'T ■ ■ J^ ^ 1 ^^^^^H ^ ^ ^Br * « *■ i «1 ^^m^ ^ i ,- \ K ^1 ^^^k^^u^ "^ U-i u ^^^E^ ^lii^^^l n ^ ^wSiiii^ 1 ^^Ta^^^^H ^m '. ^^^^^^^^^^^^^^^^^1 _■;. I^MV 1 sü Mit Gen \ /^ E Bieben Hofphot Berl in &, Hamburg Verlag von Georg Reimer, Berlin C^jyrMt^ J^Cce^C-^k:^Jl PRINZIPIEN ^ ^ DER GENERELLEN MORPHOLOGIE DEK ORGANISMEN. WÖRTLICHER ABDRUCK EINES TEILES DER 186(5 ERSCHIEXE^EX GENERELLEN MORPHOLOGIE (ALLGEMEINE GRUNDZÜGE DER ORGANISCHEN FORMEN-WISSENSCHAFT MECHANISCH BEGRÜNDET DURCH DIE VON CHARLES DARWIN REFORMIERTE DESZENDENZ - THEORIE) VON ERNST HAECKEL I'ROFESSOU AN DER LSIVERSITÄT JENA. •MIT DEM PORTRÄT DES VERFASSERS. » BERLIN DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER 1906. .,Die Natur schafft ewig neue Gestalten: was da ist, war noch nie: was war. kommt nicht wieder: alles ist neu, und doch immer das Alte. .,Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr. P'ür's Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillstehen gehängt. Sie ist fest: ihr Tritt ist gemessen, ihre Gesetze unwandelbar. Gedacht hat sie und sinnt be- ständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Jedem erscheint sie in ihrer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen, und ist immer dieselbe. ..Die Natur hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten; sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr: nein, was wahr ist und was falsch ist. alles hat sie ges])rochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst." Goethe. / 0 '^ 0 [^ VOR wo ET. Vierzig Jahre sind verflossen, seitdem mein Werk über „Gene- relle Morphologie der Organismen" in zwei Bänden erschien (Berlin. Verlag von Georg Reimer. 1866). Dieses Buch war der erste Versuch, „Allgemeine Grundzüge der organischen Formen- Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Deszendenztheorie", festzulegen. Der erste Band: „All- gemeine Anatomie der Organismen", behandelte (auf 606 Seiten) die ..Entwickelten Formen", der zweite Band: „Allgemeine Ent- wickelungsgeschichte", (auf 662 Seiten) die „Entstehenden Formen der Organismen". Als die wichtigste Aufgabe bei der Ausführung dieser Arbeit stand mir beständig das Ziel vor Augen, die mo- nistische „E n t wie kein ngslehre" und insbesondere deren be- deutendsten, damals als ,.Darwinismus" aufgetretenen Fortschritt auf das Gesamtgebiet der Biologie,- vor allem aber auf deren schwierigsten Teil, die Morphologie, fruchtbringend anzuwenden. Da beide Teile der „Generellen Morphologie" zahlreiche neue Gedanken enthielten, und da dieses Werk überhaupt der erste Ver- such war. die Deszendenztheorie in ihrer philosophischen allgemeinen Bedeutung zusammenhängend darzustellen, hatte ich auf rege Teilnahme der Biologen und Philosophen an meinem schwierigen Unternehmen gehofft. Indessen bheb dieser erwartete Erfolg zu- nächst fast vollständig aus. Die meisten Zoologen und Botaniker, Morphologen und Physiologen — ebenso auf der anderen Seite die meisten Philosophen und Psychologen — ignorierten mein Buch voll- ständig und zeigten für die vielen darin gebotenen Anregungen nicht die geringste Teilnahme. Die Ursachen dieses vollständigen Miß- IV ^'orvvol•t. erfolges lagen zum Teil in meiner schwerfälligen und schwerverständ- lichen Darstellung, in dem Überwiegen der spekulativen Betrachtungen über die empirischen Darstellungen, in dem Überfluß an neuen Be- griffen und ungewohnten Ausdrücken: zum anderen Teil aber auch wohl daran, daß die neue Auffassung und Behandlung des organischen Lebens zu den althergebrachten Vorstellungen in schroffen Wider- spruch trat und den herrschenden Autoritätsglauben scharf bekämpfte. Einige Freunde, welche bei eingehendem Studium der ..Gene- rellen Morphologie'' diese Mängel stark empfunden und die dadurch bedingte Erfolglosigkeit meines Versuches lebhaft bedauert hatten, veranlaßten mich, einen Auszug aus jenem Werke in mehr zugäng- licher Form zu veröffentlichen und insbesondere die Grundzüge der neuen monistischen Entwickelungslehre populär darzulegen. So ent- stand zwei Jahre später die ..Natürliche Schöpfungsgeschichte, Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwicke- lungslehre im allgemeinen und diejenige von Darwin. Goethe und Lamarck im besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung des Menschen und andere, damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft". Die erste Auflage dieses Buches (1868 erschienen) umfaßte nur 568 Seiten Text, 10 Tafeln und wenige Textfiguren; die zehnte Auflage (1902) enthielt in zwei Bänden 904 Seiten Text, 30 Tafeln, zahlreiche Textfiguren und systematische Tabellen. Da auch von den zwölf verschiedenen Übersetzungen der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" zahlreiche Auflagen in allen Kulturländern verbreitet wurden, so hat dieses populäre Werk zur Anerkennung der Entwickelungslehre und zur Ausbreitung des Darwinismus nicht wenig beigetragen. Als der wertvollste Teil der „Generellen Morphologie" wurde gleich anfangs von angesehenen, systematisch arbeitenden Biologen die ..Systematische Einleitung in die allgemeine Ent- wickeln ngsgeschi cht e" betrachtet, welche den Eingang zum zweiten Bande bildete und auf 160 Seiten eine „Genealogische Übersicht des natürlichen Systems der Organismen" gab — der erste Versuch, dieses letztere wirklich als „Stammbaum" im Sinne Darwins zu gestalten und die natürhchen Verwandtschaftsverhält- nisse der Klassen und Ordnungen im Protistenreich. Pflanzenreich Vorwort. V und TieiTeicli phylogenetisch zu begründen. Da ich diese systematische Biologie während eines halben Jahrhunderts mit besonderer Vorliebe gepflegt habe, und da ich in meinen umfangreichen Monographien der Radiolarien. Spongien. IMedusen und Siphonophoren Gelegenheit fand, die Wahrheit der Abstammungslehre am natürlichen System dieser formenreichen Tierklassen gründlich zu erproben, so entschloß ich mich später, das ganze System der organischen Stämme in diesem Sinne zusammenhängend zu bearbeiten. Das Ergebnis dieser phyletischen Klassifikation war das dreibändige Werk: „Systematische Phylo- genie: Entwurf eines Natürlichen Systems der Organismen auf Grund ihrer Stammesgeschichte"; I. Band: Protisten und Pflanzen. 1894 (400 Seiten): IL Band: Wirbellose Tiere, 1896 (720 Seiten); IIL Band: Wirbeltiere, 1895 (660 Seiten): (Berlin. Verlag von Georg Reimer). Im siebenten Buche der Generellen Morphologie (Bd. II. Seite 423 — 438) hatte ich kurz ..die Entwickelungsgeschichte der Or- ganismen in ihrer Bedeutung für die Anthropologie" erläutert, im 27. Kapitel ..die Stellung des Menschen in der Natur" besprochen und im 28. Kapitel demgemäß „die Anthropologie als Teil der Zoologie" behandelt. Bei der außerordentlichen Bedeutung dieser ..Frage aller Fragen", bei ihrem Einfluß auf das gesamte Gebiet der menschlichen Wissenschaft, habe ich derselben später besonders eingehende Studien zugewendet. Das Ergebnis derselben veröffent- lichte ich 1874 in der „Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammesgeschichte" (732 Seiten, 12 Tafeln, 210 Textfiguren). Die folgenden Auflagen dieses Werkes wnirden ( — ebenso wie diejenigen der Natürlichen Schöpfungs- geschichte — ) wesentlich erweitert und zeitgemäß umgearbeitet. Die letzte (fünfte) Auflage umfaßte 992 Seiten, 30 Tafeln, 512 Text- figuren und 60 genetische Tabellen: der erste Band enthält die Keimesgeschichte (Ontogenie), der zweite die Stammesgeschichte (Phylogenie): — (Leipzig, 1903, Verlag von Wilhelm Engelmann). In den vorstehend angeführten Schriften, die sämtlich aus der „Generellen Morphologie" ihren Ursprung genommen und nur einzelne Teile derselben weiter ausgeführt haben, hatte ich vielfach die refor- matorische Bedeutung der Entwickelungslehre für das ganze Gebiet VI Vorwort. menschlicher Erkenntnis erörtert und insbesondere auf die monistische Neugestaltung' unserer Weltanschauung hingewiesen. Alle großen, darauf bezüglichen allgemeinen Fragen habe ich dann am Schlüsse des 19. Jahrhunderts zusammenfassend in meinem Buche über ..Die Welträtsel" behandelt (Bonn. Strauß. 1899). Diese ., Gemein- verständlichen Studien über monistische Philosophie" (480 Seiten) zerfallen in 20 Kapitel und 4 Teile: der erste, anthropologische Teil behandelt .,den Menschen", der zweite, psychologische Teil .,die Seele", der dritte, kosmologische Teil ..die Welt", der vierte, theologische Teil ..den Gott". Die lebhafte Teilnahme aller gebildeten Ki'eise an diesen höchsten Problemen der Vernunft gab sich kund in dem ungewöhnlichen Erfolge dieses Buches, von dem in wenigen Monaten zehntausend Exemplare abgesetzt wurden: von der billigen kleinen Volksausgabe, die später (1903) auf dringenden Wunsch veranstaltet wurde, sind jetzt zweihunderttausend in Umlauf. Ähn- liche weite Verbreitung fanden auch die fünfzehn Übersetzungen der „Welträtsel". Manche fühlbare Lücken in dem allgemeinen Weltbilde, tlas die „Welträtsel" in einheitlichem Zusammenhange darstellen sollten, sowie zahlreiche, dadurch bedingte Anfragen teilnehmender Leser veranlaßten mich endlich 1904 ( — nach Abschluß meines siebzigsten Lebensjahres — ) noch ein letztes, darauf bezügliches Werk zu ver- öffentlichen, die „Lebens wunder" (Stuttgart. Alfred Kröner). Dieser Ergänzungsband zu dem Buche über die ..Welträtsel" (580 Seiten) enthält „Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie" und ist gleich dem letzteren in 20 Kapitel und 4 Abschnitte ein- geteilt: der erste, methodologische Teil behandelt die „Lebenserkennt- nis" der zweite, morphologische Teil die „Lebensgestaltung", der dritte, physiologische Teil die "Lebenstätigkeit", der vierte, genea- logische Teil die „Lebensgeschichte". Mit der Pubhkation dieses letzten Werkes ist nunmehr die Reihe der Untersuchungen ab- geschlossen, die ich vor 50 Jahren begonnen hatte, und deren Auf- gaben vor 40 Jahren in der „Generellen Morphologie" zuerst bestimmt formuliert waren. Inzwischen ist nun schon seit vielen Jahren von zahlreichen Lesern meiner Schriften der Wunsch ausgesprochen worden, daß ich Vorwort. VJI endlich auch von der Generellen Morphologie selbst, die längst ver- griffen ist, eine neue Auflage herausgeben möchte. Nach vielem Bedenken und langem Überlegen habe ich endlich geglaubt, diesem Verlangen entsprechen zu müssen: und so erscheinen denn jetzt, nach vierzig Jahren, die „Prinzipien der Generellen Morphologie". Die anfänglich beabsichtigte zeitgemäße Umarbeitung des Werkes erwies sich später als undurchführbar: denn die Fortschritte der Entwickelungslehre im Laufe dieser vier Dezennien sind so viel- seitig und großartig, die darauf gegründete Literatur so ausgedehnt, daß eine gründliche Neubearbeitung — unter gewissenhafter Be- rücksichtigung nur der wichtigsten Arbeiten — eine ganze Reihe von Bänden in Anspruch genommen haben würde. Dagegen er- schien es mir zw^eckmäßig und besonders für die Geschichte der Entwickelungslehre förderlich, die wichtigsten Grundsätze der- selben, w^ie sie damals (1866) zuerst von mir aufgestellt worden sind, in ihrer ursprünglichen Fassung wörtlich wiederzugeben. Denn es ist später von mehreren Seiten mit Recht hervorgehoben w^orden. daß zahlreiche anregende und fruchtbare Gedanken, die von anderen Autoren erfolgreich in der Biologie zur Geltung ge- bracht wurden, bereits früher in der Generellen Morphologie be- stimmt formuliert worden w^aren. Anderseits ergab eine wiederholte sorgfältige Revision des Textes, daß manche Irrtümer zu entfernen und viele nebensächliche Aus- führungen zu streichen waren. — ebenso auch manche überflüssige Wiederholungen, zu denen mich der Wunsch verführt hatte, recht klar und eindringlich die leitenden Grundsätze darzulegen. So ist denn schließlich in diesen vorliegenden ..Prinzipien der Generellen Morphologie" der Text des ursprünglichen Werkes auf ungefähr den dritten Teil reduziert worden ( — 464 Seiten statt 1230 Seiten — ) oder eigentlich wohl kaum den vierten Teil des Inhalts, da fast alle mit kleiner Schrift gedruckten Anmerkungen und Zusätze fortgelassen wurden. Die dreißig Kapitel des Werkes haben dabei eine sehr verschiedene Abschätzung erfahren. Ganz oder fast ganz erhalten blieben acht Kapitel (— 1. 20, 23, 26, 27, 28. 29, 30 — ); teilweise beibehalten wurden vierzehn Kapitel (— 4, 5, 6, 8, 9, 10, 11. 12, 16, 17, 19, 21. 22, 24 — ): ganz VIII Vorwort. oder größtenteils sind weggefallen acht Kapitel: 2, 3, 7, 13, 14, 15, 18, 25. Bei der Korrektur der Druckbogen wurde ich wesentlich gefördert durch meinen Privat-Assistenten Dr. Heinrich Schmidt (Jena), den General-Sekretär des ..Deutschen Monistenbundes''. Derselbe unter- zog nicht nur den Text einer sorgfältigen wörtlichen Revision und Verglcichung. sondern fertigte auch das neue alphabetische Register an. Ich statte ihm für diese Mühe hier meinen freundlichen Dank ab. Die langen und heißen Kämpfe, welche in den letzten vierzig Jahren um die Anerkennung der Entwickelungslehre und insbesondere ihres wichtigsten Fortschrittes, der Deszendenztheorie, geführt worden sind, haben zu einem vollständigen Siege der letzteren geführt. Die ganze Biologie ist im Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts von der Wahrheit der grundlegenden Lehren durchdrungen, die schon hundert Jahre früher von Goethe klar erkannt und von Lamarck (1809) formuliert, aber erst 1859 durch Darwin zur Geltung gebracht wurden. Um den weiteren Ausbau dieser biogenetischen Lehren und ihrer Folgeschlüsse — besonders aber ihre Verknüpfung mit der monistischen Philosophie — habe ich mich seitdem redlich be- müht. Ich kann schließlich, am Ende meiner vielbewegten literari- schen Laufbahn, nur den Wunsch aussprechen, daß die leitenden Grundsätze dieser einheitlichen Weltanschauung, die in der Gene- rellen Morphologie zum ersten Male ihre scharfe Formulierung fanden, auch in dieser neuen Ausgabe ihrer Prinzipien zur Erkenntnis der Wahrheit und zur Förderung der Wissenschaft dauernd beitragen mögen. Jena, 16. Februar 1906. Ernst Haeckel. INHALTSVERZEICHNIS. Seite Vorwort HI Inhaltsverzeichnis IX ERSTES BUCH. Kritische und inethodologische Einleitung in die generelle Morphologie der Organismen 1 Erstes Kaiütel: Begriff und Aufgabe der Morphologie der Orga- nismen 3 Zweites Kapitel: Verhältnis der Morphologie zu den anderen X a t u )■ w i s s e n s c h a f t e n 9 I. Morphologie und Biologie 9 II. Morphologie und Physik 9 III. Morphologie und Chemie 9 IV. Morphologie und Physiologie 9 Drittes Kapitel: Einteilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften 9 I. Einteilung der Morphologie in Anatomie und Morphogenie 9 II. Einteilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften ... 9 III. Anatomie und Systematik 9 IV. Organologie und Histologie 9 V. Tektologie und Promorphologie 9 VI. Morphogenie oder Entwickeluugsgeschichte 9 VII. Entwickeluugsgeschichte der Individuen 9 VIII. Entwickelungsgeschichte der Stämme 9 IX. Generelle und spezielle Morphologie 9 Yiertes Kapitel: Methodik der Morphologie der Organismen ... 10 Viertes Kapitel: Erste Hälfte. Kritik der naturwissenschaft- lichen Methoden, welche sich gegenseitig notwendig ergänzen müssen . 10 I. Empirie und Philosophie (Erfahrung und Erkenntnis) 10 X Inhaltsverzeichnis. Seite II. Analyse und S\'nthese 21 III. Induktion und Deduktion "iH Viertes Kapitel: Zweite Hälfte. Kritik der naturwissenschaft- lichen Metlioden, welche sich gegenseitig notwendig ausschließen müssen ;5() IV. Dogmatik und Kritik .'SD V. Teleologie und Kausalität (Vitalisnuis und Mechanismus) 83 VI. Dualismus und Monismus 4:> ZWEITES BUCH. Allgemeine Untersuchungen über die Natur und erste Entstehung der Organismen, ihr Verhältnis zu den Anorganen und ihre Einteilung in Tiere und Pflanzen 47 Fünftes Kapitel: Organismen und Anorgane 4!> I. Organische und anorganische Stoffe 4!) I, 1. Differentielle Bedeutung der organischen und anorganischen ^Materien 49 I, 2. Atomistische Zusammensetzung der oiganischen und anorganischen Materien 51 I, 3. Verbindungen der Elemente zu organischen und anorganischen Materien "iS I, 4. Aggregatzustände der oiganischen und anoiganischen Materien . 55 II. Organische und anorganische Formen 5cS II, 1. Individualität der organischen und anorganischen Gestalten . . . 58 II. 2. Grundformen der organischen und anorganischen Gestalten ... (U III. Organische und anorganische Kräfte ()7 III, 1. Lebenserscheinungen der Organismen und physikalische Kräfte der Anorgane <)7 III, 2. Wachstum der organischen und anorganischen Individuen .... (IS III, 3. Selbsterhaltung der organischen und anorganischen Individuen . 71 III. 4. Anpassung der organischen und anorganischen Individuen .... 72 III, 5. Korrelation der Teile in den organischen und anorganischen Indi- viduen 78 III, (). Zellenbildung und Kristallbildung 7!) IV. Eiidieit der organischen und anorganischen \atur SO Sechstes Kapitel: Schöpfung und Selbstzeugung 84 I. Entstehung dei- ersten Organismen S4 II. Schöpfung S() ill. Urzeugung oder Generatio spontanen !)i> iV. Selbstzeugung oder Autogonie !*4 Inhaltsverzeichnis. XI Seite Siebentes Kapitel: Tiere und Pflanzen BT Unterscheidung von Tier und Pflanze !>7 DRITTES BUCH. Erster Teil der allgemeinen Anatomie. Generelle Tektologie oder allgemeine Strukturlehre der Organismen . 99 Achtes Kapitel: Begriff und Aufgabe der Tektologie K^l I. Die Tektologie als Lehre von der organischen Individualität 101 II. Begriff des organischen Individuums im allgemeinen 10):! VI. Morphologische und physiologische Individualität 10.") Neuntes Kapitel: Moiphologische Individualität der Organismen. 1()9 I. Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden oder Plasmastücke Hi!» I, 1. Unterscheidimg von Cytoden und Zellen 109 I. 2. Zusammensetzung der Piastiden (Cytoden und Zellen) aus ver- schiedenen Formbestandteilen = ....111 A. Plasma. (Protoplasma oder Cytoplasma.) Zellstoff 111 B. Nucleus. Cytoblastus oder Karyon.) Zellkern 112 C. Plasniaprodukte 114 a) Äußere Plasmaprodukte 110 b) Innere Plasmaprodukte 117 D. Plasma und Xucleus als aktive Zellsuljstanz IIS II. Morphologische Individuen zweiter Ordnung: Organe oder Werkstücke 120 Morphologischer Begriff des Organes 12(t III. Morphologische Individuen dritter Ordnung: Antimeren oder Gegen- stücke (Homotypische Teile.) 12;! IV. Morphologische Individuen vierter Ordnung: Metameren oder Folge- stücke (Homodyname Teile.) 127 V. Morphologische Individuen fünfter Ordnung: Histonalen IcJn VI. Morphologische Individuen sechster (3rdnung: Stöcke oder Cormen . . l.!2 Zehutes Kapitel: Physiologische Individualität der Organismen. i;)4 Aktuelle, virtuelle und partielle Bionten 134 Elftes Kapitel: Tektologische Thesen \HS I. Thesen von der Fundamentalstruktur der Organismen loS II. Thesen von der organischen Individualität 14(t III. Thesen von den einfachen organischen Individuen 141 IV. Thesen von den zusammengesetzten organischen Individuen 142 V. Thesen von der physiologischen Individualität 142 VI. Thesen von der tektologischeu Differenzierung und Zentralisation . . . 144 VII. Thesen von der Vollkommenheit der verschiedenen Individualitäten . . 14.') XII Inhaltsverzeichnis. Seite VIERTES BU(^H. Zweiter Teil der allgemeinen Anatomie. Generelle Promoriiliologie oder allgemeine Grundformenlehre der Or- ganismen (Stereometrie der Organismen) 147 Zwölftes Kapitel: Begriff und Aufgabe der Promorphologie .... 149 I. Die Promorphologie als Lehre von den organischen Grundformen . . . 149 II. Begriff der organischen Grundform im allgemeinen 151 III. Verschiedene Ansichten über die organischen Grundformen 153 IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie 155 Dreizehntes Kapitel: System der organischen Grundformen .... 159 I. Das promorphologische System als generelles Formensystem 159 II. Übersicht der wichtigsten stereometrischen Grundformen nach ihrem verschiedenen Verhalten zur Körpermitte 160 III. Tabelle über die promorphologischen Kategorien 161 IV. Übersicht der realen Typen der Grundformen 162 V. Tabelle zur Bestinunung der Grundformen 163 Vierzelintes Kapitel: (irundformen der sechs Individualitäts- Ordnungen 164 Fünfzelintes Kapitel: Promorphologische Thesen 164 FÜNFTES BUCH. Erster Teil der allgemeinen Entwickelungsgeschichte. Generelle Ontogenie oder allgemeine Entwickelungsgeschichte der or- ganischen Individuen (Embryologie und Metamorphologie) . . . 165 Sechzehntes Kapitel: Begriff und Aufgabe der Ontogenie 167 I. Die Ontogenie als Entwickelungsgeschichte der Bionten 167 II. Die Ontogenie und die Deszendenztheorie 167 III. Typus und Grad der individuellen Entwickelung 168 IV. Evolution und Epigenesis 169 V. Entwickelung und Zeugung 170 VI. Aufbildung, Umbildung, Rückbildung 172 VII. Embryologie und Metamorphologie 173 VIII. Entwickelung und Metamorphose 175 Siebzehntes Kapitel : E n t w i c k e 1 u n g s g e s c hi c h t e d e r p h y s i o 1 o g i s c h e n Individuen 17iS I. Verschiedene Arten der Zeugung 178 A. Urzeugung (Archigonia) 179 B. Elternzeugung (Tocogonia) 179 1. Ungeschlechtliche Fortpflanzung (Monogonia) 181 A. Ungeschlechtliche Zeugung durch Spaltung 182 Aa) Die Selbstteilung oder Division 182 Ab) Die Knospung oder Knospenbildung (Gemmatio) . . 183 Inhaltsverzeichnis. XIII Seite B. Ungeschlechtliclie Zeugung; durch Spoienl)ildung- 185 2. Geschlechtliche FortpHanzung (Amphigonia) 18(5 I. Geschlechtsverhältnisse der Piastiden (Cytoden und Zellen) 188 la) Hermaphroditismus der Piastiden 188 Ib) Gonochorismus der Piastiden 190 II. Geschlechtsverhältnisse der Organe 190 IIa) Hermaphroditismus der Organe 190 IIb) Gonochorismus der Organe 191 III. Geschlechtsverhältnisse der Antimeren 192 III a) Hermaphroditismus der Antimeren 192 III b) Gonochorismus der Antimeren 192 IV. Geschlechtsverhältnisse der Metameren 193 IV a) Hermaphroditismus der Metameren 193 IVb) Gonochorismus der Metameren 194 V. Geschlechtsverhältnisse der Personen 194 Va) Hermaphroditismus der Personen (Monoclinia) . . . 194 Vb) Gonochorismus der Personen (Diclinia) 195 VI. Geschlechtsverhältnisse der Stöcke 196 Via) Hermaphroditismus der Stöcke (Monoecia) 196 VIb) Gonochorismus der Stöcke (Dioecia) 196 II. System der ungeschlechtlichen Fortpflanzungsarteii 197 III. System der geschlechtlichen Fortpflanzungsarten 198 IV. Verschiedene Funktionen der Entwickelung 199 1. Die Zeugung (Generatio) 199 2. Das Wachstum (Crescentia) 200 3. Die Differenzierung (Divergentia) oder Arbeitsteilung (Polymorphismus) 201 4. Die Entbildung (Degeneratio) 202 V. Verschiedene Stadien der Entwickelung 203 1. Anaplasis oder Aufbildung (Evolutio) 203 2. Metaplasis oder Umbildung (Transvolutio) 20.") 3. Cataplasis oder Rückbildung (Involutio) 207 VI. Verschiedene Arten der Zeugungskreise 209 VII. System der verschiedenen Arten der Zeugungskreise 211 VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise 212 I. Monogenesis 212 I. 1. Schizogenesis 212 1 A. Schizogenesis monoplastidis 213 1 B. Schizogenesis polyplastidis 213 I, 2. Sporogenesis 214 2 A. Sporogenesis monoplastidis 215 2 B. Sporogenesis polyplastidis 215 II. Amphigenesis 216 II, 1. Metagenesis 216 II, 2. Hypogenesis 221 2 A. Hypogenesis metamorpha 222 2 B, Hypogenesis epimorpha 224 IX. Metagenesis und Strophogenesis 226 XI\' Inhaltsverzeichnis. Seite Achtzehntes Kajutel: Entvvickelungsgeschiclite der morphologi- schen Individuen 230 I. Ontogenie der Piastiden 230 II. Ontogenie der Organe 230 III. Ontogenie der Antinieren 230 IV. Ontogenie der Metameren 230 V. Ontogenie der l'ersonen 230 AI. Ontogenie der Stöcke 230 Neunzehntes Kapitel: Die Deszendenztheorie und die Selektions- theorie 231 1. Inhalt und Bedeutung der Deszendenztheorie 231 II. Entwickelungsgeschichte der Deszendenztheorie 231 III. Die Selektionstheorie (Der Darwinismus.) 231 IV. Erblichkeit und Vererbung (Atavismus. Hereditas.) 235 IV, A. Tatsache und Ursache der Vererbung 235 IV, B. Vererbung und Fortpflanzung 236 IV, C. Grad der Vererbung 237 IV, D. Konservative und progressive Vererbung . . . . ■ 238 IV, E. Gesetze der Vererbung 243 E a. Gesetze der konservativen Vererbung 243 1. Gesetz der ununterbrochenen oder kontinuierlichen Ver- erbung 243 2. Gesetz der unterbrochenen oder verborgenen oder ab- wechselnden Vererbung 244 3. Gesetz der geschlechtlichen Vererbung 246 4. Gesetz der gemischten oder beiderseitigen Vererbung . 246 5. Gesetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung . 248 E b. Gesetze der progressiven Vererbung 249 6. Gesetz der angepaßten und erworbenen Vererbung . . . 249 7. Gesetz der befestigten Vererbung 250 8. Gesetz der gleichörtlichen Vererbung 251 9. Gesetz der gleichzeitlichen Vererbung 252 V. Veränderlichkeit und Anpassung (Variabilitas. Adaptatio.) 254 V. A. Tatsache und Ursache der Anpassung 254 V, B. An])assung und Ernährung "... 255 V, C. Grad der Anpassung 257 V. D. Indirekte und direkte Anpassung 258 V. E. Gesetze der Anpassung 265 E a. Gesetze der indirekten oder potentiellen Anpassung .... 265 1. Gesetz der individuellen Abänderung 265 2. Gesetz der monströsen oder sprungweisen Abänderung . 266 3. Gesetz der geschlechtlichen Abänderung 269 E b. Gesetze der direkten oder aktuellen Anpassung 270 4. Gesetz der allgemeinen Anpassung 270 5. Gesetz der gehäuften Anpassung 271 I. Gehäufte Anpassungen durch die Wirkungen äußerer Existenzbedingungen 272 Inhaltsverzeichnis. XV Seite II. Gehäufte Anpassungen durch die Wiikungen innerer Existenzbedingungen 274 G. Gesetz der wechselbezüglichen Anpassung 278 7. Gesetz der abweichenden Anpassung 279 8. Gesetz der unbeschränkten Anpassung 281 VI. Vererbung und Anpassung (Heredität und Variabilität) 285 VII. Züchtung oder Selektion (Zuchtwahl, Auslese.) 288 VII, A. Die künstliche Züchtung (Selectio artificiaUs) 291 VII. B. Die natürliche Züchtung (Selectio nafuraJis) 292 VII. C. Vergleichung der natürlichen und der künstlichen Züchtung . . 3(J3 VIII. Die Selektionstheorie und das Divergenzgesetz 304 IX. Die Selektionstheorie und das Fortschrittsgesetz 311 X. Dysteleologie oder Unzweckniäßigkeitslehre 320 X. A. Die Dysteleologie und die Selektionstheorie 320 X, ß. Entwickelungsgeschichte der rudimentären oder kataplastischen Individuen 322 XI. Oekologie und Chorologie 333 XII. Die Deszendenztheorie als Fundament der organischen Morphologie. . 337 Zwanzig^stes Kapitel: Ontogenetische Thesen 342 I. Thesen von der mechanischen Natur der organischen Entwickelung . . 342 11. Thesen von den physiologischen Funktionen der organischen Ent- wickelung 343 III. Thesen von den organischen Bildungstrieben . 344 IV. Thesen von den ontogenetischen Stadien 345 V. Thesen von den drei genealogischen Individualitäten 346 \l. Thesen von dem Kausalnexus der biontischen und der phyletischen Entwickelung 347 SECHSTES BUCH. Zweiter Teil der allgemeinen Entwickelungsgeschichte. Generelle Phylogenie oder allgemeine Entwickehmgsgescliiclite der organischen Stämme (Genealogie und Paläontologie) 349 Eiuundzwaiizig'stes Kapitel: Begriff und Aufgabe der Phylogenie . 351 I. Die Phylogenie als Entwickelungsgeschichte der Stämme 351 II. Paläontologie und Genealogie 352 III. Kritik des paläontologischen Materials 355 IV. Die Kataklysmentheorie und die Kontinuitätstheoiie 359 V. Die Perioden der Erdgeschichte 362 VI. Epacme. Acme, Paracme * 363 Zweiiuulzwauzig'stes Kapitel: Entwickelungsgeschichte der Arten oder Spezies 367 1. Allgemeine Kritik des Speziesbegriffes 367 II. Der morphologische Begriff der Spezies 371 III. Gute und schlechte Spezies 377 XVI Inlialtsverzeichnis. Seite Dreiuiidzwaiizig'.stes Kaiutol: Eut wickelungsgeschichte der Stämme oder Phylen 380 I. P'iinktionen der pliyletisclien Entwickeliing ;J80 II. Stadien der ])hvle(isc]ieii Entwickoliiiiii- 381 III. Resultate der pliyletisclien Entwickelung' 385 IV. Die dreifache genealogische Parallele 386 VienuMl/waiizig-.stes Kaititel: Das natürliciie System als Stamm- l)aum (Prinzi])ien der Klassifikation) 3!)(> I. Begrifi'sbestimmung der Kategorien des Systems 390 II. Bedeutung der Kategorien für die Klassifikation 394 III. Gute und schlechte (huppen des Systems 396 IV. Die Baumgestalt des natürlichen Systems 398 V. Anzahl der subordinierten Kategorien 400 VI. Stufenleiter der subordinierten Kategorien 401 VII. Charakterdifferenzen der subordinierten Gruppen 402 Fihifiiiul/wanzig-.stes Kapitel: Die Verwandtschaft der Stämme. . . 4ü4 Sech>iiindzivanzig:stes Kapitel: Phylogenetische Thesen 405 I. Thesen von der Kontinuität der Phylogenese 405 II. Thesen von der genealogischen Bedeutung des natürlichen Systems der Organismen 406 III. Thesen von der organischen Art oder Spezies 407 IV. Thesen von den phylogenetischen Stadien 408 V. Thesen von dem dreifachen Parallelismus der drei genealogischen Indi- vidnahtäten (Zusatz zum V. und VI. Buche 409) 4t)8 SIEBENTES BUCH. Die Entwickelungsgeschiclite der Organismen in ilirer Bedeutung für die Anthropologie 411 Siel»einiiulzwanzig-stes Kapitel: Die Stellung des Menschen in der Natur 413 Achtinulzwanzig-ste.s Kapitel: Die Anthropologie als Teil der Zoo- logie (Zusatz: Progonotaxis des Menschen 424) 418 ACHTES BUCH. Die Entwickelungsgeschiclite der Organismen in ihrer Bedeutung für die Kosmologie 427 Neiiiiuiidz«anzigstes Kapitel: Die Einheit der Natur und die Ein- heit der Wissenschaft (System des Monismus) 429 Dreißigrstes Kapitel: G ott in der Natur 434 Register 439 ERSTES BUCH. KRITISCHE UND METHODOLOGISCHE EINLEITUNG IN DIE GENERELLE MORPHOLOGIE DER ORGANISMEN. H a e c k e I , Prinz, d. Morphol. „Wenn wir Natiirgegenstände, besonders aber die lebendigen, dergestalt gewahr werden, daß wir uns eine Einsicht in den Zusammenhang ihres Wesens und Wirkens zu verschaffen wünschen, so glauben wir zu einer solchen Kenntnis am besten durch Trennung der Teile gelangen zu können ; wie denn auch wirklich dieser Weg uns sehr weit zu führen geeignet ist. Was Chemie und Anatomie zur Ein- und Übersicht der Natur beigetragen haben, dürfen wir nur mit wenig Worten den Freunden des Wissens ins Gedächtnis zurückrufen. .,Aber diese trennenden Bemühungen, immer und immer fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesen nicht wieder zusammenstellen und beleben. Dieses gilt schon von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern. .,Es hat sich daher auch in dem wissenschaftlichen Menschen zu allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildimgen als solche zu erkennen, ihre äußeren sichtbaren greiflichen Teile im Zusammenhange zu erfassen, sie als Andeutungen des Inneren aufzunehmen und so das Ganze in der Anschauung gewissermaßen zu beherrschen. Wie nahe dieses wissenschaftliche Verlangen mit dem Kunst- und Nachahmungstriebe zusammenhänge, braucht wohl nicht um- ständlich angeführt zu werden. „Man findet daher in dem Gange der Kunst, des Wissens und der Wissen- schaft mehrere Versuche eine Lehre zu giünden und auszubilden, welche wir die Morphologie nennen möchten." Goethe (Jena, 1807). Erstes Kapitel. Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. „Weil ich für mich und andere einen freieren Spielraum in der Naturwissenschaft, als man uns bisher geg'önnt, zu erringen wiiusche, so darf man mir und den Gleichgesinnten keineswegs verargen, wenn wir dasjenige, was unseren recht- mäßigen Forderungen entgegensteht, scharf bezeichnen und uns nicht mehr gefallen lassen, was man seit so \-ielen Jahren herlsömmlich gegen uns verübte." Goethe. Die Morphologie oder Formenlehre der Organismen ist die gesamte Wissenschaft von den inneren und äußeren Formenverhältnissen der belebten Naturkörper, der Tiere und Pflanzen, im weitesten Sinne des Wortes. Die Aufgabe der organischen Morphologie ist mithin die Erkenntnis und die Erklärung dieser Formenverhältnisse, d. h. die Zurückführung ihrer Erscheinung auf bestimmte Naturgesetze. Wenn die Morphologie ihre eigentliche Aufgabe erkennt und eine Wissenschaft sein will, so darf sie sich nicht begnügen mit der Kenntnis der Formen, sondern sie muß ihre Erkenntnis und ihre Erklärung erstreben, sie muß nach den Gesetzen suchen, nach denen die Formen gebildet sind. Es muß diese hohe Aufgabe unserer Wissenschaft deshalb hier gleich beim Eintritt in dieselbe ausdrück- lich hervorgehoben werden, weil eine entgegengesetzte irrige Ansicht von derselben weit verbreitet, ja selbst heutzutage noch die bei weitem vorherrschende ist. Die große Mehrzahl der Naturforscher, welche sich mit den Formen der Organismen beschäftigen, Zoologen sowohl, als Botaniker, begnügt sich mit der bloßen Kenntnis der- selben; sie sucht die unendlich mannigfaltigen Formen, die äußeren und inneren Gestaltungsverhältnisse der tierischen und pflanzlichen Körper auf und ergötzt sich an ihrer Schönheit, bewundert ihre Mannigfaltigkeit und erstaunt über ihre Zweckmäßigkeit; sie beschreibt und unterscheidet alle einzelnen Formen, belegt jede mit einem besonderen Namen und findet in deren systematischer Anordnung ihr höchstes Ziel. 4 Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. I. Diese Kenntnis der org^anischen Formen gilt noch heute in den weitesten Kreisen als wissenschaftliche Morphologie der Orga- nismen. Man verachtet und verspottet zwar die früher fast aus- schließlich herrschende oberflächliche Systematik, welche sich mit der bloßen Kenntnis der äußeren Formen Verhältnisse der Tiere und Pflanzen und mit deren systematischer Klassifikation begnügte. Man vergißt dabei aber ganz, daß die gegenwärtig die meisten Zoologen und Botaniker beschäftigende Kenntnis der inneren Formenverhält- nisse an sich betrachtet nicht um ein Haar höher steht, und ebenso- wenig an und für sich auf den Rang einer erkennenden Wissenschaft Anspruch machen kann. Die anatomischen und histologischen Dar- stellungen einzelner Teile von Tieren und Pflanzen, sowie die ana- tomisch-histologischen Monographien einzelner Formen, welche sich in unseren zoologischen und botanischen Zeitschriften von Jahr zu Jahr immer massenhafter anhäufen und in deren Produktion von den meisten das eigentliche Ziel der morphologischen Wissenschaft gesucht wird, sind für diese von ebenso untergeordnetem Werte, als die im vorigen Jahrhundert vorherrschenden Beschreibungen und Klassifikationen der äußeren Speziesformen. Die Zootomie und die Phytotomie sind an sich so wenig wirkliche Wissenschaften, als die von ihnen so verachtete sogenannte Systematik; sie haben, wie diese, bloß den Rang einer unterhaltenden „Gemüts- und Augenergötzung". Alle Kenntnisse, die wir auf diesem Wege erlangen, sind nichts als Bausteine, aus deren Verbindung das Gebäude unserer Wissenschaft erst aufgerichtet werden soll. Indem sich nun die große Mehrzahl der Zoologen und Botaniker mit dem Aufsuchen, Ausgraben und Herbeischleppen dieser Bausteine begnügt und in dem Wahne lebt, daß diese Kunst die eigentliche Wissenschaft sei, indem sie das Kennen mit dem Erkennen ver- wechselt, kann es uns nicht wunder nehmen, wenn der Bau unseres wissenschaftlichen Lehrgebäudes selbst noch unendlich hinter den bescheidensten Anforderungen unserer heutigen Bildung zurück ist. Der denkenden Baumeister sind nur wenige, und diese wenigen stehen so vereinzelt, daß sie unter der Masse der Handlanger ver- schwinden und nicht von den letzteren verstanden werden. So gleicht denn leider die wissenschaftliche Morphologie der Organismen heutzutage mehr einem großen wüsten Steinhaufen, als einem bewohnbaren Gebäude. Und dieser Steinhaufen wird niemals dadurch ein Gebäude, daß man alle einzelnen Steine inwendig und I. Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. 5 auswendig untersucht und mikroskopiert, beschreibt und abbildet, benennt und dann wieder hinwirft. Wir kennen zwar die üblichen Phrasen von den riesenhaften Fortschritten der organischen Natur- wissenschaften und der Morphologie insbesondere; die Selbstbewun- derung, mit der man die quantitative A^ermehrung unserer zoologi- schen und botanischen Kenntnisse alljährlich anstaunt. Wo aber, fragen wir, bleibt die denkende und erkennende Verwertung dieser Kenntnisse? Wo bleibt der qualitative Fortschritt in der Erkenntnis? Wo bleibt das erklärende Licht in dem dunklen Chaos der Gestalten? Wo bleiben die morphologischen Naturgesetze? Wir müssen in diesem rein quantitativen Zuwachs mehr Ballast als Nutzen sehen. Der Steinhaufen wird nicht dadurch zum Gebäude, daß er alle Jahre um so und so viel höher wird. Im Gegenteil, es wird nur schwie- riger, sich in demselben zurechtzufinden, und die Ausführung des Baues wird dadurch nur in immer weitere Ferne gerückt. Nicht mit Unrecht erhebt die heutige Physiologie stolz ihr Haupt über ihre Schwester, die armselige Morphologie. So lange die letztere nicht nach der Erklärung der Formen, nach der Er- kenntnis ihrer Bildungsgesetze strebt, ist sie dieser Verachtung wert. Zwar möchte sie dann wenigstens auf den Rang einer deskriptiven Wissenschaft Anspruch machen. Indessen eine bloß „beschreibende Wissenschaft" ist eine ConfradicHo in adjcdo. Nur dadurch, daß der gesetzmäßige Zusammenhang in der Fülle der einzelnen Erscheinungen gefunden wird, nur dadurch erhebt sich die Kunst der Formbeschreibung zur Wissenschaft der Formerkenntnis. Wenn wir nun nach den Gründen fragen, warum die wissen- schaftliche Morphologie noch so unendhch zurück ist, warum noch kaum die ersten Grundlinien dieses großen und herrlichen Gebäudes gelegt sind, warum der große Steinhaufen noch roh und ungeordnet außerhalb dieser Grundlinien liegt, so finden wir freihch die recht- fertigende Antwort teilweise in der außerordentlichen Schwierigkeit der Aufgabe. Denn die wissenschaftliche Morphologie der Organismen ist vielleicht von allen Naturwissenschaften die schwierigste und unzugänglichste. Wohl in keiner anderen Naturwissenschaft steht die reiche Fülle der Erscheinungen in einem solchen Mißverhältnisse zu unseren dürftigen Mitteln, sie zu erklären, ihre Gesetzmäßig- keit zu erkennen und zu begründen. Das Zusammenwirken der verschiedensten Zweige der Naturwissenschaft, welches z. B. die Physiologie in dem letzten Dezennium auf eine so ansehnHche Höhe 6 Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. I. erhoben hat, kommt der Morphologie nur in äußerst geringem Maße zustatten. Und die untrügliclie mathematische Sicherheit der messen- den und rechnenden Metliode, welche die Morphologie der anorgani- schen Naturkörper, die Kristallographie, auf einen so hohen Grad der Vollendung erhoben hat, ist in der Morphologie der Organismen fast nirgends anwendbar. Zum großen Teil aber liegt der höchst unvollkommene Zustand unserer heutigen Morphologie der Organismen auch an dem unwissen- schaftlichen Verfahren der Morphologen. Vor allem ist es die tiber- mäßige Vernachlässigung strenger Denktätigkeit, der fast allgemeine Mangel an wirklich vergleichender und denkender Natur- betrachtung, dem wir hier den größten Teil der Schuld beimessen müssen. Freilich ist es unendhch ^del bequemer, irgendeine der unzähhgen Tier- und Pflanzenformen herzunehmen, sie mit den aus- gebildeten anatomischen und mikroskopischen Hilfsmitteln der Neu- zeit eingehend zu untersuchen und die gefundenen Formenverhält- nisse ausführlich zu beschreiben und abzubilden; freihch ist es unendlich viel bequemer und wohlfeiler, solche sogenannte ..Ent- deckungen" zu machen, als durch methodische Vergleichung. durch angestrengtes Denken das Verständnis der beobachteten Form zu gewinnen und die Gesetzmäßigkeit der Formerscheinung nach- zuweisen. Insbesondere in den letzten acht Jahren, seit dem allzu frühen und nicht genug zu beklagenden Tode von Johannes Müller (1858), dessen gewaltige Autorität bei seinen Lebzeiten noch einiger- maßen strenge Ordnung auf dem weiten Gebiete der organischen Morphologie aufrecht zu erhalten wußte, ist eine fortschreitende Ver- wilderung und allgemeine Anarchie auf demselben eingerissen, so daß jede strenge Vergleichung der quantitativ so bedeutend wachsenden jährlichen Leistungen einen ebenso jährlich beschleunigten quali- tativen Rückschritt nachweist. In der Tat nimmt die denkende Betrachtung der organischen Formen heutzutage in demselben Ver- hältnisse alljährhch ab, als die gedankenlose Produktion des Roh- materials zunimmt. Sehr richtig sprach in dieser Beziehung schon Victor Carus vor nunmehr 13 Jahren die freilich wenig beherzigten Worte: „Wie es für unsere Zeit charakteristisch ist, daß fast alle Wissenschaften sich in endlose Spezialitäten verlieren und nur selten zu dem roten Faden ihrer Entwicklung zurückkommen, so scheut man sich auch in der Biologie (und ganz vorzüglich in der Morphologie!) vor Anwendung selbst der ungefährlichsten Denkprozesse." I. Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. 7 Neben der fast allgemein herrschenden Denkträgheit ist es freilich auch sehr oft die höchst mangelhafte allgemeine Bildung, der Mangel an philosophischer Vorbildung und an Überblick der gesamten Naturwissenschaft, welcher den Morphologen unserer Tage den Ge- sichtskreis so verengt, daß sie das Ziel ihrer eigenen Wissenschaft nicht mehr sehen können. Die große Mehrzahl der heutigen Morpho- logen, und zwar sowohl der sogenannten „Systematiker", welche die äußeren Formen, als der sogenannten „vergleichenden Anatomen", welche den inneren Bau der Organismen beschreiben (ohne ihn zu vergleichen, und ohne über den Gegenstand überhaupt ernstlich nachzudenken!), hat das hohe und so weit entfernte Ziel unserer Wissenschaft völlig aus den Augen verloren. Sie begnügen sich damit, die organischen Formen (gleichgültig ob die äußere Gestalt oder den inneren Bau), ohne sich bestimmte Fragen vorzulegen, oberflächlich zu untersuchen und in dicken papierreichen und ge- dankenleeren Büchern weitläufig zu beschreiben und abzubilden. Wenn dieser ganz unnütze Ballast in den Jahrbüchern der Morpho- logie aufgeführt und bewundert wird, haben sie ihr Ziel erreicht. Wir erlauben uns, diesen traurigen Zustand hier rücksichtslos und scharf hervorzuheben, weil wir von der Überzeugung durch- drungen sind, daß nur durch die Erkenntnis desselben und durch die offene Beleuchtung des dunkeln Chaos, welches die sogenannte Morphologie gegenwärtig darstellt, eine bessere Behandlung derselben, eine wirklich fördernde Erkenntnis der Gestalten angebahnt Averden kann. Erst wenn man allgemein danach streben wird, den gesetz- mäßigen Zusammenhang in den endlosen Reihen der einzelnen Gestalt- erscheinungen aufzufinden, wird es möglich werden, an das große und gewaltige Gebäude der Morphologie selbst konstruierend heran- zutreten. Erst wenn die Kenntnis der Formen sich zur Erkenntnis, wenn die Betrachtung der Gestalten sich zur Erklärung erheben wird, erst wenn aus dem bunten Chaos der Gestalten sich die Gesetze ihrer Bildung entwickeln werden, erst dann wird die niedere Kunst der Morphographie sich in die er- habene Wissenschaft der Morphologie verwandeln können. Man wird uns von vielen Seiten entgegnen, daß die Zeit dafür noch nicht gekommen, daß unsere empirische Basis hierzu noch nicht genug breit, unsere Naturanschauung noch nicht genug reif, unsere Kenntnis der organischen Gestalten noch viel zu unvoll- kommen sei. Dieser selbst von hervorragenden Morphologen geteilten 8 Begriff und Aufgabe der Morphologie der Organismen. I. Anscliaiumg müssen wir auf das entschiedenste entgegentreten. Niemals wird ein so hohes und fernes Ziel, wie das der wissen- schaftlichen Morphologie ist, erreicht werden, wenn man dasselbe nicht stets im Auge behält. Will man mit der Konstruktion des Gebäudes, mit der Aufsuchung von allgemeinen Gestaltungsgesetzen warten, bis wir alle existierenden Formen kennen, so werden wir niemals damit fertig werden; ja wir werden niemals auch nur zum Fundament einer wissenschaftlichen Formenlehre gelangen. Des Ausbaues und der Verbesserung bedürftig wird das Gebäude ewig bleiben; das hindert aber nicht, daß wir uns wohnlich darin ein- richten, und daß wir uns der Gesetzmäßigkeit der Gestalten erfreuen, auch wenn wir wissen, daß unsere Erkenntnis derselben eine be- schränkte ist. Zweites Kapitel. Yerliältnis der Morphologie zu den andern lüaturwissenscliaften. „Eine höchst wiclitige Betrachtung in der Geschichte der Wissenschaft ist die, daß sich aus den ersten Anfängen einer Entdeckung manches in den Gang des Wissens heran- und durchzieht, welches den Fortschritt hindert, sogar öfters Uilimt. So hat auch jeder Weg, durch den wir zu einer neuen Entdeckung gelangen, Einfluß auf Ansicht und Theorie. Was würden wir von einem Architekten sagen, der durch eine Seitentüre in einen Palast gekommen wäre, und nun, bei Beschreibung und Darstellung eines solchen Gebäudes, alles auf diese erste untergeordnete Seite beziehen wollte? Und doch geschieht dies in den Wissenschaften jeden Tag.*" Goethe. I. Morphologie und Biologie. IL Morphologie und Physik, m. Morphologie und Chemie. IV. Morphologie und Physiologie. Drittes Kapitel. Einteilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften. „Indem sich jeder einzelne Wirkungskreis absondert, so vereinzelt, zersplittert sich auch in jedem Kreise die Be- handlung. Kur ein Hauch von Theorie erregt schon Furcht : denn seit mehr als einem Jahrhundert hat man sie wie ein Gespenst geflohen und, bei einer fragmentarischen Erfalirung, sich doch zuletzt den gemeinsten Vorstellungen in die Arme geworfen. Niemand will gestehen, daß eine Idee, ein Begriff der Beobachtung zum Grunde liegen, die Erfahrung befördern, ja das Finden und Erfinden begünstigen könne." Goethe (1819). I. Einteilung der Morphologie in Anatomie und Morphogenie. IL Einteilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften, in. Anatomie und Systematik. IV. Organologie und Histologie. V. Tektologie und Promorphologie. VI. Morphogenie oder Entwicklungsgeschichte. VII. Entwicklungsgeschichte der Individuen. Vin. Entwicklungsgeschichte der Stämme. IX. Generelle und spezielle Morphologie. Viertes Kapitel. Metliodik der Morpliologie der Organismen. „Wenn ein Wissen reif ist, Wissenschaft zu werden, so muß notwendig- eine Krise entstehen: denn es wird die Diffe- renz offenbar zwischen denen, die das Einzelne trennen und getrennt darstellen, und solchen, die das Allgemeine im Auge haben und gern das Besondere an- und einfüg'en möchten. Wie nun aber die wissenschaftliche, ideelle, umgreifendere Behandlung sich mehr und mehr Freunde. Gömier und Mit- arbeiter wirbt, so bleibt auf der hölieren Stufe jene Trennung zwar nicht so entschieden, aber doch genugsam merklich." Goethe. Viertes Kcapitel: Erste Hälfte. Kritik der naturwissenschaftlichen Methoden, welche sich gegenseitig notwendig ergänzen müssen. I. Empirie und Philosophie. (Erfahrang und Erkenntnis.) „Die wichtigsten Wahrheiten in den Naturwissenschaften sind weder allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie, noch allein durch bloßes Erfahren gefunden worden, sondern durcli eine denkende Erfahrung, welche das Wesentliche von dem Zufälligen in der Erfahrung unterscheidet und dadurch Grundsätze findet, aus welchen viele Erfahrungen abgeleitet werden. Dies ist mehr als bloJäes Erfahren, und wenn man will, eine philosophische Erfahrung." Johannes Müller (Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. II, p. 522). „Vergleichen wir die morphologischen Wissenschaften mit den physikalischen Theorien, so müssen wir uns gestehen, daß erstere in jeder Hinsicht unendlich weit zurück sind. Die Ursache dieser Erscheinung liegt nun allerdings zum Teil in dem Gegenstande, dessen verwickeitere Verhältnisse sicli noch am meisten der mathe- matischen Behandlung entziehen, aber großenteils ist auch die große iy_ I. Empirie imd Philosophie. 11 Nichtaclitung niethodologisclier Verständigung daran schuld, indem man sich einerseits durchaus nicht um scharfe Fassung der leitenden Prinzipien bekümmert, andererseits selbst die allgemeinsten und bekanntesten Anforderungen der Philosophie hintangesetzt hat, weil bei dem weiten Abstände ihrer allgemeinen Aussprüche von den Einzelheiten, mit denen sich die empirischen Naturwissenschaften beschäftigen, die Notwendigkeit ihrer Anwendung sich der unmittel- baren Auffassung entzog. So sind gar viele Arbeiter in dieser Beziehung durchaus nicht mit ihrer Aufgabe verständigt, und die Fortschritte in der Wissenschaft hängen oft rein vom Zufall ab." Schieiden (Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik, „§ 3 Me- thodik oder über die Mittel zur Lösung der Aufgaben in der Botanik"). Wir erlauben uns, dieses methodologische Kapitel, welches die Mittel und Wege zur Lösung unserer morphologischen Aufgaben zeigen soll, mit zwei vortrefflichen Aussprüchen von den beiden größten Morphologen einzuleiten, welche im fünften Dezennium unseres Jahrhunderts die organische Naturwissenschaft in Deutschland be- herrschten. Wie Johannes Müller für die Zoologie, so hat Schieiden damals für die Botanik mit der klarsten Bestimmtheit den Weg ge- wiesen, welcher uns allein auf dem Gebiete der Biologie, und ins- besondere auf dem der Morphologie, zu dem Ziele unserer Wissen- schaft hinzuführen vermag. Dieser einzig mögliche Weg kann natürlich kein anderer sein als derjenige, welcher für alle Natur- wissenschaften — oder, was dasselbe ist, für alle wahren Wissen- schaften — ausschließliche Gültigkeit hat. Es ist dies der Weg der denkenden Erfahrung, der Weg der philosophischen Empirie. Wir könnten ihn ebensogut als den Weg des erfahrungs- mäßigen Denkens, den Weg der empirischen Philosophie bezeichnen. Absichtlich stellen wir die bedeutenden Aussprüche dieser beiden großen ., empirischen und exakten" Naturforscher an die Spitze dieses methodologischen Kapitels, weil wir dadurch hoffen, die Aufmerk- samkeit der heutigen Morphologen und der Biologen überhaupt intensiver auf einen Punkt zu lenken, der nach unserer innigsten Überzeugung für den Fortschritt der gesamten Biologie, und der Morphologie insbesondere, von der allergrößten Bedeutung ist, der aber gerade im gegenwärtigen Zeitpunkte in demselben Maße von den allermeisten Naturforschern völlig vernachlässigt wird, als er vor allen anderen hervorgehoben zu werden verdiente. Es ist dies 12 Methodik der Morphologie der Organismen. ly. die gegenseitige Ergänzung von Beobachtung und Gedanken, der innige Zusammenhang von Naturbeschreibung und Naturphilosophie, die notwendige Wechselwirkung zwi- schen Empirie und Theorie. Einer der größten Morphologen, den unser deutsches Vaterland erzeugt hat, Karl Ernst v. Bär, hat dem klassischen Werke, durch welches er die tierische Ontogenie, eine sogenannte „rein empirische und deskriptive Wissenschaft", neu begründete, den Titel vorange- setzt: ..Über Entwickelungsgeschichte der Tiere. Beobachtung und Reflexion." Wenn seine Nachfolger diese drei Worte stets bei ihren Arbeiten im Auge behalten hätten, würde es besser um unsere Wissenschaft aussehen, als es jetzt leider aussieht. „Beobachtung und Reflexion" sollte die Überschrift jeder wahrhaft naturwissen- schaftlichen Arbeit lauten können. Bei wie vielen aber ist dies möglich? Wenn wir ehrlich sein wollen, können wir ihre Zahl kaum gering genug anschlagen und finden unter hunderten kaum eine. Und dennoch können nur durch die innigste Wechselwirkung von Beobachtung und Reflexion wirkliche Fortschritte in jeder Natur- wissenschaft, und also auch in der Morphologie, gemacht werden. Hören wir weiter, was K. E. v. Bär, der „empirische und exakte" Naturforscher, in dieser Beziehung sagt: „Zwei Wege sind es, auf denen die Naturwissenschaft gefördert werden kann, Beobachtung und Reflexion. Die Forscher ergrei- fen meistens für den einen von beiden Partei. Einige verlangen nach Tatsachen, andere nach Resultaten und allgemeinen Ge- setzen, jene nach Kenntnis, diese nach Erkenntnis, jene möch- ten für besonnen, diese für tiefblickend gelten. Glückhcherweise ist der Geist des Menschen selten so einseitig ausgebildet, daß es ihm möghch wird, nur den einen Weg der Forschung zu gehen, ohne auf den anderen Rücksicht zu nehmen. Unwillkürlich wird der Verächter der Abstraktion sich von Gedanken bei seiner Beob- achtung beschleichen lassen; und nur in kurzen Perioden der Fieber- hitze ist sein Gegner vermögend, sich der Spekulation im Felde der Naturwissenschaft mit völliger Hintansetzung der Erfahrung hinzu- geben. Indessen bleibt immer, für die Individuen sowohl als für ganze Perioden der Wissenschaft, die eine Tendenz die vorherr- schende, der man mit Bewußtsein des Zwecks sich hingibt, wenn auch die andere nicht ganz fehlt." Mit diesen wenigen Worten ist das gegenseitige Wechselverhält- IV. I. Empirie und Philosophie. 13 nis von Beobachtung und Reflexion, die notwendige Verbindung von empirischer Tatsachenkenntnis und von philosophischer Gesetzes- erkenntnis treffend bezeichnet. Aber auch die Tatsache, daß in den einzelnen Naturforschern sowohl als in den einzelnen Perioden der Naturwissenschaft selten beide Richtungen in harmonischer Eintracht und gegenseitiger Durchdringung zusammenwirken, vielmehr eine von beiden fast imftier bedeutend über die andere überwiegt, ist von Bär sehr richtig hervorgehoben worden, und gerade dieser Punkt ist es, auf den wir hier zunächst die besondere Aufmerksamkeit lenken möchten. Denn wenn wir einerseits überzeugt sind, daß wir nur durch die gemeinsame Tätigkeit beider Richtungen dem Ziele unserer Wissenschaft uns nähern können, und wenn wir anderer- seits zu der Einsicht gelangen, welche von beiden Richtungen im gegenwärtigen Stadium unserer wissenschaftlichen Entwicklung die einseitig überwiegende ist, so werden wir auch die Mittel zur Hebung dieser Einseitigkeit angeben und die Methode bestimmen können, welche die Morphologie gegenwärtig zunächst und vorzugsweise ein- zuschlagen hat. Es bedarf nun keines allzu tiefen Scharfblicks und keines allzu w^eiten Überblicks, um alsbald zu der Überzeugung zu gelangen, daß in dem ganzen zweiten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts und darüber hinaus bis jetzt, und zwar vorzüglich vom Jahre 1840 — 1860, die rein empirische und „exakte" Richtung ganz überwiegend in der Biologie und vor allem in der Morphologie geherrscht, und daß sie diese Alleinherrschaft in fortschreitendem Maße dergestalt ausgedehnt hat, daß die spekulative oder philosophische Richtung im fünften Dezennium vorigen Jahrhunderts fast vollständig von ihr verdrängt war. Auf allen Gebieten der Biologie, sowohl in der Zoologie, als in der Botanik, galt während dieses Zeitraums allgemein die Natur- beobachtung und die Naturbeschreibung als „die eigentliche Natur- wissenschaft", und die „Naturphilosophie" wurde als eine Verirrung betrachtet, als ein Phantasiespiel, welches nicht nur nichts mit der Beobachtung und Beschreibung zu tun habe, sondern auch gänzlich aus dem Gebiete der „eigentlichen Naturwissenschaft" zu verbannen sei. Freilich war diese einseitige Verkennung der Philosophie nur zu sehr gefördert und gerechtfertigt durch das verkehrte und willkür- liche Verfahren der sogenannten „Naturphilosophie", welche im ersten Drittel unseres Jahrhunderts die Naturwissenschaft zu unter- werfen suchte, und welche, statt von empirischer Basis auszugehen. 14 Methodik der Morphologie der Organismen. IV. in der iingemessensten Weise ihrer wilden und erfahrungslosen Phantasie die Zügel schießen ließ. Die namentlich von Oken, Seh ellin g usw. ausgehende Naturphantasterei mußte ganz natürhch als anderes Extrem den krassesten Empirismus hervorrufen. Der natürliche Rückschlag gegen diese letztere in demselben Grade ein- seitige Richtung trat erst im Jahre 1859 ein, als Charles Darwin seine großartige Entdeckung der ,.natürlichen Züchtung" veröffent- lichte und damit den Anstoß zu einem allgemeinen Umschwung der gesamten Biologie und namentlich der Morphologie gab. Die gedankenvolle Naturbetrachtung, der im besten Sinne philosophische, d. h. naturgemäß denkende Geist, welcher sein epochemachendes Werk durchzieht, wird der vergessenen und verlassenen Natur- philosophie wieder zu dem ihr gebührenden Platze verhelfen und den Beginn einer neuen Periode der Wissenschaft bezeichnen. Frei- lich ist dieser gewaltige Umschwung bei weitem noch nicht zu all- gemeinem Durchbruch gelangt: die Mehrzahl der Biologen ist noch zu sehr und zu allgemein in den Folgen der vorher überall herr- schenden einseitig empirischen Richtung befangen, als daß wir die Rückkehr zur denkenden Naturbetrachtung als eine bewußte und allgemeine bezeichnen könnten. Indes hat dieselbe doch bereits in einigen Kreisen begonnen, an vielen Stellen feste Wurzel geschlagen, und wird voraussichtlich nicht allein in den nächsten Jahren schon das verlorene Terrain wieder erobern, sondern in wenigen Dezennien sich so allgemeine Geltung verschafft haben, daß man (wohl noch vor Ablauf unseres Jahrhunderts) verwundert auf die Beschränktheit und Verblendung zahlreicher Naturforscher zurückblicken wird, die heute noch die Philosophie von dem Gebiete der Biologie aus- schließen wollen. Wir unsererseits sind unerschütterlich davon über- zeugt, daß man in der wahrhaft ,.erkennenden" Wissenschaft die Empirie und die Philosophie gar nicht voneinander trennen kann. Jene ist nur die erste und niederste, diese die letzte und höchste Stufe der Erkenntnis. Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber ist in diesem Sinne Naturphilosophie. In der Tat könnte heilte schon die allgemein übliche einseitige Aus- schließung der Philosophie aus der Naturwissenschaft jedem objektiv dies Verhältnis betrachtenden Gebildeten als ein befremdendes Rätsel erschei- nen, wenn nicht der Entwickelungsgang der Biologie selbst ilim die Lösung dieses Rätsels sehr nahe legte. Wenn Avir die Geschichte unserer Wissen- schaft in den allgemeinsten Zügen überblicken, so bemerken wir alsbald, l\^ I. Empirie und Philosophie. 15 daß die beiden scheinbar entgegengesetzten, in der Tat aber innig ver- bundenen Forschungsrichtungen in der Naturwissenschaft, die beobachtende oder empirische und die denkende oder philosophische, zwar stets mehr oder minder eng verbunden nebeneinander herlaufen, daß aber doch, wie es Bär sehr richtig ausdrückt, immer die eine der beiden Richtungen über die andere bedeutend überwiegt, und zwar „sowohl für die Individuen, als für ganze Perioden der Wissenschaft". So finden wir ein beständiges Oszilheren, einen Wechsel der beiden Richtungen, der uns zeigt, daß nie- mals in gleichmäßigem Fortschritt, sondern stets in wechselnder Wellen- bewegung die Biologie ihrem Ziele sich nähert. Die Exzesse, welche jede der l)eiden Forschungsrichtungen begeht, sobald sie das Übergewicht über ■ die andere gewonnen hat, die Ausschließlichkeit, durch welche jede in der Regel sich als die allein richtige, als die „eigentliche" Methode der Naturwissenschaft betrachtet, führen nach längerer oder kürzerer Dauer wieder zu einem Umschwung, welcher der überlegenen Gegnerin abermals zur Herrschaft verhilft. Wie dieser regelmäßige Regierungswechsel von empirischer und philo- sophischer Naturforschung auf dem gesamten Gebiete der Biologie uns überall entgegentritt, so sehen wir ganz besonders bei einem allgemeinen Überblick des Entwickelungsganges, den die Morphologie vom Anfang des vorigen Jahrhunderts an genommen, daß die beiden feindlichen Schwestern, die doch im Grunde nicht ohne einander leben kihmen, stets abwechselnd die Herrschaft behauptet haben. Nachdem Linne die Morpho- logie der Organismen zum ersten Male in feste wissenschaftliche Form gebracht und ihr das systematische Gewand angezogen hatte, wurde zu- nächst der allgemeine Strom der neubelebten Naturforschung auf die rein empirische Beobachtung und Beschreibung der zahllosen neuen Formen hin- gelenkt, welche imterschieden, benannt und in das Fachwerk des Systems eingeordnet werden mußten. Die systematische Beschreibung und Be- nennung, als Büttel des geordneten Ül^erblicks der zahllosen Einzelformen, wurde aljer bald Selbstzweck, mid damit verlor sich die Formbeobachtmig der Tiere und Pflanzen in der gedankenlosesten Empirie. Das massenhaft sich anhäufende Rohmaterial forderte mehr und mehr zu einer denkenden Verwertimg desselben auf, und so entstand die Schule der Naturphilo- sophen, als deren bedeutendsten Forscher, wenn aiich nicht (wegen man- gelnder Anerkennimg) als deren eigentlichen Begründer wir Lamarck bezeichnen müssen. ■'^) In Deutschland vorzüglich durch Oken und Goethe, in Frankreich durch Lamarck und Etienne Geoffrov S. Hilaire ver- 1) Selten ist wohl das Verdienst eines der bedeutendsten Männer so völlig von seinen Zeitgenossen verkannt und gar nicht gewürdigt worden, wie es mit Lamarck ein halbes Jahrhundert hindurch der Fall war. Nichts beweist dies vielleicht so schlagend als der Umstand, daß Cuvier in seinem Bericht über die Fortschritte der Naturwissenschaften, in welchem auch die unbedeutendsten Bereicherungen des empirischen Materials aufgeführt werden, des bedeutendsten aller biologischen Werke jenes Zeitraums, der Philosophie zoologique von La- marck, mit keinem Worte Erwähnung tut! 16 Methodik der Morphologie der Organismen. JV. treten, war diese ältere Naturphilosophie eifrigst bemüht, aus dem Chaos der zahllosen Einzelbeobachtungen, die sich immer mehr zu einem un- übersehbaren Berge häuften, allgemeine Gesetze abzuleiten und den Zu- sammenhang der Erscheinungen zu ermitteln. Wie weit- sie schon damals auf diesem Wege gelangte, zeigt die klassische Philosophie zoologique von Lamarck (1809) und die bewunderungswürdige Metamorphose der Pflanzen von Goethe (1790). Doch war die empirische Basis, auf welcher diese Heroen der Naturforschung ihre genialen Gedankengebäude errichteten, noch zu schmal und unvollkommen, die ganze damalige Kenntnis der Organismen noch zu sehr bloß auf die äußeren Formverhältnisse be- schränkt, als daß ihre denkende Naturbetrachtung die festesten Anhalts- punkte hätte gewinnen und die darauf gegründeten allgemeinen Gesetze schon damals eine weitere Geltung hätten erringen können. Entwickelimgs- geschichte mid Paläontologie existierten noch nicht, und die vergleichende Anatomie hatte kaum noch Wurzeln geschlagen. Wie weit aber diese Genien trotzdem ihrer Zeit vorauseilten, bezeugt vor allem die (in der ersten Hälfte miseres Jahrhunderts fast allgemein ignorierte) Tatsache, daß beide, sowohl Lamarck als Goethe, die wichtigsten Sätze der Des- zendenz-Theorie bereits mit voller Klarheit und Bestimmtheit aussprachen. Erst ein volles halbes Jahrhundert später sollte Darwin dafür die Be- weise liefern. Die eigentliche Blütezeit der älteren Naturphilosophie fällt in die ersten Dezennien unseres Jahrhunderts. Aber schon im zweiten und noch sclmeller im dritten näherte sie sich ihrem jähen Untergange, teils durch eigene Verblendung und Ausartung, teils durch Mangel an Verständnis bei der Mehrzahl der Zeitgenossen, teils durch das rasche imd glänzende Emporblühen der empirischen Richtung, welche in Cuvier einen neuen und gewaltigen Reformator fand. Gegenüber der willkürlichen und ver- kehrten Phantasterei, in welche die Naturphilosophie bald sowohl in Frank- reich als in Deutschland damals ausartete, war es dem exakten, strengen und auf der breitesten empirischen Basis stehenden Cuvier ein leichtes, die verwilderten und undisziplinierten Gegner aus dem Felde zu schlagen. Bekanntlich war es der 22. Februar 1830, an welchem der Konflikt zwischen den beiden entgegengesetzten Richtungen in der Pariser Akademie zum öffentlichen Austrage kam und damit definitiv geendigt zu sein schien, daß Cuvier seinen Hauptgegner E. Geoffroy S. Hilaire mit Hülfe seiner tiberwiegenden empirischen Beweismittel in den Augen der großen Mehrheit vollständig besiegte. Dieser merkwürdige öffentliche Konflikt, dui'ch welchen die Niederlage der älteren Naturphilosophie besiegelt wurde, ist in mehrfacher Beziehung vom h()chsten Interesse, vorzüglich auch des- halb, weil er von Goethe in der meisterhaftesten Form in einem kritischen Aufsatze dargestellt wurde, welchen derselbe wenige Tage vor seinem Tode (im März 1832) vollendete. Dieser höchst lesenswerte Aufsatz, das letzte schriftliche Vermächtnis, welches der deutsche Dichterfürst uns hinterlassen, enthält nicht allein eine vortreffliche Charakteristik von Cuvier und Geoffroy S. Hilaire, sondern auch eine ausgezeichnete Dar- stellung der beiden entgegengesetzten von ihnen vertretenen Richtungen, IV. I. Empirie und Philosophie. 17 „des immenvälu'enden Konfliktes zwischen den Denkweisen, in die sich die wissenschaftliche Welt schon lange trennt; zwei Denkweisen, welche sich in dem menschlichen Geschlechte meistens getrennt nnd dergestalt verteilt ünden, daß sie, wie überall, so auch im Wissenschaftlichen, schwer zusammen verbimden angetroffen werden, und vrie sie getrennt sind, sich nicht Avolü vereinigen mögen. Haben wir die Geschichte der Wissen- schaften und eine eigene lange Erfahrung vor Augen, so möchte man l)efürchten, die menschliche Natur werde sich von diesem Zwiespalt kaum jemals retten können." Die Niederlage der älteren Naturphilosophie, welche Cuvier als der Heerführer der neu erstehenden ..exakten Empirie" herbeigeführt und in jenem Konflikt offenbar gemacht hatte, war so vollständig, daß in den folgenden drei Dezennien, von 1880 — 1860. unter der mm allgemein sich ausbreitenden empirischen Schule von Philosophie gar keine Rede mehr war. ^lit den Träumereien mid Phantasiespielen jener ausgearteten Naturj^hantasterei wurden auch die wahren und großen Verdienste der alten Naturphilosophie vergessen, aus der jene hervorgegangen war. imd man gewöhnte sich sehr allgemein an die Vorstellung, daß Naturwissen- schaft und Philosophie in einem imversöhnlichen Gegensatze zueinander ständen. Dieser Irrtimi Avurde dadm'ch insbesondere begünstigt, daß die verbesserten Instrumente und Beobachtmigsmethoden der Nenzeit, imd vor allem die sehr verbesserten Mikroskope, der empirischen Naturbeobachtimg ein unendlich Aveites Feld der Forschmig eröffneten, auf welchem es ein leichtes war, mit wenig Mühe imd ohne große GedankenanstrengTing Entdeckungen neuer Formverhältnisse in Hülle imd Fülle zu machen. Während die Beobachtungen der ersten empirischen Periode, welche sich aus Linnes Schule entwickelte, vorzugsweise um* auf die äußeren Formverhältnisse der Organismen gerichtet gewesen waren, wandte sich nun die zweite empirische Periode, welche aus Cuviers Schule hervor- ging, vorwiegend der Beol)achtimg des inneren Baues der Tiere und Pflanzen zu. Und in der Tat gab es hier, nachdem Cuvier dmrh Be- gründung der vergleichenden Anatomie und der Paläontologie ein weites neues Feld der Beobachtung geöffnet, nachdem Bär diu'ch Reformation der Entwickelungsgeschichte und Schwann durch Begründimg der Ge- webelehre auf dem tierischen, Schlei den auf dem pflanzlichen Gebiete neue und große Ziele gesteckt, nachdem Johannes Müller die ge- samte Biologie mit gewaltiger Hand in die neu geöffneten Bahnen der exakten Beobachtimg hineingewiesen hatte, überall so imendlich viel zu beobachten und zu beschreiben, es wurde so leicht, mit nur wenig Ge- duld. Fleiß und Beobachtungsgabe neue Tatsachen zu entdecken, daß wir uns nicht wundern können, wenn darüber die leitenden Prinzipien der Naturforschimg gänzlich vernachlässigt imd die erklärende Gedankenarbeit von den meisten völlig vergessen ■wurde. Da noch im gegenwärtigen Augenblick diese „rein empirische" Richtung die allgemein überwiegende ist, da die Bezeichnung der Naturphilosophie noch in den weitesten natur- wissenschaftlichen Kreisen nur als Schimpfwort gilt und selbst von den hervorragendsten Biologen nur in diesem Sinne gebraucht wird, so haben H a e c k e 1 , Prinz, d. Morj)hol. 2 X8 Methodik der Morphologie der Organismen. jy. wir nicht nötig, die grenzenlose Einseitigkeit dieser Richtimg noch näher zu erläutern und werden nur noch insofern näher darauf eingehen, als wir gezwungen sind, unseren Zeitgenossen ihr „exakt-empirisches", d. h. gedankenloses und beschränktes, Spiegelbild vorzuhalten. Teilweise ist dies schon im vorigen Kapitel geschehen. Wiederholt wollen wir hier nur nochmals auf die seltsame Selbsttäuschung hinweisen, in welcher die neuere Biologie befangen ist, wenn sie die nackte gedankenlose Be- schreibung innerer und feinerer, insbesondere mikroskopischer Form- verhältnisse als „wissenschaftliche Zoologie '■ und „wissenschaft- liche Botanik" preist und mit nicht geringem Stolze der früher aus- schließlich herrschenden reinen Beschreibung der äußeren und gröberen Formverhältnisse gegenüberstellt, welche die sogenannten ..Sj^stematiker" beschäftigt. Sobald bei diesen beiden Richtungen, die sich so scharf gegenüberziistellen belieben, die Beschreibung an sich das Ziel ist ( — gleichviel ob der inneren oder äußeren, der feineren oder gröberen Formen — ), so ist die eine genau so viel wert, als die andere. Beide werden erst zur Wissenschaft, wenn sie die Form zu erklären und auf Gesetze zurückzuführen streben. Nach imserer eigenen innigsten Überzeugung ist der Rückschlag, der gegen diese ganz einseitige und daher beschränkte Empirie notwendig früher oder später erfolgen mußte, bereits tatsächlich erfolgt, wenn auch zunächst nur in wenigen engen Kreisen. Die lS5i) von Charles Darwin veröffentlichte Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums Dasein, eine der größten Entdeckungen des menschlichen Forschungs- triebes, hat mit einem Male ein so gewaltiges und klärendes Licht in das dunkle Chaos der haufenweis gesammelten l)iologischen Tatsachen geworfen, daß es auch den krassesten Empirikern fernerhin, wenn sie überhaupt mit der Wissenschaft fortschreiten wollen, nicht mehr möglich sein wird, sich der daraus emporwachsenden neuen Naturphilosophie zu entziehen. Indem die von Darwin neu begründete Deszendenztheorie die ganze gewaltige Fülle der seither empirisch angehäuften Tatsachen- massen durch einen einzigen genialen Gedanken erleuchtet, die schwierig- sten Probleme der Biologie aus dem einen obersten Gesetze der ,,wirkenden Ursachen" vollständig erklärt, die unzusammenhängende Masse aller bio- logischen Erscheinungen auf dieses eine einfache große Naturgesetz zurück- führt, hat sie bereits tatsächlich die bisher ausschließlich herrschende Empirie völlig überflügelt und einer neuen und gesunden Philosophie die weiteste und fruchtbarste Bahn geöffnet. Es ist eine Hauptaufgabe des vorhegenden Werkes, zu zeigen, wie die wichtigsten Erscheinungsreihen der Morphologie sich mit Hülfe derselben vollständig erklären und auf große und allgemeine Naturgesetze zurückführen lassen. Wenn wir das Resultat dieses flüchtigen Überblickes über den inneren Entwickelimgsgang der Morphologie in wenigen Worten zusammenfassen, so können wir füglich von Beginn des achtzelinten Jahrhunderts an bis jetzt vier abwechselnd empirische luid philosophische Perioden der Morpho- logie unterscheiden, welche durch die Namen von Linne, Laraarck. Cu- vier, Darwin bezeichnet sind, nämlich: I. Periode: Linne (geb. 1707). l\\ I. Empirie und Philosoijhie. 19 Erste empirische Periode (achtzelintes Jahrhundert). Herrschaft der empirischen äußeren Morphologie (Systematik). II. Periode: Lamarck (geb. 1744) und Goethe (geb. 1741)j.^) Erste philosophische Periode (erstes Drittel des ueunzelmten Jahrhmiderts). Herrschaft der phantastisch-pliilosoi)hischen Morphologie (ältere Naturphilosophie). UI. Periode: Cuvier (geb. "1769). '^) Zweite empirische Periode (zweites Drittel des neunzehnten Jahrhunderts). Herrschaft der empirischen inneren Morphologie (Anatomie). IV. Periode: Darwin (geb. 1809). Zweite philosophische Periode. Begonnen 1859. Herrschaft der empirisch-philosophischen Morphologie (neuere Naturphilosopliie). Indem wir die beiden Richtungen der organischen Morphologie, die empirische und philosojjhische, so schroff einander gegenüberstellen, mftssen wir ausdrücklich bemerken, daß nur die große Masse der beschränkteren und gröber organisierten Naturforscher es war, welche diesen Gegensatz in seiner ganzen Schärfe ausbildete und entweder die eine oder die andere Methode als die allein seligmachende pries und für die .,eigentnche" Naturwissenschaft hielt. Die imifassenderen und feiner organisierten Natm-forscher, imd vor allen die großen Koryphäen, deren Namen wir an die Spitze der von ihnen beherrschten Perioden gestellt haben, Avaren stets mehr oder minder überzeugt, daß nur eine innige Verbindung von Beobachtung imd Theorie, von Empirie und Philo- sophie, den Fortschritt der Naturwissenschaft wahrhaft fördern könnte. Man pflegt gewöhnlich Cuvier als den strengsten und exklusivsten Em- piriker, als den abgesagtesten Feind jeder Naturphilosophie hinzustellen. Und sind nicht seine besten Arbeiten, seine wertvollsten Entdeckimgen. vde z. B. die AufsteUmig der vier tierischen T^-pen (Stämme), die Begrün- dung des Gesetzes von der Korrelation der Teile, von den ..Causes finales". Ausflüsse der reinsten Naturphilosophie? Ist nicht die von ihm neu begründete „vergleichende Anatomie" ihrem ganzen Wesen nach eine rein philosophische Wissenschaft, welche das empirische Material der Zootomie bloß als Basis braucht? Ist es nicht lediglich der Gedanke, die Theorie, welche auf der rein empirischen Zootomie als notwendiger Grundlage das plülosophische Lehrgebäude der vergleichenden Anatomie errichten? Und wenn Cuvier aus einem einzigen Zahne oder Knochen eines fossilen Tieres die ganze Natur und systematische Stellung des- selben mit Sicherheit erkannte, war dies Beobachtung oder war es 1) Wir nennen hier absichtlicli Lamarck und Goethe als die geistvoUsten Repräsentanten der älteren Naturphilosophie, wenngleich sie sich entfernt nicht desselben Einflusses und derselben Anerkennimg zu erfreuen hatten, wie Etienne Geoffroy S. Hilaire (geb. 1771) und Lorenz Oken (geb. 1779), die gewöhn- lich als die Koryphäen dieser Richtung vorangestellt werden. -) Als hervorragende Koryphäen dieser Periode würden wir hier noch Jo- hannes Müller, Schieiden und einige andere hervorzuheben haben, wenn nicht gerade diese bedeutendsten Männer, als wahrhaft philosophische Naturforscher, sich von der großen Einseitigkeit freigeiialten hätten, welche Cuviers Schiüe und der große Troß der Zeitgenossen zum extremsten Empirismus ausbildete. 9 * 20 Methodik der Morphologie der Organismen. IV. Reflexion? Betrachten wir andererseits den Stifter der älteren Natur- philosophie. Lamarck. so lirauchen wir, nm den Vorwurf der Einseitig- keit zu widerlegen, bloß darauf hinzuweisen, daß dieser eminente Mann seinen Ruf als großer Naturforscher größtenteils einem vorwiegend deskrip- tiven Werke, der berühmten ..Histoire naturelle des animaux saus ver- tebres" verdankte. Seine ..Philosophie zoologique". Avelche die Deszen- denzlehre zum ersten Male als vollkommen aljgerundete Theorie aufstellte, eilte mit ihrem prophetischen Gedankenfiuge seiner Zeit so voraiis, daß sie von seinen Zeitgenossen gar nicht verstanden und ein volles halbes Jahrhundert hindurch (1809 — 1859} totgeschwiegen wurde. Johannes Müller, den wir Deutschen mit gerechtem Stolz als den größten Bio- logen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts unser eigen nennen, imd der in den Augen der meisten jetzt lebenden Biologen als der strengste Empiriker und Gegner der Naturphilosophie gilt, verdankt die Fülle seiner zahlreichen und großen Entdeckimgen viel weniger seinem ausgezeichneten sinnlichen Beobachtungstalent, als seinem kombinierenden Gedankenreichtum und der natürlichen Philosophie seiner wahrhaft den- kenden Beobachtungsmethode. Charles Darwin, der größte aller jetzt lebenden Naturforscher, überragt uns alle nicht allein durch Ideenreich- tum und Gedankenfülle seines die ganze organische Natiu- umfassenden Geistes, sondern ebensosehr durch die intensiv und extensiv gleichl)edeu- tende und fruchtbare Methode seiner empirischen Naturbeobachtung. Nach luiserer festesten Überzeugmig können nur diejenigen Natur- forscher wahrhaft fördernd und schaffend in den Gang der Wissenschaft eingreifen, welche, bewußt oder imbewußt, ebenso scharfe Denker als sorgfältige Beobachter sind. Niemals kann die bloße Entdeckimg einer nackten Tatsache, und wäre sie noch so merkwürdig, einen wahrhaften Fortschritt in der Naturwissenschaft herbeiführen, sondern stets nur der Gedanke, die Theorie, welche diese Tatsache erklärt, sie mit den ver- wandten Tatsachen vergleichend verbindet und daraus ein Gesetz ab- leitet. Betrachten Avir die größten Naturforscher, welche zu allen Zeiten auf dem biologischen Gebiete tätig gewesen sind, von Aristoteles an, Linne und Cuvier, Lamarck und Goethe, Bär und Johannes Müller und wie die Reihe der glänzenden Sterne erster Größe, bis auf Charles Darwin herab, weiter heißt — sie alle sind ebenso große Denker, als Beobachter gewesen, und sie alle verdanken ihren unsterb- lichen Ruhm nicht der Summe der einzelnen von ihnen entdeckten Tat- sachen, sondern ihrem denkenden Geiste, der diese Tatsachen in Zu- sammenhang zu I)ringen und daraus Gesetze abzuleiten verstand. Die rein empirischen Naturforscher, welche nur durch Entdeckung neuer Tat- sachen die Wissenschaft zu fördern glauben, können in derselben ebenso- wenig etwas leisten, als die rein spekulativen Philosophen, welche der Tatsachen entbehren zu können glauben und die Natur aus ihren Ge- danken konstruieren wollen. Diese werden zu phantastischen Träumern, jene im besten Falle zu genauen Kopiermaschinen der Natur. Im Grunde freilich gestaltet sich das tatsäclüiche Verhältnis überall so, daß die reinen Empiriker sich mit einer unvollständigen und unklaren, ihnen lY^ II. Analyse iind Synthese. 21 selbst nicht bewußten Philosophie, die reinen Philosophen dagegen mit einer ebensolchen, unreinen und mangelhaften Empirie begnügen. Das Ziel der Naturwissenschaft ist die Herstelhmg eines vollkommen architektonisch geordneten Lehrgeljäudes. Der reine Empiriker bringt statt dessen einen imgeordneten Steinhaufen zusammen; der reine Philo- soph auf der andern Seite baut Luftschlösser, welche der erste empiri- sche Windstoß über den Haufen wirft. Jener begnügt sich mit dem Rohmaterial, dieser mit dem Plan des Gebäudes. Aber nur durch die innigste Wechselwirkung von empirischer Beobachtung und philosophischer Theorie kann das Lehrgebäude der Natur- wissenschaft wirklich zustande kommen. Wir schließen diesen Abschnitt, wie wir ihn begonnen, mit einem Ausspruch von Johannes Müller: „Die Phantasie ist ein unentbehr- liches Gut; denn sie ist es, durch welche neue Kombinationen zm* Ver- anlassung wichtiger Entdeckungen gemacht werden. Die Kraft der Unterscheidung des isolierenden Verstandes sowohl, als der erweiternden und zum Allgemeinen strebenden Phantasie sind dem Naturforscher in einem harmonischen Wechselwirken not- wendig. Durch Störung dieses Gleichgewichts wird der Naturforscher von der Phantasie zu Träumereien hingerissen, während diese Gabe den talentvollen Naturforscher von hinreichender Verstandesstärke zu den wichtigsten Entdeckungen führt. " ^) II. Analyse und Synthese. „Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt, und sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft. — Die Hauptsache, woran man bei ausschließlicher Anwendung der Analyse nicht zu denken scheint, ist, daß jede Analyse eine Synthese voraussetzt. — Sondern und Verknüpfen sind zwei unzertrennliche Lebensakte. Vielleicht ist es besser gesagt, daß es unerläßlich ist, man möge wollen oder nicht, aus dem Ganzen ins Einzelne, aus dem Einzelnen ins Ganze zu gehen: und je lebendiger diese Funktionen des Geistes, wie Aus- und Einatmen, sich zusammen verhalten, desto besser wird füi- die Wissenschaften und ihre Freunde gesorgt sein." Die vorstehenden Worte von Goethe bezeichnen das notwendige Wechselverhältnis zwischen der sondernden Analyse und der ver- knüpfenden Synthese so treffend, daß wir mit keinen besseren Wor- ten die folgende Betrachtung einleiten konnten. Wenn wir hier 1) Johannes Müller. Archiv für Anatomie usw. I. Jahrgg. 1834. ]). 4. 22 Methodik der Morphologie der Organismen. JV. diese wichtigen gegenseitigen Beziehungen zwischen der analytischen und synthetisclien, der auflösenden und zusammensetzenden Natur- forschung kurz einer gesonderten Betrachtung unterzielien, so geschieht es hauptsächlich, weil wir die vielfach Aberkannte notwendige Wechsel- wirkung zwischen diesen wichtigen Methoden für die Morphologie besonders eindringlich hervorzuheben wünschen, und weil gerade im gegenwärtigen Zeitpunkte eine klare Beleuchtung dieses Ver- hältnisses von besonderer Wichtigkeit erscheint. Da die analytische oder sondernde Methode vorzugsweise von der empirischen Natur- beobachtung, die synthetische oder verknüpfende Methode vorzugs- weise von der philosophischen Naturbetrachtung angewendet wird, so schließen sich die folgenden Bemerkungen darüber unmittelbar an das im vorigen Abschnitt Gesagte an. Hiervon ausgehend wer- den wir schon im voraus sagen können, daß ein Grundfehler der gegenwärtig in der Biologie herrschenden Richtung in der einseitigen Ausbildung der Analyse und in der übermäßigen Vernachlässigung der Synthese liegen wird. Und so verhält es sich auch in der Tat, Auf allen Gebieten der organischen Morphologie, in der Organologie und in der Histologie, in der Entwicklungsgeschichte der Individuen und in derjenigen der Stämme, ist man seit langer Zeit fast aus- schließlich analytisch verfahren und hat die synthetische Betrachtung eigentlich nur selten und in so geringer Ausdehnung, mit so über- triebener Scheu angewendet, daß man sich ihrer Fruchtbarkeit, ja ihrer Unentbehrlichkoit gar nicht bewußt geworden ist. Und doch ist es die Synthese, durch welche die Analyse erst ihren wahren Wert erhält, und durch welche wir zu einem wirklichen Verständ- nis des durch die Analyse uns bekannt gewordenen Organismus gelangen. Bei einem Rückblicke auf die beiden empirischen Perioden der Morphologie, die wir im vorigen Abschnitt charakterisiert haben, finden wir, daß zwar beide, im Gegensatz zu der dazwischenliegen- den, vorzugsweise der Synthese zugewandten Periode der Naturphilo- sophie, vorwiegend die Analyse kultivierten, daß aber die zweite empirische Periode, seit Cuvier, in dieser Beziehung sich noch viel einseitiger entwickelte, als die erste empirische Periode, seit Linne. Denn die von der letzteren fast ausschließlich betriebene Unterschei- dung und Beschreibung der äußeren Körperformen führte immer zuletzt zur Systematik hin, welche an sich schon einen gewissen Grad von synthetischer Tätigkeit erfordert, wogegen die analytische IV. ni. Induktion und Deduktion. 23 Untersuchung und Darstellung der inneren Körperformeu , die ..Anatomie" im engeren Sinne, welche Cuviers Nachfolger vor- zugsweise beschäftigte, der Synthese in weit höherem Maße ent- behren konnte. Zwar hatte Cuvier der letzteren das hohe Ziel gesteckt, durch Vergleichung (und das ist ja eben auch Synthese) sich zur vergleichenden Anatomie zu erheben; indes wurde eine wahrhaft philosophische Vergleichung, wie Cuvier selbst und Jo- hannes Müller sie so fruchtbar und so vielfach geübt hatten, von der Mehrzahl ihrer Nachfolger so selten angewandt, daß die meisten Ai'beiten, welche sich „vergleichend anatomisch" nennen, diesen Namen nicht verdienen. Diese einseitige Ausbildung der Analyse, welche sich mit der Kenntnis der einzelnen Teile des Organismus begnügt, ohne die Erkenntnis des Ganzen im Auge zu behalten, hat sich in den letzten drei Dezennien jährlich in zunehmender Pro- gression gesteigert, insbesondere seitdem jedermann mit dem Mikro- skop anfing „Entdeckungen" zu machen. Eine möglichst vollständige histologische Analyse des Körpers wurde bald allgemein das höchste Ziel; und über der Beschreibung und Abbildung der einzelnen Zellen- formen vergaß man völlig den ganzen Organismus, welchen dieselben zusammensetzen. Nun ist zwar nach unserer Ansicht durch Darwin, welcher die Synthese wieder im großartigsten Maßstabe aufgenommen und mit dem überwältigendsten Erfolge in der gesamten organischen Mor- phologie angewandt hat, deren hohe Bedeutung so sehr zutage ge- treten, daß die bisherige einseitige Analyse sich in ihrer exklusiven Richtung nicht fürder wird behaupten können. Indes halten wir es doch nicht für überflüssig, die äußerst wichtige Wechselbezie- hung zwischen der analytischen Untersuchung des Ein- zelnen und der synthetischen Betrachtung des Ganzen hier nochmals ausdrücklich zu betonen. Allerdings muß die erstere der letzteren vorausgehen, aber nur als die erste Stufe der Erkenntnis, welche erst mit der letzteren ihren wahren Abschluß erreicht. III. IiKhiktioii uud Deduktion. ..Die allein richtige Methode in den Naturwissenschaften ist die induktive. Ihre wesentliche Eigentümlichkeit, worin eben die Sicherheit der durch sie gewonnenen Resultate begründet ist, besteht darin, daß man mit Verwerfung jeder Hypothese ohne alle Ausnahme 24 Methodik der Morphologie der Organismen. lY. (z. B. der Hypothese einer besonderen Lebenskraft) von dem unmittel- bar Gewissen der Wahrnehmung- ausgeht, durch dieselbe sich zur Erfahrung erhebt, indem man die einzelne Wahrnehmung mit dem anderweit schon Festgestellten in Verbindung setzt, aus Ver- gleichung verwandter Erfahrungen durch Induktion bestimmt, ob sie unter einem Gesetze und unter welchem sie stehen und so fort, indem man mit den so gefundenen Gesetzen ebenso verfährt, rück- wärts fortschreitet, bis man bei sich selbst genügenden, mathemati- schen Axiomen angekommen ist." Schi ei den (Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik. § 3 Methodik). „Die Methode der Untersuchung, welche uns wegen der Unan- wendbarkeit der direkten Methoden der Beobachtung und des Experi- mentierens als die Hauptquelle unserer Kenntnisse die wir in Be- ziehung auf die Bedingungen und Gesetze der Wiederkehr der verwickeiteren Naturerscheinungen besitzen oder erlangen können, übrig bleibt, wird in dem allgemeinsten Ausdruck die deduktive Methode genannt. — Dieser deduktiven Methode verdankt der menschliche Geist seine rühmlichsten Triumphe in der Erforschung der Natur. Ihr verdanken wir alle Theorien, durch welche ausge- dehnte und verwickelte Naturerscheinungen in wenigen Gesetzen um- faßt werden, und die, als Gesetze dieser großen Erscheinungen be- trachtet, durch direktes Studium nie hätten entdeckt werden können. ,.Die deduktive Methode besteht aus drei Operationen: die erste ist eine direkte Induktion, die zweite eine Folge- rung, die dritte eine Bestätigung. Ich nenne den ersten Schritt in dem Verfahren eine induktive Operation, weil eine direkte Induk- tion als die Basis des Ganzen vorhanden sein muß, obgleich in vielen besonderen Untersuchungen die Induktion von einer früheren Deduk- tion vertreten werden kann ; die Prämissen dieser früheren Deduktion müssen aber von einer Induktion abgeleitet sein. — Die Gesetze einer jeden besonderen Ursache, die Anteil an der Erzeugung der Wirkung nimmt, zu ermitteln, ist daher das erste Erfordernis (das erste Stadium) der deduktiven Methode: — der zweite Teil (das zweite Stadium) derselben ist die Bestimmung aus den Gesetzen der Ursachen, welche Wirkung eine gegebene Kombination dieser Ur- sachen hervorbringen wird. Dies ist ein Prozeß der Berechnung in dem weitesten Sinne des Wortes und schließt häufig eine Berechnung in dem engeren Sinne ein. — Den dritten wesentlichen Bestandteil (das dritte Stadium) der deduktiven Methode und ohne welchen alle jy III. Indiilvtioii und Deduktion. 25 Resultate, die sie gewähren kann, keinen anderen Wert haben, als den einer Vermutung, bildet die Bestätigung (Verifikation) oder Prol)e der Folgerung. Um das Vertrauen auf die durch Deduktion erhaltenen allgemeinen Schlüsse zu rechtfertigen, müssen diese Schlüsse bei einer sorgfältigen Vergieichung mit den Resultaten der direkten Be- obachtung, wo man sie immer haben kann, übereinstimmend befunden werden." John Stuart Mill (Die induktive Logik. Braunschweig, 1849; S. 180, 181, 187, 190). An die Spitze dieses Abschnittes, welcher die höchst wichtige und notwendige Wechselwirkung der induktiven und der deduktiven Methode erläutern soll, stellen wir die Aussprüche zweier ausgezeichneter Männer, von denen der eine als „Natur- forscher", der andere als „Philosoph" die größten Verdienste hat. Auf den ersten Bhck scheinen sich vielleicht beide geradezu zu widersprechen. Schieiden preist die induktive, Mill die deduktive Methode, welche diametral von der ersteren verschieden zu sein scheint, als die „allein richtige" und ausschließlich zu befolgende Methode der Naturwissenschaft. Indessen ergibt eine genauere Be- trachtung ihrer Erklärungen alsbald, daß dieser Gegensatz nur ein teilweiser, nur insofern vorhanden ist, als Schieiden für die philo- sophische Naturwissenschaft eine engere, Mill eine weitere Grenze der Schlußfolgerung aus der Beobachtung zieht. Allerdings will der erstere zunächst nur die Induktion gelten lassen und schließt die Deduktion ganz aus, während der letztere die Induktion ausdrücklich nur als eine Voraussetzung, als das notwendige „erste Stadium" der Deduktion gelten läßt. Nach Schieiden würde die Erfahrung nur vom Einzelnen aus in das Ganze, vom Besonderen aus in das All- gemeine gehen und nur von der Wirkung aus auf die Ursache, von der Tatsache aus auf das Gesetz schließen dürfen. Nach Mill da- gegen darf die Naturwissenschaft nicht auf dieser Stufe stehen bleiben, sondern sie darf und muß auch den umgekehrten Weg der Schluß- folgerung gehen; sie darf und muß von dem Ganzen auf das Einzelne, von dem Allgemeinen auf das Besondere schließen: sie darf und muß aus der Ursache die Wirkung, aus dem Gesetze die Tatsache folgern können. Die hier offen zutage tretende tatsächliche Differenz über die wichtigste Methode der Naturforschung zwischen zwei scharfsinnigen Männern, die beide mit tiefem philosophischen BKck die Geistes- operationen der naturwissenschaftlichen Schlußfolgerungen untersucht 26 Methodik der Morphologie der Organismen. IV. haben, ist deshalb für uns von hohem Interesse, weil sie uns auf zwei verschiedene Denkweisen unter den biologischen Naturforschern hinweist, die gerade jetzt im Begriffe sind, sich mit mehr oder weniger klarem Bewußtsein voneinander zu trennen und einseitig sich gegenüberzutreten. Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, daß die von Schieiden als die allein richtige Methode gepriesene Induktion, welche damals allerdings, den phantastischen Träumereien und den unreifen Deduktionen der früheren Naturphilosophen gegen- über, vollkommen am Platze Avar, durch ihre ausschließMche Geltung sehr viel zu der einseitigen „exakt-empirischen" Richtung beigetragen hat, die in den letzten Dezennien mehr und mehr die herrschende geworden ist. Indem man hier immer allgemeiner nur die Induk- tion allein als die ,,eigenthche" Methode der Naturforschung gelten ließ und die Deduktion völlig ausschloß, beraubte man sich selbst des fruchtbarsten Denlqorozesses, der gerade in den biologischen Disziplinen zu den größten Entdeckungen führt. Zum wenigsten wollte man nichts von demselben wissen, wenngleich man unbewußt sich desselben häufig und mit dem größten Erfolge bediente. Denn es ist nicht schwer nachzuweisen, daß die wichtigsten Entdeckungen, welche in dem letztverflossenen Zeitraum gemacht wurden, und ins- besondere die allgemeineren biologischen Gesetze, zu denen man gelangte, zwar durch vorhergehende und höchst wesentliche, aber nicht durch ausschließliche Hülfe der Induldion gemacht wurden, daß vielmehr fast immer die der Induktion nachfolgende, meist unbewußte Deduktion die allgemeine und sichere Geltung der Erfahrung erst begründete. Wenn die Induktion ausschließlich in dem strengsten Sinne, wie Schieiden will, die Methode der naturwissenschafthchen Unter- suchung und Schlußfolgerung sein und bleiben sollte, so würde der Fortschritt unserer Erkenntnisse und ganz besonders der Fortschritt in der Feststellung allgemeiner Gesetze nur ein äußerst langsamer und allmählicher sein: ja, wir würden sogar zur Aufstellung der all- gemeinsten und wichtigsten Naturgesetze niemals gelangen, und den allgemeinen Zusammenhang der größten und umfassendsten Erschei- nungsreihen niemals erkennen. Zu diesen können wir immer nur durch deduktive Verstandesoperationen gelangen, und zwar nur durch reichliche und häufige, allerdings aber auch nur durch richtige und sehr vorsichtige Anwendung der Deduktion. Induktion und Deduktion stehen nach unserer Ansicht in IV. III. Induktion und Deduktion. 27 der innigsten und notwendigsten Wechselwirkung, in ähnlicher Weise, wie es Goethe von der Analyse und Synthese ausspricht: „Nur beide zusammen, wie Aus- und Einatmen, machen das Leben der Wissenschaft." Mi 11 ist sicher im vollkommensten Rechte, wenn er der Deduktion die größte Zukunft prophezeit und die Induktion vor- züglich nur als die erste Stufe, als das erste Stadium der Deduktion gelten läßt. Diese Vorbedingung ist für eine richtige Deduktion aber auch unerläßhch. Entweder muß eine direkte Induktion die Basis der ganzen deduktiven Operation bilden, oder es muß statt jener direkten Induktion eine andere Deduktion zugrunde liegen, die selbst wieder direkt oder indirekt durch eine Induktion sicher begründet ist. Es muß also in allen Fällen — und dies hervorzuheben ist sehr wichtig — eine Induktion die Basis, den ersten Schritt des ganzen Schlußverfahreus bilden, und erst auf dieser Basis kann sich dann die Deduktion sicher aufbauen. Es wird also dadurch, daß man die deduktive ]Methode als die wichtigste, fruchtbarste und bedeutendste der naturwissenschaftlichen Forschung hinstellt, die Bedeutung der induktiven Methode keineswegs geschmälert, sondern \aelmehr nur insofern modifiziert, als sie die notwendige Basis, die unentbehrliche Einleitung der ersteren sein muß. Wir können mithin allgemein aussprechen, daß die Induktion die erste, unentbehrlichste und allgemeinste Methode der Natur- forschung sein muß, daß aber die letztere, wenn sie zu allgemeinen Gesetzen gelangen, diese mit Sicherheit beweisen und den fundamen- talen und allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen erkennen will, nicht bei der Induktion stehen bleiben darf, sondern sich zur Deduktion wenden muß. Die Induktion gelangt durch vergleichende Zusammenstellung vieler einzelner verwandter spezieller Erfahrungen zur Aufstellung eines allgemeinen Gesetzes. Die Deduktion folgert aus diesem generellen Gesetze eine einzelne spezielle Tatsache. Wird diese letztere nun nachher durch die Erfahrung als wirklich erwiesen, so war die deduktive Folgerung richtig, und durch die Probe oder Verifikation, welche diese nachträgliche Erfahrung liefert, ist das Ge- setz bestätigt, ist die allgemeine Gültigkeit des Gesetzes mit weit größerer Sicherheit festgestellt, als es durch die Induktion jemals hätte geschehen können. Eine klare und vollständige Erkenntnis von dem Wesen dieser beiden wichtigsten Verstandes-Operationen, eine vollkommene Über- zeugung von der Notwendigkeit ihrer präzisen Anwendung und eine 28 Methodik der Morphologie der Organismen. IV. richtige Auffassung des innigen gegenseitigen Wechselverliältnisses. in welchem Induktion und Deduktion zueinander stellen, halten wir für äußerst wichtig, und für einen jeden Natm-forscher, der die Mittel zur Lösung seiner Aufgabe klar erkennen und sein Ziel mit Bewußt- sein verfolgen will, ganz unerläßhch. Wenn die meisten Naturforscher gegenwärtig von diesen Methoden sowie überhaupt von einer streng philosophischen Behandlung ihrer Aufgabe nichts wissen und leider auch meist nichts wissen wollen, so ist es ihr eigener schlimmer Nachteil. Denn tatsächlich können sie diese beiden wichtigsten Geistesoperationen des Naturforschers nirgends entbehren, und tat- sächlich bedienen sie sich derselben fortwährend, wenn auch ganz unbewußt, und daher meist unvollständig. Induktive und deduktive Methode sind keineswegs, wie viele meinen, besondere Erfindungen der Philosophen, sondern es sind natürliche Operationen des mensch- lichen Geistes, welche wir überall und allgemein, wenn auch meist unklar, unvollständig und unbewußt anwenden. Wenn aber die wissenschaftliche Anwendung der Induktion und Deduktion mit Be- wußtsein erfolgt, wenn sich der Naturforscher der Bedeutung und des Nutzens, der Tragweite und der Gefahren dieser Methoden be- wußt ist, so kann er sich derselben mit weit größerem Erfolge und mit weit vollkommenerer Sicherheit bedienen, als wenn er sie unklar, unbewußt und daher unvollständig und unvorsichtig anwendet. Jeder Wanderer, der auf verwickelten Wegen, durch Wald und Feld, über Berg und Tal, sein Wanderziel verfolgt, erreicht dasselbe rascher und sicherer, mit weniger Gefahr des Irrtums und mit geringerem Zeit- aufwand, wenn er die Wege kennt, als wenn sie ihm unbekannt sind. Methoden, und zwar ganz vorzüglich die philosophischen Methoden der Naturwissenschaft, sind aber nichts anderes als Wege der Forschung, und wer diese Wege genau kennt und mit sicherem Bewußtsein verfolgt, wird sein wissenschaftliches Ziel ohne Zweifel immer besser und schneller erreichen, als derjenige, dem diese Kenntnis der richtigen Wege fehlt. Obwohl Induktion und Deduktion zweifelsohne die wichtigsten psy- chischen Funktionen des erkennenden Menschen, und vor allem des am tiefsten und gründlichsten erkennenden Menschen, d. h. des Natur- forschers, sind, so mangelt es dennoch gänzlich an einer gründlichen psychologischen Erläuterung derselben. Freilich geht es hier diesen beiden Methoden nicht viel schlechter, als vielen anderen wichtigen Denkprozessen. Auf eine wahrhaft natürliche, d. h. genetische Erklä- runs; derselben werden wir erst dann hoffen kihmen. wenn ein natur- JY_ III. Induktion und Deduktion. 29 wissenschaftlich imd namentlich biologisch gebildeter Philosoph, d. h. ein an klares strenges Denken gewöhnter Naturforscher (eine seltene Er- scheinung!), endlich einmal eine vergleichende Psychologie schaffen wird, d. h. eine Seelenlehre, welche die gesamten psychischen Funktionen durch die ganze Tierreihe und namentlich durch die Stufenleiter des Wirbeltierstammes hindurch verfolgt und die allmähliche Differenziervmg derselben bis zu ihrer höchsten Blüte im Menschen nachweist. Da die- jenigen Funktionen des Zentralnervensystems, welche man unter dem Namen des „Seelenlebens" zusammenfaßt, durchaus nach denselben Ge- setzen entstehen und sich entwickeln, durchaus in gleicher Weise an die sich differenzierenden Organe gebunden sind, wie die übrigen soma- tischen Funktionen, so können wir zu einer richtigen Erkenntnis der- selben (die einen Teil der Physiologie bildet) auch nur auf dem gleichen Wege wie bei den letzteren gelangen, d. h. auf dem vergleichenden und dem genetischen Wege. Nur allein die Vergleichung der ver- schiedenen Entwickelungsstufen des Seelenlebens bei unseren Verwandten, den übrigen Wirbeltieren, das Studium der allmählichen Entwickelung desselben von frühester Jugend an bei allen Vertebraten, imd die Her- stellimg der vollständigen Stufenleiter von allmählichen Übergangsformen, welche das Seelenleben von den niederen zu den höheren Wirbeltieren, mid insbesondere von den niedersten Säugetieren an bis zu den höch- sten, von den Beuteltieren durch die Keihe der Halbaffen und Affen hindurch bis zum Menschen darstellt — nur allein diese auf dem ver- gleichenden und genetischen Wege erlangten psychologischen Erkennt- nisse werden ims das volle Verständnis miseres eigenen Seelenlebens eröffnen und uns die bewimdernswürdig weitgehende Differenzierung der psychischen Funktionen erkennen lassen, welche mis vor allen andern Wirbeltieren auszeichnet. Daß die induktive mid deduktive Geistesoperation bei den uns nächstverwandten Wirbeltieren überall nach denselben Gesetzen und in derselben Weise, wie bei ims selbst, zustande kommt imd angewendet wird, und daß hier nur quantitative, keine c^ualitativen Differenzen sich finden, lehrt jede nur einigermaßen imbefangene und sorgfältige Beob- achtung, z. B. schon bei den uns am meisten umgebenden Haustieren. Auch hier gehören induktive und deduktive Erkenntnisse zu den all- gemeinsten und wichtigsten psychischen Prozessen. Wenn z. B. Jagd- himde, wie bekannt, in die tödlichste Angst geraten, sobald der Jäger das Schießgewehr auf sie anlegt, so ist diese Erregimg die Folge eines vollständigen induktiven und deduktiven Denkprozesses. Dm'ch zahl- reiche einzelne Erfahrungen haben sie die tödliche Wirkung des Schieß- geAvehrs kennen gelernt. Sie schließen daraus, daß diese Wirkung stets eintritt, sobald das Gewehr auf ein lebendes Wesen gerichtet wird. Aus diesem als allgemein erkannten Gesetze folgern sie, daß in diesem spe- ziellen Falle dieselbe Wirkung eintreten werde, und wenn der Jäger mm Avirklich auf sie schösse, so hätten sie den vollständigen Beweis von der Richtigkeit ihres deduktiven Sclilusses erhalten. Auf dieselben psychi- schen Operationen gründet sich auch die gesamte Erziehung der Haus- 30 Methodik der Morpliologie der Orgunisiiien. IV. tiere. wie der Menschenkinder, mittels der gebräuchlichsten und allge- meinsten Erziehungsmittel, der Schläge. Ein Pferd z. B. macht in zahlreichen einzelnen Fällen die Erfahrung, daß mit einem bestimmten Zurufe des Kutschers Schläge verbunden sind, die aufhören, sobald es sich in Trab setzt. Es folgert daraus durch Induktion das Gesetz (die Erzielumgsmaxime), daß diese Schläge konstant und allgemein mit dem Zurufe A'erbunden sind, und setzt sich, um jene zu vermeiden, späterhin sofort von selbst in Trab, sobald der Zuruf ertönt. Das Pferd schließt hier in jedem einzelnen Falle durch Deduktion zurück, daß auf den Zu- ruf die Schläge erfolgen werden, und wenn sie wirldich erfolgen, so war die Verifikation seiner Deduktion geliefert. Viertes Kapitel: Zweite Hälfte. Kritik der naturwissenschaftlichen Methoden, welche sich gegenseitig" notwendig ausschließen müssen. IT. Dog:iuatik und Kritik. „In aller Bearbeitung der Wissenschaften treten sich stets zwei Methoden als unmittelbare Gegensätze gegenüber. Einerseits ist es die dogmatische Behandlung, die schon alles weiß, der mit ihrem augenblicklichen Standpunkt die Geschichte ein Ende erreiclit hat. die ihre Weisheit wohlverteilt und wohlgeordnet vorträgt und von ihren Schülern keinen andern Bestimmungsgrnnd zur Annahme des Gehörten fordert, als das auxo; I97.. Dieser in ihrem ganzen Wesen falschen Weise tritt nun die andere entgegen, die wir für die reine Philosophie die kritische, für die angewandte Philosophie und für die Naturwissenschaften die induktorische Methode nennen; die sich bescheidet, noch wenig zu wissen; die ihren Standpunkt von vorn- herein nur als eine Stufe in der Geschichte der Menschheit ansieht, über welche hinaus es noch viele folgende und höhere gibt, die aber freilicli nur als ihr folgende angesehen werden können, und die ihre Schüler auffordert, sie zu begleiten und unter ihrer An- leitung im eigenen Geist und in der Natur zu suchen und zu finden." Schieiden (Grundzüge der wissensch. Botanik, III. Aufl. p. 4). Obgleich es wohl nach dem vorstehenden Ausspruche Schlei- dens, der den Gegensatz zwischen kritischer und dogmatischer Methode scharf charakterisiert, scheinen könnte, als ob die kritische Methode mit dei- im vorigen Abschnitte erläuterten induktiven Me- IY_ IV. Dogmatik und Kritik. 31 thode identisch sei, so glauben wir doch, daß man richtiger die letztere nur als einen Inhaltsteil der ersteren, als eine ihr subordi- nierte Methode auffaßt. Der Umfang des Begriffs der „Kritik" ist weiter als derjenige der „Induktion", und nach unserer Überzeugung muß auch die Deduktion, welche doch von der Induktion wesentlich verschieden und ihr gewissermaßen entgegengesetzt ist (indem sie umgekehrt verfährt), stets nicht minder „kritisch" zu Werke gehen, als die Induktion selbst. Wir halten es daher nicht für überflüssig, die Bedeutung der kritischen Forschungsmethode hier noch beson- ders zu erörtern: um so mehr, als einerseits wir im vorigen Ab- schnitt die Induktion nur im Gegensatz zur Deduktion (und nicht zur Dogmatik) besprochen haben, andererseits aber die nur allzu häufige Vernachlässigung der kritischen Methode den biologischen Naturwissenschaften und ganz besonders den verschiedenen Zweigen der organischen Morphologie offenbar geschadet hat. Denn wenn man die vielen grundverschiedenen Ansichten über- blickt und vergleicht, welche von den verschiedenen Morphologen zur Erklärung sowohl zahlloser Einzelerscheinungen als auch größerer Erscheinungsreihen auf dem botanischen und zoologischen Gebiete aufgestellt worden sind, so erkennt man bald, daß nicht bloß die Schwierigkeit des höchst verwickelten Gegenstandes selbst, sondern mehr noch Mangel an allgemeinem Überblick und vor allem Mangel an Kritik diese grellen und seltsamen Widersprüche bedingt. Statt umsichtiger und auf breite induktive Basis wohlbegründeter Theo- rien treffen wir vielmehr fast allenthalben höchst vage Hypothesen von durchaus dogmatischem Charakter an; ja bei aufrichtiger Prü- fung des gegenwärtigen Zustandes unserer Wissenschaft müssen wir zu uuserm Leidwesen gestehen, daß überall in derselben die dogma- tische Richtung noch weit die ki'itische überwiegt. Leider ist dieser höchst schädliche Mangel an Kritik so all- gemein und hat insbesondere in den letzten Dezennien, gleichzeitig und in gleichem Schritt mit dem extensiven Wachstum und der da- mit verbundenen Verflachung der organischen Morphologie, so sehr zugenommen, daß wir kein einzelnes Beispiel anzuführen und den unparteiischen Leser bloß zu ersuchen brauchen, einen Blick in eine beliebige Zeitschrift für „wissenschaftliche" Zoologie oder Botanik zu werfen, um sich von dem dogmatischen und kritiklosen Charakter der meisten Arbeiten zu überzeugen. Nirgends aber tritt dieser Charakter so nackt und abschreckend zutage, als in der Mehrzahl 32 3Iethodik der Morphologie der Organismen. IV_ derjenigen Schritten, welche die Speziesfrage behandehi. und ins- besondere in denjenigen, welche die Deszendenztheorie zu bekämpfen suchen. Daß gerade in dieser hochwichtigen allgemeinen Frage die gänzlich dogmatische und kritiklose Richtung der organischen Mor- phologie in ihrer ganzen Blöße und Schwäche auftritt, kann freilich niemanden überraschen, der durch eigene systematische Studien sich einen Begriff von dem außerordentlichen Gewicht dieser allgemeinen Frage gebildet und dabei die Überzeugung gewonnen hat. daß hier ein einziges kolossales Dogma die gesamte Wissenschaft nach Art des drückendsten Absolutismus beherrscht. Denn nur als ein kolossales Dogma, welches ebenso durch hohes Alter ge- heiligt, und durch blinden Autoritätenglauben mächtig, wie in seinen Prämissen haltlos und in seinen Konsequen- zen sinnlos ist, müssen wir hier offen die gegenwärtig immer noch herrschende Ansicht bezeichnen, daß die Spe- zies oder Art konstant und eine für sich selbständig er- schaffene Form der Organisation ist. „Immerfort wiederholte Phrasen verknöchern sich zuletzt zur Überzeugung und verstumpfen völlig die Organe des Anschauens." Dieses goldene Wort Goethes findet nirgends in höherem Grade Geltung, als in dieser Frage. In der Tat, wenn man mit kritischer Vorurteilslosigkeit unbefangen alle Voraussetzungen erwägt, auf welche die Anhänger des Speziesdogma sich stützen, und die Folge- rungen zieht, welche notwendig aus demselben gezogen werden müssen, so begreift man nur durch Annahme „einer völligen Ver- stumpf ung der Organe des Anschauens", wie dieses in sich hohle und widerspruchsvolle Dogma 130 Jahre hindurch fast unangefochten bestehen, und wie dasselbe nicht allein die Masse der gedanken- losen Naturbeobachter, sondern auch die besten und denkendsten Köpfe der Wissenschaft beherrschen konnte. Seltsames Schauspiel! Einem Götzen gleich steht allmächtig und allbeherrschend dieses paradoxe Dogma da, welches nichts erklärt und nichts nützt, und welches zu der Gesamtheit aller allgemeinen biologischen Erscheinungs- reihen sich im entschiedensten Widerspruche befindet. Während alle einzelnen größeren und kleineren Tatsachenreihen, welche auf dem Gebiete der Biologie und namentlich der Morphologie seit mehr als hundert Jahren sich so massenhaft angehäuft haben, über- einstimmend und gleichsam spontan zu dem großen Resultate hinleiten, daß die unendliche Mannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenfonnen 1V_ Y. Teleologie und Kausalität. 33 die reich differenzierte Nachkommenschaft einiger weniger einfacher gemeinsamer Stammformen sei, während alle anatomischen nnd embryologischen, alle paläontologischen und geologischen Data ebenso einfach als notwendig anf dieses gewaltige Resultat hinarbeiten, bleibt die entgegengesetzte, rein dogmatische und durch keine Tat- sachen gestützte Ansicht über ein Jahrhundert lang allgemein herr- schend! Credunt. quia absurdum est! In Wahrheit ist diese Betrachtung für die Geschichte der Wissenschaft von hohem Interesse, und keine andere kann uns in so hohem Grade vor den Gefahren und Nachteilen einer dogma- tischen und lediglich durch die Autorität gestützten Anschauungs- weise warnen, und so nachdrücklich auf die Notwendigkeit einer strengen kritischen Untersuchungsmethode hinweisen. Wären die Morphologen nur mit etwas mehr Kritik verfahren und hätten sie die Autorität des Speziesdogma nur etwas weniger gefürchtet, so hätte dasselbe schon längst in sich zusammenstürzen müssen. Und wie- viel weiter wären wir dadurch gekommen! So aber bewährt sich auch hier wieder der alte Spruch von Goethe: „Die Autorität ver- ewigt im einzelnen, was einzeln vorübergehen sollte, lehnt ab und läßt vorübergehen, was festgehalten werden sollte, und ist haupt- sächlich Ursache, daß die Menschheit nicht vom Flecke kommt." T. Teleologie und Kausalität. (Vitalismus und Mechanismus.) ..Ein mechanisches Kunstwerk ist hervorgebracht nach einer dem Künstler vorschwebenden Idee, dem Zwecke seiner Wirkung. Eine Idee liegt auch jedem Organismus zugrunde, und nach dieser Idee werden aUe Organe zweckmäßig organisiert; aber diese Idee ist außer der Maschine, dagegen in dem Organismus, und hier schafft sie mit Notwendigkeit und ohne Absicht. Denn die zweckmäßig wirkende wirksame Ursache der organischen Körper hat keinerlei Wahl, und die Verwirklichung eines einzigen Plans ist ihre Notwendigkeit: vielmehr ist zweckmäßig wirken und notwendig wirken in dieser wirksamen Ursache ein und dasselbe. Man darf daher die organisierende Kraft nicht mit etwas dem Geistesbewußtsein Analogen, man darf ihre blinde not- wendige Tätigkeit mit keinem Begriffbilden vergleichen. Organismus ist die faktische Einheit von organischer Schöpfungskraft und organi- H a e c k e 1 , Prinz, d. Morphol. ' 3 34 Methodik der Morphologie der Organismen. IV. scher Materie." Johannes Müller (Handbuch der Physiologie des Menschen, I, S. 23; 11, S. 505). Indem wir in die Untersuchung des äußerst wichtigen Gegen- satzes zwischen der teleologischen oder vitalistischen und der mecha- nischen oder kausalistischen Naturbetrachtung eintreten, schicken wir einen Ausspruch Johannes Müllers voraus, der für das Wesen dieses Gegensatzes sehr charakteristisch ist. Johannes Müller, den wir als den größten Physiologen und Morphologen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts verehren, war bekanntlich seiner innersten Überzeugung nach Vitalist, trotzdem er mehr als irgend- ein anderer Physiolog vor ihm für den Durchbruch der mechani- schen Richtung in der Physiologie getan und in einer Reihe der glänzendsten und vorzüghchsten Arbeiten auf allen einzelnen physi- ologischen Gebietsteilen die alleinige Anwendbarkeit der mechani- schen Methode bewiesen hatte. Es begegnete ihm nur bisweilen, wie auch anderen in diesem dualistischen Zwiespalt befangenen Naturforschern, daß er auch in seinen allgemeinen Aussprüchen, die doch eigentlich von vitalistischen Grundlagen ausgingen, sich von der allein richtigen mechanischen Beurteilungsweise auch der organischen Naturköiper fortreißen ließ. Und als ein solcher Aus- spruch ist die obige Stelle, durch welche er seine Betrachtungen über das Seelenleben einleitet, von besonderem Interesse. Denn was ist eine in jedem Organismus liegende „Idee, welche mit Notwendigkeit und ohne Absicht wirkt", anders, als die mit dem materiellen Substrate des Organismus unzertrennlich ver- bundene Kraft, welche „mit Notwendigkeit und ohne Absicht" sämt- liche biologische Erscheinungen bedingt? Wenn, wie Müller sagt, zweckmäßig wirken und notwendig wirken in dieser wirksamen Ur- sache im Organismus eins und dasselbe ist, so fällt die zweck- tätige Causa finalis mit der mechanischen Causa efficiens zu- sammen, so gibt die erstere sich selbst auf, um sich der letzteren unterzuordnen, so ist die mechanische Auffassung der Organismen als die allein richtige anerkannt. Wir haben absichtlich das Beispiel Johannes Müllers ge- wählt, um diesen inneren Widerspruch der teleologischen Naturbe- trachtung zu zeigen, einerseits weil dieser unser großer Meister, der so erhaben über der großen Mehrzahl der heutigen Physiologen und Morphologen dasteht, von vielen schwächeren Geistern als Autorität zugunsten der Teleologie angerufen wird, andererseits weil an ihm IV. V. Teleologie und Kausalität. 35 sich dieser innere Widersprucli recht auffallend offenbart. Wer sein klassisches ..Handbuch der Physiologie des Menschen" studiert hat, wer seine bahnbrechenden mechanischen Untersuchungen über die Physiologie der Stimme und Sprache, des Gesichtssinns und des Nervensystems usw. kennen gelernt hat, der wird von der allein möglichen Anwendung der kausal - mechanischen Untersuchungs- methode des Organismus aufs tiefste durchdrungen sein; und er wird sich in dieser Überzeugung durch die vitalistisch-teleologischen Irrtümer, welche mit Müllers allgemein biologischen Bemerkungen verwebt sind, und welche bei schärferer Betrachtung zu unlösbaren Widersprüchen führen, nicht irre machen lassen. Wie du Bois- Reymond treffend bemerkt, „tritt bei Johannes Müller dieser Irrtum aus dem Nebel vitalistischer Träumereien klar und scharf hervor, mit Hand und Fuß, Fleisch und Bein zum Angriff bietend. Muß, wie aus Müllers Betrachtungen folgt, die Lebenskraft gedacht werden als ohne bestimmten Sitz, als teilbar in unendlich viele dem Ganzen gleichwertige Bruchteile, als im Tode oder Scheintode ohne Wirkung verschwindend, als mit Bewußtsein und im Besitze physi- kalischer und chemischer Kenntnisse nach einem Plane handelnd, so ist es so gut, als ob man sagte: es gibt keine Lebenskraft; der apogogische Beweis für die andere Behauptung ist geführt." Es könnte wohl manchem überflüssig erscheinen, hier die ab- solute Verwerflichkeit der vitalistisch-teleologischen Naturbetrachtung und die alleinige Anwendbarkeit der mechanisch-kausalistischen über- haupt noch hervorzuheben. Denn in den allermeisten naturwissen- schaftlichen Disziplinen, vor allem in der gesamten Physik und Chemie, ferner auch in der Morphologie der Anorgane (Kristallo- graphie usw.). wie überhaupt in der gesamten Abiologie ist infolge der enormen Erkenntnisfortschritte unseres Jahrhunderts jede teleo- logische und \italistische Betrachtungsweise so vollständig verdrängt worden, daß sie sich mit Ehren nicht mehr sehen lassen kann. Dasselbe gilt von der Physiologie, in welcher jetzt die mechanisch- kausale Methode die Alleinherrschaft gewonnen hat; nur derjenige gänzlich unkultivierte Teil der Physiologie des Zentralnervensystems, welcher das Seelenleben behandelt und künftig einmal als empiri- sche Psychologie die Grundlage der gesamten ., reinen Philosophie" werden wird, liegt noch gänzlich außerhalb dieses Fortschrittes und ist noch gegenwärtig ein Tummelplatz der willkürlichsten vitalisti- schen und teleologischen Träumereien. Leider müssen wir nun das- 'd* 36 jMethoclik der ]\Ioipliologie der Organismen. Y\\ selbe, was von der Physiologie der Psyche gilt, auch von der ge- samten Morphologie der Organismen und vor allen der Tiere sagen. Immer spukt hier noch am hellen Tage das Gespenst der „Lebens- kraft" oder der „zweckmäßig wirkenden Idee im Organismus", und wenn auch die wenigsten Morphologen mit klarem Bewußtsein dem- selben folgen und daran glauben, so beherrscht dasselbe desto mehr unbewußt die meisten Versuche, welche zu einer Erklärung der organischen Gestaltungsprozesse gemacht werden. Die noch all- gemein in der vergleichenden Anatomie üblichen Ausdrücke des „Plans, Bauplans, der allgemeinen Idee", welche diese oder jene Formverhältnisse bedingen, die vielgebrauchte Wendung der ..Ab- sicht", des ..Zwecks", welchen die „schöpferische" Natur durch diese oder jene ..Einrichtung" erreichen will, endlich die neuerdings viel- fach beliebte Phrase von dem .,Gedanken", welchen der ,,Schöpfer" in diesem oder jenem Organismus ..verkörpert" hat. bezeugen hin- länglich, wie tief hier die alte Irrlehre Wurzel geschlagen hat, und zwingen uns zu einer kurzen Widerlegung derselben. Zunächst ist hier hervorzuheben, daß man die ..vitalistische" und ..teleologische" Beurteilungsweise der Organismen, wie wir be- reits getan haben, als identisch annehmen und der „mechanischen" Methode, welche ihrerseits mit der „kausalistischen" zusammenfällt, gegenübersetzen kann. Denn es ist in der Tat vollkommen für die Sache gleichgültig, unter welchem Namen sich die erstere verbirgt, und ob sich das von der Materie verschiedene organisierende Prinzip, welches das „Leben" und den „Organismus" erzeugt und erhält, ..Lebenskraft" nennt, oder „Vitalprinzip", ..organische Kraft" oder „Schöpferkraft", „systematischer Grundcharakter" (Reichert) „zweck- mäßiger Bauplan des Organismus", „Schöpfungsgedanke" (Agassiz), oder „ideale Ursache", „Endzweck" oder „zwecktätige Ursache (End- ursache. Causa finalis)". Alle diese scheinbar so verschiedenen Aus- drücke sind im Grunde doch nur äußerlich verschiedene Bezeich- nungen für eine und dieselbe irrige Vorstellung. Das Wesentliche in dieser Vorstellung bleibt immer, daß diese ., Kraft" eine ganz be- sondere, von den chemischen und physikalischen Kräften verschie- dene und nicht an die Materie gebunden ist. welche sie organisiert. Dadurch steht dieses Dogma von der Lebenskraft oder den End- ursachen in einem scharfen und unversöhnlichen (üegensatze zu der „mechanischen" oder ..kausalen" Auffassung, nach welcher das Leben eine Bewegungsei'scheinung ist, die sich nur durch ihre IV, V. Teleologie und Kausalität. 37 kompliziertere Ziisaniniensetzung von den einfacheren physikaliscli- eliemischen ..Kräften'" der Anorgane (Mineralien. Wasser, Atmo- sphäre) nnterscheidet, und welche ebenso unzertrennlich mit den zusammengesetzteren Materien des Organismus verbunden ist. wie die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Anorgane mit ihrem materiellen Substrate. Diese Verbindung ist eine absolut not- wendige. Die gesamten komplizierten ..Lebenserscheinungen der Organismen" sind ebenso durch eine absolute Notwendigkeit bedingt, wie die einfacheren ..Funktionen" oder „Kräfte" der anor- ganischen Naturkörper. Hier wie dort sind es allein mechanische Ursachen (Causae efficientes), welche der Materie inhärieren und welche unter gleichen Bedingungen stets mit Notwendigkeit die gleiche Wirkung äußern. Hier tritt uns nun das einfache Kausalgesetz, das Gesetz des notwendigen Zusammenhanges von Ursache und Wirkung, als das erste und oberste aller Naturgesetze entgegen, welches die ge- samte Natur, lebendige wie leblose, mit absoluter Notwendigkeit beherrscht. Dieses wichtigste Naturgesetz, in welchem unsere ge- samte Naturerkenntnis gipfelt, sagt zunächst aus, daß jede Wirkung ihre bestimmte wirkende Ursache (causa efficiens), sowie jede Ursache ihre notwendige Wirkung (effectus) hat. Aus diesem notwendigen und unlösbaren Zusammenhange von Ursache und Wirkung, welcher die Grundlage unserer ganzen Erkenntnis, unserer gesamten Verstandestätigkeit ist. folgt dann weiter, daß verschie- dene Wirkungen auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden müssen, sowie umgekehrt aus verschiedenen Ursachen stets ver- schiedene Wirkungen abzuleiten sind; und ebenso folgt daraus, daß gleiche Wirkungen den gleichen Ursachen zuzuschreiben sind, sowie auch umgekehrt gleiche Ursachen stets notwendig gleiche Wirkungen haben müssen. Nach diesem ersten und höchsten aller Naturgesetze ist Alles, was in der Natur existiert, entstellt und vergeht, das notwendige Resultat aus einer Anzahl vorhergehender Faktoren, und dieses Re- sultat ist selbst wieder ein Faktor, der zur Hervorbringung anderer Resultate mit absoluter Notwendigkeit mitwirkt. Diese absolute Not- wendigkeit des unmittelbaren Zusammenhanges von Ursache und Wirkung beherrscht die gesamte Natur ohne Ausnahme, da ja die gesamte Natur, lebendige und leblose, nichts anderes ist als ein Wechselspiel von Kräften, welche der gegebenen Summe von Materie 38 Methüdik der ^lorphologie der Organismen. IV. inhärieren. Wenn man dem entgegen in der organischen Natur, in den belebten Naturkörpern eine Wirkung ohne Ursache, eine Kraft ohne Stoff angenommen liat. welche mithin dem Kausalgesetz nicht unterworfen wäre, so ist dieser Irrtum lediglich durch die weit größere Komplikation der hier auftretenden Bewegungserscheinungen hervorgerufen worden, durch die weit größere Anzahl der verschie- denen Faktoren, welche auf dem Lebensgebiete zur Hervorbringung jedes Resultats zusammenwirken, und durch die weit zusammenge- setztere Natur dieser Faktoren selbst. Da wir im zweiten und sechsten Buche auf dieses Verhältnis noch näher zurückkommen müssen, so möge diese Bemerkung genügen und die ausdrückliche Hinweisung auf die Tatsache, daß in der ganzen Natur dieselben Kräfte wirksam sind, daß die organische Natur sich aus der anor- ganischen erst historisch entwickelt hat. und daß nur eine gänz- liche Verkennung dieses Urastandes und die Übertreibung des Unter- schiedes der leblosen und belebten Naturkörper zu den gänzlich un- begründeten teleologischen und vitalistischen Dogmen hat verführen können. Alles was uns in der lebendigen Natur als das vorbedachte Resultat einer freien zwecktätigen Ursache, einer causa finalis er- scheint, welche die physikalisch-chemischen Ursachen beherrscht und von ihnen unabhängig ist, alles das ist in der Tat weiter nichts, als die notwendige Folge der Wechselwirkung zwischen den existierenden mechanischen Ursachen (den „existing causes" oder den physi- kalisch-chemischen Ursachen), ist nichts, als die notwendige Wirkung mehrerer Causae efficientes. Daß in der Tat freie zwecktätige Ursachen oder Causae finales in der gesamten Natur nicht existieren, daß vielmehr überall nur notwendige mechanische Ursachen tätig sind, wird durch die Ge- samtheit aller Erscheinungen in der organischen und anorganischen Natur auf das unwiderlegiichste bewiesen. Unter allen biologischen Erscheinungsreihen ist aber .in dieser Beziehung keine von so außer- ordentlicher Wichtigkeit und dabei bisher so gänzHch fast von allen Philosophen und Naturforschern vernachlässigt, als die Wissen- schaft von den rudimentären Organen, welche wir geradezu die Unzweckmäßigkeitslehre, Dysteleologie nennen könnten. Jeder höhere und entwickeltere Organismus, und wahrscheinlich die große Mehrzahl der Organismen überhaupt, ist im Besitz von Organen, welche keine Funktionen haben, welche zu keiner Zeit des Lebens jemals tätig sind und welche im besten Falle dem Organismus gleichgültig, häufig \\\ V. Teleologie und Kausalität. 