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http://www.archive.org/details/platonischestudi00boni :
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PLATONISCHE STUDIEN H. BONITZ.
ZWEITE AUFLAGE.
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Seit Schleiermachers grundlegendem Werke über Platon haben vorzugsweise zwei Gegenstände wissen- schaftlicher Untersuchung die Platonischen Forscher be- schäftigt, nämlich die Aufgabe, aus dem gesammten, von unechten Zusätzen befreiten, nach der Zeitfolge ge- ordneten literarischen Nachlasse Platons das Bild seiner geistigen Eigenart in ihrem Entwicklungsgange herzu- stellen, und die damit verwandte aber nicht zusammen- fallende, den aus den einzelnen Dialogen zu ermit- telnden Gedankengehalt zum einheitlichen Systeme der Platonischen Philosophie zu verbinden. Über den hohen Zielen dieser weitgreifenden Untersuchungen darf jedoch eine einfache, eng begrenzte Aufgabe Platonischer For- schung nicht übersehen werden. Jeder einzelne Dialog Platons ist ein in sich abgeschlossenes Ganzes und stellt daher an den Leser zunächst die Forderung, ihn als solches, der Absicht des Verfassers entsprechend, aufzu- fassen; und dieser Forderung muss genügt sein, ehe wir das einzelne Werk als einen Zug zu dem Gesammtbilde
Platons, seinen Gedankengehalt als ein Moment für das
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Ganze des Platonischen Systems mit Sicherheit verwer- then können. Diese elementare Aufgabe rein für sich, abgetrennt von jenen weiter liegenden Zielen, an einigen der bedeutenderen Dialoge Platons zu behandeln, hatten mich vor längerer Zeit besonders zwei mit Recht hoch- geschätzte Werke veranlasst: Steinharts „Einleitungen zu Müllers Übersetzung der Platonischen Dialoge“ und Susemihls „Genetische Entwicklung der Platonischen Philosophie“. Denn so grofs und unbestritten das Ver- dienst dieser Werke für die, Platonischen Forschungen ist, so schienen mir dieselben doch durch die unmittel- bare Verbindung der engeren Aufgabe der Erklärung des einzelnen Dialogs mit seiner Einreihung in das Ge- sammtbild Platons, durch willkürliche Einmischung der eignen Reflexionen in die Darstellung des Gedanken- ganges des Schriftstellers, durch sinnreiche oder sinn- reich scheinende Deutungen von kleinen Einzelheiten der Dialoge u. ä. m.*) der sicheren Auffassung der einzelnen Dialoge nicht weniger Gefährdung als Förderung zu bringen. Diesem gegenüber versuchte ich in den bei- den Heften der „Platonischen Studien“ (Sitzungsberichte der phil.-hist. Cl. der kais. Wiener Akad. d. Wiss. 1858
*) Als Beleg für das hier ausgesprochene Urtheil hatte ich im Vorwort zur ersten Auflage einige mir charakteristisch scheinende Beispiele angeführt, welche für Susemihl Anlass zu einer ausführlichen Entgegnung (Genet. Ent- wickl. Bd. II, 2. S. VI-XIX) geworden sind. Ich stelle es den geneigten Le- sern anheim zu beurtheilen, ob durch dieselbe die Beweiskraft der von mir angeführten Beispiele erschüttert wird, unterlasse es aber sie zu wiederholen, da ich den Inhalt der Abhandlungen selbst für ausreichend halte das obige Urtheil zu rechtfertigen.
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und 1860, und daraus gleichzeitig in Separatabdrücken ausgegeben) an den Dialogen Gorgias, Theätetos, Euthy- demos, Sophistes zu zeigen, dass durch die strenge Unter- ordnung unter den von Platon eingeschlagenen Gedanken- gang und die von ihm selbst beabsichtigte und kenntlich genug bezeichnete Gliederung, die vollständige Resigna- tion auf die Einfügung eigner Erfindungen in den Gedan- kengang des Schriftstellers, kurz durch genaues Einhal- ten der Gesetze der Hermeneutik, welche für das Ganze von Schriftwerken nicht minder Geltung haben als für deren einzelne Sätze und Abschnitte, die Absicht des einzelnen Dialogs sich mit jener Annäherung an Evidenz bestimmen lasse, welche auf diesem Gebiete überhaupt erreichbar ist. Der von schätzbaren Seiten ausgespro- chenen Aufforderung zu einer neuen Auflage dieser bald nach ihrem Erscheinen vergriffenen Abhandlungen zu entsprechen war ich seit ein paar Jahren willens; aber die Ausführung der Absicht verzögerte sich, weil ich in der. Revision, durch welche eine neue Auflage ihr Erscheinen zu rechtfertigen hat, wiederholt durch an- dere Arbeiten unterbrochen wurde. Sollte in der jetzt erscheinenden, durchgängig revidirten Bearbeitung irgend eine bedeutendere Monographie übersehen sein, so wolle man dies freundlichst entschuldigen aus der Schwierig- keit, welche eine Vollständigkeit in dieser Beziehung
hat*), und aus dem Umstande, dass die Revision in weit
*) So ist mir die Abhandlung von Kreienbühl über Platons Theätetos, obgleich seit längerer Zeit bestellt, erst während des Druckes dieser Schrift zugegangen, so dass ich nicht mehr in der Lage war sie zu berücksichtigen.
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von einander getrennten Zeiten hergestellt ist. Dass ich auf Schaarschmidts Kritik der unter Platons Namen über- lieferten Schriften nicht überall, wo sich ein Anlass bot, eingegangen bin, ist absichtlich geschehen; ich glaubte, dass die beispielsweise Prüfung der Schaarschmidtschen Beweisführung in ein paar Fällen zur Charakteristik des
von ihm eingeschlagenen Verfahrens ausreichen würde.
Dem Wiederabdrucke der „Platonischen Studien“ habe ich einige Abhandlungen zur Erklärung anderer Platonischer Dialoge beigefügt, welche zum Theil bei verschiedenen Anlässen gedruckt, zum Theil noch un- gedruckt waren. Da die Zeit ihrer Abfassung oder ihres ersten Erscheinens sachlich gleichgiltig ist, so habe ich sie nach einer gewissen Verwandtschaft des Inhaltes ge- ordnet. Sie können als Fortsetzung der in der ersten ‚ Auflage dieser Studien enthaltenen Abhandlungen an- gesehen werden, indem sie dieselben Grundsätze der Er- klärung zur Geltung zu bringen suchen. Wenn in den- selben die Kritik anderer Auffassungen unterblieben oder nicht in gleichem Mafse ausgeführt ist wie in den er- steren Abhandlungen, so werden mir diese wol das Ver- trauen erworben haben, dass ich die abweichenden An- sichten in Erwägung gezogen habe. — Der Aufsatz über Euthyphron war bereits geschrieben, ehe die umsichtig abgefasste Einleitung in der Wohlrabschen Schulaus- gabe erschienen war; der Unterschied in dem Gesammt- ergebnis schien mir auch jetzt noch die Veröffentlichung
des Aufsatzes zu rechtfertigen.
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Drei von den neu hinzugefügten Abhandlungen be- ziehen sich auf die Erklärung von Dialogen Platons, welche in der Gymnasiallectüre vorzukommen pflegen. Der Dialog Protagoras, seinem Inhalte nach für Prima- ner eines Gymnasiums durchweg verständlich, seinem Umfange nach durch die Schullectüre in mäfsiger Zeit abzuschlielsen, ist in solchem Mafse charakteristisch für Platons dialogische Kunst und belehrend über Bildungs- zustände des Sokratischen Zeitalters, dass ich ihn nicht blofs „eventuell“, wie vor kurzem eine Directorencon- ferenz sich entschied, in den Kanon der Schullectüre aufnehmen, sondern es für ein Unrecht ansehen würde, dies Meisterwerk Platons den Schülern des Gymnasiums vorzuenthalten. Laches und Euthyphron sind schon seit längerer Zeit, und das mit Recht, regelmälsig Gegen- stand der Schullectüre. In Betreff der Schulerklärung dieser Dialoge füge ich aus wiederholter Erfahrung die Versicherung hinzu, dass, ohne den Aufwand ausführ- licher Excurse, nur durch die an sich nothwendigen Mittel der Erklärung — das Einhalten sachgemälser Einschnitte in der Lectüre, die Hinweisung auf die vom Schriftsteller selbst bezeichnete Gliederung, das Zusammenfassen des Gedankenganges der einzelnen Abschnitte — die Schüler zu der Gesammtauffassung, wie ich sie in diesen Ab- handlungen zu begründen versuche, können hingeführt werden, und dass das Verfolgen dieses Zieles das Inter- esse an der Lectüre belebt und vertieft, ohne ihrer
sprachlichen Verwerthung Eintrag zu thun oder den
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Zeitaufwand zu erhöhen. Möchte auch für die Zwecke der Schullectüre die von mir versuchte Analyse der be- zeichneten Dialoge freundliche Beachtung finden und
einigen Nutzen bringen.
Berlin, im September 1875.
H. Bonitz.
INHALT.
Seite ee nn ae τον Banane «οὐ we 1 ee Fertig σον he, ee er βότοις. το ες 44 Eee der Nedneirinee ui Wi ia 89 ΠΥ Οὐ Πρ τ τνον, οἰ πῖν οι πο Deraraidı . 144 Bessbrklärung des Dialogs Laches . . .... Ὁ. 0.0 τις 0. 199 Ze Frklärung des Dialogs Euthyphron *. . .-. . vu. er. 215 Bemerkungen zu dem Abschnitt des Dialogs Charmides p. 165—172. . 228 15 Beklärung des Dialogs Protagoras . .. . 2.2... zo... - ΘΝ Zur Erklärung des Dialogs Phädros . ........ en ee ER
Die im Phädon enthaltenen Beweise für die Unsterblichkeit der mensch-
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GORGIAN.
Gedankengang und Gliederung des Gespräches.
Einleitung. Ohne dass der Scenerie des Gespräches eine eingehendere Darstellung gewidmet oder der Kreis von Zuhörern näher bezeichnet würde, der die Unterredner umgibt 1), wird der Leser nur unter die Personen eingeführt, welche hernach einen thätigen Antheil am Gespräche nehmen. Sokrates kommt mit seinem Schüler Chärephon an den nicht näher bestimmten Ort — es liegt nahe an einen Öffentlichen Ort, z. B. das Lykeion zu denken?) —, an welchem so eben Gorgias unter dem Bei-
*) Sitzungsberichte der kaiserl. Akad. ἃ. Wissensch. Phil. hist. Classe. 1858. Bd. 27. S. 248—279. (Separatabdruck 5. 10—41.)
ἡ Die Voraussetzung, dass ein Kreis von stummen Zuhörern die Träger des Gepräches umgibt, folgt besonders aus 458 C, sowohl aus Gorgias' Wor- ten: σχοπεῖν οὖν Yp χαὶ τὸ τούτων, μὴ τινας αὐτῶν χατέχομεν βουλομένους τι χαὶ ἄλλο πράττειν, als aus der Erwiderung des Chärephon: Τοῦ μὲν θορύβου, ὦ Τοργία τε καὶ Σώχρατες, αὐτοὶ ἀχούετε τούτων τῶν ἀνδρῶν, βουλομένων ἀκούειν, ἐάν τι λέγητε. Dazu kann die Erwähnung der ἔνδον ὄγτες, denen Gorgias so eben einen Vortrag gehalten hat 447 C: ἐκέλευε γοῦν νῦν δὴ ἐρωτᾶν 6 τι τις βούλοιτο τῶν ἔνδον ὄντων, χαὶ πρὸς ἅπαντα ἔφη ἀποχρι- νεῖσϑαι, insofern hinzugenommen werden, als das Fortgehen dieser Zuhörer- schaft wenigstens nicht bezeichnet ist. Ferner vgl. 455 Ο: ἴσως γὰρ χαὶ τυγχά- νει τις τῶν ἔνδον ὄντων μαϑητῆς son βουλόμενος γενέσθαι. 473 BE: — ἃ οὐδεὶς ἂν φήσειεν ἀνθρώπων, ἐπεὶ ἐροῦ τινὰ τουτωνί, 490 B: ἐὰν ἐν τῷ αὐτῷ ὦμεν, ὥσπερ νῦν, πολλοὶ ἄνϑρωποι χτλ.
2) In der ersten Auflage hatte ich, der verbreiteten Erklärung folgend, das Zusammentreffen des Sokrates und Chärephon mit Kallikles vor oder in das Haus des Kallikles gesetzt, worin dann zugleich die Annahme enthalten ist, dass das eigentliche Gespräch selbst jedenfalls in dem Hause des Kalli- kles stattfinde. Von dieser Auffassung hätte schon die Bemerkung Schleier- machers zu 447 B Οὐχοῦν ὅταν βούλησϑε παρ᾽ ἐμὲ ἥχειν οἴχαδε abhalten sollen, da sie die Unvereinbarkeit einer solchen Auffassung mit den Worten des
Bonitz, Platonische Studien. 1
2 GORGIAS.
fall der versammelten Zuhörer einen Vortrag beendigt hat. Dem ihn begleitenden Kallikles erklärt Sokrates, unter dem Ausdruck des Bedauerns über seine Verspätung, dass es ihm weniger darum zu thun sei einen Vortrag des Gorgias zu hören, sondern dass er wünsche ein Gespräch mit ihm zu führen, und zwar über das Wesen der von ihm geübten Kunst. Kallikles glaubt die Bereitwilligkeit des Gorgias zur Erfüllung dieses Begehrens um so sicherer zusagen zu können, als Gorgias so eben die Auf- forderung, ihm Fragen zu stollerk, an die Versammlung gerich- tet und darauf Rede stehen zu wollen erklärt hat (ὁ. 1).
I. Gespräch zwischen Sokrates und Gorgias. Was ist die Rhetorik? (ec. 2—15).
I. Begriffsbestimmung der Rhetorik. — Polos drängt sich zunächst vor, statt des durch den so eben gehaltenen Vortrag angeblich ermüdeten Gorgias Rede zu stehen; aber da er, ohne auf die Frage nach dem Wesen und Begriff der Rhetorik ein- zugehen, sogleich zu ihrem Lobe, also zur Frage nach ihrem Werthe überspringt (c. 2), tritt auf des Sokrates Wunsch Gor- gias in die Unterredung ein und verspricht dem Sokrates in möglichster Präcision auf seine Fragen zu antworten; denn auch darein setzt er einen Ruhm, dass ihn an Kürze niemand über- bieten könne (c. 3). Imdem nun von der allgemeinsten Bezeich- nung des Gegenstandes, mit dem die Rhetorik sich beschäftigt, durch dessen Angabe Gorgias schon eine ausreichende Defini- tion gegeben zu haben glaubt, ausgegangen wird, und Sokrates hier wie im weiteren Verlauf dieses Abschnittes mit dem Er- weise, dass die angebliche Definition noch zu weit sei, jedes- mal für die weitere Eintheilung und Eingrenzung des Umfanges einen Gesichtspunct bezeichnet, den Gorgias annimmt, wird endlich zu der Definition gelangt, dass die Rhetorik eine auf blofsem Glauben, nicht auf Wissen beruhende Überzeugung in
Textes klar nachweist. Die Auslegung Schieiermachers, der die obigen Worte des Textes entsprechen, ist neuerdings von Chr. Cron in seiner erklären- den Ausgabe des Gorgias (1867. Κ΄. 18f.) und in seinen »Beiträgen zur Er- klärung des Platonischen Gor gias. 1870« 5. 25—35 durch umsichtige Prüfung der entgegengesetzten Ansichten zu voller Sicherheit gebracht.
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GORGIAS. 3
Versammlungen hervorrufe, namentlich wo es sich um Fragen über Recht oder Unrecht handle. Es lässt sich, erklärt nach dem Abschlusse dieser Definition Gorgias, von der Rhetorik möglicherweise auch ein unrechter Gebrauch machen ; wo Fälle dieser Art vorkommen, hat man, eben so wie auf dem Gebiete anderer Künste, nicht gegen den Lehrer, sondern gegen den Schüler, der die unrechte Anwendung macht, die Vorwürfe zu richten (ec. 3—11).
2. Zwischen dieser den möglichen Missbrauch der Rheto- rik anerkennenden Bemerkung des Gorgias und der im Ge- spräche mit ihm gewonnenen Definition der Rhetorik findet Sokrates einen Widerspruch; ehe er diesen nachzuweisen unter- nimmt, schickt er die Bemerkung voraus, dass es ihm nicht um Rechtbehalten, sondern ausschliefslich um die Wahrheit zu thun sei. Indem hiedurch veranlasst Gorgias über seine Gesinnung die gleiche Erklärung abgibt, gewinnt die nachfolgende Nach- weisung des Widerspruchs den Charakter einer gemeinsamen Untersuchung und Verständigung (c. 12).
3. Aufzeigung des Widerspruchs. Der Redner, dies ist eine von Gorgias selbst anerkannte unmittelbare Folgerung aus der Definition, gewinnt vor Nichtwissenden den Schein des Wis- sens, ohne dass er ein Wissen zu besitzen braucht. Es fragt sich, ob auch für das der Rhetorik wichtigste Gebiet, die Frage über Recht und Unrecht, das Gleiche stattfindet, dass der Red- ner ein Wissen nicht bedürfe. Gorgias erklärt, in diesem Be- reiche müsse der Redner allerdings Wissen besitzen. Ist dies der Fall, folgert hieraus Sokrates, besitzt der Redner ein Wis- sen über Recht und Unrecht, so ist es, da das Wissen des Gu- ten nothwendig das Wollen und Thun desselben mit sich bringt, unmöglich, dass er von seiner Kunst einen ungerechten Ge- brauch mache. Also die Definition, die Gorgias selbst über We- sen und Bedingungen der Rhetorik gegeben hat, steht mit sei- ner Erklärung über einen möglichen Missbrauch der Rhetorik in einem Widerspruche, dessen Erörterung und Lösung sehr weit führen würde (c. 13—15).
1*
4 GORGIAS.
II. Gespräch zwischen Sokrates und Polos. Welchen Werth und
welche wirkliche Macht besitzt die Rhetorik? (e. 16—36.)
I. In den vorgeworfenen Widerspruch, erklärt Polos das Gespräch aufnehmend, ist Gorgias nur dadurch verfallen, dass er sich scheute, auf die ungebührliche Frage des Sokrates, ob über Recht und Unrecht der Redner ein Wissen bedürfe, ver- neinend zu antworten. Sokrates sieht ın diesem Einwand des jüngeren Mannes eine glückliche Förderung für sie die älteren Männer, wenn sie in etwas gefehlt haben, und überlässt, nach dringender Mahnung zur Entfernung alles unnützen 'Geredes, dem Polos die Gesprächsführung, so dass dieser, in der Stellung des Fragenden und Gesprächsleiters, ihn eines Besseren beleh-
ren solle. Aber von der Frage nach dem Wesen der Rhetorik, 2
mit welcher Polos die beabsichtigte Widerlegung des Sokrates beginnt, springt derselbe, ehe sie genügend beantwortet ist, schon zu der nach dem Werthe und der Macht der Rhetorik über, so dass Sokrates sich bestimmt findet in zusammenhängender Rede darzulegen, worin er das Wesen der thatsächlich geübten Rhe- torik finde. Er unterscheidet zu diesem Zwecke in den Be- schäftigungen,, welche den Leib oder die Seele des Menschen betreffen, sei es ihre urprüngliche Bildung, sei es die Wieder- herstellung des Verbildeten und Entstellten, zwei Classen: die eine erstrebt das Beste des Leibes oder der Seele, die andere hat nur das Angenehme und die Lust (ἡδονή) zum Zwecke, nimmt aber die Maske der auf das wirkliche Beste gerichteten Bestrebungen an. Jener ersteren Kategorie gehört auf dem Ge- biete des Seelenlebens Gesetzgebung und Rechtspflege an, der letzteren Sophistik und Rhetorik. Diese sind also blofse Fer- tigkeiten des Schmeichelns, nicht Künste, welche das wahrhaft Gute zu erreichen suchen (ὁ. 17—20).
2. Statt diese principielle Unterscheidung zu bestreiten, wozu Sokrates auffordert, eilt Polos sogleich zu der Frage, ob denn nicht anzuerkennen sei, dass die Redner eine grofse Macht besitzen. Die Unbestimmtheit in den Fragen des Polos, von Sokrates in jedem einzelnen Falle gerügt, führt, damit die Un- tersuchung überhaupt nur einen Fortgang gewinnen könne, bald dazu, dass Polos selbst dem Sokrates die Stellung des Fragen- den überlässt und antworten zu wollen verspricht (c. 21, 22).
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GORGIAS. 5
a) Polos hatte als Beweis für die Macht des Redners aus- gesprochen, dass derselbe in jedem einzelnen Falle zu bewerk- stelligen vermöge was ıhm beliebe. Dass hierin ein Zeichen der Macht liege, bestreitet Sokrates durch die Unterscheidung von Mittel und Zweck. Gegenstand unseres Wollens ist der Zweck, jedes Mittel wird nur um des Zweckes willen gewählt; Zweck ist einzig das Gute, während das Gegentheil davon, das Übel, und das zwischen beiden liegende Indifferente nur ge- wählt wird als Mittel zum Guten. Diese Unterscheidungen zu- gestanden, ergibt sich, dass wenn die Einsicht mangelhaft ist, häufig Jemand thut, was ihm im einzelnen Falle beliebt, ohne da- durch das zu thun, was er wirklich will. Wenn also Macht darın besteht, das zu erreichen, was man will, so kann man sie dem Redner deshalb noch nicht zuschreiben,, weil er im einzelnen Falle bewerkstelligt, was ihm eben beliebt (c. 23, 24, p. 408 E). Polos versteckt das unumgängliche Zugeständnis seiner Nieder- lage in die Frage, ob Sokrates nicht dennoch diese äulserliche Macht des Redners, zur Verurtheilung oder Freisprechung zu bringen wen ihm beliebe u. s. w., gern annehmen würde; die Entgegnung des Sokrates, dass er nur die gerechte Ausübung solcher Macht annehmen möchte, führt zu der Frage:
δ) ob die Ausübung solcher Macht unter jeder Bedingung ein Gut sei?
α. Der wirklichen Discussion dieser Frage geht ein Vor- gefecht methodologischen Inhalts voraus, durch welches der ei- gentliche Fragepunct zu strengerer Formulirung gelangt und die Anwendung blofs rhetorischer Mittel der Bestreitung (z. B. der Berufung auf Zeugen, des Hinüberziehens der Sache in das Lächerliche u. a. m.) statt wissenschaftlich überzeugender Be- weise abgelehnt wird. Von Sokrates selbst erst darauf geführt, gibt Polos seiner Behauptung die bestimmtere Fassung’), dass
3) Eine andere Bedeutung geben den Stellen, um die es sich hier han- delt, nämlich 469 C & μαχάριε --- 470 C χάκιον, und 472 1) ἀδιχῶν δὲ δὴ — 472 E φημί Steinhart und Susemihl. Steinhart Κ΄. 368: „Aber merk- würdig ist es, wie sich Sokrates hier noch zu der Fassungskraft des Polos und seiner übrigen Zuhörer herablässt. Der so rein sittliche, dem Alter- thume noch ziemlich fremde Gedanke, den wir schon im Kriton aus Sokra- tes’ Munde hörten, dass Unrechtleiden besser und beglückender sei als Un-
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Unrecht thun zu können nur dann ein Gut sei, wenn man es ungestraft thun dürfe; Sokrates dagegen erklärt Unrechtthun schlechthin für ein Übel, grölser als Unrechtleiden;, und ein noch gröfseres Übel als das Unrechtthun an sich sei es, wenn jemand für Unrecht, das er thut, ungestraft bleibe (c. 24—29 med.).
3. Polos gibt von dem Unrechtthun zwar nicht zu, dass es ein gröfseres Übel (χάχιον), wohl aber, dass es hässlicher (αἴσχιον) sei als Unrechtleiden ; er gibt ferner zu, dass etwas schön sei entweder um der Annehmlichkeit oder um des Nutzens, um- gekehrt hässlich um des damit verbundenen Schmerzes oder Übels willen. Indem nun die von Polos dem Unrechtthun zu- geschriebene Hässlichkeit sich nicht auf einen damit verbun- denen Schmerz zurückführen lässt, so muss sie auf dem darin enthaltenen Übel beruhen. Also Unrechtthun, muss Polos selbst zugeben, ist ein gröfseres Übel als Unrechtleiden. — Da nun ferner die Wirkung der Ursache entspricht, die Strafe also, welche das Recht wieder herstellt, die Ungerechtigkeit dessen, der Unrecht gethan hat, aufhebt, so ist gestraft zu werden eine Wohlthat und ein Gut für den, der Unrecht gethan hat, und ungestraft zu bleiben ist für ihn ein gröfseres Übel (c. 29 med. —535).
rechtthun, wird hier ganz äulserlich und sinnlich dadurch begründet, dass der Ungerechte immer die Rache des Gesetzes fürchten müsse, vor welcher der Gerechte sicher sei.“ — Susemihl 8. 94: „Mit grolser Kunst steigt nun die Beweisführung für diesen Satz vom Niederen zum Höheren auf. An- fangs wird ganz vom Standpuncte des Polos aus gezeigt, dass nicht im- mer der Unrechthandelnde glücklicher ist, sofern er nämlich die Strafe des Gesetzes fürchten muss.“ Beide Ausleger betrachten also die fraglichen Ab- schnitte als einen Theil des gegen Polos geführten Beweises. Die im Texte von mir bezeichnete Auffassung ist durch die Worte selbst wie durch den Zusammenhang des Nächstfolgenden sicher gestellt. Polos selbst nimmt diese Worte nicht als eine Widerlegung seines Satzes auf, sondern bezeichnet durch seine schnelle Beistimmung (472 D ἥκιστά γε, 472 E φημί), dass er von So- krates nur ausdrücklich ausgesprochen findet, was er selbst stillschweigend immer bei seinem Preise der Macht zum Unrechtthun vorausgesetzt hatte (469 E οὐ δῆτα οὕτω ye.); und vor allem, die scharfe Formulirung der bei- derseitigen Ansichten, also des eigentlichen Fragepunctes, von welchem aus erst der Beginn des Beweises gerechnet werden kann, tritt erst ein 472 E ff., nachdem diese nähere Bestimmung zu dem Satze des Polos hinzugefügt ist.
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3. Hieraus wird nun die Summe gezogen, dass in dem von Polos gepriesenen, als Macht bezeichneten thatsächlichen Ver- mögen der Redner, ungestraft Unrecht zu thun, eine wirkliche Macht nicht liegt, sondern eine solche vielmehr in der entgegen- gesetzten Handlungsweise liegen würde, nämlich in der Enthal- tung vom Unrechtthun und in der Herbeiführung der Strafe für Unrecht, das wir selbst oder das unsere Freunde gethan haben (ὁ. 36).
III. Gespräch zwischen Sokrates und Kallikles. Worin besteht die Lebensaufgabe? ist politische Rhetorik oder ist Philosophie ein wür- diges Lebensziel? (c. 37—83.)
Kallikles bezeichnet richtig, durch welches Zugeständnis jeder der beiden bisherigen Unterredner dahin gedrängt sei, mit sich selbst in Widerspruch zu gerathen. Sokrates benütze zu solchen Widerlegungen die Zweideutigkeit des Begriffes Recht, unter welchem man bald das natürliche, bald das gesetzlich fest- gestellte verstehe; jenes gebe dem Stärkeren den Vorrang der Macht, dieses verlange Gleichheit der Vertheilung im Interesse der Schwächeren. Die kleinliche, auf Wortverdrehungen beruhende Methode, welche Sokrates in der Discussion anwende, sei nur ein Ergebnis der Beschäftigung mit Philosophie, welche als ein Ju- sendunterricht in mäfsigem Tmfange betrieben Empfehlung ver- diene, aber zum Berufe des Lebens gemacht den Mann, der sich ihr hingebe, entwürdige, ıhn unerfahren in dem öffentlichen Staatsleben und rechtlich schutzlos mache. Er solle diese auf- geben und sich der bedeutenderen Beschäftigung, nämlich der Rhetorik und Politik, widmen. Für die Frage, die hiedurch gestellt ist, ob in der Philosophie oder in.der Politik und Rhe- torıik die wahre Lebensaufgabe des Mannes liege, erwartet So- krates aus dem Gespräch mit Kallikles eine unbedingt giltige Entscheidung, da Kallikles aufser der Schärfe der Einsicht zu- gleich den vollen Freimuth besitze, seine Überzeugung ohne jede Scheu unverhohlen auszusprechen (c. 37—42).
1. Die sittliche Lebensanschauung des Kallikles wird auf ihren principiellen Ausdruck, die Identification der Lust mit dem Guten, zurückgeführt.
Kallikles soll zunächst den von ihm aufgestellten Grund- .. / satz des Naturrechtes, das Recht des Stärkeren (τὸν χρείττω Ap-
GORGIAS.
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ya χαὶ πλέον ἔχειν τῶν ἡττόνων), bestimmter erklären, da χρείτ-- τῶν mannigfache Auffassungen zulässt. Die zuerst gegebene Auslegung der χρείττονες als der physisch Stärkeren bringt den Kallikles in Widerspruch mit sich selbst; die nächste Erklärung der Stärkeren als der Besseren, χρείττονες als βελτίονες, setzt aber nur ein Wort für das andere, ohne dadurch zur Verständigung etwas beizutragen. Auf die Erklärung, die Kallikles hierauf, durch Sokrates’ Frage geleitet, gibt, dass unter den Stärkeren die Einsichtigeren zu verstehen seien und es den Einsichtigeren zukomme, über die an Einsicht ihnen nachstehenden zu herr- schen und im Vortheil zu sein (490 A), reicht noch nicht aus, da weder das Gebiet der Einsicht noch das des Vortheils be- zeichnet ist; denn wollte man den Satz so deuten, dass der- jenige, der über bestimmte Gegenstände, z. b. über Nahrungs- mittel, höhere Einsicht habe, mehr derselben besitzen solle, als der minder Einsichtige, so verfiele man im offenbare Unge- reimtheiten. Dadurch gelangt Kallikles zu der bestimmten Fas- sung seines Satzes: denjenigen, welche in den Angelegenheiten des Staates die grölsere Einsicht und Energie besitzen (Ypovı- μώτεροι χαὶ ἀνδρειότεροι), kommt es zu, über die andern im Vor- theil zu sein und zu herrschen (c. 43—46). Die Frage, welche Sokrates hieran knüpft, ob es für diese Einsichtigen sich ge- höre, nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu beherr- schen, gibt dem Kallikles den Anlass, mit Hohn über die Ein- falt der Selbstbeherrschung zu erklären: nicht Einschränkung und Beherrschung der Begierden, sondern unbeschränkte Hin- gebung an dieselben mit der Fähigkeit, sie im vollen Mafse zu befriedigen, sei Tugend und Glückseligkeit (492 C). In diesem Satze findet Sokrates die Überzeugung ausgesprochen, welche die meisten zwar hegen, aber auszusprechen sich scheuen. Die ein- dringende Prüfung dieses Satzes wird endgiltige Entscheidung darüber bringen, auf welche Weise man zu leben hat (ἵνα τῷ
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ὅντι χατάδηλον γένηται πῶς βιωτέον 492 D). ὁ. 43—47. 492 D.
2. Widerlegung der behaupteten Identität der Lust und des Guten.
Sokrates bezeichnet zunächst in allegorischen Darstellungen die Werthlosigkeit der Lust; aber er thut dies mit der ausdrücklich ausgesprochenen Überzeugung, dass solche Allegorieen keine be-
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weisende Kraft haben). Kallikles weils ihnen ebenso treffende und eben so wenig beweisende Bilder für seine Ansicht entgegen
4) Auch in, diesem Falle glaube ich die im Texte bezeichnete einfachere Auffassung gegen Steinhart und Susemihl, die anderes und mehr in der betreffenden Stelle 492 E — 494 B finden, aus Platons eigenen Worten recht- fertigen zu können. Steinhart 8. 378: „Die heillose Lebensansicht und die auf sie, gegründete durch und durch unsittliche Lebenskunst des Kalli- kles wird nun im vierten Abschnitte durch die hier zuerst von Platon gründ- lich erörterte Unterscheidung des Guten und Angenehmen bis auf ihre letz- ten Gründe zurückgeführt und ihre Nichtigkeit vollständig nachgewiesen. Aber erst durch einen allmählichen Übergang bricht Sokrates sich Bahn zu dieser ernsten Betrachtung. Fr erinnert in einer höchst anmuthig aus feier- lichem Ernst und spielendem Scherz gemischten 'einleitenden Rede den Kal- likles an tiefsinnige und erhabene Dichterworte, worin das leibliche Leben mit einer Art geistigen Todes und die den Lüsten und Leidenschaften hin- gegebene Seele mit einem durchlöcherten Fasse, in welches man mit einem Siebe Wasser schöpft, verglichen wird, und knüpft daran die liebliche Para- bel von den beiden Fässern. Unverkennbar tritt in diesen Übergängen eine feine künstlerische Absicht unseres Platon hervor. Der leidenschaftlichen und stürmischen Rede des Kallikles, durch welche das Gemüth des Lesers noth- wendig aufgeregt und mit sittlichem Unwillen erfüllt werden musste, durfte nicht sofort eine ruhige dialektische Erörterung folgen; da tritt nun jene in Bildern und Symbolen an das Höchste und Tiefste erinnernde Rede als ein bedeutsames Vorspiel zu den folgenden ernsten und wichtigen Betrachtun- gen ein, und übt, indem sie der verletzenden Disharmonie der Rede des Kallikles' die lieblichste Harmonie entgegensetzt, auf die Seele eine durch- aus beruhigende und versöhnende Wirkung. Denn das dichterische Gewand lässt die grolsen Gedanken durchschimmern, dass die Herrschaft der Lust nicht das wahre Leben, sondern der Tod des Geistes sei, dass sie die Seele zur Aufnahme reinerer und höherer Ideen unfähig mache und zu einem eitlen, nichtigen, unseligen Leben führe. Dem Kallikles freilich will der hinter der Hülle der Dichtung verborgene Ernst nicht einleuch- ten; scheinbar im Sinne der Anhänger des Herakleitos und der Theorie von dem ewigen Flusse der Dinge, in der That aber im Geiste der Schüler Ari- stipps, welche das wahre Leben in eine beständige leichte Bewegung der Seele setzten, bleibt er dabei, dass ein Leben ohne den immer neuen Wechsel von Lust und Befriedigung kein frisches und reges Leben, sondern der star- ren Ruhe des Steines zu vergleichen sei.“ — Nicht Kallikles allein ist es, dem der Ernst nicht einleuchten will, Sokrates selbst bezeichnet, dass er diesen Allegorien Beweiskraft abspricht, 493 D: ἀλλὰ πότερον rei) τί σε καὶ
Im Ν 4 e ΝᾺ 48 as μετατίϑεσαι — ἢ οὐδ᾽ ἂν ἄλλα πολλὰ τοιαῦτα μυϑολογῶ, οὐδέν τι μᾶλλον μετα- θήσει; 494 A: πείϑω τί σε ταῦτα λέγων --- ἢ οὐ πείϑω; So spricht niemand,
der in seinen Darlegungen, welcher Form sie auch seien, eine beweisende Kraft voraussetzt; so lässt am wenigsten Platon den Sokrates da sprechen, wo er Überzeugung schaffen will. Man kann daher nicht Susemihl bei- stimmen, der $. 96 vom folgenden Abschnitt (494 A—498D) sagt, dass darin
10 (GORGIAS.
zu stellen. Aber diese bildlichen Auffassungen dienen dazu, dass das Angenehme oder die Lust (ἡδονή, ἡδύ) als Befriedigung eines 256 Begehrens an sich bezeichnet wird. Welches der Gegenstand des Begehrens sei, diese Consequenz seiner Ansicht wird Kallikles ge- trieben selbst anzuerkennen, ist vollkommen gleichgiltig; die be- friedigung jedes beliebigen Begehrens ist das Angenehme oder die Lust5), und diese allein ist ein Gut. Gegen den zu solcher Bestimmtheit formulirten Satz, Lust oder Angenehmes und Gut sei identisch, richtet nun Sokrates seine beiden Beweise®). Der erste ist aus der Natur der Begriffe selbst entlehnt, wie diese im vorausgehenden festgesetzt wurden. Das Gute schliefst sein eigenes Gegentheil, das Übel oder das Böse, aus, so dass nicht demselben Subjecte beides zugleich zukommen kann. Dagegen die Lust oder das Angenehme besteht in der Befriedigung eines
„strenger wissenschaftlich gezeigt‘ werde, also schon in diesem einen nur minder strengen Beweis findet; vielmehr bezeichnen die angeführten "Worte des Sokrates in aller Deutlichkeit, dass Platon in solchen Bildern nicht eine beweisende Kraft anerkennt, sondern nur den bildlich anschau- lichen Ausdruck für eine Überzeugung, welche bereits auf anderem Wege sicher gestellt sein muss. Aulser dieser methodologischen Bedeutung des fraglichen Abschnittes ist aber allerdings die andere anzuerkennen, dass da- durch Kallikles veranlasst wird, das ἡδύ geradezu und unbedingt in Befrie- digung des Begehrens zu setzen. Damit ist noch nicht ein Beweis für die sittliche Werthlosigkeit des ἡδύ gegeben, sondern nur die Grund- lage, auf welcher erst der Beweis erbaut werden kann.
5) Diese beiden an sich sehr bestimmt zu unterscheidenden Begriffe habe ich absichtlich ununterschieden als Übersetzung für ἡδύ oder ἡδονή gesetzt; denn gerade darauf, dass unter ἡδύ und ἡδονή ausschlielslich die Befriedi- gung eines Begehrens verstanden wird, das als Begehren Schmerz, λύπη, ist, dass also von ἡδοναὶ χαϑαραί Phileb. 52 C, d.h. ὅσα τὰς ἐνδείας avarsthiitous ἔχοντα καὶ ἀλύπους τὰς πληρώσεις αἰσϑητὰς καὶ ἡδείας, καϑαρὰς λυπῶν, παραδίδωσιν Phil. 51 B, die Rede nicht ist, hierauf allein ruht die Giltigkeit des ersten der zwei für den Unterschied von ἡδύ und ἀγαϑόν geführten Be- weise.
6) Der Beginn der Beweisführung, nachdem die Formulirung des Satzes vollständig hergestellt und anerkannt ist, wird deutlich durch die Worte be- zeichnet 495 Ο ἐπιχειρῶμεν ἄρα τῷ λόγῳ ὡς σοῦ σπουδάζοντος; — Anders sucht H. Anton (,die Dialoge Gorgias und Phädrus“ in Fichte’s Zeitschrift für Philosophie 1859, Bd. 35, S. 81—113, vgl. insbesondere 8. 85) die Plato- nischen Beweise für den Unterschied des Guten und der Lust zu gliedern; dieser Versuch ist von Cron, „Beiträge zur Erklärung ‘des Gorgias etc,“ S. 66, Anm. 2, widerlegt.
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Ξι΄
(HORGIAS. 1
Begehrens; das, Begehren als solches ist ein Gefühl des Schmer- zes; mit dem Aufhören des Begehrens, also des Schmerzgefüh- les, hört auch die Befriedigung, also das Lustgefühl auf. Das Gefühl der Lust schliefst also sein eigenes Gegentheil, den Schmerz des Begehrens, als nothwendige Bedingung ein. Also sind Lust oder Angenehmes und Gut nicht identisch. — Der zweite”) Beweis ruht auf imeonsequenten Erklärungen des Kal- likles selbst. Indem dieser vorher der Einsicht und der Tapfer- keit einen Werth an sich zuerkannt hat, so dass durch ihren Besitz Männer tüchtig, gut, tugendhaft (#yadot) sein sollen, und indem er doch nachher die Lust als das einzige Gut bezeichnet hat, so bedarf es nur der Hinweisung auf nahe liegende Bei- spiele der Erfahrung, um nachzuweisen, dass diese zweierlei Werthbestimmungen mit einander im Widerspruche stehen. Das durch jeden dieser beiden Beweise nothwendig gewordene Auf- geben der behaupteten Identität von Lust und Gut kleidet Kal- likles in die Form ein‘), als habe er nur scherzend, um den Sokrates zu versuchen, die Identität von Lust und Gut behauptet und als verstehe es sich von selbst, dass unter den Lüsten ein Unterschied bestehe, eimige gut, andere schlecht und ein Übel
seien (ὁ. 47--- 4).
7) Dass in dem vorhergehenden Abschnitte 495 E—497 E nur ein Be- weis für den Unterschied von ἀγαϑόν und ἡδύ enthalten ist und man nicht mit Steinhart S. 379 die Deduction in zwei verschiedene Beweise ausein- anderlegen darf, wird durch die obige Darlegung erwiesen sein. Sie ist im Einklang mit den ausdrücklichen Worten des Sokrates, der die letzten Ant- worten des Kallikles in dieser Deduction als Abschluss des bereits zugege- gebener erfordert 497 C: ὅδεν οὖν ἀπέλιπες, ἀποχρίνου, während der neue Beweis deutlich eben als ein neuer angeführt wird durch die Worte 497 1): ἐὰν δὲ βούλῃ, καὶ τῇ δ᾽ ἐπίσχεψαι" οἵμαι γάρ σοι οὐδὲ ταύτῃ ὁμολογεῖσθαι.
8) ,499,B: Καλλ. Πάλαι τοί σου ἀχροῶμιαι, ὦ Σώχρατες, χαϑομολογῶν, ἐνὴ)υ-- μνούμενος ὅτι, χἂν παίζων τίς σοι ἐνδῷ ὁτιοῦν, τούτου ἄσμενος ἔχει ὥσπερ τὰ μειράχια. ὡς δὴ, σὺ οἴει ἐμὲ ἢ zul ἄλλον. ὁντινοῦν ἀνθρώπων οὐγ ἤγετοθαι τὸς μὲν βελτίους ἧδονάς, τὰς δὲ γείρους. Diese Worte Platons werden die im Texte gegebene Auffassung erweisen; anders Steinhart S. 350: „Nun erst dämmert dem Kallikles die Ahnung auf, dass man. zwischen guten und schlechten Genüssen unterscheiden müsse“ u. 5. w. Man wird in Platons Worten zu dieser Darstellung schwerlich einen Au- lass finden.
12 GORGIAS.
3. Auf Grund des erwiesenen Unterschiedes zwischen der Lust und dem Gu- ten werden die in den Gesprächen mit Gorgias und Poios gewonnenen Sätze endgiltig festgestellt.
Ist einmal unter den Lüsten eın Unterschied anerkannt, dass einige derselben ein Gut, andere ein Übel sind, so folgt unmittelbar, dass nicht die Lust absolutes Ziel unseres Strebens sein kann, sondern das Gute das Ziel alles unseres Handelns und um seinetwillen erst die Lust erstrebenswerth ist, nicht um- gekehrt. Die Unterscheidung der Künste, welche Sokrates un- erwiesen, aber von Polos nicht bestritten, aufgestellt hat, dass einige die Lust, andere das Gute®) bezwecken, ist also hiemit gerechtfertigt und der ausschliefsliche Werth der letztern zuge- standen. Die Anwendung dieser Unterscheidung auf die Künste der Musik und Poesie, dass dieselben nämlich, unbekümmert
um das Gute, nur die Lust der Zuhörer sich zur Aufgabe.
machen, gibt Kallikles unbedenklich zu; nicht zu dem gleichen Zugeständnisse ist er bereit bei der Beredsamkeit, von welcher er vielmehr erklärt, dass sie in manchen Fällen das Beste, in andern allerdings nur die Lust erstrebe. Auch mit diesem Zu- geständnisse zufrieden entwickelt Sokrates die Eigenschaften und Bedingungen einer auf das Beste der Seele gerichteten Bered- samkeit. Sie muss, da das Gute in der Ordnung und dem Malse besteht, dieses ın der Seele herzustellen suchen, muss
die Mafslosigkeit (axoAasta) zurückweisen, also züchtigen (χολά- 255
ζειν) und zur Selbstbeherrschung und durch sie zugleich zu allen Tugenden, zur Gerechtigkeit, Tapferkeit, Frömmigkeit führen. Es bestehen also die früheren Ergebnisse, welche, angeblich nur durch die Scheu des Gorgias und dann des Polos gewonnen, das Unrechtthun als ein grölseres Übel "als das Unrechtleiden, die Straflosigkeit nach gethanem Unrecht als das gröfste Übel, die Nothwendigkeit der Einsicht über Recht und Unrecht vor Aneignung der Rhetorik feststellten, und es ist kein Grund vor- handen, dem Sokrates seine Beschäftigung mit Philosophie darum zum Vorwurf zu machen, weil er sich durch sie dem Erleiden
9%, Durch die wechselnde Übersetzung von τὸ ἀγαϑόν, bald als „das Gut“ bald als „das Gute“, suchte ich der im Gebrauche des griechischen Wortes Eeponden und für den Beweisgang nothvendigen Amphibolie gerecht zu werden.
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(GORGTAS. 13
von Unrecht schutzlos preisgebe. Der Werth des Schutzes vor Unrechtthun und vor Unrechtleiden bestimmt sich ja nunmehr darnach, dass Unrechtthun unzweifelhaft das grölsere Übel ist als Unrechtleiden. Vor eigenem Unrechtthun schützt, da niemand wissentlich und absichtlich Unrecht thut, nur die Einsicht in Recht und Unrecht; vor Unrechtleiden schützt nur Einstimmig- keit, ja innere Gleichheit mit der herrschenden Gewalt, also Schlechtigkeit bei ihrer Schlechtigkeit. Wollte man dagegen einwenden, dass der sein Leben in Gefahr setze, der eine solche Einstimmung, mit der Herrschergewalt nicht suche, so müsste man consequent jenen Beschäftigungen, welche auf Erhaltung des Lebens an sich hinarbeiten, also der Kunst des Schwim- mens, des Schiffens, der Befestigung u. ä. den höchsten Werth zuerkennen, was doch niemandem beikommt. Nicht das Leben an sich, sondern das sittlich edle Leben ist ein Gut. — KRalli- kles, der von dem Puncte an, wo seine allgemeinen Zugeständ- nisse über Lust und Gut speciell auf die Werthschätzung der Rhetorik Anwendung erhielten, immer unwilliger wurde zu ant- worten und trotz der Bitten der Mitunterredner den Sokrates allein die Folgerungen aus der bereits festgestellten Grundlage ziehen liels, nur bereit Einwendungen zu machen, wo er nicht beistimmen könne, ist allmählich wieder williger in die Theil- nahme am Gespräche eingegangen und kann sich bei den zu- letzt gewonnenen Ergebnissen der charakteristischen Erklärung nicht enthalten, dass er die Richtigkeit von Sokrates’ Sätzen an- erkenne, aber, wie es auch den meisten ergehe, sie nicht zu seiner eigenen Überzeugung machen könne!) (c. 54—69).
4. Entscheidung über die Frage, ob der thatsächlich geübten Rhetorik und Politik oder der ethischen Philosophie im Platonischen Sinne der Vorzug ge- bühre.
Aus der festgestellten Unterscheidung von Lust und Gut, die als von Kallikles selbst anerkannt von neuem 1) den Aus- gangspunct bildet,” ergibt sich, dass nur diejenige Betheiligung
10) 513 Ο: οὐχ οἵδ᾽ ὅντινά μοι τρόπον δοχεῖς εὖ λέγειν, ὦ Σώχρατες" πέπονθα δὲ τὸ τῶν πολλῶν πάϑος" οὐ πάνυ σοι πείϑομαι.
1) 513 Ο: ἀλλ᾽ ἐὰν πολλάκις ἴσως καὶ βέλτιον ταὐτὰ ταῦτα διασχο- πώμεϑα, πεισϑήῆσει. ἀναμνήσϑητι δ᾽ οὖν χτλ.
14 GORGIAS.
an der Verwaltung des Staates Billigung verdient ‚ welche auf der Einsicht in das Beste und auf der eigenen Fähigkeit die Bürger zu bessern beruht. An diesem Malsstabe gemessen kann keiner der athenischen Staatsmänner, auch nicht aus der ruhm- vollen Vergangenheit des Staates, bestehen; diejenigen unter ıhnen, welche im höchsten Ansehen und Nachruhm stehen, haben nur die Fähigkeit bewiesen, den Bürgern die an sich gleichgiltigen, sittlich werthlosen Dinge in reichlichem Maße zu verschaffen, aber nicht die Bürger zu bessern. Das: Verfahren des Staates gegen die Staatsmänner, die längere Zeit an seiner Spitze standen, ist selbst ein Erfahrungsbeweis für diesen Satz. Über Undank des Staates darf sich ein Staatsmann ebensowenig beklagen, als ein Sophist, der den Einzelnen zur Tugend zu erziehen verspricht und für den Einzelnen genau dasselbe ist, was der Politiker für den Staat, sich über den Undank seines Zöglings zu beschweren ein Recht hat. Denn da Bildung zur Tugend ihre Aufgabe ist, so beweist der angebliche Undank nur, dass die Aufgabe nicht erfüllt wurde. Sokrates, der in all seinem Reden und Thun, um alles andere unbekümmert, aus- schlielslich das an sich Gute erstrebt, darf sich rühmen, allein oder mit äulserst wenigen Politik im wahren Sinne des Wortes zu treiben, mögen auch für sein Leben und seine Person ge- genüber dem Unverstand der Menge die schlimmsten Folgen zu besorgen sein; selbst dem Tode sieht derjenige furchtlos ent- gegen, der seine Seele vor Unrecht bewahrt hat (c. 69 — 78).
5. Mythus über den Zustand der Seele nach dem Tode.
Nachdem der ausschliefsliche und unbedingte Werth des sittlich Guten gegenüber den Reizen der Lust und dem Schein der äulsern Macht so erwiesen ist, dass einzelne Einwendungen nicht mehr Gegengründe bringen, sondern nur zeigen, wie das als erwiesen Anerkannte noch nicht zur Überzeugung und Ge- sinnung des Mitunterredners geworden ist, „knüpft Sokrates in einer Lehrdichtung diese Überzeugungen an den Glauben des Volkes an; denn die Dichtung von dem Todtengerichte, bei welchem die Seele in ihrer eigenen Gestalt, entkleidet alles dem Leibe und dem irdischen Leben angehörigen Schimmers, gerich- tet und je nach der Reinheit und Schönheit ihres irdischen Le-
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bens oder deren Gegentheil zur Seligkeit oder zur Verdammnis bestimmt wird, diese Dichtung lehnt sich an die im Mythus enthaltenen Elemente, so dass sie dieselben nur zu grölserer Klarheit erhebt. ‚Was vorher begrifflich erwiesen ist, dasselbe wird hierdurch als Ahnung von ältester Zeit her im Glauben des Volkes nachgewiesen (c. 79—82).
Schluss. Es besteht also über die wahre Lebensaufgabe unerschüttert die Entscheidung, die Gorgias und Polos unwill- kürlich anerkannten und die Kallikles durch seinen unverhohle- nen Widerspruch nur fester hat begründen helfen (c. 83).
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Zur Rechtfertigung der bezeichneten Gliederung des Gespräches.
1. Dass mit den im obigen bezeichneten drei Hauptabschnit- ten ‚wirklich diejenige Gliederung getroffen ist, welche der Schriftsteller selbst seinem Werke gegeben hat, ist schon zu- nächst aus der Anwendung zu ersehen, welche Platon von dem Kunstmittel des Gespräches macht. Sokrates wird ein- geführt sich unterredend mit drei Personen, mit Gorgias, Polos, Kallikles.. Das Gespräch ist nicht in der Weise angelegt, dass fortwährend alle drei Mitunterredner einen auch nur nahezu gleichmälsigen Theil an der Unterredung mit Sokrates hätten, sondern nach einander ist jeder derselben eine Zeit lang der eigentliche Träger des Gesprächs mit Sokrates, erst Gorgias, dann Polos, zuletzt Kallikles. Diese successive Betheiligung der drei Unterredner ist freilich nicht in der kleinlich pedantischen Weise ausgeführt, dass in dem Abschnitte, in welchem Sokrates mit Gorgias die Unterredung führt, die beiden andern nicht ein einziges Wort hinzugäben, das ihre geistige 'Theilnahme an dem Inhalte und dem Gange des Gespräches bezeugte, und gleicher- weise in den Abschnitten, in denen Sokrates mit Polos, dann mit Kallikles sich unterredet; eine so ausschliefsende Durch- führung der Succession in der Betheiligung der einzelnen Unter- redner würde ja auch die Gefahr bringen, dass das Gespräch, als Kunstwerk betrachtet, in ganz gesonderte Theile auseinander file. Aber es ist doch jede dieser drei Personen durch eimen erheblichen Theil des Werkes in solchem Mafse Hauptträger des
10 GORGIAS.
Gespräches mit Sokrates, dass Äufserungen der beiden an- deren nur hinzu kommen, bald um die rege Theilnahme am Gespräche zu bezeugen, um eine drohende Unterbrechung zu beseitigen und den Unterredner zur Fortsetzung zu bestimmen, bald um eine Unbestimmtheit, in welche das Gespräch schien sich verlaufen zu wollen, entfernen zu helfen. Läge das blofse Factum vor, dass Platon in diesem Werke die drei dem Sokra- tes gegenüber gestellten Unterredner nach einander auftreten lässt, selbst ohne dass das successive Auftreten noch besonders markirt wäre, drei Unterredner übrigens, die man nicht als blolse Wiederholungen etwa der Personification desselben Gedankens, sondern als drei von einander wesentlich verschiedene Personen anerkennen muss: so müsste man schon hiedurch allein zu der Annahme sich bestimmt finden, dass durch die Verschiedenheit der successiven Hauptträger des Gespräches die Hauptabschnitte des Gespräches bezeichnet sind; man würde sonst, so scheint es, dem Philosophen, dessen künstlerische Vollendung man immer bewundert, verständige Überlegung in der Anwendung der Kunst- mittel des Gespräches absprechen.
2. Es kommt aber noch hinzu, dass das Auftreten eines neuen Hauptträgers des Gespräches jedesmal beson- ders markirt ist, sowohl durch Bezeichnung des neuen An- fanges mit Verwerfung dessen, was unmittelbar vorher gewonnen war oder gewonnen zu sein schien, als auch dadurch, dass zu- nächst vorher ein Abschluss des Gedankenganges kenntlich ge- macht ist. Man hat dies Verhältnis nie verkannt beim Anfange von Cap. 37. Das Gespräch mit Polos ist, da dieser den Ge- danken des Sokrates nichts mehr entgegenzusetzen weils, bis zu einem Ziele geführt, über das hinaus sich eine Steigerung nicht recht denken lässt; denn die Behauptung des Polos über die unglaublich hohe Bedeutung der Rhetorik ist in ihr volles Ge- gentheil umgekehrt und Polos kann dagegen nichts einwenden. Wie hierin ein Abschluss für die mit Polos verhandelte Frage über den Werth der Rhetorik liegt, so tritt der neue Unterredner nicht in der Absicht auf, um die bisherige Discussion fortzu- setzen, sondern um mit Aufhebung aller bisher gewonnenen Re- sultate ganz von neuem anzufangen. Denn wer das ganze bis- herige Gespräch für einen blofsen Scherz erklärt, für ein
GORGIAS. 17
leichtfertiges Spiel mit der Amphibolie von Worten, der be- zeichnet damit deutlich genug, dass er in dem bisherigen nicht 20) eine Grundlage findet, auf der er fortbauen könnte, sondern eine andere Basis gesucht werden muss. Aber nicht minder deutlich, ja genau mit denselben Mitteln ist bei Cap. 16 der Abschnitt kenntlich gemacht. Sokrates hat unmittelbar vorher diejenigen Erklärungen des Gorgias kurz wiederholt und schlagend zusam- mengestellt, die einen innern Widerspruch enthalten. „Wie sich das eigentlich verhalten mag, ὁ Gorgias,“ setzt Sokrates hinzu, „das erfordert eine gar nicht kurze Unterredung um es befriedi- gend zu untersuchen !?),“ So lässt Platon seinen Sokrates als Leiter des Gespräches nicht sprechen, wo eine Gedankenreihe fortgeführt werden soll, sondern wo sie auf einem Puncte ange- langt ist, über den hinaus der Schriftsteller sie zunächst nicht weiter zu veıfolgen beabsichtigt. Und Polos tritt dem bisher Gefundenen in derselben Weise entgegen, wie an jener Stelle Kallikles; denn sein Zweifel, ob Sokrates über die Rhetorik wirklich so denke, wie er sich eben ausgesprochen, ist unzwei- deutig eine Aufhebung der vorigen Resultate und die Forderung einer neu begründeten Untersuchung. Noch in anderen charak- teristischen Momenten ist die Stelle zu Anfang des 16. Cap. mit dem 37. Cap., welches allgemein als ein Hauptabschnitt anerkannt wird, in Übereinstimmung. Dem neuen Unterredner wird es jedesmal leicht, diejenige unnöthige Concession des vor- hergehenden Unterredners aufzuweisen, durch welche dem So- krates sein Beweis ermöglicht wurde!3), zum deutlichen Zeichen, dass die Voraussetzungen, von welchen im vorhergehenden Theile die Beweisführung ausging, im folgenden aufgegeben werden sollen. Ferner, Sokrates knüpft jedesmal an das Auftreten des neuen Unterredners, einmal offenbar ironisch, das andere mal
12) 461 A: ταῦτα οὖν ὅπῃ ποτὲ ἔχει, μὰ τὸν κύνα, ὦ Γοργία, οὐχ ὀλίγης συνουσίας ἐστὶν ὥστε ἱχανῶς διασχέψασϑαι.
13) 461 B: ὅτι Γοργίας ἡσχύνϑη σοὶ μὴ προσομολογῆσαι τὸν ῥητοριχὸν ἄνδρα μὴ οὐχὶ χαὶ τὰ δίχαια εἰδέναι καὶ τὰ καλὰ καὶ τὰ ἀγαϑά — ἔπειτα ἐκ ταύτης ἴσως τῆς ὁμολογίας ἐναντίον τι συνέβη ἐν τοῖς λόγοις χτλ. 482 D: οὐχ ἄγαμαι Πῶλον, ὅτι σοι συνεχώρησε τὸ ἀδιχεῖν αἴσχιον εἶναι τοῦ ἀδιχεῖσϑαι" ἐκ ταύτης ' jap αὖ τῆς ὁμολογίας αὐτὸς ὑπὸ σοῦ συμποδισϑεὶς ἐν τοῖς λόγοις ἐπεστομίσϑη, αἰσχυνϑεὶς ἃ ἐνόει εἰπεῖν.
Bonitz, Platonische Studien.
τῷ
18 ' GORGIAS.
im Ernste, die Erwartung einer gründlicheren Führung der Un- tersuchung. Des Polos jugendliche Rüstigkeit wird die Fehler beseitigen, in welche sie, Sokrates und Gorgias, vielleicht die Schwäche des Alters ‚geführt hat; der glückliche Verein von Freundschaft, Einsicht und Freimüthigkeit, der sich in Kallikles 263 findet, gibt die sichere Bürgschaft, dass alles, was mit ihm fest- gesetzt wird, volle Gültigkeit hat und behält 14).
3. Sind auf diese Weise die Gelenke, welche die einzelnen Hauptglieder zugleich verbinden und unterscheiden, auf das deutlichste bezeichnet, so zeigt wiederum jedes dieser Haupt- glieder eine in sich gleichartige und von den beiden anderen verschiedene Gestaltung. Die drei Hauptab- schnitte unterscheiden sich durch den Charakter der in jedem von ihnen der Kritik unterworfenen sittlichen Lebensanschauung, durch die Tiefe der gegen dieselbe vorgebrachten Gründe, end- lich durch den ganzen Ton und die Form der Gesprächsführung.
In der Person des Gorgias stellt uns Platon noch die prin- cipielle Anerkennung von Recht und Sittlichkeit dar; der Platonische Gorgiäs scheut sich, für den Redner auch auf dem Gebiete von Recht und Unrecht den blofsen Schein des Wissens zu erfordern, auf diesem Gebiete soll der Redner Einsicht er- worben haben. In dieser Scheu selbst liegt jene principielle Anerkennung. Aber mittelbar in den Consequenzen kommt Gorgias (wenigstens nach den Grundsätzen Platonischer Ethik) mit jener Anerkennung selbst in Widerspruch, weil er auf eine blofs formelle, der sittlichen Einsicht entbehrende Gewandtheit überhaupt einen Werth legt. — In Polos zeichnet Platon das haltungslose Schwanken zwischen einer Bewunderung des äulseren Glanzes und der äufseren Macht ohne Rücksicht auf Sittlichkeit, und doch anderseits einer Scheu, das Edle des Rechtes zu verleugnen. Platon macht ihn so recht zum Typus der gewöhnlichen sittlich-unsittlichen Halbheit. Der glänzende
14) 461 C: ὦ χά ἵνα ἐπειδὰν αὐτοὶ πρεσ
ἐπανορ )ῶτε ἡμῶν τὸν βίον χαὶ ἐν ἔργοις χαὶ ἐν λόγοις. 486 E: εὖ οἶδ᾽ ὅτι, ἅν μοι σὺ ᾿ Ih t pyols > ᾽
ἤλλιστε Πῶλε, ἀλλά τοι ἐξεπίτηδες χτώμεϑα ἑταίρους καὶ υἱεῖς, σβύτεροι γιγνόμενοι σφαλλώμεϑα, παρόντες ὑμεῖς οἱ νεώτεροι ὁμολογῆσῃς περὶ ὧν ἢ ἐμὴ ψυχὴ δοξάζει, ταῦτ᾽ ἤδη ἐστὶν αὐτὰ τἀληϑή., ἐννοῶ γάρ, ὅτι τὸν μέλλοντα βασανιεῖν ἱχανῶς ψυχῆς πέρι ὀρθῶς τε ζώσης χαὶ μὴ τρία ἄρα δεῖ ἔχειν, ἃ σὺ πάντα ἔχεις, ἐπιστήμην τε καὶ εὔνοιαν χαὶ παρρησίαν. χτλ.
GORGIAS. 19
Hof des Usurpators Archelaos, der seinen Weg zum Thron mit dem Blute der nächsten Anverwandten gefärbt, fesselt des Polos Bewunderung; ungestraft nach Belieben Unrecht thun können, ist ihm eine hohe, beneidenswerthe Macht; aber dass bei dem 364 allen dem Unrechtthun doch ein gewisser Makel anhaftet, dass es hässlicher ist als Unrechtleiden , wagt er nicht in Abrede zu stellen. — Der Platonische Kallikles 5) endlich tritt mit der principiellen Verleugnung der Sittlichkeit unverhohlen hervor. Gerechtigkeit, Mäfsigung der Begierden sind Erfindungen der Schwachen, denen der Starke sich nicht zu unterwerfen braucht; es gibt nur eins, das Werth an sich hat und ein Gut ist, nämlich den Genuss. Eine oberflächliche Aufklärung hat die Unbefangenheit sittlicher Überzeugung und Gesinnung auf- gehoben, aber nicht vermocht an deren Stelle wissenschaftliche Begründung zu setzen. Die Consequenzen dieser Aufklärung
15) Kallikles ist uns nur aus der Darstellung Platons im Gorgias bekannt. Dieser Umstand hat τοι (Beiträge zur Erklärung des Platonischen Gorgias, 1870, S. 1—25) veranlasst, die Ansicht aufzustellen und ausführlich zu be- gründen, Kallikles sei ein Pseudonym und unter seiner Maske habe Platon den Kritias darstellen wollen. Es würden sich gewiss von den sophistisch gebildeten Staatsmännern jener Zeit und von den Rhetoren (man denke z. B. an Thrasymachus im ersten Buche des Platonischen Staates) zahlreiche Pa- rallelen zu den von Kallikles vertretenen Überzeugungen beibringen lassen ; sie würden aber doch nur Bestätigungen der Worte Platons selbst sein, dass diese Ueberzeugungen eine weite Verbreitung haben, σαφῶς γὰρ σὺ νῦν λέγεις, ἃ οἱ ἄλλοι διανοοῦνται μέν, λέγειν δὲ οὐκ ἐθέλουσιν 492 D. Aber ein Pseudo- nym als Unterredner mit andern bekannten, bei ihren wirklichen Namen ge- nannten Personen, überdies noch in Beziehung gebracht zu andern, unzwei- felhaft historischen Personen (vgl. 519 A, 487 C) ist etwas so Fremdartiges, dass eine solche Annahme, auf blofser Conjectur beruhend, unzulässig er- scheint. Ist es denn bei unserer höchst fragmentarischen Kenntnis der Personen jener Zeit etwas so auffallendes, wenn uns eine Persönlichkeit, statt uns ganz unbekannt zu bleiben, aus einem einzigen Zeugnisse zur Kenntnis kommt? — Gotschlich („Über die Veranlassung des Platonischen Dialogs Gorgias und die Polemik in demselben.“ Schulprogramm von Beu- then o/s. 1871) bringt zu den Äufserungen des Kallikles zahlreiche Verglei- ehungen mit Stellen aus Reden des Isokrates; der Schluss, den derselbe hieraus zieht, dass im Kallikles „ein aus der Isokratischen Schule hervorge- gangener politischer Redner gezeichnet“ (S. 4) und die Kritik der Rhetorik im Dialoge Gorgias ausdrücklich gegen die Isokratische Schule gerichtet sei, scheint mir durch die beigebrachten, sonst dankenswerthen Vergleichungen nicht ausreichend begründet.
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verkündet Kallikles in der stolzen Freude des Sieges der Geistes- freiheit über altväterische Vorurtheile. Darum soll Kallikles keineswegs als seiner persönlichen Handlungsweise nach unsitt- lich dargestellt werden, und Gewandtheit des Denkens zeichnet ihn vor den andern Unterrednern so sichtlich aus, dass auch in dieser Hinsicht der letzte, ausführlichste, entscheidende Theil des Gespräches mit Recht ihm übertragen ist. Man würde leicht zu dem treffend gezeichneten Bilde des feinen Weltmannes Kallikles Parallelen aus anderen Zeiten aufstellen, man würde die drei in diesem Dialoge nach einander auftretenden Personen leicht mit Stufen des allgemeinen Ganges der sittlichen und geistigen Cultur Griechenlands, namentlich Athens in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts, zusammenstellen können, wenn dies nicht von dem hier vorliegenden Zwecke zu weit abführte; denn es kommt uns nur darauf an, den verschiedenen Charakter der drei unterschiedenen Hauptabschnitte aufzuzeigen in der Verschieden- heit der sittlichen Lebensanschauung, welche in jedem derselben Platon darstellt und bekämpft.
Die Steigerung in der Unsittlichkeit der Grundsätze zeigte sich schon deutlich in der stolzen Überlegenheit, mit der jeder folgende Unterredner den vorhergehenden übersieht und den Punct richtig bezeichnet, durch den jener mit sich selbst in Widerspruch gerieth. Dem verschiedenen Standpuncte der drei Unterredner entspricht genau die Art der Gründe, welche gegen sie angewendet werden. Gegenüber der Überzeu- gung, welche Gorgias vertritt, braucht der Werth der Gerech- tigkeit und überhaupt der Sittlichkeit nieht mit einem Worte erhärtet zu werden, er ist ja von Gorgias selbst auf das voll- ständigste anerkannt; es genügt darauf hinzuweisen, dass mit einer solchen Anerkennung der Werth, der auf eine Fertigkeit
des blofsen Scheines gelegt wird, nicht bestehen kann. Die:
Halbheit des Polos wird in ihren eigenen Schlingen gefangen: es zeigt sich, dass er sich selbst nicht klar gemacht hat, was er unter der Macht versteht, die er rühmend der Rhetorik zu- schreibt, anderseits was er dadurch zugesteht, dass er dem Unrechtthun Schönheit abspricht. War dies eine Beweisführung nur in Folge der inconsequenten Zugeständnisse des Unterred- ners und durch Benützung des ungenauen Gebrauches von
GORGIAS. 21
Worten, deren Begriff im allgemeinen Sprachgebrauche etwas Schwankendes hat!®), so wird dagegen der principiellen Ver- werfung alles Sittlichen gegenüber der Unterschied der Sittlich- keit von der blofsen Befriedigung des Begehrens und somit das Princip der Ethik selbst festgestellt, nicht auf Grund benützter zufälliger Concessionen des Gegners, sondern aus den Begriffen selbst, — natürlich in deren Platonischer Auffassung, aber so, dass der Beweis in Platons Sinne unbedingte Giltigkeit hat.
Nicht geringer als in der Gründlichkeit der Beweisführung ist der Unterschied der drei Hauptabschnitte in der Form der Unterredung. Das Gespräch mit Gorgias nimmt einen durch- aus geraden Weg, einfach den logischen Forderungen der De- 266 finition durch immer engere Begrenzung des Umfanges und dann der Nachweisung des Widerspruches in den gewonnenen Aus- sagen nachgehend. Wo Sokrates Bemerkungen ausspricht zur Methodik der Forschung, was zwar nicht häufig geschieht, aber
16) Nur diese Bedeutung nämlich kann ich darin finden, dass Platon den Begriff des Schönen zur Vermittlung nimmt, um dadurch die Unsittlichkeit des ἀδιχεῖν dem Polos nachzuweisen. Etwas Hässliches im ἀδιχεῖν anzuerken- nen, wird der Platonische Polos durch eine gewisse sittliche Scheu bestimmt. Der Begriff xaiöy aber ist im gewöhnlichen Gebrauch noch ein so schwan- kender, dass Platon, auf diese Unsicherheit gestützt, die Beistimmung des Polos erwarten darf, wenn er ihn auf 755 und ὠφέλιμον oder ἀγαϑόν (vergl. 474 E: ἢ ὠφέλιμα εἶναι ἢ ἡδέα. — 475 A: ἡδονῇ τε καὶ ἀγαϑᾧ ὁριζό-- pevos τὸ χαλόν) zurückführt. Anders Steinhart 5. 368: „Zwar scheint es schon auf einen höheren Standpunct hinzuweisen, wenn Sokrates den Polos zuzugeben nöthigt, dass Unrecht leiden schöner sei, als Unrecht thun“ (aber dies nöthigt ja Platon den Polos gar nicht zuzugeben, sondern dies ist vielmehr die Form, unter der Polos seine eigene Ansicht ausspricht und dadurch die Handhabe für weitere Folgerungen .darbietet) : „aber auch an dem Schönen wird hier noch allein das Moment des Nützlichen hervorge- hoben, so dass dieser scheinbar so schön und erhaben klingende Satz fast zu einer trivialen Erfahrungsmaxime wird. Aber gerade hierin lässt uns Pla- ton die Lehrweisheit seines Sokrates erblicken, der, indem er sich zu den beschränkten Ansichten seines Zuhörerkreises scheinbar herabstimmt, sie nach und nach zu seinen freieren und höheren Standpuncten zu erheben weils.“ Ebenso wenig kann ich in dem von Platon eingeschlagenen Gedankengange eine Berechtigung zu der Auslegung Susemihl’s erkennen. 8. 98. „Klar ist es, warum das Gute zunächst durch den Mittelbegriff des Schönen von dem Angenehmen geschieden wird, eben weil die Tugend auf Mafs, Ordnung und somit Schönheit beruht.“
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doch nicht ganz fehlt, gibt er ihnen nicht die Form einer Be- lehrung oder gar einer Zurechtweisung seines Mitunterredners, sondern einer Rechtfertigung seines eigenen Verfahrens 17). So- krates macht die ehrende Voraussetzung, dass es dem Gorgias ebenso wie ihm selbst auf Erforschung der Wahrheit, nicht auf Rechthaben ankomme, und selbst des Gorgias indirecter Ver- such, der Nachweisung des Widerspruches auszuweichen, wird in einer die Achtung vor ihm nicht beeinträchtigenden Weise als eine Höflichkeitsrücksicht für die Versammlung dargestellt 18). — Der zweite Abschnitt ist überaus reich an Weisungen über die Methode wissenschaftlich strenger Untersuchung der Sache gegenüber rhetorischer Prunksucht und Rechthaberei, und zwar werden dieselben durchweg nicht nur als Belehrung des Mit- unterredners, sondern noch überdies in dem Tone überlegener Zurechtweisung gegeben. Der Platonische Polos ist nicht im Stande den eigentlichen Fragepunct festzuhalten, sondern springt, ohne ihn nur scharf aufgefasst zu haben, von dessen flüchtiger Berücksichtigung sogleich auf einen Gegenstand über, den er in langer Rede hofft ausführen zu können; statt der Gründe hören wir von ihm Declamationen mit den mancherlei Mitteln des rhetorischen Effectes!. Von der Halbheit der sittlichen Haltung ist für Platon die Halbheit des Scheinwissens untrenn- bar, ebenso wie umgekehrt Einsicht und Sittlichkeit des Wollens
17) 453 CD: τοῦ οὖν ἕνεχα αὐτὸς ὑποπτεύων σὲ ἐρήσομαι, AAN οὐκ αὐτὸς λέγω; οὐ σοῦ ἕνεχα, ἀλλὰ τοῦ λόγου χτὰ. 454 Ο: ὅπερ γὰρ λέγω, τοῦ ἑξῆς ἕνεχα περαίνεσθαι τὸν λόγον ἐρωτῶ», οὐ σοῦ ἕνεχα χτλ.
3
18) 458 B: ἀλλὰ φημὶ μὲν ἔγωγε, ὦ Σώχρατες, χαὶ αὐτὸς τοιοῦτος εἶναι, οἷον , ν
Ξ σὺ ὑφηγεῖ " ἴσως μέντοι χρῆν ἐννοεῖν χαὶ τὸ τῶν παρόντων. τ
19) Ablehnung der μαχρολογία 461 D: τὴν μαχρολογίαν, & Πῶλε, ἣν zadep-
ins —. 461 E: σοῦ μακρὰ λέγοντος χαὶ μὴ ἐθέλοντος τὸ ἐρωτώμενον droxptve- σϑαι. — Des Polos Abspringen vom eigentlichen Gegenstande der Frage 462 C: ἤδη πέπυσαι παρ᾽ ἐμοῦ, ὅ τι φημὶ αὐτὴν εἶναι; — 463 Ο: ἐγὼ δὲ αὐτῷ
οὐκ ἀποχρινοῦμαι πρότερον, εἴτε χαλὸν εἴτε αἰσγρὸν ἡγοῦμαι εἶναι τὴν ῥητοριχῆν, πρὶν ἂν πρῶτον ἀποχρίνωμαι ὅ τι ἐστίν. Vermischung zweier Fragen 466 C: ἔπειτα δύο ἅμα με ἐρωτᾷς. — Anwendung rhetorischer Mittel 471 D: δοχεῖς εὖ πρὸς τὴν ῥητορικὴν πεπαιδεῦσϑαι, τοῦ δὲ διαλέγεσθαι ἠμεληχέναι —, und zwar speciell, Zeugenanführung 471 E: ἐπειδὰν — μάρτυρας πολλοὺς παρέχωνται χαὶ εὐδο-- κίμους, vgl. 474 A: ἕνα μὲν παρασγέσϑαι μάρτυρα ἐπίσταμαι χτὰ. Schreckmittel 418 1): μορμολύττει αὖ, ὦ γενναῖε Πῶλε, χαὶ οὐχ ἐλέγχεις. Hohn 473 E: γελᾷς ; ἄλλο αὖ τοῦτο εἶδος ἐλέγχου ἐστίν, ἐπειδάν τίς τι εἴπῃ, καταγελᾶν, ἐλέγχειν δὲ μῇ
267
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GORGIAS. 25
ihm nothwendig verbunden erscheinen. Die Stellung, welche Polos auf ethischem Gebiete einnimmt, ist daher in Platons Sinne die geeignete, die Forderungen wissenschaftlicher Metho- dik an einzelnen Beispielen geltend zu machen. — Kallikles erfährt derlei Zurechtweisungen methodologischer Art nicht; wo auf das Unzureichende symbolischer Darstellung vor der Durch- führung des Beweises aus den Begriffen hingewiesen werden soll, ist es Sokrates selbst, der beispielsweise diesen Weg einschlägt 20), Vielmehr wird des Kallikles unverhohlene Consequenz wiederholt durch die Erklärung anerkannt, dass, was im Gespräche mit ihm werde festgestellt werden, unbedingte Giltigkeit habe?!). Aber charakteristisch und von den vorigen Theilen unterschei- dend ist die Weise, wie Kallikles sich der Beschämung des Eingestehens eines von ihm begangenen Widerspruches zu ent- winden sucht; er klagt über die sophistischen Winkelzüge und die Rechthaberei des Sokrates (σοφίζεσϑαι, ἄνω χάτω στρέφειν, orAoyeızeiy)22): was er zurücknehmen muss, hat er ja schon früher so gemeint oder nur zum Scherze aufgestellt, um zu sehen, wie Sokrates sich eine Freude daraus machen werde es zu bestrei- ten 23); was er den Gründen nachgeben muss, das gibt er vor nur aus Gefälligkeit gegen Sokrates oder gegen Gorgias zuzu- geben 2) ; als nur noch die ihm schon im voraus wohl ersicht- liche Summe zu ziehen ist aus den Posten, die er im einzelnen
20) Vgl. oben Anm. 4.
21) 486 E: εὖ οἵδ᾽ ὅτι, ἄν por σὺ ὁμολογήσῃς περὶ ὧν ἣ ἐμὴ ψυχὴ δοξάζει, ταῦτ ἤδη ἐστὶν αὐτὰ τἀληϑῆ. 487 E: ἐάν τι σὺ ἐν τοῖς λόγοις ὁμολογήσῃς μοι, βεβασανισμένον τοῦτ᾽ ἤδη ἔσται ἱχανῶς ὑπ᾽ ἐμοῦ τε καὶ σοῦ, χαὶ οὐχέτι αὐτὸ ὃε-- ἥσει ἐπὶ ἄλλην βάσανον ἀναφέρειν.
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2) 497 A: οὐχ old ἅττα σοφίζει, ὦ Σώκρατες. - 511 A: οὐχ οἶδ᾽ ὅπῃ στρέ- φεις ἑχάστοτε τοὺς λόγους ἄνω καὶ κάτω, ὦ Σώχρατες. 515 Β: φιλόνεικος εἴ, ὦ Σώκρατες. ;
28) 489 Ο: εἰπέ μοι, ὦ Σώχρατες, οὐχ αἰσχύνει, τηλικοῦτος ὥν, ὀνόματα ϑη- ρεύων, χαὶ ἐάν τις ῥήματι ἁμάρτῃ, ἕρμαιον τοῦτο ποιούμενος ; ἐμὲ γὰρ οἴει ἄλλο τι λέγειν τὸ χρείττους εἶναι ἢ τὸ βελτίους; οὐ πάλαι σοι λέγω, ὅτι ταὐτόν
x - γ φημι εἶναι τὸ βέλτιον καὶ τὸ χρεῖττον; 491 A: ἀλλ᾽ ἔγωγε καὶ πάλαι λέγω. 499 B vgl. in Anm. 8.
4) 501 C: — ἀλλὰ συγχωρῶ, ἵνα σοι καὶ περανϑῇ ὁ λόγος καὶ Γοργίᾳ τῷδε χαρίσωμαι. --- 510 A: ἔστω σοι τοῦτο, ὦ Σώχρατες, οὕτως ἵνα διαπεράνῃς τὸν λό-- γον. --- 513 E: ἔστω, εἰ βούλει, σοὶ οὕτως. --- 514 A: πάνυ γε, εἴ σοι ἥδιον. —
516B: πάνυ γε, ἵνα σοι γαρίσωμαι. — 516 C: βούλει σοι ὁμολογήσω ;
24 GORGIAS.
schon alle zugestanden hat, da will er nicht mehr antworten und macht dadurch an dieser Stelle, wo ein Zugestehen seinerseits gar nicht erst noch erforderlich ist, eben sein Schweigen zum beredtesten Eingeständnisse der Niederlage); und bei allem dem
fehlt doch die Anerkennung nicht, dass Sokrates’ Gründe un- 268
widerleglich sind und nur die bei ihm einmal festgewurzelten Ansichten und Neigungen der Aneignung der Überzeugung ent- gegenstehen 326).
4. Die bisher entwickelten Gründe für die behauptete Glie- derung des Platonischen Gorgias waren von äufserlichen und formalen Gesichtspuneten entlehnt; denn es fragte sich nur, inwiefern in der Darstellung Zeichen der Trennung und cha- rakteristische Unterschiede der angenommenen drei Haupt- abschnitte liegen. Das auf diese Weise gewonnene Resultat kann als richtig und erwiesen erst dann gelten, wenn es sich durch den Gedankeninhalt jener Hauptabschnitte be- währt, nämlich dadurch, dass jeder dieser Hauptabschnitte eine Frage in ununterbrochenem Zusammenhange behandelt und zu einem vollständigen oder relativen Abschlusse bringt, eine Frage, die von der im vorausgehenden behandelten bestimmt unter- schieden und mit ihr nicht in unmittelbaren Gedankenzusammen- hang gebracht ist.
Die Frage, welche im ersten Abschnitte die Unterredner be- schäftigt, wird sogleich mit dem Beginne des Dialogs ausge- sprochen: Sokrates sucht bei Gorgias Aufklärung über den Begriff derjenigen Kunst, für deren Lehrer er sich erklärt, also über den Begriff der Rhetorik. Die allmähliche Feststellung dieser Defini- tion und zwar im Sinne des Gorgias, den Sokrates nur veranlasst seine Gedanker zur begrifflichen Schärfe zu bringen, beschäftigt diese beiden Unterredner während des gröfsten Theiles ihres Ge- spräches. Aus dem von Gorgias selbst aufgestellten Begriffe und
den dadurch bezeichneten Bedingungen der Rhetorik im Ver- ᾿
gleiche mit der von ihm unveranlasst, zur eigenen Rechtferti-
2) 497 A: οὐχ οἵδ᾽ ἅττα σοφίζει, ὦ Σώχρατες und das Folgende bis 497 Ο. — 505 C: οὐχ οἵδ᾽ ἅττα λέγεις, ὦ Σώχρατες, ἀλλ᾽ ἄλλον τινὰ ἐρώτα und das Folgende bis 506 Ο.
2) 513 Ο 5. in Anm. 10.
"ur
GORGIAS. 25
gung gethanen Äufserung über die Möglichkeit ungerechter Anwendung dieser Kunst, ergibt sich sodann der Widerspruch, in welchem sich Gorgias in Betreff der ethischen und wissen- schaftlichen Grundlage seiner Kunst befinde.
Im zweiten Hauptabschnitte zeigt der zusammenfassende Schluss (cap. 36. τίς ἢ μεγάλη χρεία ἐστὶ τῆς ῥητορικῆς ; δεῖ γὰρ Ex τῶν νῦν ὡμολογημένων χτλ.), dass alle Theile der mannigfach verschlungenen Erörterung auf das eine Ziel hinstreben, den Werth und die Macht der thatsächlich geübten Rhetorik aufzu- zeigen, während der erste Hauptabschnitt seinen Höhepunct da erreicht hat, wo der Begriff der Rhetorik vollständig hergestellt ist. - Demnach könnte es scheinen, dass der Theil des Dialogs, den ich als zweiten Hauptabschnitt bezeichnet habe, nur als eine Fortsetzung, als die ergänzende zweite Hälfte des ersten Haupt- abschnittes zu betrachten sei und dass diese Zusammengehörig- keit vom Verfasser selbst deutlich genug bezeichnet werde. Das Urtheil über Werth und Macht der Rhetorik kann ja nur aus ihrem durch den Begriff zu bestimmenden Wesen gefolgert wer- den, wıe dies auch thatsächlich in diesem Abschnitte der Fall ist. Und der Schriftsteller selbst hat, so scheint es, diese un- unterbrochene Zusammengehörigkeit durch bemerkliche Zeichen angedeutet. Schon im ersten Hauptabschnitte versucht Polos, so lange er an dem Gespräche Theil nimmt, fortwährend von dem zu bestimmenden Wesen der Rhetorik auf das Lob ihrer Macht überzugehen, und Sokrates selbst spricht sein Staunen aus über die wunderbare Macht der Rhetorik (ἥτις ποτὲ ἡ δύνα - υἱς ἐστι τῆς ρητοριχῆς" δαιμονία γάρ τις ἔμοιγε χαταφαίνεται τὸ μέγε- dos οὕτω σχοποῦντι p. 456 A); und anderseits beginnt Polos den zweiten Hauptabschnitt mit der an Sokrates gerichteten Frage nach dem Wesen der Rhetorik (sd αὐτὴν τίνα φὴς εἶναι: p- 462 B), sucht von der unvollständigen Beantwortung dieser Frage sofort zu einem Lobe der Rhetorik zu eilen (οὐχοῦν χαλόν σοι δοχεῖ ἢ ῥητοριχὴ εἶναι p. 462 C), und muss es sich dann ge- fallen lassen, dass Sokrates wiederum eine Definition der Rhe- torik aufstellt. Aber gerade das Verhältnis dieser Sokratischen Definition zu der vorher von Gorgias unter Sokrates’ Anleitung hergestellten zeigt, dass zwischen dem ersten und zweiten Haupt- abschnitt keine Continuität besteht, sondern das Eingreifen des
26 GORGIAS.
Polos in das Gespräch im Sinne Platons einen wesentlichen Wendepunct bezeichnet. Nicht mit der von Gorgias hergestell- ten Definition stehen die dem Polos abgenöthigten Zugeständ- nisse in unmittelbarer Verbindung, sondern mit der Sokratischen, und zwischen diesen beiden Definitionen der Rhetorik und Er- klärungen über den von ihr verfolgten Zweck besteht eine we- sentliche Verschiedenheit?”). Gorgias’ Erklärung der Rhetorik, dass sie die Kunst sei, welche in den Fragen über Recht und Unrecht Überzeugung bei den Zuhörern schafft, nicht Belehrung und Wissen (ἢ ῥητοριχὴ πειϑοῦς δημιουργός ἐστι πιστευτιχῆς, ἀλλ᾽ οὐ
BEN
διδασχαλιχῆς περὶ τὸ δίχαιον χαὶ ἄδιχον p. 455 A), würde, abgesehen
5 Auf diese Verschiedenheit seiner eigenen Erklärung der Rhetorik von der Definition des Gorgias weist, scheint mir, der Platonische Sokrates deutlich genug hin, 462 Εἰ: ὀκνῶ γὰρ Γοργίου ἕνεκα λέγειν, μὴ οἴηταί με δια- κωμῳδεῖν τὸ ἑαυτοῦ ἐπιτήδευμα" ἐγὼ δέ, εἰ μὲν τοῦτό ἐστιν ἣ δητοριχὴ ἣν Top- ylas ἐπιτηδεύει, οὐκ olda’ καὶ γὰρ ἄρτι Ex τοῦ λόγου οὐδὲν ἡμῖν χαταφανὲς ἐγέ- νετο, τί ποτε οὗτος ἡγεῖται᾽ ὃ δ᾽ ἐγὼ χαλῶ τὴν ῥητορικήῆν, πράγματός τινός ἐστι μόριον οὐδενὸς τῶν χαλῶν. Die erklärenden Ausgaben schweigen über diese Stelle, als sei ihre Auffassung zweifellos; die Übersetzungen Schleiermachers und Müllers führen zu der Voraussetzung, dass die Übersetzer τοῦτο zum Subjecte machten, und in den damit im Zusammenhang zu betrachtenden Worten ὃ δ᾽ ἐγὼ χαλῶ τὴν ῥητοριχήν ist in Müllers Übersetzung „Was ich aber Redekunst nenne“ gewiss, in Schleiermachers Übersetzung „Was ich aber die Redekunst nenne“ wenigstens möglich, dass 5 als Object, τὴν βδητοριχῆν als Prädicat verstanden ist. Mir scheint es durch den sprachlichen Ausdruck und durch den Gedankenzusammenhang nothwendig, τοῦτο und 5 als Prädi- cat aufzufassen. Der Platonische Sokrates hat auf die Frage des Polos nach dem Wesen der Rhetorik geantwortet, sie sei eine Fertigkeit, ein gewisses Wohlgefühl und eine Lust zu bewirken (χάριτός τινος zal ἡδονῆς ἐργασία 462 C), und dieselbe nach diesem ihrem Charakter mit der Kochkunst auf gleiche Linie gestellt. Genauere Erklärung hierüber zu geben, sagt Sokrates, scheue er sich um des Gorgias willen, dass es nicht scheine, er wolle die Kunst desselben spottend herabsetzen. Ob nun die Rhetorik, welche Gorgias be- treibt, eine unsittliche Fertigkeit der Schmeichelei (τοῦτο) sei, das wisse er nicht zu sagen; denn aus den Aussagen des Gorgias sei dessen Ansicht nicht klar geworden, nämlich ob die Rhetorik ein ἄδιχον πρᾶγμα (460 E) sei oder nicht; denn die Forderung des Wissens über Recht und Unrecht einerseits und die anerkannte Möglichkeit einer ungerechten Anwendung der Rhetorik anderseits führten in ihrem widersprechenden Verhältnisse unter einander zu keinem klar abgeschlossenen Urtheil über den sittlichen Werth der Rheto- rik. Das aber, fährt Sokrates fort, wofür ich die Rhetorik erkläre, nämlich für πολιτιχῆς μορίου εἴδωλον 463 D, das ist ein Theil einer Beschäftigung, nämlich der Schmeichelei, die nicht zu den edeln gehört.
2τὸ
GORGIAS. 21
von der im folgenden verwendeten, nicht durch die Sache an sich gegebenen Begrenzung des Grebietes, die Beistimmung Platons ha- ben und ihm keinen Anlass zu einem Tadel oder Vorwurfe gegen diese Kunst geben. Einen Angriffspunct bietet diese Definition dem Platon erst dadurch, dass Gorgias die Wahrscheinlichkeit herstellbar erachtet, ohne dass der Redner Einsicht in die Wahr- heit der Sache habe, was er nachdrücklichst als einen besonde- ren Vorzug der Redekunst rühmt. Seine Missbilligung dieses Punctes, der im Phädrus eingehend behandelt ist, bezeichnet der Platonische Sokrates zwar deutlich genug (εἰ μὲν ἐλαττοῦται 7 μὴ ἐλαττοῦται ὁ ῥήτωρ τῶν ἄλλων διὰ τὸ οὕτως ἔχειν, αὐτίχα ἐπι- σχεψόμεϑα, ἐάν τι ἡμῖν πρὸς λόγον ἢ p. 459 C, vgl. 465 A); aber nicht von diesem Puncte aus verwickelt Sokrates den Gor- gias in Widersprüche, sondern vielmehr dadurch, dass Gorglas von dem Redner auf dem Gebiete des Rechtes Wissen zu be- anspruchen erklärt und dabei dennoch einen ungerechten Ge- brauch der Redekunst für möglich hält. Gorgias hatte die For- derung aufgestellt, dass man von der Rhetorik einen sittlichen, gerechten Gebrauch machen soll (διχαίως χαὶ τῇ ῥητοριχῇ χρῆ- sdaı p. 457 B), eine Forderung, mit welcher Polos’ Preis der erfolgreichen Ungerechtigkeit nicht vereinbar wäre; Sokrates nimmt in seine Erklärung der thatsächlichen Rhetorik , die Polos ohne Widerrede sich gefallen lässt, sogleich einen unsitt- lichen Zweek auf, dass die Rhetorik die Lust, nicht das Gute erstrebe. Auf dieser Bestimmung ruht, wie noch später im Ge- spräch mit Kallikles erinnert wird p. 500 A ff., die Widerlegung des Polos und ist in keine Beziehung zu der im ersten Haupt- abschnitte mit Gorgias verhandelten Definition gebracht. Der Gedankeninhalt zeigt also an derselben Stelle ein Anheben von einem neuen Ausgangspunct ohne Verwerthung des vorher er- reichten Ergebnisses, wo die äulsere Form des Gespräches, das Eintreten des Polos in die Stellung des Hauptträgers des Ge- spräches sammt den damit zusammenhängenden Umständen uns veranlasst einen neuen Hauptabschnitt beginnen zu lassen.
Am unverkennbarsten bezieht sich der gesammte dritte Ab- schnitt, das Gespräch mit Kallikles, auf die Frage: welches ist der wahre Lebensberuf? wird derselbe durch das Studium der Philosophie im Platonischen Sinne, oder wird er durch die Be-
28 GORGIAS.
schäftigung mit Politik und Rhetorik nach deren thatsächlichem Charakter erfüllt? Zu dieser Frage formulirt Sokrates sogleich die allgemeinen Vorwürfe, die Kallikles gegen ihn erhoben hat, und bezeichnet sie als den hochwichtigen Gegenstand der Unter- suchung, die man zu führen habe 358) ; diese Frage ist es, welche durch den Schluss als gelöst und in unbedingter Giltigkeit ent- schieden bezeichnet wird?) ; nur durch die Beziehung auf diese Frage erhält die Kritik der athenischen Staatsmänner und 21 erhalten die mannigfachen Erwägungen der praktischen Verhält- nisse ihre Bedeutung; diese Frage tritt bedeutungsvoll an jeder Stelle wieder hervor, an welcher der Dialog irgend eine wesent- liche Wendung nimmt").
Für die einzelnen Abschnitte des umfangreichen Gespräches mit Kallikles ist in der obigen Inhaltsübersicht das Thema durch eine Überschrift kurz bezeichnet. Dass in der Unterscheidung gerade dieser Abschnitte die Weisungen des Dialogs selbst be- folgt sind, wird sich, hoffe ich, nachweisen lassen. Nach den längeren Reden des Kallikles und Sokrates, durch welche der Gegenstand der Frage bezeichnet ist, wird der Anfang der Un- tersuchung deutlich markirt durch die Worte 488 Β ἐξ ἀρχῆς δέ wor ἐπανάλαβε πῶς φὴς τὸ δίχαιον ἔχειν χτλ. Diese Aufforderung, die ausgesprochene Lebensansicht zu vollkommen klarer und be- stimmter Fassung zu bringen, ist erfüllt durch die Erklärung des Kallikles τρυφὴ χαὶ ἀχολασία al ἐλευϑερία ἐὰν ἐπιχουρίαν ἔχῃ, τοῦτ᾽ ἐστὶν ἀρετή τε χαὶ εὐδαιμονία 492 C, welche Sokrates als die un-
38) 487 E: πάντων δὲ χαλλίστη ἐστὶν ἡ σχέψις, ὦ Καλλίχλεις, περὶ τούτων ὧν σὺ δῆ μοι ἐπετίμησας, ποῖόν τινα χρὴ εἶναι τὸν ἄνδρα χαὶ τί ἐπιτηδεύειν χαὶ
μέχρι τοῦ, χαὶ πρεσβύτερον χαι νεώτερον ὄντα.
20) 527 Β: οὐχ ER ἀποδεῖξαι, ὡς δεῖ ἄλλον τινὰ βίον ζῆν ἢ τοῦτον χτλ. — 527 E: ὥσπερ οὖν ἡγεμόνι τῷ λόγῳ χρησώμεϑα τῷ νῦν παραφανέντι, ὅτι οὗτος ὁ - πρόπος ἄριστος τοῦ βίου χτλ.
80) 492 D: δέομαι οὖν ἐγώ σου μιηδενὶ τρόπῳ ἀνεῖναι, ἵνα τῷ ὄντι κατάδηλον Ἰένηται πῶς βιωτέον. — 500 C: ὁρᾷς γὰρ ὅτι περὶ τούτου εἰσὶν ἡμῖν οἱ Ἀόγοι, οὗ τί ἂν μᾶλλον σπουδάσειέ τις χαὶ σμικρὸν νοῦν ἔχων ἄνϑρωπος, ἢ τοῦτο, ὅντινα χρὴ τρόπον ζῆν, πότερον ἐπὶ ὃν σὺ παραχαλεῖς ἐμὲ χτλ. (vgl. 505 E. 508 C). — 512 Εἰ: — τὸ ἐπὶ τούτῳ σχεπτέον, τίν᾽ ἂν τρόπον τοῦτον ὃν μέλλοι χρόνον βιῶ- ναι ὡς ἄριστα βιῴη, ἄρα ἐξομοιῶν αὑτὸν τῇ πολιτείᾳ ταύτῃ ἐν ἡ ἂν οἰχῇ κτλ. --- 515 A: — ἐπειδὴ σὺ μὲν αὐτὸς ἄρτι ἄρχει πράττειν τὰ τῆς πόλεως πράγματα, ἐμὲ δὲ παραχαλεῖς χαὶ ὀνειδίζεις ὅτι οὐ πράττω, οὐχ ἐπισχεψόμεϑα ἀλλήλους χτλ. vgl.
5214. Ὦ.
GORGIAS. 29
verhohlene Aussage einer verbreiteten, aber gewöhnlich sich ver- hüllenden Gesinnung anerkennt. Die daran sich anschliefsende Aufforderung des Sokrates an Kallikles, nicht nachzulassen, da- mit offenbar werde, wie man leben solle (ἵνα τῷ ὄντι χατάδηλον γένηται, πῶς βιωτέον 492 D), macht kenntlich, dass jetzt, nach Formulirung des Satzes, die Prüfung desselben beginnt. Abge- schlossen ist die Prüfung desselben an der Stelle 499 B, wo Kallikles den Unterschied der Lust und des Guten anzuerken- nen sich gezwungen sieht; die Worte, mit denen Sokrates dies Zugeständnis aufnimmt, heben den Unterschied der jetzigen Er- klärung des Kallikles gegen die frühere scharf hervor ἢ. Von der Untersuchung der Begriffe ἀγαϑόν und δύ, deren Ergebnis Sokrates ausführlich anerkennen lässt, hebt sich bestimmt ab die Anwendung des gewonnenen Ergebnisses, um dadurch die von Gorgias und Polos zugegebenen Sätze?) gegen den Widerspruch des Kallikles festzustellen. Innerhalb des hierauf bezüglichen Abschnittes tritt zwar ein Unterschied in der Gesprächsform ein, indem nach Kallikles’ Weigerung weiter zu antworten 505 C ff., Sokrates allein die Untersuchung fortführt 506 C; aber ein Ab- schnitt und Ruhepunct im Gedankengange ist durch diese for- male Änderung nicht bezeichnet, denn nach kurzer Recapitula- tion setzt Sokrates die weitere Entwickelung von dem bereits erreichten Puncte aus fort. Die Weigerung des Kallikles bringt nur zur Anschauung, dass er den Gründen des Sokrates zu wider- sprechen nicht vermag, aber auch ihre Ergebnisse sich nicht als Überzeugung aneignen kann, kurz dasselbe, was Kallikles am Schlusse ausdrücklich sagt 513 (Οὐ οὐχ old” ὅντινά μοι τρόπον δο- χεῖς εὖ λέγειν, ὦ Σώχρατες: πέπονθα δὲ τὸ τῶν πολλῶν πάϑος" οὐ πάνυ σοι πείϑομαι. Die auf diese Zustimmung folgende Erörte- rung wird durch die Worte des Sokrates ἀλλ᾽ ἐὰν πολλάχις χαὶ βέλτιον ἴσως ταὐτὰ ταῦτα σχοπώμεϑα, πεισϑήσει. ἀναμνήσϑητι οὖν χτλ.
8ὴ 499 Ο: ἔστι δὲ δή, ὡς ἔοιχεν, ὃ νῦν λέγεις, ὅτι ἡδοναί τινές εἰσιν αἱ μὲν Gyadat, αἱ δὲ χαχαΐ, vgl. mit den früheren Worten 495 A: πότερον φὴς εἶναι τὸ αὐτὸ ἡδὺ χαὶ ἀγαϑόν, ἢ εἶναί τι τῶν ἡδέων ὃ οὐχ ἔστιν ἀγαϑόν; und des Kal- likles Antwort darauf.
32) 499 E: ἕνεχα γάρ που τῶν ἀγαϑῶν ἅπαντα ἡμῖν ἔδοξε πραχτέον εἶναι, εἰ μνημονεύεις, ἐμοί τε χαὶ Πώλῳ. — 500 A: ἀναμνησϑῶμεν δὴ ὧν αὖ ἐγὼ πρὸς Πῶλον χαὶ Γοργίαν ἐτύγχανον λέγων.
90 GORGIAS.
als eine neu anhebende Gedankenreihe von der vorherigen un- terschieden; sie dient zugleich dazu, die früher 503 C nur all- gemein gehaltene Kritik der grolsen attischen Staatsmänner aus der Vergangenheit im einzelnen genauer auszuführen. Dass end- lich von der beweisenden Erörterung der Mythus 523 A ff. sich bestimmt abhebt,- bedarf nicht noch besonderer Erwähnung.
5. Wenn es im vorhergehenden gelungen ist, zur Bestim- mung der Gliederung des Dialogs und des Gegenstandes der Verhandlung in jedem der Hauptabschnitte streng und aus- schliefslich den Andeutungen Platons zu folgen, so muss dadurch zugleich Sicherheit in Aufstellung des einheitlichen Zweckes erreicht sein.
Dass jeder der drei Hauptabschnitte eine eigenthümliche Frage behandelt, gibt dem Werke den Charakter eines wirk- lichen Dialoges, nicht einer in dialogische Form umgeschriebe- nen systematischen Abhandlung; dass nach der Niederlage jedes einzelnen der Unterredner ein neuer Kämpfer in noch grölserer- Entschiedenheit auftritt, gibt dem Dialoge neben der steigenden Gründlichkeit der Beweisführung zugleich dramatische Lebendig- keit; aber die Einheit des Werkes kann nur darin liegen, dass die in den einzelnen Abschnitten durchgeführten Gedankenreihen nach demselben Puncte hinzielen, die in den einzelnen Ab- schnitten enthaltenen Discussionen zur Beantwortung einer und derselben Frage dienen. Schwerlich kann dann noch ein Zweifel sein, dass die mit Kallikles verhandelte Frage: „Ist Philosophie im Platonischen Sinne, oder ist politische Rhetorik in ihrem damaligen thatsächlichen Zustande eine würdige Lebensaufgabe ?* den Kern und Zweck des ganzen Dialogs bezeichnet; denn ihrer Beantwortung dienen mittelbar auch die beiden ersten Ab- schnitte. Im ersten stellt Platon die Rhetorik durch den Mund ihres geachteten Repräsentanten als eine Gewandtheit des Schei- nes dar, im zweiten erklärt er ebenfalls durch einen ihrer Ver- treter den Genuss, die Erfüllung des jedesmaligen augenblick- 272 lichen Beliebens für das Ziel, in dessen Erreichung sie ihre Macht sucht. Ist hierdurch der thatsächliche Hintergrund des leeren Scheines und des Unsittlichen gezeichnet, so stellt dann der dritte Abschnitt dem Dünkel des Meinens die Sicherheit des Wissens, dem blolsen Genusse das an sich Gute gegenüber, und
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GORGIAS. 31
sichert namentlich diese letztere Unterscheidung gegen den Ver- such sie in Abrede zu stellen. An den begrifflichen Beweis derselben schliefst sich die Anwendung auf verschiedene Kreise des Lebens und die Anknüpfung der wissenschaftlich begründeten Sätze an die Ahnungen des Volksglaubens. — Es handelt sich in diesem Dialoge nicht darum, die Philosophie nach ihrem ganzen Umfange in ihrer hohen Bedeutung darzulegen, sondern, so untrennbar verbunden für Platon übrigens die theoretische und die praktische Seite der Philosophie ist, Gegenstand die- ses Dialogs ist nur die Ethik, die Philosophie als sittliche Le- bensaufgabe oder Lebenskunst; daher bildet die Nachweisung des Unterschiedes, nicht von Sein und Schein oder von Wissen und Meinen, sondern von Gut und Lust den Kern des Dialogs, so dass nach seiner Feststellung die Folgerungen ungehindert fortschreiten können. Die Bedeutung der Ethik und die Ver- tiefung in sie ist nicht an sich dargelegt, sondern im Gegen- satze zu der in voller Blüthe stehenden Rhetorik und der Beschäftigung mit ihr®) ; daher erklärt sich, dass von der Dar- stellung der Rhetorik ausgegangen und jedes begrifflich gewon-
3) Die hier gegebene Bestimmung des einheitlichen Zweckes, den Pla- ton im Dialoge Gorgias verfolgt, stimmt mit dem überein, was Schleier- macher in seiner Ausdrucksweise und zugleich im Zusammenhange mit sei- ner Anordnung der gesammten Dialoge darüber erklärt, Einleitung zum Gorgias S. 7 (3. Aufl.): „Und an der Lösung dieser Aufgabe wird natürlich auf einem zweifachen Wege gearbeitet, indem, ohne jedoch beides in ver- schiedenen Schriften gänzlich zu trennen, theils das bisher für Wissenschaft und Kunst gehaltene in seinem Unwerth aufgedeckt wird, theils Versuche gemacht werden, eben vom Erkennen jenes Gegensatzes aus das Wesen der Wissenschaft und Kunst und ihre Grundlage richtig darzustellen. Der Gor- gias nun steht eben desshalb an der Spitze dieses Theils, weil er vorberei- tend mehr bei jenem stehen bleibt als auf dieses sich einlässt, und ganz von der ethischen Seite ausgehend die hier stattfindende Verwir- rung bei beiden Enden anfasst, bei der innersten Gesinnung, als der Wur- zel, und bei der zu Tage ausgehenden Anmalsung, als den Früchten.“ S. 11: „Nämlich in der Hauptsache, in der Art wie das Einzelne, die Rhetorik als Beispiel des leeren Scheines in der Kunst’mit dem allgemeinen Zwecke der ganzen Darstellung, dem Bestreben, den Gegensatz zwischen dem Ewigen und Fliefsenden auf der praktischen Seite aufzusuchen, zusammenhängt“ u. s. w. Anders Steinhart $. 341: „Am sichersten dürften wir wohl das von Platon schon im Euthydemus aufgestellte Ideal einer höchsten, vollkommensten, jedes wahrhafte Wissen und jede echte Kunst in sich fassenden, ethisch-politischen Lebenskunst als den Grundgedanken des Gespräches ansehen, in welchem
92 GORGIAS.
nene Resultat zu ihrer Kritik angewendet wird. Es handelt sich um die Rhetorik als Organ der politischen Thätigkeit ’*), nicht um die Rhetorik in ihrer nach Platonischen Grundsätzen unwissenschaftlichen Haltlosigkeit; dass dieser letztere Gesichts- punct eine ganz andere Art der Kritik ergeben würde, kann am augenfälligsten der Platonische Phädrus erweisen. Mit der Rhetorik werden andere Lebensberufe, welche den Genuss, nicht das Gute erstreben und auf einem Takte der Erfahrung, nicht auf fester Einsicht beruhen, in ihrem Charakter gleichgesetzt; die Grundlagen zur Kritik der thatsächlichen Rhetorik in ihrem unsittlichen Wesen sind so gelegt, dass sie zugleich zur Kritik dieser gesammten unsittlichen, gehaltsleeren Lebensrichtungen ausreichen; aber ausgeführt ist die Kritik nur gegenüber der Rhetorik. Für das Verständnis des Gedankeninhaltes des Wer- kes im einzelnen wie in seiner Richtung auf einen einheitlichen Zweck macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob man an- nimmt, Platon denke bei der in diesem Dialoge enthaltenen Ver- theidigung des Sokrates an den historischen Sokrates oder an sich selbst, also ob man annimmt, er rechtfertige den Sokrates oder er rechtfertige sich selbst darüber, dass er sich einzig der Philo- sophie widmete, während die allgemeine Überzeugung von ihm eine thätige Betheiligung an der Verwaltung des Staates erwartete und nur diese achten würde; doch dürfte die Ansicht Schleier- machers, der im Gorgias „eine Apologie des Platon“ sieht, sich zu hoher Wahrscheinlichkeit erheben lassen 35).
alle Theile und Beziehungen desselben ihren Mittelpunet haben, und auf welchen sich ohne Zwang auch die scheinbar abschweifenden Betrachtungen zurückführen lassen.“ Die Darstellung der „falschen sophistischen Rhetorik“ wird a. a. Ὁ. nur als der „Ausgangspunct“ bezeichnet, den Platon treffend zur Erreichung jenes Zweckes gewählt habe, wiewohl es später 5. 344, 346 gelegentlich scheint, als werde dieser negativen Seite doch ein etwas grölse- res Gewicht beigelegt; aber dass es sich im Dialoge eben um diesen Ge- gensatz handle, wird nicht anerkannt. Noch unbedingter erklärt Suse- mihl S. 99 „die Darstellung der Philosophie als der ethisch-politischen Lebenskunst für den Mittelpunct des Werkes“.
