Biochemie S, 227f. Berlin 1908, ferner bei A. Magnus-Levy in C. Oppenheimer’s Handb. d, Biochemie usw. Bd. 4 H.1. S.337ff. Jena 1909. 3) Pflüger’s Arch. Bd. 41 8.294 ff. 1887. 4) Pflüger’s Arch. Bd. 41 S. 527 ff. 1837. 5) Beiträge zur Kenntnis des Glykogens. Festschr, f. C. Ludwig S. 69 ff. Marburg 1890. 574 M. Loewit: hervorgehoben. Nichtsdestoweniger scheint mir doch der Frosch ein günstiges Beobachtungsobjekt für derartige Versuche zu sein, da eine ausgiebige Häufung der Versuche für die Beantwortung zahl- reicher Details gerade bei diesem Tiere leicht durchführbar ist. und da es unter bestimmten Bedingungen doch gelingt, den Glykogen- gehalt der Leber bis nahe zum Nullwert herabzudrücken. Als Mittel zu diesem Zweck wurde Strychnin, Wärme und Kälte ver- wendet. Die Strychninvergiftung allein ergab mir, ebenso wie Külz, keine brauchbaren Resultate, selbst dann nicht, wenn die Frösche durch eben wirksame und mehrere Male nacheinander wiederholte Dosen (0,1—0,2 eem einer 0,05—0,025 ®/oigen Lösung, je nach der Grösse der Tiere) in stundenlangem Tetanns erhalten wurden. Niemals gelang es dabei, den Glykogengehalt der Leber unter 2—4 °o herabzudrücken. Ein ca. 16— 20 stündiger Aufenthalt der Frösche im Thermostaten bei 36—37,5 °C vermag unter Umständen eine ganz bedeutende Glykogenarmut in der Leber zu erzeugen. Glykogenreiche Tiere müssen allerdings von derartigen Versuchen ausgeschlossen werden, da der Aufenthalt in der Wärme bei diesen keinen genügenden Glykogentiefstand hervorzurufen vermag. Dagegen können zu diesen Versuchen solehe überwinterte Frösche mit Vorteil verwendet werden, deren Leberglykogen im Februar, eventuell März, bereits an und für sich einen bedeutenden Tiefstand (3—4 °/o) erreicht hat !); es gelingt bei derartigen Tieren durch die Wärmewirkung gar nicht so selten, Glykogenwerte von 0,1—0,55 °/o in der Leber zu erzielen, also so geringe Mengen, die praktisch wohl schon vernachlässigt werden können. Allerdings kommen auch unter diesen Tieren noch Exemplare vor, deren Glykogenwert unter 2—3°/o auch bei protrahierter Wärmewirkung nicht heruntergedrückt werden kann, und die daher für die vorliegende Frage nicht verwendet werden können. Auch die Kombination der Wärme- und der Strychnin- wirkung hat bei diesen Tieren keine besseren Ergebnisse als die Wärmewirkung allein gebracht. Die Versuche können also unter diesen Bedingungen nur an solchen Frösehen vorgenommen werden, die bereits von vornherein einen niedrigen Glykogengehalt der Leber I) Vgl. Loewit, Diabetesstudien. I. Arch. f. experim. Pathol. usw. Bd. 60 8.01:11..1908. Über die Zuckerbildung in der Leber. 575 besitzen. Da das aber a priori nicht erkannt werden kann, die angeführte Methode der Glykogenentziehung jedoch nur in ge- wissen Fällen zum Ziele führt, so ist es klar, dass viele zeitraubende Fehlversuche vorkommen müssen, die angeführte Methode daher auch nicht befriedigen kann. Gegen Ende Mai dieses Jahres erhielt ich aus Ungarn eine frische Sendung von Fröschen, deren Einfang wegen der damals eingetretenen Überschwemmungen daselbst nur schwer möglich war. Es waren nahezu durchwees kleinere, abgelaichte Weibchen, deren Ernährung höchstwahrscheinlich in der vorausgegangenen Zeit eine sehr mangelhafte gewesen sein dürfte; der Darmkanal war bei allen Tieren leer, die Leber klein und glykogenarm, einzelne derselben zeigten frisch untersucht einen Gehalt von 0—0,3 °/o an Leber- slykogen. Diese Tiere waren zu den vorliegenden Versuchen be- sonders geeignet. Ausserdem hat sich mir in mehreren Versuchen auch noch die folgende Methode gut bewährt: Die Frösche (70—100 g Gewicht) werden tagsüber abwechselnd 3—4 Stunden in fliessendem Leitungs- wasser (Temperatur 10—11°C im Sommer) und dann während der gleichen Zeit im Thermostaten bei 36,5° C gehalten. Während der Nachtstunden bleiben die Tiere dauernd im Thermostaten. Dieser Wechsel zwischen Wärme und Kälte wird durch drei bis vier Tage, eventuell länger, wiederholt, bis die Tiere eine Körper- gewichtsabnahme von 10—14°/o darbieten. Ich konnte dieses Vor- gehen bisher nur an drei Sommerfröschen (Juni) erproben; der Glykogengehalt der Leber betrug in zwei Fällen 6, in einem 0,1 °o, während um die gleiche Zeit gefangene Kontrolltiere 3—6 °/o Glykogen in. der Leber besassen '). Zwei der eben angeführten Frösche er- hielten 1 Stunde vor der Entblutung noch eine kleine Strychnin- dosis (0,2 cem einer 0,025°/oigen Lösung); es trat dabei nur Steigerung der Erregbarkeit, kein Tetanus ein; ich habe den Ein- druck, dass unter den angegebenen Verhältnissen die Strychninisierung der Frösche zur Erzielung einer glykogenfreien Leber nicht unbedingt erforderlich ist. Ob die angeführte Methode auch an glykogen- reichen Herbst- und Winterfröschen in dem gleichen Sinne wie 1) Ein grosser im Mai eingefangener Frosch von 205 g zeigte nach einer zehntägigen derartigen Behandlung 180 g = 12,2°/o Gewichtsverlust. Die Leber dieses Frosches enthielt noch 0,3°%/o Glykogen. 576 M. Loewit: bei Sommerfröschen brauchbar ist, wird erst durch weitere Versuche festzustellen sein. Phosphorvergiftung ergibt auch bei Fröschen hochgradigen Glykogenschwund !); von dieser Methode wurde jedoch nur in zwei Versuchen Gebrauch gemacht, da sich zeigte, dass bei den Phosphor- fröschen, trotzdem der Glykogengehalt der Leber nicht unter 2—3 %o herabgedrückt werden konnte, keine deutliche postmortale Zucker- bildung nachweisbar war, wahrscheinlich infolge hochgradiger Schädigung der Leber durch das angewendete Gift; die Lebern waren in beiden Fällen intensiv verfettet. Es tritt also bei Phosphor- fröschen auch bei Anwesenheit von Glykogen in der Leber eine postmortale Zuckerbildung in derselben nicht oder doch nicht in dem Maasse wie bei gesunden Tieren ein. (Vgl. die folgenden Versuche.) Der Gang der Versuche gestaltete sich bei den entsprechend vorbehandelten Fröschen folgendermaassen: Die Tiere wurden aus dem Herzen möglichst vollständig entblutet und hierauf die Leber in zwei annähernd gleichgrosse Hälften geteilt, von welchen die eine zur Bestimmung des Glykogengehaltes nach der Methode von Pflüger?), die andere zur Prüfung der postmortalen Zuckerbildung verwendet wurde. Die Pflüger’sche Methode darf wohl als die beste bezeichnet werden, die wir gegenwärtig bei möglichst vollständiger Aufschliessung der Organe zur quantitativen Glykogengewinnung besitzen; sie liefert, wie schon Pflüger gezeigt hat, jedenfalls grössere Werte als die bis dahin gebräuchlichen Methoden der Glykogenbestimmung. Das ist gerade für die vorliegenden Versuche von grösster Wichtig- keit, weil es hierbei nicht bloss auf den Glykogengehalt der Leber, sondern auf ihren Gehalt an Gesamtkohlehydraten ankommt, die für eine postmortale Zuckerbildung in diesem Organe in Betracht kommen könnten. Die Pflüger’sche Methode der Aufschliessung der Organe mit starker Kalilauge bestimmt nun höchstwahrscheinlich, wie bereits O. Simon?) betont hat, nicht bloss das präformierte 1) Vgl. R. Boehm, Arch. f. experim. Pathol. usw. Bd. 15 S. 450ff. 1882. 2) Das Glykogen und seine Beziehungen zur Zuckerkrankheit, 2. Aufl., S.67 fl, Bonn 1905. 3) Arch. f. experim. Pathol. Bd. 49 S. 457. 1903. Über die Zuckerbildung in der Leber. 577 Glykogen, sondern auch das aus den Eiweisskörpern der Leber ab- gespaltene Kohlehydrat, sowie die in der Leber überhaupt enthaltene Glykoalbumose, worauf teilweise die hohen durch die Pflüger’ sche Methode erhaltenen Glykogenwerte zurückzuführen sein dürften. Es war deshalb von Wichtigkeit zu untersuchen, inwieweit die durch die Pflüger’sche Glykogenmethode und die nach einer anderen Methode bestimmten Werte für die Gesamtkohlehydrate der Leber miteinander übereinstimmen, eventuell wie weit sie von- einander abstehen; ich wählte zu diesem Zwecke die von Röh- mann!) angegebene Methode der Bestimmung der Gesamtkohle- hydrate in der Leber. In der folgenden Tabelle I sind einige zusammengehörige Be- stimmungen vom Frosch und vom Kaninchen wiedergegeben. Die quantitative Zuckerbestimmung in den durch Kaolin und, wenn nötig, auch noch durch Phosphorwolframsäure völlig enteiweissten und stets wasserklaren Flüssigkeiten wurde in der Regel in zwei Parallel- reihen polarimetrisch mit einem vorzüglich arbeitenden Polarisations- apparate mit dreiteiligem Gesichtsfelde (nach Lippieh-Landolt) und titrimetrisch nach Bang?) vorgenommen. Die mit diesen beiden Methoden erhaltenen Werte stimmen untereinander gut über- ein, wenn man sich an die Vorschriften Bang’s hält, und die Ein- stellung der beiden Titrierungsflüssiekeiten gegeneinander jedesmal genau kontrolliert?), und wenn man die Invertierung .des Glykogens mit starker Säure (15—20°%0 Salzsäure) vornimmt. Die Diffe- renzen beider Werte schwanken maximum zwischen 1—1,5 °/o, liegen aber in der Regel unter 0,5 Jo. Die Bestimmung der Gesamtkohlehydrate nach Röhmann wurde beim Kaninchen anfänglich stets in vier Proben mit ver- schiedenem Salzsäuregehalt, später in der Regel nur in zwei Proben mit 15 und 25 °/o Salzsäure, und beim Frosch stets wegen zu ge- ringer Lebergrösse nur in einer Probe mit 10, eventuell 20 %o Salz- säure durchgeführt. 1) Biochemie S. 231. Berlin 1908. 2) Biochem. Zeitschr. Bd. 7 S. 327. 1908. 3) Vgl. P. Dilg, Untersuchungen über die Bang’sche Zuckertitrations- methode und Vergleich derselben mit einigen anderen Titrationsanalysen. Inaug.- Diss. Heidelberg 1909, und A. C. Andersen, Über die Bang’sche Methode -der Zuckerbestimmung usw. Biochem. Zeitschr. Bd. 26 S. 157. 1910. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 126. 37 M. Loewit: OT 1 RR In den folgenden Tabellen bedeutet 5 — Bestimmung nach Bang, P==polarimetrische Bestimmung. Tabelle I. Froschleber Kaninchenleber (Hungertiere) Glykogen Gesamt- Glykogen ee kohlehydrat kohlehydrate Datum p ae | i um ; Datum Lac Each 1910 : "Ser | Röhmann 1910 \ Pflüger Rohmann in Prozenten | jn Prozenten ı In Prozenten in Prozenten Dextrose Dextrose Dextrose Dextrose 13. Februar P — 14 B— 0,8 11. April B—052| B — 195 r—12 P—0713| P—1$6 1 P—13 B—L1il 202 8,, B— 17 B—12 P— 14 P—15 P—19 21. März B— 909| B — 802 3. Mai B—O018| B— 0,16 P— 9,7 P—89 P—02 P — 0,26 28.05 B—3 B — 36 13:2, ,, B— 13 B— 01 P—41 P—3 P— 23 P—15 24:7. B—9 B-—S 2. Juni B—VO B-—-VO P— 9,3 P— 87 P—O tr —o0 24. „ B—Oll B— 0,34 P—-022| P— 0,25 Es geht also aus dieser Tabelle hervor, dass die Bestimmung der Gesamtkohlehydrate nach Röhmann zwar in einzelnen Fällen (namentlich beim Kaninchen) höhere Werte als die Pflüger ’sche Glykogenbestimmung (beide Werte auf Dextrose bezogen) ergibt, dass aber diese Differenz nieht sehr hochgradig und jedenfalls weit niedriger als bei Röhmann ist, der das Glykogen nach der Brücke-Külz’schen Kalimethode bestimmte. Die Pflüger’sche Methode ist also dieser letzteren bedeutend überlegen, was übrigens auch von Röhmann!) betont wird. In manchen Fällen stimmen die Glykogen- und die Gesamt- kohlehydratbestimmungen gut miteinander überein; in andern liefert die Glykogenmethode etwas, wenn auch nicht bedeutend höhere Werte. Es geht wohl daraus hervor, dass, wie schon Simon hervorhob, die durch die Pflüger’sche Glykogenmethode gewonnenen Werte als annähernder Maassstab für den Gesamtkohlehydratbestand der Leber angesehen werden kann, sobald man noch den präfor- mierten Leberzucker mitberücksichtigt, den ich übrigens bei dies- 1).1 c..8.,224, Über die Zuckerbildung in der Leber. 579 bezüglichen Bestimmungen [nach Röhmann')] niemals wesentlich höher als den Blutzuckergehalt fand. Es ist also auch beim (glykogenarmen eventuell glykogenfreien) Frosche, wo wegen der geringen Grösse der Leber nicht alle Be- Stimmungen an dem gleichen Tiere durchgeführt werden können, unter Zugrundelesung des Leberglykogenwertes nach Pflüger und des Blutzucker- sc. Leberzuckerwertes möglich, die Frage der Zuckerneubildung in der Leber, die ich in den vorliegenden Ver- suchen im Sinne Gremer’s als Glykoneogenie bezeichnen will, zu verfolgen. Am Kaninchen wurden ausser der Glykogenbestimmung nach Pflüger stets noch die Bestimmungen der Gesamtkohlehydrate und des Leberzuckers nach Röhmann durchgeführt. Die Feststellung und Bestimmung der postmortalen Zucker- bildung geschah in folgender Weise: Das mit Quarzsand fein zer- riebene und abgewogene Leberstück wurde in sterile 0,75 Joige Kochsalzlösung, der 5°o einer 1°/oigen Lösung von kohlensaurem Natron und 2°o Toluol zugesetzt war, aufgenommen, gut durch- geschüttelt und 18—20 Stunden bei Zimmertemperatur im Thermo- staten stehen gelassen’). Nur keimfreie Flüssigkeiten wurden zu den folgenden Bestimmungen verwendet und diese zunächst einer kurzdauernden Zentrifugierung unterworfen. Die abgegossene Flüssigkeit. die stets schwach alkalisch reagierte, wurde, nachdem die Abwesenheit von Glykogen in derselben sichergestellt war, sofort mit Kaolin enteiweisst, was in den Froschversuchen in der Regel voll- ständig gelingt; nur selten war noch eine nachträgliche Fällung mit Phosphorwolframsäure notwendig, von welcher die Anwendung eines Überschusses vermieden werden kann. In den Kaninchenversuchen war die Behandlung mit Phosphorwolframsäure stets notwendig. Die auf diese Weise gewonnenen, völlig wasserhellen Flüssig- keiten, die stets auf ein bestimmtes Maass (50 cem) aufgefüllt wurden, dienten zu den folgenden Bestimmungen und Proben. In der folgenden Tabelle II (S. 580) sind nur solche Versuche an Fröschen aufgenommen worden, bei denen es durch die voraus- gehend beschriebenen Maassnahmen gelang, den Glykogengehalt der Leber auf 0,1—0,55 /o herunterzudrücken; ein noch tieferes Ab- 1) A. a. 0. S. 229. 2) Die Zuckerfreiheit der verwendeten Reagenzien ‚wurde stets festgestellt. 37* M. Loewit: 980 prepsgqy 9 oF'9E 1q pun AISSE MA UOPUHSSOIKF UT PUJISTI9M E= orte — d — 001 —d 020 -d -qe AIR, AOL "UOSURJOS TE OpUH = (nF IE 0% di 018 2 (0% np "I Yyareppsqy "Toffoy] op >= 098 — d VE GN ed 00 —-d sue PO "uaduros Tem Opuy = 07-4 0 0er. | ° 0 4 00 24 8 qoreppsqv 0 06'98 109 "DIS 9T UUBp ‘Jose UOpuassarg = (rl = d = NS et 600 = d e wm ps g 'uaduwps Tem opud = 06 37T = So: wı ga 0 — A "18 (ad Vz ect = 088 = d FO d 5 ‚puogossne1oa aM | 0 — AL (ET = De NT ee 0-9 ag yreppäqy TOO Wop = (IT ad Ve Sch=d SO et E sn® YoSLıy 'U9suR7o8 Te OpuH = 08 I (id: 0° —-d 08-48 20-4 &1 9 0798 q DIS 91 = 061 = d = Ve (md ppreppsge *uosurjos Tepy Opus = 080 = == eto —d VE gT Er tung 'g DoFLE 10Q Ve Üd 60 ed LEO —d "DIS gT “uosurps agopo HM | 0 = LT 097 —-ad 0-8 (Br | et 980 — 8 dv ZI 028 4 Vet OR d a "DIS ZI “UOduRp08 1OgOIO OYIN = = DT: 06: d.| 760 7 070 — d <ı 9 oLE 1Q 08° —d 0—-d == di "DIS 23 "UoduRpo3 199010 ONIN — ( Nr Vzree SS e 80 —d ZUM") I 0GLE 19Q UOYeISOWIoL, WI N E 0a = d Ve E06 di "DIS 6T “uadugpod 100 MN | 0 d 08 — A Ve = Dell 6.0 — d LSA LEN 88572 0, 0 mel... 0. 0 OI6L > AU] SunaorasAauf a) u 9SONLIA 9SO.AIXIT UNIOTJIIAU ‘ UNIEI.LI 3 S Sum TouuYy a9p En St 19p Tote a, se | 98019x9q7 Se umge] ° yreyoszoyonz| Neyodrogpnz | geyasrosonz yegasaoyonZz u9SoyK]319gd”T Aa9q9T AOp ur o1uoBoauoyKLg ann Über die Zuckerbildung in der Leber. 581 sinken, eventuell ein völliger Schwund des Leberglykogens, konnte bei Fröschen nur einmal, wohl aber oft ein höherer Gehalt festge- stellt werden. Aus dieser Tabelle geht nun zunächst hervor, dass bei der Fest- stellung des postmortalen Zuckergehaltes der sich selbst (16 bis 18 Stunden) überlassenen, praktisch so gut wie glykogenfreien Leber in alkalischer Lösung eine ganz bedeutende Differenz zwischen der titrimetrischen und polarimetrischen Bestimmung zugunsten der letztern zu konstatieren ist. Es ist also der sogenannte „optische Faktor“ im Sinne Croft Hill’s!) stark entwickelt, der, wenn vor allem Multirotation (@-Glukose) ausgeschlossen werden kann, auf die Gegenwart eines stark rechtsdrehenden und schwach redu- zierenden Körpers hinweist, der, wie aus dem folgenden hervorgeht, von vornherein in der Leber nicht vorhanden ist. Die nähere Unter- suchung hat im hohen Grade wahrscheinlich gemacht, dass dabei der Hauptsache nach Maltose in Betracht kommt. Zunächst sei hervorgehoben, dass die Anwesenheit dieser starken Rechtsdrehung nicht als sogenannte Bi-, Super- oder Multirotation aufgefasst werden kann, da sie auch nach Ausschaltung dieser letzteren [nach langem Stehen oder nach Zusatz von wenig Ammoniak oder Sodalösung ?)] erhalten bleibt. Die Ausbildung dieser starken Rechtsdrehung ist vielmehr im hohen Grade von der alkalischen Reaktion der Flüssigkeit abhängig. Setzt man zu derselben von vornherein gar kein oder zu wenig Alkali zu, so ist die Reaktion am Ende der Versuchsdauer sauer, eventuell neutral (gegen Lackmus), und die eben erwähnte Differenz fällt dann meistens so gering- gradig aus, dass ihr bei Berücksichtigung der Fehlergrenzen der angewendeten Bestimmungsmethoden keinerlei Bedeutung zuerkannt werden kann; sie kann auch gauz fehlen. Die Präexistenz dieses schwach reduzierenden und stark rechts- drehenden Körpers in der zur Untersuchung selbst verwendeten Leber in irgendwie beträchtlicherem Grade kann deshalb ausge- schlossen werden, weil darauf hin gerichtete Versuche ergeben haben, dass die angeführte Differenz der beiden Bestimmungs- 1) Journ. Chem. Soc. Trans. t. 83 p. 578. 1903, zit. naeh W. M. Bayliss, Das Wesen der Emzymwirkung. Dresden 1910. 2) Vgl. B. Tollens, Kohlehydrate, in Abderhalden’s Handb. biochem. Arbeitsmethoden Bd. 2 H.1. S.121ff., und H. Euler, Allgemeine Chemie der Enzyme S. 114. Wiesbaden 1910. 582 M. Loewit: pe} methoden am Beginn des Versuches innerhalb der ersten 15 Minuten im Thermostaten nicht nachweisbar ist; um diese Zeit ist der Zuckergehalt der Flüssigkeit noch null, während 16—18 Stunden später bei Verwendung der gleichen Leber der optische Faktor in dem angeführten Grade vorhanden ist. Eine Durchsicht der Tabelle ereibt weiterhin, dass die Grösse der Rechtsdrehung und der auf Grund derselben berechneten Menge des rechtsdrehenden Körpers als Dextrose (P im dritten Vertikal- stabe der Tabelle II) eine gewisse Beziehung zur Menge des noch vorhandenen Leberglykogens erkennen lässt. Die Versuche mit den niedrigsten Glykogenwerten (8. und 21. Juni) zeigen auch die niedrigsten P-Werte, während alle andern Versuche, in denen der Glykogenwert 0,2°/ erreicht oder übersteigt, bedeutend höhere und voneinander nicht sehr stark abweichende P-Werte darbieten. Eine Mitbeteiligung des ursprünglichen Glykogengehaltes der Leber an der Bildung des stark rechtsdrehenden Körpers scheint daraus im hohen Grade wahrscheinlich, wenn auch der Versuch vom 8. Juni zeigt, dass auch bei fehlendem Glykogengehalte die angeführte Differenz noch immer, wenn auch in geringerem Grade, vorhanden ist. Weitere Versuche werden erst über diese Mitbeteilieung des Glykogens in der angegebenen Richtung die Entscheidung zu er- bringen haben !); keinesfalls wird man aber aus dem angeführten hohen P-Werte, wie die weiteren Untersuchungen ergeben haben, auf eine dementsprechend starke Dextrosebildung in der überlebenden Leber schliessen dürfen. Dass bei der Beurteilung dieses schwach reduzierenden und stark rechtsdrehenden Körpers jedenfalls ein Zucker in Betracht zu ziehen ist, geht aus folgendem hervor: 1. Vergärt man die nach 16—20 Stunden von der Leber ab- gegossene und in der oben beschriebenen Weise behandelte Flüssig- keit mit gewöhnlicher Oberhefe, so ist in der vergorenen Flüssigkeit in der Überzahl der Fälle die anfänglich vorhandene schwach redu- zierende und stark rechtsdrehende Fähigkeit vollständig verschwunden; nur in wenigen Fällen, namentlich dann, wenn ein höherer Glykogen- wert vorhanden war (über 1°/o), bleibt noch eine geringgradige ® 1) Diese Mitbeteiligung geht auch daraus hervor, dass bei höherem Glykogen- gehalte der Froschleber (1—5°/o und darüber) bedeutend höhere B- und P-Werte gefunden, als in den vorliegenden Versuchen bestimmt wurden. Über die Zuckerbildung in der Leber. 588 Rechtsdrehung bestehen, deren Bedeutung vorläufig nicht weiter verfolgt wurde; das gebildete Gas wurde als Kohlensäure bestimmt. So wahrscheinlich es nun hieraus auch ist, dass ein gärfähiger Zucker vorlieet, so kann daraus auf die Art des Zuckers ein sicherer Sehluss nieht gezogen werden; allenfalls könnten bei vollständiger Vereärung Dextrin, Pentosen und andere gärunfähige Zucker aus- geschlossen werden, die aber immerhin für den in den ebenge- nannten Fällen nach der Vergärung verbleibenden schwach rechts- drehenden Rest doch in Betraeht kommen könnten. Die Fähigkeit gewisser Hefen, nur bestimmte Zuckerarten an- zugreifen, brachte im gegebenen Falle keine Entscheidung, da ich sowohl mit S. Marxianus, S. apieulatus und mit S. octosporus Gärung in der untersuchten Flüssigkeit erhielt, die allerdings oft nicht so intensiv war wie die mit Oberhefe erzeugte. Mit der von Geelmuyden!) empfohlenen Kahmhefe Nr. 583 der Versuchs- und Lehranstalt für Brauerei in Berlin, welche Disaccharide (Maltose) nicht angreifen soll. stehen mir eigene Erfahrungen, ebenso wie mit S. elipsoideus I, die nur Maltase enthält, nicht zu Gebote. Die Ver$uche mit diesen verschiedenartig angepassten Hefen müssen zur Entscheidung der hier angeregten Frage jedenfalls fortgesetzt werden. 2. Invertiert man die von der Leber stammende und in der an- geführten Weise behandelte Flüssigkeit mit starker Salzsäure (15—20°/o HCl., spezifisches Gewicht 1112), so tritt stets eine deut- liche Zunahme der titrimetrischen und eine entschiedene Abnahme der polarimetrisch gewonnenen Werte hervor; es ist also bei der Invertierung eine Flüssigkeit mit stärker reduzierender und schwächer rechtsdrehender Eigenschaft entstanden, was im Sinne einer Glukose- entstehung aus Maltose gedeutet werden kann. Die stärkere Reduktion nach der Invertierung äussert sich auch deutlich bei Vornahme der Probe nach Worm-Müller und mit dem Reagens von Barfoed; in manchen Fällen kommt tatsächlich vor der Invertierung eine Reduktion des essigsauren Kupfers gar nicht zu- stande, während sie nach der Invertierung ganz deutlich ist, was geradezu als charakteristisch für die Umwandlung von Maltose in Glukose angesehen werden kann. 1) Zeitschr. f. analyt. Chemie Bd. 48 S. 137. 1909. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 53 S. 1. 1906, Bd. 63 S. 527. 1907, Bd. 70 S. 287. 1910. 584 M. Loewit: Die nach der Invertierung erhaltenen D- und P-Werte (6. Vertikal- reihe der Tabelle II) sind einander im Vergleich zu den ursprüng- lichen Werten sehr nahegerückt; die grosse Differenz derselben vor der Invertierung ist jedenfalls verschwunden. Man könnte versucht sein, diese geringgradige Differenz nach der Invertierung als inner- halb der Fehlergrenzen liegend anzusehen, wenn sie nicht regel- mässig in allen Versuchen um den Mittelwert 1-1 mit geringen Schwankungen (Minimum 0,6, Maximum 1,7) variieren würde, und wenn die Schwankungen der 5- und P-Werte nach der Inversion des Leberglykogens (2. Vertikalreihe der Tabelle II) nicht weit geringer wären (Minimum 0,00, Maximum 0,1) und um einen weit niedrigeren Mittelwert herum variieren würden [0,037 1)]. Ich vermag mit Sicherheit nicht anzugeben, worin die angeführten Schwankungen der B- und P-Werte nach der Invertierung der schwach reduzieren- den und stark rechtsdrehenden Leberflüssigkeit begründet sind, wenn sie als ausserhalb der Fehlergrenzen liegend angesehen werden. Die Annahme der Mitbeteiligung dextrinartiger Körper ist hierbei eine sehr naheliegende; auch hier werden weitere Untersuchungen einzusetzen haben. Eine Übereinstimmung der auf Grund der spezifischen Drehung n Glukose au 52,5 Maltose 138 der Leberflüssigkeit besteht nicht. Sie müsste bestehen, wenn es sich bloss um die Umwandlung von Maltose allein in Glukose handeln würde. Dieser Umstand deutet ebenso wie die im vorausgehenden bereits erwähnten Gär- und Invertierungsversuche darauf hin, dass in der untersuchten Leberflüssigkeit vor der Invertierung ausser der Maltose noch andere, möglicherweise dextrinartige Körper enthalten sein können, welche die stärkere Rechtsdrehung dieser Flüssigkeit mitbedingen. Ausserdem wird durch weitere Versuche noch fest- zustellen sein, ob die Superrotation ?) vor der Invertierung sowie die Subrotation nach derselben nicht auch etwa noch durch andere Disaecharide (Saccharose, Melibiose, Trehalose) eventuell Monosac- charide (Galaktose, Fruktose) veranlasst oder mitbedingt wird, was allerdings a priori recht unwahrscheinlich ist. fü berechneten Werte vor und nach der Invertierung 1) Bei der Untersuchung des Muskelglykogens ergaben sich ganz analoge Erfahrungen. 2) Vgl. Ch. Geelmuyden, Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 58 und 63. Über die Zuckerbildung in der Leber. 585 3. Es gelingt bei Vornahme der Phenylhydraziuprobe, in der von der Leber stammenden Flüssigkeit vor und nach der Inver- tierung ein verschiedenes Osazon zur Darstellung zu bringen. Es lässt sich hierüber folgendes feststellen: Die Kristalle fallen vor der Invertierung niemals in der warmen, immer erst in der erkalteten Flüssigkeit aus, während nach der Invertierung die Kristallbildung immer schon in der warmen und vielfach schon in der heissen Flüssigkeit beginnt'!); schon dieser Umstand weist auf die Anwesenheit von Maltosazon vor der Invertierung gegenüber Glukosazon nach der Invertierung hin. Die vor der Invertierung gebildeten Kristalle sind schon in geringen Mengen von halb verdünntem Aceton leicht und der Hauptmasse nach vollständig löslich; nach der Invertierung sind sie in der gleichen Menge des verdünnten Acetons unlöslich und lösen sich erst im Überschusse des Acetons. Dieses Verhalten ist ganz konstant und kann gleichfalls als ein Hinweis auf die Anwesenheit von Maltose und die Umwandlung derselben in Glukose bezeichnet werden. Bei der sofort näher zu besprechenden Mannigfaltigkeit der Kristallbilder und der infolgedessen rein morphologisch nicht so leichten Unterscheidung von Maltos- und Glukosazon sind gerade diese differenten Löslichkeitsverhältnisse der Kristalle vor und nach der Invertierung für die Unterscheidung derselben von grosser Be- deutung. Die Sehmelzpunktbestimmung der Kristalle vor und nach der Invertierung liess keine wesentlichen Differenzen erkennen; in beiden Fällen wurde derselbe gegen 205° C bestimmt. Da nun der Schmelzpunkt sowohl für Glukos- als für Maltosazon 205—206° C. beträgt, so kann die Schmelzpunktbestimmung in dem vorliegenden Falle keine Handhabe für die Unterscheidung und Erkennung der Kristalle bieten. Immerhin ist dabei zu beachten, dass in der Flüssigkeit mehrere Zuckerarten vorhanden sein können, so dass ÖOsazone mit niedrigerem Schmelzpunkte (eventuell Isomaltose bei 155°) dadurch verdeckt sein könnten. Ob tatsächlich die genannte Bihexose vorhanden ist, bleibt mithin eine offene Frage; vielleicht könnte das Verhalten gegen Emulsin hier eine gewisse Entschei- 1) Letzteres war in jenen Versuchen der Fall, in welchen die B- und P- Werte nach der Invertierung verhältnismässig hoch waren (7. März, 12. April, 13. Juni, 18. Juni, Tabelle II). 586 M. Loewit: dung bringen. Die von Borchardt!) beschriebenen Kristallformen bieten wohl keine sicheren Anhaltspunkte, um durch sie allein die Anwesenheit dieses Disaccharides feststellen zu können. Die Kristallform selbst bietet nun namentlich vor der Inver- tierung ein recht mannigfaches Bild; im allgemeinen lässt sich aber doch sagen, dass das Aussehen und die Löslichkeitsverhältnisse der Kristalle vor und nach der Invertierung auf verschiedene Bildungen hinweisen. Vor der Invertierung finden sich beim Frosche haupt- sächlich lange biegsame Nadeln, die meist untereinander verfitzt oder in Garben- oder Büschelform vereinigt sind (Fig. 3, Taf. XXD. In andern Fällen kommen biegsame, in Büschel- oder Sternform vereinigte, kurze Nadeln vor (Fig. 2 Taf. XXI); manchmal finden sich ausschliesslich oder den eben genannten Kristallformen beigemengt sehr leicht zerdrückbare kristallinische Schüppehen, die sich aus äusserst zarten Nadeln zusammensetzen (Fig. 1), und bei welchen der Druck des Deckelases bereits genügen kann, um ein mehr amorphes Gefüge zu einer Schuppe oder Scholle zu veranlassen, welche nur an den Rändern gelegentlich noch die Kristallnadeln erkennen lässt. Auch die verschiedenen von Geelmuyden’) aus diabetischem oder diabetesverdächtigem menschlichem Harn näher beschriebenen und abgebildeten und von ihm auf unbekannte Zucker (vielleicht Harndextrine) bezogenen Formen, namentlich Rosetten von langen, feinen, biegssamen Nadeln, zuweilen in Form einer Federfahne, dolehförmige kurze Spiesse, ferner schwertförmige kurze oder lange Blätter, die meistens stern- oder rosettenförmig angeordnet sind, kommen vor. Alle diese Formen sind in geringen Mengen halb verdünnten Azetons leicht löslich; es bleiben vor der Invertierung in demselben in manehen Fällen nur solche meist spärlichen Kristall- bildungen ungelöst, die aller Wahrscheinlichkeit nach als Glukosazon aufzufassen, das gelegentlich, aber durchaus nicht immer, neben den oben beschriebenen Formen vorhanden sein kann. Nach der Invertierung verschwindet die Mannigfaltiekeit der Kristallbilder, und es bleiben nur solche Kristallbildungen nachweis- bar, die ihrem Aussehen, ihrer Löslichkeit und ihrem Schmelzpunkte nach als Glukosazon bezeichnet werden können. Es handelt sich dabei um dickere, mehr starre kürzere oder längere Nadeln, die DIR c. : 2) Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 70 8. 287 ff. 1910. Taf. IX. Über die Zuckerbildung in der Leber. 587 entweder isoliert oder in den bekannten Büscheln oder Garben ver- einigt angetroffen werden. (Fie.5, Taf. XXI). Eine Manniefaltiekeit der Bilder kommt hier allenfalls noch in der wechselnden Länge und Dicke der Kristallnadeln zum Ausdrucke; doch wurden auch nach der Invertierung in einzelnen seltenen Fällen (auch beim Kaninchen) neben den typischen Glukosazonkristallen noch andere Formen (Federfahne, Rosetten dolehförmiger Kristalle) vorgefunden. Die beschriebene Mannigefaltiekeit der Kristallbildungen vor der Invertierung könnte vielleicht dahin gedeutet werden, dass dabei verschiedene Osazone vorliegen. Eine nähere Prüfung dieser An- nahme bleibt späteren Untersuchungen vorbehalten; vorläufig möchte ich nur darauf aufmerksam machen, dass auch nur eine verschieden- artigee Anordnung der gleichen Kristallform je nach Zusammen- setzung und sonstiger Beschaffenheit der verwendeten Flüssigkeit und je nach der Lagerung der Kristallnadeln zu Gruppen vorliegen kann. Ein derart verschiedenes Aussehen der gleichen Kristallform nach Grösse und, Gestalt ist ja auch für andere Stoffe (Bergkristall u. a., eventuell auch Leuzin) bekannt. Eine echte Polymorphie der erwähnten Kristallbildungen,, wie sie etwa beim Schwefel, der Kohle, dem Kalziumkarbonat usw. vorkommt, liegt hier kaum vor, da es sich doch nur um eine verschiedenartige Anordnung der im wesentlichen gleichen Kristallnadeln handeln kann. In dieser Beziehung sei darauf hingewiesen, dass eine von E. Merck bezogene, mit wenig Dextrose verunreinigte Maltose (eryst.) bei der Darstellung des Maltosazons, abgesehen von den spärlichen Dextrosazonkristallen, vorwiegend solche Schuppen schwert- förmiger kurzer oder langer Blätter erkennen liess, wie sie von Röhmann!) abgebildet wurden; daneben konnten in wechselnden Mengen, manchmal in der Überzahl, alle jene Kristallbildungen ge- funden werden, die oben aus der Leberflüssigkeit vor der Inver- tierung beschrieben wurden. Alle diese in der Wärme und in halbverdünntem Azeton leicht löslichen Kristallbildungen gingen auch hier nach der Invertierung in das typische Glukosazon über. Ein gesicherter Beweis, dass die erwähnten verschiedenen Kristall- bildungen in der Leberflüssigkeit einer einheitlichen Zuckerart an- gehören, ist durch die vorliegende Beobachtung nicht gegeben. Ferner konnte konstatiert werden, dass bei dem Einschluss der 1) Biochemie S. 119 Fig. 9. 588 M. Loewit: verschiedenen Kristallbildungen aus der Leberflüssigkeit in pikrin- saurem Ammoniak-Glyzerin, behufs Konservierung derselben !), nach einiger Zeit im Präparate eine grosse Anzahl der oben aus der reinen Maltose beschriebenen und von Röhmann als Maltosazon abgebildeten Kristallschuppen nachgewiesen werden konnten, die anfänglich .im Präparate überhaupt fehlten oder nur in spärlichen Exemplaren vorhanden waren. Eine ganz analoge Erfahrung konnte auch bei der Konservierung der Kristallformen aus der reinen Maltose in dem gleichen Einschlussmittel gemacht werden, in welchem nach einiger Zeit auch hier nur die erwähnten Maltosazon- schuppen vorhanden sind, ein Verhalten, das mit Rücksicht auf die vorausgehende Beobachtung nieht als Lösung eines Teiles der Kristallformen aufgefasst werden kann. Es scheint also unter nicht näher bekannten Verhältnissen eine Umwandlung der beschriebenen verschiedenen Kristallformen aus der Leberflüssigkeit zu der für Maltosazon als charakteristisch beschriebenen Form vor sich zu sehen, eine Beobachtung, welche gleichfalls als der Ausdruck einer wechselnden Anordnung der nach Grösse und Gestalt gleichen Kristall- form des Maltosazons in dem oben erwähnten Sinne gedeutet werden kann. Von diesem Gesichtspunkte aus können die" sich mehrfach widersprechenden Angaben über die von verschiedenen Autoren als charakteristisch angegebene Kristallform des Maltosazons [Bor- chardt?), Röhmann°), Thierfelder‘), 'Geelmuyden>), Tollens‘) u. a. m.| doch vielleicht miteinander vereinbarlich sein. Es sei aber nochmals hervorgehoben, dass durch diese Beobachtungen ein Beweis für die alleinige Anwesenheit von Maltose in der Leber- flüssigkeit vor der Invertierung nicht beigebracht erscheint. UÜberbliekt man die Gesamtheit der bisher zur näheren Charakterisierung des oder der in der Leberflüssigkeit vom Frosche unter den erwähnten Bedingungen sich bildenden Zucker ange- 1) In dieser in der histologischen Technik gebräuchlichen Einschluss- tlüssigkeit (S. Mayer) können die Kristalle längere Zeit konserviert werden; allmählich entwickeln sich jedoch im Präparate Niederschläge. 2) Pflüger’s Arch. Bd. 100 $. 265ff. 1903. 3) 1.3c. 4) Handb. d. physiol.- und pathol.-chemischen Analyse S. 114. Berlin 1909. ojulaie: 6)5A. 2.0.8311. Über die Zuckerbildung in der Leber. 589 stellten Versuche, so wird man gewiss sagen müssen, dass eine völlig gesicherte Deutung nach dieser Richtung hin vorläufig nicht möglich ist. Man wird nur sagen können, dass die Gesamtheit der bisher ermittelten Beobachtungen sich mit der Annahme in Einklang bringen lässt, dass unter den geschilderten Verhältnissen in der Leberflüssigkeit der Hauptsache nach sich Maltose oder maltose- ähnliche Körper bilden, neben welchen vielleicht auch noch dextrin- artige Substanzen und gelegentlich auch geringe Mengen von Glukose vorhanden sein können, und dass nach der Invertierung hauptsächlich Glukose in der Flüssigkeit nachweisbar ist. Die Annahme, dass sich in der von der Leber stammenden Flüssigkeit ausser den ge- nannten noch andere Zucker vorfinden, kann vorläufig nicht direkt abgelehnt werden, doch wurde bereits auf die Unwahrscheinlichkeit der Bildung anderer für die Erscheinung der Super- und Subrota- tion in Frage kommenden Zuckerarten unter den gewählten Ver- suchsbedingungen hingewiesen. Gärunfähige Zucker und andere Substanzen, welche von Hefe nicht angegriffen werden und auch gegen Phenylhydrazin ein anderes Verhalten zeigen, dürfen hier wohl überhaupt ausser Betracht bleiben. B. Versuche an Kaninchen. Die Versuche am Warmblüter dienten zur Ergänzung der Froschversuche. Vorläufig stehen mir an diesem Objekte nicht so zahlreiche Beobachtungen wie beim Frosch zur Verfügung, die hier, da sie im wesentlichen eine Bestätigung der Ergebnisse beim Frosche erbrachten, nur in Kürze beigefüst werden sollen. Zur Erzielung der absoluten oder praktischen Glykogenfreiheit in der Leber wurde ausschliesslich länger dauernde Nahrungs- entziehung bei genügender Wasserzufuhr verwendet. Innerhalb 6—10 Tagen wird in der Regel ein Glykogenwert von 0—0,1 °/o (bei einem Körpergewichtsabfall von 26—30 °/o) erreicht, was die Tiere noch ganz gut vertragen. Die Tiere werden dann durch Entbluten getötet und die Leber, eventuell Muskel und andere Organe, sofort zur Untersuchung verwendet. Alle vorbereitenden Maassnahmen müssen in der Wärme (ca. 35°C) vorgenommen werden, da das Endresultat sehr wesentlich von diesem Umstand beeinflusst wird. Die mit Quarzsand zerriebene Leber kommt in die vorgewärmte alkalische Kochsalzlösung (7 /o einer 1°/oigen Lösung von Na;C0,); im übrieen wird ebenso wie 590 M. Loewit: beim Frosche vorgegangen; die mit den Organen beschickten. Lösungen kommen in den Thermostaten bei 36—37° C. Die weitere Untersuchung derselben muss bei der Leber schon nach einstündigem Aufenthalte im Brutscehranke vorgenommen werden, da sich gezeist hat, dass nach 16—20stündigem Aufenthalte in der Wärme ein weit niedrigerer Zuckergehalt in den Flüssig- keiten als nach einstündigem nachweisbar ist, was beim Frosche nieht zutrifft. Diese Erscheinung kann verschiedene Ursachen haben, deren Ergründung vorläufig nicht geprüft wurde. Man kann dabei, da Bakterienwirkung ausgeschlossen werden kann, unter anderem an eine Beschleunigung einer Enzymwirkung durch die erhöhte Temperatur und an das Auftreten glykolytischer Prozesse beim Kaninchen während des längeren Aufenthaltes des Reaktionsgemisches im Brutschrank denken, die beim Frosche in geringerem Grade in Betracht kommen eventuell ganz fehlen; doch stehen mir vorläufig beweisende Anhaltspunkte dieser Annahmen nicht zu Gebote. Der weitere Gang der Versuche erfolgt konform wie bei den Fröschen. (Tabelle II.) Die Vergleichung der Tabelle II und III ergibt, dass die Ver- hältnisse der postmortalen Zuckerbildung beim Kaninchen sich unter den gewählten Versuchsbedingungen im wesentlichen analog jenen beim Frosche verhalten. Die hauptsächlichste Differenz liegt: wohl darin, dass dieser Prozess beim Kaninchen schon nach einer Stunde einen Höhepunkt erreicht hat, was auf einen rascheren und in- tensiveren Ablauf des Vorganges gegenüber den Verhältnissen beim Frosche hinzuweisen scheint. Aus dem in der vierten Horizontal- reihe mitgeteilten Versuche (3. Mai 1910) geht auch für das Kaninchen hervor, dass die postmortale Steigerung des Zuckergehaltes nicht dureh Übertritt präformierter in der Leber vorhandener Substanzen veranlasst wird. Bezüglich der näheren Charakterisierung des von der glykogen- freien Kaninchenleber postmortal gebildeten Zuckers kann auf das hierüber beim Frosche Mitgeteilte verwiesen werden, da in dieser Beziehung volle Übereinstimmung besteht. Auch die vor und nach der Invertierung darstellbaren Osazone stimmen bezüglich ihres Aus- sehens, ihrer verschiedenen Kristallformen, ihres Schmelzpunktes und ihrer Löslichkeitsverhältnisse mit jenen vom Frosche gut überein (vgl. die Photogramme 2 und 4, Taf. XXI). Es kommen aber hier vor der Invertierung die leicht zerdrückbaren, aus zarten Kristall- 91 9% Über die Zuckerbildung in der Leber. = 0% —-d ne 938 —-d = 17 —d |0601—q = 600 - A|ı80 —d 0 — d.[08°08 | 6 — VE = eg: = 080 —AI = 80.0 TAU Tl 0 tar 'sl 0: VE "urn OT ydeu 9504IX9(] spe reg 018 — = Ze Bd LO — 080 — d [980 = 4|080 = Ad -93193907 080 — T == = — #wI—-gT = sro — & | 9170 — I |STO — T |0903 | ı | wm 'E Bu el: Nr —d = 0e -d| 0-7 |9e 4 086 —T #00 — d|090 —d Oel co—gq = Ge Tal 20T 120 -7|00 -a|wo -zloco —-— ag 0 — [0913| 9 | uf Ne Ne sd Ve dc TO Du1C30, da: dt _ VE Ver ee N IR ETO — | 070 2.980 — | TN0 | 0892| 6 | ung yZ 0/, %o 0% 0%, %/o 0% 0% %/o 0% 0/9 0% %/o R 3 r e Sund 3 En en e. on un Sum.ıan sunıvd SEN el ywus9d & Ed Ss] Eimenn -TOAUJ -I9 A, Se se AIOYanZ spe | ywusoq =b = Ne ro UN TON x a en u : NN : i = = )I6L -Id fa u 2 x u CASE =) « Lı 4 y r ste JA9AUJ OP ‚ep oeu U EU az To2[>U (aagarg) |aoyanz se | 5 = (wopung Oz yprı) yoeu ypey| 1eyo8 feed (opung I ypru) -Ingg -1040] oeapiy | mososcgy 5, SIE ea yonZ -rasonz| -PNnZ | -01onZ eyadaoyonz -9]yoN -104977 5 ® - = N re ni PySı = 99T A9p UT HTUOSO9UONAIN m) 5 nn NEE TR = Ben & = ee "UOUDUurue sg III af[eqeL, 592 M. Loewit: nadeln bestehenden Schüppchen häufiger vor (Phot. 1, Taf. XXI) als die aus einzelnen Nadeln zusammengesetzten Büschel (Phot. 4). Die Versuche am Kalt- und am Warmblüter verlaufen daher der Hauptsache nach übereinstimmend, und die aus den Frosch- versuchen abgeleiteten Folgerungen haben daher auch für das Kaninchen ihre Gültigkeit. C. Zusammenfassung. Die vorliegenden Versuche scheinen geeignet, die Annahme zu stützen, dass auch die praktisch so gut wie glykogenfreie Leber des Kalt- und Warmblüters (Frosch, Kaninchen) die Fähigkeit besitzt, unter passenden Bedingungen postmortal Kohlehydrat (Zucker) zu bilden. Für die Vorgänge am lebenden Tiere ist, wie eingangs er- wähnt wurde, die Kohlehydratbildung aus einem Materiale in der Leber, das selbst nieht Kohlehydrat ist, durch eine Reihe von Be- obachtungen im hohen Grade wahrscheinlich geworden, und die vor- liegenden Versuche an der überlebenden Leber stehen daher mit den Beobachtungen am lebenden Tiere in guter Übereinstimmung. Frast man nun, aus welchem Materiale die Kohlehydratbildung unter postmortalen Verhältnissen vor sich gegangen sein dürfte, so seben die vorliegenden Versuche keine entscheidende Antwort auf diese Frage; sie stellen vielmehr zunächst nur die Tatsache der postmortalen Kohlehydratbildung in der praktisch so gut wie glykogen- freien Leber fest. Jedenfalls stammt unter den gegebenen Versuchsbedingungen das Material für die Kohlehydratbildung aus der Leber selbst, deren Eiweisskörper, Fette!), Glykoalbumosen und Pentosen hierbei zu- nächst in Betracht zu ziehen sein werden. Auf die Anwesenheit von Glykoalbumosen in der Leber hat, wie schon erwähnt wurde, bereits OÖ. Simon?) und früher Röhmann?), Salkowski®), Seegen und Sittig°’), Seegen und Neimann‘), Seegen’) u.a.m. hin- gewiesen. Eine eingehende Zusammenstellung und Würdigung der 1) Die Lebern der gewärmten Frösche sind manchmal stark verfettet. 2)alic: 3) Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1893 Nr. 51. 4) Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1893 Nr. 52. 5) Wiener Sitzungsber. Bd. 113 Abt. 3. 1904. 6) Wiener Sitzungsber. Bd. 112 Abt. 3. 1910. 7) Arch. f. Physiol. 1900 S. 292; 1903 S. 425. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 12 S. 505; Bd. 13 8. 115. Über die Zuckerbildung in der Leber. 593 hierher gehörigen Angaben findet sich bei Langstein'); die An- wesenheit von Glukosamin in zahlreichen Eiweisskörpern, in einzelnen davon in nicht geringer Menge, darf danach als gesichert angesehen werden. Auf die Anwesenheit von Pentosen in der Leber haben unter anderen Wohlgemuth?) und Offer?) aufmerksam gemacht; die Menge derselben in der Leber ist gewiss nicht gross: für die Kalbsleber beträgt sie nach einer Zusammenstellung bei Röhmann‘*) 0,16—0,56. Ob nun die vorhandene Kohlehydratgruppe der Eiweisskörper der Leber, die Pentosen und das Fett derselben, für die in den vor- liegenden Versuchen gefundenen Zuckermengen ausreichen, kann wohl zunächst nicht entschieden werden; jedenfalls darf aber hierbei im Sinne Gremer’s?) von einer Glykoneogenie gesprochen werden, welche durch den aus der Leber mit Säure (nach Röhmann) ab- spaltbaren Zucker, plus dem vorhandenen Leberglykogen und dem Leberzucker nicht gedeckt wird. So betragen diese drei Werte zusammengenommen in den Kaninchenversuchen vom 24. Juni 1910: 0,62, vom 7. Juli 1910: 0,64, vom 3. Mai 1910: 0,66, vom 18. Juli 1910: 0,36°); die Glykoneogenie erreicht nach vorgenommener In- vertierung in den betreffenden Versuchen Werte von 3,9, 3 und 2,60 °/o Dextrose, also Zunahmen von nahezu 3°/o. Das ist absolut senommen gewiss nicht viel, da aber dieser Wert jedenfalls die in der Leber vorhandenen Kohlehydrate und die Fehlererenzen der an- gewandten Methoden nicht unwesentlich übersteigt, und da derselbe unter den gewählten Versuchsbedingungen mit einer gewissen Kon- stanz festgehalten wird, so wird er für die Frage der postmortalen Zuckerbildung in der glykogenfreien Leber immerhin Beachtung finden müssen, zumal es sich gezeigt hat, dass postmortal nicht so sehr die Bildung von Glukose als vielmehr eines, eventuell mehrerer stark rechtsdrehender und schwach reduzierender Zucker in Betracht kommen, die auch in entsprechend grösserer Menge vorhanden sind. Es wird dabei noch zu berücksichtigen sein, dass die Versucehs- bedingungen an der in der gewählten Weise überlebenden und all- 1) Ergebn. d. Physiol. Bd. 1 H.1 S.63ff. 1902, und Bd. 3 S. 453ff. 1904. 2) Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 37 S. 475. 1903. 3) Hofmeister’s Beiträge usw. Bd. 8 S. 399. 1906. 4) Biochemie S. 123. 5) Ergebn. d. Physiol. Bd. 1 H. 1 S. 871. 1902. 6) Aus den in der Regel höheren P-Werten berechnet. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. [eV] [0,0] 594 M. Loewit: Über die Zuckerbildung in der Leber. mählich absterbenden Leber der postmortalen Zuckerbildung selbst eine Grenze setzen dürften, so dass die in den vorliegenden Ver- suchen gefundenen Zuckerwerte vielleicht nur einen Bruchteil der unter günstigeren Bedingungen erreichbaren darstellen. Die hier nachgewiesene postmortale Zuekerbildung darf also wohl als ein Ausdruck dafür angesehen werden, dass auch die über- lebende Leber die Fähigkeit der Kohlehydratbildung bei nahezu voll- ständiger Abwesenheit von kohlehydrathaltigem Material besitzt; ob diese Art der Kohlehydratbildung nicht von den Spuren der vor- handenen Kohlehydrate, eventuell von der Kohlehydratgruppe der Eiweisskörper, ihren Ausgang nimmt oder angeregt und gefördert wird, bleibt ebenso den weiteren Untersuchungen vorbehalten wie die Vermutung, dass bei dieser postmortalen Kohlehydratbildung eine Art fermentativer Synthese vorliegt‘), die der Hauptsache nach auf der Stufe der Maltose stehen bleibt und nicht bis zu dem intra- vital in der Leber sich bildenden Kohlehydrat (Glykogen) vorwärts schreitet. Es sei noch betont, dass analoge Versuche eine postmortale Glykoneogenie mit Blut, Muskeln und Nieren nachzuweisen, in den meisten Fällen völlig negativ verliefen, in einzelnen Versuchen jedoch so schwach positive Werte lieferten, dass ich glaube dieselben vor- läufig unberücksichtigt lassen zu können. Tafelerklärung. Fig. 1, 2 und 3. Aus der Froschleber vor der Invertierung (Maltosazon). Kristalle nach Art der Fig. 1 und 2 kommen auch bei der Kaninchenleber vor; Kristalle nach Art der Fig. 3 wurden nur beim Frosch gefunden. Fig. 4 Aus der Kaninchenleber vor der Invertierung (Maltosazon). Analoge Bildungen kommen auch beim Frosch vor (vgl. Fig. 2). Fig. 5. Aus der Kaninchenleber vor der Invertierung (Glukosazon). - Analoge Bildungen kommen auch beim Frosch vor, doch finden sich hier vielfach lange, mehr starre Nadeln, einzeln oder in Garben und Büscheln angeordnet. Die Bilder wurden mit Reichert 8a, ohne Okular und mit Blaufilter auf- genommen. 1) Der früher erwähnte, im wesentlichen negative Ausfall der Versuche an Phosphorfröschen könnte als Stütze einer solchen Auffassung gedeutet werden. Pflüger's Archiv für die ges. Physiologie. Bd.136. Tate XXL a Weitere Versuche über die Wirkung des ultravioletten Lichtes auf die Netzhaut. Von Prof. A. Birch-Hirschfeld (Leipzig) und Dr. Nobuo TInouye (Tokio). Die Frage, ob sich unter dem Einflusse des Lichtes die Struktur der Netzhautganglienzellen ändert, ist bereits vor längerer Zeit von verschiedenen Autoren untersucht und in verschiedenem Sinne be- antwortet worden. Schon Mann!) hatte mit der Nisslmethode an der Netzhaut des Hundes durch genaue Vergleichung des Hell- und Dunkelauges morphologische Unterschiede an den Nervenzellen beobachtet, die er in folgenden Sätzen zusammenfasst: 1. Während der Ruhe (Dunkeladaptation) speichert sich die chromatische Substanz in der Nervenzelle auf, um während der Funktion verbraucht zu werden. 2. Aktivität der Zelle ist begleitet von einer Grössenzunahme der Zellen, Zellkerne und Nukleolen. 3. Ermüdung der Nervenzelle äussert sich in Schrumpfung des Kerns und wahrscheinlich der Zelle und Bildung einer diffusen chromatischen Substanz im Kern. Der erste dieser Sätze konnte durch Birch-Hirschfeld?) nach Untersuchungen an Kaninchen und Hunden bestätigt werden, während eine Grössenzunahme der Zelle und des Kerns nicht mit Sicherheit beobachtet werden konnte. Pergens?) fand bei Fischen Abnahme des Kernnukleins der Netzhaut besonders in der äusseren Körnerschicht nach längerer Belichtung. 1) Mann, Histological changes indueed in sympathetic motor and sensory nerve cells by functional activity. Journ. of Anat. and Physiol. 1895 p. 100. 2) Birch-Hirschfeld, Beitrag zur Kenntnis der Netzhautganglienzellen unter physiologischen und pathologischen Verhältnissen. Arch. f. Ophthalm. Bd. 50 H.1. 1900. 3) Pergens, Action de la lumiere sur la retine.. Travaux de l’institu Solvayt.1-p.1 et 2.