39 ihm aber geradezu nachteilig sind. Diese rudimentären Organe, welche zu aller Zeit das größte Kreuz der Teleologie waren, sind in der Tat für dieselbe das unübersteiglichste Hindernis, und diese so- wohl als die zahlreichen anderen unzweckmäßigen und unvoll- kommenen, oft sogar für den Organismus selbst höchst nachteiligen und schädlichen Einrichtungen, welche bei zahlreichen Organismen vorkommen, lassen sich lediglich aus den mechanischen wirkenden Ursachen und durchaus nicht aus zweck- tätigen Endursachen erklären. Diese Erklärung ist nun zuerst von Darwin gegeben worden. Seine große Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein erklärt alle diese Verhält- nisse ganz vollkommen, wie im fünften und sechsten Buche ge- zeigt werden wird. Da wir dort diese Verhältnisse noch ausführlich zu erörtern haben, so genügt hier der Hinweis auf das ganz besondere Verdienst, welches Darwin um die definitive Lösung dieser äußerst wichtigen Funda- mentalfragen hat. Wir erblicken in Darwins Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein den schla- gendsten Beweis für die ausschließliche Gültigkeit der mechanisch wirkenden Ursachen auf dem gesamten Gebiete der Biologie, wir erblicken darin den definitiven Tod aller teleologischen und vitalistischen Beurteilung der Organismen. Die unschätzbaren Entdeckungen Darwins haben das Gesamtgebiet der organischen Natur pliUzlich durch einen so hellen Lichtstrahl er- leuchtet, daß wir fürderhin keine Tatsache auf demselben mehr als un- erklärbar werden anzusehen hal)en. Wir sagen: „unerldärbar", nicht: „unerklärt". Denn erklärt ist auf diesem ganzen vasten Gebiet immer noch im ganzen außerordentlich wenig. Freilich hatte die strenge phy- sikalisch-chemische Richtung in der Physiologie die Lebensfnnktionen der bestehenden Organismen schon seit mehreren Dezennien in so hohem Maße aufgeklärt und so viele, wenn auch zmiächst nur beschränkte Ge- setze gefunden, daß an einer vollständigen Erklärung aller Erscheinmigen auf diesen Gel)ieten mittels rein mechanisch wirkender Ursachen schon vor dem Erscheinen von Darwins epochemachendem Werk (1859) nicht gezweifelt Averden konnte. Ganz anders aber sah es bis dahin auf dem Gebiete der Anatomie und der Entwickelungsgeschichte aus. Die Entsteluuig der organischen Formen, die Entwickelungsgeschichte der Organismen galten fast allgemein für Erscheinungsreihen, welche jeder mechanischen Ivausalerklärnng vollständig unzugänglich seien, und auf welche nur durch teleologisch-vitalistische Betrachtungen ein erklärendes 40 Methodik der Morphologie der Organismen. IV. Licht geworfen werden könne. \) Diesen Irrtum hat Darwin vollständig- imd mit einem Schlage vernichtet. Darwin hat evident bewiesen, wie es die einfachsten mechanischen Kausalverhältnisse sind, welche diese anscheinend so komplizierten und für so ganz unerldärlich gehaltenen Lebenserscheinungen, die Formbildiuig und die Entwickelung regeln und beherrschen. Da wir dies im fünften und sechsten Buche auseinander- zusetzen haben, so können wir hier darauf verweisen. Nur ein Umstand möge hier noch besonders liervorgehol)en Averden. nämlich, daß durch die von Darwin tatsächlich erklärte Entstehung der kompliziertesten organischen Formen bereits faktisch die Hauptstütze der Teleologie vernichtet und zertrümmert ist. Alle einer teleologischen Be- trachtung der organischen Naturerscheinungen geneigten Philosophen und vor allen Kant, dessen Einfluß auf die Entwickelung der Naturwissen- schaft in unserem Jahrhundert (wegen seiner breiteren empirischen Grund- lage) größer geworden ist als derjenige irgendeines anderen spekulativen Philosophen, hatte ausdrücklich für die Notwendigkeit einer teleologischen Beurteilung der organischen Natur hervorgehoben, daß deren Prozesse vollkommen unerklärlich, dem Erkenntnisvermögen des Menschen nicht zugänglich, und daß insbesondere die Entstehung der komplizierteren Organismen durch bloß mechanische Ursachen vollkommen imbegreiflich sei. Die Befugnis der mechanischen Ursachen zur Erklärung dieser Erscheiiiungen wurde von Kant ausdrücklich zugestanden, aber das Ver- mögen der Erklärung ihnen abgesprochen. Daher wollte er auch die „natürliche Zweckmäßigkeit" der Teleologie nur als Maxime der Be- urteilung, nicht als Erkenntnisi)rinzip zulassen. Ausdrücklich sagte er deshalb, daß die lel)endige Natur nicht Gegenstand der Erkenntnis, 1) Daß in der Tat der besclnänkte teleologisch-vitahstische Standpunkt, nur iu den verschiedensten Nuancen der Konsequenz abgestuft, und mit den verschiedensten Graden des Bewußtseins verfolgt, in der gesamten Morphologie der Organismen vor Darwin der allgemein herrschende gewesen sei (einzelne ehrenvolle Ausnahmen natürlich abgerechnet), könnte viel- leicht diesem oder jenem, und besonders dem längst der Teleologie entwöhnten Pliysiologen und Abiologen, eine übertriebene Behauptung erscheinen. Indes liefert fast die gesamte morphologische Literatur hierfür die schlagendsten Be- weise. Selten freilich ist dieser kurzsichtige Standpunkt mit solchem Bewußtsein und solcher Konsequenz festgehalten worden, wie dies z. B. von Keichert geschehen ist. Wer die ganze Beschränktheit, die wahrhaft komischen Wider- sprüche, und den gänzlichen Mangel an Überblick der Gesamtnatur und an EinbHck in ihr kausales Wesen kennen lernen will, die gewöhnlich mit der extremen Konsequenz des Vitalismus verbunden sind, dem empfehlen wii- zur ebenso belehrenden als erheiternden F^ektüre die höchst seltsamen und an philo- sophischer Verworrenheit das Maximum leistenden Aufsätze von Reichert in Müllers Archiv f. An. u. Ph. etc. 1855 p. 1 (über atomistische und systematische Naturauffassung) und 185G [). 1 (die Morphologie auf dem Standpunkt der syste- matischen Naturauffassung). IW V. Teleologie und Kausalität. 41 sondern bloß der Betrachtung sein könne, weil eben die beAvegenden Kräfte der ilaterie nicht zur Erklärung der Organisation ausreichten. So geriet denn auch Kant in die unauflösliche Antinomie zwischen Mecha- nismus und Teleologie. Während er in seinen „metaphysischen An- fangsgründen der Naturwissenschaft" bewiesen hatte, daß alles in der materiellen Natur mechanisch entstehe und aus bewegenden Kräften als mechanischen Ursachen erklärt Averden müsse, war er mm in der ..Analytik der teleologischen Urteilskraft" gezwungen zu erklären, daß einiges in der materiellen Natur, nämlich das Organische, das Leben, nicht mechanisch entstehen imd nicht aus bewegenden Kräften als rein mechanischen Ursachen erklärt werden könne. Hier ist die Achillesferse der Kantischen Philo- sophie. Während Kant in allen seinen Erklärungen der anorganischen Natur, vor allem in seiner Naturgeschichte des Himmels, ein bewunde- rungswürdiges Muster der exaktesten denkenden naturwissenschaftlichen Forschung, der besten Naturphilosophie geliefert hatte, verließ er auf dem Gebiete der Biologie die allein mögliche Bahn der empirischen Philo- sophie gänzlich und warf sich der verführerischen Teleologie in die Arme, die ihn mm von Irrtum zu Irrtum weiter führte. Wenn dieser große Irrtum einen so hervorragenden und kritischen Denker, wie Kant war. vollkommen gefangen halten imd zu so starken dogmatischen Fehlern weiter verleiten konnte, so dürfen wir uns nicht wundern, daß zahlreiche unljedeutendere Philosophen demselben blindlings folgten, und daß das ganze Heer der Biologen, welche froh waren, nun nicht weiter denken zu brauchen, dem aufgepflanzten Banner mit großer Genugtmmg folgte. In der Tat war es so außerordentlich bequem und leicht, mit irgendeiner teleologischen Betrachtung jeden Versuch einer mechanischen Erklärimg der organischen Natur abzuschneiden, daß die Teleologie bald zum allgemeinen Feldgeschrei der Biologie wurde. Niemand war froher darüber, als die große Mehrzahl der ^lorphologen, welche nun migestört der Beobachtmig. Beschreibung und Abbildung aller möglichen organischen Formen sich hingeben konnten, ohne durch irgendeinen unbequemen kritischen Gedanken über die mögliche Bedeutung dieser Formen, über ihre mechanischen Ursachen und über den kausalen Zu- sammenhang der Formlnldungsreihen beunruhigt zu werden. Da die meisten Morphologen. sowohl die ..Systematiker" als die ..Anatomen" in diesem behaglichen imd idyllischen Formgenusse vollkommene Befriedigung fanden, und da sie in diesem wissenschaftlichen Halbschlafe oder doch wenigstens in diesem gedankenarmen Traumleben von der eigentlichen Aufgabe ihrer Wissenschaft, von der Erklärung der organischen Formverhältnisse, keine Ahnung hatten, so erscheint uns schon hieraus die tiefe Entrüstung voll- kommen erklärlich, als plötzlich Darwins lauter Weckruf ertönte, imd diesem behaglichen teleologischen Stilleben mit einem Male ein jähes und grausames Ende bereitete. Aus behaglichem Mittagsschlummer durch einen kritischen Stoß aufgeschreckt zu werden ist immer höchst unangenehm, imd besonders wenn dieser sanfte Schlummerzustand ha- l)ituell, fast zur anderen Natur geworden ist, wie bei unserer heutigen Morphologie. 42 Methodik der Morphologie der Organismen. |V. Was Kant betrifft, so zweifeln wir nicht, daß, wenn er heut erstände, sein ganzes kritisches Lehrgebäude eine vollkommen andere Form erhalten würde, und daß er die von Darwin entdeckte mechanische Erklärung der Entstehung der Organismen und die von der neueren Physiologie festgestellte mechanische Erklärung ihrer Lebenserscheinungen, nach denen er so lange und so vergeblich gestrebt, akzeptieren würde. Der biologi- sche Teil der Kantischen Philosophie würde dann, mit Ausschluß aller Teleologie, die Erklärung der organischen Natur eben so vollkommen auf rein mechanische „wirkende Ursachen'' begründen, wie es der abiologische Teil schon damals in so vollendetem Maße getan hat. Dadurch, daß wir die Teleologie Kants für einen überwundenen Standpunkt erklären, wollen wir demselben natürlich in keiner "Weise einen Vorwurf machen, und es vermindert unsere Verehrung dieses großen Phi- losophen und unsere Hochachtung vor seinen außerordentlichen Verdiensten auf dem Gebiete der Abiologie nicht im geringsten, wemi wir demselben die gleichen Verdienste auf dem biologischen Gebiete absprechen imd seine Kritik der teleologischen Urteilskraft für ein von der Basis an irrtümliches Lehrgebäude halten. Wenn man bedenkt, auf welcher außerordentlich niedrigen Stufe zu Kants Zeit die gesamte empirische Biologie stand, wie die Physiologie, die Entwickehmgsgeschichte, die Morphologie der Or- ganismen als selbständige Wissenschaften damals noch gar nicht an- erkannt waren, so finden wir hierin, und in den vitalistischen Vorurteilen, die das ganze Zeitalter gefangen hielten, Grund genug dafür, daß Kant an der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Biologie geradezu verzweifeln und die Erklärung der lebendigen Natur für etwas Unmögliches halten konnte. Mit anderen Worten heißt das nichts anderes, als daß die ge- samten Biologen gleiche Toren sind, wie die ^^elen Träumer, welche den Stein der Weisen suchten. Wenn die gesamte organische Natur, wie Kant behauptet, in ihrem innersten Wesen unbegreiflich und unerkennbar ist, wenn deren Erscheinungen nicht aus mechanisch wirkenden Ursachen erklärt werden können, so sind alle Naturforscher, welche nach einer solchen Erklärung streben und suchen, kindische Toren. In dieser not- wendigen Konsequenz zeigt sich die ganze Unhaltbarkeit der Teleologie und des davon nicht trennbaren Vitalismus. Die Teleologie als wissen- schaftliche Methode ist in der Tat unmöglich ; sie verneint sich selbst. Wenn wir bedenken, daß eine Anzahl von Erscheinungen der organi- schen Natur schon wirklich erklärt, daß die Gesetze für eine wenn auch relativ noch kleine Zahl von biologischen Tatsachen bereits wirklich ge- funden sind, und daß diesen Gesetzen dieselbe absolute Geltung zuge- standen werden muß, wie jedem physikalisch-chemischen Gesetze, wenn wir bedenken, daß eine wissenschaftliche Physiologie überhaupt mu' durch die strengste Ausschließmig jeder Teleologie möglich ist, so werden wir die letztere auch aus dem Gebiete der organischen Morphologie vollständig verbannen dürfen. Und am wenigsten werden wir, wenn wir diese Lehre als wirkliche Wissenschaft ansehen, mit der heuchlerischen Miene, die viele Morphologen lieben, erklären dürfen, daß wir uns demütig mit der bloßen erbaulichen Betrachtung der Organismen begnügen und ja keinen JY_ VI. Dualismus und Monismus. 43 indiskreten Blick in das uns verschlossene Geheimnis ihrer „inneren Natur", ihres kausalen Wesens tun wollen. Einen Punkt müssen wir hierbei scliließlich noch ulTen berühren. Die meisten ^lorphologen der Neuzeit lieben es, die imversöhnliche Gegner- schaft zwischen teleologischer und mechanischer Biologie durch ein ver- söhnliches Mäntelchen zu verdecken und einen Kompromiß zwischen den beiden entgegengesetzten Extremen zu erstreben. Bis zu einer gewissen Grenze soll die organische Natur erkennbar sein, und von da an soll die Erkennbarkeit aufhih-en. Eine Reihe von biologischen Erscheinungen soll sich auf dem mechanischen Wege aus wirkenden Ursachen erklären lassen, der übrige Rest aber nicht. Dies ist allerdings insofern richtig, als unser menschliches Erkenntnisvermögen beschränkt ist, und als wir die letzten Gründe nicht von einer einzigen Erscheinimg wahr- haft erkennen können. Dies gilt aber in ganz gleichem Maße von der organischen und anorganischen Natur. Die Entstehung jedes Kristalls bleibt für uns in ihren letzten Gründen ebenso rätselhaft, wie die Entstehung jedes Organismus. Die letzten Gründe sind ims hier nirgends zugänglich. Jenseits der Grenze des Erkenntnisvermögens können wir uns beliebige, ohne induktive Grundlage gebildete Vorstellungen zu unserer persönlichen Gemütsbefriedigung schaffen, niemals aber dürfen wir versuchen, diese rein dogmatischen Vorstellungen des Glaubens in die Wissenschaft einzuführen. Und ein solches Glaubensdogma ist jeder teleo- logische und vitalistische Erklärungsversuch. Von allen denkenden Menschen fordern wir in erster Linie, daß sie konse(iuent sind, imd von allen Naturforschern, welche die Teleologie und den Vitalismus iu der Biologie für unentbehrlich halten, fordern wir, daß sie diese Methode in strengster Konsequenz für die Betrachtung aller Erscheinungen der organischen Natur ohne Ausnahme, für die gesamte Physiologie, Entwickelungsgeschichte und Morphologie, durchführen. Unse- res Wissens liegt nur ein einziger derartiger Versuch im größten Stile aus der neueren Zeit vor. Das ist der äußerst merkwürdige „Essay on Classification" von Louis A gas siz, der fast gleichzeitig mit seinem ver- nichtenden Todfeinde, mit Darwins Theorie, das Licht der Welt erblickte. Jedem Biologen, welcher sich nicht entschließen kann zur absoluten Ver- werfung der teleologischen und zur unbedingten Annahme der mechanischen Methode, empfehlen wir dieses höchst interessante Buch, welches trotz des größten Aufwandes von Geist in jedem Kapitel sich selbst vernichtet und negiert, zur aufmerksamen Lektüre. Und wenn er dann noch an dem Vitalismus oder der Teleologie festhalten kann, empfehlen wir ihm dieselbe dualistische Konsequenz wie Louis Agassiz. Tl. Dualismus und Zionismus. - ..Die Richtung des Denkens der Neuzeit läuft unverkennbar auf Monismus hinaus. Der Dualismus, fasse man ihn nun als Gegensatz von Geist und Natur, Inhalt uiul Form. Wesen und Erscheinung, 44 Methodik der Morphologie der Organismen. jy. oder wie man ilin sonst bezeichnen mag\ ist für die natnrwissen- schaftliche Anschauung- unserer Tage ein vollkommen überwundener Standpunkt. Für diese gibt es keine Materie ohne Geist (ohne die sie bestimmende Notwendigkeit), aber ebensowenig auch Geist ohne Materie. Oder vielmehr es gibt weder Geist noch Materie im ge- wöhnlichen Sinne, sondern nur eins, das beides zugleich ist. Diese auf Beobachtung beruhende Ansicht des Materialismus zu beschul- digen, ist ebenso verkehrt, als wollte man sie des Spiritualismus zeihen." August Schleicher. Diese Worte des berühmten komparativen Linguisten, der die naturwissenschaftliche Untersuchungsmethode in der vergleichenden Sprachforschung durchgeführt und als der erste von allen Sprach- forschern die Theorie Darwins mit ebensoviel Geist als Erfolg auf diesen Teil der vergleichenden Physiologie angewandt hat, bezeichnen mit treffender Wahrheit den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Dualismus und Monismus, der unsere gesamte Naturwissenschaft wie die ganze Denktätigkeit unserer Zeit in zwei feindliche Heerlager trennt. Wir können nicht umhin, hier am Schlüsse unserer kritisch- methodologischen Einleitung noch kurz bei einer Betrachtung dieses Gegensatzes zu verweilen, obschon die vorhergehenden Abschnitte zur Genüge gezeigt haben werden, daß wir den Monismus in aller Schärfe und in seinem vollen Umfange für die einzig richtige Welt- anschauung und folglich auch für die einzig richtige Methode in der gesamten Naturwissenschaft halten, und daß wir jede dualistische Erkenntnismethode unbedingt verwerfen. Die tatsächliche A^ereinigung und vollkommene Versöhnung, welche in dem Monismus solche scheinbare Gegensätze finden, wie es Kraft und Stoff, Geist und Körper, Freiheit und Natur, Wesen und Erscheinung sind, ist auf keinem Gebiete des Erkennens mehr hervorzuheben als auf demjenigen der Biologie und vor allem auf dem der organischen Morphologie. Denn wie schon im vorher- gehenden vielfach gezeigt worden ist, hat nichts so sehr einer ge- sunden und natürlichen Entwickelung unserer Wissenschaft geschadet, als der künstlich erzeugte Dualismus, durch welchen man bei jeder Beurteilung eines Organismus seiner materiellen körperlichen Er- scheinung eine davon unabhängige Idee oder einen „Lebenszweck" entgegensetzte, ein Dualismus, welcher sich in der naturwissenschaft- lichen Untersuchungsmethode als Gegensatz von Philosophie und Naturwissenschaft, von Denken und Erfahren überall zum größten IV, VI. Dualismus uud Monismus. 45 Schaden einer natürliclien Erkenntnis entwickelt hat. Wie unendlich viel weiter würde unsere Wissenschaft jetzt sein, wenn man sich dieses künstlich erzeugten Zwiespalts bewußt geworden wäre, und wenn man mit klarem Bewußtsein die monistische Beurteilungsweise als die einzig mögliche Methode einer wirklichen Naturerkenntnis befolgt hätte. Indem der Monismus als piiilosophisclies System nichts anderes als das reinste und allgemeinste Resultat unserer allgemeinen wissen- schaftlichen Weltanschauung, unserer gesamten Naturerkenntniß ist. bildet seine unterste und festeste Grundlage das allgemeine Kausalgesetz: „Jede Ursache, jede Kraft, hat ihre notwendige Wirkung, und jede Wirkung, jede Erscheinung, hat ihre notwendige Ursache.'' Schon hieraus ergibt sich, daß derselbe jede Teleologie und jeden Yitalismus, welche Form dieser auch annehmen mag, absolut verneint, und insofern ist die monistische Methode in der Biologie zugleich die mechanische, die kausale, deren alleinige Berechtigung der vorige Abschnitt dargetan hat. Da nun die viel- bestrittene Geltung des mechanischen Kausalgesetzes in der organischen Natur durch nichts so sehr gefördert und so bestimmt begründet worden ist. als durch Darwins Theorie, so können wir auch diese Lehre als eine rein monistische bezeichnen. Und in der Tat beruht dieses ganze wundervolle Lehrgebäude, wie alle einzelnen Teile desselben, vollkommen auf reinen monistischen Anschauungen. Wenn wir dereinst mit Hülfe der Deszendenztheorie die gesamte Morphologie der Organismen auf die allein sichere Grundlage der mechanischen Naturgesetze begründet, die Erscheinungen der organischen Morphologie mechanisch-kausal, aus ihren wirkenden Ursachen werden erklärt haben, so wird das darauf gegründete System der Morphologie der Organismen ein absolut monistisches Lehrgebäude sein, wie es freihch jede wahre Wissenschaft, insofern sie Naturwissenschaft sein will und muß, mit Notwendigkeit erstreben muß. Da der Ausdruck Monismus in unzweideutiger Weise diejenige kritische Auffassung der gesamten (organischen und anorganischen) Natur, und diejenige kritische Methode ihrer Erkenntnis, welche wir auf den vorhergehenden Seiten als die allein mögliche und durch- führbare dargetan haben, bezeichnet, so werden wir uns dieses kurzen und bec|uemen Ausdrucks stets bedienen, wo es darauf ankommt, an die von uns ausschließlich befolgte Methode zu erinnern: andererseits 46 Methodik der Morphologie der Organismen. IV. werden wir als Dualismus stets kurz diejenigen verschiedenen, der unserigen entgegengesetzten Auffassungsweisen der Natur und Methoden ihrer Erkenntnis bezeichnen, welche als „teleologische" und ..vitalistische," als „systematische" und „spekulative" Dogmen für die Beurteilung und Erkenntnis der organischen Natur andere Methoden fordern, als für die Beurteilung und Erkenntnis der an- organischen Natur allgemein anerkannt sind. A'on allen Gegensätzen, welche der Dualismus künstlich erzeugt und aufstellt, und welche der Monismus versöhnt und aulhebt, ist keiner für die gesamte Wissenschaft wichtiger, als der auch jetzt noch meist so allgemein festgehaltene Gegensatz von Kraft und Stoff, von Geist und Materie und der auf diese künstliche Antinomie gegründete Gegensatz von Erfahrung und Denken, von empirischer Naturwissenschaft und spe- kulativer Philosophie. Wir haben oben im Eingange unserer methodo- logischen Erörterungen die absolute Notwendigkeit einer Vereinigung dieser Richtungen nachzuweisen versucht, und wir müssen hier am Ende nochmals kurz darauf zurückkommen, da nach unserer festesten Über- zeugung die versöhnende Aufhebung dieses Gegensatzes den Anfang und das Ende, das A und das 0 aller wirklichen „Wissenschaft" bildet. Leider wird ja immer noch von so vielen Seiten der durchaus künst- liche Gegensatz, durch welchen nian Empirie und Philosophie zu trennen sucht und welcher vorzüglich einer höchst einseitigen Verfolgung jeder der beiden Richtungen entsprungen ist, so starr festgehalten, daß nicht genug auf die Notwendigkeit ihrer Versöhnung durch den Monismus hin- gewiesen werden kann. Die vollendete Philosophie der Zukunft, w^elche wir oben als das reife Resultat der notwendigen und vollkommenen gegenseitigen Durch- dringung von Empirie und Philosophie bezeichnet Imben, wird in der Tat nichts weiter sein als ein vollendetes System des Monismus. Frei- lich wird zur Erreichung dieses hohen Zieles vor allem die erste Vor- bedingung zu erfüllen sein, daß die Naturforscher Philosophen werden und daß sich die Philosophen in Naturforscher nmwandeln, oder daß sich, mit anderen Worten, dieser durchaus künstliche und höchst schäd- liche Zwiespalt aufhebt. In der Tat ist, wenn wir an beide die An- forderung einer vollständig reifen Ausbildung auf ihrem Gebiete stellen, nicht ein Unterschied — wir sagen: nicht ein Unterschied — zwischen Naturforschern und Philosophen, zwischen Natur- Wissenschaft und Natur- Philosophie ausfindig zu machen. Beide sind vielmehr stets und über- all ein und dasselbe. Die höher entwickelte Zukunft wird diesen künstlich erzeugten Dualismus nicht mehr kennen. Ihre monistische Weltanschauung wird Naturwissenschaft und Philosophie zu dem großen Ganzen einer einzigen allumfassenden Wissenschaft ver- schmelzen. Z^YEITES BUCH. ALLGEMEINE UNTERSUCHUNGEN ÜBER DIE NATUR UND ERSTE ENTSTEHUNG DER ORGANISMEN, IHR VERHÄLTNIS ZU DEN ANORGANEN UND IHRE EINTEILUNG IN TIERE UND PFLANZEN. (PRINZIPIEN DER GENERELLEN BIOLOGIE.) ..Ins Innre der Natur" — 0 du Philister! — ..Dringt kein erschaffner Geist." Mich und Geschwister Mögt ihr an solches Wort Nur nicht erinnern; Wir denken : Ort für Ort Sind wir im Innern. ..Glückselig! wem sie nur ..Die äußre Schale weist!" Das hör" ich sechzig Jahre wiederholen, Ich fluche drauf, aber verstohlen ; Sage mir tausend, tausendmale: Alles gibt sie reichlich und gern; Natur hat weder Kern noch Schale, Alles ist sie mit einem Male; Dich prüfe du nur allermeist. Ob du Kern oder Schale seist. Goethe. Fünftes Kapitel. Organismen und Anorgane. ,Der Geist übt sich an dem wiirdig-sten Gegenstände, indem er das Lebendige nach seinem innersten Wert zu kennen und zu zergliedern sucht." Goethe. I. Organische iiud anorganische Stoffe. I) 1. Differentielle Bedeutung der organischen und anorganischen Materien. Bevor wir an unsere eigentliche Aufgabe gehen, und nach den im ersten Buche festgestellten Methoden und Prinzipien die Grund- züge der generellen Morphologie der Organismen zu entwerfen ver- suchen, scheint es uns unerläßlich, den Begriff des Organismus selbst, sowie sein Verhältnis zur anorganischen Natur, und die üb- liche Einteilung der Organismen in Tiere und Pflanzen, einer all- gemeinen ki'itischen Untersuchung zu unterwerfen. Indem wir diese wichtigen Grundbegriffe feststellen, gewinnen wir den festen Boden, auf welchem wir nachher sicher weiter bauen können, während die gewöhnliche Vernaclüässigung der unentbehrlichen Fundamente zu der chaotischen Begriffsverwirrung führt, von welcher gegenwärtig unsere Wissenschaft ein so trauriges Bild liefert. Um zu einer klaren Einsicht in „den inneren Wert des Leben- digen", in den wesentlichen Charakter der Organismen, der Tiere und Pflanzen, zu gelangen, erscheint es uns am zweckmäßigsten, den- selben die leblosen Naturkörper, die Anorgane, gegenüberzustellen, und beide Hauptgruppen von Naturkörpern, lebendige und leblose, hinsichtlich aller allgemeinen Eigenschaften (in chemischer, morpho- logischer und physikalischer Beziehung) zu vergleichen. Indem wir hierbei sowohl synthetisch die Übereinstimmungen, als analytisch die Unterschiede beider Körpergruppen hervorheben, werden wir zu einer tieferen Einsicht in die innerste Natur und die gegenseitigen Haeckel, Prinz, d. Morphol. 4 50 Organismen imd Anorgane. V. Bezieliungen derselben gelangen, als es durch eine bloße Definition der Begriffe möglich ist. Der Begriff des Organismus ruht ursprünglich auf morpho- logischer Basis und bezeichnet einen Naturkörper, welcher aus „Organen" zusammengesetzt ist, d. h. aus Werkzeugen oder ungleich- artigen Teilen, welche zum Zwecke des Ganzen vereinigt zusammen- wirken. Gegenwärtig haben wir nun zahlreiche „Organismen ohne Organe" kennen gelernt, vor allen die vollkommen homogenen und strukturlosen Plasmakörper oder Moneren; ferner viele einzellige Organismen, deren einziges diskretes Organ der im Plasma einge- schlossene Zellenkern und bisweilen noch eine äußere UmhüUungs- haut ist (viele Protisten: einzellige Pflanzen und Tiere). Da vielen dieser einfachsten Organismen bestimmte morphologische Charaktere ganz fehlen und dieselben zum Teil gar keine, zum Teil nur solche different geformte Teile besitzen, die kaum den Namen von „Organen" verdienen, so können wir den Begriff' des Organismus nur auf physiologischer Basis begründen, und nennen demgemäß Organis- men alle jene Naturkörper, welche die eigentümlichen Be- wegungserscheinungen des „Lebens", und namentlich ganz allgemein diejenigen der Ernährung zeigen. Anorgane da- gegen nennen wir alle diejenigen Naturkörper, welche niemals die Funktion der Ernährung und auch keine der anderen spezifischen „Lebenstätigkeiten" (Fortpflanzung, willkürliche Bewegung, Empfin- dung) ausüben. Da nun die Ernährungstätigkeit der Organismen, gleich allen anderen Lebensfunktionen, ebenso eine unmittelbare Wirkung ihrer materiellen Zusammensetzung ist, wie jede physikalische Eigenschaft eines Anorganes unmittelbar in dessen Materie begründet ist, da überhaupt jede Eigenschaft, Kraft oder Funktion eines Körpers die unmittelbare Folge seiner materiellen Zusammensetzung und seiner Wechselwirkung mit der umgebenden Materie ist, so werden wir die nachfolgende Vergleichung der Organismen und Anorgane zu- nächst mit der vergleichenden Betrachtung ihres materiellen Sub- strates beginnen müssen. Denn lediglich aus den Verschiedenheiten, welche sich in der feineren und gröberen Zusammensetzung der Materie zwischen Organismen und Anorganen zeigen, können wir uns die davon unmittelbar abhängigen Verschiedenheiten in den Formen und Kräften (Funktionen) beider Gruppen von Naturkörpern erklären. V_ I. Organische und anorganische Stoffe. 51 I) 2. Atomistische Zusammensetzung der organischen und anorganischen Materien. Alle Organismen nnd alle Anorgane, welche unserer wissen- schaftlichen Erkenntnis zugänglich sind, zeigen ganz übereinstimmend eine gewisse Summe von ursprünglichen allgemeinen Eigenschaften, welche aller Materie notwendig inhärieren. Diese generellen Quali- täten der Naturkörper, welche in ganz gleicher Weise sämtlichen belebten wie sämtlichen leblosen Körpern zukommen, sind: Aus- dehnung, Undurchdringlichkeit, Teilbarkeit, Ausdehnbarkeit, Zusam- mendrückbarkeit, Elastizität, Porosität, Trägheit, Schwere etc. Da wir diese allgemeinen Grundeigenschaften sämtlicher Naturkörper als aus der Physik bekannte und allgemein anerkannte Tatsachen vor- ausetzen müssen, so haben wir nicht nötig, hier näher darauf ein- zugehen, und wollen nur, was so oft vergessen wird, ausdrücklich konstatieren, daß in allen diesen Beziehungen, in allen allge- meinen Grundeigenschaften der Materie nicht der ge- ringste Unterschied zwischen den Organismen und den An- organen existiert. Aus diesen allgemeinsten Resultaten der Physik haben sich die Naturforscher übereinstimmend eine allgemeine Grundanschauung über die primitive Konstitution der Materie (organischer und an- organischer) gebildet, welche unter dem Namen der atomis tischen Theorie von allen Physikern und Chemikern angenommen ist. Da- nach besteht die gesamte Materie aus Atomen, d. h. aus kleinsten, diskreten, nicht weiter teilbaren Massenteilchen, welche der allge- meinen Massenanziehung, der Schwere unterworfen, sich gegenseitig durch diese Attraktionskraft oder Kohäsion' anziehen. Die all- gemeinen Erscheinungen der Wärme, des Aggregatzustandes usw. zwingen ferner zu der Annahme, daß diese letzten unzerlegbaren Massenteilchen durch eine allgemein verbreitete indifferente Materie von nicht wahrnehmbarem Gewichte, den Äther, getrennt sind. Auf den Schwingungen dieses Äthers beruhen die Erscheinungen der Wärme und des Lichtes. Dieser die Atome rings umgebende und voneinander trennende Äther besteht selbst wieder, gleich der Materie, aus diskreten Teilchen, welche von den Atomen angezogen werden, sich selbst aber untereinander durch ihre eigene Ab- stoßungskraft oder Repulsivkraft (Expansion) abstoßen. Diese atomistische Theorie erklärt in ganz gleicher Weise die all- gemeinen Grundeigenschaften der Organismen und der An- 4* 52 Organismen und Anorgane. V. orgaue. Die fundamentale Konstitution der Materie, ihre Zu- sammensetzung aus Atomen, ist also in sämtlichen Naturkörpern, leblosen und belebten, dieselbe. Die mannigfaltigen Unterschiede in der Erscheinung und im Wesen der verschiedenen Naturkörper beruhen teils auf der un- unterbrochenen Tätigkeit der allgemeinen Molekularkräfte (der Ko- häsion der diskreten Atome und der Expansion der diski'eten, die Atome umhüllenden und trennenden Ätherteilchen), teils auf der qualitativen Verschiedenheit der Atome. Diese letztere anzunehmen werden wir durch die allgemeinsten Resultate der Chemie gezwungen. Indem nämlich die Chemie in ihrem Bestreben, die Materie in ihre einfachsten Bestandteile zu zerlegen, schließlich überall eine geringe Zahl von unzerlegbaren, quahtativ verschiedenen Urstoffen oder chemischen Elementen als allgemeine Grundlage der gesamten Materie nachweist, führt sie in Verbindung mit jenen allgemeinsten Resultaten der Physik zu der Annahme, daß die qualitativen Ver- schiedenheiten der chemisch nicht weiter zerlegbaren Materien be- dingt sind durch eine qualitative Verschiedenheit der Atome, welche diese Materien konstituieren. Es würden also ebenso viele ver- schiedene Atomarten, als chemische Elemente existieren. Da sich die chemischen Elemente in bestimmten Gewichtsverhältnissen mit- einander verbinden, so muß das Gewicht der verschiedenen Atom- arten ein verschiedenes sein. Da nun diese qualitative Differenz der Atomarten und der aus ihnen zusammengesetzten chemischen Elemente die ganze Mannigfaltigkeit in den Naturkörpern bedingt, so drängt sich hier zunächst die Frage auf, ob in den Organismen andere Atomarten, d. h. andere chemische Elemente, vorkommen, als in den Anorganen. Als negative Antwort hierauf haben wir hier zunächst das hochwichtige Gesetz hervorzuheben, daß alle che- mischen Elemente, welche den Körper der Organismen zu- sammensetzen, auch in der anorganischen Natur vorkom- men. Es gibt keinen unzerlegbaren Grundstoff in irgendeinem Organismus, welcher nicht auch außerhalb desselben als lebloser Naturkörper, als Anorgan oder als Bestandteil eines solchen auftritt. Diese Tatsache ist zwar allbekannt, wird aber in ihrer ganzen Tragweite insofern meist nicht gehörig gewürdigt, als man daraus ge- wöhnlich nicht den sich unmittelbar ergebenden Schluß zieht, daß bei der qualitativen Identität der Elementarstoffe, welche die Anorgane und die Organismen zusammensetzen, auch die fundamentalen Kräfte V. I- Organische und anorganische Stoffe. 53 oder Funktionen in beiden Klassen von Naturkörpern nicht qualitativ verschieden sein werden. Aus der Nichtexistenz eines beson- deren Lebensstoffes wird daher der Monismus schon die Nichtexistenz einer besonderen Lebenskraft folgern müssen. Wie man nun infolge unserer vorgeschrittenen chemischen Kennt- nisse die frühere Annahme, daß besondere den Organismen eigen- tümliche und außerhalb derselben nicht vorkommende chemische Elemente, besondere ..Lebensstoffe", die organischen Körper zu- sammensetzen und deren Lebenserscheinungen zugrunde hegen, jetzt allgemein verlassen hat, so wird man ebenso notwendig die auf gleich unvollständige Erkenntnis gegründete Hypothese fallen lassen müssen, daß es besondere ..Lebenskräfte" sind, welche die Formen wie die Funktionen der Organismen bedingen. Von den unzerlegbaren chemischen Elementen, welche bis jetzt auf unserer Erde gefunden worden sind und deren Zahl sich bereits auf mehr als sechzig beläuft, ist nur ungefähr der chitte Teil im Körper der Organismen aufgefunden. Und von diesen ungefähr zwanzig chemischen Elementarstoffen ist es wiederum nur etwa die Hälfte, welche allgemein verbreitet und in größerer Menge in den organischen Körpern vorkommt. Bekanntlich sind es vor allen die vier Elemente : Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff, die vorzugsweise die sogenannten organischen Verbindungen im engeren Sinne zusammensetzen und die man deshalb auch als „Organogene" besonders hervorgehoben hat. An der Spitze derselben steht der Kohlenstoff, dessen merkwürdige physikalische und chemische Eigentümlichkeiten wir als die letzte Ursache aller der eigentümlichen Funktionen und Formen zu betrachten haben, welche die Organismen vor den Anorganen auszeichnen. An diese vier organogenen Elemente schließen sich dann zunächst Schwefel und Phosphor an. Von den übrigen Elementen sind Chlor, Kalium, Natrium, Calcium und demnächst Eisen und Kiesel am weitesten verbreitet. Viel seltener und meist nur in kleinen Quantitäten kommen Jod. Brom, Fluor, Magnesium. Aluminium, Manganium, Strontium, Lithium und einige andere seltene Urstoffe in den Organismen vor. I) 3. Verbindungen der Elemente zu organischen und anorganischen Materien. Nachdem die Chemie nachgewiesen hatte, daß alle chemischen Grundstoffe oder Elemente, welche den Körper der Organismen zu- sammensetzen, sich auch außerhalb desselben in der anorganischen 54 Organismen und Anorgane. V. Natur vorfinden, daß mithin kein besonderes „organisches Element" existiert, glaubte man in der Art und Weise des Zusammentritts der Elemente zu zusammengesetzten Verbindungen einen absoluten Unter- schied zwischen Organismen und Anorganen aufstellen zu können. Besondere Gesetze des „Lebens" sollten die Vereinigung der Elemente innerhalb des Organismus regeln, und die mystische „Lebenskraft" sollte die Elemente zum Eingehen von Verbindungen zwingen, welche außerhalb des lebendigen Körpers nie sollten zustande kommen können. Diese irrtümliche Vorstellung, welche vorzüglich durch die Autoritäten von Berzelius und Johannes Müller in der Biologie zu sehr allgemeinem Ansehen gelangte, hat solchen Einfluß auf die allgemeine Beurteilung der Organismen gewonnen, und behauptet denselben teilweis noch heute, daß wir dieselbe hier ausdrücklich als einen Irrtum bezeichnen müssen, der durch die neuere Chemie definitiv widerlegt ist. Vollkommen richtig ist es, daß diejenigen eigentümlichen Formen und Funktionen, welche die Organismen von den Anorganen unter- scheiden, einzig und allein die notwendige Wirkung sind von den eigentümlichen Verbindungen, welche die Elemente im Körper der Organismen eingehen und welche man allgemein als „organische" Materien zusammenfaßt. Vollkommen falsch aber ist es, wenn man diese eigentümlichen „organischen Verbindungen" von etwas anderem ableitet, als von der chemischen Wahlverwandtschaft der Elemente, welche in allen Fällen, selbständig, vermöge der ihren Atomen un- zertrennlich innewohnenden Kräfte, diese Verbindungen aktiv schaffen. Es existiert also auch in dieser Beziehung durchaus kein Unterschied zwischen den leblosen und den belebten Naturkörpern. Wie wir in der leblosen Natur die gewöhnlich einfacheren, sogenannten „anorgani- schen Verbindungen" lediglich durch die ureigenen Kräfte der Ele- mente, nach den unabänderlichen und ewigen Gesetzen der chemischen Wahlverwandtschaft, entstehen sehen, so erkennen wir ebenso be- stimmt, daß innerhalb der lebendigen Körper die gewöhnlich ver- wickeiteren, sogenannten „organischen Verbindungen" lediglich nach denselben Gesetzen der chemischen Affinität, mit absoluter Notwendig- keit, entstellen und vergehen. Der einzige Unterschied, welcher in der chemischen Zusammen- setzung der Organismen und Anorgane gefunden werden kann, be- steht darin, daß in allen Organismen neben den einfacheren Ver- bindungen der Elemente, die allenthalben auch in der leblosen Natur Y_ I. Organische und anorganische Stoffe. 55 vorkommen (Wasser, Kohlensäure etc.), eine Anzahl von verwickei- teren Verbindungen des Kohlenstoffs (und namentlich allgemein ge- wisse Eiweißkörper) sich finden, welche gewöhnlich in der an- organischen Natur sich nicht zu bilden scheinen. Diese Verbindungen verdanken aber ihre Existenz nicht einer besonderen Lebenskraft, sondern den eigentümlichen und äußerst verwickelten Verwandtschafts- beziehungen des Kohlenstoffs zu den meisten übrigen Elementen. Vielleicht mit allen anderen Elementen, vorzüglich aber mit den drei Elementen: Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff, vermag der Kohlenstoff eine endlose Reihe von äußerst verwickelten Verbindungen einzugehen, welche zum größten Teil durchaus ohne Analogen unter den kohlenstofflosen Verbindungen dastehen. Wir müssen also die chemische und physikalische Natur des Kohlenstoffs und vor allem seine in ihrer Art einzige Fähigkeit, mit anderen Elementen höchst komplizierte Verbindungen einzugehen, als die erste und letzte, als die einzige Ursache aller derjenigen Eigentümlichkeiten ansehen, welche die sogenannten organischen Verbindungen von den anorganischen unterscheiden. Es würde deshalb richtiger sein, die „organischen Verbindungen,, konkreter als „Kohlenstoff Verbindungen" zu bezeichnen, wie man die „organische Chemie" neuerdings richtiger die „Chemie der Kohlenstoffverbindungen" genannt hat. Nur darf dabei nicht ver- gessen werden, daß, wie der reine Kohlenstoff selbst (als Diamant, Graphit), so auch einfachere Kolilenstoffverbindungen in der an- organischen Natur, außerhalb der Organismen, weit verbreitet vor- kommen, wie vor allem die Kohlensäure, das Kohlenoxyd, einzelne Kohlenwasserstoffe usw. Andererseits darf ebensowenig vergessen werden, daß in allen Organismen ohne Ausnahme neben jenen „organischen", d. h. verwickeiteren Kohlenstoffverbindungen, auch noch einfachere Kohlenstoffverbindungen und nicht kohlenstoffhaltige Verbindungen der Elemente, also sogenannte „anorganische" Ver- bindungen vorkommen (Wasser, Kohlensäure, Kochsalz etc.). I) 4. Aggregatzustände der organischen und anorganischen Materien. Unter Aggregatzustand der Naturkörper verstehen wir den Grad der Entfernung und der dadurch bedingten relativen Beweglichkeit ihrer Massenatome. Die Differenzen der Aggre- gatzustände beruhen lediglich auf der Verschiedenheit der Entfer- 56 Organismen und Anorgane. V. niingen der Atome von einander, welche durch die Wechselwirkung zwischen der Kohäsionskraft der Atome und der Expansiouskraft der Ätherteilchen modifiziert werden. Bei den anorganischen Natur- körpern ist bekanntlich eine dreifache Differenz in dieser Beziehung möglich, und man unterscheidet demgemäß bei diesen drei Aggregat- zustände, den festen, tropfbaren und gasförmigen. Vergleichen wir mit diesen drei bestimmten und stets leicht erkennbaren Aggregatzuständen der Anorgane diejenigen der Organis- men, so haben wir zunächst zu konstatieren, daß alle drei Aggregat- zustände in Teilen des Körpers vieler Organismen ebenso rein wie in den Anorganen vorkommen, und daß einer davon, nämlich der flüssige, in allen lebenden Organismen ohne Ausnahme allgemein verbreitet ist. Die eigentümlichen Bewegungserscheinungen, welche wir unter dem Kollektivnamen des Lebens zusammenfassen, können nur durch Mitwirkung dieses Aggregatzustandes zustande kommen, und wir können daher den tropfbar flüssigen Zustand mindestens eines Teils der Materie als ein für alle Organismen notwendiges Erfordernis bezeichnen. Die Hohlräume, welche diese für den Transport der Teilchen beim Stoffwechsel unentbehrlichen Flüssigkeiten einschließen, sind teils (bei den höheren Tieren) besondere Gefäße (Blutgefäße, Wassergefäße, Leibeshöhle etc., teils wandungslose Hohlräume zwischen den Elementarteilen und im Inneren derselben (Vakuolen in den Piastiden etc.). Außer dem rein tropfbaren kommt nun ferner auch der feste und der gasförmige Aggregatzustand vollkommen rein im Körper vieler (nicht aller!) Organismen vor. Zu den absolut festen Teilen der Organismen können wir z. B. die Otolithen im Gehör- organ, ferner die reinen Kieselskelette und die Skelette aus kohlen- saurem Kalke rechnen, welche bei vielen wirbellosen Tieren, sowie die Kristalle, welche sich in \delen Pflanzen vorfinden. Ebenso kommen Gase in elastisch-flüssiger Form (nicht aufgelöst) im Körper vieler Organismen vor, entweder mit der Außenwelt unmittelbar kom- munizierend (z. B. in den Lungen, Luftröhren, in den pneumatischen Knochenhöhlen der Vögel etc.) oder in besonderen Räumen abge- schlossen (z. B. in der Luftblase der Siphonophoren, der Schwimm- blase vieler Fische, den Gefäßen der Pflanzen etc.). Außer diesen drei Aggregatzuständen, welche also in belebten wie in leblosen Naturkörpern gleicherweise vorkommen, zeichnen sich nun aber die Organismen noch durch einen vierten Aggregatzustand aus, welcher einem Teile der Kohlenstoffverbindungen ausschließlich V. I. Organische und anorganische Stoffe. 57 eigentttmlicli ist und in den Anorganen nicht vorkommt, und welchen • wir als festflüssigen oder gequollenen Aggregatzustand be- zeichnen können. Es bildet dieser Zustand, wie schon der Name sagt, eine eigentümliche Mittelbildung zwischen dem festen und flüssigen Zustand und ist in der Tat aus einer Verbindung beider hervorgegangen. Er kommt dadurch zustande, daß Flüssigkeit in bestimmter (innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossener) Quantität zwischen die Moleküle eines festen Körpers (einer Kohlenstoff Verbindung) eindringt und dessen Intermolekularräume erfüllt. Diese Zwischen- räume sind in denjenigen organischen Materien, w^elche einer solchen Flüssigkeitsaufnahme (Quelluug oder Imbibition) fähig sind, offenbar von anderer Beschaffenheit, als bei denjenigen einfacheren organischen Verbindungen, welche, gleich allen anorganischen Verbindungen, nicht Flüssigkeit zwischen ihre Moleküle aufnehmen können, ohne selbst flüssig zu werden. Wahrscheinlich steht diese Fähigkeit im engsten Kausalzusammenhang mit der komplizierten Gruppierung der Atome in den betreffenden Kohlenstoffverbindungen. Denn gerade diejenigen organischen Materien, welche in diesen Beziehungen sich am weitesten von den Anorganen entfernen, sind es, welche den fest- flüssigen Aggregatzustand in der größten Ausdehnung annehmen können. Gerade diese höchst kompliziert und locker zusammengesetzten, leicht zersetzbaren Kohlenstoffverbindungen, vor allen die Eiweißstoffe und deren Derivate, sind es aber auch, welche die kompliziertesten Lebens- erscheinungen vermitteln, und da diese Kohlenstoffverbindungen, als die eigentlichen aktiven, organogenen Stoffe in keinem Organismus fehlen, so finden wir auch den für sie charakteristischen gequollenen Aggregatzustand in allen Organismen ohne Ausnahme vor. Die allgemeinen physikalischen Eigenschaften, welche die organische Materie durch die Quellung oder Imbibition erhält, sind für die Erklärung der Lebenserscheinungen von äußerster Wichtigkeit. Indem nämlich die festflüssigen oder gequollenen Materien gewisse Eigentümlichkeiten des festen und des flüssigen Aggregatzustandes in sich vereinigen, indem sie Festigkeit mit einem bedeutenderen Grade von Formveränderlichkeit, Härte mit einem eigentümlichen Grade von Weichheit verbinden, wird schon hieraus klar, warum die Funktionen der organischen Ma- terien weit differenzierter und komplizierter sein können, als dies bei dem einfachen Aggregatzustand der Anorgane jemals der Fall sein kann. 58 Organismen und Anorgane. V. Die Aviclitigsten aller sogenannten Lebenserscheimingen und, gerade diejenigen Funktionen der organischen Körper, welche man gewöhnlich als die charakteristischen Leistungen des Lebens zu be- zeichnen pflegt, sind nur möglich dadurch, daß die Materie, von welcher sie ausgehen, sich wenigstens teilweis im vierten, im fest- flüssigen Aggregatzustand befindet. Die sogenannten „animalen"' Kräfte der Empfindung und Bewegung, welche von der Nerven- und Muskelsubstanz ausgehen, wie die sogenannten „vegetativen" Kräfte der Ernährung und Fortpflanzung, welche den verschiedensten Sub- stanzen der Organismen inhärieren, sind ohne den festflüssigen Aggregatzustand ihres materiellen Substrates gar nicht denkbar. Gerade die eigentümliche Verbindung von Festigkeit und Flüssigkeit, von Härte und Weiche, von Starrheit und Beweglichkeit, welche durch die Lnbibition gegeben wird, bedingt und ermöglicht die kom- plizierteren Molekularbewegungen, welche den angeführten organischen Prozessen zugrunde liegen. Aus diesen Gründen können wir den Quellungszustand der lebenden Materien gar nicht hoch genug an- schlagen und werden befugt sein, in diesem festflüssigen Aggregat- zustande der meisten Kohlenstoffverbindungen, gleichwie in ihrer komplizierteren Zusammensetzung aus verwickelten Atomgruppen (welche wahrscheinlich eng mit der Quellungsfähigkeit zusammen- hängt) eine der wichtigsten Grundursachen des Lebens zu finden. Es wird daher zur Begründung unserer monistischen Lebensbeurteiiung hier gestattet sein, bei dem Fundamentalphänomen der Imbibition noch etwas zu verweilen, zumal auch für die Form der Organismen dieser vierte Aggregatzustand von der größten Bedeutung ist. II. Orgaiiisclie und anorganische Formen. II) 1. Individualität der organischen und anorganischen Gestalten. So wenig zwischen den Organismen und Anorganen ein abso- luter, allgemein durchgreifender Unterschied in der fundamentalen atomistischen Zusammensetzung der Materie, so^vie in den fundamen- talen Kräften, welche derselben inhärieren, zu finden ist, so wenig existiert ein solcher absoluter Unterschied zwischen beiden Gruppen von Naturkörpern auch in der Form, in der inneren Zusammen- setzung und in der äußeren Gestalt. Die sehr auffallenden Diffe- renzen, welche in allen diesen Beziehungen zwischen leblosen und belebten Körpern existieren, sind immer nur relativer Natur, indem Y_ II. Organische und anorganische Formen. 59 sie sich allmählich abstufen und indem die kompliziertere Zusammen- setzungsweise und die Imbibitionsfähigkeit der organischen Kohlen- stoffverbindungen notwendig eine kompliziertere Funktion und eine kompliziertere Form mit sich bringt. Allein auf der untersten Stufe der so reich differenzierten Organismenwelt finden wir einfachste Formen, welche in bezug auf Einfachheit der Zusammensetzung und Form nicht hinter den Anorganen zurückbleiben. Wir haben bereits oben eine allgemeine Vergleichung der Or- ganismen und Anorgane bezüglich der Zusammensetzung und Ent- stehung ihrer Formen angestellt, um die verschiedenen Seiten der Formbetrachtung, mit welcher wir uns beschäftigen werden, klar und scharf hervortreten zu lassen. Wir haben dort absichtlich ..die wesentlichen Formuuterschiede zwischen Organismen und Anorganen so scharf und durchgreifend gegenübergestellt, wie dies fast von allen Naturforschern geschieht''. Nun haben wir aber gerechter- weise auch die gewöhnhch ganz vernachlässigte Kehrseite jener Be- trachtung hervorzuheben und zu untersuchen, ob die dort hervor- gehobenen Differenzen wirklich absolut durchgreifende sind. An der Spitze unserer vergleichenden Betrachtung der organi- schen und anorganischen Form haben wir oben hervorgehoben, daß beiderlei Formen uns gewöhnhch als bestimmt abgeschlossene räum- liche Einheiten, als Individuen entgegentreten. Hier ist nun zu- nächst hervorzuheben, daß dies bei den Anorganen keineswegs konstant der Fall ist. Vielmehr tritt uns die leblose Materie sehr häufig nicht in individueller Form entgegen. Dies gilt zunächst von allen Gasen oder elastischen Flüssigkeiten. Dasselbe könnte ferner auch von allen tropfbaren Flüssigkeiten behauptet werden, falls man hier nicht die einzelnen Tropfen, welche, innerhalb einer nicht mit ihrem Stoff mischbaren Flüssigkeit, vermöge der Kohäsion ihrer Moleküle eine bestimmte Form (in einer Flüssigkeit vom gleichen spezifischen Gewichte eine Kugelform) annehmen, als Individuen gelten lassen will. Auch die festen Anorgane treten sehr oft in einer nicht indi^iduaKsierten Form auf, als „amorphe" unregel- mäßige Stücke etc. Als eigenthche ausgebildete anorganische Individuen können wir nur die Kristalle gelten lassen, welche auch schon von anderen Naturforschern (vorzügHch von Schwann) in dieser Beziehmig unter- sucht und mit den organischen Individuen vergKchen worden sind. Doch müssen wir auch hier die Übergangsbildungen hervorheben. 60 Organismen und Anorgane. V. welche zwischen vollkommen amorphen mid rein kristallinischen Körpern vorkommen, nnd welche man allgemein mit dem Namen der kristalloidischen Bildungen belegen kann. Während bei den vollkommen amorphen Anorganen die Atome oder Moleküle einfach aggregiert, ohne jedes bestimmte Gesetz aneinander gelagert sind, finden wir bei den Kristalloiden eine bestimmte gesetzmäßige An- lagerung und Verbindungsweise der Moleküle (z. B. in einer gewissen „stralüigen'" oder „blätterigen" inneren Struktur) ausgesprochen, ohne daß dieselbe aber, wie es bei den echten Kristallen der Fall sein muß. zur Bildung einer symmetrischen oder regulären prismoiden Form führt, zu einer Form, welche von ebenen Flächen, geraden Linien und be- stimmten unveränderlichen Winkeln und Ecken begrenzt ist. Indem wir vorher die Kristalle als die höchst entwickelten anorganischen Individuen den organischen Individuen vergleichend gegenübergestellt hatten, bemerkten wir zunächst, daß die ersteren durch und durch homogen, in sich gleichartig, aus Molekülen einer und derselben Art zusammengesetzt seien, während die letzteren im Inneren heterogen, in sich ungleichartig, und aus Molekülen nicht nur, sondern auch aus gröberen Teilen von ganz verschiedener Art zusammengesetzt seien. Auf diese Zusammensetzung des Organismus aus differenten Teilen, aus Organen, oder aus Individuen verschie- dener Ordnung gründen wir im dritten Buche die Strukturlehre oder Tektologie. So wesentlich nun dieser Unterschied im großen und ganzen ist, so haben wir hier doch zweierlei gegen seine allgemeine Gültig- keit einzuwenden. Erstens nämlich sind die Kristalle in ihrem Inneren durchaus nicht, wie man oft hervorhebt, vollkonmien homogen. Wenn auch die chemische Natur ihrer Moleküle, die Zusammen- setzung derselben aus Atomen, gleichartig ist, so gilt dies keineswegs von deren Lagerung und Verbindungsweise. Diese ist vielmehr, entsprechend den verschiedenen Achsen des Kristalls, nach verschie- denen Richtungen hin verschieden, und gerade diese innere Un- gleichartigkeit, die ungleiche Kohäsion der Moleküle in verschiedenen Richtungen, ist für die äußere Form des Kristalls ganz bedingend. Zugleich bedingt dieselbe die blätterige Struktur im Innern des Kri- stalls, seine Zusammensetzung aus tibereinander liegenden Schichten von verschiedenen Kohäsionsgraden. die Blätterdurchgänge, welche nach verschiedenen Richtungen hin sich kreuzen und durchschneiden. Hierdurch ist dann wieder der verschiedene Widerstand bedingt, den Y_ II. Organische und anorganische Formen. 61 der Kristall nach verschiedenen Richtungen hin dem Durchgänge des Lichts, der Wärme, der Elektrizität etc. entgegensetzt. Kurz, wir sehen, daß der Kristall durchaus kein homogener, in sich gleich- artiger Körper ist, wie ein amorphes Anorgan, sondern vielmehr eine innere Struktur besitzt, wie der Organismus; und den Teil der Kristallographie, welcher von dieser inneren Struktur handelt, könnte man die Anatomie der Kristalle, oder besser noch die Tektologie der Kristalle nennen. Wie wir nun so einerseits sehen, daß die ..innere Struktur", die Zusammensetzung aus bestimmt angeordneten Teilen, durchaus keine ausschließliche Eigenschaft des Organismus ist, so müssen wir zwei- tens andererseits hervorheben, daß es auch vollkommen homogene Organismen gibt, solche nämlich, welche (für unsere Hilfsmittel wenigstens) als durchaus homogene und strukturlose Körper erscheinen. Dahin gehören mehrere, schon seit längerer Zeit bekannte, sogenannte „Amöben", nämlich diejenigen einfachsten Amöbenformen, welche, ohne Kern und ohne kontraktile Blase, bloß einen strukturlosen kon- traktilen Eiweißklumpen darstellen. Insofern diese durchaus homogenen Amöben, die sich durch Diosmose ernähren und durch Teilung fort- pflanzen, selbständige „Spezies" darstellen, wollen wir dieselben als „Protamoeba", von den eigentlichen, mit Kern und kontraktiler Blase versehenen Amöben unterscheiden. Ferner gehören dahin die merkwürdigen „Protogenes", welche ebenfalls vollkommen homogene lebende Eiweißklumpen (Cytoden) darstellen, sich aber durch sehr bedeutende Größe auszeichnen und durch Anastomose der dünnflüssigeren (weicheren, weniger konsistenten) formwechselnden Körperfortsätze von den dickflüssigeren (festeren) Protamöben (ohne Anastomose der Pseudopodien) unterscheiden. In allen diesen äußerst merkwürdigen und wichtigen Organismen der niedrigsten Stufe, welche sich übrigens unmittelbar einerseits an die mit einer Schale versehenen Rhizopoden, andererseits an die Jugendzustände der Myxomyceten an- schließen, besteht der gesamte Organismus aus einem volUvommen homogenen lebenden Eiweißklumpen (Plasmaklumpen, Cytoden), wel- cher offenbar lediglich vermöge seiner atomistischen Konstitution als ein leicht zersetzbarer und imbibitionsfähiger Eiweißstoff sämtliche „Lebens"funktionen zu vollziehen imstande ist. Die Bewegung äußern diese primitiven Urwesen mittels der formlosen und beständig wechselnden Fortsätze, welche sie von der Oberfläche ausstrecken und welche das Resultat der gegenseitigen Lageveränderung der Moleküle 62 Organismen und Anorgane. Y. in der festflüssigen Eiweißsiibstanz sind. Die Reizbarkeit oder Erreg- barkeit äußern sie als Reflexbewegung durch bestimmte Reaktionen, durch Modifikationen der Bewegungen, z. B. Zurückziehen der Pseudo- podien, bei Berührung mit einem reizausübenden fremden Körper, einer in Essigsäure getauchten Nadel etc. Die Ernährung voll- ziehen sie entweder dadurch, daß sie die in dem umgebenden Wasser gelösten einfacheren Verbindungen: Kohlensäure, Ammoniak etc. unmittelbar zu verwickelten Kohlenstoffverbindungen, zur Eiweiß- substanz des Protoplasma, kombinieren; oder sie ernähren sich durch mechanische Aufnahme fester Stoffe mittels der Pseudopodien, aus denen sie dann die brauchbaren Substanzen durch Zersetzung aus- ziehen und assimiheren. Die Fortpflanzung endlich geschieht durch einfache Selbstteilung. Und doch haben diese Organismen keine ,.Organe"! Sie sind so vollkommen homogen als die Kristalle, mor- phologisch aber insofern noch unvollkommener, als ihre konstituierenden Moleküle nach allen Richtungen frei verschiebbar sind, und das ganze Individuum keine feste bleibende Form besitzt. Um diese einfachsten und unvollkommensten aller Organismen, bei denen wir weder mit dem Mikroskop noch mit den chemischen Reagentien irgend eine Differenzierung des homogenen Plasmakörpers nachzuweisen vermögen, von allen übrigen, aus ungleichartigen Teilen zusammengesetzten Organismen bestimmt zu unterscheiden, wollen wir sie ein für allemal mit dem Namen der Einfachen oder Moneren belegen. Gewiß dürfen wir auf diese höchst interessanten, bisher aber fast ganz vernachlässigten Organismen besonders die Aufmerksamkeit hinlenken, und auf ihre äußerst einfache Form- beschaffenheit bei völliger Ausübung aller wesentlichen Lebens- funktionen das größte Gewicht legen, wenn es gilt, das Leben zu erklären, es aus der fälschlich sogenannten „toten" Materie ab- zuleiten und die übertriebene Kluft zwischen Organismen und Anorganen auszugleichen. Lulem bei diesen homogenen belebten Naturkörpern von diff'erenten Formbestandteilen, von „Organen" noch keine Spur zu entdecken ist, vielmehr alle Moleküle der struktur- losen Kohlenstoffverbindung, des lebendigen Plasma, in gleichem Maße fähig erscheinen, sämtliche Lebensfunktionen zu vollziehen, liefern sie klar den Beweis, daß der Begriff" des Organismus nur dynamisch oder physiologisch aus den Lebensbewegungen, nicht aber statisch oder morphologisch aus der Zusammensetzung des Körpers aus „Organen" abgeleitet werden kann. Y_ IL Organische und anorganische Formen. 63 "Wenn wir die Zusammensetzung des Körpers aus verschieden- artigen Teilen als Hauptcliarakter der Organismen hervorheben wollten, so würde die Kluft zwischen jenen einfachen, lebenden Plasmaklumpen und den höheren, aus Individuen verschiedener Ord- nung zusammengesetzten Organismen viel größer erscheinen, als die Kluft zwischen den ersteren einerseits und den Kristallen anderer- seits. Die Moneren stehen in dieser Beziehung wirldich auf der Grenze zwischen leblosen und lebenden Naturkörpern. Sie leben, aber ohne Organe des Lebens; alle Lebenserscheinungen, Ernährung und Fortpflanzung, Bewegung und Reizbarkeit, erscheinen hier ledig- lich als unmittelbare Ausflüsse der formlosen organischen Materie, einer Eiweißverbindung. Wir können demnach weder die Zusammensetzung des Körpers aus ungleichartigen Teilen (Organen etc.), noch auch nur die Zu- sammensetzung des Individuums aus mehreren gleichartigen Individuen niederer Ordnung, wie bisher geschehen, als allgemeinen Charakter der Organismen festhalten. Wir werden dies in Zukunft um so weniger können, als höchst wahrscheinlich eine vielseitigere Unter- suchung der Anorgane nachweisen wird, daß auch hier bisweilen eine Zusammensetzung des Individuums aus mehreren Individuen niederer Ordnung vorkommt. Wir meinen hier die zusammen- gesetzten, teils rein kristallinischen, teils kristalloiden Bildungen, welche insbesondere das kristallisierende Wasser so leicht hervor- bringt. Offenbar sind diese sehr mannigfaltigen und oft äußerst zusammengesetzten Gestalten, welche wir als Eisblumen. Eisbäume etc. im Winter an unseren Fensterscheiben bewundern, und durch deren Namen schon das Volk gleichsam instinktiv ihre morphologische Ähnlichkeit mit Organismen andeutet, derartige „höhere, vollkommene" Anorgane, bei welchen die komplizierte Gestalt des Ganzen aus einer gesetzmäßigen Vereinigung untergeordneter Teile resultiert. Offen- bar sind diese Eisblumen, Eisblätter etc. nach bestimmten Gesetzen gebildet: es sind Aggregate von zahlreichen einzelnen Kilstalleu. von vielen Individuen niederer Ordnung, welche zur Bildung des höheren Ganzen sich vereinigt haben. Eine bestimmte Summe von zentralen K^•istallindi^dduen bildet die Achse, um welche sich die peripherischen Indi\iduen, bestimmten Anziehungs- und Abstoßungsverhältnissen jener Achse gehorchend, ansetzen. Bei den komplizierten Eisbäumen, welche den zusammengesetzteren Fiederblättern z. B. von Farnen gleichen, scheint jede Fieder, jeder Seitenzweig der Hauptachse selbst 64 ürganismen und Anorgane. V. wieder die Ansatzlinie für eine neue Reihe nocli mehr unterge- ordneter Individuen werden zu können etc. Auch vielfach sonst finden wir solche einfachere und zusammengesetztere Kristallaggregate (z. B. in vielen sogenannten Kristalldrusen) vor, welche ganz offen- bar nicht gesetzlos zusammengeworfene Kristallhaufen sind, sondern durch bestimmte Anziehungs- und Abstoßungsverhältnisse geregelte, gesetzmäßige Bildungen, in denen notwendig die komplizierte Form des Ganzen aus der komplizierten Zusammenordnung der einzelnen Teile resultiert. Wenn diese merkwürdigen Bildungen erst näher untersucht sein werden, ist zu hoffen, daß auch bei diesen ,,Kristall- stöcken", wie man sie nennen könnte, bestimmte Gesetze gefunden w^erden, welche den Zusammentritt der Individuen verschiedener Ord- nung zum höheren Ganzen bestimmen. Die Feststellung dieser Gesetze würde für die Anorgane dieselbe Aufgabe sein, wie sie die Tektologie für die Organismen verfolgt. II) 2. Grundformen der organischen und anorganischen Gestalten. Als einen weiteren wesentlichen Unterschied der organischen und anorganischen Individuen haben wir oben die Verschiedenheit der äußeren Gestalt selbst bezeichnet. Bei den ausgebildeten an- organischen Individuen, den Kristallen, „ist die Form einer voll- kommen exakten mathematischen Betrachtung ohne weiteres zu- gänglich, und mit der stereometrischen Ausmessung derselben ist die Aufgabe ihrer morphologischen Erkenntnis wesentlich gelöst. Die anorganischen Individuen sind fast immer von ebenen Flächen, geraden Linien und bestimmten meßbaren Winkeln begrentzt. Die organischen Individuen hingegen, deren Form einer stereometrischen Behandlung zugänglich ist, sind seltene Ausnahmen. Fast immer ist ihr Körper von gekrümmten Flächen, gebogenen Linien und unmeßbaren sphärischen Winkeln begrenzt". Auch dieser Unterschied, den wir absichtlich oben so schroff hingestellt haben, wie dies gewöhnlich geschieht, ist keineswegs so absolut und durchgreifend, wie man glaubt. Vielmehr kommen auch in dieser Beziehung, wie überall, Zwischenformen und Übergangs- bildungen vor. Zunächst ist hier hervorzuheben, daß auch voll- kommen reine anorganische Kristalle sich finden, welche nicht, gleich den meisten anderen, von ebenen Flächen begrenzt sind, die in geradlinigen Kanten zusammenstoßen. Am wichtigsten sind in dieser Beziehung die von gekrümmten Flächen eingeschlossenen Diamant- Y II. Organische und anorganische Formen. 65 kristalle. welche um so bemerkenswerter sind, als der Kohlenstoff, der hier in reinster Form sphärische Kristallflächen hervorbringt, zngieich dasjenige chemische Element ist, welches an der Spitze der Organogene steht und die Avichtigste Rolle in der Bildnng der organischen Verbindungen spielt. Dasselbe gilt auch vom Wasser, welches nicht minder unentbehrlich für das Zustandekommen und den Bestand der organischen Formen ist. Die unendlich mannig- faltigen Kristallformen des Schnees und Eises, und vor allem die sehr komplizierten, eben hervorgehobenen ,,höheren und voll- kommeneren" Kristallformen (Eisblumen, Eisblätter etc.). welche aus Kristallindividuen niederer Ordnung sich zusammensetzen, zeigen äußerst häufig höchst komplizierte, einer stereometrischen Betrachtung gar nicht mehr zugängliche, gekrümmte Linien und Flächen. Während so einerseits der Fall nicht selten ist. daß auch reine und vollkommen geformte anorganische Individuen, gleich den orga- nischen, nur gekrümmte Begrenzungsflächen und krumme Kantenlinien zeigen, die in unmeßbaren Ecken zusammenstoßen, so kommt anderer- seits noch häufiger der Fall vor, daß auch organische Individuen, gleich den meisten anorganischen Kristallen, vollkommen ebene Be- grenzungsflächen darbieten, welche sich in geraden Linien schneiden und in meßbaren Raumecken zusammenstoßen. Wir meinen hier nicht die Kristalle organischer Kohlenstoffverbindungen (z. B. Zucker, organische Säuren. Fette etc.), da wir diese nicht als wirkliche orga- nische Individuen, d. h. als physiologische Lebenseinheiten, ansehen können : wir meinen vielmehr die bisher auffallend vernachlässigten, äußerst interessanten Organismen aus dem Rhizopodenstamme, welche besonders in der Radiolarienklasse einen so außerordentlichen Formen- reichtum entwickeln und hier zum Teil vollständig, in ihrer gesamten Körperform, und vor allem in ihrer Skelettbildung, die reinsten und regelmäßigsten Kristallformen (Tetraeder, reguläre Oktaeder. Quadrat- Oktaeder, Rhomben-Oktaeder, dreiseitige Prismen etc.) darstellen. Im ganzen genommen ist freilich die Zahl dieser Organismen in Kristallform gering, und es muß ausdrücklich hinzugefügt werden, daß es immer nur ein Teil des Körpers ist (wenn auch oft der größte, und häufig der einzige feste und geformte Teil), welcher die einfache Kristallform annimmt. Denn zu diesem (meist aus Kieselsäure gebildeten) Kristallskelett kommt stets noch zum minde- sten die amorphe Sarkode, das lebende Protoplasma, hinzu. Diese Haeckel. Prinz, d. Morphol. O 66 Organismen und Anoigane. V. letztere kann allein die Lebensbewegung^en vermitteln, denen auch jener Skelettkristall seine Entstehung verdankt. Bei der Mehrzahl der Organismen ist die Kristallform gewöhnlich schon deshalb ganz oder größtenteils ausgeschlossen, weil der ganze Körper, oder doch der größte Teil desselben, aus imbibitionsfähiger Materie besteht. Kristallisation und Imbibition schließen sich aber, wie oben bemerkt, aus. Wir haben daher gewiß in der für das Leben unentbehrlichen Quellungsfähigkeit der organischen Materien die nächste Ursache für die nicht kristallinische Form der meisten Organismen zu suchen. Nächst der Irabibitionsfähigkeit, und in der nächsten Beziehung und Verbindung mit ihr, ist es dann ferner die unbegrenzte Varia- bilität der Organismen, welche, wie oben bemerkt, eine stereo- metrische Betrachtung, Ausmessung und Berechnung der meisten organischen Formen in gleicher Weise, wie sie die Kristallographie für die Anorgane gibt, illusorisch macht. Die Individuen der orga- nischen ,,Arten" (Spezies) sind nicht, wie die Individuen der anorga- nischen Arten, einander (innerhalb des Speziesbegriffes) gleich, oder auch nur in allen wesentlichen Stücken ähnlich. Vielmehr haben wir die allgemeine Veränderlichkeit und Anpassungsfähigkeit aller Organismen als eine äußerst wesentliche Grundeigenschaft derselben zu konstatieren. Indem alle Individuen untereinander ungleich sind und daher auch eine gemeinsame stereometrische Grundform nur für eine bestimmte Summe von Individuen, welche innerhalb eines be- schränkten Zeitraums (z. B. einige geologische Perioden hindurch) existieren, aufgestellt werden kann, so würde die genaueste stereo- metrische Ausmessung und Berechnung der Organismenformen, ihrer komphzierten gekrümmten Begrenzungsflächen, Linien etc., auch wenn sie möglich wäre, nur ein ganz untergeordnetes Interesse haben. Dagegen ist eine allgemeine Betrachtung der stereometrischen Grund- formen, welche den Organismenformen zugrunde liegen, allerdings möglich und innerhalb gewisser Schranken ausführbar. In gewissem Sinne entspricht diese Promorphologie der Kristallographie, ist das Äquivalent einer ,.Kristallographie der Organismen", und man kann diesen Vergleich noch durch die Erwägung näher begründen, daß auch bei den reinen anorganischen Kristallen die vollkommene stereo- metrische Grundform äußerst selten (oder nie) in der Natur realisiert vorkommt und daher stets mehr oder minder eine (durch Ergänzung vieler einzelner verglichener konkreter Kristallindividuen erhaltene) Y_ III. Organische und anorganische Kräfte. 67 ideale Abstraktion darstellt. Die Unvollkoniinenheiten der aller- meisten realen Kristallindividuen sind durch Anpassung ihrer Form an die Umgebung bestimmt, welche während ihrer Entstehung wirk- sam war. In gleicher Weise, nur in viel höherem Grade, wirkt die Anpassung an die umgebenden Existenzbedingungen auf die werdenden Organismen ein. weshalb hier die individuelle Verschiedenheit so sehr viel beträchtlicher ist. und. indem sie viele Generationen hin- durch vererbt und durch Vererbung in Verbindung mit fortdauernder Abänderung gehäuft wird, schließlich zur Entstehung ganz neuer Formen führt. III. Org:aiiische und anorganische Kräfte. III) 1. Lebenserscheinungen der Organismen und physikalische Kräfte der Anorgane. Durch die vorhergehenden Untersuchungen glauben wir gezeigt zu haben, daß sowohl in der elementaren Konstitution und in der chemischen Zusammensetzung der Materie, als auch in der Form, in welcher sich dieselbe individualisiert, durchaus keine so wesentHchen und absoluten Unterschiede zwischen Organismen und Anorganen existieren, wie dies gewöhnlich angenommen wird. Die wirldich vor- handenen Unterschiede erklären sich aus der komplizierteren Art und Weise, in welcher die Atome der Elemente in den organischen Kör- pern zu verwickeiteren Atomgruppen (Molekülen) zusammentreten, und ganz besonders aus der außerordentlichen Fähigkeit des Kohlen- stoffs, mit mehreren verschiedenen Atomarten sich in sehr verwickelter Weise zu verbinden. Es ist lediglich diese verwickeitere atomistische Konstitution der Kohlenstoffverbindungen und die damit zusammen- hängende leichte Zersetzbarkeit derselben, die ungewöhnliche Neigung und Fähigkeit der Atome, ihre gegenseitige Lagerung und Gruppierung zu ändern, welche den organischen Materien zum Teil besondere physikalische Eigenschaften verleiht. Von diesen ist die wichtigste der festflüssige Aggregatzustand, die Quellungsfähigkeit. Nun entsteht aber die Frage, ob denn auch alle die verwickeiteren Bewegungs- erscheinungen der Materie, welche man unter dem Kollektivbegriff des ..Lebens" zusammenfaßt, sich ledighch aus dieser komphzierteren Konstitution der organischen Materie und der dadurch bedingten im- bibitionsfähigen Form erklären lassen. Wir haben den Beweis zu führen, daß dies in der Tat der Fall ist. und daß sämtliche Lebens- erscheinungen der Organismen ohne Ausnahme ebenso unmittelbare 68 Organismen und Anorgane. V, und notwendige Wirkungen der geformten organischen Materie sind, als die physikalischen Eigenschaften jedes Kristalles unmittelbare und notwendige Folgen seiner Form und stofflichen Qualität sind. III) 2. Wachstum der organischen und anorganischen Individuen. Der Ausdruck ..Leben" ist, wie bemerkt, nichts anderes als eine Kollektivbezeichnung für eine Summe von komplizierteren Be- wegungserscheinungen der Materie, welche nur den Organismen eigen sind und den Anorganen allgemein fehlen. Es entsteht aber hier zunächst die Frage, ob denn wirklich alle sogenannten Lebens- erscheinungen durchaus ohne Analogon in der leblosen Natur sind. Wenn wir nun in dieser Beziehung die molekularen Lebensbewegungen der organischen Individuen mit den molekularen Bewegungen, welche wir bei anorganischen Indi\iduen. insbesondere bei Kristallen, wahr- nehmen, vergleichen, so tritt uns als verwandte Erscheinung zunächst diejenige des Wachstums entgegen. Die Erscheinungen des Wachstums in den anorganischen und organischen Individuen sind schon vielfach und mit Recht verglichen worden: und zweifelsohne ist hier der Punkt, von welchem unsere Vergleichung am besten ausgehen kann. Bei allen Naturkörpern besteht die Erscheinung des Wachstums darin, daß die räumliche Ausdehnung und die Masse des Individuuns allmählich zunimmt, indem dasselbe durch eigene Tätigkeit fremde, außerhalb befindliche Massenteilchen anzieht. Bei den Kristall Individuen wird sowohl ihr Wachstum, als auch ihre Entstehung allgemein und ohne Wider- spruch zurückgeführt auf elementare Gesetze der Anziehung und Abstoßung der Moleküle einer homogenen Materie. Für die Wirk- samkeit dieser Gesetze ist der flüssige Aggregatzustand (entweder als Lösung oder als Schmelzung) unbedingt erforderlich. Offenbar sind es dieselben großen und einfachen Gesetze der Massenanziehung und der chemischen Wahlverwandtschaft, welche die Autogonie verschiedener Moneren, d. h. die spontane Entstehung* von homogenen strukturlosen Urorganismen in einer anorganischen Flüssigkeit, und welche die gesonderte Entstehung der verschiedenen Kiistalle in einer gemischten Mutterlauge bedingen. Hier wie dort erfolgt die Bildung der festen Körper aus der Flüssigkeit mit Not- wendigkeit, durch die ureigene Kraft der Materie, ohne Zutun einer davon verschiedenen, zweckmäßig wirkenden Kraft. Dieselbe funda- mentale Übereinstimmung zeigt sich nun auch weiterhin in dem V. III- Organische und anorganische Kräfte. 69 Wachstum der ..spontan" entstandenen Formen. Das Wachstum beruht in allen Fällen darauf, daß der vorhandene feste Körper als Attraktionszentrum, als Anziehungsmittelpunkt wirksam ist, und daß die Anziehungskraft, welche die in demselben inniger verbundenen, sich näher liegenden Moleküle auf ihre Umgebung ausüben, die schwächere Kohäsion der in der umgebenden Flüssigkeit gelösten Moleküle über- wiegt. Indem die letzteren weiter voneinander abstehen, sich weniger stark in ihrer gegenseitigen Lage zu erhalten vermögen, folgen sie der stärkeren Anziehung, welche von dem bereits gebildeten festen Körper ausgeht; sie gehen nun ebenfalls in den festen Aggregatzustand über. Sowohl der wachsende Kiistall, als das wachsende Moner zieht, wie jede andere Cytode und wie jede Zelle, aus der umgebenden Ernährungsfiüssigkeit nur diejenigen Substanzen an, welche es zu seinem individuellen Wachstum braucht, und trifft daher, wenn viele verschiedene ernährende Substanzen untereinander in der Flüssigkeit gelöst sind, zwischen diesen eine bestimmte Auswahl. Bei der Kri- stallisation der Anorgane zeigt sich dieses Phänomen ganz einfach darin, daß. wenn in einer Mutterlauge viele verschiedene Salzlösungen untereinander gemischt sich befinden, beim Abdampfen derselben alle einzelnen Salze gesondert heraus kristallisieren, indem das Gleiche stets das Gleiche anzieht. Beim Wachstum aller Organismen zeigt sich dasselbe Grundgesetz in dem Phänomen der Assimilation, indem z. B. in einem Teiche, in w^elchem viele einzellige Algen und Pro- tisten untereinander leben, jede nur diejenigen bestimmten Salze, diejenigen Quantitäten der organischen Verbindungselemente in sich aufnimmt, welche zur Bildung von organischer Substanz ihresgleichen dienen. Offenbar beruht diese wichtige Erscheinung, welche die Gleichartigkeit der chemischen Substanz ganz ebenso in dem struktur- ö' losen Monere, wie in dem Kristalle bedingt, auf denselben Gesetzen ö' der molekularen Anziehung und Abstoßune,-. Dieselben Gesetze der &• chemischen Wahlverwandtschaft und der physikalischen Massen- anziehung bewirken zusammen in gleicher Weise das Wachstum der Organismen und der Anorgane. Wenn wir uns nun von den strukturlosen Moneren zu den höheren Organismen wenden, deren Leib aus einem Komplex von differenzierten Zellen besteht, so finden wir auch hier dieselben ein- fachen und großen Gesetze wirksam, und nur dadurch häufig sehr versteckt, daß die unendlich verwickeitere Zusammensetzung der höheren organischen Individuen aus sehr verschiedenartigen Teilen 70 Organismen und Anorgane. V. aucli innner unendlich verwickeitere Bedingungen des Wachstums und der Stoffauswahl setzt. So z. B. zieht bei den höheren Tieren aus der gemeinsamen Ernährungsflüssigkeit, dem höchst zusammengesetzten Blute, jede einzelne Zelle, jedes einzelne Organ nur diejenigen be- stimmten Bestandteile an sich, welche seinesgleichen sind, welche es zu seiner individuellen Vergrößerung braucht, und verschmäht die übrigen. Aber selbst für diesen komplizierteren organischen AVachs- tumsprozeß gibt es Analoga in der anorganischen Natur. Dahin gehört das bekannte Experiment, welches schon von Reil 1796 in seiner klassischen Abhandlung „von der Lebenskraft"' benutzt wurde, um zu zeigen, daß die „Assimilation", die Ernährung und das Wachstum der Tiere nichts weiter seien als eine „tierische KristaUisation", d. h. ..eine Anziehung tierischer Materie nach Gesetzen einer chemischen Wahlverwandtschaft". Wenn man nämlich in eine Auflösung von Salpeter und Glaubersalz einen Salpeterkristall hineinlegt, so kristalli- siert nur der Salpeter heraus, und das Glaubersalz bleibt gelöst; wenn man dagegen umgekehrt in dieselbe gemischte Auflösung einen Glaubersalzkristall hineinlegt, so kristallisiert nur das Glaubersalz heraus, und der Salpeter bleibt gelöst. Diese wichtige Erscheinung, welche uns die Gleichheit der ein- fachen Grundursachen im Wachstum der Organismen und Anorgane beweist, führt uns unmittelbar zu einem weiteren wichtigen Grund- gesetz des Wachstums, das sich ebenfalls auf bestimmte Verhältnisse der Massenanziehung gründet. Es folgt nämlich aus jenem instruk- tiven Versuche unmittelbar, daß ein bereits gebildeter fester Körper in seiner Mutterlauge (d. h. in einer Flüssigkeit, welche die ihn zu- sammensetzenden eigenen Stoffe gelöst enthält) eine stärkere Anziehung auf die umgebenden in der Flüssigkeit gelösten Moleküle ausübt, als diese unter sich auszuüben vermögen. Ist daher einmal in einer solchen Bildungsflüssigkeit ein fester Körper vorhanden, so wirkt dieser als Anziehungsmittelpunkt und vermag nun gleichartige ]\Iaterie, welche in der Flüssigkeit gelöst ist, aus dem flüssigen in den festen Aggregatzustand überzuführen, und zwar unter Umständen, unter denen dieser Übergang (das Festwerden) ohne Anwesenheit des festen Körpers nicht erfolgt wäre. Auch dieses wichtige Gesetz wird sicher in ganz gleicher Weise für die Organismen wie für die Anorgane gelten und wird namentlich dann zu berücksichtigen sein, wenn es sich um die Autogenie der Moneren handelt, welche offenbar ein der primitiven Kristallbildung in der Mutterlauge ganz analoger Prozeß ist. V, in. Organische und anorganische Kräfte. 71 III) 3. Selbsterhaltung der organischeTX und anorganischen Individuen. Gleich der Kraft des Wachstums ist auch die Kraft der Selbst- erliahung" eine allgemeine Funktion der Naturkörper. Jedes orga- nische und jedes anorganische Individuum erhält sich einen beschränk- ten Zeitraum hindurch selbst, so lange nämlich, als es die Wechsel- wirkung seiner eigenen Materie mit derjenigen seiner Umgebung gestattet. Die Tätigkeit der Selbsterhaltung ist nun zwar allen Natur- körpern gemeinsam, äußert sich aber doch bei den organischen und anorganischen Individuen in sehr verschiedenen Erscheinungen. Bei den Organismen ruft dieselbe die verwickelten Bewegungserschei- nungen der Ernährung oder des Stoffwechsels hervor. Diese Funktionen sind für den Bestand des Organismus ebenso wie für seine sämtlichen übrigen Lebenserscheinungen die notwendige Unter- lage. Denn alle anderen Funktionen, Willensbewegimg und Emp- findung, Sinnestätigkeit und Fortpflanzung, beruhen auf molekularen Bewegungserscheinungen, welche erst durch den Stoffwechsel und die Ernährung möglich w^erden. Alle diese Bewegungen beruhen im Grunde darauf, daß durch Bildung chemischer Verbindungen gewisse bewegende Kräfte frei werden, welche in den unverbundenen Materien gebunden waren; darauf also, daß gebundene oder Spann- kräfte in lebendige Kräfte übergehen. Der Vorrat an Spann- kraft, welcher bei dem Übergang in lebendige Kraft verbraucht wurde, muß ersetzt werden, wenn das organische Individuum weitei'- existieren soll, und dieser notwendige Ersatz wird durch die Ernäh- rung geliefert. Die Ernährung beruht nun wieder, wie das Wachstum der Organismen, darauf, daß die neu erworbenen assimilierten Mole- küle in das Innere des Körpers hineingeführt w^erden und hier die Stelle derjenigen Moleküle einnehmen, welche bei der Arbeitsleistung des Organismus verbraucht w^urden. Diese Einführung neuer Sub- stanz und ihre Assimilation, welche das Wesen der Ernährung ausmacht, ist wieder nur möglich mittels des festflüssigen Aggregat- zustandes, und es erklärt sich hieraus, warum die anorganischen Individuen der Ernährung nicht fähig sind. Sie sind ihrer aber auch nicht bedürftig. Sämtliche belebte Naturkörper existieren nur, sie können ihre Existenz nur behaupten, indem sie sieh beständig, wenn auch langsam, zersetzen; alle sind sie eingeschlossen in ein 72 Organismen und Anorgane. V. Medium (Luft, Wasser, Inneres eines anderen Organismus), in welchem sie sich notwendig zersetzen müssen. Denn die Biklung der Verbindungen, durch welche die lebendigen Kräfte frei werden, ist verbunden mit einer Zersetzung der vorhandenen Materie. Die gebundenen Spannkräfte, welche eben bei dieser Zersetzung frei und zu lebendigen Kräften werden, veranlassen durch ihre Bewegungen die notwendigen Lebenserscheinungen. Der dabei beständig wirk- samen Gefahr des Unterganges, des Todes, entziehen sich die orga- nischen Individuen durch die Ernährung, welche jener Zersetzung entgegenwirkt. Sie müssen daher, um ihre Existenz zu fristen, um zu ..leben", sich in beständigem Stoffwechsel befinden, sich be- ständig zersetzen und ernähren, und dies ist nur mittels der Imbi- bition möglich. Wenn diese Wechselwirkung zwischen der Zersetzung und der Ernährung der festflüssigen Materie aufhört, tritt der Tod ein. Sämtliche anorganische Individuen dagegen können sich nie- mals zersetzen, ohne dadurch ihre Existenz als solche aufzugeben. Weil sie nicht imbibitionsfähig sind, können sie sich nicht ernähren, und wenn sie sich zersetzen, so ist dies ihr Tod. So wenig aber die Kristalle sich zersetzen können, ohne ihre individuelle Form und damit ihren individuellen Charakter aufzugeben, so wenig bedürfen sie der Zersetzung, um sich zu erhalten. Und hierin liegt gleichfalls ein wesentlicher Unterschied zwischen den organischen und anorga- nischen Individuen, der sich ebenfalls auf ihren verschiedenen Ag- gregatzustand zurückführen läßt. Denn der feste Aggregatzustand der Kristalle, welcher die inneren Bewegungserscheinungen aus- schheßt, die für das Leben des festflüssigen Organismus unentbehrlich sind, verleiht denselben zugleich die Fähigkeit der Selbsterhaltung, ohne daß Stoffwechsel für die Konservation erforderlich ist. III. 4. Anpassung der organischen und anorganischen Individuen. Die Anpassung oder Adaptation ist diejenige formbildende Funktion der Naturkörper, welche die unendlich mannigfaltigen in- dividuellen Charaktere bedingt, durch welche sich alle Individuen einer und derselben Art voneinander unterscheiden. Wir haben schon oben, wo wir absichtlich die Differenzen in der Form und Entstehung der organischen und anorganischen Indi- viduen möglichst schroff gegenüberstellten, einen der wichtigsten Unterschiede darin gefunden, daß alle anorganischen Individuen, die einer und derselben Art angehören und dieselbe chemische Zu- Y. III. Olganische und anorganische Kräfte. 73 sammensetzung haben, auch vollkommen dieselbe wesentliche Form zeigen und sich nur durch ihre absolute Größe unterscheiden. Die Kristalle einer anorganischen Spezies zeigen nicht die durch die Variabilität bedingten individuellen Verschiedenheiten, welche alle verschiedenen Individuen einer und derselben organischen Spezies auszeichnen, und es bleibt daher auch die anorganische Art im Laufe der Zeit vollkommen unveränderlich, konstant, während die organischen Spezies durch fortschreitende Divergenz ihrer variablen Individuen eine endlose Reihe ganz verschiedener Formen erzeugen. Da den Anorganen die Fortpflanzung fehlt, so fehlt ihnen auch die Fähigkeit der erblichen Übertragung von solchen Charakteren, die durch Anpassung erworben sind. Dennoch bedarf unsere obige Bemerkung einer bedeutenden Ein- schränkung. Individuelle Verschiedenheiten finden sich auch unter den anorganischen Individuen ganz allgemein vor. und zwar sind sie die Folge der Anpassung an die Verhältnisse, unter denen das Kristallindividuuni sich bildete. Bei Untersuchung dieses wichtigen Verhältnisses muß man vor allem immer im Auge behal- ten, daß bei der Entstehung aller individuahsierten Naturkörper, bei der Bildung jedes Kristalls, wie bei der Bildung jedes Organismus, stets zwei verschiedene Prinzipien oder gestaltende Mächte einander entgegenwirken. Das eine Prinzip ist beim Kristall wie beim Orga- nismus die Summe der spezifischen physikalischen und chemischen Eigenschaften, welche seiner Materie inhärieren. Beim Organismus, der sich nicht selbst erzeugt, sondern von anderen Individuen seines- gleichen durch Fortpflanzung erzeugt wird, sehen wir diese Erschei- nung als die notwendige Wirkung der Erblichkeit an, welche alle wesentlichen Eigenschaften des Organismus auf seine Nachkommen überträgt. Beim Kristall dagegen betrachten wir diese Erscheinung als den unmittelbaren Ausfluß seiner materiellen Konstitution, d. h. der spezifisch bestimmten Art und Weise, in welcher sich gesetz- mäßig eine bestimmte Anzahl von Atomen zu bestimmten Molekülen zusammensetzt. Durch einfache Attraktion dieser Moleküle entsteht die charakteristische Form des Kristalls. Eine schärfere Vergieichung ergibt nun alsbald, daß auch in dieser Beziehung kein wesentlicher Unterschied zwischen den Organismen nnd Anorganen existiert. Denn auch die Erblichkeit beruht auf der materiellen Kontinuität des elterlichen und des von ihm erzeugten Organismus, und wir können die fundamentale Erscheinung der Erblichkeit, der erblichen 74 Organismen und Anorgane. V. Übertragung biologischer Funktionen durch nichts anderes erklären, als durch die Übertragung der spezifisch konstituierten Materie selbst. Die Erblichkeit der Organismen wirkt vollkommen äquivalent der atomistischen Konstitution der Anorgane; hier wie dort ist es die Materie, welche sämtliche allgemeinen Funktionen (die Lebens- erscheinungen der Organismen, die physikalischen und chemischen Kräfte der Anorgane) unmittelbar als Causa efficiens mit absoluter Notwendigkeit bedingt. Diesem mächtigen gestaltenden Prinzip, welches der Materie des sich bildenden Individuums (gleicherweise des Kristalls wie des Organismus) unmittelbar inhäriert, und welches wir demgemäß all- gemein als die innere Gestaltungskraft oder den inneren Bildungs trieb bezeichnen werden, wirkt nun beständig und überall entgegen die zweite formbildende Macht, welche die zahllosen Eigen- tümlichkeiten der individuellen Bildungen bedingt, durch die sich alle Einzelwesen jeder Art voneinander unterscheiden. Diese nicht minder wichtige Funktion des werdenden, des sich gestaltenden Individuums können wir allgemein als Anpassung (Adaptatio. Accommodatio) bezeichnen, oder, im Gegensatz zu ihrem Antago- nisten, als äußere Gestaltungskraft oder äußeren Bildungs- trieb. Die allgemeine Existenz und Wirksamkeit dieser formbilden- den Potenz wird einfach durch die Tatsache bedingt, daß kein einziger Naturkörper isoliert im Räume sich bildet und existiert, daß vielmehr sämtliche Naturkörper sich bilden und existieren in Wechselwirkung mit den anderen Naturkörpern, welche sie unmittel- bar von allen Seiten umgeben. Die allgemeine Wechselwirkung der gesamten Materie tritt uns hier als eines der obersten und wichtigsten Naturgesetze gegenüber, welches unmittelbar mit deih all- gemeinen Kausalgesetze zusammenhängt. Die innere Gestaltungs- kraft jedes Teils der Materie, der innere Bildungstrieb jedes einzelnen Naturkörpers, als die aus ihrer atomistischen Konstitution unmittel- bar entspringende Kraftsumme kann niemals rein und ungestört die individuelle Bildung vollenden. Denn beständig wird sie gestört von der entgegenwirkenden äußeren Gestaltungskraft der umschließen- den Materie, von dem äußeren Bildungstriebe aller einzelnen Natur- körper, welche sie unmittelbar oder mittelbar umgeben. Da nun die Summe dieser von außen einwirkenden Kräfte überall eine ver- schiedenartige, überall aus verschiedenen Komponenten zusammen- gesetzt ist, so muß auch ihre Wirkung auf ein und dieselbe Materie Y. in. Organische und anorganische Kräfte. 75 in jedem individuellen Falle verschieden sein und lediglich diese Wechselwirkung jedes Individuums mit seiner gesamten Umgebung ist es, welche als Anpassung seine besonderen individuellen Cha- raktere bedingt. Versuchen wir diese äußerst wichtigen Fundamentalverhältnisse der gesamten Körperwelt, welche für die anorganische und die organische Natur ganz gleiche Geltung haben, als allgemeines Ge- setz zu formulieren, so ließe sich dieses etwa in folgenden Worten aussprechen: Jeder Teil der aus Atomen zusammengesetzten Materie wirkt auf jeden anderen Teil der Materie, entweder anziehend (durch Attraktion) oder abstoßend (durch Repulsion). Diese Wirkung er- zeugt in erster Linie Bewegungen der aufeinander wirkenden Atome, welche sich zu bestimmten Atomgruppen oder Molekülen gesetz- mäßig in bestimmten Zahlenverhältnissen verbinden. Diese Mole- küle wirken nun ebenso wieder aufeinander, entweder anziehend oder abstoßend, und diese Wirkung erzeugt in zweiter Linie Be- Avegungen der aufeinander wirkenden Moleküle, welche, aus dem flüssigen in den festflüssigen oder festen Aggregatzustand übertretend, sich zu bestimmten individuellen Formen gesetzmäßig, in bestimmten Richtungen, verbinden, (amorphe Körner, kristalloide Körner. Kristalle. Moneren, Zellen, mehrzellige Organismen). Bei der Bildung jedes individuellen Naturkörpers treten zwei formbildende Kräfte in Wechsel- wirkung, der innere Bildungstrieb, die unmittelbare Wirkung der existierenden Materie des Individuums selbst (die Summe der bewegenden Kräfte aller Moleküle, welche das Individuum zusammen- setzen), und ihm gegenüber der äußere Bildungstrieb, die unmittel- bare Wirkung der Materie, welche außerhalb des Individuums existiert und dasselbe umgibt, die Summe der bewegenden Kräfte aller Mole- küle, welche außerhalb des Individuums existieren und auf dasselbe von außen bewegend (anziehend oder abstoßend) einwirken. Der innere Bildungstrieb oder die innere Gestaltungskraft äußert sich bei Bildung der anorganischen Individuen entweder als Aggre- gation (amorpher Körner) oder als Kristallisation (unvollkommener KristaUoide oder vollkommener Kristalle), bei Bildung der organischen Individuen entweder als Aggregation (bei der Autogonie der spontan entstehenden Moneren-Organismen) oder als Erblichkeit (bei der Fortpflanzung elterlich erzeugter Organismen). Der äußere Bildungs- trieb oder die äußere Gestaltungskraft äußert sich allgemein als Anpassung, bei Bildung der anorganischen Individuen, indem sie 76 Organismen und Anorgane. V. die verschiedene Größe und die untergeordneten Eigentümliclikeiten der äußeren Form bedingt, durch welche sich die einzehien Kristall- individuen derselben Art unterscheiden. Bei Bildung der organischen Individuen dagegen, indem sie die individuellen Charaktere, die ver- schiedene Größe und die unendhch mannigfaltigen untergeordneten Eigentümlichkeiten der inneren und äußeren Form bedingt, durch welche sich die einzelnen Organismen derselben Art unterscheiden und welche nach Darwins Divergenzlehre zur Bildung der ver- schiedenen Arten, Gattungen, Familien. Klassen usw. führen. Die Anpassung der organischen und anorganischen Individuen unter- scheidet sich nur insofern, als ihr verschiedener Aggregatzustand und ihre verschiedene atomistische Konstitution hier bedingend wirken. Der festflüssige Aggregatzustand der Kohlenstoffverbindungen in den Organismen, welche im Innern des schon gebildeten Individuums eine fortwährende Bewegung der Moleküle und eine Ersetzung der verbrauchten Stoffteile durch neue nicht allein erlaubt, sondern auch bedingt, gestattet und verursacht durch diese beständigen inneren Veränderungen auch innere Anpassungen. Der feste Aggregat- zustand der anorganischen Individuen dagegen, welcher keine Be- wegung im Inneren des einmal gebildeten Individuums gestattet, ohne dessen individuelles Wesen zu vernichten, erlaubt dadurch zugleich auch keine innere Anpassung, sondern nur gewisse An- passungen der von außen neu sich ansetzenden Schichten, die wir im Gegensatz zu jenen äußeren Anpassungen nennen können. Die Anpassung der anorganischen Individuen, der Kristalle, ist für die Yergleichung derselben mit den Organismen äußerst wichtig, und da diese Verhältnisse bisher von den Biologen in dieser Beziehung sehr wenig gewürdigt sind, erlauben wir mis hier, ihre hohe Bedeutung besonders hervorzuheben. Die äußeren Bedingungen, denen sich die Kristalle bei ihrer Ent- stehung anpassen (die äußeren Gestaltungskräfte) liegen teils in dem absoluten Grade der Temperatur, teils in dem relativen Zeitmaße der Temperaturveränderung, bei welcher die Kristallisation stattfindet, teils in der Beimischung anderer Lösungen zu der Mutterlauge, aus welcher der Kristall entsteht, teils in der Mischnng und Form der umgel)enden festen I\ör])er etc. Doch ist uns das Nähere über die gesetzliche Wirksamkeit dieser Anpassungsl)edingungen zurzeit noch größtenteils unbekannt. Schon sehr feine Unterschiede in der Temperatur, in der Ruhe, in der Bei- mischung fremder Lösungen zu der Flüssigkeit, in der Form imd Mischung des die Flüssigkeit umschließenden Gefäßes etc. vermögen in Größe und Form der einzelnen Kristallindividuen sehr beträchtliche Vei'schiedenheiten zu licdingen. Aber selten können wir ein bestimmtes gesetzliches Yer- Y_ III. Organische und anorganische Kräfte. 77 hältnis zwischen der unmerklichen Ursache und der auffallenden Wirkung- nachweisen. Im ganzen genommen sind uns diese Gesetze und die bei der Bildung der Kristalle auftretenden Kausalbeziehungen nicht besser l)ekannt. ihrem innersten Wesen nach aber sind sie uns vollkommen el)enso rätsel- haft als die Kausalgesetze, welche bei Entstehung der Organismen die verschiedenen individuellen Formen aus einfacher gemeinsamer Grundlage hervorgehen lassen. Von den verhältnismäßig Avenigen Fällen, in denen wir die wirkenden Ursachen kennen, welche die abgeleiteten Kristallformen bedingen, hat Bronn in seinen morphologischen Studien (S. 30, ;)7) eine Reihe (größtenteils von Frankenheim, Mit scherlich. Lavalle und B e u d a n t beobachtete Erscheinungen) zusammengestellt. Als Hauptursachen für die Entstehung bestimmter abgeleiteter Kristallformen (eines und des- selben Systems) werden dort angeführt. I. Die Anwesenheit stellvertretender und außerwesenthcher Gemischteile in dem Minerale oder in der Flüssig- keit, woraus sich dasselbe bildet, und IL Die Beschaffenheit der kristal- hnischen Unterlage, a) Reiner Kalkspat besitzt eine viel größere Anzahl abgeleiteter Flächen, als der mit isomorphen Salzen gemischte, b) Im Inneren einer reinen Auflösung kristallisiert das Mineral gewöhnlich in seiner reinen Kernform, während die Beschaffenheit der umschließenden Gefäßwände oder fremde Beimischungen in der Flüssigkeit Modifikationen der Kernform veranlassen. So z. B. kristallisiert Kochsalz in Würfeln, bei anwesender Borsäure in Kubo-Oktaedern. bei anwesendem Harnstoff in Oktaedern etc. c) Blei-Azotat kristallisiert aus saurer Flüssigkeit als ent- ecktes Oktaeder, aus neutraler als vollkommenes Oktaeder, d) Jodkalium, welches sonst als Würfel kristallisiert, erscheint auf Glimmer in Oktaeder- form, e) Selbst die Lage des Kristalls ist bei langsamer Bildung von Einfluß; wenn derselbe locker auf dem Boden des Gefäßes liegt, wird die aufliegende Fläche größer, und entsprechend auch die gegenüber- liegende, f) Die Winkel isomorpher Kristalle, welche bei 0^ niu- un1)e- deutend voneinander verschieden sind, nehmen mit zunehmender Tempera- tur teils zu, teils ab, aber in verschiedenen Graden. Viel wichtiger aber als die Tatsache, daß selbst sehr geringfügige äußere Einflüsse („Anpassmigsbedingungen") genügen, um sehr beträcht- liche Differenzen in Größe und Formkomplikation der anschießenden Kristalle hervorzurufen, welche in einer und derselben Flüssigkeit nach einem und demselben Kristallsysteme sich bilden, ist der Umstand, daß solche äußere Ursachen selbst auf die Wahl des Kristallsystems von Einfluß sind, welches der anschießende Kristall annimmt, und daß geringe Veränderungen der äußeren Einflüsse genügen, um den Kristall im einen Falle nach diesem, im anderen nach jenem System sich bilden zu lassen. Hierher gehören die zahlreichen Fälle vom Polymorphismus (meistens Dimorphismus, selten Trimorphismus etc.) der Kristalle, bei denen man allerdings nur selten die Ursache kennt, warum derselbe chemische Körper das eine Mal dieses, das andere Mal jenes Kristallsystem sich auswählt. Den größten Einfluß scheint in dieser Beziehung wieder der Tempe- raturgrad zu haben, bei welchem die Kristalle sich bilden, sowie der Unterschied, ob der kristallisierende Körper aus einer konzentrierten Lösung 70 Organismen und Anoigane. V, sich absetzt, oder ol) er aus dem geschmolzenen Aggregatzustand durch Al)kühlung in den festen übergeht. So z. B. können lediglich Temperatur- unterschiede den kohlensauren Kalk Ijestimmen. bald als Kalkspat im hexagonalen, bald als Arragonit im rhombischen Systeme zu kristallisieren. Geschmolzener Schwefel schießt beim langsamen Erkalten in klinorhom- bischen Säulen an. während derselbe Schwefel aus einem tropfbar-flüssigen Medium, in welchem er gelöst ist, bei dessen Verdunstung oder langsamer Abkühlung in Rhombenoktaedern kristallisiert. Noch viel merkwürdiger aber ist es, daß schon der Kontakt mit einem fremden heterogenen Kristalle genügt, den gelösten Kör])er zum Aufgeben seiner eigenen und zur Annahme dieser fremden Kristallform zu bewegen. So erscheint der Kalisal])eter. welcher dem rhombischen Kristallsysteme angehört, in rhomoboedrischen, dem Kalkspat isomorphen Kristallen des hexagonalen Systems, wenn er sich auf einem Minerale dieses Kristall- systems als Unterlage bildet. ni) 5. Korrelation der Teile in den organischen und anorganischen Individuen. Von besonderer Bedeutung für die Analogie zwischen den orga- nischen nnd anorganischen Individuen scheint uns endhch die Korre- lation oder Wechselbeziehung der Teile zu sein, welche gewöhnlich als eine besondere nnd charakteristische Eigentümlichkeit der Orga- nismen hingestellt wird, während sie doch in ganz ähnlicher Weise auch den Kristallen zukommt. In ähnlicher Weise, wie im Organisnms alle einzelnen Teile untereinander und zum Ganzen in bestimmten, durch die Form des Organismus ausgedrückten Beziehungen stehen, so finden wir auch beim Kristalle, daß alle einzelnen Teile unter- einander und zum Ganzen in bestimmten, durch die gesetzmäßige Verschiedenheit der Kohäsion in bestimmten Richtungen (Achsen) ge- regelten Beziehungen stehen. Diese notwendige Wechselwirkung der Teile untereinander und auf das Ganze ist ganz ebenso im Organismus wie im Kristall durch die physikalischen Funktionen und die che- mische Zusammensetzung seiner Materie mit Notwendigkeit bedingt. Als Ausdruck dieser anorganischen Korrelation der Teile betrachten wir zunächst das Symmetriegesetz der Kristalle, wonach alle abgeleiteten Kristallformen, die als individuelle Variationen der Kristall- grundformen auftreten, stets mehr oder minder symmetrisch modifiziert auftreten. Alle gleichartigen Teile einer Kristallform erleiden bei Ver- änderung eines einzigen Teiles von ihnen dieser entsprechende Ver- änderungen. Wenn also eine Kante oder Ecke eines Oktaeders durch eine bestimmte Fläche ersetzt wird, so müssen auch alle entsprechenden Kanten und Ecken desselben durch eine Fläche von gleicher Beschaffen- heit ersetzt werden. Beim Quadrat-Oktaeder, bei welchem die obere Y_ III. Organische und anorganische Kräfte. 79 und untere Ecke von den vier unter sich gleichen (Quadrat-)Ecken des mittleren Umfangs verschieden sind, können zweierlei Ecken-Veränderungen (z. B. Abstumpfungen durch eine Fläche) eintreten, indem die eine Ver- änderung die korrespondierende obere und untere Ecke, die andere Ver- änderung die vier anderen Ecken trifft. Beim Rhomben-Oktaeder, wo alle sechs Ecken paarweis gleich, die drei Paare aber ungleich sind, kitnnen die sechs Ecken von drei verschiedenen Modifikationen getroffen werden, indem jede Modifikation nur zwei gegenüberliegende Ecken trifft usw. Die Kristallographie weist nach, welche große Menge individuell verschiedener Kristallformen aus einer und dersell^en Grund- form auf diese Weise durch gleiche Modifikation entsprechender Ecken. Kanten und Flächen hervorgehen kihmen. Die Betrachtung dieser Ver- schiedenheiten im einzelnen berührt uns hier nicht, um so mehr aber das allgemeine Symmetriegesetz, welches daraus hervorgeht und welches zeigt, daß korrespondierende (gleichartige oder gegenüberliegende) Teile des Kristalls in einer ebenso innigen Wechselbeziehung zueinander stehen, wie verschiedene korrespondierende Teile eines Organismus. Der einzige wesentliche Unterschied, welchen die Kurrelation der Teile in den organischen und anorganischen Individuen zeigt, besteht darin, daß dieselbe bei den Organismen, deren Sul)stanz zeitlebens in innerer Bewegung und Umänderung bleibt, auch ihr ganzes Lel)en hin- durch wirksam ist. während dieselbe bei den Kristallen sich nur während der Zeit ihrer Bildung äußern kann, in dem einmal gebildeten Kristalle aber, bei welchem keine innere Bewegung ohne Zerstörung mehr statt- findet, nicht mehr als lebendige Kraft bildend wirksam sein kann. Äußerst lehrreich ist in dieser Beziehung ein Experiment von Lavalle. Dieser zeigte, daß, wenn man einem in der Bildung begriffenen Oktaeder eine Kante wegschneidet und so eine künstliche Fläche bildet, eine ähnliche Fläche sich von selbst an der korrespondierenden gegenüber- liegenden Kante bildet, während die übrigen sich scharf ausbilden. Alle diese Erscheinungen der symmetrischen Kristallbildung l)eweisen uns evident, daß die innere Struktur und die äußere Form der Kristalle ebenso unmittelbar zusammenhängen, und daß der ganze Kristall ebenso ein organisches Ganzes ist. wie der Organismus. Alle einzelnen den Körper zusammensetzenden Teile hal)en in dem einzelnen Kristalle ebenso eine innere Beziehung zueinander und zu der Totalität des ganzen Indivi- duums, wie in dem einzelnen Organismus. III) 6. Zellenbildung und Kristallbildung. Bei der Vergieichtmg, welche wir im Vorhergehenden zwischen Organismen und Anorganen anstellten, haben wir als Typus der voll- kommensten anorganischen Individuen die Kristalle und als Typus der einfachsten amd unvollkommensten Organismen die Moneren hingestellt. In letzteren konnten wir durchaus keine differenten Teile unterscheiden, fanden vielmehr ihren gesamten Körper aus einer voll- gQ Organismen und Anorgane. V. kommen homogenen, formlosen Eiweißmasse gebildet. Dieser in sich völlig gleichartige Plasmaklumpen ist ein selbständiges organisches Individuum, begabt mit den beiden wichtigsten Lebensfunktionen, der Ernährung und Fortpflanzung. Ein allgemeiner Vergleich der Zellen mit den Kristallen und der Versuch, die Zellbildung in ähnlicher Weise wie die Kristall- bildung auf einfache Molekularbewegungen der Materie zurückzuführen, stößt bereits auf sehr viel größere Schwierigkeiten, weil wir in der Zelle schon mindestens zwei verschiedene Formelemente zu einem individuellen Ganzen verbunden haben, was bei den homogenen Cyto- den noch nicht der Fall ist und bei den Kristallen niemals vorkommt. Um so wichtiger und interessanter ist es, daß wir bereits seit langer Zeit einen solchen Vergleich besitzen, der noch jetzt von hohem Werte ist. Theodor Schwann nämlich hat in den epochemachenden ..mikroskopischen Untersuchungen", durch welche er 1839 die Gewebe- lehre als besondere Wissenschaft neu begründete, den sehr aner- kennenswerten Versuch gemacht, in monistischem Sinne die Zellen als die eigentlichen Elementarorganismen nachzuweisen, welche den Körper der höheren Organismen durch Aggregation zusammensetzen, und hat dabei die Zellen als die eigentlichen organischen Individuen mit den Kristallen als den anorganischen Individuen in Parallele gestellt. In der berühmten ..Theorie der Zellen", welche den letzten Teil im dritten Abschnitte jenes Werkes bildet (S. 220—257) hat Schwann diesen Vergleich der Zellen mit den Kristallen durchzu- führen versucht und hat unseres Erachtens mit bewundernswürdiger Schärfe den schlagenden, wenn auch nicht vollständigen Beweis für die Theorie geführt. ..daß die Bildung der Elementarteile der Organismen nichts als eine Kristallisation imbibitionsfähiger Substanz, der Organis- mus nichts als ein Aggregat solcher imbibitionsfähiger lüistalle ist." lY. Einheit der orgaiüscheii und anorganischen Natur. Wir haben in den drei vorhergehenden Abschnitten die Überein- stimmungen und die Unterschiede zu schätzen und zu messen versucht, w^elche die beiden großen Hauptgruppen der irdischen Naturkörper, Organismen und Anorgane, hinsichtlich ihres Stoffes, ihrer Form und ihrer Funktionen zeigen. Als das allgemeine Resultat dieser Ver- gleichung können wir nun schließlich folgenden Satz aufstellen: Alle uns bekannten Naturkörper der Erde, belebte und leblose, stimmen V. IV. Einheit der organischen und anorganischen Natur. gl überein in allen wesentlichen Grundeigenschaften der Materie, in ihrer Zusammensetzung aus Massenatomen und darin, daß ihre Formen und ihre Funktionen die unmittelbaren und notwendigen Wirkungen dieser Materie sind. Die Unterschiede, welche zwischen beiden Haupt- gruppen von Naturkörpern hinsichtlich ihrer Formen und Funktionen existieren, sind lediglich die unmittelbare und notwendige Folge der materiellen Unterschiede, welche zwischen beiden durch die verschieden- artige chemische Verbindungsweise der in sie eintretenden Elemente bedingi werden. Die eigentümlichen Bewegungserscheinungen, welche man unter dem Namen des „Lebens" zusammenfaßt und welche die eigentümlichen Formen der Organismen bedingen, sind nicht der Ausfluß einer besonderen (innerhalb oder außerhalb des Organismus befindlichen) Kraft (Lebenski'aft, Bauplan, wirkende Idee etc.), sondern lediglich die unmittelbaren oder mittelbaren Leistungen der Eiweiß- körper und anderer komplizierter Verbindungen des Kohlenstoffs." Eine eingehendere Uiitersuclmno; und Yerffleichims; der individuellen *pi Organismen und Auorgane hinsichtlich ihrer materiellen Zusammen- setzimg und der daraus unmittelbar resultierenden Form imd Funktion wird leicht noch zahlreichere und schlagendere Beweise für die obigen Sätze sammeln können, als uns hier auf dem beschränkten Earmi möglich war. Wir müssen ims daher begnügen, einige der wichtigsten Punkte hier besonders hervorgehoben zu haben und müssen das Weitere einer künftigen synthetischen Untersuchung anheimgeben. Für uns kam es hier vor aUem darauf an, der bisher ganz einseitig ausgel)ildeten analyti- schen Unterscheidung der beiderlei Köri)er nun auch einmal ihre synthetische Yergleichung gegenüberzustellen imd das weitverbreitete Dogma zu beseitigen, daß das „Leben" etwas ganz Besonderes, absolut von der leblosen Natur Verschiedenes und von ihr Unabhängiges sei. Daß dies keineswegs der Fall ist imd daß nm* relative Differenzen die leblosen mid belebten Naturkörper trennen, glauben wir hinsichtlich aller drei Erscheinungsreihen, der stofflichen Zusammensetzung und der daraus resultierenden körperlichen Form mid funktionellen Leistung gezeigt zu haben. Wir fassen die wichtigsten Vergleichimgspimkte hier kurz zu- sammen. I) Die chemischen Urstoffe oder mizerlegbaren Elemente, welche die lebendigen und die leblosen Naturkörper zusammensetzen, sind die- selben. Es gibt kein Element, welches nur in den Organismen vor- käme. Dagegen ist ein Element, der Kohlenstoff, Avelches auch in der leblosen Natiu* als Kristallindividuum auftritt (als Diamant, als Grapliit), dasjenige, welches in keinem Organismus fehlt und welches durch seine außerordentliche, keinem anderen Elemente eigene Neigung zu verwickeiteren Verbindungen mit den anderen Elementen, diejenige unendliche Mannigfaltigkeit der „organischen Stoffe" erzeugt, welche die unendUche Mannigfaltigkeit der organischen Formen imd Lel)enserschei- H a e c k e 1 , Prinz, d. Morphol. b 82 Organismen und Anorgane. y. nungen liervorljrin ^> = S" 0 "^ "^ T3 6 Ü 5j" cn — ■ ^ H rTrfp 0 = 2- n> ^. ;3" & 0 ^• ■^ c o :; fD 1 — • w , ;: — . 0 aq o Q tu O' fO ,_f_ _ ■— ' 0 C5 4^ t-O 7: r ogc ^, — 3 0 ' 2 Ä7l — 0 ,—■ h-1 rti -1 3 er? - 0 Mo ^ fo o fÖ' 2' rische 1 0 r ]) h 0 ie oder dformen 0 2 ■^ — • aq ™ CB fp J 0 ^ " s- S» t< 0 ® — * — ^■ — . 0 n =s ^^ » (T ^ -5 -3 0 ^ MM* s c« ® CB •^ ' OQ H 3^M^ f03!:i.O 5^0 — 3 = >— "•oii'^P 22p;:i-ci;i53-2.-:^ ^ Cfi C/3 CD = 5" : ''St?:! »^ ^ ?i ° ?= S ?S' !2. ? 2 << jS S'?^ 3'cß'c£2-H° 2£^^ o :; 2-5^SI ^ .er? CDo5-''^5"cd3CDCD -; Cfa 3 ^^ ro CD ^"^ — _ w P l- ^ ? • = o.^"5 ci -• CD M • cü •„.3 75 71 3 cr=! 2 - CD ^^i ^ 5 ■^ c/) ^ CD ~ -! ----^ CD C^ — • 3 3''^ ^« CD ** —"■ ~co 0 ^ 3 -^ run oder oiffwec Erhalt cd' 3 ~= 2_ W--E c 3- 3 sr^^crt; --? CD CD 3 C« CD » S ffq rD^ w ^. M.rfQ • — lO 3" CD — ^ CO 1-0 f'*> "^ 0 Q^ ( — 1 ^S- ^j- 3 & ;. m' CD Vi CD ^ ^ Ps: 2. ^ ^ ^ CD _ 3 m 2 11 ZI r d rat] iltu WCD t- 0 "■ r?-. CD CD s 0 '•^ „ • 3 Cf, g -: 3 r' a<; 1 CD o c^ CD ?^ er ^ o CD _ ~ _| -< "^ 3" 2 !2 CD «> ;^p :i M- ° -^ c» 5^ CD er? -• . 'S S Q- ";? CD ^^ ' — ' y: 3 rt- CD ■- aq y: O zue Phys Mus . Ner ?r ^ Phy der'B 111a iolo kell ven ^ CA H CD Cj 3 CD CD « ES "■ S " ^3. 3 ^ 3 11 Cl. CD CD CD C^ ^ 5 P-^ • P- CS -. 1 ^3 CD 1 3 cd' 1 CTQ i-^j Oecol un Geogr der T > DD CD 2-3 CD i:^. 3 CD Vi CD 1= "■ 3" CD "= [^ "' 2^5 '"'crq ^ 03 U ^ 0 CD S. a CD N CTQ a> -ao • CD r* -. ?= -: 3 CD CD — • CD r-^ C/3 h- rn c^ ^— - ^"^J t-: CD 3" 0 r^ CD 2- r^ '::i.o aq cr>UQ ^ Ü^ CD aq CD cn ~- o o 3? o "^ °2. 2 <*' • -s •s* c © N. •^^ . 0 0 f- 7vacixio£?) verteilen : Übersicht der verschiedenen morphologischen Individuen erster Ordnung: Plastitles (Plasmastücke oder Bildnerinnen). I. Cytodae. (Cellinae.) Cytoden. Plasmaklumpen ohne Kern. I. 1. Gymnocytodae. Urklumpen oder nackte Klumpen. Kernlose Plasmaklumpen ohne Haut oder Schale. I. 2. Lepocytodae. Hautklumpen oder Schläuche. Kernlose Plasma- klumpen mit Haut oder Schale. II. Cellulae. (Cyta.) Zellen. Plasmaklumpen mit Kern. II. 1. Gymnocyta. Urzellen oder nackte Zellen. Kernhaltige Plasma- klumpen ohne Haut oder Schale. II. 2. Lepocyta. Hautzellen oder Kernschläuche. Kernhaltige Plasma- klumpen mit Haut oder Schale. II. 2. Zusammensetzung der Piastiden (Cytoden und Zellen) aus verschiedenen Formbestandteilen, A. Plasma. (Protoplasma oder Cytoplasma.) Zellstoff. Da wir durch die Einteilung der Piastiden in Cytoden und Zellen neue Begriffe in die Histologie eingeführt haben, deren Gebiet -[\2 ]\Iori)hologische Individualität der Organismen. IX. bisher die Zellen als die einzigen und allniäclitigen Elementar- organismen beherrschten, und da uns diese Unterscheidung der Cytoden und Zellen insbesondere für die Vorstellungen von der ersten Entstehung der Organismen die größte Wichtigkeit zu besitzen scheint, so müssen wir den verschiedenen Strukturverhältnissen der Piastiden eine eingehendere Betrachtung widmen, als es bei den Individuen höherer Ordnung gestattet sein wird. Wir werden daher hier be- sonders die Zusammensetzung der Piastiden (Cytoden und Zellen) aus verschiedenen Eormbestandteilen und die wesentlichen Eigen- schaften dieser Formbestandteile ins Auge zu fassen haben, und betrachten demgemäß zunächst das Plasma oder den Zellstoff, (Cyto- plasma). dann den Nucleus oder Zellkern und endlich die verschie- denen (äußeren und inneren) Plasmaprodukte. Als Plasma oder Zellstoff, besser Bildungsstoff, bezeichnen wir nach dem vorhergehenden alle diejenigen organischen Materien, welche als die wesentlichen und in keinem Falle fehlenden Träger der Lebensbewegung erscheinen, als das aktive materielle Sub- strat des Lebens, und welche also gewissermaßen als der „Lebens- stoff" oder die „lebende Materie" im engeren Sinne bezeichnet werden könnten. Überall, wo wir bisher im Tier-, Protisten- und Pflanzen- reiche in der Lage waren, die chemische Natur dieses Körpers bestimmen zu können, hat sich derselbe als ein Eiweißkörper oder Albuminat (sogenannte Proteinverbindimg) herausgestellt. B. Nucleus. (Cytoblastus oder Karyonj. Zellkern. Als derjenige wesenthche Formbestandteil, welcher die organi- sche Zelle als solche charakterisiert und von der Cytode oder kern- losen Plastide unterscheidet, ist der Nucleus oder Zellkern von besonderem Interesse. Gleich dem Plasma aller Piastiden ist auch der Nucleus aller Zellen stets aus einer Eiweißverbindung gebildet, welche durch geringe physikalisch-chemische Differenzen sich von der des Protoplasma oder Cytoplasma unterscheidet. Bei den meisten tierischen Zellen ist der Nucleus während der ganzen Zeit ihres Lebens nachzuweisen, während er dagegen bei vielen Pflanzenzellcn (z. B. Holz- und Gefäßzellen) nur in ihrer Jugend existiert und späterhin verschwindet. Der Kern erscheint in den meisten Zellen als ein scharf umschriebener rundlicher Körper, weniger umfangreich als das Protoplasma, das ihn gewöhnlich von allen Seiten umschließt. In selteneren Fällen liegt in gewissen Haut- JX. I. Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden. 113 Zellen der Kern ganz peripherisch, so daß er nur auf der einen Seite vom Plasma, auf der anderen von der Membran begrenzt wird. Im Gegensatze zum Plasma, welches durch Anpassung an die Außenwelt die verschiedenartigsten Formen annehmen kann, zeigt der Kern allermeist eine sehr einfache und scharf umschriebene Form. Gewöhnlich ist er kugelig oder sphäroidal. bald mehr ellip- soid. bald mehr linsenförmig, seltener zylindrisch verlängert oder stäbchenförmig, sehr selten verästelt, sternförmig oder von kompli- zierterer Form. Der Grenzkontur des Kerns gegen das umschließende Plasma ist meist scharf und deutlich. Betrachtet man die Zelle in ihren natürlichen Verhältnissen, mit Vermeidung alterierender Flüssigkeiten, so erscheint der Kern sehr häuHg homogen und klar, imd in seinem Lichtbrechungsvermögen wenig von dem Plasma verschieden. Oft erzeugt aber schon Wasserzusatz, und in den meisten FäUen bewirkt Zusatz von Essigsäure im Nucleus einen fein- körnigen Niedersclüag. so daß derselbe sich als dunkel graniüierter Ivörper scharf von dem umgebenden Protoplasma absetzt. Über die Konsistenz und den Bau des Zellenkerns findet man bei Botanikern und Zoologen die widersprechendsten Ansichten, die sich wohl großenteils dadurch erklären werden, daß der Kern in verschiedenen Zellen eine sehr verschiedene Beschaffenheit besitzt. Während die meisten dem Iverne eine festere Beschaffenheit als dem Plasma zuschreiben und ihn als einen „leidUch festen", soliden, homogenen Körper ansehen, beschreiben ihn dagegen andere als ein „Bläschen", aus fester Membran und flüssigem Inhalt gebildet, und in manchen Fällen wird er sogar als ein halbflüssiger „Eiweißtropfen" geschildert. In der Tat scheint der Ivohäsionsgrad bei verschiedenen Ivernen außerordentlich verschieden zu sein. In sehr vielen Fällen ist der Nucleus olme Zweifel weit fester und derber als das Plasma, und eine Differenz von Hülle und Inhalt dann nicht an ihm nachzuweisen, während in anderen Fällen, z. B. bei vielen Eiern, Furchunoskugeln, Embrvonalzellen, Nervenzellen und anderen Urzellen, der Kern als ein zartes, oft ziemlich dickwandiges und doppelt konturiertes Bläschen einen homogenen, eiweißartigen Inhalt zu um- schließen scheint, dessen Konsistenz hinter derjenigen des Plasma zurück- bleibt. Sehr häufig bemerkt man in dem Kern, auch ohne Zusatz alterieren- der Flüssigkeiten, mehrere feine Körner (oft vielleicht Bläschen?) und außerdem ein größeres Korn oder Bläschen, welches sich in der Regel dnrch stärkere Lichtbrechung auszeichnet. Dieser kleine Körper, welcher entweder im Innern oder an der Peripherie des Nucleus liegt, wird als Nucleolus oder Kernkörperchen beschrieben. Bisweilen ist in diesem zentralen Körper nochmals ein vierter scharf umschriebener kleiner Körper eingeschachtelt, der dann Nucleolinus oder Kernpunkt genannt werden kann (z. B. in manchen Eiern. Ganglienzellen etc.). Haeckel, Prii z. d. ilorphol. g 114 Älorpliologische Individualität der Organismen. JX. Die chemische Zusammensetzung des Zellkerns und der in ihm ein- geschlossenen Körperchen, Nucleolus und Nucleolinus, ist oft schwierig zu ermitteln und in vielen Fällen imbekannt. Wahrscheinlich besteht dersell)e aber immer aus einem vom Plasma etwas verschiedenen Eiweiß- körper, sei es in l'estdiissigem, sei es in festem Aggregatzustande. In allen Fällen, wo durch mikrochemische Reaktion die chemische Konstitution des Kerns zu ermittehi war. hat sich stets eine Eiweißverbindung heraus- gestellt. C. Plasmaprodukte. Da wir sämtliche Plastideii, sowohl Cytoden als Zellen, als selbständige Elementarorganismen zu betrachten haben, die minde- stens in ihrer Jngendzeit ein mehr oder minder unabhängiges Leben als morphologische Individuen führen, so sind dieselben natürlich der Lebensbewegung und damit einer Reihe von Veränderungen unterworfen, die wir als Funktionen der Piastiden anzusehen haben, und die ihre Ernährung, ihre Fortpflanzung, und ihre Beziehungen zur Außenwelt betreffen. Von diesen verschiedenen Lebenstätigkeiten der Piastiden sind für uns hier diejenigen zunächst von besonderem Interesse, die man gewöhnlich unter dem Namen der Zell meta- morph ose zusammenfaßt', und die sich auf die Veränderung der Größe, Form, Konsistenz und namentlich auf die Produktion von Teilen beziehen, welche vom Plasma und dem Kerne verschieden sind. Wir können diese Teile, welche als integrierende morphologi- sche Bestandteile der metamorphosierten Piastiden erscheinen, und entweder in ihrem Inneren oder auf ihrer Oberfläche, aber immer mit dem Plasma räumlich verbunden (adhärent) auftreten, allgemein als Produkte des Plasma bezeichnen. Unter Produkten des Plasma fassen wir demgemäß alle die- jenigen Forrabestandteile der metamorphosierten Zelle zusammen, welche von dem Plasma und dem Nucleus verschieden sind, mögen sie nun im Plasma eingeschlossen oder außerhalb desselben liegen. Demnach gehören hierher alle diejenigen Teile, welche man gewöhn- lich in der tierischen und pflanzhchen Zellenlehre mit folgenden Namen zu belegen pflegt: 1. die „Zellenmembranen"; 2. die „Inter- cellularsubstanzen"; 3. der „Zellsaft"; 4. der „Zellinhalt", und noch verschiedene andere Teile, w^elche logischerweise unter eine der er- wähnten Kategorien sich einreihen lassen. Sämtliche Produkte des Plasma, mögen dieselben innerhalb oder außerhalb des metamorphosierten Plasma getroffen werden, entstehen IX. I- Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden. 115 entweder durch Differenzierung des Plasma oder durch Aus- scheidung des Plasma. Der Unterschied zwischen beiden Ent- stehungsweisen der Plasmaprodukte liegt darin, daß im ersteren Falle die Substanz des Plasma selbst sich verändert und in den neuen Körper tibergeht, während im letzteren Falle der Plasmakörper selbst unverändert bleibt und nicht in die Substanz des Produktes tibergeht. Als eine reine Differenzierung des Plasma würden wir z. B. die Entstehung der quergestreiften aus der homogenen Muskelsubstanz, die Bildung gewisser eiweißartiger Intercellularsub- stanzen, und tiberhaupt allgemein die Entstehung der heterogenen und spezifischen Plasmakörper der Epithelzellen, Nervenzellen, Drtisen- zellen usw. aus den indifferenten Plasmakörpern der homogenen und indifferenten Embryonalzellen aufzufassen haben. Dagegen würden wir als eine Ausscheidung des Plasma z. B. die Bildung der Cuti- culae (der Chitinhäute etc.), der Zellulosemembranen und eines großen Teils der Intercellularsubstanzen, ferner im Innern der Piastiden die Bildung vieler nicht eiweißartiger Stoffe, z. B. der Stärkemehlkörner und anderer Konkretionen, der Kristalle etc. anzusehen haben. So scharf sich aber auch der prinzipielle Unterschied der bei- derlei Plasmaprodukte in der Theorie dahin aussprechen läßt, daß die Differenzierungsprodukte aus der Substanz des sich verän- dernden Plasma selbst, die Ausscheiduugsprodukte durch Wirkung des Plasma nach außen, Exsudation usw. entstehen, so schwierig ist es in der Praxis in den meisten Fällen zu sagen, wohin das eine oder das andere Produkt zu rechnen sei: und im Grunde genom- men ist diese Unterscheidung nur eine rohe und obeiflächliche, denn eigentlich ist auch jede Ausscheidung mit einer Veränderung, d. h. Differenzierung der Substanz des Plasma, und umgekehrt jede Diffe- renzierung mit einer Trennung bestimmter, weniger veränderter Plasma- teile von anderen mehr veränderten, d. h. Ausscheidung verbunden. In sehr vielen Fällen werden Ausscheidung und Differenzierung gleich- mäßig bei der Bildung des Produktes zusammenwirken, oder in einer Weise verbunden, daß der Anteil des einen und des anderen Pro- zesses sehr schwierig zu bestimmen sein wird. Aus diesem Grunde betrachten wir hier die Produkte der Differenzierung und Ausschei- dung gemeinschaftlich als Plasmaprodukte und unterscheiden nur zwischen äußeren, auf der Oberfläche des bleibenden Protoplasma gelegenen und inneren, innerhalb oder zwischen einzelnen Teilen des Plasma gelegenen Plasmaprodukten. 