PHILOSOPHIE DES ORGANISCHEN GIFFOBD-VOBLESUNGEN, GEHALTEN AN DER UNIVERSITÄT ABERDEEN IN DEN JAHREN 1907-1908 VON HANS DRIESCH (HEIDELBERG) EESTER BAND LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1909 :: VERLAG VON WILHELM ENOELMANN IN LEIPZIG :: Schriften von Hans Driesch Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft Eine kritische Studie 8. Jl 1.20 Die Lokalisation morphogenetischer Vorgänge Ein Beweis vitalistischen Geschehens Mit 3 Figuren im Text. gr. 8. Jl 2.40 (Sonderdruck aus: »Archiv für Entwickelungsmechanik« VIII. Band, 1. Heft) Analytische Theorie der organischen Entwicklung Mit 8 Textfiguren. 8. Jl 3. Die organischen Regulationen Vorbereitungen zu einer Theorie des Lebens Mit einer Figur im Text. gr. 8. Jl 3.40 Die „Seele" als elementarer Naturfaktor Studien über die Bewegungen der Organismen gr. 8. Jl 1.60 Naturbegriffe und Natururteile Analytische Untersuchungen zur reinen und empirischen Naturwissenschaft gr. 8. Jl 4.— J> PHILOSOPHIE DES ORGANISCHEN GIFFORD-VORLESUNGEN, GEHALTEN AN DER UNIVERSITÄT ABERDEEN IN DEN JAHREN 1907—1908 VON HANS DRIESCH (HEIDELBERG) ERSTER BAND -£**<- LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1909 Alle Rechte vorbehalten. Druck von A. Hopfer in Burg b. M. L ! ; r a m v I I * 'R A K Y Ans den Vorreden der beiden Bände der englischen Ausgabe. Dieses Werk ist kein Lehrbuch der theoretischen Biologie; es enthält eine systematische Darlegung der- jenigen biologischen Lehren, welche für wahre Naturphilo- sophie von Bedeutung sind. In einer ausgesprochen sub- jektiven Form ist dieses Buch abgefaßt worden, wie es bei ,, Gifford- Vorlesungen" wohl angebracht erscheint. Sie sollten ihren persönlichen Charakter nie verlieren, ja nicht einmal ihn zu verlieren trachten. Als mir — im Februar 1906 — meine Ernennung zum ,,Gifford-Lecturer" bekannt wurde, da kam sie, was den Lauf meines theoretischen Arbeitens angeht, gerade zur rechten Zeit. Ich hatte es mir stets angelegen sein lassen, meine früheren Werke durch Hinzufügungen und Um- ordnungen zu verbessern; es gab auch vieles, was ich geschrieben, aber nicht publiziert hatte, und so wünschte ich oft meinen Schriften eine neue verbesserte und erweiterte Auflage. Hier konnte ich nun meine Wünsche verwirk- lichen; und so sage ich denn hier endgültig alles, was ich über das Organische zu sagen habe. Der erste Band dieses Werkes, welcher, freilich nicht in „Vorlesungs"-Form, die im Jahre 1907 gehaltenen Vor- lesungen enthält, bringt die beiden ersten Teile der ersten IV Aus den Vorreden der englischen Ausgabe. Abteilung: „Die wichtigsten Ergebnisse der analytischen Biologie". Teil I enthält in gekürzter, veränderter und, wie iph hoffe, verbesserter Form das, was den wesentlichen Inhalt meiner Schriften „Analytische Theorie der organischen Entwicklung" (1894), ,,Die Lokali - sation morphogenetischer Vorgänge; ein Be- weis vitalistischen Geschehens" (1899) und „Die organischen Regulationen" (1901) ausmacht. Für den eigentlichen Biologen macht freilich dieses Werk die Lektüre der beiden letztgenannten Schriften nicht überflüssig. Der Inhalt von Teil II ist bisher nicht in systematischer Form von mir veröffentlicht worden, ob- wohl sich viele Bemerkungen über Systematik, Darwinismus usw. in allen meinen Schriften zerstreut finden. Der zweite Band besteht aus zwei Abschnitten. Er bringt zunächst die erste „Abteilung" zu Ende und be- schäftigt sich alsdann in seiner bei weitem größeren Hälfte mit der „Philosophie des Organischen" im engeren Sinne. Teil III der ersten Abteilung ist gewissermaßen eine erweiterte zweite Ausgabe meiner Schrift „Die „Seele" als elementarer Naturfaktor" (1903). Von der philosophischen Abteilung ist nur der Inhalt der Kapitel B 1 und 2 von Teil I früher schon — in der Schrift „Naturbegrif f e und Natur- arteile" (1904) — von mir veröffentlicht worden, und zwar inhaltlich wie formal in einer sehr abweichenden Weise. Alles übrige ist hier zum ersten Male dargestellt Ich selbst sehe als wichtigste Abschnitte der rein philosophischen Abteilung dieses Werkes an: Teil I Kapitel B 3 — 5 und den gesamten Teil II; auf diese endgültigen Ergebnisse meiner Analyse des Organischen Aus den Vorreden der englischen Ausgabe. y richte ich also in erster Linie die Aufmerksamkeit meiner Kritiker. Der genannte Teil II ist gewissermaßen der Schlüssel zum Ganzen; er geht von einem Standpunkte aus, welcher in erheblicher Weise von den Gesichtspunkten abweicht, unter denen diese Dinge betrachtet zu werden pflegen. Meine ersten Niederschriften über die hier be- handelten Fragen gehen auf die Jahre 1895 und 1897 zurück; ich habe aber bis jetzt mit der Veröffentlichung gezögert; denn das Problem ist wirklich nicht von ein- facher Art. Die in diesem Werke angewendete philosophische Terminologie ist die übliche. Keiner kann es stärker als ich selbst fühlen, wie sehr wir eine neue, ursprüngliche Be- nennung der philosophischen Begriffe — eine „characte- ristica universalis" im Sinne von Leibniz — brauchen. Aber dieses Buch war doch wohl nicht der richtige Ort zur Einführung einer solchen, und zu übernehmen gab es hier nichts; denn die moderne „symbolische Logik" bezieht sich nur auf Formales. Ich muß also den Leser dringend bitten, bei Worten wie „Substanz", „Kausalität", „objektiv" usw. nur an das zu denken, an was er meinen Definitionen gemäß denken soll, und nicht dasjenige, was ich wirklich gesagt habe, zu verwechseln mit etwas, was ich gesagt haben könnte, aber nicht gesagt habe. Der Leser muß meine Worte nehmen so, wie sie dastehen, und er muß die Probleme erfassen so, wie sie von mir aufgestellt worden sind, und nicht so, wie die mit histori- schen Reminiszenzen überladene Terminologie ihn etwa verführen möchte sie zu erfassen. Man darf nicht vergessen, daß dieses Werk eine Philo- sophie des Organischen, und nicht eine allgemeine VI Aus den Vorreden der englischen Ausgabe. Philosophie ist. Probleme der allgemeinen Philosophie, ja auch der allgemeinen Naturphilosophie, sind daher meist kurz behandelt worden. Vom Standpunkt des subjektiven Idealismus aus ist dieses Buch geschrieben worden; aber der Idealismus gilt ihm doch nur als Methode. Ich sehe ihn in der Tat nicht mehr als eine endgültige Lehre an ; Meta- physik, mit anderen Worten: wenigstens eine gewisse Kenntnis vom Absoluten ist möglich. Die Vorlesungen, welche dieses Buch enthält, wurden von einem Deutschen an einer schottischen Universität gehalten und auf Englisch niedergeschrieben. Fast alle in ihnen behandelten Gedanken konzipierte der Verfasser während der langen Jahre seines Aufenthaltes in Süditalien. So hoffe ich denn, daß dieses Buch ein Zeugnis sein möge für eine Wahrheit, deren allgemeine Anerkennung, wie es scheint, endlich nahe bevorsteht — für die Wahrheit, daß alle Kultur, sei sie ethisch oder intellektual oder ästhetisch, Grenzen von Land, Volk und Rasse nicht kennt. Heidelberg, 2. Januar und 27. August 1908. Hans Driesch. * * ^Yjä Vorrede zur deutschen Ausgabe. Die deutsche Ausgabe dieser Vorlesungen ist eine freie Übersetzung der englischen, mit nicht unerheblichen ein- zelnen Änderungen und Zusätzen an manchen Stellen; sie ist gleichsam eine zweite Auflage des Textes. Es liegt im Gegenstande begründet, daß dieses Werk sowohl auf die Naturwissenschaft wie auf die Philosophie unserer Tage Einfluß zu gewinnen hoffte. Naturwissenschaftlich, insonderheit biologisch liegen da in Deutschland die Verhältnisse ungünstiger als philo- sophisch. Die experimentelle Zoologie, auf deren Ergeb- nisse sich dieses Buch ganz wesentlich stützt, ist zwar in Deutschland geschaffen worden, hat daselbst aber von den maßgebenden Kreisen, trotz ihrer außerordentlichen Bedeutung, so gut wie gar keine Förderung, eher das Gegenteil, empfangen; so fehlt ihr, da fast keiner ihrer Vertreter in leitender Stellung ist, jeder Nachwuchs; sie ist gleichsam nach Amerika ausgewandert. Hoffen wir, daß dieses Werk die Überzeugung von der Bedeutung der experimentellen Zoologie in weitere Kreise unseres Landes tragen und eine Besserung der Lage herbeiführen wird. Die deutsche Philosophie ist zwar lange Zeit hindurch in Erkenntnistheorie und Psychologie aufgegangen. Es mehren sich aber, zumal bei der jüngeren Generation, die Anzeichen, daß eine kritisch begründete Naturphilosophie YJJI Vorrede zur deutschen Ausgabe. anfängt als Bedürfnis empfunden zu werden; die aber ist das Tor zur Metaphysik. So kommt also philosophisch dieses Werk wohl zur rechten Zeit. Möge es auch für weitere Kreise der Gebildeten in Deutschland ein Gegen- gewicht gegen den seichten Populär monismus unserer Tage bedeuten. Das ist geradezu eine Kultur frage. Da über die Einrichtung des „Gifford-Lectures" an den schottischen Universitäten in Deutschland noch recht wenig bekannt ist, teile ich an dieser Stelle zur Aufklärung deutscher Leser das Folgende mit. Im Jahre 1885 bestimmte Lord Adam Gifford, früher Senator des College of Justice von Schottland, daß nach seinem Tode jeder der vier schottischen Universitäten — Edinburgh, Glasgow, Aberdeen und St. Andrews — ein Kapital zufallen solle, zu dem Zwecke, damit einen außerordentlichen Lehrstuhl für ,, Natürliche Theologie im weitesten Sinne des Wortes" zu begründen. Das Testament führt diesen ,, weitesten Sinn" näher aus: nahezu alle Gebiete menschlichen Wissens werden ausdrücklich namhaft gemacht. Die ,,lectureship" sollen in der Regel solche Gelehrte, welche nicht der betreffenden Universität an- gehören, erhalten. Sie soll ganz ohne Rücksicht auf Stellung, Nationalität und Konfession, ja, sie mag auch an Männer "of no religion", an ,, Skeptiker, Agnostiker und Freidenker" vergeben werden, wenn diese "sincere lowers of and earnest inquirers after truth" sind. Der Lehrstuhl wird jedesmal auf zwei Jahre vergeben; in jedem Jahre müssen zehn Vorlesungen gehalten werden, von denen nicht mehr als drei in eine Woche fallen dürfen. Die Vor- lesungen müssen in Buchform erscheinen. Vorrede zur deutschen Ausgabe. IX Für das Jahr 1888 wurden die ersten Gifford Lecturers gewählt, und zwar für Edinburgh J. H. Stirling, der Philosoph von Edinburgh, für Glasgow Max Müller, der Oxforder Sprachforscher, für Aberdeen E. B. Tylor, Ver- treter der Anthropologie in Oxford, für St. Andrews Andrew Lang, London. Von britischen Gelehrten sind des weiteren Gifford Lecturers gewesen: in Edinburgh: G. G. Stokes (Mathematiker, Cam- bridge), C. Fräser, H. M. Gwatkin (Theologe, Cam- bridge), S. S. Laurie, R. Flint; in Glasgow: J. Caird, W. Wallace, A. B. Bruce (diese drei aus Glasgow selbst), E. Caird (Philologe, Ox- ford), A. C. Bradley, (Professor of Poetry, Oxford), G. Murray (Griechischer Philologe, Glasgow); in Aberdeen: A. M. Fairbain (Theologe, Oxford), James Ward (der Cambridger Philosoph), A. H. Sayce (Assyriologe, Oxford), J. Adam (Philologe, Cambridge), W. R i d g e w a y (Archäologe, Cambridge ; mein Nachfolger) ; in St. Andrews: E. Caird (Oxford), L. Campbell (Altphilologe, St. Andrews), R. B Haidane (der britische Kriegsminister), James Ward (s o.). Von nicht -britischen Gelehrten wurden bisher berufen: in Edinburgh : Otto Pfleidner, der Berliner Theo- loge; William James, der Philosoph der Harvard Uni- versity, Amerika; C. B. Tiele (Leiden); in Glasgow: Emile Boutroux, der Pariser Philosoph; in Aberdeen: Josiah Royce, der Philosoph der Harvard University; und ich; in St. Andrews : R o d o 1 f o Lanciani, Archäologe in Rom. X Vorrede zur deutschen Ausgabe. Diese Übersicht gibt auch ein gutes Bild von der Vielseitigkeit der Gifford -Vorlesungen ; sie zeigt zugleich, daß in mir zum ersten Male ein Vertreter der Natur- wissenschaft und Naturphilosophie als Gifford Lecturer berufen wurde. Diese deutsche Ausgabe meiner Vorlesungen ist in der Weise abgefaßt worden, daß ich den Text des englischen Originals langsam in frei übersetzter Form einer Maschinen- schreiberin diktierte und ihn dann einer gründlichen sprach- lichen und sachlichen Revision unterzog. In Fräulein Johanna Fuchs in Heidelberg fand ich für meine Zwecke eine nicht nur sehr gewandte, sondern auch mit der wissenschaftlichen Terminologie in hohem Grade ver- traute Assistentin, so daß der erste Übersetzungsentwurf in verhältnismäßig kurzer Zeit zu stände kam ; ich benutze diese Gelegenheit, um Fräulein Fuchs auch öffentlich meinen Dank für ihre Hilfe auszusprechen. Zu danken habe ich endlich der Verlagsbuchhandlung und ihrem Vertreter für ihr altbewährtes Entgegenkommen. Heidelberg, den 4. Juli 1909. O ' Hans Driescli. Inhalt des I. Bandes. Programm. Seite Lord Giffords Auffassung der Naturwissenschaft 1 Naturwissenschaft und „Natürliche Theologie" 3 Unsere philosophische Methode 5 Über einige Eigentümlichkeiten der wissenschaftlichen Biologie 10 Die drei verschiedenen Typen unseres Wissens vom Gegebenen 13 Allgemeiner Plan dieser Vorlesungen 15 Allgemeine Kennzeichen der organischen Form 19 Abteilung A: Die wichtigsten Ergebnisse der analytischen Biologie. Teil I: Form und Stoffwechsel des organischen Individuums. A. Elementare Formenlehre. Evolution und Epigenesis im alten Sinne 25 Die Zelle • 27 Das Ei, seine Reifung und Befruchtung 30 Die ersten Entwicklungsprozeße des Echinus 33 Vergleichende Embryologie 43 Die Anfänge analytischer Formenlehre • . 44 Die Grenzen der reinen Beschreibung als wissenschaft- licher Methode 49 > B. Experimentelle und theoretische Formenphysiologie. 1. Die Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. ^Evolution und Epigenesis" 52 Die Theorie Weismanns 52 Experimentelle Morphologie 56 Die Leistungen Wilhelm Roux's . • 58 28.929 XII Inhalt des I. Bandes. Seite Die Versuche am Ei des Seeigels 59 Über die intime Struktur des Eiprotoplasmas ... 65 Über gewisse Besonderheiten in der Organisation einiger Keime 69 Allgemeine Ergebnisse der ersten Periode der ,. Ent- wicklungsmechanik" 71 Einige neue Ergebnisse der Restitutionslehre ... 73 2. Analytische Theorie der Formbildung 76 a)Die Verteilung der morphoge netischen Potenzen 76 Prospektive Bedeutung und prospektive Potenz . . 76 Die Potenzen der Blastomeren 79 Die Potenzen von Elementarorganen im allgemeinen 80 Explizite und implizite Potenzen. Primäre und sekundäre Potenzen 83 Die morphogenetische Bedeutung der Reifung . . 85 Weiteres über die Intimstruktur des Protoplasmas 88 Der neutrale Charakter des Begriffs Potenz ... 89 ß) Die „Mittel" der Formbildung 89 ß') Die inneren elementaren Mittel der Formbildung 90 Einige Bemerkungen über die Bedeutung der Oberflächenspannung für die Formbildung . 91 Wachstum 94 Zellteilung 94 ß") Die äußeren Mittel der Formbildung . 95 Die Versuche von Herbst 97 y) Die formativen Reize oder Ursachen . . . 99 Definition der Ursache 99 Einige Beispiele von formativen und richtenden Reizen 102 b) Die morphogenetischen Harmonien .... 107 e) Über Restitutionen 110 Einige Bemerkungen über sekundäre Potenzen und über sekundäre morphogenetische Regu- lationen im allgemeinen 110 Der Restitutionsreiz 113 Inhalt des I. Bandes. XIII Seite 3. Das Problem der morp ho genetischen Lokali- sation. Die Theorie des harmo nisch- äqui- potentiellen Systems. Erster Beweis der Autonomie des Lebens 119 Das allgemeine Problem 119 Das rnorphogenetische „System" 120 Das harmonisch-äquipotentielle System 122 Beispiele harmonisch-äquipotentieller Systeme .... 126 Das Problem des Faktors E 132 „Mittel" oder „formative Reize" bieten keine Erklärung 133 Die Unmöglichkeit einer chemischen Theorie der Form- bildung 134 Die Unmöglichkeit einer Maschine als Grundlage der harmonischen Systeme 139 Beweis der Autonomie der Formbildung 143 „Entelechieil 145 Einige allgemeine Bemerkungen über Vitalismus . . . 146 Die Logik unseres ersten Beweises des Vitalismus . . 148 4. Weitere Indizien für die Autonomie der Form- bildung 151 Wanderzellen als harmonisch-äquipotentielle Systeme . 152 Über gewisse kombinierte Typen von morphogenetischen Systemen 154 Die „Morphästhesie" Nolls 158 Restitutionen zweiter Ordnung 159 Die „Aquifinalität" von Restitutionen 160 Bemerkungen über „Rückdifferenzierung" 164 C. Anpassung. Einleitende Bemerkungen über Regulationen überhaupt 166 1. 31orphologische Anpassung 169 Die Grenzen des Begriffs der Anpassung 169 Anpassungen an von außen gesetzte funktionelle Ver- änderungen 173 Wahre funktionelle Anpassung 177 Theoretische Folgerungen 180 2, Physiologische Anpassung 185 Spezifisches Angepaßtsein ist nicht „Anpassung" . . . 187 XIV Inhalt des I. Bandes. Seite Primäre und sekundäre Anpassungen in der Physiologie 189 Über gewisse Voraussetzungen der Anpassung überhaupt 190 Eigenfunktion und harmonische Funktion 191 Über einige Klassen primärer physiologischer Anpassung 193 Allgemeine Bemerkungen über Reizbarkeit .... 193 Die Wärmeregulation 195 Primäre Regulationen beim Stofftransport 196 Farbenregulationen bei Algen 200 Stoffwechselregulationen 201 Die Immunität als einziger sicherer Fall einer sekundären physiologischen Anpassung 208 Die Unmöglichkeit positiver Schlüsse aus diesem Kapitel 213 Einige Bemerkungen über die Grenzen der Regulierbarkeit 215 D. Vererbung. Zweiter Beweis der Autonomie des Lebens. Die stoffliche Kontinuität iu der Vererbung 218 Über gewisse Theorien, welche die Vererbung mit dem Gedächtnis vergleichen 220 Das komplex-äquipotentielle System und seine Bedeutung für die Vererbung 223 Zweiter Beweis der Autonomie des Lebens. Entelechie als Grundlage der Vererbung 228 Die Bedeutung der stofflichen Kontinuität bei der Ver- erbung 231 Experimentaltatsachen über Vererbung 232 Die Rolle des Kernes bei der Vererbung 237 Variation und Mutation 241 Folgerungen aus dem ersten Hauptteil dieser Vorlesungen 244 Teil II: Systematik und Geschichte. A. Die Prinzipien der Systematik. Rationelle Systematik 247 Biologische Systematik 250 B. Die Deszendenztheorie. 1. Allgemeines 253 Über eine verborgene flilfsannahme aller Deszendenz- theorien • 255 Inhalt des I. Bandes. XV Seite Der geringe Wert reiner Phylogenie 257 Geschichte und Systematik 259 2. Die Prinzipien des Dar wiuisrnus 261 Natürliche Zuchtwahl 262 Fluktuierende Variation als angebliche Ursache der organischen Verschiedenheiten 265 Der Zusammenbruch des Darwinismus 271 3. Die Prinzipien des Lamarekismus 272 Anpassung als Ausgangspunkt 273 Die aktive Stapelung zufälliger Variationen als hypo- thetisches Prinzip 274 Kritik der ..Vererbung erworbener Eigenschaften"', der Grundannahme des Lamarekismus 276 Die Notwendigkeit anderer Prinzipien 282 Kritik der Hypothese eines Stapeins und Weitergebens zufälliger Variationen 283 4. Die Ergebnisse und die ungelösten Probleme des Transformismus 291 5. Die verschiedenen transformistischen Theorien in ihrer Beziehung zum logischen Werte der organischen Form 294 Die organische Form und Entelechie 295 C. Die Logik der G-eschichte. 1. Die möglichen Typen von Geschichte 300 2. Phylogenetische Möglichkeiten 305 3. Die Geschichte der 31 enschheit 307 Kumulationen in der Geschichte der Menschheit . . . 309 Ist Menschheitsgeschichte ,, Entwicklung?" 312 Das Problem des „Einzelnen" 316 Schlußfolgerungen aus der Systematik und Ge- schichte im allgemeinen 325 Register zum I. Bande 328 Programm, Lord Giffords Auffassung der Naturwissenschaft. Zum ersten Male ist ein Biologe an diese Stelle be- rufen worden, um die Absichten jenes edlen und hoch- gesinnten Mannes zu verwirklichen, dem dieser Lehr- stuhl seine Entstehung verdankt. Bei dieser Gelegenheit ist es wohl vor allem am Platze, daß wir uns fragen, was denn Lord Giffords eigene Meinung von der Naturwissenschaft gewesen ist, welche Stellung im gesamten Schema des menschlichen Wissens er jenen Zweigen desselben zugewiesen hat, die sich in unserer Zeit in das Zentrum des intellektuellen Interesses der Menschen gestellt haben. Wenn wir uns Lord Giffords letzten Willen nun ansehen, mit der Absicht, darin irgendwelche Äuße- rungen über die Naturwissenschaft zu finden, so sehen wir in der Tat ohne Schwierigkeit, daß er derselben eine außerordentlich hohe Stellung in der Gesamtheit der Wissenschaften zugewiesen hat, wenigstens in einer Be- ziehung: hinsichtlich ihrer Methode. Wir finden nämlich eine sehr interessante Stelle in seinem Testament, welche keinen Zweifel über seine Meinung aufkommen läßt : Nach der formellen Begründung dieses Lehrstuhls ,,for Promo - ting Advancing, Teaching and Diffusing the study of Natural Theology in the widest sense of that terra" und nach einigen Bestimmungen über den Charakter der Vor- lesungen fährt er fort: „I wish the lectures to treat their Driesch, Philosophie. I. 1 2 Programm. subject as a strictly natural science, the greatest of all possible sciences, indeed, in one sense, the only science,. that of Infinite Being ... I wish it considered just as astronomy or chemistry is". Natürlich dürfen wir diese Worte Lord Giffords nicht ganz wörtlich verstehen. Wenn wir einmal als „natürliche Theologie" diejenigen letzten Folgerungen bezeichnen wollen, welche uns das Studium der Natur in Verbindung mit allen anderen Ergebnissen des mensch- lichen Wissens zu ziehen erlaubt, dann kann es offenbar keinem Zweifel unterliegen, daß diese Folgerungen sich erheblich von den Resultaten der wissenschaftlichen Chemie unterscheiden. Und doch gibt es zwei Berührungs- punkte zwischen dem weiteren und dem engeren Felde des Wissens, und beide beziehen sich eben auf die Methode. Lord Giffords eigener Ausdruck „infinite being" zeigt uns einen dieser Berührungspunkte: Im Gegensatze zu Geschichte jeglicher Form rühmen sich die Natur- wissenschaften der Entdeckung solcher Wahrheiten, welche unabhängig von besonderer Zeit und besonderem Orte sind, solcher Wahrheiten, welche „Ideen" sind im Sinne Piatos; und solche zeitlosen Wahrheiten stehen in der Tat immer in naher Beziehung zu den letzten Ergebnissen menschlichen Wissens überhaupt. Und daneben gibt es noch einen anderen Charakterzug, welcher der „natürlichen Theologie" und den besonderen Wissenschaften von der Natur gemeinsam sein kann und welcher in den letzteren besonders stark entwickelt ist : die Freiheit von vorgefaßten Meinungen. Das ist wenigstens ein Ideal aller Natur- wissenschaft, ja, man könnte sagen, es sei das Ideal der- selben, und daß Lord Gifford in der Tat an diesen Charakterzug bei seinem Vergleiche gedacht hat, wird klar, wenn wir nun weiter in seinem Testamente lesen > daß die Vorlesungen über „natürliche Theologie" gehalten werden sollen: „without reference to or reliance upon any supposed special exceptional or so-called miraculous revelation." Programm. 3 So können wir denn in der Tat sagen, daß nach Lord Giffords Meinung die Naturwissenschaften wegen ihrer logischen und ihrer ethischen Methoden das Vorbild der natürlichen Theologie sein sollen. Naturwissenschaften und „Natürliche Theologie". Wir wollen nun zunächst in etwas eingehenderer Form die Beziehungen studieren, welche zwischen den Naturwissenschaften und der „natürlichen Theologie" als einer Wissenschaft möglich sind. Wie kann die Tätigkeit des Naturforschers zu den höchsten und letzten Problemen menschlicher Erkenntnis beitragen? Fast allen Naturwissenschaften ist auf ihrem eigenen Gebiet eine gewisse Art von Naivität eigen; sie alle stehen auf einer Basis, welche man naiven Realismus genannt hat; sie tun das wenigstens so lange, als sie, so- zusagen, zu Hause sind. Ihren eigenen Fortschritt hindert das durchaus nicht, aber es scheint zunächst der Möglich- keit eines engeren Kontaktes mit irgend einer Form der menschlichen Kenntnis, welche höher ist als sie selbst, im Wege zu stehen. Man kann offenbar ein vorzüglicher organischer Chemiker sein und doch die Atome als kleine Billardkugeln ansehen, und man kann glänzende Ent- deckungen über die Gewohnheiten der Tiere machen, wenn man diese auch noch so anthropomorphistisch auffaßt — vorausgesetzt, daß man ein guter Beobachter ist; aber niemand wird, glaube ich, zugeben, daß unser Chemiker viel für den Fortschritt der Theorie der Materie leisten, oder daß unser Biologe dazu beitragen wird, das Problem der Beziehungen zwischen Körper und Geist zu lösen. Nur mit Hilfe der Philosophie oder, besser gesagt, durch beständige Berührung mit der Philosophie können die Naturwissenschaften eine wirkliche Bedeutung für das gewinnen, was man am einfachsten d i e Wissenschaft von der Natur nennen könnte. Im Englischen bedeutete das Wort ,, natural philosophy": theoretische Physik. Diese 1* 4 Programm. Bezeichnung entbehrt durchaus nicht der Berechtigung, denn die theoretische Physik hat in der Tat ihre Naivität eingebüßt und ist eine Philosophie der Natur geworden. Aber trotzdem ist es zu bedauern, daß dieserart das Wort „natural philosophy" in England eingebürgert ist, denn es fehlt nun der englischen Sprache ein kurzer und ganz eindeutiger Ausdruck zur Bezeichnung einer Art der Natur- wissenschaft, welche in ständiger Berührung mit der eigent- lichen Philosophie steht, einer Naturwissenschaft, welche keinen einzigen Begriff gebraucht, ohne ihn erkenntnis- theoretisch zu rechtfertigen. Im Deutschen sind wir gewöhnt, diese Art der Naturwissenschaft „Naturphilosophie" zu nennen. Reden wir also in folgendem von Naturphilo- sophie. Dann können wir sagen, daß alle Naturwissen- schaften nur dadurch, daß sie sich zur Naturphilosophie erheben, zur Beantwortung der höchsten Fragen, welche des Menschen forschender Geist stellen kann, beizutragen imstande sind. Diese höchsten Fragen selbst sind das Ergebnis der Vereinigung der letzten Ergebnisse aller Zweige der Philo- sophie, ganz ebenso wie unsere Naturphilosophie ihren Ursprung in der Vereinigung der Ergebnisse aller einzelnen Naturwissenschaften besaß. Aber können diese höchsten Fragen auch gelöst, können sie nicht nur gestellt werden? Können sie gelöst werden in einer Weise, welche die Grenze wirklicher Philosophie als des Gebietes wirklichen Wissens nicht überschreitet ? Das Eingangskapitel einer langen Reihe von Unter- suchungen ist wohl nicht der richtige Ort, um diese wichtigen Fragen zu entscheiden, und so muß denn „natürliche Theologie" zunächst ein Problem für uns bleiben. Mit anderen Worten: wir müssen hier, im Beginne unserer Untersuchungen, die Frage offen lassen, ob es überhaupt eine endgültige und von Widersprüchen freie Antwort auf die letzte Frage geben kann, welche die Gesamtheit aller Zweige der Philosophie stellt. Programm. 5 Doch wollen wir uns durch diesen problematischen Eingang unserer Untersuchungen nicht irre machen lassen. Wir wollen zunächst der Biologie auf ihrem eigenen Wege folgen; wir wollen ihren Übergang von einer naiven Wissen- schaft zu einem wirklichen Zweige der Naturphilosophie studieren. Auf diese Weise werden wir vielleicht zu einem Verständnis der Rolle gelangen, welche die Biologie bei Lösung der überhaupt lösbaren Fragen zu spielen berufen ist. Das also soll unsere Aufgabe sein. Unsere philosophische Methode. Natur nennen wir das, was im Räume wirklich ist. Es kann nun in diesen Vorlesungen nicht unsere Aufgabe sein, das psychologische und erkenntnistheoretische Problem des Raumes mit seinen drei Dimensionen zu erörtern oder eine allgemeine Theorie der Realität und ihrer verschiedenen Stufen zu entwickeln. Einige wenige epistemologische Erörterungen werden wir bei geeigneter Gelegenheit später anstellen, immer in naher Beziehung zu Ergebnissen der theoretischen Biologie. Fürs erste muß es genügen hervorzuheben, daß unsere allgemeine philosophische Methode idealistisch sein wird in der kritischen Bedeutung dieses Worts. Unsere Methode wird also von dem Satz ausgehen: Das Wirk- liche und innerhalb des Wirklichen die Natur, im oben definierten Sinne, ist mein Phänomen. Dieses ist das, was ich weiß. Ich weiß zunächst nichts weiter, weder im Positiven, noch im| Negativen ; mit anderen Worten: ich weiß nicht, daß die Welt nur mein Phänomen ist, aber ich weiß andererseits auch nichts Bestimmtes über ihre absolute Existenz. Und weiter, ich kann nicht einmal ohne weiteres positiv ausdrücken, was das Wort „absolute Existenz" bedeuten soll. Ich bin durchaus berechtigt zu behaupten: ,,das Universum ist so wahr wie ich bin" — obwohl in einer etwas anderen Bedeutung des Wortes „sein" — und: „Ich bin so wahr, wie das Universum Q Programm. ist"; aber ich bin nicht berechtigt zu irgend einer Be- hauptung, die über diese beiden einander entsprechenden Sätze hinausgeht. Bekanntlich war Berkeley in der G'eschichte der neueren europäischen Philosophie der erste, der eine der Formen des Idealismus in klarer Weise vertreten hat. Wir selbst werden uns über die be- sondere Form unseres Idealismus erst später äußern und bemerken an dieser Stelle nur, daß ein ganz strenger „phänomenalistischer" oder „solipsistischer" Idealismus uns, wie gesagt, nur als Methode gelten soll — nicht als mehr. Was hier im Sinne eines „mehr" überhaupt möglich ist, wird auch erst an späterer Stelle erörtert werden können. Mein Phänomen, die Welt und die Natur im besonderen, besteht nun aus Teilen von verschiedener Art. Die einen sind passiv, die anderen begreifen in sich eine besondere Art von Aktivität. Die ersteren nennt man allgemein ,, Empfindungen", man könnte sie vielleicht besser Elemente oder Präsentationen nennen; die anderen sind Formen des Aufbauens und tragen insofern ein aktives Element in sich, als sie durch ihre Kombinierbarkeit die Auf- stellung von Grundsätzen gestatten, welche nicht verneint werden können, welche vielmehr bejaht werden müssen, wenn man ihre Bedeutung überhaupt verstanden hat. Sie verstehen, daß ich hier von dem spreche, was man „Kate- gorien" und „synthetische Urteile a priori" zu nennen pflegt, und Sie wissen, daß es Kant gewesen ist, der auf dem von Locke, Hume und L e i b n i z gelegten Grunde zuerst die Grundlagen eines wirklichen Systems der kritischen Philosophie entwickelte. Unsere Methode wird in der Tat in erheblichem Grade mit derjenigen Kants identisch sein, freilich mit gewissen Ausnahmen; sie wird, als Methode, in strengerer Weise idealistisch sein als die seinige und wird nicht von vornherein mit Dingen an sich arbeiten ; und sie wird die sogenannten synthetischen Urteile a priori und das Problem der Beziehung zwischen den kategorischen Prinzipien und der Erfahrung in etwas anderer Programm. 7 Weise auffassen. Den viel erörterten Begriff ,,a priori" schlagen wir vor als „unabhängig vom Betrage der Er- fahrung" zu definieren; mit anderen Worten: alle Kate- gorien und alle kategorischen Prinzipien werden mir bewußt im Laufe jenes fundamentalen Ereignisses, welches wir Erfahrung nennen, sie sind daher nicht unabhängig von der Erfahrung, aber sie sind doch keine Induktionen aus der Erfahrung, wie alle sogenannten empirischen Gesetze. Wir könnten vielleicht sagen, daß die Erfahrung uns nur an diese Prinzipien erinnert, und wir würden wohl in der Tat nicht sehr fehl gehen, wenn wir sagen würden, daß die alte sokratische Lehre, alles Wissen sei Erinnerung, in bezug auf Kategorien und kategorische Prinzipien richtig sei. Doch lassen wir fürs erste alle weiteren Auseinander- setzungen mit der allgemeinen Philosophie. Was nun die Naturphilosophie angeht, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß auf Grund von Prinzipien, wie wir sie soeben kurz skizziert haben, ihr letztes Ziel darin be- stehen muß, alles in der Natur Gegebene Begriffen und Prin- zipien kategorischer Art zuzuordnen. Die Naturphilosophie wird so zu einem System; zu einem System, dessen all- gemeiner Typus durch die konstruktive Fähigkeit des Ich geliefert wird. In diesem Sinne bleibt der Kant sehe Ausspruch wahr, daß das Ich der Natur die Gesetze vor- schreibt, wobei freilich Natur, d. h. das Gegebene im Raum, derart sein muß, daß sie sich jener Vorschrift fügt. Man hört oft sagen, alle Wissenschaften, einschließlich der Wissenschaft der Wissenschaften, nämlich der PMlo- sophie, hätten aufzufinden, was wahr sei. Was kann denn nun ,,wahr" heißen für einen idealistischen Philosophen, für den die alte realistische Formel der Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand keinen Sinn haben kann? Abgesehen von seiner Anwendung auf einfache Tatsachen oder einfache Urteile, wo denn das Wort „Wahrheit" nur die Abwesenheit von Täuschung oder von falscher Aussage bedeutet, kann dieses Wort für eine philosophische Lehre oder für ein System solcher Lehren nur in dem Sinne in 8 Programm. Anspruch genommen werden, daß keine Wider- sprüche zwischen den Teilen der Lehre oder des Systems bestehen sollen und daß das System keine Züge aufweisen soll, welche unser kategoriales Ich zu weiterer Analyse treiben. Diejenigen von Ihnen, welche James Wards Vor- lesungen über „Naturalism and Agnosticism" gehört, oder welche sein vorzügliches Buch über diesen Gegenstand gelesen haben, wissen, was eine Theorie der Materie ist; sie wissen auch, daß es gegenwärtig noch keine Theorie der Materie gibt, welche behaupten kann, „wahr" zu sein; es gibt Widersprüche in jeder Theorie der Materie und es gibt auch immer gewisse Punkte in jeder, die uns zu weiteren Fragen führen, ohne daß wir eine Antwort wüßten. Die Erfahrung hat hier noch nicht alle kategorialen Punktionen wach- gerufen, welche nötig wären, um das zu einer Einheit zu formen, was gegenwärtig noch als eine Summe von Unver- träglichkeiten erscheint. Warum ? Vielleicht weil wir mit der Erfahrung auf diesem Felde noch nicht fertig sind, vielleicht aber auch, weil der ganze Gegenstand so kompliziert ist, daß erst nach vielen Irrtümern die richtigen kategorialen Funktionen angewendet werden können auf das, was uns Erfahrung lehrt. So ist denn also für unseren philosophischen Standpunkt, soweit er Methode ist, Wahrheit dasselbe wie Voll- ständigkeit und W i d e r s p r u c h s 1 o s i g k e i t mit Rücksicht auf „mich" als Subjekt. Am Ende des ganzen Werkes werden wir freilich davon zu reden haben, daß „W ahrheit" doch noch etwas anderes sein kann als bloß methodologische Geltungswahrheit. Aber uns gehen hier weder die eigentliche Episte- mologie noch die Ontologie etwas an; eine tiefgehende Analyse der biologischen Tatsachen ist unser Problem. Wozu denn alle diese Einleitungen, wozu diese philosophi- schen Skizzen über Gebiete des Wissens, welche eine ganz andere Beziehung zur Philosophie haben als die Biologie? Die Biologie, so höre ich sagen, ist einzig und allein eine Programm. 9 empirische Wissenschaft; in gewissem Sinne ist sie nichts als angewandte Physik und Chemie, angewandte Mechanik vielleicht. Es gibt gar keine fundamentalen Prinzipien in der Biologie, die imstande wären, sie in eine enge Be- ziehung zur Philosophie zu bringen. Ja sogar das eine und einzige Prinzip, welches vielleicht ein Eigenprinzip unserer Erfahrung über das Leben sein könnte, das Prinzip der Entwicklung, ist nur eine Kombination einfacherer Fak- toren von physikalischem und chemischem Typus! — Es wird mein ganz besonderes Bemühen sein, Sie im Verlauf dieser Vorlesungen zu überzeugen, daß eine solche Auf- fassung der wissenschaftlichen Biologie falsch ist ; daß die Biologie eine elementare Naturwissenschaft im wahren Sinne des Worts ist. Aber wenn die Biologie eine elementare Wissenschaft ist, dann und nur dann steht sie in engen Beziehungen zur Epistemologie und Ontologie, in denselben Beziehungen, in denen jede Naturwissenschaft zu diesen Lehren steht, welche wahre Elemente der Natur zu ihrem Objekt hat und welche willig ist, das Feld des naiven Realismus zu verlassen und beizutragen zum Ganzen der menschüchen Erkenntnis. Und so ist denn eine philosophische Skizze doch an ihrem Platze im Beginne von Vorlesungen über die Philosophie der Organischen. Wir werden zwar gezwungen sein, uns für einige Zeit durchaus im Gebiete des realistischen Empirismus zu bewegen, denn die Biologie hat es mit sehr komplizierten Gegenständen zu tun; aber es wird einen Wendepunkt in unseren Untersuchungen geben, einen Wendepunkt, an welchem wir in das Gebiet der elemen- taren ontologischen Begriffe eintreten werden, und sobald wir das tun, wird unser Studium des Lebens einen Teil der wahren Philosophie zu bilden anfangen. Nicht ohne gute Gründe habe ich daher als eine Art Einleitung zu meinen Vorlesungen den allgemeinen Standpunkt zu formulieren versucht, den wir mit Bezug auf philosophische Fragen und mit Bezug auf die Probleme der Naturphilo- sophie im besonderen methodologisch innehalten werden. |0 Programm. Über einige Eigentümlichkeiten der wissen- schaftlichen Biologie. Die Biologie ist die Wissenschaft vom Leben. Prak- tisch wissen Sie alle, was ein lebendes Wesen ist, und des- wegen kann ich mir eine Definition des Lebens ersparen, welche ja auch hier, am Beginn unserer Studien, entweder nur vorläufig und unvollständig oder aber dogmatisch ausfallen würde. Eine Definition gehört ans Ende und nicht an den Anfang einer Wissenschaft. Wir werden die Phänomene, welche die lebenden Organismen darbieten, analytisch, mit Hilfe des Experiments studieren; unser letztes Ziel wird es sein, Gesetze in diesen Phänomenen zu entdecken; solche Gesetze werden dann weiter analysiert werden, und eben hier ist der Punkt, wo wir das Gebiet der eigentlichen Naturwissenschaft verlassen werden. Unsere Wissenschaft ist die höchste aller Natur- wissenschaften, denn sie umfaßt als ihr letztes Objekt die Handlungen des Menschen, wenigstens soweit Handlungen Phänomene sind, welche an Körpern beobachtet werden können. Aber die Biologie ist auch die schwierigste aller Natur- wissenschaften, nicht nur wegen der Kompliziertheit der von ihr studierten Phänomene, sondern auch noch aus einem besonderen Grunde, welcher selten klar ausgesprochen wird, so daß es sich lohnt, ihm einige Worte zu widmen. Nur soweit die sogenannten ,, Elemente" der Chemie in Frage kommen, wird der Experimentator im Anorganischen durch die Besonderheit komplizierter Objekte in seiner Arbeit eingeschränkt, im übrigen macht er sich alle Kom- binationen, welche er braucht. Er kann immer rote Strahlen von einer bestimmten Wellenlänge zur Verfügung haben, wann und wo er will, und er kann immer, zu beliebiger Zeit und an beliebigem Orte, den bestimmten Betrag einer organischen Verbindung zur Verfügung haben, welchen er zu untersuchen wünscht. Und er zwingt die Elektrizität Programm. \ 1 und den Magnetismus unter seinen Willen, wenigstens mit Rücksicht auf Ort, Zeit und Intensität ihres Auftretens. Der Biologe dagegen kann sich nicht Leben „machen", wie der Physiker sich rote Strahlen oder Elektrizität, oder wie der Chemiker sich eine bestimmte Kohlenstoffver- bindung gemacht hat. Der Biologe ist beinahe immer in der seltsamen Lage, in welcher der Physiker sein würde, hätte er immer Vulkane aufzusuchen, um die Wärme- leitung zu studieren, oder müßte er auf Gewitter warten für das Studium der Elektrizität. Der Biologe hängt ab von der Sonderheit der lebenden Objekte, wie sie in der Natur vorkommen. Ein paar Beispiele mögen Ihnen zeigen, wie unzu- träglich diese Sachlage für den Fortschritt der bio- logischen Forschung sein kann. Später werden wir uns mit Versuchen an sehr jungen Embryonen zu be- schäftigen haben : Teile des Keimes müssen zerstört werden, um zu untersuchen, was mit dem Rest geschehen wird. Nun sind fast alle Keime von einer Membran umgeben; diese Membran muß entfernt werden, bevor eine Operation möglich ist. Was sollen wir aber machen, wenn es unmöglich ist, die Membran zu entfernen, ohne den Embryo zu töten % Oder was sollen wir machen, wenn, wie bei vielen marinen Tieren, die Membran wohl entfernt werden kann, die Keime aber durch ihre Berührung mit dem Seewasser getötet werden ? In beiden Fällen lassen sich eben keine Versuche anstellen an einer Art von Keimen, die sonst, wegen be- stimmter Eigentümlichkeiten ihrer Organisation, besonders wichtige Ergebnisse versprochen hätte. Diese Ergeb- nisse sind u n möglich geworden, aus einem bloß prak- tischen, aus einem sehr nebensächlichen Grunde; doch genug : sie sind unmöglich. Und sie würden Licht geworfen haben auf Probleme, welche nun eben Probleme bleiben müssen. Ganz dieselben Umstände können bei Versuchen auf dem Gebiete der reinen oder funktionellen Physiologie vorliegen; die eine Art von Tieren überlebt die Operation, die andere Art tut es nicht und daher müssen die Unter- 12 Programm. suchungen, aus ganz äußerlichen Gründen, auf die erste Art beschränkt bleiben, obwohl die zweite vielleicht viel wichtigere Ergebnisse geliefert hätte. Und so ist es immer das Schicksal des biologischen Experimentators, von seinen Objekten abhängig zu sein. Zu einem großen Teil rührt der verhältnismäßig langsame Fortschritt der biologischen Wissenschaft von diesem Umstände her: von der unver- änderbaren, spezifischen Natur des biologischen Materials. Aber noch ein anderer Charakterzug der Biologie hängt von derselben Tatsache ab: wenn eine Wissenschaft bei jedem ihrer Schritte von den Sonderheiten ihres Materials abhängig ist, muß sie natürlich zu allererst dieses Material kennen und das erfordert sehr viel einfache Beschreibung. Jetzt verstehen wir, warum reine Beschreibung, im ein- fachsten Sinne des Wortes, in jedem Lehrbuch der bio- logischen Wissenschaft eine so große Rolle spielt. Und es ist nicht nur die Morphologie, die Wissenschaft der Form, die es ganz besonders mit der Beschreibung zu tun hat; auch die Physiologie, in ihrem gegenwärtigen Zustand wenig- stens, ist zu wenigstens neun Zehnteln reine Beschreibung der Funktion der verschiedenen Teile des tierischen und pflanzlichen Körpers. Es liegt mir daran, dies besonders hervorzuheben, da wir oft sagen hören, Physiologie sei von allem Anfang an eine viel höhere Art der Erkenntnis als Morphologie, da sie rational sei. Das gilt ganz und gar nicht für die Physiologie an ihrem Anfange. Was die Funktionen der Leber oder der Wurzel sind, muß einfach beschrieben werden, ganz ebenso wie die Organisation des Gehirns oder des Blattes, und es macht logisch keinen Unterschied, daß die eine Art von Beschreibung die experi- mentelle Methode verwendet, die andere nicht. Das Experi- ment, welches nur aufdeckt, was hier und was dort geschieht, besitzt über reine Beschreibung keine logische Überlegenheit. Doch wir werden bei einer anderen Gelegenheit in unseren Vorlesungen eingehender über die Logik des Experiments und über die Unterschiede zwischen beschrei- bender Kenntnis und wahrer rationaler Wissenschaft reden. Programm. 13 Die drei verschiedenen Typen unseres Wissens Tom Gegebenen. Naturwissenschaft kann nicht entstehen, ehe die unmittelbar gegebenen Naturphänomene wenigstens in oberflächlicher und vorläufiger Weise für und durch die praktischen Bedürfnisse des Menschen erforscht sind. Aber sobald wahre Wissenschaft auf irgend einem begrenzten Felde beginnt, beispielsweise auf dem zoologischen oder mineralogischen oder mit Hinblick auf die allgemeinen Eigenschaften der Körper, findet sie sich sofort zwei ver- schiedenen Klassen von Problemen gegenübergestellt welche beide, wie alle Probleme, in letzter Hinsicht durch die logische Organisation des menschlichen Geistes oder besser des Ich geschaffen sind. In jedem Zweige unseres Wissens, den praktische Not- wendigkeit von anderen abgesondert hat, und welchen die Wissenschaft sich nun anschickt methodisch zu unter- suchen, gibt es allgemeine typische Folgen der Er- scheinungen, eine allgemeine Ordnung der Ereignisse. Dieses Allgemeine enthüllt sich nur schrittweise, aber sobald es sich nur überhaupt gezeigt hat, hängt der Forscher ihm an. Er widmet sich besonders oder sogar ausschließlich den Allgemeinheiten, die sich in den Abfolgen aller Verände- rungen zeigen. Er ist überzeugt, daß es eine allgemeinste und universelle Verbindung zwischen allen Vorgängen geben muß. Diese allerallgemeinste Verbindung muß auf- gefunden werden; das ist wenigstens das Ideal, welches den forschenden Geist wähernd seiner Untersuchungen immer begleitet. Das Naturgesetz ist das Ideal, von dem ich hier spreche, ein Ideal, das nichts weniger bedeutet als eines der Postulate der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt. Wenn wir für unsere Zwecke einen Ausdruck gebrauchen wollen, den der Philosoph W i n d e 1 b a n d in die Termino- logie eingeführt hat — obschon in einem etwas anderen Sinne — so können wir denjenigen Zweig der Natur- 24: Programm. Wissenschaft, welcher die Aufstellung von Naturgesetzen als sein Ideal ansieht, nomothetisch, d. h. gesetz- gebend nennen. Und wie nun jede Naturwissenschaft ihre nomo- thetische Seite hat, so hat sie auch eine andere Seite von ganz verschiedener Art. Diese zweite Hälfte jeder Natur- wissenschaft kümmert sich nicht um dasselbe Allgemeine, dasselbe Gesetzliche, welches uns in jedem Ereignis nur in verschiedener und spezifizierter Form entgegentritt ; es ist vielmehr gerade Verschiedenheit, es ist Spezifi- kation, die den Gegenstand ihres Interesses ausmacht. Ihr Bestreben geht dahin, einen zureichenden Grund für die Typen der Verschiedenheiten, für die Typen der Spezifi- kationen zu finden. So hat man z. B. in der Chemie eine systematische Ordnung in der langen Reihe der Verbin- dungen und der Elemente gefunden; die Kristallographie andererseits hat ihre verschiedenen Kristallsysteme usw. Wir haben das Wort bereits angewendet, mit dem wir diese zweite Hälfte jeder Naturwissenschaft bezeichnen wollen: es ist ihre „systematische" Hälfte. Nomothetische Arbeit auf der einen und systematische auf der anderen Seite erscheinen in der Tat in jeder Natur- wissenschaft; und außer ihnen gibt es nichts anderes. Aber Wissenschaft als Ganzes steht einem anderen Typus der gedanklich verarbeiteten Wirklichkeit gegenüber, welchen man Geschichte nennt. Geschichte hat es mit den Einzigkeiten des Gegebenen, das heißt mit den besonderen Ereignissen an diesem Ort und zu dieser Zeit zu tun, während Wissenschaft immer vom Einzigen in seiner Be- sonderheit abstrahiert, selbst in ihrer systematischen Hälfte i). J) Windelband (Geschichte und Naturwissenschaft, 3. Aufl. 1904) nennt „nomothetisch" die Gesamtheit dessen, was wir „Wissen- schaft" nennen und nennt die Methode der Geschichte idio- graphisch. Wir halten es aber praktisch für besser, drei funda- mentale Typen aller möglichen Erkenntnis aufzustellen. Programm. 15 Allgemeiner Plan dieser Vorlesungen. Wir wenden uns nun zu einer kurzen Übersicht über das, was in diesen Vorlesungen erörtert werden soll. Da ist es denn ohne weiteres klar, daß auch die Biologie als Wissen- schaft ihre nomothetische und ihre systematische Seite hat. Atmung und Assimilation z. B. haben sich als Typen von Naturgesetzen unter den Lebensphänomenen erwiesen, und daß es ein System der Tiere und Pflanzen gibt, ist zu allgemein bekannt, um des weiteren erörtert zu werden. So könnten wir denn zunächst die biologischen Gesetze und dann das biologische System und an dritter Stelle vielleicht die biologische Geschichte studieren. Aber das würde nicht recht dem Zweck unserer philosophischen Vorlesungen entsprechen. Unser Hauptobjekt ist nicht Biologie als eigentliche Wissenschaft, wie sie in Lehrbüchern und in gewöhnlichen Uni versitäts Vorlesungen behandelt wird ; unser eigentliches Objekt ist die Philosophie des Organischen, unterstützt und getragen von der wissenschaftlichen Biologie. Deswegen muß eine allgemeine Bekanntschaft mit der Biologie bei diesen Vorlesungen vorausgesetzt werden und das biologische Material muß in ihnen gemäß seiner Bedeutung für weitere, d. h. für philosophische Analyse angeordnet sein. Das soll denn also geschehen; natürlich nicht in der Weise, daß ich jeden meiner Zuhörer als einen kompetenten Biologen ansehe; ich werde im Gegenteil alle diejenigen Punkte der eigentlichen Biologie, seien sie auch von der ein- fachsten, rein beschreibenden Art, welche als Grundlage für philosophische Erörterungen dienen können, sehr ein- gehend erörtern; aber doch nur, w e nn sie eben als solche Grundlage dienen. Unsere Biologie wird nicht Selbstzweck sein, sondern im Dienst der Philosophie stehen. Wenn wir uns nun die Gesamtheit des biologischen Materials für unsere Zwecke ansehen, so erscheint es am besten, das eigentlich wissenschaftliche Material, welches unseren Erörterungen zur Grundlage dienen wird, nicht in 16 Programm. der Weise anzuordnen, wie es in der Biologie als in einer unabhängigen Wissenschaft geschehen würde, sondern vielmehr auszugehen von den drei verschiedenen Arten fundamentaler Erscheinungskreise, welche die lebenden Körper der Forschung darbieten, und alle Systematik aus- schließlich dem einen dieser Kreise anzugliedern. Denn gegenwärtig ist von der biologischen Systematik nicht viel für die Philosophie zu lernen. Wir kennen Leben nur in Verbindung mit Körpern: anders gesagt, wir kennen lebende Körper und nennen diese Organismen. Es ist das letzte Ziel aller Biologie aus- zumachen, was es eigentlich heißt zu sagen, daß ein Körper belebt sei, und in welcher Beziehung Körper und Leben zu- einander stehen. Aber gegenwärtig genügt es, die Worte Körper und Leben in der üblichen populären Weise zu verstehen. Wenn wir uns nun die lebenden Körper in dieser vor- urteilslosen Weise ansehen, und wenn wir uns ins Ge- dächtnis rufen, was die wesentlichen Eigenschaften aller von uns ,, lebend" genannter Körper sind, so finden wir, daß es drei Eigenschaften sind, welche niemals fehlen, wo immer wir Leben an Körpern vor uns sehen. Alle lebenden Körper sind spezifisch in ihrer Form, sie „habe n" eine spezifische Form, wie wir gewohnt sind, zu sagen. Alle lebenden Körper zeigen ferner das Phänomen des Stoffwechsels, d. h. sie stehen in Materialaustausch mit dem umgebenden Medium, sie nehmen Material auf und geben Material ab, aber ihre Form kann unverändert bleiben bei diesem Austausch. Und endlich können wir sagen, daß alle lebenden Körper sich bewegen ; wenn diese Eigenschaft ganz vorwiegend auch nur im Tierreich bekannt ist, so lehrt doch schon die elementare Wissenschaft, daß sie auch den Pflanzen zukommt. Wir können also in der Biologie nach Naturgesetzen fragen: bezüglich der Form, bezüglich des Stoffwechsels und bezüglich der Bewegungen. Und so wollen wir denn in der Tat das Material des eigentlich biologischen Teils unserer Vorlesungen diesem Schema gemäß anordnen, wobei Programm. 17 wir freilich, da wir unseren drei Abteilungen nicht den gleichen Wert für unsere letzten Zwecke beimessen können, die einzelnen Teile nicht ganz gleichförmig behandeln werden. Es wird sich zeigen, daß, gegenwärtig wenigstens, die Pro- bleme der organischen Form und der organischen Be- wegungen in sehr viel nähere Berührung zu philosophischer Analyse gekommen sind, als die meisten Ergebnisse der St of f we chselphysiologie . Ganz besonders ist es die organische Form, von der man wohl sagen kann, daß sie das eigentliche Zentrum des biologischen Interesses einnehme. Sie ist der Ausgang aller Biologie. Deswegen werden auch wir unsere wissenschaft- lichen Untersuchungen mit einer gründlichen Analyse der Form beginnen. Die Wissenschaft von der lebendigen Form wird uns dann weiter eine Handhabe bieten, um den eigent- lichen Stoffwechsel in einer für unsere Philosophie möglichst vorteilhaften Weise zu studieren, und so wird denn die Physiologie der sogenannten vegetativen Funktionen gleichsam einen Anhang zu unserem Kapitel über die Form bilden; nur die Theorie von einer problematischen ,, lebenden Substanz" und von der ,, Assimilation", in der allgemeinsten Bedeutung des Wortes, wird dem philosophischen Teil vor- behalten bleiben; mit gutem Grunde, wie ich zu zeigen hoffe. Aber unser Kapitel über die lebende Form wird noch einen anderen Anhang haben, abgesehen von der Physiologie des Stoffwechsels. Die biologische Systematik ruht fast aus- schließlich auf der Formenlehre, auf der Morphologie; und was bisher für die metabolische Seite der systematischen Probleme getan worden ist, besteht nur aus wenigen Frag- menten, die weit davon entfernt sind, der morphologischen Systematik ebenbürtig zu sein, — wobei man natürlich zu- geben muß, daß Systematik in unserer ganz allgemeinen Bedeutung des Worts, als Summe aller Probleme über das typisch Verschiedene und Spezifische, sich auf jeder der grundlegenden Eigenschaften der lebenden Körper aufbauen könnte, nicht einzig auf ihrer Form. Systematik wird also den zweiten Anhang zum ersten Hauptteil unserer Unter- Driesch, Philosophie. I. 2 13 Programm. suchungen bilden, und Systematik ihrerseits wird uns dann zu einer kurzen Skizze der historischen Seite der Biologie führen, zur Deszendenztheorie in ihren verschiedenen Formen und zur Logik der Geschichte im allgemeinen. Das ist unser Programm für das erste Jahr. Im zweiten Jahre wird die Theorie der organischen Bewegungen unsere eigentlich wissenschaftliche Analyse abschließen, und der Rest des zweiten Jahres wird dann ausschließlich der Philosophie des Organischen gewidmet sein. Ich hoffe, daß keiner unserer Philosophie den Vorwurf machen wird, sie ruhe auf schwachem Fundament; aber denjenigen unter Ihnen andererseits, welche meinen könnten r daß unsere rein wissenschaftlichen Kapitel etwas zu lang seien, verglichen mit ihren philosophischen Ergebnissen, mag gesagt sein, daß der kleine Glockenturm einer Dorf- kirche zwar weniger prätentiös, aber dauerhafter sein kann als der Campanile von San Marco es war. Diese Vorlesungen werden allerdings meine Hörer mit mehr ,, Tatsachen" bekannt machen, als Gifford- Vorlesungen es gewöhnlich getan haben. Aber wie könnte das anders sein, wenn der Vortragende ein Natur- forscher ist ? Mit den wissenschaftlichen Tatsachen der Naturwissenschaft hat nun eben die Naturphilosophie zu arbeiten, und diese Tatsachen sind leider durchaus nicht so allgemein bekannt, wie z. B. historische Tatsachen es sind ; sie müssen aber gekannt sein, wenn anders die Philosophie des Organischen von irgend einem Werte sein soll, der über bloße Unterhaltung hinausgeht. Goethe sagt irgendwo, daß schon in sogenannten Tat- sachen meist weit mehr Theorie enthalten sei, als gewöhnlich zugegeben werde ; er dachte da offenbar an das, was man die letzten oder die typischen Tatsachen der Wissenschaft nennen könnte. Eben mit diesen typischen oder letzten Tatsachen müssen wir wohl vertraut sein, wenn unsere künftige Philosophie nutzbringend sein soll. Nichts würde im Wege liegen, unser Material in einer Weise anzuordnen, die gerade das Gegenteil von derjenigen Programm. 19 ist, die wir uns gewählt haben: wir könnten mit einem allgemeinen Prinzip über das Organische beginnen und alsdann versuchen, alle besonderen Lebenserscheinungen von diesem Prinzip abzuleiten; eine solche Weise des Vorgehens würde sicherlich eindrucksvoller sein, als die von uns ge- wählte. Aber, ob sie schon logisch wäre, so wäre sie doch recht unpsychologisch und daher unnatürlich. Und so wird denn unser allerallgemeinstes Prinzip des Organischen erst ganz am Ende in Klarheit hervortreten, obwohl es nicht eine bloße Induktion, gewonnen aus dem, was vorausging, ist. Unser allgemeinstes Prinzip wird den Höhepunkt des Ganzen bedeuten, und wir werden seinen Wert um so besser schätzen können, je mehr wir verstehen, was es eigentlich besagt. Allgemeine Kennzeichen der organischen Form. Im ersten Jahre sollen, wie wir sagten, unsere Vor- lesungen ausschließlich der organischen Form gewidmet sein, wennschon ein Teil derselben, nämlich derjenige, welcher sich mit der Physiologie des Stoffwechsels beschäftigt, uns auch mit einigen anderen Lebensphänomenen vertraut machen wird. Was ist denn nun das Wesentliche an einer lebenden Form — den Begriff so genommen, wie er auch ohne ein besonderes Studium der Biologie verstanden wird ? Lebende Körper sind nicht bloße geometrische Formen, nicht, wie Kristalle, nur typische Anordnungen von qualitativ gleichartigen Oberflächen im Raum, die sich theoretisch vielleicht auf eine Anordnung von Molekülen zurückführen ließen. Die lebenden Körper sind typisch kombinierte Formen, d. h. sie bestehen aus einfacheren Teilen verschiedenen Charakters, die in bezug aufeinander in besonderer Weise gelagert sind. Die Teile haben nun selbst eine typische Eigenform und können ihrerseits wieder Kombinationen noch einfacherer Teile sein. Des weiteren haben aber lebende Körper nicht immer dieselbe typisch kombinierte Form während ihres ganzen Lebens ; sie werden 2* 20 Programm. um so komplizierter, je älter sie werden; sie alle beginnen mit einem Ausgangspunkt, der nur sehr wenig Form über- haupt hat: mit dem Ei. So können wir denn die lebende Form eine genetische Form nennen, oder auch eine Form, die sich als Prozeß darstellt, und deswegen ist Morpho- g e n e s i s der passende Name für die Wissenschaft, die sich mit den Gesetzen der organischen Formen im all- gemeinen beschäftigt; wenn wir es aber vorziehen, nicht dasselbe Wort für eine Wissenschaft und für ihren Gegen- stand zu gebrauchen, so können wir auch sagen: die Physiologie der Formbildung, die Physiologie der Morpho- genesis. Die Physiologie der Morphogenesis oder die Physio- logie der Form hat nun verschiedene Teile: Wir können untersuchen und werden in der Tat zuerst studieren, worin denn die Gesetze des morphogenetischen Prozesses, der vom Ei zum Erwachsenen führt, bestehen. Dieser Teil unserer Wissenschaft mag Entwicklungsphysio- logie genannt werden. Aber die lebenden Formen können nicht nur auf eine unveränderbare Weise entstehen : sie können sich wieder herstellen, wenn sie gestört sind, und so tritt uns denn die Physiologie der Resti- tution als zweiter Teil der wissenschaftlichen Morpho- genesis entgegen. Das Studium der Restitution wird uns in der Tat sehr wichtige Resultate liefern, darunter einige der Grundlagen für unsere philosophischen Erörterungen. Auch wird es gerade die Restitutionslehre sein, der wir unsere Übersicht über die Physiologie des Stoffwechsels angliedern werden. Die lebenden Formen entstehen aber nicht nur aus dem Ei und sind fähig sich zu restituieren, sie geben auch anderen Formen den Ursprung und garantieren auf diese Weise die Kontinuität des Lebens. So erscheint die Physio- logie der Vererbung als das Gegenstück zu den- jenigen Zweigen der Formenphysiologie, welche sich mit der individuellen Form und mit ihren Restitutionen be- schäftigen. Unseren Erörterungen über Vererbung aber Programm. 2 1 soll unser zweiter Anhang zum allgemeinen Formkapitel angegliedert werden, jener Anhang, der sich mit den Grundzügen der Systematik, Deszendenztheorie und Ge- schichte beschäftigt. Allgemeine biologische Erörterungen pflegen — oder pflegten wenigstens — stets von der Deszendenztheorie aus- zugehen und alle anderen Probleme der Formenphysiologie nur nebenbei als Dinge minderer Wichtigkeit zu behandeln. Sie sehen aus unserem Programm, daß wir gerade den umgekehrten Weg einschlagen werden: die Deszendenz- theorie wird ganz zuletzt kommen und kurz behandelt werden, aber die Morphogenesis des Individuums wird sehr eingehend und sehr sorgfältig zur Darstellung ge- langen. Welcher Grund führt uns dazu, in solcher Weise von dem üblichen Vorgehen abzuweichen? Der Grund liegt darin, daß wir eben nicht viel über Deszendenz wissen, daß wir uns hier erst im allerersten Anfang dessen befinden, was überhaupt den Namen exakter Kenntnis verdient. Aber über die individuelle Morphogenesis wissen wir schon gegenwärtig, wenn auch nicht gerade sehr viel, so doch wenigstens etwas, und dieses Wenige wissen wir in einer exakten Form, auf Grund der Ergebnisse des Experiments. Es wird in der Tat für uns von großem Nutzen sein, daß wir unsere Aufgabe so beschränken, daß wir es vorziehen, uns besonders eingehend mit einer Reihe von Problemen zu beschäftigen, die auf den ersten Blick vielleicht weniger interessant als andere erscheinen. Schon nach wenigen Vorlesungen werden wir nämlich einsehen, daß wir im- stande sind, eine sehr wichtige Frage über das Leben lediglich auf Grund einer Analyse der individuellen Form- bildung zu entscheiden, ohne irgend eine Beziehung zu problematischen oder zweifelhaften Teilen der Biologie, daß wir die Frage entscheiden können, ob das Leben nur eine Kombination chemischer und physi- kalischer Ereignisse ist, oder ob es seine eigenen elementaren Gesetze hat. 22 Programm. Aber um uns zu solchen Resultaten den Weg zu bereiten, müssen wir zunächst unsere Aufgabe noch einmal be- schränken, und so wird denn das nächste Kapitel unseres Werkes, welches es weiterhin mit fast jedem Begriff der eigentlichen Philosophie zu tun bekommen wird, beginnen mit der reinen Beschreibung der individuellen Entwicklung des gemeinen Seeigels. Abteilung A. Die wichtigsten Ergebnisse der analytischen Biologie. Teil I. Form und Stoffwechsel des organischen Individuums. A. Elementare Formenlehre. Evolution und Epigenesis im alten Sinne. Der Organismus ist ein spezifischer Körper, auf- gebaut von einer typischen Kombination verschiedener spezifischer Teile. In diese Definition ist eingeschlossen, daß der Organismus nicht nur von Kristallen, wie schon oben erwähnt war, verschieden ist, sondern auch von allen Kombinationen von Kristallen, wie den sogenannten Den- driten u. a., die aus einer typischen Anordnung iden- tischer Einheiten bestehen und deren Kombinationsart von den Kräften jedes einzelnen ihrer Teile abhängt. Eben dieser ^hrer Eigenschaft wegen müssen* Dendriten trotz der typischen Eigenschaften ihrer Kombination Aggregate heißen; aber der Organismus ist nicht ein Aggregat, nicht einmal für die oberflächlichste Betrachtung. Wir haben oben gesagt, und Sie wußten es ja auch vorher, daß der Organismus während seines individuellen Lebens nicht immer sich selbst gleich ist, daß er sich ent- wickelt und daß er dabei von einfacheren zu kom- plizierteren Formen der Kombination seiner Teile über- geht. Es gibt eine ,, Produktion sichtbarer Mannigfaltig- keit" während der Entwicklung, um den wesentlichen Charakter dieses Prozesses mit den Worten Wilhelm 26 Elementare Formenlehre. Roux's zu beschreiben. Wir lassen dabei in unserer gegen- wärtigen rein beschreibenden Analyse die Frage offen, ob es etwa vor Beginn der Entwicklung doch schon eine „Mannigfaltigkeit" in unsichtbarem Zustande gab, oder ob der Ausdruck „Produktion von Mannigfaltigkeit" in abso- lutem Sinne zu verstehen ist. Es ist im Laufe der Geschichte der Biologie und der Embryologie im besonderen nicht immer zugestanden worden, daß die Produktion sichtbarer Mannigfaltigkeit das Hauptkennzeichen der sogenannten Embryologie oder Ontogenie des Organismus ist: das 18. Jahrhundert ist voll von wissenschaftlichen Kämpfen über diese Frage. Die eine Schule, mit Albert v. H a 1 1 e r und B o n n e t an der Spitze, vertrat die Ansicht, daß es keine eigent- liche Erzeugung verschiedener Teile in der Entwicklung gebe, daß dieser Prozeß vielmehr reine „Evolution" sei, d. h. ein bloßes Wachsen von sichtbaren Teilen, die bereits von Beginn an, ja von Beginn des Lebens über- haupt an existierten; die andere Schule, vornehmlich durch C. F. W o 1 f f und Blumen b"a*c h vertreten, trat für die entgegengesetzte Lehre der sogenannten „Epi- genesis" ein, welche sich dann in der Folge als die richtige herausstellte. In gewisser Hinsicht waren diese Meinungsverschieden- heiten nur das Ergebnis des ziemlich unvollkommenen Zustandes der optischen Hilfsmittel jener Zeit. Doch gab es auch Gründe, die über bloße Schwierigkeiten des Be- schreibens hinausgingen, nämlich theoretische Über- zeugungen aprioristischer Art: Die wirkliche Erzeugung neuer Teile ist unmöglich, sagte die eine Partei ; es muß eine solche Erzeugung geben, sagte die andere. Wir werden uns bald selbst mit diesen Fragen der eigentlichen Theorie der Entwicklung der Organismen zu beschäftigen haben; aber zunächst ist unser Ziel ein viel begrenzteres und rein beschreibend. Sicherlich ist es von großer Wichtigkeit, sich klare Rechenschaft darüber zu geben, daß in der Tat eine Produktion sichtbarer Elementare Formenlehre. 27 Mannigfaltigkeit, im beschreibenden Sinne des Wortes, während der Ontogenie statthat; die Kenntnis der Tat- sächlichkeit dieses Prozesses hat auf alle Fälle die Grund- lage des Studiums der Theorie der Entwicklung zu bilden, und so wollen wir denn diese ganze Vorlesung dem Studium der rein beschreibenden Embryologie widmen. Beschreibende Embryologie aber, selbst wenn sie nur als ein Beispiel für die Allgemeinheit der Tatsache der Epigenesis dienen soll, kann nur dann mit Erfolg studiert werden, wenn sie sich auf einen konkreten Fall bezieht. Wir wählen die Entwicklung des gemeinen See- igels (Echinus microtuberculatus) als solchen Fall, und wir sind besonders dazu berechtigt, gerade diesen Organismus und keinen anderen zu wählen, weil fast alle analytischen Experiment alarbeiten, die im Interesse einer wahren Theorie der Entwicklung ausgeführt worden sind, sich auf die Keime dieses Tieres beziehen. Deshalb kann die Kenntnis der Grundzüge der individuellen Embryologie von Echinus geradezu die conditio sine qua non für ein wirkliches Ver- ständnis dessen, was folgen soll, genannt werden. Die Zelle1). Wie Sie wissen, bestehen alle Organismen aus Organen, und jedes der Organe hat eine verschiedene Funktion: das Gehirn, die Leber, die Augen, die Hände sind Bei- spiele tierischer, die Blätter und die Stempel sind Beispiele pflanzlicher Organe. Und sie wissen ebenfalls, daß mit Aus- nahme der niedersten Organismen, der sogenannten Protisten, alle Organe sich aus Zellen aufbauen. Das ist eine einfache Beobachtungstatsache, und ich kann es daher nicht billigen, wenn dieser einfachen Tatsache der Name einer Zellen - ,,theorie" gegeben wird. Es liegt hier gar nichts Theo- retisches vor; und andererseits haben alle Versuche, den Organismus als ein bloßes Aggregat von Zellen zu begreifen, *) E. B. Wilson, The Cell in Development and Inheritance, New-York, Macmillan, 1896 und spätere Auflagen. 28 Elementare .Formenlehre. fehlgeschlagen. Das Ganze gebraucht die Zellen, wie wir später noch sehen werden, oder es gebraucht sie nicht. Es gibt also überhaupt gar nichts, was der Bezeichnung Zellen, ,theorie" das Wort redete. Die Zelle kann sehr verschiedene Formen haben: denken Sie an eine Zelle der Haut, eines Muskels, einer Drüse, des pflanzlichen Holzes usw. Aber immer lassen sich zwei Teile an einer Zelle unterscheiden: ein äußerer Teil, das Protoplasma, und ein innerer Teil, der Kern, wobei wir von gewissen anderen Bildungen absehen wollen, welche wohl nur protoplasmatische Modifikationen sind. Protoplasma ist ein bloßer Name für das, was nicht Kern ist; in keinem Falle ist es eine homogene chemische Substanz, es besteht aus vielen solchen Substanzen und hat eine Art von Architektur; alle organischen Funktionen sind auf seinen Stoffwechsel gegründet. Der Kern hat eine sehr typische Struktur, welche in naher Beziehung zu seinem Verhalten während einer sehr charakteristischen Periode im Leben der Zelle steht: während ihrer Teilung. Lassen Sie uns dem Studium der Teilung und der Rolle, welche der Kern dabei spielt, einige Worte widmen: das wird von großer Wichtigkeit für unsere zukünftigen theo- retischen Erörterungen über das Entwicklungsproblem sein. Es gibt eine gewisse Substanz in jedem Zellkern, welche sich besonders stark färbt, wenn die Zelle mit Farbstoffen behandelt wird. Man nennt diese Substanz Chromatin. Das Chromatin reagiert immer sauer, während das Protoplasma basisch reagiert; außerdem scheint es ein Oxydationszentrum zu sein. Wenn nun eine Zelle sich zur Teilung anschickt, ordnet sich das Chromatin, welches bisher diffus, in Form kleiner Körner, verbreitet war, zu einem langen, vielgewundenen Faden an. Dieser Faden teilt sich durch Einschnitte in einzelne Abschnitte, typisch an Zahl für jede Spezies, und jeder dieser Abschnitte spaltet sich der Länge nach. Eine bestimmte Zahl von Paaren kleiner Fäden, die sogenannten Chromosomen, sind das letzte Resultat dieses Prozesses, den ich hier absichtlich etwas Elementare Formenlehre. 29 schematisch geschildert habe; die Prozesse der Teilung und Spaltung des Chromat ins gehen nämlich oft gleichzeitig Figur 1. Schema der Zellteilung (nach Boveri). a Ruhende Zelle ; das Chromatin ist in Form kleiner Körner im Kern verteilt. Außerhalb desselben liegt das im Text nicht erwähnte „Centrosom". — b Beginn der Teilung; das Chromatin ist in Form eines langen Fadens an- geordnet. Das Centrosom ist geteilt. — c Der Chromatinfaden ist in Teile, die „Chromosomen", zerlegt. — d Die Chromosomen ordnen sich symmetrisch zwischen den Centrosomen und den sternförmigen „Sphaeren". — e Jedes Chromosom spaltet sich der Länge nach. — f Beginn der Teilung des Proto- plasmas ; die beiden Teile jedes Chromosoms sondern sich von einander. — g Ende der Zellteilung. vor sich, oder gelegentlich auch in umgekehrter Reihen- folge. Während nun das, was wir hier geschildert haben, im Kern geschieht, gehen auch gewisse typische Veränderungen 30 Elementare Formenlehre. im Protoplasma vor sich, und dann beginnt, durch eine Wechselwirkung der protoplasmatischen und der nuklearen Faktoren, der erste Schritt in der wirklichen Teilung der Zelle: Von jedem Paar der kleinen Chromat infäden bewegt sich der eine Partner an das eine Ende, der andere an das andere Ende der Zelle; zwei Tochterkerne bilden sich auf diese Weise; das Protoplasma bildet zu gleicher Zeit eine Ringfurche zwischen ihnen; die Furche wird tiefer und tiefer; zuletzt zerschneidet sie die Zelle in zwei Teile und die Teilung derselben ist vollendet. Nicht nur das Wachstum des bereits typisch in seiner Organisation angelegten Individuums wird durch eine Reihe von Zellteilungen vollbracht, sondern auch die Entwicklung in unserem eigentlichen Sinne, als eine Produk- tion sichtbarer Mannigfaltigkeit, läuft zum großen Teil mit Hilfe von Zellteilungen ab, denen daher eine sehr große Bedeutung zukommt (Fig. 1). Jede Zellteilung, welche im Dienst bloßen Wachs- tums steht, hat die Vergrößerung der beiden Tochterzellen, welche aus ihr resultierten, zur Folge; diese beiden Tochter- zellen erreichen genau die Größe, welche die Mutterzelle vor der Teilung besaß, und sobald sie diese Größe erreicht haben, beginnt eine neue Teilung: so ist das Wachstum des ganzen Individuums in der Hauptsache das Resultat des Wachstums aller seiner Elemente. Zellteilungen während der eigentlichen Anlage von Organen können sich anders verhalten, wie später bei passender Gelegenheit beschrieben werden soll. Das Ei, seine Beifung und Befruchtung. Wir wissen also jetzt, daß alle Organe eines Tieres oder einer Pflanze aus Zellen bestehen, und wir wissen, welche Leistungen eine Zelle vollbringen kann. Nun gibt es ein sehr wichtiges Organ in allen lebenden Wesen, das für die Reproduktion bestimmt ist. Dieses Organ, der sogenannte Eierstock beim Tier, baut sich ebenfalls aus Zellen auf; Elementare Formenlehre. 31 seine einzelnen Zellen heißen Eier; die Eier sind durch Zellteilung entstanden und Zellteilung führt von ihnen zum erwachsenen Individuum. Aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist das Ei im Ovarium nicht fähig, seine Teilungsfunktion aus- zuführen, wenn nicht vorher gewisse sehr typische Phäno- mene eingetreten sind, von denen die einen rein vor- bereitender Art sind, während die anderen den eigent- lichen Entwicklungsreiz darstellen. Die vorbereitenden Prozesse nennt man allgemein Reifungserscheinung. Das Ei muß reif sein, um seine Entwicklung beginnen zu können, ja um überhaupt die Anregung zu ihr zu empfangen. Die Reifung besteht aus einer ziemlich komplizierten Reihe von Prozessen; später werden wir Gelegenheit haben kurz zu erwähnen, was während der Reifung im Protoplasma vor sich geht; was die nuklearen Reif ungs Vorgänge angeht, so genügt es für unsere Zwecke hier zu sagen, daß gewisse Prozesse in den Chromosomen ablaufen, welche dazu führen, daß die eine Hälfte von ihnen in Form zweier kleiner Zellen, der Pol- oder Richtungskörper, wie sie in vorsichtiger Weise genannt worden sind, ausgestoßen wird. Das reife Ei kann nun befruchtet werden. Bevor wir uns dem wichtigen Phänomen der Be- fruchtung zuwenden, welches uns auch dem von uns ge- wählten Beispiel, dem Echinus, zuführen wird, müssen wir ein paar Worte über das Phänomen der sogenannten Parthenogenese pagen, d. h. über die Möglichkeit einer Ent- wicklung ohne Befruchtung; denn seit den glänzenden Ent- deckungen des amerikanischen Physiologen J. Loeb steht dieses Phänomen im Zentrum des biologischen Interesses. Schon seit langem weiß man, daß die Eier gewisser Bienen, Blattläuse, Krebse und anderer Tiere und auch gewisse pflanz- liche Eier einer Entwicklung ohne Befruchtung fähig sind. Nun hatten Richard Hertwig und T. H. Morgan bereits gezeigt, daß es auch in den Eiern anderer Formen, z. B. des Seeigels, wenigstens zur Kernteilung kommen kann, wenn 32 Elementare Formenlehre. man diese Eier gewissen chemischen Agentien aussetzt. Aber Loeb *) ist es gelungen, eine vollständige Entwicklung dadurch zu erzielen, daß er die Eier von Echinodermen mit Magnesiumchlorid behandelte; so wurde die künstliche Parthenogenese entdeckt. Spätere Untersuchungen haben dann gezeigt, daß künstliche Parthenogenese in allen Klassen des Tierreichs vorkommen kann und durch alle möglichen chemischen und physikalischen Agentien hervorzurufen ist. Wir wissen gegenwärtig noch nicht, worin denn der eigent- liche Reiz besteht, von dem wir annehmen müssen, daß er hier die Befruchtung vertritt; natürlich ist es sehr wahr- scheinlich, daß das in letzter Linie immer derselbe Reiz ist 2). Doch genug von Vorgängen, welche gegenwärtig zwar ein großes wissenschaftliches, aber kaum ein philosophisches Interesse haben. Unter Befruchtung im eigentlichen Sinne verstehen wir die Vereinigung des männlichen Elementes, des Sperma- tozoons oder der Spermie, mit dem weiblichen Elemente, dem Ei. Ebenso wie das Ei ist auch das Spermatozoon nichts anderes als eine Zelle, obwohl beide in Hinsicht des Ver- hältnisses zwischen den Massen ihres Protoplasmas und ihres Kerns, außerordentlich verschieden von einander sind. In allen Eiern ist, im Vergleiche zu anderen Zellen des Körpers, das Protoplasma von relativ erheblicher Größe; in den Spermatozoen ist der Kern relativ groß. Ein großer Betrag von Reservematerial, für das Wachstum des künftigen Organismus bestimmt, ist die wesentliche Ursache der Größe des Eiprotoplasmas. Das Ei besitzt keine Be- wegungsfähigkeit, während im Gegenteil Bewegung der typische Charakterzug der Spermie ist; ihre ganze Organi- !) Amer. Journ. physiol. vols. III und IV. 1900. 2) Nach Delage (Arch. Zool. exp. 3 Ser. 10, 1902) ist es für das Hervorrufen künstlicher Parthenogenese gleichgültig, ob nur einer oder beide oder keiner der sogenannten Richtungskörper gebildet ist. Aber das Ei muß wenigstens so weit in der Reife vor- geschritten sein, daß die sogenannte Xernmembran bereits auf- gelöst ist. Elementare Formenlehre. 33 sation ist durchaus auf Bewegung eingerichtet : die meisten Spermatozoen erinnern in der Tat an schwimmende Infu- sorien vom Typus der Flagellaten, ein sogenannte! Kopf und ein sich bewegender Schwanz sind ihre beiden wesent- lichsten Teile; der Kopf besteht fast ausschließlich aus Kernsubstanz. Es scheint, daß in den meisten Fällen die Sperma- tozoen aufs Gerade wohl herumschwimmen, und daß ihre Vereinigung mit dem Ei nur durch ihre ungeheure Zahl garantiert ist; nur in einigen botanischen Fällen hat man bestimmte chemische Reize auffinden können, welche die Spermie zum Ei hinlenken. Doch können wir hier nicht eingehender die Physiologie der Befruchtung erörtern, und wollen daher nur noch sagen, daß ihre eigentliche Bedeutung nichts weniger als klar ist1). Die ersten Entwicklungsprozesse des Echinus. Indem wir uns nun definitiv der besonderen organischen Spezies zuwenden, die wir als unser Beispiel erkoren haben, dem gemeinen Seeigel, beginnen wir passend mit einigen Worten über die Größe seiner Eier und Spermatozoon. Sie kennen alle die Eier von Vögeln und wahrscheinlich auch die von Fröschen. Das sind Eier von abnormer Größe, wegen des erheblichen Betrages an Reservematerial, den sie enthalten. Das annähernd kugelförmige Ei unseres Echinus mißt nur Vio mm im Durchmesser; und der Kopf seiner Spermatozoen hat ein Volumen, welches nur den *) Die älteren Theorien, welche der Befruchtung oder der ihr äquivalenten Konjugation der Protisten eine gewisse Erneuerung oder Verjüngung der Rasse zuschrieben, sind so gut wie ganz auf- gegeben (siehe Calkins, Arch. f. Entwickl.-Mech. 15 1902). Richard Hertwig hat kürzlich die Ansicht vertreten, daß abnorme Ver- hältnisse zwischen den Massen der Kern- und der Protoplasma- substanz durch die Befruchtung berichtigt werden. Teleologisch hat man die geschlechtliche Fortpflanzung als einen Weg zur Variabilität angesehen (Weismann); aber andere sahen gerade umgekehrt in ihr ein Mittel zur Erhaltung des Typus! Driesch, Philosophie. I. 3 34 Elementare Formenlehre. 400000sten Teil des Eivolumens beträgt. Schon das Ei ist ungefähr an der äußersten Grenze dessen, was ohne optische Hilfsmittel sichtbar ist ; man erkennt es als kleinen weißen Punkt. Aber die Zahl von Eiern, welche ein einziges Weibchen hervorbringt, ist enorm und mag sich auf Hunderttausende belaufen; dies ist eine von den Eigen- schaften, welche die Eier von Echinus so außerordentlich geeignet für experimentelle Untersuchung machen; man kann sie jederzeit in beliebiger Zahl erhalten ; und ferner sind sie sehr klar und durchsichtig, sogar in späteren Stadien, und sehr widerstandsfähig gegen alle Arten von Operationen. Die Spermie tritt in das Ei ein, und zwar im offenen Seewasser, auch einer von den Vorteilen unseres Tieres für experimentelle Untersuchungen. Normalerweise tritt nur eine Spermie in das Ei ein, und zwar nur ihr Kopf, ihr Schwanzteil bleibt draußen. In dem Augenblick, in welchem der Kopf der Spermie in das Protoplasma des Eies ein- getreten ist, bildet das letztere eine dünne Membran. Diese Membran ist anfangs außerordentlich zart, wird aber später viel widerstandsfähiger; es ist für alle experimentellen Arbeiten von großer Bedeutung, daß die Membran während der ersten Minuten ihrer Existenz ohne Schädigung für das Ei selbst durch Schütteln leicht zerstört werden kann. Und nun geschieht das wichtigste Ereignis des Befruchtungs- prozesses: der Kern des Spermatozoons vereinigt sich mit dem Kern des Eies. Als wir über die Reifung sprachen, erwähnten wir, daß bei diesem Prozeß die Hälfte des Chromatins aus dem Ei ausgestoßen werde: jetzt wird diese Hälfte wieder in das Ei hineingebracht, entstammt aber einem anderen Individuum. Dieses Phänomen der Kernvereinigung, der Haupt- charakterzug der Befruchtung, hat den Ausgangspunkt fast aller derjenigen Vererbungstheorien gebildet, welche die Kerne der Geschlechtszellen als den eigentlichen Sitz der Vererbung betrachten. Später werden wir Gelegenheit haben, diese Hypothese auf ihre logische und faktische Be- rechtigung hin zu prüfen. Elementare Formenlehre. 