- 1896. : 38 * 596 A. Birch-Hirschfeld und Nobuo Inouye: Weiter erwähnt neuerdings Carlson'!) an den Ganelienzellen der ruhenden und tätigen Netzhaut von Vögeln (Cormoran) sehr merkliche Unterschiede. Die Menge der Nissl-Substanz war in den gereizten Zellen immer geringer. Die einzelnen Körner waren verschwommen und das Protoplasma durchweg stark blau gefärbt. Es schien, als schwinde die Niss1-Substanz zuerst aus dem Zentrum der Zelle, während un Zellkörper etwas an Grösse abnahm. Auch Garten’) konnte an der Affennetzhaut Chromatinver- minderung der multipolaren Ganglienzellen durch Helladaptation beobachten. Diesen positiven Befunden stehen die Untersuchungen von Bach°) und Schüpbach*) gegenüber, die ein negatives Ergebnis hatten. Bach?), der die Netzhaut des hell- und dunkeladaptierten Kaninchenauges verglich, konnte weder in der Menge noch in der Anordnung der Form der färbbaren Plasmaschollen, noch in der Grösse, der Lagerung, der Tinktion und Durehsichtigkeit der Kerne konstante, markante, prinzipielle Unterschiede zwischen beleuchteten und verdunkelten Netzhäuten entdecken. Er urteilt übrigens selbst, dass die positiven Befunde Mann’s durch seine negativen Resultate nicht widerlegt seien. Vermutlich ist das negative Ergebnis der Bach’schen Versuche dadurch zu erklären, dass er weit geringere Lichtintensitäten zur Helladaptation verwendete als Mann, Pergens, Garlson und Birch-Hirschfeld. Das gleiche gilt wahrscheinlich für die Untersuchungen Schüp- bach’s, der an der Taubennetzhaut keinen durchgreifenden Unter- schied zwischen den Netzhäuten hell- und dunkeladaptierter Tiere finden konnte, leider aber nicht angibt, welche Lichtquelle und Liechtintensität er zur Helladaptation verwendete. 1) Carlson, Changes in the Nissl’s substance of nerve cells of the retina during prolonged normal stimulation. Amer. Journ. of Anat. vol. 2 (3) p. 241. 1903. 2) Garten, Die Veränderungen der Netzhaut durch Licht. Handb. d. ges. Augenheilk. Graefe-Sämisch, 2. Aufl., 1908. 3) Bach, Die Nervenzellenstruktur der Netzhaut in normalen und patho- logischen Zuständen. Arch. f. Ophthalm. Bd. 41 S. 62. 1895. 4) Schüpbach, Beiträge zur Anatomie und Physiologie der Ganglienzellen im Zentralnervensystem der Taube. Zeitschr. f. Biol. Bd. 47. 1905. Weitere Versuche über die Wirkung des ultravioletten Lichtes etc. 597 Bei einer Nachprüfung der Schüpbach’schen Versuche er- hielt Bireh-Hirschfeld'!) ausgesprochen positive Resultate. Die Ganglienzellen der innersten Netzhautschieht der Taube zeiten nach mehrstündiger Helladaptation im Sonnenlicht und bei elektrischem Bogenlicht verglichen mit denjenigen des Dunkelauges deutliche Chromatinverminderung. In neuester Zeit hat dann Gaston Perlet?) diese Versuche wieder aufgenommen. Er fand, dass nach intensiver Belichtung an den multipolaren Ganglienzeilen der Taubenretina eine „ganz be- trächtliche Verminderung der Nissl-Substanz“ konstatiert werden kann, während er an den bipolaren Zellen der inneren Körnerschicht keine Chromatinverminderung beobachtete. Soweit es sich um tatsächliche Befunde handelt, stimmt also Gaston Perlet mit den Angaben Birceh-Hirschfeld’s völlig überein und steht im Gegensatz zu den negativen Ergebnissen Schüpbach’s. Dass er die Verminderung der Nissl-Substanz nicht mit dem Sehakte als solchem, d. h. mit der Umwandlung des Lichtes in Nervenerregung, in Verbindung bringt, stimmt gleichfalls mit der Anschauung der früheren Untersucher überein. Dagegen ist nicht verständlich, was er über die Kontraktion des Aussengliedes der Sehelemente bemerkt. Es dürfte sich hier wohl um eine Ver- wechslung mit dem Innengliede handeln, da eine Kontraktion des Aussengliedes der Zapfen und Stäbchen bei der Taube bisher von keinem Untersucher angetroffen wurde. Bei allen den erwähnten Versuchen wurde zur Helladaptation des Versuchstieres gemischtes Licht, d. h. Licht verwendet, das sowohl leuchtende als ultraviolette Strahlen enthielt, wenn die ersteren auch in den meisten Fällen nach der Versuchsanordnung überwogen. Die Frage, ob ultraviolettes Licht allein, vorausgesetzt natür- lich, dass es bis zur Netzhaut gelangt, die gleichen Veränderungen l) Birch-Hirschfeld, Der Einfluss der Helladaptation auf die Struktur der Nervenzellen der Netzhaut nach Untersuchung an der Taube. Arch. f. Ophthalm. Bd. 63 H.1 S. 85. 1906. 2) Gaston Perlet, Über den Einfluss des Lichtes auf die Netzhaut- elemente der Taube. Zeitschr. f. Biol. Bd. 52 S. 365. 1909. 398 A. Birch-Hirschfeld und Nobuo Inouye: hervorruft, ist von Birch-Hirschfeld!) experimentell geprüft worden. Nach operativer Entfernung der Linse des Kaninchens und mehrstündiger Blendung mit dem spektral zerlegten ultravioletten Lichte einer Bogenlampe fand sich hochgradiger Chromatinverlust und Vakuolisation der Ganglienzellen und Chromatinschwund der Körnerschichten, besonders auch der äusseren Körnerschicht. Am Sinnesepithel und dem Pigmentepithel konnten keine Veränderungen beobachtet werden. Die Erscheinungen in der Netzhaut konnten als ein weiteres Stadium der bei der Helladaptation auftretenden Chromatinver- minderung aufgefasst werden, unterschieden sich aber von dieser nieht nur durch den Grad der Chromatinausbleiehung, sondern durch das Auftreten von Vakuolen. Die Veränderungen bildeten sich im Laufe einiger Tage zurück und waren von einem besonders chromatinreichen Stadium (Pykno- morphie der Nervenzellen) gefolgt. Diese Versuche Bireh-Hirschfeld’s dachten wir durch die vorliegende Untersuchung nachzuprüfen, zu erweitern und zu er- gänzen. Erstens hatten sie sich nur auf das Kaninchen bezogen. Es fragte sich, ob für ein anderes Versuchstier die gleichen Verhältnisse gelten würden. Hier empfahl es sich, die Taube zu verwenden, nicht nur weil Schüpbach, Birch-Hirschfeld und Gaston Perlet an dieser den Einfluss der Helladaptation studiert hatten, sondern auch weil bei ihr die durch Licht ausgelösten Vorgänge am Sinnesepithel und Pismentepithel viel ausgesprochener sind als beim Kaninchen. Weiter empfahl es sich, eine Lichtquelle zur Blendung zu be- nutzen, die besonders reich an kurzwelligen Strahlen ist, und bei welcher kurze Expositionszeiten ausreichten, um intensive Ein- wirkungen zn erzielen. Es liess sich erwarten, dass es dadurch möglich sein würde, hochgradigere Veränderungen hervorzurufen, als das bei der früheren Versuchsanordnung möglich war. Endlich schien es angezeigt, die Versuchsanordnung bei den einzelnen Versuchen zu variieren, um über die Wirkung der leuch- l) Birch-Hirschfeld, Die Wirkung der ultravioletten Strahlen auf das Auge. Arch. f. Ophthalm. Bd. 58 S. 469. 1904. Weitere Versuche über die Wirkung des ultravioletten Lichtes etc. 599 tenden und der ultravioletten Strahlen derselben Lichtquelle nach Möglichkeit ein Urteil zu gewinnen. Zum Vergleiche des geblendeten Auges diente teils das andere Auge des gleichen Tieres, teils die Netzhaut einer anderen Taube nach mindestens zwölfstündiger Dunkeladaptation. Diese wurde zugleich mit der geblendeten Netzhaut sofort nach Beendigung des Versuches im Dunkeln fixiert und später mit dieser eingebettet geschnitten und (durch Eintauchen) gefärbt. Nur in dieser Weise lassen sich absolut gleiche Schnittdieke und gleichmässige Färbung beider Objekte erreichen. Die Netzhäute wurden zum Teil in Paraffin, zum Teil in Celloidin (Trockenmethode) eingebettet. Als Fixationsmittel diente die Zenker’sche Lösung, die sich serade für die Netzhaut besonders bewährt hat. Zur Färbung wurde Thionin, Erythrosin und Eisenalaunhämatoxylin-van Gieson verwendet. Der Vergleich zwischen den Netzhäuten beider Augen des gleichen Tieres ist insofern nicht ganz einwandfrei, weil die relativ grossen Taubenbulbi sich im medialen Teile sehr nahe stehen und nur durch zarte durchscheinende Knochenlamellen setrennt sind. Es ist deshalb möglich, dass ein Teil des zur Blendung des einen Auges verwendeten Lichtes die Zwischenwand durchdrinst und auf die Netzhaut des anderen Auges einwirkt. Bireh-Hirschfeld hat früher bereits hierauf hingewiesen und experimentell festgestellt, dass das Licht einer Nernstlampe in 10 em Entfernung nach Durehleuchtung beider Taubenaugen eine leichte Schwärzung der photographischen Platte bewirkt. Als Lichtquelle benutzten wir die Schott’sche Uviollampe, eine Quecksilberdampflampe, deren Spektrum bis etwa 253 uw Wellenlänge reicht, und die von den leuchtenden Strahlen nur die relativ kurzwelligen blaugrünen, blauen und violetten enthält. Eine Wärmewirkung dieser Lampe kann kaum in Betracht kommen, da die Temperatur nach 10 Minuten in 10 cm Entfernung von der Glasröhre nur um ca. 1,5° C ansteigt und selbst bei halb- stündiger Blendung der die Lider des Versuchstieres offen haltende Finger, der der Lampe wesentlich näher kommt als die Netzhaut, nur eine leichte Erwärmung spürt. Einige Schwierigkeiten machte uns die Vorbereitung des Ver- suchstieres. 600 A. Birch-Hirschfeld und Nobuo Inouye: Nach einiger Übung gelang es, die Hornhaut des dunkel- adaptierten, durch Äther betäubten Tieres beim rotem Lichte der Dunkelkammerlampe abzutragen, die Linsenkapsel zu eröffnen und die Linse zu entfernen, ohne dass eine stärkere Blutung eintrat, die natürlich den grössten Teil der Strahlen absorbiert haben würde. Da sich bei der verschiedenartigen Versuchsanordnung in den anatomischen Befunden nicht unwesentliche Differenzen erkennen liessen, geben wir einen kurzen Auszug unserer Protokolle, um dann im Zusammenhange auf die wesentlichen Punkte einzugehen. Taube I. Rechtes Auge nach Abtragung des vorderen Abschnittes in 5 cm Entfernung 8 Minuten lang mit der Uviollumpe bestrahlt, linkes Auge (Kontrollauge) vor der Blendung bei diffusem Tageslicht hell adaptiert. Befund bei der anatomischen Untersuchung: Rechtes Auge: Die Ganglienzellen der innersten Netzhautschicht sind ver- glichen mit denjenigen des linken Auges, die reichliche distinkt dunkelgefärbte Chromatinkörner enthalten, auffallend chromatinarm. Ihr Kern ist scharf be- grenzt rundlich, der Nukleolus dunkelblau, das Kernchromatin wabig und körnig rotgefärbt. Die Nissl-Schollen sind diffus blassblau unscharf begrenzt, teilweise zusammengeflossen. Viele Zellen enthalten nur spärliche Reste von Chromatin- schollen und zwar meist in der Peripherie der Zelle oder an der Kernmembran an- haftend. Eine Verschiebung des Kerns im Zellleib oder Grössenänderung der Zelie lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Dagegen erscheinen die Kerne teilweise auffallend gross, blasig; ihre Chromatinfäden sind gespannt. In der inneren Körnerschicht macht sich ein Grössenunterschied der Elemente der inneren Schichten bemerkbar. Die Körner der inneren Reihen liegen dichter gedrängt, platten sich zum Teil gegenseitig ab und sind chromatin- ärmer als diejenige der äusseren Reihen. Am linken Kontrollauge lässt sich ein der- artiger Unterschied nicht feststellen. Allerdings sind auch hier die Elemente nicht von völlig gleicher Grösse und Färbbarkeit, sondern es lassen sich spindelförmige chromatinreiche Körner, kleine rundliche und ovale Körner und grössere rund- liche oder ovale Körner unterscheiden. Ein Vergleich zwischen beiden Augen ergibt jedoch ein wesentlich reichlicheres Vorhandensein der grossen runden Körner in dem mit Uviollicht geblendeten Auge. Die äusseren Körner entsprechen in beiden Augen dem Typus des Hellauges. Die Zapfenkörner sind klein, fast homogen und dunkelblau gefärbt, von länglich ovaler und bohnenförmiger Gestalt, häufig über die Membr. limit. etwas vorgeschoben, die Stäbchenkörner rundlich, von einem feinen, mit Chro- matinkörnchen besetzten Netzwerk durchsetzt. Die sehr gut konservierten Stäbchen und Zapfen zeigen an beiden Augen deutliche Kontraktion der Innenglieder und keinerlei wesentliche Unter- schiede. Weitere Versuche über die Wirkung des ultravioletten Lichtes etc. 601 Der Fall zeigt also, dass bereits nach kurzer Einwirkung des Lichtes der Uviollampe auf ein Auge, dessen Ultraviolett absor- bierende Meuien (Hornhaut und Linse) entfernt waren, eine Chromatinverminderung der Ganglienzellen der innersten Netzhaut- schicht stattfindet, welche diejenige durch Helladaptation bei diffusem Tageslicht wesentlich übertriftt. Er zeigt weiter, dass auch die inneren Schichten der inneren Körnerschicht Änderungen erkennen lassen (Chromatinverminderung und Schwellung), die nach gewöhn- licher Helladaptation nicht vorhanden zu sein pflegen. Taube II. Rechtes Auge nach 12stündiger Dunkeladaptation, Abtragung der Hornhaut und Entfernung der Linse 5 Minuten lang mit der Uviollampe in ca. 5 cem Entfernung geblendet. Dann linkes Auge (mit Linse) in gleicher Weise geblendet. Bei der anatomischen Untersuchung ergab sich zwischen beiden Augen ein wesentlicher Unterschied betreffs des Chromatingehaltes der Ganglienzellen und inneren Körner. Am rechten (linsenlosen) Auge waren diese wesentlich chromatinärmer als am linken Auge. Wie beim ersten Falle fanden sich am rechten Auge in den innersten Reihen der inneren Körnerschicht reichliche grössere blassgefärbte Körner, was beim linken Auge nicht im gleichen Maasse der Fall war. An der äusseren Körnerschicht und dem Sinnesepithel fanden sich keine wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Augen. Der Fall zeigt, dass das Lieht der Uviollampe eine wesentlich stärkere chromatinvermindernde Wirkung auf die inneren Netzhaut- schichten ausübt, wenn Linse und Hornhaut des Versuchstieres ent- fernt und dadurch den ultravioletten Strahlen der Zugang zur Netz- haut freigegeben wurde. Taube III und IV. Taube III als Vergleichstier nach 12stündiger Dunkel- adaptation verwendet. Rechtes linsenhaltiges Auge von Taube IV nach Vor- schaltung eines Uviolglases und eines Euphosglases 15 Minuten lang geblendet, dann zusammen mit dem rechten Auge vom Taube III eingebettet und ge- schnitten. Bei der mikroskopischen Untersuchung findet sich kein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Augen. Beide Netzhäute enthalten sowohl in den Ganglienzellen der inneren Schicht als in den Körnerschichten reichliche dunkel- gefärbte und scharf begrenzte Chromatinkörner. Die äussere Körnerschicht ent- spricht ganz dem Typus des Dunkelauges, d.h. die Körner sind hier von gleich- mässiger Grösse und Form. Sie sind länglich oval, an den Enden leicht zu- gespitzt. Die Zapfenkörner unterscheiden sich nicht von den Stäbchenkörnern. Jedes Korn enthält ein Netzwerk basophiler Chromatinfäden, in dessen Knoten- punkten sich körnige blaugefärbte Einlagerungen und Verdickungen befinden. Dagegen sind die Zapfeninnenglieder in der Netzhaut von Taube IV ver- kürzt, das Pigment weiter vorgeschoben als im Dunkelauge der Taube III. 602 A. Birch-Hirschfeld und Nobuo Inouye: Es ist dies offenbar die Folge davon, dass die Netzhaut des rechten Auges von Taube IV von einer geringen Quantität leuchtender Strahlen getroffen wurde. Durch das dunkle Uviolglas und die gelbliche Färbung des Euphosglases war der weitaus grösste Teil der leuchtenden Strahlen absorbiert; durch das Euphosglas, Hornhaut und Linse‘ des Versuchstieres waren die ultravioletten Strahlen voll- ständig zurückgehalten worden. Es konnten also nur sehr wenige leuchtende Strahlen zur Netzhaut gelangen. Diese reichten, wie der Versuch zeigt, nicht aus, um eine nachweisbare Chromatinverminderung zu bewirken, können aber möglicherweise die Zapfenkontraktion ver- anlasst haben. Da jedoch das linke Auge von Taube IV intensiver geblendet wurde, kann die Kontraktion der Zapfeninnenglieder und Pigment- vorschiebung im rechten Auge auch auf einem Reflexvorgang (Engelmann) beruhen. Am linken Auge von Taube IV wurde Linse und Hornhaut entfernt und nach Vorschalten eines Uviolglases 15 Minuten lang geblendet. Als Vergleichs- objekt diente das dunkeladaptierte linke Auge von Taube III. In den Präparaten liessen sich sehr auffällige Unterschiede zwischen beiden Augen feststellen. Während das Dunkelauge von Taube III sehr reichliche dunkelgefärbte und scharf begrenzte Ohromatinkörner enthält, haben die Ganglienzellen des ge- blendeten Auges fast sämtliches Chromatin verloren. Nur selten ist noch ein Teil des Protoplasmas hellblau gefärbt. Der Kern ist blass und gross, scharf begrenzt, anscheinend etwas gequollen, seine Lage im Zelleib nicht geändert. Im Protoplasma vieler Zellen sind feinste Vakuolen anzutreffen, offenbar diejenigen Stellen, wo Chromatinkörner gelegen hatten. Wenigstens finden sich die Vakuolen mit Vorliebe in der Umgebung des Kernes und in der Zellperipherie, d. h. in Bezirken, wo normalerweise die reichlichsten Niss1- Schollen lagern. Auch die inneren Körner waren wesentlich chromatinärmer als diejenigen des Vergleichsauges, in erster Linie diejenigen der inneren Reihen. Kleinere rundliche und dunkler gefärbte Körner waren relativ selten anzutreffen. Die inneren Körner waren von ziemlich gleichmässiger spindliger Form und Färbung, wichen also kaum vom Typus des Dunkelauges ab. | Die Zapfeninnenglieder waren deutlich kontrahiert, die Stäbchen wenig gestreckt. Bei diesem Versuche hat auf die Netzhaut des linken Auges von Taube IV fast das gesamte ultraviolette Licht der UvVviol- lampe und nur wenig langwellises Licht (die das Uviolglas passierenden blauen und violetten Strahlen) längere Zeit eingewirkt. Weitere Versuche über die Wirkung des ultravioletten Lichtes etc. 603 Während man die Zapfenkontraktion diesen leuchtenden Strahlen zuschreiben kann, beruht die sehr hochgradige Chromatinverminderung der Ganglienzellenschieht und inneren Körnerschicht zweifellos auf der Wirkung der ultravioletten Strahlen. Es ist dies daraus zu schliessen, dass die leuchtenden Strahlen selbst in weit höheren Intensitäten und längerer Blendungsdauer, als sie bei diesem Versuche in Anwendung kamen, eine weit geringere Chromatinausbleichung hervorrufen. Dies wird besonders deutlich bei einem Vergleiche mit den Präparaten vom linken Auge der Taube II, bei welchem die gesamten leuchtenden Strahlen der Uviollampe zur Aktion kamen. Taube V. Das linke Auge wurde nach !2stündiger Dunkeladaptation und nach Vorschaltung eines Uviolglasess 12 Minuten lang bestrahlt. Das rechte, dunkeladaptierte Auge diente zum Vergleich. Bei der mikroskopischen Untersuchung bot die Netzhaut des linken Auges hochgradigen Chromatinschwund der Ganglienzellen und inneren Körner (besonders in den inneren Schichten). Die Zapfen waren an beiden Augen kontrahiert. Der Versuch bestätigt die Resultate des Vorhergehenden für eine etwas geringere Blendungsdauer. Taube VI. Um möglichst isoliert mit ultraviolettem Lichte zu blenden, d. h. auch die das Uviolglas durchdringenden blauen Strahlen (rote Strahlen sind im Quecksilberdampflichte nicht enthalten) abzublenden, wurde vor das Auge des Tieres bei der ;Blendung ausser dem Uviolglas ein gelblich gefärbtes Zelluloidblatt vorgeschaltet, wie es beim Photographieren Verwendung findet. Betrachtet man durch Uviolglas + Zelluloidblatt die Uviollampe, so bemerkt man nur einen ganz schwachen bläulichen Streif. Ein gelbes Glas zu ver- wenden, schien nicht angezeigt, da gewöhnliches Glas die ultravioletten Strahlen teilweise absorbiert. In dieser Weise wurde das eine Auge des Versuchstieres nach Entfernung der Linse und der Hornhaut 30 Minuten lang geblendet. Das andere dunkel- adaptierte Auge diente zum Vergleich. Das Resultat der mikroskopischen Untersuchung war auffallend. Wir erwarteten nach unseren anderen Versuchen eine hocheradige Chromatinverminderung der Netzhaut des geblendeten Auges. Dies war jedoch nicht der Fall. Die Netzhaut bot vielmehr nach der chromatischen Struktur der Gangelienzellen und Körnerschiehten und nach dem Verhalten der Zapfen und Stäbehen völlie die Er- scheinungen des Dunkelauges.. 604 A. Birch-Hirschfeld und Nobuo Inouye: bei näherem Zusehen ergab sich nun, dass es nicht anders sein konnte, da fast kein Licht, aueh kein ultraviolettes, bei unserer Versuchsanordnung bis zur Netzhaut gelangt sein konnte. Das gelbgefärbte Zelluloidblatt absorbiert nämlich mindestens ebenso viel Ultraviolett wie das Euphosglas. Man 'kann sich leicht hiervon überzeugen, wenn man es zugleich mit diesem auf ein Chlorsilberpapier auflegt und intensiv mit der Uviollampe bestrahlt, bis der unbedeckte Teil des Papieres völlig geschwärzt ist. Unter dem Zelluloidblatt hat keine Schwärzung stattgefunden. Das starke Absorptionsvermögen für Ultraviolett beruht offenbar auf der starken Fluoreszenz des Farbstoffes im kurzwelligen Lichte, die derjenigen eines Uranglases fast gleichkommt. Dieser Versuch, der anfangs gegen die Annahme einer morpho- logischen Änderung der Netzhaut im ultravioletten Lichte zu sprechen schien, zeigte also in Übereinstimmung mit den früheren Versuchen, dass der zeringe Teil von leuchtenden Strahlen, der das Uviolglas und das gelbe Zeliuloidblatt durehdringt, nicht aus- reicht, um nach halbstündiger Einwirkung eine Chromatinverminderung der Netzhaut zu bewirken. Wir haben also allen Grund, die bei den anderen Versuchstieren beobachtete hochgradige Chromatinaus- bleichung den ultravioletten Strahlen zuzuschreiben. Taube VII und VII. Das dunkeladaptierte linke Auge wurde durch ein Uviolglas 25 Minuten, das rechte 10 Minuten lang bestrahlt. An beiden Augen war Linse und Hornhaut entfernt worden. Nach je 5 Minuten wurden die Augen gewechselt. Als Vergleich dienten die dunkeladaptierten Augen von Taube VIII. Bei der mikroskopischen Untersuchung zeigten die beiden bestrahlten Augen deutliche Chromatinverminderung der inneren Netzhautschichten, das linke Auge entsprechend der längeren Blendungsdauer in höherem Grade als das rechte, aber beide Augen nur graduelle Abweichungen darbietend, weshalb wir die Veränderungen zusammenfassend schildern können. Die Ganglierzelien der innersten Netzhautschicht liessen fast keine Thionin- färbung im Protoplasma mehr erkennen. Die Zelle selbst war weder geschrumpft noch geschwollen. Das meist gleichmässig rot gefärbte Protoplasma liess bei Immersion zahlreiche winzige Vakuolen besonders in der Zellperipherie und in der Umgebung des Kernes nachweisen. Die Kerne waren rund, scharf be- grenzt, nicht verschoben. Das Kernchromatin erschien zart rosa gefärbt, der Nucleolus von bläulicher Färbung. In der inneren Körnerschicht waren die inneren Kornreihen meist grösser und blasser gefärbt, während die Körner der äusseren Schichten kleiner waren und scharf begrenzte, wenn auch nur schwach blaugefärbte Chromatinklumpen Weitere Versuche über die Wirkung des ultravioletten Lichtes etc. 605 enthielten. Ausserdem fanden sich kleine, zweifellos geschrumpfte und homogen bläulich gefärbte Körner besonders in den inneren Schichten. Solche Körner fanden sich in grösserer Zahl im linken, stärker geblendeten Auge von Taube VI. Die äusseren Körner liessen reichlich distinkt bläulich gefärbte Chromatin- körner nachweisen. Sie waren regelmässig geformt und geordnet, von länglicher Gestalt, wie wir sie im Dunkelauge anzutreffen pflegen. Die Zapfeninnenglieder waren wenig kontrahiert, die Stäbchen gestreckt, das Pigment nicht vorgeschoben. Auch dieser Versuch liess die starke chromatinbleichende Wirkung der ultravioletten Strahlen in erster Linie auf die innersten Schichten gut nachweisen, während die bekannten Veränderungen der äusseren Schichten (Zapfenkontraktion, Veränderung der äusseren Körner, Pigmentverschiebung) wenig ausgesprochen waren. Fassen wir die Resultate unserer Versuche zusammen, so können wir sagen, dass den ultravioletten Strahlen, sofern man nur dafür sorgt, dass sie in genügender Intensität zur Netzhaut gelangen, ein wesentlicher Einfluss auf die Ganglienzellenstruktur, und zwar auf das Protoplasmachromatin, zukommt. Es lässt sich geradezu bei genügend langer bzw. intensiver Einwirkung des ultravioletten Lichtes das Chromatin der Ganglien- zellen und der inneren Schichten der inneren Körnerschicht völlig ausbleichen, ohne dass dabei die übrige Struktur der Zelle sichtbaren Schaden erleiden müsste. Deutlicher als bei den früheren Blendungsversuchen mit ultra- violettem Licht, die Birch-Hirschfeld nach Entfernung der Linse bei Kaninchen anstellte, liess sich bei unseren Tauben die vorwiegende Beteiligung der inneren Netzhautschichten beobachten. So war z. B. am linken Auge von Taube Nr. VII der Chromatin- gehalt der äusseren Körner noch gut erhalten, während die Ganglien- zellen der innersten Schicht keine Thioninfärbung mehr darboten. Liess sich schon bei früheren Versuchen durch sorgfältigen Vergleich des Hell- und Dunkelauges eine Chromatinverminderung durch den Einfluss gewöhnlicher Helladaptation feststellen, so war diese doch nur gering, verglichen mit den Veränderungen durch ultraviolettes Licht. Zu den übrigen durch Licht in der Netzhaut hervorgerufenen morphologischen Vorgängen, der Kontraktion des Zapfenirnengliedes, Streckung der Stäbchen |vyan Genderen Stort!), Garten usw.] l) van Genderen Stort, Über Form- und Ortsveränderungen der Ele- mente in der Sehzellenschicht nach Beleuchtung. Ber. d. 18. Vers. d. Ophthalm. Gesellsch. 1886. 606 A. Birch-Hirschfeld und Nobuo Inouye: und der Verschiebung des Pigmentes steht diese Chromatinverminde- rung in einem gewissen Gegensatze. Zunächst spielt sie sich besonders in den inneren Schichten der Netzhaut ab, nicht in derjenigen Ebene, in welche wir die Umsetzung der Nervenerregung in Lichtempfindung verlegen müssen. Weiter ist die Chromatinverminderung nicht, wie die anderen erwähnten Vorgänge, reflektorisch von einem Auge auf das andere übertragbar (Engelmann). Endlich können wir nach unseren Versuchen hinzufügen, dass die Chromatinausbleichung durch Licht von kurzer Wellenlänge in hohem Grade bewirkt werden kann, ohne dass die anderen Vorgänge deutlich ausgeprägt sind. Umgekehrt können — nach Einwirkung relativ langwelligen Lichtes — die letzteren bei Intensitätsgraden nachweisbar sein, welehe die chromatische Struktur der Ganglien- zellen nicht erkennbar beeinflussen. Man könnte die Frage aufwerfen, ob man die beschriebenen Veränderungen noch als physiologische auffassen darf oder als pathologische bezeichnen muss, d. h. ob von ihnen eine Störung der Funktion abhängig ist. Dazu ist zu sagen, dass wir über die funktionelle Rolle des Protoplasmachromatins der Netzhautnerven- zellen so gut wie nichts wissen. Wir wissen nur, dass durch be- stimmte pathologische Einflüsse, z. B. Vergiftungen und — wenn die Beobachtungen von Mann zutreffend sind — durch die Tätigkeit der Nervenzellen der Chromatingehalt Änderungen erfährt. Wir wissen aber nicht einmal, ob die Chromatinschollen präfor- mierte Gebilde oder postmortale Bildungen durch Einwirkung von Farbstoffen darstellen. Weiter müssen wir annehmen, dass zwischen den Veränderungen, die sich unter dem Einflusse physiologischer Helladaptation in der Netzhaut abspielen, und pathologischen Veränderungen durch Ein- wirkung höherer Lichtintensitäten keine scharfe Grenze besteht. Es ist nun nicht ohne Bedeutung, dass diese stärkere Chromatin- verminderung unter Verhältnissen auftritt, wo wir klinisch die Symptome der Blendung mit mehr oder weniger gestörter Funktion beobachten können. So konnte Birch-Hirschfeld an sich selbst klinisch den . Nachweis führen, dass die nach Blendung mit dem Lichte der Quecksilberdampflampe aufgetretene Farbensinnstörung in erster Linie durch die ultravioletten Strahlen bewirkt sein musste. Weitere Versuche über die Wirkung des ultravioletten Lichtes etc. 607 Wenigstens liessen sich durch Einwirkung der leuchtenden Strahlen derselben Lichtquelle auch bei doppelter Expositionszeit keine der- artigen Störungen hervorrufen. Damit soll nicht behauptet sein, dass die Chromatinausbleichung als solehe die Funktionsstörung hervorrufe.. Sie kann ebensogut die Begleiterscheinung einer Zellalteration sein, die sich einem morphologischen Nachweise entzieht. Ja man könnte auch daran denken, dass das, was als Chromatinausbleichung der Nervenzellen in Erscheinung tritt, die Folge einer Änderung der chemischen Reaktion der Netzhaut durch Einwirkung des Lichtes ist. Es braucht hier nur auf die Arbeiten von Lodato, Rochat, Dittler u. a. hingewiesen zu werden. Wie kommt es nun, dass gerade das ultraviolette Licht die Nervenzellen der inneren Netzhautschichten besonders beeinflusst, während die leuchtenden Strahlen mehr die morphologischen Vor- gänge in den äusseren Netzhautteilen auslösen ? Der Grund dieses Verhaltens ist offenbar in den Absorptions- verhältnissen der Netzhaut für kurzwelliges Licht zu suchen. Allerdings müssen wir mit Hertel!) annehmen, dass alle Zellen durch Licht reizbar sind, und dass die physiologische Wirk- samkeit nicht an bestimmte Wellenlängenbezirke gebunden ist. Aber eine physiologische Wirksamkeit ist nur möglich, wo Strahlen absorbiert werden, und die ultravioletten Strahlen werden besonders stark absorbiert, während für langwellige Strahlen eine besondere Sensibilisierung erforderlich ist. Nehmen wir nun an, dass bereits die Nervenzellen der inneren Netzhautschiehten stark ultraviolettes Lieht absorbieren — wozu wir guten Grund haben, da es viel unverständlicher wäre, den Netz- hautnervenzellen eine Fähiekeit abzusprechen, die allen Zellen eigen- tümlich ist —, so erklärt sich leicht die primäre Chromatinausbleichung der inneren Schichten. Diese inneren Schichten wirken gewissermaassen als Strahlen- filter für ultraviolettes Lieht und schützen dadurch die äusseren Schichten vor dessen Einwirkung, wobei sie natürlich selbst geändert bzw. geschädigt werden können. i 1) Hertel, Über die physiologische Wirkung von Strahlen verschiedener "Wellenlänge. Zeitschr. f.. allgem. Physiol. Bd.5 H.1 8.95. 1905. 608 A. Birch-Hirschfeld und Nobuo Inouye: Die leuchtenden Strahlen durchdringen dagegen die durch- siehtigen inneren Netzhautschichten und entfalten ihre Wirkung erst dort, wo durch bestimmte Einrichtungen (Empfangstoffe, Seh- purpur, Pigment) für ihre Absorption gesorgt ist. Nun haben wir unsere Versuchstiere durch Entfernung der Hornhaut‘ und Linse erst für die Einwirkung des ultravioletten Lichtes auf die Netzhaut vorbereitet. Unter normalen Verhältnissen absorbieren beide der genannten Medien so viel von den kurzwelliesten Strahlen (bis ca. 400 uu), dass man elauben könnte, eine Veränderung der Netzhaut durch ultraviolettes Licht sei ganz ausgeschlossen. Dies ist jedoch nicht richtig. Durch neuere Untersuchungen von Schanz und Stockhausen), Birch-Hirschfeld?) und Hallauer®) ist spektrographisch festgestellt worden, dass die Durchlässigkeit der Linse für ultraviolettes Licht nieht unwesentliche Schwankungen zeigt. So fanden Schanz und Stockhausen in einem kindlichen Auge, das wegen Gliom enukleiert wurde, ein sehr geringes Ab- sorptionsvermögen (wenig grösser als das der Hornhaut), in einem anderen ein wesentlich grösseres. Hallauer fand bei einer grösseren Untersuchungsreihe die Absorption kurzwelliger Strahlen durch die menschliche Linse im allgemeinen abhängig vom Lebensalter, von der Konstitution und von weiteren bisher unbekannten individuellen Verhältnissen (Dicke, Färbung, Konsistenz). Die Linse des jugendlichen Menschen absor- bierte bis 400 uu, liess aber eine Durchlässigkeitsbande von 330 bis 310 uu konstant nachweisen, die unter dem Einflusse schwächen- der Momente eine Verbreiterung erfuhr. Nach dem zwanzigsten Jahre trat eine absorptive Erstarkung ein, während die obere Grenze auf etwa 377 uu zurückging, um bei zunehmendem Alter auf 400—420 uu anzusteigen, nach stark reduzierenden Krankheiten bis zu 375 uu zu sinken. 1) Schanz und Stockhausen, Über die Wirkung der ultravioletten Strahlen auf das Auge, Arch. f. Ophthalm. Bd. 69 H.3 S. 452. 1908. 2) Birch-Hirschfeld, Zur Reurteilung der Schädigung des Auges durch kurzwelliges Licht. Zeitschr. f. Augenheilk. Bd. 21 S. 385. 1909. 3) Hallauer, Über die Absorption von kurzwelligem Licht durch die menschliche Linse. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 42. Jahre. S. 721. Dezember 1909. Weitere Versuche über die Wirkung des ultravioletten Lichtes etc. 609 Aus diesen Untersuchungen geht also hervor, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil des ultravioletten Lichtes die Linse durchdringt und die Netzhaut zu erreichen vermag. z In viel höherem Maasse wird dies natürlich der Fall sein, wenn die Linse wegen Katarakt oder hochgradiger Myopie entfernt wurde. Es kann hiernach den bei unseren Versuchen nachgewiesenen Veränderungen auch eine praktische Bedeutung nicht abgesprochen werden. Hatte Best!) behauptet, dass die kurzwelligen Strahlen keine physiologische Aktivität für die Netzhaut besitzen könnten, da diese für langwelliges Licht sensibilisiert sei, so zeigen unsere Versuche im Gegenteil, dass gerade das ultraviolette Licht sehr ausgesprochene morphologische Veränderungen in der Netzhaut hervorrufen kann, die vermutlich für die normale Funktion der Netzhautnervenzellen nicht belanglos sind. Es ist dies ein Grund mehr für die Annahme, dass die Netz- haut nicht nur gegen leuchtende Strahlen, sondern unter Umständen auch gesen intensives ultraviolettes Licht geschützt werden muss, soweit die natürlichen Schutzmittel keinen genügenden Schutz ze- währen. / Dabei braucht man nicht so weit zu gehen wie Schanz und Stockhausen, die das ultraviolette Licht als eine „Verunreinigung des Lichtes“ bezeichnen und es vollständig vom Auge fernhalten wollen. 1) Best, Über die praktische Tragweite der Schädigungen des Auges durch leuchtende und ultraviolette Strahlen. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. Bd. 47 S. 520. 1909. — Best, Ist Schutz der Augen vor ultraviolettem Lichte notwendig ? Med. Klinik 1910 Nr. 7. — Best, Über die Schädigung des Auges durch ultra- violette Lichtstrahlen. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. Bd. 48. 1910. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 156. 39 610 A. Brückner: (Aus der Universitäts-Augenklinik zu Königsberg i. Pr.) Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. Von Dr. A. Brückner, Privatdozent und Oberarzt der Klinik. (Mit 5 Textfiguren.) Einleitung. Seit der Entdeckung Mariotte’s, dass die Eintrittsstelle des Sehnerven für Licht unempfindlich sei, und dass es dementsprechend einen Bezirk im monokularen Gesichtsfelde gibt, an welchem Objekte nicht gesehen werden können, ist wiederholt die Frage diskutiert worden, warum wir für gewöhnlich kein Bewusstsein von dem Vor- handensein des blinden Fleckes haben. Im Zusammenhang hiermit stand dann die zweite Frage, was wir an der Stelle des blinden Fleckes sehen. Hinsichtlich der gewöhnlich gegebenen Beantwortung der ersten Frage mögen die Ausführungen von Helmholtz!) (S. 717 ff.) zitiert sein. Bei binokulärem Sehen werde die Lücke durch die Empfindungen ergänzt, welche die korrespondierenden Stellen im anderen Auge vermitteln. Dei monokulärer Betrachtung werde die Anschauung der Objekte vervollständigt durch die Bewegungen des Auges. Hier- bei wechsele die Lücke ständig ihren Platz im Gesichtsfelde, so dass in zeitlicher Folge eine Ergänzung möglich wird. Wir bemerken aber „auch bei festgeheftetem Auge die Lücke nicht, wenn der [der Lücke benachbarte Teil des Sehfeldes einen gleichmässig erhellten und gefärbten Grund darstellt; es erscheint uns vielmehr’dann dieser ganze Teil des Feldes ohne Unterbrechung von der Farbe ‚des Grundes ausgefüllt. Was für nicht gesehene Objekte sich dabei in der Lücke des Sehfeldes wirklich befinden, ist natürlich ganz!gleich- gültig. Diese verschwinden eben. ..* Das indirekte Sehen diene ja für gewöhnlich nur einer oberflächlichen Orientierung, um unsere Auf- l) Helmholtz, Physiologische Optik, 2. Aufl. 1896. Über die Sichtbarkeit des blinden Fieckes. 611 merksamkeit auf seitlich auftauchende Erscheinungen hinzulenken. - Dann aber stellen wir sofort die Stelle des deutlichsten Sehens ein. „Ein Teil des Sehfeldes nun, der, wie der blinde Fleck, niemals irgendwelche, also auch keine auffallenden Erscheinungen darbieten kann, wird daher unter gewöhnlichen Umständen niemals Gegenstand der Aufmerksamkeit...“ Unsere Aufmerksamkeit einer bestimmten, dureh gar keinen sinnlichen Eindruck ausgezeichneten Stelle, wie es die Lücke des Sehfeldes ist, wenn sie auf gleichmässig gefärbten Grund fällt, in indirektem Sehen zuzuwenden, vermögen wir nicht. Erst wenn durch bestimmte Merkzeichen in der Umgebung des blinden Fleckes die Aufmerksamkeit auf denselben gerichtet werden kann, wird die Lücke wahrnehmbar. In dieser Richtung haben sich dann auch die Untersuchungen älterer Beobachter fast ausschliesslich bewegt. Es sei nur auf die Versuche von Volkmann!) hingewiesen (u. a. neun Buchstaben in drei Parallelreihen, von denen je nach dem Abstande des Auges und der Stellung der Gesichtslinie der eine oder der andere ver- schwindet) ?). Dieser Auffassung, welche also psychologische Gründe dafür anführt, dass wir für gewöhnlich eine Lücke im Sehfelde nicht wahr- nehmen, steht eine physiologische gegenüber, welche wir als die Weber-Wittich’sche bezeichnen können. Weber?) hat (S. 148) folgenden Satz aufgestellt: „Um Zwischenräume zu empfinden, müssen empfindliche Teile unserer Haut zwischen den berührten Teilen derselben liegen, Dasselbe gilt vom Auge, und wir haben hier Gelegenheit, diesen Satz an dem von Mariotte entdeckten blinden Fleck zu be- stätigen.“ Das heisst, dass die Raumwerte derjenigen Netzhautteile, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Sehnerveneintritts einander diametral 1) Volkmann, Über einige Gesichtsphänomene, welche mit dem Vorhanden- sein eines unempfindlichen Fleckes im Auge zusammenhängen. Verhandl. der sächs. Gesellsch. d. Wissensch., math.-phys. Klasse Bd. 1 8.27. 1853. 2) Ähnliche Versuche sind, von anderen Gesichtspunkten ausgehend, von M. Landolt (Beobachtungen über die Wahrnehmbarkeit des blinden Fleckes. Arch. f. Augenheilk. Bd. 55 8. 108) angestellt worden. In dieser Arbeit finden sich auch Literaturangaben in grösserer Zahl. 3) E. H. Weber, Über den Raumsinn und die Empfindungskreise in der Haut und im Auge. Verhandl. d. sächs. Gesellsch. d. Wissensch., math.-phys. Klasse Bd. 1 8.85. 1832. 39 * 612 A. Brückner: gegenüberliegen, ohne Lücke aneinandererenzen. Eine ähnliche Auffassung bekundet auch Wittich!) auf Grund seiner Versuche (S. 24). Obwohl bereits ältere Autoren im Hinblick auf ihre eigenen Beobachtungen eine derartige „Kontraktion“ an der Stelle des blinden Fleckes nicht annehmen, sondern denselben als räumlich eingerechnet betrachten, so findet sich trotzdem auch jetzt noch vielfach eine ähnliche Anschauung. Deshalb mag es gerechtfertigt erscheinen, wenn der Widerlegung dieser Auffassung im folgenden ein etwas breiterer Raum gegönnt wird. Die zweite Frage, was man an der Stelle des blinden. Fieckes sieht, ist verschieden beantwortet worden. Als von selbst erledigt müsste sie den Anhängern der Weber- Wittich’sehen Auffassung gelten. Meist aber wird angenommen, dass bei gleichmässig sefärbtem Grunde die Lücke im Gesichtsfelde in derselben Färbung erscheine wie ihre Umgebung, und zwar in- folge einer „psychisch“ bedingten Ausfüllung. Ausserdem ist aber auch eine physiologische Irradiation der Erregung angenommen worden ; doch hat diese Auffassung kaum weitere Anhänger gefunden [man vergl. Tschermak?), S. 792 Anm.]. Ausser dieser Auffassung, welche also aus psychologischen oder physiologischen Gründen eine Ausfüllung der Lücke in Abhängigkeit von der Art der Erregung ihrer unmittelbaren Nachbarschaft an- nimmt, findet sich auch wiederholt die Ansicht ausgesprochen, dass wir an der Stelle des blinden Fleckes nichts sehen. Es, gilt das vor allem bei einer Ausfüllung des Gesichtsfeldes mit einzelnen Objekten. Zu dieser Auffassung bekennt sich unter anderen Aubert; auch Helmholtz scheint sie zu teilen (S. 220): Wir sähen an der Stelle des blinden Fleckes ebensowenig etwas, wie wir hinter uns etwas wahrnehmen könnten. In logischer Konsequenz ist dann weiterhin die Folgerung gezogen worden, dass es überhaupt keinen Sion habe, zu fragen, was wir an derjenigen Stelle des uns um- sebenden Aussenraumes sähen, welche auf der für Licht unempfind- lichen Eintrittsstelle des Sehnerven zur Abbildung gelangt. So hat 1) Wittich, Studien über den blinden Fleck. v. Gräfe’s Arch. Bd. 9 Heft3 8.1. 2) Tschermak, Über Kontrast und Irradiation. Ergebn. d. Physiol. 2. Jahrg. 2. Abt. S. 726. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 613 Mach ausgeführt, dass hier überhaupt ein Problem gar nicht vor- liegen könnte !). Nun ist aber bereits eine ganze Reihe von Beobachtungen; zum Teil freilich zerstreut, in der Literatur niedergelest, welche es durch- aus ungerechtfertigt erscheinen lassen, die Lösung des Problems in dem Leugnen seiner Existenz zu suchen. Die folgenden Aus- führungen, in welchen neben der Erwähnung der einschlägigen Literaturangaben eigene Untersuchungen besprochen werden sollen, erstreben nicht nur eine Beantwortung der Frage: Was sehen wir an der Stelle des blinden Fleckes?, sondern es soll auch an der Hand der Beobachtungsresultate versucht werden eine neue Lösung der Frage zu geben, warum wir für gewöhnlich von dem Vorhandensein einer Lücke im Sehfelde auch bei monokularer Beobachtung nichts wahrnehmen. Il. Der blinde Fleck bei Augenbewegungen. Dass die Weber-Wittich’sche Theorie von der Kontraktion der Raumwerte der Sehfeldstellen in der Umgebung des blinden Fleekes nicht zutreffend sein kann, lässt sich schon aus einer Be- obachtung ableiten, welche bereits Purkinje?) (S. 79ff.) beschrieben hat. Bei lebhaften Bewegungen der Augen im Dunkeln sieht man zwei helle Ringe aufblitzen. Ist das Gesichtsfeld erleuchtet, so er- scheint der von den Ringen umschlossene Raum auf weissem Grunde grau, auf rotem Grunde (bei Belichtung durch die geschlossenen Augenlider hindurch) dunkelblau. Diese Beobachtung ist von 1) Die betr. Stelle lautet (Analyse der Empfindungen, 4. Aufl., S. 32): „Ein Physiker (Mariotte) findet, dass eine bestimmte Stelle der Netzhaut blind ist. Der Physiker ist gewohnt, jedem Raumpunkt einen Bildpunkt und jedem Bild- punkt eine Empfindung zuzuordnen. So entsteht die Frage: Was sehen wir an den dem blinden Fleck entsprechenden Raumstellen? Wie wird die Lücke aus- gefüllt? Wenn die unberechtigte physikalische Fragenform aus der psychologischen Untersuchung ausgeschaltet wird, finden wir, dass ein Problem hier überhaupt nicht besteht. Wir sehen nichts an der blinden Stelle, die Lücke im Bild wird überhaupt nicht ausgefüllt. Die Lücke wird vielmehr gar nicht empfunden, ein- fach darum, weil ein Fehlen der Lichtempfindung an einer von Haus aus blinden Stelle so wenig bemerkt werden kann, als etwa die blinde Haut des Rückens eine Lücke im Gesichtsfeld bedingen kann.“ 2) Purkinje, Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht. Prag 1819. 614 A. Brückner: späteren Autoren [Aubert!) und Helmholtz?)] bestätigt worden. Dass die Erscheinung an der Stelle des blinden Fleckes auftritt, lässt sich aus ihrer relativen Lage im Gesichtsfelde und durch andere im folgenden noch zu besprechende Gründe beweisen. Es ist aber die Frage nie näher diskutiert worden, inwieweit der umschriebene Raum wirklich der tatsächlichen Ausdehnung des blinden Fleckes entspricht. Auf diesen Punkt muss deshalb kurz eingegangen werden. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass die helle,. unter den angegebenen Bedingungen schnell verschwindende Kreislinie einer mechanischen Reizung empfindlicher Netzhautelemente ihre Ent- stehung verdankt. Durch die brüske Augenbewegung findet eine Zerrung am Sehnervenrkopf statt, welche sich auf die angrenzenden Netzhautpartieen überträgt. Welcher Netzhautregion nun aber genau die helle Ringlinie entspricht, lässt sich zunächst schwer entscheiden. Es könnte sehr wohl der Fall sein, dass ear nieht die unmittelbar an die Papille angrenzende Netzhautzone die mechanisch gereizte ist, sondern dass die affızierten Elemente in gewissem Abstande vom Rande der Sehnervenscheibe entfernt liegen. In Analogie mit manchen anderen auf mechanische Reizung zurückführbaren Phos- phenen musste dieser Fall sogar als a priori wahrscheinlicher an- genommen werden (z. B. Akkommodationsphosphen). Bestätigt sich aber diese Annahme, so liesse sich hieraus wieder eine Stütze für die Kontraktionstheorie gewinnen. Es würde sich dann ja um weiter von der Papille abliegende Netzhautpartien handeln, welche etwa ihrer geometrischen Lage entsprechende Raumwerte besitzen. Gleich- wohl könnten innerhalb jener kreisförmigen Linie näher an der Papille liegende Netzhautpunkte eine Veränderung ihrer Raumwerte im Sinne einer Kontraktion zeigen. Dass in der Tat die mechanische Reizung richt oder nicht ausschliesslich die unmittelbar die Papille umgebende Netzhautzone betrifft, lehrt der erwähnte Versuch selber unzweideutig. Bereits Purkinje schreibt: Das Licht des Ringes „ist in beständigem Flimmern begriffen, so wie sein innerer Raum sich wechselweise ver- engert und erweitert wie das schwer zu haltende Auge immerfort nach innen abweicht und schwankt“. (Purkinje sah die Er- 1) Aubert, Physiologie der Netzhaut. 1865. 2) Helmholtz, Physiologische Optik, 2. Aufl. 1896. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 615 scheinung besonders deutlich bei Abduktion des Auges). Es ist dieser Passus offenbar so zu verstehen, dass in Abhängigkeit von den zuckenden Augenbewegungen der helle Ring bald grösser, bald kleiner wird. Da nun bei geschlossenem Auge und konstanter Reizung ein und derselben Netzhautelemente jeglicher Grund dafür fehlt, die zugehörigen Empfindungen in verschiedene Entfernungen zu verlegen, wodurch ja ein scheinbares Grösser- oder Kleinerwerden des hellen Ringes verursacht werden könnte, so darf diese Be- obachtungstatsache nur auf einen Wechsel des Ortes der Reizung bezogen werden. Es müssen also, sofern der Ring grösser erscheint, weiter von der Papille abliegende Netzhautpunkte erregt werden, als wenn jener einen kleineren Durchmesser besitzt. Nun lässt sich, wie mich eigene Versuche gelehrt haben, unschwer feststellen, dass der helle Ring im ersten Moment seiner Sichtbarkeit ungleich grösser erscheint als unmittelbar darauf, wenn das Auge beim Stillstand seiner Bewegung fast oder nahezu seine Endstellung erreicht hat. Es verkleinert sich der Durchmesser des Ringes sehr schnell bis auf etwa !/a—!/s seiner anfänglichen Grösse. Unmittelbar nach einge- tretenem Stillstande des Auges verschwindet er dann meist voll- ständig. Dass die im letzten Momente der Sichtbarkeit vorhandene Ausdehnung des Ringes zum mindesten sehr nahe den unmittelbar an den Sehnervenkopf angrenzenden Netzhautpartien entspricht, lässt sich auf Grund unten zu beschreibender Versuche als höchst- wahrscheinlich bezeichnen. Die erwähnte Verkleinerung des hellen Ringes erfolgt, soweit die Flüchtigkeit der Erscheinung eine Beobachtung zulässt, merklich genau konzentrisch. Irgendwelche Unregelmässigkeiten der Konturen des „zusammenschnurrenden* Ringes an umschriebener Stelle sind jedenfalls nicht vorhanden. Rein physikalisch betrachtet, ist es ja auch das Wahrscheinlichste, anzunehmen. dass die Zone stärkster Zerrung in der Retina, wie sie unter diesen Bedingungen von seiten des in der Sclera befestigten Sehnervenkopfes ausgeübt wird, an- genähert konzentrisch um den Mittelpunkt der Papille gelagert ist. Nimmt nun bei erreichter Endstellung des Auges die Stärke der ausgeübten Zerrung ab, so ist es einleuchtend, dass sich die mecha- nische Einwirkung nicht mehr so weit in die umgebende Netzhaut wird erstrecken können wie vorher. Dass heisst die Zone des relativ . grössten Dehnungsgefälles — auf dieses kommt es wie auch beim Akkommodationsphosphen und ähnlichen Erscheinungen offenbar nur 616 A. Brückner: an!) — wird näher an den Papillenrand heranrücken. Auch diese Verschiebung dürfte konzentrisch vor sich gehen. Entsprechend sieht man entoptisch eine konzentrische Verkleinerung der hellen Kreislinie. Es deutet also auch hier nichts auf eine Änderung der dem betreffenden Retipaabschnitte zugehörigen Raumwerte im Sinne der Weber-Wittich’schen Kontraktionstheorie. Es ist vielleicht nicht überflüssig, an dieser Stelle eine genauere Beschreibung der besprochenen entoptischen Erscheinung anzuschliessen, da sie sich mir offen- bar etwas anders darbietet als älteren Beobachtern, insbesondere als Purkinje. Zum Unterschied von Purkinje zeigt sich das Phänomen mir besonders deutlich bei Adduktion des Auges, während Purkinje es im jeweils abduzierten Auge wahrnahm. Die helle Linie ist bei mir auch nicht ganz gleichmässig kreis- förmig, sondern zeigt in ihrem temporalen Teile eine stärkere Krümmung, etwa einem Bereich von 90° entsprechend. Eine Differenz zwischen dem rechten und linken Auge besteht nicht. Die erwähnte Verkleinerung des Durchmessers des leuchtenden Ringes beim Aufhören der Augenbewegung erstreckt sich konzentrisch in gleicher Weise auf den schwächer und stärker gekrümmten Teil desselben. Die Helligkeit des Ringes ist abhängig von dem jeweiligen Adaptationszustande. Bei guter Dunkeladaptation findet ein Ausstrahlen der hellen Lichterscheinung in die umgebenden Teile des Gesichtsfeldes, unter Umständen auch eine Erhellung des von dem Ringe umschlossenen Feldes statt. Ist nur ein Auge dunkel adap- tiert, das andere hell adaptiert, so ist die Differenz in der Helligkeit der Ringe eine sehr ausgesprochene, und es lässt sich hierdurch, sofern es eines Beweises noch bedürfte, auch nachweisen, dass im rechten Auge das rechts, im linken Auge das links von der Mittellinie des Gesichtsfeldes gelegene Phosphen entsteht. Bei Dunkeladaptation ist, offenbar infolge schneller Ermüdbarkeit der Netz- haut, der Versuch immer nur wenige Male hintereinander ausführbar. Es bedarf dann einer längeren Pause, um die Ringe wieder sichtbar werden zu lassen. Für das genauere Studium ist daher die Untersuchung bei Belichtung durch die ge- schlossenen Augenlider hindurch viel bequemer?) Unter diesen Bedingungen gelingt es die Erscheinung beliebig oft hervor- zurufen. Die vom hellen Ringe umschlossene Kreisfläche erscheint in der Kontrast- farbe zum gelbroten Grunde, also bläulichgrün (Purkinje, Aubert). Nach Verkleinerung des Durchmessers des hellen Ringes und entsprechender Abnahme der Grösse der umschriebenen blaugrünen Scheibe verschwindet letztere beim Stillstand der Augenbewegung nicht vollkommen. Sie kann als dunkler, unscharf begrenzter Fleck sichtbar bleiben und besitzt dann ein Aussehen wie auch bei unbewegtem Auge (siehe darüber unten S$. 