116 Morphologische Individualität der Organismen. IX. Ca. Äußere Plasmaprodukte. (..Zellenmembranen" und „Intercellular Substanzen".) Die übliche Trennung der äußeren Plasmaprodukte in Zellen- nierabranen und Intercellularsubstanzen ist künstlich und nicht ohne Willkür durchzuführen, weshalb wir hier beiderlei Produkte gemein- sam zu besprechen haben. Die allgemeine Bedeutung der Membran der Piastiden hat in neuerer Zeit sehr an Wichtigkeit verloren, seitdem, wie oben schon angeführt wurde, der Beweis geführt worden ist, daß wir in allen Fällen, wo eine Plastide von einer Haut umschlossen ist, sowohl bei den kernhaltigen Zellen, als bei den kernlosen Cytoden, die Membran für ein sekundäres Produkt des Plasma zu halten haben, nicht für einen primären und integrierenden Bestandteil der Plastide als solcher. In der Tat sind jetzt so sichere und so zahl- reiche Beispiele von Cytoden und von Zellen bekannt, die Zeit ihres Lebens nackt und membranlos bleiben, und von anderen Piastiden, die anfangs (bei ihrer Entstehung durch Teilung oder Keimbildung) nackt, später von einer Hülle oder Schale umgeben sind, daß an der Wahrheit der obigen Behauptung nicht mehr gezweifelt w^erden kann. Für die allgemeine biologische Auffassung der Zelle als Ele- mentarorganismus ist aber dieser Umstand von der größten Wichtig- keit. Denn während man früher, wo die allgemeine Anwesenheit der Zellenmembran als eines das Plasma völlig umschließenden Schlauches oder Sackes als allgemein gültiges Dogma die Zellen- theorie beherrschte, der Membran meist eine hohe, oft selbst eine größere physiologische Bedeutung als dem in ihr enthaltenen Plasma zuschrieb, gewöhnt man sich jetzt richtiger daran, das Plasma als das aktive, primär wirksame Element des Zellenlebens, und die ^lembran dagegen als passiven Bestandteil, als das sekundäre Pro- dukt des ersteren, zu betrachten. In sehr vielen Fällen existieren die nackten, hautlosen Piastiden sehr lange Zeit hindurch, und zwar gerade in der Jugendzeit, wo sie am tatkräftigsten und leistungsfähigsten sind, ohne alle Hülle, und umgeben sich erst mit einer solchen, wenn sie in den ruhigeren und passiveren Zustand des Alters übergehen. Insbesondere zeigt sich dieser Umstand darin, daß die Membran meist ganz vermißt wird, so lange die Zelle als Ganzes noch wächst und ihr Volum ausdehnt, und so lange sie sich noch durch Teilung vermehrt. Eine IX. I- Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden. 117 Plastide mit Membran (oder Lepoplastide) ist jedenfalls abge- schlossener gegen die Außenwelt, als eine nackte hüllenlose Plastide ohne Membran (oder Gymnoplastide) deren Obei-fläche unmittel- bar mit ihrer Umgebung in Berührung steht und demgemäß mit derselben in weit energischere Wechselwirkung treten kann. Dieses Verhältnis ist besonders von Max Schnitze betont worden, w^elcher die von einer Membran umschlossene Zelle sehr passend mit einem encystierten Infusorium vergleicht, und hinzufügt, daß die Bildung einer chemisch differenten Membran auf der Oberfläche des Proto- plasma ein Zeichen beginnenden Rückschrittes sei. ein Zeichen heran- nahender Dekreszenz, oder wenigstens eines Stadiums, auf welchem die Zelle in den ihr ursprünglich zukommenden Lebenstätigkeiten bereits eine bedeutende Einschränkung erleidet. Die Zellenmembran fällt demnach in unserer Anschauung in eine Ordnung oder Kategorie zusammen mit den übrigen Teilen der Zelle, welche als Produkte der Zelle auftreten, und sind namentlich nicht scharf zu trennen von einer anderen Reihe äußerer Plasma- produkte, nämlich von den Intercellularsubstanzen, denen man, besonders in der pflanzlichen Histologie, bei weitem nicht die Be- deutung, wie den Membranen zuerkannt hat. Zwar werden die Zellenmembranen und die Intercellularsubstanzen in der Regel, und namentlich von den Botanikern, als ganz verschiedene Dinge be- trachtet: indes ist es in sehr vielen, und namentlich tierischen Ge- weben mit Sicherheit nachzuweisen, daß die Intercellularsubstanz aus verschmelzenden 3Ienibranen benachbarter Zellen hervorgeht. Daß beiderlei Substanzen in vielen Fällen von sehr verschiedener chemischer und physikalischer Beschaffenheit sind, spricht nicht da- gegen, da die Zelle fähig ist. in verschiedenen Perioden ihres Lebens sehr verschiedene Stoffe abzuscheiden. Cb. Innere Plasmaprodukte. CZellsaft und Zellinhalt".) Weit mannigfaltiger noch, als die formenreichen und auch chemisch sehr differenten Stoffe, welche die Piastiden nach außen auf ihre Oberfläche, sei es durch Differenzierung, sei es durch Sekretion, oder durch beide Prozesse vereinigt, abscheiden, sind die- jenigen teils formlosen teils geformten Bestandteile, welche man gewöhnlich als ..Zelleninhalt" bezeichnet, und welche wir, da sie 218 Morphologische Individualität der Organismen. IX. sämtlich vom Plasma umschlossen sind, als innere Plasmaprodukte zusammenfassen. Wir können diese inneren Ablagerungen in der Substanz der Piastiden in flüssige und feste einteilen, oder, da sich zwischen die- sen beiden Aggregatzuständen gerade hier alle möglichen Übergänge durch das „Festflüssige" hindurch finden, in formlose und geformte. Zu den formlosen inneren Plasmaprodukten rechnen wir ins- besondere den sogenannten „Zellsaft", ferner das flüssige Fett der Fettzellen etc. Unter den geformten inneren Plasmaprodukten sind die Kristalle im Innern der Piastiden, die Konkretionen (z. B. Amylumkörner), die Pigmentkörner etc. oft von großer Bedeutung. D. Plasma und Nucleus als aktive Zellsubstanz. Wir haben im vorhergehenden die Plasmaprodukte lediglich als passive Erzeugnisse des Plasma, ohne Rücksicht auf den Kern betrachtet, und es erscheint dies gerechtfertigt, nach dem, war wir vom Verhältnis des Kern zum Plasma wissen. Da dieses Ver- hältnis, obwohl, noch sehr dunkel, doch von der größten Wichtigkeit und namentlich für unsere Betrachtung der Piastiden als morpho- logischer Individuen von besonderem Interesse ist, so möge es gestattet sein, hier mit wenigen Worten unsere Auffassung desselben zu erläutern. Im allgemeinen können wir bei allen Piastiden das Plasma als die aktive, formende Substanz oder Keimsubstanz (.,germinal matter'') und die Plasmaprodukte entsprechend als die passive, geformte Sub- stanz (..formed matter") bezeichnen. Bei den Zellen, wo neben dem Plasma auch noch der Kern als aktive Materie wirksam ist, haben wir Kern und Plasma zusammen als formende Substanz aufzufassen. Allerdings ist der Kern, seinem ersten Ursprünge nach, als Differen- zierungsprodukt des Plasma zu betrachten, aber in dem Sinne, daß nunmehr Plasma und Produkt als koordinierte Teile, gewissermaßen als verschiedene Organe gleichen Ranges, nebeneinander stehen, und differente Funktionen vollziehen. Wenn wir, wie späterhin gezeigt w^erden wird, die Form jedes Organismus als das Produkt aus zwei verschiedenen Faktoren, näm- lich aus den ererbten Eigenschaften seiner Materie und aus der Anpassung an die Verhältnisse der Außenwelt zu betrachten haben, so müssen wir dieses Gesetz auch auf die Beurteilung der Elementar- organismen, der Piastiden anwenden können. Hier scheinen nun IX. I- Morphologische Individuen erster Ordnung: Piastiden. 119 die beiden Funktionen der Erblichkeit und der Anpassung bei den kernlosen Cytoden noch nicht auf differente Substanzen verteilt zu sein, sondern der gesamten homogenen Materie des Plasma zu inhärieren. während dieselben bei den kernführenden Zellen in der Weise auf die beiden heterogenen aktiven Substanzen der Zelle ver- teilt sind, daß der innere Kern die Vererbung der erblichen Charaktere, das äußere Plasma dagegen die Anpassung, die Akkomodation oder Adaptation an die Verhältnisse der Außenwelt zu besorgen hat. Für diese Auffassung dürfte auch namentlich die bedeutende Rolle sprechen, welche der Kern allgemein bei der Fortpflanzung der Zellen spielt. Fast immer geht der Teilung des Plasma die Teilung des Zellenkerns vorher und die beiden so entstandenen Kerne wirken nun als selbständige Attraktionszentra, um welche sich die Substanz des Plasma sammelt. Das Plasma dagegen ist von größerer Bedeutung für die Ernährung der Zelle. Ihm scheint bei der Zellenvermehrung eine mehr passive Rolle zugeteilt zu sein, und seine Hauptaufgabe scheint in der Zuführung des Nahrungsmaterials zum Kerne, und in der Vermittlung des A^'erkehrs der Zelle mit der Außenwelt zu liegen. Wenn wir demgemäß das Plasma vorzugs- weise als den nutritiven, den Nucleus dagegen vorzugsweise als den reproduktiven Bestandteil der Zelle ansehen können, und wenn wir dazu den im fünften Buche nachgewiesenen Zusammen- hang einerseits zwischen der Ernährung und Anpassung, anderer- seits zwischen der Fortpflanzung und Erblichkeit in Erwägung ziehen, so werden wir mit Recht den Kern der Zellen als das hauptsäch- liche Organ der Vererbung, das Plasma als das hauptsächliche Organ der Anpassung betrachten können. Bei den Cytoden, wo Kern und Plasma noch nicht differenziert sind, werden wir das gesamte Plasma als das gemeinsame Organ beider Funktionen zu betrachten haben. Hieraus ergibt sich, daß der Kern nicht bloß als ein Reserve- körper für das Plasma zu betrachten ist, wie diese Auffassung namentlich von Beale neuerdings vertreten worden ist. Gewiß ist es ein großes Verdienst von Beale, die aktiven Teile der Gewebe (als .,germinal matter" oder Keirasubstanz) als die eigentlich lebenden und bildenden Elementarorganismen, scharf von den passiven Teilen (der ..formed mattef' oder geformten Substanz) getrennt zu haben. Auch ist es gewiß sehr richtig, wenn er die Zellmembran und die 1 20 Moiphologische Individualität der Organismen. IX. Intercelliüarsubstanzen lediglich als geformte Substanzen und das Plasma nebst Kern vorzugsweise als bildende Substanz auffaßt. Da- gegen gellt er wohl zu weit, wenn er das Plasma stets in demselben Grade, als es äußerlich durch Bildung anderer Stoffe abgenutzt, auf- gebraucht wird, von innen her, durch Auflösung der äußeren Kern- schichten, ersetzt werden läßt. Plasma und Kern sind mindestens in \äelen Fällen doch wohl als wesentlich heterogene Piastidenteile zu betrachten und dem Kern vorzugsweise (wenn auch nicht allein) die Fortpflanzung und damit die Vererbung der erblichen Eigen- schaften der Zelle, dem Plasma dagegen vorzugsweise die Ernährung und damit zugleich die Anpassung derselben an die Umgebung, zuzuschreiben^). II. Morphologische liKlividiien zweiter Ordnung: Organe oder Werkstücke. II. 1. Morphologischer Begriff des Organes. Die physiologische Individualität des Organismus bleibt bei zahl- reichen niederen Organismen (Protisten) auf die morphologische Individuahtät erster Ordnung, auf die Plastide beschränkt, ohne sich jemals auf eine höhere Stufe zu erheben. Sobald in diesen Fällen eine Vermehrung der Piastiden durch Teilung eintritt, ist damit zugleich eine Vermehrung der physiologischen Individuen ge- geben, die als selbständige Lebenseinheiten eine unabhängige Existenz führen. Bei der großen Mehrzahl derjenigen Lebewesen, welche gegen- wärtig die Erde bevölkern, erhebt sich die physiologische Individua- lität über den Rang der einfachen Piastiden, der Formindividuen erster Ordnung, indem mehrere Piastiden zu einem geselligen Ver- bände zusammentreten, der nun als eine höhere physiologische Ein- heit in das Leben tritt. Es entstehen dadurch die verschiedenen morphologischen Individuen höherer Ordnung, welche wir oben als Organe, Antimeren, Metameren, Personen und Stöcke unterschieden haben. Die wesentlichsten und obersten Gesetze, welche diese Vereini- gung der einfachen Formindividueu erster Ordnung zu zusammen- ^) (1906). Der Hegriff des Piasina ist später dahin erweitert, daß es die gesamte aktive ..lel)endige Substanz'" umfaßt: Das innere Karyoplasma des Zellkerns (Karyon) und das äußere Cytoplasma des Zellenleibes (Cytosoma). IX. 11- Morphologische Individuen zweiter Ordnung: Organe. 121 gesetzten leiten, sind die Gesetze der Aggregation oder Gemeinde- bildung und der Differenzierung oder Arbeitsteilung. Zunächst tritt eine Mehrzahl von gleichartigen Piastiden zu einer einfachen, aus homogenen Elementen bestehenden Gesellschaft zusammen (Zell- verein, Coenohium). Die Erhöhung der Leistungsfähigkeit, die physiologische Vervollkommnung, welche diese Gemeinde von gleich- artigen Piastiden als höhere Einheit auszeichnet, besteht zunächst bloß in einem quantitativen Zuwachs der Kräfte. Mehrere gleiche Individuen vereinigt vermögen mehr Kraft zu entwickeln, als ein einziges allein. Allmähhch aber geht aus dieser quantitativen Vervollkommnung durch Aggregation die viel wichtigere quali- tative Vervollkommnung durch Differenzierung hervor. Es treten nämlich zunächst sehr geringe, bald aber bedeutendere Unterschiede zwischen den ursprünglich gleichartigen Piastiden auf, welche endlich zu einer vollständigen Arbeitsteilung führen. Indem die einzelnen Cytoden oder Zellen ihre individuelle Selbständigkeit dadurch mehr oder Aveniger aufgeben, und in die Dienste der höheren Einheit, des Piastidenstockes, treten, entwickeln sie bestimmte Eigentümlichkeiten einseitig nach gewissen Richtungen hin und ergänzen und bedingen sich dadurch gegenseitig. Die Bezeichnungen, welche die verschiedenen Autoren diesen mannigfaltigen höheren Formindi^iduen beilegen, die noch nicht den Rang der Person (des Individuums im gewöhnlichen, engeren Sinne) erreichen, sind sehr verschieden. Man nennt sie „höhere Elementar- teile, Gewebe, Organe, Systeme, Apparate" usw.. indem man bald mehr an die morphologische, bald mehr an die physiologische Indi- vidualität derselben denkt. Eine konsequente Unterscheidung und klare Einteilung derselben ist aber noch kaum versucht und auch nur sehr schwierig durch die ganze bunte Organismenwelt hindurch auszuführen. Am meisten haben sich mit dieser Aufgabe die Antliro- potomen beschäftigt, denen aber gewöhnlich der Überblick über die vielfach verschiedenen einfacheren Organismen zu sehr abgeht, um aus ihrer genauen Kenntnis der organischen Zusammensetzung des menschlichen Körpers eine allgemein anwendbare Klassifikation der Organe verschiedener Ordnung firr alle Organismen ableiten zu können. In der Regel findet man die Angabe, daß der menschliche Körper (und überhaupt der Wirbeltierorganismus) zusammengesetzt sei aus vier verschiedenen, übereinander stehenden morphologischen Einheiten, nänüich 1. Apparaten. 2. Systemen. 3. Organen, und 2^22 Morphologische Individualität der Organismen. IX. diese letzteren endlich 4. aus den höheren und niederen Elementar- teilen (Geweben und Zellen). Wir glauben, daß man alle diese ver- schiedenen Teilkategorien am besten unter dem gemeinsamen Namen der Organe zusammenfaßt, und unter diesen Organe verschiedener Ordnungen oder Stufen unterscheidet. Der Begriff des Organes oder „Werkteiles, Werkzeuges" ist ursprünglich ein rein physiologischer und es bedarf daher einer Rechtfertigung, wenn wir denselben zur Bezeichnung der morpholo- gischen Individualität zweiter Ordnung verwenden. Diese Rechtferti- gung hegt zunächst schon darin, daß die Leistungen jedes Werk- zeuges nur zum Teile durch chemisch-physikalische Eigenschaften, zum Teile aber zugleich, und sehr oft zum größten Teile, durch seine Form und durch die der äußeren Form zugrunde liegende innere Struktur oder Zusammensetzung bedingt sind. Für die Werk- zeuge des Lebens, die wir im engeren Sinne „Organe" nennen, gilt dies um so mehr, da sie meistens ungleich kompliziertere Form- und Strukturverhältnisse zeigen, als die feinsten Organe der Maschinen, die wir künstlich zu konstruieren imstande sind. Auf diese Zusam- mensetzung des Organs aus einer Mehrzahl von untergeordneten Formeinheiten gründete Victor Carus seine morphologische Cha- rakteristik des Organs als einer „Summe bestimmter Elementarteile oder Gewebe in konstanter Verbindung und Form". Diese Definition ist aber zu allgemein, w^eil sie ebenso gut auf die Formindividuen dritter bis sechster Ordnung paßt. Diese letzteren, sowie auch den Begriff des Gewebes müssen wir ausschließen und den Ausdruck Elementarteil durch den bestimmten morphologischen Begriff der „Plastide" ersetzen, andererseits den einheitlichen Charakter des Organs als eines Ganzen hervorheben. Der morphologische Begriff des Organs im allgemeinen läßt sich nach dieser unserer Auffassung feststellen als „eine konstante einheit- liche Raumgröße von bestimmter Form, welche aus einer Summe von mehreren bestimmten Piastiden (Cytoden oder Zellen) in konstanter A^erbindung zusammengesetzt ist, und welche nicht die positiven Charaktere der Formindividuen dritter bis sechster Ordnung erkennen läßt." Diese morphologische Definition des Organs mag insbesondere ihres teilweise negativen Inhalts wegen sehr mangelhaft erscheinen, wird aber bei der außerordentlichen Verschiedenartigkeit der ver- schiedenen Organe nicht leicht durch eine bessere allgemein anwend- bare zu ersetzen sein. IX. III- Morphologische Individuen dritter Ordnung: Antimeren. 123 III. Morphologische Iiulividuen dritter Ordnung: Antimeren oder Gegenstücke. (Homotypische Teile.) Die vorhergehende Betrachtung der morphologischen Individuen erster und zweiter Ordnung, der Piastiden und der Organe, hat uns mit Überwindung großer Sch\\ierigkeiten in das verwickelte Laby- rinth von koordinierten und subordinierten Teilen eingeführt, aus welchen der ganze Organismus der höheren Tiere und Pflanzen als höhere Einheit zusammengesetzt wird. Eine genauere Betrachtung der höchst komplizierten und kunstvollen Art und Weise, auf welche diese Zusammensetzung erfolgt, läßt uns alsbald erkennen, daß die stufenweise emporsteigende Komphkation des organischen Baues, wenigstens bei den höheren Pflanzen und Tieren, nicht allein nach den großen Gesetzen der Aggregation und der Differenzierung (oder des Polymorphismus) erfolgt, sondern daß die verschiedenen koordi- nierten und subordinierten Teile sich derartig im ganzen verflechten, gegenseitig räumlich durchwachsen und verbinden, und in so ver- wickelter Weise ineinander eingreifen, daß wir zur Aufstellung ganz verschiedener morphologischer Einheiten gelangen, je nachdem wir unseren Standpunkt auf verschiedenen Seiten nehmen und von diesem oder jenem gemeinsamen Tertium aus zwei Einheiten vergleichen. So kann also derselbe Nerv, derselbe Muskel als ein Komplex von einfachen Organen erster und zweiter Ordnung, oder als ein hetero- plastisches Organ, oder als ein Teil eines Organsystems, oder als ein Teil eines Organapparates aufgefaßt werden, und von jedem dieser verschiedenen Gesichtspunkte aus wird er eine verschiedene Beurtei- lung erfahren. Schon hieraus geht hervor, daß die Organe (und ebenso die morphologischen Individuen niederer Ordnung überhaupt) sich nicht allein durch stufenweis fortgesetzte Aggregation und Arbeitsteilung zu den Individualitäten höherer Ordnung zusammenfügen, sondern daß hier komplizierte Gesetze der Formbildung walten, um deren Erkenntnis man sich bisher noch kaum bemüht hat. Wie wenig auf diesem wichtigen und interessanten Gebiete der allgemeinen Morphologie noch geschehen ist, geht aber weiter namentlich daraus hervor, daß man die höheren Individualitäten, welche zunächst aus dem Zusammentreten der verschiedenen Organe hervorgehen, und die 124 Morphologische Individualität der Organismen. IX. wir im folgenden als Antimeren nnd Metameren untersuchen werden, überhaupt noch keiner eingehenden Untersuchung und allgemeinen Vergleichung, ja häufig nicht einmal einer Erwähnung gewürdigt hat. Mindestens sind sie als besondere morphologische Individuali- täten bisher nur selten oder nie anerkannt worden. Die Teile des Organismus, welche wir hier als Antimeren oder Gegenstücke, und Metameren oder Folgestücke unterscheiden, sind scharf ausgeprägte morphologische Individualitäten, welche einen Rang über den Organen einnehmen, während sie den höheren mor- phologischen Einheiten fünfter und sechster Ordnung beständig unter- geordnet sind. In der bei weitem größten Mehrzahl der Organis- menarten ist das einzelne physiologische Individuum nicht ein bloßes Aggregat von Organen, sondern eine Einheit von mehreren Metameren und Antimeren. Für die Gesamtform des Organismus sind diese Teilstücke, welche als scharf ausgeprägte Formeinheiten in Vielzahl neben- und hintereinander auftreten, von der allergrößten Bedeutung, und dennoch hat man sie bisher fast gar keiner Betrach- tung gewürdigt: ja es existiert für die beiden wesentlich ver- schiedenen Individuahtäten des Antimeres oder Metameres nicht einmal ein besonderer einfacher Name. Wo man sie bisher im konkreten Falle der Verständigung halber hat erwähnen müssen, hat man beide zusammen mit dem vieldeutigen Ausdrucke des Segments oder Teilstücks oder Gliedes (Articulum), oder auch w^ohl des „homologen oder homonomen Teils"' belegt. Die Metameren, als w^elche wir z. B. die einzelnen gleichartigen hintereinander gele- genen Abschnitte des Wirbeltier- und des Gliedertierrumpfes, die ein- zelnen Stielgiieder der Krinoideenstengel. die Stengelglieder der Phanerogamen ansehen, hat man insbesondere häufig „Glieder" und bei den Gliedertieren und Würmern ,.Ringe" oder Zoniten genannt. Die Antimeren, die nebeneinander gelegenen Hauptabschnitte da- gegen hat man, wenn ihrer nur zwei zugegen sind, wie bei den Wirbel-, Glieder- und Weichtieren, als „Körperhälften"', wenn ihrer drei, vier, fünf oder mehr sind, wie bei den „Strahltieren" und Phanerogamenblüten, als „Strahlen"' oder „Radialsegmente", oft aber ebenfalls als „Glieder" bezeichnet. Der einzige Naturforscher, welcher bisher diese beiderlei Teile vom allgemeineren Gesichtspunkte aus untersucht und auf die hohe Bedeutung derselben für die Gesetze der organischen Formbildung hingewiesen hat, ist der verdienstvolle Bronn, welcher in seinen JX. in. Morphologische Individuen dritter Ordnung: Antinieren. 125 trefflichen „morphologischen Studien" (1858) diejenigen nebenein- ander gelegenen Hauptabschnitte, welche wir Antinieren nennen, als liomo typische Teile, diejenigen hintereinander liegenden Abschnitte dagegen, welche wir Metaraeren nennen, als homonyme Teile bezeichnet hat. In dem Kapitel, in welchem er das wichtige von ihm entdeckte „Gesetz der Zahlenreduktion gleichnamiger Teile" behandelt, faßt er beiderlei Abschnitte als „gleichgesetzliche" oder „homonome" Körperteile zusammen und gibt von beiden eine kurze Definition, welche jedoch weder erschöpfend, noch hinreichend klar und genau ist. Wir werden diese Definition in dem nächsten Ab- schnitte, welcher von den Metameren handelt, wörtlich anfidiren und näher beleuchten, und wenden uns hier sogleich zur näheren Betrach- tung derjenigen Formeinheiten des Organisnms, welche wir allgemein als Antinieren bezeichnen wollen. Unter Antinieren oder Gegenstücken (den homotypi- schen Organen Bronns) verstehen wir diejenigen neben- (nicht hinter)einander liegenden, als deutlich geschlossene Einheiten auf- tretenden Körperabschnitte oder „Segmente", welche als gleichwertige Organkomplexe alle oder fast alle wesentlichen Körperteile der Spezies (alle typischen Organe) in der Art zusammengesetzt ent- halten, daß jedes Antimer die wesentlichsten Eigenschaften der Spezies als Organkomplex repräsentiert, und daß nur noch die Zahl der Antinieren als das die Speziesform bestimmende Element hin- zutritt. Bei den meisten höheren, sogenannten „bilateral-symmetri- schen" Tieren (Wirbel-, Glieder-, Weichtieren) besteht der Körper demgemäß nur aus zwei Antinieren, den beiden Körperhälften nämlich, welche in der Medianebene verwachsen sind. Bei den sogenannten „Strahltieren", sowie bei den allermeisten Geschlechts- individuen (Blüten) der Phanerogamen ist dagegen der Körper aus so vielen Antinieren zusammengesetzt, als „Strahlen", d. h. Ki'euz- achsen, vorhanden sind, also drei bei den meisten Monocotyledonen und vielen Radiolarien, vier bei den meisten Medusen, den Rugosen und Cereanthiden, ferner auch bei den meisten Würmern und bei sehr vielen Dicotyledonen, fünf bei den meisten Echinodermen und Dicotyledonen, sechs bei den meisten Anthozoen (Enallonemen, die Rugosen ausgenommen, und Antipathiden) und bei einigen Medusen (Carmariniden). Sehr selten im ganzen genommen ist der Körper aus mehr als sechs Antinieren zusammengesetzt. Sieben kommen nur ausnahmsweise vor, z. B. bei Lnidia Savignyi unter 126 Mor])hologische Individualität dor Organismen. IX. den Seesternen, bei Trientalis europaea unter den Plianerogamen. Acht Antimeren finden sich bei allen Ctenophoien und Octactinien Alcyonarien), dagegen sehr selten bei den Plianerogamen {Mimusops) unter den Sapotaceen. Ebenfalls selten treten neun, zehn, zwölf und zwanzig oder mehr Antimeren zur Bildung des Körpers zu- sammen. In der Regel sind die niedrigeren Zahlen der Antimeren innerhalb der Spezies koiistant. Sobald aber mehr als sechs Antimeren auftreten, wird die Grundzahl (acht ausgenommen) innerhalb der Spezies schwankend und um so unbeständiger, je höher die Zahl steigt. Dasselbe Verhältnis zeigt sich auch bei den Metameren, z. B. wenn man die Insekten (mit wenigen, neun bis dreizehn Ringen) und die Myriapoden und Arachniden (mit sehr zahlreichen Metameren) vergleicht. Dies Verhältnis ist sehr wichtig für die Begründung des Bronnschen Gesetzes der Zahlenreduktion gleich- namiger Teile. So unwesentlich es vom physiologischen Standpunkte aus erscheinen mag, ob der ganze Körper (die Person) aus zwei, drei, vier, fünf oder mehi* gleichen Körperteilen zusammengesetzt ist, von denen jeder sämtliche wesentHche Organkomplexe oder typischen Organe des Körpers in der gleichen Zahl, Form, Struktur und Lage- rung enthält und also für sich schon die Spezies repräsentieren könnte, so wichtig ist die ho mo typische Grundzahl, wie wir mit B r o n n die spezifische A n t i m e r e n z a h 1 nennen können, für die morphologische Betrachtung des Körpers als Ganzen. Ins- besondere wird durch die Antimeren jene Summe von Formeigentüm- lichkeiten bedingt, welche man gewöhnlich als Habitus bezeichnet, und welche oft ebenso schwer zu definieren und näher zu bestimmen ist, als sie dem geübten Auge charakterbestimmend, als physiogno- misches Moment entgegentritt. Freilich ist uns der Kausalnexus zwischen dem t\^3ischen Organisationscharakter und der homotypischen Grundzahl der Organis- men zurzeit noch vollständig unbekannt. Daß er aber vorhanden ist, beweist die auffallende Konstanz, welche die Antimerenzahl innerhalb der großen Hauptabteilungen des Tier- und Pflanzenreiches zeigt. Ohne Ausnahme sind die Wirbeltiere und Weichtiere nur aus zw^ei, die Ctcnophoren und Octactinien aus acht Antimeren zusammengesetzt, und ganz vorherrschend ist unter den Echino- dermen die Antimerenzahl fünf, unter den Monocotyledonen die Zahl drei. jX. IV. Morphologische Individuen vierter Ordnung: Metameren. 127 IT. Morplioloi^isclie Individuen vierter Ordnung;: Metameren oder Folgestücke. (Homodyname Teile oder allgemein homologe Teile.) Eine der häufigsten Ersclieinungeu, welche der Organismus der höheren Tiere bezüglich seines Aufbaues aus untergeordneten Teilen darbietet, ist die Gliederung oder Segmentierung desselben, d. h. die Bildung von hintereinander in einer Achse gelegenen Ab- schnitten, deren jeder im wesentlichen dieselbe Anzahl von Organen in gleicher oder ähnlicher Lagerung, Zusammensetzung, Form usw. wiederholt. Diese Gliederung, wie sie am ausgesprochensten bei den Wirbeltieren, Gliedertieren und Echinodermen auftritt (während sie den Weichtieren in sehr charakteristischer Weise abgeht), kann sowohl den Stamm (in der Längsachse) als die seitlichen Anhänge des Stammes betreffen, welche entweder in der Breitenachse (bei den Ghedertieren) oder in den Kreuzachsen (bei den Strahltieren) hintereinander liegen. In beiden Fällen werden die Segmente von Bronn als homonyme Teile bezeichnet. Ganz denselben allge- meinen morphologischen Wert wie den einzelnen Segmenten oder Zeniten des Wirbel- und Gliedertierrumpfes müssen wir auch den einzelnen Stengelgliedern der Phanerogamen zuge- stehen. Auch diese sind Wiederholungen homonymer Teile in der Hauptachse. Und ebenso tragen wir kein Bedenken, die Gliede- rung, die sich in Seitenteilen (Blattorganen) der Phanerogamen aus- spricht, z. B. in den gefiederten Blättern, der Gliederung der Seiten- anhänge (Extremitäten) bei den Wirbel- und Gliedertieren gleichzu- setzen. Für die richtige Wertschätzung der Rangstufe der subordinierten Formgruppen, aus denen sich der ganze Leib jener gegliederten Tiere und Pflanzen aufbaut, ist es aber durchaus notwendig, diese beiden Fälle wohl zu unterscheiden. Wir werden daher den von Bronn eingeführten Namen der Homonymie auf das Verhältnis der hinter- einander liegenden Segmente beschränken, welche durch Gliederung eines nicht in der Hauptachse liegenden Seitenteils entstehen, welcher also einer Breitenachse oder Kreuzachse entspricht; während wir dagegen die wechselseitige Beziehung derjenigen Segmente, welche durch Gliederung des Rumpfes selbst in der Hauptachse (Längsachse) entstehen, als Homodynamie zu bezeichnen vorschlagen. Ferner \2S Morphologische Individualität der Organismen. JX. werden wir der Kürze und Bequemlichkeit halber die Segmente der Hauptachsen oder die homodynamen Teile Metameren, die Segmente der Kreuzachsen (oder Breitenachsen) oder die homonymen Teile Epimeren nennen. Homonyme Organe in unserem Sinne oder Epimeren sind also z. B. die Extremitätenabschnitte (z. B. Oberarm. Vorderarm, Carpus, Metacarpus, Phalangen der vorderen Extremität) der Wirbel- tiere, ferner die sogenannten Glieder oder Segmente der Extremitäten (z. B. coxa, trochanter, femur, tibia, tarsus) der Gliedertiere, ferner die einzelnen Abschnitte der Armzweige (Pinnulae etc.) bei den Cri- noiden, die einzelnen Nesselringe an den Tentakeln der Medusen usw. Im Pflanzenreiche haben wir dementsprechend als Epimeren oder homonyme Teile alle ähnlichen Gliedcrbildungen an den Blättern zu betrachten, z. B. die Fiedern der gefiederten Blätter etc. Homodyname Organe oder Metameren sind dagegen: bei den Wirbeltieren die einzelnen Abschnitte des Rumpfes, deren jeder einem Urwirbel. und am ausgebildeten Tiere einem Wirbel nebst zugehörigen Organen entspricht (einem Rippenpaar, einem Ganglien- paar des Sympathicus, einem Paar austretender Interkostalnerven und Gefäße etc.); bei den Gliedertieren ebenso die hintereinander liegenden Segmente oder Glieder des Rumpfes, die bei den Glieder- füßern schon weit differenziert (heteronom), bei den Würmern da- gegen noch sehr gleichartig (homonom) sind, so daß in jedem Stücke dieselben Organe sich wiederholen. Ebenso so stark entwickelt wie bei den Wirbel- und Ghedertieren ist die Homodynamie oder Meta- merenbildung auch bei den Echinodermen: hier haben wir als Meta- meren zu betrachten: bei den Echiniden die hintereinander liegenden Plattenpaare jedes Ambulacrums, nebst entsprechendem Segmente des Ambulacralsystems, Nervensystems etc., bei den Ästenden die sogenannten Wirbelstücke oder Pseudovertebrae der Arme,^) bei den Crinoiden die Stengelgiieder des Stiels etc. Vollkommen diesen ent- sprechende Metameren sind im Pflanzenreiche die Stengelgiieder der Phanerogamen. Die Metameren sind also subordinierte Teile (Glieder) ^) Auf den ersten Blick könnte man mehr geneigt sein, diese Teile der Echinodermen als Epimeren, als homonyme Teile zu betrachten. Indessen lehrt eine tiefere Erfassung der schwierigen Echinodermenhomologien, daß wir die- selben mit größerem Rechte als Metameren oder homonyme Teile auffassen. Vgl. hierüber das VI. Buch. IX. I^'- Morphologische Individuen vierter Ordnung: Metameren. 129 eines Formindividiuims fünfter, die Epimeren dagegen erster, zweiter oder dritter Ordnung. Die Metameren oder lioniodynamen Körperabschnitte haben als Gliederungen der Hauptachse (Längsachse) natürlich einen weit höheren morphologischen Wert als die Epimeren, w^elche nur als Gliederungen der Nebenachsen (Breitenachse oder Kreuzachsen) auf- treten. Auch werden wir unten sehen, daß die letzteren im Tier- reiche niemals oder nur sehr selten der physiologischen Individuali- sation fähig sind, welche die ersteren sehr leicht und häufig erlangen. Die Metameren sind bei den niederen Formen des Tierstammes, in welchem sie auftreten, lediglich 3[ultiplikationen der spezifischen Form der betreffenden Art, Wiederholungen, welche ursprünglich so unabhängig sind, daß sie sehr leicht sich voneinander abtrennen und daß alsdann jedes einzelne Metamer jene Speziesform mehr oder weniger vollständig repräsentiert. Die Epimeren dagegen ver- mögen niemals in ähnlicher Weise die Speciesform zu vertreten, da sie eben nicht Wiederholungen des ganzen Organismus, sondern nur Multiplikationen von einzelnen seitlichen Teilen desselben, von Organen verschiedener Ordnung sind. Die Epimeren verhalten sich zu den Metameren ganz analog, wie die Parameren zu den Antimeren. Die sogenannte Gliederung oder homodyname Zusammen- setzung des ganzen Organismus (dessen physiologische Individualität in Form der Person auftritt), wie sie bei den Wirbeltieren, den meisten Gliedertieren. Echinodermen und den meisten Phanerogamen stattfindet, bekundet einen bedeutenden Fortschritt in der Organi- sation und wir können daher allgemein diese Organismen als höher und vollkommener bezeichnen, im Vergleich zu jenen, bei denen die Metamerenbildung fehlt, und bei denen mithin das physio- logische Individuum selbst nur den Wert eines Metameres erreicht, wie bei den niederen Würmern, den Mollusken etc. Besonders lehrreich für die richtige Auffassung der Homodynamie oder der Metamerenbildung ist die allmähliche Übergangsreihe von un- gegliederten zu gegliederten Formen, wie sie uns die niederen Würmer (besonders Cestoden) zeigen; hier zeigt sich auf das klarste, wie dieselben Teile (Metameren), die in den niederen Formen als physiologische Individuen auftreten, in den höheren Formen nur den Rang von homodynamen Teilen haben. (Vergl. das zehnte Kapitel.) Haeekel, Prinz, d. Morphol. 9 130 Morphologische Individualität der Organismen. IX. \. Morphologische Individuen fünfter Ordnnni?: Histonalen (Personen oder Prosopen im Tierreich, und Sprosse oder Elasten im Pflanzenreich.)^) Wir gelangen nunmehr im aufsteigenden Stnfengange unserer Betrachtung zu derjenigen höheren organischen Formeinheit, welche sowohl der gewöhnhche Sprachgebrauch der Laien, als auch die in der Zoologie (nicht aber in der Botanik!) allgemein herrschende Anschauungsweise als das „eigentliche" Individuum aufzufassen pflegt. Obwohl eine unbefangene und tiefer eingehende Betrachtung der organischen Individualität zeigt, daß auch diese ..eigentlichen" oder absoluten Individuen in der Tat nur relative sind und auf keine andere individuelle Geltung Anspruch machen können, als sie auch dem Metamer und allen anderen, vorher aufgeführten Individuen niederen Ranges zukommt, und obwohl diese ..eigentlichen" Indivi- duen bei den meisten höheren Pflanzen und Coelenteraten nur als subordinierte Bestandteile einer noch höher stehenden Einheit, des Stockes erscheinen, so ist dennoch, ausgehend von der Individualität des Menschen und der höheren Tiere, die irrtümliche Auffassung der morphologischen Individuen fünfter Ordnung als der ,, eigentlichen" organischen Individuen eine so allgemeine geworden und hat sich so fest in dem wissenschaftlichen sowohl als im Volksbewußtsein eingenistet, daß wir sie als die Hauptcpielle der zahlreichen ver- schiedenartigen Auffassungen und Streitigkeiten, die in betreff der organischen Individualität herrschen, bezeichnen müssen. Um diese ,.ei gentliche Individualität", welche sich durch bestimmte morphologische Eigenschaften mit voller Sicherheit als ein ..morphologisches Individuum fünfter Ordnung" scharf charakte- risieren läßt, ein für allemal von allen anderen organischen Indivi- duahtätsformen zu unterscheiden, wollen wir für dieselbe im Tier- reich die Bezeichnung der Person oder des Prosopon\) beibehalten. Mit diesem Ausdrucke lehnen wir uns unmittelbar an den bestehenden Sprachgebrauch an, welcher ja insbesondere das menschliche Indivi- duum sehr allgemein als ,.Person" bezeichnet. Die Botaniker ge- brauchen zur Bezeichnung derselben morphologischen Individualität im Pflanzenreich den Ausdruck Sproß oder Blastus, welcher sehr ^) -poawrov, To: Persona, '(ii sjrj-'}^^ ö; der Sproß. Beide Begriffe sind später von mir als Histoiial zusammengefaßt worden. (Zusatz 190ß.) IX. V. [Morphologische Individuen fünfter Ordnung: Histonalen. 131 häutig iiTtttnilich durch den keineswegs gleichbedeutenden Ausdrucl^ der Knospe (Genima) ersetzt wird. Wir niaclien daher ausdrücklich darauf aufmerksam, daß im Sinne der besten Botaniker und nament- lich im Sinne derjenigen, welche die Individualität der Sprosse am eingehendsten und klarsten behandelt haben, wie Alexander Braun, der Ausdruck Sproß oder Blastus ausschließlich in dem hier beibe- haltenen Sinne für das morphologische Pflanzenindividuum fünfter Ordnuug gebraucht wird. Der Ausdruck Knospe oder Gemma, welcher so oft damit verwechselt wird, ist dagegen, wenn er einen scharf bestimmten Begriff bezeichnen soll, nur für diejenige rein physiologische Individualität irgendeiner Ordnung anzuwenden, welche durch den bestimmten ungeschlechtlichen Fortpflanzungs- modus der Knospenbildung (Gemmatio) entsteht. Wie wir im siebzehnten Kapitel noch näher ausführen werden, ist dieser wichtige Spaltungsprozeß durch Gemmation bei organischen Individuen aller Ordnungen weit verbreitet, und es entstehen nicht bloß viele Sprosse durch Knospung. sondern auch viele Zellen. Organe. 3Ietameren und Stöcke. Knospe oder Gemma bedeutet also in diesem korrekten und fortan stets festzuhaltenden Sinne ausschließlich ein durch Knospenbildung erzeugtes Individuum irgendeiner Ordnung. Sproß oder Blastus dagegen nennen wir mit Alexander Braun u. a. ausschheßlich das echte morphologische Individuum fünfter Ordnung. Der pflanzhche Sproß, Blastos. ist also der tierischen Person, dem Prosopon. gleichwertig und es könnte demnach die erstere Bezeichnung überflüssig erscheinen. Man kann sie aber mit Vorteil beibehalten für diejenigen Personen, welche nicht frei als Bionten leben, sondern als untergeordnete Bestandteile der höheren Einheit, des Stockes (Cormus) auftreten. Wir werden also fernerhin die morphologischen Individuen fünfter Ordnung nur dann als Sprosse (Blasti) bezeichnen, wenn sie integrierende Bestandteile eines Indivi- duums sechster Ordnung (Cormus) sind, wie bei den meisten Phane- rogamen und Coelenteraten; dagegen als Personen (Prosopa), wenn sie frei als selbständige Bionten existieren, wie bei den Wirbeltieren und Artln'opoden. Ähnhch verhalten sich die sogenannten „einfachen Pflanzen" der Phanerogamen. mit ganz einfacher gegliederter Achse, ohne alle Nebenachsen (Zweige, Ausläufer etc.). Wenn wir nun in diesem Sinne die Bezeichnung der Person imd des Sprosses beibehalten, so läßt sich der Begriff des Histonal. der' beide vereinigt, als morphologisches Individuum fünfter Ordnung (1* 132 Morpliolofiische Individualität der Organismen. ]X. vollkommen schart' und bestimmt feststellen. Es bestellt nämlich das echte Histonal in allen Fällen aus einer Vielheit von unter- geordneten Individuen der ersten bis vierten Ordnung. Jedes einzelne morphologische Individuum fünfter Ordnung ist also zusammengesetzt aus mindestens zwei Metameren. mindestens zwei Antimeren und ebenso stets aus einer Vielheit von Organen und einer Vielheit von Piastiden. Eine jede physiologische Individualität, welche diesem Begriffe nicht entspricht, wie z. B. die meisten Mol- lusken, welche nicht aus Metameren zusammengesetzt, sondern einem Metamer gleichwertig sind, können wir nicht als Person anerkennen. Tl. Morpliologisclie Individuen sechster Ordnung-: Stöcke oder Cormen. Den höchsten Grad morphologischer Vollendung in der Zu- sammensetzung aus verschiedenen Individualitäten finden wir bei denjenigen Organismen, bei welchen eine Vielheit von Personen oder Sprossen sich zu der höheren Einheit des Stockes oder Cormus ver- bindet. Es ist dies die sechste und letzte Stufe, welche der Organis- mus in seiner fortschreitenden Strukturverwickelung erreicht. Unter Stock oder Cormus verstehen wir ausschließlich diejenige organische Formeinheit, welche aus einer Viel- heit von Histonalen oder Formindividuen fünfter Ordnung zusammengesetzt ist. In dieser ihrer Eigenschaft als unter- geordnete Bestandteile eines Stockes bezeichnen wir die Personen mit dem Namen der Sprosse oder Blasten. Wir schließen also aus dem morphologischen Begriffe des Cormus alle diejenigen stockähnlichen Bildungen aus, welche sowohl in der Botanik als in der Zoologie sehr oft als „Stöcke" bezeichnet werden, ohne wirkliche Cormen zu sein. Solche falsche Stöcke sind die Coenobien der Protisten, bei welchen die Komponenten des stockähnlichen Gebildes nicht Indivi- duen fünfter, sondern erster Ordnung sind, einfache Cytoden oder Zellen (z. B. die „Stöcke" der Diatomeen, Volvocinen und vieler In- fusorien). Alle diese Schein stocke oder Pseudocormen stimmen nur darin mit den echten Stöcken oder Cormen überein, daß sie (meistens ziemlich lockere) Verbindungen von Individuen einer sub- ordinierten Ordnung darstellen, niemals aber von echten Individuen fünfter Ordnung. Es ist also lediglich die Zusammensetzung aus untergeordneten Individualitäten, meistens noch verstärkt durch eine IX. ^I- Morphologische Individuen sechster Ordnung: Stöcke. 133 äußere Älinliclikeit, welche zu der allgemeinen Verwechselung der echten mit den Scheinstöcken geführt hat. Besonders die Art der äußeren Spaltung, nämlich die laterale Knospenbildung, welche beiden gemeinsam ist. scheint jenen Mangel einer wichtigen Unterscheidung bewirkt zu haben. Bei vielen Scheinstöcken von Diatomeen. Flagel- laten, Vorticellen sind es einzelne Piastiden, welche durch fortgesetzte laterale Knospenbildung ganz ähnliche verzweigte Bildungen produ- zieren, wie die stockbildenden Personen. Es ist aber für die all- gemeine 3Iorphologie von der größten Wichtigkeit, den wesentlichen Unterschied zwischen diesen echten Stöcken sechster Ordnung und jenen falschen Scheinstöcken fünfter Ordnung (Personen) oder zweiter Ordnung (Organen) zu erkennen. Der Ausdruck Kolonie oder Gemeinde (Synusie) läßt sich auf alle diese stockartigen A^er- bindimgen gemeinsam anwenden und bedeutet nichts als die Ver- einigung einer Vielheit von Individuen niederer Ordnung zu einer morphologischen Einheit höherer Ordnung. Der echte Stock oder Cormus aber ist eine ganz bestimmte Art dieser Kolonien, nämlich nur diejenige höchste und vollkommenste Art, welche aus Individuen fünfter Ordnung oder Histonalen zusammengesetzt ist. Da der Cormus die höchste und letzte von allen sechs Indivi- dualitätsordnungen ist, so kann er niemals als integrierender Bestand- teil einer höheren Ordnung auftreten, wie alle fünf untergeordneten Individualitäten. I^a der morphologische Charakter der Person oder des Sprosses, wie wir vorher sahen, ein ganz bestimmter ist, so muß auch gleicherweise derjenige des Stockes, welcher stets eine Vielheit von Sprossen ist. vollkommen fest bestimmt sein. Jeder Stock besteht demnach nicht allein aus einer Mehrheit von Personen, sondern auch natürlich aus einer Mehrheit von Metameren, Antimeren, Organen und Piastiden, weil ja jeder einzelne Sproß allein schon eine Vielheit Yon diesen vier untergeordneten Individualitäten repräsentiert. Die echten Stöcke oder Cormen erreichen ihre höchste Ent- wickelung und weiteste Verbreitung im Pflanzenreiche, wo die allermeisten Phanerogamen und höheren Cryptogamen sich zu fest- sitzenden Stöcken entwickeln. Nur sehr wenige Phanerogamen bleiben auf einer niedrigeren Stufe der Individualität stehen. Aus- nahmsweise kommen solche ganz einfache Plasten (astlose Haupt- sprosse mit einer einzigen einfachen Blüte) auch bei solchen Spezies vor, die gewöhnlich einen verzweigten Stock bilden, z. B. Radiola miUegrana. Eryihraca puJchella, Saxifraga tridactylites. Zelintes Kapitel. Physiologische Individualität der Organismen. „Das Anerkennen eines Neben-, Mit- und Ineinanderseins und Wirkens verwandter lebendiger Wesen leitet uns bei jeder Betracditung des Organismus und erleuchtet den Stufen- weg vom Unvollkommenen zum Vollkommenen.'^ Goethe. Aktuelle, virtuelle und partielle Bionten. (Physiologische Individuen verschiedener Art.) Jede der sechs verschiedenen Formeinheiten, welche wir im vorigen Kapitel als sechs Ordnungen der morphologischen Indivi- dualität unterschieden haben, tritt bei gewissen Organismenarten als physiologisches Individuum oder Bion auf. Wir haben mit diesem Ausdruck diejenige einheitliche Raumgröße bezeichnet, welche als lebendiger Organismus, als zentralisierte Lebenseinheit, vollkommen selbständig längere oder kürzere Zeit hindurch eine eigene Existenz zu führen vermag; eine Existenz, welche sich in allen Fällen in der Betätigung der allgemeinsten organischen Funktion äußert, in der Selbsterhaltung durch Stoffwechsel. Auch andere Lebensfunktionen, die Fortpflanzung oder die Erhaltung der Art, sowie die Vermittelung ihrer Beziehungen zur Aussenwelt, z. B. durch Ortsbewegungen, ver- mag das physiologische Individuum zu verrichten, ohne daß jedoch die Verrichtung dieser Funktionen als notwendig zum Begriffe des Bion betrachtet werden müßte. Das Bion oder Funktionsindividuum ist demnach keineswegs, wie das morphologische Individuum, eine unteilbare Raumgröße, die wir im Momente der Beurteilung als unveränderlich anzusehen haben (unteilbar in dem Sinne, daß wir keinen Teil von ihr wegnehmen können, ohne ihren Charakter als Formindividuum zu vernichten). Vielmehr ist das physiologische Individuum eine einheitliche, zusammenhängende Raumgröße, welche wir als solche längere oder kürzere Zeit hindurch leben, d. h. sich in der allgemeinen Lobensbewegung, im Stoffwechsel, erhalten sehen, X. Aktuelle, virtuelle und partielle Bionten. 135 und welche wir also im Momente der Beurteilung als veränderlich ansehen: auch können sich Teile von dem Funktionsindividuum ab- lösen, ohne daß seine Individualität, d. h. sein Fortbestehen als selbständige Lebenseinheit dadurch gefährdet wird. Wenn das Bion sich fortpflanzt, geschieht sogar diese Ablösung von Teilen, die sich zu neuen Bionten zu entwickeln vermögen, regelmäßig. Wir können demnach den wichtigen Unterschied zwischen der morphologischen und physiologischen Individuahtät kurz dahin zusammenfassen: Das physiologische Individuum (Bion) ist eine einzelne orga- nische Raumgröße, welche als zentralisierte Lebenseinheit der Selbsterhaltung fähig und zugleich teilbar ist, und welche wegen der mit diesen Funktionen verbundenen Be- wegungen nur als eine in verschiedenen Zeitmomenten ver- änderliche erkannt werden kann. Das morphologische Indi- viduum (Morphon, erster bis sechster Ordnung) dagegen ist eine einzelne organische Raumgröße, welche als vollkom- men abgeschlossene Formeinheit unteilbar ist. und welche in diesem ihren Wesen nur als eine in einem bestimmten Zeitmomente unveränderliche erkannt werden kann. Wie wir bereits oben zeigten, vermag jedes Morphon. jede der sechs morphologischen Individualitäten verschiedener Ordnung, die physiologische Individualität zu repräsentieren; und jedes Bion, welches als der reife Repräsentant der Spezies einen höheren mor- phologischen Individualitätsgrad besitzt, muß, falls es sich aus einem befruchteten Ei oder einer unbefruchteten Plastide (Spore) entwickelt, während seines Entwickelimgs-Cyklus alle vorhergehenden niederen Tndividuahtätsgrade durchlaufen haben. Wir müssen jedoch unter- scheiden zwischen drei wesenthch verschiedenen Erscheinungs- weisen oder Arten der physiologischen Individualität, welche allgemein als das aJdueUe Bion (oder das Bion im engeren Sinne), das virtueUe oder potentielle Bion und das pariieUe oder scheinbare Bion bezeichnet werden können. I. Aktuelles Bion oder physiologisches Individuum im engeren Sinne ist jedes vollständig entwickelte organische Individuum, welches den höchsten Grad morphologischer Individualität erreicht hat. der ihm als reifen, ausgewach- senen Repräsentanten der Spezies zukommt. Dieser Grad ist für jede organische Spezies ein bestimmter. Es ist also z. B. das aktuelle Bion bei den Phanerogamen ein morphologisches Individuum 136 Physiologische Individualität der Organismen. X. sechster, bei den Wirbeltieren fi'int'tcr. bei den meisten Mollusken vierter, bei den Spongien dritter, bei den Volvocinen zweiter, bei den einzelligen Protisten erster Ordnung. IL Virtuelles Bion oder potentielles physiologisches Individuum ist jedes unentwickelte organische Individuum, so lange es noch nicht den höchsten Grad morphologischer Individualität erreicht hat, welcher ihm als reifen, aus- gewachsenen Repräsentanten der Spezies zukommt, und zu welchem es sich entwickeln kann. Dieser Grad ist zu ver- schiedenen Zeiten, in verschiedenen Stadien oder Perioden der indi- viduellen Entwickelung ein verschiedener. Es ist also z. B. beim Menschen und bei den Wirbeltieren überhaupt das virtuelle Bion zuerst ein morphologisches Individuum erster (Ei), dann zweiter (Blastoderma), dann dritter (Embryonalanlage ohne Primitivstreif), dann vierter (Embryo mit Primitivstreif), dann endhch fünfter Ord- nung (Embryo mit Primitivrinne und Urwirbelkette). Bei den Antho- zoen, welche Stöcke bilden, z. B. den Astraeiden, ist das virtuelle Bion im ersten Stadium der Entwickelung (als einfaches Ei) ein morphologisches Individuum erster, dann (als kugeliger Zellenhaufen) zweiter, dann (als protaxonier. noch nicht diradiierter Körper) dritter, darauf (als diradiierter Körper mit sechs Antimeren) vierter, dann (als Polyp mit gegliederter Hauptachse, nachdem die horizontalen Böden. Tabulae, ausgebildet sind) fünfter, endlich (nachdem die Stock- bildung durch Teilung oder Knospenbildung begonnen hat) sechster Ordnung. Bei den Phanerogamen lassen sich die gleichen sechs Stufen oder Ordnungen der morphologischen Individualität, welche das virtuelle Bion während seiner Entwickelung bis zum aktuellen durchläuft, folgendermaßen ordnen: erste Stufe: Embryobläschen (Ei); zweite Stufe: Vorkeim (Proembryo); dritte Stufe: Keim (Embryo) ohne Cotyledonen; vierte Stufe: Keim (Embryo) mit Cotyledonen; fünfte Stufe: Keim (Embryo) mit Cotyledonen und Plumula (Inter- nodien): nach dem Keimen: junge einfache Pflanze: sechste Stufe: verzweigte Pflanze (Stock). Jeder Organismus also, welcher als aktuelles Bion ein morphologisches Individuum zweiter oder höherer Ordnung ist, muß vorher die vorhergehenden Individualitätsstufen als virtuelles Bion durchlaufen haben. Hier tritt mithin das virtuelle Bion als regulärer, in periodischem Cyklus sich wiederholender Ent- wickelungszustand auf und ist zuerst, als Ei öder Spore, eine ein- fache Plastide. ein P'ormindividuum erster Ordnung, welches einen X, Aktuelle, virtuelle und partielle Bionten. 137 abgelösten Bestandteil des aktuellen elterlichen Bion bildete. Es kann aber auch bei vielen Organismen jeder einzelne Körperteil unter Umständen als virtuelles Bion auftreten, d. h. sich zum aktuellen Bion entwickeln, wie es bei der Hydra der Fall ist und bei zahl- reichen Pflanzenarten, wo viele einzelne Zellen oder Zellgruppen des Körpers eine so ausgezeichnete Reproduktionsfähigkeit besitzen, daß sie sich, losgelöst vom elterlichen Organismus, vom aktuellen Bion. selbst wieder zu einem solchen ergänzen und heranbilden können. III. Partielles Bion oder scheinbares physiologisches Individuum ist jeder Teil eines organischen Individuums, w^elcher die Fähigkeit besitzt, nach seiner Ablösung von dem potentiellen oder aktuellen Bion längere oder kürzere Zeit sich selbst zu erhalten und als scheinbares, selbstän- diges Bion seine Existenz unabhängig fortzuführen, ohne sich jedoch zum aktuellen Bion entwickeln zu können. Das scheinbare oder partielle Bion vermag niemals, wie das virtuelle, sich zum Ganzen zu reproduzieren und zum aktuellen Bion durch selbständiges Wachstum allmählich sich auszubilden. Vielmehr geht es zugrunde, nachdem es eine Zeitlang sich erhalten, und bisweilen während dieser Zeit eine bestimmte Funktion (z. B. die Fortpflan- zung) ausgeübt hat. So ist es z. B. mit dem Hectocotylus der Cephalopoden (einem Organ), mit der Progiottis der Cestoden (einem Metamer), mit dem männlichen Blütensproß der VaUisneria (einer Person), w^elche sich von einem aktuellen Bion höherer Ordnung abgelöst haben. Wie man sieht, ist der Begriff dieses partiellen oder scheinbaren Bion ein sehr weiter und unbestimmter, und es kommt ihm bei weitem nicht die hohe Bedeutung zu. wie dem wesentlich verschiedenen virtuellen und aktuellen Bion. Doch haben die meisten früheren Versuche, die organische Individualität zu be- stimmen, gerade auf das partielle Bion einen außerordentlich hohen Wert gelegt, und es ist deshalb wohl nicht überflüssig, dasselbe als eine dritte Erscheinungsweise der physiologischen Individualität neben dem virtuellen und aktuellen Bion aufzuführen. Wenn wir oben wiederholt den wichtigen Satz hervorhoben, daß jede der sechs morphologischen Individualitäten als Bion oder physiologisches Individuum auftreten kann, so gilt dies von allen drei Erscheinungsformen des letzteren. Sowohl das aktuelle, als das virtuelle, als endlich auch das partielle Bion kann durch jede der sechs morphologischen Individualitätsformen repräsentiert werden. Elftes Kapitel. Tektologisclie Thesen. »Eine Erfalirung, die aus melireren anderen bestellt, ist offenbar von einer liöheren Art. Auf solche Erfahrungen der höheren Art loszuarbeiten halte ich für höchste Pflicht des Naturforschers, und dahin weist uns das Exempel der vor- züglichsten Männer, die in diesem Fache gearbeitet haben." Goethe. I. Thesen von der Fundamentalstniktur der Organismen. 1. Alle morphologischen Eigenschaften der Organismen, sowohl ihre anatomischen, als ihre Ent\Yickelnngserscheinnngen, und von den anatomischen Eigenschaften sowohl die tektologischen als die promorphologischen Verhältnisse, sind die notwendigen Folgen mechanischer wirkender Ursachen. 2. Jeder Organismus oder belebte Naturkörper ist eine mate- rielle Raumgröße (Masseneinheit), welche als solche aus einer Summe von Massenatomen und zwischen denselben befindlichen Ätheratomen zusammengesetzt ist. 3. Die Massenatome, w^elche jeden Organismus zusammen- setzen, gehören mindestens vier verschiedenen Atomarten (chemischen Elementen oder ürstoffen) an, welche zu sehr verwickelten Verbin- dungen in demselben vereinigt sind. 4. Die chemischen Verbindungen, aus welchen jeder Organismus zusammengesetzt ist, sind teils konstante, welche allen Organismen gemeinsam zukommen, teils inkonstante, welche einem Teile der Organismen besonders zukommen. 5. Die konstanten, allen Organismen ohne Ausnahme zu- kommenden chemischen Verbindungen sind Kohlenstoffverbin- dungen aus der Gruppe der Eiweißkörper (Albuminate. Protein- verbindungen), welche alle mindestens aus vier verschiedenen Atom- arten: Kohlenstoff. Sauerstoff. Wasserstoff und Stickstoff zusammen- W Tektologische Thesen. 139 gesetzt sind; meistens zugleich noch aus Schwefel und oft aus Phosphor. 6. Die inkonstanten, nur einem Teile der Organismen zu- kommenden chemischen Verbindungen sind teils organische (kohlenstoffhaltige) Verbindungen (Fette, Kohlenhydrate etc.). teils anorganische (kohlenstofffreie) Verbindungen (Alkalisalze. Kalksalze. Kieselverbindungen etc.). 7. Von den chemischen Verbindungen, welche das materielle Substrat jedes Organismus bilden, befindet sich immer wenigstens ein Teil (und zwar ausnahmslos ein Teil der konstanten Eiweißverbin- dungen) im festflüssigen Aggregatznstande (Imbibitionszustande). 8. Alle Eigenschaften der Organismen sind die unmittelbaren oder mittelbaren Wirkungen der c h e m i s c h e n V e r b i n d u n gen. aus denen sie zusammengesetzt sind, und in letzter Linie der Massen- atome und Ätheratome, aus welchen jene chemischen Verbindungen zusammengesetzt sind. 9. Alle Eigenschaften der Organismen sind entweder physio- logische (Bewegungserscheinungen der Massenatome und der aus ihnen zusammengesetzten Moleküle) oder morphologische (Lage- run2;sverliältnisse der Massenatome und der aus ihnen zusammen- gesetzten Moleküle). 10. Die Leistungen oder Funktionen der Organismen (physiolo- gische Eigenschaften oder Lebenserscheinungen) sind als Bewegungen (Anziehungen und Abstoßungen) der Atome und Moleküle nur in einer Reihe von Zeitmomenten erkennbar und als solche Objekt der Physiologie (Biodi/iiconik). 11. Die Formen oder Morphen der Organismen (morphologische Eigenschaften oder Lebensbildungen) sind als Ruhezustände ((Gleich- gewichtszustände) der Atome und Moleküle nur in einem einzigen Zeitmomente erkennbar und als solche Objekt der Morphologie ( Biostat il\). 12. Die Massenbewegungen (Anziehungen und Abstoßungen der Atome und Moleküle in den organischen Verbindungen), welche wir Lebenserscheinungen nennen, erfolgen innerhalb jedes Organis- mus nach denselben ewigen und unabänderlichen Gesetzen der die gesammte Natur beherrschenden Notwendigkeit, wie alle Bewegungs- erscheinungen in der anorganischen Natur: alle sind mithin die not- wendigen Folgen wirkender Ursachen (nach dem allgemeinen Kausal- gesetz). 140 Tektologische Thesen. XI. 18. Die Ruhezustände (Gleichgewichtszustände) der Atome und Moleküle in den organischen Verbindungen, welche wir Lebens- formen nennen, werden durch dieselben ewigen und unabänderlichen Gesetze der absoluten Notwendigkeit bedingt, wie alle gesetzmäßigen Formen in der anorganischen Natur (Kristalle); alle sind mithin die notwendigen Folgen wirkender Ursachen (nach dem allgemeinen Kausalgesetz). 14. Die Massebewegungen der organischen Atome und Mole- küle, deren Endresultat die Lebensformen sind, gehen immer aus von den niemals fehlenden, sehr beweglichen und veränderlichen Eiweißverbindungen, welche die „aktive" organische Materie oder das Plasma, den ..Lebensstoff" im engeren Sinne bilden. II. Thesen von der organischen Individualität. 15. Jeder einzelne Organismus als lebendige Masseneinheit erscheint in der Form einer einheitlich abgeschlossenen und selbst- ständigen Raumgröße, welche ganz oder teilweise von festflüssiger organischer Materie gebildet wird und eine einheitliche Summe von Leistungen (Lebenserscheinungen) ausführt. 16. Jeder einzelne Organismus, vom morphologischen Stand- punkte aus betrachtet und bloß hinsichtlich seiner formellen Indivi- dualität als Einheit untersucht, erscheint als ein morphologisches Individuum oder Morphon. 17. Jeder einzelne Organismus, vom physiologischen Stand- punkte aus betrachtet und bloß hinsichtlich seiner funktionellen Individualität als Lebenseinheit untersucht, erscheint als physiologi- sches Individuum oder Bion. 18. Das Bion oder das physiologische Individuum als Lebens- einheit ist an ein materielles Substrat gebunden, welches entweder ein einziges einfaches morphologisches Individuum oder ein einheit- licher Komplex (Synusie. Kolonie) von zwei oder mehreren, innig verbundenen einfachen morphologischen Individuen ist. 19. Jeder einheitliche Komplex (Synusie oder Kolonie) von zwei oder mehreren, innig verbundenen einfachen morphologischen Individuen, welcher ein natürliches Ganzes, eine selbständige Form- einheit bildet, ist als ein morphologisches Individuum zweiter oder höherer Ordnung zu betrachten. 20. Alle morphologischen Individuen, welche im Tierreiche, im XI. Tektologische Thesen. 141 Protistenreiclie, und im Pflanzenreiche als materielle Substrate der Bionten, als Träger der einheitlichen Lebenserscheinungen auf- treten, lassen sich in sechs subordinierte Stufen oder Ordnungen gruppieren, welche wir. von unten nach oben aufsteigend, mit folgenden morphologisch bestimmten Ausdrücken bezeichnen : 1) das Plasmastück (Plastis): 2) das Werkstück (Organen): 3) das Gegen- stück (Antimeros): 4) das Folgestück (Metameros): b) die Person (Prosopon): 6) der Stock (Cormos). 21. Jede einzelne Formeinheit höherer Ordnung ist eine Viel- heit (Synusie oder Kolonie) von mehreren vereinigten Formein- heiten der vorhergehenden niederen Ordnungen. 22. Nur die Plastide (entweder Cytode oder Zelle), als das morphologische Individuum erster und niederster Ordnung, ist dem- nach ein wirkhch einfaches Formindividuum: alle übrigen mor- phologischen Individuen (zweiter bis sechster Ordnung) sind stets zusammengesetzte Individuen oder Kolonien (Synusien, Komplexe). III. Thesen von den einfachen organischen Individuen. 23. Die Plastide oder das Plasmastück, als das einzige ein- fache organische Individuum, ist das allgemeine P'ormelement aller Organismen, die gemeinsame Grundlage aller Protisten, Tiere und Pflanzen ohne Ausnahme. 24. Jede lebende Plastide ohne Ausnahme besteht aus einem zusammenhängenden Stücke einer festflüssigen Eiweißverbindung (Plasma), welche den eigentlich aktiven Lebensstoff repräsentiert, indem sie in beständiger chemischer Umsetzung begriffen ist, und dadurch die Lebensbewegungen veranlaßt. 25. Alle die endlos mannigfaltigen und verschiedenartigen mor- phologischen und physiologischen Eigenschaften der Organismen sind lediglich die unmittelbaren oder mittelbaren Wirkungen der endlos mannigfaltigen und verschiedenartigen atoni istischen Zu- sammensetzung der Eiweißverbindungen, welche als indi\dduelle Plasmaklumpen das Plasma der Piastiden bilden. 26. In allen Piastiden ist das Plasma entweder der einzige aktive Bestandteil (das ..Lebenselement"), oder es hat sich im Innern des Plasma ein zweiter aktiver Bestandteil aus demselben differenziert. der Kern oder Nucleus, welcher aus einer von dem Plasma verschie- denen Eiweißverbindung besteht. 142 Tektologische Thesen. XL 27. Die Zellen (als IMastiden mit Plasma und Kern) sind dem- nach als eine höhere Entwickelungsstufe, von den unvollkommeneren Cytoden (den einfachen Plasmaklumpen ohne Kern) zu unter- scheiden. 28. Alle Fornibestandteile der Piastiden, und also der Organis- men überhaupt (als einfacher Piastiden oder Plastidenkomplexe), welche nicht aktives Plasma oder aktiver Kern sind, werden als passive oder sekundäre von jenen aktiven oder primären Plastiden- teilen gebildet, entweder äußerlich (Zellenmembranen und Intercellu- larsubstanzen) oder innerlich (innere Plasmaprodukte). IT. Thesen von den zusaninieny:esetzten organischen Individuen. 29. x-Mle morphologischen und physiologischen Eigenschaften der zusammengesetzten organischen Individuen (zweiter bis sechster Ordnung) sind die notwendige Wirkung der sie kon- stituierenden einfachen Individuen (Piastiden) und zwar in letzter Instanz ihrer aktiven Bestandteile (Plasma und Kern). 30. Die Komposition der zusammengesetzten Individuen aus Aggregaten von einfachen Individuen erfolgt in den Organismen aller drei Reiche (Tiere, Protisten und Pflanzen) nach denselben einfachen Gesetzen. 31. Das Organ (in rein morphologischem Sinne, als das mor- phologische Individuum zweiter Ordnung) ist ein Komplex von zwei oder mehreren vereinigten Piastiden (Cytoden oder Zellen). 32. Das Antimer oder der homotype Stückteil ist ein Komplex von zwei oder mehreren vereinigten Organen. 33. Das Metamer oder der homodyname Stückteil ist ein Komplex von zwei oder mehreren vereinigten Antimeren. 34. Die Person oder das Prosopon (Histonal) ist ein Komplex von zwei oder mehreren vereinigten Metameren. 35. Der Stock oder Cormus ist ein Komplex von zwei oder mehreren vereinigten Histonalen (Blasten oder Personen). V. Thesen von der physiologischen Individualität. 36. Jede bestehende Art oder Spezies von Organismen ist aus allen physiologischen Individuen zusammengesetzt, welche unter nahezu gleichen Verhältnissen oder doch unter sehr ähnlichen XI. Tektologische Thesen. 143 Existenzbedingungen eine nahezu gleiche oder doch sehr ähnHche Fornienreihe während ihrer individuellen Entwickelung durchlaufen. 37. Für jede Art oder Spezies von Organismen ist die Stufe der morphologischen Individualität, welche das vollständig reife und ausgebildete physiologische Individuum repräsentiert, eine konstante, w^elche wir mit dem Ausdruck des aktuellen Bion bezeichnen. 38. WirkHch einfache Organismenspezies können bloß die Mono- plastiden genannt werden, d. h. diejenigen Arten, bei welchen das aktuelle Bion sowohl, als alle Entwickelungsstadien desselben, den Formenwert einer einzigen Plastide (entweder einer Cytode oder einer Zelle) besitzen. 39. Alle Organismenarten, welche als aktuelle Bionten aus zwei oder mehreren Piastiden zusammengesetzt sind, und demgemäß den Formwert eines morphologischen Individuums zweiter bis sechster Ordnung haben, können als zusammengesetzte Organismenspezies oder Polyplastiden bezeichnet werden. 40. Alle Organismen, welche als aktuelle Bionten durch morpho- logische Individuen zweiter bis sechster Ordnung dargestellt werden (also alle zusammengesetzten Organismenspezies), durchlaufen während ihrer individuellen Entwickelung die vorhergehenden niederen Individualitätstufen, von der ersten an. 41. So lange das Bion sich auf einer morphologischen Indivi- dualitätsstufe befindet, welche niedriger ist, als diejenige, welche es später als aktuelles Bion erreicht, muß dasselbe entweder als virtu- elles oder als partielles Bion bezeichnet werden. 42. Als virtuelles oder potentielles Bion muß das physiologi- sche Individuum unterschieden werden, wenn dasselbe die Fähigkeit besitzt, sich zu der höheren morphologischen Individualitätsstufe zu entwickeln, welche dem aktuellen Bion seiner Spezies eigentüm- lich ist. 43. Als partielles oder scheinbares Bion dagegen muß das physiologische Individuum angesehen werden, wenn es zwar die Fähigkeit besitzt, als selbständige Lebenseinheit längere oder kürzere Zeit zu existieren, nicht aber sich zu der morphologischen Indivi- dualitätsstufe zu entwickeln, welche dem aktuellen Bion seiner Spezies eigentümlich ist. 44. Sowohl die aktuellen, als die virtuellen, als die partiellen Bionten können als materielles Substrat jede der sechs morpho- logischen Individualitätsordnungen haben. 144 Tektologische Thesen. XL 45. Alle physiologischen Individuen, gleichviel welche morpho- logische Individualitätsoidnung ihr materielles Substrat bildet, sind in allen ihren Leistungen und Formverhältnissen auf die morpholo- gischen Individuen erster Ordnung, die Piastiden (Cytoden und Zellen) als „Elementarorganismen"' zurückzuführen, da jedes Bion entweder selbst eine einfache Plastide (Monoplastis) oder ein Aggre- gat (Synusie, Kolonie) von mehreren Piastiden ist (Polyplastis). 46. Sämthche physiologische und morphologische Eigenschaften eines jeden polyplastiden Organismus erscheinen mithin als das notwendige Gesamtresultat aus den physiologischen und morpholo- gischen Eigenschaften aller Piastiden, welche ihn zusammensetzen. VI. Thesen von der tektologisclien DifFerenzierung und Zentralisation. 47. Die Struktur oder der Körperbau (die innere Form) der Organismen ist das Verhältnis der einzelnen konstituierenden Bestand- teile der Organismen zueinander und zum Ganzen. 48. Bei den monoplastiden Organismen, welche als aktuelle Bionten stets auf der ersten morphologischen Individualitätsstufe stehen bleiben, ist die Struktur durch das Verhältnis der (aktiven) konsti- tuierenden Plasmamoleküle und der von ihnen produzierten anderen (passiven) Stoff moleküle zueinander und zum Ganzen bestimmt. 49. Bei den polyplastiden Organismen hingegen, welche als aktuelle Bionten die zweite oder eine noch höhere morphologische Individualitätsstufe erreichen, ist die Struktur durch das Verhältnis bestimmt, welches die konstituierenden morphologischen Individuen von allen untergeordneten, und in letzter Instanz von der ersten Individualitätsstufe zueinander und zum Ganzen einnehmen. 50. Die verschiedenen Grade der morphologischen Vollkommen- heit, welche die verschiedenen Organismenarten zeigen, sind teils durch ihre tektologischen, teils durch ihre promorphologischen Eigen- schaften bedingt, also weder allein durch die Struktur, noch allein durch die Grundform. 51. Die verschiedenen Grade der Vollkommenheit der Organis- men sind, insofern sie unmittelbar auf den Struktur- Verhältnissen beruhen, durch mehrere verschiedene tektologische Momente bestimmt, welche wesentlich auf dem gegenseitigen Verhältnis der aggregierten morphologischen Individuen verschiedener Ordnung zueinander und zum Ganzen beruhen. XI. Tektologische Thesen. 145 52. Der Organismus ist um so vollkommener, je höher der morphologische Individualitätsgrad ist, zu welchem er sich erhebt, je größer also die Zahl der untergeordneten Individualitätsstufen ist. welche ihn zusammensetzen. 53. Der Organismus ist. falls er aus gleichartigen Piastiden zu- sammengesetzt ist. um so vollkommener, je größer die Anzahl der konstituierenden Piastiden ist. 54. Der Organismus ist, falls er aus ungleichartigen Piastiden zu- sammengesetzt ist. um so vollkommener, je ungleichartiger die konsti- tuierenden Piastiden sind (Gesetz der Differenzierung der Piastiden). 55. Jede morphologische Individualität irgendeiner Ordnung ist um so vollkommener, je ungleichartiger die in Mehrzahl vorhandenen Indi- viduen der nächst tieferen Ordnung sind, welche sie konstituieren, je größer also deren Polymorphismus (Arbeitsteilung. Differenzierung) ist. 56. Der Organismus ist um so vollkommener, je abhängiger die gleichartigen Individualitäten, welche ihn zusammenzetzen, vonein- ander und vom Ganzen sind, und je mehr also der ganze Organis- mus zentralisiert ist. und alle subordinierten Indi^^dualitäten beherrscht (Gesetz der Zentralisation). 57. Jedes einzelne Formindividuum irgend einer Ordnung ist dagegen um so vollkommener, je unabhängiger dasselbe von seinen koordinierten Genossen (den anderen Formindividuen derselben Ord- nung) und je unabhängip,er es zugleich von dem übergeordneten Ganzen ist (Gesetz der individuellen Autonomie). 58. Der Organismus ist um so vollkommener, je höher zwischen allen untergeordneten IndividuaHtäten, welche ihn zusammensetzen, der Grad der Arbeitsteilung und der Grad der Wechselwirkung ist, je größer mithin die Differenzierung und die Zentralisation des ganzen Organismus ist. yil. Thesen von der Yollkoninienheit der yerscliiedenen Individualitäten. 59. Die Formindividuen erster Ordnung, die Piastiden (Cytoden und Zellen), sind allgemein um so vollkommener, je größer die An- zahl der konstituierenden Plasmamoleküle ist, je differenter ihre atomistische Zusammensetzung und folglich ihre physiologische Funk- tion ist, je abhängiger mithin dieselben voneinander und von der ganzen Plastide sind, und je mehr die ganze Plastide zentralisiert und. von dem etwa übergeordneten Organe unabhängig ist. Ha ecke!. Prinz, d. ilorphol. 10 146 Tektologische Thesen. XL 60. Die Formindividuen zweiter Ordnung, die Organe, sind allgemein nm so vollkoniniener, je größer die Anzahl ihrer konsti- tuierenden Piastiden ist. je differenter deren chemische Znsammen- setzung und folglich auch ihre physiologische Funktion ist. je abhän- giger mithin die Piastiden voneinander und vom ganzen Organ sind, und je mehr das ganze Organ zentralisiert und von dem etwa über- geordneten Antimer unabhängig ist. 61. Die Formindividuen dritter Orchning oder Antimeren sind allgemein um so vollkommener, je größer die Anzahl der konstituie- renden Organe, je differenter deren histologische Zusammensetzung, imd folglich auch ihre physiologische Funktion ist. je abhängiger mithin die Organe voneinander und vom ganzen Antimer sind, und je mehr das ganze Antimer zentralisiert und von dem etwa über- geordneten Metamer unabhängig ist. 62. Die Formindividuen vierter Ordnung, die Metameren oder Folgestücke, sind allgemein um so vollkommener, je differenzierter, je ungleichartiger ihre homotypische, organologische und histologische Zusammensetzung, und folglich auch je vielseitiger ihre physiologi- sche Funktion ist, je abhängiger mithin die konstituierenden Plasti- den. Organe und Antimeren voneinander und vom ganzen Metamer sind, und je mehr das ganze Metamer zentralisiert und von der etwa übergeordneten Person unabhängig ist. 63. Die Formindividuen fünfter Ordnung, die Personen oder Histonalen, sind allgemein um so vollkommener, je differenzierter, je ungleichartiger ihre homodyname. homotypische, organologische und histologische Zusammensetzung, und folglich auch je vielseitiger ihre physiologische Funktion ist, je abhängiger mithin die konstituie- renden Piastiden, Organe, Antimeren und Metameren voneinander und vom ganzen Histonal sind, und je stärker die ganze Person zentralisiert und von dem etwa übergeordneten Stocke unabhängig ist. 64. Die Formindividuen sechster Ordnung, die Stöcke oder Cormen, sind allgemein um so vollkommener, je differenzierter, je ungleichartiger ihre prosopologische, homodyname, homotypische, organologische und histologische Zusammensetzung, und folglich auch je vielseitiger ihre physiologische P'unktion ist. je abhängiger mithin die konstituierenden Piastiden, Organe, Antimeren, Metameren und Personen (Sprosse) voneinander und vom ganzen Stocke sind, und je stärker also der ganze Stock zentralisiert ist. VIERTES BUCH. ZAVEITER TEIL DER ALLGEMEINEN ANATOMIE. GENERELLE PROMORPHOLOGIE ODER ALLGEMEINE GRUNDFORMENLEHRE DER ORGANISMEN. (STEREOMETRIE DER ORGANISMEN.) Beiuerkiiug-en zum vierten Buche (1906). Die Gnmdfornienlehre oder Promorphologie behandehe im 12. Kapitel Be- griff und Aufgabe dieser Wissenschaft (S. 375 — 399). im 13. Kapitel das neue System der organischen Grundformen (S. 400 — 527), im 14. Kapitel die Grund- formen der sechs Individualitätsordnungen (S. 528 — 539); im 15. Kapitel waren die Ergebnisse dieser promorphologischen Untersuchungen in 95 Thesen zu- sammengefaßt. Dazu kam dann noch ein Anhang von 5 Tabellen und die Er- klärung der beiden promorphologischen Tafeln (S. 554 — 574). Dieser ganze Teil der Morphologie gehört zu denjenigen, welche in weiteren Kreisen wenig Interesse finden; man begnügt sich gewöhnlich noch heute mit der Unterscheidung von drei Symmetrieverhältnissen: Regulären, Bilateralen und Irregulären Formen. Die schärfere Unterscheidung und mathematische Präzision zahlreicher Gruppen von Grundformen, die ich hier (1866) zuerst gegeben hatte, ist nur selten berücksichtigt worden. Da zum klaren Verständnisse dieser schwierigen promorphologischen Fragen zahlreiche Abbildungen erforderlich sind, habe ich hier jetzt auf ihre eingehende Erörterung verzichtet. Ich verweise auf die ausführliche Begründung, die ich inzwischen (unter Verwendung zahlreicher Figuren) in zwei anderen Werken gegeben habe: I. Grundriß einer Allge- meinen Naturgeschichte der Radiolarien (Berlin, Georg Reimer. 1887, S. 8—20. mit 64 Tafeln). II. Kunstformen der Natur, Supplement-Heft: Grundformen der Organismen. S. 9 — 49. 100 Tafeln. (Leipzig. Bibliogr. Institut.) 10* „Freudig war seit vielen Jahren Eifrig so der Geist bestrebt, Zu erforschen, zu erfahren, Wie Natur im Schaffen lebt. Und es ist das ewig Eine, Das sich vielfach offenbart: Klein das Große, groß das Kleine, Alles nach der eignen Art, Immer wechselnd, fest sich haltend, Nah und fern, und fern und nah So gestaltend, umgestaltend — Zum Erstaunen bin ich da." Goethe. Zwölftes Kapitel. Begriff und Aufgabe der Promorpliologie. „W?s man au der Natur GeheiniuisvoUes pries Das wagen wir verständig' zu probieren, Und was sie sonst org^anisieren ließ. Das lassen wir kristallisieren." Goe the. I. Die Promorpliologie als Lehre von den organischen Grundformen. Die Proraorphologie oder Gruiidformenlehre der Orga- nismen ist die gesamte Wissenschaft von der äußeren Form der organischen Individuen, und von der stereometrischen Grundform, welche derselben zugrunde liegt, und auf deren Erkenntnis durch Abstraktion sich jede wissenschaftliche Darstellung einer organischen Form stützen muß. Die Aufgabe der organischen Promorphologie ist mithin die Erkenntnis und die Erklärung der organischen individuellen Gesamtform durch ihre stereometrische Grundform d. h. die Bestimmung der idealen Grundform durcli Ab- straktion aus der realen organischen Form, und die Erkenntnis der bestimmten Naturgesetze, nach denen die organische Materie die äußere Gesamtform der organischen Individuen bildet. Begriff und Aufgabe der organischen Promorphologie, wie wir sie hier feststellen, sind bisher noch nicht Gegenstand von ein- gehenden morphologischen Untersuchungen gewesen. Die Vorwtü'fe. welche die meisten Zoologen und Botaniker hinsichtlich der allge- meinen Vernachlässigung der Tektologie verdienen, gelten in noch höherem Maße hinsichtlich der Promorphologie. Nur sehr wenige Naturforscher haben versucht, in der scheinbar gesetzlosen und ganz unberechenbaren Formenmannigfaltigkeit des Tier- und Pflanzen- reichs nach der Erkenntnis allgemeiner Gesetze zu streben, nach denen diese Formen gebiklet sind. Nur einzelne haben den wenig 150 Begriff und Aufgabe der Promorphologie. Xll. berücksichtigten Versuch gemacht, mathematisch bestimmbare Grund- formen aufzufinden, welche die notwendige Gesetzhchkeit auch in den komphziertesten Bildungen der organischen Naturkörper ver- raten; aber auch diese sind meistens bald vor den großen Schwierig- keiten zurückgeschreckt, welche einer mathematischen Erkenntnis der organischen Formen entgegenstehen, und welche bei jedem tieferen Eindringen in das Rätsel ihrer höchst komplizierten Bildungen die erstere unmöglich erscheinen lassen. Die anorganische Morphologie ist in dieser Beziehung der organischen unendhch voraus. Derjenige Wissenschaftszweig, welcher dort der organischen Promorphologie entspricht, ist die Kristallo- graphie, und es ist bekannt, welchen hohen Grad wissenschaft- licher A^ollendung, vorzüglich durch strenge Anwendung der rein mathematischen Methode, diese „Promorpliologie der Anorgane" erlangt hat. Von der Kristallographie lernen wir. daß die Erkennt- nis des Wesens der Form nicht durch die bloße Beschreibung der realen Form des Individuums, sondern durch die Konstruktion seiner idealen Grundform gewonnen wird. Der wissenschaftlichen Minera- logie genügt nicht die genaueste äußerliche Beschreibung eines individuellen Kristalles, wenn nicht das Verhältnis seiner verschie- denen Achsen und deren Pole zueinander erörtert und daraus die ideale stereometrische Grundform des Kristalles, sein ..System" erkannt ist. Bei den Organismen dagegen begnügt man sich fast allgemein mit der bloßen Beschreibung entweder der äußeren Ober- flächen oder der inneren Struktur, und vernachlässigt die ideale stereometrische Grundform, w^elche auch hier unter der verwickelten individuellen Form verborgen liegt, entweder gänzlich: oder glaubt genug getan zu haben, w^enn man sie entweder als „bilateral-sym- metrische" oder als „radial-reguläre" bezeichnet. Wir befinden uns also hier beim Eintritt in die Promorpliologie in der seltsamen Lage, die Wissenschaft, deren Grundzüge wir dar- stellen wollen, nicht allein in den ersten embryonalen Anfängen schlummernd, sondern sogar nicht einmal als selbständige indivi- duelle Disziplin anerkannt zu finden. Die Promorphologie der Organismen, welche nach unserer Überzeugung ein so wichtiger Bestandteil der organischen Morphologie ist. daß wir ihn sogar der Tektologie als anderen ebenbürtigen Hauptzweig der Anatomie gegen- überstellen, ist in der Tat als solcher bisher noch von keinem Natur- forscher anerkannt, und selbst von den wenigen denkenden Männern, XII. n. Begriff der organischen Grundformen im allgemeinen. 151 welche ihm ihre Aufmerksamkeit zuwandten, nicht in gehörigem Maße kultiviert und hervorgehoben worden. Wenn wir daher im folgenden die Fundamente der organischen Promorphologie für die "gesamte Formenwelt der drei organischen Reiche festzustellen versuchen, so haben wir nicht allein mit der großen Schwierigkeit des Gegenstandes an sich zu kämpfen, sondern in noch höherem Maße mit den Vorurteilen der Zeitgenossen, welche größtenteils diesem ersten Versuche einer „organischen Stereo- metrie" in erhöhtem Maße die Ungunst der Beurteilung zuwenden werden, die unsere morphologischen Reformversuche überhaupt zu erwarten haben. Es erscheint deshalb notwendig, ehe wir die bis- her unternommenen promorphologischen Versuche überblicken, den Begriff der organischen Grundform selbst, wie er uns persönlich vorschwebt und im folgenden speziell untersucht ist, in seiner all- gemeinen Bedeutung kurz zu erörtern und festzustellen. II. Begriff der organisclien Ofrimdform im allgemeinen. Unter organischer Grundform oder Promorphe verstehen wir allgemein denjenigen mathematischen Körper, welcher der äußeren Form jedes organischen Individuums erster bis sechster Ordnung zugrunde liegt, und welcher mit dieser letzteren in allen wesent- lichen Verhältnissen der formbestimmenden Körperachsen und ihrer beiden Pole übereinstimmt. Die ideale stereometrische Grundform sowohl als die reale Form des organischen Individuums, in welcher die erstere verkörpert ist, sind also lediglich durch ihre fest be- stimmten Achsen und deren beide Pole erkennbar und einer mathe- matischen Bestimmung fähig. Mithin sind nur diejenigen organi- schen Individuen von dieser stereometrischen Erkenntnis ausge- schlossen, bei denen wegen absoluten Mangels jeder bestimmten Achse auch eine stereometrische Grundform nicht ausgesprochen ist, näniHch die absolut unregelmäßigen oder amorphen Gestalten, welche wir in der Formengruppe der Achsenlosen (Anaxonia) zusammen- fassen. Die ..achsenlosen" organischen Individuen verhalten sich zu der großen Mehrzahl der „achsenfesten'' oder Axoiiia ebenso, wie die amorphen Anorgane zu den Kristallen. Die ideale stereometrische Grundform, welche wir in jedem realen organischen Formindividuum erster bis sechster Ordnung ver- körpert finden, ist eine absolut bestimmte, eine vollkommen kon- 1^2 Begriff und Aufgabe der Proiiiorphologie. Xll. stallte uiul daher gesetzmäßige. In dieser Konstanz der idealen stereometrisclien Grundform, d. h. in ihrem notwendigen kausalen Zusammenhange mit den formbildenden Ursachen der realen organi- schen Form, kurz in ihrer Gesetzmäßigkeit, liegt der hohe Wert, den dieselbe für eine wissenschaftliche Erkenntnis und Darstellung der realen organischen Formen besitzt. Es wird nämlich dadurch mög- lich, alle wesentlichen Fprmverhältnisse jedes organischen Körpers durch den einfachsten Ausdruck mit mathematischer Sicherheit zu bezeichnen. Die einfache Angabe der stereometrischen Grundform jedes morphologischen Individuums genügt vollkommen, um alle charakteristischen Formeigenschaften desselben mit einem einzigen Wort zu bezeichnen, an welches danfl die Beschreibung der äußeren Einzelheiten sicli ohne Mühe anschließen läßt. In dieser Beziehung ist die Promorpliologie der wahre mathematische Grundstein der mechanischen Morphologie der Organismen im allgemeinen und der deskriptiven Morphographie im besonderen. Die Form jedes Körpers, als die Summe aller äußeren Grenz- flächen. Grenzlinien und Grenzwinkel desselben, ist im allgemeinen nichts anderes als dasLagerungsverhältnis derkonstituierenden Bestand- teile des Körpers, oder, genauer ausgedrückt, das Resultat aus der Zahl und Größe, der gegenseitigen Lagerung und Verbindung, der Gleichheit oder Ungleichheit aller konstituierenden Bestandteile des Körpers. Wenn wir nun diese allgemeine Definition der Form jedes Körpers auf die ideale organische Grundform übertragen, welche einem morphologischen Individuum bestimmter Ordnung zugrunde liegt, so zeigt sich auch diese wesentlich als das notwendige Resul- tat der Zahl und Größe, Lagerung' und Verbindung, Gleichheit oder Ungleichheit der konstituierenden Formbestandteile, d. h. zunächst der morphologischen Individuen der nächst niederen Ordnung. Schon hieraus ist klar, daß die stereometrische Grundform jedes morpho- logischen Individuums nicht bloß aus der Oberflächenbetrachtung seines Äußeren erkannt werden kann, daß vielmehr dazu eine voll- ständige Erkenntnis seiner inneren Zusammensetzung aus den sub- ordinierten Formindividuen niederer Ordnung unentbehrlich ist. Ob- gleich also die Promorphologie wesentlicli die Aufgabe hat. die äußere Forin jedes gegebenen morphologischen Individuums geome- trisch zu erklären, kann sie diese Aufgabe doch nur lösen durch die vorhergegangene tektologische Erkenntnis seiner inneren Form, seiner Struktur. Aus diesem Grunde muß also stets die tektologi- XII. III. Verschiedene Ansichten über die organischen Grundformen. 153 sehe Erkenntnis jedes oroanisclien Fonnindivicluums seiner pronior- phologischen voransgehen. Die organische Grundform ist also keineswegs eine willkürliche Abstraktion, welche wir durch beliebige Hervorheining oder willkür- liche Ergänzung einzelner Begrenzungsflächen. Linien oder Winkel des organischen Körpers erhalten, sondern sie ist der notwendige und unveränderliche Ausdruck des konstanten Lagerungsverhältnisses aller konstituierenden Bestandteile der organischen P'orm zueinander und zum Ganzen. Jedes organische Formindividuum besitzt also in jedem gegebenen Zeitmomente nur eine einzige konstante geometri- sche Grundform. III. Terseliiedeue Aiisicliteu über die orgaiiiselieii Onuidfornieii. Die allgemeine Existenz konstanter stereometrischer Grundformen in allen realen morphologischen Individuen ist bisher nicht in dem Sinne, wie wir soeben bestimmt haben, anerkannt worden. Zwar haben einige wenige denkende Morphologen. unter denen namentlich Bronn. Johannes Müller. Burmeister. G. Jäger hervorzuheben sind, versucht, die verwickelten Tierformen auf einfache geometrische Grundformen zurückzuführen. Indessen galt es doch bei der Mehr- zahl der organischen Morphologen. und zwar bei den Botanikern noch mehr, als bei den Zoologen, als feststehendes Dogma, daß eine solche Reduktion entweder gar nicht oder nur in höchst beschränktem Maße möglich sei. Vergleicht man in dieser Beziehung die ein- leitenden Bemerkungen, welche selbst die besseren zoologischen und botanischen Lehrbücher über die allgemeine Form der Tiere und Pflanzen geben, so wird man meistens weiter nichts finden, als die kurze Angabe, daß der Körper der Organismen, sow^ohl der Tiere als der Pflanzen, von höchst komplizierten gekrümmten Flächen und krummen Linien begrenzt werde, während die reinen Formen der anorganischen jMaturkörper, der Kristalle, sich durch ebene Flächen und gerade Linien scharf unterscheiden sollen. Es wird sogar diese Differenz als eine der wesenthchsten aufgeführt, welche die beiden großen Hauptabteilungen der Naturkörper, organische und anorgani- sche, trennen; auch wird oft noch hinzugefügt, daß eine mathema- tische Bestimmung der Form, eine Reduktion auf einfache geometri- sche Grundformen, wie sie bei den Kristallen so leicht durchzuführen, und Aufgabe der Kristallographie sei. bei den Tieren und Pflanzen auf unüberwindHche Hindernisse stoße. Entweder sollen geometrisch 154 Begriff und Aufgabe der Promorphologie. XIL I reine Formen, wie die meisten Kristalle (aber auch nur annähernd !) darstellen, im Organismus gar nicht vorkommen, oder ihre Regel- mäßigkeit soll sieh darauf beschränken, daß die eine Gruppe der Formen symmetrisch oder bilateral, d. h. aus zwei gleichen Hälften zusammengesetzt, die andere Gruppe dagegen regulär oder radial, d. h. aus mehr als zwei gleichen Stücken zusammengesetzt sei. Dementsprechend werden sämtliche organische Formen von den meisten Morphologen in drei große Gruppen gebracht: I. absolut unregelmäßige Formen (nicht halbierbar): IL regelmäßige (oder strahlige) Formen (in zwei oder mehreren Richtungen halbierbar); III. symmetrische (oder zweiseitige) Formen (nur in einer einzigen Richtung halbierbar). Am wenigsten hat bisher die Frage nach der stereoraetrischen Grundform des Organismus die Botaniker beschäftigt, obschon in vielen Pflanzen dieselbe überraschend rein und scharf ausgesprochen ist, allerdings mehr in einzelnen Teilen (z. B. symmetrischen Blättern, pyramidalen Früchten, tetraedrischen und dodecaedrischen Pollen- zellen), als in ganzen Pflanzen höherer Formordnung. Schieiden sagt bloß: „Regelmäßig nennt man bei der Pflanze solche Formen, die sich mit vielen Schnitten durch eine angenommene Achse in zwei gleiche Teile teilen lassen, symmetrisch dagegen solche, die nur durch einen einzigen Schnitt in zwei gleiche Teile, die sich dann wie rechte und linke Hand verhalten, geteilt werden können." E. Meyer nennt die ersteren (die regulären Formen) konzentrische, die letzteren ebenfalls symmetrische, und unterscheidet als eine dritte Form die diaphori sehen (unseren Dysdipleura entsprechend), bei welcher rechte und linke Hälfte einen organischen Gegensatz (durch ungleiches Wachstum) bilden, durch welchen ihre Symmetrie teilweis wieder aufgehoben wird. Auch Hugo von Mohl hat in seiner Dissertation ..über die Symmetrie der Pflanzen" (1836) nur diese drei verschiedenen Grundformen betrachtet und mit besonderer Rücksicht auf ihre Beziehungen zum Wachstumc und zur Differen- zierung (besonders bei den niederen Pflanzen) erläutert, obwohl seine schönen Untersuchungen über den Pollen (1834) ihn hätten veran- lassen können, die Frage auch von einem weiteren Gesichtspunkte aus zu behandeln und namentlich die rein stereometrische Grund- form vieler Zellen hervorzuheben. Er behandelt aber nur die Sym- metrie des Thallus, des Stengels und Blattes und die allmählichen Übergänge der symmetrischen einerseits in die regulären („konzen- XII. IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie. 155 tiisclien") andererseits in die diapliorisclien (asymmetrischen, nnsere dysdipleuren) Formen. Weit allg'emeiner mid eingehender, als die Botaniker, haben sich die Zoologen mit den organischen Grundformen hinsichtlich ihrer Einteilung in irreguläre, reguläre und symmetrische beschäftigt. Hier ist sogar vielfach die Ansicht verbreitet, daß man symmetrische oder Bilateraltiere und reguläre oder Strahltiere als zwei Hauptgrundformen des Tierreiches unterscheiden könne. Zu den bilateralen oder sym- metrischen Tieren, bei denen der Körper aus zwei gleichen oder ähnlichen Teilhälften besteht, werden von den meisten Zoologen die drei Stämme der Vertebraten, Articulaten und Mollusken gerechnet, zu den regulären oder strahligen Tieren dagegen, bei denen der Körper aus drei oder mehr gleichen Teilen besteht, die beiden Stämme der Echinodermen und Coelenteraten. Einige Autoren stellen zu den Strahltieren als einen dritten Stamm auch noch die bunte Kollektivgruppe der „Protozoen", während andere die Gruppe der Strahltiere auf die Echinodermen und Coelenteraten beschränken und die Protozoen als eine dritte, unregelmäßige oder unsymmetrische Gruppe des Tierreiches aufstellen, bei welcher gleiche Teile über- haupt nicht zu unterscheiden seien. Eine weitere Unterscheidung von tierischen Grundformen, als diese zwei oder drei, ist gewöhnlich nicht zu finden, ebensowenig eine ausführlichere Erörterung der wichtigen Unterschiede, welche diese Differenzen im ganzen Körper- bau bedingen. Von den meisten Zoologen wird diese Frage, welche die wichtigsten Grundsätze der allgemeinen Morphologie berührt, und die ganze Auffassung der organischen Form wissenschaftlich regu- lieren muß, vielmehr als eine gleichgültige Nebensache vernachlässigt. IV. Die Promorphologie als organische Stereometrie. Die Forderung, daß die organische Morphologie die allein absolut sichere Methode der mathematisch-philosophischen Erkennt- nis einzuschlagen und daß sie insbesondere auch die Betrachtung der organischen „Form an sich*' nach dieser stereometrischen Methode zu beginnen habe, ist schon wiederholt und mit Recht von denken- den Naturforschern gestellt und von den vorher genannten auch zu erfüllen versucht worden. Insbesondere hat die neuere Physiologie, seitdem sie den allein möglichen mechanisch-kausalen Weg bei Er- forschung der dynamischen Lebensprozesse eingeschlagen hat, wieder- \qQ Begriff und Aufgabe der Promoijihologie. XII. holt die Notwendigkeit ausgesprochen, daß auch die organische ^rorpliologie bei Untersuchung der statischen Lebenssubstrate, der organischen Formen, denselben Weg verfolgen müsse. Indessen erschien diese Forderung immer ebenso leicht ausgesprochen, als schwer zu erfüllen. Der theoretischen Notwendigkeit schien sich stets die praktische Unmöglichkeit gegenüber zu stellen. Der Grund dieser Erscheinung liegt nach unserer Ansicht wesentlich darin, daß mau meistens nicht nach einer Erkenntnis der stereometrischen Grundform, sondern nach einer absoluten mathe- matischen Erkenntnis der gesamten äußeren Form des Organismus, nach einer genauen Ausmessung und Berechnung aller Einzelein- heiten seiner Oberfläche strebte. Diese ist aber in der Tat entweder (in den meisten Fällen) ganz unmöglich, oder da. wo sie ausführbar ist. von ganz untergeordnetem Werte. Die Gründe dafür liegen teils in der absoluten und unbegrenzten Variabilität der Organismen, teils in ihrem festflüssigen Aggregatzustande. Wollte man dennoch eine sorgfältige stereometrische Ausmessung und Berechnung aller der unendlich verwickelten und vielfältig gekrümmten Flächen. Linien und Winkel versuchen, welche auch die meisten einfacheren, fest- flüssigen organischen Formen begrenzen, so würde eine derartige geometrische Bestimnning weder von theoretischem Interesse noch von praktischer Bedeutung sein. Auf eine solche absolute mathe- matische Bestimmung der Oberflächenformen können wir daher, namentlich auch angesichts der individuellen Ungleichheit und Variabilität aller Organismen, vollständig verzichten. Anders verhält sich die theoretische Bedeutung und der prak- tische Wert der stereometrischen Grundform, deren Erkenntnis für den organischen Morphologen dieselbe Wichtigkeit, wie für den anorganischen Kristallographen besitzt. Diese ist wesentlich unab- hängig von allen Einzelheiten der Oberflächenbegrenzung und richtet ihr Augenmerk vor allen auf die formbestimmenden Achsen des Körpers und deren Pole. Die Methode der Kristallographie zeigt uns hier den allein möglichen und richtigen Weg. Kein Kristallo- graph würde jemals zu der Aufstellung von einigen wenigen geome- trischen Grundformen für die mannigfaltigen vielflächigen Kristall- körper der Mineralien gelangt sein, wenn er bei der Betrachtung der Kristallflächen stehen geblieben wäre und sich mit der, wenn auch noch so sorgfältigen Ausmessung derselben begnügt hätte. Zur Ent- deckung der einfachen Grundform des Kristalles oder seines „Systems" •s^ll IV. Die Piomorphologie als organische Stereometrie. 157 gelangt vielmehr der Mineralog nur dadurch, daß er die idealen Achsen des Kristallkörpers aufsucht, mit bezug auf welche sämt- liche Teilchen desselben eine bestimmte Lagerung einnehmen, und daß er die gleiche oder verschiedene Beschaffenheit dieser Achsen und ihrer Pole erwägt. Ganz ebenso muß auch der Morpholog zu AVerke gehen, der einfache geometrische Grundformen für die unendliche Mannigfaltig- keit der Tier- und Pflanzengestalten auffinden will, und gerade in dieser vorwiegenden Berücksichtigung der Achsen des organischen Naturkörpers und seiner Pole ist das Verdienst der bahnbrechenden Arbeiten von Bronn und der späteren von Gustav Jäger zu suchen. Wie die nachfolgenden Untersuchungen beweisen werden, führt eine scharfe Erfassung der Achsen und ihrer Pole nicht allein sicher, sondern auch einfach und leicht zu der Entdeckung der einfachen geometrischen Grundform, der Urgestalt oder des Modells, des organisierten Kristalls gewissermaßen, welcher der augenscheinlich ganz unberechenbaren Gestalt der allermeisten Tier-, Protisten- und Pflanzengestalten zugrunde liegt. Erst wenn diese mathematisch bestimmte Grundform, dieses konstante „Kristallsystem" des organi- schen Individuums gefunden ist, welches mit einem einzigen Worte alle wesentlichen Grundverhältnisse der Gestalt ausspricht, kann sich daran die wissenschaftliche Darstellung der individuellen Einzelheiten der Form anschließen. Man mißt dann zunächst die Länge der ver- schiedenen Achsen und den Abstand der einzelnen Oberflächenteile von denselben und von ihren Polen, und kann so erforderlichenfalls eine mathematisch genaue Beschreibung des Ganzen entwerfen. Als eine der wichtigsten Ergebnisse, welche uns diese stereome- trische Betrachtunosweise der organischen individuellen Form geliefert ^ö hat, ist schon oben hervorgehoben worden, daß die herrschende Ansicht von der fundamentalen morphologischen Differenz der anor- ganischen und organischen Naturkörper ein unbegründetes Dogma ist. Wenn in den meisten Handbüchern die Grundformen der mineralischen Kristalle einerseits, die der Tiere tmd Pflanzen anderer- seits als vollkommen und im Grunde verschieden bezeichnet werden, so ist dies ganz irrig. Es gibt Organismen, insbesondere unter den Rhizopoden. welche zwar nicht in der Flächenausbildung, wohl aber in der die Flächenform bestimmenden Achsenbildung von regulären Kristallen gar nicht zu unterscheiden sind. Ja es lassen sich sogar unter den Radiolarien viele Tierformen nachweisen, deren ganzes 158 Begriff luul Aufgabe der Promorphologie. XII. Skelet gewissermaßen weiter nichts als ein System von verkörperten Kristallaclisen ist, nnd zwar gehören diese organisierten Kristall- formen den verschiedenen Systemen an, welche anch der Mineralog unterscheidet. So finden wir z. B. in Haliomma hexacanthum nnd Adinomma drymodes das regnläre Hexaeder des tesseralen Kristall- systems, in Acanthosfaurus hastafus und Astromma AristoteJls das Quadratoctaeder des tetragonalen Kristallsystems, in Tetraji'/Jc octa- cfüifha nnd Sfeplianastrujn rhomhus das Rhombenoctaeder des rhombischen Kristallsystems vollkommen regulär verkörpert. Man braucht bloß die Spitzen der betreffenden Achsen durch Linien zu verbinden und durch je zwei benachbarte Linien eine Fläche zu legen, um in der Tat die entsprechenden Octaederformen zu erhalten. Wie w^r nun in diesen Fällen unmittelbar durch die objektive Betrachtung in der organischen Gestalt eine einfache stereometrische Grundform erkennen, welche nicht von derjenigen eines Kristall- systems zu unterscheiden ist, so finden wir auch in den anderen konkreten Gestalten der organischen Individuen (bloß die amorphen Anaxonien ausgenommen) unmittelbar eine einfache stereometrische Form als ideale Grundform durch die konstanten Beziehungen der Achsen und ihrer Pole konstant ausgesprochen, und wir können demnach in der Tat die Promorphologie als Stereometrie der Organis- men ansehen. Die detaillierte Beschreibung jeder organischen Form muß zunächst diese Grundform aufsuchen, die Maßverhältnisse ihrer Achsen bestimmen und an dieses mathematische Skelet der Form die Darstellung der Einzelnheiten überall anfügen. Dreizelintes Kapitel. System der organischen Griundformen. ^Dich im Unendlichen zu linden. Mußt unterscheiden und dann verbinden." Go etile. I. Das promorphologische System als generelles Formensystem. Das System der Grundformen haben wir zunächst aufgestellt, um dadurch eine geordnete Übersicht über die unendliche Fülle der gesetz- - mäßig ge])ildeten organischen Formen zu gewinnen. Indem wir am Schlüsse des vierten Buches, in diesem Anhange, die wichtigsten Kate- gorien jener organischen Grundformen nochmals, nach verschiedenen Ge- sichtspimkten geordnet, übersichtlich zusammenstellen, wollen wir nicht unterlassen, den Hinweis darauf vorauszuschicken. dalJ unser Formen- system auch noch einer weiteren Anwendmig fähig ist. Wie wir l)ereits die Krystallformen und die charakteristischen Formen gewisser mensch- licher kunstprodukte als ebenfalls innerhalb des Formenkreises unseres Systems fallend nachgewiesen haben, wie auch die Sphaeroidform der Weltkörper sich der (anepipeden) Haplopolenform unterordnet, so werden Avir bei allgemeinerer Betrachtung desselben finden, daß überhaupt alle verschiedenen Körperformen, welche in der Natur, und ebenso auch die verschiedenen Formen der Kunstprodukte, welche in der Sphäre mensch- licher Kunsttätigkeit entstehen, sich demselben einordnen lassen. Die Erkenntnis der formbestimmenden Achsen und ihrer Pole wird uns auch hier überall als erklärende Leuchte in dem unendlichen Chaos der realen Formen dienen. So erkennen wir z. B. in den meisten Bewegungswerk- zeugen zu Wasser und zu Lande die Eudipleurenform. in den meisten Waffen (Gewehren etc.) die Dysdipleurenform, in den meisten Vasen die Diphragmenform. in den meisten Bechern, Schüsseln. Glasgefäßen, Luft- ballons etc. entweder die homostaure oder die diplopole Grundform wieder. Der innige mechanische Zusannnenhang zwischen Form und Funktion ist hier ebenso wie bei den organischen Formen in der Natur unverkennbar. Es wird daher imser promorphologisches System nur weniger Ergänzungen bedürfen, um als erklärender Führer bei der geordneten vergleichenden Betrachtung sämtlicher Kih-performen überhaupt gute Dienste leisten zu können. Wir hoffen, damit die Grundlage eines generellen Formen- systems gegeben zu haben. 160 IJ- Übersicht der wichtigsten stereometrischen Grundformen. Xlll. IL Übersicht der wichtigsten stereometrischen Grundformen nacli ihrem verschiedenen Verhalten zur Körpermitte. I. Organische (irundformen ohne geometrische Mitte. Acentra. 1. Anaxonia. SpungiUa-Form. Klumpen (Absolut irreguläre Form.) II. Organische Grinulformen mit einem Mittelpunkt. CentrostJgma. 1. Homaxonia. Spliacrozoum-Form. Kugel. 2. Allopolyguna. lihizosphaera-Form. Endosphärisches Polyeder mit ungleich- vieleckigen Seiten. 3. Isopolygona. EUimosphaera-Form. Endosphärisches Polyeder mit gleich- vieleckigen Seiten. 4. Icosaedra. AHlosphacra-icosacdra-Fonn. Regidäres Icosaeder. 5. Dodecaedra. Bucholzia-Pollen-Form (Bucholzia maritima etc.). Reguläres Dodecaeder. 6. Octaedra. Chara-Antheridien-Form. Reguläres Octaeder. 7. Hexaedra. Hcxaedroinma-Form {kci\nommi\ drymodes). Reguläres Hexaeder. 8. Tetraedra. Corij dal in- Pollen- Form (Corydalis sempervirens etc.). Reguläres Tetraeder. III. Organische Grundformen mit einer Mittellinie (Achse). Centraxonia. 1. Haplopola anepipeda. Coccodiscus-Foriti. Sphäroid. 2. Haplopola amphepijjeda. Pyrosoma-Form. Zylinder. 3. Diplopola anepipeda. Ovulina-Forni. Ei. 4. Diplopola nionepipeda. Conulina-Form. Kegel. 5. Diplopola amphepipeda. Noduüaria-Form. Kegelstumpf. 6. Isostaura polypleura. Heliodiscus-Form. Reguläre Doppelpyramide. 7. Isostaura octopleura. Acanthostaiirns-Foriii. Quadrat-Octaeder. 8. Allostaura polypleura. Amphilonche-Form. Amphithecte Doppel-Pyramide. 9. Allostaura octopleura. StepJtanafitnim-Forni. Rhomben-Octaeder. 10. Homostaura. Adpiorea-Form. Reguläre Pyrauiide. 11. Tetractinota. Aurelia-Form. Quadrat-Pyramide. 12. Oxystaura. Eucharis-Form. Amphithecte Pyramide. 13. Orthostaura. Saplienia-Form. Rhomben-Pyramide. IV. Organische Grundformen mit einer Mitlelehene. Cenlroplana. 1. Amphipleura. Spatamjus-Form. Halbe amphithecte Pyrauiide. 2. Eutetrapleiira radialia. Praya-Fonn. Doppeltgleichschenkelige Pyramide. 3. Eutetra[)lcura interradialia. Nereh-Fonn. Antiparallelogramm-Pyramide. 4. Dystetrapleura. Abyla-Form. Ungleichvierseitige Pyramide. 5. Eudipleura. Homo-Form. Gleichschenkelige Pyramide. 6. Dysdipleura. Pleuronectes-Form. Ungleichdreiseitige Pyramide. XIII. in. Tabelle über die promovphologischen Kategorien. 161 III. Tabelle über die promorphologischen Kategorien. I. Anaxonia. Achsenlose Formen. Klumpen. Absolut irreguläre Formen. II. Axonia. Achsenfeste Grundformen. II, 1. Homaxoiiia. Kugeln. Absolut reguläre Formen. Alle Achsen gleich. II. 2. Hetcraxonia. Grundformen mit einer oder mehreren konstanten Achsen. 2, A. Polyaxonia. Grundformen mit mehreren konstanten Achsen (ohne Hauptachse und ohne Kreuzachsen!). A, a. Arrhj'thma. Irreguläre Polyeder. a, I. Allopolycjona. Irreguläre Polyeder mit ungleichvieleck. Seiten. a, II. Isoj)oh/(/o)ui. Irreguläre Polyeder mit gleichvieleck. Seiten. A, b. E h y t li m i c a. Reguläre Polyeder. b, I. Icosaedra. Reguläre Icosaeder. b, II. Dodecaedra. Reguläre Dodecaeder. b, III. Octaedra. Reguläre Octaeder. b, IV. Hexaedra. Reguläre Hexaeder, b, V. Tetraedra. Reguläre Tetraeder. 2. B. Protaxonia. Grundformen mit einer konstanten Achse oder Hauptachse (mit oder ohne Kreuzachsen). B, a. Monaxoiiia. Grundformen mit einer einzigen Achse (ohne Ivi'euzachsenj. a, I. Haplopola. Einachsige Grundformen mit gleichpoligerAchse. 1. 1. Haplopola anepipeda. Sphäroide. I, 2. Haplopola amphepipeda. Zylinder. a, IL Diplopola. Einachsige Grundformen mit ungleichpohger Achse. II. 1. Diplopola anepipeda. Eiformen. II, 2. Diplopola monepipeda . Kegel. 11,3. Diplopola a»)phepipeda. Kegelstumpfe. B, b. Stauraxonia. Doppel-Pyramiden oder Pyramiden (Grund- formen mit einer Hauptachse und mit Kreuzachsen). b, I. Hoinopola. Doppel-Pyramiden. I. 1. Isostaura. Reguläre Doppel-Pyramiden. 1, A. Isostaura pohjpleura. Reguläre Doppel-Pyramiden von 6, 10, 10 -j- 2 n Seiten. 1, B. Isostaura odopleura. Quadrat-Octaeder. 1.2. Allostaura. Amphithecte Doppel-Pyramiden. 2, A. Allostaura polypleura. Amphithecte Doppel-Pyraraiden von 8 -j-ln Seiten. 2, B. Allostaura octoplcnra. Rhomben-Octaeder. b. II. Heteropola. Pyramiden. IL 1. Homostaura. Reguläre Pyramiden. \^ k: Isopola. Reguläre Pyramiden von 2 n Seiten. 1,B. Anisopola. Reguläre Pyramiden von 2n — 1 Seiten. 11,2. Heterostaura. Irreguläre Pyramiden. 2, A. Autopola. Amphithecte Pyramiden. A, a. Oxystaura. Amphith. Pyram. von 4 -\- 2n Seiten. A, b. Orthostaura. Rhomben-Pyramiden. 2, B. Allopola. Halbe amphithecte Pyramiden. B, a. Amphipleura. H. a. P. von 4 + ^n Seiten. B, b. Zygopleura. Halbe Rhomben-Pyramiden. 162 IV. Übersicht der realen Typen der Grundformen. xin. 1. Lii»ostanre (irniidfornieii. 1. Klumpen (Holus) 2. Kuiiel (Sphaera) Realer Typus. Deutsclie Bezeichnung. SpongiUa Klumpen Sphaerozown (Volvox) Kugelformen Ungleichvieleckige 3. Endosphaer. Polyeder mit ungleichvieleckigen Wnzosphaera Seiten 4. Endosphaer. Polyeder mit gleichvieleckigen FJlimosplwera Seiten • i • r n t. 5. Reguläres Icosaeder Aulosphaera icosaedra Zwanziggleichtiachner Gleichviel eckige 6. Reguläres Dodecaeder 7. Reguläres Octaeder 8. Regidäres Hexaeder 9. Reguläres Tetraeder 10. Sphäroid (Ellipsoid) 11. Zylinder 12. Yogelei 13. Kegel 14. Kegelstumpf II. Diplopyraniidale oder pyramidale Grniidformeu. 15. Reguläre Doppelpyramide mit 6, 10, 10-|-2n Seiten 16. (^)uadrat-Octaeder 17. Amphithecte Doppelpyramide mit 8 -|- 4 n Seiten 18. Rhomben-Octaeder 19. Reguläre Pyramide mit lO + Sn Seiten 20. Zehnseitige reguläre Pyramide 21. Achtseitige reguläre Pyramide 22. Sechsseitige reguläre Pyramide 23. Vierseitige reguläre Pyramide 24. Reguläre Pyramide mit 9-{-2n Seiten 25. Neunseitige reguläre Pyramide 26. Siel)enseitige regidäre Pyramide 27. Fünfseitige reguläre Pyramide 28. Dreiseitige regiüäre Pyramide Bucholzia (Pollen) Zwölf gleichflächner Chara (Antheridien) Achtgleichflächner Actinomma dnjwoäcs Würfel Cori/dalis (Pollen) Coccodiscus Pyrosoma Ovulinn Comd'ma Nodosaria Hcliodiscns Acanthostaurus Amphilonche Stephanastrum Aequorea Aegineta globosa Alcyonunn (Mimusops) Carmarina (Achras) Aurelia (Paris) Brisinga Luidia senegalensis Trientalis Ophiura (Primida) Iris (Lvchnocaniinn) Viergleichflächner Sphäroidformen Zylinderformen Eiformen Kegelformen Kegelstumpfformen Reguläre diplopyra- midale Quadrat-octaedrische Amphithecte diplo- pyramidale Rhomben-octaedrische Gradzahlige Viel- strahlige Zehnstrahlige Achtstrahlige Sechsstrahlige A'ierstrahlige Ungradz ahlige Viel- strahlige Neunstrahlige Siebenstrahlige Fünfstrahlige Dreistrahlige 29. Achtseitige amphithecte Pyramide 30. Sechsseitige amphithecte Pyramide Eiidiaris Flabellnm Achtreifige Sechsreifige 31. Vierstückige Rhombenpyramide 32. Doppelstückige Rhoml)enpyramide 33. Halbe vierzehnseitige amphithecte Pyramide 34. Halbe zwölfseitige amphithecte Pyramide 35. Halbe zehnseitige amphithecte Pyramide 36. Halbe sechsseitige amjdiithecte Pyramide 37. I. Doppelt-gleichschenkelige Pyramide 37. II. Antiparallelogramm-Pyramide 88. Ungleichvierseitige Pyramide 89. Gleichschenkelige Pyramide 40. Ungleichdreiseitige Pyramide Saphenia (Draba) Petalospi/ris ( Circaea) Disandra Oculina (Ciiphea) Spatangus (Viola) Orchis (Dictvophimus) ?37. I. Fraya (Reseda) \37. II. JXercis (Iberis) Abyla Homo (Fumaria) Pleuronectes Vierreifige Zweireifige Siebenschienige Sechsschienige Fünfschienige Dreischienige (Gleichhälftige \ Zweipaarige j Ungleichhälftige \ Zweipaarige Gleichhälftige Ein- paarige Ungleichh. Einpaarige XIII. V. Tabelle zur Bestimmunfir der Grundformen. 163 I. Organische (iriindfornien ohne Kreuzachsen. Lipostanra Keine konstante Achse Eine oder mehrere konstante (vor allen übrigen ausge- zeichnete) Achsen ; aber keine Kreuzachsen (Alle Achsen ungleich Absolut Irreguläre \ Alle Achsen gleich Absolut Reguläre Nicht alle Antimeren, Grenzflächen un- Promorphologische Kategorie. 1. Anaxonia 2. Homaxonia Mehrere (mehr als zwei) konstante Achsen PoJi/axonia Eine einzige konstante , Achse I (Längsachse) j Monaxonia kongruent PoU/axonia arrhythma Alle Antimeren kongruent Pohjaxonia rhythnica Achse gleichpolig Haplopola Achse ungleichpolig Diplopola \ Grei ^ vi gleichvielseitig enzflächen gleich- ielseitig 20 kongruente Anti- meren 12 kongruente Anti- meren 8 kongruente Anti- meren 6 kongruente Anti- meren 4 kongruente Anti- meren ^ Keine Grenzebene \ Zwei Grenzebenen ( Keine Grenzebene I Eine Grenzebene 1 Zwei Grenzebenen II. Organische Grundformen mit Krenzachsen. Staiiraxonia. Längsachse gleichpolig Doppel- P3'ramiden Homopola Längs- achse oder Haupt- achse imgleich- polig Alle radialen oder alle semiradialen Kreuzachsen gleich Isostaura Nicht alle radialen oder semiradialen Kreuzachsen gleich Allostaura Alle radialen oder alle semiradialen Kreuzachsen untereinander gleich [3,5 oder ö-f-n Anti- ' raeren Nur 4 Antimeren 4 -[- 2 n Antimeren Nur 4 Antimeren 3. Allopolygona 4. Isopolygona 5. Icosaedra 6. Dodecaedra 7. Octacdra 8. Hexaedra 9. Tetraedra 10. Haplopola anepipeda 11. Haplopola aiiiphepipjeda 12. Diplopola anepipeda 13. Diplopola monepipeda 14. Diplopola amphepipeda 15. Isostanra polypleura IG. Isostanra octopileura 17. 18. Allostaura polypleura Allostaura octopleura Homostaura Pyra- miden Hetero- pola Nicht alle radialen oder alle seraira- dialen Kreuz- achsen gleich Hetero- staura Dorso- ventralachse gleichpolig Autopola Dorso- ventralachse ungleich- pohg Zengita (Centrepi- peda) Allopola Kreuzachsen gleichpolig, halb radial, halb inter- radial Isopola Kreuzachsen ungleich- polig, alle semira- dial Anisopola 3 oder 3 -}- n radiale Kreuzachsen Oxystaura 2 oder eine radiale Kreuzachse Orthostaura 3 oder 5 oder 5 -\- n Kreuz- achsen Amphipleura 4 Anti- 4 od. 2 10+2 n Anti- meren Antimeren Antimeren Antimeren Antimeren 9 + 2 n Anti- meren Antimeren Antimeren Antimeren Antimeren 19. Myriactinota 10 8 (3 4 9 7 5 3 Antimeren Antimeren Antimeren Antimeren Antimeren Antimeren Antimeren Antimeren Kreuz - achsen Zygo- pleura meren | Tetra- \ pleura 2 Anti-. meren | Di. I Lateralachse gleichpoli." Lateral achse ungleichpolig Lateralachse gleichpolig Lateral achse pleura'' ungleichpolig 20. 21. 22. 23! 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 37. 38. 39. 40. Decactinota Octaclinota Hexactinota Tetractinota Polyactinota Enneactinota Hcptactinota Pentactinota Triactinota Octophragma Hexapjhraguia Tetraphragma Diphrag))ia Hepta iiiplt iple 1 ( ra Hexauiph ipleura Pentauiphi pleura Triamphipleura l. Eutetrapleura radialia IL Eutetrapjleura interr. Dystetrapleura Eudipleura Dysdipleura 11 Vierzehntes Kapitel. G-rundformen der sechs Individualitätsordnungen. „Wäre die Natur in iliren leblosen Anfängen nicht so grUndlifh stereometrisch, wie wollte sie zuletzt zum unberechenbaren und unermeßlichen Leben gelangen?' Goethe. Fünfzelmtes Kapitel. Promorpliologische Thesen. „Alles, was den Raum ertüUt, nimmt, insofern es solidesziert, sogleich eine Gestalt an, diese regelt sich mehr oder weniger und hat gegen die Umgebung gleiche Beziige mit anderen gleichgestalteten Wesen." Goethe. Bemerkung (1906). Diese beiden Kapitel (XIV. und XV.), welche in der Originalausgabe (1866) zusammen mit dem XIII. Kapitel einen Raum von 175 Seiten einnahmen (S. 400 — 574), fallen jetzt weg aus den S. 147 angegebenen Gründen. FÜNFTES BUCH. BESTER TEIL DER ALLGEMEINEN ENTWICKELUNGSGESCHICHTE. GENERELLE ONTOGENIE ODER ALLGEMEINE ENTWICKELUNGSGESCHICHTE DER ORGANISCHEN INDIVIDUEN. (EMBRYOLOGIE UND METAMORPHOLOGIE.) „Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien Blick ins weite Feld der Natur. Sie spendet die reichen Lebensgaben umher, die Göttin; aber empfindet Keine Sorge, wie sterbliche Frau'n. um ihrer Gehörnen Sichere Nahrung; ihr ziemet es nicht: denn zwiefach bestimmte Sie das höchste Gesetz, beschränkte jegliches Leben, Gab ihm gemess'nes Bedürfnis und ungemessene Gaben, Leicht zu finden, streute sie aus, imd ruhig begünstigt Sie das muntre Bemüh'n der vielfach bedürftigen Kinder; Unerzogen schwärmen sie fort nach ihrer Bestimmung." •'S!"- „Zweck sein selbst ist jegliches Tier; vollkommen entspringt es Aus dem Schoß der Natur und zeugt vollkommene Kinder. Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen, Und die seltenste Form bewahrt im geheimen das Urbild." t' ' „So ist jedem der Kinder die volle reine Gesundheit Von der Mutter bestimmt: denn alle lebendigen Glieder Widersprechen sich nie und wirken alle zum Leben. Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres; Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung, Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen. Doch im Innern findet die Kraft der edlern Geschöpfe Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen. Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie: Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich." „Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Mangel, erfreue dich hoch; die heilige Muse Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend. Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker, Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher, Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone. Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig, Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang. Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse, Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit." Goethe (Die Metamorphose der Tiere. 1819). Seclizelintes Kapitel. Begriff und Aufgalie der Ontogenie. Werdend betrachte sie nun, wie nach uud nach sich die Pflanze, Stufenweise g^efülirt, bildet zu Blüteu und Frucht. Also prangt die Natur in hoher voller Erscheinung; Und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft. Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze, Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir. Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern, Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug; Kriecliend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig. Bildsam andre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt! Goethe (die Metamorphose der Pflanzen. 1817). I. Die Ontoi?eiiie als Eiitwickelim2:si»escliichte der Biouteu. Die Ontogenie oder Entwickelungsgeschichte der orga- nischen Individuen ist die gesamte Wissenschaft von den Formveränderungen, welche die Bionten oder physiologi- schen Individuen während der ganzen Zeit ihrer indivi- duellen Existenz durchlaufen, von ihrer Entstehung an bis zu ihrer Vernichtung. Die Aufgabe der Ontogenie ist mithin die Er- kenntnis und Erklärung der individuellen Formveränderungen, d. h. die Feststellung der bestimmten Naturgesetze, nach welchen die Formveräuderungen der morphologischen Individuen erfolgen, durch welche die Bionten repräsentiert werden. II. Die Ontogenie und die Deszendenztheorie. So allgemeine Anerkennung und Anwendung auch die Ent- wicklungsgeschichte in unserem Jahrhundert in der Zoologie und Botanik erlangt hat, so haben dennoch die meisten Biologen weder den weiten Umfang ihres Gebiets, noch den eigentlichen Grund ihres hohen morphologischen Wertes richtig begriffen. Es wird dies sofort klar, wenn wir daran erinnern, daß man unter Entwickelungsgeschichte bisher fast immer nur diejenige der Individuen und nicht diejenige 168 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XVI. der Stämme begriffen hat. Die Ontogenie oder Entwickelungs- geschichte der physiologischen Individuen ist aber mizertrenn- lich nnd auf das innigste verbunden mit der Phylogenie oder Entwickelungsgeschichte der genealogischen Stämme (Phy- len). Jedoch haben in der ganzen Biologie kaum zwei Wissenschafts- zweige so weit voneinander entfernt gestanden, als die Ontogenie und die Phylogenie. Wie innig dieselben überall zusammenhängen, wie wesentlich sie sich gegenseitig bedürfen und ergänzen, wie erst aus der engen Verschmelzung beider sich die eigentliche Entwicke- lungsgeschichte der Organismen im vollen Sinne des Wortes kon- struieren läßt, ist bisher von den meisten Biologen entweder nicht richtig gewürdigt oder auch gänzlich übersehen worden. Freilich kann man zu der vollen Einsicht dieses wichtigen Ver- hältnisses und zu der richtigen Schätzung seines außerordentlichen Wertes nur durch die Deszendenztheorie gelangen, welche uns allein den Schlüssel des Verständnisses für die wundervollen Erschei- nungen der Entwickelungsgeschichte liefert und welche uns zeigt, daß die Ontogenie weiter nichts ist als eine kurze Rekapitula- tion der Phylogenie. Hierin gerade liegt die unermeßliche Be- deutung der Abstammungslehre und hierin liegt die Quelle des außer- ordentlichen Verdienstes, welches sich Darwin durch die Reformation und die kausale Begründung der Deszendenztheorie erworben hat. Die Abstammungslehre allein vermag uns die Entwicke- lungsgeschichte der Organismen zu erklären. III. Typus und Grad der individuellen Entwickelung". Der unschätzbare Wert, den die Deszendenztheorie als das kausal erklärende Fundament der Entwickelungsgeschichte besitzt, zeigt sich nirgends schlagender als in den allgemeinsten Gesetzen, zu welchen sich die letztere erhoben hat. Als das oberste dieser allgemeinen Gesetze, welches aus der verglichenen Summe aller ontogenetischen Tatsachen hervorgeht, gilt mit Recht die von Bär festgestellte Theorie, daß die individuelle Entwickelung jedes Organismus von zwei ver- schiedenen und gewissermaßen entgegengesetzten Momenten geleitet werde, dem Typus der Organisation und dem Grade der Ausbil- dung. Bär formuliert dieses Gesetz in folgenden Worten: „Die Entwickelung eines Individuums einer bestimmen Tierform wird von zwei Verhältnissen bestimmt: 1. von einer fortgehenden Ausbildung des tierischen Körpers durch wachsende histologische XVI. IV. Evolution und Epigenesis. 