#4), Vergl. Schleiermacher ἃ. ἃ. O. 5. 8: „Die Rhetorik nämlich wird hier, wohl zu merken, für die gesammte scheinbare Politik, aber auch nur für sie gebraucht.“
85) Es genüge, hierüber auf Schleiermacher selbst a. a. Ὁ. 8. 15. und auf Steinharts Bestreitung desselben 8. 387 f. zu verweisen; mit der
GORGIAS. 33
274 6. Steinhart, dem in diesem Puncte Susemihl voll- kommen beistimmt, gliedert (S. 358—360) den Dialog Gorgias, nach Ausscheidung des kurzen einleitenden Abschnittes (Cap. 1, 2) in fünf Haupttheile: Cap. 3—20, 21—36, 37—46, 47—61, 62—83, und zwar mit der Bemerkung, dass der hiedurch be- zeichneten „künstlerischen Composition des Dialogs die philo- sophische Gliederung und Folge der vielfach in einander ver- schlungenen und doch zu demselben Ziele führenden Gedanken- reihen entspreche.“ (ὃ. 360.)
„In dem ersten Theile (Cap. 3—20), wo abwechselnd Gorgias und Polos gegen Sokrates auftreten, beginnt die Handlung mit einem heitern Wortgefechte, in welchem es sich blofs noch um die Bedeu- tung und den Nutzen der Rhetorik zu handeln scheint; erst gegen das Ende tritt, in der Gegeneinanderstellung der falschen und echten Künste, der Gegensatz, der durch den ganzen Dialog hindurchgeht, deutlicher hervor. Ganz symmetrisch entspricht hier einer längern Erörterung des Gorgias, welche den Dialog auf einige Zeit unter- bricht, eine längere Rede des Sokrates am Schlusse des Abschnittes. Der zweite Theil (Cap. 21—36), in welchem Gorgias ganz zurück- tritt und Polos allein mit Sokrates im Kampfe bleibt, stellt den Ge- gensatz schon in grölserer Schärfe heraus. Der Willkür, welche man im gemeinen Leben Freiheit nennt, tritt die wahre Freiheit des sitt- lichen Willens, der willkürlichen Macht, die im Grunde die grölste Ohnmacht ist, die sittliche Macht des Rechtes und des Gesetzes, der Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit gegenüber, bis zuletzt, im Gegen- satze zu dem verkehrten, auf Willkür und Unrecht beruhenden Welt- laufe, die etwas an das Wunderbare streifende Schilderung eines idea- len Zustandes der Menschheit hervortritt, in welchem jeder, der sich eines Unrechts schuldig wisse, für sich selbst, jeder auch für seine schuldigen Freunde mit aller Kraft der Beredsamkeit die Strafe begeh- ren, nicht sich oder diese derselben zu entziehen, die Feinde dagegen von ihr auf alle Weise zu befreien suchen werde, weil der Zweck der Strafe Besserung, mithin das straflose Verharren in der Ungerechtig- keit das gröfste aller Übel sei, da es den natürlichsten Weg der Bes- serung abschneide. Auch hier wechselt bei jedem der beiden Unter- redner das raschere Wechselgespräch zuweilen mit längeren Erörterun- ᾿ gen. In Inhalt und Form bilden so die beiden ersten Theile, in welchen im ganzen die kurze Wechselrede vorherrscht, ein gröfseres Ganzes. Ebenso sind auch die drei folgenden Abschnitte, in welchen Kallikles allein sich mit Sokrates unterredet und auf beiden Seiten
letzteren ist überdies zu vergleichen die davon merklich verschiedene Bezie- hung, welche Steinhart III, S. 25 und 62 der als Episode im Theätetos vorkommenden Vertheidigung der Philosophie zuschreibt.
Bonitz, Platonische Studien. 3
94 GORGIAS.
immer mehr die Neigung zu längern Reden überwiegt, ein eng ver- bundenes Ganzes. In dem dritten Theile (Cap. 37—.46) erscheint der Gegensatz der menschlichen Willkür gegen das göttliche Gesetz auf seiner höchsten Spitze, die Willkür tritt in ihren beiden Hauptformen gegen das Recht in den Kampf; zuerst objectiv als Aufgebung aller gesetzlichen und rechtlichen Staatsordnung, als Anarchie, als unbe- dingte Herrschaft des Stärkern, dann subjectiv als bewusster Wider- 275 spruch der Lust gegen das Sittengesetz, als völlige Ungebundenheit, als unbedingte Herrschaft des blinden Triebes und seines Strebens nach Befriedigung. Je höher nun hier der sündhafte Stolz und Trotz des Eigenwillens sein Haupt erhob, desto glänzender tritt in den bei- den folgenden Theilen der Sieg des guten Princips hervor. Schon im Anfange des vierten Abschnitts (Cap. 47—61) schlagen die tief ern- sten, ahnungsvollen Aussprüche von Dichtern und Philosophen über ein dem gewöhnlichen Blicke verborgenes, höheres Leben einen die nachfolgenden erhabenen Gedanken würdig einleitenden, feierlichen Grundton an. In dem sich sogleich anschlielsenden dialektischen Kampfe wird dann die Lust in ihrer ganzen Nichtigkeit dargestellt und das Gute als die einzig wahre Richtschnur im Leben anerkannt. Nachdem so die unsittliche Lebenspraxis in ihrem Mittelpuncte über- wunden ist, erscheint der Gegensatz eines doppelten Lebens und einer doppelten Kunst in seiner ganzen Klarheit und führt zu der höchsten Idee des Dialogs, zu der Idee der die Welt beherrschenden Harmonie und malsvollen Ordnung. Endlich enthüllt sich, als Frucht der heifsen und ernsten Kämpfe, mit seiner ebenso erschütternden als erhebenden Macht gleichsam das Schicksal unserer Gesprächshandlung im fünften Theil (Cap. 62—83), in welchem das Sittengesetz zuerst an die Gesetze des Universums, sodann ‚an die ewige, von Gott bestimmte sittliche Weltordnung angeknüpft wird. Hier laufen, gerade wie am Schlusse einer Tragödie, alle Fäden der reichen Handlung zusammen und jeder Missklang wird zur reinsten Harmonie. Die sittliche Reinigung der Gefühle und Leidenschaften, welche Aristoteles als den Zweck der Tra- gödie ansieht, ist auch hier vollbracht. Die Lehrdichtung von der ewigen Vergeltung können wir als den Epilog des philosophischen Drama bezeichnen und mit den am Ausgang der Tragödien so ge- wöhnlichen Göttererscheinungen vergleichen. Die nochmalige Zusam- menfassung der Hauptgedanken des Dialogs im letzten Capitel erinnert an die Anapästen, welche am Schlusse die Grundidee der Tragödien in kurzen Worten auszusprechen pflegen. Mit dem grolsen Ernst der ganzen Darstellung hängt übrigens auch das zusammen, dass die Zu- hörer hier nicht als mithandelnd, wie im Protagoras und im Euthy- demos, sondern nur als ruhige Zeugen des Gespräches aufgeführt werden.“
Sehen wir ganz ab von der durch diese Darlegung der an- geblichen Gliederung des Dialogs sich hindurchziehenden und vorher ausführlich durchgeführten Vergleichung mit der Tragö-
210
GORGIAS. 35
die: die dramatische Natur eines wissenschaftlichen Dialogs mit der eines Drama selbst, und speciell einer Tragödie, in solcher "Weise gleichzusetzen, fördert unmöglich die Einsicht in das eine oder das andere, dazu liegen beide zu weit auseinander; die Fünftheiligkeit ist bekanntlich nicht Gesetz, ja nicht einmal überwiegender Brauch der antiken griechischen Tragödie. Am verfehltesten ist offenbar die Vergleichung des Mythus, der am Schlusse des Dialogs eintritt, nachdem über die den Dialog durch- ziehenden Gegensätze die Entscheidung auf wissenschaftlichem Wege bereits erreicht ist, mit den Göttererscheinungen in der Exodos mancher Tragödien, durch welche ein sonst nicht lös-
‚barer Conflict erst durchschnitten werden soll. Es handelt sich,
das ist hier wie in allen ähnlichen Fällen die Hauptsache, nicht um eine Gliederung, durch welche wir uns nach irgend welchem subjectiven Belieben die Gedanken Platons zurechtlegen und uns in denselben orientiren, sondern um diejenige Gliederung, welche Platon selbst mit hinlänglicher Deutlichkeit bezeichnet haben muss, wenn er es uns soll möglich gemacht haben, uns in seinen Gedankengang zu finden und den Zweck des Ganzen daraus in seinem Sinne wieder zu construiren. Das Ende eines Abschnittes muss als Abschluss einer Gedankenreihe, der Anfang als das Anheben einer andern Gedankenreihe deutlich bezeichnet sein. Unmöglich kann man diese Kriterien am Schlusse des 20. oder des 46. Cap., unmöglich also an diesen Stellen ein Ge- lenk der Hauptgliederung bezeichnet finden. Am Schlusse von Cap. 20 ist der Platonische Sokrates so eben mit der Auseinan- dersetzung des Gegensatzes jener Künste oder vielmehr kunst- losen Verrichtungen, welche nur das Angenehme und die Lust zu ihrem Zwecke haben, gegen die Künste, welche das Gute und Beste zu erreichen suchen, zu Ende gelangt, und fordert nun den Polos auf, von dieser seiner Antwort den gehörigen Gebrauch zu machen. Da kann doch nicht mit dem Schlusse der Erörterung des Sokrates, an welche sich die nächsten Fragen des Polos auf das untrennbarste anschliefsen, ein Abschnitt ge- setzt werden, sondern derselbe könnte immer noch eher am An- fange der längeren Erörterung des Sokrates angenommen werden, um zwei Capitel früher, wenn nicht schon ein flüchtiger Blick auf diese letztere Stelle dies mindestens ebenso unmöglich machte. 3*
36 GORGIAS.
Eben so wenig ist zu sehen, wie mit dem Schlusse von Cap. 46 ein Hauptabschnitt erreicht sei. Durch des Sokrates Fragen gedrängt ist hier Kallikles bis zu der unumwundenen Erklärung fortgeschritten, dass in der unbegrenzten Erfüllung der Begierden, wenn ihr nur die nöthigen Mittel überall zu Ge- bote stehen, die Tugend und Glückseligkeit bestehe. Mag man dies immerhin mit Recht als den Höhepunct der offen erklärten Feindschaft gegen die Forderungen der Sittlichkeit bezeichnen: die eigentliche Wendung zur entscheidenden Widerlegung solcher Gedanken tritt noch nicht einmal hier ein, sondern erst nach- dem jener Satz auf die noch strengere Formel zurückgebracht ist, dass die Lust und das Gute identisch seien, Cap. 49; denn . erst nach dieser Formulirung beginnt Sokrates die Entgegnung 277 mit der deutlichen Bezeichnung, dass es sich nun um ernst- lichen Beweis handle.
Und eben so wenig lässt sich zugeben, dass mit Cap. 62 ein neuer Abschnitt, oder gar ein neuer Hauptabschnitt des Dialo- ges beginne. Dem entscheidenden Beweise, dass angenehm und gut, Genuss und Tugend nicht identisch sind, ist Kallikles ohne Weigerung antwortend gefolgt; die vollkommene Niederlage, welche dieser Beweis ihm bringt, sucht er noch dadurch zu ver- bergen, dass er sich stellt, als habe er ja schon vorher gar nicht anders darüber gedacht, als begriffe er nicht, wie Sokrates eine scherzende Äufserung so ernst nehmen könne. Auch bei den Folgerungen, welche Sokrates aus der gesicherten Grundlage zieht, ist Kallikles noch längere Zeit zu antworten bereit; denn Sokrates stürzt nicht in eiliger Hast auf sein Ziel zu, sondern nähert sich demselben nur in allmählich immer enger dasselbe umschlielsenden Kreisen. In dem Mafse, als Kallikles sieht, dass seine liebsten Überzeugungen und Neigungen bedroht sind und sich nicht mehr vertheidigen lassen, wird er einsylbiger und unwilliger zum Antworten, und lässt sich endlich selbst durch Gorgias’ Zureden nicht dazu bestimmen weiter regelmälsig Rede zu stehen. Es bedarf ja nunmehr der Zustimmung des Kalli- kles nicht weiter, da er bereits zu allem Einzelnen seime Bei- stimmung erklärt hat, aus dem nun unwidersprechlich das letzte Ergebnis folgt. Sokrates beginnt daher mit den folgenden Worten nicht eine neue Gedankenreihe, er vergegenwärtigt viel-
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GORGIAS. 37
mehr blofs, was Kallıkles bereits als richtig anerkannt hat, und kann, ohne dass eine ausdrückliche Einstimmung erst noch er- forderlich scheine, daran leicht die letzten Folgerungen anschlie- (sen. Ja selbst der Unterschied in der äulseren Gesprächsform, dass Sokrates eine Zeit lang fast ausschlielslich spricht, ist kein fester, sondern ein fliefsender. Schon vorher sucht sich allmäh- lich Kallikles dem Antworten zu entziehen, und ebenso wird er bald, wo ihm keine Gefahr zu drohen scheint (c. 65), wieder all- mählich in dasselbe hineingezogen ; ja nach dem vollkommen ab- schliefsenden Beweise für den Werth des Lebens in der Philo- sophie und den Unwerth der politischen Rhetorik erklärt Kalli- kles, dass er die Gründe des Sokrates anerkennen müsse, wenn sie auch in ihm noch keine Überzeugung erwirkt hätten (c. 69, 513C). Wir sehen hier Wogen des Gespräches, die uns in dessen frische Beweglichkeit versetzen und den Charakter des Unterredners lebendig zeichnen, aber wir sehen nicht ein festes Ufer, das diese Wogen begrenzte. Dagegen beginnt innerhalb des dritten Haupttheiles mit Cap. 69 ein untergeordneter Ab- schnitt; mit dem Schlusse des vorausgehenden Capitels ist auf die Entscheidung unter den beiden in Frage gestellten Lebens- berufen zurückgelenkt und ihr auf Kallikles Anwendung gege- ben. Kallikles und Sokrates bezeichnen, jeder in seiner Weise, dass hier ein Ruhepunct gewonnen ist, Kallikles durch die An- erkennung der Gründe, obgleich er noch nicht überzeugt sei, Sokrates durch die Bemerkung, dass zur Aneignung dieser Über- zeugung eine wiederholte Erwägung derselben Gedanken erfor- derlich sei; und eben eine neue, etwas anders gestaltete An- wendung derselben vorher festgestellten Grundsätze beginnt nun Sokrates, also eine neue Unterabtheilung des dritten Haupt- theiles.
Es kann vielleicht gleichgiltig oder doch unerheblich schei- nen, ob man an dieser oder jener Stelle einen grölseren oder einen untergeordneten Einschnitt in dem Dialoge glaubt erkennen zu sollen, und kleinlich, diesen Gegenstand in besondere Discussion zu ziehen. Sollte ein solcher Einwurf gemacht werden, so dürf- ten die Consequenzen, die sich unzertrennlich daran knüpfen, ob die Gliederung im Sinne des Schriftstellers getroffen ist oder nicht, den Einwurf schon an sich entkräften. Es ist
98 ; GORGIAS.
unmöglich, den Gang der Gedanken in voller Klarheit und Durchsichtigkeit zu erkennen, wenn man nicht die Marksteine, welche ihn abgrenzen und von denen aus eine theilweis neue Richtung beginnt, richtig erkannt hat. Man vergleiche die Cha- rakteristik, welche in der oben angeführten Stelle Steinhart über die einzelnen von ihm unterschiedenen Abschnitte gibt (die dar- auf folgende ausführliche Erörterung 8. 361— 387 geht weiter in das Einzelne und gibt darüber viel interessante und geist- reiche Bemerkungen, aber sie erhöht nicht die Bestimmtheit der Unterscheidungen oder des Zusammenhanges), oder man lese den Auszug, den Susemihl nach derselben Gliederung von dem Inhalte des Dialoges gibt S. 91 — 98, und frage sich, ob dadurch eine Vorstellung von einem streng zusammenhängenden Gedan- kengange und eine Einsicht in denselben gewonnen, ob damit das Lob, das man dem Platon als philosophischem Künstler mit fast verschwenderischer Hand spendet, gerechtfertigt oder in Zweifel gestellt wird. Die an die Spitze dieser Erörterungen gestellte Übersicht über den Gedankengang des Werkes mag zu- gleich versuchen, die in jenen Schriften enthaltenen Darlegun- gen zu kritisiren. Ein Eingehen in das Einzelne ist, wenn jene Übersicht überzeugend war, nicht weiter nöthig, und wenn sie es noch nicht war, durch die blofs negative Weise, die unver- meidlich wäre, erfolglos. Sind aber die einzelnen Glieder nicht richtig geschieden und die Fragen nicht erkannt, welche in jedem der Hauptabschnitte discutirt und entschieden werden, so kann auch in der Bestimmung des einheitlichen Zweckes nicht Evi- denz erreicht werden, sondern nach subjectivem Belieben wird ein Gesichtspunct ausschliefslich hervortreten oder zurückgescho- ben werden. Die Differenzen in der Bestimmung der Aufgabe des ganzen Dialogs, auf welche oben (δ. 31, Anmerk. 33) hin- gewiesen wurde, rühren vornehmlich daher, dass nicht zuerst die Scheidung der Haupttheile und die Aufgabe eines jeden dersel- ben zur vollen Sicherheit gebracht ist.‘
7. Nach der Veröffentlichung der vorstehenden Abhandlung haben Deuschle und Cron®) die Gliederung des Dialogs
80), Deuschle, Dispositionen Platonischer Dialoge, Zeitschrift für das Gymnasialwesen XIV, 5. XV, 1, wieder abgedruckt als Anhang zur zweiten
219
GORGIAS. 39
dargelegt und mit der Entwicklung ihrer eigenen Überzeugungen eine Kritik der von mir ausgesprochenen verbunden. Deuschle zerlegt das kunstvolle Gewebe des Dialogs bis in seine einzel- sten Fäden und findet durchweg, von der obersten Gliederung bis zu den letzten und speciellsten herab, die Zweitheilung gleich- mälsig durchgeführt, eine Symmetrie, welche, trotz des bekannt- lich von Platon auf die Dichotomie für die Begriffstheilungen gelegten Werthes, eher Zweifel als Zutrauen zu erwecken ge- eignet scheint. In dieses Kleinste hinein Deuschle zu folgen, muss ich mir, nach der ursprünglichen Anlage dieser Abhand- lung, versagen und halte es auch nicht für förderlich. Cron be- beschränkt sich darauf, die hauptsächliche Gliederung des Dia- loges aufzuzeigen 57), in ähnlicher Weise, wie dies von mir im
Auflage (1867) der erklärenden Ausgabe des Gorgias. — Cron, Beiträge zur Erklärung des Platonischen Gorgias im Ganzen und Einzelnen. 1870. 8. 47 — 175,
37) Cron gibt a. a. O. 8. 72 folgende Disposition des Dialogs. Einleitung. Erklärung des Sokrates über den Zweck seines Kommens {c.1). Ausführung (ο. 2— 82).
I. Gespräch des Sokrates mit Gorgias und Polos. Was ist und was ver- mag die Rhetorik? (c. 2— 36.)
1. Gespräch des Sokrates mit Gorgias: Die Rhetorik ist die Kunst, durch Reden ohne Belehrung Überzeugung hervorzubringen, beson- ders auf dem Gebiete des Rechtes (c. 2—15).
2. Gespräch des Sokrates mit Polos: Die Rhetorik ist keine wirk- liche Kunst, sondern nur Schmeichel- und Scheinkunst, und ihre Macht keine wirkliche, sondern nur eine vermeintliche (ce. 16—36).
II. Gespräch des Sokrates mit Kallikles: Was ist der wahre Lebensberuf? BT 18}
1. Nicht Philosophie, die nur zur Jugendbildung gehört, sondern Rhe- torik, die Sicherheit gewährt und Macht verleiht, erklärt Kallikles als den Beruf des Mannes, der auf dem Recht des Stärkeren beruht. (Rede des Zethos.) (c. 37—41.)
2. Prüfung dieser Ansicht, die zur Aufstellung einer Theorie der Lust führt, welche Sokrates durch die Theorie des Guten widerlegt und dadurch seine frühere Behauptung über den Werth der Rhetorik recht- fertigt (c. 42—68).
3. Nicht das Streben nach Herrschaft und Macht im Dienst der Menge nach dem Beispiel der bisherigen Staatsmänner, sondern Verwirk- lichung des Guten ohne Rücksicht auf die Gefahr des Lebens ist die wahre Aufgabe des Mannes, insbesondere des rechten Staatsmannes. (Antwort des Amphion.) (c. 69—78.)
40 GORGIAS.
obigen versucht ist; die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit von Crons Beiträgen zur Erklärung Platons machen es mir zur Pflicht, auf die wesentlichen Differenzpuncte einzugehen; mit- telbar werden dadurch auch Deuschles Gründe mit berück- sichtigt.
Cron betrachtet, hierin mit Deuschle im Einklang, die bei- den Abschnitte, das Gespräch mit Gorgias und mit Polos, nicht als zwei Hauptabschnitte des Dialogs, sondern erklärt, „dass es seinem Inhalte nach nur ein Gespräch ist, das durch die ge- meinsame Thätigkeit des Gorgias und Polos mit Sokrates zu Stande kommt.“ (S. 57.) Auf die Gründe, welche Cron hierzu bestimmt haben, ist indirect schon oben 8. 25 ff. durch genaue Darlegung der sachlichen Scheidung zwischen den beiden von mir als Hauptabschnitte betrachteten Theilen Rücksicht genom- men; doch wird es zweckmäfsig sein, auf das Einzelne noch einzugehen.
Den Umstand, dass von den drei Mitunterrednern des So- krates „nach einander jeder eine Zeit lang der eigentliche Träger des Gesprächs mit Sokrates ist, erst Gorgias, dann Polos, zu- letzt Kallikles“ (s. oben ὃ. 15), habe ich in der obigen Darstel- lung als ein äufseres Zeichen der beabsichtigten Gliederung des Dialogs bstrachtet. Cron mindert das Gewicht dieses Grundes, so weit er sich auf Gorgias und Polos bezieht, durch Hinwei- sung darauf, „dass die Gespräche, die Sokrates mit Gorgias und Polos führt, mannigfach in und mit einander verschlungen sind“ (a. a. Ο. 8. 52), und schliefst aus dieser Mittelstellung zwischen Trennung und Verbindung, dafs diese beiden Gespräche als Unterabtheilungen eines gemeinsamen Hauptabschnittes zu be- trachten seien. Das verschiedene Mals, in welchem an dem Ge- spräche des einen Hauptunterredners ein anderer seine Theil- nahme bezeigt, ist mir nicht entgangen und oben 8. 15f. so bezeichnet, dass ich auch jetzt nichts daran glaube ändern zu
III. Religiöse Bekräftigung dieser Ansicht (c. 79—82). 1. Sage von dem Gericht über die Seelen nach dem Tode (c. 79). 2. Folgerungen daraus für den Zustand der Seelen nach dem Tode (c. 80 ---82). Schluss. Rückblick auf die vorhergehenden Gespräche und Ermahnung c. 83).
GORGIAS. 41
sollen. Wenn man aber unbefangen die Worte, welche Gorgias zu dem von Sokrates mit Polos geführten Gespräche hinzugibt (p- 463 A — 464 A, denn hierauf beschränkt sich das Ganze), nach Umfang und Inhalt betrachtet, so wird dadurch die That- sache, dass Cap. 16—36 Polos der Träger des Gesprächs mit So- krates ist, gewiss nicht als beeinträchtigt erscheinen können.
Den Übergang der Gesprächsführung von Gorgias auf Polos bezeichnet Cron (a. a. Ὁ. 8. 57) in der Weise: „Da Gorgias sich in die Schlingen seiner eigenen Aussagen verwickelt hat, da überlässt er ohne Widerstreben das Wort dem Polos, der mit Beiseitsetzung jener Bedenklichkeit, an der Gorgias gestrauchelt war, den ursprünglichen Gegenstand des Gespräches wieder auf- nimmt etc.“ Aber schwerlich dürfte doch die Art, wie Polos eintritt, als ein Überlassen der Gesprächsführung seitens des Gor- gias treffend bezeichnet sein. Die letzten Worte des Sokrates an Gorgias (ταῦτα οὖν ὅπῃ ποτὲ ἔχει, μὰ τὸν χύνα, ὦ Γοργία, οὐκ ὀλίγης συνουσίας ἐστὶν ὥστε ἱκανῶς διασχέψασϑαι p. 461 A) tragen nach bekanntem Sprachgebrauche (vgl. z. Β. Euthyphr. p- 9 B. 14 B) vielmehr den Charakter des Abschliefsens und der Ablehnung eines weiteren Eingehens, als der Ankündigung einer zu beginnenden Untersuchung. Und Polos tritt dem Gorgias gegenüber, ebenso wie später Kallikles gegen die beiden vorherigen Unterredner, mit verwerfendem Tadel ein, nicht als Fortsetzer einer ihm „überlassenen“ Gesprächsführung. So weit aus der Form und den Formeln des Gespräches ein Schluss auf die vom Verfasser beabsichtigte Gliederung des Gedankengangs berechtigt ist, wird sich die Übereinstimmung der Anfänge von Cap. 16 und Cap. 37 nicht verkennen lassen.
Wenn ich ferner die drei Hauptabschnitte des Gespräches als „durch den Charakter der in jedem von ihnen der Kritik unterworfenen sittlichen Lebensanschauung“ unterschieden be- zeichnete, so sucht CUron auch diesen Unterschied theils zu min- dern, thbeils zu beseitigen. „Glaube man ja nicht“, schreibt Cron 8. 56, „dass dem Gorgias bessere sittliche Grundsätze als dem Polos zugeschrieben werden sollen, weil jener noch von dem Rechte etwas wissen will, dieser sich einer solchen Forderung ohne Bedenken entschlägt; es ist nur wissenschaftliche Halbheit, welche den Gorgias, als er von den Fragen des Sokrates be-
42 GORGIAS.
drängt wird, zu diesem Geständnis treibt, und Polos, der im Grunde des Herzens ganz dieselbe Ansicht hegt wie Gorgias, aber den Fehler erkennt, durch den sich Gorgias eben eine Blöfse gegeben hat, trägt kein Bedenken, seinen Meister ob dieser Halbheit zurechtzuweisen, um bald darauf dem gleichen Tadel zu unterliegen.“ „Der ältere Lehrmeister und sein jünge- rer Geselle sind solidarisch verbunden und betrachten sich auch als solche.“ S.54. 55. „Auch jetzt, als Polos bereits seinem Schicksal entgegengeht, nachdem er in dem Gespräch mit So- krätes seine Unfähigkeit im Fragen und Antworten mehrfach zur Schau getragen hat, gibt Gorgias noch sein Einverständnis mit Polos zu erkennen.“ S. ὅθ. Man mag über die Consequenzen der sittlichen Überzeugungen des Gorgias denken wie man will: dass zwischen der von Gorgias ausgesprochenen Verwerfung eines ungerechten Gebrauches der Rhetorik und dem Preise der Ungerechtigkeit, sofern sie sich Straflosigkeit zu erwerben weils, der dem Polos in den Mund gelegt wird, ein Unterschied be- steht und von Platon zu kenntlichem Ausdruck gebracht wird, lässt sich nicht in Abrede stellen; ich bin daher nicht in der Lage, von der oben S. 18 ff. versuchten Unterscheidung der sitt- lichen Lebensanschauung der drei Hauptunterredner etwas auf- zugeben. Zwar versichert Cron, dass Gorgias sein Einverständ- nis mit Polos zu erkennen gebe; aber er hat unterlassen, die Worte des Dialogs zu bezeichnen, aus denen er dies schlielst, und mir ist es nicht gelungen sie ausfindig zu machen. Gor- gias veranlasst den Sokrates, seine Ansicht über das Wesen der Rhetorik auszusprechen, und folgt ihm beistimmend in der Vor- bereitung dieser Darlegung, so weit es sich um Feststellung des allgemeinen Unterschiedes von Schein und Sein auf körperlichem und geistigem Gebiete handelt p. 464 A; dagegen bei der An- wendung dieser allgemeinen Kategorien auf die Rhetorik, also wo es sich eigentlich um Charakterisirung der Rhetorik handelt, da unterlässt Sokrates den Gorgias weiter in das Gespräch zu ziehen, und vermeidet es Gorgias’ Zustimmung oder Widerspruch mit einem Worte anzudeuten. Es ist daher nicht möglich, Crons jehauptung, dass Gorgias seine Zustimmung zu Polos „zu er- kennen gebe“, in ihrer Bedeutung zu würdigen, ehe sie aus- drücklich belegt ist.
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Den entscheidenden Beweis für die von ihm aufgestellte Gliederung findet Cron darin, dass dem Inhalte nach das mit Gorgias und das mit Polos geführte Gespräch „in der That nur ein Gespräch ist, das durch die gemeinsame Thätigkeit des Gor- gias und Polos mit Sokrates zu Stande kommt.“ S.57. „Polos nimmt den Gegenstand des zwischen Sokrates und Gorgias geführ- ten Gespräches an der Stelle, wo sein Vorgänger stehen blieb, wieder auf.“ S.58. Die Widerlegung dieser den Inhalt der fraglichen beiden Abschnitte treffenden Auffassung habe ich schon oben 5: 25 ff. mit der Entwicklung des Gedankenganges zu verbinden gesucht, und darf es daher unterlassen aufs neue dar- auf einzugehen.
In der speciellen Gliederung des dritten Haupttheiles, des Gespräches mit Kallikles, hatte mich wiederholte Erwägung des Dialogs schon vor dem Erscheinen der Cronschen Abhandlung zu Modificationen der in der ersten Auflage gegebenen Darstel- lung geführt, weniger in der Feststellung der Haltpuncte, als in der Bezeichnung der Über- und Unterordnung; die oben 8. 7 fl. versuchte und S. 28 ff. begründete Gliederung ist im wesentlichen mit Crons Darstellung 5. 73 in Übereinstimmung, trotz der äufserlichen Unterschiede in der Zählung von Abschnitten. Wenn aber Cron a. ἃ. Ὁ. den Mythus nicht als einen Unterabschnitt des mit Kallikles geführten Gesprächs, sondern als einen coor- dinirten Haupttheil des ganzen Werkes ansieht, so kann ich diese Auffassung in den Worten des Dialogs selbst, die allein hiefür mafsgebend sein müssen, nicht begründet finden. Die Erzählung des Mythus ist mit den letzten Worten des mit Kal- likles geführten Gespräches in unmittelbare Verbindung gebracht, 522 E: πολλῶν γὰρ ἀδικημάτων γέμοντα τὴν ψυχὴν εἰς Ἅιδου ἀφι-- χέσϑαι πάντων ἔσχατον καχῶν ἐστίν. εἰ δὲ βούλει, σοὶ ἐγώ, ὡς τοῦτο οὕτως ἔχει, ἐθέλω λόγον λέξαι, und dieser Ankündigung, σοὶ ἐθέλω λέξαι, entsprechend wird sie durch gehäufte, an Kallikles allein gerichtete Anrede (524 A, 525 E, 526 ACD) als dem mit diesem geführten Gespräche angehörig bezeichnet.
THEATETOS,
Inhaltsangabe und Gliederung des Gespräches.
Gespräch zwischen Eukleides und Terpsion, als = Vorwort des eigentlichen Gespräches, c. 1. — Euklei- des von Megara hat dem Athener Theätetos, der, im Kriege verwundet und überdies erkrankt, von Korinth nach Athen ge- bracht wurde, eine Strecke weit das Geleit gegeben. Auf dem Rückwege trifft er mit Terpsion zusammen und erzählt ihm das so eben Geschehene. Die Tapferkeit, welche Theätetos im Kriege bewiesen hat, mahnt den Eukleides daran, wie wahr einst So- krates kurz vor seinem Tode in einem inhaltsreichen Gespräche, das er mit dem Jünglinge Theätetos und dem geachteten Mathe- matiker Theodoros geführt, die zukünftige Charakterentwicke- lung des Theätetos geahnt habe. Den Wunsch des Terpsion, den Inhalt jenes Sokratischen Gespräches kennen zu lernen, kann Eukleides vollständiger erfüllen, als es durch mündliche Erzäh- lung möglich sein würde, da er das Gespräch damals sogleich aufgeschrieben und diese Aufzeichnung selbst überdies mit des Sokrates Hilfe im einzelnen berichtigt hat. In der Aufzeich- nung habe er, um die ermüdende Wiederkehr des „sagte ich“, „sagte er“ zu vermeiden, die Form der Wiedererzählung durch Sokrates aufgegeben und das Gespräch unmittelbar wie es ge- führt wurde dargestellt. Die auf solche Weise hergestellte Schrift liest nun den beiden Männern, nachdem sie zu Eukleides’ Hause 280 gelangt sind, ein Sklave vor.
*) Sitzungsberichte etc. Bd. 27. S. 279—316. (Separatabdruck 5. 41—73.)
THRERÄTETosS. 45
Gespräch des Sokrates, Theodoros, Theätetos. — Einleitung c. 2—7. Sokrates, in einem Gymnasium mit Theodoros im Gespräche begriffen, fragt diesen, welche unter den Jünglingen Athens ihm durch ihre Talente die besten Hoff- nungen erwecken. Theodoros hebt den in seiner Gestalt und seinen Gesichtszügen dem Sokrates ähnlichen, also gewiss nicht durch körperliche Schönheit anziehenden Theätetos unter allen hervor. Theätetos wird zum Gespräche herbeigerufen. Von dem Lobe, welches Theodoros dem Eifer und dem Talente des Theätetos im Erlernen der Mathematik gespendet hatte, geht Sokrates, da das Lernen darin besteht Wissen zu erreichen, zu der allgemeinen Frage über:
Was ist das Wissen oder die Wissenschaft? τί ἐστιν ἐπιστήμη:
Theodoros lehnt, als in solcher Discussion ungeübt, die Be- antwortung der Frage ab und verweist den Sokrates an den Jüngling Theätetos. Dieser, der Aufforderung bereitwillig fol- gend, beantwortet die Frage zunächst durch die Aufzählung ein- zelner Wissenschaften. Den von Sokrates gegen diese Antwort geltend gemachten Unterschied zwischen dem einheitlichen zu- sammenfassenden Begriff und dem Herabsteigen in den Umfang versteht T’heätetos sogleich, und beweist sein Verständnis durch ein Beispiel aus der Mathematik, indem er erzählt, wie er selbst versucht habe die Gesammtheit aller einzelnen Quadratwurzeln unter die beiden allgemeinen Begriffe der rationalen und irratio- nalen zusammen zu fassen. Auch über die von Sokrates aufge- worfene Frage nach dem Wesen des Wissens erklärt Theätetos schon öfters nachgedacht zu haben, aber ohne zu einer befrie- digenden Antwort aus eigener Kraft oder durch Mittheilung an- derer zu kommen, und ohne doch anderseits das Nachdenken darüber aufgeben zu können. In diesem von Theätetos beschrie- benen Seelenzustande erkennt Sokrates die Geburtswehen des Gedankens, denen beizustehen ihm verliehen sei. Er vermöge zu erkennen, wessen Seele wirklich Gedanken aus sich zu ge- bären fähig sei, sodann die Geburtswehen der Gedanken zu eır- regen und die Gedanken an das Licht zu bringen, endlich die an das Licht gebrachte Geburt zu untersuchen, ob sie ein blofses
46 THEÄTETOS.
Nebelbild oder eine leibhafte Gestalt sei. Den Gedankenerzeu- gungen anderer gegenüber verhalte er sich ganz so, wie eine Hebamme zu den leiblichen Geburten; ohne selbst Gedanken mitzutheilen !) helfe er der Gedankenentwickelung bei anderen, die von ihm nicht empfiengen, aber doch auch ohne seinen Bei- stand die Kinder ihres eigenen Geistes nicht zur Welt bringen würden. 'Theätetos möge sich daher seiner Führung zuversicht- lich anvertrauen, und auch dann nicht irre werden, wenn ein Gedanke, der unter Mühen und zu endlicher Freude an das Licht gebracht wurde, von ihm nachher als hohl und nichtig nachgewiesen werde. Mit solchem Vertrauen möge sich Theä- tetos von neuem an der Beantwortung der Frage nach dem all- gemeinen Begriffe des Wissens versuchen.
I. Erste Definition. Die Wahrnehmung ist Wissen, ἡ αἴσϑησις ἐπιστήμη, C. s—30.
1. Diese Definition wird durch Identification mit den Philosophemen des Protagoras und Herakleitos erläutert (c. 8—15).
Die Antwort, in welcher Theätetos zunächst seine Ansicht ausspricht, nämlich in der Wahrnehmung liege das Wissen, er- klärt Sokrates sogleich für zusammentreffend mit dem Philoso- pheme des Protagoras. Denn wenn Protagoras erklärt: „Aller Dinge Mals ist der Mensch, der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind,* so bedeuten doch diese Worte: so wie etwas mir erscheint, also wie es sich mir in der Wahr-
1) 150 D: rap’ ἐμοῦ οὐδὲν πώποτε μαϑόντες, AAN αὐτοὶ παρ αὑτῶν πολλὰ χαὶ καλὰ εὑρόντες τε χαὶ χατέχοντες. Wenn der Platonische Sokrates allge- mein von sich sagt 150 Ὁ: ἄγονός εἰμι σοφίας --- — μαιεύεσϑαί με 6 ϑεὸς ἀναγχάζει, Ἰεννᾶν δὲ ἀπεκώλυσεν, so wird man, um diese Äufserung in Pla- tons Sinn zu fassen, einen Zug aus dem Bilde hinzunehmen müssen, durch welches Sokrates seine Methode erläutert, 149 B: στερίφαις μὲν οὖν ἄρα οὐκ ἔδωχε μαιεύεσϑαι, ὅτι ἡ ἀνθρωπίνη φύσις ἀσϑενεστέρα ἢ λαβεῖν τέχνην ὧν ἂν ἢ ἄπειρος. Es wäre wenigstens nicht zweckmälsig, diesen Zug in dem Bilde durch ausdrückliche Motivirung besonders hervorzuheben, wenn er auf das durch das Bild zu erläuternde keine Anwendung haben sollte. Gibt man ihm diese Anwendung, so bezieht sich dann ἄγονός εἰμι σοφίας nicht all- gemein auf Unfähigkeit zu eigener Gedankenproduction, sondern auf seine Methode, im Gespräche die Gedanken des Mitunterredners zur Entwickelung gelangen zu lassen, nicht selbst fertige Resultate mitzutheilen.
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THEÄTETOoS. 47
nehmung darstellt, so ist es mir; so wie es dir erscheint, so ist es dir. Stillschweigende Voraussetzung dieses Satzes ist, dass nichts an sich ist oder eine bestimmte Qualität hat, sondern immer erst die Beziehung zu einem andern, die Verbindung mit ihm es ist, durch die es zu etwas wird. Hiedurch trifft des Pro- 232 tagoras Satz mit jener, vorzüglich von Herakleitos ausgebildeten, aber nicht ihm allein angehörigen Lehre zusammen, dass über- haupt nur Bewegung, kein bleibendes Sein an sich vorauszu- setzen sei, einer Lehre, die uns schon durch die gewöhnlichsten Erfahrungen nahe gerückt wird; denn auf dem sinnlichen wie auf dem geistigen Gebiete bringt und fördert Bewegung das Leben, Ruhe den Tod. Also weder das wahrnehmende Subject noch das wahrgenommene Object ist etwas an sich, sondern jedes Wahrneh- mende oder Wahrgenommene wird erst das, was es ist, durch seine Beziehung auf ein anderes und für dieses andere. Mit den Grund- sätzen: „Nichts kann gröfser oder kleiner werden an Masse oder Zahl, so lange es sich selbst gleich ist; was nicht eine Hinzufügung oder eine Hinwegnahme erfährt, kann nicht grölser oder kleiner werden, sondern muss sich selbst gleich bleiben; es kann nicht etwas, das früher nicht war, später sein, ohne geworden zu sein“, steht die Protagoreisch - Herakleitische Lehre in Wider- spruch. Diese Grundsätze setzen eben eine in jedem Einzelnen (Subjecte oder Objecte) an sich und beziehungslos vorhandene Qualität voraus?), hingegen nach des Protagoras und Heraklei- tos Lehre ist jede Qualität eines wahrgenommenen Objectes und jeder Inhalt der Wahrnehmung eines Subjectes nur ein Ergeb- nis von zusammentreffenden, theils langsameren, theils schnel- leren und daher in weitere Ferne reichenden Bewegungen. Wen- det man nun, um der Wahrnehmung den Charakter des irr- thumsfreien Wissens abzusprechen, ein, dass die Wahrnehmungen
2) 154 B: οὐχοῦν el μὲν ὃ παραμετρούμεϑα ἢ οὗ ἐφαπτόμεϑα μέγα ἢ λευχὸν ἢ θερμὸν ἦν, οὐκ ἄν ποτε ἄλλῳ προσπεσὸν ἄλλο ἂν ἐγεγόνει, αὐτό γε μηδὲν με- ταβάλλον " εἰ δὲ αὖ τὸ παραμετρούμενον ἢ ἐφαπτόμενον ἕχαστον ἣν τούτων, οὐχ ἂν αὖ ἄλλου προσελθόντος ἤ τι παϑόντος αὐτὸ μηδὲν παϑὸν ἄλλο ἂν ἐγένετο. Ich habe mit Bekker, Stallbaum (Wohlrab) und den Züricher Herausgebern die Conjectur des Cornarius ὃ παραμετρούμεϑα vorausgesetzt, weil ich aus der von K. F. Hermann vertheidigten handschriftlichen Lesart ᾧ παραμετρούμεϑα keinen befriedigenden Sinn gewinnen kann.
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des Kranken, des Wahnsinnigen, des Träumenden doch unmög- lich wahr sein könnten, so wird schon in dem Einwande ein festes Sein von Qualitäten angenommen und die absolute Rela- tivität aller durch die Wahrnehmung sich darbietenden Qualitä- ten verkannt. Im Zustande der Krankheit, des Wahnsinns, des Schlafes ist eben der Wahrnehmende ein anderer als im Zu- stande der körperlichen und geistigen Gesundheit und des 288 Wachens; das Ergebnis seines Zusammentreffens mit einem Ob- jecte in jenem Zustande muss also ein anderes sein als in die- sem. Aber da jede Wahrnehmung nothwendig Wahrnehmung dieses einzelnen Objectes von diesem einzelnen in solchem Zu- stande befindlichen Subjecte ist, so gehört die eine Wahrneh- mung so gut wie die andere der Wesenheit des Wahrnehmenden selbst an?) und lässt Irrthum nicht zu, ist also deshalb, weil irrthumsfrei, Wissen.
Die Definition des Theätetos, dass die Wahrnehmung Wissen sei, hat sich mithin als identisch erwiesen mit den Philosophemen des Protagoras und Herakleitos; es gilt nunmehr ihre Haltbarkeit genauer zu untersuchen.
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2. Durch Widerlegung der gegen den Satz des Protagoras zunächst sich dar- bietenden, in Platons Sinne nicht stichhaltigen Einwendungen wird der Pro- tagoreische Satz selbst weiter erläutert‘) (6, 16—2]).
Mit demselben Rechte, wendet Sokrates ein, wie den Men- schen, konnte Protagoras jedes Thier, d. h. überhaupt jedes
3) 160 C: ἀληϑὴς ἄρα ἐμοὶ ἡ ἐμὴ alsdmsıc" τῆς γὰρ ἐμῆς οὐσίας ἀεί στι. — — πῶς ἂν οὖν ἀψευδὴς ὧν χαὶ μὴ πταίων τῇ διανοίᾳ περὶ τὰ ὄντα ἢ
(Ὁ).
Ἰηνόμενα οὐχ ἐπιστήμων ἂν εἴην ὦνπερ αἰσϑητήῆς ;
4 Durch den Zusatz, dass die Widerlegung der fraglichen Einwürfe zur Erläuterung des Protagoreischen Satzes verwendet wird, habe ich von den Gegenbemerkungen Ribbings I. ὃ. 125. 152 denjenigen Theil berücksichtigt, der für die vorliegende Aufgabe, die Aufgabe der treuen Wiedergabe des Gedankenganges, allein mir begründet erscheint. Denn dass die in diesem Abschnitte besprochenen Einwürfe zu vollständigerer Erläuterung des Pro- tagoreischen Satzes dienen, bezeichnet Platon selbst in dem letzten Theile die- ses Abschnittes deutlich und unverhüllt. Die Frage dagegen, ob die Ein- würfe in c. 16—21 an sich giltig sind, gehört nicht in den Versuch einer gewissenhaften Inhaltsangabe, ja nicht einmal in den Versuch, Absicht und Ergebnis des Dialogs aufzufinden. — Der Einwand Ribbings $. 152, es sei „ebenso unwahrscheinlich als gegen die Art Platons, dass etwas, dem er selbst keinen Werth beilegt, oder überhaupt ein nur Negatives, womit keine posi-
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THEÄTEToS. 49
wahrnehmende Wesen für den Mafsstab aller Dinge erklären, da jede Wahrnehmung als solche für den Wahrnehmenden un- zweifelhafte Wirklichkeit hat, also nicht zu ersehen ist, warum der Mensch in dieser Hinsicht vor den Thieren einen Vorzug haben und anderseits den Göttern nachgestellt werden solle, oder wodurch der Anspruch des Weisen, Lehrer für andere zu sein, begründet sein solle, da jeder ohne Unterschied das Mals der Wahrheit sei. Ein solcher Einwand, entgegnet Sokrates selbst in Protagoras’ Namen, macht auf die Menge, die durch derlei Zusammenstellung der Menschen mit den Thieren und mit den Göttern in Verwirrung gebracht wird, einen Eindruck; aber die zwingende Kraft eines Beweises hat derselbe nicht, er ist eben nur eine rhetorische Benützung der blofsen Wahrschein- lichkeit5). (—163 A.) — Der Satz, dass -Wahrnehmung Wissen ist, scheint ferner widerlegt zu werden in Fällen, wo Jemand Züge von Buchstaben sieht, ohne lesen zu können, oder Worte einer Sprache hört, die er nicht versteht. Dass dieser Einwand leicht abzulehnen ist, bezeichnet Platon, indem er den Theäte- tos selbst dessen Widerlegung vorbringen lässt: Gegenstand der Wahrnehmung sind in diesen Fällen doch nur die Züge der Buchstaben und die Klänge der Worte; das Lesen oder Ver- stehen der Worte ist nicht eine Sache der Wahrnehmung. (—163 C.) — Eine andere Einwendung wird aus dem Verhält-
tive Absicht verbunden ist, gesondert aufgeführt werde“, dürfte, selbst wenn die vorher anerkannte positive Absicht mit der Beseitigung der Einwürfe nicht verbunden wird, doch nicht haltbar sein. Vergleicht man die augen- scheinliche Ähnlichkeit des p. 165 B vorgebrachten Einwurfes mit den im Euthydemus behandelten Sophismen, ferner die zur Charakteristik einzelner Einwürfe und ihrer Urheber angewendeten Ausdrücke ἄφυχτον ἐρώτημα p. 165 B (Euthyd. 276 E), ἀνέχπληχτος ἀνήρ, πελταστιχὸς ἀνὴρ μισϑοφόρος ἐν λόγοις pP. 165 B, D, so kann man schwerlich die Überzeugung abweisen, dass man es hier nicht mit Einwürfen von Platons eigner Erfindung zu thun hat, sondern mit solchen, die damals von sophistischer Seite und sonst viel besprochen wur- den. Vielleicht finden dadurch die Ausdrücke ὗς ἢ χυνοχέφαλος p. 161 C, durch welche Platon dem Protagoras zu dem ünveis p. 166 C Anlass gibt, noch eine anderweite Beziehung.
5) 162 Ὁ: ταῖς οὖν δημηγορίαις ὀξέως ὑπαχούεις καὶ πείϑει --- — χαὶ ἃ οἱ πολλοὶ ἂν ἀποδέχοιντο ἀχούοντες, λέγετε ταῦτα --- ---, ἀπόδειξιν δὲ χαὶ ἀνάγκην οὐδ᾽ ἡντινοῦν λέγετε, ἀλλὰ τῷ εἰκότι χρῆσϑε. vgl. Phaedr. 267 A. 273 A.
Bonitz, Platonische Studien. 4
50 THEÄTETOS.
nisse des Gedächtnisses zur Wahrnehmuug entlehnt. Wenn nämlich anerkannt wird, dass man auch dasjenige weils, was man nach dem Aufhören der Wahrnehmung im Gedächtnisse bewahrt hat, und wenn anderseits Wissen ausschlie/[slich®) in die Wahrnehmung gesetzt wird, so ergibt sich, dass wer einen Gegenstand durch Erinnerung ohne eben gegenwärtige Wahrnehmung weils, ihn zugleich weils und nicht weils. Ob in dieser Argumentation ein wirklicher Gegengrund gegen den Satz des Protagoras enthalten sei oder nicht, würde sich erst dann entscheiden lassen, wenn man wüsste, was Protagoras selbst zu seiner Rechtfertigung würde entgegnet haben. In dem glei- chen Falle befindet man sich gegenüber anderen Einwendungen, die ebenfalls beabsichtigen zu zeigen, dass man zu gleicher Zeit weils und nicht weils, sofern die Wahrnehmung für Wissen er- klärt wird; z. B. wenn man ein Auge geöffnet, das andere ver- schlossen hat, also denselben Gegenstand zugleich mit dem einen sieht, mit dem andern nicht sieht, so ergibt sich, inso- fern Sehen dem Wissen gleichgesetzt wird, dass man dasselbe zugleich weils und nicht weils (—165 D).
Gegen Einwürfe dieser Art führt Sokrates den Protagoras selbst als sich rechtfertigend ein. Alle derlei Einwürfe, lässt er den Protagoras sagen, ruhen ausschlielslich darauf, dass man Unterschiedenheiten des wahrnehmenden Subjectes nicht in Er- wägung zieht und es als dasselbe betrachtet, während es ein anderes geworden ist, oder auch zu derselben Zeit nicht das- selbe das wahrnehmende Subject für entgegengesetztes Wahr- nehmen und Nichtwahrnehmen ist. So ist es unberechtigt, die Aufbewahrung eines Eindruckes im Gedächtnisse, nachdem der Act der Wahrnehmung vorüber ist, der Wahrnehmung selbst gleich zu setzen und dadurch den Schein eines Widerspruches herbeizuführen; das gleiche gilt von den übrigen Fällen. Durch alle Argumentationen dieser Art ist keineswegs widerlegt, dass jede Wahrnehmung dem einzelnen wahrnehmenden Subjecte an- gehört und für dieses unabweisliche Wirklichkeit und Wahrheit hat. Dieser gleiche Anspruch aller auf Wahrheit hebt den ver-
%, Denn es heilst 164 B: τῶν ἀδυνάτων δή τι ξυμβαίνειν φαίνεται, ἐάν τις
ἐπιστήμην καὶ αἴσϑησιν ταὐτὸν φῇ εἶναι.
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5
THEÄTETOoS. 51
schiedenen Werth der Wahrnehmungen und den Unterschied des Weisen von dem Unweisen keineswegs auf; es ist dies der- selbe Unterschied, wie auf dem leiblichen Gebiete der der Ge- sundheit und Krankheit. Der Lehrer ist Arzt der Seele; er hat nicht dahin zu wirken, dass die Wahrnehmungen seines Schülers wahr werden — er hat ihnen Wahrheit gar nicht erst zu geben, wie er sie ihnen auch nicht nehmen kann —, sondern dass sie aus krankhaften gesunde werden. Alle bisherigen Einwürfe, entgegnet Protagoras, sind sophistisch auf die Überzeugung der Menge be- rechnet, nicht gegründet auf ein wirkliches Eingehen in die Sache. Solche Entgegnungen sind bei einem zum Scherze an- gestellten rechthaberischen Streite an ihrem Platze, nicht bei einer wirklichen Untersuchung; da gehört es sich, knabenhaft lächerlicher Scheingründe sich zu enthalten und mit männlichem Ernste die Sache anzugreifen (—168 C).
Dieser Rechtfertigung, welche Sokrates in des Protagoras Namen ausgeführt hat, zollt Theodoros seinen Beifall, und lässt sich dazu bestimmen, um auch den Schein der leichtfertigen Behandlung entfernt zu halten, seinerseits in der nun anzustel- lenden genaueren Prüfung der Protagoreischen Lehre dem So- krates Rede zu stehen (—169 D).
3. Entscheidende und in Platons Sinne giltige Widerlegung der Protagoreischen Lehre (c. 22—26).
Da Protagoras nicht selbst anwesend die Vertheidigung seines Satzes führen kann, so muss man, soll die Bestreitung Anspruch auf Giltigkeit haben, sich streng an seine eigenen Worte und an die unmittelbarsten Folgerungen daraus halten.
a) Protagoras erklärt, dass die Ansicht, Meinung, Vorstel- lung eines jeden für eben diesen Wahrheit habe, τὸ δοχοῦν ἑχά-- στῳ τοῦτο xal εἶναί φησί που ᾧ δοχεῖ (170 A). Nun ist es aber unleugbare Ansicht und Überzeugung der Menschen, dass unter ihnen ein Unterschied der Weisheit und Unweisheit bestehe, und zwar betrachten sie in dieser Unterscheidung Weisheit als Erkenntnis der Wahrheit, Unweisheit als Verfallen in Irrthum. Indem Protagoras dieser Ansicht auf Grund seiner eigenen Lehre Wahrheit zugestehen muss, also das Gegentheil seines eigenen Satzes gleicherweise als wahr anerkennt, hebt er seinen eigenen Satz auf (170 A—171D).
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THEÄTETOS.
or ιῷ
b) Der Unterschied der Weisheit und der Unweisheit wird am augenfälligsten da anerkannt, wo es sich um die Überzeu- gungen über gut oder übel, nützlich oder schädlich, d. h. all- gemein, wo es sich um die Beschaffenheit eines zukünftigen Zu- standes handelt. Man mag zugeben, dass die gegenwärtige Wahr- nehmung für denjenigen, der dieselbe hat, unabweislich wahr ist, man mag auch zugeben, dass etwas Recht ist, insofern und so lange es dem Staate als solches erscheint: aber die Ansicht darüber, welchen Erfolg in der Zukunft etwas gegenwärtig ge- schehendes hat, also unter anderm auch die Ansicht über nütz- lich oder schädlich, hat nicht bei einem jeden gleichen Anspruch auf Gültigkeit; hier unterscheidet sich augenscheinlich das Wissen der Sache von dem Nichtwissen (171 E--172 B. 177 C — 179 ©).
— In die Erörterung dieses zweiten Gesichtspunctes ist ein- gefügt eine den unmittelbaren Gedankenzusammenhang unter- brechende, als Episode ausdrücklich bezeichnete Vergleichung zwischen der geistigen Vertiefung in Philosophie und dem Leben in Gerichtshöfen und sonstigen öffentlichen Geschäften (172 C — 177 Οὐ. Der geistige Zwang, der die ganze Beschäftigung be- herrscht, die Geringfügigkeit der Gegenstände, um die es sich handelt, und die Kleinlichkeit der Gesinnung, die aus solcher Thätigkeit nothwendig hervorgeht, auf der einen Seite, die geistige Freiheit, die Erhabenheit der Gegenstände, der Adel der Gesinnung auf der andern Seite: das sind die Grundzüge zu dem beiderseitigen Bilde, das Platon den Sokrates entwerfen lässt. Die Episode schliefst mit der Erklärung, dass nur in der mög- lichsten Annäherung an das unbedingt gute Wesen der Gottheit Weisheit und Tugend bestehe, alles andere dagegen, was sich
sonst diesen Namen anmalst, gemeiner und niedriger Natur sei. —
5
Diese beiden Gründe, der eine entlehnt aus dem Wider- spruche der Ansichten, denen gleicher Anspruch auf Wahrheit zugestanden wird, der andere aus der unverkennbaren Verschie- denheit in der Gültigkeit der Ansichten über das Zukünftige, sind in Platons Sinne giltige und entscheidende Gründe gegen die Protagoreische Lehre. Hingegen dass in jedem einzelnen Falle der Sinneseindruck?), aus welchem Wahrnehmungen und
7), 179 Ο: περὶ δὲ τὸ παρὸν ἑχάστῳ πάϑος, ἐξ ὧν αἱ αἰσϑήσεις χαὶ al
THEÄTETOS. 53
257 Vorstellungen hervorgehen, wahr ist, das lässt sich allerdings nicht bestreiten.
4. Widerlegung der Herakleitischen Lehre (c. 27—29. 184 A).
Die Prüfung der Herakleitischen Lehre von der allgemeinen ewigen Bewegung, welche mit der Definition des 'Theätetos vom Wissen als Wahrnehmung identifieirt war, wird durch eine Schil- derung des Verhaltens der Herakleiteer bei Discussionen einge- leitet; ihre Erörterungen sind ein echtes Abbild ihrer Lehre von der ewigen Bewegung, indem sie schlechterdings bei nichts Stand halten. Den Gegensatz zu ihnen bilden die Eleaten, die schlechterdings keine Bewegung als wirklich anerkennen (179 D 5:..81.8]:
Wenn Bewegung absolut gesetzt wird, so muss dies heilsen: jedes Ding erfährt fortwährend jede Art der Bewegung, also so- wohl Veränderung des Ortes als der Qualität; denn wollte man den Dingen nur die eine Art der Bewegung zuschreiben, die andere ihnen absprechen, so würde man, da in dem Begriffe der Bewegung beide Arten enthalten sind, den Dingen eben so sehr Bewegung als Ruhe zuschreiben®. Nun besteht Wahrneh- mung im Zusammentreffen des, eben durch dieses Zusammen- treffen erst dazu werdenden 'Thätigen und Leidenden, oder Wahrgenommenen und Wahrnehmenden. Beides ist aber in steter Änderung des Ortes sowohl als der Qualität begriffen. Die Wahrnehmung ist also in demselben Augenblicke, in welchem sie eintritt, auch schon eine andere; es gibt in der Sprache gar nicht irgend ein Wort, durch welches sich diese Nichtgiltigkeit und Gültigkeit irgend eimer Wahrnehmung bezeichnen lielse. Die Herakleitische Lehre vom unbedingten Werden, durch welche die Geitung des Wahrnehmens als Wissen begründet
\ , [4 , , Θ - r ’ > - v φν" ya“ χατὰ ταύτας δόξαι γίγνονται, χαλεπώτερον ἑλεῖν ὡς οὐχ ἀληϑεῖς. ἴσως δὲ οὐδὲν λέγω" ἀνάλωτοι γάρ, εἰ ἔτυχον, εἰσί, καὶ οἱ φάσχοντες αὐτὰς ἐναργεῖς τε εἶναι καὶ ἐπιστήμας τάγα ἂν ὄντα λέγοιεν, χαὶ Θεαίτητος ὅδε οὐχ ἀπὸ σχοποῦ εἴρηχεν αἴσϑη-
| σιν) χαὶ ἐπιστήμην ταὐτὸν θέμενος. Das Letztere wird allerdings nachher wi- ..29. i sichti schei ; des παρὸν πάϑος derlegt c. 29. 30, aber die vorsichtige Unterscheidung des παρὸν πάϑος von αἴσϑησις zeigt zugleich, was unbestritten stehen bleibt.
8) 181 E: εἰ δέ γε μή, χινούμενά τε αὐτοῖς χαὶ ἑστῶτα φανεῖται, χαὶ οὐδὲν
μᾶλλον ὀρϑῶς ἕξει εἰπεῖν ὅτι χινεῖται τὰ πάντα ἢ ὅτι ἕστηχεν.
54 THEÄTETOS.
werden sollte®), hebt daher vielmehr die Möglichkeit der Wahr- nehmung selbst auf.
Die entsprechende Erörterung der entgegengesetzten Lehre der Eleaten wird auf den Grund hin, dass dies zu weit führe und nicht dürfe leichthin abgethan werden, für jetzt abgelehnt, und nach der als abgeschlossen ausdrücklich anerkannten Wi- derlegung der Protagoreischen und Herakleitischen Lehre (183 C) zur Prüfung der von Theätetos selbst aufgestellten Definition des Wissens zurückgekehrt.
5. Widerlegung der Definition des Theätetos selbst, dass Wahrnehmung Wissen sei (c. 29, 30).
Die Sinne sind nur das Werkzeug, vermittelst dessen wir etwas wahrnehmen, sie sind nicht das, womit oder wodureh wir wahrnehmen, δι᾿ οὗ αἰσϑανόμεϑα, nicht ᾧ αἰσϑανόμεϑα. Prädicate, welche nicht die blofse Wahrnehmung irgend eines einzelnen Sinnes enthalten, sondern auf die Wahrnehmungen verschiede- ner Sinne sich beziehen oder auch den Wahrnehmungen aller Sinne gemeinschaftlich sind, gehören der zusammenfassenden, durch kein Sinneswerkzeug vermittelten Thätigkeit der Seele selbst an. In diese Kategorie fällt die Aussage des Seins, der Identität und Verschiedenheit, der Ähnlichkeit und der Unähn- lichkeit, der Einheit, Vielheit und der bestimmten Zahl, des Schönen und Hässlichen, des Guten und des Üblen. Nun gibt es aber keine Wahrheit ohne Theilnahme am Sein, und Wahr- heit wieder ist das charakteristische Merkmal des Wissens 19). Also da das Sein nicht Inhalt des Sinneseindruckes ist, sondern in der die Sinneseindrücke vergleichenden Überlegung der Seele selbst ausgesagt wird, so ist nicht Wahrnehmung Wissen, sondern Wissen ist da zu suchen, wo die Seele an und für sich, ohne Vermittelung eines Sinnesorganes, überlegt und entscheidet, im
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δοξάζειν; daher ergibt sich, da man nicht jede δόξα, Vorstellung !!)
9 183 A: rpodupndetsw ἀποδεῖξαι ὅτι πάντα κινεῖται, ἵνα δὴ ἐχείνη ἡ ἀπό- χρισις (nämlich dass Wissen im Wahrnehmen bestehe) ὀρϑὴ φανῇ.
10) 186 Ο: Οἷόν τε οὖν ἀλ᾿ηϑείας τυχεῖν, ᾧ μηδὲ οὐσίας; --- ᾿Αδύνατον. --- 05 δὲ ἀληϑείας τις ἀτυχήσει, ποτὲ τούτου ἐπιστήμων ἔσται; — Kai πῶς ἄν, ὦ Σώχρατες.
11) δόξα ist, da es überall durch dasselbe Wort wiedergegeben werden
TnEAÄTETos. 55
(Meinung, Ansicht), für Wissen halten kann, sondern nur die richtige, wahre, als Definition des Wissens: ἢ ἀληϑὴς δόξα ἐπι-- στήμη.
II. Zweite Definition. Die richtige Vorstellung (Meinung, Ansicht) ist Wissen, ἡ ἀληϑὴς δόξα ἐπιστήμη. (ec. 31—38).
A. Indem durch die Definition, welche nur der richtigen Vorstellung die Geltung des Wissens zuschreibt, das Vorhan- densein irriger Vorstellungen vorausgesetzt wird, erklärt Sokrates, es habe ihn schon oft die Frage beunruhigt, worin denn dieser Vorgang bestehe und auf welche Weise er entstehe, τί ποτ᾽ ἐστὶ τοῦτο τὸ πάϑος (τὸ δοξάζειν τινὰ ψευδὴ) rap ἡμῖν χαὶ τίνα τρόπον ἐγγιγνόμενον 187 D. Diese Frage, als zur Sache gehörig, soll in Betracht gezogen werden (c. 31—37).
1. Versuch den Irrthum zu definiren, indem vorausgesetzt wird, dass es jedem Gegenstande gegenüber nur entweder ein Wissen 12) oder ein Nichtwissen desselben gibt, die Vorgänge des
muss, durch „Vorstellung“ übersetzt. Vergl. Schleiermachers Anmerkung zu 187 A. Dass das deutsche Wort den weiten Umfang des griechischen nicht vollkommen deckt, sollte durch die bei seinem ersten Vorkommen in Parenthese beigefügten Worte bezeichnet werden.
12) εἰδέναι ἢ pn εἰδέναι, wie hier 188 A und häufig im weiteren Verlaufe steht, übersetzt Schleiermacher „darum wissen“, nicht „etwas wissen“, und bemerkt darüber: „Platon bedient sich hier eines gar nicht wissenschaftlich bestimmten, überhaupt gar nicht der Wissenschaft besonders angeeigneten Ausdruckes aus dem gemeinen Leben, um die Resultate der Wahrnehmung und Vorstellung zu bezeichnen. Es war keiner vorhanden, der für alle fol- genden Fälle in unserer Sprache schicklich gewesen wäre und ebenso wenig wissenschaftliche Anmalsung hätte. Denn von dem eigentlichen Wissen un- terscheidet sich dieser durch die Structur hinlänglich.“ In dieser Bemerkung ist meines Erachtens Unhaltbares mit Treffendem verbunden. Wo Platon in philosophischen Erörterungen das Verbum εἰδέναι gebraucht, da setzt er so gut wie Aristoteles (vgl. Index Aristot. 217b 20) es begrifflich dem ἐπίστα- σϑάι gleich. Das ergibt sich nicht nur aus Stellen anderer Dialoge, z. B. Phäed. 75 D: τὸ yap εἰδέναι τοῦτ᾽ ἐότί, λαβόντα τοῦ ἐπιστήμην ἔχειν χαὶ μὴ dro- λωλεχέναι, Gorg. 454 E: βούλει οὖν δύο εἴδη ϑῶμεν πειθοῦς, τὸ μὲν πίστιν παρεχόμενον ἄνευ τοῦ εἰδέναι τὸ δ᾽ ἐπιστήμην, u. a.m., sondern dasselbe er- weist sich in unserm Dialoge, indem dem vorherrschenden Gebrauche von el- δέναι gelegentlich ἐπίστασϑαι eingemischt wird, vgl. 191 1). E mit 192 Α ff. Ein solcher Wechsel im Ausdrucke würde schlechthin unmöglich sein, wenn Pla- ton εἰδέναι in dem von Schleiermacher bezeichneten und für die Auffassung dieses Theiles des Dialoges sehr bedeutsamen Unterschiede von ἐπίστασαι
56 k THEÄTETOS.
Lernens und Vergessens dagegen noch ganz aulser Betracht ge- 289 lassen werden (188 A— 190 E).
a. (Erwägung der Frage vom Gesichtspuncte des Subjec- tes.) Das Gewusste nicht wissen, das Nichtgewusste wissen, ein Gewusstes für ein anderes Gewusstes oder Nichtgewusstes, ein Nichtgewusstes für ein anderes Nichtgewusstes oder Gewuss- tes halten — ist alles gleich unmöglich, da in jedem der Fälle das Entgegengesetzte, Wissen nämlich und Nichtwissen, in Be- zug auf dasselbe Object behauptet wird (188 A—O).
b. (Erwägung der Frage vom Gesichtspuncte des Objec- tes.) Seiendes für Nichtseiendes halten und umgekehrt ist ebenso unmöglich, da Nichtseiendes vorstellen überhaupt nicht vorstellen heifst, also auch hier Entgegengesetztes, Vorstellen und Nichtvorstellen, in Bezug auf dasselbe Object behauptet wird (188 C— 189 B). |
ce. Die Annahme, dass der Irrthum in einer Verwechslung der Vorstellungen bestehe, ἀλλοδοξεῖν, führt auf die gleichen Widersprüche; denn indem der in der Vorstellung liegenden Bestimmtheit eine geistige Überlegung, ein inneres Gespräch vorausgeht, so müsste man, damit eine Verwechselung stattfinde, in diesem Gespräche zu sich selbst sagen, dass irgend ein ge- wusster Gegenstand ein anderer, eben als verschieden gewusster, sei, wodurch also das Gewusste nicht gewusst würde!3). Und ebenso fällt in einen der früheren Widersprüche die Annahme zurück, dass etwas Gewusstes mit etwas Nichtgewusstem ver- wechselt werde (189 C— 190 E).
2. Versuch die Entstehung des Irrthums zu erklären durch Unterscheidung der gegenwärtigen Wahrnehmung von ihrer Aufbewahrung im Gedächtnisse (191 A— 196 ἢ).
gemeint hätte. Richtig dagegen ist, dass ἐπίστασϑαι ungleich mehr den Cha- rakter des terminus technicus trägt als εἰδέναι. Dafür, dass Platon in dem vorliegenden Abschnitte von Anfang an und weitaus überwiegend in dem fernern Verlaufe desselben, trotz der begrifilichen Unterschiedslosigkeit den vulgären Ausdruck dem technischen vorzog, um dessen Definition es sich eben handelt, bieten sich wahrscheinliche Gründe leicht genug dar.
13) Als das gemeinsame Argument in dieser Erörterung wird dieser Ge- danke später wieder bezeichnet 196 B: οὐχοῦν εἰς τοὺς πρώτους πάλιν ἀνῆ- wer λόγους; — — ἵνα μὴ τὰ αὐτὰ ὁ αὐτὸς ἀναγχάζοιτο εἰδὼς μὴ εἰδέναι ἅμα.
THEÄTETOS. 57
290 a) Das Gedächtnis wird verglichen mit einem Wachs, wel- ches von der Wahrnehmung die Eindrücke wie die eines Siegel- ringes bewahrt 11), deutlich oder undeutlich, fest oder minder fest. Irrthum findet sich weder in den Wahrnehmungen an sich, noch in den vom Gedächtnis aufbewahrten Bildern an sich, sondern in der Verbindung und Beziehung beider 15), insofern nämlich eine gegenwärtige Wahrnehmung nicht auf das ihr zu- gehörige Bild im Gedächtnisse, sondern auf ein anderes bezogen und mit ihm gleichgesetzt wird (191 A— 194 B).
δ) Hierdurch erklärt sich nicht allein der Irrthum überhaupt, sondern auch die grölsere oder geringere Geneigtheit des einen und des andern zum Irrthum. In dem Malse nämlich, als die Bilder im Gedächtnisse deutlich ausgeprägt, sicher auseinander gehalten und treu bewahrt sind, welche Eigenschaften durch verschiedene Beschaffenheiten jenes als Bild genommenen Wach- ses bezeichnet werden, in demselben Malse ist Irrthum fern ge- halten; durch die gegentheiligen Eigenschaften wird die Gefahr des Irrthums herbeigeführt (194 © — 195 B).
c) Diese Erklärung des Irrthums reicht aber doch nicht aus; denn es wäre hiernach unmöglich, dass in Fällen, wo keine Wahrnehmung in Betracht kommt, sondern es sich ausschliels- lich um Vorstellungen im blofsen Denken handelt, z. B. bei reinen abstracten Zahlen, ein Irrthum vorkomme; und doch liegt die Thatsache vor, dass auch in diesen Fällen Irrthum sich findet (195 B— 196 D).
3. Versuch die Entstehung des Irrthums zu erklären durch Unterscheidung des ruhenden Besitzes eines Wissens von seiner gegenwärtigen Anwendung (196 D—200D).
Wenn man durch belehrende Mittheilung oder durch eige- nes Forschen in den Besitz eines mannigfaltigen Wissens ge- langt ist, so befindet man sich in dem gleichen Fall wie jemand, der einen Taubenschlag besitzt mit einer ansehnlichen Anzahl
14) Die genaue Übereinstimmung mit der Aristotelischen Erklärung de anim. II, 12. 424a 17: ἣ μὲν αἴσϑησίς ἐστι τὸ δεχτιχὸν τῶν αἰσϑητῶν εἰδῶν ἄνευ τῆς ὕλης, οἷον ὁ χηρὸς τοῦ δαχτυλίου ἄνευ τοῦ σιδήρου χτὰ. hat keinem Leser entgehen können.
15) 195 CO: εὕρηχας δὴ ψευδῆ δόξαν, ὅτι οὔτε ἐν ταῖς αἰσήσεσίν ἐστι πρὸς ἀλλήλας οὔτ᾽ ἐν ταῖς διανοίαις, ἀλλ᾽ ἐν τῇ συνάψει αἰσϑήσεως πρὸς διάνοιαν.
58 THEÄTETOS.
von Tauben. Dieser Mann ist Eigenthümer der Tauben und 29] hat dadurch die Möglichkeit!®), wann es ihm beliebt, irgend eine der Tauben in seinen Händen zu halten, er muss sie aber, um sie wirklich zu halten, erst wieder ergreifen. Ebenso steht es mit unserem Wissen; das gewonnene Wissen, das unser Eigen- thum ist, haben wir darum noch nicht jeden Augenblick gegen- wärtig, sondern es bedarf eines geistigen Wiederergreifens, das sich mit jenem Wiederfassen der bereits eingefangenen Tauben vergleichen lässt. Hierbei kann nun ein Fehlgreifen eben so gut stattfinden, wie bei dem Wiederfassen der eingeschlossenen Tauben ; ein solches Fehlgreifen ist dann der Irrthum in Fällen, in denen von einer falschen Beziehung zwischen Wahrnehmung und Gedächtnisbild nicht die Rede ist (196 D—199 (Ὁ.
Aber hierbei wäre doch, damit eine solche Verwechslung | möglich sei, die Voraussetzung, dass man etwas, indem man es wisse, zugleich nicht wisse, wie bei den Fällen des ersten Er- klärungsversuches. Oder soll man annehmen, dass in dem Taubenschlage der Seele, dem ruhenden Wissen, aufser dem mannigfaltigen Wissen auch ein mannigfaltiges Nichtwissen ent- halten sei, und soll man dann weiter ein Wissen dieses Wissens und Nichtwissens voraussetzen und so fort ins unendliche 17) ?
16) 197 C: δύναμιν μὲν αὐτῷ περὶ αὐτὰς παραγεγονέναι — λαβεῖν Zul δχεῖν. Über die Durchführung dieser Unterscheidung in der Aristotelischen Termi- nologie s. Trendelenburg zu de an. p. 314 ff. und meine Anmerkung zu Met. 096. 1048a 34.
17) Man känn einerseits schwerlich verkennen, dass die Annahme eines Wissens des Wissens sammt dem unendlichen Progress, zu dem sie cönse- quent führt, an der vorliegenden Stelle verworfen wird, und man wird an- derseits unabweislich an die im Charmides diseutirte ἐπιστήμη ἐπιστήμης ge- mahnt. Von diesem im Charmides ausgesprochenen Gedanken hatte Schleier- macher (in der Einleitung zum Charmides) angedeutet, dass er von Platon keineswegs, wie es den Worten nach scheine, zurückgewiesen werde, son- dern seine Giltigkeit in Platons Sinne behalte; Schleiermachers Andeutun- gen hierüber haben durchweg Beistimmung gefunden. Brandis, Griech. röm. Philos. II, 1, 5. 205; Steinhart 1, $. 285; Susemihl 5. 27. Welche Schwierigkeiten es macht, die vorliegende Stelle mit jener Auffassung des Charmides in Einklang zu bringen, wolle man ersehen aus Steinhart III, 5. 80 f. Trotz der beachtenswerthen Beistimmung, welche die Schleierma- chersche Bemerkung zum Charmides gefunden hat, bin ich überzeugt, dass sie sich, selbst ohne alle Berücksichtigung der vorliegenden Stelle des Theätetos, als unbegründet erweisen lässt. (Vgl. unten die Bemerkungen zum Charmides.)
292
'THEÄTETOS. 59
— Es ist keine Aussicht, den Irrthum erklären zu können, be- vor in das Wesen des Wissens Einsicht gewonnen ist (199 C - 200D).
B. Die Prüfung der Definition selbst, dass richtiges Vor- stellen (Meinen) Wissen sei, δόξα ἀληϑὴς ἐπιστήμη, wird einfach durch die Berufung auf eine als unzweifelhaft betrachtete That- sache abgemacht. Die Redekunst schafft vor Gericht und in Volksversammlungen Überzeugungen; wenn durch diese Über- zeugungen auch das Richtige getroffen wird, so ist doch nach Malsgabe der dabei angewendeten und anwendbaren Mittel das so gewonnene richtige Meinen deshalb noch nicht ein Wissen. Die Definition lässt sich also nicht halten (200 D—2010).
III. Dritte Definition. Richtige Vorstellung in Verbindung mit Er- klärung ist Wissen, δόξα ἀληϑὴς μετὰ λόγου ἐπιστήμη (201 0 — 210 A).
A. Nicht als seinen eigenen neuen Versuch, sondern als eine von andern vernommene Ansicht spricht Theätetos diese neue Definition des Wissens aus; ebenso bezeichnet Sokrates dieselbe als eine ihm schon bekannte, und bestimmt den Sinn, in welchem diese Ansicht aufgestellt werde, näher dahin, dass die einfachen Elemente eine Erklärung nicht zulassen, sondern erst ihre Verbindung einer Erklärung fähig sei; jene könnten nur durch einen Namen bezeichnet, diese durch nähere Rechen- schaft erklärt werden. Als Beispiel hierfür dient die Sylbe im Verhältnis zu den einzelnen Lauten (Buchstaben), aus denen sie besteht. Die Sylbe kann durch Erklärung beschrieben, die ein- zelnen Laute können aber nur genannt werden. Die Namen συλλαβή und στοιχεῖον führen noch besonders auf Anwendung ge- rade dieses Beispiels (201 CE — 203 0).
1. Ist nun, um die Sache an diesem Beispiele durchzufüh- ren, die Sylbe der Gesammtheit ihrer einzelnen Elemente (Laute) gleich, so ergibt sich aus dieser Erklärung von Wissen, dass man die @esammtheit dessen wisse, das man im einzelnen nicht weils (203C—D).
2. Oder vielleicht ist die Sylbe eine von der Gesammtheit der Elemente verschiedene einheitliche Gestalt 15) 7 Soll dies der
18) 203 E: χρῆν γὰρ ἴσως τὴν συλλαβὴν τίϑεσϑαι pm τὰ στοιχεῖα, ἀλλ᾽ ἐξ
60 THEÄTETOS.
Fall sein, so muss das Ganze (ὅλον) etwas von dem Gesammten (πᾶν, πάντα) Unterschiedenes sein; doch lässt sich dies in allen Fällen, wo etwas aus Theilen besteht, nicht nachweisen, und doch nur in diesen Fällen ist ja überhaupt von einem Ganzen die Rede.
Die Sylbe müsste also, soll sie nicht die Gesammtheit der Elemente sein, eine einheitliche, nicht aus Theilen bestehende Gestalt?) sein. Dann fällt aber die Sylbe unter denselben Ge- sichtspunct, wie vorher das Element; sie ist, eben als nicht auf Theile zurückführbar, nicht Gegenstand des Wissens (203 D — 205 E).
3. Übrigens führt die Aufmerksamkeit auf den wirklichen Gang, den man bei jedem Lernen einschlägt, vielmehr zu der entgegengesetzten Ansicht. Denn gerade die einfachen Elemente sind es, die vor allem sicheres Eigenthum des Wissens werden müssen; sie sind erkennbarer als ihre Combinationen und für die Einsicht in die letzteren entscheidend (206 A—C).
B. Um die Definition δόξα ἀληϑὴς μετὰ λόγου ἐπιστήμη all- gemein zu prüfen, muss man fragen, was unter der Erklärung, λόγος, zu verstehen ist. Das Wort lässt eine dreifache Auffas- sung zu; es ist also zu sehen, ob durch eine derselben das un- terscheidende Merkmal der richtigen Vorstellung vom Wissen gewonnen wird.
1. Unter λόγος kann das Aussprechen in Worten ge- meint sein. Da dies jedem überhaupt der Sprache mächtigen möglich ist, so käme hierdurch zur richtigen Vorstellung kein Merkmal hinzu, und jede richtige Vorstellung wäre dann schon ein Wissen, was bereits im vorigen widerlegt war (206 C—E).
2. Unter λόγος kann die Aufzählung der einzelnen Elemente gemeint sein. Aber das Beispiel der Sylbe, das vorher typisch angewendet war, zeigt, dass ohne ein Hindurch- gehen durch die geordnete Reihe der Elemente eine richtige Vorstellung überhaupt nicht stattfindet. Also auch unter dieser Voraussetzung würde man eine μετὰ λόγου δόξα ὀρϑή erhalten, die
Zaral, εἰ Ἢ = \ ὟΝ ἰδέ ’ Jar « - » ev a‘ u EHLEINWYV ἐν τι ἵέεγόνος εἰῦος, ἰόξαν μῖαν AUTO αὐτοῦ ξεχον, ἕτερον 0E τῶν στοι-
χείων .
19) 205 Ο: μία τις ἰδέα ἀμέριστος συλλαβὴ ἂν εἴη.
29
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THEAÄTETOS. 61
sich von der blofsen δόξα ὀρϑή nicht unterschiede, also noch nicht Wissen wäre (206 E— 208 B).
3. Unter λόγος kann die Angabe des unterscheiden- den Merkmales verstanden werden. Aber eine richtige Vor- stellung irgend eines bestimmten Gegenstandes ist nicht mög- lich ohne richtige Vorstellung eben des Merkmales, das ihn von allen andern unterscheidet. Wird also unter λύγος eben nur die richtige Vorstellung des unterscheidenden Merkmales verstanden, so kommt dadurch zur richtigen Vorstellung nichts weiteres hinzu (mithin bleibt der frühere Beweis, dass diese noch nicht Wissen ist, in Giltigkeit); wird dagegen darunter das Wissen des unterscheidenden Merkmals verstanden, so bewegt sich die Definition im Kreise, da sie Wissen durch Wissen definirt (208 C— 210 A).
Schluss. Weder Wahrnehmung, noch richtige Vorstellung, noch richtige Vorstellung mit Erklärung ist Wissen. Wir sind durch die Erörterung um so viel weiter gekommen, dass wir nicht etwas für Wissen halten, das keinen Anspruch hat dafür zu gelten.
Zur Rechtfertigung der bezeichneten Gliederung des Gespräches.
1. Wenn im obigen der Gedankengang des Platonischen Theätetos richtig nach derjenigen Gliederung bezeichnet ist, welche Platon dem Dialoge gegeben hat, so muss diese Darle- gung selbst ihr bester und entscheidender Beweis sein; das Richtige und Einfache hat in sich die Kraft, die Willkür der Künstelei abzuwehren. Indessen geschätzte Forscher auf diesem Gebiete haben eine selbst in wesentlichen Puncten abweichende
‘Gliederung gefunden ; diesen gegenüber wird es nicht überflüssig
sein nachzuweisen, dass diejenige Abtheilung, welche ich im obigen gegeben habe, überall von Platon auf das ausdrücklichste bezeichnet wird.
Sehen wir ab von den mehrfachen Einleitungen, die uns allmählich zu der Behandlung des Gegenstandes selbst hinführen, nämlich erstens derjenigen Einleitung, durch welche das ganze Gespräch als ein wiedererzähltes dargestellt wird, c. 1 (auf den
62 THEÄTETOoS.
vielfach gedeuteten Zweck dieser Fiction ist es für die vorlie- gende Aufgabe nicht nöthig einzugehen), dann zweitens der Einleitung des Gespräches selbst, durch die wir mit den Per- sonen desselben bekannt gemacht werden (c. 2 — c. 3, 145 E), endlich nach der Aufstellung der Frage: „Was heilst Wissen?“ denjenigen einleitenden Bemerkungen, durch welche das Suchen nach dem Begriffe von dem Herabsteigen in den Umfang, und die wissenschaftliche Forschung von der Mittheilung fertiger Re- sultate unterschieden wird (c. 3, 146 A — ο. 7, 151 D): so unter- scheiden sich in der von da an geführten Untersuchung über den Begriff des Wissens drei Haupttheile mit einer Deutlichkeit, welche jede Verschiedenheit der Ansichten ausgeschlossen hat. Darüber, dass die drei Definitionen des Wissens: Wahrnehmung, Vorstellung, Vorstellung mit Erklärung, die drei Haupttheile des Dialoges constituiren, ist nie ein Zweifel gewesen.
Aber bei der weiteren Gliederung des ersten Haupttheiles (ce. 8— 30) zeigen sich Verschiedenheiten, welche eine Hinwei- sung auf die von Platon selbst deutlich gesetzten Grenzsteine der einzelnen Abschnitte erforderlich machen 2%).
Ein solcher ist nun zuerst in c. 15 zu ersehen. Von der Aufstellung der dem 'Theätetos in den Mund gelegten Defini- tion, dass Wahrnehmung Wissen sei, war Platon sofort zu der Nachweisung übergegangen, dass hiemit der Protagoreische Satz zusammenfalle, und dass beide auf die Herakleitische Voraus- setzung des allgemeinen und unbedingten Werdens zurückführen. Die Nachweisung dieser Übereinstimmung und die begründende Erklärung des gemeinsamen, in diesen Sätzen unter verschiede- nen Formen ausgesprochenen Gedankens wird durch c. 15 ab- geschlossen, indem Sokrates sagt?!): „Vortrefflich hast du er-
20) Peipers (Syst. Plat. I. S. 273 ff.) spricht zu der von mir bezeichneten Gliederung des ersten Haupttheiles seine Zustimmung aus. Von den For- mulirungen, durch welche Peipers den Inhalt jedes der fünf Abschnitte kurz zusammenfasst, und von den weiteren Unterabtheilungen, welche er in je- dem dieser Abschnitte setzt, habe ich mir nur wenig aneignen können.
21) 160 D: παγκάλως ἄρα σοι εἴρηται ὅτι ἐπιστήμη οὐχ ἄλλο τί ἐστιν ἢ αἴσϑησις, zu εἰς ταὐτὸν συμπέπτωκε, χατὰ μὲν “Ὅμηρον καὶ Ἡράκλειτον καὶ πᾶν τὸ τοιοῦτον φῦλον οἷον ῥεύματα χινεῖσϑαι τὰ πάντα, κατὰ δὲ Πρωταγόραν τὸν σοφώτατον πάντων χρημάτων ἄνϑρωπον μέτρον εἶναι, κατὰ δὲ Θεαίτητον τούτων
295
THEÄTETOS. 63
klärt, dass Wissen nichts anderes ist als Wahrnehmung, und es fällt in eins zusammen, dass nach Herakleitos alles in bestän- diger Bewegung begriffen, nach Protagoras der Mensch das Mals aller Dinge, nach Theätetos unter diesen Voraussetzungen die Wahrnehmung Wissen ist.“ „Dieses Kind unseres Geistes“ heilst es daun weiter, „haben wir endlich nach langer Mühe an das Licht der Welt gebracht; wir wollen nun untersuchen , ob es der Pflege und des Auferziehens werth ist. Ich kann nicht aus eigenem Wissen erklären, ob die im vorigen ausgesproche- nen Sätze wahr sind oder nicht; aber ich will versuchen es im Gespräche mit Theätetos zu erforschen.“ Wenn der erste Theil der hier ausgezogenen Stelle den deutlichen Abschluss des 26 bis dahin Erörterten gibt, so enthält ebenso bestimmt ihr zwei- ter Theil die Ankündigung der nun zu beginnenden Kritik. In der Kritik der Protagoreischen Lehre c. 16--26 kann es keinem Leser entgehen, dass Platon von Einwendungen, denen er kein entscheidendes Gewicht beilegt, zu andern fortschreitet, in denen er die Widerlegung der Protagoreischen Lehre findet. Diese beiden Abschnitte in der Bestreitung des Protagoreischen Philosophems sind durch c. 21 ausdrücklich von einander ge- schieden. Denn nachdem der Platonische Sokrates die vorheri- gen Einwendungen durch eine in Protagoras’ eigenem Namen vorgetragene Erörterung abgewiesen hat, stellt er die Forderung ernster und gründlicher Untersuchung auf und gibt ihrer Erfül- lung einen Ausdruck in der Gestaltung des Dialogs selbst, in- dem nunmehr Theodoros sich dazu verstehen muss, der Mit- unterredner' des Sokrates zu werden. Die Unterhandlungen hierüber??) bilden eine so augenscheinliche Unterbrechung der Untersuchung über den Gegenstand selbst, dass Platon minde-
οὕτως ἐχόντων αἴσϑησιν ἐπιστήμην γίγνεσθαι. ἢ γάρ, ὦ Θεαίτητε, φῶμεν τοῦτο σὸν μιν εἶναι οἷον νεογενὲς παιδίον, ἐμὸν δὲ μαίευμα; — — Τοῦτο μὲν δὴ μόλις ποτὲ ἐγεννήσαμεν, ὅ τι δῆ ποτε τυγχάνει ὄν. μετὰ δὲ τὸν τόκον τὰ ἀμιφιδρόμια αὐτοῦ ὡς ἀληϑῶς ἐν κύχλῳ περιϑρεχτέον τῷ λόγῳ, σκοπουμέ - νους μὴ λάϑῃ ἡμᾶς οὐχ ἄξιον ὃν τροφῆς τὸ γιγνόμενον, ἀλλὰ ἀνεμιαῖόν τε χαὶ ψεῦδος. ἢ σὺ οἴει πάντως δεῖν τό γε σὸν τρέφειν χαὶ μιὴ ἀποτιϑέναι, ἢ καὶ ἀνέξει ἐλεγχόμενον ὁρῶν, χαὶ οὐ σφόδρα γχαλεπανεῖς, ἐάν τις σοῦ ὡς πρωτοτόκου αὐτὸ ὑφαιρῇ; — — καὶ νῦν τοῦτο παρὰ τοῦδε πειράσομαι —. 2) 168 C --- 109 Ὁ.
64 THEÄTETOS.
stens ganz unkünstlerisch verfahren wäre, hätte er nicht eben dadurch einen Halt und Wendepuncet im Gange der Unter- suchung fixiren wollen. Dazu bezeichnen überdies die Worte des Theodoros23) einerseits, vor allem aber anderseits des Sokrates erneute strengere Formulirung der Protagoreischen Lehre zur Grundlegung ihrer Bestreitung 2), dass hier ein neuer Abschnitt der Discussion beginnt.
Die in Platons Sinne entscheidende Bestreitung des Prota- goreischen Philosophems wird durch den Schluss von ce. 26 be- endigt, die beiden entscheidenden Beweise werden in kurzer Fas- sung recapitulirt und die Lehre des Protagoras als hierdurch voll- giltig widerlegt bezeichnet. „Durch diesen eben geführten Beweis“, erkennt Theodoros an, „scheint der Protagoreische Satz wider- legt zu sein, so wie auch durch den früheren über Anerkennung widerstreitender Ansichten;* „auch noch sonst auf mannigfache Weise,“ fügt Sokrates hinzu, „lässt sich ein Satz dieses Inhaltes 297 widerlegen ?5).“ So spricht wer den bisherigen Beweisgang ab- schliefst, indem er die Möglichkeit, noch andere Gesichtspuncte zu gleichem Zwecke zu verfolgen, anerkennt, ohne darauf weiter einzugehen. Mit dieser Erklärung des Abschlusses verbindet sich zugleich die Ankündigung der nunmehr an die Reihe kommen- den Frage: „wir müssen nun an die Lehre von der unbedingten Bewegung näher herantreten und untersuchen ob sie in sich gesund ist 2%) .*
Innerhalb dieses dritten Abschnittes des ersten Hauptthei- les habe ich die längere Vergleichung zwischen der Philosophie und den politisch-rhetorischen Beschäftigungen als eine blofse
3) 169 Ο: οὐδὲν ἔτι ἀντιλέγω, ἀλλὰ λέγε ὅπῃ ἐθέλεις χτλ. --- — ἀλλὰ δὴ πειράσομαί γε καϑ᾿ ὅσον ἂν δύνωμαι.
#4) 169 D: τοῦδε τοίνυν πρῶτον πάλιν ἀντιλαβώμεϑα οὗπερ χαὶ πρότερον κτλ. bis 170 A.
>) 179 A: μετρίως ἄρα ἡμῖν πρὸς τὸν διδάσκαλόν σου εἰρήσεται, . ὅτι ἀνάγκη αὐτῷ ὁμολογεῖν σοφῴώτερόν τε ἄλλον ἄλλου εἶναι χτὰ. — -- Ἐχείνῃ μοι δοχεῖ, ὦ Σῴώχρατες, μάλιστα ἁλίσκεσϑαι ὁ λόγος, ἁλισχόμενος χαὶ ταύτῃ, ἡ τὰς τῶν ἄλλων δόξας κυρίας ποιεῖ χτὰ. --- Πολλαχῇ, ὦ Θεόδωρε, καὶ ἄλλῃ ἂν τό γε τοιοῦτον ἁλοίη pi) πᾶσαν παντὸς and δόξαν εἶναι. ἐ
ἢ 179 D: προσιτέον οὖ" ἐγγυτέρω, ὡς ὁ ὑπὲρ Πρωταγόρου λόγος ἐπέ- ταττε, καὶ σχεπτέον τὴν φερομένην ταύτην οὐσίαν διαχρούοντα, εἴτε ὑγιὲς εἴτε σαϑρὸν φϑέγγεται. ᾿
Ν THEÄTETOoSs. 65
Episode bezeichnet (5. $S: 52). Es versteht sich, dass für den Zweck des gesammten Dialogs oder für die Zeitumstände, unter denen Platon ihn schrieb, dieser Abschnitt seine besondere Bedeutung 27), und dass Platon seine Gründe gehabt haben wird, in solcher Ausführlichkeit darüber zu handeln. Aber für diejenige Stelle des Dialogs, an welcher diese Erörterung eintritt, ist sie eine den Gedankenzusammenhang schlechthin unterbrechende und einfach als solche Unterbrechung von Platon bezeichnete Episode. Sokrates fragt, nach kurzer Bezeichnung der Eile und Hast, welche die politischen Redner dränge, ob er sich „zu dem Gegenstande der Untersuchung zurückwenden ?) oder auch als Gegenbild die wahrhaften Philosophen zeichnen solle. Und am Schlusse heifst es: „doch lass uns nun hievon abstehen, da es 298 ja überhaupt nur als ein Beiwerk gesagt ist; es möchte uns sonst, wie es immer voller zuströmt, den ursprünglichen Gegen- stand unserer Unterredung ganz verschütten ?®).“ Vor allem aber: die Beweisführung gegen Protagoras zieht aus dieser Vergleichung schlechterdings keinen Nutzen, sondern durch Recapitulation wird der Beweis gerade an der Stelle wieder aufgenommen, bis zu welcher er vor dem Beginne jenes Preises der Philo- sophie gelangt war®®). Alles offenkundige, in sich zusammen- stimmende und unbestreitbare Zeichen dafür, dass an der be- treffenden Stelle des Dialogs jener Abschnitt 172 CE —177C schlechthin eine Unterbrechung des Gedankenganges bildet. Der vierte Abschnitt des ersten Haupttheiles erhält in mehr- facher Weise Zeichen des Abschlusses. Sokrates erklärt, mit
2) In der ersteren Hinsicht sind Andeutungen am Schlusse gegeben, S. 87; in der andern Hinsicht, dass nämlich die eigenthümlichen Zeitum- stände, unter denen Platon den Dialog abgefasst haben mag, Anlass zu dem Inhalte ufd der nachdrücklichen Ausführlichkeit dieser Episode gegeben haben können, ist es misslich, sich Vermuthungen hinzugeben, da eine ge- naue Bestimmung der Abfassungzeit des Theätetos bis jetzt nicht gesichert ist.
28) 173 B: τοὺς δὲ τοῦ ἡμετέρου γοροῦ πότερον βούλει διελϑόντες ἢ ἐάσαντες πάλιν ἐπὶ τὸν λόγον τρεπώμεϑα, ἵνα μὴ χαί, ὃ νῦν δὴ ἐλέγομεν, λίαν πολὺ τῇ ἐλευϑερίᾳ χαὶ μεταλήψει τῶν λόγων χαταχρώμεϑα.
29) 177 B: περὶ μὲν οὖν τούτων, ἐπειδὴ καὶ πάρεργα τυγχάνει λεγόμενα, ἀποστῶμεν. εἰ δὲ μή, πλείω ἀεὶ ἐπιρρέοντα καταχώσει ἡμῶν τὸν ἐξ ἀρχῆς λόγον " ἐπὶ δὲ τὰ ἔμπροσϑεν ἴωμεν, εἰ χαὶ σοὶ δοχεῖ.
80) 177 C: οὐχοῦν ἐνταῦ ϑά που ἦμεν τοῦ λόγον, ἐν ᾧ ἔφαμεν κτλ.
Bonitz, Platonische Studien. 5
66 THEÄTETOSs.
der Lehre, dass jeder Mensch aller Dinge Mafs sei, und ebenso mit der Lehre von der unbedingten Bewegung seien sie nun- mehr fertig®!), und Theodoros, der den Ernst der Prüfung dieser Lehre zu repräsentiren hatte, wird seiner Verpflichtung als Mit- unterredner ausdrücklich enthoben 33). Ferner,. eine Trennung dieses Abschnittes von dem nächstfolgenden wird dadurch noch deutlicher bezeichnet, dass der Vorschlag einer als Gegenstück zur Kritik des Herakleitos nahe gelegten Kritik der Eleatischen Lehre ausdrücklich abgelehnt wird ®). Endlich, es wird als ein neuer, durch die bisherigen Erörterungen noch durchaus nicht abgethaner oder auch nur ermnstlich berührter Fragepunet die Untersuchung der von Theätetos aufgestellten Definition selbst angekündigt ®); denn wenngleich zwischen der Definition des Theätetos einerseits und den Protagoreischen und Herakleitischen Lehren anderseits eine Einstimmigkeit zu Anfange des Dialoges 299 nachgewiesen ist, so bleibt es doch noch etwas verschiedenes, diejenige Form zu untersuchen, welche Protagoras und Herakleitos einem solchen Gedanken gegeben haben, und dagegen die De- finition selbst, abgesehen hievon, zur Prüfung zu ziehen. Als ein solcher neuer Gegenstand wird diese Untersuchung ange- kündigt.
Dass dieser fünfte Abschnitt mit der Erklärung, die Iden- tität von Wahrnehmen und Wissen sei also nunmehr widerlegt, und mit diesem Abschnitte zugleich der erste Haupttheil selbst abgeschlossen ist, 187 A, B, bedarf keines weitern Beweises.
2. Vielleicht ist es manchem Leser als eine überflüssige Kleinlichkeit erschienen, dass ich für jeden der Abschnitte des ersten Haupttheiles die Grenzzeichen im einzelnen aufzeigte, durch welche Platon ihn von dem vorausgehenden und nach- folgenden ausdrücklich abgetrennt hat. In der vorhergehenden
31) 183 B: οὐχοῦν, & Θεόδωρε, τοῦ τε σοῦ ἑταίρου ἀπηλλάγμεϑα — — ἐπιστήμην τε αἴσϑησιν οὐ συγχωρησόμεϑα χατά 1ε τὴν τοῦ πάντα χινεῖσϑαι μέϑοδον.
32) 183 C: τούτων γὰρ περανϑέντων χαὶ ἐμὲ δεῖ ἀπηλλάγχϑαι σοι ἀποχρι- νόμενον χατὰ τὰς συνϑῆχας, ἐπειδὴ τὸ περὶ τοῦ Πρωταγόρου λόγου τέλος σγοίη.
3) 183 D — 184 A.
#9) 184 B: δεῖ δὲ οὐδέτερα, ἀλλὰ Θεαίτητον ὧν χυεῖ περὶ ἐπιστήμης πειρᾶσθαι ἡμᾶς τῇ μαιευτιχῇ τέχνῃ ἀπολῦσαι.
"00
THEÄTETOS. 67
Darlegung des Gedankenganges war ja bereits, und zwar im unmittelbarsten Anschlusse an Platons eigene Worte, für jeden der Abschnitte ein bestimmter, von den anderen unterschiedener Gegenstand der Untersuchung aufgezeigt, so dass, scheint es, schon hierdurch die Gliederung hinlänglich gesichert ist, auch wenn sich keine besonderen Zeichen der Trennung unter den einzelnen Abschnitten nachweisen liefsen. Ich musste diesen er- müdend weitläufigen Weg einschlagen, um auch den leisesten Schein. zu vermeiden, als ob ich einer von anderen Seiten mit voller Sicherheit vertretenen Auffassung eben nur eine andere subjective Ansicht entgegenstellte, und zu zeigen, dass ich schlechterdings nur den zwingenden Weisungen des Schriftstel- lers selbst mich füge.
Steinhart hebt es?) als ein besonderes Moment in der kunstvollen Anlage des Dialogs hervor, „dass dieselbe Einthei- lung, die dem Ganzen zu Grunde liegt, sich auch in jedem ein- zelnen Theile ganz in denselben Verhältnissen wiederholt. Dies tritt am klarsten in dem ersten Abschnitte hervor. Der Satz des Protagoras wird hier nach einander in drei Vorträgen des Sokrates beleuchtet und in den damit verbundenen Erörterungen nach allen diesen Seiten hin vollständig widerlegt. Diese drei Erörterungen verhalten sich gerade so zu einander, wie die drei Theile des ganzen Dialogs, auch sie stellen den Fortschritt des Denkens von der einzelnen Wahrnehmung zur Vorstellung und durch diese zur Verstandesreflexion dar“ u. s.w. Diesen Ge- danken bezeichnet Susemihl in seiner Recension der Steinhart- schen Einleitung als eine überraschend neue Entdeckung 56), und macht nur im einzelnen einige Einwendungen gegen dessen specielle Ausführung. Er schlieflst sich dann auch, wie hiernach zu erwarten ist, in seiner eigenen Entwickelung des Gedanken- ganges an diese von Steinhart entdeckte Gliederung an. Da seine Abweichungen für unseren Zweck von minderer Erheblich- keit sind und sich bei ihm jeder der einzelnen Abschnitte genau begrenzt und der angebliche Inhalt eines jeden derselben be- stimmt formulirt findet, so werden wir, ohne Wesentliches zu
'3) In der Einleitung zum Theätetos, Platon III. 8. 35 ff. 3) In den Jahnschen Jahrbüchern, Bd. 68, S. 276.
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68 THREÄTETOos.
übergehen, uns auf die Kritik der von ihm aufgestellten Glie- derung beschränken dürfen.
Susemihl also 3”) gliedert den ersten Haupttheil in folgende drei Abschnitte: 1. 151 E—166 A, „erster oder vorbereitender Absatz“, 2. 166 A— 176 B, „Nothwendigkeit einer tieferen Psy- chologie nach der eigenen Lehre des Protagoras“, 3. 179 C— 186C, „wirkliche Anknüpfung der Wahrnehmung an einen specu- lativeren Hintergrund“. Betrachten wir zunächst die hierdurch gesetzten einzelnen Einschnitte, dann die Formulirung des In- haltes jedes der einzelnen Abschnitte, endlich das Urtheil Suse- mihls über die Episode.
Wenn Susemihl mit 179 C einen Abschnitt beginnen lässt, so fällt dies im wesentlichen mit derjenigen Abtheilung zusammen, die ich oben 8. 53 als das Ende des dritten und den Anfang des vierten Abschnittes bezeichnet habe; dass man genauer nicht 179 C: πολλαχῇ, ὦ Θεόδωρε, sondern προσιτέον οὖν ἐγγυτέρω — χαὶ σχεπτέον χτλ. als den Anfang des neuen Abschnittes zu be- zeichnen hätte, zeigt eine Erwägung des Inhaltes und selbst des sprachlichen Ausdruckes, da sich 179 C noch ganz im Ab- schlusse des vorherigen bewegt.
Indessen hierüber ist nicht nöthig zu rechten, dagegen ist es unzulässig bei 166 A, d.h. bei dem Beginn der Vertheidi- gungsrede, welche Sokrates dem Protagoras selbst in den Mund legt, den Anfang eines neuen Abschnittes zu statuiren. Wenn diejenigen Einwendungen, welche im vorherigen gegen die Pro- tagoreische Lehre vorgebracht wurden, als stichhaltig und unbe- stritten hingestellt wären, so hätte man vollkommen Recht, in der dem Protagoras geliehenen Vertheidigungsrede einen Wende- punct des Gespräches zu erkennen. Aber davon findet das ge- rade Gegentheil statt. Die bisher gemachten Einwürfe sind ent- weder als blofs auf die Überredung der Menge berechnet unter den Werth eines wirklichen Beweises herabgedrückt 35), oder sie sind, um ihre Haltlosigkeit zu zeigen, von dem Jünglinge Theätetos sogleich zurückgewiesen 39), oder es wird bei andern,
37) Genetische Entw. ἃ. Plat. Philos. I. 8. 182 — 192. 3) 162 D. E. 5. oben Anm. 5. 3) 163 B.C.
301
THEÄTETOS. 69
deren Widerlegung nicht sogleich auf ihre Aufstellung folgt, wenigstens auf die Wahrscheinlichkeit hingewiesen, dass man triumphire, bevor der Sieg wirklich gewonnen sei #0); endlich selbst die Anordnung, dass zuletzt eine ganze Menge von Einwen- dungen in einem an das Komische streifenden Ausdrucke ge- häuft wird 4, zeigt deutlich, welchen Werth Platon auf diese Einwürfe legt. In der vollkommen gleichen Richtung, welche schon im vorherigen von 161 C an eingeschlagen und festgehal- ten war, bewegt sich nun die dem Protagoras zugeschriebene Vertheidigungsrede; indem dieselbe die vorher geltend gemach- ten Gründe zur Rechtfertigung der Protagoreischen Lehre unter ihre gemeinsamen Gesichtspuncte zusammenfasst, bildet sie den angemessenen Abschluss eines Abschnittes, der sich mit den leichthin aufgeworfenen und leicht zu beseitigenden Einwürfen gegen Protagoras beschäftigt, nicht den Anfang eines neuen Ab- schnittes.
Hat sich hiermit der von Susemihl im Unterschiede von der obigen Inhaltsangabe statuirte Einschnitt nicht als haltbar er- wiesen, so wird sich die entgegengesetzte Unrichtigkeit, näm- lich dass Wendepuncte des Gespräches, die Platon selbst be- zeichnet, nicht als solche anerkannt sind, in der misslungenen Zusammenfassung des Inhaltes der angeblichen drei Theile be- kunden.
Für den ersten der von ihm gesetzten Abschnitte hat Suse- mihl den Inhalt bestimmt zu bezeichnen ganz unterlassen, son- dern, indem er ihn „vorbereitender Absatz“ nennt, dadurch nur
302 seine Stellung zu dem folgenden angegeben. Mag man nun immerhin und mit Recht jene weitere Ausführung der kurzen Definition „Wahrnehmung ist Wissen“, durch welche der Sinn des Satzes erläutert und mit den Sätzen des Protagoras und He- rakleitos in eine begründende Beziehung gebracht wird, so dass
40) 164 C: φαινόμεϑά μοι ἀλεχτρυόνος ἀγεννοῦς δίχην, πρὶν νενιχηχέναι, ἀποπηδήσαντες ἀπὸ τοῦ λόγου ἄδειν. --- ἀντιλογικῶς ἐοίκαμεν πρὸς τὰς τῶν ὀνομάτων ὁμολογίας ἀνομολογησάμενοι χαὶ τοιούτῳ τινὶ περιγενόμενοι τοῦ λόγου ἀγαπᾶν, zul οὐ φάσχοντες ἀγωνισταὶ ἀλλὰ φιλόσοφοι εἶναι λανθάνομεν ταὐτὰ ἐχείνοις τοῖς δεινοῖς ἀνὸράσι ποιοῦντες.
4) 165 B—E.
70 THEÄTETOS.
erst hierdurch diese Ansicht als vollständig ausgesprochen 42) er- scheint, als „vorbereitend“ bezeichnen — denn allerdings ist die vollständige und ausgeführte Darlegung dieser Ansicht die Vor- bereitung oder die Grundlage zu der beabsichtigten Kritik —, so hat man doch kein Recht, einen Theil dieser Kritik mit der blofsen Entwickelung der Thesis selbst als ein Continuum zusam- menzufassen. Also sogar durch diese überaus allgemeine Formel lässt sich das Übergehen des bei 161 B aufgezeigten Einschnit- tes nicht überdecken.
Noch weniger wird es möglich sein, in der Überschrift, welche Susemihl seinem zweiten Abschnitte gibt, den Inhalt dessen, was wir bei Platon wirklich lesen, wieder zu erkennen. Erinnern wir uns, dass Protagoras in seiner Vertheidigung auf die Unterscheidung der Erinnerung von der gegenwärtigen Wahr- nehmung dringt, und den Unterschied von weise und unweise aufrecht hält trotz des gleichen Anspruches aller an Wahrheit, und dass dagegen der Platonische Sokrates jene beiden ent- scheidenden Gründe gegen die Protagoreische Lehre vorbringt, den Gegensatz der auf Wahrheit gleichen Anspruch erhebenden Ansichten, die verschiedene Geltung der Ansichten über das Zukünftige — und aufserdem die Beschäftigung mit Philoso- phie der politisch-rhetorischen gegenüberstellt. Allerdings, die Unterscheidung der Erinnerung von der Wahrnehmung, auf wel- che sich Protagoras als auf ein unzweifelhaftes, allen bekann- tes Factum beruft, könnte zu den Anfängen einer Psycho- logie führen, wenn dieser Unterschied selbst nach seinem realen Grunde Gegenstand weiterer Untersuchung würde; aber Erörte- rungen dieser Art, und wäre es nur in der elementaren ver- suchenden Weise, die der folgende Haupttheil uns zeigt, finden sich hier durchaus nicht. In allen folgenden Erörterungen dieser von Susemihl zu einem Abschnitte verbundenen Partie des Dialogs ersieht man noch weniger die Möglichkeit einer An- knüpfung an Psychologie; in der Darlegung Susemihls sucht man vergeblich nach einer Rechtfertigung der Überschrift, durch welche der angebliche zweite Absatz zusammengefasst sein soll.
42) 160 E: τοῦτο μὲν δή, ὡς ἔοιχε, μόλις ποτὲ ἐγεννήσαμεν χτὰ. vgl.
Anm. 21.
=
303
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Bis eine solche rechtfertigende Nachweisung gegeben ist, wird es verzeihlich erscheinen, wenn ich in solcher Zusammenfassung nur eine unberechtigte individuelle Ansicht zu erkennen vermag.
Zu einem dritten Absatz des ersten Haupttheiles verbindet Susemihl 179 C— 186 E. Imnerhalb dieses angeblichen Abschnit- tes finden wir erstens die Angabe, in wie weit den Sinnesein- drücken unleugbare Giltigkeit zuzuerkennen ist, 179 C, zweitens die Nachweisung, dass die Herakleitische Bewegungslehre die Möglichkeit einer Wahrnehmung aufhebt, 1179 1) --- 188 Ο, end- lich drittens den Erweis, dass diejenigen Begriffe, durch welche der Inhalt der Wahrnehmungen gedacht wird, insbesondere der Begriff des Seins, durch welchen derselbe erst Anspruch auf Wahrheit erhält, nicht durch die Sinnesorgane vermittelt werden, sondern der 'Thätigkeit der Seele an sich angehören, 184— 189 E. Die Worte „Speculation und speculativ“ werden in verschiede- nen philosophischen Systemen in einem so wesentlich verschie- denen Sinne genommen, dass es gewiss möglich ist, in irgend einem Sinne sie auf die verschiedenen Gedanken, die hier als ein Continuum zusammengefasst werden sollen, anzuwenden, und das unbestimmte Bild eines „speculativeren Hinter- grundes“ erweitert noch möglichst den Bereich der Deutung, der uns schon ohnehin freigestellt ist; aber dass man durch eine solche Angabe nicht einen Begriff von dem erhält, was Platon wirklich in dieser Stelle behandelt, werden unbefangene Leser leicht zugeben, und im Zusammenhange mit den obigen Erör- terungen die Folgerung anerkennen, dass das Misslingen einer treffenden Zusammenfassung eben daher rührt, weil Einschnitte in den Dialog nach subjectiver Willkür gesetzt sind, nicht nach gewissenhafter Befolgung der von Platon selbst deutlich gesetz- ten Zeichen.
Endlich der Vergleichung zwischen der Philosophie und dem praktischen Staatsleben, welche ich oben 8. 52 als Epi- sode hezeichnete, sucht Susemihl ihre Zugehörigkeit gerade für diejenige Stelle, an welcher sie sich findet, nachzuweisen. „In- zwischen“, heilst es a. a. O. 8. 187, „kann Platon an der Conse- quenz der sensualistischen Ansicht, welche auch auf dem ethisch- politischen Boden den Gegensatz eines objectiv Guten und Bösen leugnet und statt dessen nur die verständige Berechnung des
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blofs äufserlich Nützlichen oder Verderblichen, der gröfseren An- 301 nehmlichkeit oder Unannehmlickeit übrig lässt, wie sie auch im letzten Theile des Dialogs Protagoras als die einzige Weisheit des sophistischen Eudämonismus sich darstellte — ich sage, Platon kann an ihr nicht vorübergehen, ohne das Verderbliche derselben hervorzuheben, zumal da sie nicht blofs Protagoreisch, sondern die allgemein verbreitete in den Staaten ist, 172 A,B. Dies geschieht nun in der Episode 172C—177C, indem er in begeisterter Rede dem Treiben der gewöhnlichen Staats- und Weltmänner das Ideal des echten Philosophen gegenüberstellt* u. s. w. Es ist an sich gewiss möglich, dass ein solcher Zusammenhang im Geiste des Schriftstellers stattgefunden habe; wollen wir ihn aber als den wirklichen Zusammenhang behaupten, so müssen wir das Recht dazu aus der Art und Weise entlehnen, wie der Schriftsteller selbst diese Erörterung an das vorherige anknüpft oder wie er von ihr zur unterbrochenen Untersuchung zurück- lenkt; sonst sind wir in der Gefahr, über Vorgänge im Platoni- schen Geiste uns auf das Gebiet der Dichtung zu verlieren. Aber bei Platon finden wir von einer Verbindung, wie sie nach Susemihls Auffassung erwartet werden müsste, nicht die lei- seste Andeutung. Nicht an die eben erwähnten Begriffe des Gerechten und Ungerechten, des Nützlichen und Schädlichen, sondern an die Bemerkung, dass ein neuer wichtiger Gegenstand der Untersuchung sich aufdränge, schliefst sich der Gedanke an, dass ja die Unterredner Musse zu solcher Forschung haben und nicht wie die Redner vor Gerichte durch das Ablaufen der Wasseruhr zur Eile gedrängt werden, und daran dann weiter die ganze Vergleichung der beiderseitigen Beschäftigungen. Und am Schlusse findet sich eben so wenig eine Benützung der ethi- schen Schilderung des philosophischen Ideals für die eben be- handelte Frage, sondern eine Recapitulation als nach einer Un- terbrechung 177 C. Man mag daher immerhin eine Auffassung, wie die Susemihlsche interessant und geistreich finden oder nicht, darum handelt es sich gar nicht; das eine ist gewiss, dass sie in Platon etwas hineinträgt, wozu uns Platon nicht das geringste Recht gibt.
3. Im zweiten Haupttheile, 7 ἀληϑὴς δόξα ἐπιστήμη, 157 B— 201 C, ist es vor allem nothwendig, die Unterscheidung
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zweier Abschnitte sicher zu stellen, deren höchst verschiedener äulserer Umfang leicht den Anlass gibt, dieses ihr Verhältnis 805 innerhalb des Haupttheiles zu verkennen. Die Definition, dass in der wahren Vorstellung das Wissen liege, setzt für die Vor- stellung die Möglichkeit des Irrthums voraus; daran knüpft sich daher die Frage nach dem Wesen und der -Entstehung der irr- thümlichen Vorstellungen. Diese Untersuchung wird als eine besondere Frage ausdrücklich angekündigt und eingeleitet, und eben so ausdrücklich wird ihr Abschluss bezeichnet. „Es beun- ruhigt mich“, sagt Sokrates, „jetzt sowohl 415: auch schon sonst oft, dass ich in grolser Verlegenheit bin bei mir selbst und anderen gegenüber, weil ich nicht zu sagen weils, was doch eigentlich bei irrthümlicher Vorstellung in uns vorgeht, und auf welche Weise sie entsteht.“ Und Theätetos ermuntert zu dem Versuche irgend einer Erklärung durch die Erinnerung an die eben erst geschilderte Musse des Philosophen. Der Spur nachzugehen findet Sokrates passend, da es besser sei, weniges gut, als vieles ungenügend abzuschlielsen #3). Wie hiermit diese Unter- suchung über Wesen und Entstehung der unrichtigen Vorstellung umständlich angekündigt und eingeleitet wird, so wird anderseits ihr Ende und der Übergang zu einer andern Gedankenreihe beson- ders bezeichnet. „Wir haben nicht recht gethan“, heilst es, als die Untersuchung nicht zu einem vollständig befriedigenden Er- gebnisse geführt hat, „das Wesen der falschen Vorstellung früher erforschen zu wollen, ehe wir das Wesen des Wissens gefunden haben. Fragen wir also von neuem, was denn das Wissen ist 44).“ Und indem auf solche Aufforderung Theätetos die von ihm aufgestellte Definition des Wissens als noch unbestritten wieder vergegenwärtigt, so folgt nun in einer, von der ganzen
48) 187 C: ϑράττει μέ πως νῦν τε χαὶ ἄλλοτε δὴ πολλάχις, ὥστ ἐν ἀπορίᾳ πολλῇ πρὸς ἐμαυτὸν zul πρὸς ἄλλον γεγονέναι, οὐχ ἔχοντα εἰπεῖν τί ποτ᾽ ἐστὶ τοῦτο τὸ πάϑος παρ᾽ ἡμῖν χαὶ τίνα τρόπον ἐγγιγνόμενον. --- Τὸ ποῖον δή; — Τὸ δοξάζειν τινὰ bevor χτὰ. --- — ἴσως γὰρ οὐχ ἀπὸ χαιροῦ πάλιν ὥσπερ ἴχνος μετελθεῖν. χρεῖττον yap ποῦ σμιχρὸν εὖ ἢ πολὺ μὴ ἱχανῶς πε- ρᾶναι.
4 200 0: — ὅτι οὐκ ὀρϑῶς ψευδῆ δόξαν προτέραν ζητοῦμεν ἐπιστήμης, ἐχεί- νὴν ἀφέντες; τὸ δ᾽ ἐστὶν ἀδύνατον γνῶναι πρὶν ἄν τις ἐπιστήμην ἱκανῶς λάβῃ τί ῳ rn ’ - - ’ ες ’ ποτ ἐστίν. --- — Τί οὖν τις ἐρεῖ πάλιν ἐξ ἀργῆς ἐπιστήμην; οὐ γάρ που ἀπε-
ροῦμέν γέ πω.
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bisherigen Entwiekelung durchaus verschiedenen Weise der kurze Erweis, dass richtige Vorstellung noch nicht Wissen ist. Die Versuche psychologischer Erklärungen, welche im bisherigen angestellt wurden, bleiben dabei ganz unberücksichtigt; es wird 306 einfach auf die Thatsache hingewiesen, dass im praktischen Leben, namentlich in den Verhandlungen vor Gericht, häufig‘ eine richtige Vorstellung über irgend einen Gegenstand beige- bracht wird, wo von Wissen gar nicht die Rede sein kann.
Ist die Unterscheidung dieser beiden, an Umfang sehr un- gleichen Abschnitte, in welche der zweite Haupttheil sich zu- nächst scheidet, hierdurch sicher gestellt, so unterliegt die wei- tere, nur den ersten Abschnitt treffende Gliederung keiner Schwierigkeit und ist nicht Gegenstand verschiedener Ansichten. Es reicht aus mit einem Worte darauf hinzuweisen, dass auch hier Platon sich nicht begnügt, aus der deutlichen Verschiedenheit des Inhaltes jedes der drei Erklärungsversuche den Leser die Glie- derung ersehen zu lassen, sondern jedes dieser einzelnen Glieder noch durch stark markirte Gesprächswendungen von seinem Vorgänger und Nachfolger unterscheidet. Wir werden jedesmal an die Nothwendigkeit erinnert, in dieser Frage nichts unver- sucht zu lassen, das folgende wird als ein neuer Versuch, ja als ein neues Wagnis angekündigt 45) ; kurz man darf wohl sagen, mit einer an Peinlichkeit grenzenden Sorgfalt ist Platon bemüht, jedem Verwischen oder Übersehen der Abgrenzungen vorzu- beugen.
4. Von der Gliederung, welche ich für den zweiten Haupt- theil des Dialogs bezeichnet und zu begründen versucht habe, weicht Susemihl in einigen Puncten ab. Er betrachtet den seinem Umfange nach freilich nur kurzen Abschnitt 200 D— 201C, nicht als einen zweiten Hauptabschnitt, der von dem umfangreichen ersten 187 E— 200 D bestimmt abgehoben ist, sondern gliedert den ganzen zweiten Haupttheil in drei Ab- schnitte, welche in ihrer Abgrenzung mit den von mir bezeich-
45) 190 E: οὐκ ἐρῶ σοι πρὶν ἂν πανταχῇ neipad& σχοπῶν. alsyuvol- nv Ἰὰρ av ὑπὲρ ἡμῶν χτὰλ. — Und ähnlich wieder, nachdem der zweite Er- klärungsversuch sich als unzureichend erwiesen hat, 196 D: ὅμως δέ, πάντα ap τολμητέον, zT.
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neten Abtheilungen 1, 2, 3 des Hauptabschnittes A grölsten- theils zusammenstimmen, und zieht in seinen dritten Abschnitt jene Erörterung 200 D—201 C mit ein, die ich als zweiten Haupt- abschnitt glaubte bezeichnen zu sollen. Den Inhalt dieser drei Abschnitte bezeichnet Susemihl auf folgende Weise: „Erster Absatz. Die Möglichkeit der falschen Vorstellung 187 A— 191A. Zweiter Theil. Die falsche Vorstellung als unrichtige Beziehung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung 191 A— 195 B. Dritter Theil. Der Irrthum als Verwechslung verschiedener Vorstellungen 195 C— 201 E.* Am Schlusse seiner Analyse fasst Susemihl den Gedankengang des ganzen zweiten Theiles in folgender Weise zusammen.
„Die ganze Beweisführung des zweiten Hauptabschnittes“, sagt Susemihl S. 198, „nimmt also folgenden Gang. Im ersten Absatz wird die Möglichkeit der falschen Vorstellung überhaupt bestritten, im zweiten als Verwechslung von Vorstellung und Wahrnehmung, im dritten als die von Vorstellungen unter einander zugegeben, d. ἢ. die richtige Vorstellung kann nicht mit der Erkenntnis identisch sein, weil damit die Möglichkeit des Irrthums, die sich doch erweisen lässt, ausgeschlossen wäre. Dann liefert nun aber der eben besprochene Schluss auch die Unterscheidungsmomente. Das Wissen schlielst den Irrthum, die richtige Vorstellung dagegen nicht die falsche aus, beim Wissen gibt es keinen Unterschied des Besitzens und Gebrauchens, sondern nur ein Haben oder Nichthaben, die Vorstellung ist endlich eben deshalb im steten Werden, das Wissen beharrt im festen Sein.
Eben deshalb ist das Wesen der falschen Vorstellung nur andeu- tend und gleichnisweise bezeichnet, und Platon selbst verspottet die Unzulänglichkeit solcher materiellen Gleichnisse als eines blolsen Noth- behelfs, p. 200 B. Indem sich nun aber die Beweisführung den An- schein gibt, als seien nicht einmal solche Andeutungen gefunden, so wird scheinbar noch einmal bewiesen, dass die richtige Vor- stellung noch nicht Erkenntnis sein könne, weil die öffentlichen Red- ner wohl die erstere, aber unmöglich die letztere einzuflöfsen ver- mögen. In Wahrheit ist dies nur wieder eine Anwendung aufs praktische Leben, ein ergänzendes Seitenstück zu jener Ent- gegenstellung des Philosophen und des Staatsmannes im ersten Ab- schnitt. Dort, wo der Abstand von der Wahrheit noch grölser war, trat nur der Tadel gegen den letzteren hervor, hier, wo die Betrach- tung sich bereits weit höher emporgeschwungen hat, wird derselbe durch die bedingte Anerkennung gemildert.“
Hiergegen habe ich zu bemerken: Erstens. Platon unterscheidet auf das bestimmteste den Abschnitt 200 D—201 C von der ganzen bisherigen, als miss-
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lungen bezeichneten Untersuchung über Wesen und Entstehung des Irrthums. Wollen wir also, was jedenfalls des Auslegers erste Pflicht ist, den Weisungen des Schriftstellers selbst, vollends so stark markirten, folgen, so dürfen wir nicht in dem Abschnitte 200 D— 201 C einen integrirenden Theil oder einen nebensäch- lichen Anhang des dritten Abschnittes der Untersuchung über den Irrthum sehen wollen. Und wenn wirklich die Untersuchung über Wesen und Entstehung des Irrthums zu einem, jedenfalls indirecten, Beweise für den Unterschied von Vorstellung und Wissen wird, worauf ich nachher (vgl. 8.83 δ.) eingehen werde, so wird in dem fraglichen Abschnitte 200 D—201 E diese Un- terscheidung nicht blofs „scheinbar noch einmal bewiesen“, sondern es wird ein Beweis aus einem, von der ganzen bisheri- gen Untersuchung verschiedenen Gesichtspuncte gegeben. Dass der fragliche Abschnitt „eine Anwendung aufs praktische Leben sei“, vermag ich in demselben durch keinerlei mit Platons Worten vereinbarer Deutung zu finden; vielmehr auf eine als anerkannt vorausgesetzte Thatsache der Erfahrung beruft sich Platon, um an ihr den Unterschied von Vorstellung und Wissen als einen zweifellos anerkannten aufzuzeigen.
Zweitens. Dass der Schluss des zweiten Abschnittes nicht 195 B, sondern 196 D zu setzen ist, beweist der Inhalt eben so wohl als die Form der Darstellung. Durch die Unterscheidung der Wahrnehmung von ihrer Aufbewahrung im Gedächtnisse scheint eine Erklärung der falschen Vorstellung erreicht zu sein, 195 B; die Nachweisung nun, dass diese Erklärung bei weitem nicht ausreicht, sondern den umfassendsten und wichtigsten Be- reich des Irrthums unberührt lässt, gehört, als die begrenzende Kritik dieses Erklärungsversuches, noch seiner Discussion an, nicht der Darlegung des neuen Versuches, der eben wegen der erkannten Mangelhaftigkeit des vorigen unternommen wird. Auf diese durch den Inhalt gegebene Gliederung macht Platon über- dies hinlänglich aufmerksam; denn der folgende Erklärungsver- such wird als ein neuer nicht nur durch das πάντα γὰρ τολμη- τέον 196 D angekündigt, sondern noch durch einige dem Über- gange dienende, an das Scherzhafte streifende Bemerkungen 196 D— 197 A von dem vorigen abgeschieden.
Drittens. Dass „im ersten Absatz die Möglichkeit der fal-
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schen Vorstellung überhaupt bestritten, im zweiten als Verwechs- lung von Vorstellung und Wahrnehmung, im dritten als die von Vorstellungen unter einander zugegeben werde“, kann ich als richtige Wiedergabe des Inhaltes dieser Abschnitte nicht aner- kennen. Platon scheint mir durch die Formulirung, welche er der Frage über die falsche Vorstellung gibt: τί ποτ᾽ ἐστὶ τοῦτο τὸ πάϑος παρ᾽ npiv χαὶ τίνα τρόπον ἐγγιγνόμενον 187D, schon den Gang der Untersuchung zu bezeichnen. Denn thatsächlich unternimmt er in dem ersten Abschnitte das Wesen des Irrthums zu bestimmen, in dem zweiten und dritten eine Erklärung seiner Entstehung zu geben. Der Versuch einer Begriffsbestimmung des Irrthums misslingt, indem er jedesmal, unter verschiedenen Formen des Ausdruckes, auf einen inneren Widerspruch führt. Die Versuche, die Entstehung des Irrthums zu erklären, haben Erfolg nur für ein eng begrenztes Gebiet, nämlich das der Be- ziehung der gegenwärtigen Wahrnehmung zu Gedächtnisbildern ; für das übrige weite Gebiet der falschen Vorstellung werden sie als erfolglos mit solcher Klarheit und Bestimmtheit nachgewiesen, dass ich zu der gegentheiligen Inhaltsangabe Susemihls, sie wür- den „zugegeben“, in den Platonischen Worten einen Anlass nicht zu finden vermag.
5. Der dritte Haupttheil wird in einer merklich ande- ren Weise eingeleitet als die beiden vorhergehenden. In den beiden ersten stellt der Mitunterredner 'Theätetos selbst eine Definition des Wissens auf; diese Aufstellung gibt in dem ersten Falle den Anlass, auf andere damit im wesentlichen überein- stimmende Philosopheme einzugehen, nach deren Kritik erst die Prüfung der Definition selbst folgt; im zweiten Falle gibt die Definition den Anlass, eine mit ihr im Zusammenhang stehende, damals viel discutirte Frage zu behandeln, nach deren Abschlusse dann wiederum die 'Theätetische Definition selbst zur Erwägung kommt. In diesem dritten Theile nun wird die neue Definition selbst nicht als des 'Theätetos eigener Gedanke bezeichnet, son- dern als ein von einem andern aufgestellter Satz. Die fremde Definition des Wissens 415... δόξα ἀληϑὴς μετὰ λόγου“ wird nun — und hierin ist der Gang des dritten Haupttheiles dem in den vorigen eingeschlagenen gleichartig — zunächst speciell nach demjenigen Sinne kritisirt, in welchem sie aufgestellt ist, sodann
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wird sie allgemein, ohne Beschränkung auf die vom Urheber ihr gegebene specielle Bedeutung, gewürdigt. Die Scheidung dieser beiden Abschnitte, in welche der dritte Haupttheil zunächst zer- fällt, ist durch 206 © deutlich bezeichnet; denn nachdem die inneren Widersprüche in der behaupteten Definition und ihr Widerspruch gegen denjenigen Gang, den das Wissen auf jedem Gebiete wirklich nimmt, aufgezeigt ist, heilst es: „doch hierüber liefsen sich, wie uns scheint, auch noch andere Beweise vor- bringen; lass uns aber darüber nicht vergessen die aufgestellte Definition selbst in Betracht zu ziehen, was man denn eigent- lich darunter versteht, wenn man richtige Vorstellung mit Er- klärung für vollendetes Wissen hält4%).“ Wenn gleich minder umständlich als in den meisten ähnlichen Fällen unseres Dia- logs ist doch hiermit völlig bestimmt der Abschluss der vorher- 310 gehenden Gedankenreihe, zu der man es ablehnt noch weiteres, sich reichlich darbietendes hinzuzufügen, und die Ankündigung les nunmehr folgenden als eines neuen Gegenstandes gegeben. Die weitere Gliederung des zweiten Abschnittes nun ist dadurch von Platon selbst hervorgehoben, dass er sogleich beim Beginn dreierlei Auslegung von λόγος als überhaupt möglich ankündigt??) und nach Besprechung jeder der beiden ersten Auslegungen be- merkt, man dürfe darum die aufgestellte Definition noch nicht verwerfen #%), sondern habe zu versuchen, ob sie sich nicht in der folgenden Weise der Auslegung werde halten lassen.
Bei diesem letzten Haupttheile wird es nicht erforderlich sein, diejenige Gliederung, die ich darzulegen und zu beweisen versucht habe, gegenüber der Darstellung Susemihls besonders zu rechtfertigen, da Susemihl die Gliederung in zwei Abschnitte, welche ich als die nächste und übergeordnete in diesem "Theile bezeichnet habe, weder anerkennt noch verwirft, sondern in seiner Angabe des Gedankenganges den Inhalt des ersten Ab-
4) 206 C: ἀλλὰ δὴ τούτου μὲν ἔτι κἂν ἄλλαι φανεῖεν ἀποδείξεις, ὡς ἐμοὶ δοχεῖ (vergl. den ähnlichen Abschluss 119 C. Anm. 25), τὸ δὲ προχείμιενον μὴ ἐπιλαϑώμεϑα δι᾿ αὐτὰ ἰδεῖν, 6 τι δή ποτε καὶ λέγεται τὸ μετὰ δόξης ἀχηϑοῦς λόγον προσγενόμιενον τὴν τελεωτάτην ἐπιστήμιην γεγονέναι.
4 206 Ὁ: τριῶν γὰρ ἕν τί μοι δοχεῖ λέγειν.
48) 200 E: μιὴ τοίνυν ῥᾳδίως χαταγιγνώσκωμεν τὸ μιηδὲν εἰρηχέναι τὸν ἀποφηνάμενον ach. --- 2085 Β: A μήπω κατηγορῶνμιεν κτλ.
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schnittes 201 E—206 B geradezu in das zweite Glied des zweiten Abschnittes 207 A— 208 B einfügt, als ob es dorthin gehöre und einen integrirenden Theil desselben bilde). Eine solche Umstellung kann nicht den Anspruch machen, für treue Re- production des von Platon selbst beabsichtigten Gedankenganges zu gelten, und stimmt wenig zu- dem Lobe, das dem künstle- risch gestaltenden Talente dieses Schriftstellers auch von Suse- mihl überall gespendet wird.
6. Wenn im vorherigen die Gliederung des Dialogs in der von mir bezeichneten Art wirklich erwiesen ist, so wird die Frage nach dem einheitlichen Zwecke und dem Ergebnisse des Dialogs kaum einer ausführlichen Discussion bedürfen.
Sogleich nach dem Abschlusse der Einleitung und der kur- zen Vorbereitung des Gespräches wird die Frage „Was ist
Wissen?“ als Gegenstand der Untersuchung aufgestellt: die
Frage wird durch den ganzen Dialog hindurch festgehalten, so dass, von sonstigen Erinnerungen an dieselbe abgesehen 5°), bei jedem Übergange zu einem neuen Haupttheile und am Schlusse des Ganzen!) das Thema ausdrücklich vergegenwärtigt wird. Die Behandlung der Frage nach dem Wesen des Wissens in dem vorliegenden Dialog ist eine negative und kritische®?); es werden Definitionen aufgestellt, die sich als unhaltbar erwei- sen, und es werden zugleich Philosopheme früherer und dem Platon gleichzeitiger Denker, die mit den aufgestellten Defini-
49) In gleicher Weise verfährt auch schon Stallbaum in den Prolego- menen seiner Ausgabe $. 27 f. Die specielle Abhandlung Stallbaums: „De argumento et artificio Theaeteti Platonici (Lips. 1838)“ ist mir nur aus An- führungen bekannt.
50) 163 A. 196 Ὁ.
51) 151 D. 187 B. 200 1). 201 1). 210 A. B.
52) Diese Auffassung ist im Einklange mit Brandis, Gesch. II, 1, S.192: „Im Theätetos wird die Frage nach dem Begriffe des Wissens dialektisch- polemisch durch Beseitigung der damals herrschenden entweder durchaus sen- sualistischen oder doch unklaren und ungenügenden Annahmen erörtert,“ und mit Zeller, Philos. ἃ. Griechen 3. Aufl. II, 1. 5. 492 ff. Auch mit Schleiermacher dürfte dieselbe im wesentlichen zusammentreffen ; da in seiner Einleitung die Bezeichnung des einheitlichen Zweckes und Ergeb- nisses dieses Dialogs nicht präcis formulirt ist, so ist die Möglichkeit ge- blieben, ihn anders zu verstehen. — Gegen diese Auffassung erklärt sich Ribbing I. S. 153 ff.
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tionen in wesentlichem Zusammenhange stehen, der Kritik un- terworfen. Diese beiden Seiten der Behandlung der Frage stehen in vollem Einklang zu einander; denn zur Erörterung dessen, was das Wissen nicht ist, liegt ein hauptsächlicher Anlass darin, dass die zurückgewiesenen Definitionen entweder in den gewöhn- lichen Ansichten oder bei bestimmten Philosophen Geltung haben. Aber so wesentlich verwandt die beiden Seiten der Behandlung sind, so sind dieselben doch nicht in einander gemischt, sondern durch den ganzen Dialog hindurch streng und klar unterschieden. Um sich von der Bestimmtheit dieser Unterscheidung in der Durchführung zu überzeugen, kann man’ versuchen diejenigen Abschnitte an einander zu reihen, in denen die successiv auf- gestellten Definitionen selbst behandelt werden, also dass man auf 151 E sogleich folgen lässt 184 B— 187 C, 200 E— 201 1), 206 C—210, und man wird einen lückenlosen Zusammenhang des Gedankenganges finden. Die Wahrnehmung hat nicht An- spruch darauf für Wissen zu gelten, denn die Aussage des Seins wird nicht durch die Sinneseindrücke gegeben, sondern ist ein Ergebnis der reinen Thätigkeit des Denkens. Dass aber auch die richtige Vorstellung noch nicht Wissen ist, lehrt augen- scheinlich die Erfahrung in zahlreichen Fällen, wo durch. die 312 Mittel der Redekunst eine Versammlung zu richtiger Ansicht über einen Gegenstand geführt wird, ohne dass eine wirkliche Einsicht und ein Wissen möglich wäre. Endlich die zur riehti- gen Vorstellung hinzukommende Erklärung fügt, was man auch unter Erklärung verstehen möge, derselben nichts Wesentliches hinzu, das sie über die Natur der Vorstellung erheben und ihr den Charakter des Wissens geben könnte.
Der widerlegenden Erörterung jeder Definition geht eine Kritik von Philosophemen voraus, die mit der betreffenden De- finition im wesentlichen zusammenfallen, oder eine Discussion von Fragen, die mit derselben in genauem innerem Zusammen- hange stehen. So geht der Widerlegung der Definition, welche das Wissen in der Wahrnehmung findet, die Kritik der Prota- goreischen und Herakleitischen Sätze voraus, nachdem zunächst deren Zusammenhang mit dieser Definition nachgewiesen ist (152 A— 160 D), auf welchen, zur Begründung für die Vor- nahme dieser Kritik, auch im weiteren Verlaufe noch mehrmals
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hingewiesen wird53). Die Kritik der Protagoreischen Lehre führt dazu, den Satz des Protagoras auf das Gebiet seiner Gil- tigkeit zu beschränken; die subjective und unabweisbare Natur der Sinneseindrücke als solcher ist unbestreitbar, und insoweit ist der Satz des Protagoras wahr; aber er führt in Widersprüche mit sich selbst und mit der unleugbaren Natur der Dinge, so- bald er über diese Grenze hinaus auf Vorstellungen, Ansichten, Meinungen überhaupt ausgedehnt wird). Die Herakleitische Lehre aber hebt durch die Voraussetzung des unbedingten Wer- dens sogar die Möglichkeit der Wahrnehmung auf; dass unter dieser Voraussetzung noch weniger von einem Wissen die Rede sein kann, würde sich durch Hinzunahme des später ausgespro- chenen Satzes ergeben, dass man Wahrheit nicht erreichen 81) könne, wenn man nicht das Sein erreicht 53).
Die Discussion der zweiten Definition unterscheidet sich in zwei beachtenswerthen Puncten von dem bei Behandlung der er- sten und der dritten Definition eingeschlagenen Gange. Erstens. Während im ersten und im dritten Haupttheil die Kritik sich gegen Sätze bestimmter Philosophen richtet, welche im ersten Haupttheile ausdrücklich genannt, im dritten so deutlich bezeich- net werden, als dies dem Sokrates konnte in den Mund gelegt werden, wird hier vielmehr durch Sokrates selbst ein Gegenstand in die Untersuchung gezogen, der mit der behandelten Aufgabe und zwar auf diesem Stadium der Lösungsversuche in genauem Zusammenhange steht. Nur der wahren Vorstellung hat Theä- tetos zugeschrieben, dass sie Wissen sei, denn es gäbe auch eine irrige Vorstellung (ἐπειδὴ χαὶ ψευδής ἐστι δόξα p. 187 B). Hiermit ist allerdings die von Sokrates als ihn viel beschäftigend aufgewor-
3) 163 A: — σχοπῶμεν εἰ ἄρα ἐστὶν ἐπιστήμη τε χαὶ αἴσϑησις ταὐτὸν ἢ ἕτερον. εἰς γὰρ τοῦτό που πᾶς ὁ λόγος ἡμῖν ἔτεινε, χαὶ τούτου χάριν τὰ πολλὰ χαὶ ἄτοπα ταῦτα ἐχινήσαμεν. --- 183 A: --- προϑυμιηϑεῖσιν ἀποδεῖξαι ὅτι πάντα
κινεῖται, ἵνα δὴ ἐχείνη ἡ ἀπόχρισις ὀρθὴ φανῇ. vgl. Anm. 9.
5) Die Widerlegung des Protagoras ist begründet auf die Formulirung: τὸ δοκοῦν ἑκάστῳ τοῦτο καὶ εἶναί φησί που ᾧ δοχεῖ 170 A, die wir nach der vorausgehenden Einleitung ἐκ τοῦ ἐχείνου λόγου ὡς διὰ βραχυτάτων λάβω- μεν τὴν ὁμολογίαν als die eigenen Worte des Protagoras zu betrachten haben. Hingegen in Betreff der Sinneseindrücke heilst es 179 C: περὶ δὲ τὸ παρὸν ἑχάστῳ πάϑος — — χαλεπώτερον ἑλεῖν ὡς οὐκ ἀλχηϑεῖς vergl. Anm. 7.
55) 180 C: οἷόν τε οὖν ἀληϑείας τυχεῖν, ᾧ μιηδὲ οὐσίας ; --- ᾿Αδύνατον. ---
Bonitz, Platonische Studien. 6
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fene Frage nach dem Wesen und der Entstehung der irrigen Vorstellung durch die Natur der Sache selbst motivirt. Wenn wir aber erwägen, dass die Leugnung der Möglichkeit des Iır- thums (οὐχ ἔστι ψεύδεσθαι) uns wiederholt von Platon als ein in sophistischen Gefechten damals viel angewendeter Satz erwähnt wird 5%), ferner dass dieser Satz, mag er uns auch in unseren Quellen nur in diesem eristischen Gebrauche entgegen treten, jedenfalls seinen Ursprung in ernstlichen Fragen nach dem We- sen des Wissens hatte: so wird die Annahme gerechtfertigt er- scheinen, dass auch dieser, der Untersuchung der irrigen Vor- stellung gewidmete umfassende Abschnitt zugleich eine kritische Beziehung zu gewissen verbreiteten Ansichten von Philosophen und Sophisten habe. Warum Platon diese kritische Beziehung nicht, wie in den übrigen Fällen, direct und ausdrücklich be- zeichnet hat, darüber lassen sich verschiedene Vermuthungen aufstellen, auf welche einzugehen ich unterlasse, da sie sich schwerlich zu einem ausreichenden Grade von Sicherheit bringen lassen. — Ungleich bedeutender ist der zweite Unterschied. Die erkenntnis-theoretischen Sätze des Protagoras, des Herakleitos, des Antisthenes werden direct widerlegt, und es wird dadurch festgestellt, was Wissen nicht ist. Den Satz οὐχ ἔστι bevdssdar, οὐχ ἔστι ψευδὴ δοξάζειν verwirft natürlich Platon eben so bestimmt, als die oben erwähnten Philosopheme; aber die dem Gegenstande gewidmete Untersuchung bringt diese Verwerfung keineswegs zu directem Ausdruck, es hat vielmehr den Anschein, dass sie jenen Satz begründe. Denn nachdem das Vorhandensein irriger Vor- stellung als eine unzweifelhafte Thatsache ausgesprochen ist (ἐπειδὴ χαὶ ψευδής ἐστι δόξα 187 B), wird der Begriff der irrigen Vorstellung und die Erklärung ihrer Entstehung gesucht. Das er- stere misslingt gänzlich, das zweite fast gänzlich; das Misslingen und seine Consequenz ist am schärfsten ausgesprochen am Schlusse des der Auffindung des Begriffes und des dem ersten Erklärungs- versuche der Entstehung des Irrthums gewidmeten Abschnittes 190 E: οὔτε γὰρ ταύτῃ οὔτε χατὰ τὰ πρότερα φανήσεται ψευδὴς ἐν ἡμῖν
5) Vgl. Euthyd. 256 C — 287 A. Cratyl. 429 D (Verwandtschaft damit
hat auch die Behauptung der Unmöglichkeit des Lernens Men, 80 D). Zel- ler, Gr. Phil. 3. Aufl. I. 905. Ribbing, Genet. Darst. I. $. 160.
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οὖσα δόξα, 190 Ὁ : νῦν δὲ ἤτοι οὐχ ἔστι ψευδὴς δόξα, ἢ ἅ τις οἶδεν, οἷόν τε μὴ εἰδέναι" χαὶ τούτων πότερα αἱρεῖ; Durch solche Erwägungen wird es nahe gelegt, für den fraglichen Abschnitt eine andere Auffassung zu suchen, durch welche derselbe für die Kritik der zweiten Definition vollständigere Bedeutung gewinnt und somit der Gang der Untersuchung im zweiten Haupttheil dem in dem ersten und dritten analoger werde. Eine solche Auffassung lässt sich allerdings finden. Alle Widersprüche, in welche der Versuch der Definition des Irrthums und die Versuche der Er- klärung seiner Entstehung verwickeln, kommen auf den einen Satz zurück, dass es unmöglich ist, ἅ τις olös μὴ εἰδέναι. Es wird von dem Satze ausgegangen, dass es für Auffassung irgend eines Objectes keine andere Möglichkeit gebe als Wissen oder Nichtwissen, ἄλλο γ᾽ οὐδὲν λείπεται περὶ ἕχαστον πλὴν εἰδέναι ἢ μὴ εἰδέναι 188 A, wodurch stillschweigend δοξάζειν, das ja doch auch die geistige Auffassung eines Objectes ist, dem εἰδέναι gleichgestellt wird. Da nun unter dieser Voraussetzung die Er- klärung des Wesens und der Entstehung des Irrtthums unmög- lich, der Irrthum aber doch eine unbestreitbare Thatsache ist, so erweist sich die Voraussetzung als unhaltbar; der Abschnitt über die ψευδὴς δόξα wird zu einem apagogischen Beweise der Verschiedenheit von δόξα und ἐπιστήμη; dem dann ein kurzer directer Beweis, unmittelbar auf eine unbestrittene Thatsache gegründet, zur Seite gestellt wird”). — Ich verkenne keines-
57) Am präcisesten spricht diese Auffassung Zeller aus Phil. ἃ, Gr. 3. Aufl. 11. 1. 5. 493: „d. h. Wissen und richtige Vorstellung können nicht dasselbe sein, denn die richtige Vorstellung schliefst die Möglichkeit der falschen nicht aus, durch’s Wissen dagegen ist diese ausgeschlossen ; die Vor- stellung kann wahr oder falsch, das Wissen nur wahr sein; man kann nicht falsch wissen, sondern nur wissen oder nicht wissen.“ Zur Kritik der von mir bereits in der ersten Auflage dieser Abhandlung in den wesentlichen Puncten dargelegten Ansicht bemerkt Zeller in der Anmerkung: „... während mir seine (des Abschnittes über die ψευδὴς δόξα) Bedeutung bei darin zu liegen scheint, dass gezeigt wird: wenn die δόξα ἀληϑῆς mit der ἐπιστήμη zusammenfiele, so wäre die δόξα ψευδής unerklärlich, dass also die von Theätet gegebene Definition der ἐπιστήμη als δόξα ἀληδῆς auf apago- gischem Wege widerlegt wird. Für diese Auffassung spricht meines Erach- tens schon die Erwägung, dass unser Abschnitt nur bei ihr mit dem 'Thema des ganzen Gesprächs in eine innere Verbindung kommt, während er bei jeder andern als eine unmotivirte und unverhältnismäfsig ausführliche Epi-
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wegs, dass der von Platon eingeschlagene Gedankengang, ohne ihm fremdartige Elemente einzufügen, sich zu einem apagogi- schen Beweise in dem dargelegten Sinne hätte anwenden lassen, und dass es berechtigt ist, in einer Darstellung der Platonischen Lehre vom Wissen diese Consequenz zu ziehen; eben so wenig ist zu verkennen, dass man durch eine solche Deutung zu einer fester geschlossenen Fügung der ganzen Untersuchung gelangt. Dennoch bin ich, wo es sich um Auffassung der Absicht dieses Dialogs handelt, nicht im Stande mich dieser Combination an- zuschliefsen. Es fehlt nicht nur jede, auch die leiseste Andeu- tung Platons, dass dem Misslingen der Versuche diese apagogisch beweisende Bedeutung gegeben werden solle, sondern der Leser wird ganz direct zu anderer Auffassung angeleitet. Auf die Mo- tivirung der Untersuchung des Irrthums ist schon früher (8. 73) hingewiesen ; sollte der Leser darauf hingeführt werden, dass darin nicht blofs eine mit der aufgestellten Definition zusammen- hängende Frage, sondern die Widerlegung dieser Definition selbst zu sehen sei, so war es gewiss nicht zweckmälsig, das Anstellen dieser Untersuchung durch Erinnerung an die freie Mulse der wis- senschaftlichen Forschung zu rechtfertigen oder zu entschuldigen 187 D,E. Ferner, sollte die Untersuchung des Irrthums als apago- gischer Beweis für den Unterschied von δόξα und ἐπιστήμη verstan- den werden, so war das ungleich ersichtlicher durch Beschränkung auf die Definition des Irrthums (188 A—190 ἘΠ) zu erreichen; die darauf folgenden psychologischen Erklärungsversuche seiner Entstehung bringen nicht nur dem angeblichen apagogischen
sode den Zusammenhang der Untersuchung über den Begriff der ἐπιστήμη unterbrich.; und zur Bestätigung dient ihr die ganze weitere Ausführung. Die Schwierigkeiten, mit denen ihr zufolge die Erklärung der falschen Vor- stellung zu kämpfen hat, führen sich schlielslich alle auf den Grundwider- spruch zurück, dass man das, was man weils, zugleich auch wieder nicht wissen oder mit einem andern verwechseln müsste, vgl.199 C #. 196 C u.a. Dieser Widerspruch verschwindet aber, sobald man die Voraussetzung (187 C) aufgibt, dass das Gegenstück der δόξα ψευδῆς, die δόξα ἀληϑῆς, mit dem Wissen zusammenfalle; denn die richtige Vorstellung kann allerdings (wie dies Plato auch Meno 97 E, Tim. 51 E sagt) in Irrthum umschlagen , woge- gen dies seiner Ansicht nach beim Wissen unmöglich ist.“ Was mich auch bei erneuter Erwägung des Gegenstandes abhält diese Auffassung mir an- zueignen, ist oben im "Texte bezeichnet.
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'THEÄTETOS. 35
Beweise keine Verstärkung, sondern beeinträchtigen entschieden seine Beweiskraft, da ja, wenn auch nur auf eng begrenztem Gebiet (195 B ff.), die Erklärung der Entstehung des Irrthums wirklich gelingt. Endlich der Cap. 38 geführte Beweis für den Unterschied von δόξα und ἐπιστήμη wird durchaus als ein πάλιν ἐξ ἀρχῆς Aufnehmen der Untersuchung bezeichnet, nicht als die Hinzufügung eines zweiten Beweises zu einem bereits durchge- führten ersten. Wir werden also, wenn wir nicht diesen Dialog überschreiten und Platons ausdrücklichen Weisungen widerspre- chen wollen, uns darauf beschränken müssen, Absicht und Be- deutung dieser Untersuchung über den Irrthum in dem zu finden, was Platon selbst bezeichnet. Die Definition des Wissens als δόξα ἀληϑής gibt den Anlass, die δόξα ψευδής, welche von dem Anspruche als Wissen zu gelten ausgeschlossen ist, in ihrem Wesen und ihrer Entstehung zu erklären, und führt dadurch in ein Gebiet damals philosophisch und sophistisch viel bewegter Discussionen. Das Eingehen in dieselben bietet für Platon die Gelegenheit zu psychologischen Erörterungen, welche darzulegen für ihn einen Werth an sich haben mochte. Aber es zeigt sich als unmöglich, zu einem befriedigenden Ergebnisse dieser Unter- suchungen zu gelangen, bevor das Wesen des Wissens festge- stellt ist. So wird dann, um kritisch diesem Ziele näher zu kommen, die zweite Definition der Prüfung unterworfen und als unhaltbar erwiesen.
Endlich die dritte Definition des Wissens wird zunächst in einer bestimmten historisch gegebenen Form, in Anlehnung nämlich an Antisthenes 5S), discutirt, und erst von hier aus zur allgemeinen Prüfung der Definition an sich fortgeschritten.
Also Kritik der von Platon als unhaltbar verworfenen De- finitionen des Wissens und derjenigen Philosopheme, in welchen dieselben unmittelbar oder mittelbar zur Geltung gekommen sind,
58) Die Beziehung auf Antisthenes ist, nach Schleiermachers Be- merkung in der Einleitung, fast ausnahmslos von den folgenden Erklärern als sicher anerkannt, und lässt sich auch nach Arist. Met. H 3. 1043b 23 (vergl. meine Anmerk. zu d. St.) schwerlich in Zweifel ziehen. Die Erörte- rungen von Brandis, Zeller, Schwegler für die Schleiermachersche Auffassung und die von K. F.Hermann und Steinhart dagegen citirt und bespricht Susemihl Κ΄. 200 ἢ,
80 THEÄTETOS.
diese blols negative Bedeutung — wendet man ein — soll der Theätetos haben? Bleibt man nicht durch solche untergeordnete Annahme oberflächlich an den Worten haften und verkennt die eigentliche Absicht Platons, der wie in so vielen kleineren, scheinbar skeptischen Dialogen, Laches, Charmides, Euthy- phron u. s. w., für den aufmerksamen Leser in die Negation sogleich die Position mit hineingelegt hat? — Aber man hat fürs erste kein Recht, die negative Bedeutung des Dialogs, als sei sie etwas geringes, herabzusetzen. Für eine Philosophie, die im Conflicte zu anderen, aus der Vergangenheit mit Beifall über- lieferten oder in der Gegenwart sich ausbreitenden Lehrmei- nungen sich einen sicheren Boden verschaffen will, ist die Kritik der entgegengesetzten Überzeugungen keineswegs eine untergeordnete Aufgabe, sondern das nothwendige Gegenstück zu der positiven Darlegung der eigenen Lehre. Ferner, die Ver- gleichung eines Oharmides, Laches u. a. trifft die Sache nicht; diese Dialoge schliefsen durchweg mit dem Zweifel, nicht mit der bestimmten Erklärung des sicheren Abschlusses einer Unter- suchung, und enthalten eine Anleitung zu positiven Ergebnissen dadurch, dass keineswegs alle im Laufe des Gespräches aufge- stellten Ansichten eine wirkliche und vollständige Widerlegung erfahren haben, also es nur gilt, das unerschüttert gelassene in eigenem Nachdenken zu sammeln. Endlich Platon macht im Theätetos wiederholt und nachdrücklich darauf aufmerksam, wie wichtiges schon damit gewonnen sein werde, wenn fest stehe, was man nicht für Wissen halten dürfe 5°), dass wir diesen Äufserungen gewiss die Absicht beilegen müssen, die Bedeutung
59) 187 A: ἀλλ᾽ οὔ τι μὴν δὴ τούτου 7’ ἕνεκα ἠρχόμεϑα διαλεγόμενοι, ἵνα εὕρωμεν τί ποτ᾽ οὐχ ἔστιν ἐπιστήμη, ἀλλὰ τί ἐστιν. ὅμως δὲ τοσοῦτόν 1ε προ- βεβ 1% 22037 ὥστε μὴ ζητεῖν αὐτὴν ἐν αἰσϑήσει τὸ παράπαν; — 150: -- ἢ εὑρήσομεν ἐφ᾽ ὃ ἐρχόμεϑα, ἢ ἦττον οἰησόμεϑα εἰδέναι ἃ μιηδαμῇ ἰσμεῖν χαί τοι οὐκ ἂν εἴη μεμπτὸς Be, ὁ τοιοῦτος. — 187 E: χρεῖττον γάρ που σμιχρὸν Ύ Ἅ. ἋΔ x « \ , Μ' x »" 4 εὖ ἢ πολὺ μὴ ἱκανῶς περᾶναι. — 210 C: ἐὰν τοίνυν ἄλλων μετὰ ταῦτα ἐγχύμων ἐπιχειρῇς γίγνεσϑαι, ὦ Θεαίτητε, ἐάν τε γίγνῃ, βελτιόνων Eser πλήρης διὰ τὴν νῦν
͵ ΟΝ \ T + ἐξέτασιν, ἐάν τε χενὸς ἧς, ἦττον ἔσει βαρὺς τοῖς συνοῦσι zul ἡμερώτερος, σωφρό- ᾿ τ 5 vos οὐχ οἰόμενος εἰδέναι ὃ μιὴ οἴσϑα, womit noch der letzte Theil aus der Be- schreibung der Sokratischen Mäeutik zu vergleichen ist, 151 C. D, eine Stelle, die unverkennbar auf ein blo[s negatives Resultat der Untersuchung vorbe- reitet.
THEÄTETOS. 87
‘gerade der Kritik gegen etwaige Vorwürfe der Inhaltlosigkeit 515’sicher zu stellen. Allerdings werden an ein paar Stellen die Schranken der blolsen Negation durchbrochen. Man wird nicht leicht übersehen, dass nach Erklärung der Wahrnehmung als zusammentreffender Bewegung von Object und Subject die Frage des Sokrates an 'T'heätetos folgt: „Stimmst du denn dazu bei, dass das Gute und das Schöne und alles, was wir so eben durch- gingen, nicht sei sondern stets werde 6%)?“ oder dass nach Ver- theidigung der Protagoreischen Lehre gegen unhaltbare Angriffe Sokrates den Theodoros fragt, ob denn in Beziehung auf Sätze der Mathematik seine, des Fachkundigen, Ansicht nur den- selben Anspruch auf Giltigkeit habe, wie die eines jeden ande- ren ἢ. Endlich die Schilderung des Philosophen, dessen Ge- danken auf die Betrachtung der Gerechtigkeit an sich u. ä. gerichtet seien, schliefst damit, dass in der Annäherung und Verähnlichung zu der Reinheit des göttlichen Wesens und der Erhebung über die sinnliche Natur allein wahre Weisheit und wahre Tugend enthalten ist®). In allen diesen Äufserungen
60) 157 1): λέγε τοίνυν πάλιν, εἴ σοι ἀρέσχει τὸ pen τι εἶναι ἀλλὰ γίγνεσϑαι ἀεὶ ἀγαϑὸν χαὶ καλὸν χαὶ πάντα ἃ ἄρτι διῇμεν. An ἀγαϑόν und χαλόν zu denken, ist im vorausgehenden kein Anlass.
61) 169 A: ἀλλ᾽ ἴϑι, ὦ ἄριστε, ὀλίγον ἐπίσπου, μέχρι τούτου αὐτοῦ ἕως ἂν εἰδῶμεν εἴτε ἄρα σὲ δεῖ διαγραμμιάτων πέρι μέτρον εἶναι, εἴτε πάντες ὁμοίως σοὶ ἱχανοὶ ἑαυτοῖς εἴς τε ἀστρονομίαν καὶ τἄλλα ὧν δὴ σὺ πέρι αἰτίαν ἔχεις διαφέρειν.
62) 175 Ο: εἰς σχέψιν αὐτῆς δικαιοσύνης τε καὶ ἀδιχίας, τί τε ἑχάτερον αὐτοῖν χαὶ τί τῶν πάντων ἢ ἀλλήλων διαφέρετον; -- 110 Ο: ϑεὸς οὐδαμῇ οὐδα- μῶς ἄδικος, ἀλλ᾽ ὡς οἷόν τε διχαιότατος, χαὶ οὐχ ἔστιν αὐτῷ ὁμοιότερον οὐδὲν ἢ ὃς ἂν ἡμῶν αὖ γένηται ὅτι δικαιότατος. περὶ τούτου καὶ ἡ ὡς ἀλχηϑῶς δεινότης ἀνδρὸς χαὶ οὐδενία τε καὶ ἀνανδρία. ἣ μὲν γὰρ τούτου γνῶσις σοφία χαὶ ἀρετὴ ἀληϑινή χτὰ. Vgl. über den Zweck dieser Episode Schleiermachers Einleitung zum Theät. S. 124 f. (3. Aufl.): „Wie fast bei jeder Behandlung einer einzelnen Frage in diesem Gespräch eine Abschweifung vorkommt, in welcher gerade auf das wahre und rechte, welches in der Abhandlung nir- gends hervortritt, deutlich hingewiesen wird; so ist auch in das Ganze selbst eine grolse Abschweifung gesetzt, welche diese Andeutungen in Masse ent- hält, für die unmittelbare Fortschreitung des Gespräches aber eine höchst willkürliche Unterbrechung zu sein scheint, nicht ungezwungener herbeige- führt und nicht besser in Mals und Zügel gehalten, als jene wohl mit Recht so sehr getadelte im Phädros, die ganze Stelle nämlich von der letzten Wider- legung des Protagoreischen Satzes, wo der Unterschied zwischen den Zöglin-
88 THEÄTETOoSs.
liegt eine Hinweisung darauf, dass nach Platons Überzeugung 316 das Wissen ein durchaus anderes Object hat, als Wahrneh- mung und Vorstellung. Aber diese Andeutungen sind weder durch den Zusammenhang des Gedankenganges mit Nothwen- digkeit herbeigeführt, noch werden sie in dem weiteren Verlaufe der Kritik irgend verwerthet; man hat also, trotz dieser gele- gentlichen Seitenblicke auf die realen Ideen als Object und In- halt des Wissens und gerade um der Weise willen, wie diesel- ben geschehen, kein Recht zu sagen, dass in der negativen Kritik und durch dieselbe auch eine positive Erklärung über das Wesen des Wissens im Platonischen Sinne gegeben sei.
Indem die Entscheidung über den einheitlichen Zweck und das Ergebnis des ganzen Dialogs in strenger Consequenz aus der vorher dargelegten Gliederung gefolgert ist, so wird die ausführliche Rechtfertigung jener Gliederung mich wohl der Verpflichtung überheben, auch in Betreff des Resultates die abweichenden Urtheile anderer Forscher‘) zur Erwägung zu ziehen; ich würde dadurch ohnehin genöthigt sein, manches aus dem vorherigen nur nochmals zu wiederholen.
gen der Philosophie und denen der Rhetorik und ähnlicher Künste gezeich- net wird, und das Göttliche, Wahre und Gute in seiner eigenthümlichen, der Beschränktheit auf das Persönliche ganz entgegengesetzten Natur hervortritt. Und zwar absichtlich scheint diese Abschweifung bald an den Anfang ge- stellt, damit wenigstens der aufmerksame Leser einen hellen Punct habe, ermittelt dessen er sich in den verschlungenen Irrgängen des Gespräches zurecht finden könnte.“
63) Steinhart III, S. 19: „Die wesentliche Aufgabe und üb alle Theile beherrschende Grundgedanke des Dialogs ist mithin die Nachweisung des Ganges, auf welchem die Seele durch immer zunehmende Läuterung und Vergeistigung ihrer Vorstellungen zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt, oder von der künstlerischen Seite aufgefasst, das Bild des werdenden Denkers.“ — S. 94: „Den Nachweis aber zu geben, wie Wahrnehmung und Vorstellung sich nach den nothwendigen Gesetzen des Geistes allmählich zum Wissen fortbilden, das ist eben die Aufgabe unseres Dialogs, der deshalb für die ganze Geschichte der Philosophie von der grölsten Bedeutung ist.“ — Suse- mihl billigt diese Auffassung Steinharts, da er ihn denjenigen zurechnet, „die über die Grundgedanken des Gespräches "am richtigsten geurtheilt haben“ ($. 208), und gibt dazu selbst S. 207—210 nähere Bestimmungen, die, von ihrer Richtigkeit ganz abgesehen, schwerlich durchweg zur Klar- heit zu bringen sind.
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EUTHYDEMONS.
Übersicht des Inhaltes.
In demjenigen Theile des Platonischen Euthydemos, der den Hauptstamm des ganzen Werkes bildet, betheiligen sich am Gespräche Sokrates, die beiden Tugend- und Weisheitslehrer Euthydemos und Dionysodoros, und zwei athenische Jünglinge von angesehener Geburt, Kleinias und Ktesippos; diese Gruppe von Sprechenden ist von einem doppelten Kreise von Zuhörern umgeben, der Schaar von Verehrern des schönen Kleinias und dem Chor von Anhängern der beiden Sophisten. Wenn in man- chen Platonischen Dialogen selbst eine noch gröfsere Zahl von Personen zu thätiger Theilnahme am Gespräche verwendet wird (z. B. im Protagoras), so unterscheidet sich von ihnen Euthy- demos darin, dass die Personen nicht nur successiv zu je zwei Träger des Gespräches sind, sondern selbst durch längere Partien desselben drei oder vier an dem Gespräche sich gleichmälsig betheiligen, jede in einer für sie charakteristischen Weise, keine nur wie der Schatten oder Doppelgänger einer anderen. — Die- ses Gespräch nun ist umgeben von einem anderen des Sokrates mit Kriton; diesem seinem Freunde erzählt Sokrates das Ge- spräch wieder, das er und jene beiden Jünglinge mit den beiden Sophisten geführt haben. Die Form der Wiedererzählung des Gespräches erhält dadurch eine in die ganze Composition des Dialogs tiefer eingreifende Bedeutung, dass das Gespräch mit Kriton nicht nur die Wiedererzählung einleitet, sondern auch
*) Sitzungsberichte der kaiserl. Akademie der Wiss. Phil. hist, Classe. Bd. 33. 8. 248— 255. (Separatabdruck 5. 4—41.)
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nach Beendigung der Erzählung das Ganze beurtheilend ab- schliefst und selbst in ihren Verlauf unterbrechend eingreift. Kriton erkundigt sich bei Sokrates nach den Männern, mit denen Sokrates am verflossenen Tage im Lykeion ein längeres Gespräch geführt hat. Die Unterredenden sind von einem so dichten Kreise von Zuhörern umgeben gewesen, dass Kriton nichts sicheres hat hören können. Sokrates gibt über die Person der beiden Sophisten, Euthydemos und Dionysodoros, und über ihre früheren Beschäftigungen Auskunft. Ihre Weisheit hat dem Sokrates solche Bewunderung eingeflölst, dass er sich ihnen in die Lehre geben will und den Kriton auffordert mit ihm daran Theil zu nehmen. Kriton begehrt vorher das am vorigen Tage geführte Gespräch zu hören, um daraus zu entnehmen, was sie denn eigentlich bei jenen Lehrern lernen würden (ec. 1). Sokrates erzählt zunächst den Anlass des Gespräches. In dem Lykeion trifft mit Sokrates das Brüderpaar Euthydemos und Dionysodoros zusammen, begleitet von einer Schaar von Anhän- gern, dazu eine Anzahl athenischer Jünglinge, welche den schönen Kleinias bewundernd umgeben; unter den Verehrern desselben hebt sich Ktesippos hervor. In dem sich anknüpfen- den Gespräche bezeichnen die beiden Fremden als ihren jetzigen Beruf den Unterricht in der Tugend; zu der von anderen So- phisten gleich ihnen gegebenen Versicherung, dass sie die Tu- gend auf das beste zu lehren verstünden, fügen sie ihrerseits noch das besondere Versprechen des schnellen Erfolges ihres Unterrichtes hinzu!). Für das Vorhaben, welches sie aussprechen, Proben ihrer Künste abzulegen, werden sich, versichert Sokrates, bereitwillige und eifrige Schüler in Menge finden; schon die jetzt eben bei dem Gespräche Anwesenden werden alle ohne Ausnahme den Unterricht dieser neuen Lehrer suchen. Um durch ihren Unterricht einen Erfolg zu erreichen, erklären die Sophisten auf des Sokrates Frage, sei es nicht erforderlich, dass 250 der Schüler von der Lehrbarkeit der Tugend und von ihrer, der Sophisten, Lehrfähigkeit schon überzeugt sei. Die beiden So- phisten müssen also, schliefst daraus Sokrates unter Zustimmung
. gm: γ 1 » .» " 4 δ ἡ Euthyd. 273 1): ᾿Αρετήν, ἔφη, ὦ Σώχρατες, οἱἰόμεϑα οἵω τ εἶναι παρα-
δοῦναι χάλλιστ᾽ ἀνθρώπων zul τάχιστα.
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EuTHYDEnMos. 91
der Sophisten, vorzüglich befähigt sein, zum Studium der Weis- heit und zur Bemühung um Tugend Lust zu erwecken und an- zueifern. Die Sophisten möchten daher für jetzt nicht von ihrem Tugendunterricht selbst eine Probe ablegen, da diese ja doch zu weit führen würde, sondern diese von ihnen ebenfalls beanspruchte Fähigkeit zeigen, nämlich die, von der Nothwen- digkeit der Bemühung um Wissenschaft und Tugend zu über- zeugen. Diese Probe möchten sie an Kleinias ablegen, an dessen tüchtiger und edler Bildung sehr viel gelegen sei (c. 2—4).
I. (Euthydemos, Dionysodoros, Kleinias.) Auf die Frage des Euthydemos?) : πότεροί εἰσι τῶν ἀνθρώπων οἱ μανϑάνοντες, οἱ σοφοὶ ἢ οἱ ἀμαϑεῖς (7), antwortet Kleinias zunächst: οἱ σοφοί, und wird von Euthydemos widerlegt durch den Grund, dass wer etwas lernt, das noch nicht weils, was er lernt. Dionysodoros ergreift sogleich das Wort, um die daraus gefolgerte andere Be- antwortung der Frage: οἱ ἀμαϑεῖς, zu widerlegen durch Hinwei- sung auf die I'hatsache, dass in der Schule, wenn der Elementar- lehrer etwas vorsagt, die Klugen und nicht die Dummen es lernen. Die so eben behandelte Frage wird von Euthydemos sofort in die geschärftere Form gebracht: πότερον οἱ μανϑάνοντες μανϑάνουσιν ἃ ἐπίστανται ἢ ἃ μὴ ἐπίστανται (2); diesmal gibt Kleinias dem Euthydemos?) die entgegengesetzte Antwort als vorher, nämlich ἃ οὐχ ἐπίστανται, und wird von Euthydemos wi- derlegt durch Anwendung des schon von Dionysodoros gebrauch- ten Beispiels. Wenn der Elementarlehrer etwas vorsagt, so besteht das Vorgesagte aus Buchstaben; der zuhörende und ler- nende Schüler kennt alle Buchstaben ; indem er also das Vor-
2) In der Formulirung der einzelnen Sophismen sind die griechischen Worte dann beibehalten, wenn ihre Übertragung ins Deutsche den Punct, um den es sich handelt, verdunkeln oder doch sonst eine Erläuterung nö- thig machen würde.
3) Schon die Durchführung dieser ersten beiden Sophismen ist für die Haltung des Sophistenpaares und für das Verhältnis des einen zum andern charakteristisch. Euthydemos gibt den Ton an, Dionysodoros ist gewöhnt an der richtigen Stelle sicher einzufallen. Bei Fragen, die eine entgegen- gesetzte Antwort zulassen oder zuzulassen scheinen, vertritt keiner die eine der beiden entgegengesetzten Antworten, sondern jeder bestreitet die eben ausgesprochene; also bestreitet Euthydemos in der zweiten Argumentation das, was er selbst in der ersten erwiesen. hatte, und ebenso Dionysodoros,
92 EUTHYDEMOoS.
gesagte lernt, so lernt er was er bereits weils. Dionysodoros dagegen macht diesmal die entgegengesetzte Seite geltend, dass Lernen ein Erwerben, nicht ein Besitz des Wissens ist; die Ler- nenden lernen also ἃ μὴ &rlstavrar (c. 5—6). !
A. (Sokrates, Kleinias.), Sokrates sucht den Kleinias aus der Verwirrung, in welche ihn dieses Gefecht gebracht hat, zu beruhigen durch die Versicherung, dass alles bisherige offenbar nur ein Spiel war, ausgeführt durch Benützung der Doppelbe- deutung, in welcher dasselbe Wort μανϑάνειν gebraucht wird, da es sowohl das erste Erwerben eines Wissens als das Verwenden eines schon erworbenen Wissens bezeichne. Derlei Fragen seien ein blofses Spiel, weil man durch sie, und wenn man ihrer noch so viele verstehe, in der Kenntnis der Dinge selbst nicht vorwärts gebracht werde, sondern nur seinen Scherz mit den Unterrednern treiben könne. Die gegebene Zusage, den Kleinias von der Nothwendigkeit der Bemühung um Wissen und Tugend zu überzeugen und dadurch zu diesen Beschäftigungen aufzu- muntern, würden die beiden Sophisten gewiss nachher erfüllen ; er wolle ihnen durch ein freilich nur aus dem Stegreife ausge- führtes Beispiel zeigen, wie er sich einen solchen Unterricht denke (c. 7). Zu diesem Ende führt Sokrates folgenden Ge- dankengang durch.
Alle Menschen streben nach Glückseligkeit (εὖ πράττειν, εὐδαι- wovia), also nach dem Besitze zahlreicher Güter. Dahin gehören Reichthum, Gesundheit, edle Abstammung, Macht und Ehre,
Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Weisheit. Das gute
Glück, das richtige Treffen, εὐτυχία ἢ, hat man nicht nöthig in
4) Durch die Anwendung des zwiefachen Ausdruckes in der Übersetzung von εὐτυχία habe ich der Umbildung der üblichen Bedeutung dieses Wortes, die Platon hier vornimmt, zu entsprechen gesucht. In dem gewöhnlichen Sprachgebrauche bezeichnet εὐτυχία das günstige Zusammentreffen von Um- ständen, die von dem handelnden Subjecte nicht abhängig sind (Men. 99 A: τὰ γὰρ ἀπὸ τύχης γιγνόμενα οὐχ ἀνϑρωπίνῃ ἡγεμονίᾳ γίγνεται. Arist. Rhet. 1,5. 1361b 39 ff.: εὐτυχία δ᾽ ἐστίν, ὧν ἡ τύχη ἀγαϑῶν αἰτία... ἔστι δὲ χαὶ τῶν παρὰ λόγον ἀγαϑῶν αἰτία τύχη); für die an der vorliegenden Stelle dem Worte gegebene Bedeutung, dass es dasjenige Treffen des Richtigen bezeichne, das von der Einsicht und der verständigen Wahl des Handelnden selbst ab- hängt, weils ich sichere anderweite Belegstellen nicht beizubringen. Dass diese Umbildung der Bedeutung als eine ungewöhnliche empfunden wurde,
Pe
EuUTHYDEMOoS. 95
=
die Reihe der Güter mit einzurechnen, denn Einsicht gibt in jedem einzelnen Falle die Fähigkeit das Richtige zu treffen, also εὐτυχεῖν. — Die Güter geben uns nun Glückseligkeit nur unter der Voraussetzung, dass sie uns Nutzen bringen; um uns nützen zu können reicht es nicht aus, dass wir sie besitzen, sondern es %2 ist erforderlich, dass wir sie gebrauchen, und zwar, dass wir sie richtig gebrauchen; denn durch falschen Gebrauch wird der Be- sitz dessen, was man sonst ein Gut nennt, zu einem grölseren _ Übel, als der Mangel desselben es sein würde. Der richtige Gebrauch ist bedingt durch Einsicht, Wissen. Alle übrigen Güter sind also nicht an sich ein Gut, sondern werden es erst durch das Vorhandensein der Einsicht; das einzige, was an sich und schlechthin ein Gut ist, ıst also die Weisheit, und das einzige unbedingte Übel die Unwissenheit. Dass die Weis- heit lehrbar ist und nicht von selbst oder durch Zufall den Menschen zukommt, wird von Kleinias dem Sokrates als eine ausgemachte Sache zugestanden. Unter dieser Voraussetzung ergibt sich, da Weisheit das einzige Gut an sich ist, dass man nichts so eifrig zu erstreben hat als Weisheit. Hiermit erklärt Sokrates den beiden Sophisten ein Beispiel des Unterrichtes gegeben zu haben, von dem sie eine Probe ab-
dürfte schon daraus zu folgern sein, dass der Verfasser der Eudemischen „Ethik 7, 14. 1247b 14 durch ein ausdrückliches Citat der vorliegenden Stelle darauf Rücksicht nimmt: ἢ χαὶ πᾶσαι ἂν αἱ ἐπιστῆμαι, ὥσπερ ἔφη Σωχράτης, εὐτυχίαι ἦσαν. Der Platonische Sokrates bezeichnet, wenn ich nicht irre, das Ungewöhnliche in seiner Anwendung dieses Wortes selbst durch die stark aufgetragene Zuversichtlichkeit, mit welcher er sie einführt, und durch die Erwähnung der Verwunderung seines Mitunterredners darüber, ἣ σοφία δήπου, ἦν δ᾽ ἐγώ, εὐτυχία ἐστί᾽ τοῦτο δὲ κἂν παῖς γνοίη. χαὶ ὃς ἐθαύμα- σεν" οὕτως ἔτι νέος τε χαὶ εὐήϑης ἐστί. Und ferner sucht er seine Deutung des Wortes im weiteren Verlaufe dem Sprachgefühle dadurch näher zu brin- gen, dass er zu εὐτυχεῖν als synonyme Erklärung τυγχάνειν und als Gegen- satz ἁμαρτάνειν hinzufügt, 280 A: 7) σοφία ἄρα πανταχοῦ εὐτυχεῖν ποιεῖ τοὺς ἀνθρώπους" οὐ γὰρ δήπου ἁμαρτάνοι γ᾽ ἄν ποτέ τις σοφίᾳ, ἀλλ᾽ ἀνάγκη ὀρϑῶς πράττειν χαὶ τυγχάνειν. Für zu gewaltsam, so weit uns in solchen Fragen überhaupt ein Urtheil zusteht, wird man die an dieser Stelle absichtlich vor- genommene Umdeutung des Wortes nicht. halten, wenn man bedenkt, dass ἀτυχεῖν bekanntlich nicht nur bedeutet “unglücklich sein’, sondern auch ‘einen bestimmten Zweck verfehlen’, Arist. Nub. 427: λέγε νῦν ἡμῖν 6 τι σοι δρῶμεν, ϑαρρῶν, ὡς οὐκ ἀτυγήσεις. Xen. Cyrop. 1, 3, 14: χαὶ ἄλλα ὁπόσα ἂν βούλῃ λέγων πρὸς ἐμὲ οὐκ ἀτυχήσεις. Her. 9, 111 u.a.
94 EUTHYDEMOoS.
legen sollten, des Unterrichtes nämlich, der, von der Nothwen- digkeit der Erwerbung von Wissen überzeugend, zu dieser Be- schäftigung ermuntert. Sie möchten nun auf diesem Wege fort- fahren und dem Jüngling nachweisen, ob der ganze Bereich des Wissens Gegenstand der Beschäftigung sein müsse, oder ob es ein bestimmtes einzelnes Gebiet des Wissens gebe, von dessen Erwerbung die Glückseligkeit abhänge (c. 7—10).
II. (Euthydemos, Dionysodoros, Sokrates, Ktesippos.) Wenn ihr wünscht, beginnt Dionysodoros, dass Kleinias weise werde, was er jetzt nicht ist, so wünscht ihr seinen Untergang, denn ὃς μὲν οὐχ ἔστι, βούλεσϑε αὐτὸν γενέσϑαι, ὃς δ᾽ ἔστι νῦν, μηχέτι εἶναι (3): Aufgeregt hierdurch wirft Ktesippos dem Dionysodoros Lüge vor; doch Euthydemos entgegnet mit der Erklärung, dass Lüge, Un- wahrheit, Irrthum unmöglich ist: οὐχ οἷόν τε ψεύδεσθαι (4); denn wer etwas sagt, der sagt kein anderes der seienden Dinge als jenes, welches er eben sagt, mithin ein Seiendes, also die Wahr- heit. Dem Einwande des Ktesippos, dass doch in dem vorlie- genden Falle sie nicht das Seiende sagen, stellt Euthydemos den Satz entgegen, dass man das Nichtseiende nicht sagen könne (5). Denn am Nichtseienden lässt sich keinerlei Thätig- keit vornehmen, also auch nicht die des Sagens. Aber, ent- gegnet Ktesippos, Dionysodoros sagt zwar τὰ ὄντα, οὐ μέντοι ὡς ἔχει. Der Bemühung des Dionysodoros nachsuweisen, dass es unmöglich sei λέγειν τὰ ὄντα ὡς ἔχει (6), setzt Ktesippos, die von Dionysodoros angewendeten Künste sogleich selbst anwendend, entgegen, dass es sich allerdings gehöre τοὺς χαχοὺς χαχῶς, τοὺς ψυχροὺς ψυχρῶς λέγειν. Den hiemit beginnenden Ton des hefti- gen Zankes sucht Sokrates durch scherzende Worte zu beseitigen, die mit der Bitte an Dionysodoros schlielsen, Dionysodoros möge es nicht sogleich für eine Schmähung halten, wenn Ktesippos einem Satze von ihm widerspreche. Aber, entgegnet Dionyso- doros, es ist überhaupt nicht möglich zu widersprechen (7). Denn es gibt nur folgende Möglichkeiten: ἀμφότεροι λέγουσι τὸν τοῦ πράγματος λόγον, οὐδέτερος λέγει τὸν τοῦ πράγματος λόγον, ὁ μὲν ἕτερος λέγει τὸν τοῦ πράγματος λόγον 0 δὲ ἕτερος ἄλλον ἄλλου πράγματος: in keinem dieser Fälle aber findet ein Widerspruch des einen gegen den anderen statt. An die Stelle des hierüber für den Augenblick verstummenden Ktesippos eintretend erinnert
EUTHYDEMOoS. 95
Sokrates daran, dass dieser Satz mit dem Protagoreischen von der Unmöglichkeit des Irrthums zusammenfalle. Indem die So- phisten diesen anerkennen, benehmen sie sich zugleich, wie Sokrates ihnen nachweist, die Möglichkeit irgend jemand zu widerlegen, und es ist nicht zu begreifen, wie sie unter solchen Voraussetzungen sich als Lehrer von irgend etwas darstellen können, was sie ja doch durch ihre anfängliche Zusage gethan haben. An diesen vor längerer Zeit gethanen Ausspruch erin- nert zu werden, lehnt Dionysodoros ab und verlangt vielmehr, Sokrates solle mit dem, was eben gegenwärtig gesagt werde, etwas anzufangen verstehen. Aber mit diesen Sätzen etwas an- fangen kann doch nichts anderes bedeuten, als ihre Widerlegung unternehmen; widerlegen ist vorher als unmöglich nachgewiesen, also fragt Sokrates τί νοεῖ τοῦτο τὸ ῥῆμα; (8). Diesen Ausdruck des Sokrates unternimmt zwar Dionysodoros durch die Frage: πότερον ψυχὴν ἔχοντα νοεῖ τὰ νοοῦντα N χαὶ τὰ ἄψυχα; als verkehrt nachzuweisen; aber schon die blofse Absicht der Widerlegung wird von Sokrates zurückgeschlagen durch die Hinweisung darauf, dass Irrthum als unmöglich anerkannt ist, also dem Sokrates nicht kann nachgewiesen werden. Das Wiedereintreten des Ktesippos in das Gespräch nach dieser augenscheinlichen Nie- derlage der Sophisten droht von neuem das Ganze in die Hef- tigkeit eines Gezänkes ausgehen zu lassen, darum tritt nochmals Sokrates beruhigend ein. Alles bisherige sei nur Scherz der trefflichen Männer gewesen, die proteusartig alle möglichen Ge-
34 stalten annähmen. Man dürfe aber nicht ablassen, bis sie sich in ihrer wahren Gestalt zeigen würden. Um sie dazu zu be- stimmen, will Sokrates ihnen noch ein Beispiel des von ihnen erwarteten Unterrichtes geben (c. 11—16).
B. (Sokrates, Kleinias, Kriton.) Sokrates knüpft das Ge- spräch mit Kleinias genau an dem Puncte an, bis zu welchem er vorher den Jüngling geführt hatte. Dass man Wissen er- streben muss, ist vorher erwiesen ; es ist aber nur ein solches Wissen unbedingt erstrebenswerth, das uns Nutzen bringt, also, folgert Sokrates weiter, ein solches, bei welchem das Hervor- bringen seines Gegenstandes mit der Einsicht in seinen richtigen Gebrauch zusammenfällt. Weder die Kunst des Redenschreibers noch die des Feldherrn fallen unter diesen Begriff; denn sie
96 EUTHYDEMOS.
müssen die Ergebnisse ihrer 'Thätigkeit einer von ihnen ver- schiedenen Kunst zur Verwendung übergeben. Das Treffende der Antworten des Kleinias, der sich nicht mehr auf die blofse Beistimmung zu den Fragen des Sokrates beschränkt, sondern in der eingeschlagenen Richtung auf eigenen Fülsen weiter schreitet, veranlasst den die Erzählung anhörenden Kriton zum Ausdrucke der Verwunderung. Den übrigen Theil seiner Unter- redung mit Kleinias gibt hierauf Sokrates nicht in der vorher eingehaltenen Vollständigkeit wieder, sondern bezeichnet nur in einem mit Kriton fortgesetzten Gespräche die Hauptpunete des Ganges und des Ergebnisses. Als diejenige geistige Thätigkeit, bei welcher das Hervorbringen des Gegenstandes mit der Ein- sicht in seinen Gebrauch zusammenfalle, habe sich ihnen die mit der Staatskunst identische königliche Kunst dargestellt. Aber die weitere Forschung über das Wesen der königlichen Kunst habe zu keinem Ergebnisse geführt; denn die königliche Kunst müsse, sofern sie ihrer Aufgabe entsprechen solle, ein Gut schaffen; ein Gut an sich sei nur das Wissen; die königliche Kunst müsse also ein Wissen hervorbringen, aber nach den früheren Ergebnissen dürfe, was sie hervorbringe, nicht jedes beliebige Wissen sein, sondern es müsse nur ein ihr selbst glei- ches Wissen sein. Indem so als Thätigkeit dieser königlichen Kunst sich ergibt, dass sie keine andere Wissenschaft aufser sich selbst mittheilt, so ist für den Inhalt dieses Wissens keine Bestimmung gewonnen). In dieser Noth, erzählt Sokrates, habe er sich an die Weisheitslehrer zurückgewendet, dass sie nachweisen möchten, welches denn die Wissenschaft sei, durch deren Erwerb wir das übrige Leben glücklich verleben würden 17-197.
5) Der Gedankengang, durch den dies bewiesen wird, ist in folgenden
Worten des Dialogs bezeichnet 292 A—D: — ὠφέλιμον αὐτὴν δεῖ εἶναι (τὴν βασιλικὴν τέχνην). --- Οὐχοῦν ἀγαϑόν γέ τι δεῖ ἡμῖν αὐτὴν παραδιδόναι; --- 7 \ ἢ" >, a e a , ΟῚ if vw Ἅ A #
Αγαϑὸν δέ γέ που ὡμολογήσαμεν — οὐδὲν εἶναι ἄλλο ἢ ἐπιστήμην τινά. — Οὐκοῦν — — ἔδει σοφοὺς ποιεῖν χαὶ ἐπιστήμης μεταδιδόναι. — ᾿Αλλὰ τίνα δὴ
r - x » N Sm ᾿Ν» x ἐπιστήμην, ἢ τί χρησόμεϑα; τῶν μὲν γὰρ ἔργων οὐδενὸς δεῖ αὐτὴν δημιουργὸν εἶναι τῶν μήτε χαχῶν μήτε ἀγαϑῶν, ἐπιστήμην δὲ παραδιδόναι μηδεμίαν ἄλλην ἢ αὐτὴν ἑαυτήν.
255
EUTHYDEMoSs. 97
II. (Buthydemos, Dionysodoros, Sokrates, Ktesippos.) Auf die Frage des Euthydemos, ob Sokrates es vorziehe, in der frag- lichen Kunst unterwiesen zu werden, oder erwiesen zu sehen, dass er sie bereits besitze, wählt Sokrates das letztere. Euthy- demos erfüllt die gegebene Zusage, indem er erweist, dass, wer irgend etwas weils, alles weils (9) ; denn wer irgend etwas weils, ist ein Wissender; es kann niemand zugleich das Gegentheil von dem sein, was er ist, also nicht zugleich Wissender und Nichtwissender ; also wer Wissender ist, ist in keiner Hinsicht Nichtwissender, weils mithin alles. Der Erfahrungsprobe in einer Kleinigkeit, welche Ktesippos erfordert, indem er zugleich verspricht den Sophisten sodann alles glauben zu wollen, ent- ziehen sich dieselben hartnäckig; dagegen sind sie kühn, alle einzelnen Consequenzen über den Umfang ihres Wissens, die Ktesippos ihnen entgegenhält, zuzugestehen. Die Frage des Sokrates, ob Euthydemos diesen absoluten Umfang des Wissens auch immer besessen habe, selbst vor seiner Geburt, bejaht Euthydemos nicht allein, sondern übernimmt es auch dem So- krates zu erweisen, dass dieser immer alles gewusst habe. Denn wer etwas weils, der hat dieses Wissen durch irgend etwas (irgend ein Organ des Wissens), und zwar weils er immer alles durch dasselbe Organ, also weils er immer alles (720). So ge- zwungen immer alles zu wissen, fragt Sokrates den Dionysodo- r0S: „Weils ich auch derlei Dinge, wie z. B., dass die guten Männer ungerecht sind!“ Dem Dionysodoros bringt das unbe- dachte Bejahen dieser Frage einen Verweis von seinem Genossen und eigenes Erröthen. Die Sophisten haben, um aus der Schlinge, in welcher sie selbst sich gefangen haben, wenigstens scheinbar zu entkommen, kein anderes Mittel, als dass sie dem Sokrates Antwort auf seine Fragen unbedingt verweigern und
36 von ihm nur verlangen, dass er ihnen auf ihre Fragen Rede stehe. Durch Anwendung dieses Gewaltmittels und unter Be- nützung der zufälligen Anknüpfungspuncte, die ein Wort dar- bietet, reihen sie ein Kunststück der Verdrehung an das andere; es lässt sich daher in einem Auszuge nicht wohl der Kitt be- zeichnen, welcher die einzelnen Sätze an einander bindet, son- dern nur eine Übersicht der Sophismen selbst geben. Sophro- niskos, des Sokrates Vater, ist verschieden von Charidemos;
Bonitz, Platonische Studien. 7
98 EuUTHYDEMoS.
Charidemos ist Vater; Sophroniskos ist also verschieden von einem Vater, also nicht Vater (771), ὃ ἕτερος πατρός τινος οὐχ ἔστι πατήρ. Umgekehrt, wer Vater von irgend jemand ist, ist Vater, kann also schlechterdings nicht Nicht-Vater sein, ist also Vater von allen (72). — Der Hund ist dein; der Hund ist Vater; also der Hund ist dein Vater (73). — Kein Mensch bedarf einer Menge von Gütern; denn Heilmittel, Arzneien sind (für die Kranken nämlich) ein Gut; man braucht Arzneien nicht in grolser Fülle; also niemand bedarf einer grolsen Fülle von Gütern (74). Die Behandlung dieses Satzes gibt dem Ktesippos zufälligen Anlass, das Sophisma 78 mit einem ebenbürtigen Spalse zu parodiren, indem er die Skythen aus ihren eigenen Schädeln (d. h. den in ihrem Besitze befindlichen Schädeln von getödteten Feinden) trinken lässt. — Sehen wir τὰ δυνατὰ δρᾶν 7 τὰ ἀδύνατα (15)? Der Antwort: τὰ δυνατά, wird entgegengehal- ten, dass wir ja doch das Kleid sehen, und dies ist ἀδύνατον ὁρᾶν. Ist es möglich σιγῶντα λέγειν (16), λέγοντα σιγᾶν (17)? Der verneinenden Antwort wird entgegengehalten, dass wir doch auch λέγομεν τὰ σιγῶντα und σιγῶμεν τὰ λέγοντα. --- Es ist unmöglich, dass ein einzelner schöner Gegenstand, verschieden von dem Schönen an sich, schön sei durch die παρουσία des Schönen an sich (758); denn daraus würde folgen, dass jemand durch die Anwesenheit eines Ochsen selbst zum Ochsen werde. Sokrates erwidert diesen Beweis, indem er den Dionysodoros durch Ge- brauch desselben Wortes ἕτερον für jedes der beiden einander entgegengesetzten Glieder verstrickt; ein Mittel, welches Sokra- tes selbst in dieser Wiedererzählung an Kriton als Nachahmung
der von den Sophisten geübten Künste bezeichnet‘). — Ἄρα 37
προσήχει τὸν μάγειρον χαταχόπτειν χαὶ ἐχδέρειν (19); Aus der Be- jahung der Frage wird gefolgert, dass der recht handelt, welcher χαταχύπτει um ἐχδέρει τὸν μάγειρον. — Mit den dir angehörigen Thieren steht es dir frei zu thun nach Belieben, sie zu verkau-
6) Sokrates sagt selbst 301 B: ἤδη δὲ τοῖν ἀνδροῖν τὴν σοφίαν ἐπεχείρουν σιμεῖσϑαι, ἅτε ἐπιϑυμῶν αὐτῆς. Hiernach ist die Behauptung Susemihls zu beschränken $. 141: „es fällt ihm (dem Ktesippos) nur die Rolle anheim, die Sophisten mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen, da dieselbe für den Sokrates selbst nicht würdig genug ist;“ denn in dieser Allgemein- heit ausgesprochen ist sie nicht richtig.
ΕΠΤΗΥΘΕΜΟΒ. 99
fen, zu verschenken, zu schlachten. 'T'hiere heilsen alle leben- den Wesen. Apollon ist dein. Apollon ist ein lebendes Wesen, also Apollon ist σὸν ζῷον, und du darfst ihn verkaufen, ver- schenken, schlachten (20). — Der Ausruf des Staunens von Ktesippos: Πύππαξ, ὦ ᾿ Ηράχλεις, führt noch die Frage des Dio- nysodoros herbei, ob Pyppax Herakles, oder Herakles Pyppax 561 (27).
Der Sturm des Gelächters, erzählt Sokrates, habe hier dem Gespräche ein Ende gemacht, und er selbst habe, von der wun- derbaren Weisheit der Männer bewältigt, sich zu ihrem Lobe und Preise gewendet. Er preist aber an ihrer Weisheit beson- ders dreierlei: dass sie sich um die Meinung der Menge nicht kümmern, denn die Menge würde es vorziehen, mit solchen Reden sich widerlegen zu lassen, als selbst andere zu widerle- gen; dass sie durch ihre Sätze, welche die Verbindung eines Prädicates mit einem Subjecte unmöglich machen, nicht nur ande- ren, sondern auch sich selbst den Mund verschlielsen, und dass ihre Weisheit sich in so kurzer Zeit aneignen lasse, wie das Beispiel des Ktesippos zeige (c. 20—29).
(Sokrates, Kriton). Der erneuerten Aufforderung des So- krates an Kriton, er möge überlegen, ob sie nicht gemeinsam zu diesen Männern in die Lehre gehen wollten, setzt Kriton die ernste Mahnung entgegen, dass Sokrates solchen Verkehr meiden möge. Als nämlich Kriton von jenem Gespräche, das er, zu entfernt stehend, nicht hatte hören können, nach Hause ging, hatte ein Mann von bedeutendem Selbstbewusstsein über seine eigene Weisheit (οἰόμενος πάνυ εἶναι σοφός 304 D) den So- krates getadelt, dass er mit Männern verkehre, die leeres Ge- schwätz trieben, und auf Dinge, die es nicht verdienten, grolse Mühe verwendeten; den Tadel, den er über die beiden Weis- heitslehrer ausgesprochen, hatte er, da dieselben zu den tüch- tigsten unter ihren Zeitgenossen gehörten, auf die Philosophie überhaupt ausgedehnt. Der Mann, der dies geäulsert, war, wie auf Sokrates’ Frage Kriton erklärt, ein Redekünstler, der, ohne selbst öffentlich aufzutreten, für andere Reden schreibt und im höchsten Rufe der Tüchtigkeit in seiner Kunst steht. Die Män- ner dieser Kunst, weist Sokrates in seiner Erwiederung nach,
253 wollen zwischen Philosophie und Politik eine Mittelstellung ein-
7*+
100 EUTHYDEMOoS.
nehmen und bilden sich ein, dadurch vor Philosophen sowohl wie vor Staatsmännern den Vorzug zu haben; aber wenn Phi- losophie und Politik jede ihren eigenthümlichen von dem der anderen wesentlich verschiedenen Werth haben, so steht die Ver- bindung, die von jeder nur einen Theil sich aneignen möchte, beiden nach. Bei der Frage aber, ob Kriton seinen Sohn Kri- tobulos, für dessen Bildung zu sorgen nun Zeit sei, der Philo- sophie anvertrauen solle, möge sich Kriton in Würdigung der Philosophie selbst nicht durch die wohlbegründete Gering- schätzung der Mittelmälsigen auf diesem Gebiete bestimmen lassen — denn solche fänden sich auf jedem Gebiete menschlicher Be- schäftigung in Überzahl —, sondern die Sache selbst an sich prüfen, und wenn sie sich als werthvoll erweise, unbesorgt der Philosophie seinen Sohn wie sich selbst zur Bildung anvertrauen (c. 30—32).
Zur Erläuterung.
Eine übersichtliche Angabe des Inhaltes muss bei dem Pla- tonischen Euthydemos mehr als bei anderen Platonischen Schrif- ten darauf verzichten, zugleich von dem künstlerischen Cha- rakter des Dialogs eine Vorstellung zu geben; die raschen Wen- dungen des Gespräches, der Übermuth in dem einen Theile des Dialogs, die scharf dagegen contrastirende Ruhe belehrender Unterredung in dem andern lassen einen Auszug eben nicht zu. Wohl aber ist aus einer Inhaltsangabe, wie sie im obigen versucht ist, die Gliederung des Dialogs, auf welche es für das Verständnis des Ganzen wesentlich ankommt, ersichtlich. Die allgemeine Gliederung in bestimmte Hauptabschnitte ist kaum in einem anderen Platonischen Dialoge deutlicher bezeichnet als im Euthydemos. Der Hauptstamm des Gespräches ist ein- geschlossen von einem Gespräche des Sokrates mit Kriton, das auch in der Mitte des Verlaufes des von Sokrates dem Kriton wiedererzählten Gespräches einmal eingreift; so wichtig dieses umgebende Gespräch sich erweist, um den Zweck des Ganzen sicher zu bestimmen, so erscheint es doch in formeller Hinsicht . zunächst nur als der Rahmen des lebensvollen Bildes, welches uns durch den dazwischen enthaltenen Theil des Dialoges dar- geboten wird. Sehen wir von diesem Rahmen zunächst ab, so
EuTHYDEMos. 101
gliedert sich der Haupttheil des Gespräches (c. ὅ 28) deutlich durch die Verschiedenheit der Personen, welche die Leitung des
29 Gespräches führen; in drei Reihen der Discussion (I, II, II) nehmen die beiden Tugend- und Weisheitslehrer, Euthydemos und Dionysodoros, diese Stellung ein, in den zwei dazwischen liegenden Reihen (A, B) Sokrates; Sokrates führt sein Ge- spräch ausschliefslich mit Kleinias, die beiden Weisheitslehrer wenden sich auch zunächst nur an Kleinias, doch treten in ihr Gespräch bei seinem weiteren Verlaufe auch Ktesippos und selbst Sokrates ein. So unterscheiden sich fünf Gesprächsreihen, jedoch in der Art, dass die drei sophistischen einerseits, die zwei Sokratischen anderseits sich trotz der äufserlichen Trennung zu je einer Gruppe zusammenschliefsen. Jede dieser beiden grölse- ren Gruppen steht zunächst in sich selbst in genauem Zusam- menhange, dann in bestimmtem Verhältnisse zu der anderen Gruppe.
Die drei Reihen des Sophistengespräches machen höchstens auf den ersten Anblick den Eindruck eines blofsen Spieles mit Sophismen, man bemerkt bald, dass in dem Unsinn doch Me- thode herrscht”); denn in den zunächst auf einander folgenden Trugschlüssen und Räthselfragen zeigt sich eine Gleichheit oder Verwandtschaft der formellen Mittel der Täuschung und daneben
7) Dass Methode und bestimmte Ordnung in der Aneinanderreihung der Sophismen herrsche, stellt Stallbaum schon für das zweite der Sophisten- gespräche in Abrede; um wie viel mehr muss er dann das gleiche für das dritte behaupten. Er bemerkt nämlich am Schlusse des Auszuges aus dem zweiten Gespräche, 5. 27 der Ausgabe: „Frustra per hanc sermonis partem certum aliquem anquiras sententiarum et argumentationum ordinem: nam so- phistae desultoria levitate adeo incerta via vagantur et oberrant, ut quae- cunque argutiarum et praestigiarum ostentationi aliquo modo inservire pos-- sint, ea arripiant cupidissime et ad alios fallendos decipiendosque studiose adhibeant.“ Unzweifelhaft zeichnet Platon in den Sophistengesprächen ein charakteristisches Bild von der leichtfertigen Oberflächlichkeit einer Eristik, die an jedes zufällig sich darbietende Wort ihre Räthselfragen und paradoxen Sätze anknüpfend, ihrerseits keinerlei Methode der Anordung oder Prin- eip der Entwicklung einhält. Aber dadurch ist noch keineswegs abgeschnit- ten, dass bei dieser künstlerischen Nachbildung der Eristik Platon seiner- seits in der scheinbaren Regellosigkeit und Willkür eine bestimmte Ordnung durchblicken lasse. Dass dies wirklich der Fall ist, wird im folgenden nach- zuweisen unternommen,
on
102 EuUTHYDEMOoSs.
ein gewisser, bald näherer, bald entfernterer Zusammenhang des Inhaltes. Verfolgen wir etwas genauer jeden dieser beiden Ge- sichtspuncte der Anordnung, die Form der Sophismen und ihren Inhalt.
Für die beiden ersten neckischen Räthselfragen (7, 2) be- zeichnet Sokrates selbst als den gemeinsamen Grund, auf dem sie beruhen, die täuschende Benützung einer verschiedenen Be- deutung desselben Wortes μανϑάνειν (c. 7. 277 E. vgl. Arist. Soph. 200 El. 4. 165° 32 8). Wodurch in den Sophismen des zweiten Streit- ganges die Täuschung bewirkt werde, ist nicht ausdrücklich an- gegeben, doch tritt es in einigen Fällen deutlich hervor. Wenn in dem ersten Sophisma (3) die Aufhebung eines Prädicates zur Aufhebung der Existenz des Subjectes gemacht wird, so ist da- bei die stillschweigende Voraussetzung, dass Prädicat und Sub- jeet identisch seien, also die Aufhebung des einen zugleich noth- wendig das andere treffe. Sollte man sich versucht finden, eine andere Erklärung dieses Trugschlusses vorzuziehen, so findet man sich in der eben bezeichneten dadurch bestätigt, dass sie in den nächstfolgenden, nämlich 4, 7, augenscheinlicher zu Tage tritt. Es ist nicht möglich zu irren, lautet der vierte Trug- schluss, denn, wer etwas sagt, muss λέγειν τὸ πρᾶγμα περὶ οὗ ἂν ὃ λόγος ἢ, woraus dann folgt οὐχ ἄλλο λέγει τῶν ὄντων ἢ ἐχεῖνο ὅπερ λέγει (c. 12. 284 A). Dies hat überhaupt einen Sinn nur unter der Voraussetzung, dass für jede Aussage nur das Sub- ject derselben in Betracht komme, worin dann weiter die An- nahme enthalten ist, dass das Prädicat mit dem Subjecte iden- tisch sei. Das ist noch offenbarer in dem siebenten Trugschlusse: Man kann nicht einander widersprechen: denn entweder sprechen die beiden, denen man zuschreiben will, dass sie einander wider- sprechen, τοῦ αὐτοῦ πράγματος λόγον oder οὐ τοῦ αὐτοῦ πράγματος λόγον. Im letzteren Falle fehlt für den Begriff des Streites die Gemeinsamkeit des Gegenstandes, im ersteren die Verschieden-- heit der Aussage; denn wer τοῦ αὐτοῦ πράγματος λόγον λέγει, der sagt eben dasselbe. Also die Identität des λύγος τοῦ πράγματος, worunter man in diesem Zusammenhang das über den Gegen- stand ausgesagte Prädicat verstehen muss, ergibt sich aus der Identität des πρᾶγμα selbst, eine Voraussetzung, die nur gilt unter der weiteren Voraussetzung, dass Subject und Prädicat
201
EuTHYDEMoS. 103
identisch seien. — Nicht auf den gleichen Grund der Täuschung kommt die diesen Streitgang abschliefende Räthselfrage (δ) τί γοεῖ τὸ ῥῆμα zurück; wir haben bei ihr auch keinen Anlass, ein gleiches formelles Princip zu erwarten. In die Enge getrieben durch die Fragen des Sokrates machen die Sophisten ihren Cha- rakter geltend, sich an jedes Wort zu hängen (παντὸς ῥήματος ἀντέχονται 305 A); durch die Oberflächlichkeit dieses blofsen Wortwitzes lässt Platon eben den zweiten Streitgang durch Aus- arten in einen Zank, welchen Sokrates beruhigend beilegt, sein
Ende finden. — Bei dem fünften Sophisma: „Man kann das Nichtseiende nicht sagen, weil sich an dem Nichtseienden über-
haupt keine Thätigkeit vornehmen lässt, also auch kein Sagen, das unter den allgemeinen Begriff des Thuns fällt“ — ist es mindestens zweifelhaft, ob es auf dieselbe Voraussetzung zurück- zuführen ist, auf der 3, 4, 7 beruhen. Die Täuschung scheint vielmehr, wenn wir einfach den Worten des Platon folgen, darin zu liegen, dass das Denken, und somit dessen Äufserung im Aussagen, der äulseren Werkthätigkeit gleich gesetzt wird; wie also bei der letzteren, so ist auch bei der ersteren ein reales Object erforderlich. Mittelbar zeigt sich dann allerdings die vorher besprochene Voraussetzung der Identität von Subject und Prädicat auch für diesen Fall in ihrer Geltung; denn wenn Kte- sippos gegen die Behauptung der Sophisten einwendet, dass, wer unwahres sage, τὰ ὄντα μὲν τρόπον τινὰ λέγει; οὐ μέντοι ὥς γε ἔχει (6. 12. 284 C), so liegt in diesem Einwande, dass das Verhältnis von Subject und Prädicat allein über Wahrheit und Irrthum entscheidet, nicht die Existenz des Subjectes als solchen.
Der Einwand des Ktesippos wird zurückgeschlagen durch einen
Wortwitz (6), indem ὡς ἔχει nicht blofs auf den Inhalt der Aussage, sondern, unter Benützung des von Ktesippos ange- wendeten sprachlichen Ausdruckes, zugleich auf die subjective Art des Aussagens gedeutet wird. Aber der Kern des Einwan- des, nämlich die Geltendmachung des Verhältnisses von Subject und Prädicat°®), darf uns als Weisung gelten, dass im vor-
8) Susemihl bezeichnet $. 131 den von Ktesippos erhobenen Einwand in folgender Weise: „Ktesippos erinnert an die Unterscheidung eines ab- soluten und relativen Nichtseins und Werdens 284 C,“ Man muss sich an
104 EUTHYDEMoSs.
ausgehenden ein solches Verhältnis nicht vorausgesetzt ist — und es bleibt dann als Gegensatz dazu nur die Voraussetzung %2 der einfachen Identität von Subject und Prädicat. — Sehen wir also innerhalb des zweiten Sophistengespräches ab von den blofsen Wortspielen (6 ὡς ἔχει, 8 τί νοεῖ τὸ ῥῆμα), welche zur persönlichen Charakteristik der Sophisten da eintreten, wo diesel- ben in ihren eigenen Schlingen sich gefangen finden, so kommen alle übrigen Sophismen des zweiten Streitganges entweder un- mittelbar oder doch mittelbar auf dieselbe Voraussetzung zu- rück, nämlich die der Identität von Subject und Prädicat im lo- gischen Urtheile.
Bei den ersten beiden Sophismen des dritten Sophistenge- spräches (9, 70) hat es Platon dem Leser direct ausgesprochen, worauf die Täuschung beruht. Wenn die Sophisten mit des Sokrates eigenem Zugeständnisse erweisen wollen, dass wer et- was weils, alles wisse und dass er immer alles wisse, so lässt Platon den Sokrates deutlich hervorheben®), welche be-
die Erörterungen Platons im Dialoge Sophistes über das Sein des μὴ ὄν er- innern, um nur zu begreifen, wie Susemihl darauf kommt, den höchst ein- fach und natürlich ausgesprochenen Einwand des Ktesippos so zu bezeich- nen. Zu einer solchen Übertragung in die Ausdrucksweise einer andern Untersuchung liegt nun ein Grund oder ein Recht gar nicht vor; sie ver- deckt noch überdies den Zusammenhang, in welchem dort, im Sophistes, derartiges sich findet; denn es handelt sich ja dort, wenn wir das Ziel und die Aufgabe des Dialogs ins Auge fassen, ebenfalls um die Zulässigkeit der Verbindung eines Prädicates mit einem von ihm verschiedenen Subjecte; vollends zu dem Hineinziehen des „Werdens“ geben die Worte des Ktesip- pos auch nicht die Spur eines Anlasses. Das Unpassende dieser ganzen Übersetzung der Worte des Ktesippos in eine durchaus verschiedene Aus- drucksweise zeigt sich noch besonders darin, dass es danach unmöglich wird, die possenhafte Verdrehung, welcher der Einwand unterworfen wird, zu be- greifen.
9) Euthyd. 293 C: Οὐκοῦν ἐπιστήμων εἶ, εἴπερ ἐπίστασαι; Πάνυ γε, τού- του 1ε αὐτοῦ. (Οὐδὲν διαφέρει" ἀλλ᾽ οὐκ ἀνάγχη σε ἔχει πάντα ἐπίστασϑαι ἐπιστήμονά ye ὄντα; Μὰ Δί᾽, ἔφην ἐγώ ἐπεὶ πολλὰ ἄλλ᾽ οὐχ ἐπίσταμαι. Οὐκοῦν εἴ τι μὴ ἐπίστασαι, οὐκ ἐπιστήμων el. Ἐ κείνου γε, ὦ φίλε, ἣν δ᾽ ἐγώ. Nach- drücklicher kann wohl kaum bei solcher Kürze der schlagenden Ant- worten bezeichnet werden, dass die unter einander verschiedenen Ob- Jecte des Wissens und des Nichtwissens, diese nothwendig hinzuzudenkenden Glieder der Relation, weggelassen werden müssen, um den Schein des Wi- derspruches herzustellen. — Mit ausdrücklichen Worten wird bei dem fol-
EUTHYDEMOoSs. 105
schränkenden Bedingungen der Aussagen aufgegeben werden müssen, um zu der überraschenden unmöglichen Folgerung zu gelangen. Die ganze Kunst ist also, dass auf die Unaufmerk- samkeit des Mitunterredners gerechnet wird, indem man diejeni- gen beschränkenden Bedingungen, unter denen allein die Aus- sage Gültigkeit hat, unvermerkt weglässt und so zu allgemeiner, unbedingter Gültigkeit gelangt. Im formaler Hinsicht vollkom- men diesen Sophismen gleich sind die beiden folgenden (77, 12); denn aus πατήρ τινος — mag nun dieses τινὸς ausdrück- lich hinzugesetzt oder, als bei einem Relationsbegriffe noth- wendig vorauszusetzend, nur hinzugedacht werden — wird πατήρ schlechthin, also aus ἕτερος πατρός τινος wird ἕτερος πατρός, somit οὐ πατήρ, und aus πατήρ τινος zunächst πατήρ schlechthin, und
23 indem sodann zu der hierdurch gewonnenen scheinbaren All- gemeinheit eine Relationsbeziehung wieder hinzugenommen wird, πατὴρ πάντων. — Der folgende Trugschluss (73): ὃ χύων ἐστὶ σός, ὃ χύων ἐστὶ πατήρ, ὃ χύων ἐστὶ σὸς πατήρ setzt wenigstens für die eine Prämisse dieselbe wohfeile Kunst voraus, die wir in den vorhergehenden fanden; denn es muss in der zweiten Prämisse der zu πατήρ hinzuzudenkende, die Aussage auf ihre wirkliche Bedeutung beschränkende Genetiv — ὃ χύων ἐστὶ πατὴρ τοῦ χυναρίου — erst weggelassen sein, ehe auch nur die Vorbe- reitungen vorhanden sind zur Ausführung des zweiten Fehlers, nämlich die Prädicate, welche demselben Subjecte beigelegt sind, so zu addiren, dass man sie zu einander in eine durch die zufällige sprachliche Form erleichterte, aber logisch ganz will- kürliche Verbindung bringt. — Nicht vollkommen gleich, aber sehr nahe verwandt ist hiermit das formale Princip des So- phisma 74, denn der Satz: οὐδεὶς ἄνϑρωπος δεῖται πολλῶν aya- ϑῶν wird als giltig nachgewiesen bei einer besonderen Art von ayada, nämlich der φάρμαχα, und was in dem beschränkten Falle des einzelnen Beispiels gilt, wird als giltig für den allgemeinen Begriff betrachtet.
genden Trugschlusse derselben Art die von Sokrates eingehaltene Hinzu- fügung der beschränkenden Bedingung als ein παραφϑέγγεσϑαι, rupapdeypu von den Eristikern bezeichnet und dessen Entfernung geboten, um das be- absichtigte Ziel erreichen zu können, 296 A,B.
{06 EuTHYDEMoS.
Während man die in den Sophismen 9—/4 zur Schau ge- tragenen Fehler als logische bezeichnen kann, kommt in den folgenden alles zurück auf willkürliche Verwerthung einer ver- schieden deutbaren grammatischen Verbindung. In δρῶμεν ra δυνατὰ δρᾶν (75) kann für ὁρᾶν grammatisches Subject τὰ δυνατά sein oder ein unbestimmtes persönliches Pronomen, "fähig, dass es sieht’, oder "fähig, dass man es sieht’; in σιγῶντα λέγειν, λέγοντα σιγᾶν, προσήχει τὸν μάγειρον χαταχόπτειν (16, 17, 19) kön- nen die Accusative Subject oder Object sein. In dem dazwi- schen eingelegten Scherz über die Platonische Ideenlehre (78) wird παρουσία aus der Bedeutung, die es als philosophischer Terminus hat, in die des gewöhnlichen Gebrauches verdreht, um lächerliche Sonderbarkeiten daraus zu erschliefsen. Das vor- letzte Sophisma (26) Ἀπόλλων σός ἐστιν, ἔξεστιν οὖν Ἀπόλλωνα ἀποδόσϑαι etc. ist gleichsam ein Knäuel verschiedener logischer Kunstmittel; es wird für deos der Allgemeinbegriff dazu, ζῷον, substituirt, aber das Possessivum σός bei ζῷον beibehalten in einem anderen Sinne, als den es bei eos hatte; endlich wird für ζῷον in Seinem allgemeinen Sinn etwas behauptet, was nur für einen enger begrenzten Theil des Umfanges dieses Begriffes nachgewiesen war. Endlich Πύππαξ, ὦ Ἡράχλεις (27) fällt im die fadeste Weise grammatischer Verdrehung des Nebeneinan- stehens zweier Worte, als müssten diese jedenfalls Apposition zu einander sein 10).
10, Dass in der bunten Mannigfaltigkeit auch des dritten Sophistengefech- tes eine bestimmte Gruppirung nach gleichartigen Gesichtspuncten zu finden sei, spricht Steinhart in seiner Einleitung aus. Ich hebe die darauf be- zügliche Stelle aus, um zu zeigen, worin der Unterschied der im obigen dar- gelegten Gliederung von der Steinhartschen liegt; es wird sich danach leich- ter beurtheilen lassen, ob die von mir angegebene Gruppirung wirklich der Absicht Platons entspricht. Steinhart S. 22f.: „In dem nun folgenden ver- worrenen Wortkampfe der Sophisten mit dem Sokrates und dem Ktesippos scheint sich wirklich der zusammenhaltende Faden ganz zu verlieren, und kein Wunder ist es, wenn Stallbaum hier, wie schon in den früheren Wort- gefechten, allen Plan und alle Ordnung gänzlich vermisst. Aber bei einer eindringenderen Betrachtung werden wir doch auch hier Plan und Zusam- menhang so wenig verkennen, als die Verbindung mit dem Grundgedanken des Dialogs. Denn alle, auch die lächerlichsten Trugspiele der Sophisten bewegen sich auf demselben Felde: sie weisen darauf hin, zu welchen Un- gereimtheiten es führen müsste, wenn man auf einzelne, vielfach bedingte
264
EUTHYDEMOoS. 107
205 Man wird in einer gesprächsweisen Aneinanderreihung von Sophismen — und betrachten wir die drei Sophistengespräche
und mit einander in Wechselwirkung stehende Dinge, oder auch auf Be- griffe, die ihren ganz bestimmten Umfang haben, die absoluten und unbe- dingten Urtheile des Gorgias oder des Protagoras anwenden wollte. Die Anerkennung, dass in der endlichen, überall beschränkten Welt kein richtiges Urtheil ohne Relation und die aus der Relation her- vorgehende Limitation gebildet werden könne, und dass mit jedem bestimmten Prädicate an dem Subject auch schon eine Beziehung auf eine bestimmte Begrifissphäre gesetzt sei, aufserhalb deren das Urtheil gar keine Giltigkeit mehr hat, ist der Gewinn, der für den denkenden Leser aus die- ser bunten Zusammenhäufung der albernsten Trugsätze hervorgehen muss. Am klarsten tritt dies bei dem von Euthydemos aufgestellten Satze hervor, dass, wer einmal etwas weils, zu jeder Zeit alles wissen müsse, indem der Wissende nicht zugleich auch nach einer andern Seite hin ein Nicehtwissen - der sein könne. Die wiederholten Verwahrungen des Sokrates, dass jedes Wissen ein relatives, durch ein bestimmtes Object bedingtes und nur in die- ser Beziehung ein wirkliches, in jeder andern nur ein mögliches sei, werden von den Sophisten nicht angenommen, die ja nur verwirren wollten, und überdies, gleich den Megarikern, ihren Geistesverwandten, das Mög- liche und das Wirkliche für identisch hielten.“ — — „Als nun aber Sokrates, an seine Hauptaufgabe wieder anknüpfend, fragte, ob denn auch jemand das wissen könne, dass die Guten ungerecht seien, eine Frage, die schon auf die hohe Bedeutung der Gerechtigkeit in der Ethik hinweist, wie sie im Gorgias hervortritt, springen die Sophisten sofort, aus Furcht sich entweder zu widersprechen oder allzu Tolles sagen zu müssen, von der Sache ab, und versetzen nun den Streit auf das grammatische Gebiet, indem sie auch hier, wo alles relativ ist, durch fortwährende Verwechs- lung absoluter und relativer Prädicate die ungereimtesten Dinge vor- bringen. Hier sind es namentlich drei grammatische, ganz auf der Relation beruhende Verhältnisse, von welchen die Sophisten keinen Begriff zu haben scheinen: das Verhältnis des Subjectes zum Prädicat, des Attributes zur Substanz, des Objecetes zum Subject. So zeugte die Ungereimtheit, dass, wer Vater sei, aller Dinge Vater sei, von einem, gleichviel ob absichtlichen oder aus Beschränktheit hervorgegangenen Verkennen der Wechselbeziehung relativer Begriffe, die sich wie Substanz und Attribut zu einander verhalten ; die Tollheit, dass mit dem Prädicate „dein“ auch alle Subjeete, welchen die- ses Prädicat beigelegt werden kann, mitgesetzt sein müssen, und nach einer andern Seite hin, dass dieses „dein“ auf alle Dinge in demselben Sinne, dem des unbedingten Eigenthums, zu beziehen sei, verrieth eine völlige Unkennt- nis der wechselseitigen Bedingtheit des Subject- und Prädicatbegriffes; end- lich die Verwechslung des Subjeetes und des Objectes und die Nichtunter- scheidung der für beides in der abhängigen Rede zusammenfallenden Sprach- formen veranlasste die kindischen Schülerschwänke mit dem Reden des Schweigenden und dem Schweigen des Redenden und die anderen Taschen-
ΝΩ͂Ν
108 EuUTHYDEMOoS.
zunächst nur von diesem Gesichtspuncte —, bei welcher nach 266 der natürlichen Weise eines wirklichen Gespräches jedes folgende
spielereien ähnlicher Art.“ — Für's erste vindicirt Steinhart den Sophismen über πάντα ἐπίστασθαι und ἀεὶ πάντα ἐπίστασθαι eine Bedeutung, zu deren Annahme die Worte Platons keinerlei Anlass geben. Nicht darum handelt es sich, „dass in der endlichen, überall beschränkten Welt kein richtiges Urtheil ohne Relation und die aus der Relation hervorgehende Limitation gebildet werden könne“, sondern es werden eben solche Urtheile zur Dis- cussion gewählt, die nur in einem bestimmt beschränkten Umfange Giltigkeit haben, und die Beziehung dieser für die Giltigkeit erforderlichen Beschrän- kungen soll den Zuhörern entwunden werden. — Zweitens, in die Erklä- rung der Sophismen die Unterscheidung des möglichen Wissens von dem wirklichen hinein zu bringen, gibt die Darstellung Platons kein Recht; an diese aber haben wir uns zu halten, wenn wir die Frage, aus welchen Feh- lern Platon den Trugschluss ableitet, ohne Willkür beantworten wollen. Platon aber lässt den Sokrates wiederholt hervorheben, dass der ursprünglich | als wahr anerkannte Satz, von welchem in der Discussion ausgegangen wird, nur für ein bestimmtes Object, in bestimmter Beschränkung Giltigkeit hat, und dass diese Beschränkung willkürlich weggelassen werden muss, um zu dem Scheine der Allgemeingiltigkeit zu gelangen (vergl. Anm. 9). — Drittens, nach Steinharts Darstellung beginnt mit dem Sophisma 10 ein neues, von den vorigen verschiedenes formales Prineip der Gruppirung; folgen wir da- gegen den Weisungen, die in Platons eigenen Worten liegen, so müssen wir das Sophisma 10 sammt dem folgenden oder den beiden folgenden noch der- selben Art zurechnen, welcher 8 und 9 angehören; denn auch für das So- phisma 10 so gut wie für die beiden vorausgehenden lässt Platon den Sokra- tes ausdrücklich ‚hervorheben, dass die wissentliche Weglassung einer die Geltung des Satzes beschränkenden Bedingung erforderlich ist, um zu dem erstrebten Ziele zu gelangen. Die Worte Τοὐμοῦ y’, 298 A, haben in dieser Hinsicht genau dieselbe Bedeutung, welche für ähnliche Vewahrungen des Sokrates in den beiden nächst vorhergehenden Sophismen in Anm. 9 nach- gewiesen ist. — Die so eben bestrittene Stelle der Steinhartschen Einleitung ist ihrem Inhalte nach von Susemihl $. 131 aufgenommen, es genügt also dagegen das in Beziehung auf die Steinhartsche Erörterung Bemerkte. Übri- gens steht mit dieser Erklärung Susemihls 5. 131, durch welche er die Ver- schiedenheit formaler Prineipien als bestimmend für die Gruppirung der So- phismen anerkennt, eine andere $. 137 nicht im Einklange. An dieser letzteren Stelle nämlich führt Susemihl als Platons Urtheil über die ge- sammten im Euthydemos vorkommenden Sophismen folgendes an: „(Pla- ton) weist ausdrücklich darauf hin, es bedürfe, um die Nichtswürdigkeit dieses Treibens zu durchschauen, nur der Anfangsgründe des Wissens, näm- lich, wie er sich mit einem gutmüthigen Spotte auf den Prodikos 277 E aus- drückt, der Prodikeischen Synonymik, d. h. es beruhe auf so augenschein- lichen Verwechslungen nahe liegender Begriffe, dass sie selbst der einfache gesunde Menschenverstand aus einander zu halten wisse.“ Platon lässt dies
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durch besonderen Anlass hervorgerufen, nicht als gleichartiges Beispiel dem vorhergehenden angeschlossen wird, jene strenge, ja peinliche Scheidung nach den verschiedenen Rubriken nicht erwarten, welche eine systematische Behandlung des Gegenstan- des, nämlich der Trugschlüsse als solcher, einhalten müsste. Hält man diesen Unterschied fest, dass es sich eben nicht um eine systematische Gliederung der Trugschlüsse als solcher han- delt, so wird man die klare Gruppirung der Sophismen um bestimmte formale Mittelpuncte desto vollständiger anerken- nen. Zuerst werden paradoxe Sätze durch den Missbrauch der verschiedenen Bedeutungen desselben Wortes bewiesen (7, 2); dann führt die Voraussetzung der Identität von Subject und Prädicat zu Trugschlüssen (3, 4, 5, 7); in einer folgenden Gruppe wird durch Weglassung von bestimmten Bedingungen, unter denen eine Aussage gilt, von ihrer beschränkten Geltung zur unbedingten und allgemeinen übergesprungen (9—/4); end- lich wird die Möglichkeit verschiedener syntaktischer Verbin- dung derselben Wortform ausgebeutet (75, 76, 17, 19, 21). Was innerhalb jeder von diesen, nach formalen Unterschieden be- zeichneten Gruppen aus dem sie zusammenhaltenden Charakter heraustritt (6, 8, 18, 20) ist einestheils an Umfang gering, ande- rentheils zeigt es kenntlich genug den Zweck, dem es im Ge- spräche dient. Dies ist in Betreff der zweiten Gruppe (6, 6) schon vorher angedeutet, in der letzten aber ist der plumpe Scherz über die Platonischen Ideen (78) offenbar in eine ihm fremde Umgebung gestellt, aus welcher er um so mehr sich heraushebt und die Absicht bestimmter Beziehung auf historische Vorgänge mit grölster Wahrscheinlichkeit errathen lässt; und von den abschliefsenden Sophismen (20) versteht es sich wohl von selbst, dass sie ein effectvolles Finale zu bilden haben, geschehe dies nun durch grölsere Verwicklung oder durch extreme Fadheit.
den Sokrates nur in Betreff der ersten beiden Sophismen aussprechen ; wenn man hierin, wie Susemihl an der angeführten Stelle ihrem weitern Zu- sammenhange nach offenbar thut, Platons Urtheil über den formalen Grund aller im Euthydemos enthaltenen Sophismen glaubt finden zu sollen, so muss man alle auf täuschende Benützung der Doppeldeutigkeit desselben Wortes zurückführen — im Widerspruche mit dem, was Susemihl selbst S. 131 schreibt, und im Widerspruche mit dem offenbaren Sachverhalte.
110 EurHnyYDEnmos.
Man würde die Anordnung der Sophismen in den drei Streit- %7
gängen nur zur Hälfte würdigen, wenn man sich auf die im vorigen nachgewiesene Gruppirung nach formalen Prineipien beschränkte; denn eben so offenbar liegt zugleich eine zweite, mit der ersten weder in ihrem Grunde, noch in den sich da- durch ergebenden Theilungspuncten zusammentreffende Glie- derung vor. Es scheidet sich nämlich die erste Hälfte der So- phismen (d. h. der erste und der zweite Streitgang und die beiden ersten Sophismen des dritten Streitganges, /—1/0) durch die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen, auffallend von der dann noch übrigen Masse (7/7—27) 1). In der ersten Hälfte bewegt sich die Discussion um die beiden Begriffe Ler- nen und Wissen, Begriffe, deren Untersuchung und Feststellung für die Philosophie unerlässlich ist und welche in jener Zeit gerade Gegenstand des lebhaftesten Streites unter den verschie- denen philosophischen Schulen waren 12) ; in der zweiten Hälfte
τ Hierauf hat im allgemeinen, ohne ausdrückliche Bezeichnung des Wendepunctes, schon Schleiermachers Übers. 3. Aufl. I, 1. 5. 273 treffend hingewiesen: „wie der Gehalt der aufgeworfenen sophistischen Fragen immer abnimmt.“
12) Nur dies darf der ersten Hälfte der Sophismen in ihrem Gegensatze zu der zweiten Hälfte zugeschrieben werden, dass die Gegenstände, um welche sie sich bewegen, wirklich philosophische Probleme enthalten, und zwar solche Probleme, welche damals die bedeutendsten Denker ernstlich beschäftigten. Etwas davon wesentlich verschiedenes ist es, wenn einige Er- klärer des Dialogs den Sophismen selbst eine „gewisse Wahrheit“ zuschreiben. So äulsert sich Steinhart nach Erläuterung der für die ersten beiden Sophismen benutzten Doppeldeutigkeit von Worten ὃ. 17 in folgen- der Weise: „— Zugleich wird aber schon hier auf die im Menon weiter ver- folgte Frage nach den in der menschlichen Seele vorhandenen Grundbedin- gungen des Lernens hingedeutet. Denn jedes Lernen setzt einen schon in der Seele liegenden, der Befruchtung harrenden Gedankenkeim, gewisser- malsen ein schlummerndes Wissen voraus, und insofern enthält der paradoxe Satz des Sophisten, dass man nur lernen könne, was man schon wisse, auch abgesehen von jenem Doppelsinn, eine gewisse Wahrheit. Aber der So- phist hatte bei seiner Behauptung theils, gerade wie später die Megariker, das Mögliche mit dem Wirklichen verwechselt, theils auch hier, wie immer, zunächst nur an das gedächtnismälsige Lernen gedacht, das allerdings einen von aulsen gegebenen und in seinen ersten Elementen schon in den Geist aufgenommenen Stoff voraussetzt.“ Dasselbe sagt, nur mit Weglassung man- cher nicht haltbarer Voraussetzungen über die Abfassungszeit des Euthyde- mos an sich und im Vergleiche zu anderen Platonischen Dialogen, Suse-
EuUTHYDEMOoS. 111
268 zeigt das Herumspringen unter den verschiedensten Gegenstän- den, dass eben die Gegenstände selbst etwas vollkommen gleich- giltiges sind Die erste Hälfte beweist im Sinne der beiden Sophisten, dass Lernen weder den Wissenden zuzuschreiben sei noch den Nichtwissenden, dass Irrthum und Widerspruch nicht möglich sei, dass endlich, wer irgend etwas weils, alles wisse. Es bedarf kaum noch einer besonderen Zusammenfas- sung, um in dieser ersten Hälfte als Überzeugung der Sophisten dargelegt zu finden: es gibt kein Lernen, es gibt kein Wissen. Ist die Geltung dieser Begriffe einmal aufgehoben, so bleibt als Gegenstand des Zeitvertreibes durch Reden nur die äulsere Schale der Gedanken, das Wort. Worte dem Unterredner ge- wandt unterschlagen und einschmuggeln, dieselben Worte inner- halb desselben Satzes in verschiedene Beziehungen setzen, das ist das einzige, was noch übrig bleibt; ein Gedankenin- halt existirt nicht. Die willkürliche Mannigfaltigkeit der Ge- genstände ist daher für den zweiten Theil der Sophismen ebenso positiv charakteristisch, wie die erste Hälfte durch die Gemein- samkeit eines Gegenstandes zusammengehalten wird 1).
mihl 8. 130. — Die Begriffe des Lernens und Wissens, um welche sich die ersten beiden Sophismen drehen, können Gegenstand ernstlicher Unter- suchung sein und waren es zur Zeit des Sokrates und Platon wirklich; für Streitkünstler, wie es die hier vorgeführten sind, waren diese Fragen nur die bequemste Gelegenheit, paradoxe Sätze aufzustellen und Entgegengesetz- tes mit gleichem Scheine der Wahrheit zu beweisen. Es ist gewiss möglich — Steinharts und Susemihls Bemerkungen beweisen dies — selbst in die so- phistische Behandlung dieser Fragen eine den Streitenden selbst unbewusste (Susemihl a. a. ©.) Andeutung der Wahrheit hineinzulegen ; aber — und dar- auf kommt es doch für die Auffassung des Dialogs ausschliefslich an — dass Platon die sophistischen Beweisführungen nicht so auffasste und von sei- nen Lesern nicht so wollte aufgefasst wissen, darüber belehrt er uns aus- drücklich durch die öfters erwähnten Worte des Sokrates 277 E.
13) Es ist hiernach unzulässig, den im Euthydemos vorkommenden So- phismen im allgemeinen einen philosophischen Werth zuschreiben zu wollen, ohne einerseits den Unterschied der zweiten Hälfte gegen die erste bestimmt zu betonen, anderseits auch für die erste Hälfte die vorher (Anm. 12) bezeichnete bestimmte Beschränkung aufrecht zu halten. Dass eine solche Verwahrung gegen eine weiter gehende Schätzung der Sophismen nicht über- flüssig ist, wird die Vergleichung einiger Stellen aus der Steinhartschen Einleitung und aus Susemihls Werke zeigen. Steinhart 8. 6 f.: „Auch Euthydemos und Dionysodoros schwankten, wie schon bemerkt wurde, zwi-
112 EUTHYDEMOoS.
Die bisher dargelegte Gliederung der drei Sophistengespräche 209
hat vielleicht in sich selbst solche Evidenz, dass eine weitere
schen Protagoras und Gorgias und entlehnten ihre verfänglichen Formeln und Behauptungen bald von jenem, bald von diesem, natürlich nur als blofse Fechtwaffen, um ein tieferes Verständnis derselben unbekümmert. In dieser Sphäre nun hatten jene bald tiefsinnigen, bald kindischen und leeren Gedan- kenspiele und dialektischen Wortkämpfe, welche sich durch die ganze grie- chische Philosophie hindurchziehen, namentlich aber in der fast durchaus formalen, auf eleatischem Grunde sich erhebenden megarischen Schule wu- cherten, allerdings ihre Berechtigung, da sie zuerst die gewaltigen Gegen- sätze des Seins und des Werdens, der Einheit und der Vielheit, des abso- lut unendlichen und des endlich bedingten, des allgemeinen und des ein- zelnen, der Idee und der Wirklichkeit in kurzen Formeln darstellten und dadurch tiefere Denker zur Lösung jener Widersprüche anregten. Jene eristische Dialektik erscheint sonach als eine vorübende Gymnastik des Denkens, als ein Vorspiel einer tieferen Denk- und Sprachwissen- schaft, und jene kindischen Wortgefechte waren in der That eine nothwendige Entwickelungsstufe, gleichsam die Flegeljahre der ju- gendlichen Philosophie; wir sehen sie daher, wenn auch in immer anderen Formen, bei allen philosophisch gebildeten Völkern zu allen Zeiten wieder- kehren, in welchen eine neue Geistesrichtung sich in einem neuen Gedan- kensysteme ihre Bahn bricht.“ 8.10: „Wir dürfen es aber nicht für eine blofs ironische Redensart halten, wenn Sokrates sagt, er habe sich bei jenen Männern in die Schule gegeben, um ihre Weisheit zu lernen; denn es liegt darin die Anerkennung, dass die von ihnen und ihren Genos- sen aufgestellten Antinomien ein nothwendiges Moment und eine zu überwindende, aber nicht geringzuschätzende Vorstufe zur wahren dialektischen Kunst und zu höheren Erkenntnissen waren.“ (Dasselbe wie- . derholt Susemihl 8. 133.) 5. 25: „So steht überall hinter den kindischen und neckenden Spielen der wissenschaftliche Ernst der wahren Dialektik, dem es nicht blofs um die plastische Schilderung jener verkehrten After- weisheit, sondern auch um die Bezeichnung der Antinomien zu thun war, die von dem denkenden Geiste noch überwunden werden mussten. Aber hartnäckig in diesen Widersprüchen stecken zu bleiben, und sie wohl gar für hohe Weisheit auszugeben, das bezeichnet Sokrates als eine Versündigung an dem Geiste der Wahrheit mit den schönen Worten, dass es ehrenvoller sei, durch solche Gründe widerlegt zu werden, als andere durch sie zu widerlegen.“ — Es ist wahr, dass sich an den Ernst und die Vertiefung der Speculation, wenn ihre Ergebnisse aus dem Geleise der üblichen Weltansicht heraustreten, der oberflächliche Gebrauch dieser Ergebnisse als einer blofsen Scheidemünze des Gespräches und der leichtfertig parodirende Scherz gern anschlielst; davon geben nicht nur jene eristischen Belustigungen Zeugnis, die uns Platon unter Euthydemos’ und Dionysodoros’ Namen vorführt, son- dern es lielsen sich leicht aus neueren Zeiten die entsprechenden Beispiele vergleichen. Aber in diesen Momenten liegt nicht eine „Entwickelungsstufe
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-
210 Bestätigung nicht nöthig erscheint; dennoch mag schliefslich auf einzelne von Platon selbst gegebene Andeutungen der Glie- derung hingewiesen werden. In Betreff der Zusammenordnung nach formalen Gesichtspuncten der in den Sophismen begange- nen logischen Fehler ist zu bemerken, dass zwei Gesichtspuncte
der Philosophie“; will man einmal Vergleiche anstellen, so hätte man sie vielmehr mit Wucherpflanzen zu vergleichen, welche die innere Triebkraft des Baumes zu ersticken drohen und auch wirklich zeitweise gehemmt haben. Und wenn Platon den Sokrates sagen lässt, er wolle bei diesen Eristikern in die Schule gehen, so bedarf die Ausschlie/slichkeit des ironischen Sinnes einer solchen Äufserung dann keines weiteren Beweises, wenn im nachfolgenden die Absicht des ganzen Dialogs richtig nachgewie- sen ist; sucht man aber nach einer einzelnen beweisenden Stelle, so darf man wohl auf 301 B verweisen, da Sokrates zeigt, durch welch oberfläch- liches Wortspiel er seine Nachahmung der sophistischen Weisheit, ἅτε ἐπι- ϑυμῶν αὐτῆς, bekundet. Die Ausschliefslichkeit des ironischen Sinnes jener Äulserung erweist auch, unter ausdrücklicher Beziehung auf die Be- merkung Steinharts, Rug. Bonghi in seiner Einleitung zum Euthydemos, Opere di Platone nuovamente tradotte, Milano 1857. Vol. I, S. 24 und 8. 143 Anm. 6. — Susemihl 5. 134: „Allen diesen Zügen gemäls gestaltet sich nun auch die Polemik, in dialektisch-ethischer Richtung gegen die Sophisten, praktisch gegen die gewöhnlichen Staatsmänner und Rhetoren. In ersterer Beziehung wird zunächst streng dialektisch das Princip der Sophisten selbst für ein einseitiges erklärt und darum die innere Nothwendig- keit aller jener absurden Consequenzen anerkannt, zugleich aber auch nach der ethischen Seite bestimmt genug hervorgekehrt, dass nur ein gänzlicher Mangel von reiner Liebe zur Wahrheit dahin verleiten konnte, bei denselben stehen zu bleiben“ u.s. w. Wenn man dies oder ähnliches läse in Beziehung auf den Platonischen Sophistes, dass in diesem Dialog Platon das Prineip oder die Methode oder die Ergebnisse der Herakleitischen sowohl als der Eleatischen Philosophie für „einseitig“ erkläre, so könnte man einer solchen Bemerkung nur beipflichten. Aber dass Platon im Euthyde- mos das Prineip der dort auftretenden Sophisten für „einseitig“ erkläre und die „innere Nothwendigkeit jener absurden Consequenzen“ anerkenne, das vermag ich nicht zu verstehen. Platon’ weist mindestens für einen er- heblichen Theil der Sophismen die Methode der wissentlichen Verdrehung und Unterschlagung von Gedanken als Methode der Sophisten in ihrem Streite nach; wissentliche Verdrehung und Unterschlagung pflegt man aber auf keinem Gebiete als blofse Einseitigkeit bei innerer Nothwendigkeit zu betrachten. Man mag über den wissenschaftlichen Werth der im Platoni- schen Euthydemos enthaltenen Sophismen selbst urtheilen, wie man will — darum handelt es sich hier nicht; man sollte aber nicht Platon, unter dem Scheine der Auslegung seiner Schrift, Urtheile unterschieben, die von seiner deutlich bezeichneten Überzeugung wesentlich verschieden sind. Bonitz, Platonische Studien. 8
114 EUTHYDEMOS.
Platon selbst deutlich bezeichnet, den ersten und dritten unter den vier vorher angegebenen: den ersten, die Benützung der mehrfachen Bedeutung desselben Wortes, indem er ganz aus- drücklich den Sokrates durch dieses Mittel den Scherz auflösen lässt (ec. 7. 277 E), den anderen, die Weglassung beschränken- der Bedingungen, indem er den Sokrates, den Mitunterredner der Sophisten in diesem Falle, auf die beschränkenden Be- dingungen wiederholt allen Nachdruck legen und sie nur auf Ge- heifs der Sophisten aufgeben lässt (vgl. oben ὃ. 104 und Anm. 9 und 10). Einer solchen von Platon selbst gegebenen Bezeich- nung des formalen Principes der Zusammenordnung entbehren wir bei dem zweiten Gesichtspuncte und dem vierten; bei die- sem letzten ist die gleichartige Verdrehung syntaktischer Ver- hältnisse so offenbar, dass es fast zudringlich gegen die Leser wäre, sie noch besonders bezeichnen zu wollen; bei dem zwei- ten aber ist die Zusammengehörigkeit des Gedankeninhaltes so bedeutend, überdies die nachher zu erwägende polemisch- kritische Beziehung auf andere philosophische Systeme in dem Malse bestimmend, dass man es immerhin wird fraglich lassen müssen, ob es überwiegend die Gleichartigkeit der logischen Form ist, welche hier die Gruppirung bestimmt. Anderseits wird die Unterscheidung von zwei Haupttheilen nach dem dis- eutirten Inhalte durch die Darstellungsweise des Dialogs uns noch insofern nahe gelegt, als nach den beiden Beweisen, welche die Sophisten für den unbeschränkten Umfang des Wissens ge- führt haben, sie jedesmal durch Entgegenhalten bestimmter ein- zelner Consequenzen in die Enge getrieben werden, 294 A— 295 A, 296 D—297 D, so dass sie suchen müssen aus diesem Gebiete, dessen äufserste Grenzen sie erreicht hatten, sich gänz- lich zurückzuziehen.
Dass jedes der beiden Gespräche des Sokrates mit Kleinias in sich einen ununterbrochenen Gedankengang darstellt, in wel- chem nach Platons Überzeugung sich keine Lücken finden aufser solche, die durch Berufung auf sonst schon Behandeltes zu ergänzen oder als noch unerfüllte Aufgaben bezeichnet sind, bedarf nach der ganzen Form jedes dieser beiden Gespräche keines Erweises; das zweite aber knüpft an das erstere an, unter
τῷ
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EUTHYDEMOoS. 115
ausdrücklicher Vergegenwärtigung der Stelle, bis zu der man gelangt war (c. 17. 288 D).
Was irgend ein Gut für den Menschen sein kann, das wird dazu erst wirklich durch die seine Anwendung leitende Einsicht, durch φρόνησις, ἐπιστήμη, σοφία. Also Weisheit ist für den Men- schen das einzige Gut an sich. Dass Weisheit durch Lehre zu erwerben, also διδαχτόν ist, wird von Kleinias als ein anerkann- ter Satz zugestanden. Es fragt sich dann: ist zur Erreichung vollkommener Glückseligkeit jede Wissenschaft, oder ist eine bestimmte Wissenschaft zu erstreben? Dasjenige Wissen, fährt hieran anknüpfend das zweite Sokratische Gespräch fort, welches an sich das höchste und ausreichende menschliche Gut sein soll, muss so beschaffen sein, dass in ihm das Hervorbringen des Gutes mit der Einsicht in seinen richtigen Gebrauch zusammen- fällt. Diese Wissenschaft ist die königliche Kunst, τέχνη Bası- λική, identisch mit der Staatskunst. Da nun ein wirkliches Gut nur die Einsicht, das Wissen ist, so würde die königliche Kunst ein Wissen sein, das ein Wissen hervorbringt. Es fehlt also, bei unbedingter Anerkennung der Nothwendigkeit eines solchen Wissens, noch die Bezeichnung des Objectes dieses Wissens.
Jede dieser beiden Gesprächsreihen, die aus drei Abschnitten bestehende sophistische so wie die in zwei Abschnitte getheilte Sokratische, verfolgt ihren Gedankengang in voller Selbständig- keit, ohne im einzelnen entgegnend auf die andere einzugehen.
272 Aber die Gleichheit der Aufgabe, der Gegensatz der in ihrer Lö- sung angewendeten Mittel und des Erfolges gibt dem Ganzen dieser Sokratischen Gespräche mit Kleinias eine augenscheinliche Beziehung zu den Gesprächen der Sophisten mit Kleinias, Kte- sippos und Sokrates. Aufgabe der Sophistengespräche ebenso wie der Sokratischen ist es, den Jüngling von der Nothwendig- keit des Studiums der Philosophie zu überzeugen, προτρέπειν πρὸς φιλοσοφίαν. Während die Sophisten schon mit ihrer ersten Frage den sinnigen Jüngling in eine Verwirrung setzen, aus der er sich nicht wieder erholt, den geistig gewandten und oberflächlich übermüthigen dagegen in ihre Kunststücke so rasch einweihen, dass er bald sie mit den eigenen Waffen schlägt: bringt Sokra-
8*+
110 EUTHYDEMoSs.
tes den strebsamen und ermstlich nachdenkenden Jüngling Klei- nias in einen bestimmten Gang des Denkens, dass er durch Einhalten dieser Richtung selbst den Fragen des Meisters um ein paar Schritte voraus kommen kann !#). Endlich während die Sophisten dem Jüngling, dem sie Eifer zur Wissenschaft bei- bringen sollen, nachweisen, dass Lernen und Wissen gar nicht möglich sind, zeigt Sokrates in den beiden, zwischen die um- gebenden Streitgänge der Sophisten eingelegten Gesprächen, dass das Wissen allein unbedingten sittlichen Werth hat, und führt, indem die Erreichbarkeit des Wissens als ein schon an- derweit sicherer Satz zugegeben wird, zu der Nothwendigkeit eines solchen Wissens hın, bei welchem Wissen und Thun unbe- dingt zusammenfalle.
Aber diese allgemeine Correspondenz der beiden Sokratischen | Gespräche zu den drei Streitgängen der Sophisten darf hervor- tretende Eigenthümlichkeiten der Sokratischen Gespräche, die 273 für die Einsicht in die Absicht des ganzen Dialogs jedenfalls in
14; So ungefähr spricht sich Steinhart 8. 11 (unter Berücksichtigung auch anderer Ansichten ὃ. 75 Anm. 13) über die fragliche Stelle des Dialogs 290 B aus. Susemihl bestreitet dies $S. 134: „Ja selbst wo die Wirkungen des Sokratischen Unterrichts so recht im vollen Mafse geschildert werden, indem der junge Kleinias mit einem Male ohne weitere Anleitung die be- deutendsten philosophischen Sätze aus sich selber entwickelt, 290 B ff., da wird dies nicht sowohl der Sokratischen Methode, als dem geistigen, per- sönlichen Einflusse des Sokrates überhaupt zugeschrieben.“ Sieht man ganz ab von den etwas übertreibenden Ausdrücken, in denen Susemihl die Äufse- rungen des Kleinias charakterisirt, so muss man vor allem fragen: Inwiefern zeigt Platon in dem Dialoge Euthydemos den „geistigen, persönlichen Ein- fluss“ des Sokrates so, dass man diesen von dem Erfolge der besonnenen klaren Gedankenentwicklung unterscheiden kann? Gibt uns der Dialog selbst für diese Unterscheidung irgend eine Weisung? — Wenn dies nicht der Fall ist — und es möchte schwer sein, derlei sichere Indicien beizubrin- gen —, so befinden wir uns auf dem weiten und schlüpfrigen Gebiete des Meinens, von dem gerathen ist den Fuls fern zu halten. — [Über die tref- fende Antwort des Kleinias lässt Platon den Kriton seine Verwunderung aussprechen und den Sokrates ausweichend scherzen; gewiss nicht, um das sofort zurückzunehmen, was er so eben ausgesprochen hat. Ich denke viel- mehr, der Scherz weist darauf hin, dass die blols skizzenhafte Andeutung des Verfahrens, durch welches Jünglinge der Philosophie zu gewinnen sind, den Erfolg des wissenschaftlichen Verkehrs, der in Wirklichkeit erst ein all- mählicher ist, in einer wunderbar scheinenden Weise an den Anfang des Verkehres rückt. Vgl. unten 8. 134 ff.]
EUTHYDEMOoS. 117
Betracht kommen müssen, nicht übersehen lassen. Drei Mo- mente scheinen besonders beachtenswerth. Erstens, innerhalb der beiden Sokratischen Gespräche kommt kaum irgend ein er- heblicher Gedanke vor, den man nicht in anderen Platonischen Dialogen, theils solchen, deren Abfassung der des Euthydemos vorausgeht, theils solchen, die später fallen, ebenfalls ausgespro- chen und gröfstentheils vollständiger entweder in der Begründung oder in den Folgerungen behandelt fände, als im Euthydemos 15). Zweitens, der weitere Verlauf des Gespräches über das Wesen derjenigen Wissenschaft, bei der Wissen und Thun zusammen- falle, wird nicht mehr in seiner vollständigen Durchführung mit Kleinias dargestellt, sondern blofs seinem ungefähren Gange und seinem resultatlosen Abschlusse nach von Sokrates dem Kriton übersichtlich erzählt. Endlich, die subjective Erreichbarkeit des . Wissens, διδαχτὸν ἢ σοφία, wird nicht erwiesen oder durch Zurück- führung auf andere Annahmen glaublich gemacht, sondern ein- fach als unzweifelhaft vorausgesetzt. Obgleich daher die Sophi- stengespräche zu dem Ergebnisse führen, dass Wissen und
15) Es wird genügen, unter ausdrücklicher Beschränkung auf den Inhalt der beiden Gespräche des Sokrates mit Kleinias, an die hauptsächlichsten Puncte dieser Übereinstimmung zu erinnern. Die Aufzählung der Güter: πλουτεῖν, ὑγιαίνειν, χαλὸν εἶναι Euth. 279 A ist ebenso Gorg. 451 E im An- schlusse an das bekannte Skolion gegeben. Über den Unterschied der οὔτε ἀγαϑὰ οὔτε xaxd von den ἀγαϑά und χαχά Euth. 280 Τὸ, vergl. Gorg. 467 E ff. Dass jedes der Güter, die man gewöhnlich in diese Reihe rechnet, erst durch die Einsicht zu einem Gute wird, durch den Mangel derselben aber ins Gegentheil umschlägt, Euth. 281 D, kann man im Protagoras, Menon, Gorgias und sonst des weiteren behandelt finden Prot. 345 B, 352 C, Men. 88 C, Gorg. 466 E, 467'A, Charm. 172 A. Dass zur Erlangung von Weisheit jegliches zu thun und zu willfahren löblich ist, wird, wie es Euth. 282 B berührt ist, im Symp. 184 C ff. ausgeführt. Die Lehrbarkeit der Weisheit und, was damit in nothwendigem Zusammenhange steht, der Tugend, von Kleinias dem Sokrates Euth. 282 C als eine ausgemachte Wahrheit zugestan- den, bildet den Gegenstand des Beweises im ganzen Dialoge Menon. Durch die Charakteristik der Redekunst Euth. 290 A wird man an die, selbst in den Ausdrücken ähnliche Stelle Gorg. 454 E ff. erinnert. Die Identität der königlichen mit der Staatskunst wird, wie Euth. 291 C, so Pol. 259 D ausge- sprochen, und die im Euthydemos absichtlich offen gelassene Frage über das Object dieses Wissens oder dieser Kunst findet im Politikos ebenfalls ihre Beantwortung. Dass ihr die Feldherrnkunst untergeordnet ist, lesen wir im Pol. 305 A ebenso wie Euth. 290 C, 1),
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Erwerben des Wissens unmöglich ist, und dagegen in dem ὅ50-- kratischen Gespräche die Möglichkeit zum Wissen zu gelangen berührt wird, so kann doch nicht dieser Gegenstand es sein, um dessen Erweis als solchen es sich handelte; denn mit der Voraussetzung einer solchen Absicht stünde beides im Wider- spruche, sowohl dass das Sokratische Gespräch keine im ein- zelnen entgegnende Beziehung. auf die Sophistenbeweise nimmt, als dass es denjenigen Punct, in welchem der Nerv der Wider- legung enthalten sein würde, die Lehrbarkeit des Wissens (und der Tugend), einfach als schon sicher und zugestanden hinnimmt. Ein Verfahren, das unbegreiflich bleiben müsste, wenn man den Erweis oder die Widerlegung der Sophistensätze über Lernen und Wissen als Aufgabe des Werkes zu betrachten hätte, ge- winnt seine vollständige Aufhellung, sobald wir Platons eigenen Weisungen über seine Absicht folgen. Die Sophisten werden zu
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einer ἐπίδειξις aufgefordert und gehen gern darauf ein (c. 4); ihre ἐπί ΠΣ Ἂν gibt, da sich der Anfang als ein blofser, mit dem Jünglinge getriebener Scherz betrachten lässt, dem Sokrates An- lass, en des Beispiels halber eine ἐπίδειξις. seinerseits entge- genzustellen (278 D). Also: Selbstdarstellung der So- phisten und dagegen Selbstdarstellung des Sokrates in ihrem unterrichtenden und bildenden Verkehr mit der Jugend, das zeigt sich als Absicht dieser alterniren- den Gespräche, sowohl wenn wir ihren Gang, als wenn wir die ausdrücklichen Worte, mit denen sie eingeführt werden, in Be- tracht ziehen.
Als Gegenstand dieses, der eigenen Selbstdarstellung dienen- den geistigen Verkehres mit der Jugend haben sowohl die So- phisten als Sokrates nicht irgend einen beliebigen Punet ihrer Lehre auszuwählen; sondern beide haben die Aufgabe, den Jüngling, an den sie sich wenden, zum Streben nach Weisheit anzuregen. Für das Sophistenpaar wird diese Aufgabe aus dem, was sie selbst als ihr Geschäft bezeichnet haben, ausdrücklich dedueirt. Sie erklären von sich, dass sie Tugend zu lehren ver- mögen. Sie setzen bei ihren Schülern, um einen Erfolg zu er- reichen, nicht schon irgend eine Überzeugung voraus, sondern können auch den unterrichten, der die Überzeugung von der Lehrbarkeit der Tugend noch nicht hat. Sie sprechen sich
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or
EUTHYDEMOos. 119
folglich eine vorzügliche Fähigkeit zu, jemanden zum Streben nach Tugend zu bestimmen und zu ermuntern, χάλλιστ᾽ ἂν προ- τρέψαιτε — εἰς ἀρετῆς ἐπιμέλειαν (275 A), Sokrates fügt ihnen ohne besonderen Beweis zu der ἀρετῆς ἐπιμέλεια noch die φιλο-- σοφία, d.h. die ἐπιμέλεια σοφίας, hinzu, χάλλιστ᾽ ἂν προτρέψαιτε εἰς φιλοσοφίαν χαὶ ἀρετὴς ἐπιμέλειαν. In Platons Sinn ist dies nicht erschlichen; denn indem die Sophisten selbst die Tugend als einen Gegenstand der Lehre bezeichnen, διδαχτόν, müssen sie dieselbe für ein Wissen anerkennen oder doch zum Wissen in bestimmte Beziehung setzen. Dass Platon den Sokrates diesen Zusatz zu dem von den Sophisten selbst ausgesprochenen Ver- sprechen nicht besonders deduciren lässt, darf man wohl als ab- sichtliche Charakteristik für die Oberflächlichkeit und die Ruhm- redigkeit der dargestellten Wortkünstler betrachten ; sie bemerken gar nicht, dass ihnen ihre eigene Zusage aus dem Munde des Sokrates etwas modifieirt zurückgegeben wird, und würden es nicht über sich gewinnen können, irgend etwas durch ihren Un- terricht nicht vermögen zu wollen. Nicht diesen Unterricht selbst nun in Weisheit und Tugend, den die Sophisten geben zu wollen versprechen, werden sie aufgefordert als ein Probe- stück ihrer Kunst darzustellen — dies würde ja, heilst es 274 1), 275 A, zu weit führen —, sondern sie sollen nur den Jüngling zu der Überzeugung von der Nothwendigkeit dieser ernstlichen Beschäftigung bestimmen. Von derselben προτρεπτιχὴ σοφία (278C), also der Methode, Jünglinge zu dem Studium der Philosophie zu bestimmen, verspricht Sokrates bei dem Beginne seiner Un- terredung mit Kleinias eine Probe zu geben, welche seine Über-
zeugung über diesen Gegenstand darlege. Dieser Absicht gemäfs
beschränkt sich das Gespräch des Sokrates darauf, die Noth- wendigkeit der Philosophie zu erweisen und ihre höchste Aufgabe, aber eben nur als Aufgabe, zu bezeichnen, also nur darzulegen, wie dasjenige Wissen, das den erwiesenen Forde- rungen entsprechen würde, beschaffen sein müsste, und welche inneren Schwierigkeiten der Begriff eines solchen Wissens dar- bietet; aber zur Lösung dieser Schwierigkeiten wird nicht einmal ein Anfang gemacht!%). Und selbst die Methode,
16) Daraus, dass der Platonische Sokrates die Frage nach dem Inhalte
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durch welche der unbedingte Werth des Wissens erwiesen und der Wissenstrieb erzeugt wird, kommt nur in dem Anfange des Gespräches zu wirklicher Ausführung; dass in dem weitern Ver- lauf nur eine Bezeichnung des einzuschlagenden Weges gegeben werden soll, zeigt deutlich der Übergang aus dem Wiedergeben des Gespräches selbst in die blolse Wiedererzählung seines Inhaltes.
Erweist sich hiernach der aus den drei Sophistengesprächen 276 und den beiden Sokratischen Gesprächen bestehende Hauptstamm des Dialogs durch Inhalt, Erfolg, Motivirung der Gespräche als eine Selbstdarstellung der Sophisten und des Sokrates in ihrer Bemühung, Jünglinge zu dem sittlichen Ernste geistiger Beschäf- tigung und Wissensstrebens anzuregen, so brauchen wir nur noch die in der Einleitung und dem Schlusse enthaltenen Mo- mente hinzuzunehmen, um die specielle Richtung zu erkennen, in welcher diese Selbstdarstellung gegeben wird, und so über den Grundgedanken des ganzen Dialogs Gewissheit zu erhalten. Auf die Bildung des Kleinias wird besonderer Werth gelegt. Schönheit der Gestalt, reiche natürliche Begabung, Abstammung aus angesehenem Geschlechte machen ihn wie einer edlen Bil- dung besonders fähig, so der Verführung auf Irrwege leicht zu- gänglich (275 A, B). Anderseits ist Kriton auf die Bildung seines Sohnes bedacht und in nicht geringer Unruhe über die Mittel, die er dazu wählen soll. Ist es gefahrlos, ihn durch Philosophie bilden zu lassen? Blickt Kriton auf Sokrates, so er-
und Gegenstande der königlichen und Staatskunst nur in ihren inneren Schwierigkeiten darlegt und diese gänzlich ungelöst lässt, darf man natür- lich nicht folgern, dass dem Platon selbst bei Abfassung des Euthydemos diese Frage noch unlösbar erschienen oder ungelöst gewesen sei. (Vgl. Miche- lis, die Philosophie Platons I. S. 277: „Indem Platon diese Consequenz der absoluten Denkwillkür zu ihrem vollen Ausdruck kommen lässt, und ihr gegenüber den Begriff der echten Politik als der königlichen Kunst ent- wickelt, die das Endziel von allem, die Erreichung des wahren Zieles des Menschenlebens in sich schlielst, ohne doch auch für sie jetzt schon den eigentlichen Inhalt finden zu können, so ist ete.“). Ich erwähne dies nur, weil diese Art der Folgerung in der Erklärung Platonischer Dialoge weit verbreitet ist. Man sollte aber bei dieser Art zu folgern doch in Er- wägung ziehen, ob denn jene Ruhe und Sicherheit der Discussion einer Frage als Frage für jemand möglich ist, für den sie eben nur noch Problem ist und eine Möglichkeit der Lösung sich nicht dargeboten hat.
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scheint ihm ein solcher Entschluss nicht nur gefahrlos, sondern nothwendig; beachtet er dagegen die Männer, die sich für Phi- losophen und Erzieher zur Tugend ausgeben, so schreckt ihn die Verkehrtheit dieser Männer ab, so dass er nicht weils, wie er sich entschliefsen dürfe den jungen Menschen zur Philosophie aufzumuntern. Darauf entgegnet Sokrates, unter Hinweisung auf die grofse Mehrheit des Mittelmälsigen und Ungenügenden, die sich auf dem Gebiete jeder Kunst und jedes Wissens finde: „Lass also die, welche Philosophie zu ihrem Geschäfte machen, ganz bei Seite, ob sie gut oder schlecht sind, und prüfe nur die Sache selbst recht gründlich und genau; und erscheint sie dir als schlecht, so wehre jedermann davon ab, nicht nur deine Söhne, erscheint sie aber auch dir so, wie sie mir vorkommt, so gehe ihr getrost nach und übe sie, du selbst, wie man zu sagen pflegt, und deine Kinder“ (307 B).
Diese Schlussworte des Dialogs geben, wenn es dessen be- darf, noch den letzten entscheidenden Beweis für die Absicht des Ganzen:
„Der Beruf der Philosophie, die wahre Bildnerin der Jugend zu sein, wird gerechtfertigt gegenüber der Scheinweisheit, die an ihre Stelle eintreten will,
durch Selbst-Darstellung der einen und der an- deren!’).“
17) Ob durch diese Zusammenfassung alle Momente des Dialogs ge- wissenhafte Beachtung gefunden haben, möge noch die Vergleichung mit den anderweiten darüber ausgesprochenen Ansichten zeigen. K. F. Hermann S. 467: „— So wenig uns auf der einen Seite der Mangel einer tieferen phi- losophischen Bedeutung bestimmen kann, mit Ast das Ganze für unplato- nisch zu erklären, eben so wenig werden wir auch im einzelnen einen höhern Zweck finden wollen, als den der Gegensatz der ostentatorischen und blols auf eigenem Vortheil beruhenden Protreptik der Sophisten mit den einfachen und sachgemälsen Principien Sokratischer Weisheit mit sich bringt.“ Bran- dis II, 1. S. 172, nn.: „Verspottende Darstellung eitler sophistischer Fech- terkünste und kurze Nachweisung der Weisheit als derjenigen Kunst, die ihren Gegenstand zugleich hervorzubringen und zu gebrauchen im Stande, d.h. als der wahren Staats- oder königlichen Kunst, bildet die beiden sehr ungleichen Bestandtheile des Euthydemos, die zu der Einheit eines Dialogs zu verknüpfen den Plato theils der am Schluss hervortretende Zweck, die wahre Philosophie, in ihrem Unterschiede von der Sophistik, gegen die Ver- unglimpfungen der Rhetoren zu vertheidigen, theils Nothwehr gegen die
122 EuTHYDEMOoS.
Während die Scheinweisheit die Möglichkeit des Lernens 278 aufhebt und jede geistige Beschäftigung zu einem spielenden
Kritik einiger Sokratiker veranlasst zu haben scheint.“ Zeller (Pauly, Realencykl. V, 5. 1693) : „Demselben Streite mit der Sophistik um die Mög- lichkeit und den sittlichen Zweck des Wissens gehört der Euthydemos an, eine platonische Nebenschrift, welche theils in überfliefsendem Spott, theils in ruhiger Lehrrede die Frivolität der sophistischen, wohl auch der cynischen Eristik bekämpft und ihr den Ernst der Sokratischen Dialektik entgegen- stellt.“ Was in den angeführten Stellen diese verdienten Forscher als Inhalt und Aufgabe des Euthydemos bezeichnen, ist ohne Zweifel in demselben enthalten; aber die eigenthümliche Richtung, welche der Gegensatz zwischen Scheinweisheit und Platonischer Philosophie gerade in diesem Werke erhält, ist daraus nicht zu erkennen. — Ähnliches gilt, wenn man von der unberechtigten Bezugnahme auf Gorgias absieht, von derjenigen Bezeichnung des Grundgedankens, welche Steinhart 8. 16 f. gibt: „Dieser durch alle Theile sich hindurchziehende Grundgedanke ist der Begriff des wahren Wis- sens und Lernens und des Strebens nach der höchsten Wissenschaft, die zu- gleich die vollendete Tugend und die höchste Staatskunst ist, im Gegensatze zu den von entgegengesetzten Anfangspuncten aus in der Aufhebung aller festen Wahrheit und alles logischen Denkens sich begegnenden Theorien des Protagoras und des Gorgias und zu der an diese Theorien sich anschlie- (senden Scheinweisheit jener um Wahrheit und Sittlichkeit unbekümmerten Sophisten, denen die Dialektik zur bodenlosen, mit leeren Formeln fechten- den Streitkunst, das Mittel also zum Zweck wurde.“ Aber an anderen Stel- len seiner Einleitung nimmt Steinhart in seine Formulirung des Grundge- dankens des Dialogs Momente auf, die man auf das bestimmteste bestreiten muss. Dies geschieht Κ΄. 7 f. und kürzer zusammengefasst S. 26: „Wir haben also in unserem Dialog den ersten, wenn auch noch mehr spielenden Ver- such Platons, zwischen den schroffen Einseitigkeiten der in ihren Endpunc- ten noch dazu zusammenlaufenden Lehren des Herakleitos und der Eleaten eine Ausgleichung zu finden; im Kratylos, im Theätetos und Sophisten aber werden wir ihn bald entschiedener nach diesem Ziele streben sehen.“ Dass auf die Schule des Herakleitos und auf die Eleatische eine Beziehung im Euthydemos vorauszusetzen kein Recht ist, hat bereits Susemihl nachgewie- sen. Aber gesetzt, die Sophismen eines Euthydemos und Dionysodoros dürf- ten als letzte Ausläufer der Herakleitischen und Eleatischen Philosophie be- trachtet werden, so ist das jedenfalls eine höchst eigenthümliche „Vermitt- lung“ dieser Gegensätze, wenn Platon die Consequenzen der einen wie der andern Seite sich durch ihre blofse Selbstdarstellung in ihrer Nichtigkeit und Leerheit darstellen lässt. Auch ist es gewiss kein glücklicher Gedanke, und vor allem, es findet in Platons eigenen Worten keine Berechtigung, den Euthy- demos in der bezeichneten Weise mit dem Kratylos, Theätetos, Sophistes unter denselben Gesichtspunct zusammenfassen zu wollen. — Wenn endlich Susemihl 5. 133 schreibt: „Die vorläufige Charakteristik der Philosophie als der vereinigten Dialektik und Ethik oder Politik dürfte die Hauptauf-
EUTHYDEMOoS. 123
Zeitvertreib mit blofsen Worten macht, erweist die Philosophie das Wissen als das einzige sittliche Gut und zeigt zugleich die Aufgabe dieses Wissens. Die Erfolge des Unterrichtes werden bei jeder dieser beiden Seiten typisch dargestellt an Ktesippos, der in jugendlichem Übermuthe die Räthselspiele der Sophisten schnell begreift, nachahmt und überbietet, und an Kleinias, dessen sinnige Bescheidenheit dazu erstarkt, den Weg, auf den sie geleitet wird, selbst weiter zu verfolgen.
Wenn hiermit, nach Anleitung der von Platon selbst ge- gebenen Weisungen, die Absicht des Dialogs richtig bezeichnet ist, so haben wir nicht nöthig die Abfassung desselben dadurch gewissermalsen erst zu entschuldigen, dass wir ihn für eine blofse
279 Gelegenheitsschrift ausgeben 18. Man würde sich ja sonst ge-
gabe dieses Werkes sein,“ so erfordert diese Charakteristik schwerlich eine ernstliche Bestreitung. So unbestimmt und allgemein, dass sie es unmög- lich macht das Eigenthümliche dieses Dialogs daraus zu ahnen, enthält sie doch zugleich anderseits zu viel, da auf einen einzelnen, im Dialoge nicht einmal ausgeführten Gedanken aller Werth gelegt ist. Auch Deuschle bestreitet (Jahn’sche Jahrb. 71, S. 759 ff.) diese Auffassung, nur ist seine Entgegnung mit Hypothesen complieirt, in die ich nicht vermag ihm zu folgen. — Dage- gen ist der eigenthümliche Gesichtspunet des Platonischen Euthydemos längst treffend von Welcker bezeichnet, wenn man auch nicht darum allen seinen Bemerkungen über diesen Dialog beistimmen mag, vgl. Kl. Schr. II, S. 440: „Nehmen wir aber an, dass Platon hier nicht gegen Lehren und einzelne bedeutende Personen streitend mit dem Baue der Wissenschaft beschäftigt sei und weder frühere Behauptungen zu bestätigen noch erfahrene Einwen- Gaungen in ihr Nichts aufzulösen beabsichtige, sondern eine zwar innerlich nichtige, aber durch den Beifall der Menge für den Augenblick nicht gleich- giltige verderbliche Art des Jugendunterrichts angreife, und also der Vorzug nicht in der Tiefe der Gegengründe, sondern in der Kraft der Wirkung und satirischen Zeichnung zu suchen sei, so stimmt unter diesem Gesichtspunct alles wohl überein.“ — „Ein Vater wie Kriton wird durch solche Sophisten irre, ob er seinen Sohn überall in der Philosophie unterrichten lassen soll (306 C).“ Dieselben Gesichtspunete hebt Rug. Bonghi in seiner Einleitung zum Euthydemos (Opere di Platone nuovamente tradotte. Vol. 1) hervor, namentlich in der lebhaften Schilderung der damaligen Gegensätze der An- sichten über die Bildung der Jugend. 8. 17 f.
18) Diese Entschuldigung des Werkes als einer blolsen Gelegenheits- schrift spricht zuerst Schleiermacher aus, II, 1 (3. Aufl.) S. 273: „Und wenn auch niemand gerade zweifeln dürfte, ob Platon wohl so etwas könnte verfasst haben, so wird doch jeder nach einer besonderen Veranlassung fragen zu einer Schrift, die nur als gelegentlich gedacht werden kann“ u.s.w. Die gleiche Erklärung gibt Brandis II, 1, 8.173, nn: „Nichts
124 EUTHYDEMOoS.
zwungen sehen, selbst den Gorgias auf die gleiche Stellung einer Gelegenheitsschrift hinabzudrücken; denn die Analogie zwischen dem Grundgedanken des einen und des andern dieser beiden Dialoge leuchtet auf den ersten Blick ein. Wenn im Gorgias erwiesen wird, dass Philosophie im Sinne Platons und nicht die politische Rhetorik, wie sie zu jener Zeit verbreitet war, der wahre sittliche Lebensberuf des Mannes ist, so wird hier er- wiesen, dass die Philosophie im Sinne Platons, und nicht ein sophistischer Unterricht, wie er damals weit verbreitet und be- nützt war, die wahre sittliche Bildnerin der höher strebenden Jugend ist. Wie verschieden auch die Mittel sind, mit denen der eine und der andere Gedanke durchgeführt wird, die Ver- wandtschaft und genaue Zusammengehörigkeit beider ist so offen- bar, dass dieselbe vielleicht selbst der Richtigkeit der Auffassung Ὁ zur Bestätigung dienen kann.
Welchen Seiten gegenüber die Philosophie im Sinne Platons für ihren Beruf als Bildnerin der Tugend erst noch einer be- sonderen Rechtfertigung bedarf, darüber lässt der Dialog selbst keinen Zweifel. Der natürliche Verstand und schlichte Bürger- sinn 19) verwirft mit Unwillen die sophistischen Künsteleien; aber mit ihnen theilt das ernste wissenschaftliche Streben eines Sokrates
desto weniger enthält es, wenn auch nur als Gelegenheitsschrift zu betrachten, nicht unwesentliche Erörterungen“ u. s. w. Dasselbe bezeichnet auch Zeller in der Anm. 17 angeführten Stelle durch den Ausdruck Neben- schrift.
19) Mehr oder Tieferes, als ich in diesen Worten bezeichnet, möchte ich nicht wagen in die Charakteristik des Kriton, wie dieser Dialog sie gibt, zu legen. Steinhart 5. 12 nennt Kriton noch „den wissbegierigen und streb- samen“; aber es möchte doch schwer sein, am Kriton des Euthydemos ein weiteres und eingehenderes Interesse für die wissenschaftlichen Bewegungen und Gegensätze seiner Zeit nachzuweisen, als wir es bei den wohlhabenden Athenern überhaupt vorauszusetzen haben. Hiermit in voller Uebereinstim- mung ist das Bild des Kriton, welches wir aus den übrigen Platonischen Dialogen erhalten; überall erkennen wir den treuen, zu jedem Opfer berei- ten Freund des Sokrates, der, von aufrichtiger persönlicher Hochachtung vor Sokrates erfüllt, von diesem wiederum volles Vertrauen erfährt; aber nirgends erscheint er als ein strebsamer Schüler oder als ein mitforschender Genosse des Sokratischen Philosophirens. (Vgl. über ihn auch Zeller I, 1. S. 166, 1.) Besonders charakteristisch ist in dieser Hinsicht die Stellung, die ihm im Dialoge Phädon gegeben wird.
ἘΤΗΥΘΈΜΟΚΒ. 125
oder Platon nicht blofs den Namen, sondern hat selbst aulser- dem zu ihnen so manche unleugbare Verwandtschaft, dass es begreiflich ist, wenn Mangel an unterscheidender Einsicht in die 20 Sache mit der leichtfertigen Sophistenweisheit zugleich das ge- wissenhafte Streben nach Wissen verwirft. Anderseits entzieht dilettantischer Hochmuth der Philosophie durch seine vornehm herablassende Anerkennung ihren wahren Werth. Es gehöre wohl zur edlen Bildung, von Philosophie Kenntnis genommen zu haben, aber ihr in ihre letzten Consequenzen nachzugehen - sei pedantische Beschränktheit; eine mälsige Beschäftigung mit Philosophie, eine mälsige Beschäftigung mit der Staatskunst, beides in richtige Verbindung gebracht, schaffe die rechte Bil- dung des edlen Mannes). Jener aus Verwechslung und man- gelnder Einsicht hervorgegangenen Verwerfung der Philosophie wird deren Unterschied von der Sophistik anschaulich dargestellt ; diese hochmüthige Herabsetzung der Philosophie wird darauf hin- gewiesen, dass das Streben nach Wissen nicht anders seine Be- friedigung finden könne, als in einem Wissen, das von dem Thun untrennbar ist, Philosophie und Politik also gar nicht aulser ein- ander liegen, so dass man zwischen ihnen eine Mittelstellung einnehmen könnte, sondern in ihren Principien zusammenfallen 2). In der Person des Kriton und des als λογογράφος bezeichneten Isokrates®) werden die Vertreter des einen und des andern Ur-
20) Euthyd. 305 Ὁ: μετρίως μὲν γὰρ φιλοσοφίας ἔχειν, μετρίως δὲ πολιτι- χῶν, πάνυ ἐξ εἰχότος λόγου. Genau dieselbe Ansicht über die Erfordernisse einer wahren Bildung wird dem Kallikles und seinem Kreise zugeschrieben, Gorg. 487 C: ἐνίχα ἐν ὑμῖν τοιάδε τις δόξα, μιὴ προϑυμεῖσϑαι εἰς τὴν] ἀχρίβειαν φιλοσοφεῖν, ἀλλὰ εὐλαβεῖσϑαι παρεχελεύεσϑε ἀλλήλοις, ὅπως μὴ πέρα τοῦ δέοντος σοφώτεροι γενόμενοι λήσετε διαφϑαρέντες.
2) Dass nach Platons Überzeugung Philosophie und Politik im wahren Sinne dieses Wortes nicht einen Gegensatz bilden, sondern eine des Namens würdige Politik nur auf der Philosophie als Grundlage erbaut werden kann, ist, selbst noch vom Politikos und dem Staate abgesehen, im Gorgias deut- lich ausgesprochen, namentlich wenn 521 D Sokrates von sich sagt: Olpaı per ὀλίγων ᾿Αϑηναίων, ἵνα μὴ εἴπω μόνος, ἐπιχειρεῖν τῇ ὡς ἀληϑῶς πολιτιχῇ τέχνῃ χτὰ. In gleichem Sinne spricht sich Steinhart aus S. 25.
22) Dass unter dem λογογράφος kein anderer als Isokrates gemeint ist, hat Spengel in seiner Abhandlung: „Isokrates und Platon“ (Abhandl. der philos.-philol. Classe der bair. Akad. ἃ. W. VIII. 3. 1855) zur Evidenz ge- bracht. Ehe ein Versuch gemacht ist — und bisher ist dies meines Wis-
126 ΕἘΠΠΤΗΥΘΈΜΟΞΒ.
theils in so allgemein typischer Weise charakterisirt, dass es schwer ankommt, die sich von selbst aufdrängenden Anwendungen auf weit davon entlegene Zeiten unberührt zu lassen, aber zu- 21 gleich in so genauer Würdigung der damaligen Culturzustände der Hellenen und speciell der Athener, dass man sieht, es be- darf nicht der Annahme eines besonderen einzelnen Anlasses, um die Abfassung dieses Dialogs begreiflich zu finden, sondern er gehört vielmehr zu der Ülasse jener Platonischen Dialoge, welche die Stellung der Philosophie in der gesammten damaligen Cultur zu sichern bestimmt sind.
Wie uns der Platonische Euthydemos unmittelbar zeigt, welche Seiten es sind, auf deren Urtheil über die Philosophie als Mittel und Inhalt der Jugendbildung Platon belehrend oder bestreitend Bezug nimmt, so lässt sich aus ihm auch ersehen, welche Erscheinungen einer blofsen Scheinweisheit es sind, denen gegenüber Platon den Unterschied und den Werth der wahren Philosophie zu erhärten sucht, oder wenn nicht unmittelbar er- sehen, so doch mit gröfster Wahrscheinlichkeit erschliefsen. In dieser Hinsicht haben wir unverhohlen anzuerkennen, dass den Zeitgenossen leichte Andeutungen ganz anders verständlich sein mussten, als sie es uns sind, und uns Combinationen nur zu einer Wahrscheinlichkeit führen, wo den gebildeten Zeitgenossen die Absicht unmittelbar anschaulich war. Die Richtung für diese Combinationen ist bereits durch Schleiermacher 2) treffend bezeichnet, und der dazu verwendbare Stoff von Nachrichten ist seitdem so vollständig zusammengebracht*!), dass es ausreichen wird, in möglichst bündig beweisender Form daran zu erinnern.
Als Repräsentanten der Afterweisheit, welche an die Stelle der Philosophie als Bildnerin der Jugend sich eindrängt, treten
sens nicht geschehen —, die Ergebnisse jener Abhandlung, die für den Pla- tonischen Phädros noch wichtiger sind als den Euthydemos, zu widerlegen, ist es unnöthig, ein Wort zur Verstärkung der Gründe hinzuzufügen. 2) Schleiermacher a. a. O. S. 276: „Es wird sehr wahrscheinlien, dass Platon unter dem Namen jener beiden Sophisten viel mehr die megarische Schule und den Antisthenes angefochten hat.“
ἢ Man überblickt die Data, aus denen die Beziehung einiger Partien des Euthydemos auf Antisthenes hervorgeht, am klarsten und vollständig- sten aus den Anmerkungen in Zellers Philos. d.Gr. II. 1. S.212f. (2. Aufl.)
EUTHYDEMOoS. #27
in dem Dialoge die Brüder Euthydemos und Dionysodoros auf. Euthydemos wird auch sonst noch als Sophist erwähnt, Diony- sodoros dagegen nur als Lehrer des Kriegswesens. Hierauf ruht die Vermuthung Welckers 2), dass Dionysodoros gar nicht Sophist gewesen, sondern nur Euthydemos; es liege eine eigenthümliche Schalkheit Platons darin, die beiden Brüder, deren einer mit Worten, der andere mit Waffen fechten lehrte, zur Durch- 22 führung desselben Wortgefechtes zu verbinden — eine Ver- muthung, die so ansprechend und witzig sie ist, doch, als eben nur aus dem Mangel an anderweiten Nachrichten über Diony- sodoros erschlossen, sich nicht zu völliger Evidenz bringen lässt. Von Euthydemos aber ist ersichtlich, dass er, obgleich als Weis- heitslehrer auch sonst noch historisch constatirt, doch nicht mit den angesehensten Männern, welche diesen Beruf verfolgten, auf gleiche Linie gestellt wird?%). Ferner, diesem Brüderpaare wird
25) Vergl. Welcker, Kl. Schriften. II. 8. 443.
%) Winckelmann hat in seiner Speeialausgabe des Euthydemos (Leipzig 1833) ὃ. XXIV—XXVIII das Ansehen, in welchem Euthydemos bei seinen Zeitgenossen gestanden hat, in ein möglichst günstiges Licht zu stellen ge- sucht. „Quamobrem animus fert, conquirere veterum de Euthydemo et Dio- nysodoro testimonia, quorum quaedam latuerunt nostri dialogi interpretes, ut his juxta se positis elucesecat, nobilissimos fuisse illos sophistas.“ Un- ter diesen testimoniis wird auch unbedenklich Plat. Soph. 251 Β, Ο τῶν γερόν- τῶν τοῖς ὀψιμαϑέσι mit angeführt, Worte, an deren Beziehung auf Antisthe- nes wohl kein Zweifel mehr besteht, vergl. Zeller, Philos. ἃ. Gr. II. 1. 8.210, 3 (2. Aufl.). Übersehen ist dagegen die von Welcker a. a. Ὁ. 8. 442, Anm. 139 eitirte Stelle aus Aleinous Introd. ad Plat. dogm. cap. 6. Wenn man selbst nicht in Abzug bringen wollte, wie viel von jenen wenigen und den Euthydemos keineswegs so bedeutend erhebenden Anführungen auf den Pla- tonischen Dialog selbst zurückgeht, so wird man sich doch nicht bestimmt finden, daraus auf nobilissimi sophistae zu schlielsen. Winckelmanns Nachweisungen führt K. F. Hermann S$. 467 und Anm. 359 mit Beistim- mung an. Auf diese Gründe mag es wohl zurückgehen, wenn Steinhart S. 3 erklärt, dass, freilich „unter den geringeren Sophisten“, Euthydemos und Dionysodoros „sich einen ziemlichen Namen erworben“ hatten. Die Aner- kennung, welche Steinhart hier mit der bezeichneten Einschränkung aus- spricht, wird noch bedeutend gehoben, wenn derselbe S. Sf. schreibt: „Beide Werke (Protagoras und Euthydemos) stellen, wie schon der grölsere Hippias, das Treiben der Sophisten und ihrer Anhänger mit einer von schalkhaftem jugendlichem Übermuthe übersprudelnden, frischen und fröhlichen, aber nie bitteren und vernichtenden, vielmehr auch den Gegner mild und heiter anerkennenden Komik dar, so dass wir bei Lesung derselben jenes von
128 EUTHYDEMOoS.
eine grolse Menge von Trußschlüssen und Räthselfragen zuge- 288
schrieben, von denen gar Manche vollkommen oder beinahe ι
\ \
\ allen Missklängen freie ästhetische Behagen empfinden, das die gelungen- sten Werke der alten Komödie in uns erregen. Wie viel herber und stren- ger ist schon der Ton, den Platon im Gorgias anstimmt.“ Es ist mir nicht möglich, dieses Urtheil über die „mild und heiter anerkennende Komik“ mit dem feinen Gefühle gerade für die künstlerische Seite der Platonischen Dialoge, das sich in Steinharts Einleitungen durchweg bekundet, in Ein- klang zu bringen. Man kann doch die extremen Derbheiten nicht über- sehen, welche Platon den Ktesippos gegen dieses Sophistenpaar gebrauchen lässt; auch die Selbstverhöhnung, welche er dem Dionysodoros durch die äulserst verfängliche Art des gewählten Beispiels 301 A ('Eav οὖν, ἔφη, παρα- γένηταί σοι βοῦς, βοῦς εἶ, χαὶ ὅτι νῦν ἐγώ σοι πάρειμι, Διονυ σόδωρος el) in den Mund legt, ist schwerlich einem Missverständnisse unterworfen. Und möchte man derlei zu beseitigen versuchen, so ist doch nicht zu beseitigen, durch welch kindische Amphibolie Sokrates ausdrücklich erklärt, ihre Weis- heit nachzuahmen, 301 B. Eben so wenig ist die Lobrede misszudeuten, welche Sokrates diesen Sophisten nach Beendigung ihrer Epideixis hält, 303 C — 304 B. Und vor allem, wenn im weiteren Verlaufe Sokrates gar nicht auf eine Entgegnung gegen diese Kuuststückchen eingeht, sondern es ihnen überlässt sich durch ihre Selbstdarstellung ad absurdum zu führen, so ist es doch schlechthin unmöglich, darin eine „heiter anerkennende Komik“ zu fin- den, und nicht vielmehr eine vernichtende Satire (vergl. Welcker a. a. O. S. 440). — [Einige andere noch nachweisbare Träger des Namens Euthyde- mos führt Winckelmann a. a. Ὁ. S. XXV, Anm. a an. Schaarschmidt, wel- cher den Dialog Euthydemos für die Fälschung eines Nachahmers ansieht, worüber unten S. 131 ff. gehandelt wird, betrachtet („Sammlung der Plato- nischen Schriften ete.“ S. 341) die Figur des Euthydemos selbst als eine Combination des von Aristoteles in den Elenchen und des davon verschie- denen von Xenophon in den Memorabilien 4, 2 erwähnten Euthydemos. Um die Unhaltbarkeit solcher Hypothesen, zumal in Verbindung mit der An- nahme, dass ein compilirender Nachahmer den Dialog verfasst habe, einzu- sehen, hat man nur nöthig, den ganzen auf ihn bezüglichen Abschnitt der Xenophontischen Schrift nachzulesen und sich nicht auf die von Schaar- schmidt herausgehobenen Paragraphen zu beschränken.] — Mit der Werth- schätzung des Sophistenpaares steht in einem gewissen Zusammenhange die Deutung, welche Steinhart dem im Dialoge vorausgesetzten Greisenalter des Sokrates gibt; er sei nämlich eben als Altersgenosse den Greisen gegenüber gestellt, damit er durch keine Rücksicht gebunden „die schärfste Lauge des feinsten Spottes“ (S. 10) gegen sie ausgielsen konnte. Ganz abgesehen da- von, wie wir diese „schärfste Lauge“ mit der Anerkennung einer heiteren Komik einigen sollen — wird es denn dem Jünglinge Ktesippos irgend ver- wiesen, dass er zu groben Beleidigungen gegen das Sophistenpaar fortschrei- tet? Sokrates sucht dann jedesmal nur den Gang des Gespräches vor der Ausartung in Gezänk zu bewahren. Dass übrigens die in dem Dialoge er-
25
EuTHYDEMoSs. 129
gleich sich in der Aristotelischen Schrift über die sophistischen
. Trugschlüsse wiederfinden, ohne dass Aristoteles dieselben, ob-
_
gleich er doch den Euthydemos einmal’ nennt, ausdrücklich auf diesen zurückführte 27) oder irgend etwas zu der Annahme be- rechtigte, dass Aristoteles die mit dem Platonischen Euthydemos übereinstimmenden Trugschlüsse eben aus der Platonischen Schrift entlehnt habe. Dadurch wird wenigstens höchst wahrscheinlich, dass auf des Brüderpaares Namen Platon vereinigt hat, was an Trugschlüssen und verfänglichen Fragen zu jener Zeit im Um- laufe war, oder diejenige Blumenlese aus den sämmtlichen vor- handenen gegeben und hier und da noch besser herausgeputzt 25) hat, die ihm für seine Zwecke am geeignetsten schien. — Eind- lich, es ist nicht nothwendig vorauszusetzen, dass Platon, wenn er die eristische Scheinweisheit der wahren Philosophie gegen- überstellt, in den Umfang jener, zu deren Repräsentanten er die streitsüchtigen Brüder gemacht hat, nur Sätze von solchen Männern gezogen habe, die wir jetzt, wie sich uns die Ge- dankenbewegung jener Zeit nunmehr in bestimmten Contrasten darstellt, den Sophisten zurechnen; es kann sehr wohl sein,
kennbaren Data nicht einmal auf die Annahme des Greisenalters des Sokra- tes führen, hat Munk (Die natürliche Ordnung der Plat. Schr. S. 166 f.) ein- gehend nachgewiesen; und wenn jene Data auf die Voraussetzung vom Greisenalter des Sokrates führten, so könnten den Platon zu dieser Darstel- lung manche andere Gründe bestimmt haben, z. B. die uns nicht näher be- kannten Zeitverhältnisse des Euthydemos und Dionysodoros und ihres Aufent- haltes in Athen, oder die Beziehungen auf Antisthenes oder manches andere. Aber gewiss nicht der Grund, den Susemihl annimmt, nämlich dadurch „den reiferen Charakter des Dialoges anzudeuten“ S. 142. Was müssen wir dann von den Dialogen Protagoras und Gorgias, was vollends vom Parme- nides urtheilen? Und wie weit ist denn eine solche Ausdeutung überhaupt noch von dem Principe entfernt, nach welchem Munk die „natürliche Ord- nung“ der Platonischen Dialoge hergestellt hat?
27) Identisch mit den Sophismen 1, 2 des Platonischen Euthydemos ist Arist. Soph. el. 4. 165b 32 ff. 166° 30, mit Sophisma 13 Arist. 24. 1792 34, b14, 39, 1802 4; mit Sophisma 16 Ar. 4. 166% 12, 19. 1772 22. Mit Sophisma 9 lässt sich vergleichen, obgleich die Behandlungsweise eine andere ist, Ar. 4. 1662 31. — Euthydemos, der Sophist, nicht der Platonische Dialog, wird erwähnt 20. 177b 12, als Urheber eines im Platonischen Dialoge nicht vor- kommenden Sophisma.
28) Unverkennbar von Platon selbst in eine interessantere Form und Combination gebracht ist das Sophisma 90.
Bonitz, Platonische Studien. 9
130 EUTHYDEMoSs.
dass er auch gleichzeitige Denker mit einschliefst, deren ernstem Streben der Ehrenname der Philosophie nicht abgesprochen wer- den darf, während Platon ihre Lehren mit denen der Sophisten auf gleiche Linie stellte. Man braucht sich nur daran zu er- innern, dass nicht nur die Aristophanische Komödie zwischen Sokrates und den gleichzeitigen Sophisten oder den älteren Natur- philosophen einen Unterschied nicht anerkennt, sondern auch die Reden des Isokrates den Platon, den Antisthenes und die Sophisten als die Streitkünstler zusammenfassen, die auf nichtige Dinge eine unnütze Mühe verwenden?®). Mag es daher Anti- sthenes auch noch so sehr verdienen, dass man seine Einsicht in ein wirkliches philosophisches Problem zu Ehren bringe und gegen den Vorwurf leerer Eristik schütze 50), so würde es doch durch den Gegensatz der Lehre des Antisthenes gegen die des Platon, durch die paradoxe Form und die Erfolglosigkeit!) des Antisthenischen Philosophirens, vielleicht noch überdies durch die spielende Anwendung, die etwa von den Antisthenischen Sätzen gemacht werden mochte, vollkommen begreiflich werden, wenn Platon ihn unter die Sophisten rechnete. Dass dies wirk- lich der Fall ist, lässt sich nach der Übereinstimmung der in
dem zweiten sophistischen Streitgange behandelten Sätze mit 25
der Lehre des Antisthenes unmöglich in Abrede stellen #2). Da- durch gewinnt dann auch die in dem dritten Streitgange vor- kommende, aus der gesammten Umgebung sich durch ihren In- halt auffallend heraushebende Berührung der Platonischen Ideen-
29) Sogleich zu Anfang der Rede Helena ὃ 1 werden Antisthenes, Platon und οἱ περὶ τὰς ἔριδας διατρίβοντες in einer Reihe aufgeführt; in der Rede gegen die Sophisten geht der Ausdruck ὃ 1 οἱ περὶ τὰς ἔριδας διατρίβοντες, wie der Inhalt des nächstfolgenden erweist, ausdrücklich auf Platon; Panath. ὃ 26 müssen wir τοὺς διαλόγους τοὺς ἐριστιχοὺς χαλουμένους auf die Platoni- schen Dialoge beziehen (Spengel a. a. Ὁ). $. 752) u. a. m.
3) Hartenstein, Über die Bedeutung der megarischen Schule für- die Geschichte der metaphysischen Probleme, in dessen „Historisch-philosophi- schen Abhandlungen“ S. 127—147, besonders 8. 138 ff.
31) Hartenstein a. a. Ο. S. 146.
32) Die Übereinstimmung der in dem zweiten Streitgange behandelten Sätze mit den Lehren des Antisthenes erweist Zeller an der Anm. 24 be- zeichneten Stelle. Zu vergleichen ist damit überdies die Polemik Platons gegen Antisthenes im Theätetos 201 D ff. und im Sophistes 251 B.
4
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EvurHYDEnmos. 131
lehre ihre passende Beziehung. Antisthenes hatte dieselbe, wie uns ausdrücklich berichtet wird 85), bestritten. Platon entgegnet auf diese Bestreitung, indem er sie einem sehr unbedeutenden Gesellen in den Mund legt, und indem er ferner zum Inhalt des Einwandes selbst die blofse Missdeutung eines Wortes macht und dasselbe Wort in ähnlicher Weise zu höhnenden Folge- rungen benützt.
C. Schaarschmidt hat in der Schrift „Die Sammlung der Platonischen Schriften ete. 1866“, durch welche er unter den als Platonisch überlieferten Dialogen vollständiger als jemand vor ihm aufzuräumen unternommen, auch den Euthydemos S. 326 —342 schonungslos aus der Reihe der Platonischen Werke aus- geschieden. Ein Verwerfungsurtheil, das aus einer grolsen Zahl von Gründen abgeleitet ist, deren jeder, selbst wenn er an sich richtig wäre, nur einen geringen Bruchtheil von Geltung bean- spruchen könnte, erfordert zu vollständiger Widerlegung grolse Weitläufigkeit; man würde kaum anders verfahren können, als dass man Schaarschmidts Erörterung wieder abdruckte und an jedem Puncte mit einem widerlegenden Commentar begleitete. Von solcher Vollständigkeit der Widerlegung muss ich absehen ; da ich aber in dem Wiederabdrucke der obigen Abhandlung über den Euthydemos, trotz des inzwischen erschienenen Schaar- schmidtschen Buches, diesen Dialog eben so zweifellos, wie in der ersten Auflage, als Platons Werk betrachte, so glaube ich durch Eingehen auf einige der von Schaarschmidt besonders hervorgehobenen Gründe zeigen zu sollen, dass dieselben mir nicht unbekannt waren.
Bei der Verwerfung des Dialoges Euthydemos wendet Schaar- schmidt die Waffe nicht an, welche er in mehrern andern Fällen mit besonderm Glücke führt, nämlich den Inhalt und Gedanken- gang eines bisher für Platons Werk geltenden Dialogs so zu zerpflücken, dass, wenn der Dialog wirklich diese Gestalt hätte, wir allerdings an seinem Platonischen Ursprung zweifeln müssten. Er erklärt vielmehr, dass in meiner Abhandlung „Anlage und Gliederung des Dialogs sehr gut dargelegt“ sei; aber die hierin
3) Zeller a. a. O. S. 212, Anm. 1 und 3. Hartenstein a. a. Ὁ. S. 140. Ἢ
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liegende Anerkennung des jedenfalls wohl überlegten Planes als eines von dem Verfasser des Dialogs selbst gefassten, nicht erst durch Deutung hineingetragenen, vermag ihn nicht abzuhalten, alles in diesem Dialoge unplatonisch zu finden: die Gespräche des Sokrates mit Kleinias, die Sophistengespräche, die Com- position des Ganzen, die stilistische Form.
Erstens, die Gespräche des Sokrates mit Kleinias. In dem ersten dieser Gespräche ec. 7—10 ist das Resultat „immerhin ein im Sinne der Sokratik wichtiges“, aber es ist „auf unlautere Weise“ erlangt, 5. 332. Zunächst widerspricht die „um der vorliegenden Stelle des Euthydem willen angenommene“, „in der ganzen classischen Gräcität, unerhörte* (S. 331) Bedeutung von εὐτυχία und ihre dadurch begründete Zurückführung auf die Einsicht den bestimmtesten ‚Erklärungen des Sokrates selbst, z. B. Xen. Mem. 3, 9, 44. Diesem Bedenken zu Liebe habe ich die obige Bemerkung δ. 92, A. 4 dahin erweitert, dass ich das- jenige ausdrücklich hinzugefügt habe, dessen Ergänzung seitens des aufmerksamen Lesers ich als selbstverständlich vorausgesetzt hatte. Indessen die Umbildung des Gebrauches von εὐτυχία mag als griechisch zulässig und als speciell für Sokrates oder Platon zulässig durch jene Bemerkungen erwiesen sein oder nicht: jeden- falls hätte Schaarschmidt, wenn er dieses Moment gegen den Platonischen Ursprung des Dialogs anwenden wollte, folgende nahe liegende Erwägung nicht unterlassen sollen. Den „Nach- ahmer“, der den Euthydemos auf Platons Namen gefälscht hat, denkt sich Schaarschmidt als einen Mann, der: mit Xenophon- tischen, Platonischen, Aristotelischen Schriften wohl bekannt ist. Xenophons Memorabilien haben ihm die beiden Personen darge- boten, welche Hauptträger des Gespräches sind (S. 341f.); „aus dem Compendium des Aristoteles, wie aus einem Arsenal“ (8.329) hat er „die meisten der im Gespräche vorkommenden Sophis- men“ (S.341) entnommen; die Platonischen Schriften kennt er so gut, dass er, „aulser Stande, die inneren Züge der Platoni- schen Kunst zu erreichen, welche er allerwege nachzuahmen sucht, zum Ersatz dafür die Äufserlichkeiten der Platonischen Werke wiederzugeben trachtet“ (S. 339) und „seinen Stil dem Platonischen ziemlich geschickt nachzubilden weils“ (S. 342). Soll man nun denken, dass ein Gelehrter, der so bewandert ist
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in der einschlägigen philosophischen Literatur, jene von Xeno- phon berichteten Äufserungen des Sokrates über εὐτυχία nicht gekannt, oder dass er, obgleich mit ihnen wohl bekannt, bei der Absicht nachahmender Fälschung in so auffallender Weise von ihnen abzuweichen gewagt hätte? Es versteht sich von selbst, dass, was von dem Nachahmer unbegreiflich ist, bei Platon selbst gar kein Bedenken hat. — Aber aulser dieser Verkehrt- heit im Gebrauche von εὐτυχία, „steckt in der Argumentation des Euthydemischen Sokrates noch ein andrer Fehler. Zum Glück, so heilst es p. 280.B, gehört nicht nur das Vorhandensein, son- dern auch der richtige Gebrauch der Güter. Diesen lehrt die Weisheit, also kommt auf diese Alles an u. s. w. Nun war aber schon vorher die Weisheit selbst mit unter die Güter ge- zählt (p. 279 B, C), ja sie war als das höchste, wesentliche Gut bezeichnet worden (p. 280 B: σοφίας παρούσης, ᾧ ἂν παρῇ; μηδὲν προσδεῖσϑαι εὐτυχίας). Das Vorhandensein der Weisheit involvirt ferner nach der Ansicht des Verfassers auch den richtigen Ge- brauch; wozu also die ganze zweite Gedankenreihe (von p. 280 B an), welche doch auf kein anderes Resultat führt, als was schon vorher gewonnen war? Der Verfasser war, als er wieder von ayada πολλά (p. 280 B) zu reden anfıeng, in den unphilosophischen Begriff der ayada, wonach diese Reich- thum, Gesundheit, Stärke und andere äulsere Dinge sind, zurück- gesunken, hat die Tugenden, besonders die Weisheit, welche er vorher den Gütern zuzählte, vergessen und holt sie nun wie- der nach, um dem Sokratischen Standpunct, wonach das Wissen das höchste menschliche Gut ist, gerecht zu werden. Ja, man kann in dieser zweiten Argumentation sogar eine petitio principil erblicken, insofern von dem schon feststehenden Satze, dass das Glück mit der Weisheit identisch sei, ausgegangen wird.“ — Von einer Vergesslichkeit des Sokrates dürfte hier so wenig die Rede sein wie im Protagoras, wo er selbst sich ihrer beschuldigt, sondern nur von einer Unaufmerksamkeit des Lesers. Beide &edankenreihen sind in voller Klarheit und Schärfe von ein- ander unterschieden In der ersten werden, ganz ähnlich wie im Gorgias p. 451 E ff., diejenigen Güter aufgezählt, welche die allgemeine Überzeugung als solche anerkennt; neben äufseren Gütern finden auch geistige Vorzüge ihre Stelle; auch das Glück
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noch in diese Reihe aufzunehmen scheint kein Anlass zu sein, da ja die bereits erwähnte Einsicht zum glücklichen Treffen des Richtigen und Erreichen des Zweckes führen wird. Diese Güter bilden eine Reihe selbständiger Glieder; jedes derselben gilt für ein Gut an sich. Gegenüber nun diesem Ausdrucke der verbreiteten Weltansicht zeigt die zweite Gedankenreihe, dass die vermeintlichen äufseren Güter gar nicht Güter an sich sind, sondern es nur werden können durch die Einsicht (p οὖν ὄφελός τι τῶν ἄλλων χτημάτων ἄνευ φρονήσεως χαὶ σοφίας ; 281 B); dass es also nicht eine Reihe von Gütern gibt, sondern nur ein Gut, die Einsicht oder die Weisheit (ἄλλο τι ἢ τῶν μὲν ἄλλων οὐδὲν ὃν οὔτε ἀγαϑὸν οὔτε χαχόν, τούτων δὲ δυοῖν ὄντοιν ἢ υὲν σοφία ἀγαϑόν, ἢ δὲ ἀμαϑία χαχόν;; 281 E). Dieser Fortschritt in der Gedankenentwicklung ist in solchem Malse deutlich und bestimmt markirt, dass er nicht wohl einem halbwegs aufmerk- samen Leser entgehen kann, es sei denn, dass die schon ge- fasste Überzeugung von der Mangelhaftigkeit des Dialogs seinen Blick trübt.
Nicht geringere Vorwürfe findet Schaarschmidt gegen das zweite Gespräch des Sokrates mit Kleinias e. 17—19 zu erheben. In der „königlichen Kunst“ erkennt zwar Schaarschmidt einen eigenthümlich Platonischen Gedanken an; indem aber der Euthy- demische Sokrates die Erörterung wie rathlos da abbricht, wo der Inhalt dieses Wissens aufzusuchen ist, setzt sich der Platons Namen vorgebende Verfasser folgendem Tadel aus: „Und dies sollte ein Mann geschrieben haben, welcher in eben dem Werke, wor- auf hier angespielt wird, ausdrücklich darauf aufmerksam macht, dass es nichts helfe, das Wissen zum höchsten Gut zu erklären, wenn man ihm nicht einen Inhalt, d. h. eine nähere Bestim- mung dessen, worin dieses Wissen bestehen soll, gibt?!“ (8. 333.) Und ferner, da in dem von Sokrates wiedererzählten zweiten Gespräche dem Jüngling Kleinias eine treffende, die Frage des Meisters selbst um ein paar Schritte überholende Antwort zuge- schrieben wird, so bemerkt dagegen Schaarschmidt: „Der Autor. des Gespräches selbst gibt uns hier die Handhabe zu gerechtem Tadel an. Nachdem er nämlich den Krito, wie bemerkt, seine Verwunderung über die ungewöhnliche Einsicht des Kleinias hat ausdrücken lassen, lässt er den Sokratesin seiner
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Erzählung unsicher werden. „Dann ist’s vielleicht Ktesipp gewesen“, muss er dem Krito entgegnen, und als Krito auch dies nicht glauben will, muss „einer der Götter“ vorrücken, da die tiefsinnigen Äufserungen über das Verhältnis der Dialektik zu den andern Wissenschaften u. s. w. nun doch einmal vor- gekommen sein sollen. Hier hatte also den Verfasser das Gefühl beschlichen, dass er dem Charakter des Kleinias einen ihm fremdartigen Weisheitszug ver- liehen habe; er sucht sein Versehen durch einen Deus ex machina wieder gut zu machen.“ (S. 338.) Man staunt, wenn man dies liest, wie ein Verkennen der deutlichst bezeichneten Ab- sichten des Dialogs sich den Schein überlegener kunstrichter- licher Weisheit gibt. Der Ausdruck der Verwunderung, welcher dem Kriton in den Mund gelegt ist, wird geradezu als ein sol- cher behandelt, der dem Verfasser des Dialogs von einem Kri- tiker gemacht werde, während doch der Verfasser selbst es ist, der ihn sıch selbst machen lässt. Wenn ihn „das Gefühl be- schlich, dem Charakter des Kleinias einen ihm fremdartigen Weisheitszug verliehen zu haben“, so war es ja überaus leicht diesem Gefühle nachzugeben; er brauchte nur das, was er den Kleinias sagen lässt, in leicht herzustellender Wendung dem Sokrates selbst zuzuschreiben. Nicht ein Unsicherwerden des „Euthydemischen“ Sokrates in seiner Erzählung vermag ich in den Worten zu lesen, sondern ein heiteres Spiel, das er mit der Verwunderung des Kriton treibt, ein Spiel, das noch dazu dienen kann, über Charakter und Zweck dieser Partien des Dialogs, in denen Sokrates sich mit Kleinias unterredet, die letzten Zweifel zu benehmen. Die Gespräche des Sokrates mit Kleinias haben, wie im Eingange des ersten 278 D ausdrücklich gesagt ist, die Aufgabe, das Verfahren zu zeigen, durch welches Jünglinge von dem unbedingten sittlichen Werthe des Wissens zu überzeugen und zu ernstlichem Weisheitsstreben zu ermuntern sind. Nur die Umrisse solcher bildenden und anregenden Methode des Ge- spräches sollen gegeben werden; das ist deutlich genug dadurch bezeichnet, dass der Platonische Sokrates nachher von einer Wiedergabe des Gespräches selbst zu einem blofsen Referiren seiner Richtung und seines Zieles übergeht; die vollständige Ausführung würde ja zu einer vollständigen Einleitung in die
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Philosophie. Solch methodisches Gespräch lässt allmählich die geistigen Kräfte des Jünglings zur Selbständigkeit des Denkens erstarken; was in Wirklichkeit erst allmählich eintritt, das rückt die skizzenhafte Darstellung in die unmittelbare Nähe des An- fanges; die Verwunderung, die darüber Kriton aussprechen muss, und die scherzhaft ausweichend beantwortet wird, ist, wenn es denn einmal in ernster Lehrhaftigkeit soll ausgesprochen werden, die Bezeichnung dafür, dass in der Skizze zusammengedrängt ist, was in der Wirklichkeit viel weiter von einander entfernt liegt. — Dass das Gespräch des Sokrates mit Kleinias fast durch- weg solche Fragen berührt, die in andern Platonischen Dialogen in eingehender Untersuchung behandelt sind, liegt in der Natur des verfolgten Zweckes. Für Schaarschmidt ist freilich diese Uebereinstimmung schon ein sicheres Zeichen von der Entlehnung durch einen fälschenden Nachahmer. „Man braucht eigentlich nur diesen Punct festzuhalten, um schon dadurch über die Echt- heit des Gespräches im höchsten Grade bedenklich zu werden. Plato ist ein so durchaus origineller Geist, dass er gewiss nichts zweimal thut: hier müsste er nicht blofs im allgemeinen, sondern auch vielfach im besondern sich selbst nachgeahmt haben.“ (S. 327.) Ganz abgesehen davon, dass dieser zuversichtlich ausgesprochene Grundsatz einer Originalität, die nichts zweimal thun kann, unter den Platonischen Dialogen eine noch gründlichere Nieder- lage anrichten würde, als Schaarschmidt beabsichtigt hat: man darf sich einfach auf das Urtheil jedes aufmerksamen Lesers be- rufen, zu entscheiden, ob das Gespräch des Sokrates mit Kleinias die Hand des zusammentragenden Nachahmers verräth, oder vielmehr die sichere und freie Herrschaft des Denkers über seine
eignen Gedanken zeigt. — Aber die Gedankenentwicklung schliefst
ja mit einem offenbaren Mangel, mit der unbeantwortet gelassnen Frage nach dem Inhalte jenes königlichen Wissens. „Und dies sollte ein Mann geschrieben haben, welcher in eben dem Werke, worauf hier angespielt wird, ausdrücklich darauf aufmerksam macht, dass es nichts helfe, das Wissen zum höchsten Gut zu erklä- ren, wenn man ihm nicht einen Inhalt, d.h. eine nähere Bestim- mung dessen, worin dieses Wissen bestehen soll, gibt.* (δ. 333). Nun, dem Fälscher war es ja doch leicht, wenn er durch diesen Mangel besorgen musste die Falschheit seines vorgegebenen
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Namens zu verrathen, aus der einmal benutzten Quelle noch weiter zu schöpfen. Platon aber versteht es τῇ χειρὶ σπείρειν, οὐχ ὕλῳ τῷ ϑυλάχῳ. Den Wissenstrieb zu wecken, ist die Auf- gabe des Gespräches;; die stark betonte Rathlosigkeit des Sokrates ist — wenn man hieran einen Leser Platons erst noch erinnern soll — nicht ein Zeichen der eignen Zweifel oder der Unsicher- heit, in welcher der Platonische Sokrates sich befindet, sondern es werden dadurch dem Leser Probleme der Forschung in leb- hafter Energie zum Bewusstsein gebracht. Und hier dient die Fiction von Sokrates’ Rathlosigkeit zugleich als das künstlerische Mittel, in die Frage an die Sophisten zurückzulenken.
Doch genug und vielleicht schon zu viel .über Schaarschmidts Einwürfe gegen den Platonischen Charakter der von Sokrates mit Kleinias geführten Gespräche; ich will versuchen, über einige der andern Punkte mich kürzer zu fassen. Im Betreff der Sophistengespräche hat meine Abhandlung, natürlich ohne dass ich es zu ahnen vermochte, „die Handhabe zu der schon von Ast unternommenen, aber nicht vollständig durchgeführten Notheuse des Dialogs geboten“, denn ich habe nachgewiesen, dass „dieser andere Theil, die Sophistenreden, sich seinem Kern nach mit dem, was bei Aristoteles vorkommt, mehr oder weniger deckt“ (5. 327). Zum Belege dafür wird auf die oben $. 129 unverändert abgedruckte Anmerkung 27 verwiesen und „Näheres später“ versprochen. Dieses Nähere findet sich an folgenden zwei Stellen: „Wie billig war es dagegen für einen Nachahmer, aus dem Compendium des Aristoteles, wie aus einem Arsenal, eine Reihe von Sophismen zu entnehmen und diese mit einigen andern, im wissenschaftlichen Verkehr umlaufenden Trug- schlüssen vermehrt, den Vertretern der Sophistik in den Mund zu legen, wobei Aristoteles gleich den Namen eines solchen Ver- treters bot, Xenophon den andern hergeben musste“ (S. 329). „Den Träger der Titelrolle, Euthydemos, finden wir zunächst eben da, wo die meisten der im Gespräch vorkommen- den Sophismen herstammen, in den Aristotelischen Elenchen (S. 341)*, und dazu wird wieder auf dieselbe eine Stelle meiner Abhandlung verwiesen. Sehen wir einmal davon ab, ob durch die Entlehnung des Materials von Sophismen, diese Entlehnung als thatsächlich vorausgesetzt, die Composition des fraglichen
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I'heiles des Euthydemos selbst erklärt sein würde; meine Ab- handlung hat in der scheinbaren Willkür des Ausschüttens von Sophismen die leitenden Gesichtspuncte nachzuweisen versucht, welche nicht nach der Manier eines nachahmenden und com- pilirenden Fälschers sind. Fragen wir vielmehr blofs nach dem Verhältnis des Stoffes im Euthydemos und in den Aristotelischen KElenchen. An der von Schaarschmidt wiederholt citirten Stelle habe ich nachgewiesen, dass von den 21 im Euthydemos vor- kommenden Sophismen (und Schaarschmidt hat gegen diese Zählung nichts eingewendet) fünf mit den von Aristoteles be- handelten vollkommen oder nahezu zusammenfallen. Man wird Schaarschmidt nicht abhalten können, diese fünf als den „Kern“ der sämmtlichen anzusehen; dass er dann diese fünf, weit ver- streut im Platonischen Euthydemos vorkommenden Sophismen „eine Reihe von Sophismen“ nennt, ist schon ein etwas kühnerer Gebrauch des Wortes Reihe; wenn er aber diese fünf von den einundzwanzig als „die meisten“ bezeichnet, so würde es sehr schätzbar und interessant sein, wenn er selbst die Nachweisung dafür gäbe; aber meine Anmerkung als Zeugnis dafür anzurufen ist ein Taschenspielerstück, in welchem man versucht ist den Einfluss der längeren Beschäftigung mit den Sophistenreden zu vermuthen.
Den unplatonischen Ursprung des Dialogs findet Schaar- schmidt ferner und vornehmlich durch die gesammte Composition des Dialogs erwiesen. Ich will die Hauptpuncte der Anklage in des Verfassers eigenen Worten herausheben. „Wie schon Ast bemerkt hat, zeigt der Euthydem in der allgemeinen Sce- nerie deutliche Spuren, dem Platonischen Protagoras nachgebil- det zu sein“ (S. 327); am Protagoras, als zweifelloser Norm, wird sodann der Euthydemos in mehrfacher Beziehung gemessen und gerichtet. „Die Sophisten werden ım Euthydem zwar von Ktesipp in die Enge getrieben (283 Eff.), sie werden sogar aus- gelacht, aber sie werden nicht widerlegt. Plato war dabei ein viel zu tiefer Geist, als dass er bei der Darstellung der So- phistik sich au deren äulsere formale Gebrechen, die Trug- schlüsse, allein sollte gehalten haben. Er geht im Protagoras, noch mehr aber im Gorgias und in der Republik auf den Kern Jer Sache, auf die egoistische, hedonische Weltanschauung,
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welche der Sophistik als deren eigentlicher corrumpirender Geist zu Grunde liegt. Einem blofs logischen Lehrzwecken dienenden Compendium, wie dem des Aristoteles, ist es angemessen, die Sophismen nach Abtheilungen zusammenzustellen, nicht aber dem Platonischen Dialoge, welcher, immer aus dem Ganzen herausgearbeitet, die Totalität der Weltanschauung vertritt. Setzen wir aber den unmöglichen Fall, dass Plato sich vor- genommen hätte, die logisch-formelle Seite der Sophisten einmal isolirt zu geilseln — würde er das nicht besser zu thun verstan- den haben, als im Euthydem geschieht! Würde alsdann sein Sokrates nicht die logischen Fehler der Gegner rectificirt und, wozu in der That p. 277 E ein schwacher Anfang gemacht wird, die Quelle dieser ihrer Irrthümer aufgedeckt haben? (δ. 335.) Den ersten Regeln der Dramatik widerspricht die Zeichnung der Figur des Sokrates selbst, in welcher drei Momente oder drei Hauptzüge hervortreten, welche schlechterdings nicht zusammen- passen: „der Zug einer durchgängigen, sehr weit getriebenen Ironie, zweitens einer philosophisch-dialektischen Lehrhaftigkeit, endlich einer den Sophisten gegenüber geübten reflectirenden Kritik“ (S. 336). „Und mag nun auch diese Ironie des Sokrates durchsichtig genug aufgetragen sein — nirgends wird uns an- gedeutet, dass die Jünglinge sie als solche verstanden haben, oder dass die Sophisten dadurch gezähmt und beschämt werden, wie es doch die poetische Gerechtigkeit erfordert. Wie anders macht es der Platonische Sokrates im Protagoras und Gorgias“ etc. (S. 328). „Ungeschickt“ ist die Einreihung des Dialogs in die Erzählung an „einen alten Mitphilosophirenden“, Kriton (S. 328); undramatisch in der Episode am Schlusse die unzweideutige Anspielung auf Isokrates. „Vlato lässt wohl seinen Sokrates die wissenschaftlichen Ansichten Späterer kritisiren, wie z. B. die Antisthenische Erkenntnislehre im Theätet, aber niemals deutet er auf die nachmaligen Philosophen selbst hin; erst in den unechten Dialogen, wie, hier, dann später im Sophista, Kra- tylus, Philebus kommt der F'ehler vor, dass solche spätere Phi- losophen, wenn auch nicht mit Nennung des Namens, so doch mit deutlicher Bezeichnung von Sokrates herbeigezogen werden, als ob sie seine Zeitgenossen gewesen wären, da sie doch nur Zeitgenossen oder Vorgänger der Dialogschreiber waren“ (S, 334),
140 EUTHYDEMOoS.
Gegen diese Anklagen — und ich habe wissentlich keinen Hauptpunct ausgelassen — würde es zur Widerlegung hinreichen, sie einfach dem Urtheile der Leser zu überlassen. Indessen Schaarschmidt verwirft dieses im Euthydemos eingeschlagene Ver- fahren so entschieden, dass ich ihm darin nachgeben und einige Gesichtspuncte der Entgegnung andeuten will.
Die äufsere Scenerie des Euthydemos bietet zu der des Pro- tagoras nur wenige Vergleichungspuncte, zum 'Theil von unter- geordneter Bedeutung; zu der Annahme, der Euthydemos sei dem Protagoras nachgebildet, geben sie keinen Anlass, eben so wenig eine Berechtigung den Euthydemos am Protagoras als einem Kanon für Platonischen Charakter zu messen. Platon bekämpft die bedeutenden und hervorragenden Erscheinungen der Sophi- stik und Rhetorik, einen Protagoras und Gorgias, mit den ihrer Bedeutung entsprechenden Waffen ernster Widerlegung und Nachweisung der Widersprüche, in welche ihre Ansichten sich verwickeln. Aber dass der Name der Sophisten noch eine ganz andere Classe geistig unbedeutender und doch durch logisch- grammatische Kunststücke vorübergehenden Beifall erhaschender Männer umfasste, das beweist der Dialog Euthydemos selbst, mag ihn nun Platon oder ein Nachahmer auf seinen Namen ge- schrieben haben. Dass es unter Platons Würde, für ıhn un- möglich sei, an Männern, die eine andere Seite als die „logisch- formelle“ selbst nicht darbieten, eben diese „isolirt zu geilseln“, ist eine Behauptung, welche in der beabsichtigten Beweisführung eine petitio principii in sich schliefst. Welchem Kritiker fällt es ein, bedeutende und nichtige Gegner mit denselben Waffen zu bekämpfen? Und Platon sollen wir zumuthen, dass er, in- dem er die Kunstform des Dialogs anwendet, um die Gegner sittlich - ernster Wissenschaft zu bekämpfen, hoch und niedrig unter diesen Gegnern gleichstelle, und nicht gegen das Un- bedeutende die Waffe anwende, die ihm zu aller Zeit gebührt hat, die Waffe der Lächerlichkeit!? Man hat die Platonischen Dialoge häufig mit Dramen verglichen, und für einen Theil der Dialoge hat diese Vergleichung innerhalb gewisser Grenzen eine Berechtigung. Die gröfsten Tragiker der Athener waren zugleich Meister im Satyrdrama ; Platon fordert sogar, gegen die literarische Sitte seines Volkes, dass der Meister in der Tragödie
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EuUTHYDEMoSs. 141
es zugleich in der Komödie sei. Freuen wir uns, dass Platon auf seinem dramatischen Gebiete seine eigene Forderung erfüllt und seinen Meisterwerken im ernsten Drama eine Komödie von drastischer Wirkung zur Seite gesetzt hat. — Den mit ästheti- schen Kunstausdrücken gewaffneten Vorwurf, als habe die Figur des Sokrates keine innere Consequenz, würde Platon schwerlich anders als mit einem Lächeln erwidert haben, im Bewusstsein der idealen Lebenswahrheit seiner Zeichnung; uns, die wir nur dem Gerüchte aus der Vergangenheit lauschen, ist die Möglich- keit geblieben, den Sokrates des Euthydemos Zug für Zug mit dem von Alcibiades im Symposion entworfenen Bilde zu ver- gleichen und daran zu bewähren. — Dass das Gericht des Ver- lachens nicht blofs von den Lesern des Dialogs, sondern schon von den fingirten Zuhörern der Wortverdreher über diese geübt ist, dass sie also die Ironıe des Sokrates vollkommen verstanden, ist durch den Dialog so deutlich bezeichnet, dass Schaarschmidts Zweifel daran mir unverständlich ist. — Der Vorwurf der „Un- geschicklichkeit“ gegen das umgebende Gespräch mit Kriton ist ausschlielslich daraus zu begründen, dass Kriton als ein „alter Mitphilosophirender“ bezeichnet ist; dass und warum ich dieser Charakteristik nicht beistimmen kann, ist schon oben 8. 124 dargelegt. — Um endlich die Anspielung auf Isokrates zu einem Einwande gegen den Platonischen Ursprung des Dialogs zuzu- spitzen, muss mit einem beliebten Cirkelbeweise die Unechtheit mehrerer anderer Dialoge schon als bewiesen betrachtet werden; und doch bleibt der unbestreitbare 'Theätetos übrig, dessen Bezie- hung auf Antisthenes von der des Euthydemos auf Isokrates uns denselben Unterschied zeigt, wie er zwischen dem gesammten Charakter dieser beiden Dialoge besteht. Männer von der Über- zeugung, man solle μετρίως μὲν φιλοσοφίας ἔχειν, μετρίως δὲ πο- λιτιχῶν (305 D) — und diese bildet den Kern der Charakteristik — gab es eben so gut schon zu Sokrates’ Zeit; also kann auf einen solchen doch gewiss Platon den Sokrates viel unbedenklicher Bezug nehmen lassen, als auf die Antisthenische Erkenntnis- theorie, die zu Sokrates Zeit wohl noch nicht existirt haben wird. Platon konnte sehr wohl Anlass haben, durch Hinzu- fügung einiger persönlicher Züge zu bewirken, dass seine Zeit- genossen an Isokrates denken mussten; sie werden hiegegen
142 EUTHYDEMOS.
eben so wenig ein ästhetisches Bedenken gehabt haben, wie ge- gen die unzweifelhaften Anspielungen in Tragödien aus dem heroischen Sagenkreise auf Personen und Ereignisse der Gegen- wart, gar nicht zu reden von dem bekannten, scherzhaft über- müthigen Anachronismus in der Rede des Aristophanes im Symposion #4). -
Endlich noch eine Bemerkung über die stilistische Form des Euthydemos, dieses Wort in weiterem Sinne gefasst; denn gegen den Stil in eigentlichster Bedeutung hat Schaarschmidt nichts er- hebliches einzuwenden. „Übrigens zeigt der Dialog auch im Sprachgebrauch manche Abweichungen von der Platonischen Rede, wovon schon Ast einiges angemerkt hat; doch bewahrt der Verfasser im Ganzen sich eine ziemliche Reinheit der Sprache, der namentlich keine Aristotelischen Wendungen und Ausdrücke anzumerken sind, und er weifs seinen Stil dem Platonischen ziemlich geschickt nachzubilden“ (S. 342). Hätte Schaarschmidt schon die verdienstliche Textausgabe des Euthydemos von Schanz benutzen können, so würde diese Anerkennung wohl noch viel beschränkter gelautet haben; denn Schanz zählt nicht weniger als 71 Worte und Formen auf, „quae secundum Astium apud Platonem in Dialogo Euthydemo solo extare videntur*, ohne sich übrigens — und mit Recht — dadurch an dem Platoni-
schen Ursprung des Dialogs irre machen zu lassen. — Aber die
sprachliche Form im weiteren Sinne setzt sich mannigfachem
Tadel Schaarschmidts aus. Dieselbe Vergleichung sei kurz
nach einander wiederholt 276 D und 277 D; abgesehen von dem Gewichte eines solchen Vorwurfes ist die Thatsache selbst nicht richtig, dass es sich um dieselbe Vergleichung handle. — „Auch im Herbeiziehen von Dichterstellen und sprüchwörtlichen Redens- arten gefällt sich der Verfasser, deren einige dunkel und nicht recht passend sind, wie z. B. 285 B ὥσπερ ἐν Καρὶ ἐν ἐμοὶ ἔστω 9 χίνδυνος, oder an Dichterstellen 304 B τὸ γὰρ σπάνιον, ὦ Εὐυϑύ-- Önvs, τίμιον. τὸ δὲ ὕδωρ εὐωνότατον, ἄριστὸν ὄν, ὡς ἔφη Πίνδαρος, wobei jede Pointe fehlt“ (5. 340). „Dunkel“ ist die Bedeutung des angewendeten Sprüchwortes nicht einmal für uns, noch we-
niger wohl für die gleichzeitigen Leser. Dass „jede Pointe fehlt“,
%#) Vgl. Zeller, Ph. d. Gr. 3, Aufl. $. 416 f.
EUTHYDEMos. 143
ist jedenfalls eine unbegründbare Behauptung; der Verfasser kann höchstens aussprechen, dass wir die Pointe des Scherzes nicht erkennen; was würde wohl aus der Aristophanischen Ko- mödie werden, wenn wir unser Unvermögen, die Pointe eines Scherzes vollkommen zu verstehen, zu einem Symptome der Unechtheit machen wollten? Sollte denn aber wirklich so ohne Pointe die Äufserung sein, in der Sokrates vor dem Herabdrücken des Preises dieser Weisheit warnt und sie mit dem Wasser ver- gleicht? Die gegenübergestellte Werthschätzung des Wassers würde an ironischer Färbung noch gewinnen, wenn wir anneh- men, was leicht möglich ist, dass der feierliche Pindarische Spruch ἄριστον μὲν ὕδωρ gern von heiterer Gresellschaft da an- gewendet wurde, wo man durch die That dieser Werthschätzung widersprach. — „Der übermälsige Gebrauch von Gleichnissen, Metaphern, Wortspielen® (8. 339), die „Übertreibungen“ (8. 340) im Ausdrucke machen den Platonischen Ursprung zweifelhaft. Ich denke vielmehr, insoweit diese Bemerkung wahr ist, beweist sie nur, dass der Verfasser, wer er auch sein mag, die sprach- liche Darstellung mit dem vorher bezeichneten Charakter des Dialogs in besten Einklang gebracht hat, und dass solche Herr- schaft über die Sprachmittel gewiss Platons nicht unwürdig ist. — „Mit Recht macht schon Ast darauf aufmerksam, dass der Verfasser seine Gelehrsamkeit zur Schau tragen wollte, indem er Andeutungen von sonst unbekannten Dingen und Personen (die akarnanischen Brüder 271 E, der Musiker Konnos 272 0, 295 D) mache.“ Um diese Bemerkung richtig auszudrücken, ist statt „unbekannten“ zu setzen „uns unbekannten“, und damit tritt zugleich ihre Nichtigkeit deutlich zu Tage.
Ich habe im obigen, wie ich bereits im Eingange bemerkt, Schaarschmidts Gründe für seine „Notheuse“ des Dialogs nicht sämmtlich zur Erörterung gebracht, sondern, um grölsere Weit- läufigkeit zu vermeiden, mich auf die hauptsächlichsten be- schränkt; schon aus ihrer Discussion wird ersichtlich sein, welche Haltbarkeit die Gründe haben, die mit der Sicherheit überlegener Kritik über alte Vorurtheile vorgebracht werden, und wird es gerechtfertigt erscheinen, dass ich trotz Schaar- schmidts Verwerfungsurtheil den Euthydemos für ein Werk Pla- tons halte.
ΦΟΡΗΤΙΝΈΤΕ δ,
Gedankengang und Gliederung des Dialogs.
Einleitung (ec. 1, 2). In den Schlussworten des 'Theäte- τ
tos spricht Sokrates gegen den Mathematiker Theodoros die Auf- forderung aus, dass man am andern Morgen wieder zum Ge- spräche zusammenkommen wolle. An diese Worte, in denen man übrigens nach der Weise des Schlusses mancher anderen Platonischen Dialoge keineswegs die bestimmte Zusage einer Fortsetzung finden würde!), knüpft der Anfang des Sophistes an; denn der gestrigen Verabredung gemäls erklärt Theodoros dem Sokrates sich eingefunden zu haben. Aufser dem Theätetos, dem Theilnehmer an dem gestrigen Gespräche, bringt Theodoros zugleich einen Gast aus Elea mit, der der Parmenideisch-Zeno- nischen Schule angehöre, aber nicht, wie so manche Männer dieser Richtung, ein Klopffechter mit Worten, sondern ein wahrer Freund der Weisheit, ein Philosoph sei. Solche echte Philosophen, erklärt Sokrates, seien schwer zu erkennen; Philo- soph, Staatsmann, Sophist seien mannigfacher Verwechslung unter
*) Sitzungsberichte οἷο, Bd. 33. S. 285—333. (Separatabdruck S. 41—89.) s
ἢ So schlielst der Laches mit den Worten: ᾿Αλλὰ ποιήσω, ὦ Λυσίμαχε, ταῦτα, zu ἥξω παρὰ σὲ αὔριον, ἢν ϑεὸς ἐθέλῃ, und am Schlusse des Prota- goras 901 Τὴ heilst es: περὶ τούτων δὲ εἰσαῦϑις, ὅταν βούλῃ, διέξιμεν, ohne dass man daraus folgern wird, Platon habe beabsichtigt einen andern Dialog daran anzuschliefsen. Darauf, dass die Anknüpfung nur eine einseitige, des Sophisten an den Theätetos, ist, aber keineswegs der Theätetos, aufser durch jene nichts erweisende Schlussformel, auf die Fortsetzung in einem andern Dialoge hinweist, macht Deulsen aufmerksam, Commentatio de Platonis So- phistae compositione ac doctrina. Bonn 1869, Κ΄. 64. n. 122.
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einander ausgesetzt; darum möchte Sokrates gern hören, wie man dort in Elea über diesen Gegenstand denke, ob man diese Worte nur für verschiedene Namen desselben Begriffes halte, oder die Begriffe selbst unterscheide. Der Eleatische Gast er- klärt seine Bereitwilligkeit auf diese Frage einzugehen; über ähnliche Gegenstände sagt Theodoros habe er schon vorher den Gast gefragt und derselbe habe erklärt, darüber ausreichendes gehört zu haben. Gefragt, ob er diesen Gegenstand lieber in ununterbrochenem Vortrage oder in Frage und Antwort darlegen werde, erklärt der Eleat die letztere Form ın dem Falle vorzu- ziehen, wenn der Unterredner, an den er sich werde zu wenden haben, leicht lenksam sei. Theätetos besitzt diese Eigenschaft; im Gespräche mit ihm will also der Eleat die gestellten Fragen beantworten, und zwar zunächst die über das Wesen des So- phisten. — Der Eleat und Theätetos sind von da an die aus- schliefslichen Theilnehmer an der Unterredung.
I. Aufsuchung der Definition des Sophisten (c. 3—24).
Es handelt sich darum, durch eine Erklärung das Wesen des Sophisten zu bestimmen, so dass man fortan nicht nur den- selben Namen gebrauche, sondern mit ihm auch den Gedanken
desselben Wesens (τί ἐστι) verbinde. Die Schwierigkeit, eine
Definition des Sophisten zu geben, macht es rathsam, dass man die Methode des Definirens erst an einem Objecte versuche, das, an sich geringfügig und vollkommen bekannt, doch zu seiner Erklärung nicht minder zahlreiche Merkmale erfordere?); ein solches Object für die Methode der Definition ist der Angel-
fischer (c. 3). Beispiel der Methode des Definirens (c. 4—7). Die Beschäftigung des Angelfischers ist eine Kunst, nicht eine blofs
2) Die Worte Platons 218 E: τί δῆτα προταξαίμεϑ᾽ ἂν εὔγνωστον μὲν καὶ σμιχρόν, λόγον δὲ μηδενὸς ἐλάττονα ἔχον τῶν μειζόνων, sind im obigen nicht sowohl übersetzt, als in derjenigen Bedeutung umschrieben, die wir nach dem Gebrauche von λόγος im letzten Abschnitte des Theätetos und nach der Absicht dieses Beispieles selbst nicht in Zweifel ziehen können. Tref- fend übersetzt Schleiermacher „nicht kürzerer Fiklärung bedürfendes‘“, dagegen führt sowohl Stallbaums „nec tamen minorem habeat definitionis artem“, als Müllers „einer eben so umfassenden Erörterung fähig“ von der Hauptsache ab.
Bonitz, Platonische Studien. 10
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kunstlose Thätigkeit. Man findet den Begriff des Angelfischers, indem man den Umfang der Kunst fortwährend theilt, bis man
zu der den Angelfischer allein treffenden Bestimmtheit gelangt :
ist. Die Kunst scheidet sich in eine schaffende und eine er- werbende; der Erwerb geschieht entweder ‚mit Zustimmung des- sen, was man erwirbt, oder gegen dessen Willen, in dem letztern Falle entweder durch das Mittel des offenen Kampfes oder auf versteckte Weise. In diesem letzteren Zweige der Erwerbungs- kunst, der Jagd, scheidet sich die Jagd auf Belebtes von der auf Unbelebtes, dann weiter nach den Arten des Belebten, der le- benden Wesen; zu der Jagd auf Fische so gelangt, unterscheidet man weiter die Zeit, die Art und die Mittel der Jagd, und er- reicht so, durch fortwährende dichotomische Ausscheidung, eine Bestimmung der sämmtlichen Merkmale, so dass man dann. nicht mehr über den Namen allein, sondern auch über den Begriff des Gegenstandes im Einklange ist (c. 4—7).
Nach derselben Methode der successiven Eintheilung des Umfanges soll nun die Definition des Sophisten hergestellt werden.
A. Aufsuchen der Definition des Sophisten durch die successive Theilung des Gebietes der Kunstthätigkeit (ec. 8—19). 1. Der Sophist stimmt insoweit mit dem Angelfischer zu- sammen, dass er eine Kunst des Erwerbes und zwar eine Jagd treibt, aber er unterscheidet sich von ihm durch den Gegenstand
seiner Jagd; dieses Object sind Menschen, Jünglinge. Der So- .
phist treibt seine Jagd durch Überredung, nicht durch Gewalt; im Privatverkehr, nicht im öffentlichen Leben; um Geld dafür zu erhalten, nicht mit Aufopferung der eigenen Geldmittel; unter dem Vorgeben Tugend zu lehren, nicht zur blofsen Unterhal- tung (c. S—10 Anfang. 223 B).
2. Die Beschäftigung des Sophisten findet sich aber auch in einem andern von den vorher unterschiedenen Bereichen der Kunstthätigkeit, nämlich derjenigen Kunst, welche nicht durch Jagd, sondern durch Tausch erwirbt. Ein Gebiet dieses Erwerbes durch Tausch besteht im Verkaufe von Waaren, seien es selbst- verfertigte oder von andern erkaufte. Der Sophist treibt diesen Verkauf als Grofshändler von Stadt zu Stadt ziehend; seine Waaren dienen zur Nahrung des Geistes, nicht des Körpers;
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das Wissen, dessen Handel er betreibt, hat nicht irgend etwas anderes, sondern die Tugend zu seinem Gegenstande (223 C— 224 D).
3. 4. Aber eben so gut kann der Sophist den Vertrieb seiner Waaren an demselben Orte ausführen, sei es als Krämer, der fremde Arbeit verkauft, sei es als Handwerker, der seine eigene Arbeit ‚absetzt (224 1), E).
5. Im Gegensatze zu derjenigen Kunst des Erwerbes, welche ihren Zweck durch Mittel der List im Verborgenen erreicht, gab es eine andere, welche offenen Kampf führt; auch in ihrem Um- fange findet sich die Beschäftigung des Sophisten. Der Sophist führt diesen Kampf nicht mit körperlichen Waffen, sondern mit Worten ; nicht in langen Vorträgen an eine Versammlung, son- dern in kurzer Frage und Antwort an die einzelnen; nicht in kunstlosem Gerede, sondern in kunstgeübtem Gefechte; nicht mit Preisgebung der eigenen Mittel zur Belästigung anderer, sondern zum Behufe des eigenen Erwerbes (c. 12).
6. Unter den Beschäftigungen des häuslichen Dienstes finden sich einige, deren gemeinsames Merkmal das Sichten und Schei- den ist. Diejenigen Künste des Sichtens, welche das Schlechte ausscheiden und nur das Gute zurückbehalten, bezwecken Rei- nigung; die Reinigung hat den Körper oder den Geist zu ihrem ÖObjecte. Die Reinigung des Geistes ist eine zwiefache, da sich die Übel des Geistes so unterscheiden, wie auf dem körperlichen Gebiete Krankheit und Hässlichkeit; sie bezweckt also entweder Entfernung der Bösartigkeit, welche in Zügellosigkeit, Übermuth, Feigheit u. ἃ. besteht, oder der Hässlichkeit, welche ausschliels- lich in der Unwissenheit liegt; und wie auf dem Gebiete der körperlichen Reinigung die Heilkunst von der Gymnastik, so unterscheidet sich auf dem der geistigen Reinigung die Rechts- pflege vom Unterrichte. Im Bereiche des Unterrichtes ist beson- ders bedeutend die Entfernung derjenigen Unwissenheit, bei welcher man sich einbildet das zu wissen, was man nicht weils, also die Bildung und Erziehung (παιδεία). Sie wird entweder in der altherkömmlichen Weise väterlicher Ermahnung ausgeführt, oder dadurch, dass man den Zögling in die Widersprüche seiner eigenen Gedanken verwickelt und dadurch zum Bewusstsein seiner Unwissenheit bringt. Ob man in diesem letzten Ein-
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theilungsgliede wirklich die Sophistik gefunden habe, ist freilich noch unsicher; es könnte auch sein, wie ja Ähnlichkeiten zur Täuschung Anlass geben, dass man vielmehr die ihr ähnliche edle Beschäftigung gefunden habe (c. 13—18).
Die bisher aufgestellten Definitionen werden hierauf, um einen Ruhepunct der Besinnung zu gewinnen, recapitulirt; aber schon ihre Vielheit beweist, dass es nicht gelungen ist, den ein- heitlichen Zweck, dem die gesammte 'Thätigkeit dieser Kunst zustrebt, aufzufinden®). Es wird daher vielmehr im Aufsuchen
3) 232 A: "Ap’ οὖν ἐννοεῖς, ὅταν ἐπιστήμων τις πολλῶν φαίνηται, μιᾶς δὲ τέχνης ὀνόματι προσαγορεύηται, τὸ φάντασμα τοῦτο ὡς οὐκ ἔσϑ᾽ ὑγιές, ἀλλὰ δῆ- λον ὡς ὁ πάσγων αὐτὸ πρός τινα τέχνην οὐ δύναται κατιδεῖν ἐχεῖνο αὐτῆς, εἰς ὃ πάντα τὰ μαϑήματα ταῦτα βλέπει, διὸ καὶ πολλοῖς ὀνόμασιν dv’ ἑνὸς τὸν ἔχοντα αὐτὰ προσαγορεύει. --- ἱΚινδυνεύει τοῦτο ταύτῃ πῃ μάλιστα πεφυκέναι. — Μὴ τοίνυν ἡμεῖς γε αὐτὸ ἐν τῇ ζητήσει δι’ ἀργίαν πάσχωμεν, ἀλλ᾽ ἀναλάβωμεν ἕν πρῶτον τῶν περὶ τὸν σοφιστὴν εἰρημένων. ἕν γάρ τί μοι μάλιστα χατεφάνη αὐτὸν μιηνῦον. Diese Worte Platons, deren wesentlicher Inhalt oben im Texte kurz zusammengefasst ist, erfahren eine ganz andere Auslegung bei Stein- hart 5. 443: „Wie nun Platon hier (d. ἢ. 218 C) offenbar den Antisthenes im Sinne hat, so zielt er am Schlusse dieses Abschnittes mit dem Geständ- nis, dass sich aus den verschiedenen Beschreibungen des Sophisten nur eine Reihe von Namen, aber kein allgemeiner Begriff für die Sophistik ergeben habe, auf die Megariker, denen ihre Ideen nur verschiedene Na- men für ihr höchstes Prineip, nicht allgemeine, alles Besondere in sich fas- sende Begriffe waren.“ Der Gegensatz von Name und Begriff wird un- berechtigt in die Worte Platons hineingetragen;; in diesen findet sich vielmehr nur der Vorwurf, dass man ein unbestimmt mannigfaches gefunden habe statt einer Einheit. Wenn für eine durch ihren Namen als einheitlich be- zeichnete Kunst, μιᾶς τέχνης ὀνόματι, als Object nur eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen des Wissens sich zeigt, πολλῶν ἐπιστήμων τις φαίνηται, so hat man das einheitliche Ziel dieser Kunst noch nicht erkannt und ist dadurch genöthigt, den, der die fragliche Kunst besitzt, durch eine Menge von Namen statt durch einen einzigen zu bezeichnen, ein Fall, der so eben bei der Erklärung des Sophisten sich ergab. Sollte der „Reihe von Namen“ wirklich „der allgemeine Begriff“ gegenübergestellt sein, so könnte nicht gesagt sein πολλοῖς ὀνόμασιν avi’ ἑνός, nämlich ὀνόματος (vgl. auch μιᾶς τέχνης dvöp.artı), sondern den πολλοῖς ὀνόμασιν müsste eis λόγος entgegengesetzt sein. — Zur Annahme einer Beziehung auf die Megariker ist in den Worten Platons kein Anlass vorhanden; ihre εἴδη waren, wie uns eben Platons Sophistes zeigt, nicht blols verschiedene Namen desselben Principes, ja indem sie die χοινωνία τῶν yeyov in Abrede stellten, konnten sie sogar für ihre vielen εἴδη andere als mit dem Subjecte identische Prädicate nicht zugeben. — Steinharts Bemerkung hat in solchem Grade die Beistimmung Susemihls gefunden, dass er sie wörtlich aufgenommen hat. 8. 293.
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der Definition des Sophisten von einem solchen Merkmal aus- zugehen sein, das ihn am bestimmtesten charakterisirt (c. 19).
B. Aufsuchen der Definition des Sophisten durch Ausgehen von einem bestimmten charakteristischen Merkmale desselben (c. 20 — 24).
Die Beschäftigung des Sophisten besteht unzweifelhaft im Streitgespräche, sowohl selbst dieses zu führen, als andere zu 90 seiner Führung anzuleiten. Den Gegenstand für diese Streit- gespräche nehmen die Sophisten aus allen Gebieten der gött- lichen und menschlichen Dinge, der äufseren Natur und der sittlichen Verhältnisse; also schlechthin alles ist Inhalt ihres Streitgespräches. Alles zu wissen ist für den Menschen un- möglich. Das Streitgespräch der Sophisten gründet sich also nicht auf ein wirkliches Wissen, sondern auf den Schein des Wissens, es ist eine blofse Nachahmung des wirklichen Wissens. In der Nachahmung selbst scheiden sich zwei Arten; die eine hält in ihren Bildern genau die Verhältnisse des nachzubilden- den Objectes ein und schafft Ebenbilder; die andere gibt diese wirklichen Verhältnisse auf und, nur bemüht dem ferner stehen- den den Schein der Ähnlichkeit vorzuspiegeln, schafft sie Trug- bilder. Man mag noch in Zweifel sein, welche von diesen beiden Arten der Nachahmung der Sophist betreibe, jedenfalls ist man durch diese Definition des Sophisten als eines Streit- künstlers des Scheinwissens und der Täuschung in die grölsten Schwierigkeiten gerathen. Denn hierbei ist die Voraussetzung gemacht, dass Irrthum und Täuschung in den Reden wie in den Ansichten wirklich vorhanden sei, also weiter, da der Irr- thum Seiendes als nichtseiend, Nichtseiendes als seiend setzt, dass das Nichtseiende in gewissem Sinne doch sei. Eine solche Annahme hatte Parmenides immer in Wort und Schrift?) un- bedingt verboten. Es ist also nothwendig, die Zulässigkeit dieser Annahme einer Prüfung zu unterweıfen.
ἢ 237 A: ἀρχόμενός τε χαὶ διὰ τέλους τοῦτο ἀπεμαρτύρατο, πεζῇ τε ὧδε ἑχάστοτε λέγων χαὶ μετὰ μέτρων. Durch die letzteren Worte ist an sich nicht der im Texte gegebene Gegensatz von Wort und Schrift, sondern der von Prosa und gebundener Rede bezeichnet. Da aber die Abfassung einer pro- saischen Schrift von Parmenides alle glaubwürdigen Zeugnisse gegen sich hat (Zeller, Phil. d. Gr. 2. Aufl. I. S. 398); da ferner der Ausdruck πεζῇ
s, 80 SOPHISTES.
II. Nachweisung, dass in gewissem Sinne das Nichtseiende ist (e. 35 — 47).
A. Darlegung der in dem Begriffe des Nichtseienden liegenden Schwierigkeiten (c. 28 --- 29).
1. In welchen Fällen soll man überhaupt das Wort „das Nichtseiende“* anzuwenden berechtigt sein? Man darf es nicht irgend einem Seienden als Prädicat beilegen, also auch nicht dem Etwas; denn das Etwas ıst ein Seiendes. Wer also das 291 Nichtseiende aussagt, der sagt nicht irgend Etwas, also Nichts aus, und sagt überhaupt nicht aus (c. 25). — Eben so wenig kann dem Nichtseienden irgend ein Seiendes als Prädicat bei- gelegt werden, also, da die Zahl ein Seiendes ist, auch keime Zahl, weder die Einheit noch die Vielheit. Es ist also das Nichtseiende, da es, um gedacht und ausgesprochen zu werden, nothwendig als ein Nichtseiendes oder als mehrere Nicht- seiende gedacht werden müsste, nicht denkbar, nicht aussprech- bar. Aber dieser Satz bringt den, der ihn ausspricht, in innere Widersprüche; denn indem er sagt, dass das Nichtseiende (oder die Nichtseienden) nicht aussprechbar ist (oder sind), verbindet er mit dem Nichtseienden das Sein und solche Begriffe (die Zahlbegriffe), die nur dem Gebiete des Seienden angehören. Der blofse Versuch, das Nichtseiende auszusprechen ohne
λέγων mündliche Äulserungen sehr wohl bezeichnen kann, und ἑχάστοτε, welches Wort nur auf das erste der beiden Glieder des Gegensatzes zu be- ziehen sprachlich zulässig ist und durch den Gedanken empfohlen wird, sehr passend auf die „bei jeder Gelegenheit“ gethanen mündlichen Äufserungen sich beziehen lässt: so wird es gerechtfertigt erscheinen, wenn ich πεζῇ und werd μέτρων auf den Unterschied prosaischer mündlicher Rede und schrift- licher Dichtung deute. Schanz, Spec. crit. p. 22, erinnert zur Erläuterung der vorliegenden Stelle an die im Griechischen wie im Lateinischen häufige Verbindung von Gegensätzen in der Weise, „ut neutrum contrariorum mem- brum per se ipsum explicare liceat, sed semper cum altero coniunetum in- telligendum sit“, und erklärt demgemäls ἀρχόμενός τε χαὶ διὰ τέλους durch semper, πεζῇ λέγων καὶ μετὰ μέτρων durch quocumque modo. Ich kann je- doch auch nach Erwägung der von Schanz beigebrachten Beispiele mich nicht überzeugen, dass der Ausdruck πεζῇ angewendet sein sollte, ohne dass da- bei der Gedanke von prosaischer Darstellung vorschwebte, und dies kann doch dann keine andere als mündliche sein. Deshalb habe ich trotz Schanz’ beachtenswerther Bemerkungen geglaubt, die obige Deutung beibehalten zu sollen.
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ihm irgend eine ausschliefslich dem Seienden angehörige Be- stimmtheit beizulegen, scheitert an der Unmöglichkeit (6. 26 — 27.239 0).
2. a) In den eben dargelegten Widersprüchen, in welche die Verknüpfung des Nichtseienden mit dem Seienden verwickelt, wird der Sophist die Mittel finden, den Versuch einer Bestim- mung seines Wesens zu vereiteln. _ Versuchen wir nämlich, ihn als einen Künstler von Bildern) aufzufassen, so führt der Be- griff des Bildes in die eben entwickelten Widersprüche. Denn das Bild soll seinem Gegenstande gleich sein und doch dieser Gegenstand nicht sein ®); sein Begriff zwingt also zu der Vor-
5) Ich habe den Namen der gesammten Gattung „Bild“ gesetzt, nicht den Namen einer der untergeordneten Arten „Ebenbild, Trugbild“, weil die- ser Unterscheidung, die im vorigen vielleicht nur zur Erläuterung des Um- fanges des Begriffs der pipmrixt ausgeführt war, hier weiter keine Folge gegeben wird. Welche der beiden Arten der bilderschaffenden Kunst man dem Sophisten zuzuschreiben habe, ist vorher 236 C als nicht bestimmbar bezeichnet. Für die Nachweisung, dass die Erklärung der Sophistik als einer bilderschaffenden Kunst ein Sein des Nichtseienden als Consequenz ergibt, ist die Unterscheidung von Ebenbild und Trugbild gleichgiltig; dem entspricht es, dass in dem diesem Gesichtspuncte gewidmeten Abschnitte 239 Ο — 240 C Platon mit den vorher für Ebenbilder und für Trugbilder unterschiedenen Ausdrücken wechselt, so wie er nacher 241 E (εἴτε εἰδώλων εἴτε εἰχόνων εἴτε μιμνημάτων εἴτε φαντασμάτων αὐτῶν) den Unterschied als gleich- giltig bezeichnet. Vielmehr werden von den Folgerungen aus dem allgemei- nen Begriffe des Bildes (239 Ὁ — 240 ΟἹ unterschieden die Folgerungen aus dem Begriffe der Täuschung, ἀπατᾶν, Ψευδῆ δοξάζειν. — In der ersten Auf- lage dieser Abhandlung hatte ich geglaubt, jene Unterscheidung von Eben- bild und Trugbild auch in diesem Abschnitte 239 © — 240 C durchführen zu sollen und zu diesem Behufe 239 D in den Worten ὅταν εἰδωλοποιὸν αὐτὸν χαλῶμεν mach ὅταν die Partikel δέ eingefügt. Diesen Versuch bestreitet mit Recht Deulsen p. 25 f.
6) Dass durch die oben im Texte gesetzten Worte der wesentliche Inhalt der 240 A, B enthaltenen Argumentation richtig bezeichnet ist, lässt sich schon aus den das Ganze klar abschlielsenden Worten ersehen: κινδυνεύει τοιαύτην τινὰ πεπλέχϑαι συμπλοχὴν τὸ μιὴ ὃν τῷ ὄντι, χαὶ μάλα ἄτοπον. Wie aber im einzelnen die ursprünglichen Worte Platons herzustellen sein mögen, das wird sich bei den Irrthümern, zu denen das häufige Vorkommen von ὄν und ὄντως und die Leichtigkeit der Verwechslung von οὐκ ὄν mit οὔχουν Anlass gaben, schwerlich zu voller Sicherheit bringen lassen. Nur zwei Puncte halte ich in der weiteren Eimendation der Stelle auf der Grundlage der Bekker- schen Recension für sicher. Erstens, die Worte ἀλλ᾽ ἔστι γε μὴν sind nicht ein Einwand, den der Eleatische Freund sich selbst macht, sondern müssen
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aussetzung, dass das Nichtseiende in gewissem Sinne sei (239 D 292 — 400). fr
b) Soll aber der Sophist ein Künstler sein, der durch Trug- bilder täuscht, also unseren Geist zu irrigen Meinungen führt, so wird hiermit angenommen, dass es möglich ‚sei zu irren, also Nichtseiendes für seiend, Seiendes für nichtseiend zu. halten. Dies ist aber, da sich mit dem Nichtseienden das Seiende in keinerlei Verbindung bringen lässt, schlechthin unmöglich (240 Ὁ —- 241 B). |
dem Theätetos zugewiesen werden. Diese evidente Emendation Schleier- machers hat unter den auf die Bekkersche folgenden Ausgaben nur die Hermannsche (übrigens ohne Beziehung auf Schleiermacher) sich angeeignet; von ihr aus hat Hermann einen weiteren sichern Schritt zur Emendation gethan, indem er aus dem interrogativen πῶς das indefinite πώς gemacht hat, ἀλλ᾽ ἔστι γε μὴν πως. Zweitens, indem das Ebenbild als ἐναντίον &knYoös und ferner das ἀληθινόν als ὄντως ὄν bezeichnet wird, so kann das Ebenbild οὐχ ὄντως ὄν oder ὄντως οὐχ ὄν genannt werden, aber gewiss nicht οὐχ ὄντως οὐχ ὄν, wie Hermann an der ersteren Stelle, allerdings im An- schlusse an die besten Handschriften (οὐχ ὄντων οὐχ ὄν MAI, οὐχ ὄντως οὐχ ὃν Ξ, οὐχ ὃν die übrigen) schreibt, und schwerlich auch nur οὐχ ὃν οὐχ ὄντως heilsen, wie an der zweiten Stelle alle Ausgaben haben; diese Ausdrucks- weise würde, wenngleich sich im letzteren Falle zur Noth das zweite οὐχ als blofse Wiederholung der einfachen Negation bei einer näher bestimmenden Modification erklären oder entschuldigen liefse, doch fast muthwillig das Ver- ständnis erschweren, im Widerspruche mit dem Charakter des ganzen Ab- schnittes. An der ersteren Stelle hat die Züricher Ausgabe nach Baiters Conjectur das allein passende οὐχ ὄντως ὄν gegen die Handschriften in den Text aufgenommen; auch an der zweiten wird die von Schleiermächer angedeutete Nothwendigkeit anerkannt werden müssen, die handschriftliche Überlieferung zu verlassen. Der ganze Abschnitt würde hiernach lauten: 8. Τί δῆτα, ᾧ ξένε, εἴδωλον av φαῖμεν εἶναι πλὴν γε τὸ πρὸς τἀληϑινὸν ἀφωμοιω-
͵ er - - 0 ENT 2 , R en a x μένον ἕτερον τοιοῦτον: — Ξ. Ἕτερον δὲ λέγεις τοιοῦτον ἀληϑινόν, Mr ἐπὶ τίνι τὸ = - Ἢ τ» ΔΆ ΜΕ N - Ἢ rt τοιοῦτον eines; — Θ. Οὐδαμῶς ἀληϑινόν γε, AAN ἐοικὸς μέν. — Ξ. [Ἄρα τὸ ἀδνηϑιυνὸν ὄντως ὃν λέγων ; — Θ. θὕτως. --- Ξ. Τί δέ; τὸ μὴ ἀκχηϑινὸν ap ἐναντίον ἀκηϑοῦς; --- Θ. Τί μήν; — Ξ. Οὐκ ὄντως ὃν ἄρα λέγεις τὸ ἐοιχός; εἴπερ αὐτό δ “ὧδ x ER any — ar Fr ye μὴ ἀληϑινὸν ἐρεῖς. — ©. AAN ἔστι γε μὴν πως. — Ξ. Οὔχουν. ἀληϑῶς: γε r N» \ Be Dur] Ἴ a v - ᾿ ν ΕΥ " φῇς. -- Θ. Οὐ γὰρ οὖν πλήν y εἰκὼν ὄντως. — Ξ. Οὐχ ὄντως ὃν ἄρα
ὄντως ἐστὶν ὄντος ἣν λέγόμεν εἰκόνα (oder Οὐχ ὄντως ὃν ἄρα ἐστὶν -ὄντως ἣν λέγομεν εἰκόνα). Madvig Advers. crit. I 381 schreibt: Ξε. Θὺὐχ ὄντως οὐχ ὃν ἄτῃ λέ: “ τὴ ἐς " ἦε a 5 ara Ν "ἢ uk ὃ ΑΝ ἐρεῖς ἸΑλλ᾽ ἔ [A Ὕ (ρα λέγεις τὸ ἐοιχός, εἴπερ αὐτό γε μὴ ἀνηϑινὸν ἐρεῖς. στὶ γε 'μῆν πως. Θεαίτ. Οὐχ ὃν ἀληϑῶς γε ἔφην. Es ist anzuerkennen, ἀ685. οὐχ ὃν besser beglaubigt ist als οὔκουν, ἔφην besser als φής. Aber die Emendation Schleier- machers, welche derselbe recht that nicht einer Begründung bedürftig zu erachten, ist von Madvig gar nicht berücksichtigt.
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In solche Schwierigkeiten verwickelt der Begriff des Sophi-' sten; lösen lassen sich diese Schwierigkeiten nur dann, wenn der Satz des Parmenides widerlegt, also erwiesen wird, dass in gewissem Sinne das Nichtseiende ist und das Seiende nicht ist. Der Versuch eines solchen Beweises darf nicht als Impietät ge- gen Parmenides betrachtet werden. Um den Beweis zu führen, ist es nöthig, vom Nichtseienden, in welchem sich die Schwie- rigkeiten zunächst zeigten, auf das Seiende überzugehen, mithin die Lehren zu prüfen, in denen sich Philosophen über die Zahl und die Qualität des Seienden ausgesprochen haben (ὁ. 29).
B. Darlegung der in den philosophischen Lehren über das Seiende enthaltenen Schwierigkeiten (c. 30 — 36. 250 BE).
Die Philosophen, welche sich über das Seiende ausgesprochen haben, über seine Zahl, seine Qualität, seine Beziehungen zu einander, scheinen nur einen Mythus vorzutragen, unbekümmert darum, was die Menge der Zuhörer davon versteht. Es ist also nothwendig, ihre Lehren einer genauen Prüfung zu unterziehen (ec. 30).
I. Philosopheme, die über die Zahl’) des Seien- den bestimmtes festgestellt haben (ce. 31, 32).
a) Diejenigen Philosophen, welche zwei Seiende annehmen, mögen erklären, was sie unter dem Sein verstehen. Verstehen
7) Die Unterscheidung, welche ich hier in die Überschriften gelegt habe, „Zahl des Seienden“, „Qualität des Seienden“, ist von Platon selbst nicht ausdrücklich bezeichnet; ich glaube dieselbe jedoch durch den unmittelbaren Thatbestand des Dialogs rechtfertigen zu können. Platon unterscheidet näm- lich deutlich diejenigen Philosophen, durch deren Kritisirung er beweist, dass der Begriff des Seins nicht mindere Schwierigkeiten bietet als der des Nicht- seins, in zwei Gruppen; diese Unterscheidung ist bei dem Beginne der ersten Gruppe angekündigt 243 C: τῶν μὲν τοίνυν πολλῶν πέρι χαὶ μετὰ τοῦτο σκεψόμεϑα --- περὶ δὲ τοῦ μεγίστου τε χαὶ ἀρχηγοῦ πρῶτον δὴ σχεπτέον, und wird wieder aufgenommen nach Beendigung der Kritik der ersten Gruppe beim Übergange zur zweiten 245 E: τοὺς μὲν τοίνυν διαχριβολογουμένους ὄντος τε πέρι χαὶ μὴ πάντας μὲν οὐ διεληλύϑαμεν, ὅμως δὲ ἱχανῶς ἐχέτω " τοὺς δὲ ἄλλως λέγοντας αὖ ϑεατέον. Dass die hier an zweiter Stelle gegebene Bezeichnung der dort an erster Stelle stehenden identisch ist und umgekehrt, ist auf den ersten Blick ersichtlich. Nun behandelt Platon in der ersten Gruppe diejenigen Philosophen, welche zwei seiende Principien oder ein ein- ziges Seiendes aufstellten, in der zweiten diejenigen, welche nur dem Mate- riellen und welche nur den Begriffen Realität zuschrieben. Jene kritisirt er
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sie darunter etwas von den beiden vorausgesetzten Seienden ver- schiedenes, so nehmen sie in Wahrheit drei Seiende an, nicht
in der Weise, dass er durch Anwendung des Begriffes des Seins und durch stillschweigende Hinzunahme des Motivs der Ideenlehre aus ihren Vor- aussetzungen andere Folgerungen in Betreff der Zahl zieht; diese dagegen so, dass er den Vertheidigern des ausschliefslich materiellen Seins die Nothwendigkeit der Annahme geistiger Realitäten, den Vertheidigern der unveränderlichen Begriffe die Nothwendigkeit des Lebens und der Bewegung in ihnen zeigt, jede von beiden Seiten also von ihren Voraussetzungen aus zu anderen Erklärungen über die Qualität des Seienden bringt. ° Daraus sind, unter Hinzunahme der Worte Platons bei dem Beginne des ganzen Abschnittes über das Seiende 242 C: τὰ ὄντα διορίσασθαι πόσα Te χαὶ ποῖά ἐστιν, die Überschriften gefolgert, welche also allerdings die von Platon an den betreffenden Einschnitten selbst gegebenen Bezeichnungen um etwas überschreiten. Platon bezeichnet die erste Gruppe von Philosophen einmal dadurch, dass es sich bei ihnen um das μέγιστόν τε zal ἀρχηγόν, nämlich um τὸ ὄν handle, das andere mal als διαχριβολογουμένους ὄντος τε πέρι καὶ μιῇ; die zweite Gruppe einmal dadurch, dass sie von τὰ πολλά handeln, dann als ἄλλως λέγοντας. Diese letztere Stelle 245 E, hat mannigfache Auslegungen erfahren; διαχριβολογεῖσθαι soll Lob, ἄλλως λέγειν Tadel enthalten (Deycks, Stallbaum), oder διαχριβολογεῖσϑαι Tadel, ἄλλως λέγειν Lob (Susemihl S. 298. Anm. 452), oder keines von beiden soll Lob oder Tadel enthalten und ἄλλως λέγειν einfach bedeuten „welche anders reden“, d. h. sich in anderer Weise über den Gegenstand erklären (Zeller, Philos. d. Gr. 2. Aufl. II, S. 181 A.). Diese letzte Auslegung von ἄλλως λέγειν ist unverkennbar die sprachlich allein berechtigte. (Zur Übersetzung Deuschles τοὺς ἄλλως λέγοντας „die freieren Denker“ sehe ich weder in den Worten an sich noch in dem Gegensatze eine Berechtigung.) Ebenso ist anzuerkennen, dass die erklärende Umschreibung, welche Zeller (a. a. ©. 2. Aufl. 5. 181; 3. Aufl. S. 218) von den Worten τοὺς διαχριβολογουμένους ὄντος τε πέρι καὶ μιὴ ὄντος gibt „bei denen sich, wie bei den Eleaten, alles um den Gegensatz des Seien- den und Nichtseienden dreht“, dem Wortlaute wohl entspricht. Aber ich vermag ihm deshalb nicht beizupflichten, weil bei dieser Auffassung die Worte nur zur Bezeichnung der Eleaten passen, und doch nach dem Zusammen- hange die beiden p. 243D—245E behandelten philosophischen Richtungen zusammenfassen müssen. Dieser Übelstand wird dadurch nicht beseitigt, dass Zeller in der 3. Auflage 5. 218 statt der Worte „wie bei den Eleaten“ setzt „wie bei den von p. 243D an besprochenen Philosophen“; denn die‘ von Zeller gegebene Auslegung der Worte τοὺς διαχριβολογουμένους κτὰ, passt eben nicht auf die von p. 243 D— 244 B besprochenen Philosophen, sondern nur auf die von p. 244B an behandelten Eleaten. Wenn man erwägt, dass an der Stelle 243 C, welche für die Philosophen der zweiten Gruppe doch um etwas bezeichnender ist als dıe spätere, τὰ πολλά als charakteristisches Wort für sie angewendet wird; ferner, dass die Atomisten und die Megariker, also die Philosophen der zweiten Gruppe, eine unbestimmte Vielheit von
u Δὰν
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zwei. Setzen sie es dagegen als einem der beiden Seienden
295 oder als beiden zusammengenommen identisch, so kommt ihre Annahme auf die Voraussetzung eines einzigen Seienden zu- rück) (c. 31).
Seienden aufstellen, die der ersten Gruppe dagegen eine bestimmte An- zahl, und dass eben diese Zahl den Ausgangspunct für die über sie geübte Kritik abgibt: so dürfte es sich empfehlen , unter διαχριβολογουμιένους χτλ. zu verstehen „diejenigen, die sich genau bestimmend (nämlich die Zahl genau bestimmend) über das Seiende und Nichtseiende erklären“. Und irre ich nicht, so kommt indireet Zeller trotz ausdrücklicher Missbilligung meiner Erklärung im wesentlichen auf die gleiche Auffassung, indem er hinzufügt (3. Aufl. $. 218): „Bei denjenigen nämlich, auf welche Plato 248 1ὺ kommt, ist die Hauptfrage nicht die, ob es mehrere Seiende gibt, oder nur Eines ein Seiendes, alles andere dagegen ein Nichtseiendes ist, sondern die, ob es nur Körperliches oder Unkörperliches gibt; an die Stelle von jenem Gegensatze tritt dieser.“ Denn hiermit wird ja nicht mehr der blolse „Gegensatz des Seienden und Nichtseienden“, sondern die genauere Bestim- mung der Zahl des Seienden zum gemeinsamen Charakterzug der fraglichen Philosophien gemacht. — Der von mir durch die Überschriften bezeichnete Gegensatz der beiden Abschnitte „Zahl des Seienden“, „Qualität des Seienden“, trifft zusammen mit der Bemerkung Deuschles, Einleitung zur Übersetzung S. 304 Anm. : „Während die Kritik, welche das Sein als prä- dicativen Begriff zum Ausgangspunct nahm, die Principien nach ihrer Zahl oder Quantität prüfte, wendet sich die jetzige der Qualität derselben zu.“ Nur kann ich mit dieser Unterscheidung diejenige, welche Deuschle in den Überschriften der Inhaltsübersicht gibt, „Kritik der Systeme nach dem Gesichtspuncte prädicativer Auffassung ‚des Seins“, „Kritik der Systeme nach substantieller Fassung des Seins“ 8. 310 ff. trotz der 8. 304 darüber gemachten Bemerkungen nicht in Einklang bringen.
8) Dieser Abschnitt 243 E— 244 A wird nach dem Vorgange Zellers (Phil. d. Gr. 2. Aufl. 11, S. 415) von allen neueren Erklärern anders aufge- falst, als im obigen angedeutet ist. Zeller schreibt nämlich: „Jener (der Dialog Sophistes 243 B ΠῚ) beweist gegen die Lehre von einer ursprüng- lichen Vielheit des Seins aus dem Begriffe des Seins selbst, dass alles, so- fern ihm das Sein zukommt, insoferne auch eines sei.“ Dem entsprechend heilst es bei Steinhart δ. 450 in Beziehung auf die vorliegende Stelle: „Mit meisterhafter, echt philosophischer Dialektik zeigt nun Platon, dass weder der abstracte Monismus, noch der Dualismus in ihrer Einseitigkeit haltbar seien, sondern beide nothwendig in ihr Gegentheil um- schlagen.“ Ebenso Susemihl: 8,296: „In jedem Falle führt der Stand- punet der Vielheit auf den Monismus und zwar auf den des Seins zu- rück.“ Michelis δι 196: „Nachdem zuerst nach der Consequenz des Den- kens jede Mehrheit von letzten Prineipien ausgeschlossen und also der einige Begriff des Seins als die letzte Consequenz des Denkens mit voller Klarheit hingestellt ist, 243 D— 244 B“ u. 5. ἢ, Deuschle, Einlei-
150 Ξ SOPHISTES.
δ᾽ Die Annahme dagegen eines einzigen Seienden führt in 2% nicht geringere Widersprüche. Eins und Seiendes sind zwei verschiedene Namen. Ist die Verschiedenheit des Namens Zei- chen für die Verschiedenheit der benannten Dinge, so ergibt sich, dass sie zwei Seiende voraussetzen, nicht blofs eines. Sollte
tung zur Übers. 8. 303: „Diesen Systemen gegenüber zeigt Platon, dass ihrer Vielheit doch immer die Einheit des Seinsbegriffes zu Grunde liege.“ Aber in all diesen Auffassungen, mag auch ihre merkwürdige Einstimmigkeit beim ersten Anblick etwas Überzeugendes haben, ist nur ein Theil der Worte Platons berücksichtigt, der andere ganz bei Seite geschoben. Platon schreibt: φέρε, ὁπόσοι ϑερμὸν χαὶ ψυχρὸν ἤ τινε δύο τοιούτω τὰ πάντ' εἶναί φατε, τί ποτε ἄρα τοῦτ᾽ ἐπ᾽ ἀμφοῖν φϑέγγεσϑε, λέγοντες ἄμφω καὶ ἐχάτερον εἶναι; τί τὸ εἶναι το ὑπολάβωμεν ὑμῶν; πότερον τρίτον παρὰ τὰ δύο ἐχεῖνα, καὶ τρία τὸ πᾶν
[ὩΣ
bo ἔτι zu ὑμᾶς τιϑῶμεν; οὐ γάρ ποὺ τοῖν γε δυοῖν χαλοῦντες ϑάτε - pov ὃν ἀμφότερα ὁμοίως εἶναι λέγετε. σχεδὸν γὰρ ἂν ἀμφοτέρως ἕν, ἀλλ᾽ οὐ δύο εἴτην. --- ᾿Αληϑῆ λέγεις. — ᾿Αλλ᾽ ἄρα τὰ ἄμφω βούλεσϑε χαλεῖν ὄν. --- Ἴσως. — ᾿Αλλ᾽, © φίλοι, φήσομεν, χἂν οὕτω τὰ δύο λέγοιτ᾽ ἂν σαφέστατα ἕν. -- ᾿θρϑότατα εἴρηχας. Platon unterscheidet deutlich drei Möglichkeiten, das Verhältnis des Seins zu den vorausgesetzten beiden Prineipien zu denken, 1. τὸ ὃν παρὰ τὰ δύο, 2. τοῖν δυοῖν ϑάτερον ὄν, 3. τὰ ἄμφω ὄν: Die beiden letz- teren Voraussetzungen führen von der Annahme zweier Principien zu dem Schlusse auf ein einziges Sein: ἕν, ἀλλ᾽ οὐ δύο εἴτην ἄν und χἂν οὕτω τὰ δύο λέγοιτ᾽ ἂν σαφέστατα ἕν. Die erste Voraussetzung dagegen lässt aus zwei Prin- eipien drei werden: τρία τὸ πᾶν ἀλλὰ μὴ δύο ἔτι za ὑμᾶς τιϑῶμεν. Wir haben kein Recht, diese erste von Platon in gleiche Linie gestellte Voraus- setzung als nicht eben so ernstlich gemeint und eben so betont zu betrach- ten, wie die beiden anderen; es herrscht in ihr genau die nämliche Weise des Schlielsens, wie in dem folgenden Abschnitte 244 B--D, wo Platon von dem einen Seienden des Parmenides zu einer Zweiheit fortschreitet, die nämliche, die aus einem umfangreichen Theile des Platonischen Parme- nides bekannt genug ist. — Zeller gibt in der 3. Auflage $. 546 eine aus- führliche Rechtfertigung seiner Auffassung gegen meine Einwendung, im wesentlichen, wenn ich recht verstehe, des Sinnes, dass durch die an erster Stelle gesetzte Folgerung einer Dreiheit des Seienden indirect, durch deren selbstverständliche Unhaltbarkeit, die Zurückführung auf Einheit des Seien- den bezeichnet sei. Ich verkenne keineswegs, dass Plato diesen Weg der Widerlegung hätte einschlagen können ; aber mit den Worten Platons diese Auslegung in Einklang zu bringen vermag ich nicht. (Der Vorwurf, den mir Deulsen a. a. o. S. 42 deswegen macht „qui quae dixerit scriptor magis spectat quam quae velit.“ würde dann zutreffen, wenn das, was Platon sagt, der ihm untergelegten Absicht wenigstens nicht widerspräche.) Und für den von Platon verfolgten Zweck der blofsen Widerlegung genügt es doch gewiss, wenn er, sei es auch aus verschiedenen Gesichtspuncten, die frag- liche philosophische Ansicht mit sich selbst in Widerspruch bringt.
297
SOPHISTES. 157
dagegen die Verschiedenheit des Namens nicht als Zeichen für die Verschiedenheit der Sache gelten, so geräth man in jedem Falle in lächerliche Folgerungen, mag man nun annehmen, dass zwei Namen dasselbe Ding bezeichnen, oder dass es einen Na- men gebe, der nur des Namens Namen sei (244 B—D). — Fer- ner, die Philsophen, welche Einheit des Seienden voraussetzen, schreiben ihm Ganzheit zu. Darin liegt nothwendig die An- nahme einer Mehrheit?) von Theilen, und die Einheit ist dann nicht mehr das Wesen des Seienden, sondern nur eine zu der Mehrheit des Seienden hinzukommende Bestimmtheit, πάδϑος. Gehört aber anderseits die Ganzheit nicht zu seinem Wesen, so ist es überhaupt nicht; denn alles, was ist oder geworden ist, das muss, was es ist, ganz sein (244 D— 245 E).
2. Philosopheme, welche über die Qualität des Seienden bestimmtes festgestellt haben (c. 33 — 35).
Über die Qualität des Seienden ist der gewaltigste Kampf ausgebrochen. Die einen wollen als seiend nur anerkennen, was mit den Händen zu greifen ist, Körper und Seiendes ist ihnen identisch ; die anderen sehen in unkörperlichen, dem Den- ken angehörigen Begriffen die einzige Wesenheit, und erkennen in dem, was ihren Gegnern Wesenheit ist, nur ein Werden an, nicht ein Sein. Von jeder der beiden Seiten ist Rechenschaft zu fordern, was sie unter dem Seienden denken (c. 33).
a) Die Verfechter der ausschliefslichen Realität der Körper müssen doch das Vorhandensein lebendiger Wesen anerkennen, und anerkennen, dass in diesen eine Seele ist, welche gerecht oder ungerecht, verständig oder unverständig sein kann; es muss also der Seele Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit u. ä. einwohnen, und Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit u. ἃ. müssen, um der Seele einwohnen zu können, etwas wirkliches sein. Mögen nun im- merhin die Vertheidiger der körperlichen Wesenheit, wie dies einige wirklich thun, selbst die Seele für etwas Körperliches erklären, so müssen sie doch in der Gerechtigkeit, Ungerechtig-
9 Nichts weiter als Mehrheit oder Vielheit der Theile liegt in dem Be- griffe des Ganzen, nichts weiter wird von Platon an der betreffenden Stelle 244 E—245 B ausgesprochen; von „unendlicher Vielheit“ mit Steinhart S. 452 zu reden, ist kein Anlass.
158 SOPHISTES.
keit u. ἃ. etwas Unkörperliches und doch wirklich Seiendes an- erkennen. Sie müssen also einen solchen Begriff des Seienden aufstellen, unter den beides gleich sehr fällt, sowohl die von ihnen vorausgesetzten körperlichen, als die von ihnen nothwen- dig anzuerkennenden unkörperlichen Wesenheiten. Sie werden daher, mag dies auch im weiteren Verlaufe uns und ihnen selbst nicht ausreichen, keinen anderen Begriff aufstellen können, als dass alles dasjenige sei, was eine Kraft ist des 'Thuns oder Leidens 10) (c. 34).
10) Der Gang dieser Beweisführung gegen die ausschlielsliche Annahme materieller Wesenheiten ist im obigen streng nach Platons Worten bezeich- net, und wird verständlich sein, wenn man die Principien der Ideenlehre als anerkannt voraussetzt. Von den Vertheidigern des materiellen Seins wird angenommen, dass sie die sittlichen Unterschiede anerkennen (d. h. mit Den- kern, welche auch diese Unterschiede nicht anerkennen, geht Platon auf eine Discussion gar nicht ein); indem sie diese anerkennen, erkennen sie zugleich (vorausgesetzt nämlich die Giltigkeit der Principien der Ideenlehre) das Sein der Gerechtigkeit u. 5. f. an, müssen also einen solchen Begriff des Seins aufstellen, der zugleich auf das Materielle und auf diese geisti- gen Realitäten passt. — Dieser einfache Gang ist von Steinhart, Susemihl, Michelis in auffallender Weise verdeckt und verkannt. Steinhart 5. 454: „Der Materialist wird darauf hingewiesen, dass er oft genug von einer Seele und von allgemeinen Begriffen, wie Tugend, Vernunft, Gerechtigkeit rede und dadurch unbewusst und unwillkürlich das Dasein einer über die Kör- perwelt hinausliegenden, unsichtbaren Welt zugebe. Aber auch wenn er consequent genug wäre, die Seele für etwas Körperliches und ihre Begriffe und Vorstellungen für körperliche Affectionen und Stimmungen zu erklären, würde er doch den Begriff des Seins anerkennen müssen. Ein Sein aber kann niemand ohne eine Kraft sich denken, die bald als thätige Wirk- samkeit, bald als leidende Empfänglichkeit sich kundgibt.« Nicht weil er den Begriff des Seins anerkennen müsste, sondern weil er, der gemach- ten Voraussetzung gemäls, die Giltigkeit der sittlichen Begriffe, mit- hin ihre Realität anerkannte, darum muss er einen solchen Begriff des Seins aufstellen, dass sinnliche und geistige Realität gleich sehr unter ihn fällt. — Den gleichen Fehler, den Begriff der δύναμις zur Grundlage der Widerlegung der Atomisten zu machen, statt in ihm nach Platons Worten eine Folgerung aus den Zugeständnissen anzuerkennen, welche den Ato- misten zugeschrieben werden, scheint Deuschle zu begehen, wenn er (In- haltsübersicht vor der Übers. 8. 311) schreibt: „Nachweis, dass es unkör- perliche Objecte gibt, und zwar thatsächlich (Seele) und begrifflich aus dem Begriffe des Seins als δύναμις.“ — An der Darstellung von Michelis lässt sich der Widerspruch gegen die Worte Platons noch evidenter nachweisen, 8. 186: „Wir setzten sie also als solche, dass sie den Begriff der Seele und der Gerechtigkeit nicht leugnen, so dass, wenn sie auch die Seele noch nicht
SOPHISTES. 159
298 b) Die Freunde der Begriffe stellen Werden und Sein in scharfer Trennung einander gegenüber. Mit dem Werden sollen wir durch den Leib in Verbindung stehen, durch das Denken da- gegen mit der wahrhaften Wesenheit, die ewig unveränderlich ist. Nun kann aber unter der Gemeinschaft des Denkens mit dem unveränderlich Seienden nur gemeint sein, dass das Denken dasselbe erkenne, das Seiende erkannt werde. Erkennen ist eine Thätigkeit, also muss Erkanntwerden ein Leiden, ein Af- fieirtwerden sein. Es muss also dem Seienden Bewegung we- nigstens insofern, als es erkannt wird, zugeschrieben werden. Und kann man sich denn, lässt Platon den Eleatischen Gast aus- rufen, überhaupt überzeugen, dass Bewegung und Leben, Seele
299 und Verstand dem unbedingt Seienden nicht einwohne, son-
als etwas unkörperliches fassen, sie doch den Unterschied von gerecht und ungerecht anerkennend die Gerechtigkeit, durch Theilnahme an welcher die Seele gerecht ist, als etwas (also als etwas unsinnlich seiendes) anerkennen müssen. Dies zugebend oder doch wenigstens nicht zu leugnen vermögend, erscheinen sie allerdings schon sehr gebessert, gegenüber den eigentlichen Stammhaltern dieser Lehre, welche nur das sinnlich greifbare als real anerkennen. Aber auch diese müssen doch wenigstens die Kraft als etwas im sinnlichen wirkendes, also wirkliches anerkennen.“ Aber Platons Beweisführung hat keine Geltung für diejenigen, „welche nur das sinnlich greifbare als real anerkennen“, sondern Platon sagt ausdrücklich: εἰ γάρ τι zur σμιχρὸν ἐδψέλουσι τῶν ὄντων συγχωρεῖν ἀσώματον (nämlich das Sein der Gerechtigkeit u. 5. f.), ἐξαρχεῖ" τὸ γὰρ ἐπί τε τούτοις καὶ ἐπ᾿ ἐκείνοις ὅσα ἔχει σῶμα ξυμφυὲς γεγονός χτὰλ. — Am eigenthümlichsten Susemihl S. 298: „Den Materialisten zunächst wird der Mangel einer bewegenden oder wirkenden Ursache entgegengehalten. Dass sie mit den geistigen anch alle sittlichen Begriffe, Tugend und Laster, wegleugnen müssten, ist mehr ein Vorwurf als eine Widerlegung. Die letztere liegt vielmehr darin, dass es nach ihren Prämissen gar kein ζῶον geben kann, 246 E, d.h. dass ihnen die Thatsache des Lebens unerklärbar ist, weil das Körperliche doch nicht selbst der Grund dazu sein kann, dass es sowohl lebendige als leblose Kör- per gibt, sondern nur die Seele. Was über die sittlichen Begriffe gesagt wird, ist sodann nur eine weitere Folgerung hieraus. Da nun demnach so- wohl der Körper, das Belebte und Bewegte, als die Seele, das Belebende und Bewegende, unter das Sein gehört, so muss das letztere nothwendig sowohl die Möglichkeit des Leidens als die Kraft des Wirkens in sich tra- gen.“ In dieser Umschreibung ist Platons Gedankengang so sehr verkehrt, dass ich jedem Satze Susemihls das bisher Gesagte und vor allem Platons
eigene Worte entgegenstellen müsste, wenn ich eine Kritik unternehmen wollte.
160 SOPHISTES.
dern es in erhabener Heiligkeit ohne Geist unbeweglich stehe!) ? Man muss also das Bewegte und die Bewegung als seiend, das Seiende als bewegt!2) anerkennen. Aber dem Seienden Bewe- gung absolut, ohne das Gleichbleiben der Ruhe, zuzuschreiben, ist nicht möglich, weil dadurch die Möglichkeit der Erkenntnis des Seienden aufgehoben würde. Also da keine der beiden Be- stimmungen ausschlielslich dem Seienden zuzuschreiben ist, so bleibt nur die Annahme übrig, dass das Seiende ruhend und bewegt sei (c. 35).
3. Widersprüche in den über das Seiende gewon- nenen Ergebnissen (ec. 36).
Der Begriff des Seienden, zu dem wir hiermit gelangt sind, ist denselben Entgegnungen ausgesetzt, welche sich am Anfange der Darlegung der Philosopheme über das Seiende zeigten. Wir setzen Bewegung und Ruhe als seiend; damit kann nicht ge- meint sein, dass wir die Bewegung als Ruhe, die Ruhe als Be- wegung setzten, denn diese beiden sind einander entgegengesetzt; sondern wir setzen das Seiende als ein drittes, von Bewegung oder Ruhe verschiedenes. Das Seiende ist also seiner Natur nach weder in Ruhe noch in Bewegung. Aber wie soll man
1) In der obigen Umschreibung bin ich der in der Züricher und Her- mannschen Ausgabe durch die Interpunction: ἀλλὰ σεμνὸν χαὶ ἅγιον, νοῦν οὐχ ἔχον, ἀκίνητον ἑστὸς εἶναι bezeichneten Auffassung gefolgt, bei welcher durch die Epitheta σεμνός und ἅγιος die Bewegungslosigkeit scherzend und mit einer spottenden Beziehung auf die betreffende philosophische Schule als vornehme und erhabne Ruhe bezeichnet wird. (Vgl. Phädr. 275 D: δεινὸν γάρ που τοῦτ᾽ ἔχει γραφὴ χαὶ ὡς ἀληϑῶς ὅμοιον ζωγραφίᾳ. καὶ γὰρ τὰ ἐκείνης ἔχγονα ἕστηχε μὲν ὡς ζῶντα, ἐὰν δ᾽ ἀνέρῃ τι, σεμνῶς πάνυ σιγᾷ, und die zu σεμνός im Index Aristotelicus p. 676b 32 ff. nachgewiesenen Synonyma.) Ich verkenne jedoch nicht, dass die andere Auffassung (Bekker, Schleier- macher, Stallbaum), welche σεμνὸν χαὶ ἅγιον als Epitheta von νοῦν betrachtet, sich ebenfalls rechtfertigen lässt.
12) Diese letzteren Worte „das Seiende als ia sind in dem Plato- are Texte nicht ausdrücklich enthalten; dass Platon sie als in den vor- hergehenden schon mit ausgesprochen betrachtet, ersieht man aus dem fol- genden, worin ihr Inhalt unverkennbar vorausgesetzt wird. — Der Ver- muthung, welche Deufsen $. 48 u. 82. unter Zustimmung zu dieser Auffas- sung, daran des weiteren knüpft, dass in der Überlieferung des Textes etwas ausgefallen sei, kann ich mich, abgesehen von sonstigen Bedenken gegen eine solche Annahme, deshalb nicht anschlielsen, weil erst nachher p. 250 B, C diese andere Seite des Gedankenganges ausdrücklich entwickelt wird.
SOPHISTES. 161
sich das denken? denn was nicht in Bewegung ist, ist in Ruhe, was nicht in Ruhe, das ist in Bewegung.
Nachdem sich nun gezeigt hat, dass die begriffliche Be- stimmung des Seienden nicht geringeren Schwierigkeiten unter- liegt, als die des Nichtseienden, so ist: doch die Hoffnung ge- wonnen, dass in dem Mafse, als über das eine von beiden Einsicht erlangt ist, sei es bestimmte oder nur ungefähre, die- selbe sich auch auf das andere erstrecken wird (c. 36).
C. Die Gemeinschaft der Begriffe !3) untereinander (c. 36. Schl. — 47).
3. Aufgabe der Dialektik (c. 36 Schl. — 39).
In welchem Sinne, fragt sich, benennen wir dasselbe Ding mit verschiedenen Namen? — Wir legen demselben Dinge eine Mehrheit von Prädicaten bei und bezeichnen so das Eine doch
300 wieder als ein Vieles mit vielen Namen. Nur Beschränktheit 11) des Denkens hat dies verbieten können und fordern, dass jedes Ding nur sich selbst zum Prädicate erhalte, der Mensch nur als Mensch, das Gute als gut bezeichnet werde u. s. f. Um aber in dieser Frage zu einer allgemeinen Entscheidung zu gelangen, muss untersucht werden, welcherlei Gemeinschaft unter den Be- griffen besteht. Die Gemeinschaft absolut zu leugnen, ist nicht möglich, da wer sie leugnet, doch in seinen sonstigen Voraus- setzungen, ja selbst eben in dieser Leugnung der Gemeinschaft, nothwendig das Sein mit anderen Begriffen verbindet. (251 C — 252 D.) Will man dagegen alle Begriffe beliebig unter einander Verbindungen eingehen lassen, so muss man auch entgegen- gesetztes von einander aussagen, dass die Bewegung ruhe, die Ruhe bewegt sei. (252 1), E.) Es bleibt. also nur die Annahme übrig, dass in Betreff der Gemeinschaft der Begriffe ein Unter- schied unter den Begriffen bestehe, dass also gewisse Begriffe mit gewissen anderen Verbindungen einzugehen geeignet seien, mit anderen nicht. Dies zu erkennen und zu unterscheiden, ist
13) Die Übersetzung von yevn durch „Begriffe“ (Gattungen, Arten) ist gewählt, um der Erklärung nicht schon vorzugreifen. Dass unter γένη Ideen im Platonischen Sinne des Wortes verstanden sind, ist hernach zu erweisen versucht S. 183 ff.
14) Die πενία περὶ φρόνησιν erinnert lebhaft an das Beiwort ἀπαίδευτοι, welches Aristoteles Met. H. 3, 1043 b24 den Antistheneern gibt.
Bonitz, Platonische Studien. 11
162 SOPHISTES.
#
"Aufgabe einer Wissenschaft (τέχνη), der Dialektik, begrifflich die Gattung in ihre Arten zu theilen und weder dasselbe als ver- schieden zu setzen noch umgekehrt'5). Wir sind hiernach zu 301
15) Die hierauf in den Worten Οὐκοῦν ὅ γε τοῦτο δυνατὸς --- χατὰ γένος ἐπίστασϑαι 253 1), E folgende genauere Beschreibung der Aufgabe der Dialektik habe ich absichtlich unterlassen in einer auszugsweisen Umschreibung wieder- zugeben, weil ich eine Erklärung, die den Worten Platons vollkommen ge- recht würde und zugleich den Gedanken zu evidenter Klarheit brächte, nicht gefunden habe. Man wolle die verschiedenen Erklärungen vergleichen bei Schleiermacher und Stallbaum z. ἃ. St.; an Stallbaums „vortreffliche und sachgemälse Erklärung“ schliefst sich Susemihl an, S. 305; ob Michelis $S. 188 derselben folgt oder nicht, weils ich nicht sicher anzu- geben; auch die Weise, wie Deuschle (Übers. 5. 388, Jahnsche Jahrb. 71, S. 763, vgl. ebend. 77, S. 731 ff.) die vier Glieder auf zwei redueirt, ist mir nicht klar geworden; einen von allen abweichenden Weg schlägt Steinhart ein, S. 459 ἢ. — Schleiermacher ist so aufrichtig, unter vollständiger Dar- legung der Motive seiner Erklärung zugleich zu bemerken, dass sie ihn nicht vollkommen befriedige und worin noch eine Schwierigkeit ungelöst bleibe; Stallbaum ist seiner Erklärung vollkommen sicher. „Ita igitur huic loco, qui acutissimis viris ad interpretandum visus est longe difficillimus, tandem lucem suam affudisse videbimur.“ Und doch sind die Worte μίαν αὖ dr ὅλων πολλῶν ἐν ἑνὶ ξυνημμένην, welche Schleiermacher mit Recht als den Sitz der haupt- sächlichen Schwierigkeit bezeichnet hat, durch Stallbaum eben so wenig zur Klarheit gebracht. — Dass durch die ersten beiden Glieder die Unterordnung der Artbegriffe unter ihren Gattungsbegriff bezeichnet ist, kann keinem Zwei- fel unterliegen. Ob darin freilich vollkommen dasselbe, nur einmal nach der Richtung des Absteigens, dann nach der des Aufsteigens, oder ob doch noch ein gewisser Unterschied gemeint ist, wird sich schwer entscheiden lassen: die Wahl der Ausdrücke πάντη διατεταμένην und ἔξω ϑεν περιεχομένας deutet wohl auf einen Unterschied. Es ist möglich, dass Platon die Unter- ordnung der Artbegriffe unter ihren Gattungsbegriff einerseits und die Ver- bindung jedes Begriffes mit dem des Seins anderseits als einander nicht vollkommen gleichzusetzend betrachtete, und das eine Glied diesem, das andere jenem zur Beschreibung dienen sollte; nur ist beides, die vermuthete Verschiedenheit der Verhältnisse und ihre Beschreibung, so unbestimmt, dass man mit mälsiger Kunst der Deutung jedes der beiden Verhältnisse jeder der beiden Beschreibungen wird anpassen können. Durch das vierte Glied ist unzweifelhaft der vollkommen trennende Gegensatz (χωρὶς πάντη διωρισμένας) bezeichnet, z. B. στάσις χίνησις, ταὐτὸν ϑάτερον. Für das dritte Glied aber wird sich eine ausreichende Deutung schwerlich finden lassen, wenn man nur auf die allgemeinen logischen Beziehungen das Augenmerk richtet und nicht vielmehr das im folgenden behandelte specielle Beispiel der fünf besonders wichtigen Begriffe schon mit in Rechnung bringt, nur vielleicht in etwas anderer Weise, als Schleiermacher es bereits unternommen hat. Der Begriff der Selbigkeit erstreckt sich über oder durch die Gesammt-
30
τῷ
SoPHIsTES. 163
dem Begriff des Philosophen gelangt, statt zu dem des Sophi- sten; beide sind gleich schwierig zu finden; wie der eine in den Glanz des Seienden, so versteckt sich der andere in das Dunkel des Nichtseienden.
2. Dialektische Untersuchung der Begriffe Seien- des, Ruhe, Bewegung, Selbiges, Verschiedenes (e. 40 —44 Anfg.).
Da also einige Begriffe mit einander in Gemeinschaft zu treten geeignet sind, andre nicht, so wollen wir diese Gemein- schaft untersuchen, nicht in Betreff aller Begriffe, sondern in Betreff einiger der höchsten. Als solche zeigten sich im vorigen die Begriffe: das Seiende, die Ruhe, die Bewegung. Ruhe und Bewegung sind mit einander unverbindbar, das Seiende aber geht mit jedem der beiden die Verbindung ein. Jeder der drei Begriffe, sich selbst identisch, ist von den anderen verschieden. Die hierbei zur Anwendung gekommenen Begriffe der Selbigkeit und der Verschiedenheit fallen mit keinem der bisher angewen- deten zusammen. Der Versuch, die Begriffe der Selbigkeit und der Verschiedenheit mit denen der Ruhe und der Bewegung zu identificiren, führt zu der Consequenz, dass die Bewegung Ruhe, die Ruhe Bewegung ist (255 A, B). Wollte man aber den Begriff der Selbigkeit als identisch dem des Seienden setzen, so würde daraus folgen, dass man Bewegung und Ruhe, wie man beide als seiend bezeichnet, so beide als selbig zu bezeichnen hätte 10). Wollte man dagegen den Begriff der Verschiedenheit für iden-
heit der Begriffe in ihrer Vielheit (δι ὅλων πολλῶν), blidet aber nicht eine Umschliefsung derselben (ἔξωϑεν περιεχομένας) und erstreckt sich über sie nicht in jeder Hinsicht (πάντη διατεταμιένην), sondern ist eben nur mit jedem einzelnen verknüpft (ev ἑνὶ ξυνημμένην), jeder ist sich selbst identisch. — Neuerdings hat Peipers (Die Erkenntnisstheorie Platons, ὃ. 612 ff.) die frag- liche Stelle ausführlich behandelt. Obgleich A. Hirzel in der Recension von Peipers’ Buche (Jenaische Lit. Ztg. 1875, S. 470) versichert, dass „die treffende Erklärung allem bisherigen confusen und gekünstelten Gerede ein Ende mache“, so finde ich mich doch durch dieselbe über die wesentlichsten Schwie- rigkeiten nicht aufgeklärt.
16) 255 B: ᾿Αλλ᾽ εἰ τὸ ὃν χαὶ τὸ ταὐτὸν μηδὲν διάφορον σημαίνετον, κίνησιν αὖ πάλιν χαὶ στάσιν ἀμφότερα εἶναι λέγοντες ἀμφότερα οὕτως αὐτὰ ταὐτὸν ὡς ὄντα προσεροῦμεν. Selbst alle Voraussetzungen Platons zugestanden, scheint diese Beweisführung nicht giltig; es wird eben jedem einzelnen der beiden der
δ᾽
Begriff des Seins und der Begriff der Selbigkeit beigelegt. 116?
104 SoPHISTES.
tisch mit dem Seienden halten, so würde, da Verschiedenheit immer die Relation zu einem anderen erfordert, sich daraus er- geben, dass auch das Seiende alles relativ sei, während doch von dem Seienden einiges an sich, anderes relativ ist. Also als vierter und fünfter Begriff ist Selbigkeit und Verschiedenheit hinzuzunehmen; jedes Seiende ist verschieden 'von dem anderen nicht durch seine Natur, sondern durch Theilnahme an dem Begriff der Verschiedenheit {c. 40). — Betrachtet man nun von diesen fünf Begriffen einen nach dem andern, so ergibt sich folgendes. Die Bewegung ist verschieden von der Ruhe, sie ist nicht Ruhe, aber sie ist, durch Theilnahme an dem Seienden. Sie ist verschieden von dem Selbigen, ist nicht das Selbige, hat aber, insoferne sie sich selbst gleich ist, Theil an dem Selbigen. Es würde nach der Analogie dieser Ergebnisse nicht einmal auffallen können, wenn die Bewegung in gewissem Sinne als ruhend und theilnehmend an der Ruhe zu bezeichnen wäre 17). Ferner, die Bewegung ist verschieden von der Verschiedenheit, aber hat doch in gewissem Sinne Theil an ihr. Endlich, als vom Seienden verschieden ist die Bewegung nicht seiend, und doch wieder theilnehmend am Seienden, also seiend. Jedem Begriffe kommt also ein zahlreiches Seiendes und eine unendliche Menge des Nichtseienden zu. Das Seiende selbst ist in so vielfacher Weise nicht seiend, so vieles Anderes es gibt. Das Nichtseiende ebenso wie das Nichtschöne, Nichtgerechte, bedeutet eben nur den Unterschied eines Seienden gegen ein andres Seiendes, und ist mithin selbst eine in die Menge des Seienden einzurechnende Art!S). Im Gegensatze zu dem Verbote des Parmenides ist nicht blols das Sein des Nichtseienden anzuerkennen, sondern auch
τὸ Obgleich Platon übrigens den einander entgegengesetzten Begriffen (γένη) die gegenseitige Gemeinschaft (χοινωνία) abspricht, so ergibt sich doch dieselbe z. B. für χίνησις und στάσις mittelbar als Folgerung daraus, dass das Seiende mit jedem der beiden in Gemeinschaft steht. Unverkennbar ist die Rückbeziehung der vorliegenden Stelle auf 259 Ο, D Τῷ δὴ φιλοσόφῳ — Euvan- φότερα λέγειν. — Deulsen $. 55 u. 92 zieht diese Auffassung der fraglichen Worte 256 Β Οὐκοῦν χἂν εἴ πῃ μετελάμβανεν χτὰ. in Zweifel, ohne jedoch eine abweichende Erklärung mit Sicherheit aufzustellen.
18) 258 C: ὥσπερ τὸ μέγα ἣν μέγα al τὸ καλὸν ἦν καλὸν χαὶ τὸ μὴ μέγα μὴ μέγα καὶ τὸ μὴ χαλὸν μὴ καλόν, οὕτω δὲ zul τὸ μὴ ὃν κατὰ ταὐτὸν ἦν τε καὶ ἔστι μιὴ ὄν, ἐνάριϑμιον τῶν πολλῶν ὄντων εἶδος ἕν.
303
SOPHISTES. 165
sein Begriff festzustellen, dass es nämlich die Verschiedenheit von Seiendem gegen Seiendes ist. Indem also jedes Seiende vieles ist und vieles nicht ist, so darf man weder seine Freude daran haben, demselben Seienden entgegengesetzte Prädicate zu geben, noch auch durch solche Beilegung entgegengesetzter Prädicate schon einen Satz als unmöglich erwiesen zu haben glauben, sondern muss zu unterscheiden suchen, in welcher Hin- sicht demselben Seienden entgegengesetztes beigelegt wird. Jede Gemeinschaft aber der Begriffe untereinander abschneiden zu wollen, hiefse die Möglichkeit der Rede überhaupt aufheben (6. 41 — c. 44 Anfg.).
3. Das Nichtseiende tritt mit der Rede und Mei- nung in Gemeinschaft (c. 44—47).
Hierdurch ist der Übergang!®) dargeboten, um zur Rede (Aussage, logischem Urtheil, λόγος) überzugehen. Auch die Rede ist ja eine der Gattungen des Seienden; die vorher geführte Untersuchung ist also auch auf die Rede auszudehnen, und wenn vorher das Nichtseiende sich als über alles Seiende ausgebreitet erwies, so fragt sich nun, ob es auch mit der Rede und Meinung _ (Ansicht, δόξα, Vorstellung, φαντασία) in Verbindung tritt. Denn da das Sein des Nichtseienden im allgemeinen erwiesen ist, der Irrthum aber in der Rede und Meinung darin liegt, dass Nicht- seiendes als seiend ausgesagt wird und umgekehrt, so liefse sich die Wirklichkeit des Irrthumes nur dann noch bestreiten, wenn die Gemeinschaft des Nichtseienden mit der Rede könnte ge- leugnet werden. Um hierüber zur Entscheidung zu gelangen, ist zunächst das Wesen der Aussage, des logischen Urtheiles, zu bestimmen. Nicht der einzelne Begriff an sich, auch nicht die Aufeinanderfolge von Begriffen der 'Thätigkeit oder von Be- griffen der Subjecte der Thätigkeit ergibt eine Aussage, sondern diese entsteht erst durch Verbindung eines Begriffes der Thätig- keit mit dem eines Subjectes derselben; also grammatisch: erst die Verbindung eines Verbums mit einem Nomen ergibt einen Satz. Jeder Satz ist Aussage über irgend etwas?%). Dass durch
19) Die Absicht des Überganges zu einer relativ verschiedenen Ge- dankenreihe ist durch den Ausdruck 260 A σχόπει τοίνυν ὡς ἐν χατρ ᾧ χτλ. deutlich bezeichnet.
20) Die Erklärung, dass auch die falsche Aussage doch Aussage über ein
100 SOPHISTES.
den Satz sowohl Seiendes wie Nichtseiendes als seiend einem 39 Subjeete kann beigelegt werden, wird nachgewiesen an der Gegenüberstellung der beiden Beispiele: 'Theätetos sitzt, Theätetos fliegt. Auch der letztere Satz ist Aussage über ein bestimmtes Etwas, aber er sagt von ihm das Nichtseiende als seiend aus. Ist hierdurch die Wirklichkeit des Irrthumes in der Rede nach- gewiesen, so ergibt sich die gleiche Folgerung für das Denken als ein inneres Reden ohne Sprache, für die Meinung als die abschliefsende Bejahung oder Verneinung in diesem innerlichen Reden, und für die Vorstellung als die mit Wahrnehmung ver- bundene Meinung. Nachdem aber die Wirklichkeit des Irrthums auf diesen Gebieten sichergestellt ist, so sind damit die Schwie- rigkeiten gehoben, welche vorher der Definition des Sophisten entgegenstanden; zu ihrem Abschlusse wird also nunmehr aus- drücklich zurückgelenkt.
I. Abschluss der Definition des Sophisten (ce. 48—52).
Der Versuch einer Definition des Sophisten war abgebrochen worden, als man bis dahin gelangt war, dass der Sophist eine Kunst des Hervorbringens entweder von Ebenbildern oder von Trugbildern übe, die-Möglichkeit aber eines Ebenbildes oder eines 'Trugbildes in Zweifel gezogen wurde. Diese Möglichkeit ist jetzt sichergestellt: es kann also durch weitere Theilung die specifische Eigenthümlichkeit des Sophisten bestimmt werden. Vorher war, nach allgemeiner Theilung der Kunst in schöpferische und in erwerbende, der Sophist der letzteren eingeordnet wor- den. Jetzt soll, da der Sophist in den Umfang der nachahmen- den Kunst fällt, die hervorbringende, schöpferische Kunst ein- getheilt werden. Sie ist entweder eine göttliche oder eine menschliche, und jede derselben wiederum entweder ein Hervor- bringen von den Dingen selbst oder von Abbildern. Die mensch- liche bilderschaffende Kunst, in deren Bereich der Sophist fällt,
bestimmtes Etwas ist (263 C: Ἔπειτα δέ ye τινός. — Οὕτως. — Εἰ δὲ μὴ ἔστι σός, οὐχ ἄλλου γε οὐδενός), ist gegen den Satz des Antisthenes gerichtet, dass die falsche Aussage gar keinen Gegenstand habe, auf den sie sich be- ziehe (Zeller, Philos. d. Gr. 2. Aufl. II, 5. 213),. wie wir denselben den Streitkünsten des Euthydemos im gleichnamigen Dialoge c. 12 und 14 zu Grunde liegen sehen.
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schafft entweder Ebenbilder oder 'Trugbilder — denn die Wirk- lichkeit auch dieser letzteren ist nunmehr aulser Zweifel. Von dieser trugbildnerischen Kunst übt der Sophist diejenige Art aus, bei welcher der Nachahmer selbst das Organ der Nachahmung ist; er übt dieselbe aus nicht auf Grund eines wirklichen Wissens
305 des Gegenstandes, den er nachahmt, sondern nur in unsicherer Meinung darüber, nicht in einfältiger Voraussetzung eines solchen Wissens, sondern seine Unwissenheit selbst vermuthend, nicht vor dem Volke in langen Reden, sondern vor dem einzelnen in kurzer Rede und Gegenrede, den Unterredner in Widersprüche mit sich selbst verwickelnd. Die Zusammenfassung der auf diese Weise gewonnenen Merkmale ergibt den Begriff des So- phisten.
Zur Rechtfertigung der bezeichneten Gliederung.
In dem Dialoge Sophistes nimmt die Gesprächsform eine noch erheblich untergeordnetere Stellung ein als im 'T'heätetos, zu welchem derselbe durch die Wahl der Unterredner und durch die ausdrücklichen Bemerkungen am Schlusse des T'häetetos und im Anfange des Sophistes in nahe Beziehung gebracht ist. Nicht genug, dass durch den ganzen Dialog, mit Ausschluss der weni- gen, einer Begrülsung des Eleatischen Gastes und dem Aufstellen der zu behandelnden Frage gewidmeten einleitenden Worte (6. 1—2), die beiden Unterredner ununterbrochen dieselben blei- ben, ohne dass Sokrates, der die Frage aufgeworfen, auch nur am Schlusse das vollständige Gelingen der Beantwortung con- statirte: die Gesprächsform wird selbst ausdrücklich als etwas gleichgiltiges bezeichnet, 217 C. Wir können daher für Auf- findung der dem Ganzen zu Grunde liegenden Gliederung in der Form des Dialoges als solcher Andeutungen, wie andere Pla- tonische Dialoge uns deren reichlichst geben ?!), nicht erwarten, sondern wir sind hierfür, trotz der dem Werke äufserlich an-
21) Wie sehr die Beachtung der verschiedenen Kunstmittel des Gespräches zum Auffinden der Gliederung in solchen Schriften Platons beiträgt, die im vollen Sinne des Wortes Dialoge sind, ist in der Abhandlung über den Dialog Gorgias 8. 15 ff. nachgewiesen.
108 SOPHISTES.
haftenden Gesprächsform, ausschliefslich auf diejenigen Kenn- zeichen angewiesen, die sich auch bei der Form der Abhandlung finden würden. Solcherlei Zeichen der Gliederung sind inner- halb des Dialoges Sophistes in einer Deutlichkeit und Ausdrück- lichkeit angewendet, dass es an sich genügen würde, in der obigen Angabe des Gedankenganges zugleich der Gliederung durch äufsere Abtheilungen und Überschriften einen bestimmten Ausdruck gegeben zu haben; dennoch dürften einige Worte zur Rechtfertigung erforderlich sein, damit die Abweichung der im obigen angegebenen Gliederung von derjenigen, die Steinhart und Susemihl bezeichnen, nicht als zufällig oder willkürlich erscheine.
Dass der Dialog Sophistes sich in zwei Hauptmassen scheidet, gleichsam eine umschliefsende Schale und einen eingeschlossenen Kern, diese bei dem Anblicke des Werkes sich unmittelbar auf- dringende Bemerkung wiederholt sich, nachdem sie einmal durch Schleiermacher ihren präcisen Ausdruck erhalten hat, in jeder Einleitung zu dem Dialoge??). Mit dieser durchaus sach- gemälsen Bezeichnung der Disposition ist es aber nicht in vollem Einklange, wenn dann dennoch von Steinhart und Susemihl fünf Abschnitte wie coordinirt aufgezählt werden; durch diese blofse Nebeneinanderstellung verdunkelt sich wenigstens die Erinnerung daran, dass unter diesen, nur nach der äufseren Succession ge- zählten Abschnitten der erste mit dem fünften einerseits, der zweite, dritte und vierte zusammen anderseits je einen Haupt- theil der gesammten Abhandlung bilden. Übrigens beginnt der zweite, abschliefsende Theil der umschliefsenden Abhandlung, also nach der Steinhart-Susemihlschen Ausdrucksweise der fünfte Abschnitt des Dialoges, mit c. 48. 264 C, nicht, wie Susemihl
22) Schleiermacher II, 2 (3. Aufl.), 5. 87—89, Steinhart $. 436, Suse- mihl S. 286. Steinhart erinnert a. a. Ὁ. an die in den „Dialogen der ersten Reihe“ häufig ersichtliche Zweitheilung des Ganzen, und bezeichnet die Eigen- thümlichkeit, dass der eine der beiden Theile den andern umschlielst, als etwas jenen gegenüber neues. Diese Bemerkung ist nicht durchaus wahr; denn analysirt man den Euthyphron aufmerksam, so wird man auch in ihm den einen der beiden Haupttheile von dem andern umschlossen finden; das Verkennen dieses Momentes in der Construction des Dialogs hat zu manchen Unrichtigkeiten in der Auffassung des Ganzen Anlass gegeben.
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(5. 308 f.) angibt, mit 260 A (ὁ. 44; in der obigen Inhalts- angabe II, C, 3). Die Schwierigkeit den Sophisten zu definiren ergab sich daraus, dass Täuschung und Iırthum als Merkmale in seine Definition aufgenommen werden sollten, und doch die Möglichkeit des Irrthums in Zweifel gezogen wurde; dieser Zweifel ferner entstand daher, weil die Annahme der Wirklich- keit des Irrthums auf die weitere Voraussetzung führte, dass das Nichtseiende sei. Diese gegen die Definition des Sophisten sich erhebende Schwierigkeit ist nun dadurch noch nicht vollständig gelöst, dass das Sein des Nichtseienden (260 A), sondern erst 307 dadurch, dass die Möglichkeit und Wirklichkeit des Irrthums nachgewiesen ist (c. 47 Schl. 264 C). Platon selbst bezeichnet mit den ausdrücklichsten Worten, dass erst mit c. 48. 264 © die bis zu jenen Schwierigkeiten geführte Aufgabe der Begriffs- erklärung wieder aufgenommen wird. Der über das Sein des Nichtseienden im allgemeinen geführte Beweis würde, erklärt Platon selbst 260 E, dem Sophisten immer noch einen den Ab- schluss der Definition unmöglich machenden Ausweg lassen ; dieser ist erst durch die Erörterung über die Wirklichkeit des Irrthums abgeschnitten ; erst nach Beendigung dieser Nachweisung erklärt Platon, dass die erforderliche Untersuchung abgeschlossen sei und der vorher abgerissene Faden des Definitionsversuches wieder angeknüpft werde, 264 Ὁ: ἐπειδὴ nEpyavrar?) ταῦτα, τῶν ἔμπροσϑεν avauynod@pev xar εἶδος διαιρέσεων. Der Haupt- einschnitt also, welchen Susemihl bei 260 A setzt, ist, als Platons deutlich bezeichneter Absicht widersprechend, zu ver- werfen. In der ersten Hälfte des umschliefsenden Theiles der Ab- handlung, c. 3—23, oder wenn man die beispielsweise Durch- führung einer anderen Definition davon abscheidet, e. 8—23, ist von Steinhart, Susemihl, Michelis eine durch Platon bestimmt bezeichnete, von Schleiermacher bereits richtig erkannte und angezeigte?!) Unterscheidung zweier Hauptabschnitte übersehen.
28) Man vergleiche hiermit noch 264 D: νῦν δέ γ᾽ ἐπειδὴ πέφανται μὲν λόγος, πέφανται δ᾽ οὖσα δόξα ψευδής χτλ.
24) Schleiermacher II, 2. (3. Aufl.) S. 88. „— — wie er dann auch zuletzt, wo der Gegenstand richtig und erschöpfend dargestellt wird, nicht mehr so vom Allgemeinen, sondern von einer bestimmten Anschauung ausgeht.“
170 SOPHISTES.
Es werden nämlich zuerst Definitionen des Sophisten hergestellt durch die Methode des dichotomischen Herabsteigens in den Um- fang des Begriffes, indem man dem allgemeinen Begriffe kunst- mälsiger Beschäftigung auf diesem Wege successiv bestimmende Merkmale hinzufügt. Es wird sodann zweitens eine Definition des Sophisten gesucht, indem von einem einzelnen charakteri- stischen Merkmale des Sophisten ausgegangen wird und aus ihm weitere Folgerungen entwickelt werden: der unbegrenzte Umfang von Gegenständen, über welche der Sophist streitet und streiten lehrt, mache es undenkbar, dass der Sophist über alle ein wirk- liches Wissen besitze u. 5. f£ Man würde in dieser evidenten Verschiedenheit der Methode, selbst ohne eine sonstige ausdrück- liche Andeutung Platons, ein Hindernis finden müssen, die auf dem ersteren Wege gefundenen Erklärungen mit der auf dem zweiten Wege begonnenen auf gleiche Linie zu stellen; aber Platon lässt es, wie er ja in diesem ganzen Dialoge das Gerüste der Disposition mit einer fast zudringlichen Deutlichkeit vor Augen stellt, an bestimmten Anzeichen der Unterscheidung nicht fehlen. Die sämmtlichen nach der ersteren Weise gefundenen Definitionen, deren Platon an dieser Stelle®) sechs zählt, wer- den der Reihe nach recapitulirt c. 19, schon an sich ein deut- liches Zeichen für den Abschluss einer Gedankenreihe. Nicht genug, Platon weist sodann darauf hin, die Menge und Ver- schiedenheit der so gefundenen Definitionen zeige uns, dass wir das Wesen, den eigentlichen Einheitspunet der Sophistenkunst nicht aufgefunden haben. Das Bewusstsein der Ungewissheit wird noch dadurch erhöht, dass die zuletzt gefundene Definition, gefunden mit vollkommen denselben Mitteln wie die vorher- gehenden, offenbar nicht den Sophisten traf, sondern sein edles Gegenbild, den Philosophen). Es ist also auf dem Wege der Nicht übersehen ist diese Bemerkung Schleiermachers von Deuschle in der Inhaltsübersicht vor seiner Übersetzung S. 309 f.; inwiefern sich die hier gegebene Auffassung des Gegensatzes der zweiten Definitionsweise gegen die erste von der dort von Deuschle angedeuteten unterscheidet, ist aus den Worten des Textes zu ersehen.
35) Dagegen beweist τέταρτον 225 E, dass er dort die beiden Definitionen des Sophisten als χάπηλος und als αὐτοπώλης unter einer einzigen Nummer gezählt hat.
2) Wenn Platon nicht mit einer Sylbe angedeutet hätte, dass die c. 13—18
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300 Dichotomie eine sichere Definition des Sophisten nicht gewonnen; die Überzeugung von der Sicherheit ist nicht nur dadurch ab-
entwickelte Definition nicht den Sophisten treffe, sondern den Philosophen, so müsste doch schon der flüchtigste Gedanke an den Zusammenhang inner- halb desselben Dialogs unzweifelhaft zu dieser Überzeugung führen. Platon definirt an der bezeichneten Stelle eine Beschäftigung, für welche ὁ περὶ τὴν μάταιον ὃ οἕ οσοφίαν γιγνόμενος ἔλεγχος (231 B) Aufgabe ist; dagegen bildet in der endgiltigen Definition des Begriffes des Sophisten δόξα in verschiedener Form des Ausdruckes stets ein entscheidendes Moment der Charakteristik : der Sophist ist δοξομιμητῆς 267 E, besitzt eine So&aotınn 268 C, 233 C, δοξομιμιητικὴ τέχνη 267 E. Eine Geistesthätigkeit, welche darauf ausgeht, die δοξοσοφία zu entfernen, kann Platon mit derjenigen, welche darauf bedacht ist sie herzustellen, unmöglich gleichsetzen wollen. Man ver- gleiche ferner, wie genau die Beschreibung, welche Platon ce. 17. 230 B-E gibt, mit der Schilderung der Thätigkeit des Sokrates zusammenstimmt, wie wir dieselbe oft genug bei Platon, z. B. in der Apologie, im Theätetos, lesen: man wird mehr als Ähnlichkeit, man muss vollkommene Identität der beiderseitigen Darstellungen anerkennen. — Aber trotz dieser Deutlichkeit der Sache selbst überlässt Platon das Erkennen des Unterschiedes nicht der Combination des Lesers, sondern gibt die ausdrücklichsten Weisungen, dass die zuletzt gewonnene Definition gar nicht den Anspruch machen kann, sich auf das Wesen des Sophisten zu beziehen. Ich trage Bedenken, sagt der Eleatische Gast, die Männer der so eben beschriebenen Beschäftigung Sophisten zu nennen; eine Ähnlichkeit darf uns dabei nicht irre führen, das Wildeste sieht oft dem Zahmsten ähnlich, und gerade bei derlei Ähnlichkeiten ist die gröfste Vorsicht erforderlich, 231 A. Und wiederum bei der Recapitulation wird diese Definition, insofern sie den Sophisten treffen soll, ausdrücklich als noch in Frage gestellt, ἀμφισβητήσιμος, bezeichnet, 231 E. — Ich musste auf diese, dem Leser sich von selbst darbietenden Momente so ausführlich hinweisen, weil in merkwürdiger Übereinstimmung Steinhart, Susemihl, Deuschle, Michelis bemüht sind, auch die fragliche Definition in Platons Sinne auf den Sophisten zu beziehen. Steinhart 5. 437: „— — worauf die vierte Definition, in welcher ihm die Sphäre der Befreiung der Seele von der Unwissenheit, durch Widerlegung ihrer gedankenlosen Vorstellungen und durch das damit verbundene Gefühl der Beschämung und Verwirrung angewiesen wird, uns dicht an die schmale Grenzlinie hinanführt, welche das Reich der Philosophie von dem der Sophistik scheidet.“ 8. 444: „Die vierte Definition bezeichnet ganz genau den Punct, wo die echte und falsche Dialektik, die Gebiete des Sophisten und Philosophen, sich am nächsten berühren und nur noch durch eine schmale Grenzlinie von einander getrennt sind.“ Eine Vorbereitung zu den in diesen Worten aus- gesprochenen Gedanken ist es, dass dem Sokrates selbst, insofern er zu dem beschämenden Bewusstsein der Unwissenheit, des blo[sen Meinens führt, ein „sophistisches Element“ zugeschrieben wird, 8. 420, während doch wieder die Sophistik in dieser Thätigkeit ‚ihren Berührungspunet mit der wahren
172 SOPHISTES.
geschnitten, dass sich eine Mehrheit von Definitionen ergab statt der nothwendigen Einheit, sondern auch dadurch, dass der wich- tigste Gegensatz, der des Sophisten zum Philosophen, bei dieser Weise der Forschung sich versteckte. Wir wollen nun nicht, lässt Platon den Eleaten sagen, durch Trägheit es uns wider- fahren lassen, dass uns die Wesenserklärung des Sophisten ent- ginge; lass uns vielmehr eines von den Merkmalen des Sophisten wieder vornehmen, welches offenbar ihn charakterisirte, ἕν γάρ τί wor μάλιστα χατεφάνη αὐτὸν μηνῦον 232 B. Der nunmehr einge- schlagene Weg ist also nicht nur an sich ein anderer, sondern wird durch die bisher berührten Andeutungen von Platon selbst als ein von dem ersten verschiedener bezeichnet?). Zur
Philosophie“ haben soll, S. 431. — Fast mit denselben Worten finden wir dieselben Gedanken von Susemihl wiederholt, wenn in der fraglichen Definition „die stärkste Annäherung zwischen Sophisten und Philosophen“ sich finden soll, S. 292, und „eine wahrhaft philosophische Sophistik und Antilogik, welche durch die Aufdeckung von Antinomien blofs die Lö- sung derselben unternimmt, anerkannt wird“, S. 310. Dasselbe scheint, schon nach dem Anklange an die zuletzt angeführten Worte, Deuschle zu meinen, Einl. zur Übers. 5. 308. — Nicht ganz in dieser sicheren Be- stimmtheit, aber unter sichtbarem Einflusse der so eben angeführten Äufse- rungen spricht sich Michelis über denselben Punct aus, S. 184: „Auch dieses Geschäft“ (nämlich von der falschen Einbildung eines Wissens zu be- freien) „trifft nun freilich bei dem Sophisten zu, obgleich der Eleat nur mit Widerstreben den Sophisten als den Elenktiker und Reiniger der Seele von der Scheinweisheit darstellen kann.“ Und etwas später, ὃ. 193, ent- schliefst sich Michelis nur dazu, zu erklären, dass diese Definition „eigent- lich aufserhalb des Begriffes des Sophisten steht“ u. 5. w. Man sieht, die Zuversicht zu der Richtigkeit der Steinhart-Susemihlschen Auffassung ist hier wankend geworden, aber eine davon abweichende Ansicht versteckt sich noch schüchtern. Darum dürfte es nicht überflüssig erscheinen, für die entgegen- gesetzte Überzeugung, die man schon von Schleiermacher ausgesprochen finden kann (I, 2. 5. 59, 3. Aufl.), die Beweise ausgeführt zu haben. Dass sich diese Auffassung in den Zusammenhang des ganzen Dialogs trefi- lich fügt, ist oben im Texte nachgewiesen.
27) Deulsen stellt in Abrede, dass mit Cap. 20 ein anderes, von den bisherigen Definitionsversuchen verschiedenes Verfahren eingeschlagen werde, vielmehr finde sich dasselbe schon in der sechsten Definition, vgl. a. a. O. S. 19. „sicut enim in definitione sexta a domesticis quibusdam negotiis 226 B ad διαχριτιχήν ascendebatur, deinde ab hac per χαϑαρτιχήν aliaque deinceps membra ad germanum illum sophistam descendebatur, eodem modo in septima ab arte 'contradicendi sine cognitione’ ascenditur ad εἰδωλοποιιχήν. 235 B seu νιμητυκήν 235 C, deinde vero hospes iam ad sophistam descensurus iamque
ΝΣ
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Bestimmung des Werthes, den zur Verständigung über die De- finition eines noch Zweifeln unterworfenen Begriffes die dicho- tomische Methode für Platon habe, gibt der Verlauf des Dialogs selbst Grundlagen. Denn die sämmtlichen durch die Methode der Dichotomie hergestellten Definitionen verlaufen erfolglos, dagegen gibt der auf dem anderen Wege unternommene Versuch der Begriffserklärung den Anlass zu weiter eingehenden Unter- suchungen über das Nichtsein, das Sein und die Begriffsver- bindungen, und erst nachdem die nach der zweiten Methode gesuchte Definition bereits zu einem bestimmten Abschlusse ge- langt ist, wird der Gedanke wieder aufgenommen, sie durch Dichotomie in ein allgemeines System von Begriffen einzuord- nen. — Hierzu kommt nun, dass Platon in der Ausführung der dichotomischen Methode für das Aufsuchen der Definition un- verkennbar reichlichen Scherz treibt. Auf mancherlei einzelne
de eo triumphaturus 235 CO, dum dubitat, utri εἰδωλοποιιχῆς parti, εἰκαστιχῇ an φανταστιχῇ illum subdat, subito 236 C circumfunditur tenebris“ etc. Diese Zusammenstellung halte ich nicht für zutreffend. In der sechsten Definition wird von einer umfangreichen Beschäftigung ausgegangen, der Reinigung, und dieser der Sophist eben so untergeordnet, wie in den vorhergehenden Fällen der Erwerbkunst, der Jägerkunst u. a. m. Bei dem neuen Definitions- versuche dagegen wird zuerst das eigenthümliche Wesen des Sophisten selbst festzustellen unternommen, nämlich dass er ἀντιλογιχὸς περὶ πάντων sei, und erst von hier aus wird er anderen weiteren Bereichen der Beschäftigung ein- gereiht. Dieser Gegensatz ist unleugbar; dass Platon selbst den neuen Gang als einen von dem vorigen verschiedenen hat von seinen Lesern wollen an- gesehen wissen, beweisen die oben im Texte gegebenen Nachweisungen, deren Widerlegung Deufsen nicht unternommen hat. Übrigens scheint in- direct Deulsen den bezeichneten Unterschied anzuerkennen, indem er p. 67 schreibt: „quatenus vero sophistae definitio esse potest, eatenus haud deest. εἴδωλον et Ψεῦδος sunt, quae Platonis opinione ipsam sophistae naturam con- stituant; et hae eius notae ad Eleatas convincendos sufficiunt, hae autem notae, unice verae, non dividendo inveniebantur, sed ita, ut in sophistae indolem, qualis usu constaret, acrius inquireretur.“ — Den Unterschied des Verfahrens in den früheren Definitionsversuchen gegenüber dem neuen formulirt Petersen S. 20 in einer vielleicht noch zutreffenderen Weise: „in prioribus tacite sumi, quod in ultima longiore quaestione investigetur inven- tumque confirmetur, eas scilicet notionis definiendae notas, ad quas divi- dendi prineipia dirigantur.“ — Gegen Deulsens Nachweisung ὃ. 19 ff. gleich auffallender und als absichtlich zu betrachtender Fehler in der letzten Defini- tion wie in den vorherigen vgl. Pilger, Über die Athetese des Platonischen Sophistes 5. 12 f.