623). l) Brückner, Zur Kenntnis einiger subjektiver Gesichtserscheinungen. Arch. f. Augenheilk. Bd. 64 S. 60 ff. 2) Im folgenden soll diese Art der Belichtung als perpalpebrale Be- lichtung bezeichnet werden. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 617 Stets ist der temporale, stärker gekrümmte Teil der Kreislinie heller als die übrige Zirkumferenz; die Deutlichkeit des Ringes nimmt nach der Mitte des Gesichtsfeldes ab. Es ist dies um so beachtenswerter, als die deutlicher sicht- baren Teile des Ringes exzentrischer gelegenen Netzhautteilen entsprechen. Dieses Verhalten lediglich auf die grössere Empfindlichkeit der peripheren Netz- hautabschnitte beziehen zu wollen, erscheint nicht angängig, weil die erwähnte Differenz auch bei Helladaptation und perpalpebraler Belichtung auftritt. Offen- bar spielen hier mechanische Momente eine Rolle. Vielleicht sind sie darin zu suchen, dass bei einer Adduktionsbewegung (um diese handelt es sich ja hier vor allem) die stärkere Abknickung des Sehnervenstammes gegen den Augapfel an der Nasenseite eintreten muss, während temporal der Winkel, den der Opticus mit der umgebenden Netzhaut bildet, sich hierbei abflacht. Deshalb ist es ver- ständlich, wenn eine stärkere Zerrung der nasalen Netzhautelemente stattfindet. Entoptisch muss der temporale Abschnitt des Ringes also heller erscheinen als der nasale. Ob die in dem temporalen Teile stärkere Krümmung des Ringes, wie ich sie wahrnehme, in ähnlicher Weise zu erklären ist oder auf individuellen Faktoren (temporaler ınyopischer Konus) bei mir beruht, mag dahingestellt bleiben. Um einen vollgültigen Beweis gegen die Kontraktionstheorie zu liefern, muss noch nachgewiesen werden, dass in der Tat im Zu- stande maximaler Verkleinerung des hellen Ringes Netzhautabschnitte gereizt werden, welche an den Papillenrand unmittelbar angrenzen. Hierzu braucht man sich nur ein dauerhaftes Nachbild einer hellen Fläche zu erzeugen, deren gerade Grenzlinie an umschriebener Stelle genau auf den Rand des blinden Fleckes fällt. Je nach der vertikalen, horizontalen oder beliebig geneigten Lage der Grenzlinie und je nach ihrem relativen Abstande vom Fixierpunkte liess sieh bei perpalpebraler Beleuchtung unschwer feststellen, dass wirklich bei maximaler Ver- kleinerung der hellen Kreislinie der Rand der von ihr umschlossenen Scheibe mit der im Nachbild sichtbaren Grenzlinie zusammenfiel. Umgekehrt liess sich konstatieren, dass bei grösserem Durchmesser der Kreislinie diese weit über die Grenzlinie hinübergriff. Damit ist also der vollgültige Beweis erbracht, dass ein An- einandergrenzen der Raumwerte der unmittelbar an die Papille sich anschliessenden Netzhautpunkte nicht stattfindet. Die auch bei maximaler Verkleinerung des hellen Ringes von diesem umschlossene dunkle Scheibe entspricht dem Gebiete des blinden Fleckes. Dieser ist also unter den an- gegebenen Bedingungen sichtbar. Schon aus diesen Versuchen ist also die Weber-Wittich’sche Hypothese als unrichtig erwiesen !). 1) Bereits Czermak (Physiologische Studien. Sitzungsber. der mathem.- naturwissensch. Klasse d. Wiener Akad. 1854 S. 358) hat diesen Versuch dahin 618 A. Brückner: 2. Der blinde Fleck bei Druck auf den Bulbus. Das Auftreten von Phosphenen an der dem blinden Fleck ent- sprechenden Stelle des Gesichtsfeides bei Druck auf den Augapfel ist eine ebenfalls seit langem bekannte Erscheinung [s.u.a. Aubert), S. 338]. Insbesondere treten Lichterscheinungen bei plötzlichem Aufhören eines stärkeren Druckes auf [Finkelstein?), S. 883]. Übe ich nach längerer Dunkeladaptation mit dem Ballen der Hand einen ziemlich starken Druck von vorne auf den Bulbus durch die geschlossenen Lider aus, so zeigt sich bei plötzlichem Nachlassen des Druckes an der Stelle des blinden Fleckes eine dunkle Scheibe, welche von einem hellen Hof umschlossen ist. Dieser helle Hof besitzt nur eine geringe Breite. Seine Begrenzung nach der tiefdunklen Scheibe zu ist scharf, während er sich nach aussen all- mählich in das Eigengrau des übrigen Gesichtsfeldes verliert. Der Durchmesser der hellen Scheibe bezw. des Lichthofes stimmt, soweit sich das beurteilen lässt, etwa mit dem Durchmesser überein, welchen die im vorigen Abschnitt erwähnte helle Kreislinie bei Augenbewegungen im Zustande maximaler Verkleinerung besitzt. Eine Veränderung der Grösse des hellen Hofes lässt sich beim Druckversuch nicht nachweisen. Die Erscheinung ist ausserordentlich flüchtig; sie dauert nur Bruchteile einer Sekunde. Auch ist sie bei Wiederholungen des Versuches nur wenige Male hintereinander sicht- bar zu machen. Bei helladaptiertem Auge vermag ich sie überhaupt nicht hervorzurufen. Dass der helle Lichthof durch eine mechanische Reizung der den Sehnervenkopf umgebenden Netzhautteile zustande kommt, ist als sicher anzunehmen. Offenbar findet durch den auf das Auge ausgeübten Druck bezw. im Moment seines Aufhörens eine Zerrung der Retina an denjenigen Stellen statt, wo sie mit dem angrenzenden Gewebe fester verbunden ist, d.h. an der Papille und an der Ora serrata. An letzterem Orte entsteht bekanntlich gedeutet, dass der blinde Fleck „zentral eingerechnet“ sei. Er erwähnt auch, dass bei perpalpebraler Belichtung die blaue Scheibe dem blinden Flecke wohl dem Ort nach entspräche, aber von grösserem Flächeninhalte wäre. 1) Aubert, Physiologie der Netzhaut. 1865. 2) Finkelstein, Über optische Phänomene bei elektrischer Reizung des Sehapparates. Arch. f. Psychiatrie Bd. 26 S. 867. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 519 ein heller peripherer Ring, den schon Purkinje!), beobachtet hat [siehe auch Brückner), S. 63]. Ob der helle Lichthof genau den Randpartien der Netzhaut in der Umgebung der Papille entspricht, ist mit vollkommener Sicher- heit nicht zu erweisen, da Nachbildversuche unter diesen Bedingungen nicht ausführbar sind. Immerhin bildet auch dieser Versuch eine Bekräftisung der bereits aus dem ersten Abschnitt sich ergebenden Schlussfolgerung, dass eine Kontraktion der Raumwerte in der Umgebung der Papille im Sinne der Weber-Wittich’schen Theorie nicht besteht ?). 3. Der blinde Fleck gleichzeitig sichtbar mit der Purkinje’schen Aderfigur. Aus den beiden vorigen Abschnitten eing bereits hervor, dass unter gewissen Bedingungen der blinde Fleck selbst sichtbar werden kann. Es trat dies dann ein, wenn durch mechanische Reizung der umgebenden Netzhautteile eine Hervorhebung des Ge- bietes rings um den blinden Fleck ermöglicht wurde. Es haben aber schon wiederholt frühere Untersucher auch ohne eine derartige mechanische Reizung benachbarter Netzhautteile den blinden Fleck als dunkle Scheibe gesehen; insbesondere ist dies bei Anwendung von Untersuchungsmethoden der Fall gewesen, wie sie zur Sichtbar- machung der Purkinje’schen Aderfigur erforderlich sind. Bekanntlich kann die Aderfigur durch diasklerale oder transpupillare Be- leuchtung sichtbar gemacht werden. Im zweiten Falle bewegt man entweder eine Lichtquelle (Kerze oder dergl.) in einigem Abstand vor dem Gesichte hin und her oder man hält dicht vor das Auge ein Blatt mit einem stenopäischen Loch, welches oszillierend hin und her bewegt wird. Bei diaskleraler Beleuchtung hat Heinrich Müller) die Ein- trittsstelle des Sehnerven wahrgenommen. „Dieselbe fällt zuerst bei lebhafter Bewegung der Lichtquelle durch einen hellen Fieck oder 1) Purkinje, Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht. II. S. 115. Zitiert bei Helmholtz. 2) Brückner, Zur Kenntnis einiger subjektiver Gesichtserscheinungen. Arch. f. Augenheilk. Bd. 64. 3) Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes als helle Scheibe nach längerem Druck auf das Auge vergleiche man unten Abschnitt 6. 4) Heinrich Müller, Gesammelte und hinterlassene Schriften zur Ana- tomie und Physiologie des Auges S. 31. 520 A. Brückner: Saum auf, welcher sich da zeigt, von wo die Ramifikation der Ge- fässstämme ausgeht, scheinbar (im Gesichtsfelde) nach aussen von der Axe. Bei genauerer Aufmerksamkeit erscheint die Stelle selbst als ein ganz unbestimmter Fleck ohne ein positives Merkmal in dem schwach beleuchteten: Gesichtsfelde“. Purkinje!) sah bei Vorüberbewegen einer Lichtquelle vor dem Auge (also bei transpupillarer Belichtung) an der Ursprungs- stelle der Zweige der Aderfigur „einen dunklen senkrecht länglichen Fleck mit einem lichten Scheine umgeben“ (S. 91). Obwohl Pur- kinje ihn nicht als blinden Fleck auffasst, dürfte es keinem Zweifel unterliegen, dass es sich um diesen gehandelt hat. Tschermak?) (S. 778) hebt hervor, dass er bei diaskleraler Beleuchtung im Dunkel des blinden Fleckes einen grünlichblauen Kontrastanflug bemerken könne. Endlich hat Meissner’) beim Versuch, die Aderfigur durch ein vor dem Auge hin und her bewegtes stenopäisches Loch sichtbar zu machen, den blinden Fleck gesehen. „Yon dem mancherlei Wunderbaren und Rätselhaften, was diese Modifikation des Purkinje’schen Versuchs darbietet, ist eine der merkwürdigsten Erschei- nungen die, dass man die Eintrittsstelle des Sehnerven als scharf umschriebenen Fleck sieht: Die blinde Stelle wird schwarz empfunden! Richtet man bei dem Versuche die Sehachse weit nach innen, so erscheint am äusseren Rande des durch den Rand der feinen Öffnung begrenzten Gesichtsfeldes ein länglich runder dunkler Fleck (welcher bei mir nur in dem einen Auge von einem hellen Saume umgeben ist), dessen grösster Durchmesser von oben nach unten verläuft. An seinem oberen und unteren Rande sieht man die dicken Stämme der Retina- gefässe ein- und austreten, welche sich dann bogenförmig unter Verästelung hauptsächlich nach der äusseren Seite der Netzhaut wenden (in der Erscheinung nach innen, nasenwärts)“ (S. 77). Ich selbst kann unter diesen Bedingungen den blinden Fleck wirklich deutlich als Scheibe nur bei dem Versuch mit der steno- päischen Lücke wahrnehmen. Hierzu ist es erforderlich, dieselbe nicht genau vor der Pupillenmitte, sondern etwas temporal von derselben hin und her zu bewegen, dann fällt das Lichtbündel gerade auf die l) Purkinje, Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht. Prag 1819. 2) Tschermak, Über Kontrast und Irradiation. Ergebn. d. Physiol. 2. Jahrg. 2. Abt. S. 726. 3) Meissner, Beiträge zur Physiologie des Sehorgans. 1854. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 621 Sehnerveneintrittsstelle und ihre Umgebung. Beim Blick auf eine helle Fläche zeigt sich hierbei ausser den Gefässschatten an der Stelle des blinden Fleckes eine schwärzliche Scheibe von annähernd kreisrunder Form. Ihre Grenze ist nach dem Fixierpunkte zu voll- ständig scharf, während der temporale Rand verschwommen ist. Am medialen, dem Fixierpunkte zugekehrten Rande ist ein heller Saum vorhanden, welcher der dunklen Scheibe unmittelbar anliegt, während er temporal nicht immer deutlich wahrnehmbar ist. Die Erscheinung ist in beiden Augen etwa die gleiche. Die Beobachtung erfolgt am leichtesten bei monokularer Untersuchung (siehe aber auch unten Seite 644f.). Dass es sich hier wirklich um den blinden Fleck handelt, lässt sich durch das Verschwinden der Finger- oder Bleistiftspitze fest- stellen, sobald diese in den Bereich des dunklen Fleckes kommen. Der helle Saum entspricht dagegen noch empfindender Retina, d.h. die Bleistiftspitze bleibt in ihm sichtbar. Bei diaskleraler oder transpupillarer Belichtung mittelst bewegter Lichtquelle habe ich an der Stelle des blinden Fleckes nur einen ganz unbestimmten, nieht näher definierbaren Eindruck, welcher bei Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf diese Stelle des Gesichtsfeldes ein eigentümliches Gefühl mangelnder Befriedigung weckt. 4. Sichtbarkeit des blinden Fleckes auf einfarbigem Grunde. Eine Reihe von Beobachtern haben die dem blinden Fleck ent- sprechende Stelle des Gesichtsfeldes auch bei Betrachtung einer gleichmässig erhellten Fläche als dunklen Fleck wahrgenommen. So sagt Helmholtz!) (S. 718), dass er „in der letzten Zeit an- gefangen habe, beim Aufschlagen eines Auges gegen eine ausgedehnte weisse Fläche und bei kleinen Bewegungen des Auges oder bei ein- tretender Akkommodationsspannung den blinden Fleck als einen schattigen Fleck zu sehen.“ Woinow?) schreibt, dass im „Moment des Blickes“ die Stelle des Defektes schattiert erschiene. Er nehme hier ein überaus schwaches Phosphen wahr, welches jedoch augenblicklich verschwinde. Zehender’) hat nach kurzdauerndem Augenschluss beim 1) Helmholtz, Physiologische Optik, 2. Aufl. 1896. 2) Woinow, Über das Sehen mit dem blinden Fleck und seiner Umgebung. v. Gräfe’s Arch. Bd. 15 Heft 2 S. 155. 3) Zehender, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1895. 623 A. Brückner: Der Blicken auf eine weisse Fläche neben den Schatten der Netzhaut- gefässe auch noch eine „etwas weniger dunkle schwarzgelblich tingierte Kreisscheibe gesehen. ...... Die Grenzlinie der Kreisscheibe ist nicht sehr scharf; sie verfliesst in einer sie umgebenden etwas blasseren schmalen Zone“ (S. 117). Dieser Autor gibt auch eine Abbildung der von ihm beobachteten Erscheinungen (S. 314). Bei binokularer Be- obachtung vermochte er zwei dunkle Flecke wahrzunehmen (s. u. S. 645£.). Charpentier!) konnte den blinden Fleck ebenfalls als dunkle Scheibe wahrnehmen, wenn er schnell mit den Lidern blinzelte (vier Schläge in einer Sekunde bezeichnet er als Optimum) und eine helle Fläche betrachtete. Als günstig für die Beobachtung nennt er vor- hergehende stärkere körperliche Anstrengung. Auch ihm gelang es, zwei Flecke an entsprechenden Stellen des Gesichtsfeldes wahr- zunehmen. Tsehermak?) (S. 776) sieht den blinden Fleck, wenn er nach kurzdauerndem Augenschluss gegen den Abendhimmel blickt. „Die Erscheinungsweise des blinden Fleckes gleicht dabei vollkommen jener der Netzhautgefässe und der Maeula.“ Alle diese Beobachtungen kann ich für mich bestätigen, wenn auch bei binokularer Beobachtung die gleichzeitige Sichtbarkeit zweier Flecke nicht sehr deutlich ist (siehe darüber Näheres im Abschnitt 7). Bei monokularer Beobachtung und geschlossenem anderen Auge sehe ich beim Blick gegen den Himmel insbesondere bei beginnender Dämmerung den dunklen Fleck umgeben von einem lichten Hof. Dieser erscheint nach dem schattigen Fleck zu scharf abgesetzt, während sich seine äussere Begrenzung allmählich nach dem hellen Himmel zu verliert. Diese Lichtkontur ist bei weitem heller als der umgebende Himmel. Am deutlichsten sichtbar ist sie an dem medialen, dem Fixierpunkte zugekehrten Rande der dunklen Scheibe, während sie temporal nur undeutlich oder auch gar nicht bemerkbar sein kann. Ähnlich ist auch die äussere Hälfte des schattigen Fleckes weniger scharf markiert und geht häufig ohne erkennbare Grenze in die Umgebung über. Die Erscheinung ist bei sehr hellem Himmel nur 1) Charpentier, Visibilit@ de la tache aveugle. Compt. rend. t. 126 p. 1634. 2) Tschermak, Über Kontrast und Irradiation. Ergebn. d. Physiol. 2. Jahrg. 2. Abt. S. 726. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 623 dann wahrnehmbar, wenn das Auge einige Zeit vorher geschlossen gehalten wurde. Mit Abnahme der Intensität des Himmelslichtes wird der vorhergehende Augenschluss immer weniger erforderlich, so dass bei voller Dämmerung die dunkle Scheibe mit hellem Hof sofort erscheint, wenn das Auge gegen den Himmel gerichtet wird. Die Dauer der Sichtbarkeit ist keine konstante. Als Regel muss es gelten, dass je heller der Himmel ist, um so kürzere Zeit die Erscheinung. wahrnehmbar bleibt. Sie verschwindet dann unter Umständen schon nach !/« Sekunde. Bei geringer Beleuchtungs- stärke kann sie mehrere Sekunden sichtbar bleiben, auch ohne dass ein Augenschluss dazwischen stattfindet. Es wechseln dann häufig Perioden deutlicher Sichtbarkeit mit solehen ab, während derer die Erscheinung nur schwach oder sekundenweise auch gar nicht sichtbar ist. Eine Ursache für diesen Wechsel ist nicht erkennbar. Es lässt sich leicht dureh eine hingehaltene Bleistiftspitze fest- stellen, dass die dunkle Stelle in ihrer ganzen Ausdehnung dem Mariotte’schen Fleck entspricht, während die helle Randzone in toto auf empfindlicher Netzhaut liegt: Die Bleistiftspitze taucht direkt am Rande der dunklen Scheibe auf. Nicht selten kommt es vor, dass die dunkle Scheibe nach knapp einer Sekunde verschwindet, und dass sich die Helligkeit des lichten Hofes über den ganzen Bezirk ergiesst, an dem vorber die dunkle Scheibe zu sehen war. Es erscheint dann am hellen Himmel ein heller Fleck mit verwaschenen Grenzen, der noch 1—2 Sekunden sichtbar bleiben kann. Bei perpalpebraler Belichtung, also einer Erhellung des ganzen Gesichtsfeldes mit gelblichem Rot, kann ich auch (ohne jede Augen- bewegung, s. 0.) an der Stelle des blinden Fleckes eine unscharf begrenzte dunkle Scheibe wahrnehmen, welche aber einen hellen Hof vermissen lässt. Wird das eine Auge mit der Hand verdeckt, so ist nur eine Scheibe sichtbar; bei doppelseitizer perpalpebraler Belichtung sind deutlich zwei symmetrisch zur Mittellinie gelegene Flecke vorhanden. Dass der dunkle Fleck dem Gebiete des Mariotte’schen Fleckes entspricht, lässt sich dadurch kontrollieren, dass eine Augenbewegung ausgeführt wird. Hierbei tauchen darn die oben beschriebenen hellen Ringe mit zentraler blaugrüner Scheibe auf, welche schnell beim Aufhören der Bewegung sich etwa bis zur Grösse des vorher sichtbaren Fleckes verkleinern. An diesem kann ich im Gegensatz zu der bei Augenbewegungen sichtbaren blaugrünen 624 A. Brückner: Färbung der (von dem hellen Ringe umschlossenen) zentralen Scheibe einen farbigen Anflug nicht immer mit Sicherheit wahrnehmen. Günstig ist auch hier für die deutliche Sichtbarkeit des bzw. der dunklen Flecke ein vorübergehender, wenn auch nur kurz dauernder voll- kommener Lichtabschluss. Eine Variierung der Versuchsbedingungen liess sich dadurch herbeiführen, dass der Bliek statt gegen den Himmel gegen weisse oder gegen farbige Papierflächen gewendet wurde. Auch bei diesen Versuchen erwies sich ein kurzdauernder vorhergehender Abschluss des Lichtes (20 Sekunden) und eine nicht zu intensive Beleuchtung (Winternachmittags- oder künstliche Beleuchtung) als begünstigend. Zunächst betrachtete ich monokular (binokular ergaben die Untersuchungen ein negatives Resultat) einen weissen Barytpapier- bogen, der an einer vertikalen Tafel befestigt war. Es erscheint hier der blinde Fleck in ganz ähnlicher Weise wie beim Blick gegen den Himmel als grauschwärzliche Scheibe mit hellem Hof. Die temporale Hälfte ist meist unscharf begrenzt, während sich die mediale, dem Fixierpunkte zugekehrte Partie scharf absetzt. Bei ruhig sehaltenem Blicke verschwindet die Erscheinung nach 4—5 Sekunden ; sie lässt sich aber durch kleine Augenbewegungen wiederholt sichtbar machen. In ähnlichem Sinne wirkt der Schluss der Lider. Schliess- lich aber gelingt es nicht mehr, die dunkle Scheibe zu sehen, und das Weiss des Barytpapiers überzieht dauernd auch die Stelle des blinden Fleckes. Während das Sichtbarwerden auf weisser Fläche stets ohne Schwierigkeiten zu erzielen ist, wird die Beobachtung auf farbigen Flächen wesentlich schwieriger. Betrachtete ich eine weisse Fläche durch farbige Gläser, so konnte ich wiederholt feststellen, dass im ersten Augenblick nach dem Öffnen des 20—30 Sekunden lang ge- schlossenen Auges eine Scheibe an der Stelle des blinden Fleckes aufblitzt, welche in der Gegenfarbe zum Grunde erscheint. Dieser Beobachtung haftet wegen der nur sehr kurzen Dauer der Sichtbar- keit (Bruchteil einer Sekunde) stets etwas Unsicheres an. Auch gelang es durchaus nicht immer, die Erscheinung wahrzunehmen. Mitunter glaubte ich auch nur einen dunklen Fleck zu sehen, ohne dass eine Farbe an ihm zu erkennen war. Er war umschlossen von einem hellen Hof, der gleichfarbig mit dem übrigen Grunde nur in ungesättigterer Nuance erschien. Zuweilen aber zeigte auch dieser helle Hof, der eine dunkle Scheibe umschloss, die Gegenfarbe Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 625 zum übrigen Grunde. So besass die helle Corona auf blauem Grunde zuweilen einen gelblichen Ton. Am sichersten waren Beobachtungen bei Verwendung von rotem und blauem Glase. Bei Benutzung grüner und gelber Gläser ergab dagegen die Beobachtung nur in seltenen Fällen ein positives Re- sultat. Stets aber, um es nochmals zu betonen, war die Erscheinung auch bei relativ deutlicher Sichtbarkeit ausserordentlich flüchtig, und es erschien dann der Grund auch in dem Gebiet des blinden Fleckes vollkommen gleichmässig in der Farbe des Glases. Versuche mit farbigen Pigmentpapieren gaben bei dieser Ver- suchsanordnung keinerlei sicheres Resultat (vgl. unten die Grenz- linienversuche). Ein bemerkenswertes Ergebnis aber lieferten Beobachtungen, die ich mit schwarzem Grunde anstellte. Unter der bereits von früheren Autoren vertretenen Annahme, dass die Sichtbarkeit des blinden ‚ Fleckes nur durch Kontrast zustande käme, hätte bei Betrachtung einer schwarzen Fläche die Stelle des blinden Fleckes hell erscheinen müssen. Bei Untersuchung mit Hilfe gewöhnlicher schwarzer Papiere (auch schwarzes Tuchpapier wurde verwendet) zeigte sich zunächst stets nur eine noch tiefer schwarz gefärbte, scharf begrenzte Scheibe mit hellem Lichthof an der Stelle des blinden Fleckes. Erst bei herabgesetzter Beleuchtung erschien zuweilen hier ein verwaschener heller Fleck. Dieses Resultat liess sich stets erzielen, wenn ich tiefschwarzes Tuch oder Sammet bei stark herabgesetzter Beleuchtung (vorgeschrittener Dämmerung) und nach vorherigem Lidschluss (20—30 Sekunden) betrachtete. Im Moment des Öffnens zeigte sich für den Bruchteil einer Sekunde eine tiefdunkle Scheibe mit einem hellen Hof. Die dunkle Scheibe wurde dann aber schnell ebenfalls hell, wie überflutet von dem Licht der hellen Corona, und blieb während mehrerer Sekunden als ziemlich scharf begrenzter Fleck sicht- bar. Dieser verschwand dann bei fortgesetzter Betrachtung in dem infolge der simultanen Lichtinduktion ebenfalls heller werdenden schwarzen Grunde. Man sah dann auch an der Stelle des blinden Fleckes nur dieselbe grössere oder geringere Helliskeit wie auf der ganzen übrigen Fläche. 5. Grenzlinienversuche. Eine gewisse Schwierigkeit für die Beobachtung der Er- scheinungen am blinden Flecke auf homogener Fläche liest darin, Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 40 626 A. Brückner: dass es nicht leicht ist, die Aufmerksamkeit auf die betreffende Stelle des Gresichtsfeldes zu lenken. Dieses erschwerende Moment lässt sich beseitigen, wenn die Gegend des blinden Fleckes irgendwie markiert ist. Sehr zweekmässig und, wie sich erwies, resultatreich war die Verwendung einer vertikalen Grenzlinie, wie sie durch zwei unmittelbar nebeneinander befestigte Bogen von weissem und schwarzem oder beliebig farbigem Papier entsteht!). Es bedurfte dann nur eines Fixationspunktes in bestimmter Entfernung von der Grenzlinie, um bei gegebenem Abstande des beobachtenden Auges sicher zu sein, dass der blinde Fleck genau auf jene Linie fiel. In dieser Erleichterung der Aufgabe für die Aufmerksamkeit lag ein so wesentlicher Vorteil, dass hierdurch ein Nachteil der Methode auf- gewogen wurde. Dieser bestand nämlich darin, dass kleine Änderungen des Augenabstandes von der Fläche des Papierbogens unvermeidlich waren. Hierdurch war nicht in allen Versuchen eine genau gleiche Abbildung der Grenzlinie auf dem Sehnervenkopf und seiner Um- sebung gewährleistet. Natürlich hätte sich dieser Übelstand sehr leicht durch eine entsprechende Vorrichtung (Beissbrett, Kinnstütze oder dergl.) beseitigen lassen, doch empfand ich, wie mich einige Versuche lehrten, eine derartige Einrichtung in diesem Falle als sehr störend. Die in diesem Abschnitte besprochenen Versuche sind fast aus- nahmslos mit dem linken Auge angestellt worden, während das rechte durch Lidschluss verdeckt war. Kontrollversuche am rechten Auge überzeugten mich von der vollkommenen Gleichartig- keit der Resultate. Ich habe das linke Auge dauernd bei den Beobachtungen bevorzugt, da sich dieses mit der Zeit eine wesent- lich grössere Übung in der Erkennung der Erscheinungen am blinden Flecke und seiner Umgebung erworben hatte. a) Versuche mit konstanter Lage der Grenzlinie auf dem blinden Flecke. Die ersten Versuche wurden in der Weise angestellt, dass links (vom Beobachter aus gerechnet) ein weisser Barytpapierbogen, rechts unmittelbar angrenzend ein schwarzer Papierbogen (der dunkelste der schwarzweissen Bogen aus der Leipziger Lehrmittelanstalt) auf 1) Angeregt wurde ich zu dieser Versuchsanordnung durch eine Bemerkung von Helmholtz (Physiologische Optik S. 719, 2. Aufl. 1896). Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 627 einer vertikalen Tafel befestigt wurden. Auf dem schwarzen Bogen wurde in ca. S cm Abstand von der Grenzlinie eine feine Marke angebracht, welche das linke Auge aus ca. 35 em Entfernung fixierte. Unter diesen Bedingungen eing die Trennungslinie zwischen schwarzem und weissem Papier etwa durch den Längsdurchmesser der Sehnerven- papille, Es ergab sich zunächst folgendes Resultat: Es ist stets deutlich eine Unterbrechung der vertikalen Grenzlinie an der dem blinden Flecke entsprechenden Stelle zu sehen !). Bie:.=1%>) Die genauere Beobachtung lehrte nun, dass eine Ausbuchtung des schwarzen Feldes nach dem weissen zu stattfindet: Es schliesst sich unmittelbar an das schwarze Feld eine schwarze Halbscheibe an, weiche sozusagen im Gebiete des weissen Papieres liegt. Nach aussen wird diese schwarze Halbscheibe in ganzer Ausdehnung um- schlossen von einem äusserst hellen Halbring, an den sich eine hellgraue, nach dem Zentrum zu scharf abgesetzte Corona an- 1) Auch Helmholtz hat beim Wandern der Grenzlinie über den blinden Fleck hin eine Unterbrechung der Linie bemerkt (siehe unten 8. 632 ff.). 2) Sämtliche Figuren beziehen sich auf Beobachtung mit dem linken Auge. 40 * 628 A, Brückner: gliedert. Ihre Aussenseite verliert sich allmählich in den Grund des weissen Papiers. Die Fig. 1 versucht eine Anschauung von den beschriebenen Verhältnissen zu geben. Ganz besonders deutlich sind sowohl der helle Randstreifen wie die hellgraue Corona oben und unten, während die äusserste temporale Peripherie nicht immer deutlich erkennbar wird. Es kann dann ein Bild entstehen, wie es Fig. 2 darbietet. Mitunter hebt sich auch der an den oberen und unteren be- sonders nell erscheinenden Ring(sektor) angrenzende Bezirk der Fig. 2. Fig. 3. schwarzen Halbscheibe auffallend tief dunkel heraus, während der zentralste Teil der Scheibe etwas heller, wie mit zartem Licht über- gossen, erscheint. Dieser etwas hellere zentrale Bezirk der Halb- scheibe kann sich nun auch nach rechts zu weiter auf das Gebiet der schwarzen Fläche fortsetzen. Man sieht dann einen etwas helleren verwaschenen Fleck im Zentrum. Dieser ist besonders deutlich im Beginn der jeweiligen Einzelbeobachtung (vgl. hierzu Fig. 3). Der helle Randstreifen entspricht, wie sich leicht feststellen lässt (Bleistiftspitze), bereits empfindender Netzhaut. Es korrespondieren also nur die dunkle Halbscheibe und ihr eventuell vorhandenes helleres Zentrum dem eigentlichen Gebiet des blinden Fleckes. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 629 Die Deutlichkeit der einzelnen Teile der Erscheinung ist nicht immer während der ganzen Dauer der Beobachtung gleich. Diese kann bis zu einer Minute oder auch noch länger fortgesetzt werden. Bald ist der eine, bald der andere Teil des Bildes besser erkennbar. Abgesehen von kleinen Blickschwankungen, sind es vor allem wohl Änderungen der Aufmerksamkeit, welche hierfür maassgebend sind. Hierzu gesellt sich dann nach etwas längerer Beobachtung auch der Einfluss lokaler Adaptation. Eine Ermüdung der allgemeinen Auf- merksamkeit nötigt häufig nicht nur zum Abbrechen des Einzel- versuches, sondern verhindert auch eine längere Fortsetzung (über eine Stunde) der jeweiligen Versuchsreihen. Versuche mit umgekehrter Lage der schwarzen und weissen Papierfläche, d. h. links schwarz, rechts weiss (vom Beobachter aus gerechnet, Beobachtung mit dem linken Auge), ergaben folgende Resultate: Es wird auf Weiss fixiert, der blinde Fleck fällt auf die Trennungslinie. Diese erscheint wieder unterbrochen. Es findet jetzt eine Ausbuchtung der weissen Fläche nach links auf das schwarze Feld statt. Auch hier erscheint die Ausbuchtung zuweilen als Halbscheibe, wenn auch weniger deutlich als die schwarze Halb- scheibe im vorigen Fall. Meist ist die Halbscheibe nicht vollständig, d. h. ihr temporaler Rand verliert sich allmählich in das Schwarz des Grundes. Besonders deutlich erkennbar wird das Übergreifen des Weiss dann, wenn die Halbscheibe an ihrem oberen und unteren Rande eine tiefdunkle Abgrenzung zeigt. Ob dieser schwarze Ring bzw. die schwarzen Ringsektoren in sehende Netzhautteile fallen, wie der helle Saum im vorigen Fall, liess sich bei der grossen Flüchtigkeit der Erscheinung hier nicht mit Sicherheit feststellen. Ich glaube aber, es annehmen zu dürfen. Analog dem helleren Zentrum, welches die dunkle Halbscheibe im ersten Falle besass. zeigt sich hier stets deutlich ein grauer zentraler Fleck in der hellen Halbscheibe. Dieser helle zentrale Fleck greift immer auch auf das weisse Feld über, ohne jedoch hier eine schärfere Begrenzung nach rechts zu besitzen. Die Gesamtheit der auch hier durchaus nicht immer gleichzeitig sichtbaren Einzelerscheinungen versinnbildlicht Fig. 4. Es muss hervorgehoben werden, dass die Beobachtung hier wesentlich schwieriger ist als im ersten Fall, weil die Erscheinungen häufig nur im ersten Moment sichtbar sind und sehr schnell abblassen. Durch kurzdauernden Lidschluss lassen sie sich aber immer wieder hervorrufen. 630 A. Brückner: In seltenen Fällen bestand im Gegensatz zu den bisher be- schriebenen Beobachtungen auch ein Übergreifen des linken schwarzen Feldes in Form einer Halbscheibe nach rechts auf die weisse Fläche; doch liess sich das nur als Ausnahmeerscheinung beobachten. Im allgemeinen kann man also sagen: Fällt der blinde Fleck. zur Hälfte auf ein schwarzes, zur Hälfte auf ein weisses Feld, welche in vertikaler Trennungs- linie aneinandergrenzen, So wird das Gebiet des Fig. 4. blinden Fleckes fast stets ausgefüllt von der Farbe desjenigen Feldes, welches auf der temporalen Pa- pillenhälfte und dementsprechend auch auf den zen- traleren Netzhautteilen zur Abbildung gelangt. Es kann hierbei der blinde Fleck je nachdem als dunkle oder als helle Halbscheibe erscheinen. Im Zentrum derselben findet sich bei dunkler Färbung ein hellerer, bei hellerFärbung ein dunklerer, verwaschenerFleck. Am Rande der Halbscheibe tritt, besonders deutlich dann, wenn der blinde Fleck als dunkle Halbscheibe erscheint, ein Ring in der Kontrastfarbe auf. Dieser Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 631 ist also entweder leuchtend hell oder tiefdunkel. Im ersteren Falle kann sich an den hellen Saum eine etwas dunklere Corona anschliessen. Weiteren Aufschluss erwartete ich von analogen Versuchen mit farbigen Papieren. Ich habe sie in grosser Zahl einerseits mit Gegen- farben, also Kombination von gelbem und blauem sowie rotem und grünem Papier, andererseits auch mit sämtlichen Farbenpaaren, welche bei Verwendung von vier Grundfarben (rot, grün, gelb, blau) vorkommen können, angestellt. Es wurde also jede der vier Grund- farben sowohl in der Lage rechts-links wie in derjenigen links-rechts kombiniert. Die Beobachtung bei diesen Versuchen war wesentlich schwieriger, weil die Erscheinungen viel kürzere Zeit sichtbar blieben, meist nur Bruchteile einer Sekunde (bis zu ca. !/ı Sek.) wahrnehmbar waren. Offenbar beruht dieses auf der schnellen Ermüd- barkeit (Lokaladaptation) der exzentrischen Netzhautteile für Farben. Trotzdem lässt sich mit Sicherheit folgendes sagen: Auch hier zeigt sich der blinde Fleck meistens als Halbscheibe auf dem tempo- ralen Felde. Diese wird ausgefüllt von der Farbe des zentral ab- gebildeten, also rechten Feldes (Beobachtung mit dem linken Auge). Doch lässt sich auch hier wiederholt beobachten, dass eine Ausbuchtung der Grenzlinie in umgekehrter Richtung stattfindet, d. h. dass das temporale Feld als Halbscheibe auf das zentrale über- ereift. Immerhin sind das Ausnahmen. Ein Hof um die Halbscheibe ist häufig wahrzunehmen. Er er- scheint dann in der Farbe des angrenzenden Grundes nur heller und weniger gesättigt als jener. So hatte z. B. bei den Versuchen links blau, rechts rot die nach links übergreifende rote Halbscheibe einen lichtblauen Hof, der sich allmählich im blauen Grunde verlor. Eine doppelte Umschliessung der Halbscheibe, wie sie bei den Ver- suchen rechts schwarz, links weiss zu konstatieren war, habe ich nie wahrnehmen können. Die Sichtbarkeit der beschriebenen Er- scheinungen war bei den Farbenversuchen, wie bereits erwähnt, immer nur sehr kurzdauernd. Dann ging die Halbscheibe in der Farbe des Grundes auf, und man hatte den Eindruck einer ununterbrochenen vertikalen Trennungslinie zwischen beiden farbigen Flächen. Bei den Versuchen links blau, rechts gelb erschien im Zentrum der nach links übergreifenden gelben Halbscheibe ein dunkelgrauer Fleck. Dieser war dann analog wie bei den Versuchen mit Schwarz- weiss bis auf das zentrale gelbe Feld zu verfolgen. Sonst habe ich 632 A. Brückner: ihn bei den Versuchen mit bunten Farben nie beobachtet. Er ver- dankte seine Entstehung offenbar der grossen Helligkeitsdifferenz, welche zwischen dem blauen und zwischen dem gelben Papier be- stand. Dieselbe liess sich, wie ja meist, wenn man gesättigtes Blau und Gelb verwendet, nicht umgehen, während ich sonst immer auf möglichst gleiche Helligkeit der verwendeten Papiere Bedacht nahm !). Sehr instruktiv und, wie mir scheint, theoretisch wichtig waren nun gelegentliche Versuche, in denen zufällig das Gebiet des blinden Fleckes sieh nicht nur etwa zur Hälfte, sondern bereits zum grössten Teil auf dem temporalen linken Felde befand. Hier erkannte man deutlich eine unter Umständen fast volle Scheibe, welche die Farbe der rechten (zentral abgebildeten) Fläche hatte. Diese Scheibe war aber ebenfalls nur Bruchteile einer Sekunde, wenn auch in voller Deutlichkeit, sichtbar. Sie „schnurrte“ gewissermaassen schnell zu- sammen und wurde überflutet von der Farbe des Grundes. Die Stelle des blinden Fleckes, welche also zu Anfang von dem rechten (zentral abgebildeten) Felde bestimmt wurde, war dann dauernd gleich der Färbung des linken Feldes, auf das sich der blinde Fleck zum allergrössten Teil ja auch projizierte. In seltenen Fällen kommt es nun aber auch vor, dass die eben erwähnte fast volle Scheibe nicht gleich in der Färbung des Grundes aufgeht, sondern dass sie noch kurze Zeit an einem helleren Hof erkennbar bleibt. Dieser hellere Hof besitzt dieselbe Farbe wie der übrige Grund, nur in weniger gesättigter Nuance. Er umschliesst eine dunklere, gleichfarbige Scheibe. Ob der in diesem Fall sicht- bare Hof sehender Netzhaut entspricht, bzw. wie weit überhaupt in diesem Falle das Gebiet des blinden Fleckes reicht, habe ich bei dem sehr schnellen Abklingen der Erscheinung nicht sicher feststellen können (etwa durch Hinhalten einer Bleistiftspitze). Es dürfte aber keinem Zweifel unterliegen, dass in Analogie mit den Versuchen bei schwarzweissen Flächen der helle Hof sehenden Netzhautstellen ent- spricht, während die von ihm umschlossene Scheibe genau der Grösse des blinden Fleckes korrespondiert. b) Versuche mit Bewegung einer Grenzlinie über das Gebiet des blinden Fleckes. Die im vorigen Abschnitt beschriebenen Versuche mussten es nahelegen, genauer zu prüfen, wie weit der Einfluss des zentral 1) Es wurden ausnahmslos Rothe’sche Papiere verwendet. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 633 abgebildeten Feldes reiche, und ob nicht auch das temporal gelegene einen Einfluss auf die Art der Ausfüllung des blinden Fleckes ge- winnen könne. Zur Entscheidung dieser Frage erschien das Wandern einer vertikalen Grenzlinie von rechts nach links oder umgekehrt über das ganze Gebiet des blinden Fleckes hin als die gegebene Methode [s. Helmholtz), S. 719]. Eine horizontale Trennungslinie zu diesen oder ähnlichen Versuchen zu benutzen, erwies sich als wenig zweckmässig, weil hierbei die Erscheinungen am blinden Flecke nur undeutlich sichtbar waren. Möglicherweise mag das darauf beruhen, dass die Sehschärfe der unter diesen Umständen am äusseren und inneren Rande des blinden Fleckes in Betracht kommenden Netzhautteile eine zu differente ist. Deshalb habe ich nach einigen unbefriedigenden Versuchen mit horizontaler Grenzlinie von dieser Versuchsanordnung gänzlich abgesehen. Die Beobachtungen mit vertikaler Grenzlinie wurden zunächst in der Weise ausgeführt, dass bei konstantem Abstande zwischen Auge und farbigen Papierflächen das eine der beiden Papiere von rechts nach links oder in umgekehrter Richtung verschoben wurde. Hierbei musste das Auge unbeweet gehalten werden. Infolge der Bewegungserscheinungen im Gesichtsfelde aber war das Festhalten der Fixation sehr erschwert. Es erwies sich als wesentlich bequemer und leichter für die Beobachtung, wenn die Wanderung der Grenz- linie über den blinden Fleck hin durch eine Variierung des Abstandes zwischen beobachtendem Auge und der vertikal stehenden Tafel mit den Papieren bewirkt wurde. War der Fixierpunkt entsprechend gewählt, so wanderte hierbei die Grenzlinie in der gewünschten Weise über den Sehnervenkopf hinweg. Natürlich bot diese Ver- suchsanordnung den nicht unwesentlichen Übelstand, dass die schein- bare Grösse des blinden Fleckes sowie die absolute Bildgrösse der betreffenden Papierbogen nicht konstant waren. Bei grösserem Ab- stande musste der blinde Fleck bei Projektion in die Ebene der vertikalen Tafel grösser erscheinen, während von den Papierbogen kleinere Bilder entworfen wurden als bei geringerem Abstande. Ver- gleichende Beobachtungen nach der zuerst genannten Methode bei konstantem Abstande lehrten aber, dass diese Fehlerquelle zu ver- nachlässigen erlaubt war, weil beide Methoden identische Resultate ergaben. Ich habe deshalb die Untersuchung bei wechselndem Ab- stande bei weitem bevorzuet?). Die Entfernung zwischen Auge und 1) Helmholtz, Physiologische Optik, 2. Aufl. 1896. 2) Als gänzlich unbrauchbar ergab sich die Methode, den Blick von links nach rechts oder umgekehrt wandern zu lassen. 634 A. Brückner: vertikaler Fläche schwankte etwa zwischen 20 und 40 cm. Der Fixierpunkt lag (bei Beobachtung mit dem linken Auge) ea. 8 cm nach rechts von der Grenzlinie. Befand sich das beobachtende Auge also in maximaler Annäherung, so fiel der blinde Fleck in ganzer Ausdehnung auf das vom Beobachter gerechnet, rechte Feld, bei maximaler Entfernung dagegen ganz auf das linke. In den Zwischen- abständen war je nach der Entfernung ein grösserer oder kleinerer Teil des blinden Fleckes auf dem linken oder rechten Felde gelegen. Auch hier habe ich Versuche mit der Kombination von Schwarz- weiss sowie mit sämtlichen vier bunten Grundfarben vorgenommen. Die Resultate waren durchaus gleichsinnige, so dass es genügen möge, kurz je eine Versuchsreihe bei Wanderung der Grenzlinie von rechts nach links (zunehmende Annäherung) und eine bei umgekehrter Richtung der Bewegung (zunehmende Entfernung) zu schildern. Versuche bei fortschreitender Annäherung. Links weisses Baryt- papier, rechts tiefschwarzes Papier; fixiert auf Schwarz, Fixationspunkt ca. 8 cm von der Grenzlinie entfernt. Ausgangspunkt ein so grosser Abstand, dass der blinde Fleck ganz im weissen Felde liegt. Nach einigen Sekunden ist die zuerst sichtbare graue Scheibe (siehe oben S. 624) vollkommen verschwunden. Das weisse Feld erscheint vollkommen homogen. Dann langsame Annäherung an die Tafel. Der erste Moment der Berührung des inneren Randes des blinden Fleckes mit der Trennungslinie ist nicht immer sicher zu beobachten. Doch zeigt sich sehr bald eine leichte Ausbuchtung des schwarzen Feldes nach links hin. Die Trennungs- linie erscheint also nicht mehr gerade, sondern an umschriebener Stelle schwach nach links konvex. Diese Ausbuchtung nimmt an Deutlichkeit schnell zu, und es erscheint eine dunkle Halbscheibe nach links, die mitunter einen hellen Saum zeigt (siehe oben). Die linke temporale Begrenzung ist nicht immer deutlich vor- handen. Bei weiterer Annäherung nimmt die Eindringlichkeit der Erscheinung ab; auch durch Blinzeln ist sie nicht immer sicher wieder hervorzurufen. Kurz bevor der temporale Rand des blinden Fleckes die Grenzlinie passiert, zeigt sich aber stets deutlich eine schwache Ausbuchtung des weissen Feldes nach rechts hin. Die Grenzlinie besitzt also jetzt eine schwache Konvexität nach rechts. Doch kann nie eine helle Halbscheibe bzw. Vollscheibe nach rechts hin gesehen werden. Dass in diesem Stadium die Grenzlinie noch auf das Gebiet des blinden Fleckes fällt, lässt sich durch eine hingehaltene Bleistiftspitze leicht konstatieren. Erst wenn der blinde Fleck -die Grenzlinie vollständig passiert hat, erscheint diese wieder vollkommen gerade. Versuche bei fortschreitender Entfernung. Links weiss, rechts schwarz, Fixierpunkt 3 cm rechts von der Grenzlinie entfernt auf Schwarz. Aus- gangspunkt der Beobachtung bei so starker Annäherung des Auges, dass der blinde Fleck ganz auf Schwarz fällt. Schluss der Untersuckung bei vollständiger Abbildung des blinden Fleckes auf weissem Felde. Kurz nachdem der temporale Rand des blinden Fleckes die Grenzlinie passiert hat, zeigt sich eine konvexe Ausbiegung desselben nach rechts, d.h. das weisse Feld greift auf das schwarze Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 635 Feld über. Eine Halbscheibe oder Vollscheibe ist nicht zu sehen. Dieses Über- greifen nimmt noch etwas weiter zu, dann kommt eine kurze Periode eines un- definierbaren Stillstandes, bis plötzlich wie eine Art von Überspringen erfolgt und nun auf einmal eine schwarze Halbscheibe nach links hin auf dem weissen Grunde erscheint. Diese Halbscheibe steht in direktem Zusammenhang mit der schwarzen Papierfläche. Unter zunehmender Konvergenz (nach rechts hin) des oberen und unteren Randes der Scheibe löst diese sich von dem schwarzen Felde bzw. von der Grenzlinie los und verschwindet schliesslich vollkommen im weissen Grunde. Die Grenzlinie erscheint dann wieder gerade. Es ist vollkommen gleichgültig, welche Färbung die aneinander- grenzenden Papiere besitzen. Es ergibt sich konstant folgendes: Wandert eine Grenzlinie, wie sie durch zwei unmittelbar nebeneinander auf vertikaler Tafel befestigte Papierbogen von verschiedener Färbung gebildet wird, über den blinden Fleck von seinem zentralen Rande nach dem temporalen (im Netzhautbilde also von dem temporalen nach dem nasalen Rande der Papille), so zeigt sich zunächst ein Über- sreifen des zentral abgebildeten farbigen Feldes auf das Gebiet des blinden Fleckes. Dieses Verhalten macht dann einem Übergreifen des temporal gelegenen Feldes Platz, wenn die Grenzlinie sich schon sehr stark dem äusseren Rande des blinden Fleckes genähert hat. Wandert die Grenzlinie in umgekehrter Richtung vom äusseren zum inneren Rande des blinden Fleckes, so zeigt sich zuerst ein Übergreifen des temporalen Feldes, das etwas länger dauert als am Schluss der Wanderung im ersteren Falle, dann aber plötzlich sprungweise einem ausgesprochenen Übergreifen des zentralen Feldes auf das Gebiet des blinden Fleckes Platz macht. Es gehtalso aucehausdiesen Versuchen mit Sicherheit hervor, dass das zentral ab- gebildete Feld für die Art der Ausfüllung des Ge- bietes des blinden Fleckes von ungleich grösserem Einfluss ist als das temporal gelegene. Der Einfluss des letzteren reicht sozusagen nie dazu aus, das Gebiet des blinden Fleckes in ganzer Ausdehnung zu erfüllen. Letzteres vermag aber das zentrale Feld zuweilen zu tun. Es liess sich nämlich wiederholt beobachten, dass bei der Wanderung der Grenzlinie von rechts nach links, wobei der innere Rand des blinden Fleckes zuerst mit der Grenzlinie in Berührung kam, sich die Farbe des zentralen Feldes gewissermaassen durch die schmale Berührungszone hindurch in das ganze Gebiet des blinden Fleckes hinein ergoss. Es kamen hierdurch Bilder zustande wie die nebenstehende Fig. 5. Alle diese soeben beschriebenen Erscheinungen zeigen sich be- 636 A. Brückner: sonders deutlich, wenn die Wanderung der Grenzlinie langsam erfolgt, etwa 5 Sek. dauert; nur dann sind die Einzelheiten der verschiedenen Phasen sicher erkennbar. Erfolgt die Wanderung schnell, so ist der Gesamtablauf der Erscheinungen deutlicher wahrnehmbar, doch sind Details nieht zu beobachten. Bei langsamer Bewegung machen sich freilich mitunter lokale Adaptationsstörungen bemerkbar. Denselben ist bei der relativ nur kurzen Beobachtungs- Fig. 5. dauer des Einzelversuches aber kaum eine nennenswerte Bedeutung beizumessen. Allenfalls machten sie sich als Nachbilder unangenehm bemerkbar, wenn sehr satte bunte Farben verwendet wurden. Bei der prinzipiellen Übereinstimmung der Resultate sämtlicher Versuche dürfte aber hierin eine Fehlerquelle kaum zu suchen sein. 6. Nachbilderscheinungen im Gebiete des blinden Fleckes. Da der blinde Fleck unter bestimmten Umständen nicht dunkler, sondern auch heller als der umgebende Grund erscheinen kann (siehe oben), so ist es nicht weiter merkwürdig, dass er auch im Nachbild als hellleuchtende Scheibe sichtbar werden kann. Charpentier!) sah bei binokularer Betrachtung einer weissen l) Charpentier, Visibilite de la tache aveugle. Compt. rend. t. 126 p. 1634. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 637 Fläche im Moment des Augenschlusses, dass die beiden dunklen Flecke sich in zwei helle, freilich unschärfer begrenzte (plus nuageuses) und deshalb schwerer zu beobachtende verwandeln. Tschermak!) kann „unter günstigen Bedingungen“ ebenfalls das helle negative Nachbild des blinden Fleckes sehen. Mir ist es stets möglich, unter Innehaltung bestimmter Ver- suchsbedingungen den blinden Fleck im negativen Nachbilde als helle Scheibe wahrzunehmen. Voraussetzung hierfür ist ein gewisser Grad von Dunkeladaptation des Auges. Wenn ich in diesen Zustande die Augen gegen den hellen Abendhimmel richte, und das eine Auge für ca. 1 Sekunde öffne, dann aber schliesse und mit der Hand noch leicht bedecke, so zeigt sich der blinde Fleck nicht nur sehr deutlich als dunkle Scheibe am hellen Himmel, sondern er tritt ausserordentlich schön im negativen Nachbilde als helle Scheibe auf dem tiefdunkel erscheinenden Nachbilde des Himmels hervor. Der Versuch gelingt auch stets, wenn ich nach ea. 5 Minuten langer Dunkeladaptation (vorausgesetzt, dass nicht eine sehr ausgiebige Helladaptation voraus- gegangen war) im Dunkelzimmer ein oder auch beide Augen per- palpebral belichte. Hierbei zeigen sich im Vorbilde, d. h. auf dem hellroten Grunde des Gesichtsfeldes, ein bzw. zwei dunklere, mit- unter auch leieht bläulichgrün gefärbte Flecke. Diese entsprechen genau der Lage der beiden blinden Flecke in beiden Augen. Es lässt sich dieses durch die oben besprochenen Erscheinungen bei Augen- bewegungen in bestimmter Weise feststellen. Diese dunklen Flecke bleiben während mehrerer Sekunden sichtbar, um dann zu ver- schwinden. Wird nun nach ca. 10 Sekunden währender perpalpebraler Belichtung diese plötzlich ausgeschaltet (ich verwendete hierzu eine Auerlampe mit Stichflamme, die sich ca. 30 cm vor dem Auge befand), so erscheinen je nachdem, ob monokular oder binokular be- obachtet wird, ein oder zwei helle Flecke an genau denselben Stellen, an denen vorher die dunklen Flecke sichtbar gewesen waren. Diese hellen, leicht verwaschenen Scheiben verschwinden ausserordentlich rasch, etwa nach einer Sekunde. Hierbei scheinen sie in sich „zusammen- zuschnurren“, indem sie sich schnell etwa konzentrisch verkleinern. Eine bestimmte Färbung ist nicht mit Sicherheit an ihnen wahr- zunehmen; jedenfalls sind sie nie rötlich oder gelblich, eher zeigen 1) Tschermak, Über Kontrast und Irradiation. Ergebn. d. Physiol., Jahrg. 2, Abt. 2, S. 777. 