35 Nach der vollständigen Vereinigung dessen, was man den männlichen und weiblichen Vorkern genannt hat, beginnt das Ei seine Entwicklung; und diese Entwicklung ist in ihren ersten Stadien durchaus reine Zellteilung. Wir kennen bereits die wesentlichsten Züge dieses Prozesses und brauchen unserer Beschreibung bloß beizufügen, daß in der ganzen Reihe der frühen Zellteilungen des Eies, oder, um jetzt den technischen Namen einzuführen, während des ganzen Prozesses der ,, Furchung" oder ,,Segmentation" keinerlei Wachstum der Tochterelemente nach jeder Teilung statt- findet, wie das ja nach unserer Beschreibung auf späteren embryonalen Stadien im Gefolge von Zellteilungen der Fall ist. So kommt es, daß während der Furchung die Zellen des Embryo immer kleiner und kleiner werden, bis eine gewisse Grenze erreicht ist. Die Volumina aller Furchungszellen zusammen sind so groß wie das Volumen des Eies. Aber unsere weiteren Studien erfordern nun eine etwas genauere Kenntnis der Furchung unseres Echinus; die experimentellen Ergebnisse, die wir später zu beschreiben haben, würden ohne solche Kenntnis kaum verständlich sein. Die erste Teilungsebene, oder, wie wir sagen werden, die erste Furchungsebene teilt das Ei in gleiche Teile ; die zweite steht rechtwinklig zur ersten und teilt ebenfalls gleichartig; wir haben also jetzt einen vierzelligen Zellenring vor uns. Die dritte Furchungsebene steht rechtwinklig zu den beiden ersten; wir können sie die Äquatorebene nennen, wenn wir das Ganze mit einem Globus vergleichen. Auch sie teilt in Teile gleicher Größe, und so haben wir denn jetzt zwei Ringe vor uns, jeder aus vier Zellen bestehend und der eine über dem anderen gelegen. Aber nun hören die Zell- teilungen auf gleichartig zu sein, wenigstens in einem Teil des Keimes; die nächste Teilung, welche vom acht- zum sechzehnzelligen Furchungsstadium führt, bildet vier vier- zellige Ringe aus den zwei vierzelligen Ringen des acht- zelligen Stadiums. Aber nur in einer Hälfte des Keimes, die wir die obere, oder, beim Vergleich mit einem Globus, die nördliche Hemisphäre nennen können, sind die Zellen 3* 36 Elementare Formenlehre. von gleicher Größe, in der unteren Hälfte des Eies sind an dem einen „Pole" des Eies vier besonders kleine Zellen ge- bildet worden. Wir nennen diese Zellen die Mikromeren, d. h. die kleinen Teile, in Analogie zur Bezeichnung Blastomeren, d. h. Teile des Keimes, wie die Furchungs- zellen im allgemeinen auch genannt werden. Der Platz, den die Mikromeren einnehmen, ist von großer Bedeutung für den Keim als Ganzes: die erste Bildung eigentlicher Organe geht später von diesem Orte aus. Es genügt für uns, die Furchung unseres Echinus bis zu diesem Stadium in eingehender Weise zu kennen; die späteren Furchungsstadien mögen daher nur kurz erwähnt werden. Alle folgenden Teilungen geschehen gleichartig; Mikromeren werden nicht wieder gebildet, obwohl natürlich diejenigen Zellen, welche von den Mikromeren des sechzehn- zelligen Stadiums abstammen, immer kleiner als die übrigen bleiben. Alle folgenden Teilungen geschehen tangential; radiale Teilungen treten nie auf, und so endet denn der Furchungsprozeß mit der Bildung eines einschichtigen Lagers der Zellen, welches die Oberfläche einer Kugel bildet. Dieses oberflächliche Zellenlager wird vornehmlich der Abrundung jeder einzelnen Blastomere nach ihrer indivi- duellen Entstehung verdankt; aber natürlich ist die Tat- sache, daß keine radialen Teilungen auftreten, in besonderem Maße für seine Existenz mitverantwortlich. Wenn 808 Zellen gebildet sind, ist der Furchungsprozeß beendet. Eine Kugel, begrenzt von einem Wall von Zellen, aber innen leer, ist das Resultat. Daß nur 808 Zellen entstehen, und nicht, wie man erwarten könnte, 1024, kommt daher, daß die Mikromeren sich weniger oft teilen als die anderen Elemente ; angenähert mögen wir immerhin sagen, daß es 10 Teilungs- schritte in der Furchung unserer Form gibt; 1024 ist = 210. Wir wissen, daß der erste Entwicklungsprozeß, die Furchung, bei unserem Echinus in reiner Zellteilung besteht. Einige Fälle sind nun zwar bekannt, in denen die Zell- teilungen während der Furchung von spezifischen Be- wegungen protoplasmatischer Teile im Innern der Blasto- Elementare Formenlehre. 37 meren begleitet werden, insbesondere zur Zeit des zwei- und vierzelligen Stadiums ; aber als Regel kann doch gelten, daß die Furchung meist ein ebenso einfacher bloßer Teilungs- prozeß ist wie bei unserem Seeigel. Der zweite Entwicklungsprozeß ist, wenigstens bei unserer Form, eine typische gewebsbildende Leistung : a € c d Figur 2. Erste Entwicklungsstadien des gemeinen Seeigels Echinus. a Zwei Zellen. — b Vier Zellen. — c Acht Zellen, in zwei übereinander gelegenen vierzelligen Ringen geordnet. — d Sechzehn Zellen; vier „Mikro- meren" sind am „vegetativen" Pol gebildet. — e Optischer Schnitt der „Blastula", welche eine aus etwa 1000 bewimperten Zellen bestehende Hohl- kugel darstellt. er prägt allen Blastomeren einen neuen histologischen Typus auf : sie erhalten kleine Wimpern an ihrer äußeren Seite und mit Hilfe dieser Wimpern ist der junge Keim fähig, herum- zuschwimmen, nachdem er die Eimembran verlassen hat. Man pflegt den Keim auf diesem Stadium mit H a e c k e 1 eine Blastula zu nennen, und wir wollen bei dieser Gelegen- heit bemerken, daß H a e c k e 1 s embryologische Ter- minologie eine sehr praktische Handhabe ist, mag man auch 38 Elementare Formenlehre. mit kaum einer einzigen seiner Spekulationen überein- stimmen (Fig. 2), Es ist nicht ohne Bedeutung, sich darüber klar zu werden, daß die Bildung der Blast ula aus dem letzten Furchungsstadium ganz sicherlich ein Organisationsvorgang ist und daher als ,, Differenzierung" bezeichnet werden kann. Aber andererseits findet sich doch in der Blast ula nichts von einem Verschiedenwerden eines Teiles des Keims mit Bezug auf den anderen. Wenn alle Entwicklung nur in dieser Weise verliefe, würden wirkliche Komplikationen der Organisation nie auftreten. Es würde vielmehr nur eine Art von Zellen geben, angeordnet in einer Kugeloberfläche ; es würde immer nur eine Art dessen geben, was man ,, Gewebe" nennt. Tatsächlich aber führt nun die Ent- wicklung sehr bald zu einem Verschiedenwerden der Teile des Keims in bezug auf einander ; schon der nächste Schritt des Entwicklungsprozesses berechtigt uns, die verschiedenen Teile des Embryo in verschiedener Weise zu benennen. An einem Pole der schwimmenden Blastula, nämlich dort, wo die Abkömmlinge der Mikromeren liegen, lösen sich etwa 50 Zellen aus dem Kontakt mit ihren Nachbarn, ver- lassen die Oberfläche der Kugel und wandern in den inneren Raum derselben. Man weiß nicht eben viel darüber, worauf diese Veränderungen der Zellenanordnung beruhen, ob die Zellen passiv von ihren Nachbarn gedrängt werden, oder ob sie vielleicht in mehr aktiver Weise ihre Oberfläche ver- ändern ; man tut daher, wie bei den meisten ontogenetischen Prozessen, gut, die Beschreibung in vorsichtiger Weise möglichst neutral und bildlich zu halten. Die Zellen, die in der beschriebenen Weise in das Innere der Blastula eingetreten sind, sollen nun die Grund- lage von wichtigen Teilen des künftigen Organismus bilden : sie bilden sein Bindegewebe, viele seiner Muskeln und sein Skelett. Mesenchym,d. h. ,,was zwischen die anderen Teile hineingegossen ist", ist der für diese Zellen übliche technische Name. Wir müssen nun ihre definitive An- ordnung kennen lernen. Zuerst liegen sie in Form eines Elementare Formenlehre. 39 Haufens innerhalb der Blast ulawandung, innerhalb des ,, Blast oderms", d. h. der Haut des Keimes. Aber bald be- wegen sie sich von einander weg, um einen Ring zu bilden, der den Pol umgibt, an welchem sie ins Innere eingetreten sind, und an diesem Ring spielt sich dann ein Prozeß ab, der eine sehr wichtige Bedeutung für den ganzen Typus der Keimesorganisation besitzt. «/ %o& c O ° O O O O 0^0*0 O O O O Figur 3. Bildung des Mesenchyras bei Echinus. a Blastula von der Seite, im Umriß ; das Mesenchym bildet einen Zellhaufen am „vegetativen" Pol. — at Der Haufe der Mesenchymzellen, von oben gesehen. — b Die Mesenchymzellen sind zu einem den vegetativen Pol um- gebenden Ringe geordnet. — c Die Mesenchymzellen sind zu einer bilateral- symmetrischen Figur geordnet; Skelettanlagen inmitten zweier sphärischer Dreiecke. Sie werden bemerkt haben, daß der Keim hinsichtlich seiner Symmetrie bisher eine monaxiale oder radiale Bildung gewesen ist; die Furchungsstadien und die Bla- stula mit ihrem Mesenchym waren Formen mit zwei ver- schiedenen Polen, die an den Enden einer Geraden ge- legen waren, und um diese Gerade herum war alles konzentrisch angeordnet. Aber nun kommt es zur Bildung der sogenannten bilateralen Symme- trie: der Mesenchymring nimmt eine Struktur an, welche nur durch eine Ebene symmetrisch geteilt werden 40 Elementare Formenlehre. kann, und zwar derart, daß die eine Hälfte das Spiegelbild der anderen ist. Eine Figur zeigt am besten, was hier geschehen ist ; wir bemerken (Fig. 3) in ihr zwei Massen von Zellen, welche die Form sphärischer Dreiecke haben; von der Mitte dieser Dreiecke geht später die Entstehung des Skeletts aus. Der Keim hatte vorher eine obere und eine untere Seite: er hat jetzt eine obere und untere, eine hintere und vordere, eine rechte und linke; er hat jetzt diejenige Symmetrie seiner Organisation erhalten, welche unser eigener Körper besitzt, wenigstens besitzt er diese Symmetrie, soweit sein Mesenchym in Betracht kommt. Wir verlassen nun das Mesenchym einstweilen und studieren eine andere Art von Organbildung. An demselben Keimpol, an welchem die Mesenchymzellen ihren Ursprung nahmen, wächst eine lange und enge Röhre von Zellen ins Innere, und diese Röhre berührt, immer länger und länger werdend, nach einigen Stunden den gegenüberliegenden Pol der Larve. Das Wachstum dieser zelligen Röhre bedeutet den Beginn der Bildung des Darmes mit allen seinen Derivaten. Die Larve ist nun nicht länger eine Blastula, sondern wird in Haeckels Terminologie Gastrula genannt; sie besteht aus den drei ,, Keimblättern". Der übriggebliebene Teil des Blastoderms heißt Ektoderm oder äußeres Lager, die neugebildete Röhre heißt Endoderm oder inneres Lager, während das dritte Lager das uns schon bekannte Mesenchym ist. Das Endoderm selbst besitzt anfangs radiären Bau, wie er dem ganzen Keim in einem früheren Stadium zukam, aber bald wendet sich sein freies Ende um und bewegt sich gegen das Ektoderm, und zwar gegen diejenige seiner Seiten, an welcher die beiden Mesenchymdreiecke gelagert sind. So hat denn das Endoderm ebenso wie das Mesenchym sich bilateral-symmetrisch ausgestaltet, und da in diesem Stadium auch das Ektoderm bilaterale Symmetrie annimmt, in Zuordnung zu den Symmetriebeziehungen des Endo- derms und des Mesenchyms, so können wir jetzt von einer Elementare Formenlehre. 41 bilateral-symmetrischen Organisation der ganzen Larve reden. Unmöglich können wir nun hier alle Einzelheiten der Organisation des Echinus verfolgen. Es muß genügen kurz hervorzuheben, daß bald eine zweite Portion von Mesenchym in der Larve gebildet wird, die vom freien Ende der Darmröhre ihren Ursprung nimmt ; daß das sogenannte Coelom sich durch eine Art Abspaltungsprozeß vom Darm aus bildet, und daß der Darm selbst sich durch zwei Ringfurchen in drei Teile verschiedener Größe und ver- schiedenen Aussehens sondert. Die Bildung des Skeletts können wir aber nicht mit so wenig Worten abtun. Ich sagte Ihnen bereits, daß das Skelett in der Mitte der zwei triangulären Zellmassen des Mesenchyms seinen Ursprung nimmt; aber was für Stufen durchläuft es nun, bevor es seine typische kom- plizierte Struktur erreicht? Im Anfang bildet sich ein sehr kleines Tetraeder aus Calciumkarbonat in jedem der Dreiecke, die vier Ecken des Tetraeders wachsen in dünne Fäden aus, und indem sich jeder dieser Fäden in verschiedener Weise ausgestaltet, kommt die typische Bildung der Skeletts zustande. Aber die Art und Weise, in welcher sie zustande kommt, ist sehr seltsam und eigen- tümlich. An jeder Seite sind etwa 30 Mesenchymzellen mit der Bildung des Skelettsubstanz beschäftigt. Sie wandern durch den Innenraum der Gastrula, welcher nicht mit See wasser, sondern mit einer Art gelatinöser Substanz gefüllt ist, und zwar wandern sie in solcher Weise, daß sie immer an die richtigen Plätze kommen, nämlich dorthin, wo Skelettsubstanz gebildet werden soll; sie bilden diese Substanz durch einen Sekretionsprozeß, der im einzelnen unbekannt ist; die eine Zelle bildet diesen Teil, die andere jenen, was sie alle zusammen bilden, ist aber ein Ganzes. Nach Vollendung des Skeletts ist die typische Larve unseres Echinus, der sogenannte Pluteus, fertig (Fig. 4). Ob- wohl der Pluteus noch durchaus nicht das ausgewachsene Tier ist, so führt er doch ein unabhängiges Leben ; er frißt 42 Elementare Formenlehre. und bewegt sich ; durch mehrere Wochen hindurch verändert er sich nicht. Aber nach einiger Zeit solchen unabhängigen ,,Larven"lebens beginnt er wieder ganz fundamentale Form Veränderungen einzugehen. Er muß sich in einen erwachsenen Seeigel umwandeln, wie Sie wissen. Hundert und hundert einzelne Formbildungsprozesse müssen da geschehen, bis das Ziel erreicht ist; und vielleicht der Figur 4. Larvenentwicklung des Echinus. A Gastrula. — B Späteres, bilateralsymmetrisches Stadium. Der Darm beginnt sich in drei Teile zu gliedern. — C Pluteuslarve. — S Skelett. — I Darm. allerseltsamste dieser Prozesse ist eine gewisse Art des Wachsens, durch welches die Symmetrie des Tieres, wenigstens in gewissen seiner Teile, nicht in allen, wieder aus einer bilateralen in eine radiale übergeht — das Ent- gegengesetzte von dem, was in sehr jungen Stadien geschah. Aber wir können die Embryologie unseres Echinus hier nicht weiter verfolgen, und zwar können wir ihr Studium um so eher an diesem Punkte abbrechen, da alle Elementare Formenlehre. 43 Experimentalergebnisse, die wir zu schildern haben werden, sich nur mit den frühen Stadien, bis zur Pluteuslarve hin, beschäftigen. Unter gewöhnlichen Bedingungen ist es unmöglich, Seeigelkeime bis zum erwachsenen Stadium hin in der Gefangenschaft aufzuziehen. Sie werden nun, wie ich hoffe, wenigstens einen all- gemeinen Begriff von den Vorgängen haben, in welchen die individuelle Entwicklung eines Tieres besteht. Natürlich sind die spezifischen Vorgänge, welche vom Ei zum Er- wachsenen führen, in jedem spezifischen Falle andere, und um diesen Punkt so klar als möglich hervortreten zu lassen, werden wir unserer Beschreibung jetzt einige Worte über die sogenannte vergleichende beschreibende Embryo- logie folgen lassen. Vergleichende Embryologie. Schon die Furchung kann sich recht verschiedenartig gestalten. Es kann sich eine kompakte Blastula bilden, nicht eine solche, die, wie bei Echinus, nur aus einem Lager von Zellen besteht ; oder Bilateralität kann sich schon in der Furchung zeigen, wie bei vielen Würmern und bei den Ascidien, und nicht erst so spät wie bei Echinus. Die Bildung der Keimblätter kann in ganz anderer Weise vor sich gehen und unter ganz anderen Bedingungen; ein ziemlich naher Verwandter unseres Echinus, der See- stern, bildet zuerst das Endoderm und das Mesenchym hinterher. In vielen Fällen geschieht die Bildung des Endoderms nicht in Form einer Röhre, sondern ein flaches Zellenlager ist die erste Grundlage aller Darmorgane: so ist es bei allen Vögeln und beim Tintenfisch. Und, wie Sie alle wissen, gibt es viele Tiere, welche kein eigentliches Larvenstadium besitzen; beim Frosch kennen Sie ein solches unter dem Namen der Kaulquappe, aber Vögel und Säugetiere z. B. haben keine Larven, d. h. es gibt in der Ontogenie dieser Tiere kein besonderes Stadium, welches zeitweise ein unabhängiges Leben führt, wie wenn 44 Elementare Formenlehre. es eine Spezies für~sich wäre, sondern alle ontogenetischen Stadien sind im eigentlichen Sinne „embryonal", der Keim ist dauernd ein „Embryo", bis er der erwachsene Organismus geworden ist. Und Sie wissen auch, daß nicht alle Skelette aus Calciumkarbonat bestehen, sondern daß es Silikatskelette gibt, wie bei den Radiolarien, und Horn- skelette, wie bei vielen Schwämmen. Und wollten wir gar einen Blick auf die Entwicklung der Pflanzen werfen, so würden uns die Unterschiede vielleicht so groß erscheinen, daß alle Ähnlichkeiten in den verschiedenen Entwicklungs- reihen der Organismen verschwänden. Und doch gibt es Ähnlichkeiten in aller Entwicklung, und wir wollen jetzt studieren, worin sie bestehen. Haben wir doch, eben um sie zu erkennen, die Ontogenie einer besonderen Form so genau studiert; man sieht die All- gemeinheiten immer besser, wenn man das Besondere, wenigstens in einem Falle, genau kennt. Was für allgemeine und grundlegende Kennzeichen können denn also der individuellen Geschichte unseres Seeigels entnommen werden, wenn diese letztere immer in kontrollierende Beziehung zu dem gesetzt wird, was uns andere Ontogenien, ein- schließlich der Entwicklung der Pflanzen, lehren ? Die Anfänge analytischer Formenlehre. Wenn wir auf die langen Kämpfe der Embryologen - schulen des 18. Jahrhunderts zurückblicken, auf die Kämpfe um die Frage, ob die individuelle Entwicklung als wahre Produktion sichtbarer Mannigfaltigkeit oder ob sie als ein- faches Wachstum einer sichtbaren präexistierenden Mannig- faltigkeit anzusehen, ob sie E p i g e n e s i s oder Evo- lution sei, so kann es, wenn wir uns auf die Forschungen der letzten 150 Jahre stützen, keinem Zweifel unterliegen, daß, wenigstens in beschreibendem Sinne, die Theorie der Epigenesis zu Recht besteht. In be- schreibendem Sinne gibt es eine Produktion sichtbarer Mannigfaltigkeit im Laufe der Embryologie: das ist unser Elementare Formenlehre. 4.5 erstes und wichtigstes Resultat. Jeder, der ein mittleres Mikroskop besitzt, kann sich täglich persönlich davon überzeugen, daß dies richtig ist. Wahre Epigenesis, im beschreibenden Sinne des Wortes, existiert also. Das eine bildet sich nach dem andern ; nicht entfaltet sich bloß ein Etwas, das, obschon in kleinerem Maßstabe, schon präexistierte. Es gibt keine ,, Evolution" im alten Sinne des Wortes. Das Wort Evolution wird in manchen Sprachen, im Englischen z. B., zur Bezeichnung der Deszendenzlehre, d. h. der Lehre von einer Bluts- verwandtschaft der Organismen, verwendet. Hier denken wir natürlich nicht an diese spezifische und moderne Be- deutung des lateinischen Wortes „Evolutio"; in seinem alten Sinne bedeutet das Wort in gewisser Hinsicht gerade das Gegenteil: es will ausdrücken, daß so etwas wie die Bildung von etwas Neuem nicht existiert, daß es keine echte Umbildung, sondern daß es nur Wachstum gibt; und eben das wird nicht für einen hypothetischen Stamm- baum, sondern für das Individuum ausgesagt. Wenn wir diese historischen Unterschiede im Gedächtnis behalten, so können aus dem Gebrauche des Wortes Evolution wohl keine Mißverständnisse erwachsen. Wir wollen jetzt dazu übergehen, einige weitere Sonderresultate allgemeiner Bedeutung aus unserem be- schreibenden Studium der Entwicklungsgeschichte zu gewinnen, Resultate, welche wahre Charakteristika der organischen individuellen Entwicklung sind und welche, obschon nicht endgültig, doch auf jeden Fall den Weg für ein tieferes Studium der Entwicklung vorbereiten können. Du Gesamtheit der morphogenetischen Tatsachen läßt sich unschwer in eine große Zahl gesonderter Prozesse auf- lösen. Wir schlagen vor, dieselben morphogene Ele- mentarprozesse zu nennen. Die Bildung, aber auch die Wendung des Endoderms und seine Zerlegung in drei typische Teile sind Beispiele solcher Elementarprozesse. Und wenn wir nun weiter den einzelnen Teilen, aus denen jedes ontogenetische Stadium sich zusammensetzt, und welche in 46 Elementare Formenlehre. sich gleichförmig und jeweils das Resultat eines morphogenen Elementarprozesses in unserem Sinne sind, den Namen Elementarorgan geben, so sind wir berechtigt zu sagen, daß jedes embryonale Stadium aus einer gewissen Zahl von elementaren Organen besteht. Der Mesenchym- ring, das Coelom, der Mitteldarm sind Beispiele solcher Elementarorgane. Es ist von Bedeutung zu beachten, daß das Wort ,, elementar" sich hier immer auf die eigentlich sichtbare Formbildung bezieht und nicht auf etwas, das im physiologischen Sinne elementar genannt zu werden verdiente. Ein Elementarprozeß in unserem Sinne ist jeder gesonderte Akt des Formenbildens und ein Ele- mentarorgan ist das Ergebnis jedes solchen Aktes. Die Elementarorgane sind typisch mit Hinblick auf ihre Lage und mit Hinblick auf ihre histologischen Eigenschaften. In vielen Fällen besitzen sie jeweils deutlich verschiedene histologische Ausprägung, wie z. B. die Zellen der drei sogenannten Keimblätter; und in anderen Fällen sind sie zwar dem Anschein nach histologisch gleich, lassen sich aber auf Grund ihrer verschiedenen Resistenzfähigkeit gegen Schädigungen oder auf andere Weise als verschieden nach- weisen. Aber es gibt nicht ebenso viele verschiedene Typen histologischer Struktur, wie es typisch gelagerte Organe gibt: im Gegenteil, es gibt viele Elementarorgane desselben histologischen Typus an verschiedenen typischen Orten des Organismus, wie Sie es ja alle von den Nerven und Muskeln wissen. Es wird für unsere künftige Theorie der Entwick- lung nicht ohne Bedeutung sein, diese Tatsache sorgfältig im Auge zu behalten; die Tatsache also, daß die Spezi- fikation der Lage der embryonalen Teile schärfer ausgeprägt ist als ihr spezifischer histologischer Bau. Aber die Elementarorgane sind nicht nur typisch nach Lage und Histologie, sie sind auch typisch nach Form und relativer Größe. Es stimmt mit dem, was wir über die Unabhängigkeit der Histologie von typischer Lage gesagt haben, überein, daß es in einem beliebigen embryonalen Stadium eine große Zahl von Organen geben kann, jedes Elementare Formenlehre. 47 davon ist in sehr typischer Lage, welche trotz gleicher histologischer Ausprägung verschiedene Formen oder ver- schiedene Größen oder beides besitzen können ; die einzelnen Knochen des Skeletts der Wirbeltiere oder der erwachsenen Echinodermen sind die besten Beispiele dieses sehr wichtigen Charakter zugs aller Formbildung. Wenn wir statt der Elementarorgane die Elementarprozesse ins Auge fassen, so können wir auch sagen, daß die Sonderheiten der Größe jener Organe die Folge eines spezifischen Wirkungsbezirkes oder einer spezifischen Dauer derjenigen morphogenen Elementar- prozesse sind, welche zu ihnen führen1). Ich brauche kaum zu bemerken, daß Histologie, Form und Größe der Elementarorgane gleichermaßen ein Aus- druck ihrer gegenwärtigen oder künftigen physiologischen Funktion sind. Auf alle Fälle sind sie Vorbereitungen für diese Funktion, auf Grund eines spezifischen sehr früh- zeitig einsetzenden Stoffwechsels. Die Gesamtheit der individuellen Formbildung ist von einigen Embryologen in zwei verschiedene Perioden zerlegt worden, in eine erste Periode, während welcher die Grundlage der Organisation, des sogenannten ,, Typus" ge- schaffen wird, und in eine zweite, während welcher sich die histologischen und physiologischen Besonderheiten ausbilden (v. Baer, Goette, Roux). Eine solche Unterscheidung ist sicherlich berechtigt, wenn sie nicht gar zu strikt ge- nommen wird; aber ihre praktische Durchführung würde wohl auf gewisse Schwierigkeiten stoßen, so z. B. bei vielen Larvenformen, und auch natürlich bei Pflanzen. Unsere Erwähnung der Pflanzen führt uns nun zu dem letzten unserer analytischen Resultate. Wenn ein tierischer Keim in seiner Entwicklung vom Stadium D zum Stadium G fortschreitet und dabei die Stadien E und F passiert, so können wir sagen, daß das Ganze von D zu dem Ganzen *) Ein „ceteris paribus" muß hier natürlich beigefügt werden, weil die Dauer jedes einzelnen morphogenen Elementarprozesses von der Temperatur und von vielen anderen Bedingungen abhängt. 48 Elementare Formenlehre. von G geworden ist, aber wir können nicht sagen, daß es einen gewissen Teil von G gibt, welcher D ist, wir können nicht sagen, daß G = D + a ist. Aber bei Pflanzen können wir das: bei pflanzlichen Organismen ist das Stadium G in der Tat = A+B+C+D+E+F + a; alle früheren Stadien sind hier tatsächlich sichtbar als Teile des letzten. Der große Embryologe Karl Ernst v. Baer hat diese analytischen Verschiedenheiten zwischen tierischer und pflanzlicher Formbildung aufs klarste gesehen. Sie erscheinen freilich als etwas weniger scharf, wenn wir uns erinnern, daß Pflanzen, in gewisser Hinsicht wenigstens, nicht einfache Individuen, sondern Kolonien sind, und daß wir im Tier- reich unter den Korallen, Hydroiden, Bryozoen und Ascidien Analogien zu den Pflanzen finden; aber ganz verschwinden tun die von uns hervorgehobenen Differenzen auf Grund einer solchen Überlegung doch nicht. Es ist wohl im wesentlichen eine Folge der vielen Faltungen und Knickungen und Wanderungen von Zellen und Zellkomplexen im Ver- laufe der tierischen Formbildung, daß hier ein früheres Stadium im späteren gewissermaßen aufgeht; solche Vor- gänge fehlen bei Pflanzen so gut wie ganz, selbst in ihren allerersten ontogene tischen Stadien. Wir geben daher der vorliegenden Differenz einen guten Ausdruck, wenn wir sagen, daß bei Pflanzen fast alle Bildung von Oberflächen nach außen hin verläuft, während sie bei Tieren nach innen zu statthat. Und dieser Charakterzug führt uns nun noch zu einer weiteren Verschiedenheit zwischen Tieren und Pflanzen, die am besten dadurch zum Ausdruck gelangt, daß wir sagen: Tiere seien „geschlossene", Pflanzen seien ,, offene" Formen; Tiere erreichen einen Punkt, auf dem sie fertig sind, Pflanzen sind, wenigstens in sehr vielen Fällen, nie fertig. Sie werden mir, hoffe ich, zugestehen, daß ich es ver- sucht habe, aus der beschreibenden und vergleichenden Embryologie so viele allgemeine analytische Resultate zu gewinnen, wie nur irgend möglich ist. Es ist nicht meine Schuld, wenn es nicht noch mehr solcher Resultate gibt, Elementare Formenlehre. 49 und es ist auch nicht meine Schuld, wenn die Resultate, welche wir erreicht haben, nicht gerade sehr befriedigend sind. Sie werden wohl sagen, daß unsere Resultate uns zwar befähigen, die Charakterzüge der Formbildung ein wenig klarer und deutlicher zu erkennen, als es vorher der Fall war, aber daß wir doch eigentlich nicht viel Neues gelernt haben. Es ist die Folge der bloßen Beschreibung und Vergleichung als wissenschaftlicher Methoden, daß Sie und daß ich selbst von unserer Analyse enttäuscht bin. Die Grenzen der reinen Beschreibung als wissenschaftlicher Methode. Wir haben die Ergebnisse der beschreibenden Em- bryologie, soweit wir es vermochten, analysiert, und nun müssen wir bekennen, daß das, was wir gefunden haben, unmöglich die letzten Dinge sein können, die man über die individuelle Formbildung wissen kann. Wir verlangen tiefere Einsicht ; wir haben uns bisher nur an der Oberfläche der Erscheinungen bewegt, wir wünschen jetzt zu ihrem Grunde vorzudringen. Warum gibt es denn alle diese Fal- tungen und Knickungen und Gewebsbildungen und alle die anderen Prozesse, die wir beschrieben haben? Es muß doch etwas geben, was sie sozusagen her vortreibt. Der verstorbene Physiker Gustav Kirchhoff hat in seinem Lehrbuch der Mechanik den berühmten Aus- spruch getan, daß es die Aufgabe der Mechanik sei, alle in der Natur vorkommenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben. Diese Worte, welche schon für die Mechanik von nur problematischer Geltung sind, haben einen sehr verderblichen Einfluß auf die Biologie gehabt. Man war sehr zufrieden damit. „Beschreiben", das ist ja das, was wir schon immer getan haben, so sagte man; jetzt sehen wir, daß wir richtig handelten, ein be- rühmter Physiker hat es selbst gesagt. Man sah hier nicht, daß Kirchhoff die Worte „vollständig" und „auf die einfachste Weise" beigefügt hatte, und man erwog weiterhin Driesch, Philosophie. I. ^ 50 Elementare Formenlehre. nicht, daß Kirchhoff es doch ganz und gar nicht als das letzte Ziel der Physik hingestellt hatte, Gewitter oder vulkanische Eruptionen oder Überschwemmungen zu be- schreiben; und doch könnten nur mit solchen „Beschrei- bungen" die biologischen Beschreibungen gegebener Körper und Prozesse verglichen werden. Die Physiker haben immer das Experiment und die hypothetische Konstruktion als Forschungsmittel ver- wendet, Kirchhoff selbst in der erfolgreichsten Weise. Mit diesen Mitteln haben die Physiker ihre Probleme zu bewältigen versucht, und nur das, von dem sie fanden, daß es wirklich etwas Letztes und Elementares sei, haben sie „beschrieben" ; aber sie erklärten mit Hilfe des Elementaren das, was nicht an sich elementar war1). Die Methode der Physiker, nicht ihre Ergebnisse, muß die Lehre von der Formbildung sich zu eigen machen, wenn sie erfolgreich fortschreiten will; und mit dieser Methode wollen wir denn auch in unseren nächsten Vorlesungen arbeiten. Die eigentliche Physiologie ist nie so kurzsichtig und selbstzufrieden gewesen, daß sie nicht von anderen Wissenschaften lernen wollte, von denen es in der Tat viel zu lernen gab; aber die Morphologie war es. Bloße Be- schreibung und Vergleichung von Beschriebenem war für mehr als 40 Jahre ihr einziges Ziel; Stammbäume sehr problematischen Charakters waren ihr einziges allgemeines Resultat. Man sah nicht, daß die Wissenschaft mit dem, was sich tatsächlich vor unseren Augen abspielt, beginnen muß, und nicht mit problematischen Ereignissen der Ver- gangenheit. Ehe wir aber mehr über die Bedeutung der exakten rationellen und experimentellen Methode für die Morphologie 2) Wir werden in diesen Vorlesungen das Wort „erklären" nicht vermeiden, obwohl es gegenwärtig sehr unmodern ist. „Er- klären" heißt: unterordnen unter bekannte Begriffe oder Regeln oder Gesetze oder Prinzipien, mögen die Gesetze oder Begriffe selbst erklärt sein oder nicht. Erklären ist also immer etwas relatives; das Elementare kann natürlich nur beschrieben, oder, noch besser, kann nur als solches aufgezeigt werden. Elementare Formenlehre. 51 sagen — Methoden, welche hier in der Tat als neu bezeichnet werden können, da ihre Herrschaft im 18. Jahrh ändert vergessen war — , müssen wir zuerst einige Versuche ana- lysieren, welche aufgestellt worden sind, um die Form- bildung mit ausschließlicher Hilfe hypothetischer Kon- struktionen zu verstehen. Diese Versuche haben ihre große Bedeutung als Ausgangspunkt wirklich exakter Forschung, und sie verdienen ferner deshalb Beachtung, weil sie zeigen, daß ihre Urheber es wenigstens nicht ganz vergessen hatten, daß es in der Morphologie noch andere Probleme gebe, als lediglich , phylogenetische". 4* B. Experimentelle und theoretische Formenphysiologie. 1. Die Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. „Evolution und Epigenesis." Die Theorie Weismanns. Von allen rein hypothetischen Theorien über organische Formenbildung kann diejenige von August Weismann1) sich des größten Einflusses rühmen, und sie kann sich auch rühmen, die logisch am besten ausgearbeitete zu sein. Die ,,Keimplasma"-Theorie des deutschen Forschers gilt gewöhnlich als eine Theorie der Vererbung, und das ist insofern richtig, als Probleme der eigentlichen Vererbungs- lehre den Ausgangspunkt seiner hypothetischen Speku- lationen gebildet haben ; auch bilden sie in gewisser Hinsicht den wertvollsten Teil seiner Theorie. Aber, richtig ver- standen, besteht Weismanns Theorie aus zwei unab- hängigen Teilen, welche sich auf Formbildung und Vererbung besonders beziehen. Wir werden uns zunächst nur mit dem ersten dieser Teile zu beschäftigen haben ; Weismanns Theorie von der sogenannten Kontinuität des Keimplasmas wird in einem anderen Kapitel erörtert werden. W e i s m a n n nimmt an, daß eine sehr komplizierte organisierte Struktur, jenseits der Grenzen der Sichtbarkeit selbst bei Anwendung der stärksten optischen Hilfsmittel, *) Das Keimplasma. Jena 1892. Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 53 die Grundlage aller morphogenetischen Prozesse ist, und zwar derart, daß der eine Teil dieser Struktur als Grundlage der Vererbung von Generation zu Generation weitergegeben wird, während ihr anderer Teil im Laufe der Entwicklung des Individuums zerlegt wird und die Entwicklung durch seine Zerlegung leitet. Der Ausdruck ,,Teil" muß hier zunächst etwas erläutert werden. Weismann läßt mehrere Exemplare seiner Struktur in den Keimzellen vorhanden sein und das Wort ,,Teil" bezieht sich eben auf diese Exemplare als solche : wenigstens eines dieser Exem- plare muß während der Ontogenie zerlegt werden. Die morphogenetische Struktur soll sich im Kerne der Keimzellen befinden, und W e i s m a n n vermutet, daß die Zerlegung seiner hypothetischen Struktur durch die Kern- teilung vermittelt werde. Während der Furchung des Eies werden die grundlegenden Abschnitte derselben voneinander getrennt. Das Wort ,, grundlegend" bezieht sich aber, wohlverstanden, hier nicht auf eigentliche Elemente oder Elementgruppen der Organisation, sondern auf die Kenn- zeichen der Symmetrie; die erste Furchung z. B. soll die rechte und die linke Hälfte der Struktur voneinander scheiden, die zweite Furchung ihre obere und untere Hälfte, so daß nach der dritten oder äquatorialen Furchung alle acht grundlegenden Achtel der minutiösen hypothetischen Organisation voneinander getrennt sind ; denn diese Organi- sation soll, wie jetzt beigefügt werden muß, in den drei Hauptrichtungen des Raumes von verschiedenem Bau sein, ebenso wie es der erwachsene Organismus ist. Weis- mann gibt zu, daß es durchaus unbekannt sei, wie die letzte Beziehung zwischen den Teilen der zerlegten fundamentalen morphogenetischen Struktur und den eigentlichen Prozessen der Formbildung verwirklicht werde ; es sei genug, daß man sich so eine Beziehung denken könne. Wenn die Formbildung zu Ende ist, ist die Struktur in ihre Elemente zerlegt, und diese Elemente, welche vielleicht chemische Verbindungen sind, bestimmen das Schicksal der einzelnen Zellen des erwachsenen Organismus. 54 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. Hier wollen wir einen Augenblick innehalten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Weismanns Theorie in hohem Grade den alten Evolutionstheorien des 18. Jahr- hunderts ähnelt, nur daß sie weit weniger roh ist. Es heißt jetzt nicht, daß das Hühnchen vor der Entwicklung bereits im Ei vorhanden sei, und die Ontogenie wird nicht als ein bloßes Wachstum dieses Hühnchens en miniature an- gesehen, aber immerhin wird doch angenommen, daß ein gewisses Etwas im Ei vorhanden sei, das in allen seinen Teilen den Teilen des Hühnchens entspreche, nur in einer etwas anderen Weise, und es wird auch angenommen, daß alle Beziehungen zwischen den Teilen der Struktur den Beziehungen der Teile des Erwachsenen entsprechen. Ist es doch nur auf Grund der Annahme einer gleichsam festen und starren Beziehung zwischen den Teilen der morphogene tischen Struktur möglich, daß ihre Zerlegung nicht nach Teilen der Organisation, sondern nach Teilen der Symmetrie vor sich gehen kann; und eben diese Annahme ist ein zwar sehr seltsamer, aber nicht unlogischer Charakterzug der W e i s m a n n sehen Lehre. Weis mann ist absolut davon überzeugt, daß nur eine Theorie der Evolution, im alten Sinne des Wortes, richtig sein kann, daß nur sie die Tatsachen der Formbildung er- klärt, daß ,,Epigenesis" ihren Platz nur in der beschreiben- den Embryologie hat, wo es in der Tat, wie wir wissen, eine Produktion sichtbarer Mannigfaltigkeit gibt, daß aber Epi- genesis nie die Grundlage einer wirklichen Theorie der Form- bildung sein kann ; theoretisch genommen wird eine prä- existierende Mannigfaltigkeit in eine andere u m geformt. Eine epigenetische Theorie, so meint We i s m a n n , würde die Grenzen der Naturwissenschaft überschreiten; wie denn in der Tat alle solche Theorien, wenn sie ganz zu Ende gedacht wurden, ihre Urheber zu vitalistischen Lehren geführt haben. Aber der Vitalismus gilt Weismann für immer als abgesetzt. Es scheint mir, wir haben angesichts dieser Sachlage ein gutes Recht, von einer dogmatischen Basis der W e i s m a n n sehen Entwicklungstheorie zu sprechen. Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 55 Doch vollenden wir zunächst den Umriß dieser Theorie ; W e i s m a n n wußte wohl, daß es einige große Schwierig- keiten für seine Behauptungen gab; alle Tatsachen der sogenannten adventiven Formbildung bei Pflanzen sowie der Regeneration bei Tieren zeigten ihm, daß die morpho- genetische Struktur während der Ontogenie nicht voll- ständig zerlegt werden könne. Aber diese Schwierig- keiten waren doch nicht absolut, sie waren zu überwinden; Weismann nimmt in der Tat an, daß in gewissen be- sonderen Fällen — und er sah alle Fälle von Wieder- herstellung einer zerstörten Organisation als auf Grund von besonderen Eigenschaften der in der Frage kommenden Organismen geschehend an, von Eigenschaften, welche durch unbestimmte Variationen und natürliche Zuchtwahl entstanden seien, — daß in besonderen Fällen spezifische Anordnungen minutiöser Teile während des Zerlegungsprozesses gebildet würden und daß diese spezi- fischen Anordnungen während der Entwicklung in besondere Zellen gelangten, von denen dann Regeneration oder adventive Knospenbildung ihren Ursprung nehmen könnte, wenn es nötig wäre. ,, Reserveplasma" war der Name, den er diesen hypothetischen Ersatzanordnungen gab. Ziemlich unabhängig von Weismann hat ein anderer deutscher Forscher, Wilhelm Roux1), eine Theorie der Morphogenesis aufgestellt, welche der Weismann- sehen Hypothese sehr ähnlich ist. Auch nach Roux gibt es eine minutiöse letzte Struktur im Kern des Keimes, und diese Struktur leitet die Entwicklung durch ihre Zer- legung in Teile im Verlaufe der Reihe der Kernteilungen. Aber trotz dieser Ähnlichkeit des Ausgangspunktes betreten wir durch die Erwähnung Wilhelm R o u x's doch ein ganz anderes, ein ganz neues Feld biologischer Arbeit. Wir verlassen die bloße hypothetische Konstruktion, wenigstens als ausschließliches Forschungsmittel, und be- treten das Reich des wissenschaftlichen Experimentes im Gebiete der Morphologie. a) Die Bedeutung der Kernteilungsfiguren. Leipzig 1883. 56 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. Experimentelle Morphologie. Ich sagte Ihnen bereits in der letzten Vorlesung, daß im 18. Jahrhundert die Formbildung des Individuums im Zentrum des biologischen Interesses stand und experimentell in einer durchaus zureichenden Weise studiert wurde, daß aber dieses Interesse sich allmählich verminderte, bis schließlich die Physiologie der Form als exakte Sonder- wissenschaft so gut wie vollständig vergessen worden war. So war es wenigstens in der Zoologie — die offizielle Zoologie, wenigstens in Europa, vergißt die Physiologie der Form noch heute — , den Botanikern muß dagegen zugegeben werden, daß sie die historische Kontinuität nie in solchem Grade verloren haben. Die Botanik hat nie aufgehört als eine Wissenschaft angesehen zu werden und ist niemals derartig in Teile zersplittert wie die Zoologie. Zoologische Physiologie und zoologische Morphologie standen aber in der Tat durch viele Jahre hindurch in Be- ziehungen zueinander, die nicht viel enger waren als die Beziehungen zwischen Philologie und Chemie. Freilich gab es immer einige, die gegen den Strom schwammen. Der verstorbene Wilhelm H i s x) z. B. beschrieb die Embryologie des Hühnchens in origineller Weise, um zu ermitteln, ob nicht passive, aus den mecha- nischen Beziehungen der embryonalen Teile zu einander resultierende Deformationen einen integrierenden Bestand- teil der Formbildung darstellen möchten. Auch stellte er in klarster Weise die Behauptung auf, daß es das letzte Ziel der Embryologie sei, die erwachsene Form aus der Verteilung des Wachstums im Keim mathematisch her- zuleiten. Alexander Goette2) verdanken wir eine andere Reihe analytischer Erwägungen über Formbildung. N e w p o r t hat bereits im Jahre 1850 und in späteren Jahren haben P f 1 ü g e r und Rauber Versuche am *) Unsere Körperformen. Leipzig 1875. 2) Die Entwicklungsgeschichte der Unke. Leipzig 1875. Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 57 Froschei ausgeführt, welche in der Tat als Vorläufer dessen gelten können, was folgen sollte. Es war Wilhelm Roux1), jetzt Professor der Ana- tomie in Halle, der das neue Gebiet mit einem voll- ständig ausgearbeiteten Programm betrat; er wußte nicht nur, wie er das neue Problem analytisch aufzustellen, sondern auch, wie er es anzugreifen hatte, in voller Über- zeugung von der Bedeutung dessen, was er tat. ,, Ent- wicklungsmechanik" nannte er den ,, neuen Zweig der anatomischen Wissenschaft", dessen Grund zu legen er sich anschickte. Ich kann diese Gelegenheit nicht vorbeigehen lassen, ohne in der ausdrücklichsten Weise zu erklären, wie hoch, meiner Meinung nach, Roux's Bedeutung für die syste- matische Erforschung der Formenbildung bewertet werden muß. Um so mehr fühle ich mich verpflichtet das hier zu tun, als ich später gezwungen sein werde, nicht nur vielen seiner positiven Resultate, sondern auch den meisten seiner theoretischen Erörterungen zu widersprechen. Er selbst hat kürzlich vieles von dem aufgegeben, was er noch vor 10 Jahren energisch verfocht. Aber Roux's Ehrenplatz in der Geschichte der biologischen Wissen- schaft ist gesichert, mag die Wissenschaft ihren Weg nehmen wie sie will. Für eine eingehende Logik des Experiments ist hier nicht der Ort. Sie alle wissen, daß das Experiment dadurch, daß es die einzelnen Konstituenten komplizierter Phäno- mene isoliert, das wesentlichste Hilfsmittel bei der Ent- deckung sogenannter kausaler Beziehungen ist. Lassen Sie uns also zusehen, was für kausale Beziehungen Roux mit Hilfe des morphogenetischen Experiments auf- gedeckt hat. *) Gesammelte Abhandlungen. Leipzig 1895. Wichtigste theoret. Aufsätze: Ztschr. f. Biol., XXI 1885; Die Entwicklungs- mechanik der Organismen, Wien 1890; Vortr. u. Aufsätze über Entwicklungsmechanik, H. 1. Leipzig 1905. 58 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. Die Leistungen Wilhelm ßoux's. Wir wissen bereits, daß eine Annahme über die Grund- lage der individuellen Entwicklung Rou x's Ausgangs- punkt war. Ebenso wie Weismann vermutete er, daß es eine sehr komplizierte Struktur im Keim gebe, und daß die Kernteilung zur Zerlegung dieser Struktur führe. Er stellte nun zunächst Erwägungen an, die man als Indizien für die Richtigkeit seiner Ansicht bezeichnen könnte. Es war bekannt, daß in vielen Fällen eine nahe Be- ziehung zwischen der Richtung der ersten Furchungs- ebenen des Keimes und der Richtung der wichtigsten Symmetrieebenen des Erwachsenen existiert; die erste Furche fällt z. B. sehr oft mit der Mittelebene zusammen oder steht zu ihr senkrecht. Und in anderen Fällen, die später zur Lehre von den sogenannten Zellenfolgen („Cell- lineages") ausgearbeitet wurden, korrespondieren typische Furchungszellen mit typischen Organen. War das nicht eine gute Stütze für eine Theorie, welche Zellteilung als wesentlichstes Mittel der Differenzierung ansah ? Die nahen Beziehungen zwischen Furchung und Symmetrie existierten freilich nicht in jedem Falle, aber dann waren immer gewisse besondere experimentelle Störungen vor- handen gewesen, z. B. Einflüsse einer abnormen Richtung der Schwerkraft nach Drehung des Eies, und es war nicht schwer, solche Fälle mit der allgemein angenommenen Theorie zu vereinigen, wenn man sogenannte „Ana- chronismen der Furchung" zuließ. Aber R o u x begnügte sich nicht mit bloßen Indizien, er wollte einen Beweis, und in solcher Absicht führte er einen Versuch aus, welcher sehr berühmt geworden ist1). Mit einer heißen Nadel tötete er eine der beiden ersten Furchungszellen des Froscheis nach ihrem vollendeten Auf- treten und beobachtete dann die Entwicklung der über- lebenden Zelle. Er sah einen typischen Halbembryo sich bilden, einen Organismus in der Tat, welcher derartig x) Virchows Arch. 114, 1888. Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 59 „halb" war, als wenn ein vollständiger Embryo eines gewissen Stadiums mit einem Messer in zwei Teile zer- schnitten wäre; zumal im vorderen Bezirk des Embryo war seine „Halbheit" besonders deutlich ausgeprägt. Das schien ein Beweis der Entwicklungstheorie von W e i s m a n n und Roux zu sein, ein Beweis der Hypo- these, daß es im Ei eine sehr komplizierte Struktur gebe, welche die Entwicklung durch ihre Zerlegung leitet, und daß diese Zerlegung im Laufe der ontogenetischen Zell- teilungen mit Hilfe des Prozesses der Kernteilung, der sogenannte „Karyokinese", geschehe. Dem unvoreingenommenen Beobachter wird es freilich vielleicht schon hier scheinen, als gingen die Folgerungen, welche Roux aus seinen Experimenten zog, ein wenig über das Erlaubte hinaus. Sicherlich wird eine gewisse Art von „Evolution" bewiesen, wenn man einen halben Frosch aus einem halben Ei aufzieht. Aber ist hier irgend etwas bewiesen, ja auch nur entdeckt bezüglich des Kernes? Nur auf Grund der üblichen Meinung über die Rolle, die der Kern in der Entwicklung spielen sollte, war er hier in Erwägung gezogen worden. Bald wurde die Sachlage noch viel zweideutiger. Die Versuche am Ei des Seeigels. Roux's Ergebnisse sind zum ersten Male im Jahre 1888 veröffentlicht worden ; drei Jahre später versuchte ich selbst seinen fundamentalen Versuch an einem anderen Objekt und mit einer etwas anderen Methode zu wiederholen. Ich wußte aus den Zellenstudien der Gebrüder Hertwig und B o v e r i s , daß die Eier des gewöhnlichen See- igels (Echinus microtuberculatus) imstande sind, alle möglichen Arten schlechter Behandlung sehr gut zu ver- tragen, und daß insbesondere, wenn sie durch Schütteln zerstückelt werden, ihre Bruchteile gut überleben und in ihrer Entwicklung fortfahren. Das benutzte ich für meine Zwecke. Ich schüttelte die Keime sehr heftig im zwei- (30 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. zelligen Stadium, und in einigen Fällen gelang es mir, die eine der Furchungszellen zu töten ohne die andere zu beschädigen oder auch beide Furchungszellen vonein- ander zu trennen1). Verfolgen wir nun die Entwicklung der überlebenden isolierten Furchungszelle. Sie furchte sich ebenso, wie sie es im Verbände mit ihrer Schwesterzelle getan haben würde, und so gab es denn Furchungsstadien, welche durchaus die Hälfte der normalen repräsentierten. Das Stadium beispiels- weise, welches dem normalen 16 zelligen Stadium entspricht, und welches in meinem Versuche natürlich nur aus acht Zellen bestand, zeigte zwei Mikromeren, zwei Makromeren und vier Zellen mittlerer Größen, ganz als wenn ein normales 16 zelliges Stadium in zwei Teile zerschnitten worden wäre ; die Form des Ganzen war die einer Halbkugel. Soweit gab es keine Abweichung von Roux's Resultaten. Die Entwicklung unseres Echinus verläuft sehr rasch, seine Furchung ist in ungefähr 15 Stunden beendet. Ich beobachtete nun am Abend des ersten Versuchstages, als der Halbkeim aus ungefähr 200 Elementen bestand, daß die Ränder des halbkugelförmigen Keimes sich etwas auf- einander zuneigten, als wenn sie im Begriff wären, eine ganze Kugel kleineren Umfanges zu bilden, und in der Tat schwamm am nächsten Morgen eine ganze kleine Blastula im Gefäße herum. Ich war so fest davon überzeugt, daß ich in jeder Beziehung dasselbe Resultat wie R o u x erhalten würde, daß ich trotz der ganzen Blastula, welche ich aufgefunden hatte, nun doch erwartete, am nächsten Morgen die Halborganisation meines Objektes zu ent- decken ; der Darm, so vermutete ich, würde sich wohl durch- aus an einer Seite bilden, als eine Art von Halbröhre, und der Mesenchymring würde wohl auch ein halber Ring sein. Aber die Dinge kamen, wie sie kommen mußten, und nicht, wie ich erwartet hatte : eine typische ganze Gastrula war am nächsten Morgen in meinem Gefäße vorhanden, eine ») Zeitschr. f. wiss. Zool. 53, 1891. Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 61 ganze Gastrula, die sich nur durch ihre geringere Größe von einer normalen unterschied ; und dieser kleinen aber ganzen Gastrula folgte ein ganzer und typischer kleiner Pluteus (Fig. 5). Das war gerade das Gegenteil von Rou x's Resultat : die eine der beiden ersten Blastomeren hatte sich zwar halb gefurcht, wie beim Frosch, war aber dann zu einem ganzen e, is Figur 5. Erläuterung der Versuche an Echinus. at und hv Normale G-astrula und normaler Pluteus. — a.2 und b-2 „Halbu- Gastrula und „Halb "-Pluteus, wie sie nach der „Evolutionsu-Tkeorie aus einer isolierten Blastomeren des zweizeiligen Stadiums hervorgehen sollten. a3 und 63 Kleine Ganz-Gastrula und kleiner Ganz-Pluteus, wie sie wirk- lich aus isolierten Blastomeren hervorgehen. Organismus geworden, und zwar durch einen einfachen Prozeß der Umordnung ihres Materials, daß ohne irgend etwas an Regeneration, im Sinne einer Vervollständigung des Fehlenden von der Wunde aus, erinnerte. Wenn also die eine Zelle des zweizeiligen Stadiums im- stande war, den morphogenetischen Prozeß in seiner Totalität zu leiten, so war es natürlich unmöglich geworden, (J2 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. anzunehmen, daß Kernteilung irgend eine Art von Keim- plasma in zwei verschiedenen Hälften gesondert habe; ja, nicht einmal vom Protoplasma des Eies konnte gesagt werden, daß es durch die erste Furchungsebene in zwei ungleiche Teile gesondert worden sei, wie es doch das Postulat der strikten Evolutionstheorie war. Das war ein sehr wichtiges Resultat, an sich genügend, die Theorie der ontogene tischen „Evolution" zu stürzen — die „Mosaik- theorie", wie sie zwar nicht von Roux selbst, aber seinen Ansichten entsprechend, genannt worden war. Ich erweiterte nun zunächst das Bereich meiner Beob- achtungen, indem ich zeigte, daß auch eine der vier ersten Furchungszellen imstande ist, die ganze Formbildung zu leisten, und daß auch drei der vier ersten Furchungszellen zusammen einen durchaus vollständigen und symmetrischen Organismus liefern können; dann ging ich dazu über, das eine der beiden fundamentalen Probleme, welche durch meinen ersten Versuch aufgestellt worden waren, gesondert zu verfolgen. Konnte man denn nicht etwas Bestimmteres über die Bedeutung oder die Bedeutungslosigkeit der ein- zelnen Kern teilungsprozesse im Laufe der Entwicklung ermitteln1) ? Durch Erhöhung der Temperatur des Mediums oder durch eine gewisse Verdünnung des Seewassers erwies es sich zunächst als möglich, den Typus der Furchung in sehr fundamentaler Art zu verändern, ohne den daraus resul- tierenden Organismus zu schädigen: Mikromeren mögen auf dem 16-zelligen Stadium fehlen, oder sie mögen bereits im 8-zelligen Stadium auftreten, wie dem auch sei, die Larve wird typisch. Daraus folgt, daß es für normale Entwicklung nicht notwendig ist, daß die Furchung in ihrer normalen Weise abläuft. Aber wichtiger für unsere Zwecke war, was nun folgte. Es gelang mir, die Eier von Echinus zwischen zwei Glas- platten in vorsichtiger Weise zu drücken, ohne sie zu töten ; ') Zeitschr. f. wiss. Zool. 55, 1892. Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 63 die Eier wurden zu verhältnismäßig dünnen runden Scheiben von großem Durchmesser deformiert. In diesen Eiern ver- liefen nun alle Kernteilungen senkrecht zur Richtung des Druckes, d. h. in Richtung der Platten, und zwar so lange, als der Druck andauerte; aber die Teilungen begannen senkrecht zu ihrer früheren Richtung zu geschehen, sobald der Druck aufhörte. Dadurch, daß ich den Druck ver- schieden lange Zeit dauern ließ, hatte ich es nun natürlich ganz in meiner Hand, Furchungs typen zu erhalten, wie ich sie haben wollte. Wenn ich z.B. die Eier bis zur Vollendung des 8-zelligen Stadiums unter Druck hielt, erhielt ich eine Platte von 8 nebeneinander gelegenen Zellen an Stelle der zwei 4-zelligen übereinander gelegenen Ringe der normalen Furchung ; aber die nächste Zellteilung geschah nun senkrecht zu den vorhergehenden, und so war denn das Resultat ein 16- zelliges Stadium, das aus zwei 8-zelligen übereinander gelegenen Platten bestand. Wenn der Druck bis zur Voll- endung des 16- zelligen Stadiums währte, lagen 16 Zellen in einer Platte bei einander, und das Resultat der nächsten Furchung waren zwei 16- zellige übereinander gelegene Platten. Doch wir studieren diese Dinge hier nicht für cytolo- gische, sondern für morphogenetische Zwecke, und für diese sind die Furchungsphänomene selbst weniger bedeutsam als ihr organogenetisches Resultat : aus allen unseren Objekten wurden absolut normale Organismen. Es ist nun klar, daß die Raumbeziehungen der verschiedenen Kernteilungen zueinander in den der Druckwirkung aus- gesetzten Eiern alles andere als normal waren; mit anderen Worten: jeder Kern hatte ganz andere Nachbarn erhalten als im normalen Falle. Wenn das keinen Unter- schied in der Entwicklung macht, dann kann es eine enge Beziehung zwischen den einzelnen Kernteilungen und der Bildung der Organe gar nicht geben, und der Schluß, den wir mehr vorläufig schon aus der Ganzentwicklung isolierter Blastomeren gezogen haben, ist jetzt in vollendeter Weise bewiesen. Auf Grund der Theorie der Evolution, vermittelt 64 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. durch Kernteilung, hätte ein morphogenetisches Chaos resultieren sollen, wenn die einzelnen Kerne in bezug auf- einander fundamental verlagert wurden. Aber nun war kein Chaos resultiert, sondern der normale Organismus: damit war in striktester Weise die Annahme widerlegt, daß Kern- teilung von irgend welcher Bedeutung für die Entstehung der Organisation sei, wenigstens soweit die Teilungsvorgänge während der Furchung in Betracht kommen (Fig. 6). Figur 6. Druckversuche an Echinus. ot und 6t Normales acht- und sechzehnzelliges Stadium. — a2 und &2 Die- selben Stadien, durch bis zum vollendeten Achtstadium währenden Druck verändert. Am Ei des Frosches (0. H e r t w i g) und am Ei der Anneliden (E. B. Wilson) sind meine Druckversuche mit demselben Ergebnis wiederholt worden1). J) In den Druckversuchen hatte ich die relative Lage der Kerne während ihres Ursprungs verändert. Später gelang es mir, die Anordnung der vollendeten Zellen des 8-zelligen Stadiums zu stören, und trotzdem in vielen Fällen normale Larven zu erhalten. Da aber diese Versuchsreihe nicht frei von gewissen Komplikationen ist, welche erst später verstanden werden können, muß es geniigen, sie hier nur erwähnt zu haben (weiteres in meiner Arbeit in Arch. f. Entwickl.-Mech. XIV, 1902, S. 500). Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 65 Über die intime Struktur des Eiprotoplasmas. Kernteilung kann, wie wir gesehen haben, die Grund- lage der Organbildung nicht sein, und alles, was wir über die Ganzentwicklung isolierter Blastomeren wissen, scheint nun darauf hinzuweisen, daß auch das Protoplasma in keiner Weise für die Differenzierung des Organismus in Betracht kommt. Aber ist das möglich ? Mir scheint, es kann auf Grund einer tiefergehenden Analyse der Natur der Formen- bildung doch wohl nicht als möglich erscheinen. Da die atypischen Agentien des Mediums in keiner Weise für den Ursprung einer Formkombination, welche typisch und spezifisch ist, verantwortlich sein können, so muß es im Ei selbst einen gewissen Faktor geben, der wenigstens für die allgemeine Orientierung und Symmetrie der Formbildung verantwortlich ist. Erwägungen solcher Art waren es, die mich bereits im Jahre 1893 *) zu der Hypothese führten, daß eine gewisse Art intimer Struktur, welche Polarität und Bilateralität unter ihre Hauptkennzeichen begreift, im Ei existiert, ja existieren muß, eine Struktur, welche jedem kleinsten Teilchen des Eies zukommt und welche in ana- logienhafter Weise in der Form elementarer Magnete vor- gestellt werden kann 2). Diese hypothetische Struktur würde ausschließlich im Protoplasma ihren Sitz haben. Im Ei der Echinodermen würde sie einer so schnellen Wiederherstellung nach Störung fähig sein, daß sie sich der direkten Beobachtung entzieht und nur logisch erschlossen werden kann; es möchte jedoch auch wohl Fälle geben, in denen ihre wirkliche Entdeckung möglich wäre. In der Tat scheint sie in Roux's Froschexperiment am Werke ge- wesen zu sein; wenigstens ist die Annahme nicht unwahr- scheinlich, daß R o u x eben deshalb einen halben Froschembryo erhalten hat, weil das Plasma der isolierten J) Mitteil. zool. Stat. Neapel, 11. 1893. 2) Aber die elementaren Magnete müßten auch bilateral sein! Driesch, Philosophie. I. 5 66 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. Furchungszelle die ,, Halbheit" ihrer intimen Struktur bewahrt und diese Struktur nicht in ein kleines Ganzes um- gebildet hatte. Natürlich war es mein besonderes Bemühen, diese An- nahme zu beweisen, und dieser Beweis wurde nun möglich durch eine Reihe von Versuchen, welche mein Freund T. H. Morgan und ich im Jahre 1895 *) gemeinsam an den Eiern der Ctenophoren ausführten; das sind pelagische Tiere, welche den Medusen äußerlich ähnlich, aber von recht abweichender innerer Organisation sind. Der Zoologe C h u n hatte schon vor Rou x's analytischen Studien gefunden, daß isolierte Blastomeren des Ctenophoreneies sich wie Teile des Ganzen verhalten und eine Halb- Organisation aus sich hervorgehen lassen, ebenso wie es beim Frosch der Fall war ; C h u n hatte nicht viel Gewicht auf seine Ent- deckung gelegt, welche nun natürlich, unter den neuen Gesichtspunkten, sehr bedeutsam erschien. Wir wieder- holten zunächst C h u n s Versuch und erhielten dieselben Resultate wie er, mit der einzigen Ausnahme, daß das Endoderm der Halblarve vom Beroe eine gewisse Tendenz besaß, mehr als ,,halb" zu werden. Doch das war nicht die Hauptsache. Es gelang uns aber nun ferner, eine gewisse Protoplasmamasse des Ctenophoreneies unmittelbar vor der Furchung abzutrennen, ohne das Kernmaterial des Eies irgendwie zu schädigen : in allen Fällen, in denen der Schnitt die Seite des Eies getroffen hatte, resultierte aus unseren Versuchen ein gewisser Larventypus, der genau dieselben Defekte zeigte, welche in aus einer der beiden ersten Blastomeren gezogenen Larven vorhanden waren. Die Hypothese von der morphogenetischen Bedeutung des Protoplasmas war nun bewiesen. In unseren Ver- suchen war das Kernmaterial vollständig vorhanden, es gab aber Defekte an der einen Seite des Protoplasmas; und es stellte sich heraus, daß die Defekte des Erwachsenen diesen Plasmadefekten entsprachen. !) Arch. f. Entw.-Mech. H, 1895. Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 67 Und nun gelang es O. Schultze und Morgan gewisse Versuche auszuführen, welche unmittelbar bewiesen, daß auch in dem Versuche Roux's am Froschkeim das Protoplasma des Eies eine Rolle gespielt hatte. Der erste dieser Autoren zog zwei ganze Froschembryonen von reduzierter Größe auf, wenn er das Ei im zweizeiligen Stadium leicht zwischen zwei Glasplatten preßte und dann umdrehte; und Morgan1) gelang es, nachdem er die eine der beiden Blastomeren abgetötet hatte, ebenso wie es im ursprünglichen Experiment von R o u x geschehen war, die überlebende Zelle zu einer halben oder zu einer ganzen Entwicklung zu veranlassen, je nachdem er sie ungestört ließ oder umdrehte. In diesen beiden Fällen war es zweifellos die durch das Umdrehen des Eies ermög- lichte Umordnung des Protoplasmas, welche der isolierten Blast omere ihre Ganzentwicklung gestattete. Die Regu- lation des Froscheies, hinsichtlich der Lieferung einer Ganzbildung, kann fakultativ genannt werden, und wir können dieselbe Regulation beim Eie von Echinus entsprechend obligatorisch nennen. Es ist nicht ohne Interesse hier zu bemerken, daß die beiden ersten Blastomeren des gewöhnlichen Wassermolches, d. h. einer Form, welche einer anderen Erlasse der Amphibien angehört, nach Separationen jeder Art sich immer ganz entwickeln, so daß also ihre Regulationsfähigkeit ebenso obligatorisch ist wie diejenige von Echinus. Ganze oder partielle Entwicklung hängt also von der Fähigkeit oder Unfähigkeit der intimen polar-bilateralen Struktur des Protoplasmas zur Regulation ab. So- wohl die Regulation wie die Verschiedenheit der Ent- wicklung beziehen sich auf die grundlegenden Symmetrie- relationen. Die Entwicklung ist ein halb oder ein viertel der normalen, weil nur % oder % einer gewissen Struktur vorhanden ist, % oder % bezüglich der Ganzheit dieser Struktur; und andererseits ist die Entwicklung trotz ein- x) Anatom. Anzeiger, X. 1895. 5* 68 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. getretener Störung ganz, wenn zuerst die intime Struktur wieder ganz wurde. Wir können die „Ganzheit", ,, Halbheit" oder „Viertel- heit" unserer hypothetischen Struktur in mathematischer Figur 7. Schema zur Erläuterung der .Regulation der plasmatischen Intim- struktur von „Halb1 zu „Ganz' Der große Kreis stellt die ursprüngliche Struktur des Eies dar. Wenn Furchungszellen des zweizeiligen Stadiums isoliert werden, so ist diese ursprüngliche Struktur anfangs nur „halb" vorhanden, etwa nur auf der Seite des -{-Y. Die Entwicklung geschieht nur „halb", wenn die Intimstruktur halb bleibt, sie geschieht aber (in kleinerem Maßstabe) „ganz", wenn auf regulatorischem Wege vorher eine Ganz-Struktur (kleiner Kreis!) entsteht. Weise darstellen, indem wir drei zueinander senkrechte Achsen als Basis der Orientierung benutzen. Jeder dieser Achsen x, y und z entspricht ein gewisser spezifischer Zustand Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 69 bezüglich der Symmetrierelation; so kommt es, daß, wenn z. B. alle diejenigen Teile eines Keimes fehlen, welche, sagen wir, durch einen negativen Wert von y, durch minus y bestimmt sind, damit eben auch die Hälfte seiner intimen Struktur nicht vorhanden ist; und eine Folge dieser Halb- heit der intimen Struktur ist nun weiter die Halbheit der Organbildung, nachdem die Abhängigkeit der Organ - bildung von der intimen Struktur einmal erwiesen ist. Wenn aber Regulation das Ganze der Anordnung in kleinerem Maßstabe, entsprechend allen Werten von x, y und z wieder hergestellt hat, dann kann auch Entwicklung in Vollständigkeit stattfinden (Fig. 7). Ich verberge mir nicht, daß eine Erörterung wie diese ziemlich leer und rein formal ist; aber ganz wertlos ist sie doch nicht, denn sie zeigt uns besonders klar den Unterschied zwischen dem, was wir die ,, intime Struktur" von Keimen genannt haben und nur für ihre allgemeine Symmetrie sowie für die Symmetrie ihrer isolierten Teile verantwortlich machen, und einer anderen Art möglicher Struktur des Eiprotoplasmas, die wir jetzt erst studieren wollen, und die, auf den ersten Blick, eine ernstliche Schwierigkeit für unsere bisherigen Behauptungen zu bilden scheint, wenigstens soweit die letzteren allgemeine Be- deutung für sich beanspruchen. Das Studium dieser anderen Art von Keimstruktur wird uns gleichzeitig in unserer historischen Skizze der ersten Jahre entwicklungs- me chanischer Forschung einen Schritt weiter bringen und wird diese Skizze zu ihrem Abschluß führen. über gewisse Besonderheiten in der Organisation einiger Keime. Bereits im Jahre 1890 war es durch das sorgfältige Studium der sogenannten „Cell-Lineage" bekannt geworden, daß in den Keimen gewisser Familien des Tierreichs der Ursprung gewisser Organe auf bestimmte Furchungszellen zurückführbar ist, und daß diese Furchungszellen einen 70 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. typischen eigenen histologischen Charakter besitzen. In Amerika sind solche Forschungen besonders sorgfältig ausgeführt worden ; E. B. Wilsons Arbeit über die „Cell-lineage" des Annelids Nereis war ihr erstes Beispiel. Wenn es nun wahr war, daß Kernteilung keinen bestimmen- den Einfluß auf das ontogenetische Schicksal der Blasto- meren besaß, so konnten nur Besonderheiten der ver- schiedenen Protoplasmaregionen für solche Beziehungen zwischen bestimmten Furchungszellen und bestimmten Organen verantwortlich sein. Ich vertrat diese Ansicht Figur 8. Die Schnecke Dentalium (nach E. B. Wilson). a Das aus drei verschiedenen Protoplasmaarten bestehende Ei. — 6 Erstes Furchungsstadium. Zwei Zellen und eine „Pseudo-Zelle", der Dottersack, welcher kernlos ist. Eben dieser wurde in Cramptons Versuch entfernt. bereits im Jahre 1894 und sie wurde zwei Jahre später von Crampton, einen Schüler Wilsons, durch einige sehr schöne Versuche am Keime der Mollusken bestätigt1). Das Molluskenei besitzt eine besondere Art von Protoplasma nahe seinem vegetativen Pol, und dieser besonders geartete Teil des Keimes trennt sich bei jeder der beiden ersten Furchungen durch eine gewisse Art von,,Pseudofurchung", welche zu Stadien von 3 und 5 gesonderten Massen an Stelle der üblichen Zweier- und Viererbilder führt, vom Ganzen ab; die überzählige Masse, der sogenannte l) Arch. f. Entw.-Mech. III. 1896. Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 71 Dottersack, besitzt natürlich keine Kernsubstanz (Fig. 8). Crampton entfernte nun diesen Dottersack auf dem zweizeiligen Stadium und fand, daß die Furchung der so operierten Keime normal war, mit Ausnahme der Größe und der histologischen Beschaffenheit einer einzigen Zelle, und daß weiterhin die Larven, welche aus diesen Keimen hervorgingen, in jeder Beziehung vollständig ausgebildet waren, mit Ausnahme ihres Mesenchyms, welches nicht vorhanden war. Ein besonderer Teil des Protoplasmas des Eies war so in Beziehung gesetzt worden zu einem be- sonderen Teil der Organisation, und jener besondere Teil des Protoplasmas war kernlos gewesen. Allgemeine Ergebnisse der ersten Periode der „Entwicklungsmechanik". Von dem eben geschilderten Versuche Cramptons, den später Wilson selbst bestätigt hat, kann man sagen, daß er die erste Periode der neuen Wissenschaft der Physio- logie der Form oder ,, Entwicklungsmechanik" abschloß, eine Periode, die fast ausschließlich der Lösung des Problems gewidmet war, ob die Theorie der qualitativ-ungleichen Kernteilung, oder, in weiterem Sinne, ob die Theorie der strikten Evolution die Tatsachen der Morphogenese zu erklären imstande sei oder nicht. Wie wir gesehen haben, hatte sich herausgestellt, daß die Theorie der sogenannten, „qualitativ ungleichen Kern- teilung" sicherlich nicht richtig war und daß es auch keine strikten Evolutionsfaktoren im Plasma gab. Weismanns Theorie war also aufs Klarste widerlegt. Sicherlich gibt es ein gutes Teil von wahrer Epigenesis in der Ontogenie, ein gutes Teil an Produktion von Mannigfaltigkeit, nicht nur mit Hinblick auf „Sichtbarkeit", sondern in einer tieferen Bedeutung des Wortes. Aber eine gewisse Art von Präformation hatte sich doch auch als vorhanden erwiesen, und diese Präformation oder, wenn Sie lieber wollen, diese beschränkte Evolution war von zweierlei Art: erstens 72 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. war ein Intimbau des Protoplasmas, in seiner Polarität und Bilateralität zum Aurdruck gelangend, entdeckt worden, und dieser war sogar für jede Art von Keimen zu postu- lieren, selbst wenn unmittelbare obligatorische Regulation ihn nach Störungen gleichsam maskierte. Und zweitens gab es gewisse Fälle, in denen eine wahre Spezifikation gewisser Teile des Keims existierte, eine Beziehung be- stimmter seiner Teile zu bestimmten Organen; aber auch von dieser Art der Spezifikation ließ sich zeigen, daß sie protoplasmatisch war. Aus allem folgte weiter, daß die Eier verschiedener Tiere sich bezüglich der Organisation ihres Protoplasmas und der Bedeutung dieser Organisation für die Formbildung sehr verschieden verhalten können, und daß man die Eier geradezu auf Grund des Grades ihrer Organisation klassi- fizieren kann. Wir müssen natürlich eine detaillierte Untersuchung dieser Dinge der eigentlichen Morphologie unterlassen, und wollen hier nur kurz zusammenfassen, was in dieser Beziehung in den verschiedenen Klassen des Tierreichs ermittelt worden ist. Die Fähigkeit der intimen Struktur isolierter Bla- stomeren, sich zu einem neuen Ganzen zu regulieren, ist in höchstem Grade entwickelt bei den Eiern aller Echinodermen, Medusen, Nemertinen, des Amphioxus, der Fische und in einer Klasse der Amphibien, der Urodelen. Diese regulative Fähigkeit ist dagegen fakultativ bei der anderen Klasse der Amphibien, den Anuren, und sie scheint nur teilweise entwickelt zu sein oder ganz zu fehlen bei den Ctenophoren, Ascidien, Anneliden und Mollusken. Sonderheiten der Organisation spezifischer Teile des Protoplasmas andererseits haben sich in zahlreicheren Fällen herausgestellt, als man anfangs vermutet hatte ; sie existieren sogar im Echinodermenei, wie Versuche der letzten Jahre gezeigt haben; selbst hier gibt es am vege- tativen Pol des Eies eine Art von Spezifikation des Protoplasmabaues, welche freilich einer gewissen Art von Regulation fähig ist; dasselbe gilt von Medusen, Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 73 Nemertinen usw.; aber unter Mollusken, Ascidien und Anneliden ist überhaupt noch keine Regulation hinsichtlich der spezifischen Organisation ihrer Keime während der Furchung aufgefunden worden. Die Unterschiede im Grade der Regulationsfähigkeit der intimen Keimstruktur lassen sich ohne Schwierigkeit auf einfache Differenzen in der physikalischen Konsistenz ihres Plasmas zurückführen1). Aber alle Verschiedenheiten bezüglich der besonderen Organisation des Protoplasmas müssen zunächst bleiben, was sie sind; es wird eine der Hauptaufgaben der alsbald zu entwickelnden analytischen Theorie der Formbildung sein, diese Unterschiede auf eine gemeinsame Quelle zurückzuführen. Daß ein solches Bemühen wohl nicht ohne Erfolg sein wird, ist schon, meine ich, auf Grund der bloßen Tat- sache wahrscheinlich, daß Unterschiede in der spezifischen Keimespräformation in keiner Weise mit der systematischen Stellung der Tiere, welche sie aufweisen, zusammenfallen; denn würde es schon seltsam sein, wenn es zwei total verschiedene Arten von Formbildung gäbe, so wäre es doch noch viel seltsamer, wenn es Differenzen in der Form- bildung gäbe, welche in durchaus keiner Beziehung zur systematischen Verwandtschaft ständen, wenn also die Formbildung der Ctenophoren fundamental und nicht nur scheinbar von derjenigen der Medusen, und wenn die Form- bildung des Amphioxus wirklich grundlegend von der- jenigen der Ascidien abweichen würde. Einige neue Ergebnisse der Restitutionslehre. Wir könnten nun dieses Kapitel, das sich in der Haupt- sache mit der Widerlegung einer gewissen Klasse onto- gene tisch er Theorien beschäftigt hat und daher vorwiegend negativen Charakters war, hier abschließen, wäre es nicht *) Es verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung, daß in gewissen Fällen das Protoplasma von Keimesteilen sich viel regu- labler in frühen Stadien, wenn es sehr flüssig, als später, wenn es starrer ist. erwiesen hat. 74 Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. angebracht, dem Gesagten wenigstens einige Worte über die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiete der morpho- gene tischen Restitutionen des Erwachsenen beizufügen. Wir wissen, daß Weis mann seinen Begriff ,, Reserve- plasma" für das Wenige, was er über ,, Restitutionen" wußte, geschaffen hat. Er kannte von allen Wieder- herstellungsarten verlorener Teile nur die echte Regeneration im Tierreich und die Bildung adventiver Knospen im Pflanzenreich. Diesen beiden Phänomenen ist gemeinsam, daß sie in jedem Falle von typisch lokalisierten Orten des Körpers ihren Ursprung nehmen; wenn immer sie geschehen, wird einem bestimmten wohldefinierten Orte des Körpers die Wiederherstellung der verloren gegangenen Teile aufgebürdet. Zur Erklärung solcher Fälle nun war Weismanns Hypothese, logisch wenigstens, ganz geeignet. Gegenwärtig aber kennen wir, wie wir bald des Eingehenderen darstellen werden, gewisse sehr weit ver- breitete Formen der Restitution, bei denen das, was für die Wiederherstellung des Verlorenen zu geschehen hat, durchaus nicht einem typischen Teil des Körpers in jedem Falle aufgebürdet ist, bei denen vielmehr das Ganze der morphologischen Leistung, welche geschehen soll, in seinen einzelnen Teilen den einzelnen Teilen des Körpers, der sich zu reparieren hat, übertragen ist; jeder dieser Teile hat eine individuelle Rolle im Prozesse der Restitution zu übernehmen, indem er eine sogenannte ,,Umdifferenzierung" leistet, und diese Rolle variiert mit der relativen Lage jedes Teils in jedem Fall. Später werden diese Ausführungen verständlicher erscheinen als gegenwärtig, und dann wird es auch klar werden, daß wir völlig berechtigt sind, am Ende unserer Kritik der Ansichten Weismanns unsere Meinung kurz dahin zusammenzufassen, daß wir sagen, es sei seine Theorie der Restitutionen nicht richtiger gewesen als seine Theorie der Entwicklung. Und nun wollen wir zu positiven Leistungen übergehen. Wir wollen versuchen die Umrisse dessen zu entwickeln, was man eine analytische Theorie der Form- Grundlagen der Entwicklungsphysiologie. 75 b i 1 d u n g nennen könnte ; wir wollen mit anderen Worten die Summe unserer Kenntnis über die organische Form- bildung darlegen, wie sie durch das Experiment und die logische Analyse gewonnen worden ist, und wir wollen das tun in der Form eines wirklichen Systems, in welchem jeder Teil seine bestimmte Stelle einnehmen und in be- stimmter Beziehung zu jedem anderen Teil stehen wird. Unsere analytischen Studien werden uns reiche Gelegenheit geben zur Erwähnung vieler wichtiger Punkte der sogenannten allgemeinen Physiologie mit nur loser Beziehung auf Form- bildung als solche. Aber Formbildung soll immer das Zentrum und der Ausgangspunkt unserer Analyse bleiben. Da ich selbst als Zoologe an unseren Gegenstand herantrete, so wird die tierische Formbildung wie bisher den Haupt- gegenstand unserer Untersuchung bilden. 2. Analytische Theorie der Forinbilduiig1). et) Die Verteilung der morphogenetischen Potenzen. Prospektive Bedeutung und prospektive Potenz. Bereits Wilhelm Roux erkannte aufs klarste, daß die Frage nach Ort und Zeit aller morphogenetischen Beziehungen gelöst sein müsse, ehe ein wirklich kausales Problem in Angriff genommen werden könne. Von diesem Standpunkt aus unternahm er seine fundamentalen Versuche. Nur im Ausdruck weichen wir von Roux's Ansichten ab, wenn wir es vorziehen, unser einleitendes Kapitel eine Analysis der Verteilung der morphogenetischen „ Potenzen" zu nennen. Unser Resultat wird freilich erheblich von dem abweichen, was Roux als ein künftiges Resultat unserer neuen Wissenschaft erhoffte. Beginnen wir mit der Darlegung zweier fundamentaler Begriffe: Angenommen, wir haben hier einen bestimmten Embryo in einem bestimmten Stadium der Entwicklung vor uns, beispielsweise eine Blastula, oder eine Gastrula, oder irgend eine Larve, dann können wir irgend ein bestimmtes Element irgend eines bestimmten Elementar- organs dieses Keimes mit Rücksicht auf das studieren, was *) Vgl. meine Analytische Theorie der organischen Entwicklung, Leipzig 1894, und meine Berichte in Ergeb. d. Anat. und Ent- wicklungsgesetz Bd. 8, 11, 14, 17, 1899—1908. Ein kürzerer Bericht findet sich in Ergeb. d. Physiol. Bd. V, 1906. Die Literatur ist in diesen Berichten vollständig angegeben. Analytische Theorie der Formbildung. 77 tatsächlich aus diesem Elemente, in diesem tatsächlichen Entwicklungs verlauf, mag er ungestört bleiben oder ge- stört werden, hervorgehen wird. Es ist sozusagen das wirkliche Schicksal unseres Elementes, auf das wir unser Augenmerk richten. Ich habe vorgeschlagen, dieses wirkliche Schicksal eines jedes embryonalen Teiles in diesem bestimmten Ablaufe der Formbildung seine prospektive Bedeutung zu nennen. Das funda- mentale Problem des ersten Kapitels unserer analytischen Theorie der Entwicklung kann nun formuliert werden, wie folgt : Ist die prospektive Bedeutung eines jeden Elementes eines beliebigen Stadiums der Morphogenesis konstant, d. h. ist sie unveränderlich, kann sie nur eine sein; oder ist sie veränderlich, kann sie je nach verschiedenen Umständen wechseln ? Zunächst führen wir einen zweiten Begriff ein: den Begriff der prospektiven Potenz jedes embryonalen Elementes. Der Begriff prospektive morphogenetische Potenz soll das möglicheSchicksal jedes Elementes bezeichnen. Mit Hilfe unserer zwei Kunstbegriffe sind wir nun in der Lage, unsere einleitende Frage noch schärfer zu formulieren : Wird die prospektive Potenz eines embryo- nalen Teiles vollständig in seiner in einem gegebenen Falle realisierten prospektiven Bedeutung offenbart, ist sie so- zusagen identisch mit dieser; oder enthält die prospektive Potenz eines Elementes mehr, als seine prospektive Be- deutung in einem bestimmten Falle erkennen läßt? Aus unserer historischen Skizze wissen wir bereits, daß das Letztere der Fall ist: daß, wenigstens in vielen Fällen, das wirkliche Schicksal eines Teiles nicht mit seinem mög- lichen Schicksale identisch zu sein braucht; daß z. B. die Potenz der 4 ersten Blastomeren des Seeigels einen viel weiteren Bereich hat, als in den Leistungen jedes dieser Ele- mente in einem bestimmten entwicklungsgeschichtlichen Verlaufe zutage tritt. Ein embryonaler Teil enthält also mehr morphogenetische Möglichkeiten, als ein bestimmter morphogenetischer Ablauf enthüllt. 78 Analytische Theorie der Formbildung. Da der bedeutsamste besondere morphogenetische Ablauf der sogenannte „normale" ist, können wir unsere Formel auch mit Beziehung auf diesen folgendermaßen aus- sprechen: es liegen mehr morphogenetische Möglichkeiten in einem embryonalen Teil, als uns die Beobachtung der normalen Entwicklung enthüllen kann. Auf diese Weise haben wir gleichzeitig die Anwendung des analytischen morphogenetischen Experiments gerechtfertigt und seine wichtigsten Resultate ausgesprochen. Da nun bereits die einleitenden Versuche über Entwicklungsmechanik gezeigt haben, daß, wenigstens in gewissen Fällen, die prospektive Potenz embryonaler Teile ihre prospektive Bedeutung über- treffen, daß sie verschieden von ihr sein kann, so stellt sich der Begriff der prospektiven Potenz gleich im Beginne unserer Studien in das Zentrum des analytischen Interesses und läßt dem Begriff der prospektiven Bedeutung nur die zweite Stelle. Denn daß jeder embryonale Teil tatsächlich eine bestimmte prospektive Bedeutung, ein spezifisches wirk- liches Schicksal in jedem Einzelfalle von Formbildung be- sitzt, ist selbstverständlich und sagt nicht mehr aus, als daß es eben morphogenetische Abläufe gibt. Daß aber die prospektive Bedeutung der Elemente wechseln kann, daß die Elemente eine morphogenetische Fähigkeit besitzen, welche über das Aktuelle hinausgeht, mit anderen Worten, daß der Begriff prospektive Potenz nicht nur ein logisches, sondern auch ein faktisches Interesse hat — alle diese Aus- sagen bedeuten nicht nur die Feststellung der wichtigsten einleitenden Ergebnisse, sondern auch die Aufrollung aller wahren Probleme der Formenphysiologie. Wenn an jedem Punkte des Keimes etwas anderes ent- stehen kann, als dasjenige, welches wirklich in diesem Falle hier entsteht, warum geschieht denn in jedem einzelnen Falle gerade das, was geschieht und nichts anderes? Mit diesen Worten stellen wir in der Tat das wichtigste Problem unserer Wissenschaft auf, das wichtigste wenigstens, nach- dem die fundamentale Superiorität der prospektiven Potenz über die prospektive Bedeutung bereits erkannt ist. Analytische Theorie der Formbildung. 79 Wir können also unser erstes Problem kurz als die Frage nach der Verteilung der prospektiven morphogenetischen Potenzen im Keim for- mulieren. Dieses allgemeine Problem schließt noch eine Reihe anderer ein: Bis zu welchem Stadium hin existiert eine gleiche Verteilung der Potenzen auf alle Elemente des Keimes, wenn es überhaupt eine solche gibt ? Und was sind die Beziehungen zwischen Teilen von verschiedener Potenz, sobald eine gleiche Potenzverteilung von einem ge- wissen Stadium an nicht mehr da ist? Wie andererseits verhält sich eine neu aufgetretene mehr spezialisierte Art von Potenz zu der allgemeinen ursprünglichen Potenz, und wie steht es mit der Verteilung der mehr spezialisierten Art ? Ich weiß wohl, daß alle diese Fragen Ihnen zunächst ein wenig formal und gewissermaßen akademisch erscheinen werden; wir werden nicht unterlassen, jeder derselben eine sehr konkrete Bedeutung beizulegen. Die Potenzen der Blastomeren. Zunächst blicken wir auf die von uns geschilderten Versuche am Ei des Seeigels zurück, das uns der Typus eines sehr jungen Keimes sein soll. Wir wissen bereits, daß jede seiner beiden oder seiner vier ersten Furchungszellen und daß drei seiner vier ersten Blastomeren zusammen einen ganzen Organismus liefern können. Wir können jetzt hinzu- fügen, daß die schwimmende Blastula, welche aus etwa 1000 Zellen besteht, wenn man sie beliebig in zwei Teile zerschneidet und nur darauf achtet, daß die Schnittebene durch die polare Axe hindurchgeht oder ihr wenigstens nahe liegt, zwei vollständige ausgebildete Organismen aus den so entstandenen Teilen liefern kann *). Wir können x) Wenn die Schnittebene dem Äquator des Keimes nahe liegt, entstehen ebenfalls zwei Larven, aber meistens entwickelt sich dann die „animale" Hälfte nicht über die Blastula hinaus. Besonder- heiten der protoplasmatischen Organisation kommen hier in Betracht. Vgl. auch S. 64 Anm. 1. 30 Analytische Theorie der Formbildung. dieses Resultat folgendermaßen formulieren: Die prospek- tive Potenz der einzelnen Zellen der Blastula von Echinus ist für alle dieselbe; ihre prospektive Bedeutung ist weit davon entfernt, konstant zu sein. Aber wir können noch etwas mehr sagen: Was tat- sächlich in einem bestimmten Falle der Entwicklung in jeder Blastulazelle geschehen wird, hängt von der Lage eben dieser Zelle im Ganzen ab, wenn wir das ,, Ganze" zu einem festen System von Koordinaten in Beziehung setzen ; oder kürzer : die prospektive Bedeutung jeder Bla- stulazelle ist eine Funktion ihrer Lage im Ganzen. Frühere Erfahrungen haben mich gelehrt, daß der eben ausgesprochene Satz einiger erläuternder Worte bedarf. Das Wort ,, Funktion" ist hier in sehr allgemeinem, mathe- matischem Sinne angewendet und soll nur ausdrücken, daß die prospektive Bedeutung, das wirkliche Schicksal einer Zelle, wechselt, sobald ihre Lage im Ganzen eine andere wird1). Das ,, Ganze" kann dabei auf drei Achsen bezogen werden, die man beliebig durch das normale ungestörte Ei legt; sobald man annimmt, daß eine primäre Polarität und Bilateralität im Keim existiert, werden natürlich diejenigen Achsen, welche eben diese Symmetrie bestimmen, am be- quemsten als Koordinaten gewählt; aber notwendig ist das nicht. Die Potenzen von Eleinentarorganen im allgemeinen. Ehe wir uns der Betrachtung anderer junger Keime zuwenden, halte ich es für zweckmäßig, zunächst einen Ver- such zu schildern, welcher an einem späteren Stadium unseres wohlbekannten Seeigels ausgeführt worden ist. Dieser Versuch wird uns unschwer zu einigen weiteren Begriffen x) Eine Veränderung der Lage der Zelle wird natürlich durch jede Variation in der Schnittrichtung hervorgerufen, und diese ist durchaus zufällig. Analytische Theorie der Formbildung. 