169 und morphologische Sonderung; 2. zugleich durch Fortbildung aus einer allgemeineren Form des Typus in eine mehr besondere." Nun ist es klar, daß Bars Typus der Entwickelung weiter nichts ist als die Folge der Vererbung und Bars Grad der Aus- bildung weiter nichts als die Folge der Anpassung. Jener läßt sich also auf die Fortpflanzung, dieser auf die Ernährung als auf seinen physiologischen Grund zurückführen. Offenbar tun wir aber durch diese Zurückftthrung einen außerordentlich bedeutenden Schritt. Denn es werden dadurch die beiden morphologischen Grundgesetze, und somit überhaupt alle Erscheinungen der organischen Entwickelung aus physiologischen Fundamenten erklärt, welche ihrerseits ledig- lich auf mechanisch wirkenden Ursachen, auf chemischen und phy- sikalischen Prozessen beruhen. Während also die beiden Grunderscheinungen der organischen Entwickelung, Bildungstypus und Ausbildungsgrad, welche Bär richtig als die beiden formbildenden Kräfte der gesamten Organismenwelt aus rein morphologischen Induktionen erkannte, ohne die Abstammungs- lehre für uns zwei unverstandene Rätsel bleiben, welche weder durch die anthropomorphe Vorstellung eines vorbedachten „Schöpfungsplans oder Entwickelungsplans", noch durch die leere Phrase eines ., all- gemeinen Entwickelungsgesetzes oder Bildungsgesetzes" dem tieferen wissenschafthchen Verständnis, d. h. der monistischen, kausalen Erkenntnis, näher gerückt werden, so werden uns durch die Deszendenz- theorie diese beiden Rätsel im monistischen Sinne gelöst: wir erkennen in dem Bildungstypus die Wirkung des inneren Bildungstriebes der Vererbung, in dem Ausbildungsgrad die Wirkung des äußeren Bildungstriebes der Anpassung, jene eine Teilerscheinung der Fort- pflanzung, diese der Ernährung. Diese beiden aber beruhen aner- kanntermaßen auf denselben physikahschen und chemischen Prozessen, welche die gesamte organische und anorganische Natur einheitlich beherrschen. So gelangen wir denn an das höchste Ziel, welches Bär der Entwickelungsgeschichte gesteckt hat, die Zurückführung der bildenden Kräfte des organisierten Körpers auf die all- gemeinen Kräfte des Weltganzen. IT. Evolution und Epigenesis. Das Verhältnis der Evolution zur Epigenesis und die Geschichte beider Theorien habe ich eingehend erörtert in meiner „Anthropogenie" (Vortrag I— HI) 1874 (V. Aufl. 1903). 5^70 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XYI. T. Eutwickelung und Zeugung. Die eigentümliche Stellung, welche die Entwickelungsgeschichte zwischen der Morphologie und Physiologie einnimmt, haben wir bereits früher eingehend erörtert. Wir haben gesehen, daß die Entwickelungs- geschichte einerseits zur Physiologie oder Biodynamik gerechnet werden kann, insofern sie die Reihe von Formveränderungen, d. h. Bewegungserscheinungen, untersucht, welche die organischen Formen während ihrer individuellen Existenz durchlaufen. Andererseits waren wir genötigt, dieselbe für die Morphologie oder Biostatik in Anspruch zu nehmen, insofern diese als bloße Anatomie, ohne die Entwickelungs- gescliichte, keiner wahren wissenschaftlichen Existenz fähig ist. Da die Kenntnis der werdenden Form des Organismus uns allein zum Verständnis der gewordenen oder vollendeten Form desselben hin- überzuleiten vermag, mußten wir Anatomie und Morphogenie als die beiden koordinierten Hauptzweige der organischen i\Iorphologie be- trachten. Wir konnten dies mit um so größerem Rechte, als die Ent- wickelungsgeschichte der Organismen bisher fast ausschließlich Gegen- stand anatomischer und nicht physiologischer Forschungen war, und demgemäß auf ihrer gegenwärtigen niederen Entwickelungsstufe wesentlich eine statische und nicht eine dynamische DiszipHn dar- stellt. Denn in Wahrheit ist fast alles, was wir in der Zoologie, Protistik und Botanik Entwickelungsgeschichte nennen, bisher wesent- lich eine Kenntnis der morphogenetischen Tatsachen, nicht aber eine Erkenntnis ihrer physikalisch-chemischen Ursachen gewesen. Wenn wir zu letzterer gelangen wollen, und wenn wir also die Mor- phogenie wirklich kausal begründen wollen, so müssen wir notwendig auch an die Physiologie der Entwickelung uns wenden. Nun haben wir keineswegs die Absicht, in den folgenden Blättern eine allgemeine Beschreibung der bekannten organischen Entwicke- lungserscheinungen zu geben ; vielmehr verfolgen wir das höhere Ziel einer allgemeinen Erklärung derselben. Wir wollen den schwierigen und bisher noch nicht unternommenen Versuch einer solchen mecha- nisch-kausalen Erklärung der morphogenetischen Erscheinungs- reihen wenigstens anbahnen, und zwar auf Grund derjenigen Theorie, welche allein diese Erklärung zu liefern vermag, der Deszendenztheorie. Insofern nun aber diese Theorie eine physiologische Erklärung der morphologischen Erscheinungen gibt, werden wir uns nicht auf den morphologischen Teil der Entwickelungsgeschichte beschränken XVI. V. Entwickelung und Zeugung. 171 können, sondern auch ihren physiologischen Teil berücksichtigen müssen. Es ist die Physiologie der Zeugung oder Generation, deren Grundgesetze wir in ihren allgemeinsten Zügen verstehen müssen, um zu einem wirklichen monistischen Verständnis der Entwickelungs- geschichte zu gelangen. Die Physiologie der Zeugung oder Fortpflanzung hängt auf das engste zusammen mit der Physiologie der Ernährung und des Wachstums. .,Das Wachstum ist Ernährung mit Bildung neuer Körper- masse — in der Tat eine fortgesetzte Zeugung, und die Zeugung ist nichts als der Anfang eines individuellen Wachstums." Die Fort- pflanzung ist eine Ernährung und ein Wachstum des Or- ganismus über das individuelle Maß hinaus, welche einen Teil desselben zum Ganzen erhebt. Alle Organismen haben eine beschränkte Zeitdauer ihrer individuellen Existenz als Bionten, und die Arten der Organismen würden einem beständigen Wechsel durch Aussterben der bestehenden Arten unterhegen, wenn nicht die Fortpflanzung dieser Gefahr entgegenwirkte. Daher wird die Fort- pflanzung ebenso als die Selbsterhaltung der Art bezeichnet, wie die Ernährung als die Selbsterhaltung der Individuen. Wie aber die Ernährung nur durch den Stoffwechsel möglich ist, so beruht die Arterhaltung auf dem Individuenwechsel. Wie bei der Ernährung beständig die materiellen Bestandteile des Organismus, welche durch die Lebenstätigkeit verbraucht wurden, durch andere, neue gleichartige Teile ersetzt werden, so werden bei der Fortpflanzung beständig die aussterbenden Individuen (Bionten) durch neue Individuen ersetzt. Die durch Fortpflanzung entstehenden neuen Individuen, die kind- lichen Organismen (Partus), sind also allgemein Teile von bestehenden Individuen, von elterlichen Organismen (Parens). Diese Teile haben sich infolge des übermäßigen totalen oder partiellen Wachstums von dem Ganzen abgelöst und wachsen nun selbst wieder zur Größe und Form des Ganzen heran, indem sie sich ergänzen oder repro- duzieren. Füi' diesen Vorgang als Wachstumserscheinung sind ins- besondere die Ergänzungs- oder Reproduktions-Erscheinungen sehr lehrreich, welche wir sehr allgemein bei niederen, aber auch bei höheren Organismen eintreten sehen, wenn einzelne Teile durch trau- matische oder sonstige äußere Einflüsse verloren gegangen sind. Bei hochorganisierten Wirbeltieren, z. B. den Amphibien, und Gliedertieren, z. B. den Crustaceen; sehen wir, daß selbst ganze verlorene Extremi- täten mit Skelett, Muskeln, Nerven etc. vollständig wieder erzeugt. ]^72 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XVI. reproduziert werden. Bei niederen Tieren kann durch künst- liche Teihmg das Individuum vervielfältigt werden, indem jedes der künstlich getrennten Teilstücke sich alsbald wieder zu einem voll- ständigen Individuum ergänzt. Diese wichtigen Wachstumserschei- nungen werfen das bedeutendste Licht auf die Fortpflanzungsvorgänge, welche uns in ihren höchsten Formen als ein ganz eigentümlicher und schwer begreifbarer Lebensprozeß erscheinen, während doch die niedersten Formen sich unmittelbar an jene Wachstums- und Repro- duktionsprozesse anschließen. Bei der natürhchen Selbstteilung, als der einfachsten Fortpflanzungsform, spaltet sich das Individuum spontan in zwei Hälften, deren jede sich alsbald wieder durch Wachstum zu einem vollständigen Individuum, einem aktuellen Bion regeneriert. Jede Hälfte fungiert hier ebenso als virtuelles oder potentielles Bion, wie bei der Fortpflanzung durch Eier oder Keimzellen (Sporen) die einzelne, vom elterlichen Organismus abgesonderte Plastide. Die weitere Betrachtung der verschiedenen Fortpflanzungsformen bleibt dem siebzehnten Kapitel vorbehalten. ■ Hier wollten wir als Grundlage für die Betrachtung der gesamten Ontogenie den wichtigen Satz feststellen, daß die Fortpflanzung und die unmittelbar damit zu- sammenhängende Entwickelung physiologische Funktionen und in den materiellen Wachstumsgesetzen begründet sind. Tl. Aufbilduiig-, Umbildung, Rückbüduiig. Wir verstehen unter morphologischer Entwickelung des Individu- ums die kontinuierlich zusammenhängende zeitliche Kette von Formver- änderungen, welche das organische Individuum während der gesamten Zeit seines individuellen Lebens, vom Beginn seiner Existenz an bis zum Abschluß derselben, durchläuft. Immerhin wird es in vielen FäUen von Vorteil sein, die verschiedenen Stadien der individuellen Entwickelung, welche wir als „eigenthche Entwickelung", Reife und Rückbildung unterscheiden, als drei untergeordnete Abschnitte des individuellen Entwickelungskreises künstlich zu trennen imd die Vorgänge, welche dieselben kennzeichnen, gesondert zu betrachten. In diesen Fällen schlagen wir vor, die drei Stadien der Entwicke- lung, welche wir im siebzehnten Kapitel allgemein zu charakterisieren versuchen werden, bestimmter mit folgenden Benennungen zu be- zeichnen. L Anaplasis oder Aufbildung (Evolution). Erstes Stadium der XVI. VII- Embryologie und Metaniorphologie. 173 individuellen Entwickelungskette. Sogenannte „eigentliche Entwickelung" oder Entwickelung im engeren Sinne. II. Metaplasis oder Umbildung (Transvolntion). Zweites Sta- dium der individuellen Entwickelungskette. Sogenannte „Reife" oder Vollendungszustand des Individuums. III. Kataplasis oder Rückbildung (Involution). Drittes Stadium der individuellen Entwickelungskette. Dekreszenz. Senilität. VII. Embryologie und Metaniorphologie. Die Entwickeluugsgescliichte der organischen Individuen, welche wir Ontogenie nennen, wird gewöhnhch als Embryologie bezeichnet. Indessen ist dieser Ausdruck nicht hierfür passend und nicht allgemein anwendbar. Die eigentliche Embryologie ist nur ein Teil der Onto- genie und bei sehr vielen Organisraenarten kann man überhaupt nicht von Embryologie sprechen. Der Begriff „Embryo" kann nur dann scharf bestimmt und mit Nutzen angewandt werden, wenn man darunter den „Organis- mus innerhalb der Ei hüllen" versteht. Diesen festbestimmten Sinn hatte der Begriff des Embryo bereits im ganzen Altertum, wo man stets die „ungeborene Frucht im Mutterleibe" (bei den Römern Foetus, richtiger Fetus) darunter verstand. Mit dem Geburtsakte galt das embryonale oder fetale Leben als beendet und der Embryon oder Fetus wurde durch denselben zum selbständigen, freien Orga- nismus. Ebenso wurde von den meisten neueren Naturforschern sowohl der tierische wie pflanzliche Organismus stets nur so lange als Embryo bezeichnet, so lange er sich innerhalb der Eihüllen be- fand. Erst den letzten beiden Dezennien, welche sich durch die überhandnehmende Verwilderung der Begriffe und fortschreitende Verwirrung der Anschauungen in stets zunehmendem Maße vor den früheren Zeiten auszeichneten, blieb es vorbehalten, auch diesen klaren und festen Begriff zu vernichten und durch die Einführung von „freien Embryonen" in die Wissenschaft diese aufs neue eines sicheren Begriffs zu berauben. Seitdem man begonnen hat, die „Larven" als Embryonen mit freiem und selbständigem Leben zu bezeichnen, hat man sich leider in weiten Ki'eisen daran gewöhnt, die gänzlich verschiedenen Begriffe der Larve und des Embryo (be- sonders bei den niederen Tieren) gemischt zu gebrauchen, so daß gegenwärtig der mißbräuchliche Ausdruck des „freien Embryo" statt der „Larve" leider sehr verbreitet ist. Insbesondere nennt man ;[74 ■ Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XVI. häufig so die bewimperten, frei im Wasser schwimmenden Larven vieler niederer Tiere, welche gewissen Infusorien sehr ähnlich sind. Für diese werden die Ausdrücke Schwärm-Embryo, Wimper-Embryo, infusorienartiger Embryo etc. so vielfältig gebraucht, daß darüber die eigentliche Bedeutung des „Embryo" ganz vergessen worden ist. Es ist dies um so mehr zu bedauern, als gar kein zwingendes Moment vorlag, den sicheren und feststehenden Begriff des Embrvo aufzu- geben. Wir halten daher unbedingt an demselben fest und verstehen ein für allemal unter Embryo ausschließlich den Organismus inner- halb der Eihüllen, und unter „embryonalem Leben" diejenige Periode der individuellen Existenz, welche mit der Entstehung des kindlichen Individuums durch den geschlechthchen Zeugungsakt be- ginnt und mit seinem Durchbruch der Eihüllen abschließt. Diese beiden Momente sind vollkommen scharf bestimmt und lassen keiner- lei Verwechselung zu. Nun ist es ohne weiteres klar, daß man die gesamte Entwicke- lungsgeschichte des physiologischen Individuums, wie wir deren Umfang soeben bezeichnet haben, in keinem einzigen Falle mit dem Namen der Embryologie belegen darf, falls dieser Ausdruck irgend- einen bestimmten Sinn haben soll. Denn es gibt keinen einzigen Organismus, dessen individuelle Existenz sich auf das embryonale Leben beschränkt. A^ielmehr erscheint dieses letztere, vom physiolo- gischen Gesichtspunkte aus betrachtet, stets nur als die vorbereitende Einleitung der individuellen Existenz, vom morphologischen Gesichts- punkte aus als die „Rekapitulation der paläontologischen Entwickelung des Stammes", zu welchem die durch das Individuum repräsentierte Art gehört. Die Entwickelung, welche der Organismus außerhalb der Eihüllen durchläuft, ist aber nicht minder Entwickelung, Genesis, als diejenige, welche derselbe innerhalb derselben durchzumachen hat. Wir werden also bei denjenigen Organismen, welche sich aus einem befruchteten Ei entwickeln, allgemein zu unterscheiden haben zwi- schen der embryonalen und der postembryonalen Entwickelung, welche beide durch eine unzweideutige Grenzmarke voneinander getrennt sind. Der Begriff der Embryologie ist demnach zu beschränken auf die Wissenschaft von der embryonalen Entwickelung. Dagegen bezeichnen wir die Wissenschaft von der po st embryo- nalen Entwickelung mit dem Namen der Metamorphologie. Will man in der Ontogenie noch verschiedene Zweige unter- scheiden, entsprechend den drei Entwickelungsstadien der Aufbildung XVI. VUI, Entwickelimg und Metamorphose. 175 (Evolution), Umbildung (Transvolution) und Rückbildung (Involution), so würden diese drei untergeordneten Teile der Ontogenie allgemein zu bezeichnen sein als Anaplastologie, Metaplastologie und Kata- plastologie. I. Anaplastolog-ie, Aiifliildungslehre: Entwickelungsgescliichte des organischen hidividuums während der Periode der Aufbildung (Evo- lution). Dieser Teil der Ontogenie ist derjenige, welcher allen organi- schen Individuen (erster bis letzter Ordnung) ohne Ausnahme zukommt, da alle ein Stadium der Anfl)ildung durchmachen, welches vorzugsweise in Wachstum und Differenzierung besteht. Es gehört hierher alle Embryo- logie und derjenige Teil der Metamor})hologie, welcher bis zur erlangten Reife sich erstreckt. Die Anaplastologie entspricht mithin der Ent- wickehmgsgeschichte im Sinne der meisten Menschen. II. Metaplastologie, Umbildungslehre: Entwickelungsgeschichte des organischen Individuums während der Periode der Umbildung (Trans- volution). Dieser Teil der Ontogenie fehlt denjenigen organischen Indi- viduen, deren Existenz zugleich mit ihrer Aufbildung abschließt, z. B. den embryonalen Zellen, den Moneren und vielen anderen Protisten, welche sich nach Erlangung der vollständigen Größe alsbald teilen. Er umfaßt hauptsächlich Differenzierungsvorgänge. III. Kat aplastologie, Rückbildungslehre: Entwickelimgsge- schichte des organischen Individuums während der Periode der Rückbil- dimg (Involution). Dieser Teil der Ontogenie fehlt vollständig bei der großen Anzahl derjenigen organischen Indi\'iduen, welche überhaupt keine Rückbildung erleiden, vielmehr ihre Existenz mit erlangter Diffe- renzierung abschließen. Dagegen ist er sehr wichtig bei denjenigen Spezies, welche parasitisch lel)en. Er umfaßt hauptsächlich Degene- rationsprozesse. Till. Entwickelimg und Metamorpliose. Die Metamorphose oder Verwandelung und ihre Beziehungen zur Entwickelung der Organismen sind auf verschiedenen Gebieten von den Biologen in einer sehr verschiedenen Bedeutung aufgefaßt worden. Die Botaniker verstehen seit Goethe unter „Metamorphose der Pflanzen" die gesamte Entwickelungsgeschichte des Blütensprosses oder des Individuums fünfter Ordnung bei den Fhanerogamen, welches denselben morphologischen Wert hat, wie die tierische Person. Goethe führte 1790 geistvoll den zuerst von C. F. Wolff (1764) ausgesprochenen Gedanken aus. daß alle wesentlichen Teile der Phanerogamenblüte, mit Ausnahme der Stengelorgane (Achsorgane). nichts anderes seien, als „umgewandelte, metamorphosierte" Blätter, d. h. verschiedenartig differenzierte Modifikationen eines und des- selben Grundorgans, des Blattes. Das Wesentliche in diesem Ver- ]^76 Begriff und Aufgabe der Ontogenie. XVI. Wandelungsprozesse der Phanerogamenblüte ist also das Wachstum und die Differenzierung, auf welcher die gesamte Entwickelung der- selben beruht. Die Lehre von der Metamorphose umfaßt daher hier die gesamte Anaplase und Metaplase, und es erscheint nicht nötig, für diese die besondere Bezeichnung der Metamorphose als eines besonderen ontogenetischen Vorganges beizubehalten. Vielmehr fällt in diesem allgemeineren Sinne der Begriff der Metamorphose mit dem Begriffe der epigenetischen Entwickelung überhaupt zusammen. In einer wesentlich anderen Bedeutung wird dagegen der Begriff der Metamorphose seit langer Zeit von den Zoologen angewendet. Diese verstehen darunter größtenteils die auffallenderen Formvvande- hmgen, welche zahlreiche, vorzüglich wirbellose Tiere während ihrer postembryonalen Entwickelung durchmachen, ehe sie ihren Reife- zustand erreichen. Ausgehend von dem am längsten und allgemeinsten bekannten Beispiele der Insekten, bei denen Raupe. Puppe und Schmetterhng und ebenso Made, Puppe und Fhege als drei auffallend verschiedene und scharf voneinander abgegrenzte Entwickelungs- zustände eines und desselben organischen Individuums aufeinander folgen, belegte man allgemein die ähnlichen Formfolgen, welche in neuerer Zeit bei so vielen wirbellosen Tieren aufgefunden wurden und bei denen ebenfalls ein und dasselbe Tier in mehreren auffallend verschiedenen äußeren Formen nacheinander erscheint, mit dem Namen der Metamorphose. Da nun aber ähnliche „auffallende" Formveränderungen, wie sie hier vom Organismus außerhalb der EihüUen, also in der postembryonalen Zeit, durchlaufen werden, bei vielen anderen Tieren, bei denen dies nicht der Fall ist, innerhalb des embryonalen Lebens durchgemacht werden, so dehnte man später- hin den Begriff der tierischen Metamorphose noch weiter aus und verstand darunter die sämtlichen auffallenden Formveränderungen, welche der tierische Organismus während der Aufbildungsperiode, der Anaplase, durchläuft. Man konnte demnach zwischen einer embryonalen und einer postembryonalen Metamorphose unterscheiden, wie es auch neuerdings vielfach geschehen ist. Hier würde nun wieder der Begriff der Metamorphose mit dem der individuellen Ent- wickelung überhaupt zusammenfallen, oder man könnte diese letztere höchstens insofern in Ontogenie mit und ohne Metamorphose unter- scheiden, als die Formveränderungen des sich entwickelnden Indivi- duums bald auffallende und plötzliche, bald unmerkliche und allmäh- liche sind. Da nun aber gerade im embryonalen Leben eine solche XVI. VIII. Entwickelimg und Metamorphose. 177 Untersclieidung gar nicht durchzuführen ist, und da streng genommen alle embryonale Anaplase mit Metamorphose verbunden ist, so müssen wir den Begriff der Metamorphose auf die postembryonale Ontogenie beschränken und denselben auf diesem Gebiete schärfer zu bestimmen versuchen. Ohne nun auf die zahlreichen verschiedenen und sehr diver- gierenden Versuche, welche in dieser Beziehung gemacht worden sind, näher einzugehen, wollen wir hier nur denjenigen Begriff der postembryonaleu Metamorphose feststellen, der uns allein bei einer vergleichenden Betrachtung aller Organismen durchführbar zu sein scheint. Wir nennen Metamorphose in diesem engeren Sinne die- jenige Art der postembryonalen Umbildung oder Entwickelung, bei welcher der jugendliche Organismus, ehe er in die geschlechtsreife Form übergeht, bestimmt geformte Teile abwirft; derselbe ist also ausgezeichnet durch den Besitz provisorischer Teile (gewöhnlich Organe), welche er später als geschlechtsreifer Repräsentant der Spezies nicht mehr besitzt. Der Verlust dieser provisorischen Teile ist der eigentliche Kern der Metamorphose im engeren Sinne. Die Entwickelungszustände der nietamorphen Organismen, welche durch den Besitz provisorischer Teile ausgezeichnet sind, hat man seit langer Zeit als Larven (Larvae) oder Schadonen (Aristoteles) bezeichnet, die reifen Formen, welche aus der Larve durch die Meta- morphose entstehen, als Bilder (Imagines). Wichtig ist im Allgemeinen die Unterscheidung zwischen pro- gressiver und regressiver Metamorphose. Diese beiden Formen der echten postembryonalen Metamorphose, obwohl auch bisweilen in- einander übergreifend, unterscheiden sich wesentlich dadurch, daß die morphologische Differenzierung und also die Vollkommenheit des ganzen Individuums im Falle der progressiven Metamorphose größer ist bei der Imago als bei der Larve; im Falle der regres- siven Metamorphose umgekehrt größer bei der Larve als bei der Imago. Die fortschreitende oder progressive Verwandlung ist die gewöhnliche Art der Metamorphose; die rückschreitende oder regres- sive Verwandlung, welche durch Anpassung an einfachere Existenz- bedingungen entstellt, findet sich vorzüglich bei parasitischen Tieren, z. B. vielen Crustaceen. Haeckel, Prinz, d. Morpliol. 12 Siebzehntes Kapitel. Entwickelungsgescliiclite der physiologischen Individuen. (Naturgeschichte der Zeugungskreise oder der genealogisclien Individuen erster Ordnung.) „Die Verg-Ieiclmns^' beider Geschlechter miteinander ist, zu tieferer Einsicht in das Geheimnis der Fortpflanzung, als des wichtigsten Ereignisses, der Physiologie unentbehrlich. Beider Objekte natürlicher Parallelismus erleichtert sehr das Geschäft, bei welchem unser hiiclister Begriff, die Natur könne identische Organe dergestalt modifizieren und ver- ändern, daß dieselben nicht nur in Gestalt und Bestimmung völlig andere zu sein sclieinen. sondern sogar in gewissem Sinne einen Gegensatz darstellen, bis zur sinnlichen An- schauung heranzuführen ist." Goethe. I. Verschiedene Arten der Zenj;nng-. Die Entwickelung- der organiscben Individuen in dem Umfange, welchen wir oben für diesen Begriff festgestellt haben, dauert ihr ganzes Leben hindurch ; denn das ganze Leben ist eine kontinuierliche Kette von Bewegungserscheinungen der organischen Materie, welche immer mit entsprechenden Formveränderungen verknüpft sind. Die Erkenntnis dieser gesamten Formveränderungen, mögen dieselben nun progressive oder regressive sein, ist das Objekt der Ontogenie, in dem weiteren Sinne, welchen wir dieser Wissenschaft vindizieren. Da die organische Individualität, welche jene Kette von Entwickelungs- formen durchläuft, als physiologisches Individuum (Bion) auftritt, so ist die Ontogenie des ganzen Organismus die Entwickelungsgeschichte seiner physiologischen Individualität. Die Existenz jedes physiologischen Individuums beginnt mit dem Momente seiner Entstehung durch Zeugung und hört auf entweder mit seinem Tode oder mit seinem vollständigen Zerfall in zwei oder mehrere kindliche Individuen (Selbstteilung). Wir werden daher die allgemeine Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen mit einer allgemeinen Erörterung der Zeugungserscheinungen anfangen XYII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 179 müssen, mit denen die Existenz aller organischen Individuen ohne Ausnahme beginnt. Der Begriff der Zeugung fällt zusammen mit dem Begriff der Entstehung der organischen Individualität. Durch jeden Zeugungsprozeß entsteht ein organisches Individuum, welches vorher nicht existierte, und der Moment der Zeugung ist der Moment des Be- ginnes seiner individuellen Existenz und seiner Entwickelung. Alle Zeugung, d. h. also alle Entstehung organischer Individuen, ist ent- weder Urzeugung (Generatio spontcmea) oder Elternzeugung {Generatio parentalis). Die letztere geht aus von vorhandenen organischen In- dividuen, die erstere nicht. A. U r z e u g u n g. (Archig'onia. Generatio spontanea.) Die elternlose Zeugung oder Urzeugung (Generatio spontanea, originaria, aequivoca, primaria etc.) besteht darin, daß organische Individuen erster Ordnung von der einfachsten Beschaffenheit (struktur- lose und homogene Moneren) unter bestimmten Bedingungen in einer nicht organisierten Flüssigkeit entstehen, welche die den Organismus zusammensetzenden Stoffe entweder in anorganischen oder in organischen Verbindungen gelöst enthält. Wenn die chemischen Elemente, welche zu verwickelten Verbindungen zusammengesetzt den Monerenkörper konstituieren, in anorganischer Form (d. h. zu einfachen und festen Verbindungen, Kohlensäure, Ammoniak, binären Salzen etc.) vereinigt in der Bildungsflüssigkeit gelöst sind, so nennen wir diesen Modus der Generatio spontanea Autogonie. Wenn dagegen jene Elemente bereits zu organischen Verbindungen (d. h. zu verwickelten und lockeren Kohlenstoffverbindungen, Eiweiß, Fett, Kohlehydraten etc.) vereinigt in der Bildungsflüssigkeit gelöst sind, so nennen wir diese Art der Generatio spontanea Pias mogo nie. (Vergl. Kapitel 6.) B. Elternzeugung. (Tocogonia. Oeneratio parentalis.) Unter dem Begriffe der elterlichen Zeugung oder Tocogonie faßt man allgemein diejenigen Entstehungsweisen organischer Individuen zusammen, welche von bereits bestehenden organischen Individuen ausgehen. Die Lebenstätigkeit der bestehenden oder elterlichen In- dividuen, durch welche die neu entstehenden oder kindlichen Organismen hervorgebracht werden, heißt allgemein Fortpflanzung (Propa- 12* 180 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII. gatio). Das Wesen dieses Vorganges als einer Wachstumserschei- nung haben wir bereits oben erörtert. Indem das Individunm über sein individuelles Maß hinaus wächst, löst sich das überschüssige Wachstumsprodukt in Form eines Teiles von ihm ab, welcher sich alsbald wieder zu einem vollständigen Individuum durch eigenes Wachstum ergänzt. Der neu erzeugte kindliehe Organismus {Partus) ist also ein abgelöster Teil des elterlichen Organismus (Parens). Die Ablösung kann vollständig oder unvollständig sein. Im ersteren Falle erhält das neu erzeugte morphologische Individuum durch den Ab- lösungsakt die Selbständigkeit des physiologischen Individuums (Bion). Im letzteren Falle bleibt das kindliche morphologische Individuum mit dem elterlichen mehr oder minder innig verbunden und bildet mit ihm einen Komplex oder eine Kolonie (Synusia), ein physio- logisches Individuum, welches einer höheren morphologischen Ordnung angehört, als die beiden Komponenten. Man pflegt die Tokogonie oder parentale Zeugung allgemein in zwei verschiedene Reihen einzuteilen, unter welche sich alle ihre zahlreichen Modifikationen subsumieren lassen: die geschlechtslose oder monogone und die geschlechtliche oder amphigone Fortpflanzung. Bei der Monogonie oder ungeschlechtlichen Fortpflanzung ist das einzelne Wachstumsprodukt, welches sich von dem elterlichen Organismus ablöst, zur Selbsterhaltung und zum selbständigen Wachstum befähigt, ohne dazu der Mitwirkung eines anderen Wachstumsproduktes zu bedürfen. Bei der Amphigonie oder geschlechthchen Fortpflanzung dagegen wird das einzelne Wachstumsprodukt erst durch materielle Verbindung mit einem zweiten davon verschiedenen Wachstumspro- dukte, durch geschlechtliche Vermischung (Gamos) zur Selbsterhaltung und zum selbständigen Wachstum befähigt. Die Grenze zwischen diesen beiden, in ihren Extremen sehr abweichenden Fortpflanzungs- arten, welche früherhin für vollständig verschiedene Zeugungsformen galten, ist durch die neueren Entdeckungen über die Parthenogenesis so sehr verwischt worden, daß es schwierig ist, eine scharfe Definition derselben zu geben. Insbesondere haben die Fälle von Parthenogenesis bei den Insekten (Bienen, Psychiden) dazu geführt, als das Kriterium der geschlechtlichen Zeugung nicht die materielle Verbindung zweier verschiedener Individuen zu bestimmen, sondern die Entstehung der Keime, aus denen sich die neuen Individuen bilden, in einem „Ge- schlechtsapparate"; die in dem „Eierstock" gebildete „Eizelle" soll hier entscheidend sein, und es kann diese Ansicht namentlich gestützt XVII. I- Verscliiedene Arten der Zeugimg. 181 werden durch die Betrachtung der Bienen, bei denen eine und die- selbe Zelle, wenn sie befruchtet wird, sich zum Weibchen, wenn sie nicht befruchtet wird, zum Männchen entwickelt. 1. Ungeschlechtliche Fortuflanzung. (Mouogouia. Generatio mouogenea.J Die ungeschlechtliche oder monogene Zeugung (Monogonie) ist dadurch charakterisiert, daß das Wachstumsprodukt des elterlichen Organismus selbständig entwickelungsfähig ist, ohne der Befruchtung, der Vermischung mit einem anderen Wachstumsprodukte zu bedürfen. Sie ist auch als Spaltung (Fisslo) bezeichnet worden, weil der ent- wickelungsfähige Teil des Individuums, welcher sich zu einem neuen Indi\äduum entwickelt, sich früher oder später von dem ersteren ab- spaltet, und durch diese unvollständige oder vollständige Spaltung selbständig wird. Indessen scheint es passender, den Begriff der Spaltung auf die beiden Formen der monogenen Fortpflanzung, welche man als Teilung und Knospenbildung bezeichnet, zu beschränken, da die dritte Hauptform derselben, die Sporenbildung, ebenso wie die Bildung der Geschlechtsprodukte, mehr auf einer inneren Aussonderung eines einzelnen Wachstumsproduktes, als auf einer eigentlichen äußeren Spaltung des ganzen Individuums beruht. Wir können also allgemein zunächst zwei Hauptgruppen unter den verschiedenen monogenen Fortpflanzungsformen unterscheiden, nämlich 1. die Spaltung oder /Sc/ii^^o^o^ue (Fission) und 2. die Sporenbildung oder Sporogonie. Bei der ersteren (Selbstteilung und Knospenbildung) bleibt das Wachs- tumsprodukt entweder dauernd mit dem elterlichen Individuum in Verbindung, oder es löst sich (meist äußerlich) von dem parentalen Organismus erst ab, nachdem es schon eine größere oder geringere Selbständigkeit und Ausdehnung erlangt hat. Meist entspricht das- selbe bereits einem differenzierten Plastidenkomplexe, wenn die Ab- spaltung erfolgt. Bei der Sporogonie dagegen sondert sich das Waclis- tumsprodukt (meist innerlich) schon frühzeitig von dem elterlichen Organismus ab, ehe es sich selbständig entwickelt hat, und stellt zur Zeit der Ablösung meist eine einfache Plastide dar. In dieser Be- ziehung erscheint also die Spore oder Keimplastide nicht sowohl als Spaltungs-, wie als Absonderungsprodukt des elterlichen Organismus, und schließt sich vielmehr den ebenfalls abgesonderten Geschlechts- produkteu an. denen sie auch in ihren Entwickelungs- und besonders in den Vererbungserscheinungen oft näher verwandt ist. Da nämlich 182 Entwickelungsgeschicbte der physiologischen Indi\äcluen. XVII. die Kontinuität zwischen elterlichem und kindlichem Organismus bei der Teilung und Knospenbildung inniger ist und längere Zeit hindurch fortdauert, als bei der Sporenbildung und geschlechtlichen Zeugung, so werden auch bei der ersteren die individuellen Eigenschaften des elterlichen Organismus genauer und strenger auf das kindliche In- dividuum übertragen, als bei der letzteren. A. Ungeschlechtliche Zeugung durch Spaltung. (Generatio flssipara. Fissio. Schizogonia.) Die Monogonie durch Spaltung (Fissio) ist dadurch charakteri- siert, daß das Wachstumsprodukt sich (meistenteils äußerlich) vom elterlichen Organismus entweder überhaupt gar nicht oder erst dann ablöst, nachdem dasselbe bereits eine im Verhältnis zu letzterem be- trächtliche Ausdehnung und morphologische Differenzierung erhalten hat. Bei den polyplastiden Organismen stellt dasselbe zur Ablösungs- zeit bereits eine Mehrheit von Piastiden dar. Die beiden Hauptformeu, welche man unter den verschiedenen Modifikationen der Spaltung unterscheidet, sind 1. die Selbstteilung oder Divisio und 2. die Knospenbildung oder Gemmatio. Bei der Selbstteilung ist das die Fortpflanzung einleitende Wachstum des Individuums ein totales, und es zerfällt dasselbe bei der Spaltung in seiner Totalität, so daß die Teilungsprodukte gleichwertig sind. Bei der Knospenbildung dagegen ist es ein einzelner Körperteil des Individuums, welcher durch bevorzugtes Wachstum zur Bildung einer neuen Individualität (Knospe) führt, und diese trennt sich dann von dem elterlichen Indi- viduum unvollständig oder vollständig, ohne daß dessen eigene Indi^ä- (hialität dadurch vernichtet wird. Es sind also die beiden Spaltungs- produkte hier ungieichwertig. Aa) Die Selbstteilung oder Division. (Generatio scissipara sive ilivisiva. Divisio. Scissio.) Die Selbstteilung wird eingeleitet durch ein allseitiges Wachstum des Individuums, welches bei Überhandnähme desselben in seiner Totalität zerfällt und durch den Teilungsprozeß selbst vernichtet wird. Die Teilungsprodukte sind von gleichem Alter, also koordi- niert, und auch ihrer morphologischen Bedeutung nach meistens voll- kommen oder doch annähernd gleichwertig. Äußerlich beginnt der Teilungsprozeß mit der Bildung einer ringförmigen Furche an der Körperoberfläche, welche tiefer und tiefer greift und endlich oft mit XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 183 der Bildung einer vollständigen Teilungsebene durclisclmeidet. In- dessen gellt dieser äußerlichen Absclmürung immer als wesentliches Moment des Prozesses die Bildung von zwei neuen Wachstumscentren in dem dezentralisierten Individuum vorher. Sehr oft kommt auch die Teilung äußerlich gar nicht als Furchung oder Abschnürung zur Er- scheinung, während sie doch dadurch in gewisser Hinsicht vollständig wird, daß sich eine heterogene Scheidewand zwischen den beiden homogenen Hälften ausbildet. Dies ist insbesondere sehr allgemein bei der Selbstteilung der Piastiden der Fall, welche zu Parenchpn miteinander verbunden bleiben. Man unterscheidet gewöhnlich vollständige Teilung (Divisio completa), bei welcher die aus der Teilung entstehenden kindlichen Individuen sich gänzlich voneinander trennen, und unvollständige Teilung (Divisio incompleta). bei welcher dieselben zu Individuen- komplexen oder Synusien vereinigt bleiben. Letztere ist außer- ordentlich wichtig, da auf ihr meistens die Bildung der Individuen höherer Ordnung beruht. Außerdem pflegt man noch, je nach der verschiedenen Richtung der Teilungsebene zum Körper, Längsteilung und Querteilung zu unterscheiden. Da eine schärfere Unterscheidung dieser Formen, als bisher üblich war, für verschiedene Entwickelungs- verhältnisse von hoher Bedeutung ist, so wollen wir auf dieselben hier etwas näher eingehen. Zunächst erscheint uns hier besonders wichtig der bisher nicht berücksichtigte Unterschied zwischen der Zweiteilung (DimicUafio)^ wobei das Individuum in zwei gleiche Hälften, und der Strahl- teilung (Diradiaüo), bei welcher dasselbe in drei oder mehr gleiche Stücke zerfällt. Die letztere teilen wir wieder ein in paarige (artia) und unpaarige Diradiation (anartid). Ab) Die Knospung oder Knospenbildung. (Generatio gemniipara. Gemraatio.) Die Knospenbildung oder Gemmation als die zweite Hauptform der Spaltung oder Fission ist, wie oben bemerkt, wesentlich dadurch von der Selbstteilung verschieden, daß sie durch ein einseitiges (nicht allseitiges) Wachstum des Individuums eingeleitet wird, und daß daher bei der Abspaltung des einseitig gewucherten Teiles die Individuali- tät des Ganzen nicht zerstört wird, sondern vielmehr erhalten bleibt. Die Knospungsprodukte sind also von ungleichem Werte, und es ist von Anfang an das elterliche Individuum von dem kindlichen, welches 184 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII. als Knospe aus ihm hervorwächst, verschieden. Die beiden Spal- tungsprodukte sind bei der Knospung von verschiedenem Alter, bei der Teilung von gleichem Alter. Bei der letzteren spaltet sich das Individuum in zwei oder mehrere koordinierte, bei der ersteren in zwei oder mehrere subordinierte Teile. Der durch bevorzugtes partielles Wachstum ausgebildete kindliche Organismus oder die Knospe ist dem elterlichen knospenden Individuum unter- geordnet, wenn er auch denselben Grad morphologischer Ausbildung erreicht. Wie bei der Teilung unterscheidet man auch bei der Knospung gewöhnlich nach der verschiedenen Dauer des Zusammenhanges zwischen beiden Spaltungsprodukten zwei Gemmationsarten: die voll- ständige Knospen Spaltung (Gemmatio compJeia)^ bei welcher das kindliche Individuum, die Knospe, sich vollständig von dem elter- lichen ablöst, und die unvollständige Knospenspaltung (Gem- matio incompleta)^ bei welcher dieselben als Individuenstock oder Synusie vereinigt bleiben. Die letztere kommt in außerordentlich mannigfaltiger Form zur Ausführung, besonders im Pflanzenreiche und bei den Coelenteraten, wo die charakteristische Form der Kormen größtenteils durch die Form der unvollständigen Knospenspaltung bedingt wird. Der Begriff der Knospe ((remma) ist ein streng physiologischer (so gut wie der irgendeines anderen Spaltungsproduktes) und be- deutet stets ein physiologisches Individuum {Bion), welches von einem vorher bestehenden elterlichen Individuum durch den soeben geschilderten Spaltungsprozeß, die Knospenbildung oder Gemmation. erzeugt wird. Es ist sehr wichtig, diese einzig durchführbare scharfe Bestimmung des Begriffs „Knospe" streng festzuhalten, und ebenso sie bestimmt zu unterscheiden von dem rein morphologischen Begriff des Sprosses (Blastos), welcher sehr häufig, besonders in der Botanik, damit verwechselt wird. Durch diese Verwechse- lung der beiden ganz verschiedenen Begriffe, welche beide einen scharf bestimmten Umfang und Inhalt haben, ist schon unendliche Verwirrung angerichtet worden. Der Sproß ist von der Knospe ebenso verschieden, wie die Zelle oder wie der Stock. Der Sproß oder Blastos ist, wie wir im neunten Itapitel festgestellt haben, das morphologische Individuum fünfter Ordnung, das Histonal; bei den Tieren meistens als das ., eigentliche Indi\äduum" die Person oder das Prosopon, bei den Pflanzen bald als Sproß, bald als Knospe XYII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 185 bezeichnet. Die Knospe (Gemma) dagegen kann als physiologisches Individuum (Bion) von den morphologischen Individuen aller sechs Ordnungen vertreten werden. Durch Knospung entstehen nicht allein die meisten Sprosse, sondern auch die meisten Stöcke, die meisten Organe (z. B. Blätter, Extremitäten), sehr viele Zellen und Cytoden. Alle diese Form-Individuen verschiedenen Ranges können mit Rücksicht auf ihre Entstehung als Knospen (Gemmae) bezeich- net werden. Als die verschiedenen Hauptformen der Knospen werden in der Botanik allgemein die drei Formen der Terminalknospen, Axillar- knospen und Adventivknospen unterschieden. Wichtiger ist die in der Zoologie gebräuchliche Unterscheidung der äußeren und inneren Knospenbildung, je nachdem die Knospen äußerlich auf der Ober- fläche, oder innerlich in einem Hohlraum des elterlichen Individuums entstellen. B. Ungeschlechtliche Zeugung durch Sporenbildung. (Generatio sporipara. Sporogonia.) Die Sporogonie oder ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Keime unterscheidet sich als die zweite Hauptart der Monogonie von der ersten, der Spaltung, wesentlich dadurch, daß das Wachstumsprodukt im Inneren abgesondert wird und schon sehr frühzeitig, ehe es entwickelt und differenziert ist. von dem elterlichen Organismus sich ablöst. Die Trennung von demselben ist vollständig und erfolgt schon, ehe das lokale Wachstumsprodukt eine im A^erhältnis zum elterlichen Organismus irgend bedeutende Ausdehnung und morphologische Differen- zierung erreicht hat. Von den vorher aufgeführten Formen der Mo- nogonie steht die innere Knospenbildung der Sporogonie am nächsten. AUein dort erreicht die Knospe schon einen weit höheren Grad der individuellen Entwickelung, ehe sie sich vom Eltern-Indi\1duum ablöst. Es ist die physiologische Abhängigkeit des kindhchen vom parentalen Organismus bei der Knospenbildung eine größere, als bei der Sporo- gonie, während die morphologische Abhängigkeit umgekehrt bei der letzteren größer erscheinen kann als bei der ersteren. Die selbständige Zentralisation der Spore ist viel bedeutender und beginnt viel früher, als es bei der Knospe der Fall ist. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden hegt auch darin, daß die innere Knospe in einer Höhle des parentalen Individuums, aber in Kontinuität mit deren Wand, sich entwickelt, während der Keim oder die Spore mitten im 186 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XYII. Parenchym desselben entsteht, durch Absonderung von der umhüllenden Parenchynimasse, mit welcher er nur in lockerer Kontiguität bleibt. Es ist daher die Sporogonie auch weniger eine Abspaltung (Fissio) als vielmehr eine Absonderung (Secretio), und hierdurch schließt sie sich, wie oben bemerkt, unmittelbar an die sexuelle Zeugung an, mit welcher sie durch die Parthenogenesis fast untrennbar verbunden ist. 2. (weschlochtliclie Fortpflanziiug-, (Ainphig-onia. Generatio dig-eiiea.) Die geschlechtliche oder digene Zeugung {Amphigoiiia) läßt sich nur dadurch scharf charakterisieren, daß wir als Kriterium derselben die Vermischung zweier verschiedener Stoffe festhalten, welche von zwei verschiedenen Individuen oder von zwei verschiedenen Teilen (Geschlechtsteilen) eines und desselben Individuums produziert sind: die weibliche Eizelle {Ovulum) und die männliche Samenzelle {Spermium). Die verschiedenen Formen der geschlechtlichen Fort- pflanzung unterscheiden sich zunächst am meisten durch die Ver- teilung oder Vereinigung der beiden Geschlechtsprodukte, Ei und Samen, auf verschiedene Individuen. Man pflegt hiernach allgemein ..Individuen mit vereinigten Geschlechtsprodukten" (Zweigeschlechtige, Bisexuales, Zwitter oder Hermaphroditen) und „Individuen mit ge- trennten Geschlechtsprodukten" (Getrenntgeschlechtige oder Einge- schlechtige, Unisexuales oder Gonochoristen) zu unterscheiden. Die Botaniker unterscheiden ferner zwischen monoecischen und dioecischen Pflanzen. Monoecische oder einhäusige sind solche unisexuelle Pflanzen, bei denen beiderlei eingeschlechtige Individuen (d. h. Blüten, Individuen fünfter Ordnung) auf einem und demselben „zusammen- gesetzten Individuum" (d. h. auf einem Individuum sechster Ordnung oder Stock) vereinigt sind. Dioecische oder zweihäusige sind solche unisexuelle Pflanzen, bei denen beiderlei eingeschlechtige Blüten auf verschiedene Stöcke verteilt sind. Dieselbe Unterscheidung mon- oecischor und dioecischer Stöcke ist auch bei den Coelenteraten, ins- besondere den Anthozoen, welche den ..zusammengesetzten Pflanzen" in ihrer Stockbildung so auffallend gleichen, von einigen Zoologen richtig gemacht worden. Man kann also zunächst unter den Or- ganismen allgemein Monoecisten und Dioecisten unterscheiden, je nach der Verteilung der beiderlei Geschlechtsprodukte auf eines oder auf verschiedene Individuen sechster Ordnung (Stöcke) und unter den Monoecisten wiederum Bisexuelle und Unisexuelle, je nach der Ver- XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. Ig7 teilung der beiderlei Geschlechtsprodiikte auf eines oder auf ver- schiedene Individuen fünfter Ordnung- (Personen, Blütensprosse). Diese Unterscheidung ist aber insofern ungenügend, als dabei die Verteilung der beiderlei Geschlechtsprodukte auf eines oder auf verschiedene Individuen der niederen Ordnungen (vierter, dritter, zweiter Ordnung) nicht berücksichtigt ist. W^ie man überhaupt bisher diese niederen Individualitätsgrade, die doch für das Verständnis des ganzen Or- ganismus so wichtig sind, nicht gehörig unterschieden hat, so ist auch jenes besondere Verhältnis ihrer geschlechtlichen Differenzierung meist gänzlich übersehen oder doch nicht richtig beurteilt worden, und daher, besonders in der Zoologie, eine ungemeine Verwirrung in der Auffassung der Geschlechtsverhältnisse eingerissen. Bei den Coelenteraten z. B. weiß niemand mehr, was er unter vereinigten und getrennten Geschlechtern verstehen soU, da diese Ausdrücke bunt durcheinander für monoecische und dioecische, unisexuelle und bisexuelle Organismen und außerdem ohne alle Unterscheidung der Geschlechts Verhältnisse bei den Individuen niederer Ordnung gebraucht werden. Daher erscheint es uns unerläßlich, diese Begriffe scharf zu bestimmen und das Verhältnis der Vereinigung oder Tren- nung der Geschlechter bei den Individuen aller Ordnungen scharf zu unterscheiden. Wir bezeichnen demnach ganz allgemein zunächst die Vereinigung der beiderlei Genitalprodukte auf einem Individuum (gleichviel welcher Ordnmig) als Zwitterbildung oder HermaphrocUtismus. Jedes Individuum (irgendeiner Ordnung) als Zwitter {Hermapliro- diti(s) A^ereinigt in sich beiderlei Geschlechtsstoffe, Ovum und Sperma. Der Gegensatz hierzu ist die Trennung der Genitalien, die Verteilung der beiderlei Geschlechtsstoffe auf z w e iln dividuen (gleich- viel welcher Ordnung), welche wir als Geschlechtstrennung oder Gonocliorismus bezeichnen. Jedes Individuum irgendeiner Ordnung als Nichtzwitter (Gonochoristus) besitzt nur einen von beiden Ge- schlechtsstoffen, Ovum oder Sperma. Das getrenntgeschlechthche Individuum mit Ovum, ohne Sperma, wird allgemein als weibliches (femininum)^ das nichtzwitterige Individuum mit Sperma, ohne Ovum, als männliches (masciilinuni) bezeichnet. Indem wir die zwölf mög- lichen verschiedenen Fälle des Gonochorismus und Hermaphroditismus einzeln betrachten, finden wir das Gesetz, daß immer der Herma- phroditismus einer bestimmten Individualitätsordnung mit Gonochoris- mus einer niedrigeren Ordnung verbunden ist. 188 Entwickelungsgeschichte der physiologisclien Individuen. XVII. I. GesclileclitsverliältDisse der Piastiden (Cytoden und Zellen). Ja) Hermaphroditismus der Piastiden. Zwitterbikluriy der Individuen erster Ordnung-. Die beiderlei Geschleclitsstoffe sind in einem Indivi- duum erster Ordnung (Plastide) vereinigt. Der Hermaphroditismus der Piastiden ist von den zwölf mög- lichen Fällen, welche uns die zweifach verschiedenen Geschlechts- verhältnisse der Individuen von sechs verschiedenen Ordnungen dar- bieten können, der einzige, dessen Existenz nicht ganz sicher nach- gewiesen ist. Es ist uns kein Fall mit Sicherheit bekannt, daß eine und dieselbe Plastide (sei es nun eine Cytode oder eine Zelle) beiderlei Geschleclitsstoffe in sich erzeugt hätte. ^) Weder bei den Tieren, noch bei den Protisten, noch bei den Pflanzen sind unzweifelhaft zwitterige Cytoden oder Zellen beobachtet worden, d. h. einzelne Piastiden, die in einem Teile ihres Leibes weibliche, in einem anderen männliche Zeu- gungsstoffe produziert hätten. Selbst bei den einzelligen Algen, welche geschlechtlich zeugen, entstehen entweder die beiden Geschlechts- produkte in zwei verschiedenen Individuen (Zellen), oder wenn ein einzelnes Individuum sie beide erzeugt, geschieht dies in besonderen Abteilungen der Zelle, welche sich vorher durch Scheidewände von den übrigen Teilen der Zelle getrennt haben, also im Grunde selbst schon wieder selbständige Zellen darstellen. Vielleicht findet sich jedoch wirklicher Hermaphroditismus der Piastiden bei einem Teile derjenigen niederen Pflanzen (Desmidiaceen und Zygnemaceen) und Tiere (Gregarinen, Infusorien), welche durch Konjugation und Copulation zeugen. Bekanntlich besteht dieser Prozeß darin, daß zwei Individuen erster Ordnung oder Piastiden (bald Zellen, bald Cytoden) mit einer Stelle ihres Leibes sich aneinander legen, hier verwachsen und endlich teilweise oder vollständig verschmelzen. Die vollständige Verschmelzung, bei welcher aus zwei Individuen eines wird, bezeichnet man als Kopulation (z. B. bei Gregarinen und anderen Protoplasten, Rhizopoden, einigen Infusorien); dagegen die unvollständige Verschmelzung, bei welcher die Individualität 1) (1906). Ein solcher Fall ist erst neuerdings in der Konjugation der Wiraperinfusorien entdeckt worden. Jede der beiden konjugierenden Ciliaten- zellen sondert im Standkern (Panlocarijon) einen weiblichen, im Wander- kern (Planocaryon) einen männlichen Teil ab. XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 189 der beiden verschmelzenden Piastiden mehr oder weniger erhalten bleibt, als Konjugation (z. B. bei den Konjugaten: Zygnemaceen, Desmidiaceen). Das Resultat dieser Verschmelzung ist die Bildung einer einzigen oder mehrerer, zur selbständigen Entwickelung fähiger Piastiden, welche man gewöhnlich als Sporen bezeichnet. Nach unserer Auffassung ist die besonders von de Bary aufgestellte Ansicht die richtigere, daß wir es hier mit einer wirklichen geschlechtlichen Zeugung zu tun haben, und das Produkt derselben, die Zygospore, ist demnach nicht als Spore, sondern als sexuelles Zeugungsprodukt, als ..befruchtetes Ei" zu bezeichnen. Offenbar ist das Wesentliche dieses Prozesses, wie bei jeder geschlechtlichen Zeugung, die Ver- mischung zweier verschiedener Stoffe, welche zur Bildung eines neuen Indi\äduums führt. Von den übrigen Formen der ge- schlechtlichen Zeugung ist die Kopulation und Konjugation nur dadurch verschieden, daß diese beiden verschiedenen Geschlechtsstoffe nicht geformt sind, und gerade hierin liegt für uns die große Bedeutung derselben, da sie offenbar den primitivsten Anfangszustand der Amphigonie repräsentieren, der sich unmittelbar an die ungeschlecht- liche Sporogonie anschließt. Man könnte nun wohl daran denken, daß bereits in den noch nicht zur Kopulation oder Konjugation ge- langten Piastiden eine Sonderung des Plasma in zweierlei verschie- dene Zeugungsstoffe eingetreten sei, und es würde dann der Prozeß der Kopulation und Konjugation selbst als eine wechselseitige Befruchtung zweier hermaphroditischer Individuen erster Ordnung aufzufassen sein, wie wir dieselbe sehr häufig bei zwitte- rigen Individuen höherer Ordnung (z. B. den Schnecken) finden.^) Insbesondere könnte hierfür angeführt werden, daß unter Umständen auch die einzelnen Individuen, welche gewöhnlich konjugieren (z. B. Zygnemen) oder kopulieren (z. B. Gregarinen) selbständig „Sporen" in ihrem Innern erzeugen können. Indessen muß es vorläufig zweifel- haft bleiben, ob hier eine Selbstbefruchtung einer hermaphroditischen Zelle, oder eine Parthenogenesis, die schon zur Sporogonie zu rechnen sein würde, vorliegt, da wir noch nicht imstande gewesen sind, die Verschiedenheit der beiderlei Zeugungsstoffe in den einzelnen kopu- lierenden und konjugierenden Individuen (weder in chemischer, noch in morphologischer Beziehung) zu konstatieren. ^) (1906). Die hier ausgesprochene Vermutung ist 30 Jahre später durch die modernen Entdeckungen über die Konjugation der Infusorien und Sporozoen vollauf bestätigt worden. 190 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII. Ib) Gonochorisnnis der Piastiden. Geschlechtstreunung' der Imlividueii erster Ordiumg-. Die beiderlei Gesclilechtsstoffe sind auf zwei verschie- dene Individuen erster Ordnung (Piastiden) verteilt. Dieser Fall der Geschlechtstrennung ist der allgemeinste von allen sechs möglichen Fällen des Gonochorismus, und wenn ein Hermaphroditismus der Plastidcn nicht existierte, so würden eigent- lich sämthche Fälle der geschlechtlichen Differenzierung und Zeugung überhaupt hierher zu ziehen sein. Denn bei allen sexuellen Indivi- duen zweiter und höherer Ordnung, mögen dieselben nun Herma- phroditen oder Gonochoristen sein, finden wir die beiderlei Geschlechts- produkte von verschiedenen Individuen erster Ordnung erzeugt. In allen uns bekannten Geschlechtsorganen gibt es männliche und weib- liche Zellen nebeneinander, aber keine Piastiden, welche zugleich männliche und weibhche Geschlechtsstoö'e bildeten. Zwitterige Zellen sind bisher innerhalb eines Geschlechtsorgans nicht beobachtet worden. Wenn wir also von den soeben erwähnten möglichen Fällen des Hermaphroditismus bei kopuherenden und konjugierenden Protisten absehen, so würden wir den Gonochorismus der Piastiden als all- gemeine Eigenschaft sämtlicher amphigoner Organismen ansehen können. Die weibliche Geschlechtszelle erzeugt gewöhnlich ein einziges Ei, d. h. sie wandelt sich in ihrer Totalität in eine Eizelle um. Die einzelne männliche Geschlechtszelle (Samenzelle) dagegen erzeugt sehr häufig einen Komplex von mehreren Zoospermien; andere- male fungiert sie in ihrer Totalität. Die Formenmannigfaltigkeit der Zoospermien bei den verschiedenen Organismen ist außerordentlich groß. Besonders bemerkenswert ist die auffallende Ähnlichkeit der fadenförmigen bewegHchen Zoospermien (Geißelzellen) bei den Crypto- garaen und den meisten Tieren. Ebenso zeigt auch die Form der Eizelle, und besonders ihre Htillenbildung, bei Pflanzen und Tieren mannigfaltige Analogien. IL Geschlechtsverhältnisse der Organe. IIa) Hermaphroditismus der Organe. Zwitterbildung' der Individuen zweiter Ordnung'. Die beiderlei Geschlechtsprodukte sind in einem Indi- viduum zweiter Ordnung (Organ) vereinigt. Die Zwitterbildung der Organe ist im ganzen selten, da bei den meisten hermaphroditischen Organismen die beiden Geschlechts- XYjj_ I. Verschiedene Arten der Zeugimg. 191 Stoffe auf zwei verschiedene ludividiien dritter oder höherer Ordnung verteilt sind. Doch finden wir in sehr ausgezeichneter Weise beiderlei Zeugungsstoffe von einem einzigen Organe produziert bei manchen Mollusken, und zw^ar am auffallendsten bei den sonst hoch differen- zierten Lungenschnecken (Pulmonaten). Trotz der außerordentlichen Komplikation, welche der Geschlechtsapparat dieser Tiere im übrigen darbietet, werden dennoch die Eier und Samenzellen von einem und demselben Organe unmittelbar neben einander erzeugt. Eine gleiche Zwitterdrüse (Glandula hermaphrodita) findet sich bei Sijnapia unter den Echinodermen. Unter den Pflanzen kommen ähnliche Zwitterdrüsen, d. h. Organe, welche männliche und weibliche Ge- schlechtsprodukte zugleich erzeugen, nur sehr selten vor, z. B. bei Marsilea, Pilidaria und einigen anderen Rhizocarpeen, IIb) Gonochorisnius der Organe. Gesehlechtstrennung' der ludividueu zweiter Ordnung'. Die beiderlei Geschlechtsprodukte sind auf zwei ver- schiedene Individuen zweiter Ordnung (Organe) verteilt. Die Verteilung der Geschlechtstätigkeit auf verschiedene Organe ist die allgemeine Regel für die große Mehrzahl aller Organismen, auch für die meisten sogenannten „Zwitterindividuen'' (d. h. lierma- phroditischen Individuen dritter und höherer Ordnung). Die weib- lichen Organe, welche die Eier produzieren, heißen bei den Tieren allgemein Eierstöcke {Ovaria), bei den phanerogamen Pflanzen Samenknospen {Oemmulae), bei den meisten cryptogamen Oogonien oder Archegonien (oder Pistillidien). Die männlichen Organe, welche das Sperma produzieren, heißen bei den Tieren allgemein Hoden (Spermaria, TcsticiiU), bei den Phanerogamen Antheren oder Staubblätter, bei den Cryptogamen Antheridien. Bei den Tieren entwickeln sich sehr häufig weibliche und männliche Ge- schlechtsorgane aus einer und derselben Anlage, so zwar, daß bei den beiderseitigen Embryonen beiderlei Organe bis zu einer gewissen Zeit nicht zu unterscheiden sind und sich erst später differenzieren (z. B. bei den Wirbeltieren). Bei den phanerogamen Pflanzen dage- gen sind beiderlei Organe in morphologischer Beziehung wesentlich verschieden, indem die männliche Geschlechtsdrüse ein reines Blatt- organ („Staubblatt"), die weibliche Geschlechtsdrüse (Samenknospe) dagegen entweder ein reines Achsenorgau oder eine wirkliche Knospe (ein Achsenorgan mit Blattorganen) ist. Zwischen den vollkommen 192 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XYII. getrennten Geschlechtsorganen nnd den vorhin erwähnten Zwitter- drüsen gibt es bei den Tieren (insbesondere Schnecken nnd Würmern) eine Menge vermittehider Übergänge, w^elche die alhnähUche Her- vorbikhuig der ersteren aus den letzteren in schlagender Weise be- kunden. Insbesondere sind die Ausführungsgänge der männlichen und weiblichen Drüsen oft noch auf kürzere oder längere Strecken hin vereinigt. lU. Geschlechtsverhältnisse der Antimeren. Illa) Hermaphroditismus der Antimeren. Zwitterbildung- der Individuen dritter Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind in einem Indivi- duum dritter Ordnung (Antimer) vereinigt. Dieser Fall ist die allgemeine Regel bei den allermeisten herma- phroditischen Individuen vierter und höherer Ordnung. Insbesondere bei den zwitterigen Tieren besitzt meist jeder homotypische Abschnitt beiderlei Geschlechtsorgane. Fast allgemein finden wir bei den dipleuren Zwittertieren beiderlei Organe sowohl auf der rechten als auf der linken Hälfte, bei den centraxonien und amphipleuren Zwittertieren in jedem ihrer „Strahlteile". Weniger allgemein ist dieses Verhältnis bei den Pflanzen, wo öfters insbesondere die w^eiblichen Organe in einem oder mehreren Antimeren abortieren, so daß diese bloß ein- geschlechtig sind. Illb) Gonochorismus der Antimeren. Geschlechstrennung- der Individuen dritter Ordnung-. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind auf zwei ver- schiedene Individuen dritter Ordnung (Antimeren) verteilt. Dieser Fall ist im ganzen viel seltener als der vorige, besonders im Tierreiche. Hier kommt es nur ausnahmsweise vor, daß bei einem hermaphroditischen Organismus die Genitalien des einen Antimeres männlich, die des anderen weiblich sind, so bei den Ctenophoren. Bei einigen Anthozoen-Arten schließen die Mesenterialf alten (in der Medianebene der Antimeren liegend) alternierend männliche und w^eib- liche Genitalien ein. Derartige Zwitter finden sich bisweilen auch bei dipleuren Tieren, die sonst getrennten Geschlechts sind, bei denen aber beiderlei Organe sich aus derselben Anlage hervorbilden, wie z. B. bei den Wirbeltieren. Unter letzteren sind solche Zwitter- bildungen, w^o die rechte Hälfte weiblich, die linke männlich differenziert XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 193 war, oder umgekehrt, mehrfach beobachtet worden, in einzehien Fällen auch beim Menschen (sogenannter Hermaphroditismus lateralis). Eben solche Fälle sind auch von unseren Flußmuscheln {Unio, Anodonta) bekannt, wo bisweilen das Geschlechtsorgan der rechten Seite ein Hoden, der linken ein Eierstock ist, und umgekehrt. Häufiger ist diese sexuelle Differenzierung der Antimeren bei den phanerogamen Pflanzen, wo oft in einer Zwitterblüte (Person), die im einen Ge- schlechtskreise (Metamer) weibliche, im anderen männliche Organe auf mehrere Antimeren verteilt trägt, der eine oder andere liomo- typische Abschnitt kein Geschlechtsorgan entwickelt (abortiert), so daß ein Teil der Antimeren bloß männlich, ein anderer Teil bloß weiblich wird. Selten aber ist dieser Abortus in beiden Kreisen (männlichen und weiblichen) so regelmäßig komplementär, daß die ganze Blüte (Person) bloß aus rein männlichen und rein weiblichen Antimeren zusammengesetzt ist. Vielmehr behält meistens ein Teil der Antimeren (gewöhnlich die Mehrzahl) die ursprüngliche Zwitterbildung bei. In höchst ausgezeichneter Weise findet sich der reine Gonochorismus der Antimeren konstant bei Canna, wo nicht zwei Metameren (Blatt- kreise) geschlechtlich differenziert sind, sondern wo nur ein einziger Blattkreis (Metamer) zur geschlechtlichen Entwickelung gelangt, und wo in diesem, aus drei Antimeren bestehenden Kreise, das eine An- timer männlich, das zweite weiblich wird und das dritte abortiert. IV. Geschlechtsverhältnisse der Metameren. IVa. Hermaphroditismus der Metameren. Zwitterliildung- der Individuen vierter Ordnung-. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind in einem Indivi- duum vierter Ordnung (Metamer) vereinigt. Dieser Fall ist die allgemeine Regel bei den hermaphroditischen Tieren, bei welchen die physiologische Indi\idualität den Rang eines Metameres hat. Hier müssen natürlich die beiderlei Genitalorgane auf einem und demselben Metamer vereinigt sein, z. B. bei den Tre- matoden, Zwitterschnecken. Bei den zwitterigen Articulaten, welche durch Aggregation von Metameren Personen herstellen, wie auch bei den Bandwürmern, wiederholen sich gewöhnlich ganz regelmäßig weibliche und männliche Organe in mehr oder minder inniger, teil- weiser Vereinigung in jedem Metamer, mit Ausnahme der geschlechts- losen. Doch kommt es hier auch häufig vor (z. B. bei den Hirudineen, Lumbricinen), daß nur einige Metameren hermaphroditisch, die anderen Haecljel, Prinz, d. Morpliol. 13 194 Entwickeliingsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII. dagegen unisexuell, bloß männlich oder bloß weiblich sind. Viel seltener als bei den Tieren ist der Herniaphroditismus der Metameren bei den phaneroganien Pflanzen (z. B. Canna): vielmehr ist der nm- gekehrte folgende Fall hier die Regel. IVb. (ionochorismu s der Metameren. Gesehlecht.strennung' der hidividiien vierter Ortlniing-. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind anf zwei ver- schiedene Individuen vierter Ordnung (Metameren) verteilt. Im Gegensatz zu den zwitterigen Tier-Personen zeichnen sich die hermaphroditisclien Blüten der phaneroganien Pflanzen dadurch aus, daß gewöhnlich die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane auf verschiedene Metameren oder Glieder verteilt sind. In den allermeisten Fällen ist ein unteres (hinteres) Stengelglied vorhanden, welches den Kreis der männlichen Staubblätter, und ein olleres (vorderes), welches den (inneren) Kreis der weiblichen Fruchtblätter trägt, an denen die Samenknospen sitzen. Da nun morphologisch jedes Stengelgiied, das einen Bhittkreis trägt, auch wenn es ganz unentwickelt ist, ein vollständiges Metamer darstellt, so sehen wir bei den meisten Phane- roganien che Blüte aus einem (oder mehreren) weiblichen (oberen) und männlichen (unteren) Metameren zusammengesetzt; das obere weibliche Metamer heißt der Kreis der Fruchtblätter (Carpella), das untere männliche der Kreis der Staubblätter (Antherae). Unter den geschlechtlichen Kreisen stehen dann noch mehrere geschlechtslose Metameren. welche nicht sexuell differenzierte Blattkreise (Blumen-, Kelch-, Deckblätter etc.) tragen. Unter den Tieren ist dieser Gono- chorismus der Metameren sehr verbreitet bei den gonochoristen Bionten vierter Ordnung, insbesondere bei den höheren Mollusken, welche alle den morphologischen Rang eines Metameres haben. Selten dagegen ist er bei zwitterigen Bionten fünfter Ordnung. In ausgezeichneter Weise findet er sich so bei Sagitta, welche aus zwei zwitterigen An- timeren und zwei Metameren besteht, und wo das vordere Metamer (entsprechend dem oberen oder vorderen der Phaneroganien) weiblich, das hintere (entsprechend dem unteren) männlich ist. V. Geschlechtsverhältnisse der Personen. Va. Herniaphroditismus der Personen (Monoclinia). Zuitterbiklung- der Individuen fünfter Ordnung. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind auf einem bi- sexuellen Individnnm fünfter Ordnung (Prosopon) vereinigt. XVII. I- Verschiedene Arten der Zeugung. 195 Dieser Fall wird von den Zoologen gewöhnlich als „Herm- aphroditismus" schlechtweg bezeichnet, weil die meisten Tiere auf der (fünften) tectologischen Rangstufe der Personen stehen bleiben. Bei den Pflanzen dagegen, welche meistens die höhere (sechste) Rang- stufe des Stockes erreichen, unterscheiden die Botaniker sorgfältiger zwischen der Zwitterbildung der Sprosse (MonocUiiia) und der Stöcke {Monoecia). Unter den Tieren ist der Hermaphroditismus der Personen vorzugsweise bei den kleineren und niederen Formen verbreitet. Im Stamme der Vertebraten findet er sich nur ausnahms- w^eise (bei einigen Kröten, wenigstens rudimentär: h&i ScrranusmiiQY den Fischen); im Stamme der Articulaten selten bei den höher stehenden Arthropoden (Tardigraden unter den Arachniden. Cirripedien unter den Crustaceen), häufiger bei den tiefer stehenden Würmern (Hirudineen, Scoleinen, Sagitta etc.); im Echinodermenstamme selten (bei Sijnapta): auch im Coelenteratengtamme nur ausnahmsweise. Un- gleich verbreiteter ist der Hermaphroditismus der Personen bei den Pflanzen, w^o er sich bei der großen Mehrzahl aller Phanerogamen und sehr vielen Cryptogamen findet. Vb. Gonochorismus der Personen (Diclinia). Geschlechtstreimung- der Individueu füuftex- Ordmmg-. Die beiderlei Geschlechtsorgane sind auf zwei ver- schiedene unisexuelle Individuen fünfter Ordnung verteilt. Die gonochoristen Personen sind es, welche die Zoologen ge- wöhnlich als „getrennt-geschlechtige" Tiere im engeren Sinne, die Botaniker schärfer als „diclinische" Pflanzen unterscheiden. Die weib- liche Person wird bei den Phanerogamen als „w^eibliche Blüte" be- zeichnet; die männliche Person als „männliche Blüte". Dieselbe Trennung der Geschlechter findet sich bei der großen Mehrzahl aller Tiere; bei allen Vertebraten (einige Kröten un{\.Serranus ausgenommen), bei den meisten Arthropoden (die Cirripedien und Tardigraden aus- genommen), bei den meisten höheren Würmern und den meisten Coelenteraten. Unter den Pflanzen ist sie umgekehrt die Ausnahme. Es gehören hierher alle Personen (Blütensprösse) der Phanerogamen, welche monoecische und dioecische Stöcke zusammensetzen, außerdem aber auch alle unisexuellen Blüten, welche keine Stöcke bilden (be- sonders unter den Cryptogamen). 13* 196 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII. VI. Geschlechtsverhältnisse der Stöcke. VTa. Hormaphro ditismus der Stöcke (Monoecia). Zwitterbildung' der Individuen sechster Ordnung. Die beiderlei Geschlechtspersonen sind auf einem bisexuellen Individuum sechster Ordnung(Cormus) vereinigt. Alle hierher gehörigen Fälle von Zwitterbildung bei den Phanero- gamen hat Linne in seiner einundzwanzigsten Phaneroganienklasse, den Monoecia, zusammengefaßt. Die sogenannte „zusammengetzte Pflanze", d. h. der Stock, ist hier hermaphroditisch, die einzelnen Personen aber (Bltitensprosse). welche ihn zusammensetzen, diclinische, teils männhche, teils weibliche Blüten. Es ist dies z. B. der Fall bei den Birken, Buchen, Eichen, Riedgräsern etc. Ganz dieselbe Vereinigung der beiderlei unisexuellen Personen auf einem Stocke findet sich unter den Tieren bei den allermeisten Siphonophorenstöcken, dagegen nur ausnahmsweise bei den Korallenstöcken (Anthozoen). VIb. Gonochorismus der Stöcke (Dioecia). Geschlechtstrenming' der Individuen sechster Ordnung. Die beiderlei Geschlechtspersonen sind auf zwei ver- schiedene unisexuelle Individuen sechster Ordnung (Cor- men) verteilt. Dieser zwölfte und letzte, am weitesten gehende Fall von Trennung der Geschlechter gab Linne Veranlassung zur Aufstellung seiner zweiundzwanzigsten Phaneroganienklasse, der Dioecia. Die soge- nannte ..zusammengesetzte Pflanze" oder der Stock ist hier unisexuell, entweder männlich oder weibhch. Alle einzelnen denselben zusammen- setzenden Personen sind diclinisch und gehören einem und demselben Geschlechte an. Es ist dies der Fall bei den Weiden und Pappeln, den meisten Palmen und vielen Wasserpflanzen. Ferner gehören hierher unter den Tieren die meisten Anthozoenstöcke, aber nur wenige Siphonophorenstöcke, z. B. Diphyes quadrivalvis. XVII. System der ungeschlechtlichen Fortpflanzungsarten. 197 II. System der uiigesclileclitliclieii Fortpflaiizungsarten. Beispiele. A. Unge- schlechtli- che Zeu- gungdurch Spaltung Scliizo- gonia Genera- tio fissi- p a r a a) Selbstthei- lung Divisio I. Zweiteilung Dimidiatio (Teilung in zwei Hälften) 1. Stückteilung Divisio indefinita. fViele Protisten. I Viele Piastiden (Spaltung mit Vernichtung des zeugenden Individuums) 1j) Knospung Gemiuatio II. Strahlteilung Diradiatio (Teilung in mehr als zwei Stücke) I. Äußere Knos- penbildung Gemmatio externa (Spaltung ohne Vernich- tung des zeugenden Indi\dduums) II. j von Tieren l und Pflanzen. ( Diatomeen. l Astraeiden. ( Turbinoliden. [ Ophryoscoleci- l neu. ( Halteria. ( Chlorogonium. Divisio diagonalis | Lagenophyrs. Vierzählige Phanerogamen- Blütensprosse. Die meisten Coelenteraten. Die meisten Blütensprosse der Phanero- gamen. Die meisten Echinodermen. Internodien der Phanerogamen. Strobila der Cestoden. Axillarknospen der Phanero- gamen und Bryozoen. [Medusen, z. B. pro- lifera. 2. Längsteilung Divisio longitudi- nalis. 3. Querteilung Divisio transversa- lis 4. Diaeonalteilung 5. Paarige Strahlteilung Diradiatio artia 6. Unpaarige Strahltei- lung Diradiatio anartia 1. Endknospenbildung Gemmatio termina- lis 2. Seitenknospenbildimg Gemmatio lateralis B. Unge- schlechtli- che Zeu- gungdurch SporenbU- dung Sporo- goiiia Genera- tio spo- ripara I. Keimknospenbildung Polysporogonia. Produkt der Keimbildung eine Mehrheit von Pla- stiden (Polyspora). 3. Innere Knospen ohne Knospenzapfen Innere Knos- Gemmatio coelo- penbildung blasta 4. Innere Knospung an einem Knospenzapfen Gemmatio organo- blasta 1. Fortschreitende Keim- knospenbildung Polysporogonia pro- Aegineta Gemmatio interna f Salpa. ^^ Doliolum. II. Keimplastidenbildung Monosporogoni a Produkt der Keimlnldung eine einzelne Plastide (Monospora). 2. Rückschreitende Keim- knospenbildung Polysporogonia regres siva 3. Fortschreitende Keim- plastidenl)ildung M 0 n 0 s p 0 r 0 g 0 n i a pro- gressiva 4. Rückschreitende Keim- plastidenbildung Monosporogonia regres- siv a Parthenogonia (pro parte?) ( Distomeen. I Gyrodactylus { Infusorien. (Gemmulae der \ Sj^ongien. Algen. Pilze. Rhizopoden. Infusorien. Ohara crinita. Coelebogyne. Aphis. Apis. Coceus. 198 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVll. 11 1. System der gesclilechtliclicii Fortpflaiizim^sarteii. I. Hermaphroditisnms der sechs Individualitätsordnnngen. Verscliicdene Formen der Gesclileclitsvertcilunsr. 1. Heimaphroditisnius der l'lastiden (Zwitterbildung erster Ordnung). 2. Hennaphroditismus der Organe (Zwitterbildung zweiter Ordnung). o. Hermaphroditismus der Antimeren (Zwitterl)ildiing dritter Ordnung). 4. Herniajjhroditismus derMetameren (Zwitterbildung vierter Ordnung). 5. Herrn aphroditismus der Personen (Zwitterbildung fünfter Ordnung). (Monoclinia.) (j. Hermaphroditismus der Cormen (Zwitterbildung sechster Ordnimg). (Monoecia.) Beispiele aus dem Pflanzenreiche. Beispiele aus dem Tierreiche. Conjugatae. Desmidiaceae. Zygnemaceae. Einige Rhizocarpeen (Pi- lularia, Marsilea). Die meisten zwitterigen Phanerogamen. z. B. Liliaceen, Primulaceen. Sehr wenige zwitterige Phanerogamen, z. B. Canna. Die meisten zwitterigen Phanerogamen, z. B. Liliaceen. Primulaceen. Viele Bäume (Betiüa, Quercus). Viele Was- serpflanzen (Myriophyl- lum, Typha). Gregarinae. Infusoria. Synapta, Gasteropoda pulmonata. Die meisten zwitterigen Tiere, z. B. Trematoden, Cirripedien. Die meisten zwitterigen Tiere, z. B. Trematoden, Cestoden , Planarien , Mollusken. Wenige zwitterige Tiere, z. B. Tardigraden, Cir- ripedien. Korallenstöcke (Anthozoen). Die mei- sten Siphonophoren- stöeke. Wenige n. Gonochorisnms der sechs Individualitätsordnungen. Die meisten sexuell diffe- Die meisten sexuell diffe- 1. Gonochorismus der Piastiden (Gesclüechtstrennung erster Ordnung). 2. Gonochorismus der Organe (Gesclüechtstrennung zweiter Ordnung). 3. Gonochorismus der Antimeren (Geschlechtstrennung dritter Ordnung). 4. (jonochorismus der Metameren (Geschlechtstrennung \äerter renzierten Pflanzen. renzierten Tiere. Die meisten se.xuell diffe- ' Die meisten se.xuell diffe- renzierten Pflanzen. renzierten Tiere. o. 6. Ordnung). Gonochorismus der (Geschlechtstrennung Ordnung). (Diclinia.) Gonochorismus der (Geschlechtstrennung sechster Ordnung). (Dioecia.) Personen fünfter Cormen Einige zwitterige Phane- rogamen, z. B. Canna. Die meisten Phaneroga- men, z. B. Lüiaceen, Primulaceen. Alle monoecischen und dioecischen Phaneroga- men. Viele Bäume (Salix, Po- pulus). Viele Wasser- pflanzen (Hydrocharis, Vallisneria). Ctenophoren. Einige An- thozoen mit alternierend männlichen und weib- lichen Antimeren. Sagitta. Die meisten Mol- lusca cephalota. (Alle Cephalopoden etc.) Die meisten Vertebraten und Arthropoden (aus- genommen Tardigraden imd Cirripedien.) Die meisten Korallen- stöcke (Anthozoen). Wenige Siphonophoren- stöcke (z. B. Diphyes quadrivalvis). XVII. IV. Verschiedene Funktionen der Entwickelung. IQQ IT. Terschiedeue riiiiktionen der Entwickehing. „Die Entwickelimgsgeschichte des Individuums ist die Geschichte der wachsenden Individualität in jeglicher Beziehung." In diesen wenigen treffenden Worten spricht Bär das allgemeinste Resultat seiner klassischen Untersuchungen und Beobachtungen über die Ent- wickelungsgeschichte der Tiere aus. In der Tat ist das Wachstum der Individuen diejenige organische Funktion, welche den wichtigsten Entwickelungsvorgängen zugrunde liegt. Selbst die Zeugung, mit der jede individuelle Entwickelung beginnt, ist im Grunde, wie wir sahen, unmittelbar mit dem AVachstum zusammenhängend und in den aller- meisten Fällen (die Generatio spontanea ausgenommen) die direkte Folge des Wachstums über das individuelle Maß hinaus. Obgleich wir also allgemein das Wachstum als die bedeutendste Fundamental- funktion der ontogenetischen Prozesse bezeichnen können, müssen wir dennoch, wenn wir den Begriff der Ontogensis in dem weitesten oben festgestellten Umfange fassen, und nicht nur die Anaplase, sondern auch die Metaplase und Cataplase darunter verstehen wollen, neben dem Wachstum noch einige andere organische Funktionen unterscheiden, welche zwar ebenfalls Ernährungsvorgänge sind und schon als solche mit demselben zusammenhängen, aber doch wesent- lich von ihm verschieden sind. Es sind dies namentlich die Er- scheinungen der Differenzierung, welche wir im neunzehnten Kapitel noch eingehender betrachten werden, und die Vorgänge der Degene- ration oder Entbildung. Wir können demnach allgemein als ver- schiedene „Funktionen der Ontogenesis" folgende vier Prozesse unterscheiden: 1. die Zeugung: 2. das Wachstum im engeren Sinne; 3. die Differenzierung; 4. die Degeneration. Alle vier Prozesse, auf welche sich sämtliche übrigen ontogenetischen Vorgänge zurückführen lassen, sind physiologische, d. h. physikalisch- chemische Funktionen, welche unmittelbar mit der allgemeinen organischen Fundamentalfunktion der Ernährung zusammenhängen. 1. Die Zeugung (Generatio). Die Entstehung des organischen Individuums durch Zeugung ist der erste und fundamentalste Prozeß, mit welchem jede individuelle Entwickelung beginnt. Da wir ihre verschiedenen Formen im vorher- gehenden bereits betrachtet haben, so heben wir hier bloß nochmals 200 Entwickelungsgeschichte dev physiologischen Individuen. XYII. hervor, daß die Zeugung nicht allein als der erste Entstehungsakt die Ontogenesis jedes organischen Individuums einleitet, sondern auch das Wachstum der Individuen zweiter und höherer Ordnung dadurch bewirkt, daß beständig die Individuen erster Ordnung, welche dieselben zusammensetzen, durch wiederholte Zeugungsakte sich vermehren. 2. Das Wachstum (Crescentia). Das Wachstum im engeren Sinne (Crescentia) zeigt sich äußer- lich allgemein in einer Größenzunahme des Individuums, einer totalen oder partiellen Vermehrung seines Volums und seiner Masse. Das innere Wesen dieser unmittelbar mit der Ernährung zusammen- hängenden Funktion haben wir bereits im fünften Kapitel eingehend erläutert. Wir führten dort aus, daß das Wachstum sowohl der organischen als der anorganischen Individuen wesentlich darin beruht, daß das vorhandene Individuum, ein festflüssiger oder fester Körper, als Attraktionszentrum wirksam ist und aus einer umgebenden Flüssig- keit bestimmte Moleküle anzieht, welche in dieser gelöst sind und welche er aus dem flüssigen in den festflüssigen Aggregatzustand überführt. Die Anziehung der Moleküle geschieht mit einer bestimm- ten, durch die chemische Wahlverwandtschaft des Körpers bedingten Auswahl. Das Wachstum der organischen und anorganischen Indi- viduen ist durchaus analog und beruht in beiden Fällen auf den physikaHschen Gesetzen der Massenbewegung, Anziehung und Ab- stoßung. Der wesentliche Unterschied im Wachstum beider Gruppen von Naturkörpern besteht darin, daß das Wachstum des festflüssigen organischen Individuums durch Intussusception nach innen, dasjenige des festen anorganischen Individuums (Kristalls) durch Apposition von außen erfolgt. Wenn wir im folgenden vom Wachstum im engsten Sinne, oder vom „einfachen Wachstum" {Crescentia sitiqüeoc) der Organismen sprechen, so verstehen wir darunter lediglich diesen Prozeß, die Vergrößerung (Volumverraehrung) durch Aufnahme neuer Moleküle. Diese einfache Wachstumsfunktion wird eigentlich nur von den Individuen erster Ordnung (Piastiden) geübt. Denn das Wachs- liiiii aller Individuen zweiter und höherer Ordnung ist erst das mittel- bare Resultat des einfachen Wachstums der Individuen erster Ordnung, und kann insofern als „zusammengesetztes Wachstum" {Cres- centia composita) unterschieden werden, als es stets auf einer Ver- bindung der beiden angeführten Entwickelungsfunktionen. Zeugung und Wachstum der Piastiden, beruht. Wir können es daher XVII. IV. Verschiedene Funktionen der Entwickelung. 201 als allgemeines Gesetz aussprechen, daß das Wachstum der morpho- logischen Individuen erster Ordnung ein direktes oder einfaches, das Wachstum der morphologischen Individuen zweiter und höherer Ordnung dagegen ein indirektes ist, zusammengesetzt aus den beiden zusammenwirkenden Funktionen der Zeugung und des Wachstums der konstituierenden Piastiden. Obwohl die Entwickelungsfunktion des Wachstums vorzugsweise in dem Stadium der Anaplasc wirksam erscheint, setzt dieselbe dennoch ihre Tätigkeit auch noch während der Stadien der Mctaplase und Cataplase beständig fort, da die Deckung der Substanzverluste, welche durch die Lebensfunktionen herbeigeführt werden, in letzter Instanz immer wieder durch die Ernährung und das Wachstum der Piastiden bewirkt wird. 3. Die Differenzierung (Divergentia) oder Arbeitsteilung (Polymorphismus). Die dritte wichtige Fuhdamentalfunktion. welche bei der Ent- wickelung der organischen Individuen wirksam ist, und auf welcher alle höhere Entwickelung. alle Vervollkommnung derselben beruht, bezeichnet man allgemein mit dem Namen der Differenzierung oder Arbeitsteilung. Man versteht bekanntlich unter diesem wichtigen Prozesse ganz im allgemeinen eine Hervorbildung ungleicharti- ger Teile aus gleichartiger Grundlage, welche durch Anpassung derselben an ungleiche Existenzbedingungen bewirkt wird. Im neun- zehnten Kapitel werden wir die Divergenz des Charakters, w^elche dieser ungleichartigen Entwickelung von ursprünglich gleichartigen Teilen zugrunde liegt, näher zu erläutern und auf die Gesetze der Anpassung- und Vererbung zurückzuführen haben. Hier sei daher nur so viel bemerkt, daß wir den Begriff der Differenzierung im w^eitesten Sinne fassen. Gewöhnlich wird derselbe nur auf die Bionten oder physiologischen Individuen angewandt. Wie wir aber das Ver- ständnis von deren Entwickelung nur dadurch erlangen können, daß wir die Ontogenesis der morphologischen Individuen aller Ordnungen erkennen, so verstehen wir auch den Polymorphismus der Bionten nur dadurch, daß wir die Differenzierung aller untergeordneten Indi- vidualitäten erkennen, w^elche die höheren zusammensetzen. Ja wir g-ehen noch weiter, und leiten die divergente Entwickelung der Indi- viduen erster Ordnung, der Piastiden, von einer Arbeitsteilung der Eiweißmoleküle des Plasma ab, welches die aktive Piastidensubstanz bildet. Wir führen mit einem Wort die morphologische und physiolo- 202 Eiitwickelungsf^eschiclite der jjlij'siologisclien Individuen. XVII. ö gisclie Dift'eronzierung auf die chemische Arbeitsteihing der Plasma- molekül e ziiiück. Aus diesem Molekularvorgang resultieren alle höheren Differenzierungsprozesse, welche die divergente Entwickelung der vollkommenen Organismen möglich machen. So allgemein nun auch diese Funktion in der ganzen organischen Welt und ganz be- sonders bei der Meiaplase wirksam ist, so ist es doch sehr bemerkens- wert, daß sie bei den einfachsten Organismen, den Moneren (Bacterien) fehlt. Bei diesen homogenen und strukturlosen Protisten, welche sich zunächst an die Kiistalle anschließen, beschränkt sich die Ontogenesis auf die beiden Funktionen der Zeugung und des Wachstums, ohne daß eine Differenzierung eintritt. Die Moneren schließen sich in dieser wie in mehreren anderen Beziehungen näher an die organi- schen Kristalle, als an die übrigen Organismen an. 4. Die Entbildung (Degeneratio). Unter Entbildung oder Degeneration verstehen wir hier diejenige Veränderung der organischen Individuen, deren Resultat eine Be- schränkung oder Verminderung oder eine gänzliche Vernichtung ihrer physiologischen Funktion zur Folge hat, und welche sich stets auch in entsprechenden morphologischen Veränderungen ihrer Form und oft in Verminderung ihres Volums kundgibt. Es ist dieser Prozeß also dem des Wachstums gewissermaßen entgegengesetzt und wie das letztere die Grundlage der Anaplase, so bildet die Degeneration das Fundament der Catcqüase. Wir betrachten die Rückbildung, welche oft der Entwickelung im engeren Sinne geradezu entgegengesetzt wird, dennoch als einen Teil derselben, da wir oben gezeigt haben, daß sich diese Vorgänge nicht scharf trennen lassen, und daß die voll- ständige Ontogenie alle Stadien der individuellen Existenz zu begreifen hat. Wir nennen die Degeneration, welche oft auch als „Rückbildung" bezeichnet wird, „Entbildung", um sie scharf von der eigentlichen Rückbildung oder Cataplase zu unterscheiden, von der sie nur einen Teil darstellt. Die Rückbildung betrifft den ganzen Organismus in seiner Totalität, die Entbildung nur einzelne Teile desselben. Durch den Abschluß der Rückbildung wird die Existenz des organischen In- dividuums vernichtet, durch den Abschluß der Entbildung dagegen nicht: vielmehr verliert dasselbe durch letztere nur einzelne Teile. Jede Entbildung eines Individuums zweiter oder höherer Ordnung ist verbunden mit einer Rückbildung einer Anzahl von Individuen erster Ordnung (Piastiden), welche das erstere zusammensetzen. Aber nicht XVII. V. Verschiedene Stadien der Entwickelung. 203 jede Entbildung einer Plastide ist zugleich ihre Rückbildung-. Es kann z. B. eine einzelne, stark differenzierte Pflanzenzelle einen Ent- bildungsprozeß (z. B. Verlust bestimmter Fortsätze oder Inhaltsteile der Zelle) vollständig von Anfang bis zu Ende durchmachen, ohne daß dadurch ihre Rückbildung eintritt. Wir müssen also diese beiden Prozesse, die totale Rückbildung des Bionten und seine partielle Ent- bildung wohl unterscheiden, wenngleich immer die Rückbildung der Individuen zweiter und höherer Ordnung auf einer Entbildung eines Teiles ihrer konstituierenden Piastiden beruht. Im ganzen sind die Vorgänge der Entbildung oder Degeneration noch sehr wenig unter- sucht, da man sie meistens gar nicht als Teile der Entwickelungs- geschichte betrachtet hat. Nur in der pathologischen Physiologie des Menschen, wo sie von großer praktischer Bedeutung sind, haben die- selben eine eingehendere Untersuchung erfahren. Es gehören dahin besonders die Prozesse der fettigen Degeneration, der Erweichung, Verkalkung, amyloiden Degeneration etc., kurz alle diejenigen, welche man als Necrobiose zusammengefaßt hat. Bei den Pflanzen ge- hören dahin die Verdickungen der Zellwände, die Bildung der luft- haltigen Spiralgefäße durch Verschmelzung und Degeneration von Zellen etc. Für die Cataplase und namentlich auch für die regressive Metamorphose im engeren Sinne sind diese Vorgänge der De- generation von der größten Bedeutung und verdienen ein weit ein- gehenderes Studium, als ihnen bisher zu teil geworden ist. Werfen wir nach dieser kurzen Übersicht der vier verschiedenen Funktionen der individuellen Entwickelung auf dieselbe noch einen vergleichenden Rückblick, so sehen wir, daß dieselbe im großen und ganzen den verschiedenen Stadien der individuellen Entwickelung entsprechen, so jedoch, daß gewöhnlich keine der ersteren ausschheß- lich für sich allein eines der letzteren bildet. Es beteihgt sich die Zeugung und das Wachstum vorzugsweise an der Anaplase, die Differenzierung vorzugsweise an der Metaplase und die Degeneration vorzugsweise an der Cataplase. Eine genauere Betrachtung der drei Entwickelungsstadien wird uns dies noch bestimmter nachweisen. Y. Yerschiedene Stadien der Entwickelung:. 1. Anaplasis oder Aufbildung (Evolutio). (Aetas juvenilis. Juventus. Adolescentia. .Tugendalter.) Wir haben oben im allgemeinen drei Stadien oder Perioden der individuellen Entwickelung unterschieden, die Aufbildung, Umbildung 204 Entwickeliingsgescliichte der physiologischen Inclividuen. XYII. und Hüc'kbikluiig'. und werden nun versuchen, den Charakter der- selben etwas schärfer zu bestimmen. Das erste Stadium derselben, die Aul'bildung oder Anaplase, ist dasjenige, welches der Entwickelimg (Evolutio) im gewöhnlichen Sinne des Wortes entspricht. Es umfaßt die aufsteigende oder fortschreitende Reihe von Formveränderungen, welche das organische Individuum von dem Momente seiner Ent- stehung an bis zur erlangten Reife durchläuft. Im weiteren Sinne kann man diese Periode als das Jugendalter (Juventus, Aetas juvenihs) des Individuums bezeichnen. Auch der Ausdruck Adolescentia wird dafür gebraucht, der aber deshalb zweideutig ist, weil er von anderen (nicht mit Recht) zur Bezeichnung des reifen Alters (Maturitas) ver- wandt wird. Die Entwiekelungsfunktionen, welche das Stadium der Anaplase vorzugsweise charakterisieren, sind die Vorgänge der Zeugung und des Wachstums. Wie diese beiden Prozesse mit der Ontogenese aller organischen Individuen ohne Ausnahme verbunden sind, so ist auch das Aufbildungsalter das einzige, welches allen Organismen ohne Ausnahme zukommt. Bei den niedersten Organismen, den Mo- neren, beschränkt sich die gesamte Entwickelung des Individuums auf diese beiden Funktionen, auf seine Entstehung durch Zeugung (entweder Archigonie oder Monogonie) und auf sein Wachstum. Hierin stimmen diese einfachsten Bionten wesentlich mit den Kristallen überein, deren Entwickelung ebenfalls auf die beiden Momente ihrer Ent- stehung (durch einen der Archigonie ganz analogen Vorgang) und ihres Wachstums beschränkt bleibt. Bei den allermeisten Organismen kommt aber später noch die dritte Funktion der Differenzierung hinzu, durch welche das anfangs gleichartige Individuum in ein un- gleichartiges umgewandelt wird. Diese Differenzierung tritt schon bei den meisten Organismen ein, welche zeitlebens auf der niedersten morphologischen Stufe der Plastide stehen bleiben. Sie erreicht aber ihre eigentliche Bedeutung und eine entschiedenere Wirksamkeit erst dann, wenn durch Synusie von mehreren Piastiden ein Formindi- viduum zweiter oder höherer Ordnung entsteht. Die relative Ausdehnung und Bedeutung des Jugendalters ist bei den Individuen verschiedener Ordnung und bei den Bionten ver- schiedener Stämme und Klassen außerordentlich verschieden, und man kann daher nicht allgemein bestimmte untergeordnete Perioden des- selben unterscheiden. Bei denjenigen Individuen, welche durch ge- schlechtliche Zeugung entstehen, zerfällt dasselbe stets in die beiden XVII. ^ • Verschiedene Stadien der Entwickelung. 205 Abschnitte der embryonalen Jugend und der freien Jugend. So lange das jugendliche Individuum in den Eihüllen eingeschlossen ist, heißt es Embryo, sobald es dieselben verlassen hat, entweder Junges {Juvcnis, Pidlus) oder Larve: letzteres, wenn es noch eine wirk- liche Metamorphose (durch Abwerfen provisorischer Teile) durchzu- machen hat, ersteres, wenn dies nicht der Fall ist. Bei denjenigen Individuen, welche sich mit Metamorphose entwickeln, kommt also auch die vierte Entwickelungsfunktion, die Degeneration zur Geltung, indem ledighch durch diesen Prozeß der Verlust der provisorischen Teile oder Larvenorgane bedingt wird. Sonst ist die Entbildung oder Degeneration diejenige von den vier outogenetischen Funktionen, welche am wenigsten von allen bei der Anaplase in Wirkung tritt. Bei sehr zahlreichen organischen Individuen ist das Stadium der Anaplase das einzige Entwickelungsstadium, welches sie durchlaufen, da sie weder zur Reife, noch zur Rückbildung gelangen. Solche In- dividuen sind z. B. die Furchungskugeln. die Embryonalzellen und überhaupt alle in lebhafter Vermehrung begriffenen Piastiden. Aber auch viele Individuen höherer Ordnung- gibt es, welche weder einer Metaplase noch einer Cataplase unterworfen sind, und bei denen mithin die ganze Zeit der individuellen Existenz sich auf das Jugend- alter beschränkt. Dies ist z. B. der Fall bei aUen Individuen, welche, sobald sie durch Wachstum eine bestimmte Grenze erreicht haben, sich teilen und durch Zerfall in mehrere neue Individuen untergehen. Insbesondere ist dies bei den niederen Organismen sehr allgemein der Fall. Aber auch die meisten Pflanzen, selbst die höchst ent- wickelten, sind den meisten Tieren gegenüber dadurch ausgezeichnet, daß sehr viele von ihren Individualitäten (besonders die geschlechts- losen Sprosse und die Stöcke) ein unbegrenztes Wachstum besitzen und also nie eigentlich in das Reifealter übertreten. Bei den Tieren sind viele niedere Formen durch die relativ bedeutendere Länge der Juventus ausgezeichnet. 2. Metaplasis oder Umbildung (Transvolutio). (Maturitas. Adultas. Aetas matura. Reifealter.) Das mittlere der drei individuellen Entwickelungsstadien. die Periode der Reife oder Maturität, ist, wie wir schon oben zeigten, in keiner allgemein gültigen Weise scharf von den beiden anderen zu trennen. Einerseits geht es ebenso allmählig aus dem Jugendalter hervor, wie es sich andererseits in das Greisenalter verhert. Allgemein 206 Entwickelungsgesclüchte der physiologischen Iiulividueii. XYII. kann man nur den Abschluß des Wachstums als den bezeichnenden Beginn der Reife ansehen. Der Organismns gilt meistens für „reif" oder „vollendet", wenn er ..ausgewachsen" ist. Bei den geschlecht- lieh entwickelten Organismen pflegt man aber als das eigentliche Kriterium des Reifealters die Fortpflanzungsfähigkeit anzusehen, die vollständige Ausbildung der Geschlechtsorgane oder die Ge- schlechtsreife. Wir haben indes schon oben gezeigt, daß dieses Kriterium zwar in vielen Fällen, aber keineswegs allgemein anwendbar ist, da sehr häufig der Abschluß des Wachstums nicht mit der Ge- schlechtsreife zusammenfällt. Viele Tiere (z. B. Coelenteraten) und noch mehr Pflanzen (aus vielen Gruppen) pflegen sich sowohl ge- schlechtlich als ungeschlechtlich schon lange fortzupflanzen, ehe ihr Wachstum seine Grenze erreicht hat; andere umgekehrt erst längere Zeit, nachdem schon diese Grenze überschritten ist. Überdies gibt es zahlreiche organische Individuen, die sich niemals fortpflanzen, und die dennoch ein entschiedenes Alter der Reife erreichen. Wollen wir daher anders den Begriff der Maturität irgendwie scharf gegen den der Juventus abgrenzen, so müssen wir sagen : das organische Individuum (aller Ordnungen) ist reif, sobald es ausgewachsen ist, sobald es seine volle individuelle Größe erreicht hat. Nicht minder schwierig, meistens sogar noch weit schwieriger, ist andererseits die Abgrenzung des Reifealters von dem der Rück- bildung. Auch hier hat man bei denjenigen Individuen, welche sexuell differenziert sind, besonders das Aufhören der Geschlechtstätigkeit als den Beginn der Cataplase betrachtet. Indessen ist hier dieses Kri- terium noch weniger anwendbar, da viele Organismen noch die volle Zeugungsfähigkeit besitzen, während bereits entschiedene Rückbildung eingetreten ist, andere umgekehrt dieselbe schon lange vorher ver- lieren. Auch erleiden viele Individuen eine Rückbildung, welche niemals geschlechtsreif werden, und andere verlieren ihre Zeugungsfähigkeit, ohne sich rückzubilden. Hier scheint also nichts anderes übrig zu bleiben, als das Ende der Reife und den Beginn der Rückbildung durch das Auftreten von entschiedenen Degenerationsprozessen einzelner integrierender Bestandteile zu bestimmen, welche an dem ausgebildeten Organismus in voller Funktion waren. Die Entwickelungsfunktion, welche das Stadium der Metaplase vorzugsweise charakterisiert, ist die Differenzierung. Wie das Wachstum für die Anaplase^ wie die Degeneration für die Cataplase^ so ist die Dift'erenzierung der Teile für die Metaplase das Vorzugs- XYII. V. Verschiedene Stadien der Entwickelnng. 207 weise charakteristische Moment, und streng genommen die einzige plastische Funktion derselben, welche dem Individuum selbst zugute kommt. Wenn die Ernährungs Vorgänge, welche das Wachstum veranlassen, während der Metaplase noch fortdauern, so führen die- selben nicht mehr zur Vergrößerung des Individuums, sondern zu seiner Fortpflanzung, zur Erzeugung neuer Individuen, und diese Tätigkeit erscheint, wie bemerkt, bei sehr vielen (aber nicht bei allen!) organischen Individuen zunächst als die am meisten auffallende Äußerung der Reife. Man kann also sagen, daß zwar das Wachs- tum an dem reifen und „ausgewachsenen" Individuum noch fort- dauert, aber nicht mehr eine Volumvermehrung desselben, sondern nur eine Ablösung der tiberschtissigen Wachstumsprodukte, eine Ab- spaltung der Keime von neuen Individuen zur Folge hat. Eigentliche Degenerationsvorgänge sind im Alter der Reife unter normalen (nicht pathologischen) Verhältnissen gewöhnlich ausgeschlossen und ihr Eintreten bezeichnet bereits den Beginn der Cataplase. Das Maturitätsstadium tritt, wie schon bemerkt, keineswegs bei allen organischen Individuen ein, fehlt vielmehr allgemein da, wo die individuelle Existenz mit dem Abschluß des Wachstums selbst beendigt ist. Die Zeitdauer der Reife steht bei den höheren Tieren häufig (aber nicht immer) in einem gewissen Verhältnis zur Voll- kommenheit derselben, so daß die Maturität, gegenüber der Juventus und Senectus, um so länger dauert, je vollkommener das Tier ist. Anderemale nimmt aber auch bei sehr vollkommenen Organismen die Anaplase einen weit längeren Zeitraum in Anspruch, als die Metaplase, so z. B. bei sehr vielen metabolen Insekten. 3. Cataplasis oder Rückbildung (Involutio). (Senilitas. Aetas senilis. Deflorescentia. Decrescentia. Greisenalter.) Das letzte der drei individuellen Entwickelungsstadien, die Periode der Abnahme oder Rückbildung, ist dasjenige, welches im allgemeinen die geringste Bedeutung hat und daher bis jetzt auch nur sehr wenig sowohl in physiologischer als morphologischer Be- ziehung berücksichtigt ist. Bei sehr vielen organischen Individuen fehlt es ganz, und nur bei verhältnismäßig wenigen nimmt dasselbe eine längere Zeit der individuellen Existenz ein. Dennoch kann man dasselbe in vielen Fällen deutlich als einen besonderen letzten Lebensabschnitt unterscheiden, und bei vielen höher entwickelten Organismen ist es von nicht geringer physiologischer Bedeutung; 208 Entwickoliingsgoschichte der physiologischen Individuen. XVII. sein Verlauf ist daher sowohl für die richtige Beurteilung der all- gemeinen Lebensvorgänge, wie der partiellen Degenerationserschei- nungen, von hohem Interesse. Der Charakter des Greisenalters liegt im allgemeinen in einer Abnahme teils der gesamten Lebenstätigkeit des Individuums, teils besonderer physiologischer Leistungen und namentlich der Fortpflan- zungsfunktionen. Mit dieser Dekreszenz der Funktionen geht eine ent- sprechende rttckschreitende Veränderung auch der Formverhältnisse Hand in Hand, welche allerdings oft mehr im allgemeinen zu bemer- ken, als im einzelnen scharf nachzuweisen ist. Doch können wir das morphologische Kriterium für den Beginn der Defloreszenz und ihre Abgrenzung von dem Reifealter nur darin finden, daß Dege- nerationsprozesse an einzelnen Teilen des Individuums auftreten, welche an dem erw^achsenen Organismus sich beständig in ihrer Integrität erhalten hatten. Es ist also ganz besonders die Ent- wickelungsfunktion der Entbildung oder Degeneration, welche für dieses dritte und letzte Hauptstadium der individuellen Entwickelung charakteristisch ist. Das Individuum, welches während der Meta- plase lediglich in Differenzierungs- und Fortpflanzungsprozessen sich bewegt hatte, beginnt die Cataplase mit dem Eintritt degenerativer Prozesse in einzelnen Teilen. Bei der menschlichen Person, w^o wir das Greisenalter besonders genau kennen, sind es insbesondere fettige und kalkige Degenerationen, Erweichungen und Verhärtungen der Gewebe etc., welche in den verschiedensten Organen das Signal der beginnenden Rückbildung, des Ca'eisenalters geben. Das Wachstum und die Zeugungsfähigkeit haben schon vorher aufgehört oder dauern doch nur kurze Zeit fort. Selten ist aber die Grenze zwischen den beiden Perioden der Reife und der Dekreszenz scharf zu ziehen, und bei sehr vielen Organismen können wir letztere als besondere Periode schon deshalb nicht unterscheiden, weil bereits unmittelbar mit dem Aufhören des Wachstums oder mitten in der vollen Reife plötzlich die Vernichtung der individuellen Existenz eintritt, entweder durch Selbstteilung oder durch den Tod. Sämtliche Formveränderungen der organischen Individuen, welche während der Cataplase auftreten, sind ebenso wie alle Formverände- rungen, welche während der Metaplase und Anaplase vor sich gehen, die notwendigen Wirkungen von physiologischen Ernährungsverände- rungen, und als solche auf mechanische, physikalisch-chemische Ur- sachen zurückführbar. Der spezielle Verlauf jener ontogenetischen XVII. VI. Verschiedene Arten der Zeugungskreise. 209 Form Veränderungen wird mit kausaler Notwendigkeit durcli den Ver- lauf der Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung bedingt, welche die paläontologische Entwickelung der Vorfahren des Indivi- duums bestimmte und leitete. VI. Verschiedene Arten der Zeugungskreise. In den vorhergehenden drei Abschnitten dieses Kapitels haben wir die verschiedenen Formen der Zeugung, die verschiedenen Funktionen der Ontogenesis und die verschiedenen Stadien derselben kennen gelernt, und es erübrigt nun noch, einen Überblick über die verschiedenen Zeugungskreise zu gewinnen, welche durch die mannig- faltigsten Kombinationen der verschiedenen Zeugungs- und Ent- wickelungsarten bei den verschiedenen Individualitäten zustande kommen. Als Zeugungskreis (Cyclus generationis) haben wir die genealogische Individualität erster Ordnung bezeichnet, den geschlossenen Kreis oder die volle Summe aller der organischen Formen, welche aus einem einzigen physiologischen Individuum her- vorgehen, von dem Zeitpunkte an, wo dasselbe erzeugt wurde, bis zu dem Zeitpunkte, wo dasselbe selbst wieder die gleiche organische Form entweder direkt oder indirekt (durch Einschaltung verschie- dener Generationen) erzeugt hat. Diese geschlossene Entwickelungs- einheit, eine ringförmige Kette von Formzuständen, deren Ausgangs- punkt und Ende gleich ist, erscheint für uns von großer Bedeutung als die konkrete Grundlage der höheren Entwickelungseinheit, welche wir Art oder Spezies nennen. Der Zeugungskreis ist diejenige individuelle Einheit (das genealogische Individuum erster Ordnung), aus deren Vielheit die höhere Einheit der Art oder Spezies (das genealogische Individuum zweiter Ordnung) zusammengesetzt ist. In dieser Beziehung ist auch der Zeugungskreis von einigen Autoren nicht passend als „Artindividualität" bezeichnet w^orden. Dieser Ausdruck muß der Spezies selbst vorbehalten bleiben, während man den Zeugungskreis, um jenes Verhältnis auszudrücken, das Glied der Art nennen könnte. In der Tat setzt sich die genealogische Einheit der Spezies in ganz ähnhcher Weise aus einer Vielheit von subordi- nierten Zeugungskreisen zusammen, wie die morphologische Einheit der Person aus einer Vielheit von subordinierten Gliedern oder Meta- meren. H a e c k e 1 . Prinz, d. Morphol. 14 210 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. • XVII. Wir haben oben im allgemeinen zwei verschiedene Hanptformen von Zengungskreisen oder Generationszyklen aufgestellt, welche sich durch den Mangel oder die Anwesenheit der geschlechtlichen Diffe- renzierung unterscheiden. Diejenige einfachere Hauptform der Zeu- gungskreise, welche bloß aus Wachstumsvorgängen und einem einzigen ungeschlechtlichen Zeugungsakt, oder aber aus einer Reihe von unge- schlechtlichen Zeugungsakten zusammengesetzt ist. haben wir den Spaltungskreis benannt (Cyclus monogenes), und den Entwicke- lungsvorgang innerhalb desselben Monogenesis oder Entwickelung mit ausschließlich monogener Zeugung. Die entgegengesetzte höhere Hauptform der Zeugungskreise, welche stets von einem geschlecht- lichen Zeugungsakte ausgeht und zu diesem zurückkehrt, haben wir als Eikreis {Cyclus ampliigenes) unterschieden, und den Entwicke- lungsprozeß innerhalb desselben als Amphigenesis oder Entwicke- lung mit geschlechtlicher Zeugung. Indem wir von diesem Haupt- unterschiede in der Entstehung der Zeugungskreise ausgehen, können wir unter jeder der beiden Hauptformen vier untergeordnete Formen von Generationszyklen unterscheiden. Der monogene Zeugungs- kreis zerfällt in die beiden Entwickelungsarten der Schizogenese und Sporo genese, je nachdem er mit einfacher Spaltung (Teilung oder Knospenbildung) oder mit Sporenbildung abschheßt. Unter beiden Genesis-Arten können wir wieder als zwei Unterarten die monoplastide und die polyplastide trennen, je nachdem die reife Speziesform (das zeugungsfähige Bion) eine einfache Plastide (Form- individuum erster Ordnung) oder einen Plastidenkomplex (Formindi- viduum zweiter Ordnung) darstellt. Der amphigene Zeugungs- kreis zerfällt ebenfalls in zwei untergeordnete Entwickelungsarten, die Metagenese (mit Generationswechsel) und die Hypogenese (ohne Generationswechsel). Unter der Metagenese unterscheiden wir die beiden subordinierten Formen des progressiven und des regres- siven Generationswechsels, je nachdem der amphigene Zyklus aus mehr als zwei, oder nur aus zwei Bionten besteht. Unter der Hypo- genese endlich, bei welcher der Eikreis nur durch ein einziges Bion gebildet wird, können wir als zwei untergeordnete Formen die meta- morphe und die epimorphe Hypogenese unterscheiden, erstere mit, letztere ohne postembryonale Metamorphose. Indem wir auf den folgenden Seiten eine systematische Über- sicht und eine allgemeine Charakteristik der verschiedenen Arten der Zeugungskreise zu geben versuchen, erinnern wir ausdrücklich daran. XVII. YII. System der verschiedenen Arten der Zeugungskreise. 211 YII. System der verscliiedeuen Arten der Zeuguiigskreise. Jloiiogenesis. Entwickelung ohne geschlecht- liche Zeugung. Alle Bionten der Spezies entstehen durch unge- schlechtliche Zeugung. Genera- tionszyklus ist ein Spaltungs- kreis (Cyclus monogenes). Ampliigeue.sis. Entwickelung mit geschlechtlicher Zeugung. Entweder ein Teil der Bionten oder alle Bionten der Spezies entstehen durch geschlecht- liche Zeugung. Generations- zyklus ist ein Eikreis (Cyclus amphigenes). Schizogeuesis. Spaltungskreis oderSpaltprodukt (^Cyclus monoge- nes) durch Tei- lung oder Knos- penbildung er- zeugt. Sporogeiiesis. Spaltungskreis oderSpaltprodukt (Cyclus monoge- nes) durch Spo- renbildung er- zeugt. Metageuesis. Eikreis oder Ei- produkt (Cyclus amphigenes) aus zwei oder mehr Bionten zusam- mengesetzt. Generations- wechsel. Hypogenesis. Eikreis oder Ei- produkt (Cyclus amphigenes) aus einem einzigen Bionten beste- hend. Kein Gene ratio ns- wechs el. Reifes, spaltungs- fähiges Bion eine einfache Plastide. Reifes, spaltungs- fähiges Bion eine Piastidenkolonie. Reifes, sporenbil- dendes Bion eine einzige Plastide. Reifes, sporenbil- dendes Bion eine Piastidenkolonie. Eiskreis aus mehr als zwei Bionten zusammen- gesetzt. Eikreis aus zwei Bionten zusam- mengesetzt. Postembiyonale Entwickelung mit echter Metamor- phose. Postembryonale Entwickelung ohne echte Meta- morphose. Scliizogenesis monoplastidis. Die einfachsten monoplastiden Protisten, Moneren: Schizo- phyten (Chromaceen, Bak- terien); Amoeben, Flagella- ten, Diatomeen. Schizogenesis polyplasticlis. Viele polyplastide Protisten, Soziale Moneren (Ketten von Chromaceen und Bakterien). FlageUaten, Diatomeen etc. Sporogenesis monoplastidis. Viele monoplastide Protisten (Rhizopoden, FlageUaten) u. ..einzellige Pflanzen", z. B. Codiolum, Hydrocytium. Sporogenesis polyplastidis. Viele polyplastide Protisten (Rhizopoden und FlageUaten, Myxomyceten) und viele nie- dere Pflanzen (Desmidiaceen und andere Algen). Metagenesis progressiva. Viele Würmer (Platyelminthen etc.), viele Tunicaten(Salpen), die meisten Hydromedusen; viele Cryptogamen (Moose, Farne), Phanerogamen mit Brutknospen. Metagenesis regressiva. Viele Arthropoden (Aphiden, Cocciden, Daphniden). Hypogenesis metamorpha. Amphibien und einige Fische. Die Mehrzahl der Articulaten, Mollusken und Echinoder- men. Hypogenesis epimorpha . Alle allantoiden und die meisten anallantoiden Wirbeltiere. Cephalopoden. Ametabole Insekten. Wenige andere Wirbellose. Die meisten Phanerogamen. Einige Cryp- togamen (Fucaceen etc.). 14* 212 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII. daß dio ontooenetischeii Erscliciniiiiiicn. welche den Inhalt der indi- viduellen Entwickelungsgeschichte bei allen Organismen bilden, nur zu verstehen sind durch die Erkenntnis ihres kausalen Zusammen- hanges mit der parallelen Phylogenie, mit der Entwickelungsgeschichte des gesamten Stammes (Phylon), und speziell aller Vorfahren, von welchen das Individuum in kontinuierlicher Erbfolge abstammt. Die Reihe von Formveränderungen, welche den Zeugungskreis jedes indi- viduellen Organismus konstituieren, ist die kurze und schnelle Rekapitulation der wichtigsten Forraveränderungen, welche die gesamte Reihe seiner Vorfahren während ihrer langsamen palä- ontologischen Entwickelung in langen Zeiträumen durchlaufen hat. Till. Allgemeine Charakteristik der Zeugimgskreise. I. Monogrenesis. Entwickelung ohne Amphigonie. (Ontogenesis der Spaltuiig-sprodukte.) DerZeugungskreis ist ein monogener Generationszyklus. AUeBionten, welche die Spezies repräsentieren, entstehen durch ungeschlechtliche P'ortpflanzung. Die Bionten, welche die Spezies zusammensetzen, entwickeln niemals Geschlechtsorgane und pflanzen sich niemals durch befruchtete Eier fort. Das Spaltungsprodukt oder der Spaltungskreis, die Formen- reihe, welche die Spezies innerhalb ihres ungeschlechthchen Fort- pflanzungszyklus (von der vollständigen Spaltung bis zur vollstän- digen Spaltung oder von der Spore bis zur Spore) durchläuft, wird stets nur durch ein physiologisches Individuum (Bion) repräsentiert. Die Entwickelung ist entweder ausschließliches Wachstum, oder mit Differenzierung verbunden. Je nachdem der Fortpflanzungsprozeß einfache Spaltung (Teilung oder Knospenbilduug) oder Sporenbildung ist, unterscheiden wir Schizogenesis und Sporogenesis. I. 1. Schizogenesis. Entwickelung des Spaltungsproduktes ohne Sporenliildung. Monogene Entwickelung mit Spaltung (Teilung oder Knospenbildung) und mit einfachem oder zusammenge- setztem Wachstum, ohne Sporenbildung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein einziges Bion erster oder höherer Ordnung. XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 213 Der Organismus, welcher entweder einer einzigen oder einem Komplex von mehreren Piastiden entspricht, pflanzt sich ausschließ- lich durch einfache Spaltung (Teilung oder Knospenbildung) fort. Die dadurch erzeugten Teilstücke ergänzen sich durch Wachstum zu der elterlichen Form, aus deren Spaltung sie entstanden sind. Ist die Spaltung stets vollständig, so sind die Bionten der Spezies Mono- plastiden: ist sie abwechselnd unvollständig, so entstehen Polyplastiden. 1 A. Schizogenesis monoplastidis. Monogene Entwickelung einer einfachen Plastide, mit einfachem Wachstum. Fortpflanzung durch vollständige Spaltung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein Bion erster Ordnung (eine einfache Plastide). Die monoplastide Schizogenese ist die einfachste und ursprüng- lichste von allen verschiedenen Arten der Fortpflanzung und Ent- wickelung. Sie findet sich bloß bei den jetzt noch lebenden Or- ganismen niederster Stufe vor, bei den Moneren {Schizopliijten: Chromaceen und Bakterien), bei vielen einzeUigen Rhizopoden und Flagellaten, den einzelligen Diatomeen und einigen großen Siphoneen (Caiderpa). Die Fortpflanzung ist hier möglichst einförmig, indem sie stets beschränkt bleibt auf die einfache Selbstteilung oder Knospen- bildung der Individuen. Ebenso beschränkt sich die Entwickelung der durch Teilung entstandenen neuen Individuen auf einfaches Wachs- tum bis zu dem Maße, welches die Spezies vor der Teilung als er- wachsenes Indi^^duum besaß. Diese einfachste Art der Zeugung und Entwickelung ist für uns insofern von besonderem Interesse, als sie höchst wahrscheinlich die ursprüngliche Fortpflanzungsweise der archigonen Moneren darstellt, aus denen sich zuerst alle organischen Phylen entwickelt haben. Eigentlich kann hier von Entwickelung kaum die Rede sein, da die einzige Veränderung des werdenden Organisiuus eine Größenveränderung ist, die Form der Spezies aber in allen Stadien dieselbe bleibt. Mehr als alle anderen Organismen schließen sich diese einfachsten Moneren den anorganischen Kristallen an, so auch darin, daß ihre Entwickelung bloß Wachstum ist. Das physiologische Individuum (Bmi) ist hier jederzeit nur ein einfachstes morphologisches Individuum erster Ordnung, eine kernlose Cytode. IB. Schizogenesis polyplastidis. Monogene Entwickelung einer Piastidenkolonie, mit zusammengesetztem Wachstum und unvollständiger Spal- 214 Entwickclungsgeschichte der pliysiologischen Individuen. XVII. tung. Fortpflanzung durch vollständige Spaltung. Der mo- nogene Zeugungskreis bildet ein Bion zweiter oder höherer Ordnung. Diese Form der Ontogenesis schließt sicli zunächst an die vorige an und unterscheidet sich nur dadurch, daß die Teilung der ein- fachen Bionten nicht stets vollständig, sondern auch unvollständig ist, so daß dieselben zu einer Piastidenkolonie (Coenohium) ver- einigt bleiben. Der einfachste derartige Fall findet sich bei den so- zialen Moneren, bei jenen Schizophyten, welche dm'ch Gliederung Ketten von vollkommen homogenen und strukturlosen Cytoden her- stellen. Durch diese Artikulation entstehen hier Individuen zweiter Ordnung, Piastidenkolonien, welche sich dadurch fortpflanzen, daß sich die einzelnen Glieder ablösen und selbständig durch Artikulation zu neuen Ketten entwickeln. (Oscillatorien, Nostocaceen, Ketten- bakterien). Die Entwickelung besteht also auch hier wesentlich, wie bei der Schizogenese, in dem Wachstum der homogenen Organismen und in der Kettenbildung durch unvollständige Teilung. Indessen kommt hier zu der einfachen Größenveränderung doch schon die Formveränderung der Spezies, welche durch die Kettenbildung der einfachen Individuen selbst bewirkt wird. An die einfachste Form der Gemeindebildung bei den Moneren sclüießt sich auch die Familien- bildung derjenigen Diatomeen an (Bacillaria, Fragillaria etc.), bei denen ebenfalls die durch unvollständige Teilung entstandenen In- dividuen vereinigt bleiben. Diese Coenobien oder Piastidengemeinden pflanzen sich einfach dadurch fort, daß die einzelnen Zellenindividuen sich ablösen und durch abermalige unvollständige Teilung gleich wieder zu neuen Gemeinden entwickeln. I, 2. Spor ogenesis. Entwickplung des Spaltungsproduktes mit Spürenbildung. Monogene Entwickelung mit Sporenbildung, mit ein- fachem oder zusammengesetztem Wachstum und mit Diffe- renzierung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein ein- ziges Bion erster oder höherer Ordnung. Der Organismus, welcher entweder einer einzigen oder einem Komplex von mehreren Piastiden entspricht, erzeugt Keimkörner (Sporen), welche sich von ihm ablösen und sich durch Wachstum und Differenzierung zu der elterlichen Form entwickeln. Die Spore ist meistens eine Monospore (eine einfache Plastide), seltener eine Polyspore (ein Piastidenkomplex), XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 215 2A. Sporogenesis monoplastidis. Monogene Entwickelung einer einfachen Plastide, mit einfachem Wachstum und Differenzierung. Fortpflanzung durch Sporenbildung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein Bion erster Ordnung (eine einfache Plastide). Die monoplastide Sporogenese scheint unter den einfachsten Organismenarten erster morphologischer Ordnung weit verbreitet zu sein. Sie besteht darin, daß Spezies, welche nicht den Rang der einfachen Plastide überschreiten, in ihrem Inneren Keimkörner (Sporen) erzeugen, welche aus der elterlichen Plastide heraustreten und sich außerhalb derselben zu ihresgleichen entwickeln. Da in diesem Falle die Keimkörner oder Sporen stets nicht allein an Größe, sondern auch an Form von der elterlichen Plastide sich unterscheiden, so besteht hier die Entwickelung des Bionten nicht allein mehr in einer Veränderung der Größe, sondern auch der Form. Mithin beschränkt sich die Ontogenese nicht auf ein einfaches Wachstum, sondern ist mit einer Formveränderung verbunden, welche bereits den Namen der Differenzierung verdient. Wir finden diese einfache Sporogenese unter verschiedenen Stämmen des Protistenreiches, besonders bei den Rhizopoden und Flagellaten. bei „einzelligen Algen" (z. B. Codiolum, Hijdrocytium) u. a. 2B. Sporogenesis polyplastidis. Monogene Entwickelung einer Piastidenkolonie, mit zusammengesetztem Wachstum, Differenzierung und un- vollständiger Spaltung. Fortpflanzung durch Sporenbildung. Der monogene Zeugungskreis bildet ein Bion zweiter oder höherer Ordnung. Die polyplastide Sporogenese ist unter den einfacheren Organismen des Protisten- und Pflanzenreiches weit verbreitet. Sie besteht darin, daß Spezies, welche den Rang einer einfachen Plastide überschreiten und durch unvollständige Teilung Piastidenkolonien oder selbst differenzierte Piastidenaggregate (Formindividuen zweiter und höherer Ordnung) darstellen, in ihrem Inneren Keimkörper (Sporen) erzeugen, welche sich außerhalb des elterlichen Piastidenstockes durch fortge- setzte unvollständige Teilung und Differenzierung wieder zu gleichen Piastidenstöcken entwickeln. Dies ist der Fall bei vielen mehrzelligen oder stockbildenden Protisten, bei den sozialen Rhizopoden und Fla- gellaten, Myxomyceten, Polycyttarien u. a. Unter den niederen 216 Entwickelungsgescliichte der physiologischen Individuen. XVII. Pflanzen ist dieser Fortpflanznngsmodus ebenfalls sehr verbreitet, namentlich J3ei den niederen Algen (Desmidiaceen, Chlorophyceen etc.) Bei den letzteren werden znni Teil selbst von einer Piastidenspezies verschiedene Sporenarten gebildet. Die Entwickelung der aus der Spore austretenden Plastide besteht hier in Wachstum, unvollständiger Teilung und Differenzierung der Teilprodukte. Die Differenzierung erreicht jedoch auch bei dieser vollkommensten Form der Mono- genesis niemals dieselbe Höhe, wie bei der Amphigenesis. II. A m p li i g- e n e s i s. Entwickelung mit Amphigonie. (Ontogenesis der Eiiiroiliikte.l Der Zeugungskreis ist ein amphigener Generations- zyklus. Entweder ein Teil der Bionten, oder alle Bionten, welche die Spezies repräsentieren, entstehen durch ge- schlechtliche Fortpflanzung. Alle Bionten oder ein Teil der Bionten, welche die Spezies zu- sammensetzen, entwickeln weibhche und männliche Geschlechtsorgane und pflanzen sich durch befruchtete Eier fort. Das Eiprodukt oder der Eikreis, die Formenreihe, welche die Spezies innerhalb ihres ge- schlechtlichen Fortpflanzungszyklus (vom Ei bis wieder zum Ei) durchläuft, wird entw^eder durch ein einziges oder durch mehrere physiologische Individuen (Bionten) repräsentiert. Die Entwickelung ist niemals bloß einfaches Wachstum, sondern stets mit Differenzierung und häufig mit Metamorphose verbunden. Je nachdem das Eiprodukt von einem einzigen oder von mehreren Bionten repräsentiert wird, unterscheiden wir die Entwickelung der Eiprodukte in Hypogenesis und Metagenesis. Beide können mit und ohne Metamorphose verlaufen. II, 1. Metagenesis. Entwickelung- des Eiproduktes mit Generationswechsel. Amphigene Entwickelung mit m onogener Entwickelung von Bionten innerhalb jedes Zeugungskreises abw^echselnd. Der amphigene Zeugungskreis ist aus zwei oder mehreren Bionten zusammengesetzt, von denen mindestens eines stets geschlechtlich, das andere nicht geschlechtlich differen- ziert ist. < Der echte Generationswechsel oder die Metagenesis besteht in allen Fällen aus cinei' Verbindung von geschlechtlicher und un- XVll. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 217 geschlechtlicher Zeugung, in der Weise, daß die periodisch wieder- kehrende Formenkette des regelmäßigen Zeugungskreises mindestens aus zwei Bionten besteht, einem ungeschlechtlich und einem geschlechthch erzeugten physiologischen Individuum. Bei allen Orga- nismen mit echtem Generationsw^echsel entspringt aus dem befruchteten Ei ein Individuum, welches zunächst bloß auf ungeschlechtlichem Wege, durch Teilimg. Knospung oder Keimbildung sich fortpflanzt, und die so erzeugten Individuen' w^erden entweder alle oder teil- weise wieder geschleclitsreif, oder sie erzeugen selbst wieder auf ungeschlechtlichem Wege eine oder mehrere folgende Generationen, deren letzte endhch wieder Geschlechtsprodukte erzeugt. Hiermit ist der regelmäßige Zyklus von Generationen geschlossen. Das geschlecht- lich erzeugte Individuum kann zwar in manchen Fällen auch selbst wieder geschlechtsreif werden, aber doch erst, nachdem es ein oder mehrere neue Bionten auf ungeschlechtlichem Wege erzeugt hat. Die unmittelbar aus dem befruchteten Ei entspringende Generationsform, welche auf irgend einem ungeschlechtlichen Wege die nächste Ge- neration erzeugt, wird allgemein als Amme (Altrix) bezeichnet. Die Amme als Zwischenform, welche bei dem Generationswechsel in den kontinuierlichen Entwäckelungslauf des Eiproduktes eingeschaltet ist, unterscheidet sich von der Larve, w^elche als Zwischenform bei der Metamorphose sow^ohl in die Hypogenese als in die Metagenese eingeschaltet w^erden kann, dadurch, daß die Amme wirklich selbst- ständige neue Keime von Bionten, die Larve dagegen nur proviso- rische Organe entwickelt. Die geschlechtslose Amme geht beim Ge- nerationswechsel zugrunde, ohne in das physiologische Individuum, welches geschlechtsreif wird, überzugehen, während die geschlechts- lose Larve bei der Metamorphose unmittelbar in die letztere übergeht. Um die äußerst verwickelten und mannigfaltigen Vorgänge des Generationswechsels in ihrem eigentlichen Wesen richtig zu erfassen, ist es notwendig, die oben aufgestellte Charakteristik desselben stets im Sinne zu behalten. Der echte Generationswechsel oder die Meta- genesis. wie wir sie hier scharf bestimmen, ist w^esentlich dadurch charakterisiert und von allen anderen Entwickelungsarten unterschieden, daß der Zeugungskreis nicht aus einem einzigen physiologischen In- dividuum oder Bion besteht, sondern aus zwei oder mehreren Bionten zusammengesetzt wird. Sowohl bei allen Formen der Monogenesis wie bei der Hypogenesis ist es ein und dasselbe physiologische In- dividuum, an w^elchem der ganze Generationszyklus von Anfang bis 218 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII. ZU Ende abläuft. Bei der Metagenesis dagegen finden wir stets min- destens zwei, gewöhnlich aber mehrere physiologische Individuen, zu einem einzigen Zeiignngskreis verbnndcn. Dieser metagenetische Zeiigungskreis hat das Eigentümliche, daß er aus einem monogenen und einem amphigenen zusammengesetzt ist. Der eine Teil der Bionten wird ungeschlechtlich, der andere geschlechtlich erzeugt. Durch diese scharfe Charakteristik der Metagenese trennen wir dieselbe bestimmt von ähnlichen, aus ungeschlechtlichen und geschlecht- lichen Zeugungsakten zusammengesetzten Entwickelungsprozessen, auf welche man neuerdings ebenfalls den Begriff des Generations- wechsels ausgedehnt hat, welche sich aber wesentlich dadurch unter- scheiden, daß der ganze Zeugungskreis, vom Ei bis wieder zum Ei, an einem und demselben physiologischen Individuum abläuft. Dies ist z. B. bei dem sogenannten Generationswechsel der Phanerogamen der Fall, welcher nach unserer Ansicht als Hupogenesis aufgefaßt werden muß. Wir werden dies im nächsten Abschnitte zu begründen suchen, wo wir allgemein die dem Generationswechsel ähnlichen Entwickelungsvorgänge, welche sich aus geschlechtlichen und unge- schlechtlichen Zeugungsakten zusammensetzen, aber an einem ein- zigen Bion ablaufen, als Generationsfolge oder Strophogenesis von der echten Metagenesis unterscheiden werden, mit welcher wir uns hier allein beschäftigen. Obgleich noch nicht ein halbes Jahrhundert verflossen ist, seit- dem der Dichter Adalbert Cham is so 1819 den Generationswechsel der Salpen entdeckte, und noch nicht ein Vierteljahrhundert, seitdem J. Steenstrup 1842 diese Entdeckung mit den inzwischen aufge- fundenen ähnlichen Fortpflanzungsvorgängen bei den Hydromedusen, Trematoden etc. verglich und sie unter dem Namen des Generations- wechsels zusammenfaßte, ist dennoch seit dieser kurzen Zeit die Tatsache der Metagenesis als eine weit im Tier- und Pflanzenreiche verbreitete festgestellt worden. Doch hat man neuerdings sein Ge- biet allzusehr ausgedehnt, indem man auch alle verschiedenen Formen der eben erwähnten Strophogenesis damit vereinigte. Die echte Metagenesis. bei welcher der amphigene Zeugungs- kreis aus zwei oder mehreren, teils geschlechtlich, teils ungeschlecht- lich erzeugten Bionten zusammengesetzt ist, findet sich vor: 1. im Tierreiche: unter den Arthropoden bei den Blattläusen, Cecidomyien, Rotatorien, Phyllopoden, Daphniden etc.; unter den Anneliden bei Piotiila, Syllis, Sabella, Nais etc.; ferner bei Nematoden (Ascaris XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 219 nigrovenosa), Platyelminthen (Trematoden, Cestoden); Tunicaten (Salpa); unter den Coelenteraten vorzüglich bei den Hydromedusen in der mannigfaltigsten Form ; bei manchen Schwämmen, bei denen die ungeschlechthche Biontenbildnng durch Gemmnlae mit der geschlecht- lichen durch befruchtete Eier (fälschlich sogenannte „Schwärm- sporen") alterniert: 2. im Pflanzenreiche bei vielen Kiyptogamen, insbesondere sehr allgemein bei den Gefäßkryptogamen (Farnen, Lycopodiaceen, Equisetaceen) und Moosen. Dagegen fehlt die echte Metagenesis bei den meisten Phanerogamen (mit Ausnahme derjenigen, welche durch Brutknospen [Zwiebeln und Bulbillen] neue Bionten auf monogenem Wege erzeugen). Ebenso fehlt sie allen Wirbeltieren und allen Mollusken sowie der großen Mehrzahl der Arthropoden. ^) Nicht allein eine sehr ausgedehnte Verbreitung, sondern auch eine unerwartete Mannigfaltigkeit in der speziellen Ausführung des metagenetischen Entwickelungsmodus haben uns die fleißigen Unter- suchungen der letzten Dezennien eröffnet; so zwar, daß in dieser Beziehung die Entwickelung mit Generationswechsel unendlich viel mannigfaltiger erscheint, als alle anderen Entwickelungsformen zu- sammengenommen. Es ist hier nicht der Ort, auf diese zahlreichen und in vieler Hinsicht verschiedenen Modifikationen der Metagenese näher einzugehen, und es ist auch die Masse der bis jetzt bekannten verschiedenartigen Tatsachen noch keineswegs in der Weise geordnet, daß ein zusammenhängender Überblick möglich wäre. Wir wollen daher hier nur einige derjenigen Seiten des Generationswechsels be- trachten, welche sich auf die Individualitätsfrage beziehen, und nur diejenigen Modifikationen hervorheben, welche uns auf einer wesent- lich verschiedenen kausalen Entstehung zu beruhen scheinen, und die deshalb von ganz verschiedenem morphologischen Werte sind. Ein sehr wichtiges, bisher nicht hervorgehobenes Moment, welches sich auf die Entstehung, auf die paläontologische Entwickelung des Generationswechsels bezieht, läßt nach unserer Auffassung alle verschiedenen Formen der Metagenese in zwei entgegengesetzte Reihen vereinigen, welche den entgegengesetzten Formen der Sporogonie entsprechen und welche wir demgemäß als progressive und regressive Reihe unterscheiden können. Der fortschreitende Generations- wechsel (jMetagenesis progressiva) findet sich bei denjenigen 1) (1906). Neuerdings ist echte Metagenesis auch bei vielen einzelligen Protisten nachgewiesen, bei Sporozoen, Rhizopoden, Infusorien und Algarien. 