038 A. Brückner: sie einen schwach grünlichen Farbenton. Wenn diese hellen Flecke verschwunden sind, erscheint das ganze Gesichtsfeld einförmig von einem mehr oder weniger hellen Lichtnebel bzw. Dunkel erfüllt. Setzt man nun die Beobachtung noch einige Sekunden (5—10) fort, so tauchen mitunter an denjenigen Stellen des Gesichtsfeldes, an denen die: hellen Flecke verschwanden, zwei tiefdunkle Scheiben auf, die weit schwärzer gefärbt sind als das übrige ziemlich licht aus- sehende Gesichtsfeld. Bei deutlicher Sichtbarkeit dieser dunklen Scheiben lässt sich erkennen, dass sie ganz scharfe Ränder besitzen, an denen jedoch irgendein heller Saum oder dergleichen nicht wahrzunehmen ist. Die dunklen Scheiben können mehrere Sekunden lang sichtbar sein und verschwinden dann ebenfalls. Weitere Er- scheinungen an den Stellen der blinden Flecke kann ich dann nie wieder auftreten sehen. Die scheinbare Grösse der hellen Flecke ist etwas geringer als diejenige der dunklen Scheiben, sowohl im Vorbild als auch in der letzten dunklen Phase. Dieses gilt auch von dem ersten Moment der Sichtbarkeit der hellen Scheiben. Viel- leicht beruht das darauf, dass bei der ja schnell zunehmenden Verkleinerung der hellen Flecke ihre Aperzeption erst erfolgen kann, wenn sie schon nieht mehr ihre maximale Grösse besitzen. Es ist wohl ohne weiteres klar, dass wir es bei den vorstehend geschilderten Beobachtungen mit einem Nachbildablauf zu tun haben, der mit den auch sonst zur Beobachtung kommenden Nachbild- erscheinungen prinzipiell übereinstimmt, d. h. positive Phase im Vor- bild und dann im Nachbild eine negative und nochmals eine positive Phase. Nachdem ich mit den Nachbilderscheinungen am blinden Flecke erst näher bekannt geworden war, habe ich sie auch unter mannig- fachen weniger günstigen Bedingungen wahrgenommen, von denen nur einige hier erwähnt werden sollen. Belichte ich im Dunkelzimmer perpalpebral mittels einer Kerze, die etwas unterhalb der Augen vor das Gesicht gehalten wird, beide Augen während einiger Sekunden und Öffne dann nur ein Auge, so sehe ich deutlich auf tieflunklem Grunde an der Stelle des blinden Fleckes dieses Auges eine helle Scheibe. Diese bleibt 1 bis 2 Sekunden siehtbar und verschwindet dann. Dass die helle Scheibe in der Tat genau dem Gebiete des blinden Fleckes entspricht, lässt sich durch das Verschwinden der Fingerspitze an ihrem Rande ohne weiteres beweisen; es entspricht der helle Fleck auch in seinen Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 639 Randpartien nicht sehenden Netzhautstellen. Er deckt sich also vollkommen mit dem Gebiet des Mariotte’schen Fleckes. Wenn ich bei ausgiebiger Dunkeladaptation durch lebhafte Augenbewegungen die oben unter Abschnitt 1 besprochenen Pur- kinje’schen Ringe hervorrufe und durch kleinere nystaktische Zuckungen immer wieder die hellen Ringe erzeuge, so erscheint bei endgültigsem Aufhören der Augenbewegungen an der Stelle der dunklen Scheibe häufig ein leuchtend heller weisser Fleck mit ver- waschenen Grenzen. Dieser zeigt während der Dauer seiner Sicht- barkeit (1—2 Sekunden) eine konzentrische Verkleinerung in ähn- licher Weise, wie sie vorhin unter etwas anderen Bedingungen be- schrieben worden ist. Wenn ich ein Auge oder beide Augen geschlossen nach voraus- gegangener Helladaptation mit dem Ballen der Hand drücke, so er- scheinen mir die unter diesen Bedingungen auftretenden hellen Licht- ‘erscheinungen: Lichtnebel, blaue Flecke und derel. An den Stellen des Gesichtsfeldes, welche dem bzw. den blinden Flecken entsprechen, sehe ich dabei mitunter ein bzw. zwei dunkle Scheiben. Wenn der Druck aufhört, so verwandeln sich diese dunklen Scheiben in zwei oft leuchtend helle, die relativ lange sichtbar bleiben können. Dass diese Scheiben in der Tat dem Gebiet des blinden Fleckes entsprechen, lässt sich daraus entnehmen, dass von diesen Stellen aus die Linien der Purkinje’schen Aderfigur als leuchtende Striche ausgehen [vergl. hierzu Brückner!)]. Offenbar handelt es sich auch hier um negative Nachbilder. Versuche mit farbigen Papieren. Ausser diesen mehr gelegentlichen Beobachtungen habe ich nun noch längere Versuchs- reihen angestellt, welche den Einfluss verschiedenfarbiger Flächen auf die Färbung des blinden Fleckes im Nachbildverlauf klarlegen sollten. Die Resultate waren verhältnismässig wenig befriedigend und nicht durchaus eindeutig. Ein absolut negatives Resultat ergeben Versuche, in denen eine gleichmässig weisse, schwarze oder beliebig bunte Fläche längere Zeit fixiert wurde. Wenn auch hier zuweilen, wie es oben be- schrieben ist, der blinde Fleck kurzdauernd im Vorbilde zu sehen war, so verschwand er bei etwas längerer Fixationsdauer, wie sie 1) Brückner, Zur Kenntnis einiger subjektiver Gesichtserscheinungen. Arch. f. Augenheilk. Bd. 64 S. 78. 640 A. Brückner: zur Erzeugung eines Nachbildes erforderlich war. Die Papierfläche erschien vollkommen gleichmässig gefärbt, und es wurden auch in keiner Phase des Nachbildverlaufes (nach Schluss der Augen) an der Stelle des blinden Fleckes irgendwelche besonderen Er- scheinungen wahrnehmbar. Vereinzelten hiervon abweichenden Be- obachtungen kann ein Wert kaum beigelegt werden. Ich habe deshalb nach längerer Einwirkung einer beliebigen Strahlung nun auf dieselben Netzhautteile verschiedene andere Lichter einwirken lassen. Leider war ich aus äusseren Gründen zur Be- nutzung einer ziemlich unvollkommenen Methode genötigt. Die sukzessive Belichtung mit den verschiedenen Strahlungen wurde nämlich dadurch bewirkt, dass zwei Bogen farbigen Papieres un- mittelbar nebeneinander auf der Wandtafel befestigt waren und das beobachtende Auge unter Festhaltung des Fixierpunktes auf der einen farbigen Fläche sehr schnell von der Wandtafel entfernt oder ihr genähert wurde. Es liess sich hierdurch bei entsprechender Lage des Fixierpunktes unschwer erreichen, dass der blinde Fleck zu Be- einn der Beobachtung in toto auf der einen und in der zweiten Phase des Versuches in ganzer Ausdehnung auf der zweiten Fläche zur Abbildung gelangte. Wenn der Wechsel des Abstandes sehr schnell erfolgte, so ergaben sich hierbei etwa die gleichen Versuchs- bedingungen, abgesehen von der wechselnden Grösse des Netzhaut- bildes der farbigen Flächen, wie wenn ohne Änderung der Ent- fernung schnell hintereinander die eine farbige Fläche mit der zweiten vertauscht worden wäre. Trotz der Unvollkommenheit dieser Versuchsanordnung liessen sich mit derselben befriedigende Resultate erzielen, freilich nur dann, wenn nach anfänglicher Annäherung zu weiterer Entfernung des beobachtenden Auges von dem farbigen Papier fortgeschritten wurde. Da meist mit dem linken Auge be- obachtet wurde, musste also der Fixationspunkt auf dem rechten Felde, vom Beobachter aus gerechnet, angebracht werden. Es wurde damit der blinde Fleck zunächst auf dem rechten und nach Aus- führung der Entfernungsbewegung ganz auf dem linken Felde zur Abbildung gebracht. In umgekehrter Bewegungsrichtung, d. h. bei Annäherung des Auges waren irgendwelche sicheren Resultate nicht zu erzielen. Es liessen sich folgende Ergebnisse gewinnen: Wenn nach Betrachtung einer weissen Fläche der blinde Fleck auf Schwarz fällt, so erscheint deutlich an seiner Stelle ein hellerer Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 641 verwaschener Fleck. Bei umgekehrter Folge der Belichtung erscheint eine dunkle Scheibe auf weissem Grunde. Es decken sich also diese Beobachtungen mit den oben (S. 624 f.) beschriebenen. Es besteht - nur insofern eine Differenz, als die Sichtbarkeit der hellen ver- waschenen Scheibe auf Schwarz unter diesen Bedingungen leichter zu erzielen ist. Doch ist auch hier die Dauer der Sichtbarkeit so- wohl der hellen wie der dunklen Scheibe nur sehr kurz. Bei Versuchen mit bunten Farben haben sich konstante Re- sultate nicht ergeben. Zunächst verwendete ich Kombinationen von ziemlich genau gegenfarbigen Papieren. Hierfür bildete die Annahnıe den Ausgangspunkt, dass es sich bei der Sichtbarkeit des blinden Fleckes um eine Kontrasterscheinung handle. Aus diesem Grunde konnte man erwarten, dass bei Belichtung mit einer Strahlung, welche der primär einwirkenden gegenfarbig war, noch relativ am deutlichsten Farbenerscheinungen an der: Stelle des blinden Fleckes wahrzunehmen sein würden. Bei der aufeinander folgenden Be- liehtung mit Rot-Grün, Grün-Rot und Gelb-Blau (die zuerst genannte Farbe bezeichnet die primär, die an zweiter Stelle er- wähnte die sekundär einwirkende Strahlung) zeigte sich stets für Bruchteile einer Sekunde eine mit der Farbe des zweiten Lichtes gleichfarbige Scheibe: je nachdem also eine grüne, rote oder blaue. Sie hob sich von dem übrigen Grunde durch einen helleren Hof ab, wie er oben bereits beschrieben wurde. Ausserdem erschien die Scheibe selbst in etwas dunklerer Nuance als der übrige Grund. Allein bei der Belichtungsfolge Blau-Gelb, bei der also nach Reizung mit blau wirkender Strahlung der blinde Fleck auf gelben Grund fiel, tauchte eine schnell wieder verschwindende blaue Scheibe auf letzterem auf. Bei Versuchen mit sukzessiver Belichtung von nicht gegen- farbigen Strahlungen hat sieh in allen Fällen, in denen überhaupt eine Scheibe auf der zu zweit betrachteten Farbenfläche sich abhob, eine Übereinstimmung ihrer Farbe mit derjenigen des übrigen Grundes ergeben. Nur nach der Einwirkung gelben Lichtes erschien auf rotem Grunde zuweilen eine blaue Scheibe. Grenzlinienversuche. Wesentlich erleichtert wurde die Beobachtung der Nachbilderscheinungen am blinden Flecke wieder durch Verwendung einer Grenzlinie in der Weise wie sie oben- (S. 626) beschrieben wurde, d. h. die Grenzlinie bildete sich so ab, Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 41 642 A. Brückner: dass sie etwa durch den Längsdurchmesser der Papille ging. Nach 30—40 Sekunden währender Fixation liessen sich dann die flüchtigen Nachbilderscheinungen am blinden Flecke wesentlich sicherer be- obachten, weil ja auch im Nachbild die Grenzlinie der Aufmerksam- keit genau den Ort angab, auf den sie sich zu richten hatte. Entweder wurden nach Abschluss der Fixationsdauer die Nach- bilderscheinungen bei Augenschluss evtl. unter Zuhilfenahme der perpalpebralen Belichtung beobachtet, oder es wurden auch hier be- liebige reagierende Lichter verwendet, d. h. es wurde das Nachbild auf verschiedenfarbige Flächen projiziert. Da im Vorbild (wie oben Abschnitt 5 näher ausgeführt ist) fast ausnahmslos das zentral ab- gebildete Feld mit seiner Farbe das ganze Gebiet des blinden Fleckes erfüllte, so galt es festzustellen, ob auch die Nachbilderscheinungen sleichsinnig mit den Farbenveränderungen des zentral abgebildeten Feldes verlaufen. Die Versuche bei Kombination von Schwarz-Weiss ergaben sichere konstante Resultate. War Weiss das zentral abgebildete Feld, so erschien im Nachbild stets eine dunkle Halbscheibe nach links hin (auch hier wurde fast stets mit dem linken Auge be- obachtet), welche unmittelbar an das schwarze negative Nach- bild des weissen Feldes angrenzte. An der Trennungslinie sowohl wie am Rande der Halbscheibe war ein heller Lichtsaum zu sehen, wie er ja bei derartigen Nachbildern auch sonst vorzukommen pflegt (sukzessive Lichtinduktion Hering’s). Dieser helle Saum war seiner Qualität nach überall derselbe, gleichgültig, ob er an dem geraden Teil der Grenzlinie oder an die nach links ausgebogene Halbscheibe sich anschloss (s. Fig. 1). Besonders deutlich waren die Er- scheinungen zu sehen, wenn das Nachbild auf schwarzem Papier zur Entwicklung gebracht wurde. Die dunkle Halbscheibe verschwand sehr schnell. Sie war nur während des Bruchteils einer Sekunde sichtbar. Es erschien dann die Trennungslinie vollkommen gerade. War das zentrale Feld im Vorbilde schwarz, das temporale weiss, so zeigte sich nun nicht, wie man erwarten sollte, im negativen Nachbilde das helle Nachbild des Schwarz nach links hin aus- gebogen, sondern es war umgekehrt das dunkle Nachbild des temporal gelegenen weissen Feldes nach rechts, also zentralwärts, halbscheiben- förmig ausgebuchtet. Zuweilen bestand wohl im allerersten Moment des Nachbildverlaufes der Eindruck, als ob eine helle Scheibe nach links hin vorhanden wäre, doch ist diese Beobachtung stets Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 643 zu flüchtig und unsicher gewesen, um auf sie grösseren Wert zu legen. Jedenfalls muss als Regel gelten, dass im negativen Nachbilde bei Grenzlinienversuchen mit Schwarz-Weiss stets das im Nachbild dunkle Feld das Aussehen des blinden Fleckes vorwiegend beeinflusst. Es liegt also auch hierin eine Abweichung von dem oben gefundenen Satze, dass das zentrale Feld für die Art der Ausfüllung des Gebietes des blinden Fleckes das maassgebende ist. Bei Nachbildversuchen mit farbigen Papieren fand ich dagegen, so- weit sich ein Resultat überhaupt erzielen liess, stets eine Ausfüllung des Gebietes des nlinden Fleckes mit der Farbe des Nachbildes des zentralen Feldes. Die Grenzlinie erscheint infolgedessen stets halb- kreisförmig temporalwärts ausgebogen. Vereinzelte Ausnahmen, die ich auch hier beobachtet habe, ändern bei ihrer Inkonstanz nichts an dieser Gesetzmässigkeit. T. Gleichzeitige Sichtbarkeit beider blinden Flecke. Dass unter günstigen Bedingungen nicht nur der blinde Fleck eines Auges, sondern gleichzeitig beide blinden Stellen als zwei dunkle oder auch helle Flecke in entsprechend symmetrischer Lage zum Fixierpunkt gesehen werden können, ist schon von einzelnen älteren Untersuchern konstatiert worden. Auch im Vorhergehenden ist gelegentlich auf eigene derartige Beobachtungen hingewiesen worden. Wegen der theoretischen Wichtigkeit, welche sie mir zu besitzen scheinen, rechtfertigt sich aber wohl noch eine kurze zu- sammenfassende Besprechung. Zehender!) (S. 115) erwähnt, dass er bei gleichzeitigem Öffnen und Schliessen beider Augen und Betrachtung einer weissen Papierfläche ausser den zwei Schattenbildern der Aderfigur deutlich zwei Eintrittsstellen des Sehnerven sähe. Auch Charpentier?) hat zwei dunkle und nach Augenschluss zwei helle Flecke: bei seinen ähnlichen oben erwähnten Versuchen wahrnehmen können. Ausserdem haben eine ganze Reihe von Autoren die Sichtbarkeit zweier Purkinje’scher Ringe und bei perpalpebraler Belichtung zweier blaugrüner Scheiben bei Bewegungen des Auges beschrieben. Wenn es sich hier auch nicht um Erscheinungen handelt, die ledig- 1) Zehender, Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. 1895. 2) Charpentier, Visibilite de la tache aveugle. Compt. rend. t. 126 p. 1634. 41 * 644 A. Brückner: lich auf das Gebiet des blinden Fleckes beschränkt sind, wie oben des näheren ausgeführt wurde, so kommen diese Phänomene doch mit in Frage. Meine eigenen binokularen Beobachtungen sind folgende: Bei perpalpebraler doppelseitiger Belichtung sehe ich nach vor- ausgegangener Dunkeladaptation zwei dunkle Flecke auf gelbrotem Grunde, welche nach Ausschaltung der Belichtung sieh in zwei helle Scheiben verwandeln (s. oben S. 623f. u. S. 637). Drücke ich beide Augen mit den Handballen, so treten die be- kannten Lichterscheinungen auf. Es zeigen sich dann häufig an der Stelle der beiden blinden Flecke zwei dunkle Scheiben mit scharfer Begrenzung, die sich nach Aufhören des Druckes in zwei helle Flecke verwandeln können (s. oben S. 639). Auch beim Blick gegen den Abendhimmel gelingt es mir regel- mässig, bei binokularer Beobachtung entsprechend der Lage deı beiden blinden Flecke im Gesichtsfelde zwei dunkle verwaschene Bezirke zu sehen. Diese zeigen freilich eine viel unschärfere Be- srenzung als die dunkle Scheibe bei monokularer Beobachtung; auch sind sie wesentlich heller gefärbt als in jenem Falle. Dass aber jeder dieser beiden verwaschenen Flecke genau der blinden Stelle des einen oder anderen Auges entspricht, lässt sich durch Hinhalten eines spitzen Gegenstandes in das Gebiet des dunklen Fleckes und darauffolgenden Schluss des einen Auges beweisen. Der Gegenstand verschwindet dann so weit, als er in das Gebiet des — schon bei bino- kularer Beobachtung siehtbaren — dunklen Fleckes fiel. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass im letzterwähnten Falle die Deutlichkeit der dunklen Flecke durch die an korrespondierender Stelle des anderen Auges sich abbildende helle Partie des Himmels beein- trächtigt wird. Wenn gleichwohl ein bzw. zwei Flecke gesehen werden können, so muss das Dunkel des blinden Fleckes bei der binokularen Kombination der Eindrücke an dieser Stelle des Gesichts- feldes einen Einfluss besitzen. Diese Frage studierte ich noch an einem weiteren Versuch. Hatte ieh durch eine vor dem einen Auge oszillierend hin und her be- wegte stenopäische Lücke den einen blinden Fleck sichtbar gemacht (s. S. 620f.), so öffnete ich das bis dahin geschlossen gehaltene andere Auge. Es blickten also jetzt beide Augen auf eine weisse Fläche, das eine durch das stenopäische Loch, das andere Auge direkt. Trotzdem änderte sich an dem Aussehen des blinden Fleckes nichts: Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 645 er wurde nicht etwa heller, sondern behielt seinen grauschwarzen Charakter und seinen hellen Randsaum unverändert bei. Das Weiss der betrachteten Fläche, welches sich an korrespondierender Stelle im anderen Auge abbildete, gewann also hier keinen Einfluss auf das Aussehen des Fleckes. Dieser Versuch steht demnach im Gegen- satz zu dem vorher beschriebenen. Nun erscheint die Fläche des weissen Papieres dem frei beobachtenden Auge wesentlich dunkler als dem durch das stenopäische Loch sehenden. Der Karton, in welchem letzteres sich befindet, erscheint nämlich ziemlich dunkel, weil er, dicht vor das Gesicht gehalten, leicht beschattet wird, Im Kontrast hierzu wird dann die weisse Fläche, durch das Loch be- trachtet, ausserordentlich hell gesehen. Man könnte deshalb ein- wenden, dass die Helligkeit des durch das unverdeckte Auge ge- lieferten Eindruckes zu gering gewesen sei, um sich bemerkbar zu machen. Dieser Einwand kann aber kaum als stichhaltig angesehen werden, weil die weisse Fläche im unverdeckten Auge immer noch wesentlich heller erscheint als die Färbung des blinden Fleckes selbst. Wahrscheinlicher ist es, dass die Unveränderlichkeit in der Färbung des blinden Fleckes hier bedingt wird durch den Einfluss der Konturen, welche im binokularen Wettstreit bzw. bei der bino- kularen Mischung dem Eindruck des betreffenden Auges das Über- gewicht geben. Der Rand der dunklen Scheibe wirkt als Kontur, und hierdurch wird der einer Kontur gänzlich entbehrende Eindruck der weissen Fläche, der auf korrespondierender Stelle im anderen Auge entsteht, im Bewusstsein unterdrückt. 8. Einfluss des Adaptationszustandes auf die Wahrnehmbarkeit des blinden Fleckes. In den vorstehenden Abschnitten ist wiederholt die Rede davon gewesen, dass zur Sichtbarkeit des blinden Fleckes ein vorher- gehender kurzdauernder Augenschluss, eventuell auch eine ausgiebigere Dunkeladaptation erforderlich sei. In der Tat ist von allen Momenten, welche für die Wahrnehmbarkeit der dunklen Scheibe auf hellem Grunde oder auch der hellen Scheibe auf schwarzem Grunde bzw. im negativen Nachbilde der Gesamtadaptationszustand des be- obachtenden Auges der wichtigste Faktor. Das gleiche gilt für die Erscheinung des blinden Fleckes als farbige Scheibe unter den oben angegebenen Bedineungen. Von der Bedeutung dieses Umstandes 646 A. Brückner: überzeugten mich auch noch andere Versuche, die ich bei ungleichem Adaptationszustande beider Augen anstellte. War das eine Auge lichtdieht während 15 Minuten verbunden gewesen, und befand sich das andere Auge in einem guten Hell- adaptationszustande (eventuell herbeigeführt durch Blicken nach dem Himmel), so vermochte das helladaptierte Auge beim Blick auf eine helle Fläche auch nach kurzdauerndem Augenschluss den blinden Fleck gar nicht oder nur ganz undeutlich zu sehen. Störend wirkten hierbei freilich die bekannten, im dunkeladaptierten Auge auftreten- den und gleichzeitig sichtbaren wimmelnden Phosphene, denen aber eine allein ausschlaggebende Bedeutung hierbei nicht zuerkannt werden kann (siehe unten). Bliekte ich dagegen mit dem dunkeladaptierten Auge gegen eine stark beschattete Fläche (eine weisse Fläche würde zu blendend hell erschienen sein), so zeigte sich der blinde Fleck mit grosser Deutlich- keit als dunkle Scheibe mit hellem Hof. War nun nach Freigabe des bis dahin verdunkelten Auges der Dunkeladaptationszustand desselben wieder zum Teil (nach Aufent- halt in leicht verdunkeltem Raume) verloren gegangen, und hatte sich gleichzeitig unter diesen Bedingungen der Helladaptationszustand des anderen Auges vermindert, so liess sich bei abwechselnd rechts- und .linksäugiger Beobachtung konstatieren, dass jetzt auch im vorher helladaptierten Auge der blinde Fleck als Scheibe sichtbar wurde. Diese war aber lange nicht so deutlich erkennbar wie im anderen, seinen Dunkeladaptationszustand noch zum Teil bewahren- den Auge. Diese Resultate sind durch wiederholte, manniefach variierte Versuche immer wieder bestätigt worden: Das relativ dunkel- adaptierte Auge nimmt den blinden Fleck viel deutlicher als dunkle Scheibe auf hellem Grunde wahr als das andere relativ helladaptierte Auge. Es beruht das nicht etwa lediglich darauf, dass dem relativ dunkeladaptierten Auge eine weisse Fläche heller erscheint als dem relativ helladaptierten; denn auch bei hinreichender Abschwächung der Beleuchtung behielt das Dunkel-Auge seine Überlegenheit in der genannten Richtung vor dem Hell-Auge. Dass nicht etwa allein die in dem Dunkel- Auge auftretenden Phosphene die Beobachtung des Hell-Auges stören und so den blinden Fleck nicht sichtbar werden lassen, konnte mit Sicherheit aus Versuchen entnommen werden, in welehen nur ein ganz kurz Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 647 dauernder Augenschluss (1—2 Minuten) des einen Auges stattge- funden hatte. Dann war von den Phosphenen noch so gut wie nichts wahrnehmbar, während die Differenz in der Sichtbarkeit der blinden Flecke an beiden Augen bereits sehr deutlich auftrat. Sank der Unterschied im Adaptationszustande zwischen beiden Augen unter eine gewisse Grenze, so zeigte sich begreiflicherweise eine Abnahme der Verschiedenheit in der Deutlichkeit der Erscheinungen an beiden blinden Flecken. Es muss noch besonders hervorgehoben werden, dass es gerade der Zustand einer gewissen Dunkeladaptation des Auges ist, welcher begünstigend wirkt. Waren nämlich beide Augen durch Betrachtung des hellen Himmels gut helladaptiert, und wurde nun das eine Auge für 10—15 Sekunden geschlossen, während das andere Auge noch fort- fuhr, gegen den hellen Himmel zu blieken, so zeigte sich nun wohl eine erhebliche Helligkeitsdifferenz bei der abwechselnden Betrachtung ein und derselben weissen Fläche. Es war aber eine irgend nennens- werte Differenz in der Deutlichkeit oder vielmehr Undeutlichkeit der Sichtbarkeit beider blinden Flecke zwischen beiden Augen nicht zu konstatieren. Betont muss ferner werden, dass bei der Dunkeladaptation des Auges der blinde Fleck ais dunkle Scheibe auf heller Fläche viel länger sichtbar pleibt als bei mehr oder weniger ausgiebiger Helladaptation. In diesem Falle ist er, wenn überhaupt, nur momentweise nach kurzem Augenschluss zu sehen. Bei Dunkeladap- tation aber kann er bis zu 20 Sekunden und länger sichtbar bleiben. 9. Sichtbarkeit des blinden Fleckes bei galvanischer Durchströmung des Auges. Das Auftreten von Licht- und Farbenerscheinungen an der dem blinden Fleck entsprechenden Stelle des Gesichtsfeldes bei galva- nischer Durchströmung ist schon seit langem bekannt. Eine aus- führliche Zusammenstellung der Angaben in der Literatur ist erst kürzlich von Tschermak!) S. 770 gegeben worden, auf welche hier verwiesen werden kann. Ich. selbst habe in dieser Hinsicht nur einer Frage, auf die ich durch Czermak?) geführt wurde, 1)Tschermak, Über Kontrast und Irradiation. Ergebn. d. Physiol., Jahrg. 2, ‚Abt. 2. 2) Czermak, Physiologische Studien. Sitzungsber. d. math.-naturw. Klasse d. Wiener Akad. 1854 S. 358. 648 A. Brückner: einige Versuche gewidmet. Dieser Autor diskutiert die Frage, ob die helle bezw. dunkle Scheibe, welche bei galvanischer Durch- strömung des Auges in der Gegend des blinden Fleckes erscheint, sich ausschliesslich auf dessen Gebiet beschränkt, oder ob die Rand- teile der betreffenden Scheibe etwa sehenden Netzhautteilen ent- sprächen.. In ähnlicher Weise. wie Czermak es vorschlug, ohne jedoch den Versuch selbst ausführen zu können, liess ich beim Blick gegen eine helle Fläche den galvanischen Strom durch meinen Kopf hindurehgehen (breite negative Elektrode im Nacken, kleine positive Elektrode auf der Mitte der Stirn). Bei schnell wechseln- dem Öffnen und Schliessen des Stromes bedarf es keiner allzu hohen Stromstärke (6—7 Milliampere), um die helle bezw. dunkle Scheibe auftauchen zu sehen. Durch das Verschwinden einer Bleistiftspitze liessen sich ihre Grenzen ziemlich genau feststellen. Es konnte dabei konstatiert werden, dass die Bleistiftspitze stets am Rande des aufblitzenden Fleckes verschwand. Es fallen also blinder Fleck und die unter diesen Umständen erscheinende helle oder dunkle Scheibe merklich genau mit ihren Rändern zusammen. 10. Theoretische Betrachtungen. Die mitgeteilten Versuche haben neue Beweise dafür erbracht, dass die blinde Stelle des monokularen Gesichtsfeldes zentral ver- treten ist (Charpentier); „seine Vertreter erscheinen ‚mit ein- gerechnet‘ bei der Verteilung der physiologischen Raumwerte oder Lokalzeichen an die einzelnen Elemente des Sehergans“ (Tscher- mak S. 770). Die Ansicht von einer „Kontraktion“ der Raumwerte der den Sehnervenkopf umgebenden Netzhautteile darf wohl als endgültig abgetan betrachtet werden. Es erhebt sich nun die Frage, worauf es beruht, dass wir unter bestimmten günstigen Bedingungen den blinden Fleck als dunkle, helle oder sonstwie gefärbte Scheibe sich von homogenem Grunde abheben sehen. Wenn bei monokularer Betrachtung einer hellen Fläche und geschlossenem anderen Auge an der Stelle des blinden Fleckes eine dunkle Scheibe erscheint, so ist es das Nächstliegendste, anzunehmen, dass hier das Dunkel an der korrespondierenden Stelle des ver- deckten Auges zum Bewusstsein kommt. Schon Volkmann!) dis- 1)Volkmann, Über einige Gesichtsphänomene, welche mit dem Vorhanden- sein eines unempfindlichen Fleckes im Auge zusammenhängen. Verhandl. d. sächs. Gesellsch. d. Wissensch., mathem.-phys. Klasse Bd. 1 S. 27. 1853. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 649 kutierte eine derartige Möglichkeit, wenn er auch den zu erwartenden dunklen Fleck an der blinden Stelle wahrzunehmen nicht imstande war (S. 640). In der Tat liesse sich für diesen speziellen- Fall eine derartige Erklärung als in Übereinstimmung mit den Be- obachtungstatsachen stehend bezeichnen. Sie ist es aber nicht für den Fall, in dem wir die gleichzeitige Sichtbarkeit beider blinden Flecke bei binokularer Beobachtung konstatieren können. Sieht man z. B. bei perpalpebraler Belichtung zwei dunkle Flecke auf gelbrotem Grunde oder beim Blick gegen den Abendhimmel zwei dunkle Flecke, von denen freilich jeder heller und verwaschener ist als bei monokularer Beobachtung, so erscheint es unverständlich, warum nicht die Hellig- keitsempfindung der den beiden blinden Flecken korrespondierenden Netzhautstellen im anderen Auge allein zur Geltung kommt. Man dürfte bei binokularer Beobachtung nach jener Erklärung niemals instande sein, eine umschriebene Verdunkelung der hellen Fläche am blinden Flecke zu sehen, wenn die durch die korrespondierenden Netzhautteile des anderen Auges vermittelten Gesichtseindrücke allein bestimmend für die Art der Ausfüllung jenes Bezirkes wären. Gänzlich unvereinbar mit einer derartigen Erklärung sind aber auch die Fälle, in denen an der Stelle des blinden Fleckes monokular oder binokular eine helle Scheibe auf schwarzem Grunde oder eine bunt gefärbte auf gleich- oder andersfarbigem Grunde zu sehen ist. Es erscheint unverständlich, wie etwa im geschlossenen anderen Auge eine Empfindung der Helligkeit oder einer bestimmten Farbe entstehen kann, deren Qualität in einem offensichtlich ursächlichen Zusammenhange mit der Beschaffenheit des Farbenfeldes steht, auf welches das eine beobachtende Auge seinen Blick richtet. Diese Tatsachen nötigen also dazu, nach Vorgängen in der Sehsinnsubstanz zu suchen, welche sich vorwiegend in den ein und demselben Auge zugehörigen Teilen der Sehsinnsubstanz abspielen. Wie schon von früheren Autoren (Charpentier, Tschermak u. a.) angenommen worden ist, ist die Sichtbarkeit des blinden Fleckes als beliebig ge- färbte Scheibe auf Kontrastwirkung zurückzuführen. Von den Kontrast- erscheinungen ist es bekannt, dass sie auf Vorgängen beruhen, welche in den jedem Einzelauge entsprechenden Abschnitten des nervösen Sehapparates ablaufen, unabhängig von Vorgängen in den dem andern Auge korrespondierenden Teilen (vgl. u. a. Tschermak, S. 766). In der Tat lässt sich eine grosse Zahl der beobachteten Erscheinungen am blinden Fleck als auf monokularer Kontrastwirkung beruhend in 650 A. Brückner: befriedigender Weise erklären. Wir bedürfen keiner Zuhilfenahme von psychophysischen Vorgängen, welche in den dem zweiten Auge entsprechenden Abschnitten der Sehsinnsubstanz entstehen. Ins- besondere ist auch keine Heranziehung binokularer Kontrastwirkung, wenigstens soweit der Kreis meiner Beobachtungen reicht, erforderlich. Aus Gründen wissenschaftlicher Ökonomie ist es darum gerechtfertigt, auch diejenigen Erscheinungen, welche durch eine Mitwirkung von Eindrücken des zweiten Auges erklärt werden könnten (dunkle Scheibe auf hellem Grunde), nicht in diesem Sinne zu deuten, wenn sie sich der anderen, sonst sich als gültig erweisenden Er- klärungsmöglichkeit zwanglos einfügen — und das tun sie. Auf homogenem weissen oder schwarzen Felde er- scheint der blinde Fleck als dunkler oder unter Ein- haltung bestimmter Bedingungen als heller Fleck lediglieh infolge von Kontrast. Wenn wir ihn bei Ver- wendung buntgefärbten gleiehförmigen Grundes in der Gegenfarbe wahrnehmen, so ist das ebenfalls zwanglos als Kontrasterscheinung zu deuten. Wenn der blinde Fleck im negativen Nachbilde sich in eine helle Scheibe auf dunklem Grunde verwandelt, nachdem er im Vorbilde sich dunkel auf hellem Grunde gezeigt hatte, so entspricht das prinzipiell dem Nachbildverlauf, der auch sonst bei Objekten zu beobachten ist, deren scheinbare Helliekeit durch Kontrastwirkung im Vorbilde beeinflusst war (vgl. Hering, Zur Lehre vom: Lichtsinn, S. 241). Bekanntlich macht sich die Kontrastwirkung besonders deutlich an der Grenze zwischen kontrasterregendem und kontrastleidendem Felde bemerkbar. Das lässt sich auch am blinden Flecke beobachten. Es sei an die mehrfach erwähnte Tatsache erinnert, dass sehr häufig das Zentrum der dunklen Scheibe wesentlich heller erscheint als ihr Rand bzw. umgekehrt (siehe Fig. 3 und 4). Als Erklärung für dieses Verhalten dürfte zweifellos das Vorhandensein eines besonders deut- lichen Randkontrastes in den peripheren Teilen des blinden Fleckes anzunehmen sein. Diese Erscheinung ist durchaus in Parallele zu der Tatsache zu setzen, dass bei Betrachtung einer dunklen Fläche durch ein kreisrundes Loch in einem weissen Papier, das Zentrum der so entstandenen schwarzen Scheibe heller erscheint als ihre tief- dunklen Randpartien. In diesem Falle findet nun auch eine Rück- wirkung von der dunklen Scheibe auf das Aussehen der unmittelbar angrenzenden Teile des umschliessenden hellen Feldes statt. Der Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 051 umschliessende Rand erscheint bekanntlich besonders hell, ebenfalls als eine Folge des simultanen Randkontrastes. Genau der gleiche helle Saum lässt sich auch am Rande des blinden Fleckes beobachten, wenn dieser als dunkle Scheibe auf hellem Grunde erscheint. Wie oben ausgeführt, entspricht dieser helle Saum bereits sehenden Netzhautpartien. Er ist zweifellos eine Randkontrasterscheinung, verursacht durch das Dunkel des blinden Fleckes, welches seinerseits erst, wie soeben erwähnt, einer Kontrastwirkung seine Entstehung verdankt. Wir haben hier ein schönes Beispiel für die Wechselwirkung der Netzhautstellen im Hering’schen Sinne, wobei eben unter Netzhaut, wie das Hering immer wieder betont hat, picht die anatomische Retina alleın zu verstehen ist; denn es ist ja der blinde Fleck im peripheren Neuron überhaupt nicht vertreten. Auf Grund der Sichtbarkeit des blinden Fleckes hatte ja schon Tsehermak den Ort der Kontrastwirkung in zentralere Abschnitte der Sehsinnsubstanz verlegt. Den hellen Lichtsaum in anderer Weise, etwa als Reflexions- phänomen, zu erklären, erscheint mir durchaus gezwungen !). Eine besondere Empfindlichkeit der. an den Sehnervenkopf unmittelbar an- grenzenden Netzhautpartien gegen äussere Liehtreize anzunehmen und hierdurch den hellen Saum zu erklären, erscheint mir ebenfalls durch keine sonstige Beobachtung gerechtfertist. Denn wenn wir den blinden Fleck bei Betrachtung einer homogenen Fläche nicht sehen können, was ja meist der Fall ist, so ist von einer besonderen Helligkeit der durch die genannten Netzhautteile vermittelten Emp- findung nichts wahrzunehmen. An der gegebenen Erklärung, dass es sich bei dem hellen Saume und den mit ihm in Zusammenhang stehenden Erscheinungen um Randkontrastwirkungen handle, dürfte daher kaum zu zweifeln sein. Für die Sichtbarkeit des blinden Fleckes als Scheibe auf homo- genem Grunde ist ein gewisser Grad von Dunkeladaptation, wenn auch nur als momentane Dunkeladaptation, wie sie ein kurzdauernder Schluss der Augen gewährt, ein sehr wesentlich begünstigendes, 1) Soweit ich die italienisch geschriebene Arbeit von Ovio (Osservazioni sulla regione cieca di Mariotte. Annali di Ottalmolgia Anno 36 p. 1) verstehe, spricht er von Reflexionserscheinungen in der Umgebung des blinden Fleckes. Dass er dabei an etwas Ähnliches wie den von mir beobachteten hellen Randsaum denkt, erscheint mir wenig wahrscheinlich, da ich eine genauere Beschreibung derartiger Erscheinungen im Gebiet des blinden Fleckes bei ihm vermisse. 652 A. Brückner: wenn nicht unbedingt erforderliches Moment. Es fragt sich nun, in welcher Weise wir uns diesen begünstigenden Einfluss zu denken haben. Über die Bedeutung des Adaptationszustandes, speziell der Dunkeladaptation, auf die Kontrasterscheinungen liegen Unter- suchungen überhaupt noch nicht vor (Tschermak, 8.752). Wenn man der erösseren scheinbaren Helligkeit, welche dem Eindrucke des Dunkelauges zukommen kann, einen maassgebenden Einfluss beilegen wollte, so widerspricht dem die Tatsache, dass der blinde Fleck bei Dunkeladaptation nur dann gut sichtbar wird, wenn die umgebende Fläche gar nicht besonders hell erscheint. Dass blendende Helligkeit sogar direkt ungünstig für die Wahrnehmung des blinden Fleckes ist, geht daraus hervor, dass er am hellen Himmel so gut wie nie als dunkle Scheibe zu sehen ist. Es müssen also irgendwelche mit den Dunkeladaptationsvorgängen im Zusammen- hang stehende Prozesse in der Sehsinnsubstanz begünstigend einwirken. Spekulationen in dieser Richtung anzustellen, erscheint aber zwecklos!). Bisher ist nur von den Beobachtungstatsachen die Rede gewesen, in denen der blinde Fleck gegenfarbig zum umgebenden Grunde er- scheint. Es kommt nun aber häufig, insbesondere bei Verwendung bunter farbiger Flächen, vor, dass das Gebiet des blinden Fleckes gleichfarbig mit dem Grunde ist. Er hebt sich hier nur durch einen hellen Hof ab. Dieser umgibt eine Scheibe, welche dieselbe Farbe besitzt wie der übrige Grund, nur in dunklerer Nuance. Man wird kaum fehlgehen, wenn man annimmt, dass der helle Hof auch hier als Randkontrasterscheinung ausgelöst vom blinden Flecke her zu deuten ist. Diese Auffassung dürfte um so gerecht- fertigter sein, als in allen diesen Fällen die Scheibe selbst dunkler, mitunter schwärzlich im Vergleich zu der Farbe des übrigen Grundes erscheint. Man muss also auch hier das Vorhandensein eines Schwarz- Weiss- (Helligkeits-)Kontrastes annehmen, der es überhaupt erst er- möglieht, dass der blinde Fleck sich von der Umgebung abhebt. Dagegen kann die bunte Farbenkomponente an der zentralen Scheibe, da sie mit der Farbe des Grundes übereinstimmt, nicht ebenfalls durch Koutrast erklärt werden. Auch als Nachbiidphase ist sie nicht 1) Dass Adaptationsvorgänge sich nicht lediglich im peripheren Organe ab- zuspielen brauchen, scheinen ja auch andere Untersuchungen darzutun (vgl. Behr, Der Reflexcharakter der Adaptationsvorgänge, insbesondere der Dunkel- adaptation usw. v. Gräfe’s Arch. Bd. 75 S. 21. Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 653 wohl deutbar, obwohl man daran denken könnte. Diese gleichsinnige Färbung kam ja vorwiegend, wie oben S. 641 beschrieben ist, gerade bei denjenigen Versuchen zur Beobachtung, wo zuerst eine Belichtung mit einer anderen, speziell auch mit der Gegenfarbe der an zweiter Stelle einwirkenden farbigen Fläche stattfand. Wäre die Erscheinung nur bei Gegenfarben beobachtet worden, so liesse sie sich allenfalls als Nachwirkung der primär belichtenden Strahlung erklären. Wenn nämlich z. B. nach Betrachtung einer roten Fläche eine grüne zur Abbildung kam, so hätte zunächst infolge Kontrastes primär der blinde Fleck grün erscheinen müssen (in der Tat liess sich das ja auch momentweise beobachten). Man könnte nun annehmen, dass nach Beginn der Einwirkung der grünen Strahlung noch eine Nach- dauer der primären Erregung am blinden Flecke bestände, und dass aus diesem Grunde die Gleichfarbiekeit des blinden Fleckes mit der Umgebung zustande käme. Zu dieser Färbung würde dann noch die durch den Helliekeitskontrast hervorgerufene Schwarz-Weiss- Komponente sich hinzuaddieren. Es liessen sich also bei Gegenfarben die beobachteten Erscheinungen allenfalls als Nachbilderscheinungen erklären. Da nun aber nicht nur bei sukzessiver Einwirkung von Gegenfarben die Gleichfarbigkeit der Scheibe mit dem umgebenden, an zweiter Stelle einwirkenden farbigen Grunde zu beobachten war, sondern auch bei jedem beliebigen anderen Farbenpaar, so muss in diesem Falle die eben skizzierte Deutung versagen. Wir dürfen sie daher wohl als überhaupt nicht richtig beiseite lassen. Gegen diese Deutung sprieht auch der Umstand, dass bei etwas längerer Betrachtung der farbigen Fläche, wie sie zur Er- zeusung von Nachbildern erforderlich ist, der blinde Fleck auf dem primär angesehenen farbigen Felde sich sehr bald gar nicht mehr abhebt: er verschwindet ja stets nach gauz kurzer Zeit, und das Feld erscheint dann vollkommen homogen. Wir müssen deshalb, wie sogleich des näheren noch ausgeführt werden soll, vielleicht annehmen, dass dann durchgehends ein gleicher Erregungszustand vorhanden ist. Diese Übereinstimmung zwischen der Erregung in den dem blinden Flecke und seiner Nachbarschaft entsprechenden Abschnitten der Sehsinnsubstanz bleibt nun auch bestehen, wenn sukzessive nach Aufhören der primär einwirkenden Strahlung eine beliebige andere appliziert wird. Das gilt jedoch nur für die Erregungsprozesse, welche den farbigen (bunten) Komponenten unserer Farbenempfindungen parallel gehen. 654 A. Brückner: Diese Erklärung dürfte um so mehr für sich haben, als sie in Übereinstimmung stände mit anderen Tatsachen, welche uns die unmittelbare Erfahrung lehrt: In der Regel erscheint ja eine homogen zefärbte Fläche auch an der Stelle des blinden Fleckes vollkommen gleicehmässig wie seine Umgebung gefärbt. Ältere Autoren führten dieses Verhalten auf einen Vorstellungsakt zurück, welcher die Lücke im Sehfelde in der am plausibelsten erscheinenden Weise ausfüllte. Heute sind wir weniger geneigt, eine solche Tätigkeit unserer Phantasie anzunehmen. Gänzlich unverständlich muss aber eine solehe Annahme werden, wenn es überhaupt gelingt, unter be- stimmten Bedingungen den blinden Fleck deutlich zu sehen, während er dann nach längerer oder kürzerer Zeit wieder vollkommen ver- schwindet. Nach der psyehologischen Theorie ist es unerklärt, warum nun auf einmal die Phantasie eingreifen und den blinden Fleck wegwischen sollte. Die Art des Verschwindens des blinden Fleckes ist durchaus ähnlich den Erscheinungen, wie wir sie bei längerer Fixation von beliebig gefärbten Flächen beobachten können, die stellenweise Ungleichartigkeiten (etwas dunklere oder hellere Flecken oder dergleichen) zeigen. Bekanntlich verschwinden diese Unregelmässig- keiten bald bei längerer, streng festgehaltener Fixation, und es erscheint die ganze Fläche vollkommen homogen gefärbt. Man .be- zeichnet dies bekanntlich als lokale Adaptation (sukzessive Licht- induktion; Hering). Wir dürfen wohl annehmen, dass zum mindesten ein der lokalen Adaptation sehr ähnlicher, wenn nicht identischer Vorgang beim Verschwinden des blinden Fleckes auf homogener Fläche im Spiele ist. Dass die dunkle oder sonstwie gefärbte Scheibe an der Stelle des blinden Fleckes schneller verschwindet als sonst die Ungleichartigkeiten auf der homogenen Fläche im vorher er- wähnten Beispiel, dürfte sich zwanglos aus der exzentrischen Lage der in Betracht kommenden Netzhautteile und wohl auch aus dem Umstande erklären, dass die Erregung der dem blinden Flecke ent- sprechenden zentralen Teile der Sehsinnsubstanz lediglich induziert ist, nieht aber ausserdem noch direkt vom peripheren Organe aus- gelöst wird. Man könnte auch annehmen, dass diese Teile eine be- sonders schnelle Erschöpfbarkeit bezw. Ermüdbarkeit besässen, was ja zum Begriff der Lokaladaptation gehören würde. Doch sind das Hypothesen, deren weiterer Ausbau zwecklos sein dürfte. Gleich- wohl aber können wir wohl als feststehend annehmen, dass die für Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 655 gewöhnlich bestehende Unsichtbarkeit des blinden Fleckes auf homogener Fläche auf einem Vorgange beruht, der mit der Lokaladaptation zum mindesten eng verwandt ist?). Immerhin gibt es noch eine andere KRklamınesmoglichkeic die von früheren Autoren (Plauteau, Joh. Müller u.a, zit. bei Tsehermak) für die Unsichtbarkeit des vlinden Fleckes heran- gezogen worden ist, nämlich die Annahme einer physiologischen Irradiation der Erregung; wenn auch eine derartige Annahme später von Volkmann und anderen, neuerdings erst wieder von Tsehermak, für das Sehorgan zurückgewiesen worden ist, so scheinen einige meiner Versuche doch für eine derartige Auffassung zu sprechen, Bei den Grenzlinienversuchen, in denen der blinde Fleck etwa zur Hälfte auf das zentrale, zur Hälfte auf das temporal gelegene farbige Feld sieh projizierte, ebenso bei den Versuchen mit lang- samer Wanderung der Grenzlinie über das Gebiet des blinden Fleckes hin ergab sich eine Ausfüllung des letzteren vorwiegend mit der Farbe des zentral abgebildeten Feldes (siehe Fig. 1-3). Wenn diese Tatsache nur zu konstatieren gewesen wäre bei Kombination von Gegenfarben, so liesse sie sich allenfalls als Kontrasterscheinung deuten. Doch ist sie ja in genau gleicher Weise zu beobachten, wenn beliebige andere Kombinationen von Farbenpaaren gewählt werden. Mit einer psychologischen Erklärung, welche nach der „inneren Wahrscheinlichkeit“ das Feld ausgefüllt werden lässt, ist ein derartiges Verhalten (insbesondere z. B. ein in Fig. 5 abgebildetes) natürlich vollkommen unvereinbar. Am wahrscheinlichsten scheint mir hier doch die Annahme, dass eine physiologische Irradiation der Erregung stattfindet. Hierdurch würden sich die beobachteten Er- scheinungen am zwanglosesten erklären. Eine Irradiation der Er- regung ist ja in anderen Gebieten, z. B. beim Hautsinne mit Sicherheit anzunehmen. Ob nun für die Unsichtbarkeit bzw. für das Verschwinden des blinden Fleckes auf homogenem Grunde nach kurzdauernder Sichtbarkeit ebenfalls eine physiologische Irra- diation das maassgebende ist, oder ob die oben erwähnte Er- klärung im Sinne einer Lokaladaptation die richtige ist, mag dahin- gestellt bleiben. Jedenfalls haben wir für die am blinden 1) Angedeutet glaube ich eine solche Erklärung auch bei Tschermak, S. 777 Anm. 1, zu finden. 656 A. Brückner: Fleck auf homogener Fläche auftretenden Erscheinungen zwei antagonistische Momente anzunehmen: ein die Sichtbarkeit förderndes — den Helligkeits- und Farbenkontrast, und ein sie hemmendes — die Lokal- adaptation, eventuell die Irradiation der Erregung der angrenzenden Netzhautteile Das zweite Moment überwiegt für gewöhnlich bei weitem. Aus diesem Grunde ist auch der blinde Fleck für gewöhnlich un- sichtbar. Zum Schluss wären noch einige Bemerkungen über manche Einzelerscheinungen zu machen. Dass der dem Fixierpunkt zu- gewendete Abschnitt der am blinden Flecke erscheinenden Scheibe. meist wesentlich deutlicher, schärfer begrenzt ist als der periphere, ist wohl zweifellos auf die bessere Sehschärfe der unmittelbar an- erenzenden zentraleren Netzhautteile zurückzuführen. Die räumlichen Verhältnisse in der Umgebung des blinden Fleckes sind vielfach untersucht worden. Während manche Be- obachter eine Verzerrung gerader Linien hier gesehen haben wollen, ist seitens anderer Untersucher festgestellt, dass das räumliche Sehen in keiner Weise gestört ist. Gänzlich unbeachtet geblieben sind aber bisher noch die Erscheinungen, wie sie sich bei binokularer Beobachtung hinsichtlich des stereoskopischen Effektes ergeben, wenn in einem Auge das Halbbild zum Teil auf den blinden Fleck fällt. Derartige Untersuchungen dürften manche interessanten Ergebnisse insbesondere auch für Fragen des Binokularsehens liefern. In dieser Hinsicht verdienen wohl auch die Beobachtungen ein besonderes Interesse, bei denen beide blinden Flecke gleichzeitig sichtbar werden. Vor allem ist hier die Tatsache hervorzuheben, dass bei binokularer Betrachtung des Himmels zwei den beiden blinden Flecken entsprechende dunklere Stellen gesehen werden können. Von diesen ist jeder dunkle Fleck heller als bei monokularer Beobachtung. Es muss also hier eine binokulare Verschmelzung stattfinden zwischen der durch (monokularen) Kontrast ausgelösten Dunkelempfindung des einen Auges und der Helligkeitsempfindung, welehe die korre- spondierende Stelle des anderen Auges vermittelt. Es kombinieren -sich hier also zwei Erregungen, von denen die eine lediglich induziert (sozusagen durch innere Reize bedingt), die andere durch einen äusseren Reiz ausgelöst wird. Es führen diese Beobachtungen auf allgemeine Fragen über die Art der binokularen Verschmelzung Über die Sichtbarkeit des blinden Fleckes. 657 und der Verwertung der von jedem Einzelauge gelieferten Er- regungen. Zusammenfassung. Bei Betrachtung einer homogen gefärbten Fläche kann der blinde Fleck als Scheibe sichtbar werden. Die Färbung dieser Scheibe ist verschieden; sie ist abhängig von der Qualität des um- gebenden Feldes. Die Sichtbarkeit dieser Scheibe ist stets nur sehr kurzdauernd, insbesondere dann, wenn sie in einer bunten Farbe erscheint. An der Stelle des blinden Fleckes lassen sich Nachbilderscheinungen beobachten, die durchaus den Nachbilderscheinungen parallel gehen, wie sie an Stellen „sehender“ Netzhaut auftreten. Ein sehr wesentlicher Faktor für die Sichtbarkeit des blinden Fleckes ist ein gewisser Grad von Dunkeladaptation. Die Möglichkeit, den blinden Fleck wahrzunehmen, beruht auf Kontrastwirkung. Am Rande des blinden Fleckes können Erschei- nungen sichtbar werden, die als Randkontrast zu deuten sind. Die für gewöhnlich vorhandene Unsichtbarkeit des blinden Fleckes auf homogener Fläche beruht auf einem Vorgange, welcher der sogenannten Lokaladaptation zum mindesten nahe verwandt ist. Vielleicht ist hier aber auch eine physiologische Irradiation der Erregung im Spiele. Diese ist wahrscheinlich maassgebend in den- jenigen Fällen, in welchen der blinde Fleck auf eine Grenzlinie zwischen zwei unmittelbar benachbarte verschieden gefärbte Flächen fällt. Hier besitzt das zentral (foveal) abgebildete Feld einen aus- schlaggebenden Einfluss auf die Art der Ausfüllung des Gebietes des blinden Fleckes. Die Tatsache, dass unter bestimmten Bedingungen beide blinden Flecke gleichzeitig sichtbar sein können, widerlegt die Auffassung, dass die Sichtbarkeit des blinden Fleckes bei monokularer Betrachtung durch die Dunkelempfindung des geschlossenen anderen Auges be- dingt werde. Pflüger’s Archiv für Physiol . Bd. 136. 42 658 A. Bielschowsky: Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. Von Dr. med. A. Bielschowsky, a. 0. Professor und erstem Assistenten an der Universitäts-Augenklinik zu Leipzig. I. Die Gültigkeit des von Ewald Hering!) aufgestellten Gesetzes von der gleichmässigen Innervation beider Augen ist an so zahl- reichen und verschiedenartigen Bewegungsstörungen erprobt worden, dass man sich in allen Fällen von einseitigen oder ungleichmässigen Augenbewegungen zunächst fragen muss, ob sie nicht durch das Zu- sammentreffen zweier verschiedenartiger, aber beide Augen gleich- mässig beeinflussender Innervationen entstanden sein können. So geläufig jetzt auch den Ophthalmologen jenes Gesetz ist, es werden noch immer manche isolierte Augenbewegungen irrtümlich als un- sewöhnliche, dem Assoziationsgesetze widersprechende Phänomene beschrieben, trotzdenı sich die Merkmale, aus denen die bilaterale Innervation als Grundlage der einseitigen Bewegung ersichtlich ist, vielfach unschwer nachweisen lassen. Wer seine Konvergenz- muskeln auch ohne Benutzung entsprechend gelegener Fixations- objekte nach Belieben an- und entspannen kann, bringt es nach einiger Übung auch fertie, willkürlich entweder das rechte oder das linke Auge aus der Mittelstellung isoliert nach innen und wieder zurück wandern zu lassen. Er braucht nur, während er ein gerade nach vorn und nicht zu nahe gelegenes Objekt fixiert, zur Konvergenz zu innervieren und beim Auftreten der gleichseitigen Doppelbilder sein Fixationsbestreben auf das eine Bild, z. B. das linke, zu kon- zentrieren: dann bleibt trotz der allmählich verstärkten Konvergenz- innervation das linke Auge unverrückt (auf das Fixationsobjekt ein- l) Hering, Die Lehre vom binokularen Sehen. W. Engelmann, Leipzig 1868. Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 659 gestellt), und nur das rechte wandert nach innen. Wird die Kon- verzenzinnervation bei unverändertem Blickpunkt wieder aufgegeben, so erfolgt die rückläufige Bewegung des rechten Auges wiederum streng isoliert. Was der Geübte ohne weitere Hilfsmittel ausführt, dazu bedarf auch der Ungeübte nur der Unterstützung eines vor das eiie Auge gesetzten Prismas. Bewirkt dieses eine Verschiebung der betreffenden Netzhautbilder im Sinne einer ungleichseitigen Disparation, so vermittelt der Fusionszwang die korrigierende Kon- vergenzinnervation, mit der sich bei unverändertem Fixationsbestreben die zur Erhaltung der Blickrichtung erforderliche Seitenwendungs- innervation verbindet. Beide Innervationen treiben das mit dem Prisma bewaffnete Auge zur Adduktion; das andere Auge bleibt unverrückt, weil auf dieses die beiden Innervationen zwar in gleicher Stärke, aber in antagonistischem Sinne einwirken. Das Vorkommen einseitiger Augenbewegungen ist also keines- wegs an Motilitäts- oder Stellungsanomalien der Augen gebunden. Und die bei letzteren zu beobachtenden einseitigen Bewesungen unterscheiden sich zumeist nur im Ausmaass und in der Richtung der Bewegung von denjenigen, die auch unter normalen Verhältnissen ausführbar sind. Wenn also jemand ein Auge nach Belieben nach aussen oder nach oben bewegen kann, so ist damit noch nicht gesagt, dass die Bewegung durch eine isolierte Innervation des betreffenden Auges veranlasst ist. Voraussetzung für das Zustandekommen einer derartigen ungewöhnlichen Bewegung ist allerdings eine entsprechende Anomalie der sogenannten anatomischen Ruhelage. Ist die Ruhelage normal, d. h. die Stellung der Gesichtslinien bei Ausschaltung der nervösen Einflüsse parallel, so kann sie auch der Geübte nicht ohne weiteres in Lateral- oder Vertikaldivergenz überführen, weil die dazu erforderlichen Innervationen der Willkür nicht unterstellt sind. Ist aber die Ruhelage beispielsweise eine Divergenz, so bewirkt die völlige Entspannung der Konvergenzinnervation, dass ein Auge — während das andere weiter fixiert — nicht bloss aus der vorher erzeugten Adduktions- in Mittelstellung geht, sondern über diese hinaus abduziert wird. Ob der divergent Schielende die zu paralleler eder konvergenter Einstellung der Gesichtslinien erforderliche Inner- vation bewusst oder unbewusst aufbringt, ist für das Zustandekommen der eventuell zu beobachtenden einseitigen Bewegung ganz belanglos. Ohne besondere Einübung werden ja in der Regel Augenbewegungen überhaupt nur durch entsprechende Gesichtseindrücke (Fixations- 42 * 660 A. Bielschowsky: und Fusionstendenz) ausgeführt. Manche Patienten berichten aber ausdrücklich, dass: sie es vor dem Spiegel gelernt hätten, das schielende Auge zur binokularen Einstellung heranzuholen: gerade so, wie die Kinder voneinander das Konvergieren ohne Fixations- objekt erlernen. Das muss hervorgehoben werden, denn zum „Heran- holen“ des schielenden Auges ist das „Streben nach binokularem Einfachsehen“ keine unerlässliche Vorbedingung. Auch ein hoch- gradig amblyopisches Auge wird mitunter aus der Divergenzstellung isoliert mehr oder minder weit nach innen bewegt, ohne dass es zu binokularem Sehen kommt. Dass der divergent Schielende, wenn er das Schielauge geradeaus — dem andern parallel — stellen will, einen binokularen Impuls zur Einstellung für die Nähe erteilt, ist leicht erkennbar an der mit der einseitigen Bewegung verknüpften bilateral-eleichmässigen Refraktionserhöhung und Pupillenverengerung. Es ist mir daher nicht verständlich, warum Peters!) angesichts dieses Verhaltens, das er in mehreren Fällen von einseitigen Be- wegungen des (periodisch) divergierenden Auges vermerkt, an eine Ausnahme von dem Gesetz der gleichmässigen Innervation beider Augen denkt „in dem Sinne, dass der Akkommodationsimpuls nur einem Internus zufliesst, der dadurch zu erhöhter Arbeit veranlasst wird und dasselbe leistet, wie für gewöhnlich beide Interni zusammen“. Dass der (bilaterale) Akkommodationsaufwand unzweckmässig, d. h. stärker ist, als es die Entfernung des Fixationsobjektes verlangt, beruht auf demselben Mechanismus, der in den Fällen von sogenannter relativer Hyperopie das periodische Einwärtsschielen bewirkt. Wenn ein um 20° nach aussen abgelenktes Auge dem andern parallel ge- stellt werden soll, muss ein Konvergenzimpuls von etwa derselben Stärke aufgebracht werden wie von Nichtschielenden, wenn sie ein Objekt in 15 em Entfernung fixieren. Dazu gehört eine in beiden Fällen ungefähr gleiche Erhöhung der Refraktion um 5!/s Dioptrien. Aber nicht immer ist nach willkürlicher Überwindung der Divergenz die zu erwartende Refraktionszunahme nachweisbar, wie ja auch viele Hyperopen nicht einwärts schielen trotz der relativ zu starken Akkommodation. Bekanntlich ist die physiologische Verknüpfung zwischen Akkommodation und Konvergenz einer (individuell verschieden) weitgehenden Lockerung fähig, sobald 1) Peters, Über das willkürliche Schielen des einen bei Primärstellung des anderen Auges. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. Bd. 45 N. F. Bd. 4. S. 46. 1907. ° Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 661 diese im Interesse gleichzeitigen deutlichen und binokularen Einfach- sehens liest. Ich kann z. B., während ich eine Konvergenz von 7—8 Meterwinkel einhalte, die im ersten Moment eintretende Akkommodationserhöhung (um 7—8 Dioptrien) sehr rasch wieder fast vollständig aufgeben, wenn ich (mit Hilfe einer haploskopischen Versuchsanordnung) das Fusionsbestreben mit dem Streben nach deutlichem Sehen konkurrieren lasse. In ganz analoger Weise konnte der von Lechner!) beschriebene Patient seine Divergenz von 30 ° durch einseitige Adduktionsbewegung ausgleichen, ohne dass eine Zunahme der Refraktion eintrat. Dass trotzdem die einseitige Be- wesgung das Produkt einer bilateralen Innervation war, ging aus der binokularen Pupillenverengerung und der charakteristischen Schein- bewegung des Fixationsobjektes während der einseitigen Bewegung des Schielauges hervor. Auch in dem von Gould?) berichteten Falle, der jedes Auge isoliert abdu- zieren und eine Divergenz von 90° aufbringen konnte, dürfte die einseitige Be- wegung in der oben erörterten Weise — durch Ent- und Anspannung der Konvergenz-Innervation — zu erklären sein. Vermutlich hat der Patient früher an einer ein- oder doppelseitigen Oculomotoriuslähmung gelitten, die — wie so oft — mit Hinteriassung einer hochgradigen, aber zeitweilig latent zu haltenden Divergenz ausgeheilt war. Für diese Annahme spricht die im Referat über Gould’s Fall enthaltene Angabe, dass die Vertikalbewegungen beschränkt ge- wesen seien. Erheblich seltener als die lateralen kommen vertikale Be- wegungen des Einzelauges znr Beobachtung. Ein Beispiel dafür, dass auch die letztgenannten durch entsprechenden Wechsel der Inner- vation des Doppelauges entstehen können, sei kurz referiert?). Ein 23jähriger Herr mit gutem Visus beider Augen und ganz normalem Binokularsehen kann auf Kommando sein linkes Auge beträchtlich nach oben und wieder in die binokulare Einstellung zurück wandern lassen. Man hat zu- nächst den Eindruck, als wenn er die Vertikalmotoren des linken Auges ganz unabhängig von denen des rechten Auges innervieren könne. Und doch ist das nicht der Fall, wie die nachstehenden Beobachtungen ergaben. 1) Leehner, Über abnorme willkürliche Augenbewegungen. v. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. Bd. 4 H.3 S. 597. 2) Gould (Sect. on Ophthalmology, Coll. of physic. of Philadelphia April 1907) Ref. Ophth. Record 1907 p. 40. 3) Weinhold, Ein bemerkenswerter Fall von willkürlicher Dissoziierung der Augenbewegungen. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. Bd. 41 S. 103. 1903. — A. Bielschowsky, Über die Genese einseitiger Vertikalbewegungen der Augen. Zeitschr. f. Augenheilk. Bd. 12 S. 545. 1904. 662 A. Bielschowsky: 1. Wurde ein Auge vom Sehakt ausgeschlossen, so ging es langsam — das linke nach oben bezw. das rechte nach unten — in Schielstellung (12°), ohne dass der Patient es zu hindern vermochte. 2. Rückte der Blickpunkt in die rechte Peripherie des Blickfeldes, so war die zunächst binokulare Fixation nicht mehr einzuhalten: das linke Auge ging um 20° nach oben. 3. Rückte dagegen der Blickpunkt in die linke Blickfeldperipherie, so war der Patient trotz aller Bemühungen nicht imstande, sein linkes Auge zum Aufwärtsschielen zu bringen. Erst wenn durch einseitiges Vorsetzen eines dunkel- farbigen Glases der Fusionszwang ausgeschaltet war, trat eine vertikale Diplopie von 21/2® zutage. 4. Neigte der Patient seinen Kopf seitwärts gegen die linke Schulter, so wich das linke Auge, ohne dass er es zu hindern vermochte, um 20° nach oben ab; bei Neigung nach der rechten Schulter konnte er dagegen, auch wenn er wollte, das Schielen nıcht eintreten lassen. Hieraus ging hervor, dass die isolierte Vertikalbewegung des linken Auges ganz ebenso aufzufassen war wie die zuvor erörterte einseitige Lateralbewegung. Ihr Zustandekommen beruhte: 1. auf dem Bestehen einer Gleichgewichtsstörung der Augen; 2. auf einem gut entwickelten Fusionszwange und 3. auf der Fähigkeit, willkürlich ohne Aufgabe der Fixation die Aufmerksamkeit abschweifen zu lassen und damit den Einfluss des Fusionszwanges aufzuheben. In dem zuletzt referierten Falle lag die Gleichgewichtsstörnng eine — wohl angeborene — Schwäche des linken Trochlearis zu- erunde. Dies erklärt die Zunahme der Vertikaldivergenz in der rechter, die Abnahme in der linken Gesichtsfeldhälfte sowie den Einfluss der Seitwärtsneigung des Kopfes. Der Fusionszwang hielt die Stellungsanomalie latent und ermöglichte Binokularsehen, wenn an den insuffizienten Muskel keine zu hohen Anforderungen gestellt wurden, wie bei starker Rechtsstellung der Gesichtslinien oder bei Linksneigung des Kopfes. Bei Ausschaitung des Fusionszwanges wurde die Anomalie manifest, und der Patient verlor jegliche Macht über die Stellung des schielenden (linken) Auges. Ein Verhalten, wie es auch Lechner (]. ec.) bei seinem Fall von Divergenzschielen mit willkürlieher Lateralbewegung des Schielauges beschreibt. Die isolierte Vertikalbewegung des linken Auges unterstand also dem Willen nur mittelbar: je nachdem der Patient seine Aufmerksamkeit auf das Fixationsobjekt konzentrierte oder abschweifen liess, wurde. die zur binokularen Einstellung der Augen führende (bilaterale) Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 663 Innervation der Vertikalmotoren aufgebracht oder aufgegeben. Man kann sich den Hergang leicht veranschaulichen, wenn man sich mit Hilfe von Prismen oder einer haploskopischen Versuchsanordnung künstlich eine Vertikaldivergenz erzeugt. Nähert man sich dem erreichbaren Grenzwert, so zerfällt das binokulare Verschmelzungs- bild sofort in Doppelbilder, wenn die Aufmerksamkeit auch nur einen Augenblick vom fixierten Objekt abschweitt. Ist die einseitige Vertikalbewegung als Fusionsbewegung ge- kennzeichnet, so ist damit auch ihr Ursprung aus der entsprechenden Innervation des Doppelauges erwiesen, wie dies von F. B. Hof- mann und mir !) ausgeführt worden ist. Nicht aile Patienten, die durch latente Gleichgewichtsstörungen zu einseitigen Augenbewegungen ge- wissermaassen disponiert sind, können diese ohne weiteres ausführen. Sie müssen sie erst erlernen, ebenso wie bei normalem Gleichgewicht einseitige Adduktionsbewegungen nur nach besonderer Einübung ge- lingen. Die Mehrzahl der Patienten mit latentem Auswärts- oder Höhenschielen kann wohl das durch vorübergehendes Verdecken zur Ablenkung gebrachte Auge mittels einseitiger Bewegung in die (binokulare) Fixationsstellung zurückführen, nicht aber es spontan, d. h. ohne Ausschaltung des Fusionszwanges, in die Schielstellung gehen lassen. Schuld daran ist der Umstand, dass die vom Fusions- zwang eingeleiteten Ausgleichsinnervationen, je länger sie bestehen bleiben, um so schwerer aufgegeben werden können. Sie werden als tonische Innervationen während aller willkürlichen Augen- bewegungen beibehalten (Hofmann und Bielschowsky, |. e.). Herr Kollege S. hat eine kongenitale Parese des rechten M. rectus superior bei gutem Sehvermögen beider Augen. Er sieht für gewöhnlich mühelos binokular einfach, und nur wenn er müde wird, entsteht vertikale Diplopie. Trotzdem sich bei ihm nach Aufhebung des Fusionszwanges allmählich eine Vertikal- divergenz von fast 20° einstellt, fällt es ihm — im Gegensatz zu dem oben referierten Falle — ausserordentlich schwer, die Abweichung willkürlich hervor- zurufen. Nur nach längerem Bemühen gelingt es ihm, ohne die Fixation auf- zugeben, einen kleinen Bruchteil der Stellungsanomalie (2 bis 3°) manifest werden zu lassen. Ist sie aber durch Verdecken des einen Auges in toto hervorgerufen, so kann sie auch nach Freilassen des Auges nach Belieben eine Zeitlang bei- behalten werden oder aber auf Kommando auch durch einseitige Vertikal- bewegung des Schielauges sofort wieder korrigiert werden. Herr S. hat selbst bemerkt, dass er durch fortgesetzte Übungen mit der Zeit immer grössere Bruch- teile der Schielstellung auch bei beiderseits geöffneten Augen hervorbringen kann. 1) F.B. Hofmann und A. Bielschowsky, Uber die der Willkür ent- zogenen Fusionsbewegungen der Augen. Pflüger’s Arch. f. Physiol. Bd. 80. 1900. 664 A. Bielschowsky: Bei Bestimmung der Fusionsbreite — sowohl der vertikalen als auch der horizontalen — ergaben alle unsere Versuche, dass der erreichbare Grenzwert derselbe war bei bilateral-gleichmässiger wie bei ungleichmässiger oder einseitiger Verschiebung der haploskopisch vereinigten Sehobjekte. Wölfflin?!) verkennt das Wesen der Fusions- bewegungen, wenn er das „einseitige Fusionsvermögen*, das durch unokular vorgesetzte Prismen zu ermitteln sei, unterscheidet von der mittels binokular vorgesetzten Prismen zu bestimmenden Divergenzbreite. Die von ihm zwischen unokularen und binokularen Prüfungsergebnissen konstatierten Differenzen der Winkelgrössen, die als Fusionsbewegungen erhalten wurden, hätte er auch gefunden, wenn er bei einem und demselben Individuum eine Versuchs- reihe entweder nur mit unokular oder nur mit bino- kular vorgesetzten Prismen vorgenommen hätte. Während einer Versuchsreihe steigen schon bei normalem Muskelgleichgewicht die in den einzelnen Versuchen erreichten Grenzwerte, wie Hofmann und Bielscehowsky in der oben zitierten Arbeit gezeigt haben, allmählich an; erst nach einer grösseren Zahl unter völlig gleich- artiger Bedingung angestellter Versuche wird ein einigermaassen konstantes Maximum als Grenzwert der lateralen oder vertikalen Fusionsbreite erreicht. Dass die nämliche Bestimmung der Fusions- breite bei Störungen des Muskeleleichgewichts keinen so gleich- mässigen, sondern oft einen mehr sprunghaften Anstieg der Grenz- werte ergibt, darauf habe ich in einer späteren Arbeit hingewiesen?). Dies Verhalten ist so zu erklären, dass die in solchen Fällen tonisch gewordene „Ausgleichsinnervation“ bei Aufhebung des binokularen Sehaktes zuweilen nur sehr allmählich, förmlich widerstrebend, dann aber auch gelegentlich plötzlich und vollständig aufgegeben wird. Daher rühren auch die oft erheblich voneinander abweichenden Resultate der gewöhnlichen Gleichgewichtsprüfung bei einem und dem- selben Patienten: je nachdem die Ausgleichsinnervation mehr oder weniger vollständig erschlafft wird, findet man bald einen grösseren, bald einen viel kleineren Betrag der Ablenkung. 1) Wölfflin, Über die Bestimmung der negativen Konvergenzbreite. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. Bd. 45 (3) 8. 537. 1907. 2) Bielschowsky und Ludwig, Das Wesen und die Bedeutung latenter Gleichgewichtsstörungen der Augen. v. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. Bd. 62 (3) S. 400. 1906. Uber einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 665 II. Die zuvor besprochenen ungleichmässigen und einseitigen Augen- bewegungen bei latenten bzw. periodisch manifesten Gleichgewichts- störungen waren Produkte binokular-gleichmässiger Innervationen: sie liessen sich auf Ein- bzw. Ausschaltung des Fusionsbestrebens zurückführen. Es gibt jedoch einseitige oder ungleichmässige Augen- bewegungen, die nur mit einseitigen oder verschiedenartigen Inner- vationen der Einzelaugen zu erklären sind. Auch in diesen Fällen besteht latentes oder manifestes Schielen, aber von einem ganz anderen als dem gewöhnlichen konkomittierenden bzw. paretischen Typus. I. Ein 17 jähriges Mädchen kam wegen zeitweiligen Schielens und mangel- haften Sehens in die Klinik. Die Untersuchung ergab hochgradige Hyperopie ‘7 D.), nach deren Korrektion der vorher bestehende Strab. conv. vollständig verschwand und ganz exaktes Binokularsehen erreicht wurde. Die Augen hatten annähernd gleiche, gute Sehschärfe. Als zwecks Ermittlung etwaiger noch latent vorhandener Gleichgewichtsstörung das linke Auge verdeckt wurde, wich es um einen beträchtlichen Winkel (zugleich mit deutlichem einseitigem Höher- rücken des Oberlides) senkrecht nach oben ab. Blieb es eine Zeitlang vom Seh- akt ausgeschlossen, so verharrte es aber nicht ruhig in seiner Schielstellung, sondern machte langsame Vertikalbewegungen, die durch ungleichmässige Pausen unter- brochen waren. Inzwischen blieb das rechte Auge unverrückt auf das Fixationsobjekt eingestellt. Die einseitigen Vertikalbewegungen waren bald kleiner, bald grösser bis zu einem Umfange von etwa 20°; jedoch kam es anscheinend dabei nie zu einer Senkung unter die Horizontalebene. Nach Freigabe des linken Auges fanden die einseitigen Bewegungen mit der Einstellung der linken Gesichtslinie auf das Fixationsobjekt ihren Abschluss. Im Moment dieser Einstellbewegung des linken Auges war am rechten eine minimale Raddrehung (mit dem oberen Pol nach innen) zu bemerken. Wurde nunmehr das rechte Auge verdeckt, so ging dieses — nicht nach unten, wie beim konkomitierenden Vertikalschielen, sondern — ebenfalls nach oben. Die Ablenkung war aber etwas kleiner, als zuvor die des linken Auges, auch fehlten die eigentümlichen pendelnden Vertikalbewegungen, die zuvor am linken Auge hinter der Deckung zu beobachten gewesen waren. Wenn der zunächst das linke Auge deckende Schirm plötzlich von diesem weg vor das rechte Auge geschoben wurde, so erfolgte synchron mit der Einstellbewegung des linken eine an Umfang wesentlich kleinere Abwärtsbewegung des rechten Auges, an die sich unmittelbar eine Hebung des letzteren bis über die Horizontalebene anschloss. Der analoge Vorgang spielte sich ab, wenn der Versuch in umgekehrter Richtung angestellt wurde. Zu bemerken ist noch, dass die einseitigen vertikalen Pendelbewegungen des verdeckten linken Auges bei jeder willkürlichen Änderung der Blickrichtung eine Unterbrechung erfuhren, indem das linke Auge die (willkürliche) Bewegung 666 A. Bielschowsky: des rechten in ganz normaler Weise begleitete. Erst wenn dieses wieder eine Zeitlang stillstand, begannen die einseitigen Bewegungen des (verdeckten) linken Auges wieder. Der zuletzt referierte Fall gehört in eine Kategorie von ein- seitigen Augenbewegungen, die von den zuerst besprochenen funda- mental verschieden sind. Zwar handelt es sich wiederum um Störungen des Muskelgleichgewichts, aber die vertikale Komponente der Ab- lenkung variiert in einer Weise, wie es bei den gewöhnlichen Ver- tikalablenkungen niemals vorkommt. Wenn bei den letzteren das rechte Auge — spontan oder nach Aufhebung des Fusionszwanges — nach oben schielt, so schielt das linke — nach Übergang der Fixations- absicht auf das rechte Auge — nach unten. Der Übergang in die Schielstellung oder die Rückkehr aus dieser zur binokularen Ein- stellung kann einseitig erfolgen, wie wir oben besprochen haben, aber die einseitige Bewegung ist auf eine gleichmässige Innervation beider Augen zurückführbar. Auch im letzten Falle untersteht der okulomotorische Apparat dem Assoziationsgesetz: aber nur soweit der Wille oder Fusionszwang wirksam sind. Bei will- kürlieher Änderung der Blickriehtung nehmen beide Augen, wie ge- wöhnlich, gleichmässigen Anteil an der Bewegung; wo — wie in Fall I — überhaupt Binokularsehen möglich ist, wird die vorher erzeugte Schielstellung durch den Fusionszwang korrigiert und längere oder kürzere Zeit latent gehalten. Wenn aber der Fusionszwang fehlt bzw. ausgeschaltet und keine Änderung der Blickrichtung intendiert ist, bestehen einseitige Vertikalbewegungen, die unmöglich auf bilateral-gleichmässige Innervationen zurückgeführt werden können. Denn es ist bisher nie beobachtet worden und auch äusserst unwahrscheinlich, dass man es durch Einübung dazu bringt, eine sonst nur unter dem Einfluss des Fusionsbestrebens entstehende Innervation zu gegensinniger Vertikalbewegung auch ohne binokulare Netzhauterregung, also bei Ausschluss eines Auges vom Sehakt, nach Belieben ein- oder auszuschalten. Dass wir es im Fall I mit nicht- assozüerten bzw. einseitigen Innervationen der Augen zu tun haben, be- weist auch der nichtkonkomittierende Charakterder Vertikalablenkung. Der Typus des alternierenden Aufwärtsschielens kann, wie ich bereits a. a. O.!) ausgeführt habe, unmöglich damit erklärt 1) A. Bielschowsky, Über die Genese einseitiger Vertikalbewegungen der Augen. Zeitschr. f. Augenheilk. Bd. 12 S. 545. 1904. Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 667 werden, dass an beiden Augen ein Übergewicht der Heber über die Senker besteht, eine Annahme, die von Schweigger!), Stevens?), Duane°), Savage) u. a. geäussert worden ist: Ge- setzt den Fall, das Missverhältnis zwischen den antagonistischen Vertikalmotoren wäre an beiden Augen gleich gross, so würden durch eine willkürlich verstärkte Innervation der Senker die in der Ruhelage nach oben geriehteten Blicklinien geradeaus oder abwärts gestellt werden können, ohne dass es zur Vertikaldivergenz käme. Denn die willkürliche Innervation beeinflusst stets — auch in allen Fällen von alternierendem Aufwärtsschielen — beide Augen in eleichmässiger Weise. Und wollte man annehmen, das Über- gewicht der Heber über die Senker sei an dem einen Auge erheb- licher als am andern, so müsste der zur Horizontalstellung des stärker aufwärts schielenden Auges erforderliche Senkungsimpuls die geringere Gleichgewichtsstörung des andern Auges überkompensieren, d. h. letzteres in gesenkte Schielstellung bringen. Wir sahen aber bei Fall I, dass im Moment der Einstellung des zuerst aufwärts- schielenden rechten Auges zwar das (nunmehr verdeckte) linke Auge die assoziierte Abwärtsbewegung machte, aber unmittelbar an- schliessend daran allein eine Bewegung nach oben ausführte. Ein solches Verhalten kann nur der Ausdruck einer einseitigen, unwillkürlichen Innervation der Heber des jeweils vom Sehakt ausgeschlossenen Auges sein. Wenn trotzdem noch ein Zweifel bleiben könnte, ob dem Phänomen des alternierenden Aufwärtsschielens nicht doch vielleicht eine ungewöhnliche Fähigkeit zu willkürlicher Vertikaldivergenz- innervation zugrunde liege — eine Annahme, durch die solche Fälle mit dem Assoziationsgesetz in Einklang zu bringen wären —, so muss der letzte Zweifel schwinden angesichts von Beobachtungen, für die im folgenden Beispiele erbracht werden. II. Ein junger Mann von 17 Jahren hat seit frühester Kindheit einen Strabismus divergens und hochgradige Amblyopie des rechten Auges (V = !/5o) ohne nachweisliche krankhafte Veränderungen desselben. Das rechte Auge hat 1) Schweigger, Die Erfolge der Schieloperation. Arch. f. Augenheilk. Bd. 29 S. 207. 1894. 2) Stevens, Der Strab. vertic. altern. Annales d’oculist. t.113. 1895. 3) Duane, Motor anomalies of the eye. Ann. of Ophthalm. and otol. Oktober 1896. 4) Savage, Ophthalmie myology. Nashville, Tenn. 1902. 668 A. Bielschowsky: volle Sehschärfe (Hyperopie von 1 D.). Bei primärer Lage des Blickpunktes. divergiert die rechte Gesichtslinie um 10°, weicht aber gewöhnlich auch in vertikaler Richtung ab, und zwar bis zu 12° nach oben, mitunter viel weniger oder: gar nicht, ausnahmsweise sogar etwas nach unten (bei stets gleicher Stellung des. fixierenden linken Auges). Merkwürdigerweise — in anbetracht der hochgradigen Amblyopie des rechten Auges — sieht Patient spontan doppelt, und zwar entspricht die Lage der Doppelbilder zueinander genau der jeweiligen Schielstellung: ge- kreuzter Lateralabstand von 10°, ausserdem steht das (dem rechten Auge zu- gehörige) Trugbild bald erheblich — bis zu 12° —, bald nur wenig tiefer, bald gleich hoch oder sogar etwas höher, als das dem linken Auge zugehörige Bild. Während Patient andauerrd ein und dasselbe Objekt fixiert, sieht er also das. links davon gelegene undeutliche (Trug-) Bild sich in ungleichmässigen Intervallen auf- und abwärts bewegen — ganz entsprechend der in entgegengesetztem Sinne erfolgenden einseitigen Bewegungen des rechten Auges. Die scheinbar regellosen Bewegungen des rechten Auges können in be- stimmtem Sinne beeinflusst und — wenigstens eine Zeitlang — sistiert werden, ohne dass das linke Auge seine Stellung ändert: 1. bei Verdecken des rechten Auges strebt es langsam, in kleinen Rucken, nach oben und verbleibt dann in beträchtlicher Höherlage, bis es wieder freigegeben wird; dann erst beginnt nach kurzem Intervall eine wiederum sehr langsame (isolierte) Abwärtsbewegung bis zu annähernd horizontaler oder (ausnahmsweise) etwas gesenkter Stellung. 2. Hält man vor das linke Auge ein dunkelfarbiges Glas (das die fixierte Flamme natür- lich nicht unsichtbar machen darf), so erfolgt eine plötzliche ruckartige, wiederum. streng isolierte Abwärtsbewegung des rechten Auges bis zu einem be- trächtlichen Tieferstande. 3. Verdeckt man zuerst das rechte und setzt dann das verdunkelnde Glas vors linke Auge, so sieht man das rechte hinter der Deckung zuerst stark nach oben, dann ebenso stark nach unten gehen, während das linke Auge dauernd unverrückt bleibt (auch bei Lupenbeobachtung ist an ihm nicht die geringste Stellungsänderung während der Bewegungen des rechten Auges wahrzunehmen). 4. Erfolgt die Verdunkelung des linken Auges, während das rechte gerade in der durch Verdecken „ausgelösten“ Aufwärtsbewegung begriffen ist, so: wird letztere sofort unterbrochen und in die gegenläufige Bewegung (nach unten umgewandelt. Bei häufiger Wiederholung der Versuche wurden die einseitigen Bewegungen des rechten Auges immer weniger ausgiebig, es schien zu ermüden. Nach längerer Ruhepause waren die Bewegungsphänomene wieder in dem beschriebenen Umfange zu beobachten. Die Divergenz wurde operativ beseitigt durch Vorlagerung des Medialis kombiniert mit leichter Rücklagerung des Lateralis am rechten Auge. Danach sah der Patient nicht mehr spontan doppelt; auch stieg das rechte Auge beim Verdecken nicht mehr aufwärts. Wohl aber erfolgte bei Verdunkelung des linken fixierenden Auges (durch graues oder farbiges Glas) prompt die isolierte Senkung des rechten Auges, wobei die der Stellungsänderung entsprechende, rein vertikale Diplopie (Bild des linken Auges oberhalb des anderen) auftrat. Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 669 Angesichts der höchstgradigen, aus frühester Kindheit stammenden Amblyopie des einen Auges war von vornherein nicht daran zu denken, dass die einseitigen Bewegungen einem Fusionsbestreben entspringen könnten, um so weniger, als die viel leichter zu erlernende Konvergenzinnervation vom Patienten niemals aufgebracht wurde, trotzdem die laterale Distanz der Doppelbilder ebenso gross oder grösser war als die vertikale. Ebensowenig kam ein rudimentäres Fusionsbestreben auf Grund einer — während einer früheren, rein divergenten Schielstellung — erworbenen (anomalen) Netz- hautbeziehung in Frage. Denn die (relative) Lokalisation der Doppelbilder, die der Patient dauernd wahrnahm, entsprach durehaus der angeborenen (normalen) Netzhautkorrespondenz. Die Eigenart des uns interessierenden Phänomens tritt jedoch erst klar hervor angesichts des Einflusses, den man in derartigen Fällen auf die Stellung des vom Sehakt ausgeschlossenen Auges da- durch ausüben kann, dass die Helligkeit der Netzhautbilder im fixierenden Auge variiert wird. Die nähere Erörterung dieses eigen- tümlichen Verhaltens mag zunächst unterbleiben, bis ich seine Gesetz- mässigkeit an weiteren, Beobachtungen gezeigt habe. II. Bei einem 19jährigen Mädchen besteht seit der Schulzeit ein Strabismus divergens et deorsum vergens des rechten Auges. Dieses ist hochgradig myopisch (-astigmatisch) und hat mit voller Korrektion nur ein Viertel des normalen Visus. Das linke Auge ist absolut normal. Die rechte Gesichtslinie weicht um 15° nach aussen, um 14° nach unten von der linken ab. Typische Diplopie. Verdeckt man das rechte Auge, während das linke fixiert, so bewegt sich ersteres langsam und ungleichmässig auf- und abwärts, ohne aber die Horizontalstellung nach oben zu überschreiten. Die hier nicht näher zu besprechenden operativen Maassnahmen beseitigten die Schielstellung fast vollständig; speziell blieb von der Vertikaldivergenz — auch bei Verdecken des rechten Auges — keine Spur mehr übrig. Wenn man aber ein dunkelfarbiges Glas vor das linke (fixierende) Auge hielt, so erfolgte eine prompte (einseitige) Abwärtsbewegung des rechten Auges um mehr als 10°. Nach Entfernen des Glases rückte das rechte Auge — wiederum isoliert — zur ge- wöhnlichen Stellung hinauf. IV. Die jetzt 22jährige Elise R. habe ich vor fast 12 Jahren zum erstenmal untersucht. Im Anschluss an eine Blenorrh. neonat. war bei ihr im frühesten Kindesalter ein Strab. div. vorwiegend des rechten Auges entstanden. Im Alter von 6 Jahren waren beide Laterales tenotomiert worden. Der im Januar 1899 von mir erhobene Befund war folgender: VR mit +2,0 = $lıs VL „ +20 = $ıo Leichter Nystagmus horizontalis. 570 A. Bielschowsky: Gewöhnlich steht das rechte Auge um 15° schläfenwärts abgelenkt. Patientin kann aber beliebig in der Einstellung beider Augen alternieren. Wird das rechte Auge eingestellt, so schielt das linke Auge nur wenig nach aussen, aber be- trächtlich nach oben. Wenn bei Fixation mit dem linken Auge das rechte Auge verdeckt wird, so geht es beträchtlich nach oben und rollt gleichzeitig um die hintere Halbachse, wird es freigegeben; so gelangt es mittels der entgegengesetzten Bewegung zur früheren einfachen Lateralablenkung. Befindet sich das linke Auge in Schielstellung, so bleibt Verdecken desselben ohne Einfluss auf die Schielstellung. Es besteht eine der gewöhnlichen Schielstellung (Rechtsablenkung) ziemlich entsprechende Anomalie der Sehrichtungen: Die fovealen Sehrichtungen diver- gieren um annähernd denselben Winkel (12—15° wie die Gesichtslinien. Bei farbiger Differenzierung lassen sich Doppelbilder zum Bewusstsein bringen, und zwar gleichseitig von wechselndem Abstande (bis 8°), also eine anomale, der Schielstellung nicht entsprechende Lokalisation. Im Stereoskop sieht Patientin nur das dem führenden Auge entsprechende Halbbild; jedoch ist ein gewisser Anteil de: Schielauges am Sehakt beim Stäbchen- und Fallversuch nachzuweisen. Während nämlich bei Verschluss des Schielauges die gröbsten Fehler in der Be- urteilung von Tiefenunterschieden gemacht werden, wie es bei unokularem Sehen die Regel ist, vermag die Patientin nicht zu feine Entfernungsunterschiede richtig zu beurteilen, wenn beide Augen geöffnet sind. Diese Tatsache wurde wiederholt unter Einhaltung aller Vorsichtsmaassregeln bestätigt. Eine Vorlagerung des rechten Medialis hinterliess einen geringen Rest von Divergenz. Jetzt (1910) fixiert Patientin, wie früher, meist mit dem linken Auge, wobei das rechte in minimaler Divergenz und häufig (nicht permanent) zugleich etwas nach unten abgelenkt steht. Dabei kurzschlägiger, assoziierter Nystagmus rotatorius. Patientin kann noch immer nach Belieben in der Einstellung der beiden Augen alternieren. Stellt sie das rechte Auge aus der geringgradig divergierenden Stellung auf das geradeaus gelegene Fixationsobjekt ein, so geht das linke Auge in fast genau senkrechter Richtung nach oben. KErneutes Alternieren erfolgt mittels einer (assoziierten) Abwärtsbewegung, die die linke Gesichtslinie in die Horizontalstellung, die rechte unter dieselbe gelangen lässt, letzteres aber nur momentan; unmittelbar an die Abwärtsbewegung schliesst sich eine (einseitige) Hebung der rechten Gesichtslinie his dicht an oder in die horizontale Lage. Das Sehen ist jetzt streng unokular; für eine Beteiligung des Schielauges am Sehakt ergibt die Untersuchung keinerlei Anhaltspunkte. Bei farbiger Differenzierung sieht Patientin niemals Doppelbilder, sondern nur das Bild des jeweils führenden Auges. Um das zweite Bild zu sehen, muss sie erst das schielende Auge zur Einstellung bringen, wobei ihr das zuerst ge- sehene Bild verschwindet. Auch durch prismatische Verschiebung der Schiel- augenbilder sipd diese nicht zugleich mit denen des anderen Auges zum Be- wusstsein zu bringen. Verdeckt man das schielende rechte Auge, so geht es nach aufwärts, während die linke Gesichtslinie unverrückt bleibt. Bei Freigabe kehrt letzteres Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 671 bis zur Horizontalen zurück oder sinkt etwas unter dieselbe. Fixiert das rechte Auge, so schielt das linke nach oben, bleibt auch bei Verdecken in seiner Lage. Wenn nun aber ein dunkelfarbiges Glas vor das fixierende rechte Auge gehalten wird, so erfolgt sofort eine meist ausgiebige (ein- seitige) Senkung der linken Gesichtslinie, allerdings nur für kurze Zeit, dann steigt sie ganz allmählich — wiederum mittels isolierter Bewegung — in die frühere Lage nach oben. Rascher und ausgiebiger ist diese Bewegung, wenn das dunkelfarbige Glas vom rechten Auge entfernt wird. Fixiert das linke Auge, so bewirkt Vorsetzen des nämlichen Glases ein prompt eintretendes und anhaltendes Abwärtsschielen des rechten Auges — ohne dass sich die Stellung des linken Auges ändert — so lange, bis das Glas wieder entfernt wird. Dann ]„ehrt das rechte Auge in seine gewöhnliche (geringe) Divergenzstellung zurück. Beenügen wir uns, ohne zunächst auf die Einzelheiten dieses Falles einzugehen, vorläufig mit der Feststellung, dass auch bei dieser Patientin mit streng (alternierend) unokularem Sehen eine isolierte Abwärtsbewegung des jeweils schielenden (verdeckten oder nicht verdeckten) Auges ausgelöst werden konnte durch Abschwächung der vom führenden Auge erhaltenen Eindrücke. Hinweisen möchte ich auch noch auf die hier sehr deutlich hervortretende Kombination assoziierter Innervationen des Doppel- auges mit (unwillkürlicher) isolierter Erregung des Einzelauges: wenn das nach oben abgelenkte linke Auge durch Verdecken des rechten (oder auch spontan von der Patientin selbst) zur Einstellung auf das in horizontaler Richtung gelegene Objekt veranlasst wurde, so machte zunächst das rechte (verdeckte oder nicht verdeckte) Auge die Ab- wärtsbewegung mit und stieg dann allein aus der gesenkten Lage bis über oder bis in die horizontale Stellung hinauf. In diesem und einem anderen Falle hatte ich!) seinerzeit einen gewissen Grad von Binokularsehen auf dem Boden einer während der Schielstellung erworbenen „anomalen Korrespondenz“ der Netz- häute nachweisen können. In beiden Fällen änderte sich auch die Schiel- stellung, wenn das Schielauge verdeckt wurde: es erfolgte eine Ver- -tikalbewegung, die bei Freigabe des Auges sozusagen wieder zurück- genommen wurde. Das liess mich an ein Fusionsbestreben auf Grund der anomalen Netzhautbeziehung denken. Auch Tschermak 1) A. Bielschowsky, Über das Sehen der Schielenden. Verhandl. d. internat. Ophthalm.-Kongr. Utrecht 1899. — A. Bielschowsky, Unter- suchungen über das Sehen der Schielenden. v. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. Bd. 50 S.406. 1900. 672 A. Bielschowsky: und Sechlodtmann!) gelangten zu dieser Auffassung infolge von Beobachtungen analoger Stellungsänderungen des Schielauges, mit denen zugleich kleine Rollbewegungen des fixierenden Auges abliefen. Nach meinen jetzigen Erfahrungen an dem zuletzt referierten und anderen Fällen mit anomaler Netzhautbeziehung glaube ich nicht mehr, dass die einseitigen Bewegungen des Schielauges, wie sie oben beschrieben wurden, als „anomale“ Fusionsbewegungen durch bilateral- eleichmässige Innervationen entstehen. Denn ich fand die nämlichen Bewegungsphänomene unter gleichen Versuchsbedingungen auch bei Individuen mit vollkommen normalem Binokularsehen (Fall I), ferner bei solchen mit permanentem Schielen und völlig normal funktio- nierender Netzhautkorrespondenz (Fall II), bei solehen mit alternieren- dem Schielen, aber streng unokularenı Sehen (Fall III), und endlich auch bei unilateralem Schielen (Amblyopie oder Amaurose des Schiel- auges), wofür die folgenden Fälle charakteristische Beispiele geben. V. Der 17jährige Martin H. leidet infolge einer intra partum erlittenen (Zangen-)Verletzung an Atrophie des rechten Sehnerven. Das rechte Auge nimmt nur Handbewegungen in einem kleinen, ganz exzentrisch gelegenen Gesichtsfeld- bezirk war. Das andere Auge ist normal. Bei primärer Blickrichtung besteht kein auffälliges Schielen; jedoch sind bei längerem Fixieren eines bestimmten Objektes, einseitige geringe Abduktions- und (bzw. oder) Aufwärtsbewegungen am rechten Auge zu beobachten. Bei nahem Fixationsobjekt besteht zeitweilig deutliches Abwärtsschielen des rechten Auges. Verdecken desselben ist ohne Einfluss auf seine Stellung. Verdunklung des sehtüchtigen linken Auges (Vorhalten eines dunkelfarbigen Glases) hat sofortige einseitige und sehr auffällige Abwärtsbewegung des rechten Auges zur Folge. Schon die Abblendung des seitlich ins linke Auge ein- fallenden Lichtes genügt zur „Auslösung“ einer propmten, ge ringen Senkung des anderen Auges. Bleibt das verdunkelnde Glas eine Zeitlang vor dem linken Auge, so geht der anfänglich sehr bedeutende Tiefer- stand der rechten Gesichtslinie ganz allmählich zurück. Ein analoges und noch instruktiveres Verhalten war bei einem anderen Kranken zu beobachten. VI. Der 52jährige Aug. B. erlitt vor 17 Jahren eine perforierende Ver- letzung des linken Auges. Trotz glatt verlaufender Extraktion des Wundstars erblindet das Auge durch Glaukom. Jetzt ist die linke Hornhaut zum Teil ge- trübt und zeigt bullöse Epithelabhebungen. Die Tension ist deutlich erhöht. Das rechte Auge hat (mit — 0,5 D.) vollen Visus. 1) Schlodtmann, Studien über anomale Sehrichtungsgemeinschaft bei Schielenden. v.Graefe’s Arch. f. Ophthalm. Bd. 51 S. 256. 1909. Uber einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 673 Das linke Auge ist um 15° schläfenwärts abgelenkt und macht, während das rechte ruhig fixiert, langsame, in ungleichen Zwischenräumen erfolgende Auf- und Abwärtsbewegungen. Sobald das rechte Auge verdunkelt wird, setzt sofort eine isolierte, in mehreren ruckartigen Absätzen erfolgende Senkung des linken Auges ein, deren Umfang einem Winkel von 15—20° entspricht. Am rechten Auge ist während dieser Bewegung des linken auch_unter Zuhilfenahme der grossen binokularen Lupe keinerlei Stellungsänderung wahrzunehmen. Jede Änderung der Belichtung des rechten Auges bewirkt — wenigstens eine Zeitlang und später wieder nach Einschaltung einer Pause — eine ganz gesetzmässige, in ihrem Um- fange der Grösse des jeweilig herbeigeführten Beleuchtungsunterschiedes ziemlich proportionale Stellungsänderung des linken Auges. Lässt man, während im Dunkelzimmer ein glänzender Punkt fixiert wird, das mittels Konvexlinse konzen- trierte Licht einer hellen Flamme von seitwärts ins rechte (fixierende) Auge fallen, so erfolgt eine isolierte ruckartige Bewegung des linken Auges nach oben, die entgegengesetzte bei Fortnahme der Linse. Besonders schön lässt sich der Einfluss verschieden starker Belichtung des rechten auf die Stellung des linken Auges demonstrieren mittels des Glaslineals von Zeiss, auf das ein schwarzer Glaskeil so aufgekittet ist, dass beim Durch- blicken durch das vom (oberen) hellen zum (unteren) dunklen Ende vor dem Auge vorbeigeführte Lineal eine allmähliche Verdunklung des Gesichtsfeldes in ganz allmähliger Abstufung eintritt. Wird das Lineal in dieser Weise vor dem rechten, eine Flamme fixierenden Auge des Patienten vorbeigeführt, so geht der senkrechten Bewegung des Lineals eine merkwürdig gleichmässige (isolierte!) Bewegung des linken Auges parallel. Das linke Oberlid begleitet die Abwärtsbewegung des linken Bulbus; jedoch bleibt es etwas dahinter zurück, so dass nach Eintritt des stärksten Abwärts- schielens ein zuvor noch vom Lid gedeckter Randteil der linken Hornhaut ent- blösst wird. Bleibt das verdunkelnde Glas längere Zeit vor dem rechten Auge, so geht das Abwärtsschielen des linken allmählich wieder zurück, aber in einer eigentüm- lichen, an den Rhythmus der Echternacher Springprozession erinnernden Weise: die beginnende (isolierte) Bewegung nach oben wird immer wieder unter- brochen von ruckartigen (ebenfalls isolierten) Abwärtsbewegungen, die einen Teil der vorher gemachten Aufwärtsbewegung kompensieren. Schliesslich gelangt aber doch das rechte Auge trotz Verdunklung des linken in die nämliche Horizontal- stellung, die es zumeist auch ohne Verdunklung des linken Auges einnimmt. VII. Die 33jährige Frau G. erkrankte vor etwa 5 Jahren an einer schleichen- den Iridocyklitis oc. d., die zur Erblindung des Auges führte. Das linke Auge ist normal. Patientin gibt an, sehr nervös zu sein. Zeitweilig ist keine Schiel- stellung zu bemerken; meist steht aber das rechte Auge entweder erheblich nach oben oder ebenso erheblich nach unten abgelenkt. Bei ruhigem Fixieren des linken Auges sind gelegentlich einseitige (vertikale) Stellungsänderungen am rechten zu beobachten. Verdunkelung: des linken Auges bewirkt stets eine prompte, meist sehr ausgiebige Senkung der rechten Gesichtslinie bis tief unter die Horizontale; 63} Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 2) 674 A. Bielschowsky: bei Fortnahme des verdunkelnden Glases „steigt“ das rechte Auge weit nach oben. Wenn man im Dunkelzimmer, während Patientin ein kleines glänzendes Objekt an der gegenüberliegenden Wand fixiert, das durch eine starke Konvex- Jinse konzentrierte Licht einer Glühlampe auf das linke Auge fallen lässt, so geht das rechte mit einem starken Ruck nach oben; es senkt sich wieder, sobald die starke Belichtung des linken Auges durch Fortnahme der Linse verringert wird. Bei allen, Versuchen ist, wie die genaueste Beobachtung des fixierenden Auges (mittels der binokularen Lupe) zeigt, während der Vertikalbewegung des rechten Auges am linken auch nicht die Spur irgendwelcher Stellungsänderung zu kon- statieren. Zu bemerken ist noch, dass die durch die verschiedenartige Belichtung des linken jeweils herbeigeführte Stellung des rechten Auges nach kürzerer oder längerer Frist spontane Änderungen erfährt, und dass nach mehrfach ohne Pause wiederholten Versuchen die einseitige Bewegung nicht mehr so prompt und auch weniger ausgiebig eintritt, wie am Anfang bzw. nach längerem Ausruhen. An erblindeten oder hochgradig amblyopischen Augen sind auch von anderen Autoren einseitige Bewegungen beobachtet worden, die durch den Wechsel zwischen Belichtung und Beschattung des seh- tüchtigen Auges auszulösen waren. In dem von Levinsohn und Arndt!) beschriebenen Falle war das rechte Auge infolge von Netzhautablösung höchstgradig amblyopisch und schielte bei Primärstellung des linken etwas nach aussen und oben. Wurde das linke Auge verdeckt, so machte das rechte eine schwerfällige Bewegung nach innen und unten, während das linke unverrückt blieb. Bei sehr hellem Licht dagegen „stellte sich mit der Verkleinerung der Pupille das rechte Auge höher ein“. Wurde das Licht einer Gasglühlichtlampe mittels starker Konvexlinse auf das rechte Auge konzentriert, so trat keine Bewegung ein; wenn dagegen das linke auf die gleiche Weise belichtet wurde, so rückte das rechte Auge etwas nach innen und eine Spur nach unten, besonders deutlich, wenn die Belichtung des linken Auges mehrere Sekunden lang fortgesetzt wurde. Nach Entfernung der Lichtquelle kehrte das rechte Auge langsam in die gewöhnliche Schielstellung zurück. Bei mehrmaliger Wiederholung des Versuchs blieb die einseitige Adduktionsbewegung des rechten Auges aus. Zur Erklärung ihres Falles nehmen Levinsohn und Arndt eine Störung im Kerngebiet des Oculomotorius an, die zur Folge hätte, dass eine dem Pupillenzentrum zugehende Erregung auf die Kerne des rechten M. obliqu. infer. und reetus internus überspränge, bei leichter Erregung nur auf ersteren, bei starker auch auf den letzteren. 1) Levinsohn und Arndt, Über einen Fall einer mit dem Pupillen- reflex einhergehenden Mitbewegung des Auges. Zeitschr. f. Augenheilk. Bd. 7 S. 388. 1902. Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Inneryationen der Augenmuskeln. 675 In dem von Freund!) mitgeteilten Falle war das linke Auge durch Atrophia “ n. opt. nach Schädelbasisfraktur erblindet. Bei konsensueller Erweiterung der linken Pupille (Beschatten des rechten Auges) ging das linke Auge nur etwa ein Drittel der Hornhautbreite abwärts; bei Freigabe des rechten erfolgte eine Auf- wärtsbewegung des linken Auges von demselben Umfange. Solange die Beschattung des rechten Auges — das völlig unberührt blieb — dauerte, verharrte das linke in der gesenkten Lage, Auch wenn nach Lidschluss das rechte Auge beschattet oder aber stark belichtet wurde, trat die (einseitige) Senkung bzw. Hebung des linken Auges auf. Freund fasst das beschriebene Phänomen als eine an die Lichtreaktion der Pupillen gebundene Mitbewegung auf; deren Zu- standekommen erklärt er ebenso wie die zuvor genannten Autoren mit einem Überspringen der im zentripetalen Teil der Pupillenreflex- bahn vom rechten Auge her zugeleiteten Erregung auf die Kerne der linksseitigen Augenmuskeln. Grimsdale’s?) Fall betrifft einen 24jährigen Mann mit grossem Leukoma corn. sin. e blenorrh. neon. Bei Verdecken des normalen rechten Auges erfolgte eine isolierte Senkung des linken Auges, das bei Freilassen des ersteren wieder in die Horizontalstellung zurückkehrte, wiederum ohne gleichzeitige Stellungs- änderung des rechten Auges. : Neuerdings hat Lohmann’) zwei Fälle beschrieben, bei denen das blinde, für gewöhnlich nach aussen-oben schielende Auge eine Bewegung nach innen-unten machte, wenn das normale Auge verdeckt wurde. Auch er bringt die einseitige Bewegung mit dem Pupillenreflex in Verbindung. Mit Rücksicht auf die in beiden Fällen bestehenden Veränderungen an der Iris des blinden Auges (Ver- wachsungen, Gewebsschwund) nimmt er an, dass der konsensuelle Pupillenreflexreiz auf dem abgewichenen Auge zur Iris fliesst; allein er kann wegen der terminalen Veränderungen keine Irisbewegung auslösen. Nun springt der Reizzustand in den peripheren Nervenfasern auf die mitlaufenden Fasern für den Obliquus inferior über, um sofort bei Beschattung des anderen Auges nachzulassen. Ich glaube nicht, dass die einseitigen Augenbewegungen in den referierten Fällen mit dem Pupillenreflex etwas zu tun haben. Meine Beobachtungen — bis jetzt mehr als 70 Fälle — zeigen, dass das in Rede stehende, Phänomen in ganz gleichartiger, gesetzmässiger Weise bei Amaurose und hochgradiger Amblyopie sowohl wie auch 1) Freund, Über eine mit dem Lichtreflex der Pupillen einhergehende Mit- bewegung des Augapfels. Prager med. Wochenschr. 1903 Nr. 40. 2) Grimsdale, Light reflex of pupil associated with movement of the other globe. Ophthalm. Review p. 150. 1904. 3) Lohmann, Über ein beachtenswertes Bewegungsphänomen des Auges. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. Bd. 48 (9) S. 556. 1910. 43 * 676 &. Bielschowsky: bei guter Sehschärfe des Schielauges vorkommen kann. Wäre der die Pupillenerweiterung (bei Verdunkelung) bewirkende Vorgang wirklich vermöge abnormer Ausbreitung der nervösen Erregung im Kerngebiet zugleich auch das auslösende Moment für die Senkung des einen Auges, so müsste diese Bewegung ja sowohl bei Ver- dunkelung, des einen wie auch des anderen Auges, am stärksten aber bei Verdunkelung beider Augen erfolgen. Statt dessen kam es in allen meinen Fällen, in denen das Schielauge noch über ein leid- liches Sehvermögen verfügte, entweder zur (isolierten) Hebung oder zur Senkung des Schielauges, je nachdem dieses oder das fixierende Auge verdunkelt wurde, oder endlich das Schielaugebliebunbewegt, wenn gleichzeitig beide Augen verdunkelt (bzw. das eine verdeckt) wurden. _ Die hier besprochenen einseitigen Augenbewegungen haben auch niehts zu tun mit den Stellungsänderungen, die mitunter an gelähmten Augen infolge krampfartiger, in gewissen Intervallen automatisch eintretender Kontraktion der auf gewöhnliche Weise nicht erregbaren Muskeln zu beobachten sind!). Bei jedem derartigen Krampfanfall tritt auch eine Verengerung der gelähmten und während der Inter- valle absolut starren Pupille auf. Dass diese ganz spontan auf- tretenden periodischen Reizvorgänge auf einer anderen Grundlage beruhen müssen, wie die uns jetzt beschäftigenden Phänomene, bedarf keiner weiteren Begründung. Diese Phänomene werden unserem Verständnis näher gebracht, wenn wir von den für das alternierende Aufwärtsschielen anzunehmenden Grundlagen ausgehen. Die oben (S. 667) hierüber angestellten Überlegungen nötigten zu der Annahme abnormer, von- einander unabhängiger („dissoziierter“) Erregungen der Vertikal- motoren (Heber) jedes Einzelauges. Die abnorme Erregung, die natürlich subkortikal —- vielleicht in der Gegend der Augenmuskel- kerne — entstehen muss zufolge eines seinem Wesen nach unbekannten Prozesses, ist beiderseits oder nur einseitig gehemmt, je nachdem der Wille (Fixationsabsicht, Bewegungsimpuls) bzw. das Fusionsbestreben entweder auf beide Augen wirken, oder aber nur einseitig gesehen wird (wenn das andere Auge verdeckt ist). Letzterenfalls ist der abnorme Erregungsvorgang nur am fixierenden Auge gehemmt. Am l) Franke, Angeborene zyklische Okulomot.