81 führen, die wir später gebrauchen werden, und er wird uns andererseits als Erklärungsbasis für einige Resultate dienen, welche aus der Untersuchung jüngster Keime einiger anderer Spezies von Tieren gewonnen wurden, und welche sich sonst nur schwer in das einfügen lassen möchten, was unser Echinus uns gelehrt hat. Sie wissen, wie die Gastrula unseres Seeigels beschaffen ist. Wenn Sie nun die Gastrula in zwei Teile zerschneiden, nachdem sie sich vollständig ausgebildet hat, oder noch besser, wenn Sie eine solche Operation an der Gustrula des Seesterns ausführen, entweder in Richtung der Achse oder senkrecht zu ihr, so erhalten sie vollständige kleine Orga- nismen aus den so hergestellten Teilen; dieselben besitzen ihr Ektoderm und ihr Endoderm in typischer Ausbildung; alles ist zueinander proportional an ihnen und nur kleiner als im Normalen. So haben wir denn also das wichtige Resultat gewonnen, daß wie in der Blastula so auch im Ektoderm und im Endoderm vom Echinus oder vom Seestern die prospektiven Potenzen für alle Elemente gleich sind: sowohl im Ektoderm wie im Endoderm ist die pro- spektive Bedeutung jeder Zelle eine ,, Funktion ihrer Lage" (Fig. 9). Aber noch ein weiteres Experiment ist an der Gastrula ausgeführt worden. Wenn man in dem Augenblicke, in welchem das Material für den künftigen Darm bereits aufs deutlichste im Blast oderm markiert, aber noch nicht in Form einer Röhre eingewachsen ist, wenn man in diesem Augenblick die obere Hälfte der Larve von der unteren durch einen äquatorialen Schnitt abtrennt, so erhält man eine vollständige Larve nur von demjenigen Teil, welcher die Anlage des Endoderms besitzt, während der andere Teil zwar ebenfalls in seiner Entwicklung fortschreitet, aber nur ektodermale Organe bildet. Und durch einen anderen Versuch, den wir hier nicht eingehend schildern können, hat sich zeigen lassen, daß auch das isolierte Endoderm nur zur Bildung solcher Organe befähigt ist, welche normaler- weise von ihm abstammen. Driesch, Philosophie. I. 6 Figur 9. Der Seestern, Asterias. ax Normale Gastrula; wurde in Richtung der Hauptachse oder rechtwinklig zu ihr (siehe punktierte Linien) durchschnitten. — 02 Normale Bipinnaria- Larve. — bl Kleine, aber ganze Gastrula, aus den Teilen der zerschnittenen ursprünglichen Gastrula regulatorisch hervorgegangen. — fc2 Kleine, aber ganze Bipinnaria, aus ^ entwickelt. Analytische Theorie der Formbildung. 83 So können wir denn also unsere beiden letzten Resultate in die Worte zusammenfassen: Obwohl die Potenzen des Ektoderms und die des Endoderms gleichmäßig auf alle Elemente verteilt sind, besitzen doch Ektoderm und Endo- derm im Vergleich zu einander verschiedene Potenzen. Diese Beziehungen scheinen für alle Elementarorgane zu gelten: alle Elementarorgane sind „äquipotentiell", wie wir sagen wollen, in sich selbst, haben aber verschiedene Po- tenzen im Vergleich zu einander. Explizite und implizite Potenzen. Primäre nnd sekundäre Potenzen. Zunächst wollen wir nun unseren Begriff der prospek- tiven Potenz mit Hilfe der neu gewonnenen Kenntnis etwas weiter zergliedern. Es folgt aus unseren Ausführungen, daß die prospek- tiven Potenzen von Ektoderm und von Endoderm, ja von allen Elementarorganen, verschieden sind, sowohl unter- einander, wie auch im Vergleich zum Blast oder m, von dem sie ihren Ursprung nahmen. Aber die potentielle Ver- schiedenheit des Endoderms mit Bezug auf das Ektoderm ist nicht von derselben Art wie seine Verschiedenheit in Bezug auf das Blastoderm. Die Potenz des Endoderms und die- jenige des Ektoderms sind beide in typischer Weise speziali- siert; aber wenn sie mit der Potenz des Blastoderms ver- glichen werden, müssen sie nicht nur spezialisiert, sondern auch beschränkt genannt werden : die Potenz des Blastoderms umfaßt das Ganze, die Potenzen der so- genannten Keimblätter umfassen nur einen Teil des Ganzen ; und diese Art der Beschränktheit wird immer deutlicher, je weiter die Ontogenie fortschreitet: die „ultimären" Elementarorgane besitzen schließlich gar keine prospek- tive Potenz mehr. Einige neue Ausdrücke werden uns noch etwas schärfer zu formulieren erlauben, was hier vorliegt. Mit Rücksicht auf diejenige Formenbildung, welche unmittelbar 6* 84 Analytische Theorie der Formbildung. vom Blastoderm ausgeht, ist natürlich die Potenz des- selben ebenso beschränkt, wie die Potenzen der Keim- blätter es sind; wir wollen diese Art der unmittelbaren Potenz explizit nennen. Dann sehen wir sofort ein, daß bezüglich ihrer expliziten Potenz nur Verschieden- heiten unter den prospektiven Potenzen der Elementar- organe existieren; aber mit Rücksicht auf die implizite Potenz, d. h. mit Rücksicht auf ihre Potenz, soweit sie die Fähigkeiten aller ihrer Abkömmlinge mit umfaßt, weisen die Elementarorgane nicht nur Verschiedenheiten, sondern wahre morphogene tische Beschränkungen im Vergleich zur Potenz des Blastoderms auf, und diese Beschränkungen erreichen einen um so höheren Grad, je weiter eine Ontogenie in ihrem Verlaufe fortgeschritten ist. Nun werden freilich diejenigen von Ihnen, welche mit den morphogenetischen Tatsachen vertraut sind, mir sagen, daß doch das, was wir über die potentiellen Be- schränkungen in der Ontogenie hier ausgeführt haben, nicht ganz richtig sei, und Sie werden mir entgegnen, daß ich die Tatsachen der Regeneration, der adventiven Knospung usw. übersehen hätte. Ganz gewiß sind Sie damit im Recht; aber ich werde doch nichts von dem Gesagten zurücknehmen, ich werde nur noch weitere neue Begriffe einführen. Wir haben es nämlich gegenwärtig nur mit primären Potenzen zu tun, d. h. mit Potenzen, welche die Basis der eigentlichen Embryologie bilden, nicht mit solchen Potenzen, welche dazu dienen, Störungen der Organisation auszugleichen. Ereilich haben auch wir in gewisser Hinsicht die Entwicklung unseres Seeigeleies ,, gestört", schon allein um sie studieren zu können. Denn es wäre ja unmöglich gewesen, sie zu studieren ohne irgend eine Art von Störung, ohne irgend eine Art von Operation. Aber dennoch sind keine Potenzen von dem- jenigen Typus, den wir den sekundären oder restitutiven Typus nennen wollen, durch unsere Operationen geweckt worden; alles was geschah, geschah auf den normalen Bahnen der Formbildung. Freilich trat eine gewisse Art Analytische Theorie der Formbildung. 85 von Regulation ein, aber doch nur eine solche, welche in die Faktoren der eigentlichen Ontogenie einbeschlossen war. Wir werden später eingehender und von allgemeinerem Standpunkte aus dieses sehr wichtige Faktum der ,, primären Regulation" in ihrem Gegensatz zur sekundären Regulation studieren. Fürs erste muß es genügen zu sagen, daß wir bei unserem Begriffe der Beschränktheit der impliziten Formbildungspotenzen nur primäre Potenzen im Auge hatten, welche eben in sich gewisse regulative Charakter- züge bergen. Die morphogenetische Bedeutung der Reifung. Wir wollen uns nun wieder konkreteren Dingen zu- wenden und zunächst versuchen mit Hülfe der über die Potenzen des Blastoderms und der Keimblätter von Echinus gewonnenen Kenntnisse einige ziemlich komplizierte Resultate zu verstehen, welche das experimentelle Studium anderer tierischer Formen ermittelt hat. Wir wissen aus unserer historischen Skizze, daß es einige sehr wichtige Abweichungen von dem Keimestypus, welchen Echinus repräsentiert, d. h. von dem Typus mit gleichförmiger Verteilung der Potenzen auf alle Blastomeren, gibt. Wir wissen, daß nicht nur in Fällen, wo eine Regulation der intimen Struktur des Protoplasmas ausbleibt, eine Bruch- stückentwicklung isolierter Zellen statthat, sondern daß gelegentlich auch typische Furchungszellen in typischer Weise zur Bildung ganz bestimmter Organe disponiert sind, bei Ausschluß jeder Regulationsfähigkeit1). Erörtern wir zuerst den letzten Fall, für welchen das Ei der Mollusken ein gutes Beispiel ist. Hier gibt es keine gleiche Verteilung der Potenzen; die Furchungszellen *) Der Leser wird sich erinnern, daß selbst der Keim von Echinus in Richtung seiner Achse nicht ganz äquipotentiell ist, obwohl er in striktestem Sinne äquipotentiell um die Achse herum ist. Die Eier gewisser Medusen scheinen in jeder Beziehung äqui- potentiell zu sein, selbst während ihrer späteren Eurchungsstadien. 86 Analytische Theorie der Formbildung. dieses Keimes sind bezüglich ihrer morphogenetischen Fähigkeit eine Art von wahrem „Mosaik". Muß dieser Unterschied zwischen dem Keim der Echinodermen und demjenigen der Mollusken bestehen bleiben; kann er nicht irgendwie aufgeklärt werden? Könnte er es nicht, dann würden in der Tat sehr merkwürdige Differenzen zwischen den Keimen verschiedener Tiere vorliegen, wenigstens mit Hinblick auf den Grad der Spezifikation ihrer Furchungs- zellen; und wenn wir Verschiedenheiten zwischen den Blastomeren auf die Organisation des befruchteten und zur Furchung bereiten Eies beziehen wollten, könnten wir von Differenzen in der morphogenetischen Organisation des Eiprotoplasmas sprechen: einige Eier würden am allerersten Anfang der Morphogenese viel typischer spezi- fiziert sein als andere. Bereits in den ersten Jahren entwicklungsmechanischer Arbeit hob ich hervor, man dürfe nie vergessen, daß doch das Ei selbst das Ergebnis von Formbildungsprozessen sei. Wenn also wirklich mosaikartige Spezifikationen bei einigen Eiern zu Beginn der Furchung oder während derselben vorliegen, dann möge es doch vielleicht ein früheres Stadium in der individuellen Geschichte dieser Eier gegeben haben, welches noch nicht solche Spezifikationen der morphogenetischen Struktur besaß. Zwei amerikanische Forscher haben das Verdienst, diese Hypothese bewiesen zu haben. C o n k 1 i n zeigte vor einigen Jahren, daß gewisse intrazelluläre Wanderungen und Umordnungen von Material während der ersten Stadien der Eibildung stattfinden; E. B. W i 1 s o n *) aber verdankt die Wissenschaft eine wirklich definitive Aufhellung des ganzen Problemes. Die Forschungen Wilsons, aus- geführt nicht nur in deskriptiver Weise, sondern mit Hilfe des analytischen Experiments, führten ihn zu der bedeut- samen Entdeckung, daß die Eier gewisser Formen (Nemer- tinen, Mollusken) zwar nach der Reifung den Mosaik- 1) Journ. exp. zool. I, 1904. Analytische Theorie der Formbildung. 87 typus in der Spezifikation ihres Protoplasmas, in geringerem oder höherem Grade, aufweisen, daß sie aber vor der Reifung keine oder doch nur eine ganz geringe Spar von Spezifikation in der Verteilung ihrer Potenzen bekunden. Das Molluskenei besitzt zwar einen gewissen Grad von plasmatischer Spezifikation vor der Reifung, aber nichts, was der Spezifikation nach derselben zu vergleichen wäre; und das Ei der Nemertinen besitzt im unreifen Stadium überhaupt keine Spezifikation. Die Reifung wird so geradezu zu einem Teil der Onto- genesie , nicht erst mit der Befruchtung beginnt die Morpho- genese ; es gibt eine Art von Ontogenie vor der Befruchtung. In diese Worte lassen sich Wilsons Ergebnisse zusammenfassen. Wenn wir sie nun mit den allgemeinen Resultaten über die Potenzen der Blastula und Gastrula des Echinus vergleichen, so gestatten sie uns, gewisse Phänomene, welche anfangs Unterschiede des Grades oder sogar der Art der Spezifikation des Eiprotoplasmas zu sein schienen, auf bloße Differenzen in der Zeit des Beginnes der eigentlichen Ontogenie zurückzuführen: Was bei der einen Gruppe von Eiern, z. B. bei denen von Echinus, zur Zeit der definitiven Bildung der Keimblätter geschieht und zur Spezifikation und Beschränktheit ihrer prospektiven Potenzen führt, das kann bei der anderen Gruppe von Eiern viel früher geschehen. Aber es gibt in jeder Gruppe von Eiern ein frühestes Stadium, auf welchem alle Teile seines Protoplasmas mit Rücksicht auf ihre Potenzen gleich sind, und auf welchem es keine poten- tiellen Verschiedenheiten oder Beschränktheiten irgend eine Art gibt. Soviel über Verschiedenheiten in der eigentlichen materiellen Organisation des Keimes und über ihre Be- deutung für Inäquipotentialitäten der Furchungszellen *). *) Nur mit großer Vorsicht können Befunde von spezifischen, auffallend gefärbten oder konstruierten Teilen des Keimes morpho- genetisch gedeutet werden; verschiedene Färbung oder verschiedener gg Analytische Theorie der Formbildung. Weiteres über die Intimsstruktnr des Protoplasmas. Wir wissen bereits, daß die Unfähigkeit einer Regulation der intimen polar-bilateralen Struktur des Protoplasmas für alle diejenigen Fälle verantwortlich gemacht werden kann, in denen isolierte Blastomeren eine Halb- oder eine Viertelentwicklung hefern. Da diese Unfähigkeit zur Re- gulation wahrscheinlich auf ziemlich einfachen physikalischen Umständen beruht1), so sind wir wohl berechtigt zu sagen, daß eine gleichmäßige Verteilung der Potenzen hier nicht eigentlich fehlt, sondern nur gewissermaßen maskiert ist. In dieser Beziehung liegt eine sehr wichtige logische Differenz vor, einerseits zwischen solchen Fällen von sogenannter „partialer" oder besser ,, fragmentaler" Entwicklung iso- lierter Blastomeren, bei welchen ein bestimmtes embryonales Organ deshalb fehlt, weil das für dasselbe bestimmte morphogenetische Material nicht vorhanden ist, und anderer- seits solchen, bei denen der Fragmentembryo ganzer Hälften oder Viertel, bezüglich seiner allgemeinen Symmetrie, entbehrt, weil die Symmetrie seiner intimen Struktur in irregulabler Weise gestört war. Dieser wichtige logische Unterschied hat nicht immer die Beachtung erfahren, die ihm unzweifelhaft gebührt. Natürlich ist auch unsere hypothetische intime Struktur ihrerseits selbst wieder ein Resultat von Faktoren, welche bei der Eibildung tätig sind. Nur in einem Falle wissen wir etwas Tatsächliches über ihren Ursprung : R o u x konnte zeigen, daß im Froschei der zufällige Weg, den das befruchtende Spermatozoon nimmt, in Verbindung mit Bau kann eine verschiedene morphogenetische Bedeutung nach sich ziehen, aber es braucht nicht so zu sein; die letzte Entscheidung liegt immer beim Experiment (vgl. Lyon, Arch. f. Entw.-Mech. 23, 1907, und Morgan, Science N. S. 28, 1908). :) Es scheint, daß diese physikalischen Umstände vor und nach der Keifung oder, in anderen Fällen, der Befruchtung verschieden sein können (vgl. Driesch, Arch. f. Entw.-Mech. VII, S. 98 und Brächet, ebenda, XXII, S. 325). Analytische Theorie der Formbildung. 89 der Eiaxe, normalerweise die Medianebene bestimmt; aber die Symmetrie kann hier durch eine andere ersetzt werden, wenn man die Schwerkraft in abnormer Richtung auf das Protoplasma wirken läßt; das Protoplasma besitzt hier nämlich, wie bei allen Amphibieneiern, Teile von spezifi- schem verschiedenen Gewicht. Der neutrale Charakter des Begriffs Potenz. Wir können jetzt unser ziemlich langes Kapitel über die Verteilung der Potenzen im Keim beschließen. Es ist lang ausgefallen, weil es für unsere weitere analytische Untersuchung sich als sehr wichtig erweisen wird ; und seine Bedeutung ruht zum großen Teil auf seinem neutralen unvoreingenommenen Charakter. Der Begriff der prospek- tiven Potenz präjudiziert in der Tat gar nichts. Wir haben ja freilich gesagt, daß Beschränktheiten in der Potenz in gewissen Fällen auf der Anwesenheit bestimmter Organi- sationsbestandteile beruhen oder wenigstens damit verknüpft seien ; aber wir haben nichts darüber ausgemacht, was eine prospektive Potenz selbst eigentlich „sei", was der Begriff Potenz eigentlich bedeutet. Man wird vielleicht sagen, daß dadurch unsere Erörterungen in gewisser Beziehung leer geblieben seien, daß sie grade das Wichtigste haben dahingestellt sein lassen. Aber ich glaube doch, daß unsere Art der Analyse, welche die Probleme größter Be- deutung erst nach und nach zu erreichen trachtet, zwar langsam, aber schwerlich falsch und irreleitend genannt werden kann. ß) Die Mittel der Formbildung. Wir gehen jetzt in unserer Analyse weiter und erörtern zunächst ein Gebiet, das man passend die Lehre von den Mitteln der Formbildung nennen kann ; das Wort „Mittel" scheint uns nämlich vor dem üblicheren Ausdruck „Bedingungen" den Vorzug zu verdienen, weil das letztere nicht alle Fälle gleichmäßig deckt. Natürlich 90 Analytische Theorie der Formbildung. soll der Ausdruck „Mittel" hier in ganz unprätentiösem und rein beschreibendem Sinne verstanden werden; was man gewöhnlich ,, Bedingungen" nennt, ist ein Teil der morpho- genetischen Mittel in unserem Sinne. ß') Die inneren elementaren Mittel der Formbildung. Wir wissen bereits, daß alle Formbildung, sei sie typisch oder atypisch, primär oder sekundär, derart verläuft, daß ein morphogenetischer Elementarprozeß dem anderen folgt. Die eigentliche Grundlage dieser Elementarprozesse selbst liegt in den elementarsten Stoffwechselfunktionen des Organismus, soweit dieselben zur Bildung stabiler sichtbarer Produkte führen. Deswegen können diese elementaren Funktionen des Organismus passend innere Mittel der Formbildung genannt werden. Prozesse der Ausscheidung und des Wanderns gehören zu ihnen; die ersteren geschehen mit Hilfe chemischen Umsatzes oder physikalischer Ausfällung, die letzteren mit Hilfe von Änderungen in der Oberflächenspannung. Aber wenig Näheres ist gegenwärtig über diese und ähnliche Dinge bekannt. Wir machen daher keinen Anspruch darauf, ein voll- ständiges System der inneren elementaren Mittel der Form- bildung hier zu entwickeln. Wir wollen nur einige Punkte von besonderem morphogenetischen Interesse aus dem Ganzen auswählen und über jeden dieser Punkte ein paar Worte sagen. Vor allen Dingen aber wollen wir darauf hinweisen, daß die elementaren Mittel der Morphogenese nicht die Morphogenese selbst sind. Schon das Wort „Mittel" sagt das bereits. Es könnte möglich sein, jeden einzelnen Akt der Morphogenese vollständig zu verstehen, und doch von einem Verständnis des Ganzen soweit wie nur möglich entfernt zu sein. Alle Mittel der Formbildung bilden daher nur den allgemeinen Rahmen der Erscheinungen, innerhalb dessen die Morphogenese sich abspielt. Analytische Theorie der Formbildung. 91 Einige Bemerkungen über die Bedeutung der Oberflächen- spannung für die Formbildung. Es gibt einige rein physikalische Phänomene, welche eine besondere Bedeutung für die organische Formbildung besitzen ; sie sind alle mit der sogenannten Kapillarität oder Oberflächenspannung verknüpft. Seifenschaum ist Ihnen allen wohl bekannt, und Sie wissen auch, daß die Seifen- lösung in ihm in dünnen Flächen, welche durch lufthaltige Räume getrennt sind, angeordnet ist. Es ist zuerst von Berthold1) gezeigt worden, daß die Anordnung der Zellen in organischen Geweben demselben Typus folgt, wie die Anordnung der einzelnen Blasen eines Seifen- schaums, und Bütschli2) machte alsdann die Ent- deckung, daß die Struktur des Protoplasmas selbst die eines Schaumes ist. Natürlich bilden nicht eine Flüssig- keit und ein Gas die Konstituenten der Struktur des Organismus, wie bei vielen wohlbekannten anorganischen Schäumen, sondern zwei nicht mischbare Flüssigkeiten. Für alle schaumartigen Anordnungen gilt nun ein all- gemeines Gesetz, das sogenannte Gesetz der kleinsten Flächen, welches besagt, daß die Summe aller vor- handenen Oberflächen bei gegebenen Inhalten ein Minimum ist; und es ist wiederum eine mathematisch ableitbare Folge dieses Gesetzes, daß immer vier Kanten in einem Punkt und drei Flächen in einer Kante zusammentreffen. Das alles, zusammen mit einem gewissen Gesetz über die Beziehung der in einer Kante zusammentreffenden Winkel zur Größe der Blasen, ist nun aufs Klarste in vielen Struk- turen organischer Gewebe realisiert und macht es höchst wahrscheinlich, daß, wenigstens in vielen Fällen, Kapil- larität hier am Werke ist. In anderen Fällen, z. B. bei vielen Pflanzen mag ein Druck von außen, die sogenannte Gewebespannung, für die Anordnung der Elemente in *) Studien über Protoplasmamechanik. Leipzig 1886. 2) Untersuch, über mikroskop. Schäume und das Protoplasma. Leipzig 1892. 92 Analytische Theorie der Fornibildung. Flächen minimae areae verantwortlich sein. Furchungs- stadien sind vielleicht der beste Typus, in dem unser physi- kalisches Gesetz zum Ausdruck gelangt; und zwar liegen hier dann besonders einfache Fälle vor, wenn alle Blastomeren physikalisch von gleicher Art sind, während gewisse Kom- plikationen auftreten, sobald ein Keim eine spezifiziertere Organisation und daher Verschiedenheiten im Protoplasma seiner einzelnen Blastomeren aufweist. In solchen Fällen können wir dann sagen, daß das physikalische Gesetz gilt, soweit es die Bedingungen des Systems gestatten; diese Bedingungen bestehen also meist in einer gewissen Art von Anomogeneität der Oberflächen. Aus den Untersuchungen von Dreyer1) scheint hervorzugehen, daß die Bildung organischer Skelette ebenfalls von der physikalisch bedingten Anordnung protoplasmatischer oder zelliger Elemente beherrscht wird, und gewisse Phänomene der Wanderung und der Umordnung von Furchungszellen, wie sie von Roux beschrieben sind, gehören wohl auch hierher. Aber vergessen wir nicht, daß die Gesetze der Ober- flächenspannung uns in allen diesen Fällen nurdenall- gemeinen Typus einer Anordnung der Elemente liefern, weiter nichts. Ein physikalisches Gesetz kann nie für das Spezifische verantwortlich sein. Über das Spezifische also besagt Kapillarität gar nichts. Da die organische Substanz, in vielen Fällen wenigstens, flüssigen Charakters ist, so muß sie natürlich den allgemeinen Ge- setzen der Hydrostatik und Hydrodynamik folgen; aber das Leben selbst wird durch den flüssigen oder schaum- artigen Charakter der organischen Substanz so wenig berührt, wie es durch die Tatsache berührt wird, daß die lebenden Körper ein bestimmtes Gewicht und eine bestimmte Masse haben. In der Tat kann alles, was wir hier ausführten, im weitesten Sinne des Wortes dem angegliedert werden, was l) Jenaische Ztschr. 26, 1892. Analytische Theorie der Formbildung. 93 Roux als Massenkorrelation zusammengefaßt hat, wenn auch dieser Autor ursprünglich bei seiner Be- nennung nur an gewisse Arten passiven Druckes und passiver Deformation zwischen embryonalen Teilen dachte, wie sie namentlich von H i s entdeckt worden sind. Wir müssen überhaupt sehr vorsichtig sein mit der Be- hauptung, daß irgend eine Eigenschaft des Organischen, sei es auch nur in allerallgemeinster Beziehung, durch die Wirkung physikalischer Kräfte „erklärt" sei. Was zuerst als das Resultat mechanischen Druckes erscheint, kann sich später als aktiver Wachstumsvorgang erweisen, und was an- fangs als Effekt der Kapillaritätswirkung unter homogenen Elementen erschien, kann sich später von besonderen Stoff- wechselbedingungen der Oberfläche als abhängig erweisen1). Es gibt noch andere physikalische Faktoren, welche im Dienst der Formbildung stehen; hierher gehört z. B. der osmotische Druck, der bekanntlich auch in vielen rein physio- logischen Vorgängen zur Geltung kommt. Aber alle diese Faktoren sind auch nur Mittel des Organismus und können immer nur den allgemeinen Typus der organischen Ge- schehnisse darstellen. Sie bilden nicht das Leben, sie werden gebraucht vom Lebenden — wobei es zunächst eine offene Frage bleiben mag, was denn das allgemeine Phänomen des „Lebens" eigentlich bedeutet 2). x) Nach zur Strassen geht die früheste Entwicklung von Ascaris fast ausschließlich mit Hilfe von Veränderungen der Zellen- oberfläche vor sich: die allertypischsten .Formbildungsprozesse werden mit Hilfe dieses „Mittels" ausgeführt. Die Embryologie von Ascaris steht überhaupt ganz vereinzelt da und bietet eine Menge ungelöster Probleme. 2) Rhurnbler hat kürzlich eine allgemeine Übersicht über alle Versuche, das Leben und die Eormbildung im besonderen physikalisch- chemisch zu „erklären", veröffentlicht (Aus dem Lücken- gebiet zwischen organismischer und anorganismischer Natur, Ergebn. der Anatomie und Entwicklungsgesch. XV, 1906). Dieser sehr pessimistische Aufsatz ist umso wertvoller, als er von einem über- zeugten „Mechanisten" geschrieben wurde. — Man ziehe auch das wertvolle Werk J. Loebs „Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen" (Leipzig 1906) zu Kate. 94 Analytische Theorie der Formbildung. Wachstum. Unter den inneren morphogenetischen Mitteln, welche von sogenannter physiologischer Art sind, d. h. von denen kein Mensch gegenwärtig behauptet, daß er sie physi- kalisch verstehen könne, nimmt das Wachstum eine be- vorzugte Stelle ein. Analytisch müssen wir sorgfältig unterscheiden zwischen der Größenzunahme der Hohlräume des Organismus, auf Grund einer passiven Ausdehnung ihrer Oberfläche, und dem wirklichen Wachstum der individuellen Zellen, welches seinerseits wieder entweder auf bloßer passiver Ausdehnung oder auf wahrer Assimilation beruhen kann. Osmotischer Druck spielt natürlich sowohl beim Wachstum der Hohl- räume des Körpers wie bei einfacher zellulärer Ausdehnung eine große Rolle. Wir wiederholen, daß wir vorsichtig sein müssen, nicht zuviel durch den Nachweis seiner Beteiligung für erklärt zu halten : es ist der Organismus, welcher, durch die Ausscheidung osmotisch wirkender Substanzen in die Hohlräume des Körpers oder in das Protoplasma der Zellen hinein, erst den Grund für diese Art des Wachstums legt. Das wahre Zellenwachstum, welches unter Vermittlung der Assimilation geschieht, kann natürlich nicht einmal in alier- allgemeinster Weise durch die Annahme osmotischer Wir- kungen verstanden werden. Das ontogenetische Wachstum setzt sowohl bei Tieren wie bei Pflanzen gewöhnlich erst ein, wenn die allgemeinen Linien der Organisation bereits gezogen sind; nur die Bildung der endgültigen histologischen Strukturen geht ihm meistens parallel. Zellteilung. Wir haben bereits manches über die Bedeutung der Zell- teilung für die Ontogenese gesagt : sie begleitet viele Organi- sationsprozesse im Tier- wie im Pflanzenreich. Aber es gibt doch eben auch die Protozoen, bei deren Formbildung sie gar keine Rolle spielt, und andererseits sind neuerdings viele Fälle tierischer Formbildung, meist vom regulatorischen Analytische Theorie der Formbildung. 95 Typus, bekannt geworden, an denen Zellteilung gar nicht oder doch fast gar nicht beteiligt ist. Daher kann Zellteilung nicht der eigentliche Grund der Differenzierung sein, obschon sie in manchen Fällen eine, wie es scheint, notwendige Begleit- erscheinung derselben ist. Es scheint mir, daß unsere Ver- suche an sehr jungen Keimstadien ganz dieselbe Folgerung gestatten. Die Forschungen der letzten Jahre haben aufs aller- deutlichste gezeigt, daß sogar bei Organismen, welche ein sehr hohes Regulations vermögen besitzen, stets die Form als Ganzes, aber nicht die individuellen Zellen, der eigentliche Gegenstand der regulatorischen Vorgänge sind. Ausgehend von gewissen Ergebnissen T. H. M o r g a ns konnte ich ermitteln, daß in allen kleinen, aus isolierten Blastomeren aufgezogenen Ganzlarven die Größe der Zellen die normale bleibt und nur ihre Zahl reduziert wird ; B o v e r i hat andererseits aufs klarste gezeigt, daß es immer die Größe des Kernes, genauer gesprochen die Masse des Chromatines ist, welche bestimmt, wie groß ceteris paribus *) eine Zelle von bestimmtem, histologischem Charakter Werdens oll. Unter solchem Gesichtspunkt erscheint die Zelle hin- wiederum als eine Art von Material, das der Organismus benutzt, wie es ihm dargeboten wird; ebenso wie ja ein Arbeiter die verschiedenartigsten Gebäude mit Steinen von einer gegebenen Größe ausführen kann. ß") Die äußeren Mittel der Formbildung. Wir kennen jetzt die inneren Mittel der Formbildung und wollen uns nun kurz die wichtigsten „äußeren" Mittel oder „Bedingungen" der Organogenese ansehen. Wie der Erwachsene, so bedarf auch der Keim eines be- stimmten Quantums von Wärme und Sauerstoff und, wenn- er in der See lebt, eines bestimmten Salzgehalts des Mediums. Für beide, für den Keim sowohl wie für den Erwachsenen, *) Dieser Zusatz ist nötig, da nach neuesten Forschungen Kern- und Zellgröße von der Temperatur und anderen Faktoren abhängen. 96 Analytische Theorie der Formbildung. existiert nicht nur eine untere, sondern auch eine obere Grenze mit Rücksicht auf alle notwendigen Mediumfaktoren ; derselbe Faktor, welcher von einer gewissen Intensität an die Entwicklung ermöglicht, verhindert dieselbe von einer ge- wissen höheren Intensität an aufwärts. Innerhalb der Grenzen dieses Minimums und dieses Maximums jedes äußeren Agens sehen wir gewöhnlich eine Zunahme der Entwicklungsgeschwindigkeit in Korrespon- denz zu seiner Intensitätszunahme. Die Beschleunigung der Entwicklung durch Wärme erwies sich geradezu als dem Gesetze der Beschleunigung chemischer Prozesse durch eine Zunahme der Temperatur entsprechend; das zeigt wohl, daß gewisse chemische Prozesse die Formbildung begleiten. Fast alles, was über die Holle der äußeren Entwicklungs- bedingungen bekannt geworden ist, hat wenig Beziehung auf das Spezifische der Formbildung und braucht hier daher nicht erwähnt zu werden. Wir wollen aber doch großen Nachdruck auf die allgemeine Tatsache legen, d a ß es eine sehr enge Beziehung zwischen Formbildung und äußeren Faktoren gibt, sonst könnte man uns später sagen, daß wir diese Beziehung übersehen hätten. Alle „äußeren" Mittel oder Bedingungen der Form- bildung können natürlich zu morphogenetischen Prozessen nur dadurch in eigentliche enge Beziehung treten, daß sie in gewisser Weise ,, innere" Mittel werden. Leider wissen wir nicht, wie das geschieht. Wir sind gegenwärtig nur im- stande zu sagen, was für ein Zustand im Medium realisiert sein muß, damit normale Formbildung statthabe; und wir können nur vermuten, daß es auch gewisse besondere innere Bedingungen gibt, welche für die Formbildung unerläßlich sind, mögen sie auch den gegenwärtigen Forschungs- methoden unzugänglich sein 1). x) Man vergleiche die analytischen Erörterungen von Siebs, dem wir eine wichtige Serie von Entdeckungen über morphogenetische „Mittel" in der Botanik verdanken (Willkürl. Entwicklungs- änderungen bei Pflanzen, Jena 1903; Biolog. Zbl. XXIV, 1904; man vgl. auch meine Erwiderung an Klebs, ebenda XXIII, 1903). Analytische Theorie der Formbildung. 97 Die Versuche von Herbst. Es gibt nur wenige Punkte in der Lehre von den äußeren Mitteln oder Bedingungen für die Formbildung, welche eine nähere Beziehung zur spezifischen Form als solcher haben und hier daher ein etwas näheres Eingehen beanspruchen. Alle diese Forschungen, welche fast ausschließlich von Herbst1) ausgeführt sind, beziehen sich auf die Wir- kungen der chemischen Komponenten des Meerwassers auf die Entwicklung des Seeigels. Wenn wir nun hier aus den Ergebnissen von Herbst nur die allerwichtigsten aus- wählen wollen, so müssen wir in erster Linie einiges über die Bedeutung sagen, welche der Kalk nicht nur für die Bildung spezifischer Formcharaktere, insonderheit des Skelettes, sondern für die Ermöglichung in- dividueller Formbildung überhaupt be- sitzt. Herbst hat gefunden, daß in Seewasser ohne Calcium die Furchungszellen, und viele Gewebezellen ebenfalls, vollständig den Kontakt miteinander verlieren: die Furchung geht weiter, nach jeder einzelnen Teilung fallen aber die Elemente auseinander; zum Schluß findet man die 808 Zellen des Keims wimperschlagend beieinander auf dem Boden des Gefäßes liegen. Wahrscheinlich hat das Calcium einen Einfluß auf den physikalischen Zustand der Blastomerenoberflächen. Es ist von Interesse hier einzuschalten, daß diese Ent- deckung von großer Wichtigkeit für die technische Seite aller Versuche mit isolierten Blastomeren geworden ist. Da das Auseinanderfallen der einzelnen Furchungszellen aufhört, sobald die Keime aus dem kalkfreien Seewasser in normales Seewasser zurückgebracht werden, so ist es natürlich möglich, sie bis zu jedem Stadium hin, welches man zu studieren wünscht, zu sondern, sie später aber zusammenzuhalten. Wenn man z. B. die Entwicklung isolierter Zellen des 8-zelligen Stadiums studieren will, so läßt man die Eier in l) Arch. f. Entw. Mech. XVII, 1904. Driesch, Philosophie. I. 98 Analytische Theorie der Formbildung. der künstlichen kalkfreien Mischung bis zur dritten Furchung, welche vom 4- zum 8-Zellenstadium führt. Die acht einzelnen Zellen bringt man dann zurück in normales See- wasser und erhält nun die acht Embryonen, welche man wünscht. Fast alle Forschungen über die Entwicklung isolierter Blastomeren sind seit der Zeit der Entdeckung von Herbst mit seiner Methode ausgeführt worden, und unter Anwendung der alten Schüttelmethode würde es ganz unmöglich gewesen sein, so ins Detail der Untersuchung zu dringen, wie es tatsächlich geschehen ist. Von allen den übrigen sehr zahlreichen Untersuchungen H e r b s t s wollen wir hier nur erwähnen, daß Kalium für das normale Wachsen notwendig ist, wie sich ja dieses Element auch für das Wachstum der Pflanzen als not- wendig erwiesen hat, und daß das Ion S04 oder mit anderen Worten, daß schwefelsaure Salze im Wasser sein müssen, wenn die Keime ihr Pigment und ihre bilaterale Symmetrie erhalten sollen. Das ist ein sehr wichtiges Ergebnis, welches wir leider nur ganz ungenügend verstehen. In Wasser ohne Sulfate behalten in der Tat die Larven von Echinus die radiale Symmetrie, welche sie in ihren allerfrühesten Stadien besaßen, und sie können diese Symmetrie sogar behalten, wenn sie nach 24 stündigem Aufenthalt in der künstlichen Mischung in normales Seewasser zurückgebracht werden. Wir verlassen nun diejenigen Untersuchungen von Herbst, welche sich auf die morphogenetische Funktion der einzelnen Komponenten des normalen Seewassers beziehen und wollen uns mit kurzen Worten einem anderen Zweig seiner Forschungen zuwenden, nämlich denjenigen, welche die formbildenden Wirkungen von Substanzen studieren, die sich normalerweise nicht im Seewasser finden, sondern ihm künstlich zugesetzt worden sind. Auf diesem Gebiet hat Herbst neben vielen anderen Ergebnissen die höchst wichtige Entdeckung gemacht, daß alle Lithium - salze die Entwicklung in fundamentaler Weise beein- Analytische Theorie der Formbildung. 99 flussen1). Ich kann hier nicht in eingehender Weise be- schreiben, wie die sogenannte „ Lithiumlarve" des Echinus entsteht ; ich will nur erwähnen, daß ihr Endoderm sich nach außen, statt nach innen bildet, daß es viel zu groß ist, daß eine kuglige Masse zwischen dem ektodermalen und dem endodermalen Teil des Keims gelagert ist, daß eine radiale Symmetrie an Stelle der normalen Bilateralität auftritt, daß das Skelett fehlt und daß die Mesenchym- zellen völlig abnorm liegen. Alle diese Merkmale nun sind zwar abnorm, aber doch typisch für die Entwicklung im Lithium. Die Larven sind weit davon entfernt einen patho- logischen Eindruck zu machen, und eben deshalb können wir sagen, daß die Lithiumsalze in fundamentaler Weise den ganzen Lauf der Formbildung verändern. Es nimmt diesen Entdeckungen nichts an ihrer Bedeutung, daß sie zurzeit ganz isoliert dastehen : n u r mit Salzen des Lithiums hat Herbst diese merkwürdigen Resultate erhalten, und nur auf die Eier der Seeigel, schon nicht auf diejenigen der Seesterne, wirken Lithiumsalze in dieser Weise. Freilich scheint auch der Froschkeim, obschon in anderer Weise, typisch von Lithiumsalzen affiziert zu werden. r) Die formativen Reize oder Ursachen. Definition der Ursache. Wir können das Studium der ,, Ursachen" der Form- bildung nicht beginnen, ohne einige erklärende Worte über die Terminologie, welche wir anwenden wollen, voraus- zuschicken. Keine einzige unter den Kategorien ist soviel erörtert worden wie die Kausalität; viele moderne Forscher, Physiker zumeist, suchen den Begriff der Ursache überhaupt zu vermeiden, und ihn durch den der funk- tionellen Abhängigkeit, in der mathematischen Bedeutung des Worts, zu ersetzen. Sie glauben durch eine Gleichung alles das vollständig ausdrücken zu können, was man !) Ztschr. wiss. Zool. 55. 1892 und Mitt. Neapel 11, 1893. 7* 100 Analytische Theorie der Formbildung. über irgendwelche Phänomene, die eine konstante Art des Zusammenhanges zeigen, überhaupt aussagen kann. Ich kann mich nicht davon überzeugen, daß ein so beschränkter Gesichtspunkt der richtige ist; er ist sicherlich sehr vorsichtig, aber er ist unvollständig, denn unser Ich besitzt nun einmal den Begriff der wirkenden Ursache und ist gezwungen, nach Anwendungen für ihn in der Natur zu suchen. Andererseits entgeht mir nicht, daß viele Schwierigkeiten oder besser Zweideutigkeiten dem Begriff ,, Ursache" anhaften. Wir können als „Ursache" eines Ereignisses die Gesamt- summe aller Konstellationen von Faktoren bezeichnen, welche erfüllt sein müssen, damit das Ereignis eintritt; in dieser Bedeutung verwendet z. B. der erste Hauptsatz der Energetik unseren Begriff in den Worten ,, causa aequat effectum". Aber wenn wir das Wort Ursache nur in dieser ganz allgemeinen Bedeutung gebrauchen wollen, so berauben wir uns vieler Bequemlichkeiten beim späteren detaillierteren Studium der Natur. Würde es also besser sein zu sagen, daß die „Ursache" eines Ereignisses jene letzte Veränderung sei, welche nach Erfüllung aller für sein Geschehen notwendigen Konstellationen noch eintreten muß, damit das Ereignis wirklich ablaufen kann? Sehen wir zu, was aus einer solchen Anwendung des Wortes Ursache folgen würde. Wir haben hier einen tierischen Keim in einem gewissen Stadium vor uns, z. B. eine Larve von Echinus, welche gerade ihren Darm bilden will; alle inneren Bedingungen sind erfüllt, auch ist eine gewisse bestimmte Temperatur, ein bestimmter Salzgehalt vorhanden, aber das Wasser ist ohne Sauerstoff: der Darm wird dann natürlich nicht einwachsen, aber er wird es tun, sobald wir Sauerstoff in das Wasser eintreten lassen. Ist darum Sauerstoff die „Ursache" der Bildung des Darmes unseres Echinus ? Das würde wohl keiner zugeben wollen. Auf solche Weise könnten in der Tat Temperatur oder Natrium oder was sonst zur Ursache irgend eines beliebigen Formbildungs- Analytische Theorie der Formbildung. 101 prozesses werden. Es hat daher wenig Sinn, den Namen der Ursache demjenigen Agens innerhalb einer für das Eintreten eines Ereignisses notwendigen Konstellation zu geben, welcher zufällig der letzte ist. Aber was sollen wir denn tun? Können wir nicht sagen, daß die Ursache eines morpho- genetischen Prozesses jene typische Eigenschaft oder jener Wechsel ist, von dem ihr spezifischer Charakter abhängt, von dem z. B. die Tatsache abhängt, daß es jetzt eben der Darm ist, welcher auftritt, und ein andermal die Linse des Auges ? Wir könnten das wohl, aber wir haben bereits einen Begriff für diese Art ,, Ursache", welche nämlich nichts anderes ist, als unsere „prospektive Potenz", angewandt auf dasjenige Elementarorgan, von dem aus der neue Prozeß seinen Ursprung nimmt. Die prospektive Potenz ist in der Tat die wahre immanente Ursache jeder Spezifikation einzelner formbildender Prozesse. Wir brauchen aber eben noch mehr als das. Wir können, glaube ich, finden, was wir suchen, wenn wir erwägen, daß jeder einzelne morphogene Elementar- prozeß nicht nur seiner Art nach spezifisch ist, sondern daß er auch eine spezifische und typische örtlichkeit im Ganzen, eine Lokalisation besitzt. So wollen wir denn „Ursache" eines einzelnen Formbildungsprozesses das- jenige Geschehnis nennen, von dem seine Lokalisation abhängt, mag sein besonderer Charakter auch zum Teil von dieser Ursache mit abhängen oder nicht1). Diese Definition der Ursache, den Bedürfnissen der Biologie ausdrücklich angepaßt, mag künstlich erscheinen, auf alle Fälle ist sie klar. Und gleichzeitig erhalten nun die Begriffe der prospektiven Potenz und der Mittel der Formbildung ihre klare endgültige Bedeutung : Potenz ist die eigentliche Basis des spezifischen Charakters jedes *) In einigen Fällen kann die besondere Qualität des in Frage stellenden Formbildungsprozesses ebenfalls von der Ursache ab- hängen, welche ihn lokalisiert, z. B. bei den Gallen der Pflanzen. 202 Analytische Theorie der Formbildung. Formbildungsresultates, und Mittel oder im besonderen Bedingungen heißt die Summe aller derjenigen äußeren und inneren allgemeinen Umstände, welche vor- handen sein müssen, damit Formbildungsprozesse geschehen können, ohne daß sie darum für die Sonderheit oder örtlich- keit der letzteren verantwortlich wären. Es ist in diesen Definitionen der Ursache und der Potenz implizite gesagt, daß unsere „Ursachen" stets den- jenigen Charakterzug haben, den man gewöhnlich als Reiz oder Auslösung bezeichnet. Es gibt kein quantitatives Sichentsprechen zwischen unserer Ursache und ihrem morphogene tischen Ergebnis. Einige Beispiele von formativen und richtenden Keizen. Wiederum ist es Herbst, dem wir nicht nur eine sehr tiefgehende logische Analyse dessen, was er ,,formative und richtende Reize" nennt, sondern auch einige Ent- deckungen auf diesem Gebiete verdanken. Wir können an dieser Stelle natürlich nur einige der wesentlichsten hierhergehörenden Dinge kurz erwähnen1). Im Pflanzenreich ist es schon lange bekannt, daß die Richtung des Lichtes oder der Schwerkraft den Ort der Entstehung von Wurzeln oder Zweigen, oder von anderen Formbildungen bestimmen kann; bei Hydroid- polypen2) wissen wir ebenfalls, daß diese Faktoren eine Rolle als morphogenetische Ursachen spielen, wenn schon das meiste an der typischen Architektur der Polypen- *) Herbst, Über die Bedeutung der Reizphysiologie für die kausale Auffassung von Vorgängen in der tierischen Ontogenese (ßiolog. Zbl. XIV, 1894 und XV, 1895); Formative Reize in der tierischen Ontogenese, Leipzig 1901. Diese Arbeiten sollte jeder studieren, der mit dem Objekt vertraut werden will. Der gegen- wärtige Stand der Wissenschaft ist erörtert in meinen Referaten in den „Ergebnissen der Anatomie u. Entwicklungsgesch." 11, 14 und 17, 1902, 1905 und 1908. 2) Vgl. die wichtigen Aufsätze von J. Loeb, Untersuchungen physiologischer Morphologie der Tiere. Würzburg 1891, 1892. Analytische Theorie der Formbildung. 103 kolonien sicherlich inneren Ursachen verdankt wird, wie ja auch vieles an der Organisation der Pflanzen. Licht und Schwerkraft sind äußere f ormative Reize ; beide sind rein lokalisierend, aber es gibt auch äußere f ormative Reize, von denen nicht nur die örtlichkeit, sondern auch zum Teil die Qualität des Effektes abhängt. Die Pflanzengallen sind die typischsten Formergebnisse solcher Reize; die Potenzen der Pflanze und die besondere Art des Reizes tragen hier gleichermaßen zu ihrer Spezi- fikation bei, denn verschiedene Arten von Gallen können auf einer Art von Blättern entstehen. Für die Formbildung der Tiere sind äußere f ormative Reize so gut wie gar nicht verantwortlich, und man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß dieser Umstand mit der verhältnismäßig weitgehenden Unabhängigkeit der tierischen Funktionen von solchen äußeren Agentien zusammenhängen, welche eine Richtung haben. Aber es gibt viele morphogenetische Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen der Keime, viele innere f ormative Reize im Gebiete tierischer Formbildung. Jeder Teil des Keimes ist ja in gewisser Hinsicht mit Bezug auf jeden anderen ein äußerer, und in der Tat konnte man wohl schon a priori solche formative Beziehungen zwischen den Teilen eines tierischen Embryo erwarten, wenn man alles erwog, was man über die allgemeinen Charakterzüge der frühen Ontogenese weiß: Wenn die Differenzierung nicht nach dem Schema Weismanns verläuft, d. h. wenn sie nicht eine wahre Evolution von innen heraus ist, wie anders als durch wechselseitige Beeinflussung der Teile kann sie dann bedingt sein ? In der Tat : jeder embryonale Teil kann in gewisser Hinsicht als mögliche Ursache morpho- gener Effekte an jedem anderen Teil angesehen werden; hier liegen die eigentlichen Wurzeln der Epigenesis. Heliotropismus und Geotropismus gehören zu den wohlbekannten physiologischen Funktionen der Pflanzen; die Wurzeln beugen sich vom Lichte weg und dem Boden zu, die Zweige verhalten sich gerade umgekehrt. Es ist 104 Analytische Theorie der Formbildung. nun von Herbst vermutet worden, daß solche ,, Richtungs- reize" — die wir als eine Untergruppe der formativen Reize im allgemeinen auffassen wollen — auch für wachsende und wandernde Teile des Embryo in Betracht kommen, indem ihr Wachstum oder ihr Wandern durch den typischen Charakter anderer Teile bestimmt wird, und daß aus solchen Beziehungen wahre formbildende Er- gebnisse resultieren können; eine Art von „Chemotropismus" oder ,, Chemotaxis" mag hier eine große Rolle spielen. Herbst selbst hat einige Fälle von Formbildung erörtert, in denen die Beteiligung von Richtungsreizen sehr wahr- scheinlich ist. Was durch das Experiment bisher bekannt wurde, ist nur wenig: die Mesenchymzellen von Echinus werden in ihren Bewegungen von spezifischen Orten des Ektoderms aus gerichtet, die Pigment zellen im Dottersack des Fisches Fundulus werden von den Blutgefäßen angezogen, und Nerven kann man dazu zwingen, sich in kleine Röhren hineinzuwenden , wenn diese Hirnsubstanz enthalten; natürlich haben nur die beiden ersten Beispiele eine Be- deutung für die typische Formbildung. Der erste Fall eines inneren , Normativen Reizes" im eigentlichen Sinne, d. h. der ursäch- lichen Beziehung eines embryonalen Teiles zu einem anderen, ist von Herbst selbst entdeckt worden. Die Arme des sogenannten Pluteus des Seeigels stehen in formativer Ab- hängigkeit von seinem Skelett: kein Skelett, keine Arme; so viele Skelettanlagen, in abnormen Fällen, so viele Arme ; abnorme Lage des Skeletts, abnorme Lage der Arme. In diesen drei Ergebnissen der Experimente liegt in der Tat der Beweis für die von uns behauptete morphogenetische Beziehung. Der eigentliche Reiz mag in diesem Falle einfache mechanische Berührung oder irgend ein chemischer Einfluß sein; auf alle Fälle existiert eine enge und sehr spezifische Beziehung der Lage des einen Teils des Embryos zur Ent- stehung des anderen. Ähnlich liegen die Dinge in einem anderen Falle, welcher von Herbst auf Grund patho- Analytische Theorie der Formbildung. 105 logischer Daten erschlossen, von Spemann experimentell erwiesen worden ist. Die Linse des Auges gewisser *) Am- phibien bildet sich von der Körperhaut aus als Antwort auf einen formativen Reiz, der von der sogenannten primären Augenblase ausgeht. Wenn diese Augenblase die Haut nicht berührt, so entsteht keine Linse ; und anderer- seits kann die Linse aus durchaus abnormen Teilen der Haut entstehen, wenn diese nach einer Transplantation der Augenblase mit ihr in Berührung kommen. Aber es gibt auch formative Abhängigkeit ganz anderer Art. Wir verdanken Herbst die wichtige Entdeckung, daß die Augen der Krebse, wenn sie abgeschnitten wurden, nur dann in typischer Weise regeneriert werden, wenn das Ganglion opticum vorhanden ist, daß aber eine Antenne an ihrer Stelle entsteht, falls dieses Ganglion mit entfernt war. In diesem Falle muß ein gewisser unbekannter forma- tiver Einfluß, wenn schon nicht auf die Regeneration selbst, so doch auf ihren spezifischen Charakter vorhanden sein. In anderen Fällen sind wir wohl berechtigt, von einem Einflüsse des Nervensystems auf die regenerative Fähig- keit überhaupt zu sprechen. Von Amphibien wird beispiels- weise angegeben, daß sie nach Zerstörungen der nervösen Zusammenhänge weder ihre Beine (G. W o 1 f f ) noch ihren Schwanz (Godlewski) regenerieren. Aber bei anderen Tieren hegt ein solcher Einfluß wieder nicht vor; und bei noch anderen, wie z. B. bei Planarien, ist es gegen- wärtig unzweifelhaft, ob der morphogene tische Einfluß des Nervensystems auf Restitutionsprozesse nicht vielmehr indirekt ist (C h i 1 d). Die Bewegungen des Tieres, welche nach Exstirpation der Ganglien sehr reduziert sind, scheinen hier die wesentlichen Bedingungen für eine gute Restitution zu sein. Natürlich könnte alles, was wir über die Bedeutung spezifischer Stoffe im reifen Ei für spezifisch lokalisierte 2) Nach neueren Untersuchungen eben nicht, wo man anfangs erwartet hatte, aller. ^Qß Analytische Theorie der Formbildung. Differenzierungen gesagt haben, hier noch einmal diskutiert werden, und von unserer intimen polar-bilateralen Struktur des Keimes könnten wir wohl auch sagen, daß sie formative Reize in sich schließe, jedenfalls soweit als die eigentlichen Pole dieser Struktur in Betracht kommen. Das würde uns dann zu einer Erörterung des allgemeinen Problems der „Polarität" und ihrer „Inversion" führen, d. h. zu dem von Pflanzen, vielen Polypen und Würmern wohlbekannten Phänomen, daß morphogenetische Prozesse, namentlich restitutiver Art, in verschiedener Weise ablaufen, je nachdem ihr Ursprungsort das terminale oder das basale Ende einer Axe darstellt, daß aber unter gewissen Umständen auch einmal das Umgekehrte geschehen kann. Aber ein näheres Eingehen auf diese wichtigen Dinge würde uns tiefer und tiefer in die eigentliche Formenphysiologie als solche führen, ohne daß es für unsere künftigen Erörterungen viel Wert hätte. Und so schließen wir denn diesen Abschnitt1) über formative Reize oder Ursachen der Formbildung mit einigen kurzen Bemerkungen über das Problem der Be- stimmung des Geschlechtes, mehr wegen seines faktischen als wegen seines logischen Interesses: nach den neuesten Forschungen scheint die Bestimmung des Geschlechtes 2) von gewissen cytologischen Vorgängen abzuhängen, welche sich *) Eine eingehendere Analyse des Problemes der formativen Reize würde sich nicht nur mit denjenigen Reizen, welche morpho- genetische Prozesse einleiten, sondern auch mit denjenigen, welche die einzelnen Akte der Formbildung beendigen, zu beschäftigen haben. Aber sehr wenig ist hier positiv bekannt, und ich muß daher den Leser auf meine anderen Publikationen verweisen. Ich will hier nur bemerken, daß das Ende jedes einzelnen morpho- genetischen Aktes entweder schon mit seinem Beginne zugleich bestimmt sein, oder daß es eine wahre Beendigung eines Prozesses, der sonst unbegrenzt weiter ablaufen würde, bedeuten kann; im ersten Falle sind gewisse beendigende Faktoren in die eigentliche Natur des morphogenetischen Aktes selbst eingeschlossen. 2) Eine eingehende Darstellung des gegenwärtigen Standes dieser Dinge findet man in Morgans Experimental Zoology. New York 1907. Analytische Theorie der Formbildung. 107 in den allerersten embryonalen Stadien oder sogar vor der eigentlichen Ontogenie abspielen und nicht von eigentlichen formativen Reizen1): es scheint in der Tat, als wenn die Sexualprodukte selbst für das Geschlecht des Individuums, welches aus ihnen hervorgeht, verantwortlich sind, wenn sie hinsichtlich ihres Chromatins differieren 2). b) Die morphogenetischen Harmonien. Wir wenden uns wieder Erörterungen abstrakterer Art zu. Mit gewissen morphogenetischen Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines sich entwickelnden Embryos sind wir bekannt geworden; und wir können sicher sein, daß es sehr viel mehr solcher Wechselwirkungen gibt, als wir gegen- wärtig kennen. Aber andererseits würde es nun doch durchaus unrichtig sein anzunehmen, daß die Entwicklung jedes embryonalen Teiles von der Existenz oder Ent- wicklung jedes anderen abhängt. Im Gegenteil, es ist ein sehr wichtiger und fundamentaler Charakterzug der Form- bildung, daß sie in getrennten Linien verläuft, d. h. in Linien von Vorgängen, welche zwar von einer gemein- samen Wurzel ausgehen können, aber durchaus unabhängig voneinander sind in der Art und Weise ihrer weiteren Differenzierung. R o u x hat zur Bezeichnung dieser a) Aber andererseits gibt es viele formative Beziehungen zwischen den eigentlichen Sexualorganen und den sogenannten sekundären Sexualcharakteren. Herbst (1. c. 1901) hat alles, was über diesen Gegenstand bekannt ist, analytisch erörtert; die Tat- sachen liegen viel komplizierter, als man gewöhnlich annimmt und erlauben eine kurze Darstellung nicht. Vgl. auch Foges, Pflüg. Arch. 93, 1902 und Nußbaum, Anat. Anz. 29, 1906. 2) In gewissen Fällen (z. B. bei Dinophilus und gewissen Arthropoden) scheinen die Sexualzellen fest als männchen- oder weibchenerzeugende bestimmt zu sein (Wilson, Journ. Exp. Zool. II u. III, 1905/06), während in anderen, z. B. bei Amphibien, der Zustand der Reife oder der Überreife das Geschlecht des künftigen Organismus zu bestimmen scheint (R. Hertwig, Verh. D. Zool. Ges. 1905—07; dagegen aber H. D. King, Biol. Bull. 16, 1909). 108 Analytische Theorie der Formbildung. Phänomene den Ausdruck „Selbstdifferenzierung" geprägt, und wir geben zu, daß dieser Ausdruck seinem Zweck entspricht, wenn man nur festhält, daß seine Bedeutung stets relativ und daß sie negativ ist. Angenommen, ein Teil A zeige das Phänomen der Selbstdifferenzierung, so bedeutet das, daß die weitere Entwicklung von A nicht von gewissen anderen Teilen, B, C und D abhängt; es be- deutet aber nicht, daß A nicht selbst zur Zeit seines ersten Auftretens irgendwie formativ abhängig gewesen ist von gewissen anderen Teilen E oder F ; und es bedeutet auch nicht, daß gar keine forma- tiven Beziehungen zwischen den Teilen von A selbst be- stehen. Wir sind z. B. zu der Be- hauptung berechtigt, daß das Ektoderm des Echinus Selbst- differenzierung mit Bezug auf sein Endoderm zeige; es erhält, wie experimentell be- wiesen ist, seinen Mund sogar dann, wenn ein Darm gar nicht vorhanden ist (Fig. 10) ; aber Ektoderm und Endo- derm sind darum doch beide formativ abhängig von der intimen und der materiellen Organisation des Blasto- derms. Es scheint weiter nach neueren Untersuchungen, als wenn die Nerven und die Muskeln der Wirbeltiere voneinander in ihrer Differenzierung unabhängig seien; ihr Schicksal ist eben bereits durch formative Vorgänge in den allerersten Stadien bestimmt. Das Phänomen der Selbstdifferenzierung, richtig ver- standen, kann uns nun zur Entdeckung eines sehr wichtigen Charakterzuges aller Entwicklung dienen. Wenn es wirklich Selbstdifferenzierung in ihren verschiedenen Formen im Figur 10. Pluteus-Larve von Sphaerachinus. Durch Erhöhung der Temperatur ist der Darm (i) veranlaßt worden, sich nach außen anstatt nach innen zu bilden; der Mund (r) befindet sich aber an richtiger Stelle. S = Skelett. Analytische Theorie der Formbildung. 109 Laufe der Ontogenie gibt, und wenn doch andererseits, trotz dieser relativen morphogenetischen Unabhängigkeit der Teile des Embryo voneinander, der resultierende Organismus seiner Organisation nach ein Ganzes ist, dann sind wir berechtigt zu sagen, daß eine Harmonie der Konstellation eine fundamentale Eigenschaft aller Bildung individueller Eorm ist. Indem wir den Begriff dieser Harmonie aufstellen, liefern wir nur eine exakte Be- schreibung von dem, was geschieht: die Harmonie zeigt sich darin, daß ein ganzer Organismus den Abschluß der Entwicklung bildet, trotz der relativen Unabhängigkeit der zu ihm führenden Prozesse. Aber wir können noch eine andere Art von Harmonie in der Morphogenese entdecken, wenn wir die allgemeinen Be- dingungen der formativen Reizbeziehungen selbst analy- sieren. Damit diese Reizbeziehungen in richtiger Weise realisiert werden können, muß die Möglichkeit garantiert sein, daß die formativen Reize oder Ursachen immer etwas finden, auf das sie wirken können, und daß diejenigen Teile, welche die Potenzen für das nächste ontogenetische Stadium enthalten, immer die richtigen Reize empfangen, nämlich die, welche eben ihre Potenzen wachrufen: sonst würde es überhaupt keine typische Formbildung geben können. Diese zweite Art harmonischer Beziehungen in der Ontogenie wollen wir Kausalharmonie nennen ; dieses Wort ist nur ein Ausdruck für die stets realisierten Wirkungs- beziehungen zwischen formativen Ursachen und Ursachen- empfängern. Das Wort Funktionalharmonie kann uns schließlich ein Ausdruck für die Einheit und das Ineinander- greifen der organischen Funktionen sein. Und so können wir denn schließlich sagen, daß wir aus unserem analytischen Studium der Entwicklung bis zu diesem Punkte hin als letztes Resultat die Einsicht in die Tatsache einer drei- fachen Harmonie der individuellen Formbildung gewonnen haben. 1\Q Analytische Theorie der Formbildung. €) Über Restitutionen1). Hier verlassen wir nun für eine Zeit lang das analytische Studium der eigentlichen Ontogenie, denn wir dürfen nicht vergessen, daß typische Ontogenie nicht die einzige Form ist, in welcher Formbildung sich darstellen kann : die organische Form ist fähig, Störungen ihrer Organisation wieder herzu- stellen, und es ist daher, neben anderem, sicherlich eine der wichtigsten Aufgaben der analytischen Theorie der Form, die Reize aufzudecken, welche restitutive Prozesse auslösen. Offenbar würde es nur heißen, ein Problem in anderer Form ausdrücken, wenn wir hier ohne weiteres die Störung der Organisation als Ursache ihrer Wiederherstellung be- zeichnen wollten. Und es gibt auch noch einige andere Probleme, die der Restitutionslehre eigentümlich sind. Einige Bemerkungen über sekundäre Potenzen und über sekundäre morphogenetische Regulationen im allgemeinen. Nur kurz haben wir früher erwähnt, daß es viele Arten von Potenzen des sogenannten sekundären oder wahrhaft restitutiven Typus gibt, und daß ihre Verteilung im Organismus sehr verschiedener Art und ganz unab- hängig von derjenigen der Potenzen für die primären Prozesse der Ontogenesis sein kann. Zunächst wollen wir nun dem Gesagten einige weitere Worte über den Begriff der sekundären Restitution und über die allgemeine Ver- teilung der sekundären Potenzen beifügen. Primäre ontogene tische Prozesse, auf primären Po- tenzen begründet, kömien Regulations- und im besonderen Restitutionsprozesse einschließen: so z. B. wenn Bruchstücke der Blastula den ganzen Organismus liefern, oder wenn die Mesenchymzellen des Echinus ihre normalen Orte auf Grund einer Anziehung seitens spezifischer Lokali- täten des Ektodermes auch dann erreichen, wenn ihnen x) Driesch, Die organischen Regulationen, Leipzig 1901 Morgan, Regeneration, New York 1901. Analytische Theorie der Forrobildung. U2 experimentell sehr abnorme Ausgangsorte aufgezwungen worden sind. In diesen Fällen sprechen wir von primären Regu- lationen oder Restitutionen: Störungen werden hier durch die eigentliche Natur des in Rede stehenden Prozesses selbst ausgeglichen. Wir sprechen nun andererseits von sekundären Restitutionen, sobald eine Störung der Organisation berichtigt wird durch Prozesse, welche dem Bereiche des Normalen fremd sind; und derartige abnorme Prozesse geschehen auf Grund der Aktivierung von Po- tenzen, welche in der eigentlichen Ontogenie latent bleiben. Wir wissen bereits, daß eine gewisse Art von sekundärer Restitution, welche den theoretischen Anschauungen Weismanns fundamental widerspricht, kürzlich ent- deckt wurde; der Restitutionsprozeß wird hier nicht von einem bestimmten Teile der zerstörten Organisation, sondern von allen ihren Elementen zusammen ausgeführt. Das Problem der Verteilung der sekundären Potenzen in diesen Fällen von sogenannter „Umdifferenzierung" soll aber unserem nächsten Kapitel vorbehalten bleiben. In allen anderen Fällen gehen die restitutiven Prozesse von spezifischen Lokalitäten aus. Wenn sie vom Orte der Wunde, die durch die Störung gesetzt ward, ausgehen,, sprechen wir von Regeneration; geschehen sie in ge- wissem Abstand von der Wunde, so reden wir von adven- tiven Prozessen. Außer den genannten drei Typen restitutiver Prozesse gibt es nun auch noch einen vierten, die Kompen- sation, dessen einfachster Fall die sogenannte kom- pensatorische Hypertrophie ist. Diese liegt z. B. vor, wenn von einem Paar von Organen das eine, z. B. die eine Niere, größer wird nach Entfernung der anderen. Aber es gibt auch eine wahre kompensatorische Differen- zierung in den Fällen der sogenannten Hypertypie, wie sie zuerst von Przibram und später von Zeleny studiert wurde. Hier zeigen die beiden Organe eines Paares, 112 Analytische Theorie der Formbildung. z. B. die beiden Scheren eines Krebses, einen verschiedenen Ausbildungsgrad. Wenn nun das weiter ausgebildete Organ entfernt wird, nimmt das weniger ausgebildete dessen Form an. Ähnliche Fälle, die vielleicht als kompensatorische „Heterotypie" bezeichnet werden könnten, sind bei Pflanzen bekannt, bei denen sie sich freilich nur auf das wirkliche Schicksal undifferenzierter Anlagen beziehen: ein Blatt kann sich hier z. B. aus der Anlage einer Schuppe bilden, wenn alle Blätter entfernt sind. Endlich mag, wenigstens bei Pflanzen, auch eine regula- torisch veränderte Reizbarkeit, des sogenannten Geo- tropismus z. B., in gewissen Fällen dazu dienen, andere entnommene Teile wiederherzustellen. Bei zweien dieser allgemeinen Typen der Restitution, bei der eigentlichen Regeneration und bei der Produktion von Adventiven, sind die zugrunde liegenden Potenzen komplex. Es ist nämlich eine komplizierte Reihe von Ereignissen, eine Art von Morphogenesis für sich, für welche die Potenz verantwortlich sein muß, wenn z. B. ein Wurm seinen Kopf durch Regeneration neu bildet, oder wenn eine Pflanze einen ganzen Zweig in der Form einer adventiven Knospe wiederherstellt. In einem späteren Teil unserer Untersuchungen werden wir die besonderen Probleme erörtern, welche uns die Verteilung der komplexen Potenzen darbieten. Jede sekundäre Restitution ist, ganz wie die Ontogenie, ein Prozeß der Formbildung, und so treten denn auch alle Fragen nach den formativen Reizen und nach den inneren und äußeren Bedingungen und Mitteln der Formbildung hier wieder auf. Natürlich können wir uns aber in diese Probleme nicht noch einmal vertiefen, und so wollen wir denn nur sagen, daß, zumal bei der eigentlichen Regeneration, der spezifische Typus der restitutiven Bildung eines Teils von seinem ontogenetischen Bildungstypus erheblich abweichen kann: das Ende ist beide Male dasselbe, aber der Weg kann in jeder Beziehung fundamental ver- schieden sein. Analytische Theorie der Formbildung. H3 Der Restitutionsreiz *). Wir wenden uns nun der wichtigen Frage zu : Wolches ist der eigentliche Reiz 2), welcher Restitutionsprozesse aus- löst; oder mit anderen Worten: was muß geschehen sein, damit eine Restitution eintritt? Daß die Operation etwa bloß dadurch, daß sie mecha- nische Wachstumshindernisse entfernt, der wahre Re- stitutionsreiz sei, wird ohne weiteres durch alle solchen Restitutionen widerlegt, welche nicht vom Orte derWunde aus geschehen. Wenn wir aber einmal einen engeren Standpunkt ein- nehmen und nur die eigentliche, von der Wunde aus geschehene echte Regeneration in Betracht ziehen wollen, so könnten wir zunächst vielleicht doch geneigt sein, uns der Lehre, daß die Entfernung von mechanischen Hindernissen in der Tat der Reiz des Restitutionsprozesses sei, anzu- schließen; aber auch dann würde die Frage auftreten: Warum geschieht immer gerade das, was nötig ist ? Warum geschieht nicht bloß ein Wachsen, sondern ein spezi- fisches Wachsen, ein Wachsen, das von Differen- zierung begleitet ist % Dafür wäre die Entfernung eines Hindernisses doch wohl nicht der zureichende Grund; es sei denn, daß wir jedem Element des Organismus nur die Fähigkeit zu einer einzigen scharf fixierten Restitutions- leistung zuschreiben würden, was aber den Tatsachen widersprechen würde. Der Restitutionsreiz muß offenbar *) Der Gegenstand ist eingehender behandelt in meiner Rede zur Eröffnung der Sektion für exp. Zoologie auf dem VII. internat. Zoologen-Kongreß in Boston, 1907: „The stimuli of Restitutions". Deutsche erweiterte Ausgabe „Der Restitutionsreiz", Leipzig 1908. 2) Das Problem des Reizes einer sekundären Restitution als Ganzes darf nicht verwechselt werden mit der sehr verschieden- artigen Frage, was denn die einzelnen formativen Reize sind, die bei der Ausführung eines restitutiven Aktes in Frage kommen. Mit Bezug auf Restitution als Ganzes können diese einzelnen formativen Reize geradezu den „inneren Mitteln", im weitesten Sinne des Wortes, zugerechnet werden. Driesch, Philosophie. I. 8 2X4 Analytische Theorie der Formbildung. mehr als ein bloßer Anstoß sein; wir kommen darauf noch zurück. Aber natürlich machen, wie gesagt, alle Fälle von Restitution, welche nicht von der Wunde aus geschehen, die ,, Hindernis "theorie schon an und für sich ganz unmöglich1). Aber was ist denn nun der Restitutionsreiz ? Es gibt eine andere ziemlich einfache Theorie der Auslösung von Restitutionen2), welche von den Phänomenen der kom- pensatorischen Hypertrophie und von einigen Beob- achtungen an Pflanzen ausgeht. Die Entfernung gewisser Teile des Organismus, so wird gesagt, bringt andere seiner Teile unter bessere Ernährungsbedingungen und daher werden diese Teile, zumal wenn sie von gleicher Art sind, größer. Geben wir für einen Augenblick zu, daß diese Ansicht für solche Fälle möglich sei, in denen die eine eines Paares von Drüsen nach Entfernung der anderen größer wird oder in denen das Abschneiden fast aller Blätter eines Baumes den verbleibenden Rest größer werden läßt, so muß sie doch ganz und gar versagen angesichts der Tatsache, daß in anderen Fällen eben doch neue Bildungen entstehen, um den entfernten Teil zu ersetzen, oder daß dieser letztere in echter Weise regeneriert wird. Denn die bloß quantitativen Verschiedenheiten in der Zusammen- setzung des Blutes oder des ernährenden Saftes bei Pflanzen können nie den zureichenden Grund angeben für die außer- ordentlich typische und qualitative Struktur neu ent- stehender Restitution. Und nun ist es sogar für die ein- fachsten Fälle einer bloßen Größenzunahme von Teilen, d. h. für die einfachsten Fälle sogenannter kompensatorischer x) T. H. Morgan hat die treffende Bemerkung gemacht, daß im Anfange jeder Regeneration ein „Hindernis" ja gerade neu ge- schaffen wird, nämlich durch den Prozeß der Wundheilung, und daß die eigentliche Restitution diesem letzteren erst folgt. 2) Nur beiläufig erwähne ich hier die noch einfachere, nur auf eigentliche Regeneration scheinbar anwendbare Lehre, daß die Existenz einer „Wunde" als solcher, d. h. einer nach dem Medium zu offenen Oberfläche, den Restitutionsreiz darstelle. Sie wird von denselben Gegengründen getroffen wie die Hindernistheorie. Analytische Theorie der Formbildung. 115 Hypertrophie1) zweifelhaft, wenn nicht sogar sehr unwahr- scheinlich, daß die Kompensation hier in solcher rein passiven Weise zustande kommt; denn wir wissen, daß gerade das Wachstum junger Teile es ist, welches die Nah- rung zu sich heranzieht: zuerst ist Differenzierung und Wachsen da und aus diesem folgt erst ein Wechsel in der Richtung der Ernährungsströme. Der Prozeß echter Regeneration, der am Orte der Wunde beginnt, ist, wie Morgan gezeigt hat, sogar be- züglich der Geschwindigkeit seines Ablaufes ganz unabhängig davon, ob ein Tier ernährt wird oder hungert. Es könnte kaum einen besseren Beweis für die fundamentale Tatsache geben, daß Ernährung der Restitution assistiert, aber sie nicht irgendwie auslöst2). Aber trotz allem hegt eine gewisse Wahrheit darin, die ernährenden Säfte der Tiere und Pflanzen als in irgend einer Weise mit dem Restitutionsreiz verknüpft anzusehen; freilich dürfen wir eine solche Hypothese nur in dieser sehr vorsichtigen Form aufstellen. Sowohl für Tiere wie für Pflanzen ist gezeigt worden, daß ihre restitutiven Form- bildungsprozesse auch dann ausgelöst werden können, wenn die Teile, welche jetzt ,, restituiert" werden sollen, gar nicht wirklich entfernt worden sind; dieser Fall hegt vor bei der sogenannten Superregeneration der Glied- maßen und des Schwanzes der Amphibien, des Kopfes der Planarien, der Wurzeispitze der Pflanzen und gelegentlich sonst. In allen diesen Fällen ist eine Störung der Ver- bindung gewisser Teile mit dem Rest des Organismus der Grund der Neubildung gewesen. Das zeigt aber, daß i) Daß kompensatorische Hypertrophie nicht auf der von uns später zu analysierenden funktionellen Anpassung beruhen kann, ist durch einen Versuch Ribberts bewiesen worden. Kompen- sation kann nämlich vor allem Funktionieren eintreten, wie für den Fall der Milchdrüsen von Kaninchen gezeigt wurde (Arch. f. Entw. Mech. I. 1894, p. 79). 2) Zu einer gegebenen Zeit ist nur die absolute Größe der regenerierten Teile größer, wenn ein Tier ernährt wird, als wenn es hungert, ihr Differenzierungsgrad bleibt aber unverändert. 8* 116 Analytische Theorie der Formbildung. ein Faktor, welcher mit der Kommunikation der Teile unter einander zusammenhängt, bei der Auslösung der Restitution irgendwie beteiligt sein muß. Jene Kom- munikation selbst mag entweder durch unbekannte Leistungen bestimmter Gewebe oder durch die Säfte ver- mittelt sein; worin ihre am Restitutionsreiz beteiligte Ver- änderung oder Zerstörung besteht, ist leider durchaus un- bekannt. Man könnte vermuten, daß jeder Teil des Or- ganismus beständig eine gewisse Art von Fermenten zu den Körperflüssigkeiten außerhalb und innerhalb der Zellen beisteuert, daß die Entfernung irgend eines Körperteils die Zusammensetzung dieser Flüssigkeiten irgendwie ändert, und daß eben diese Änderung dazu dient, die resti- tuierenden Teile des Ganzen zu ihrer Pflicht aufzurufen1). x) Eine gute Erörterung der Superregeneration bei Pflanzen- wurzeln findet sich bei Nemec, Studien über die Regeneration, Berlin 1905. Göbel und Winkler ist es gelungen, die „Restitution" von Teilen hervorzurufen, welche nicht entfernt, sondern nur in ihrer Funktion gestört waren; es waren z. B. die Blätter gewisser Pflanzen eingegipst. (Biol. Cbl. XXII. 1902, S. 385; Ber. botan. Ges. XX. 1902, S. 81.) — Ein schönes Experiment ist von Mi ehe ausgeführt worden. Er unterwarf die Alge Cladophora der Plasmo- lyse; jede Zelle derselben bildete dann eine eigene Membran, um ihre verkleinerte Protoplasmamasse herum; dann wurden die Pflanzen in ein Medium normalen osmotischen Druckes zurückgebracht und nun wuchs jede einzelne Zelle in eine kleine Pflanze aus. Durch diesen Versuch scheinen zwei Fragen ihre Erledigung zu finden: Aufheben der Kommunikation ist von fundamentaler Wichtigkeit für die Restitution, die Entfernung mechanischer Hindernisse anderer- seits hat keine Bedeutung für sie, denn die mechanischen Wider- stände waren zu Ende des Versuches dieselben wie zu Anfang (Ber. bot. Ges. XXIII. 1905 S. 257). Eine eingehende Analyse aller Probleme dieses Kapitels findet sich in meinen organischen Regulationen, meinen Referaten in den „Ergebn. der Anat. u. Entw. Gesch." Bd. VIII, XI, XIV, XVII und in meiner Bostoner Rede. Vgl. auch Fitting, Ergebn. d. Physiol. Bd. IV u. V. Die sogenannte „innere Sekretion" wie sie aus der Physiologie bekannt ist, bietet zu allem hier Ausgeführten eine gute Analogie. Vgl. die ausgezeichnete Übersicht von E. Starling, Berichte der 78. Naturforsch.-Vers. Stuttgart 1906. Analytische Theorie der Formbildung. 117 Aber ich sehe wohl, daß auch diese Theorie nur wenig befriedigt; denn das, was bei einer Restitution geleistet werden muß, ist in jedem Falle nicht ein einfacher homo- gener Akt, für den ein spezifisches Material in Betracht kommen könnte, sondern eine in sich sehr komplizierte Leistung. Dies übersehen zu haben, war zum Beispiel der Fehler der Theorie der ,, organbildenden Stoffe" von Sachs. So ist denn alles, was wir über die wahren Restitutions- reize wissen, weit davon entfernt, auf solidem Grunde zu ruhen ; bewegen wir uns doch hier auf dem unsicheren Felde des allerneuesten Zweiges der Formenphysiologie. Ohne Zweifel wird unser Problem einmal gelöst werden, und bei dieser Lösung wird sicherlich der Begriff des ,, Ganzen" der Organisation eine Rolle dabei spielen. Aber wie das geschehen wird, wissen wir noch nicht. Zwei Dinge wird eine künftige vollständige Theorie des Restitutionsreizes sicherlich nicht vergessen dürfen: Einmal die Tatsache, daß bei jedem der verschiedenen Typen der Restitution, bei der Umdifferenzierung sowohl, wie bei der Adventivbildung, Kompensation und Regene- ration, die restituierenden Körperelemente nicht nur das leisten können, was sie eben in diesem Falle leisten, sondern daß sie auch zu anderen Leistungen die Fähigkeit haben würden, falls diese nötig wären. Warum denn leisten sie gerade das, was sie leisten ? Der Grund für das Spe- zifische ihrer aktuellen Leistung in diesem Falle hier muß offenbar im Restitutionsreize selbst liegen — und eben deshalb ist dieser kein ,,Reiz" im strengsten Sinne, d. h. keine „Auslösung"; der Restitutionsreiz muß, um einen erst später einzuführenden Ausdruck vorwegzunehmen, irgendwie „individualisiert", d. h. in irgend einem Sinne ein „Ganzes" sein. Aber — und damit kommen wir zum zweiten Punkte, dessen sich eine Theorie des Restitutions- reizes stets erinnern muß — wie kann er das sein ? Offenbar nicht einmal dadurch, daß er eine homogene Mischung — geschweige denn eine einzige in sich gleich- förmige Substanz — ist. Er muß in sich selbst Ordnung 1\Q Analytische Theorie der Formbildung. tragen. Eben wie das möglich sein kann, wissen wir auf diesem Gebiete der Forschung heute noch gar nicht ; hätte jeder Formreize empfangende und auf sie mit spe- zifischer Formleistung reagierende Teil des Körpers „Sinnesorgane" — dann würden wir es vielleicht verstehen. Zum erstenmal ist hier, wenigstens hypothetisch, der Begriff des Ganzen in unseren Erörterungen aufgetreten, wenn wir nicht vielleicht sagen wollen, daß wir ihm, in gleichsam verkappter Form, bereits bei unserer Entdeckung der dreifachen ontogenetischen Harmonie begegnet sind. So wollen wir denn sehen, ob wir dieses selbe Problem, das Problem des „Ganzen", vielleicht noch anderswo an- treffen, und dann vielleicht in noch deutlicherer und weniger hypothetischer Form. Wir wollen also prüfen, ob unsere analytische Theorie der Entwicklung wirklich so vollständig gewesen ist, wie sie zu sein schien, ob es keine Lücken in ihr gibt, die wir noch auszufüllen haben. 3. Das Problem der morphogenetischen Lokallsation. Die Theorie des hannoniscn-äcpiipotentiellen Systems. Erster Beweis der Autonomie des Lebens. Wir sind im Zentrum des ersten Teiles dieser Vor- lesungen angelangt; wir werden in diesem Kapitel eine Frage zu entscheiden haben, welche dem Leben seinen Platz in der Natur und der Biologie ihren Platz im System der Wissenschaften anweisen soll. Wir wollen einen der Grundsteine legen, auf denen unsere künftige Philosophie des Organischen ruhen wird. Das allgemeine Problem. Unsere analytische Theorie der Formbildung ruhte auf drei elementaren Begriffen: prospektive Potenz, Mittel und formativer Reiz. Ihr wesentlicher Gegenstand war es, zu zeigen, daß sich alle Formenbildung in die Phänomene, welche durch diese drei Begriffe bezeichnet werden, auf- lösen läßt ; mit anderen Worten, daß das Wesen der Morpho- genese einzig und allein durch den Inhalt dieser drei Be- griffe bestimmt wird. Haben wir nun wirklich dieses Ziel erreicht, haben wir nichts übersehen, konnten wir wirklich jedes morphogenetische Ereignis, wenigstens in allgemeinen Zügen, mit Hilfe der Begriffe ,, Potenz", „Mittel" und , Normativer Reiz" erklären? Alle diese Fragen führen uns zu weiteren Erwägungen. Vielleicht werden diese Er- wägungen uns zu einem sehr klaren und einfachen Re- sultate führen, indem sie uns zeigen, daß sich die Form- 120 Problem der morphogenetischen Lokalisation. bildung in der Tat in unserer schematischen Weise auf- fassen läßt. Aber wie, wenn die Antwort negativ ausfallen würde? Was würde das bedeuten ? Würde eine vollständige Auflösung der Fornibildung in eine Reihe einzelner formativer Geschehnisse, deren jedes mit Hilfe von Mitteln und auf der Basis gegebener Potenzen zustande käme, gelingen, dann dürften wir vielleicht an- nehmen, daß freilich nicht jetzt, aber doch in der Zukunft noch eine andere Art von Analyse möglich sei: nämlich die Auflösung der organischen Formbildung in die elemen- taren Faktoren des Anorganischen. Der Organismus würde sich alsdann als eine Maschine erweisen, nicht nur seinen Funktionen, sondern auch seinem Ursprünge nach. Aber wie, wenn selbst jene vorläufige Analyse, welche die notwendige Voraussetzung des eben geschilderten hypo- thetischen letzten Resultats ist, nicht gelingt? Gehen wir also an die Arbeit. Untersuchen wir so sorgfältig wie möglich denjenigen Punkt, welcher gewisser- maßen das Wesen unseres Begriffes des ,,formativen Reizes" oder der „Ursache" ausmacht — die Lokalisation aller Formbildung. Können wir wirklich immer einen einzelnen, spezifischen, formativen Reiz für die typische Lokalisation jedes morphogenetischen Effektes angeben? Sicherlich nicht jetzt, werden Sie mir antworten. Aber meine Frage lautet: haben wir irgendeine Garantie dafür, daß solches wenigstens im Prinzip möglich ist; oder liegen etwa die Dinge so, daß jenes wissenschaftliche Ziel bereits heute als für alle Zukunft unmöglich erscheinen muß ? Das morphogenetische ,, System". Wir wissen aus unseren Versuchen, daß bei den meisten ontogenetischen Elementarorganen ein und dieselbe pro- spektive Potenz gleichmäßig auf alle Elemente verteilt ist. Wenn wir nun der Mechanik einen sehr bequemen Aus- druck entnehmen und jeden Teil eines Organismus, welcher Problem der morphogenetischen Lokalisation. 121 vom morphogenetischen Standpunkt aus als Einheit be- trachtet werden kann, ein morphogenetisches „ System" nennen, dann können wir unsere Erkenntnis in die Worte zusammenfassen, daß das Blastoderm der Echinodermen, wenigstens um die Achse herum, und daß auch z. B. die Keimblätter dieser Tiere „ Systeme" sind, welche eine gleiche Potentialität in allen ihren Elementen besitzen, kurz : äquipotentielle Systeme. Aber dieser Ausdruck würde dem Charakter unserer Systeme noch nicht ganz gerecht werden. Später werden wir sorgfältiger als zuvor die Ver- teilung derjenigen Potenzen studieren, welche die Grund- lage der eigentlichen Regeneration und des adventiven Wachstums sind, und dann werden wir sehen, daß es z. B. bei höheren Pflanzen ein gewisses „System" gibt, welches das eigentliche Organ der Restitutionen bei ihnen ist, und welches ebenfalls in jedem seiner Elemente dieselbe resti- tutive Potenz besitzt; ich denke hier an das wohlbekannte Cambium. Dieses Cambium ist also auch ein „äquipoten- tielles System". Aber wir wissen bereits, daß seine Potenzen vom komplexen Typus sind, daß sie ein Ausdruck der Möglichkeit sind, das Ganze einer so komplizierten Or- ganisation, wie sie ein Zweig oder eine Wurzel besitzt, zu liefern, und daß der Ausdruck „äquipotentielles System" hier nur bedeuten soll, daß eben diese komplizierte Einheit aus jeder Zelle des Cambiums hervorgehen kann. Die Potenzen, welche wir von der Blastula und Gastrula der Echinodermen her kennen, sind nicht komplex. Unsere Systeme sind vielmehr in dem Sinne äquipotentiell, daß jedes ihrer Elemente jede einzelne Rolle in der Gesamtheit dessen spielen kann, was im ganzen System geschieht ; auf diese einzelne Rolle bezieht sich unser Ausdruck: „Funktion der Lage". Wir können daher unsere Systeme äquipotentielle Systeme mit einzelnen Potenzen, oder kürzer „singulär-äquipotentielle Systeme" nennen. Aber auch diese Bezeichnung wird den Tatsachen noch nicht ganz gerecht. Es ist nicht nur die Einfachheit ihrer 122 Problem der morphogenetischen Lokalisation. Potenzen, welche die morphogenetische Rolle unserer Systeme kennzeichnet, sondern viel wichtiger für die Form- bildung sind zwei andere Hauptresultate unserer experi- mentellen Untersuchungen. Der einzelne Akt, den jedes Element in jedem Falle vollführt, ist in der Tat ein einzelner, aber die Potenz jedes Elements als solche ist nicht ein- deutig1), sondern besteht in der Möglichkeit vieler, ja un- bestimmt vieler einzelner Akte. Wir könnten also unsere Systeme als „unbeschränkt-äquipotentiell" bezeichnen, wäre nicht noch ein anderer Name aus einem gewissen Grunde geeigneter für sie. In der Tat sind in allen unseren Systemen unbeschränkt viele Einzelpotenzen während der Entwicklung am Werke: aber die Summe dessen, was in jedem einzelnen Falle aus der Summe der einzelnen, von den einzelnen äquipotentiellen Zellen vollführten Akte hervorgeht, ist nicht eine bloße ,, Summe", sondern eine Einheit; d. h. es gibt in jedem Falle eine Art von Harmonie unter den wirklichen Endprodukten unseres Systems. Unsere Systeme sollen daher „harmonisch -äquipoten- tielle Systeme" heißen. Wir werden nun zunächst daran gehen, aufs Gründ- lichste zu untersuchen, was es heißt, daß ein morpho- genetisches System harmonisch-äquipotentiell sei. Das harmonisch-äquipotentielle System. Wir haben das Ektoderm der Gastrula eines Seesterns vor uns; wir wissen, daß wir ihm jeden beliebigen Teil in beliebiger Richtung abschneiden können, und daß die Differenzierung unseres Ektoderms sich alsdann doch voll- ständig gestalten und zu einem typischen kleinen Larven- ektoderm führen wird, welches nur in seiner Größe von einem normalen abweicht; an der Ausbildung des äußerst *) Als singulär-äquipotentielle Systeme könnten ja auch solche Elementarorgane bezeichnet werden, deren einzelne und eindeutige Potenzen durch äußere formative Reize wachgerufen werden; das ist aber nicht der Fall bei den Systemen, die wir hier studieren. Problem der morphogenetischen Lokalisation. 