220 Eiitvvickelungsgeschichte der jDhysiologischen Individuen. Xlll. Organismen, welche oewissermaßen nocli auf dem Übergangsstadium von der Monogonie zur Amphigonie sich befinden, deren frühere Stammeltern also niemals ausschließlich auf geschlechtlichem Wege sich fortpflanzten. Dies ist wahrscheinlich bei der großen Mehrzahl der bekannten Formen von Metagenesis der Fall. z. B. bei den Tre- matoden. Hydromedusen etc. Hier haben immer, seitdem die ge- schlechtliche Zeugung aus der ungeschlechtlichen sich hervorbildete, ungeschlechtliche und geschlechtliche Generationen neben einander bestanden und miteinander abgewechselt. Niemals ist die Spezies in der Lage gewesen, sich ausschließlich durch Amphigonie fortzupflanzen. Das Gegenteil zeigt uns der rückschreitende Generations- wechsel (Metagenesis regressiva). w^elchen wir als einen Rück- schlag der Amphigonie in die Monogonie auffassen. Diese merkwürdige Entwickelungsweise glauben wir bei denjenigen höheren Organismen mit Generationsw^echsel zu finden, deren nächste Ver- Avandte sich allgemein auf rein hypogenem Wege, durch ausschließ- liche Amphigonie fortpflanzen, und bei welchen außerdem die unge- schlechtlich erzeugten Keime (Monosporen, „ Sommereier") in besonderen Keimstöcken oder Sporocarpien entstehen, welche offenbar rück- gebildete Eierstöcke sind. Dies ist der Fall bei den meisten Insekten mit Generationswechsel (Aphiden, Cocciden), wahrscheinlich auch bei den Rotatorien. Daphniden, Phyllopoden etc. Die unver- kennbare Homologie, welche die Sporen („Sommereier") dieser Tiere mit den echten Eiern („Wintereiern") der geschlechtlich entwickelten Generation, die keimbildenden Sporocarpien (Keimstöcke) mit den echten Orarien (Eierstöcken) der letzteren zeigen, scheint uns diese Formen des Generationswechsels, welche also in einem regelmäßigen Wechsel von Amphigonie und Parthenogonie bestehen, nicht anders erklären zu lassen, als durch die Annahme, daß die früheren Stammeltern der betreffenden Organismen ausschließhch auf ge- schlechtlichem Wege sich fortpflanzten und erst später in den unge- schlechtlichen Propagationsmodus noch früherer Zeit zurückfielen, aus w'elchem sich die sexuelle Zeugung erst differenziert hatte. Offenbar ist die biologische Bedeutung dieser beiden IMetagenesisarten eine gänzlich entgegengesetzte, und wie wahrscheinlich ihre paläontologische Entstehung grundverschieden war. so läßt sich vermuten, daß auch ihre Zukunft es sein wird. Die progressive Metagenese der Hydromedusen, Trematoden etc. wird sich allmählich zu reiner Hy- pogenese erheben können, wie es bei nahe verwandten Formen XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 221 (z. B. Pelagia, Polystomeen) bereits der Fall ist. Die regressive Monogenese der Insekten, Crustaceen etc. wird dagegen nmgekehrt zu reiner Monogenese znrücksinken können, wie es bei den Psy- chiden tatsächlich stattgefunden hat. ^) II, 2. Hypogenesis. Entwickelung- des Eiproduktes ohne Generationswechsel. Amphigene Entwickelung ausschließlich die Zeugungs- kreise bildend. Der amphigene Zeugungskreis besteht stets nur aus einem einzigen Bion, welches geschlechtlich erzeugt ist und selbst geschlechtsreif wird. Das Eiprodukt oder der Eikreis wird durch ein einziges physio- logisches Individuum (Bion) repräsentiert. Aus jedem befruchteten Ei entsteht eine einfache Formenkette, welche kontinuierlich bis zur Geschlechtsreife durchgeführt wird. Jeder individuelle Formzustand ist ein Glied dieser Kette mid das unmittelbare Resultat einer am vorhergegangenen Zustande oder Gliede stattgefundenen Differenzierung. Es ist also niemals die geschlechtliche mit der ungeschlechtlichen Fortpflanzung innerhalb des Formenkreises der Spezies kombiniert. Die einfache geschlechtliche Fortpflanzung oder die ausschließ- liche Entwickelung der Bionten aus befruchteten Eiern, w^elche wir hier mit dem Namen der Hypogenese belegen, findet sich vorzugs- weise bei den höheren und vollkommeneren Klassen des Tier- und Pflanzenreiches, und bei den höchsten Abteilungen der niederen Klassen. Insbesondere ist sie die ausschließhche Entwickelungsform bei allen noch jetzt lebenden Gliedern des Vertebratenstammes, bei der großen Mehrzahl aller Arthropoden, bei allen Mollusken und Echinodermen, und bei vielen höheren Würmern, sowie bei der großen Mehrzahl der Phanerogamen. Dagegen kommt sie bei den Hydro- medusen und Kryptogamen nur selten, bei den Protisten vielleicht niemals vor. In allen Fällen durchläuft bei dieser einfach kontinuier- lichen Entwickelung das physiologische Individuum, welches aus dem befruchteten Eie entspringt, eine einzige ununterbrochene Formen- reihe, w^elche mit der Produktion von Geschlechtsorganen ihr Ziel erreicht. Jeder Zustand der Spezies ist das unmittelbare Differen- zierungsprodukt des nächst vorhergegangenen Zustandes. Niemals 1) (1906). Neuerdings wird die Form des Generationswechsels, die wir hier (1866) regressive Metagenesis genannt haben, meistens ganz davon getrennt und als Heterogonie bezeichnet. 222 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII. wird diese zusaniincnhängende Kette von epigenetisch auseinander hervoi-oeh enden Zuständen durch einen ungeschlechtlichen Zeugungs- akt unterbrochen, welcher ein zweites selbständiges Bion produziert. Man hat freilich auch viele Wachstums- und Differenzierungsakte, welche im Bion während der hypogenetischen Entwickelung- vor sich gehen, als ungeschlechtliche Zeugungsakte (Knospung, Teilung etc.) bezeichnet, und es ist dies vollkommen richtig. Allein alle diese ungeschlechtliclien Zeugungsakte produzieren nicht neue physio- logische, sondern nur morphologische Individuen: und diese letzteren sind niemals von dem Range, welchen die Spezies in ihrer geschlechtsreifen vollendeten Form erreicht, sondern stets morpho- logische Individuen niederen Ranges. So ist z. B. bei der Epigenese der Wirbeltiere schon die Furchung des Eies ein Akt der Teilung von Piastiden, die Entstehung der Urwirbel ein Akt der terminalen Knospenbildung von Metameren, das Hervorsprossen der Extremitäten ein Akt der lateralen Knospung von Organen, das Hervorsprossen der Zehen ein Akt der Diradiation, und das Wachstum sowie das Entstehen jedes neuen Organes ist mit Teilungsakten von Piastiden verknüpft. Allein alle diese ungeschlechtlichen Zeugungakte führen zusammen nur zur Entwickelung eines einzigen Bion, welches als morphologisches Individuum fünfter Ordnung die reife und voll- endete Speziesform repräsentiert, und diese Person pflanzt sich nur auf geschlechtlichem Wege fort. Das Eiprodukt ist demnach in allen Fällen echter Hypogenesis ein einziges physiologisches Individuum. Man pflegt gewöhnlich die einfache Entwickelung aus befruchteten Eiern, welche wir Hypogenesis nennen, einzuteilen in eine Ent- wickelung mit und ohne Verwandlung, und wir werden, dieser Ein- teilung folgend, Hypogenesis metamorpha, mit Metamorphose, und Hypogenesis cpimoipha, ohne Metamorphose, unterscheiden. Wir halten dabei den Begriff der Metamorp}iose , wie wir ihn oben definiert haben, fest, als die Entwickelung außerhalb der Eihüllen mit Pro- duktion provisorischer Organe, welche durch den Verwandlungsprozeß verloren gehen. II, 2 A. Hypogenesis metamoiplia. Amphigene Entwickelung ohne Generationswechsel, mit postembryonaler Metamorphose, Das physiologische Individuum, welches aus dem befruchteten Ei hervorgeht, entwickelt sich außerhalb der Eihüllen zur Geschlechts- reife, nachdem es provisorische Teile abgeworfen hat. XVII. VIII. Allgemeine Charakteristik der Zeugungskreise. 223 Der wesentliche Charakter der postembryonalen Verwanclluni>. welche man gewöhnlich schlechtweg- als Metamorphose bezeichnet, liegt, wie wir oben zeigten, darin, daß das Bion nach dem Verlassen der EihüUen provisorische Organe besitzt oder erhält, welche es verliert, ehe es sich znr Geschlechtsreife entwickelt. So lange das den Ei- hüUen entschlüpfte Individuum solche provisorische Organe besitzt, wird dasselbe als Larve {Larva, Xymplia) bezeichnet. Der Verlust dieser Organe ist der eigentliche Akt der Verwandlung, durch welchen die Larve entweder zum jungen Bion (./««eins) oder, wenn dabei die Geschlechtsorgane sich entwickeln, zum reifen und vollendeten Bion (Ädtdtum) wird. Das Verhältnis der Larven zu den jungen und reifen Bionten ist bei den verschiedenen Organismen außerordentlich verschieden, je nach der Größe, Ausdehnung und Form der provi- sorischen Organe. Es ließe sich hiernach eine Menge von verschiedenen Formen bei der Metamorphose ebenso wie beim Generationswechsel unterscheiden. Indessen ist die Masse der in dieser Beziehung be- kannten Tatsachen ebenso ungenügend geordnet, als umfangreich, so daß es vorläufig noch nicht möglich ist, in übersichtlicher Zusammen- stellung das Verhältnis der einzelnen Metamorphosenarten zuein- ander zu erörtern. Eine zukünftige kritische und denkende Vergleichung derselben wird hier ebenso wie beim Generationswechsel eine sehr reiche Fülle leichterer und tieferer Modifikationen zu unterscheiden haben. Für uns genügt hier die Anführung einiger weniger Beispiele. Als den extremsten Grad der Metamorphose müßten wir vor allen die Ontogenese der Echinodermen bezeichnen: ferner diejenige der Nemer- tinen und Museiden. Bei letzteren geht sie so weit, daß fast die ganze embryonale Entwickelung des physiologischen Individuums wieder von vorn anfängt, und daß nicht nur einzelne Organn. sondern ganze Organsysteme als provisorische Formen aufgefaßt werden müssen. So sehr nun auch diese extremste Form der Umbildung bei den Fliegen von der Metamorphose sich zu entfernen scheint, so ist sie dennoch in der Tat durch eine lange und allmähliche Kette von Ubergangsformen. mit dem geringeren und zuletzt dem ganz ge- ringen Grade der Metamorphose verbunden, und zwar von Über- gangsformen, welche alle in derselben Insektenklasse vorkommen. Während noch bei den Schmetterlingen, den Käfern und den meisten anderen Insekten mit sogenannter vollkommener Verwandlung ge- wöhnlich, drei scharf getrennte Abschnitte der postembryonalen Um- bildung sich unterscheiden lassen (Larve, Puppe und Image), finden 224 Methodik der Morphologie der Organismen. XVII. wir (lagegeil l)ei den Insekten mit sogenannter unvollkommener oder halber Verwandlung den Prozeß der Metamorphose auf verschiedene Häutungen und auf die Entwickelung der Flügel etc. beschränkt. Die Formunterschiede der verschiedenen Häutungszustände sind bald so bedeutend, daß die Häutung noch als unvollkommene Metamorphose bezeichnet werden kann, bald so gering, daß sie unmittelbar in die epimorphe Hypogenese übergeht. Auch bei den übrigen Articulaten und überhaupt bei der großen Mehrzahl aller Wirbellosen sehen wir die Hypogenese mit Metamorphose verbunden, so bei den meisten Crustaceen, Würmern. Mollusken. Echinodermen. Coelenteraten ; sehr häufig treten hier zugleich sehr verwickelte Formfolgen dadurch auf, daß sich die Metamorphose mit der Metagenese verbindet. Unter den Wirbeltieren ist die postembryonale Metamorphose auf den Ani- phioxus, die Cyclostomen und Amphibien beschränkt. II. 2 B. Hypogenesis epimorpha. Ampliigene Entwickelung ohne Generationswechsel und ohne postembryonale Metamorphose. Das physiologische Individuum, welches aus dem befruchteten Ei hervorgeht, entwickelt sich außerhalb der Eihüllen zur Geschlechts- reife, ohne provisorische Teile abzuwerfen. Die epimorphe Hypogenese, die postembryonale Entwickelung ohne Verwandlung', ist diejenige Entwickelungsform, welche vorzugs- weise für die Ontogenie der größten und höchst entwickelten Or- ganismen, sowohl im Pflanzenreich als im Tierreich, geeignet erscheint, ^^elleicht schon deshalb, weil hier alle provisorischen Formzustände innerhalb der Eihüllen durchlaufen und alle provisorischen Organe während des embryonalen Lebens rückgebildet werden und verloren gehen. Der Embryo durchbricht hier also die Eihüllen schon in der ausgebildeten wesentlichen Form des reifen Tieres und alle postem- bryonalen Veränderungen beschränken sich auf die Entwickelung der Geschlechtsorgane und auf das bloße Wachstum: dieses vermag allerdings dadurch, daß es in verschiedenen Körperteilen verschieden rasch fortsclireitet und verschieden lange dauert, immerhin ziemlich beträchtliche Proportionsunterschiede in der Größe und dadurch auch in der Form des vollendeten und des werdenden Individuums hervor- zurufen. Wir finden diese Hypogenese ohne Metamorphose bei den allermeisten Wirbeltieren (mit Ausnahme der Amphibien, Cyclostomen und Leptocardier), also bei allen Säugern, Vögeln, Reptilien und echten XVII. VIII. Allgemeine Cliarakteristili der Zeugiuigskreise. 225 Fischen. Unter den Mollusken besitzen sie fast nur die Ceplialopoden, welche sich auch in anderen Entwickelungsverhältnissen wesentlich von den übrigen Mollusken unterscheiden. Unter den Articulaten ist die epiniorphe Hypogenese im ganzen selten, ebenso unter allen übrigen Wirbellosen. Obgleich man diesen Entwickelungsmodus gewöhnlich für einen sehr einfachen zu halten pflegt, ist er doch, entsprechend schon der hohen Organisationsstufe, welche die betreffenden Tiere erreichen, umgekehrt für einen der kompliziertesten zu erachten, und vom phylogenetischen Standpunkte aus für eine Art der Ontogenese, welche erst durch lange dauernde „Abkürzung der Entwickelung" entstanden ist. Im Pflanzenreiche finden wir die epiniorphe Hypogenese ebenso wie im Tierreiche als die fast ausschließliche Entwickelungsform aller höheren und größeren Organismen wieder (mit Ausnahme der höheren Kryptogamen). Wir finden dieselbe vor bei den höheren Algen (Fu- caceen), ferner fast allgemein bei den Phanerogamen ; nur diejenigen ausgenommen, welche durch frei sich ablösende Brutknospen (Bulbi und Bulbilli) auf monogenem Wege neue Bionten erzeugen (echte Metagenesis). Warum wir den Zeugungskreis der Phanerogamen nicht als echte Metagenesis anerkennen können, werden wir sogleich bei Betrachtung der Strophogenese näher begründen. Die ganze Formenfolge vom Ei bis zum Ei bildet hier eine einzige geschlossene Entwickelungskette und erscheint als ununterbrochene Differenzierungs- reihe von sukzessiven Formzuständen eines einzigen Bion, ganz wie bei den höheren Tieren. Es könnte demnach nur die Frage entstehen, ob wir die Ontogenese der Phanerogamen als mdamorphe oder als cpimorphe auffassen sollen, d. h. ob mit ihrer postembryonalen Entwickelung eine Metamorphose verbunden ist oder nicht. Daß die sogenannte „Metamorphose der Pflanzen", und der Phanerogamen insbesondere, wesentlich eine Differenzierungserscheinung ist, und keine Verwandlung in dem Sinne, in welchem der Begriff der Me- tamorphose von den Zoologen fast allgemein und täglich gebraucht wird, haben wir bereits oben gezeigt. Es könnte sich also nur fragen, ob sich außerdem noch bei den hypogenen Pflanzen eine echte Meta- morphose in dem vorher festgestellten Sinne findet, d. h. eine postem- bryonale Entwickelung mit Verlust provisorischer Teile. Als solche „provisorische Teile" könnte man bei den Phanerogamen die Coty- ledonen oder Keimblätter auffassen : und wenn man diese Auffassung gelten läßt, so würde die H}'pogenesis der Phanerogamen nicht als Haeckel, Prinz, d. Morphol. lo 226 Entwickolungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVII. e]mnor2)]ie, sondern als metamorphe Entwickelung zu betrachten sein, und der Verlust der Keimblätter als Akt der Verwandlung. Die Keimpflanze, d. li. die dem Samen entkeimte, aus den Eihüllen her- vorgebrochene junge Pflanze, wäre dann als „Larve" zu betrachten, so lange sie noch die Cotyledonen (,.Larvenorgane") besitzt. Man pflegt den Entwickelungsmodus der epimorphen Hypogeuese, wie er den meisten höheren Tieren und Pflanzen zukommt, gewöhn- lich als einen ..sehr einfachen" zu bezeichnen, gegenüber der meta- morphen Hypogeuese und der Metagenese. Indessen übersieht man dabei, daß die Entwickelungsvorgänge, welche hier innerhalb des Eies verborgen verlaufen, viel komplizierter und aus größeren Reihen differenter Zeugungsakte zusammengesetzt sind, als bei denjenigen an- scheinend äußerlich mehr zusammengesetzten Entwickelungsreihen, welche beim Generationswechsel etc. auftreten. Wahrscheinlich sind auch die scheinbar einfachsten Formen der epimorphen Hjqiogenese durch paläontologische „Abkürzung der Entwickelung" sekundär aus viel verwickeiteren Generationsreihen von metagenetischer Form her- vorgegangen, in ähnhcher Weise, wie es die sogleich zu besprechende Strophogenese ahnen läßt. IX. Metagenesis und Stropliogeiiesis. (Generationswechsel und Generationsfolge.) Die Charakteristik des echten Generationswechsels oder der Meta- genesis, welche wir oben festzustellen versuchten, hob als das wesent- lichste Moment dieses Entwickelungsmodus die Zusammensetzung des Zeugungskreises aus zwei oder mehreren sukzessiven Bionten hervor, welche teils auf geschlechthchem, teils auf ungeschlechtlichem Wege entstehen. Es wird also hier die Spezies durch zwei oder mehr ver- schiedene, teils sexuelle, teils esexuelle Bionten oder physiologische Individuen vertreten, von denen die ersteren die unmittelbaren Er- zeugnisse der letzteren sind. Wie schon dort hervorgehoben wurde, hat man neuerdings den Begriff des Generationswechsels viel weiter ausgedehnt, indem man auch ähnliche Entwickelungsreihen von höheren Organismen und ins- besondere von den Phanerogamen hereinzog. Allerdings ist der Zeugungs- kreis, welchen die Stöcke der Phanerogamen durchlaufen, in mancher Hinsicht der echten Metagenesis sehr ähnlich, aber dennoch unserer Ansicht nach in anderer Beziehung wesentUch verschieden, und gerade XVII. IX. Metagenesis iind Strophogenesis. 227 derjenige Charakter, den wir oben als den entscheidenden hingestellt haben, fehlt denselben. Bei allen Phanerogamenstöcken entspringt aus der geschlechtlichen Zeugung ein Sproß (Blastus), also ein Form- Individuum fünfter Ordnung, welches durch wiederholte ungeschlecht- liche Zeugungsakte, nämlich durch unvollständige äußere Knospen- bilduug, zahlreiche andere Sprosse erzeugt, die zu einem Stocke oder Cormus vereinigt bleiben. Dieser Cormus ist aber ein einziges Form- indi\äduum sechster und höchster Ordnung, und als solches zugleich das physiologische Individuum (Bion), welches als konkrete Lebens- einheit die Art repräsentiert oder das Speziesglied bildet. Da nun dieser Stock selbst wieder geschlechtsreif wird, oder da, genauer aus- gedrückt, unmittelbar aus den integrierenden Bestandteilen dieses Stocks, nämlich aus den geschlechtlich differenzierten Personen (Blüten- sprossen), der Same amphigen erzeugt wird, welcher dem Stocke selbst den Ursprung gibt, so haben wir den ganzen Zeugungskreis als einen einfachen hypogenen Generationszyklus aufzufassen. In der Tat haben wir vom Ei bis zum Ei die vollkommen geschlossene Formenkette des einen physiologischen Individuums, welches als Stock aus einem Ei entsteht und selbst wieder Eier zeugt. Der gewöhnliche Zeugungs- kreis der Phanerogamen ist also ebensogut ein einfacher hypogener, wie derjenige der Wirbeltiere. Die Ansicht, das der Entwickelungskreis der Phanerogamenstöcke auf einem echten Generationswechsel beruhe, würde dann richtig sein, wenn der Sproß (Blastus) das physiologische Individuum derselben wäre. Dies ist aber nicht der Fall, wie wir im dritten Buche gezeigt haben. Vielmehr ist der Sproß, welcher als Formindividuum fünfter Ordnung bei den Wirbeltieren in der Tat das physiologische Indivi- duum bildet, bei den Phanerogamen nur ein untergeordneter Bestand- teil des Stockes oder Cormus, welcher hier als Formindividuum sechster Ordnung die physiologische Individualität repräsentiert. Und da der letztere sich allerdings durch ungeschlechtliche Zeugungsakte entwickelt, aber lediglich durch geschlechtliche Zeugungsakte fort- pflanzt, so ist unzweifelhaft der gewöhnliche Generationszyklus der Phanerogamen keine Metagenesis, sondern einfache Hypogenesis. wie bei den Wirbeltieren. Der Unterschied zwischen beiden besteht nur darin, daß die physiologische Individualität hier durch ein morpholo- gisches Individuum fünfter, dort aber sechster Ordnung repräsentiert wird. Als echten Generationswechsel, als wirkliche Metagenesis können wir bei den Phanerogamen nm' jene Fälle auffassen, in denen 15* 228 Entwickelungsgeschichte der physiologischen Individuen. XVI] . sich Bnitknospeii (Biübi, Bulbilli etc.) selbsttätig vom Stocke ablösen und also wirklich monogen erzeugte neue Biontcn bilden (z. B. Lilium hnlbifenim, Dentaria buJbifora etc.). Die Vergleichung des scheinbaren Generationswechsels der Pliane- roganien mit dem echten Generationswechsel der Kryptogamen und der höheren Tiere führt uns unmittelbar zu einer Betrachtung, welche sowohl für das Verständnis des zusammengesetzten Baues der höheren Organismen überhaupt, als auch besonders ihrer Entwickelungsver- hältnisse von der größten Bedeutung ist. Bei den Phanerogamen, wie sie uns besonders Alexander Brauns klare Betrachtungsweise tektologisch erläutert hat, ist es nämlich ganz richtig, daß der Stock (Cormus), also das morphologische Individuum sechster Ordnung, als einfaches Bion durch eine Reihe von ungeschlechtlichen Zeugungs- prozessen untergeordneter morphologischer Individualitäten entsteht, welche endlich mit der Erzeugung geschlechtlicher Keime in den Blütensprossen abschließen. Verfolgen wir den gewöhnlichen Phane- rogamencormus auf seinem Lebenswege von der Teilung des Eies (Keimbläschen) an, so können wir eine Reihe von ungeschlechtlichen Zeugungsakten verschiedener Ordnungen unterscheiden, welche endlich mit der Eibildung den amphigenen Zeugungskreis vollendet. Ganz dasselbe finden wir aber auch, wenn wir die einzelnen Entwickelungs- akte der höheren Tiere, z. B. der Wirbeltiere, vergleichen, deren Ontogenesis doch allgemein und ohne Widerspruch als einfache Hyjso- genesis, als Amphigenesis ohne Generationswechsel, aufgefaßt wird. Auch hier stoßen wir von der Teilung (Furchung) des Eies an auf eine ganze Reihe von ungeschlechtlichen Zeugungsakten, welche endlich mit der Geschlechtsreife den amphigenen Zeugungskreis abschließt. Bei den Wirbeltieren ebenso wie bei den Phanerogamen durchläuft das Bion während seiner ontogenetischen Entwickelung die ganze Reihe von untergeordneten morphologischen Individualitäten, welche derjenigen vorausgehen, in der es schließlich als reifes Bion die Spezies repräsentiert. Jede höhere Individualitätsordnung wird durch einen besonderen ungeschlechtlichen Zeugungsakt von der vorhergehenden nächst niederen erzeugt, und auch innerhalb des Entwickelungslaufes jeder einzelnen Individualitätsordnung finden wir noch massen- haft wiederholte monogene Zeugungsakte der Piastiden, welche die Organe etc. konstituieren. Dennoch wird es niemand einfallen, diese Entwickelungsreihe, die aus einer ganzen Kette von verschiedenen, monogen auseinander hervorgehenden, untergeordneten Generationen XVII. IX- Metagenesis und Strophogenesis. 229 besteht, als echte Metagenesis betrachten zu wollen. Denn die ganze Zeugungskette verläuft Schritt für Schritt im ununterbrochenen Zu- sammenhange an einem und demselben physiologischen Individuum oder Bion. Der einzige Unterschied zwischen der Hypogenese der höchsten Pflanzen und Tiere ist der, daß die letzteren (Vertebraten. Arthropoden) nicht die letzte und höchste, die sechste Stufe der mor- phologischen Individualität erreichen, sondern vorher auf der fünften stehen bleiben. Der Cormus ist aber ebenso die spezifische Form des reifen Bion bei den Phanerogamen, wie die Person bei den Verte- braten und Arthropoden. Ganz ähnliche Reihen von eng verketteten ungeschlechtlichen Zeugungsakten begleiten die Ontogenesis bei allen Organismen, die nicht als Bionten auf der ersten Stufe der Plastide stehen bleiben. Bei den Mollusken z. B. können wir ganz eben solche Zeugungsreihen unterscheiden, ohne daß wir auch hier von einer echten Metagenese sprechen können. Wir glauben daher nicht zu irren, wenn wir alle diese unge- schlechtlichen Zeugungsketten, die an einem einzigen, geschlechtlich erzeugten und selbst geschlechtsreif werdenden Bion verlaufen, von dem echten Generationswechsel, der stets an zwei oder mehreren Bionten abläuft, unterscheiden, und schlagen vor, dieselben allgemein mit dem der Generationsfolge oder Strophogenesis zu be- zeichnen. Es kann demnach der scheinbare Generationswechsel der Phanerogamen als Strophogenesis von Cormen, die individuelle Ent- wickelung der Vertebraten und Arthropoden als Strophogenesis von Personen bezeichnet werden. Will man diese Auffassung bis zu ihren letzten Konsequenzen verfolgen, so muß eigentlich alle Amphigenesis von polyplastiden Organismen als Strophogenesis aufgefaßt werden, da alles „zusammengesetzte Wachstum" derselben mit Zeugungsakten von Piastiden verbunden ist. Die objektive Betrachtung der Strophogenesis und ihr Vergleich mit der Metagenesis ist äußerst wichtig und lehrreich, besonders auch für das Verständnis der Parallele zwischen der Ontogenese und Phy- logenese. Es ist leicht möglich, daß viele Prozesse, die wir jetzt zur Strophogenese rechnen müssen, in früheren Zeiten der Erdgeschichte wirkliche Metagenese waren und erst nachträglich durch „Abküi-zung der Entwickelung" zusammengezogen wurden. AcMzehntes Kapitel. EntwickelungsgescliicMe der morphologisclien Individuen. ^Betrachten wir alle Gestalten, besonders die organi- schen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr Alles in einer steten Bewegung schwankt. Das Gebilde wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele, mit dem sie uns vorgeht." Goethe. I. Ontogenie der Plastideu. IL Ontogenie der Organe, in. Ontogenie der Antimeren. IV. Ontogenie der Metameren. V. Ontogenie der Personen. VI. Ontogenie der Stöcke. Das achtzehnte Kapitel fällt fort, da ich dessen brauchbaren Inhalt später wesentlich verbessert und teils in die Anthropogenie (1874, V. Aufl. 1903), teils in die „Systematische Phylogenie" (1894 — 1896) aufgenommen habe. (Vergl. auch meine Abhandlung über: .,Die Individualität des Tierkörpers" in der Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaft, 1878, Bd. XII, S. 1.) Neunzelintes Kapitel. Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. „Dies also hätten wir g-ewonneu, ungescheut behaupten zu dürfen, daß alle vollkommneren organischen Xaturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugetiere und an der Spitze der letzteren den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und lierweicht, und sich noch täglich durch Fortpf 1 an- zung aus- und umbildet.* Goethe. I. Inhalt und Bedeutung der Deszendenztheorie. Alle Organismen, welche heutzutage die Erde bewohnen und welche sie zu irgendeiner Zeit bewohnt haben, sind im Laufe sehr langer Zeiträume durch allmähliche Umge- staltung und langsame Vervollkommnung aus einer geringen Anzahl von gemeinsamen Stammformen (vielleicht selbst aus einer einzigen) hervorgegangen, welche als höchst ein- fache Urorganismen vom Werte einer einfachsten Plastide (Moneren) durch Autogonie aus unbelebter Materie ent- standen sind. II. Entwickehmgsgeschichte der Deszendenztheorie. (Vergl. meine ,\atürliche Sc-höpfungsgeseliichte-, 1868, H.— VI. Vortrag. X.Auflage 1902.) III. Die Selektionstheorie. (Der Darwinismus.) Die Lehre von der natürlichen Züchtung („Natural Selection") der Organismen oder von der „Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um das Dasein", welche wir im folgenden immer kurz als die Zuchtwahllehre oder Selektionstheorie bezeichnen werden, ist von Charles Darwin zuerst aufgestellt und in so voll- kommener Weise als die eigentlich kausale oder mechanische Basis der gesamten Transmutationstlieorie nachgewiesen worden, daß die 232 '^if" IX'Szondpnztheoiie und die Solektionstheorie. XIX. letztere erst durch die erstere als eine vollberechtigte und vollkommen sichergestellte Theorie ersten Ranges ihren unvergänglichen Platz an der Spitze der biologischen Wissenschaften erhalten hat. Diese Se- lektionstheorie ist es, welche man mit vollem Rechte, ihrem alleinigen Urheber zu Ehren, als Darwinismus bezeichnen kann, während es nicht richtig ist, mit diesem Namen, wie es neuerdings häufig geschieht, die gesamte Deszendenztheorie zu belegen, die bereits von Lamarck als eine wissenschaftlich formulierte Theorie in die Biologie eingeführt worden ist, und die man daher entsprechend als Lamarekismus bezeichnen könnte. Die Deszendenztheorie faßt die gesamten allgemeinen (morphologischen und physiologischen) Erscheinungsreihen der organischen Natur in ein einziges großes harmonisches Bild zusammen und zeigt, wie sich uns alle Züge des- selben aus einem einzigen physiologischen Naturprozesse, aus der Transmutation der Spezies, harmonisch und vollständig erklären. Die Selektion stheorie zeigt uns dagegen, wie dieser Prozeß der Spezies-Transmutation vor sich geht und warum derselbe notwendig gerade so vor sich gehen muß, wie es tatsächhch geschieht; sie er- klärt diesen physiologischen Prozeß selbst, indem sie uns seine mechanischen Ursachen, die Causae efficientes, kennen lehrt. Wenn daher Lamarck immer das Verdienst bleiben wird, die Ab- stammungslehre zuerst in die Wissenschaft als selbständige Theorie eingeführt zu haben, so wird dagegen Darwin das nicht geringere Verdienst behalten, dieselbe nicht allein, entsprechend dem wissen- schaftlichen Fortschritt eines halben Jahrhunderts, vielseitiger und umfassender ausgebildet, sondern das größere und ebenso unsterbliche Verdienst, ihr durch die Aufstellung der Zuchtwahllehre erst die unerschütterhche mechanische Basis gegeben zu haben. Der Grundgedanke von Darwins Selektionstheorie liegt in der Wechselwirkung zweier physiologischer Funktionen, welche allen Organismen eigentümlich sind, und welche wir. ebenso wie die Ernährung und Fortpflanzung, mit denen sie unmittelbar zusammen- hängen, als allgemeine organische Funktionen bezeichnen können. Es sind dies die beiden äußert wichtigen Leistungen der Vererbung: und der Anpassung, welche nach unserer Ansicht wesentlich den beiden formbildcnden Elementen entsprechen, die wir oben im zweiten Buche als inneren und äußeren Bildungstrieb einander gegenüberge- stellt haben. Die Erblichkeit oder der innere Bildungstrieb (die innere Gestaltungskraft) äußert sich darin, daß jeder Organismus XIX. III. Die Selektionstheorie. (Der Darwinismus.) 233 bei der Fortpflanzung seinesgleichen erzeugt, oder, genauer ausge- drückt, einen ihm (nicht gleichen, sondern) ähnlichen Organismus. Die Anpassungsfähigkeit oder der äußere Bildungstrieb da- gegen (die äußere Gestaltungskraft) äußert sich darin, daß jeder Or- ganismus durch Wechselwirkung mit seiner Umgebung einen Teil seiner ererbten Eigenschaften aufgibt und dafür neue Eigenschaften annimmt, so daß er mithin dem Organismus, der ihn erzeugte, niemals absolut gleich, sondern nur ähnlich ist. Aus der allgemein statt- findenden Wechselwirkung dieser beiden gestaltenden Prinzipien geht die ganze Mannigfaltigkeit der Organismenwelt hervor. Wäre die Erblichkeit eine absolute, so würden alle Organismen eines jeden Stammes einander gleich sein: wäre umgekehrt die Anpassung eine absolute, so würden alle Organismen völlig verschieden sein. Der faktisch vorhandene Grad der Wechselwirkung zwischen beiden Bildungskräften bedingt den faktisch vorhandenen Grad der Ähnlich- keit und Verschiedenheit zwischen allen Lebewesen. Alle Cha- raktere der Organismen (und zwar sowohl chemische, als mor- phologische, als physiologische Eigenschaften) sind entwederdurch Vererbung oder durch Anpassung erworben; ein drittes form- bildendes Element neben diesen beiden existiert nicht. Die nächste Folge der Wechselwirkung zwischen der Vererbung und der Anpassung, und insbesondere der Vererbung der durch An- passung erworbenen Abänderungen, ist die dadurch bewirkte Divergenz ihres Charakters oder die Differenzierung. Indem die Organismen auf ihre Nachkommen durch Vererbung nicht allein die von ihnen ererbten, sondern auch die von ihnen durch Anpassung erst erworbenen Eigenschaften (Abänderungen) übertragen, gehen ihre Nachkommen auseinander, divergieren, und indem diese Divergenz wegen der unbegrenzten Abänderungsfälligkeit oder Variabilität in einem gewissen Sinne keine Schranken hat, indem vielmehr der Organisnnis stets anpassungsfähig, also variabel bleibt, so können im Laufe zahlreicher Generationen aus einer und derselben ursprünglichen Stammform gänzlich verschiedene Nachkommen hervorgehen. Aus einer und der- selben Art entstehen durch Anpassung an sehr verschiedene Lebens- bedingungen im Laufe von Generationen sehr verschiedene Arten. Je mehr die Erblichkeit in der Generationsfolge überwiegt, desto konstanter ist die Art und desto längere Zeit erhält sie sich; je mehr die Anpassung überwiegt, desto variabler ist die Art und desto rascher entstehen aus ihr neue Arten. 234 I^iß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Die ganze unendliche Mannigfaltigkeit der organischen Formen wird also in letzter Instanz lediglich durch die Wechselwirkung dieser beiden physiologischen Funktionen, der Anpassung und der Vererbung, hervorgebracht. Sehr wichtig sind aber weiter die besonderen Ver- hältnisse, unter denen diese Wechselwirkung überall stattfindet und von denen sie in hohem Maße begünstigt wird. Die Summe dieser Verhältnisse nennt Darwin mit einem metaphorischen Ausdruck den „Kampf ums Dasein". Indem nämlich jeder Organismus den auf ihn einwirkenden äußeren Umständen entgegenwirkt, kämpft er mit denselben. Da nun alle Individuen einer Organismenart nicht absolut gleich, sondern bloß ähnlich sind, so verhalten sie sich den gleichen äußeren Einflüssen gegenüber verschieden. Außer diesem Kampfe mit den Anpassungsbedingungen findet aber ferner auch überall ein Wettkampf zwischen den zusammenlebenden Organismen statt. Da nämlich alle Organismen eine w^eit zahlreichere Nachkommenschaft produzieren, als sich zu erhalten imstande ist, so werden von der- selben diejenigen sich am leichtesten und besten erhalten, welche sich am leichtesten und besten den umgebenden Existenzbedingungen, dem äußeren Bildungstriebe anpassen. Es sterben daher die am wenigsten angepaßten Individuen frühzeitig aus, ohne sich fortpflanzen zu können, während die am besten angepaßten Individuen erhalten bleiben und sich fortpflanzen. Die ersteren werden von den letzteren in dem un- vermeidhchen Wettkampfe um die Erlangung der unentbehrlichen, aber nicht für alle ausreichenden Existenzbedingungen besiegt. Es kommt hier die oben erwähnte Populationstheorie von Malthus zur Anwendung. Diesen Sieg der befähigteren und besser angepaßten Organismen im Kampfe um das Dasein nennt Darwin „Natural- selection'' oder natürliche Zuchtwahl (natürliche Züchtung oder Auslese), weil der Kampf um das Dasein hier dieselbe auslesende, auswählende (züchtende) Wirkung auf viele ungleiche Individuen einer und derselben Art ausübt, welche bei der ,.künstlichen Züchtung" die absichtliche, zweckmäßige Auswahl des Menschen übt. Die natürliche Selektion wählt also im Kampfe um das Dasein diejenigen Individuen zur Fortpflanzung aus, welche sich am besten den Existenzbedingungen anpassen können, und da in den meisten Fällen diese Individuen die besseren, die vollkomnmeren sind, so ist im allgemeinen (einzelne besondere Fälle ausgenommen !) damit zugleich eine zwar langsame, aber beständig wirkende Vervollkommnung, ein Fortschritt in der Organisation notwendig verbunden. XIX. IV. Erblichkeit und Vererbung. 235 Da ferner der Kampf um das Dasein zwischen den zusammenleben- den Individuen einer und derselben Art um so heftiger (also auch um so gefährlicher) sein muß, je mehr sie sich gleichen, um so weniger heftig, je mehr sie voneinander abweichen, so werden die am stärksten divergierenden oder voneinander abweichenden Individuen am meisten Aussicht haben, nebeneinander fortzuexistieren und sich fortzupflanzen, und dadurch besonders wird allgemein die oben hervorgehobene Divergenz des Charakters begünstigt, welche uns die allgemeine Neigung der Organismen erklärt, immer mehr abzuändern, und immer mehr neue und mannigfaltige Arten zu bilden. Aus der unendlich verwickelten Wechselwirkung dieser inneren und äußeren formbildenden Verhältnisse, und aus den notwendigen Folgerungen, welche sich un- mittelbar daraus ableiten lassen, erklärt sich die ganze Mannigfaltigkeit der organischen Natur, welche uns umgibt. Um dieses äußerst wichtige Verhältnis zu würdigen, müssen wir zunächst die beiden Funktionen der Vererbung und der Anpassung einer eingehenderen physiologischen Betrachtung unterwerfen, als es bisher geschehen ist. IV. Erblichkeit und Vererbimg. (Atavismus, Hereditas.) IV, A. Tatsache und Ursache der Vererbung. Die Erblichkeit (Atavismus) als virtuelle Kraft, und die Vererbung (Hereditas) als aktuelle Leistung der organischen Individuen, sind allgemeine physiologische Funktionen der Or- ganismen, welche mit der fundamentalen Funktion der Fortpflan- zung unmittelbar zusammenhängen und eigentlich nur eine Teiler- scheinung der letzteren darstellen. Sie äußern sich in der Tatsache, daß jeder Organismus, wenn er sich fortpflanzt. Nachkommen erzeugt, welche entweder ihm selbst ähnlich sind oder deren Nachkommen doch wenigstens (nach Dazwischentreten einer oder mehrerer Gene- rationen) ihm ähnlich werden. Diese Erscheinung ist eine so all- gemeine und alltäglich zu beobachtende, daß sie, eben wegen dieser Allgemeinheit, als etwas Selbstverständliches gilt. Die wichtigen biologischen Schlüsse aber, welche aus dieser Tatsache hervorgehen, werden von der gewöhnlichen oberflächlichen Naturbetrachtung ent- weder übersehen oder doch nicht in ihrer voUen Bedeutung für die Charakterbildung der Organismen erkannt. Gewöhnlich werden nur auffallende Abweichungen von der Erblichkeit besonders hervorge- 23(5 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. hoben. Denn man findet es allgemein ganz „natürlich", daß das Kind Eigenschaften seiner Eltern teilt („erbf), und daß der Baum dem elterlichen Stamme ähnlich ist, von dem er als Same oder als Knospe entnommen wurde. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm." Der allgemeinste Ausdruck für das Grundgesetz der Erblichkeit dürfte in den Worten hegen: „Ähnliches erzeugt Ähnliches", oder genauer: „Jedes organische Individuum erzeugt bei der Fortpflanzung direkt oder indirekt ein ihm ähnliches In- dividuum." Die Ursachen der Erblichkeit sind ebenso wie die Gesetze ihrer viefachen Modifikationen bisher noch äußerst wenig untersucht worden. Sie hängen aber offenbar direkt mit den Gesetzen der Fortpflanzung des Organismus zusammen und bestehen wesentlich in einer unmittelbaren Übertragung von mate- riellen Teilen des elterlichen Organismus auf den kindlichen Organismus, die mit jeder Fortpflanzung notwendig verbunden ist. Alle, auch die verschiedenartigsten und scheinbar von den Fort- pflanzungserscheinungen unabhängigsten Vererbungserscheinungen sind physiologische Funktionen, welche sich in letzter Instanz auf die Fortpflanzungstätigkeit des Organismus zurückführen lassen. Die Erblichkeit ist also keineswegs eine besondere organische Funktion. Vielmehr ist in allen Modifikationen derselben das wesentliche kausale Fundament die materielle Kontinuität vom elterhchen und kind- lichen Organismus. „Das Kind ist Fleisch und Bein der Eltern." Lediglich die partielle Identität der spezifisch-konstituierten Materie im elterlichen und im kindlichen Organismus, die Teilung dieser Materie bei der Fortpflanzung, ist die Ursache der Erbhchkeit. Wir haben im dritten Abschnitt des fünften Kapitels gezeigt, daß die individuelle Form jedes Naturkörpers das Produkt aus der Wechselwirkung von zwei entgegengesetzten Faktoren, einem äußeren und einem inneren Bildungstriebe ist. Bei allen organischen Indi- viduen, welche nicht durch spontane, sondern durch parentale Gene- ration entstehen, ist der innere Bildungstrieb oder die innere Ge- staltungskraft {Vis itlasüca inierna) identisch mit der Erblichkeit. IV, B. Vererbung und Fortpflanzung. Die Fortpflanzung (Propagatio) ist eine physiologische Funktion der Organismen, welche unmittelbar mit den allgemeinen organischen Funktionen der Ernährung und des Wachstums zusammenhängt, wie XIX. I^'- Erblichkeit und Vererbung. 237 bereits im fünften und im siebzehnten Kapitel ausgeführt wurde. Wir konnten dies allgemein mit den Worten ausdrücken: die Fortpflan- zung ist ein Wachstum des Organismus über das individuelle Maß hinaus. Die Wachstumserscheinungen der Organismen und die Eigentümlichkeiten, welche dasselbe von dem Wachstum der Anorgane unterscheiden, haben \vir dort bereits in Betracht gezogen. IV, C. Grad der Vererbung. Da die materielle Kontinuität des elterlichen und des kindlichen Organismus bei den verschiedenen angeführten Arten der Fortpflanzung einen verschiedenen Grad der Ausdehnung und der Dauer zeigt, so läßt sich von vornherein schon erwarten, daß auch der Grad der Erblichkeit bei denselben verschieden sein werde, und auch dies sehen wir überall durch die Erfahrung bestätigt. Je größer im Ver- hältnis zum ganzen zeugenden Individuum der Teil desselben ist, der sich als überschüssiges Wachstumsprodukt von ersterem isoliert, desto größer ist die Gemeinschaftlichkeit der materiellen Grundlage, desto größer ist der Grad der Erblichkeit, d. h. die Übereinstimmung in Form und Funktion des zeugenden und des erzeugten Organismus. Daher ist die letztere viel bedeutender bei der Teilung und Knospen- bildung, wo ein verhältnismäßig großer Teil sich von dem zeugenden Individuum ablöst, als bei der Keimzellenbildung und geschlechtlichen Zeugung, wo nur ein verhältnismäßig kleiner Teil aus dem elterlichen Organismus sich abscheidet. Ebenso ist die längere Dauer des Zu- sammenhanges beider Organismen hierbei von Einfluß. Je länger der materielle Zusammenhang beider dauert, je später sich das kind- liche Individuum von dem elterlichen trennt, desto gleichartiger werden sich beide, als Teile eines und desselben materiellen Ganzen, aus- bilden und desto größer wird der Grad der Erblichkeit, der biologischen Übereinstimmung zwischen beiden sein. Dieser Umstand wirkt meist mit dem vorigen zusammen. Da auch diese Dauer des Zusammen- hanges bei der Teilung und Knospenbildung größer ist als bei der Keimbildung und sexuellen Fortpflanzung, so wird auch aus diesem Grunde der Grad der hereditären Ähnlichkeit bei letzteren geringer als bei ersteren sein. Die Beispiele hierfür sind bei denjenigen Or- ganismen zahlreich, welche sich gleichzeitig auf geschlechtlichem und ungeschlechtlichem Wege fortpflanzen. Unsere veredelten Obstsorten z. B. können wir nur durch ungeschlechtliche Vermehrung (Ablösung von Knospen, Ablegern, Senkern etc.) fortpflanzen, wodurch die feinen 238 Di^ Deszendenztheorie und die Selektionstlieorie. XIX. individuellen Vorzüge des veredelten Baumes sich genau auf seine Nachkommen übertragen, während dieselben bei der geschlechtlichen Fortpflanzung (durch Samen) Nachkommen liefern, die sich weit von ihren Eltern entfernen und Rückschläge in die nicht veredelte wilde Stammform zeigen. Ebenso können sogenannte Spielpflanzen mit sehr ausgeprägten und namentlich mit plötzlich aufgetretenen indi- viduellen Charakteren (z. B. die Blutbuche, die Roßkastanien mit gefüllten Blüten, viele Trauerbäume oder Bäume mit hängenden Zweigen) nur auf ungeschlechtlichem, nicht auf geschlechtlichem Wege fortgepflanzt werden. Dagegen entstehen solche auszeichnende individuelle Bildungen, Monstrositäten etc., weit häufiger bei solchen Individuen, die sexuell, als bei solchen, die esexuell erzeugt sind. Allgemein läßt sich das Erblichkeitsgesetz, welches diesen Erschei- nungen zugrunde liegt, folgendermaßen formulieren: „Jede Ver- erbungserscheinung der Organismen ist durch die materielle Kontinuität zwischen elterlichem und kindlichem Orga- nismus bedingt und der Grad der Vererbung (d. h. der Grad der morphologischen und physiologischen Ähnlichkeit zwischen elter- lichem und kindlichem Organismus) steht in geradem Verhält- nisse zu derZeitdauer des kontinuierlichenZusammenhanges zwischen zeugendem und erzeugtem Individuum, und in umgekehrtem zwischen beiden." in umgekehrtem Verhältnis zu dem Größenunterschiede IV, D. Konservative und progressive Vererbung. (Vererbung ererbter und erworbener Charaktere.) Die außerordentliche Wichtigkeit der Erblichkeitserscheinungen für die Erklärung der organischen Formbildung konnte erst erkannt werden, seit man den Grundgedanken der Deszendenztheorie erfaßt hatte, und es hat sich daher auch die allgemeine Aufmerksamkeit den ersteren erst dann mehr zugewendet, als Darwin die letztere durch seine Selektionstheorie kausal begründet hatte. Wir werden uns daher nicht wundern, daß vorher noch keine ernstlichen Ver- suche gemacht worden waren, die Masse der hierher gehörigen ver- schiedenartigen Erscheinungen zu ordnen und als „Erblichkeitsgesetze" zu formulieren. Auch in den wenigen seitdem verflossenen Jahren sind hierzu keine umfassenderen Schritte getan worden; und es ist dies erklärlich bei den großen Schwierigkeiten, welche jeder geord- neten Betrachtung des ungeheuren Chaos von ontogenetischen Tat- XIX. IV. Erblichkeit und Vererbung. 239 Sachen sich entgegenstellen. Die sehr zahlreichen und verschieden- artigen Beobachtungen über Vererbung, welche wir aus älterer und neuerer Zeit besitzen, sind größtenteils nicht von streng naturwissen- schaftlich gebildeten Beobachtern, sondern von Landwirten. Gärtnern. Tierzüchtern u. dergl. mehr gesammelt worden, deren Angaben zum großen Teil sehr ungenau und unzuverlässig sind. Auch war für diese bei Wiedergabe ihrer Beobachtungen meist nicht der theoretisch- wissenschaftliche, sondern vielmehr der praktisch -zweckdienliche Standpunkt maßgebend, und es ist daher sehr schwer, diese Angaben mit Sicherheit zu verwerten. Die Zoologen und Botaniker aber, für welche die wissenschaftliche Erkenntnis der Vererbungserscheinungen schon längst die dringendste Pflicht hätte sein sollen, waren meist viel zu sehr mit der Speziesfabrikation und der anatomischen Dar- stellung der vollendeten Formen in ihren toten Museen und Herbarien beschäftigt, als daß sie Zeit und Lust gehabt hätten, die Erblichkeits- Erscheinungen an den lebendigen Organismen zu studieren, und in der Erkenntnis des Werdens der Formen das Verständnis der voll- endeten zu gewinnen. Es gilt also von den Vererbungsgesetzen das- selbe, wie von den Anpassungsgesetzen, daß ihre wissenschaftliche Begründung der Zukunft angehört. Vor allem wird diese das äußerst wertvolle Material zu verwerten haben, welches die Ärzte über die Vererbungen pathologischer Zustände gesammelt haben, und welches ebenfalls noch ganz ungeordnet ist. Wenn wir trotzdem hier den Versuch machen, die wichtigsten Gesetze der Vererbung und der Anpassung vorläufig zu formulieren, so wollen wir damit nur eine neue Anregung zur Gesetzeserforschung, keineswegs aber eine voll- ständige Reihe von feststehenden Gesetzen geben. Wir müssen des- halb für diesen Versuch besondere Nachsicht beanspruchen. Bevor wir die verschiedenen Gesetze der Erblichkeit, welche sich mit einiger Sicherheit schon jetzt als besonders wichtig hervorheben lassen, einzeln formulieren, erscheint es notwendig, den wesentlichen Unterschied zwischen zwei verschiedenen Hauptformen der Heredität hervorzuheben, nämlich zwischen der Vererbung ererbter und der- jenigen erworbener Charaktere. Alle verschiedenen Erblichkeitser- scheinungen lassen sich entweder der einen oder der anderen Kategorie unterordnen. Beide sind aber bisher in sehr ungleichem Maße be- rücksichtigt worden. Die meisten Zoologen oder Botaniker haben immer das größte Gewicht auf Vererbung bereits ererbter Charaktere oder auf die konservative Vererbung gelegt und dagegen die 240 ßie Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Vererbung erworbener Charaktere oder die progressive Vererbung entweder gar nicht berücksichtigt oder doch nicht in ihrem außer- ordentlichen morphologischen Werte erkannt. Hieraus vorzüglich erklärt sich die Zähigkeit, mit welcher das falsche Dogma von der Konstanz der Spezies selbst noch von Einsichtigeren festgehalten wird. Denn aus der einseitigen Berücksichtigung bloß der konservativen Vererbung entspringt die irrige Vorstellung, daß alle Glieder einer Spezies durch eine bestimmte Summe von unveränderlichen Charak- teren als ein natürliches Ganzes zusammengehalten werden, und daß ihre unbestreitbare Variation oder Abänderung bestimmte enge Grenzen nicht überschreitet. Erst durch die gerechte Würdigung der entgegen- gesetzten progressiven Vererbung wird die unbegrenzte Veränderlichkeit der organischen Formen und die freie Transmutation der Spezies erkannt, aus welcher sich alle Tatsachen der organischen Morpho- logie erklären. Das Gesetz der konservativen oder beharrlichen Here- dität oder der Vererbung ererbter Charaktere sagt aus, daß alle Deszendenten ihren Eltern ebenso wie allen vorhergehenden Ge- nerationen gleichen. Jeder Organismus vererbt dieselben mor- phologischen und physiologischen Eigenschaften auf seine Nachkommen, welche er selbst von seinen Eltern und Vor- fahren ererbt hat. In der einseitigen Auffassung, in welcher dasselbe gewöhnlich die dogmatischen Vorstellungen der Systematiker beherrscht, würde dasselbe lauten: Alle Eigenschaften, welche der Organismus von seinen Eltern ererbt hat, und nur diese, vererbt derselbe auch ebenso vollständig auf seine Nachkommen. Daher sind alle Generationen einer und derselben Spezies wesentlich gleich und die Abänderungen durch Anpassung überschreiten niemals bestimmte enge Grenzen. Die Spezies muß hiernach wirklich konstant sein; denn „Gleiches erzeugt Gleiches". Wenn diese falsche Vorstellung in ihrer ganzen Einseitigkeit konsequent festgehalten wird, so bleibt die erste Entstehung der erblichen Eigenschaften, w^elche durch die Fortpflanzung unverändert übertragen werden, vollständig unerklärt, und man nmß notwendig zu der absurden dualistischen Vorstellung einer ..Schöpfung der einzelnen Spezies"' flüchten. Jede organische Art entsteht dann plötzlich zu irgendeiner Zeit der Erdgeschichte lediglich durch den „Willen des Schöpfers'", d. h. ohne Ursachen! Sie überträgt alle ihre „spezifischen, wesentlichen Charaktere" un- verändert auf ihre Nachkommen mittels der Fortpflanzung (also durch XIX. I^ • Erblichkeit und Vererbung. 241 wirkende Ursachen!), nnd nachdem sie eine bestimmte Reihe von Generationen liindurch sich in dieser Konstanz erhalten hat, geht sie ganz unmotiviert wieder unter, ohne Ursachen! Daß diese Vorstelhmg von der einseitigen und ausschHeßlichen Gültigkeit der konservativen Heredität grundfalsch ist, liegt auf der Hand. Zwar beherrscht dieselbe noch heute die ganze zoologische und botanische Systematik, weil die nicht monistisch gebildete Mehr- heit der Morphologen daraus das Dogma von der Spezieskonstanz ableitet, welches sie für unentbehrhch hält. Allein es bedarf nur eines einfachen Hinweises auf die alltäglichen Züchtungserfahrungen der Gärtner und Landwirte, um sie zu widerlegen. Die ganze künst- liche Züchtung (und ebenso die natürliche) beruht darauf, daß die konservative Heredität nicht ausschheßlich wirkt, sondern vielmehr beständig und überall neben und mit der progressiven Vererbung tätig ist. Das Gesetz der progressiven oder fortschreitenden He- redität oder der Vererbung erworbener Charaktere sagt aus, daß alle Deszendenten von ihren Eltern nicht bloß die alten, von diesen ererbten, sondern auch die neuen, von diesen erst während ihrer Lebenszeit erworbenen Charaktere, wenigstens teilweis erben. Jeder Organismus vererbt auf seine Nachkommen nicht bloß die morphologischen und physiologischen Eigenschaften, welche er selbst von seinen Eltern ererbt, sondern auch einen Teil derjenigen, welche er selbst während seiner in- dividuellen Existenz durch Anpassung erworben hat. Dieses äußerst wichtige Gesetz läuft dem vorigen in gewisser Beziehung be- schränkend zuwider, und wenn man dasselbe in gleicher Weise wie jenes berücksichtigt hätte, so würde man längst das Dogma von der Spezieskonstanz und damit die hinderlichste Schranke der monistischen Morphologie beseitigt haben. Obwohl die Tatsachen, auf welchen dieses fundamentale Gesetz unumstößUch fußt, alltäglich zu beobachten und allbekannt sind, haben sich dennoch die meisten Morphologen seiner Anerkennung auf das beharrlichste verschlossen. Freilich führen die notwendigen Konsequenzen desselben den vollständigen Ruin des unheilvollen Speziesdogma und des darauf begründeten teleologischen Dualismus unaufhaltsam herbei. Denn es ist klar, daß daraus zunächst die unbegrenzte Veränderlichkeit der Spezies folgt. Daß die einzelnen Individuen während ihrer beschränkten Lebenszeit, infolge der unendlich mannigfaltigen Abänderung ihrer Ernährung, Haeckel, Prinz, d. Morphol. lo 242 l^if^ Deszendenztheorie und die Selelctionstheorie. XIX. den maiiiiigfaltigsten und tiefgreifendsten Abänderungen unterliegen können, und daß eine bestimmte Schranke dieser individuellen Ab- änderung nicht existiert, ist allgemein anerkannt: wenn nun zugleich das Gesetz von der progressiven Heredität als wahr anerkannt wird — und es ist dies bei aufrichtiger Betrachtung mit offenen Augen nicht zu vermeiden ^, so folgt daraus unmittelbar, daß auch eine Schranke der Spezies-Transmutation nicht existiert, daß die Veränder- lichkeit der Art unbegrenzt ist, weil jede neue, durch Anpassung er- worbene Eigenschaft unter günstigen Umständen vom elterlichen Organismus auf den kindlichen vererbt werden kann. Und so ist es in der Tat. Die ganze Formenmannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenwelt, wie sie uns gegenwärtig umgibt, und wie sie sich während deren paläontologischer Entwickelung allmählich umgestaltet hat, liefert uns für diese Wechselwirkung von progressiver und konservativer Ver- erbung den deutlichsten Beleg. Denn das beständige Schw^anken zwischen Erhaltung und Abänderung, zwischen Konstanz und Trans- mutation, welches uns alle Tier- und Pflanzenspezies zeigen, erklärt sich uns einfach aus der Tatsache, daß die Vererbung der Charaktere niemals ausschließlich eine konservative, sondern stets zugleich eine progressive ist. Wenn die konservative Vererbung der ererbten Cha- raktere allein herrschte, so würde die gesamte Organismenwelt durch- aus konstant, zu allen Zeiten der Erdgeschichte dieselbe sein, und es würden nur soviel Spezies existieren, als ursprünglich „geschaffen" wurden (d. h. durch Archigonie entstanden). Dies wird durch die Paläontologie widerlegt. Wenn umgekehrt die progressive Vererbung allein wirksam wäre, so würde die gesamte Organismenwelt durch- aus inkonstant sein, und es würden sich gar keine verschiedenen Spezies unterscheiden lassen. Es würden eben so viele Spezies als Indi\iduen existieren. Auch dies wird durch die Paläontologie wider- legt. Alle paläontologischen, anatomischen und systematischen Tat- sachen erklären sich nur aus der Annahme eines fortwährenden In- einandergreif ens, einer beständigen Wechselwirkung der konservativen und progressiven Heredität. Eine eingehende physiologische Betrachtung der Ernährungs- und Fortpflanzungsverhältnisse der Organismen zeigt uns, daß dies gar nicht anders sein kann. Wir sahen, daß die Vererbung durch die Fortpflanzung vermittelt wird und in einer materiellen Kon- tinuität, einer partiellen Identität des elterlichen und kindlichen XIX. I^'- Erblichkeit und Vererbung. 243 Organismus besteht. Andererseits werden wir bei der Betrachtung der Anpassung sehen, daß jede Anpassung auf einer Ernährungs- veränderung beruht. Da nun die ErnährungsverhäUnisse, d. h. über- haupt die gesamten Existenzbedingungen im weitesten Sinne, überall und zu jeder Zeit verschieden sind, da jeder individuelle Organismus sich seinen speziellen Ernährungsbedingungen bis zu einem gewissen Grade anpassen muß und dadurch bestimmte Veränderungen erleidet, da endlich jede Veränderung nicht einen einzelnen Körperteil aus- schließlich betrifft, sondern auf alle anderen Teile mit zurückwirkt, so muß auch bei der Fortpflanzung des Individuums stets ein, wenn auch noch so kleiner, Teil der erworbenen Veränderung mittels der elterlichen Materie auf die kindliche übertragen werden und in dieser wirksam bleiben. Das Resultat dieser Untersuchung ist also die notwendige Wechsel- wirkung von konservativer und progressiver Vererbung. Der Grad der Konstanz jeder organischen Spezies wird durch den Anteil der konservativen Vererbung, der Grad der Abänderung jeder organischen Spezies durch den Anteil der progressiven Vererbung bedingt. W, E. Gesetze der Vererbung. Ea. Gesetze der konservativen Yererhung. 1. Gesetz der ununterbrochenen oder kontinuierlichen Vererbung. (Lex hereditatis continuae.) Bei den meisten Organismen sind alle unmittelbar auf- einander folgenden Generationen einander in allen morpho- logischen und physiologischen Charakteren entweder nahezu gleich oder doch sehr ähnlich. Die ununterbrochene Konservation der spezifischen Charaktere in allen aufeinander unmittelbar folgenden Generationen einer und derselben Spezies ist die allgemeine Regel bei allen höheren Tieren und Pflanzen. Wenn wir die Kette der sukzessiven Generationen mit den Buchstaben des Alphabets bezeichnen, so ist bei den meisten höheren Organismen A = B = C = D^E^F usw. Die Gültigkeit dieses Gesetzes ist aber nicht allein allgemein anerkannt, sondern auch übertrieben worden, indem man die kontinuierliche Vererbung als das allgemeine Grundgesetz der Vererbung für alle Organismen ansah. Erst als man die weite Verbreitung des Generationswechsels kennen lernte, und als dasjenige, was man zuerst „als Ausnahme ansah, sich im Gange der Natur als die Regel" herausstellte, nämlich 16* 244 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. das Alternieren der Generationen bei den niederen Organismen ent- sprechend dem nächsfolgenden zweiten Gesetze, mußte das Gesetz der kontinuierlichen Vererbung als das nicht ausschließlich herrschende erkannt werden. Auf jener früheren allzuweit gehenden Verallge- meinerung desselben beruht auch die weit verbreitete, aber unbegründete Definition der Spezies als des „Inbegriffes aller Individuen von gleicher Abkunft, und derjenigen, welche ihnen eben so ähnlich, als diese unter sich sind". 2. Gesetz der unterbrochenen oder verborgenen oder abwechselnden Vererbung. (Lex herediiatis interruptae s. latentis s. alternanUs.) Bei vielen Organismen sind nicht die unmittelbar auf- einander folgenden Generationen einander in allen mor- phologischen und physiologischen Charakteren entweder nahezu gleich oder doch sehr ähnlich: sondern nur die- jenigen, welche durch eine oder mehrere davon verschiedene Generationen voneinander getrennt sind. Die Vererbungserscheinungen, welche dieses wichtige Gesetz begründen, sind allbekannt. Die Kette der aufeinander folgenden Generationen ist hier aus zwei oder mehreren verschiedenen Gliedern zusammengesetzt, die alternieren. Nur die mittelbaren Deszendenten jedes Individuums sind demselben nahezu gleich oder nur sehr wenig verschieden, während die unmittelbaren Deszendenten einen geringeren oder höheren Grad bemerkbarer Abweichung zeigen. In sehr vielen menschlichen Familien z. B. besitzen die Kinder sowohl in psy- chischer als in somatischer Beziehung eine weit auffallendere Ähn- lichkeit mit ihren Großeltern, als mit ihren Eltern. Dasselbe ist an den Haustieren sehr oft zu beobachten. Es bleibt also hier ein Teil der am meisten auffallenden und das Individuum auszeichnenden (in- dividuellen) Charaktere eine oder mehrere Generationen hindurch latent, ohne sichtbare Übertragung durch die unmittelbare FortpflauT zung, um erst nach Verlauf derselben plötzlich wieder in einer ent- fernteren Generation zutage zu treten. Dieses Gesetz ist äußerst wichtig für die Erklärung des Gene- rationswechsels, da offenbar ein sehr großer (vielleicht der größte) Teil der verschiedenen Metagenesis-Formen unmittelbar durch eine lange Zeit hindurch fortgesetzte und dadurch befestigte „latente Ver- erbung" entstanden ist. So läßt sich z. B. der Generationswechsel der Salpen sicher auf diese Weise erklären, indem sich allmählich XIX, I^^- Erblichkeit und Vererbung. 245 die unmittelbar aufeinander folgenden Generationen (Eltern und Kinder) mehr und mehr differenzierten, während die dritte Generation (Enkel) immer wieder in die erste Generation zurückschlug, so daß Enkel und Großeltern einander konstant gleich wurden. Wenn wir ver- schiedene Formen des Generationswechsels in dieser Beziehung ver- gleichen, so können wir mehrere verschiedene Modifikationen der latenten Erblichkeit unterscheiden, zunächst je nachdem eine oder zwei oder mehrere Generationen überschlagen werden, ehe der ursprüngliche Charakter der Stammeltern sich wieder geltend macht. Bezeichnen wir die unmittelbar aufeinander folgende Kette der Generationen mit den laufenden Buchstaben des Alphabets, so ist I, im ersten Falle, bei Überschlagung einer Generation (z. B. beim Generationswechsel der Salpen), A = C = E = G und ebenso B = D = F = H etc.; II, im zweiten Falle, bei Überschlagung zweier Generationen (z. B. beim Generationswechsel vieler Trematoden etc., einiger Arten von Doliolum) A = D = G und ebenso B = E=^H, ferner C = F^Jusw. In den- jenigen weiteren Fällen, wo mehr als zwei Generationen überschlagen werden, komplizieren sich die Verhältnisse oft außerordentlich. Wir wollen jedoch auf dieselben hier um so weniger eingehen, als fast noch nichts geschehen ist, um den Generationswechsel vom Gesichts- punkt der Vererbungsgesetze aus zu erklären. Wenn ein individueller Charakter eine längere Reihe von Gene- rationen hindurch latent bleibt und erst nach Einschaltung einer größeren Anzahl verschieden gebildeter Zwischengenerationen wieder zur Geltung kommt, so bezeichnet man diese Modifikation der latenten Erbhchkeit als Rückschlag. Bekanntlich spielt derselbe bei der Züchtung unserer Haustiere und Kulturpflanzen eine außerordentlich große und wichtige Rolle, und es ist erstaunlich, welche außerordentlich lange Reihe von Generationen verstreichen kann, ehe gewisse aus- zeichnende Charaktere einer alten Stammform wieder zur Geltung kommen. Dies gilt z. B. von den bisweilen auftretenden Streifen an unseren einfarbigen Pferden, welche als Rückschlag in ihre uralte gestreifte Stammform erklärt werden müssen. Dasselbe beobachtet man sehr häufig bei der „Verwilderung" domestizierter Formen, z. B. der Obstsorten, des Kohls etc. Regelmäßig tritt dieselbe Erscheinung in vielen Formen des Generationswechsels (z. B. bei den Blattläusen, vielen Phanerogamen) auf, wo die geschlechtlich entwickelten Gene- rationen nur periodisch auftreten, nachdem eine längere oder kürzere Reihe von Zwischengenerationen eingeschaltet worden ist. 246 Di« Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. 3. Gesetz der geschlechtlichen A^ererbung. (Lex heredifatis sexnalis.) Bei allen Organismen mit getrennten Geschlechtern vererben sich die primären nnd sekundären Sexualcharak- tere einseitig fort; d. h. es gleichen die männlichen Deszendenten in der wesentlichen Summe der sekundären Sexual-Charaktere mehr dem Vater, die weiblichen mehr der Mutter. Dieses Gesetz ist von großer Bedeutung für Konservation, Be- festigung und weitere Differenzierung der Geschlechtsunterschiede, und besonders der sekundären Sexualcharaktere, bei den amphigonen Or- ganismen. Wir verstehen darunter diejenigen Unterschiede der beiden Geschlechter, welche dieselben, auch abgesehen von der Differenz der primären Sexualcharaktere (der unmittelbar die Fortpflanzung bewirkenden Geschlechtsorgane), unterscheiden. Solche sekundäre Geschlechtseigentümlichkeiten sind sowohl unter den niederen als unter den höheren Tieren mit getrennten Geschlechtern sehr allge- mein verbreitet: es gehören dahin z. B. die ausgezeichneten Unter- schiede der gesamten Körperform und Größe, welche die getrennten Geschlechter vieler Hydroidpolypen, vieler Insekten, Crustacen etc. zeigen, ferner die auffallenden Differenzen in Größe, in Färbung des Federkleides, in der Bildung gewisser Zierrate (z. B. Hahnenkamm) der Vögel, ferner die meist bloß dem männlichen Geschlechte eigenen Geweihe, Hörner, Haarbüschel etc. der Wiederkäuer. Beim Menschen gehört dahin der Bart und die entwickeltere Muskelkraft, Willens- tätigkeit und Denktätigkeit des Mannes, die zartere Beschaffenheit und geringere Behaarung der Haut, die entwickeltere Empfindungs- tätigkeit des Weibes. Alle diese nur einem der beiden Geschlechter zukommenden Eigentümlichkeiten werden von demselben nach dem obigen „Gesetz der sexuellen Vererbimg" in der Regel nur auf das eine der beiden Geschlechter und zwar auf das entsprechende weiter vererbt. So bleiben im Laufe langer Generations-Reihen die männ- lichen Individuen den männhchen Vorfahren, die weiblichen Indi- viduen den weiblichen Vorfahren gleich oder doch in allen wesent- lichen Charakterzügen sehr ähnlich. 4. Gesetz der gemischten oder beiderseitigen Vererbung. (Lex heredifatis mixtae s. amphigonae.) Bei allen Organismen mit getrennten Geschlechtern vererben sich die nichtsexuellen Charaktere gemischt fort, XIX. iV. Erblichkeit und Vererbung. 247 d. h. es gleichen die männlichen Deszendenten zwar in den meisten und wichtigsten Charakteren mehr dem Vater, aber in einigen auch mehr der Mutter, und ebenso gleichen die weiblichen Deszendenten zwar in den meisten und wich- tigsten Charakteren mehr der Mutter, aber in einigen auch mehr dem Vater. Dieses Gesetz scheint dem vorigen, dem der sexuellen Vererbung, in gewisser Beziehung zu widersprechen und es ist in der Tat eine Modifikation desselben. Es verhält sich zu jenem ähnlich, wie das Gesetz der latenten zu dem der kontinuierlichen Vererbung. Wahr- scheinlich ist es sehr allgemein herrschend, allein gewöhnlich schwer zu konstatieren, weil die betreffenden „gekreuzten" Charaktere, welche vom Vater auf die Tochter, von der Mutter auf den Sohn übergehen, meist untergeordneter Natur oder doch für unsere groben Beobachtungs- mittel schwer oder gar nicht wahrzunehmen sind. Von der größten Bedeutung ist das Gesetz der gemischten Vererbung für die Erschei- nungen der Bastardzeugung und Kreuzung. Die Hybridismus- gesetze, welche gegenwärtig sich noch nicht scharf formulieren lassen, werden großenteils auf dieses Gesetz zurückzuführen sein. Am deut- lichsten gewahren wir die Wirkungen der gemischten Vererbung bei Be- trachtung der Erblichkeits-Erscheinungen am Menschen selbst, welcher überhaupt für das Studium der gesamten Erblichkeitsgesetze weit in- teressantere und lehrreichere Beispiele liefert, als die meisten anderen Tiere. Es hängt dies teils ab von der größereu individuellen Differen- zierung des Menschen, teils von unserer größeren Fähigkeit, die feineren Differenzen in Form und Funktion hier zu erkennen. Nun ist es allbekannt, wie allgemein in den menschlichen Familien die gemischte oder gekreuzte Vererbung herrschend ist, wie der eine Junge oder das eine Mädchen in dieser oder jener Beziehung bald mehr dem Vater, bald mehr der Mutter gleicht. Gerade durch diese Mischung der Charaktere von beiden Geschlechtern in den Nach- kommen wird die unendliche Mannigfaltigkeit der individuellen Cha- raktere in erster Linie bedingt. Bekannt ist, was Goethe in dieser Beziehung von sich aussagt: „Vom Vater hab ich die Statur, Des Lebens enistes Führen; Vom Mütterchen die Frohnatiu- Und Lust zu fabidieren." 248 Dip Deszendenztheorie und die Selektionstheoiie. XIX. ö. Gesetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung. (Lex hereditatis abbreviatae s. simplicatae.) Die Kette von ererbten Charakteren, welche in einer bestimmten Reihenfolge sukzessiv während der individuellen Entwiekelung vererbt werden und nacheinander auftreten, wird im Laufe der Zeit abgekürzt, indem einzelne Glieder derselben ausfallen. Obgleich im ganzen die individuelle Entwickelungsgeschichte jedes organischen Individuums eine kurze Wiederholung der langen paläontologischen Entwiekelung seiner Vorfahren, die Ontogenie eine kurze Rekapitulation der Phylogenie ist, so müssen wir dennoch als eine sehr wichtige Ergänzung dieses fundamentalen Satzes hinzufügen, daß diese Wiederholung niemals eine ganz vollständige ist. Es finden bei jeder individuellen Entwickelungsgeschichte zahlreiche Abkürzungen und Vereinfachungen statt, indem nach und nach die vollständige Kette aller derjenigen Veränderungen, welche die Vorfahren des In- dividuums durchliefen, durch Ausfall einzelner Glieder immer kürzer zusammengezogen und dadurch immer unvollständiger wird. Wie Fritz Müller in seiner ausgezeichneten und höchst nachahmungs- würdigen Schrift über die Morphogenie der Crustaceen schlagend ge- zeigt hat, ..wird die in der individuellen Entwickelungsgeschichte erhaltene geschichtliche Urkunde allmählich verwischt, indem die Entwiekelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Tiere einschlägt, und sie wird häufig gefälscht durch den Kampf ums Dasein, den die frei lebenden Larven zu bestehen haben. Die Urgeschichte der Art (Phylogenie) wird in ihrer Entwickelungsgeschichte (Ontogenie) um so vollständiger erhalten sein, je länger die Reihe der Jugend- zustände ist, die sie gleichmäßigen Schritts durchläuft, und um so treuer, je weniger sich die Lebensweise der Jungen von der der Alten entfernt, und je weniger die Eigentümlichkeiten der einzelnen Jugend- zustände als aus späteren in frühere Lebensabschnitte zurückverlegt oder als selbständig erworben sich auffassen lassen." Je verschieden- artiger die Existenzbedingimgen sind, unter denen das Individuum in den verschiedenen Zeitabschnitten seiner Entwiekelung lebt, desto mehr wird dasselbe sich diesen anpassen müssen und dadurch von der Entwiekelung seiner Vorfahren entfernen. Je heftiger der Kampf um das Dasein ist, den die jungen Individuen und die Larven zu bestehen haben, desto mehr ist es für sie von Vorteil, wenn sie möglichst rasch den vollendeteren späteren Zuständen sich nähern. XIX. IV. Erblichkeit imd Vererbung. 249 und indem also die schneller sich entwickelnden, bei denen die Ontogenesis zufällig abgekürzt wird, oder bei denen einzelne Ab- schnitte derselben ausfallen, dadurch einen Vorteil im Kampf um das Dasein erlangen, werden sie die langsamer sich entwickelnden überleben, und so ihre individuelle schnellere Entwickelungsweise als eine nützliche „Abkürzung oder Vereinfachung der Entwickelung" auf ihre Nachkommen vererben. Wenn diese Vereinfachung weit geht, so kann sie selbst bei nächst verwandten Arten eine sehr ver- schiedene Ontogenese bedingen. So ist z. B. nach Fritz Müllers schöner Entdeckung die gemeinsame ursprüngliche Larvenform der Podophthalmen und vieler niederer Crustaceen, der Xaiq)Uus. bei den allermeisten stieläugigen Krebsen, wo derselbe späterhin in die Zoea- Forni übergeht, durch Vereinfachung der Entwickelung verschwunden, und nur bei einigen Garneelen {Peneus) übrig geblieben. Bei den letzteren ist also nicht dieselbe Abkürzung der Vererbung (durch Ausfall des Ncmplms-^ia.A\\\mQ) eingetreten, wie bei den meisten anderen Podophthalmen, wo die Zoea unmittelbar aus dem Ei kommt. Eh. Gesetze der i^r ogr essiven Vererbung. 6. Gesetz der angepaßten und erworbenen Vererbung. (Lex hereditatis adaptatae s. accommodatae.) Alle Charaktere, welche der Organismus während seiner individuellen Existenz durch Anpassung erwirbt und welche seine Vorfahren nicht besaßen, kann derselbe unter gün- stigen Umständen auf seine Nachkommen vererben. Gleichwie alle von den Voreltern ererbten, so können auch alle neu erworbenen Eigenschaften der Materie durch die Vererbung fort- gepflanzt werden. Es gibt keine morphologischen und physiologischen Eigentümlichkeiten, welche das organische Individuum durch die Wechselwirkung mit der umgebenden Außenwelt erwirbt, mit einem Worte keine „Anpassungen", welche nicht durch Vererbung auf die Nachkommenschaft übertragen werden könnten. Dieses große Gesetz ist von der höchsten Wichtigkeit, weil darauf unmittelbar die Ver- änderlichkeit der Arten, die Möglichkeit, daß verschiedene neue Spezies aus einer vorhandenen hervorgehen, beruht. Wir kennen in der Tat keine einzige in die Mischung, Form oder Funktion des Organismus eingreifende Veränderung, welche nicht unter bestimmten (uns ge- wöhnlich ganz unbekannten) Verhältnissen, auf wenige oder auf viele 250 I^i*^ Deszendenztheorie und die Selektionstlieorie. XIX. Generationen hinaus vererbt werden könnte. Am leichtesten geschieht dies, wenn die Veränderung sehr langsam und allmählich erfolgt (wie z. B. bei Erwerbung chronischer Krankheiten). 7. Gesetz der befestigten Vererbung. (Lex hereditatis constitutae.) Alle Charaktere, welche der Organismus während seiner individuellen Existenz durch Anpassung erwirbt und welche seine Vorfahren nicht besaßen, werden um so sichererund vollständiger auf alle folgenden Generationen vererbt, je anhaltender die kausalen Anpassungsbedingungen ein- wirkten, und je länger sie noch auf die nächstfolgenden Generationen einwirken. Die große Bedeutung dieses Gesetzes ist wegen seiner ungemeinen praktischen Wichtigkeit für die künstliche Züchtung allgemein aner- kannt. Jeder Gärtner und Landwirt weiß, daß neu erschienene Ab- änderungen von Tieren und Pflanzen auf die Nachkommenschaft nur dann dauernd übertragen und befestigt werden können, wenn die Ursache, welche die Veränderung bedingte, entweder wiederholt, oder längere Zeit hindurch, am sichersten, wenn sie dauernd durch eine Reihe von vielen Generationen einwirkte. Ist dies nicht der Fall, so schlägt die veränderte Form in ihrer Nachkommenschaft sehr leicht wieder in die Stammform zurück. Die Befestigung aber ist um so tiefer, je länger die Ursache einwirkte. Jeder Organismus besitzt in dieser Beziehung einen gewissen Elastizitätsgrad. Wenn die Biegung der elastischen Form längere Zeit durch einen biegenden äußeren Einfluß erhalten wird, so bleibt sie nach dem Aufhören dieses Ein- flusses von selbst bestehen, während sie in den früheren, nicht ge- bogenen Zustand zurückschnellt, wenn der biegende Einfluß sie nur km-ze Zeit zur Biegung zwang. Wie in einem künstlich gebogenen elastischen Metallstabe sich die Moleküle des Metalls bei längerer Dauer der Biegung so anordnen, daß sie auch nach Aufhören derselben diese Anordnung beibehalten, dagegen in ihre frühere An- ordnung zurückkehren, wenn die biegende Kraft nur kurze Zeit ein- wirkte, so verhalten sich auch die Moleküle des Eiweißes in einem Organismus, welcher durch die Anpassung „gebogen" wird. Die all- gemeine Gültigkeit des Gesetzes von der ..Befestigung der Vererbung" ist so bekannt, daß wir kaum Beispiele anzuführen brauchen. Jeder Landwirt kann eine neue iVbänderung einer Tierform, jeder Gärtner XIX. IV. Erblichkeit und Vererbung. 251 eine neue Anpassung einer Pflanzeuform nur dadurch ., erhalten"' und dauerhaft erhaken, d. h. befestigen, wenn er sorgfältig darauf achtet, daß die neue Form erst einige Generationen hindurch unter denselben Bedingungen erhalten und „rein" fortgepflanzt wird. Wenn hierbei nicht die nötige Vorsicht angewendet wird, so schlägt die veränderte Form schon in den ersten Generationen wieder in die ursprüngliche Stammform zurück. Es steht also der Grad der Befestigung einer Veränderung (eines erworbenen Charakters) in geradem Verliältnisse zur Zeitdauer des verändernden Einflusses und zur Zahl der Generatio- nen, durch welche er sich bereits vererbt hat. 8. Gesetz der gleichörtlichen Vererbung. (Lex hereditatis homotopae.) Alle Organismen können die bestimmten Veränderungen irgend eines Körperteils, welche sie während ihrer indi- viduellen Existenz durch Anpassung erworben haben und welche ihre Vorfahren nicht besaßen, genau in derselben Form auf denselben Körperteil ihrer Nachkommen vererben. Auch dieses Gesetz der gleichörtlichen oder homotopen Vererbung hat im ganzen Tier- und Pflanzenreiche so allgemeine Geltung, daß man sich niemals über diese alltägliche Erscheinung wundert. Und doch ist dieselbe von der größten Bedeutung; denn es kann kaum etwas Wunderbareres und schwerer zu Erklärendes geben, als die all- bekannte Tatsache, daß der Organismus einen lokalen Charakter, den er während seiner individuellen Existenz erworben hat, auch genau auf denselben Körperteil seiner Nachkommen überträgt. In der Tat ist der unvermeidliche und notwendige Gedanke äußerst schwierig zu verfolgen, daß das Zoosperm des Vaters und die Eizelle der Mutter, diese minimale Quantität einer formlosen Eiweißverbindung, eine äußerst geringfügige und unbedeutende Abänderung, welche irgend- ein Körperteil der Eltern zu irgendeiner Lebenszeit erfahren hat, genau auf denselben Körperteil des Embryo oder selbst erst des er- wachsenen Organismus überträgt, der sich aus jenem, vom Zoosperni befruchteten Ei epigenetisch entwickelt und erst allmählich zur spezifischen Form differenziert hat. Und doch sehen wir diese Tat- sache alltäglich verwirklicht vor Augen. Sie gibt uns einen Begriff von der unendlichen Feinheit der organischen Materie und der un- begreiflichen Komplikation der in derselben stattfindenden Molekular- bewegungen, zu deren richtiger Würdigung gegenwärtig weder das 252 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie XIX. BeolDachtungsvermögeii unserer Sinne, noch das Denkvermögen unseres Verstandes ausreicht. In der auffallendsten Weise offenbart sich das Gesetz der homo- topen oder gleichörtlichen Vererbung in den häufigen Fällen, in denen ein menschliches Individuum eine ihm eigentümliche, von seinen Vor- eltern nicht besessene, und äußerlich leicht wahrnehmbare A^eränderung in der Größe, Form, Farbe etc. eines bestimmten Organs zeigt, die sich gleicherweise an dem gleichen Organe seiner Nachkommen wiederholt. Sehr deutlich ist dies wahrzunehmen an den sogenannten „Muttermalen" oder „Leberflecken", lokalen Pigmentanhäufungen an den verschiedensten Stellen der Haut, die sehr häufig bei allen oder doch bei einigen Nachkommen dieses Individuums Generationen hin- durch an genau derselben Stelle der Haut wieder erscheinen. Dasselbe zeigen sehr auffallend die gefleckten Spielarten unserer Haustiere und Kulturpflanzen, bei denen unter gewissen Bedingungen dieser oder jener auffallende Pigmentfleck, der unvermittelt in einer Generation zum ersten Male aufgetreten ist, nun in ganz gleicher Form, Größe und Farbe an derselben Stelle des Körpers der Nachkommen wieder auftritt. Ferner ist dasselbe bekanntlich in ausgezeichneter Weise an vielen pathologischen Erscheinungen wahrzunehmen. Eine krank- hafte Veränderung eines inneren oder äußeren Organs (z. B. eine Hypertrophie, Atrophie, chronische Entzündung), welche von einer einzelnen Person während ihres Lebens erworben ist, kehrt sehr oft in genau derselben Form an demselben Organe der Nachkommen- schaft wieder. Wenn wir aber vom weiteren Standpunkte aus das Gesetz der homotopen oder gleichörtlichen Vererbung betrachten, so erkennen wir darin, wie in dem folgenden Gesetze der homochronen oder gleichzeitlichen Vererbung, eines der ersten und wichtigsten Grundgesetze der gesamten Embryologie und der Ontogenie überhaupt. 9. Gesetz der gleichzeitlichen Vererbung. (Lex hereditaiis hoiiiochronne.) Alle Organismen können die bestimmten Veränderungen, welche sie zu irgend einer Zeit ihrer individuellen Existenz durch Anpassung erworben haben, und welche ihre Vor- fahren nicht besaßen, genau in derselben Lebenszeit auf ihre Nachkommen vererben. Dieses Gesetz ist gleich dem vorigen von der äußersten Wichtig- keit für die Erklärung der allgemeinen Erscheinungen der Embryologie und der Ontogenie überhaupt. Darwin, der zuerst hierauf hinge- XIX. I^"- Erblichkeit und Vererbung. 253 wiesen hat, nennt dasselbe das „Gesetz der Vererbung in kor- respondierendem Lebensalter". Bequemer ist der kürzere Aus- druck: Gesetz der gleichzeitlichen (oder homochronen) Vererbung. Auch die Wirkungen dieses Gesetzes sind, wie die des vorigen, so alltäglich zu beobachtende, und so allgemeine, daß sie eben deshalb noch niemals besondere Bewunderung erregt und zu eingehender Untersuchung Veranlassung gegeben haben. Und doch sind auch sie von der größten biologischen Bedeutung und gehören zu den wunder- barsten und am schwersten zu erklärenden Erscheinungen, welche überhaupt in der Natur vorkommen. Denn ist nicht wirklich die allbekannte Tatsache wunderbar, daß eine bestimmte Veränderung, welche der Körper eines Organismus zu irgendeiner Zeit seines Lebens erlitten hat, genau zu derselben Zeit auch an seinen Nach- kommen wiederkehrt? Auch hier können wir kaum begreifen, wie die feinen Molekularbewegungen des Plasma, welche solchen Ver- änderungen zugrunde liegen, beim Zeugungsakt in der Weise mittels des Sperma oder des Eies auf den gezeugten kindlichen Organismus von den Eltern übertragen werden, daß sie eine ganz bestimmte Zeit hindurch an dem Kinde nicht zur Erscheinung kommen (also latent existieren) und erst dann bemerkbar werden, wenn der kindliche Organismus in dieselbe Lebensperiode eingetreten ist, in w^elcher der elterliche jene Veränderung erworben hat. Die Beispiele auch für diesen höchst wunderbaren Vorgang sind in der Tat zahllose, da die gesamte individuelle Entwickelungsge- schichte der Organismen als Illustration dieses Gesetzes angesehen werden muß. Besonders auffallende Beispiele liefert aber auch hier wieder der so fein differenzierte und so mannigfaltig abändernde menschliche Organismus. Namentlich sind hier häufig und allbekannt viele merkwürdige Tatsachen aus der Pathologie, wie z. B. die gleich- zeitliche Vererbung von Krankheiten der Ernährungsorgane, des Darmes, der Leber, der Lungen etc. Alle diese Erkrankungen wieder- holen sich gewöhnlich in den Familien, wo sie erblich werden, an den Nachkommen genau zu derselben Zeit, zu welcher die Eltern sie zum ersten Male erworben haben. Ferner sehen wir dasselbe Gesetz bestätigt an unseren Haustieren und Kulturpflanzen, wo ebenfalls sehr häufig auffallende äußere Veränderungen (z. B. in Form und Größe einzelner Organe), die in späterer Lebenszeit erst von einem ein- zelnen Indi\iduum erworben wurden, sich auf die Nachkommen des- selben vererben, anfänglich aber latent sind, und erst dann sichtbar 254 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstlieorie. XIX. werden, wenn das entsprechende spätere Lebensalter erreicht ist. Wenn dagegen eine tiefe Veränderung der Organisation, wie es sehr häufig der Fall ist. bereits in sehr früher Lebenszeit des Individuums, während seiner embryonalen Entwickelung eintritt, so erscheint die- selbe auch an seinen Nachkommen zur selbigen frühen Zeit wieder und es werden die letzteren, gleich dem ersteren, bereits mit dieser Veränderung geboren. Auch dieses äußerst wichtige, von den Erscheinungen der em- bryonalen Entwickelung (Ontogenese) induktiv abgeleitete Gesetz der homochronen Vererbung erlaubt gleich demjenigen der homotopen Vererbung die weiteste deduktive Anwendung auf das Gebiet der parallelen paläontologischen Entwickelung (Phylogenie), und es ergibt sich hieraus z. B., warum die Kälber hörnerlos geboren werden und ihre Hörner erst später erhalten, warum die Kaulquappen zuerst in fischähnlicher Form existieren und erst später die ausgebildete schwanzlose Froschform annehmen usw. T. Yeräuderlichkeit und Anpassung'. (Variabilitas. Adaptatio.) V, A. Tatsache und Ursache der Anpassung. Die Anpassungsfähigkeit {Adaptabilitas) oder Veränder- lichkeit (Variabilitas) als virtuelle Kraft, und die Anpassung {Adaptatio) oder Abänderung {Variatio) als aktuelle Leistung der organischen Individuen, sind allgemeine physiologische Funk- tionen der Organismen, welche mit der fundamentalen Funktion der Ernäh]-ung unmittelbar zusammenhängen und eigentlich nur eine Teilerscheinung der letzteren darstellen. Sie äußern sich in der Tatsache, daß jeder Organismus sich während seiner individuellen Existenz in einer von den Erblichkeitsgesetzen unabhängigen Weise, lediglich durch den Einfluß der ihn umgebenden Existenzbedingungen, verändern, sich den letzteren anpassen und also Eigenschaften er- werben kann, welche seine Voreltern nicht besaßen. Diese Er- scheinung ist, wie die Erblichkeit, eine so allgemeine und alltäglich zu beobachtende, daß sie, eben wegen dieser Allgemeinheit, von der gewöhnlichen oberflächlichen Naturbetrachtung entweder gar nicht in Betracht gezogen oder doch in ihrer fundamentalen Bedeutung für die Charakterbildung des ganzen Organismus bei weitem unter- XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 255 * schätzt wird. Am bekanntesten, weil von unmittelbarer praktischer Bedeutung, sind diejenigen Erscheinungen der Veränderlichkeit und Anpassung, welche als Angewöhnung. Erziehung, Dressur. Erkrankung etc. so vielfähig- in das Kulturleben des Menschen eingreifen. Alle diese Erscheinungen beruhen auf Veränderungen der Organismen, die durch ihre Anpassungsfähigkeit bedingt sind. Die Ursachen der Veränderlichkeit und die Gesetze ihrer \ielfachen Modifikationen sind, ebenso wie diejenigen der Erbhch- keit, bisher noch äußerst wenig untersucht. Sie hängen aber offen- bar direkt zusammen mit den Gesetzen der Selbsterhaltung und speziell mit den Gesetzen der Ernährung des Organismus, und bestehen wesenthch in einer materiellen Wechselwirkung zwischen Teilen des Organismus und der ihn umgebenden Außenwelt. Alle, auch die verschiedenartigsten und scheinbar von der Ernährungsfunktion unabhängigsten Anpassungserscheinungen sind physiologische Funktionen, welche sich in letzter Instanz als Ernährungsveränderungen des Organismus nachweisen lassen. Wenn wir sagen, daß diese oder jene Veränderung des Köi-pers „durch Übung, durch Gewohnheit, durch Wechselbeziehungen der Entwicke- lung" usw. entstehe, so erscheint es zunächst, daß diese Ursachen der Anpassung ganz selbständige organische Funktionen seien. So- bald wir aber denselben näher nachgehen und auf den Grund der- selben zu kommen suchen, so gelangen wir zu dem Resultate, daß alle diese Funktionen ohne Ausnahme zuletzt wieder von der Er- nährungsfnnktion abhängig sind. Die Veränderlichkeit oder An- passungsfähigkeit ist also keineswegs eine besondere organische Funktion, wie dies sehr häufig angenommen wird. Vielmehr ist es sehr wichtig, festzuhalten, daß alle Anpassungs-Erscheinungen in letzter Instanz auf Ernährungs- Vorgängen beruhen, und daß die materiellen, physikalisch -chemischen Prozesse des Stoffwechsels ebenso die mechanischen Causae efficientes . der Anpassung und der Abänderung sind, wie die materiellen physiologischen Prozesse der Fortpflanzung die bewirkenden Ursachen der Vererbung sind. V, B. Anpassung und Ernährung. Die Ernährung (Nutriüo), welche auf dem organischen Stoff- wechsel beruht, haben wir im fünften Kapitel des zweiten Buches als die allgemeinste und fundamentalste physiologische Funktion aUer Organismen nachgewiesen, als diejenige, welche zum Bestehen 256 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. aller Organismen ohne Ausnahme notwendig ist. und als diejenige, aus welcher alle übrigen Funktionen, auch die Fortpflanzung, un- mittelbar oder mittelbar sich ableiten lassen. Die Ernährung ist zugleich diejenige physikalisch-chemische Leistung der Organismen, welche dieselben am durchgreifendsten von den Anorganen unter- scheidet. Die Selbsterhaltung der organischen Individuen ist nur durch den mit der Ernährung unzertrennlich ver- bundenen Stoffwechsel möglich, während die Selbsterhaltung der anorganischen Individuen (Kristalle etc.) gerade umgekehrt nur durch den Ausschluß jedes Stoffwechsels, durch das Beharren in der durch das Wachstum erlangten Form möglich ist. Die Existenz der anorganischen Individuen ist also an die Konstanz der gegen- seitigen Lagerung und Verbindung der Moleküle ihres Körpers, die Existenz der organischen Individuen gerade umgekehrt an den Wechsel der gegenseitigen Lagerung und Verbindung der Mole- küle ihres Körpers geknüpft, und an den Ersatz der durch die Lebenstätigkeit verbrauchten Stoffteilchen durch neue Stoffteilchen, welche von außen aufgenommen werden. Dieser Stoffwechsel, welcher allen Ernährungserscheinungen zugrunde liegt, ist nun zu- gleich die Ursache und die Grundbedingung aller der Verände- rungen, welche der Organismus durch Anpassung eingeht. Wenn wir die letzten Ursachen des Stoffwechsels aufsuchen, so gelangen wir wiederum zu den eigentümlichen, im fünften Kapitel ausführlich erörterten chemischen und physikalischen Eigenschaften der „organischen" Materien, und vor allen der wichtigsten und kompliziertesten dieser Kohlenstoffverbindungen, der Eiweißkörper oder Albuminate. Die außerordentliche Imbibitionsfähigkeit dieser Materien, ihr starkes Vermögen, durch Quellung bedeutende Flüssig- keitsmengen zwischen die Moleküle aufzunehmen, bedingt die Mög- lichkeit, beständig die durch die Lebenstätigkeit verbrauchten Stoffe nach außen abzuführen und dagegen neue, brauchbare Stoffe von außen einzuführen, zu assimilieren. Die komplizierte und lockere Verbindung der Atome in diesen Albuminaten zu höchst zusammen- gesetzten und leicht zersetzbaren Atomgruppen bedingt ihre außer- ordentliche Fähigkeit der Umsetzung, ihr ausgezeichnetes Vermögen, sich selbst zu verändern und verändernd, metabolisch auf die be- nachbarten Stoffe einzuwirken. Dadurch ist aber zugleich den um- gebenden Materien der Außenwelt Gelegenheit gegeben, vielfach ändernd auf diese Eiweißverbindungen einzuwirken, und in dieser XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 257 Wechselwirkung- zwischen beiden beruhen die Vorgänge der Er- nährung und die unmittelbar damit zusammenhängenden Vorgänge der Veränderung der organischen Formen, der Anpassung. V. C. Grad der Anpassung. Wenn wir die vorhergehenden, im fünften Kapitel näher be- gründeten Erwägungen stets im Sinne behalten, so finden wir, daß alle die unendlich mannigfaltigen und scheinbar so äußerst zweck- mäßigen Anpassungen der Formen und Funktionen der Organismen in letzter Instanz nichts anderes sind, als notwendige Folgen des unendlich mannigfaltigen Stoffwechsels, der unendlich mannig- faltigen Wechselwirkung zwischen den konstituierenden Piastiden der Organismen und der sie umgebenden Außenwelt, den unendlich man- nigfaltigen Existenzbedingungen. Es waltet also auch hier, wie über- all in der Natur, das allgemeine Kausalgesetz. Jede Veränderung, jede Anpassung eines Organismus ist die notwendige Folge aus dem Zusammenwirken von mehreren Ursachen, und zwar aus der Wechsel- wirkung der materiellen Teile des Organismus selbst und der mate- riellen Teile seiner Umgebung. Es muß demnach auch der Grad der Abänderung oder Anpassung dem Grade der Veränderung in den äußeren Existenzbedingungen entsprechen, welche mit dem Or- ganismus in Wechselwirkung stehen. Je größer die Verschiedenheit in den Existenzbedingungen ist, unter welchen der Organismus und unter welchen seine Eltern leben, desto intensiver wird die Einwirkung der ersteren sein, und desto größer die Abänderung, d. h. die Differenz in der Beschaffenheit des kindlichen (angepaßten) und des elterlichen Organismus. Ebenso wird diese Differenz (die Anpassung) um so stärker sein, je längere Zeit hindurch die umbildenden neuen Existenz- bedingungen auf den kindlichen Organismus einwirken. Der Grad der Anpassung ist also mit Notwendigkeit kausal bedingt durch den Grad und die Zeitdauer der Einwirkung veränderter Lebensbedingungen auf den Organismus. Der Grad der Wirkung steht in bestimmtem Verhältnisse zum Grade der Ursache. So einfach und selbstver- ständlich dieses Gesetz ist, so wird es dennoch vielleicht nirgends häufiger übersehen und ignoriert, als in der Lehre von den Abän- derungen und Anpassungen der Organismen. Dem gegenüber heben wir hier als oberstes Grundgesetz der Anpassung ausdrücklich fol- genden Satz hervor: „Jede Anpassungserscheinung (Abände- rung) der Organismen ist durch die materielle Wechsel- Haeckel, Prinz, d. Morphol. 17 258 ß^^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Wirkung zwischen der Materie des Organismus und der Materie, welche denselben als Außenwelt umgibt, bedingt, und der Grad der Abänderung (d. h. der Grad der morpho- logischen und physiologischen Ungleicheit zwischen dem abgeänderten Organismus und seinen Eltern) steht in geradem Verhältnisse zu der Zeitdauer und zu der Intensität der materiellen Wechsel- wirkung zwischen dem Organismus und den veränderten Existenzbedingungen der Außenwelt." V, D. Indirekte und direkte Anpassung. Bevor wir den Versuch machen, diejenigen Erscheinungen der Anpassung, welche als mehr oder minder bedeutende allgemeine Gesetze der Variabilität sich schon gegenwärtig formulieren lassen, zu unterscheiden, ist es notwendig, den Unterschied hervorzuheben, welcher zwischen zwei wesentlich verschiedenen Hauptformen der Anpassung, der direkten und der indirekten Adaptation besteht. Zwar ist dieser Unterschied bisher noch kaum urgiert worden; doch er- scheint er uns von solcher Bedeutung, daß wir glauben, alle ver- schiedenen Variabilitätsphänomene entweder als Wirkungen der direkten oder der indirekten Anpassung betrachten zu können. Direkte Anpassungen nennen wir solche, welche durch eine unmittelbare Ernährungsveränderung des Organismus zu irgendeiner Zeit seiner individuellen Existenz veranlaßt werden und noch während derselben durch bestimmte Veränderungen der Mischung, Funktion und Form in die Erscheinimg treten. Indirekte Anpassungen dagegen nennen wir diejenigen Ernährungsveränderungen des Or- ganismus, welche erst in den von ihm erzeugten Nachkommen, also mittelbar, ihre Wirkung äußern, und bestimmte Veränderungen in der Mischung, Form und Funktion des kindlichen Organismus zur Er- scheinung bringen, welche an dem unmittelbar betroffenen elterlichen Organismus nicht sichtbar wurden. Um diesen wichtigen Unterschied richtig zu würdigen, müssen wir zuerst die Grenzen und den Begriff der individuellen Existenz, und namentlich deren Beginn scharf zu bestimmen suchen. So ein- fach und leicht diese Aufgabe zunächst erscheint, so zeigt doch eine eingehende Vergleichung bald, daß ibre Lösung oft äußerst schwierig und in vielen Fällen ganz unmöglich ist. Eigentlich müßten wir jedes durch Fortpflanzung erzeugte organische Individuum von dem XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 259 Momente an für selbständig erklären, in welchem es als selbständiges Waclistumszentrum den übrigen Teilen des elterlichen Organismus gegenübertritt. Doch ist dieses Moment niemals scharf zu bezeichnen. Andererseits könnte man bei der ungeschlechtlichen Fortpflan- zung den Beginn der individuellen Existenz in das Moment setzen, in welchem das kindliche Individuum sich von dem elterlichen räumhch vollständig trennt; bei der Teilung. Knospenbildung. Keim- bildung also in das Moment, in welchem aus einem Körper zwei oder mehrere räumlich getrennt werden entweder durch eine voll- ständige Spaltungsebene oder durch Bildung einer realen Scheide- wand. Allein in zahlreichen, nahe mit dieser vollständigen Trennung verbundenen Fällen erfolgt die räumliche Loslösung oder die Bildung eines vollständigen realen Septum tatsächlich nicht, so z. B. bei der unvollständigen Teilung und Knospenbildung; und es ist dann oft ganz ebenso unmöglich, zeitlich wie räumlich, die Grenze des selbständigen und unselbständigen individuellen Lebens zu fixieren. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung werden wir den Beginn der individuellen selbständigen Existenz allgemein in das Moment der Befruchtung setzen können. In diesem Moment hört das Ei auf, ein reiner Bestandteil des mütterlichen Organismus zu sein und verschmilzt durch wahre materielle Vermischung mit dem väterlichen Sperma zu einem neuen Individuum, welches weder Ei noch Sperma allein, sondern eine wirkliche Verbindung von beiden, ein neuer, dritter Körper ist. Die weitere Entwickelung dieses be- fruchteten Eies zum selbständigen kindlichen Individuum kann zwar äußerlich noch längere Zeit vom mütterlichen Organismus abhängig erscheinen (wie bei den lebendig gebärenden Tieren, den Phane- rogamen etc., wo sich der Embryo innerhalb des mütterlichen Or- ganismus bis zu einem gewissen Grade entwickelt). Allein durch das Moment der Befruchtung ist der Beginn der individuellen Entwicke- lungsbewegung. des selbständigen Wachstums und überhaupt der physiologischen Selbständigkeit des neu erzeugten Organismus be- stimmt bezeichnet, und der mütterliche Organismus, mag er mit dem kindhchen noch so eng (wie bei den Säugetieren) verbunden erscheinen, ist ebensogut, wie der väterliche für den kindlichen doch nur Außenwelt, äußere Existenzbedingung. Wenn daher der kindhche Organismus hier schon, noch während seiner embryonalen Entwickelung, Veränderungen erfährt (z. B. monströse Ausbildung einzelner Teile 17* 260 Di^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX, durch mechanische, experimentell herbeigeführte Störung der Ent- wickelung), so sind diese Veränderungen wirkliche direkte An- passungen. Wir haben sie als solche ebensogut zu bezeichnen, wie in denjenigen Fällen, in welchen der Beginn der individuellen selbständigen Existenz mit einer vollständigen räumlichen Trennung des elterhchen und kindlichen Organismus verbunden ist (z. B. bei der vollständigen Teilung einzelliger Protisten, der Diatomeen etc., und der Zellen innerhalb mehrzelliger Organismen). Anders aber steht es in den eben berührten Fällen, in denen eine solche natürliche Begrenzung des Beginnes der individuellen Existenz nicht möglich ist. Hier können wir nicht so scharf zwischen der direkten und indirekten Anpassung unterscheiden, weil die Er- nährung der beiden Organismen, des elterlichen und kindlichen, ge- meinsam bleibt und wegen der fortdauernden Kontinuität beider (z. B. bei der Stockbildung durch unvollständige Knospenbildung) eine be- ständige nutritive Wechselwirkung zwischen beiden fortdauert. Der theoretische Unterschied zwischen der direkten und indirekten An- passung ist freilich auch hier klar. Im ersten Falle beruht die morphologische und physiologische Abänderung stets in einer Ver- änderung der Ernährung des angepaßten Individuums selbst; im letzteren Falle dagegen auf einer Ernährungsveränderung, welche sowohl allein vom kindlichen, als allein vom elterlichen Organismus, als endlich auch gemischt von beiden zusammen ausgehen kann. Im konkreten einzelnen Falle wird es aber ganz unmöglich sein, die Grenze zwischen diesen drei abstrakten Möglichkeiten scharf zu bestimmen, ebenso unmöglich, als die Grenze der nutritiven Selbständigkeit zwischen dem kontinuierlich materiell zusammenhängenden elterlichen und kindlichen Organismus scharf festzustellen ist. Obwohl es also in vielen Fällen nicht möglich ist, die Grenze der nutritiven Selbständigkeit des kindlichen Individuums scharf zu bestimmen, wird dadurch doch der Unterschied zwischen der indirekten und der direkten Anpassung keineswegs aufgehoben. Denn es ist klar, daß der Begriff der individuellen Anpassung eigenthch streng genommen nur auf diejenigen Fälle der Abänderung angewendet werden kann, in denen die Abänderung tatsächlich durch Wechsel- wirkung zwischen den selbständigen Individuen und der Außenwelt erfolgt. Nur in diesen Fällen ist es lediglich eine Veränderung in der Ernährung dieses einzelnen Individuums, welche der Anpassung zugrunde liegt. In den zahlreichen Fällen dagegen, wo dieselbe XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 261 ein nicht vollkommen selbständiges Individuum betrifft, ist es un- möglich, zu sagen, wieviel von der erworbenen Veränderung auf Kosten einer Ernährungsveränderung des Individuums selbst kommt, wieviel auf Kosten einer Ernährungsveränderung des elterlichen Organismus, welcher mit dem kindlichen noch in bleibender Wechselwirkung, in unmittelbarer materieller Kontinuität und beständigem Stoffaustausch verharrt. Diese Erwägung ist. wie Darwin zuerst gezeigt hat, von äußerster Wichtigkeit. Denn tatsächlich lehrt die Erfahrung, daß Ernährungs- veränderungen, welche den elterlichen Organismus betreffen, und welche an diesem selbst nur eine geringe, oft in Form und Funktion nicht wahrnehmbare Mi schungs Veränderung hervorbringen, in ihrer Wirkung auf den kindlichen, von jenem erzeugten Organismus sehr bedeutende, in Form und Funktion oft äußerst auffallende Abän- derungen hervorbringen. Obwohl also hier die wirkende Ursache bloß den elterlichen Organismus trifft, kommt sie doch nicht an diesem, sondern erst an dem kindlichen Organismus zur Erscheinung. Dieses wichtige Gesetz zeigt sich äußerst auffallend bei unseren Haustieren und Kulturpflanzen, bei denen wir nicht selten imstande sind, durch ganz bestimmte Beeinflussung ihrer Ernährung ganz bestimmte Ver- änderungen in Form und Funktion zu erzielen, welche aber nicht an ihnen selbst, sondern erst an ihren Nachkommen in die Erscheinung treten. Dies gilt aber nicht nur für alle oben erwähnten FäUe von unvollständiger Trennung des elterlichen und kindlichen Organismus, sondern es gilt auch für alle Fälle von vollständiger Trennung und namentlich auch für alle Fälle von geschlechtlicher Fortpflanzung. Es zeigt sich hier die höchst merkwürdige und wichtige Tatsache, daß selbst leichte Ernährungsveränderungen, welche in den meisten Organen und Funktionen des elterlichen Organismus keine bemerkbare oder nur eine ganz unbedeutende Abänderung bewirken, auf die Ge- schlechtsorgane desselben (nach dem Gesetz von der Wechselbeziehung der Organe) eine verhältnismäßig kolossale Wirkung ausüben, und namentlich auf die noch nicht vereinigten Geschlechtsprodukte (Sperma und Eier) so bedeutend einwirken, daß diese Einwirkung nach er- folgter Vereinigung derselben (Befruchtung) in Abänderungen der Form und Funktion des kindlichen Organismus äußerst auffallend heiTortritt. Allerdings sind uns im einzelnen diese höchst wichtigen nutritiven Wechselbeziehungen zwischen den Fortpflanzungsorganen und den übrigen Teilen des Organismus noch fast ganz unbekannt, und 262 ßie Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. zum größten Teil sehr rätselhaft. Allgemeine und sehr merkwürdige Beweise für deren Existenz besitzen wir aber sehr viele, wie z. B. die bekannten Veränderungen im Stimmorgan, in der Fettbildung und in den psychischen Tätigkeiten bei kastrierten männlichen Tieren; ferner die wichtige Tatsache, daß schon leichte Ernährungsstörungen, und bei vielen wilden Tieren sogar schon der Verlust ihrer natürlichen Freiheit und das Leben in Gefangenschaft ausreichen, um sie voll- ständig unfruchtbar zu machen. So pflanzen sich z. B. die Affen und die bärenartigen Raubtiere, der Elephant, die Raubvögel, und viele andere Tiere, ebenso auch viele Pflanzenarten, in der Gefangenschaft und im Kulturzustande niemals oder nur sehr selten fort, während andere dies regelmäßig tun. Oft genügt schon übermäßig reichliche Nahrung, um Sterilität (und zugleich vielfache Variationen) hervor- zurufen. Ebenso wie die Sterilität wird aber auch die Produktion einer sehr abweichenden und selbst monströsen Nachkommenschaft sehr oft lediglich durch derartige Ernährungsstörungen des elterlichen Organismus bedingt, ohne daß er selbst bereits die auffallenden Charaktere seiner Kinder ausgebildet zeigt. Diese äußerst wichtige Erscheinung, welche wir bei allen Arten der Fortpflanzung beobachten, und welche uns wiederum den innigen Zusammenhang zwischen der Fortpflanzung und Ernährung vor Augen führt, läßt sich, streng genommen, nicht als individuelle Anpassung bezeichnen, insofern es nicht das selbständige Individuum ist, welches die Abänderung durch Wechselwirkung mit der Außenwelt erfährt. Vielmehr wird der Grund der Abänderung vermittelst der materiellen Grundlage des elterlichen Organismus in diejenige des kindlichen Individuums gelegt, schon bevor dasselbe sich überhaupt vom elter- lichen Organismus irgendwie isoliert hat. Eine individuelle Ernährungs- modifikation des letzteren ist die eigentliche erste Ursache. Es wird also die Anlage zur Abänderung bereits im elterlichen Organismus (durch die Ernährung) bewirkt und von diesem auf den kindlichen Organismus (durch die Fortpflanzung) übertragen. In letzterer Hinsicht könnte man versucht sein, den Vorgang eher eine Erscheinung der Vererbung als der Anpassung zu nennen. Allein der wesentliche Unterschied von der Vererbung liegt darin, daß bei dieser letzteren die (chemischen, physiologischen, morphologischen) Eigenschaften, welche der elterliche Organismus auf den kindlichen überträgt, bei dem elterlichen bereits wirklich entwickelt in die Erscheinung ge- treten waren und also nicht bloß jjofotfia, sondern auch «ff^r in ihm XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 263 verlianden waren. Im ersteren Falle dagegen sind jene Eigenschaften in dem elterlichen Organismus bloß potentia, nicht adu vorhanden, und zwar latent in dem Keime des kindlichen Organismus, bei dessen Entwickelung erst sie in die Erscheinung treten. Wir können daher diesen Vorgang seinem Wesen nach nicht als eine Erblichkeitser- scheinung, sondern müssen ihn als eine Anpassungs-Erscheinung auffassen, wenngleich wir hervorheben müssen, daß er eine un- mittelbare Übergangsstufe zwischen den entgegengesetzten und entgegenwirkenden Erscheinungen der Vererbung (die mit der Fortpflanzung) und der eigentlichen individuellen An- passung (die mit der Ernährung zusammenhängt), darstellt. Um ihn von der letzteren, der aktuellen oder direkten Anpassung zu unter- scheiden, wollen wir ihn ein für allemal als indirekte oder potentielle Anpassung bezeichnen. Alle Anpassungen, welche bei den Organismen vorkommen, gehören einer von diesen beiden Kategorien an. Das Gesetz der indirekten oder potentiellen Anpassung oder der Abänderung des Organismus durch Ernährungsmodifikationen seines elterlichen Organismus läßt sich demnach folgendermaßen formuHeren: „Jeder Organismus kann durch Wechselwirkung mit der umgebenden Außenwelt nutritive Veränderungen erleiden, welche nicht in seiner eigenen Formbildung, sondern erst mittelbar in der Formbildung seiner Nach- kommenschaft, als indirekte Anpassung, in die Erscheinung treten." Das Gesetz der direkten oder aktuellen Anpassung oder der Abänderung des Organismus durch eigene, ihn selbst betreffende Ernährungsmodifikationen würde dagegen lauten : ., J e d e r 0 r g a n i s m u s kann durch Wechselwirkung mit der umgebenden Außen- welt nutritive Veränderungen erleiden, welche unmittelbar in seiner eigenen Formbildung, als direkte Anpassung, in die Erscheinung treten." Hierher gehören die meisten Fälle in- dividueller xlbänderungen, welche man gewöhnlich als Anpassung (im engeren Sinne) bezeichnet. Wenn wir nunmehr an die Betrachtung der verschiedenen Gesetze der indirekten und der direkten Anpassung herantreten, welche wir gegenwärtig unterscheiden zu können glauben, so müssen wir zunächst leider dieselbe Bemerkung vorausschicken, welche wir soeben bei Besprechung der Erblichkeitsgesetze gemacht haben, daß wir uns nämlich auf einem ebenso ausgedehnten als wichtigen Gebiete der 264 i^iP Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Biologie befinden, auf welchem fast noch nichts geschehen ist. um die wertvollen daselbst verborgen liegenden Schätze zu heben. Zw^ar sind den Zoologen und Botanikern, seitdem Linne das systematische Studium der äußeren Morphologie begründete, zahllose Varietäten. Rassen, Spielarten und andere Abändeningsformen der sogenannten „guten Arten'' bekannt geworden, und der größte Teil der zoologischen und botanischen Literatur ist mit Beschreibung dieser zahllosen Abänderungsformen gefüllt und mit den unnützesten und hirnlosesten Streitigkeiten über die Frage, ob diese oder jene Form als „gute Art" oder bloß als Unterart, als Gattung oder als Varietät, als Rasse oder nur als individuelle Abänderung zu deuten sei. Da indessen die meisten hierauf bezüglichen Untersuchungen nur mit einem höchst beschränk- ten Materiale und mit einem noch mehr beschränkten Verstände an- gestellt sind, so haben dieselben keinen oder nur sehr geringen wissenschaftlichen Wert. Die meisten Botaniker und Zoologen, die ihr Leben mit solchen unnützen Spielereien zugebracht haben, sind ohne alle philosophische Basis zu Werke gegangen und haben sich weder die Mühe gegeben, über die eigentliche Bedeutung der Begriffe „Art, Unterart. Rasse, Abart, Varietät, Spielart etc.'" nachzudenken, noch über die Ursachen, durch welche die tatsächlichen Verschieden- heiten dieser subordinierten Kategorien entstanden sind. An eine wissen- schaftliche Untersuchung der Abänderungsgesetze hat aber vor Darwin fast noch niemand gedacht, und auch Darwin hat mehr Verdienst um die klare Hervorhebung der kausalen Verhältnisse der Abän- derungen, als um die ordnungsgemäße Unterscheidung ihrer ver- schiedenen Modifikationen, die in diesem Chaos von ungeordneten Tatsachen allerdings ebenso schwierig als wichtig ist. Unter diesen Umständen können wir eine vollständige Erkenntnis der mannigfal- tigen Verhältnisse erst von der intelligenten Morphologie der Zukunft hoffen, welche bemüht sein wird, gerade die feinen individuellen Unter- schiede und die geringen Differenzen der Varietäten, Rassen etc. sorg- fältig zu wägen und daraus zusammenhängende Entwickelungsreihen herzustellen, während die bisherige künstliche Systematik gerade das Gegenteil erstrebte und nur bemüht war, die Arten scharf zu trennen, indem sie die vorhandenen Zwischenformen beiseite schob und ignorierte. Der folgende Versuch, die verschiedenen Abänderungser- scheinungen als geordnete Gesetze aufzuführen, kann unter diesen Umständen nur ein ganz provisorischer sein. 1 XIX. y- Veränderlichkeit und Anpassung. 265 V, E. Gesetze der Anpassung. Ea. Gesetze der indirekten oder potentiellen Anpassung. 1. Gesetz der individuellen Abänderung. (Lex variationis iiidividualis.) Alle organischen Individuen sind von Beginn ihrer individuellen Existenz an ungleich, wenn auch oft höchst ähnlich. Dieses wichtige Gesetz der individuellen Abänderung, welches wir auch das der angeborenen Ungleichheit nennen könnten, ist das allgemeinste, welches sich auf die Abänderungsverhältnisse bezieht und steht unmittelbar gegenüber dem allgemeinsten Yererbungsgesetze, wonach die unmittelbaren Deszendenten der Organismen ihren Eltern entweder nahezu gleich oder doch sehr ähnlich sind. Beide Gesetze widersprechen sich nicht. Denn wenn auch alle Individuen einer und derselben „Art" oder ..Abart'' noch so sehr ähnlich sein mögen, und wenn wir auch mit unseren besten Hülfsmitteln keine Unter- schiede zwischen denselben wahrnehmen können, so haben wir doch Gründe genug zu der Annahme, daß nur höchst selten und zufälHg eine absolute Gleichheit zweier ähnlicher Individuen stattfindet. Wir begründen dieses Gesetz induktiv auf die allgemein bekannte Un- gleichheit der menschlichen Indi\iduen von der Zeit ihrer Geburt an. Niemand wird behaupten, daß es jemals zwei Menschen ge- geben habe, welche absolut gleich gewesen seien, welche absolut dieselbe Größe, Form und Farbe, dasselbe Gesicht, dieselbe Zahl von Epidermiszellen, Blutzellen etc., dieselben Seelenbewegungen (Wille, Empfindung, Denken in absolut gleicher Form) besessen haben. Schon bei der Geburt sind allgemein individuelle Ungleichheiten vor- handen, wenn sie auch oft schwer zu erkennen sind und erst später deutlicher hervortreten. Was vom Menschen, das gilt auch von den übrigen Säugetieren, und es ist allen Menschen, die sich eingehend mit einer größeren Anzahl von Indi^iduen einer Art beschäftigt und dieselben genau und lange Zeit beobachtet haben (z. B. den Hirten von Viehherden, den Förstern, Ausstopfern) wohl bekannt, daß alle einzelnen Individuen einer und derselben Spezies, trotz der größten Ähnhchkeit, dennoch individuelle Unterschiede zeigen. Dasselbe wissen alle systematischen Botaniker, welche Massen von Individuen einer und derselben Spezies eingehend verglichen haben. Dasselbe weiß jedermann von allen Bäumen eines Waldes. Niemand wird 266 Diß Deszendenztheorie und die öelektioustheorie. XIX. z. B. behaupten, daß es jemals zwei Bäume von einer und derselben Art, z. B. zwei Apfelbäume oder zwei Roßkastanien gegeben habe, welche in allen Beziehungen, in der Zahl der Blätter und Blüten, der Bildung der Rinde, der Verzweigung des Stammes, in der Zahl und Form aller konstituierenden Zellen absolut gleich gewesen seien. Schon eine Betrachtung einer Baumschule lehrt hiervon das gerade Gegenteil, und eine sorgfältige Vergleichung der jüngsten Samen- pflanzen zeigt, daß sie schon von erster Jugend an individuelle Unterschiede zeigen. Nun könnte man zwar behaupten, daß diese absolute Ungleichheit aller organischen Individuen durch die univer- selle direkte Anpassung erworben sei, und zum großen Teile ist dies gewiss der Fall, da niemals zwei Individuen ihr ganzes Leben unter absolut denselben Existenzbedingungen zubringen. Allein Dar- win hat gezeigt, daß wir hinreichende Gründe haben, die allgemeine individuelle Ungleichheit der Organismen auch teilweis als Folge einer indirekten Abänderung derselben anzusehen, hervorgebracht durch primitive Verschiedenheiten in der chemischen Zusammen- setzung der von den Eltern erzeugten Keime. 2. Gesetz der monströsen oder sprungweisen Abänderung. (Lex variafionis monsfrosae sive generatlvae.) Alle Organismen sind unter bestimmten, sehr abweichen- den und ungewöhnlichen Ernährungsbedingungen fähig, eine Nachkommenschaft zu erzeugen, welche nicht in dem gewöhnlichen geringen Grade der individuellen A'^eränder- lichkeit, sondern in einem so außerordentlichen und un- gewöhnlichen Grade von den Charakteren des elterlichen Organismus abweicht, daß man dieselben als Monstra oder Mißbildungen bezeichnet.*) Dieses noch wenig bekannte, und auch hinsichtlich der zugrunde liegenden Tatsachen noch wenig untersuchte Gesetz ist, soviel wir bis jetzt wissen, nur von geringer, bisweilen vielleicht aber auch von sehr bedeutender Wichtigkeit für die Entstehung von neuen Arten. Es gehören hierher wahrscheinlich alle diejenigen Fälle, welche man als sprungweise Abänderung, plötzliche Aus- *) Anm. (190()). Neuerdings hat der Botaniker Hugo de Vries (1901) die sprungweise ])lötzliche Variation unter dem Namen ..Mutation" als die wichtigste Quelle der Speziesbildung zu erweisen versucht. Vergl. über diese Mutationstheorie meine „Lebenswunder" (1904, S. 429). XIX. V. Veränderung und Anpassung. 267 artung. monströse Entwiekelung etc. bezeichnet. Bei den Menschen sowohl als bei den andern im Kultm-zustande lebenden Tieren, eben- so bei den Knltnrpflanzen sind solche monströse Abänderungen verhältnismäßig häufig und oft so bedeutend, daß sie nicht allein über den Charakter der Art und Gattung, sondern auch sehr oft über denjenigen der Familie und Ordnung weit hinausgreifen. Es gehören hierher z. B. die bekannten Fälle von Menschen mit sechs Fingern an jeder Hand und jedem Fuß, ferner die berühmten Stachel- schweinmenschen mit schuppenartiger Epidermis, die ka\ikornien Wiederkäuermonstra ohne Hörner (von einer sonst gehörnten Art) oder mit 4 — 6 — 8 (statt der normalen zwei) Hörnern, dann der all- gemeine Pigmentmangel der Haut (Leucosis) bei den Albinos der verschiedensten Tierarten, die ungewöhnlichen Größenproportionen einzelner Körperteile untereinander und zum Ganzen, ferner die zahlreichen, höchst auffallenden und plötzlich entstehenden ..mon- strösen" x\bänderungen in Größe. Farbe. Blätterzahl etc. bei den Blüten und Früchten unserer Kulturpflanzen, viele ..gefüllte Blüten" etc. Aber nicht allein solche auffallende äußerliche, leicht erkenn- bare Mißbildungen treten oft ganz plötzlich in einer Generation auf, sondern auch die wichtigsten Abweichungen von der Lage, Größe und Gestalt innerer Organe, so z. B. die Umkehrung von Rechts und Links bei dipleuren Tieren (Perversio viscerum des Menschen, links gewundene Individuen von regelmäßig rechts gewundenen Schnecken etc.). Die kausale Entstehung der meisten dieser plötzlich auftreten- den Monstrositäten ist uns mit Sicherheit nicht bekannt. In \ielen Fällen sind es mechanische oder nutritive Störungen in der Ent- wiekelung des Embryo, welche die „Mißbildung" verursachen (dann also direkte Anpassungen!), in sehr fielen anderen Fällen dagegen sind es sicher Nutritionsstörungen des elterlichen Organismus, welche auf das Genitalsystem desselben zurückwirken und die auffallende Abänderung des kindlichen Organismus schon im ersten Keime, im noch nicht befruchteten Ei oder im Sperma bedingen. Hierbei tritt der ungeheure Einfluß, den che veränderte Ernährung des Organis- mus auf seine Fortpflanzungsorgane hat, besonders auffallend her- vor. Wie bereits Darwin hervorgehoben hat, sind solche monströse Abweichungen, welche er als „generative" bezeichnet, fast durch- gängig zuerst sehr unbeständig und zeigen dies besonders darin, daß, wenn sie sich mehrere Generationen hindm'ch vererben, der Grad 268 l^ic Deszendenztheorie und die Selektionstheoiie. XIX. der monströsen Ausbildung in verschiedenen Generationen und Indi- viduen ein sehr verschiedener ist. Auch verschwinden sie oft ebenso plötzlich wieder in einer Generation, wie sie in einer vorhergehen- den entstanden sind. Indes gelingt es der künstlichen Züchtung doch oft, dieselben zu erhalten und durch generationenlange Pflege zu befestigen, wie es z. B. bei den vierhörnigen und sechshörni- gen Schafen der Fall gewesen ist, bei dem berühmten hörnerlosen Bullen von Paraguay, von dem man eine ganze Rinderrasse erzog, bei dem krummbeinigen Schafbock von Seth Wright in Massa- chusetts, der ebenfalls der Stammvater einer ganzen krummbeini- gen Schafrasse (der Otterschafe) wurde etc. Ebensogut ist es nun denkbar und vielleicht in der Tat sehr oft geschehen, daß eine plötz- hche und starke Veränderung in der Ernährung einer Spezies im Naturzustande (z. B. dadurch, daß sich plötzlich das Klima einer Gegend ändert) auf die Generationsorgane zurückwirkt und zur massenhaften sprungweisen Erzeugung neuer monströser Formen führt, welche sich durch Inzucht fortpflanzen und eine neue „Art" bilden. So gut wir diesen Prozeß bei wilden Pflanzen und Tieren in umgekehrter Reihenfolge als plötzlichen „Rückschlag" verfolgen können, so gut ist es auch denkbar, daß dieselbe sprungweise Um- bildung nach vorwärts eintritt und zur Bildung neuer Arten führt. So finden wir z. B. bei Lippenblüten (und besonders häufig bei der bekannten Linaria vulgaris) nicht selten die auffallende „Monstrosi- tät", welche mit dem Namen Peloria belegt wird und welche offen- bar als einfacher Rückschlag in die weit zurückliegende pentakti- note (regulärstrahlige fünfzälilige) Stammform der pentamphipleuren Lippenblüte zu deuten ist. Wie wir hier plötzlich (oft an einzelnen Blüten eines sonst Lippenblüten tragenden Stockes) den weiten Sprung in die alte regulär-radiale Stammform zurück eintreten sehen, welche man als ..Monstrum'-'- bezeichnet, so kann auch umgekehrt ursprüng- lich die alte pentamphipleure Lippenblüte, die wir jetzt als die „nor- male" ansehen, durch einen plötzlichen Sprung aus der ersteren als „Monstrum" entstanden sein. Besonders weit dürfte der Spielraum für die sprungweise Entstehung solcher monströser ..Abarten" oder ,.Ausartungen", die sich dann unter günstigen Umständen zu ..guten Arten" befestigten, bei den meisten Organismen liinsichtHch der Zahl der Antimeren und Metameren gewesen sein, wovon uns noch heute die große Variabilität der homotypischen und homodynamen Grundzahlen bei vielen Tier- und Pflanzenarten berichtet. Auch in Gruppen, in XIX. ^- Veränderlichkeit und Anpassung. 