-Erkrankung usw. Klin. Monatsbl. f. Angenheilk. Bd. 47 (N. F. Bd. 8) S. 582 (daselbst .die übrige bisherige Literatur). 1909. Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 677 anderen (verdeckten) bewirkt er die — mehr oder weniger beständige — Ablenkung nach oben. Nach Freilassen des verdeckten Auges wird die abnorme Er- regung seiner Heber gehemmt, und das Auge senkt sich in mehr oder minder erheblichem Umfange. Diese (einseitige) Abwärts- bewegung erfolgt also gleichsam automatisch, nicht etwa auf Grund eines (willkürlichen) Senkungsimpulses. Denn ein solcher würde das andere bisher fixierende Auge in gesenkte (Schiel-)Stellung bringen. Dies geschieht aber nicht, sondern bei Verschieben des deckenden Schirms von einem zum andern Auge macht letzteres höchstens eine ganz flüchtige, an Umfang hinter der Abwärtsbewegung des zuvor verdeckten Auges sehr weit zurückbleibende, kleine Abwärtszuckung und begibt sich sofort — vielfach noch ehe die Einstellbewegung des andern Auges beendet ist — nach oben: jetzt setzt also bei dem zuvor fixierenden Auge, da es vom Sehen ausgeschlossen wird, die abnorme Erregung der Heber ein. Nun haben wir weiter gesehen, dass in jenen Fällen bei Ver- dunkelung des jeweils fixierenden Auges das andere (schielende bzw. verdeckte) Auge sich nach unten beweet. Diese Erscheinung wird verständlich unter der Voraussetzung, dass bei Verdecken oder Ver- dunkeln des einen Auges die abnorme einseitige Erregung seiner Heber einsetzt und zur Erhaltung der Blickrichtung eine willkürliche Senkunsesinnervation erforderlich macht. Die letztere wirkt, wie jeder willkürliche Bewegungsimpuls, auf beide Augen gleichmässig, kommt aber zumeist nur in der Abwärtsbewegung des am Sehakt nicht teilnehmenden Auges zum Ausdruck. Am anderen (fixierenden) Auge erfolgt keine Bewegung, weil durch den Senkungsimpuls die (unwillkürliche) abnorme Erregung der Hebermuskeln zu kompen- sieren ist. Je nachdem bei den hier besprochenen Fällen für gewöhnlich Binokularsehen oder Schielen mit guter oder schlechter Sehschärfe des Schielauges besteht, müssen die Erscheinungen individuell variieren, auch wenn alle Fälle die oben erörterte Veranlagung zum alternierenden Aufwärtsschielen besitzen. Differenzen im Symptomenbilde können aber auch dadurch be- dingt sein, dass der abnorme Erregungsvorgang nur einseitig (z. B. Fall 40 der nachstehenden Tabelle) oder zwar auf beiden Seiten, aber in ungleicher Intensität (Fall I auf S. 665), kontinuierlich- gleichmässig oder intermittierend besteht. 678 A. Bielschowsky: Ist beispielsweise das Schielauge blind, so kann Verdecken des- selben selbstverständlich seine Stellung nicht beeinflussen, wohl aber senkt es sich bei Verdunkelung des fixierenden Auges, wenn infolge der Verdunkelung dessen Heber in Erregung geraten und zur Be- wahrung der Fixation ein Senkungsimpuls notwendig wird. Dass in manchen : Fällen von alternierendem Aufwärtsschielen bei gleich- zeitigem Verdecken des schielenden und Verdunkeln des fixierenden Auges überhaupt keine Reaktion der Vertikalmotoren bemerkbar wird, ist dureh unsere Hypothese ebenfalls leicht verständlich: auf beiden Seiten setzt die abnorme Erregung der Heber ein, kann aber nieht zum Ausdruck kommen, weil das Fixationsbestreben den bilateral wirkenden Senkungsimpuls auslöst. Zu dieser Auffassung nötigt die in solehen Fällen zu konstatierende Tatsache, dass bei Verdunkelung des (geradeaus) fixierenden Auges eine Senkung des anderen unter die Horizontalebene erfolgt, während dieses andere wenn es durch Verdecken zunächst zum Aufwärtsschielen gebracht wird, durch nachträgliche Verdunkelung des fixierenden Auges nur his zur Horizontalebene herabgeht. Um ermüdende Wiederholungen zu sparen, möchte ieh auf die detaillierte Erörterung der. manniefaltigen Verschiedenheiten im Symptomenbilde der einzelnen Fälle verziehten, soweit die Differenzen dureh die oben gegebenen Gesichtspunkte zu erklären sind. Die Voraussetzungen, von denen ich bei der Analyse der ein- seitigen Bewegungsphänomene ausgegangen bin, bedürfen aber noch einer näheren Betrachtung. Dass in die Kernregion zu lokalisierende Reizvorgänge — mögen sie durch Residuen von Krankheitsherden oder durch Anomalien der Gefässinnervation bedingt sein — kon- tinuierliche oder intermittierende einseitige Augenbeweeurgen unter- halten können, geht aus zahlreichen Beobachtungen hervor. Dass solehe Reizvorgänge doppelseitig, aber unabhängig voneinander auf gewisse Muskelgruppen der Finzelaugen wirken, kann man sich immerhin auch noch vorstellen. Das schwierigste Problem stellt die Frage dar, auf was für Beziehungen zwischen Sehnerven und Augen- muskeln sich der eigenartige Einfluss gründet, den Verdunkelung bzw. Belichtung auf die Stellung des bezügliehen Einzelauges in unseren Fällen üben. Es ist von vornherein klar, dass wir es hier mit einer ausser- gewöhnlichen Beziehung zwischen sensorisechen und motorischen Augennerven zu tun haben. Denn ich fand die hier in Rede ‚ Uber einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 679 stehenden Phänomene nur in einem ziemlich kleinen Prozentsatz der Fälle mit latentem oder manifestem Schielen. Genauer kann ich diesen Prozentsatz leider nicht beziffern. In der ersten Zeit, als ich nach den einseitigen Bewegungsphänomenen zu suchen angefangen hatte, erschien mir deren Zahl so verschwindend klein gegenüber den Hunderten, bei denen die gleichartige Unter- suchung nur die gewöhnliche, konkomitierende Stellungsanomalie ergab, dass ich eine statistische Gegenüberstellung der gewöhnlichen und. der hier besprochenen atypischen Stellungsanomalien unterliess. Die Häufigkeit der letzteren ist nun allerdings erheblich grösser, als ich es auf Grund meiner eigenen früheren Erfahrungen und der so ausser- ordentlich spärlichen Hinweise in der Literatur zunächst angenommen hatte. Wenn man sorgsam danach sucht, wird man überrascht sein, wie oft sich die oben besprochenen einseitigen Bewegungen als „Re- aktion“ auf abwechselnde Verdunkelung und Belichtung der Einzel- augen finden. Trotzdem sei nochmals ausdrücklich hervorgehoben, dass jene Reaktion trotz sorgsamster Prüfung in der grossen Mehr- zahl der darauf untersuchten Fälle nieht auszulösen ist. Wir müssen daher annehmen, dass die vielleicht kongenitale Anomalie, die dem ein- oder beiderseitigen Erregungsvorgang zu- srunde liegt, auch eine ungewöhnliehe — direkte oder indirekte — Beziehung zwischen ÖOptieus und den in Betracht kommenden motorischen Bahnen der gleichen Seite hergestellt hat. Der Annahme einer direkten Verbindung steht die Tatsache der Partialkreuzung der Seh-(und Pupillenreflex-)Fasern des Optieus entgegen. Aber der in der sensorischen Leitung durch Belichtung bzw. Verdunkelung eines Auges entstehende Vorgang brauchte ja nicht direkt, sondern erst durch Vermittelung eines zwischengeschalteten Prozesses auf die gleichseitige motorische Bahn zu wirken. Ich möchte nur eine Mög- liehkeit andeuten: wenn wir uns vorstellen, dass der abnorme ein- oder beiderseitige Erregungsprozess von vasomotorischen Störungen besonderer Art unterhalten wird, so könnte in jenen Fällen Be- liehtung und Verdunkelung eines Auges den Blutgehalt eines gewissen Gefässbezirks derart beeinflussen, dass die abnorme motorische Er- resung bald gehemmt, bald gefördert oder gar nicht berührt wird. Wir wissen vorläufig so wenig über die physiologische Bedeutung der — zum Teil miteinander nicht einmal übereinstimmenden — natomischen Befunde im Gebiete der Vierhügel und Oeulomotorius- kerne, dass es mir zwecklos erscheint, die verschiedenen Möglich- 680 A. Bielschowsky: keiten für die Entstehung der oben besprochenen klinischen Phänomene noch spezieller zu erörtern. Nur auf ihre wesentliehsten Eigentümliehkeiten. soweit sie noch nicht genügend hervorgehoben und von Wichtigkeit für unsere Auffassung sind, soll noch kurz ein- gegangen werden. 5 Der Einfluss, den Belichtung bzw. Verdunkelung auf den moto- rischen Apparat der Einzelaugen erkennen lassen, ist nicht konstant in dem Sinne, dass zu einer Belichtung von bestimmter Intensität auch eine motorische Erregung von bestimmter Stärke gehört: im allgemeinen wirkt nur die Änderung der Netzhautbelichtung auf den motorischen Apparat. Bei kontinuierlicher Abschwächung der Belichtung des einen Auges sah ich zwar wiederholt (Beispiel: Fall VI, S. 673) eine der Verdunkelung anscheinend ganz pro- portional verlaufende Senkung des andern Auges. Wenn aber dann ein gewisses Maass von Verdunkelung beibehalten wurde, so begannen nach einer kürzeren oder längeren Pause einseitige Bewegungen des anderen Auges, die den Eindruck erweckten, als versuche sich dieses von einem Zwange frei zu machen, der es in ungewöhnlicher (gesenkter) Stellung festhielt. Und schliesslich erreichte es trotz unveränderter Versuchsbedingungen die Stellung wieder. die es für «ewöhnlieh, d. h. ohne einseitige Änderung der Belichtung, einnahm. Dieser Vorgang erscheint als eine Art von Adaptation der durch Beliehtungsänderung zu beeinflussenden moto- rischen Zentren oder als ein Kampf mit schliesslichem Sieg der abnormen (einseitigen) motorischen Erregung über entgegenwirkende nervöse Einflüsse anderen Ursprungs. Während in vielen meiner Fälle das fixierende Auge während der — spontanen oder vom Untersuchenden ausgelösten — ein- seitigen Bewegung des Schielauges völlig still blieb, war einige Male eine (meist sehr geringfügige) Raddrehung des fixierenden Auges zu konstatieren, so zwar, dass es beim Aufwärtsgehen des Schielauges in der einen, beim Abwärtsgehen in der entgegengesetzten Rich- tung „rollte“. Zuweilen war es keine einfache Rollung, sondern ein mehrmaliges Hin- und Herpendeln um eine mittlere (Meri- dian-)Lage. Hieraus geht hervor, dass die abnorme Einwirkung wechselnder Netzhautbelichtung nicht immer auf den motorischen Apparat der gleichen Seite beschränkt ist; aber die andere Seite empfängt höchstens einen schwachen Ausläufer der zugeleiteten Erregung, so Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 68] dass im allgemeinen der Charakter der einseitigen (dissoziierten) Innervation gewahrt bleibt. Die hier besprochenen Phänomene sind — wie schon erwähnt — durchaus nicht sehr selten; ich fand sie während der letzten 1!/e Jahre in mehr als 70 Fällen. Man trifft sie, oft als zufälligen Neben- befund, in Fällen, die sonst keinerlei Anhaltspunkte für krankhafte Zustände im Zentralnervensystem bieten. Mit verschwindenden Ausnahmen erfolgen die einseitigen Be- wegsungen in rein vertikaler Richtung, oder die vertikale Komponente überwiegt die horizontale erheblich. Auch in den seltenen Fällen von einseitigem Nystagmus, mit dem unsere Beobachtungen zweifel- los in genetischer Hinsicht verwandt sind — vgl. das häufige Vor- kommen eines geringgradigen einseitigen oder „dissoziierten“ Nystag- mus in der nachstehenden Zusammenstellung — ist der Nystagmus in mehr als zwei Drittel aller Fälle ein vertikaler. Ausser den im Text referierten habe ich aus meinen Be- obachtungen noch 43 Fälle tabellarisch zusammengestellt, in denen die beschriebenen Phänomene besonders deutlich ausgeprägt waren. Das Verhalten der Mehrzahl stimmt in allen wesentlichen Einzel- heiten durchaus überein; aber auch die vereinzelten Fälle mit erheb- licheren Abweichungen lassen in ihren Hauptmerkmalen die Zu- sehöriekeit zur Hauptgruppe unschwer erkennen. (Siehe die Tabellen auf S. 682—690.) Meine Auffassung von dem Ursprung der oben erörterten Formen einseitiger Augenbewegungen lässt sich in folgende Sätze zusammen- fassen: I. Die durch Willensimpulse oder das Fusions- bestreben ausgelösten doppelseitigen oder einseitigen Augen- bewegungen sind stets auf gleichmässige Innervation beider Augen zurückzuführen. II. Wenn der okulomotorische Apparat weder durch (willkür- liche) Bewegungsimpulse noch durch binokulare sensorische Erresungen — im Sinne des Fusionszwanges — beeinflusst ist, können Augenbewegungen auftreten, die auf isolierte bzw. un- gleichmässige Erregungen der Einzelaugen zurückgeführt werden müssen (im Schlafe, in der Narkose, bei angeborener oder früh- zeitig erworbener „Anlage“ zum alternierenden Aufwärts- schielen). ‘YY99P.IHAUM S9 UU9M uHA[OSSIP Sunyuag PLIIMAA A9PO SISNY uoul] UHPOPADA SID FUNTIMIASHEBMMY- A1P IOPUILIOA sSESNnYy UoD9ı SOp SunjppyunpaoA “9[EJUOZLIOH 9Ip aoyum SIqQ SI FNUIS U9SSEIIILT TOq :uHqJossop SUNFIMIASJIEAFNY 94OIJOST H.1BIS AUOS PIINIq sIönYy U9yum SOp UINI9PAIO A -UOTUNDIMIASJILMAY ydAnp uagung99adg punpg usanyol -90 Hugo (UOMEXLT 9UOSLYUSZ -19juN) Aw u9go yoeu odny ayuı Sıssew -x9) ordoAquuy SSIpraspoy :7T | augep ST sep Sunssngurmag 9ugo UOLNDS Fq91S -yalojsun a9qe | "us 90 "poLiod 0'z + fo pur ı :y | tue osıdAg SIANY UND9A SEP Sunjogg aaagunad roq | "reg 'yeyoA 'ISÄN "AU09 "RIIS ® sr G yaypury = "sony 19s (dus “auyeg) “ney ST | ouyerpyT uayum SOP FUNF9M9ägsJIemgYy 99110708 9 y | PıPpeN R osıdAky YHIIMIA SONY U9Fy99A sOp SunjoyunpioA L IN 9IM "US 90 "AIP AQRIIS a Y = -uorynppY A9FULIOS Ju user g 2108 © YI9]ENZ TUNFIMIISENAY (HAILIOTSSNU (02 sıq) sopeang | Cumen pimdos onepg) memy ST | oupep pI = IU9S IydLu) Ayaıpnap uayum we J1.1IM uopufosydomn 0 + mu 9 ap | Paeuyı = yasıdKy -94 SHOnY UEIy9Eı Sop FunjoyunpioA — "IS DO "AP AR.IS I: ge eg er "NOINANZ UHLJUOZLIOTT NZ « — JI91[0SI AOP9IM — SO 1y9y uuRp 9: Erf :19Z ISSIM9S HUT Auf SOONY UOI9A 9 Dıyef GE Soap SUMSOmMagspIengy FOyaıyeu% (00%) UOAIBF 9T NOS un asıdAy JyIIMIAL SONY uoyur sop SunjoyunpaoA LAN IM °P 90 "AP gg | (yeumaay 'ydo “u yy) anewuy :y 3 UIUMBAUOLISINZ Fe 9, ‚sIanYy UO9A SIOp Sunsonag "yDIojdun ursyonYy a Le 9 (sun) I 9AuUrf 9I : -SIIEMAV Hseı pun 9NXABIS Aayds uoyppaı p Damaq | °P 90 "poriod ("W93uo9 ‘FIfoad 9quuy yosıdKy JyIIM9Ag SONY uayum Sp SunjoyunpaoA |-e110A "DI Sur "AUOI EIS stpuna] 9somewy :(SIQ29A) MY 1 uodunyıoul upyumpaoA "MZAq U9NO9PpAa9A 19q Suomougud Zunffo3spprgas f ed a -og SunFomag odnıosurt -sdundaMag spıpuyonen punpquosny OU 2 sugyuodg apuayner] 685 der Augenmuskeln. te Innervationen 11er bzw. nicht-assoz ige t ınsel Über e yosıdK) 9sıdAy Funsam -2g „INOIIZ -OSSIp“ A9AR “9aIosurd FU91S HUN yosıddy Z IN 91a Sunganag uasıyıosurd ‘p Hyu9uodwoy, syaıylos aIp sı gqosıdAye yosıdKy "OBJUOZLIOI] IP Joyum sıq soany uayul sop Sundomag -SIIBMAY o7duoad pun oarpeyne ayos INAIMIA SONY UNI. 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Bielschowski I) 6‘ "uoyun ydeu 91pue sep Yyoanı sadny uauıo sop Junjayanpao Tg 'sune Jundonag Ss1Tasurd AIP YATOIq OS ‘oyunpaaA 9d9pue Sep SOdnYy UHUT SEP U9NDOP -19 A wop A0A paıM aodtgeissne [oIA HanYy 94991 SEP “(Sunfforsgıgmsny Jru) SUNFIMIASIIBATNY 9191JOST 9UTO “PILM yosıdA) Y99PA9A SO uu9M Ye odny sSopal ‚sOänYy uayum SOp SUndamsgsjIemgqy aduad pun sHäny UNI SOP Fundomagsemmuy 93u1Lıa3 uorysuss sodny uayuı SOop U9N9OP -I9 A WOSINOZUDTE]N pun sodny uoygoa.L sap SunppyunpaoA TOT "Zunspurm suyo Iqlo]q sOSnWw uHNyUI SIOp u9M99p -I9A NOnınz UH[EJUOZLIOH Anz HduYy 9749941 (9I799PA9A) SEP JIy9NY OS ‘ayunp -19A 98nYy sSoyum Jzypf pur ‘pI um U9AOSSOP FunF9MHgsJIg Amy HF1NLasu1rd 23 IN "9A | 98[0J19 sony UoJDOL SOp UON9APıa A 10Q Öl nn nn uosunyıouı upoyunpaoA "MZq UHYD9PAOA 10q -97 FUNdandg AFıpasurrm 9uawougyd -SZUNDOMAT suwyuodg ZU9DLIAIP -TeynoA pun ZU9S.IHAUO,) OSULL 0 + u 6 :g -98 yosıporıod 2 Olyef FI “UOIJEXLA 9AeUNO i as uagopem -UIg SITOMJIOZ ar 9 a er sony ua} - -U991S9P UHJOLYOS E rg -SJIPMNY SOYISIP 9 sıyef yZ -oLtad !uormyexty f ee L ST ..„ | uogopeN 9repnyyourq Isrowm UT a0 u sd zZ Sun][pIs[ay>ag ed oyoıpugoman) punysquasny "TOUNUmN dpuaynerf = E Über einseitige bzw. nicht-assoziierte Innervationen der Augenmuskeln. 691 III. Die isolierte Innervation der beiden Einzelaugen geht aus von untergeordneten (subkortikalen) Zentren, die unabhängig von- einander (isoliert) in Eriegung geraten können, wenn die ihnen über- geordneten, auf Willensimpulse und (bewusstwerdende) Gesichtsein- drücke ansprechenden Zentren, die nur das Doppelauge beein- flussen, nicht in Tätigkeit sind. IV. Die Existenz der einseitig wirksamen Zentren wird in wachem Zustande nur ausnahmsweise offenbar in Fällen, in denen sich jene Zentren in einem abnormen Erregungszustande befinden. Die Ursache dieses letzteren ist noch dunkel, steht aber wohl in naher Beziehung zur Grundlage des Nystagmus. V. Der abnorme Erregungsvorgang in jenen Zentren wird be- einflusst: 1. von den übergeordneten okulomotorischen Zentren, in- dem nämlich Fixationsabsicht und Fusionszwang hemmend auf die abnorme Erregung des einen bzw. jedes der beiden Augen wirken; 2. reflektorisch — mit Zwischenschaltung eines nicht näher zu bestimmenden Vorgangs — von der Netzhaut des gleichseitigen Auges aus: das (linke oder rechte) einseitig wirksame moto- rische Zentrum wird dureh Verdunkelung bzw. Belich- tung des gleichseitig gelegenen Auges antagonistisch beeinflusst. In einzelnen Fällen scheint jedoch bei wechselnder Netzhautbelichtung der motorische Apparat des gekreuzten (gegen- überliegenden) Auges beeinflusst zu werden. Für die hauptsächlichsten Einzelheiten der hierher gehörigen klinischen Beobachtungen kann ich eine ungezwungenere, als die oben gegebene Erklärung nicht finden. Trotzdem bleibt natürlich noch mancherlei dunkel, wie die kurzen Hinweise in den bezüglichen Fällen der tabellarischen Zusammenstellung erkennen lassen. Näher darauf einzugehen, halte ich jedoch vorläufig für zwecklos, weil die vom Typus abweichenden Beobachtungen noch zu spärlich sind, um Hypothesen darauf zu gründen. Dass die hier besprochenen Anomalien ausser in biologischer Hinsieht auch für den augenärztlichen Praktiker von Interesse sind, habe ich in meinen Untersuchungen über die Ursachen der Miss- erfolge in der Behandlung des Schielens feststellen können, worüber ich demnächst im Archiv für Augenheilkunde eingehend zu berichten gedenke. 44% 692 A. v. Tschermak: Über bioelektrische Äusserung des Vagustonus. Studien über tonische Innervation. I. Mitteilung!). Von A. v. Tschermak, Wien. (Mit 4 Textfiguren.) I. Charakterisierung des Problems. Bezüglich der Einflussnahme der Aussenwelt auf die lebendige Substanz hat bekanntlich Ewald Hering?) einerseits unterschieden die Erregungs- oder Hemmungswirkung, den dissimilatorischen oder assimilatorischen Reizeffekt, andererseits die Erhaltung eines be- stimmten Zustandes, der erreicht wird durch sogenannte Überwindung des Reizes, d. h. dadureh, dass der Reiz infolge von Anpassung oder Adaptation der Erregbarkeit entweder unter sinnfälliger Wirkung oder auch ohne solehe — als „Einschleichen“ bezeichnet — zu einer speziellen Lebens- oder Zustandsbedingung wird. Man kann im 1) Vgl. Studien über tonische Innervation. I. Pflüger’s Arch. Bd. 119 Ss. 165— 226. 1907. 2) Zur Lehre vom Lichtsinn. Sechs Mitteilungen. Sitzungsber. d. Wiener Akad. Abt. III. Bd. 66, 68, 69, 70. 1872-1874. Auch separat. Über die spezifischen Energien des Nervensystems. Lotos N. F. Bd. 1. 1880. Über Newtons Ge- stetz der Farbenmischung. Lotos N. F. Bd. 7. 1886. Auch separat. Zur Theorie der Vorgänge in der lebenden Substanz. Lotos N. F. Bd. 9. 1888. Über Ermüdung und Erholung des Sehorgans. Arch. f. Ophthalm. Bd. 37. II. 1891. Zur Theorie der Nerventätigkeit. Veit & Co., Leipzig 1899. — Vgl. auch H. Aubert, Physiologie der Netzhaut Kap. 1 S. 25—49. Breslau 1865, und A. v. Tschermak, Über physiologische und pathologische Anpassung des Auges. Veit & Co., Leipzig 1900. Die Hell-Dunkeladaption des Auges und die Funktion der Stäbchen und Zapfen. Ergebn. d. Physiol. Jahrg. 1 Bd. 1 S. 695— 00. 1902. Das Anpassungsproblem in der Physiologie der Gegenwart. Arch. d.' scienc. biol. (Festschr. f. J. P. Pawlow) p. 79—96. St. Petersburg 1904. Über bioelektrische Äusserung des Vagustonus. 693 ersteren Falle von einer vorübergehenden, „alterativen“, im letzteren von einer „tonischen Dauerbeeinflussung oder Reaktion“ der lebendigen Substanz sprechen !). Von besonderer Bedeutung für die Anwendung und Weiterbildung dieser Grundanschauung war die teilweise Ersetzung des bisherigen vulgären Ermüdungsbeeriffes durch die Vorstellung von der automa- tischen, adaptativen Regulierung der Reizbarkeit. Zur Begründung dieses neugewonnenen Gesichtspunktes verwies Ewald Hering bei- spielsweise darauf, dass das sogenannt ermüdete, d. h. hell adaptierte Sehorgan zwar nicht an Reizbarkeit, wohl aber an Leistung auf den Gebiete des Farben-, Formen- und Lagesinnes das sogenannt un- ermüdete, d. h. dunkel adaptierte Auge geradezu übertrifft. Als Gegenstück zu der zwiefältigen Rolle der Aussenwelt lässt sich nun die Einflussnahme der einzelnen Teile einer lebendigen Substanz, eines Organismus aufeinander darstellen. Insbesondere gilt dies von der Einflussnahme des Nervensystems, das wir heute nicht mehr als das sozusagen lebenspendende Prinzip im Tierkörper betrachten, sondern speziell nach Th. Engelmann wesentlich auffassen als Rezeptionsorgan und als autonomen Beeinflussungs- und Regulierapparat des selbsttätigen Stoffwechsels der nichtnervösen Erfolgsorgane. Die Innervation ist in Analogie zu dem oben an- gedeuteten Gedanken einerseits als eine „alterative“, andererseits als eine „tonische“ zu betrachten!). Dabei erscheint die sogenannt trophische Einflussnahme des Nervensystems, welche seit langem Physiologen und Pathologen gleich lebhaft beschäftigt hat”), als 1) Terminologie nach A. v. Tschermak’s einschlägigen Arbeiten: Phy- siologie des Gehirns. Handb. d. Physiol., herausg. von W. A. Nagel Bd. 4 S. 1., spez. S.1, 12—14, 87—93. Das Anpassungsproblem a. a. O. $. 81. Über die Innervation der Lymphherzen bei den anuren Batrachiern. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 20 Nr. 17. 1906. Studien über tonische Innervation. I. Pflüger’s Arch. Bd. 119 S. 165—226. 1907. Über den Begriff der tonischen Innervation. Folia neurobiologica Bd. 1 8. 30—37. 1907. Über das Vikariieren der beiden Herz- vagi. Monatsschr. f. Psych. und Neurol. Bd. 26 Ergänzungsheft (Festschr. f. P. Flechsig) S.312—335. 1909. Physiologische Untersuchungen am embryonalen Fischherzen. Sitzungsber. d. Wiener Akad. Abt. III Bd. 118 S. 1--99. 1909. Über tonische und trophische Innervation. Folia neurobiologica Bd. 3 8. 676—694. 1909, und Verhandl. d. internat. med. Konsr. Budapest 1909. 2) Vgl. u. a. die zusammenfassenden Darstellungen von Cassirer (Die vasomotorisch-trophischen Neurosen. Berlin 1901, und Über trophische Nerven. Ergebn. d. Anat. Jahrg. 1910 und von P. Jensen (Das Problem der „trophischen Nerven“. Med.-Naturw. Arch. Bd. 2 H. 3 S. 459—495. 1910), 694 A. v. Tschermak: ein Spezialfall der tonischen Innervation im allgemeinen Sinne des Wortes )). Eine tonische Innervation in dem hier bezeichneten Sinne stellt sonach eine absolute oder relative Bedingung dar für eine Leistung, welche wesentlich im Erfolgsorgan selbst begründet ist, sei es ein zentrales oder ein peripheres, speziell muskuläres. Ein solches Ver- halten wurde bisher genau nachgewiesen für das quergestreifte Muskulatur aufweisende, coceygeale Lymphherz der anuren Batrachier ?), für die glatte Muskulatur des Froschmagens?) und — bis zu einem sewissen Grade — bereits für jene des Uterus*), mit Wahrschein- lichkeit auch für das Blutherz, speziell der Fische, unter Vergleich des nervenfreien frühembryonalen und des nervenhaltigen spät- embryonalen und ausgebildeten Zustandes?’), endlich für die antago- nistische Wechselbeziehung der beiden Herzvagi‘®).. Zu vermuten ist eine solche tonische Einflussnahme, also eine Zustands- oder Be- dingungsinnervation für alle autonom-sympathisch versorgten Gebilde. Ebenso ist unter den Begriff der tonischen Innervation zu sub- welche Autoren allerdings auf die Lehre von der tonischen Innervation und ihre Konsequenzen für die Auffassung der trophischen Innervation noch nicht Bezug nehmen. ; 1) A. v. Tschermak, Folia neurobiologica Bd. 1 speziell S. 37. 1907, und Bd. 3 8. 676—694. 1909. In bedeutsamer Weise hat E. Phleps (Über vasomotorisch-trophische Störungen im Anschlusse an die Beschreibung eines Falles von Raynaud’scher Erkrankung. Journ. f. Psychol. u. Neurol. Bd. 16 8. 130—156 und 197—220. 1910) die Auffassung A. v. Tschermak’s gestützt und weitergeführt durch die monographische Darstellung eines klinischen Falles von Raynaud’scher Krankheit bzw. durch Aufstellung der Hypothese einer trophisch-vasomotorischen Funktion des Reflexbogens. 2) A.v. Tschermak, Über die Innervation der hinteren Lymphherzen bei den anuren Batrachiern. Zentralb!. f. Physiol. Bd. 20 Nr. 17. 1906, und Studien über tonische Innervation. I. Über die spinale Innervation der hinteren Lymph- herzen bei den anuren Batrachiern. Pflüger’s Arch. Bd. 119 S. 165—226. 1907. 3) G. Kautzsch, Studien über die rhythmische Kontraktion der Frosch- magenmuskulatur. Pflüger’s Arch. Bd. 117 S. 133—149. 1907. 4) K. Franz, Studien zur Physiologie des Uterus. Zentralbl. f. Gynäkol. 1904 und Zeitschr. f. Geburtsh. Bd. 53 S. 1—59. 1905. 5) A. v. Tschermak, Physiologische Untersuchungen am embryonalen Fischherzen. Sitzungsber. der Wiener Akad. der Wissensch. Abt. III Bd. 118 8. 1—99. 1909. 6) A. v. Tschermak, Über das Vikariieren der beiden Herzvagi. Monats- schrift f. Psychiatrie u. Neurologie Bd. 26 Ergänzungsheft (Flechsig-Festschr.) Ss. 312— 335. 1909. Über bioelektrische Äusserung des Vagustonus. 695 summieren die seit langem bekannte, als „Herzhemmungstonus“ be- zeichnete Dauerwirkung, welche von gewissen efferenten Fasern des N. vagus, recte des N. accessorius der höheren Säugetiere auf die automatische Tätigkeit des Herzens ausgeübt wird und speziell eine relativ langsame Schlagfolge bedingt. Analoges gilt von der als „Atmungsbeschleunigungstonus“ bezeichneten Dauerwirkung, welche gewisse afferente Lungenfasern des N. vagus auf das medullare Atem- bewegungszentrum entfalten. Während nun die Ausfallserscheinungen nach Aufhebung einer Bedingungsinnervation durch temporäre oder dauernde Ausschaltung der zuführenden Nervenleitungen, speziell des eerebrospinalen oder präganglionären Leitungsgliedes, vielfach studiert sind, auch die physiologischen, eventuell künstlich variierten Schwankungen dieses Verhältnisses, sowie der sogenannte Ersatz der tonischen Innervation durch künstliche Reizung der zuführenden Nervenleitungen einiger- maassen bekannt sind, erscheint die Frage bisher noch unentschieden, ob sich ein nervöser Dauereinfluss auch bioelektrisch am Nerven- stamme selbst äussert. Die bioelektrischen Begleiterscheinungen der alterativen Inner- vation in Form der Aktionsströme bezw. des äusserlichen Negativ- und eventuell nachfolgenden Positivwerdens der erregten Nerven- stelle sind ja schon seit langem bearbeitet, wenn auch durchaus noch nicht erschöpft. Das Problem, ob sich der nervöse Tonus am Nervenstamme irgend- wie bioelektrisch äussert, speziell ob seine künstliche Ausschaltung eine solche Wirkung erkennen lässt, wurde von mir zunächst am efferenten wie am afferenten Anteile des Halsvagus studiert. In den analogen Versuchen, welche O. Langendorff!) mit A. Blanck und F. Weidner am efferenten Halsvagus von Katze und Kaninchen (ungeeignet!) angestellt hatte, war keine bioelektrische Wirkung be- obachtet worden. II. Methodik. Die Versuche, bei deren Ausführung ich von meinen Assistenten Tierarzt R. Hehle, cand. med. vet. H. Gruss und R. Petioky in dankenswerter Weise unterstützt wurde, sind an Hunden vor- 1) Elektrophysiologische Mitteilungen. Pflüger’s Arch. Bd. 93 8. 277—255, speziell $. 233284. 1903, und A. Blanck, Über die galvanischen Erscheinungen bei adäquater Reizung des Herzvagus. Rostock 1902. 6965 A. v. Tschermak: genommen, welche mit Morphium narkotisiert und teils mit Chloro- form bei Fortbestehen der spontanen Atmung weiterbetäubt, teils mit Curare gelähmt und künstlich ventiliert waren. Die Ableitung des Längsquerschnittstromes vom durchtrennten Vagussympathieus am Halse, seltener von dem durch Präparation isolierten Vagus selbst erfolgte mittels unpolarisierbarer Calomel-Pinselelektroden nach Ostwald und Oker-Bloom (gefüllt mit 1%/oiger NaCl-Lösung). Dieselben waren entweder, jede für sich verstellbar, auf einer gemein- samen Bodenplatte bzw. auf einer Holzstufe von entspreenender Höhe aufmontiert oder in eine von einem Stativ gehaltene kleine feuchte Kammer eingebaut. Das ruhige Aufliegen des Vagusendes auf den Elektroden wurde dadurch gesichert, dass das eine Fadenligatur tragende Endstück mittels Igelstacheln auf einem kleinen Korkbock fixiert wurde. Dann legte ich etwa 10 mm oberhalb einen neuen Quer- bzw. Einschnitt an, welcher die sympathische Hülie nur unvoll- ständig, den eingeschlossenen Vagusstamm jedoch vollständig durch- trennte, und verschorfte vorsichtshalber das etwa 10 mm lange End- stück mit einem glühenden Draht. Der Nerv wurde mit warmer 1P/oiger NaCl-Lösung befeuchtet. Der eine Elektrodenpinsel wurde mit dem Quer- bzw. Einschnitt, der andere in 10 mm Distanz mit der Oberfläche des Vagussympathieus in Kontakt gebracht. Um die Nervenendstrecke vor Erschütterung bei neuerlicher Durehtrennung des Stammes zu bewahren, war der Nerv jenseits der Elektroden neuerlich über einen kleinen Korkbock geleitet und an diesem durch in das Neurilemm eingestochene Igelstacheln fixiert. Zum Zwecke der Prüfung war dann noch ein Paar von Platinelektroden eingeschoben, eventuell auf Kork montiert zum neuerlichen Feststecken des Nerven. Endlich folgte knapp vor der Einsenkung des Nerven in die Hals- schnittwunde die zur Durchschneidung bestimmte Strecke, an welche im Momente der Durchtrennung ein zum Markieren dienender Draht angelegt war, um die so gut wie gleichzeitige Durchschneidung des Nerven und des Drahtes zu verzeichnen. In ebensolcher Weise wurde die Durchtrennung des anderen Vagussympathieus ver- zeichnet. Zum Nachweis der bioelektrischen Ströme benützte ich ein Deprez-d’Arsonval’sches Solenoidgalvanometer!). [Typ. I nach 1) Zweckmässiger wäre es gewesen, ein Saitengalvanometer zu benützen, welches zu viel rascherer Reaktion und zu weit höherer Empfindlichkeit Über bioelektrische Äusserung des Vagustonus. 697 Siemens & Halske mit einer Empfindlichkeit von 1 mm Ausschlag in 1 m Entfernung für 8>x 107 1° Amp. bei 10000 2 innerem Widerstand ?).] Die nahezu aperiodischen Ausschläge des Instrumentes wurden einerseits in 225 em Abstand mittels Fernrohr und Skala beobachtet, andererseits gleichzeitig auf Rapid-Negativpapier (17,3 x 52 cm, dünn, geliefert von der Neuen Photographischen Gesellschaft in Berlin-Steglitz) photo- graphisch registriert, indem ein durch ein Rosshaar längsgeteilter lot- rechter Spalt (0,75 x 23 mm), vom Lichte einer Nernstlampe mit lot- rechtem Faden durchstrahlt, durch Vermittlung einer Konvexlinse (von 6.25 D, Brennweite 16 em, Objektweite 4 em, Bildweite 62 cm) und des Galvanometerspiegels durch Reflexion unter 45° ein zwei- teiliges lotrechtes Bild auf den wagerechten Spalt (16,5 em) der Hülse?) (17,5 em innerer Durchmesser, 20,5 em Mantellinie, Spaltaufsatz mit Zylinderlinse 14,5 em vorstehend) eines Blix’schen Kymographion (Trommel von 16 em Durchmesser, 18 em Höhe) mit elektrischem Antrieb fallen liess. Es wurde also meist mit 0,5 mm oder lmm pro 1 Sekunde Geschwindigkeit die Galvanometerkurve durch ein Lichtbündel, welches in der Mitte eine nahezu lichtlose Unter- breehung aufwies, auf fast lichtlosem Grunde registriert, wofür ein 12 em breiter Anteil des photographischen Papiers in Betracht kam. Dabei entsprach 1 mm Ausschlag der registrierten Kurve 2,3 mm Ausschlag bei Fernrohrbeobachtung. Gleichzeitig zeichneten ein Reiz- bzw. Schnittmarkierer und ein Zeitmarkierer, durch welchen bei langsamem Gang je 10 Sekunden mittels eines manuell betriebenen Tasters markiert wurden, Schattenlinien auf dem anderen, dauernd beleuchteten Randteil (etwa 6 em breit) des photographischen Papiers. Dies wurde dadurch erreicht, dass man eine liehtdicht eingeschlossene Metallfadenlampe durch einen horizontalen Spalt von 20 mm Breite und zu bringen ist. Doch stand mir leider kein solches Instrument zur Verfügung, ich war vielmehr darauf angewiesen, mich mit den relativ bescheidenen Mitteln meines Instituts zu behelfen. Im Prinzip dürfte jedoch dieser Mangel der Unter- suchung nichts geschadet haben. 2) Vgl. A.v. Tschermak, Abschnitt „Untersuchungsmethodik“ im Kapitel „Lehre von den bioelektrischen Strömen“ im Lehrbuch der vergleich. Physiologie der Haustiere, herausg. von Ellenberger u. Scheunert S. 506—532, spez. S. 510. Parey, Berlin 1910. 3) Angefertigt nach meinen Angaben von Mechaniker H. Heder, Leipzig. Weite des Spaltes und Abstand der Zylinderlinse sind variabel. Die Zylinder- linse trägt eine Millimeterskala eingraviert, welche sich jedoch nur bei rascherem Gange der Trommel bzw. bei kürzerer Exposition der Papierschleife verzeichnet. 698 A. v. Tschermak: 2 mm Höhe ein Lichtbündel entsenden liess, in dessen Wee die zweckmässig gebogenen, lotrecht herabhängenden Zeichenhebel von zwei Pfeil’schen Signalen eingestellt waren. Von dem sonach an zwei Stellen verdeckten Spalt wurde durch eine Konvexlinse von 20 D ein Bild erzeugt, welches auf die eine Endstrecke des Hori- zontalspaltes der Kymographionhülse fiel. Die maximal scharfe Ein- stellung des dem Galvanometer und des den Markierern zugehörigen Spaltbildes wurde in der Weise kontrolliert, dass man — vor dem im Dunkeln vorgenommenen Einschieben der Trommel in die Hülse — längs der Innenfläche des Hülsenspaltes ein mit transparentem Papier bespanntes, gestieltes Rähmchen vorschob. Die Schleife photographischen Papiers wurde an der Trommel durch eine schwach gekrümmte Stahlfeder festgehalten, welche längs der 15 em langen Mantellinie des Zylinders von 16 em Durchmesser verläuft und an zwei radial schwach vorspringenden Ösen eingesteckt ist. Der die Öse tragende Radius ist an der Deckplatte der Trommel durch (Gravierung bezeichnet, so dass man ihn bequem zu Beginn des Ver- suches gerade hinter den Hülsenspalt einstellen kann. Zur Erzielung möglicehsten Lichtabschlusses greift die Hülse unterhalb der Trommel- basis etwas über und wird die Hülse oberhalb der Trommeldecke durch einen lichtdieht aufzusetzenden Ringdeckel von 4 em Breite verschlossen. Bis zum Beginn des Versuches wird ferner der Hori- zontalspalt der Hülse durch zwei in einer Führung laufende Schieber verdeckt gehalten. Sodann werden diese nach rechts bzw. nach links aufgezogen und der Spalt der Einwirkung der beiden Bilder freigegeben. Das Beobachtungszimmer ist inzwischen von Tages- oder Lampenlicht ausgiebig erhellt. Die Einstellung des Galvanometerspiegels beiläufig in die Mitte des Registrierbereiches (entsprechend ca. 270 Skalenteilen) wurde durch Hinzufügen eines abgestuften Gegenstromes!) zum Längs- querschnittstrom erreicht, so dass entweder völlige Kompensation bestand oder ein sehr schwacher Stromrest verblieb. Die Prüf- reizungen, welche den Durchsehneidungsversuchen angeschlossen wurden, geschahen dureh die in wechselnder Richtung (als R. oder Rz bezeichnet) benutzten Wechselströme eines Kronecker’schen Normalinduktoriums unter Verwendung von Platindrahtelektroden. 1) 2 Daniell, 20—50 2 im Hauptkreis, Ostwald’sches Normalrbeochord mit neukonstruiertem Gleitkontakt von F. Köhler, Leipzig. Über bioelektrische Äusserung des Vagustonus. 699 Die Dauer der Reizung wurde je nach Kommando des Fernrohr- beobachters mittels eines Handdoppelschlüssels auf etliche Sekunden bemessen und dadurch registriert, dass gleichzeitig mit der Auf- hebung der Nebenschliessung für das Induktorium der Kreis eines Pfeil’schen Signals geöffnet wurde. III. Ergebnisse der Versuche. A. Beobachtungen am efferenten Vagus. Die erste Gruppe von Versuchen an 18 morphinisierten und teils chloroformierten,, teils curaresierten!) Hunden betraf zunächst die efferenten Vagusleitungen, und zwar einerseits das Verhalten des Längsquerschnittstromes am zentralen Stumpfe des Vagussympathieus bzw. Halsvagus bei Durchsehneidung des anderen Vagus (Abteilung A des Versuches), andererseits das Verhalten bei zentraler Durch- schneidung, also bei Abtrennung vom medullaren Ursprung (Abteilung B des Versuches). Endlich wurde das Überleben des schon vor Beginn der Beobachtung vom Kreislaufe, nunmehr völlig vom Tierkörper getrennten Nervenstückes, soweit der Aktionsstrom bzw. die negative Schwankung einen solchen Schluss gestattet, durch den bioelektrischen Effekt künstlicher Reizung geprüft. Es ergab sich, dass schon die Durehtrennung des anderen Vagus, also die Ausschaltung seiner afferenten Leitungen, und zwargleichgültigob desganzen Vagussympathieus oder nur des herauspräparierten Vagusstammes, eine deutliche Wirkung auf den Längsquerschnittstrom des anderen efferenten Vagus besitzt. (Hingegen bleibt blosse Resektion des den Vagus umhüllenden Sympathieus ohne Effekt.) Der Strom zeigt nämlich, wie beispielsweise Fig. 1 und 2, Abteilung A, illustrieren, im Anschlusse an jene Durchschneidung einen mässigen Anstieg, welcher mit einer gewissen Verzögerung einsetzt, dann ver- hältnismässig rasch vor sich geht und endlich langsam absinkend der sogenannt spontanen Abnahme des Längsquerschnittstromes über- haupt Platz macht. 1) Curarevergiftung, welche einerseits den Vorteil darbietet, die künstliche Ventilation während der Beobachtung aussetzen zu können und so die eventuellen Erschütterungen der Versuchsanordnung zu vermeiden, hat andererseits den Nach- teil, anscheinend ebenso wie den kardialen Hemmungstonus auch den bioelektrischen Vagustonus bzw. den bioelektrischen Effekt der Durchschneidung beider Vagi herabzusetzen. 700 A. v. Tschermak: Das Latenzstadium erscheint, zumal an dem sehr trägen In- strument, recht variant; jedenfalls beträgt es etliche Sekunden. Über die Gipfelhöhe des Stromzuwachses, welcher zufolge der eben bezeichneten Subtraktionswirkung dauernd beeinträchtigt wird, orientiert die Kolumne A der Tabelle I auf S. 702. In dem geschilderten bioelektrischen Ausfallseffekt ist sicher ein Ausdruck einer reflektorischen afferent-efferenten Dauerbeziehung, speziell des wechselseitigen Beeinträchtigungstonus der beiden Herz- vagi, zu erblicken, wie sie nach der Darlegung A. v. Tschermak’s bereits abzuleiten ist aus dem Befunde von J. Dogiel und E. Grahe!). Diese Autoren fanden nämlich, dass abgesehen da- von, dass die Stillstandsdauer bei Reizung des einen Vagus nach Durchschnreidung des zweiten erheblich länger ausfällt als zuvor bei Erhaltensein des letzteren, die Reizung des zentralen Stumpfes eines durehschnittenen Vagus die Herzwirkung der gleichzeitigen Reizung am peripheren Stumpfe reflektorisch zu beeinträchtigen oder aufzuheben vermag, solange die Kontinuität des zweiten Vagus erhalten ist. Zu dieser Feststellung fügte dann — nebenbei bemerkt — A. v. Tschermak (a. a. O.) den exakten Nachweis, dass eine tonische Beeinträchtigungsbeziehung auch an peripherer Stätte, d. h. zwischen den beiden efferenten Herzvagi besteht. Es zeigte sich nämlich, dass die Reizschwelle am peripheren Stumpfe des einen Hundevazus deutlich verschieden ist vor und nach temporärer oder dauernder Ausschaltung des anderen Vagus, indem die Reizbarkeit nach Tonus- wegfall erheblich ansteigt. In analoger Weise ergab sich ferner, dass Abtrennung der efferenten Vagusleitungen von ihrer medullaren Tonisierungs- stätte?) sich am Längsquerschnittstrome verrät, und zwar in wesentlich gleicher Weise, ob der Vagussympathicus in toto oder bloss der herauspräparierte Vagus abgeleitet war. Auch in diesem 1) Über die Wechselwirkung der N. vagi auf das Herz. Arch. f. Physiol. Ss. 3%0—398. 1895. 2) Mit dieser Bezeichnung sei keineswegs eine Beteiligung der afferenten Vagusleitung, speziell der kardiomedullaren, an der Erzeugung und Er- haltung des efferenten kardialen Vagustonus ausgeschlossen. Nur spricht der bioelektrische Effekt der Abtrennung bei Durchschnittensein beider Vagi wohl dafür, dass der ‚Vagustonus nicht ausschliesslich peripheren bzw. kardioreflek- torischen Ursprunges ist. Über bioelektrische Ausserung des Vagustonus. 701 Falle erfolgt nach einem mitunter sehr erheblichen, nach etlichen, jajvielen Sekunden zählenden Latenzstadium ein relativ rasch vor sich gehender Anstieg. Das dadurch erreichte Plateau wird oft für es 2 > {=T ok Il « >] Xı< sr ss x Seen <'sS Band = ce on E< Eee! =| Korte SANSa £ —_— om, X ü& Saas: — s am? E< ei mau Sc Eu2in SE Ser - Re Er ARssS=3Z 1 -.—Ns_ı Sc oT o= as zes ao X = So 0. £ nad = Eo ee nm gıx FT EEE ES n Sn an X«< eo re = SNEA C eve \ Seo Em BARS rer] 3 man g.n IL= SOS523%0 u soxyan < rer, z< < SD & an a S 875 A = Ol E r . - sm OS Hm an [a2 5 vo oo 7 2 SEC xa zo oo 80 2 . N zmmm r {eb} nn : Bea En & sim aE_ we 2 = 8 = ao > \ B an _seEen oo =< BELLA < Barmen Sa eo ae - 53-2. = a id [vn zstz;.3 _ nr = 8 ge SI oem < Zlas So = Seen 671 — tel) = ee Din >. SER SIZ® SÄASH? Dr am Son as ao .n See) = Scuoa 5 s E er een ei on © [a «} = Seren ‚ a oz cs HH [055,77 & | DR m zoo Hh 60 2 Brolnuod 5 Be c.nNg EN © 2 ur un 2 De Ss asS2= {e) | .-. a 0. P ET r © B7 7 un. oa o e > 2:22 2 Rgos< N längere Zeit festgehalten (vgl. Fig. 2 A und B); es kann sogar ein weiterer nachdauernder, ganz langsamer Anstieg erfolgen (so in Vers. 1, Fig. 1B und C, ebenso in Vers. 5). In der Regel macht sich aller- dings das sogenannt spontane Absinken des Längsquerschnittstromes bemerkbar, welches unter Umständen einen positiven Ausschlag 702 A. v. Tschermak: direkt verdeeken kann. Die Grössenordnung der maximalen Plateau- höhen sind aus der Kolumne B der nachstehenden Tabelle zu ent- nehmen. Tabelle. a Kolumne A Kolumne B Versuch Narkose Zuwachs bei Durchschneidung| Zuwachs bei zentraler Nr. en des kontralateralen afferenten | Abtrennung des efferenten Vagus in Galv.-Sk.-Teilen | Vagus in Galv.-Sk.-Teilen 1 chlor. 12,3 bis 8,0 13,1 bis 8,5 (Endwert 54,3) 2 chlor. 11,0 12,6 & chlor. 20,0 25,0 4 chlor. 15,0 20,0 B) chlor. 9,0 11,0 5 eur. min. 22,0 7 chlor. erheblich erheblich 3 chlor. 34,0 28,0 9 chlor. erheblich 28,0 10 cur. 18,0 6,0 11 eur. 2,0 3,0 12 cur. deutlich deutlich 3 cur. 3,0 S,0 14 cur. 2,0 5,0 15 eur. 3; 3,9 16 chlor. 2,0 3,9 17 chlor. deutlich _— 18 cur. 2,0 2,0 Der Längsquerschnittstrom des zentralen Vagusstumpfes zeigt häufig keine gleichmässige Stärke bzw. kein geradliniges Abfallen, sondern nicht unbeträchtliche, mitunter angenähert rhythmische Schwankungen (mit etwa 10—20 Sekunden Gipfelabstand und gleicher Grössenordnung der Oszillationen), welche auch nach Durcehschneidung des zweiten Vagus bzw. nach Abtrennung des Vagus von seinem medullaren Ursprung fortbestehen können, jedoch im allgemeinen einen geringeren Betrag und verlangsamte Frequenz aufweisen (vgl. Fig. 2). Diese Oszillationen können den Stromzuwachs nach Vagus- durchtrennung, falls er nur mässig ist, mehr oder weniger unmerk- lich machen. Ob sich darin wirklich rhythmische Schwankungen des efierenten Vagustonus aussprechen, will ich dahingestellt sein lassen. In der dritten Abteilung (C) jedes Einzelversuches wurde eine elektrische Prüfreizung vorgenommen, welche den Zweck hatte, das Überleben des abgetrennten Vagusstückes darzutun und über die Richtung der Änderung der Stromstärke nach der Durchschneidung absolut sichere Auskunft zu geben. Es wurde dabei bei einer Reiz- dauer von einigen Sekunden (2—6 Sekunden) die typische negative 703 s Vagustonus. erung de SS \ x che S Über bioelektri ([EUBSLIG WOp AOqNU9d98 zZ: 7] Junaouropy.oA) Sunjlajqy) uayum sop&dunpiougasyaml] T9q SnSBA UOJUD9L U9JU9AOF9 SOP SIWOAISNIULDS D (J3u9.19y9 son A ‘I 'qQ—g Zunjayqy) Sunuaayqy 8 'SToA “oh an £ S = o+ 19jeı}usz 199 Gusaoye "A 'T 'd— aonbssurr] sop uayey IA 3 DIA Car) A Ta V 704 A. v. Tschermak: Schwankung beobachtet, oft gefolgt von einer deutlichen positiven Nachschwankung, welche bei rascher Folge der Reizungen deutlich abnahm '). | Dieses Verhalten bestätigt die bereits von anderen?) am Warm- blüternerv gemachten Erfahrungen. Über das gelegentliche Vor- kommen einer negativen Doppelschwankung wird gleich später be- richtet werden. B. Beobachtungen am afferenten Vagus. Die zweite Gruppe von Versuchen an sechs Hunden betraf die afferenten Vagusleitungen bzw. das Verhalten des Längsquerschnitt- stromes am peripheren Stumpfe des Vagussympathicus bzw. Hals- vagus bei peripherer Durchschneidung, also bei Abtrennung von den peripheren Tonisierungsstätten, speziell von der Lunge (Abteilung B des Einzelversuches). Hierauf wurde das Überleben des abgetrennten Nervenstückes durch künstliche Reizung geprüft (Abteilung C). Diese Untersuchung wurde zuerst an dem einen, dann in gleicher Weise an dem anderen Vagus vorgenommen, so dass von jedem Tier zwei gleichlautende Einzelbeobachtungen erhalten wurden. Die Ergebnisse dieser zweiten Gruppe waren im wesentlichen „leichlautend mit jenen der ersten. Im Anschlusse an die Abtrennung des Vagus er- folgte nach Latenz ein Ansteigen zu einer Art Plateau, von welchem ein langsames Absinken’ stattfand, entsprechend der sogenannt spontanen Abnahme des Längsquerschnittstromes (vgl. Vers. 19 I, Fig. 3, Vers. 20 II, Fig. 4.). 1) Vgl. E. Hering, Beiträge zur allgemeinen Nerven- und Muskelphysio- logie. 15. Mitteil. Über positive Nachschwankung des Nervenstromes nach elek- trischer Reizung. Sitzungsber. d. Wiener Akad. d. Wiss. Abt. III Bd. 89 S. 137 bis 158. 1884. — H. Head, Über die negativen und positiven Schwankungen des Nervenstromes. Pflüger’s Arch. f. Physiol. Bd. 40 S. 207—273, spez. S. 259. 1887. 2) Vgl. die Literaturübersicht (Valentin, Hermann, Fredericgq, Gotch und Horsley, J. S. Macdonald, spez. The injury current of nerve, ‘Thompson Jates Labor. vol. 4 part II p. 213—347. 1902; Reid, A.D.Waller, Boruttau, Sosnowsky, N.H. Alcock, G. Köster und A.v. Tschermak, M. Lewandowsky, N. H. Alcock und J. Seemann, W. Einthoven, M. Cremer, auch OÖ. Langendorff a.a. 0. S.285) bei M. Cremer, Die all- gemeine Physiologie der Nerven. Handb. d. Physiol., herausg. von W. A. Nagel Bd. 4, 2. Hälfte, Teil 3, S. 793—991, spez. S. 889—890. 1909. Ferner S. Garten, Beiträge zur Kenntnis des Erregungsvorganges im Nerven und Muskel des Warm- blüters. Zeitschr. f. Biol. Bd. 52 S. 534-567. 1909. D.1.V. (aff.) RA=10cm R.A-10cm RA. 8cm R.A 8cm Ra RB Rp RA Vers, 20.1. Fig. 3. Verhalten des Längsquerschnittstromes des afferenten linken Vagus bei peripherer Abtrennung (Abteilung B—D. 1. V. afferent), bei künstlicher Reizung (Abteilung C). (Verkleinerung 1:2 gegenüber dem Original.) Der Längsquerschnittstrom zeigte gerade bei dieser Gruppe von Versuchen erhebliche, angenähert rhythmische Schwankungen, hinter denen in erster Linie die respiratorischen Aktionsströme des Lungen- vagus [Lewandowsky!), N. H. Aleock und J. Seemann’), Einthoven?°)], kombiniert mit den pulsatorischen Aktionsströmen des N. depressor [Einthoven?°); vergleiche auch G. Köster und A. v. Tscehermak)] zu vermuten sind — allerdings entstellt durch die grosse Trägheit des benutzten Galvanometers. Bei der darauffolgenden Reizung des isolierten Vagusstückes wurde gewöhnlich einfache negative Schwankung, event. von einer 1) Über Schwankungen des Vagusstromes bei Volumänderungen der Lunge. Pflüger’s Arch. Bd. 73 S. 288—296, spez. S. 291, 292, 296. 1898. 2) Über die negative Schwankung in den Lungenfasern des Vagus. Pflüger’s Arch. Bd. 108 S. 426—446. 1906. 3) Über Vagusströme. Pflüger’s Arch. Bd. 124 S. 246-270. 1908 und Quart. Journ. of exper. Physiol. vol. 1 p. 243. 1908. 4) Über den Nervus depressor als Reflexnerv der Aorta. Pflüger’s Arch. Bd. 93 S. 24-38. 1902. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 136. 45 Ischermak: va A 706 (eurstug wap 19qnU9898 Z:7T FUundoursjyIoA) UaAmdLT UOPUaY9}SI0A Up UI uaual nz Fıuursuadsd dequrayds ınu Zungegdg 19419PuR98 93jofur afe] WwasaIp ur purs osejyds -sny oIq (9 ZunjrsIqy) Sunziay doyaıysung 19q ‘Gualsge "A "La —g FunjeIqy) Junuuayqy 1919ydııad 199 SnöeA UOIgD9A1 USJUOIgFe SOp sowonspyruyasionbssur] sap uayeyaA °F "DIA "TEL S4OA Iy Vy Vy Yy vy ER ER | LOSE EH IOESVSH una =Tyy DOSE "4 una ey 4 "4 Ce) Aa abelle II. Al Zuwachs bei Zuwachs bei peripherer Abtrennung des linken peripherer Narkose Versuch afferenten Vagus in Galv.-Sk.-Teilen Abtrennung des rechten afferenten Vagus Sk.-Teilen Galv . ın 0,3 14,0 9,0 0 bis J, ‚o 3 17 13,0 vorhanden 0 ’ handen or V 7 ” Über bioelektrische Äusserung des Vagustonus. 