174 SoPHISTES,
Puncte dieser scherzhaften Handhabung der Dichotomne ist bereits treffend hingewiesen 28) ; das Bedeutendste in dieser Hinsicht ist aber jedenfalls der Gang dieser dichotomischen Definitionen im allgemeinen. Denn während das Wesen und die Bedeutung der dichotomischen Eintheilung gerade in der Sicherheit des gegen- seitigen Ausschliefsens der coordinirten Theilungsglieder liegt, sehen wir, dass Platon den Sophisten unmittelbar nach einander, gleich genau und gleich ungenau, solchen einander ausschlielsenden Theilungsgliedern unterordnet, einmal der μετα- βλητιχή, das andere mal der ysıpwrızy, und unter den beiden einander entgegengesetzten Arten dieser letzteren wieder einmal der ἀγωνιστιχή, das andere mal der ϑηρευτιχή; alle diese Arten und Unterarten gehören der τέχνη χτητιχή an; nachdem aber auf dem zweiten Wege eine Begriffserklärung des Sophisten erreicht ist, die in voller Geltung bleibt, wird die Kunst des Sophisten 31: nunmehr nicht der χτητιχή, sondern der ihr entgegengesetzten ποιητική eingeordnet. Man kann die Gesammtheit dieser nach demselben Ziele hinweisenden Momente schwerlich für zufällig ansehen, und wird in ihnen wohl die Erklärung Platons anzu- erkennen haben, dass erst nach gewonnener Einsicht in die wesentlichen und charakteristischen Merkmale des Einzelobjeetes der Forschung sich die Einreihung desselben in eine umfassende Gliederung mit Sicherheit vornehmen lasse, und dass selbst die Gesichtspuncte der Gliederung, die Eintheilungsgründe, erst _ durch jene Einsicht gewonnen werden. Die διαιρέσεις χατ᾽ εἴδη verlieren dadurch im Sinne Platons nicht ihren Werth für die systematische Ordnung von Begriffen; sie verlieren nur die Aus- schliefslichkeit der Geltung beim Aufsuchen einer Definition. — Wie viel man übrigens Definitionen zählen will als von Platon auf dem Wege der Dichotomie hergestellt, ob vier oder sechs, ist gleichgiltig. Bleibt sich ja Platon selbst in dieser Zählung nicht gleich, was doch gewiss nicht der Fall wäre, wenn er auf ihre bestimmte Anzahl einen Werth legte. Der obigen Inhalts-
>) Schleiermacher II, 2. S. 88, Susemihl $. 292 f., Deufsen p. 11—17. Dagegen Petersen p. 15—22. — Wodurch der Scherz veranlasst, gegen wen der darin enthaltene Spott gerichtet sei, wird sich schwerlich mit voller Sicher- heit ermitteln lassen. Höchst ansprechend und wahrscheinlich ist die Ver- muthung, welche Zeller (3. Aufl. II, 1. $. 215, 4) darüber ausspricht.
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angabe ist diejenige Zählung zu Grunde gelegt, welche Platon selbst bei der Recapitulation einhält (c. 19); man könnte sich aber eben so gut durch Platons eigene Darstellung 223 C—224E veranlasst finden, die Definitionen 2, 3, 4 als Modificationen einer einzigen, nämlich der Einreihung der Sophistik unter die μεταβλητιχή, zu betrachten?®) und demnach nur vier, statt sechs Definitionen zu zählen.
Innerhalb der zweiten Hauptmasse des Dialogs, dem um- schlossenen 'T'heile (II der obigen Inhaltsangabe), stellt sich die allgemeinste Gliederung durch die Sache selbst — in Platons Sinne — einfach dar, und wird durch Platons ausdrückliche Worte noch mehrfach bezeichnet. Um zu erweisen, dass das Nichtseiende in gewissem Sinne ist, und um daraus die Möglich- keit des Irrthums abzuleiten, werden erstens die Schwierigkeiten dargelegt, welche im Begriffe des Nichtseienden liegen, zweitens diejenigen, welche aus dem Begriffe des Seienden in den that- sächlich vorhandenen philosophischen Systemen sich‘ ergeben; die Schwierigkeiten beider Seiten werden sodann durch die Lehre von der gegenseitigen Gemeinschaft der Begriffe gelöst. Dass
812) nach der Erörterung der Aporien über das Nichtseiende ein Ab- schnitt gemacht ist, bezeichnet Platon selbst durch die längere Unterbrechung der Untersuchung; das ganze 29. Capitel ist, nachdem die Undenkbarkeit des Nichtseienden bis zum Abschlusse dargelegt ist, nicht der Fortsetzung der Untersuchung selbst, sondern der Besprechung des Entschlusses zu ihrer weiteren Fort- setzung und der Entschuldigung der Polemik, die sich daran knüpfen müsse, gewidmet, eine Unterbrechung, wie sie ein mit Überlegung schreibender Schriftsteller nur da kann eintreten lassen, wo ein Wendepunct der Abhandlung eintritt, die eine Gedankenreihe abgeschlossen ist und eine andere begonnen wer- den soll. Die im folgenden beginnende Gedankenreihe bezeich- net Platon selbst als der zunächst vorhergehenden entgegenge- setzt, 242 C: „Über das Nichtseiende sind wir in Unruhe und Zweifel, über das Seiende glauben wir klar zu sehen ; erwägen wir, ob nicht gleiche Schwierigkeiten uns hier entgegenstehen 3°).*
39) So Michelis 8. 183.
80) 242 C: τὰ δοχοῦντα νῦν ἐναργῶς ἔχειν ἐπισχέψασϑαι πρῶτον, μή πῃ τε-
170 SoPHISTES.
Und an dem Ende der Aporien über das Seiende und der Kritik anderer Philosophen wird einerseits rückweisend die für das vorhergehende von mir bezeichnete Gliederung ausdrücklich con- statirt, indem die Aporien über das Nichtseiende und über das Seiende als zwei einander gleiche Reihen erwähnt werden, 250 E: ἐπειδὴ δὲ ἐξ ἴσου τό τε ὃν xal τὸ μὴ ὃν ἀπορίας μετειλή- φατον; anderseits wird diese Stelle selbst als ein Einschnitt in dem Gange der Abhandlung bezeichnet, denn Platon erklärt die blofse Darlegung der Aporien für abgeschlossen, τοῦτο μὲν τοίνυν ἐνταῦϑα χείσϑω διηπορημένον 9), und beginnt das fol- gende mit einer Frage: λέγωμεν δὴ χαϑ' ὅν τινά ποτε τρόπον πολλοῖς 313 ὀνόμασι ταὐτὸν τοῦτο ἑχάστοτε προσαγορεύομεν, deren Inhalt mit dem vorhergehenden in keinem unmittelbaren Zusammenhange steht, sondern deren Beantwortung erst in der davon ausgehenden Untersuchung sich als geeignet erweist, die beiden Reihen der Aporien zu lösen.
Vergleichen wir mit dieser durch Platon selbst bezeichneten Gliederung diejenige, welche wir von Steinhart und Susemihl angegeben finden. Die äulsere Abgrenzung der mittleren Haupt- masse wird, wenn man von der Ungenauigkeit in der Coordina- tion absieht (s. oben S. 168), von Steinhart ebenso festgesetzt, wie in der obigen Inhaltsangabe geschehen ist; Susemihl schliefst die mittlere Hauptmasse an früherer Stelle 260 A, mit Unrecht,
ταραγμένοι μὲν ὦμεν περὶ ταῦτα, ῥαδίως δ᾽ ἀλλήλοις ὁμολογῶμεν ὡς εὐχρινῶς ἔχοντες.
31) Diese Worte sind in auffallend gleicher Weise in der Schleiermacher- schen und Müllerschen Übersetzung unrichtig wiedergegeben. Schleiermacher: „Das liege also hier so unentschieden.“ Müller: „Das bleibe also hier in Zweifel gestellt.“ Sieht man selbst von der schiefen Beziehung ab, welche diese Übersetzungen den Worten geben (denn man möchte nach den Worten der Übersetzungen glauben, es solle dahin gestellt bleiben, ob das Seiende oder das Nichtseiende mehr Schwierigkeiten dargeboten habe), so ist die abschliefsende Bedeutung von χεῖσϑαι nicht gehörig beachtet, das Perfectum διηπορημιένον ganz übersehen und einem ἐν ἀπορίᾳ ὄν gleich aufgefasst, end- lich die specielle Bedeutung des Compositum διαπορεῖν, welches an διελϑεῖν τὰς ἀπορίας erinnert (241 B, vgl. Index Aristotelicus p. 1810 11— 29), unbe- achtet geblieben. Die einfache Beachtung dieser in den Worten selbst ent- scheidend gegebenen Momente führt zu dem Sinne: „Das Durchgehen der
Schwierigkeiten bleibe nun an der Stelle, bis zu der wir gelangt sind, abge- schlossen.“
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wie vorher nachgewiesen wurde. Innerhalb des mittleren Haupt- theiles unterscheidet jeder dieser beiden Erklärer ebenfalls drei Abschnitte, aber die von ihnen bezeichneten Einschnittspuncte stimmen weder unter einander, noch mit der obigen Darlegung überein32). Steinhart schlielst den ersten Abschnitt (in seiner Zählung den zweiten) mit Capitel 32. Aber schon die sprach- liche Form des Anfanges des folgenden Capitels muss eine solche Annahme verbieten: Τοὺς μιὲὲν τοίνυν διαχριβολογουμένους ὄντος τε πέρι χαὶ μὴ πάντας μὲν οὐ διεληλύϑαμεν, ὅμως δὲ ἱχανῶς ἐχέτω" τοὺς δὲ ἄλλως λέγοντας αὖ ϑεατέον. Durch diese Worte wird an die 243 Ο getroffene Unterscheidung zweier Gruppen von Philo- sophen, welche Platon der Kritik unterwerfen will, erinnert, und die hier beginnende Kritik als zweites Glied zu der 243 C ein- geleiteten bezeichnet. Man würde also nicht hier, sondern bei 243 © den Haupteinschnitt setzen müssen. Nun wolle man aber diese letztere Stelle 243 © selbst im Zusammenhange lesen, um sich zu überzeugen, dass man von ihr aus weiter zurück- gewiesen wird bis zu 242 B, dem Anfange des 30. Capitels, also. dem oben gesetzten Anfangspuncte des zweiten Abschnittes. — Den zweiten, nach seiner Zählung dritten Abschnitt schliefst Steinhart mit Capitel 39 und beginnt den folgenden mit Capi- tel 40. Nun lese man den Anfang des 40. Capitels®®): „Da wir nunmehr darüber einverstanden sind, dass einige Begriffe (Gattungen, γένη) in Gemeinschaft mit einander zu treten ge- eignet sind, andere nicht, manche in weiterem, andere in engerem Umfange, so wollen wir einige der höchsten Begriffe vornehmen und untersuchen, was ein jeder derselben ist, und welche Fähigkeit der Gemeinschaft mit anderen er hat.“ Dies schliefst sich folgernd an das unmittelbar vorher erörterte
32) Zu leichterer Übersicht stehe hier die von Steinhart und die von Suse- mihl bezeichnete Eintheilung. Steinhart: 1. c.3—23; 2. c. 24—32; 3. ο. 33—39; 4. ο. 40—47; 5. ο. 48—52. — Susemihl: 1. 218B—236 Ὁ; 2. — 247 E; ὃ. —251 A; 4. —260 A; 5. — Schluss. — Deuschle (Einl. zur Übers. 5. 309 ff.) verbindet 2 und 3 der Susemihlschen Gliederung in seinen zweiten Haupttheil.
3) c. 40. 254 B: ὅτ᾽ οὖν δὴ τὰ μὲν ἡμῖν τῶν γενῶν ὡμολόγηται χοιγω- νεῖν ἐθέλειν ἀλλήλοις, τὰ δὲ μή, καὶ τὰ μὲν ἐπ᾽ ὀλίγον, τὰ δ᾽ ἐπὶ πολλά, τὰ δὲ zul διὰ πάντων οὐδὲν χωλύειν τοῖς πᾶσι χεχοινωνηχέναι, τὸ δὴ μετὰ τοῦτο ξυνεπισπώμεϑα τῷ λόγῳ σχοποῦντες χτλ.
Bonitz, Platonische Studien. 12
178 SOPHISTES.
an, kann also nicht durch einen Haupteinschnitt von der mit 251 A beginnenden Gedankenreihe getrennt werden; dass da- gegen bei 251 A ein unmittelbarer Anschluss an die voraus- gehende Gedankenreihe sich nicht findet, ist vorher nachge- wiesen. — Diesen Einschnitt bei 251 A erkennt Susemihl gleich der oben von mir gegebenen Disposition an; dagegen schlielst er den ersten, seinen zweiten, Abschnitt mit Cap. 34, 247 E, lässt also den folgenden mit der Widerlegung der „Freunde der Begriffe“, οἱ τῶν ἰδεῶν φίλοι, beginnen. Die Kritik dieser Lehre ist von Platon vorher 246 A, B ausdrücklich nur als das zweite Glied in der Kritik entgegengesetzter, mit einander in heftigem Kampfe begriffener Philosopheme bezeichnet, da die einen als seiend nur das sinnlich wahrnehmbare, die anderen nur die Begriffe anerkennen. Man braucht also hier wiederum nur Platons eigene Worte gewissenhaft zur Geltung zu.bringen,
um sich für das Setzen eines Hauptabschnittes von 247 E bis
auf 246 A, c. 33 zurückgewiesen zu sehen, also bis zu der Stelle, an welcher Steinhart den ersten Abschnitt schliefst. Dass wir aber von dieser Stelle aus wieder weiter zurückgeführt werden bis zum Anfange von Capitel 30, d. h. bis zu dem in der obigen Inhaltsangabe bezeichneten Abschlusse des ersten Abschnittes, ist so eben bei Erwägung der Steinhartschen Gliederung nach- gewiesen. — Als ein äufseres Symptom davon, dass die von Susemihl angegebene Gliederung nicht Platonisch ist, kann man
übrigens schon die Überschriften betrachten, durch welche er
den Gesammtinhalt und Charakter jedes der beiden Abschnitte nach der von ihm fixirten Begrenzung bezeichnen will. Im ersten Abschnitte nämlich soll eine „Widerlegung des abstraeten Nichtseins und Seins“ gegeben, im zweiten „das Sein in con- ereter Bestimmung“ behandelt sein. Man ist sicherlich in Ge- fahr, die Gedanken Platons zu verfehlen und willkürlich umzu- ändern, wenn man sich genöthigt sieht, zur blofsen Zusammen- fassung eines Gedankencomplexes (nicht etwa zu seiner Kritik, denn da kann der Fall ein anderer sein) Begriffe in Anwendung zu bringen, die der Platonischen Philosophie so fremd sind wie die hier angewendeten.
Die vorstehenden Bemerkungen werden hoffentlich zur Evi- denz gebracht haben, dass die in der obigen Inhaltsangabe be-
315
316
SOPHISTES. 179
zeichnete Gliederung nichts weiter ist, als eine gewissenhafte Erfüllung der von Platon selbst bestimmt ausgesprochenen For- derungen, mit Entfernung jeder eigenen Willkür in beliebiger Zusammenfassung oder Trennung der von Platon uns vorge- führten Gedankenreihen. Die bisherige Rechtfertigung bezog sich nur auf die Hauptabschnitte (I, A, B; II, A, B, C); dass auch in der weiteren Gliederung die oben gegebene Disposition von den bisher berührten Darstellungen in manchen Puncten abweicht, ist mir wohl bekannt. Ks würde ermüden diese Unter- schiede ins einzelne zu verfolgen, und scheint auch nicht er- forderlich; wenn die Begründung der allgemeinen Gliederung Evidenz erreicht hat, so sind dadurch schon die Gesichtspuncte für die untergeordneten Abtheilungen sichergestellt.
Zweck und Ergebnisse des Dialogs.
1. Der Dialog Sophistes stellt nach wenigen einleitenden Worten eine bestimmte Frage auf, nämlich die nach der Defini- tion des Sophisten; diese Frage wird durch den ganzen Verlauf des Dialoges festgehalten und wird selbst da, wo hinzuge- kommene Untersuchungen sie in Vergessenheit zu bringen schei- nen, von neuem in Erinnerung gebracht?!) ; der Dialog schliefst ab, sobald für diese, in seinem Beginne aufgestellte Frage eine befriedigende, keinem Zweifel mehr: unterworfene Lösung ge- funden ist. Man ist hiernach in vollem Rechte, wenn man zu- nächst voraussetzt, die Bestimmung des Wesens des Sophisten sei die Aufgabe, auf deren Lösung es Platon bei Abfassung dieses Dialoges ankam. Aber gegen eine solche, zunächst un- zweifelhaft berechtigte Voraussetzung erheben sich gewichtige Bedenken. Zu dem Zwecke, den hiernach Platon verfolgen sollte, stehen die angewendeten Mittel in keinem Verhältnisse. Um die Definition des Sophisten zur Anerkennung zu bringen, ist es, da Irrthum, Täuschung, Scheinwissen seine charakteristi- schen Merkmale bilden, erforderlich, dass Irrthum als möglich und wirklich anerkannt, und dann weiter, da Irrthum darin be- steht, Nichtseiendes als seiend zu setzen und umgekehıt, dass
84) 239 C—E. 240 C. 241 B. 253 C. 258 B. 260 Ὁ. 127
180 SOPHISTES.
ein gewisses Sein des Nichtseienden zugestanden werde. Mit der Erörterung dieser Frage beschäftigt sich der mittlere Theil des Dialogs, der nicht nur an äulserem Umfange den umschlielsen- den übertrifft, sondern noch ungleich mehr in seinem Inhalte ihn überwiegt; denn während jener die Umfassung bildende Theil über das Wesen des Sophisten und über die mannigfaltigen Formen seiner Erscheinung nichts enthält, was wir nicht von Platon noch sonst öfters ausgeführt fänden, gibt uns der, nach der Form der Einkleidung nur als Mittel angewendete innere Theil des Dialogs Gedankenentwicklungen, die sich fast sämmt- lich nur in diesem Dialoge finden und für die Auffassung der Platonischen Lehre an sich und in ihrem Verhältnisse zu anderen Philosophemen von der äulsersten Wichtigkeit sind®5). Mag man nun also diese Einreihung der wichtigen Gedankenentwicklungen in die Versuche der Definition des Sophisten loben oder tadeln, mag man den Contrast des ausgesprochenen Zweckes zu den angewendeten Mitteln durch die sinnige Vergleichung mit Schale und Kern überdecken, oder mag man endlich versteckteren Be- ziehungen zwischen dem inneren und äufseren Theile nach- forschen, die, als von Platon selbst gar nicht angedeutet, sich schwerlich über die Wahrscheinlichkeit einer Vermuthung er- heben lassen: jedenfalls sieht man sich zu der Anerkennung gezwungen, dass der mittlere Theil nicht blofs die Bedeutung eines unentbehrlichen Mittels zu beanspruchen hat, sondern dass ihm seine selbständige, vielleicht die hauptsächlichste Bedeutung zuzuschreiben ist.
Aber auch in dem mittleren Theile steht der verfolgte Zweck zu den angewendeten Mitteln in einem Verhältnisse, welches Beachtung verdient. Zu dem Erweise, dass dem Nichtseienden in gewissem Sinne Sein zuzuschreiben ist, und zu dem hieraus — wirklich oder scheinbar — abgeleiteten Beweise für die Wirk- lichkeit des Irrthums führt direct nur derjenige Abschnitt, der von der gegenseitigen Gemeinschaft der Begriffe handelt (II, C). Die vorhergehenden beiden Abschnitte tragen zu diesem Be-
85). Diese Erwägungen über das Verhältnis des umschlielsenden und des innern Haupttheiles des Sophistes findet man schon von Schleiermacher aus- geführt, a. ἃ. Ὁ. ὅδ. 87.
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SOPHISTES. 181
weise, der doch als die zu lösende Aufgabe aufgestellt ist, nichts bei. Man hat also ein Recht vorauszusetzen, dass es Platon auf den Inhalt dieser Abschnitte (II. A, B.) an sich an- kam; sonst lässt sich nicht wohl annehmen, dass er dieselben, ohne dass sie zu dem ausgesprochenen Zwecke einen Beitrag geben, dennoch eingefügt hätte. Diese beiden Abschnitte aber enthalten eine Kritik Platons über fast die sämmtlichen Grund- ansichten der griechischen Philosophen vor Sokrates und der bedeutendsten dem Platon gleichzeitigen Sokratiker. Jedem die- ser Philosopheme sucht Platon nachzuweisen, dass es sich selbst aufhebe oder über sich hinaus führe. Den ältesten Naturphilo- sophen, wenn sie zwei Grundstoffe als seiend voraussetzten δ), weist Platon nach, dass die Erwägung des Verhältnisses dersel- ben zu dem Sein, das ihnen beiden zugeschrieben wird, von der angenommenen Zweiheit entweder auf eine Dreiheit oder auf eine Einheit führe — ein Beweis, der sich offenbar auf jede andere bestimmte Zahl von Principien ebenso anwenden lässt”), Das eine Seiende des Parmenides>®) führt durch die Unter- scheidung der Begriffe Eins und Sein, und vollends durch die von Parmenides ausgesprochene, von Platon als nothwendig anerkannte Behauptung der Ganzheit des Seienden zu der Vor- aussetzung einer Mehrheit von Seienden. Die ewige Bewegung des Herakleitos®?) und in anderer Weise die Beschränkung des 9185 Antisthenes 2%) auf identische Urtheile hebt jedes Reden und Denken, somit jede Möglichkeit der Philosophie auf. Diejenigen Philosophen !!), welche nur das sinnlich Greifbare, räumlich
3%) Über die Schwierigkeit der Angabe, auf welche bestimmte Philo- sophen Platon Bezug genommen habe, vgl. Steinhart 8. 557 f. Anm. 22 und 23.
37) 244 B: παρὰ δὲ τούτων χαὶ παρὰ τῶν ἄλλων, ὅσοι πλεῖον ἑνὸς λέ- γουσι τὸ πᾶν εἶναι. Vgl. Brandis, Gesch. II, 1. S. 211, n.
38) 0.32, 244 B—245 E.
39) 249 B: καὶ μὴν ἐὰν αὖ φερόμενα καὶ χινούμενα πάντ᾽ εἶναι συγχωρῶμεν, χαὶ τούτῳ τῷ λόγῳ ταὐτὸν τοῦτο ἐχ τῶν ὄντων ἐξαιρήσομεν. Dass die in diesen Worten bezeichnete Herakleitische Lehre jede Möglichkeit des Erkennens aufhebt, hatte Platon bereits im Theätetos ausgeführt.
40) Sichere Beziehungen auf Antisthenes, abgesehen von solchen Stellen, die unberechtigt auf ihn gedeutet sind, finden sich 251 A—C. 259 D,E. 263 © (vgl. über diese letzte Stelle Anm, 20).
#) Die Worte, durch welche Platon diese Lehre bezeichnet, 246 A—
182 SOPHISTES.
Ausgedehnte als seiend wollen gelten lassen, kann man durch genügende Gründe zu der Anerkennung bringen, dass es auch etwas Unsinnliches gibt, dem das Sein um nichts weniger zu- kommt. Und den Megarikern 32), die ausschliefslich in unbeweg- lichen unveränderlichen Begriffen das Seiende finden, kann das Unbefriedigende ihrer Annahme nachgewiesen werden. Eine Lösung aller der Schwierigkeiten, in welche frühere und gleich- zeitige Philosopheme führen, eine Ausfüllung derjenigen Lücken, welche sie in der principiellen Erkenntnis des Seienden zurück- lassen, wird gesucht und gefunden in derjenigen Entwicklung, welche der Platonischen Ideenlehre die darauffolgende Darlegung der gegenseitigen Gemeinschaft der Begriffe gibt.
Wenn hiermit der Inhalt und Zweck des mittleren 'Theiles des Dialogs richtig getroffen ist, so lässt sich vielleicht von da aus zu dem äufseren Theile eine derartige Verbindung fin- den, dass dieser nicht mehr zur blofsen Einrahmung und zum blofsen Anlasse der eigentlich beabsichtigten Untersuchungen wird. Die Ideenlehre, entwickelt durch die Lehre von der ge- genseitigen Gemeinschaft der Begriffe, löst nach Platons Über- zeugung die Schwierigkeiten, in welche sich alle früheren Phi- losopheme verwickelt haben; sie weist auch zugleich dem Sophisten seine nicht zu bestreitende Stelle äufserhalb des
Gebietes der Philosophie an. Die Kritik, welche Platon durch ;
positive Aufstellung der Lehre von der Gemeinschaft der Begriffe
247 E, passen genau auf die Atomisten; innerhalb dieser Schule sind auch jene von Platon angedeuteten Unterschiede der Ansichten über die Geltung sittlicher Begriffe, wenn nicht ausdrücklich nachweisbar, doch höchst wahr- scheinlich; die Anerkennung ihrer Geltung, die sich Platon als Grundlage seiner Bestreitung zugeben lässt, liegt in den Fragmenten aus Demokrits Schriften noch deutlich vor. Dass die Atomisten als gleichzeitige Gegner der Megariker dargestellt werden, hat nach den wahrscheinlichsten Angaben über die Lebenszeit des Demokritos (Zeller, Phil. d. G., 2. Aufl. I, S. 576 ἢ nichts auffallendes. — Schleiermacher sieht in der Beschreibung derjenigen Philosophen, welche nur Materielles als seiend anerkennen, eine Beziehung auf Aristippos (a. a. Ὁ. 8. 93); die Nachrichten, welche wir über die Ari- stippische Lehre haben, geben hierzu keinen Anhaltspunct.
42) Der Beweis, dass unter den „Freunden der Begriffe“ (oder Ideen) 246 A, 248 A—249 D, die Megariker zu verstehen sind, ist unter Berück- sichtigung aller darüber aufgestellten Ansichten erschöpfend geführt von Zeller ἃ. ἃ. ©. II. S. 180 £.
SOPHISTES. 183
gegen alle anderen Philosopheme ausübt, würde hiernach auf diejenigen mit ausgedehnt, welche den Namen der Philosophie beanspruchen, ohne ein Anrecht daran zu haben. — Das Nahe- liegende dieser Combination 45) mag es entschuldigen, dass ich durch ihr Aussprechen den Bereich der aus dem Dialoge selbst sicher zu ziehenden Schlüsse überschreite; es geschieht mit der ausdrücklichen Erklärung, dass dies eine blolse Vermuthung ist und sich wahrscheinlich eben so gut manche andere Anlässe denken lassen, welche Platon bestimmten, die Untersuchung über die Gemeinschaft der Begriffe und die Kritik der Philoso- pheme über das Seiende gerade in den Versuch einer Definition des Sophisten einzureihen.
2. Ehe ich auf den Inhalt des wichtigsten 'Theiles des Dia- loges, des Abschnittes nämlich über χοινωνία τῶν γενῶν in seiner Stellung zu den Principien der Platonischen Lehre näher einzu- gehen versuche, wird es gerathen sein, mit der bisher ent- wickelten Auffassung des Dialogs diejenigen zu vergleichen, welche derselbe bei Platonischen Forschern in neuester Zeit ge- funden hat.
Es ist im vorigen stillschweigend vorausgesetzt, dass, wo Platon im Sophistes von Begriffen (εἴδη, γένη) und ihrer Ge- meinschaft unter einander handelt, der Inhalt der Begriffe, das Was, welches in den Begriffen gedacht wird, ihm nicht für ein blofses Object des Denkens (νόημα) 14), sondern für etwas abge- sehen vom Denken (χωριστόν) an sich Seiendes gelte, d. h. für eine Idee im Platonischen Sinne dieses Wortes. Gegen diese Grundvoraussetzung erhebt Steinhart Einspruch, indem er davor warnt, Verstandesbegriffe mit Ideen zu verwechseln und nur von den ersteren im Dialoge Sophistes gehandelt findet (a. a. Ὁ. 8. 424, 441). Man mag nach der Bedeutung, welche in der gegenwärtigen philosophischen "Terminologie die Worte
18). Das Verhältnis des äufseren 'T'heiles des Dialogs Sophistes zu dem mittleren Theile wird in allen Einleitungen zu diesem Dialoge in Betracht gezogen; doch ist es mir nicht möglich, die darüber dargelegten Ansichten in eine feste Formulirung zu bringen.
4) Parm. 132 B: Τί οὖν, φάναι, ἕν ἕκαστόν ἐστι τῶν νοημάτων, νόημα δὲ οὐδενός; ᾿Αλλ᾽ ἀδύνατον, εἰπεῖν. ᾿Αλλὰ τινός; Ναί. "Ovros ἢ οὐχ ὄντος: Ὄντος.
184 SOPHISTES.
Verstand, Begriff, Idee haben, vollkommen berechtigt sein, Ver- standesbegriffe oder Begriffe überhaupt von Ideen zu unterschei- den; aber für Idee in dem Sinne Platons existirt dieser Unter- schied nicht, wie dies Susemihl (Jahnsche Jahrbücher, Bd. 68, S. 414 f.) mit Recht erwidert hat. Dass aber das Charak- teristische der Idee im Platonischen Sinne, nämlich die Realität des Was des Begriffes, im Dialoge Sophistes vorausgesetzt wird, zeigt sich durchweg; es wird zum Beweis hierfür genügen, an einige hervortretende Stellen zu erinnern. Die Anerkennung von gerecht oder ungerecht als einer Eigenschaft der Seele, ein Zugeständnis, welches als von den Atomisten gemacht voraus- gesetzt wird, verwandelt sich sogleich in die Anerkennung, dass Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit als etwas Seiendes der Seele einwohne (247 A). Jede Zahl ist etwas Seiendes (238 A), doch aus keinem anderen Grunde, als weil sie Objeet und In- halt eines begrifflichen Denkens ist). Das Etwas, τὶ, lässt sich an sich, isolirt von dem Seienden, gar nicht denken und aussprechen (237 D). Der Philosoph steht in beständigem denkendem Verkehr mit der Idee des Seienden, τῇ τοῦ ὄντος ἀεὶ διὰ λογισμῶν προσχείμενος ἰδέᾳ (254 A). Die Verschiedenheit wird nicht blofs als τὸ ϑάτερον, ἣ τοῦ ϑατέρου φύσις (256 E, 257 Q), sondern auch als ἢ ϑατέρου ἰδέα (255 ἘΠ), als εἶδος ἕν ἐνάριϑμον τῶν πολλῶν ὄντων [258 C) bezeichnet. Die Ausdrücke μετέχειν, χοινωνεῖν, die in dem wichtigsten Abschnitte über die Verbin- dung der Begriffe herrschen, so wie παρουσία an der vorher angeführten Stelle (247 A) sind die technischen Ausdrücke für Verhältnisse der Ideen im Platonischen Sinne, u. 5. w. Gewiss beweise genug, dass der Grundgedanke der Ideenlehre in dem ganzen Dialoge vorausgesetzt, und dass zur Einführung des un- platonischen Unterschiedes von Verstandesbegriffen und Ideen auch nicht der leiseste Anlass vorhanden ist.
Als Zweck und Aufgabe des gesammten Dialogs bezeichnet Steinhart „die Unterscheidung der echten und falschen Dialektik“ (S. 431, 426), und findet hierfür bei Susemihl (Jahnsche Jahr- bücher, Bd. 68, S. 415, Genet. Entw. etc. S. 310), der sogar „die echte Dialektik“ als eine „wahrhaft concrete Dialektik“
5) Vgl. Theät. 185 C.
320
321
SOoPHISTES. 185
bezeichnet, vollständige Beistimmung, obgleich Susemihl sodann im weiteren Verlaufe seiner Erörterung seine Ansicht über den Grundgedanken des Dialogs noch merklich anders formulırt. Wenn in der Erklärung eines Platonischen Werkes das mannig- fach deutbare, seinen Gebrauch proteusartig wechselnde Wort Dialektik angewendet wird, so hat man wohl ein Recht zu er- warten, es werde in dem Platonischen Sinne angewendet sein. Platon bezeichnet diejenige Art ein wissenschaftliches Gespräch zu führen, und weiter dann diejenige Beschäftigung mit Be- griffen und ihren Verhältnissen, in welcher er die Bürgschaft für die Erkenntnis des Seienden sieht, als Dialektik; die Dia- lektik ist ihm daher in solchem Malse Grundlage der gesammten Philosophie, dass sie gewissermalsen der Philosophie selbst gleich gesetzt werden kann. Platon bringt häufig in seinen Dialogen sein — oder seines Sokrates — wissenschaftliches Verfahren in Gegensatz zu den nichtigen Mitteln der Rechthaberei, welche von Lehrern der politischen Tüchtigkeit und Redegewandtheit angewendet wurden; aber nirgends, so viel ich weils, bezeichnet Platon die von ihm getadelte und verworfene Weise als Dialek- tik, als „falsche Dialektik,“ sondern als Eristik, Agonistik, So- phistik, nirgends macht er in der Dialektik den Unterschied einer echten und einer falschen Art. Imsofern ist der Ausdruck nicht wohl gewählt, wenn zur Angabe des Inhaltes eines Pla- tonischen Dialoges die Unterscheidung wahrer und falscher Dia- lektik eingeführt wird. Aber substituirt man selbst für das un- ter diesen Worten gemeinte einen richtigen Ausdruck, so wird doch die Sache selbst dadurch nicht richtig. Über den Unter- schied Platonischer Dialektik und unwissenschaftlicher Eristik findet man mannigfache, den Gegenstand in Platons Sinne so gut wie erschöpfende Bemerkungen namentlich in den Dialogen Protagoras, Gorgias, Menon, Euthydemos. Im Sophistes wird die Aufgabe der Dialektik bezeichnet (253 D), es wird ein Theil dieser Aufgabe durch die Untersuchung einiger besonders wich- tiger Begriffe ausgeführt (254 D — 258 C), es gehören auch die in eigenthümlicher Mischung von Scherz und Ernst ausgeführten Begriffseintheilungen am Anfange und am Schlusse des Dialogs unzweifelhaft der Aufgabe der Dialektik an; aber weder an den Philosophen, welche Platon bestreitet, noch an dem Sophisten,
186 SOPHISTES.
dessen Definition den Anlass zur Untersuchung gibt, wird die unwissenschaftliche Methode in ihrem Gegensatze zur Plato- nischen dargestellt. Es werden die Sätze der Philosophen von
Platonischen Voraussetzungen aus kritisirt, es wird dem Sophi- 322
sten seine Thätigkeit im Bereiche des Irrthums und der Täu- schung angewiesen; aber der Gegensatz „wahrer und falscher Dialektik“ als einheitlicher Zweck des Dialogs, ja selbst nur als eine einzelne Aufgabe unter mehreren anderen, ist aus dem Dialoge selbst weder nachgewiesen noch nachweisbar.
Im weiteren Verlaufe seiner Erörterung über die „Grund- idee“ des Sophistes bezeichnet es Susemihl*) als Zweck die- ses Dialogs „die Ideenlehre zu begründen“. Hierin stimmt ihm Deuschle bei, mit dem näher bestimmenden Zusatze, der Sophistes gebe „eine Begründung der Ideenlehre durch die Lehre vom Urtheile“. Und Michelis, dessen Schrift wir, nach den Worten der Vorrede zu schliefsen, als ausdrücklich gegen Susemihl gerichtet betrachten dürfen, setzt als erste der- jenigen Bemerkungen, durch welche er über den Inhalt des So- phistes orientiren will: „Im Sophistes vollzieht sich die höchste Aufgabe des Platonischen Denkens in der Ausgleichung der Be- griffe des Seins und der Bewegung und insoweit die Grund- legung der Platonischen Ideenlehre.* Wenn ich von Forschern, die im Platon heimisch sind, in solcher Einhelligkeit über den Grundgedanken des Dialogs diese Erklärung abgege- ben lese, zu welcher es mir nicht möglich ist in dem Dialoge selbst irgend einen Anhaltspunct zu finden, so muss ich fast glauben, dass sie unter Ideenlehre und unter Begründung der Ideenlehre etwas wesentlich anderes verstehen, als man nach dem allgemeinen Sprachgebrauche darunter zu denken hat. Ich glaube daher — δεῖ γὰρ ἀεὶ παντὸς πέρι τὸ πρᾶγμα αὐτὸ μᾶλλον διὰ λόγων ἢ τοὔνομα μόνον συνομολογήσασϑαι χωρὶς λόγου --- um leeren Wortstreit zu vermeiden, kurz bezeichnen zu müssen, was ich unter Begründung der Ideenlehre verstehe.
Unter Ideenlehre verstehe ich die für die Platonische Phi-
4) Susemihl S. 310 f. Deuschle in den Jahnschen Jahrb. Bd. ΤΙ, 8. 764, und damit im wesentlichen übereinstimmend in der Einleitung zu seiner Übers. 8. 299 f. Michelis a. a. Ὁ. S. 194.
a ψοὰ
SOPHISTES. 187
losophie charakteristische Lehre, dass das Was des logischen Begriffes als solches selbständige Realität hat; diese Auffassung des Begriffes „Ideenlehre“ ist durch die zahlreichen Stellen des Aristoteles gesichert, wo er von den οἱ τὰς ἰδέας (τὰ εἴδη) τιϑέμενοι 323 oder λέγοντες spricht, und findet sich jetzt in allen Darstellungen der griechischen Philosophie. „Begründung“ der Ideenlehre kann in historischem oder in philosophischem Sinne gemeint sein. Im ersteren Falle besteht sie in der sicheren oder wahr- scheinlichen Nachweisung derjenigen Einwirkungen früherer Philosopheme auf Platon, durch welche er zu dieser Annahme geführt wurde; im letzteren Falle hat sie diejenigen Gedanken- reihen nachzuweisen, durch welche Platon selbst, abgesehen davon, aus welchen Anregungen sie hervorgegangen sein mögen, die Nothwendigkeit jener Annahme zu beweisen suchte. Platon und Aristoteles bieten das vollkommen ausreichende Material, um eine „Begründung“ der Ideenlehre in dem einen oder andern Sinne daraus zu entnehmen; aber im Dialoge Sophistes ist dazu nichts enthalten. In dem den inneren Theil umschliefsenden Abschnitte kann eine Begründung der Ideenlehre nicht einmal gesucht werden. Aber von der Stelle an, wo die Frage nach dem Sein des Nichtseienden behandelt wird, erweist sich. die Ideenlehre als bereits vorausgesetzt. Dies zeigt sich nicht nur in den so eben (ὃ. 184) angeführten Stellen, von denen einige sogleich in den Anfang des fraglichen Abschnittes fallen, sondern auch eben so augenscheinlich in dem Gedankengange, durch welchen aus der Annahme von zwei Seienden (243 D, E und dann aus der Annahme eines einzigen Seienden widerspre- chende Folgerungen abgeleitet werden. Die Beweiskraft dieser widerlegenden Folgerungen liegt einzig darin, dass dem Was eines logischen Begriffes als solchem Realität zugeschrieben ist; sobald man dies, das heifst also den Inhalt der Platonischen Ideenlehre selbst, nicht zugesteht, ist es nicht möglich, aus dem Sein zweier ursprünglicher, von einander qualitativ unterschie- dener Realen auf das dritte, das Sein selbst, zu schliefsen, und das gleiche gilt bei der Platonischen Kritik der Parmenideischen Lehre. Ferner, wenn es sich im Sophistes um „Begründung“ der Ideenlehre handelte, so würde doch die Philosophie der Me- gariker nicht so einfach angeführt werden: νοητὰ ἄττα χαὶ ἀσώματα
188 SOPHISTES.
εἴδη, βιαζόμενοι τὴν ἀληϑινὴν οὐσίαν εἶναι ; denn eben insoweit durch diese Worte die Lehre der Megariker bezeichnet wird, stimmt sie mit der Platonischen Lehre überein, und es ist mit gröfster Wahrscheinlichkeit vorauszusetzen, dass ihre „Begründung“ in jeder der beiden Bedeutungen dieselbe war wie die der Plato- nischen Lehre. Hatte also Platon, wie man ihm zuschreibt, im Sophistes die Absicht, die „Begründung“ seiner Ideenlehre zu
geben, so war es nicht zulässig, die in der Grundlage mit ihr:
übereinstimmende oder wenigstens sehr nahe verwandte Lehre so einfach als Thatsache hinzustellen. Endlich in dem wichtig- sten Abschnitte des Sophistes, dem über die χοινωνία τῶν γενῶν, wird nicht „begründet“, dass der Inhalt der Begriffe als sol- cher real ist, sondern es werden unter dieser Voraussetzung Folgerungen über ihr Verhältnis unter einander gezogen !?).
Es ist mir hiernach unmöglich, in den von den genannten Forschern (Steinhart, Susemihl, Deuschle, Michelis) abgegebenen Erklärungen über den Grundgedanken und den Zweck des So- phistes einen auch nur annähernd oder theilweise richtigen Aus- druck des wirklichen Inhaltes dieser Platonischen Schrift zu fin- den; vielmehr führt die prüfende Erwägung dieser abweichenden Erklärungen zur Bestätigung des vorher ausgesprochenen Ge- dankens®®) :
Platon gibt im Sophistes der schon als feststehend voraus- gesetzten Ideenlehre durch die Lehre von der xoıywyta τῶν γενῶν eine weitere Entwicklung in der Art, dass dadurch die in allen bisherigen Philosophemen zurückbleibenden Schwierigkeiten ihre
1 Wenn hiernach von einer „Begründung der. Ideenlehre“ durch den Dialog Sophistes zu reden kein Anlass ist, so verliert dadurch auch die Com- bination Steinharts ὃ. 472, „dass die im Sophist errungenen Hauptresultate in den spätern Dialogen, namentlich schon im Phädros, vorausgesetzt wer- den“, ihre thatsächliche Grundlage. Ob man umgekehrt die Beziehung des Inhaltes des Sophistes, vor allem die Lehre von der χοινωνία τῶν γενῶν mit Susemihl S. 301 als einen „berichtigeenden Rückblick“ auf den Phädros zu betrachten habe, wird nachher zur Erwägung kommen.
48) Diese Auffassung des Dialogs wird verworfen von Deulsen 8. 61 fl. insbesondere 8. 65), Ribbing I. S. 209. Anm. Es mag für jetzt genügen, dass ich zur Rechtfertigung derselben mich auf den gesammten Gang der im obigen enthaltenen Begründung beziehe.
SOPHISTES. 189
Lösung finden und selbst dem blofsen Scheinwissen seine sichere Stelle aulserhalb des Bereiches der Philosophie angewiesen wird. Wenn sich der Gedanke, dass in dem positiven Inhalte des Sophistes, dem Abschnitte über die Gemeinschaft der Begriffe, eine Begründung der Ideenlehre enthalten sei, als unhaltbar er- wiesen, so erhebt sich dagegen die Frage, in welchem Zusammen- hange diese Lehre mit der Grundlage der Ideenlehre stehe, also vor allem, ob die Lehre von der Gemeinschaft der Begriffe mit denjenigen Gedankenreihen im Einklange steht, aus denen die Platonische Ideenlehre hervorgegangen ist. Gehen wir noch kurz auf diese Frage ein, welche die Erklärung des Dialogs Sophistes an sich allerdings überschreitet. 3. Welche Momente in der Entwicklung der griechischen Philosophie die Platonische Ideenlehre hervorgerufen haben, mit 325 welchen Schlüssen Platon selbst die Realität der Ideen zu be- weisen unternimmt, darüber ist jetzt durch die aufmerksame Vergleichung der Aristotelischen Zeugnisse mit den Worten Pla- tons ein so sicheres Wissen erreicht, dass in den historischen Darstellungen der Platonischen Lehre die Verschiedenheit der eigenen philosophischen Richtung der Darsteller nur noch auf Einzelheiten des Ausdruckes oder auf das etwaige Urtheil über die innere Haltbarkeit der Lehre Einfluss ausübt, das wesent- liche aber der Darstellung selbst überall dasselbe ist. Es reicht darum hin, mit wenigen Worten an diese Hauptpuncte zu er- innern 49).
49) Das Verdienst, zu einer Zeit, wo die psychologisirende Richtung der Kantischen und die phantasirende der Schellingschen Philosophie noch jedes unbefangene Verständnis Platons schienen unmöglich machen zu sollen, zu- erst den Begriff der Platonischen Idee und die philosophischen Motive dieser Lehre mit voller Klarheit dargelegt zu haben, gebührt einer kurzen Abhand- lung Herbarts: De Platonici systematis fundamento. Gotting. 1795. Diese Abhandlung scheint indessen erst von der Zeit an Beachtung gefunden zu haben, seit die eindringenden Studien des Platon und Aristoteles im wesent- lichen zu den gleichen Resultaten hierüber geführt haben. Entscheidende Wirkung hat in dieser Hinsicht die gediegene Untersuchung Zellers ge- habt, „Die Darstellung der Platonischen Lehre bei Aristoteles“ (Platon. Stu- dien Κ΄. 196—300). — In der nachfolgenden durch den Zusammenhang er- forderten Skizze habe ich nicht für nöthig gehalten, die einzelnen Stellen aus Platon zu citiren; man findet dieselben vollständig bei Zeller, Philos. ἃ. Gr. 11. 1. 2. Aufl. 8.412 — 427. 3. Aufl. S. 541—562.
100 SOPHISTES.
Soll es überhaupt ein Wissen (Erkennen, &rtsraodaı, ἐπιστήμη) geben, so muss das Object desselben dem Wesen des Wissens und den darin enthaltenen Forderungen entsprechen. Die Ge- genstände der sinnlichen Wahrnehmung sind nicht fähig, Object des Wissens zu sein; denn unterworfen der Veränderung setzen sie in die Nothwendigkeit, demselben Dinge in seiner Identität entgegengesetzte, einander ausschlielsende Prädicate zuzuschrei- ben. Die allgemeinen Begriffe dagegen sind diesem inneren Widerspruche, dem die ihrem Umfange angehörigen Einzeldinge anheimfallen, nicht unterworfen; dasjenige, was in den allge- meinen Begriffen gedacht wird, bleibt von der Veränderung der Sinnendinge unberührt. Also nur der Inhalt der allgemeinen Begriffe ist Inhalt und Object des Erkennens, und, da durch Wissen und Erkennen die Realität eines Objects vorausgesetzt wird, als solcher etwas an sich Seiendes. Der Schluss, dass etwas, weil es Inhalt eines allgemeinen Begriffes ist, darum selbständige Realität aufserhalb des Denkens an sich habe, also 2. B. die bestimmte Zahl, zwei, drei u. 5. f., nicht das Ge- zählte, etwas selbständig Reales sei, dieser Schluss steht für Platon so unerschütterlich fest, wie der im wesentlichen gleiche für Parmenides. Platons Zuversicht, so zu schliefsen, erklärt sich daraus, dass die Neuheit der Beschäftigung mit Begriffen als solchen, wie dieselbe erst durch Sokrates in die griechische Philosophie eingeführt war, die Begriffe selbst als Objecte der Untersuchung wie etwas selbständig Reales erscheinen liels; ferner daraus, dass die Aufmerksamkeit Platons sich vornehmlich auf Begriffe des ethischen Gebietes richtete, demnächst auf ma- thematische; bei jenen aber ist es der Anspruch des sittlichen Urtheiles auf unbedingte Giltigkeit, bei diesen die von subjec- tivem Belieben unabhängige allgemeine Geltung, welche ihnen leicht den Schein der objeetiven Realität gibt.
Es ist nicht nöthig noch hierher gehörig, die innere Halt- barkeit des Gedankenganges, durch welchen Platon zur Realität der Ideen gelangt, an sich zu prüfen; aber seine Richtigkeit und Nothwendigkeit vollkommen zugestanden, so folgt daraus doch nur, dass das Was der allgemeinen Begriffe, weil es ein Gegen- stand des Erkennens ist, an sich ist; das Sein selbst, die Realität als solche, ist aber nicht ein Was des Gedachten. Dass
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SOPHISTES. 191
nun Platon als Ideen nicht nur τὸ χαλόν. τὸ ἀγαϑόν u. 5. f., son- dern auch τὸ ὃν αὐτὸ χαϑ' αὑτό, also ohne ein bestimmtes Was, welches sei, aufstellt, überschreitet selbst den Bereich dessen, was aus seinen Prämissen sich ergibt. Die Allgemeinheit, welche der Begriff des Seins mit denen theilt, die ein-Was ausdrücken, der Umstand ferner, dass die griechische Philosophie, noch un- beholfen im Ausdrucke der Abstractionen, zwischen τὸ ὄν und τὸ εἶναι nicht streng schied, erklärt diese weitergreifende Be- hauptung, rechtfertigt sie aber nicht in dem Sinne, dass sie für eine consequente Folgerung aus den zur Ideenlehre führenden Gründen gelten könnte. Dadurch nun, dass das Sein oder das Seiende selbst als eine der Ideen gesetzt wird, ergibt sich so- gleich für die Ideenlehre eine Modification, welche man unmög- lich als blofse Synonymität zweier Ausdrücke betrachten kann. Während nämlich einerseits der Inhalt eines jeden Begriffes, weil Object des Erkennens, darum an sich ist, kommt ihm ander- seits das Sein aus seiner Gemeinschaft mit der Idee des Seien- den, und die ihm an sich zugeschriebene Realität wird dadurch eine bedingte, aus der Beziehung zu einer andern Idee ent- lehnte. Die Gemeinschaft unter Ideen, welche sich insoweit nur als eine Verbindung jeder einzelnen der übrigen Ideen mit der des Seienden zeigt, erhält aber von einer andern Seite her noch eine weitere Ausdehnung.
Ein Wissen und Erkennen ist nicht in dem Denken von Begriffen oder von den ihnen entsprechenden Realen als ein- zelnen enthalten, sondern in dem Urtheile, also in derjenigen Verbindung von Begriffen, durch welche der eine zum Prädicate des andern gemacht wird. Ist nun einmal der Inhalt der ein- zelnen Begriffe selbst als real gesetzt, so sind in Betreff der Verhältnisse derselben unter einander nur zweierlei Annahmen denkbar. Entweder diejenigen logischen Verhältnisse, durch welche ein Begriff dem andern untergeordnet ist, einer zum Prä- dicat des andern werden kann u. 5. f., werden für die als real gesetzten Begriffe in Abrede gestellt, oder sie werden für die- selben als wirklich vorhanden anerkannt. Im ersteren Falle ge- langt man dahin, dass von jedem Begriffe nur er selbst ausgesagt werden kann, also nur identische Urtheile (A ist A) zulässig sind ; in solcher Weise hielten die Antistheniker und die spätern
192 SOPHISTES.
Megariker die Unveränderlichkeit und unbedingte Einheitlichkeit der Begriffe aufrecht mit Aufhebung jeder Möglichkeit eines Wissens. Werden dagegen anderseits die logischen Verhältnisse unter den realen Begriffen als wirklich vorhanden anerkannt, so erhalten sie, als allgemein begrifflich gedacht und als Object eines Wissens, die gleiche reale Bedeutung wie die Begriffe selbst; also Identität, Verschiedenheit u. 5. f., welche das Ver- hältnis unter Begriffen bezeichnen, sind ebenso etwas Seiendes, wie der Inhalt selbst derjenigen Begriffe, deren Verhältnis sie bezeichnen 5%). Die logische Frage nach dem Verhältnisse der Begriffe unter einander wird zu der ontologischen über die Ge- meinschaft der seienden Dinge, über die χοινωνία τῶν γενῶν. Indem nun, wie vorher bemerkt wurde, das Seiende selbst eine der realen Ideen ist, folglich jede andere Idee ist durch ihre Gemeinschaft mit der Idee des Seienden, so ergibt sich, dass unter einander entgegengesetzte Ideen: Ruhe, Bewegung, dlas Schöne, das Hässliche u. a. m., da jede derselben ist, gleich sehr Gemeinschaft haben mit der Idee des Seienden, also, da in ler Gemeinschaft Gegenseitigkeit liegt5!), anderseits das Seiende, obgleich an sich weder in Ruhe noch in Bewegung, weder schön noch hässlich, doch eben so sehr in Ruhe als in Bewegung,
50) Anders spricht sich hierüber Michelis aus $. 188: „Hier stöfst dem Eleaten ernstlich das Bedenken auf, ob nicht diese abgeleiteten Begriffe nur
als an den andern (also als Formalbegriffe) zu nehmen und diese mit den
ersten dreien doch nicht auf dieselbe Stufe zu stellen seien. Aber diese Be- denken werden beseitigt“ u. s.w. Den Gedanken, dass dieser Begriff nur etwas „an den andern“ sein möchte, leitet Michelis aus den Worten Platons ab, 254 E: τί ποτ᾽ αὖ νῦν οὕτως εἰρήχαμεν τό τε ταὐτὸν καὶ ϑάτερον ; πότερα δύο ένη τινὲ αὐτώ, τῶν μὲν τριῶν ἄλλω, ξυμμιγνυμένω μιὴν ἐχείνοις ἐξ ἀνάγκης ἀεί, χαὶ περὶ πέντε ἀλλ᾽ οὐ περὶ τριῶν ὡς ὄντων αὐτῶν σχεπτέον ; ἢ τό τε ταὐτὸν τοῦτο χαὶ θάτερον ὡς ἐκείνων τι προσαγορεύοντες λανϑάνομεν ἡμᾶς αὐτούς; Offenbar hat Michelis die Worte ὡς ἐχείνων τι in dem Sinne auf- gefasst „etwas an jenen Begriffen“. Aber dass diese Worte bedeuten „einen von jenen vorher angeführten Begriffen“, geht aus der folgenden Beweis- führung Platons unwiderleglich hervor.
51) Diesen Satz „da in der Gemeinschaft Gegenseitigkeit liegt“ begleitet Deu/sen $. 57 n. 104 mit einem Ausrufungszeichen und charakterisirt ihn durch „mirifico modo“. Der Satz ist aber meines Erachtens in dem Begriff von χοινωνεῖν, χοιγωνία, ganz abgesehen von der speciellen Deutung, welche man diesen Worten geben mag, dergestalt enthalten, dass er einer weitern Begründung nicht bedarf.
ws
325
SOPHISTES. 193 schön als hässlich sein kann. Nimmt man noch hinzu, dass diese Möglichkeit der Gemeinschaft einer jeden in dieselbe eintretenden Idee als eine reale Eigenschaft zugeschrieben wird, so ergibt sich, dass die Ideen zu Kräften werden, und es begreift sich, dass sie in rascher Folgerung als lebendige Kräfte gesetzt werden. Dieselbe Verbindung also des Entgegen- gesetzten in der Einheit desselben Dinges, welche dazu trieb, die Realität den sinnlichen Dingen abzusprechen und ausschliels- lich den Begriffen zuzuschreiben als Ideen , überträgt sich hier- mit auf die Ideen selbst.
Dass durch diese Weiterführung die Ideenlehre in Wider- spruch mit ihrer eignen Grundlage geräth, wird nicht blofs von Strümpell52) entsprechend dem von ihm verfolgten kritischen Zwecke bezeichnet, sondern wird eben so unverhohlen, behufs klarer Einsicht in den Platonischen Gedankengang, von Zeller dargelegt, von dem letzteren zugleich mit Hinweisung auf die Motive, welche zu diesem Widerspruche trieben. „Platos Phi- losophie“, schreibt Zeller 53), „ist von Hause aus weit weniger auf die Erklärung des Werdens, als auf die Betrachtung des Seins angelegt, die Begriffe, welche in den Ideen hypostasirt sind, stellen zunächst nur das dar, was im Wechsel der Erschei- nungen beharrt, nicht die Ursache dieses Werdens; wenn er sie zugleich auch als lebendige Kräfte fasst, so ist dies ein Zu- geständnis, welches ihm die Thatsachen des natür- lichen und des geistigen Lebens abgenöthigt ha- ben’!), dem aber die Hauptrichtung seines Systems widerstrebt,
52) Strümpell, Gesch. der theor. Philos. der Griechen. 8. 124 ff.
53) Ich entlehne die Worte der 3. Aufl. der Phil. ἃ, Gr. II. 1. 8. 581ff. ; durch die bestimmtere Fassung derselben sind zugleich die Bemerkungen überflüssig geworden, zu denen der Wortlaut der 2. Aufl. des Zellerschen Werkes mir bei der ersten Publication dieses Aufsatzes Anlass gab.
5) Den wesentlich gleichen Gedanken, dass durch die in der χοινωνία τῶν γενῶν enthaltene Weiterbildung der Ideenlehre Platon versuche, die „That- sachen des natürlichen und geistigen Lebens“ von der Grundlage seiner Ideen- lehre aus erklärlich zu machen, hat bereits früher Hartenstein in seiner Ab- handlung über die Bedeutung der Megarischen Schule (Verhandlungen der sächs. Ges. ἃ. Wiss. 1848. S. 194. Kl. Schriften. S. 132) ausgesprochen : „Schlössen sich die dialektischen Erörterungen der Gespräche Parmenides und Sophistes zu klareren Ergebnissen ab, als dies der Fall ist, und führte nament-
Bonitz, Platonische Studien, 13
104 SOPHISTES.
und das mit seinen sonstigen Annahmen über die Ideen sich nicht in Einklang bringen lässt. Es lässt sich erklären, warum er sich bei dem Versuche einer allseitigen Ausbildung seiner Ideenlehre auch diesem Gedanken nicht ver- schloss“ οἷο. Und in Betreff der Unvermeidlichkeit dieses inne- ren Widerspruchs, a. a. Ὁ. Anm.: „Es ist allerdings ein Wider- spruch, den Ideen Bewegung, Leben u. s. f. beizulegen, und zugleich von ihnen zu behaupten, sie seien keiner Veränderung
lich die Entwicklung im Sophistes pag. 244—258 über die χοινωνία τῶν ἰδεῶν nicht auf dieselben Widersprüche zurück, welche den Plato veranlasst hatten die Ideen von den sinnlichen Dingen abzutrennen, so würde man vielleicht sagen können, dass jene dialektischen Erörterungen den Zweck haben, nicht blofs die Verhältnisse der Ideenwelt, sondern auch den Übergang der Ideen in die Erscheinungswelt als das relativ Nichtseiende dialektisch darzulegen.“ Wenn nämlich auf der einen Seite den Dingen der Erscheinungswelt das Sein darum abgesprochen wird, weil jedem derselben zugleich ein Nichtsein eben dessen, was es ist, anhaftet (das einzelne Schöne z. B. ist auch häss- lich u. s. f.), und doch die einzelnen sinnlichen Dinge von den seienden Ideen, durcli deren παρουσία sie das sind, was sie sind, nicht absolut getrennt werden; und wenn nun anderseits für die Ideen selbst eine gewisse Ver- bindung von Sein und Nichtsein, für die Idee des Seins insbesondere die Gemeinschaft mit entgegengesetzten Ideen nachzuweisen unternommen ist, so ist mindestens durch die Gleichheit der Ausdrücke in beiden Fällen — Verbindung von Sein und Nichtsein -— der Schein veranlasst, dass hier- durch ein Übergang von den Ideen zu den sinnlichen Dingen, eine Begrün- dung der sinnlichen Dinge ausschlielslich auf die Ideen hergestellt sei. Dass in der später von Platon unternommenen Ausführung der Naturphilosophie (denn dass der Timäos später als der Sophistes abgefasst ist, darf als zweifel- los betrachtet werden) Plato nicht diesen Weg verfolgt hat, um die sinnliche Erscheinungswelt erklärlich zu machen, sondern einen andern eingeschlagen hat, dessen innere Widersprüche durch die Hülle der mythischen Darstellung überdeckt sind, darf nicht als ein Grund gegen jene Auffassung der χοινωνία τῶν γενῶν und Folgerung aus derselben angesehen werden. Da ohne inneren Widerspruch von der Grundlage der Ideenlehre aus zu einer Erklärung der veränderlichen Sinnenwelt nicht kann gelangt werden, so ist es nicht auf- fallend, ‘wenn dieser Widerspruch verschiedene Gestalten annimmt. Vgl. Zeller a. a. OÖ. S. 583: „Wiewohl sich ihm daher immer wieder die Noth- wendigkeit aufdrängt, in den Ideen neben den Urbildern zugleich auch die wirkenden Ursachen anzuschauen, kann er diesen Gedanken doch nicht wirk- lich durchführen, und greift statt dessen schliefslich für die Erklärung der Erscheinungswelt zu jenen mythischen Darstellungen, welche für die Lücken der wissenschaftlichen Entwicklung doch nur einen schwachen Ersatz geben.“ — Gegen die im obigen enthaltene Auffassung sprechen sich aus Deufsen Κ. 30, Ribbing I. S. 210 ἢ.
ΞΟΡΗΙΒΤΈΒ. 195
irgend einer Art fähig; aber es ist ein Widerspruch, in den sich Plato verwickeln musste, sobald er die beiden Grundbestim- mungen seiner Ideenlehre — dass die Ideen einerseits von der Veränderlichkeit, Getheiltheit und Unvollkommenheit des sinn- liehen Seins nicht berührt werden, anderseits aber doch zugleich das allein ursprünglich Reale und für das abgeleitete Sein der alleinige Grund aller Realität seien — mit einander vereinigen
330 wollte.“ Anders stellen sich zu der in der χοινωνία τῶν γενῶν enthaltenen Entwicklung der Ideenlehre Steinhart und Susemihl. Steinhart rühmt den „unermesslichen Fortschritt zu einer klaren und richtigen Erkenntnis der höchsten Wahrheiten, den dieser Dialog in Platons Entwicklungsgeschichte bezeichnet“ (S. 456); Susemihl sieht in der Verwandlung der Ideen in lebendige Kräfte „einen berichtigenden Rückblick auf die im Phädrus
331 noch als unbeweglich angeschauten Ideen“ (S. 301). Warum ich in diese Lobeserhebungen nicht einstimmen kann, ist vorher dargelegt.
4. Schliefslich mögen noch zwei für die Auffassung des ge- sammten Dialogs Sophistes nicht gleichgiltige Momente in Be- tracht gezogen werden,
Dass der Abschnitt über die χοινωνία τῶν γενῶν den wich- tigsten positiven Ertrag des Sophistes enthält, wird von keinem Erklärer. in Zweifel gezogen. Nehmen wir nun einmal an, man lese diesen Abschnitt ohne irgend einen Gedanken daran, dass γένη, εἴδη für Platon eine andere Bedeutung haben als die der allgemeinen Begriffe in ihrer verschiedenen Abstufung, so würde man sich über das Missverhältnis zwischen dem Inhalt dieses Abschnittes und der Bedeutung, welche er unverkennbar für die gesammte Untersuchung hat, nicht genug wundern können. Dass die Bewegung Bewegung ist und nicht Ruhe, die Ruhe Ruhe ‚und. nicht Bewegung, dass also die Bewegung sich selbst iden- tisch und von der Ruhe verschieden, die Ruhe sich selbst iden- tisch und von der Bewegung verschieden, dass jedem Begriffe sich manche andere als Prädicat zuschreiben lassen, und dass unendlich viele durch ein negatives Urtheil von ihm auszu- schliefsen sind: diese und ähnliche Sätze sollen die Lösung ge- ben für Fragen der Philosophie, deren Schwierigkeiten vorher dargelegt und in den lebhaftesten Farben geschildert sind?
132
196 SOPHISTES.
Aber die Sache erhält eine wesentlich andere Gestalt, sobald wir uns vergegenwärtigen, dass für Platon jedes logische Ver- hältnis eben als solches die Geltung selbständiger Realität hat, und dass in der Voraussetzung dieser Geltung die Bedeutung der ganzen Erörterung legt. Der charakteristische, die Kritik der Megarischen Lehre abschliefsende Ausruf: Τί δὲ πρὸς Διός; ὡς ἀληϑῶς χίνησιν χαὶ ζωὴν χαὶ ψυχὴν χαὶ φρόνησιν ἢ ῥαδίως πει- ee Πόλεις, ἀπο] som ΨΟΧῊΝ αν ΡΟΝ ENTE Ὁ ΄ m «- δ 4 \ - \ Eu εν ὃ \ m
σϑησόμεϑα τῷ παντελῶς Oyrı μὴ παρεῖναι, μηδὲ ζῆν αὐτὸ μηδὲ φρονεῖν, 5 \ x SR - 2 „ 2.08 [φ \ τ .
ἀλλὰ σεμνὸν χαὶ AyLov, νοῦν οὐχ ἔχον, ἀχίνητον ἑστὸς εἶναι ; bezeichnet das Ziel, das in Platons Überzeugung bereits feststeht, trotz des darin enthaltenen Widerspruches zu seinem eigenen Begriffe der Idee; die Lehre von der χοινωνία τῶν γενῶν dient dann dazu, diese Überzeugung zu rechtfertigen, aber unter der Voraussetzung, dass logische Verhältnisse als sojche etwas Reales sind. Man verdeckt aber die wahre Beschaffenheit der Sache, wenn man») diese Behandlungsweise als eine „nur noch erst formal lo- gische* oder als eine „Platon nicht endgiltig befriedigende“ be- zeichnet, oder sagt, dass „auch aus dem logischen Gesichts- uncte die Unwahrheit jenes Gegensatzes (des Seins und Nicht-
J
seins) nachgewiesen“ werde; und man verkehrt geradezu den Inhalt des Sophistes, wenn man ihm zumuthet, dass in ihm die „klare Erfassung des Unterschiedes des Formal- und Realbegriffes, die Unterscheidung des Formalen und Realen im Denken“ ent- halten sei. Vielmehr erhält der ganze entscheidende Abschnitt
332
seine Bedeutung, ja seine Verständlichkeit in jedem seiner Aus-
drücke nur unter der Voraussetzung der Realität des Inhaltes der Begriffe, und zwar eben so sehr derjenigen, welche eine blolse Beziehung ausdrücken, also der „Formalbegriffe“, als der (wirklich oder scheinbar) an sich bestimmbaren; und diese on- tologische Geltung des Logischen ist keineswegs etwas Vorläu- figes, Platon selbst „nicht endgiltig Befriedigendes“, sondern ist der wesentliche Charakterzug der Platonischen Ideenlehre selbst.
5) Die Bemerkungen, auf welche hier Bezug genommen ist, finden sich, die erste bei Susemihl $. 302 und übereinstimmend damit bei Deuschle, Einl. zur Übers. 5. 304, die zweite und vierte bei Michelis $. 197, 201 (vgl. Anm. 50), die dritte bei Steinhart $. 447.
: SOPHISTES. 197
Das Verhältnis der Unterscheidung eines Begriffes vom an- dern, allgemein als Begriff gesetzt, ist das ϑάτερον oder das μὴ v he . . . . ὃν. Fragt man nun, was das μὴ ὃν ist, so ist hierauf keine Antwort zu geben als τὸ μὴ ὃν βεβαίως ἔστι τὴν αὑτοῦ φύσιν
4 er ἘΣ \ ἔχον, ὥσπερ τὸ μέγα ἦν μέγα χαὶ τὸ χαλὸν ἦν χαλὸν χαὶ τὸ μὴ μέγα μὴ μέγα χαὶ τὸ μὴ χαλὸν μὴ χαλόν, οὕτω δὲ χαὶ τὸ μὴ ὃν
τὰ » 14 . χατὰ ταὐτὸν ἦν τε χαὶ ἔστι μὴ ὅν (258 B,C). Aristoteles hat daher nach seinen logischen und ontologischen Grundsätzen vollkommen Recht, wenn er dagegen Einsprache erhebt, dass
\ 4 > \ v \ NEN ” aus τὸ μὴ ὃν ἐστι un ὅν gefolgert werde τὸ μὴ ὃν ἔστιν. Aber er nimmt an der Stelle, wo er diese, meines Wissens bisher noch nicht auf Platon bezogene Kritik übt%), darauf nicht Rücksicht, dass für Platon einerseits schon in der Natur des Allgemeinbegriffes die Folgerung des Seins für τὸ ϑάτερον oder \ Ὰ v .. εἰ . . \ \ Y 5, τὸ μὴ ὃν begründet ist, anderseits in dem Satze τὸ μὴ ὃν ἐστι
N % . r ee, . N _® v 333 un Ὅν eine χοινωνία des μὴ ὃν mit dem Sein, also ὃν, enthalten ist, welche ihn zu dem Satze berechtigt τὸ μὴ ὃν ἔστι πῃ.
Ist aber durch diese Nachweisung des Seins des Nichtseien- den die Realität des Irrthums, welche zu erweisen als Zweck jener Nachweisung bezeichnet wird, wirklich erwiesen, selbst unter dem Zugeständnisse aller Platonischen Prämissen? Das Recht hieran zu zweifeln 5”) wolle man aus folgenden Erwägun- gen entnehmen. Das Nichtseiende ist nichtseiend, es ist also, geben wir zu, in gewissem Sinne seiend. An jedem seienden Begriff ist viel Seiendes, aber unzählig viel Nichtseiendes (περὶ ΄ ἊΨ - 5 Eu \ r ΟῚ ἐν. Υ aN IC \ ἔχαστον ἄρα τῶν εἰδῶν πολὺ μέν ἐστι τὸ ὃν, ἄπειρον δὲ πλήϑει τὸ
ld w . . . μὴ ὃν. 256 E). Aber es ist doch bestimmtes Seiendes, wel- ches an jedem Begriff ist, und davon unterschiedenes be-
5%) Arist. Soph. el. 25. 180% 23 ff. τοὺς δὲ παρὰ τὸ κυρίως τόδε ἢ πῇ ἣ ποῦ ἢ πῶς ἢ πρός τι λέγεσϑαι καὶ pn) ἁπλῶς, λυτέον σχοποῦντι χτὰ. --- εἰσὶ δὲ πάντες ol τοιοῦτοι λόγοι τοῦτ᾽ ἔχοντες, ap’ ἐνδέχεται τὸ μιὴὴ ὃν εἶναι; ἀλλὰ μὴν ἔστι γέ τι μὴ ὄν. ὁμοίως δὲ χαὶ τὸ ὃν οὐχ ἔσται" οὐ γὰρ ἔσται τι τῶν ὄντων.
57) Ohne Bezeichnung eines Zweifels wird der Gang der Beweisführung von Steinhart S. 440 so angegeben: „Die am Schlusse dieses Abschnittes aus jenen Vordersätzen gezogene Folgerung, dass, wie überall ein Sein mit einem Nichtsein sich verbinde, so im Denken und Reden auch eine falsche Verknüpfung der Begriffe zu Urtheilen, also Irrthum und Unwahrheit mög-
lich sei, führt uns auf die vorher abgebrochene letzte Beschreibung dıs Sophisten zurück.“
198 SOPHISTES.
stimmtes Nichtseiendes, welches an demselben ist. Weder in jenem Seienden, noch in diesem Nichtseienden ist Irrthum enthalten, sondern wahre Erkenntnis. Irrthum aber besteht nach Platons eigener Angabe darin, dass Nichtseiendes als seiend, Seiendes als nichtseiend ausgesagt wird. Dieses Sein des Nichtseienden ist im vorhergehenden nicht nachgewiesen — es konnte nicht nachgewiesen werden, weil sonst der Irrthum als wahre Erkenntnis nachgewiesen wäre. Daher ist es begreiflich, dass nach Beendigung der ganzen umfassenden Er- örterung über das Sein des Nichtseienden nicht aus ihr die Möglichkeit des Irrthums abgeleitet, sondern einfach an einem Beispiel die thatsächliche Wirklichkeit dessel- ben dargelegt wird.
ZUR ERKLÄRUNG DES DIALOGS LACHES.
‚ Der Dialog Laches gehört in die Reihe derjenigen kleineren ' Platonischen Dialoge, bei denen der Mangel einer ausdrücklichen Beglaubigung durch Aristoteles, die wirkliche oder scheinbare Resultatlosigkeit der wissenschaftlichen Untersuchung, das Miss- verhältnis der umfangreichen Einkleidung zu dem wissenschaft- lichen Gehalte und ähnliche Gesichtspuncte verwendet worden sind, um die Autorschaft Platons zu: bestreiten. Die Schaar- schmidtsche Schrift, welche bekanntlich in der „Sammlung der Platonischen Schriften“ am gründlichsten aufgeräumt hat, schlägt in Betreff des Dialoges Laches denselben Weg ein, wie bei den übrigen kleineren in Frage kommenden Dialogen: durch eine Zerpflückung und Zerbröckelung des Inhaltes wird eine solche Verkehrtheit der Composition und Nichtigkeit des Resultates nach- gewiesen, dass daraus. geschlossen wird, es sei unmöglich den Dialog für ein Werk Platons zu halten; nur als eine Er- gänzung dieses hauptsächlichen Beweises ist es zu betrachten, dass in sprachlicher und sachlicher Hinsicht aus der Ueberein- stimmung mit andern Platonischen Stellen eben so wie aus der Abweichung von ihnen Gründe der Verdächtigung entlehnt wer-
- ἘΞ
den. Die von Schaarschmidt angewendete Methode der Bestrei- tung veranlasst mich zu dem Versuche, durch eine gewissenhafte Darlegung des Gedankenganges und der vom Verfasser deutlich bezeichneten Gliederung des Dialoges nachzuweisen, dass Inhalt und Composition des Dialoges zu einer Bestreitung seines Plato- nischen Erg kein Recht geben. Insoweit diese Nachwei-
*) Hermes Bd. 5. 5. 429 — 442.
200 LAcHEes.
sung gelingt, würde sie, unabhängig von der Frage nach dem Verfasser des Dialogs, ein Beitrag zu seiner Erklärung sein. Von den einzelnen Einwendungen Schaarschmidts, die ja doch ihr Gewicht erst aus der allgemeinen Nichtigkeitserklärung des Dialogs entlehnen, mögen dann anhangsweise die erheblichsten kurz berührt werden.
Der Gedankengang des Dialogs Laches ist folgender.
Zwei athenische Greise, Lysimachos und Melesias, die ruhm- losen Söhne der berühmten Staatsmänner Aristides und Thucy- dides, haben an die beiden geachteten athenischen Feldherren Nikias und Laches die Einladung gerichtet, mit ihnen der Kunst- production eines Fechtmeisters (Hoplomachen) zuzuschauen, und erklären nun nach beendigter Schau die Absicht ihrer Einladung. In dem beschämenden Bewusstsein ihrer Ruhmlosigkeit wünschen sie in ihren beim Gespräche anwesenden jugendlichen Söhnen mit den Namen zugleich den Ruhm der Grolsväter sich erneuern zu sehen, und wollen zu diesem Zwecke kein Mittel der Bildung unversucht lassen; von den beiden Feldherren erbitten sie sich nun den Rath darüber, ob das Erlernen der Hoplomachie ein für die Jugendbildung zweckmälsiges Mittel sei. Die beiden Feldherren sind zum Aussprechen ihrer Ueberzeugung bereit, nur macht Laches darauf aufmerksam, dass ein competenterer Rath- geber als sie beide der mit anwesende Sokrates sei, der ja der Frage der Jugendbildung sein ernstliches Nachdenken widme. Sokrates, obgleich Demosgenosse des Lysimachos, ist diesem nur dem Namen nach bekannt, von den beiden Jünglingen dagegen um seiner anregenden Gespräche willen verehrt, von Laches wegen der in der Schlacht bei Delion erwiesenen Tapferkeit hoch- geachtet. So richtet Lysimachos, erfreut in der persönlichen Bekanntschaft des Sokrates das freundschaftliche Verhältnis zu ası dessen Vater zu ermeuern, auch an ihn die gleiche Bitte, und Sokrates verspricht ihr Folge zu geben, nur wünsche er, als der jüngere und minder erfahrene, erst die Ansichten der, beiden Feldherren zu hören (c. 1—4).
Nikias spricht sich für die Hoplomachie als Bildungsmittel der Jugend aus;, diese Beschäftigung halte die Jünglinge von schlechtem Zeitvertreib ab, sie sei an sich eine nützliche Kampfesübung und wecke aufserdem Interesse für weitere mili-
ΤΙΛΟΗΒΕ. 201
tärısche Ausbildung in der Taktik, endlich trage sie dazu bei, der Tapferkeit eine edle Haltung zu verleihen (6. 5).
Laches dagegen spricht der Hoplomachie, falls man sie über- haupt für einen Unterrichtsgegenstand ansehen dürfe, jeden Werth ab. Das beweise die Erfahrung. Die eigentlichen Kriegskünstler, die Spartaner, betrieben die Hoplomachie nicht, und Hoplo- machen träten mit ihren Productionen in Sparta nie auf. Kein Künstler solcher Hoplomachie habe sich im Kriege ausgezeichnet, ja der eben jetzt unter lautem Beifalle aufgetretene habe sich in wirklicher Schlacht lächerlich gemacht. Diese Kunst zu erlernen habe weder für den Feigen einen Werth noch für den Tapferen, denn jenen verführe sie zu verderblicher Einbildung, diesem ziehe sie eine schärfere, Beurtheilung zu (c. 6—8).
Bei diesem Widerstreite der Urtheile erbittet und erwartet Lysimachos, dass Sokrates durch seine Beistimmung zu einem der beiden den Ausschlag geben werde. Sokrates lehnt diese Erwartung ab, denn nicht die Mehrzahl der Stimmen dürfe die Entscheidung geben, sondern die Einsicht, und zwar die Ein- sicht in den wirklichen Gegenstand der Frage; dieser sei im vorliegenden Falle nicht die Hoplomachie, welche nur die Be- deutung eines Mittels habe, sondern der durch dieses Mittel er- strebte Zweck, die Bildung der Jünglinge zu männlicher Tüch- tigkeit. Zu einem Rathe hierüber sei nur berechtigt, wer seine Kenntnisse auf diesem Gebiete aufweisen könne, entweder durch Berufung auf die Lehrer, die er gehabt, oder auf die Erfolge seiner eigenen bildenden und erziehenden Thätigkeit. Er könne auf keine der beiden Weisen seine Berechtigung erweisen ; Nikias und Laches würden es gewiss vermögen, weil sie sonst nicht so zuversichtlich ihr Urtheil würden abgegeben haben. Auf die naive Zustimmung des Lysimachos zu der von Sokrates in Aus- sicht gestellten Erörterung bemerkt Nikias, dass jedes Gespräch mit Sokrates auf die Forderung der Selbstprüfung hinauslaufe,
432 eine Forderung, zu deren Erfüllung Laches sich dem Sokrates gegenüber bereit erklärt, da bei Sokrates That und Wort in edlem Einklange stehe. Zu einer thätigen 'Theilnahme an solcher Erörterung bekennt Lysimachos sich für zu altersschwach und übergibt die Führung des Gespräches ausschhelslich dem Sokrates und den beiden Feldherren (ὁ. 9— 15 Anf.).
202 LAcHes.
Die in Aussicht genommene Selbstprüfung ersetzt nun So- krates durch die Aufstellung der Frage: was ist Tugend. Ihre Beantwortung könne insofern als Ersatz gelten, als derjenige, der sich auf Tugend und auf Bildung zur Tugend verstehe, doch gewiss anzugeben vermöge, was Tugend ist. Wegen des weiten Umfanges dieses Begriffes wollten sie übrigens die Frage auf den Theil der Tugend beschränken, um den es sich hier zunächst handle, die Tapferkeit. Es fragt sich also: was ist Tapfer- heit (c. 15. 16).
Zunächst versucht Laches, diesen Begriff zu definiren. Seine erste Definition, dass Tapferkeit darin bestehe, auf seinem Posten auszuharren, muss Laches selbst als zu eng anerkennen; denn Tapferkeit lässt sich noch in anderen Fällen als im Kriege, und im Kriege selbst noch in anderer als der bezeichneten Weise zeigen (c. 17—19 Anf.). — Die zweite Definition des Laches, Tapferkeit sei eine gewisse Beharrlichkeit der Seele, erweist sich als zu weit. Denn die Tapferkeit ist etwas sittlich werthvolles, χαλόν; aber nicht jede Beharrlichkeit hat sittlichen Werth, son- dern nur die mit Einsicht verbundene. Welches ist nun der Gegenstand dieser Einsicht? Sokrates erwähnt beispielsweise Fälle einer Einsicht in die Mittel, einer Gefahr zu begegnen, oder einer Einsicht darüber, dass die Gefahr nur eine scheinbare, keine wirkliche ist. Indem sich offenbar zeigt, dass eine der- artige Einsicht der Beharrlichkeit den Charakter ‚der Tapferkeit vielmehr benimmt , statt ihr sittlichen Werth zu sichern, so bleibt die Definition der Tapferkeit unentschieden, obgleich Laches sich bewusst ist eine Vorstellung darüber zu haben, was denn die Tapferkeit sei (c. 19— 22).
So wendet sich denn Sokrates unter Laches’ Zustimmung mit der gleichen Frage an Nikias. Unter Berufung auf Sokrates’ eigne Erklärung, dass man tüchtig nur in den Dingen sein könne, die man wisse und verstehe, definirt Nikias die Tapferkeit als ein Wissen dessen, was zu fürchten und was nicht zu fürchten ist. — Gegen diese Erklärung erhebt zunächst Laches zwei Ein- würfe. Erstens, für jedes einzelne Gebiet wüssten die Sach- kundigen, z. B. für Krankheitsfälle die Aerzte, den zu erwar- tenden günstigen oder ungünstigen Erfolg, für die allgemeinsten 433 Ereignisse wüssten die Seher den Erfolg; also diese würden die
LAcHEs. 203
Tapferen sein. Dagegen erklärt Nikias, dass es sich nicht um die äufsere Erscheinung des Erfolges handele, sondern darum, ob dieser Erfolg für den, den er trifft, ein wirkliches Gut oder ein Übel sei (c. 22— 24). Den zweiten Einwurf des Laches, dass nach dieser Definition man Thieren nicht könne Tapferkeit zuschreiben, erkennt Nikias als sachlich richtig an, aber nicht als einen Einwurf gegen seine Definition; T'hiere könnten wohl furchtlos sein, aber Tapferkeit könne nur denen, die Einsicht besitzen, zugeschrieben werden (c. 25, 26). — Hierauf über- nimmt Sokrates selbst die Prüfung der von Nikias aufgestellten Definition. Tapferkeit ist, so war vorausgesetzt, ein Theil der Tugend. Nun hat aber doch Wissen dessen, was zu fürchten ist und was nicht, wie Tapferkeit definirt ist, keine andere Be- deutung als Wissen der zu erwartenden Güter oder Übel. Das Urtheil über Gut oder Übel bleibt aber das nämliche, mag das Gut und Übel der Gegenwart , Vergangenheit oder Zukunft an- gehören. Folglich ist in Wahrheit Tapferkeit definirt als Ein- sicht überhaupt in das, was ein Gut und was ein Übel ist, und es ist hiermit nicht ein Theil der Tugend, sondern die Tugend überhaupt definirt (27—29).
Den Spott des Laches, dass auch ihm die Definition der Tapferkeit nicht gelungen sei, erwidert Nikias mit der Versiche- rung, dass für ihn in der Nachweisung des Mangels seiner Ant- wort nur der Antrieb zu weiterer Erforschung der Sache liege. Beide aber sind einig darin, den Greisen zu rathen, sich in den Fragen über die tüchtige Bildung ihrer Söhne an Sokrates zu wenden; Lysimachos, als der Sprecher beider, nimmt diesen Rath gern an und erlangt des Sokrates bereitwillige Zustimmung (6. 80, 81).
Durch die dialogische Form scheiden sich die Abschnitte, in denen Lysimachos am Gespräche theilnimmt (c. 1—15, 30, 31), von dem Theile, in welchem sich dieser ausdrücklich davon zurückzieht und dessen Führung dem Sokrates, Nikias und Laches allein überlässt. Diesem Unterschiede in der Form des Dialogs entspricht der Inhalt; in jenen umgebenden Abschnitten ist die specielle Frage über die Bildung der beiden Jünglinge und über die Anwendung eines damals eben in Brauch kommenden
204 LAcHes.
Bildungsmittels behandelt, in dem mittleren die Frage nach der Definition der Tapferkeit. Innerhalb des ersten Abschnittes (e. 1—15) bildet das Eintreten des Sokrates in das Gespräch einen in formaler Hinsicht bedeutenden Wendepunct, ὁ. 9: 685 434 hat die gleiche Bedeutung für den Inhalt; die speciellste Frage über ein einzelnes Bildungsmittel führt den, der sie gründlich und sicher beantworten will, zu der allgemeinen Frage nach dem Wesen der Tugend. Vor dem Eintreten des Sokrates in das Ge- spräch spricht zuerst Nikias in längerem Zusammenhange, dann Laches; sachlich unterscheiden sich diese beiden Abschnitte. so, dass von Nikias Gründe aus der Natur der Sache geltend gemacht, von Laches gewöhnliche und bekannte Erfahrungen 'vorgebracht werden, wesentlich derselbe Unterschied, der in dem zweiten, die Definition der Tapferkeit behandelnden Theile des Dialoges zwischen Laches und Nikias eingehalten wird. — In diesem zweiten Theile nämlich scheiden sich durch die Form des Ge- sprächs der Abschnitt, in welchem Laches, von dem, in welchem Nikias eine Definition der Tapferkeit zu geben sucht, ο. 16—21, 22—29, in dem letzteren wieder die Partie, in welcher Laches die Definition des Nikias bestreitet ec. 22—26, von der, in welcher Sokrates seine Einwendung gegen dieselbe begründet c. 27—29. Auch hier entsprechen den formalen Unterschieden die sachlichen; Laches bezeichnet, auf Grund der Erfahrung und im Einklange mit den üblichen Ansichten, zunächst die äufsere Erscheinung der kriegerischen Tapferkeit, sodann einen allgemeinen Charakter- zug derselben; Nikias unternimmt es die wesentliche Grundlage anzugeben, auf der ihr sittlicher Werth beruht. Und während die Einwendungen des Laches gegen Nikias nur den verbreiteten Ansichten einen Ausdruck und dadurch dem Nikias Anlass geben seine Definition näher zu erläutern, zeigen die Gegenbemerkungen des Sokrates die logischen Mängel der Definition.
Der Dialog schliefst unentschieden insofern, als zu. einer unbestrittenen Definition der Tapferkeit nicht gelangt ist; dass dennoch die sämmtlichen Unterredner am Schlusse ihr volles Vertrauen zu Sokrates beweisen, dem das Auffinden der gesuchten Definition nicht gelungen: ist, würde durch die Composition (65 Dialoges nicht gerechtfertigt erscheinen , wenn nicht trotz ‚dieser scheinbaren Erfolglosigkeit die Lösung der. Frage wirklich ge-
οι
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geben wäre. Gegeben ist sie nämlich in den Sätzen, die unbe- stritten stehen bleiben. Unbestritten bleibt, dass die Tapfer- keit eine auf Einsicht beruhende Beharrlichkeit des Charakters ist; aber der Gegenstand dieser Einsicht, durch welche die Tapferkeit erst einen sittlichen Werth erhält, ist unbestimmt ge- lassen. Unbestritten bleibt anderseits, dass Tugend in der Ein- sicht über das was ein Gut und was ein Übel ist, besteht oder darauf beruht; aber unentschieden ist gelassen, was speciell die Tapferkeit im Unterschiede von anderen Tugenden charakteri- sire. Wir brauchen nur die unbestritten gelassenen und dadurch als giltig anerkannten Sätze zu verbinden, um darin die voll- ständige Definition der Tapferkeit zu haben; der Gegenstand der Einsicht ist bestimmt, durch welche die Beharrlichkeit einen sitt- lichen Werth gewinnt, und für das in dieser Einsicht beruhende allgemeine Wesen der Tugend ist die Beharrlichkeit als das spe- cifische Merkmal anerkannt, durch welches die Tapferkeit sich von den anderen Tugenden unterscheidet. Der Dialog führt also durch seinen eignen Inhalt mit Ausschliefsung jedes willkürlichen Hineindeutelns auf die Definition der Tapferkeit!) als der auf sittlicher Einsicht beruhenden Beharrlichkeit.
1) Zeller nimmt in der 3. Auflage seiner Phil. ἃ. Gr. II, 1. 8. 502, 1 auf die obige Erörterung Bezug und bestreitet, dass die von mir versuchte Auffassung des Dialogs von willkürlicher Deutung frei sei. „Mir scheint aber diese Combination doch etwas mehr in dem Gespräche zu finden als wirklich darin liegt. Denn Sokrates bestreitet 192 D ff. nicht blofs die Vor- stellung, als ob eine unverständige Beharrlichkeit den Namen der Tapferkeit verdiene, sondern vorher noch zeigt er, dass auch die Definition der letzteren als φρόνιμος χαρτερία nicht zutreffe; und sind auch die Gründe, mit denen er dies beweist, vom Sokratisch-Platonischen Standpuncte selbst aus keines- wegs unwiderleglich, so wird doch hier mit keinem Worte darauf hinge- wiesen, dass sie nicht ernstlich gemeint seien: es wird gezeigt, die Tapfer- keit sei weder eine χαρτερία φρόνιμος noch eine ἄφρων χαρτέρησις, woraus man doch nur schliefsen kann, dass ihr Wesen überhaupt nicht in der χαρτερία bestehe. Anderseits wird die von Nikias vorgetragene echt Sokratische De- finition, wie soeben bemerkt wurde, nicht unbedingt bestritten, sondern es wird nur nachgewiesen, dass sie sich mit der Voraussetzung, als ob die Tapferkeit blofs ein Theil der Tugend sei, nicht vertrage; ob aber der Fehler in jener Definition oder in dieser Voraussetzung liege, wird nicht gesagt. Mir scheint nach dem Standpunct, den Plato auch im Protagoras einnimmt, nur das letztere seine Meinung sein zu können, so dass demnach das Positive, auf welches die scheinbar ergebnislose Erörterung des Laches hindeutet, in
200 LAcHEs.
Wenn die im obigen bezeichnete Gliederung des ‚Dialogs 436 Laches zu den von dem Verfasser selbst durch die dialogische -
dem Sokratischen Satze läge, dass auch die Tapferkeit, wie alle Tugend, auf ein Wissen, die Erkenntnis des Guten, zurückführe.“ — Ich habe mich bei erneuter Erwägung des Gegenstandes von dem entscheidenden Gewichte der von Zeller entwickelten Gründe nicht überzeugen können. Dass man über- all, wo man jemanden als ἀνδρεῖος anerkennt, ihm eine χαρτερία zuschreibt, wird weder an sich, noch durch die angewendeten Beispiele in Zweifel ge- zogen. Aber da nicht jede χαρτερία als sittlich edle Handlung und als ἀνδρεία anzuerkennen ist. so fragt sich, welche Art der χαρτερία aus dem gesammten Umfange des Begriffes durch ein besonderes Merkmal herauszuheben ist. Gesetzt nun, es würde in unserem Dialoge wirklich ausgesprochen, dass „die Tapferkeit weder eine χαρτερία φρόνιμος noch eine ἄφρων zaptepnars“ sei, 50 würde selbst daraus nicht mit ausschlielsender Nothwendigkeit folgen, „dass ihr Wesen überhaupt nicht in der καρτερία bestehe“, sondern es bliebe auch die andere Möglichkeit, dass die bestimmenden Merkmale aus einem dis- paraten Gebiete gewählt seien, also jedes der beiden entgegengesetzten Merk- male gleich wenig geeignet sei das Wesen der ἀνδρεία zu bestimmen. Aber thatsächlich darf man doch wohl diese gleichmälsige Negation der beiden Glieder „weder eine χαρτερία φρόνιμος noch eine ἄφρων “upripnsıs“ unserem Dialoge nicht zuschreiben, sondern die Erklärung über jedes derselben ist wesentlich verschieden. Dass eine χαρτερία μετ ἀφροσύνης nicht könne eine Tugend sein, dass sie vielmehr, um auf diese Anerkennung Anspruch zu haben, eine zaprepta μετὰ φρονήσεως sein müsse, wird von beiden Unterrednern als zweifellos angenommen, p. 192 C,D. Aber zu φρόνησις ist die Bezeich- nung des Objectes der Einsicht erforderlich , ἡ eis τί φρόνιμος. Indem nun versuchsweise solche Objeete angeführt werden, von denen Einsicht zu be- sitzen den Werth der zuprepta vielmehr herabsetzt und aufhebt statt ihn zu erhöhen und zu veredlen, scheint der Versuch, auf diesem Wege das Wesen der ἀνδρεία zu finden, vergeblich und wird aufgegeben. Hätte nun Platon, wie Zeller anzunehmen scheint, den Leser zu der. Folgerung veranlassen wollen, „dass das Wesen der ἀνδρεία überhaupt nicht in der χαρτερία bestehe“, so hätte er, meines Erachtens, dazu einen unzweckmälsigen Weg einge- schlagen; denn da aus der Natur der blofs beispielsweise gewählten Objecte der Einsicht die Schwierigkeiten entstehen und die Aufzählung der mög- lichen Objecte keineswegs als abgeschlossen erscheint, so führt der von Platon eingeschlagene Gedankengang den Leser vielmehr auf die Vermuthung,, dass eben in dieser Wahl der Fehler und Mangel zu suchen sei. Nun vermisst Zeller eine Andeutung dafür, dass die allerdings nicht unwiderleglichen Gründe gegen die φρόνιμος καρτερία „nicht ernstlich gemeint seien“, Sollte nicht, selbst ohne eine bestimmte Andeutung, in der nachfolgenden Auf- stellung des wirklichen Objectes der φρόνησις die ausreichende Weisung für das Verständnis enthalten sein? Aber wenn ich nicht irre, fehlt nicht einmal die vermisste speciellere Andeutung. Denn um die Definition ἐπιστήμη τῶν δεινῶν χαὶ τῶν ϑαρραλέων in ihrer richtigen Bedeutung zu sichern, werden
LacHes. 207
Form gegebenen Zeichen nichts hinzugefügt hat, und das Er- gebnis des Dialogs selbst die unabweisliche Folgerung aus der hergestellten Disposition ist: so werden dadurch die Hauptvor- würfe gegen den Laches beseitigt sein. Die Composition hat eine Einfachheit und Durchsichtigkeit, dass man, wenn ein anderer als Platon der Verfasser des Laches ist, nur wünschen muss, es möchten von diesem namenlosen Verfasser sich noch mehr Arbeiten erhalten haben; und das Ergebnis ist für den aufmerksamen, mitdenkenden Leser ein vollkommen bestimmtes, der Platonischen Lehre genau entsprechendes, in welchem nur ein flüchtiges Haften an der Oberfläche einen Widerspruch zu dem letzten Theile des Protagoras?) finden kann. Die „Glorifi- eirung des Sokrates“ ?) ist also nicht unbegründet, wie Schaar-
durch die von Laches in der Form des Einwandes vorgebrachten Beispiele solche Fälle zur Sprache gebracht, die den vorher zur Widerlegung der φρόνιμος χαρτερία angewendeten durchaus analog sind, ja das erste Beispiel (195 B ἰατρός) ist nahezu die Wiederaufnahme eines dort (192 D) angewen- deten. Und ferner, während in der mit Nikias geführten Untersuchung die Ausdrücke ἐπιστήμη τῶν δεινῶν, σοφία die herrschenden sind, so fehlt doch die Anwendung des Wortes φρόνιμος nicht, 197 C ἀνδρεῖα δὲ (χαλῶ) τὰ φρόνιμα περὶ ὧν λέγω. — Erwägungen dieser Art, die sich leicht noch weiter ins einzelne verfolgen lassen, machen es mir unmöglich, mir die Auffassung Zellers anzueignen, und bestimmen mich, die oben im Texte dargelegte un- verändert beizubehalten. Dass in der schliefslich erwähnten Vergleichung des Protagoras kein Gegengrund gegen meine Auffassung enthalten ist, habe ich in den Bemerkungen zu diesem Dialog darzulegen versucht.
: ἢ Schaarschmidt S. 410: „—, womit sich der noch grölsere Übelstand verbindet, dass die sokratische Definition der Tapferkeit aus dem Protagoras mit den anderen Erklärungen dieser Tugend das Schicksal, widerlegt und verworfen zu werden, theilt.“ Im letzten Theile des Protagoras wird er- wiesen, dass auch die Tapferkeit auf Wissen beruht, dass sie eine ἐπιστήμη τῶν δεινῶν χαὶ τῶν μὴ δεινῶν ist; es wird nicht gesagt oder angedeutet, dass hiermit ihre vollständige Definition, zur Unterscheidung von andern Tugenden, gegeben sei; nur auf die Nachweisung der allen Tugenden gemeinsamen Abhängigkeit von dem Wissen kommt es an. Dass die Tapferkeit ἐπιστήμη τῶν δεινῶν χαὶ τῶν μιὴ δεινῶν sei, wird im Laches nicht bestritten, sondern nur, dass hiermit ihr specifischer Unterschied von andern Tugenden aus- reichend bezeichnet sei.
3) Schaarschmidt Κ΄. 411: „Freilich liefern die Platonischen Gespräche auch Idealisirung und Glorifieirung des Sokrates, aber immer so, dass Sokrates eben durch seine formelle Kunst der Dialektik und den speculativen Gehalt seiner Unterredungen als der grolse Philosoph dargestellt wird, während im Laches zwischen dem ihm zuertheilten Lobe und seinem dürftigen Auftreten
208 LacHes.
schmidt behauptet; Sokrates führt wirklich von den irrigen oder 437 doch mangelhaften Vorstellungen über die Tapferkeit, wie die- selben verbreitet sind und in den Worten des Laches und Nikias ihren Ausdruck erhalten, zur Einsicht in das Wesen dieser Tu- gend, wenn er auch nicht, wie für unaufmerksame Leser, die Definition selbst schliefslich noch summirend ausspricht.
Zu dem aus Composition und Inhalt von Schaarschmidt ge- führten Hauptbeweise, dass der Laches zu schlecht sei, um für ein Werk Platons gelten zu können — eine Beweisführung, die ich hoffe hiermit als verfehlt nachgewiesen zu haben —, kommt bei Schaarschmidt nur wie ergänzend noch die Nachweisung, dass der Laches voll sei von Entlehnungen, theils aus echt Platonischen, theils aus anderen unechten Dialogen, so dass wir so glücklich seien, unter diesen unechten selbst zu einer chronologischen Folge zu gelangen. Man glaubt bei der Leetüre dieser Vorwürfe über Entlehnungen den Athenäos in etwas ver- änderter Maske neu belebt zu hören; wusste jener für alle Ge- danken Platons andere Urheber nachzuweisen, so geschieht hier das gleiche, um zu zeigen, dass die angeblich unechten Dialoge sich nur aus den Schätzen des echten Platon versorgt haben. Entlehnt aber sollen sein, um bei dem hervortretendsten stehen zu bleiben, Gedanken, Personen und Ausdrücke. Dass Sokrates über die Geistesbildung der Jünglinge den besten Rath ertheile, ist entlehnt aus dem angeblich unechten Euthydemos; das Thema der Tapferkeit stammt aus Protagoras; der Uebergang von irgend ἡ einer anderen Frage über eine "Tugend zu der über ihr Wesen, die Erwähnung von Lehrern der Tugend und die Bemerkung, dass Sokrates nicht in der Lage gewesen, die Sophisten, welche sich für Lehrer der Tugend ausgeben, zu hören, das alles ist eitel Benutzung des ebenfalls unechten Menon. — Wenn Demosthenes in seinen Philippischen Reden die gleichen Gedanken in mannig- fachen Variationen zum Ausdruck bringt, so sieht jeder Leser nur, welches die Grundsätze dieses Staatsmannes sind, es fällt
ein nicht zu lösender Widerspruch obwaltet, woran die dramatische Einheit des Gespräches und damit der Glaube an dessen Platonische Abkunft schei- tert. — Sonach wäre die Prosopographie des Gesprächs ebenso verfehlt, wie dessen philosophischer Inhalt nichtig ist.“
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Lachs. 309
keinem ein, daraus einen Verdacht der Unechtheit zu schöpfen ; die wirklichen Entlehnungen, die wir in den Nachahmungen vor uns haben, charakterisiren sich in ganz anderer Weise. Soll es Platon nicht erlaubt sein, auf Gedanken, welche in dem Mittel- punete der Sokratischen und seiner eignen Lehre stehen, auf die Fragen, zu welchen die Culturverhältnisse seiner Zeit und seine eigne Stellung zu ihnen führten, in mehr als einer seiner Schriften einzugehen? Und von der bezeichneten Art ist ja doch alles, was als Entlehnung zum Beweise der Unechtheit soll verwerthet werden. — Was die Personen betrifft, so sollen Nikias und Laches an den Dialog Euthydemos erinnern und den Platz der beiden dort vorgeführten Sophisten Euthydemos und Dionysodoros
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einnehmen (a. a. (Ὁ. δ΄. 411). Man muss es sich versagen, die Unhaltbarkeit solcher Zusammenstellung stärker zu bezeichnen, da Schaarschmidt doch zurückhaltender spricht und den Nikias und Laches nur „gewissermalsen“ den Platz jener Sophisten einnehmen lässt. Aber ganz evident sind Lysimachos und Melesias aus Menon hergeholt (a. a. ©. δ. 412); denn dort wird erwähnt, dass Aristides seinen Sohn Lysimachos zwar auf andern Gebieten wohl unterrichten liefs, aber ihn nicht zu einem tüchtigen Staats- manne bildete, und in dem gleichen Sinne wird nachher unter andern Melesias, des T'hucydides Sohn, genannt; und diese Ent- lehnung geschieht ungeschickt genug, denn die Vorwürfe gegen Aristides und Thhucydides im Laches „enthalten einen Widerspruch zu dem in Menon vorgebrachten“, und bei dem vorausgesetzten „Verhältnis des Lebensalters des Lysimachos zum Sokrates“ hat der Verfasser des Laches die Chronologie wenig beachtet. Ein Widerspruch liegt nun gewiss darin nicht, dass dieselbe That- sache, die Ruhmlosigkeit der Söhne berühmter Staatsmänner, in anderer Weise vom Platonischen Sokrates, in anderer von diesen Söhnen selbst verwerthet wird. Indem Sokrates zu jener 'That- sache die Voraussetzung hinzunimmt, dass jene berühmten Staats- männer den Wunsch hatten, ihre Söhne zu gleicher Bedeutung zu bilden, und in der Lage waren, alle zu diesem Zwecke mög- lichen Mittel anzuwenden, so folgert er, es müsse die Tugend überhaupt nicht lehrbar sein; die Sohne selbst dagegen glauben in der Thatsache ohne weiteres den Beweis zu ersehen, dass ihre Väter über den Staatsgeschäften die Sorge für die Ihrigen ver-
Bonitz, Platonische Studien. 14
210 LacHes.
säumten. Eine chronologische Schwierigkeit bleibt allerdings, nur trifft sie nicht das Lebensalter des Lysimachos im Verhältnis zu dem des Sokrates, sondern das des Melesias; doch sind wir bei derselben nicht im Stande, sie zu völliger Bestimmtheit zu bringen, und würden selbst dann, wenn wir es könnten, nach der Analogie zweifellos echter Platonischer Werke uns bedenken müssen, daraus einen Schluss auf die Unechtheit des Dialoges zu ziehen‘). Und wenn endlich das Auftreten des Lysimachos und Melesias, zusammengehalten mit ihrer Erwähnung im Menon, zu einem Zeichen der Entlehnung werden soll, so werden wir gegen den Phädros oder das Symposion bedenklich werden müs- sen, da in beiden die ängstliche Folgsamkeit des Phädros gegen seinen Arzt in vollkommen gleicher Weise verspottet wird, ja wie weit liegt es denn dann noch entfernt, zu dem 'Thrasymachos der Republik den Keim im Phädros zu finden. — Sollen wir nach diesen Beispielen die angeblichen Entlehnungen im sprach- lichen Ausdruck noch in Betracht ziehen? Bei der angelegentlichen Aufforderung zum Besuche findet sich im Laches wie im Eingange der Republik zu dem positiven Ausdruck noch der negative μὴ ἄλλως ποίει ἢ hinzugefügt, die Thatsache des Rückzuges bei Delion
4) Aristides war schon in der Schlacht bei Marathon (Plut. Arist. 5), es ist daher ein chronologisch durchaus wahrscheinliches Verhältnis, dass der älteste Sohn des Aristides, als solchen lässt uns ihn der grolsväterliche Name
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voraussetzen, zu dem 469 oder 470 gebornen Sokrates im Verhältnis des -
Greises zu dem Manne stand. — Nicht das gleiche ergibt sich in Betreff des Melesias. 'Thucydides besals noch im Jahre 444 eine solche Bedeutung im Staate, dass seine Verbannung als eine wesentliche Machtzunahme für Perikles betrachtet werden konnte. Es ist dabei immerhin möglich, dass er um diese Zeit schon in hohem Alter stand und Melesias einige Jahre älter war als Sokrates. Aber jedenfalls liegt darin, dass des Aristides und des Thucydides älteste Söhne wie ungefähre Altersgenossen eingeführt werden, eine chronologische Schwierigkeit.
5) Schaarschmidt $. 413, „Wie schon Ast bemerkt, erinnert die Weise, wie Lysimachos sich zu Anfang 181 B, C mit freundschaftlichen Vorwürfen an Sokrates wendet, an den Kephalos in der Republik, besonders 328 C, D, wobei das χρῆν μὲν — μὴ ἄλλως ποίει, ἀλλὰ σύνισϑι wörtlich hinüberge- nommen ist. Doch wie albern und verworren, setzt Ast mit Recht hinzu, erscheint das Geschwätz des Lysimachos gegen die schöne und heitere Red- seligkeit des alten Kephalos.“ Wenn Ähnlichkeit der Situationen zu einem Beweise der Entlehnung umgestempelt wird, so wird es auch bei den von Schaarschmidt dem Platon gelassenen Dialogen nicht an Schwierigkeiten
410
LacHes. 211
und der dabei von Sokrates bewiesenen Unerschröckenheit wird mit ähnlichen Worten im Laches wie im Symposion erwähnt; das Bild der unruhig bewegten See für das Schwanken und Wogen der Zweifel, der Jagd für die Unablässigkeit im Verfolgen eines Zieles der Untersuchung, alle diese Ausdrucksweisen des Laches finden sich auch in Platonischen Werken, welche Schaarschmidt als echt bestehen lässt. Führwahr, ein Schriftsteller, der auf die Wahrung seines Eigenthums bedacht sein will, wird sich hüten müssen in verschiedenen Schriften dieselbe Sache mit fast glei- chen Worten zu erwähnen, etwa in verschiedenen Schriften von dem Sturme der Leidenschaften, dem Schwanken des Zweifels, dem schlüpfrigen Boden einer Untersuchung u. a. zu sprechen; er wird sich dadurch in den Verdacht bringen, sein eigner Nach- ahmer zu sein.
Die angeblichen Entlehnungen des Laches aus anderen Platonischen Dialogen können so wenig wie die vermeintliche Leerheit seines Inhaltes und Mangelhaftigkeit seiner Composition den Beweis herstellen, dass der Dialog Laches des Platon un- würdig sei und nicht könne von ihm verfasst sein. Dass für den Laches nicht ein positiv jeden Zweifel ausschlielsendes Zeug- nis des Aristoteles vorhanden ist, darin hat allerdings Schaar- schmidt Recht; nur ist dies eben nichts neues, und neu nur die Wendung, dass der blofse Mangel ausdrücklicher Beglaubigung schon zu einem Gewichte in der Wagschale des Zweifels gemacht wird. Die bekannten, mit dem Inhalte des Laches zusammen- treffenden Bemerkungen der Aristotelischen Ethik können sich blofs auf verbreitete Ansichten, sie können sich auf das in einer Schrift vorkommende beziehen. Das letztere ist nach Aristoteles’ Weise das wahrscheinlichere; unter dieser Voraussetzung und der weiteren, dass der Laches, mit dem die Bemerkungen des
fehlen. Albern und verworren und ein blofses Geschwätz sind die Worte des Lysimachos nicht; dass in die des Kephalos noch ein anderes Ethos hineingelegt ist, entspricht eben der Charakteristik des Kephalos, die von der des Lysimachos durchaus verschieden ist. Zusammenstimmend sind nur die fünf, nicht aufeinanderfolgenden Worte, welche in solchem Falle kaum zu umgehen waren, χρῆν und σύνισϑι, und die bei angelegentlichen, in herz- lichem Tone ausgesprochenen Aufforderungen übliche Gesprächsformel μὴ ἄλλως ποίει, aufser Rep. I 328 D z. B. II 369 B. Phäd. 117 A.
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91Ὁ Lacuss.
Aristoteles genau zusammentreffen,, die fragliche Schrift ist, folgt immer nur, dass zur Zeit der Abfassung der Nikomachischen Ethik der Dialog Laches bereits vorhanden war, aber allerdings noch nicht, dass Aristoteles den Laches als eine Platonische Schrift betrachtet hat. Aber gegen diejenige Wendung, welche Schaarschmidt (a. a. ©. 8. 406) den Aristotelischen Bemerkungen zu geben sucht, dass vielleicht aus ihınen der Verfasser des Laches erst geschöpft habe, muss man sich als gegen einen. völlig unerweisbaren Gedanken verwahren. Wenn Aristoteles sagt τὸν φόβον ὁρίζονται προσδοχίαν xaxod Eth. Nic. II 9. 1115%9, und es dagegen in Laches heilst δέος γὰρ εἶναι προσδοχίαν μέλλοντος χαχοῦ 195 B, so ist das an sich nicht erforderliche μέλλοντος nicht ein P’leonasmus, „der einem schärferen Denker nicht zuzutrauen ist“ und der daher den Nachahmer verräth; sondern es wird nur be- reits in dem Ausdruck der Definition das allerdings im Begriffe der προσδοχία enthaltene Moment bezeichnet, welches in der unmittelbar folgenden Erörterung für den Gegensatz der zukünf- tigen und der gegenwärtigen Uebel erforderlich ist. — Ja noch mehr, die Erklärung des Laches, dass die Tapferkeit sei ἢ τῶν δεινῶν χαὶ ϑαρραλέων ἐπιστήμη 195 A, 196 D, 199 C, soll nur eine in die Sokratisch - Platonische Sprache gemachte Rückübersetzung der Aristotelischen Definition sein, dass ἢ ἀνδρεία μεσότης ἐστὶ περὶ φόβους χαὶ ϑάρρη. Diese Mischung von Aristötelischem und Platonischem Eigenthume ergab dann, sagt Schaarschmidt,
„einen so getrübten Ausdruck, dass statt des richtigen Gegen-
satzes von Furcht (φόβοι) und Kühnheit (ϑάρρη) die unklare Entgegensetzung von furchtbar (δεινά) und kühnlich (dappakea ) erfolgt.“ Getrübt und unklar ist der Ausdruck nur in der fal- schen deutschen Uebersetzung, klar und rein der griechische Ausdruck; denn ϑαρραλέος ist nicht nur die Eigenschaft des ϑαρρῶν, sondern auch der Dinge ἅ τις ϑαρρεῖ. So findet sich ϑαρραλέος von Homer an gebraucht, so findet es sich oft genug in den von Schaarschmidt nicht angegriffenen Platonischen Schriften. ἢ Es ist gewiss sehr „kühnlich“, dass Schaarschmidt
6), Unbegreiflich ist, dass Schaarschmidt der vollkommen gleiche Ge- brauch von ϑαρραλέος im Protagoras entgangen ist. Wenn in dem letzten Abschnitte desselben sonst regelmäfsig δεινά und pi) δεινά einander entgegen-
441
Hi
LAcHEes. Sales,
seine Unkenntnis dieser bekannten 'Thatsache des griechischen
Sprachgebrauches dem Verfasser des Laches zur Schuld anrech-
τῷ
net, und es wird erlaubt sein, nach diesem Beispiele die allge- meine Rüge Schaarschmidts gegen die Sprache des Dialogs Laches 7) so lange unbeachtet zu lassen, bis sie zu vollkommner Bestimmtheit präcisirt ist.
Es ist weder schwer noch neu, gegen die Composition des Laches in einer Hinsicht Tadel auszusprechen: die Einkleidung über den Werth der Hoplomachie nimmt einen unverhältnis- mälsig grolsen Umfang ein im Vergleich zu derjenigen begriff- lichen Untersuchung, zu der sie doch unverkennbar hinführen soll. Damit man sich bedenke, aus einer solchen, an sich rich- tigen Bemerkung Folgerungen zu ziehen, möchte ich schliefslich noch auf zwei Gesichtspuncte hinweisen. Erstens, es ist für uns nicht mehr zu ermitteln, welchen speciellen Anlass eine derartige von Platon gewählte Einkleidung hat; wir können daher die Möglichkeit nicht im voraus zurückweisen, dass die Ausführlichkeit in dem, was für die begriffliche Untersuchung blofse Einkleidung ist, für Platon durch besondere Umstände motivirt war. Zweitens, man hebt Mängel der Composition in denjenigen Dialogen hervor, bei denen die Unvollständigkeit der Beglaubigung eine Bestreitung des Platonischen Ursprungs er- möglicht; sie werden wenig oder nicht berührt bei Werken, deren Platonischer Ursprung nicht kann in Zweifel gezogen werden. Es ist üblich, den Phädros auch in Betreff seiner Composition zu bewundern ; ist es denn aber wirklich tadellos, dass das Ver- hältnis des zweiten Theiles zu dem Inhalte der Reden des
gesetzt werden, z. Ὁ. 360 C, D, so wird einmal dem pr, δεινά das synonyme ϑαρραλέα substituirt, 359 U πότερον οἱ μὲν δειλοὶ ἐπὶ τὰ θαρραλέα ἔρχονται, οἱ δὲ ἀνδρεῖοι ἐπὶ τὰ δεινά, und dies ἐπὶ τὰ ϑαρραλέα wird nachher umschrieben durch ἐπὶ & 1ε ϑαρροῦσιν 359 1). Dass dieser Gebrauch bei Platon nicht auf diesen einen Beleg aus dem Protagoras beschränkt ist, weist schon Ast im Lexikon nach, indem er Rep. V 450 E, Legg. XII 959 B mit Recht anführt. Die gleiche Gebrauchsweise liest man schon im Homer Α΄ 229 μᾶλλον Yarrwpr) χαὶ ϑαρσαλεώτερον ἔσται, dieselbe Bedeutung von ϑαρσαλέος erkennt man in dem adverbiellem Gebrauche bei Thucydides 2, 51 ἐν τῷ ϑαρσαλέῳ εἶναι.
7) 8. 414: „Auch die Sprache des Dialogs lässt manches zu wünschen übrig und entfernt sich, auch abgesehen von der Berücksichtigung des ari- stotelischen Gebrauchs, vielfach von der der echt Platonischen Werke.“
214 Lachs.
ersten T'heiles, namentlich zu der umfassenden letzten, nur aus ein paar Andeutungen zu erschlieisen ist? Oder pflegt etwa der Republik gegenüber der Vorwurf betont zu werden, dass der Um- fang und Inhalt des Gespräches die mit Recht bewundeıte Form der Einkleidung ganz durchbricht? Hält man sich einmal berechtigt, aus der Form der Compositon Schlüsse für oder gegen Platons Autorschaft zu ziehen, so ist doch mindestens die Anwendung eines gleichen Malses erforderlich, wenn überhaupt von Kritik und nicht von blofsem Belieben die Rede sein soll.
ZUR ERKLÄRUNG DES DIALOGS EUTHYPHRON.
Schleiermacher hat in seinem das Verständnis Platons neu begründenden Werke sich ein besonders hervortretendes Verdienst um die kleineren Dialoge Platons erworben ; war man sonst ge- wohnt, die Bemerkung Ciceros (Acad. I. 13 “Platonis in libris nihil adfirmatur et in utramque partem multa disseruntur, de omnibus quaeritur, nihil certi dieitur) jedenfalls für diese klei- neren Schriften Platons gelten zu lassen, so zeigt Schleiermacher, dass deren Resultatlosigkeit blolser Schein ist, dass das Wort der Lösung zwar nicht zur Bequemlichkeit für unaufmerksame Leser am Schlusse ausdrücklich ausgesprochen, wohl aber dem nachdenkenden Leser der Weg der Lösung bestimmt vorgezeich- net ist. Eine Ausnahme hiervon macht Schleiermacher beim Euthyphron; es finden sich, schreibt er, in demselben nicht solche indirecte Andeutungen, welche den aufmerksamen Leser hinreichend mit der Ansicht des Verfassers bekannt machen. Wenn dieser Umstand leicht den Verdacht erregen könne, ob nicht der Euthyphron zu denjenigen Gesprächen gehöre, die dem Platon abzusprechen sind, so sucht doch Schleiermacher die nach seiner Ueberzeugung nicht abzuleugnenden Mängel aus der Ver- flechtung des wissenschaftlichen Inhalts des Dialogs mit seiner apologetischen Tendenz und aus der Eilfertigkeit der Abfassung in der Zeit der Anklage des Sokrates zu erklären, und wagt be- sonders deshalb nicht das Verdammungsurtheil über die Schrift entscheidend, auszusprechen, weil wir keine Spur haben von einem Sokratiker, der so Platonisch noch als dieses Gespräch ist,
210 EvrmyPHRon.
componirt und geschrieben hätte, und in die spätere Zeit eigent- licher Nachahmung die Schrift wohl nicht zu setzen ist. Die vorsichtigen Zweifel Schleiermachers haben nicht nur bei den Männern, welche den schriftlichen Nachlass Platons auf einen erheblich kleineren Umfang zu beschränken suchten, sondern auch bei besonnenern Forschern zu unumwundener Verwerfung geführt); auf der anderen Seite wird von den Gelehrten, welche den Dialog als Platonisch betrachten (z. B. Hermann, Steinhart, Susemihl), grofsentheils eine Künstlichkeit der Deutung?) zum Auffinden seiner Absicht und seines Ergebnisses aufgewendet, die mir weder mit Platonischer Weise noch mit der einfachen Composition dieses kurzen Dialogs vereinbar scheint. Ich hoffe, es lässt sich aus der blofsen Vergegenwärtigung des Ganges des Gespräches, ohne irgend etwas in dasselbe willkürlich hineinzu- tragen, die Absicht Platons mit Sicherheit erkennen und erweisen.
Vor der Halle des Basileus treffen Sokrates und Euthyphron zusammen, jener begriffen in der Voruntersuchung der gegen ihn erhobenen Anklage der Unfrömmigkeit, dieser um seinen eignen Vater wegen fahrlässiger Tödtung anzuklagen. Sokrates erzählt heiter scherzend den Inhalt der gegen ihn erhobenen Anklage. Euthyphron theilt erwidernd den Rechtsfall mit, der ihn zur Anklage bestimmt. Sein Vater hatte auf Naxos einen Tagelöhner, der in Trunkenheit einen Genossen getödtet, in Fesseln gelegt und bei dem Exegeten in Athen um Bescheid für diesen Fall angefragt; in der Zwischenzeit aber kam der Mörder im Gefängnisse in Folge der Vernachlässigung, die er erfuhr, selbst um. Kuthyphron erhebt nun wegen der unvor- sätzlichen 'Tödtung die Anklage gegen seinen Vater. Dem Be-
!) Die Stellung der verschiedenen Forscher auf diesem Gebiete zur Frage über die Echtheit des Euthyphron bezeichnet Zeller, Griech. Phil. 3. Aufl. II. 1. 8.418, 1. Nur hätte Überweg nicht zu den Vertheidigern der Echt- heit gestellt werden sollen, da er Plat. Schr. S. 251 die Spuren des Fälschers nachweist und sogar über seinen Namen eine Vermuthung ausspricht, und Gesch. ἃ. Phil. 4. Aufl. I. 8. 123 den Euthyphron wenigstens zu den „nicht völlig als echt gesicherten Dialogen“ rechnet.
>), In noch höherem Malse trifft dies die Abhandlung „Über Platons Euthyp'ron“ von Rud. Schultze (Progr. Wittstock 1870,, in deren Schluss- abschnitte überdies sich einige erhebliche Misverständnisse Platonischer Leh- ren finden,
EUTHYPHRON. 217
denken des Sokrates, dass solche Handlungsweise gegen den eignen Vater unfromm sei, entgegnet Euthyphron mit der zweifellosen Sicherheit eines Mannes, der als Seher aus der Frömmigkeit seinen Lebensberuf macht. Darum entschliefst sich Sokrates, der bisher auf diesem Gebiete als Autodidakt dem Zufalle sich überlassen habe und dadurch der Anklage des Me- letus verfallen sei, bei Euthyphron in den Unterricht zu gehen, um so, wenn er auch fernerhin seinem Ankläger Anstols geben sollte, die Anklage von sich auf seinen Lehrer, den Euthyphron, abzulenken. Euthyphron möge also erklären, worin das Wesen von fromm und unfromm bestehe (τί φὴς εἶναι τὸ ὅσιον χαὶ τὸ ἀνόσιον; p. 5 D). Trotz der vorher ausgesprochenen Forderung, es solle das in allen Fällen gleichmälsige Wesen der Frömmig- keit angegeben werden, antwortet Euthyphron auf die Frage zunächst durch Anführung eines einzelnen Falles: fromm sei so zu handeln, wie er es jetzt thue, nämlich den Uebelthäter an- zuklagen, auch wenn es der eigene Vater sein sollte; er beruft sich hierfür auf das Verfahren des Zeus gegen seinen eigenen Vater. An solche Kämpfe und Gewaltsamkeiten unter den Göt- tern zu glauben, von denen Euthyphron noch auffallendere Bei- spiele beizubringen bereit ist, erklärt sich Sokrates unfähig und vermuthet, dass eben dies den Anlass zu der gegen ihn erhobenen Anklage gegeben habe. Aber abgesehen von diesem fraglichen Punet, die Antwort des Euthyphron hat nur einen einzelnen Fall getroffen, nieht das allgemein giltige Wesen der Frömmig- keit. Dieser begründeten Zurechtweisung folgend definirt nun
Euthyphron das Fromme als das Gottgefällige (ἔστι τοίνυν τὸ μὲν
n-
τοῖς ϑεοῖς προςφιλὲς ὅσιον, τὸ δὲ μὴ προςφιλὲς ἀνόσιον p 6 E). Aber, entgegnet Sokrates, unter den Göttern findet sich nach Euthyphrons eigner Erklärung Streit; Streit aber beruht unter Göttern wie unter Menschen auf einem Gegensatze der Über- zeugungen im Gebiete des sittlichen Urtheils. Indem nun einem jeden nur das lieb und werth ist, was er für gut, schön, edel hält, so ergibt sich aus der durch den Streit der Götter bewie- senen Verschiedenheit ihres sittlichen Urtheils, dass nicht dasselbe allen Göttern lieb ist, sondern was einigen lieb und wohlgefällig, dasselbe andern verhasst ist. Die Aufgabe, die hiernach mit Recht an Euthyphron zu stellen ist, zu zeigen, woran er denn
218 EvrHuYPHRoN.
erkenne, dass seine Handlungsweise die Billigung aller Götter habe, erlässt Sokrates dem ausweichenden Euthyphron und hilft selbst zur Berichtigung der Definition in folgende Form: fromm sei dasjenige, was allen Göttern wohlgefällig sei (τοῦτο εἶναι τὸ ὅσιον, ὃ ἂν πάντες οἱ ϑεοὶ φιλῶσι, χαὶ τὸ ἐναντίον, Ὁ ἂν πάντες οἱ sol υἱσῶσιν, ἀνόσιον p. 9 E). Aber bei dieser logisch berich- tigten Form der Definition erhebt sich die weitere Frage, ob denn die T'hatsache, dass etwas von den Göttern geliebt wird, der Grund ist es als fromm anzuerkennen, oder umgekehrt, der Charakter einer Handlung als einer frommen und sittlich reinen die Ursache davon ist, dass sie von den Göttern geliebt wird. Die Vergleichung der analogen Fälle entscheidet für das letz- tere; das Geliebtwerden von den Göttern ist nur etwas, was dem Frommen in Folge einer anderweit hinzutretenden Beziehung widerfährt, ein πάϑος, eine abgeleitete Eigenschaft, aber nicht das Wesen, die οὐσία des ὅσιον. Der Bestimmung darüber, worin das Wesen der Frömmigkeit und sittlichen Reinheit bestehe, sind wir durch die Zurückführung auf ein blofses Aceidens der- selben, die Gottgefälligkeit, um keimen Schritt näher gerückt (p- 11 B).
Den Klagen des Euthyphron, dass Sokrates alles, was Euthy- phron als fest und unerschütterlich aufstelle, in Schwanken bringe und in Bewegung setze, gibt dieser dahin nach, dass er nun selbst versucht zu definiren, was Frömmigkeit sei. Den Ausgangspunet des Sokrates, dass Frömmigkeit ein Theil der Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit sei (τὸ ὅσιον μέρος τοῦ διχαίου Ρ. 121), δίχαιον in dem bekannten weiteren Sinne, und μέρος in seiner logischen Bedeutung), erkennt Euthyphron unbedenklich als richtig an. Es kommt also darauf an, zu bestimmen, wel- cher 'Theil der Rechtschaffenheit die Frömmigkeit ist. Unver- kennbar nun unterscheiden wir, ob sich die Rechtschaffenheit erweist in der den Menschen oder in der den Göttern zuzu- wendenden Sorge (depareta), und bezeichnen die letztere als Frömmigkeit. Bei der den Menschen gewidmeten Sorge erweist sich die Rechtschaffenheit dadurch, dass sie auf das Beste der behandelten gerichtet ist; den Göttern gegenüber aber kann nur in dem richtigen Dienste die Rechtschaffenheit des mensch- Jiehen Verkehres liegen. Jeder Dienst nun setzt eine Werk-
EurnyPrmxox. 219
thätigkeit voraus, für deren Zwecke er das Mittel ist. Wollen wir also das Wesen der Frömmigkeit bestimmen, so müssen wir angeben können, welches denn das Werk der Götter ist, zu dessen Ausführung sie die Menschen in Dienst nehmen. Dieser bestimmt gestellten Frage des Sokrates weicht Euthyphron zu- nächst durch allgemeine Wendungen und, da diese nicht An- nahme finden, durch die Erklärung aus, es würde zu weit füh- ren, hierauf genaue Antwort zu geben; Frömmigkeit bestehe eben, kurz gesagt, darin, dass man es verstehe, im Opfern und Beten den Göttern wohlgefälliges zu thun. Da nun in diesem Beten und Opfern, das heilst in diesem Verkehre des Forderns und des Gebens, den Göttern doch nichts gegeben werden kann, was ihnen nothwendig oder nützlich wäre, sondern die Gaben an die Götter nur Ehrengaben sein können zu der Götter Wohl- gefallen, so ist die Erklärung im Kreislaufe zu der vorher wider- legten, fromm sei das Gottgefällige, zurückgekehrt, und Sokrates sieht sich somit in der Hoffnung getäuscht, durch Euthyphron über das Wesen der Frömmigkeit Belehrung zu erhalten.
Dies der einfache Gang und der wesentliche Gedankengehalt des kurzen Dialoges. Die Zweigliedrigkeit des Gespräches bie- tet eine, nicht blofs die äulsere Form, sondern auch das Ge- dankenverhältnis der beiden Glieder treffende Vergleichung mit Laches, welche ich als zur Sache nicht nothwendig gehörend, übergehe. Die erste Reihe der Definitionen erweist sich durch ihren Inhalt wie durch die Person, der sie zugeschrieben wer- den, als Kritik der verbreiteten Ansichten über das Wesen der Frömmigkeit. Ausgegangen wird wie gewöhnlich in der dem Euthyphron gleichartigen Klasse Platonischer Dialoge von dem logischen Fehler, dass der einzelne Fall, diese einzelne für fromm gehaltene Handlung, an die Stelle des allgemeinen Be- griffes gesetzt ist. Dieser Fehler wird nicht nur, wie dies jedes- mal geschieht), dazu verwendet, die Sokratische Forschung der
3) Dass Schaarschmidt, Samml. Plat. Schr. 5. 394, in diesem von dem Verfasser des Dialoges hervorgehobenen Gegensatze des Einzelnen und des einheitlichen Begriffes, unter Verweisung auf ähnliche Stellen, welche sich erheblich vermehren lassen, ein Zeichen des Nachahmers und Fälschers fin- det, bedarf wohl keiner Widerlegung. Wenn in dem ὁρίζεσϑαι χαϑόλου die epcchemachende philosophische That des Sokrates liegt, so ist es nur in Ord-
220 EurnuyYPHRonN.
Begriffsbestimmung in helleres Licht zu setzen, als eine blols theoretische Erörterung es vermöchte, sondern zeigt zugleich an diesem einzelnen Falle, wie in den verbreiteten unklaren An- sichten selbst Handlungen sittlicher Verwerflichkeit oder Zwei- deutigkeit durch den ehrenden Namen der Frömmigkeit ver- schleiert werden. Unter Beseitigung dieses logischen Fehlers spricht sodann Euthyphron für die Frömmigkeit diejenige Er- klärung aus, welche gewiss mit ihm jeder Hellene würde gege- ben haben und welche eben so zu allen Zeiten auf unmittelbare Zustimmung rechnen darf!): fromm sei das Gott Wohlgefällige. Der vorher von Euthyphron nachdrücklichst geltend gemachte Glaube an Streit und Kampf unter den Göttern gibt den Anlass, diese Definition dahin zu modificiren, es reiche nicht aus, dass eine Handlung einem der Götter wohlgefällig sei; sondern sie müsse die Billigung aller Götter haben, um für fromm erachtet zu werden. Wir legen in diesen Gang nichts fremdartiges hin- ein, wenn wir sagen, dass dadurch die Definition von den Zu- fälligkeiten befreit wird, welche in dem speciellen Inhalte irgend welcher volksthümlichen religiösen Vorstellungen liegen; es würde ja auf dasselbe hinauslaufen, ob man ὅσιον erklärt als das ὃ av πᾶσι τοῖς ϑεοῖς προςφιλὲς ἡ oder ὃ ἂν τῷ ϑεῷ προςφιλὲς n- Erst gegen die so von anhaftenden Zufälligkeiten gereinigte Definition richtet sich der entscheidende Gegensatz des Sokrates durch die
nung, dass sein Schüler Platon, wo er von den verbreiteten Ansichten zur Einsicht in das Wesen zu führen sucht, seinen Sokrates den Unterschied des Inhaltes des Begriffes von seinem Umfange immer von neuem hervor- heben lässt. Beachtenswerth ist vielmehr, dass in den Dialogen, welche trotz Schaarschmidts Verdammungsurtheil ihren Piatonischen Namen wohl bewahren werden, dieser im wesentlichen gleiche Gedankengang immer wieder in eigenthümlicher Weise für den besonderen Zweck der jedesmaligen Unter- suchung verwendet ist.
') Die obige, schwerlich zu bestreitende Bemerkung möge zugleich als Entgegnung angesehen werden gegen die Behauptung Schaarschmidts, die Unerheblielkeit der Irrthümer, gegen welche sich die Kritik im Euthyphron richte, sei ein Zeichen seines unplatonischen Ursprungs. „Es sind ja nicht erhebliche Irrthümer, die hier widerlegt, nicht alte oder neue Sophismen, die als solche dargethan werden, kurz nicht eine sachliche Kritik, welche sich an die Persönlichkeiten anknüpfte, sondern eine rein die Person des Euthyphron treffende, auf die es für wissbegierige Leser doch wahrlich nicht ankam.“ a. a. Ὁ. 8. 392.
ΕἰΤΗΥΡΗΝΟΝ. 221]
Nachweisung, dass sie leer ist; sie bezeichnet nicht das We- sen des ὅσιον, sondern nur eine aus seinem vorausgesetzten Wesen hervorgehende Consequenz: das sittlich Reine und Hei- lige darf auf die Billigung der Götter oder des göttlichen Wesens rechnen.
Dieser Leerheit der Definition kann nur dadurch begegnet werden, dass, wie in der zweiten Gedankenreihe geschieht, die Frömmigkeit sogleich vom Anfauge an unter den Begriff der Sittlichkeit subsumirt wird; denn in dieser allgemeinen Bedeu- tung ist, wie schon vorher bemerkt wurde, δίχαιον nach grie- chischem Sprachgebrauche zu verstehen, wenn ὅσιον als μέρος τοῦ δικαίου bezeichnet wird p. 12 D. Die bereitwillige Zustim- mung des Euthyphron hierzu, welche das Gespräch voraussetzt, ist durch die im Griechischen üblichen Verbindungen δίχαιον χαὶ ὅσιον, νόμιμον χαὶ ὅσιον hinlänglich motivirt. Die Anwendung des biegsamen, in seiner Mehrdeutigkeit für uns kaum über- setzbaren Wortes θεραπεία führt leicht zu der Anerkennung des Satzes, dass Frömmigkeit diejenige Handlungsweise ist, durch welche der Mensch zum Organe der göttlichen Thätigkeit wird. Gegen diese Gedankenentwicklung bringt Sokrates an keiner Stelle irgend ein Bedenken vor; der blofse Umstand, dass er selbst die in Frage kommenden Erklärungen aufgestellt hatte, würde an sich, wie andere zweifellos Platonische Dialoge bewei- sen, einen solchen Gang nicht ausschliefsen. -Wir sind also berechtigt, in dieser Erklärung des Verfassers eigne Überzeu- gung zu erkennen. »ie bedarf, um zu vollständiger Bestimmt- heit zu gelangen, noch der Beantwortung der Frage, was denn der Inhalt oder der Zweck der göttlichen Thätigkeit sei, für welche dienendes Werkzeug zu sein das Wesen der menschlichen Frömmigkeit ausmache. Wie Platon diese Frage, vor deren Beantwortung er in charakteristischer Weise den Euthyphron ausweichen lässt, selbst beantworten würde, ist aus unzweideu- tigen Äufserungen in anderen seiner Schriften mit Sicherheit zu erschliefsen. Wollte man es selbst noch als zweifelhaft betrach- ten, was mir nicht zu bezweifeln scheint, dass Platon den Be- griff des göttlichen Wesens mit der ἰδέα τοὺ ἀγαϑοὺ identificirt, so steht doch unerschütterlich der bekannte Satz im 'limäos, wo als das Wesen der Gottheit, aus welchem die Weltordnung
222 KUurHYPHRON.
erklärt werden soll, nichts anderes angegeben wird, als ἀγαϑὸς ἦν, und eben so unerschütterlich die ausführliche Erörterung im zweiten Buche der Politie, wo gegenüber den in den Dichtun- gen ausgesprochenen herabwürdigenden Volksmeinungen über die Götter die Überzeugung zum Ausdruck gebracht wird, dass absolute Heiligkeit das Wesen der Gottheit sei (χάλλιστος xal ἄριστος ὧν... μένει ἀεὶ ἁπλῶς ἐν τῇ αὑτοῦ μορφῇ) und nichts an- deres als das Gute auf die göttliche Causalität zurückgeführt werden dürfe (μὴ πάντων αἴτιον τὸν ϑεὸν ἀλλὰ τῶν Ayadav). Er- gänzen wir auf diese Weise aus Platonischem Eigenthume den Dialog an der Stelle, wo sein Gang charakteristisch unter- brochen wird, so gelangen wir zu der Definition, dass Frömmig- keit nichts anderes ist als die vollendete Sittlichkeit, nur unter der Form, dass sich der Mensch bewusst ist, hierdurch das die- nende Organ für das göttliche Wirken zu sein. Als den Sinn Platons richtig treffend bewährt sich diese Auffassung durch Er- wägung folgender 'Thatsachen. Wo Platon nachweisbar den üblichen Ansichten folgt (z. B. im Protagoras), da zählt er unter den verschiedenen Äufserungen menschlicher Sittlichkeit, den einzelnen "Tugenden, die Frömmigkeit mit auf; dagegen thut er derselben keine Erwähnung, wo er selbst nach eigener Überzeu- gung den Begriff der Tugend nach den verschiedenen Richtun- gen ihrer Äufserung gliedert (z.'B. in der Politie), und beweist hierdurch, dass ihm die Frömmigkeit nicht eine einzelne, etwa
der Besonnenheit oder der Gerechtigkeit zu eoordinirende Tu-
gend ist. Dagegen das gesammte Wesen der Sittlichkeit be- zeichnet Platon einerseits als das den Willen nothwendig be- stimmende Wissen des Guten, anderseits als eine Verähnlichung mit dem göttlichen Wesen und ein dienendes Sichanschlielsen an dasselbe, ὁμοίωσις τῷ dew, ἕπεσϑαι τῷ, ϑεῷ, und dies selbst in Dialogen (z. B. 'Theätetos), denen man nicht eine blofs populäre Ausdrucksweise zuschreiben wird, er ıdentificirt also deutlich ‚den richtigen Begriff der Frömmigkeit mit dem der gesammten Sittlichkeit.
Man wird schwerlich in Zweifel ziehen können, dass die im bisherigen dargelegte Kritik der üblichen Ansichten über Frömmigkeit, sowie der schlielslich gewonnene Begriff der Fröm- migkeit Platonisch seien, oder dass dieses positive Ergebnis als
=
ö BUTHYPHRON. 223 ein ausreichender wissenschaftlicher Inhalt des kurzen Dialoges zu betrachten sei. Aber das lässt sich mit einem Scheine des Rechts einwenden, dass eben das positive Ergebnis nicht aus diesem Dialoge, sondern durch Ergänzung aus anderen Plato- nischen Werken gewonnen sei, also keinen Anspruch habe, für eine Auslegung dieses Dialoges zu gelten; in ihm fehlten eben, wie Schleiermacher schreibt, der skeptischen Behandlung die in- direeten Andeutungen, ein Mangel, der sich vielleicht aus der Eilfertigkeit der Abfassung oder aus dem Überwiegen der apo- logetischen Tendenz erklären lasse. Ich kann diesen Einwand nicht als begründet änsehen,; denn jene indirecten Andeutungen finden sich, scheint mir, in diesem Dialoge nicht minder als in den anderen mit ihm vergleichbaren. Zweimal lässt der Ver- fasser den frommen Euthyphron einer bestimmt gestellten, in den Bereich des von ihm beanspruchten Wissens gehörigen Frage auf eine dem Leser besonders kenntlich gemachte Weise aus- weichen, gewiss doch zum Zeichen, dass in der durch diese Frage eingeschlagenen Richtung der Gedankengang fortgesetzt werden mülste, um zur Lösung der Aufgabe zu gelangen. Euthyphron hat (p. 8 ΕἸ die Überzeugung ausgesprochen, dass die von ihm jetzt unternommene Handlung gewiss die Billigung aller Götter habe. Der durch diese Versicherung vollkommen berechtigten Frage des Sokrates, woran er denn erkenne (τί σοι τεχμήριον), dass diese Handlungsweise den Beifall aller Götter habe, weicht Euthyphron aus, weil ihre Beantwortung zu weit- läufig sein würde (οὐχ ὀλίγον ἔργον ἐστί) ; in der Frage selbst liegt die Forderung, dass das Wesen des ὅσιον an sich zu be- stimmen ist, so dass sich daraus der Beifall der Götter als eine Consequenz ergibt, nicht aber aus dem behaupteten oder voraus- gesetzten Beifall der Götter ein Urtheil über die Sittlichkeit der betreffenden Handlung erschlossen werden kann. Mit demselben Vorwande ὅτι πλείονος ἔργου ἐστί (p. 14 B), sogar unter aus- drücklicher Zurückweisung auf den vorigen, eben erwähnten Fall, weicht Euthyphron da aus, wo er nach dem Inhalte-und Zwecke der göttlichen Wirksamkeit gefragt ist; noch deutlicher als im vorigen Falle liegt vor, dass in dieser Richtung der Ge- dankengang zu verfolgen, diese Frage zu beantworten ist, um zum Abschlusse einer giltigen Begriffsbestimmung der Frömmig-
224 EvumuyPpmRonN.
keit zu gelangen®). Die Ergänzung nun, die hier erforderlich
ist, habe ich allerdings im obigen aus anderen Dialogen Platons _
entlehnt, aber nur vorläufig der Abkürzung wegen; der Weg sie zu finden, ıst von dem Verfasser ın der ersten Hälfte des Dia- loges selbst hinreichend angedeutet. Dem unverhohlenen Glau- bensbekenntnisse des Euthyphron, welches den Göttern Leiden- schaften und Unsittlichkeit jeder Art beimisst, setzt Sokrates die Erklärung gegenüber, dass er solche Ansichten über das gött- liche Wesen nur mit Unwillen (δυσχερῶς p. 6 A) anzuhören und nicht zu billigen vermöge. Wir brauchen diese Verwer- fung der sittlich herabwürdigenden Ansichten über das göttliche Wesen nur in einen positiven Ausdruck umzusetzen, wodurch an ihrem Inhalte nichts geändert wird, um genau und vollstän- dig aus dem Dialoge selbst, ohne willkürlichen Zusatz aus eigenen Gedanken oder aus anderen Schriften Platons, die Be- autwortung der entscheidenden, an Euthyphron gerichteten Frage über den Inhalt der göttlichen Wirksamkeit und mit ihr den unbestrittenen Abschluss der Definition der Frömmigkeit zu haben.
Auf die Frage nach der Echtheit des Dialogs Euthyphron und auf die damit in Verbindung gebrachte nach der Abfassungs- zeit halte ich nicht für noöthig ausführlich einzugehen. Die Zweifel an dem Platonischen Ursprung des Euthyphron haben nachweislich ihren Ausgangspunct in den erwähnten Bemerkun-
gen Schleiermachers über die Mängel dieses Dialogs. Wenn es
mir gelungen sein sollte, durch die gegebene Darlegung seines Gedankengehaltes diese Bemerkung zu entkräften, so ist damit
>) Zu dieser Stelle p. 14 B bemerkt Schaarschmidt 8.391: „Es ist wohl möglich, dass sich daraus der Platonische Begriff der ὁσιότης entwickeln lässt; aber dass er im vorliegenden Dialoge nicht entwickelt ist, steht um so mehr fest, als Sokrates, wie Euthyphron auf seine Frage nach dem Gegenstande der göttlichen Werke keine Auskunft geben kann und zu einer neuen Er- klärung abspringt, die Verhandlung weiter gehen lässt. Man hat also aus dem Dialoge wenigstens kein Recht, jene Erklärung als positiver, denn die andern sind, anzusehen.“ Die Entgegnung hierauf ist, denke ich, schon im obigen Texte enthalten. Die fragliche Erklärung der Frömmigkeit bleibt unbestritten; die Ergänzung derjenigen Bestimmung, auf deren Mangel nach- drücklich hingewiesen wird, findet der aufmerksame Leser an einer anderen Stelle des Dialogs.
EvuruyPHRoN. 23235
zugleich der eigentliche Angriffspunct beseitigt; denn alle übri- gen Einwendungen laufen entweder darauf hinaus, dem Euthy- phron einen minderen Werth der künstlerischen Composition im Vergleich zu anderen Dialogen zuzuschreiben, wogegen zu strei- ten Thorheit wäre, oder einzelne Worte und Wendungen in einer Weise zu bemängeln, dass der Vorwurf meistentheils auf den Tadler zurückfällt statt den Verfasser des Dialogs zu tref- fen, wovon nachher ein Beispiel. Aus den Bedenken über den wissenschaftlichen Inhalt des Dialogs ist bei Schleiermacher der Gedanke hervorgegangen, in dem Überwiegen eines apologe- tischen Zweckes die Erklärung hierfür zu suchen, ein Gedanke, der nach Schleiermacher bei allen Erklärern Billigung gefunden hat; ich zweifle ob mit Recht. Gewiss, wenn in dem Dialoge der Lauterkeit der religiösen Gedanken des Sokrates der unsin- nige Aberglaube des für fromm sich haltenden und geltenden Euthyphron gegenübergestellt wird, so erscheint die Anklage des Sokrates auf Asebie, an welche die Einkleidung des Dialogs noch ausdrücklich erinnert, wie eine Ironie. Aber abgesehen von dieser durch die Scenerie gegebenen Erinnerung an die Anklage des Sokrates ist doch des Apologetischen in dem Dia- loge nicht wesentlich mehr zu finden, als eben in jedem Plato- nischen Dialoge, in welchem uns Sokrates in seinem Verkehre mit Jünglingen dargestellt wird; denn gegenüber dieser Einwir- kung des Sokrates auf den sittlichen Ernst und die wissenschaft- liche Bescheidenheit der Jünglinge muss ja ebenfalls die gegen ihn als Verderber der Jugend erhobene Anklage wie ein blolser Scherz erscheinen. — Die Voraussetzung eines apologetischen /weckes zur Erklärung und Rechtfertigung des Dialogs hat Schleiermacher weiter zu der Annahme geführt, die Abfassung des Dialogs in die Zeit zwischen der Anklage und der Gerichts- verhandlung, also in der That gleichzeitig mit der scheinbaren Zeit des Gespräches zu setzen. Diese Zeitbestimmung Schleier- machers hat bei den Platonischen Forschern theils Entgegnung, theils Zustimmung gefunden®). Wenn der vorausgesetzte apo- logetische Zweck auf das eben angedeutete Mals zurückgeführt ist, so schwindet für die Zeitbestimmung ein wesentliches Fun-
-
6) Zeller, Gr. Phil 3. Aufl. II, 1. 5. 161, 1.
Bonitz, Platonische Studien. 15
226 EuruyPnRron.
dament; und wenn nach der obigen Darlegung dem Dialog ein ausreichender Gedankengehalt zuerkannt wird, so. bedarf es nicht zu seiner Entschuldigung der Annahme, dass er eilfertig in der Zeit des schwebenden Processes abgefasst sei. Zu einer wahr- scheinlichen Combination über die Abfassungszeit des Euthy- phron haben wir dann freilich keine anderen Anhaltspuncte, als jene wenigen und nicht sehr sicheren, welche für alle Platoni- schen Dialoge vorhanden sind’).
Zum Schlusse nur anhangsweise ein Beispiel, wie der ein- mal angeregte Zweifel an dem Platonischen Ursprunge des Dia- logs selbst einen sonst so ruhig überlegenden, in den Plato- nischen Schriften durchaus heimischen Forscher — denn dies war Überweg — an den plansten und klarsten Stellen Anstols finden lies. Wo Platon zuerst die Frage τί ἐστι τὸ ὅσιον auf- wirft, macht er darauf aufmerksam, dass er nicht einen einzelnen Fall will angegeben wissen, sondern den allgemeinen Begriff: ποῖόν τι τὸ εὐσεβὲς φὴς εἶναι χαὶ τὸ ἀσεβὲς χαὶ περὶ φόνου χαὶ περὶ τῶν ἄλλων; ἢ οὐ ταὐτόν ἐστιν ἐν πάσῃ πράξει τὸ ὅσιον αὐτὸ αὑτῷ, χαὶ τὸ ἀνόσιον αὖ τοῦ μὲν ὁσίου παντὸς ἐναντίον, αὐτὸ δὲ αὐτῷ ὅμοιον χαὶ ἔχον μίαν τινὰ ἰδέαν χατὰ τὴν ἀνοσιότητα πᾶν, ὃ τί περ ἂν μέλλῃ ἀνόσιον εἶναι; p.5D. MHieran tadelt Überweg Platon. Schr. 8. 251 und findet dadurch den Fälscher angedeutet: „die wenig dialektische Art, wie im Euthyphron die Ideenlehre gleich von vorn herein eingeführt wird, das Prädicat ἔχον ἰδέαν, auf das ὅσιον (und das ἀνόσιον) αὐτό bezogen, welches doch vielmehr selbst eine ἰδέα ist, während das ἔχειν von der Einzelhandlung gesagt sein sollte‘).“ Aber von Ideenlehre in dem specifisch
7) Man kann in dieser Hinsicht jetzt auf Zeller verweisen, der in der drit- ten Auflage seiner Gr. Phil. der Frage über die Reihenfolge der Platonischen Schriften einen besondern Abschnitt 5. 422 —469 gewidmet und mit bekann- ter Klarheit und Herrschaft über den Stoff die in Betracht kommenden Mo- mente umsichtig verwerthet hat. i
8) An derselben Stelle nimmt aus ähnlichen Gründen Schaarschmidt An- stols a. a. ©. 8.394. Ihm gegenüber hat freilich die Verweisung auf die Parallelstellen im Menon. und im Politikos keine Beweiskraft, da diese Dia- loge demselben Verwerfungsurtheile anheimfallen. Auffallend ist nur, dass. er an der vollkommen gleichartigen Stelle des Menon die Spuren des unpla- tonischen Fälschers und an dieser Stelle des Euthyphron die Kennzeichen des Nachahmers des ersten Fälschers (auch zu dem ihm anstölsigen εἰς ἐχεί--
EUTHYPHRoN. 227
Platonischen Sinne ist hier nicht die Rede, wie schon vor dieser Bemerkung Überwegs Zeller (Gr. Phil. 2. Aufl. II 1. 8. 338, 1) gelegentlich erinnert hatte. Das Pronomen αὐτό ist falsch be- zogen; es ist nicht gemeint τὸ ὅσιον αὐτό, sondern αὐτὸ αὑτῷ ταὐτόν, wie hernach αὐτὸ αὑτῷ ὅμοιον. Der Ausdruck ἔχον μίαν τινὰ ἰδέαν χατὰ τὴν ἀνοσιότητα πᾶν ist für ἀνόσιον ganz treffend gewählt: in seinem gesammten Umfange (πᾶν) hat es, insofern es ἀγόσιον ist, eine einheitliche, gemeinsame Gestalt, μίαν τινὰ ἰδέαν, einen einheitlichen Charakter. Unbegreiflich ist es, dass ein Kenner des Platon sich nicht daran erinnerte, dass mit fast den- selben Worten im Menon (p. 72 (ΟἹ der einheitliche Begriff der Tugend beschrieben ist: οὕτω δὴ χαὶ περὶ τῶν ἀρετῶν " χἂν εἰ πολ- Aal χαὶ παντοδαπαί εἰσιν, ἕν γέ τι εἶδος ταὐτὸν ἅπασαι ἔχουσι, δι ὁ εἰσὶν ἀρεταί, und dass im Politikos (262 B) für eine solche Be- griffsgliederung, welche nicht den Umfang willkürlich zerstückelt, gefordert wird, ἀλλὰ τὸ μέρος ἅμα εἶδος ἐχέτω. Eben so wenig Anlass hat die Verwunderung Überwegs darüber, dass auf ἀνό- σιον dieselbe Forderung des μίαν ἔχειν ἰδέαν ausgedehnt ist; denn die Einheitlichkeit des gemeinsamen Begriffes von ἀνόσιον lässt sich doch nieht in Abrede stellen, und nur von dieser ist hier die Rede. Gesetzt aber, es wäre mit Überweg an ἰδέα τοῦ Avo- σίου im Sinne der Realität des Begriffes, also der Idee im Pla- tonischen Sinne, zu denken, so mag man wohl ein Recht haben, in solcher Annahme mit Aristoteles einen inneren Widerspruch der Ideenlehre zu finden ; aber für unplatonisch darf man diese Annahme nicht ausgeben, so lange sich nicht Stellen beseitigen lassen wie Rep. V 476 A, wo von ἄδιχον und xaxoy eben so gut wie von δίχαιον und ayadoy eine Idee gesetzt wird, und andere längst schon gesammelte Stellen des gleichen Sinnes. — Ich habe beispielsweise einen sprachlichen Einwand in Betracht gezogen; es würde nicht schwer sein, bei den übrigen zu dem gleichen Resultate zu gelangen.
νην {τὴν löse) ἀποβλέπων χαὶ χρώμενος αὐτῇ παραδείγματι Euth. 6 E wäre auf das gleichartige ἕν γέ τι. eldos... εἰς, ὃ χαλῶς ποὺ ἔχει ἀποβλέψαντα Men. 72 Οἱ zu verweisen gewesen) zu bezeichnen unterlassen hat.
or *
BEMERKUNGEN ZU DEM ABSCHNITT DES DIALOGS CHARMIDES p. 165—172.
συ
Eine Bemerkung Schleiermachers zu dem eigenthümlichen und schwierigen Abschnitte des Dialogs Charmides p. 165—172, der über das Wissen des Wissens handelt, hat sowohl bei Brandis (Gr. Röm. Phil. II, 1 8. 205) als bei Steinhart (I δ. 285) und Susemihl (I S. 27) so vollständige Billigung gefunden, dass diese Übereinstimmung, hinzutretend zu dem Gewichte einer Schleier- macherschen Überzeugung, geeignet ist, gegen eine Bestreitung derselben Bedenken zu erwecken. Ich will versuchen, die Gründe darzulegen, welche mich zu entgegengesetzter Über- zeugung bestimmen; zuvor eine kurze Darlegung des Gegen- standes der Frage.
Der Dialog Charmides sucht den Begriff der σωφροσύνη zu bestimmen, d. h., in den mannigfaltigen Vorstellungen, welche sich mit dem Gebrauche dieses Wortes zu verbinden pflegen, werden die ihnen anhaftenden Mängel und die Unbestimmtheit nachgewiesen, in ähnlicher Weise, wie dies im Dialoge Laches mit dem Worte ἀνδρεία geschieht, und der Dialog schliefst, ohne dass ausdrücklich eine Definition des in Frage gestellten Be- griffes zu Stande gebracht ist. Der jüngere unter den beiden Unterrednern, mit denen Sokrates den Gegenstand verhandelt, der kindlich unbefangene Charmides, führt nur äulserliche Merk- male der Besonnenheit an, die Ruhe, die Bescheidenheit und Schamhaftigkeit des Handelns, Merkmale, in denen sich leicht, mit ernsten und scherzhaften Mitteln, der Mangel eines sittlichen Gehaltes nachweisen lässt. Tiefer auf die Sache selbst gehen
JHARMIDES. 229
die darauf folgenden Definitionsversuche des sophistisch gebil- deten und gewandten Kritias ein. In der zuerst von ihm ver- theidigten Definition, Besonnenheit bestehe darin, dass jeder das Seine thue, weils Kritias den Einwendungen des Sokrates gegen- über nur den ungleich allgemeinern Sinn festzuhalten, Besonnen- heit bestehe darın, das Gute und Schöne zu thun. Von Sokrates darauf aufmerksam gemacht, dass das Thun des Rechten nicht würde als Besonnenheit anzuerkennen sein, wenn es nicht mit dem Bewusstsein verbunden ist, dass man eben das Rechte und Gute thut, ändert Kritias, alles Frühere bereitwillig zurück- nehmend, seine Definition dahin, dass das Wesen der Besonnen- heit in der Selbsterkenntnis bestehe. Indem der Delphische Gott den in seinen Tempel Eintretenden jenen Spruch: Erkenne dich selbst, zurufe, so wolle er damit nichts anderes als zur Besonnenheit auffordern. Um zu einer Verständigung über diese Definition zu gelangen und dadurch den Grund zu ihrer Prüfung zu legen, stellt nach inductiver Betrachtung anderer Arten des Wissens Sokrates die Frage (p. 166 B): 7 σωφροσύνη τίνος ἐστὶν ἐπιστήμη, ὃ τυγχάνει ἕτερον ὃν αὐτῆς τῆς σωφροσύνης ; welches ist das von der Besonnenheit selbst unterschiedene Ob- ject jenes Wissens, welches du Besonnenheit nennst. Hierauf erklärt Kritias, gerade dadurch unterscheide sich dieses Wissen von allem anderen Wissen, dass es nicht einen von ıhm selbst verschiedenen Gegenstand habe, sondern ein Wissen des Wissens sei, 7 δὲ uovn τῶν τε ἄλλων ἐπιστημῶν ἐπιστήμη ἐστὶ χαὶ αὐτὴ ἑαυτῆς (p. 166 C). Von da an wird nun ausführlich dieser Ge- danke eines Wissens des Wissens untersucht, und von Sokrates wird gezeigt, dass ein solches Wissen des Wissens sich nicht als möglich erweisen lasse, und dass, wenn man die Möglichkeit desselben auch zugeben wolle, kein Werth eines solchen Wissens nachzuweisen sei. Nach dem Wortlaute des Dialogs wird also dieses Wissen des Wissens als ein unhaltbarer Gedanke von Platon abgewiesen; dies hindert an sich nicht, dass, nach der in einem Theile der Platonischen Dialoge herrschenden indirecten Weise, durch die Art der Bestreitung selbst unter dem Scheine der Verwerfung die Begründung bezeichnet sei, und wir ım diesem Wissen des Wissens einen von Platon selbst gebilligten Gedanken anzuerkennen haben Dies nun ist die Auffassung
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Schleiermachers, die er folgendermafsen ausspricht: „Des Sokrates Übergang von der Erklärung, Besonnenheit sei Selbsterkenntnis, zu der anderen, sie sei Erkenntnis der Erkenntnis und der Un- kenntnis, könnte auf den ersten Anblick vielleicht als gewalt- sam und sophistisch erscheinen. Allein, wenn die Selbsterkennt- nis doch Kenntnis der Vollkommenheit und Unvollkommenheit, der Tugend und Untugend, die Tugend selbst aber ein Wissen ist, welches richtig verstanden allerdings muss vorausgesetzt werden und Platon nur nicht bis zur Ermüdung wiederholen konnte: so ist doch allerdings die Selbsterkenntnis ein Wissen um ein Wissen oder Nicht-Wissen“* u. 5. w. Auf diese Be- merkung Schleiermachers bezieht sich mit Beistimmung Brandis a. a. Ὁ. und fügt zur Bestätigung eine der Stellen aus dem Phädon bei, welche besagt, dass die Seele des Weisen bestrebt sei, für sich allein zu sein, αὐτὴ χαϑ αὑτὴν γίγνεσθαι, eine wie mir scheint durchaus nicht zutreffende Vergleichung; denn im Phädon handelt es sich darum, dass das erkennende Subject be- freit werde von jedem Einflusse des Körpers (denn das bedeutet ἢ Ψυχὴ ζητεῖ αὐτὴ zu αὐτὴν γίγνεσθαι), aber nicht um die ım Charmides untersuchte Identität des Erkennens mit semem Ob- jecte. — Die Andeutung Schleiermachers wird auch von Stein- hart gebilligt und erhält bei ihm (5. 279) einen ungleich schwung- hafteren Ausdruck: „Auch die Dialektik ist im Charmides schär- fer und eindringender geworden als in den früheren Dialogen (d. h. in denen, für welche Steinhart eine frühere Abfassungs- zeit vermuthet), denn zuerst taucht hier dem jugendlichen Denker jener Begriff auf, der für alle Zeiten das unterscheidende Prineip der Philosophie, durch welches sie über allem anderen Wissen steht, geblieben ist, der Begriff der Kenntnis der Kennt- nis oder des Wissens um das Wissen. Wir sind hier an der Schwelle jener echt Platonischen, von der Eleatisch-Megarischen so grundverschiedenen Dialektik angelangt, deren Anwendung im 'Theätetos, im Parmenides, im Sophisten zu den bedeutend- sten Entdeckungen führt, deren Wesen zuerst im Phädros mit der grölfsten Klarheit entwickelt wird und auf welche jede Phi- losophie späterer Zeiten immer von neuem hat zurückgehen müssen.“ Sehen wir ganz ab von dem Preise der Platonischen Dialektik und von ihrer Vergleichung mit späteren Entwick-
ÜUHARMIDES. 231
lungen der Philosophie und halten uns ausschliefslich an den Gegenstand selbst, so sind meines Erachtens zwei Fragen zu beantworten: erstens, ist es durch Inhalt und Composition des Dialoges Charmides begründet, dass die dem Wortlaute nach ausgesprochene Verwerfung der ἐπιστήμη ἐπιστήμης inhaltlich als Billigung aufgefasst werde; zweitens, findet sich sonst im Platon jener Gedanke einer ἐπιστήμη ἐπιστήμης etwa als der einer höheren und reineren Art des Wissens ausgesprochen, oder lässt er sich doch als eine nothwendige Consequenz aus seinen Grundgedanken betrachten. Es mag gestattet sein, auf die an zweiter Stelle bezeichnete Frage zuerst einzugehen.
Die Annahme eines Wissens des Wissens wird von Platon noch an einer anderen Stelle erwähnt, im 'Theät. p. 200 B. Die Entstehung irriger Vorstellungen wird zu erklären unternommen durch die Unterscheidung des ruhenden Besitzes der Vorstel- lungen von ihrer jeweiligen. Vergegenwärtigung im Bewusstsein, wofür Platon scherzend den Vergleich anwendet der in einem Taubenschlage aufbewahrten Schaar von Tauben und des augen- blicklichen Herausgreifens einer einzelnen oder mehrerer‘ aus dieser Schaar. Indem eine Erklärung der imigen Vorstellung durch diese Unterscheidung nicht gelingt, wirft der Platonische
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χαϑείρξας ἕωσπερ ἂν χέχτηται, ἐπίσταται, χαὶ ἐὰν μὴ προχείρους ἔχῃ ἐν τῇ Ψυχῇ ; Der Gedanke wird kurz abgewiesen mit den Worten: χαὶ οὕτω δὴ ἀναγασϑήσεσϑε εἰς ταὐτὸν περιτρέχειν μυριάχις οὐδὲν πλέον ποιοῦντες; p. 200 C. Der Scherz Platons über das von ihm gewählte Bild kann keinen Zweifel erwecken an dem Ernste der darunter bezeichneten psychologischen Unterscheidung ; und die Hinweisung auf den progressus in infinitum, zu welchem der einmal statuirte Gedanke eines Wissens des Wissens nothwendig führe, zeigt uns deutlich die Entschiedenheit seiner Abweisung. Überdies beweist der gesammte Gedankengang des T’heätetos zweifellos, dass dieser Versuch der Erklärung des Irrthums von Platon entschieden abgelehnt wird.!) — Zu dieser directen Er-
I) Schleiermacher gibt zu der fraglichen Stelle des Theätetos, welche die
232 ÜHARMIDES.
klärung Platons kommt noch eine andere, zwar nur indirecte, die aber durch ihren unmittelbaren Zusammenhang mit den Platonischen Grundgedanken entscheidendes Gewicht erhalten dürfte. Als das unterscheidende Moment der Platonischen Phi- losophie von der Sokratischen bezeichnet Aristoteles überall, wo er darauf zu reden kommt, das χωρίζειν der Begriffe, d. h. die ihnen zugeschriebene selbständige Realität, und wenn wir aus den verschiedenen von Aristoteles als Platonisch bezeichneten Beweisen für die Realität der Ideen den eigentlichen Kern herausheben, so liegt dieser im Begriffe des Wissens selbst; Platon erachtet es als durch den Begriff des Wissens selbst er- fordert, dass sein Object etwas Reales sei. Dass Aristoteles hier- mit nicht dem Platon einen ihm fremdartigen Gedanken unter- schiebt, zeigen am kürzesten Platons Worte in der Republik (V 477 A), indem auf die Frage ὃ γιγνώσχων γιγνώσχει τὶ ἢ οὐδέν; zunächst geantwortet wird ὅτι γιγνώσχει τί, und auf die weitere πότερον ὃν ἢ οὐχ ὅν; die Antwort erfolgt ὄν, πῶς γὰρ ἂν μὴ ὅν γέ τι γνωσϑείη; (ganz ım Einklange mit dem bekannten Satze des Parmenides οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος χτλ) ; derselbe Gedanken- gang ist mittelbar im Phädros, Symposion, Phädon zu erkennen, indem die Allgemeinheit der Begriffe selbst der Beweis ihrer Realität wird. Bei einer solchen Überzeugung über die noth- wendigen Voraussetzungen des Wissens, aus welcher unter an- derem ganz unbedenklich gefolgert wird, dass den Zahlen, den geometrischen Gröfsen, weil sie ein Object des Wissens sind, Realität zugeschrieben werden muss — bei einer solchen Über- zeugung findet die Annahme eines Wissens des Wissens offenbar keine Stelle.
Aufserhalb des Dialoges Charmides findet sich also in den Platonischen Schriften nicht die Gewähr dafür, dass der Gedanke eines Wissens des Wissens als ein von Platon selbst gebilligter anzusehen sei. In dem fraglichen Abschnitte des Charmides
“
Vergleichung mit Charmides unabweislich aufdrängt, keine darauf bezüg- liche Bemerkung. Steinhart unterlässt nicht in seiner umfassenden Einlei- tung zum T'heätetos auch diesen Punct zu berühren; welch gewaltsame Mit- tel derselbe anwendet, um die besprochene Auffassung des Charmides mit der unzweideutigen Verwerfung desselben Gedankens im Theätetos auszu- gleichen, wolle man bei ihm selbst III, 5. 80 f. nachlesen.
πὸ
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selbst aber sind die vorgebrachten Gründe, welche Kritias nicht vermag zu beseitigen, keineswegs derart, dass ıhre offenbare, etwa noch besonders bemerklich gemachte Unhaltbarkeit als Hin- weisung auf eine Billigung unter dem Scheine des Widerlegens könnte angesehen werden. Einmal wird auf dem Wege der Induction der Satz veranschaulicht, dass, wenn es ein Wissen des Wissens geben sollte, das Wissen selbst das Wesen des Ge- wussten haben müsste — es wird kaum nöthig sein, die voll- ständige Übereinstimmung dieses Gedankens mit den aus der Republik erwähnten Sätzen noch besonders nachzuweisen. — Eine etwas andere Form erhält dieser Beweis, indem, wiederum auf dem Wege der Induction, das Wissen den Verhältnisbegriffen eingereiht, also in Sokratischer Weise veranschaulicht wird, was Aristoteles kurz sagt 7) ἐπιστήμη πρός τι. Soll nun das eine Glied eines Verhältnisses die durch das Verhältnis bezeichnete Beziehung auf sich selbst haben, so müsste es zugleich das Wesen des von ihm ausdrücklich unterschiedenen und ihm ent- gegengesetzten Gliedes haben. Schleiermacher bricht diesem Gedanken die Spitze ab, indem er, trotz Platons wiederholter Bezeichnung der Identität von Subject und Object, αὐτὸ πρὸς ἑαυτό, ἐπιστήμη ἑαυτῆς u. a., nicht von dem Wissen des Wissens, sondern von dem Wissen eines Wissens spricht.
Die nachgewiesene Übereinstimmung also der Beweise, welche im Charmides gegen die Möglichkeit eines Wissens des Wissens ausgeführt werden, mit den von Platon anderweit aus- gesprochenen Überzeugungen und mit den letzten Voraussetzungen seiner Philosophie bringt zur Evidenz, dass die fraglichen Be- weise von Platon selbst für gültig angesehen sind. Diese Auf- fassung wird, wenn es dessen bedarf, noch gesichert durch eine Erwägung der in der Composition des Dialoges Charmides lie- genden Momente. Schleiermacher weist in der früher ausgeho- benen Stelle darauf hin, dass „des Sokrates Übergang von der Erklärung, Besonnenheit sei Selbsterkentnis, zu der anderen, sie 561 Erkenntnis der Erkenntnis und der Unkenntnis, auf den ersten Anblick vielleicht als gewaltsam und sophistisch erscheinen könnte“; indessen ist dabei noch ein Umstand jenes Überganges verschwiegen. Nicht durch Sokrates lässt Platon diesen Ueber- gang vollziehen, sondern durch Kritias, und zwar in scharf be-
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zeichneter Abweichung von der durch Sokrates’ Frage selbst vor- geschriebenen Richtung für ihre Beantwortung. Man würde es in keinem Dialoge, welcher Personen von bestimmtem Gepräge zu Trägern der Verhandlungen macht, angemessen finden, wenn ein Gedanke, auf dessen Tiefe und Bedeutung ein besonderer Werth gelegt werden soll, durch einen als sophistisch und disputir- süchtig charakterisirten Unterredner eingeführt würde; die künst- lerische Vollendung, in welcher Platon in einer Reihe seiner Werke die dialogische Form anwendet, gibt nicht nur das Recht, sondern macht es dem Interpreten zur Pflicht, diesen Gesichtspunet zur Geltung zu bringen. Und nicht etwa blofs zum Schein bezeichnet Sokrates durch die Frage „welchen von ihm selbst verschie- denen Gegenstand hat dasjenige Wissen, welches du σῳφροσύνη nennst*, für die in der Beantwortung einzuhaltende Richtung das Gegentheil von der Antwort des Kritias; sondern nach mannig- faltigen Windungen, in denen die Möglichkeit und der Werth der ἐπιστήυη ἐπιστήμης behandelt, und die Erörterung dann wieder in “andere Bahnen zurückgeleitet wird, gibt endlich Kritias selbst die Antwort, dass das Gute das Object desjenigen Wissens sei, welches das Wesen der σωφροσύνη bilde. Indem Sokrates diese Antwort mit dem Vorwurfe aufnimmt, „du böser Mensch, so lange ziehst du mich schon im Kreise umher und verbirgst mir deine wirkliche Überzeugung“ p. 174 B (eine Wendung, welche lebhaft an die Stelle des Gorgias erinnert 499 B, wo Kallikles seine Behauptung der Identität von gut und angenehm endlich aufgibt): so be- zeichnet dadurch Platon so deutlich, als die dialogische Form es irgend thunlich macht, dass hiermit die gesuchte Grundlage der Definition gefunden ist. Von hier aus fällt denn auch helleres Licht auf den Gang und das Ziel des ganzen Dialogs. Durch den Satz, dass zur σωφροσύνη das Wissen des Guten erforderlich ist, wird ihr sittlicher Gehalt festgestellt; für die besondere Modifi- cation der Sittlichkeit, welche durch das Wort σωφροσύνη be- zeichnet wird, finden sich die Andeutungen in denjenigen Defi- nitionen der σωφροσύνη, welche nicht deshalb beseitigt waren, weil sie etwa nicht die eigenthümliche Form der σωφροσύνη charakterisirten, sondern nur deshalb, weil in ihnen nicht das Wesen der σωφροσύνη als einer Tugend, das χαλόν derselben, enthalten sei. Ich unterlasse es, dies des weiteren auszuführen
ἩΠΑΒΜΙΌΕΣ. 23
und dadurch die von Platon im Charmides beabsichtigte Definition der σωφροσύνη herzustellen; denn ich müsste im wesentlichen denselben Gang einschlagen, den ich in der Analyse des Dia- loges Laches zu begründen versucht habe. Die Frage aber lässt sich nicht wohl abweisen: wenn nach der gegebenen Begründung jenes Wissen des Wissens von Platon nur behandelt wird, um einen ihm als sophistisch erscheinenden Gedanken zu verwerfen, ohne dass daraus ein positiver Beitrag für den eigentlichen Unter- suchungsgegenstand des Dialoges sich ergibt, wie kommt Platon dazu, dieser Erörterung einen so erheblichen Theil des Dialogs zu widmen? Die Frage verdient schon insofern Beachtung, weil ‘ unverkennbar eben diese Ausführlichkeit in der Behandlung der ἐπιστήμη ἐπιστήμης vornehmlich dazu beigetragen hat, ihr in Pla- tons eigenem Sinne eine positive Bedeutung beizumessen; es wird erlaubt sein, da die Frage selbst das Gebiet des sicher zu entscheidenden überschreitet, eine Vermuthung zu versuchen. Indem Sokrates die Forderung des Wissens in anderer Strenge, als bis dahin geschehen, gestellt und gegenüber dem schwankenden Meinen nur in fest begrenzten Begriffen ein Wissen für erreichbar erklärt hatte, erhoben sich gleichzeitig mit innerer Nothwendigkeit die mannigfaltigen Probleme der Erkenntnistheorie. Das Wissen wird vom Meinen unterschieden ; welches ist die bestimmte Abgrenzung des einen gegen das andere?! Alles Lernen und Erkennen setzt anderes schon vor- hergegangenes voraus, woran es anknüpfe und worauf es beruhe ; wo ist ein Anfang zu gewinnen, der das Lernen überhaupt möglich mache? ja ist überhaupt Lernen möglich ? Wir setzen als Prädicat eines Satzes etwas von dem Subject verschiedenes ; wie soll es zulässig sein, Subject und Prädicat durch die Form des Satzes gleichzusetzen! müssen wir uns nicht vielmehr auf die Urtheile und Sätze beschränken, in denen dasselbe Prädicat und Subject ist? Diese und ähnliche Probleme nehmen zum Theil die Form von Räthselfragen oder von paradoxen Behaup- tungen an. Mit ihnen sehen wir Platon ernst und scherzend im Menon, im Theätetos, im Euthydemos beschäftigt. Der Lösung dieser Probleme dient die Platonische Hypothese einer vorwelt- lichen intellectualen Anschauung, dienen die Anfänge der Logik, die er Dialektik nennt, und die ersten Versuche psychologischer
236 ÜHARMIDES.
Erklärung, welche wir durch einige Dialoge hindurch verfolgen können. In diese Reihe von Problemen gehört auch die Frage, ob es ein Wissen des Wissens gebe, also der erste Anfang des Problemes des Selbstbewusstseins. Die Sokratisch - Platonische Forderung der sittlichen Selbsterkenntnis, in welcher nach dem Sinne dieser Männer an eine Identität von Subject und Object des Wissens nicht gedacht war, lag schon durch’ den Wortlaut einer ἐπιστήμη ἐπιστήμης so nahe, dass die Erwähnung der Selbst- erkenntnis den natürlichen Anlass bot, diese Frage der damaligen Philosophie zur Erörterung zu bringen. Unter solcher Voraus- setzung, zu welcher, denke ich, die Weise selbst, in welcher die Frage im Charmides eingeführt ist, ausreichenden Anlass gibt, wird es erklärlich, dass Platon ihrer Behandlung einen unver- hältnismäfsigen Umfang in diesem Dialoge zuweist, obgleich daraus unmittelbar kein positiver Ertrag für den Gegenstand der Untersuchung sich ergibt.
Dass ich den Dialog Charmides durchweg als einen Platonischen bezeichnet habe trotz der scharfen Angriffe, welche noch in neuester Zeit gegen seinen Platonischen Ursprung gerichtet sind, möge mir nicht zugemuthet werden ausdrücklich zu rechtfertigen. Das Auflösen des Gewirres von Einwendungen, welche gegen diesen Dialog als eine Schrift Platons vorgebracht sind, würde mehr ermüdend als an sich oder durch irgend ein Nebenergebnis lohnend sein.
ZUR ERKLÄRUNG DES DIALOGS PROTAGORAN.
Der Platonische Dialog Protagoras hat bei denjenigen For- schern, welche den literarischen Nachlass Platons auf einen er- heblich geringeren Umfang zurückzuführen gesucht haben, sich einer besonderen Gunst zu erfreuen gehabt. Obgleich Aristo- teles uns nicht den Gefallen gethan hat, in einer der auf uns gekommenen Schriften diesen Dialog als ein Werk Platons zu citiren, und selbst eine Stelle der naturhistorischen Schriften, die wenigstens zur Evidenz bringt, dass Aristoteles diesen Dia- log kannte, unbemerkt geblieben war; obgleich es ferner leicht wäre, nach der von Schaarschmidt beliebten Methode zu zeigen, dass der wissenschaftliche Kern des Dialogs in keinem Verhält- nisse stehe zu der ihn überwuchernden Schale: trotzdem ist von keinem der bezeichneten Kritiker der Platonische Ursprung des Protagoras je in Zweifel gezogen worden; ja Schaarschmidt verdeckt seine eigene Inconsequenz in Schonung des Dialogs dadurch, dass er, statt ihn gerade und unverhohlen einen von Aristoteles nicht bezeugten zu nennen, ihn als einen weniger bezeugten bezeichnet. Der Grund, weshalb der Protagoras von den sophistischen Verdrehungen angeblicher Kritik verschont geblieben ist, wird wohl darin liegen, dass die plastische An- schaulichkeit der Scenerie und der Personen des Dialogs, das frische Leben und die reiche Mannigfaltigkeit des Gespräches, kurz seine gesammte künstlerische Gestaltung auf keinen Leser des Eindrucks zu verfehlen vermag und vor diesem, bei erneu- ter Beschäftigung nicht ermattenden, sondern sich steigernden
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Eindrucke die Waffen des Angriffs zu Boden sinken. Aber trotz dieses unwillkürlichen Eindrucks, den dieser: Dialog auf die Leser übt, durfte Schleiermacher mit Recht sagen, dass dieses ziemlich verwickelte Werk nicht eben so gründlich verstanden sei, als es vielfach gepriesen werde. Seit Schleiermacher ist zur Erklärung des Protagoras im ganzen und einzelnen unzweifel- haft sehr viel schätzbares geleistet, so dass es fast schwer wird, über den Schriften zur Erklärung nicht die erklärte Schrift selbst aus den Augen zu verlieren. Dennoch unternahm es vor eini- gen Jahren eine Abhandlung über die Frage: „Wie ist Platos Protagoras aufzufassen!“ alle bisherigen Auffassungen von Schleiermacher bis zur neuesten Zeit in ihrer Einseitigkeit und unbefriedigenden Mangelhaftigkeit nachzuweisen und durch eine der einheitlichen Composition des Ganzen gerecht werdende Er- klärung zu ersetzen. Diese zufällig erst jetzt mir bekannt ge- wordene Abhandlung von Meinardus (Oldenburg 1865), welche durch die lebendige, von fester Überzeugung durchdrungene Darstellung anzieht und durch wirkliches Hineinleben in das Platonische Werk volles Anrecht auf Beachtung hat, ist der nächste Anlass dazu, dass ich den vielbesprochenen Gegenstand einer erneuten Erörterung zu unterziehen versuche; ich werde bemüht sein, dieselbe auf das unbedingt nothwendige zu be- schränken.
Der Verfasser der genannten Abhandlung bezeichnet als den Gegenstand des Dialogs, in welchem allein alle Fäden desselben zusammengehen, ohne dass ein einziger als überflüssig oder gar störend erscheine: der Dialog stelle uns dar, „wie Protagoras, der grolse Tugendlehrer, zu Falle kommt, oder noch besser, wie er sich selbst zu Falle bringt.“ Man mag gegen die specielle Formulirung, durch welche der Verfasser die einzelnen Stufen in der Niederlage des Protagoras unterscheidet, einiges mit Grund einzuwenden haben; jedenfalls ist durch den angeführ- ten, den Dialog als Ganzes charakterisirenden Satz der Ein- druck bezeichnet, welchen das Werk auf jeden unbefangenen Leser unvermeidlich macht. Denn von den ersten Zeilen bis zum letzten Worte ist die Person des Protagoras, sein Ruhm als Erzieher der Jugend zur Tüchtigkeit im öffentlichen und Privatleben, der Mittelpunet, um den alles sich bewegt. Schon
PROTAGORAS. 239
in der einleitenden kurzen Scene, durch welche für unsern Dia- log die Form der Wiedererzählung motivirt wird, erscheint der Besuch des Protagoras in Athen als ein alle gebildeten Kreise lebhaft interessirendes Ereignis. Welchen Eindruck derselbe unter den wissbegierigen Jünglingen der Stadt hervorrief, stellt uns in dem ersten vorbereitenden Abschnitte des Gespräches selbst Hippokrates dar, der nicht einmal den vollen Anbruch des Tages abwarten möchte, um durch Sokrates’ Vermittlung dem Protagoras vorgestellt und in den Kreis seiner Schüler ein- geführt zu werden. Eintretend sodann in das reichste und gast- lichste Haus des damaligen Athen, das Haus des Kallias, sehen wir Protagoras in dem Glanze seines Ruhmes, umgeben von einer ihn verehrenden Schaar von Jünglingen aus den ange- sehensten Geschlechtern Athens und der Fremde, vor den gleich- zeitig anwesenden und ebenfalls von Anhängern gefeierten Cele- britäten, einem Hippias und Prodikos, schon durch das Beneh- men des Wirthes Kallias als der erste ausgezeichnet. Die Frage, welche Sokrates an die persönliche Vorstellung des Hip- pokrates anknüpft, was denn Hippokrates erwarten dürfe aus dem Unterrichte des Protagoras zu gewinnen, gibt dem Prota- goras Gelegenheit, mit unverhohlenem Selbstbewusstsein sich als den Mann zu bezeichnen, der zuerst zur Sophistik als seinem Lebensberufe sich offen bekannt habe, und die Bildung der Jünglinge zur Bürgertugend als die Aufgabe, deren Lösung er sich mit anerkanntem Erfolge hingebe. Die von Sokrates be- scheiden geäulserten und kurz begründeten Zweifel, ob denn diese Tugend wirklich lehrbar sei, widerlegt Protagoras in aus- führlichem Vortrage, in welchem er, bei leichtverständlicher An- ordnung des Ganzen, sich der verschiedenen Formen der Dar- stellung, des Mythus, der lehrhaften Erörterung, der Schilderung, gleich mächtig erweist und am Schlusse, des vollen Beifalls sicher, auf seine eigene Person und seine Wirksamkeit die Blicke zurücklenkt. Unverkennbar steht hier Protagoras auf dem Höhepuncte seines Ruhmes, der ihm von da an Stück für Stück entrissen wird. Sokrates, im übrigen, wie er erklärt, durch Protagoras’ Vortrag überzeugt, bedarf nur noch einer klei- nen Ergänzung, nämlich der Erklärung darüber, ob durch die in dem Vortrage gelegentlich angewendeten verschiedenen Namen
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von Tugenden wesensverschiedene, von einander unabhängige Theile der Tugend gemeint, oder ob es nur verschiedene Namen für dieselbe einheitliche Tugend seien. Protagoras, der erste- ren Auffassung unbedingt sicher, trägt kein Bedenken auf die Fragen des Sokrates antwortend einzugehen. Aber schon ge- genüber dem Beweise des Sokrates für die Identität von Fröm- migkeit und Gerechtigkeit kann er nur durch unbestimmte Re- densarten dem Eingestehen der Niederlage ausweichen; bei dem Beweise sodann für die Identität von Besonnenheit und Weisheit ist ihm selbst dieser Ausweg abgeschnitten, so dass er bei dem dritten Beweisgange, dem für die Identität von Gerechtigkeit und Weisheit, durch das bekannte sophistische Mittel des weit- läufigen Geschwätzes über einen Nebenpunct die Fortführung (65. geordneten Gespräches vereitelt und Sokrates zu dem Ent- schlusse veranlasst, die Versammlung zu verlassen. Die Be- mühungen aller Anwesenden, die Fortsetzung der ihnen höchst interessanten Unterredung zu erwirken, anfangs an beide Unter- redner gerichtet, wenden sich zuletzt allein an den eigentlichen Urheber der Unterbrechung, an Protagoras. Unglücklich gewesen in der Stellung des Antwortenden, will Protagoras zunächst die offenbar ihm günstiger scheinende Stellung des Fragenden ein- nehmen, und dann erst wieder darauf eingehen, antwortend den Fragen des Sokrates Rede zu stehen. Er versetzt die Unter- redung in das ihm geläufige Gebiet der Dichtererklärung, jedoch so, dass durch den speciellen Inhalt des der ästhetischen Kritik unterworfenen Gedichtes die Continuität des Themas erhalten bleibt. Aber bald verliert Protagoras die Zügel des Gespräches aus den Händen; Sokrates erklärt in zusammenhängender Rede, die Kritik des Protagoras widerlegend, das fragliche Gedicht des Simonides, nur um nach gelungener Ausführung diese ganze Beschäftigung mit Dichtererklärung als ein begriffloses, zu keiner sicheren Einsicht führendes Treiben zu verwerfen und damit den Protagoras zur Wiederaufnahme des vorhin abgebrochenen Ge- spräches über das Verhältnis der einzelnen Tugenden zu einan- der zu bestimmen. Unberührt von des Sokrates Beweisen für die Identität verschieden benannter Tugenden war die Tapfer- keit geblieben; auf die Behauptung dieser einzigen letzten Po- sition zieht sich Protagoras zurück, die Verschiedenheit der
ὙΨΘΌΝΝΝ
PROTAGORAS. 241
Tapferkeit von den übrigen Tugenden, insbesondere der Weis- heit, und ihre Selbständigkeit behauptend. Aber auf der Grund- lage seiner eigenen, nur mit vorsichtiger Zurückhaltung bekann- ten Ansicht, dass der Genuss das höchste und letzte Ziel alles menschlichen Strebens sei, sieht Protagoras sich genöthigt, auch die Tapferkeit auf Einsicht oder Wissen zurückzuführen. Ja noch mehr, diese Zurückführung der Tapferkeit und, wie wir nach dem früheren hinzusetzen dürfen, jeder Tugend auf Wis- sen, welche Protagoras eifrigst bekämpft, zeigt sich als die noth- wendige Voraussetzung, wenn, wie es ja doch Protagoras be- hauptet, die Tugend lehrbar sein soll. Das allmähliche Ver- stummen des Protagoras auf die letzten entscheidenden Fragen des Sokrates ist für seine vollständige Niederlage ein unzwei- deutiges Zeichen, welches dadurch nicht entkräftet wird, sondern nur die dem Charakter des Dialogs und seines Helden entspre- chende Färbung erhält, dass Protagoras sofort wieder das Selbst- vertrauen gewinnt, den Sokrates mit väterlicher Freundlichkeit und stolzer Herablassung in seinem Wissensstreben zu ermu- thigen.
Diese Andeutungen, die sich leicht zu grölserer Überzeu- gungskraft erweitern liefsen, werden hinreichen, an den Gang und Inhalt des Dialogs in so weit zu erinnern, dass dadurch als Absicht des ganzen Werkes erscheint, darzustellen „wie Pro- tagoras, der grofse Tugendlehrer, sich selbst zu Falle bringt“. Aber naheliegende Erwägungen, die bis jetzt bei Seite gelassen wurden, drängen sofort zu einer verallgemeinernden Modification dieser Auffassung. Wie frühzeitig man auch die Abfassung des Dialogs setzen möge, jedenfalls fällt dieselbe mehrere Jahre nach dem Tode des Protagoras!). Eine solche Zeitdifferenz ist vollkommen gleichgiltig, wenn es sich, wie im 'Theätetos, um die
ἢ Zeller (Griech. Phil. II, 1. S. 451, 3) setzt in umsichtiger Combina- tion aller Momente, welche einen Schluss auf die Abfassungszeit der einzel- nen Platonischen Dialoge ermöglichen, die Abfassung des Protagoras in die Zeit zwischen Sokrates’ Tod und Platons ägyptischer Reise; und weiter zu- rück in der Zeit dürfte er schwerlich zu setzen sein. Für das Todesjahr des Protagoras ist ca. 411 v. Chr. eine wahrscheinliche Annahme (Zeller, Gr. Phil. 3. Aufl. I. S. 802, 4). Beide Zeitpuncte liegen also um mehr als ein Jahrzehnt auseinander.
Bonitz, Platonische Studien. 16
τῷ
24 PROTAGORAS.
Kritik des philosophischen Lehrgehaltes handelt; denn eine solche Kritik, gegen einen in den Schriften fortbestehenden In- halt gerichtet, wird überdies für Platon ein Mittel zur Begrün- dung seiner eigenen Überzeugungen. Aber sie ist schwerlich in gleicher Weise unerheblich in einer durch die Selbstdarstellung des Protagoras gegebenen ironischen Kritik seiner persön- lichen Wirksamkeit. Und nur um diese handelt es sich in unserem Dialoge; Beziehungen auf die specifischen Lehren des Protagoras, welche doch zu einer Bestreitung seines Berufes als Tugendlehrer die bequemste Handhabe boten, lassen sich selbst mit der von manchen Seiten (so schon von Schleiermacher) an- gewendeten Gewalt nicht glaublich hineindeuten; wir werden, da eine Unbekanntschaft Platons mit denselben undenkbar ist, diese Enthaltsamkeit nicht für zufällig halten dürfen. Dazu kommt aber: das Vorgespräch des Sokrates mit Hippokrates, welches wir als eine authentische Weisung Platons selbst für die richtige Auffassung des ganzen Werkes anzusehen haben, erregt Bedenken gegen die Lehrthätigkeit nicht speciell des Pro- tagoras, sondern überhaupt der Sophisten. Und damit stimmt die nachfolgende Ausführung. In einem Werke, welches uns die sicherste Herrschaft über alle Kunstmittel der Darstellung beweist, dürfen wir gewiss den Umstand nicht als gleichgiltig oder als blofsen Schmuck ansehen, dass dem Protagoras ein paar andere Vertreter der Sophistik zur Seite gestellt sind, nicht blofs. als stumme Zuhörer, sondern als geneigt und bereit, bei sich darbietender Gelegenheit in die Verhandlungen thätig mit ein- zutreten. Wenn man ihr blofses Schweigen bei den früheren Niederlagen des Protagoras etwa noch nicht als ausreichendes Zeichen dafür möchte gelten lassen, dass Platon in jene Nieder- lagen sie mit einbegriffen wissen will, so schwindet solcher Ein- wand bei dem letzten entscheidenden Beweisgange; denn der Platonische Sokrates sorgt dafür, dass zu den entscheidenden Zugeständnissen in demselben Prodikos und Hippias sich aus- drücklich mitbekennen. In treffender Wahl macht Platon den Mann, der sich zuerst einen Sophisten nannte und alle anderen an geistiger Bedeutung unverkennbar überragte, zum Träger des Gespräches; aber er bezeichnet zugleich in der unzweideutigsten Weise, dass wir in ihm die Sophistik selbst als getroffen anzu-
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sehen haben. Wir würden also jene Formel wenigstens dahin zu modificiren haben: der Dialog stelle dar, wie die Sophistik in ihrem vermeintlichen Berufe als Lehrerin der Tugend sich selbst zu Falle bringe.
Hiermit wären wir aber gerade bei derjenigen Auffassung des Dialoges angelangt, vor welcher Schleiermacher als einer ungenügenden warnt. Es ist auffallend, dass bei der energischen Erneuerung dieser Auffassung diese Warnung Schleiermachers, trotz der sonstigen Polemik gegen ıhn, nicht scheint beachtet zu sein. Und doch ist sie wohl begründet; denn durch die Ausschliefslichkeit der bisher bezeichneten Auffassung wird die Bedeutung eines Gedankens verdeckt, der den ganzen Dialog vom Anfange bis zum Schlusse durchzieht und sich als bestim- mend für seine Composition erweist, eines Gedankens, der als positiv und philosophisch, als Ausdruck der eigensten Überzeu- gung Platons vor jener blofs verneinenden Kritik Anrecht auf volle Beachtung hat. Als diejenige Form, in welcher allein ge- meinsame wissenschaftliche Forschung und eine nicht blofsen Glauben, sondern wirkliche Einsicht hervorrufende Mittheilung möglich sei, wird das Gespräch, das Geben und Annehmen von Rechenschaft (διαλέγεσϑαι, λόγον δοῦναι χαὶ δέξασϑαι) dargethan und durch die ganze Composition bewährt. Der Dialog gliedert sich schon für den ersten Blick in vier deutlich von einander abgehobene Abschnitte, die wir durch kurze Überschriften so bezeichnen können: Rede und Gegenrede über die Lehrbarkeit der Tugend (p. 319 A — 328 0), Gespräch zum Erweise der Identität der einzelnen Tugenden (p. 329 Ο — 334 C), Vortrag und Gegenvortrag zur Erklärung des Simonideischen Gedichtes (p. 338 E — 347 A), Gespräch, durch welches die Tapferkeit auf Einsicht zurückgeführt wird (p. 348 C — 360 E). Was zwischen diese Hauptabschnitte fällt, dieselben zugleich schei- dend und verbindend, ist alles dahin gerichtet, zu zeigen, dass das bei dem Gegenstande streng festhaltende Gespräch die ein- zige Form der Gedankenmittheilung sei, welche zur Klarheit und Bestimmtheit führe und die Einsicht in die Sache fördere ; und was in diesen Verbindungsgliedern theoretisch dargelegt wird, das erweisen die Abschnitte selbst durch eine thatsächliche Probe. Die Gesprächsabschnitte decken die wirkliche Verschie-
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244 ι PRoTAGoRAS.
denheit der Überzeugungen der Unterredner unverhohlen auf und führen zur Nothwendigkeit der Anerkennung ihrer Schlüsse. Von der Gedichtserklärung dagegen sagt nicht nur Sokrates aus- drücklich, dass sie zu einer wissenschaftlichen Einsicht in die Sache nicht führe, sondern er beweist ihre Willkür auch durch die That; denn durch dieses Mittel lässt sich Protagoras unbe- denklich Sätze aufreden, gegen welche er sich nach seiner Über- zeugung widersetzen müsste und nachher in der dialogischen Discussion zu sträuben versucht. Und die Reden und Gegen- reden über die Lehrbarkeit der Tugend geben nicht nur Anlass, die Gesprächsform gegenüber dem zusammenhängenden, in sei- ner Wirkung nur einem geschriebenen Buche vergleichbaren Vortrage zu empfehlen, sondern zeigen ihre Schwäche darin, dass Protagoras sofort nach Beendigung des trefflichen und mit Beifall aufgenommenen Vortrags in einem nur angeblich neben- sächlichen Puncte seine Begriffslosigkeit beweist. Die Anwen- dung der sämmtlichen bei den Sophisten gebräuchlichen Formen, des längeren, kunstvoll geschmückten Vortrages, des Mythus, der Gedichtserklärung dient nicht blofs der charakteristischen Zeichnung der Sophistik, sondern wird zugleich der dunkle Hintergrund, von welchem sich die Gesprächsform als die ein- zige für wissenschaftliche Einsicht sachgemälse Methode abhebt. Es ist interessant, diese der wissenschaftlichen Methode zuge- wendete Tendenz zu verfolgen, wie sie das ganze Werk so durchdringt, dass sie nicht als etwas zufälliges oder blofs bei- läufiges betrachtet werden kann, und diese Beobachtung wird noch interessanter durch die zahlreichen und tief eingreifenden Vergleichungen, welche sich mit anderen Dialogen, besonders Gorgias und Phädros, darbieten; aber ein längeres Verweilen hierbei könnte doch nur das ausführen, was Schleiermacher be- reits meisterhaft und so überzeugend bezeichnet hat, dass es sich nicht füglich bestreiten lässt.
Mit dieser Würdigung der formalen, auf die wissenschaft- liche Methode gerichteten Tendenz verbindet Schleiermacher eme fast spottende Geringschätzung des im Protagoras zu findenden ethischen Inhaltes. „Andere hingegen“, schreibt er zum Beispiel, „allzusehr auf die reale Ausbeute begierig, und nicht eben glück- liche Finder, weil sie ohne Kenntnis der Gegend suchen, haben .
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sich nur an eine aufgeworfene Frage gehalten, sei es nun die von der Lehrbarkeit der Tugend oder die von ihrer Einheit und Vielheit, denn wer so nur einzelnes auffasst, muss noth- wendig schwanken“ — und ähnliche Äufserungen finden sich mehr. Diese Geringschätzung der „realen Ausbeute“ würde be- rechtigt sein, wenn es sich eben nur um Auffassung von Einzelnem handelte und nicht vielmehr die Erörterungen über die Tugend, ihre Lehrbarkeit, ihre Einheit oder Vielheit, bei der scheinbaren Zufälligkeit des Abbrechens einer Gedankenreihe und des Anfangens einer davon verschiedenen neuen, durch den gesammten Verlauf des Werkes einen in sich geschlossenen Zu- sammenhang zeigten, auf den Zeller schon in seinen Platoni- schen Studien (S. 161) aufmerksam gemacht hat. Auf Grund der verbreiteten Ansichten und mancher Thatsachen der Erfah- rung bestreitet zu Anfang Sokrates die Lehrbarkeit der Tugend, und mit Waffen der gleichen Art entgegnet ihm Protagoras. Dass der Entgegnung des Frotagoras keine Einsicht in das Wesen der Tugend zu Grunde liegt, beweist in dem darauf folgenden Gespräche Sokrates, indem er die von Protagoras un- bedenklich ausgesprochene Behauptung über die disparate Natur der verschiedenen Tugenden leicht zu Schanden macht. In der darauf folgenden Erklärung des Simonideischen Gedichtes gibt der Inhalt des Gedichtes selbst dem Sokrates Anlass, auf das Werden der Tugend, auf die verschiedenen Stufen ihrer Ent- wicklung hinzuweisen, und mit einer Willkür der Deutung?), die sich durch ihre unverhüllte Gewaltsamkeit meines Erachtens als bewusste Absicht kennzeichnet, wird aus ihm der Satz als ein selbstverständlicher, allgemein anerkannter herausgedeutet, dass jeder sittliche Fehler aus Mangel an Einsicht hervorgehe und es kein anderes sittliches Gut gebe aufser Einsicht, Wissen. Diesen Satz, welchen in der Dichtererklärung Protagoras als einen von allen Verständigen einstimmig anerkannten sich ge- fallen lässt, muss er hernach in der über Einerleiheit oder Ver- schiedenheit der Tugenden wieder eröffneten Discussion trotz des versuchten Sträubens gerade in Betreff der von der Einsicht
2) Ich verweise in dieser Hinsicht besonders auf die für die Verwer- thung dieser Gedichtserklärung entscheidende Stelle p. 345 D, E.
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scheinbar am entferntesten liegenden Tapferkeit zugestehen. Wenn nun zum Schlusse Sokrates dieses Ergebnis als einen Hohn auf ihre Verhandlungen bezeichnet (denn er, Sokrates, der die Lehrbarkeit der Tugend in Abrede stelle, sei bemüht, jede Tugend auf ein Wissen zurückzuführen, also ihre Lehrbar- keit zu erweisen; Protagoras, der ihre Lehrbarkeit behaupte, bestreite eifrigst ihre Zurückführung auf Wissen, bestreite also ihre Lehrbarkeit; sie müssten vielmehr die ganze durch einander geworfene Verhandlung nochmals und zwar von der Bestimmung des Begriffes der Tugend beginnen): so soll diese Äufserung doch gewiss nicht blos dem Protagoras die Rückkehr zu seinem stolzen Selbstbewusstsein bahnen, sondern sie macht zugleich den Leser auf den Zusammenhang der verschlungenen Verhand- lung aufmerksam, und wir deuten nach bekannter Platonischer Weise die Forderung des Erneuerns der Untersuchung und des Sokrates unverhohlene Aufdeckung seines Widerspruches mit sich selbst wohl nicht unrichtig, wenn wir das Gegentheil darin lesen, nämlich, dass zur Auffindung des Begriffes der Tugend wesentliches durch den Dialog geleistet, und dass in Platons eigener Überzeugung jener aufgezeigte Widerspruch gelöst ist. Durch die Zurückführung jeder Tugend auf Wissen ist die Frage nach ihrer Lehrbarkeit und nach ihrer Einheit zugleich gelöst; und wenn die Tugend als eine werdende verschiedener Stufen der Entwicklung fähig ist, so ist nicht ausgeschlossen, dass es
ein sittliches Wohlverhalten gebe, welches, als noch nicht auf | Einsicht beruhend, auch nicht im Sinne Platons lehrbar ist. Zu diesem Satze mögen noch ein paar Erläuterungen ge- stattet sein.
Selbst der Zurückführung der Tugend auf Wissen, welche zweifellos ein Grundsatz Sokratisch-Platonischer Lehre ist, be- streitet Schleiermacher ihre Bedeutung für die Aufgabe dieses Dialoges, vornehmlich weil sie in Verbindung mit der ganz un- sokratischen und unplatonischen Ansicht gebracht werde, dass das Gute nichts anderes sei als das Angenehme. Hierin ist nun das gewiss richtig, dass Schleiermacher die Identification von ἀγαϑόν und ἡδύ als schlechthin unplatonisch bezeichnet; man muss die wiederholten Aufforderungen des Sokrates an die So- phisten, ob sie denn nicht ein anderes Ziel alles menschlichen
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Strebens anzugeben wüssten als das Angenehme und den Ge- nuss®), mit Gewalt überhören, um aus diesem Dialog eine Zeit herauszuklügeln, in welcher für Platon gut und angenehm noch unterschiedslos gewesen sei. Aber die Verbindung mit diesem von Platon verworfenen Satze besagt doch wohl nur, dass, was „man auch immer für das an sich und unbedingt Erstrebenswerthe halte, jedenfalls das Wissen desselben die Bedingung voll- kommener Sicherheit des sittlichen Handelns, also der Tugend ist. Nicht unerheblich scheint mir überdies für den im Zu- sammenhange unseres Dialoges auf diesen Satz zu legenden Werth der Umstand zu sein, dass derselbe Satz schon vor dieser - Ableitung aus einer unplatonischen Voraussetzung als ein selbst- verständlicher in jener gewaltsamen Ausdeutung des Simonidei- schen Gedichtes vorgebracht ist.
Was zweitens die Einheit der Tugend betrifft, so werden die darauf bezüglichen Erörterungen von mehreren Seiten so aufgefasst, dass Platon in diesem Dialoge jeden Unterschied der einzelnen Tugenden von einander in Abrede gestellt, sie voll- kommen identificirt habe, und erst später in seiner Überzeugung jene Modification eingetreten sei, wie sie aus den Büchern über den Staat bekannt ist. Dieser Auffassung vermag ich nicht mich anzuschlielsen. In unserem Dialoge selbst finde ich sie nicht erwiesen. Was den Abschnitt betrifft, in welchem Gerechtig- keit und Frömmigkeit, Besonnenheit und Weisheit als identisch erwiesen werden, so muss man dafür Platon selbst die Ver- antwortung überlassen, dass er den Protagoras so grobe Mittel der Täuschung, wie dies das Umdeuten des contradictorischen Gegensatzes in den conträren und die Benützung der Unbe- stimmtheit im Gebrauche von ἀφροσύνη ist, nicht bemerken lässt ; aber diese Beweise als von Platon ernstlich gemeint anzusehen wird man sich doch wohl bedenken müssen, wenn man beob- achtet, mit welch bewusstem Geschick ım zweiten Falle der Platonische Sokrates durch die Anordnung seiner Schlingen die Benützung der Amphibolie verdeckt). In dem letzten Abschnitte
3) p. 354 B— Ἐς, vgl. mit p. 351 C, E u. 358 A, B. 4) Zeller hält es allerdings für wahrscheinlich, dass die fraglichen Be- weise von Platon ernstlich gemeint seien. „Nachdem hier der Behauptung,
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aber wird nur erwiesen, dass die Tapferkeit auf Wissen zurück- zuführen ist, und es wird bei der Recapitulation verallgemeinernd nur gesagt°), dass alles, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, Wissen ist. Es ist nicht gesagt und braucht nicht in den Wor- ten zu liegen, dass diese sittlichen Eigenschaften unterschiedslos und identisch seien, sondern nur, dass dasjenige Moment, wel-. ches jede dieser Charaktereigenschaften, z. B. den Muth, zu einer sittlich werthvollen (χαλύν), zu einer Tugend mache, die Einsicht ist, — (ganz so wie es der Platonische Sokrates in dem
dass die διχαιοσύνη, σωφροσύνη, ὁσιότης, σοφία und ἀνδρεία eben so viele Theile der Tugend seien, schon 329 € — 333 B einige mehr sophistische als überzeugende, aber von Plato doch wohl ernstlich gemeinte Ein- würfe entgegengesetzt waren“ u. s. w. (Phil. ἃ. Gr. 3. Aufl. II, 1. Κ΄. 501, 3.) So gewichtig mir ein, selbst nicht weiter begründeter Einwand dieses For- schers ist, und so weit ich entfernt bin, in der Unhaltbarkeit oder selbst in starken logischen Fehlern eines Beweises an sich ein Zeichen dafür zu sehen, dass derselbe von Platon nicht ernstlich gemeint sei, so bestimmen mich doch im vorliegenden Falle besonders zwei Erwägungen zu der ausgespro- chenen Auffassung. Erstens der im Texte selbst angedeutete Gesichtspunct: die Geschicklichkeit, mit welcher die Anerkennung der zwei ἐναντία von ἀφρο- σύνη an die weitest von einander entfernten Stellen des Beweisganges ge- bracht ist, spricht viel mehr für das Bewusstsein und die Absicht einer Täuschung, als für die unbefangene Entwicklung ernstlicher Überzeugung. Zweitens, der Satz, dessen Beweis hier unternommen wird, σωφροσύνη χαὶ σοφία ταὐτό, geht entschieden und erheblich weiter als die sonstigen Äulse- rungen Platons über das Verhältnis der einzelnen Tugenden zu einander in den Stellen, in welchen über die ernstlich gemeinte Darstellung der eignen Überzeugung kein Zweifel ist, z. B. Gorg. 506 1) — 507 C. Men. 88 C. Lach. 199 D. Denn überall finden wir die beiden Sätze, erstens dass jede Tugend nur durch das Wissen des Guten zu wirklicher Tugend wird, zweitens, dass wenn dieses Wissen vorhanden ist, es das menschliche Handeln nicht blofs in einer, sondern in allen Richtungen bestimmt, also wer ἀνδρεία oder wer σωφροσύνη besitzt im strengen und vollen Sinne dieser Worte, nothwendig auch die übrigen Tugenden besitzen muss. Durch diese beiden Sätze, die als Platonisch unzweifelhaft anzuerkennen sind, und durch ihre Verbindung ist keineswegs Unterschiedslosigkeit der einzelnen Tugenden als nothwen- dige Folge gesetzt; dass dagegen die directe Behauptung der Identität (ταὐτὸ ἀνδρεία χαὶ σωφροσύνη u. ἃ.) sich nur an der vorliegenden Stelle findet, die schon aus anderem Gesichtspuncte den Anlass gibt nicht für den Ausdruck von Platons ernstlicher Überzeugung zu gelten, scheint mir ein beachtens- werthes Moment für die Entscheidung der Frage zu sein.
ὅν». 361 B: ὡς πάντα γρήματά ἐστιν ἐπιστήμη, καὶ ἡ διχαιοσύνη χαὶ ἢ σωφροσύνη χαὶ ἡ ἀνδρεία.
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ersten dafür geführten, von Protagoras nicht verstandenen und mit überlegener Sicherheit beseitigten Beweise p. 349 E bis 350 © darlegt), ohne dass darum Artunterschiede der einzelnen Tugenden brauchten geleugnet zu werden. Zu diesen dem Dialog Protagoras selbst entlehnten Gründen kommt noch hinzu, dass Dialoge wie Laches und Charmides, welche man ihrer Ab- fassungszeit nach von Protagoras weit zu entfernen keinen An- lass hat, schwerlich anders als unter der bezeichneten Auffassung der Einheit der Tugenden zu einer befriedigenden Deutung zu bringen sind.
Endlich Lehrbarkeit und Nicht-Lehrbarkeit der Tugend. ‚Der Platonische Sokrates bestreitet in dem ersten Abschnitte des Protagoras die Lehrbarkeit der Tugend auf Grund der üblichen Ansichten, zum Theil solcher, welche er sonst ausdrücklich und entschieden verwirft, wie jene sittliche Hochschätzung der be- rühmten Athenischen Staatsmänner. Auf Anlass der Dichter- erklärung sodann zeigt Sokrates die Tugend als etwas werden- des, in dessen Entwicklung mithin die Unterscheidung verschie- dener Stufen zulässig sein wird. In der Recapitulation endlich am Schlusse des Dialogs erklärt Sokrates nicht etwa, die frühere Bestreitung der Lehrbarkeit auf Grund des nachher geführten Beweises aufgeben zu müssen, was doch das einfachste zu sein schiene, sondern bezeichnet mit heiterer Selbstverspottung den Widerspruch, in welchem er sich mit sich selbst befinde. Sollte nicht durch diese nachdrückliche Betonung des Widerspruches die Combination berechtigt sein, dass dieser angebliche Wider- spruch für Platon eben kein Widerspruch war, sondern gelöst durch die im Menon des weiteren ausgeführte Unterscheidung der aus glücklicher Naturanlage und Gewöhnung hervorgehen- den von der auf sittlicher Einsicht beruhenden Tugend? In dieser Weise unterscheidend bestreitet Sokrates gegenüber der Sophistik, welche nur an die erstere Stufe denkt, und aus ihren Gesichtspuncten, die Lehrbarkeit der Tugend eben so mit Recht, als er sie für die auf Einsicht beruhende Tugend behauptet.
Möchte man aber vielleicht diese zuletzt bezeichnete Com- bination als etwas unsicheres ablehnen, so enthält doch jeden- falls der Dialog Protagoras über Grundfragen der Platonischen Ethik, Zurückführung der Tugend auf Wissen, einheitlichen
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Charakter der Tugenden in dieser ihrer Bedingtheit durch Wissen, nicht blofs zerstreute einzelne Äufserungen, sondern einen in der scheinbaren Willkür so planmälsig nach einem Ziele gerichteten (Gredankengang, dass es als unzulässig erscheinen muss, in dieser „realen Ausbeute“, wie Schleiermacher sich ausdrückt, etwas blofs zufälliges sehen oder ihr im Sinne des Verfassers eine nur nebensächliche Bedeutung zugestehen zu wollen. Dass dieser ethische Gehalt des Dialogs und die vorher nachgewiesene methodologische Tendenz desselben nicht disparate, fremdartig neben einander bestehende Elemente sind, bedarf für den Kenner Platons kaum der Erinnerung. Wem, wie dem Sokrates und Platon, die Tugend auf Wissen beruht, für den hat die Methode, welche zur Bestimmtheit des Wissens führt, einen sittlichen Werth; προμνηϑούμενος ὑπὲρ τοῦ βίου τοῦ παντός (361 D) erstrebt dieselbe der Platonische Sokrates, und die Sophistik ist, weil wissenschaftlich hohl, darum sittlich gefährlich. 'Theoretisches und Praktisches, Dialektik und Ethik in untrennbarer Verbin- dung zu finden, wird uns hier so wenig in Verwunderung setzen, als wenn wir im Symposion von der sittlichen Erhabenheit des ἔρως zur Dialektik, im Phädros von der Anschauung des Guten an sich, des Schönen an sich zur Begriffsbildung und Begriffs- theilung den unmittelbaren Uebergang gemacht finden.
Wie aber stellt sich diese ethische und methodologische Bedeutung des Dialogs zu der zuerst in Betracht gezogenen cul- turhistorischen 'Tendenz desselben, der Kritik der Sophistik als der vermeintlichen Lehrerin der Tugend? Meines Erachtens wird dadurch die Überzeugung, zu welcher die Composition und der Inhalt des Dialoges von seinem Anfange bis zum Schlusse führt, dass in ihm die Sophistik in ihrem Anspruche, Lehrerin der Tugend zu sein, durch sich selbst zu Falle gebracht wird, weder entkräftet noch erschüttert, wohl aber in einer Hinsicht ergänzt. Die Vernichtung der Sophistik in diesem ihrem An- spruche lässt sich in Platons Sinne nur dadurch ausführen, dass die Bestimmtheit ihres Wissens über das Object ihres Unter- richtes und hiermit in untrennbarer Verbindung ihre Methode der Kritik unterworfen wird. Eine solche Kritik liefse sich in rein negativer Weise ausführen, so dass eben nur jener unbe- rechtigte Anspruch in sich zerfiele, Platon aber gibt den nach
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einander in der vollen Natürlichkeit eines dramatisch bewegten Gespräches behandelten Fragepuncten den planmälsigen Zu- sammenhang, dass für den aufmerksamen Leser aus jener Ver- nichtung der Sophistik zugleich Grundlehren der Platonischen Ethik und wissenschaftlichen Methodik sich erheben. Es wird dadurch berechtigt, für die Einsicht in Platons Ethik und Dia- lektik den Dialog Protagoras zu verwerthen; aber es würde nicht berechtigt sein, wo es sich um die Auffassung des Dialoges als solchen handelt, diese Momente als die die Composition des Ganzen bestimmenden und beherrschenden zu betrachten.
ZUR ERKLÄRUNG DES DIALOGS: PHÄDROS,
Der Platonische Dialog Phädros ist seit mehreren Jahrzehnten 3°)
in noch höherem Mafse, als die meisten anderen Werke. dieses Philosophen, zum Gegenstande gelehrter Forschung gemacht worden. Schleiermacher hatte in seiner genialen Reproduction der Platonischen Werke den Phädros als die früheste Schrift Platons bezeichnet und in der Einleitung zu demselben die mit seiner gesammten Auffassung der literarischen Thätigkeit Platons eng zusammenhängenden Gründe entwickelt, welche ihn zu dieser Ueberzeugung bestimmten. Der hierdurch angeregten Frage nach der Zeitfolge der Platonischen Dialoge wendete sich die Forschung der nächsten Zeit mit solcher Vorliebe zu, dass es scheinen musste, die Lösung dieses von den mannigfachsten Combinationen bedingten literarhistorischen Problems sei wich- tiger, als das Verständnis jedes einzelnen Dialoges und das Eindringen in seinen eigenthümlichen Gehalt und einheitlichen Zweck. Der Phädros insbesondere wurde der Angelpunct dieser Untersuchungen über die Zeitfolge der Dialoge: ob derselbe in den Anfang von Platons literarischer Thätigkeit oder vielmehr auf ihren Höhepunct zu setzen sei, wurde zu dem Ausdrucke principieller Verschiedenheiten in der Auffassung Platons. Aber unter diesen Bemühungen, dem Dialoge im Ganzen oder ın seinen Einzelheiten Gründe für die eine oder die andere Zeit-
*) Festschrift zur dritten Säcularfeier des Berlinischen Gymnasiums zum grauen Kloster, 5. ὃ -})0.
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bestimmung abzugewinnen, hat das Verständnis des Dialoges selbst wenig gewonnen. Man braucht nur die theils künstlich gewundenen, theils unbestimmt allgemeinen Auslassungen über den Phädros in namhaften und verdienstlichen neueren Werken über Platon !) mit den scharfen und klaren Bemerkungen Schleier- machers zu vergleichen, der gerade bei diesem Dialoge ein- gehender über dessen einheitliche Tendenz handelt, um zu sehen, dass der ausgesprochene Vorwurf begründet ist. Es wird hierdurch als gerechtfertigt erscheinen, wenn ich versuche, diese eigentliche und unmittelbarste Aufgabe der Erklärung des Dialogs, die Frage nämlich über seine Absicht und einheitliche Tendenz, von neuem zu behandeln, ohne dabei jene Gegensätze in den Überzeugungen der Forscher über die Zeit der Abfassung zu berücksichtigen ; die Beantwortung dieser Frage wird dann von selbst den Anlass geben, auf die gesammte literarische Thätigkeit Platons den Um- blick zu erweitern. Wenn ich zu Vereinfachung der Darstellung nur Schleiermachers Erklärung des Phädros namentlich erwähne, so darf ich doch versichern, dass ich die andern, mir bekannt gewordenen Erklärungen?) gewissenhaft in Erwägung gezogen habe. — Die Grundlage für die Entwicklung der einheitlichen Absicht des Dialogs kann nur in einer genauen, von willkürlichen Zuthaten freien Analyse des Werkes gefunden werden; es wird jedoch für den vorliegenden Zweck genügen, den Gedankengang des Dialogs in seinen Umrissen zu bezeichnen. Dies soll zu- nächst in gedrängtester Kürze geschehen.
Der athenische Jüngling Phädros hat den gröfsten 'Theil des Vormittags in gespannter Aufmerksamkeit in der rhetorischen Schule des Lysias zugebracht; aus ihr heraustretend um zur Er- holung sich etwas zu ergehen, trifft er mit Sokrates zusammen.
ἡ Vgl. Hermann, Gesch. der Pl. Phil. 5. 514 f., Steinhart IV. 8. 21, Susemihl I. 5. 275. Man findet die verschiedenen Erklärungen der Forscher nach Schleiermacher übersichtlich zusammengestellt in der unter Anm. 2 erwähnten Schrift von Volquardsen ὃ. 303 ff.
2) Aulser den Schriften von K. F. Hermann, Steinhart, Susemihl er- wähne ich insbesondere: Krische, Über Platons Phädros. 1847, Vol- quardsen, Platons Phädros, erste Schrift Platons. 1862, v. Stein, Ge- schichte des Platonismus. 'Thl. I. S. 92—120, Ribbing, Genetische Dar- stellung der Platonischen Ideenlehre. ΤῊ]. II. $S. 191—220.
254 Pnhäpros.
Noch erfüllt von Bewunderung des Musterbeispiels einer Rede, welches Lysias so eben seinen Schülern vorgetragen und mit- getheilt hat, ist Phädros gern bereit dasselbe dem Sokrates vor- zulesen. Man wählt zum Zusammensitzen einen schattigen Rasenplatz unter einer Platane in der Nähe der Stadt (cap. 1—5. p- 227 A— 230 E). Als sie dort angelangt sind, liest zunächst Phädros die Rede des Lysias vor. Der Redekünstler hatte sich dazu ein paradoxes Thema gewählt. Denn die Rede ist an einen schönen Knaben gerichtet und soll ihn bestimmen, in seinen Gunstbezeigungen den verständigen leidenschaftslosen Verehrer dem leidenschaftlich liebenden vorzuziehen. In einzelnen, kurzen, ohne erkennbare Ordnung aneinander gereihten Abschnitten werden die Übel der leidenschaftlichen Liebe und der Vortheil der nüchternen Verständigkeit mehr aufgezählt®) als zusammen-
3) Dass hiermit die Lysianische Rede richtig charakterisirt ist, ergibt sich leicht aus einem Überblick der einzelnen zur Sprache gebrachten Puncte, unter denen fast jeder folgende von dem vorhergehenden durch kenntliche Marksteine bestimmter, wiederkehrender Partikeln getrennt ist. Es sind dies folgende Abschnitte. 1. Die Liebenden empfinden nach dem Ende ihrer Leidenschaft Reue über die aufgewendeten Geschenke. 2. (ἔτι δὲ) Die Lie- benden rechnen ihre Kosten und Mühen an. 3. (ἔτι δὲ) Dass die Liebenden besonders freundschaftlich gesinnt seien, ist nicht wahr; spätere Liebe zu einem andern hebt diese Freundschaft auf. 4. (χαί zoı) Die Liebenden be- finden sich in einem krankhaften Zustande. 5. (χαὶ μὲν δὴ) Unter den Liebenden ist keine grolse Auswahl. 6. (τοίνυν) Die Unvorsichtigkeit der Liebenden zieht den Geliebten Schmach zu. 7. (ἔτι) Bei Liebenden merkt man die Absicht ihres Zusammenseins. 8. (χαὶ μὲν δὴ) Liebende schneiden den Geliebten jeden sonstigen Umgang ab. 9. (χαὶ μὲν δὴ) Liebende ver- folgen ihr sinnliches Begehren ohne .vorausgehende Kenntnis des Charakters der Geliebten. 10. (zat μὲν δὴ) Der Umgang mit dem Nicht-Liebenden bessert. 11. Recapitulation. 12. (ei δ᾽ ἄρα) Widerlegung der angeblich kurzen Dauer des Verhältnisses zu Nicht-Liebenden durch das Beispiel der Ver- wandtenliebe. 13. (ἔτι δὲ) Nicht den am dringendsten Bittenden ist zu will- fahren, sondern dem Würdigsten — ausgeführt in rhetorischen Antithesen. 14. (τῶν ze εἰρημένων at) Dem Nicht-Liebenden macht niemand Vorwürfe. 15. Nicht allen Nicht-Liebenden soll der Knabe willfahren, sondern nur dem Sprecher. — Wenn in dieser Übersicht auch jeder der einzelnen Abschnitte nur nach seinem Hauptgesichtspuncte kurz bezeichnet ist, so zeigt sich doch schon hierin die Berechtigung von Sokrates’ treffender Kritik. — Die Frage über den Verfasser der Rede scheint mir durch L. Schmidts Abhandlung (Verhandlungen der Philologen-Versammlung in Wien. 1858.) endgiltig er- ledigt zu sein.
PHäADpRros. 255
5hängend entwickelt (cap. 6 — 9. p. 231 A — 234 C). Sokrates, der ausdrücklich erklärt, nur auf die künstlerische Seite der Rede geachtet zu haben, verhehlt nicht, dass er in die Bewun- derung des Phädros nicht einstimmen könne, und fügt sogar hinzu, dass er sich getraue, ohne im Inhalte wesentlich anderes leisten zu können, doch dasselbe besser zu sagen als Lysias. Den Bitten des Phädros nachgebend stellt er seinen extemporirten Versuch der überlegten Schularbeit des Lysias gegenüber (cap. 10 — 13. p. 234 D— 237 A). Ein leidenschaftlich Liebender — so modificirt Sokrates das paradoxe Thema — gibt sich den Schein nüchterner Verständigkeit und sucht die Gunst des geliebten Knaben dadurch zu gewinnen, dass er ihm den Vorzug der verständigen Geneigtheit vor der Liebesleidenschaft erweist. Die Liebesleidenschaft sei ein vernunftloses Begehren; aus diesem ihrem Wesen ergebe sich für den Geliebten während des Be- stehens der ihm gewidmeten’ Leidenschaft Nachtheil an Seele, Leib und Vermögen und Widerwärtiges mancherlei Art, und ähnliche Folgen träten nach dem Erlöschen der Leidenschaft ein. Dies alles wird in vollkommen durchsichtiger Ordnung und in schlichter Sprache dargelegt (cap. 13 — 18. p. 237 A— 241 D). — Als nach Beendigung des Vortrages die beiden Unterredner zur Stadt zurückkehren wollen, fühlt Sokrates durch die göttliche ; Stimme in seinem Innern sich zurückgehalten ; er habe in seiner
Rede die erhabene Gottheit des Eros geschmäht und Worte ge- sprochen, die man nur ungebildeten Menschen zutrauen dürfe, Er wage es daher nicht den Ort zu verlassen, ehe er durch einen Widerruf den verdienten Zorn der Gottheit abzuwenden versucht habe; diesen Widerruf trägt er unverhüllten Antlitzes vor, wäh- rend er bei der vorhergehenden Rede es verhüllt hatte (cap. 19 —21. p. 241 Ὁ --- 243E). Die Vorwürfe, sagt Sokrates, welche gegen die Liebe in der vorigen Rede gehäuft sind, würden be- gründet sein, wenn jedes Heraustreten aus dem Zustande ruhiger Besonnenheit (μανία) verwerflich wäre. Dass es aber Arten der Verzückung gibt, welche, wie die prophetische, die sühnende, die dichterische, der Menschheit den gröfsten Segen bringen, und -dass zu diesen segensreichen auch die Liebesverzückung gehört, wird ersichtlich, wenn man das Wesen der Seele, der göttlichen und der menschlichen, in Betrachtung zieht. Nachdem das Wesen
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der Seele als Princip der Selbstbewegung definirt ist, wird die Entwicklung der menschlichen Seele, sowohl vor ihrer Verbin- dung mit dem Leibe als nach ihrer Trennung von demselben in einem schwungvollen, glänzend geschmückten Mythus dargelegt; es genügt für unsern Zweck, die Hauptpuncte daraus hervorzu- heben. Durch das für die menschliche Seele gewählte Bild — nämlich eines Zweigespannes ungleichartiger Pferde und des Wagenlenkers — wird schon in das ursprüngliche Wesen der menschlichen Seele, vor ihrem Eintreten in den Körper, die Verbindung eines höheren und eines niederen widerstrebenden Elementes gelegt. Dieser Gegensatz macht sich geltend, indem die menschlichen Seelen, sich anschliefsend je nach ihrem Cha- rakter an einen der Götter, in den überhimmlischen Raum sich zu erheben suchen, um das wahrhaft Seiende zu schauen; das niedere Element ist ein Hindernis für diese Erhebung; aber es kommt doch keine Seele in menschliche Gestalt, die nicht irgend- wie zu dieser geistigen Anschauung gelangt wäre und das wahr- haft Seiende, der sinnlichen Wahrnehmung Unzugängliche, das Gute an sich, das Schöne an sich geschaut hätte. Die Liebe nun ist die durch den Anblick der sinnlichen Schönheit geweckte Erinnerung an die himmlische Schönheit; in dem geliebten Wesen sieht der Liebende die Gottheit, welcher er einst gefolgt war. Im der Liebesgemeinschaft sucht sich die Seele zu der Seligkeit ihres vorweltlichen Zustandes zu erheben. In den Be- mühungen um das Gewinnen des Geliebten bekämpfen einander der göttliche und der sinnliche Theil der Seele; der verschiedene Ausgang des Kampfes bestimmt die Abstufung im dem Werthe und dem Adel der Liebe; ihr höchstes Ziel ist ein Leben in geistiger Gemeinschaft des Forschens und Erkennens (cap. 22— 38. p. 244 A— 257 B).
Mit dem Beifalle für diese Rede des Sokrates verbindet Phädros sogleich den Ausdruck des Zweifels, ob Lysias derselben würde gleichkommen können, sofern er überhaupt in einen Wettstreit einzutreten sich entschliefse und nicht das Reden- schreiben aufgebe; denn es sei ihm vor kurzem diese Beschäf- tigung zum Vorwurfe gemacht worden. Aber, entgegnet Sokra- tes, Reden halten oder schreiben ist nicht an sich tadelnswerth, sondern nur dann, wenn es nicht in der richtigen Weise ge-
on
PhäADpros. 257
schieht. Dadurch wird der Anlass gewonnen die Bedingungen darzulegen, unter denen eine Rede (dieses Wort im weitesten Umfange seiner Bedeutung genommen) schön und kunstgemäls ist#) (cap. 33—41. p. 257 C— 259 D). Der Redner muss, auch wenn er nur durch den Schein der Wahrheit Überredung schaffen will, Einsicht in das wahre Wesen des Gegenstandes haben, von dem er redet. Bei Gegenständen, die eine verschiedene Auf- fassung zulassen, muss der Redner diejenige Begriffsbestimmung derselben zu Grunde legen, welche dem vorliegenden Zwecke entspricht. Die Folge der einzelnen Theile darf nicht eine will- kürliche sein, sondern muss gleiche Nothwendigkeit haben, wie die Anordnung der Glieder eines lebendigen Leibes; die Zusammen- fassung unter allgemeine Gesichtspuncte und das Hinabsteigen zum Einzelnen muss durch die Natur der Begriffe bestimmt sein, also auf Dialektik beruhen. Endlich, da die Rede auf die Seele des Hörers einwirken will, so ist aufser der Kenntnis der verschie- denen Arten der Rede und ihrer Beherrschung Seelenkenntnis erforderlich, um dem jedesmaligen Hörer die Rede anzupassen. Was ohne diese wissenschaftliche Grundlage, die freilich nie- mand als blofses Mittel der Redekunst, sondern um ihres eignen Werthes willen anstreben wird und erreichen kann, sich für Redekunst gibt, ist nur das Handwerkszeug der Rede, nicht ihre Kunst. — Die gesammte ausführliche Darlegung dieser Erforder- nisse ist so durchgeführt, dass darunter nicht blofs die geschrie- bene Rede, sondern jede Gedankenmittheilung, mündlich oder schriftlich, in ununterbrochenem Zusammenhange oder in Ge- sprächsform, zum Zwecke des blofsen Überredens oder des Be- lehrens, in ungebundener oder gebundener Form befasst erscheint (cap. 42 — 58. p. 259 E— 274 B). In der daran angeschlossenen, aber von dem vorhergehenden bestimmt unterschiedenen) Ver- gleichung des mündlichen Gespräches mit der schriftlichen Dar- stellung wird für den Zweck des Belehrens im vollen Sinne des
4) p. 259 E ὅπῃ καλῶς ἔχει λέγειν τε καὶ γράφειν καὶ ὅπῃ μή, σχεπτέον. vgl. p. 258 D ὅστις πώποτέ τι γέγραφεν ἢ γράψει, εἴτε πολιτικὸν σύγγραμμα εἴτε ἰδιωτύχόν, ἐν μέτρῳ ὡς ποιητής, ἢ ἄνευ μέτρου ὡς ἰδιώτης.
5) p. 274 Β οὐχοῦν τὸ μὲν τέχνης τε χαὶ ἀτεχνίας λόγων πέρι ἱκανῶς ἐχέτω. --- Τὸ δ᾽ εὐπρεπείας δὴ γραφῆς πέρι καὶ ἀπρεπείας, πῇ γινόμενον χαλῶς ἂν ἔχοι καὶ ὅπῃ ἀπρεπῶς, λοιπόν.
Bonitz, Platonische Studien. 17
258 Phänros.
Wortes, d. h. der Erweckung und Befestigung der gleichartigen Gedanken in einem andern, dem mündlichen Gespräche der unbedingte Vorzug gegeben (cap. 59—61. p. 274 B— 277 A). An die Zusammenfassung der gewonnenen Ergebnisse schliefst sich ein freundschaftlicher, dem Phädros aufgetragener Gruls des Sokrates an Lysias, durch welchen er diesen zu philoso- phischer Betreibung der Rhetorik auffordert, und als Gegenstück dazu der Ausdruck hoher Erwartungen von dem noch jugend- lichen, von philosophischem Streben erfüllten Redelehrer Iso- krates. So schliefst der Dialog. Unter dankender Anrufung der schützenden Gottheiten der sie umgebenden Natur verlassen die Unterredner den lieblichen Ort, an dem sie ihre Gespräche ge- führt haben (cap. 62—-64. p. 277 A— 279 C).
Der Dialog Phädros scheidet sich in zwei durch Inhalt und Form scharf von einander abgehobene Theile®), die Liebesreden der ersten Hälfte und das die zweite Hälfte einnehmende Ge- spräch über Rhetorik. Nicht leicht wird sich ein Leser des Dialoges dem unwillkürlichen Eindrucke entziehen, dass die zweite Sokratische Rede durch die ahnungsvolle 'Tiefe der Ge- danken und den Glanz der Sprache seine Aufmerksamkeit vor- zugsweise fesselt und ihn darin den eigentlichen Kern des Gan- zen erblicken lässt; diesen Eindruck machte der Dialog offenbar schon auf diejenigen gelehrten Leser Platons im Alterthum, welche zu der von Platon selbst dem Dialoge gegebenen Über- schrift „Phädros“ die Überschriften „von der Liebe, vom Schö- nen, von der Seele“ hinzufügten, welche Überschriften ja sichtlich nur die zweite Sokratische Rede oder doch nur den ersten Theil des Dialogs berücksichtigen. Schon der Hinweis auf die so eben gegebene Skizze des Inhaltes reicht hin, eine solche Auffassung als unzulässig zurückzuweisen und um zu vergegenwärtigen, dass vielmehr die Rhetorik und in weiterem Sinne die: gesammte Kunst der Gedankenmittheilung den einheitlichen Gesichtspunct des Dialoges bildet. Mit einer durch die Ausführlichkeit
6, Den Versuch einer andern Hauptgliederung, als in diesen Worten bezeichnet, durch die Form des Dialogs augenscheinlich gegeben und daher allgemein angenommen ist, hat B. Förster gemacht, Quaestio. de Platonis
Phaedro. Berol. 1869, ohne jedoch überzeugende Gründe beibringen zu können.
PhHäDperos. 259
neuerer Arbeiten weder übertroffenen noch erreichbaren Über- zeugungskraft weist Schleiermacher in seiner Einleitung die Be- ziehungen aller Glieder der Composition auf diesen Zweck nach, und macht es dadurch überflüssig den Beweis von neuem zu unternehmen; aber Schleiermacher gibt diese Nachweisung nur — um sodann diese Auffassung als gleich unberechtigt wie die so eben verworfene zu beseitigen. „Denn“, sagt er, „wäre nur diese Berichtigung des Begriffes der Rhetorik die Hauptidee des Ganzen, so wäre doch Liebe und Schönheit, der Inhalt jener Reden, für diesen Zweck ein rein zufälliges.“ So wird ihm die Rhetorik selbst für diesen Dialog zu etwas blols äulserem. „Die Seele des Ganzen ist vielmehr“, sagt Schleiermacher, „die Kunst des freien Denkens und des bildenden Mittheilens. Der ursprüngliche Gegenstand der Dialektik aber sind die Ideen, welche Platon daher auch hier mit aller Wärme der ersten Liebe darstellt, und so ist die Philosophie selbst und ganz dasjenige, was Platon hier als das Höchste und als Grundlage alles Wür- digen und Schönen anpreist, für die er allgemeine Anerkennung in diesem Besitze siegreich fordert.“
Man wird die Richtigkeit des zuletzt ausgesprochenen Satzes Schleiermachers schwerlich anfechten können, aber bestreiten muss man, dass dadurch gerade der Dialog Phädros charakterisirt sei; denn auf denselben Grundgedanken, nämlich die ausschliels- liche und unbedingte Würde der Philosophie zu erweisen und anzupreisen, kommt, ohne die geringste Gewaltsamkeit der Deu- tung, noch eine ganze Reihe der gelesensten und bewundertsten Platonischen Dialoge zurück. Im Dialoge „das Gastmahl“ die- nen alle Liebesreden der andern geistreichen Genossen des Mah- les nur zur Folie der Sokratischen, in welcher unter dem Namen des Eros das Wesen der Philosophie gepriesen wird, und zu welcher dann Alcibiades in seiner Lobrede auf Sokrates in So- krates’ Person das Ideal eines Philosophen als verwirklicht dar- stellt”). Im Phädon werden die Beweise für die Ewigkeit der Seele nur Anlass und Grund zu der Nachweisung, dass aus-
7) Vgl. die lichtvolle Entwicklung der Absicht des Dialogs Symposion, welche Zeller zu seiner Übersetzung dieses Gespräches (Marburg 1857) in der Erläuterung „zum Ganzen“, besonders ὃ. 82 f. gibt.
ΤΊΝ
200 Phänros.
schliefslich die Philosophie für das ewige Wesen der Seele sorgt. Im Gorgias wird gezeigt, dass die Philosophie der einzig wür- dige Lebensberuf eines Mannes, im Euthydemos, dass Philo- sophie das unerlässliche und unersetzliche Bildungsmittel . der Jugend ist®). Was also vom Phädros Schleiermacher, und zwar mit unbestreitbarem Rechte ausspricht, dass in ihm Platon die Philosophie selbst als das Höchste und als Grundlage alles Wür- digen und Schönen anpreise, das gilt, ohne dass man auch nur ein Wort zu ändern nöthig hätte, von all diesen Dialogen. Die Schärfe und Bestimmtheit der Auffassung scheint mir beein- trächtigt zu werden, wenn über diesem treffend bezeichneten gemeinsamen Charakter das specifisch Unterscheidende jedes ein- zelnen Dialogs, im vorliegenden Falle das des Phädros, in Schat- ten gestellt wird. Wollen wir diesem specifischen Charakter des Phädros sein Recht wahren, so werden wir unvermeidlich zu der von Schleiermacher zu etwas blols Äufserlichem herab- gesetzten Rhetorik zurückgeführt. Der ganze Dialog soll zu der Überzeugung führen, dass die Rhetorik und jede Gedankenmit- theilung nur dann eine Kunst sein kann, wenn sie auf der Phi- losophie — wir würden vielleicht sagen, auf der wissenschaftlichen Einsicht in den Gegenstand — beruht.
Ein Schriftsteller müsste fürwahr darauf ausgehen, seine Leser über seine wahre Absicht zu täuschen, wenn er sein Werk so componirte, wie der Phädros componirt ist, dass er nämlich
die Rhetorik vom Anfange bis zum Schlusse den Gegenstand
der Verhandlung bilden liefse und sie dann doch nur als etwas dem eigentlichen Zwecke äulserliches betrachtet wissen wollte. Das begeisterte Interesse des Phädros für Rhetorik bildet den Anlass des Gespräches; als Beispiele rhetorischer Kunst, wetteifernd mit einander und einander überbietend, werden die drei Reden vorgetragen. Wenn der reiche Inhalt der letzten Rede den Leser so beschäftigt, dass er unwillkürlich ein Nach- klingen desselben in dem darauffolgenden Gespräche erwartet,
8). Dass in dieser Weise die Aufgaben zu bezeichnen sind, welche Pla- ton in den Dialogen Gorgias und Euthydemos zu lösen unternimmt, habe ich in den auf sie bezüglichen Abhandlungen zu zeigen gesucht, vgl. oben 8:30, 121.
pers
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so sieht er sich darin vollkommen getäuscht; ohne die mindeste Rücksicht auf diesen Inhalt ist es sofort wieder die Rede- kunst, welche Sokrates und den Jüngling beschäftigt. Und über Rhetorik handelt Sokrates in dem umfassenden zweiten Theile des Werkes, nicht etwa in blofs allgemeiner Weise, son- dern gegenüber der überwiegend äulserlichen Technik der da- maligen Rhetoren weist er die Bedingungen nach, unter denen allein die Rhetorik Anspruch darauf habe, für eine Kunst ge- achtet zu werden. Es sind deren im wesentlichen drei, die der Platonische Sokrates geltend macht. Erstens, die Rhetoren haben zwar ganz Recht, wenn sie für die Rede, welche über- reden, nicht belehren will, nicht die Wahrheit, sondern die Wahrscheinlichkeit als Aufgabe setzen; aber sie irren, wenn sie sich deshalb von der Forderung der wissenschaftlichen Einsicht in den zu behandelnden Gegenstand enthoben glauben; denn die Befähigung, den Schein der Wahrheit dem jedesmaligen Zwecke entsprechend hervorzurufen, besitzt im vollen Mafse nur derjenige, der das wahre Wesen des Gegenstandes erkannt hat. Zweitens, soll die Rede ein Kunstwerk sein, so muss die Ver- bindung ihrer Theile die gleiche innere Nothwendigkeit haben wie die Theile eines lebenden Wesens, wir würden sagen eines Organismus; also, da Gedanken die Glieder sind, aus denen die Rede sich zu gestalten hat, so muss der Redner die Begriffe, um die es sich handelt, in ihrem gegenseitigen Verhältnisse voll- kommen durchdrungen haben, der Redner muss Dialektiker sein. Drittens, die beabsichtigte Wirkung der Rede ist durch Stim- mung und Charakter der Hörer, an welche sie sich richtet, be- dingt; die Herrschaft über die verschiedenen Formen und Mit- tel der Rede genügt daher nicht, wenn nicht Seelenkenntnis hinzutritt und das richtige Urtheil darüber, welche der verschie- denen Formen und Farben der Rede für die Charaktere der jedesmaligen Hörer passe. Mögen diese drei für die Kunst- mälsigkeit der Rede erforderten Momente uns jetzt als selbst- verständlich, wenigstens eines Aufwandes der Beweisführung nicht bedürftig erscheinen: wir haben ihren Werth nicht zu messen an einer entwickelten, wahrhaft wissenschaftlichen Theo- rie der Rede, welche eben Platon selbst begründet, Aristoteles zuerst ausgeführt hat, sondern wir haben den fast ausschliefslich
262 PHAÄDROoSs.
technischen Inhalt der damaligen Rhetorik in Vergleichung zu stellen. Diesem gegenüber lässt Platon deutlich hervortreten, dass er sich bewusst ist etwas neues und eigenthümliches aus- zusprechen, und dass er diese seine Gedanken zu klarer Auf- fassung und zu voller Anerkennung zu bringen wünscht. Denn in einer, für die Gesprächsform fast pedantischen Weise wird vom Platonischen Sokrates das Aufsuchen dieser Forderungen angekündigt, jede einzelne von der anderen auffällig unter- schieden, der Abschluss der Nachweisung kenntlich be- zeichnet; ja als wollte er sich der richtigen Auffassung mög- lichst versichern, scheut der Platonische Sokrates sich nicht, die- selben zwei-, ja dreimal aufzählend zu recapituliren®). Kommt nun zu dieser, aus der dialogischen Form an das Lehrhafte
9) Angekündigt wird die Untersuchung über die Bedingungen der Kunst- mäfsigkeit der Rede p. 259 E: οὐκοῦν, ὅπερ νῦν προὐϑέμεϑα σχέψασϑαι, τὸν λόγον ὅπῃ χαλῶς ἔχει λέγειν τε χαὶ γράφειν χαὶ ὅπῃ pn, σχεπτέον. Abgeschlossen wird dieselbe p. 214 B: οὐχοῦν τὸ μὲν τέχνης τε καὶ ἀτεχνίας λόγων πέρι ἱχανῶς ἐχέτω. Das erste Erfordernis für die Kunstmälsigkeit, nämlich die Einsicht in das Wesen der zu behandelnden Sachen, wird angekündigt p. 259 E: ap οὖν οὐχ ὑπάρχειν δεῖ τοῖς εὖ γε χαὶ καλῶς δηδησομένοις τὴν τοῦ λέγοντος διάνοιαν εἰδυταν τὸ ἀληϑὲς ὧν ἂν ἐρεῖν πέρι μέλλῃ; abgeschlossen wird dieser Abschnitt p- 2026: λόγων ἄρα τέχνην ὁ τὴν ἀλήϑειαν μὴ εἰδώς, δύξας δὲ τεϑηρευκώς, γελοίαν τινά, ὡς ἔοικε, καὶ ἅτεχνον παρέξεται. Die Erörterung des zweiten Er-
fordernisses, nämlich der logischen Ordnung, wird eingeleitet durch den
etwas harten Übergang p. 262 C, D: βούλει οὖν --- ὃ φής, und es werden so- dann darin drei Momente deutlich von einander abgehoben, erstens λόγου ἀρχήν p. 262 Ὁ, E, zweitens τί δὲ τἄλλα; οὐ χύδην δοχεῖ βεβλῆσϑαι τὰ τοῦ λόγου p- 264 B, drittens τοῦτον μὲν τοίνυν ἐάσωμεν — εἰς δὲ τοὺς ἑτέρους ἴωμεν p: 264 E. Nachdem hierauf p. 200 Ὁ — 269 D ausgeführt ist, dass bei dem Mangel dieser wissenschaftlichen Erfordernisse (τούτων ὑπολειφϑέν p. 266 D) nur das Handwerksmälsige (τὰ πρὸ τῆς τέχνης p. 267 B) übrig bleibt, wird, wiederum durch einen deutlich erkennbaren Übergang p. 269 D — 270 B, zu dem dritten, dem psychologischen Erfordernisse fortgeschritten p. 270 B — 272 B. — Recapitulirend zusammengestellt werden die Erfordernisse für die Kunstmäfsigkeit der Rede p. 273 Ὁ: — 6 τὴν ἀλήϑειαν εἰδὼς — ἐὰν μή τις τῶν τε ἀχουσομένων τὰς φύσεις διαριϑμήσηται, καὶ κατ᾽ εἴδη τε
n τ ı 9 x - St > x T a 17 λ u} DE eo Au 2 ᾽ξ ) τος - = ξ Τ - διαιρεῖσθαι τὰ ὄντα χαὶ μιᾷ ἰδέᾳ δυνατὸς ἡ κα ἕν ἔχαστον περιλαμ.
o
άνειν; und wiederum p. 277 B: πρὶν ἄν τις τό τε ἀληϑὲς ἑχάστων εἰδῇ περὶ
ὧν λέγει ἢ γράφει, κατ᾽ αὐτό τε πᾶν ὁρίζεσϑαι δυνατὸς γένηται, ὁρισάμενός τε '
διιδών χτλ., und das erste Erfordernis, die Einsicht in die Sache, wird noch-
mals vergegenwärtigt p. 278 C: εἰ μὲν εἰδὼς 7 τὸ ἀληϑὲς ἔχει ach.
πάλιν κατ᾽ εἴδη μέχρι τοῦ ἀτμήῆτου τέμνειν ἐπιστηϑῇ᾽ περί τε ψυχῆς φύσεως
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streifenden Entwicklung der Bedingungen der Rhetorik noch hinzu, dass Platon die Kenntnis der gesammten Technik der da- maligen Rhetoren, welcher er einen nur untergeordneten Werth zugesteht, mit sichtlichem Behagen zur Schau trägt, so wird es gewiss als unmöglich erscheinen, die Rhetorik für das Gauze des Dialogs zu der untergeordneten Bedeutung eines blofs Äufser- lichen mit Schleiermacher herabzudrücken. Die Reden des ersten 'Theiles bezeichnet Platon selbst als glücklich sich dar- bietende Beispiele 10), an denen die Richtigkeit der entwickelten Lehren zu prüfen ihnen gestattet werde, und von den drei auf- gestellten Forderungen der Rhetorik als einer Kunst — nennen wir sie kurz die scientifische, die logische und die psycholo- gische — erläutert Platon selbst die beiden ersten am Beispiele der vorgetragenen Reden. Die zweite und dritte Rede, nach Inhalt und Zweck einander entgegengesetzt, werden demselben Sprecher zugewiesen, der nur in der ersteren seine wahre Über- zeugung absichtlich verbirgt; die Eiusicht in die Sache, so ver- wendet Platon selbst diesen Zug 11), gibt allein die Möglichkeit, entgegengesetzte Meinungen als wahr erscheinen zu lassen. Die erste und zweite Rede, ihrem Inhalte nach ausdrücklich als übereinstimmend bezeichnet, werden wiederum von Platon selbst als Beispiel verworrener Willkür !?2) gegenüber logischer Ordnung verwendet. Dass endlich die Farbe der beiden Sokratischen Reden, deren eine sich an den berechnenden Verstand, die an- dere an die begeisterte Phantasie des Hörers wendet, als Muster dafür gelten kann, wie die Rede sich dem Charakter und der Stimmung der durch sie zu überredenden Hörer anpassen soll, hat Schleiermacher mit dem ihn auszeichnenden feinen "Takte für die Form angedeutet.
Bis hierher zeigen sich alle Fäden des Gespräches dem einen Ziele zugewendet, theoretisch darzulegen und an Beispielen nach- zuweisen, welche Bedingungen die Rhetorik erfüllen muss, wenn
10) p. 262 C, Ὁ: χαὶ μὴν κατὰ τύχην 1έ τινα, ὡς ἔοιχεν, ἐρρηϑήτην τὼ λόγω ἔχοντέ τι παράδειγμα, ὡς ἂν ὁ εἰδὼς τὸ ἀληϑὲς προσπαίζων ἐν λόγοις παράγοϊ τοὺς ἀκούοντας.
1) p. 237 Β: εἷς δέ τις αὐτῶν αἱμύλος ἦν, ὃς οὐδενὸς ἦττον ἐρῶν ἐπεπείχει τὸν παῖδα ὡς οὐχ ἐρῴη — vgl. mit der Anm. 10 angeführten Stelle.
12) 9. 263 E — 264 E.
264 PnäADpros.
sie auf die Würde einer Kunst Anspruch machen will. Aber aufser Betracht gelassen ist bisher der umfassende und mit un- verkennbarer Vorliebe ausgeführte 'Theil der dritten Rede, in welchem theils in lehrhafter Weise, theils in der Form des My- thus von dem Wesen und den Wandlungen der Seele gehandelt wird, eben jener Theil, welcher den Anlass gegeben hat, den ganzen Dialog nach seinem Inhalte als Dialog von der Seele oder vom Schönen zu überschreiben. Als rhetorisches Beispiel ihn anzusehen in der so eben durchgeführten Weise ist nicht zulässig; denn der durch die Lysianische Rede veranlasste an- gebliche Zweck, die Gewinnung des Geliebten, rechtfertigt ge- wiss nicht diese eingehende Abhandlung über das Wesen und die Entwicklung der Seele, und an Abrundung würde die dritte Rede nur gewonnen haben, ohne darum etwas von ihrem Far- benglanze einbülsen zu müssen, wenn dieser Mythus in die Grenzen des Nothwendigen beschränkt oder durch anderes er- setzt wäre. Gesetzt nun, es lasse sich nicht eine andere Be- deutung dieses Abschnittes für den bis jetzt erkannten Zweck des Dialoges nachweisen, so würde sich selbst daraus meines Erachtens noch kein Recht ergeben, das von allen übrigen Seiten her zur Nothwendigkeit gewordene Resultat mit Schleiermacher wieder zu beseitigen, sondern man würde anzuerkennen haben, dass ein überwiegendes Interesse Platons hier die Grenzen der Composition durchbreche. Aber dies ist nicht einmal der Fall; in dem bis jetzt noch als fremdartig erscheinenden Abschnitte der dritten Rede lässt sich eine bestimmte Beziehung auf die über die Rhetorik ausgesprochenen Hauptsätze nicht nur als vorhanden, sondern selbst als von Platon beabsichtigt nachwei- sen 13).
Als erste Bedingung der Rhetorik als einer Kunst wird die Erkenntnis des Gegenstandes, von dem ın der Rede zu handeln ist, gefordert. Nun ersehen wir aus anderen Platonischen Dia- logen, in welchem Mafse damals, gewiss nicht blols von Sophi-
13) Wesentliches Verdienst um die vollständige Nachweisung der zwischen dem ersten und dem zweiten Theil des Phädros vorhandenen Beziehungen hat die Abhandlung von Deuschle: „Über den inneren Gedankenzusammen- hang im Platonischen Phädros“, Zeitschr. für AW. 1854. No. 4-6.
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sten um täuschende Räthselfragen zuzuspitzen, sondern auch von ernsten Denkern die Möglichkeit des Wissens überhaupt in Zwei- fel gezogen wurde). Solchen Zweifeln gegenüber spricht der Mythus über die Seele die Überzeugung aus, dass jede mensch- liche Seele vor ihrem irdischen Leben in den Besitz der Er- kenntnis gelangt sei; diese vorweltliche Intuition des Seienden hat für ihr irdisches Leben die Bedeutung der Befähigung zum Wissen, also Beseitigung des Einwandes, welcher der ersten an die Rhetorik gestellten Forderung entgegengestellt werden konnte. Und hierin liegt zugleich die Beziehung des Mythus auf das zweite Erfordernis der kunstmälsigen Rede, nämlich die logische Ordnung; denn das Aufsteigen zu allgemeinen Begrif- fen ist in Platons Sinne zugleich Erhebung von dem wechseln- den Scheine zu dem unwandelbaren Seienden; Erkenntnis des Seienden und Dialektik unterscheiden sich für ihn wie der Er- folg und die darauf gerichtete geistige Thätigkeit. Endlich die Kunst der Rede als einer Seelenleitung setzt Kenntnis der menschlichen Seele und ihrer Charakterverschiedenheiten vor- aus; durch den Mythus wird uns nicht nur das allgemeine Wesen der menschlichen Seele in seinem Schwanken zwischen himm- lischer und irdischer Natur zur Anschauung gebracht, sondern es werden auch hervorragende Typen verschiedener Charaktere gezeichnet durch die Vergleichung mit den als bekannt voraus- zusetzenden Charakteren der einzelnen Götter, denen als ihren erwählten Führern die Seelen sich anschlossen 1). Der Inhalt des Mythus steht also zu den deutlich markirten Hauptsätzen über Rhetorik in wesentlicher und für dieselben bedeutsamer Beziehung; denn diejenigen Forderungen, welche für die Kunst der Rede gestellt werden, zeigt der Mythus als erfüllbar und
!4) Indem Antisthenes die Zulässigkeit von Urtheilen leugnet, in denen das Prädicat dem Subjecte nicht identisch ist, Soph. 251 B, Theät. 201 E fi. (Zeller, Ph. der Gr. II, S. 210 ff., vgl. oben 8. 191 f. 130), hebt er da- durch überhaupt die Möglichkeit des Erkennens auf. Der Leugnung der Möglichkeit des Lernens, welche er als einen verbreiteten eristischen Satz erwähnt, setzt Platon im Menon p. 80D ff. die Lehre von der Wiedererin- nerung an die dem irdischen Leben der Seele vorausgegangene geistige An- schauung entgegen.
15) p. 252 0 — 253 (,
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durch das Wesen der menschlichen Seele selbst vorbereitet. — Der Einwand liegt nahe, dass die angedeuteten Beziehungen 1Ὁ blofs Erfindungen subjectiver Klügelei seien, welche Platon selbst als beabsichtigt beizumessen wir kein Recht haben. Aber die eine derselben wird von Platon selbst in nicht zu bezweifelnder Weise bezeichnet. In dem Abschnitte des Mythus nämlich, in welchem er die vorweltliche Intuition der Ideen schildert, sagt Platon: „Keine Seele, die nicht einst die Wahrheit geschaut, kommt in diese menschliche Gestalt. Denn der Mensch muss das begrifflich ausgesprochene verstehen, indem er die Mannig- faltigkeit der ‘Wahrnehmungen in die Einheit des Gedankens zusammenfasst. Das aber ist Erinnerung an die einstige An- schauung der Idee.“ Und als er im zweiten von den Erforder- nissen der Rhetorik handelnden Theile die Nothwendigkeit der Dialektik bezeichnet, die Fähigkeit der Zusammenstellung des zerstreuten Umfanges des Einzelnen im die Einheit des Begriffs, sind es fast durchaus die nämlichen Worte, deren er sich zum Ausdrucke dieser Forderung bedient!6). Ein eigentliches Citat, eine directe Verweisung auf den sachlichen Inhalt der letzten Rede hätte die Fiction des Dialoges durchbrochen; denn nach dieser können für den lehrhaften Inhalt des zweiten 'Theiles die Reden des ersten, die letzte nicht weniger als die vorhergehenden, nur in Betreff ihrer künstlerischen Form verwendet werden, nicht nach ihrem Inhalte, der für etwas rein gleichgiltiges zu gelten hat. So weit also die Andeutung eines inhaltlichen Zusammen- hanges möglich war, ist sie durch diesen Anklang der Worte, den schwerlich jemand für zufällig und unbeabsichtigt ansehen wird, erreicht; und ist für eine der drei genau unter einan- der zusammenhängenden inhaltlichen Beziehungen des Mythus zu
16) Die bezüglichen Worte in dem Mythus lauten p. 249 B, C: οὐ γὰρ 7 ye μή more ἰδοῦσα τὴν ἀλήϑειαν εἰς τόδε ἥξει τὸ σχῆμα. δεῖ γὰρ ἄνθρωπον ξυνιέναι nur’ εἶδος λεγόμενον, ἐχ πολλῶν ἰὸν αἰσϑήσεων εἰς ἕν λογισμιῷ ξυναιρού- μενον. τοῦτο δέ ἐστιν ἀνάμνησις ἐχείνων, ἅ ποτ᾽ εἶδεν ἡμῶν ἣ ψυχὴ συμπορευϑεῖσα ἡεῷ χαὶ ὑπεριδοῦσα ἃ νῦν εἶναί φαμεν χαὶ ἀναχύψασα εἰς τὸ ὃν ὄντως. Nicht nur im allgemeinen an den Gedankeninhalt, sondern ausdrücklich an den Wortlaut erinnern die Stellen im zweiten Theile des Phädros p. 265 D: ei; μίαν τε ἰδέαν συνορῶντα ἄγειν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα, ἵν᾽ ἕκαστον ὁριζόμενος δῆλον ποιῇ, περὶ οὗ ἂν ἀεὶ διδάσχειν ἐθέλῃ. p. 273 E: ἐὰν μὴ war εἴδη τε δισιρεῖσῦ αἱ τὰ ὄντα χαὶ μιᾷ ἰδέᾳ δυνατὸς ἡ au" ἕν ἕχαστον περιλαμβάνειν.
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PHäÄDRos. 267 den Erörterungen über Rhetorik durch Platon selbst dem Leser die Weisung gegeben, so wird damit zugleich für die beiden andern der Verdacht einer blofs subjectiven Combination und willkürlichen Deutelei beseitigt sein.
Hiermit schwindet auch die letzte Spur einer Berechtigung, die Rhetorik, welche Platon selbst als Gegenstand der Verhand- lung vom Beginne bis zum Schlusse des Werkes bezeichnet, mit Schleiermacher zu einer blofs äulserlichen Schale des eigent- lichen Kernes zu machen. Vielmehr hat Platon wirklich die Absicht zu zeigen, dass die Rhetorik, auch wenn sie nur durch das Mittel der Wahrscheinlichkeit Überredung, nicht Belehrung schaffen will, doch zu einer wirklichen Kunst nur auf dem Grunde der Philosophie sich entwickeln kann. Die Philosophie aber hat nicht erst als Voraussetzung und Bedingung der Rhe- torık, sondern an sich einen absoluten Werth, und die beleh- rende Mittheilung, die Gemeinsamkeit wissenschaftlicher For- schung steht an Bedeutung und Würde hoch über jeder nur der Überredung dienenden Rede.
Wenn ich hiermit versuche, im Platonischen Phädros, ohne dem von Schleiermacher zur ausschliefslichen Geltung gebrachten allgemeinen philosophischen Charakter Eintrag zu thun, der polemisch-kritischen Seite ihre volle Bedeutung zu wahren und darin die specifische Tendenz dieses Dialogs erkennen zu dürfen glaube, so ist darin eine Verschiedenheit von Schleiermachers Auffassung der schriftstellerischen Thätigkeit Platons ausgeprägt,
welche sich in gleicher Weise auf einen weiteren Kreis von
Dialogen bezieht. Für Schleiermacher nämlich sind. die Dialoge Platons die fortschreitende und sich erweiternde Selbstdarstellung des Philosophen. Durch Einhaltung dieses Gesichtspunctes hat Schleiermacher zur Einführung in das Verständnis des Philo- sophen grölseres geleistet, als vor oder nach ihm jemandem ge- lungen ist; aber die Ausschliefslichkeit dieses Gesichtspunctes steht meines Erachtens weder mit den zweifellos vorliegenden
Überzeugungen Platons im Einklange, noch erschöpft sie den Inhalt einer ganzen Reihe bedeutender Dialoge. Das philoso- phische Wissen hat für Platon ebenso wie für Sokrates nicht blofs theoretische Bedeutung; ‘die Unbedingtheit des Wissens und die sittliche Reinheit des Willens sind für Platon etwas
208 PräÄpros.
untrennbar verbundenes. Die Philosophie ist nicht eine von dem Leben getrennte Theorie, sondern sie ist die das ganze Leben erhebende und gestaltende Kraft. Wenn Platon sein Ideal des Philosophen, Sokrates, der mit bewusster Absicht der Politik sich fern gehalten hatte, doch für den einzigen wahren Politiker erklärt 17), wenn er für das Wohl der Staaten fordert, lass die Regierenden sich wahrhaft und aufrichtig der Philoso- phie hingeben 15), so sind diese und ähnliche Sätze nicht witzig zugespitzte Paradoxien, sondern sie sprechen nur Platons innerste Überzeugung in einer besondern Richtung aus. Mit dieser Über- zeugung fand sich Platon im Gegensatze zu der herrschenden geistigen Richtung seiner Zeit. Die begabtesten Jünglinge strömten den Schulen der Sophisten und Rhetoren zu, in denen ‚sie — wie es jetzt mit einem viel verwendbaren Worte bezeich- net zu werden pflegt — formale Bildung und Gewandtheit der Rede zu erwerben hofften, um danach entweder durch ihr Talent zu glänzen oder sich Einfluss im Staate zu verschaffen. Dem gegenüber nun unternimmt Platon in einer Reihe von Dialogen, welche durch den Reiz ihrer Form gebildete Leser zu gewinnen und zu fesseln geeignet waren, zu der Überzeugung zu führen, dass alle diese sophistisch-rhetorische Bildung eitel Tand sei, wenn sie nicht auf dem festen Grunde der Philosophie ruhe. Es genüge zur Erläuterung dieses Satzes an Dialoge wie Prota- goras, Euthydemos, Gorgias zu erinnern. Die Sophisten wollen über die wichtigsten Dinge Belehrung geben und dadurch Jüng- linge zu bürgerlicher Tugend bilden; und doch zeigt sich, dass sie über die principiellsten Fragen der Ethik in gleich schämens- werther Unklarheit sich befinden, wie ihre Schüler. Diesen Ge- danken bringt der Dialog Protagoras zur Anschauung. Die sophistische Spitzfindigkeit, eben so überraschend für den ersten Blick wie leicht abzulernend für das oberflächliche Talent, kann die Jünglinge wohl zu übermüthiger Leichtfertigkeit bringen, den bescheidenen Ernst des Forschungstriebes schafft nur die
17 Gorg. 521 D: olpaı μετ᾽ ὀλίγων ᾿Αϑηναίων, ἵνα μὴ εἴπω μόνος, ἐπιχειρεῖν τῇ ὡς ἀληϑῶς πολιτικῇ τέχνῃ καὶ πράττειν τὰ πολιτιχὰ μόνος τῶν νῦν.
18) Vgl. die bekannte Stelle der Republik über die Nothwendigkeit der Herrschaft der Philosophie im Staate, V. 473 C, Ὁ.
ει PhrADperos. 269
Philosophie. Dies die Absicht der heitern Witzesspiele des Dialoges Euthydemos. Die politische Rhetorik, so wie sie that- sächlich besteht, ist keine des edlen Mannes würdige Lebens- aufgabe, die Philosophie ist sein wahrer Lebensberuf, der Phi- losoph allein ist Politiker im vollen Sinne des Wortes. So lässt sich die Absicht des Dialogs Gorgias zusammenfassen. In diese Reihe von Dialogen, für deren Charakteristik die angeführten Beispiele ausreichen, gehört auch der Phädros; der Preis der Philosophie, als der Grundlage alles Schönen und Guten, ist nicht der ausschliefsliche Zweck des Dialogs, sondern die Be- kämpfung der unwissenschaftlichen, handwerksmäfsigen Rhetorik hat für Platon nicht minder Wichtigkeit; wenn man mit Schleier- macher diesen und die ihm gleichartigen Dialoge nur zu Momen- ten in der Selbstdarstellung Platons macht, so scheint mir da- durch ihr, wenn ich so sagen darf, praktischer Charakter, das Streben nach Einwirkung auf einen weiteren Kreis gebildeter Leser verfehlt zu werden. Von dieser Gruppe Platonischer Dialoge scheidet sich kenntlich eine andere: Dialoge, in denen Platon bestimmte Seiten seines philosophischen Systems zu er- 18 weisen und sich über die von ihm versuchte Lösung der Probleme mit den andern gleichzeitig bestehenden Philosophien auseinan- derzusetzen unternimmt. In ihrer Form des Schmuckes drama- tischer Scenerie, des fesselnden Glanzes der Darstellung ent- behrend sind sie, scheint mir, für einen engern Leserkreis, der eignen Schule und von Philosophen der von Platon bekämpften Richtungen, schon ursprünglich angelegt gewesen, so gut wie jetzt ihre Lectüre sich auf einen ungleich engern Kreis be- schränkt als die jener ersteren Gruppe, aus welcher das Ge- sammtbild von Platons schriftstellerischem Charakter pflegt ge- wonnen zu werden. Oder ist es wahrscheinlich, dass zu Platons Zeit ein Sophistes, Kratylos, Politikos, Parmenides, Philebos und selbst Theätetos andere Leser gefunden habe, als solche, welche der Philosophie im specifischen Sinne dieses Wortes ihr Interesse und ihre geistige Arbeit widmeten, und dass Platon selbst für die in diesen Schriften geführten Untersuchungen einen weitern Leserkreis als den bezeichneten erwartet habe? Wenn die Annahme der Bestimmung für einen engen Leser- kreis berechtigt ist, so würde sich daraus erklären, dass in ihnen
270 Präpros.
Platon den Dialog in einer Weise anwendet, welche der rein abhandelnden Form nahe kommt. — Die hier versuchte Unter- scheidung zweier Arten der Platonischen literarischen Thätigkeit würde durch Erinnerung an den damaligen wissenschaftlichen Zustand, da die Philosophie aus einem Inbegriff der gesammten wissenschaftlichen Bildung die Selbständigkeit einer Wissenschaft zu gewinnen begann, durch Vergleichung ferner der zweifachen schriftstellerischen Thätigkeit des Aristoteles in seinen populären dialogischen und seinen systematischen Schriften zu grölserer Wahrscheinlichkeit erhoben werden können. Wird diese Unter- scheidung als begründet anerkannt”), so verliert dadurch jene sogenannte höhere Kritik über die Echtheit Platonischer Schrif- ten einen grolsen T'heil ihrer Waffen, da sie eben die Form der einen Art von Dialogen zum Mafsstabe Platonischer Weise überhaupt glaubt machen zu dürfen, in derselben Weise, wie bei Aristoteles die Form der uns aus seinem literarischen Nach- lasse allein noch übrigen Lehrbücher, Abhandlungen, Skizzen von Vorträgen der Anlass geworden zu sein scheint, dass von manchen Seiten die Echtheit der einst unter Aristoteles’ Namen vorhandenen, für einen weiteren Leserkreis bestimmten Dialoge bezweifelt oder in Abrede gestellt wird.
Doch kehren wir noch für einen Augenblick zum Phädros zurück. Die‘ Frage über die Abfassungszeit des Phädros, die seit Schleiermacher in allen Schriften über Platon den gröfsten Aufwand von wirklicher Gelehrsamkeit wie von vorurtheilsvoller Spitzfindigkeit erfahren hat, ist in dem bisherigen ganz bei Seite gelassen. Zum Verständnisse des Phädros ist die Beantwortung dieser Frage nicht erforderlich; das allgemeine Interesse der Zeit für Rhetorik und deren thatsächliche Beschaffenheit einerseits, Platons Überzeugung von dem absoluten Werthe der Philosophie anderseits, reichen hin das Werk verständlich zu machen, ohne dass wir nöthig hätten, erst aus der Eigenthümlichkeit eines bestimmten Zeitpunctes oder eines einzelnen Anlasses die Er-
1). Die Unterscheidung ist nicht in dem Sinne aufgestellt, als müsse sich jeder Platonische Dialog rein und unbedingt der einen oder der anderen Kategorie einreihen lassen; durch Anerkennung einer solchen Beschränkung verliert die Unterscheidung selbst, falls sie begründet ist, nicht an Bedeutung.
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klärung zu suchen. Und wenn nebensächliche Anspielungen in dem Dialoge?) aus ganz andern als den für Schleiermacher bestimmenden Gesichtspuncten zu der Ueberzeugung zurück- führen, dass der Phädros, wenn auch nicht mit Schleiermacher bestimmt als der Anfang, so doch in die früheste Periode von Platons literarischer Thätigkeit zu setzen ist, so gewinnt da- durch wohl das Bild von Platons Schriftstellerthum, aber nicht eben das Verständnis des Phädros an Bestimmtheit. Zeichen der Jugendlichkeit in Einzelheiten des Dialoges Phädros hat Schleier- macher mit sicherem Urtheile angedeutet; nicht vereinbar damit scheint mir die ungeschmälerte Bewunderung, welche Schleier- macher der Composition des Ganzen zollt. Der Dialog Phädros fesselt durch Reize der Darstellung, die ihren Eindruck auf keinen Leser verfehlen werden: die lebensfrische Naturschilde- yung der scenischen Einrahmung hat schon im Alterthume ver- diente Bewunderung gefunden; die verschiedene Farbe der drei Reden beweist eine seltene Herrschaft über die Mittel der Sprache; der erhabene Mythus der dritten Rede lässt uns eben so sehr den Dichter Platon wie den tiefsinnigen Philosophen vernehmen. Aber nicht den gleichen Beifall würde ich wagen über die Composition auszusprechen. Das Ganze ist unverkenn- bar in grofsen Umrissen angelegt, so dass der erste rhetorische Theil seine Verwerthung im zweiten dialogischen findet; doch lässt sich nicht leugnen, dass die verbindenden Fäden zwischen beiden für den Umfang des Ganzen zu dünn erscheinen. Im zweiten selbst sind die Fugen der Gliederung auffallend ersicht- lich?!), die Übergänge öfters nicht aus der Sache selbst, sondern durch zufällige Mittel hergestellt22); die Mangelhaftigkeit der
20) Vgl. vornehmlich Spengels Abhandlung: Isokrates und Platon. 1556. 2!) Vgl. oben Anm. 9.
>?) Es genüge unter andern an den Übergang zu dem dritten Erfordernis der Redekunst, der psychologischen Kenntnis, zu erinnern p. 269 E—270 B, oder an den Übergang zur Forderung der logischen Ordnung der Rede p- 262 Ο: βούλει οὖν — E, bei dessen Anfang man nicht wissen kann, dass die vorgetragenen Reden zur Auffindung anderer Erfordernisse, und nicht vielmehr zur Erläuterung des bereits ausgesprochenen sollen verwendet wer- den. Am auffallendsten aber ist es, wenn der Platonische Sokrates p. 265 A das von dem Unterredner gebrauchte ἀνδρικῶς corrigirend in pavızaz steigert und dies von ihm hineingeworfene Wort dazu verwendet, um zu den in den
272 Puäpros.
Gesprächsform durch die Inhaltlosigkeit dessen, was Phädros dazu gibt, tritt nicht blofs durch die Vergleichung so vollendeter Werke wie Protagoras, Gorgias, Phädon, Symposion, sondern auch mancher kleinen, an Inhalt nicht bedeutenden, wie Laches, Lysis, Charmides, unverkennbar entgegen. Mit Vorzügen, die nur dem genialen Künstler erreichbar sind, verbinden sich Mängel, in denen wir den anfangenden Künstler werden er- kennen dürfen. Diese ebenso unverhohlen zu bezeichnen , wie wir jene bewundern, gebietet die Achtung vor Platons Namen, dessen Meisterschaft in der Kunst des philosophischen Dialoges eines Verdeckens der Mängel nicht bedarf.
Reden erwähnten entgegengesetzten Arten der pavia und dadurch sodann zu den logischen Functionen der Begriffsbildung und Unterscheidung zu gelangen.
DIE IM PHÄDON ENTHALTENEN BEWEISE FÜR DIE UNSTERBLICHKEIT DER MENSCH- LICHEN SEELE.
413 Unter den Platonischen Dialogen hat kein andrer in gleichem Malse auch aulserhalb der Kreise philologischer oder philoso- phisch -historischer Forschung Interesse gefunden, wie der Phädon. Der Anlass hierzu liegt ungleich weniger in der hohen Formvollendung dieses Dialogs — dieser Grund würde das Symposion und den Protagoras, und ihnen zunächst den Gorgias zu gleicher Bevorzugung berechtigen —, als in seinem Inhalte; denn specifisch Platonische Lehren haben in ihm einen Ausdruck gewonnen, der auch aufserhalb des philosophischen Gebietes die lebhafteste Theilnahme zu wecken geeignet ist: die Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist nicht nur als uner- schütterliche Überzeugung ausgesprochen, sondern auch in strenger Form zu beweisen unternommen. Darin liegt der Grund, dass, abgesehen von den allgemein auf Platon oder auf die griechische Philosophie bezüglichen Werken, speciell der Phädon eine grofse Anzahl von Monographien veranlasst hat; doch scheint es zwei- felhaft, ob der Ertrag für die Einsicht in den Gedankeninhalt und das Ergebnis des Dialogs in angemessenem Verhältnis zu dem ermüdenden Reichthum dieser Literatur stehe. Denn über Fragen, die in dieser Hinsicht von entscheidendem Gewichte sind, finden wir selbst in den bedeutendsten Erklärungsschriften
Ἢ Hermes Bd. 5. 85. 413—429.
Bonitz, Platonische Studien, 18
274 ῬΗΆΡΟΝ.
theils widersprechende, theils, wie mir scheint, schlechthin un- haltbare Ansichten entwickelt. Mag der Beweis für die Unsterb- lichkeit der menschlichen Seele der einzige und der eigentliche Inhalt des Dialogs sein oder nicht, jedenfalls wird im Phädon dieser Beweis unternommen, und eine Auslegung, welche Platons eigene Absicht erforscht, muss mindestens darüber Sicherheit bringen, ob Platon beabsichtigt, einen einzigen Beweis zu geben oder mehrere, und wenn das letztere der Fall ist, wie viele Beweise Platon zu geben beabsichtigt. Aber hierüber finden noch jetzt fast sämmtliche Möglichkeiten verschiedener Combi- nation ihre namhaften Vertreter. Ferner, die Beweisführung für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele wird durch ethische Betrachtungen eingeleitet, unterbrochen, abgeschlossen, Betrach- tungen, welche schon äufserlich einen solchen Umfang ein- nehmen, dass es unmöglich ist sie als blofse Beigabe zu be- trachten. Bilden diese einen 'Theil, etwa eine Ergänzung der Beweise? oder in welchem Verhältnisse stehen sie in Platons Sinne zu ihnen? Diese beiden für das Verständnis des Dialogs principiellen Fragen möchte ich einer Entscheidung näher zu bringen versuchen. Bei allem Streben nach Kürze darf ich doch nicht unterlassen, an den Gedankengang des Dialogs zu erinnern; ich beschränke mich dabei, mit Übergehung von allem, was auf die künstlerische Composition des Dialogs sich bezieht, aus- schlielslich auf Vergegenwärtigung des lehrhaften Inhaltes.
Die freudige Zuversicht, welche Sokrates in der unmittel- baren Nähe des Todes gegenüber den ihn besuchenden trauern- den Freunden ausspricht, gibt diesen, unter denen die Pytha- goreer Kebes und Simmias besonders hervorgehoben werden, den Anlass, Sokrates zur Rechtfertigung dieser seiner Stimmung aufzufordern. Bereitwillig leistet Sokrates Folge (ec. 3—8). Das gesammte Streben des Weisen, sagt er, ist darauf gerichtet zu sterben und todt zu sein. Denn der Tod ist nichts anderes als Trennung der Seele von dem Leibe und Selbständigwerden eines jeden dieser beiden Theile. Der wahre Jünger der Weisheit nun ist bemüht, nicht nur den sinnlichen Lüsten, sondern auch den durch den Körper bedingten Sinneswahrnehmungen sich zu entziehen ; denn nur mit der Seele an sich, ohne jede körper- liche Einmischung, ist es möglich das wahrhaft Seiende zu
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schauen. Diese Befreiung der Seele von dem Einflusse des Körpers, welche im Leben nur annähernd, vollständig erst durch den Tod erreicht wird, ist ein Sich-sammeln und eine Reinigung der Seele, nicht allein auf dem Gebiete des Erkennens, sondern auch auf dem sittlichen. Denn nur aus Einsicht geht wahre Tugend hervor; was man im gewöhnlichen Leben als Tugenden bezeichnet, das ist nichts weiter als ein kluges Abmessen von Begehrungen gegen einander. Wenn so das ganze Streben des Weisen auf Lösung der Seele von dem Körper gerichtet ist, so muss er die nicht willkürlich beschleunigte, sondern durch göttliche Fügung vollendete Befreiung vom Körper freudig be- grülsen (c. 9—13).
Diese Rechtfertigung des Sokrates erkennt Kebes nur unter der Voraussetzung der Fortdauer der Seele nach dem Tode als begründet an; Sokrates unterzieht sich daher, diesen Einwand billigend, der Beweisführung dafür, dass nach dem Tode des Menschen die Seele ist und eine gewisse Kraft und Einsicht be- sitzt, ὡς ἔστι τε ἡ Ψυχὴ ἀποθανόντος τοῦ ἀνϑρώπου χαί τινα δύναμιν ἔχει χαὶ φρόνησιν 70 B.
Die Sagen von der Wiederkehr der Verstorbenen zum Leben, beginnt Sokrates die Beweisführung, sind nur der Ausdruck der Ahnung eines allgemeinen Naturgesetzes. So weit Gegensatz besteht, bewegt sich das Werden in den beiden Richtungen zwischen den beiden Entgegengesetzten; denn fände nur in der einen der beiden Richtungen ein Übergang zwischen den Gegen- sätzen statt, so müsste alles zuletzt in einförmiges Einerlei endigen. Dieser Grundsatz angewendet auf die Gegensätze von Leben und Tod ergibt, dass nicht nur der erfahrungsmälsige Übergang vom Leben zum Tode, sondern eben so der entgegen- gesetzte vom Tode zum Leben stattfinden muss, der Tod also nicht eine blofse Negation und Vernichtung ist, sondern den Seelen der Gestorbenen ein Sein zukommt, ὡς εἰσὶν αἱ τῶν τε- ϑνεώτων ψυχαί 72 D (c. 15— 17). — Dieselbe Folgerung, bemerkt hierzu Kebes, ergebe sich auch aus dem von Sokrates häufig aus- gesprochenen Satze, dass alles Lernen nichts anderes als Erin- nerung sei; denn darin liege, dass die Seele das, woran sie jetzt sich erinnere, in einem dem irdischen Leben vorausgegangenen Zustande erkannt habe, und dies sei ohne Unsterblichkeit der
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Seele nicht möglich. Auf den Wunsch des Simmias gibt So- krates die Begründung der als ihm eigenthümlich bezeichneten Lehre. Die Wahrnehmung der Sinnendinge, erklärt Sokrates, führt zur Erkenntnis der Ideen; aber aus der Sinneswahrnehmung selbst und allein kann die Erkenntnis der Ideen nicht hervor- gehen, weil sie verbunden ist mit der Einsicht, dass die sinn- lichen Dinge den Ideen nicht gleichkommen, sondern hinter ihnen zurückbleiben. Also setzt die durch die sinnliche Wahr- nehmung veranlasste Erweckung der Ideen eine dem irdischen Leben bereits vorausgegangene Erkenntnis der Ideen voraus, beweist daher ein Leben, und zwar ein mit Intelligenz ver- bundenes Leben der Seele vor diesem irdischen Leben (c. 18—22). Die von Simmias angeregte, von Kebes, der doch diese ganze Bemerkung selbst begonnen hatte, gebilligte Einwendung, dass durch die so eben begründete Sokratische Lehre allerdings ein dem irdischen Leben vorausgegangenes, aber nicht zugleich ein den Tod überdauerndes Leben der Seele bewiesen sei, beseitigt Sokrates durch den Hinweis, dass man nur diesen Satz über das Lernen als Erinnerung mit dem vorher dargelegten Natur- gesetze der doppelten Richtung des Werdens zu vereinigen brauche, um den vollständigen Beweis zu haben (ce. 23).
Trotz der so hergestellten Geltung dieses Beweises sucht doch unsre kindische Sorge, als werde mit dem Tode unsre Seele zerstieben und verwehen, noch weitere Beruhigung. So- krates gibt dieselbe durch Beweisführung aus einem andern Ge- sichtspunete. Auflösung — und eine solche ist doch durch Ver- wehen und Zerstieben bezeichnet — erfährt nur das Zusammen- gesetzte, das Einfache dagegen ist derselben unzugänglich. Ein- fach schlechthin ist das an sich Seiende, die Ideen; zusammen- gesetzt und dem Wechsel unterworfen sind die sinnlichen Dinge. Die Seele, welche allein für sich, frei von der Einwirkung des Körpers, die Ideen erkennt, erweist sich hierdurch denselben wesensgleich, συγγενής (p. 79 D), also ihnen an Einfachheit und Unsinnlichkeit gleich, wie sich denn ihre göttliche Natur auch in ihrer Bestimmung zur Herrschaft über den Körper zeigt. In dieser Einfachheit ihres Wesens liegt die Unmöglichkeit ihrer Auflösung und die Gewissheit ihres Fortbestehens nach dem Tode; wenn schon der Leib, trotz seiner Vieltheiligkeit, noch
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ῬΗΆΛΡΟΝ. 277
eine geraume Zeit nach dem Tode seine Gestalt bewahrt, wie viel mehr ist dem einfachen Wesen der Seele unbegrenztes Fortbestehen beizumessen (c. 25 — 29). Zur Selbständigkeit himmlischen Lebens gelangt aber durch den Tod nur diejenige Seele, die schon während des irdischen Lebens sich von körper- lichem Einflusse möglichst befreit hat, die Seele des Weisen. Die nicht zu dieser Reinheit gelangten, sondern von smnlichen Begierden erfüllten Seelen schweifen nach dem Tode unruhig und unsicher umher, bis sie in einen ihren Leidenschaften ent- sprechenden thierischen Leib gebunden werden. Nur des Weisen Seele gelangt durch den Tod zu göttlichem Leben; ihr Verkehr mit dem Ewigen und an sich Seienden ist wahre Tugend, von jeder sinnlichen Lust besteht die verderblichste Wirkung darin, dass den die Lust erweckenden, sinnlich wahrnehmbaren Dingen die Geltung voller Wahrheit beigemessen wird (c. 29 — 34).
Die andächtige Stille, welche nach den an den letzten Be- weis angeschlossenen sittlich-religiösen Mahnungen in dem ganzen Freundeskreise herrscht, wird durch ein leises Zwie- gespräch zwischen Kebes und Simmias unterbrochen. Sokrates vermuthet darin mit Recht den Ausdruck noch zurückgebliebener Zweifel und fordert zu deren unverhohlenen Mittheilung auf. Simmias erklärt hierauf, er billige die verbreitete Ansicht, dass die Seele nichts anderes als die Harmonie des Leibes sei; was von der Unsichtbarkeit, Unsinnlichkeit, Herrlichkeit der Seele gerühmt werde, finde alles hierin seine Erklärung. So wenig nun die Stimmung der Leier bleibt, nachdem die Leier selbst zerschlagen ist, so wenig bleibe die Stimmung des Körpers, d.h. also die Seele, nach Auflösung des Körpers. Kebes anderseits erkennt zwar an, dass eine längere Dauer der Seele im Ver- gleiche zum Körper erwiesen sei; aber damit sei noch nicht deren Ewigkeit dargethan, vielmehr sei die Möglichkeit nicht ausge- schlossen, dass die Seele in Folge ihrer langen Dauer viele Leiber, mit denen sie verbunden war, überlebe, von dem letzten aber überdauert werde, so dass die Zuversicht des Sterbenden auf die Fortdauer der Seele nicht gerechtfertigt sei (c. 35 — 37).
Gegenüber dem peinlichen Eindruck, den diese störenden Einwendungen bei den Anwesenden hervorgerufen , warnt Sokra- tes, man solle sich durch solche Stimmung nicht von der Erwä-
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gung und Erörterung von Gründen abwenden lassen; diese Misologie, wie die griechische Sprache eine derartige Gesinnung kurz zu bezeichnen vermag, habe wie die Misanthropie in den erfahrenen Enttäuschungen nach leichtsinnig gewährtem Vertrauen ihren Anlass. In den noch gebliebenen Zweifeln liege vielmehr der Antrieb zu gesteigertem Eifer der Forschung (c. 37 — 40). Ehe nun Sokrates auf Widerlegung der vorgetragenen Einwen- dungen eingeht, lässt er von den Gegnern anerkennen, welche von den bisher vorgebrachten Sätzen in einer durch jene Zweifel nicht beeinträchtigten Geltung bestehen. Als unerschüttert be- stehend wird von beiden die Lehre anerkannt, dass das Lernen Erinnerung sei, dass also die menschliche Seele ein Leben der Erkenntnis vor dem irdischen Leben geführt habe; dieser Satz habe gleiche Gültigkeit mit der ewigen Wesenheit des Seienden selbst. Unvereinbar aber mit diesem Satze ist die von Simmias vertretene Ansicht, dass die Seele Harmonie des Körpers sei; denn Harmonie geht aus den Theilen hervor, deren Harmonie sie ist, während die Seele der Existenz des Leibes, mit dem sie verbunden ist, vorausgeht. Überdies hebt diese Ansicht über das Wesen der Seele als der Harmonie des Leibes die ethischen Grundgedanken auf; denn da Tugend anerkanntermalsen in einer Harmonie der Seele besteht, so würde man durch die von Sim- mias gebilligte Ansicht zu dem widersinnigen Gedanken einer Harmonie der Härmonie gelangen; ferner eine Herrschaft der Seele über den Leib wäre nicht möglich, da die Harmonie nicht in Gegensatz zu den Gliedern treten kann, deren Harmonie sie ist (ὁ. 41— 43). — Die Einwendung des Kebes, dass nicht die lange Dauer des Lebens der Seele, sondern ihre Ewigkeit, ihre absolute Freiheit von Entstehen und Vergehen zu erweisen sei, führe, sagt Sokrates, in die schwierige Frage über die Ursache des Entstehens und Vergehens überhaupt. Hiervon nimmt der Platonische Sokrates Anlass, seinen eignen Entwicklungsgang diesem Probleme gegenüber darzulegen. Unbefriedigt von den Antworten, welche hierauf die ionische Naturphilosophie gegeben, und eben so von der mangelhaften Weise, in welcher Anaxagoras seinen erhabnen Grundgedanken einer intelligenten Ursächlichkeit verwerthet, sei er gedrängt worden zu der Forschung in den Begriffen. Wenn nun sein Gegner ihm noch darin beistimme,
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PHäADpon. 279
in den Ideen das an sich und unveränderlich Seiende anzuer- kennen, so hoffe Sokrates ihm daraus die Unsterblichkeit der Seele in unbedingtem Sinne zu erweisen (c. 44—48). Dies ge- schieht folgendermalsen.
Die Theilnahme an einer bestimmten Idee macht jedes ein- zelne Ding zu dem, was es ist. Keine Idee kann die ihr ent- gegengesetzte aufnehmen (der logische Grundsatz des Wider- spruchs in dem durch die Ideenlehre bedingten ontologischen Ausdruck). Dies gilt nicht nur von den Ideen selbst, sondern auch von solchen Einzeldingen, in deren Wesen nothwendig das eine Glied eines Gegensatzes liegt; diese sind hiernach dem andern Gliede des Gegensatzes unzugänglich (der logische Grundsatz des mittelbaren Widerspruchs, ebenfalls in dem on- tologischen Sinn der Ideenlehre). Die Seele ist nothwendig verbunden mit der Idee des Lebens; sie schlielst also die dieser entgegengesetzte, den Tod, aus, d. h. sie ist unsterblich, und da es eine andere Vernichtung des Lebens nicht gibt, als durch den Tod, so ist die Seele der Möglichkeit des Unterganges ent- hoben (c. 49 — 56).
Steht dies aber fest, dass die Seele unsterblich ist, so be- darf sie der Pflege nicht nur für dieses irdische Leben, sondern für die gesammte Ewigkeit; denn verschieden nach der Verschie- denheit der erworbenen Bildung ist der zukünftige Zustand der Seele nach dem Tode. Eine Vorstellung solcher Verschiedenheit, der Seligkeit der reinen Seelen, der strafenden oder läuternden Qual der Ruchlosen, gibt der Platonische Sokrates in einem
Mythos, dessen speciellen Inhalt wir um so ruhiger übergehen
dürfen, da Sokrates selbst demselben die sichre Giltigkeit ab- spricht und nur versichert, dass so oder dem äbnlich der Zustand der Seelen nach dem Tode sein werde, p. 114. D (ec. 57 —.63). Der Schluss des Dialogs gibt die Erzählung über Sokrates’ letzte Lebensaugenblicke in jener erhabenen Einfachheit, welche die gerechte Bewundrung aller Zeiten gefunden hat (c. 64— 66). Für den jetzt verfolgten Zweck genügt die Vergegenwärtigung des eigentlich lehrbaften Theiles des Dialogs, um darauf eine Beantwortung der bezeichneten Fragen zu begründen.
280 ῬΗΆΑ͂ΡΟΝ.
Es ist Schleiermachers hoch anzuschlagendes Verdienst um das Verständnis des Phädon, dass er zuerst, gegenüber der ausschliefslichen Beachtung der Beweise für die Unsterblichkeit der Seele, dem Abschnitte über das Sterbenwollen des Weisen und den damit vergleichbaren weiteren ethischen Betrachtungen das gleiche Gewicht für das Ganze des Dialogs vindicirt hat. Aber diese in Schleiermacherscher Kürze angedeutete Bemerkung erhält eine wesentlich verschiedene Wendung, wenn die ethi- schen Betrachtungen zu einer Ergänzung der an sich vermeint- lich unzureichenden theoretischen Beweise gemacht, oder speciell das Sterbenwollen des Weisen als ein Beweis für die Unsterb- lichkeit der Seele gerechnet wird. Das erstere spricht Stein- hart häufig im Verlauf seiner umfassenden Einleitung aus, am bestimmtesten wohl in folgenden Worten: In der Einfügung der ethisch-religiösen Betrachtungen erkennt man die Absicht, zu zeigen, „dass die Beweise, welche die Philosophie für diesen Glauben (den an die Unsterblichkeit der Seele) aufstellen kann, für sich allem nicht ausreichen, sondern zu ihrer Ergänzung einer festern Begründung durch die Ethik bedürfen, da diese allein jene feste und freudige Überzeugung begründen kann“ etec.') Die andere Ansicht finden wir am präcisesten von Zeller be- zeichnet: „Die Beweise für die Unsterblichkeit, welche der Phä- don aufführt, sind ihrem eigentlichen Gehalte nach nicht eine Mehrheit verschiedener Beweise, sondern nur ein Beweis, der in verschiedenen Stadien, im Fortschritte vom unmittelbaren und
blofs analogischen zum begrifflichen und vermittelten Wissen 420
entwickelt wird. Dass die Seele ihrer Natur nach unsterblich sei, dies wird zuerst 63 E— 69 E unmittelbar am Thun und Bewusstsein des Subjectes nachgewiesen, indem gezeigt wird, dass alles philosophische Leben und Denken von der Voraus- setzung ausgehe, erst durch den Tod komme die Seele zu ihrer Wahrheit; dasselbe wird sodann zweitens indirect aus der Art dargethan, wie sich die Seele im Verhältniss zur Welt dar-
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stellt* etc.) Man mag in diesen Worten Zellers auf die beab-
!) Steinhart, Einleitungen zu der Müllerschen Übersetzung des Platon IV. S. 414. vgl. S. 389. 393. 418. 419. 420. 434. 436. 442. 456.
2, Zeller, Die Philosophie der Griechen 2. Aufl. II, 1. S. 531, 2 (im Aus- drucke etwas modificirt, unter ausdrücklicher Festhaltung des Wesens der
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sichtigte Unterscheidung des unmittelbaren Nachweisens und des indirecten Darthuns einen noch so grofsen Nachdruck legen: jedenfalls wird dadurch, dass jener Abschnitt über das Sterben- wollen des Weisen überhäupt den Beweisen für die Unsterblich- keit der Seele in irgend einer Weise eingerechnet ist, der deut- lichen Darstellung Platons Gewalt gethan. Das von Sokrates ausgesprochene Streben des Weisen, sich über die beengenden Schranken der Verbindung mit dem Leibe zu erheben, hat die Überzeugung von der Ewigkeit und Selbständigkeit der Seele zu seiner Voraussetzung; der Platonische Sokrates ist aber weit davon entfernt, die Thatsache der Voraussetzung?) für einen Beweis oder eine unmittelbare Nachweisung des Vorausgesetzten anzusehen, sondern. erkennt ausdrücklich die Verpflichtung zu ihrer Begründung durch einen Beweis an. Und eben so wenig darf man, wie Steinhart thut, diesen den Beweisen voraus- gehenden Abschnitt zusammen mit den den Beweisen eingefügten und ihnen angeschlossenen ethischen Betrachtungen als Ergän- zung der an sich für unzureichend befundenen Beweise betrach- ten. Denn fassen wir den Inhalt jener ethischen Betrachtungen in kürzeste Formeln , so besagt die erste: das Streben des Weisen geht auf Erhebung der Seele über ihre Verbindung mit dem Leibe; die zweite: da die Seele die Nachwirkung des irdischen Lebens bewahrt, so wird nur die Seele dessen, der schon im irdischen Leben ausschliefslich der Erkenntnis des Ewigen hin- gegeben war, durch den Tod zu völliger Reinheit und Freiheit erhoben; die dritte: da die Seele unsterblich ist, so bedarf sie der sittlichen Pflege, denn verschieden je nach der verschiedenen ihr gewordenen Bildung ist ihr Geschick nach dem Tode. Jede dieser Betrachtungen setzt hiernach die Unsterblichkeit der Seele als etwas feststehendes voraus, und es wird daher passend die eine zum Anlasse der Beweisführungen gemacht, und die andern
Sache in der 3. Aufl. 5. 6914). Ähnlich Überweg, Geschichte der Philoso- phie I. S. 112.
3) Hiermit scheint die Darstellung Schweglers übereinzustimmen, Ge- schichte der griechischen Philosophie 8. 143: „dem Erweise der Unsterblich- keit der Seele hat Plato seinen Phädon gewidmet. Die Unsterblichkeit wird hier zuerst dargestellt als ethisches, praktisches Postulat.... Die eigent- lichen, speculativen Beweise sind folgende vier.“
252 PHäADpon.
schlielsen sich als moralische Folgerungen an die theoretischen Beweise in demselben Sinne an, in welchem es im Menon (81 B) heifst: die tiefsinnigsten Dichter behaupteten, die Seele sei un- sterblich; man müsse also deshalb sein Leben in möglichster Reinheit und Heiligkeit führen. Diese Beziehungen der ethi- schen zu den theoretischen Abschnitten sind von Platon selbst so unzweideutig bezeichnet, dass es schlechthin unzulässig ist, aus Veranlassungen der Beweise und an dieselben angeschlosse- nen Folgerungen Ergänzungen derselben zu machen. Es mag sehr wohl sein, dass ein Leser oder Erklärer Platons die mit der Unsterblichkeitsüberzeugung in Verbindung gebrachten ethi- schen Gedanken Platons sich vollständiger anzueignen vermag, als dessen theoretische Beweise für die Unsterblichkeit der Seele, und dass sie insofern für ihn Ergänzungen der ihm nicht genü- genden Beweise werden; aber nicht darum handelt es sich, son- dern wie Platon selbst die Giltigkeit seiner Beweise ansieht. Und da fehlt nicht nur die leiseste Andeutung, dass Platon zu voller Geltung der Beweise noch etwas vermisse, sondern entschiedener, als wir bei Platon gewohnt sind, wird die Zuversicht in die unbedingte Giltigkeit der Beweise ausgesprochen. Diese Sicher- heit Platons begreift sich auch vollständig, sobald wir die Grundlagen der Platonischen Philosophie als anerkannt voraus- setzen; nur müssen wir die Beweise anders zählen und gegen einander abgrenzen, als gewöhnlich geschieht. Aus diesem Ver- suche, die von Platon selbst beabsichtigte gegenseitige Ab- grenzung der Beweise aufzufinden, wird von selbst noch wei- teres Licht auf das Verhältnis der ethischen Betrachtungen zu ihnen fallen.
Man zählt, wenn wir die bedeutendsten Erklärer in Betracht ziehen und sowohl von der Einreihung der ethischen Betrach- tungen in die Beweise als von anderweiten Combinationen der
Beweise absehen, vier Beweise!) für die Unsterblichkeit der
4) So Steinhart IV, 414, Susemihl I, 427.ff., Schwegler, Geschichte der griech. Philosophie 8. 143, u. a. m. Überweg betrachtet, was sich schwer- lich rechtfertigen lässt, die Widerlegung des Simmias als einen selbständigen Beweis und zählt so deren fünf. Zeller 11, 1. 5. 531, 2 zählt, abgesehen von der „unmittelbaren Nachweisung“ der Unsterblichkeit der Seele, welche in dem Sterbenwollen des Weisen enthalten sein soll, vier Beweise, stellt
Ῥηλθον. 289
ὩΣ Seele; wir können sie nach der vorher gegebenen Inhaltsüber- sicht kurz bezeichnen als den Beweis aus dem Naturgesetze des Werdens aus Entgegengesetztem, den Beweis aus der ἀνάμνησις im Platonischen Sinne, den Beweis aus der Wesensgleichheit der Seele mit den Objecten ihrer Erkenntnis, endlich den Be- weis aus der Theilnahme der Seele an der Idee des Lebens. Eine eigenthümliche Bewandtnis hat es bei dieser Zählung mit der Beschaffenheit der beiden ersten Beweise und ihrem Ver- hältnisse zu einander. Den zu beweisenden Satz hat der Pla- tonische Sokrates bestimmt so formulirt (70 B): ὡς ἔστι τε ἢ ψυχὴ ἀποθανόντος τοῦ ἀνϑρώπου χαί τινα δύναμιν ἔχει χαὶ φρόνησιν, dass die Seele nach dem Tode des Menschen noch ist und eine gewisse Kraft und Einsicht besitzt. Der Beweis nun, der als erster gezählt wird, zeigt, jenes Naturgesetz über die zwiefache Bewegung des Werdens zwischen Entgegengesetztem als allge- mein giltig vorausgesetzt, doch nur, dass der Tod für die Seele nicht eine absolute Negation, ein Nichts, sondern ein dem Leben conträrer Zustand ist; aber über die Natur dieses Zustandes gibt dieser Beweis nichts und kann nichts geben, da die Eigen- thümlichkeit des Seelenwesens nicht in Betracht gezogen ist. So beschränkt sich denn auch die Folgerung darauf: εἰσὶν ἄρα at ψυχαὶ ἡμῶν ἐν ἅδου (71 E), oder ἀναγχαῖον τὰς τῶν τεϑνεώτων ψυχὰς εἶναί που (72 A), ohne über die behauptete δύναμις χαὶ φρόνησις etwas hinzuzusetzen. Die Zusammenfassung am Schlusse des Beweises fügt allerdings noch etwas hinzu: es ist gewisslich so, heifst es, und es liegt keine Täuschung in dem Satze ὡς ἔστι τῷ ὄντι τὸ ἀναβιώσχεσϑαι χαὶ ἐχ τῶν τεϑνεώτων τοὺς ζῶντας τίγνεσϑαι χαὶ τὰς τῶν τεῦνεώτων ψυχὰς εἶναι, χαὶ ταῖς μέν Υ̓ ἀγαϑαῖς ἄμεινον εἶναι, ταῖς δὲ χαχαῖς χάχιον, p. 72 Ὁ. Aber was hier zu der einfachen Recapitulation der Folgerung, dass es ein Wiederaufleben von dem Tode gebe und dass die Seelen der Verstorbenen seien, noch hinzugesetzt wird, ist merk- würdig genug; weder ergibt es sich nämlich aus dem Beweise, noch enthält es unmittelbar dasjenige, was zur vollständigen Iden- tification der so gewonnenen Folgerung mit der Thesis noch er-
aber mit Recht die drei ersteren derselben zusammengefasst dem vierten gegenüber.
284 PHADon.
forderlich war. Die naheliegende Bemerkung, dass fast diesel- 123 ben Worte früher 63 C vorkommen, wo Sokrates seine Torles- zuversicht ausspricht, erklärt nichts, da nicht der Inhalt der Worte an sich, sondern ihr Zusammenhang die Schwierigkeit macht. Ein irgend vergleichbares Beispiel von Mangel an Ge- dankenzusammenhang vermag ich aus dem ganzen Dialoge nicht beizubringen; die dafür gegebenen Erklärungen überdecken die Schwierigkeit, statt sie lösen zu können); ich muss daher der Ansicht derjenigen Herausgeber (vgl. Stallbaum zu d. St.) bei- stimmen, welche diesen Satz, der mir auch sprachlich nicht un- bedenklich scheint‘), einem mehr sittlich frommen als streng aufmerksamen Platonischen Leser des Dialoges zuschreiben. — Wie nun der sogenannte erste Beweis in seinem Ergebnis, ver- glichen mit der bestimmt aufgestellten Thesis, sich als man- gelhaft zeigt, so gilt das gleiche von dem zweiten in Betreff der Beweisführung selbst. An den recapitulirenden Abschluss des ersten Beweises knüpft der Mitunterredner Kebes aus eig- nem Antrieb die Bemerkung an, dass auch aus dem von Sokra- tes — dem Platonischen nämlich — oft wiederholten Satze, alles Lernen sei nur ein Wiedererinnern an das einst Gewusste, die Unsterblichkeit der Seele sich ergebe. Auf den Wunsch von Kebes’ Freunde Simmias gibt Sokrates ausführlich die Begrün- dung des Satzes über das Lernen als Wiedererinnerung; und nachdem dies geschehen, entgegnet Simmias unter des Kebes lebhafter Zustimmung, dass hierdurch zwar eine selbständige Existenz der Seele vor ihrer Verbindung mit dem Körper sicher
5, Susemihl I. S. 429: „Ebenso ist auch die Schlussbemerkung, das Leben der Besseren im Hades sei ein besseres (p. 72 C), schon weil dies gar nicht aus dem Beweise folgt, vielmehr von neuem der Ansatz zu einer Eschato- logie, wie sie sich in den späteren Mythen in ihren genaueren Einzelheiten fortspinnt.“ Mehr in der Form als in der Sache unterscheiden sich hiervon die Bemerkungen von Bischoff, Platons Phädon 5. 72.
6) Ist es unbedenklich, zu sagen: ταῖς μὲν ἀγαθαῖς ψυχαῖς ἄμεινόν ἐστι, ταῖς δὲ χαχαῖς χάχιον, in dem Sinne: der Zustand der guten Seelen ist ein besserer, der der schlechten ein schlechterer ? Beachtenswerth ist gewiss, dass diejenige Stelle, an welche die vorliegende so anklingt, dass sie den Ver- dacht der Reminiscenz erweckt: εὔελπίς εἰμι elvat τι τοῖς τετελευτηχόσι χαί, ὥσπερ ya χαὶ πάλαι λέγεται, πολὺ ἄμεινον τοῖς ἀγαϑοῖς ἢ τοῖς χαχοῖς p: 63 (, von dem entsprechenden sprachlichen Anstofse frei ist.
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PnäADvon. 285
gestellt, dass aber für die Existenz der Seele nach ihrer Tren- nung von dem Körper der Beweis noch nicht geführt sei. Aller- dings, sagt Sokrates, ist der Beweis geführt, wenn ihr diesen Satz mit dem vorhin erwiesenen verbinden wollt, dass alles Lebende aus Gestorbenem wird. Denn wenn die Seele schon vor dem leiblichen Leben existirt und sie aus nichts anderem zum Leben übergehen kann als aus dem Tode, so ist nothwen- dig, dass sie auch nach dem Tode existire, da sie ja wieder ins Leben treten muss. Also dieser angebliche zweite Beweis lässt eben das, um dessen Erweis es sich vor allem handelt, das Sein der Seele nach dem Tode, unbewiesen, er beruft sich da- für, wozu nichts ähnliches in den übrigen Beweisen sich findet, auf das Ergebnis der vorhergehenden Beweisführung; und diese vorhergehende Beweisführung hat eben nur zu einem Sein der Seele nach dem Tode, nicht zu einem Sein mit δύναμις xal Ppo- γησις geführt. Erst die Verbindung beider entspricht der zu beweisenden Thesis. Ferner, nicht Sokrates, der seinen Todes- muth durch den Beweis der Unsterblichkeit zu rechtfertigen auf- gefordert ist und der dem entsprechend alle übrigen Beweise selbst eröffnet, sondern der Mitunterredner Kebes gibt den An- lass zu diesem angeblich zweiten Beweise, und dem Anlasse, so weit Kebes ihn gibt, fehlt eben die Beweiskraft, sie tritt erst ein durch die von Sokrates gegebene Berufung auf den früheren Beweis. Unter diesen Umständen wird es nicht willkürliches Hineindeuten, sondern nur Folgsamkeit gegen Platons eigne Andeutungen sein, wenn wir die angeblichen zwei ersten Be- weise vielmehr als die integrirenden beiden Hälften eines ein- zigen Beweises anerkennen, dessen zweite Hälfte nur Platon nicht durch Sokrates selbst, sondern zunächst durch eine Be- merkung des Kebes einleitet. Dieser eine Beweis hat dann einen vollkommen ‘durchsichtigen Gang: aus dem allgemeinen Naturgesetze des Werdens ergibt sich, dass der Zustand der Seele nach dem leiblichen Leben demjenigen gleichartig ist, der dem leiblichen Leben vorausgegangen; in der Ideenlehre ist enthalten, dass der Zustand der Seele vor ihrer Verbindung mit dem Körper ein Leben ist in der Anschauung, dem unmit- telbaren Wissen des an sich Seienden; also ergibt sich das gleiche für den Zustand der Seele nach dem Tode.
286 Präpon.
Eine gewisse Schwierigkeit in dem Verhältnisse der angeb- lichen beiden ersten Beweise ist mehreren von den Erklärern des Phädon nicht entgangen; aber indem überhaupt über die Frage, ob die einzelnen Beweise in Platons Sinne selbständige Geltung haben, oder ob sie integrirende Theile eines grölsern, erst in seiner Gesammtheit giltigen Beweisganges bilden, eine unbestimmte Mitte der Ansicht eingehalten wird, so kommt es über Ausdrücke, wie z. B. dass die beiden ersten Beweise „gleich- sam“?) nur einen Beweis bilden, nicht hinaus, Ausdrücke, in 425 denen ich nur die Anerkennung einer ungelösten Schwierigkeit, nicht deren Lösung zu sehen vermag.
Diese Zusammenfassung der beiden ersten Beweise ‚als inte- grirender Theile eines einzigen Beweises ist nicht eine gleich- giltige Änderung der Anzahl der Beweise, sondern hat bestimmte Bedeutung für die Einsicht in den Gang des ganzen Dialoges. Fürs erste ergibt sich daraus, dass kein Beweis für die Unsterb- lichkeit der Seele von Platon anders unternommen wird, als auf Grund der Ideenlehre; man darf sagen, dass die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele für Platon nur eine specielle Conse- quenz der Ideenlehre ist. Der Satz in Schleiermachers Ein- leitung zum Phädon „So ist denn die Ewigkeit der Seele die Bedingung der Möglichkeit alles wahren Erkennens, und wie- derum die Wirklichkeit des Erkennens ist der Grund, aus wel- chem am sichersten und leichtesten die Ewigkeit der Seele ein- gesehen wird“ drückt diesen Zusammenhang so bündig und entschieden aus, dass durch ihn allein zur Einführung in das Verständnis des Phädon mehr gethan ist, als durch manche umfangreiche Abhandlung. Die Erklärung Zellers (vgl. oben S. 250), die im Phädon dargelegten Beweise seien ihrem eigent- lichen Gehalte nach nur ein Beweis, in verschiedenen Stadien entwickelt®), kann ich nur in dieser wesentlichen Modification
7) Susemihl I, 5. 429. Ähnlich Bischoff, Platos Phädon 5. 73. 95; Zimmermann, die Unsterblichkeit der Seele in Platos Phädo S. 39, u. a. m.
8) In der 3. Aufl. II, 1. S. 697 f. bezeichnet Zeller diese fortschreitende Entwicklung bei wesentlicher Gleichheit in folgender Weise: „Die Ausfüh- rungen des Phädon über die Unsterblichkeit bilden allerdings formell eine Reihe verschiedener Beweise und Betrachtungen; untersucht man sie aber genauer, so zeigt sich, dass sich durch sie alle Ein und derselbe Gedanke
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ῬΗΆΑ͂ΡΟΝ. 287
als zutreffend anerkennen, dass alle Beweise auf der gemein- samen Grundlage der Ideenlehre aufgeführt sind; aber nur diese Grundlage haben sie gemeinsam, im übrigen sind sie nicht blofs eine Entwicklung desselben Beweises ii verschiedenen Stadien, sondern wirklich von einander unterschieden und von selbstän- diger Geltung, und dies in der Art, dass die beiden dem nach- drücklich hervorgehobenen Mittelpuncte und Ruhepuncte des Ge- spräches vorausgehenden gemeinsam einen andern Charakter ha- ben, als der eine ihm nachfolgende. In jenen nämlich werden zur Grundlage der Ideenlehre Sätze hinzugenommen, welche von der vorsokratischen Naturphilosophie her wie zu einem Gemeingute des philosophischen Bewusstseins geworden waren. Dass alles Werden sich zwischen Gegensätzen bewege und aus dem zwie- fachen, zwischen den beiden Entgegengesetzten möglichen Wege der Kreislauf des Werdens hervorgehe, war eine besonders seit Herakleitos verbreitete Überzeugung ; verbunden mit den Grund- sätzen der Ideenlehre ergibt dieselbe den vorhin bezeichneten ersten Beweis für die Unsterblichkeit der Seele, nach welchem die Vereinigung der Seele mit dem Körper und ihre getrennte Existenz nur als zwei entgegengesetzte, die Ewigkeit des Wesens der Seele nicht berührende Zustände derselben erscheinen. Nicht minder ausgebreitete Geltung hatte in der vorsokratischen Phi- losophie der Satz, den man als ersten Versuch einer Erkennt- nistheorie betrachten darf, dass Ähnliches nur von Ähnlichem erkannt werde, dass das erkennende Subject und das erkannte Object von gleichartigem Wesen seien. Nimmt man dazu den Satz der Platonischen Ideenlehre, dass die menschliche Seele befähigt ist, das Ewige und Unveränderliche, das wahrhaft Seiende zu erkennen, so folgt daraus für sie selbst die gleiche Ewigkeit des Wesens. Wenn in diesen beiden, der ersten Hälfte des Dialogs angehörigen Beweisen, die, bestimmt auseinander ge- halten, nur durch die gemeinsame Voraussetzung der Ideenlehre zusammenhängen, zu dieser selbst noch anderweit verbreitete
hindurcehzieht, dass das Bewusstsein von dem idealer und deshalb über Ent- stehung und Untergang erhabenen Wesen der menschlichen Seele hier im Fortgang zu einer immer deutlicheren wissenschaftlichen Überzeugung, in seiner mit jedem neuen Schritt sich vertiefenden und befestigenden Begrün- dung dargestellt werden soll.“
288 ῬΗΆΡΟΝ.
Überzeugungen als Prämissen hinzugenommen werden, so ruht dagegen der in der zweiten Hälfte des Dialogs gegebene Beweis ausschlielslich auf logischen Consequenzen der Ideenlehre selbst; denn dass aulserdem nach allgemeinem griechischem Sprach- bewusstsein Seele und Leben einander in Bedeutung gleichgesetzt werden, das wird Platon schwerlich als eine besondre, erst noch eines Beweises bedürftige Voraussetzung betrachtet haben. Dieser dritte, wiederum nur in der gleichen Grundlage mit den beiden ersten zusammenstimmende, übrigens von ihnen verschiedene Beweis wird von den beiden ersten durch eine längere Erörterung getrennt, in welcher der Platonische Sokrates erst die verbreitete Ansicht widerlegt, dass die Seele eine Stimmung des Körpers sei, dann seinen eignen philosophischen Bildungsgang erzählt. Man wird die Angemessenheit dieser Einfügung nicht leicht ver- kennen können. Ehe der Platonische Sokrates in seiner Beweis- führung die Anlehnungen an Sätze der ihm vorausgegangenen Naturphilosophie aufgibt und sich ausschliefslich auf den Bereich seiner eignen philosophischen Überzeugungen beschränkt, legt er den Weg dar, auf welchem er zu der Einsicht gelangt ist, dass in diesen älteren Philosophemen eine Erkenntnis der Wahrheit nicht enthalten sei®); und seine eigne Überzeugung von der
9) Indem ich den fraglichen Abschnitt des Phädon als Darstellung des philosophischen Entwicklungsganges des „Platonischen Sokrates“ bezeichne, so spreche ich nicht mehr aus, als in den Worten unzweifelhaft enthalten ist. Doch lässt sich die Frage nicht ablehnen, ob darin ein Gedankengang des historischen Sokrates oder unter dessen Person der Gedankengang des Platon dargelegt sei. Gegen die letztere, übliche Auffassung spricht Zeller (2. Aufl.) 11,1. 8.293, 1 Bedenken aus, und Überweg sucht nachzuweisen, dass es unpas- send sei, wenn Platon so den eignen Entwicklungsgang als Sokratischen er- zählen lasse. Diese Beweisführung unterliegt insofern Zweifeln, als sie sich leicht gegen die Stellung der Person des Sokrates in einem grolsen Theile der Platonischen Dialoge kehren lässt. Zellers Bedenken scheinen mir mehr gegen specielle Folgerungen, als gegen den Kern der Auffassung gerichtet zu sein. Platon, so scheint mir, gibt nicht eine historische Erzählung, weder von seinem eignen noch von des Sokrates philosophischem Entwicklungs- gange, sondern er legt in den Hauptumrissen die Gründe dar, welche von der Naturphilosophie zu der Begriffsphilosophie führen. Diese Gründe sind im wesentlichen dem Platon mit Sokrates gemeinsam, und es ist dadurch nach der Weise der Platonischen Darstellung vollkommen gerechtfertigt, dass Sokrates sie als die seinigen darlegt. Indem aber als Ziel gerade derjenige
ἊΨ ΡΟ
ῬπΑΡοΟΝ. 289
27 unbedingten Selbständigkeit des Seelenwesens tritt noch dadurch
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in helleres Licht, dass vorher die verbreitete, in theilweiser Modification bei Aristoteles wiederkehrende Ansicht von der Seele als der Stimmung, dem einheitlichen Lebensprincipe des Körpers, beseitigt wird.
Der Auffassung, die im bisherigen zu begründen versucht wurde, dass die sämmtlichen im Phädon enthaltenen Beweise für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele die Ideenlehre zur Grundlage haben, entspricht es vollkommen und kann ihr insofern zur Bestätigung dienen, dass zu wiederholten malen und an entscheidenden Stellen die Ideenlehre dargelegt oder erwähnt ist. In den Mittelpunet des ersten Beweises tritt die Begründung der Ideenlehre als einer zur Erklärung der That- sachen der Erkenntnis nothwendigen Voraussetzung. Als Sokra- tes auf die Widerlegung der verbreiteten Ansicht über die Seele als Harmonie des Körpers einzugehen unternimmt, lässt er zu- erst sich die Erklärung abgeben, dass über die Grundlage, die Ideenlehre selbst, seine Gegner mit ihm einverstanden sind. Und endlich die Erzählung über den philosophischen Bildungs- gang des Platonischen Sokrates, welche dem letzten Unsterblich- keitsbeweise vorausgeht, führt zur Ideenlehre als ihrem Zielpuncte und ist selbst nur als eine subjective Erklärung der Ideenlehre zu betrachten. Wiederholungen solcher Art wird man bei Platon überhaupt und wird man insbesondere in einem so kunstvollen- deten Dialoge, wie der Phädon ist, als nicht zufällig zu betrach- ten berechtigt sein.
Wenn hiernach der Phädon in allen seinen Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele auf der Ideenlehre beruht und als
Punct erscheint, der die Platonische Lehre specifisch von der des Sokrates unterscheidet, nämlich die Realität der Ideen, wird dadurch die Auffassung gerechtfertigt sein, dass in dem fraglichen Abschnitte eine subjective Be- gründung der Platonischen Ideenlehre enthalten sei. — Übrigens verdient es wohl Beachtung, dass Aristoteles auf die an den fraglichen Abschnitt sich unmittelbar anschliefsenden und sein Ergebnis zusammenfass enden Worte ein paar mal Bezug nimmt, und während er das eine mal sie durch ὥσπερ ὁ ἐν τῷ Φαίδωνι Σωχράτης eitirt de gen. II 9. 335b 10, sie die anderen male einfach der Platonischen Philosophie zurechnet Metaph. A 9. 9915 3. M 5. 10808 2.
Bonitz, Platonische Studien. 19
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eine Darstellung der Ideenlehre selbst in der Richtung auf eine besondere Frage, die über den Zustand der Seele nach dem Tode, betrachtet werden darf, so wird man sich nicht wundern können, mit den theoretischen Beweisführungen ethische Betrachtungen und Mahnungen verbunden zu finden; man würde, mit Pla- tonischer Weise einigermalsen vertraut, dieselben vermissen, wenn man sie nicht fände. Für den Philosophen, der die Idee des Guten als die Spitze und den Einheitspunct der gesammten Ideenwelt betrachtet, und der durch das Wissen des Guten das Wollen und Thun desselben als in unbedingter Nothwendigkeit bestimmt erachtet, für Platon ist die Befähigung der mensch- lichen Seele zu absoluter Erkenntnis zugleich ihre Bestimmung zu absoluter sittlicher Reinheit. Hierin liegt, durch die ge- sammte Platonische Philosophie bezeichnet, der Einheitspunet der ethischen Betrachtungen mit den theoretischen Beweisen, nicht in der behaupteten Ergänzung der angeblich an sich unzureichenden theoretischen Beweise durch ethische Glaubenssätze, — eine An- sicht, die überdies Wissen und Sittlichkeit in ein der Platoni- schen Lehre direct widersprechendes Verhältnis stellt. Man braucht nur an den Phädros und das Symposion zu denken, um diese Untrennbarkeit von Wissen und Sittlichkeit als echt Pla- tonische Überzeugung sich zu vergegenwärtigen. Im Phädros wird die in einem vorweltlichen Sein der Seele zu theil gewordene Anschauung der Ideen als die Voraussetzung wahrer Erkenntnis ausgesprochen; aber in der mythischen Darstellung dieser Voraus- setzung ist die Befähigung der Seele zu unbedingtem Wissen und ihre Bestimmung zu sittlicher Reinheit unmittelbar verbunden. Und wenn im Symposion die Einbildung der Ideen in den Wechsel der. Sinnenwelt als die Aufgabe des Lebens des Weisen dargestellt wird, so ist dies eben so sehr eine Aufgabe des Erkennens wie des sittlichen Handelns, und es lässt sich kaum bezeichnen, wo denn die Grenze und Scheidung des theoretischen und ethischen Ele- mentes sei. Ich muss es mir versagen, auf das seit Schleiermacher von keinem Erklärer übersehene, aber schwerlich in seiner Be- deutung vollständig erschöpfte Verhältnis dieser drei Dialoge des weiteren einzugehen; nur eine Bemerkung, zu welcher diese Vergleichung Anlass gibt, möge schliefslich Platz finden. Es wird nicht leicht jemand die erkenntnis-theoretischen Sätze
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Platons, welche der Phädros und das Symposion enthält — Sätze, in welchen die ersten Anfänge logischer und psychologischer Forschung in eine übereilte Verbindung gebracht sind — unver- ändert und in ihrem wirklich Platonischen Sinne sich als Über- zeugung anzueignen vermögen. Der’ Phädon steht mit diesen beiden Dialogen anf vollkommen gleicher Linie. Die Frage über allgemeine Giltigkeit der Platonischen Beweise für die Unsterb- lichkeit der Seele, das heilst, die Frage, ob die auf der eigent- lichsten Grundlage der Platonischen Philosophie aufgeführten Beweise auch abgesehen von derselben, Geltung haben, diese Frage sollte billigerweise nicht gestellt und es sollte ihr nicht stillschweigend ein Einfluss auf die Erklärung des Phädon ge- stattet werden. Es kann sein, dass durch Beseitigung dieses Gesichtspunctes manches persönlich subjective Interesse am Platonischen Phädon geschwächt würde; aber gewiss würde durch Beschränkung auf die Untersuchung, ob aus den Plato- nischen Principien die gezogenen Folgerungen sich wirklich ergeben, die Auffassung des Phädon an objectiver Sicherheit gewinnen.
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BINDING SECT. SEP 4 - 1968
B Bonitz, Hermann
395 Platonische Studien B62 2. Aufl,
1875
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