269 (leren meisten Arten sich diese Grnndzahlen fixiert haben, kommen einzehie Arten vor, bei denen dieselbe noch schwankt, so unter den fünfzähligen Echinodermen einzelne mit mehr als fünf (und dann mit einer schwankenden Anzahl!) Antimeren versehene Ästenden. Offenbar findet hier die Bestimmung der Grundzahl für jedes Indi- viduum schon im ersten Anfang seiner Entwickelung statt. 3. Gesetz der geschlechtlichen Abänderung. (Lex variationis sexualis.) Bei allen Organismen mit geschlechtlicher Fortpflan- zung vermag sowohl eine Ernährungsveränderung, welche auf die männlichen, als eine solche, welche auf die weib- lichen Geschlechtsorgane einwirkt, eine entsprechende Ab- änderung der geschlechtlich erzeugten Nachkommenschaft zu veranlassen, und es äußert sich dann entweder aus- schließlich oder doch vorwiegend die Ernährungsverän- derung der männlichen Genitalien in der Abänderung der männlichen, diejenige der weiblichen Genitalien in der Ab- änderung der weiblichen Nachkommen. Dieses Gesetz der sexuellen Abänderung hängt sehr eng mit demjenigen der sexuellen Vererbung zusammen. Bei der letzteren fanden wir, daß die Gesamtcharaktere jedes der beiden Geschlechter, und zwar sowohl die primären als die sekundären Sexualcharaktere, sich meistens einseitig, also entweder vorwiegend oder fast ausschließ- lich nur auf das entsprechende Geschlecht vererben, so daß Gene- rationen hindurch sich einerseits die männlichen, andererseits die weiblichen Deszendenten mehr gleichen, als beide Reihen unter sich. Bei der sexuellen Abänderung finden wir dementsprechend, daß jede Ernährungsveränderung, welche eines der beiderlei Geschlechtsorgane betrifft und das andere nicht berührt, entweder vorwiegend oder selbst ganz ausschließlich eine Veränderung bloß in demjenigen Geschlechte der Nachkommen hervorruft, welches dem veränderten Sexualsystem der Eltern entspricht : während das andere Geschlecht nicht abändert. Wenn also z. B. bei den Hühnervögeln eine eingreifende Veränderung in der Ernährungsweise bloß den Hahn betrifft und auf dessen Hoden zurückwirkt, während die Henne und also auch ihr Eierstock nicht von derselben betroffen wird, so wird eine entsprechende, vielleicht monströse, Abänderung in der Bildung der von beiden geschlechtlich erzeugten Nachkommen nur an den Hähnen, nicht an den Hennen 270 Di*^ Deszeiidenztlieorie und die Selektionstlieorie. XIX. siclitbar werden. Im ganzen ist diese Erscheinung noch dunkel, wenig beachtet, und meist auch sehr schwierig in ihrem ursächliclien Zusammenhang zu verfolgen, vielleicht aber von großer Wichtigkeit für die Erklärung der Entstehung der sekundären Sexualcharaktere. Eb. Gesetze der direJden oder aktuellen Anpassung. 4. Gesetz der allgemeinen Anpassung. (Lex arlapfationift universalis.) Alle organischen Individuen werden während ihrer individuellen Existenz durch Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen ungleich, wenn sie auch oft höchst ähnlich bleiben. Dieses Gesetz bewirkt, im Verein mit demjenigen der individuellen Anpassung, die allgemeine Ungleichheit aller organischen Individuen. Durch die universelle Anpassung wird die erworbene, durch die individuelle Anpassung dagegen die angeborene Ungleichheit aller Einzelwesen bedingt. Die erstere läßt sich viel leichter nach- weisen als die letztere, denn während wir über die angeborene Ver- schiedenheit aller organischen Individuen noch so sehr im unklaren sind, daß wir die allgemeine Gültigkeit des Gesetzes der individuellen Abänderung nur mit sehr geringer Sicherheit und nur auf allgemeine Gründe gestützt, behaupten können, so ist das Gegenteil bei der er- worbenen Ungleichheit der Fall, welche sich mit mathematischer Sicherheit aus dem allgemeinen Kausalgesetze folgern läßt. Indem die äußeren Existenzbedingungen, wie allgemein anerkannt wird, umbildend auf den Organismus einwirken, indem ferner diese Existenz- bedingungen für alle Individuen ungleich (niemals absolut die- selben) sind, so müssen, selbst den unwahrscheinlichen Fall ange- borener Gleichheit der Individuen angenommen, infolge der allgemeinen Ungleichheit der einwirkenden Ursachen im Laufe der individuellen Existenz stets mehr oder minder bedeutende Unterschiede in der Bildung der Individuen eintreten. So läßt sich, selbst ohne die be- stätigenden Beweise der unmittelbaren Beobachtung, eine allgemeine Ungleichheit sämtlicher organischer Individuen mit Sicherheit be- haupten. Hinsichtlich der empirischen Bestätigung berufen wir uns auch wieder zunäclist auf den Menschen selbst, von welchem es all- gemein anerkannt ist, daß die verschiedene Lebensweise und Be- schäftigung, der verschiedenartige Umgang mit anderen Menschen, kurz die für jedes Individuum allgemein verschiedenen Verhältnisse XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 271 der Eruälinmg sowohl als der Beziehung zur Außenwelt, individuelle Verschiedenheiten in der Bildung, dem Charakter, den somatischen und psychischen Eigenschaften veranlassen, welche um so größer werden, je älter der Mensch wird, d. h. je länger jene verschiedenen Ursachen einwirken. Dasselbe gilt ebenso von den Individuen aller anderen Tiere und Pflanzen. Bei den Pflanzen tritt gewöhnlich die individuelle Ungleichheit viel auffallender als bei den Tieren hervor, weil die Organe dort äußerlich, hier innerlich entfaltet werden. Wie wir aber oben bereits sagten, ist es außerordentlich schwierig, zu sagen, wie- viel Anteil an der tatsächlich existierenden Verschiedenheit der erwachsenen Individuen auf Rechnung der angeborenen Ungleichheit, wieviel auf Rechnung der erworbenen Ungleichheit zu setzen ist. Darwin scheint im ganzen größeres Gewicht der ersteren (dem Gesetz der individuellen Abänderung) zuzuschreiben, während wir glauben möchten, daß die letzere (das Gesetz der universellen An- passung) eine allgemeinere und eingreifendere Wirksamkeit entfalte. 5. Gesetz der gehäuften Anpassung. (Lex adaptationis cumulativae.) (Gesetz der Gewohnheit, der Ühung-, der Akklimatisation, der Reaktion etc.) Alle Organismen erleiden bedeutende und bleibende (chemische, morphologische und physiologische) Abän- derungen, wenn eine an sich unbedeutende Veränderung in den Existenzbedingungen lange Zeit hindurch oder zu vielen Malen wiederholt auf sie einwirkt. In dem ,.Gesetze der gehäuften Anpassung" glauben wir mehrere, scheinbar sehr weit voneinander entfernte Anpassungsgesetze ver- einigen zu müssen, welche gewöhnlich als ganz verschiedene betrachtet werden, die wir aber nicht scharf zu trennen imstande sind. Die Abänderungen nämlich, welche wir als gehäufte oder kumulative zusammenfassen, sind solche, welche von Darwin und vielen anderen mehrfach unterschieden und wenigstens in zwei ganz verschiedene Kategorien gebracht werden, nämlich: I. Unmittelbare Folgen der Einwirkung der äußeren Existenzbedingungen: Nahrung, Klima, Bodenbeschaffenheit, Umgebung etc. IL Folgen der Ge- wohnheit oder Angewöhnung (Übung, Gebrauch oder Nichtge- brauch der Organe, Akklimatisation etc.). Wir gestehen, daß wh- un- fähig sind, diese Kategorien scharf zu scheiden und vielmehr glauben, daß die eigentliche ursächliche Grundlage bei allen diesen Anpassungs- erscheinungen dieselbe ist, nämlich eine langsame aber andauernde 272 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Veränderung in der Ernährung des Organismus oder einzelner Teile, welche zwar zuerst und in jedem einzelnen Falle nur eine sehr un- bedeutende Einwirkung auf die physiologische und morphologische Beschaffenheit der Organe ausübt, allein durch lang andauernde und oft wiederholte kleine Einwirkungen schließhch sehr bedeutende Um- bildungsresultate zu erzielen vermag. Wir wollen, um diese An- schauung zu stützen und womöglich zu beweisen, jede der beiden Kategorien, die man unnützerweise noch in verschiedene kleinere gespalten hat, gesondert für sich betrachten. Wir können die beiden verschiedenen Gruppen von Existenzbedingungen, welche durch ku- mulative Einwirkung gehäufte Anpassungen verursachen, als äußere und innere Existenzbedingungen unterscheiden.') I. Geliäiifte Aiipassiuigen durch die Wirkiing-en äußerer Existenzbedingung-en. (Anpassung-en an die Nahrung, das Klima, die Umgebung etc.) Die Abänderungen der Organismen durch die sogenannte ,,un- mittelbare Wirkung der äußeren Existenzbedingungen" oder den „un- mittelbaren Einfluß der Außenwelt" sind die bekanntesten von allen, und sehr viele Naturforscher sind von jeher geneigt gewesen, denselben überhaupt alle Veränderungen zuzuschreiben, die wir an den Or- ganismen wahrnehmen. Jedermann weiß, daß die verschiedene Qualität der Ntihrungsmittel, des Lichts, der Wärme, der Feuchtigkeit einen bestimmten Einfluß auf die Größe, Farbe, Form und innere Beschaffen- heit der Organismen, auf ihre morphologische Ausbildung und ihre physiologische Funktion ausübt. Wir brauchen statt aller Beispiele hier bloß an die Tatsache zu erinnern, wie äußerst empfindlich der menschliche Organismus gegen diesen Einfluß der „Medien" ist, wie jede Veränderung des Klimas, der Nahrung (Diät), der Umgebung etc. unmittelbar eine bestimmte Veränderung des Organismus hervorruft, welche sich in seinen Funktionen noch deutlicher als in seinen Formen äußert, und welche wir entweder als heilsame, oder als gleichgültige, oder als schädhche betrachten. Dasselbe nun, was wir alle vom Menschen anerkennen, gilt ebenso auch von allen anderen Tieren und von allen Organismen überhaupt. Jeder ohne Ausnahme ist empfänglich für den Einfluß der verschiedenen Qualität und Quantität der unmittelbar eingeführten Nahrungsstoffe, des Klimas 1) Anm. (11)015). Das wichtige Gesetz der ..kumulativen Anpassung", das ich hier (18(56) begründet und durch „Ernährungsabänderungen'- physiologisch erklärt habe, ist identisch mit dem Gesetze der funktionellen Anpassung, das Wilhelm Roux 15 Jahre später (1881) zu großem Ansehen gebracht hat. XIX. ^ • Veräiideilichkeit und Aiipassiing. 273 (den verschiedenen Grad von Licht, Wärme, Fenchtigkeit etc.) Zu- nächst ist die Einwirkung- derselben gewöhnlich nur an einer Ab- änderung der Funktion bemerkbar und erst später an einer Abänderung der Form des Organs, welche sich natürlich der Funktion entsprechend verändern muß. Man kann diese abändernden Einflüsse allgemein als die chemischen und physikalischen Agentien oder besser als die anorganischen Agentien zusammenfassen, im Gegensatz zu den or- ganischen Agentien, welche bei der folgenden Art der Anpassung tätig sind. So wichtig diese Agentien sind, so ist dennoch gewiß ihr Einfluß gewöhnlich insofern sehr überschätzt worden, als man sie meist viel zu ausschließlich als die einzigen oder doch die vor- züglichsten Anpassungsbedingungen betrachtet hat, und insofern hat Darwin vollkommen recht, wenn er denselben eine viel geringere Bedeutung beimißt. Indessen möchten wir ihren Einfluß doch nicht so gering wie letzterer schätzen, wenn wir daran denken, welche enormen Veränderungen z. B. allein unser Zentralnervensystem (die Vorstellungen des Wollens, Empfindens und Denkens) durch die Ein- wirkung des Klimas (Licht, Wärme. Feuchtigkeit), der verschiedenen Nahrungsmittel (alkoholische Getränke, Kaffee und Thee. Fleisch, Amylaceen etc. zu erleiden hat: wie der Charakter ganzer Nationen durch das Klima und die Art der Nahrung bestimmt wird, wie wir bei unseren Haustieren und Kulturpflanzen durch geringe Verän- derungen der Nahrung und des Klimas bedeutende Abänderungen in Form und Funktion hervorrufen können. Nach unserer Ansicht liegt die falsche Auffassung, welche man diesem Einflüsse gewöhnlich hat angedeihen lassen, vorzüglich darin, daß man den Organismus dabei als ein ganz oder doch vorwiegend passives Wesen aufgefaßt hat. während doch in der Tat derselbe sich allen Einflüssen gegenüber zugleich aktiv verhält. Jede Aktion eines äußeren Agens, gleichviel ob dasselbe Licht oder Wärme oder Wasser oder irgendein anderes Nahrungsmittel, ein Medikament oder ein Gift ist; jede Aktion eines solchen unmittelbar auf die Er- nährung des Organismus einwirkenden Agens ruft eo ipso zugleich eine Reaktion des Organismus hervor, die sich eben in der Mo- difikation der Ernährungstätigkeit und in dem aktiven (abwehrenden, indifferenten oder aufnehmenden) Verhalten der Ernährungsorgane gegenüber den Medien und der Nahrung äußert, sowie in der Rück- wirkung auf die Ernährung des Ganzen. Man faßt gewöhnlich, dieses Verhältnis ignorierend, den unmittelbaren Einfluß der äußeren Haeckel, Prinz, d. Morjiliol. • 18 274 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Existenzbcdingunji;en als einen einseitigen, bloß äußerlichen auf und berücksichtigt nicht die aktive Gegenwirkung des Organismus, durch welche allein die allmähliche Anpassung möglich ist. Diese ver- mögen wir aber nicht von der ,, Gewöhnung" zu unterscheiden, welche man gewöhnlich als eine ganz verschiedene Art der Anpassung an- zusehen pflegt. n. Gehäufte Anpassini gen durch die Wirkung' en innerer Exis te uz hedingungfen. (Anpassungen durcli Gewohnlieit. Gehrauc-li und Niehfgel)raueh der Organe efc.) Die Abänderungen der Organismen durch die sogenannte „Ge- wöhnung und Übung, den Gebrauch und Nichtgebrauch der Or- gane"' etc. scheinen auf den ersten Blick von den vorher betrachte- ten hinsichtlich der bewirkenden Ursachen sehr verschieden zu sein und werden auch von Darwin und anderen in dieser Weise auf- gefaßt. Es scheinen dort äußere, hier dadegen innere, im Organis- mus selbst liegende Impulse zu sein, welche die Abänderung veran- lassen, und man könnte die bewirkenden Ursachen insofern als innere Existenzbedingungen jenen äußeren gegenüberstellen. Wie man aber dort die äußeren Einflüsse allein hervorhob und die innere Gegenwirkung des Organismus ignorierte, so hebt man hier umgekehrt die innere Gegenwirkung allein hervor und ignoriert die äußeren Einflüsse, durch welche die erstere überhaupt erst hervor- gerufen wurde. Man vergißt ganz, daß die scheinbar spontan von innen heraus geschehenden Wirkungen des Organismus, welche man als ,.Angewöhnung, Übung, Gebrauch der Organe" etc. bezeichnet, nichts weniger als spontane sind, sondern erst hervorgerufen durch die Einwirkung (den „Reiz") der äußeren Existenz-Bedingungen, also erst eine Reaktion, eine Gegenwirkung des Organismus, welche jenem äußeren Einflüsse adäquat ist und solange fortdauert, als jener anhält. Untersuchen wir näher den Ursprung der falschen Vorstellun- gen, welche man sich vom Wesen der Gewöhnungsverhältnisse ge- macht hat, so glauben wir als den Grundirrtum, welcher diese lange Kette unrichtiger Vorstellungen hervorgerufen hat, das falsche Dogma von der Freiheit des Willens bezeichnen zu müssen. Man ging bei Untersuchung jener A^erhältnisse aus von der Beobachtung des Menschen und anderer Tiere und fand bald, daß die kumulativen Anpassungstätigkeiten, welche wir als Gewöhnung, Übung etc. be- XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 275 zeichnen, ihren scheinbar letzten Grund in dem „freien Willen" der Tiere haben, welcher die Bewegungen bestimmt und durch Veran- lassung bestimmter, oft wiederholter und anhaltender Bewegungen auch die Ursache der Funktionsmodifikation und Formveränderung der Organe wird. Nun ist diese Ansicht von der kumulativen Wirkung der Willensbewegungen auf die Anpassung vollkommen richtig. Falsch ist nur das eine Glied der Schlußkette, daß der Wille ..frei"' ist, und daß er der letzte Grund der Gewöhnungserscheinungen ist. Jede eingehende und objektive Prüfung der „freien"' Willenshandlun- gen an uns selbst und an anderen Tieren zeigt uns, daß der Wille niemals frei ist, vielmehr jede, und auch die scheinbar freieste Willenshandhmg, die notwendige Folge ist von einer langen und höchst verwickelten Kette von bewirkenden Ursachen, von Empfin- dungen. Denkbewegungen und anderen Ursachen, die alle selbst wiederum niemals frei, sondern in letzter Instanz kausal bedinat sind: entweder durch die vorher besprochenen äußeren Existenz- bedingungen (Licht, Wärme. Klima etc.) oder durch die der indi- viduellen organischen Materie inhärenten (durch Vererbung erhaltenen) Kräfte. Daß diese Ansicht richtig ist, ergibt sich mit Notwendigkeit, wenn wir einzelne, aus scheinbar freiem Willen entsprungene und durch oftmalige Wiederholung (Kumulation) zur Gewohnheit gewor- dene Willenshandlungen (freiwillige Bewegungen) und die kumula- tiven Anpassungen, welche der Organismus in Abänderung der Form und Funktion der „geübten" Teile dabei erlitten hat, scharf unter- suchen und bis auf ihre letzten Gründe zu verfolgen streben. Es zeigt sich dann allemal, daß sie ganz ebenso wie die vorhin auf- geführten ..Wirkungen der äußeren Existenzbedingungen" nicht ein- seitige Wirkungen von (hier äußeren, dort inneren) Einflüssen sind, sondern vielmehr ausnahmslos „Wechselwirkungen zwischen dem Organismus und der Außenwelt". Auch die scheinbar freie Willenshandlung, welche durch anhaltende oder oftmalige Wieder- holung zur „Gewohnheit" wird, ist in der Tat nichts als eine not- wendige Reaktion, eine innere Gegenwirkung gegen den äusseren Einfluss der physikahsch und chemisch einwirkenden Existenz- bedingungen. In letzter Instanz sind es auch hier, wie dort, Er- nährungsabänderungen , welche durch die letzteren bewirkt Averden. und welche erst indirekt die Abänderung auf das Zentral- nervensystem, den Willen, etc. übertragen. Hier wie dort erblicken 18* 276 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. wir oiiio verwickelte Kette von kausal bedint;ten und kausal wirken- den ^lolekularbewegungen, bei welchen dadurch, daß die Moleküle oftmals wiederholt oder lange Zeit hindurch in einer neuen, aber immer in einer und derselben Richtung bewegt oder geordnet w^erden, endlich diese neue Anordnung oder Bewegungsrichtung der Moleküle ZU!' bleibenden wird, d. h. eine feste Abänderung hervorruft.*) Daß diese theoretische Anschauung in der Tat die richtige ist, zeigt sich auch darin, daß wir bei der praktischen Beurteilung der gehäuften Anpassungen sehr oft nicht imstande sind, zu sagen, ob dieselben „durch unmittelbare Einwirkung der äußeren Existenz- bedingungen'' oder durch „Übung und Gewohnheit" bedingt sind. Dies ist z. B. bei den bekannten und wichtigen Vorgängen der Akkli- matisation der Tiere und Pflanzen der Fall. Eine genaue Analyse dieser Erscheinung beweist, daß die sogenannte „unmittelbare" Ein- wirkung auch hier allerdings immer die erste Ursache, aber niemals die unmittelbare Ursache der bewirkten Abänderung ist. daß diese vielmehr immer erst eine Folge der Gegenwirkung, der Reaktion des Organismus ist. Auch dadurch wird diese Auffassung bestätigt^ daß man bei der kumulativen Anpassung der Pflanzen fast immer ganz ausschließlich oder doch vorwiegend die „unmittelbare Wirkung der äusseren Existenzbedingungen"', bei der gehäuften Anpassung der Tiere dagegen ebenso ausschließlich oder vorwiegend die ..Uebung und Gewohnheit" als die wirkende Ursache betrachtet, wobei man wiederum durch die falsche Vorstellung geleitet wird, daß sich die Tiere durch einen freien Willen vor den Pflanzen auszeichnen, was. wir bereits im siebenten Kapitel widerlegt haben. In Wahrheit ist es hier wie dort, sowohl wenn die kumulative Anpassung durch die scheinbar ..unmittelbare" Wirkung der äußeren Bedingungen (des Lichts, der Wärme etc.), als wenn sie durch die scheinbar „freie" Wirkung der inneren Bedingungen (der Gewohn- heit, Übung etc.) hervorgerufen wird, die Gegenwirkung (Reaktion) des Organismus gegen die Einwirkung der Außenwelt, welche umbildend, abändernd auf den Organismus einwirkt. Der Organismus verhält sich weder dort rein passiv, noch hier rein aktiv. Vielmehr verhält er sich in beiden Fällen reaktiv, und diese Reaktion ist *) (1906). Die physiologische Beziehung der Ernährungsveränderungen der Gewebe zur kn in ulativen (= funktionellen) Anpassung 'hat Wilhelm Roux später (1881) als „trophischen Reiz" bezeichnet. XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 2 < < in letzter Instanz stets eine von der Ernährung- abhängige Funktion. Das wesentlich wirksame Moment, welches wir aber noch dabei besonders hervorheben müssen, ist die Häufung oder Kumulation der Einwirkungen und Gegenwirkungen, da sie allein bleibende Abänderungen hervorzurufen imstande ist. Eine abändernde Ursache, welche nur einmal oder wenige Male, oder nur kurze Zeit hindurch auf den Organismus einwirkt, z. B. ein neues, wesentlich von den gewohnten verschiedenes Nahrungsmittel, ein Gift, eine Verwundung etc. vermag entweder gar keine bleibende Veränderung des Organismus hervorzurufen, oder nur dadurch, daß sie neue Molekularbewegungen in demselben veranlaßt, welche (als Reaktion) lange Zeit in demselben anhalten (z. B. bei einer traumatischen Affektion). Auch in diesen scheinbar nicht kumulativen Anpassungen ist es also dennoch im Grunde eine Kumulation von zahlreichen, oft wiederholten oder lange andauernden Molekularbewegungen, welche die bleibende Abänderung veranlaßt. Für unsere Betrachtung sind aber diese Fälle einmaliger Einwirkung um so weniger wichtig, als die durch sie hervorgerufene Abänderung, auch wenn sie im Individuum bleibt, sich doch im ganzen nur selten vererbt. Um so wichtiger dagegen ist die Wirkung der Häufung oder Kumulation der Reaktion, d. h. die Erscheinung, daß sehr geringe und unscheinbare Einwirkungen der Außenwelt durch sehr oft wieder- hohe oder andauernde Einwirkung endlich die bedeutendsten und scheinbar in keinem A'"erhältnis stehenden Abänderungen, zunächst in der Ernährung des Organismus oder einzelner Organe, weiterhin in der Funktion derselben, und endlich auch, dieser entsprechend, in der Form der verändert ernährten Organe hervorrufen. Dies ist der Grund- zug der kumulativen Anpassung, welche wir Übung, Gewöhnung etc. nennen, und hierin gleicht das Gesetz der gehäuften Anpassung dem oben erläuterten Gesetze der befestigten Vererbung. Wie mächtig dieses Gesetz der Angewöhnung wirkt, ist so all- bekannt, daß wir keine weiteren Beispiele anzuführen und bloß an das bekannte Sprichwort zu erinnern brauchen: Consuetudo altera natura. Wir wollen nur nocli ausdrückhch hervorheben, daß der Nichtgebrauch der Organe, welcher rückbildend auf dieselben wirkt, nicht minder wichtig ist, als der Gebrauch der Organe, welcher aus- bildend auf sie wirkt. Durch die Gewohnheit des Nichtgebrauchs entstehen z. B. die meisten rudimentären Organe, welche für die Dysteleologie so bedeutsam sind. 278 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie XIX. 6. Gesetz der wechselbezüglichen Anpassung. {Lex adaptatiunis correlativae.) (Gesetz von den AVechselbezichung-en der Bildung, von der Kompensation der Entwiclselung, von der Korrelation der Teile etc.) Alle Abäuderungen, welche in einzelnen Teilen des Organismus durch kumulative oder sonstige Anpassung entstehen, wirken dadurch auf den ganzen Organismus und oft besonders noch auf einzelne bestimmte Teile desselben zurück, und bewirken hier Abänderungen, welche nicht unmittelbar durch jene Anpassung bedingt sind. Dieses Anpassungsgesetz ist eines der wichtigsten und ist in seinen Wirkungen schon längst anerkannt. Die vergleichende Anatomie mußte auf dieses allgemein gültige Gesetz schon sehr frühzeitig auf- merksam werden, und so finden wir es denn von fast allen bedeuten- den ..vergleichenden Anatomen" hervorgehoben, oft unter sehr ver- schiedenen Namen, als das Gesetz von der Wechselbeziehung der Entwickelung, von der Korrelation der Organe, von der Kompensation der verschiedenen Körperteile etc. Besonders die Naturphilosophen, und vor allen Goethe, haben auf die ausnehmende Wichtigkeit dieses Gesetzes beständig hingewiesen. Indessen haben die meisten Morphologen doch nur die fertige Wirkung dieses Gesetzes vor Augen gehabt, ohne sich dessen bewirkender Ursachen bewußt zu werden. Diese können nur in dem Zusammenhange der Ernährungser- scheinungen des Organismus gefunden werden, und zwar in einer nutritiven Wechselwirkung zwischen allen Teilen des Organismus. Eine durch äußere Einflüsse, und namentlich durch die kumulative Anpassung bewirkte Veränderung in der Ernährung eines Organs wirkt stets verändernd zurück auf den gesamten Orga- nismus, welcher ja eine geschlossene physiologische Ernährungsein- heit darstellt. Gewöhnlich aber sind es einzelne Teile, welche vor- zugsweise durch jene rückwirkende Veränderung betroffen werden und demgemäß zunächst in ihrer Ernährung, weiterhin in ihrer be- stimmten Funktion und Form, entsprechende Abänderungen erleiden. Vorzugsweise sind homologe und analoge Teile, wie z. B. die ver- schiedenen Teile des Hautsystems oder die verschiedenen Teile des Zentralnervensystems, von dieser wechselbezüglichen Anpassung ab- hängig, wie z. B. bei den Cavicornien (Rindern, Schafen, Ziegen etc.) jede eintretende Veränderung in der Haarbildung gewöhnlich zugleich eine entsprechende Veränderung in der Ausbildung der Hörner. der XIX. V. Veränderlichkeit und Anpassung. 279 Hufe etc. veranlaßt. Ferner bewirkt eine Veränderung eines Sinnes- organs in der Regel eine kompensatorische in den übrigen Sinnes- organen. Aber auch Teile, die scheinbar in sehr geringem morpho- logischen und physiologischen Zusammenhange stehen, z.B. Hautsystem und Muskelsystem, stehen in kompensatorischer Wechselbeziehung, wie denn bekanntlich bei den Cavicornien bestimmte Veränderungen in der Haarbildung (z. B. der Schafwolle) auf die Qualität des Fleisches zurückwirken. Oft sind diese Wechselbeziehungen der merkwürdigsten Art: so z.B. sind Katzen mit blauen Augen allezeit taub; Vögel mit langen Beinen haben meist auch lange Hälse und Schnäbel ; blonde Menschen mit hellen Haaren und heller Hautfarbe sind für gewisse innere Krankheiten, z. B. khmatische Fieber, Leber- entzündungen etc. weit empfänglicher, als brünette mit dunklen Haaren und dunkler Hautfarbe. Besonders merkwürdig ist die innige Wechsel- beziehung zwischen den Geschlechtsorganen und dem Zentralnerven- system, welche sich bekanntlich in einer Fülle der auffallendsten Wechselbeziehungen äußert. Wie sehr gerade das Genitalsystem auf die übrigen Organsysteme zurückwirkt, zeigt vielleicht kein Beispiel auffallender, als dasjenige der Kastraten, bei welchen die künstliche Verhinderung der sexuellen Entwickelung eine entsprechende Hemmungs- bildung des Kehlkopfes und eine kompensatorische Entwickelung des Panniculus adiposus der Haut hervorruft. Ebenso befördert man bei den Pflanzen die Blattentwickelung durch Unterdriickung der Blüten- entwickelung. Dieser allgemeine Gegensatz zwischen den generativen und nutritiven Teilen geholt zu den wichtigsten Erscheinungen, welche unter das Gesetz von der Korrelation der Teile fallen. Ledighch eine Folge dieser Gegenwirkung, eine Folge der äußerst empfindlichen Reaktion des Genitalsystems gegen die Ernährungsveränderungen des übrigen Körpers ist das äußerst wichtige Gesetz der potentiellen Anpassung oder indirekten Abänderung, welches wir in den vorher- gehenden Abschnitten erläutert haben. 7. Gesetz der abweichenden Anpassung. (Lex adaptatinnis divergentis.) (Gesetz von der iins'leiehartig'en AbUiidenmaf gleichartiger Teile.) Gleiche Teile (gleiche Individuen einer und derselben ludividualitätsordnung), welche in Mehrzahl in dem Organismus verbunden sind, erleiden ungleiche Abände- rungen, indem dieselben in verschiedenem Grade der kumulativen Anpassung unterliegen. 280 I^'P Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Auch dieses Anpassun.osgesetz ist von der größten Wichtigkeit. Denn dieses ist es vorzüglich, welches in Wechselwirkung mit den Vererbungsgesetzen die großen Erscheinungen der organischen Diffe- renzii'ung. der divergenten Entwickelung gleichartiger Teile bewirkt, und dadurch in erster Linie bei der Erzeugung der unendlichen Mannigfaltigkeit organischer Formen mitwirkt. Hier haben wir die divergente Adaptation natürlich nicht in der großartigen Wirksamkeit zu betrachten, welche sie. in Verbindung mit der Erblichkeit, im Laute von Generationen entfaltet, sondern nur insofern sie innerhalb des Laufes der individuellen Existenz wirksam ist. Da aber auf dieser beschränkten ontogenetischen Wirksamkeit des Divergenzge- setzes seine umfassendere Wirksamkeit als phylogenetisches Diffe- renzierungsgesetz beruht, so müssen wir dasselbe hier gebührend hervorheben, um so mehr, als es in dieser Beziehung meist nicht «gehörig gewürdigt wird. Das Gesetz der divergierenden oder abweichenden Anpassung be- hauptet, daß allgemein in den Organismen, welche eine Wiederholung von gleichartigen Teilen enthalten, diese das Bestreben haben, sich nach ganz verschiedenen Richtungen hin zu entwickeln, indem sie in verschiedenem Grade der kumulativen oder korrelativen Anpassung unterhegen. Dieses Gesetz gilt von den Individuen aller Ordnungen, von der Plastide bis zur Person hinauf, und ist die Basis des be- rühmten Gesetzes der Arbeitsteilung. Wir sehen also, daß in einem Organe oder Organismus, welcher anfangs aus vielen gleichen Piastiden bestellt, im Laufe seiner individuellen Existenz eine Differenzierung derselben eintritt, indem die einen Cytoden oder Zellen in dieser, die andern in jener Weise abändern. So differenzieren sich in allen Organen die anfangs gleichen Zellen später durch divergierende An- passung in verschiedene Gewebe, indem z. B. an einer aus lauter gleichen Zellen zusammengesetzten embryonalen Extremität die einen zu Muskeln, die andern zu Nerven, die dritten zu Gefässen etc. sich gestalten. Ebenso entstehen durch Differenzierung von mehreren urspiiinglich gleichartigen Organen (z. B. den fünf Zehen des Wirbel- tierfußes) später durch divergente Ausbildung ungleichartige Organe. Ferner differenzieren sich in derselben Weise die ursprünglich gleichen Metameren des Gliedertierkörpers: während sie bei den niedersten Anneliden alle gleich bleiben, sehen wir bei den höheren Ringelwürmern und den Arthropoden eine divergente Entwickelung eintreten und zwar ebenso im Laufe der Ontogenese, wie der Phylogenese. Ebenso XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 281 differenzieren sich die gleichartigen Personen, welche zn Stöcken zn- sannnengefttgt sind, durch divergente Anpassung (Arbeitsteilung) zu verschiedenen Formen (Siphonophoren). Dieses allgemeine Differenzierungsgesetz oder Divergenz- gesetz ist in den vollendeten Folgen seiner nngehenern und äußerst mannigfaltigen Wirkung von allen Naturforschern anerkannt. Viele haben auch seine kausale Bedeutung und aktive Wirksamkeit während des Laufes der erabryologischen. wenige während des parallelen Laufes der paläontologischen Entwickelung erkannt. Die wenigsten aber sind von der äußerst wichtigen Tatsache durchdrungen, daß alle Differenzierungen oder Divergenzerscheinungen. welche wir während jener laufenden Entwickelungsreihe beobachten, nur die gehäuften Folgen und Wiederholungen von zahllosen verschiedenen divergenten Anpassungen sind, welche die einzelnen Organismen während des Laufes ihrer individuellen Existenz allmählich erfahren haben. Die Ursachen der divergenten Anpassung liegen ganz einfach in dem Nutzen, den die Arbeitsteilung oder Differenzierung, die ungleich- artige Ausbildung von ursprünglich gleichartigen Teilen, einem jeden Organismus gewährt. b" 8. Gesetz der unbeschränkten Anpassung. (Lex adapiaiionis inpnitae.) Alle Organismen können zeitlebens, zu jeder Zeit ihrer Entwickelung und an jedem Teile ihres Körpers, neue An- passungen erleiden: und diese Abänderungsfähigkeit ist unbeschränkt, entsprechend der unbeschränkten Mannig- faltigkeit und beständigen Veränderung der auf den Or- ganismus einwirkenden Existenzbedingungen. Auch dieses Gesetz ist für die Umbildung der organischen Formen von größter Wichtigkeit. Während die Aufstellung desselben von allen Physiologen und von denjenigen Morphologen. welche einen weiteren Überblick über die gesamten Erscheinungen der organi- schen Natur besitzen, vielleicht für überflüssig, weil selbstverständ- lich, erachtet werden wird, muß dasselbe dagegen von denjenigen Morphologen. welche auf Grund ihrer beschränkten Naturanschauung die Spezieskonstanz verteidigen, mit aller Macht bekämpft werden. Denn aus diesem großen Grundgesetz allein schon, auch ohne Rück- sicht auf die übrigen, muß die Unhahbarkeit des Dogma von der Spezieskonstanz folgen. Alle Speziesdogmatiker. auch die ver- 282 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. minftigeren, welche einen großen Spielraum der Variabilität für jede Spezies zulassen, behaupten, daß dieser Spielraum innerhalb ganz bestimmter Grenzen beschränkt sei, und daß eine ..Art", möge sie noch so sehr durch Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen abändern, sich immer innerhalb eines bestimmten, von dem Schöpfer uranfänglich in dem systematischen Kataloge seiner Baupläne fest- gestellten Formenkreises bewege. Indem der Schöpfer jede ,. Spezies" als geschlossene Einheit nach einem vorher von ihm ausgedachten Modelle, einem architektonischen Entwürfe schuf, gab er ihr zugleich die Fähigkeit mit, sich an bestimmte Lebensbedingungen bis zu einem gewissen Grade anzupassen, bestimmte er ihr einen geschlossenen A'^ariabilitätskreis, erlaubte ihr aber nicht, diese Grenze zu über- schreiten. In der Tat finden wir aber in der gesamten organischen Natur nicht eine einzige Erscheinung, welche der Annahme widerspricht, daß alle Organismen zu jeder Zeit ihres Lebens und an jedem Teile ihres Körpers eine neue Abänderung erleiden können, sobald sie neuen Existenzbedingungen unterworfen werden. Daß immer neue Existenzbedingungen entstehen, daß die vorhandenen einer beständi- gen Veränderung unterworfen sind, daß die ganze Welt nicht still steht, sondern sich in einer beständigen Veränderung, und zwar in einer fortschreitenden Entwickelungsbewegung befindet, wird niemand leugnen, der einen allgemeinen Überblick der uns umgebenden Er- scheinungswelt besitzt. Aus dieser beständigen, unaufhörlichen, wenn auch langsam und allmählich stattfindenden Umänderung der Außen- welt, welche dem Organismus seine Existenzbedingungen vorschreibt, folgt nun schon unmittelbar eine entsprechende Umänderung der Organismen selbst; denn wo die Ursachen sich ändern, da kann auch die Wirkung nicht dieselbe bleiben. Entsprechend der überall und jederzeit stattfindenden Veränderung der Außenwelt, mit welcher die Organismen in Wechselwirkung leben, muß auch überall und jederzeit eine Anpassung der letzteren an die erstere, also eine un- beschränkte Umgestaltung stattfinden. Diese kann zu jeder Zeit des Lebens und an jedem Teil des Organismus eintreten, da die umge- staltenden Kräfte, d. h. die Veränderungen der Existenzbedingungen zu jeder Zeit stattfinden und auf jeden Teil des Körpers mittelbar oder unmittelbar einwirken können. Selbstverständlich ist eine bestimmte Schranke der Anpassungs- fähigkeit allgemein durch die ihr entgegenwirkende Erblichkeit ge- XIX. ^ • Veränderlichkeit und Anpassung. 283 setzt, durch den ,.Typus" des Stammes: allein innerhalb dieses Typus, innerhalb der unveräußerlichen Charaktere des Phylon, ist eine Schranke nicht vorhanden, und die parasitischen Crustaceen z. B. scheinen auch jene Grenze der Typuscharaktere zu über- schreiten. Mit der gleichen Notwendigkeit, mit welcher sich dieses Gesetz als eine unmittelbare Folgerung aus der großen Erscheinung der be- ständigen Umänderung der Gesamtnatur (und speziell der anorgani- schen Natur) ableiten läßt, mit derselben Notwendigkeit drängt sich uns unmittelbar seine allgemeine Geltung auf. wenn wir die ge- samten Erscheinungsreihen der organischen Natur von dem höheren allgemeinen Gesichtspunkte aus vergleichend betrachten. Die ge- samte Phylogenie, die gesamte Physiologie der Organismen liefert eine übereinstimmende Kette von Beweisen für dasselbe. Die Phylo- genie zeigt uns, wie ein und derselbe Stamm von organischen Formen, z. B. der der Wirbeltiere, aus einfacher Basis entspringend, sich nach allen Seiten reich verzweigt, wie die Mannigfaltigkeit seiner diver- genten Äste mehr und mehr im Laufe der Erdgeschichte zunimmt und wie dieselben noch in der Gegenwart eine unbegrenzte Fällig- keit zur Abänderung zeigen. Freilich ist diese Fähigkeit sehr ver- schieden. Die einen Spezies sind äußerst variabel, die anderen sehr konstant, eine dritte Gruppe nur in mäßigem Grade abänderungs- fähig. Diese Tatsache entspricht aber vollkommen der ungleichen physiologischen Konstitution und Lebensweise der verschiedenen Arten. Solche Arten, die nur unter ganz beschränkten Bedingun- gen existieren können, die sich bereits einer großen Summe spe- zieller Existenzverhältnisse angepaßt haben (wie z. B. viele Parasiten), die also auch nur einen beschränkten Verbreitungsbezirk haben werden, können sich nur in geringem Grade und nur nach bestimmten eng begrenzten Richtungen hin verändern und neu anpassen. Solche Arten dagegen, die unter sehr verschiedenen Bedingungen existieren können, die sich nur einer kleinen Summe spezieller Existenzver- hältnisse angepasst haben (wie z. B. die Mäuse), die also auch einen weiteren Yerbreitungsbezirk haben werden, können sich noch in hohem Grade und nach vielen verschiedenen Richtungen hin verändern und neu anpassen. Wir können die letzteren Arten mit Snell als ideale, die ersteren dagegen als praktische Typen bezeichnen. Dieser Unterschied zwischen den praktischen oder ein- seitigen und den idealen oder vielseitigen Organisations- ;2S4 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. typen gilt nicht allein von den einzelnen Arten, sondern auch von den Gattungen. Klassen und überhaupt von allen Zweigen des syste- matischen Staiiinibaumes. Wir können alle Kategorien desselben allgemein in die beiden (natürlich nie scharf zu trennenden, sich aller doch im (lanzen gegenüberstehenden) Gruppen der idealen oder in weitem Umfang anpassungsfähigen Gestalten und der praktischen oder in engem Umfang adaptalen Gestalten scheiden. Ideale oder polytrope Typen sind z. B. unter den Artikulaten die Anneliden, untei- den Phanerogamen die Cupuliferen. Praktische oder monotrope Typen dagegen sind unter den Artikulaten die Insekten, unter den Phaneroganen die Palmen und Orchideen. Ferner sind ideale oder vielseitige Gruppen unter den Wirbeltieren z. B. die Selachier, die Eidechsen, die Halbaffen; praktische oder einseitige Gruppen da- gegen sind die Teleostier, die Schildkröten, die Fledermäuse. Die idealen oder vielseitigen Gruppen passen sich weniger speziell be- stimmten Bedingungen an und bleiben dadurch in höherem Grade entwickelungsfähig. Die praktischen oder einseitigen Gruppen passen sich dagegen ganz speziell bestimmten Bedingungen an, leisten auf diesem beschränkten Gebiete Größeres, büßen dadurch aber die weitere Entwickelungsfähigkeit ein. Dieser höchst wichtige Unter- schied ist auch unter den Individuen der menschlichen Gesellschaft überall und also auch in der Wissenschaft zu verfolgen. Die idealen und vielseitigen, philosophisch gebildeten Köpfe, welche die Erschei- nungen synthetisch vergleichen und denkend ordnen, sind es. welche die Menschheit im ganzen weiterbringen, weil sie sie anpassungs- fähig erhalten. Die praktischen und einseitigen Gelehrten dagegen, welche die Erscheinungen nur analytisch zergliedern, und welche sich nicht höheren Ideen anpassungsfähig erhalten, können jenen bloß das Material liefern, das sie zum Besten des Ganzen verwerten. Wie der Mensch, als das am genauesten und am längsten untei'- suchte Tier, für alle allgemeinen biologischen Erscheinungen (und namentlich für die von uns hier untersuchten Gesetze der Vererbung und der Abänderung) die besten und schlagendsten Beweise liefert, so gibt er uns auch den sichersten Bew^eis für das große Gesetz der unbeschränkten Anpassung. In diesem Gesetze liegt die ganze un- begrenzte Entwickelungsfähigkeit des Menschengeschlechts einge- schlossen, und für uns speziell die tröstliche Aussicht, daß der vielgerühmte Kulturzustand des neunzehnten Jahrhunderts sicher nach Verlauf weniger Jahihunderte. und vielleicht schon vor Be- XIX. ^'^- Vererbung und Anpassung. 285 ginn des zweiten Jahrtausends n. Chr. als der Zeitpunkt des Er- wachens aus den scholastischen, halb barbarischen Vorurteilen des Mittelalters und seiner Fortsetzung bis zur Gegenwart bezeichnet werden wird. Es hieße an dem Werte der Menschheit und dem ungeheuren Fortschritt, den sie bereits seit ihrer Divergenz von den übrigen Affen gemacht hat. verzweifeln, wenn man nicht die gleiche Fähigkeit der dauernden xVnpassung und Vervollkommnung auch für alle kommenden Zeiten behaupten wollte. Wie aber im Gehirne des Menschen sich die unbegrenzte Anpassungsfähigkeit des Organis- mus auf das schlagendste bekundet, so gilt dieselbe auch als all- gemeines Gesetz für alle übrigen Organismen. Tl. Tererbiing und Anpassung. (Heredität und Variabilität.) Vererbung und Anpassung sind die beiden einzigen physiologischen Funktionen, welche in ihrer beständigen Wechselwirkung die unendlich mannigfaltigen Unter- schiede aller Organismen bedingen, und zwar nicht bloß die morphologischen, sondern auch die davon nicht trennbaren physiolo- gischen Unterschiede. Alle Eigenschaften, welche wir an den einzelnen Organismen wahrnehmen, und durch welche wir sie von den andern unterscheiden, und zwar ebenso alle Eigenschaften der Form, wie des Stoffes und der Funktion, sind lediglich die notwendigen Produkte der Wechselwirkung jener beiden formenden Kräfte. Im allgemeinen ist jeder ausgebildete Charakter, jedes entwickelte Merkmal, jede wesenthche Eigenschaft des Organismus ein Produkt beider Faktoren, der auf der Fortpflanzung beruhenden Vererbung und der auf der Ernährung beruhenden Anpassung. Im besonderen jedoch können wir von jedem einzelnen Merkmal sagen, daß es in seinem gegen- wärtigen Zustande entweder vorwiegend durch Vererbung oder vor- wiegend durch Anpassung erworben sei: und ursprünglich sind alle Charaktere entweder vererbte oder erworbene. Wir können also, und es ist dies von der größten Wichtigkeit für die Systematik, alle Eigenschaften, alle Charaktere der Organismen in zwei gegenüber- stehende Gruppen bringen: Ererbte Eigenschaften (Characteres hereditarii) und durch Abänderung der vererbten erworbene, an- gepaßte Eigenschaften {Characteres adapüvi). 286 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Wählend diese Vereinigung von ererbten und durch Anpassung erworbenen Charakteren sich bei allen Organismen findet, welche durch Fortpflanzung von elterlichen Organismen entstehen, existiert ein etAvas anderes Verhältnis bei denjenigen Organismen, welche elternlos durch Selbstzeugung oder Autogonie entstanden, bei den strukturlosen Moneren. Bei diesen fällt natürlich das Moment der Ererbung weg und an dessen Stelle tritt die unmittelbare physikalische und chemische Beschaffenheit der Materie, aus welcher das autogene Moner besteht. Diese ist es, welche hier der Anpassung entgegen- wirkt, und welche zum erblichen Charakter wird, w^enn das Moner sich fortpflanzt. Im Grunde ist aber dieser Unterschied nur sehr unwesentlich, da ja auch das Wesen der erblichen Eigenschaften in der unmittelbaren physikalischen und chemischen Beschaffenheit der Materie liegt, aus w^elcher der Organismus besteht. Wir kommen hier im w^esentlichen zurück auf den Unterschied der beiden in Wechselwirkung stehenden gestaltenden Kräfte, w^elche wir im fünften Kapitel untersucht haben, auf den inneren und äußeren Bildungstrieb. Wir sprachen dort aus, daß jeder Organismus ein Produkt der Wechsel- wirkung dieser beiden Faktoren ist, des inneren Bildungstriebes, d. h. der physikalischen und chemischen Kräfte, welche der den Organismus konstituierenden Materie inhärieren, und des äußeren Bildungstriebes, d. h. der physikalischen und chemischen Kräfte, welche der den Organismus umgebenden Materie der Außenw^elt inne- wohnen und auf erstere einwirken. Offenbar ist jener nun bei allen Organismen, die durch Fortpflanzung entstanden sind, der in der Vererbung wirkende, dieser dagegen in allen Fällen der in der Anpassung und Abänderung wirkende Gestaltungstrieb. Wir können also das wichtige Gesetz, w^elches die gesamte Mannigfaltigkeit der Organismen weit auf die Wechselwirkung von nur zwei gestaltenden Kräften zurückführt, in folgende Worte zusammenfassen: Alle Eigenschaften oder Charaktere der Organismen sind das Produkt der Wechselwirkung von zwei gestalten- den physiologischen Funktionen, dem inneren, auf der materiellen Zusammensetzung des Organismus beruhenden und durch die Fortpflanzung vermittelten Bildungstriebe der Vererbung, und dem äußeren, auf der Gegenwirkung des Organismus gegen die x\ußenwelt beruhenden und durch die Ernährung vermittelten Bildungstriebe der An- passung. In jeder Eigenschaft des Organismus kann aber der eine XIX. VI. Vererbung und Anpassung. 287 der beiden Bildungstriebe als die vorzugsweise bewirkende Ursache erkannt werden, und in dieser Beziehung sind alle Charaktere des Organismus in erster Instanz entweder ererbt oder durch Anpassung erworben. Aus Gründen, welche wir im sechsten Buche erörtern werden, bezeichnen wir die ererbten oder V er er bungs Charaktere als homologe, die angepaßten oder Anpassungs Charaktere als analoge. Eine Hauptaufgabe der gesamten Morphologie der Organismen beruht in der Erkenntnis dieses Unterschiedes, und wenn die Syste- matik und die vergleichende Anatomie immer in erster Linie bestrebt gewesen wäre, diesen Unterschied zu entdecken, so würde sie ihrer Aufgabe, der Erkenntnis der natürlichen Verwandtschaften der Organismen, schon unendlich näher sein. Denn es liegt auf der Hand, daß nur die homologen oder ererbten Charaktere uns auf die Er- kenntnis der natürlichen Blutsverwandtschaft hinleiten können, während die analogen oder angepaßten Charaktere nur geeignet sind, dieselbe uns zu verhüllen. Die ganze Kunst der vergleichenden Morphologie beruht also darauf, zu erkennen, ob die Ähnlichkeit, welche zwei „verwandte"' Organismen verbindet, eine Homologie oder eine Analogie ist. Je mehr zwei verwandte Organismen gemeinsame Homologien besitzen, desto enger sind sie verwandt; je mehr ihre Ähnlichkeit bloß auf Analogie oder Konvergenz beruht, d. h. auf der Anpassung an gleiche oder ähnliche Lebensbedingungen, desto weniger sind sie verwandt. So stehen die Walfische durch Analogie den Fischen, durch Homologie den Menschen näher. Ebenso stehen die Insekten durch Analogie den Vögeln, durch Homologie den Würmern näher. Die beiden allmächtigen bewegenden Kräfte der Vererbung und der Anpassung, welche wir oben auf die physiologischen Funktionen der Fortpflanzung und Ernährung zurückgeführt haben, sind in ihrer allgemeinen Wechselwirkung die beiden einzigen Faktoren, welche die gesamte organische Welt gebildet haben und noch immerfort bilden. Sie haben an die Stelle der inneren Idee, des Schöpfers. des zweckmäßigen Bauplanes zu treten, und wie alle die irrtümlichen Vorstellungen weiter heißen mögen, welchen die Teleologie und der Dualismus überhaupt die ,. Schöpfung" der Organismen zuschreibt. So einfach nun dieses große Gesetz ist, so fest wir überzeugt sind, daß diese beiden Faktoren allein die organische Welt geschaffen haben, so außerordentlich schwierig ist es, im einzelnen den Prozeß ihrer Wechselwirkung zu verfolgen und von jeder einzelnen Funktion, 288 ^^i*^ Deszpiulonztlieoiie und elie Selektioiistlieorie. XIX von joder einzelnen Fornieigenschat't des Organismus zu sagen, wie- viel davon Wirkung der Vererbung, wieviel Wirkung der Anpassung sei. Denn alle die verschiedenen Modifikationen der Heredität und Adaptation, welche wir in den oben begründeten Gesetzen aufgeführt haben, treten im Organismus in eine so äußerst komplizierte Wechsel- wirkung, daß es, wenigstens bei unseren jetzigen, noch höchst unvoll- ständigen Kenntnissen, äußerst schwierig ist, den Prozeß der organischen Umbildung selbst zu verfolgen. Hier nun gelangen wir zur Betrachtung der ungemein wichtigen Gesetze, welche sich bis jetzt aus der Wechselwirkung der Vererbung- und Anpassung haben ableiten lassen und deren Aufstellung das be- sondere und höchst bewunderungswürdige Verdienst von Charles Dar- win ist. Zunächst haben wir die wichtigen Vorgänge der natürlichen und künstlichen Züchtung oder Auslese (Selektion) zu betrachten, welche den wertvollen Kern seiner Selektionstheorie bilden, und demnächst die weitgreifenden Gesetze der Divergenz oder Differen- zierung, und des Fortschritts oder der Vervollkommnung, welche sich als Konsequenzen aus dem Selektionsgesetz ergeben. TU. Zik'litiiiii;- oder Selektion. (Zuchtwahl, Auslese.) Das erste und oberste Gesetz, welches die Entstehung neuer organischer Formen durch die Wechselwirkung von Vererbung und Anpassung regelt, ist das Gesetz der Züchtung oder Selektion. Das Wesen des Züchtungsvorganges liegt darin, daß von zahlreichen nebeneinander lebenden ähnlichen, aber ungleichen Individuen von einerlei Art nur eine bestimmte Anzahl zur Fortpflanzung gelangt, und also seine individuellen Eigenschaften auf die Nachkommenschaft vererbt und dadurch erhält, während die anderen, nicht zur Fort- pflanzung gelangenden Individuen derselben Art aussterben, ohne ihre individuellen Eigenschaften vererben und so in den Nachkommen erhalten zu können. Es findet also bei der P'ortpflanzung aller Organismen von einerlei Art eine Auswahl oder Auslese, Selektion, statt, welche die einen Individuen bevorzugt, indem sie ihnen gestattet, ihre individuellen Charaktere auf die Nachkommenschaft zu vererben, während sie die anderen Individuen benachteiligt, indem sie ihnen XIX. VII. Züchtung oder Selektion. 289 dies nicht gestattet. Durch diese Auslese oder Zuchtwalil wird eine aUmähHche Abänderung der ganzen Organisnienart bedingt, indem die individuellen Charaktere des sich fortpflanzenden Bruchteils der Art Gelegenheit erhalten, sich durch Vererbung zu befestigen und so immer stärker hervorzutreten, Der Vorgang der Züchtung oder Auslese ist von dem ^Menschen künstlich betrieben worden seit jener weit zurückliegenden Zeit, in welcher er, selbst erst dem niedersten Zustande tierischer Rohheit entw^achsen, zum ersten Male anfing, Tiere und Pflanzen zu seinem Nutzen bei sich zu halten und fortzupflanzen. Dieser Prozeß w^ar von Anfang an mit einer, zunächst allerdings unbewußten Auslese oder Zuchtwahl (Selektion) verbunden, indem der Mensch nur einen Bruchteil der zu seinem Nutzen gezogenen Tiere und Pflanzen zur Fortpflanzung- der Art benutzte, die übrigen dagegen in verschiedener Weise zu seinem Nutzen verwandte. Nun wird der Mensch, sobald er den großen Nutzen einsah, der ihm durch die Kultur der Tiere und Pflanzen erwächst, schon frühzeitig auf den Gedanken gekommen sein, nicht allein dieselben durch Fortpflanzung bloß zu erhalten, sondern auch, bei der offenbaren Ungleichheit der Individuen, die für seinen Vorteil tauglicheren Individuen allein zu erhalten, die übrigen, w^eniger tauglichen dagegen zu vernachlässigen. Er wird also bloß die ersteren, nicht die letzteren zur Fortpflanzung (Nachzucht) benutzt haben, und hiermit war bereits die Kunst der individuellen Auswahl, der Auslese zur Nachzucht erfunden, welche das Wesen der künst- lichen Züchtung bildet. Indem nämlich der Mensch bei dieser Aus- wahl der tauglichsten Individuen zur Nachzucht Generationen hindurch diejenigen Individuen aussuchte, die einen bestimmten (für ihn vor- teilhaften) Charakter oder eine neu erworbene Abänderung besonders deuthch zeigten, die anderen dagegen, die denselben w^eniger aus- gesprochen oder gar nicht zeigten, ausschied, wurde nicht allein dieser erwünschte Charakter oder die neue Abänderung erhalten, sondern er wurde auch nach den Vererbungsgesetzen durch Häufung ge- steigert und befestigt. Ledighch durch diese, Generationen hin- durch fortgesetzte Auswahl bestimmter Individuen zur Fortpflanzung (Nachzucht), lediglich durch diese andauernde künstliche Auslese oder Zuchtwahl, war der Mensch imstande, die Wechselwirkung zwischen Vererbung und Abänderung so zu benutzen, daß er schließlich die zahllosen Kulturformen der Haustiere und Nutzpflanzen erzeugte, die zum Teil von ihren natürlichen Vorfahren viel w^eiter verschieden Haeckel, Prinz, d. Morphol. 1«^ 290 DiP Deszendenztheorie und die Selektiunstlieoiie. XIX. sind, als es verschiedene sogenannte ..gute Arten" und selbst ver- schiedene Gattungen im Naturzustande sind. Es ist nun Darwins unschätzbares und besonderes Verdienst, nachgewiesen zu haben, daß einem ganz analogen Züchtungsvorgange auch die unendliche ^Mannigfaltigkeit der Tiere und Pflanzen im wilden Zustande ihre Entstehung verdankt, und daß überall und jederzeit in der vom Menschen unabhängigen Natur eine ..natürliche Zuchtwahl" Avirksam ist, welche der künstlichen vom Menschen be- triebenen Auslese durchaus analog ist. Dasjenige auslesende Prinzip, welches in der Natur die auswählende willkürliche Tätigkeit des Menschen ersetzt, ist das von Darwin zuerst entdeckte, äußerst wichtige und komplizierte Wechselverhältnis der Organismen zuein- ander, welches er mit dem Namen des ..Kampfes um das Dasein" (Struggle forlife) belegt. Die ..natürliche Züchtung'' (Natural selection). welche dieses beständig tätige Prinzip ausübt, wirkt durchaus analog der vom menschlichen Willen ausgeübten ..künstlichen Züchtung'' und erzielt durchaus ähnliche Resultate. Allein während die neuen Formen, welche die künstliche Züchtung hervorbringt, der menschlichen Aus- lese entsprechend dem Nutzen des Menschen dienen, sind dagegen die neuen Formen, welche die natürliche Züchtung hervorbringt, dem Nutzen des abgeänderten Organismus selbst dienstbar. Auch wirkt aus gleich zu erörternden Gründen die letztere zwar langsamer, aber ungleich mächtiger, stetiger und allgemeiner, als die erstere. Um den äußerst wichtigen Prozeß der natürlichen Züchtung, welcher das Skelet der ganzen Selektionstheorie bildet, richtig zu verstehen, wollen wir zuvor den besser bekannten, aber ganz analogen Vor- aans- der künstlichen Züchtung noch etwas näher ins Auge fassen. Doch können wir schon jetzt den wesentlichen Unterschied zwischen beiden analogen Erscheinungen in folgenden Worten zusammen- fassen : Die künstliche Züchtung besteht darin, daß der plan- mäßig wirkende Wille des Menschen die Fortpflanzung derjenigen Individuen begünstigt, welche durch eine für den Vorteil des Menschen nützliche individuelle Eigen- tümlichkeit, sich auszeichnen. Die natürliche Züchtung besteht darin, daß der planlos wirkende Kampf ums Dasein die Fortpflanzung derjenigen Individuen begünstigt, welche durch eine für ihren eigenen Vorteil nützliche individuelle Eigentümlichkeit sich auszeichnen. XIX. ^'iJ[- Züchtung oder Selektion. 291 VU, A. Die künstliche Züchtung (SelecUo artificiaUs). (ZiR-htwahl oder Auslese cUirt-h den Willen des Menschen.) Alle Gesetze der Vererbung und alle Gesetze der Anpassung, welche wir oben erörtert haben, kommen bei der künstlichen Züch- tung zur Anwendung, und die große und schwere Kunst des tüchtigen Züchters besteht darin, diese Gesetze richtig zu erkennen und zu hand- haben, ihre Wirksamkeit passend zu regeln und die äußerst genaue Kenntnis der Züchtungsobjekte sich zu erwerben, welche hierfür un- entbehrlich ist. Für einen guten Züchter ist daher eine scharfe und sorgfältige Naturbeobachtung sowohl, als eine tiefe und auf langen in- timen Verkehr gegründete Bekanntschaft mit der Physiologie der Er- nährung und Fortpflanzung, und vor allem mit der unendlichen Bieg- samkeit des Organismus unentbehrlich. Er muß die kleinsten und unscheinbarsten individuellen Abweichungen einzelner Tiere und Pflan- zen, welche seinem Vorteil entsprechen, erkennen, benutzen und durch sorgfältige Vererbung häufen, befestigen und steigern. Der Schlüssel für die Züchtungserscheinungen, sagt Darwin, liegt in des Menschen .. akkumulativen Wahlvermögen, d. h. in seinem Vermögen, durch jedesmalige Auswahl derjenigen Individuen zur Nachzucht, welche die ihm erwünschten Eigenschaften im höchsten Grade be- sitzen, diese Eigenschaften bei jeder Generation um einen wenn auch noch so unscheinbaren Betrag zu steigern. Die Natur liefert all- mählich mancherlei x\bänderungen: der Mensch befördert sie in ge- wissen ihm nützlichen Richtungen. In diesem Sinne kann man von ihm sagen, er schaffe sich nützliche Rassen.'" Es kommt also alles darauf an, unter zahlreichen kultivierten Individuen von einer und derselben Art diejenigen heraus zu erkennen und zur Nachzucht auszulesen, welche irgend eine ganz unbedeutende Abänderung, z. B. eine neue Färbung, zeigen, die dem Wunsche des Züchters ent- spricht. Indem nun diese Individuen sorgfältig fortgepflanzt werden, und indem unter ihren Nachkommen immer diejenigen zur weiteren Fortpflanzung ausgewählt werden, welche jene Abänderung am meisten ausgesprochen zeigen, wird dieser Charakter, welcher anfänghch höchst unbedeutend und dem ungeübten Auge gar nicht erkennbar war,- durch Vererbung befestigt, durch fortdauernde Anpassung gehäuft, und da- durch endlich so stark entwickelt, daß er zuletzt eine neue Rasse charakterisiert. Das wichtigste allgemeine Resultat, zu welchem uns die be- i;vunderuugswürdigen Erfolge der planmäßig betriebenen künstlichen 19* 292 I-^iß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Züchtung liinfiihren, läßt sicli in folgende Worte ztisanimenfassen: Die Unterschiede in physiologischen tiiid morphologischen Charakteren der Tiere und Pflanzen, welche der Mensch durch künstliche Züchtung bei verschiedenen Nachkom- men eines und desselben Organismus hervorzubringen ver- mag, sind oft viel bedeutender, als die Unterschiede in physiologischen und morphologischen Charakteren, welche die Botaniker und Zoologen bei den Pflanzen und Tieren im Naturzustande für ausreichend erachten, um darauf ver- schiedene Spezies oder selbst verschiedene Genera zu be- gründen. VU, B. Die natürliche Züchtung (Selectio naturalis). (Zuclitwalil oder Auslese ilurcli den Kampf ums Dasein.) Die Zuchtwahl, die auslesende Tätigkeit, auf welcher die Züch- tung beruht, und welche bei der künstlichen Züchtung durch den ,. Willen des Menschen" geübt wird, dieselbe wird bei der natür- lichen Züchtung durch das gegenseitige Wechselverhältnis der Or- ganismen geübt, welches Darwin als „Kampf ums Dasein" be- zeichnet. Auf eine richtige Erfassung dieses Satzes und auf seine beständige Geltendmachung kommt alles an, wenn man Darwins. Entdeckung der „natürlichen Züchtung im Kampfe ums Dasein'^ richtig verstehen und in ihrer ungeheuren kausalen Bedeutung würdi- gen will. Wir müssen daher deren wesentlichen Inhalt kurz er- örtern, um so mehr, als auffallenderweise derselbe den gröbsten Miß- verständnissen und den albernsten Entstellungen ausgesetzt worden ist. Der Kampf um das Dasein oder das Ringen um die Existenz oder die Mitbewerbung um das Leben (SfruggJe for Vife, am passendsten vielleicht als „Wettkampf um die Lebens- bedürfnisse" zu bezeichnen) ist eines der größten und mäch- tigsten Naturgesetze, welches die gesamte Organismen- weit, die Menschenwelt nicht ausgeschlossen, regiert, und welches allenthalben und zu jeder Zeit bei der unaufhörlichen Le- bensbewegung der Organismen tätig ist. Da dasselbe überall unter unseren Augen wirksam ist, könnte es höchst auffallend erscheinen, daß vor Darwin niemand dasselbe hervorgehoben und wissenschaft- lich formuliert hat, wenn es nicht eine bekannte Tatsache wäre, daß die Menschen auf die nächstliegenden Betrachtungen immer zuletzt XIX. VII. Züchtung oder Selektion. 293 kommen und das Einfachste und Natürlichste am wenigsten be- greifen wollen: eine Tatsache, für welche die Geschichte der organi- schen Morphologie und vor allem ihrer wissenschaftlichen Grund- lage, der Deszendenztheorie, auf jeder Seite schlagende Beweise liefert. Die wesentliche Grundidee des Gesetzes vom Kampfe ums Da- sein bildet die Erwägung, daß alle Organismen ohne Ausnahme durch Fortpflanzung eine unendlich viel größere Anzahl von Individuen erzeugen, als unter den allgemein beschränkten Lebensverhältnissen der Organismen, innerhalb der bestimmten Grenzen ihrer notwendigen Existenzbedingungen, nebeneinander fortexistieren können. Die bei weitem überwiegende Mehrzahl aller organischen Individuen muß notwendig in früherer oder späterer Zeit (die meisten in der frühesten Zeit) ihrer individuellen Existenz zugrunde gehen, ohne zur Fort- pflanzung gelangt zu sein. Die allermeisten Individuen unterliegen mannigfaltigen Hindernissen der Entwickelung, und gehen frühzeitig unter in dem „Wettkampfe", den sie mit ihresgleichen um die Er- langung der unentbehrlichen Existenzbedingungen zu kämpfen haben. Nur verhältnismäßig wenige von den zahlreichen Nachkommen jedes organischen Individuums sind vor den übrigen in diesem Ringen um die Existenz bevorzugt, überleben dieselben und gelangen zur Reife imd zur Fortpflanzung. Diese wenigen werden aber offenbar, da alle Individuen ungleich sind, diejenigen sein, welche sich den für alle nicht ausreichenden Existenzbedingungen am besten anpassen konnten und vor den übrigen eine ihnen vorteilhafte individuelle Eigentümlichkeit voraus hatten. Wenn sich nun dieser Vorgang, diese „Auslese der Besten", d. h. die Auswahl der am meisten Be- günstigten zur Nachzucht. Generationen hindurch wiederholt, so wird sich die individuelle Eigentümlichkeit, der vorteilhafte Charakter, die nützliche Abänderung, welche den am meisten begünstigten Indi- Yiduen jenen Vorteil im Wettkampfe verlieh, nicht allein erhalten, sondern auch befestigen und häufen. So entstehen aus einer indi- viduellen Abänderung nach den Gesetzen der Vererbung und An- passung im Verlaufe von Generationen neue Varietäten oder Rassen, welche sich allmähhch zu neuen Spezies divergent entwickeln und immer weiter divergierenden Nachkommen den Ursprung geben können. So bringt der Kampf ums Dasein durch natürliche Züch- tung zunächst neue Varietäten, weiterhin aber auch neue Arten, Gattungen etc. hervor. 294 f^iP Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Bei der außerordentlichen Wiclitigkeit dieses Verhältnisses wollen wir ant' einige Seiten desselben noch spezieller eingehen. Was erstens die Zahlonverhältnisse der Vermehrung aller Organismen betrifft, so ist es eine bekannte Tatsache, daß die Zahl der möglichen Individuen, d. h. derjenigen, welche als Keime produziert werden, ohne sich zu entwickeln, in gar keinem A^erhältnisse steht zu der Zahl der ver- schwindend geringen Zahl der wirklichen Individuen, welche tat- sächlich aus einzelnen Keimen zur Entwickelung gelangen. ..Es gibt,"' sagt Darwin, „keine Ausnahme von der Regel, daß jedes organische Wesen sich auf natürliche Weise in dem Grade vermehre, daß. wenn es nicht durch Zerstörung litte, die Erde bald von der Nachkommen- schaft eines einzigen Paares bedeckt sein würde." Die allermeisten organischen Individuen erzeugen während ihres Lebens Hunderte und Tausende, sehr viele aber Hunderttausende und Millionen von Keimen, welche neuen Individuen den Ursprung geben könnten. Und doch gelangen nur verhältnismäßig äußerst wenige von diesen Keimen, oft nur ein oder zwei, sehr häufig nur ein paar Dutzend, zur Ent- wickelung, und von diesen sich entwickelnden ist es wiederum nur ein ganz geringer Bruchteil, welcher zur vollständigen Reife und zur Fortpflanzung gelangt. Diese unbezweifelbare und höchst wich- tige Tatsache zeigt sich am schlagendsten darin, daß die absolute Anzahl der organischen Individuen, welche unsere Erde bevölkern, im großen und ganzen durchschnittlich die- selbe bleibt, und daß nur die relativen Zahlenverhältnisse der einzelnen Arten zueinander beständig sich ändern. Die Tatsache, daß zwischen allen Organismen, welche an einem und demselben Orte der Erde beisammen leben, äußerst zusammen- gesetzte Wechselbeziehungen herrschen, kann nicht geleugnet werden, ebensowenig die Tatsache, daß von den zahlreichen individuellen Keimen aller Organismen nur eine ganz geringe Anzahl zur Ent- wickelung und Fortpflanzung gelangt. Bringen wir nun diese un- leugbaren Tatsachen mit den oben festgestellten Gesetzen der Ver- erbung und Abänderung in Zusammenhang, so folgt aus dieser Kombination mit absoluter Notwendigkeit die Existenz und Wirksamkeit der natürlichen Züchtung. Denn da alle Indi- viduen ungleich und abänderungsfähig sind, da nur eine beschränkte Anzahl der im Keime existierenden Individuen sich entwickeln kann, so muß notwendig ein Kampf um das Dasein, d. h. ein Wettkampf zwischen den Organismen um die Erlangung der Existenzbedingungen XIX. VII. Züchtung oder Selektion. 295 Stattfinden, in welchem die nngleichen Individuen ungleiche Stellun- gen und ungleiche Aussichten haben. Diejenigen Individuen, welche durch irgend eine individuelle Eigentümlichkeit, irgend eine neu er- worbene Abänderung, einen Vorzug vor den übrigen ihrer Art vor- aus haben, werden ihnen überlegen sein und sie besiegen. Sie allein werden zur Fortpflanzung gelangen und ihre Abänderung auf die Nachkommenschaft übertragen. Diese individuelle Eigenschaft wird sich auf die Nachkommen in ungleichem Maße vererben, und da von diesen wiederum diejenigen, welche dieselben am weitesten ent- wickelt zeigen, die im Kampfe bevorzugten sind, so werden sie aber- mals zur Fortpflanzung gelangen und ihren Vorzug weiter vererben. Indem sich dieser Prozeß Generationen hindurch wiederholt, muß er notwendig zunächst zur Erhaltung, dann aber weiter zur Befestigung, Häufung und immer stärkeren Entwickelung jenes ursprünglich er- worbenen Charakters führen. Da nun offenbar die Mitbewerbung der ähnlichen Individuen, der Kampf zwischen den verschiedenen Repräsentanten einer und derselben Art um so heftiger und gefähr- licher sein muß, je weniger sie verschieden sind, dagegen um so milder und schwächer, je verschiedener ihre Eigenschaften und Be- dürfnisse sind, so werden die am meisten voneinander abweichen- den Formen einer und derselben Art sich am wenigsten bekämpfen, am leichtesten nebeneinander fortbestehen können, und hieraus folgt die wichtige Konsequenz der natürlichen Züchtung, welche wir als Divergenzgesetz oder Differenzierungsgesetz sogleich noch näher betrachten werden. Wie wir hieraus sehen, ist es eigentlich vor allem die Mit- be Werbung, der Wettkampf zwischen den zusammenlebenden Individuen derselben Art und der nächstverwandten Arten, welcher durch .,natürliche Züchtung" umbildend wirkt. Ähnliche oder nahezu gleiche Individuen, welche dieselben Bedürfnisse haben, denselben Existenzbedingungen unterworfen sind, machen sich die Erlangung derselben streitig und suchen sich gegenseitig in diesem Kampfe zu übeiilügeln. Es findet also in dieser Hinsicht ein wahrer AVettkampf statt und dieser Wettkampf muß natürlich um so heftiger sein, je gleichartiger die Natur der miteinander ringenden Individuen und die Natur ihrer Lebensbedürfnisse ist. Daher werden zwar immer alle Organismen überhaupt, die an irgend einem Orte der Erde zu- sammenleben, sich vermöge ihrer notwendigen Berührungen und Wechselbeziehungen miteinander im Kampfe befinden: der Kampf 296 r)i^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. wird aber zwischen den verschiedenen Arten von sehr verschiedener Heftigkeit, am heftigsten und wirksamsten immer zwischen Indi- viduen einer und derselben Art sein, welche nahezu die gleiche Form und die gleichen Lebensbedürfnisse haben. Da jeder tiefere Blick in die organische Natur uns die äußerst verwickelten Wechselbeziehungen der Organismen offenbart, welche den Kampf ums Dasein und die natürliche Züchtung bedingen, so könnte es überflüssig erscheinen, besondere einzelne Fälle ihrer Wirk- samkeit hier anzuführen. Doch wollen wir als besonders schlagende Beispiele wenigstens zwei besondere Wirkungsweisen der natürlichen Auslese hervorheben, welche Darwin als sexuelle Zuchtwahl und als sympathische Färbung der Tiere anfühlt. Die sympathische Färbung der Tiere, welche vielleicht besser die sympathische Farbenwahl oder die gleichfarbige Zucht- wahl (Selectio concolor) genannt würde, äußert sich in der weit verbreiteten und sehr auffallenden Erscheinung, daß die äußere Färbung sehr zahlreicher Tiere in merkwürdiger Weise übereinstimmt mit der vorherrschenden Farbe ihrer gewöhnlichen Umgebung. So sind die Blattläuse und zahlreiche andere, auf grünen Blättern lebende Insekten grün gefärbt: die meisten Bewohner der gelben oder grau- braunen Sandwüste (z. B. die Antilopen, Springmäuse, Löwen etc.) gelb oder graubraun: die Colibris und Tagfalter, welche nur um die bunten glänzenden Blüten schweben, bunt und glänzend, wie diese: die meisten Bewohner der Polargegenden sind weiß, wie der Schnee und das Eis, von dem sie umgeben sind (Eisbär, Eisfuchs. Schnee- huhn etc.). Von den letzteren sind sogar Viele (z. B. Polarfuchs und Schneehuhn) bloß im Winter, so lange der reine weiße Schnee die Landschaft bedeckt, weiß, dagegen im Sommer, w^o derselbe teil- weise abgeschmolzen ist, graubraun, gleich der entblößten Erde. Nun erklärt sich diese scheinbar so auffallende Erscheinung ganz einfach durch die Wirksamkeit der natürlichen Züchtung. Nehmen wir an, daß jede Tierart ein veränderliches Farbenkleid besessen habe (wie es ja in der Tat der Fall ist) und daß verschiedene Individuen der- selben Art in alle möglichen Farbenuancen hinein variiert haben, so haben offenbar diejenigen einen großen Vorteil im Kampfe ums Dasein gehabt, deren Färbung sich möglichst enge an diejenige ihrer Umgebung anschloß. Denn sie wurden von ihren Feinden, die ihnen nachstellten, weniger leicht bemerkt und aufgespürt, und konnten umgekehrt, wenn sie selbst Raubtiere waren, sich ihrer Beute leichter XIX. ^'li- Ziichtiiiisj oder Selektion. 297 und unbeinerkter nähern, als die übrigen Individuen der gleichen Art, welche eine abweichende Färbung besaßen. Die letzteren, weniger begünstigten, mußten allmählich aussterben, und den ersteren. mehr begünstigten das Feld räumen. Aus diesem Kausalverhältnisse der sympathischen Farbenwahl ist. wie wir glauben, auch eine der merkwürdigsten, bisher aber noch wenig gewürdigten, zoologischen Erscheinungen zu erklären, nämlich die Wasserähnlichkeit der pelagischen Fauna. Von allen den wundervollen und neuen Erscheinungen, welche den im Binnenlande erzogenen Zoologen bei seinem ersten Besuche der Meeresküste und beim ersten Anblick der unendlich mannigfaltigen Meeresfauna über- raschen, erscheint vielleicht keine einzige so wunderbar, so auffallend, so unerklärlich, als die Tatsache, daß zahlreiche Seetiere aus den verschiedensten Klassen und Ordnungen, ganz abweichend von den allermeisten Tieren der süßen Gewässer und des Binnenlandes, sich auszeichnen durch vollständigen Mangel der Farbe oder durch eine nur schwach bläuliche, violette oder grünliche Färbung, gleich der des Meerwassers, und daß diese farblosen Tiere dabei so vollkommen wasserhell und durchsichtig, wie Glas sind, oder wie das Meerwasser, in welchem sie leben: bei den meisten erlaubt die vollständige glas- artige Durchsichtigkeit des kristallhellen Körpers ohne weiteres den vollständigsten Einblick in alle gröberen und feineren Verhältnisse der inneren Organisation. Zu dieser pelagischen Fauna der Glas- tiere, wie man kollektiv alle diese ausschheßlich im Seewasser schwimmend sich bewegenden (nicht auf dem Grunde oder an der Küste lebenden) wasserklaren Seetiere nennen kann, gehören: von den Fischen die Gruppe der Helmichthyiden {Leptocephalus, Helm- ichthys, Tilurus etc.); von den Mollusken sehr zahlreiche Repräsen- tanten verschiedener Klassen (von den Cephalopoden Loligopsls. von den C e p h a 1 o p h o r e n Ph i/Uirrh oc und die allermeisten Pteropoden und Heteropoden: von den Tunicaten PyrosonuL DolioJum und sämtliche Salpen: von den Crustaceen sehr zahlreiche Reprä- sentanten fast aller Ordnungen, vorzugsweise aber Copepoden und Amphipoden: von den Würmern die Alciope und Sagiüa und zahl- reiche Larven; von den Echinodermen die schwimmenden Larven; von den Coelenteraten endlich fast alle pelagischen Formen, also die ganze Klasse der Ctenophoren und alle pelagischen Hydromedusen (Acraspeden. Craspedoten. Siphonophoren). Gewiß muß es äußerst merkwürdig und seltsam erscheinen, daß so zahlreiche und in ihrer 298 ^^'(' Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. ganzen Organisation so äußerst verschiedenartige Tiere der ver- schiedensten Klassen, als es die genannten nnd viele andere pelagische Tiere sind, sämtlich in dem so höchst anffallenden Charakter der glasartigen Durchsichtigkeit des wasserhellen Körpers übereinstimmen und sich dadurch so außerordentlich in ihrem ganzen Habitus von ihren nächsten Verwandten entfernen, welche den Boden oder die Küsten des Meeres, oder das Süßwasser oder das Festland bewohnen. Grade in diesem offenbaren tatsächlichen Zusammenhange zwischen der wasserklaren Durchsichtigkeit der Glastiere und ihrer pelagischen Lebensweise, ihrem beständigen Aufenthalte in dem durchsichtigen Wasser, müssen wir notwendig auch ihre kausale Erklärung suchen. Der letztere ist die bewirkende Ursache der ersteren. . Offenbar ist allen diesen Glastieren in dem unaufhörlichen Kampfe, den sie mit- einander führen, die glashelle Körperbeschaff'enheit vom äußersten Nutzen. Die Verfolger können sich ihrer Beute unbemerkter nähern, die Verfolgten können sich den ersteren leichter entziehen, als wenn Beide gefärbt und undurchsichtig, und also im hellen Wasser leicht sichtbar wären. Nehmen wir nun an, daß von diesen Glastieren ursprünglich zahlreiche verschiedene Varietäten, verschieden haupt- sächlich in dem Grade der Durchsichtigkeit und dem Mangel der Farbe, nebeneinander existiert hätten, so wüiden sicherlich die am meisten durchsichtigen und farblosen Individuen im Kampfe um das Dasein das Übergewicht über die anderen errungen haben, und indem sie Generationen hindurch diese individuelle vorteilhafte Eigentüm- lichkeit befestigten und verstärkten, schließlich notwendig zur Aus- bildung der vollkommen glasartigen Körperbeschaff'enheit gelangt sein. Daß letztere in der Tat auf diesem Wege, durch natürliche Züchtung entstanden ist, kann um so weniger zweifelhaft sein, als die nächsten Verwandten der pelagischen Glastiere, welche nicht pelagisch an der Oberfläche des Meeres (oder in tieferen Wasserschichten) leben, sondern den Grund des Meeres oder die Küste bewohnen, die glasartige Körper- beschaff'enheit nicht besitzen, sondern vielmehr undurchsichtig und entsprechend den bunten Felsen und Fucoideen gefärbt sind, zwischen und auf welchen sie leben. Zur besonderen Bestätigung dieser Auf- fassung kann auch noch der Umstand dienen, daß viele Seetiere nui* in der Jugend, so lange sie als Larven pelagisch leben, glashell und farblos sind, dagegen später, wenn sie den Meeresgrund oder die Küste bewohnen, undurchsichtig und bunt gefärbt werden, so z. B. die allermeisten Echinodernien, sehr viele Würmer etc. XIX. ^'I'- /''iiehtun-- oder Selektion. 299 Die sexuelle Zuchtwahl oder geschlechtliche Auslese (Selccfio sexualis) wird von Darwin als eine hesondere Form dei- Auslese oder Selektion aufgeführt. ..welche nicht von einem Kampfe ums Dasein, sondern von einem Kampfe zwischen den Männchen um den Besitz der Weibchen abhängt". Indessen werden wir diese sexuelle Selektion doch nur als eine Modifikation oder eine speziellere Weise des „Kampfes um das Dasein" aufzufassen haben, sobald wir uns erinnern, daß der letztere überhaupt den ..Wettkampf um die Lebensbedürfnisse" bezeichnet. Nun ist aber die Fortpflanzung (die sich bei den höheren Tieren im Triebe der sexuellen ..Liebe"' äußert) ebenso ein Lebensbedürfnis, eine Existenzbedingnng. wie die Er- nährung (die sich bei den höheren Tieren im Triebe des ..Hungers" äußert). Und daher werden wir auch den Wettkampf der Männchen um die Weibchen, welcher bei den meisten höheren Tieren in ähn- licher Weise, Avie beim Menschen stattfindet, als einen Teil des Wett- kampfes ums Dasein betrachten können. Dieser sexuelle Wettkampf ist äußert wichtig und interessant: denn auf ihm beruht großenteils die Entstellung der merkwürdigen sekundären Sexualcharaktere. durch welche sich die beiden Geschlechter der höheren Tiere so oft unter- scheiden. Die Auswahl oder Selektion, welche bei der künstlichen Züchtung der durch den menschlichen Vorteil geleitete Wille des Menschen, bei der natürlichen Züchtung stets der Vorteil des ge- züchteten Organismus selbst ausübt, wird bei der sexuellen Züchtung- weiche nur ein Teil der letzteren ist. durch den Vorteil des einen Geschlechts geübt. Darwin berücksichtigt hierbei nur das männ- liche Geschlecht, indem er die sexuelle Auslese allgemein als einen „Wettkampf der Männchen um den Besitz der Weibchen darstellt, dessen Folgen für den Besiegten nicht in Tod und er- folgloser Mitbewerbung, sondern in einer spärlicheren oder ganz ausfallenden Nachkommenschaft bestehen. Im allgemeinen werden die kräftigsten, die ihre Stelle in der Natur am besten ausfüllenden ^lännchen die meiste Nachkommenschaft hinterlassen". Indessen glauben wir, daß die sexuelle Auslese auf beide Geschlechter wirkt und daß es auch einen .,Wettkampf der Weibchen um den Besitz der Männchen" gibt, welcher entschieden ebenso um- bildend und züchtend auf die Weibchen wirkt, als der von Darwin dargestellte auf die Männchen: dies lehrt schon das Beispiel des Menschen. W^ir können daher allgemein die sexuelle Selektion als einen beide Geschlechter umbildenden Züchtungsprozeß 300 Dil' Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. bezeichnen: der Wettkampf der Männchen nni den Besitz der Weibchen, bei welchem dcas anslesende. ziiclitende Prinzip unmittelbar die Vor- züge der Männchen, mittelbar aber die dadurch bewirkte aktive Aus- wahl der Weibchen ist, und bei welchem also eigentlich die Weibchen wählend, auslesend wirken, kann die weibliche Zuchtwahl (*S'e?ecfio feminina) heißen: umgekehrt kann der Wettkampf der Weibchen um den Besitz der Männchen, bei welchem das auslesende züchtende Prinzip unmittelbar die Vorzüge der Weibchen, mittelbar die dadurch bewirkte aktive Auswahl der Männchen ist, und bei welchem also eigentlich die Männchen wählend, auslesend wirken, die männliche Zuchtwahl (Seledio masculina) genannt werden: hier wählen die Männchen, dort die Weibchen. Die sexuelle Züchtung ist deshalb eine besonders interessante und wichtige Form der natürlichen Züchtung, weil sie auch im mensch- lichen Leben, wie bei den übrigen höheren Tieren, eine sehr bedeutend umgestaltende Wirkung auf beide Geschlechter ausübt. Die somatischen lind psychischen Vorzüge des Weibes sind Produkte der männlichen Zuchtwahl: die somatischen und psychischen Vorzüge des Mannes sind Produkte der weiblichen Zuchtwahl. Diese auswählende, züchtende, umgestaltende Wechselwirkung beider Geschlechter ist äußerst wichtig, und wir glauben, daß ein sehr großer Teil der vielen Vorzüge, welche den Menschen vor den übrigen Primaten auszeichnen, eine unmittel- bare Wirkung der beim Menschen so sehr viel höher entwickelten sexuellen Zuchtwahl ist. Wie beim Kampfe um das Dasein überhaupt, so sind auch beim Kampfe um die Fortpflanzung die Kämpfe unter den höheren Tieren teils mittelbare Wettkämpfe, teils unmittelbare Vernichtungskämpfe der wetteifernden Nebenbuhler. Unmittelbare Verniclitungskämpfe der um den Besitz der Weibchen streitenden Männchen finden sich häufig bei den Säugetieren: die Mähne des Löwen, die Wamme des Stiers sind offenbar Schutzwaffen — das Geweihe des Hirsches, der Hauer des Ebers, der Sporn des männlichen Schnabeltiers, der Sporn des Hahns, der geweihähnliche Oberkiefer des männlichen Hirschkäfers etc. sind offenbar Angriffswaffen, welche durch Anpassung im unmittel- baren Vernichtungskampfe der um die Weibchen kämpfenden Männchen, durch natürliche Züchtung sich entwickelten. Ebenso wird allgemein die größere Muskelkraft der männlichen Säugetiere von diesem Kampfe abzuleiten sein. Vom Menschen wurden diese Kämpfe besonders im Altertum und Mittelalter ausgeübt, wo zahlreiche Duelle und Turniere XIX. VII. Züchtung oder Selektion. 301 von den Rittern ausgeführt wurden, und wo allgemein der Stärkere die Braut heimführte, und durch Vererbung seiner individuellen Körper- stärke die Muskelkraft des männlichen Geschlechts häufen und be- festigen half. Mittelbare Wettkämpfe um die Fortpflanzung finden namentlich häufig in sehr ausgezeichneter Weise bei den Vögeln und beim Menschen statt. Die Vorzüge, welche dem begünstigten Mitbewerber den Sieg verleihen, sind hier nicht, wie beim unmittelbaren Vernichtungs- kampfe, körperliche Stärke und besondere Waffen, sondern vielmehr andere individuelle Eigenschaften, welche die Neigung des anderen Geschlechts erwecken. Besonders kommen hier die Vorzüge körper- licher Schönheit und der Stimme (des Gesanges) und beim ]\Ienschen die feineren psychischen Vorzüge in Betracht. Die körperliche Schön- heit ist insbesondere bei den Vögeln und Schmetterlingen sehr wirk- sam, und zwar meistens als weibliche Zuchtwahl, indem gewöhnlich das männliche Geschlecht es ist, welches durch Ausbildung besonderer Zierden, z. B. Federbüsche, Hautlappen, bunte Flecken etc. die be- sondere Aufmerksamkeit und Neigung der auswählenden Weibchen zu erregen sucht. Auf diese Weise ist wohl größtenteils die ausge- zeichnet schöne und mannigfaltige Färbung vieler männlichen Vögel und Schmetterlinge entstanden, deren Weibchen einfarbig oder unan- sehnlich sind. Ebenso sind zweifelsohne die mannigfaltigen Haut- auswüchse und Körperanhänge entstanden, die besonders bei den Hühnervögeln so entwickelt vorkommen, der radbildende Schweif des Pfauen, des Truthahns, der Pfauentaube, die Fleischkämme und bunten Hautlappen oder Federbüsche und Haarbüsche auf dem Kopfe und an der Brust des Haushahns, des Truthahns und vieler anderer Hühner- vögel. Beim Menschen kann der männliche Bart als eine auf diesem Wege erworbene Zierde gelten. Gewöhnlich ist es aber beim Menschen nicht die weibliche, sondern die männliche (aktive) Zuchtwahl, welche durch die Entwickelung körperlicher Schönheit geleitet wird, indem hier vorzugsweise das weibliche Geschlecht die körperlichen Zierden entwickelt, durch welche es die Bewerber des andern Geschlechts anzulocken sucht. Es ist bekannt, welcher Aufwand in miseren „hoch zivilisierten'' Gesellschaften von den Weibern entwickelt wird, um durch künstliche Zierrate (Geschmeide, bunte Kleider, Kopfputz etc.) die vorhandenen körperlichen Vorzüge zu erhöhen oder die mangeln- den zu ersetzen, und so durch möglichst starke Anziehung der wählen- den Männer die übrigen Weiber in der Mitbewerbung zu überwinden. 302 iJit' Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Außer der durch anziehende Formen und reizende Farben wirkenden körperUchen Schönheit ist es insbesondere die Entwickelun^- der modulierten Stimme zum Gesänge, welche von einem der beiden Geschlechter benutzt wird, um das andere anzulocken, und die voll- kommneren Sänger sind es, welche in diesem Falle den Sieg über ihre Mitbewerber gewinnen und vor ihnen zur Fortpflanzung gelangen. Am stärksten ist diese Art der sexuellen Auslese bei den Singvögeln nnd beim Menschen entwickelt, vielleicht auch bei manchen Insekten, z. B. den Heuschrecken und Cicaden. Bei den Singvögeln ist es be- i:anntlich gewöhnlich das Männchen, welches durch eine außerordentliche und höchst bewunderungswürdige Modulation der Stimme sich liebens- wih'dig zu machen und vor seinen Nebenbuhlern bei der Bewerbung um die Weibchen sich auszuzeichnen sucht. In dieser Beziehung kommen manche Singvögel nicht allein den besten menschhchen Sängern gleich, sondern sie übertreffen sie noch bedeutend an Wohlklang, Umfang, Zartheit, ^lodulationsfähigkeit der Stimme und an ^lannig- faltigkeit der Singweisen. Offenbar ist die hohe Differenzierung des Kehlkopfs, welche dieser herrlichen Funktion zugrunde liegt, erst durch den musikalischen Wettkampf der Männchen um die Weibchen entstanden, ebenso bei den Singvögeln, wie beim Menschen. Doch ist es gewöhnlich beim Menschen umgekehrt das weibliche Geschlecht, w'elches sich durch die vielseitigere und feinere Ausbildung des Stimmorgans auszeichnet, und durch einen schön modulierten Gesang die auswählenden Männer anzuziehen sucht. Diesem Umstände ist gewiß vorzugsweise die allgemeine Übung und hohe Ausbildung des w^eiblichen Gesangs in unseren hochzivilisierten Gesellschaften zu verdanken. Die starke und vielseitige Differenzierung der beiden mensch- lichen Geschlechter, die sich auf fast alle Teile des Körpers und seiner Funktionen erstreckt, und welche gewiß eine Hauptbedingung für die iortsch reitende Entwickelung der menschlichen Kultur ist, beruht also sicher zum größten Teile auf sexueller Zuchtwahl, welche von beiden Geschlechtern gegenseitig ausgeübt wird. Wie nun aber der veredelte Mensch sich durch nichts so sehr vor den übrigen Tieren auszeichnet, als durch die außerordentlich weit gehende Differenzierung des Ge- hirns und der von diesem ausgehenden psychischen Funktionen, so wird auch die sexuelle Zuchtwahl bei den höher stehenden, veredelten Menschenrassen vorzugsweise durch psychische Funktionen vermittelt, und es ist dies um so mehr zu beiücksichtigen, als sie offenbar in XIX. ^'11- Züchtung oder Selektion. 303 hohem Grade veredehul auf das Gehirn selbst zurückwirkt. Dadurch kommt es, daß bei den höchst entwickehen Menschen vorzugsweise die psychischen Vorzüge (und zwar die Vorzüge der höchsten psychi- schen Funktionen, der Gedanken) des einen Geschlechts bestimmend auf die sexuelle Wahl des anderen einwirken, und indem so bestimmte psychische Vorzüge gleich den somatischen vererbt, durch Generationen hindurch befestigt werden, erlangen die beiderseitigen Vorzüge der beiden sich ergänzenden Geschlechter jenen hohen Grad der Ver- edelung, welcher in der harmonischen Wechselwirkung der beiden veredehen Geschlechter in der Ehe das höchste Glück des mensch- lichen Lebens bedingt. Gleich der sexuellen Zuchtwahl wirken auch die verschiedenen anderen Formen der natürlichen Auslese ebenso auf den Menschen, wie auf alle übrigen Organismen, umbildend, vervollkommnend, ver- edelnd ein. und bringen als unscheinbare Ursachen die größten Wirkungen hervor. VII, C. Vergleichung der natürlichen und der künstlichen Züchtung. Daß die künstliche und natürhche Züchtung durchaus ähnliche physiologische Vorgänge sind, und daß beide Selektionen lediglich auf der Wechselwirkung zweier allgemeiner physiologischer Funktionen, Vererbung und Anpassung, beruhen, haben wir oben bereits gezeigt. Auch die wesentlichen Unterschiede, welche beide Formen der Aus- lese voneinander trennen, sind dort bereits berührt. Doch scheint es nicht überflüssig, die wichtigsten übereinstimmenden und trennenden Momente beider Ausleseformen nochmals vergleichend hervorzuheben, da die unmittelbar daraus folgende Selektionstheorie die kausale Grundlage der ganzen Deszendenztheorie bildet, und da die meisten Naturforscher, wie aus ihren unverständigen Einwürfen hervorgeht, Darwin entweder gar nicht verstanden oder doch großenteils miß- verstanden haben. I. Natürliche und künstliche Züchtung sind gleichartige physiolo- gische Umbildungsvorgänge der Organismen, welche auf kausal- mechanischem Wege, durch die Wechselwirkung der Vererbungs- und der Anpassungsgesetze, neue Formen und Funktionen der Organismen hervorrufen. IL Die Regulierung und Modifikation der Wechselwirkung zwischen 304 I^'^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. den beiden wirkenden Grundursachen, der Vererbung und der An- passung, wird bei der natürlichen Züchtung durcli den planlos wirken- den ,.Kainpt' ums Dasein", bei der künstlichen Züchtung durch den planmäßig wirkenden „Willen des Menschen" ausgeübt. III. Die Umbildungen der Formen und Funktionen der Organis- men, welche die Züchtung hervorruft, fallen bei der natürlichen Züchtung zum Nutzen des gezüchteten Organismus, bei der künstlichen Züchtung zum Nutzen des züchtenden Menschen aus. IV. Die natürliche Züchtung wirkt sehr langsam und unmerklich umbildend, da das auslesende Prinzip, der Kampf ums Dasein, sich nur sehr langsam und unmerklich ändert, und selten plötzlich ganz neue Existenzbedingungen einwirken läßt. Die künstliche Züchtung dagegen wirkt verhältnismäßig sehr rasch und auffallend umbildend, da das auslesende Prinzip, der Wille des Menschen, sich oft sehr rasch und auffallend ändert, und oft plötzlich ganz neue Existenzbedingungen einwirken läßt. V. Die Veränderungen der Organismen, welche die natürliche Züchtung hervorbringt, wachsen sehr langsam, weil die abgeänderten Individuen sich leicht mit nicht abgeänderten kreuzen können und daher leicht wieder in die Form der letzteren zurückschlagen. Da- gegen wachsen die Veränderungen, welche die künstliche Züchtung hervorbringt, sehr rasch, weil die Kreuzung der abgeänderten und der nicht abgeänderten Individuen, und dadurch der Rückschlag der ersteren in die Form der letzteren sorgfältig vermieden wird. VI. Die durch die natürliche Züchtung bewirkten Veränderungen der Organismen gehen meist sehr tief und bleiben dauernd, weil sie durch sehr langsame Häufung der Anpassungen allmählich ent- stehen: die durch die künstliche Züchtung bewirkten Veränderungen dagegen sind meist nur oberflächlich und verschwinden leicht wieder, weil sie durch sehr rasche Häufung der Anpassungen in kurzer Zeit entstehen. VIII. Die Selektionstheorie und das Uivergenzgesetz. Die Differenzierung (Dircrgcntia) oder Arbeitsteilung (Polymorjjhismus) als notwendige Wirkung der Selektion. Die ganze unendliche Mannigfaltigkeit der organischen Natur und das harmonische Ineinandergreifen ihres höchst komplizierten Räderwerks, welches uns so leicht zu der falschen teleologischen XIX. VIII. Die Selektionstheoiie und das Diveigenzgesetz. 305 Vorstellung eines ..zweckmäßig- wirkenden Schöpfungsplanes" ver- führt, ist lediglich das notwendige Resultat jener unaufhörlichen, mechanischen Tätigkeit des „Kampfes ums Dasein", welcher durch natürliche Züchtung umbildend wirkt. Um die ganze, ungeheure Wichtigkeit dieses interessantesten Vorgangs richtig zu würdigen, müssen wir nun noch einige unmittelbare Konsequenzen desselben besonders hervorheben, deren richtiges Verständnis für die mecha- nische Auffassung der organischen Natur von der größten Bedeutung ist. Zu diesen unmittelbaren und notwendigen Wirkungen rechnen wir in erster Linie die bekannten Erscheinungen der organischen Differenzierung und sodann diejenigen der organischen Vervoll- kommnung. Die organische Differenzierung {Dlrergcntia) oder Ar- beitsteilung {Polymoyphismus) haben wir oben als eine der vier fundamentalen physiologischen Entwickelungsfunktionen aufgefaßt, auf denen die gesamte Morphogenie beruht: und wir haben im acht- zehnten Kapitel gezeigt, daß der Differenzierungsprozeß bei der Ontogenese aller morphologischen Individuen die hervorragendste Rolle spielt. Die drei anderen Entwickelungsfunktionen, die Zeugung, das Wachstum und die Degeneration konnten wir unmittelbar auf die rein physiologischen (physikalisch-chemischen) Prozesse der Er- nährung, als auf ihre mechanische Ursache zurückführen. Dasselbe gilt auch von dem A^organge der Verwachsung oder Konkreszenz, falls wir diesen als eine besondere fünfte Entwickelungsfunktion auffassen wollten. Dagegen konnten wir die Entwickelungsfunktion der Differenzierung oder Divergenz nicht unmittelbar als eine ein- fache Teilerscheinung der Ernährung und des Wachstums auffassen. Die mechanische Erklärung dieser Funktion ist vielmehr nur mög- lich durch die Selektionstheorie, welche es klar zeigt, daß die Divergenz des Charakters keine besondere rätselhafte organische Erscheinung, sondern vielmehr eine notwendige Folge der natür- lichen Züchtung ist. Die Divergenz des Charakters oder die Differenzierung der Individuen folgt notwendig unmittelbar aus der Wech- selwirkung zwischen der Vererbung und der Anpassung, und zwar speziell aus dem vorher erörterten Umstände, daß der Kampf ums Dasein zwischen Organismen, die an einem und demselben Orte miteinander um die Lebensbedürf- nisse ringen, um so heftiger ist, je gleichartiger sie selbst, Haeckel, Prinz, d. Morpliol. 20 306 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. je gleichartiger also auch ihre Bedürfnisse sind. Umgekehrt können an einer und derselben Stelle des Naturhaushalts um so mehr Individuen nebeneinander existieren, je mehr ihre Charaktere und ihre Bedürfnisse verschieden sind, je mehr sie „divergieren". So können z. B. auf einem Baume viel zahlreichere Käfer nebenein- ander existieren, wenn die einen bloß von den Früchten, die andern von den Blüten, noch andere bloß von den Blättern leben, als wenn sie alle hloß von den Blättern leben können, und noch viel größer wird jene Zahl, wenn daneben auch noch andere Käfer vom Holze oder von der Rinde oder von der Wurzel leben können. So können in einer und derselben kleinen Stadt sehr gut fünfzig Handwerker nebeneinander existieren, die zehn oder zwanzig verschiedene Professionen treiben, während sie unmöglich nebeneinander existieren könnten, wenn sie alle auf ein und das- selbe Handwerk angewiesen wären. Ferner können alle Konkurrenten, die eine und dieselbe Profession treiben, um so besser nebeneinander bestehen, je mehr sich dieselben auf einzelne verschiedene Zweige ihres gemeinsamen Handwerks beschränken, und je mehr jeder ein einzelnes Spezialfach nach einer bestimmten Richtung hin aus- bildet. Mit einem Worte, die Konkurrenz zwischen allen Organismen, welche an einem und demselben Orte nebeneinander sich die un- entbehrlichen Lebensbedürfnisse zu erringen suchen, wird um so weniger heftig, um so weniger für jeden einzelnen gefahrdrohend sein, je verschiedenartiger ihre Bedürfnisse und demgemäß ihre Eigenschaften, ihre Tätigkeiten und ihre Charaktere sind. Es wird also durch die natürlichen Verhältnisse des Kampfes um das Da- sein überall die Ungleichartigkeit, die Divergenz der Charaktere der verschiedenen Individuen begünstigt, weil sie ihnen selbst vorteilhaft ist, und weil eine Anzahl von Individuen an einer und derselben be- schränkten Stelle im Naturhaushalte um so leichter und besser neben- einander existieren können, je stärker sie divergieren. Hieraus folgt dann unmittelbar weiter die höchst wichtige Tatsache, daß der Kampf um das Dasein das Erlöschen der Mittelformen, den Untergang der verbindenden Zwischenglieder zwischen den Extremen, mit Notwendigkeit zur Folge hat. Denn diese sind immer die am meisten gefährdeten, und wenn eine Art in zahlreiche Varietäten auseinander geht, so werden die am stärksten divergierenden die vorteilhafteste, die verbindenden Zwischenformen dagegen die ge- fährlichste Position im Kampfe um das Dasein einnehmen. XIX. VIII. Die Selektionstlieorie und das Divergenzgesetz. 307 Jede unbefangene und tiefere Betrachtung der Selektionstheorie zeigt uns. wie der Divergenzprozess der organischen Formen, das fortschreitende Auseinandergehen der divergierenden Extreme und das Erlöschen der verbindenden Mittelglieder und namentlich der ge- meinsamen Stammformen der ersteren. unmittelbar und mit kausaler Notwendigkeit aus dem Kampfe um das Dasein und aus der Wechsel- wirkung zwischen Vererbung und Anpassung folgt. Wenn es wahr ist. daß alle Organismen den Gesetzen der Erblichkeit und Ver- äuderhchkeit unterworfen sind — w^as niemand leugnen kann — wenn es ferner wahr ist. daß alle Organismen sich überall und be- ständig im Kampfe um das Dasein befinden. — ■ was eben so wenig geleugnet werden kann — so folgt hieraus von selbst und mit ab- soluter Notwendigkeit die natürhche Selektion, die Divergenz des Charakters und das Erlöschen der vermittelnden Zwischenformen. Darwin hat diese notwendigen I'olgerungen in dem vierten Kapitel seines Werkes so meisterhaft und ausführlich begründet, daß wir bloß darauf zu verweisen brauchen. Wir können aber die bindende Notwendigkeit dieses Kausalnexus zwischen Divergenz und Selektion nicht genug hervorheben, w^eil sie uns die sicherste Gegen- probe für die Wahrheit der Selektionstheorie liefert. Die unendlich mannigfaltigen Erscheinungen der Divergenz sind allbekannte Tat- sachen und werden von niemand geleugnet. Sie erklären sich voll- ständig aus der Selektionstheorie, und nur allein aus dieser. Ohne letztere sind sie vollkommen unverständlich. Wir können da- her mit der vollsten Sicherheit aus den Tatsachen der Differenzierung auf die Richtigkeit der Zuchtwahllehre zurückschheßen. Wenn wir nichts von Paläontologie und Geologie, nichts von Embryologie und Dysteleologie wüßten, so würden wir die Abstammungslehre schon allein deshalb für wahr erkennen müssen, weil sie allein uns die mechanisch-kausale Erklärung der großen Tatsache der Divergenz zu liefern vermag. Das Divergenzgesetz oder Differenzierungsprinzip, in dem Sinne wie Darwin dasselbe als die notwendige Folge der natürhchen Züch- tung entwickelt, umfaßt nur diejenigen Differenzierungs-Phänomene, welche zwischen physiologischen Individuen einer und derselben Art stattfinden, und zunächst zur Bildung neuer Varietäten, späterhin zur Bildung neuer Arten, Gattungen etc. führen. Darwin begreift also unter seiner „Divergenz des Charakters'" eigenthch nur die physiologische Differenzierung der Bionten. oder der physio- 20* 308 Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. logischen Individuen, welche die Zeugungskreise und dadurch die ..Arten" zusammensetzen. Nach unserer Ansicht ist jedoch diese Di- vergenz der Spezies nicht verschieden von der sogenannten „Differen- zierung der Organe", d. h. von der Arbeitsteilung der untergeord- neten Formindividuen verschiedener Ordnung, welche die Bionten konstituieren. Vielmehr glauben wir, in allen Differenzierungs- Erscheinungen ein und dasselbe Grundphänomen. die durch natür- liche Züchtung bedingte physiologische Arbeitsteilung erblicken zu müssen, gleichviel ob dieselbe selbständige physiologische Individuen betrifft, welche an einem und demselben Orte miteinander um das Dasein kämpfen, oder untergeordnete morphologische Individuen ver- schiedener Ordnungen, w^elche jene als konstituierende Teile zu- sammensetzen. Die wesentliche Tatsache des Prozesses ist in allen Fällen eine Hervorbildung ungleichartiger Formen aus gleich- artiger Grundlage, imd die mechanische Ursache derselben ist die natürliche Zuchtwahl im Kampf um das Dasein. Den Unterschied zwischen der paläontologischen und der individuellen Divergenz des Charakters müssen wir hier noch besonders betonen, da es von der größten Wichtigkeit ist, sich dessen bewußt zu bleiben. Wie aber in der gesamten Entwickelungs- geschichte fast immer bloß die an sich unverständlichen individuellen, und nur selten die erklärenden paläontologischen Entwickelungspro- zesse berücksichtigt worden sind, so gilt dies auch von der Ent- wickelungsfunktion der Differenzieruug oder Arbeitsteilung. Die Tat- sachen der individuellen oder ontogenetischen Differenzierung, wie wir sie während des raschen Laufs der individuellen Entwickelung- des Organismus Schritt für Schritt unmittelbar verfolgen und direkt beobachten können, sind zunächst nur durch die Gesetze der Ver- erbung (und vorzüglich durch die Gesetze der abgekürzten, der gleichzeitlichen und gleichörtlichen Vererbung) bedingt: und nichts weiter als zusammengedrängte Wiederholungen der paläontologi- schen oder phylogenetischen Differenzierung, welche im langsamen Verlaufe der paläontologischen Entwickelung der Vorfahren des be- treffenden Organismus allmählich stattgefunden hat, und welche das unmittelbare Produkt der Wechselwirkung von Vererbung und An- passung, der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein ist. Als unmittelbare Resultate der Arbeitsteilung im Laufe der indivi- duellen Entwickelung können nur diejenigen Divergenzerscheinungen angesehen werden, welche an dem betreffenden Individuum zum XIX. VIII. Die Selektionstheorie und das Diveigenzgesetz. 309 erstenmal, durch Anpassung an eine neue Existenzbedingung ver- i und der Cydostomen) von genieinsanien arcliozoisclien Voreltern abstammen, welche zwei Extremitätenpaare, ein Paar Vorderbeine (Brustflossen) und ein Paar Hinterbeine (Bauch- flossen) besaßen, und daß diese vier Extremitäten sowohl unter den jetzt noch lebenden Vertebraten, als unter ihren ausgestorbenen Vor- eltern, durch alle Stadien der historischen Rückbildung oder der phylogenetischen Kataplase hindurch zu verfolgen sind, und zwar sowohl die ganzen Extremitäten, als alle ihre einzelnen Teile, von letzteren namentlich auch die fünf Zehen (welches offenbar die ur- sprüngliche Zeilenzahl für jeden Fuß der gemeinsamen Stammeltern aller höheren Wirbeltiere von den Amphibien aufwärts war). Den Gipfel der paläontologischen Reduktion der vier ursprünglichen Wirbel- tierextremitäten finden wir erreicht in ihrem vollständigen Schwunde bei den meisten Schlangen und bei den flossenlosen Fischen {Apter- ichthijs. Uropterygius, Oymnothorax und anderen Aalen). Übrigens sind auch bei allen Klassen der Wirbellosen die Beispiele von teil- weiser und vollständiger Kataplase der aktiven und passiven Be- wegungsorgane, und besonders der Extremitäten, so außerordentlich zahlreich und mannigfaltig, daß wir in der Tat keinen besonderen Fall hervorzuheben brauchen. Die auffallendsten Beispiele liefern die Gliedertiere, vorzüglich die Parasiten in den verschiedenen Ordnungen der Insekten, Crustaceen etc. Auch unter den Ernährungs Organen finden wir alle möghchen Stadien der phylogenetischen Kataplase durch natürliche Züchtung. Alle einzelnen Teile der Verdauungs- und Zirkulationsorgane, der Respirations- und Sekretionsorgane, sowie diese ganzen Organapparate selbst, können teilweise oder vollständig der historischen Rückbildung im Kampf ums Dasein unterhegen. Eine Menge von besonders ein- fachen und schlagenden Beispielen hefert das Gebiß der Wirbeltiere und besonders der Säugetiere. NamentKch sind hier die von Darwin angezogenen Beispiele der Wiederkäuer und Cetaceen von Interesse. Die Kälber der Rinder besitzen vor der Geburt im Oberkiefer ver- borgene Zähne, welche niemals den Kiefer durchbrechen. Ebenso besitzen die Embryonen der zahnlosen Bartenwale in beiden Kiefern Zähne, die niemals in Funktion treten. Bei den meisten Ordnungen der Säugetiere sind einzelne Zähne des kompleten Gebisses rudimentär geworden, welches die gemeinsamen Voreltern der Mamm allen besaßen, bei der einen die Schneide-, bei der anderen die Eck-, bei der dritten die Backzähne. Bei den Edentaten geht diese Reduktion noch viel 330 I^^^' Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. weiter und wird oft ganz Yollständig und allgemein. Die Speichel- drüsen werden bei vielen im Wasser lebenden Säugetieren rudimentär, so namentlich bei den Pinnipedien und den karnivoren Cetaceen, bei welchen letzteren sie gänzlich schwinden. Sehr häufig werden auch andere Drüsen und Anhänge des Darmkanals rudimentär, z. B. ein Teil der Kiemen, die Appendices pyloricae und die Schwimmblase bei vielen Fischen. Beim Menschen ist als ein solcher rudimentärer Darmanhang besonders der Processus vermiformis des Blinddarms hervorzuheben. Er verdient deshalb besondere Berücksichtigung, weil er nicht nur ein unnützes, sondern sogar ein entschieden schädliches und gefährliches „nulimentäres Organ" darstellt. BekanntHch veran- laßt das Steckenbleiben von Fruchtkernen u. dergl. im Wurmanhang sehr häufig Entzündungen desselben und seiner Umgebung (Typhlitis, Perit}T)hlitis), w^elche meistens letalen Ausgang haben. Dagegen ist die Verödung und Verwachsung desselben infolge einer solchen Entzündung durchaus mit keinem Nachteil für den menschlichen Organismus verbunden. Es ist daher zu erwarten, daß die natürliche Züchtung denselben vollständig zum Verschwinden bringen wird. Ganz vollständige Verkümmerung des Darmkanals bis zum Schwinden findet sich bei einigen Imagines (namentlich Männchen) von Insekten (deren Larven einen Darm besitzen), ferner bei einigen Crustaceen und vielen Würmern, besonders den Acanthocephalen und Cestoden, deren Voreltern zweifelsohne einen Darm besessen haben. Nicht minder zahlreich und mannigfaltig sind die dysteleologischen Beispiele im Bereiche des Zirkulationssystems. Wir erinnern bloß daran, daß von den mehrfachen (6 — 7) Aortenbogenpaaren, welche die gemeinsamen Voreltern aller uns bekannten Wirbeltiere besaßen, die meisten Vertebiaten nur einen oder einige Bogen entwickelt, den größeren Teil verkümmert zeigen, und daß von den beiden abdominalen Aortenstämmen bei den Vögeln der linke, bei den Säugern der rechte atrop liiert. Vollständigen Schwund des Zirkulationssystems, und ebenso auch des Respirationssystems finden wir bei vielen durch Parasitismus rückgebildeten Tieren, besonders Gliedertieren. Durch Schwund einer von beiden Lungen zeichnen sich die meisten Schlangen und viele schlangenähnliche Eidechsen aus. Partieller Schwund der Kiemen (an der Zahlenreduktion der Kiemenblattreihen sehr deutlich nachzuweisen) findet sich bei vielen Fischen. Ebenso erleiden die verschiedenartigen Sekretions- und Exkretionsorgane in den ver- XIX. X. Dysteleologie oder Unzwecknüißigkeitslehre. 331 schiedeneii Tierklassen, oft bei nahe verwandten Arten, den ver- schiedensten Grad der Kataplase. Anch die Fortpflanzungsorgane liefern uns eine Fülle der trefflichsten dysteleologischen Beweise, die besonders dann von Interesse sind, wenn die Sexualorgane bei beiden Geschlechtern in derselben Form angelegt und ursprünglich in der Weise differenziert sind, daß beim männlichen Geschlecht eine Reihe, beim weiblichen Geschlecht eine andere Reihe von Teilen rudimentär geworden ist. während eine dritte Reihe bei beiden Geschlechtern zur vollständigen Entwickelung gekommen ist. Auch hier wieder sind die Wirbeltiere und namentlich die Säugetiere von besonderer Wichtigkeit. Hier werden beim Manne die MüUerschen Fäden rudimentär und nur die Reste ihres unteren Endes bilden den Uterus masculinus (die Vesicula prostatica). die Reste des oberen Endes die Morgagnische Cyste des Nebenhodenkopfs, während beim Weibe Uterus und Eileiter aus denselben MüUerschen Fäden gebildet werden. Umgekehrt verhalten sich die Wölfischen Gänge oder die Ausführungsgänge der Primordialnieren. welche beim Weibe (als sogenannte „Gartnersche Kanäle") rudimentär werden, während dieselben beim Manne sich zu den Samenleitern ausbilden. Ebenso schwinden auch beim Weibe die Urnieren selbst (oder die Wolffschen Körper), indem als abortiver Rest derselben bloß die Rosenmüllerschen Organe oder Nebeneierstöcke (Parovaria) übrig bleiben, wogegen aus denselben beim ]\Iaune sich der Nebenhoden (Epididymis) entwickelt. Was dagegen die äußeren Genitalien be- trifft, die ebenso wie die inneren bei beiden Geschlechtern aus der- selben gemeinschaftlichen Grundlage sich entwickeln, so ist die weibliche Clitoris. welche dem männlichen Penis entspricht, nicht als ein rudimentäres kataplastisches, sondern als ein werdendes Organ zu betrachten. Die ^Milchdrüsen (Mammae) und die dazu gehörigen Milchzitzen (Bnistwarzen) der Säugetiere finden sich ebenfalls bei beiden Geschlechtern der Säugetiere, beim männlichen aber bloß rudimentär. Bisweilen können sie auch hier wieder in Funktion treten und sich nochmals anaplastisch entwickeln, wie die bekannten Beispiele von säugenden Männern und Ziegenböcken beweisen, welche durch A. v. Humboldt und andere sichere Gewährsmänner festge- stellt sind. Bei den alten gemeinsamen Voreltern der Säugetiere haben demnach wahrscheinlich beide Geschlechter die Jungen gesäugt und erst später ist zwischen Beiden die Arbeitsteilung des Säuge- g'eschäfts eingetreten. 332 Di^ Deszendenztheorie nnd die Selektionstheorie. XIX. Im Pflanzenreiche haben die rudimentären Organe, hier ge- wöhnUch als ..fehlgeschlagene oder abortierte" bezeichnet, schon seit langer Zeit weit mehr Beachtung als im Tierreiche gefunden, obwohl auch hier die wahre Erklärung der längst bekannten, aber immer falsch gedeuteten Tatsachen erst durch die Deszendenztheorie möglich geworden ist. In allen iVbteilungen des Pflanzenreichs sind rudimentäre Organe, und bei den Kormophyten sowohl Blatt- als Stengelorgane, in entschieden kataplastischem Zustand sehr leicht nachzuweisen. Doch müssen wir auch hier ebenso wie im Tierreiche wohl unter- scheiden zwischen werdenden (anaplastischen) und rückschreitenden (kataplastischen) Organen, welche letzteren allein den Namen der „rudimentären Organe" in engerem Sinne verdienen. Diese wichtige theoretische Unterscheidung ist oft sehr schwierig, sowohl bei rudi- mentären Blatt- als Stengelorganen. Als unzweifelhaft kataplastische Ernährungsorgane können wir z. B. die haarförmigen, borsten- förmigen und schuppenförmigen Blattrudimente der Kakteen, des Ruscus^ vieler Schmarotzer (Orobanchc, Lathraea) etc. ansehen. Äußerst verbreitet sind kataplastische Blätter in den Fortpflanzungs- organen (Blütenteilen) der Phanerogamen, von denen wohl die aller- meisten jetzt lebenden Arten dergleichen besitzen. Es ist nämlich aus vielen (besonders promorphologischen) Gründen zu vermuten, daß die homotypisclie Grundzahl oder die Antimerenzahl (bei den Mono- cotyledonen ganz vorherrschend drei, bei den Dicotyledonen fünf, seltener vier) ursprünglich in allen Blattkreisen (Metameren) der Blüte dieselbe gewesen ist, und daß erst durch nachträgliche Reduktion (Kataplase) einzelner Antimeren in einzelnen Blattkreisen die betreffen- den Geschlechtsorgane rückgebildet worden oder verloren gegangen sind. Am häufigsten trifft diese phylogenetische Kataplase die weib- lichen, viel seltener die männlichen Geschlechtsteile, und von den BlüteuhüUblättern viel häufiger die Krone, als den Kelch. In sehr zahlreichen Fällen liefert uns noch gegenwärtig die Ontogenie der Blüte den unwiderleglichen Beweis dafür, indem die später verküm- mernden Teile in der ursprünglichen Anlage nicht allein vorhanden, sondern auch ebenso gut entwickelt sind, als diejenigen, welche später allein vollständig ausgebildet erscheinen. Doch ist es auch hier oft sehr schwer, zwischen der bloßen Hemmungsbildung (d. h. dem Stehen- bleiben einzelner Organe auf früherer, niederer Stufe und der ein- seitigen Ausbildung anderer koordinierter Organe) und der wirkHchen paläontologischen Rückbildung zu unterscheiden. Die letztere scheint XIX. XI. Oekologie und Chorologie. 333 jedoch im ganzen sehr viel häufiger als die ersterc zu sein. Die besonderen Verhältnisse der natürlichen Züchtung, welche im Kampfe um das Dasein diese äußerst häufige Reduktion einzelner Geschlechts- organe bedingt haben und noch jetzt beständig begünstigen, sind uns noch ganz unbekannt. Je geringer aber das physiologische, um so höher ist das morphologische Interesse dieser für die Dysteleologie äußerst Avichtigen Erscheinungsreihen. Die gesamte vergleichende Anatomie der Phanerogamenblüten liefert solche Massen von Beispielen für die phylogenetische Kataplase einzelner Geschlechtsorgane, daß wir hier nur ein paar Exempel für beiderlei Genitalien erwähnen w^ollen. Die weiblichen Genitalien, welche hierin am meisten ausgezeichnet sind, bieten dergleichen fast überall. Von den drei Griffeln der Gräser ist der eine abortiert, ebenso meist die eine von den drei Narben der Cyperaceen. Von den fünf Griffeln der Umbelliferen sind drei verkümmert, von den fünf Griffeln der Parnassia nur einer. Die Reduktion eines Teiles der männlichen Genitalien charakterisiert oft große „natürliche Familien"' der Phanerogamen. So ist z. B. bei den Labiaten (Didynamia) von den ursprünglichen fünf Staubfäden fast immer einer, bisweilen aber auch drei fehlgeschlagen (z. B. Lycopus, Bosmarinus, Salvia). Ebenso sind bei den Kruziferen (Tetradynamia) fast allgemein von den ursprünglichen acht Staubfäden zwei (der dorsale und ventrale des äußeren Kreises) abortiert, bisweilen aber auch sechs {Lepidium ruderale). Ebenso geht sehr häufig das eine oder andere Blatt aus den vollzähligen Blattkreisen der Blütenhüllen, des Kelchs und be- sonders der Krone verloren. . XI. Oekologie und Chorologie. In den vorhergehenden Abschnitten haben wir wiederholt darauf hingewiesen, daß alle großen und allgemeinen Erscheinungsreihen der organischen Natur ohne die Deszendenztheorie vollkommen un- verständliche und unerklärliche Rätsel bleiben, während sie durch dieselbe eine ebenso einfache als harmonische Erklärung erhalten. Dies gilt in ganz vorzüglichem Maße von zwei biologischen Phänomen- komplexen, welche wir schließlich noch mit einigen Worten besonders hervorheben wollen, und welche das Objekt von zwei besonderen, bisher meist in hohem Grade vernachlässigten physiologischen Dis- ziplinen bilden, von der Oekologie und Chorologie der Organismen. 334 I^ip Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Unter Oekologie verstehen wir die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle „Existenzbedin- gungen" rechnen können.*) Diese sind teils organischer, teils an- organischer Natur: sow^ohl diese als jene sind, wie wir vorher ge- zeigt haben, von der größten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen. Zu den anorganischen Existenzbedingungen, welchen sich jeder Organismus anpassen muß, gehören zunächst die physikalischen und chemischen Eigenschaften seines Wohnortes, das Klima (Licht, Wärme, Feuchtigkeits- und Elektrizitätsverhältnisse der Atmosphäre), die anorganischen Nahrungs- mittel, Beschaffenheit des Wassers und des Bodens etc. Als organische Existenzbedingungen betrachten wir die sämt- lichen Verhältnisse des Organismus zu allen übrigen Organismen, mit denen er in Berührung kommt, und von denen die meisten ent- weder zn seinem Nutzen oder zu seinem Schaden beitragen. Jeder Organismus hat unter den übrigen Freunde und Feinde, solche, w^elche seine Existenz begünstigen und solche, welche sie beein- trächtigen. Die Organismen, w^elche als organische Nahrungsmittel für andere dienen, oder welche als Parasiten auf ihnen leben, ge- ^^«liören ebenfalls in diese Kategorie der organischen Existenzbedingun- gen. Von welcher ungeheuren Wichtigkeit alle diese Anpassungs- verhältnisse für die gesamte Formbildung der Organismen sind, wie insbesondere die organischen Existenzbedingungen im Kampfe um das Dasein noch viel tiefer umbildend auf die Organismen ein- wirken, als die anorganischen, haben wir in unserer Erörterung der Selektionstheorie gezeigt. Der außerordentlichen Bedeutung dieser Verhältnisse entspricht aber ihre wissenschaftliche Behandlung nicht im mindesten. Die Physiologie, welcher dieselbe gebührt, hat bis- her in höchst einseitiger Weise fast bloß die Konservationsleistungen der Organismen untersucht (Erhaltung der Individuen und der Arten, Ernährung und Fortpflanzung), und von den Relationsfunktionen bloß diejenigen, welche die Beziehungen der einzelnen Teile des Or- ganismus zu einander und zum Ganzen herstellen. Dagegen hat sie die Beziehungen desselben zur Außenwelt, die Stellung, welche jeder Organismus im Naturhaushalte, in der Ökonomie des Naturganzen *) Anni. (190G). Die Bezeiclmung Oekoloj!;ie ist später Ijald durch Bionomie, bald durch Ethologie ersetzt worden. Vielfach wird sie auch noch Biologie schlechtweg (im engsten Sinne!!) genannt. XIX. XI. Oekologie und Chorologie. B35 einnimmt, in hohem Grade vernachlässigt, und die Sammhing- der hierauf bezüghchen Tatsachen der kritiklosen „Naturgeschichte" über- lassen, ohne einen Versuch zu ihrer mechanischen Erklärung zu machen. Diese große Lücke der Physiologie wird nun von der Selektions- theorie und der daraus unmittelbar folgenden Deszendenztheorie voll- ständig ausgefüllt. Sie zeigt uns, wie alle die unendlich komplizierten Beziehungen, in denen sich jeder Organismus zur Außenwelt be- findet, wie die beständige Wechselwirkung desselben mit allen or- ganischen und anorganischen Existenzbedingungen nicht die vor- bedachten Einrichtungen eines planmäßig die Natur bearbeitenden Schöpfers, sondern die notwendigen Wirkungen der existierenden Materie mit ihren unveräußerlichen Eigenschaften, und deren kon- tinuierlicher Bewegung in Zeit und Raum sind. Die Deszendenz- theorie erklärt uns also die Haushaltsverhältnisse der Organismen mechanisch, als die notwendigen Folgen wirkender Ursachen, und bildet somit die monistische Grundlage der Oekologie. Ganz das- selbe gilt nun auch von der Chorologie der Organismen. Unter Chorologie verstehen wir die gesamte Wissenschaft von der räumlichen Verbreitung der Organismen, von ihrer -geographischen und topographischen Ausdehnung über die Erdober- fläche. Diese Disziplin hat nicht bloß die Ausdehnung der Stand- orte und die Grenzen der Verbreitnngsbezirke in horizontaler Richtung zu projizieren sondern auch die Ausdehnung der Organismen ober- halb und unterhalb des Meeresspiegels, ihr Herabsteigen in die Tiefen des Ozeans, ihr Heraufsteigen auf die Höhen der Gebirge in vertikaler Richtung zu verfolgen. Im weitesten Sinne gehört mithin die gesamte „Geographie und Topographie der Tiere und Pflanzen" hierher, sowie die Statistik der Organismen, welche diese Verbreitungs- Verhältnisse mathematisch darstellt. Nun ist zwar dieser Teil der Biologie in den letzten Jahren mehr als früher Gegenstand der Aufmerksamkeit geworden. Insbesondere hat die „Geographie der Pflanzen" durch die Bemühungen Alexander von Humboldts und P'rederik Schouws lebhaftes und allgemeines Interesse erregt. Auch die Geographie der Tiere ist von Berghaus. Seh mar da und anderen als selbständige Disziplin bearbeitet worden. Indessen ver- folgten alle bisherigen Versuche in dieser Richtung entweder vor- wiegend oder selbst ausschließlich nur das Ziel einer Sammlung und geordneten Darstellung der chorologischen Tatsachen, ohne nach 336 Di^ Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. den Ursachen derselben zu forschen. Man suchte zwar die unmittel- bare Abhängigkeit der Organismen von den unentbehrlichen Exi- stenzbedingungen vielfach als die nächste Ursache ihrer geographischen und topographischen Verbreitung nachzuweisen, wie sie dies zum Teil auch ist. Allein eine tiefere Erkenntnis der weiteren Ursachen, und des kausalen Zusammenhangs aller chorologischen Erscheinungen war unmöglich, solange das Dogma von der Spezieskonstanz herrschte und eine vernünftige, monistische Beurtheilung der organischen Natur verhinderte. Erst durch die Deszendenztheorie, welche das erstere vernichtete, wurde die letztere möghch, und wurde eine ebenso klare, als durchschlagende Erklärung der chorologischen Phänomene ge- geben. Im elften und zwölften Kapitel seines Werkes hat Charles Darwin gezeigt, wie alle die unendlich verwickelten und mannig- faltigen Beziehungen in der geographischen und topographischen Verbreitung der Tiere und Pflanzen sich aus dem leitenden Grund- gedanken der Deszendenztheorie in der befriedigendsten Weise er- klären, während sie ohne denselben vollständig unerklärt bleiben. Wir verweisen hier ausdrücklich auf jene geistvolle Darstellung, da wir an diesem Orte keine Veranlassung haben, auf den Gegenstand selbst näher einzugehen. Alle Erscheinungen, welche uns die rein empirische Chorologie als Tatsachen kennen gelehrt hat — die Verbreitung der verschie- denen Organismenarten über die Erde in horizontaler und vertikaler Richtung; die Ungleichartigkeit und veränderliche Begrenzung dieser Verbreitungsbezirke; das Ausstrahlen der Arten von sogenannten „Schöpfungsmittelpunkten-'; die zunehmende Variabilität an den Grenzen der Verbreitungsbezirke; die nähere Verwandtschaft der Arten innerhalb eines engeren Bezirkes; das eigentümhche Verhält- nis der Süßwasserbewohner zu den Seebewohnern, wie der Insel- bewohner zu den benachbarten Festlandsbewohnern; die Differenzen zwischen den Bewohnern der südlichen und nördlichen, wie der öst- lichen und westlichen Hemisphäre — alle diese wichtigen Erschei- nungen erklären sich durch die Deszendenztheorie als die notwendigen Wirkungen der natürlichen Züchtung im Kampfe um das Dasein, als die mechanischen Folgen wirkender Ursachen. Wenn wir von jener Theorie ausgehend uns ein allgemeines theoretisches Bild von den notwendigen allgemeinen Folgen der natürlichen Züchtung für die geographische und topographische Verbreitung der Organismen entwerfen wollten, so würden die Umrisse dieses Bildes vollständig XIX. >^II- nie Deszendenztheorie als Fundament der Morphologie. 