707 deutlichen positiven Nachschwankung !) gefolgt, beobachtet. In einem Falle jedoch erschien die negative Schwankung verdoppelt, indem die positive Phase bereits während der Reizung einzutreten begann vgl. A. D. Waller?)], jedoch bald von einer erneuten negativen Phase überwunden wurde (Vers. 19 I, Fig. 3 Abteilung C, Reizung 4 und 6). C. Die Frage nach dem bioelektrischen Ausdruck des Tonus. Es frägt sich nun nach der Bedeutung des geschilderten Grund- phänomens, dass Ausschaltung einer tonisch wirksamen Vagusleitung den Längsquerschnittstrom des Nervenstammes ansteigen lässt. Diese Erscheinung kann in erster Linie gedeutet werden als Weefall eines dauernd subtraktiv wirkenden bioelektrischen Einflusses jener zen- tralen oder peripheren Station, von welcher nachweisbar der Inner- vationstonus ausgeht oder erhalten wird. Das wäre für den efferenten Herzvagustonus die Medulla, für den afferenten wechselseitigen Be- einträchtigungstonus der Vagi selbst das Herz, für den afferenten Atmungstonus die Lunge. Naeh dieser ersten Möglichkeit würde der Stromzuwachs nach Abtrennung von der Tonisierungsstätte direkt darauf zu beziehen sein, dass bei normalem Zusammenhang ein negativierender bioelektrischer Tonus besteht. Derselbe bestünde nach der Präexistenzvorstellung darin, dass durch den Einfluss jenes Zentrums die bei Durchtrennung und bei Ableitung als Längsquerschnittstrom zum Ausdruck gelangende Potentialdifferenz zwischen Oberfläche und Inhalt der Nervenfaser dauernd auf einem tieferen Niveau gehalten würde. Dieser bioelektrische Vagustonus wäre wohl — obzwar noch nieht mit Sicherheit, da noch andere im Vagus enthaltene Leitungen in Betracht kommen könnten — als Ausdruck des nachgewiesenen nervösen efferenten Herzvagustonus, des afferenten Herz- vagus-Beeinträchtigungstonus, des afferenten Lungen- vagustonus zu betrachten. Allerdings ist auch die zweite Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der nach Durchtrennung eintretende Stromzuwachs als Öffnungs- effekt nach einem bioelektrischen Gleichgewichtszustande anzusehen 1) Vgl. die Literatur über dieselbe bei M. Cremer a.a.0. S. 902—904. 2) Philos. Transact. of the Roy. Soc. vol. 188 B. p. 1. 1897. 45 * 708 A. v. Tschermak: wäre. Nach dieser Vorstellung wäre der nervöse Tonus selbst nicht von einer bioelektrischen Dauerwirkung begleitet, nur sein Eintritt und sein Weefall würden einen vorübergehenden Einfluss auf die Potentialdifferenz zwischen Oberfläche und Inhalt der Nervenfaser haben bzw. eine temporäre Schwankung des Längsquerschnittstromes nach sich ziehen. Eine solche Eventualität lässt sich veranschaulichen durch den Vergleich mit den Wirkungen eines äusseren Reizes, z. B. des konstanten Stromes, dessen Einsetzen allerdings eine vor- übergehende Alteration bewirkt, der jedoch durch Adaptation in gewisser Beziehung, z. B. in bezug auf die mechanische Leistung des Muskels, wirkungslos wird, in anderer jedoch einen neuen Zu- stand herbeiführt und erhält, dessen Wegfall hinwiederum von einem Öffnungseffekt gefolet ist. Damit sind wieder die negativen Nach- bilder des Temperatur-, des Gesichts-, des Bewegungs- und wohl auch des Geschmackssinnes, bis zu einem gewissen Grade auch die protahierte positive Nachschwankung des Nervenstromes, speziell nach längerdauernder Reizung (E. Hering, H. Head u. a), vergleich- bar'!). Nach dieser Vorstellung würde der Anstieg des Längsquer- schnittstromes nach Durchschneidung nicht ein Wachsen bis zu einem an sich bleibenden Plateau bedeuten, von dem nur die sogenannt spontane Abnahme des Längsquerschnittstromes herabführen würde, sondern eine, wenn auch träge und nachdauernde, so doch prinzipiell transitorische Öffnungssehwankung darstellen. Obzwar nun die eben charakterisierte Eventualität als beachtens- wert zu bezeichnen ist, muss doch die ersterwähnte Auffassungsweise als erheblich wahrscheinlicher erklärt werden. Dafür spricht zunächst einmal die lange Latenz. Allerdings könnte der Schnitt selbst — der unleugbar eine momentane, sehr schwache Vagusreizung be- wirkt, die sich an einer sanz flüchtigen, eine oder zwei Herz- kontraktionen betreffenden Pulsverlangsamung bzw. an einersogenannten Cäsur der Blutdruckkurve ?) verrät — eine scheinbare Verzögerung des Stromanstieges durch die Reizwirkung, d.h. durch den eventuellen 1) Vgl. die ausführliche Darstellung dieser Analogie bei A. v. Tschermak (Das Anpassungsproblem) S. 82. 2) Vgl. S. Jellinek, Studien über die Wirkuug elektrischer Starkströme auf die einzelnen Organsysteme im Tierkörper. I. Über die Wirkung von Gleich- strom auf Herz und Kreislauf bei Hund und Kaninchen. Pflüger’s Arch. Bd. 124 5. 271—306, spez. S. 294—295. 1909. Über bioelektrische Äusserung des Vagustonus. 709 Aktionsstrom bzw. die eventuelle negative Schwankung herbeiführen. Auch tritt ja der Öffnungseffekt im allgemeinen nicht sofort im Momente des Wegfalles eines Dauerreizes ein, da zunächst die Erregung nachdauert. Jedoch erscheint in dem hier vorliegenden Falle die Latenz auch bei voller Berücksichtigung der relativen Trägheit und Minderempfindlichkeit des benutzten Galvanometers immer noch als von einer geradezu unvergleichlichen Grössenordnung. Aber auch das in günstigen Fällen relativ lange Beibehalten des An- stiegplateaus, trotz des entgegenwirkenden sogenannt spontanen Sinkens des Längsquerschnittstromes, noch mehr das mitunter be- obachtete nachdauernde Ansteigen des Stromes, widersprechen denı bekannten Verlaufe zweifelloser Öffnungseffekte. Ein bedeutsames Argument erscheint ferner durch die Be- obachtung von Aleock und Seemann!) gegeben, dass künstliches Aufblähen der Lungen an Katzen und Kaninchen nicht bloss ein Absinken des Längsquerschnittstromes des afferenten Vagus (am Kapillarelektrometer beobachtet), sondern auch ein Verharren auf einem tieferen Niveau bewirkt — woraufhin die genannten Autoren, gleich Lewandowsky, die Lungendehnung als Dauerreiz betrachten und den bioelektrischen Dauereffekt bei Veratrinkontraktur zum Vergleich heranziehen, Auch die Befunde, welche W. Einthoven’) mit vollendeter Technik durch sein Saitengalvanometer?) an Hunden erzielte, zeigen bei spontaner Atmung wie bei künstlicher Ventilation einen weitgehenden Parailelismus zwischen Elektrovagogramm und Pneumogramm. Im Anschluss an die Analyse der langsaınen respira- torischen Schwankungen hat derselbe Autor das Problem aufgestellt, ob ein anhaltender Erregungszustand im Nerven sich etwa durch Erscheinungen manifestieren könnte, welche dem galvanischen Elektro- touus ähnlieh sind. Man könnte daraufhin vermuten, dass jedem stationären Füllungszustand — und zwar nach dem Volumen, nicht nach der Wandspannung — ein bestimmtes Niveau des Längsquer- schnittstromes des afferenten Vagus entspricht, welches bei weiterer l) a. a. O. spez. S. 439—440. 2)ea.a, 07 82269: 3) Die Mitbezeichnung des Instrumentes nach Ader in meiner Darstellung der bioelektrischen Ströme (a. a. ©. S. 510) ist irrtümlich. Vgl. W. Einthoven Annalen der Physik., 4. Folge, Bd. 12 S. 1059. 1893; Bd. 14 S. 182. 1894; Bd. 21 S. 483. 1896. 710 A. v. Tschermak: Füllung erhöht, bei verminderter Füllung erniedrigt wird (von der kleinen positiven Initialschwankung bei Aussaugen abgesehen). Fine solehe hier nur angedeutete Möglichkeit würde zu dem Schlusse führen, dass schon der normale mittlere Füllungszustand der Lunge einen bioelektrischen Tonus bzw. subtraktiven Dauereffekt am Längs- querschnittstrome des Vagus bedingt, dass also die normale mittlere Füllung der Lungen für den Vagus bioelektrisch nicht „neutral“!) ist. Endlich muss als Allgemeinargument bedacht werden, dass zwischen alterativer Innervationswirkung uud bioelektrischem Effekt bisher ein sehr weitgehender, wenn auch nicht absoluter und ausnahmsloser Parallelismus festgestellt wurde, und dass in Analogie hiezu die Verknüpfung einer tonischen Innervationswirkung und eines bio- elektrischen Dauereffekts zu erwarten wäre. Trotzdem sonach das Bestehen eines bioelektrischen Tonus als erheblich wahrscheinlicher zu bezeichnen ist, muss m. E. die definitive Entscheidung zwischen den beiden charakterisierten Möglich- liehkeiten heute noch offen gelassen werden. Eine solche darf man sich einerseits von Einthoven’s weiteren Beobachtungen am Lungenvagus versprechen, andererseits von Versuchen mit temporärer Ausschaltung und Wiederkehr des Tonus an dem abgeleiteten Vagus- stumpfe. Allerdings gelingt eine solche, beispielsweise durch Kälte oder durch Ammoniak, an dem relativ starken Vagussympathieus des Hundes nicht leicht und ist meist nicht vollkommen. Anderer- seits hat das präparative Isolieren des zarten, leichter ausschaltbaren Vagusstammes aus der Sympathicushülle üble Folgen bezüglich der Spannungsverteilung am Nervenstumpfe — wenigstens schien mir der Galvanometerstand in solchen Versuchen besonders unruhig —, nicht minder aber bezüglich der Überlebensdauer des Nerven. Auch könnte speziell das Durchfrieren und Wiederauftauen noch zu anderen Komplikationen, speziell zu Reizwirkungen am Nerven führen. Das Kaninchen kommt, da ihm normalerweise ein Herzvagustonus fehlt, nur für Versuche am afferenten, nieht am efferenten Vagus in Betracht. Trotz der angedeuteten Schwierigkeiten und Bedenken beabsichtige 1) Über diesen Begriff vgl. M. Ishihara, Über das für den Lungenvagus neutrale Lungenvolumen. Pflüger’s Arch. Bd. 105 S. 386—401. 1905; ferner F. Schenck, Über den Lungenvagus. Pflüger’s Arch. Bd. 106 S. 402-419 und W. Einthoven, a. a. O. spez. S. 260. Über bioelektrische Äusserung des Vagustonus. 711 ich solche Versuche an Hunden und (bezüglich des afferenten Vagus) auch an Kaninchen auszuführen. Welche Deutungsmöglichkeit sich schliesslich auch bewahrheiten mag, auf jeden Fall eröffnet die Grundbeobachtung eines Zuwachses des Längsquerschnittstromes nach Abtrennung einer nervösen Leitung von ihrer Tonisierungsstätte eine neue Möglichkeit und Methode des Tonusnachweises. Darum hoffe ich durch diesen kleinen Beitrag dem ebenso umfassenden als anziehenden Problem der tonischen Innervation eine neue Seite abgewonnen zu haben. 712 Walter Sulze: (Aus der chem. Abteilung des physiol. Instituts der Universität Leipzig.) Zur Kenntnis der Carbaminoreaktion. Von Walter Sulze. Leitet man in eine mit Kalkmileh oder Barytwasser versetzte abgekühlte Lösung einer Aminosäure Kohlensäure ein, so geht die Aminosäure unter Aufnahme von Kohlendioxyd in das carbamino- saure Salz des Caleiums bzw. Baryums über!). Der Vorgang ver- läuft nach dem Schema: H R-N 1:2. Die an den Kernkohlenstoff ge- bundene Amidogruppe ist also imstande, quantitativ ein Molekül CO, zu binden, wenn eine zu ihr in Parastellung befindliche OH-Gruppe vorhanden ist. Die beiden Amidogruppen des p-Phenylendiamins binden zusammen mehr als ein Molekül CO,, was wohl am ein- fachsten so zu deuten ist, dass die eine Amidogruppe quantitativ, die andere teilweise reagiert. Der Eintritt anderer Atomgruppen für den Benzolwasserstoff des Anilins setzt im allgemeinen die Reaktionsfähigkeit der Amid- gruppe herab; insbesondere scheint der Eintritt von Säureresten die Bildung von Carbaminaten zu beeinträchtigen. An den Benzolkern gebundene Imidgruppen reagieren im Gegen- satz zu den aliphatischen Imidverbindungen überhaupt nicht. 46 * 724 F. B. Hofmann: (Aus dem physiologischen Institut der Universität Innsbruck.) Über den Einfluss schräger Konturen auf die optische Lokali- sation bei seitlicher Kopfneigung. Einleitende Versuche. Von F.B. Hofmann. (Mit 1 Textfigur.) Bei der Untersuchung des Einflusses, welchen eine seitlich geneigte Druckschrift auf die Lokalisation der vertikalen und hori- zontalen Richtung ausübt, hatten Bielsehowsky und der Ver- fasser !) die auffallende Tatsache gefunden, dass bei einem jeden von ihnen die Ablenkung der scheinbaren vertikalen und horizontalen Richtung von der wirklichen — im folgenden kurz als VH-Ablenkung bezeichnet — nach einer bestimmten Seite hin besonders begünstigt war. So fielen bei B. die VH-Ablenkungen beträchtlich stärker aus, wenn sich der ablenkende Einfluss des Grundes im Sinne des Uhr- zeigers geltend machte, bei 7. umgekehrt dann, wenn er dem Sinne des Uhrzeigers entgegengesetzt wirksam war. Bezüglich der Einzel- heiten vergleiche man die zitierte Abhandlung! Für die Erklärung dieser merkwürdigen Asymmetrie kam nun ausser der Möglichkeit eines mehr zufälligen, rein empirischen Grundes auch das Vorhandensein einer tiefer liegenden, in der individuellen Organisation des Sehapparates gegebenen Ursache in Betracht. So konnte man etwa an folgenden Zusammenhang denken: Bielschowsky und der Verfasser hatten seinerzeit?) schon aus- 1) Über die Einstellung der scheinbaren Horizontalen und Vertikalen bei Betrachtung eines von schrägen Konturen erfüllten Gesichtsfeldes.. Pflüger’s Arch. Bd. 126 S. 453. 1909. 2) Die Verwertung der Kopfneisung zur Diagnostik von Augenmuskel- lähmungen aus der Heber- und Serkergruppe. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. Bd. 51 S. 174. Vgl. spez. S. 182 ff. Über den Einfluss schräger Konturen auf die optische Lokalisation etc. 725 drücklich festgestellt, dass bei seitlicher Kopfneigung nicht bloss bei Patienten mit Obliquusparese, sondern gelegentlich auch an Normalen eine geringe Höhendivergenz beider Augen auftreten kann. Eine Versuchsanordnung, an welcher man sich in einfacher Weise davon überzeugen kann, und welche den Vorrichtungen gleicht, deren sich Mulder!) zum Nachweis der Augenrollung bei seitlicher Kopf- neigung bediente, besteht in folgendem: Ein Beissbrettchen, BD in Fig. 1, ist auswechselbar an einem drehrunden, 50 em langen Stiel Bios 1% befestigt, welcher durch die Bohrung des Handgriffes @ drehbar durchgesteckt ist. Mittels der Schraube $ lässt sich der leichte frontalparallele Zinkblechrahmen £ in beliebiger Entfernung von B feststellen. Im Rahmen AR steckt ein weisser Pappkarton X, auf dem ein horizontaler schwarzer Strich gezogen ist. Der Beobachter setzt zunächst vor ein Auge, z. B. vor das linke, ein Prisma von etwa 6° mit der brechenden Kante nach oben. Dann beisst er, indem er den leichten Apparat mittels des Handeriffes G festhält, in B ein und stellt den frontalparallelen Karton im Rahmen R in 1) Über parallele Rollbewegung der Augen. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. Bd. 21 Abt.1 S. 68. 1875. 726 F. B. Hofmann: eine ihm passende Entfernung vom Auge ein. Er sieht nun zunächst bei aufrechter Kopfhaltung den horizontalen Strich auf X in Doppel- bildern, deren oberes bei der getroffenen Anordnung vom linken Auge, deren unteres vom rechten Auge geliefert wird. Neigt er nun abwechselnd den Kopf zugleich mit dem Apparat nach rechts und links, so 'müsste bei voller Kongruenz des motorischen Apparates beider Augen die Distanz der Doppelbilder genau die gleiche bleiben bzw. wegen der zunehmenden Fusion sich allmählich und gleich- mässig verkleinern. Das trifft aber keineswegs bei allen Personen zu. Vielmehr kommt es häufig genug vor, dass bei der Kopfneigung nach einer Seite die Doppelbilder sich nähern, bei der Neigung nach der anderen Seite dagegen wieder etwas auseinander weichen. Bei der eben angegebenen Anordnung nähern sich z. B. beim Verfasser die Doppelbilder bei starker Linksneigung des Kopfes, bei Rechts- neigung des Kopfes gehen sie dagegen weiter auseinander. Die Doppelbilder erscheinen dabei auch etwas gegen einander gedreht. Der Betrag dieser auf gegensinniger Augenrollung beruhenden Drehung liesse sich nötigenfalls mit Hilfe einer haploskopischen Vorrichtung auch messen. Man kann den kleinen Apparat auch zur Untersuchung von Patienten mit Obliquuslähmung verwenden, wenn man in den Rahmen einen weissen Karton mit einem aufgeklebten schmalen schwarzen Streifchen hineinsteckt. Vor der früher von Bielschowsky und dem Verfasser benützten, prinzipiell ganz gleichen Vorrichtung, bei welcher aber der Stiel des Beissbrettchens durch eine feststehende Stativmuffe hindurchgesteckt war, hat er den Vorzug der grösseren Bequemlichkeit, weil man dem Kopf bei seitlicher Neigung mit dem Handgriffe @ leicht nach- gehen kann. Ferner wird durch die verlängerte Schraube 5 dem Rahmen R möglichst das Gleichgewicht gehalten, so dass auch das lästige Kippen bei seit- licher Kopfneigung auf ein Minimum reduziert ist?!). Aus dem angeführten Versuche geht hervor, dass dabei meine Augen bei Linksneigung des Kopfes eine kleine Höhendivergenz an- nehmen, welche die Distanz der Doppelbilder verringert. Bei Rechts- neigung stellen sich die Augen wieder normal ein, folglich kommt die Bildverschiebung durch das Prisma wieder stärker zum Ausdruck?). 1) Dieser Apparat, sowie der unten beschriebene Apparat zur Untersuchung des Einflusses schräger Konturen sind beim Mechaniker des physiologischen Institutes F. X. Eigner in Innsbruck erhältlich. 2) Man kann dies auch an folgendem erkennen: Wenn Verfasser vor das linke Auge ein Prisma von 6° mit der brechenden Kante nach oben vorsetzt und so lange im Zimmer umherblickt, bis sich die höhendistanten Doppelbilder infolge des Fusionszwanges bis fast zur Vereinigung genähert haben, so ver- Über den Einfluss schräger Konturen auf. die optische Lokalisation ete. 727 Die Höhendivergenz (und gegensinnige Rollung) beider Augen bei Linksneigsung muss dadurch bedinet sein, dass die Innervation zur gleichsinnigen Rollung beider Augen, die bekanntlich bei seitlicher Kopfneigung auftritt, nieht in beiden Augen in gleicher Weise aus- geführt wird, ähnlich wie dies in weit stärkerem Ausmaasse bei der Parese eines Musculus obliquus statthat. Diese Höhendivergenz (und gesensinnige Rollung) bei Linksneigung des Kopfes, welehe demnach auf einer geringen motorischen Inkongruenz beider Augen beruht, würde aber auch beim gewöhnlichen Sehen mit nach links geneigtem Kopfe auftreten, wenn ihr hier nicht die Fusionstendenz entgegen- wirkte, welche die sonst unvermeidlichen Doppelbilder vereinigt. Es kommt also beim gewöhnlichen Sehen mit nach links geneigtem Kopfe bei mir nicht zu einer Höhendivergenz, wohl aber stellt sich dasselbe etwas unbehaeliche Gefühl ein, das man auch hat, wenn man höhendistante, durch Vorsetzen eines schwachen Prismas mit auf- oder abwärts gerichteter brechender Kante erzeugte Doppel- bilder eben vereinigt hat. Die Folge davon ist, dass mir eine etwas stärkere Kopfneigung nach links unbequem erscheint. Ja noch mehr: ganz ähnlich, wie Patienten mit Obliguuslähmung, um Doppelbilder zu vermeiden, den Kopf gegen eine Schulter geneigt halten, so habe auch ich die ganz unbewusste Tendenz, den Kopf etwas schräg nach rechts geneigt zu halten. Es besteht demnach beim Verfasser eine zwar nicht grosse, aber doch merkliche Asymmetrie zwischen der Rechts- und Links- neigung des Kopfes, und es war die Frage, ob diese in irgendeinem Zusammenhange steht mit der eingangs erwähnten Asymmetrie des Einflusses schräger Konturen auf die optische Lokalisation. Um sich hierüber Aufklärung zu verschaffen, war es nötig, zu untersuchen, schmelzen sie in diesem Vorstadium vor der völligen Fusion bei Linksneigung des Kopfes und gehen bei der Rechtsneigung wieder auseinander. Nehme ich das Prisma nach erfolgter Fusion wieder weg, so dass die durch dasselbe hervor- gerufene Höhendivergenz der Augen allmählich wieder zurückgeht, so sehe ich umgekehrt zuerst bei Rechtsneigung des Kopfes einfach, während bei Links- neigung zunächst noch immer Doppelbilder auftreten. In dieser Form ist aber der Versuch nicht so rein wie am Apparat, weil sich dabei die Lagebeziehung der Objekte zum Kopfe ändert. (Die gewöhnliche Erklärung solcher Beobachtungen, dass durch die Kopfneigung die Doppelbilder zunächst gleich hoch gestellt werden, worauf zum Ausgleich ihres Seitenabstandes eine blosse Konvergenzbewegung genüge, ist schon in der zitierten Abhandlung von Bielschuwsky und dem Verfasser zurückgewiesen worden.) 738 F. B. Hofmann: wie sich der Einfluss schräger Konturen auf die scheinbare Horizontale und Vertikale bei seitlicher Kopfneigung äussert. Im folgenden soll nun zunächst über die Versuche berichtet werden, welche der Verfasser nach dieser Richtung hin als Vor- bereitung zu einer weitergehenden, gemeinschaftlich mit Herrn Kollegen Bielsehowsky auszuführenden Untersuchung bisher an- gestellt hat. Versuchsanoerdnung. Die Versuche wurden wieder an dem Apparate ausgeführt, der schon in der Mitteilung von Bielschowsky und dem Verfasser beschrieben wurde, und der nur in wenigen Punkten geändert wurde. Da es darauf ankam, die Einstellungen der scheinbaren vertikalen und: horizontalen Richtung ı einmal auf gleichmässigem Grunde, das andere Mal vor einem mit schrägen Konturen bedeckten Hinter- grunde, im übrigen aber ganz in derselben Versuchsanordnung zu vergleichen, so wurde auf die drehbare Zinkblechscheibe des Apparates, auf welche vorn die parallelen Geraden aufgezeichnet waren (vgl. die frühere Mitteilung), eine zweite ebenso grosse aufgesetzt, welche auf der einen Seite mit weissem Papier, auf der anderen mit einer Druckschrift überklebt war. Diese zweite Scheibe konnte auf der ersten mittels dreier seitlicher Lappen befestigt werden‘). Um nun sowohl bei Verwendung der Doppel- als auch der einfachen Scheibe den Einstellfaden möglichst dieht an die Ebene des Hintergrundes heranbringen zu können, wurden die beiden die Zinkblechscheibe nach vorne umgreifenden Enden des Eisenstreifens, welche den Ein- stellfaden tragen, mit Schrauben versehen, mittels welcher der Faden etwas nach vorne und hinten verschoben werden kann. Ferner wurden an diesen Enden verlängerte Griffe angebracht, welche der Beobachter leicht von seinem Sitze aus erreichen und so die Einstellung des Fadens besorgen kann. Die Einstellung des Fadens mittels Schnur- laufübertragung wurde weggelassen. Zur Fixierung des Kopfes diente ein Kopfhalter, der im Laufe der Versuche speziell für den vorliegenden Zweck möglichst 1) Da sich aus den hier zu beschreibenden Versuchen ergab, dass man bei seitlicher Kopfneigung schon unter Benützung gerader Striche im Hintergrund sehr beträchtliche VH- Ablenkungen erhält, so kann man die Druckschrift auch ganz weglassen und eine bloss einseitig mit weissem Papier überspannte Zink- scheibe einfach auf die erste aufstecken. Über den Einfluss schräger Konturen auf die optische Lokalisation etc. 729 vereinfacht wurde. Er bestand zuerst aus zwei ineinander schleifenden Ringen, deren äusserer feststehender eine Gradteilung besass, an welcher der innere drehbare in beliebiger Stellung festgeklemmt werden konnte. Der innere Ring trug ein allseitig verstellbares Beissbrettehen und ein Gestell für zwei gesonderte kurze Guckröhren, für jedes Auge eine. Diese Guckröhren liessen sich mittelst einer Doppelschraubenführung symmetrisch gegeneinander verstellen, so dass ihnen genau die Distanz der Augen des Beobachters gegeben werden konnte. Ferner war jede für sich um eine vertikale. Achse drehbar, so dass man ihnen die für die Entfernung der Zinkscheihe passende Konvergenz erteilen konnte. Im Laufe der Versuche erwies sich aber diese kompliziertere Anordnung nicht als unbedingt nötig. Man erhielt ebenso gute Re- sultate, wenn man statt der doppelten Guckröhren eine einfache, für beide Augen gemeinsame Röhre benützte, deren distales Ende ‘nur entsprechend zugeschnitten werden muss, so dass ein möglichst kreisförmiges binokulares Gesichtsfeld resultiert. Es bestand dann der Kopfhalter bloss aus den zwei ineinander schleifenden Ringen, der einfachen Guckröhre und dem Beissbrettehen. Alles Seitenlicht wurde durch ein über den Kopf geschlagenes schwarzes Tuch, welches am Kopfhaiter befestigt war, abgeblendet. Die Versuche wurden stets binokular mit bewegtem Blick an- gestellt. Die Myopie. des: Verfassers war mit — 5D beiderseits korrigiert. Darauf, dass nicht etwa durch exzentrische oder schiefe Stellung der Korrektionslinsen eine Bildverzerrung bzw. - Verschiebung erfolgte, wurde geachtet. Es wurden ferner Probeversuche ohne Korrektion beim Verfasser ausgeführt und ausserdem Versuchsreihen an emmetropen Versuchspersonen angestellt und dabei keinerlei Ab- weichungen gefunden, welche man auf den Einfluss der Korrektions- linsen hätte beziehen können. Ausführung der Versuche und Versuchsergebnisse. 1. Einstellung der scheinbaren Vertikalen und Hori- zontalen bei seitlicher Kopineigung auf gleichmässig weissem Hintergrunde. Seitdem zuerst Aubert!) darauf aufmerksam gemacht hat, dass eine vertikale leuchtende Linie im Dunkeln bei seitlicher Kopfneigung 1) Eine scheinbare bedeutende Drehung von Objekten bei Neigung des Kopfes nach rechts oder links. Virchow’s Arch. Bd. 20 S. 381. 1861. 730 F. B. Hofmann: nach der entgegengesetzten Seite geneigt erscheint wie der Kopf, oder anders ausgedrückt, dass die scheinbare Vertikale im Sinne der Kopfneigung von der wirklichen abweicht, sind quantitative Untersuchungen über dieses „Aubert’sche Phänomen“ schon mehr- fach ausgeführt worden!). Es hat sich dabei herausgestellt, dass das Aubert’sche Phänomen in quantitativer Beziehung starke individuelle Verschiedenheiten aufweist, ja, dass es Personen gibt, denen eine vertikale Leuchtlinie bei geringen Kopfneigungen nach derselben Seite geneigt erscheint wie der Kopf?). Selbst bei einer und derselben Versuchsperson variiert die Ablenkung der schein- baren Vertikalen zu verschiedenen Zeiten ganz beträchtlich. Nagel fand bei sich und mehreren anderen, dass das Aubert’sche Phänomen erst bei Kopfneigungen über 50—60 ° auftritt und sich bei noch stärkeren Kopfneigungen ziemlich sprunghaft vergrössert. Andere Versuchspersonen von Nagel, wie auch schon Aubert, ferner Sachs und Meller, Feichenfeld sahen es schon bei kleineren Kopfneigungen auftreten. Es bleibe zunächst ganz dahingestellt, inwieweit. derartige Differenzen auf individuelle Besonderheiten der Versuchsperson oder auf Verschiedenheiten in der Versuchsanordnung zu beziehen sind. Jedenfalls ergibt sich daraus die Forderung, vor der Untersuchung des Einflusses schräger Konturen auf die Einstellungen der schein- baren Vertikalen und Horizontalen das Aubert’sche Phänomen bei der Versuchsperson selbst, und zwar unter den gleichen Bedingungen, unter denen auch die späteren Versuche angestellt werden, quanti- tativ zu untersuchen. Die Versuche wurden in der Weise ausgeführt, dass der Beobachter bei einer bestimmten fixierten Kopfneigung zunächst einige Zeit im Apparate zuwartete und sodann unmittelbar 1) Mulder, Önsvordeel over verticaal, bij neiging van het hoofd naar rechts of links. Feestbundel a. F. C. Donders. Amsterdam (zit. nach Her- mann’s Jahresber. 1888. II. Teil). — W. Nagel, Über das Aubert’sche Phänomen und verwandte Täuschungen über die vertikale Richtung. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorgane Bd. 16 S. 373. 1898. — M. Sachs und J. Meller, Über optische Orientierung bei Neigung des Kopfes gegen die Schulter. v. Graefes Arch. f. Ophthalm. Bd. 52 8. 387. 1901. (Vgl. auch dieselben Autoren in Zeitschr. f. Psychol. Bd. 31 S. 89. 1903). — H. Feilchen- feld, Zur Lageschätzung bei seitlichen Kopfneigungen. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane Bd. 31 S. 127. 1903. 2) Sachs und Meller, l. c. Von den Bewegungen während der Kopf- drehung sehe ich hier ab. Über den Einfluss schräger Konturen auf die optische Lokalisation etc. 731 nacheinander mehrere Einstellungen der scheinbaren Vertikale und Horizontale ausführte. Dann wurde nach einer Ruhepause der Ver- such bei einer anderen Neigung des Kopfes wiederholt. Das Resultat mehrerer aus solchen Versuchen zusammengesetzten Versuchsreihen ist in Tabelle I übersichtlich in der Weise zusammengestellt, dass von jedem Versuche die Mittelzahlen der Einzeleinstellungen, durch Strichpunkte voneinander getrennt, angegeben werden. In einigen besonders charakteristischen Fällen wird auch die Schwankungsbreite der in einem Versuche aufeinanderfolgenden Einzeleinstellungen an- geführt. Ablenkungen der scheinbaren Vertikalen und Horizontalen von der wirklichen im Sinne des Uhrzeigers sind als positive ein- getragen (Vorzeichen gewöhnlich weggelassen), solche entgegengesetzt dem Sinne des Uhrzeigers sind mit dem negativen Vorzeichen ver- sehen. Rechtsneigung des Kopfes wird als positive, Linksneigung als negative Neigung bezeichnet. Tabelle I. Die Zahlen geben hier und in allen folgenden Tabellen Winkelgrade an. Kopfneienn Ablenkung Ablenkung a der Vertikalen der Horizontalen 0 0; — Pl | na llo —5 — 1a; — Us le; — 20 —5; —4; —3 — 4/3; —?las; — 81a — 40 —8; —9; —9I —1; —5; —Tle +5 1 11/4 + 20 1 bis 2a; — Na; — 3a le a +40 — dabis +2; — u; 0 3l/e bis la; 7; 24a +55 | 2lle; 5 Ä 10,7 23/2 Die Versuche ergaben zunächst ein Schwanken der Einstellungen innerhalb ziemlich weiter Grenzen (2°, gelegentlich sogar 3°) sowohl im Einzelversuch als auch beim Vergleich der Mittelzahlen mehrerer Versuche untereinander. Der Grund für das Schwanken der Einstellungen im Einzelversuch ist mindestens zum Teil in dem Umstande zu erblicken, dass der Einstellfaden dem Beobachter dauernd sichtbar blieb, was schon Sachs und Meller als Fehler- quelle erkannt haben. Es erscheint nämlich, wie diese Autoren sich ausdrücken, „eine mässig geneigte Linie — Abwesenheit anderer sicht- barer Objekte vorausgesetzt — schon nach kurzer Betrachtung vertikal“. Selbstverständlich geht diese Fehlerquelle auch in unsere folgenden Versuche vor einem schrägen Hintergrunde ein (siehe darüber unten!). 132 F. B. Hofmann: Die Differenzen der Mittelzahlen verschiedener Versuchsreihen lassen sich allerdings nicht auf dieselbe Ursache zurückführen, weil die gleichen Differenzen zu verschiedenen Zeiten auch von Sachs und Meller, sowie später von Feilehenfeld, bei „Aufblitzversuchen“ beobachtet wurden, in welchen die Einstellinie nicht dauernd sichtbar blieb, sondern bloss während kurzer Zeit aufgezeigt wurde. Trotz allen diesen Schwankungen geht aber aus den Zahlen der Tabelle doch zunächst deutlich hervor, dass bei mir das Aubert’sche Phänomen schon bei Kopfneigungen unter 60° auftritt und zwar beim Übergange von schwächeren zu stärkeren Neigungen in zu- nehmendem Ausmaasse. Ferner ist für die späteren Versuche zu beachten, dass das Aubert’sche Phänomen bei der (mit Minus bezeichneten) Linksneigung des Kopfes durchschnittlich stärker ist als bei gleich grosser Rechtsneigung (positives Vorzeichen). Es fügt sich dies, wie wir sehen werden, ganz ungezwungen in den Rahmen der übrigen beim Verfasser vorhandenen Asymmetrien ein, ist aber eine durchaus individuelle Erscheinung, denn Feilchenfeld (l. e. S. 133) sibt ausdrücklich an, keine Verschiedenheiten zwischen Rechts- und Linksneigung gefunden zu haben. Eine weitere Besonderheit, welche in der Tabelle bei Rechts- neigung des Kopfes um 40 und 55° auffällt, ist der Unterschied zwischen der Ablenkung der scheinbaren Vertikalen und der schein- baren Horizontalen, die in den unmittelbar aufeinanderfolgenden Einzeleinstellungen eines Versuches auftreten kann. Es war zunächst daran zu denken, dass dies vielleicht durch einen Fehler in der Versuchsanordnung bedingt war. So konnte das Gesichtsfeld bei etwas ungenauer Einstellung der beiden Guckröhren leicht eine querovale Gestalt annehmen, und es war denkbar, dass man sich durch die Schrägstellung der ovalen Gesichtsfeldgrenzen bei seitlicher Kopfneigung in den Einstellungen beeinflussen liesse. Es wurde daher die Begrenzung des Gesichtsfeldes möglichst kreisförmig gestaltet, der erwähnte Unterschied zwischen der Einstellung der scheinbaren Vertikalen und Horizontalen kam aber trotzdem gelegentlich wieder zum Vorschein. Er ist daher, besonders da er nicht in allen Ver- suchsreihen konstant auftritt, wohl eher auf eine gewisse Unsicher- heit in der Einstellung zurückzuführen. Dass die Differenz zwischen Vertikal- und Horizontaleinstellung, wenn sie einmal in einem Ver- such auftritt, bei allen Einzeleinstellungen so hartnäckig bestehen bleibt, dürfte auf dem S. 464 der Mitteilung von Bielschowsky Über den Einfluss schräger Konturen auf die optische Lokalisation ete. 733 und dem Verfasser erwähnten Umstande beruhen, dass allem An- scheine nach die ersten Einstellungen einer Versuchsreihe für alle folgenden entscheidend sind. Zu beachten sind diese Differenzen deswegen, weil sie manchmal auch bei den Einstellungen der schein- baren Vertikalen und Horizontalen vor einem geneigten Hintergrunde auftreten und sie dann nicht ohne weiteres auf den Einfluss der schrägen Konturen bezogen werden dürfen. 2. Einstellung der scheinbaren Vertikalen und Hori- zontalen bei seitlicher Kopfneigung vor einem mit parallelen, schrägen Geraden bedeckten Grunde!). Bei der grossen Variationsmöglichkeit dieser Versuche wurden in der vorliegenden einleitenden Untersuchung zunächst bloss jene Versuche ausgewählt, welche für die eingangs aufgeworfene Frage am wichtigsten waren. So wurden zunächst bloss Kopfneigungen untersucht, welche ganz bequem lange Zeit hindurch einzuhalten waren, im Maximum solehe von 40°. Von den Neigungswinkeln des Grundes wurden jene vorwiegend verwendet, welche nach den früheren Versuchen möglichst ein Maximum der VH-Ablenkung nach der einen und anderen Richtung hin ergaben (das Genauere siehe im Folgen- den). Die Bezeichnung des Neigungswinkels erfolet diesmal etwas anders als in der früheren Mitteilung, doch werden durchwegs auch jetzt Abweichungen von der Vertikalen (und Horizontalen) im Sinne des Uhrzeigers als positive, solche entgegengesetzt dem Sinne des Uhrzeigers als negative bezeichnet. Eine Abweichung der Striche des Grundes von der Vertikalen um — 20 ° bedeutet demnach, dass die Striche mit dem oberen Ende um 20° nach links gegen die Vertikale geneigt sind. Bei dieser Neigung des Grundes wird bei aufrechter Kopfhaltung die scheinbare Vertikale um wenige Grade mit dem oberen Ende nach links (nach der Minusseite) geneigt ein- gestellt und eine ungefähr gleich grosse Drehung im gleichen Sinne weist auch die scheinbare Horizontale auf, d. h. sie weicht auf der 1) Bezüglich des Einflusses sichtbarer Konturen auf die Lokalisation der scheinbaren Vertikalen bei seitlicher Kopfneigung liegen ausser dem schon zitierten Satze von Sachs und Meller über die Wirkung längerer Betrachtung schräger Striche nur noch Bemerkungen Aubert’s (l.c. S. 383) und besonders Nagel’s (l. c. S. 377) vor über die Zurückdrängung des Aubert’schen Phänomens, sobald. im Gesichtsfelde Gegenstände erscheinen, deren wahre Lage im Raume dem .Be- obachter bekannt ist. 734 F. B. Hofmann: linken Seite nach unten von der wirklichen ab. Der Betrag dieser VH-Ablenkung ist aber bei aufrechter Kopfhaltung und Verwendung gerader Linien. als Hintergrund recht unbedeutend und erreicht selbst nach der eben angeführten — bei mir bevorzugten — Seite höchstens 5—6°. Noch viel geringer wird beim Verfasser die VH-Ablenkung, wenn man die Striche des Grundes um + 20°, d. h. also mit dem oberen Ende nach rechts von der Vertikalen abweichen lässt. Es kann dann bei aufrechter Kopfhaltung die VH-Ablenkung im positiven Sinne sogar ganz fehlen. Etwas grösser ist nach unseren früheren Versuchen die VH- Ablenkung manchmal bei einer Abweichung der Linien des Grundes von der Vertikalen um + 10° Das Maximum der VH-Ablenkung bei positiver Neigung des Grundes liegt daher für mich wohl etwas unter 20°, während es bei negativer Neigung ungefähr bei — 20° erreicht wird. Wenn im folgenden trotzdem der Einfluss eines Neigungswinkels von + 20° und — 20° miteinander verglichen wird, so war hierbei der Gedanke massgebend, objektiv symmetrische Verhältnisse zu untersuchen, wenn sie auch subjektiv vielleicht nicht ganz die gleiche Wirksam- keit besitzen. Dreht man den Grund von der Vertikalstellung der Striche aus im Sinne des Uhrzeigers soweit, bis die Striche einen Winkel von 70° mit der Vertikalen einschliessen oder, anders gezählt, um — 20° von der horizontalen Richtung abweichen, dann macht sich der Einfluss des Grundes in der Weise geltend, dass die scheinbare Horizontale und ganz ebenso die scheinbare Vertikale nach der negativen Seite geneigt eingestellt wird. In analoger — beim Ver- fasser aber wiederum wenig wirksamer — Weise wird durch eine Abweichung der Linien des Grundes von der Vertikalen um — 70°, von der Horizontalen also um + 20°, eine VH-Ablenkung im posi- tiven Sinne angerest. Bezeichnet man die horizontale und vertikale Richtung als die Hauptschnitte des ebenen Gesichtsfeldes, so erfolgt daher die VH-Ablenkung in den bezeichneten Fällen immer nach jener Seite hin, nach welcher die Linien des Grundes den kleineren Winkel von 20° mit einem der beiden Hauptschnitte des Gesichts- feldes einschliessen. Demnach ist es am anschaulichsten, wenn in den folgenden Tabellen die Neigung des Grundes nicht einheitlich als Abweichung von der horizontalen Richtung gezählt wird, wie in der früheren Abhandlung, sondern wenn man immer die Abweichung der Linien des Grundes von jenem Hauptschnitte angibt, mit welchem sie den kleineren Winkel einschliessen. Über den Einfluss schräger Konturen auf die optische Lokalisation ete. 735 Was den Gang der Versuche betrifft, so zerfiel eine jede Ver- suchsreihe in eine Anzahl von Einzelversuchen, welche durch Pausen von 5 Min. voneinander getrennt waren, während welcher die Versuchsperson frei im Zimmer herumblickte. In jedem Einzel- versuch betrachtete die Versuchsperson zuerst während einer be- stimmten Zeit — in der Regel 1Y/a Min. lang — im Apparate ruhig die geneigten Linien, denen der Einstellfaden, um nicht störend hervorzutreten, zunächst parallel gestellt war. Dann wurden nach- einander mehrere Einzeleinstellungen abwechselnd der scheinbaren Vertikalen und der Horizontalen ausgeführt und die Ablesungen von einer Hilfsperson vorgenommen. Die Einstellungen müssen möglichst rasch ausgeführt werden, weil sich sonst der schon be- sprochene Einfluss einer längeren Betrachtung des Einstellfadens geltend macht. Auch empfiehlt es sich, während der Einstellungen den Einstellfaden nur flüchtig im direkten Sehen zu streifen. Wesen des Einflusses der Aufmerksamkeit und der Ermüdung auf die Versuchsresultate ist es unzweckmässig, eine Versuchsreihe zu lange auszudehnen. Vielmehr wurde gewöhnlich eine Versuchs- reihe nur auf Ermittelung einer bestimmten Variation hingerichtet, etwa auf die Änderung der VH-Ablenkung bei verschieden starker Kopfneigung, aber konstanter Neigung des Grundes — Tabelle II und III. Oder es wurde bei konstanter Kopfneigung die Neigung des Grundes variiert, wie im Versuche der Tabellen IV und V. Zwischen den in Tabelle II und III dargestellten Versuchen und dem Versuche der Tabellen IV und V war eine fast dreimonatige Pause eingeschaltet, die Versuche II und III gehörten zu den letzten vor der Pause, der Versuch der Tabellen IV und V war der zweite nach der Pause, wurde aber an ganz der gleichen Anordnung an- gestellt. Der Vergleich der Tabellen ermöglicht daher nicht bloss einen Überblick über die Schwankungen der VH-Einstellung in einem Einzelversuch, sondern gibt auch ein Beispiel für die etwas grösseren Einstellungsdifferenzen von Versuchsreihen, die zu ganz verschiedenen Zeiten ausgeführt wurden. Aus den angeführten Beispielen, und in voller Übereinstimmung mit ihnen auch aus den übrigen Versuchsprotokollen, ergeben sich nun folgende Tatsachen: 1. Mit zunehmender seitlicher Kopfneigung (vorläufig bis zu 40° untersucht) macht sich die VH-Ablenkune durch den schräg ge- stellten Hintergrund immer stärker bemerklich, und sie erreicht bei F. B. Hofmann 736 De 21h) She Veit uojwJuozLIo uaaeq -UIUIS Op SunyuofqVy 0 2:01 Sg uojeytyIoA uaarı -uI9y9S A9p Sunyuafqy IL II 6 /ı0l he u9feJuOZLIOH uaıeq -UI949S IOP Sunyuafqy 006 SI LE ri6 6 r/8 uojeytyIoA uaıeq -UI9S A9p Sunyualqy 07 + shel EL EL 01 |elıpı sp = SI Shıylza) Ar 05 + se > 0 to 6 eh Nee 08 — == ee le es 0 sunstgu ua[eJuozLIo uaaed uspeytyTo\ uaıeq 3undtau -doy -ur9U9S A9p Sunyuojqy -ur9y9S a9p Sunyuafqy |, dos :uojey1Jd9 A A9p pun Sopunis) sap UOTILNS up uUAY9SIMZ [OyULM II OTIO que. 07 + Ze "eT ‘0 ne “hl Of 08 + hr Cu 6 0 Ts 08 — SE ei) 51] Sr “S/el 0 en Z3unstou uaje}LozLıio] uaıed uajeylyıoA uareq Sunsıou -Jdoy -UO0S A9p Sunyualqy -UI9U9S AOpP Sunyualgy -Jdoy ‚uw opeadfpyury U9qaF uofgez AI 08 + USeyINIoA‘ dop pun sopunın Sop uaydLIg Uap UAUOSINZ TJONULM "II e1I9q®L nn nennensomessemsesesesenoese& Über den Einfluss schräger Konturen auf die optische Lokalisation etc. 737 91-1 IE ep pe CI Seh pl Ti (2 ee IT— ehr ip 0° — ee N 0 Er — 8 ‘8/9 — %ır — = 0 ap ‘9 WE 7 — hg — ne — 03 ge Te 10% 08 l | 9[E1U0ZLIOH IENIII A 9feJUOZLIOH u9leg | SEeTTJA9 A u9ı1eg pun punayg 9fEJUOZLIOH u9ıeg ITEAIMOA u91eq | pun panın -urag9s 19p Sunyuafgqy | -umsgos d9p Zunyuajqy Bar -urOU9S A9p Zunyuofqy -UI9U9S A9p Zunyuofqy | on 07 — Iunstaujdoy "A 9OTI99eL Me I ee 0 N 8 8 01 8 Ve == & "hl 0) a el FRE — 0 9 “8/PT rel ®/181 ‘OL ‘8/07 “TI 08 SheT SıEL ‘31 el SıgL ‘31 08 9]6Ju0ZLIOH | BILD URCYN dfeJuozuıo] uaıeq afeylyaoA uaagq pun punıyg 9[EJu0ZLIOH uaıeq ofeyyao‘ uaregq pun punıy -UIIUIS AIOP Bunyua U: J 3 U9UISIMZ 3 08. 3 > 3 U9YUISIMZ ULIYIS AOP yuolqy uray9s 19p sunyualqYy SE urmy9s A9p SunyualqYy urmy9s I9p SunyuafqYy lache ‚ur Apeısjfoyury Ug98 uafgez dlq »0F# + Zundiougdoy "AI PTIPqA®eL 47 Bd. 136. Pflüger’s Archiv für Physiologie. 738 F. B. Hofmann: einer Kopfneigung von 40° schon bei Betrachtung blosser paralleler schräger Linien solche Beträge, wie wir sie bei aufrechter Kopf- haltung kaum unter Verwendung einer Druckschrift als Hintergrund beobachten konnten. Während bei aufrechter Kopfhaltung vor schrägen Linien die Differenz zwischen der Einstellung der schein- baren Vertikalen und Horizontalen bei seitlicher Neigung des Grundes von + 20° einerseits und von — 20° andererseits sich um etwa 6° herum bewegt, wächst diese Differenz bei einer Kopfneigung von 20° auf etwa 7—9°, bei einer Kopfneigung von 40° sogar auf 15—20°. Dieses Resultat ist besonders methodisch sehr wichtig. Wir sind nämlich infolgedessen in der Lage, von der Verwendung einer Druckschrift, welche niemals ganz reine Versuchsbedingungen schafft, als Hintergrund abzusehen, und das Phänomen bei blosser Be- trachtung paralleler Linien, also unter möglichst einfachen Ver- hältnissen ausserordentlich deutlich zum Vorschein kommen zu lassen. Ausserdem geht aus diesen Versuchen von neuem schlagend hervor, dass das Phänomen von der Überschätzung spitzer Winkel (dem Zöllner’schen Versuch) unabhängig ist. Es erscheint nämlich z. B. bei der Kopfneigung von — 40° und einer Einstellung des Grundes von — 20° Neigung gegen die Vertikale nicht bloss die scheinbare Vertikale, sondern auch die Horizontale im gleichen Sinne (nach der Minusseite) abgelenkt, und dementsprechend er- scheinen auch die schrägen Striche des Grundes fast vertikal, also der ganze Inhalt des subjektiven Sehfeldes erscheint gegenüber der wirklichen Lage der Objekte gedreht. Die Unabhängigkeit dieses Resultates von der Überschätzung der spitzen Winkel wurde schon in der früheren Mitteilung ausführlich dargetan. 2. Eine zweite bemerkenswerte Tatsache besteht darin, dass bei seitlicher Kopfneigung das Mittel zwischen den VH-Ablenkungen nach rechts und links gegenüber dem entsprechenden Mittel bei auf- rechtem Kopf eine Änderung im Sinne der Kopfneigung erleidet. Man kann dieses Mittel experimentell ungefähr bestimmen), wenn 1) Das Einfachste wäre natürlich, das Mittel der Maxima der VH-Ablenkung nach rechts und links zu nehmen. Nur müsste man dann diese Maxima erst in ausgedehnten Versuchsreihen genauer bestimmen. Ungefähr dürften sie übrigens für geringe Kopfneigungen bei Neigungswinkeln des Grundes von 20° gegenüber der Vertikalen und Horizontalen auftreten, so dass die in Tabelle IV und V unter diesen Rubriken angeführten Ablenkungen nicht allzuweit vom Maximum ab- liegen dürften. Über den Einfluss schräger Konturen auf die optische Lokalisation etc. 739 man bei seitlich geneigtem Kopf und horizontal gestellten: Strichen des Grundes die scheinbare Vertikale und bei derselben Kopfneigung und vertikal gestelltem Hintergrund die scheinbare Horizontale ein- stellt (vgl. Tabelle IV und V). Diese weichen dann bei. einer Kopfneigung von + 40° im positiven Sinne, bei einer Kopfneigung von — 40° beide im negativen Sinne von der wirklichen Vertikalen und Horizontalen ab. Dementsprechend sind bei Rechtsneigung des Kopfes die VH-Ablenkungen nach der positiven Seite, bei Links- neigung des Kopfes die VH-Ablenkungen nach der negativen Seite begünstigt. Nun sind bei mir die VH-Ablenkungen nach der negativen Seite schon bei aufrechter Kopfhaltung gegenüber denen nach der positiven Seite begünstist. Man darf dies wohl auch so ausdrücken: die Finstellungen bei aufrechter Kopfhaltung verhalten sich bei mir so, als ob der Kopf schon etwas nach links geneigt wäre. Die Folge davon ist, dass bei Linksneigung des Kopfes die Bevorzugung der VH-Ablenkungen nach der negativen Seite ausser- ordentlich gross und die VH-Ablenkungen nach der positiven Seite höchst unbedeutend sind, während bei Rechtsneigung des Kopfes um 40° die VH-Ablenkungen im positiven Sinne nur wenig über jene im negativen Sinne hinausgehen. Weitere Schlüsse aus dem vorhandenen Versuchsmateriale zu ziehen, halte ich mich vorläufig noch nicht für berechtigt. Ins- besondere kann ich die Unterschiede zwischen der Einstellung der scheinbaren Horizontalen und der scheinbaren Vertikalen in einem und demselben Versuche, die mitunter (Tabelle V, Neigung des Grundes um + 20° gegen die Horizontale) so weit geht, dass beide im entgegengesetzten Sinne von der wirklichen ab- weichen, noch nicht sicher erklären. Es ist aber zu berücksichtigen, dass solche Unterschiede auch bei der Einstellung der scheinbaren Horizontalen und Vertikalen auf gleichmässigem Grunde auftreten siehe oben). Ein Versuchsfehler ist zweifellos darin gegeben, dass der Einstellfaden dauernd sichtbar bleibt. Für genauere Unter- suchungen dürfte es daher nötig werden, die Versuchsanordnung in der Weise abzuändern, dass man nach dem Prinzip der Sachs- Meller’schen Aufblitzversuche den Einstellstrich nur auf kurze Zeit sichtbar macht. Für die blosse Demonstration der Versuche und für die Feststellung der gröberen Tatsachen reicht aber die bisher verwendete einfache Anordnung vollständig aus. Es war mit derselben ganz leicht, auch bei Ungeübten gleich in der ersten 47 * 740 F. B. Hofmann: Über den Einfluss schräger Konturen etc. Versuchsreihe den beschriebenen Einfluss des Grundes sicher fest- zustellen. Die genauere Untersuchung aller dieser Verhältnisse, die sich auch noch auf andere Personen zu erstrecken hätte, sowie die weitere theoretische Besprechung der Ergebnisse soll der späteren aus- führlichen Arbeit vorbehalten bleiben. Zusammenfassung der Ergebnisse. 1. Der von Bielschowsky und dem Verfasser früher bei aufrechter Kopfhaltung festgestellte Einfluss schräger, gerader Striche auf die Einstellung der scheinbaren Vertikalen und Horizontalen wird bei seitlicher Kopfneigung (untersucht bis zu 40° seitlicher Neigung) beträchtlich stärker. 2. Das Mittel zwischen den Ablenkungen der scheinbaren Vertikalen und Horizontalen (kurz VH-Ablenkungen) bei Neigung des Hintergrundes nach rechts und links erleidet bei seitlicher Kopf- neigung eine Änderung im Sinne der Kopfneigung. Es sind also bei Rechtsneigung des Kopfes VH-Ablenkungen im Sinne des Uhr- zeigers, bei Linksneigung des Kopfes VH-Ablenkungen entgegen- gesetzt dem Sinne des Uhrzeigers begünstigt. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass der Verfasser auch auf ganz gleichmässigem Grunde die scheinbare Vertikale und Horizontale schon bei geringen Kopfneigungen etwas im Sinne der Kopfneigung schräg einstellt (Aubert’sches Phänomen). 3. Beim Verfasser zeigt sich als individuelle Eigentümlichkeit ein Unterschied zwischen dem Einfluss gleich grosser Kopfneigungen nach rechts und links insofern, als die Begünstigung der VH-Ab- lenkungen entgegengesetzt dem Sinne des Uhrzeigers bei Links- neigung stärker ist, als die Begünstigung der VH-Ablenkungen im Sinne des Uhrzeigers bei Rechtsneigung des Kopfes. Dem entspricht, dass beim Verfasser schon bei aufrechter Kopfhaltung eine Be- günsticung der VH-Ablenkungen entgegengesetzt dem Sinne des Uhrzeigers vorhanden ist. 4. Bei seitlicher Kopfneigung lässt sich an den Augen des Ver- fassers auch eine geringe motorische Inkongruenz feststellen in dem Sinne, dass bei Linksneigung des Kopfes eine Tendenz zu einer leichten Höhendivergenz auftritt, welche bei Rechtsneigung des Kopfes verschwindet. 741 (Aus der physiologischen Abteilung der zoologischen Station zu Neapel.) Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. Von Richard Burian. (Mit 2 Textfiguren.) I. Die Hypotonie des Glomerulussekretes der wasserbewohnenden Wirbeltiere. Die Frage, ob das Glomerulussekret aus dem Blutplasma durch mechanische Filtration unter Zurückhaltung der Kolloide, also mit anderen Worten durch Ultrafiltration!), entstehe oder ein un- bekannter und verwickelterer Vorgang dabei im Spiele sei, ist trotz der vielfältigen zu ihrer Entscheidung unternommenen Versuche noch immer kontrovers. Im ganzen scheint zurzeit die Filtrationstheorie das Übergewicht zu besitzen, und in der Tat fallen für sie recht schwerwiegende Argumente in die Wagschale?). Immerhin lässt sich manche Erfahrung mit dieser Theorie nur schlecht in Einklang bringen, am schlechtesten wohl die, dass der Glomerulus unter Umständen eine Lösung abzuscheiden vermag, die viel verdünnter ist als das Blutplasma, während die 1) Diese Bezeichnung wurde bekanntlich von Bechhold (Zeitschr. £. physikal. Chem. Bd. 60 S. 257) für die schon von anderen (Martin, Starling, Malfitano usw.) vor ihm geübte Filtration kolloidaler Lösungen durch Gallert- filter eingeführt. 2) Das Bedeutsamste unter ihnen ist meines Erachtens der von Starling (Journ. of Physiol. vol. 24 p. 317) erbrachte Nachweis, dass die Harnabsonderung bei einem Blutdrucke sistiert, der genau dem geringfügigen osmotischen Drucke der Bluteiweisskörper entspricht; zur Aufrechterhaltung der Glomerulus- funktion mithin derselbe Mindestdruck erforderlich ist, der auch bei der Ultra- filtration des Blutplasmas gerade noch zur Trennung der Eiweisskörper von ihrem wässerig-salinischen Lösungsmittel hinreichen würde. 7142 Richard Burian: Filtrationstheorie bis auf den Unterschied im Eiweissgehalte eine vollkommene Übereinstimmung von Glomerulussekret und Blutplasma verlangen würde. Dass beim Menschen nach ausgiebiger Flüssigekeitsaufnahme der Harn eine weit niedrigere osmotische Konzentration aufweisen kann als das Blut, ist mehrfach festgestellt worden. Dreser!) fand für den Gefrierpunkt des Harves nach Genuss von 1%» Liter Bier Werte wie — 0,18 oder —0,16°C., ja, Macallum und Bensson?) beobachteten nachreichlichem Wassertrinken sogar denWert — 0,075 °C., obwohl der Gefrierpunkt des Blutserums dabei, wie bekannt, seine nor- male Lage (— 0,56 °C.) unverändert beibehält. Die Hypotonie kommt hier zweifellos bereits dem Glomerulussekrete zu: nachträgliche Verdünnung des letzteren in den Harnkanälchen, sei es durch „Rückresorption® von Salzen, sei es dureh Zuströmen von Wasser, ist mit Sicherheit auszuschliessen. Eine erheblichere Rückresorption von Salzen erscheint schon aus dem Grunde richt gut möglich, weil der Harn in solchen Fällen mit besonders grosser Geschwindigkeit durch die Niere strömt?). Überdies liegen aber auch direkte Be- weise gegen das Stattfinden einer nachträglichen Salzresorption vor. Grünwald*) gelang es, von Kaninchen — durch Ernährung mit chlorfreiem Futter und gründliche Ausschwemmung des Kochsalzes aus den Geweben mittelst wiederholter Diuretingaben — einen völlig chloridfreien Harn zu gewinnen, ohne dass noch der Chlorgehalt des Blutes nennenswert herabgesetzt gewesen wäre. Die Chlorid- freiheit des Harnes blieb nun auch bestehen, wenn das Epithel der Nierenkanälchen unter Schonung der Glomeruli aufs schwerste ge- schädigt wurde, wie man das durch Quecksilbervergiftung. erreichen kann’). Sie beruhte demnach jedenfalls nicht auf einer Resorption der Chloride seitens des Kanälchenepithels. Noch engere Beziehungen zu unserem Thema haben jedoch die Versuche von De Bonis®). 1) Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmak. Bd. 29 S. 302. 2) Journ. of biolog. Chem. vol. 6 p. 87. 3) Macallum und Bensson verzeichnen z. B. 205 ccm Harn in 10 Minuten, was für jede Niere ca. 10 ccm pro Minute ausmacht! 4) Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmak. Bd. 60 S. 360. 5) Von der strengen I.okalisierung und dem Grade der Schädigung über- zeugte sich Grünwald durch die histologische Untersuchung. 6) Giorn. internaz. delle seienze med. 1905. — Arch f. (Anat. u.) Physiol. 1906 S. 271. Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. 743 Dieser Forscher zerstörte bei Hunden in einer der beiden Nieren das Epithel der Kanälchen mit Hilfe der von Bottazzi!) an- gegebenen Methode (Injektion einer !/„—1°/oigen Fluornatrium- lösung in das Nierenbecken). Die so behandelten Tiere schieden nach forcierter Wasseraufnahme durch beide Nieren hypotonischen Harn aus, und zwar durch die ihres Kanälchenepithels beraubte Niere?) in noch höherem Grade und noch grösserer Menge als dureh die gesunde Niere. Dies Resultat, das von Bottazzi und Onorato?°) vollinhaltlich bestätigt werden konnte, lehrt unzweideutig, dass die nach Wassergenuss auf- tretende Hypotonie des Harnes nicht erst in den Nierenkanälchen dureh Verdünnung der von den Glomerulis abströmenden Flüssigkeit zustande kommt; dass vielmehr in den Kanälchen auch unter diesen Umständen eher eine Konzentrierung jener Flüssigkeit erfolet. Kein Zweifel also, dass die Glomeruli der Säugetierniere nach reichlicher Einfuhr von Wasser in den Körper eine im Vergleich zum Blute stark verdünnte Lösung absondern. Bei den Wasser-Wirbeltieren, denen sich in dieser Hinsicht auch die Landschildkröten anreihen, be- finden sich nun die Glomeruli dauernd in dem funktionellen Zustande, in den sie bei den Säuge- tieren bloss nach Überschwemmung des Organismus mit Wasser geraten. Teleostier, Amphibien und Schildkröten scheiden nämlich stets hypotonischen Harn aus — auch insoweit sie Meeresbewohner sind, in welehem Falle freilich die Hypotonie etwas weniger stark entwickelt zu sein pflegt. Es sind hierüber “sehon von verschiedenen Autoren Beobachtungen mitgeteilt, die ich zunächst in Form einer Tabelle (Tab. I, S. 744) zusammenstellen möchte. Diesen Beobachtungen kann ich zu ihrer Bekräftigung und Er- weiterung noch einige eigene Befunde hinzufügen, welche in Tabelle II registriert sind. | 1) Arch. di Fisiol. t. 1 p. 278. 2) Auch De Bonis stellte den Erfolg des Eingriffes jedesmal durch die histologische Prüfung fest. 3) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1906 S. 205.. Vgl. spez. S. 243 Tab. XI. 744 Richard Burian: Tabelle 1. Gefrierpunkt Untersuchungsobjekt Has Blut- | des serums Harnes | — 0,80% | — 0,78° Lophius piscatorius % | — 0,86° | — 0,80° ni — 0,80% | —0,66° 1 SS Os 0 ß Orthagoriscus mola { 0,80° | 0,697 Teleostier j —.0,69° | — 0,68 Anarrhichas lupus .|—-0,681° — 0,555° Gadus virens -. . . » 1— 0,7609 | — 0 630° ı Gadus morrhua . . . |— 0,652° | — 0,644 ER Rana esculenta . . . | — 0,435° | — 0,170° Amphibien { Bufo vulgaris. . . . | 0,445° | — 0,1550 | Landschildkröten: Eimys europaea . . . | — 0,096 Tabelle I. Beobachter Rodier!) Bottazzi?) Bottazzi?) Rodier!) Bottazzi?) Dekhuyzen?) Bottazzi*) Spezif. Leitfähigkeit | Gesamtasche (in Gefrierpunkt (bie 25,50C.) |Sulf.übergeführt) Untersuchungsobjekt de Bie serums ' Harnes des des Blut-| des d. Blut-| des serums | Harnes °C 06 serums | Harnes 0% YA Conger vulgaris . . . | — 1,025 | — 0,820 |277-10-*|226.10-| - | — i Lophius piscatorius a) | — 1,040 | — 0,775 | 274.10? | 222.10? = Marine 5 & b) | — 0,978 | — 0,706 | 268- 10% | 219.10-* _ — Teleostier c) | — 0,770 | — 0,643 [227-.10-21217.10-| — Seeschildkröten :" Thalassochelys CANELLOS)E a. e nee — 0,646 | — 0,607 | 143.10 | 207- Amphibien: Bufo vulgarisu.viridis | — 0,541 | — 0,420 | 137.10?) 69- Landschildkröten: Testudo graeca | — 0,597 , — 0,190 [184-10-?| 41- Scorpaena serofa a) | — 0,705 | — 0,680 | 187. 10- | 219. b)| — 0,711 | — 0,654 [199.104 | 218- 107; 105? 107: 102 107% 0,996 | 0,359 1264 | 0,214 In bezug auf die Technik der Versuche ist folgendes zu bemerken. Zum Auffangen des Fischharnes benutzte ich die Methoden, die ich vor kurzem®) ein- gehend beschrieben habe. Diese Methoden gestatten eine länger fortgesetzte Harnsammlung. In der Tabelle sind indessen nur die für den Harn des letzten 1) Travaux des Lab. de la Station zoolog. d’Arcachon 1899 p. 103. 2) Arch. di Fisiol. vol. 3 p. 547. 3) Arch. Neerland. des sciences exactes et natur., 2° ser., t. 10 p. 121. 4) Arch. di Fisiol. t. 3 p. 416. 5) Bei diesem Objekte diente für die Messungen nicht das blutserum, sondern das Blutplasma. 6) Zeitschr. f. biolog. Technik u. Methodik Bd. 1 8. 383. Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. 745 Versuchstages gefundenen Werte angeführt, die mit den sofort nachher am Blut- serum ermittelten direkt vergleichbar sind. Bei den Kröten und Schildkröten verwendete ich für die Messungen einfach den Inhalt der „Harnblase“. Da es aber die anatomischen Verhältnisse der letzteren als nicht ausgeschlossen er- scheinen lassen, dass gegebenen Falles Wasser aus der Umgebung resp. aus dem Darminhalte in die Blase eintreten kann, so wurden die für den Versuch be- stimmten Exemplare von Bufo und Testudo zunächst 14 Tage lang auf voll- ständige Wasserkarenz gesetzt. Trotzdem waren die in der Blase vor- handenen Harnmengen gar nicht gering; so lieferten z. B. 12 Kröten (B. vul- garis und viridis gemischt) mehr als 50 cem Harn. — Für die Messungen be- diente ich mich der allgemein üblichen Methoden, und zwar: für die Gefrierpunktsmessung des Beckmann- Verfahrens, meist unter An- wendung eines Friedenthal’schen Thermometers, zuweilen jedoch auch in der von mir und Drucker!) für kleine Flüssigkeitsmengen angegebenen Modifikation ; für die Leitfähigkeitsmessung des Kohlrausch- Verfahrens unter Benutzung der Hamburger’schen Widerstandsgefässe; für die Veraschung der Methode von Neumann, in einer Ausführung, die weiter unten genauer dargestellt werden soll. An den Gefrierpunktswerten ist die Korrektur für die durch die Unterkühlung bedingte Konzentrationserhöhung nicht vorgenommen. Die Berechnung dieser Korrektur erübrigte sich deshalb, weil stets dafür Sorge getragen wurde, dass bei den Vergleichsmessungen der Unterkühlungsgrad genau der gleiche war. Es seien hier einige Notizen über Menge und Beschaffenheit des Harnes der benutzten Tierarten eingeschaltet. Die tägliche Harnmenge beträgt für mittel- grosse Exemplare von Scorpaena scrofa 7—8 ccm, für geschlechtsreife Conger- Weibchen 12—15 ccm, für grosse Individuen von Lopkius piscatorius aber volle 50—60 cem. Die Reaktion des klaren, hellgelben Urins ist bei Scorpaena und Lophius entschieden sauer, bei Conger amphoter. Unter den Schildkröten be- sitzt Testudo gleichfalls einen vollkommen klaren Harn; bei T’halassochelys da- gegen scheidet sich meist schon in der Blase ein Uratsediment ab. — Etwas eingehender untersucht wurde der Mischharn der auf Wasserkarenz gesetzten Kröten. Er reagierte sauer und enthielt 0,506 °/o Gesamt-N, wovon 0,426 %/o auf Harnstoff kamen, wie mittelst des Verfahrens von Mörner-Sjögqvist festgestellt wurde. Harnsäure war nur in unwägbaren Spuren zugegen. Aus dem ansehn- lichen Harnstoftgehalt von ca. 0,9 °/o erklärt es sich, dass der Harn nach Tab. II trotz kleiner Leitfähigkeits- und Aschewerte, d. h. trotz geringen Salzgehaltes, eine ziemlich grosse Gefrierpunktserniedrigung zeigte. Vergleicht man dieselbe mit der von Bottazzi (Tab. I) im Mischurin gewöhnlicher Bufo-Exemplare ge- fundenen, so ergibt sich, dass bei Wasserentziehung die Konzentration des Krötenharnes erheblich zunimmt: die Zunahme betrifft jedoch augen- scheinlich weit weniger den Salz- als den Harnstoffgehalt. Nach den in den beiden Tabellen verzeichneten Zahlen liegt der Gefrier- punkt des Blutserums bei Teleostieren, Amphibien und Schildkröten ausnahmslos 1) Zentralbl. f. Physiol. Bd. 23 S. 772. 746 Richard Burian: tiefer als der Gefrierpunkt des Harnes. Ziemlich ‘gross (0,121 0—0,407°, im Mittel 0,285°) ist die Differenz bei den Batrachiern und den Landschildkröten, kleiner, aber doch sehr deutlich (0,012 °—0,272°, im Mittel 0,110°% bei den marinen Fcermen: den Meeresteleostiern und den Seeschildkröten. Die Hypo- tonie des Harnes scheint, solange die Tiere normal sind, unter allen Umständen festgehalten zu werden. Sie bleibt bei den Amphibien und den Landschildkröten auch nach, längerdauernder Wasserkarenz bestehen und findet sich in gleicher Weise bei den verschiedenen Exemplaren von Lophius obwohl die Gefrierpunkte ihrer Blutsera aus unbekannten Gründen stark differieren). — Aus Tab. Il geht ferner hervor, dass die tiefere Lage des Gefrierpunktes des Blutserums in erster Linie durch einen höheren Salz- gehalt verursacht wird. Denn wie die osmotische Konzentration, so ist in der Regel auch die elektrische Leitfähigkeit im Serum grösser als im Harn. Nur bei Scorpaena und Thhalassochelys verhält es sich umgekehrt: wahrscheinlich wird im Serum resp. Plasma dieser Tiere das Leitfähigkeitsplus durch die von den Eiweissstoffen herrührende Widerstandsvermehrung überkompensiert. Noch deut- licher als in den Leitfähigkeitswerten prägt sich der Unterschied des Salzgehaltes von Blutserum und Harn aber in den Resultaten der Aschebestimmung aus. Und das ist ganz begreiflich, da ja mit abnehmender Salzkonzentration der Dissozia- tionsgrad steigt und die elektrische Leitfähigkeit daher keineswegs proportional mit dem Salzgehalte absinkt. Wie bei den Säugetieren in dem speziellen Falle reichlicher Wasseraufnahme, so muss auch bei den Tieren mit dauernd hypo- tonischem Harn die Hypotonie bereits dem Glomerulus- sekret eigen sein. An eine Rückresorption von Salzen in den Harnkanälchen kann darum nicht gedacht werden, weil jene Ab- sehnitte der Kanälchen, denen man bei den Säuge- tieren das Resorptionsvermögen zuschreibt, bei den niederen Vertebraten gar nicht oder nur mangelhaft entwickelt sind. Vollends ausgeschlossen aber ist eine Ab- scheidung von Wasser oder hochgradig verdünnter Salzlösung seitens der Kanälehen. Gerade an dem klassischen Beispiele eines Tieres mit hypotonischem Harn, dem Frosch, ist dureh die bekannten Ver- suche von Nussbaum?) zum ersten Male der strikte Nachweis er- bracht worden, dass das „Harnwasser“ so gut wie ausschliesslich von den Glomerulis herstammt: wurden die Nierenarterien unter- bunden, die beim Frosche bloss die Glomeruli versorgen, so hörte sofort jede Flüssigkeitsabsonderung auf, während die l) Als besonderen Ausnahmefall erwähnt Dekhuyzen (ohne Angabe näherer Details), dass er in Helder Individuen von Gadus morrhua mit merklich hypertonischem Harn gefunden habe. 2) Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd, 16 S. 139 und Bd. 17 S. 580. Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. 747 Ausscheidung von injiziertem Indigkarmin durch die Nierenkanälchen sich in keiner Weise behindert zeigte!). : Nach: Einverleibung von Harnstoff beobachtete Nussbaum allerdings auch unter diesen Bedingungen. noch eine Flüssigkeitssekretion. Dem stehen jedoch Angaben von Beddard?) gegenüber, der bei einer Wiederholung der Nussbaum’schen Versuche zwar ihre Hauptergebnisse durch- aus bestätigen konnte, aber fand, dass selbst Harnstoff die Flüssigkeits- ausscheidung nicht mehr anzuregen vermag, wenn die Blutzuführ zu den Glomerulis wirklich vollständig ausgeschaltet ist. Das Gegen- stück zum Nussbaum’schen Experiment bildet der Versuch von Gurwitsch?) — Unterbindung der Nierenpfortader an Stelle der Nierenarterien. Es wird hierbei nicht die Blutversorgung der Glomeruli, sondern umgekehrt die der Harnkanälchen aufgehoben. Die Folge davon ist, dass die Ausscheidung von injiziertem Indig- karmin unmöglich wird: die Flüssigkeitsabsonderung geht dagegen nach wie vor vonstatten. Freilich liefert die operierte Niere gewöhnlich etwas weniger Harn als die Kontrollniere (z. B. 0,5 statt 0,8 eem in 2 Stunden), und Gurwitsch zieht des- halb die Möglichkeit in Erwägung, dass vielleicht doch ein Teil des „Harnwassers“ vom Kanälchenepithel beigesteuert werde. Die wahre Ursache des Unterschiedes in der Leistungsfähigkeit der operierten und der normalen Niere ist indessen nach Metzner*) eine ganz andere. Durch die Unterbindung der Nierenpfortader müssen nämlich jene Glomeruli, deren Vasa efferentia mit dem Nierenpfortader- system zusammenhängen, geschädigt werden; es ist also nur begreif- lich, dass diese Glomeruli ihre Tätigkeit einstellen. Zu der gleichen Schlussfolgerung wie das Nussbaum’sche Experiment führt übrigens auch eine Beobachtung von Regaud und Policard?’) an Petromyzon fluviatilis. Bei diesem Cyklostomen hat jede der beiden Nieren nur einen einzigen, aus der Verschmelzung der ursprünglich getrennten Gefässknäuel hervorgegangenen, lang- gestreckten Glomerulus, an welchem sämtliche Harnkanälchen ent- 1) Die Einwände, die Adami (Journ. of Physiol. vol. 6 p. 382) gegen diese Versuche erhob, wurden von Nussbaum (Anat. Anz. Bd. 1 S. 67 und Arch. f. mikr. Anat. Bd. 27 S. 442) erfolgreich zurückgewiesen. 2) Journ. of Physiol. vol. 28 p. 20. 3) Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 91 S. 71. 4) Nagel’s Handb. d. Physiol. d. Menschen Bd. 2 S. 273. 5) ©. r. de la Soe. de Biol. t. 54 p. 554. 748 Richard Burian: springen; den letzteren aber sitzen stellenweise blinde Divertikel auf, denen ein Zusammenhang mit dem Glomerulus gänzlich abgeht. Im feineren Bau besteht zwischen den Kanälchen und ihren Divertikeln völlige Übereinstimmung; speziell schliessen die Epithel- zellen da wie dort in gleicher Weise konkrernentartige Körner ein, die unzweifelhaft Exkretmaterial und dazu bestimmt sind, von den Zellen ausgeworfen zu werden!). Während nun aber das Lumen der blinden Divertikel in der Tat ganz und gar von solehen Körnern erfüllt ist, sind dieselben im Lumen der Kanälchen nur höchst selten zu finden: sie werden hier offenbar gleich nach dem Austritt aus den Zellen durch den vom Glomerulus herkommenden Flüssigkeitsstrom weggespült. Diese Beobachtung, die meiner Meinung nach geradezu den Wert eines Experimentes besitzt, zeigt abermals, dass auch bei den Wasser- tieren von den Nierenepithelien keine beträchtlichere Flüssigkeits- menge abgesondert wird. Il. Ultrafiltrationsversuche mit Blutplasma (resp. Blutserum) von verschiedenen Vertebraten. Dureh die Erkenntnis, dass die Glomeruli bei einer grossen Zahl von Wirbeltieren nicht bloss ausnahmsweise, sondern de norma und dauernd ein hypotonisches Produkt liefern, gewinnt die Frage, wie sich diese Hypotonie mit der Filtrationstheorie in Einklang bringen lasse, eine erhöhte Bedeutung. Man könnte sich vielleicht vorstellen, dass im Blutplasma der betreffenden Tiere ein erheblicher Teil der kristalloiden Substanzen an Eiweiss gebunden sei und daher bei der Ultrafiltration zurückgehalten werde. Allein, um hieraus die Differenz der Gefrierpunkte von Blutplasma und Glomerulusflüssigkeit zu erklären, müsste man die Zusatzannahme machen, dass die an das Eiweiss gebundenen Substanzen trotz der kolloidalen Bindung ihre Wirkung auf den Gefrierpunkt beibehalten. Diese Annahme ist theoretisch wenig wahrscheinlich und widerspricht überdies auch experimentellen Erfahrungen. Durch die Untersuchungen von Bugarszky und Liebermann?) wissen wir nämlich, dass in Gemischen von asche- l) In dieser Hinsicht erinnern die Nieren von Petromyzon noch an die Nephridien der Anneliden. 2) Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 72 S. 51. Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. 749 freiem Ovalbumin nit Alkali- oder Säurelösungen die Gefrier- punktserniedrigung wesentlich kleiner ist als in den reinen Lösungen, weil der mit dem Eiweiss in Verbindung tretende Teil des Alkali resp. der Säure eben seinen kryoskopischen Effekt ein- büsst. Anders verhält es sich freilich, wenn man Kochsalz- lösungen mit Albumin versetzt: der Gefrierpunkt der Lösungen bleibt in diesem Falle völlig unbeeinflusst. Hier kommt aber auch sicher keine Verbindung von Salz und Eiweiss zustande; denn unter- wirft man die Gemische der Ultrafiltration, so filtriert nach meinen Beobachtungen!) stets die unveränderte und nicht eine verdünntere Salzlösung ab, wie man das erwarten müsste, falls in den Gemischen nennenswerte Salzınengen an Eiweiss gebunden wären. Wir haben also nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass kryoskopisch ausgiebig wirksame Eiweiss-Kristalloid-Verbindungen überhaupt möglich sind. Gleichwohl schien es mir geboten, ex- perimentell zu prüfen, ob die Blutplasmen der Wasser-Wirbeltiere nicht doch etwa derartige Verbindungen enthalten und folglich hypo- tonische Ultrafiltrate geben. Das ist indessen nicht der Fall. Wie immer man die Versuchsbedingungen variieren möge — ob man die Konzentration der Filtergallerte und den Filtrationsdruck grösser oder kleiner wähle ?), ‘mit oder ohne Rührer arbeite, nur wenige Tropfen oder fast die ganze Flüssigkeit abfiltriere —, stets zeigen die eiweissfreien Filtrate denselben Gefrierpunkt wie die Blutplasmen (resp. Blutsera), und daraus ergibt sich, dass in den letzteren kryoskopisch merklich wirksame Eiweiss-Kristalloid-Komplexe nicht vorhanden sein können. Es gilt das für höhere und niedere, für Land- und Wasservertebraten in durchaus gleicher Weise. Bei Säugetieren hatte schon Starling?) gefunden, dass zwischen dem Blutserum und seinem Ultrafiltrat bloss ein minimaler, durch die Gefrierpunktsmessung gar nicht zu entdeckender Unterschied im osmotischen Druck besteht); dies 1) Einige von diesen Beobachtungen sind publiziert im Arch. di Fisiol. vol. 7 p. 421. 2) Allzuhohe Drucke sind aus Gründen, die ich in der soeben zitierten Arbeit mitgeteilt habe, allerdings zu vermeiden. 3) Journ. of Physiol. vol. 24 p. 317. 4) Dass Waymouth Reid (Journ. of Physiol. vol. 31 p. 438) bei einer Nachprüfung der Starling’schen Experimente Differenzen in den Gefrierpunkten des Ultrafiltrates und des Blutserums erhielt, beruht, wie ich (Arch. di Fisiol. vol. 7 p. 421) dargetan habe, lediglich auf einem Versuchsfehler. 750 Richard Burian: ‘Verhalten ist jetzt durch meine Versuche‘ für die ganze Wirbeltier- reihe nachgewiesen. Nor elken ER Aber noch mehr: ausser dem Gefrierpunkt stimmt nach den unten angeführten Resultaten regelmässig auch der Aschegehalt des Ultrafiltrates vollkommen mit dem des Plasmas (resp. Serums) überein, und mithin können selbst kryoskopisch unwirksame Verbindungen von Eiweiss und Aschebestandteilen kaum mehr als spurenweise im Plasma zugegen sein. Ob organische Kristalloide in kryoskopisch unwirksamer Kombination mit Eiweiss- stoffen in den Blutplasmen der Wirbeltiere vorkommen, darüber sagen meine Versuche im allgemeinen nichts aus; nur bei den Selachiern habe ich festgestellt, dass der gesamte im Plasma be- findliche Harnstoff!) in das Ultrafiltrat überzugehen vermag, also in freiem Zustand und nicht in kolloidaler Bindung anwesend sein muss. Für das organische Kristalloid, das im Blute aller übrigen Vertebraten quantitativ die Hauptrolle spielt, den Traubenzucker, ist jedoch der gleiche Nachweis bereits auf anderem Wege von Michaelis und Rona?) mit voller Sicherheit erbracht. Nach all dem scheint im Blutplasma der Wirbeltiere jede Art von Eiweiss-Kristalloid- Komplexen mehr oder minder voll- ständig zu fehlen, und das bildet vielleicht einen nieht unwichtigen Unterschied zwischen den plasmatischen Körpersäften und dem Protoplasma, das gewiss reichlich kolloidgebundene Kristalloide ent- halten wird?). Wie dem aber auch sei, so viel ist jedenfalls ganz sicher, dass sich die besondere Sorte von Eiweiss-Kristalloid- Verbindungen, deren die Filtrationstheorie zur Erklärung der Hypotonie des Glomerulussekretes bedürfte, im Plasma der Wasser- tiere ebensowenig findet wie in dem der Landbewohner; und dass. jenes Sekret gleich den künstlichen Ultrafiltraten stets den Gefrierpunkt des Blutplasmas besitzen müsste, wenn es einfach durch Ultrafiltration ohne Mitwirkung anderweitiger Vorgänge entstünde. Die zahlenmässigen Belege für das Gesagte sind in Tabelle III mitgeteilt. 1) Der Harnstoffgehalt des Selachierplasmas ist bekanntlich sehr hoch (vgl® z. B. Baglioni in Hofmeister’s Beitr. z. chem. Physiol. u. Pathol. Bd. 9 S. 50, sowie meine unten, S. 754, angeführten Resultate. 2) Biochem. Zeitschr. Bd. 14 S. 476. 3) Die experimentelle Prüfung dieser Vermutung mit Hilfe der Ultrafiltration ist jn unserem Laboratorium soeben in Angriff genommen worden. 751 Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. "YIISIWIFUIWWESMZ UHABJÄWIXT TOMZ UOA (I = Ze »-OL X IEL | »-01 >SELT | #-01 > 291 | F8o — | s80 — | 980 — nr SUR | | wozkwouT UA wmaas | FI 908 | 380% 8708 | »-01 198 | »-01><6L8 | »-01 898 | 0888 — | 618 — | Ie8a — |Cısmngwowunmkoguoaeuserg | EI 69€. | 08C] SET. | „01612. | »-O1> j al BET | LOB Z0BL | »-01 > 278 | »-01> 618 | 1-01 898 | 9260— | 1260 8260 — | (a | a Be | 11 zo 02 Sr »-01 208 | #-01 988 | »-01>SYEL | »-01 X 8GT | »-0L X LEI | Ereo— | 90 — | Treo — | 2° 9.2 "sapama pun | sımwbyna ofng uoA umaag | 6 08T LT | 08T BELT | »-01 68T | »-OL FIT | »-01L > IHI | 699 0 — | 90 — | 990 — | © 9 99m mama | shij9y90ssP7»Yy,L UoA wwseig | 8 Zr a u Terag 79% L | »-01 28T | »-01 708 | »-01% PIE | »-01>< 99T | »-06>< 198 | 0890 — | 0890 — | 8390 — |: ° ° wnzsueugng | 9 9871 er EITT | »-01 x ORT | »-01>< 69T | #-01%< 871 | 2890 — | 1890 — | sTgo— |" "© wnIesouremgag | c Ze = = »-OL EI | »-01 x HHL | »-01% 081 | 870 — | 9740 — | 90 — "00 Sewserdjosh | y = == = »-01 > &0T | »-01 > 06T | »-01 x 881 | sro — | 830 — | ro — 0 ewserdopasgg | & Bar A Se >< S 2 =* >= a ‘ 2 RE IK) ‘ > »-01 60T | »-01 x PPL | -01%< Fol 6830 SEN | u) en unostopuny d| ® = = == »-01 > EIL | »-01 x Z#T | »-01 %<88L | 2780 — | 970 — | Ho — | « I oo 7 % % rs 90 2o Do sopuuys | syeyyy | (BWn1aS) an syeay]E (sumAog) sopurls | syanıy | (UMAaS) -NONASsUuor} eg sop swuse]g Dr -wgpN SPp | sewsepg SOp |-NPnasuor en sop sewuseld folgo UND 5 ee N ak | ZEEESAp] © 2 re -sdungonsiolug] IN Grmposaoqn yuymg un) (D 08% 109) yyundaaııyog) HNOSBJWRSOLK) NONSTepIoT ayasıyızadg I OTI2qg®L 1752 Richard Burian: Ich bediente mich bei den hier besprochenen Versuchen der folgenden Methodik. Die Blutplasmen (resp. Blutsera) wurden zunächst zur Beseitigung absorbierter Kohlensäure!) mit Sauerstoff gesättigt und sodann in den Apparaten, die ich vor kurzem?) eingehend beschrieben habe, der Ultrafiltration unterworfen. Als Filter kamen ausnahmslos gelatinegetränkte Papierfilter in An- wendung, die nach dem Verfahren von Bechhold?) im Vakuum hergestellt und mit gekühlter 4°/oiger Formallösung gehärtet waren. Die Konzentration der Gelatine betrug in der Regel 4°%o; abgewichen wurde hiervon nur in Versuch 2 und 4 (3%), in Versuch 3 und 7 (5°/o) und in Versuch 8 (6°). Der Filtra- tionsdruck, durch komprimierten Sauerstoff erzeugt, belief sich. meist auf i—1!/s Atmosphären. Bloss in den Experimenten, in denen Filter von höherer Konzentration benutzt wurden, musste auch der Druck grösser gemacht werden: ich brachte ihn deshalb in Versuch 7 auf 21/2, in Versuch 3 auf 3'!/a und in Ver- such 8 auf 41/a Atmosphären. Eine Durchrühbrung des Filtrans fand in Nr. 4, 8 und 11 statt; in allen übrigen Fällen wurde sie unterlassen, und infolgedessen bildete sich über dem Filter nicht selten eine Schicht von höherem Eiweissgehalt und daher gallertiger Beschaffenheit. Gewöhnlich wurde ungefähr die Hälfte der angewandten Flüssigkeits- menge abfiltriert, so dass die Eiweisskonzentration im (gleichmässig durchmischten) Filtrationsrückstande schliesslich etwa doppelt so gross sein musste wie im Aus- gangsmaterial: tatsächlich fand ich bei dem mit Rinderserum angestellten Experiment Nr. 2 im Filtrationsrückstand 14,90°%0 Eiweiss, während das ursprüngliche Serum 7,78°/0 enthielt). Auch diese Versuchsbedingung wurde jedoch gelegentlich ab- geändert; so liess ich in den Versuchen 5, 8 und 13 weniger als !/ıo, dagegen in den Versuchen 3, 6 und 10 volle %ıo der Flüssigkeit durch das Filter hin- durchgehen. In den zuletzt genannten Fällen bestand der Filtrationsrückstand nur mehr aus wenigen Kubikzentimetern einer dicken Eiweissschmiere. Die Gefrierpunkts- und Leitfähigkeitsmessungen wurden nach den früher erwähnten Methoden, die Veraschungen nach dem Verfahren von Neumann durchgeführt. Auf trockenem Wege konnte die Aschebestimmung aus dem Grunde nicht vorgenommen werden, weil hierbei im Falle reichlicher Anwesenheit von organischen Stoffen bekanntlich die Chloride grossenteils in Karbonate über- gehen. Es wäre unter diesen Umständen die aus dem Plasma (resp. Serum) und die aus dem Filtrationsrückstande gewonnene Asche mit der vom Ultra- filtrate gelieferten weder qualitativ noch quantitativ vergleichbar. Dem könnte 1) Über den Einfluss der absorbierten Kohlensäure auf den Gefrierpunkt des Blutserums vgl. v. Koränyi in Koränyi-Richter’s Handb. „Physikal. Chemie u. Medizin“ Bd. 2 8. 56 ft. 2) Zentralbl. f. Physiol. Bd. 23 8. 767. 3) Zeitschr. f. physikal. Chemie Bd. 60 S. 257. 4) Zur Bestimmung des Eiweisses wurden je 10 cem der Flüssigkeiten mit alkoholischer Zinkacetatlösung gefällt und die entstandenen Niederschläge nach Kjeldahl verarbeitet. Die hierbei erhaltenen N-Werte waren 0,2384 g für den Filtrationsrückstand und 0,1246 g für das ursprüngliche Serum. Das Ultra- filtrat gab mit der Zinkacetatlösung bloss eine minimale Trübung. Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. 753 man freilich dadurch abhelfen, dass man die Aschen nachträglich mit Schwetel- säure abrauchte; doch ist es dann schon vorteilhafter, von vornherein Schwefel- säure als Veraschungsmittel zu benutzen. Ich verfuhr deshalb folgendermaassen: 10 (seitener 5) ccm der zu untersuchenden Flüssigkeiten wurden mit dem Neumann’schen Gemisch von Schwefel- und Salpetersäure erhitzt, die ent- standenen Aschelösungen in grossen Platinschalen zuerst auf dem Wasser- und dann auf dem Sandbad eingedampft und die Trockenrückstände schliesslich stark geglüht und gewogen. Man bekommt auf diese Weise zwar nicht die native Asche, sondern die neutralen Sulfate ihrer Basen!), dafür sind die Verhältnisse aber wenigstens in allen Fällen identisch. Die in der Tabelle für die verschiedenen Plasma- und Serum- arten angeführten Gefrierpunktswerte stehen im ganzen mit den Messungsergebnissen der früheren Autoren in gutem Einklang. Sie sind beim Rinderserum und Pferdeplasma um ein geringes kleiner als die von Hamburger?) aus allen bisher bekannten Daten berechneten Durchschnittszahlen (Rind : — 0,585 °, Pferd: — 0,564°) und decken sich beim Schweine- und Hühnerserum sogar fast völlig mit den von Hamburger und d’Errico?°) angegebenen Mittelwerten (Schwein: — 0,615°, Huhn: — 0,616°.. Bei den Kröten und Landschildkröten sind meine Zahlen allerdings wesentlich grösser als die von Bottazzi gefundenen (s. Tab. D; doch mag das damit zuhammenhängen, dass die von mir benutzten Tiere unmittelbar vor dem Versuche eine l4tägige Wasserentziehung durch- gemacht hatten. Neu und nicht uninteressant ist der Wert für den Gefrierpunkt des Blutserums von Petromyzon marinus. Er kommt merkwürdigerweise den bei den Süsswasser- und Landvertebraten beobachteten Zahlen ganz nahe und entfernt sich mithin vom Gefrierpunkt des Seewassers (für das Mittelmeer durch- schnittlich — 2,30°) weiter als selbst die Werte der marinen Teleostier. Offen- bar ist also bei Peiromyzon die osmotische Konzentration des Blutes von der des äusseren Milieus in hohem Grade unabhängig. Diese Unabhängigkeit, die sich auch darin ausspricht, dass Petromyzon marinus ohne Schädigung jaus See- in Süsswasser überzugehen vermag, muss bei einem zu den niedrigsten Vertebraten gehörenden Tiere entschieden als sehr auffällig bezeichnet werden: ist doch bei den Myxinoiden, die man mit den Petromyzonten zu der Ordnung der Cyklostomen vereinigt, das Blut noch durchaus seewasser- isotonisch ®). Zwischen den Blutplasmen (resp. Blutseris) und ihren Ultrafiltraten besteht der Tabelle zufolge in Gefrierpunkt und Aschegehalt stets eine vollkommene Übereinstimmung. Die maximale Differenz beträgt für die Gefrier- punktswerte + 0,005°, für die Aschezahlen + 0,01°0°); sie liegt demnach in 1) Von den minimalen Phosphatmengen, die sich daneben noch in den Aschen finden, ist hierbei abgesehen. 2) Osmotischer Druck und Ionenlehre in der med. Wissensch, Bd. 1 S. 459. 3) Hofmeister’s Beitr. z. chem. Physiol. u. Pathol. Bd. 9 S. 453. 4) Dekhuyzen, Arch. Neerland. d. sc. exactes et nat. 2. serie Bd. 10 S. 121. 5) Da in der Regel 10 ccm Flüssigkeit angewendet wurden, so bedeutet das einen absoluten Unterschied von + 0,001 g. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 186. 43 754 Richard Burian: beiden Fälle innerhalb der Fehlergrenzen der Methode. Deutlich verschieden sind dagegen die Leitfähigkeitswerte, und zwar regelmässig in dem Sinne, dass der höhere Wert dem Ultrafiltrat zukommt. Es beruht das darauf, dass im letzteren der Widerstand fehlt, den das Eiweiss dem Stromdurchgang entgegen- setzt: die Leitfähigkeit des Ultrafiltrats entspricht mit anderen Worten der reinen Elektrolyt-Leitfähigkeit des Plasmas (resp. Serums), die schon Bugarszky und Tangl!) für die Sera verschiedener Säugetiere als „korrigierte“ Leifähigkeit zu berechnen versucht haben, die wir aber erst jetzt mit Hilfe der Ultrafiltration direkt zu messen imstande sind?). — Auch die Filtra- tionsrückstände unterscheiden sich nach Tab, III in Gefrierpunkt und Aschegehalt nicht merklich von den unveränderten Plasmen (resp. Seris); wohl aber ist ihre Leitfähigkeit noch tiefer unter den Filtratwert herabgedrückt, und das umso mehr, je mehr in ihnen die Eiweisskonzentration zugenommen hat. Wir finden demgemäss, dass in den Versuchen 3, 6 und 10, in denen das Filtrans sehr stark eingeengt wurde, der Leitfähigkeitswert des Rückstandes besonders weit hinter dem des Ausgangsmaterials zurückbleibt: umgekehrt fallen in den Versuchen 5, 8 und 13, in denen nur ganz wenig Flüssigkeit abfiltriert wurde, die beiden Werte fast völlig zusammen. Eine Sonderstellung unter den Blutplasmen der Wirbeltiere nimmt, wie bekannt, das Selachierplasma ein. Es ist isotonisch mit Seewasser, gleicht also im Gefrierpunkt noch den Leibesflüssigkeiten der marinen Evertebraten und dem Blute von Mysine: in Leitfähigkeit und Aschegehalt nähert es sich jedoch bereits den Blutplasmen der marinen Teleostier?), da seine osmotische Gesamt- konzentration nur etwa zur Hälfte von anorganischen Salzen bestritten wird, während die andere Hälfte einem organischen Nicht-Elektrolyten, nämlich Harn- stoff, angehört. Ich untersuchte deshalb bei Scyllium ausser dem Gefrierpunkt, der Leitfähigkeit und dem Aschegehalt auch die Harnstoffkonzentration von Plasma, Ultrafiltrat und Filtrationsrückstand. Die Bestimmung geschah nach einem zuerst von Baglioni?) geübten Verfahren, indem je 5 ccm der drei Flüssigkeiten mit 5 cem Asaprolreagens (10°%0o Asaprol + 10°o HCl) gefällt und die den Harnstoff enthaltenden Filtrate nach Kjeldahl verarbeitet wurden. Hierbei ergaben sich folgende Harnstoffzahlen:: Plasma 2,54 /o, Ultrafiltrat 2,50 °/o, 1) Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 72 8, 531. nn 2) Dass die für die Ultrafiltrate des Rinder-, Pferde- und Schweineserums in Tab. III angegebenen Leitfähigkeitswerte (142 — 165 > 10%) grösser sind als die von Bugarszky und Tangl für diese Serumarten berechneten „korrigierten“ Werte (126 — 134 ><10-%; vgl. Bottazzi, Eıgebn. d. Physiol. 7. Jahrg. S. 288 Tab. 10), kommt daher, weil meine Messungen bei 25,5°, die der Rechnung von Bugarszky und Tangl zugrunde liegenden hingegen bei 18° angestellt wurden. 3) Man vergleiche die in der Tabelle für das Scylliumplasma (Nr. 13) an« geführten Leitfähigkeits- und Aschewerte mit denjenigen für das Zophiusserum b (Nr. 11). 4) Hofmeister’s Beitr. z. chem. Physiol. u. Pathol. Bd. 9 S. 50. Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. 755 Rückstand 2,51°%o!). In der Harnstofikonzentration war demnach ebensowenig wie in Gefrierpunkt und Aschegehalt ein Unterschied zwischen den drei Flüssig- keiten zu bemerken. Wir müssen uns jetzt noch fragen, ob gegen die Beweiskraft der geschilderten Experimente nicht doch etwa Bedenken vorliegen: ob es nicht der Fall sein könnte, dass in den Blutplasmen dennoch kryoskopisch wirksame Eiweiss - Kristalloid- Verbindungen zugegen sind und die Isotonie der künstlichen Ultrafiltrate durch Neben- vorgänge herbeigeführt wird, die bei der natürlichen Ultrafiltration im Glomerulus wegfallen. War bei meinen Versuchen vielleicht die Möglichkeit einer Zerlegung von Eiweiss-Kristalloid-Komplexen ge- geben? Ich halte das für vollständig ausgeschlossen. Dass der Filtrationsdruck eine solche Zerlegung zu bewirken vermöchte, ist ganz undenkbar. Eher schon könnte man sieh vorstellen, dass es in der unmittelbar über dem Filter gelegenen Plasma- oder Serum- schicht, in der sich das Eiweiss beständig anreichert, durch Gleich- gewichtsstörung zu einer Spaltung von Eiweiss - Kristalloid- Verbindungen komme. Auch das ist indessen äusserst unwahr- scheinlich, da die zwischen den Eiweiss-, Micellen“?) befindliche Flüssig- keit bei der Ultrafiltration zwar an Menge abnimmt, nicht aber (pro- zentisch) an Kristalloiden verarmt und daher gar nicht einzusehen wäre, warum eine Abspaltung der an die Micellen gebundenen Kristalloide erfolgen sollte. Überdies habe ich in einigen meiner Experimente (Nr. 4, S und 11 der Tabelle) die Ausbildung einer stagnierenden Grenzschicht durch fortwährendes Rühren des Filtrans verhindert und in einem dieser Fälle (Nr. 8) noch dazu kaum den zehnten Teil der gesamten Flüssigkeitsmenge; abfiltriert, und trotzalledem dieselben Resultate erhalten wie sonst. Ausser mit ruhenden und durchrührten stellte ich übrigens auch mit strömenden Blutseris Ultrafiltrationsversuche an und bekam dabei abermals Filtrate, die in Gefrierpunkt und Aschegehalt voll- 1) Die absoluten Werte für den Filtrat-N von je 5 ccm der drei Flüssigkeiten waren: Plasma 0,0593 g, Ultrafiltrat 0,0584 g, Rückstand 0,0587 g. Die hieraus berechneten prozentischen Harnstoffwerte stimmen mit den von v. Schroeder und Baglioni für den Harnstoffgehalt des Seyllium-Blutes angegebenen Zahlen recht gut überein. 2) Als Micellen bezeichnet Duclaux (Zeitschr. f. Chem. u. Ind. d. Kolloide Bd. 3 S. 126) im Anschlusse an Naegeli die in den kolloidalen Lösungen ent- haltenen Molekülaggregate der betreffenden Kolloidsubstanz. 48 * 756 Richard Burian: kommen dem Ausgangsmaterial glichen. Die Anordnung war in diesen Versuchen eine solehe, dass die Filterfäche an einen aus- gsedehnten kapillaren Spaltraum grenzte, durch den das Blut- serum unter dem gleichzeitig die Filtration bewirkenden Druck mit mässiger Geschwindiekeit hindurchgetrieben wurde. Es ent- fällt mithin auch der Verdacht, dass vielleicht das Strömen des Blutes dureh Kapillarröhren, wie esim Glomerulus stattfindet, auf eine nicht näher definier- bare Weise zur Entstehung hypotonischer Ultrafil- trate Anlass geben könne. Die zur Ausführung der soeben erwähnten Versnche benutzte Vorrichtung ist in den nachstehenden Figuren schematisch abgebildet. Als Filter dient eine Fig. 1. Fig. 4 Uhamberlandkerze « mit abgeschnittenem Boden, die so zurechtgeschliffen ist, dass sie, wie aus dem Längsschnitt in Fig. 2 ersichtlich, einen dünnwandigen Hohlzylinder von überall genau gleichweitem Lumen bildet. Der Hohlzylinder ist mit seinen beiden Enden in die Metallringe d und e eingekittet und kann durch Vermittelung dieser Ringe [drucksicher mit den zwei Saugflaschen A und B verbunden werden, an deren Hälsen sich ähnliche Metallringe f und 9 be- finden. Zur Herstellung der Verbindung presst man einfach die Rınge d und f resp. eund g unter Zwischenschaltung von Gummiringen mittelst starker Schrauben fest aneinander: es steht dann das Lumen des Filterzylinders mit dev beiden Flaschenräumen im Zusammenhang, ohne dass ein in dem System erzeugter Druck an den Verbindungsstellen nach aussen entweichen könnte!). Gebrauchs- fähig wird die Anordnung aber erst durch den zylindrischen Glaskörper b (Fig. 2), 1) Um ein Zerbrechen des Tonzylinders bei den Manipulationen zu ver- hüten, sind die Ringe d und e durch die drei Metallstützen A,, A, und A,, van denen in Fig. 1 nur zwei zu sehen sind, starr miteinander vereinigt. Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. 757 der in das Lumen der Filterkerze derart eingepasst ist, dass zwischen ihm und der Kerzenwand bloss der kapillare Mantelraum ce übrigbleibt; ist der Glaskörper in den Filtrierzylinder eingesetzt, so kommunizieren die beiden Flaschenräume miteinander, also nur mehr durch einen kapillaren Spaltraum'). Das Arbeiten mit dieser Vorrichtung gestaltet sich folgendermaassen. Zu- nächst wird die Filterkerze im Vakuum mit 3—4/oiger Gelatinelösung imprägniert und mit gekühlter 4°aiger Formollösung nachbehandelt. Hat .man so das Ultra- filter vorbereitet, so füllt man in die Flasche A das Blutserum, verbindet die Filterkerze (nach Einführung des Glaskörpers) mit A und BD und bringt hierauf das Ganze in die Lage, die in Fig. 1 angedeutet ist. Nunmehr wird, nachdem die Hähne 1 und 4 geschlossen worden sind, in beiden Flaschen ein Druck von einer Atmosphäre erzeugt, dann auch Hahn 3 zugeschraubt und schliesslich in Flasche A der Druck auf 1'/e Atmosphären gesteigert. Das Blutserum fliesst jetzt unter dem Überdruck von !/s Atmosphäre aus Flasche A durch den in der Filterkerze freigelassenen Kapillarraum hindurch langsam in Flasche 5 über, und gleichzeitig treten an der Aussenfläche der Kerze die wasserklaren Ultra- filtrattropfen hervor, die in einem untergestellten Gefässe aufgefangen werden’). Ist das gesamte Serum in Flasche 3 hinabgeströmt, so wird letztere in die Position gebracht, die bisher Flasche A innehatte, so dass — nach entsprechender Regelung der Druckverhältnisse?) — das Serum in umgekehrter Richtung durch ‚den Kapillarraum hindurchgeht, d. h. in ‚Flasche A zurückfliesst. Dies Spiel wird so lange fortgesetzt, bis eine genügende Filtratmenge gewonen ist. Ich habe bis jetzt bloss drei Versuche in dieser Weise durchgeführt, zwei an Rinder- und einen an Lophius-Blutserum. Vom Rinderserum verwendete ich 250, vom Lophius-Serum 100 ccm als Ausgangsquantum; sobald 7—8 cem ab- filtriert waren, wurde das Experiment abgebrochen. Die Geschwindigkeit der Flüssigkeitsströmung variierte in den drei Versuchen nicht un- beträchtlich: der Durchtritt von 10 ccm Serum durch den Kapillarraum er- .orderte in Versuch 1 ca. 6, in Versuch 2 ca. 2 und in Versuch 3 ca. 4 Minuten). Dagegen war die Filtrationsgeschwindigkeit in allen Fällen ungefähr dieselbe — 4 bis 5 ccm Ultrafiltrat pro Stunde. Die Ergebnisse der an den Seris und 1) Der Kapillarraum ce ist in Fig. 2 der Deutlichkeit halber viel zu breit gezeichnet. Damit der Glaskörper auch bei einseitigem Überdruck in seiner Lage erhalten werde, legt man auf die beiden Mündungen des Filterzylinders je ein kreisrundes Silberdrahtnetz, dessen Rand beim Zusammenstellen des Apparates zwischen den Ringen d und f, resp. e und g fest eingeklemmt wird. 2) Das Verdunsten des langsam abtropfenden Filtrates verhindert man am besten dadurch, dass man die ganze Vorrichtung in eine geräumige feuchte Kammer bringt. Ein „Überdestillieren“ von Wasser in das Filtrat ist dabei nicht zu befürchten, vorausgesetzt dass alle Teile die gleiche Temperatur besitzen. 3) Am besten lässt man den Druck zuerst durch die Hähne 1 und 4 voll- kommen entweichen und stellt ihn dann in der erforderlichen Verteilung aufs neue her. 4) Diese Unterschiede wurden hauptsächlich durch passende Wahl des Glas- körpers Db erzielt. 758 Richard Burian: den Ultrafiltraten !) vorgenommenen Messungen sind zusammengestellt in Tabelle IV. Wir finden in derselben wiederum eine völlige Übereinstimmung von Blutserum und Ultrafiltrat in bezug auf Gefrierpunkt und Aschegehalt und nur in der Leitfähigkeit jene Differenz, die uns schon aus den vorhergehenden Versuchen bekannt ist. Tabelle IV. \ en Spezif. Leitfähigkeit | Gesamtasche (in u Unter m (bei 25,5%) | Sulf. übergeführt) 2) suchungs- il BE] des des 'desUltra- des z objekt Serums | filtrates des |desUltra-| gerums Du 0. | 6, Serums | filtrates Of on = 1 | Rinderserum a) | — 0,550 | — 0,553 | 129.10-* | 148-102| °— — 2 x b) | — 0,548 | — 0,546 | 127. 10-* | 144-10-*| 0,982 | 0,988 Serum von | Si Lophius — 0,929 | — 0,934 | 256 - 10-41 267-.10=*| 1,943 | 1,950 piscatorius ?) | Ernster als die bisher besprochenen Bedenken erscheint auf den ersten Blick ein anderer Einwand, der sich gegen die Ultra- filtrationsversuche erheben liesse. Wie immer man diese Versuche nämlich auch einrichten möge, stets bleibt das Filtrat in den relativ dickwandigen Filtern längere Zeit mit dem Filtrans in Berührung. Es liegt daher der Gedanke nahe, dass ein hypotonisches Filtrat während dieser Zeit Wasser an das Filtrans abgeben und dadurch nachträglich isotonisch werden könnte. Allein soleh ein nachträglicher osmotischer Ausgleich würde dem Grund- prinzip der Ultrafiltration zuwiderlaufen. Um dies Grund- prinzip zu erläutern, wollen wir von den Verhältnissen ausgehen, wie sie bei der Filtration einer Kristalloidlösung durch eine halbdurch- lässige Membran gegeben sind. Damit in diesem Falle etwas Wasser in die Membran hineingepresst werde, ist es nötig, dass der Filtrationsdruck ein wenig grösser sei als der osmotische Druck der Lösung, denn er muss die Kraft überwinden, mit der das Wasser von dem gelösten Kristalloid festgehalten wird). Ist dann infolge des 1) Die Filtrationsrückstände wurden nicht untersucht, da sie bei der Klein- heit der abfiltrierten Flüssigkeitsmenge vom Ausgangsmaterial sicher nicht merklich verschieden sein konnten. 2) Von zwei Exemplaren zusammengemischt. 3) Vgl. die Ausführungen von Dreser (l. c.) und von Tammann (Zeitschr. f. physikal. Chem. Bd. 20 S. 180). Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. 212759 Wasseraustrittes der osmotische Druck der Lösung dem Filtrations- druck gleich geworden, so wird die Flüssigkeitsbewegung zum Still- stand kommen: es wird kein Wasser mehr abfiltriert werden, aber auch das in der Membran befindliche Wasser nicht in die Lösung zurückdiffundieren, solange der osmotischen Wirksamkeit der letzteren durch den Filtrationsdruck das Gleich- gewicht gehalten wird !). Ganz Ähnliches gilt für die Ultrafiltration von Kolloid - Kristalloid- Mischungen. Damit hier etwas von der „Intermicellarflüssigkeit* — d. h. der Flüssigkeit, in der die Kolloid- micellen schweben — abgepresst werde, muss der Filtrationsdruck grösser sein als der osmotische Druck des Kolloids. Das ist freilich in der Regel eine sehr geringfügige Grösse; bei Lösungen jedoch, deren Micellen selbst schon aus einer osmotisch kräftig wirksamen Kolloid-Kristalloid-Verbindung bestehen würden, und deren Inter- micellarflüssigkeit daher deutlich hypotonisch wäre, müsste der Filtrationsdruck offenbar eine ganz ansehnliche Höhe besitzen, um wirklich Effekt zu haben. Denken wir uns nun, wir unterwerfen eine derartige Lösung unter dem kleinsten eben noch genügenden Druck der Ultrafiltration. Es werden dann einige Tropfen der hypotonischen Intermicellarflüssigkeit in das Filter hineingepresst werden. Hat jetzt die Kolloid-Kristalloid-Verbindung eine solche Konzentration erreicht, dass ihr osmotischer Druck dem Filtrationsdruck gleich- kommt, so wird jede Flüssigkeitsbewegung unmöglich: die über dem Filter stehende Lösung wird kein Filtrat mehr abgeben, andererseits aber, da ihrem osmotischen Überdruck der Filtrationsdruck entgegen- wirkt, auch niehtimstande sein, dasausgetreteneFiltrat wieder aufzusaugen, geschweige denn, ihm Wasser zu entziehen. Ein hypotonisches Ultrafiltrat wird also selbst bei Jangsamstem Durchtritt durch das Filter nicht isotonisch werden. Aus der vorstehenden Überlegung ergibt sich übrigens noch ein weiterer Beweis dafür, dass das hypotonische Glomerulussekret der Wasser-Wirbeltiere aus dem Blutplasma nicht durch einfache Ultra- filtration hervorgehen kann. Nach dem Gesagten wäre hierzu ein Filtrationsdruck erforderlich, der den osmotischen Überdruck des 1) Man kann auch sagen: würde Wasser aus der Membran in die Lösung zurückgelangen, so müsste es durch den Filtrationsdruck, der jetzt das Über- gewicht über den osmotischen Druck der Lösung gewinnen würde, augenblicklich wieder abgepresst werden. 760 Richard Burian: Funktion der Nierenglomeruli und Ultrafiltration. Blutplasmas wenigstens um ein kleines überträfe; d. h. in vielen Fällen ein so hoher Druck, wie er in den Glomerulus- gefässen der Vertebraten im allgemeinen und der Wassertiere im besonderen niemals auch nur entfernt zur Verfügung steht. Beim Frosch z. B. beträgt der Unter- schied im osmotischen Druck von Blutplasma und Glomerulussekret sicher mehr als 2000 mm Hg!), während der arterielle Blutdruck nach Schulz?) bloss die Höhe von 40—60 mm Hg erreicht! Sind wir nach all’ dem genötigt, die Filtrationstheorie voll- ständig fallen zu lassen? Ich glaube nicht. Vielmehr vermute ich, dass im Glomerulus eine Ultrafiltration tatsächlich stattfindet — jedoch in Verbindung mit anderweitigen Vorgängen, welche be- wirken, dass unter Umständen bereits die Plasmaschicht, die an die eigentliche Filterfläche gelangt, dem übrigen Blutplasma gegenüber hypotonisch ist. Doch über diese Vermutung und die zu ihrer Prüfung begonnenen Versuche soll erst ein andermal Näheres berichtet werden. 1) Die Differenz der Gefrierpunkte des Blutserums und des Harnes von Rana esculenta ist nach Botazzi (s. oben Tab. I) = 0,265° C., entsprechend 3,18 Atmosphären oder 2417 mm Hg. 2) Zentralbl. f. Physiol. Bd. 19 S. 302. Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel & Co, in Altenburg. DALE Ka aa FI FIRE Tg J AL DRS EU EIER NEO N ARE, Aueh Nnaaunn) RUE IRNIDBIRTN KU URN Sal KORAN SR RIND IRRRAN BRIAN VIREN RR UBER ER UN i v N {U N" N ar lau Kran | \ DLDRAN) ui il ÄNEHERININ y IUDEN IN N A h HAAN 20) j IN RUM I N m HABA j \) ‘ AN) BERN TEEN U ANNO u ulvH IN Mi A KARINSNN NN I NUN Ä wall Bit N Allen Y N Y BON ) i ANRAN N DR DM AN I SR RN AN UN! IRLAND Au hi | } INN h fe Run! \ } a) Rt {N KURS EINE | AIR! Ba I) RHEIN Ka HER, N NN NR, ON \ u A ER Ch IN Mh ) AN Hull! ! an ul Wuloe) AAN NN AN! RE Na RN PN Ha Ro! FREI ; N j } N KON Bann EINKHRUARNIN ARON N DIR 0 RIRN SUN U N RN “ d NEST BUNT IM all‘ Kun NR NN ART NN ) } RN 1% Na . N [RR } h AN h RINDE 3 ; h nl h N a BR KEROM ANKER KIBEYRAINH Kurs IHM Ba NL. 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