123 komplizierten Wimperringes können wir das alles besonders gut studieren. Wir wollen nun annehmen, daß unser Ektoderm ein Zylinder sei und nicht, wie in Wirklichkeit, annäherungs- weise eine Kugel. Und wir wollen den Mantel dieses Zylinders abrollen. Dann erhalten wir ein Rechteck, mit zwei bestimmten Abmessungen a und b. Jetzt haben wir alle Mittel in der Hand, welche für ein analytisches Studium der Differenzierung eines harmonisch-äquipoten- tielles System nötig sind. Unser Rechteck mit den Abmessungen a und b ist die Grundlage der normalen ungestörten Entwicklung; wenn wir seine Seiten als feste Orientierungsorte wählen, so können wir sagen, daß das wirkliche Schicksal, die prospektive Bedeutung, jedes Elementes des Rechtecks in einer festen und bestimmten Weise den Längen zweier Linien, x und y, zugeordnet ist, welche rechtwinklig auf die Seiten des Rechtecks zugehen; oder, in analytischer Form, jedem möglichen Wert von x und y entspricht ein ganz bestimmter Differenzierungszustand, ein ganz bestimmtes wirkliches Schicksal des durch ihn bezeichneten Elementes des Rechtecks. Nun haben wir aber durch unsere Versuche gezeigt, daß die prospektive Bedeutung der Elemente unseres embryonalen Organes nicht identisch ist mit ihrer prospektiven Potenz oder ihrem möglichen Schicksal, daß vielmehr diese Potenz viel inhaltreicher ist, als es uns ein bestimmter Fall der Entwicklung offenbart. Wie läßt sich nun das analytisch ausdrücken ? Stellen wir die Frage in folgender Weise: Von was für Faktoren hängt das Schicksal irgend eines Elementes unseres Systems in allen möglichen Fällen von Entwicklung, die operativ herstellbar sind, ab ? Wir können unsere Ergebnisse in der Form einer Gleichung darstellen B (X) =/(...), d. h. die prospektive Bedeutung B des Elementes X ist eine Funktion von ... — von was denn ? 124 Problem der morphogenetischen Lokalisation. Wir wissen, daß wir jeden beliebigen Teil des Ganzen abschneiden können, und daß doch ein proportionaler Embryo resultieren wird, es sei denn der entfernte Teil außerordentlich groß. Das aber heißt, daß die prospektive Bedeutung jedes Elementes sicherlich abhängt, sicherlich eine Funktion ist, von der absoluten Größe des in diesem speziellen Falle wirklich existierenden Teiles unseres Systems. Es sei .S" die absolute Größe des Systems in irgend einem wirklichen Experimentalfalle von Form- bildung: dann können wir schreiben B (X) = / (S. ...)• Aber wir müssen diesem £ noch andere Größen beifügen. Die Schnittoperation stand sowohl bezüglich des Betrages des dem Keim entnommenen Materials, wie auch bezüglich der Richtung des Schnittes in unserem Belieben. In jedem einzelnen Falle wird natürlich eine bestimmte Größe des wirklichen Systems und eine bestimmte Richtung des Schnittes Hand in Hand gehen. Um aber die Be- deutung der variierbaren Schnittrichtung für sich zu studieren, wollen wir annehmen, daß wir das eine Mal denjenigen Teil unseres Systems isoliert haben, welcher von den Linien ax bx und ein anderes Mal den jenem gleichen Teil, welcher von den Linien a2 b2 begrenzt ist. Da nun in beiden Fällen ein typischer kleiner Orga- nismus das Ergebnis der Entwicklung sein kann, so sehen wir, daß die prospektive Bedeutung jedes Elementes der beiden aus dem Keim herausgeschnittenen Stücke trotz ihrer gleichen Größe eine verschiedene sein kann, jeweils in Abhängigkeit von der Schnittrichtung als solcher. Unser Element X kann beiden gleich großen Stücken an- gehören; sein wirkliches Schicksal wird trotz der gleichen Größe des Stückes verschieden sein. Analytisch können wir sagen, daß dieses Schicksal wechselt in Abhängigkeit von der wirklichen Lage der wirklichen Grenzlinien des Stückes, at bl oder a2 b2, mit Bezug auf die fundamen- talen Orientierungslinien oder Seiten des Gesamtrechtecks a und b. Es sei diese wirkliche Lage ausgedrückt durch dem Buchstaben /, wobei / den Abstand einer der wirk- Problem der morphogenetischen Legalisation. 125 liehen Grenzlinien unseres Stückes von a oder b bezeichnet1); dann können wir jetzt unsere Formel verbessern, indem wir schreiben: B (X) = / (S, l ,. .) (Fig. 11). a h a^ K ü2 +x Figur 11. Schernatische Darstellung der Eigenschaften eines „harmonisch- äquipotentiellen Systems". Das Element X gehört sowohl dem System o &, wie al bu wie auch a.z b., an ; seine prospektive Bedeutung ist in jedem Falle verschieden. Aber fertig sind wir mit unserer Formel noch nicht: S und / sind Variable im mathematischen Sinne; jedem ihrer beliebigen Werte entspricht immer ein bestimmter Wert von B, d. h. ein Wert des wirklichen Schicksals, dessen Abhängigkeit wir studieren; jedem Werte von S und /, welche, wie wir wissen, von einander unabhängig sind, korrespondiert mit anderen Worten ein bestimmter Wert der prospektiven Bedeutung von X. Nun gibt es aber natürlicherweise in jedem Falle experimenteller oder normaler Entwicklung auch einen gewissen formbestimmen- den Faktor, welcher nicht variabel, sondern welcher immer derselbe ist. Dieser Faktor ist in die prospektive Potenz x) Die Entfernung der anderen Grenzlinie von a oder b würde durch den Wert von S gegeben sein. 226 Problem der morphogenetischen Lokalisation. unseres Systems eingeschlossen, obschon er nicht ohne weiteres mit ihr identisch ist. Die prospektive Potenz unseres Systems, oder vielmehr jedes seiner Elemente ist, wie wir ja wissen, die Summe dessen, was von jedem Elemente geleistet werden kann; die Tatsache, daß in j e d e m möglichen Falle eine typische proportionale Entwicklung statthat, zeigt nun aber, daß diese Summe sich nicht als bloße Summe, sondern als eine Art von Ordnung darstellt; wir können diese Ordnung als ,,örtlichkeitsbeziehung im absolut normalen Falle" be- zeichnen. Wenn wir nun im Gedächtnis behalten wollen, daß der Ausdruck „prospektive Potenz" diese Ordnung, oder, wie wir auch sagen können, diese relative Proportio- nalität, welche der Grund dafür war, daß wir unsere Systeme harmonisch nannten, immer mit umfassen soll, dann können wir diesen Ausdruck ohne weiteres zur Be- zeichnung des nicht variablen Faktors verwenden, von welchem die prospektive Bedeutung jedes Elementes abhängt. Bezeichnen wir die Ordnung einschließende prospektive Potenz mit dem Buchstaben E, so sind wir also imstande, unsere Formel zu vollenden und zu schreiben : B (X) = / (S, /, E). Soweit das rein analytische Studium der Differen- zierung harmonisch-potentieller Systeme1). Beispiele harmonisch-äquipotentieller Systeme. Wir müssen nun zunächst etwas mehr Tatsächliches über unsere Systeme kennen lernen, um einzusehen, wie groß die Rolle ist, welche sie im Tierreich spielen, und um uns auch mit unserer ziemlich abstrakten Analyse etwas vertrauter zu machen. Wir wissen bereits, daß viele morphogene Elementarorgane sich als harmonisch- äquipotentielle Systeme erwiesen haben und daß ein Gleiches l) Eine weit eingehendere Analyse dieser Differenzierung habe ich in meinem Buche „Die Lokalisation morpkogenetischer Vor- gänge, ein Beweis vitalistischen Geschehens", Leipzig 1899, zu geben versucht. Problem der morphogenetischen Lokalisation. 127 wahrscheinlich noch von vielen anderen gilt; wir wissen ferner, daß das unreife Ei fast aller Tiere zu diesem Typus gehört, auch wenn sich nach der Reifung eine festere Determinierung seiner Teile einstellt. Ferner lernten wir bei der Erörterung einiger neuer Entdeckungen über Form- restitutionen, daß es viele Fälle gibt, in denen die Resti- tutionsvorgänge nicht von einzelnen bestimmten Orten ausgehen, sondern in denen jeder einzelne Teil des gestörten Organismus einen einzelnen Wiederherstellungsakt zu voll- bringen hat, derart, daß das Endergebnis der Restitution das Ergebnis der Summe aller dieser einzelnen Akte darstellt. Eben diese Fälle müssen wir nun noch eingehender als zuvor analysieren. Sie kennen alle die gewöhnlichen Seerosen, und viele von Ihnen kennen wohl auch die sogenannten Hydroid- polypen. Tubularia ist ein Genus dieser letzteren; sie sieht wie eine kleine Seerose aus, die wie eine Blume auf die Spitze eines Stammes gesetzt ist. A 1 1 m a n wußte bereits, daß Tubularia ihr blumenartiges Köpfchen wieder her- stellen kann, wenn sie es verloren hat; aber dieser Prozeß galt für eine gewöhnliche Regeneration, bis eine amerika- nische Zoologin, Miß Bickford, zeigte, daß hier von Regeneration im eigentlichen Sinne des Wortes keine Rede sei, daß der fehlende Teil nicht aus der Wunde heraus- sprosse, daß vielmehr das neue Köpfchen der Tubularia sich durch die kombinierte Arbeit vieler Teile des Stammes bilde. Weitere Analysis zeigte dann, daß Tubularia in der Tat den Typus des harmonisch-äquopotentiellen Systems in vollendeter Weise darstellt. Man kann ihren Stamm durchschneiden, wo immer man will: ein bestimmter Distrikt des Stammes wird stets einen neuen Kopf bilden, und zwar durch das Zusammenwirken aller seiner Teile. Da der Ort des Schnittes durchaus in unserer Hand liegt, so ist ohne weiteres klar, daß die prospektive Bedeutung jedes Teiles des restitutierenden Stammes eine „Funktion seiner Lage" ist, daß sie mit seinem Abstand vom freien Ende des Stammes variiert; und so sehen wir denn sogleich 128 Problem der morphogenetischen Lokalisation. das eine der Hauptcharakteristika unserer Systeme vor uns. Aber auch jene andere Größe, welche in unsere Formel eingeht, läßt sich bei Tubularia aufzeigen: die Abhängigkeit des Schicksals jedes Elementes von der wirklichen Größe des Systems. Man würde das zwar nicht für sehr lange Stämme zeigen können ; wenn man aber aus einem Stamme der Tubularia Stücke von weniger als 10 mm Länge herausschneidet, so findet man, daß die absolute Größe des neugebildeten Köpfchens in naher Beziehung zur Länge des Stammes steht, und diese Ab- hängigkeit schließt eben die zweite Beziehung ein, welche in unserer Formel zum Ausdruck kommt. Die Figuren werden Ihnen das Beschriebene etwas konkreter vor Augen führen. Der Kopf der Tubularia besteht aus einer breiten Basis mit einem dünneren Rüssel darauf, beide tragen eine große Zahl von Tentakeln; diese Tentakel sind das erste, dessen Anlagen beim Restitutions- prozeß auftreten. Man sieht zwei Ringe von Längslinien innerhalb des Stammes. Die Linien werden zu Falten und trennen sich dann von dem Stamm ab, bis sie nur noch an ihren basalen Enden mit ihm verbunden sind; sobald das geschehen ist, sind die neuen Tentakeln fertig, und ein Wachstumsprozeß treibt endlich den neuen Kopf aus dem sogenannten Perisark oder hornigen Skelett, welches den Stamm umgibt, heraus. Wenn Sie die Figuren 12 e und g vergleichen, so sehen sie ohne weiteres, daß die absoluten Längen der beiden Tentakelringe in beiden sehr verschieden sind, und daß sie jedesmal zur wirklichen Größe des Stammes x) in Proportion stehen (Fig. 12). x) Diese Behauptung- gilt nur mit Einschränkung für Tubularia. Ich habe gefunden (Arch. f. Entw. mech. IX, 1899), daß auf eine Reduktion der Stammlänge zwar immer eine Reduktion der Größe der Polypenanlage folgt, daß aber doch keine strikte Proportionalität zwischen beiden besteht. Nur um das Problem zu vereinfachen, nehmen wir hier, im Text und in den Figuren, eine strikte Pro- portionalität an. Bei allen „geschlossenen" Formen, s. S. 48, ist diese in der Tat vorhanden. Problem der morphogenetischen Legalisation. 129 So sehen wir denn also, daß unsere Formel: B (X) — f (S, /, E) bei Tubularia vollständig realisiert ist. Die Formel erlaubt uns in der Tat, in jedem Falle vorher zu sagen, wo ein bestimmter Teil der Organisation des Polypen entstehen wird, wenigstens dann, wenn wir alles das kennen, was in Ulliil d. », l\ b, Figur 12. Tubularia. a Der „Hydranth" mit seinen langen und kurzen Tentakeln. — b Restitution des neuen Hydranthen im „Perisark" (P). — c Dasselbe, späteres Stadium; die Tentakeln sind fertig ; der ganze Hydranth wird nun durch einen am Ort und in Richtung des Pfeiles einsetzenden Wachstumsprozeß aus dem „Perisark" hinausgetrieben. — d Ein Stamm der Tubularia, zerschnitten an den Stellen at bl oder o2 62 oder ax c. — e Lage der Tentakelanlagen im Stück ax &1. — / Lage der Tentakelanlagen im Stück a.2 fc2, welches ebenso lang ist wie Oi &!• — 9 Lage der Tentakel anlagen im Stück at c, welches halb so lang wie aL bt ist. den Buchstaben B, d. h. in die normale Proportion unserer Form, einbegriffen ist. Solche Voraussage würde hier natürlich nicht viel praktische Bedeutung haben, aber es liegt mir aus prinzipiellen Gründen daran hervorzuheben, daß sie möglich ist. Zahlreiche Naturforscher haben näm- lich in unseren Tagen die Ansicht vertreten, daß die Voraus- sage und die Beherrschung dessen, was geschieht, das einzige wahre Ziel der Wissenschaft sein kann. Ich selbst meine nun zwar, daß das Ziele von geringerer Bedeutung sind ; um Driesch, Philosophie. I. 9 130 Problem der morphogenetischen Lokalisation. so besser ist es, wenn auch ihnen unsere rein theoretische Analyse Genüge tut. Die Ascidie Clavellina stellt ein andres sehr typisches Beispiel von einem morphogenetischen System unseres har- monischen Typus dar. Ich kann ihre Organisation hier nicht eingehend beschreiben (Fig. 13#); es muß genügen zu sagen, daß dieselbe sehr kompliziert ist und aus zwei verschiedenen Hauptteilen besteht, dem Kiemenkorb und a. Figur 13. Clavellina. a Schema des normalen Tieres: E und J Öffnungen, E Kiemenkorb, D Darm, M Magen, H Herz. — b Der isolierte Kiemenkorb. — c—e Verschiedene Stadien der Reduktion des Kiemenkorbes. — f Die neue kleine Ascidie. dem sogenannten Eingeweidesack; wenn man diese beiden Teile des Körpers der Clavellina von einander trennt, so kann jeder den anderen in typischer Weise durch Sprossung von der Wunde aus regenerieren. Aber der Kiemenkorb kann sich auch durchaus anders verhalten: er kann seine Organi- sation vollständig zurückbilden, bis er eine weiße Kugel darstellt, welche nur aus zwei, den Keimblättern ent- sprechenden Epithelien, mit Mesenchym dazwischen, besteht, und sich dann nach einer gewissen Ruheperiode zu einer neuen Organisation umbilden. Diese neue Organisation Problem der morphogenetischen Lokalisation. 131 ist nun aber nicht diejenige eines Kiemenkorbes, sondern stellt eine sehr kleine, aber vollständige Ascidie dar (Fig. 13). Das ist sicherlich eine sehr bedeutsame, um nicht zu sagen überraschende Tatsache; nun ist aber an demselben Objekt noch ein anderes Phänomen aufgefunden worden, welches noch viel bedeutsamer ist: Man isoliere zunächst den Kiemenkorb und schneide ihn dann ganz beliebig in zwei Teile ; wenn die Objekte überleben und nicht, was freilich oft geschieht, eingehen, so büßen die durch die Operation hergestellten Stücke ihre Organisation ebenso vollständig ein, wie es bei den intakten Kiemenkörben der Fall war ; auch sie erwerben dann aber eine neue Organisation und zwar ebenfalls diejenige einer vollständigen kleinen Clavellina. So sehen wir also, daß sich nicht nur der Kiemenkorb unserer Form als Ganzes durch die ge- meinsame Arbeit aller seiner Teile in ein ganzes Tier um- wandeln kann, sondern daß auch ein beliebiger Teil des- selben in ein kleines Ganzes umgewandelt zu werden vermag, wobei es durchaus in unserem Belieben steht, wie groß wir diesen Teil wählen und welchen bestimmten Ab- schnitt der ursprünglichen Organisation des Kiemenkorbes er darstellt. Ein besseres Beispiel eines harmonisch-äquipotentiellen Systems können wir uns in der Tat kaum ersinnen. Ich kann Ihnen nun nicht alle anderen Formen, unter welchen unsere Systeme im Tierreich auftreten, hier be- schreiben; ich will nur erwähnen, daß auch die gewöhnliche Hydra und der Plattwurm Planaria gute Beispiele unserer Systeme sind. Aber auf einen besonderen Fall harmonischer Äquipotentialität muß ich Ihre Aufmerksamkeit noch kurz lenken. Seit vielen Jahren weiß man, daß auch die Proto- zoen ihre Organisation nach Störungen wiederherstellen können, wenigstens wenn sie einen gewissen Betrag von Kernsubstanz enthalten. Man sah diese Art von Wieder- herstellung immer als einen gewöhnlichen Regenerations- vorgang an, bis es T. H. M o r g a n gelang zu zeigen, daß 9* 132 Problem der morphogenetischen Lokalisation. sie sich bei dem Genus Stentor auf genau denselben Bahnen bewegt, die wir bereits von unserem Studium embryonaler Organe und von der Tubularia her kennen: daß ein har- monisch-äquipotentielles System allem zugrunde liegt. Nun wissen Sie, daß alle Protozoon nichts als eine hochorga- nisierte Zelle darstellen: hier haben wir also ein Beispiel vor uns, in welchem die sogenannten „Elemente" unseres harmonisch-äquipotentiellen Systems nicht Zellen, sondern etwas innerhalb der Zellen sind; und das muß um so be- deutsamer erscheinen, weil es erstens unsere schon oben vorgetragene Behauptung stützt, daß Formbiidung nicht von Zellteilung abhängig ist, und weil es zweitens unserem Begriff des harmonisch-äquipotentiellen Systems ein sehr weites Geltungsbereich zuweist. Das Problem des Faktors E. Wir nehmen nun unsere abstrakte Erörterung wieder auf. Wir verließen die Analyse der Differenzierung der harmonisch-äquipotentiellen Systeme und zumal der Lo- kalisationsphänomene während dieser Differenzierung an dem Punkte, wo es uns gelungen war, eine Gleichung auf- zustellen, als den Ausdruck aller Faktoren, von denen die prospektive Bedeutung, das wirkliche Schicksal jedes Elements eines unserer Systeme abhängt ; B (X) =f (S, l, E) war der kurze Ausdruck aller hier in Betracht kommenden Abhängigkeitsbeziehungen; S und /, d. h. die absolute Größe des Systems und die relative Lage des Elements mit Bezug auf feste Punkte, waren unabhängig variabel; E war eine Konstante, nämlich die prospektive Potenz mit besonderer Beziehung auf die in ihr einbeschlossenen Pro- portionen. Wir gehen jetzt daran, die Bedeutung des Faktors E zu studieren. Was bedeutet dieses E% Ist es bloß ein kurzer Aus- druck für eine wirkliche Summe von elementaren Agentien, welche eine gemeinsame Resultante haben? Und welcher Problem der morphogenetischen Lokalisation. 133 Art wären diese Agentien? Und was bedeutet unser E, wenn sich zeigen läßt, daß es n i c h t bloß ein kurzes Zeichen für eine Summe ist ? „Mittel" oder „formative Reize" bieten keine Erklärung. Für die praktischen Zwecke unserer Untersuchungen ist es nun besser, wenn wir unsere Frage etwas anders formulieren; wir wollen sie also stellen wie folgt: E ist neben anderen, variablen Faktoren für die Lokalisation der organischen Differenzierung mit verantwortlich; was wissen wir nun überhaupt über solche kausalen Faktoren, die eine lokalisierende Rolle bei der Formbildung spielen? Hier müssen wir natürlich auf unsere wohl- studierten formativen Reize zurückblicken. Diese Reize, mögen sie innere oder äußere sein, kommen mit Bezug auf dasjenige Elementarorgan, an dem irgend eine Art von Differenzierung und daher auch von Lokalisierung statt hat, stets von außen; in unseren harmonisch-äquipoteh- tiellen Systemen aber löst kein einziger von außen kommen- der Reiz eine einzelne Differenzierung aus, weder ein äußerer Reiz strengsten Sinnes noch ein solcher, wie er etwa bei der Bildung der Linse des Wirbeltierauges in Frage kam. Wir wissen ganz sicher, daß das nicht der Fall ist; daß aber die allgemeinen äußeren ,, Mittel" der Formbildung keine lokalisierende Bedeutung haben können, ist ohne weiteres klar. Man könnte hier einwenden, daß, beispielsweise, bei einem aus einem Tubulariastamm herausgeschnittenen Stücke die Gewebe nur an den beiden Wundenden mit dem Seewasser in unmittelbarer Berührung sind, und daß daher von diesen beiden Enden ein Reiz ausgehen könne, etwa in Form eines Diffusionsprozesses, welcher auf seinem Wege nach innen gradweise an Intensität verliert. Und ähnlich könnte man wohl für die kleine aber ganze Blastula von Echinus und für alle anderen Fälle argumentieren. 134 Problem der morphogenetischen Lokalisation. Aber erstens könnten Reize, welche nur an Intensität ver- schieden sind, die typischen und typisch lokalisierten ein- zelnen Charaktere der Differenzierung wohl kaum eindeutig bestimmen; zweitens aber — und dieses Argument bringt die Hypothese völlig zu Fall — macht die Abhängigkeit der einzelnen typisch lokalisierten Effekte von der absoluten Größe des zur Restitution gewählten Stückes die An- nahme, daß alle Einzelheiten der Differenzierung har- monisch-äquipotentieller Systeme durch einzelne von zwei festen Orten ausgehende Reize in unabhängiger Weise her- vorgerufen seien, ganz unmöglich. Solcher Vorgang würde niemals zu einer ,, harmonischen", einer proportionalen verkleinerten Ganzorganisation führen, sondern zu einer Organisation von normaler Proportionalität und Größe an den beiden Enden, aber zur Nicht existenz des mittleren Stückes der Organisation. So sehen wir denn, daß wir weder mit den Mitteln noch mit den formativen Reizen für unsere Zwecke etwas anfangen können; beide können in keiner Weise für die- jenige Art von Lokalisation, welche bei der Differenzierung unserer harmonischen Systeme vorkommt, verantwortlich sein. Aber können wir nicht die Phänomene der organischen Lokalisation durch irgendwelche andere Wechselbeziehungen zwischen den Teilen erklären? Zwei solche Möglichkeiten scheinen sich auf den ersten Blick darzubieten. Die Unmöglichkeit einer chemischen Theorie der Formbildung. Eine gewisse Auffassung der organischen Formbildung ist zwar nie in Form einer eigentlichen Theorie ausgearbeitet worden, wurde aber doch gelegentlich von Biologen ver- treten, nämlich die, daß eine chemische Substanz oder Mischung von sehr komplizierter Zusammensetzung die eigentliche Basis von Entwicklung und Vererbung sei, und daß durch die Zersetzung oder Entmischung derselben die Formbildung geleitet werde. Problem der morphogenetischen Lokalisation. 135 Untersuchen wir zunächst, ob solche Ansicht angesichts der allgemeinsten Charakterzüge der organischen Form- bildung überhaupt bestehen kann. Mir scheint, daß jeder chemischen Theorie der Formbildung von allem Anfang an in dem bloßen Faktum der Möglichkeit der Form- restitution von atypischen Ausgängen und Orten aus, eine sehr bedeutsame Schwierigkeit erwächst. Das bloße Faktum in der Tat, daß es so etwas wie die Restitution des Beines eines Molches gibt — gar nicht zu reden von den Restitutionen des harmonischen Typus — , widerspricht geradezu1), so scheint es mir, der Hypothese, daß die chemische Zersetzung einer Verbindung oder ähnliches den Lauf der Formbildungsereignisse leitet : Wie kommt es denn, so müßten wir doch zunächst einmal fragen, daß die hypo- thetische Verbindung immer wieder da ist, um neu zerlegt zu werden, nachdem ihre Zerlegung bereits einmal statt- gefunden hat? Und ferner wissen wir sogar, daß einer- seits Regeneration zu oft wiederholten Malen, ja bis zu J) Vgl. meinen Artikel im Biol. Cbl. XX VII, 1907 S. 69. Alles wird noch komplizierter dadurch, daß es im Falle echter Regeneration nicht nur die ursprüngliche „morphogenetische Verbindung" ist, welche noch einmal zersetzt werden müßte, nachdem sie bereits zersetzt worden ist, sondern nur ein besonderer Teil von ihr: nämlich derjenige Teil, welcher gerade für die Bildung des zu Regenerierenden nötig wäre. — Andererseits würde es ganz unmög- lich sein auf Grundlage der physikalischen Chemie zu verstehen, wie etwa der isolierte Kiemenkorb der Clavellina ausschließlich durch chemische Prozesse in ein System, nämlich in eine ganze kleine Ascidie, umgebildet werden könnte, von dem nur ein ge- wisser Teil aus derjenigen Substanz besteht, aus welcher der Aus- gangspunkt allein oder doch vorwiegend zusammengesetzt war, und zwar in ein System von typischer Anordnung. Man vergleiche hierzu auch meine Ausführungen über „unharmonisch-zusammen- gesetzte" Keime (Arch. Entw.-Mech. 19 und 26); die Gleichgewichts- sätze der Chemie nützen uns hier nichts, wie man wohl vermutet hat, denn es ist z. B. — ganz abgesehen von allem anderen! — der Gleichgewichtszustand eines „inhomogenen Systems" unab- hängig von der Gewichtsmenge, mit welcher jede einzelne Phase im Systeme vertreten ist (vgl. u. a. Nernst, Theor. Chemie, 4. Aufl. S. 459). 136 Problem der morphogenetischen Lokalisation. vierzigmal, von ein und derselben örtlichkeit ausgehen kann, und anderseits, daß ein Regenerat wieder rege- nerationsfähig ist; wie wäre das ,, chemisch" möglich! Aber wenn wir auch diese Schwierigkeit absichtlich trotz ihres fundamentalen Charakters beiseite lassen, wie könnte die Hypothese von der chemischen Zersetzung einer Substanz den Erklärungsgrund für die Differenzierung unserer harmonisch-äquipotentiellen Systeme und die bei ihnen auftretenden Phänomene der Lokalisation abgeben, wie könnte sie das Auftreten typisch lokali- sierter Spezifikationen an einem Organ, für welche äußere lokalisierende Ursachen sicherlich nicht vorhanden sind, denn überhaupt verständlich machen ? Beachten wir wohl, daß es, wie schon erwähnt, einige wenige ursprüngliche Verschiedenheiten an unseren har- monischen Systemen in der Tat gibt: nämlich die Haupt- richtungen der intimen Protoplasmastruktur mit ihrer Polarität und Bilateralität. Es sind also dreimal zwei aus- gezeichnete Pole in jedem dieser Systeme gegeben, wenigstens bei bilateralen Organismen, aber andere Differenzen gibt es bei ihnen nicht. Einige sehr einfache Fälle harmonischer Differenzierung möchten sich nun in der Tat wohl mit Hilfe der Theorie einer sich zersetzenden chemischen Substanz, bei Zugrundelegung jener wenigen gegebenen Verschiedenheiten verstehen lassen: Es habe sich die ursprüngliche Ver- bindung von der Quantität A im Betrage von Ax zersetzt; aus A-i mögen sich die beiden einfacheren Verbindungen B und C, beide in bestimmtem Quantum, gebildet haben; dann haben wir die drei chemischen Individuen A — Ax, B und C als die Konstituenten unseres harmonischen Systems in den ersten Stadien seiner Differenzierung. Wir können nun ohne ernstliche Schwierigkeit, obschon mit Einführung einiger neuen Hypothesen, annehmen, daß die beiden Pole einer der fundamentalen Symmetrie- achsen des Systems die Substanzen B, bzw. C anziehen, während A — Ax von ihnen nicht angezogen wird. Das würde zur Sonderung der drei elementaren Konstituenten Problem der morphogenetischen Lokalisation. 137 unseres Systems in drei gesonderte Portionen führen, und da diese drei Portionen ein bestimmtes Quantum besäßen, so würde ihre Trennung zugleich die Trennung des Systemes in drei Teile, A — A1} B und C, auch mit Rück- sicht auf seine Form als solche bedeuten. Nun ist klar, daß damit, daß man durch eine Operation irgend einen Teil des ursprünglichen Systems fortgeschafft hätte, eben nichts anderes als ein bestimmter Betrag der ursprüng- lichen Verbindung A entfernt worden wäre; nehmen wir A an, daß — noch vorhanden ist, dann würden natürlich n die drei aus der teilweisen Zerlegung von — hervorgehenden A j4_ ß Q Konstitutenten -, — und — sein und so würde das n n n Proportionale der Lokalisation in jedem Falle erhalten bleiben. Aber diese Erwägungen mögen für sehr einfache Fälle gelten ; sie gelten nicht allgemein, und zwar aus zwei Gründen: erstens würden sie nicht die Tatsache erklären können, daß der fertige Organismus durchaus nicht aus eben so vielen verschiedenen Verbindungen besteht, wie seine Organisation einzelne konstituierende Organe besitzt, daß er vielmehr im Gegenteil, wie wir bereits wissen1), nur aus einer bestimmten, ziemlich beschränkten Zahl wahrhaft chemisch verschiedener Formelemente besteht, welche Elemente ihrerseits, wie z. B. Nerven und Muskeln, immer wieder- und wiederkehren, jedesmal typisch an örtlichkeit, Größe und Form. Und zweitens geht die Form der Elementarorgane als solche mit chemischen Differenzen durchaus nicht Hand in Hand; das allein würde jede chemische Theorie der Formbildung, welche das Problem der Lokalisation erklären soll, hinfällig erscheinen lassen. Man denke an den so typisch geordneten Ring von Mesen- chymzellen in unserer Echinusgastrula mit seinen zwei *) Vgl. S. 46f. 138 Problem der morphogenetischen Lokalisation. sphärischen Dreiecken; man denke an jede beliebige Art von Skeletten, bei Radiolarien oder bei Seesternen oder bei Wirbeltieren : hier sehen wir Form, wahre Form vor uns, aber Form, welche immer an dasselbe Material gebunden ist. Typisch ist hier nicht nur die An- ordnung der Konstituenten der Form, z. B. die An- ordnung der einzelnen Knochen des Hand- oder Fuß- skelettes, sondern typisch ist auch die besondere Form jedes Konstituenten, z. B. die Form jedes einzelnen Fußknochens. Eine chemische Theorie der Formbildung könnte nie den zureichenden Grund für typische Form- bildung in diesem Sinne abgeben. Denn Atome oder Moleküle können nur eine Form erklären, welche sozu- sagen stereometrisch angeordnet ist, wie z. B. in der Kristallographie; sie können aber nie eine Form erklären, wie wir sie im Skelett der Nase, der Hand oder des Fußes vorfinden. Nun werden Sie mir vielleicht antworten, daß es noch außer den besonderen, durch die polarbilaterale Struktur des Protoplasmas gebildeten Polen gewisse andere nichtchemische Faktoren im Keime gäbe und daß diese für die typische Formlokalisation verantwortlich sein könnten ; aber mit solchem Argument würden Sie ja schon eine rein chemische Theorie verlassen. Mit dieser Seite des Problems werden sich unsere nachstehenden Untersuchungen zu befassen haben. Das also ist das wesentliche Argument gegen alle chemischen morphogenetischen Theorien, welche das Problem der Lokalisation erklären sollen; es ist wohl noch überzeugender als die allgemeinere Erwägung, daß das bloße Faktum der Restitution an sich der Hypothese einer Zersetzung chemischer Substanzen während der Morphogenesis widerspricht. Fassen wir noch einmal das wesentlichste zusammen: Sonderheit der organischen Form geht nicht Hand in Hand mit Sonderheit der chemischen Zusammensetzung und kann daher nicht von ihr abhängen; und weiter: die spezifische organische Problem der morphogenetischen Lokalisation. 139 Form ist derart beschaffen, daß sie nie durch die An- ordnung von Atomen oder Molekülen im chemischen Sinne erklärt werden kann. Denn, um es kurz, aber ausdrucks- voll zu sagen: die „Form" eines Atomes oder Moleküls kann nie die Form eines Löwen oder Affen sein; wer das annehmen würde, der würde in der Chemie selbst die Grenzen der Chemie überschreiten. Die Unmöglichkeit einer Maschine als Grundlage der harmonischen Systeme. Nun wenden wir uns der letzten Möglichkeit zu, welche uns noch bei unserem Versuche, die Lokalisation bei der Differenzierung unserer harmonisch-äquipotentiellen Systeme auf der Grundlage von Physik und Chemie zu „ verstehen", übrig bleibt. Äußere Reize konnten hier nichts erklären, die Annahme einer chemischen Zersetzung einer Verbindung konnte es ebenfalls nicht. Aber könnte es nicht gewisse komplizierte Wechselwirkungen zwischen den Teilen des harmonischen Systemes selbst geben, könnte nicht in dem System eine Art von wirklicher Maschine existieren, welche, einmal in Gang gesetzt, die Differenzierungen, welche statthaben, ermöglichen würde? Dann könnten wir sagen, daß die prospektive Potenz jenes Systems in letzter Linie jene Maschine sei; wir würden wissen, was der Buchstabe E unserer Gleichung bedeutet: er würde die resultierende Wirkung vieler kom- plizierter elementarer Wechselwirkungen bedeuten und nichts anderes. W e i s m a n n hatte, wie wir wissen, eine Art von Maschine als Grundlage der Formbildung angenommen. Wir haben gesehen, daß seine Theorie falsch ist ; die Ergeb- nisse der Versuche widersprachen ihr aufs deutlichste. Aber die Versuche haben uns natürlich nur gezeigt, daß eine solche Maschine, wie e r sie erdachte, nicht exi- stieren kann, daß die Entwicklung nicht durch die Zer- legung einer gegebenen komplizierten Struktur in ihre 140 Problem der morphogenetischen Lokalisation. einzelnen Teile geleitet wird. Aber könnte nicht irgend eine andere Art von Maschine hier vorliegen? Wir werden das Wort „Maschine" in seinem alier- allgemeinsten Sinne verstehen. Eine Maschine ist uns also eine typische Anordnung physikalischer und che- mischer Konstituenten, durch deren Wirkung ein typischer Effekt erreicht wird. Wir legen großes Gewicht darauf, in unsere Definition der Maschine auch chemische Konsti- tuenten einzubeziehen ; wir verstehen also unter einer „Maschine" eine Anordnung von viel höherem Grade der Komplikation, als z. B. eine Dampfmaschine ist. Natürlich muß eine Maschine, welche nach den drei Hauptrichtungen des Raumes typisch wirken soll, typisch mit Bezug auf eben diese drei Richtungen gebaut sein; eine Maschine > welche nur eine Anordnung von Elementen in einer Ebene ist, könnte niemals typische Wirkungen senkrecht zu dieser Ebene haben. Das muß bei allen hypothetischen Erwägungen über Maschinen, welche die Formbildung erklären sollen, wohl im Gedächtnis behalten werden. Man muß nun zugeben, daß eine Maschine in unserem Sinne des Wortes sehr wohl die Grundlage der Form- bildung im allgemeinen sein könnte, wenn es nur normale, d. h. nur ungestörte Entwicklung gäbe, und wenn die Entnahme von Teilen bei unseren Systemen zu fragmentaler Entwicklung führen würde. Wir wissen aber, daß, wenigstens bei unseren har- monisch-äquipotentiellen Systemen, etwas ganz anderes geschieht: die Entwicklung ist nicht fragmental, sondern g a n z in verkleinertem Maßstabe. Und wir wissen weiter, daß diese wahrhaft ganze Entwicklung statthat, gleich- gültig, von gewissen früher erörterten Einschränkungen abgesehen, wieviel unserem Systeme entnommen ist und in welcher Richtung oder Lage das geschah. Erwägen wir zunächst den zweiten Punkt: Es mag eine Ganz- entwicklung jedes Stückes eines harmonischen Systeme» geben, welches, sagen wir, das Volumen V besitzt. Gut! Dann müßte es in diesem Teilstück vom Volumen V eine Problem der morphogenetischen Lokalisation. 141 Maschine geben von derselben Art, wie sie in dem ganzen ungestörten System existierte, nur daß sie in dem Teilstück V von kleineren Dimensionen wäre als im Originalsystem; aber eine solche Maschine müßte auch existieren in dem Stücke Vlt welches mit V \on gleicher Größe ist; und auch in V2, in V3, V± usw. Es würde in der Tat unbegrenzt viele gleich große Vn geben, von denen jedes die Form- bildung vollständig leisten könnte, und von denen daher jedes die hypothetische Maschine besitzen müßte. Diese Figur 14. Ein beliebiges „harmonisch-äquipotentielles System". Nach der „Maschinelltheorie" des Lehens sollte dieses System ein und die- selbe unbekannte, sehr komplizierte Maschine vollständig besitzen: a) in seinem Gesamtvolumen aber auch 6) in jedem der einander gleichen Volumina V, Vl V2 V3 usw. aber auch c) in jedem der ungleichen Volumina W, X, r usw. ja, d) in jedem beliebigen überhaupt vorstellbaren Volumen beliebiger Form. Die „Maschinentheorie" des Lebens ist also absurd. verschiedenen Stücke Vn sind aber, auf das Originalsystem bezogen, nur teilweise von einander räumlich verschieden. Viele Bestandteile von V2 sind auch Bestandteile von Vx und von V3 und von V± usw.; mit anderen Worten, die verschiedenen Volumina Vn überlagern einander der Reihe nach, und zwar in solcher Weise, daß jedes folgende das vorhergehende nur um einen sehr kleinen Betrag überlagert. Aber was wird da aus unseren Ma- schinen? Jedes Volumen, welches die Formbildung voll- ständig leisten kann, müßte die Maschine in ihrer Voll- ständigkeit besitzen. Da nun jedes Element eines be- stimmten Volumens eine ganz andere elementare Rolle in irgend einem der anderen Volumina spielen könnte, 142 Problem der morphogenetischen Lokalisation. so folgt, daß jeder Elementarteil des gesamten harmo- nischen Originalsystems jeden möglichen elementaren Teil der Maschine gleichermaßen besitzen muß, wobei gleichzeitig alle Teile des Systems Konstituenten ver- schiedener Maschinen wären. Eine seltsame Maschine in der Tat, welche in allen ihren Teilen dasselbe darstellt! (Fig. 14.) Aber wir haben, wie ich sehe, noch vergessen, daß auch das absolute Quantum von Material, welches wir durch unsere Operation vom System abtrennten, durchaus in unsere Hand gegeben war und nur nicht gar zu groß sein durfte. Daraus folgt nun, daß nicht nur die ver- schiedenen Vn, welche alle von gleicher Größe sind, die hypothetische Maschine in ihrer Vollständigkeit besitzen müssen, sondern auch alle Beträge von den Werten Vn — JV, wo JV variabel ist, müssen die Maschine in ihrer Totalität in sich bergen, und alle diese Werte Vn — JV, mit ihrem variablen JV, können einander wiederum überlagern. Hier sind wir in wahre Absurditäten hinein- geführt ! Aber was folgt nun aus diesen scheinbar phan- tastischen Erwägungen ? Mir scheint hier nur eine Folgerung möglich zu sein. Wenn wir das, was an unseren harmonisch-äquipotentiellen Systemen geschieht, mit Hilfe einer auf die Konstellation einzelner physikalischer und chemischer Faktoren und Ereignisse gegründeten Kausalität erklären wollen, dann müßte es so etwas wie eine Maschine hier geben. Gerade die Annahme der Existenz einer ,, Maschine" erweist sich nun aber im Lichte der experimentell erhärteten Tat- sachen als vollkommen unsinnig. Daher kann keine Art von Maschine irgendwelcher Form und kann überhaupt keine Art von Kausalität, welche auf räumliche Kon- stellation begründet ist, die Grundlage der Differenzierung harmonisch-äquipotentieller Systeme sein. Denn eine Maschine, welche nach den drei Haupt- richtungen des Raumes typisch verschieden ausgebildet Problem der morphogenetischen Lokalisation. 14S ist, kann nicht dieselbe bleiben, wenn man ihr Teile nimmt oder wenn man ihre Teile verlagert1). Hier sehen wir also ein, daß unser eingehendes und sorgfältiges Studium der Formbildung der Mühe wert gewesen ist. Es hat uns ein Ergebnis von außerordent- licher Bedeutung geliefert. Beweis der Autonomie der Formbildung. Keine Art von Kausalität, die auf Konstellationen einzelner physikalischer und chemischer Akte gegründet ist, kann für die Formbildung des individuellen Organismus verantwortlich sein. Diese Entwicklung kann durch keine Hypothese, die mit der Konfiguration physika- lischer und chemischer Agentien irgendwie zusammen- hängt, erklärt werden. Es muß also etwas anderes geben, das als zureichender Grund der individuellen Formbildung angesehen werden kann. So haben wir denn also endlich die Antwort auf die Frage, was unsere Konstante E bedeuten möge. Sie bedeutet nicht den resultierenden Effekt irgend einer Konstellation ; sie ist nicht nur ein kurzer Ausdruck für eine kompliziertere Sachlage : unser E ist der Ausdruck für ein wahres Element der Natur. Das Leben, die Formbildung wenigstens, ist nicht eine besondere Anordnung anorganischer Ereig- nisse ; die Biologie ist daher nicht angewandte Physik und Chemie ;dasLebenisteineSachefürsich und die Biologie ist eine unabhängige Grundwissenschaft. Bis jetzt sind alle unsere Resultate ihrer Form nach negativ; unser Beweis war durchaus ein indirekter oder apagogischer Beweis, ein Beweis per exclusionem: aus einer gewissen Zahl von Möglichkeiten wurden alle ausge- J) Die Druck- und die Verlagerungsversuche an jungen Keimen kommen hier in Betracht; um den Gedankengang zu vereinfachen, sind sie im Haupttext nicht erwähnt worden. 144 Problem der morphogenetischen Lokalisation. schlössen, abgesehen von einer; ein disjunktives Urteil wurde aufgestellt, das die Form hatte: E ist entweder dieses oder jenes oder ein Drittes; es zeigte sich, daß es dieses oder jenes nicht sein konnte ; eben so ward bewiesen, daß es das Dritte sei. Ich sehe in der Tat nicht, wie Naturwissenschaft in ihren Beweisgängen anders verfahren könnte; keine Wissenschaft auf anorganischem Gebiete verfährt anders; etwas Neues und Elementares muß stets eingeführt werden, sobald sich auf einem neuen Gebiete die Kenntnis, welche wir über die elementaren Faktoren anderer Gebiete besitzen, als ungeeignet zur Erklärung der hier neu vorliegenden Tatsachen erweist. Wir wollen nun nicht zögern, den Ergebnissen unseres Studiums der Formbildung einen entsprechenden Namen zu geben. Was wir bewiesen haben, ist immer Vita- lismus genannt worden, und mag denn auch heutzutage wieder so heißen. Wenn Sie aber einen neuen und weniger prätentiösen Namen für das von uns Erwiesene vorziehen, so mögen sie unser Ergebnis die Lehre von der Auto- nomiedesLebens oder wenigstens von der Autonomie der Formbildung nennen. Ich weiß wohl, daß das Wort „Autonomie" gewöhnlich gebraucht wird, um die Befugnis des Gesetz g e b e n s auszudrücken, und daß es sich in diesem Sinne auf eine menschliche Gemeinschaft bezieht; in der Bedeutung, die wir ihm geben, heißt es: eigenen Gesetzen unterworfen sein. Aber ein solcher Gebrauch ist etymologisch gerechtfertigt, und ich darf Sie wohl auch an ein gewisses Kapitel der Gifford- Vor- lesungen von James Ward erinnern, in dem er die Ansicht vertritt, daß sowohl psychologisch wie epistemologisch mehr als eine bloße Wortbeziehung zwischen dem bürger- lichen und dem Natur,, gesetz" besteht. Der Vitalismus oder die Autonomie des Lebens ist also von uns auf indirektem Wege bewiesen worden, und kann in der Tat gar nicht anders bewiesen werden, solange wir die Bahnen des gewöhnlichen wissenschaft- lichen Denkens nicht verlassen. Möglich ist allerdings Problem der morphogenetischen Lokalisation. 145 auch ein direkter Beweis des Vitalismus; wir können ihn aber hier noch nicht entwickeln, denn er ist nicht rein „naturwissenschaftlichen" Charakters, er ist nicht so „naiv", wie die gegenwärtige Art unserer Beweisführung es war. Ein wichtiges Kapitel späterer Teile dieses Werkes wird diesem Beweis gewidmet sein. „Entelechie." Wir wollen nun unserem vitalistischen oder autonomen Faktor E, der in der Formbildung eine so große Rolle spielt, einen Namen geben ; es geschah in der Tat nicht ohne eine gewisse Absicht, daß wir ihn gerade mit dem Buch- staben E bezeichneten. Der eigentliche Vater der syste- matischen Philosophie, Aristoteles, ist, wie viele von Ihnen wissen werden, auch der eigentliche Begründer der theoretischen Biologie gewesen. Er war auch der erste Vitalist, den die Geschichte kennt, denn seine theoretische Biologie ist durchaus vitalistisch ; und zwar war sein Vitalismus ein sehr bewußt entwickelter, denn er erstand in dauerndem Gegensatz gegen den dogmatischen Mechanismus der Schule des Demokritos. So wollen wir denn unsere Terminologie dem Aristo- teles entnehmen und wollen jenen Faktor im Bereich des Lebendigen, dessen Autonomie wir bewiesen haben, Entelechie nennen, ohne damit unsere Lehre mit derjenigen, die sich bei Aristoteles um das Wort svxsXs^sia gruppiert, zu identifizieren. Wir wollen das Wort Entelechie nur als Zeichen unserer Ver- ehrung für diesen großen Genius gebrauchen; sein Wort soll uns nur eine Form sein, die wir mit neuem Inhalt gefüllt haben und füllen werden. Die Etymologie des Wortes svTsAiysia erlaubt uns diese Freiheit, denn wir haben in der Tat bewiesen, daß in Lebensphänomenen ein Etwas eine Rolle spielt, ,, welches das Ziel in sich trägt", o eyei sv sauid) xo tsXo?. Unser Begriff Entelechie bezeichnet das Ende unserer eigentlichen Analyse der individuellen Formbildung als Driesch, Philosophie. I. 10 146 Problem der morphogenetischen Legalisation, solcher. Formbildung ist, wie wir nun wissen, „Epigenesis" nicht nur im beschreibenden, sondern auch im theore- tischen Sinne. Räumliche Mannigfaltigkeit entsteht, wo solche Mannigfaltigkeit nicht vorhanden war, wahre „Evolution" ist auf Nebensächlichkeiten eingeschränkt. Aber war da nun wirklich gar nichts „Mannigfaltiges" vor aller Formbildung? Sicherlich nichts von extensivem Charakter, wohl aber etwas anderes: Entelechie war da, und so mögen wir denn vorläufig Entelechie als „inten- sive Mannigfaltigkeit" bezeichnen. Das also ist unser letztes Resultat : keine Evolution, sondern Epigenesis, aber eine vitalistische Epi- genesis. Einige allgemeine Bemerkungen über Vitalismus. Wir verlassen nun einstweilen unsere Entelechie. Später werden wir zu ihr zurückkehren und werden ihre vollständige logische und ontologische Analyse zu unserer Hauptaufgabe machen. Fürs Erste genügt es uns, ihr Dasein in der Natur bewiesen und einige der Grundlagen gelegt zu haben, auf denen sich eine wahre Theorie des Lebens erheben kann. Ich hoffe, daß diese Grundlagen sich als fest erweisen werden, das ist vor allem wichtig1). Denn es war der Fehler alles Vitalismus früherer Zeit, daß er auf schwachen Grundlagen ruhte. Daher muß uns die Erörterung der Grundlage unserer Lehre von der Autonomie des Lebens noch eine erhebliche Zeitlang be- schäftigen. Wir wollen im folgenden zunächst alle Klassen !) Mein „erster Beweis des Vitalismus" ist zuerst dargelegt in der Schrift „Die Lokalisation morphogenetiseker Vorgänge", Leipzig 1899 (hierzu Ergänzungen in „Organische .Regulationen", Leipzig 1901, und Arch. f. Entw.-Mech. XIV 1902). Ich finde nicht, daß irgend jemand bisher etwas Zwingendes gegen meine Beweis- führung eingewandt hat (vgl. meine Aufsätze in Biolog. Cbl. XXII, XXIII, XXVII, Ergebnisse der Anatomie und Entwickl. -Geschichte XI, XIV, XVII und Arch. f. Entw.-Mech. 25. Eine geschicht- liche Skizze des Vitalismus findet man in meinem Buche „Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre". Leipzig 1905). Problem der morphogenetischen Lokalisation. 147 der Lebensphänomene durchgehen, in der Hoffnung, daß wir noch neue Beweise des Vitalismus in ihnen finden können, welche unabhängig sind von dem, was wir unseren ,, ersten Beweis" nennen, einem Beweis, der sich also gründet auf die Analyse der Differenzierung harmonisch- äquipotentieller Systeme. Wir werden in der Tat einige weitere unabhängige Beweise finden und außerdem werden wir viele Klassen von Phänomenen auf- decken können, auf deren Analyse eine spätere Zeit vielleicht noch mehr solche unabhängige Beweise errichten kann. Denn wir werden immer nur mit großer Vorsicht von einem „Beweise" reden, wobei freilich unsere persönliche Überzeugung den Maßstab abgeben muß. Vitalist ische Gesichtspunkte sind in den letzten 15 Jahren ziemlich zahlreich hervorgetreten, zumal in Deutschland — freilich in starkem Kontrast zu dem, was man als offizielle deutsche Biologie bezeichnen könnte — ; aber ich kann keinem dieser zahlreichen Versuche eines ,,Neo- Vitalismus" zugestehen, daß er seine Behauptungen bewiesen habe. Ich nehme hier zwar die alsbald zu erörternde Theorie der Morph- ästhesie", wie sie von N o 1 1 entwickelt ist, in gewisser Hinsicht aus. Aber ich kann es weder Reinke noch Schneider noch P a u 1 y noch anderen zugestehen, daß sie ihre Lehren wahrhaft „bewiesen" haben, womit ich natürlich gegen die Lehren dieser verdienten Männer selbst, zumal gegen die Lehre Reinkes, gar nichts gesagt haben will; eine Lehre kann ja auch richtig sein, wenn ihr formeller Beweis fehlt. Ja, ich kann nicht einmal zugestehen, daß der originellste Denker auf diesem Felde, Gustav Wolff, einen wirklichen Beweis für seine Ansicht geführt hat. Er vertritt die Ansicht, daß die Existenz sogenannter „primärer Zweckmäßigkeit", d. h. die Existenz von adaptiven Prozessen, für deren Entstehung die Darwinschen Prinzipien versagen, den Vitalismus beweise ; aber ich meine, daß primäre Zweckmäßigkeit nur „Teleologie" im allgemeinen beweisen kann, und das ist, wie sich zeigen wird, ein viel weiterer Begriff als „Vitalismus". 10* X48 Problem der morphogenetischen Lokalisation. Es muß stets die Möglichkeit einer „Maschine" als Grundlage irgend einer Klasse von Phänomenen in zwin- gender Weise ausgeschlossen werden, wenn man für diese Klasse von einem Beweise des Vitalismus reden will ; und ich kann nicht zugeben, daß die Notwendigkeit eines solchen Ausschlusses von irgend einem meiner Streitgenossen, mit Ausnahme von Noll1), zwingend gezeigt sei. Die Logik unseres ersten Beweises des Vitalismus. Wir wollen das Ende dieses Kapitels einer Erwägung des logischen Weges, auf welchem wir zu unserem Beweise der Autonomie des Lebens gekommen sind, widmen. Zuerst und als wichtigstes dieses: Wir haben uns die Eormbildungsphänomene ohne jede Art von Voreingenom- menheit angesehen; wir können sagen, daß wir uns ihnen völlig hingegeben haben; wir sind mit keiner Art von Dogmatismus an sie herangetreten, es sei denn mit dem Dogmatismus, der allem logischen Denken inhärent ist. Aber dieser Dogmatismus, wenn man ihn so nennen will, fordert nicht, daß die Ergebnisse der Wissenschaften vom Anorganischen für das Organische gelten müsse, sondern nur, daß beide, anorganische und organische Welt, gewissen ganz allgemeinen Prinzipien gleichermaßen unterworfen sind. Wir haben also das Leben als ein gegebenes Phänomen studiert und haben uns ganz in unser Problem versenkt. Aber nicht nur in seine letzten Elemente haben wir zer- legt, was uns als Gegenstand der Untersuchung gegeben war, sondern wir haben auch, in mehr aktiver Weise, neue Begriffskombinationen aus diesen logischen Elementen geschaffen; und gerade aus der Erörterung dieser positiven Konstruktionen ist unser Beweis des Vitalismus hervorgegangen. x) Wir haben es in diesem Teile nur mit der Formbildung und der sogenannten vegetativen Physiologie zu tun; denjenigen Psychologen, welche die Theorie des psychophysischen Parallelismus ablehnen, muß ich es allerdings auch zum Teil zugeben, daß sie den Vitalismus bewiesen haben (vgl. Teil III). Problem der morphogenetischen Lokalisation. 149 Wir haben die Formbildung in Elementarprozesse, in Mittel, Potenzen, formative Reize zerlegt, ebenso wie der Physiker das mechanische Geschehen in Zeit, Geschwindig- keit, Masse und Kraft auflöst; wir haben dann unsere Elemente zu den „Systemen", den äquipotentiellen Systemen, den harmonisch-äquipotentiellen Systemen im besonderen, aufgebaut, ebenso wie der Physiker seine Elemente zu den Begriffen des Moments oder der kinetischen Energie oder der Arbeit aufbaut. Und schließlich haben wir das von uns Aufgebaute studiert und haben eben dadurch unsere Resultate erhalten, ebenso wie der Physiker seine letzten Resultate durch das Studium von Arbeit, kinetischer Energie und Moment erhält. Natürlich soll dieser Vergleich in keiner Weise die Behauptung vertreten, daß die Mechanik und die Biologie Wissenschaften gleicher Art sei; das sind sie nach meiner Meinung ganz und gar nicht. Aber trotzdem gibt es logische Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Und es ist nicht nur der logische formale Charakter, der uns einen Vergleich der Biologie mit anderen Naturwissenschaften erlaubt: es gibt außerdem noch eine gewisse Art von Annahme oder von Postulat oder wie Sie es nennen wollen, ohne welche jede Wissenschaft überhaupt unmöglich sein würde. Ich denke hier an den Begriff der Allgemeingültigkeit. Alle Naturbegriffe, welche durch positive Konstruktion aus den Elementen der Analyse gewonnen wurden, nehmen etwas für sich in Anspruch, das man objektive all- gemeine Gültigkeit nennen kann ; ohne diese würde es in der Tat keine Wissenschaft geben. Hier ist natürlich nicht der Ort für eine Vorlesung über Methodologie; es muß daher eine kurze Bemerkung mit Hinblick auf unseren eigentlichen Zweck hier genügen, eine Bemerkung, auf die wir allerdings besonderen Nach- druck legen möchten: Unser Begriff des ,, harmonisch-äqui- potentiellen Systems", ja schon unser Begriff der „pro- spektiven Potenz" schließt die Behauptung ein, daß in der Tat alle Blastomeren des Echinus, alle Stämme der Tubu- 150 Problem der morphogenetischen Lokalisation. laria, auch diejenigen, an welchen wir unsere Versuche nicht ausgeführt haben, sich s o verhalten, wie wir es eben durch den Versuch feststellten; jene Begriffe schließen also die Annahme ein, daß auch ein gewisser Keim von Echinus, A, den wir nicht in seine Blastomeren zerlegt haben, zwei Larven geliefert haben würde, wenn wir ihn in seine Blastomeren zerlegt hätten, während ein anderer Keim B, der uns t a t s ä c h 1 i c h nach Zertrennung seiner Blastomeren zwei kleine Larven lieferte, ohne jene Trennung nur eine Larve geliefert haben würde. Ohne diese Annahme ist der Begriff ,, Potenz" bedeutungslos; ja, ohne eine entsprechende Annahme würde jeder Begriff einer „Fähigkeit" oder einer „Möglichkeit" bedeutungslos sein — im ganzen Gebiete der Wissenschaft. Und doch kann diese Annahme nie bewiesen, sondern nur postuliert werden. Nur auf Grund dieses Postulates gilt also unser erster Beweis des Vitalismus; aber diese Einschränkung muß für jedes Naturgesetz gemacht werden. Ich kann Sie nicht zwingen, mein Postulat zuzugeben: wenn Sie es aber ablehnen, so sagen Sie damit, daß es eine Art von prästabilierter Harmonie zwischen dem wissen- schaftlichen Objekt und dem Forscher gibt, derart, daß, z. B. in unserem Falle, der Forscher immer nur solche Objekte in seine Hände bekommt, welche von Urbeginn an vorherbestimmt sind, sich in zwei Larven anstatt in eine zu entwickeln, und entsprechend anders. Wenn solches der Fall wäre, wäre natürlich kein Beweis irgend eines Naturgesetzes möglich; aber die Natur würde unter solchem Gesichtspunkt wahrhaft dämonisch erscheinen. Und so hoffe ich denn, Sie werden mir das Postulat der objektiven allgemeinen Gültigkeit wissenschaftlicher Begriffe zugeben — die einzige „Hypothese", welche wir für unsere Beweisführung nötig haben. 4. Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. Im folgenden werden unsere Studien über die Physiologie der Form in erster Linie einigen Ergänzungen über die Theorie der harmonisch-äquipotentiellen Systeme selbst und über gewisse Arten anderer morphogenetischer Systeme, die ihnen verwandt sind, gewidmet sein. Denn es ist von der größten Bedeutung, daß wir so vertraut wie möglich mit allen denjenigen Tatsachen der Formenphysiologie werden, auf deren Analyse sich die Gesamtheit der Theorien gründen wird, die unserer Philosophie des Organis- mus als Material dienen sollen. Nur an einer Stelle noch werden wir biologischen Tatsachen von gleicher philoso- phischer Tragweite begegnen. Obgleich die gegenwärtigen Untersuchungen unsere Analyse also vervollständigen und vertiefen sollen, so be- deuten sie doch eine Art von Ruhepunkt im Ganzen unserer Beweisführung. Bisher war es ein einziger Ge danke ngang, den wir von Beginn bis zum Ende verfolgt haben ; dieser Strom des Gedankens, wie man wohl sagen könnte, soll sich nun in verschiedene Arme zerteilen, gleichsam als wenn er aus einem felsigen Tal in eine Ebene einträte. Es scheint mir, daß eine solche kurze Ruhepause nicht un- geeignet dafür ist, ein wirklich tiefes Verständnis für alle unsere Ergebnisse anzubahnen, und ein solches volles und wirkliches Verständnis hinwiederum, eine solche Vertiefung in die Probleme und Ergebnisse der Lehre von der Form- bildung wird die beste Vorbereitung für den philosophischen Teil dieser Vorlesungen sein. 152 Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. Wanderzellen als harmonisck-äquipotentielle Systeme. Alle harmonisch-äquipotentiellen Systeme, welche wir bisher studierten, lagen histologischen Differenzierungs- prozessen zugrunde, d. h. alle Differenzierungsprozesse an ihnen bestanden in einem typischen Verschiedenwerden typisch lokalisierter Elemente in situ. Nun wissen wir, daß es wenigstens einen Typus von Sj^stemen unserer Gruppe gibt, deren Differenzierung sich nicht nur auf fest gelagerte Elemente bezieht. Ein neues Phänomen tritt hinzu: Die Elemente werden nicht nur an Ort und Stelle verschieden, sondern eine spezifische Art des Ortswechsels, eine spezifische Art des Wanderns geht Hand in Hand mit Verschiedenheiten, die sich auf die eigentliche, histo- genetische prospektive Bedeutung der Elemente beziehen. Ich spreche von der Bildung des Larvenskelettes unseres wohlbekannten Echinus. Wir wissen, daß die Mesenchym- zellen, nachdem sie das Blastoderm verlassen und sich zu einem bilateralen Ringe geordnet haben, den Ausgangs- punkt dieses Skelettes bilden: das Skelett entsteht auf Grund eines Sekretionsvorganges seitens der Zellen; die Zellen bewegen sich umher und scheiden während ihres Wanderns Calciumcarbonat aus. Die Versuche haben nun, wie wir wissen, gezeigt, daß ein ganzes, wennschon kleineres Skelett auch dann gebildet wird, wenn nur die Hälfte oder ein Viertel der Mesenchymzellen vorhanden ist, wie das bei allen Versuchen mit isolierten Blastomeren des 2- und des 4-zelligen Furchungsstadiums der Fall ist. Es ist klar, daß in diesen Fällen die Leistung jeder Zelle von ihrer Leistung im Normalen erheblich abweichen muß, und daß eine ähnliche Art des Unterschiedes in den morphogeneti- schen Leistungen hinwiederum auftritt, wenn wir das zwei- und das vierzellige Stadium mit einander vergleichen. Und die Möglichkeit einer verschiedenartigen Leistung seitens der individuellen Zellen wird auch noch aus anderen Er- scheinungen klar : Peter konnte zeigen, daß die Zahl der Mesenchymzellen bei Echinus unter gewissen Umständen Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. 153 außerordentlich variiert, und daß trotzdem das Skelett stets normal wird. Man mag einwenden, daß diese Unter- suchungsreihe deshalb nur von eingeschränkter Bedeutung für unsere Fragen ist, weil Variabilität sich naturgemäß auf verschiedene Individuen bezieht; aber es scheint mir, daß sie die Ergebnisse der am Individuum selbst angestellten Experimente vortrefflich ergänzt. Wir würden uns nun nur wiederholen müssen, wollten wir wiederum eingehend analysieren, was hier als Aus- druck der harmonischen Äquipotentialität selbst geschieht. Aber es tritt in der Tat etwas ganz Neues in unserem Falle auf: die einzelne Mesenchymzelle hat nicht nur in jedem Falle denjenigen spezifischen Sekretionsakt zu leisten, den eben der Fall erfordert, sondern sie muß sich auch auf den richtigen Platz begeben, um ihn zu leisten; es muß eine gewisse Ordnung herrschen, nicht nur bezüg- lich der Sekretionsakte nach dem Wandern, sondern auch bezüglich des Wanderns selbst1). Wenn es nur ungestörte Entwicklung gäbe, und wenn deshalb eine Theorie wie diejenige W e i s m a n n's haltbar wäre, so könnten wir vielleicht sagen, daß jede Mesenchymzelle spe- zifisch eingerichtet sei, nicht nur mit Rücksicht auf ihre Sekretionsleistung, sondern auch mit Rücksicht auf ihre sogenannte „chemotaktische Reizbarkeit"; die letztere müßte eben typisch lokalisiert sein, so daß ihre Effekte auf Grund der typischen gegenseitigen Anordnung aller Zellen auch typisch werden können. Aber eben das ist sicherlich nicht der Fall. Nun mögen Sie sich fragen, ob Sie sich irgend eine Maschine ausdenken können, welche !) Entsprechendes gilt für die Formbildung der Myxomyceten und vielleicht noch in anderen Fällen. — Wenn sich, wie M. Hartog und Tischler wollen, auf das Phänomen der Zellteilung, zumal der Karyokinese, ein Beweis des Vitalismus begründen ließe, so würde er auch Gedankengänge, die dem unsrigen ähnlich sind, verwenden müssen. Ich selbst halte diese Frage noch nicht für ganz spruchreif (man vergleiche auch die Ansichten von Gallardo- und Fick). — Literatur in meinen auf S. 76 genannten Referaten. 154 Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. aus vielen Teilen aber nicht einmal aus einer festen Zahl von Teilen besteht, die alle ihrer Vermöglichkeit nach identisch sind, die aber alle trotz ihrer gleichen Ver- möglichkeit in jedem einzelnen Falle nicht nur zusammen ein gewisses typisches Ganze produzieren, sondern sich auch typisch anordnen, um dieses Ganze produzieren zu können. Wir kennen in der Tat gewisse Fälle, in denen solche seltsamen Geschehnisse in der Natur realisiert sind, aber ich zweifle, ob wir hier von ,, Maschinen" reden möchten. Die Mesenchymzellen benehmen sich in der Tat, wie sich eine Anzahl von Arbeitern benehmen, welche, sagen wir, eine Brücke zu bauen haben. Jeder von ihnen kann jeden einzelnen Akt beim Baue leisten, jeder von ihnen kann auch jeden beliebigen Platz einnehmen : das Re- sultat ist immer die fertige Brücke; und die Brücke wird auch dann fertig, wenn einige von den Arbeitern krank sind oder durch einen Unfall getötet werden. Die „pro- spektive Bedeutung" des einzelnen Arbeiters wechselt eben in solchem Falle. Ich weiß wohl, daß das nur eine Analogie ist. Die Mesenchymzellen haben nicht gelernt, haben keine ,, Er- fahrung". Alles das wird uns später beschäftigen. Aber doch liegt Wahrheit in dieser Analogie und vielleicht ziehen Sie sie der streng abstrakten Überlegung vor. Über gewisse kombinierte Typen von morphogenetischen Systemen. Der Vollständigkeit halber will ich hier nebenbei be- merken, daß der Typus des eigentlich harmonisch-äqui- potentiellen Systems mit einem anderen Systemtypus, der in der Formbildung eine Rolle spielt, Hand in Hand gehen kann; mit einem Typus, den wir bereits in Kürze erwähnt haben und den wir später noch eingehender studieren werden. Wir wissen, daß es äquipotentielle Systeme mit komplexen Potenzen gibt, d. h. Systeme, welche einen ganzen Organismus gleichermaßen aus jedem ihrer Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung-. 155 Elemente hervorgehen lassen können; wir wissen, daß das Oambium der Phanerogamen ein solches System ist. Nun ist ohne weiteres klar, daß der Keim unseres Echinus, etwa im Stadium von 2 oder 4 oder 8 Zellen nicht nur ein harmonisch-äquipotentielles, sondern auch ein komplex- äquipotentielles System ist. Nicht nur kann ein ganzer Organismus entstehen aus 2/4, oder 3/±, oder 3/8, 4/gj 5/g> 6/s> 7/8 seiner Elemente, in welchen Fällen die harmonische Rolle der einzelnen Elemente bezüglich ihrer Einzel- leistungen in einem Ganzen variiert, sondern es können auch vier ganze einzelne Larven aus den vier Zellen des vierzelligen Stadiums oder acht einzelne ganze Larven aus dem achtzelligen Stadium entstehen1). In diesen Fällen hat natürlich jedes der vier oder acht Elemente nicht den Teil eines Ganzen, sondern selbst das Ganze geliefert. Mit Rücksicht auf diese ihre mögliche Leistung stellen unsere Systeme im vier- und achtzelligen Stadium der Furchung komplex-äquipotentielle Systeme dar. Wir wollen nun alle jene äquipotentiellen Systeme, welche gleichzeitig vom harmonischen und vom kom- plexen Typus sind, gemischt-äquipotentielle Systeme nennen. Wir finden sie nicht nur unter Furchungsstadien ; sehr klar stellt sie auch unsere Ascidie Clavellina dar. Wir wissen bereits, daß der Kiemenkorb dieser Form typisch harmonisch-äquipotentiell ist; aber er ist auch komplex-äquipotentiell, denn er kann auch das Fehlende in üblicher Weise durch Sprossung von der Wunde aus regenerieren; und dasselbe gilt auch für viele andere Fälle, z. B. für den Platt wurm Planaria. Ein anderer Typus von Systemen, welche gewisser- maßen von höherem Grade sind, zeigt sich bei gewissen seltsamen Regenerationsphänomenen. Godlewski hat zuerst klar gezeigt, daß Amphibien einen ganzen Schwanz x) Die 8 Larven würden in gewisser Hinsicht unvollständig sein, obschon nicht mit Rücksicht auf ihre Symmetrie. Sie würden .zwar ,.ganz" sein, aber gewisse Defekte ihres Baues zeigen. S. S. 64 Anm. 1 und 72. 156 Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. von einer Querwunde aus zu regenerieren vermögen, auch wenn diese Wunde nur einen Teil des Körperquer- schnittes ausmacht. Ein Schnitt durch den ganzen Körper- durchmesser würde hier natürlich auch die Bildung eines ganzen Schwanzes zur Folge gehabt haben; der Versuch zeigte eben, daß auch ein unvollständiger Querschnitt des Körpers das Ganze in kleinerem Maßstabe liefern kann. Die Gesamtheit aller aufeinander folgenden regenerations- fähigen Querschnitte durch den Körper würde hier natürlich ein System des komplexen Typus darstellen; nun hören wir weiter, daß jeder einzelne Querschnitt für sich ge- nommen, vom harmonischen Typus ist. Wir können hier von komplex-harmonischen Systemen reden. Was wir hier beschrieben haben, ist nun nicht das einzige Beispiel unseres neuen Typus von morphogene- tischen Systemen. Einige andere Beispiele sind schon einige Jahre früher entdeckt worden, obwohl niemand auf ihre Be- deutung hinwies. Ein partieller Querschnitt kann auch bei dem Plattwurm Planaria eine ganze Struktur, einen Kopf beispielsweise, aus sich hervorgehen lassen, und alle Fälle sogenannter Superregeneration im Gefolge kompli- zierter Verwundung würden wohl auch hierher gehören. Sie werden unsere beiden Ergänzungen zur Theorie der Systeme vielleicht für rein formal halten, und ich gebe in der Tat zu, daß wir etwas eigentlich Neues aus ihrer Zer- gliederung nicht lernen können: ihre Analyse würde uns entweder wieder zu dem führen, was wir unseren ersten Be- weis der Lebensautonomie genannt haben, oder aber zu unserem künftigen zweiten Beweis. Aber ich denke doch, daß schon die hier geschilderten Tatsachen für sich allein von Interesse sind, und daß sie Ihnen von den verschiedenen Ausprägungen der Autonomie der Formbildung ein besseres Bild geben. Als wir es mit solchen harmonisch-äquipotentiellen Systemen zu tun hatten, welche die Ausgangspunkte für Restitutionsprozesse bildete, wie z. B. bei Tubularia, Clavellina, den Plattwürmern und sonst, haben wir immer Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. 157 Querschnitte des Körpers als die elementaren Träger der Äquipotentialität angesehen. Querschnitte sind nun natür- lich nichts in sich selbst einfaches, sondern bestehen aus sehr verschiedenen Geweben, welche Abkömmlinge der drei ursprünglichen Keimblätter sind, des Ektoderms, Meso- derms und Endoderms. Es liegt in dem zusammengesetzten Charakter von Querschnitten, als Elementen der harmoni- schen Systeme, begründet, daß an diesem Punkte ein be- sonderes neues Problem der Morphogenesis auftritt, das uns denn doch etwas mehr lehrt als der bloße Begriff der har- monischen Äquipotentialität selbst : Wenn von zusammen- gesetzten Elementen aus eine ganze Organisation von typischen Proportionen entsteht, trotz der unabhängigen Entwicklung der verschiedenen einzelnen Gewebsarten, dann muß es offenbar eine gewisse Art von Korrespondenz oder Reziprozität in der Entwicklung dieser geweblichen Kon- stituenten im Vergleich zu einander geben ; sonst könnte eine proportionale Form nicht das Endresultat sein. Wir wollen also von einer Reziprozität der Harmonie sprechen, welche zwischen den einzelnen Geweben oder Keimblättern, die viele harmonisch-äquipotentielle Systeme zusammensetzen, besteht, und ohne Zweifel haben wir hier einen wichtigen Charakterzug aller Formbildung vor uns1). x) In einigen Fällen mag reziproke Harmonie sich auf die gegebenen Proportionen des ursprünglichen harmonischen Systems zurückführen lassen, von dem die einzelnen Konstituenten des komplizierten Systems, welches die reziproke Harmonie zeigt, sich herleiten. Dann haben wir nur ein Beispiel von „Konstellations- harmonie" vor uns (s. S. 109). Aber reziproke Harmonie wird ein Problem für sich, wenn sie bei Restitutionen auftritt, die von irgend einem bestimmten Punkte ausgehen, den der Experimentator willkürlich bestimmt. Künftige Forschung wird in eine exakte Formel zu fassen haben, was hier eigentlich vorliegt. Auch bei der eigent- lichen .Regeneration gibt es reziproke Harmonie. Man weiß, daß hier die Bildung der regenerativen Knospe und die eigentliche Ausgestaltung derselben einander folgen. Da nun die Knospe aus difierenten Elementarsystemen besteht, so folgt, daß diese ver- schiedenen Systeme, von denen jedes einzelne harmonisch ist, aueh in Reziprozität zu einander zu arbeiten haben, damit eine ganze proportionale Bildung resultieren kann. 158 Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. Einige wenige andere Gruppen von Tatsachen der Formenphysiologie mögen hier nun noch ihren Platz finden,, obwohl sie nicht eigentlich Ergänzungen zur Theorie der harmonischen Systeme sind, sondern vielmehr eine Art Anhang zu ihr bedeuten. Die „Morphästhesie" Nolls1). Wir wollen jetzt kurz diejenige Gruppe von botanischen Tatsachen erwähnen, durch welche N o 1 1 zu seinem Begriff der „ Morphästhesie" d. h. des ,, Formgefühls" des Organis- mus geführt wurde; ein Begriff, dessen eingehende Erörte- rung zu ungefähr denselben Folgerungen wie unsere Analyse der harmonischen Systeme führen würde. Bei den Sipho- neen, einer wohlbekannten Gruppe mariner Algen mit sehr komplizierter äußerer Form, befindet sich das Protoplasma, welches die Kerne in sich trägt, in fortwährender Zirku- lation durch den ganzen, nicht in Zellen geteilten Körper hindurch. Wegen dieser fortwährenden Zirkulation der Kerne ist es sicherlich unmöglich, die Lokalisation der Form- bildungsprozesse hier auf bestimmte Leistungen der Kerne zurückzuführen. Nun kann aber auch nicht irgend eine Art von Struktur der fixierten äußeren Protoplasmaschicht für jene Lokalisation verantwortlich sein, denn eine solche Struktur gibt es nicht: die Pflanze muß also die relativen örtlichkeiten ihres Körpers gewissermaßen ,, fühlen" können, und dieses wahrscheinlich in der Hautschicht vor sich gehende 2) Fühlen leitet ihre Formbildung. Mor- phästhesie wird jenes Fühlen von N o 1 1 genannt, und er versucht, die verschiedenartigsten botanischen Form- J) Biolog. Cbl. XXII, 1903. 2) F. Bosch (Inaug.-Diss. Bonn, 1907) zeigte jüngst durch plasmolytische Versuche, daß bei Pflanzen stets die Hautsckicht auch das tropistisch sensible Organ ist. Zur Frage der Heizleitung bei Pflanzen überhaupt vergleiche man die vortreffliche kritische Darstellung von Fitting (Ergebn. der Physiol., Bd. 4 u. 5); vgl. auch desselben Autors wichtige Arbeit in Jahrb. wiss. Bot., 44. Weitere Indizien für die Autonomie der Fonnbildung. 159" bildungsphänomene *) auf dasselbe zurückzuführen, so z. B. den sogenannten Autotropismus, d. h. die Tatsache, daß Zweige ihren Winkel zur Hauptachse oft wieder einnehmen, wenn ihre Orientierung an derselben künstlich gestört war 2). Es mag eine offene Frage bleiben, ob diese besondere An- wendung der Theorie berechtigt ist: auf alle Fälle liegt viel Wahrheit in der Aufstellung des Begriffs der Morphästhesier und wir könnten hier nur gegen ihren psychologischen Namen Einwendungen erheben. Aber das wird später in allge- meinerer Form geschehen. Restitutionen zweiter Ordnung. An dem Hydroidpolyp Tubularia, welcher uns schon als sehr typischer Vertreter der harmonischen Systeme be- kannt ist, ist ein interessantes Formbildungsphänomen ent- deckt worden 3), das gegenwärtig so gut wie allein dasteht, aber nichtsdestoweniger von großer Bedeutung ist; ein Phänomen, das wir als Restitution einer Resti- tution, oder als Restitution zweiter Ord- *) Gewisse von Neger entdeckte Tatsachen aus der Wachs- tumsphysiologie von Geranium Kobertianum, welche France kürz- lich von einem vitalistischen Standpunkt aus erörtert hat (Ztschr. f. d. Ausbau d. Entwicklungslehre I, 1907 Heft 4), gehören wohl auch hierher. Ich kann freilich keinen unabhängigen Beweis des Vitalismus in diesen Tatsachen, wenn sie für sich allein ge- nommen werden, erblicken; eine präexistierende „Maschine" läßt sich hier nicht absolut ausschließen. 2) Wird die Spitze der Hauptwurzel einer Pflanze abgeschnitten, so ändert bekanntlich, falls keine Regeneration statthat, eine der Seitenwurzeln den sogenannten Sinn ihres „Tropismus" und ersetzt die Hauptwurzel, indem sie in ihrer Kichtung fortwächst. Das galt stets als eine Änderung des Geotropismus, bis Nordhausen (Jahrb. wiss. Bot., 44) jüngst zeigte, daß die Sinnänderung auch am Klinostaten geschieht, daß es sich also um eine regulatorische Änderung der Eigenrichtung handelt. Mir scheint, der ge- nannte Autor hat damit gegen seinen Willen einen neuen Fall von „Morphästhesie" entdekt. 3) Driesch, Arch. f. Entw.-Mech. V, 1897. 160 Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. n u n g bezeichnen können. Sie wissen, daß das erste Auf- treten eines neuen Kopfes an einem operierten Tubularia- stamm in der Bildung zweier Ringe von roten Streifen inner- halb des Stammes besteht, und daß diese Ringe die Anlagen der neuen Tentakeln sind. Ich entfernte nun den terminalen dieser Ringe gleich nach seiner Entstehung durch eine zweite Operation und störte so den Verlauf der Re- stitution selbst: der Verlauf der Restitution selbst wurde dann reguliert. Der Organismus schlug einen andern Weg der Formbildung zum Zwecke dieser Regulation ein und erreichte so sein Ziel, trotz der neuen Störung, die sich ihm entgegengestellt hatte. Er bildete z. B. zwei Ringe aus dem einen, der ihm ge- blieben war, oder er ging in anderer Weise vor. Da diese Verschiedenheit des morphogenetischen Vorgehens ein Problem für sich ist, welches wir sogleich erörtern werden, so wollen wir eine eingehende Schilderung dieses Falles einer Restitution zweiter Ordnung überhaupt noch aufschieben. Ich sehe gegenwärtig nicht, wie man unsere hier ge- schilderten Tatsachen für einen unabhängigen Beweis der Autonomie des Lebens verwerten könnte; es scheint mir, als würde ihre Analyse uns nur wieder zu unserem Lokalisationsproblem führen ; wenigstens bei einer so exakten Form der Analyse, wie wir sie verlangen. Die „Äquifinalität" der Restitutionen 1). Ich sagte soeben, daß Tubularia bei ihrer Regulation von Restitutionen uns noch ein zweites sehr wichtiges Problem darbietet ; das ist das Problem der Äquifina- lität von Restitutionen. Es gibt in der Tat Restitutionen, welche von ein und demselben Ausgange ihren Ursprung nehmen, und welche zu ein und demselben Ende führen, welche sich aber verschiedener Mittel bedienen, welche verschiedene Bahnen einschlagen in den verschie- *) Driesch, Arch. f. Entw.-Mech. XIV., 1902. "Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. 161 denen Individuen ein und derselben Spezies, mögen diese Individuen auch derselben örtlichkeit, ja derselben Kolonie entstammen. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Stück Papier vor sich und wollen eine Landschaft darauf zeichnen. Nachdem Sie eine Weile gezeichnet haben, bemerken Sie, daß Sie Ihre Zeichnung für die Größe des Papiers zu groß anlegten und daß Sie sie nicht vollständig auf das Papier werden bringen können. Was können Sie da tun? Sie können entweder beendigen, was Sie zu zeichnen begonnen haben und können nachher sorgfältig ein neues Stück Papier an das ursprüng- liche anfügen und dieses für den Rest der Zeichnung be- nutzen; oder Sie können Ihre alte Zeichnung ausradieren und eine neue in kleinerem Maßstabe beginnen; endlich können Sie auch anstatt fortzufahren wie Sie begannen, oder anstatt das Fertige auszuradieren, so gut, wie es angeht, einen Kompromiß herstellen, indem Sie hier zeichnen, dort radieren und so ihre Skizze vollenden, wobei Sie freilich, wie es Ihnen gut scheint, die wirklichen Proportionen der Landschaft ein wenig verändern. Ganz ebenso geht nun auch unsere Tubularia vor. Auch Tubularia weiß drei verschiedene Auswege zu finden, wenn ihr, wie wir schilderten, der terminale ihrer beiden im Verlaufe der Restitution neu entstandenen Tentakel- ringe wiederum genommen ist. Sie kann vollenden, was ihr übrig blieb, also den basalen Tentakelring, dann den Kopf, soweit er fertig ist, aus dem hornigen Skelett, dem soge- nannten Periark, hinausstrecken, und ihn endlich durch einen Regenerationsprozeß vervollständigen. Aber sie kann sich auch ganz anders benehmen : sie radiert sozusagen durch einen Prozeß der Rückdifferenzierung alles das aus, was ihr noch von ihren Bildungen belassen war, und bildet dann von neuem die Gesamtheit der Anlagen eines neuen Kopfes. Oder endlich, sie bildet einen mittleren Teil des einen Tentakelringes, welchen sie noch besitzt, zurück und benutzt also diesen einen Ring zur Bildung von zweien, welche dann natürlich nicht ganz normal in Bezug auf- Driesch, Philosophie. I. H 162 Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. einander und in Bezug auf das Ganze gelagert sind, sich aber später durch Wachstumsprozesse entsprechend regu- lieren. So gibt es also in der Tat eine Art von Äqui- finalität der Restitution ; e i n Ausgangspunkt, ein Ende, aber drei verschiedene Mittel und Wege. Es würde natürlich, wie wir später noch eingehender sehen werden, dem Prinzip der Eindeutigkeit widersprechen, anzunehmen, daß es drei verschiedene Regulationswege gibt, während doch alle Bedingungen und Reize dieselben sind. Wir müssen vielmehr annehmen, daß dieses eben nicht der Fall ist, daß gewisse Verschiedenheiten in der Kon- stellation der Bedingungen, sagen wir im Alter oder im Stoff- wechsel, vorliegen, die verantwortlich dafür sind, daß das eine Individuum diesen Restitutionsweg einschlägt und das andere jenen; aber dadurch verliert das Phänomen der Äqui- potentialität nichts von seiner Bedeutung. Schon lange weiß man, daß die Restitution als solche nicht immer denselben Bahnen der Formbildung wie die eigentliche Embryologie folgt; eben diese Tatsache führte R o u x einst zu dem Ausspruch, daß die erwachsenen organischen Formen konstanter zu sein scheinen, als die Art ihrer Entstehung. Beim Vergleiche der Embryologie mit Restitution überhaupt haben wir es aber nur mit gleichen Resultaten, nicht mit gleichen Ausgangspunkten zu tun; die letzteren sind normal oder typisch in der On- togenie, atypisch bei der Restitution. Bei der neu ent- deckten Äquifinalität innerhalb des Gebietes der Restitu- tionen selbst aber haben wir denselben, durchaus un- typischen, von unserer Willkür abhängigen Ausgangspunkt vor uns, und dieser führt auf verschiedenen Wegen zu dem- selben Ziel. Man könnte geneigt sein, die Tatsachen der Äqui- finalität als einen Beweis des Vitalismus anzusehen. Ich würde nicht so argumentieren; ich ziehe es vor, einen Teil der Phänomene der Äquifinalität in unseren ersten Beweis der Autonomie des Lebens einzubeziehen, und einen anderen Teil in den zweiten Beweis, welcher folgen soll. Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. 163 Ein weiteres sehr interessantes Beispiel von regulativer Äquifinalität ist von Morgan entdeckt worden. Er fand, daß eine Spezies des Plattwurms Planaria sich aus kleinen Bruchstücken wieder herstellen kann: entweder durch echte Regeneration oder durch eine Art harmonischer Umordnung ihrer Substanz; das erste, wenn die Tiere genährt wurden, das zweite, wenn sie hungerten. Es ist bedeutsam, daß wir gerade hier eine der für die Wahl des Restitutions- weges maßgebenden Bedingungen vor uns sehen, wie das ja auch bei der wohlbekannten äquifinalen Restitution der Pflanzenwurzel der Fall ist, bei welcher das Verhalten des Organismus vom Abstände der Operationswunde von der Spitze abhängt 1). Bei Tubularia ist wohl das aktuelle Restitutionsstadium, welches zur Zeit der zweiten Ope- ration bereits erreicht worden war, für die Besonderheit ihres Formbildungsweges maßgebend; doch läßt sich das nicht immer klar nachweisen. Clavellina zeigt, wie wir wissen, ebenfalls eine Äqui- finalität in ihrer Restitution. Ihr isolierter Kiemenkorb kann sich entweder zu einem indifferenten Stadium zurück- differenzieren und dann seine Organisation auffrischen, oder er kann den Eingeweidesack in üblicher Weise regene- rieren. Über die maßgebenden Bedingungen ist hier nichts bekannt, es sei denn, daß junge Individuen geneigter sind dem ersten, ältere dem zweiten dieser beiden Wege zu folgen; aber von dieser Regel gibt es Ausnahmen. Die Erörterung noch anderer Beispiele von Äqui- finalität würde zwar biologisch von Bedeutung sein, würde aber nichts eigentlich Neues bedeuten, und so bemerken wir denn nur noch, daß die Tatsache der Äquifinalität von Restitutionen besser als alles andere zeigt, wie vollständig !) Die Wurzel kann sich wiederherstellen, entweder durch eigentliche Regeneration, oder durch Bildung von Adventivwurzeln, oder dadurch, daß eine der Seitenwurzeln den Sinn ihres Tropismus ändert (vgl. S. 112); das alles hängt von der kleineren oder größeren Entfernung der Wunde von der Spitze ab. 11* 164 Weitere Indizien für die Autonomie der Formbildung. unzureichend eigentlich alle unsere wissenschaftlichen Be- griffe sind, wenn man sie mit den wirklichen Phänomenen des Lebens zusammenbringt. Durch Analyse fanden wir, daß morphogenetische Potenzen von verschiedener Art, nämlich einfach oder komplex sein können; durch Analyse fanden wir Verschiedenheiten der Systeme, Verschieden- heiten der Mittel, und wir freuten uns, diese Verschieden- heiten so streng wie möglich formulieren zu können. Jetzt sehen wir, wie der Organismus sich an unsere Unterschei- dungen gar nicht kehrt, wie sich ein und dieselbe Spezies von Tieren bald wie das eine unserer ,, Systeme" verhält, und bald wie das andere; wie es nun diese Art von Potenzen gebraucht und nun jene. Aber wenn auch angesichts solcher Tatsachen unser Be- mühen nicht viel anders erscheint, als eines Kindes Spiel am Ufer des Meeres, so sehe ich doch keinen andern Weg, den wir gehen könnten ; solange wenigstens sehe ich ihn nicht, als menschliche Wissenschaft, d. h. das Studium des Wirk- lichen auf Grund unserer geistigen Organisation, unser Ziel ist. Bemerkungen über „Rückdifferenzierung". Wir wollen diesen Teil unserer Studien nunmehr mit der etwas breiteren Erwähnung einer fundamentalen Tatsache beendigen, die schon gelegentlich in unseren Ana- lysen auftrat ; ich meine das Phänomen der Rückdiffe- renzierung x). Wir wissen, daß es bei Clavellina und Tubularia auftritt; wir können beifügen, daß dasselbe bei Hydra der Fall ist, und daß der Plattwurm Planaria seinen Pharynx, falls er für ein aus ihm herausgeschnittenes Stück zu groß ist, zurückbilden und durch einen neuen kleineren ersetzen kann. *) Rückdifferenzierung ist natürlich nicht identisch mit Um- differenzierung (s. S. 111), obwohl sie im Dienste der letzteren stehen kann. Weitere Indizien für die Autonomie der FormbilduDg. 165 Es handelt sich hier nicht um das Absterben oder Ab- stoßen x) von Teilen, sondern um aktive Formbildungs- prozesse; nicht freilich um Prozesse, welche in der Pro- duktion sichtbarer Mannigfaltigkeit bestehen, sondern gerade um das Gregenteil. J. L o e b hat diesen Punkt zuerst betont und er ist in der Tat theoretisch von erheblicher Bedeutung: es tritt nämlich die Frage auf, ob vielleicht alle Formbildung unter gewissen Umständen rückwärts verlaufen könnte. Von Wichtigkeit ist es, zu bemerken, daß in den meisten 2) Fällen Rückdifferenzierung im Dienste von Restitution steht; sie geschieht dort, wo die Restitution sie erfordert. Das allein zeigt, wie wenig hier mit der an und für sich bedeutsamen Entdeckung der modernen Chemie gewonnen ist, daß ein und dasselbe Ferment oder Enzym sowohl die Zerlegung wie den Aufbau einer Ver- bindung ermöglichen kann. Wir können in der sogenannten ,, Katalyse" nur ein Agens erblicken, welches imDienste der Entelechie steht. Doch das wird in einem anderen Teile des Buches deutlicher werden. J) Freilich kommt in anderen Fällen ein solches wahres Abstoßen von Teilen vor. 2) Fälle von Rückdifferenzierung im Hungerstadium werden in einem späteren Kapitel erörtert werden. C. Anpassung. Einleitende Bemerkungen über Regulationen überhaupt. Wir sind jetzt mit unserer langen Darstellung der individuellen Formbildung am Ende. Wenn wir auf unseren Weg zurückblicken und zumal auf diejenigen Erörterungen, welche uns die wichtigsten Resultate geliefert haben, das Material für jene höhere Art von Analyse, welche später folgen soll, so muß es uns, meine ich, auffallen, daß alle diese Erörterungen Regulationen zum Gegen- stand hatten. Es sind in der Tat „sekundäre" Form- regulationen in unserer Terminologie, die wir unter den Gesichtspunkten der Äquifinalität, der Rückdifferenzierung, Restitution zweiter Ordnung usw. studiert haben, und auch unsere harmonisch-äquipotentiellen Systeme traten ganz vornehmlich bei Prozessen sekundärer Formregula- tionen auf. Und sogar, wo das nicht der Fall war, wie bei der Analyse der Keimespotenzen, in der eigentlichen Ent- wicklung, sind doch Formregulationen des anderen Typus von Regulationen, des primären oder immanenten, unser Gegenstand gewesen, indem eben die Verknüpfung der normalen Formbildungsprozesse in sich selbst regula- torisch war. Nun war es freilich nicht das Faktum orga- nischer Regulation als solcher, das es uns ermöglicht hat, unseren Beweis der Autonomie der Formbildung zu führen : das wurde uns vielmehr durch die Analyse der Ver- teilung der Potenzen ermöglicht ; aber eben auf diese Anpassung. 167 Verteilung war die Regulation basiert, und so können wir denn sagen, daß wir auch durch unsere Analyse der Potenz- verteilung mehr oder weniger indirekt gewisse Regulations- typen studiert haben. So sind wir denn also wohl berechtigt zu sagen, daß es wahrscheinlich auch für unsere künftigen Untersuchungen förderlich sein wird, wenn wir jetzt hier, bei unserem Übergang zu den Tatsachen der sogenannten vegetativen Physiologie, fortfahren, unser Augenmerk auf den Begriff der Regulation zu richten. Und das wollen wir denn auch tun: auf unserer Wanderung durch das ganze Feld der Physiologie wollen wir bei jedem Geschehnis Halt machen, welches irgend einen regulatorischen Zug hat, und wollen uns jedesmal fragen, was dieses Ereignis uns lehrt. Doch wir wollen unseren Begriff zuerst strenge defi- nieren: wir nennen „Regulation" jedes Geschehnis oder jede Gruppe von Geschehnissen in einem lebenden Organismus, welches oder welche nach einer Störung seiner normalen Organisation oder seines normalen Funktions- zustandes auftreten und zugleich zu einer Wiederherstellung dieser Organisation oder dieses Zustandes oder wenigstens zu einer gewissen Annäherung an solche Wiederherstellung führen. Die Organisation wird durch eine wirkliche Entfernung von Teilen gestört ; der Funktionszu- stand kann durch eine Entnahme von Teilen des Orga- nismus einerseits, durch einen Wechsel der Bedingungen der Außenwelt andererseits gestört werden; denn das physiologische Funktionieren ist in steter Wechselwirkung mit der Außenwelt. Es folgt hieraus, daß jede Ent- fernung von Teilen auch den Funktionszustand des Organismus verändert; aber trotzdem ist Organisation mehr als der Effekt einer bloßen Summe funktioneller Reaktionen. Alle Regulationen von Störungen der Orga- nisation sollen Restitutionen heißen, während alle Regulationen funktioneller Störungen Anpassungen Jßg Anpassung. oder Adaptationen heißen sollen. Mit Anpassungen haben wir uns also im folgenden zu beschäftigen. Wir wollen unser Studium der Anpassungen auf einem Felde beginnen, welches mit Recht als verbindendes Glied zwischen der Morphogenesis und der eigentlichen Physiologie angesehen werden kann, welches noch nicht völlig von der Wissenschaft der organischen Form, der Morphologie, getrennt ist. 1. Morphologische Anpassung. Anpassung der Form ist eine wohlbekannte Tatsache; ich brauche Sie bloß auf die großen Unterschiede zwischen der Land- und der Wassermodifikation amphibischer Pflanzen hinzuweisen, oder auf die Unterschiede, welche dieselbe Pflanzenart in den Bergen und in der Ebene dar- bietet, oder auf die verschiedene Ausbildung der Arme eines Asketen und eines Athleten, um Sie daran zu erinnern, was jener Ausdruck bedeutet. Dde morphologische Anpassung gehört nicht eigentlich zur individuellen Formbildung als solcher, sie geschieht, wenn diese zu Ende ist; wenigstens geschieht sie nie> bevor das volle individuelle Leben eines Organismus einsetzt, nie vor seinem eigentlich funktionellen Leben; denn sie bezieht sich auf die organischen Funktionen. Die Grenzen des Begriffs der Anpassung. Vornehmlich im Pflanzenreich nimmt die morpho- logische Anpassung ihre deutlichsten Formen an; und das ist wohl zu verstehen, wenn wir uns erinnern, daß einerseits das Leben der Pflanzen dauernd in engster Ab- hängigkeit von der Außenwelt steht, und andererseits die Außenwelt einen großen Wechsel aller möglichen Art in ihren Faktoren zeigt. Zur ersten Aufklärung unseres Problems erscheint es daher passend, unsere Erörterungen eine Zeitlang auf das Studium der Pflanzen zu beschränken. Bekanntlich spielen äußere formative Reize bei der pflanzlichen Formbildung eine große Rolle: würde es nun 170 Morphologische Anpassung. möglich sein, jeden Effekt eines äußeren formativen Reizes als wahre morphologische Anpassung anzusehen ? Ganz sicherlich nicht. Die allgemeine Harmonie aller Formbildung kommt zwar sicherlich in Frage, wenn die Schwerkraft Wurzeln am unteren Ende der Pflanze, dort wo sie in den Grund eindringen können, entstehen läßt, oder wenn das Licht Zweige und Blätter an Orten hervor- ruft, wo sie es später zum Zwecke der Assimilation finden können. Aber Schwerkraft und Licht selbst sind doch nur reine formative Reize, vom lokalisierenden Typus, in diesen Fällen, denn sie stehen nur zur Herstellung der individuellen Form als solcher, nicht zu den Funktionen der bereits existierenden Form in Beziehung. Wir müssen uns daher hüten, nicht die Effekte äußerer formativer Reize ohne weiteres mit adaptiven Effekten zu identi- fizieren, ohne jeden einzelnen Fall sorgfältig analysiert zu haben. Wir haben früher eine scharfe Grenze gezogen zwischen Ursachen und Mitteln der Formbildung, indem wir den Ausdruck ,, Mittel" auf solche für den Formbildungs- prozeß notwendigen Faktoren anwandten, welche weder zur Spezifität, noch zur örtlichkeit seiner Konstituenten in Beziehung stehen, obschon sie für das Zustandekommen der Formbildung überhaupt durchaus unentbehrlich sind. Würde es nun möglich sein, unseren neuen Begriff der ,, Anpassung" mit unserem Begriffe der Formbildungs mittel derart zu verknüpfen, daß wir von einer morphologischen An- passung immer dann sprechen könnten, wenn irgend ein Charakter der Formbildung unmittelbar abhängig ist von der Anwesenheit gewisser besonderer Mittel, obschon er nicht seine örtlichkeit diesen Mitteln, welche ja alsdann „Ursachen" wären, verdankt ? Mir scheint, daß auch dieser Gesichtspunkt durchaus nicht das Richtige treffen würde. Es ist z. B. bekannt, daß die Blumen mancher Pflanzen sich im Dunkeln niemals vollständig entwickeln, Licht ist zu ihrer Formbildung notwendig. Ist nun des- wegen ihr Wachstum bei Anwesenheit von Licht eine Morphologische Anpassung-, 171 morphologische Anpassung a n das Licht ? Sicherlich nicht, sie können nur ohne Licht nicht entstehen, weil ihre Formbildung eben das Licht aus irgend einem Grunde braucht. Gerade hier ist unsere Auffassung des Lichtes als eines Mittels der Formbildung durchaus am Platze. Es gibt viele derartige Fälle1), und es gibt andere von scheinbar abweichendem Typus, die aber doch dasselbe beweisen: alle pathologischen Bildungen, die bei Pflanzen von tierischen Parasiten oder von parasitischen Pilzen hervorgerufen werden, können schwerlich als adaptiv gelten, müssen vielmehr auf Rechnung des abnormen Charakters gewisser Mittel oder Reize gesetzt werden. Es mag ja sein, daß der Organismus in diesen Fällen immer- hin so passend wie möglich reagiert, und daß er sterben würde, wenn er anders reagierte — wir wissen hierüber absolut nichts — , aber selbst dann würde nur eine gewisse Art von Regulation i n dem Prozeß der pathologischen Formbildung vorliegen, der Prozeß selbst jedoch könnte nicht eine Anpassung heißen. Bis jetzt wissen wir also nur, was nicht eine morpho- logische Anpassung ist. Die Antwort auf einen äußeren formativen Reiz ist nicht ohne weiteres ein Beispiel einer Anpassung, und auch Prozesse, die in ihrer Existenz von irgendwelchen Bedingungen oder Mitteln abhängen, können nicht lediglich dieser ihrer Abhängigkeit wegen Anpassungen an jene Agentien heißen. Was aber ist denn eine morpho- logische Anpassung? Erinnern wir uns an das, was das Wort Anpassung uns eigentlich bedeuten soll: ein Funktionszustand wird angepaßt, ein Funktionszustand muß also gestört gewesen !) K 1 e b s hat die reproduktive Phase bei Blütenpflanzen und Pilzen vollständig unterdrückt oder verfrüht auftreten lassen lediglich dadurch, daß er die „äußeren Bedingungen" veränderte und dadurch auch die „inneren" variierte. Nichts von einer Adapta- tion liegt in diesen Fällen vor, welche übrigens, nebenbei gesagt, der Analyse gewisse Schwierigkeiten darbieten, da die Grenzen zwischen Ursache und Mittel hier schwankend sind. J72 Morphologische Anpassung. sein; da nun aber das Funktionieren selbst, bei Pflanzen wenigstens, sicherlich in engen Beziehungen zum Medium steht, so folgt, daß alle Anpassungen in letzter Linie mit- denjenigen Faktoren des Mediums verknüpft sind, welche das Funktionieren irgendwie beeinflussen: indem sie Korrektive für Störungen der Funktionen sind, werden sie zugleich Korrektive für Änderungen jener Faktoren selbst. Aber hinwiederum scheint die Frage aufzutreten, ob, wenn diese Faktoren des Mediums eine Adaptation veranlassen, dadurch, daß ihre Veränderung eine funktio- nelle Störung hervorrief, sie das in ihrer Eigenschaft als. ,, Ursachen" oder als „Mittel" tun, und so scheint es denn, als ob wir bis jetzt nicht sehr viel durch unsere Analyse gewonnen hätten. Dieser Vorwurf würde aber doch, wie mir scheint, nicht ganz berechtigt sein; wir haben in der Tat eine neue Art von analytischem Begriff — im Bereiche kausaler Begriffe überhaupt — eben dadurch gewonnen, daß wir klar machten, Anpassungen stünden in un- mittelbarer Beziehung zum Funktionieren und nur in indirekter, nämlich durch das Funktionieren vermittelter Beziehung zu Änderungen der Außenwelt. Durch diese logische Wendung sind wir jetzt berechtigt, das Wort „Ursache" in der beschränkten Bedeutung, die wir ihm früher beilegten, auf jede Veränderung des Mediums an- zuwenden, welcher irgend eine Art von Anpassung an eben sie folgt. Unsere Definition besagte nämlich, daß „Ursache" ein jeder äußere notwendige Faktor heißen solle, welcher entweder für die Lokalisation oder für die Spezifikation des Effektes verantwortlich ist, und diese Definition bleibt in unserem Falle bestehen. Die Spezifikation des Effektes wird in der Tat durch den äußeren Faktor bestimmt, in jedem Falle, wo der Effekt eine Anpassung a n ihn ist, und zwar auf Grund der bloßen Tatsache, daß hier eben eine spezifische Anpassung a n diesen spezifischen Faktor vorliegt. Wir dürfen nicht vergessen, daß wir in diesem Kapitel nicht die eigentliche Morphologische Anpassung. 173 » Formbildung des Individuums, welche Ausdruck der so- genannten Vererbung ist, studieren, sondern daß wir hier die eigentliche Formbildung als vollendet ansehen dürfen: die Morph ogenesis hat die allgemeinen Grundlagen der Organisation geschaffen, jetzt setzt die Anpassung während des funktionellen Lebens gewissermaßen eine zweite Organisation auf die erste. Eben aus diesem Grunde erhält das Wort ,, Ursache" jetzt eine etwas abweichende, aber doch noch in den Rahmen der Kunstdefinition passende Bedeutung. Wenn wir nun daran gehen, etwas eingehender zu studieren, was wir über morphologische Anpassungen bei Tieren und Pflanzen wissen, so tun wir gut, unser Material in zwei Gruppen zu sondern, von denen die eine sich mit Anpassungen an von außen gesetzte funktionelle Änderungen beschäftigt, während die andere solche Anpassungen studiert, welche aus der Natur des Funktionierens selbst entspringen. Alle Beispiele unserer vorläufigen Erwägungen gehörten zur ersten dieser Gruppe, mit der wir uns auch zunächst noch weiter beschäftigen wollen. Anpassungen an von außen gesetzte funktionelle Veränderungen 1). Die Unterschiede zwischen Pflanzen, welche in trockener oder in sehr feuchter Luft oder geradezu in Wasser auf- gezogen wurden, sind aufs deutlichste in allen denjenigen Geweben sichtbar, welche es mit der sogenannten Tran- spiration zu tun haben, d. h. mit dem Austausch von Wasser- dampf zwischen der Pflanze und dem Medium. Ganz besonders also sind es die Epidermis und das Leitungs- gewebe, welche in trockener Luft eine viel stärkere Ent- wicklung zeigen als in feuchter. Experimente haben in der Tat gezeigt, daß es ganz wesentlich die Transpiration l) Vgl. Herbst, Biol. Gbl. XV. 1895; Detto, Die Theorie der direkten Anpassung, Jena 1904. In beiden Schriften finden sich vollständige Literaturangaben. 174 Morphologische Anpassung. m ist, mit Rücksicht auf welche alle Anpassungen bei amphi- bischen Pflanzen geschehen, obwohl die mechanischen Bedingungen der verschiedenen Medien auch eine gewisse strukturelle Wirkung zu haben scheinen; auch werden bei Pflanzen, welche tief unter Wasser stehen, die für die pflanzliche Assimilation so wichtigen Bedingungen der Be- lichtung erheblich geändert, und manches an den struk- turellen Anpassungseffekten kommt daher auch auf Rechnung dieser. Für unsere allgemeinen Erwägungen ist es ohne besondere Bedeutung, was auf Rechnung des einen dieser Faktoren kommt und was auf Rechnung des anderen. Daß eine gewisse Art von Adaptation statthat, kann nicht zweifelhaft sein; und ein gleiches gilt, wie Versuche der letzten Jahre gezeigt haben, bezüglich der strukturellen Differenzen zwischen den sogenannten Sonnen- • und Schattenblättern von in der Luft aufgewachsenen Pflanzen: es konnte tatsächlich nachgewiesen werden, daß hier das funktionelle Leben der ersteren besser in der Sonne, das der letzteren besser im Schatten erfolgt. Ich betone grade diesen Punkt besonders stark, da der adaptive Charakter aller Arten von strukturellen Differenzen der Pflanzen, welche von Licht und von Feuchtigkeit abhängen, gelegentlich geleugnet worden ist, indem man nämlich behauptete, es läge nur eine frühe Beendigung oder Hemmung der Formbildung in den ein- facheren, ein Weiterlaufen der Formbildung in den kom- plizierteren Modifikationen vor und nichts anderes. Alle morphologische Adaptation ist in der Tat so aufgefaßt worden, als wenn sie nur in Unterschieden bestünde, die von der Gegenwart oder Abwesenheit von notwendigen Mitteln oder Ursachen der Entwicklung abhingen, und als wenn sie kein besonderes Problem darböte. Wir können einer solchen Behauptung, wie mir scheint, mit Recht auf Grund unserer Erwägung entgegentreten, daß alle Adap- tationen sich doch gar nicht direkt auf die Agentien des Mediums beziehen, sondern auf Änderungen des Funktions- zustandes, welche von diesen Agentien abhängen ; in Kürze : Morphologische Anpassung. 175 * Adaptationen sind nur „ Adaptationen" deswegen, weil sie Korrektive des Funktionszustandes sind. In diesem Sinne können wir nun einfach sagen: es gibt eben eine „Anpassung" der Struktur in allen von uns erwähnten Fällen. Wir können nicht mehr sagen, aber auch nicht weniger. Zugegeben, daß irgend ein äußerer Faktor nur ein notwendiges ,, Mittel" sei, warum aber ist dann die histologische Folge der Anwesenheit dieses Mittels eine wirkliche Anpassung an dasselbe, soweit als seine Beziehung zu den Funktionen des Organismus in Betracht kommt? Warum ist weiter die Folge seiner Abwesenheit auch eine Anpassung an eben diese Abwesenheit in ihrer Beziehung zu den Funktionen? Warum endlich, um ganz vollständig zu sein, ist der Grad der histologischen Folge seiner Anwesenheit eine Anpassung an den Grad eben dieser Anwesenheit ? Alle diese Beziehungen, welche ebensoviele Tatsachen ausdrücken, sind vollständig von allen jenen übersehen worden, welche es für gut befunden haben, die Tatsache der morpho- logischen Anpassung an von außen gesetzte funktionelle Störungen zu leugnen. Wir wollen unseren Gegnern insoweit entgegenkommen, als wir in allen oben genannten Fällen von ,, primären" Adaptationen sprechen wollen, indem wir mit dem Worte ,, primär", ebenso wie beim Studium der Restitutionen, dem Faktum Ausdruck verleihen, daß ein gewisser regula- torischer Zug bereits i n der normalen Verknüpfung der Prozesse liegt. Aber dieser regulatorische, adaptive Zug liegt nun einmal in ihnen. Wir reservieren also den Titel „sekundäre Adaptationen" für Fälle, wie sie z. B. von V ö c h t i n g1) beschrieben worden sind, in denen x) Vöchting (Jahrb. wiss. Bot. XXXIV. 1899) zwang die Knollen von Pflanzen Teile des Stammes zu werden und Teile des Stammes Knollen zu bilden; in beiden Fällen wurden äußerst charakteristische histologische Veränderungen beobachtet, welche teilweise Adaptationen, teilweise echte Restitutionen waren; (vgl. auch meine Organ. Regulationen 1901, S. 84). Ein sehr klares 176 Morphologische Anpassung. nicht nur ein und dasselbe Gewebe anpassungsmäßig mit Bezug auf den Grad seines normalen Funktionierens entsteht, sondern in denen auf eine sehr tiefgehende Störung aller funktionellen Verbindungen, im Gefolge der Entnahme von Teilen der Organisation, histologische Veränderungen an durchaus abnormen Orten folgen, in denen also eine wirkliche Veränderung der Art des Funktionierens die Folge der Adaptation ist. Es ist praktisch zwar sehr schwierig, solche Phänomene von wahren Restitutionen zu unterscheiden, obwohl logisch eine scharfe Grenze zwischen beiden existiert. Einige weitere konkrete Beispiele mögen jetzt unser Studium der Anpassung an von außen gesetzte funktionelle Veränderungen beschließen: Obwohl fast alle adaptiven Charaktere der Wasserformen amphibischer Pflanzen einen weniger hohen Organisationszustand darstellen, als die korrespondierenden Bildungen der Landformen, weswegen sie eben fälschlich als Ausdruck eines bloßen Aufhörens der Formbildung wegen Nichtvorhandenseins notwendiger Mittel aufgefaßt wurden, so gibt es doch auch einige Adaptiv- bildungen bei ihnen, welche den Landformen gegenüber den höheren Komplikationsgrad repräsentieren: hierher gehört das sogenannte Aerenchym, wie es besonders gut bei der Wasserform der Jussiäa entwickelt ist. Dieses Gewebe steht in unmittelbarer Beziehung zur Atmung, welche sich ja unter Wasser schwieriger als sonst gestaltet, und stellt eine wahre Anpassung an die geänderte Funktion dar. Im Tierreich gibt es nur einen einzigen, wirklich gut studierten Fall für unseren ersten Typus adaptiver morpho- logischer Charaktere. Salamandra atra, der schwarze Salamander, welcher nur in Regionen von über 800 m und einfaches Beispiel einer sekundären Adaptation scheint ferner ein von Boirivant entdeckter Fall darzustellen: bei Robinia wurden alle Fiederblättchen des Blattstiels entfernt, der Blattstiel selbst veränderte dann seine Struktur um assimilieren zu können und bildete auch richtige Spaltöffnungen. Morphologische Anpassung. 177 über dem Meer lebt, bringt seine Jungen erst nach Ablauf der Metamorphose zur Welt. Die Larven können jedoch in früherem Stadium experimentell aus dem Körper der Mutter entfernt und so gezwungen werden, ihre Entwicklung im Wasser zu vollenden. Unter diesen Umständen ändern sie nun, wie Kammerer1) in einer ausgezeichneten Arbeit gezeigt hat, den ganzen histologischen Typus ihrer Kiemen und ihrer Haut, so daß sie den neuen Funktions- bedingungen entsprechen können. Die experimentell gesetze Änderung der Funktionsbedingungen war hier in der Tat sehr durchgreifend, denn während die Kiemen im Uterus der Ernährung und der Atmung durch Ver- mittlung endosmotischer Prozesse gedient hatten, dienen sie jetzt der Atmung allein und das in einem ganz abnormen chemischen Medium. Wahre funktionelle Anpassung-). Alle anderen Fälle von morphologischer Anpassung im Tierreich und auch einige Fälle im Pflanzenreich gehören zu unserer zweiten Gruppe der Adaptationsphänomene, die wir oben als Anpassungen an die Natur des Funktio- nierens selbst bezeichnet haben und jetzt, in üblicher Weise, kurz „funktionelle Anpassungen" nennen wollen. R o u x erkannte zuerst die Bedeutung dieser Klasse von organischen Regulationen und hielt es für passend, sie durch einen besonderen Namen auszuzeichnen. Durch ihr Funktionieren wird die Organisa- tion der Gewebe besser für ihr künftiges Funktionieren geeignet. Diese Worte be- schreiben in der Tat am besten, was hier statthat. Es ist wohlbekannt, daß die Muskeln immer stärker werden, je mehr sie gebraucht werden, und daß dasselbe von Drüsen, 1) Arch. f. Entw. Mech. XVII, 1904. 2) Roux, Gesammelte Abh. Bd. I. 1895.; insbesondere: der Kampf der Teile im Organismus, Leipzig 1881. Driesch, Philosophie. I. 12 278 Morphologische Anpassung. vom Bindegewebe usw. gilt. Aber hier handelt es sich nur um quantitative Veränderungen. Funktionelle An- passungen einer viel komplizierteren und wichtigeren Art liegen vor, wenn z. B., wie Babak1) zeigte, der Darm von Kaulquappen seine Länge und seine Dicke außer- ordentlich stark verändert, je nachdem diese Tiere tierische oder pflanzliche Nahrung erhalten: er ist im zweiten Fall fast doppelt so lang wie im ersten. Abgesehen hiervon bieten die sogenannten mechanischen Anpassungen wohl das größte Interesse. Es ist schon lange, namentlich durch die Entdeckungen von Schwendener, Julius Wolff und Roux, bekannt, daß alle Gewebe, deren Funktion es ist, mecha- nischem Druck oder mechanischer Spannung Widerstand zu leisten, eine intime histologische Struktur besitzen, welche sie für diese ihre Aufgabe besonders geeignet macht. Das zeigt sich aufs deutlichste im Stamme der Pflanzen, im Schwanz des Delphins, in der Anordnung der Kalk- lamellen der Knochen von Wirbeltieren. Alle diese Struk- turen sind in der Tat derart, wie sie ein Ingenieur gemacht haben würde, der Kenntnis gehabt hätte von den mecha- nischen Bedingungen, denen sie zu entsprechen haben. Natürlich sind alle diese Gruppen mechanisch adaptierter Strukturen weit davon entfernt, „mechanisch erklärt" zu sein, wie der Wortausdruck vielleicht andeuten könnte, und wie in der Tat gewisse unkritische Forscher gelegent- lich gemeint haben. Die Strukturen sind da für Mechanik, nicht durch sie. Und auf der anderen Seite sind alle diese Strukturen, welche wir mechanisch „adaptiert" genannt haben, weit davon entfernt, mechanische „Adapta- tionen" in unserem Sinne des Wortes zu sein, bloß des- !) Arch. f. Entw-.Mech. XXI, 1906. Durch ein sehr ein- gehendes vergleichendes Studium konnte Babäk zeigen, daß der Effekt vegetabilischer Nahrung vorwiegend auf den in ihr ent- haltenen Planzenproteiden beruht; es liegt also eine Anpassung an die Verdaulichkeit vor. Mechanisches kommt nur in zweiter Linie in Betracht (vgl. auch Yung). Morphologische Anpassung. 179 wegen, weil sie adaptiert sind. Viele von ihnen existieren in der Tat, ehe es ein Funktionieren gibt; sie sind im wahren Sinne des Wortes vererbt, wenn wir dieses zwei- deutige Wort einmal anwenden wollen. Nachdem nun aber das rein deskriptive Faktum des mechanischen Angepaßt s e i n s festgestellt war, hat man auch Vorgänge wahrer mechanischer Anpassungen aufgefunden. Sie treten in den statischen Geweben der Pflanzen auf, freilich nicht in dem Maße, wie man einst annahm; sie geschehen in höchster Vollendung im Binde- gewebe, in den Muskeln und im Knochengewebe der Wirbel- tiere. Hier gelang es in der Tat, die spezifische Struktur der Gewebe durch Änderungen der mechanischen Bedin- gungen adaptiv zu verändern; ja, bei der Heilung von Knochenbrüchen haben diese Prozesse nicht nur eine große theoretische, sondern auch eine große praktische Bedeutung erlangt. Auch neue Gelenke, welche den Umständen gemäß auftreten, korrespondieren in mecha- nischer Weise ihrer künstlich neu geschaffenen mecha- nischen Funktion. Soviel über die Tatsachen der funktionellen Anpassung. Aus ihnen geht aufs deutlichste hervor, daß es eine morphologische Anpassung an funktionelle Änderungen, die aus der Natur des Funktionierens selbst entspringen, gibt. Der wirkliche Zustand aller funktionierenden Gewebe, die Intensität ihres wirklichen Zustandes, wenn wir so sagen wollen, ist in der Tat von ihrem Funktionieren selbst abhängig; die sogenannte Inaktivitätsatrophie ist hier nur ein Extrem einer langen Reihe korrespondierender Beziehungen 1). Wir müssen uns nun natürlich fragen, ob noch eine intimere Analyse der geschilderten Tatsachen möglich ist, und da finden wir denn unschwer, daß, ganz ebenso wie 2) Inaktivitätsatrophie von Muskeln darf natürlich nicht ver- wechselt werden mit Atrophie im Gefolge von Durchschneidung motorischer Nerven ; die letztere geht viel weiter. 12* 280 Morphologische Anpassung. bei unserer ersten Gruppe von morphologischen An- passungen, immer bestimmte einzelne Agentien des Mediums existieren, die als ,, Ursachen" oder ,, Mittel" des adaptiven Effektes bezeichnet werden können, wobei das Wort ,, Medium" soweit genommen werden muß, daß es alles umfaßt, was mit Rücksicht auf die reagierenden Zellen ,, außen" ist. Aber auch hier wird natürlich durch den Nachweis einzelner formativer Agentien der Reaktion selbst nicht das Geringste von ihrem adaptiven Charakter genommen. So werden wir vielleicht sagen, daß lokali- sierter Druck der formative Reiz für die Sekretion von Skelettsubstanz an einer bestimmten Stelle des Knochen- gewebes oder für die Ausscheidung der Fasern des Binde- gewebes sei; die bloß quantitativen Anpassungen der Muskeln möchten sogar noch eine einfachere Erklärung zulassen1). Aber trotzdem bleibt Anpassung Anpassung, mag sie auch nur eine ,, primäre" Regulation sein. Theoretische Folgerungen. Wir haben bereits in der analytischen Einleitung zu diesem Kapitel und auch sonst gesagt, daß funktionelle Änderungen, welche zu einer morphologischen Adaptation führen, nicht nur von einem Wechsel der Faktoren des Mediums, sondern auch von einer Entfernung von Teilen der Organisation ihren Ausgang nehmen können. Da nun auf eine solche Entfernung gewöhnlich eine Restitution folgt, so ist es klar, daß Restitutionen und Anpassungen oft Hand in Hand gehen können, wie das in deutlichster Weise bei den schönen, schon oben erwähnten Versuchen von V ö c h t i n g der Fall ist. Ich möchte aber hier nochmals hervorheben, daß, trotz solcher tatsächlicher x) L o e b hat die Ansicht vertreten, daß das adaptive Wachs- tum arbeitender Muskeln nur auf der Anwesenheit einer größeren Zahl gelöster Moleküle in ihrem Protoplasma, und damit auf einer Erhöhung des osmotischen Druckes beruhe, da ja die Muskel- tätigkeit auf einen chemischen Zersetzungsprozeß basiert ist. Morphologische Anpassung. 181 gegenseitiger Durchdringung, Restitutionen und Adapta- tionen theoretisch immer geschieden werden müssen, und daß die ersteren sich nie in Summen der letzteren auflösen lassen. Diese Ansicht ist nämlich von einigen neueren Autoren, zumal von Klebs, Holmes und Child1) vertreten worden; sie wird, wie mir scheint, durch die einfache Tatsache widerlegt, daß die erste Phase jedes Restitutionsprozesses, sei er echte Regeneration oder eine Art harmonischer Differenzierung, ohne alles Funktio- nieren und nur zum Zwecke künftigen Funkt ionierens geschieht 2). Und noch eine andere Ansicht ist vorgebracht worden, um die Sphäre des Adaptationsbegriffs zu erweitern : a 1 1 e individuelle Formbildung, nicht nur die Restitution, sollte Adaptation sein. Streng genommen ist eine solche Ansicht natürlich einfacher Nonsens, denn sogar spezifische adap- tierte Strukturen, wie diejenige der Knochen, können, wie wir gesehen haben, ontogenetisch vor allem spezi- fischen Funktionieren, obschon in seinem Dienste, entstehen, gar nicht zu reden von denjenigen Prozessen, welche, wie die Furchung und die Gastrulation nur die allgemeinen Grundzüge der Organisation festlegen. Aber das alles sind ,, ererbte" Anpassungen, so hat man geantwortet. Hierauf werden wir an späterer Stelle erwidern. Fürs. x) Was Child durch seine sorgfältigen Studien wirklich be- wiesen hat, sind nur gewisse Fälle funktioneller Anpassung an mechanische Bedingungen striktesten Sinnes, die sich auf die all- gemeine Beweglichkeit beziehen, und nichts weiter; solche Adap- tationen begleiten echte Restitutionen. Vgl. z. B. Journ. exp. zool. III, 1906, wo Child eine Übersicht seiner Theorie gegeben hat. 2) Selbst bei Vöchtings Versuchen (s. S. 175), in denen Adaptationen sich mit wahren Restitutionen in engster Weise verschlingen, konnten einige der letzteren klar abgesondert werden. Ihr Reiz gehört zu jener hypothetischen Gruppe von Reizen, von denen in einem früheren Kapitel die Rede war (s. S. 117). Die besten Beispiele wahrer Restitutionen lagen in solchen Fällen vor, in denen nach Entfernung der Knollen typische stärkespeichernde Zellen ohne Anwesenheit von Stärke gebildet wurden. 182 Morphologische Anpassung. erste genügt es uns zu sagen, daß es eben eine gewisse Art von sozusagen rein architektonischer Formbildung, sowohl typischer wie restitutiver Art gibt, ehe von irgend einem Funktionieren die Rede sein kann. Wenn wir nun versuchen, die allgemeinsten Resultate aus dem ganzen Gebiete der morphologischen Anpassungen zusammenzufassen, mit der besonderen Absicht für unsere philosophischen Zwecke neues Material zu erhalten, so müssen wir leider bekennen, daß es, gegenwärtig wenigstens, nicht möglich scheint, irgend einen neuen wirklichen Beweis der Autonomie des Lebens oder des Vitalismus aus diesen Tatsachen zu gewinnen; freilich auch keinen Beweis dagegen. Wir haben gezeigt, daß in jedem Falle unserer beiden Gruppen adaptiver Geschehnisse eine Korrespondenz zwischen dem Grade des Faktors, an welchen Anpassung statthat, und dem Grade des Anpassungseffektes vorliegt. Wir können hier von einer Antwort zwischen Ursache und Effekt reden, und so möchte es denn scheinen, als ob der von Goltz1) in die Wissenschaft eingeführte Begriff der ,, Antwortsreaktion", der später eine große Rolle in unseren Erörterungen zu spielen berufen ist, in Frage käme; aber in den Fällen, die wir hier behandeln, gibt es eine ,, Antwort" nur zwischen einer einfachen Ursache und einer einfachen Wirkung, und sie bezieht sich nur auf Quantität und örtlichkeit. Es fehlt also das wichtigste Kennzeichen, welches, wie sich später zeigen wird, den neuen Begriff erst wertvoll macht. So können wir also nur die Tatsache feststellen, daß es adaptive Beziehungen zwischen morphogenetischen Ursachen und Effekten gibt, daß auf funktionelle Stö- rungen oder Änderungen solche einzelne histogenetische Reaktionen seitens des Organismus folgen, welche Kom- pensationen seines gestörten oder geänderten funktionellen *) Beitr. zur Lehre von den Funktionen der Nervenzentren des Frosches. Berlin 1869. Morphologische Anpassung. 183 Zustandes sind. Das sind Tatsachen, und zwar Tatsachen seltsamer Art. Aber ich bin nicht imstande auf Grund dieser Tatsachen einen wirklichen Beweis gegen die mecha- nistische Lehre zu formulieren : es könnte hier eine „ Maschine" geben, in welcher alles vorgebildet ist. Sehr wahrscheinlich wird uns eine solche Maschine zwar nicht vorkommen, nachdem wir wissen, daß es sie auf anderen Gebieten der Formbildung nicht geben kann. Aber wir suchen nach einem neuen und unabhängigen Beweis, und einen solchen gibt es hier eben nicht1). Bis auf weiteres muß es also als eine der fundamen- talen Tatsachen der Harmonie aller Formbildung hin- genommen werden, daß die Zellen funktionierender Gewebe die Fähigkeit besitzen, auf Faktoren, welche den funktio- nellen Zustand verändert haben, in einer Weise zu reagieren, welche diese Änderung histologisch und damit funktionell ausgleicht. Und ebenso ist es eine Tatsache, daß sogar Zellen, welche selbst noch nicht funktionieren, sondern sich im sogenannten embryonalen oder indifferenten Zu- stand befinden und nur dem physiologischen Ersatz der Gewebe dienen, daß auch diese in einer Weise auf Faktoren, welche neue funktionelle Bedingungen des Ganzen ein- schließen, reagieren, die zu einer Anpassung an das Ganze dieser neu gesetzten Bedingungen führt. Dies ist in der Tat ein sehr wichtiger Charakterzug aller morphogenetischen Adaptationen, mögen sie von außen gesetzten funktionellen Änderungen korrespondieren, oder mögen sie auf der eigentlichen Natur des Funktio- niere ns beruhen. Solche Zellen nämlich, die bereits ihre Histogenese beendet haben, sind ja meist nur fähig, ihre Größe adaptiv zu verändern, können sich meist aber nicht mehr teilen und können auch ihre histologischen Eigen- schaften nicht mehr total umbilden ; technisch gesprochen : l) Die von Vöchting entdeckten sekundären Anpassungen sind zu kompliziert und zu sehr mit Restitutionen vermengt, um eine entscheidende Analyse der Tatsache der sekundären Adap- tation zu gestatten. ^34 Morphologische Anpassung. sie können nur einer ,, Hypertrophie" aber nicht einer „Hyperplasie" assistieren. Jeder adaptive Wechsel eines Gewebes also, der eine Zunahme in der Zahl der Zellen oder einen wirklichen histogenetischen Prozeß ein- schließt, muß von „indifferenten" Zellen ausgehen, d. h. von Zellen, welche noch nicht in der für das in Frage stehende Gewebe typischen Weise funktionieren, und — seltsam, aber wahr — diese „embryonalen" Zellen, wie z. B. das Cambium höherer Pflanzen und viele Zellen tierischer Gewebe, können nun wirklich leisten, was der funktionelle Zustand erfordert. Es ist zu hoffen, daß künftige Forschungen J ) auf diesen sehr bedeutsamen Zug aller Anpassung ein größeres Gewicht legen werden. J) Künftige Forschungen werden auch entscheiden müssen, ob gewisse Vermutungen von Werner und Kammerer zu Recht bestehen, welche den Bereich der Anpassungsphänomene außer- ordentlich erweitern würden — so sehr, daß unsere auf den Begriff des funktionellen Zustandes sich gründende Definition des An- passungsbegriffes sie nicht mehr umfassen würde und daher erweitert werden müßte. Salamander und Kröten vermögen nach Kamm er er aktiv die Farbe des Bodens, auf denen sie leben, anzunehmen: schon das wäre seltsam, falls es sich wirklich um Pigmentbildung und nicht nur um eine besondere Reizbarkeit von Chromatophoren, wie in den Versuchen von Minkiewicz an Krebsen, handeln würde; die eingangs genannten Autoren hoffen aber sogar das unter dem Namen „mimicry" bekannte Form- Angepaßtsein, z. B. bei Heuschrecken, als direkte aktive Anpassungsleistung auf- fassen zu können (vgl. Biol. Centr. 27 und Verh. zool. bot. Ges. Wien 1907/8). 2. Physiologische Anpassung j). Nur ein Schritt führt von den morphologischen An- passungen zu Adaptationen im Gebiete der eigentlichen Physiologie. Die einzige Differenz zwischen den Regula- tionen des ersten Typus und denen, welche sich bloß auf Funktionieren als solches beziehen, besteht darin, daß im ersten Falle die Resultate der Regulation von bestimmter Größe und Form sind und daher deutlich unterschieden werden können, während sie im zweiten Falle nicht als geformte Materialien deutlich sichtbar, sondern nur in Änderungen der chemischen und physikalischen Zusammen- setzung ausgedrückt sind. Man darf nie vergessen, daß Stoffwechsel das allgemeine Schema ist, innerhalb dessen sich alle Lebensprozesse abspielen. Aber Stoffwechsel, wenigstens in der be- schreibenden und unprätentiösen Bedeutung dieses Wortes, bedeutet nichts anderes als den Wechsel der physikalischen und chemischen Kennzeichen der einzelnen Konstituenten J) Allgemeine Literatur: Fröhlich, Das natürliche Zweck- mäßigkeitsprinzip in seiner Bedeutung für Krankheit und Heilung 1894. Driesch, Die organ. Regulationen 1901. A. Tschmermak, Das Anpassungsproblem in der Physiologie der Gegenwart, Fest- schrift für J. P. Pawlow, St. Petersburg, 1904. ßieganski, Über die Zweckmäßigkeit in den patholog. Erscheinungen. Ann. der Naturphilosophie V. 1906. Unter den allgemeinen Lehrbüchern der Physiologie erwähne ich zumal diejenigen von Pfeffer (Pflanzen- physiologie, 1897 — 1904), v. Bunge (Lehrbuch der Physiologie des Menschen) und 0. Cohnheim (Die Physiologie der Verdauung und Ernährung, Berlin 1908). In diesen werden alle Regulationen ein- gehend behandelt. Man vgl. auch die Arbeiten Ribberts über Allgemeine Pathologie. lg(3 Physiologische Anpassung. des Organismus. Mit solchen Worten sagen wir gar nichts über die physikalische und chemische Natur der Pro- zesse selbst aus, welche zu jenen physikalischen und chemischen Kennzeichen führen, und in keiner Weise sehen wir diese Prozesse selbst a priori als physikalisch oder chemisch an: wissen wir doch, daß sie es auf einem weiten Felde, nämlich bei der Differenzierung unserer harmonischen Systeme, sicherlich nicht sind. Wenn nun also Stoffwechsel zu einem Resultate führt, welches nicht von sichtbarer Form ist, dann eben liegen wahre physio- logische Prozesse oder im besonderen physiologische Regu- lationen vor, während wir es mit morphogenetischen Vor- gängen oder Regulationen zu tun haben, wenn das Er- gebnis des Stoffwechsels in irgend einem Wechsel der Konstituenten der Form zum Ausdruck kommt. Das kann natürlich, mit Hinblick auf die Natur der Regulation als solche, von ziemlich sekundären Unterschieden abhängen, und tatsächlich kann jede Art des Stoffwechsels sich echt regulatorisch gestalten, mag ihr Resultat als wahre Form sichtbar sein, indem vielleicht irgend eine unlösliche Verbindung produziert wurde oder eine Entmischung stattfand, oder nicht. Ich will mit dem allem durchaus nicht sagen, daß es keine weiteren Verschiedenheiten zwischen bloß physio- logischen Vorgängen und Regulationen einerseits und der eigentlichen Formbildung andererseits gibt; wenn wir aber, wie wir hier tun, die gegebene eigentlich architektonische Organisation eines lebenden Wesens als die Basis seines funktionellen Lebens ansehen, dann sind morphologische und physiologische Anpassungen in der Tat nahezu von gleicher Art. Wir beginnen nun unsere Erörterungen am besten mit einer Erinnerung an unser eigentliches Problem. Wir studieren funktionelle Adaptationen, d. h. wir wollen wissen, wie der Organismus sich angesichts irgend einer Veränderung, die in seinem funktionellen Zustand vor sich geht, benimmt. Wir sprechen von Regulation und im Physiologische Anpassung. 187 besonderen von Anpassung, sobald irgend ein Teil eines Organismus den normalen funktionellen Zustand wieder herstellt, und wir wünschen nun zu wissen, in welchem Grade derartige Anpassungen im Gebiete der Physiologie existieren. Spezifisches Angepaßtsein ist nicht „Anpassung". Es ist von großer Bedeutung, unsere scharf formulierte Aufgabe wohl im Gedächtnis zu behalten. Wenn wir das tun, so können wir sofort eine große Gruppe von Phänomenen aus unseren Betrachtungen ausschalten, welche gelegentlich von physiologischen Forschern als Regulationen bezeichnet werden, welche aber in der Tat keine Adaptationen sind und daher auch nicht die Probleme darbieten, welche man sonst wohl erwarten möchte. Typische Sonderheiten im funktionellen Leben dürfen nicht bloß dieser ihrer Eigenschaft halber Regulationen heißen. Wenn der Organismus sich z. B. besondere Quanten einer besonderen Art von organischer Nahrung oder von Salzen aus den Kombinationen von Salzen und organischen Nährstoffen, wie sie in normaler Weise das Medium darbietet, auswählt, wie das ja besonders typisch bei den Wurzeln der Pflanzen der Fall ist, dann dürfen wir darum allein nicht von einer „Regulation" oder „Adaptation" mit Rücksicht auf die Durchlässigkeit der Zellen sprechen, und es ist auch kein Fall einer Regulation, wenn sogenannte selektive Fähigkeiten bei Sekretions- prozessen z. B. im Nierenepithel entdeckt werden. Alle diese Dinge sind zunächst nur typische und spezi- fische Eigentümlichkeiten des Funkt ionierens, welche man mit Recht erwarten darf, wo es nun doch einmal eine sehr typische und spezifische Organisation höchster Kompli- ziertheit gibt. Nachdem wir diese Organisation einmal kennen, dürfen wir uns doch nicht wundern, daß die Funktionen der Organismen Bahnen folgen, welche sie ohne jene Organisation nicht einschlagen würden. Man nehme lgg Physiologische Anpassung. z. B. die oft erörterte Tatsache, daß Verbindungen oder Ionen im Organismus sich im Widerspruch mit den Ge- setzen der Osmose von der weniger konzentrierten zur konzentrierten Seite durch eine sogenannte ,, Membran" hin bewegen. Es g i b t hier eben gar keine einfache „Membrau", sondern es liegt eine komplizierte Organisation unbekannten Charakters vor, und nichts steht im Wege anzunehmen, daß diese Organisation Faktoren enthält, welche die Ionen oder Verbindungen aktiv nach der Seite höherer Konzen- tration hin treiben, welche sie treiben, indem sie Arbeit leisten, wenn wir einmal energetisch sprechen wollen, und diese in die Organisation einbeschlossenen Faktoren könnten sehr wohl von echt physikalisch oder chemischer Natur sein1). Ich lege großes Gewicht auf das hier Gesagte, da ich so vorsichtig wie möglich in der Zulassung irgend eines „Beweises" des Vitalismus sein möchte. Es war Mangel an wissenschaftlicher Kritik und strenger Logik, was den alten Vitalismus um sein Ansehen gebracht hat ; wir müssen uns unsere Arbeit so schwer wie möglich machen, wir müssen die sogenannte ,, Maschinentheorie" des Lebens so lange aufrecht erhalten, wie es nur irgend geht, wir müssen sie halten, bis wir geradezu gezwungen werden, sie aufzugeben. In allgemeinerer Form könnten wir unsere Aus- führungen zusammenfassen wie folgt: niemals liegen An- passungen in der Physiologie, die einer besonderen Analyse bedürften, dann vor, wenn es sich nur um Komplikationen oder um scheinbare Abweichungen vom rein physikalisch- chemischen Verlauf von Ereignissen handelt, die sozusagen statisch, d. h. nach Quantität und Qualität fixiert sind, mögen sie so seltsam und so typisch kompliziert sein, wie sie wollen; alle solche Sonderheiten mögen sehr wohl *) Forschungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß die Physik der Kolloide eine ebenso wichtige Rolle in der Physiologie spielt wie der osmotische Druck; wir haben hier „Mittel" des Funktionieren vor uns, ebenso wie wir Mittel der Formbildung kennen lernten. Physiologische Anpassung. 189 „angepaßt" genannt werden, d. h. gut geeignet, um im Dienst des normalen allgemeinen Funktionierens ihre spezifische Rolle zu spielen, und zwar sind sie für ihre Rolle „angepaßt" auf Grund einer allgemeinen ,, Angepa ßtheit" der Organisation überhaupt; aber sie sind an und für sich keine Anpassungen. Primäre und sekundäre Adaptionen in der Physiologie. Wir betreten das Gebiet wahrer Anpassungen, d. h. adaptiver Prozesse, sobald irgend eine Art von Variation im Funktionieren auftritt, welche einer Variation irgend eines Faktors des Mediums entspricht. Aber auch hier ist unsere Arbeit durchaus noch nicht damit getan, daß wir eine solche Korrespondenz äußerer und innerer Varia- tionen aufweisen. Wir wissen schon aus unseren früheren Studien sehr wohl, daß nun gleich ein anderes Problem auftritt, daß wir nun vor der Frage stehen, ob wir es mit einfachen primären Anpassungen oder mit den viel kompli- zierteren sekundären zu tun haben. Da die Unterscheidung zwischen primären und sekun- dären Regulationen von allererster Bedeutung ist, werden Sie mir, hoffe ich, erlauben, unser allgemeines analytisches Ergebnis betreffs dieses Unterschiedes roch einmal in Kürze zusammenzufassen : Als primäre Regulation bezeichnen wir jede morphogenetische oder funktionale Leistung, welche in ihrer inneren Natur einen regulatorischen Zug trägt, d. h. von sich selbst aus dahinstrebt, das Ganze der Orga- nisation oder des Funktionszustandes normal zu erhalten; wir nennen dagegen sekundär-regulatorisch alle Geschehnisse im Gebiet der Formbildung und des Funktionierens, welche dazu dienen, den gestörten Zustand auf Bahnen, die außer- halb des Bereiches sogenannter Normalität liegen, wieder- herzustellen. Diese analytische Unterscheidung wird sich für das Verständnis der Physiologie als sehr wichtig er- weisen. Doch bevor wir unsere Definitionen auf wirkliche Tatsachen anwenden, haben wir noch ein anderes vor- läufiges Problem zu erledigen. 190 Physiologische Anpassung. Über gewisse Voraussetzungen der Anpassung überhaupt. Ich denke hier an die wichtige allgemeine Frage, was für Arten von Adaptationen wir denn im Felde der Phy- siologie überhaupt erwarten dürfen, und ob es etwa gewisse Klassen denkmöglicher regulatorischer Vorgänge gebe, die man vielleicht a priori erwarten könnte, die sich aber doch bei einer intimeren Analyse der Natur des Orga- nismus vom Beginn an als unmöglich erweisen. Mit anderen Worten : auf welche Arten von Veränderungen des Mediums kann der Organismus überhaupt adaptiv reagieren, und auf welche kann er es nicht ? Wir wissen, daß der funktionelle Zustand geändert sein muß, damit überhaupt Adaptation auftritt. Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es a priori als dem Organis- mus sehr zuträglich erscheinen würde, wenn er in sein Blut oder in seine Lymphe niemals solche chemische Substanzen durch die Haut oder durch den Darm eindringen ließe, die sich später als giftig erweisen. Wer vom Prinzip der allge- meinen Nützlichkeit aller Lebensphänomene ausgeht, möchte in der Tat vielleicht annehmen, daß es eine Adaptation gegen Gifte in der Art gibt, daß ihnen stets der Eintritt in das eigentliche Körperinnere verwehrt wird. Wir wissen nun, daß eine solche Überlegung unrichtig sein würde. Wir können aber auch verstehen, glaube ich, daß eine sorg- fältigere Analyse von vornherein jene Vermutung gar nicht hätte aufkommen lassen. Denn wie könnte der funktionelle Zustand des Organismus verändert, wie könnte daher eine Anpassung wachgerufen werden durch einen Faktor des Mediums, der noch gar nicht in den Organismus eingetreten ist, sondern erst im Begriff war das zu tun ? Die von uns hypothetisch skizzierte Regulation war also ganz und gar nicht zu erwarten; wenn es überhaupt eine Anpassung an Gifte gibt, dann könnte sie doch wohl erst eintreten, nachdem das Gift wirklich bis zu einem gewissen Grade gewirkt hat; und in diesem Falle finden wir denn ja auch Regulationen. Physiologische Anpassung. 191 Sie werden diese Erörterung vielleicht recht akademisch und haarspalterisch nennen; es geschah wiederum lediglich zu dem Zwecke, eine gesunde Basis für unsere allgemeinen Prinzipien zu gewinnen, daß wir sie hier anstellten. Sehr oft haben in der Tat die Verteidiger der ,, mechanistischen" Theorie des Lebens die Frage aufgeworfen, warum sich denn der Organismus Gifte nicht von allem Anfang an fernhalte, wenn er doch einmal „vitalistisch" agieren könne. Wir können jetzt auf diese Frage einfach mit der Gegenfrage antworten: Wie sollte er denn das? Wie könnte er sozu- sagen wissen, was ein Gift ist und was nicht, ehe er es „er- fahren" hat, wenn wir einmal recht anthropomorphistisch sprechen wollen. Wir sagen es also noch einmal: die funktionellen Be- dingungen des Organismus müssen wirklich geändert worden sein, damit eine Anpassung geschehe. Das im Auge zu behalten ist für das Verständnis alles Folgenden ganz besonders von Wichtigkeit. Eigenfunktionen und harmonische Funktionen *). Der Begriff „Funktion" selbst bedarf nun endlich noch einer gewissen logischen Klärung. Ein Teil eines Organismus „funktioniert", im strengen Sinne des Wortes, wenn er die für ihn normale Art spezifi- schen Stoffwechsels leistet; die Gesamtheit aller normalen Stoffwechselleistungen der Teile des Organismus ist dessen „normaler Funktionszustand". Störungen eben dieses Zustandes als eines Ganzen können durch „Anpassung", d. h. durch die spezifische Änderung der Funktion eines spezifischen Teils, repariert werden. So weit scheint auf den ersten Blick alles ohne erhebliche Schwierigkeit zu sein ; man sieht aber doch nicht ohne weiteres ein, warum denn Änderung der Funktion eines Teiles, die doch ein Ab- 1) Dieser Abschnitt fehlt an dieser Stelle in der englischen Ausgabe, sein Inhalt findet sich jedoch daselbst in einer Anmerkung des zweiten Baudes. J92 Physiologische Anpassung. weichen vom Normalen bedeutet, für das Ganze eine „Anpassung", d. h. eine Wiederherstellung des Normalen bedeuten könne. Das Wort „Funktionieren" kann nun aber auch eine andere Bedeutung haben, als diejenige war, in der wir es bisher ausschließlich anwandten ; alsdann bezieht es sich nicht auf die Leistung eines bestimmten Organs als solche, sondern auf den Effekt dieser Leistung auf andere Teile desselben Individuums oder sogar auf das Ganze. Die „Funktion" der Pankreaszellen ist nach unserer eingangs gegebenen Definition die Trypsinausscheidung : wir wollen das jetzt ihre „Eigenfunktion" nennen. Durch die Trypsinausscheidung bereiten nun aber die Pankreaszellen das Material für die Assimilation aller anderen Organe des Individuums : das ist die „harmonischeFunktion" des Pankreas. Ebenso ist die Ausscheidung von Kalk- salzen die Eigenfunktion der Knochenzellen, während ihre harmonische Funktion das mechanische Stützen des Organis- mus ist. Eine „harmonische" Funktion ist harmonisch auf Grund dessen, was wir bei anderer Gelegenheit x) Kompositions- und Funktionalharmonie des Individuums genannt haben. Erst jetzt sehen wir klar, was „Anpassung" des ge- störten „Funktionszustandes" des Organismus, wie sie durch eine funktionelle Änderung eines bestimmten seiner Teile geleistet wird, eigentlich bedeutet : Die harmonische Funktion dieses Teiles, d. h. seine mittelbare oder unmittel- bare Rolle und Bedeutung für das gesamte lebende Indivi- duum, war gestört worden, weil sein „Funktionszustand", d. h. seine E i g e n f unktion unmittelbar von außen gestört worden war; eben jene Störung der harmonischen Funktion, oder der Harmonie des Funktionierens, wird nun durch Anpassung, d. h. durch eine Änderung der Eigenfunktion, rektifiziert. Nur deshalb also, weil eine Veränderung der I x *) Vgl. S. 109. Physiologische Anpassung. 193 Eigen funktion eines Organs zu einer Wiederherstellung der Harmonie des Funktionierens überhaupt führt, ist diese Veränderung adaptiv. Über einige Klassen primärer physiologischer Anpassungen. Allgemeine Bemerkungen über Reizbarkeit. Wir wenden uns nun den spezielleren Problemen der Lehre von der physiologischen Anpassung zu und be- ginnen mit den primären Anpassungen. Zunächst wollen wir dabei einen Gegenstand berücksichtigen, der ge- legentlich als Grundlage aller physiologischen Regulationen überhaupt angesehen worden ist. Ich denke hier an ein sehr wichtiges Faktum der allgemeinen Physiologie der Reizbarkeit. Reizbarkeit jeder Art stellt sich bekanntlich wieder her, nachdem sie durch einen Reaktionsprozeß ge- stört war, und in gewissen Fällen, in denen zwei verschiedene oder besser zwei entgegengesetzte Reaktionsarten an dem- selben Substrat möglich sind, kann die Reizbarkeit, wenn sie bezüglich des einen möglichen Prozesses sinkt, bezüglich des andern gleichzeitig wachsen. Die Reizbarkeit des Muskels oder der Blätter der Mimose ist ein gutes Beispiel für den ersten Fall, während der kompliziertere zweite am besten durch das illustriert wird, was wir über die Reizbarkeit der Retina wissen. Die Retina ist um so reizbarer für grüne Strahlen und um so weniger für rote, je mehr sie durch die letzteren gereizt wurde, und sie ist um so reizempfindlicher für Licht im allgemeinen, je mehr sie der Dunkelheit aus- gesetzt war ; sehr ähnliches liegt auch bei der phototaktischen Reizbarkeit der Pflanzen vor und wohl überhaupt bei allen Phänomenen, die zum sogenannten Weber 'sehen Ge- setze in Beziehung stehen. Gewisse moderne Psychologen wollen das eigentliche Weber 'sehe Gesetz, welches von der Zunahme der Intensität einer ,, Empfindung" in ihrer Beziehung zur Intensitätszunahme des korrespondierenden Reizes handelt, bei der Theorie des Urteils und nicht bei der Theorie der Driesch, Philosophie. I. 13 294 Physiologische Anpassung. Empfindung behandeln. Sobald das Gesetz sich lediglich auf objektive Reaktionen bezieht, nämlich auf ihre Abhängigkeit von objektiven Reizen, wird es natürlich weniger zweideutig; man kann in gewissem Sinne sagen, daß es alsdann die ,, Akklimatisation" *) an den in Rede stehenden Reiz, z. B. an einen gewissen Grad der Salinität oder Belichtung, mißt. Die mathematische Analogie des Web er 'sehen Gesetzes mit dem allgemeinsten Gesetze der chemischen Dynamik erscheint sehr bedeutsam: beide Gesetze sind logarithmische Gesetze. Es scheint nun in der Tat, daß das Phänomen der Um- kehrung der Reizbarkeit und Verwandtes ohne Schwierigkeit auf das sogenannte Prinzip der Massenwirkung und überhaupt auf die Gesetze, welche reversible chemische Prozesse be- herrschen, bezogen werden kann. Was die einfache Tat- sache der Wiederherstellung der Reizbarkeit nach statt- gehabter Reizung angeht, oder, in anderen Fällen, die Tat- sache, daß trotz permanenter Reizung die Reizbarkeit nie erlischt, so möchten hier wohl auch physikalische Analogien oder sogar Erklärungen möglich sein 2). 1) Was Akklimatisation im üblichen Sinne des Wortes angeht, d. h. die Tatsache der Veränderung der allgemeinen Wider- standsfähigkeit gegen gewisse Agentien des Mediums im Sinne einer Anpassung an sie, so wird die eigentliche Immunität später gesondert behandelt werden, und auch über die Akklimatisation an gewisse Grade des Salzgehalts, wie sie z. B. bei Algen und Fischen vorkommt, werden einige Bemerkungen bei späterer Ge- legenheit eingeflochten werden. Über Akklimatisation an ver- schiedene Temperaturen ist nicht viel bekannt (vgl. Davenport, Arch. f. Entw. Mech. II S. 227). „Akklimatisation" läßt sich nur schwer allgemein definieren: sie kann das Ergebnis sehr ver- schiedener Arten von Adaptation in unserem Sinne des Wortes sein. 2) Es scheint mir, daß das Problem der Wiederherstellung der Reizbarkeit, im Prinzip wenigstens, auch dann auftritt, wenn keine „Ermüdung" und keine „refraktäre Periode" vorhanden ist. Der Prozeß der Wiederherstellung mag so rasch sein, daß er sich der Wahrnehmung entzieht, aber er muß doch gefordert werden. Wir können sagen, daß die „ Reizbarkeit" einer elastischen Kugel durch ihre Elastizität wiederhergestellt wird. Der Muskel mag hierzu in der Tat eine gewisse Analogie bieten. Die Reizbarkeit der Physiologische Anpassung. 195 Wenn wir uns nun fragen, ob irgend etwas, das wie eine Adaptation aussieht, in den allgemeinen Kennzeichen der Reizung und Reizbarkeit vorliege, so scheint es mir, daß wir diese Frage bejahen dürfen, wenigstens was primäre Regulationen angeht. Ganz gewiß haben wir hier nicht wirklich abnorme regulatorische Bahnen des allgemeinen Funktionierens vor uns ; wir haben nur das allgemeine Funktionieren selbst studiert ; aber i n diesem Funktionieren lag eine gewisse Art der Regulation. Natürlich wollen wir damit, daß wir einen der wesentlichsten Charakterzüge alles Funktionierens als primär regulatorisch nachweisen, nicht die Möglichkeit leugnen, daß es gewisse besondere Funktionen mit sekundären Regulationen gibt. Dadurch, daß sich eines der allgemeinsten Kennzeichen alles Funktionierens verhältnismäßig leicht verstehen läßt, ist doch sicherlich über die verschiedenen besonderen Arten des Funktionierens noch gar nichts ausgemacht. Dieser wichtige logische Punkt scheint mir nicht immer die Beachtung erfahren zu haben, welche er verdient. Die Wärmeregulation1). Nach diesen einführenden Bemerkungen wenden wir uns dem Studium des adaptiven Charakters der besonderen physiologischen Funktionen zu und beginnen mit den ein- Nerven, bezüglich ihrer Leitungsfunktion, oder der Drüsen, bezüg- lich ihrer Sekretion, oder der Gelenke der Mimose scheint anderer- seits, wenigstens hypothetisch, verständlich zu sein, wenn wir annehmen, daß der normale Lauf des Stoffwechsels für sich selbst geeignet ist, zu einem gewissen Zustand der in Rede stehenden Organe zu führen, der eben ihre Reizbarkeit bedingt. Gewisse allgemeine Bedingungen des Funktionierens, wie z. B. die Not- wendigkeit des Sauerstoffs für die Muskelkontraktion, werden wohl besser als notwendige Mittel des Funktionierens denn als eigentliche Bestandteile der Reizbarkeit angesehen. Ermüdung mag natürlich auch auf der Abwesenheit solcher Mittel beruhen, oder auch auf abnormen Bedingungen, die durch das Funktionieren selbst ge- schaffen wurden. *) Rubner, Die Gesetze des Energieverbrauches bei der Er- nährung. Leipzig und Wien 1902. 13* 196 Physiologische Anpassung. fachsten Fällen. Die sogenannte Wärmeregulation der warm- blütigen Wirbeltiere ist ein gutes Beispiel einer besonderen Funktion, die in sich selbst regulatorisch ist. Es gibt eine normale Blutwärme für jede Spezies, welche sich erhält, gleichgültig ob die Temperatur des Mediums steigt oder fällt. Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als ob hier etwas mehr als bloß eine primäre Adaptation vorläge. Man könnte sagen, daß es sich nicht um die Umkehr der Richtung eines und desselben Prozesses bei dieser Regu- lation der Wärmebildung handele, sondern daß der eine Prozeß hervorgerufen werde, wenn die Temperatur steigen, und ein anderer, wenn sie fallen soll. Sind doch selbst bei der Erweiterung und Verengung der Kapillaren ver- schiedene Nerven beteiligt, und Entsprechendes wird noch deutlicher, wenn Erhöhung der Transpiration der Ab- kühlung, eine Erhöhung der Verbrennung aber der Er- wärmung dient: das sind zwei durchaus verschiedene Pro- zesse. Es ist aber doch insofern eine gewisse Einheit in diesen Prozessen, als sich ein gewisser Ort des Gehirns als ihr ,, Zentrum" erwiesen hat. Auf dieses Zentrum muß die Analyse der Wärmeregulation, als ein adaptiver Prozeß angesehen, bezogen werden. Eine solche letzte Analyse würde also, wie mir scheint, die Wärmeregulation ohne Einschränkung beim Typus der primären physiologischen Adaptationen unterbringen. Das Zentrum wird in diesem Sinne oder im entgegengesetzten gereizt, wenn es überhaupt durch irgend eine Temperatur innerhalb enger Grenzen gereizt wird, und eben auf dem Verhalten dieses Zentrums beruht die Wärmeregulation x). Primäre Regulationen beim Stofftransport. Der Wärmeregulation ähnliche Phänomene liegen bei vielen Prozessen des allgemeinen Stoffwechsels vor. Be- x) Über das Phänomen des Fiebers wollen wir hier nicht reden; die einen sehen es als Regulation, die anderen als Störung der Wärmeregulation an. Wenn der erste Gesichtspunkt sich als richtig erweisen sollte, so würde das Fieber wohl zur Klasse der echten sekundären Regulationen gehören. Physiologische Anpassung. 197 trachten wir kurz die Stoffwanderung bei Pflanzen: Wenn irgend eine Verbindung an einem bestimmten Orte gebraucht wird, so fließt sie dauernd diesem Orte aus allen möglichen Richtungen zu. Das ist sicherlich eine ^Regu- lation", aber es ist auch die Funktion selbst und sogar eine sehr einfache Funktion, die oft ganz ausschließlich auf wohlbekannten Gesetzen der physikalischen Chemie in einfachster Form beruhen mag. In anderen Fällen, wie bei dem Aufstieg des Wassers bis zu den höchsten Spitzen unserer Bäume, liegt zwar etwas vor, das physikalisch zur Zeit unerklärbar ist, doch ist es alsdann erlaubt, sich auf die noch unbekannte intime Organisation vieler Zellen und Ge- webe zu berufen, und es steht nichts im Wege, diesen Zellen Funktionen zuzuschreiben, welche gewissermaßen in sich selbst regulatorisch sind. Von anderen Regulationstat- sachen sei zunächst die Beendigung von Stoffwechsel- prozessen durch eine Anhäufung ihrer Produkte erwähnt; so hört z. B. die Bildung von Stärke auf, wenn der Zucker nicht weggeschafft wird. Natürlich ist das eine Regulation, aber eine primäre, wir können sogar sagen, daß es ja eine von den Kennzeichen reversibler chemischer Prozesse sei, in dieser Weise beendet zu werden. Ich weiß wohl, daß in diesem speziellen Falle insofern eine gewisse Komplikation eintritt, als ja ein sogenanntes Ferment, die Diastase, die Umbildung von Stärke in Rohrzucker besorgt, und daß dieses Ferment aktiv vom Organismus produziert wird : aber selbst das würde nicht die Existenz einer wahren sekundären Regulation beweisen, wenn über diese aktive Produktion nichts mehr als ihr bloßes Faktum bekannt wäre. In einer besonderen Reihe von Untersuchungen, die fast alle in Wilhelm Pfeffer's botanischem Labora- torium in Leipzig ausgeführt worden sind, ist ein Versuch gemacht worden, zu entdecken, in welcher Weise Pflanzen- zellen abnormen osmotischen Drucken des Mediums, d. h. erheblichen Wechseln seiner Salinität widerstehen können. Daß viele, zumal niedere Pflanzen solchem Wechsel Widerstand zu leisten imstande sind, wußte man schon aus 298 Physiologische Anpassung. den sorgfältigen Untersuchungen von Eschen hagen. Die jüngsten Forschungen haben seine Befunde nun ver- tieft: v. Mayenburg1) hat gefunden, daß verschiedene Pilze aus der Gattung Aspergillus, d. h. Hefepilze, in sehr hochkonzentrierten Lösungen verschiedener Salze (KN03 und Na2 S04) leben können ; sie regulieren ihren osmotischen Druck nicht durch Aufnahme der Salze selbst, sondern dadurch, daß sie im Innern ihres Zellsaftes einen gewissen Betrag osmotisch wirkender Substanzen, wahrscheinlich Kohlehydrate, aktiv produzieren. Wenn wir hier annehmen dürfen, daß der osmotische Druck des Mediums der wahre Reiz für die Produktion osmotischer Substanzen in der Zelle überhaupt ist, und daß Reiz und Produktion in ihrem Grade einander entsprechen, dann könnten wir hier von einer primären physiologischen 2) Regulation reden, und es scheint mir, daß auch bei den Entdeckungen von Nathansohn, nach denen gewisse Algen und Zellen höherer Pflanzen bei Änderungen der Salinität des Mediums imstande sind, die Durchlässigkeit ihrer Oberflächen derart zu ändern, daß die Menge der einzelnen Salze oder Ionen ihres Zellsaftes ohne Rücksicht auf rein osmotisches Gleichgewicht geändert wird, eine solche einfache Erklärung wenigstens vorläufig möglich ist 3). *) Jahr. wiss. Botanik XXXI. 1901. 2) Kohlehydrate sind nicht ionisierbar. und daher unterliegt es keinem Zweifel, daß in Mayenburgs Versuchen der Organismus aktiv tätig war. Für ionisierbare Verbindungen hat Maillard gezeigt, daß bei ihnen ein regulatorischer Charakter in der rein physikalischen Tatsache gegeben ist, daß der Grad der Ionisierung mit der Konzentration wechselt; Abnahme der Konzentration würde beispielsweise eine Zunahme der Ionisierung zur Folge haben und so könnte der osmotische Druck gewahrt bleiben. (C. rend. Soc. Biol. 53, 1901, p. 880.) 3) Bei den Versuchen Nathansohns (Jahrb. wiss. Bot. 38, 1902 und 39, 1903) wurde die Salinität des Mediums derart geändert, daß die Konzentration eines einzelnen für den Stoffwechsel not- wendigen Ions in jedem Falle entweder abnorm erhöht oder abnorm herabgesetzt wurde. Die Zelle widerstand diesen abnormen Ände- rungen dann derart, daß sie bei Erhöhung der Konzentration des Physiologische Anpassung. 199 Auch im Tierreich gibt es viele regulative Phänomene, welche mit osmotischem Druck und Durchlässigkeit ver- knüpft sind; freilich sind sie gegenwärtig durchaus nicht völlig durchschaut, und es ist eigentlich nur bekannt, daß die lebenden Epithelien der Tiere nicht, wie die der Pflanzen, vorhandene osmotische Strömungen regulieren, sondern aktiv Flüssigkeitsströmungen erzeugen. Die Arbeiten von Fredericq,J. Loeb, Overton und Sumner1) u. a. müssen von jedem, der hier tiefer ein- dringen will, studiert werden. Wir erwähnen hier nur, daß, wie schon angedeutet, auch die Durchlässigkeit für Wasser als solches eine Rolle spielt und daß, nach Overtons Mediums nicht mehr als einen gewissen Betrag des betreffenden Ions eintreten ließ, und daß sie im entgegengesetzten Falle nur einer bestimmten Menge des Ions den Austritt erlaubte. Hiernach scheint es, als wäre die Durchlässigkeit der Oberfläche einem gewissen Minimum und einem gewissen Maximum jedes einzelnen Ions oder Salzes angepaßt, so daß der Durchgang von innen nach außen bei Erreichung des Minimums, derjenige von außen nach innen bei Erreichung des Maximums im Zellsafte sistiert wird; beides ohne Rücksicht auf eigentlich physikalisches osmotisches Gleichgewicht („Physiologisches Gleichgewicht"). Natürlich wäre das nur eine primäre Regulation; alles würde dem Geschehen in der Niere ziemlich ähnlich sein. Freilich können wir nicht ver- sichern, daß unsere Erklärung richtig ist, aber sie ist möglich und ist zugleich die einfachste; und es ist unsere Praxis, immer die einfachsten Hypothesen zu bevorzugen. Anders zwar würden sowohl in Nathansohns Versuchen wie bei der Niere die Dinge liegen, wenn, etwa nach langer Dauer extremer Verhältnisse des Mediums, der Punkt des ,. physiologischen Gleichgewichts" selbst verschoben werden würde. Das wTäre eine besondere Art der „Akklimatisation" (s. S. 194 Anm. 1) und würde vielleicht als sekundäre Regulation zu deuteu sein (hierzu auch die Bemerkungen über „Stimmung" bei Bewegungserscheinungen in Teil III). — S. a. Meurer, Jahrb. wiss. Bot. 46. 1909. *) Viele Fische können großen Änderungen im osmotischen Drucke des Seewassers widerstehen; der osmotische Druck ihrer Körperflüssigkeiten variiert, sobald die abnormen Bedingungen des Mediums gewisse Grenzen überschreiten, ohne sich jedoch mit dem Drucke des Mediums in ein eigentliches physikalisches Gleichgewicht zu setzen. 200 Physiologische Anpassung. Versuchen, bei jeder Art von Durchlässigkeit eine gewisse Art von Löslichkeit der in Rede stehenden Stoffe in der Sub- stanz der Zelloberflächen, in Betracht kommt. In Cohn- heim's oben *) genanntem Buche findet sich eine sehr klare Darstellung der gesamten Theorie der Durchlässigkeits- regulationen. Farbenregulationen bei Algen. Die eben besprochenen Tatsachen könnte man als Prä- liminarien des eigentlichen Stoffwechsels bezeichnen, als not- wendige Bedingungen für sein Stattfinden. Nun gibt es noch eine andere Gruppe solcher Präliminarien des Stoff- wechsels, und gerade hier sind kürzlich besonders interessante Regulationsphänomene entdeckt worden. Sie wissen, daß die sogenannte Assimilation bei Pflanzen, d. h. die Bildung organischer Verbindungen aus Kohlensäure und Wasser, nur bei Lichtzutritt und mit Hilfe gewisser Pigmente vor sich geht. Bei den höheren Pflanzen und gelegentlich auch sonst ist dieses Pigment das grüne Chlorophyll. Aber es gibt andere Pigmente bei gewissen Spezies von Algen, und man kann wohl allgemein sagen 2), daß die Farbe des Pigmentes stets komplementär zu der Farbe derjenigen Strahlen ist, welche besonders stark absorbiert werden, um der Assimilation zu dienen. Doch hier haben wir „Angepaßt- sein", nicht Anpassung vor uns. Bei gewissen Spezies ein- facher Algen, den Oszillarien, hat nun Gaidukow3) sehr interessante Beispiele wirklicher regulatorischer Aktivität bei Bildung der Assimilationsfermente gefunden. Diese Algen nehmen immer eine Farbe an, welche mit der zufälligen Farbe der sie belichtenden Strahlen korrespondiert, indem sie ihr komplementär ist: sie werden grün im roten Licht, gelb im blauen Licht usw., d. h. sie nehmen immer aktiv eine Farbe an, die für den vorliegenden Fall die geeignetste !) S. 185 Anm. 1. 2) Vgl. Stahl, Zur Biologie des Chlorophylls. Jena 1909. s) Arch. Anat. Physiol. Physiol. Abt. Suppl. 1902. Physiologische Anpassung. 201 ist *). Es scheint so etwas wie eine komplementäre Photo- graphie bei diesen Algen vorzuliegen und doch werden die Grenzen primärer Phänomene hier nicht überschritten. Stoffwechselregulationen. Und nun betreten wir das Gebiet des eigentlichen Stoff- wechsels. Es gibt zwei Arten äußerer Faktoren, die für alle Stoffwechselvorgänge von fundamentaler Bedeutung sind: Nahrung und Sauerstoff. Und der Stoffwechsel, als Ganzes betrachtet, bietet auch zwei verschiedene Seiten dar: er dient erstens der eigentlichen Assimilation, d. h. dem Aufbau von Substanz, und er liefert zweitens die Energiequelle für alle Funktionen. Es ist klar, daß für den eigentlichen Auf bau von Substanz nur die Nahrung, natürlich zusammen mit den assimilatorischen Mitteln des Organismus, verantwortlich sein kann, während sich an der Lieferung von Energie Nahrung und Sauerstoff oder irgend ein Ersatz des letzteren, wie bei gewissen Bakterien, beteiligen. Natürlich ist die Bedeutung der sogenannten Atmung mit ihrer energetischen Rolle nicht erschöpft : wäre sie es, so würde der Organismus bei Entzug des Sauerstoffs nur zu funktionieren aufhören, aber nicht sterben. Es scheint, daß während der Zer- setzungsprozesse des Stoffwechsels gewisse Substanzen auf- treten, welche verbrannt werden müssen, um nicht giftig zu wirken. Aber auf diese Phänomene der Atmungslehre werden wir erst in einem späteren Kapitel zurückkommen, um sie dann, wie auch die Probleme der ,, Assimilation", *) Die von Gaidukow entdeckten Adaptationsphänomene hängen von einer wirklichen Änderung in der Bildung der Pigmente ab. Bei der chromatischen Adaptation von Schmetterlingspuppen mit Bezug auf den Boden, auf dem sie leben, liegt, wie es scheint, ähnliches vor (Poulton, Phil, trans. London, 178 B., 1888; Merrif ield, Trans. Ent. Soc. London 1898). Um die adaptive Reaktion vorgebildeter Chromatophoren handelt es sich aber bei den chromatischen Adaptationen der Krabben (Gramble and Keeble, Quart. Journ. Micr. Sei. 43, 1900, Minkiewicz, Arch. Zool. exp. et gen. ser. 4, 7, notes 1907). — Vgl. auch S. 184 Anm. 202 Physiologische Anpassung. von einem sehr viel allgemeineren Gesichtspunkt aus zu behandeln x). Wir wollen nun zunächst eine kurze Übersicht über alle diejenigen Regulationen geben, welche sich auf den Ersatz einer Art von Nahrung durch eine andere bezieht. Wir sagten, daß die Nahrung in erster Linie als Baumaterial und erst in zweiter als Brennstoff, als Energiequelle, dient. Nur kurze Erwähnung verdient es hier, daß, wie die neueren Forschungen gezeigt haben, die Rolle des Brennstoffs von Fetten, Kohlehydraten und Eiweiß gleichermaßen über- nommen werden kann 2). Im Hungerstadium, d. h. bei völliger Abwesenheit aller ernährenden Stoffe, hat sich der Organismus besonders J) Die hier kurz dargelegte Theorie der Atmung ist im Kap. B. 5 meiner Organischen Regulationen entwickelt. Neue Ent- deckungen von "Winterstein (Ztschr. allgem. Physiol. VI, 1907), geben dieser Theorie sichere Stützen und haben in der Tat die Lehre von der organischen Oxydation auf einen kritischen Punkt geführt. Es kann jetzt keinem Zweifel unterliegen, daß der Sauer- stoff die „entgiftende" Rolle spielt, die ich ihm zugeschrieben hatte. Und ferner hat sich herausgestellt, daß er nicht einmal von so großer Bedeutung für die Lieferung von Energie ist, wie man früher gemeint hatte. Kein Zweifel, daß er zum Treiben der funktionellen Maschinerie dient, aber die Zersetzung gewisser chemischer Substanzen ist dafür noch wichtiger. Sie leistet ge- wissermaßen das Grundlegende, während die Oxydation nur die von ihr gelieferten Produkte zu Ende verbrennt. Wenigstens gehen im Nervensystem alle elementaren Funktionen auch bei Abwesenheit von Sauerstoff vor sich, wenn nur gewisse (giftige) Substanzen, die aus diesem „anaerobischen" Stoffwechsel resultieren, beständig entfernt werden. Im Normalen geschieht das eben durch die Oxydation und eben dadurch assistiert der Sauerstoff der Lieferung von Energie, aber er liefert sie durchaus nicht ausschließlich. Unter solchem Gesichtspunkt verschwindet der Unterschied zwischen aerobischem und anaerobischem Leben so gut wie ganz, und viele sogenannte Regulationen auf diesem Gebiete verschwinden natürlich auch; von „intramolekularer Atmung" kann nicht mehr die Rede sein. 2) Aber doch kann bei Wirbeltieren Eiweiß nicht durch Fett oder Kohlehydrate ersetzt werden; es dient wahrscheinlich, auch beim Erwachsenen, noch besonderen Funktionen, abgesehen von der Verbrennung. Physiologische Anpassung. 203 scharf ausgeprägter Regulationen fähig erwiesen, welche sich auf die Verbrennung seiner eigenen Substanz beziehen. Wir wissen, daß nur der Fortgang der Atmung den Tod ver- hindert. Nun hat es sich in der Tat herausgestellt, daß der Atrnungsprozeß die verschiedenen fertigen Gewebe des Organismus angreift, wenn ihm nicht die unmittelbaren Derivate der aufgenommenen Nahrung zur Verfügung stehen, und zwar in einer derartigen Reihenfolge, daß zuerst die Reserven, dann diejenigen Gewebe, welche für das Leben überhaupt ohne große Bedeutung sind, und zuletzt erst die lebenswichtigen Gewebe zerstört werden. So werden z. B. bei Wirbeltieren die Nervenzellen und das Herz, so lange wie möglich, verschont, bei Infusorien der Kern, bei Platt- würmern, nach den sorgfältigen Untersuchungen von E. Schultz1), die Nervenzellen und die Geschlechts- zellen, während die übrigen Bestandteile der Organisation dieser Tiere im Hungerzustande rasch verschwinden. Wir können zwar gegenwärtig noch nichts Endgültiges mit diesen Tatsachen anfangen, aber sie sind sicher Zeugen einer ganz erstaunlichen adaptiven Fähigkeit 2). Wir wenden uns nun dem Studium solcher Fälle eines Nahrungsersatzes zu, bei denen nicht die Lieferung von Energie, sondern der eigentliche Aufbau des Orga- nismus eine Rolle spielt. Wir wissen, daß Eiweiß für das Leben der Tiere selbst im erwachsenen Zustande unbedingt erforderlich ist, wenn man auch nichts über seine eigentliche Rolle weiß. Seine Stelle kann natürlich von denjenigen einfacheren Verbindungen eingenommen werden, die aus J) Arch. f. Entw.-Mech. 8, 1904. 2) Einem meiner physiologischen Freunde verdanke ich die Vermutung, daß vielleicht alle dauernd funktionierenden Gewebe dem Hunger besser als andere widerstehen möchten, und daß man wohl den Geschlechtszellen stets eine „innere Sekretion" als Funktion zuschreiben dürfe. Auf diese Weise würden die Anpassungen im Hungerzustand in gewisser AVeise auf funktionelle Anpassung zurückgeführt sein. Aber es muß doch wohl eine offene Frage bleiben, ob sich eine solche Auffassung angesichts der bei Planaria und bei Infusorien beobachteten Tatsachen halten läßt. 204 Physiologische Anpassung. den ersten an ihm geschehenen Zersetzungsprozessen, wie sie durch Pepsin und Trypsin bewirkt werden, resultieren; aber sonst ist hier kein Ersatz möglich. Die Salze des Seewassers dürfen nach Herbst nur in sehr geringem Betrage variieren, wenn die Entwicklung mariner Tiere normal verlaufen soll, nur Kalium kann — aber auch nicht vollständig — durch Caesium oder Rubidium er- setzt werden. Ungefähr dasselbe gilt für die zum Wachs- tum der Pflanzen notwendigen Salze. Nicht sehr über- raschen kann es uns, wenn wir hören, daß Algen sich auch mit Erfolg durch organische, anstatt durch an- organische Kaliumsalze, und daß höhere Pflanzen sich mit Acidamiden oder Glukosen an Stelle von Kohlensäure er- nähren lassen, da diese ja Produkte ihrer normalen Assimi- lation sind, und es ist auch unschwer einzusehen, daß Stickstoff, anstatt als Nitrat, auch in organischer Form dargeboten werden kann. In der Gruppe der Pilze sind wirklich wichtige Adapta- tionen im Bereiche der formproduzierenden Ernährung zuerst entdeckt worden, und zwar Adaptationen einer sehr komplizierten Art. Es ist bekannt, daß Pilze nur eine einzige organische Verbindung, anstatt jener drei — Fette, Kohlehydrate und Eiweiß — , die für den Stoffwechsel der Tiere erforderlich sind, für einen normalen Ablauf ihrer Lebensprozesse benötigen. Pfeffer konnte nun zeigen, daß sehr verschiedene und durchaus abnorme Verbindungen vollständiges Wachstum und normale Formbildung bei diesen Objekten ermöglichen, und er fand weiter, daß bei gleichzeitiger Darbietung mehrerer Arten solcher abnormen Nahrung die einzelnen Bestandteile derselben ganz ohne Rücksicht auf ihre chemische Konstitution und nur mit Bezug auf den Nährwert verbraucht werden. Diejenige Nahrung, welche, wenn allein dargeboten, ein besseres Wachs- tum als die andere zur Folge gehabt hätte, schützt die letztere vor Zersetzung, wenn beide zugleich dargeboten sind. Hier haben wir eines der typischsten Beispiele von Stoffwechselregulationen vor uns: der Organismus ist Physiologische Anpassung. 205 imstande, Verbinclungen sehr verschiedener Konstitution, die ihm noch nie früher zur Verfügung standen, zu zersetzen. Und doch muß es nun eine offene Frage bleiben, ob hier wahre sekundäre Regulationen, wie es auf den ersten Anblick scheinen kannte, vorliegen, da eben über die einzelnen Stufen des Stoffwechsels der Pilze gar nichts im einzelnen bekannt ist. Es k ö n n t e n ja doch gewisse Fermente bei ihnen vorgebildet sein, die eben ver- schiedene Klassen von Verbindungen gleichermaßen zersetzen können1), und der Umstand, daß die nahrhafteste Verbindung zuerst verbraucht wird, könnte eine Frage physikalisch-chemischen Gleichgewichts sein. Das ist nun ungefähr alles2), was tatsächlich über Adaptationen mit Rücksicht auf abnorme Ernährung bekannt ist. Obwohl wichtig, ist es wenig genug. Dürfen wir hier aber überhaupt sehr zahlreiche Regulationen erwarten, wenn wir an das denken, was wir früher über die Möglichkeit adaptiver Regulationen gesagt haben? Der funktionelle Zustand muß geändert sein, damit Regulationen auftreten können. Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, daß dieser Zustand nur dann wirklich geändert ist, wenn das Protoplasma der Körperoberfläche eine abnorme Nahrung erst einmal aufgenommen hat, aber nicht dann, wenn diese Nahrung nur ins Innere des Darmes eingetreten ist, welches ja doch im strengen Sinne zur Außenwelt gehört. Pilze nehmen in der Tat nicht nur eine abnorme Nahrung unmittelbar auf, sondern wissen dann auch etwas mit ihr anzufangen, alle Tiere aber behandeln ja zuerst den Inhalt ihres Darmes mit x) In allen Fallen, in denen Pilze derselben Spezies auf ver- schiedenen Wirten leben, d. h. Membrauen verschiedenen chemischen Charakters durchdringen können, kann der Hypothese, daß eine sekundäre Regulation vorliege, ein ähnlicher Einwand gemacht werden. 2) Die Entdeckung von Weinland, daß erwachsene Hunde Laktase in ihrem Pankreas bilden könnten, wenn sie abnormerweise mit Milchzucker ernährt sind, soll auf einem analytischen Irrtum beruhen. 206 Physiologische Anpassung. ihren chemischen Sekretionsprodukten, um ihn überhaupt in ihre lebenden Zellen aufnehmen zu können, und daß diese Sekretionen nur in Korrespondenz zu einer be- schränkten Zahl äußerer Reize geschehen, darf uns doch wohl nicht wundernehmen. In der Tat, sobald wir uns fragen, was für adaptive Erscheinungen denn im Bereiche des innerhalb des tierischen Körpers geschehenden Stoffwechsels vorliegen oder mit Bezug auf die wechsel- seitige Zuordnung der verschiedenen normalen Zersetzungs Vorgänge im Darm zu einander, finden wir Regulationen weit entwickelterer Art. Die Entdeckungen der letzten Jahre haben uns gezeigt, daß fast alle Stoffwechselvorgänge im Organismus, ein- schließlich der Atmung, mit Hilfe bestimmter chemischer Substanzen, der sogenannten Enzyme oder Fermente geschehen. Man kennt solche Substanzen auch im An- organischen in verschiedenen Formen. Sie sind nichts anderes als chemische Verbindungen von bestimmter Art, welche chemische Reaktionen zwischen zwei anderen chemischen Substanzen ermöglichen, die in ihrer Ab- wesenheit entweder gar nicht oder sehr langsam geschehen würden. Wir können hier natürlich nicht in eine Erörterung der chemischen Theorie der sogenannten ,, Katalyse" ein- treten, wir können nur sagen, daß kein Grund dagegen vorliegt, fast alle St off Wechsel Vorgänge im Organismus als mit Hilfe von Fermenten oder Katalysatoren geschehend anzusehen, und daß die einzige Differenz zwischen an- organischen und organischen Fermenten in der sehr kom- plizierten Natur und im hohen Grade der Spezifikation der letzteren besteht. Das heißt nun natürlich nicht, daß aller Stoffwechsel chemischer Natur sei ; die Wirkung des Fermentes, wenn es einmal da ist, ist chemisch, aber wir wissen ganz und gar nicht, wie das Ferment gebildet ist, wir wissen nur, daß der Organismus sich bei seiner Bildung als in hohem Grade aktiv erweist. Es hat sich in der Tat in einigen Fällen erwiesen, und wird in Zukunft wohl noch für viel Physiologische Anpassung. 207 mehr Fälle gezeigt werden, daß alle Stoffwechselfermente, mögen sie im Dienste der Atmung oder der eigentlichen Assimilation oder der chemischen Zersetzung stehen, in regulatorischer Beziehung zu der besonderen Verbindung gebildet werden, welche zerlegt oder aufgebaut werden soll. So ist denn also das ganze Feld des tierischen Stoff- wechsels, trotz seiner Beschränkung auf gewisse Typen der dargebotenen Nahrung, doch geradezu bedeckt mit ,, Regulationen". Sind sie vom ,, sekundären" Typus? Der regulatorische Charakter des Stoffwechsels bezieht sich natürlich in erster Linie auf den Prozeß der Sekretion des Fermentes, nicht auf seine wirkliche Bildung im Innern der Zelle. Die Regulation bezüglich der Sekretion der Fer- mente ist nun sicherlich primär ; liegt in ihrer Produktion eine sekundäre Regulation vor? Leider läßt sich diese Frage nicht endgültig beantworten; wir kennen gegen- wärtig jedenfalls nichts, auf Grund dessen wir die Existenz einer wahrhaft sekundären Adaptation wirklich behaupten dürften. Es könnte in allem nur eine Art von ,, statischer Harmonie" vorliegen, die vor allem Funktionieren für das Funktionieren eingerichtet ist. Die wenigen Tatsachen wirklich sekundärer St off Wechselregulationen überhaupt, die gegenwärtig bekannt sind, stehen alle ausschließlich in Beziehung zu Restitutionsphänomenen im Gefolge wirklicher Störungen der Organisationen; hier sind in der Tat außerordentlich viele sekundär-regulatorische Ände- rungen auch des eigentlichen Stoffwechsels, sowohl bei Tieren wie bei Pflanzen, entdeckt worden. Aber wir kennen mit Sicherheit keine einzige sekundäre Regulation, die den Stoffwechsel allein betrifft1). Das ist ein neues Anzeichen für den Primat der Form im Organischen. *) Eine wahre sekundäre reine Stoffwechselregulation würde dann vorliegen, wenn nach der Exstirpation einer bestimmten Drüse eine andere Drüse ihre Funktion annehmen würde. Hier liegen aber nur einige ziemlich zweifelhafte Beobachtungen über ein funktionelles Vertreten zwischen Thymus und Schilddrüse vor, abgesehen davon, daß die sogenannten Lymphdrüsen sich nach 208 Physiologische Anpassung. Was wir über Regulationen in der Ausscheidung der Verdauungssekrete im besonderen wissen, wird ganz vorwiegend P a w 1 o w und seiner Schule, sowie S t a r 1 i n g verdankt ; für ein tieferes Eindringen in den Gegenstand sind die Darstellungen von B a y 1 i s s und Starling, Boldyreff und Cohnheim zu empfehlen1). Die Ausscheidung der Fermente, beziehungsweise die so- genannte Aktivierung der Profermente zu Fermenten geschieht in geradezu erstaunlicher wechselseitiger Ab- stimmung; ganz besonders die Eiweißfermente treten ein jedes an seiner Stelle und in ganz bestimmter Quantität auf, so wie sie nötig sind. Aber p r i m ä r - regulatorisch scheint doch alles zu sein — freilich erscheint da der Prozeß der Ontogenese, der ja die hier obwaltende Harmonie statischer Art geschaffen hat, nur um so rätselhafter. Ganz isoliert im Gebiete der Physiologie des Stoff- wechsels steht das von P a w 1 o w entdeckte Phänomen der psychischen oder assoziativen Sekretion; hier tritt, freilich durch das Nervensystem vermittelt, etwas auf, was allen übrigen Stoffwechselvorgängen fremd ist und sonst durchaus den Bewegungsvorgängen angehört — „Erfahrung". Doch gehören eben damit diese Phänomene nicht dem ersten, sondern dem dritten Hauptteil unserer Betrachtungen an ; sie werden freilich einen echten Beweis der Autonomie des Lebens zulassen. Die Immunität als einziger sicherer Fall einer sekundären physiologischen Anpassung. Nur in einer Klasse von rein vegetativen Prozessen im Bereiche der Physiologie ist der Typus der sekundären Exstirpation der Nebennieren vergrößern. Selbst hier ist aber eine gewisse Art von Restitution mit der eigentlichen Adaptation verbunden. 2) Bayliss und Starling, Ergebn. d. Physiol. 1906. Boldy- reff, Ztschr. f. d. Ausbau d. Entw. -Lehre, Bd. I, 1907. Cohnheim s. S. 185 Anm. Physiologische Anpassung. 209 Regulation wirklich mit Sicherheit verwirklicht. Die Entdeckungen der letzten 20 Jahre haben es außer Zweifel gesetzt, und künftige Untersuchungen werden es uns wohl noch immer deutlicher machen, daß die sogenannte I m - m u n i t ä t gegen Krankheiten nur ein einzelner Fall aus einer sehr zahlreichen Klasse biologischer Phänomene ist, in denen eine adaptive Beziehung zwischen abnormen chemischen Reizen und aktiven chemischen Reaktionen im Inneren des Organismus besteht, eine Beziehung, welche alles, was man früher auf dem Gebiet der organischen Regulationen für möglich hielt, weit übertrifft. Die adaptive Fähigkeit des Organismus anorganischen Giften1) gegenüber ist verhältnismäßig klein und ist fast stets nicht die Folge eines wirklich aktiven Regulations- prozesses, sondern die Wirkung von im Organismus prä- existierenden Substanzen, d. h. sie ist Angepaßtsein, nicht Anpassung. Metallische Gifte z. B. können durch eine Verbindung mit Eiweiß oder mit Schwefelsäure in harm- lose unlösliche Verbindungen überführt werden, freie Säuren können neutralisiert werden usw.; aber alle diese Prozesse haben erstens ihre bestimmten Grenzen und sind ferner, wie erwähnt, fast stets das Ergebnis von Reak- tionen mit vorgebildeten Materialien. Nur in wenigen Fällen gibt es eine wahre Anpassung an metallische Sub- stanzen, wie an Sublimat und, in geringfügigem Grade, an Arsenik, eine Anpassung, die in gewisser Hinsicht der Anpassung an abnorme Temperaturen vergleichbar ist; ein Organismus wird z. B. anfangs an sehr kleine Beträge von Sublimat gewöhnt und erhält dann allmählich immer größere, er wird schließlich einer Menge dieses Giftes wider- stehen können, welche ihn, falls sie ihm gleich anfangs dargeboten wäre, sofort getötet hätte2). Doch ist diese Art der Anpassung, wie sie auch vielen organischen Giften x) Siehe E. Fromm, Die chemischen Schutzmittel des Tier- körpers bei Vergiftungen. Straßburg 1903. 2) Davenport, Arch. f. Entw.-Mech. II., 1895/96; Haus- mann, Pflüg. Arch. 113, 1906. Driesch, Philosophie. I. 1^ 210 Physiologische Anpassung. gegenüber statthat1), keineswegs erklärt; es scheint eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihr und der sogenannten histogenen Immunität gegen Bakteriengifte vorzuliegen. Im Kampfe gegen tierische und pflanzliche Gifte, wie sie von Bakterien, gewissen Pflanzen und den Gift- schlangen produziert werden, erreicht die wahre Anpassung des Organismus ihren höchsten Grad. Die Produktion sogenannter ,, Antikörper" innerhalb der Körperflüssigkeiten ist nicht das einzige Mittel, das der Organismus gegen schädliche Substanzen dieser Art anwendet; die Existenz der sogenannten histogenen Immunität ist außer allem Zweifel, und auch Metschnikoff2) war sicherlich nicht ganz im Unrecht mit seiner Behauptung, daß die Zellen des Organismus selbst den Angriff lebender Bakterien zurückschlagen. Bindegewebszellen und die weißen Blut- zellen werden von den Bakterien und auch von vielen anderen Fremdkörpern chemotaktisch angelockt, nehmen sie auf und töten sogar die ersteren. Dieser Prozeß einer sogenannten ,, Phagozytose" ist besonders häufig bei niederen Tieren, aber er tritt auch bei dem sogenannten Entzündungs- prozeß der höheren Tiere auf3). Und es gibt auch noch andere Arten der Verteidigung gegen Parasiten, wie denn z. B. hornige oder kalkige Kapseln gebildet werden, um Trichinen und gewisse Arten von Bakterien zu isolieren. Aber das tritt alles zurück im Vergleich zu den adaptiven Fähigkeiten der warmblütigen Wirbeltiere, zu der Bildung von entgiftenden Substanzen in ihrer Lymphe und ihrem Blute. Ich kann hier4) nur wenige Worte über die Phänomene und die Theorie der eigentlichen Immunität, welche die !) Man vergleiche die allgemeine Darstellung von W. Haus- mann, Ergebn. d. Physiol. 6, 1907, p. 58. 2) Legons sur la pathologie comparee de l'inflammation. Paris 1892. 3) Die übrigen Phasen des Entzüudungsprozesses hat man auch als adaptiv angesehen ; der Zufluß von Körperflüssigkeit z. B. soll zur Verdünnung giftiger Substanzen dienen. 4) Jacoby, Immunität und Disposition. Wiesbaden 1906. Physiologische Anpassung. 211 Dimensionen einer Wissenschaft für sich angenommen hat, sagen. Nur einige theoretisch besonders interessante Punkte will ich erwähnen. Entdeckungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß der Organismus nicht nur gegen die „Toxine" der Bakterien, Schlangen und gewisser Pflanzen aktiv sogenannte „Antitoxine", d. h. lösliche Substanzen, welche mit den Toxinen reagieren und sie entgiften, bilden kann, wenn immer es nötig ist, sondern daß er überhaupt gegen jeden fremden Eiweißkörper eine spezifische Reaktion einzuleiten imstande ist, welche diesen Körper zur Koagulation bringt. Aber die Zer- störung wirklich vorhandener giftiger Substanzen oder fremder Eiweißkörper ist noch lange nicht alles, was der Organismus leisten kann. „Erworbene Immunität", d. h. die Sicherung gegen giftige Substanzen auf eine größere oder geringere Periode der Zukunft hin, hängt von noch mehr ab. Hier wird nicht nur soviel von dem „Anti- körper" gebildet, wie mit Hinblick auf das wirklich vor- handene Quantum der schädlichen oder fremden Substanz nötig ist, sondern es wird mehr gebildet als unmittelbar nötig ist. Auf dieser Überproduktion eben beruht alle aktive Immunität, sei sie natürlich oder, wie bei gewissen Arten der Impfung, künstlich, und auch die sogenannte passive Immunität, welche durch Transfusion des Serums eines aktiv immunen Organismus in einen anderen erzielt wird, hängt hiervon ab 1). Gerade diese Tatsache der Mehr bildung von Anti- toxinen oder Präzipitinen gegenüber dem unmittelbaren Bedarf macht wohl jede rein chemische Theorie der hier vorliegenden Fakten unmöglich. Die Reaktion zwischen Toxin und Antitoxin, zwischen Eiweiß und Präzipitinen ist sicherlich chemisch; man kann sie in einem Reagenzglas J) Sogenannte angeborene Immunität ist im Gegensatz zur er- worbenen natürlich ein Fall von Angepaßt sein, nicht von An- passung. Ein spezifisches, sehr hohes Angepaßtsein besitzen auch gewisse Tiere mit Hinsicht auf die Koagulation des Blutes (Leo Loeb, Biol. Bull. IX., 1905). 14* 212 Physiologische Anpassung. ausführen; aber es scheint mir durchaus nicht erwiesen zu sein, daß auch die Bildung des Antikörpers selbst chemisch ist. Die sogenannte „Seitenkettentheorie" von Ehrlich1) hat sicherlich der Wissenschaft große Dienste geleistet; aber selbst diese Theorie, mögen wir sie nun annehmen oder nicht, ist sicherlich keine chemische Lehre; der Begriff der „Regeneration" ihrer sogenannten haptophoren Gruppen ist ein echt biologischer Begriff2). Und in der Tat, hier, wenn irgendwo, haben wir das biologische Phänomen der Anpassung in klarster Form vor uns liegen. Änderungen abnormster Art haben den funktionellen Zustand des Organismus betroffen, und d.er Organismus kann diese Änderungen in jedem Falle bis ins kleinste Detail kompensieren. Soweit ich mir auf diesem mir fremden Gebiete ein Urteil erlauben kann, scheint mir das Problem der Spezifität der Anti- körperbildung gegenwärtig im Zentrum des Interesses zu stehen. Gegen alle Arten fremder Eiweißkörper wenigstens ist die Reaktion sicherlich außerordentlich spezifiziert, und gewisse Fälle von Spezifität existieren auch bei der Bildung der Antitoxine. Gerade die Tatsache der spezi- fischen Korrespondenz zwischen Reiz und Reaktion weist natürlich der Immunität ihren wichtigen Platz im Bereiche der Anpassung an, möge nun die alte Theorie von der Pro- duktion spezifischer Antikörper sich als haltbar erweisen oder die Annahme gewisser neuerer Autoren, daß der Antikörper immer derselbe sei, daß er aber je nach dem Medium ver- schieden reagiere. Im letzten Falle würde eben das Medium in seiner Besonderheit seitens des Organismus reguliert werden, um eine spezifische Art der Anpassung zu erzielen. J) Gesammelte Arbeiten zur Immunitätsforschung 1904. 2) Nur erwähnen können wir hier das Problem der Lokalisation der Antikörperbildung. Meist werden Antikörper wohl von den- jenigen Zellen gebildet, welche selbst des Schutzes gegen Toxine bedürfen; das würde mit der allgemeinen Regel stimmen, nach der alle Kompensationen einer Veränderung des funktionellen Zu- standes von dem Teil, welcher in seiner Funktion verändert ist, ausgehen. Physiologische Anpassung. 213 Die Unmöglichkeit positiver Schlüsse aus diesem Kapitel. Wir wollen nun auf alles, was wir über physiologische Reaktionen gelernt haben, zurückblicken und wollen sehen, ob unser langes Kapitel uns einen neuen Beweis der Auto- nomie des Lebens eingetragen hat. Da müssen wir denn ohne weiteres zugeben, daß wir einen wirklich neuen Beweis nicht gewonnen haben ; aber ich meine, wir haben doch viele Indizien gewonnen für unrere Behauptung, daß der Organismus nicht eine Maschine sein kann, in welcher jede einzelne Regulation im eigentlichen Sinne vorbereitet ist. Grade auf dem Gebiete der Immunität scheint eine solche maschinenartige Vorbereitung der adaptiven Effekte jede Vorstellbar keit zu übersteigen. Wie könnte es eine Maschine geben, deren einzelne chemische Konstituenten so beschaffen wären, daß sie beinahe jedem Bedürfnis adaptiv entsprechen können, gar nicht einmal zu reden von der Tatsache, daß die Mehr produktion der Schutz - Substanz gegenüber dem unmittelbaren Bedarf doch wohl kaum „chemisch" genannt werden kann! Hier in der Tat haben wir das eigentliche Zentrum des Lebens und der Biologie erreicht. Wenn wir trotzdem alles, was wir hier neu gelernt haben, nicht als einen wahren Beweis des Vitalismus ansehen, so geschieht das nur, weil wir uns außerstande fühlen, die Analyse der vorliegenden Tatsachen in einer Weise zu formulieren, welche die Er- sinnung einer Maschine als Basis alles Geschehenden ab- solut ausschließt. Es könnte doch immer noch eine wahre Maschine im Organismus geben, deren Leistungen die Immunität mit allen ihren Anpassungen besorgen. Wir können eine solche Lehre nicht in dem Sinne widerlegen, daß wir sie als wahrhaft absurd nachweisen, wie das bei unserer Analyse der Formbildung geschah ; wir können sie nur außerordentlich unwahrscheinlich machen. Aber ein in- direkter Beweis muß alle Möglichkeiten außer einer ad absurdum führen, wenn anders er ein Beweis sein will. 214 Physiologische Anpassung. Wir können nun zwar sicherlich mit Recht behaupten, daß alle jene mechanistischen Erklärungen, welche noch vor etwa 20 Jahren auf allen Gebieten der funktionellen Physiologie eine so große Rolle spielten, sämtlich versagt haben ; der einzige Vorteil, den sie der Wissenschaft brachten, liegt darin, daß sie uns an eine klarere Fassung der Probleme gewöhnten. Aber andererseits sind wir heute doch noch nicht berechtigt, ganz rückhaltlos zu sagen, daß die physio- logischen Funktionen, für sich genommen, einer mecha- nischen Erklärung auch in Zukunft stets unzugänglich bleiben werden1). Eine mechanische Erklärung mag uns so unwahrscheinlich wie möglich erscheinen; aber wir wollen nicht wissen, was unwahrscheinlich, sondern was unmöglich ist. Sie könnten mir hier erwidern, daß wir ja doch gezeigt haben, wie die organische Formbildung, wenigstens soweit sie sich auf Basis harmonisch-äquipotentieller Systeme abspielt, in der Tat den Vitalismus beweist, und daß daher doch auch alle Funktionen, die nun auf Grund- lage der organischen Form nach ihrer Bildung geschehen, vitalistischer Art sein oder wenigstens in Verbindung mit vitalistischen Phänomenen stehen müssen. Ganz gewiß ist eine solche Behauptung nicht unberechtigt, und ich selbst würde mich nicht scheuen, so zu schließen. Aber darum handelt es sich hier nicht. Hier fragen wir: läßt sich ein neuer und unabhängiger Beweis des Vitalismus aus den Tatsachen der physiologischen Anpassung für sich genommen, gewinnen ? Und das ist nicht der Fall 2). *) VonPawlows „psychischer Sekretion" sehen wir hier natür- lich ab ; vgl. S. 208. 2) J. S. Haidane (Proc. Brit. Ass. Adv. Science Dublin 1908, Physiological Section) hat jüngst, wie vordem in ähnlicher Weise Bunge und Neumeister, die Physiologie auf einen ausge- sprochen vitalistischen Boden zu stellen versucht. Ich glaube, daß er in seinen interessanten Ausführungen durchaus Recht hat, aber einen strengen Beweis konnte auch er, der Natur der Sache nach, nicht führen. Physiologische Anpassung. 215 Bloße regulatorische Korrespondenz zwischen Reiz und Reaktion, sei sie auch adaptiv und unbeschränkt variabel, widerlegt niemals die Möglichkeit der Existenz einer Maschine als ihrer Basis, solange als die Reize und Reak- tionen einfach sind. Bei späterer Gelegenheit werden wir allerdings sehen, daß eine solche Korrespondenz den Vitalismus beweist, wenn die beiden korrespondierenden Faktoren nicht einfach sind. Hier sehen wir nun mit aller Deutlichkeit, worauf es eigentlich beruhte, daß gerade unsere Analyse der Form- bildung uns einen wahren Beweis des Vitalismus geliefert hat. Unserem Beweise lag nicht das bloße Faktum der Regulabilität, sondern lagen gewisse spezifische Raum- oder besser Ordnungsbeziehungen zugrunde. Einzig und allein diese Beziehungen ermöglichten es uns, die Annahme ad absurdum zu führen, daß irgend eine Art von Maschine die Grundlage der von uns studierten Phänomene sei. Im nächsten Kapitel werden es wieder Raum Verhältnisse, obschon von anderer Art, sein, die uns unserem ersten Beweise des Vitalismus einen zweiten beizufügen ge- statten werden. Mit diesem Kapitel beschließen wir das Studium der Regulation in allen ihren Formen, soweit Formbildung und Stoffwechsel in Betracht kommen. Unsere Analyse dieser Regulationen würde aber un- vollständig und würde Mißdeutungen ausgesetzt sein, wenn wir zwei vorwiegend negativen Punkten, die wir erst später tiefer verstehen können, hier nicht wenigstens einige wenige Worte widmen wollten. Einige Bemerkungen über die Grenzen der Regulierbarkeit. Wenn wir von Pawlows Entdeckung einer „psy- chischen" Sekretion absehen, die aber eine entschieden nervöse Vermittlung hat, so haben wir in allen Regulations- prozessen der Formbildung und in allen rein vegetativ- physiologischen Adaptationen nie irgend etwas von so- 216 Physiologische Anpassung. genannter ,, Erfahrung" gefunden. Nichts geschieht hier das zweitemal ,, besser" als das erstemal1); alles, was geschieht, ist entweder von Anfang an vollendet, oder es geschieht überhaupt nichts. Dieses ist die erste unserer wichtigen negativen Fest- stellungen über Regulationen; die zweite bezieht sich auf den eben gebrauchten Ausdruck „oder es geschieht über- haupt nichts". Es gibt in der Tat Grenzen der Regu- lationsfähigkeit; es gibt Fälle, in denen „nichts" geschieht. Es gibt keine Anpassung an jede mögliche Art von Ver- änderung des physiologischen Zustandes: Krankheit und Tod würden nicht existieren, wenn das der Fall wäre; und es gibt auch nicht immer eine Restitution da, wo sie am Platze wäre. Wir alle wissen, daß der Mensch nur der Wundheilung fähig, aber zur eigentlichen Restitution durchaus unfähig ist. Aber auch niedere Tiere besitzen die letztere Fähigkeit bisweilen nicht, wie z. B. die Cteno- phoren und Nematoden, und es besteht keine Beziehung zwischen der Fähigkeit der Restitution und der systema- tischen Stellung. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, daß man einmal Bedingungen kennen lernt, unter denen jeder Organismus fähig ist, jeden fehlenden Teil wieder herzu- J) Die wenigen Fälle einer „Verbesserung" Ton Forrnbildungs- prozessen bei Hydroiden, welche ich selbst beschrieben habe, stehen gegenwärtig zu isoliert, um mehr als bloße Probleme zu sein (Arch. f. Entw.-Mech. V., 1897). Dasselbe gilt, wie mir scheint, von gewissen neuen Entdeckungen Pearl 's an Ceratophyllum (Carnegie. Inst. Wash. Publ. No. 58, 1907; siehe auch Journ. exp, Zool. 6. 1909), und Zeleny's an einer Meduse (Journ. exp. Zool. V., 1907). Die Entdeckung von Pawlow, daß die Zu- sammensetzung des pankreatischen Saftes, bezüglich seines En- zymgehaltes, sich bei Hunden der spezifischen Zusammensetzung der Nahrung (Fleisch oder Brot und Milch) um so mehr anpaßt, je länger eine solche spezifische Zusammensetzung dem Individuum dargeboten wurde, läßt sich wahrscheinlich als Fall einer bloßen funktionellen Anpassung der Verdauungszellen auffassen, wenn sie überhaupt der Kritik stand hält. (Vgl. JBayliss und Starling, Ergeb. Physiol. V., 1906 p. 862.) Physiologische Anpassung. 217 stellen; aber gegenwärtig wissen wir von solchen Be- dingungen jedenfalls nichts 1). Nie und nimmer können freilich negative Beispiele dem Eintrag tun, was positive uns gelehrt haben. Unsere Analyse, soweit sie die Existenz von Regulationen zur Grundlage hat, wird also durch Fälle, in denen es keine Regulationen gibt, so wenig beeinträchtigt, wie Studien über Optik durch die Tatsache in ihrem Werte beein- trächtigt werden, daß sie sich in vollständiger Dunkelheit nicht anstellen lassen. *) Versuche, welche in der „biologischen Versuchsanstalt" zu Wien ausgeführt sind, haben in der Tat gezeigt, daß viele Tier- gruppen, denen die Zoologen jede Restitutionsfähigkeit abgesprochen hatten, doch einen gewissen Grad dieser Fähigkeit besitzen. D. Vererbung. — Zweiter Beweis der Autonomie des Lebens. Alle Organismen besitzen die Fälligkeit, ihren Aus- gangspunkt wieder zu bilden. Mit solchen Worten etwa hat Alexander Götte der Tatsache der Vererbung, wie mir scheint, den besten und kürzesten Ausdruck verliehen. Denn wenn der Ausgangs- punkt der Formbildung in allen seinen wesentlichen Zügen wiedergebildet wird, so folgt aus dem Prinzip der Eindeutig- keit, daß er sich auch unter gleichen Umständen wieder so verhalten wird, wie damals, als er das letztemal existierte : das heißt mit anderen Worten, daß Formbildung von ihm aufs neue ausgehen wird. Durch die Tatsache der Vererbung wird das Leben ein rhythmisches Phänomen, d. h. ein Phänomen oder besser eine Kette von Phänomen, deren einzelne Glieder in konstanten Intervallen wieder erscheinen, wenn die äußeren Bedingungen sich nicht ändern. Die stoffliche Kontinuität in der Vererbung. Daß stoffliche Kontinuität eine der Grundlagen der Vererbung bildet, wurde zuerst von Gustav Jäger erkannt und später von Weismann zu einer eigentlichen Theorie ausgebaut. Wörtlich genommen ist diese Behaup- tung offenbar selbstverständlich, obschon darum nicht un- wichtig. Denn da alles Leben sich an Körpern, d. h. an der Materie, darstellt, und da die Entwicklung aller Nach- kommen von Teilen der elterlichen Körper, d. h. vom Stoff oder Material der Eltern, ihren Ursprung nimmt, so folgt Vererbung. 219 ohne weiteres, daß in gewissem Sinne eine stoffliche Kon- tinuität existiert, solange es Leben gibt, wenigstens Leben in den uns bekannten Formen. Die Theorie von der „Kon- tinuität des Keimplasmas" würde also wahr sein, auch wenn Keimzellen von jedem beliebigen Teil des Organismus aus gebildet würden. Das ist nun, wie wir wissen, nicht der Fall : die Keimzellen werden, wenigstens bei den höheren Pflanzen und Tieren, nur von gewissen bestimmten örtlichkeiten des Organismus gebildet. Eben hier gewinnt die sogenannte Theorie von der „Kontinuität des Keimplasmas" ihre engere und eigentliche Bedeutung. Die genannte Theorie behauptet in diesem engeren Sinne, daß es bestimmte und spezifische Zellenfolgen in der Ontogenie gibt, in denen die Kontinuität des Keimprotoplasmas sich erhält, welche, anders gesagt, von einem Ei zum andern Ei führen, während beinahe alle anderen Zellenfolgen in „somatischen" Zellen endigen, die dem Tode verfallen sind. Das alles ist eine Tatsache der be- schreibenden Embryologie, freilich nicht mehr als das. Wir wissen nun bereits aus unseren analytischen und experimentellen Studien der Formbildung, daß Weis- mann selbst seiner Grundhypothese eine große Zahl von Hilfsannahmen beifügen mußte, um die Regeneration und die sogenannte vegetative Vermehrung bei Pflanzen und bei einigen Tieren zu erklären, und wir haben auch gehört, daß gewisse neu entdeckte Tatsachen dazu zwingen, die ursprüngliche Theorie mit noch mehr Zusätzen zu versehen. Trotzdem sehe ich es als sehr bedeutsam an, daß die Tat- sache der Kontinuität eines gewissen Materiales, als einer der Grundlagen der Vererbung, in Klarheit ausgesprochen worden ist, mag auch die besondere Form der Theorie, wie sie von Weismann in der Lehre von den festen Keimbahnen vertreten wird, den Tatsachen gegenüber nicht haltbar sein. Es tritt nun das wichtige Problem auf: Welcher Art ist denn das Material oder der Stoff, der als Ba,sis der Vererbung von Generation zu Generation weitergegeben wird ? Weis- mann sah ihn, wie wir wissen, als eine sehr komplizierte 220 Vererbung. Struktur an, von der ein Teil durch ihre Zerlegung die Grundlage der individuellen Entwicklung werde. Gestützt durch viele Tatsachen, haben wir den letzten Teil dieser Annahme widerlegt ; ihr erster Teil kann natürlich trotzdem wahr sein. Bis jetzt haben wir weder etwas Positives, noch etwas Negatives in Händen, um eine Entscheidung zu treffen über die wichtige Frage nach der Natur jenes Stoffes, dessen Kontinuität bei der Vererbung in gewissem Sinn eine Selbstverständlichkeit ist, und wir wollen daher die Antwort auf diese neue Frage auf einen späteren Punkt unserer analytischen Erörterung verschieben. Über gewisse Theorien, welche die Vererbung mit dem Gedächtnis vergleichen. Zunächst wollen wir einige andere theoretische An- sichten, welche über das Vererbungsproblem geäußert sindr uns kurz ansehen. Bereits im Jahre 1876 verglich der Physiologe Hering die Vererbung der wohlbekannten Tatsache des Gedächtnisses, indem er annahm, daß eine gewisse Erinnerung existiere an alles, was der Spezies im Laufe ihrer Generationen widerfahren sei. Verschiedene deutsche Autoren, zumal S e m o n , haben diese Hypothese neuerdings zur Grundlage eingehenderer Spekulationen gemacht. Es geht nun weder aus H e r i n g s 's Aufsatz x) noch aus Semon's2) Buch hervor, war das Wort „Ge- dächtnis" hier eigentlich bedeuten soll. Es kann natürlich, je nach des Autors Standpunkt in psychologischen Dingen, sehr Verschiedenes bedeuten. Wenn der Autor die psy- chischen Phänome ,,parallelistisch" auffaßt, dann würde ihm das Wort Gedächtnis nur ein Kollektivausdruck sein, der, soweit die materielle, die „natürliche" Seite seines x) Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organischen Materie, Wien 1870. Auch in „Klass. d. exakt. Wiss.* Leipzig, Engelmann. ' 2) Die Mneme. Leipzig 1904, 2. Aufl. 1909. Vererbung. 221 Parallelsystems in Betracht kommt, den resultierenden Effekt vieler einzelner mechanischer Ereignisse bedeuten würde: Mit dieser materiellen Seite hätte es das Problem der Vererbung als Problem der Naturwissenschaft natürlich allein zu tun. Wäre der Autor aber ein Vertreter der Lehre von der sogenannten ,,psychophysischen Wechselwirkung", dann würde das Psychische ihm ein elementarer Naturfaktor sein und ebenso das „Gedächtnis" bei der Vererbung. Wie wir bereits sagten: es ist durchaus nicht klar, in welchem Sinne unsere Autoren eigentlich das Wort Gedächtnis ge- brauchen, und so bleibt denn der wichtigste Punkt der ganzen Frage von vornherein in dubio. In anderer Beziehung ist die Theorie der Vererbung, wie sie in H e r i n g 's und S e m o n 's Schriften vorliegt, um so klarer: Unzweifelhaft ist nämlich die Hypothese einer sogenannten Vererbung erworbener Eigenschaften die Grundannahme dieser Theorie. Es würde in der Tat schwierig sein zu verstehen, was für einen Vorteil die Anwendung des zweideutigen Wortes Gedächtnis überhaupt haben soll, sollte dieses Wort nicht auf die hypo- thetische Tatsache hinweisen, daß der Organismus die Fähig- keit besitze, sich nicht nur an das zu „erinnern", was ihm einmal passiert ist oder was er sozusagen getan hat, sondern auch aus dieser Erinnerung in der nächsten Generation Vorteile zu ziehen. Der Zoologe P a u 1 y hat dieser Seite der Theorie einen besonders deutlichen und klaren Ausdruck verliehen. Da sich nun bald eine andere Gelegenheit bieten wird, das viel erörterte Problem der „Vererbung erworbener Eigenschaften" eingehend zu erörtern, so wollen wir hier nur wenige Worte über die Gedächtnistheorie als angebliche Erklärung der Vererbung sagen. Ohne Zweifel fordert diese Theorie, sei es zugestandenermaßen oder gleichsam unbe- wußt, daß alle einzelnen Prozesse der individuellen Form- bildung entweder die Folge solcher morphologischen Adap- tationen, die in früheren Generationen einmal notwendig waren, oder aber die Folge sogenannter zufälliger Variationen 222 Vererbung. irgend welcher Art sind, die einmal in der Reihe der Vor- fahren auftraten. Dieses Postulat ist identisch mit der sogenannten „Deszendenztheorie" in irgend einer ihrer ver- schiedenen Formen, einer Lehre, mit welcher wir uns in den nächsten Vorlesungen beschäftigen werden. Gegenwärtig geht uns nur die Gedächtnistheorie als eine Theorie der Vererbung etwas an, und da genügt es uns zu sagen : Wenn das Gedächtnis überhaupt als wahre Grundlage der Ver- erbung angesehen wird, und wenn das Wort „Gedächtnis" etwas ähnliches bedeuten soll, wie in irgend einer psycho- logischen Theorie, so muß auf jeden Fall entweder An- passung oder zufällige Variation der erste Ursprung jeder Spezifizität des Baues oder der Funktion der Organismen gewesen sein. Der amerikanische Physiologe J e n n i n g s hat in der Tat einen solchen Gesichtspunkt verteidigt und viele andere sind wohl auch dazu geneigt. Nun ist aber diese Annahme, wie uns eingehend erst das Studium der Deszendenzlehre selbst zeigen wird, ganz sicherlich nicht richtig. Sie kann nicht richtig sein, weil es im Bereich des Orga- nischen viele Phänomene gibt, zumal alle diejenigen, welche mit der Restitution verknüpft sind, welche sich in absoluter Vollendung schon das erstemal, wo sie überhaupt auftreten, abspielen. Aus dem einfachen Grunde, weil sie ,, primär vollendet" sind, können diese das Ganze angehenden Prozesse nicht aus dem „Erlernen" von irgend einer einzelnen in Bezug auf das Ganze zufälligen Anpassung oder von einer zufälligen Variation hervorgegangen sein. Wir werden, wie gesagt, später ähnlich argumentieren, um gewisse Formen der Deszendenztheorie zu widerlegen; es ist daher von einem gewissen logischen Interesse, hier zu betonen, daß wir an dieser Stelle gegen die Gedächtnistheorie der Vererbung und später gegen gewisse Formen der Deszendenztheorie nicht die Begriffe „Anpassung" oder „Variation" als die Hauptangriffspunkte unseres Widerspruchs ansehen, sondern die Zufälligkeit, das heißt die Nicht-zielmäßigkeit, welche ihnen anhaften soll. Vererbung. 223 Das Wort Gedächtnis kann also, wenn überhaupt, so nur in einer sehr bildlichen Bedeutung auf die Phänomene der Vererbung angewendet werden. Wir leugnen die Möglichkeit einer Vererbung erworbener Eigenschaften, wie sich später herausstellen wird, nicht durchaus, und auf dieses Faktum könnte so ein Ausdruck wie Gedächtnis vielleicht in seiner wirklichen Bedeutung angewendet werden; aber wir wissen, daß in der Vererbung oder besser in dem Vererbten, namentlich so weit vererbte Fähigkeiten in Betracht kommen, auch etwas vorhegt, welches gar keine Ähnlichkeit mit dem besitzt, was in irgend einem System der Psychologie ,, Gedächtnis" genannt zu werden pflegt. Die primäre Vollendung des Ablaufs durchaus atypischer Prozesse beweist, daß ein ,, Wissen" vererbt wird, wenn wir so sagen wollen, aber sie zeigt uns, daß Vererbung alles andere ist als ein System einzelner „Erinnerungen." Das komplex-äquipotentielle System und seine Bedeutung für die Vererbung 1). Unsere Ergebnisse sind bis jetzt ausschließlich negativ. Muß unsere Erörterung auf diesem wenig erfreulichen Stand- punkte verbleiben ? Oder wird ein Wechsel in unserer ana- lytischen Methode vielleicht bessere, d. h. positive Resultate zeitigen ? Versuchen wir einmal die Tatsachen, auf denen Vererbung beruht, zu analysieren, anstatt mit Hypo- thesen zu beginnen, die sich für vollständige Erklärungen ausgeben. Vielleicht gewinnen wir zwar beschränkte, aber doch sichere Resultate, wenn unsere Analyse von den Tat- sachen zur Theorie, und nicht von der Theorie zu den Tat- sachen fortschreitet. Wir wollen dabei die folgenden Er- örterungen auf eine möglichst breite Basis stellen. Aus unserem Studium der morphogenetischen Resti- tutionen wissen wir, daß es neben den harmonisch-äqui- potentiellen Systemen einen anderen weit verbreiteten Typus von morphogenetischen „Systemen", d. h. von Einheiten» x) Driesch, Die organischen Regulationen 1901. 224 Vererbung. welche aus Elementen gleicher morphogenetischer Potenz be- stehen, gibt, welcher ebenfalls die Grundlage von Resti- tutionsprozessen bilden kann. Während bei den harmo- nischen Systemen die von den einzelnen Elementen in jedem wirklichen Fall geleisteten morphogenetischen Akte einzelne Akte sind, und die Gesamtheit aller einzelnen Akte zu- sammen erst das harmonische Ganze bildet, können bei dem anderen Typus von Systemen, die wir jetzt studieren wollen, von jedem einzelnen Element aus komplexe Akte, d. h. Akte, welche selbst eine Mannigfaltigkeit in R-aum und Zeit darstellen, geleistet werden und werden in der Tat in jedem wirklichen Falle vom einen oder vom anderen Element geleistet. Wir haben diese Gruppe von Systemen daher komplex-äquipotentielle Systeme genannt, wie wir denn alle unsere Bezeichnungen auf den Begriff der prospektiven morphogenetischen Potenz, d. h. des möglichen Schicksals der Elemente, basieren. Das Cambium der Phanerogamen kann so recht als Typus eines komplex-äquipotentiellen Systemes, das im Dienste der Restitution steht, gelten. Es verläuft durch den ganzen Stamm unserer Bäume in Form einer Hohlröhre, die zwischen den inneren und den äußeren Zollagern des Stammes gelegen ist, und von jeder einzelnen seiner Zellen kann ein Zweig oder Wurzel ihren Ursprung nehmen, wie immer es die Umstände erfordern. Wir könnten natürlich das Cambium ein System des komplexen Typus auch dann nennen, wenn jedes einzelne seiner Elemente nur eine Wurzel oder nur einen Zweig restitutiv bilden könnte. Tatsächlich kann nun ein und dasselbe Element diese beiden komplexen Strukturen gleichermaßen bilden; es hängt nur von seiner relativen Lage in dem wirklichen Bruchstücke des Stammes, der zum Zwecke des Experiments isoliert wurde, ab, was ein Element in jedem Falle leisten wird. Hier treffen wir eine Sachlage an, der wir auch beim Studium der Regeneration der Tiere wieder begegnen werden: wir können sagen, daß jedes Element des komplexen Systems die Potenzen für das ,, ideale Ganze" besitze, obwohl dieses Vererbung. 225 ideale Ganze nie in seiner eigentlichen Ganzheit realisiert wird 1). In vielen anderen Fällen adventiver Restitution bei Pflanzen brauchen wir nicht auf das ,, ideale Ganze" zurück- zugehen. An isolierten Blättern der wohlbekannten Begonie z. B. kann eine vollständige Pflanze mit allen ihren Teilen von jeder einzelnen Zelle 2) der Epidermis aus, wenigstens den Adern entlang, hervorgehen; für gewisse Lebermoose hat Vöchting gezeigt, daß beinahe jede Zelle die ganze Pflanze aus sich wiederherstellen kann, und das gleiche gilt auch von vielen Algen 3). Im Tierreich stellen hauptsächlich, und beinahe aus- schließlich, die echten Regenerationsphänomene typische Beispiele unserer Systeme dar, während hier adventive Restitution, obwohl sie z. B. bei der Restitution der Linse der Wirbeltiere von der Iris aus vorkommt, und obwohl sie J) Das „ideale Ganze" kommt auch, aber in etwas anderer Form in Betracht, wenn eine gegebene Anlage, sagen wir die Anlage eines Zweiges, gezwungen wird einer Wurzel den Ursprung zu geben, wie in der Tat bei gewissen Pflanzen beobachtet worden ist. Dieser Fall, wie viele andere weniger extreme Fälle sogenannte „kompensatorischer Heterotypie" sind mit Hilfe des Begriffs der prospektiven Potenz am besten zu verstehen. Er ist durchaus un- angebracht, hier von einer „Metamorphose" zu reden. Vgl. auch S. 112 und meine „Organischen Regulationen" S. 77/78. 2) "Winkler hat die wichtige Entdeckung gemacht, daß die adventiven, auf den Blättern entstehenden Knospen bei Torenia entweder von einer einzelnen Zelle der Epidermis aus, oder aber von einigen Zellen zusammen aus ihren Ursprung nehmen können. Dieses Resultat ist sehr bedeutsam, mit Rücksicht auf das Problem der Potenz Verteilung. 3) In wie hohem Maße überhaupt die Zellen der von uns ja im allgemeinen weniger berücksichtigten Pflanzen, auch der höheren Pflanzen, äquipotentiell sind, und zwar sowohl mit Rücksicht auf singulare wie auf komplexe Potenzen, zeigte in besonders klarer Weise Simon (Jahrb. wiss. Bot. 45. 1908). Man vergleiche auch die verschiedenen Arbeiten Vöchting's und das kritische Referat Küster's in Progessus rei bot. 2. 1908. Auch „harmonisch"-äqui- potentielle Systeme dürfte es im Pflanzenreiche geben. Driesch, Philosophie. I. 1° 226 Vererbung. auch oft mit echten Regenerationsphänomenen x) ver- bunden ist, eine durchaus sekundäre Rolle spielt, wenigstens im Vergleiche zu der Restitution der Pflanzen. Wenn wir z. B. die Regeneration des Beines des gewöhnlichen Wasser- molches studieren, so finden wir, daß sie von jedem Quer- schnitt aus statthaben kann, da ja der Amputationsort durchaus in unserem Belieben liegt. Ohne auf die in diesem Falle nicht ganz aufgeklärte Art des Ablaufs der Regene- rationsphänomene selbst Nachdruck zu legen, können wir auf alle Fälle sagen, daß hier die Gesamtheit der auf einander folgenden möglichen Quer- schnitte ein komplexes System bildet, da ja doch jeder einzelne von ihnen fähig ist, einem komplexen Organ, nämlich dem Fuße oder einem Teile des Beines den Ur- sprung zu geben. Es ist zurzeit freilich eine offene Frage, ob dieses komplexe System auch im strengen Sinne „äqui- potentiell genannt werden kann oder nicht. Auf den ersten Blick scheint es gerade im Gegenteil inäquipotentiell zu sein, denn jeder einzelne Querschnitt hat ja eine verschiedene Formentotalität zu bilden, nämlich immer diejenige spezi- fische Totalität, die abgeschnitten worden ist; wenn wir aber hypothetisch annehmen, daß die ,, Anlage", welche unmittelbar aus den Zellen der verwundeten Oberfläche hervorgeht, für jeden Querschnitt dieselbe ist, und daß der wirkliche Zustand der Organisation bestimmt, wozu diese Anlage führen soll 2), dann können wir sagen, daß die Reihe x) Die „Regeneration" des Hirnes der Anneliden wird z. B. viel passender als eine adventive Bildung angesehen: nichts geschieht hier vom Orte der Wunde aus; ein neues Hirn bildet sich vom Ektoderm aus in einer gewissen Entfernung von der Wunde. 2) An anderer Stelle (Organ. Regulat. S. 44 ff.) habe ich eine vollständige „analytische Theorie der .Regeneration" entwickelt. Ich erwähne hier nur, daß viele verschiedene Probleme bei einer solchen Theorie auftreten; die Bildung der ersten „Anlage" und ihre Differenzierung in das Endergebnis der Regeneration sind z. B. zwei verschiedene Probleme. Das erstere umfaßt die Frage nach den Potenzen nicht nur des regenierenden Körpers, sondern auch der Ele- mente der Anlage selbst; das zweite hat sich mit der spezifischen Ord- nung der einzelnen Akte des regenerativen Prozesses zu beschäftigen.. Vererbung. 227 der auf einanderfolgenden Querschnitte eines Salamander- beines ein morphogenetisckes System des komplex-äqui- potentiellen Typus, im Dienste sekundärer Formregulation stellend, darstellt. Alle diese Schwierigkeiten verschwinden nun, wenn wir die Regeneration solcher Tiere, welche nach beiden Seiten hin regenerieren können, betrachten, wie sie z. B. in vielen Annelliden und in der uns schon bekannten Ascidie Cla- vellina vorliegen. Die Wunde am hinteren Ende der einen aus der Operation resultierenden Hälfte bildet eine hintere Körperhälfte, die Wunde am vorderen Ende der anderen Hälfte bildet eine vordere Hälfte. Wir begegnen hier wiederum dem Begriff des idealen Ganzen: jeder Quer- schnitt des Körpers enthält die Potenzen zur Bildung der Totalität, obschon diese Totalität immer durch die Addition zweier Teilorganisationen realisiert wird. Der Titel des komplex-äquipotentiellen Systems ist also voll- berechtigt für diejenigen Systeme, welche die Grundlage doppelseitiger Regenerationen sind. Jeder Querschnitt des regenerierenden Körpers kann in der Tat dasselbe komplexe Ganze bilden, oder er kann, wenn wir lieber so sagen wollen, doch den Grund für diejenigen komplexen Anlagen legen, aus denen zusammen die komplexe Totalität hervorgeht. Es geschieht in der Wissenschaft nicht eben selten, daß eine Tatsache zuerst in recht seltsamer und abnormer Form gesehen wird, und daß diese selbe .^Tatsache doch überall in viel klarerer Form hätte gefunden werden können, daß sie eigentlich ganz offen vor unseren Augen liegt. Befinden wir uns nicht jetzt in einer solchen Lage ? Um unsere komplex-äquipotentiellen Systeme zu studieren, wenden wir uns zu dem Phänomen der Regeneration und der Restitution überhaupt; wir führen sogar gelegentlich Hypothesen ein, um unser Material für unsere Zwecke geeigneter zu gestalten ; und doch gibt es eine Art von komplex-äquipotentiellen System im Körper jedes lebenden Wesens, die wir bloß zu erwähnen brauchen, um sie als eine solche zu begreifen, und die keiner Art vorbereitender^ Diskussion bedarf: Das 15* 228 Vererbung. System der Fortpflanzungszellen, mit anderen Worten, das Fortpflanzungsorgan ist der allerklarste Typus eines komplex-äquipotentiellen Systems, welcher überhaupt existiert. Denken Sie z. B. an den Eierstock unseres Seeigels, und Sie sehen ohne weiteres ein, daß Sie hier ein morphogenetisches System vor sich haben, in dem jedes Element gleichermaßen fähig ist, denselben komplexen niorphogenetischen Akt zu leisten : die Bildung des ganzen Individuums. Von jetzt ab werden wir uns also ausschließlich mit dieser Abart unserer Systeme beschäftigen und eben damit kehren wir zum Vererbungsproblem zurück. Aber es ist immerhin von Nutzen gewesen, unserem Begriffe des kom- plex-äquipotentiellen Systems eine so breite Basis zu be- reiten: Wir haben damit allem Folgenden ein sehr weites Gültigkeitsbereich gesichert; es bezieht sich in der Tat nicht auf Vererbung allein, obwohl seine Bedeutung für die Vererbungstheorie vor allem wichtig ist. Zweiter Beweis der Autonomie des Lebens. — Entelechie als Grundlage der Vererbung. In einem früheren Kapitel hatten wir den Begriff des harmonisch-äquipotentiellen Systems aufgestellt und stu- dierten dann das Phänomen seiner Differenzierung und im besonderen das Problem der Lokalisation aller an ihm auftretenden Differenzierungen. Unser neuer Begriff des komplex-äquipotentiellen Systems wird uns zu einer anderen Art von Analyse führen : wir wollen unser besonderes Augen- merk auf den Ursprung, auf die Genese unserer komplex-äquipotentiellen Systeme richten. "Überblicken wir den gesamten Ablauf der Embryo- genese, so sind wir imstande, jedes komplexe System auf eine kleine Gruppe von Zellen zurückzuführen, und diese kleine Gruppe von Zellen letzthin auf eine Zelle. So kann z. B. von dem Cambium der Pflanzen gezeigt werden, daß es aus einer Art geweblicher Anlage hervorgeht, die bereits in sehr Vererbung. 229 früher Zeit vorhanden ist, und auch das Ovarium der Tiere läßt sich auf eine Gruppe sehr weniger Zellen zurückführen, welche die erste sichtbare Anlage der Fortpflanzungsorgane bilden : zuletzt, oder wenn Sie wollen auch zuerst, stellt eine einzige Zelle das eigentliche Primordiale! dar. Das gesamte Cambium ist also das Ergebnis einer auf einander folgenden Reihe von Zellteilungen der einen Zelle, von der es herstammt, und ebenso das Ovarium: die pri- mordiale Eizelle hat eine Reihe auf einander folgender Teilungen erlitten, die einzelnen Eier sind die letzten Er- gebnisse dieser Teilung. An diesem Punkte unserer Überlegung stellen wir nun gewisse Erwägungen an, die eine gewisse logische Ähnlich- keit mit denjenigen haben, welche unsere Analyse der Diffe- renzierung harmonisch-äquipotentieller Systeme einleiteten, mag es sich hier auch um eine wesentlich andere Gruppe von Tatsachen handeln: Ohne irgend eine Art von Voreingenommenheit be- trachtet, so wie man stets ein neues Problem betrachten sollte, könnte die Entwicklung des einzelnen Eies als auf Grundlage einer sehr komplizierten Art von Maschine ge- schehend angesehen werden, einer Maschine, die eine ver- schiedene Art des Baues in den drei Dimensionen des Raumes besitzt, ebenso wie der Organismus, welcher ihr Resultat ist. Könnte aber eine solche Theorie, ganz abgesehen von allen ihr entgegenstehenden experimentellen entwicklungs- physiologischen Fakten, könnte eine solche Theorie vor der einen Tatsache bestehen, daß es eben eine Genese des komplex-äquipotentiellen Systems, zu dem unser einzelnes Ei gehört, gibt ? Können Sie sich vorstellen, daß eine sehr komplizierte Maschine, die nach den drei Richtungen des Raumes verschieden gebaut ist, Hunderte und Hunderte von Malen geteilt werden und trotzdem ganz bleiben kann? Vielleicht antworten Sie mir, daß während der Zeit der Zell- teilungen noch gar keine Maschine da sei, daß die Maschine erst nach Vollendung der Teilungen entstehe. Gut, aber was baut denn die Maschine in den definitiven Zellen unserer 230 Vererbung. Systeme, beispielsweise der Eier? Vielleicht eine andere Maschine ? Das würde uns nicht viel nützen. Oder jene uns schon bekannte Entelechie? Das würde ein Zurück- gehen auf unseren ersten Beweis des Vitalismus bedeuten, und würde der Entelechie eine neue besondere Leistung auf- bürden, nämlich den Bau der hypothetischen Maschine, die wir für jedes einzelne Ei fordern. Die Grenzen der Physik und Chemie würden natürlich auch so durchbrochen sein. Es scheint mir nun einfacher und sozusagen natürlicher zu sein, nicht auf unseren ersten Beweis der Autonomie des Lebens zurückzugehen, nur um die Maschinentheorie auf diesem neuen Gebiete zu halten, sondern die Tatsachen anzusehen, wie sie sich der Analyse darbieten. Dann aber sind wir berechtigt, einen unabhängigen zweitenBeweisderAutonomiedesLebens auf unsere Analyse der Genese der komplex- äquipotentiellen Systeme zu gründen. Wir können in der Tat sagen, daß es geradezu eine Absurdität sei, anzunehmen, daß eine komplizierte, nach den drei Rich- tungen des Raumes in typischer Weise verschiedene Maschine viele, viele Male geteilt werden und doch immer ganz bleiben könne : also kann keine Maschine irgend welcher Art Ausgangspunkt der Entwicklung und Basis der Vererbung sein. Wir wollen wieder mit dem Namen Entelechie be- zeichnen, was im Beginne aller individuellen Formbildung gelegen ist. Entelechie ist also die wahre Grundlage der Ver- erbung !) oder wenigstens jeweils dessen, was aus der Ver- erbung folgt; die individuelle Eormbildung der nächsten Generation kann nicht von irgend einer Maschine abhängen, sondern hängt von einem elementaren Naturfaktor ab. J) Natürlich ist sie auch die Grundlage jeder neuen Entstehung bestimmter komplexer Teile der Form, wie z. B. bei der Regene- ration und Adventivbildung; wir wissen ja, daß auch diese Prozesse sich auf Basis „komplex-äquipotentieller Systeme", die ihre ,.Grenese" hatten, abspielen. Vererbung. 231 Die Bedeutung der stofflichen Kontinuität bei der Ver- erbung. Wie steht es nun aber mit der stofflichen Kontinuität, welche in der Vererbung erscheint, und von der wir gesagt haben, daß sie eigentlich selbstverständlich sei, da wir das Leben nur an stofflichen Körpern kennen ? Liegt nicht ein ernstlicher Widerspruch vor, wenn wir auf der einen Seite behaupten, daß Entelechie die Basis von allem, was zur Vererbung und von ihr hinweg führt, sei, und wenn wir hier auf der anderen Seite materielle Bedingungen der Vererbung annehmen? Später werden wir die Beziehungen zwischen der Materie und unserem autonomen Lebensagens ein- gehender studieren; fürs erste muß es genügen, in ein- facherer und mehr realistischer Weise auszusprechen, worin nach unserer Meinung diese Beziehung besteht. Es liegt ganz und gar kein Widerspruch darin, zu behaupten, daß einerseits stoffliche Kontinuität, andererseits Entelechie die Basis unserer Vererbung sei. Wäre das der Fall, so wäre es uns allerdings sehr unbequem: denn die materielle Kontinuität ist eine Tatsache, und die Tatsächlichkeit unserer Entelechie hoffen wir auch gezeigt zu haben; läge also ein Widerspruch darin, die gemeinsame Existenz beider anzunehmen, so wäre das für unseren Beweis verderblich. Versuchen wir also zu verstehen, was es heißt, daß Entelechie und etwas Materielles gleichermaßen bei der Vererbung am Werke seien: Entelechie hat die individuelle Eormbildung derjenigen Generation geleitet, welche ein Ausgangspunkt für Vererbung ist, und sie wird hinwiederum die Formbildung derjenigen Generation leiten, welche jener folgen soll ; Entelechie bestimmt das Wesen des Eies und sie bestimmt auch das Wesen der Formbildung, welche aus ihm heraus erfolgt. Zunächst ist uns Entelechie nicht viel mehr als ein Wort, welche das Autonome, das Irreducible alles dessen bezeichnet, was es in der Formbildung an Ordnung gibt, in dieser Generation und in der nächsten. Könnte nun nicht die materielle Kontinuität in 232 Vererbung. der Vererbung die Grundlage derjenigen materiellen Ele- mente sein, welche geordnet werden müssen? Auf diese Weise könnte man wohl die Lehre von der Ente- lechie mit der Annahme einer materiellen Basis der Ver- erbung vereinigen. Könnte es nicht „Mittel" der Form- bildung geben, die von Generation zu Generation, immer unter der Kontrolle der Entelechie, übertragen werden, und könnte nicht eben in diesen Mitteln die materielle Kon- tinuität in der Vererbung zum Ausdruck kommen? Experimentaltatsachen über Vererbung. Entdeckungen der letzten Jahre weisen in der Tat darauf hin, daß ganz besondere materielle Mittel, obschon sie nicht die Grundlage der Ordnung der vererbenden Prozesse sind, doch zu den notwendigsten Bedingungen für das Zu- standekommen der Vererbung überhaupt gehören. Ich brauche Sie nicht besonders daran zu erinnern, daß es viele Jahre hindurch allein G a 1 1 o n gewesen ist, dem alle exakten konkreten Untersuchungen über Vererbung ver- dankt wurden; er führte zuerst wirklich exakte Vergleiche verschiedener spezifischer Charaktere in auf einander folgenden Generationen auf statistischer Basis aus. Und Sie wissen ferner, daß, unbeschadet der großen Verdienste G a 1 1 o n s , erst im Jahre 1900 eines der wirklich bei der Vererbung in Betracht kommenden Prinzipien von de Vries, Correns und Tschermak auf unab- hängigen Wegen aufgefunden wurde; ein Prinzip, welches schon in größter Klarheit und Sorgfalt von dem Augustiner Gregor Mendel1) im Jahre 1865 aufgefunden worden, aber völlig der Vergessenheit anheim gefallen war. Die sogenannte „Mendel sehe Pegel" baut sich auf Versuchen mit Bastarden auf, d. h. mit den Nachkommen der Eltern verschiedener Spezies oder Varietäten, sie bezieht sich aber nicht auf die Charaktere derjenigen Generation, die unmittelbar aus der Bastardierung hervor - J) Neuausgabe in „Klassiker d. ex. Wiss.u. Leipzig, Engelmann. Vererbung. 233 geht, und die wir die „erste" Bastardgeneration nennen wollen, sondern auf die Charaktere derjenigen Generationen, welche das Resultat einer Kreuzung der Bastarde mit einander ist, vorausgesetzt, daß hieraus überhaupt Nach- kommen resultieren. Es gibt nun viele Fälle, sowohl im Tier- wie im Pflanzenreich, in denen die Nachkommen der Bastarde, oder mit anderen Worten die „zweite" Generation, a,us Individuen von drei verschiedenen Typen besteht, dem gemischten1) Typus der Bastarde selbst und den beiden reinen Typen der Großeltern. Man spricht von einer „Spaltung" der Bastarde, wo immer diese drei verschiedenen Typen von Individuen in der „zweiten" Generation auftreten. Die eigentliche Bedeutung der Mendel sehen Regel beruht nun einerseits auf der Tat- sache dieser Spaltung überhaupt, andererseits auf einer bestimmten Angabe über die Zahlen der Individuen in den drei verschiedenen Typen der „zweiten" Generation. Bevor wir nun die Bedeutung der Mendel sehen Entdeckung2) für die Vererbungstheorie erörtern, müssen wir freilich hervorheben, daß seine Regel gewisse Ausnahmen erleidet. In zahlreichen Fällen weisen die Bastarde einen oder mehrere konstante Typen auf; es gibt alsdann keine Spaltung in der zweiten Generation. Aber diese und andre mit der „Koppelung" von Merkmalen zusammenhängenden Ausnahmen beeinträchtigen nicht die Bedeutung der Mendel sehen Regel dort, wo sie gilt. Wo „Spaltung" in der zweiten Generation auftritt, da finden sich, wenn J) Der Einfachheit wegen wird hier nicht auf solche Fälle eingegangen, in denen eine Eigenschaft „rezessiv", die korre- spondierende „dominant" ist, sondern nur auf die freilich weniger zahlreichen, in denen sich mütterliche und väterliche Eigenschaften wahrhaft mischen und später doch spalten. 2) Vgl. namentlich das neue Werk Batesons: Mendels Prin- ciples of Heredity, Cambridge 1909. — Ferner für die Vererbungs- lehre überhaupt: Morgan, Experimental Zoology, Xew York 1907, auch deutsch, Leipzig 1909; J. A. Thomson, Heredity, London 1908; Johannssen, Elemente der exakten Erblichkeitslehre, Jena 1909. 234 Vererbung. Nebenerscheinungen fehlen, auch die von Mendel ge- forderten Zahlen Verhältnisse, da gibt es nie andere Zahlen- verhältnisse zwischen den Individuen des gemischten und der beiden reinen Typen als die, welche seiner Regel entsprechen. Ich lege besonderes Gewicht darauf, diese wahre Bedeutung des Men de Ischen Prinzips in klares Licht zu setzen. Aus der Tatsache, daß sich die Bastarde in der zweiten Generation spalten, lassen sich nun wichtige Folgerungen für die Theorie der Vererbung ziehen. Kreuzung der gespaltenen Individuen unter einander führt immer zu reinen Nachkommen, es tritt an ihnen keine weitere Spaltung und auch keine weitere Veränderung anderer Art auf. Die Keimzellen, welche von den gespaltenen Individuen der zweiten Generation produziert werden, können wir daher als ,,rein" bezeichnen. Sie sind ebenso ,,rein", wie diejenigen der Großeltern es waren. Das bedeutet aber, daß die Keimzellen ihre Reinheit bewahrt haben, o b w o h 1 sie durch die „unreine" Generation der Bastarde hindurchgegangen sind, und daraus folgt wiederum, daß die Vereinigung der Charaktere in den Bastarden derart gewesen sein muß, daß sie eine reine Scheidung zuließ. So mögen denn in der Tat die Keimzellen, welche von eigentlichen Bastarden produziert wurden, hypothetisch selbst als ,,rein" angesehen werden. Wir haben uns bis jetzt mit einem besonderen Charakterzug aller Bastardierungsversuche noch nicht beschäftigt, mit einem Charakterzug, welcher für die Theorie der Vererbung besonders wichtig erscheint, wenn er mit der Tatsache der Reinheit der Keimzellen zusammen- gehalten wird. Die reine Mendel sehe Regel bezieht sich immer auf einen einzelnen Charakter der Spezies oder der Varietäten, die in Betracht kommen, und wenn sie es mit mehr als einem Charakter zu tun hat, so betrachtet sie doch jeden einzelnen besonders; sie gilt für jeden ein- zelnen ohne Rücksicht auf die anderen. Wir können hier nun nicht des näheren diese wichtige Tatsache der here- Vererbung. 235 ditären Unabhängigkeit der einzelnen Charaktere einer Spezies studieren, welche durch eine abnorme Mischung jener Charaktere zur Bildung neuer Rassen führen kann. Wir wollen nur einige theoretische Folgerungen aus dieser Tatsache ziehen, und da können wir denn, wie mir scheint, kaum der Folgerung entgehen, daß die Unabhängigkeit der einzelnen Charaktere bei der Vererbung, zusammen mit der Reinheit der Keimzellen bei den einfachsten Bastard- formen, aufs deutlichste beweist, daß bei der Vererbung eine Übergabe von Etwas von Generation zu Generation statthat, eine Übergabe von einzelnen und getrennten, sich auf die einzelnen Formcharaktere des Erwachsenen beziehenden materiellen Dingen. Wir können mit B a t e s o n diese Dinge, diese „Einheiten", wie sie auch heißen können, Allelomorphe nennen, womit freilich nach Bäte- sons neuerer Auffassung nicht gesagt sein soll, daß die einzelnen und gesonderten Einheiten, die bei der Vererbung übertragen werden, einander in nah verwandten Spezies entsprechen, wie der Name ,,Allelomorph" vermuten lassen könnte1). So haben wir denn doch wohl wenigstens eine Ahnung davon, was materielle Kontinuität bei der Vererbung bedeuten könnte, mögen auch unsere einzelnen und ge- sonderten morphogenetischen „Einheiten" oder „Allelo- morphe" nicht viel mehr als Unbekannte sein, denen wir einen Namen geben; auf alle Fälle sind sie ein dinghaftes Etwas. Neben den Versuchen, die sich auf die Mendel sehe Regel und ihre Ausnahmen beziehen, d. h. auf das Studium der zweiten Bastardgeneration, gibt es noch eine andere wichtige Reihe von Untersuchungen, die sich mit der „ersten" !) Früher nahm Bäte so n, als er den Namen schuf, ein solches gegenseitiges Entsprechen, etwa von Rot und Blau, an. Jetzt läßt er aber, auf Grund von Experimentaldaten, vielmehr Rot und Nichtrot, Blau und Nichtblau einander korrespondieren. Dieses alles, sowie die komplizierte Theorie der Koppelung der Merkmale muß in Batesons neuem Werke nachgelesen werden. 236 Vererbung. Bastardgeneration befaßt haben; sie ist kürzlich von Herbst in Angriff genommen worden. Hier werden die Bastarde selbst studiert, mit der Absicht festzustellen, ob der Typus des einzelnen Bastards mit den äußeren und inneren Bedingungen seiner Entwicklung sich verändern kann. Diese Untersuchungen können eines Tages zu einem besseren Verständnis der intimen Natur der bei der Ver- erbung in Betracht kommenden „Einheiten" führen und vielleicht auch gleichzeitig unsere Kenntnis über den Faktor, der die Formbildung ordnend beherrscht, vertiefen. Herbst1) ging aus von der Entdeckung V e r n o n s , daß die Bastarde der Seeigel je nach der Jahreszeit ver- schiedenen Typus zeigen, und war imstande nachzuweisen, daß sicherlich Temperaturunterschiede für das Faktum verantwortlich sind, daß die Bastarde bald mehr nach dem väterlichen, bald mehr nach dem mütterlichen Typus hinneigen. Aber es zeigte sich, daß hier auch noch ein anderer Faktor in Betracht kam, und es gelang Herbst, ihn aufzufinden, indem er die inneren Bedingungen der Formbildung variierte. Er zwang die Eier von Sphaerechinus in die erste Phase künstlicher Parthenogenese einzutreten2) und befruchtete sie erst dann mit dem Samen von Echinus : die Nachkommen glichen dann beinahe vollständig der Mutter, während normalerweise die in Rede stehenden Bastarde weit mehr dem Vater als der Mutter folgen. In erster Linie zeigen diese Entdeckungen die Not- wendigkeit eines ordnenden und leitenden Faktors über- haupt, trotz aller „Einheiten". Der Organismus ist immer ein Ganzes, mögen die väterlichen oder die kompli- r) Arch. Entw.-Mech. 21, 22, 24 und 27 1906/09; vgl. Don- c a s t e r , Phil. Trans, Rog. Soc. London B. 196, 1903. Der Einfluß der Temperaturen auf die Bastarde ist nicht immer ganz rein, da auch die mütterlichen und väterlichen Formen selbst von ihnen beein- flußt werden. Aber trotzdem kann von einem Einfluß der Tempe- ratur auf den Bastard als solchen, wenigstens in gewissen Punkten, die Hede sein. 2) Nur der Kern hatte seine Aktivität begonnen. Vererbung. 237 zierteren mütterlichen Eigenschaften überwiegen. Mit anderen Worten: Alle sogenannten Eigenschaften, die in räumlichen Beziehungen der Teile bestehen, haben mit „Einheiten" oder „Allelomorphen" nichts zu tun; diese sind wirklich nur notwendige „Mittel", ein Material, das geordnet werden muß. Das Wesen der einzelnen und gesonderten morphogenetischen Einheiten ist H e r b s t geneigt im Sinne spezifischer chemischer Substanzen auf- zufassen, welche sich während der Kernkonjugation ent- sprechend vereinigen und eine lose chemische Verbindung bilden. Von der Konstitution dieser Verbindung würde es abhängen, ob sie Keimzellen von Bastarden rein werden können oder nicht. Die Holle des Kernes bei der Vererbung. Wir müssen nun schließlich noch dem Problem der Lokalisation der morphogenetischen Einheiten in den Keimzellen einige Worte widmen. Befinden sich diese Einheiten im Protoplasma oder im Kern ? Sie wissen alle, daß diese Frage lange Zeit als wichtiger denn jede andere gegolten hat und vielleicht haben Sie sich schon gewundert, daß ich sie nicht früher aufrollte. Nach meiner Meinung sind aber Ergebnisse, welche durch reine, sorgfältige Ana- lyse gesicherter Experimentalergebnisse gewonnen sind, solchen, die auf einer größtenteils beschreibenden und dazu mehr oder weniger zweifelhaften, weil nicht ganz eindeutigen Basis ruhen, stets überlegen. Und die berühmte Erage nach der Rolle des Kernes für die Vererbung läßt nun eben, der Natur der Sache nach, nur mittelbare hypothetische Lösungs versuche zu. Immerhin weiß man auch hier jetzt wenigstens Einiges. Was zunächst die Behauptung unseres zweiten Beweises des Vitalismus angeht, daß keine Maschine innerhalb der Keimzellen als Grundlage der Formbildung angesehen werden könne, so ist klar, daß Protoplasma und Kern hier beide gleichermaßen in Betracht kommen könnten. Man 238 Vererbung. möchte vielleicht sagen, daß der zweite Beweis der Lebens- autonomie sich ganz besonders auf den Kern und seine Teile bezieht, während der erste das Vorhandensein von Kernen zwar nicht übersieht1), aber sich doch ganz besonders mit der protoplasmatischen Natur seiner Systeme befaßt. Was können wir denn nun auf Basis wirklicher Tat- sachen über die Rolle des Protoplasmas und des Kernes bei der Vererbung aussagen, nachdem uns unsere analytische Erörterung gezeigt hat, daß alle beide nicht irgend eine Art von morphogenetischer Maschine sein können, sondern nur Mittel der Formbildung? Wir müssen offenbar so fragen: wo in den Keimzellen sind jene Mittel der Form- bildung lokalisiert, deren Existenz wir aus der stofflichen Kontinuität im Laufe der Generationen im allgemeinen und aus den Tatsachen der Bastardierung im Besonderen erschließen ? Die erste der Tatsachen, die man gewöhnlich anführt, um die Ansicht zu stützen, daß der Kern der Keimzellen von besonderer Bedeutung für die Prozesse der Entwicklung und Vererbung sei, bezieht sich auf das Verhältnis zwischen protoplasmatischem und nuklearem Material im Ei und im Spermatozoon. Dieses Verhältnis ist in den beiden Geschlechtsprodukten, wie wir wissen, sehr verschieden: im Ei überwiegt das Protoplasma, im Spermatozoon der Kern. Diese Tatsache scheint anzudeuten, daß das Proto- plasma für die Vererbung recht gleichgültig ist. Denn Vererbung vom Vater ist doch ebenso häufig, wie Vererbung J) Der erste Beweis ruht auf der Analyse der Differen- zierung eines harmonisch- äquipotentiellen Systems als eines Ganzen: dieses Ganze kann nicht eine sich auf die Differen- zierung als Ganzes beziehende Maschine sein. Die Frage, ob etwa in dem Ganzen irgendwelche Maschinen verteilt seien — nämlich in den Kernen — ist für den Beweisgang ohne Bedeutung. Die Druckversuche (s. S. 63) beweisen jedenfalls die Bedeutungslosigkeit solcher Maschinen für die Differenzierung ihrer besonderen Ort- lichkeit nach. Der zweite Beweis zeigte nun weiter, daß auch die Kerne nicht in irgend einem Sinne als „Maschinen" in Betracht kommen. Vererbung. 239 von der Mutter ; nur im Kern aber weisen beide Geschlechts- produkte eine Ähnlichkeit ihrer Organisation auf, in jeder anderen Beziehung sind sie verschieden: der Kern scheint daher das eigentliche Organ der Vererbung zu sein. Die Tatsachen der Kernteilung, der Karyokinese, die in beiden Geschlechtszellen völlig identisch sind, sind sicherlich eine gute Stütze dieser Theorie. In der Tat scheint diese auf Bütschli, 0. Hert- w i g und Strasburger zurückgehende Lehre der Be- rechtigung nicht zu entbehren, aber sie ist naturgemäß hypothetisch; jedenfalls ist die Möglichkeit, daß das Proto- plasma auch eine morphogenetische Bedeutung besitzt, keinesfalls von vornherein völlig abzulehnen. Rauber und später Boveri1) haben zuerst ver- sucht, auf experimentellem Wege zu zeigen, daß die Vererbung nur von der chromatischen Substanz des Kernes abhängt; aber die Resultate des ersten dieser Autoren waren durchaus negativ, die des zweiten waren nicht eindeutig. Godlewski andererseits ist es gelungen, rein protoplasmatische Eifragmente des Seeigels mit dem Sperma des Vertreters einer ganz anderen Echinodermen- gruppe wahrhaft zu befruchten und trotzdem einige Ent- wicklungsstadien von rein mütterlichem Typus zu erhalten. Hierdurch erscheint eine gewisse morphogenetische Be- deutung des Protoplasmas als gesichert. Aber doch nur eben eine ,, gewisse" Bedeutung, denn die neuen Studien von Herbst an seinen Bastardlarven lassen hinwiederum die Bedeutung zum mindesten auch des Kernes für die Vererbung besonders hervortreten: Ganz vornehmlich in ihren nuklearen Elementen unterscheiden sich seine 2) Boveri versuchte es, kernlose Eifragmente von Spkaer- echinus mit dem Sperma von Echinus zu befruchten. An isolierten Objekten erhielt er keine Resultate, er fand aber einige kleine Larven des reinen Echinustypus in Kamschkulturen. Spätere Untersuchungen haben aber gezeigt, daß auch normale Bastarde von Echinus und Sphaerechinus von rein väterlichem Typus sein können, und entziehen dem Versuch somit die Beweiskraft. 240 Vererbung. verschieden behandelten und gleichzeitig verschiedene Larventypen liefernden Eier. Ich möchte geradezu sagen : Erst durch Herbst ist die Hypothese, daß jedenfalls auch der Kern eine Rolle beim Vererben spielt, wirklich bewiesen worden. Einen irgendwie ins Einzelne gehenden Schluß er- lauben aber, wir mir scheint, unsere Erfahrungen hier überhaupt noch nicht. Auf keinen Fall dürfen wir heutzutage irgend einem der wesentlichen Zellbestandteile jede vererbende Rolle a b sprechen. Unsere wirkliche Kenntnis der Organisation und des Stoffwechsels, sowohl vom Kern wie vom Protoplasma, ist so außerordentlich gering und mag sich auf solche Nebensächlichkeiten be- ziehen, daß heute irgend eine Entscheidung, die mehr ins Einzelne geht, sicherlich ganz und gar nicht getroffen werden kann. Jedenfalls spielt der Kern die wichtigere Rolle bei der Vererbung, aber ohne alle vererbliche Be- deutung ist das Protoplasma offenbar auch nicht. Die Entdeckung von G r u b e r u. a., daß Protozoen sich dann nur restituieren können, wenn sie wenigstens ein Fragment ihres Kernes enthalten, ist auch gelegentlich als Beweis für die morphogenetische Bedeutung des Kernes verwandt worden. Im Zusammenhang mit den oben ge- schilderten Daten kommt ihr in der Tat ein gewisses Gewicht zu; für sich freilich würde sie wenig besagen. Denn könnte nicht das Fehlen der Restitution bei Fehlen des Kern- materials gleichermaßen auf Grund der Hypothese von Loeb und R. S. Lillie verstanden werden, daß der Kern das Oxydationszentrum der Zelle sei? Wenn man einem Wirbeltier sein Herz nimmt, so verdaut es nicht mehr, und doch ist das Herz kein Verdauungsorgan. Zum Schluß betonen wir es noch einmal: die Experi- mente über Hybridisation überhaupt und die analytischen Erörterungen über komplex-äquipotentielle Systeme bieten gegenwärtig größere theoretische Sicherheit, als alle nur indirekt stützbaren Vermutungen über die morphogene- tische Wichtigkeit oder Unwichtigkeit der besonderen Vererbung. 241 Konstituenten der Zelle, von deren Organisation, Chemie und Physik wir leider so gut wie gar nichts wissen1). Vergessen wir auch dieses eine nicht: Nachdem einmal der Nachweis geführt ist, daß das eigentlich wesent- liche bei der Vererbung in Betracht kommende Agens nicht materieller, also als solches nicht sinnlich wahrnehm- barer Natur ist, ist doch offenbar gar nicht zu erwarten, •daß unmittelbare Beobachtung, d. h. analysierte sinnfällige Wahrnehmung des im Generationsverlaufe weiter- gegebenen Materiellen anderes als nur mittelbar Bedeut- sames zutage fördern kann — von allen hier vorhegenden praktischen Schwierigkeiten ganz abgesehen. Variation und Mutation2). Wir sagten, daß Vererbung in der Tatsache bestehe, daß jeder Organismus seinen Ausgangspunkt wieder bildet, und daß dieser Ausgangspunkt immer Bedingungen der- selben Art antrifft. Wenn das ganz und gar richtig wäre, so würden alle von denselben Eltern herstammenden Individuen überall und immer einander gleich sein. Aber sie sind nicht ein- ander gleich; und die Tatsache, daß sie nicht überall und immer einander gleich sind, ist nicht nur die einzige wirk- 1) Boveri (Zellen-Studien VI, Jen. Zeitschr. 43. 1907) hat eine verschiedene morphogenetische Rolle der einzelnen Cromosomen des Kernes experimentell sehr wahrscheinlich gemacht; freilich sollen sie nicht etwa jeweils die einzelnen Repräsentanten einzelner Organe sein. Die Lehre würde natürlich die Hauptsache an unserer Frage nicht wesentlich ändern ; auch wenn sie sich definitiv als richtig erwiese, wären die Chromosomen nur morphogenetische Mittel und nichts weiter, ganz ebenso wie im Falle ihrer Gleichheit. -Nur mit Rücksicht auf das Problem der Geschlechtsbestimmung (s. S. 106 f.) kann wohl die morphogenetische Sonderheit eines bestimmten Chromosoms als erwiesen gelten, ohne daß auch hier die Art seiner Rolle bekannt wäre. 2) Näheres, auch über Vererbung überhaupt, in dem guten kritischen Werke von Lotsy, „Vorlesungen über Deszendenz- Theorien", Jena 1906/08. Driesch, Philosophie. I. 16 242 Vererbung. liehe Grundlage der sogenannten Deszendenztheorie, die wir besitzen, sondern zwingt uns auch, unsere Definition der Vererbung etwas zu ändern; diese Definition war, wie sich nun zeigt, nur eine Art von Annäherung an die Wahrheit,, die für unsere analytische Erörterung zweckmäßig war. In erster Linie sind die Bedingungen, welche die Ausgangsstadien der Formbildung umgeben, nicht in jeder Beziehung gleich; und so verstehen wir es denn in gewissem Grade, daß auch die Nachkommen eines gegebenen Elternpaares, oder besser, um alle Komplikationen, die aus der geschlechtlichen Fortpflanzung, der Amphimixis, wie W e i s m a n n sie nennt, entspringen, auszuschließen, die Kachkommen eines gegebenen parthenogene tischen Weib- chens nicht alle unter einander gleich sind; mögen auch die Keime, denen sie entstammen, völlig identisch gewesen sein. Es ist ja wohlbekannt, daß die Individuen jeder Generation ,, variieren", und zumal in England ist die sogenannte individuelle oder fluktuierende Variation be- sonders sorgfältig mit statistischen Methoden von G a 1 1 o n, Weldon, Pearson u. a. studiert worden1). Wenn wir nun annehmen, daß diese Art von Variation die Folge einer Variation der Bedingungen, im weitesten Sinne des Wortes, ist, so folgen wir nur der Meinung, die heute fast allgemein von denjenigen Biologen2), die auf diesem Felde kompetent sind, vertreten wird. Die fluktuierende Varia- tion gilt in der Tat jetzt allgemein als Folge von Variationen der Ernährung; die Zufälligkeiten der letzteren haben Zufälligkeiten der ersteren zur Folge, und das Gesetz der Zufälligkeiten ist für beide dasselbe, nämlich ein allgemeines Gesetz der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, bezeichnet natürlich die fluk- tuierende Variation weniger eine Ausnahme von, als einen Zusatz zu der reinen Vererbungstatsache. 1) Vgl- H- M» Vernon, Variations in Animals und Plauts.. London 1903. 2) DeVries, Die Mutationstheorie 1.1901; Klebs, Jahrb. wiss. Bot. 42. 1905. Vererbung. 243 Unsere Definition der Vererbung erleidet aber nun noch andere Beschränkungen. Das Ausgangs- stadium selbst, das ein Organismus wieder bildet, ist nicht immer durchaus identisch mit dem Ausgangs- stadium seiner Eltern : B a t e s o n und de V r i e s haben zuerst in systematischer Weise diese wirklichen Ausnahmen1) von wahrer Vererbung, diese sprungweisen oder dis- kontinuierlichen Variationen studiert. D e V r i e s hat sie, wie Sie wissen, ,, Mutationen" genannt. Was hier positiv bekannt geworden ist, ist nun zwar nicht gerade viel, ist aber trotzdem von theoretischer Bedeutung, indem es die einzige im engeren Sinne tat- sächliche Grundlage aller Deszendenztheorien ist, wie wir alsbald sehen werden. Mutationen sind gegenwärtig nur unter kultivierten oder kultiviert gewesenen Tieren und Pflanzen bekannt. Von einem ihr Auftreten beherrschenden Gesetz oder ihrer Bedeutung wissen wir in allgemeiner Form gar nichts2). *) Sie würden keine wahren Ausnahmen sein, wenn Klebs (Arch. Entw.-Mech. 24. 1907) mit seiner Behauptung im Rechte wäre, daß sowohl Variationen wie Mutationen äußeren Faktoren entspringen. Was Klebs wirklich bewiesen hat, ist die Möglich- keit, den Typus einer Variationskurve durch äußere Mittel zu verändern und gewisse diskontinuierliche Variationen von außen hervorzurufen. Vgl. auch Blaringhem (Comptes rend. 1905/06 und Soc. de. Biol. 59. 1905) und MacDougal (Rep. Depart. Bot. Res. 5th. Year-book Carnegie Inst., Washington p. 129). 2) Vgl. De Vries, Arten und Varietäten und ihre Entstehung durch Mutation. Berlin. 1906. Eine kurze Übersicht über die „Mutationstheorie" gibt France in Zeitschr. f. d. Ausbau d. Entw.- lehre 1. 1907. Bekanntlich haben Korschinsky und Grautier ähnliche Gesichtspunkte schon vor den im Text genannten Autoren vertreten. 16" Folgerungen aus dem ersten Hauptteil dieser Vorlesungen. Mit unserem Kapitel über Vererbung haben wir gleich- zeitig den ersten Hauptteil unserer Vorlesungen beendet, denjenigen ihrer Teile, welcher ausschließlich dem Studium der Formbildung des Individuums mit Einschluß der vege- tativen Funktionen der erwachsenen individuellen Form gewidmet war. Wir wenden uns jetzt unserem zweiten Teile zu, der sich mit dem Problem der Verschiedenheiten der indi- viduellen Formen, mit der morphologischen Systematik beschäftigen soll. Das Ende unseres Vererbungskapitels hat uns bereits an die Schwelle dieses Zweiges der biolo- gischen Wissenschaft geführt. Das Hauptresultat des ersten Hauptteils unserer Vor- lesungen ist der Beweis der Autonomie der Lebensphänomene für gewisse Zweige der individuellen Formbildungslehre, vielleicht für alle, gewesen. Der Ausgangspunkt aller Formbildung kann nicht als eine Maschine angesehen werden, und der Prozeß der Differenzierung, wenigstens wo er auf der Grundlage harmonisch-äquipotentieller Systeme ruht, kann nicht eine Maschine als Basis haben. Es kann keine Art von Maschine in der Zelle geben, aus der das Individuum entsteht, weil diese Zelle, sowohl in ihrem Protoplasma wie in ihrem Kern, aus einer langen Reihe von Teilungen hervorgegangen ist, die alle gleiche Produkte lieferten, und weil eine Maschine nicht dieselbe bleibt, wenn man sie teilt. Andererseits kann nicht irgend eine Art von Maschine die wahre Grundlage eines harmo- nischen Systems mit seinen vielen Zellen und Kernen sein, weil die Entwicklung dieses Systems normal abläuft, wenn man auch seine Teile verlagert oder teilweise entfernt, und Folgerungen aus dem ersten Hauptteil dieser Vorlesungen. 245 weil eine Maschine in solchen Fällen niemals sich selbst gleich bleiben würde. Wenn unsere analytischen Erörterungen uns nun also zu einer vitalistischen Lehre geführt haben, so folgt daraus, daß wir uns doch wohl nicht so ganz mit Wilhelm Roux einverstanden erklären können, wenn er die analytische Wissenschaft von der individuellen Form und Formbildung als ,, Entwicklungsmechanik" bezeichnet, ein Name, den man natürlich, damit er nicht nur die normale Entwicklung, sondern auch die Restitution und Anpassung umfasse, leicht in den einer ,, Formbildungsmechanik" umwandeln könnte. Wir fühlen uns aber überhaupt nicht imstande, von „Mechanik" zu reden, wo gerade das Gregenteil von Mechanik vorliegt. Namen freilich bedeuten wenig, aber sie sollten doch nicht geradezu irreleitend sein, und der Name „Ent- wicklungsmechanik" hat schon viele gelegentlich irre- geleitet. Sagen wir also lieber, daß wir jetzt denjenigen Teil unserer Studien beendet haben, der sich mit der Physiologie der Form zu befassen hatte. Noch einmal wiederholen wir an diesem Ruhepunkte in unserer Erörterung, daß unsere beiden Beweise der Autonomie des Lebens auf eine sorgfältige Analyse gewisser Tatsachen aus der Lehre von der Verteilung der morphogenetischen Potenzen begründet worden sind und auf nichts anderes. Um nur Eines hier hervorzuheben: wir haben nicht gesagt, daß die Tatsache der Regeneration nur deshalb, weil sie eine Art der Wieder- herstellung des zerstörten Ganzen ist, uns zur Zu- lassung der Selbstgesetzlichkeit biologischer Phänomene zwinge ; Regeneration beweist vielmehr den Vitalismus nur deshalb, weil sie sich gründet auf die Existenz gewisser komplex-äquipotentieller Systeme, und weil eben die Analyse der Genese dieser Systeme zur Einsicht in die Autonomie des Lebens führt. Dieser Unterschied ist in der Tat von großer logischer Bedeutung. Teil IL Systematik und Geschichte. A. Die Prinzipien der Systematik. Kationelle Systematik. Alle Systematik, die das Prädikat rationell verdienen soll, muß auf einen Begriff oder auf ein Urteil begründet sein, mit deren Hilfe eine Gesamtheit spezifischer Ver- schiedenheiten verständlich wird; d. h. jedes System, welches behauptet, rationell zu sein, muß uns einen Schlüssel geben, mittels dessen wir imstande sind zu begreifen : entweder, daß nur eine bestimmte Zahl von Art-Verschiedenheiten einer gewissen Gattung existieren kann, oder daß zwar eine unbe- grenzte Zahl solcher Verschiedenheiten möglich ist, die aber einem bestimmten Gesetz mit Rücksicht auf die Natur ihrer Unterschiede folgen. Die Stereometrie, welche beweist, daß nur 5 reguläre Körper möglich sind, und zugleich die geometrische Natur dieser Körper darlegt, bietet ein Beispiel dessen, was ein rationelles System sein soll. Ein anderes Beispiel ist die Theorie der Kegelschnitte. Untersucht man die allgemeine Gleichung zweiten Grades mit zwei Unbekannten und studiert alle möglichen Formen, die sie durch eine Variation einer Konstanten anzunehmen vermag, so versteht man, daß nur vier verschiedene Typen von Kegelschnitten möglich sind: der Kreis, die Ellipse, die Hyperbel und die Parabel. In der Physik und der Chemie gibt es ein vollkommenes rationelles System bis jetzt noch nicht, aber es gibt in ver- schiedenen Zweigen dieser Wissenschaften Systeme, die sich dem idealen Typus nähern. Der chemische Typus 248 Prinzipien der Systematik. der einwertigen gesättigten Alkohole z. B. ist gegeben durch die Formel CnH2n + lOH\ und in dieser Formel besitzen wir nicht nur einen Ausdruck für das Gesetz der Zusammen- setzung, dem alle möglichen Alkohole folgen, sondern wir besitzen in unserer Formel auch, da wir empirisch das Gesetz der quantitativen Beziehung zwischen n und dem Grade verschiedener physikalischer Eigenschaften kennen, eine allgemeine Einsicht in die Gesamtheit aller Eigenschaften, welche irgend ein primärer Alkohol, der in Zukunft her- gestellt oder entdeckt werden wird, besitzen muß. Aber die systematische Chemie hat noch höhere Ziele. Sie alle wissen, daß das sogenannte periodische Gesetz der Elemente der erste Schritt zu einer Einsicht gewesen ist, die uns eines Tages über die Beziehungen aller physikalischer und chemischer Eigenschaften eines sogenannten Elements zu seiner wichtigsten Konstante, dem Atomgewicht, Aufschluß geben soll ; und es scheint gerade der Gegenwart vorbehalten zu sein, ein wahrhaft grundlegendes System der „ Elemente" auf Basis des periodischen Gesetzes mit Hilfe der Elektronen- theorie aufzustellen. Ein solches System der Elemente würde uns lehren, daß es nur so viele Elemente geben kann und nicht mehr, und nur Elemente von solcher Art. In der Krystallographie hat man ein ähnliches Ziel bereits mit Hilfe gewisser hypothetischer Annahmen erreicht, und die Systematik hat hier Aufschluß gegeben über die beschränkte Zahl und den bestimmten Charakter der möglichen Formen krystalliner Symmetrie. Es ist nicht schwierig, eine Einsicht in den allgemeinen logischen Typus aller rationellen Systeme zu gewinnen; ja, die Logik kann diesen Typus entdecken ohne Hinweis auf die konkreten Wissenschaften oder die Geometrie. Rationelle Systematik ist immer möglich, sobald ein Grundbegriff oder ein Grundurteil existiert, welches ein Einteilungs- prinzip in sich selbst trägt, oder welches, mit anderen Worten, zu Widersprüchen führen würde, wenn die von ihm geforderte Einteilung in einer anderen, als einer be- stimmten Weise ausgeführt würde. Wie man leicht Prinzipien der Systematik. 249 einsieht, umfaßt hier das sogenannte ,, Genus" alle seine „Spezies" derart, daß alle Sonderheiten der Spezies bereits in Eigenschaften des Genus gegeben sind, freilich in einer allgemeineren, in einer noch unspezifizierten Form. Das Genus ist hier reicher an Inhalt und reicher an Umfang, als die Spezies, wobei freilich hinzugefügt werden muß, daß sein Inhaltsreichtum nur gleichsam latent ist : aber er kann von sich selbst aus entwickelt werden, ohne Hilfe von außen. Wir begegnen hier einigen der bemerkenswertesten Eigenschaften der sogenannten synthetischen Urteile a priori im Sinne von Kant, und es scheint in der Tat, daß eine rationelle Systematik immer nur dann möglich ist, wenn rein kategoriale Begriffe oder auf solche Begriffe be- gründete Urteile zugrunde liegen, oder wenigstens mit dem systematisch einzuteilenden Gegenstande irgendwie ver- knüpft sind. Hat es doch alle rationelle Systematik be- züglich der Symmetrierelationen der natürlichen Körper in letzter Linie mit dem Raum zu tun; anders gesagt: alle Systematik kann auf diesem Gebiete rationell werden, so- bald sie sich in Probleme der Stereometrie auflösen läßt. In allen anderen Fällen nun, sei es mit Rücksicht auf natürliche Körper oder auf Tatsachen, können Genera und Spezies nur auf Basis empirischer Abstraktion mit einander verknüpft werden und daher nie Rationalität erreichen: hier ist das Genus, ganz wie die übliche Logik lehrt, umfangreicher aber Inhalt ärmer als die Spezies. Die Spezies werden hier aus dem Genus gebildet nicht durch eine inhärente Entwicklung gleichsam latenter Eigen- tümlichkeiten, sondern durch eine bloße Hinzufügung charakteristischer Merkmale. Es ist hier unmöglich, die Zahl oder die Sonderheiten der Spezies aus dem Genus abzuleiten. Bloße „Klassifikation" ist hier möglich, wenn anders wir den ehrenvollen Namen einer „Systematik" für wahrhaft rationelle Einteilung aufbewahren wollen, eine bloße Art von Katalog, nützlich für die praktische Orientierung, aber für nicht mehr. Wir können alle Arten von Hüten oder Tischen in derselben Weise klassifizieren. 250 Prinzipien der Systematik. Biologische Systematik. Hier kehren wir nun von unserem logischen Exkurs zu unserem eigentlichen biologischen Thema zurück, und da muß ich denn leider gleich im Beginne sagen, daß die biologische Systematik gegenwärtig durchaus unseren zweiten Typus möglicher Einteilung darstellt : Sie ist r e i n e Klassifikation; sie liefert uns einen Katalog, aber nicht mehr. Diese Behauptung einer Tatsache schließt natürlich nicht den geringsten Vorwurf für die hervorragenden Männer ein, welche die Klassifikation der Tiere und Pflanzen geschaffen haben. Muß man doch einmal einen solchen Katalog haben, und der Katalog der Organismen hat sich in der Tat im Laufe des Fortschreitens der empirischen und beschreibenden Biologie sehr verbessert. Eine Klassi- fikation verbessert sich, je ,, natürlicher" sie wird, je mehr die verschiedenen möglichen Einteilungsgründe in ihren Resultaten zusammenstimmen; und in der Tat hat in dieser Beziehung die Klassifikation der Organismen große Fort- schritte gemacht. Das ,, natürliche" System hat eine solche Vollendung erreicht, daß dasjenige, was unter dem einen Ge- sichtspunkt verwandt erscheint, auch von fast allen anderen möglichen Gesichtspunkten aus verwandt ist, oder doch wenigstens von denjenigen aus, welche die wichtigsten Merkmale angehen. Man hat die möglichen Einteilungs- gründe wahrhaft abgewogen, und eben damit hat man in gewisser Hinsicht endgültige Resultate erreicht. Aber wir kennen eben doch den eigentlichen Existenz - grund des Systems der Organismen durchaus nicht; wir sind durchaus nicht imstande zu sagen, daß nun gerade diese Klassen und Ordnungen und Familien exi- stieren müssen und keine anderen, und daß sie so beschaffen sein müssen, wie sie sind. Werden wir das jemals verstehen? Oder muß die organische Systematik immer eine empirische Klassi- fikation bleiben? Wir können diese Frage heute nicht be- Prinzipien der Systematik. 251 antworten. Da einfache räumliche Beziehungen sicherlich nicht das Zentrum irgend einer problematischen rationellen organischen Systematik der Zukunft ausmachen werden, so tritt die Frage auf, ob es im Bereiche der synthetischen Urteile a priori vielleicht noch irgend ein Prinzip von ganz anderem Typus gäbe, welches eine Art inhärenter Ent- wicklung latenter Verschiedenheiten erlauben möchte, wie die geometrischen Prinzipien das tun. An späterer Stelle dieses Werkes werden wir über diesen wichtigen Punkt einiges Weitere sagen können. Der Begriff des sogenannten ,, Typus", vornehmlich C u v i e r und Goethe verdankt, ist das wichtigste Resultat, was die biologische Klassifikation uns bis jetzt geliefert hat. Kaum wichtiger ist die Entdeckung der „Kor- relation der Teile", d. h. eine Art notwendiger Verknüpfung, welche nicht unmittelbar kausal ist. R ä d 1 scheint der einzige moderne Autor zu sein, der diesen Punkt klar ge- sehen hat. Die Harmonie, die wir in der Entwicklung ent- deckten, ist ein Bestandteil dieser Korrelation. Wenn wir später unseren wohlbegründeten Begriff der Entelechie, die letzte Basis der Organisation, analytisch erörtern werden, dann werden wir auch eine befriedigendere Einsicht in die Bedeutung der nicht kausalen, aber notwen- digen Verknüpfung, die uns in den Begriffen Typus und Korrelation der Teile entgegentritt, zu gewinnen imstande sein. Der Typus ist eine irreduzible Art der Anordnung verschiedener Teile; die Korrelation hat es mit dem Grad und der Art dessen, was als wirklich existierende Aus- prägung der Teile in Bezug auf einander bezeichnet werden könnte, zu tun; alle Widerkäuer z. B. sind Zweihufer, die sogenannten Zahnformeln sind charakteristisch für ganze Gruppen der Säugetiere. Alle solche Beziehungen sind natürlich empirisch und haben ihre Grenzen; aber es ist wichtig, daß sie überhaupt möglich sind 1). J) In den letzten Jahren ist der Grund zu einer auf chemische Verschiedenheiten des Stoffwechsels und seiner Produkte basierten 252 Prinzipien der Systematik. Es ist das Hauptergebnis der vergleichenden Embryo- logie gewesen, nachzuweisen, daß der Typus als solcher sich klarer in den Entwicklungsstadien als in den erwachsenen Formen ausprägt, und daß deshalb die Embryonalstudien verschiedener Gruppen einander ähnlicher sind als die erwachsenen Stadien : das ist das Wahre an dem sogenannten „biogenetischen Grundgesetz". Aber spezifische Ver- schiedenheiten fehlen trotz ihrer größeren gegenseitigen Ähnlichkeit auch den embryonalen Stadien nicht. Wir haben denjenigen Teil einer Wissenschaft, der sich mit den Verschiedenheiten anstatt mit den Allgemeinheiten befaßt, Systematik oder, falls er nicht rationell ist, Klassi- fikation genannt; in dieser weiten Bedeutung des Wortes darf Systematik natürlich nicht verwechselt werden mit dem, was üblicherweise so genannt zu werden pflegt, näm- lich mit der meist auf rein äußerliche Formmerkmale be- gründeten Einteilung der letzten und kleinsten Gruppen des biologischen Systems. Unsere „Systematik" ist einer der beiden Hauptteile der Biologie; was vergleichende Ana- tomie und vergleichende Embryologie heißt, sind ihre Methoden. Denn es muß scharf betont werden, daß diese Forschungszweige nur Methoden, und keine selbständigen Wissenschaften sind. Systematik gelegt worden. Solche Verschiedenheiten gehen in manchen Fällen mit Verschiedenheiten des Typus Hand in Hand (v. Bunge, Przibram usw.). B. Die Deszendenztheorie. 1. Allgemeines. Es ist heutzutage allgemein zugestanden, daß der gegenwärtige Zustand der Organismen das Resultat ihrer Geschichte ist. Was heißt das? Auf welcher Grundlage ruht diese Annahme? Wie verhält sich Systematik zu Geschichte? Mit der Aufrollung dieser Fragen und Er- wägungen betreten wir den Boden der Deszendenztheorie. Die Deszendenztheorie ist die hypothetische Behaup- tung, daß die Organismen trotz ihrer Verschiedenheiten mit einander blutsverwandt seien 1). Die Frage nach ihrem sogenannten monophyletischen oder polyphyletischen Ursprung ist ein Problem zweiten Ranges im Vergleich zu der Frage nach der Verwandtschaft überhaupt. Es gibt zwei verschiedene Gruppen von Tatsachen, welche zum Gedanken einer Deszendenz geführt haben: *) Wir ziehen diese unvoreingenommene Definition der Des- zendenztheorie jeder anderen vor. Sobald man in die Definition den Begriff der „ Veränderlichkeit der Spezies" einführt, muß der Begriff „Spezies'' definiert werden, und das führt zu Schwierig- keiten, deren Erörterung für unsere Zwecke unnötig ist. — Es ist von Krasan („Ansichten und Gespräche über die individuelle und spezifische Gestaltung in der Natur") und einigen anderen Schrift- stellern bemerkt worden, daß sich das Problem der Veränderlichkeit oder Unveränderlichkeit in erster Linie auf die Individuen bezieht. Ich möchte dem beifügen, daß die Möglichkeit zugegeben werden muß, daß die Individuen veränderlich, die „Spezies" aber gleich- zeitig nicht veränderlich seien; dann wäre die Reihe der „Spezies" eine feste Orduung, durch welche die Individuen im Lauf ihrer ■Generationen hindurch zu gehen hätten. Was das heißt, wird klarer werden, sobald wir die verschiedenen möglichen Formen der „Phylogenie" studieren. 254 Deszendenztheorie. keine derselben zwingt zu diesem Gedanken, aber beide zusammengenommen machen ihn sehr wahrscheinlich. Die erste Gruppe von Faktoren, welche zur Annahme einer wahren Verwandtschaft der Organismen führen, ist der Lehre von der geographischen Verbreitung der Tiere und Pflanzen, sowie der Paläontologie entnommen. Was die Geographie angeht, so scheint mir, daß die Ergebnisse des floristischen und faunistischen Studiums von Inselgruppen hier in erster Linie Erwähnung verdienen. Wenn auf jeder der verschiedenen Inseln A, B, C, und D, welche zusammen eine Gruppe bilden, die Spezies eines gewissen Genus von Tieren oder Pflanzen in gewisser Hinsicht verschieden sind, und wenn sie auch Verschiedenheiten zeigen im Vergleich zu den auf dem benachbarten Kontinent lebenden Arten, von welchem sich, wie die Geologie lehrt, jene Inseln einst abspalteten, während andererseits auf dem Kontinent durch weite Strecken hindurch kein Wechsel der Spezies statthat : dann dient ohne Zweifel die Hypothese, daß alle diese ver- schiedenen Spezies einen gemeinsamen Ursprung haben, daß etwas Gemeinsames zwischen ihnen existiert, ganz wesentlich zur Aufhellung einer sonst durchaus unverständlichen Tatsache. Und dasselbe gilt für die Paläontologie. In geologischen Schichten, die eine kontinuierliche Reihe bilden, findet man eine Reihe von Tieren, die zwar für jede einzelne Schicht typisch und spezifisch sind, aber doch eine Reihe bilden, ebenso wie die Schichten. Würde nicht diese Tat- sache sehr viel von ihrer Sonderheit verlieren, wenn wir die Hypothese machen dürften, daß die Tiere sich mit den Schichten verändert haben? Bei solcher Annahme würde wenigstens die Kontinuität des Lebens garantiert sein. Die geographischen und geologischen Indizien zugunsten der Deszendenztheorie sind Tatsachen, welche anderen Wissenschaften als der Biologie selbst entnommen sind; sie sind nicht Tatsachen vom Lebenden, sondern nur Tatsachen in Bezug auf das Lebende. Das ist logisch nicht ganz un- wichtig, denn es zeigt, daß nicht die Biologie allein zur Hypothese des Transformismus geführt hat. Wäre das der Deszendenztheorie. 255 Fall, so müßte der Transformismus eine bloße Hypothese ad hoc heißen; das ist er also nicht; obwohl wir andererseits weit entfernt davon sind zuzugeben, daß die Hypothese des Transformismus x) auf einer causa vera ruhe. Doch wenden wir uns der zweiten Gruppe von Tatsachen zu, welche die Deszendenztheorie stützt. Hier begegnen wir von der Biologie selbst gelieferten Indizien; die Biologie selbst trägt in der Tat gewisse Züge, auf welche die An- nahme der Deszendenztheorie ein gewisses Licht wirft. Diese Tatsachen können natürlich nur solche sein, die sich auf spezifische Verschiedenheiten beziehen, und sie sind in der Tat Tatsachen der Systematik; es liegt etwas im eigentlichen Wesen des Systems der Organismen, das die Deszendenz- theorie wahrscheinlich macht. Das System der Tiere und Pflanzen ist nämlich auf ein Prinzip basiert, das man als „Prinzip der Abstufung von Ähnlicheiten und Verschieden- heiten" bezeichnen könnte; seine Kategorien sind ein- ander an Grad und Bedeutung nicht koordiniert, sondern subordiniert; es gibt in ihm ganz verschiedene Werte von Verschiedenheiten. Ohne Zweifel würde dieser Charakter des Systems verständlicher werden, wenn wir annehmen dürfen, daß die gradmäßige Abstufung der systematischen Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten einer Blutsverwandt- schaft entspricht, welche auch gradmäßig ist. Über eine verborgene Hilfsannahme aller Deszendenz- theorien. Wir haben bisher stets sehr unbestimmte und recht bild- liche Worte gebraucht, um das darzulegen, was man den logischen Wert der Deszendenztheorie nennen könnte, um ihre Bedeutung als sogenannte „Erklärung" zu bezeichnen. x) Wir verwenden die Worte „Deszendenztheorie" und „Trans- formisrnus" in gleichem Sinne. Dagegen vermeiden wir die Be- zeichnung „Evolutionstheorie"; Evolution bedeutet uns etwas Be- stimmteres, wie sich noch zeigen wird. Die englische Ausgabe dieses Werkes enthält eine eingehendere Erörterung dieses Punktes, da ja im Englischen die Bezeichnung „theory of evolution" für die Deszendenztheorie üblich ist. 256 Deszendenztheorie. Wir haben von der ,, Auf hellung" gesprochen, welche sie bringt, von dem ,, Licht", welches durch sie auf viele Schwierigkeiten geworfen wird. Absichtlich haben wir diese Ausdrücke angewandt. Es ist nämlich von großer Be- deutung, sich ganz klar zu machen, daß eine besondere, freilich verborgene und unbewußte, Hilfs- annahme der bloßen Behauptung der Deszendenz beigefügt zu werden pflegt, wo immer diese Hypothese, um irgend ein Feld systematischer Tatsachen ,, auf zuhellen", ver- treten wird. Und diese Hilfsannahme m u ß in der Tat von Anfang an gemacht werden, ganz ohne Rücksicht auf die spezielleren Probleme des Gesetzes der Deszendenz, damit die Deszendenztheorie nur überhaupt irgend eine Art von Erklärung liefern könne. Damit die Theorie, daß die Organismen trotz ihrer Verschiedenheiten blutsverwandt sind, von wirklich erklärendem Werte sei, muß not- wendigerweise in jedem Falle angenommen werden, daß die Veränderungen, welche die spezifische Form A zu der spezifischen Form B haben werden lassen, derartig gewesen sind, daß sie die ursprüngliche Form A nur teilweise umwandelten; mit anderen Worten: die Ähnlichkeiten zwischen A und B dürfen nie von ihren Verschiedenheiten verdunkelt worden sein. Nur bei dieser Annahme, welche aber eine neue, der originalen Deszendenztheorie beigefügte H i 1 f s - annähme ist — eine Hilfsannahme, welche die eigentliche Natur der Umwandlung betrifft — nur bei dieser fast ver- borgenen Hilfsannahme ist es möglich zu sagen, daß die Theorie des Transformismus die Tatsachen der Geographie, der Geologie und der biologischen Systematik irgendwie „erkläre". Wir werden bald die logische Natur dieses „Erklärens" noch eingehender studieren. Zunächst muß es genügen, das Wort in seiner üblichen Bedeutung zu verstehen. Was nun also durch die Hypothese der Deszendenz, einschließlich der Hilfshypothese, daß im Laufe der Umwand- lung die Ähnlichkeit immer überwogen habe, ,, erklärt" wird, ist die Tatsache, daß auch in der Paläontologie, Deszendenztheorie. 257 auch in den fatalistischen und floristischen Gruppen der Inseln und des Kontinents, und endlich auch in den einzelnen Kategorien des Systems die Ähnlichkeiten über die Verschiedenheiten überwiegen. Diese Ähnlich- keiten also sind „erklärt" ; d. h. wir sehen ein, daß sie alle auf einem und demselben Prinzip beruhen: auf dem Prinzip der Vererbung1); und so haben wir denn ein Problem an "Stelle einer unbegrenzten Zahl von Problemen. Aus diesem Grunde hat W i g a n d der Deszendenztheorie zugestanden, daß sie eine „numerische Reduktion der Probleme" leiste. Indem wir nun aber verstehen, was die Deszendenz- theorie mit samt ihrer notwendigen Hilfsannahme erklärt, verstehen wir auch gleichzeitig, was nicht durch sie auf- gehellt wird : die Verschiedenheiten der Organismen bleiben so unverständlich, wie sie gewesen sind, wenn wir auch wissen, daß Vererbung verantwortlich ist für das, was an den Organismen ähnlich oder gleich ist. Nun kann es aber keinem Zweifel unterliegen, daß die Ver- schiedenheiten das Wichtigere in dem Gebiete der Systematik sind; wenn es nur Ähnlichkeiten gäbe, würde es gar kein Problem der Systematik geben, denn es würde kein „System" existieren. Seien wir zufrieden, daß es Ähnlichkeiten i n den Verschiedenheiten des Systems gibt, und daß diese Ähnlich- keiten in gewisser Hinsicht erklärt sind; aber übersehen wir nie, was noch unerklärt bleibt. Leider ist das sehr häufig übersehen worden. Der geringe Wert reiner Phylogenie. Und so werden wir denn zur negativen Seite der Theorie des Transformismus geführt, nachdem wir ihre positive x) Es scheint mir, daß meine Darlegung der Deszendenztheorie eine breitere Basis schafft als diejenige Gr. Wolffs (Die Begründung der Abstammungslehre. München 1907). Wolff geht vom Begriff der organischen Zweckmäßigkeit aus und findet dann den einzigen Grund zur Annahme der Lehre des Transformismus in der Existenz sogenannter „rudimentärer" Organe; diese Organe würden nämlich der Zweckmäßigkeit widersprechen, könnten sie nicht als vererbt . gelten. Driesch, Philosophie. I. I« 258 Deszendenztheorie. Seite erörtert haben: Ohne eine wirkliche Kenntnis der Faktoren, welche bei der Umbildung in Betracht kommen., mit anderen Worten: ohne eine Kenntnis des Gesetzes der Umbildung, läßt die bloße Deszendenztheorie das Problem der Systematik praktisch dort stehen, wo sie es gefunden hat, und fügt nichts zu seiner Lösung bei. Das ist sehr be- dauerlich, aber wahr. Man denke sich, daß die sogenannte historische Geologie durchaus keine Kenntnis von den physikalischen und chemischen Faktoren besäße, welche bei den von ihr stu- dierten Problemen in Frage kommen: was anders würde sie ermitteln, als eine Reihe absolut unverständlicher Tat- sachen ? Oder man denke sich, daß jemand ein Vertreter der kosmogenetischen Theorie von Kant und L a p 1 a c e sei ohne irgend eine Kenntnis der Mechanik : Was würde die Theorie dann bedeuten? Oder man denke sich, daß man um die gesamte Geschichte der Menschheit wisse, ganz ohne ein Wissen um Psychologie: was würde man da besitzen als Tatsachen und wieder Tatsachen, ohne auch nur eine Spur von Erklärung? In solcher Lage befindet sich nun aber die sogenannte Phylogenie. Wenn sie sich nur auf den Deszendenz - gedanken gründet, so erklärt sie wirklich gar nichts. Aus diesem Grunde warf der Philosoph L i e b m a n n der Phylogenie vor, daß sie nichts als eine ,, Ahnengalerie" zu liefern imstande sei. Und diese Ahnengalerie, welche die Phylogenie liefert, bietet nun nicht einmal die Garantie tatsächlicher Sicherheit; im Gegenteil, sie ist so unsicher wie möglich und weit davon entfernt, eine Tatsache zu sein. Denn es gibt keine sicheren und rationellen Prinzipien, auf welchen die Phylogenie ruhen könnte; sie ist nur ein Feld für phantastische Spekulation. Wie könnte das anders sein, wo alles sich auf Voraussetzungen gründet, welche selbst des leitenden Prinzips entbehren? Ich möchte in meiner Polemik gegen die Phylogenie nicht mißverstanden werden. Ich gebe vollständig zu, daß es in gewissen Fällen möglich sein mag, die phylogenetische Deszendenztheorie. 259 Geschichte kleiner Gruppen mit einiger Wahrscheinlichkeit aufzudecken, falls gewisse paläontologische Daten die Tat- sachen der reinen vergleichenden Anatomie stützen ; und ich zögere auch nicht, einer solchen Aufhellung einen gewissen Wert zuzusprechen mit Rücksicht auf künftige Ent- deckungen von wahren ,, Gesetzen" der Deszendenz, zumal wenn man noch das Wenige, was wir über Mutationen wissen, dazu nimmt. Aber mit der Phylogenie großen Stils liegen die Dinge ganz anders. Weit beredter als jede Art von Polemik spricht hier die Tatsache, daß man z. B. die Ab- stammung der Wirbeltiere bereits ,, bewiesen" hat von: erstens den Nemertinen, zweitens den Anneliden, drittens dem Wurmtypus Sagitta, viertens den Spinnen, fünftens der Crustaceengruppe Limulus und sechstens dem Balanoglossus. Soweit wenigstens kenne i c h diese Art von Literatur, mit der ich freilich nicht gerade besonders vertraut bin. Emil Dubois-Reymond hat einmal gesagt, daß Phylogenie dieser Art ungefähr denselben wissenschaftlichen Wert besitze wie die Stamm- bäume homerischer Helden; ich glaube, wir können seiner Meinung durchaus beipflichten. Geschichte und Systematik. Einige Worte müssen jetzt den Beziehungen zwischen Geschichte und Systematik im Gebiet der Biologie gewidmet werden. Liegt nicht zwischen einer geschichtlichen Ent- wicklung und einem wahren rationellen System, wie wir es doch für die Biologie der Zukunft erwarten, ein Widerspruch vor? Keineswegs; eine Gesamtheit von Verschiedenheiten wird von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus betrachtet, wenn sie den Gegenstand eines Systems bildet, als wenn sie ihrer zeitlichen Realisierung nach betrachtet wird. Wir sagten oben, daß die Chemie, wenigstens in einigen ihrer Zweige, dem Typus eines rationellen Systems sehr nahe kommt ; nun sind aber die Elemente ihres Systems gleich- zeitig historisch entstanden, wenn schon natürlich nicht auf dem Wege der Fortpflanzung. Denn es ist klar, daß die 17* 260 Deszendenztheorie. geologischen Bedingungen sehr früher Zeiten die Existenz gewisser chemischer Verbindungen, die uns heute bekannt sind, nicht erlaubt haben. Trotzdem haben diese Ver- bindungen stets ihren Platz im System gehabt. Und es mag andererseits viele Substanzen geben, die der chemischen Systematik theoretisch bekannt sind, aber niemals haben dargestellt werden können wegen der Unmöglichkeit, die für ihre Entstehung notwendigen Bedingungen herzustellen; trotzdem „existieren" diese Substanzen. „Existenz" im Sinne der Systematik ist, ebenso wie die Existenz der Natur- gesetze, unabhängig von besonderem Ort und besonderer Zeit : wir können hier von einer platonischen Art der Existenz sprechen. Dieser Art von idealer Existenz wird natürlich nicht dadurch widersprochen, daß Wirklichkeit zu ihr hinzukommt. So bleibt also das Problem der Systematik logisch be- stehen, mag die Deszendenztheorie richtig oder falsch sein. Die Frage nach der Gesamtheit der lebenden Verschieden- heiten ist immer da; mag sie auf Grund eines allgemeinen Prinzips verstanden sein oder nicht und mag dieses Prinzip sein, welches es will. Da sich nun in der Tat das organische System höchst wahrscheinlich durch Geschichte, durch Des- zendenz realisiert hat, so wird wahrscheinlich auch eines Tages die Analyse der in dieser Geschichte eine Rolle spielenden kausalen Faktoren zur Aufhellung des Prinzips der Systematik selbst führen. Wir wollen nun dazu übergehen, einen Blick auf die verschiedenen Arten von Hypothesen zu werfen, welche aufgestellt sind, um Rechenschaft davon zu geben, wie eine Deszendenz der Organismen überhaupt möglich ge- wesen sei. Wissen wir doch, daß die Theorie des Trans- formismus an sich nicht viel bedeutet, wenn nicht eine wenigstens hypothetische Vorstellung von der Natur der umwandelnden Faktoren möglich ist; fast jeder Autor in der Tat, der die Deszendenztheorie in ihrer Gesamtheit vertrat, hat eben deswegen auch versucht, sich Rechenschaft davon zu geben, in welcher Weise die Organismen zu ihren gegenwärtig vorhandenen Verschiedenheiten gekommen sind. 2. Die Prinzipien des Darwinismus. Man braucht heutzutage die unter dem Namen des Darwinismus bekannte Theorie nicht eingehend dar- zulegen. Sie alle bennen diese Theorie wenigstens in ihren Grundzügen, und so können wir uns denn gleich ihrer Analyse zuwenden. Nur wenige Worte möchte ich der Bezeichnung ,, Darwinismus" widmen. Es ist seltsam aber wahr: der Darwinismus und die Ansichten von Charles Darwin über die Abstammung der Organismen sind zwei recht verschiedene Dinge. Darwin, so recht der Typus eines der Wissenschaft und nicht seinen persönlichen Interessen ergebenen Mannes, Darwin war alles andere als dogmatisch; der Darwinismus aber ist Dogmatismus in seiner reinsten Form. Darwin ließ z. B. Variationen der verschiedensten Art als Grundlage des Kampfes um Dasein und der natürlichen Zuchtwahl zu; und er hatte auch nichts dagegen, neben den indirekten Faktoren des Transformismus alle möglichen anderen kausalen Faktoren zuzulassen, er war z. B. in ziemlich hohem Maße Lamarcki- aner. Über den Ursprung und das eigentliche Wesen des Lebens überhaupt aber hatte er keine ausgeprägte Ansicht. Das mag als Mangel seiner Theorie erscheinen, es ist aber das Gregenteil. Er ließ eben die Fragen offen, welche er nicht beantworten konnte. Überhaupt ist er eine gute Illustration des Lessing sehen Satzes, daß nicht der Besitz das Wahrheit, sondern das Streben nach ihr das Glück des Forschers ausmacht. Es war nur eine Folge seiner Sinnesart, daß Darwins Polemik die Bahnen wahrhaft wissenschaftlicher Erörterungen nie verließ, daß 262 Prinzipien des Darwinismus. er niemals seine Gegner beschimpfte, und daß er niemals ein logisches Problem zu einer moralischen Frage ge- macht hat. Wie ganz anders haben sich doch viele aus der Gefolg- schaft Darwins, zumal in Deutschland, benommen ; wie weit ist der ,, Darwinismus" von Darwins eigener Lehre und eigenem Charakter entfernt! Trotzdem soll sich unsere Erörterung auf den d o g - matischenDarwinismus beziehen, welcher gerade dank seines Dogmatismus die besonders scharfe Formu- lierung einiger kausaler Faktoren erlaubt, die a priori als bei der Umwandlung der Organismen beteiligt erscheinen könnten, obgleich wir freilich meinen, daß eine wirklich tief dringende Analyse sie von allem Beginne an hätte verwerfen müssen. Die logische Struktur des dogmatischen Darwinismus zeigt nun zwei verschiedene, von einander durchaus unab- hängige Teile. Natürliche Zuchtwahl. Wir wenden uns zunächst demjenigen Teil zu, der unter dem Titel natürliche Zuchtwahl bekannt ist, kümmern uns also noch nicht um die Natur der pri- mären Umwandlungsfaktoren oder, anders gesagt, um die Natur der Variabilität. Dieser erste Teil der Lehre gehört zu Darwins persönlicher Lehrmeinung und nicht nur zum „Darwinismus". Die Nachkommen einer gewissen Zahl von erwachsenen Organismen sind unter einander verschieden; sie bestehen aus mehr Individuen, als unter den gegebenen Umständen aufwachsen können ; daher findet ein Kampf um die Existenz unter ihnen statt, welchen nur die geeignetsten überleben; von diesen überlebenden Individuen kann man sagen, daß sie durch natürliche Mittel „ausgewählt" seien. Von Anfang an ist es nun klar, daß „natürliche Zucht- wahl", wie sie hier definiert wurde, nur imstande ist, das Prinzipien des Darwinismus. 263 auszumerzen, was n i e h t zu überleben, was nicht der Umgebung im weitesten Sinne zu entsprechen ver- mochte, daß natürliche Zuchtwahl aber n i e fähig ist, Verschiedenheiten zu schaffen. Sie wirkt immer nur negativ, nie positiv. Und daher kann sie, wenn wir das zweideutige Wort einmal anwenden wollen, nur „erklären", warum gewisse spezifische Typen der Organisation, die a priori denkbar wären, in Wirklichkeit nicht exi- stieren, aber sie erklärt ganz und gar nicht das Dasein derjenigen Sonderheiten der tierischen und pflanzlichen Formen, welche wirklich vorhanden sind. Wenn man also von einer „Erklärung" des Ursprungs der lebenden spezifischen Form durch natürliche Zuchtwahl spricht, so vermengt man den zureichenden Grund für die Nichtexistenz dessen, was nicht da ist, mit dem zureichenden Grund für die Existenz dessen, was es wirklich gibt. Zu behaupten, daß gewisse organische Eigenschaften durch natürliche Zuchtwahl erklärt seien, ist, um die Worte N ä g e 1 i s zu gebrauchen, in der Tat gerade so, als wenn Jemand auf die Frage ,, Warum hat dieser Baum diese Blätter?" antworten wollte: „Weil der Gärtner sie nicht abgeschnitten hat". Das würde natürlich, vorausgesetzt daß überhaupt ein Gärtner an der Arbeit war, erklären, warum der Baum nicht mehr Blätter besitzt, als wirklich da sind, aber es würde nie das Dasein und Wesen der exi- stierenden Blätter an sich erklären. Oder verstehen wir auch nur im geringsten, warum die Bären der Polar- gegenden weiß sind, wenn man uns sagt, daß anders ge- färbte Bären nicht überleben konnten? Wenn wir also der natürlichen Zuchtwahl jeden wahrhaft erklärenden Wert absprechen, so sind wir doch weit entfernt, damit ihre Wirksamkeit zu bestreiten. Ganz im Gegenteil : die Wirksamkeit der natürlichen Zucht- wahl ist in gewissem Grade „selbstverständlich", soweit wenigstens als sie behauptet, daß das, was der Möglichkeit dauernder Existenz widerstreitet, nicht dauernd existieren 264 Prinzipien des Darwinismus. kann ; wobei denn vorausgesetzt wird, daß das Ent- stehen organischer Individuen nicht in sich dauerndes B e stehen verbürgt. Von chemischen Verbindungen, die sich unter den zur Zeit ihrer Entstehung , vorhandenen Bedingungen sehr rasch zersetzen, kann man auch sagen,, daß sie durch ,, natürliche Zuchtwahl" ausgemerzt seien. Eine andere Frage ist es natürlich, ob nun überhaupt alle Ausmerzung unter organischen Verschiedenheiten aus- schließlich der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl im Sinne des Darwinismus verdankt wird. Gewisse Kritiker des Darwinismus und in besonders klarer Form Gustav W o 1 f f haben bereits darauf hingewiesen, daß in vielen Fällen ein Vorteil in der Situation jeden Vorteil organisatorischer oder physiologischer Art weit überwiegt. Bei einem Eisenbahnunglück z. B. überleben nicht die- jenigen Passagiere, welche die stärksten Knochen haben, sondern diejenigen, welche die günstigsten Sitze einnehmen: und bei der ausmerzenden Wirkung von Epidemien kommt auf die Lokalitäten, z. B. auf besondere Häuser oder be- sondere Straßen, mindestens ebensoviel an als auf den Grad von Immunität. Aber in vielen anderen Fällen kann natürliche Zuchtwahl immerhin als causa vera gelten. Wir können also unsere Erörterung der ersten Hälfte des Darwinismus so zusammenfassen: Natürliche Zucht- wahl ist ein negativer, ein eliminierender Faktor im Bereiche der Lehre vom Transformismus; ihre Leistung ist in hohem Grade selbstverständlich, denn sie behauptet nichts anderes als die Nichtexistenz von Dingen, deren Dauer unter den gegebenen Umständen unmöglich ist. Natürliche Zucht- wahl als positiven Faktor der Deszendenz ansehen heißt den zureichenden Grund für die Nichtexistenz dessen, was nicht ist, mit dem zureichenden Grund dessen, was ist,, verwechseln. Natürliche Zuchtwahl hat eine gewisse, nicht un- wichtige logische Bedeutung für die Systematik, als eine Wissenschaft der Zukunft, auf welche kaum jemals Prinzipien des Darwinismus. 265 hingewiesen worden ist. Systematik hat es natürlich mit der Totalität der möglichen, nicht nur der wirklichen Verschiedenheiten zu tun; sie darf daher nicht vergessen, daß mehr Formen möglich sein können, als wirklich sind, wobei das Wort ,, möglich" sich auf das Entstehen, nicht auf das Überleben bezieht. Und weiter: Systematik bezieht sich nicht nur auch auf das, was etwa durch Zucht- wahl ausgemerzt wurde, sondern sie muß auch Rücksicht auf alles das nehmen, was aus den ausgemerzten Formen hätte entstehen können. Auf diese Weise bekommt natürliche Zuchtwahl eine sehr erhebliche, freilich nur logische Bedeutung. Fluktuierende Variation als angebliche Ursache der organischen Verschiedenheiten. Der zweite Lehrsatz des dogmatischen Darwinismus behauptet, daß alle gegebenen Verschiedenheiten unter den Organismen, mit denen natürliche Zuchtwahl es zu tun hat, dieser durch die sogenannte fluktuierende Variation dargeboten werden, d. h. durch jene Art von Variation, die man mit den Mitteln der Statistik quan- titativ studieren kann. Von dieser Art der Variation behaupten die orthodoxesten Darwinisten, daß sie nach Richtung und Betrag unbeschränkt sei; sie ist gelegentlich geradezu als Differential bezeichnet worden; auf alle Fälle gilt sie als durchaus zufällig mit Beziehung auf irgend eine Einheit oder Totalität, was natürlich nicht heißen soll, daß ihr Dasein keinen zureichenden Grund habe. Nun muß man wohl zugeben, daß solche Verschieden- heiten zwischen organischen Spezies, welche sich nur auf einen Grad oder auf eine Quantität oder auf Zahlenverhält- nisse beziehen, aus gegebenen zufälligen fluktuierenden Variationen , ausgewählt" worden sein könnten; freilich müßte dabei ein gewisses besonderes Postulat erfüllt sein. Dieses Postulat kann passend als die Fixierung neuerVariationsmitteldurchVererbung 266 Prinzipien des Darwinismus. bezeichnet werden. Es sei der Mittelwert einer Variation mit Bezug auf eine gegebene Eigenschaft einer gegebenen Spezies n und es sei der Wert n + m, welcher natürlich in weniger Individuen realisiert ist als n, derart, daß er im Kampf für die Existenz von Vorteil ist; dann werden die durch n+m ausgezeichneten Individuen größere Aussicht haben zu überleben. Die Größe m kann hier natürlich jeden beliebigen Wert besitzen. Unser Postulat sagt nun aus, daß, wenn ein dauerndes Wachsen des in Rede stehenden Variationsmittelwertes statthaben soll, n+m in jeder seiner variablen Formen der Mittelwert der zweiten Gene- ration muß werden können, ebenso wie n der Mittelwert der ersten Generation gewesen ist. Von der zweiten Gene- ration hinwiederum würden die wenigen durch n+m+o aus- gezeichneten Individuen durch Naturzuchtwahl aus- gewählt werden; n+m+o würde so ein neuer Mittelwert sein ; dann würden die Träger des Wertes n+m+o +p ausgewählt werden, n+m+o +p würde ein neuer Mittel- wert werden usw. Eine schwarze Varietät könnte z. B. durch eine solche Reihe von Prozessen aus einer grau- gefärbten unschwer entstehen. Unser Postulat ist aber nun nicht über jeden Zweifel erhaben; gewisse Versuche wenigstens, welche zur Frage nach der Summation fluktuierender Variationen durch Selektion ausgeführt worden sind, scheinen darauf hin- zuweisen, daß zwar durch wenige Generationen hindurch ein wirklicher Fortschritt der geschilderten Art existieren kann, daß ihm aber stets ein Rückschlag folgt1). Unsere Erfahrung ist ja nun freilich alles andere als vollständig, und so mag die Zukunft uns denn lehren, daß in der Tat positive umbildende Effekte der fluktuierenden Variation, in Verbindungen mit den Prinzipien der Selektion, mit Rücksicht auf quantitative Unterschiede — das Wort *) Vgl. die neueste Publikation von H. S. Jennings, Proc. Amer. Phil. Soc. 47, 1908, p. 393, woselbst weitere Literatur. Altere Angaben bei Wigand. Prinzipien des Darwinismus. 267 ,, quantitativ" im weitesten Sinne genommen — möglich sind; aber wir wissen das zurzeit nicht. Und das ist nun das einzige Feld, auf welchem wir dem zweiten Lehrsatz des dogmatischen Darwinismus, dem Prinzip der fluktuierenden Variation als ausschließ- lichen Formenschöpfers, ein Zugeständnis zu machen im- stande sind. Dieses zweite Prinzip erweist sich wirklich als vollständig ungeeignet zur Erklärung des Ursprungs irgend einer anderen Art von spezifischen organischen Eigenschaften. Ich kann hier nicht auf alles eingehen, was die Kritik des Darwinismus vorgebracht hat1). Unser Ziel ist ein positives; wir wollen aufbauen und reißen nur nieder, wo es nicht zu vermeiden ist. So erwähne ich denn nur kurz, daß der dogmatische Darwinismus sich als gänzlich un- geeignet erwiesen hat, irgend eine Art von wechselseitiger Anpassung, wie sie z. B. zwischen Pflanzen und Insekten besteht, zu erklären, daß er prinzipiell niemals die Besonder- heit solcher Eigenschaften aufhellen kann, die für ihren Träger indifferent und bloße Charakterzüge der Organisation im Sinne einer Ordnung der Teile sind, daß er durchaus versagt angesichts aller Teile der Organisation, welche aus vielen verschiedenen Konstituenten bestehen, wie das Auge, und nichtsdestoweniger, sei es passiv oder aktiv, funktionelle Einheiten sind; und daß er sich als völlig unzureichend herausgestellt hat, um den ersten Ursprung aller neu auftretenden typischen Konstituenten der Organi- sation zu erklären, selbst wenn diese für ihren Träger nicht indifferent, sondern ihm nützlich sind. Wie könnte die Anlage eines Organs, das noch gar nicht funk- tioniert, seinem Träger nicht nur nützlich, sondern s o x) Vgl. Mivart, On the Genesis of Species, London 1871; Wigand, Der Darwinismus und die Naturforschung Newtons und Cuviers, Braunschweig 1874 — 77; Nägeli, Mechanisch- physiologische Theorie der Abstammungslehre, München 1884; Gr. "Wolff, Beiträge zur Kritik der Darwinschen Lehre, 2. Aufl. Leipzig 1898; usw. 268 Prinzipien des Darwinismus. nützlich sein, daß es über Leben und Tod des Trägers ent- scheidet ? Wie könnten die Darwinistischen Prinzipien den Ursprung des Vogelflügels erklären ? Wir wissen doch gerade in unserer Zeit der beginnenden Luftschiffahrt hinreichend, was alles zu einem auch nur einigermaßen erfolgreichen ,,Fliegen" erfordert wird, und da will man von zufälliger Variation reden! Man versteht endlich auf Darwinistischer Basis wirklich ganz und gar nicht, daß es so etwas wie ein System der Organismen, aufgebaut aus komplizierteren und minder komplizierten Konstituenten, gibt! Nach der Darwinis- tischen Lehre dürfte es eigentlich nur Amöben geben. Und nun ist das System noch dazu nicht chaotisch — wie es zum mindesten sein müßte, wenn man die Zufalls- lehre annimmt — , sondern es ist eben ein ,, System"! Doch ist das alles ja schon sehr oft, in besonders meisterhafter Weise von W i g a n d ausgeführt worden. Nur an einer Tatsachengruppe möchte ich nun in eingehenderer Weise zeigen, daß der dogmatische Darwinismus die an ihn gestellten Forderungen nicht erfüllt. Es heißt immer, die besondere Stärke des Darwi- nismus läge darin, daß er alles für die Organismen Nütz- liche erkläre ; der von ihm eingeführte Faktor der Kon- kurrenz scheint auf den ersten Blick in der Tat wenigstens eine gewisse Art des Angepaßtseins zwischen dem Orga- nismus und seinen Bedürfnissen zu gewährleisten. Trotzdem werden wir jetzt sehen, daß der Darwinismus gerade die- jenigen Phänomene des Organischen, die wohl von allen die nützlichsten heißen können, ganz und gar nicht ver- stehen kann. Der Darwinismus in seiner dogmatischen Form ist durchaus unfähig, den Ursprung der organischen Restitution zu erklären ; es ist wirklich ganz aus- geschlossen, die restitutive Fähigkeit der Organismen mit Hilfe der fluktuierenden Variation und der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe für die Existenz in ihrem Ursprünge Prinzipien des Darwinismus. 269 zu verstehen. Hier haben wir das logische Experiment um crucis des Darwinismus vor uns. Versuchen wir einmal, nach Art der Darwinisten den Ursprung der Regenerationsfähigkeit zu studieren, wie sie sich uns z. B. in der Restitution des Beines eines Molches zeigt. Alle Individuen einer gegebenen Molchspezies, z. B. von Triton taeniatus, besitzen diese Fähigkeit; sie alle müssen daher von Vorfahren abstammen, die sie irgend- wann einmal erworben haben. Diese notwendige Annahme aber schließt ein, daß alle jene Vorfahren ihre Glied- maßen irgendwie verloren haben müssen, und zwar nicht nur eine, sondern alle vier! Denn sonst hätten sie nicht die Fähigkeit erwerben können, sie zu restituieren. Ganz im Beginne unserer Darlegung begegnen wir hier also einer wahren Absurdität, die kaum vermindert wird durch die Annahme, daß die Regenerationsfähigkeit nicht für alle vier Beine zugleich erworben wurde, sondern für eins nach dem andern. Aber dieses muß ganz unvermeidbar angenommen werden : daß alle Vorfahren unseres Triton ein Bein verloren hatten, oder besser gesagt, daß nur diejenigen überlebten, welche es ver- loren hatten! Sonst könnten nicht heutzutage alle Molche die Fähigkeit der Regeneration besitzen! Eine zweite Absurdität folgt nun sogleich der ersten: Von den Vorfahren unseres Molches, welche ihre Genossen über- lebten, w e i 1 sie eines ihrer Beine verloren hatten, wurden nur diejenigen ausgewählt, die wenigstens einen kleinen Betrag von Heilung an ihrer Wunde aufwiesen: Man muß zugeben, daß dieser Schritt im hypothetischen Selektions- prozeß, für sich genommen, wenigstens nicht unmöglich ist; denn Wundheilung schützt gegen Infektion. Aber die Sache geht nun weiter: auf jedem folgenden Stadium des Prozesses müssen nur diejenigen Individuen überlebt haben, die ein ganz klein wenig mehr Wundgewebe bildeten als die übrigen, obwohl weder sie, noch die übrigen ihr Bein gebrauchen konnten, welches ja gar nicht da war! Das ist die zweite Absurdität, die wir hier antreffen, in 270 Prinzipien des Darwinismus. unserem Versuch die Entstehung der Regenerationsfähigkeit darwinistisch zu erklären; aber ich meine, die erste genügt bereits. Wenn wir nun gar die „Selektion" der Fähigkeit isolierter Blastomeren des Seeigeleies, eine ganze kleine Larve zu bilden, studieren würden, so würden sich die Absurditäten noch höher auftürmen: Ganz am Beginne würden wir hier nämlich der völlig unsinnigen Annahme begegnen, daß von allen Individuen nur diejenigen über- lebten, die nicht ganz, sondern halb waren; denn alle Seeigeleier besitzen die in Rede stehende ontogenetische Restitutionsfähigkeit, alle ihre Vorfahren müssen sie daher erworben haben, und das konnten sie nur, wenn sie durch irgend einen Unfall während ihrer früheren Embryogenese halbiert wurden. Doch wollen wir diesem Beispiel nicht weiter nachgehen, denn es ist unpassend, eine Theorie lächerlich zu machen, welche den Namen eines Mannes trägt, der selbst in keiner Weise für ihre dogmatische Form verantwortlich ist. Sprechen wir hier doch nur gegen den Darwinismus dogmatischer Art, nicht gegen Darwin selbst. Darwin hat die Phänomene der Regeneration oder der embryonalen Restitution nie in den Kreis seiner Betrachtungen gezogen; sie lagen auf einem Felde, das ihm und seiner Zeit fremd war. Ja, ich wage es auszusprechen: hätte er sie in Erwägung gezogen, so würde er wohl auch, wie wir, zugegeben haben, daß seine Theorie ihnen nicht genügen kann; denn er hat in anderen Zweigen der Biologie weitgehende Konzessionen, an den Lamarekismus z. B., gemacht, und er behauptet nicht, daß er wisse, was das Leben selbst sei. Darwin war nämlich durchaus kein entschiedener Materialist, obwohl der Materialismus, zumal in Deutschland, aus seinen Lehren Kapital geschlagen hat. Sein Buch heißt bekanntlich: ,,Die Entstehung der Arten", d. h. der organischen Verschiedenheiten; und so steht denn der Annahme nichts im Weg, daß er alle Arten von Restitution jenen ursprünglichen Eigen- Prinzipien des Darwinismus. 271 Schäften des Lebens zugeordnet haben dürfte, welche vor der Entstehung von Verschiedenheiten schon da sind. Ja, man könnte Darwin wohl gar einen Vitalisten nennen. So wird denn der „dogmatische Darwinismus" in der Tat in alle hier genannten Absurditäten hineingetrieben, während wir von der ,, Lehre Darwins" nur sagen können, daß sie falsch sei, weil sie die wechselseitige Anpassung, den Ursprung neuer Organe und viele andere Charakterzüge der organischen Verschiedenheiten nicht erklärt; die ur- sprünglichen Eigentümlichkeiten des Lebens hat sie gar nicht erklären wollen. Der Zusammenbruch des Darwinismus. Das Ergebnis unserer Erörterung ist also dieses: Selektion ist nur ein negativer Faktor, und fluktuierende Variation, angesehen als der einzige Weg, auf dem neue Eigenschaften des Organischen sollen entstehen können, hat sich in deutlichster Weise als ein unzureichender Weg erwiesen, abgesehen vielleicht von einigen rein quantitativen Fällen. Aus zufälligen Steinfällen kann nie und nimmer das Parthenon entstanden sein — wenn wir uns einmal der Worte W i g a n d s bedienen wollen. Ein solches Resultat bedeutet natürlich den vollstän- digen Zusammenbruch des dogmatischen Darwinismus als einer allgemeinen Abstammungstheorie : gerade die typisch- sten Eigentümlichkeiten aller Organismen bleiben sämtlich1) so unerklärt in ihrem Ursprung, wie sie gewesen sind. Was sollen wir nun an Stelle des reinen Darwinismus setzen ? Versuchen wir es zunächst einmal mit einem Erklärungsweg, den auch Darwin selbst gelegentlich einschlug : wenden wir uns dem Studium derjenigen Theorie des Transformismus zu, welche unter dem Namen des „ Lamarekismus" bekannt ist. a) Logisch würde es für die Ablehnung des Darwinismus als einer Universaltheorie der Artentstehung natürlich schon genügen, wenn sich nur eine einzige spezifische Eigentümlichkeit des Organischen nicht mit seiner Hilfe verstehen ließe. 3. Die Prinzipien des Lamarckismus. Ebenso wie das Wort ,, Darwinismus" nicht das eigent- liche Theoriengebäude von Charles Darwin bedeutet, so ist auch der „Lamarckismus", wie man ihn heute ver- steht, ziemlich weit von den ursprünglichen Ansichten des Jean Baptiste Lamarck entfernt. Der La- marckismus wird meist als eine Theorie angesehen, welche alle organischen Verschiedenheiten auf Verschiedenheiten in den Bedürfnissen des individuellen Lebens zurückführt. Lamarck selbst aber, wie von Anfang an scharf betont werden muß, vertrat ganz und gar nicht die Ansicht, daß die fundamentalen Eigen- tümlichkeiten der Typen nur solchen nebensächlichen Faktoren verdankt würden. Er vertrat eine Art von Organisation - g e s e t z , das die Wurzel aller geschichtlich realisierten Systematik sei, und die Bedürfnisse des Lebens waren ihm nur für die Spaltung der gegebenen Organisations- typen in ihre letzten Verzweigungen verantwortlich. So gehört denn Lamarck in erheblichem Grade zu einer Gruppe von Forschern, deren Lehren wir später zu er- wähnen haben werden, einer Gruppe von Forschern, die ein unbekanntes Gesetz phylogenetischer Ent- wicklung die wahre Basis des Transformismus sein lassen. Der moderne sogenannte „Neolamarckismus" hat freilich in der Tat die Meinung vertreten, daß das Bedürfnis- prinzip die einzige Grundlage der Artenbildung sei. Studieren wir also den Lamarckismus in seiner dogmatischen modernen Form. Prinzipien des Lamarekismus. 273 Anpassung als Ausgangspunkt. Die Tatsachen der morphologischen Anpassung, die -wir unter anderem Gesichtspunkt, nämlich als typische Phänomene organischer Regulation, bereits früher studiert liaben, bilden den Ausgangspunkt dieser Theorie, und es muß zugegeben .werden, daß sie eine solide Grundlage sind, denn sie sind Tatsachen. Die Theorie hat nur den Gültigkeitsbereich dieser Tatsachen oder vielmehr den Gültigkeitsbereich des sie beherrschenden Gesetzes hypo- thetisch zu erweitern. In der Tat nimmt der Lamarekismus an, daß der Organismus die Fähigkeit besitze, auf jeden Wechsel der Umgebung, welcher seinen Funktionszustand ändert, mit einer morphologisch ausgedrückten Änderung seines Funktionszustandes in einer Weise zu reagieren, die dem von außen gesetzten Bedingungskomplex adaptiv entspricht. In dieser allgemeinen Form ausgesprochen, ist die Annahme nicht richtig; sie ist aber, wie wir wissen, richtig innerhalb gewisser Grenzen; und wir dürfen immer- hin annehmen, daß es viel mehr Fälle von Adaptation gibt, als wir gegenwärtig kennen, oder daß in früheren phylogenetischen Zeiten die Organismen anpassungsfähiger gewesen sind als heutzutage. Bis zu einem gewissen Grade ruht also der Lamarekismus auf einer causa vera. Es ist wichtig, sich darüber klar zu sein, daß diese causa vera, wenn sie in dem weiten Umfange gefaßt wird, den der Lamarekismus ihr zuschreibt, vitalistische Kausa- lität einschließen würde. Die Fähigkeit, unbegrenzt vielen Veränderungen adaptiv aktiv zu entsprechen, würde in der Tat eine Art kausaler Verknüpfung bedeuten, die nirgends als im Organismus bekannt ist. L a m a r c k selbst ist sich nicht ganz klar über diesen Punkt; er scheint sich vor gewissen Formen eines unkritischen Vitalismus, die zu seiner Zeit blühten, zu scheuen; aber moderne Autoren haben in der Tat klar gesehen, welches die logischen Voraussetzungen des reinen Lamarekismus sind. Ab- Driesch, Philosophie. I. 18 274 Prinzipien des Lamarekismus. gesehen von C o p e ist August Pauly^so der bewußteste Vertreter einer Art von psychologischem Vitalismus ge- worden, den in der Tat der Lamarekismus als eine allgemeine und allumfassende Theorie zur Gründlage haben muß. Die aktive Stapelung zufälliger Variationen als hypothetisches Prinzip. • Das Gesagte wird noch klarer werden, wenn wir uns nun dem Studium einer gewissen anderen Gruppe von Prinzipien zuwenden, auf denen der dogmatische Lamarckis- mus ruht — ich sage Prinzipien und nicht Tatsachen, denn in dieser Gruppe von Behauptungen liegen nicht Tat- sachen, sondern hypothetische Vermutungen vor. Wir wissen ein Weniges über Anpassungen, und brauchten hier nur die Sphäre der Gültigkeit eines schon für gewisse Fälle bekannten Gesetzes hypothetisch zu erweitern. Über das zweite Grundprinzip des Lamarekismus wissen wir absolut nichts; zufällige Form Variationen, so heißt es, sind stets da, und der Organismus besitzt die Fähigkeit,, solche Variationen festzuhalten, aufzustapeln und an die nächste Generation weiter zu geben, falls sie irgend eines seiner Bedürfnisse befriedigen. Diese ,, Bedürfnisse" nun aber sind nicht von jener aktuellen Art, wie sie etwa durch einen Wechsel im Funktionszustande des Individuums geschaffen werden, um dann Anpassung zu veranlassen; sie sind ziemlich mysteriöser Natur. Ein Blick auf die Theorie des Ursprungs derjenigen Bewegungen, welche als ,, Willenshandlungen" bezeichnet zu werden pflegen, erläutert in klarer Weise, was hier gemeint ist. Willenshandlungen, so heißt es, entstehen auf Grund der zufälligen Bewegungen des Neugeborenen: gewisser dieser zufälligen Bewegungen, welche Schmerz verscheuchen oder Lust bringen, „erinnert" sich das Kind, um sie ein !) Darwinismus und Lamarekismus, München 1905. Prinzipien des Lamarekismus. 275 anderes Mal bewußt zu gebrauchen und durch sie herbei- zuschaffen, was gefällt, oder fortzuschaffen, was mißfällt. So viel hier über diesen schwierigen Gegenstand, der uns später weit eingehender beschäftigen soll. Es ist nun klar, daß in dieser Theorie des Ursprungs der Willenshandlung wenigstens drei fundamentale Phänomene in Betracht kommen: das Gefallen und Mißfallen, die Erinnerung und das Wollen selbst. Der wirkliche Willensakt ist in der Tat immer auf eine Verknüpfung aller dieser Faktoren basiert, und die Verknüpfung dieser Faktoren für sich genommen ist derart, daß sie selbst als ein viertes fundamentales Prinzip angesehen werden kann: Damit nämlich der be- sondere Effekt erzielt werde, welcher benötigt ist, weil er gefällt, werden die verschiedenen möglichen Wege, die zu ihm führen können, und die eben alle anfangs unter den Zufallsbewegungen aufgetreten waren, nun als ,, Mittel" angesehen und werden „gebraucht". Aber das heißt, daß diese „Mittel" mit Rücksicht auf ihre Nützlichkeit für den gegenwärtigen Zweck „beurteilt" werden, und so wird das Urteil zur vierten Grundlage der Willenshandlung. P a u 1 y zögert in der Tat nicht, den Organismen im Laufe ihrer Transformation das Vermögen des Urteilens neben den übrigen psychologischen Elementarvermögen zuzuschreiben. Durch zufällige Variation ist z. B. irgend ein Pigment entstanden, welches durch seine chemische Natur den Organismus in nähere Beziehung zum Lichte des Mediums bringt: dem Organismus gefällt das, er hält das Pigment fest und bildet es in der nächsten Generation wieder; und er wird jede Art von zufälliger Verbesserung dieses primitiven „Auges" ebenfalls festhalten. Diese Art der Auffassung soll nun den Ursprung jedes neuen Organs erklären können, und diese psychologische Dar- legung soll auch die wahre Erklärung der eigentlichen An- passung sein. Auch die Anpassung wird nicht als eigentlich primäre Fähigkeit des Organismus angesehen, sondern als ein Festhalten und Hervorbringen metabolischer Zu- stände, die ursprünglich zufällig geschehen waren und sich v 18* 276 Prinzipien des Lamarckismus. dann als nützlich erwiesen; sie werden nun in jedem ein- zelnen Falle der individuellen Formbildung wieder neu hervorgebracht, entweder ohne Rücksicht auf die vor- liegenden Bedürfnisse, oder als Antwort auf sie : im ersteren Falle sind sie „ vererbt", im zweiten geschehen sie nur regulativ. So ist also der Prozeß des Urteilens zusammen mit den anderen Faktoren des psychischen Lebens, die in ihn einbeschlossen sind, auch zur Grundlage der eigent- lichen Anpassung gemacht. Die ganze Theorie ist sehr einheitlich und einfach geworden. Kritik der „Vererbung erworbener Eigenschaften", der Grundannahnie des Lamarckismus. Indem wir uns nun der Kritik des Neolamarckismus zuwenden, wollen wir soweit als möglich die verschiedenen psychologischen Prinzipien, die in ihm auftreten, außer acht lassen — auf alle Fälle würden sie ein gutes Teil erkenntnistheoretischer Reinigung benötigen — und werden uns an diejenigen hypothetischen Tatsachen halten, welche als in der Natur beobachtbar gelten. Da wissen Sie nun alle, daß die sogenannte ,, Vererbung erworbener Eigenschaften" die eigentliche Wurzel des Lamarckismus ausmacht; hier soll daher unsere kritische Analyse ansetzen, unbekümmert um eine größere oder geringere Zahl ins Feld geführter psychologischer Prin- zipien. Die Bezeichnung ,, erworbene Eigenschaft" kann a priori drei verschiedenen Gruppen von Tatsachen gegeben werden: 1. Variationen und Mutationen, 2. Krankheit und Verletzungen, 3. den Ergebnissen des Prozesses der echten Adaptation. In der ersten Gruppe tritt das eigentliche Problem der Vererbung „erworbener" Eigenschaften nur mit gewissen Beschränkungen auf. Alle Variationen und Mutationen sind ja freilich von irgend einer Generation „erworben", insofern als die frühere Generation sie nicht besaß, aber Prinzipien des Lamarekismus. 277 von Mutationen wenigstens kann man doch nicht eigentlich behaupten, daß sie durch das wirkliche erwachsene Indi- viduum erworben seien: sie sind ihm von allem Anfang an eigen und werden daher auch besser als „angeboren" bezeichnet1). Diese angeborenen Eigenschaften des Muta- tionstypus vererben sich nun in der Tat: ihre Vererbung bietet kein besonderes Problem dar, sondern ist einbegriffen in die allgemeinen Änderungen der inneren Vererbungs- bedingungen, denen sie ja überhaupt verdankt werden2). Die Eigenschaften vom fluktuierenden, statistisch studierten Variationstypus andererseits werden in einem gewissen Grade wohl allerdings vererbt, wie wir bereits vom Studium des Darwinismus her wissen, führen aber dann wahr- scheinlich stets zu Rückschlag. Die neuere Wissenschaft sieht sie, wie wir wissen3), als Folgen von Änderungen der Ernährung, im weitesten Sinne dieses Wortes, an. Unter solchem Gesichtspunkt können Variationen in der Tat zur Gruppe der „erworbenen" organischen Sonder- heiten gezählt werden; ihre Vererbung würde nun aber, wie sich bald noch besser zeigen wird, kaum ein ganz reines Beispiel für das, was wir hier suchen, sein. Auf keinen Fall sind ja aber fluktuierende Variationen von großer Bedeutung für das transformatorische Problem überhaupt. Was ist nun aber über die Vererbung solcher Eigen- schaften bekannt, die zweifellos im erwachsenen Individuum als solchem ihren Ursprung genommen haben, 2) Das wäre nicht zutreffend, wenn in der Tat die von Blaringhem, Klebs und Mac Dougal durch äußere Agentien hervorgerufenen Varietäten echte „Mutationen" wären (vgl. S. 243 Anm. 1). 2) Bestände die in der vorigen Anmerkung ausgesprochene Vermutung zu Recht, so würde die Vererbbarkeit von Mutationen eine gewisse Art von „Vererbung erworbener Eigenschaften" be- deuten. Doch könnte man dann wohl sagen, daß die Keime der nächsten Generation doch eben durch das äußere Agens direkt affiziert worden seien, wie das an anderer Stelle des Textes noch zur Erörterung kommen wird. 3) Vgl. S. 242 Anm. 2. 278 Prinzipien des Lamarekismus. und zu denen in erster Linie Verletzungen und echte An- passungen, wie sie z. B. bei amphibischen Pflanzen vor- kommen, gehören1) ? Weismann hat sich ein großes Verdienst dadurch erworben, daß er der wissenschaftlichen Leichtgläubigkeit, die auf diesem Gebiete herrschte, ein Ende bereitete. Seine Keimplasmalehre führte Weis- mann dazu, die Vererbung echter erworbener Eigen- schaften zu leugnen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie die Wirkung irgend eines äußeren Agens auf den erwachsenen Organismus, sei sie nun passiv oder adaptiv, einen der- artigen Einfluß auf den Keim haben könnte, daß dieser gezwungen würde, jene Wirkung später trotz der Ab- wesenheit des äußeren Agens aus sich selbst hervorzu- bringen. Solches würde ja in der Tat die „Vererbung erworbener Eigenschaften" in sich schließen, und eine seltsame Sache würde es ohne Zweifel sein. Für sich genommen wäre dieser Umstand immerhin kein ent- scheidendes Argument gegen solche Vererbung. Ich gebe freilich durchaus zu, daß die Wissenschaft versuchen muß, neue Tatsachen durch die bekannten zu erklären, solange es möglich ist, wenn es aber nicht mehr möglich ist, so muß natürlich die Theorie geändert werden und nicht die Tatsachen. Unter solchem Gesichtspunkte dürfte man natürlich die Tatsache einer Vererbung erworbener Eigenschaften nicht vernachlässigen, ja man könnte sie wohl gar zu einem neuen Beweis des Vitalismus gebrauchen. Handelt es sich nun aber um Tatsachen? Hier kommen wir auf die zweite Gruppe der Aus- führungen Weismanns zu sprechen. W e i s m a n n sah nicht nur die Schwierigkeit, die ein Verständnis der Vererbung erworbener Eigenschaften der Wissenschaft seiner Zeit bereiten würde, sondern er kritisierte auch die angeblichen Tatsachen selbst: und kaum eine einzige hielt seiner Kritik stand. Man muß in der *) Einige englische Autoren haben alle von außen bestimmten Eigenschaften der Organismen als „Modifikationen" bezeichnet, mögen sie adaptiver Art sein oder nicht. Prinzipien des Lamarekismus. 279 "Tat offen zugeben, daß auch nicht ein einziger Fall bekannt ist, der die Vererbung erworbener Eigen- schaften wirklich beweist, und daß Verletzungen .sicherlich nie vererbt werden. Trotzdem glaube ich aber nicht, daß wir berechtigt sind, die Möglichkeit einer Ver- erbung einer gewissen Gruppe von erworbenen Eigen- schaften in dogmatischer Form für alle Zukunft zu leugnen ; denn es gibt einige wenige Tatsachen, welche auf eine solche Vererbung wenigstens hindeuten, und welche anzuzeigen ■scheinen, daß diese bei Änderung der experimentellen Bedingungen vielleicht doch noch einmal entdeckt werden könnte. Ich denke hier nicht an die wenigen Fälle, in denen Bakterien durch äußere Faktoren ihre Farbe oder ihre Virulenz verlieren, oder in denen gewisse niedere Pilze durch abnorme äußere Bedingungen zu dauernd agamischer Fortpflanzung gezwungen werden, um alsdann ihre „erwor- benen" Eigenschaften zu behalten, auch wenn die äußeren Umstände wieder die ursprünglichen geworden sind. In diesen Fällen handelt es sich nämlich nur um Fortpflanzung durch einfache Teilung und das wahre Problem der „Ver- erbung" kommt daher nicht in Frage. Ich denke auch nicht an die wenigen Fälle nicht adaptiver Modifikationen, welche Standfuß und Fischer entdeckt haben, in denen Schmetterlinge eine abnorme Art der Färbung angenommen hatten, nachdem die Puppen dem Einfluß abnormer Tempe- raturen ausgesetzt worden waren, und nun diese selbe Art der Färbung in der nächsten Generation unter normalen Temperaturbedingungen wieder bildeten. Für diese an sich wichtigen Fälle hat man nämlich eine ziemlich einfache Erklärung aufstellen können : man kann annehmen, daß gewisse Mittel, die sowohl für die Vererbung w i e für die Formbildung notwendig sind, sich in gewissen Körper- zellen des Erwachsenen und in seinen Fortpflanzungs- zellen finden, und daß eben diese Mittel durch Wärme verändert oder zerstört worden sind, woraus denn folgt, daß dasjenige, was als Vererbung von Veränderungen 280 Prinzipien des Lamarekismus. erschien, die nur den Körper betroffen hätten, tat- sächlich dem direkten Einfluß der Temperatur auf den Keim selbst verdankt wird1). Wohl verstanden: ich sage nicht, daß das der Fall ist, aber es kann der Fall sein. Was mir als das wichtigste erscheint, und was wohl in der Tat eine unmittelbare Bedeutung für die künftige Aufdeckung einer Vererbung erworbener Eigenschaften besitzt, ist folgendes. In gewissen Fällen hat man Pflanzen durch äußere Mittel gezwungen, gewisse typische morpho- logische Anpassungen oder wenigstens Veränderungen durch viele Generationen hindurch zu leisten; sie behielten dann zwar ihre ,, erworbenen" Eigenschaften nicht dauernd, wenn die Bedingungen wieder die ursprünglichen geworden waren, aber sie verloren sie doch auch nicht plötzlich, sondern erst im Laufe von drei oder mehr Generationen. So weiß man, daß ein gewisses Farnkraut, Adiantum, eine sehr typische Modifikation seiner Form und Struktur annimmt, wenn es auf Serpentin wächst; Sadebeck2) kultivierte nun diese Serpentinmodifikation von Adiantum auf gewöhnlichem Boden und fand, daß die erste unter diesen gewöhnlichen Bedingungen aufgewachsene Gene- ration nur ganz wenig von ihrem typischen Serpentin- charakter einbüßt, die nächste Generation etwas mehr, daß aber erst in der fünften Generation alle Serpentincharaktere verschwunden sind. Es gibt einige weitere ähnliche Fälle, die sich auf in der Ebene und im Gebirge gewachsene Pflanzen beziehen. Auch hier wurde Zeit, oder vielmehr der Ablauf mehrerer Generationen benötigt, um das zu bilden, was den neuen Bedingungen entsprach. Diese Fälle sind natürlich wenig zahlreich, verglichen mit 2) Die Vererbung bestimmter, aus der fluktuierenden Variation resultierender Werte, welche zu neuen Variationsmitteln führt, kann natürlich auch so verstanden werden: die Ernährungsbedingungen wirken auf den Erwachsenen und auf seine Keime gleichermaßen. 2) Berichte über die Sitzung, der Ges. f. Bot., Hamburg 1887r 3. Heft. Prinzipien des Lamarekismus. 281 solchen, in denen den wirklich vorliegenden Bedingungen plötzlich in adaptiver Weise entsprochen wird ; aber es ist genug, daß sie existieren. Würde es nun nicht wenigstens möglich sein, daß solche Adaptationen, welche durch tausende von Gene- rationen hindurch oder noch länger stattgefunden haben, zu angeborenen angepaßten Charakteren führen % Dann wäre nicht nur die Vererbung erworbener Eigen- schaften erwiesen, sondern wir hätten gleichzeitig eine Erklärung für die seltsame Tatsache, daß gewisse histo- logische Strukturen von einer sehr „angepaßten" Art sich ontogene tisch vor aller Funktion bilden, wie das z. B. von der Knochenstruktur der Wirbeltiere bekannt ist. In Paris und vielleicht noch an anderen Orten sind Ver- suche im Gange, von denen man hofft, daß sie einst zeigen werden, wie Tiere, welche durch viele Generationen hindurch in absoluter Dunkelheit aufwachsen, ihre normalen Augen allmählich verlieren können, und wie Tiere aus der Dunkel- heit mit sehr rudimentären Augen zu gut funktionierenden Augen gelangen, nachdem sie Generationen hindurch im Lichte gehalten sind. Ein solches Resultat würde in der Tat das Verhalten vieler Tiere aus den differentesten Gruppen aufhellen, welche in dunklen Höhlen leben und nur Rudimente von Augen besitzen : funktionelle Anpassung ist hier nicht länger nötig, sogenannte lnaktivitätsatrophie setzt ein, und die durch sie „erworbenen" Ergebnisse werden vererbt. Doch genug von Möglichkeiten. Seien wir zufrieden, daß wir wenigstens einige wenige Beispiele desjenigen Phänomens, welches man die Langsamkeit des Prozesses einer ,, Rückanpassung" nennen könnte, bei gewissen Pflanzen kennen. Hier sehen wir doch, daß unser Problem vielleicht einst gelöst werden könnte; wir dürfen wenigstens die Vererbung erworbener Eigenschaften als eine legitime Hypothese einführen, die nicht nur gewisse systematische Verschiedenheiten historisch erklären würde, 282 Prinzipien des Lamarekismus. sondern die auch, obschon nicht eine causa vera, so doch sicherlich mehr als eine bloße Fiktion ist1). Die Notwendigkeit anderer Prinzipien. Bisher haben wir uns nur mit dem Problem der Ver- erbung morphologischer und physiologischer2) Anpassung beschäftigt. Wenn diese wirklich als einer der Faktoren angesehen werden könnte, die bei der Abstammung der Organismen in Betracht kommen, dann würden viele, wenn nicht alle von denjenigen angeborenen organischen Verschiedenheiten erklärt sein, welche eine typische struk- turelle Korrespondenz zum künftigen funktionellen Leben ihres Trägers aufweisen; sie wären wenigstens auf ein und dasselbe Prinzip zurückgeführt. Aber nichts als diese eine Art von Verschiedenheiten würde durch unser Prinzip erklärt sein, und noch sehr viel bliebe zu tun übrig; denn die organischen Verschiedenheiten bestehen durchaus nicht nur in histologischen Sonderheiten und Verschiedenheiten, sondern sind in weit höherem Grade Verschiedenheiten des eigentlich Organisatorischen, d. h. der Anordnung der Teile im weitesten Sinne des Wortes3). *) Vor kurzem hat Kammerer (Arch. Entw.-Mech. 25, 1907, S. 7) sehr wichtige Experimente über die Vererbung ,, erworbener" Modifikationen bezüglich der Sonderheiten der Fortpflanzung bei Salamandra atra und S. maculosa ausgeführt. Hier scheint es, wenn schon nicht unmöglich, so doch recht unwahrscheinlich zu sein, daß die Keimzellen direkt vom äußeren modifizierenden Agens beeinflußt worden waren. 2) Über eine hypothetische Vererbung rein physiologischer Adaptationen haben wir hier nicht gesprochen, denn es ist ohne weiteres klar, daß z. B. angeborene spezifische Immunität, welche rein spezifische „Angepaßtheit" (s. S. 211) bedeutet, auf Vererbung der Resultate aktiver Immunität als einer Anpassung beruhen kann, ebenso wie adaptive angeborene Strukturen auf solcher Vererbung beruhen können. 3) C. E. v. Baer schied sehr klar zwischen Typus, Organi- sationshöhe und histologischer Struktur. Alle diese drei Punkte müssen in der Tat einzeln in Erwägung gezogen werden; nur der Prinzipien des Lamarekismus. 283 Würde es nun möglich sein, den Ursprung dieser Gruppe von systematischen Verschiedenheiten durch eine Überlegung zu deuten, die derjenigen ähnlich ist, mittels welcher wir, wenigstens hypothetisch, die angeborene Angepaßtheit erklärt haben? Wir wissen, daß der dogmatische Lamarekismus zwei Prinzipien als seine Grundlage verwendet; das eine, An- passung und ihre Vererbung, haben wir mit einem wenigstens teilweise positiven Ergebnis studiert; das andere ist die hypothetische Fähigkeit des Organismus, solche Varia- tionen oder Mutationen von nicht eigentlich adaptiver Art festzuhalten, aufzustapeln, und weiterzugeben, welche, obschon durch Zufall entstanden, doch irgendwelchen Bedürfnissen des Organismus Genüge leisten. Kritik der Hypothese eines Stapeins nnd Weitergebens zufälliger Variationen. Seltsam, diese zweite Hypothese des dogmatischen Lamarekismus, die mit dem ausdrücklichen Zweck erfunden wurde, den Darwinismus zu widerlegen, und die Stelle seiner den Tatsachen nicht gerecht werdenden, zufälligen, fluk- tuierenden Variation und natürlichen Zuchtwahl einzu- nehmen, diese zweite Hypothese des dogmatischen La- marekismus istganzdenselbenEinwendungen ausgesetzt, wie der dogmatische Dar- winismus auch. Da es sehr wichtig ist, daß die wahre logische Natur der Einwendungen, die wir den beiden großen transfor- mistischen Theorien zu machen haben, klar verstanden werde, so wollen wir unseren Gedankengang einen Augen- blick unterbrechen, um einen gewissen Punkt zu erörtern, dritte ist adaptiver Art. Alle drei können von einander unabhängig sein: die Amöbe mag histologisch so gut angepaßt sein, wie ein hoch organisiertes Wirbeltier, sie ist von niederem Typus; und in ihrem eigenen Typus ist sie von geringerer Organisationshöhe als z. B. die Kadiolarien. 284 Prinzipien des Lamarekismus. der freilich, obschon an sich wichtig, für unsere gegenwärtige Diskussion eigentlich nur von sekundärer Bedeutung ist. Der dogmatische Darwinismus — ich sage nicht: die Lehre von Charles Darwin — ist von Grund aus materialistisch und ist in der Tat von vielen benutzt worden, um ihre materialistische Weltanschauung nach der organischen Seite hin zu vervollständigen. Das Wort ,, Materialismus" braucht hier nicht notwendigerweise metaphysisch verstanden zu werden, obschon die meisten Materialisten dogmatische Metaphysiker sind. Materialismus kann auch den Be- standteil einer idealistischen Auffassung bilden; als wissen- schaftliche Lehre bedeutet der Materialismus nichts als dieses: sei die „ Natur" Wirklichkeit oder Erscheinung, auf alle Fälle liegt ihr nur ein letztes Veränderungsprinzip zu- grunde, und zwar ein Prinzip, welches sich auf die Bewegung materieller Teilchen bezieht. Eben dieser Gesichtspunkt wird vom dogmatischen Darwinismus geteilt ; auf Grundlage der Theorie der natürlichen Zuchtwahl und der fluktuierenden zufälligen Nahrungsdifferenzen verdankten Variation sind die Organismen nur Anordnungen materieller Teilchen und nichts weiter; und, was noch wichtiger ist: man versteht die Art ihrer Anordnung wenigstens im Prinzip. Der Lamarekismus andererseits ist nicht materialistisch, sondern ausgeprägt vitalistisch, ja psychistisch ; er sieht das Leben als gegeben an, wenn er seine Erklärungen beginnt. Sie werden hier einwenden, daß Darwin das auch getan hat, daß er ja ausdrücklich erklärte, seine Theorie hätte mit dem Ursprung des Lebens nichts zu tun, daß der Titel seines Buches ,,Die Entstehung der Arten" heißt. Dieser Einwand ist sicherlich, wie ich schon oben zugab, berechtigt, wenigstens was Darwin persönlich angeht ; es muß aber doch gesagt werden, daß Darwins Lehre einen gewissen Keim des Materialismus in sich trägt, der dann unter den Händen der darwinistischen Dogmatiker zu voller Entwicklung gelangte, während der Lamarekismus an und für sich antimaterialistisch ist. Prinzipien des Lamarckismus. 285 Es scheint mir nun von besonderer Wichtigkeit zu sein, klar einzusehen, daß trotz dieser großen Differenz beide Theorien einen Punkt gemeinsam haben; auf diesen Punkt und auf diesen Punkt allein beziehen sich unsere wesentlichen Einwände gegen beide Theorien. Die Zufälligkeit der typischen organischen Form ist es, die sowohl Darwinismus wie Lamarckismus behaupten : daher fallen beide Theorien aus denselben Gründen. Das Wort ,, Zufälligkeit" wird in sehr verschiedenem Sinne gebraucht; für unsere Zwecke genügt einstweilen die Be- merkung, daß ihm eine klare Bedeutung nur zukommt, wenn es den Gegensatz zu einer Einheit oder Ganzheit ausdrücken soll. Sowohl Darwinismus wie Lamarckismus vom dog- matischen Typus sind nun in der Tat Zufälligkeitslehren in diesem Sinne. Der Darwinismus geht aus von zufälligen Variationen; die organische Form ist ihm nichts als das Er- gebnis der Fixierung von einer besonderen Art solcher Variationen ; die übrigen Variationen wurden durch Selektion ausgemerzt. Mit anderen Worten : die spezifische organische Form, wie der Darwinismus sie versteht, ist eine Einheit nur insofern, als alle ihre Eigenschaften sich auf einen und denselben Körper beziehen; im übrigen aber ist sie bloßes Aggregat oder eine Summe. Man mag hier einwenden, daß die darwinistische Form eben dadurch, daß sie in ihrer Spezifität vererbt wird, doch noch in einem höheren Sinne des Worts eine Einheit ist, selbst nach Ansicht der dogmatischen Darwinisten; und dieser Einwand ist vielleicht berechtigt, soweit das Faktum der Vererbung überhaupt in Betracht kommt. Andererseits aber darf man nicht vergessen, daß das Wort ,, Einheit" selbst dann für den Darwinismus eine ganz vage und leere Bedeutung hat, da doch jeder einzelne Prozeß, der den Organismus hat werden lassen, eben als ein zufälliger Prozeß angesehen wird, der zu seinenNach- barprozessen gar keine Beziehung hat. Das Wort ,, Einheit" bedeutet also, trotz der Vererbung, die übrigens ebenfalls in materialistischer Weise aufgefaßt wird, für die Darwinisten in seiner Anwendung auf den 286 Prinzipien des Lamarekismus. Organismus nicht mehr als es in seiner Anwendung auf Berge oder Inseln bedeutet, bei denen eine gewisse Art von ,, Einheit" natürlich auch in Frage kommt, insofern, als es sich immer um ein und denselben Körper handelt, bei denen aber jeder einzelne Charakter dieser Scheineinheit, jedes einzelne Kennzeichen ihrer Form oder Qualität, das Ergebnis von Faktoren ist, die durchaus voneinander unabhängig waren. Gegen die Lehre von der Zufälligkeit, wie sie der Dar- winismus vertritt, ist nun, wie wir wissen, eingewendet worden, daß sie unmöglich die Basis der Deszendenztheorie sein könne, da sie weder den ersten Ursprung eines Organes, noch irgend einer Art der Harmonie zwischen den Teilen eines Organismus oder zwischen ganzen Individuen, noch irgend einer Art der Restitution zu erklären imstande sei. Der dogmatische Lamarekismus unterscheidet sich aber, wie leicht zu sehen ist, vom Darwinismus nur dadurch, daß dasjenige, was nach der Meinung des letzteren mittels Selektion am Organismus passiv geschieht, nach Ansicht des ersteren aktiv vom Organismus vollbracht wird, mittels eines „Urteils" und mittels des Festhaltens und Weitergebens zufälliger Variationen. Aber die Sonderheit der Form als ein Ganzes ist auch nach Ansicht des Lamarckis- mus durchaus zufällig; und die Kritik muß nun diese Zufälligkeit der Form ganz ebenso abweisen wie sie sie im Bereiche des Darwinismus zurückwies. Soweit die Lehre von der Vererbung wahrhaft adaptiver Eigenschaften in Betracht kommt, d. h. der Vererbung von Eigenschaften, welche der aktiven Anpassungsfähigkeit des Organismus, die durchaus ein vitalistisches Antlitz trägt, verdankt werden, konnte gegen den Lamarekismus höchstens eingewendet werden, daß Vererbung erworbener Eigen- schaften nur eine Hypothese von gegenwärtig noch nicht recht gesichertem Werte sei. Daß aber die eigentliche spezifische Organisation eine Folge zu- fälliger Variationen sei, die nun gerade gewisse Be- dürfnisse des Individuums befriedigten und daher fest- Prinzipien des Lamarckismus. 287 gehalten und weiter gegeben wurden, diese Erwägung ist ganz ebenso unmöglich, wie der Gedankengang des Dar- winismus es war. Der Vorgang der Restitution, vollendet vom ersten Anfang an, wenn er überhaupt eintritt, ist wiederum das klassische Beispiel gegen diese neue Art von Zufälligkeit, welche jetzt die Grundlage des Transformismus sein soll. Hier sehen wir mit unseren Augen, daß der Organismus mehr leisten kann, als nur die Weitergabe zu- fälliger Variationen, die in sich keine Beziehung irgend- welcher Art auf eine Einheit oder Totalität tragen. Es gibt eben eine Fähigkeit zum Ganzen im Organismus und diese Fähigkeit kann nie und nimmer entstanden sein durch die vom Lamarckismus angenommenen Prozesse 1). Wenn aber die Prinzipien dieser Lehre in einem Falle ver- sagen, dann versagt die Lehre als eine allgemeine Theorie überhaupt. Wenn wir nun andererseits den individuellen Or- ganismus tatsächlich mit einer formbildenden Kraft aus- gerüstet sehen, welche der Lamarckismus nicht erklären kann, und welche diejenige formbildende Fähigkeit, die er annimmt, weit überragt: ist es uns da nicht erlaubt, den Schluß zu ziehen, daß auch an der Wurzel der Um- wandlung der Arten eine gewisse organisatorische Kraft a) Ich wiederhole, daß wir es hier nur mit dem dogmatischen „Neo"-Laniarckismus zu tun haben. Diese Lehre will in der Tat alle Eigentümlichkeiten des Organischen auf Basis des Fühlens von Bedürfnissen und des Stapeins zufälliger Erfüllungen dieser Bedürf- nisse erklären, ebenso wie der dogmatische „Neo"-Darwinisnius alle jene Phänomene auf Grund zufälliger Variationen und natürlicher Zuchtwahl erklären will. Darwin selbst ließ, wie wir wissen, gewisse primäre Kennzeichen des Lebens absichtlich unerklärt, und kann daher nicht getadelt werden, wenn er sie nicht erklärt hat — obwohl auch dann seine Theorie falsch bleibt. Lamarck selbst sah ein wahrhaft primäres phylogenetisches Organisations- gesetz als das fundamentale an, und so ist er also überhaupt nicht im geringsten verantwortlich, wenn der ,rNeo"-Lamarckismus al& eine universale Theorie fällt. 288 Prinzipien des Lamarekismus. liege, eine Kraft, die wir noch nicht verstehen, von der wir nur gewisse Ausflüsse in den Restitutionen kennen, eine Kraft, die von den Beweisgängen des Lamarekismus gar nicht einmal berührt wird ? Es g i b t eben das, was Gustav W o 1 f f ,, primäre Zweckmäßigkeit" genannt hat, wenigstens bei den Restitutionen tritt es auf, und diese primäre Zweck- mäßigkeit ist für Darwinismus und Lamarekismus gleich unerklärbar. Bevor wir uns aber dieser Hypothese des näheren zu- wenden, wollen wir noch kurz einiger Einwände gedenken, welche der Theorie von der Zufälligkeit der Form, wie sie von Lamarckisten vertreten wird, gemacht werden können. Sagen wir an erster Stelle nochmals ein paar Worte über die Bedeutung des Wortes ,, Zufälligkeit", wie es hier gebraucht wurde. Die Formen gelten im Lamarekismus insofern als zufällig, als die Variationen, welche später als ,, Mittel" zur Befriedigung der „Bedürfnisse" des Organismus dienen, durchaus ohne Rücksicht auf den Organismus als Ganzes geschehen sind. Nun könnte man sagen, daß eben die „Bedürfnisse" nicht zufällig sind, sondern von innen heraus bestimmt wurden; diese Möglichkeit schließen aber die Lamarckisten selbst aus, wenn sie sagen, daß der Organismus kein Bedürfnis fühlt, ehe er die Lust an seiner zufälligen Erfüllung gefühlt hat. So würde denn das Einzige am lamarekistischen Transformismus, das nicht zufälligen Charakters ist, jenes in ihm eine Rolle spielende psychische Agens sein, indem dieses Agens eben mit der primären Fähigkeit ausgestattet ist, Bedürfnisse zu fühlen, wenn es ihre Erfüllung kennt, und mit der Fähigkeit zu beurteilen, welches die Mittel künftiger Erfüllung sein können, damit es sie festhalten kann, wenn sie sich ihm darbieten. Das alles sind aber Kennzeichen des Lebens überhaupt, nicht nur seiner besonderen Formen ; letztere allein aber sind das Problem des Transformismus. Gerade hier sehen wir nun wohl so klar wie möglich, daß Darwinismus und Lamarekismus, trotz des großen Gegensatzes zwischen Materialismus und Psychovitalismus sich auf der gemein- Prinzipien des Lamarekismus. 289 samen Basis der Zufälligkeit der organischen Form die Hände reichen. Die gesamte antidarwinistische Kritik von Gustav W o 1 f f kann in der Tat mit Änderungen weniger Worte auch auf den Lamarekismus angewendet werden : Wie kann doch ein so vollendetes Organ wie das Auge der Wirbeltiere aus zufälligen Variationen hervorgehen ? Wie können solche Variationen für die Harmonie der verschiedenen Zellenarten in diesem sehr komplizierten Organ, sowohl unter einander wie in Bezug auf Teile des Gehirns, den Grund abgeben? Und wie kann man es aus dem Zufall verstehen, daß es zwei Augen von nahezu gleicher Vollendung gibt, daß auch Füße und Ohren paarweise da sind? Inseln und Berge pflegen nicht eine solche Symmetrie ihres Baues zu zeigen. Wir wollen nun hier nicht unsere Deduktion des Ur- sprungs der Restitutionen, der Regeneration z. B., auf lamarekistischer Basis wiederholen. Wir sagten bereits, daß wir da zu ebenso großen Absurditäten geführt werden würden wie bei unserem Studium des Darwinismus, und wir haben auch schon betont, daß die Lamarckisten eine Er- klärung dieser Phänomene eigentlich gar nicht versuchen. So fällt denn also der dogmatische Lamarekismus als eine allgemeine Theorie zusammen 1). Endlich gibt es eine Tatsachengruppe, welche von darwinistischen Autoren 2) oftmals gegen den Lamarckis- mus vorgebracht worden ist, und die in der Tat das logische Experimentum crucis dieser Lehre heißen kann, und zwar ein tödliches Experiment. Unter den polymorphen Gruppen der Bienen, Termiten und Ameisen gibt es bekanntlich einen *) Vgl. die ausgezeichnete Kritik des Lamarekismus von G. Wolff : Die Begründung der Abstammungslehre, München 1907. 2) Darwinisten haben dem Lamarekismus auch oft vorgeworfen, daß er nur solche Fälle von Angepaßtheit, die sich auf wirkliches Funktionieren beziehen, aber nicht passive adaptive Charaktere, wie z. B. angeborene Mimikry, erklären könne. Dieser Umstand, für sich genommen, würde aber wohl nicht gegen den Xeo- Lamarckismus in der spezifischen Pauly sehen Form sprechen. Driescli, Philosophie. I. 19 290 Prinzipien des Lamarekismus. oder auch mehrere Typen von Individuen, welche eine sehr spezifische Organisation besitzen, aber gleichzeitig voll- ständig von der Fortpflanzung ausgeschlossen sind: wie könnten diese morphologischen Typen nach dem lamarcki- stischen Schema entstanden sein ? Was würden Individuen ohne Nachkommen davon haben, wenn sie „urteilen" über vom Zufall dargebotene Mittel, um so Bedürfnisse zu be- friedigen? Hier wird der Lamarekismus eine einfache Absurdität, ebenso wie der Darwinismus an anderer Stelle in Absurditäten endigte. Den dogmatischen Darwinismus studierten wir damals und mit dem dogmatischen Lamarekismus haben wir es hier zu tun. Beide Theorien fallen in ihrer dogmatischen Form, mag auch ein kleiner Teil von ihnen in der Kritik standhalten. Aber diese beiden Teile, welche der Kritik standhalten, der eine von L a m a r c k und der andere von Darwin stammend, sind weit davon entfernt, eine vollständige Theorie der Deszendenz der Arten zu bilden, selbst wenn man sie zusammennimmt: sie machen nur einen ganz kleinen Teil des gesamten beim Problem des Transformismus in Betracht kommenden Gebietes aus. Fast alles muß hier noch getan werden, und wir wollen hier wenigstens kurz formulieren, was wir von der Wissenschaft der Zukunft erwarten. 4. Die Ergebnisse und die ungelösten Probleme des Transformismus. Was die beiden jetzt gangbaren großen Theorien des Transformismus bis zu einem gewissen Grade erklärt haben,. ist nichts weiter als dieses: Systematische Verschieden- heiten, die in bloßen Differenzen der Quan~ tität, Intensität oder Zahl bestehen, können vielleicht auf Grund der gewöhnlichen Variabilität ent- standen sein; wenigstens dann, wenn wir annehmen dürfen, daß Vererbung in solchen Fällen imstande war, solche fluk- tuierend entstandenen Variationen ohne Rückschlag weiter zu geben, was, wie wir noch einmal betonen, zurzeit durch- aus nicht bewiesen ist. Natürliche Zuchtwahl mag in diesen Prozeß eingreifen, indem sie alle diejenigen Individuen aus- merzt, welche den gerade nützlichen Charakter nicht be- sitzen. Das ist der darwinistische Teil einer Er- klärung des Transformismus, welcher hypothetisch zuge- lassen werden kann. Andererseits kann die angeborene histologische Angepaßtheit hypothetisch einer Vererbung adaptiver Charaktere, die durch die eigene Aktivität des Organismus erworben wurden, zugeschoben werden, falls dieser Prozeß durch viele Generationen hindurch andauerte. Das ist der lamarckistische Anteil an der Deszendenztheorie. Aber weder die Lehre von Darwin, noch diejenige von L a m a r c k steuern irgend ein Weiteres zu dieser Theorie bei. Und daraus folgt, daß fast alles noch zutun übrigbleibt; denn wir haben gegenwärtig keine Hypothese für die Grundlage aller Systematik, d. h. für die 19* 292 Ergebnisse und Probleme des Transformismus. eigentlich organisatorischen Verschiedenheiten, für alles, was sich auf die sogenannten Typen als solche und auf den Grad der Kompliziertheit dieser Typen bezieht, welche beide, Typen und Grad der Komplikation, von histologischer Anpassung und Angepaßtheit unabhängig sind. Kennen wir nun irgend welche Tatsachen, die geeignet wären, dieses Problem aufzuhellen? Wir haben am Ende unseres von der Vererbung handelnden Kapitels bereits gesagt, daß dasjenige, was wir tatsächlich über irgend eine Ab- weichung vom Vererben, d. h. über angeborene Verschieden- heiten zwischen Eltern und Nachkommen wissen, soweit es sich auf eigentlich Organisatorisches bezieht, so gut wie gar nichts ist: kennen wir doch nur die wenigen von de V r i e s beobachteten Tatsachen und die Erfahrungen der Gärtner und Züchter. Diese Tatsachen weisen vielleicht auf die Möglichkeit einer diskontinuierlichen Variation, d. h. einer wahren ,, Mutation", hin, welche von innen heraus geschieht, gewissen tektonischen Linien folgt und zu kon- stanten Resultaten führt: Alles weitere aber, d. h. alles in Bezug auf eine wahre Theorie der Abstammung muß sozu- sagen dem Geschmacke des Autors, der über die Theorie des Lebens schreibt, jeweils überlassen bleiben. Ist doch selbst diese eine und einzige Grundlage des Trans- formismus im tieferen Sinne, der Begriff der Mutation, durch neuere Untersuchungen, zumal von K 1 e b s , erschüttert oder wenigstens seiner völligen Sicherheit be- raubt worden 1). Sie mögen sagen, daß ein solcher Stand der Dinge sehr unwissenschaftlich sei, aber ein anderer ist nicht möglich. Und in der Tat: fast alle, die sich unvoreingenommen mit dem Problem des Transformismus beschäftigt haben, haben zugegeben, daß die Dinge so liegen. Wir sagten schon, daß L a m a r c k selbst wohl einsah, wie eine Art von organi- satorischem Gesetz die Grundlage alles Transformismus sein muß, und es ist wohl bekannt, daß hypothetische Versuche i) Vgl. oben S. 243 und 277. Ergebnisse und Probleme des Transformismus. 293 mit Rücksicht auf ein originales Gesetz der Phylogenie von Nägeli, Kölliker, Wigand, Eimer und vielen anderen versucht worden sind, Aber, eine eingehende Er- örterung aller dieser ,, Gesetze" würde uns für unser theore- tisches Bestreben wenig nützen, da sie leider alle nichts weiter leisten, als daß sie die bloße Tatsache, daß ein unbekanntes Organisationsgesetz in der Phylogenie am Werke gewesen sein muß, wenn wir die Deszendenztheorie überhaupt annehmen wollen, scharf hervorheben. Es ist wichtig zu bemerken, daß selbst ein so über- zeugter Darwinist wie W a 1 1 a c e , der bekanntlich das Eüminationsprinzip unabhängig entdeckte, eine Ausnahme von seinen Prinzipien des Transformismus für wenigstens einen Fall, für den Ursprung des Menschen, zuließ. Eine Ausnahme aber zerstört die Allgemeinheit einer Lehre. Da wir selbst uns ganz außerstande fühlen, der allge- meinen Behauptung, d a ß es irgend ein unbekanntes Prinzip des Transformismus geben müsse, wenn anders die Hypo- these der Deszendenz überhaupt berechtigt ist, irgend eine besondere Annahme hinzuzufügen, so können wir unsere Erörterung des Gegenstandes hier abschließen. 5. Die verschiedenen transforniistischen Theorien in ihrer Beziehung zum logischen Werte der organischen Form. Nur zwei Dingen müssen wir noch wenige Worte widmen: dem logischen Charakter der organischen Formen, wie er sich auf Grund der verschiedenen transformistischen Theorien darstellt, und der Beziehung des Umwandlungs- gedankens überhaupt zum Begriffe der Entelechie. Wir wissen, daß sowohl der Darwinismus wie der La- marckismus in ihrer dogmatischen Form die spezifischen Formen der Tiere und Pflanzen als zufällig ansehen; gerade gegen diese behauptete Zufälligkeit richtete sich ja die Kritik. Wir können daher sagen, daß für den Darwinismus wie für den Lamarekismus, die organischen Formen akzi- dentell sind in der wahren Bedeutung des Ausdruckes „forma accidentalis" im Sinne der alten Logiker. Nach beiden Lehren sind unendlich viele Formen möglich, und es gibt kein Gesetz der Formen. Bei solcher Auffassung verliert natürlich Systematik jede wirklich fundamentale Bedeutung. „Es gibt kein rationelles System der Orga- nismen": das ist das letzte, was Darwinismus und La- marekismus über diese Frage zu sagen haben. Die Syste- matik ist nicht nur jetzt ein bloßer Katalog, sondern für immer, sie ist es auf Grund der eigentlichen Natur der Organismen. Nicht aber weil unsere beiden Theorien die Möglichkeit einer unendlichen Zahl von Formen zulassen, kommen sie dazu, die Bedeutung der Systematik zu leugnen, sondern deshalb, weil sie kein Gesetz zu- lassen, daß diese unendliche Zahl von Formen beherrscht: bei chemischen Verbindungen gibt es auch in manchen Fällen unendliche Möglichkeiten, aber sie gehorchen dem Transform. Theorien und Wert der organ. Form. 295 in der allgemeinen Formel ausgedrückten Gesetz. Es ist seltsam, daß gerade die Darwinisten sich in allen Ländern mehr als alle anderen um systematische Unter- suchungen bekümmern. Sehen sie denn nicht, daß das, was sie da aufzubauen versuchen, sich nach ihrer eigenen Lehre nur auf zufällige Phänomene beziehen kann? Oder haben sie doch etwa selbst gewisse Bedenken hinsichtlich der Grundlagen ihrer eigenen Theorie, trotz der dogmatischen Miene, die sie sich bei ihrer Verteidigung geben ? Oder zieht das sogenannte historische Interesse sie an? Hier tritt nun eine neue Frage auf: haben wir selbst nicht die Geschichte zugunsten der Systematik und der Gesetzlichkeiten vernachlässigt ? Unser nächster Ab- schnitt wird diese Frage zu beantworten trachten. Zunächst fahren wir in unserem Studium der logisch möglichen Typen der organischen Formen fort : Es ist nicht schwer zu zu sagen, was die organischen Formen auf Grund irgend einer phylogenetischen Theorie, die das Gegenteil der Zufälligkeitstheorien ist, bedeuten würden. Ihr Ein- treten für Zufälligkeiten, d. h. für das Fehlen eines Gesetzes der Formen als solcher, war es, was diese Theorien zu Fall brachte, ja sie sogar zu Absurditäten führte, und daraus folgt denn, daß irgend eine Art von transformisti- schem Gesetze annehmen dasselbe bedeutet, wie den Zufall- charakter der lebenden Formen leugnen. Es handelt sich also nicht um die ,, forma acciden- talis". Ist nun damit ohne weiteres die ,, forma essen- tialis" eingeführt und was würde das für den allgemeinen Charakter der Systematik bedeuten ? Die organische Form und Entelechie. Dieses Problem ist nun nicht so einfach, wie es zuerst scheinen möchte, es ist sogar gegenwärtig unlösbar. Eben hier kommt die Beziehung des hypothetischen Umwandlungs- prinzips zu unserm Begriff der Entelechie in Frage. Wir wissen, daß die Entelechie, obwohl sie nicht selbst materiell ist, doch bei der Formbildung jedes Individuums ein 296 Transform. Theorien und Wert der organ. Form. Material benutzt, welches im Laufe der materiellen Kon- tinuität bei der Vererbung weiter gegeben wird. Was ver- ändert sich nun phylogenetisch: das Material, d. h. die ,, Mittel" oder die Entelechie? Und was würde in jedem Falle Systematik logisch bedeuten ? In jedem Falle würde es natürlich ein systematisches Gesetz geben ; und daher würde in jedem Falle Systematik einst rationell sein können. Wenn aber der transformistische Faktor mit den Mitteln der Formbildung verknüpft wäre, könnte man doch kaum sagen, daß die spezifische Form als solche eine primäre Essenz wäre. Die Entelechie würde diese Essenz sein, die Entelechie aber als ein Allgemeines, als in ihrem intimen Charakter immer dieselbe; und die spezifischen Verschiedenheiten würden nur einem gewissen Etwas verdankt sein, das nicht Form, sondern nur ein Mittel für Form ist. Nun scheint mir freilich die Harmonie, die sich uns in jeder typischen, normalen oder regulatorischen, Formbildung zeigt, die Verknüpfung des Transformismus mit den Mitteln der Formbildung zu verbieten; und so wollen wir denn diese Erörterung über die allerproblema- tischsten Phänomene der Biologie mit der Erklärung be- schließen, daß wir glauben, es entspreche dem allge- meinen Charakter des Lebens, soweit wir ihn kennen, besser, das unbekannte transformistische Prinzip mit der Entelechie selbst und nicht mit ihren Mitteln verknüpft zu denken. Die Systematik der Organismen würde alsdann eigentlich eine Systematik der Entelechien sein, und eben darum wären die organischen Formen „formaeessentiales", die Entelechie wäre die eigentliche Essenz der Form in ihrer Spezifität. Das System würde in diesem Falle natürlich einen wahrhaft rationellen Charakter in Zukunft annehmen können: eines Tages könnte ein Prinzip aufgefunden werden, das von der Totalität der möglichen Formen *) Rechenschaft gibt, ein *) Das Wort „möglich" bezieht sich hier natürlich auf den Ursprung, nicht auf das Überleben. Gerade hier kann natürliche Zuchtwahl die logische Bedeutung gewinnen, von der oben (S. 264 f.) die Rede war. Transform. Theorien und Wert der organ. Form. 297 Prinzip basiert auf die Analyse der Entelechie 1). Da wir zugegeben haben, daß der Lamarekismus hypothetisch das angeborene histologische Angepaßtsein erklärt, und daß der Darwinismus einige wenige quantitative Differenzen ver- ständlich macht, welche Eigenschaftsgruppen natürlich beide zufälligen Charakters sind, so folgt schließlich, daß das rationelle System, welches wir von der Zukunft erwarten, mit gewissen zufälligen Verschiedenheiten verbunden sein würde. Und so kann es denn als eine der wesentlichsten Aufgaben der systematischen Biologie der Zukunft an- gesehen werden, das wahrhaft rationelle Systeme inmitten einer Totalität von Verschiedenheiten zu entdecken, welche auf den ersten Blick gar nicht rationell erscheinen kann, indem eine Gruppe von Verschiedenheiten sozusagen der anderen überlagert ist. 1) Später wird erörtert werden, worin eine solche Analyse bestehen kann. Fürs erste befassen wir uns mit der Entelechie ia in gleichsam populärer Weise. C. Die Logik der Geschichte. Geschichte, im strengsten Sinne des Wortes, ist die Aufzählung derjenigen Verschiedenheiten, welche im Verlaufe der Zeit einander werdend gefolgt sind. Ge- schichte hat es mit dem Einzelnen zu tun, sowohl in Bezug auf die Zeit wie auf den Raum. Ja, auch wenn ihr Material in sich selbst zusammengesetzter Natur und daher noch anderen Seiten menschlichen Studiums zugänglich ist, wird es doch von der Geschichte als Einzelheit betrachtet. Wir sagen daher besser: soweit, wie Tatsachen in ihrer Einzelheit oder Einzigkeit betrachtet werden, werden sie streng historisch betrachtet ; denn wir nennen Geschichte im strengen Sinne, was sich auf besondere Raum- und Zeitpunkte bezieht. Natürlich kann Geschichte im Sinne einer einfachen Aufzählung oder Aufzeichnung sich nicht anmaßen, ,, Wissenschaft" zu sein, es sei denn, daß wir dieses Wort aller spezifischen Bedeutung entkleiden wollten, was wohl wenig praktisch wäre. Und in der Tat ist alles, was sich bisher ,, Geschichte" genannt hat, mehr als eine bloße Aufzählung gewesen, sogar in der Biologie selbst. Die Deszendenzlehre schließt ja doch, wie wir gezeigt haben, in jeder einzelnen ihrer verschiedenen Formen wenigstens gewisse rationelle Elemente ein, denn sie ruht, wie wir wissen, immer auf der Annahme, daß nur einige von den Charakteren des Organismus transformistisch verändert wurden, daher eben das Unveränderte an ihnen durch die Tatsache der Vererbung erklärt werden kann. Die Logik der Geschichte. 299 Das war aber bekanntlich das äußerste an Rationalem, was wir der Phylogenie zugeben konnten. Sie ist heutzutage phantastisch, ja zum größten Teile geradezu unwissenschaft- lich, trotz dieses gewissen Grades von Rationalität, über den sie sich meist übrigens selbst nicht klar ist. Denn wir wissen nichts über die positiven Faktoren des Trans- formismus, und wir konnten an Stelle einer wirklichen Theorie der Umwandlungsfaktoren nur einige wenige Möglichkeiten erörtern. Trotzdem wird es nun nicht ohne ein gewisses logisches Interesse sein, unsere Analyse von Geschichte überhaupt wiederum mit einer Erörterung von Möglichkeiten zu beginnen. Die Biologie selbst würde uns in der Tat kaum mehr als dieses erlauben; denn im Gebiete dieser Wissen- schaft ist sogar die einfache ,, Tatsache" der Geschichte nicht einmal eine Tatsache, sondern eine Hypothese, obschon von einiger Wahrscheinlichkeit. Da Erörterungen über bloße Möglichkeiten stets auf einer möglichst breiten Basis ruhen sollten, so beginnen wir unsere Analyse mit zwei allgemeinen Fragen. Auf welche Gegenstände des Wirklichen kann man den Begriff der Geschichte vernünftigerweise anwenden? Und was für verschiedene Typen von Geschichte sind a priori möglich, wenn das Wort Geschichte mehr als eine bloße Aufzählung bedeuten, wenn es also seinen ganz strengen Sinn verlieren soll? 1. Die möglichen Typen von „Geschichte". Wir könnten einen bestimmt begrenzten Abschnitt des Raumes auswählen und könnten die verschiedenen Stadien, welche er im Laufe der Zeit durchläuft, seine „Geschichte" nennen. Es wäre dann ein Bestandteil dieser seiner Geschichte, daß eine Wolke sich in ihm bildet, oder daß ein Vogel ihn auf seinem Fluge durcheilt. Aber die Geschichte eines Raumabteils wäre wohl kaum sehr unterhaltend und wichtig. Tatsächlich wird alle Geschichts- schreibung auf Körper bezogen, wenn auch zum Teil indirekt, wie denn z. B. auch die Geschichte der Wissen- schaften in gewissem Sinne die Geschichte von Menschen und von Büchern ist. Es genügt für unsere Analyse, das Wort ,, Körper" hier in seinem alltäglichen Sinne zu verstehen. In ihrer Beziehung auf Körper kann Geschichte nun von dreierlei Art sein, insofern als sie überhaupt mehr als bloße Aufzählung sein will und soll. Erstens kann sie sich auf ein und denselben Körper beziehen. Das ist z. B. der Fall, wenn die individuelle Geschichte des Organismus vom Ei bis zum Erwachsenen verfolgt wird, oder wenn die Geschichte einer Wolke, einer Insel oder eines Vulkans geschrieben wird. Zweitens kann das Material der Geschichte gebildet werden von den einzelnen Einheiten einer auf einander periodisch folgenden Reihe von Körpern. Hierher gehören die Vererbungs- studien Mendels und seiner Nachfolger ; aber ebenfalls Die möglichen Typen von „Geschichte". 301 gehört hierher die hypothetische Phyiogenie der Organismen und vieles aus der Geschichte der Menschheit. Drittens und zuletzt gibt es noch eine recht kompli- zierte Art von Abfolge, deren „Geschichte" geschrieben worden ist. Geschichte kann Körper zum Gegenstand haben, welche in keiner direkten Beziehung unter einander stehen, von denen aber jeder der Effekt eines anderen Körpers ist, der zu einer auf einander periodisch folgenden Reihe von Körpern gehört. Das klingt recht kompliziert, ist aber nichts als ein strenger Ausdruck eines sehr be- kannten Verhältnisses. Unser Satz ist in der Tat nichts anderes als Teil einer Definition der ,, Kunst-" oder „Lite- raturgeschichte", oder, beispielsweise, auch einer phylo- genetischen Geschichte der Vogelnester. Die einzelnen Bilder sind ja doch der Gegenstand der Kunstgeschichte, und keiner wird leugnen, daß diese Bilder die Effekte ihrer Maler sind, und daß Maler menschliche Individuen sind, das heißt Körper, welche zu einer auf einander periodisch folgenden Reihe von Körpereinheiten gehören. Übrigens sprechen wir ja nur uneigentlich von einer „Geschichte" der Bilder oder Bücher oder Vogelnester als solche. Tat- sächlich studieren wir Maler, Dichter, Gelehrte und nest- bauende Vögel, und so kann denn unser dritter Geschichts- typus auf den zweiten zurückgeführt werden. Aber es scheint mir nicht unnütz gewesen zu sein, unsere logischen Unterscheidungen so weit als möglich zu treiben. Wir haben bis jetzt immer von Geschichte, als von einer Sache, die mehr als bloße Aufzählung sei, gesprochen, aber wir haben nicht ausgemacht, was das Wörtchen „mehr" hier bedeuten soll. Das auszumachen ist nun nicht schwer. Es gibt in der Tat drei verschiedene Typen von Geschichte; jeder von ihnen besitzt einen verschiedenen Grad von Bedeutung für die Erfassung der Wirklichkeit. Geschichte kann einmal als eine bloße Aufzählung anfangen, um am Ende, trotz allen Bemühens, ein- 302 Die möglichen Typen von „Geschichte". zusehen, daß sie es bei bloßer Aufzählung bewenden lassen muß und nichts weiteres leisten kann. Das kann der Fall sein in jeder der Gruppen von Geschichte, welche wir oben mit Rücksicht auf ihre Beziehung zu Körpern unterschieden haben. Man schreibe die Geschichte einer Wolke von Anfang bis zu Ende: da wird wohl nichts als reine Beschreibung herauskommen. Oder man nehme ein beliebiges Hundepärchen und beschreibe sie und ihre Nach- kommen durch vier Generationen oder mehr: auch da wird es wohl bei bloßer Beschreibung bleiben. Der einzige Schritt über bloße Beschreibung hinaus, der in diesen und ähnlichen Beispielen möglich ist, kann in der am Ende gewonnenen Überzeugung bestehen, daß hier mehr als bloße Beschreibung aufkeine Weise geleistet werden kann. In scharfem Gegensatz hierzu steht die „Geschichte", welche sich mit der Entstehung eines Organismus aus dem Ei befaßt. Hier ist die ganze Reihe der historischen Fakten aufs Deutlichste ein Ganzes. Wir wollen daher in solchen Fällen überhaupt nicht von Geschichte, sondern von Entwicklung reden, wobei dieses Wort in einem so weiten Sinn verstanden sein soll, daß es z. B. den embryo- logischen Gegensatz von „Evolution" und ,,Epigenesis" umfaßt. Mitten zwischen bloßer Aufzählung und Entwicklung steht nun ein Typus von Geschichte, der mehr als die eine und weniger als die andere ist. Hier gibt es eine Art von verständlichem Zusammenhang zwischen den auf einander folgenden historischen Stadien; und doch tritt der Begriff des Ganzen nicht auf. Die geologische Geschichte eines Berges oder einer Insel ist ein gutes Beispiel dieser Klasse. Hier sieht man ohne weiteres, daß das Vergangene immer die Grundlage dessen ist, was in der nächsten Phase des historischen Prozesses geschehen wird. Wir sehen hier eine Art von Anhäufung auf einander folgender Phasen vor uns: die späteren Phasen sind unmöglich ohne Die möglichen Typen von „Geschichte". 303 die früheren. In diesem Sinne wollen wir von historischer Kumulation sprechen, als von demjenigen Geschichts- typus, der zwischen Entwicklung und reiner zeitlicher Abfolge in der Mitte steht. Durch den Nachweis von Kumulationen kann Geschichte mit Recht behaupten, daß sie Dinge „erkläre". Wir „verstehen" einen Berg oder eine Insel in allen ihren Besonderheiten, wenn wir ihre Geschichte kennen. Dieses „historische Verstehen" beruht auf der Tatsache, daß dasjenige, was zuerst als unverständlicher Komplex erschien, aufgelöst ist in eine Folge einzelner Ereignisse, deren jedes Anspruch erheben kann, durch tatsächlich existierende Wissenschaften erklärt zu sein. Man hat eingesehen, daß jener Komplex, ob er schon nicht ein echtes „Ganze" ist, doch eine Summe solcher Einzelheiten darstellt, bei denen jedes Element uns wohlbekannt ist. Man wird mir nun hier einwenden, daß meine Er- örterung der Begriffe Entwicklung und Kumulation, als der höheren Typen der Geschichte, keineswegs vollständig, ja wohl gar, daß sie überhaupt nicht richtig ist. Und in der Tat: unvollständig könnte man meine Analyse nennen. Wir haben den einen Typus von Geschichte Entwicklung, den anderen Kumulation genannt; aber wie sind wir zu diesen höheren Typen gekommen ? Ist die bloße historische Aufzählung, welche unserer Voraussetzung gemäß am Anfang aller Analyse steht, ist „Geschichte" im strengsten Sinne des Wortes, in ihrer Beziehung zum Einzelnen als solchem, vonsichselbst aus zu mehr als „Geschichte" geworden? Keineswegs; Geschichte hat ihre Grenzen überschritten durch Hilfe von außen. Unhisto- rische Elemente haben uns von bloßer Geschichte zu „mehr" als Geschichte geführt. Wir schufen den Begriff der „Entwicklung" nicht auf Grund unserer Kenntnis der einzelnen Ereignisreihe, die sich auf ein einzelnes Ei eines Frosches bezieht, sondern auf Grund unserer Erfahrung, daß es Billionen und mehr Froscheier gibt, die alle zum Durchlaufen derselben „Geschichte" bestimmt sind — 304 Die möglichen Typen von „Geschichte". welche eben darum nicht bloße Geschichte ist. Und wir haben den Begriff der Kumulation nicht aus dem histori- schen Studium eines einzelnen Berges gewonnen, sondern auf Grund unserer Kenntnis von Physik, Chemie und sogenannter dynamischer Geologie : diese Wissenschaften verhalfen uns zum historischen „Verstehen", und dieses Verstehen fließt daher aus einer durchaus unhistorischen Quelle. 2. Phylogenetische Möglichkeiten. Erhält Geschichte immer ihre Bedeutung durch etwas, was nicht sie selbst ist? Muß Geschichte immer ihr „ge- schichtliches" Aussehen einbüßen, um für menschliche Erkenntnis bedeutsam zu werden ? Und kann sie immer „Wissenschaft" werden durch solch einen Um- gestaltungsprozeß ? Wir werden diese Erörterung später auf breiterer Basis wieder aufnehmen. Fürs erste werden wir nur das, was wir bisher gelernt haben, auf die hypo- thetische Phylogenie anwenden. WTelche Möglichkeiten liegen denn in der Phylogenie vor; zu welchem Typus der Geschichte würde sie gehören, wenn sie vollständig wäre ? Wir können diese Frage natürlich nicht erschöpfend beantworten ; denn die Phylogenie i s t eben nicht voll- ständig, und über die bei ihr tätigen Faktoren ist so gut wie nichts bekannt. Aber trotzdem haben wir aus unserer Analyse der möglichen Geschichtstypen und aus dem Studium der beim Transformismus möglicherweise be- teiligten Faktoren doch wohl so viel gelernt, daß wir wenigstens die Möglichkeiten einer Phylogenie der Zukunft streng logisch formulieren können. Darwinismus und Lamarekismus, welche beide die organische Form als zufällig ansehen, müssen gleichzeitig die organische Geschichte als Kumulation auffassen ; sie könnten in der Tat eine wahre historische „Er- klärung" im Bereiche der Biologie liefern, wären nur ihre Behauptungen gesicherter, als sie es sind. Jede transfor mistische Theorie aber, die das eigentliche phylogenetische Prinzip in den Organismus selbst verlegt, Driesch, Philosophie. I. 20 306 Phylogenetische Möglicklichkeiten. und welcher daher die organischen Formen nicht zufällig, sondern essentiell sind, könnte dahinkommen, die Ab- stammung der Organismen als eine wahre Evolution zu begreifen. Die Einzelheiten der phylogenetischen Geschichte würden so Glieder eines Ganzen werden. Ge- schichte würde zu mehr als Geschichte werden. Aber ich habe nur gesagt, daß Phylogenie eine Evolution werden könnte, und mehr kann ich in der Tat nicht behaupten, selbst dann nicht, wenn man ein inneres transformistisches Prinzip annehmen will. Ein solches Prinzip nämlich könnte auch von einem typischen Zustand der Organisation zum nächsten führen, aber ad infinitum1). Dann würde die Phylogenie zwar in gewissem Sinne einen „Fortschritt" in sich tragen, würde aber doch nicht Evolution sein; ja sie könnte selbst in solchem Falle Kumulation heißen, trotz des inneren Umwandlungsprinzips, obwohl freilich Kumulation von innen heraus etwas ganz anderes sein würde, als Kumulation, die von außen bedingt ist2). Doch wir müssen dieses Problem offen lassen, solange unsere wirkliche Kenntnis des Transformismus so armselig ist wie heutzutage. Nur aus logischem Interesse wollen wir noch beifügen, daß Phylogenie als wahre Evolution ge- faßt notwendigerweise im Prinzip wiederholbar sein würde. *) Eine vitalistische immanente Phylogenie ohne vorbestimmtes- Ende wird von H. Bergson (L'evolution creatice, Paris 1907) vertreten. 2) Euer tritt auch die Frage wieder auf, ob trotz Veränder- lichkeit der Individuen die „Art" unveränderbar sei; vgl. S. 253. Anm. 3. Die Geschichte der Menschheit. Wir nehmen nur hypothetisch an, daß es eine „Phylo- genie" gegeben hat, und wir wissen so gut wie nichts über die an ihr beteiligten Faktoren. Es würde nun sicherlich von großer Bedeutung sein, wenn wir wenigstens für ein kleines und wohl umschriebenes Feld der Biologie etwas mehr auszusagen imstande wären, wenn das bloße Faktum von ,,Phylogenie", von ,, Geschichte", wenigstens in einem gewissen Bezirk der biologischen Erfahrung über allen Zweifel erhaben wäre. Und es gibt in der Tat ein Bereich unseres Wissens, in welchem ,, Geschichte" ganz sicher- lich stattgefunden hat, und für welches wir auch wenigstens einige der dabei beteiligten Faktoren kennen. Ich denke hier an die Geschichte der Menschheit; und zwar brauche ich diesen Ausdruck hier nicht etwa in seiner anthropologischen oder ethnographischen Bedeutung, wie man es seitens eines Biologen erwarten könnte, sondern in seinem eigentlichen und üblichen Sinne : als Geschichte der politischen Zustände, des Rechts, der Künste, der Literatur und der Wissenschaften, kurz als Geschichte der Zivilisation oder Kultur. Sie ist in der Tat das einzige biologische Gebiet, für welches wir wissen, daß es auf ihm historische Veränderungen gibt. So wollen wir denn untersuchen, was die Tatsachen der Menschheitsgeschichte uns bezüglich ihrer Aufeinanderfolge lehren können. Die Theorie der Geschichte in diesem engeren Sinne des Wortes ist in den letzten 20 Jahren, zumal in Deutsch- land, der Gegenstand mannigfacher Streitigkeiten gewesen, 20* 3Q8 Geschichte der Menschheit. und diese Kontroversen haben enge Berührungen zur Welt- anschauung überhaupt gewonnen. Wir wollen versuchen, den Gegenstand so unparteiisch wie nur möglich zu behandeln. Hegel sagt einmal in der Einleitung zu seiner „Phä- nomenologie des Geistes": „Die Philosophie muß sich hüten, erbaulich sein zu wollen". Diese Worte sollte man in der Tat über die Pforte schreiben, die den Eingang zur historischen Methodologie bildet, denn sie sind von gewissen theoretischen Schriftstellern recht wenig beachtet worden. Anstatt die Geschichte zu analysieren, um zu erforschen, welchen Dienst sie wohl der Philosophie leisten möchte, hat man eine Philosophie moralisierender Art oft zum Ausgangspunkt der Untersuchung gemacht und Geschichte hatte dann gewissen Doktrinen vom ersten Anfang an zu gehorchen1). Wir wollen versuchen, so wenig wie möglich „erbaulich" in unseren Erörterungen zu werden. Wir wollen von der Geschichte für philosophische Zwecke lernen, und wir wollen von ihr lernen als von einem Phänomen in Zeit und Kaum, ganz ebenso, wie wir von allen anderen Phänomenen, die das Leben in der Natur betreffen, gelernt haben. Jede Klasse dieser Phänomene kann natürlich mit Rücksicht auf Allgemeinheiten ebensowohl studiert werden wie mit Rücksicht auf Einzelnes. Das „Einzelne" hat uns freilich bis jetzt nicht sonderlich viel in unseren Studien gelehrt. Aber sein Studium könnte ja von Erfolg gekrönt sein im Bereich der eigentlichen Geschichte. Wenn ich mir nun vergegenwärtige, was die besten Autoren des letzten Jahrhunderts über die allgemeine Bedeutung der Menschheitsgeschichte geschrieben haben, so kann ich das Gefühl nicht unterdrücken, da ß es eigentlich keinem gelungen ist, der Geschichte eine Stelle an- zuweisen, an welcher sie eine gleiche philosophische Be- deutung erlangt wie die Naturwissenschaft. Liegt das an den Autoren oder an der Geschichte ? Und wie ist angesichts x) Fichte und seine Nachfolger. Geschichte der Menschheit. 309 dieser Tatsache das allgemeine Interesse zu erklären, welches beinahe jeder, welches ich selbst an geschichtlichen Darlegungen nehme, trotz solchen unbefriedigenden Standes der Dinge ? Kumulationen in der Geschichte der Menschheit. Beginnen wir unsere analytischen Studien über Wert und Bedeutung der Menschheitsgeschichte mit der Er- örterung gewisser Ansichten, welche sich, zwar nicht der Zeit nach, wohl aber wegen ihrer Einfachheit als die ersten darbieten. Ich denke an Gesichtspunkte, wie sie von Männern wie Buckle, Taine und Lamprecht vertreten wurden und werden, und zwar denke ich vor allem an Lamprecht, denn dieser Forscher hat es sich ganz besonders angelegen sein lassen, theoretisch den seiner Meinung nach einzig wissenschaftlichen Sinn der Geschichte zu begründen. Wenn wir auf unser logisches Schema von den drei möglichen Typen der Geschichte zurückblicken, so ist ohne weiteres klar, daß die Mensch- heitsgeschichte im Sinne der oben genannten Autoren, ganz besonders aber im Sinne Lamprechts, weder bloße Aufzählung noch wahre Entwicklung ist, daß sie es vielmehr mit Kumulationen deutlichster Art zu tun hat. Die Prozesse der Zivilisation bei verschiedenen Völkern sind in der Tat logisch vergleichbar mit der Ent- stehung von Vulkanen oder Gebirgsketten, sagen wir in Japan oder Italien oder Amerika ; sie zeigen uns eine typische Reihe aufeinander folgender Phasen, ganz wie diese es tut. Im Bereich jeder einzelnen Zivilisation schreitet z. B. das ökonomische System vom Tausch von Naturprodukten zur Geldwirtschaft vorwärts. Und auch in den Künsten gibt es, oder, vorsichtiger gesagt, soll es geben, charak- teristische einander folgende Phasen, wie die „typische", die „individualistische", die „subjektivistische". Jede Zivilisation hat sozusagen ihr „Mittelalter"; und so fort. Alles dieses sind freilich keine eigentlichen „Gesetze", 310 Geschichte der Menschheit. sondern vielmehr nur ,, Regeln", denn sie sind nicht Ele- mentarprinzipien in irgend einem Sinne. Und es gibt andere Arten von „ Regeln" für besondere Ausnahmefälle: Revolutionen haben solche Sonderregeln, und was z. B. Imperialismus genannt wird, hat deren auch. Da nun die Phasen der Geschichte sich als wahre Kumu- lationen erwiesen haben, so folgt natürlich, daß sich auch die von der Analyse aufgedeckten geschichtlichen Regeln auf den Ursprung von Kumulationen beziehen. Das eigentliche Element, auf dem die kumulativen Phasen und die Kumulationsregeln gemeinsam ruhen, ist das menschliche Individuum als Träger seiner Psychologie. Keiner hat wohl klarer als Simmel1) gezeigt, daß das menschliche Individuum als ,, Individuum" in jeder Art von Geschichte in Betracht kommt. Wird Geschichte als eine Reihe von Kumulationen aufgefaßt, so kann sie in der Tat behaupten, daß sie den Intellekt durch die Erklärung einer großen Anzahl histo- rischer Fakten in gewissem Sinne befriedigt. Sie „erklärt" mittels des elementaren Faktors der Individualpsychoiogie, den jeder von sich selbst kennt, und ferner mittels der einfachen Feststellung, daß hier eine Kumulation vor- liegt, eine Kumulation, basiert ganz vornehmlich auf Sprache und Schrift, welche beide natürlich wieder psycho- logisch fundiert sind. Das Psychische, so können wir also sagen, vermag sich in Kumulationen auszuwirken; alle historischen Kumulationen können verstanden werden mit Hilfe der Psychologie; Geschichte, soweit sie von wissenschaftlicher Bedeutung ist, ist durchaus ein System von Kumu- lationen. Eine solche Auffassung der Geschichte enthält ohne Zweifel viel Wahres. Aber ohne Zweifel stellt sie auch Geschichte an den zweiten Platz und Psychologie an den ersten; ganz ebenso wie die Geologie mit Chemie oder J) Die Probleme der Geschichtsphilosophie. 2. Aufl. 1905. Geschichte der Menschheit. 3X1 Physik verglichen zweiten Ranges ist. Geologie und Mensch- heitsgeschichte vermögen beide Allgemeinheiten in Form von Regeln aufzudecken, aber diese Regeln sind einge- standenermaßen nicht elementar, sondern kumulativ; ja wir kennen die in ihnen enthaltenen Elemente. Diese Elemente sind also das eigentliche Material für tiefere, für rein philosophische Studien, aber nicht die Kumulationen und ihre Regeln, welche erwiesenermaßen zufälligen Konstellationen verdankt werden. Das „Ein- zelne" bleibt natürlich das unmittelbare Material auch dieser Art von Geschichtsforschung, aber es wird gleich- zeitig ausdrücklich als bedeutungslos hingestellt, und von den Kumulationen und Kumulationsregeln andererseits, welche Einzelheiten gleichsam in einem höheren Sinne des Wortes sind, kennt man ihre nicht elementare Natur. Eine Geschichtsauffassung, wie diejenige von Buckle, Taine, Lamprecht und Anderen läßt also eine Interessenahme an Geschichte berechtigt erscheinen, weil das, was durch sie „erklärt" wird, jeden von uns täglich und jährlich unmittelbar berührt. Aber unsere Philosophie, unsere Weltanschauung würde ohne diese Ge- schichte dieselbe bleiben wie mit ihr. Wir studieren Ge- schichte und zumal die Geschichte unseres eigenen Zivili- sationskreises nur deshalb, weil er ein Feld des Wirklichen ist, das uns ganz unmittelbar angeht — ebenso wie wir für praktische Zwecke die Eisenbahnfahrpläne unseres eigenen Landes, aber nicht die von Australien, ja wie wir die lokalen Fahrpläne vor allen anderen studieren. Wenn das bloße ,,rerum cognoscere causas" als Krite- rium von Wissenschaft angesehen wird, dann i s t eine Geschichtsauffassung wie diejenige von Lamp recht eine „Wissenschaft", denn ihre Erklärungen ruhen auf der Darlegung der typischen Konstellation und des elementaren Faktors oder Gesetzes, aus denen zusammen die nächsten Konstellationen mit Notwendigkeit folgen. Aber im Sinne einer Entdeckung „des ruhenden Poles in der Erscheinungen Flucht" ist solche Geschichtsforschung nicht „Wissenschaft". 312 Geschichte der Menschheit. Ist Menschheitsgeschichte „Entwicklung"? Eine ganz andere Auffassung der Geschichte ist von Hegel vertreten worden, wenn anders seine Ausführungen über die „Entwicklung des objektiven Geistes" überhaupt einem der von uns aufgestellten möglichen Typen von Geschichte zugeordnet werden können. Aber, ich denke, wir sind wohl berechtigt, zu sagen, daß Hegel an eine wirkliche „Entwicklung" an eine „Evolution" der Mensch- heit dachte, an eine Entwicklung der Menschen als geistiger Wesen auf einen idealen Endzustand hin. Die eine geistige Phase sollte nach Hegel die nächste erzeugen, und zwar nicht im Sinne einer Kumulation von Elementarzuständen, sondern derart, daß jede Phase selbst in sich etwas Elementares und Unauflösbares darstellen sollte. Und er nahm ferner an, daß es eine kontinuierliche Reihe solcher Phasen des Geistes im Laufe der Generationen gäbe. Bieten nun die historischen Daten eine hinreichende Gewähr für solche Annahme? Nach Hegel „entwickelt" sich der Geist vom Irrtum zur Wahrheit gleichsam durch ein System von Wider- sprüchen hindurch; das gilt sowohl logisch wie moralisch. Die Summe der Widersprüche wird kleiner und weniger kompliziert mit jedem Schritte der Evolution. Nun unter- liegt es keinem Zweifel, daß es in der Tat einen Prozeß logischer und moralischer Reinigung im Individuum gibt, und es ist auch unzweifelhaft, daß die erreichten Resultate dieses Prozesses durch Wort und Schrift der nächsten Generation mitgeteilt werden können. Aber daß dieses Geschehen den Charakter einer wahren „Entwicklung" auf ein Ende zu trage, die mit der tatsächlichen Ab- folge der Generationen als solcher verknüpft wäre, das scheint mir durchaus nicht unbezweifelbar zu sein. Im Gegenteil, ich meine, daß wir hier nichts anderes vor uns sehen, als was wir überall in der Geschichte finden: eine Art Kumulation auf psychologischer Basis. Geschichte der Menschheit. 313 Das durch den Widerspruch, sei er logisch oder ethisch, hervorgerufene Mißbehagen ist einer der psychologischen Faktoren, die hier in Betracht kommen; die Fähigkeit des vernünftigen Denkens ist ein zweiter. Es ist nun eine Folge des zweiten Faktors, daß jener erste, das Mißbehagen, dauernd abnimmt oder sich wenigstens ändert, indem jedes Teilresultat des logischen Reinigungsprozesses die Auf- stellung neuer Probleme mit sich bringt. Die Zahl solcher Probleme kann allmählich absolut kleiner werden und es ist ein idealer Zustand denkbar, auf dem es weder logische noch ethische „Probleme" mehr gibt, sondern nur „Resultate" — freilich kann der menschliche Geist zur Erreichung dieses Zieles schwerlich als de facto geeignet angesehen werden. Die Geschichte derjenigen Wissen- schaften, welche ganz oder hauptsächlich aprioristisch sind, zeigt uns diesen Prozeß der Befreiung vom Widerspruch besonders klar; so z. B. die Mechanik, die Thermodynamik, die Theorie der Materie: Ein gewisses Resultat ist erreicht; viel scheint gewonnen, aber plötzlich tritt eine andere Gruppe von Tatsachen in den Vordergrund, die vorher unbekannt gewesen oder vernachlässigt worden war; das erste Resultat muß verändert oder erweitert werden; viele Probleme zweiter Ordnung erscheinen; sie widersprechen sich scheinbar zum Teil; die Widersprüche werden gehoben durch eine Änderung an dem Resultat, das anfangs für fundamental gehalten war; und so geht es weiter. Und ganz dasselbe gilt für moralische Probleme, obschon die Schwierigkeiten hier viel größer sind, da es an einem klaren und ausgeprägten Maßstab für das, was gut und schlecht ist, fehlt, oder wenigstens in diesen Fragen keine Überein- stimmung herrscht; aber über gewisse Einzelpunkte gibt es wohl auch hier allgemeine Zustimmung: Sklaverei z. B. würde heutzutage wohl kaum Fürsprecher finden und es gibt noch einige andere ethische Dinge, die als Ideale wenigstens der großen Mehrzahl moralistischer Denker gelten. Aber um wahre „Entwicklung" handelt es sich bei all diesen Fragen nicht, und so zweifle ich denn in der Tat, 314 Geschichte der Menschheit. ob eine wirkliche Entwicklung der Menschheit im H e g e 1 - sehen Sinne gegenwärtig beweisbar ist. Der Prozeß der Befreiung von logischen und moralischen Widersprüchen kann nämlich im Prinzip in einem Individuum zu seinem Ende kommen; das ist wenigstens möglich. Oder er könnte doch zu Ende kommen in, sagen wir, sechs bis zehn Generationen. Und andrerseits ist, zum Schaden für die Menschheit, durchaus keine Garantie da, daß ein erreichtes Resultat nicht wieder verloren geht und ein zweites Mal erworben werden muß. Dieses alles zeigt, daß, was Hegel für Entwicklung hielt, nur eine Kumulations- erscheinung ist. Es gibt vielleicht wirklich nichts Evo- lutionistisches, das sich auf die Generationen der Menschheit als solche bezöge. Wenigstens ist nichts in diesem Sinne sicher erwiesen1). Man mag meine Anschauung pessimistisch nennen, und zwar vielleicht mit Recht, soweit die Gesamtheit menschlicher Wesen als solche in Frage kommt. Aber, sei sie nun pessimistisch oder nicht, wir haben es eben mit einem rein wissenschaftlichen Problem zu tun ; wir studieren die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit gewisser problematischer Dinge, und wenn wir uns dessen streng bewußt bleiben, so müssen wir sagen, daß eine wirkliche logische und moraüsche Entwicklung der Menschheit durchaus nicht durch das, was wir wissen, gestützt wird. Es gibt einen Prozeß logischer und ethischer Vervollkommnung, aber dieser Prozeß ist nicht ,, einer", ist nicht ein „Ganzes"; er ist nicht verknüpft mit der einen und einzigen Reihe der menschheitshistorischen Fakten auf der Erde, sondern nur jedesmal mit wenigen Generationen, ja sogar, wenigstens prinzipiell, mit einem Individuum. Und ferner ist dieser Prozeß um nichts weniger eine „Kumulation" als jede andere Art von sogenanntem „Fortschritt" in der Geschichte. ') Die endliche Größe der Erdoberfläche läßt ein gewisses Endstadium der menschlichen Zivilisation in Zukunft erwarten; aber es würde hier die Größe der Oberfläche sein, welche dieses End- stadium bestimmt, und nicht der Zivilisationsprozeß als solcher. Geschichte der Menschheit. 315 Die mittelalterlichen Philosophen haben in der Tat die Menschheitsgeschichte oft als eine Entwicklungseinheit angesehen, die mit der Schöpfung beginnen und mit dem Tage des jüngsten Gerichts enden sollte; aber, mir scheint, nicht einmal von diesem Standpunkt kirchlicher Ortho- doxie aus muß Geschichte mit Notwendigkeit eine ,, Ent- wicklung" sein. Auch von ihm aus könnten doch die Wege, welche die einzelnen Individuen oder die einzelnen Zweige des Menschengeschlechts zur Erlösung führen, als jeweils selbständige Geschehensreihen aufgefaßt werden. So hält denn also Hegels Lehre von einer „Ent- wicklung" der Menschheit der Kritik nicht stand. Ganz gewiß war es ein großes Verdienst Hegels, nachdrücklich darauf hinzuweisen, das gewisse Gebiete historischen Ge- schehens in sich selbst einen Anstoß zur Vervollkommung tragen und daß das gerade die Gebiete höchster Kultur sind; aber trotzdem hat er uns nur eine gewisse typische Sonderart von Kumulation kennen gelehrt und keine ,, Entwicklung". Wir mögen sagen, daß das eigentliche Gewicht der Geschichte in dieser Art von Kumulationen, von „Pseudo- Entwicklung", liegt; und wenn wir ethische Metaphysiker werden wollen, mögen wir hinzufügen, daß der Sinn des Menschenlebens in der Möglichkeit dieser Kumulationen liegt — die indische Philosophie lehrt das, und in gewissem Sinne auch die christliche. Aber selbst wenn wir in dieser Weise unsere wissenschaftliche Basis verlassen würden, würden wir nicht das Bereich historischer Kumulationen verlassen. Natürlich soll mit allem hier Erörterten nicht gesagt sein, daß niemals ein wahres Entwicklungs- element in der Menschheitsgeschichte entdeckt werden w i r d , sei es z. B. in der Sphäre des sogenannten „Unter- bewußten". Aber gegenwärtig kennen wir ein solches Element ganz gewiß nicht. Würde es einmal bekannt werden, so würden seine Äußerungen sicherlich von den 316 Geschichte der Menschheit. Äußerungen psychologischer Kumulationen gleichsam über- lagert sein ; daraus könnten der Wissenschaft sehr bedeut- same Fragestellungen erwachsen. Das Problem des „Einzelnen". Wenn Geschichte sich nicht als echte Entwicklung erwies und wenn sie uns andrerseits eine große Zahl ver- schiedenartiger Kumulationen zeigt, die einen von großer, die anderen von geringer Bedeutung : was für eine Bedeutung bleibt dann für das einzelne historische Ereignis in seiner Einzelheit und Einzigkeit übrig ? Was für eine Bedeutung kann die Beschreibung eines solchen Ereignisses für unsere letzten Absichten haben ? Bis jetzt können wir sicherlich nicht sagen, daß ihr für sich genommen irgend eine mehr als vorbereitende Bedeutung zukommt. Der historische Prozeß als Ganzes hat sich nicht als wirkliche elementare Einheit dargestellt — wenigstens so weit wir heute zu urteilen imstande sind — und die Einheiten, welche es wirklich in ihm gibt, haben sich nur für die Psychologie des Individuums aber nicht als ,, Geschichte" bedeutsam erwiesen. Geschichte bot uns nur Beispiele dar von dem, was jeder Psychologe bereits aus seiner eigenen Erfahrung entweder kannte oder doch hätte kennen können, wenn er seine Aufgabe soweit wie möglich abgesteckt hätte. Gibt es nun keinen anderen Gesichtspunkt, unter dem wahre ,, Geschichte" ihre Bedeutung bewahren könnte, allem hier Dargelegten zum Trotz ? Oder kann Geschichte vielleicht doch bei einer anderen, neuen Betrachtungsweise noch für die Philosophie gerettet werden? Man hat in der Tat eine solche neue Betrachtungs- weise einzuführen versucht und Ricker t1) insbesondere hat, im Anschluß an rein logische Betrachtungen Windel- band s2), mit großem Nachdruck betont, daß Geschichte *) Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Tübingen und Leipzig 1902. 2) Geschichte und Naturwissenschaft, 3. Aufl. 1904. Geschichte der Menschheit. 317 von der größten philosophischen Bedeutung sein könne, obwohl sie es nicht wie die Naturwissenschaften mit All- gemeinem, sondern mit dem Einzelnen in seiner Einzigkeit zu tun habe. R i c k e r t hat keine sehr hohe Meinung von „historischen Gesetzen", welche vielmehr nur Ent- lehnungen und Anwendungen aus der Psychologie oder Biologie seien und den Charakter der Geschichte als „Ge- schichte" gar nicht träfen. Wir stimmen dieser Auffassung in erheblichem Grade bei. Aber was ist es denn nun eigent- lich mit der Geschichte als „Geschichte", was hat es auf sich mit dem Einzelnen in seiner Einzigkeit ? Sagen wir zunächst einiges über diesen Begriff „Einzeln", den wir schon so oft anwandten. Im tiefsten Sinne des Wortes ist natürlich die Abfolge der aktuellen Empfindungen oder „Präsentationen" das „Einzelne", welches jedem Menschen und daher auch dem Geschichts- schreiber „historisch" gegeben ist, und Rickert basiert in der Tat seinen Begriff der Geschichte in hohem Maße auf diesem ursprünglichen Charakter der einzelnen Ge- gebenheit. Das Wort „einzeln" bezieht sich nach seiner Auffassung auf die wahre aktuelle Spezifizierung jedes Ereignisses oder jeder Gruppe von Ereignissen, mit Rück- sicht auf gegebene Zeit und gegebenen Ort; ein jedes solche Ereignis ist nur sich selbst gleich und kann gar nicht wieder- holt werden ohne seine Identität zu verlieren. Wird der Gegenstand der Geschichte so gefaßt, dann gibt es in der Tat „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", eben in Hinblick auf Geschichte; denn die Naturwissen- schaften haben mit dem Einzelnen in solcher Bedeutung des Wortes, anders gesagt: mit „Individualbegriffen", nichts zu tun ; ja, sie sind erfunden, ihre Be- griffe sind vom Denken gesetzt, um dieses Einzelne zu überwinden! Rickert sagt einmal, daß Geschichte als reine „Entwicklung", d. h. als eine Totalität höherer Ordnung, aufhören würde, wahre „Geschichte" zu sein. Und er sagt das mit Recht. Geschichte würde in der Tat sofort den 318 Geschichte der Menschheit. Charakter eines spezifischen Bezogenseins auf gegebenen Ort und gegebene Zeit verlieren, und ihre Nichtwieder- holbarkeit dazu — in logischem Sinne wenigstens — wenn sie e i n e E i n h e i t darstellte. Sobald sie das täte, würde sie logisch etwas Allgemeines, nämlich e i n Natur- element geworden sein, trotz ihrer faktischen Einmaligkeit. Aber Geschichte braucht keine Entwicklung zu sein, sagt Rickert; und wir fügen dem bei, daß sie das, soweit wir zurzeit wissen, auch gar nicht ist. Aber was für eine Bedeutung weist nun Rickert seiner spezifischen und unwiederholbar einzigartigen Ge- schichte zu? Geschichte hat eine besondere Art von Logik, so führte er aus; ihr Schema ist nicht der Syllogismus, sondern die Beziehung auf ,,W e r t e". Soweit als die einzelnen geschichtlichen Fakten auf Werte bezogen werden können, sind sie von ,, historischer" Bedeutung, und auf diese Weise allein wird die eigentliche Geschichte in sich selbst und durch sich selbst bedeutsam. „Muß Geschichte immer ihr „geschichtliches" Aussehen einbüßen, um bedeut- sam für menschliche Erkenntnis zu werden?" — so fragten wir, als wir die allgemeinen logischen Typen der Entwicklung und der Kumulation betrachteten. Es könnte fast scheinen, als ob wir jetzt die Antwort auf unsere Frage bereit hätten, und zwar als ein klares und einfaches: „Nein." Nach Rickert wenigstens scheint die Menschheitsgeschichte in sich selbst bedeutsam zu sein, ohne Erborgungen aus anderen Wissenschaften. Aber ist R i c k e r t s Darlegung zwingend und über- zeugend? Hat er wirklich Erfolg gehabt mit seiner über bloße Methodologie hinausgehende Absicht, der Geschichte im strengsten Wortsinne eine Bedeutung für die Philo- sophie, für die Weltanschauung, zuzusprechen, derart, daß Geschichte mit Recht ihren Platz neben echter Wissenschaft einnehmen kann ? Die Beziehung auf „Werte" soll keine Art von „Be- wertung" einschließen, sagt uns Rickert. Und, in der Geschichte der Menschheit. 319 Tat, keine Geschichtsschreibung auf moralisierender Basis würde wohl den Leser befriedigen. Jeder Leser bewertet natürlich historische Fakten gemäß seiner Eigenart, aber leider unterscheidet sich jedes Lesers Bewertungsart von derjenigen beinahe aller seiner Mitmenschen. Es gibt in ethischen Dingen eben keine Einheitlichkeit der Prinzipien, wie es sie etwa in geometrischen Dingen gibt. Hierauf kommen wir noch zurück. Fürs erste geben wir nur Rickert vollkommen Recht in seiner Bemerkung, daß moralische Bewertung nie die Grundlage der Geschichte sein kann; es genügt, die Namen Tolstoy und Nietzsche zusammen zu nennen, um einzusehen, wie durchaus eine auf ethische Prinzipien gegründete Geschichts- schreibung selbst des allergeringsten Grades von Allgemein- gültigkeit ermangeln würde. Aber wie steht es denn mit den ,, Werten", auf welche nach Rickert Geschichte bezogen werden soll, nachdem ethische Werte im wahren Sinne des Wortes ausgeschlossen sind ? Hier beginnen R i c k e r t s Darlegungen, denen wir bisher im wesentlichen beipflichten konnten, dunkel und unbefriedigend zu werden, und wir können wohl ver- stehen, warum. Er will etwas Unmögliches zu leisten unternehmen; er will „ Geschichte" dem philosophi- schen Range nach neben Wissenschaft stellen, obwohl denn doch wahrlich alles fehlt, um solches Unter- nehmen berechtigt erscheinen zu lassen. Sind jene ,, Werte", auf welche jedes historische Er- eignis in seiner Einzigkeit bezogen werden soll, um ein Element wahrer „Geschichte" zu werden, vielleicht nichts weiter als jene Gruppen zivilisatorischer Produkte, welche tatsächlich das Interesse der Menschen in Anspruch nehmen? Sollen „historische" Fakten auf nichts anderes bezogen werden als auf solche Gruppen von Kulturphäno- menen wie Kunst, Wissenschaft, Staat, Religion, Krieg, Volkswirtschaft ? In der Tat, soweit ich unseren Autor verstehe, handelt es sich wirklich um nichts weiter als um diese oder um andere weniger bedeutsame Gruppen von 320 Geschichte der Menschheit. ,, Kumulationen" : — um in unserer Terminologie zu sprechen ; auf sie soll die Handlung eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen „ bezogen" sein, um „ historische" Bedeutung zu erlangen. Aber was heißt das ? Ist die Beziehung auf solche ,, Werte" wirklich hinreichend, um der Geschichte eine philosophische Bedeutung beizulegen, wie die Naturwissen- schaften sie besitzen ? Zunächst einmal gibt es in bezug auf diese „Werte" keine größere Übereinstimmung, als es sie auf ethischem Gebiete gab. Man denke sich einmal, daß ein religiös tief veranlagter Mensch Geschichte schreibt: Da wird wohl wenig oder nichts von Kriegern und Politikern darin vor- kommen. Krieger und Politiker würden einem solchen Manne nicht in i r g e n d einem Sinne Träger von ,, Werten", sie würden ihm, wenn er einen sehr hohen Standpunkt ein- nimmt, gleichgültig sein1). Und wir wissen, daß es andere gibt, denen diese Produkte der Zivilisation hohes gelten. Rickert bemerkt selbst sehr wohl, daß ein sehr ernster Einwurf gegen seine Lehre möglich ist: der Charakter des Allgemeingültigen 2) fehlt seiner Geschichte, oder vielmehr den ,, Werten", die ihre Basis bilden; denn es gibt tat- sächlich nicht einen Consensus omnium mit Rücksicht auf diese Werte. Ich bin ganz überzeugt, daß Rickert recht hat, die wahre „Geschichte" als die Kenntnis der ein- zelnen Akte der Menschheit aufzufassen. Aber diese Auffassung beweist in Hinsicht der philosophischen Rang- stellung der Geschichte gerade das Gegenteil dessen, was Rickert zu beweisen hoffte. Denn Geschichte in diesem Sinne wird nach nichts anderem geformt, als nach *) Freilich würde ihm nach unserer Ansicht der Krieg einen negativen „Wert" — das Wort hier ethisch verstanden — dar- stellen müssen. Aber selbst das ist, leider, wieder — „unsere"' Ansicht. 2) Das Wort „Allgemeingültigkeit" soll hier ganz anspruchslos und gleichsam populär, nicht streng epistemologisch verstanden werden. Geschichte der Menschheit. 321 den tatsächlichen Produkten der Kultur, d. h. nach den Wirkungen, welche tatsächlich als Gruppen kultureller Prozesse existieren, und sie kann nach gar nichts anderem geformt werden. Der einzelne Ge- schieh tschreiber aber verknüpft jedes M a 1 ,,G eschichte" mit dem, was ihn per- sönlich interessiert. Hier haben wir nun endlich das bedenkliche Wort: Geschichte muß im „Interessanten" endigen! Es gibt nicht so etwas wie wirkliche ,, Werte" in irgend einem Sinne, die ihre Grundlage bildeten. DasWort „Wert" sollte daher lieber ersetzt werden durch den Ausdruck „Interessezentru m" — eine Briefmarkensammlung oder irgend ein Verein kann so ein Interessezentrum sein. Geschichte also, als Kenntnis der kulturellen Einzelheiten, ist „interessant", und ihre Art ändert sich mit dem „Interesse" des Geschichtschreibers: es gibt keine allgemein angenommene Grundlage der Geschichte1). Und so folgt denn, daß Geschichte im strengen Sinne in der Auffassung von R i c k e r t kein Weg ist, der zur Philosophie führt. Geschichte kann2) von Nutzen sein für die persönliche Erbauung oder für das praktische Leben ; ersteres sobald ihre „Interessezentren" irgend eine ethische Färbung haben, in welchem Falle ihre Wirkung freilich x) Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei hier ausdrücklich betont, daß nach Rickert die Methode der Geschichtsforschung als durchaus frei von subjektivem Interesse angesehen wird, sobald ihre „Werte" einmal aufgestellt sind. Aber das kann nicht dazu beitragen, die Geschichte zu retten. 2) Dieses ist eine sehr optimistische Auffassung der Geschichte. Persönlich scheint mir sogar ihre emotionale und praktische Be- deutung dadurch verringert zu werden, daß alle „historischen" Erwägungen — in der Wissenschaft und Kunst sowohl, wie im öffentlichen Leben — retardierend zu wirken pflegen. Aller wirk- licher Fortschritt ist nicht- „historistisch", und seine Vorkämpfer sind meist Märtyrer geworden. Das empfiehlt Geschichte als Er- ziehungsmittel nur für starke Charaktere. Drieeoh, Philosophie. I. 21 322 Geschichte der Menschheit. auch in der Weckung gefühlsmäßigen Widerspruchs bestehen kann, letzteres soweit sie, sei es unmittelbar oder analogien- haft, von tatsächlicher Wichtigkeit für das aktuelle Leben sind. Dazu kommt die Wirkung, welche Geschichtschreibung als literarisches Kunstwerk ausüben kann. Aber man mag aus der Geschichte selbst die größten Persönlichkeiten streichen — die Weltanschauung, die Philo- sophie würde dadurch nicht berührt, oder doch höchstens insoweit, als jene Persönlichkeiten selbst zu ihrem Ausbau beitrugen. Von einer philosophischen Gleich- wertigkeit der Geschichte mit der Naturwissenschaft ist also gar keine Rede. Und ebensowenig kann die Rede sein davon, daß R i c k e r t eine wirkliche logische Sonder- methode der „Kulturwissenschaften" aufgedeckt hätte. Man darf nicht Vorarbeit zu wirklicher Wissenschaft als eine Sache für sich ausgeben. Daß Geschichte, so wie sie wirklich betrieben zu werden pflegt, eine andere logische Struktur habe als wirkliche Naturwissenschaft, dieser rein methodologischen An- gelegenheit war von Windelband mit Hilfe der neu eingeführten Begriffe „nomothetisch" und ,,idiographisch" in der Tat ein sehr passender Ausdruck verliehen worden 1). Soweit R i c k e r t diesen Gesichtspunkt Windelbands weiter ausführt, hat auch er sicherlich recht; aber unrecht hat er, wenn er von einer philosophischen Gleich- wertigkeit von Naturforschung und Geschichte redet — und noch viel mehr hat er unrecht in seiner oft hervor- tretenden Mißachtung der Naturwissenschaft. Ganz besonders der Beachtung wert ist endlich noch folgendes : Selbst wenn es allgemein angenommene „Werte" gäbe, würde Geschichte als Lehre vom Einzelnen :) Leider hat Windelband selbst später (Kuno Fische r- Festschrift) seine Begriffe zugunsten des Ri ck er t sehen Begriffs- paares „Natur-" und „Kulturwissenschaft" aufgegeben. Dieses Begriffspaar trifft nämlich das Wesentliche an der Sache nicht: historische Geologie ist z. B. ganz sicher „idiographisch", ist aber nicht „Kulturwissenschaft". Geschichte der Menschheit. 323 philosophischer Bedeutung bar sein. Ihre Einzelheiten wären dann ja nur Beispiele für gewisse Typen von Handlungen und Begebenheiten, deren Beziehung auf einen „Wert", d. h. auf ein Interessezentrum, vorher schon ausgemacht war. Rickert hat richtig erkannt, daß die Beziehung auf hypothetische allgemeingültige moralische Werte die Geschichte unhistorisch machen würde, denn die Allgemeinheiten, auf welche bezogen würde, wären in diesem Falle die Hauptsache. Er bemerkte aber, soviel ich sehe, nicht, daß Geschichte bei jeder Art von Be- ziehung auf irgendwelche allgemein aner- kannten ,, Werte" in demselben Grade unhistorisch werden würde: denn die in diesen ,, Werten" oder Interesse- zentren ausgedrückten Allgemeinheiten würden eben in diesem Falle auch die Hauptsache sein. Es gibt wirklich keinen Ausweg aus dem Dilemma: entweder keine allgemein anerkannten Interessezentren und daher eine nur subjektive Bedeutung der Geschicht- schreibung, oder allgemein anerkannte ,, Werte" und daher Geschichte — eine Beispielsammlung. Die ,, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffs- bildung" decken sich also mit den Grenzen wissenschaft- licher Begriffe überhaupt. Denn nur intellektuelle oder logische ,, Werte" sind Interessezentren von allgemeiner Gültigkeit. Es gibt nun in der Tat eine andere Gruppe wichtiger Begriffe, diejenigen der Ethik, aber sie liegen nicht im Bereich des Intellektuellen und gehören zur Philo- sophie — ■ bis jetzt wenigstens — nur als Probleme, nicht als Resultate. Daher hätte Geschichte selbst in ihrer Be- ziehung auf Ethisches heute keine Bedeutung für eine wahrhaft strenge Philosophie. Philosophisch bleibt Ge- schichte zurzeit eine Summe von Zufälligkeiten, in deren Bereich gewisse kumulative Reihen und Gesetze ermittelt werden können. Aber diese Reihen und Gesetze sind, wissenschaftlich- genommen, nur Beispiele psychologischen Elementargeschehens. Sie könnten auch Beispiele primärer ethischer Zustände und Beziehungen sein, wenn solche 21* 324 Geschichte der Menschheit. in einer nicht nur subjektiv und persönlich gültigen Form vorlägen, was zurzeit nicht der Fall ist. Beispiele für ein Allgemeines blieben sie auch dann. Freilich glauben wir an ein Evolutives im Bereiche geschichtlichen Geschehens; damit wird uns denn doch, wenigstens hypothetisch, Geschichte zu einer Grund- Wissenschaft, aber nicht im Sinne Rickerts. Schlußfolgerungen aus der Systematik und Geschichte im allgemeinen. Wir haben jetzt unsere Analyse der menschlichen Geschichte beendet, des einzigen Beispieles eines historischen biologischen Prozesses, dessen Existenz wir wirklich kennen und nicht nur hypothetisch annehmen. Was uns diese Analyse gelehrt hat, ist zwar für sich genommen wichtig, hat uns aber keine neuen Resultate für die theoretische Biologie geliefert. Die Geschichte der Menschheit ist gegenwärtig nur insofern von philosophischer Bedeutung, als sie Beispiele für die Psychologie liefert ; außerdem ist sie von Wichtigkeit für viele Lagen des praktischen und gemütlichen Lebens. Es gibt nur eine Wissenschaft und nur eine Art von Logik. ,,In one sense the only science" — so nannte Lord G i f f o r d die Naturwissenschaften, "wie Sie sich von unseren Eingangsbetrachtungen her erinnern werden. Es ist nicht ohne Interesse zu beachten, daß wir jetzt, am Ende der ersten Hälfte unserer Vorlesungen Gelegenheit haben einzusehen, auf welch tiefer Einsicht in logische und philo- sophische Dinge dieser Ausdruck sich gründete. Wir verlassen nun die Theorie der Menschheits- geschichte, die uns ja nur ein Zweig der biologischen Phylo- genie überhaupt war. Wir haben sie studiert von einem ganz einfachen realistischen Gesichtspunkt aus, ohne epistemologische Skrupel. Wir haben psychische Zustände als Realitäten betrachtet, ganz als wären sie Teile eines tierischen Körpers; und wir durften das tun, denn nur Geschichte in Bezug auf das menschlichen Handeln 326 Schlußfolgerungen aus der Systematik usw. war unser Gegenstand, nicht die menschlichen Handlungen selbst. Alsbald werden wir nun das Studium der Handlung als Handlung beginnen, und dann freilich werden wir nichts nötiger haben als eine wohlbegründete Epistemologie, und auch die Geschichte der Menschheit wird alsdann noch einmal ein Problem für uns werden. Das Hauptresultat unserer letzten, der Systematik, der Deszendenztheorie und der menschlichen Geschichte in Sonderheit gewidmeten Kapitel ist dieses, daß keine für künftige philosophische Erörterungen wirklich fruchtbaren Schlußfolgerungen sich bis jetzt aus diesen Gegenständen des Wissens gewinnen lassen; entweder ist unsere Kenntnis zu gering, oder es handelt sich nur um Kombinationen natürlicher Elementardaten, aber nicht um Elementardaten von neuer Art. Fassen wir noch einmal zusammen: Wir erhofften ein rationelles System von der Biologie der Zukunft, aber wir konnten uns nicht rühmen, ein solches System schon zu besitzen. Wir vermuteten, daß der Transformismus sich einst als wahre Evolution erweisen möchte, beherrscht von einem immanenten Prinzip, welches alsdann ein wahrer neuer elementarer Naturfaktor sein würde ; aber wir wußten absolut nichts über ein solches Prinzip. Die Menschheits- geschichte endlich, d. h. der einzige historische Lebensprozeß, von dessen Tatsächlichkeit wir wenigstens sicher wissen, konnte uns nichts lehren, was von elementarem Charakter wäre; denn die Menschheitsgeschichte kann, gegenwärtig wenigstens, nicht als wahre Evolution gelten, sondern nur als eine Summe von Kumulationen, und die Einzelheiten dieser Geschichte, für sich genommen, waren nur von prak- tischem oder emotionalem Interesse. So haben wir denn also elementare Prinzipien der Biologie bis jetzt nur aus dem Studium des lebenden Individuums gewonnen, die Analyse der Formbildung und Vererbung des Individuums hat uns den Begriff der Entel- echie, das Hauptergebnis dieser ersten Hälfte unserer Vorlesungen, geliefert. Im Beginne ihrer zweiten Hälfte Schlußfolgerungen aus der Systematik usw. 327 werden wir weitere Beweise für die Autonomie des indivi- duellen Lebens beizubringen imstande sein; der Beginn dieser zweiten Hälfte wird uns in der Tat erst ganz voll zum Bewußtsein bringen, was das lebende Individuum ist und was es nicht ist; erst dann wird die eigentliche Philo- sophie des Organischen, welche ganz vorwiegend die Philo- sophie des Individuums ist, uns in dem bei weitem größeren Teile der zweiten Hälfte unserer Vorlesungen in Anspruch nehmen. Schluß von Band I. Eegister zum I. Bande. Absolut 5. Adiantum 280. Adventiv 55. 74. 84. 111. 121. 225. Aequifinalität 160 ff. Aequipotentiell 83. Akklimatisation 194. 199. Allelomorph 235. Allgemeingültigkeit 149. 320. Amphibische Pflanzen 173 f. Angepaßtsein 179. 187. 211. 282. Anneliden 64. 70. 226 f. Anpassung an Äußeres 173 ff. — Definition 167. — funktionelle 177 ff. 203. — und Lamarekismus 273 f. — mechanische 178 f. — morphologische 169 ff. — physiologische 185 ff. — primäre und sekundäre 189 f. Antikörper 212f. Antitoxin 211 f. Antwortsreaktion 182. Apriori 7. 249. Aristoteles 145. Ascaris 93. Aspergillus 198. Assimilation 201. Atrophie 179. Aufzählung 301 f. Autonomie des Lebens 144. 228 ff. 238. 244 f. Babäk 178. Baer, C. E. v. 47 f. 282. Bastarde 232 ff. 239 f. Bateson 233. 235. 243 Bayliss 208. 216. Bedingungen 89 ff. 102 Befruchtung 31 f. 34. Begonia 225. Bergson 306. Berkeley 6. Berthold 91. Beschreibung 49 f. Bewegungen, organische 18. Biganski 185. Biogenetisches Grundgesetz 252. Biologie 10 ff. 119. Blaringhem 243. 277. Blastoderm 39. Blastomeren 36. 79. 149. Blastula 37. 60. 79. Blumenbach 26. Bois-fteymond, E. du 259. Boirivant 176. Boldyreff 208. Bonnet 26. Bosch 158. Boveri 59. 95. 239. 241. Buckle 309. 311. Bütschli 91. 239. Bunge, v. 185. 214. 252. Calcium 97. Calkins 33. Cambium 121. 155. 224. 229. Chemische Systematik 248. Chemische Theorie (der Form- bildung) 134 ff. Child, C. M. 105. 181. Register zum I. Bande. 329 Ohromatin 28. Chromosomen 28. 241. Chun 66. Clavellina 130f. 135. 163. 227. Cohnheim, 0. 185. 200. 208. Conklin 86. Cope 274. Gorrens 232. Crampton 70 f. Ctenophoren 66. Cuvier 251. Darwin, Ch. 261ff. 284. 287. 290 f. Darwinismus 261 ff. 284. 287. 290 f. 305. Davenport 194. 209. Delage 32. Deszendenztheorie 222. 253ff. 257. Detto 173. Doneaster 236. Dreyer 92. Druckversuche 63. Echinus 27 ff. 59 ff. 81. 85. 108. 155. 239. Ehrlich 212. Ei 31. 33. Eierstock 228 ff. Eigenfunktion 192. Eimer 293. Eindeutigkeit 162. Einzelne, Das 316 ff. Eiweiß 202 ff. Ektbderm 40. 81. 108. 123 f. Elementarorgan 46. 122. 137. — prozeß 45. Elemente der Natur 143. Embryo 44. Embryonale Zellen 183. Endoderm 40. 81. 108. Entelechie 145. 228 ff. 295 f. Entwicklung 302. 312ff. 317. Entwicklungsmechanik 20. 57. 245. Entzündung 210. Enzyme 206. Epigenesis 26. 44f. 54. 71. 103. 146. 302. Erfahrung 154. 216. 222. Erklären 50. 93. 305. Erworbene Eigenschaften 221 f. 276 ff. Eschenhagen 196. Evolutio 45. Evolution 26. 44 f. 54. 62 f. 71. 103. 146. 257. 302. 306. 312 ff. Experiment 56 f. Explizite Potenz 83 f. Farbenregulationen 200. Fermente 206. Fichte 308. Fieber 196. Fischer 279. Fitting 116. 158. Foges 107. Form, geschlossene oder offene 48. — organische, spezifische 16 f. 19ff. Forma accidentalis 293 ff. — essentialis 293 ff. Formative Reize 99 ff. 113. 119. 122. 133. 169. Fortschritt 306. France 159. 243. Fredericq 199. Fröhlich 185. Fromm 209. Froschembryo 58 f. 64 f. 67. Funktion (mathem.) 80. 121. — (physiolog.) 167. 171. 177ff. 191 f. Furchung 35 f. 53. 58. 60. 62 f. Gaidukow 200. Gallardo 153. Gallen 101. Galton 232. 242. Gamble und Keeble 201. 330 Register zum I. Bande. Ganze, Das 28. 80. 109. 117 f. 192. 224f. 236. 285. 302. 314. Ganzembryo 60. 95. Gastrula 40. 60. 81. Gautier 243. Gedächtnis 220 ff. Geographische Verbreitung 256. Geschichte 14. 259. 295. 298 ff. — der Menschheit 307 ff. Geschlecht 106 f. 241. Gewebe 37 f. Gifford Lord lff. 325. Gifte 209 ff. Godlewski 105. 155. 239. Goebel 116. Goethe 18. 251. Goette 47. 56. 218. Goltz 182. Grenzen der Regulierbarkeit 216. Gruber 240. Haeckel 37. 40. Halb-Embryo 58. 65 f. Haidane 214. Haller, A. v. 26. Harmonie 107. 118. 157. 170. 207. 251. 296. Harmonische Funktion 192. Hartog 153. Hausmann 209. Hegel 308. 312ff. Herbst 97 ff. 102 ff. 107. 173. 204. 236 f. 239 f. Hering 220 ff. Hertwig, O. 59. 64. 239. - R. 31. 33. 59. 107. Heterotypie 225. His 56. 93. Holmes 181. flume 6. Hungerstoffwechsel 202 f. Hypertrophie 111. 114f. 184. Hypertypie 111. Idealismus 6. Immunität 194. 208 ff. Implizite Potenz 83 f. Indifferente Zellen 183 f. Jacoby 210. Jaeger 218. Jennings 222. 266. Johannssen 233. Kammerer 177. 184. 282. Kant 6f. 249. 258. Katalyse 165. Kategorien 6. Kausalität 99 ff. Kegelschnitte 247. Keimbahnen 219. — blätter 40. 43. — plasma 52 f. Kern der Zelle 28. — (Rolle bei Vererbung) 34. 237 ff. Kernteilung 28. 53f. 59. 62f. 71. King, H. D. 107. Kirchhoff 49. Klassifikation 249 f. Klebs96. 171. 181. 242f. 277.292. ' Koelliker 293. Kolloide 188. Kompensatorische Hypertrophie 111. 114f. Komplexe Potenzen 112. Konjugation (der Protisten) 33. Kontinuität des Keimplasmas 219 ff. 231 ff. Korrelation, Massen- 93. — der Teile 251. Korshinsky 243. Krasan 253. Krebs 105. 112. Küster 225. Kumulation 303 ff. 309 ff. 314f. Lamarck 272 ff. 291 f. Lamarekismus 272 ff. 291. 305. Lamprecht 309 ff. Larve 42 f. Leben 16. 21. Leibniz 6. Register zum I. Bande. 331 Liebmann 258. Lillie, R. S. 240. Linse (des Auges) 105. 133. 225. Lithium 98 f. Locke 6. Loeb, J. 31 f. 93. 102. 165. 199. 240. — L. 211. Lokalisation 101. 119 ff. 136. Lotzy 241. Lyon 88. Mac Dougal 243. 277. Maillard 198. Mannigfaltigkeit 25f. 30. 44. 71. — intensive 146. Maschine (Definition) 120. 140. Maschinentheorie des Lebens 139ff. 183. 230. Materialismus 284. Materientheorie 8. Mayenburg, v. 196. Mendel 232. Merrifield 201. Mesenchym 38 f. 41. 137. 152 ff. Metschnikoff 210 Miehe 116. Mikromeren 36. Mimicry 184. 289. Mimosa 193. 195. Minkiewicz 184. 201. Mittel, der Formbildung 89 ff. 102. 113. 119. 133. 170f. 180. 188. 232. 241. 296. Mivart 267. Modifikation 278. Molch, (Regeneration) 155 f. 269. Mollusken 70 f. 85 ff. Morgan, T. H. 31. 66f. 95. 106. 111. 114f. 131. 163. 233. Morphaesthesie 158 f. Morphogenesis 20. 90. Morphologie 12. Mutationen 241 f. 276 f. 292. Myxomyceten 153. Nägeli 263. 267. 293. Nathansohn 196 f. Natur 5. — gesetz 13. Natürliche Zuchtwahl 262 ff. Neger 159. Nemec 116. Neumeister 214. Newport 56. Noll 147 f. 158 f. Nomothetisch 14. 322. Nordhausen 159. Normal 63. 78. Nussbaum 107. Oberflächenspannung 91 ff. Organbildende Stoffe 117. Organisationsgesetz 292 f. Oszillarien 200. Osmotischer Druck 93. 197 ff. Overton 199. Oxydation 202. Palaeontologie 256. Parallelismus (psycko-physischer 148. 220 ff. Parthenogenese 31 f. Pauly 147. 221. 274f. 289. Pawlow 208. 214 ff. Pearl, R. 216. 242. Peter 152. Pfeffer 185. 197. 204. Pflanzen 47 f. 102 f. 112 f. 169 ff. 224 f. Pflüger 56. Phaenomen 5 f. Phagozytose 210. Philosophie der Natur 4. — des Organismus 15. 18. Phylogenie 51. 253. 257 f. 305 f. Physiologie 17. 50. — der Formbildung 20. 245. Pilze (Stoffwechsel) 198. 204 f. Planaria 131. 163. 203. Plato 2. 332 Register zum I. Bande. Pluteus 41. 61. 104. Polarität 106. Poulton 201. Praecipitine 211. Primäre Potenzen 84. 245. — Regulation 85. 111. 175. 208. — Zweckmäßigkeit 288. Prospektive Bedeutung 77 ff. 123. 132. — Potenz 77 ff. 89. 101. 119. 123. 126. 149. Protisten (Protozoen) 94. 131 f. 240. Protoplasma 28. 65. 91. — formbildende Rolle d. 66 ff. 87. Przibram 111. 252. Rädl 251. Rauber 56. 239. Regeneration 74. 84. 113 f. 121. 135. 155. 157. 225 ff. 245. Regulation 67. 73. 111. 166. — Definition 167. 189. Reifung 31. 85 f. Reinke 147. Reiz, formativer 99 ff. — von Restitutionen 113 ff. Reizbarkeit 193 f. Restitution 20. 73 f. HOff. 167. 180. 223 ff. — aequifinale 160 ff. — und Darwinismus 268 f. — und Lamarekismus 287. — zweiter Ordnung 159. Retina 193. Reziproke Harmonie 157. Rhumbler 93. Ribbert 115. 185. R.ichtungsreiz 104. Rickert 316 ff. Roux 47. 55. 57 ff. 60f. 65. 67. 76. 88. 92. 107. 162. 177 f. 245. Rubner 195. Rückdifferenzierung 164 f. Sachs 117. Sadebeck 280. Salamandra 176. Schilddrüse 207. Schneider 147. Schultz, E. 203. Schultze, O. 67. Schwendener 178. Seeigel (siehe Echinus) Seestern 43. 81. Segmentation 35 f. Sekretion, innere 203. — psychische 208. Sekundäre Potenz 84. 110 ff. — Regulation 85. 110 ff. 166, 175. 207. Selbstdifferenzierung 108. Selektive Eigenschaften (der Gewebe) 187. Semon 220 ff. Simon 225. Simmel 310. Siphoneen 158. Skelett 41. 44. 92. 97. 104. 152. Spaltung der Bastarde 233. Spezies 253. 306. Spemann 105. Spermatozoon (Spermie) 32 ff. Stahl 200. Standfuß 279. Starling 116. 208. 216. Stentor 132. Stereometrie 247. Stofftransport 196 ff. Stoffwechsel 17. 185 f. — Regulationen 201 ff. Struktur, des Protoplasmas 65 ff. 72. 88 f. 91. 136. Substanz, Lebende 17. Sumner 199. Superregeneration 115. Symmetrie 39 f. 42. 58. 65. 88 f. System, äquipotentielles 121. — komplex-äquipotentielles 154. 223 ff. 245. Register zum I. Bande. 333 System, gemisoht-äquipoten- tielles 155. — harmonisch-äquipotentielles 122 ff. 147. 149. — komplex-harmonisches 156. — morphogenetisches 120ff. 149. 164. 223 ff. Systematik 14. 17. 247 ff. 257. 259 f. 265. 268. 296. Taine 309. 311. Theologie, natürliche 1 ff. Thomson, J. A. 233. Thymus 207. Tischler 153. Toxine 211. Transformismus 257. Tschermak, A. 185. — E. 232. Tubularia 127 ff. 133. 149. 159 ff. Typus 47. 251. 292. Umdifferenzierung 74. 111. Unterbewußt 315. Ursache 99 ff. 170 ff. 180. Variation 241 f. 274 ff. 283 ff. — diskontinuierliche 243. 292. — fluktuierende 242. 265 ff. Verbesserung (der Formbildung) 216. Vererbung 20. 34. 52. 218 ff. — erworbener Eigenschaften 221 f. 276 ff. Vernon 242. Verstehen (historisch) 304. Vitalismus 144. 146 f. 162. 188. 213 f. 230. 238. 244 f. 274. 306. Vöchting 175. 180f. 225. Vries, de 232. 242 f. 292. Wachstum 30. 94. 113. Wärmebildung 195 f. Wahrheit 7. Wallace 293. Wanderzellen 152 ff. Ward, J. 8. Webersches Gesetz 193 f. Weinland 205. Weismann 33. 52ff. 58. 71. 74. 103. 111. 139. 153. 218f. 242. 278. Weldon 242. Werner 184. „Werte" 318 ff. Wigand 257. 266 f. 271. 293. Wrillenshandlung 274 f. Wilson, E. B. 27. 64. 70f. 86f. 107. Windelband 13. 316. 322. Wrinkler 116. 225. Winterstein 202. Wissenschaft 311. — rationelle 12. Wolff, C. F. 26. Wolff, G. 105. 147. 257. 264. 267. 288 f. Wolff, J. 178. Wurzel, Restitution der 163. Yung 178. Zeleny 111. 216. Zelle 27 ff. Zellfolgen 58. 69 f. — teilung 28 f. 58. 94 f. 153. — theorie 27 f. Zufall 222. 285 f. 288. Zur Strassen 93. :: YERLAG VON WILHELM ENGELMANN IN LEIPZIG :: Vorträge und Aufsätze über Entwickelungsmechanik der Organismen herausgegeben VOn 'D^D Wilhelm Roux Heft l: Die Entwickelungsmechanik, ein neuer Zweig der Mo- logischen Wissenschaft. Eine Ergänzung zu den Lehr- büchern der Entwickelungsgeschichte und Physiologie der Tiere. Nach einem Vortrag, gehalten in der ersten allge- meinen Sitzung der Versammlung deutscher Naturforscher und Arzte zu Breslau am 19. September 1904 von Wilhelm Roux. Mit 2 Tafeln und 1 Textfigur, gr. 8. Jl 5.— Heft 2: Über den chemischen Charakter des Befruchtungs- VOrgailges und seine Bedeutung für die Theorie der Lebens- erscheinungen von Jacques Loeb. gr. 8. Jl — .80 Heft 3: Anwendung elementarer Mathematik auf biologische Probleme. Nach Vorlesungen, gehalten an der Wiener Universität im Sommersemester 1907 von Hans Przibram. Mit G Figuren im Text. gr. 8. Jl 2.40 Heft 4: Über umkehrbare Entwickelungsprozesse und ihre Bedeutung für eine Theorie der Vererbung von Eugen Schultz, gr. 8. Jl 1.40 Heft 5: Über die zeitlichen Eigenschaften der Entwicklungs- vorgänge von Wolfgang Ostwald. Mit 43 Figuren im Text und auf 11 Tafeln, gr. 8. Jl 2.80 Heft 6: Über chemische Beeinflussung der Organismen durch einander. Vortrag, gehalten am 9. Dezember 1908 in der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle a. S. von Ernst Küster, gr. 8. Jl 1. — Heft 7 : Der Restitutionsreiz. Rede zur Eröffnung der Sektion für experimentelle Zoologie des 7. internationalen Zoologen- kongresses zu Boston von Hans Driesch. gr. 8. Jl 1. — Heft 8: Einige Gedanken über das Wesen und die Genese der Geschwülste. Vortrag, gehalten in der Gesellschaft zur Bekämpfung der Krebskrankheit, im Januar 1909, St. Petersburg von Priv.-Doz. Gustav Schlater. gr. 8. Jl 1.20 VERLAG VON WILHELM ENGELMANN IN LEIPZIG Mechanismus und Vitalismus in der Biologie des neunzehnten Jahrhunderts Ein geschichtlicher Versuch von Karl Braeunig gf. 8. Geheftet Jl 2.40 Selectionsprinzip und Probleme der Artbildung Ein Handbuch des Darwinismus von Dr. Ludwig Plate Professor an der Universität Jena == Dritte, sehr vermehrte Auflage ' Mit 60 Figuren im Text. gr. 8. Geh. Jl 12.—, in Leinen geb. Jl 13.— »Die neue Auflage dieses , Handbuches des Darwinismus' besitzt last den doppelten Um- fang der zweiten und dürfte in dieser erheblich bereicherten Abfassung reebt viele Freunde finden. Und zwar nicht nur welche in den Kreisen der Fachgelehrten (Zoologen und Botaniker), sondern auch ebenso zahlreiche unter den Gebildeten aller Stände, welche ein nicht bloß ober- flächliches Interesse an den biologischen Fragen und Problemen nehmen. Man kann dieses wegen seiner objektiven Darstellung unbedingt wertvolle Buch als einen Wegweiser durch das Labyrinth der darwinistischen Theorien und deren Diskussion in der Literatur ansehen, zumal letztere bereits kaum .;och überc bbar ist Ohne sich nun mit allen Argumentationen des Verfassers solidarisch erklären zu können, stehen wir doch nicht an, die neue Auflage seines Buches als einen der besten Kommentare zu bezeichnen, die in neuerer Zeit zur Lehre des großen englischen Forschers ge- schrieben worden sind. Erklärte Darwinisten sowohl wie auch strikte Gegner der Selektionstheorie werden Plate 's Schrift mit gleich großem Nutzen lesen.« (Prof. Dr. 0. Zacharias, Plön.) Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens von Richard Semon = Zweite, verbesserte Auflage = gr. 8. Geh. Jl 9. — , in Leinen geb. Jl 10. — Als erste Fortsetzung der Mneme ist erschienen: Die mnemischen Empfindungen von Richard Semon gr. 8. Geh. Jl 9. — ; in Leinen geb. Jl 10.—. Druck von Breitkopf & Härtel in Leipzig PHILOSOPHIE DES ORGANISCHEN GIFFOBD-VOBLESUNGEN, GEHALTEN AN DER UNIVERSITÄT ABERDEEN IN DEN JAHREN 1907-1908 VON HANS DRIESCH (HEIDELBERG) ZWEITER BAND LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1909 *>. »••iL $j8* 4 L3^'i ■ « >> . "2t IC *■<+< m m iL .x 38 *j *<**% V £** ■ i i n