337 mit den Umrissen des cliorologisclien Bildes zusammenfallen, welches uns die empirische Beobachtung liefert. Wir finden also, daß die tatsächlich existierenden Beziehungen der Organismen zur Außenwelt, wie sie sich in der gesamten Summe der oekologischen und chorologischen Verhältnisse aussprechen, durch die Deszendenztheorie als die notwendigen Folgen mechanischer Ur- sachen erklärt werden, während sie ohne dieselbe vollkommen un- erklärt bleiben; wir erblicken daher in dieser Erklärung einen starken Stützpfeiler der Deszendenztheorie selbst. XII. Die Deszeiideiiztlieorie als Fundament der organischen Morphologie. Die Selektionstheorie und die durch sie kausal be- gründete Deszendenztheorie sind physiologische Theo- rien, welche für die Morphologie der Organismen das unentbehrliche Fundament bilden. Die Darstelhmg der beiden Theorien, welche wir in den vorhergehenden Abschnitten gegeben haben, hielten wir für unerläßlich, weil wir in denselben — und nur in ihnen allein! — den Schlüssel zum monistischen Verständnis der Entwickeluugsgeschichte, und dadurch zur gesamten Morphologie der Organismen überhaupt finden. Die unermeßliche Bedeutung jener Theorien liegt nach unserer Ansicht darin, daß sie die gesamten Erscheinungen der Biologie, und ganz besonders der Morphologie der Organismen, monistisch, d. h. mechanisch erklären, in- dem sie dieselben als die notwendigen Folgen wirkender Ur- sachen nachweisen. Die beiden physiologischen Funktionen der Anpassung, welche mit der Ernährung, und der Vererbung, welche mit der Fortpflanzung zusammenhängt, genügen, um durch ihre mechanische Wechselwirkung in dem allgemeinen Kampfe um das Dasein die ganze 3Iannigfaltigkeit der organischen Natur hervorzu- bringen, welche die entgegengesetzte dualistische Weltansicht nur als das künstliche Produkt eines zweckmäßig tätigen Schöpfers be- trachtet, und somit nicht erklärt. Bei den vielfachen Mißverständ- nissen, welche in dieser Hinsicht über die Bedeutung der Selektions- theorie und der Deszendenztheorie herrschen, und bei der falschen Beurteilung, welche dieselben in so weiten Kreisen gefunden haben, erscheint es passend, das Verhältnis der beiden Theorien zueinander, zur Entwickelungsgeschichte und dadurch zur gesamten Morphologie der Organismen nochmals ausdrücklich hervorzuheben. H a e c k e 1 , Prinz, d. Morphol. '^^ 338 Diß Deszendenztheorie und die Selektionstheorie. XIX. Die Selektionstheorie von Darwin ist die kausale Begründung der von Goethe und Laraarck aufgestellten Deszendenztheorie. Die erstere zeigt uns, warum die unendlich mannigfaltigen Organismenarten sich in dieser Weise aus gemein- samen Stammformen durch Umbildung und Divergenz entwickeln, wie es die Deszendenztheorie behauptet hatte. Wir selbst haben gezeigt, wie die beiden formenden Bildungstriebe, welche Darwin als die beiden Faktoren der Selektion nachwies, Vererbung und An- passung, keine besonderen, unbekannten und rätselhaften Naturkräfte, sondern einfache und notwendige Eigenschaften der orga- nischen Materie, mechanisch erklärbare physiologische Funktionen sind. Es ist möglich, daß neben der natürhchen Züchtung auch andere ähnliche mechanische Verhältnisse in der organischen Natur werden entdeckt werden, welche bei der Umwandlung der Spezies mit wirksam sind. Indessen erscheint uns die natürhche Züchtung vollkommen ausreichend, um die Entstehung der Spezies auf mecha- nischem Wege zu erklären. Die Deszendenztheorie ist die kausale Begründung der Entwickelungsgeschichte, und dadurch der gesamten Morphologie der Organismen. Wie wir zu dieser höchst wich- tigen Kenntnis gelangt sind, haben die vorhergehenden Kapitel ge- zeigt und werden die folgenden noch weiter erläutern. Hier wollen wir nur als besonders wichtig nochmals hervorheben, daß der Grund- gedanke der Deszendenztheorie, die gemeinsame Abstammung der „verwandten'' Organismen von einfachsten Stammeltern, der einzige Gedanke ist, welcher überhaupt die Entwickelung der Organismen und dadurch ihre gesamten Formverhältnisse mechanisch erklärt. Es gibt keine andere Theorie, welche uns die gesamten Formverhältnisse der Organismen erklärt. Hierin finden wir einen Unterschied zwischen der Deszendenztheorie und der Selektions- theorie. Die Deszendenztheorie steht nach unserer Ansicht als einzig mögliche unerschütterlich fest und kann durch keine andere ersetzt werden. Es gibt keine andere Erklärung für die morpho- logischen Erscheinungen, als die wirkliche Blutsverwandt- schaft der Organismen. Eine Vervollkommnung der Deszendenz- theorie kann daher nur insofern stattfinden, als die Abstammung der einzelnen Organismengruppen von gemeinsamen Stammformen im einzelnen näher bestimmt, und die Zahl und Beschaffenheit der letzteren ermittelt wird. Dagegen kann die Selektionstheorie, wie XIX. XII- Die Deszendenztheorie als Fundament der Morphologie. 339 bemerkt, wohl dadurch noch ergänzt werden, daß neben der natür- lichen Züchtung' andere mechanische Verhältnisse entdeckt werden, welche in ähnlicher Weise die Umbildung der Arten bewirken oder doch befördern helfen. Die der Deszendenztheorie entgegengesetzte dualisti- sche Behauptung, daß jede Art oder Spezies unabhängig von den verwandten entstanden sei, und daß die Formen- verwandtschaft der ähnlichen Arten keine Blutsverwandt- schaft sei, ist ein unwissenschaftliches Dogma, und als solches keiner Widerlegung bedürftig. Es erscheint daher hier keineswegs angemessen, noch weiter auf dieses ganz unhalt- bare Dogma einzugehen und die absurden Konsequenzen, zu denen dasselbe notwendig führt, hervorzuheben. Nur das wollen wir hier noch bemerken, daß gerade in dieser Absurdität und vollstän- digen Grundlosigkeit des Speziesdogma und der damit zusammen- hängenden Schöpfungshypothesen seine innere Stärke liegt. Die Kulturgeschichte der Menschheit und ganz besonders die Rehgions- geschichte zeigt uns auf jeder Seite, daß willkürhch ersonnene Dogmen um so fester und tiefer wurzeln, um so sicherer und all- gemeiner geglaubt werden, je unbegreiflicher sie sind, und je mehr sie sich einer wissenschafthchen Begründung entziehen. Es fehlt dann der gemeinschaftliche Boden, auf welchem der Kampf zwischen beiden entschieden werden könnte. Zugleich finden alle solche Dog- men eine kräftige Stütze in der Trägheit des Denkvermögens bei den meisten Menschen. Die große Mehrheit scheut sich, anstrengen- den Gedanken über den tieferen Kausalnexus der Erscheinungen nachzuhängen und ist froh, wenn ein aus der Luft gegriffenes Dogma sie dieser Anstrengungen überhebt. Dies gilt ganz besonders von den organischen Morphologen, welche von jeher in dieser Beziehung sich vor allen andern Naturforschern ausgezeichnet haben. Natür- Hch Hegt das nicht an den Personen, sondern an der Sache selbst. Die Beschäftigung mit der unendlichen Fülle, Mannigfaltigkeit und Schönheit der organischen Formen, sättigt so sehr den Anschauungs- trieb (Naturgenuß) der organischen Morphologen, daß darüber der höhere Erkennungstrieb meistens nicht zur Entwickelung kommt. Man begnügt sich mit der Kenntnis der Formen, statt nach ihrer Er- kenntnis zu streben. Der heitere Formengenuß tritt an die Stelle des ernsten Forraenverständnisses. Hieraus und aus der mangel- haften philosophischen Bildung der meisten Morphologen erklärt 90* 340 Die Deszendenztheorie mul die Selektionstheorie. XIX. sich genügend ihr Abscheu gegen den wissenschaftlichen Ernst der Deszendenztheorie, und ihre Vorliebe für das sinnlose Speziesdognia. Die Annahme einer selbständigen Erschaffung konstanter Spezies und die damit zusammenhängenden dualistisch -teleologischen Vor- stellungen wenden sich an transzendentale, vollkommen unbegreifliche, unerklärliche und unerforschliche Kräfte und Prozesse, und entfernen sich somit gänzlich von dem empirischen Boden der Wissenschaft. Die Deszendenztheorie und die Selektionstheorie sind keine willkürlichen Hypothesen, sondern vollberechtigte Theorien. Nicht allein die verblendeten und unverständigen Gegner derselben, sondern auch manche treffliche und verständige Anhänger derselben nennen die Deszendenztheorie eine Hypothese. Diese Bezeichnung müssen wir entschieden verwerfen. Die Deszendenztheorie behauptet keine Vorgänge, welche nicht empirisch festgestellt sind, sondern sie verallgemeinert nur die Resultate zahlloser übereinstimmen- der empirischer Beobachtungen und zieht daraus einen mächtigen lud uktions Schluß, welcher so sicher steht, wie jede andere wohl begründete Induktion. Eine solche Induktion ist aber keine bloße Hypothese, sondern eine vollberechtigte Theorie. Sie verbindet die Fülle aller bekannten Erscheinungen in der organischen Formenwelt durch einen einzigen erklärenden Gedanken, welcher keiner einzigen bekannten Tatsache widerspricht. Eine Hypothese, w^enngleich eine notwendige, und zugleich eine Hypothese, welche die Schlußkette der gesamten Deszendenztheorie vervollständigt, ist unsere Annahme der Archigonie, welche im sechsten Kapitel des zweiten Buches von uns begründet worden ist. Wir bedürfen dieser Hypothese durchaus, um die einzige Lücke noch auszufüllen, welche die Deszendenztheorie in dem mechanischen Gebäude der monistischen Morphologie gelassen hat. Wir können nicht zweifeln, daß zu irgend einer Zeit des Erden- lebens Moneren durch Autogonie entstanden sind. Indessen bleibt die Archigonie eine reine Hypothese, weil wir darin einen Natur- prozeß, den Übergang lebloser Materie in belebten Stoff, annehmen, welcher bis jetzt noch durch keine sichere Beobachtung eine empi- rische Begründung erhalten hat. Ganz anders verhält es sich mit der Deszendenztheorie und der Selektionstheorie, welche sich in jedem Punkte auf eine Fülle von empirischen Erfahrungen stützen, und für welche die gesamte Morphologie der Organismen, sobald man ihre Tatsachenketten objektiv beurteilt und richtig verknüpft, eine einzige zusammenhängende Beweiskette herstellt. Daher wissen auch die XIX. XII. Die Deszendenztheorie als Fundament der Morphologie. 341 kenntnisreicheren Morphologen. welche Gegner derselben sind, keine Tatsache gegen dieselbe vorzubringen, sondern nur Einwürfe, welche teils Ausflüsse blinden Autoritätenglaubens, teils konsequente Folgen einer falschen dualistisch-teleologischen Gesamtauffassung der orga- nischen Natur sind. Die Selektionstheorie Darwins bedarf zu ihrer vollen Gültigkeit keine weiteren Beweise. Sie stützt sich auf allge- mein anerkannte physiologische Prozesse, die sich gleich allen anderen auf mechanische Ursachen zurückführen lassen. Wer überhaupt eines logischen Schlusses aus anerkannt richtigen Prämissen fähig ist, kann ihr seine Anerkennung nicht vorenthalten. Wie selten aber solche Logik unter den ., empirischen" Naturforschern und unter den scho- lastischen ..Gelehrten" sind, beweisen am besten die zahlreichen Verdammungsurteile über Darwins bewunderungswüi-diges Werk, die. wieHuxley sehr richtig sagt. ..keineswegs das darauf verwendete Papier wert sind." Die Deszendenztheorie Lamarcks bedarf zu ihrer vollen Gültigkeit keine weiteren Beweise. Wer sich auf Grund aller bisherigen Erfahrungen noch nicht von ihrer Wahrheit überzeugen kann, den wird auch keine einzige mögliche weitere „Entdeckung" davon überzeugen. Abgesehen davon, daß Darwins Selektionstheorie eine vollkommen ausreichende kausal-]nechanische Begründung der- selben liefert, finden wir die stärksten Beweise für iJire Wahrheit in der gesamten Morphologie und Physiologie der Organismen. Alle uns bekannten Tatsachen dieses Wissenschaftsgebiets, namentlich alle Erscheinungen der paläontologischen, individuellen und systematischen Entwickelung, sowie die äußerst wichtige dreifache Parallele zwischen diesen drei Entwickelungsreihen, die gesamte Dysteleologie, Ökologie und Chorologie — kurz alle allgemeinen Phänomenkomplexe der organischen Natur sind uns nur durch den einen Grundgedanken der Deszendenztheorie verständlich und werden durch ihn vollkommen erklärt. Ohne ihn bleiben sie gänzlich unverständlich und unerldärt. Andererseits existiert in der gesamten organischen Natur keine einzige Tatsache, welche mit demselben in unvereinbarem Widerspruch steht. Wir haben also bloß die Wahl zwischen dem völligen Ver- zicht auf jede wissenschaftliche Erklärung der organischen Naturerscheinungen einerseits und der unbedingten An- nahme der Deszendenztheorie anderseits. Zwanzigstes Kapitel. Ontogenetisclie Thesen. „Kein Phäuomen erklärt sich aus sith selbst; nur viele zusammen überschaut, methodiscli g:eor(lnet, g-eben zu- letzt etwas, was für Theorie gelten könnte." Goethe. I. Thesen von der mechanischen Natnr der organischen Entwickelung. 1. Die Entwickelung der Organismen ist ein physiologischer Prozeß, welcher als solcher auf mechanischen „wirkenden Ursachen", (1. h. auf physikalisch-chemischen Bewegungen beruht. 2. Die' Bewegungserscheinungen der Materie, welche jeden physiologischen Entwickelungsprozeß veranlassen und be- wirken, sind in letzter Instanz Anziehungen der Massenatome und Abstoßungen der Ätheratome, aus welchen die organische Materie ebenso wie die anorganische zusammengesetzt ist. 3. Die Entwickelung der Organismen äußert sich in einer kontinuierlichen Kette von Formveränderungen der organischen Ma- terie, welche sämtlich auf derartige physikalisch-chemische Bewe- gungen, als auf ihre wirkenden Ursachen zurückzuführen sind. 4. Gleich allen wahrnehmbaren Bewegungserscheinungen in der Natur, also auch gleich allen physiologischen Erscheinungen, welche wir überhaupt kennen, erfolgen auch diejenigen der orga- nischen Entwickelung mit absoluter Notwendigkeit und sind be- dingt durch die ewig konstanten Eigenschaften der Materie und die beständige Wechselwirkung ihrer wechselnden Verbindungen. 5. Alle organischen Entwickelungsbewegungen gehen unmittelbar und zunächst aus von den labilen und höchst zusammengesetzten Kohlenstoff Verbindungen der Eiweißgruppe, w^elche als ..Plasma" der Piastiden das aktive materielle Substrat oder den ..Lebens - Stoff"' im Körper aller Organismen bilden. XX. Ontogenedsche Thesen. 343 6. Es existiert weder ein „Ziel", noch ein „Plan" der orga- nischen Entwickelung. IL Thesen von den physiologischen Funktionen der organischen Entwickelung. 7. Die physiologischen Funktionen, auf denen ausschließlich alle organische Entwickelung beruht, lassen sich sämtlich als Teil- erscheinungen auf die allgemeine organische Fundamentalfunktion der Selbsterhaltung oder der Ernährung im weiteren Sinne zu- rückführen. 8. Die physiologischen Entwickeluugsfunktionen, auf welche sich alle während der Morphogenese eintretenden Formveränderun- gen, als auf ihre bewirkenden Ursachen zurückführen lassen, sind die fünf Funktionen der Zeugung, des Wachstums, der Ver- wachsung, der Differenzierung und der Degeneration. 9. Die erste Entwickelungsfunktion, die Zeugung (Generatio) oder die Entstehung des morphologischen Individuums, mit welcher jeder organische Entwickelungsprozeß beginnt, ist entweder Urzeu- gung (Archigonia, Generatio sponianca) oder Elternzeugung (Fort- pflanzung, Tocogonia, Propagatio, Gener aüo parentalis): sie ist im letzteren Falle stets mit der Vererbung verknüpft und als Er- nährungsprozeß aufzufassen, welcher über das individuelle Maß hinausgeht. 10. Die zweite Entwickelungsfunktion, das Wachstum {Cre- scentia)^ welches als einfaches oder zusammengesetztes Wachstum jeden organischen Entwickelungsprozeß (mindestens in der ersten Zeit) begleitet, ist eine Ernährungserscheinung, welche mit Volums- zunahme des Individuums verbunden ist. 11. Die dritte Entwickelungsfunktion, die Differenzierung (Divergeutia), welche sich in einer Hervorbildung ungleichartiger Teile aus gleichartiger Grundlage äußert, ist eine Ernährungsveränderung, welche durch die Anpassung an die Außenwelt, d. h. durch die materielle Wechselwirkung der Materie des organischen Individuums mit der umgebenden Materie bedingt ist. 12. Die vierte Entwickelungsfunktion, die Entbildung (De- generatio), welche zuletzt stets das Ende der indivithiellen Ent- wickelung herbeiführt, ist eine Ernährungsveränderung, welche mit Abnahme der physiologischen Funktionen verbunden ist. 344 Ontogenetische Thesen. XX. 13. Die fünfte Entwickelungsfunktion. die Verwachsung {ConcroiiCPiifia). welche gleicli den vorigen die morphologischen In- dividuen aller sechs Ordnungen betreffen kann, besteht in einer sekundären Verbindung von mehreren vorher getrennten Individuen einer und derselben morphologischen Ordnung, durch welche ein neues Individuum nächst höherer Ordnung entsteht. III. Thesen von den organischen Bildungstrieben. 14. Die Formveränderungen, welche die organische Materie während ihrer Entwickelung durchläuft, sind das Resultat der Wechselwirkung zweier entgegengesetzter Bildungstriebe oder Ge- staltungskräfte: eines inneren und eines äußeren Bildungstriebes. 15. Der innere Bildungstrieb oder die innere Gestaltungs- kraft {Vis plastica interna) ist die unmittelbare Folge der mate- riellen Zusammensetzung des Organismus, und daher mit der Erb- lichkeit (Atavismus) identisch. 16. Der äußere Bildungstrieb oder die äußere Gestaltungs- kraft {Vis plastica externa) ist die unmittelbare Folge der Abhängig- keit, in welcher die materielle Zusammensetzung des Organismus von derjenigen der umgebenden Materie (der Außenwelt) steht, und daher mit der Anpassungsfähigkeit (Variabilitas) identisch. 17. Die beiden fundamentalen Bildungstriebe, welche durch ihre beständige Wechselwirkung die jeden organischen Entwickelungs- prozeß begleitenden Formveränderungen bedingen, sind demnach nicht verschieden von den oben angeführten Entwickelungsfunktionen, da die Vererbung unmittelbar durch die Fortpflanzung, die Anpassung dagegen unmittelbar durch die Ernährung des Organismus vermittelt wird. 18. Alle Charaktere der Organismen sind entweder ererbte (durch Heredität erhaltene) oder angepaßte (durch Adaptation er- worbene) Eigenschaften. 19. Die ererbten Eigenschaften (Characteres hereditarii) erhält der Organismus durch Vererbung von seinen Eltern und A^oreltern mittelst der Fortpflanzung. 20. Die angepaßten Eigenschaften {(liaractercs adaptati) er- wirbt der Organismus entweder unmittelbar durch seine eigene An- passung oder mittelbar durch Vererbung der Anpassungen seiner Eltern und Voreltern. XX. Ontogenetische Thesen. 345 21. Die erblichen Charaktere sind in letzter Instanz Wirkungen der materiellen Zusammensetzung- der Eiweißverbindungen, welche das Plasma der konstituierenden Plastiden bilden, und welche in gewisser Beharrlichkeit durch alle Generationen übertragen werden. 22. Die angepaßten Charaktere sind in letzter Instanz die Folgen der Wechselwirkung zwischen den Eiweißverbindungen der Pla- stiden des Organismus und den damit in Berührung kommenden Materien der Umgebung, welche in allen Generationen eine gewisse Verschiedenheit zeigen. 28. Die erblichen Charaktere zeigen sich vorzugsweise in der Bildung morphologisch wichtiger, physiologisch dagegen unwichtiger Körperteile : sie erscheinen daher nur bei blutsverwandten Organismen ähnlich, als Homologien. 24. Die angepaßten Charaktere zeigen sich vorzugsweise in der Bildung physiologisch wichtiger, morphologisch dagegen unwichtiger Kchp erteile: sie erscheinen daher auch bei nicht blutsverwandten Organismen ähnhcli. als Analogien. 25. Im Laufe der individuellen Entwickelung treten die erblichen Charaktere im ganzen früher als die angepaßten auf, und je früher ein bestimmter Charakter in der Ontogenese auftritt, desto weiter liegt die Zeit zurück, in welcher er von den Vorfahren erworben wurde, lind desto bedeutender ist sein morphologischer Wert. 26. Für die Erkenntnis der Stammverwandtschaft ver- schiedener Organismen haben nur die erblichen oder homologen Charaktere, nicht die angepaßten oder analogen Charaktere Bedeutung. IV. Thesen von den ontogenetischen Stadien. 27. Die Ontogenesis oder biontische Entwickelung, d. h. die Entwickelung jedes Bionten oder physiologischen Individuums ist ein physiologischer Prozeß von bestimmter Zeitdauer. 2S. Die Zeitdauer der individuellen Entwickelung jedes Bionten wird durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bestimmt, und ist lediglich das Resultat der Wechselwirkung dieser beiden physiolo- gischen Faktoren. 29. In dem zeitlichen Verlaufe der individuellen Entwickelung lassen sich allgemein drei verschiedene Abschnitte oder Stadien unterscheiden, welche mehr oder minder deutlich voneinander sich absetzen. 346 Ontogenetische Thesen. XX. 80. Jedes Stadium der individuellen Entwickelung ist durch einen bestimmten physiologischen Entwickelungsprozeß charakterisiert, welcher in demselben zwar nicht ausschließlich, aber doch vorwiegend wirksam ist. 31. Das erste Stadium der biontischen Entwickelung. das Jugend- alter oder die Aufbild ungs zeit, Anaplasis, ist durch das Wachs- tum des Individuums charakterisiert. 32. Das zweite Stadium der biontischen Entwickelung. das Reife- alter oder die Umbildungszeit, Metaplasis, ist durch die Differen- zierung des Individuums charakterisiert. 33. Das dritte Stadium der biontischen Entwickelung, das Greisen- alter oder die Rückbildungszeit, Kataplasis, ist durch die Degene- ration des Individuums charakterisiert. V. Thesen von den drei genealogischen Individualitäten. 34. Da die Lebensdauer der organischen Individuen eine be- schränkte ist, die durch sie repräsentierte bestimmte organische Form (Art) aber sich durch die Fortpflanzung der Individuen erhält, so müssen wir bei Betrachtung der organischen Entwickelung unter- scheiden zwischen derjenigen der Bionten und derjenigen der Arten. 35. Die individuelle oder biontische Entwickelung (Onto- genesis) umfaßt die gesamte Reihe der Formverändeningen, welche das physiologische Individuum (Blon) und der durch eines oder mehrere verschiedene Bionten repräsentierte Zeugungskreis {Cyclus generationis) während der ganzen Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft. 36. Die paläontologische oder phyletische Entwickelung {Phyloyenesis) umfaßt die gesamte Reihe der Formveränderungen, welche die Art (Specics) und der durch eine oder mehrere ver- schiedene Arten repräsentierte Stamm (Phi/lon) während der ganzen Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft. 37. Der Zeugungskreis (Cyclus generationis oder Tococydus) bildet entweder als Spaltungskreis (Cyclus monogenes) oder als Ei- kreis (Cyclus amphigenes) die genealogische Individualität erster Ordnung. 38. Die Art {Species) bildet als die Summe aller gleichen Zeu- gungskreise die genealogische Individualität zweiter Ordnung. 39. Der Stamm {PhyJiim) bildet als die Summe aller bluts- verwandten Arten die genealogische Individualität dritter Ordnung. XX. Ontogenetische Thesen. 34.7 VI. Thesen von dem Kausalnexus der biontischen und dvv phyletischen Entwickelung, 40. Die Ontoyenesi^ oder die Entwickelung der organischen Individuen, als die Reihe von Formveränderungen, welche jeder in- dividuelle Organismus w^ährend der gesamten Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft, ist unmittelbar bedingt durch die FhyJogenesis oder die Entwickelung des organischen Stammes (Phylon), zu welchem derselbe gehört. 41. Die Oniogenesis ist die kurze und schnelle Rekapitu- lation der Pliijlogenesis, bedingt durch die physiologischen Funktionen der Vererbung (Fortpflanzung) und Anpassung (Ernährung). 42. Das organische Individuum (als morphologisches Individuum erster bis sechster Ordnung) wiederholt während des raschen und kurzen Laufes seiner individuellen Entwickelung die wichtigsten von denjenigen Formveränderungen, w^elche seine Voreltern während des langsamen und langen Laufes ihrer paläontologischen Entwicke- lung nach den Gesetzen der Vererbung und Anpassung durchlaufen haben. 43. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen durch die biontische Entwickelung wird verwischt und abgekürzt durch sekundäre Zusammenziehung, indem die Ontogenese einen immer geraderen Weg einschlägt; daher ist die Wiederholung um so vollständiger, je länger die Reihe der sukzessiv durchlaufenen Jugend- zustände ist. 44. Die vollständige und getreue Wiederholung der phyletischen durch die biontische Entwickelung wird gefälscht und abgeändert durch sekundäre Anpassung, indem sich das Bion während seiner individuellen Entwickelung neuen Verhältnissen anpaßt: daher ist die Wiederholung um so getreuer, je gleichartiger die Existenzbedin- gungen sind, unter denen sich das Bion und seine Vorfahren entwickelt haben. SECHSTES BUCH. ZWEITER TEIL DER ALLGEMEINEN ENTWICKELUNG SGESCHICHTE. GENERELLE PHYLOGENIE ODER ALLGEMEINE ENTWICKELUNGSGESCHICHTE DER ORGANISCHEN STÄMME. (GENEALOGIE UND PALÄONTOLOGIE.) ..Die Kenntnis der organischen Naturen iilierhaupt. die Kenntnis der voll- koniinneren. welche wir im eigentlichen Sinne Tiere und besonders Säugetiere nennen, der Einblick, wie die allgemeinen Gesetze bei verschieden beschränkten Naturen wirksam sind, die Einsicht zuletzt, wie der Mensch dergestalt gebaut sei, daß er so viele Eigenschaften und Naturen in sich vereinige und dadurch schon physisch als eine kleine Welt, als ein Repräsentant der übrigen Tier- gattungen existiere — alles dieses kann nur dann am deutlichsten und schönsten eingesehen werden, wenn wir nicht, wie bisher leider nur zu oft geschehen, unsere Betrachtungen von oben herab anstellen und den Menschen im Tiere suchen, sondern wenn wir von unten herauf anfangen und das einfachere Tier im zusammengesetzten Menschen endlich wieder entdecken. .,Es ist hierin schon unglaublich viel getan; allein es liegt so zerstreut so manche falsche Bemerkungen und Folgerungen verdüstern die wahren und echten, täglich kommt zu diesem Chaos wieder neues Wahre und Falsche hinzu, sodaß weder des Menschen Kräfte, noch sein Leben hinreichen, alles zu sondern und zu ordnen, wenn wir nicht den Weg, den uns die Naturhistoriker nur äußer- lich vorgezeichnet, auch bei der Zergliederung verfolgen, imd es möglich machen, das Einzelne in übersehbarer Ordnung zu erkennen, um das Ganze nach Gesetzen, die unserem Geiste gemäß sind, zusammen zu bilden. ..Man wendete auch hier, wie in anderen Wissenschaften, nicht genug ge- läuterte Vorstellungsarten an. Nahm die eine Partei die Gegenstände ganz ge- mein und hielt sich ohne Nachdenken an den bloßen Augenschein, so eilte die andere, sich durch Annahme von Endursachen aus der Verlegenheit zu helfen; und wenn man auf jene Weise niemals zum Begriff eines lebendigen Wesens ge- langen konnte, so entfernte man sich auf diesem Wege von eben dem Begriffe, dem man sich zu nähern glaubte. „Ebensoviel und auf gleiche Weise hinderte die fromme Vorstelhmgsart, da man die Erscheinungen der organischen Welt zur Ehre Gottes unmittelbar deuten und anwenden wollte. ..Sollte es denn aber unmöglich sein, da wir einmal anerkennen, daß die schaffende Gewalt nach einem allgemeinen Schema die vollkommneren organischen Naturen erzeugt und entwickelt, dieses Urbild, wo nicht den Sinnen, doch dem Geiste darzustellen ? Hat man aber die Idee von diesem Typus gefaßt, so wird man erst recht einsehen, wie unmöglich es sei, eine einzelne Gattung als Kanon aufzustellen. Das Einzelne kann kein Muster vom Ganzen sein, und so dürfen wir das Muster für alle nicht im Einzelnen suchen. Die Klassen, Gattungen, Arten und Individuen verhalten sich wie die Fälle zum Gesetz: sie sind darin enthalten, aber sie enthalten imd geben es nicht.'' Goethe (1796). Einundzwanzigstes Kapitel. Begriff und Aufgabe der Phylogenie. ,Eine innere und ursprüng-liche Gemeinschaft liegt aller Organisation zug-runde; die Verschiedenheit der Gestalten dag-egen entspringt aus den not- wendigen Beziehungs Verhältnissen zur Außen- welt, und man darf daher eine ursprüngliche, gleichzeitige Verschiedenheit und eine unaufhaltsam fortschrei- tende Umbildung mit Recht annehmen, um die ebenso konstanten als abweichenden Erscheinungen begreifen zu können.- Goethe (1824). I. Die Phylogenie als Entwickelungsgesclüchte der Stämme. Die Phylogenie oder Entwickelungsgeschichte der or- ganischen Stämme ist die gesamte Wissenschaft von den Formveränderungen, welche die Pliylen oder organischen Stämme v^ährend der ganzen Zeit ihrer individuellen Existenz durchlaufen, von dem Wechsel also der Arten oder Spezies, welche als sukzessive und koexistente blutsverwandte Glieder jeden Stamm zusammensetzen. Die iVufgabe der Phylogenie ist mithin die Erkenntnis und die Erklärung der spezifischen Formveränderungen, d. h. die Feststellung der bestimmten Naturgesetze, nach welchen alle verschiedenen organischen Arten oder Spezies entstehen, welche als divergente Nachkommen einer einzigen, gemeinsamen, autogenen Ur- form ein einziges Phylon constituieren. Wenn wir auch allgemein als die Aufgabe der Phylogenie die Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme oder Phylen bezeichnen können, so wird dennoch der reale Inhalt dieser Disziphn eigentUch die konkrete Entwickelungsgeschichte der Arten oder Spezies sein. Denn die sogenannten Arten oder Spezies der Organismen setzen in ähnlicher Weise die höhere Individuahtät des Stammes zusammen, wie sie selbst aus der niederen Individualität des Zeugungskreises oder Generationszyklus zusammengesetzt sind. 352 Begriff und Aufgabe der Plivlogenie. XXL Wie wir oben zeigten, stehen diese drei subordinierten Individualitäten, der (rencrailons.iiß-hi!<, die Spciios und das FhiiJon. in einem ähn- lichen Verhältnis zueinander, wie die verschiedenen, im neunten Kapitel festgestellten Kategorien der morphologischen Individualität. Jedes Phylon ist eine Vielheit von blutsverwandten Spezies und jede Spezies ist eine Vielheit von gleichen oder vielmehr höchst ähnlichen Zeugungslü-eisen. Wir konnten daher dieselben als drei verschiedene Ordnungen oder Kategorien der genealogischen Individua- lität, oder als drei subordinierte Entwickelungseinheiten folgender- maßen über einander stellen: I. Der Zeugungskreis {Cydiis generaüonis) ist die erste und niedrigste Stufe, IL die Art {Specics) ist die zweite und mittlere Stufe, III. der Stamm {Phi/hon) ist die dritte und höchste Stufe der genealogischen Individualität. Die Phylogenie, als die Entwickelungsgeschichte der Stämme, verhält sich demnach zur genealogischen Systematik, oder der Ent- wickelungsgeschichte der Arten ganz analog, wie die Entwickelungs- geschichte der physiologischen Individuen zu derjenigen der morpho- logischen Individuen. Wie das physiologische Individuum während verschiedener Perioden seiner individuellen Existenz durch eine wechselnde Anzahl von morphologischen Individuen verschiedener Ordnung repräsentiert wird, so wird gleicherweise das Phylon während verschiedener Zeiten seiner individuellen Existenz durch eine wechselnde Anzahl von verschiedenen Spezies dargestellt, w^elche sich nach dem Grade ihres genealogischen Zusammenhanges in die verschiedeneu Ordnungsstufen oder Kategorien des Systems neben und über ein- ander ordnen lassen. Die konkrete Aufgabe der Phylogenie wird also zunächst die Entwickelungsgeschichte der einzelnen blutsver- w^andten Arten oder Spezies sein, und erst aus deren richtiger Er- kenntnis und vergleichenden Synthese ergibt sich dann w^eiterhin als das höhere und höchste Ziel der genealogische Zusammenhang der verschiedenen Arten im natürlichen System, oder die wirklich zu- sammenhängende Entwickelungsgeschichte der Stämme. II. Paläoiitolosjie und Oeiiealogie. Der innige und allgemeine Zusammenhang, w^elcher zwischen der Phylogenie und der Ontogenie besteht, ist von uns bereits im fünften Buche auf das entschiedenste hervorgehoben worden. Wir erblicken in diesem unlösbaren Zusammenhange, in der gegenseitigen XXI. II- Paläontologie und Genealogie. 353 Erläuterung" der Phylogenie und der Ontogenie, in ihrem durch die Deszendenztheorie erklärten Kausalnexus, die wissenschaftliche Grundlage der gesamten Entwickelungsgeschichte , und dadurch zu- gleich der gesamten Morphologie. Diese äußerst wichtige Wechsel- beziehung zwischen der Entwickelungsgeschichte der organischen Individuen und der organischen Stämme bewog uns im achtzehnten Kapitel, am Schlüsse jedes Abschnitts unser ..Ceferum censeo" folgen zu lassen: „Alle Erscheinungen, welche die individuelle Entwickelung der Organismen begleiten, erklären sich ledigHch aus der paläontolo- gischen Entwickelung ihrer Vorfahren. Die gesamte Ontogenie der Organismen ist eine kurze Rekapitulation ihrer Phy- logenie." Dieses Gesetz ( — unser Biogenetisches Grundgesetz — ) halten wir für so äußerst wichtig, daß wir dasselbe nicht genug glauben hervorheben zu können; denn ohne die Phylogenie bleibt uns die Ontogenie ein unverstandenes Rätsel. Wenn wir dagegen das kausale Verständnis der Phylogenie durch die Deszendenztheorie gewonnen haben, so erklärt sich uns daraus die Ontogenie eben so einfach, als harmonisch. Andererseits bedürfen w^ir der Ontogenie auf das dringendste, um die Phylogenie richtig zu w^ürdigen. Dieses Verhältnis ist vorzüglich in dem Umstände begründet, daß unsere empirischen Kenntnisse in der Entwickelungsgeschichte der Individuen weit umfassender und vollständiger sind, als in derjenigen der Stämme. Fast das einzige unmittelbare empirische Material, welches der letzteren zugrunde liegt, liefert uns die Paläontologie. Dieses Material ist aber nicht im entferntesten zu vergleichen mit demjenigen, w^elches uns für die Ontogenie zu Gebote steht; vielmehr ist dasselbe im höchsten Grade lückenhaft und unvollständig. In der individuellen oder biontischen Entwickelungsgeschichte können wir, wenigstens in sehr vielen Fällen, unmittelbar und Schritt für Schritt mit unseren Augen die Formveränderungen verfolgen, welche das physiologische Individuum während der ganzen Zeit seiner Existenz, von seiner Entstehung bis zu seinem Tode durchläuft. Es ist daher nicht zu verwundern, daß selbst sehr gedankenlose Zoologen und Botaniker bisweilen ganz brauchbare biontische Entwickelungs- geschichten von Tieren und Pflanzen schreiben. Es gehört dazu wesent- lich nur ein gesundes Auge, ein wenig Geduld und Fleiß, und so viel Verstand, um das unmittelbar Beobachtete getreu wiedergeben zu können. Haeckel, Prinz, d. Morpliol. ^^ 354 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI. Unendlich schwieriger gestahet sich die Aufgabe für die paläon- tologische oder phyletische Entwickelungsgeschichte. Hier liegt nirgends eine zusammenhängende Kette von Tatsachen vor. welche der glück- liche Beobachter einfach aufzunehmen und so darzustellen hat, wie er sie sieht. Niemals ist der kontinuierliche Zusammenhang zwischen den einzelnen aufeinanderfolgenden Entwickelungsstadien so wie in der Embryologie gegeben. Vielmehr findet der Genealoge, welcher es unternimmt, die Entwickelungsgeschichte eines Stammes und der denselben zusammensetzenden Arten darzustellen, in allen Fällen nur höchst unvollständige und vereinzelte Bruchstücke vor, welche es gilt, mit kritischem Blicke — und fast möchten wir sagen: mit richtigem morphologischem Instinkte — zusammenzusetzen und daraus das ungefähre Schattenbild des längst entschwundenen Entwickelungs- vorganges zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion erfordert ebenso umfassende biologische und spezielle morphologische Kenntnisse, als allgemeines Verständnis des Zusammenhanges der biologischen Er- scheinungen: sie erfordert ebenso die äußerste Vorsicht, als die größte Kühnheit in der hypothetischen Ergänzung der dürftigen Fragmente, w^elche die Paläontologie uns liefert. Die Hypothese ist hier, wie in der gesamten Genealogie, nicht bloß das erste Recht, sondern auch die dringendste Pflicht. Die paläontologische Entwickelungsgeschichte, wie sie bisher behandelt, und in neuerer Zeit auch von einigen hervorragenden Paläontologen im Zusammenhange dargestellt worden ist. bleibt ein vollständig lückenhaftes und zerrissenes Flickwerk, w^enn sie sich auf die bloßen Tatsachen beschränkt, welche die Paläontologie uns liefert, und w^enn sie nicht zu deren Ergänzung den äußerst wichtigen drei- fachen Parallelismus benutzt, welcher zwischen der biontischen, der phyletischen und der systematischen Entwickelungsreihe besteht. Diese Ergänzung durch ebenso umfassende und kühne, als vorsichtige und kritische Anwendung der phyletischen Hypothese ist die erste Pflicht der Genealogie oder Stamm bäum sichre im weiteren Sinne, wie wir auch die gesamte theoretische Phylogenie oder die phyletische Entwickelungsgeschichte nennen könnten. Wenn wir aber unter Genealogie im engeren Sinne nur den ergänzenden und unentbehrlichen hypothetischen Teil, unter Paläontologie im engeren Sinne dagegen den empirischen, unmittelbar durch die Versteinerungskunde gegebenen Teil der Phylogenie verstehen, so verhält sich die letztere zur ersteren wohl nur selten ungefähr wie Eins zu Tausend, in den allermeisten XXI. III- Kritik des paläontologischen Materials. 355 Fällen wohl kaum wie Eins zu Hunderttansend oder zur Million. Dennoch ist hier bei Anwendung- der notwendigen Kritik außerordent- lich viel zu leisten, und vorzüglich auf Grund der Ergänzung der Paläontologie durch die Embryologie und Systematik, eine Reihe der wichtigsten und sichersten Resultate zu erzielen. Die Phylogenie oder die Entwickelungsgeschichte der organischen Stämme in unserem Sinne ist also eine Wissenschaft, welche sich nur zum allerkleinsten Teile aus dem empirischen Materiale der Palä- ontologie oder Versteinerungskunde, zum bei weitem größten Teile aus den ergänzenden Hypothesen der kritischen Genealogie oder Stammbaumskunde zusammensetzt. Die letztere muß sich in erster Linie auf das ergänzende Material der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Systematik, und weiterhin auf eine denkende Benutzung aller allgemeinen Organisationsgesetze sttitzen. ^b^ III. Kritik des paläontologiselieii Materials. Für das richtige Verständnis der Phylogenie ist eine der ersten und notwendigsten Vorbedingungen die richtige und volle Erkenntnis von dem außerordentlich hohen Grade der UnvoUständigkeit und Lückenhaftigkeit, den das gesamte empirische Material der Paläontologie besitzt. Wir haben schon im vorhergehenden hervorgehoben, daß der philosophischen Genealogie, welche auf Grund ontogenetischer und systematischer Induktionen den hypothetischen Bau der zusammen- hängenden Phylogenie zu errichten hat, ein weit größerer und um- fassenderer Teil der phylogenetischen Aufgabe zufällt, als der empiri- schen Paläontologie, welche uns nur einzelne isolierte Bruchstücke für den Aufbau derselben zu liefern vermag. Diese Erkenntnis ist so wesentlich, daß wir hier kurz die wichtigsten Ursachen der außer- ordentlichen UnvoUständigkeit des paläontologischen Materials hervor- heben müssen. Niemand hat dieselben bisher so richtig gewürdigt, als die beiden großen Engländer Darwin und Lyell, von denen der erstere dieselbe Reformation auf dem Gebiete der Paläontologie, wie der letztere auf dem der Geologie durchgeführt hat. Darwin hat der ..UnvoUkommenheit der geologischen Überlieferungen" ein be- sonderes Kapitel seines Werkes (das neunte) gewidmet, auf welches wir hier als besonders wichtig ausdrücklich verweisen. Wenn wir die sämtlichen Umstände, welche die empirische Paläontologie zu einem so höchst fragmentarischen Stückwerk machen, 23* 356 15egriff und Aufgabe der Tlivlngenie. XXI. vergleichend erwägen, so können wir sie in zwei Reihen bringen, von denen die einen ihre Ursache in der Beschaffenheit der Orga- nismen, die anderen in der Beschaffenheit der Umstände haben, unter denen ihre Reste in den neptunischen, aus dem Wasser abge- lagerten Erdschichten erhalten werden können. In ersterer Beziehung ist vor allem zu erwägen, daß in der Regel nur harte und feste Teile, vorzüglich also Skelette, der Erhaltung im fossilen Zustande oder der Petrifikation fähig waren. Nur verhähnismäßig selten konnten auch von weichen und zarten Teilen der Organismen Abdrücke erhalten werden. Es fehlen daher fast alle erkennbaren Reste von solchen Organismen, die keine Skelette oder harten Teile besaßen. Dahin gehören alle autogenen Moneren, welche wir als die ursprünglichen Stammformen sämtlicher Phylen zu betrachten haben, sowie eine große Anzahl zunächst von jenen Autogenen abstammender Genera- tionen: sodann sehr viele Protisten, die meisten Wasserpflanzen, sehr viele niedere Tiere (Medusen, Würmer, Nacktschnecken, Wirbeltiere mit bloß knorpeligem Skelett etc.), endlich alle Embryonen aus der ersten und sehr viele auch aus späterer Entwickelungszeit; sowie überhaupt sehr viele zarte jugendliche Formen, auch von solchen Organismen, die späterhin ein hartes Skelett erhalten. Bei allen diesen Organismen fehhen eigenthche innere oder äußere Skelette, und überhaupt geformte harte Teile, welche der Erhaltung fähig ge- wesen wären. Aber auch bei den übrigen Organismen, welche solche harte konservationsfähige Teile besitzen, machen dieselben in der Regel nur einen sehr unbedeutenden und oft einen morphologisch sehr wertlosen Teil des ganzen Körpers aus Am wichtigsten sind in dieser Beziehung diejenigen Wirbeltiere, welche ein verknöchertes inneres Skelett besitzen, ferner die hartschaligen Echinodermen und Crustaceen, sowie die mit Kalkgehäusen versehenen Mollusken. Doch kann man insbesondere bei den letzteren aus der Form der äußeren Schale nur sehr unsichere Schlüsse auf die anatomische Beschaffen- heit der Weichteile ziehen. Von der Beschaffenheit des Nervensystems und des Gefäßsystems, sowie der meisten übrigen Organsysteme sagen uns aber jene konservierten Hartgebilde unmittelbar gar nichts, und die Andeutungen, welche wir von ihnen in dieser Beziehung erhalten, sind nur sehr unsicher. Die ganze Summe der wirklich erhaltenen tierischen Reste gibt uns also schon aus diesem Grunde nur ein sehr unsicheres Bild von ihrer vormaligen Gesamtorganisation. Nicht besser steht es mit den Pflanzen, von denen gerade die morpho- XXI. III. Kritik des paläontologischen Materials. 357 logisch wichtigsten Teile, die Blüten, wegen ihrer zarten Struktur nur sehr selten und höchst unvollständig in Abdrücken erhalten werden konnten. Die Schlüsse, welche wir hier aus den Abdrücken ganzer Pflanzen, sowie aus den besser konservierten härteren Teilen (Holzstämmen, Früchten) ziehen können, ersetzen jenen Mangel nur in sehr beschränktem Maße. Höchst ungleichmäßig sind ferner die Bedingungen der Kon- servation je nach dem verschiedenen Wohnorte der Organismen. Bei weitem die größte Mehrzahl der Petrelakten gehört Meeres- bewohnern an: viel seltener sind die Reste von Süßwasserbewohnern und von Landbewohnern, und am seltensten diejenigen der Luft- bewohner. Die Gründe, weshalb das Meer die günstigsten, das Süßwasser viel ungünstigere, und das Festland die ungünstigsten Bedingungen zur Fossilisation verstorbener Organismen darbot, liegen so nahe, daß wir dieselben nicht zu erörtern brauchen. Ebenso konnten selbstverständlich von Entozoen und von anderen Parasiten keine Reste konserviert werden. Wenn wir ferner bedenken, wie rasch überall jedes Kadaver seine Liebhaber findet, wie schnell überall Tausende von Organismen beschäftigt sind, sich Fleisch und Blut der Verstorbenen zunutze zu machen, wie die allermeisten organischen Individuen nicht natürlichen Todes sterben, sondern von übermächtigen Feinden vernichtet werden, so werden wir uns mehr darüber wundern, daß noch so viele, als daß so äußerst wenige deutlich erkennbare Reste übrig bleiben konnten. Die andere Reihe von Ursachen, welche auf die fossile Kon- servation der organischen Reste höchst nachteilig einwirken, liegt in den Umständen, unter denen die neptunischen Erdschichten aus dem Wasser abgelagert werden. Vor allem ist hier der von Dar- wnn mit Recht besonders hervorgehobene Umstand äußerst wichtig, daß versteinerungsführende Schichten nur während langer Perioden andauernder Senkung des Bodens abgelagert werden konnten. Wenn dagegen Senkungen mit Hebungen wechselten, oder wenn lange Zeit hindurch Hebungen fortdauerten, so konnten die neuabgelagerten Schichten nicht erhalten bleiben, da sie alsbald wieder in den Bereich der Brandung versetzt und so zerstört wurden. Diesen Umstand gehörig zu würdigen, ist aber um so wichtiger, als gerade während der Hebungszeit (durch Ge- winnung neuer Stellen im Naturhaushalte) die Divergenz der orga- nischen Formen und die Entstehung neuer Arten sehr begünstigt 358 IJegiiff und Aufgabe der Pliylogenie. XXI. wurde, während dagegen in den Senkungszeiten mehr Arten er- löschen und zugrunde gehen mußten. Zwischen den langen Zeit- räumen, in welchen je zwei aufeinander folgende Formationen oder Etagen abgelagert wurden, und welche zwei Senkungsperioden ent- sprechen, liegt demnach ein ungeheuer langer Zeitraum, in welchem die alternierende Hebung des Bodens und die damit parallel gehende Entstehung neuer Arten stattfand, von denen uns aber gar keine Reste erhalten werden konnten. So erklärt sich ganz einfach der zunächst befremdende *XJmstand, daß Flora und Fauna zweier ver- schiedener, übereinander liegender Schichten so sehr verschieden sind. In sehr vielen Sedimentsschichten endlich, wie z. B. in vielen grobkörnigen Sandsteinen, ist die Erhaltung organischer Reste schon wegen der Struktur des Gesteins selbst fast ganz unmöglich. Aber auch die wirklich erhaltenen versteinerungsführenden Schichten sind uns nur im höchsten Grade unvollständig bekannt. Wir kennen von diesen fossiliferen Straten nur einen äußerst ge- ringen Teil: sorgfältiger ist bisher nur ein Teil Europas und Nord- amerikas hierauf untersucht. Von den Sediment-Schichten Asiens, Südamerikas, Afrikas und Australiens, sowie überhaupt der ganzen südlichen Hemisphäre kennen wir nur ganz geringe Bruchstücke. Wie unvollständig wir aber selbst die am meisten untersuchten Schichten (z. B. den lithographischen Schiefer des Jura) kennen, geht am besten daraus hervor, daß noch jährlich neue Formen in demselben entdeckt werden. Wir kennen ferner gar nichts von den ungeheuren Massen fossilienhaltiger Schichten, welche gegenwärtig unter dem Meeresspiegel ruhen, von denjenigen, welche jenseits der Polarkreise liegen und von denjenigen, welche sich in metamor- phischem Zustande befinden. Und doch sind die letzteren allein aller Wahrscheinlichkeit nach bedeutend mächtiger, als alle nicht metamorphischen Schichtenlagen zusammen. Alle diese Umstände zusammengenommen beweisen uns. daß die Gesamtheit des paläontologischen Materials oder die sogenannte „geologische Schöpfungsurkunde" im allerhöchsten Maße unvoll- ständig und lückenhaft ist, und daß sie uns für die zusammen- hängende phyletische Entwickelungsgeschichte nur einzelne dürftige Andeutungen, nirgends aber eine vollständige und zusammenhängende Entwickelungsreihe liefert. Von sehr vielen fossilen Organismen- arten kennen wir nur ein einziges Exemplar oder einige wenige höchst unvollkommene Bruchstücke, z. B. einen einzelnen Zahn oder XXI. I^ • Die Kataklysmeutheorie und die Kontiiiuitätstheorie. 359 ein paar Knochen. Von keiner einzigen fossilen Art können wir uns ein einigermaßen vollständiges Bild ihrer gesamten Verbreitung und Entwickelung in der Vorzeit entwerfen. Alle unsere paläonto- logischen Sammlungen zusammengenommen sind nur ein winziges Fragment, nur ein Tropfen im Meere, gegenüber der ungeheuren Masse erloschener Organismen, die in früheren Zeiten unsere Erd- rinde belebten. Bevor diese Überzeugung nicht durch reifliche Er- wägung aller hier einschlagenden Umstände befestigt ist, wird jede Beurteilung des paläontologischen Materials verfehlt bleiben und zu irrigen Schlüssen verführen. IV. Die Kataklysmeutheorie und die Kontinuitätstheorie (Cuvier und Lyell). Wenn wir die außerordentliche Unvollständigkeit des gesamten phylogenetischen Materials mit der befriedigenden Vollständigkeit mindestens eines großen Teiles des ontogenetischen Materials ver- gleichen, so begreifen wir, warum die Entwickelungsgeschichte der Arten und Stämme so weit hinter derjenigen der Individuen und Zeugungskreise zurückbleiben konnte. Doch ist diese Differenz in der Ausbildung beider Zweige der Entwickelungsgeschichte nicht allein in jener ganz verschiedenen Beschaffenheit des empirischen Materials, sondern auch zum großen Teil in der eigentümlichen Stellung begründet, welche die Paläontologie von Anfang an zu ihren nächstverbündeten Wissenschaften einnahm. Vorzüglich aber ist in dieser Beziehung die Abhängigkeit derselben von der Geologie sehr einflußreich geworden, sowie der Umstand, daß die meisten so- genannten Zoologen und Botaniker dieselbe wie ein Stiefkind be- handelten, oder sich wohl auch gar nicht um die Tiere und Pflanzen der unbekannten ..A^orwelf' bekümmerten. Die empirische Paläontologie, als die Versteinerungskunde oder „Petrefaktologie", verdankt ihre Entwickelung und Kultur größten- teils nicht den Untersuchungen der Zoologen und Botaniker (welche in den Petrefakten meistens nicht die Überbleibsel der ausgestorbenen Vorfahren der jetzt lebenden Organismen zu erkennen vermochten), sondern den Bemühungen der Geologen, welche die Petrefakten nur als „Leitmuscheln", als „Denkmünzen der Schöpfung" schätzen und verwerten, um mit Hülfe derselben das relative Alter der über- einander gelagerten Gebirgsschichten zu bestimmen. Das Interesse der 360 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI. beiderlei Naturforscher an diesen Objekten ist daher nicht weniger verschieden, als etwa das Interesse eines Archäologen und eines Künstlers oder Ästhetikers an einer antiken Statue. Der genea- logische Zusammenhang der fossilen und der lebenden Organismen, sowie überhaupt die paläontologische Entwickelungsgeschichte der Organismen mußte den eigentlichen Geologen von jeher als ein untergeordneter Nebenzweck oder auch als eine gleichgültige Sache erscheinen, um so mehr, als die meisten Geologen nicht hinreichend gründliche biologische und namentlich morphologische Bildung be- saßen, um das hohe Interesse jenes Zusammenhanges richtig würdigen zu können. Dazu kam, daß die falsche Kataklysmentheorie die ge- samte Geologie und die davon in Abhängigkeit erhaltene Paläontologie im vorigen Jahrhundert und in den drei ersten Dezennien des jetzigen vollständig beherrschte. Allgemein nahm man an. daß die aus dem Bau der festen Erdrinde ersichtliche Übereinanderlagerung einer be- stimmten Anzahl verschiedener Gebirgsformationen, deren jede ihre eigentünüichen tierischen und pflanzlichen Reste einschließt, einer gleichen Anzahl von aufeinanderfolgenden Erdrevolutionen unbe- kannten Ursprungs entspreche, deren jede die damals existierende Flora und Fauna vernichtet und in den zusammengeschütteten Trümmern der umgewühlten Erdrinde begraben habe. Am Anfange jeder neuen Periode der Erdgeschichte sollte ebenso unmotiviert plötzlich eine neue Flora und Fauna erschaffen worden sein, wie die vorhergehende durch unmotivierte, ungeheure, allgemeine Überschwemmungen und Umwälzungen der Erdrinde vernichtet Avorden war. Diese falsche Theorie wurde vorzüglich dadurch verhängnis- voll, daß sie durch Cuvier zu allgemeiner Anerkennung gelangte, der sich im Anfange unseres Jahrhunderts die größten Verdienste um eine schärfere Bestimmung und Erkenntnis der organischen fossilen Reste erwarb. Seine große Autorität hielt das gesamte Ge- biet der Paläontologie ein halbes Jahrhundert hindurch so voll- ständig beherrscht, und erhielt die Kataklysmentheorie als funda- mentales Dogma in derselben so unbedingt aufrecht, daß lange Zeit noch ein großer Teil der Paläontologen sich nicht entschließen konnte, dasselbe aufzugeben. Hier trat nun die Paläontologie, insofern sie noch lange in weiten Kreisen das Dogma von einer Reihenfolge plötzlicher Vernichtungen der schubweise in die Welt gesetzten Schöpfungen aufrecht erhielt, in einen seltsamen Gegensatz zu der XXI. IV. Die Kataklysmentheorie und die Kontinuitätstheorie. 361 früher sie beherrscliendeii Geologie, in welcher jenes Dogma seit nunmehr 76 Jahren als beseitigt betrachtet werden kann. Jm Jahre 1830 erschien das bewunderungswürdige Werk von Charles Lyell: ..fhe Principles of Geology''. durch welches dieser große Engländer dieselbe Reformation auf dem Gebiete der Geologie und in der Ent- wickelungsgeschichte der anorganischen Erdrinde durchführte, welche sein ebenbürtiger Landsmann. Charles Darwin, fast 30 Jahre später auf dem Gebiete der Paläontologie und in der phyletischen Entwickelungsgeschichte der Organismen vollendete. Lyell wies überzeugend nach, daß wir zur Erklärung der geologischen Tat- sachen nicht jene mythischen „Revolutionen und Kataklysmen" un- bekannten Ursprungs, nicht jene plötzlichen und unmotivierten Über- schwemmungen und Umwälzungen der gesamten Erdrinde bedürfen, auf denen die frühere Geologie beruht. Er zeigte, wie die gegen- wärtig existierenden geoplastischen Ursachen, wie namentlich der Wechsel wiederholter langsamer Hebungen und Senkungen, wie die Tätigkeit des Wassers und der atmosphärischen Agentien. wie die ..existing causes" der Meteorologie und die vulkanische Aktion des Erdinnern vollkommen ausreichen, um in dem Verlaufe sehr langer Zeiträume durch sehr langsame und allmähliche, aber beständige und ununterbrochene Tätigkeit jene gewaltigen Wirkungen hervor- zubringen, die wir in dem Gebirgsbau der entwickelten Erdrinde bewundern. Das große Prinzip des Aktualismus, der Grundsatz, daß die Kräfte der Materie ebenso wie sie selbst, zu allen Zeiten die- selben bleiben, und daß heute noch ebenso wie in der Primordial- zeit gleiche Ursachen gleiche Wirkungen hervorbringen, war durch jenes Werk Lyells gewahrt, und dadurch das große Gesetz der kontinuierlichen Entwickelung, der sukzessiven Metamorphose, der ununterbrochenen Umbildung für die organische Natur festgestellt. So groß war aber die Macht des durch Cuviers Autorität gestützten Dogmas von den Kataklysmen und den schubweise in die Welt ge- setzten Schöpfungen, daß das letztere dadurch in der Paläontologie gar nicht erschüttert zu sein schien. Nun muß es aber für jeden Denkenden klar sein, daß jenes Dogma in der Paläontologie zum vollständigen Unsinn wurde, nachdem ihm in der Geologie aller Boden entzogen war. Und dennoch lehrten die Zoologen und Bo- taniker im A^erein mit den Paläontologen unbekümmert und un- gestört ihr absurdes Dogma weiter und behaupteten, daß jede Art 362 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI. selbständig- uiul unabhängig von der anderen erschaffen, und nach ihrem Untergange durch andere, von ihr unabhängige, verwandte Arten ersetzt worden sei. Es ist in der Tat erstauuHch, daß noch dreißig Jahre verfließen konnten, ehe die von Lyell in der Geologie durchgeführte Reform auch in der Paläontologie zur Geltung gelangte. Sobald die un- unterbrochene und allmähliche Entwickelung der anorganischen Erd- rinde durch Lyells Kontinuitätstheorie begründet war, mußte die Deszendenztheorie in der von Darwin gegebenen Vollständig- keit als die notwendige Folge derselben erseheinen, und die gleiche ununterbrochene und allmähliche Entwickelung auch für die orga- nische Bevölkerung der Erdrinde nachweisen. Wir sehen aber hier wiederum einen neuen Beweis von der außerordentlichen Gewalt, welche eingerostete falsche Dogmen auf die Ansichten der Menschen dauernd ausüben, sobald sie durch mächtige Autoritäten gestützt werden. Und wiederum müssen wir an Goethes Wort denken: ..Die Autorität verewigt im Einzelnen, was einzeln vorübergehen sollte, lehnt ab und läßt vorübergehen, was festgehalten werden sollte, und ist hauptsächlich Ursache, daß die Menschheit nicht vom Flecke kommt." Y. Die Perioden der Erdgeschichte. Jede der vielen übereinander gelagerten neptunischen Schichten der Erdrinde bezeichnet einen bestimmten Zeitraum der Erdgeschichte. Die versteinerten Reste und Abdrücke von Tieren und Pflanzen, welche in denselben enthalten sind, geben uns ein rudimentäres und höchst unvollständiges Bild von der Fauna und Flora, welche während jener Zeit die Erdrinde belebten. Dagegen besitzen wir gar keine solchen Reste oder „Denkmünzen der Schöpfungsgeschichte" aus den sehr langen Zeiträumen, welche zwischen der Ablagerung je zweier Schichten oder Formationen verflossen. Diese empfindlichen Lücken sind, wie wir vorher sahen, um so mehr zu bedauern, als gerade in jenen Zwischenzeiten, in welchen Hebungen der Erdrinde stattfanden und deslialb keine versteinerungsführenden Schichten abgelagert wurden, die Umbildung der Organismen und die Entstehung neuer Arten und Artengruppen wegen der Umgestaltung der Existenz- bedingungen und wegen der Entstehung neuer Stellen im Natur- haushalte sehr lebhaft sein mußten. Wir müssen daher jene empirisch XXI. VI. Epacme. Acme, Paracme. 363 nie ausfüllbareu Lücken dnrcli Hypothesen überbrücken und den durch jene Intervalle zerrissenen Faden der paläontologischen Entwickelung wieder zusammenknüpfen. Die fünf großen Hauptperioden oder Zeit- alter der organischen Erdgeschichte umfassen folgende Perioden: I. Archozoisches Zeitalter (Primordial-Zeit). 1. Laurentische, 2. Cambrische, 3. Silurische Periode. II. Paläozoisches Zeitalter (Primär -Zeit). 4. Devonische, 5. Carbonische, 6. Permische Periode. III. Mesozoisches Zeitalter (Secundär-Zeit). 7. Trias-, 8. Jura-, 9. Kreide-Periode. IV. Cänozoisches Zeitalter (Tertiär - Zeit). 10. Eocän-. 11. 3Iiocän-, 12. Pliocän-Periode. V. A.nthropozoisches Zeitalter (Quartär-Zeit). 13. Glaciale, 14. Postelaciale. 15. Kultur-Periode. "&* Tl. Epacme, Acme, Paracme. Aufbildung (Anaplasis), Umbildung {Metaplasis) und Rück- bildung {Cataplasis) haben wir im 16. Kapitel drei verschiedene Stadien der Entwickelung genannt, welche wir allgemein in der Genesis der organischen Individuen unterscheiden konnten. Den Charakter dieser drei individuellen Entwickelungsperioden haben wir im 17. Kapitel schärfer zu bestimmen versucht. Wir kommen hier auf jene Bestimmung zurück, w^eil die vollständige Parallele zwischen der Ontogenie und Phylogenie auch in dieser Beziehung- nicht fehlt, und weil auch die organischen Arten und Stämme in gleicher Weise wie die organischen Individuen, die drei Stadien der Aufbildung, der Umbildung und der Rückbildung zu durchlaufen haben. Wie die gesamte Entwickelungsbewegung der Arten und der Stämme bisher nur selten als kontinuierliche Bewegungserscheinung erkannt, und noch seltener in ihrem hohen Interesse gewürdigt worden ist. so gilt dies auch von den verschiedenen Stadien oder Haupt- perioden ihrer Entwickelung. Allerdings mußten schon die ersten Anfänge der paläontologischen Statistik zu der Überzeugung führen, daß die verschiedenen Gruppen des Systems hinsichtlich der Dauer und Ausdehnung ihrer Entwickelung sich zu verschiedenen Zeiten der Erdgeschichte sehr verschieden verhalten haben, und daß das Zahlenverhältnis der Arten und der sie repräsentierenden Individuen 364 Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI. in den verscliiedenen Gruppen des Tier- und Pflanzenreichs sich zu allen Zeiten sehr verschieden gestaltet hat. Die Zunahme und Ab- nahme der Artenzahl und der Sippenzahl in den einzelnen Familien, Ordnungen und Klassen ist daher schon seit längerer Zeit Gegen- stand der Aufmerksamkeit und der statistischen Bestimmung der Paläontologen gewesen, und man hat namentlich sehr oft die Zeit- dauer der einzelnen Gruppen, sowie ihre Zunahme und Abnahme an Zahl der Gattungen und Arten in den verschiedenen Perioden der Erdgeschichte graphisch durch doppelkegelförmige Linien darzustellen versucht. Insbesondei'e ist Bronn in seiner ,, Geschichte der Natur" und in seinen trefflichen „Untersuchungen über die Entwickelungs- gesetze der organischen Welt'" bemüht gewesen, diese historische Zu- nahme. Dauer und Abnahme der Artenzahl und Sippenzahl in den verschiedenen Abteilungen des Tier- und Pflanzenreichs festzustellen. Indessen mußten diesen Bemühungen so lange ihr bestimmtes Ziel und ihr kausaler Leitstern fehlen, als nicht der leitende Grundgedanke der Deszendenztheorie den genealogischen Zusammenhang der „ver- wandten" Organismen als die Ursache ihrer paläontologischen Er- scheinungsweise nachgewiesen hatte. Nur von diesem Standpunkte aus können wir begreifen, warum die Arten. Gattungen, Klassen etc., kurz alle die verschiedenen Kategorien des Systems, von der Varietät bis zum Stamm hinauf, überall ebenso verschiedene Stadien ihrer Entwickelung unterscheiden lassen, wie die einzelnen Individuen während der Zeit ihrer individuellen Existenz. Wie wir aber zeigten, daß wir unter Ontogenese die gesamte Reihe von Formveränderungen begreifen müssen, welche der indivi- duelle Organismus während der ganzen Zeit seiner individuellen Existenz durchläuft, so müssen wir hier dasselbe für die Phylo- genese wiederholen. Auch die Entwickelung der Arten und der Stämme, und gleicherweise jeder anderen Kategorie des Systems, umfaßt ebenso wie diejenige der physiologischen Individuen die ganze Reihe von Formveränderungen, welche jede dieser genea- logischen Kategorien während der gesamten Zeit ihrer Existenz durch- läuft. Jede dieser Kategorien hat eine beschränkte Zeitdauer ihrer Existenz, und diese wird durch den Kampf um das Dasein bestimmt. Die drei Stadien der Aufbildung. Umbildung und Rückbildung sind nun zwar in der Phylogenese ebenso wie in der Ontogenese allgemein zu unterscheiden: indessen ist es dort ebensowenig als hier möglich, dieselben scharf zu charakterisieren und durch scharfe XXI. ^ I- Epacme, Acnie, Paracme. 365 Grenzlinien voneinander zn scheiden. Vielmehr gehen die Stadien der phylogenetischen ebenso wie die der ontogenetischen Ent- wickelung allmählich ineinander über, und oft sind selbst ihre un- gefähfen Grenzen nur sehr undeutlich zu bestimmen. Dennoch ist die Unterscheidung derselben von großem Vorteil und sogar durch- aus notwendig, um eine klare Übersicht über das phylogenetische Verhältnis der einzelnen Gruppen zueinander und zum ganzen Stamme zu erhalten. Um die Verwechselung der phylogenetischen Entwickelungs- stadien mit den ontogenetischen zu vermeiden, erscheint es passend, dieselben durch besondere feststehende Ausdrücke zu bezeichnen, welche den letzteren entsprechen. Wir nennen das erste Stadium der Phylogenese, welches der ontogenetischen Anaplase gleichsteht, ihre Aufblühzeit {Epacme), das zweite, welches der Metaplase ent- spricht, die Blütezeit {Acme), und das dritte, welches der Kataplase korrespondiert, die Verblühzeit {Paracme). I. Die Auf blühzeit {Epacme), das erste Stadium der Phylo- genese, umfaßt diejenige Zeit in der Entwickelung der Arten und der Stämme, welche von ihrer Entstehung bis zu ihrer Blütezeit reicht. Sie entspricht also dem Jugendalter {Juventus, Aclolescenüa) oder der Aufbildungszeit {Anaplasis, Eroluüo), welche wir oben als das erste Stadium der individuellen Entwickelung charakterisiert haben. Als diejenige physiologische Entwickelungsfunktion. welche vorzugsweise für dieses Stadium der Ontogenese charakteristisch und bedeutend ist, haben wir daselbst das Wachstum bezeichnet, und ebenso werden wir das Wachstum auch als den charakteristischen Prozeß der phylogenetischen Epacme betrachten können. Die epacma- stische Kreszenz der Arten und Stämme besteht ebenso wie das anaplastische Wachstum der Bionten, in einer Ausdehnung und Größen- zunahme. Bei den Arten wächst die Anzahl der Individuen und bei den Stämmen die Anzahl der subordinierten Kategorien (Klassen. Ordnungen etc.), welche dieselben zusammensetzen. IL Die Blütezeit {Acme), das zweite und mittlere Stadium der Phylogenese, begreift diejenige Zeit in der Entwickelung der Arten und Stämme, welche zwischen der Epacme und der Paracme hegt. Sie korrespondiert mithin dem Reife alt er {Maturitas, Adul- tas) oder der Umbildungszeit {Metaplasis, TransvoluUo). welche wir oben als das zweite Stadium der individuellen Entwickelung ab- gesteckt haben. Diejenige physiologische Entwickelungsfunktion. 3(jß Begriff und Aufgabe der Phylogenie. XXI. welche vorzugsweise dieses Stadium der Ontogenese beherrscht, ist die Differenzierung oder Divergenz der Form, und ebenso können wir diesen Prozeß auch als die wesentlichste Funktion der phylogene- tischen Acme betrachten. Die acraastische Differenzierung der reiferen Arten und Stämme besteht, ebenso wie die nietaplastische Divergenz der Bionten. weniger in einer quantitativen als in einer qualitativen Vervollkommnung, und vorzugsweise in der vielseitigen Anpassung an die verschiedenartigsten Existenzbedingungen. Durch diese Differenzierung der Arten bilden dieselben ein reiches und viel- strahliges Varietätenbüschel, während durch die Divergenz der Stämme eine große Anzahl von neuen Gruppen entstehen. III. Die Verblühzeit (Paraonc). das dritte und letzte Stadium der Phylogenese, umfaßt diejenige Zeit in der Entwickelung der Arten und Stämme, welche vom Ende der Blütezeit bis zum Ende ihrer Existenz reicht. Sie entspricht also dem Greisen alt er (Deflo- resccnticL SeniUtas) oder der Rückbildungszeit {Caiaplasis. Inro- luiio). welche oben als das dritte und letzte Stadium der individuellen Entwickelung geschildert worden ist. iVls diejenige physiologische Entwickelungsfunktion. welche vorzugsweise in diesem Stadium der Ontogenese herrscht, haben wir daselbst die Degeneration nach- gewiesen, und dieser Prozeß charakterisiert ebenso auch die phylo- genetische Paracme. Die paracmastische Degeneration der Arten und Stämme bestellt ebenso wie die ontogenetische Ent- bildung der Bionten. zunächst in einer Beschränkung und Vermin- derung ihres physiologischen und infolgedessen auch ihres morpho- logischen Bestandes und Vermögens. Bei den Arten nimmt die Zahl der Individuen ab. indem sie entweder aussterben oder in andere Arten übergehen. Bei den Stämmen nimmt die Zahl aller Kategorien und der sie vertretenden Stämme ab bis zum voll- ständigen Aussterben. Zweiundzwanzigstes Kapitel. EntwickelungsgescMclite der Arten oder Spezies. (Naturgeschichte der organischen Arten oder genealogischen Individuen zweiter Ordnung.) „Die Idee der Me tamo riihose ist gleich der vis centrifuga und würde sicli ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den Spez ifikations trieb, das zähe Beharrlichkeitsvermögeii dessen, was einmal zur Wirklichlveit gekommen, eine vis centripeta, welcher in ilirem tiefsten Grunde keine Äußer- lichkeit etwas anhaben kann." Goethe. I. Allgemeine Kritik des Speziesbegriffes. Seitdem Linne im Jahre 1735 in seinem Systema naturac znm ersten Male die außerordentlichen Vorteile gezeigt hatte, welche die von ihm eingeführte binäre Nomenklatur für die übersichtliche Re- gistratur der Organismen bietet, und seitdem die Einordnung der ver- schiedenartigen Formen in das Svstem. und ihre Benennung mit Genus- und Speziesnamen mehr und mehr Hauptbeschäftigung der sogenannten „ Systematik'" geworden war, hat es nicht an viel- fältigen Versuchen gefehlt, das eigentliche Wesen der Art oder Spezies in seinem eigentümlichen Werte zu erkennen und den Begriff der- selben zu bestimmen. Die Geschichte dieser größtenteils verfehlten Versuche ist für die Geschichte der gesamten organischen Morpho- logie von großer Bedeutung. Denn einerseits hat das zur all- gemeinen Herrschaft gelangte Dogma von der Konstanz der Spezies die irrtümlichsten allgemeinen Anschauungen in allen einzelnen Zweigen der morphologischen Botanik und Zoologie her- vorgerufen. Andererseits aber zeigen sich gerade in der Art und Weise, in welcher man jenes Dogma aufgebaut und zum Fundament aller generellen morphologischen Reflexionen erhoben hat, auf das klarste alle die prinzipiellen Fehler und methodologischen Irrwege, 368 Entwickeliingsgeschichte der Arten oder Spezies. XXII. welche bisher in allen Zweigen der organischen Morphologie die Geltung der allein richtigen monistischen Naturanschanung und so- mit auch die Erkenntnis der allein maßgebenden kausalmechanischen Naturgesetze gehindert haben. Die blinde Dogmatik und der Mangel an Kritik, die einseitige Vertiefung in der isolierenden Analyse und der Mangel an vergleichender Synthese, das unklare Haschen nach teleologischen Scheingrtinden und die vorurteilsvolle Vernachlässigung der wirklichen mechanischen Gründe — kurz alle die Mängel und Fehler, welche bisher die Morphologie der Organismen gehindert haben, sich auf den objektiven monistischen Standpunkt aller übrigen Naturwissenschaften zu erheben, und welche sie in der Knechtschaft subjektiver dualistischer Vorurteile erhalten haben — alle diese Mängel und Fehler sind auf das engste mit dem fundamentalen Dogma von der absoluten Individualität und Konstanz der Spezies verknüpft und durch dasselbe größtenteils unmittelbar bedingt. Der allgemeine Mangel an natürlicher Logik und überhanpt an gesunder Philosophie, welcher das Grundübel der ganzen organischen Morpho- logie bildet, zeigt sich daher auch nirgends so auffallend wie in der Speziesfrage. Obwohl deshalb eine kritische Entwickelungsgescliichte der Speziesdogmatik für die gesamte Morphologie der Organismen von hohem Interesse ist, würde es uns doch hier viel zu weit führen, wollten wir alle verschiedenen Ansichten auch nur der hervor- ragendsten Morphologen über die Spezies einer allgemeinen Be- sprechung unterziehen und den verwickelten Knäuel unklarer und widersprechender Vorstellungen darüber entwirren. Dies muß einer zukünftigen Geschichte der Deszendenztheorie vorbehalten bleiben. Wir beschränken uns vielmehr hier darauf, den ganz verschieden- artigen Inhalt und Umfang des Speziesbegriffes hervorzuheben, welchen derselbe, von morphologischem, physiologischem und genealogischem (morphogenetischem) Gesichtspunkte aus bestimmt, besitzt. Das Wichtigste, was in dieser Beziehung zunächst zu beachten ist, finden wir in dem Umstände, daß der praktische Gebrauch des Speziesbegriffes sich meistens ganz unabhängig von der theoretischen Bestimmung desselben erhielt. Die alte authentische Definition Linnes, welcher den Speziesbegriff nicht allein zuerst theo- retisch aufstellte, sondern auch mit dem glänzendsten Erfolge praktisch anwandte, lautete: .,8pccies tot sunt diversae, quot diversae formae ab initio sunt creatae" . Diese Definition ist offenbar rein Spekula- XXII. I- Allgemeine Kritik des Speziesbegriffes. 369 tiver Natur, auf das eingewurzelte theoretische Schöpfungsdogma gegründet und ganz unabhängig von der praktischen, auf die Ver- gleichung konkreter Individuen und ihre Unterscheidung durch konstante Merkmale gestützten Bestimmung der Arten. Mehr in Verbindung mit der letzteren wurde späterhin die theoretische Spezies-Definition durch Cuvier gebracht, welcher nächst Linne den größten und nachhaltigsten Einfluß auf die Systematik ausübte. Nach Cuvier ist die Spezies Ja reunion des individus descendant l'un de Vautre et des parents eommuns, et de ceux, qui leur ressemblent autant, qic'ils se ressemblent enire cux." In dieser Bestimmung, an welche sich die meisten späteren mehr oder minder eng an- schließen, wird offenbar zweierlei für die zu einer Spezies gehörigen Individuen verlangt, erstens nämlich ein gewisser Grad von Ähn- lichkeit oder annähernder Gleichheit der Charaktere und zweitens ein verwandtschaftlicher Zusammenhang durch das Band gemein- samer x\bstammung. Von den späteren Autoren ist bei den zahlreichen Versuchen, die Definition zu vervollkommnen, bald mehr auf die genealogische Blutsverwandtschaft aller Individuen einer Art, bald mehr auf ihre morphologische Übereinstimmung in allen wesentlichen Charakteren Rücksicht genommen worden. Im allgemeinen kann man aber behaupten, daß bei der praktischen Anwendung des Art- begriffs, bei der Unterscheidung und Benennung der einzelnen Spezies fast immer nur das letztere Moment zur Geltung gelangte, das erstere dagegen ganz vernachlässigt wurde. Späterhin wurde zwar die genea- logische Vorstellung von der gemeinsamen Abstammung aller Indi- viduen einer Art noch durch die physiologische Bestimmung ergänzt, daß alle Individuen einer Art miteinander eine fruchtbare Nach- kommenschaft erzeugen können, während die sexuelle Vermischung von Individuen verschiedener Arten gar keine oder nur eine unfruchtbare Nachkommenschaft liefert. Indessen war man in der systematischen Praxis allgemein vollkommen zufrieden, wenn man bei einer unter- suchten Anzahl höchst ähnlicher Individuen die Übereinstimmung in allen wesentlichen Charakteren festgestellt hatte, und frug nicht weiter danach, ob diese zu einer Art gerechneten Individuen in der Tat gemeinsamen Ursprungs und fähig seien, bei der Begattung miteinander eine fruchtbare ?^chkommenschaft zu erzeugen. Viel- mehr kam diese physiologische Bestimmung natürlicherweise bei der praktischen Unterscheidung der Tier- und Pflanzenarten ebenso- wenig in Anwendung, als die vorausgesetzte gemeinsame Abstammung Haeckel, Prinz, d. Morphol. 24 370 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Spezies. XXII. von einem und demselben Elternpaare. Andererseits unterschied man oline Bedenken zwei näclistverwandte Formen als zwei ver- schiedene „gute Arten", sobald man bei einer untersuchten Anzahl von ähnlichen Individuen eine konstante Differenz, wenn auch nur in einem verhältnismäßig untergeordneten Charakter, nachgewiesen hatte. Auch hier kümmerte man sich nicht darum, ob die beiden verschiedenen Reihen wirklich nicht von gemeinsamen Voreltern ab- stammten, und wirklich miteinander keine oder doch nur unfrucht- bare Bastarde zeugen konnten. Aus diesen einfachen Gründen und besonders aus der Unmög- lichkeit, die gemeinsame Abstammung und die Fähigkeit zur Er- zeugung fruchtbarer Nachkommen bei allen Individuen derselben Spezies nachzuweisen, wurde dann die offenbare Trennung zwischen der theoretischen und der ganz davon unabhängigen prakti- schen Unterscheidung der Spezies mehr oder weniger unbe- wußt den Systematikern zur Gewohnheit. Theoretisch wurde die Art bestimmt als der Inbegriff aller Individuen verschiedenen Ge- schlechts, die miteinander eine fruchtbare, die Gattung- als Inbegriff derer, die keine oder eine unfruchtbare Nachkommenschaft erzeugen. Dabei setzte man gewöhnlich stillschweigend voraus, daß alle Indi- \iduen einer Art ursprünglich von gleichen, alle Arten einer Gattung dagegen von verschiedenen Voreltern abstammten. Ebenso wurde die Unveränderlichkeit oder Konstanz der Art in der Zeit voraus- gesetzt. Bei der praktischen Speziesunterscheidung dagegen wurde diese Voraussetzung gewöhnlich nicht im mindesten berücksichtigt, und man hielt sich bloß an die Übereinstimmung oder die Differenz der sogenannten „wesentlichen" Charaktere in den gerade zur Be- stimmung vorliegenden und zu vergleichenden Exemplaren. Leichtere und auch oft bedeutende, aber inkonstante Differenzen zwischen denselben wurden nicht als Merkmale von besonderen Arten, sondern nur von Abarten oder Spielarten (Varietäten, Subspezies) angesehen. Die Probe mit der Fortpflanzungsfähigkeit wurde nicht gemacht. Auch wäre es ja in der Tat in den allermeisten Fällen, wie z. B. bei der Feststellung der Spezies von nicht lebend zu beobachtenden, sowie von allen ausgestorbenen Tieren, ganz unmöglich gewesen, die verlangte Probe mit der gleichartigen Fortpflanzung anzustellen und die Abstammung von einem einzigen Elternpaare empirisch nachzuweisen. Daß aber auf diese Weise die erwähnten Voraus- setzungen bald nur zu einem leeren Dogma ausarteten, welches bloß in XXII. II- Dei' moipliologische Begriff der Spezies. 371 den Handbücliern in Ermangelnng einer besseren Definition der Spezies schulgerecht fortgeführt und allgemein wiederholt wurde, liegt auf der Hand. Jede eingehende kritische Untersuchung zeigt, daß in der zoologischen und botanischen Praxis allein die morpho- logische Rücksicht auf die unterscheidenden sogenannten spezifischen Charaktere zur Geltung kam, nicht aber das genealogische Kriterium, gezogen aus der Voraussetzung gemeinsamer Abstammung und eben- sowenig die physiologische Erwägung, daß zwei verschiedene Spezies keine fruchtbare Nachkommenschaft miteinander erzeugen können. Daß dieser Mangel an Zusammenhang zwischen der theoretisch- physiologischen und der praktisch-morphologischen Bestimmung der Spezies den Wert der ersteren ganz illusorisch machte, wurde selt- samerweise von den meisten zoologischen und botanischen Systema- tikern gar nicht bemerkt. In dem Eingange zu den Handbüchern wurde immer wieder gewissenhaft die theoretische Definition wieder- holt, daß zu einer Art alle Individuen (und nur diese!) gehören, welche von gemeinsamen Voreltern abstammen, und welche bei der sexuellen Vermischung eine fruchtbare Nachkommenschaft erzeugen. In der Tat aber wurde die Richtigkeit dieser Bestimmung niemals wirklich geprüft, vielmehr die Unterscheidung und Benennung der Spezies lediglich durch Ermittelung der Übereinstimmung in allen „wesentlichen" morphologischen Charakteren bewirkt. II. Der morphologische Begriff der Spezies. Die praktische Unterscheidung und Benennung der Arten, wie sie von der botanischen und zoologischen Systematik allgemein geübt wird, gründet sich ganz vorwiegend auf die Erkenntnis morpho- logischer und nicht physiologischer Differenzen, welche zwischen den verglichenen ähnlichen Formen sich auffinden lassen. Jeder Blick auf die kurz gefaßten Diagnosen oder die ausführlicheren Be- schreibungen, durch welche in den systematischen Handbüchern und Monographien die verschiedenen Arten einer Gattung getrennt werden, lehrt uns, daß dasjenige Moment, welches man in der systematischen Praxis durchgängig und fast allein zur Feststellung und Unter- scheidung der Spezies benutzt, die Vergleichung und Wägung der morphologischen Charaktere ist. Daß dieses morphologische Prinzip allein, mit völliger Beiseitlassung des gemeinsamen Abstammungs- prinzips und ohne Rücksicht auf das physiologische Prinzip der 24* 372 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Spezies. XXII. fruchtbaren Fortpflanzungsfähigkeit die Systematiker bei ihrer ana- lytischen Speziesbestimmung leitet, muß allgemein zugegeben werden. Ebenso sicher ist es aber auch, daß die meisten Systematiker nicht imstande sind, anzugeben, welche Rücksichten sie hierbei als maß- gebende Richtschnur im Auge haben und worin das Wesen der .,spezifischen Formcharaktere" besteht. Sehr wenige nur haben sich die Mühe genommen, hierüber nachzudenken, und unter diesen ist vor allen Louis Agassiz hervorzuheben. Von den meisten anderen Naturforschern abweichend, erklärt Agassiz die Spezies für eine ebenso ideale Wesenheit („ideal eniity")^ als die übergeordneten Begriffe der Gattung, Familie, Ordnung, Klasse und T}T3us. Alle diese idealen Einheiten sind in der Natur realisiert, sind verkörperte Schöpfungsgedanken. Die Charaktere, durch welche sich diese verschiedenen, stufenweise sich erhebenden Kategorien unterscheiden, sind von verschiedener Qualität. Die Unterschiede der Spezies betreffen das Verhältnis der einzelnen Körperteile zuein- ander, sowie die absolute Größe des ganzen Tieres, ferner die Färbung und allgemeine Verzierung der Körperoberfläche, endlich die Bezie- hungen der Individuen zueinander und zur umgebenden Welt. Die Spezies wird durch eine gewisse Menge von Individuen repräsentiert, die als solche in engster Beziehung zueinander stehen, niemals aber durch ein einzelnes Individuum. Denn keines der zu einer Spezies gehörigen Individuen bietet alle charakteristischen Merkmale dieser Spezies dar. Durch diese Auffassung nimmt Agassiz dem Spezies- begrifte die absolute Starrheit, die er in den Augen der meisten Systematiker besitzt, und stellt ihn als eine subjektive Kategorie, einen Kollektivbegriff hin, der ebensoviel objektive Begründung in der Natur und nicht mehr besitzt, als die höheren Begriffe der Gattung, Ordnung, Klasse etc. W^enn wir nun aber die morphologischen (oder richtiger anatomischen) Kriterien näher betrachten, welche Agassiz als „spezifische" Merkmale xat' £c''V."V'' betrachtet, die absolute Größe und das Verhältnis der einzelnen Körperteile zueinander, die Farbe und die allgemeine Verzierung der Körperoberfläche, so ergibt sich, daß diese zwar in vielen, aber bei weitem nicht in allen Fällen be- stimmend sind. Oft sind dieselben Merkmale kaum genügend, zwei anerkannte Varietäten zu unterscheiden, während sie andere Male selbst zur Unterscheidung „guter" Genera für ausreichend erachtet werden. Andererseits braucht man bloß eine Reihe beliebiger Spezies- gruppen aus verschiedenen Hauptabteilungen des Pflanzen- oder Tier- XXII. II- Dpi' niorphologische Begriff der Spezies. 373 reichs miteinander zu vergleichen und auf diesen Punkt zu unter- suchen, und man wird sehen, daß Charaktere von der allerver- schiedensten Qualität zur Unterscheidung benutzt werden. Die wenigen von Agassiz und anderen gemachten Versuche, das Wesen und Gewicht der unterscheidenden morphologischen Spezies- charaktere schärfer zu bestimmen und dadurch bei der praktischen Unterscheidung der Spezies zu einer sicheren Grundlage zu gelangen, sind auch bei der systematischen Praxis zu keiner allgemeinen Geltung gelangt. Wenden wir uns von diesen mehr oder minder mißglückten A^ersuchen zu der Betrachtung der zoologischen und botanischen Praxis, wie sie von den Systematikern täglich bei der Unterscheidung, Benennung und Bestimmung der Arten geübt wird, so zeigt sich bald, daß die meisten Systematiker sich dabei wesent- lich von einem gewissen praktischen Takte leiten lassen. Höchstens kommt bei den kritischer Verfahrenden hie und da eine bestimmte Maxime von ziemlich vager Natur zur Anwendung. Eine der am weitesten verbreiteten derartigen Maximen oder Bestimmungsregeln ist der Satz: „Zu einer Art gehören alle Individuen, die in allen wesentlichen Merkmalen übereinstimmen." Indessen ist nur bei einer geringen Zahl der niedrigsten Organismen diese Behauptung ohne weiteres richtig. Bei den allermeisten dagegen umfaßt der Speziesbegriff nicht eine einzige Form, sondern eine ganze Entwicke- lungsreihe verschiedener Formen, nämhch den Zeugungskreis, die Formenkette, die das Individuum vom Momente seiner Ent- stehung an bis zu seinem Tode durchläuft. Es müssen also die ver- schiedenen Jugendzustände berücksichtigt werden, die oft sehr ab- weichend von den Erwachsenen sich verhalten, und bei denjenigen, die einer Metamorphose unterworfen sind, die verschiedenen Larven- zustände. die das Individuum durchläuft. Gleicherweise sind bei den der Metagenesis unterworfenen Arten die verschiedenen Generationen zu berücksichtigen. Wie oft sind aber nicht, lediglich aus Nicht- berücksichtigung dieses so einfachen Verhältnisses, abweichend ge- bildete Jugendformen, Larven und Ammen als eigene Spezies, wie oft als Glieder weit entfernter Familien oder selbst Klassen beschrieben worden! Wer hätte bei der paradoxen Form des Pluteus gedacht, daß er die Amme einer Ophiure sei. bei PiUdium, daß es zu einem Nemertes gehöre, hei PhyUosoma, daß es die Larve von Palinurus sei? Wie oft sind selbst bei den höheren Wirbeltieren eigentümlich gefärbte Jugendformen als besondere Arten beschrieben worden! Wie zahl- 374 Entwickelungsgeschichte der Arten oder Spezies. XXII. reich sind in der Abteilung der Würmer, der Crustaceen, der Mol- lusken die Beispiele von zusammengehörigen Larven und reifen Formen, die man friiher als ganz verschiedene Spezies beschrieben und erst vor kurzem als himmelweit verschiedene Zustände eines Individuums entdeckt hat. Nicht minder wesentlich als die Formverschiedenheiten der zu- sammengehörigen Entwickelungsstadien eines und desselben Indivi- duums sind die Gestaltdifferenzen, welche zwischen den verschie- denen polymorphen Individuen einer und derselben Spezies sich vorfinden. Auch diese sind unendHch oft in der systematischen Praxis nicht berücksichtigt worden und daraus zahllose Irrtümer entsprungen. Wie oft sind nicht allein die beiden zusammengehörigen Geschlechter einer einzigen Spezies als verschiedene Arten beschrieben worden! Freilich sind die Verschiedenheiten der beiden zusammen- gehörigen Geschlechtsbionten in vielen Fällen von weitgehendem sexuellen Dimorphismus auch der Art, daß dieselben fast in gar keinem „wesentlichen'' Merkmale mehr übereinstimmen. Man denke nur an die parasitenähnlichen Männchen vieler niederer Crustaceen und der Rotatorien. Schon aus diesen wenigen Erwägungen geht hervor, wie un- genügend die vielfach angewendete Definition ist, daß „die Spezies der Komplex aller Individuen sei, die in allen wesentlichen Merk- malen übereinstimmen''. Um ein naturgemäßes Bild von der Spezies zu erhalten, ist es durchaus notwendig, alle die erwähnten, oft so weit divergierenden Gestalten ihres Formenkreises in Betracht zu ziehen. Auch ist in der Tat diese Notwendigkeit von den besseren Systematikern in ihrer analytischen Praxis mehr oder weniger unbe- wußt anerkannt und gewürdigt worden, und man hat also außer den anatomischen auch die ontogenetischen Formen zugleich mit berück- sichtigt. Sehr oft ist dies aber auch nicht geschehen, und sehr oft konnte es nicht geschehen. Und wieviel Irrtum und Verwirrung ist daraus für die Systematik entsprungen! Wieviel verschiedene Jugendzustände, Larven, Ammen, dimorphe Geschlechtsindividuen und polymorphe differenzierte Gesellschaftsindividuen sind nicht als selbständige Arten beschrieben worden ! Lassen wir indessen diesen oft unvermeidlichen Fehler beiseite, und verfolgen wir weiter den Systematiker in seiner praktischen Arbeit, wie er die Spezies unterscheidet, bestimmt, benennt, ordnet und für das System zurechtmacht. Sehen wir dabei ab von den XXII. II. Der morphologische Begriff der Spezies. 375 möglichen Irrungen, die durch die verschiedenen Jugendfornien, die Ge- schleclitsdift'erenzeu, den oft so weit abweichenden Generationswechsel innerhalb einer und derselben Art vorkommen können, und nehmen wir an, daß geschlechtsreife Individuen beider Geschlechter oder doch wenigstens ausgewachsene und geschlechtsreife Männchen (die ge- wölmhch bei Feststellung des Speziescharakters bevorzugt werden) von vielen verschiedenen Arten zur Untersuchung vorliegen. Nach welchen Regeln, aus welchen Gesichtspunkten sucht der Systema- tiker die unterscheidenden Merkmale aufzufinden und festzustellen? Gibt es überhaupt für diesen Zweck feste leitende Grundsätze? Nicht im mindesten ! Das Geschäft wird vielmehr rein empirisch be- trieben ! Als die entscheidenden und die wichtigsten Speziescharaktere gelten allein die konstantesten, d.h. diejenigen, die am wenigsten bei den am meisten sich ähnlichen Individuen variieren, und die bei diesen allen vorkommen, während sie bei einer Anzahl anderer, ebenfalls ähnlicher Individuen, die aber eine besondere Art bilden sollen, konstant fehlen. Offenbar bewegt man sich hier aber (und es geschieht unendlich oft) in einem volUvommenen Zirkelschluß. Einmal fordert man, daß der Artbegriff alle diejenigen Individuen umfasse, die in allen „wesentlichen" Merkmalen übereinstimmen, und dann wieder hält man nur diejenigen Merkmale für „wesentlich", welche man in allen untersuchten Individuen, die eine sogenannte „gute Art" zusammensetzen sollen, konstant vorfindet. Mit anderen Worten lautet dieser sehr beliebte Zirkelschluß: ..Jede Art wird charakterisiert durch die Konstanz der Merkmale; konstante Merk- male aber sind solche, die sich bei allen Individuen einer Art vor- finden". Jeder aufrichtige Naturforscher muß zugeben, daß das „Wesentliche" des Speziescharakters nichts anderes ist als seine Konstanz, und daß man umgekehrt nur eben die konstanten Merkmale als wesentliche ansieht. Dieselben deutlich ausgeprägten Artmerk- male, wie z. B. relative Länge der Extremitäten, Färbung des Haars. Zahl der Zähne, welche in der einen Gattung allgemein zur Unter- scheidung ihrer Arten benutzt werden, weil sie hier sehr konstant sind und wenig variieren, können in einem anderen, nahe ver- wandten Genus nicht zur Diagnose der Spezies dienen, weil sie hier vielfach abändern und nicht konstant sind. Hier sucht man sich dann andere Merkmale heraus, die konstanter sind, die aber in der ersten Gattung nicht gelten konnten, weil sie dort variierten. Die Qualität der unterscheidenden Merkmale ist also niemals das für 376 Entwickelungsgescliichte der Arten oder Spezies. XXII. eine Art Charakteristische, sondern ihre Konstanz; nnd dieselben Unterschiede, auf welche man in der einen Forniengruppe Gattungen oder selbst Familien gründet, reichen in anderen nicht aus, um nur die Arten zu unterscheiden. Die unbedeutendsten, geringfügigsten Merkmale, ein paar bunte Flecke oder ein Haarbüschel oder eine nackte Hautstelle auf dem Fell eines Säugetiers gelten aber als voll- kommen genügende ..gute" Charaktere, wenn sie zufällig bei allen jetzt zur Untersuchung vorliegenden IndiAiduen übereinstimmend vor- kommen, und wenn sie allen Individuen von sonst nächstverwandten Arten, die vielleicht aus einer anderen Gegend stammen, fehlen. Auf dieses letztere Moment, den geographischen Verbreitungsbezirk, wird dabei oft unbewußt großes Gewicht gelegt. Zwei kaum ver- schiedene Formen gelten oft als zwei gute Arten, wenn sie aus zwei entfernten und nicht zusammenhängenden Gegenden stammen, wäh- rend jedermann dieselben nur als untergeordnete Varietäten einer und derselben Art betrachten würde, wenn sie in derselben Gegend ge- mischt vorkämen. Derartige sekundäre Erwägungen sind auch bei Unterscheidung der fossilen Tierformen oft fast allein maßgebend. Sehr oft werden liiei" zwei kaum zu unterscheidende Formen als zwei gute Arten angenommen, weil sie in zwei weit auseinanderliegenden Formationen gefunden wurden, während sie in den dazwischen Hegenden fehlten. Würden beide Arten in einer und derselben Formation vereinigt vorkommen, so würden sie nur für eine einzige Art gelten. In der Paläontologie ist man überhaupt mit Unterscheidung und Benennung der Arten noch weit gedankenloser und unvorsichtiger vorgegangen, als bei der Diagnostik der lebenden Formen, obwohl gerade bei der Unvollständigkeit der fossilen Reste scharfe Kritik doppelt nötig wäre. Vergleicht man wägend ihrem Werte nach die Differentialcharaktere, durch welche fossile Spezies, mit denjenigen, durch welche lebende Spezies unterschieden werden. so wird man sehr oft finden, daß höchst minutiöse Charaktere bei den ersteren schon als vollkommen ausreichend zur spezifischen Unterscheidung zweier Arten angesehen werden, welche bei den letzteren nicht für genügend gelten würden, um nur zwei verschie- dene Varietäten einer Art darauf zu basieren. Untersucht man nun aber näher die sogenannten „guten", d. h. wesentlichen oder konstanten Charaktere der Arten, indem man eine größere Anzahl von Individuen sorgfältig vergleicht, so findet man in der Regel bald, daß auch diese angebliche Konstanz niemals XXII. ^- Gute und sclilechte Spezies. 377 absolut ist, daß vielmehr auch sie einen gewissen, wenn auch nur geringen Spielraum von Abänderung zuläßt: unter einer großen Zahl kaum zu unterscheidender Individuen wird man dann meistens einige wenige treffen, die doch die wesentlichen Artmerkmale weniger deutlich und scharf ausgeprägt zeigen, als die große Mehrzahl der übrigen. Gerade diese aber, die weniger scharf bestimmten Grenz- formen, die häufig Mittelstufen und Übergangsbildungen zu nahe verwandten Arten herstellen, sind bisher überwiegend vernachlässigt worden. In dem vorherrschenden Bestreben, die Arten durch mög- lichst scharfe Charaktere voneinander zu trennen und die einzelnen Speziesdiagnosen klar voneinander abzusetzen, hat man das ganze Gewicht auf die, oft sehr geringfügigen. Unterschiede gelegt und dagegen das Gemeinsame der Erscheinungen in den Hintergrund gedrängt und nicht berücksichtigt. So ist es denn gekommen, daß in unseren Systemen sich überall die einzelnen Arten weit schärfer und klarer voneinander abheben, als es in der Natur der Fall ist. Fast bei allen Gruppen von Organismen haben sich deshalb die besseren und gewissenhafteren Systematiker genötigt gesehen, von denjenigen Arten, die genauer bekannt und in sehr zahlreichen Exemplaren untersucht sind, und namentlich von denjenigen, welche einen sehr großen Verbreitungsbezirk besitzen, die abweichenden In- dividuen, welche die spezifischen Charaktere mehr oder weniger modifiziert zeigen, oder sich als mehr oder minder entschiedene Übergangsbildungen zu verwandten Arten hinneigen, als besondere Unterarten (Subspecies) oder Spielarten (Varietates) zu be- schreiben. Das genauere Studium derselben ist aber bisher über- wiegend vernachlässigt worden, weil sie dem Schematismus des Systems Abbruch tun. Und doch sind sie gerade von der höchsten Bedeutung für das Verständnis der natürlichen Verwandtschaft. In vollständiger Verkennung der letzteren hat man immer nur den Hauptnachdruck auf die sogenannten ..t^^Dischen" Individuen der Art gelegt, die weniger ausgesprochen charakterisierten Varietäten da- gegen beiseite geschoben. y. Gute und schlechte Spezies. „Gute und schlechte Arten" bilden eine der gebräuchlichsten Unterscheidungen in der systematischen Praxis. Gleichwohl haben die meisten Systematiker gar keine klaren oder nur falsche Vor- 378 Entwickelungsgeschichte dcM- Arten oder Spezies. XXII. stellungeil über den eigentlichen Wert dieser Unterscheidung, wes- halb wir hier ein paar Worte beifügen wollen. „Gute Arten"' werden gewöhnlich entweder solche Spezies ge- nannt, deren meiste Charaktere innerhalb des kurzen Zeitraums, seit- dem sie beobachtet sind, sich sehr wenig verändert haben, auch jetzt noch sehr wenig variieren und sich deshalb scharf umschreiben lassen; oder solche Arten, deren verbindende und den Übergang zu anderen Arten vermittelnde Zwischenformen uns unbekannt sind, und deren unterscheidende Charaktere daher scharf hervortreten. Je besser wir eine Spezies kennen, je größer die Anzahl der dazu gehörigen Individuen ist. die wir haben untersuchen können, und je weiter ihr geographischer Verbreitungsbezirk ist. insbesondere aber je verschiedenartiger ihre Existenzbedingungen an den verschiedenen Wohnorten sind, desto umfangreicher und desto mehr divergierend ist gewöhnlich der Varietätenbüschel dieser Art, desto zahlreicher sind die unmittelbaren Übergänge zu verwandten Arten und in desto mehr verschiedene Formengruppen läßt sich diese eine Spezies spalten, Formengruppen, die von den einen Systematikern für Arten, von den andern bloß für Varietäten gehalten werden. Daher sind denn in der Regel die am wenigsten bekannten Spezies die ^.besten", und sie werden um so schlechter, je besser wir sie kennen lernen, je weiter wir die Divergenz ihres Varietätenbüschels verfolgen und je deut- licher wir ihren genealogischen Zusammenhang mit verwandten Formen nachweisen können. Wenn jemand behaupten wollte, daß die große Mehrzahl aller bekannten Arten ..gute" seien, so würde sich diese Behauptung, ihre Wahrheit vorausgesetzt, ganz einfach aus unserer außerordentlichen Unkenntnis von der übergroßen Melir- zahl aller Organismenarten erklären. Von unendlich vielen Arten sind nur einzelne wenige oder gar nur ein einziges Exemplar be- kannt. Dazu kennt man die meisten nur von wenigen ihrer Wohn- orte her und bei weitem nicht aus allen Teilen des Gebiets, über welches sie verbreitet sind. Von sehr vielen Spezies kennen wir nur einzelne Alters- und Entwickelungszustände oder nur das eine der beiden Geschlechter. Und wie oberflächlich und ungenau sind die allermeisten Untersuchungen, auf welche neue Spezies begründet werden! Man begnügt sich mit der Erfassung dieses oder jenes mehr oder weniger in die Augen fallenden oberflächlichen Unter- schieds, gewöhnlich in der Form, Färbung oder dem Größenverhält- nis eines einzelnen Teiles hervortretend, ohne die geringe Bedeutung XXII. V. Gute und schlechte Spezies. 379 dieses spezifischen Charakters, seine Variabilität etc. gehörig zu würdigen. Hierbei kommen wir wieder auf den Grundfehler zurück, der unsere ganze Systematik beherrscht, daß man stets nur bemüht ist, das Unterscheidende jeder organischen Form möglichst scharf hervorzuheben, während man das Gemeinsame, das sie mit den nächstverwandten Formen verbindet, gänzlich vernachlässigt. Zu welchen Irrtümern diese streng analytische Richtung und der Aus- schluß der synthetischen Vergleichung führt, haben wir schon oben gezeigt, als wir die notwendige Wechselwirkung von x\nalyse und Synthese erörterten. ..Schlechte Arten" im Sinne der Speziesfabrikanten würden alle Spezies ohne Ausnahme sein, wenn wir sie vollständig kennen würden, d. h. wenn wir nicht allein ihren gesamten gegenwärtigen Formenkreis, wie er über die ganze Erde verbreitet ist, kennen würden, sondern auch alle ihre ausgestorbenen Stamm- verwandten, die zu irgend einer Zeit gelebt haben. Es würden dann überall die verbindenden Zwischenformen und die gemeinsamen Stammformen der einzelnen Arten hervortreten, deren Kenntnis uns jetzt fehlt. Es würde ganz unmöglich sein, die einzelnen Forraen- gruppen als Spezies scharf voneinander abzugrenzen, so unmöglich als es an jedem Baume ist, zu sagen, wo der eine Zweig aufhört und der andere anfängt. Die meisten derjenigen Arten, die wir genauer kennen, werden allerdings im Systeme als „gute" Arten fortgeführt. Dies ist aber nur dadurch möglich, daß man einesteils nicht ihre historische Entwickelung und ihren genealogischen Zu- sammenhang mit den verwandten Formen berücksichtigt, andern- teils aber die zahlreichen am stärksten divergierenden und am meisten abweichenden Formen ihres Varietätenbüschels, die schon von andern als „gute Arten" angesehen werden, als ..schlechte" betrachtet und als Varietäten um die „typische'" Hauptform sammelt. Aber auch deshalb erscheinen uns viele unter den genauer bekannten Spezies als „gute", d. h. scharf zu umschreibende Arten, weil sie bereits im Erlöschen sind und ihrem Untergange entgegengehen, weil ihr Varietätenbüschel sich nicht mehr ausdehnt, und weil sie schon auf einen engen Raum und einförmige Existenzbedingungen zurückgedrängt sind, so daß sie sich nicht mehr an neue Bedingungen anpassen können. Dreiundzwanzigstes Kapitel. Entwickeln ngsgescliichte der Stämme oder Phylen. (Naturgescliichte der organischen Stämme oder der genealogischen Individuen dritter Ordnung.) .Die Sehwieriifkeit, Idee und Erfahrung- miteinander zu verbinden, erscheint sehr hinderlich bei aller Naturforschuns,' : die Idee ist unabhängig von Raum und Zeit, die Natur- forschung ist in Raum und Zeit beschränkt; daher ist in der Idee Simultanes und Sukzessives innigst verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt.'^ G oe tlie. T. Funktionen der ph.vletisclien Entwickehing*. Die Phylogenese oder paläontologisclie Entwickelung, die Diver- genz der blutsverAvandten Formen, welche zur Entstehung der Arten, Gattungen. Familien und aller anderen Kategorien des organischen Systems führt, ist ein physiologischer Prozeß, welcher, gleich allen übrigen physiologischen Funktionen der Organismen, mit ab- soluter Notwendigkeit durch mechanische Ursachen bewirkt wird. Diese Ursachen sind Bewegungen der Atome und Moleküle, welche die organische Materie zusammensetzen, und die unendliche Mannig- faltigkeit, welche sich in den phyletischen Entwickelungsprozessen offenbart, entspricht einer gleich unendlichen Mannigfaltigkeit in der Zusammensetzung der organischen Materie, und zunächst der Ei- weißverbin (hingen, welche das aktive Plasma der konstituierenden Piastiden aller Organismen bilden. Die phyletische oder paläonto- logische Entwickelung der Stämme und ihrer sämtlichen subordi- nierten Kategorien ist also weder das vorbedachte zweckmäßige Resultat eines denkenden Schöpfers, noch das Produkt irgendeiner unbekannten mystischen Naturkraft, sondern die einfache und not- wendige Wirkung derjenigen bekannten physikalisch-chemischen Pro- zesse, welche uns die Physiologie als mechanische Entwickelungs- funktionen der organischen Materie nachweist. XXIII. II. Stadien der phyletischen Entwickelung:. 381 Die physiologischen Funktionen, auf welche sich sämtHche phyletische oder paläontologische Entwickelungs-Erscheinungen als auf ihre bewirkenden Ursachen zurückführen lassen, sind die beiden fundamentalen Entwickelungsfunktionen der Vererbung (Hereditas) und der Anpassung {Adaptafio), von denen die erstere eine Teil- erscheinung der Fortpflanzung, die letztere der Ernährung ist. Die beiden ursprünglichen Konservationsfunktionen der Propagation (Erhaltung der Art) und der Nutrition (Erhaltung des Individuums) genügen also vollständig, um durch ihre beständige Wechselwirkung unter dem Einflüsse der in der Außenwelt gegebenen Existenz- bedingungen die Divergenz der Arten und somit die Entwickelung der Stämme zu bewirken. Diese Grundanschauung halten wir zum richtigen Verständnis der Phylogenese für unentbehrlich. Wie wir vermittelst der Deszendenztheorie zu derselben gelangt sind, ist im neunzehnten Kapitel von uns erörtert worden. Die daselbst von uns erläuterte Entstehung der Arten durch natürliche Züchtung, durch die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung im Kampf um das Dasein, ist in der Tat weiter nichts als die Grundlage der phyletischen Entwickelung selbst. Das ganze neunzehnte Kapitel würde eigentlich hier seine Stelle finden. Wir haben es aber ab- sichtlich dem fünften Buch überwiesen, weil die Ontogenese oder individuelle Entwickelungsgeschichte ohne die Phylogenese oder paläontologische Entwickelungsgeschichte gar nicht zu verstehen ist, und weil die Erläuterung der phyletischen Entwickelungsfunktionen, welche die Selektionstheorie und die durch sie begründete Deszendenz- theorie gibt, für das Verständnis der biontischen Entwickelungs- funktionen unerläßlich ist. II. Stadien der phyletischen Entwickelung-. Die Stämme sowohl wie alle untergeordneten Kategorien der- selben, von der Klasse und Ordnung bis zur Gattung und Art herab, zeigen ihren Parallelismus mit der individuellen Entwickelung. wie schon oben gezeigt wurde, auch darin, daß im Laufe ihrer histori- schen Entwickelung mehrere verschiedene Stadien sich unterscheiden lassen, welche den Stadien der individuellen Entwickelung ent- sprechen. Den drei Perioden der ontogenetischen Anaplase. Meta- plase und Cataplase entsprechend haben wir die drei Abschnitte der phylogenetischen Epacme, Acme und Paracme unterschieden, welche 382 Entwickelungsgeschichte der Stämme oder Phylen. XXIII. ebensowohl bei den i^anzen Stämmen wie bei den ihnen unter- geordneten Gruppen sich finden. Wie sich die Arten oder Spezies hierin verhalten, ist bereits oben erörtert. Wir wenden uns da- her hier nur zu den Entwickelungsstadien der höheren Stamm- gruppen, von dem Genus und der Familie an aufwärts, wobei wir ausdrücklich bemerken, daß auch in dieser Beziehung ein scharfer und absoluter Unterschied zwischen den verschiedenen Kategorien des natürlichen Systems ebensowenig existiert, als ein solcher sich in anderer Hinsicht konstatieren läßt. Alle Genera und Familien, Ordnungen und Klassen, sowie auch alle diesen subordinierte Gruppen des Systems, die Subgenera, Subfamilien. Sektionen, Tribus etc. ver- halten sich auch hinsichtlich der Entwickelungsstadien ebenso wie die ganzen Stämme, w^elche sie zusammensetzen, und wie die Arten, aus denen sie selbst zusammengesetzt sind. T. Die Aufblühzeit oder Epacmc der Phylen und ihrer sub- ordinierten Kategorien umfaßt das erste Stadium ihrer phyletischen Entwickelung. welches dem Jugendalter oder der Anaplase der Bionten entspricht und von ihrer Entstehung bis zum Beginne der Blütezeit reicht. Die erste Entstehung der Stämme beginnt mit der Archigonie von strukturlosen Moneren (C/i?wnaceen, Chroococcaceen), aus denen sich zunächst nur monoplastide, später erst polyplastide Spezies differenzierten. Die Entstehung der subordinierten Kategorien der Stämme dagegen erfolgte durch die Divergenz des Charakters der Spezies, welche aus der Differenzierung der auto- genen Moneren hervorgehen, durch das Erlöschen der verbindenden Zwischenformen zwischen den divergierenden Spezies. Derjenige Prozeß, welcher nun bei der weiteren Entwickelung der entstandenen Stämme und ihrer subordinierten Gruppen das Stadium der Epacme vorzugsweise charakterisiert, ist das Wachstum. Die phyletische Kreszenz äußert sich ebenso wie die spezifische zunächst in der progressiven Zunahme der Individuenzahl und in der Ausdehnung des von ihnen eroberten Verbreitungsbezirks. Ebenso wie die Arten, so erringen sich auch die aus ihrer Divergenz entstehenden Gattungen, Famihen, Klassen etc. und ebenso der ganze Stamm, w^elchem alle diese Gruppen angehören, während ihres epakmastischen Wachs- tums eine Anzahl von Stellen im Naturhaushalte, und verteidigen die so gewonnenen Positionen im Kampf um das Dasein gegenüber den in Mitbewerbung befindhchen Gruppen. Solange jede Gruppe sich immer weiter ausbreitet, solange die Zahl der ihr untergeordneten XXIII. n. Stadien tlcM- pliyletischeu Entwickelung. 383 Gruppen und damit zugleich der Individuen, in denen sie verkörpert sind, zunimmt, solange ist die Gruppe im Wachstum begriffen, und erst wenn eine weitere quantitative Zunahme und Ausdehnung ihres Verbreitungsbezirkes im großen und ganzen nicht mehr stattfindet, beginnt die zweite Periode der Entwickelung, die Akme. IL Die Blütezeit oder Aouc der Pliylen und der verschie- denen untergeordneten Systemsgruppen, welche das zweite Stadium der phyletischen Entwickelung bildet und als solches dem Reifealter oder der Metaplase der Bionten korrespondiert, ist gleich dem letz- teren vorzüglich durch qualitative Vervollkommnung ausgezeichnet, gegen welche das quantitative Wachstum nunmehr zurücktritt. Das Genus, die FamiHe, Ordnung und Klasse etc.. ebenso der ganze Stamm, welcher sich in der Blütezeit, auf der Höhe seiner Ent- wickelung befindet, nimmt nicht mehr oder doch nicht wesentlich am Umfang, wohl aber an Vollkommenheit zu. Die phyletische Position, der geographische und topographische Verbreitungsbezirk, welchen die Gruppe im Kampf um das Dasein errungen hat. wird behauptet und befestigt und gegen die Angriffe der mitbewerbenden Gruppen mit Erfolg verteidigt. Dieser Kampf an sich schon ver- vollkommnet die Gruppe und zwingt sie. sich möglichst gut den verschiedenen Existenzbedingungen innerhalb des errungenen Gebiets anzupassen. Daher finden in großer x\usdehnung Prozesse der akmastischen Differenzierung statt, indem jede Gruppe in einen reichen und vielverzweigten Büschel von subordinierten Grup- pen zerfällt. Jedes Genus bildet eine Menge Subgenera, jede Fa- milie eine Anzahl Subfamilien. jede Ordnung eine Gruppe von Unterordnungen etc. Die reichliche Produktion solcher subordinierter Gruppen, welche wesentlich durch Divergenz des Charakters und Ausfall der verbindenden Zwischenformen erfolgt, charakterisiert die Acme jeder Gruppe ebenso wie die Erzeugung neuer Individuen die Metaplase der Bionten. Erst wenn die erzeugten Gruppen so weit divergieren, daß sie die Ranghöhe der parentalen Gruppe erreichen und selbst überschreiten, so daß die letztere hinter ihnen zurück- tritt, erst dann ist die Acme der letzteren vorbei, und die Paracme hat begonnen. ni. Die Verblüh zeit oder Paracme der Phylen und ihrer sub- ordinierten Kategorien begreift das dritte und letzte Stadium ihrer Entwickelung und entspricht als solches dem Greisenalter oder der Kataplase der physiologischen Individuen. Sie umfaßt die ganze 334 Entwickelungsgeschichte der Stämme oder Pliylen. XXIIl. Zeit vom Ende der Acme bis zum Erlöschen der Gruppe und ver- läuft meist, wie die entsprechende Dekreszenz der Art, langsam und allmählich. Wie bei den Spezies sind es auch bei den tibergeord- ueten Gruppen des Systems, bei den Gattungen, Familien, Klassen etc. vorzugsweise die nächstverwandten und die koordinierten Gruppen einer jeden Kategorie, welche sich auf Kosten der letzteren ent- wickeln und ihren Untergang herbeiführen. Namentlich sind auch hier wieder am gefährlichsten für ihr Bestehen die eigenen Nach- kommen, d. h. die aus der Differenzierung der reifen Gruppe her- vorgegangenen neuen Gruppen, welche wieder subordiniert sind, späterhin aber durch fortschreitende Vervollkommnung und Ausfall der verbindenden Zwischenformen sich zur gleichen Stufenordnung erheben und nunmehr über die parentale Stammgruppe das Über- gewicht gewinnen. In weiterem Sinne kann auch dieses Zurück- bleiben der letzteren hinter den ersteren als p a r a k ra a s t i s c h e D e - generation bezeichnet werden, insofern die parentale Gruppe nicht mehr den Anforderungen entspricht, welche die gesteigerten Existenz- bedingungen an sie stellen, während sie früher denselben gewachsen war. Doch ist diese Degeneration wohl mehr ein Mangel an der notwendigen Fortbildung, als eine positive Rückbildung, und es er- folgt der Untergang der Gruppen in der Mehrzahl der Fälle weniger durch vollständiges Aussterben, durch Erlöschen aller Zweige der- selben, als vielmehr durch einseitige Fortbildung und bevorzugte Ausbildung einzelner Zweige, welche sich auf Kosten ihrer koordi- nierten und übergeordneten älteren Zweige entwickeln. Je höher der Rang einer systematischen Gruppe ist, desto weniger leicht tritt ihr vollständiges Erlöschen ein, weil desto größer die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit ist, daß auch beim Erlöschen des größten Teils der Gruppe doch noch der eine oder andere Zweig derselben erhalten bleibt und den ursprünglichen Stamm in dieser Richtung fortsetzt. Daher ist die Zahl der ausgestorbenen Gattungen nicht bloß absolut, sondern auch relativ viel größer als die Zahl der aus- gestorbenen Familien, diese letztere ebenso viel größer als die Zahl der ausgestorbenen Ordnungen, und diese wiederum viel größer als die Zahl der ausgestorbenen Klassen. Von letzteren kennen wir nur sehr wenige, und von ausgestorbenen ganzen Stämmen mit Sicherheit sogar kein Beispiel, obwohl offenbar einzelne Stämme bereits auf dem Wege der Rückbildung, in der Verblühzeit sind. XXIIl. III- Resultate der jihyletischen Entwickeliuig. 385 III. Resultate der phyletisclien Eiitwickeluui»-. Die physiologischen Funktionen der phyletischen Entwickekmg, deren Wechselwirkung wir im neunzehnten Kapitel ausführlich dar- gelegt haben, Vererbung und Anpassung, führen unmittelbar und mit absoluter Notw^endigkeit die höchst bedeutenden und großartigen Veränderungen der Organismenwelt herbei, welche wir ebendaselbst als das Divergenzgesetz und als das Fortschrittsgesetz erläutert haben. Das allgemeinste Endresultat dieses ungeheuren und unauf- hörhch tätigen Entwickelungsprozesses ist in jedem einzelnen Ab- schnitt der Erdgeschichte einerseits die endlose Mannigfaltigkeit, welche sich in der Form und Struktur der verschiedeneu Protisten, Pflanzen und Tiere offenbart, andererseits die allgemeine Familien- ähnlichkeit oder die ..Formenverwandtschaft", welche trotzdem die blutsverwandten Organismen eines jeden Stammes zu einem Systeme von subordinierten Formengruppen verbindet. Diese natürliche Grup- pierung der „verwandten" Organismen in zahlreiche über- und neben- einander geordnete Gruppen oder Kategorien, die Tatsache, daß nur eine sehr geringe Anzahl von obersten, grundverschiedenen Haupt- gruppen existiert, unter welchen alle übrigen als „verwandte'' Formen sich einordnen lassen, diese Tatsache ist lediglich das einfache und notwendige Resultat des phyletischen Entwickelungsprozesses, und die Selektionstheorie zedgt uns im allgemeinen, warum dieses Resul- tat gerade so erfolgen mußte, wie es wirklich erfolgt ist. Wir stehen hier vor einem der größten und bewunderungs- würdigsten Phänomene der organischen Natur, vor der Tatsache des natürlichen Systems oder der baumförmig verzweigten Anordnung der verwandten Organismengruppen, einer Tatsache, von der Darwin sehr richtig bemerkt, daß wir das Wunderbare derselben nur infolge unserer vollständigen Gewöhnung daran zu übersehen pflegen. Von frühester Jugend au von einer Fülle ähnlicher und doch verschiedener Gestalten umgeben, gewöhnen wir uns schon, indem wir sprechen lernen, daran, die verwandtesten Formen unter einer engen Kollektiv- bezeichnung zusammenzufassen und die divergenteren Formen wieder unter einem weiteren Kollektivnamen zu vereinigen. So unterscheiden wir zuerst Tiere und Pflanzen, dann unter den Tieren Vögel und Fische, unter den A^ögeln Raubvögel und Schwimmvögel etc. Kurz die Gruppenbildung, die Spezifikation des natürUchen Systems ver- wächst so frühzeitig mit allen unseren Vorstellungen, daß wir 9.-, Haeckel, Prinz, d. Morphol. -'-' 3gß Entvvickelungsgeschichte der Stämme oder Pliylen. XXIII. dieselbe nur zu leicht als etwas Selbstverständliches betrachten und das große Rätsel übersehen, welches uns die Verwandtschaft der Formen beständig vorlegt. Am auffallendsten zeigt sich dies bei jenen gedankenlosen Systematikern, welche ihr ganzes Leben mit der Umschreibung und Bezeichnung der Systemgruppen, mit der Registratur und der Nomenklatur der Organismen verbringen, und dennoch niemals oder nur selten sich die naheliegende Frage nach der Ursache dieser merkwürdigen Gruppenbildung vorlegen. Die Lösung dieses „heihgen Rätsels", dieses „geheimen Ge- setzes" von der „Verwandtschaft" der organischen Gestalten ist einzig und allein in der Deszendenztheorie zu finden. Nachdem Goethe schon 1790 auf diese Lösung hingewiesen, nachdem Lamarck die- selbe 1809 wesenthch weiter geführt hatte, wurde sie endlich 1859 durch Darwin vollendet, welcher in dem 13. Kapitel seiner Selek- tionstheorie das natürliche System für den Stammbaum der Orga- nismen und „gemeinsame Abstammung für das Band erklärte, wonach alle Naturforscher unbewußt er weise in ihren Klassifika- tionen gesucht haben, nicht aber ein unbekannter Schöpfungsplan, oder eine bequeme Form für allgemeine Beschreibung, oder eine angemessene Methode, die Naturgegenstände nach den Graden ihrer Ähnlichkeit oder Unähnhchkeit zu sortieren." Sobald wir den Grund- gedanken der Deszendenztheorie richtig erfaßt und uns mit den notwendigen Konsequenzen desselben vertraut gemacht haben, so muß uns die wunderbare Tatsache der Gruppenbildung im natür- lichen System als das notwendige Resultat des natürlichen Züch- tungsprozesses, d. h. der mechanischen Entwickelung der organischen Stämme erscheinen. IT. Die dreifache s^enealogisclie Parallele. Schon zu wiederholten Malen haben wir auf den dreifachen Par- allehsmus der phyletischen (paläontologischen), der biontischen (individuellen) und der systematischen (spezifischen) Entwickelung hingewiesen als auf eine der größten, merkwürdigsten und wichtigsten allgemeinen Erscheinungsreihen der organischen Natur. Bisher ist dieselbe nicht entfernt in dem Maße, in welchem sie es verdient, hervorgehoben und an die Spitze der organischen Morphologie ge- stellt worden. Sehr vielen sogenannten Zoologen und Botanikern ist dieselbe gänzlich unbekannt; die meisten anderen, denen sie be- XXlIl. I^- Die di-eifache genealogische Parallele. 387 kannt ist, bewundern sie als ein schnurriges Kuriosuni oder als einen Ausfluß der unverständlichen Weisheit eines unverständlichen Schöpfers. Sehr wenige Naturforscher nur haben bisher das ganze kolossale Gewicht dieses großartigen Phänomens begriffen und nach einem wirklichen Verständnis desselben gesucht. Dieses Verständnis ist aber nur durch die Deszendenztheorie zu gewinnen, welche uns die dreifache genealogische Parallele ebenso einfach als vollständig erklärt, wie andererseits die Parallele selbst eine der stärksten Stützen der Deszendenztheorie ist. Seltsamerweise hat derjenige Naturforscher, welcher bisher den Parallelismus der phyletischen, biontischen und systematischen Ent- wickelung am meisten hervorgehoben und am längsten besprochen hat. Louis Agassiz, gerade den entgegengesetzten Weg zu seiner Erldärung betreten, und es vorgezogen, dadurch den indirekten Beweis für die Wahrheit der Deszendenztheorie zu führen. Denn nur als solchen können wir die seltsamen teleologisch-theosophischen Speku- lationen bezeichnen, welche der geistvolle Agassiz in seinem be- rühmten dualistischen „Essay on Classification" (1858) zur Erklärung der dreifachen genealogischen Parallele herbeizieht, und durch deren Ausführung er zeigt, daß dieselben in der Tat nichts erklären! Was nun die mechanisch-monistische Erklärung der dreifachen genealogischen Parallele selbst betrifft, so haben wir bereits im V. Buche und namentlich im 18. und 19. Kapitel darüber so viel ge- sagt, daß wir hier nur die wichtigsten Punkte nochmals hervor- heben wollen. Auszugehen ist dabei immer zunächst von der palä- ontologischen Entwickelung, an welche die individuelle Eutwickelnng sich als kurze und schnelle Rekapitulation, die systematische Ent- wickelung dagegen als das anatomische Resultat unmittelbar an- schließt. I. Der Parallelismus zwischen der phyletischen (pa- läontologischen) und der biontischen (individuellen) Ent- wickelung erklärt sich einfach mechanisch aus den Vererbungs- gesetzen und insbesondere aus den Gesetzen der gleichzeitlichen, der gleichörtlichen und der abgekürzten Vererbung. Alle Erscheinungen, welche die individuelle Entwickelung begleiten, erklären sich ledig- lich, soweit sie nicht unmittelbares Resultat der Anpassung an neue Existenzbedingungen sind, aus der paläontologischen Entwickelung der Vorfahren des Individuums. Die gesamte Ontogenie ist eine kurze und schnelle Rekapitulation der langen und langsamen Phylogenie. 388 Entwickelungsgeschichte der Stämme oder Phylen. XXIII. 11. Der Parallelismus zwischen der pliyletischeu (pa- läontologischen) und der systematischen (spezifischen) Ent- wickelung erklärt sich einfach aus der Deszendenztheorie und speziell aus den Gesetzen der Divergenz und des Fortschritts, ins- besondere aber aus dem Umstände, daß die divergente Entwickelung- der verschiedenen Zweige und Äste eines und desselben Stammes so äußerst ungleichmäßig in bezug auf Grad und Schnelligkeit der Ver- änderung verläuft. Einige Äste haben sich seit der silurischen Zeit fast unverändert erhalten, wie z. B. die Krinoiden unter den Echino- dermen, die Phyllopoden unter den Crustaceen; andere haben sich zwar bedeutend, aber doch nur langsam verändert, wie z. B. die Ophiuriden unter den Echinodermen, die Makruren unter den Cru- staceen; noch andere haben sich endlich sehr bedeutend und sehr rasch verändert, wie z. B. die Echiniden unter den Echinodermen, die Brachyuren unter den Crustaceen. Ebenso haben sich unter den Kormophyten die Farne seit der Steinkohlenzeit nur sehr wenig, die Koniferen mäßig stark, die erst in der Tertiärzeit entstandenen Gamopetalen sehr bedeutend verändert; die ersten haben sich sehr langsam, die zweiten mäßig rascli, die dritten sehr schnell ent- wickelt; die ersten sind ihren ursprünglichen Stammeltern sehr ähn- lich und daher auf einer verhältnismäßig tiefen Stufe stehen geblieben (langsam reife oder sehr zähe Typen); die zweiten haben sich mäßig entwickelt, indem sie zwischen konservativer und progressiver Rich- tung hin- und herschwankten (mittelreife oder halbzähe Typen); die dritten endlich, schnell und kräftig neuen, günstigen Existenzbedin- gungen sich anpassend, haben in kurzer Zeit einen hohen Grad der Vollkommenheit erreicht (schnellreife oder nichtzähe Typen). Unter den Wirbeltieren gehören z. B. die Rochen und die Monitoren zu den langsamreifen, die Ganoiden und die Krokodile zu den mittelreifen^ die Akanthopteren und Dinosaurier zu den schnellreifen Typen. In vielen Fällen sind die langsamreifen zugleich polytrope oder ideale, die schnellreifen zugleich monotrope oder praktische Typen; in vielen Fällen findet aber auch gerade das Gegenteil statt, so daß jene Kategorien sich keineswegs decken. Jeder Blick auf die paläonto- logische Übersichtstabelle irgend einer Organismengruppe lehrt uns die äußerst ungleichmäßige, an SchneUigkeit, Qualität und Quantität der Veränderung äußerst divergente Entwickelung ihrer verschiedenen Formenbüschel, und so erklärt sich vollständig die aufsteigende und baumförmig verästelte Gestalt, welche das natürliche System aller XXIII. I^ • Dip dreifache genealogische Parallele. 389 gleichzeitig lebenden Glieder der Gruppe als das anatomische Resul- tat ihrer phyletischen Entwickelung darbietet, und welche der auf- steigenden und baumähnlich verästelten Form entspricht, die ihre gemeinsamen Vorfahren durch ihre paläontologische Entwickelungs- reihe bilden. TTT. Der Parallelismus zwischen der biontischen (indi- viduellen) und der systematischen (spezifischen) Entwicke- lung erklärt sich einfach schon aus der Verbindung der beiden vorigen Parallelen. Wenn zwei Linien (systematische und biontische Entwickelungsreihe) einer dritten (der phyletischen Entwickelungs- reihe) parallel sind, so sind sie auch untereinander parallel (so ist auch die systematische der biontischen Entwickelungsreihe parallel). Die Parallele der phyletischen und systematischen Entwickelungs- reihe zeigt uns z. B. in der aufsteigenden Stufenleiter der Wirbeltier- klassen oder in derjenigen der Kormophytengruppen (Pteridophyten, Gymnospermen, Monokotyledonen, Monochlamydeen, Polypetalen, Gamopetalen). daß die verschiedenen Stufen der paläontologischen Entwickelung nicht allein in der Zeit aufeinanderfolgen, sondern auch im Systeme der gegenwärtig lebenden Organismen eine jener sukzessiven Scala parallele, coexistente, aufsteigende Stufenleiter bilden: denn von jeder Stufe haben sich zähe Repräsentanten er- halten und bis zur Gegenwart nur wenig verändert, während ihre Geschwister sich der Veränderung zuneigten und zu schnellreifen Seitenzweigen entwickelten. Andererseits zeigt uns die Parallele der phyletischen und biontischen Entwickelung, daß die letztere nur eine kurze und schnelle Rekapitulation der ersteren ist. Es muß daher mit Notwendigkeit auch die biontische Entwickelung im ganzen der systematischen parallel verlaufen. Vierundzwanzigstes Kapitel. Das natüiiiclie System als Stammbaum. (Prinzipien der Klassifikation.) „Der Triumph der physiologischen Metamorphose zeigt sich da, wo das Ganze sieh in Familien, Familien sich in Ge- schlechter, Geschlechter in Sippen, und die.se wieder in andere Mannigfaltigkeiten bis zur Individualität scheiden, sondern und umbilden. Ganz ins Unendliclie geht dieses Geschäft der Xatur ; sie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles, was sie liervorbrachte, bewahren und erhalten. Haben wir doch von organischen Geschöpfen, die sich in lebendiger Fortpflanzung nicht verewigen konnten, die entschiedensten Reste. Dagegen entwickeln sich aus dem Samen immer ab- weichende, die Verhältnisse ihrer Teile zueinander vei-- ändert l)estimmende Pflanzen." Goethe (1819). I. BegTiffsbestimmimg- der Kategorien des Systems. Die Älinlichkeitsbezieliimgen, welche zwischen den verschiedenen Formen der Organismen existieren, und wek^he man gewöhnlich mit dem Ausdruck der Verwandtschaft bezeichnet, sind sowohl hin- sichtlich ihrer Qualität als Quantität außerordentlich verschieden. Auf die Erkenntnis dieser Verschiedenheit gründet sich größten- teils die kunstvolle Gliederung der meisten organischen Systeme, ihr Aufbau aus zahlreichen, teils über, teils nebeneinander geordneten Gruppen oder Kategorien, die Unterscheidung der Klassen, Ord- nungen, Familien, Gattungen, Arten, Varietäten etc. Alle diese ver- schiedenen Kategorien des Systems unterscheiden sich vorzugsweise durch den Grad der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit in der äußeren Form und in der inneren Struktur, welcher die verwandten Formen teils näher zusammenstellt, teils weiter trennt. Je mehr sich die Systematik entwickelte, desto sorgfältiger fing man an, diese ver- schiedenen Ähnlichkeitsgrade gegeneinander vergleichend abzuwägen, und desto mehr differenzierte und erweiterte sich die Stufenleiter der darauf gegründeten Kategorien. XXIV. I- Begriffsbestimmung der Kategorien des Systems. 391 Eine klare und bestimmte Unterscheidung der verschiedenen Kategorien des Systems begann jedocli erst am Anfange des acht- zehnten Jahrhunderts, als der um die formelle Ausbildung der systematischen Naturgeschichte hochverdiente Linne mittelst der binären Nomenklatur eine logisch geordnete Benennung und strengere systematische Anordnung der bis dahin regellos benannten und zu- sammengeworfenen Organismen einführte. Linne unterschied fünf übereinander geordnete Stufenreihen oder Kategorien des Systems, deren gegenseitige Beziehungen er in dem folgenden Schema aus- drückte : Classis Ordo Genus S p e c i es V a r i e t a s enus summum) (Geuiis iuterrae- dium) (G enus proxi- mum) (Species) (Individuum) Pro\dnciae Territoria Paroecia Pagi Domicilium Legiones Cohortes Manipuli C'ontubernia Miles. Die Nachfolger Linnes waren meistens vor allem bestrebt, die zu beschreibenden Arten in diese Kategorien einzuordnen. Die Tier- klassen aber, als die allgemeinsten und umfassendsten dieser Kate- gorien, wurden von ihnen in eine einzige Reihe von der niedersten bis zur höchsten geordnet, gleich wie auch innerhalb der Klasse die Ordnungen, innerhalb jeder Ordnung die dieselbe konstituierenden Familien, innerhalb der Familie die verschiedenen Genera derselben, und endlich innerhalb jedes Genus seine Spezies in einer einzigen Reihe hintereinander geordnet wurden. Man hielt dafür, daß eine einzige, in eine kontinuierliche Reihe geordnete Stufenleiter vom un- vollkommensten bis zum vollkommensten Organismus hierauf führe („la chaine des etres'"). Diese Anschauung wurde erst überwunden und ein wesentlicher Schritt weiter in der Systematik getan, als im Anfange des neun- zehnten Jahrhunderts gleichzeitig zwei große Naturforscher die Theorie von den vier grundverschiedenen Typen oder großen Hauptabteilungen des Tierreichs aufstellten, die ganz voneinander unabhängig seien. George Cuvier gelangte zu dieser höchst wichtigen Anschauung auf vergleichend anatomischem, Carl Ernst von Bär dagegen auf vergleichend embryologischem Wege. Cuvier fand den Grund der fundamentalen Verschiedenheit der vier tierischen Typen oder Haupt- formen (Embranchements) in vier grundverschiedenen Bauplänen, welche deren anatomischer Struktur zugrunde liegen. Bär fand den wesentlichsten Unterschied derselben in ihrer von Anfang an gänz- lich verschieden embryonalen Entwickelungsweise. Nach der über- 392 Dtjs natürliche System als Staminbaiiin. XXIV. einstimmenden Ansicht beider Forscher stellten die vier großen Hanptgruppen, die Wirbeltiere. Gliedertiere, Weichtiere und Strahl- tiere, ebenso viele ganz selbständige Entwickelungsreilien dar, deren jede, unabhängig von den anderen, eine Stufenleiter von niederen zu höheren Formen zeigt. Durch diese Aufstellung der Typen, als allgemeinster und um- fassendster Hauptabteilungen, der obersten Kategorien des Systems, denen sich alle verschiedenen Klassen etc. unterordnen ließen, war eine höchst wesentliche Erweiterung nicht allein der formellen Systematik, sondern auch der gesamten Morphologie geschehen. Eine weitere wesentliche Bereicherung des systematischen künst- lichen Fachwerks führte Cuvier dadurch ein, daß er zuerst natür- liche Familien unterschied, eine Kategorie des Systems, die er zwischen Ordo und Genus stellte, und die Linne unbekannt war. Außerdem schuf Cuvier in seinem Systeme auch noch eine Anzahl anderer untergeordneter, jedoch über dem Genus stehender Kate- gorien, die er mit dem Namen der Sektionen, Divisionen und Tribus belegte, so wie er auch die großen Genera in Subgenera spaltete. Auf dieser von Cuvier gegebenen formalen Grundlage des Systems hat sich nun die neuere Systematik in seinem Sinne weiter entwickelt, ohne daß sie sich in der Regel die geringste Mühe gab. den relativen Wert der verschiedenen übereinander geordneten Kate- gorien näher zu prüfen und zu bestimmen. Vielmehr verfuhren die allermeisten Systematiker bei der Einreihung neuer Arten und Gat- tungen in das System ledighch nach einem gewissen praktischen, durch Übung erworbenen Takt, wobei jedoch häufig das subjektive Gutdünken sehr willkürlich obwaltete. Man faßte im allgemeinen immer zuerst die nächstähnlichen konkreten Individuen, welche zur Untersuchung vorlagen, in der abstrakten Einheit der Art oder Spezies zusammen, vereinigte dann die sich am nächsten stehenden, nur durch „spezifische" Merkmale getrennten Spezies zu einem Genus, die nächstähnlichen Genera zu einer Familie etc., wobei man dann je nach Bedürfnis untergeordnete Kategorien (z. B. Subclassis, Sub- ordo, Subfamilia) zwischen die am meisten gebräuchlichen System- stufen der Klasse, Ordnung, Famihe, Gattung etc. einschaltete. All- gemein sind alle diese verschiedenen übereinander geordneten Rang- stufen in der systematischen Praxis im Gebrauch, ohne daß sich aber irgend einbestimmter Begriff mit denselben verbindet. Vielmehr muß zugegeben werden, daß meistens lediglich das relative und XXIV. I- Begriffsbestininiung der Kategorien des Systems. 393 nur nach subjektivem Gutdünken zu bemessende Verhältnis der graduellen Formähnlichkeit oder morphologischen Differenz es ist, das die Erhebung einer neuen spezifischen Form zu einer besonderen Gattung, Familie, Ordnung etc. rechtfertigt. Je mehr zwei ver- schiedene Spezies in äußerer Form und innerer Struktur überein- stimmen, je größer die Anzahl der übereinstimmenden Charaktere ist, desto tiefer ist die Stufe der Kategorienskala, auf welcher sie vereinigt sind: je weiter sie sich in allen inneren und äußeren Form- beziehungen voneinander entfernen, je geringer die Summe ihrer ge- meinsamen Charaktere ist, auf desto höherer Stufe des Systems erst werden sie zusammengestellt. Sehr häufig ist es aber auch nicht der wirkliche Grad der morphologischen Differenz, sondern es sind ganz untergeordnete sekundäre und unbedeutende Nebenumstände, welche die Trennung zweier nächstverwandten Formen und ihre Stellung in zwei ver- schiedene Gattungen, Familien. Ordnungen etc. bestimmen. Insbe- sondere übt hier der absolute Umfang der einzelnen Abteilungen auf die Vorstellung vieler Systematiker einen entscheidenden Einfluß aus. Viele früher einfachen Gattungen sind allmählich in mehrere Genera zerspalten und zum Range von Familien erhoben worden, lediglich weil die Zahl der in denselben enthaltenen Arten beträcht- lich gewachsen ist, obschon deren Differenzgrad nicht gleichzeitig sich erhöhte. Andererseits sind vielfach einzelne sehr ausgezeichnete Formen (sogenannte aberrante Formen) nicht zu dem eigentlich ihnen zukommenden Range einer besonderen Ordnung. Klasse etc. erhoben worden, bloß aus dem Grunde, weil die betreffende Form nur durch eine einzige Spezies oder eine einzige Gattung repräsentiert ist, so z. B. Amphioxus, DentaUmn, Hydra. Auch andere dergleichen sekundäre Erwägungen sind häufig für die Bestimmung der Kategorien- stufe, die einer einzelnen Spezies zukommt, ganz maßgebend ge- wesen, und an die Stelle einer objektiven vergleichenden Wägung der Charaktere getreten, die allein jene Stufe bestimmen sollte. Da nun aber ein bestimmtes Gewicht für jene Wägung. ein all- gemein gültiger Maßstab für die Messung der Entfernung der ein- zelnen Speziescharaktere, gleichwie eine anerkannte Wertbestimmung der Systemkategorien selbst vollständig fehlt, so ist der subjektiven Willkür der Systematiker überall Tor und Tür geöffnet. Die Folge davon zeigt sich denn auch deutlich genug in der chaotischen Ver- wirrung, die auf allen Gebieten der Systematik herrscht. Nicht zwei 394 Das natürliche System als Stainiiibaiini. XXIV. Naturi'orsclier sind in allen Fällen über die Rangstufe, auf welche eine bestimmte Form zu erheben ist, einig. Unterschiede, die den einen bestimmen, sie zu einer Gattung zu erheben, läßt ein anderer nur als Speziesdifferenzen gelten, während ein dritter darauf eine neue Familie gründet. Eine Formengruppe, die der erste als Ord- nung betrachtet, sieht der zweite nur als untergeordnete Familie an, während der dritte sie zum Wert einer Klasse erhebt. Aber auch ein und derselbe Naturforscher mißt die Arten, Gattungen, Familien etc. in verschiedenen Abteilungen des Pflanzenreichs und des Tierreichs mit verschiedenem Maße. Jeder vergleichende Blick auf eine größere Anzahl von Familien, Gattungen und Arten aus verschiedenen Klassen zeigt, daß dieselben Unterschiede, welche in der einen Klasse kaum für genügend gelten, um zwei verschiedene Formengruppen als Genera zu trennen, in einer anderen Klasse von demselben Naturforscher für vollkommen ausreichend gehalten werden, um zwei Formengruppen als Familien aufzustellen, während sie ihm in einer dritten Klasse vielleicht gar für so wesentlich gelten, daß er daraufhin zwei Fornien- gruppen als besondere Ordnungen unterscheidet. Alle denkenden und unbefangenen Systematiker müssen uns ein- gestehen, daß der spezielle Ausbau des systematischen Fachwerks ohne alle allgemein gültigen Regeln in sehr willkürlicher Weise ge- schieht, daß die verschiedenen Kategorienstufen künstliche Abteilungen, und daß die Differenzen derselben keine absoluten, sondern nur rela- tive sind. Der größere Teil der Naturforscher nahm jedoch bis jetzt gewöhnlich, wenn er auch jene Willkür zugab, den Speziesbegriff davon aus. Die Spezieskategorie allein sollte eine absolut bestimmte, reale, in der Natur selbst begründete und festumschriebene Formen- summe umfassen. II. Bedeiitiins^ der Kategorien für die Klassifikation. Daß alle Gruppenbildungen unserer zoologischen und botanischen Systeme von der Spezies bis zur Klasse hinauf, vollkommen künst- liche und willkürliche sind, hat bereits Lamarck, der geistvolle Be- gründer der Deszendenztheorie, auf das bestimmteste ausgesprochen. An der Spitze seiner klassischen „Philosophie zoologique", im ersten Kapitel des ersten Bandes, handelt er von den künstlichen Be- trachtungsweisen der Naturkörper (..des parties de Vart dcms les pro- ductions de Ja nature") und weist nach, daß alle unsere systemati- schen Abteilungen, die Klassen, die Ordnungen, die Familien und XXIV. JI- Bedeutung der Kategorien für die Klassifikation. 395 die Gattungen, ebenso wie die Nomenklatur, willkürlich geschaffene Kunstprodukte sind; daß die Abteilungen, welche wir in unsern stets künstlichen Systemen scharf trennen und umgrenzen, in der Natm* überall durch kontinuierliche Verbindungsstufen unmittelbar zusammenhängen, und daß der relative Wert der einzelnen Gruppen sich durchaus nicht in absoluter Weise bestimmen läßt. Wenn man alle Arten eines organischen Reiches vollständig kennte, so würden alle durch dieselben gebildeten Gruppen verschiedenen Grades (die Gattungen, Ordnungen, Klassen etc.) lediglich kleinere und größere übereinander geordnete Familien von verschiedenem Umfang dar- stellen, deren Grenzen nur willkürlich zu ziehen wären. Nach Lamarck haben auch noch manche andere Naturforscher, darunter die kenntnisreichsten und erfahrensten Systematiker, ihre Überzeugung von der künstlichen Abgrenzung der System gruppen und dem subjektiven Werte dieser Kategorien (die Spezies ausgenommen!} ausgesprochen. Niemand hat jedoch dieselben richtiger erkannt und erläutert, als Darwin, welcher zuerst klar die Bedeutung des natür- lichen Systems als Stammbaums und der Gruppen desselben als Äste und Zweige dieses genealogischen Baumes dargetan hat. Er wies auch besonders auf die sehr wichtige radiale Divergenz der Ver wandt Schaftslinien hin, w^elche jene Kategorien ver- verschiedener Ordnung verbinden. Die trefflichsten Bemerkungen hierüber enthält in Darwins Werke das vierte Kapitel, welches von der Divergenz des Charakters handelt, und das dreizehnte. w^elches die Gruppenbildungen bei der Klassifikation erläutert; hier ist das Verhältnis der Koordination und der Subordination der ver- schiedenen Kategorien aus ihrem verschiedenen Abgange und Ab- stände vom Hauptstamme erklärt. Der Spezies-Begriff verliert seinen absoluten Wert, sobald wir die A'^ariabilität, w^elche allen Spezies eigen ist, mit in den Kreis unserer Betrachtung ziehen. Aus dieser ergiebt sich, daß die Varietätenbüschel jeder Spezies sich beständig erweitern und die einzelnen abweichenden Formen durch Divergenz des Charakters immer weiter auseinander gehen müssen. Viele von diesen Varietäten gehen früher oder später als solche unter. Andere gelangen in Verhältnisse, unter denen sie ihre Charaktere lange Zeit hindurch (oft viele hundert Jahrtausende!) verhältnismäßig konstant erhalten können. Diese werden dann als Arten bezeichnet. Die Varietäten sind also beginnende Arten. 396 D^s natürliche System als Stammbaum. XXIV. III. Oute und schlechte Gruppen des Systems. „Gute und schlechte Gruppen, gute und schlechte Gattungen, Familien. Ordnungen, Klassen etc." werden in der systematischen Praxis ebenso allgemein wie „gute und schlechte Arten" unter- schieden : und wie bei den letzteren, so haben auch hier die meisten Systematiker keine richtige Vorstellung von dem eigentlichen Wert dieser Unterscheidung. Der Grund derselben ist dort wie hier der- selbe, und was wir oben von den ,,guten und schlechten Arten" be- merkten, gilt ebenso von den übrigen Kategorien des Systems. .,Gute Gruppen", gute oder natürhche Genera, Familien, Ord- nungen, Klassen sind solche, die sich scharf und bestimmt umschreiben lassen und durch keine Übergänge mit den verwandten Formen ver- bunden sind. Solche Klassen sind z. B. die der Säugetiere, Vögel und Reptilien. Es fehlen hier lebende Ubergangsformen, und es fehlt uns die Kenntnis der ausgestorbenen Zwischenformen, welche die gemeinsamen Stammeltern dieser Gruppen waren und dieselben aufs innigste verbanden. Ebenso sind gute Ordnungen diejenigen der Insektenklasse, deren verbindende Zwischenglieder uns größtenteils unbekannt sind. Wenn sich eine Klasse so scharf und bestimmt umschreiben läßt wie die der Vögel, der Insekten, so beruht dies zunächst immer auf unserer höchst unvollständigen historischen Kenntnis derselben, die hauptsächlich durch große und wesentliche Lücken in ihrer paläontologischen Entwickelungsgeschichte bedingt ist. „Schlechte Gruppen", schlechte oder unnatürliche Genera, Famihen, Ordnungen, Klassen nennen die Systematiker solche, deren Abgrenzung sehr schwierig ist, weil die entferntesten Formen der Gruppe durch eine kontinuierliche Kette von verbindenden Zwischen- gliedern zusammenhängen. Solche Klassen sind z. B. die der Amphi- bien und Fische, zwischen denen Lepidosiren in der Mitte steht, der seltsame, wenig veränderte Nachkomme von den alten gemeinsamen Stammeltern der Amphibien und Teleostier. Ebenso sind schlechte Gruppen die einzelnen Ordnungen z. B. der Crustaceen. der Gastero- poden etc. Je vollständiger wir die lebenden und ausgestorbenen Glieder irgendeiner Gruppe kennen lernen, desto unmöghcher wird es, die einzelnen Unterabteilungen scharf voneinander zu trennen, und desto schAvieriger, den gesamten Charakter der ganzen Gruppe zusammenzufassen. Während wir einerseits die Charaktere der XXIV. in. Gute und schlechte Gruppen des Systems. 397 Insektenklasse scharf definieren nnd ihre einzehien Ordnungen glatt abtrennen können, ist es bei der nahe verwandten Klasse der Crusta- ceen ganz unniögiicli, den Gesamtcharakter der Gruppe zusammen- zufassen und ihre einzelnen Ordnungen scharf zu unterscheiden. Die drei Ordnungen der Huftiere, Pachydermen. Wiederkäuer und Ein- hufer waren drei der besten und natürlichsten Ordnungen, solange man ihre fossilen Zwischenformen nicht kannte. Als diese gemein- samen Stammformen entdeckt waren, wurde es unmöglich, sie noch länger scharf zu trennen. Es waren nun schlechte und unnatürliche Abteilungen geworden. Sehr viele kleinere und größere Abteilungen des Tierreichs erscheinen uns nur deshalb als ..natürliche'' Gruppen, weil wir bloß die hoch ausgebildeten und differenzierten Epigonen aus einer verhältnismäßig- späten Zeit ihrer historischen Entwickelung kennen, so die Wirbeltiere, die Echinodermen. Während die Charak- teristik solcher späteren Gruppen sich leicht und präzis zusammen- fassen läßt, weil wir nicht genötigt sind, ihre relativ unvollkommenen und einfachen Vorfahren mit darunter zu begreifen, so können wir umgekehrt eine allgemeine und zugleich bestimmte Charakteristik z. B. der Würmer gar nicht aufstellen, weil wir hier neben den hoch- ausgebildeten späteren Epigonen noch die unvollkommensten niedersten Anfänge, der Reihe kennen und von den ersteren nicht trennen können. Hieraus geht hervor, daß wir eine für alle Glieder eines Stammes gültige allgemeine Charakteristik desselben, wenn wir alle Glieder vom ersten bis zum letzten kennten, gar nicht würden geben können, weil die niedersten Anfangsstufen, die Wurzeln, noch zu indifferent, für unsere Definitionen noch viel zu charakterlos sind. Ganz ebenso wie die Spezies werden also auch die umfassen- deren und weiteren Kategorien des Systems, die Genera, Familien, Klassen etc. gut und natürlich genannt, wenn wir ihre gesamten Formensummen und namentlich die ausgestorbenen Stammformen derselben schlecht und unvollständig kennen; dagegen werden dieselben Abteilungen schlecht und unnatürlich genannt, wenn wir ihren gesamten Formenkreis und namentlich die gemeinsamen Stammeltern derselben gut und vollständig in ihrem genealogi- schen Zusammenhange kennen. Daher wird jede gute und natür- liche Gruppe des Systems um so schlechter und unnatürlicher, je vollständiger wir sie durch Auffindung der verbindenden Übergangs- formen und namentlich der ausgestorbenen gemeinsamen Stamm- formen kennen lernen. 398 Das natürliche System als Stammbaum. . XXIV. IT. Die Baunigestalt des uatürliclien Systems. Wenn wir das gesamte System der Organismen vollständig von Anfang an kennen würden, wenn wir im vollständigen Besitze aller Tier- und Pflanzenarten sein würden, welche jetzt leben und jemals auf der Erde gelebt haben, so würde es, wie Lamarck, Goethe und Darwin bemerkt haben, ganz unmöglich sein, ein System mit scharf abgegrenzten Kategorien aufzustellen. Da die einzige reale Kategorie des Systems der Stamm oder Typus ist, so würden wir nur eine (wahrscheinlich geringe) Zahl von solchen Stämmen nebenein- ander vor uns sehen; Stämme, deren jeder sich im Laufe der Zeit aus einer ganz einfachen Wurzel durch fortgesetzte Ramifikation (Divergenz des Charakters) zu einem vielverzweigten Baume mit ge- waltiger Krone und äußerst formenreichen Ästen entwickelt hat. Kein anderes Bild vermag uns die wahre Bedeutung, welche die verschiedenen Kategorien innerhalb eines jeden Stam- mes besitzen, so treffend, klar und anschaulich zu versinn- lichen, als das Bild eines weitverzweigten Baumes, dessen Äste und Zweige, nach verschiedenen Richtungen diver- gierend, sich zu verschiedenen Formen entwickelt haben. Es ist dies in der Tat der genealogische Stammbaum jedes Stammes oder Typus. Die einfache' Wurzel des Hauptstammes ist die gemein- same Urform, aus welcher der gesamte Formenreichtum der Äste, Zweige etc. sich entwickelt hat. Die großen Hauptäste, in welche zunächst der Stamm sich spaltet, sind die Klassen des Stammes, die Äste, die aus deren Teilung hervorgehen, die Ordnungen; jede Ord- nung verästelt sich wieder in mehrere Zweige, welche wir Familien nennen, und die Verästelungen dieser Zweige sind die Gattungen; die feineren Ästchen dieser Ramifikationen sind die Spezies, und die feinsten Zweiglein dieser die Varietäten; die Blätter endlich, welche büschelweis an den letzten Zweigspitzen sitzen, sind die Zeugungs- kreise oder die physiologischen Individuen, welche diese repräsen- tieren. Die Zweige und Äste mit frisch grünenden Blättern sind die lebenden, die älteren mit den abgestorbenen welken Blättern die ausgestorbenen Formen und Formgruppen des Stammes. Gleichwie es nun ganz unmöglich ist, an einem solchen Stamme zu sagen, wo die Grenze der einzelnen Astgruppen ist, wo die grö- beren Äste als Einheiten aufhören und die feineren aus ihnen hervor- gehenden anfangen, oder wie es unmöglich ist, den Anteil des XXIV. I^ • Die Bauingestalt des natürlichen Systems. 399 gemeinsamen Stammes scharf zu bestimmen, der jedem Aste zukommt, ganz so unmöglich ist es, an jedem Stamme des Tier- und Pflanzen- reichs die Grenze der einzelnen Klassen, Ordnungen, Familien, Gat- tungen, Arten scharf anzugeben. Wo dies möglich ist, da befindet sich eine Lücke in unserer Kenntnis, welche uns eine Kluft zwischen zwei verwandten Formengruppen vorspiegelt, die in der Natur nicht vorhanden, sondern entweder durch noch lebende oder durch aus- gestorbene Zwischenformen überbrückt ist. Alle Äste und Zweige dieses Baumes gehen auf ungleicher Höhe vom Stamme ab, erreichen einen ungleichen Grad der Entwickelung in Länge, Dicke und Ver- zweigung, und alle Zweige enden auf verschiedener Höhe und tragen eine ungleiche Anzahl von Blättern. Ganz so verhält es sich mit jedem Stamme des Tier- und Pflanzenreichs, und es ergibt sich hier- aus, daß die Koordination und Subordination der verschiedenen Kate- gorien (Verästelungsgrade) durchaus nicht in der Weise schematisch zu bestimmen ist, wie es gewöhnlich geschieht. Der Grad der Ko- ordination und Subordination kann vielmehr bei allen Gruppen eines Stammes ein äußerst verschiedenartiger sein. Aus dieser und der vorhergehenden Betrachtung erledigt sich mm die vielerörterte Frage, ob es ein natürliches System der Organismen gäbe, und welches dieses einzige System sei, von selbst. Es gibt allerdings ein natürliches System, und zwar nur ein einziges. Dieses einzig natürhche System ist der reale Stamm- baum, das Phylema. Jeder einzelne Stamm, jedes Phylum zeigt uns unter der Form eines einzigen, vielfach verästelten Baumes durch radial divergierende Verwandtschaftslinien (Äste und Zweige des Baums) den verschiedenen Grad der Blutsverwandtschaft an, der die verschiedenen untergeordneten Gruppen des Stammes verbindet. Wenn wir dieses Bild festhalten und uns dabei stets erinnern, daß alle Kategorien des Systems künstlich und nicht absolut zu um- grenzen sind, sondern nur wegen der Lückenhaftigkeit unserer Kennt- nisse absolut zu sein scheinen; wenn wir uns ferner erinnern, daß alle diese Kategorien abstrakte Begriffe von relativem Werte sind, und daß jede Kategorie in verschiedenen Stämmen und Stammteilen einen sehr ungleichen Wert haben kann — wenn wir dieser künstlichen Natur des systematischen Fachwerks stets eingedenk bleiben, so werden wir dasselbe mit dem größten Vorteile zur übersichtlichen und vergleichenden Darstellung der komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse der einzelnen Stammgruppen anwenden 400 I^^s natüi-liclie System als Stammbaum. XXIV. können; ja es wird sich sogar eine wirklich naturentsprechende Anschauung von dem natüi'lichen Systeme jedes Stammes nur dann gewinnen lassen, wenn wir die einzelnen über- und nebeneinander geordneten Gruppen durch zahlreiche dichtverzweigte und radial divergierende Verwandtschaftslinien verbinden. y. Anzahl der subordiniert en Kategorien. Da die einzelnen Kategorien oder Gruppen des natürlichen Systems keinen absoluten Inhalt und Umfang besitzen, sondern nur die verschiedenen Divergenzgrade der Äste des Stammbaumes be- zeichnen, da ihr ganzer Wert für die Klassifikation mithin in dem relativen Verhältnis der Subordination liegt, so ist es klar, daß die Zahl derselben ganz unbeschränkt ist, und daß der Stamm- baum um so übersichtlicher wird, je größer die Zahl der überein- ander geordneten Gruppen ist. Wenn Agassiz und viele andere Systematiker diese Zahl auf sechs beschränken und nur die Begriffe der Spesies, Oenus, Familia, Ordo, Classis, Tyims als wirklich natürhche und reale Kategorien gelten lassen wollen, so ist dies voll- kommen willkürlich und wird am besten durch die Tatsache wider- legt, daß Agassiz selbst genötigt war, dennoch die untergeordneten Kategorien der Subclassis, Subordo^ Subfamilia etc. nachträglich anzuerkennen und selbst in Gebrauch zu ziehen. Wir werden also die Zahl der Kategorien ganz beliebig je nach Bedürfnis verviel- fältigen können, und die einzige praktische Regel, die bei deren An- wendung zu verfolgen sein wird, dürfte diejenige sein, daß wir den relativen Rang der einzelnen Kategorien konstant fixieren und stets in einem und demselben Sinne festhalten, daß wir also z. B. die Ordnung stets als eine weitere, umfassendere Kategorie über die Famihe, die Famihe über die Tribus stellen und nicht umgekehrt (wie es auch geschehen ist). Wenn wir in diesem Sinne die Stufen- leiter der verschiedenen subordinierten Gruppen in der Reihenfolge, wie sie von den meisten Systematikern angenommen und befolgt wird, festsetzen, so ergibt sich die nachstehende Rangordnung, in welcher jede vorausgehende Kategorie einen umfassenderen und weiteren Begriff hat, als jede nachfolgende. Als Beispiel fügen wir die systematische Bezeichnung der verschiedenen Kategorien für ein Säugetier {Hypudaens amjjhihius) und für eine Dikotyledone (Hieracium pilosella) bei. XXIV. VI. Stufenleiter der subordinierten Kategorien. 401 Tl. Stufenleiter der subordinierten Kategorien.*) Kategorie des Systems. Deutsche Bezeich- nung der Gruppe. Beispiel aus dem Tierreiche. Beispiel aus dem Pflanzenreiche. 1. 3. o. l'li ylum 2. Subphylum Cladus 4. S üb cladus C 1 a s s i s 6. Subclassis 7. Legio 8. Sublegio 9. Ordo 10. Subordo 11. Sectio 12. Sub Sectio 13. Familia Stamm (TN'pus) Unterstamm Stammast Unterast Klasse Unterklasse Legion Unterlegion Ordnung Unterordnung Haufe Unterhaufe Familie 14. S u b f a m i 1 i a Unterfamilie 15. Tri b US ' Sippschaft 16. Subtrilms Untersippschaft 17. Genus i Sippe (Gattung) 18. Subgenus \ Untersippe (Untergattung) 19. Cohors Rotte 20. Sub cohors | Unterrotte 21. Species Art 22 . S u b s p e c i e s Unterart 23. Yarietas Rasse 24. Subvarietas Spielart Vertebrata Craniota Amniota Mammalia Monodelphia Trogontia Neotrogontia Rodentia Myomorpha Murina Arvicolida Hi/pudaei Arvicola Paludicola Arvicola amphihius Arvicola (amph ibius) j terrestris ' Arvicola (ampJd- i hius terrestris) ar- gentoratensis Cormophyta Anthophyta Angiospermae Dicotyledones Dichlamydeae Aggregatae Compositae (Syngenesia) Liguliflorae Cichoraceae Crepideae Hieraciiim Piloselloidea Monocephala Sieracium pilosella Hieraciumpilosissi- nium j ( Hieracimn (pilo- I sclla pilosissi- i| mum) peleterin- 1 1 mim *) Anmerkung (190G). Die Unterscheidung einer größeren Anzahl von Kategorien oder ..Gruppenstiifen", die hier ( — vor 40 Jahren — ) zuerst vor- geschlagen wurde, hat zwar bisher wenig Anklang gefunden, ist aber für den weiteren Ausbau des natürlichen Systems und seine logische Begründung von hoher Bedeutung. Haeckel, Prinz, d. iloriihol. 26 402 I^^s natürliche System als Stammbaum. XXIV. TU. Charakterdifferenzeii der subordinierten (irnppen. Nachdem wir unsere Ansicht von der genealogischen Bedeutung der Klassifikation und von dem natürlichen Systeme als dem wirklichen Stammbaum oder Phylema dargelegt haben, wird es vielleicht nicht unpassend erscheinen, noch einen Blick auf den Wert der Charaktere der verschiedenen Kategorien bezüglich ihres relativen Gewichtes zu werfen. Daß eine absolute Bestimmung des Inhalts und Umfangs dieser abstrakten Begriffe nicht möglich sei, wurde schon durch die oben gegebene Analyse klar. Dagegen sahen wir, daß ein relativer Unterschied zwischen denselben insofern exi- stiert, als jede weitere und höhere Kategorie durch allgemeinere und tiefer greifende Charaktere ausgezeichnet ist, als die nächst vorhergehende, engere und niedere Stufe. Je niedriger und enger die Kategorie ist, desto mehr haften ihre Charaktere bloß an der Oberfläche des Organismus und desto beschränkter und weniger tief sind sie. Zunächst erscheint diese Differenz lediglich als eine gra- duelle: jedoch ist in vielen Fällen auch ein qualitativer Unterschied ihres Wertes insofern nachzuweisen, als die Charaktere der niederen Kategorien vorzugsweise analoge, durch Anpassung erworbene, diejenigen der höheren dagegen vorzugsweise homologe, durch Erbschaft erworbene sind. Je umfassender und allgemeiner eine Kategorie ist, wie z. B. diejenigen der Ordnung, der Klasse, desto ausschließlicher sind ihre auszeichnenden Charaktere in der Gesanit- anlage und in der Innern Struktur des Körpers ausgesprochen und durch Vererbung von vielen Generationen her erworben: je enger und beschränkter umgekehrt die Kategorie ist, wie z. B. Genus, Spezies, desto exklusiver spricht sich ihr Charakter bloß im einzelnen und im Äußeren der Körperform aus und ist durch Anpassung erst seit kurzer Zeit erworben. Die Charaktere der höheren und allgemeineren Kategorien sind ältere, längere Zeit hindurch vererbte, während diejenigen der niederen und spezielleren Gruppen jüngere und erst durch eine kleinere Reihe von Genera- tionen vererbt sind. Tiefer greifend und mehr den Gesamtcharakter der Form bestimmend sind aber die w^esentlichen Charaktere der all- gemeineren und älteren Kategorien eben deshalb, weil sie älter sind, und weil nur die tieferen Veränderungen der Struktur sich durch eine lange Reihe von Generationen vererben können, während die oberflächlichen und mehr äußere Einzelheiten der Form betreffenden XXIV. VII. Chaiakterdifferenzen der subordinierten Gruppen. 403 Charaktere der spezielleren und jüngeren Kategorien leichter sich wieder verwischen und durch andere Abänderungen verdrängt werden, eben weil sie jünger und nicht durch so langdauernde Vererbungen befestigt sind. Diese Betrachtung bestätigt vollkommen unsere Auffassung von dem genealogischen Charakter des natürlichen Systems. Es ist hier- nach wesentlich das höhere x\lter, die längere Reihe der vererbenden Generationen, welche den höheren Grad der Differenz und damit die allgemeinere Bedeutung der Kategorien bestimmt. Im allgemeinen wird daher jede Kategorie des Systems älter sein als die nächst- engere, darunter stehende, jünger als die nächstweitere, darüber stehende Stufe des Systems. So ist die Spezies jünger als das zu- gehörige Genus, älter als die zugehörenden Varietäten; ebenso ist die Ordnung jünger als die zugehörige Klasse, älter als die zugehörenden Familien. Diese Erwägung ist insofern sehr wichtig, als sie uns den Kausalnexus offenbart zwischen dem Alter und dem systematischen Werte der Charaktere. Je älter ein Differentialcharakter ist, je größer die Anzahl der Generationen, durch welche hindurch er sich vererbt und so befestigt hat, desto tiefer greift er in die Gesamt- organisation des Tieres ein, desto schwerer ist er durch weitergehende Veränderung zu verwischen und desto allgemeiner und höher ist die Rangstufe, auf welche er die betreffende Form erhebt. Auf diesen höchst wichtigen Unterschied in dem systematischen Werte der ererbten und der angepaßten Charaktere muß der Morpho- loge bei der genealogischen Subordination der verschiedenen System- gruppen das meiste Gewicht legen. Viel unwichtiger ist der Umstand, ob sich der gemeinsame typische Charakter einer bestimmten Gruppe in Form einer exklusiven Diagnose zusammenfassen läßt oder nicht. Je besser wir die betreffende Gruppe mit allen ihren Übergangs- formen zu den nächstverwandten Gruppen kennen, desto weniger wird eine solche scharfe und exklusive Diagnose möglich sein. Bei der genealogischen Rekonstruktion des natürlichen Systems, als des Stammbaums der Organismen, wird es daher nicht darauf ankommen, die einzelnen koordinierten und subordinierten Gruppen durch scharfe und exklusive Charakteristiken zu trennen, sondern vielmehr die vorwiegend erbliche oder angepaßte Natur der Differentialcharaktere, ihr relatives Alter zu erkennen und danach die gegenseitige Stellung der verwandten Gruppen zu bestimmen. 2G* Fünfundzwanzig'stes Kapitel. Die Yerwandtschaft der Stämme. „Der Meuseli, wo er bedeutend auftritt, verhält sich g-esetzg-ebend. In der Wissenschaft deuten die unzähligen Versuche, zu systematisieren, zu schematisieren, dahin. Unsere g'anze Aufmerlisamkeit muß aber dahin gerichtet sein, der Natur ihr Verfahren abzulauschen, damit wir sie durch zwängende Vorschriften niclit widerspenstig machen, aber uns dageg'en auch durch ilu'e Willkür nicht vom Zweck entfernen lassen." Goethe. Bemerkung (1906). Das 25. Kapitel enthielt auf 15 Seiten (S. 403— 417) den ersten Versuch, die wichtige Frage von der Verwandtschaft, dem Ursprung und den Beziehungen der organischen Stämme oder Phylen zu beantworten. Diese Frage wurde ausführlicher, und in stetig verbesserter Anordnung des Stoffes, in den zehn verschiedenen Auflagen der „Natürlichen Schöpfungs- geschichte'' (1868 — 1902) zu beantworten versucht. Die ausführlichste und streng wissenschaftliche Behandlung derselben enthält meine „Systematische Phylogenie, Entwurf eines Natürlichen Systems der Organismen auf Grund ihrer Stammesgeschichte" (I.Band: Protisten imd Pflanzen. 1894: II. Band: Wirbel- lose Tiere, 1896; III. Band: Wirbeltiere, 1895). Da in diesen Werken mein letzter ( — für mich persönlich abgeschlossener — ) Versuch vorliegt, das „Natürliche System der Organismen" auf phylogenetischer Grundlage aufzubauen, und da die früheren Versuche dazu durch die „Natürliche Schöpfungsgeschichte" eine weite Verbreitung erfahren haben, so erscheint es jetzt angemessen, jenen ältesten Versuch (im 25. Kapitel) und seine Ausführung in der „Systematischen Einleitung" (S. XVII — CLX) hier nicht zu wiederholen. Seclisundz wanzigstes Kapitel. Phylogenetisclie Thesen. «Der Philosoph wird gar bald entdecken, daß sich die Beobachter selten zu einem Standpunkte erheben, aus welchem sie so viele bedeutend bezügliche Gegenstände übersehen können.'^ Goethe. I. Thesen von der Kontinuität der Phylogenese. 1. Die Phylogenesis oder die phyletische Entwickelung, d. h. die Epigenesis der Arten und der aus ihnen zusammengesetzten Stämme, ist ein ebenso kontinuierlicher Prozeß als die Onfogenesis oder die biontische Entwickelung, d. h. die Epigenesis der Bionten oder der physiologischen Individuen. 2. Die kontinuierliche Phylogenesis ist ebenso eine wirkhche Epigenesis (und nicht eine Evolution aus einer „Idee"), wie die kontinuierliche Ontogenesis. 3. Die einzelnen Arten oder Spezies, aus denen jeder Stamm (oder Phylum) zusammengesetzt ist, sind daher ebenso unmittelbar auseinander hervorgegangen, wie die einzelnen Entwickelungszustände, aus denen die Ontogenesis jedes physiologischen Indi\äduums zusam- mengesetzt ist. 4. Die Entstellung der Arten auseinander ist ein mecha- nischer Prozeß, welcher durch die Wechselwirkung der Anpassung und der Vererbung im Kampfe um das Dasein bedingt wird. 5. Es existiert also ebensowenig eine Schöpfung oder Erschaf- fung der einzelnen organischen Arten, als der einzelnen organischen Individuen. 6. Es existiert mithin auch ebensowenig ein „zweckmäßiger Plan" oder ein „vorbedachtes Ziel" in (i^x phgletischen Entwickelung der Arten, wie in der hiontischen Entwickelung der Individuen. 406 Phylogenetische Thesen. XXVI. II. Thesen von der genealogischen Bedeutung des natürlichen Systems der Organismen. 7. Es existiert ein einziges zusammenhängendes natürliches System der Organismen, und dieses einzige natürhche System ist der Ausdruck realer Beziehungen, welche tatsächlich zwischen allen Organismen bestehen, die gegenwärtig auf der Erde leben und zu irgend einer Zeit auf derselben gelebt haben. 8. Die realen Beziehungen, w^elche alle lebenden und ausge- storbenen Organismen untereinander zu den Hauptgruppen des natür- lichen Systems verbinden, sind genealogischer Natur: ihre For- menverwandtschaft ist Stammverwandtschaft: das natürhche System ist daher der Stammbaum der Organismen, ihr Phylema oder Genealogema. 9. Entweder sind alle Organismen Glieder eines einzigen Ur- stammes (Phylunt) d. h. Deszendenten einer und derselben gemein- samen autogenen Stammform: oder es existieren verschiedene selbst- ständige Phylen nebeneinander, welche sich unabhängig voneinander aus selbständigen autogenen Stammformen entwickelt haben: im ersteren Falle bildet das natürliche System einen einzigen Stamm- baum, im letzteren Falle eine Kollektivgruppe von mehreren Stamm- bäumen, und zwar von so vielen Stammbäumen, als autogene Stamm- formen unabhängig voneinander entstanden sind. 10. Die autogenen Stammformen aller Stämme, welche unab- hängig voneinander durch unmittelbaren Übergang anorganischer Materie in organische entstanden sind, können nur Organismen der denkbar einfachsten Natur, vöUig strukturlose und homogene Plasma- stückchen (Moneren) gewesen sein. 11. Alle Organismen sind in letzter Linie Nachkommen solcher autogenen Moneren, und haben sich infolge der Divergenz des Charakters durch natürliche Züchtung entwickelt. 12. Die verschiedenen subordinierten Gruppen des natürlichen Systems, die Kategorien der Klasse. Ordnung, Familie, Sippeetc. sind schwächere und stärkere Äste des Stammbaumes, deren Divergenzgrad den genealogischen Entfernungsgrad der blutsverwandten Organismen voneinander und von den gemeinsamen Stammformen bezeichnet. 13. Alle verschiedenen Gruppen oder subordinierten Kategorien des natürlichen Systems besitzen demnach nur eine relative, keine absolute Bedeutung und sind untereinander durch alle möglichen Zwischenstufen kontinuierlich verbunden. XXVI. Phylogenetische Thesen. 407 14. Die Lebensdauer jeder Gruppe des Systems ist nicht durch Prädestination beschränkt, sondern lediglich die notwendige Folge der Wecliselwirkung von Anpassung und Vererbung im Kampfe um das Dasein. 15. Diejenige Gruppenstnfe oder Kategorie des natürlichen Sy- stems, welche alle Organismen umfaßt, die unter gleichen Existenz- bedingungen gleiche Charaktere besitzen, zeichnen wir als Art oder Spezies vor den übergeordneten Gruppen der Sippe, Familie etc. und vor den untergeordneten Gruppen der Subspezies, Varietät etc. aus. in. Thesen von der organischen Art oder Spezies. 16. Die organische Art oder Spezies, als das genealogische Individuum zweiter Ordnung, ist einerseits ebenso eine Vielheit von Zeugungskreisen oder genealogischen Individuen erster Ordnung, wie andererseits jeder Stamm (Phylitm) als genealogisches Individuum dritter Ordnung die Vielheit aller blutsverwandten Arten ist. 17. Die Spezies ist die Gesamtheit aller Zeugungskreise, welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Form besitzen und sich höchstens durch den Polymorphismus adelphischer Bionten unter- scheiden. 18. Die Subspezies und Varietäten, als die nächstunter- geordneten Gruppenstufen des Systems, sind beginnende Spezies. 19. Die Genera und Familien, als die nächst übergeordneten Gruppenstufen des Systems, sind untergegangene Spezies, welche sich in ein divergierendes Formenbüschel aufgelöst haben. 20. Die Spezies sind in unbegrenztem Maße veränderlich und können sich durch Anpassung an neue Existenzbedingungen jeder- zeit in neue Arten umwandeln. 21. Die Umwandelung oder Transmutation der Spezies in neue Arten und die Divergenz ihres Varietätenbttschels, durch welche neue Arten entstehen, wird vorzüglich durch die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung im Kampfe um das Dasein bedingt. 22. Es existieren keine morphologischen Eigentümlichkeiten, welche die Spezies von den anderen Gruppenstufen des Systems (Varietäten, Genera etc.) durchgreifend unterscheiden. 23. Es existieren keine physiologischen Eigentümhchkeiten welche die Spezies von den anderen Gruppenstufen des Systems (Varietäten, Genera etc.) durchgreifend unterscheiden. 408 Phylogenetische Thesen. XXVI. 24. Die Lebensdauer jeder Art ist nicht durch Prädesti- nation beschränkt, sondern ledighch die notwendige Folge der Wechsel- wirkung von Anpassung und Vererbung im Kampfe um das Dasein. IV. Thesen von den phylogenetischen Stadien. 25. Die Phylogenesis oder phyletische Entwickelung, (1. h. die Entwickelung jeder genealogischen Gruppe oder Kategorie des natürlichen Systems, von der Varietät, Spezies und dem Genus bis hinauf zu der Ordnung, Klasse und dem Stamm, ist ein physio- logischer Prozeß von bestimmter Zeitdauer. 26. Die Zeitdauer der phyletischen Entwickelung jeder System- gruppe wird durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung be- stimmt und ist ledighch das Resultat der Wechselwirkung dieser beiden physiologischen Faktoren. 27. In dem zeitlichen Verlaufe der phyletischen Entwickelung jeder Systemgruppe lassen sich allgemein drei verschiedene Ab- schnitte oder Stadien unterscheiden, welche mehr oder minder deutlich voneinander sich absetzen. 28. Jedes Stadium der phyletischen Entwickelung jeder System- gruppe ist durch einen bestimmten physiologischen Entwickelungs- prozeß charakterisiert, welcher in demselben zwar nicht ausschheßlich. aber doch vorwiegend wirksam ist. 29. Das erste Stadium der phyletischen Entwickelung, das Jugendalter der Systemsgruppe oder die Aufblühzeit, Epacmc, ist durch das Wachstum der Gruppe charakterisiert. 30. Das zweite Stadium der phyletischen Entwickelung, das Reifealter oder die Blütezeit, Acme, ist durch die Differenzierung der Gruppe charakterisiert. 31. Das dritte Stadium der phyletischen Entwickelung, das Greisenalter oder die Verblühzeit, Paracme, ist durch die De- generation der Gruppe charakterisiert. V. Thesen von dem dreifachen Parallelismus der drei genealogischen Individualitäten. 32. Die Kette von sukzessiven Formveränderungen, welche die Zeugungskreise oder die dieselben repräsentierenden Bionten wäh- rend ihrer individuellen Existenz durchlaufen, ist im ganzen parallel der Kette von sukzessiven Formveränderungen, welche die Vorfahren der betreffenden Zeugungskreise während ihrer paläontologischen XXVI. Phylogenetische Thesen. 409 Entwickelung' aus der ursprünglichen Stammform ihres Phylon durch- laufen haben. 33. Diese Parallele zwischen der Inontisclien und Aqy phyleüsdien Entwickelung erklärt sich aus den Gesetzen der Vererbung, und insbesondere aus den Gesetzen der abbreviierten. homotopen und honiochronen Vererbung. 34. Die Kette von ko existenten Formverschiedenheiten, welche die verwandten Arten und Artengruppen jedes Stammes zu jeder Zeit der Erdgeschichte darbieten, ist im ganzen parallel der Kette von suk- zessiven Form Veränderungen, welche die divergenten Formenbüschel dieses Stammes während ihrer paläontologischen Entwickelung aus der gemeinsamen ursprünglichen Stammform durchlaufen haben. 35. Diese Parallele zwischen der systematischen und der phyle- tischen Entwickelung erklärt sich aus den Gesetzen der Divergenz, und insbesondere aus der Erscheinung, daß die verschiedenen Äste und Zweige eines und desselben Stammes einen sehr ungleich raschen Verlauf ihrer phyletischen Veränderung- erleiden und zu sehr un- gleicher Höhe sich entwickeln. 36. Die Kette von koexistenten Formverschiedenheiten, welche die verwandten Arten und Artengruppen jedes Stammes zu jeder Zeit der Erdgeschichte darbieten, ist im ganzen parallel der Kette von sukzessiven Formveränderungen, welche dieBionten der betreffenden Artengruppe während ihrer individuellen Existenz durchlaufen. 37. Diese Parallele erldärt sich aus der gemeinsamen Ab- stammung der verwandten Arten, und zunächst schon aus der Ver- bindung der beiden vorhergehenden Parallelen: denn wenn die phyletische Entwickelungsreihe sowohl der biontischen als der syste- matischen Entwickelungsreihe parallel ist, so müssen auch diese beiden letzteren untereinander parallel sein. 38. Der dreifache Parallelismus der pliuldischen, hion- tischen und systematischen Entwickelung erklärt sich demnach, gleich allen anderen allgemeinen Entwickelungserscheinungen. einfach und vollständig durch die Deszendenztheorie, während er ohne dieselbe, gleich diesen allen, völlig unerklärt bleibt. Zusatz (1906). Die kritischen Grundzüge der ,. Allgemeinen Entwickelungsgeschichte", welche hier im fünften und sechsten Buche der Generellen Morphologie 1866 von mir entworfen wurden, waren der erste Versuch, die von Jean Lamarck begründete und von 410 Phylogenetische Thesen. XXVL Charles Darwin reformierte Deszendenztheorie logisch nach allen Seiten auszubauen und systematisch zu verwerten. Wie alle solche ..ersten Versuche" mußte auch mein gewagtes Unternehmen in vieler Hinsicht mangelhaft und unvollkommen bleiben. Aber trotzdem glaube ich hoffen zu dürfen, daß diese schwierige und mühevolle Arbeit nicht vergeblich war. und daß sie in der Geschichte der Ent- wickelungslehre dauernd einen Platz behaupten wird. Denn hier sind zum ersten Male die Gesetze der konservativen und progressiven Vererbung, die Gesetze der indirekten und direkten Anpassung scharf formuliert, und durch ihre verwickelte Wechselwirkung die großen Gesetze der Divergenz und des Fortschritts als not- wendige Folgen der Selektion nachgewiesen worden. Ferner ist hier zuerst die Phylogenie oder Stammesgeschichte als ein selbständiger Zweig der Biologie aufgestellt und ihre innige kausale Verknüpfung mit der Ontogenie oder Keimesgeschichte eingehend begründet worden. Das Biogenetische Grundgesetz, das diesen fundamentalen Kausalnexus in präzisester Form zusammenfaßt, hat im 19. und 20., im 22. und 26. Kapitel seine ausführliche Begründung erfahren. Im Laufe der vierzig Jahre, die seitdem verflossen sind, hat sich über diese wichtigsten Grundfragen der Biologie eine unüber- sehbar reiche Literatur entwickelt. Dabei ist vielfach, besonders in neuester Zeit, ein prinzipieller Gegensatz zwischen den Lehren von Lamarck und Darwin betont worden: dieser besteht nach meiner Ansicht nicht. Beide große Naturforscher waren von der kontinuierlichen Umbildung der organischen Formen ( — nicht der „sprungweisen Mutation"! — ) und von der ,.progressiven Vererbung'' ( — der erblichen Übertragung erworbener Eigenschaften — ) ebenso fest überzeugt wie ich selbst. Der größte Fortschritt, den Darwin über seinen Vorgänger Lamarck hinaus hat. war die Aufstellung der Selektionstheorie, nach meiner Ansicht die wichtigste und unerschütterliche Ergänzung der Deszendenztheorie. Ich habe in meiner Gasträatheorie (1872) den Beweis dafür durch die phylo- genetische Reform der Keimblätterlehre zu geben versucht, und in meiner „Systematischen Phylogenie" (1894 — 1896) die Frucht- barkeit ihrer Anwendung auf die Klassifikation der organischen Formen nachgewiesen. Dieses letztere Werk ist die Ausführung der ..Genea- logischen Übersicht des Natürlichen Systems der Organismen", die ich 1866 dem zweiten Band der „Generellen Morphologie" als Systematische Einleitung vorausschickte (160 Seiten). SIEBENTES BUCH. DIE ENTWICKELUNGSGESCHICHTE DER ORGANISMEN IN IHRER BEDEUTUNG FÜR DIE ANTHROPOLOGIE. „Großer Braiiia, Herr der Mächte! Alles ist von Deinem Samen, Und so bist Du der Gerechte! Hast Du denn allein die Bramen, Nur die Rajas und die Reichen, Hast Du sie allein geschaffen? Oder bist auch Du's, der Affen Werden ließ und unserseleichen ? ■^b^ „Edel sind wir nicht zu nennen, Denn das Schlechte, das gehört uns. Und was Andre tödlich kennen. Das alleine, das vermehrt uns. Mag dies für die Menschen gelten. Mögen sie uns doch verachten: Aber Du. Du sollst uns achten. Denn Du könntest Alle schelten! „Also Herr, nach diesem Flehen, Segne mich zu Deinem Kinde; Oder Eines laß entstehen. Das auch mich mit Dir verbinde! Denn Du hast den Bajaderen Eine Göttin selbst erhoben: Auch wir Andern, Dich zu loben. Wollen solch ein Wunder hören!" Goetiie (des Paria Gebet). Siebenundzwanzigstes Kapitel. Die Stellung des Menschen in der Natur. „Ein wenig: besser würd' er leben. Hätt'st Du ihm nicht den Sehein des Himmelslichts gegeben ; Er nennt's Vernunft, und braucht's allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. Er scheint mir, mit Yerlaub von Euer Gnaden, AVie eine der langbeinigen Cieaden, Die immer fliegt und fliegend springt. Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt. "^ Goethe. A^on allen speziellen Folgemngen, -welche die kausale Begrün- dung der organischen Entwickelungsgeschichte durch die Deszendenz- theorie nach sich zieht, ist keine einzige von so hervorragender Be- deutung, als ihre An-wendung auf den Menschen selbst. Nur durch sie wird die Frage von der „Stellung des Menschen in der Natur" gelöst, diese „Frage aller Fragen für die Menschheit'' — wie sie Huxley mit Recht nennt — „das Problem, welches allen übrigen zugrunde liegt, und welches tiefer interessiert als irgend ein anderes." In der Tat ist dieses Problem von so fundamentaler theoretischer Wichtigkeit für die gesamte menschliche Wissenschaft, von so un- ermeßlicher praktischer Bedeutung für das gesamte menschliche Leben, daß wir nicht umhin kömien, am Schlüsse unserer all- gemeinen Entwickelungsgeschichte einen Blick auf dasselbe zu werfen. Denn nur allein vom Standpunkte der Deszendenz- theorie und der durch diese begründeten Entwickelungs- geschichte kann diese Frage wissenschaftlich gelöst werden, und ist dieselbe bereits in den letzten Jahren auf den Weg ihrer definitiven Lösung geführt worden. Zwar gehört sie eigentHch in das Gebiet der speziellen Entwickelungsgeschichte; indessen wird ihr ungeheures Gewicht und der Umstand, daß die allgemeine Entwickelungsgeschichte zunächst den festen Boden für 414 Die Stellung des Mensclien in der Natur. XXVII. (leren Entscheidung liefert, es gewiß genügend rechtfertigen, daß wir derselben hier einen besonderen, wenn aucli ganz aphoristisch ge- haltenen Abschnitt widmen. Darwin selbst hat in seinem epochemachenden Werke die Anwendung seiner Theorie auf die Menschen nicht gemaclit. in weiser Voraussicht der Aufnahme, welche dieselbe finden würde. Sicherlich würde die durch sein Werk reformierte Deszendenztheorie gleich von Anfang an noch weit mehr Widerstand und Anfeindung gefunden haben, wenn sogleich jene wichtigste Folgerung in das- selbe mit aufgenommen worden wäre. Dagegen wurde diese Lücke schon wenige Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Werke durch x\rbeiten von mehreren der hervorragendsten Zoologen aus- gefüllt, unter denen wir hier insbesondere Huxley und Karl Vogt hervorzuheben haben (1863). Es ist unbestritten, und es ist auch noch von allen freidenkenden nnd konseciuent schließenden Naturforschern, sowohl von den Geg- nern als von den Anhängern der Deszendenztheorie, jetzt allgemein anerkannt, daß unter allen umständen die Abstammung des Menschen- geschlechts von niederen Wirbeltieren, und zwar zunächst von affenartigen Säugetieren deren notwendige und unvermeidhche Konsequenz ist. Gerade wegen dieser Konsequenz, welche mit den Vorurteilen der meisten Menschen unvereinbar ist, sind viele zu Gegnern der Deszendenztheorie geworden, welche an und für sich derselben geneigt sein w^ürden. Die Deszendenztheorie ist ein allgemeines Induktions- gesetz, welches sich aus der vergleichenden Synthese aller organischen Naturerscheinungen und insbesondere aus der dreifachen Parallele der phyletischen, biontischen und systematischen Entwickelung mit absoluter Notwendigkeit ergibt. Der Satz, daß der Mensch sich aus niederen Wirbel- tieren und zw^ar zunächst aus echten Affen entwickelt hat, ist ein spezieller Deduktionsschluß, w^elcher sich aus dem generellen Induktionsgesetz der Deszendenztheorie mit absoluter Notwendigkeit ergibt. Diesen Stand der Frage „von der Stellung des Menschen in der Natur" glauben wir nicht genug hervorheben zu können. Wenn über- haupt die Deszendenztheorie richtig ist, so ist die Theorie von der Entwickelung des Menschen aus niederen Wirbeltieren weiter nichts als ein unvermeidlicher einzelner Deduktionsschluß aus jenem all- XXVJl. Die Stellung des Menschen in der Natur. 415 gemeinen Induktionsgesetz. Es können daher auch alle weite- ren Entdeckungen, welche in Zukunft unsere Kenntnisse über die phyletische Entwickelung des Menschen noch be- reichern werden, nichts weiter sein, als spezielle Verifi- kationen jener Deduktion, die auf der breitesten induk- tiven Basis ruht. Denn in der Tat ist es die Summe aller bekannten Erscheinungen in der organischen Morphologie, auf welche wir jenes große Induktionsgesetz der Deszendenztheorie gründen, und jene spezielle Folgerung aus demselben ist ebenso sicher, als irgend eine andere Deduktion. Ebenso sicher, als wir schheßen, daß alle von uns gezüchteten Pferderassen Nachkommen einer ge- meinsamen Stammform, daß alle Huftiere Epigonen eines und des- selben Stammvaters, daß alle Säugetiere Deszendenten eines und des- selben Mammalienstammes sind, vollkommen ebenso sicher schließen wir auch, daß das Menschengeschlecht nichts weiter als eines der kleinsten und jüngsten Ästchen dieses formenreichen Stammes ist. Was die speziellen Abstammungsverhältnisse des Menschen- geschlechts von der Affenordnung betrifft, so haben wir dieselbe auf die systematische Stellung des Menschen in der Ordnung der Affen begründet. Die Phylogenie der Wirbeltiere, soweit sie sich durch die Paläontologie empirisch begründen und durch den Parallelismus der embryologischen und systematischen Entwickelung ergänzen läßt, ergibt folgende Ahnenreilie des Menschen. 1. Leptokardier oder Akranier; dem AmpMoxus näclistverwandte Wirbel- tiere, ohne Gehirn, ohne Schädel und ohne zentralisiertes Herz (in der archozoischen Zeit, vor der Silurzeit). 2. Selachier oder Urfische. und zwar speziell den Squalaceen oder Haifischen nächstverwandte Fische (zu Ende des archozoischen und im Beginne des paläozoischen Zeitalters, in der Silur- und Devonzeit). 3. Amphibien, und zwar früher den kiementragenden Sozobranchien oder Perennibranchien (Prof ejfs, >S'ireH), später den kiemenlosen Sozuren oder Salamandern {Triton. Salamandra) nächstverwandte Amphibien (während des größten Teiles der paläozoischen Zeit). 4. Amnioten von unbekannter Form, welche den Übergang von den kienien- losen Amphibien (Sozuren) zu den niedersten Säugetieren (Ornithodel2)hien) vermittelten (zu Ende des paläozoischen oder im Beginne des mesozoischen Zeitalters). ö. Ornithodelphien oder Monotremen von unbekannter Form, den niedersten jetztlebenden Säugetieren, Ornithorht/nchus und EcMdna nächst- verwandt (im Beginne der Sekundärzeit: Triasperiode). 416 Die Stellung des Menschen in der Natur. XXVII. G. Didelphien oder Marsupialien, ausgestorbene Beuteltiere, und zwar wahrscheinlich den Beutelratten {D'ulelphijs) nächstverwandte Formen (während des größten Teiles, vielleicht während der ganzen Sekundärzeit). 7. Monodelphien von unbekannter Form, Piacentalien ohne Dezidua, welche den Übergang von den Didelphien zu den Primaten und zwar speziell zu deren Stammgruppe, den Prosimien vermittelten (gegen Ende der Sekundär- zeit oder in der ältesten Eocaenzeit). 8. Prosimien oder Halbaffen (Hemipitheken), den jetzt lebenden Lemuren (Lemur, Stenops etc.) nächstverwandt (während der ältesten Eocaenzeit). 9. Katarrhinen oder schmalnasige Affen, und zwar zunächst Menocerken, den heutigen Anasken {Semnopithecus, Colobus) nächstverwandt, mit Schwanz und mit Gesäßschwielen (während der Eocaen- oder Miocaenzeit). 10. Anthropoiden, d.h. Katarrhinen ohne Schwanz, den heutigen Menschen- affen nächstverwandte Affen, und zwar früher Tylogluten (H//Jobates ähnlich) mit Gesäßschwielen, später Lipotylen (Gorilla ähnlich), ohne Ge- säßschwielen (während der mittleren und neueren Tertiärzeit). Wir können hier nicht auf eine Widerlegung der heftigen An- griffe eingelien. welche die unvermeidliche Anwendung der Deszen- denztheorie auf die Entstehung des Menschen hervorgerufen hat und bei dem gegenwärtigen niederen Bildungsgrade der sogenannten „Kulturvölker" notwendig hervorrufen mußte. Glücklicherweise sind die meisten dieser Angriffe entweder so ohne alle biologische Tat- sachenkenntnis oder so ohne allen logischen Verstand geschrieben, daß sie einer ernstlichen Widerlegung kaum bedürfen. Interessant und lehrreich ist dabei nur der Umstand, daß besonders diejenigen Menschen über die Entdeckung der natürlichen Entwickehmg des Menschen- geschlechts aus echten Affen am meisten empört sind und in den hef- tigsten Zorn geraten, welche offenbar hinsichtlich ihrer intellektuellen Ausbildung und cerebralen Differenzierung sich bisher noch am wenig- sten von unsern gemeinsamen tertiären Stammeltern entfernt haben. Viele Menschen haben in der Aufstellung des natürlichen Stamm- baums unseres Geschlechts eine „Entwürdigung" des Menschen finden wollen und weisen mit Abscheu die Affen, Amphibien und Haifische als ihre uralten Vorfahren zurück. Wir unsererseits können in der Erkenntnis dieser Abstammung umgekehrt nur die höchste Ehre und Verherrlichung des Menschengeschlechts erblicken. Denn was kann es für den Menschen Erhebenderes geben und worauf kann er stolzer sein, als auf die Tatsache, daß er in der unendlich kompli- zierten Entwickelungs-Konkurrenz, in welcher sich die Organismen seit Milliarden von Jahrtausenden befinden, sich von der niedrigsten Organisationsstufe zur höchsten von allen erhoben, alle seine Ver- XXVII. Diß Stellung des Menschen in der Natur. 417 wandten überflügelt und sich zum Herrn und Meister über die ganze Natur erhoben hat; daß er Haifische und Salamander, Beuteltiere und Halbaffen so weit hinter sich gelassen hat, daß in der Tat nichts weiter in der gesamten organischen Natur mit diesem Ent- wickelungs -Triumphe zu vergleichen ist! Obgleich alle somatischen und psychischen Differenzen zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren nitr c|uantitativer, nicht quali- tativer Natur sind, so erscheint dennoch die Kluft, w^elche ihn von jenen trennt, als höchst bedeutend. Dieser Umstand ist nach unserer Ansicht vorzugsw^eise darin begründet, daß der Mensch in sich mehrere hervorragende Eigenschaften vereinigt, welche bei den übrigen Tieren nur getrennt vorkommen. Als solche Eigenschaften von der höchsten Wichtigkeit möchten war namentlich vier hervorheben, nämlich die höhere Differenzierungsstufe des Kehl- kopfs (der Sprache), des Gehirns (der Seele) und der Extremitäten, und endlich den aufrechten Gang. Alle diese Vorzüge kommen einzeln auch anderen Tieren zu: die Sprache, als Mitteilung artikuKerter Laute, vermögen Vögel (Papageien etc.) mit hoch differenziertem Kehlkopf und Zunge ebenso vollständig als d-^r Mensch zu erlernen. Die Seelentätigkeit steht bei vielen höheren Tieren (insbesondere bei Hunden. Elefanten, Pferden) auf einer höheren Stufe der Aus- bildung als bei den niedersten Menschen. Die Hände sind als ausgezeichnete mechanische Werkzeuge bei den höchsten Affen schon ebenso entwickelt w4e bei den niedersten Menschen. Den auf- rechten Gang endlich teilt der Mensch mit dem Gibbon, Känguruh, Pinguin und einigen anderen Tieren. Die Lokomotionsfähigkeit ist außerdem bei sehr vielen Tieren vollkommener und höher als beim Menschen entwickelt. Aber der Mensch ist das einzige Tier, w^elches alle diese ätißerst wichtigen Eigenschaften in einer Person ver- einigt und gerade dadurch sich so hoch über seine nächsten Ver- wandten emporgeschwungen hat. Es ist also lediglich die glück- liche Kombination eines höheren Entwickelungsgrades von mehreren sehr wichtigen tierischen Organen und Funk- tionen, welche die meisten Menschen (nicht alle!) so hoch über alle Tiere erhebt. Dadurch wird aber die Tatsache ihrer Ab- stammung von echten Affen in keiner Weise alteriert. Der Mensch hat sich ebenso aus Affen, wie diese aus niederen Säuge- tieren entwickelt. Haefkel. Prinz, d. Morphol. 27 AclitundzwarLzigstes Kapitel. Die Anthropologie als Teil der Zoologie. „Der Erdenkreis ist mir genug bekannt; Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt. Thor, wer dorthin die Augen bhnzend richtet, Sich über Wolken seinesgleichen dichtet ! Er stehe fest und sehe hier sich um; Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Was braucht er in die Ewigkeit zu sehweifen? Was er erkennt, läßt sich ergreifen! Er wandle so den Erdentag entlang; Wenn Geister spuken, geh' er seinen Gang; Im Weiterschreiten find" er Qual und Glück, Er, unbefriedigt jeden Augenblick. Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben. Das ist der Weisheit letzter Schluß; Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß." Goethe (Faust). Die vollständige Umwälzung, welche die Deszendenztheorie und ihre spezielle Anwendung auf den Menschen in allen menschlichen Wissenschaften hervorrufen wird, verspricht nirgends fruchtbarer und segensreicher zu wirken, als auf dem Gebiete der Anthropologie. Erst seitdem die Abstammung des Menschen vom Affen, seine allmähliche Entwickelung aus niederen Wirbeltieren, durch die Deszendenztheorie festgestellt, erst seitdem dadurch die „Stellung des Menschen in der Natur" ein für allemal bestimmt ist, erscheint der Bauplatz abgesteckt, auf welchem das Lehrgebäude der wissen- schaftlichen Anthropologie errichtet werden kann. Da der Mensch nur durch quantitative, nicht durch qualitative Differenzen von den übrigen Tieren getrennt ist, da er seinem Baue, seinen Funktionen, seiner Entwickelung nach sich weniger von den höheren Tieren entfernt, als diese von den niederen, so wird auch dieselbe Methode, durch welche wir die Erkenntnis der übrigen Tiere erwerben, uns bei unserm Streben nach Erkenntnis des Menschen leiten müssen. Diese Methode ist nicht verschieden von XXVIII. Die Anthropologie als Teil der Zoologie. 419 derjenigen aller anderen Naturwissenschaften, wie wir sie im 4. Ka- pitel erläutert haben. Die Modifikationen der Erkenntnismethode, Avelche durch die eigentümliche Natur des tierischen Organismus bedingt sind, werden ebenso in der Anthropologie ihre Anwendung finden; es wird also auch hier in erster Linie die Entwickelungs- geschichte der rote Faden sein, welcher uns als unentbehrlicher Führer durch das weite Gebiet der mannigfaltigen und verwickelten Erscheinungen hindurch leiten muß. Wie uns die vergleichende Ontogenie und Phylogenie, die individuelle und die paläontologische Entwickelungsgeschichte des Menschen, zur Erkenntnis seiner Ab- stammung von den Affen geführt hat, so müssen wir ihrer Leitung auch auf allen einzelnen Gebieten der Anthropologie folgen. Und da für alle biologischen, sowohl physiologischen als morphologischen Untersuchungen die Vergleichung der verwandten Erschei- nungen unerläßlich ist, so werden wir auch zur wissenschaftlichen Anthropologie nur durch das intensivste und extensivste Studium der vergleichenden Zoologie gelangen. Da die Anthropologie nichts anderes ist, als ein einzelner Spezial- zweig der Zoologie, die Naturgeschichte eines einzelnen tierischen Organismus, so wird diese Wissenschaft natürlich auch in alle die untergeordneten Wissenschaften zerfallen, aus welchen sich die ge- samte Zoologie zusammensetzt. Es wird also zunächst die Anthropo- logie als die Gesamtwissenschaft vom Menschen in die beiden Haupt- zweige der menschlichen Morphologie und Physiologie zerfallen, von denen jene die gesamten Formverhältnisse, diese die gesamten Lebenserscheinungen des menschlichen Organismus zu erforschen hat. Die Morphologie des Menschen spaltet sich wiederum in die beiden Zweige der menschlichen Anatomie und der menschlichen Ent- wickelungsgeschichte, zu welcher letzteren nicht bloß die Embryo- logie des Menschen, sondern auch seine Paläontologie, sowie die Völkergeschichte oder die sogenannte „Weltgeschichte" gehört. Die Physiologie des Menschen andererseits zerfällt in die beiden Zweige der Konservationsphysiologie und der Relationsphysiologie des Menschen; erstere hat alle auf die menschliche Ernährung und Fortpflanzung bezüglichen Verhältnisse, letztere die Beziehungen seiner einzelnen Körperteile zueinander (Physiologie der Nerven und Muskeln etc.), sowie seine Beziehungen zur Außenwelt (Ökologie und Geographie des Menschen) zu untersuchen. In diese vier Haupt- zweige der Anthropologie lassen sich sämtliche Wissenschaften, w^elche 27* 420 I^'ß Anthropologie als Teil der Zoologie. XXVIII. überhaupt von menscliliclien Verhältnissen handehi (insbesondere auch alle sogenannten moralischen, politischen, sozialen und historischen Wissenschaften, die Ethnographie etc.) einordnen, und die Methoden ihrer Behandlung müssen dieselben sein, wie in der übrigen Zoologie und wie in der Biologie überhaupt. Von allen Zweigen der Anthropologie wird keiner so sehr von der Deszendenztheorie betroffen und umgestaltet, als die Psycho- logie oder Seelenlehre, jener schwierige Teil der Physiologie, welcher von den Bewegungserscheinungen im Zentralnervensystem handelt. Auf keinem Gebietsteile der Anthropologie sind Vorurteile aller Art so mächtig und so allgemein herrschend, als auf diesem, und auf keinem wird die Deszendenztheorie größere Fortschritte bewirken, als hier. Nichts beweist dies so sehr, als der Umstand, daß man noch heutzutage fast allgemein die Seelenerscheinungen von allen übrigen physiologischen Funktionen unterscheidet, und daß man die menschliche Seele als etwas ganz Besonderes hinstellt, was aller Analogie in der übrigen organischen Natur entbehren soll. Und doch gehorcht auch das Seelenleben des Menschen ganz denselben Gesetzen, wie das Seelenleben der höheren Tiere, und ist von diesem nur quantitativ, nicht qualitativ verschieden. Wie alle übrigen komplizierten Erscheinungen an den höheren Organismen, so kann auch die Seele, als die komplizierteste und höchste Funktion von allen, nur dadurch wahrhaft verstanden und in ihrem innersten Wesen erkannt werden, daß wir sie mit den einfacheren und un- vollkommeneren Erscheinungen derselben Art bei den niederen Orga- nismen vergleichen, und daß wir ihre allmähliche und stufenweise Entwickelung Schritt für Schritt verfolgen. Wie wir schon oben bemerkten, müssen wir hier überall nicht bloß auf die biontische, sondern auch auf die phyletische Entwickelung zurückgehen. Wir müssen also, um das hoch differenzierte, feine Seelenleben des Kulturmenschen richtig zu verstehen, nicht allein sein allmähliches Erwachen im Kinde zu Rate ziehen, sondern auch seine stufenweise Entwickelung bei den niederen Naturmenschen, und bei den Wirbeltieren, aus denen sich diese zunächst entwickelt haben. Die eigentliche Natur der tierischen Seele haben wir bereits im 7. Kapitel gelegentlich erörtert. Wenn wir hier auf das dort Gesagte zurückkommen und nun mit Rücksicht auf die daselbst ge- gebene Erläuterung der wichtigsten psychischen Funktionsgruppen, des Empfindens, Wollens und Denkens, menschliche und tierische XXVIII. Die Anthroi)ologie als Teil der Zoologie. 421 Psyche objektiv und unbefangen vergleichen, so kommen wir überall unausweichlich zu dem Resultate, daß nur quantitative, nicht quah- tative Differenzen auch in dieser Beziehung den Menschen vom Tiere trennen. Natürlich dürfen wir, um hier zu reinen Resultaten zu gelangen, nicht den gänzlich verkehrten Weg der spekulativen Philosophen von Fach gehen, welche ihr hoch diiferenziertes eigenes Gehirn als einziges empirisches Untersuchungsmaterial benutzen und daraus die Psychologie des Menschen konstruieren wollen. Vielmehr müssen wir vor allem auf die vergleichende Psychologie der Kinder, der Geistesarmen, der Geisteskranken und der niederen Menschenrassen zurückgehen, und wir müssen deren ganzes Seelen- leben mit demjenigen der höchst entwickelten Tiere vergleichen, um uns hier ein richtiges und objektives Urteil zu erwerben. Wenn wir dies mit unbefangenem Blicke tun, so gelangen wir auf dem psycho- logischen Gebiet zu demselben hochwichtigen Resultat, welches die Physiologie bereits für alle anderen Lebenserscheinungen, die ver- gleichende Morphologie für die Formverhältnisse festgestellt hat: daß die Unterschiede zwischen den niedersten Menschen und den höchsten Tieren nur quantitativer Natur und viel geringer sind, als die Unterschiede zwischen den höheren und den niederen Tieren. Mit Bezug auf alle einzelnen Seelen- erscheinungen können wir selbst den Satz dahin formulieren, daß die Unterschiede zwischen den höchsten und den nieder- sten Menschen größer sind, als diejenigen zwischen den niedersten Menschen und den höchsten Tieren. Von den einzelnen Bewegungserscheinungen im Zentralnerven- system, welche man gewöhnhch als Seele zusammenfaßt, wollen wir hier nur auf die wichtigsten einen flüchtigen Blick werfen. Der Wille ist bei den höheren Tieren ganz ebenso wie beim Menschen entwickelt, häufig an Intensität und Beweglichkeit letzterem über- legen. Der Wille ist bei den Menschen ebenso wie bei den Tieren niemals wirklich frei, vielmehr in allen Fällen durch kausale Motive mit Notwendigkeit bedingt. Die Empfindung ist bei den edelsten Tieren ebenso wie beim Menschen, oft aber zarter und feiner entwickelt. Selbst die edelsten und schönsten aller mensch- lichen Gemütsregungen, die Gattenliebe, die MutterHebe, die Freund- schaft, die Nächstenhebe, sind bei vielen Tieren zu einem höheren Grade als bei vielen Menschen entwickelt. Die Zärthchkeit der „Inseparables", bei denen der Tod des einen Gatten stets den des 42 2 Diß Anthropologie als Teil der Zoologie. XXVlll. anderen nach sich zieht, die Mutterliebe der Löwin und der Elefantin, die Treue und die Aufopferuni^sfähigkeit der Hunde und Pferde ist sprichwörtlich geworden und kann leider der großen Mehrzahl der Menschen als Muster dienen. Die moralischen Regungen des Mit- leids, des Gewissens etc. sind bei Hunden und Pferden bekanntlich ebenfalls oft sehr entwickelt, und mehr als bei vielen Menschen, ebenso die Leidenschaften des Ehrgeizes, der Eitelkeit etc. Selbst die Laster der Lüge und Heuchelei, welche einen Grundzug der neueren Kultur bilden, finden wir bei den am meisten kultivierten Haustieren, insbesondere den Hunden, ebenso wie beim Menschen entwickelt. Hier wie dort gibt es böse und gute, falsche und treue Individuen. In der Tat sind die Vorstellungen der Empfindung und des Willens bei vielen der höheren Tiere so hoch differenziert, daß sie diesen nur selten abgesprochen worden sind. Anders verhält es sich aber mit der Funktion des Denkens, der Gedankenbildung, jenen höchsten und verwickeltsten Vorstellungen der tierischen Seele, welche wahrscheinlich immer durch eine höchst komplizierte Wechselwirkung zahlreicher zentrifugaler und zentripetaler Erregungen erzeugt werden. Die Gedankenbildung wird merkwürdigerweise den Tieren sehr allgemein abgesprochen, während doch in der Tat nichts leichter ist, als sich durch objektive Beobachtung zu überzeugen, daß die Ge- setze des Denkens bei den höheren Tieren und beim Men- schen durchaus dieselben sind, und daß die Induktionen und Deduktionen hier wie dort durchaus in der gleichen Weise gebildet werden. Auch in dieser Frage stoßen wir wiederum auf die heftigste Opposition gerade bei denjenigen Menschen, welche durch ihre un- vollkommenere Verstandsentwickelung oft selbst hinter den höheren Tieren zurückbleiben. Dies gilt nicht allein von den niederen Menschen- rassen, sondern auch von vielen Individuen der höchsten Rassen, und selbst von solchen, bei denen man vermuten sollte, daß die Masse erworbener Kenntnisse ihr Denkvermögen geschärft habe. Das geistige Leben wird also ebenso wie das körperliche bei den Tieren von denselben Naturgesetzen regiert wie beim Menschen. Dagegen ist die Stufenleiter der psychischen Entwickelung innerhalb des Tierreiches außerordentlich viel mannigfaltiger differenziert und erstreckt sich vom Nullpunkt der Reflexion bis zu ihrer höchsten Potenzierung. Gerade für das richtige Verständnis der Entwicke- lung neuer Funktionen durch Differenzierung ist die ver- XXVIII. Die Anthropologie als Teil der Zoologie. 423 gleichende Seelenlehre der Tiere vom höchsten Interesse und für die wissenschaftHche Psychologie des Menschen ganz unentbehrlich. Wie mit dem Seelenleben im ganzen, so verhält es sich auch mit allen einzelnen Teilen desselben. Alle werden bei Menschen und Tieren durch dieselben Naturgesetze regiert, und alle psychischen Funktionen und die daraus hervorgehenden Institutionen des mensch- lichen Lebens haben sich erst aus den entsprechenden Funktionen der Vorfahren des Menschen, zunächst insbesondere der Affen, all- mählich heraufgebildet. Ganz besonders gilt dies auch von allen staatlichen und sozialen Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft. Wir finden die Anfänge, und zum Teil vollkommenere Stufen derselben, bei den Tieren und oft selbst bei weit vom Menschen entfernten Tieren wieder, wie z. B. bei den Insekten (Ameisen). Auch für das Verständnis dieser höchst verwickelten Erscheinungen ist das vergleichende Studium derselben bei den Tieren unerläßlich, und die Staatsmänner, die*Volkswirtschaftslehrer. die Geschichtsschreiber der Zukunft werden vor allem vergleichende Zoologie, d. h. ver- gleichende Morphologie und Physiologie der Tiere als unerläßliche Grundlage studieren müssen, wenn sie zu einem wahrhaft natur- gemäßen Verständnisse der entsprechenden menschlichen Erschei- nungen gelangen wollen. Die interessantesten, wichtigsten und lehrreichsten Erscheinungen des organischen Lebens versprechen auf diesem noch fast ganz unkulti- vierten Wissenchaftsgebiete eine bisher ungeahnte Fülle der reichsten Ausbeute. Die zoologisch gebildeten und vergleichend untersuchenden Psychologen der Zukunft werden hier eine Ernte halten, von der sich die erfahrungslosen Psychologen der scholastischen Spekulation bis- her nichts haben träumen lassen. In noch weit höherem Maße, als die ., vergleichende Anatomie" der Tiere die früher ausschließlich kultivierte .,rein menschliche" Anatomie überflügelt und dennoch ihr zugleich ein unendlich höheres Interesse gegeben hat, wird die ., ver- gleichende Psychologie" der Tiere mit allen ihren Zweigen die bis- herige „rein menschliche" Psychologie überflügeln und sie zugleich zu einer ganz neuen Wissenschaft umgestalten. Wie weit man aber noch allgemein von der richtigen Erkenntnis dieses Verhältnisses entfernt ist, zeigt sich nicht allein in der gänz- lichen Vernachlässigung der Tierseelenkunde, sondern auch in der allgemeinen Unterschätzung der psychischen Differenzierung des Menschen selbst. Die wenigsten Menschen wissen den unermeßhch 424 Diß Anthropologie als Teil der Zoologie. XXVIIl. weiten Abstand zn schätzen, welcher die höchsten von den tiefsten Menschenrassen, nnd unter den ersteren wiederum die höchst diffe- renzierten Seelen von den wenigst differenzierten trennt. Die richtige Wertschätzung dieser äußerst wichtigen Verhältnisse wird uns lediglich durch die vergleichende En t wickeln ngsge - schichte gelehrt. Nur durch sie erkennen wir die wahre Stellung des Menschen in der Natur. Nur durch sie gewinnen wir die wert- volle Überzeugung, daß die Anthropologie nur ein Spezialzweig der Zoologie ist. Zusatz (1906). Progonotaxis des Menschen. Als ich vor vierzig Jahren in der generellen Morphologie den ersten Versuch unternahm, die tierische Ahnenreihe oder ,, Pro- gonotaxis" des Menschen — den Anforderungen* der Deszendenz- theorie entsprechend — zu ergründen, erschien die Lösung dieser bedeutungsvollen Aufgabe viel schwieriger und unsicherer, als es heute der Fall ist. Damals mußte ich mich darauf beschränken, den Stammbaum des Menschen zunächst nur in der Reihe der Wirbeltiere festzustellen und die zehn Hauptstufen seiner Ahnen- reihe zu unterscheiden, welche auf S. 414 aufgeführt und heute fast allgemein als sicher begründet anerkannt sind (S. 428 — 429 des zweiten Bandes der G. M.). Allein die wichtige Frage vom ..ersten Ursprung der Wirbeltiere", ihrer Abstammung von einer Reihe wirbelloser Tiere, erschien damals noch ..in tiefes Dunkel gehüllt". (Genealogische Übersicht des natürlichen Systems, 1. c. p. CXIX). Erst kurze Zeit darauf wurden die wichtigen embryologischen Ent- deckungen bekannt, welche die überraschende Übereinstimmung in der Ontogenese des Amphioxus und der Ascidia offenbarten und da- mit einen hellen Lichtstrahl auf die nahe, bis dahin kaum geahnte Stammverwandtschaft der Vertehrateii und TiinicateM warfen. Erst dadurch wurde es möglich, die Frage nach den wirbel- losen Ahnen der Wirbeltiere näher zu beantworten und hypo- thetisch eine Anzahl von Protozoen und niederen Metazoen als die wahrscheinlichen Vorfahren der ältesten Vertebraten zu bezeichnen. Die weitere Lösung dieser schwierigen Aufgabe, die ich schon 1868 in der ersten Auflage meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" versuchte, hat mich seitdem ununterbrochen beschäftigt und in den XXVIII. DiP Anthropologie als Teil der Zoologie. 425 neun folgenden Auflagen dieses Werkes ( — X. Auflage 1902 — ) vielfache Fortschritte gemacht. Am eingehendsten jedoch, und mit besonderer Rücksicht auf die Stammesgeschichte jedes einzelnen Organsystems, habe ich dieselbe in meiner Anthropogenie be- handelt, deren erste Auflage 1874 erschien.*) Die 30 Haupt- stufen der Ahnenreihe, die hier unterschieden wurden, habe ich in zwei Gruppen geteilt: die ältere Ahnenreihe umfaßt die 15 Haupt- stufen, die vor der Silurzeit lebten und wegen Mangels fester Skelett- teile keine fossilen Reste hinterlassen konnten (A. 5 Stufen von Protisten, B. 6 Stufen von wirbellosen Metazoen, C 4 Stufen von Monorhinen: 2 Acranier und 2 Cyclostomen). Die jüngere Ahnen- reihe umfaßt die 15 Hauptstufen der Wirbeitierahnen . welche feste, versteinerungsfähige Skeletteile besaßen und daher deutliche fossile Reste hinterlassen konnten: sie treten zuerst in der Silurzeit auf (D. 5 Stufen von kaltblütigen niederen Wirbeltieren: Fischen, Amphibien und Reptilien; E. 3 Stufen von älteren Säugetieren, aus der Sekundärzeit. Monotremen, MarsupiaUen. Mallotherien; F. 7 Stufen von Primaten: Halbaffen, Affen und Menschen). Die Begründung und Kritik dieser hypothetischen Progonotaxis habe ich für weitere Kreise in dem Vortrage gegeben, den ich 1898 auf dem vierten internationalen Zoologenkongresse in Cambridge hielt: ..Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen'' (Stuttgart, 1905, Neunte Auflg.). Erläuternde kritische Bemerkungen dazu aus neuester Zeit enthalten die drei Vorträge, die ich in Berlin (im April 1905) gehalten habe: „Der Kampf um den Entwickelungsgedanken": I. Der Kampf um die Schöpfung (Abstammungslehre und Kirchenglaube): IL Der Kampf uin den Stammbaum (Affenverwandtschaft und Wirbel- tierstamm): III. Der Kampf um die Seele (Unsterblichkeit und Gottes- begriff). (G. Reimer, Berlin.) *) Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. I.Band: Keimesgeschichte oder Ontogenie: II. Band: Stammesgeschichte oder Phylogenie. Leipzig 1874. Fünfte umgearbeitete Auflage 1903. 990 Seiten, mit 30 Tafeln, 500 Textfiguren und 60 genetischen Tabellen. (W. Engelmann. Leipzig.) ACHTES BUCH. DIE ENTWICKELUNGSGESCHICHTE DER ORGANISMEN IN IHRER BEDEUTUNG FÜR DIE KOSMOLOGIE. Bedecke deinen HimmeK Zeus, mit Wolkendunst. Und übe. dem Knaben gleich, der Disteln köpft. An Eichen dicli und Bergeshöhn: Mußt mir meine Erde doch lassen stehn. Und meine Hütte, die du nicht gebaut. Und meinen Herd, um dessen Glut Du micli beneidest. Ich kenne nichts Ärmeres Unter der Sonn", als euch Götter! Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern und Gebetshauch eure Majestät Und darbtet, wären nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren. Da ich ein Kind war, nicht wußte wo aus noch ein. Kehrt' ich mein verirrtes Auge zur Sonne, als wenn drüber war" Ein Ohr, zu hören meine Klage. Ein Herz, wie meins, sich des Bedrängten zu erbarmen. Wer half mir wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich, von Sklaverei? Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz? Und glühtest, jung und gut. betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden da droben? Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen? Hast du die Tränen gestillt je des Geängsteten? Hat nicht mich zum Manne geschmiedet Die allmächtige Zeit und das ewige Schicksal, Meine Herren und deine? Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen. In Wüsten fliehen, weil nicht alle Blütenträume reiften? Hier sitz" ich. forme Menschen nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei. Zu leiden, zu weinen. Zu genießen und zu freuen sich: Und dein nicht zu achten, Wie ich! Goethe (Prometheus;. Neunundzwanzigstes Kapitel. Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissen schaft. System des Moiiisiims. .Xaoli ewigen, ehernen Großen Gesetzen Müssen wir Alle Unseres Daseins Kreise vollenden." Goethe. Nachdem wir versucht haben, in dem Objekte unserer Unter- suchung-, in der gesamten organischen Formenwelt, die absolute Herrschaft eines einzigen, allumfassenden Naturgesetzes, des all- gemeinen Kausalgesetzes, nachzuweisen, nachdem wir gezeigt haben, daß alle Organismen ohne Ausnahme, den Menschen mit in- begriffen, diesem obersten und höchsten Naturgesetze der absoluten Notwendigkeit unterworfen sind, erscheint es am Schlüsse unserer Darstellung wohl nicht unpassend, von dem so errungenen Stand- punkte aus einen Bhck auf unser Verhältnis zur Gesamtnatur, sowie insbesondere auf das Verhältnis der organischen Morphologie zur gesamten Naturwissenschaft zu werfen. Kosmos oder Weltall nennen wir das allumfassende Natur- ganze, wie es der Erkenntnis des Menschen zugänglich ist. Dieser Kosmos ist die Gesamtsumme aller Materie und aller Kraft, da wir uns als Menschen weder eine Vorstellung von einer Materie ohne Kraft, noch von einer Kraft ohne Materie machen können. Man kann diesen Kosmos oder Mundus, das Universum (to -5v), wie ihn Alexander von Humboldt in der großartigsten Weise als Ganzes erfaßt und dargestellt hat, in einen siderischen und in einen telluri sehen Teil zerlegen, von denen der letztere sich bloß mit dem vom Menschen bewohnten Planeten, der Erde, der erstere mit dem gesamten übrigen, außerirdischen Weltall beschäftigt. Der tellurische Kosmos wird wiederum in eine anorganische und in 430 ßie Einheit der Natur und die Einlieit der Wissenschaft. XXIX. eine organische Natur geteilt, deren gegenseitige Beziehungen wir im 5. Kapitel ausführlich erläutert haben. Kosmologie oder Weltlehre können wir im weitesten Sinne die menschliche Wissenschaft vom Weltall nennen. Diese all- umfassende Wissenschaft ist zugleich die Wissenschaft xai' e^o/'z-v. da es eine andere Erkenntnisquelle als das Weltall oder die Gesamt- natur nicht gibt. Alle wirklichen Wissenschaften sind also entweder Teile der Kosmologie oder das umfassende Ganze der Kosmologie selbst. Der Einteilung des Kosmos in siderischen und tellurischen Teil entsprechend kann man die Uranologie (Hinimels- kimde) und die Pangeologie (Erdkunde im weitesten Sinne oder Gesamtwissenschaft von der Erde) unterscheiden. Die Pangeologie ist ebenso ein Teil der Kosmologie, wie die Anthropologie ein Teil der Biologie. Die Pangeologie zerfällt wiederum in die beiden Zweige der anorganischen Erdwissenschaft (Abiologie) und der or- ganischen Erd wissen Schaft (Biologie), deren Verhältnis zuein- ander, sowie das ihrer einzelnen Zweige wir im 2. Kapitel erörtert haben. Die Materie und die davon untrennbare Kraftsumme der Welt sind in Zeit und Raum unbeschränkt, ewig und unendlich. Da aber ein ununterbrochenes Wechselspiel von Kräften, eine unbeschränkte Wechselfolge und Gegenwirkung von Anziehungen und Abstoßungen die Materie in beständiger Bewegung erhält, so befindet sich ihre Form in beständiger Veränderung. Während also Stoff und Kraft ewig und unendlich sind, ist dagegen ihre Form in ewiger und unendlicher Veränderung (Bewegung) begriffen. Die Wissenschaft von dieser ewigen Bewegung des Welt- alls kann als Weltgeschichte im weitesten Sinne oder auch als "ö ' Entwickelungsgeschichte des Universums, als Kosmosenie bezeichnet 'b"b w^erden. Die Kosmogenie zerfällt in die beiden Zweige der Urano- genie (welche Kant sehr richtig die „Naturgeschichte des Himmels" nannte) und in die Geogenie, die „Naturgeschichte der Erde" oder die Entwickclimgsgeschichte der Erde, welche auch häufig mit dem mehrdeutigen Namen der „Geologie" bezeichnet wird. Wenn wir von der Entwickelungsbewegung des Wehalls als solcher absehen, und das fertige Resultat derselben in irgend einem Zeitmomente betrachten, so bezeichnen wir die wissenschaftliche Kenntnis dieses Resultates passend als Weltbeschreibung- oder Kosmographie, welche wiederum in einen siderischen und telluri- XXIX. l^ie Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft. 431 sehen TeiL in die Uranographie und in die Geographie zerfällt. Diese Wissenschaften nehmen zu den vorhergehenden (zur Kosmogenie, Uranogenie und Geogenie) dieselbe Stellung ein, wie die Anatomie der Organismen zu ihrer Entwickelungsgeschichte. Erst durch die Erkenntnis der letzteren gelangen wir zum Verständnis der ersteren. Erst durch die Geschichte der Welt oder eines Teiles derselben wird ihre Beschreibung zur wirklichen Wissenschaft, zur Erkenntnis.^) ..Xihil est m intcIJecfn, qiiod non ante fuerit in sensu." Dieser Satz bildet den Ausgangspunkt für die richtige Wertschätzung unseres Erkenntnisvermögens. .,Homo naturac minister et interjjres tantiim facit et intelligit, qiiantiim de naturae ordine, re et mente obser- vaverit: nee amplius seit aut potest.^^ Mit diesen Worten hat bereits Baco von Verulam den wichtigsten Grundsatz festgestellt, daß alle menschliche Erkenntnis in letzter Instanz sinnlich, d.h. a posteriori ist. Es gibt keine Erkenntnisse a priori. Der weit verbreitete Irrtum, daß solche existieren, konnte nur auf einer falschen anthropo- ^) \Yie die gelehrte Scholastik des Mittelalters noch vielfach unsere An- schauungen beherrscht, zeigt sich vielleicht nirgends so auffallend als in der üblichen und altherge])rachten Einteilung der Wissenschaften, wie sie sich nament- lich auch in der Einteilung der Fakultäten auf unseren Universitäten offenbart. Voran steht die Theologie. Die wirklich natürliche d.h. wahrheitsgemäße Theologie fällt zusammen mit der Kosmologie, oder was dasselbe ist, mit der Naturphilosophie. Denn da Gott allmächtig, da er die Summe aller Kräfte in der Welt ist. da er das ganze Universum umfaßt, so muß er auch in allen Teilen des Kosmos erkennbar sein, so ist jede Naturerscheinung eine Wirkung Gottes, oder was dasselbe ist, des Kausalgesetzes, und die allumfassende Naturwissenschaft ist zugleich Gotteserkenntnis. Die scholastische Theologie da- gegen, wie sie gewöhnlich gelehrt wird, ist in ihrem historischen Teile (als Ent- wickelungsgeschichte der Glaubensdichtungen) ein kleiner Teil der Anthropologie und speziell der genetischen Psychologie; in ihrem dogmatischen Teile ist sie keine Wissenschaft, da Dogma und Erkenntnis als solche sich ausschließen. Zum großen Teile gehört die Theologie in das psychiatrische Gebiet; zum großen Teile ist sie. ebenso wie die Jurisprudenz und Medizin, eine Kunst, eine praktische Sammlung von Kenntnissen und Anweisung zu deren Gebrauch, aber keine reine Wissenschaft. Daß alle Wissenschaften, welche speziell menschliche Verhältnisse betreffen, insbesondere auch die historischen, philologischen, statistischen Wissen- schaften etc. Teile der Anthropologie und mithin der Zoologie sind, wurde bereits im vorigen Kapitel gezeigt. Es bleibt mithin als einzige reine, allumfassende Wissenschaft in der Tat nur die Naturphilosophie (identisch mit der Kosmologie) übrig, von welcher die Anthropologie nur ein ganz kleiner beschränkter Teil ist. Die Mathematik ist ein Teil der allgemeinen Kosmologie, wie die Psycho- logie ein Teil der speziellen Anthropologie und die Logik ein Teil der Psychologie. 432 Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft. XXIX. logischen Basis sich erheben. Seitdem wir in der wahren Erkenntnis der menschlichen Deszendenz, in der Gewißheit, daß sich der Mensch aus niederen Wirbeltieren entwickelt hat, den allein richtigen Stand- punkt für die Wertschätzung seiner Geistestätigkeit ein für allemal gewonnen haben, ist es klar, daß man nicht mehr von Erkenntnissen a priori sprechen kann. Die Vererbungsgesetze, und namentlich das Gesetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung, erklären uns vollkommen jenen Irrtum. Alle Erkenntnisse ohne Ausnahme sind a posteriori, durch die sinnliche Erfahrung, erworben: sie scheinen aber häufig a priori zu sein, weil sie schon durch viele Generationen vererbt sind. Ebenso werden auch die durch Dressur anerzogenen Fähigkeiten bestimmter Hunderassen (z. B. der Spürhunde) durch Vererbung zu angeborenen (a priori). A^on der Mathematik, welche am meisten von allen wirklichen Wissenschaften als a priori konstruiert gelten könnte, hat bereits John Stuart Mi 11 in seiner vortrefflichen induktiven Logik gezeigt, daß dieselbe in der Tat eine Wissenschaft a posteriori ist. Jede Zahlgröße, jede Raumgröße, jedes Gesetz über deren Verhältnisse ist eine Abstraktion aus vorhergegangener Erfahrung oder ein durch Kombination mehrerer solcher Abstraktionen gewonnener Schluß. Hier tritt nun die unermeßliche Bedeutung, welche die all- gemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen und die des Menschen im besonderen für die universale Kosmologie besitzt, in ihr volles Licht. Lediglich vermittelst der durch die Deszendenz- theorie erworbenen Erkenntnis, daß der Mensch nichts v^-eiter ist, als einer der letzten imd jüngst entwickelten Zweige des Wirbeltier- Stammes, gelangen wir zu einem richtigen, naturgemäßen Verständnis der Anthropologie, und somit auch der Erkenntnisgrenzen des Menschen und des Verhältnisses seiner Wissenschaft zum Weltganzen. Nur wenn man auf Grund der Deszendenztheorie und der durch sie kausal begründeten Morphogenie die „Stellung des Menschen in der Natur" richtig begriffen und konsequent durchdacht hat, kann man auch zu dem allein wahren d. h. naturgemäßen Verständnis der menschlichen Wissenschaft gelangen. Der Grundgedanke, welcher unser System der „generellen Morpho- logie der Organismen" als roter Faden durchzieht, und w^elcher nach unserer unerschütterlichen Überzeugung die unerläßliche Basis aller wahrhaft wissenschaftlichen Bestrebungen zum Verständnis der orga- nischen Formen weit sein muß, ist der Gedanke von der absoluten XXIX. Die Einheit der Natur und die Einheit der Wissenschaft. 433 Einheit der Natur, der Grundgedanke, daß es ein und dasselbe allmächtige und unabänderliche Kausalgesetz ist, welches die ge- samte Katur ohne Ausnahme, die organische wie die anorganische Welt regiert. Dieses Kausalgesetz ist die allumfassende Notwen- digkeit, die ctva-f/.'/j, welche ebensowenig einen „Zufall"' als einen „freien Willen"' zuläßt. Durch eingehende Vergleichung der Orga- nismen und der Anorgane hinsichtlich ihrer Stoffe, Formen und Kräfte haben wir im 5. Kapitel zu zeigen versucht, daß diese äußerst wichtige philosophische Erkenntnis von der Einheit der orga- nischen und anorganischen Natur empirisch fest begründet ist. Dieser Einheit der Natur entspricht vollständig die Einheit der menschlichen Naturerkenntnis, die Einheit der Naturwissen- schaft, oder w^as dasselbe ist, die Einheit der Wissenschaft überhaupt. Alle menschliche Wissenschaft ist Erkenntnis, welche auf Erfahrung beruht, ist empirische Philosophie, oder wenn man lieber will, philosophische Empirie. Die denkende Er- fahrung oder das erfahrungsmäßige Denken sind die einzigen Wege und Methoden zur Erkenntnis der Wahrheit. So kommen wir auf den wichtigen Satz zurück, welchen wir bereits im 4. Kapitel begründet haben : Alle wahre Naturwissenschaft ist Philosophie, und alle wahre Philosophie ist Naturwissenschaft. Alle wahre Wissenschaft aber ist Naturphilosophie.*) *) Anmerkung (1906). Die Prinzipien der Monistischen Natur- philosophie, wir sie hier vor vierzig Jahren zuerst formuliert wurden, sind neuerdings von mir weiter ausgeführt und besonders durch das einheitliche Substanz-Gesetz eingehend begründet worden in meinem Buche über ..Die AVelträtsel" (1899) und dessen Ergänzungsband: ..Die Lebenswnnder" (1904). Mein konsequenter und streng einheitlicher Monismus ist weder einseitiger ..Materialismus", noch ebenso einseitiger ..Spiritualismus" (Dynamismus oder Energetik); über seine Stellung zu anderen philosophischen Systemen vergl. die neue ..Geschichte der Philosophie seit Kant" von Otto Gramzow: Charlotten- burg, Georg Bürkner, 1905. (Heft 13, Haeckel.) Haeekel, Prinz, d. Mor[)hol. 28 Dreissigstes Kapitel. G-ott in der Ifatur. (Amphitheismus und Monotheismus.) Wer darf ihn nennen? und wer bekennen: Ich g-lauh" ihn? Wer empfinden, und sich unterwinden, zu sagen : Ich glauli' ilin nicht? Der Allunifasser. der AUerlialter. Faßt und erliält er nicht dich, micli, sich selb.st ? Wölbt sich der Himmel nicht da droben? Liegt die Erde nicht hier unten fest? Und steig'en. freundlich blinkend, ewig'e Sterne nicht herauf? Goethe. Der Monismus, wie wir denselben in der generellen Morpho- logie der Organismen als das unentbehrliche Fundament der Wissen- schaft und als die notwendige Voraussetzung der reinen Erkenntnis nachgewiesen und allgemein durchgeführt haben, ist von vielen Seiten als Atheismus und als Materialismus verschrien und als solcher auf das heftigste bekämpft worden. Wir sind darauf gefaßt, diesen Vorwurf auch gegen unsere monistische Naturanschauung erhoben zu sehen, um so mehr, als wir die herrschende, dualistische Vorstellung eines persönlichen Schöpfers, wie jeder ,,Schöpfung" überhaupt, auf das entschiedenste verwerfen und bekämpfen. Bei der all- gemeinen Uuklarheit und Urteilslosigkeit, welche gerade in der empirischen Morphologie in betreff dieser wichtigsten Grundprinzipien herrscht, erscheint es passend, am Schlüsse dieses Werkes unsern betreffenden Standpuukt klar zu bestimmen und kurz zu zeigen, daß der von uns ausschließlich kultivierte Monismus zugleich der reinste Monotheismus ist. Was zunächst den Vorwurf des Materialismus betrifft, den man gegen den Monismus erhoben hat, so ist derselbe, wie schon Schleicher bemerkt iiat, ganz ..ebenso verkehrt, als wollte man ihn des Spiritualismus zeihen''. Der Monismus kennt weder die Materie ohne Geist, von welcher der Materialismus spricht, noch Gott in der Natur. 435 den Geist ohne Materie, welchen der Spiritualismus annimmt. Viel- mehr gibt es für ihn ..weder Geist noch Materie im gewöhn- lichen Sinne, sondern nur eins, das beides zugleich ist." Wir kennen eine geistlose Materie, d. h. einen Stoff ohne Kraft, ebensowenig als einen immateriellen Geist, d. h. eine Kraft ohne Stoff'. Jeder Stoff" als solcher besitzt eine Summe von Spannkräften, welche als lebendige Kraft in die Erscheinung treten, und jede Kraft kann nur durch die Materie, an welcher sie haftet, als solche wirk- sam sein. Diese rein monistische Ansicht, welche wir auf das ent- schiedenste vertreten, ist schon vor langer Zeit von einem unserer hervorragendsten Denker und Naturforscher, von Wolfgang Goethe. so klar und bestimmt ausgesprochen worden, daß wir nichts besseres tun können, als seinen merkwürdigen Ausspruch hier nochmals her- vorzuheben: ..Weil die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, sowie sich's der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat, um zu verbinden, genugsam verbunden hat. um wieder trennen zu mögen!" Was nun aber zweitens den Vorwurf des Atheismus betrifft, den zweifelsohne sowohl gedankenlose Naturkenner als auch kennt- nislose Naturdenker gegen unseren Monismus erheben werden, so schleudern wir diesen schweren Vorwurf dadurch auf sie zurück, daß wir ihren angeblichen Theismus als Amphitheismus, unseren Monismus dagegen als reinen Monotheismus nachweisen. Es ist in der Tat nicht schwer, bei objektiver und vorurteils- freier Betrachtung zu der klaren Überzeugung zu gelangen, daß der mythologisch begründete Theismus, welcher angeblich als „reiner Monotheismus" die Kulturvölker der neueren Zeit beherrscht, und welcher in der organischen Morphologie als „ Schöpf ungsnnihus" bis vor kurzem eine so hervorragende Rolle spielte, in der Tat kein Monotheismus, sondern Amphitheismus ist. Monotheismus war diese herrschende Gotteslehre nur so lange, als alle Naturerschei- nungen ohne Ausnahme für das unmittelbare Resultat der persön- lichen göttlichen Weltherrschaft galten, nur so lange, als alle an- organischen und organischen Phänomene — vom Wehen des Windes und dem Rollen des Donners bis zu dem Lichte der Sonne imd dem 28* 436 Gott in der Natur. XXX. Laufe der Gestirne, von dem Blütenduft der Pflanze und dem Fluge des Vogels bis zu der Gedankenbildung des Menschen und der Ent- wickelungsgeschichte der Völker — direkte Wirkungen eines monar- chischen, persönlichen Schöpfers waren. Als aber die neuere Natur- wissenschaft nachwies, daß das gesamte Gebiet der anorganischen Natur durch feste und ausnahmslose Naturgesetze regiert werde, als Physik und Chemie die Abiologie in mathematische P'ormeln brachten, da wurde dem persönlichen Schöpfer die Hälfte seines Gebietes entrissen, und es blieb ihm nur noch die organische Natur übrig, und selbst von dieser wurde durch die neuere Physiologie abermals die Hälfte abgelöst, so daß bloß noch die organische Morphologie dem persönlichen Willkürregimente des mediatisierten Weltherrschers unterworfen blieb. So wurde aus dem früheren Monotheismus der vollständige Amphitheismus. welcher gegen- wärtig die mystische Weltanschauung der Kulturvölker beherrscht, und welcher in der Wissenschaft als der grundverkehrte Dualismus er- scheint, den wir in der generellen Morphologie auf das entschiedenste bekämpft haben. Was ist dieser Dualismus anderes als der Kampf zwischen zwei Göttern von grundverschiedener Natur? Dort sehen wir auf dem von dem Mechanismus eroberten Gebiete der Abiologie die aus- schließliche Herrschaft von ausnahmslosen und notwendigen Natur- gesetzen, von der dvy.jAq, welche zu allen Zeiten und an allen Orten dieselbe, und sich beständig gleich bleibt. Hier dagegen er- blicken wir auf dem von der Teleologie noch bedrohten Gebiete der Biologie, und vorzüglich auf dem der organischen Morphologie, die launenhafte Willkürherrschaft eines persönlichen und durchaus menschenähnhchen Schöpfers, welcher sich vergeblich abmüht, endlich einmal einen .,vollkommenen" Organismus zu schaffen und beständig die früheren Schöpfungen der „Vorwelt" verwirft, indem er neue verbesserte Auflagen an deren Stelle setzt. Wir haben schon im 6. Kapitel gezeigt, w^arum wir diese klägliche Vorstellung des ..persönlichen Schöpfers" durchaus verwerfen müssen. In der Tat ist dieselbe eine Entwürdigung der reinen Gottesidee. Die meisten Menschen stellen sich diesen „lieben Gott" durchaus menschen- ähnlich vor: er ist in ihren Augen ein Baumeister, welcher nach einem vorher entworfenen Plane den Weltbau ausführt, aber nie damit fertig wird, weil er während der Ausführung immer auf neue, bessere Ideen kommt: er ist ein Theaterdirektor, welcher die Gott in der Natur. 437 Erde wie ein großes Marionettentheater dirigiert und die zahllosen Drähte, an denen er der Menschen Herzen lenkt, gewöhnUch mit leidlicher Geschicklichkeit zu handhaben weiß: er ist ein halbbe- schränkter König, der nur auf dem anorganischen Gebiete konstitu- tionell nach fest beschworenen Gesetzen, auf dem organischen Gebiete dagegen absolut, als patriarchalischer Landesvater herrscht und sich hier durch die Wünsche und Bitten seiner Landeskinder, unter denen die vollkommensten Wirbeltiere die am meisten begünstigten sind, bestimmen läßt, seinen Weltenplan täglich abzuändern. Wenden wir uns weg von diesem unwürdigen Anthropomor- phismus der modernen Dogmatik. welcher Gott selbst zu einem ..gas- förmigen Wirbeltier"' erniedrigt, und betrachten wir dagegen die unendlich erhabenere Gottesvorstellung, zu welcher uns der Monismus hinführt, indem er die Einheit Gottes in der gesamten Natur nachweist, und den Gegensatz eines organischen und eines anorga- nischen Gottes aufhebt, welcher den Todeskeim in der Brust jenes herrschenden Amphitheismus bildet. Unsere Weltanschauung kennt nur einen einzigen Gott, imd dieser allmächtige Gott beherrscht die gesamte Natur ohne Ausnahme. Wir erblicken seine Wirksamkeit in allen Erscheinungen ohne Ausnahme. Die gesamte anorganische Körperwelt ist ihr ebenso wie die gesamte organische unterworfen. Wenn jeder Körper im luftleeren Räume in der ersten Sekunde 15 Fuß fällt, wenn jedesmal drei Atome Sauerstoff mit einem Atom Schwefel sich zu Schwefelsäure verbinden, wenn der Winkel, den eine Säulenfläche des Bergkristalls mit der benachbarten macht, stets 120^ beträgt, so sind diese Erscheinungen ebenso die unmittelbaren AVirkungen Gottes, wie es die Blüten der Pflanzen, die Bewegungen der Tiere, die Gedanken der Menschen sind. Wir sind alle ..von Gottes Gnaden", der Stein so gut wie das Wasser, das Radiolar so gut wie die Fichte, der Gorilla so gut wie der Kaiser von China. Nur diese Wehanschauung, welche Gottes Geist und Kraft in allen Naturerscheinungen erblickt, ist seiner allumfassenden Größe würdig: nur wenn wir alle Kräfte und alle Bewegungs- erscheinungen, alle Formen und Eigenschaften der Materie auf Gott, als den Urheber aller Dinge, zurückführen, gelangen wir zu der- jenigen menschlichen Gottesanschauung und Gottesverehrung, welche seiner unendlichen Größe in Wahrheit entspricht. Denn ,.in ihm leben, weben und sind wir". So wird die Naturphilosophie in der Tat zur Theologie. Der Kultus der Natur wird zu jenem wahren 438 Cfott in der Natur. Gottesdienste, von welchem Goethe sagt: „Gewiß, es gibt Iveine schönere Gottesverehrung- als diejenige, welche aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen ent- springt!" Gott ist allmächtig: er ist der einzige Urheber, die Ursache aller Dinge, d.h. mit anderen Worten : Gott ist das allgemeine Kausalgesetz. Gott ist absolut vollkommen, er kann niemals anders als vollkommen gut handeln: er kann also auch niemals will- kürlich oder frei handeln, d. h. Gott ist die Notwendigkeit. Gott ist die Summe aller Kräfte, also auch aller Materie. Jede Vorstellung von Gott, welche ihn von der Materie trennt, setzt ihm eine Summe von Kräften gegenüber, welche nicht göttlicher Natur sind, jede solche Vorstellung führt zum Amphitheismus. weiterhin zum Polytheismus. Indem der Monismus die Einheit in der gesamten Natur nachweist, zeigt er zugleich, daß nur ein Gott existiert, und daß dieser Gott in den gesamten Naturerscheinungen sich offenbart. In- dem der Monismus die gesamten Phänomene der organischen und anorganischen Natur auf das allgemeine Kausalgesetz begründet und dieselben als die Folgen „wirkender Ursachen" nachweist, zeigt er zugleich, daß Gott die notwendige Ursache aller Dinge und das Gesetz selbst ist. Indem der Monismus keine anderen als die göttlichen Kräfte in der Natur erkennt, indem er alle Natur- gesetze als göttliche anerkennt, erhebt er sich zu der größten und erhabensten Vorstellung, welcher der Mensch als das vollkommenste aller Tiere fähig ist, zu der Vorstellung der Einheit Gottes und der Natur. „Was war' ein Gott, der nur von außen stieße, Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen. So daß, was in Ihm lebt und webt und ist. Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt.'' REGISTEK. Abänderung 2i>4. — geschlechtliche 209. — individuelle 265. — monströse 266. — sexuelle 269. — sprungweise 266. Abiologie 430. Abortive Organe 322. Abortus 323. Abstammung des Menschen 414. Abstammungslehre 84. Abweichende Anpassung 279. Abweichung, generative 267. Acentra 160. Achsenfeste 151. Achsenlose 151. Acme 36.5, 383. Adaptabilitas 254. Adaptatio correlativa 278. — cumulativa 271. — divergens 279. — individualis 265. — infinita 281. — monstrosa 266. — sexualis 269. — universalis 270. Adaptation 72, 2.54. Adolescentia 203. Adulta 223. Adultas 205. Aetas juvenilis 203. — matura 205. — senilis 207. Affenabstammung 419. Aggregat-Zustände 55. Aggregation 121. Ahnenreihe des Menschen 415, Akklimatisation 271. Aktualismus 361. Aktuelle Anpassung 263. 270. Aktuelle liionten 135. Albuminat 112. Allgemeine An|)assung 270. Altrix 217. Amme 217. Amphigenesis 216. Amphigonie 186. Amphitheismus 435. Analoge Charaktere 287. Analogie 287. Analyse 21. Anaplasis 172, 203. Anaplastologie 175. Anaxonia 151. Angepaßte Eigenschaften 285. Angewöhnung 271. Anorgane 49. Anorganische Aggregatzustände 55. — Anpassung 72. — Bildungstriebe 74. — Formen 58. — Grundformen 64. — Individualität 58. — Korrelation 78. — Kräfte 67. — Materien 49. — Selbsterhaltung 71. — Verbindungen 53. 440 Register. Anoiiranisc'Iies Wachstum (58. Anpassung 72. 254. 285. — abweichende 279. — aktuelle 263, 270. — allgemeine 270. — direkte 258. 270. — funktionelle 272. — gehäufte 271. — indirekte 258. 265. — korrelative 278. — kumulative 271. — potentielle 263, 265. — unbeschränkte 281. — wechselbezügliche 278. — Gesetze 2G5. — Grad 257. — Grundgesetz 257. — Ursachen 255. Anpassnngscharaktere 287. Anpassungsfähigkeit 254. Antheren 191, 194. Antheridien 191. .Anthropogenie 425. Anthropologie 411. 418. Anthropomorphismus 89. Antimeren 106, 123. — Geschlechtscharaktere 192. Arbeitsteilung 121, 201. 280, 304. Archegonien 191. Archigonie 91, 179. Art 367, 371. Artbeständigkeit 377. Atavismus 235. Atheismus 435. Äther 51. Atom 103. Atomistische Theorie 51. Atrophie 323. Atrophische Organe 322. Attraktion 51. Aufbildung 172. 203. Aufblühzeit 365, 382. Ausartungen 268. Auslese 289. — der Besten 293. — geschlechtliche 299. Autogonie 94. Axen der Grundformen 157. Axonia 151. Bastardzeugung 247. Baumgestalt des Systems 398. Beobachtung 12. ßildungsstoff 112. Bildungstrieb 74. 286. Biogenetisches Grundgesetz 353, 410. Biologie 428. Bion 105. 134. Bionomie 334. Biontik 103. Bisexuales 186. Blasti 130. Blütezeit 365. 383. Carpelle 194. Cataplasis 207. Causae efficientes 34, 37. Causae finales 34. 38. Cellulae 109. Cellulae membranosae HO. — primordiales HO. Centraxonia 160. Centroplana 160. Centrostigma 16(1. Charakterdifferenzen der System- gruppen 402. Charakteres adaptivi 285. — hereditarii 285. Chorologie 335. Cormen 106, 132. Creseentia 200. Cyclus amphigenes 210. — generationis 209. — monogenes 210. Cytoblastus HO. 112. Cytode HO. Cytoplasma 111. 120. Darwin 20. 39. Darwinismus 231. Decrescentia 207. Register. 441 Deduktion 28. Defloiescentia 207. Degeneration 202. Dekreszenz 173. Denken 422. Denkmünzen der Schöpfung 3;")!) Deszendenztlieorie 84. 231. 337. Diclinia 195. Differenzierung 121. 201. 304. Digene Zeugung 18G. Dimidiatio 183. Dioecia 190. Dioecisten 186. Diradiatio 183. Direkte Anpassung 258. 270. Divergentia 201. 304. Divergenz, individuelle 308. — paläontologische 308. — spezitische 309. — systematische 309. — des Charakters 235. 307. Divergenzgesetz 281, 304. Divisio 182. Dogmatik 30. Dogmen 339. Dualismus 43. Dysteleologie 38, 320. Ehe 303. Eierstöcke 191. 220. Eigenschaften, angepaßte 285. — ererbte 285. Eikreis 210, 221. Einheit der Natur 80, 429. — der Wissenschaft 427. Eiweißkörper 112. Eizelle. 180. 186. Elementarorganismus 109. Elemente .53. Elternzeugung 179. Embryo 173. Embryologischer Fortschritt 318. Embryologie 173. Empfindung 420. Empirie 10. Entbildune- 202. Ent Wickelung 170. Entwickelung. Funktionen 199. 380. — Resultate 385. — Stadien 381. Entwickelungsgeschichte 178. Entwürdigung des Menschen 416. Epacme 365, 382. Epigenesis 169. Epimeren 128. Erblichkeit 73. 235. — Grundgesetz 236. Erblichkeitsgesetze 238. Erdgeschichte 430. Ererbte Eigenschaften 285. Erfahrung 10. Erkenntnis 10. — der Wahrheit 433. Erkenntnisse a priori 431. Erkenntnisvermögen 43. Erlöschen der Mittelformen 3t)6. Ernährung 71, 255. Ernährungsabänderungen 275. Evolutio 169. 172, 203. Existenz, individuelle 258. Fakultäten 431. Farbenwahl, sympathische 296. Fehlgeschlagene Individuen 320. Fissio 181. Folgestücke 127. Formed matter 118. Formengenuß 339. — Verständnis 339. — Verwandtschaft 385. Formindividuum 105. Fortpflanzung 179. 236. Fortpflanzungsarten 197. 198. Fortschritt 311. — ontogenetischer 318. — paläontologischer 318. — spezifischer 319. Fortschrittsgesetz 311. Frage aller Fragen 413. Freier Wille 274. 421. Freiheit des Willens 274, 421. Fruchtblättei- 194. 442 Register. Funktionelle Anpassung 272. Funktionen der Kntwickelung l!)i). (iasfönniges Wirbeltier 90. Gasträatheorie 410. Gedankenbildung 421. Gegenstücke 12o. Gehäufte Anpassung 271. Gemeinde 133. Gemeindebildung 121. Gemma 131, 184. Gemmatio 131, 183. Gemmulae 191. Gemüt 421. Genealogie 352. Genealogischer Parallelismus 386. Generatio 199. Generatio digenea 180. — divisiva 182. — fissipara 182. — gemmipara 183. — monogenea 181. — parentalis 179. — scissipara 182. — spontanea 9t), 179. — sporipara 18."). Generationsfülge 218. Generationswechsel 218, 244. Generative Abweichungen 2G7. Geographie der Organismen 335. Geologische Überlieferung 355. Germinal matter 118. Gesang 302. Geschlechtliche Auslese 299. — Fortpflanzung 18(5. Geschlechtstrennung 187. Geschlechtsverhältnisse der Individuali- tätsstufen 188—196. — Antimeren 192. — Metameren 193. — Organe 190. — Personen 194. — Piastiden 188. — Stöcke 196. Gesetze der Anpassung 2(55. — Vererbung 243. Gestaltungskraft 74. Gewebe 121. Gewohnheit 271. Glandula hermaphrodita 191. Glastiere 297. Gleichfarbige Zuchtwahl 296. Gliederung 127, 129. Gonochorismus 187. — der Antimeren 192. — der Metameren 194. — der Organe 191. — der Personen 195. — der Piastiden 190. — der Stöcke 196. Gonochoristen 186. Gott 434. 438. Grad der Ausbildung 168. — der Vererbung 237. Greisenalter 207. Grundformen 64, 151. — System 158—163. Grundformenlehre 149. Grundgesetz, biogenetisches 353. 410. — der Erblichkeit 236. — der Anpassung 257. Gruppen, gute und schlechte 396. Gruppenstufen 401. Gute Arten 378. — Gruppen 396. Gymnocyta 110. Gymnoplastide 117. Hautlose Zellen 110. Hautzellen 110. Hereditas 235. — abbreviata 248. — accommodata 249. — adaptata 249. — alternans 244. — amphigona 246. — constituta 250. — continua 243. — homochrona 252. — homotopa 251. — interrupta 244. — latens 244. Register. 443 Hereditas inixta 246. — sexualis 246. — siniplicata 248. Heredität 285. — progressive 241. Herniaphroditismus 187. — der Antimeren 192. — der Metameren 193. — der Organe 190. — der Personen 194. — der Piastiden 188. — der Stöcke 19G. Hermaphroditen 186. Heterogonie 221. Histonalen 130. Hoden 191. Honiodyname Teile 127. Honiodynamie 127. Homologe Charaktere 287. Homologie 287. Homonymie 127. Homonyme Teile 127. Homotypische Grundzahl 126. — Teile 123. Hunger 299. Hypertrophie 323. Hypogenesis 220. — epimorpha 224. — metamorpha 222. Ideale Typen 283. Idorgane 106. Indirekte Anpassung 258, 265. Individualitätslehre 103. Individuelle Abänderung 265. . — Divergenz 308. — Existenz 258. Individuen 59, 103. Induktion 23. Intercellularsubstanz 116. Involutio 207. Imagines 177. Imbibition 57. Involution 173. Jugendalter 203. Juventus 203. Kampf ums Dasein 234. 292. Karyon (Zellkern) 112. Karyoplasma 120. Kataklysmentheorie 359. Kataplasis 173. Kataplastische Individuen 322. Kataplastologie 175. Kategorien des Systems 390. — promorphologische 163. — System 401. Kausalgesetz 37, 429. Kausalität 33. Keimstöcke 220. Keimsubstanz 118. Kern 119. Kernkörperchen 113. Kernpunkt 113. Klassifikation 384. Knospe 131, 184. Knospenbildung 131. Knospung 183. Kohlenstoff 55. Kolonie 133. Kompensation 278. Konjugation 188. Konservative Vererbung 238. Kopulation 188. Korrelation 78, 278. Korrelative Anpassung 278. Kosmogenie 430. Kosmologie 430. Kosmos 429. Konservations-Physiologie 98. Kontinuitätstheorie 359. Kreuzung 247. Kristallbildung 79. Kristalloide 60. Kritik 30. Kumulative Anpassung 271. Kunstformen der Natur 147. Künstliche Züchtung 291. Lamarekismus 232. Larve 173, 177, 223. Leben 50, 67. Lebenskraft 35, 54, 88. U4: Register. Lebensstoff 53. 112. Leitmuscheln 359. Lepocvta 110. Lepoplastide 117. Letzte Gründe 43. Liebe 299. Lipostaura 161. Männliche Zuchtwahl 300. Materialismus 434. .Materie und Kraft 430. :\Iaturitas 205. Mechanismus 33. Membrana cellulae 110. Mensch, Ahnenreihe 415. — Entwürdigung 416. — Progonotaxis 424. — Stellung 413. Metagenesis 216, 226. — progressiva 219. — regressiva 220. Metameren 106. 127. — Geschlechtsverhältnisse 193. Metamorphose 175, 223. Metaplasis 173, 205. Metaplastologie 175. Methodik 10. Mißbildung 267. Mitbewerbung 295. Mittelformen 30(). ]\Ioneren 62. Monismus 43, 434. — System 429. Monistische Erklärung 337. Monoclinia 194. Monoecia 196. Monoecisten 186. Monogenesis 212. Monogonia 181. Monospore 214. Monotheismus 434. Monströse Abänderungen 266. Moral 422. Morphologie 3. Morphologische Individuen 105. — erster Ordnung 109. Morphologische Individuen zweiter Ordnung 120. — dritter Ordnung 123. — vierter Ordnung 127. — fünfter Ordnung 130. — sechster Ordnung 132. Morphologischer Speziesbegriff 371. Mor])hon 105. Mutationstheorie 266, 410. Muttermale 252. Nachzucht 289. Natürliches System 390. Natürliche Zuchtwahl 234. Naturphilosophie 13. 14. 431. 433. Notwendigkeit 34. Nucleolinus 113. Nucleolus 113. Nucleus 110. 112. 118. Nützlichkeitstheorie 317. Nympha 223. Oekologie 334. Ontogenesis. Funktionen 199. Ontogenetische Thesen 342. Ontogenetischer Fortschritt 318. Ontogenie 98, 167. Organe 106. 120, 122. Geschlechtsverhältnisse 190. Organische Aggregatzustände 55. — Anpassung 72. — Bildungstriebe 74. — Formen 58. — Grundformen 64. — Individualität 58. — Korrelation 78. — Kräfte 67. — ]\Iaterien 49. — Selbsterhaltung 71. — Verbindungen 53. — Wachstum 68. — Stereometrie 151. 155. Organismus 49. Ovaria 191, 220. Paläontologie 352. Paläontologische Divergenz 308. Register. 445 l'aläontologisches Material o5."). Pangeologie 430. Paracme 30(3, 383. Parallele, genealogische 38G. Partielle Bionten 137. Perioden der Erdgeschichte 3G2. Person 104. Personen 106, 130. — Geschlechtsverhältnisse 1!)4. Pflanzen und Tiere 97. Philosophie 10, 46. Phvlema 399. Phylogenetische Entwickeliing 347. — Funktionen 380. — Resultate 885. — Stadien 381. — Thesen 405. Phylogenie 98, 351. — systematische 404, 410. Physiologische Individualität 134. — Individuen 134. Pistillidien 191. Plasma HO, 118, 120. Plasmaprodukte 114. Piastiden 109. — Geschlechtsverhältnisse 188. Pole der Grundformen 157. Polymorphismus 201, 304. Polyspore 214. Potentielle Anpassung 263, 265. Praktische Typen 283. Prinzipien der Klassifikation 390. Progonotaxis des Menschen 424. Progressive Heredität 241. — Metamor])hose 177. — Vererbung 238. Progressus 311. Promorphe 151. Promorphologie 98, 149. Promorphologische Kategorien 163. Propagatio 179, 236. Prosopen 130. Prosopon 104. Protamoeba 61. Proteinverbindung 112. Protistenreich 97. Protogenes 61. Protoplasma HO. Pseudocormen 132. Psychologie 35, 421. Putz 301. Reaktion 271. Reflexion 12. Regressive Metamorphose 177. Reife 173. Reifealter 205. Reiz, trophischer 276. Relations-Physiologie 98. Repulsion 51. Ringen um die Existenz 292. Rückbildung 172. 207. Rückschlag 245. Rudimente 322. Rudimentäre Individuen 322. Samenknospen 191. Samenzelle 186. Schadonen 177. Scheinstöcke 132. Schizogenesis 212. Schizog. raonoplastidis 213. Schizog. polyplastidis 213. Schizogonie 181, 182. Schlauchzellen HO. Schlechte Arten 379. — Gruppen 396. — und gute Spezies 377. Schöpfer 89, 434. Schöpferkraft 36. Schöpfung 84, 86, 434. Schöpfungsgedanke 36. 88. Schöpfungsmittelpunkt 336. Schöpfungstheorien 86. Scissio 182. Seelenlehre 29, 420. Segmentierung 127. Selbsterhaltung .71. Selbstteilung 182. Selbstzeugung 84. 94. Selektion 288. Selectio artificialis 291. — concolor 296. 446 Register. Selectio feminina ;}00. — masculina 300. — naturalis 292. — scxiialis 299. Selektionstheorie 231. Senilität 173, 207. Sonimereier 220. Spaltung: 181. Spaltungskreis 210. Spermaria 191. Spermium 186. Spezies 371. Speziesbegriff ."52, 367. Spezifische Divergenz 309. Spielarten 377. Spiritualismus 434. Sporenbildung 181, Sporocarpien 220. Sporogenesis 214. — inonoplastidis 215. — polyplastidis 215. Sporogonie 181, 185. Sprachforschung 44. Sprosse 130. Sprungweise Abänderung 266. Stadien der Entwickelung 203. Stammbaum 398. Staubblätter 191, 194. Staura.xonia 161. Stellung des Menschen 413. Stereometrie der Organismen 155. Stereometrische Grundformen 160. Stöcke 132. — Geschlechtsverhältnisse 196. Stoffwechsel 71. 255. Strahlteilung 183. Strophogenesis 218. 226. Struggle for life 290. Struktuilehre 101. Subsiiezies 377. Sympathische Färbung 296. Synthese 21. Synusie 133. System. Kategorien 390. Systematische Phylogenie 404. 410. — Divergenz 309. Systematische Vervollkommnung 319. System als Stammbaum 390. — der Fortpflanzungsarten 197. — der Grundformen 158. — der Kategorien 401. — der Zeugungskreise 211. — des Monismus 429. Systemgruppen 402. Tektologie 98. 101. Tektologische Thesen 138. Teleologie 33. Teleosis 311. Testiculi 191. Theismus 435. Theologie 431. Thesen, ontogenetische 342. — phylogenetische 405. — tektologische 138. Tiere und Pflanzen 97. Tierkunde 98. Tierseele 420. Tocogonie 179. Transvolution 173, 205. Trophischer Reiz 276. Typen, ideale 283. — praktische 283. Typus der Organisation 168. Übung 271. Umbildung 172. 205. Umgebung 272. Ungeschlechtliche Fortpflanzung 181. Unisexuales 186. Universum 429. Unterarten 377. Unzweckmäßigkeitslehre 38, 320. Uranologie 430. Ursprung des Lebens 84, 90. Urstoffe 52. Urzellen 110. Urzeugung 90, 179. Variabilität 66. 254. 285. Variatiü 254. — individualis 265. Register. 447 Vaiiatio monstrosa 260. — sexualis 269. Varietäten 377. 395. Veränderliclikeit 254. — Ursaclien 255. Yerblühzeit 366, 383. Vererbung 235. 2S5. — abgekürzte 248. — amphigone 246. — angepaßte 249. — beiderseitige 246. — befestigte 2.50. — erworbene 249. — erworbener Charaktere 241. — gemischte 24(5. — geschlechtliche 246. ■ — Gesetze 243. — gleichörtliche 251. — gleichzeitliche 252. — Grad 237. — homochrone 252. — honiotope 251. — in korresp. Lebensaltern 253. — konservative 238, 243. — kontinuierliche 243. — progressive 238. 249. — ununterbrochene 243. — Ursache 135. — vereinfachte 248. Vererbungscharaktere 287. Vermelirung und Auslese 294. Vervollkoinninung 311. — enil)ryologische 318. — paläontologische 318. — systematische 319. Vervollkomnmungsprinzip 31 7. Verwandtschaft der Stämme 4U4. Verwilderung 245. Vis plastica externa 344. — interna 344. Virtuelle Bionten 136. Vitalismus 33. Wachstum 68. 200. Weibliche Zuchtwahl 300. Weltall 429. Weltgeschichte 430. Werkstücke 120. Wesentliche Charaktere 370. Wettkampf 292. Willensfreiheit 274. 421. Wintereier 220. Zellen 109. Zellenbildung 79. Zellenmembran 116. Zellentheorie 110. Zellhaut 110. Zellinhalt 117. Zellkern 110. 112. Zellmetamorphose 114. Zellsaft 117. Zellstoff 110. Zentralisation 144. Zeugung 170. 199. — Arten 178. Zeugungskreis 209. Zierate 301. Zoologie 98. Zoomorphismus 89. Züchtung 288. — künstliche 291. — natürliche 292. — Vergleich 303. Zuchtwahl 288. — gleichfarbige 296. — männliche 300. — sexuelle 299. -^ weibliche 300. Zuchtwahllehre 231. Zweiteilung 183. Zwitter 186. Zwitterdrüse 191. Zygospore 189. i- '. /ü 7 0 ^, v-mVI'»«^"'*!^* ;-! m ;%.- .■\%^^ '%• ;*»: