^

dU

/ X 3 6^

Raymundus LuUus

MHK»

und die Grundzüge seines pliilosophisclien Systems

aufgezeigt als ein Reaktionsversuch gegen die arabische Philosopie.

Inaugur al Dissertation

zur Erlangung der Doktorwürde

der hohen philosophischen Fakultät (I. Sektion)

der kgl. bayer. Ludwig Maximilians Universität

zu München

am 1''). .l;iiiii;ii- lOOS vorgelegt

Voll

<?

-1

M -

P. Otto Reicher,

Mitglied 4iiaUipHMMnvMBHMMiiierprovinz.

linick M'-r A - «Ti «• II (l«t I 11 •-( Imii 1{ihIi(Ii im !• i 'i

TUE INSTITUTE OF MEDIAEVAL STUOIES

10 ELMSLEY PLACE TORONTO 5, CANADA.

NOV 3 0 lS3f

Genelimigt auf Antrag der Herren von Hertliii^* und Lipps.

Einleitung.

Eine der am meisten umstrittenen Persönlichkeiten in der Geschichte der Philosophie ist der Mann, dessen Name mit der berühmten oder berüchtigten Ars magna unzertrennlich verknüpft ist, Raymundus Lullus oder, wie er in der Sprache seines Volkes hieß, Ramon LuH.

Schon frühzeitig nach seinem Tode, wenn nicht schon zu seinen Lebzeiten, begann der Streit der Meinungen über ihn. Von den einen gepriesen als ein homo mirifici plane ingenii^, als vere Proteus ingenio, Daedalus arte et Polycletus norma iudicii ^, galt er anderen im Gegenteil als stullissime subtilis'* und seine Wissenschaft als ein System, „cui nihil interest solidi, quae tan- tum abest, ut eruditos faciat, quin potius homines ratione recte utentes nunquam efformare potuerit" ^. Die Anhänger und Schüler

' Diese Schreibweise wäre die richtige, da Lullus selbst sich ihrer be- diente. Der 1298 den Kartäusern zu Paris von ihm geschenkte cod. 3348 A der Biblioth. nationale entliält die Widmung: Ego Raymundus Lul do librum istum conventui fratrum de Cartusia Parysius. (Del i sie, Cuhhici des Mss. de hl liihl. H/iL, II, p. 252.) Ebenso cod mss. lat. IV, 139 der Bibhotheca mss. 8. Marci Venetiarum: . . . ego magister Raymundus Lul cathelanus transmitto et do istum librum . . . (Delisle, /. r. II, p. 171.) Die gloicho Form findet flieh in einem an d(n König von Aragonien gerichteten iirief Lulls, welchen M. de Bofarnll nach dem im nragonischen Archiv vorhandenen Origiruil veriUfent- lichte und welcher in der lionKtnld XI (1882) p. 189 abgedruckt ist. Jedoch hat die Form des Namens später sehr gewechselt; eine der g(!bräu(hlich.'sten war liUyl. Die heutige SchreibweiHe in Katalonien ist Llull. Wenn wir die der Iritinisierten Form entlehnte Schreibweise beibehalten, so dürfte dies damit hin- reichend begründet sein, daß Joch diese P'orm fast allgemein eingebürgert ist. Herrn. CoFiring, angegeben bei Thomas Po j)e- Klon iil , Cmsuni nlthriormn tiutonnn, Londini 1000, sub v. Lullus, p. 2\)i').

^ Mich. Majer, Si/mh. uiir. wrnmir 1. !>, f. 40.') (bei rope-Hlounl /.(.).

* Lausius in seiner (intlin ninlra llis/mti. p. 377 (Pope Hl nun I /. /•.).

'' Rapin. ht/lcj-. in I'hiloH., sect. 17 iPope IMoiint /. r.). HuilruK«' VFF, 1- .'>. Kiirli.r, Uftymiiriiln. I.nlhi-. 1

2 Raymundus Lullus.

LuUs sehen es als eine unumstößliche Tatsache an, da(ä ihrem Meister kein Gebiet menschlichen Wissens verschlossen war; seine ganze Lehre und Weisheit führen sie auf unmittelbare göttliche Eingebung zurück und sehen in ihm den Doctor üluminatus y.ai' £^oy)]v; und wenn auch die Anklagen des Dominikaners und spa- nischen Inquisitors Nikolaus Eymerich gegen Lullus und dessen Schule höchst verdächtig sind, so ist den Lullisten immerhin die Behauptung zuzutrauen, welche dieser ihnen zum Vorwurf macht: „Quod doctrina veteris testamenti attribuitur Deo Patri, doctrina Novi Testamenti Deo Filio, sed doctrina Raymundi Lulli Deo Spiritui Sancto" ^ Dafür werden die Gegner Lulls nicht müde, seine Lehre als eine Eingebung des Teufels hinzustellen - und ihn selbst um jeden Preis zum Häretiker zu stempeln -^

Wenn man aber auch von jenen Kreisen absieht, in denen man in erster Linie die Orthodoxie für die Beurteilung zugrunde legte und wo nur zu oft ein Extrem das andere hervorrief und stützte, so erscheint Lullus doch immer noch in ganz verschieden-

^ Nie. Kymericus, Directorium Inquisitor rim, cum commentariis Fran- clsci Penae. Venetiis 1607, p. 260: De Lullistis et eorum erroribus; error 7.

- Nie. Eymerich, Dlrector. Inqnhit., p. 255: Quae doetrina (sc. Lulli) erat plurimum divulgata, quam ereditur habuisse a diabolo, cum eam non lia- buerit ab homine nee humano studio nee a deo, cum deus non sit doetor hae- resum nee errorum.

' Von Eymerich wird im Dircct. Inquisit. eine Bulle Gregors XI. vom 25, Januar 1376 im Wortlaut angeführt, worin Schriften Kaymunds verworfen werden, nachdem derselbe Papst schon am 5. Juni 1372 und 29. September 1374 eine Prüfung der lullischen Schriften angeordnet hatte. Während nun die beiden ersten Aktenstücke von 1372 und 1374 in den päpstlichen Registerbänden er- wähnt sind, fehlt die Bulle des Jahres 1376, weshalb die Lullisten dieselbe schon frühzeitig als eine Fälschung P]ymerichs erklärten ; ob mit Recht oder Unrecht, ist bis heute unentschieden und unentscheidbar, da die Registerbände für die Jahre 1376 und 1377 verloren gegangen oder vielleicht gar nicht ange- fertigt worden sind (vgl. Denifle im ArcJiir für Literatur- und Kirchcn- geachichte, IV, 352 ff) Wie es sich aber mit der ßulle auch verhalten mag: das läßt sieh, auch wenn man zu einer angeblichen Verwechslung mit einem anderen Raymundus (de Tarrega) seine Zuflucht nimmt, doch nicht hinwegleug- nen, dafs der wiederholt aufgegriffene Streit über die Orthodoxie in der Lehre sich um unseren Raymundus Lullus drehte, und daß verschiedene seiner Schrif- ten mehrmals auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, freilich auch wie- derholt, zum Teil auf Drängen der spanischen Regierung, von demselben wie- der gestrichen wurden. Vgl. Annicctn juris Pontificii, Ser. II, 2465 2480. Romae 1857.

Einleitung. 3

artiger Beleuchtung. Unter denjenigen, die sich zum Teil an ihn anschlössen, finden wir den Kommentator Lulls, Agrippa von Nett es heim, obwohl derselbe durchaus nicht ganz auf ihn ein- geschworen ist ^ Jacobus Faber (Stapulensis) hat die Hoch- schätzung, die er für den Philosophon von Mallorka hegte, auch seinem Schüler Carolus Bovillus eingepflanzt'^. Ebenso hat Giordaiio Bruno sich eingehend mit ihm befafet, die „Ars magna'' als Mittel zu Gedächtnis- und Redeübungen geschätzt, öfter über sie gelesen und die Lullische Kunst auch in eigenen Schriften behandelt. Auch in Leibnizens philosophischem Ent- wickelungsgange ist der Versuch, das begriff'liche Denken nach dem Vorbild der Mathematik in allgemeine Formeln zu kleiden % nicht der einzige Zug, der an Lullus erinnert.

Andere konnten allerdings seiner Philosophie keine gute Seite abgewinnen \ und das strenge Urteil, welches Tennemann am Anfang des vorigen Jahrhunderts über ihn gefällt hat, „dafe er ein lebhafter, schwärmerischer Kopf war, der mit Leichtigkeit über alle Dinge schwatzen konnte, ohne über die Oberfläche ein- zudringen" ^, hat sich bis heute, wenigstens in Deutschland, kaum gemildert. Trotz zahlreicher Einzeluntersuchungen, die wir dem Eifer verdanken, mit dem sich seit einiger Zeit spanische Forscher dem Vater der „Filosofia Nacional de Catalumja" zugewandt haben, ist doch die bisher übliche Auffassung von der lullischen F^hilosophie im wesentlichen dieselbe geblieben. Für die Bedeutung, die man unserem Philosophen beimifät, daif vielleicht gerade deswegen, weil es nicht fachwissenschaftlich ist, das Urteil H. St. C^ham- berlains als typisch gelten, der es Giordano Bruno nicht ver- zeilien kann, daü dieser „dem spanischen Narren und Gaukler,

' So sagt er Di' incerUlnd. H rdnltatr sricnt. cap. 9 (ed. Hagae-Coniitum 1G62, p. 63): Hoc autem adnionere vos oportet, hanc (Lulli) arteni ad ponipinn ingenii et doctrinao OHtontationom potiu8, (luam ad conipararidani crmlit ionein valere ac longo piuB liabero aiidacia<> (|uani officaciac.

'■' Vgl. den .Schluß der yuw I'<ivillu8 verfaßten Hi(»grapliie Liil s. Arid SS. Jan., tom. V, p. OÖl).

'' Vgl. Kuno Firtcher, (icsrh. ih-r luin-rrn l'/ii/ns., III (4. A) S. 14.

* So Huco von Verulam, De attt/iHnilat. Srinil. VI. 2, Works, ed. hy Spedding, Kllia and Heatli, Vol. 1. p. f;09.

Tennemann, (J*'Hrh. <lrr l'hiloM., \h\. VIII. 2, S. H34 (Leipzig IHll).

V 3

4 Rayinundus Lullus.

Ramon Lull, der mit Hilfe von Drehscheiben Erkenntnis mecha- nisch zu erlangen vorgab, die Hälfte seines Lebens widmet und ihn als omniscium propemodumque divinum, allwissend und fast göttlich, preist" ^

Bei dieser Sachlage mag es gewagt erscheinen, Lullus zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung zu machen; jedenfalls ist mit der Gefahr zu rechnen, data einer solchen das nämliche entgegengehalten wird, was man schon vor Zeiten dar- über urteilte:

„Qui Lulli lapidem quaerit, quem quaerere nulli Profuit, haud Lullus, sed mihi Nullus erit."

Trotzdem darf man sagen, daß eine erneute Untersuchung der wirklichen Bedeutung Lulls und des wahren Sinnes seiner Lehre für die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie ein drin- gendes Desiderat ist. Hatte Helfferich schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts gesagt, „daß Lull außerhalb Spaniens von nie- mand nach Gebühr gewürdigt worden ist" ^^ so konnte 30 Jahre später R. Otto immer noch den „balearischen Doctor Illuminatus für den Theologen wie für den Kulturhistoriker eine Gestalt mit vielen rätselhaften Zügen" nennen ^ und bis jetzt ist es noch wenig anders geworden. Nicht als ob die Forschung über Lullus vernach- lässigt worden wäre; vielmehr ist die darüber existierende Literatur älterer wie neuerer Zeit ziemlich reichhaltig. Aber in zweifacher Hinsicht scheint mir in derselben gefehlt worden zu sein.

Einmal hat man in allzu einseitiger Weise die Ars lulliana betont und dieselbe für alle möglichen Wissenschaften in An- spruch genommen, gleich als ob diese Ars Selbstzweck gewesen w^äre und nicht vielmehr bloß das Mittel zur Erreichung eines ganz anderen Zieles; man hat dabei vergessen, daß Raymund neben seinen „Arfes^' doch noch eine ganze Reihe anderer Schriften verfaßt hat, die mit jenen in keinem oder nur in sehr losem Zu- sammenhang stehen.

Andere aber sind auch über diese einseitige Betonung der lullischen Ars noch hinausgegangen und haben an derselben nur

' Chamberhiin, Inntuttnu'l Kant, S. 361 f. (1905).

Adolf Helfferich, liitinnnnd Lull und die Anfänyc ilrr h-<ifaJonisrhru Liieratur. S. 70. Berlin 1858. "

^ Zeitschrift für roman. rhilologie XII (1888), p. 511.

Einleitung. 5

die eine Seite hervorgehoben, nämlich die äußere Technik. In- folge dieser Auffassung haben sich für unser Bewußtsein die Vor- stellungen der Ars lulHana und ihres Urhebers so innig mitein- ander verknüpft, daß wir heute an Raymundus Lullus kaum denken können, ohne auch zugleich dessen Kreise und Drehscheiben vor uns zu sehen, ja vielfach in diesen das eigenthche Wesen des lullischen Systems zu erblicken.

Man mag ja über die äußere Form, in der uns ein philo- sophisches System entgegentritt, denken, wie man will; jeden- falls darf dieselbe nicht die wichtigste, noch weniger die einzige Grundlage bilden, worauf sich das Urteil der Geschichte stützt. Für den historischen Rückblick, der die Entwickelung des mensch- lichen Denkens aufzuzeigen hat, muß in erster Linie der Inhalt mafsgebend sein, mag derselbe auch durch die Form, in die er hineingezwängt wurde, eine verzerrte (iestalt angenommen haben. So wertvoll das Material ist, welches PrantH über unseren Autor zusammengetragen hat, so sehr es anzuerkennen ist, daß er sich bestrebte, aus den Originalwerken des Lullus selbst zu schöpfen, so kann ihm doch der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß auch er dem genannten Fehler in hohem Grade verfallen ist. Der Umstand allein, daß er denselben nur unter dem (Jesichts- punkte seiner Bedeutung für die Entwicklung der Logik ins Auge faßte, hätte ihm sagen müssen, daß er kein vollkommenes Bild von diesem seltsamen Manne entwerfen, daß es darum aber auch nicht seine Absicht sein könne, „die Mitwelt (oder etwa auch die Nacliwelt) der Mühe zu überheben, in dem üppig wuchernden Wust des Lullus zu i)lättern" -. Während man so bald für, bald gegen Lullus und sein System Stellung genommen, hat man einer P'rage, deren Beantwortung von der größten Wichtigkeit ist, nicht die nötige Beachtung geschenkt.

Mit I^echt begnü;:t man sich heute in der geschichtlichen Darstellung.' nicht mehr damit, die einzelnen historischen Ereig- nisse aneinander zu reihen; man will nicht mehr l)loß wissen, was geschehen, sondern wie es geworden ist. ..Das Einzelne, Be- sondere selbst ist unser wis.sensch.iltliches C)ljj(?kt," sjigt Bern-

' Prantl, (iinrli. iln- Li></il,- im Ahrmlhi ,iili-, III, S. lir> 177. ' (ifurh. ,l,r 1,'xiih, III, S. 145.

6 Rajniundus Lullu3.

heim S ^nur nicht in zusammenhangsloser Isoliertheit, sondern im Zusammenhang der Entwickelung, innerhalb deren es steht und soweit es für diese in Betracht kommt."

Diese Grundsätze müssen auch für das Verständnis der philo- sophischen Systeme beachtet werden, die im Laufe der Geschichte aufgetaucht sind. Mag man immerhin der Behauptung Ren ans zustimmen, dat^ es in einer Hinsicht wichtiger sei, zu wissen, wie man über ein Problem gedacht habe, als über das Problem selbst sich klar zu sein -, so ist es sicher von nicht geringerer Bedeu- tung, sich zu fragen, ob nicht die verschiedenen V^ersuche, ein Problem zu lösen, in gegenseitigem Zusammenhang stehen und welcher Art derselbe sei.

Auch die lullische Philosophie wird eine ganz verschiedene Beurteilung erfahren, je nachdem dieselbe als ein Geistesprodukt aufgefa&t wird, das ohne jede Vermittelung auftaucht; in diesem Falle mut3 sie aus sich selbst heraus verstanden werden und in sich selbst ihren vollen Wert tragen: oder aber ob man in ihr eine Erscheinung sieht, die in ihrer Veranlassung wie in ihrer Tendenz auf etwas anderes hinweist. In letzterem Falle ist die Berücksichtigung dieser beiden Momente unerläßlich, nicht bloß um ihren Gedankengang vollkommen verständlich zu machen, sondern auch, um sie gerecht beurteilen zu können: ..car lors meme que la question est insoluble, le travail de Tesprit humain pour la resoudre constitue un fait experimental qui a toujours son interet" -^

In der vorliegenden Abhandlung ist der Versuch unter- nommen, die lullische Philosophie in einen solchen Zusammen- hang einzureihen. Es soll gezeigt werden, daß wir in derselben durchaus kein völlig isoliertes, von dem ganzen übrigen Geistes- leben der damaligen Zeit losgerissenes, gewissermaßen absolutes System zu erblicken haben, für welches kein anderer Existenz- grund angegeben werden könnte als schrullenhafte Anwandlungen seines Urhebers, sondern daß dieses ganze System nicht mehr und nicht weniger ist als die zielbewußte Reaktion gegen den

' Bernheim, Lehrbuch der hi.^tor. Methode 3. und 4. Aufl. 1903, S. 7. ■•* Renan, Averroh et VAierrolsnie, 3<^, ed. (Paris 1869) IX. " Renan, n. a. O.

Einleitung:.

ö-

mächtigen Einfluß, welchen die arabische Philosophie und Theo- logie damals in immer steigendem Maße auf das christliche Abend- land ausübte.

Damit sind auch schon die Grenzen gezogen, innerhalb deren sich die folgende Untersuchung bewegen wird. Es soll keineswegs die Stellung genau präzisiert werden, welche Lullus zu den um die Wende des 13. und 14. Jahrhunderts diskutierten philoso- phischen Problemen im Einzelnen eingenommen hat; denn dazu wäre ich noch gar nicht in der Lage. Es w^ird aber auch für den in Rede stehenden Nachweis genügen, das System der luUi- schen Philosophie in seinen allgemeinsten Umrissen vorzuführen. Noch mehr muß ich es mir versagen, Quellenkritik zu treiben. Ohne Zweifel fußt Lullus direkt auf arabischen Philosophen. Aber als Nichtorientalist ~ ein Mangel, den ich freilich selbst am meisten beklage bin ich nicht imstande, diese Spuren aufzu- suchen, um so weniger als seine unmittelbaren Quellen, wie es scheint, nicht bei den Koryphäen der arabischen Philosophie, Algazel ausgenonnnen, zu suchen sind, als vielmehr bei deren weniger bekannten und bedeutenden Schülern ^

Dagegen erschien es unerläßlich, einen Überblick über den Lebensgang und die literarische Tätigkeit Lulls vorauszuschicken. Das eigenartige Charakterbild, das hier zutage tritt, mag einer- seits einer besseren Würdigung der philosophisch-theologischen Anschauungen dieses Mannes die Wege ebnen, andererseits soll diese Lebensskizze der Darlegung seines wissenschaftlichen Systems insofern ergänzend an die Seite treten, als sie zeigt, wie Lullus seinen theoretischen Anschauungen auch im praktischen Leben mit allen ilim zu Gebote stehenden Mitteln Anerkennung zu ver- schaffen suchte.

' Vgl. Rosellö, Ohras (h- l{<i,„o„ Lnll ( Talma de Malloica lUOl). l'n»- logo (von M. Obrudor y Kennussarl p. XXIX f., Atim. 1, wonach 1). Miguel Asin die Abhängigkeit verschiedener iiilliacher Schriften von dem Buch Alfn- hntnt, einer Schrift des arahisch-murciariischen l'hilosophen iVIohidin, nachge- wiesen hat. Die Abhandlung D. Mig. Asins, die mir erst kurz vor der Drucklegung zuging, findet sich in .Jhnnrhdjr n Mrnrmlcz ij /'r/m/o ni ,/ awit riift^MiiHo Je MH I'rofi'Morfit/o. Hsliulitts ilr muliriÖH h'sjmüohf." 'i'om. II, |). 217 -'iftü. Madrid 1^9».

I. Abschnitt.

Zur Biographie Raymund Lulls.

I. Kapitel.

Quellenkritische Vorbemerkungen und Literatur i.

Bei dem Versuch, ein Bild vom Lebensgang des Raymimdus Lullus zu entwerfen, sind wir in der glücklichen Lage, uns auf zeitgenössische Vorarbeiten stützen zu können. Dieselben sind niedergelegt in einer uralten Biographie, welche der Bollandist J. B. Soll i er nach einem auf der Insel Majorca vorhandenen Manuskript - in den Acta Sandorum zum Abdruck gebracht hat ^. Eine Lücke, die sich in dem hier gebotenen Texte lindet, ist ohne Bedeutung, zumal da dieselbe von dem Herausgeber lullischer Schriften, dem kurfürstlich-pfälzischen Hofkaplan Jvo Salzinger,

^ Eine erschöpfende Quellen- und Literaturangabe soll hier nicht geboten werden. Das überaus reiche Material findet sich giewissenhaft und ziemlich vollständig zusammengestellt bei U. Chevalier, Repertoire des soiirces histo- ri(jH<'}i (/)( nioi/cn <h/r. I. Biobibliographie. 2*" edit , sowie in einer von P. Mich. Biehl in den Etudes fVanciscaines tom. XV (1906), p. 328 345 veröffentlichten Abhandlung (/. c. p. 343, Anm. 4).

^ Die lUstoirc litteraire de Ja France, tom. 29, p. 4, Anm. 1 schreibt: „I.e manuscrit employe par los Bollandistes etait ä Rome {Acta, vol. cite, p. 641; Salzinger, /. c), non, comme on la dit {Iiio(/r. f/en. art. Lulle, tom. XXXII, col. 227), ä la Sapience, mais probablement a Saint-Isidore." Das ist eine völ- lige Vermengung verschiedener Tatsachen. Der Jesuit Custurer schreibt in seinem in den Acta SS. (tom. V. Jun.. p. 641) mitgeteilten Brief, dafs den An- gaben einiger Lullisten zufolge ein altes Manuskript der in Frage kommenden Biographie im Collegium Franciscanum Ilibernorum S. Isidori zu Rom aufbe- wahrt werde. Aber das von ihm aufgefundene und herausgegebene ist nicht jenes von S. Isidor, sondern von der Bibliothek des Collegium B. Mariae de Sapientia, freilich nicht der Sapientia in Rom, sondern auf Majorca Ob das Manuskript von S. Isidor noch vorhanden ist, ist fraglich. Die Nachforschungen, welche einer meiner Freunde dort anstellte, waren resultatlos.

« Tom. V. Jun., p. 661-668.

1. Zur Biographie. 1. Quellen. 9

in der nach einem Pariser Manuskript besorgten Wiedergabe der Biographie ergänzt ist. Der Bericht beginnt mit den Worten: Jesus. Ad honorem, laudem et amorem Domini Dei nostri Jesu Christi Raymundus, quorundam suorum amicorum rehgiosorum devictus instantia^ narravit scribique permisit ista, quae sequuntur hie de conversione sua ad poenitentiam et de aliquibus gestis eius. Dann wird in einfacher und schlichter Sprache das Leben und Wirken Raymunds mit Ausnahme der letzten Lebensjahre erzählt; mit dem Jahre 1311 bricht die Darstellung ab. Auf diesen letzteren Umstand, wie auch auf die Einleitungsworte stützte man sich, wenn man die Schrift nicht blois auf Zeitgenossen Lulls, son- dern auch auf persönliche Mitteilungen desselben zurückführte, und diese beiden (Iründe reichten hin, um bisher unbestritten diese Biographie als Vita ab Anonijmo coaeoo scripta^ ipso Beato adhiic superstite oder kurz als Vita coaetanea zu bezeichnen. Erst Biehl hat in neuester Zeit die Authentizität dieser Quelle in Zweifel gezogen und für seine abweichende Ansicht folgende Gründe vorgebracht ^i

1 . Die Biographie sagt von Lullus, daß er von Genua aus „ad papam Avenione tunc temporis residentem" sich begeben habe ^. Nach dieser Ausdrucksweise könne, so meint Biehl, die Abfassung erst erfolgt sein, nachdem die Päpste ihre Residenz in Avignon bereits aufgegeben hatten, also erst nach dem Jahre 1378.

2. Lullus habe vom Konzil von Vienne nur die Gründung eines einzigen Kollegs (la fondation d'un seul College) für das Studium orientalischer Sprachen gefordert, während das Konzil deren fünf bewilligte und somit eine Weitherzigkeit zeigte, zu welcher die früheren Klagen Raynmnds wenig palUen, wenn der- selbe bloß auf ein Kolleg hingearbeitet hätte.

3. Der anonyme Autor sage, daß Raynumd vmou Teil seiner Schriflen «apud quendiini riobilem civitatis Majoricainm" * habe

' Die in (J'ti Artn SS. p. 041 gobrnchto Heproduktioii «l«'r Kin/^angsworto hat ^in ffrancia", eine LeHart, die wohl auf einem Schreibv(!rHehen beruht..

' Vgl. l''jHflr-< frinirlsrnim-s^ toMI. XV, J>. .'142 11

" Vgl. Acta SS., tom. V. Jun., p. 607 In" 34). * Vgl. Ar/n SS. I. c. p 008, n" 'M.

<

10 Raymundus LuUus.

aufbewahren lassen. Dieser nobilis könne nur der Schwieger- sohn LuUs sein, dem jedoch dieser nicht nur seine Schriften nicht vermacht, sondern im Gegenteil aufgetragen habe, dieselben dem Kloster de la Real zu überbringen, wie das Testament Raymunds ausweise. Dieser Punkt sei also nur eine ungenaue Anspielung auf das Testament Lulls.

Auf diese Gründe ist folgendes zu erwidern: ad 1. Man kann den Versuch unterlassen, das beanstandete „tunc temporis" mit Bestimmtheit zu erklären, und darf die darin liegende auffallende Ausdrucksweise ohne weiteres als solche zu- geben. Allein dieser Grund scheint mir kaum imstande zu sein, die anderen durchschlagenden Gründe, welche für das höhere Alter der Biographie sprechen, zu entkräften.

Biehl stützt sich bei seinen Ausführungen auf den Text, wie ihn die ActAi Sanctorum enthalten. Nun ist aber sowohl dieser, wie auch der von Salzinger ^ wiedergegebene, nur unvollständig. Dieser Text schliefet mit der Bezeichnung von drei Plätzen, an denen Lullus seine Schriften aufbewahren liefe '\ An diese Be- merkung reiht sich nun, wie den vortrefflichen Ausführungen von Littre^ zu entnehmen ist, in dem cod. lat. 15450 f. 80 der Bi- bliotheque nationale ein in zwei Abschnitte geteilter Katalog der lullischen Schriften an, der mit den Worten eingeleitet wird: „Libri, quos ipse fecit, sunt hi, qui in hac pagina continentur." Der erste Abschnitt aber schliefe,t mit der Bemerkung: „Isti libri fuerunt numerati in fine Augusti anno MGCCXI". Der zweite Abschnitt gibt noch einen Nachtrag zum ersten und zählt aufeer- dem solche Schriften auf, die erst nach 1311 verfafet wurden. Wenn nun auch die Biographie gerade mit dem Jahre 1311 schliefet, so legt dieses Zusammentreffen doch zum mindesten die Vermutung nahe, dafe dieselbe in diesem Jahre geschrieben

' li. Ratpn. LuJ/i opcra, ed. Moguntina, tom. I, Warum Salzinger nicht den ganzen ihm vorliegenden Text abdrucken ließ, läßt sich wohl nicht sicher feststellen; vielleicht jius dem Grunde, weil derselbe nicht zu seinen alchy mi- stischen Bestrebungen paßte.

^ „Divulgati quidem sunt libri sui per Universum; sed in tribus locis fecit eos praecipue congregari, videlicet in monasterio Chartusiensium Parisiis et apud quendam nobilem civitatis Januae et etiam apud quendam nobilem ci- vitatis Majoricarum." Acta SS. Jun. t, V, p. 668 (n" 37).

" Histoire littei'airc de Ja France, t. 29, p. 71.

I. Zur Biographie. 1. Quellen. 11

und im engen Zusannmenhang mit deren Schlußworten der erste Abschnitt des Katalogs angefügt wurde.

Dazu kommt noch ein weiterer Grund. Der cod. lat. 10561 der Münchener Hof- und Staatsbibliothek bringt im Fase. I fol. 12 die Inhaltsangabe eines Pariser Codex (wohl des oben zitierten), worin an vierter Stelle die alte Biographie mit ihren Eingangs- worten (der volle Text ist schon fol. 1 11 vorausgenommen) erwähnt, dann aber gleichfalls der Schrittenkatalog von 1311 mit der Anfangs- und Schlußbemerkung zum ersten Abschnitt aufge- führt wird. Der Titel dieser Inhaltsangabe lautet nun folgender- maßen: „Tabula tractatuum contentorum in volumine manuscripto pergameo in fol. operum D. Doctoris et Martyris Raymundi Lullij, quod servatur in Bibliotheca Magistrorum et Dominorum Docto- rum in Sorbona. In cuius fine extremo et novissima pagina sie scriptum est: Iste über est pauperum Magistrorum de Sorbona in Theologia sludentium Parisius ex legato Thomae le Misier Cano- nici Atrebatensis in medicina magistri, pretii centum librarum turonensium anno Domini MCCCXXXVl mense Septembri. Anima eins requiescat in pace."

Der erwähnte Pariser Codex, der den lateinischen Text der Vita ab Anonyme scripta enthält, ging also schon im Jahre 1336 aus der Hinterlassenschaft eines Kanonikers Tliomas le Misier in den Besitz der Sorbonne über; sie muß also vor diesem Jahre bereits geschrieben vorgelegen haben. Ja es dürfte kaum eine zu gewagte V^ermutung sein, wenn wir als Verfasser der Biographie eben diesen Thomas le Misier ansehen, welchem Lullus als seinem Freunde eine eigene Schrift dediziertc und welcher .selbst mehrere Werke Haymunds überarbeitete.

ad 2. Daß Lullus in der Tat mehr als ein einziges Sprachen- kolleg anstrebtf*, wird sich später ergeben. Was aber Biehl aus der Biographie herausliest, muß nicht notwendig in ihr gefunden werden; denn der Text sagt keineswegs, daß Lullus nur auf ein Kolleg hinarbeitete, sondern in einem ganz allgemein und neutral gewahltr^n Ausdruck schreibt h'w ihm die Forderung zu, „ut locus constitueretur sufficiens, in (|uo viri devoti et inlellectu vigentes ponerentur, studentes in diversis linguarum gcneribus" '.

' Acta SS. tom. cit. p. fJO? (ri" 3«).

12 Raymundus Lullus.

ad 3. Zunächst glaube ich mit Biehl, daL^ unter dem an- gesehenen Bürger von Majorca der Schwiegersohn des Lullus zu verstehen sei, dem aber dieser keineswegs seine Schriften ver- machen (leguer) wollte, wie Biehl der Biographie imputiert; viel- mehr spricht der Text nur von einem congregari. Übrigens liegt bei Biehl eine petitio principii vor, wenn er diese Stelle als eine ungenaue Anlehnung an Raymunds Testament bezeichnet. Da dieses am 26. April 1313 abgefai3t wurde, so ist der gemachte Einwand nur unter der Voraussetzung denkbar, dafs die Vita Ano- nymi nach diesem Zeitpunkt geschrieben w^urde. War sie aber, wie die Handschriften andeuten und wie bisher angenommen wurde, bereits im August 1311 abgeschlossen, dann ist ja ihr Bericht nicht mehr ungenau. Denn nur wenn Lullus seine Werke bei seinem Schwiegersohn hinterlegt hat, kann er ihm 1313 den Auftrag geben, dieselben dem genannten Kloster zu überbringen.

So gestattet uns meines Erachtens die Kritik nicht bloß, an der Authentizität der Biographie festzuhalten, sondern sie zwingt uns dazu. Dagegen mag über die Form gestritten werden, in welcher dieselbe zuerst abgefa&t wurde. Wie PasquaP be- richtet, hatte dieser ein Exemplar dieser Vita in katalonischer Sprache zur Vorlage, das in manchen Einzelheiten eine grötiere Einfachheit erkennen läßt. Während Cu sturer dasselbe für eine Übersetzung aus dem lateinischen Original hielt, kommt Pasqual zum umgekehrten Resultat, obgleich die ihm vorliegende Hand- schrift den Charakter des 15. Jahrhunderts aufweist'-^. Jedenfalls existierte der lateinische Text schon im Jahre 1336.

Diese Vita coaetanea bildet den Grundstock für alle späteren Biographien, die über Lullus verfaßt wurden. Aus ihr hat der schon oben erwähnte Carolus Bovillus (Charles Bouille) ge- schöpft, der freilich zu seiner 1511 geschriebenen, 1514 gedruckten

' Vindicinc LnlH(tn<ii', toni. I. Vita B. Raymundi Lulli, p. 4.

'^ Eine Publikation des katalonischen Textes ist für die nächste Zeit ge- plant in der gegenwärtig erscheinenden Sammlung „Ohres de Ratnon Lull. Kdicio origimd feta en risfa deh tni/lors ij nu's antichs tnanK.^cn'f.s". Palma de Mallorca. 'Vol. I. 1906. Vol. II. 1906-1908. Der verdienstvolle Heraus- geber der Sammlung, M. Obrador y Benassar, mit dem ich nach Schluß der Arbeit zusammenzutreffen Gelegenheit hatte, ist der Ansicht, daß der latei- nische und katalonische Text ziemlich gleichzeitig entstanden seien.

I. Zur Biographie. 1. Quellen. 13

Arbeit auch mündliche Mitteilungen verwertete und schon manche sagenhafte Züge mit der historischen Wahrheit verflocht ^ An ihn reiht sich eine ganze Kette von Lull-Biographen an -, aber bald mehr bald weniger tritt Phantasie und Dichtung an Stelle der einfachen Erzählung in der Vita coaetanea. Zu ihrem vollen Rechte kam die Kritik in den „Disertacmies historicas del ciilto immemorial del B. Raymundo Lullio^' ^ des spanischen Jesuiten Jac. Gusturer, sowie in der Abhandlung, die dessen Ordens- genosse J. B. Sollier für die Aufnahme in die Acta Sanctonim^ der Bollandisten abfaßte. Gegen den Vorwurf der Häresie wurde Lullus von Ant. Raym. Pasqual in einer umfangreichen Arbeit verteidigt, deren erster Band eine ziemlich kritische Bio- graphie enthält '".

Aus der neueren Zeit ist namentlich Littre zu nennen, dessen wertvolle Notizen über das Leben und die Schriften des Ray- mundus Lullus in der Histoire litteraire de la France ^ niedergelegt sind. Gut und kritisch gearbeitet sind die von Hartmann '^ und Zöckler^ über Lullus verfa&ten Artikel, Die in neuester Zeit fast gleichzeitig erschienenen Arbeiten von M. Andre", Zwemer^^ und Barber^^ seien nur erwähnt. Eine gut orientierende Zu- sammenfassung über das Leben und einen Teil der Schriften Lulls gibt P. Girolamo Golubovich in seiner Bibliotheca bio- bibliografica della Terra Hanta e deW Oriente Francescano^-.

* Acta SS. Jun. t. V, p, 668: Vita II. auctore Carolo Bovillo . . . Con- clusiuncula (p. 673): „llaec sunt, . . . quae . . . partim audita, partim litteris perspecta vora esse credo."

■' Acta SS. Jun. t. V, p. 639 f.

» Mallorca 1700. ' Jun. t. V, p. 633-736. A. H. Pasqual, Vintfiridr LnllitUKn; sirc ilemonstratio crUint itn)ni(- nitatiH (ioc(n'n((f illuinindti (/orforis li. Ii<ii/)ni(H(h' Lnf/i MdrfijriH ab crrorihus eidnn a Xicolao h'i/nit'rico itnjj(iciis, a ct^n.suj'is dh Albitio (.'ariiinali relatis, rv- lujuiHtjue nliorum liturin. Tom. I IV. Avenione 1787.

« Tom. 29, p. 1-886.

' Wetz er- Weite, Kirrhnilcxihon', X, 747-753.

" Uenlencyklojn'ltlif für prot. T/nol. ii. Kirche \ Hd. 11, S. 706 716.

" Le hienhi'ut'cii.r /{tii/inomf /jkUc^ i'aris lÜOO.

'** I{(njnn(n<l l.ull^ l-'iisl Missiotinri/ lu Ihr Mosiftns. New ^ Ork 1902.

" If/ii/nnint/ f^u//^ fhi- Hl iiininntfil tloiiftr. A sh((/i/ In niril iii'iil inissions. London 1903.

■' Quaracclii. Tom. 1 (1906y, p. 361—392.

14 Raymundus Lullus.

Eine Ergänzung der Vita coaetanea, zum Teil auch eine Bestätigung derselben bilden die Mitteilungen, welche Lullus selbst in seinen Schriften über sein Leben macht. Doch ist in P3e- nutzung dieser Angaben grofäe Vorsicht geboten; denn die reiciie Phantasie, mit der Räymund begabt ist, kommt oft auch in seinen Schriften zum Durchbruch, und es ist häufig schwer zu unter- scheiden, was in seinen Werken als nüchtern^ Wirklichkeit und was als allegorische Einkleidung oder mystische Übertreibung an- gesehen werden muß. Dazu kommen noch einzelne offizielle Akten- stücke, die auf das Leben und die Tätigkeit Raymunds Bezug haben. Hier scheint sich allerdings der Forschung noch ein ziem- lich weites Gebiet zu eröffnen, sei es um die in spanischen Archi- ven und Bibliotheken noch etwa verborgenen Dokumente ans Licht zu bringen, sei es um die über schon bekannte Schriftstücke noch bestehenden Zweifel zu zerstreuen.

IL Kapitel. Lulls Jugendleben.

Über Geburt und Kindheit Raymund Lulls berichtet uns die Vita coaetanea nichts; jedoch gibt uns ein Bericht über die Unter- suchung, die der Bischof von Tarragona auf Befehl des Papstes Gregor XL anläE^lich des Streites über Raymunds Orthodoxie angestellt haben soll, näheren Aufschlulä ^

Lullus entstanunt darnach einer katatonischen Adelsfamilie, die ursprünglich ihren Sitz in Barcelona hatte. Aber schon im Jahre 1229 war sein Vater mit Jakob L von Aragonien zur Er- oberung der Insel Majorka ausgezogen und hatte sich, nachdem der Zug am letzten Tag dieses Jahres - siegreich beendigt wurde.

' Diese „Informatio Än'hiejtiscopi Tarraconensh'^ ist abgedruckt bei Pasqual, Vindiciae Lid/. Tom. I, p. H84— 403. Die Echtheit derselben steht nicht unzweifelhaft fest; da dieselbe aber andrerseits den Angaben lullischer Schriften und sonstiger lierichte nicht widerspricht, so dürfen wir in ihr wolil die Tradition erblicken, wie sie sich um die Wende des 14. und 15. Jahrhunderts entwickelt hatte.

- Lafuente nimmt das Jahr 1228 an. Vgl. i\l. Ijafuente, Historia general de Espana. Tom, V, p. 409. Zur Erklärung dieser Verschiedenheit ebd. Anni. 1.

I. Zur Biographie. 2. Jugendleben. 15

daselbst ansässig gemacht. Hier erblickte Rayinund das Licht der Welt, doch läßt sich das Jahr seiner Geburt nicht genau bestim- men. Wohl hat PasquaH auf Grund einiger Angaben, die Lullus im Liher magnus content plationls und in mehreren anderen Schriften macht, das Jahr 1232 als Geburtsjahr nachzuweisen gesucht; aber er muß zu seiner Beweisführung die Texte, auf welche er sich stützt, so sehr pressen und daneben so viele Kunstgriffe an- wenden, daß die von ihm festgehaltene Zeitangabe doch zu ge- sucht erscheint. Mehr läßt sich mit Sicherheit kaum nachweisen, als daß die Geburt Ravmunds in die Mitte der dreißiger Jahre des 1 3. Jahrhunderts zu verlegen ist ^.

Seine erste Jugendzeit verlebte Raymund am Hofe des Königs Jakob I. von Aragonien (Jaime I. el Conquistador); später erhielt er das Amt eines Seneschall bei dessen gleichnamigem Sohne, dem nachmaligen König Jakob von Mallorka.

Die Bildung, welche Lullus während seiner Jugendzeit sich aneignete, war jedenfalls keine gelehrte. Aber wenn auch die Informatio Archiepiscopi Tarraconensis ihn „generali scientiarum et liberalium artium ignorantia gravatus" nennt, so dürfen wir doch nicht annehmen, daß er seine Jugendjahre ganz im Nichts- tun durchlebt habe. Am Hofe erzogen, wurde er eben in die höfische Bildung jener Zeit eingeführt und eignete sich auch die höfischen Sitten und Gepflogenheiten des 13. Jahrhunderts an; diesen blieb er treu als Seneschall, und auch der Ehestand, in den er inzwischen getreten war, brachte hierin keine Änderung. Es war die Zeit, in welcher der Minnesang an den Höfen in Blüte kam, und diese Beteiligung am Tun und Treiben der Minnesänger mit seinen guten Seiten, aber auch mit seinen Auswüchsen und Freiheiten ist wohl gemeint, wenn die Vita coaetanea, deren Bericht hier einsetzt, von Raymuiid sagt.

> Vinfi. Lull. Tom. I, p. 18 16.

' Die htfornififio Arrhir/». 'rarrar. sagt: ,non diu post ncquisitionem iliiuH insulae (Majorku int gemeint) super Mauros die ultima aiiiii 1229 cclcliratam natus; et quidem 8ub Hanctae memctriae Gregorio l'apa IX. u(i(M)<|u<> iion solum ante Dominum Fapam Alexandrum IV., 8ed et ante Dominos l'apan Innocun- tium IV. et (JoeloHtinum W ." (I'untjual, Vitid. Lull. Tom I, p. W^h). Der letztere Zu^iatz hat oflcnbar den Zweck, Verwecliylun;^ori unneren KaymunduH mit anderen Trägern dieuea Namenu entgegenzutreten oder vurzubeugen.

16 Raymundus Lullus,

daß er „iuvenis adhuc in vanis cantilenis seu carminibus com- ponendis et aliis lasciviis saeculi deditus esset nimis" ^. Wenn Lullus selbst in späteren Schriften sich ziemlich mißfällig über sein Jugendleben ausspricht, so ist dabei zu bedenken, daß ein solches Urteil von der viel ernsteren Lebensauffassung diktiert ist, der er sich inzwischen zugewandt hatte. Er war gewiß nicht besser, aber wohl auch nicht schlechter als andere Personen aus seinem Milieu. Es ist ebenso verfehlt, wenn man seine Ver- standesbildung auf das tiefste Niveau herabzudrücken sucht, wie es unangebracht ist, ihn nach der ethischen Seite hin als den Ausbund aller Lasterhaftigkeit hinzustellen, besonders wenn es zu dem Zweck geschieht, damit seine spätere übernatürliche Er- leuchtung und Bekehrung in desto wunderbarerem Lichte erstrahle.

III. Kapitel. Sinnesänderung. Lebensaufgabe.

Mitten in seiner Troubadourtätigkeit, während er mit der Abfassung eines Liebesgedichtes beschäftigt ist, wird Raymund aufgeschreckt durch die Erscheinung des Gekreuzigten, welche sich in den folgenden Tagen noch viermal wiederholt.

Es hat für uns kein Interesse, in den Streit über das Wesen und den Charakter dieser Visionen einzugreifen ; für unseren Zweck ist nur die Wirkung von Bedeutung, die sie auf Raymund aus- übten. Dieser betrachtete das Vorkommnis als eine übernatür- liche Mahnung, eine andere Lebensweise zu beginnen, und mit dem nämlichen Feuereifer, mit dem er bisher dem Minnedienst gehuldigt, strebt er jetzt, diesem Ruf zu folgen. Er geht mit sich zu Rate, wie er Gott am besten dienen könne, und das Resultat seiner Erwägungen ist ein dreifaches: bei der Bekehrung der Un- gläubigen das Martyrium zu linden, ferner ein Buch gegen die Irrtümer der Ungläubigen zu schreiben und endlich beim Papst und den christlichen Fürsten auf die Errichtung von Häusern hin- zuarbeiten, in welchen geeignete Personen zum Zweck einer er- folgreichen Missionstätigkeit die Sprachen der Ungläubigen, nament-

* cap. I, 1. {Acta SS. tom. cit. p. 661.)

I. Zur Biographie. 8. Sinnesänderung. Lebensaufgabe. \1

lieh das Arabische, erlernen sollten. Unter diesen Ungläubigen, gegen die seine Pläne gerichtet sind, versteht er namentlich die Sarazenen, die arabische Bevölkerung, deren Vorherrschaft auf den Balearen zwar gebrochen, die aber doch nicht gänzlich ver- schwunden war, die sodann in Spanien überall unter den Christen lebte und die besonders das nördliche Afrika bewohnte K

Hier taucht zum erstenmal das Ziel auf, welches LuUus nun während seines ganzen Lebens verfolgt. Man begegnet diesen Plänen von jetzt ab auf Schritt und Tritt, manclimal in modi- fizierter Form, aber immer mit dem einen Grundgedanken, der auch hier schon jenem dreifachen Plan zugrunde liegt: dem Einfluß entgegenzuarbeiten, den das Arabertum auf das christliche Abend- land ausübte.

Lullus verhehlte sich keineswegs die Schwierigkeiten, welche der Ausführung seines Entschlusses im Wege standen. Aber mit jener Entschiedenheit, die ihn auch in der weiteren Verfolgung des einmal gesteckten Zieles so sehr auszeichnet, trifft er alsbald Vorkehrungen, dieselben zu überwinden.

Vor allem ist es der Mangel wissenschaftlicher Bildung, der ihm Sorge bereitet. Daher beschlol.^ er, sich nach Paris zu be- geben, um dort das in der Jugend Versäumte nachzuholen, und nur die Vorstellungen seiner Umgebung, besonders der Eiiiflul.^ Raymunds von Penaforte, konnten ihn von diesem Vorhaben abbringen. Er kehrte von den Wallfahrten, die er unternommen, wieder nach Majorka zurück, aber nicht um seinen Plan aufzu- geben, sondern um dort wenigstens teilweise sich jene Ausbildung anzueignen, die ihm Paris hätte bieten sollen.

Noch ein zweites Hindernis muLHe überwunden werden. Wenn die Kenntnis der Sprache der Ungläubigen notwendig wai-, um hei denselben niil Erfolg missionieren zu können, dann konnte auch er ihnen den (ilaiihen nicht predigen, wenn er ihie Sprache niclit verstand. Daher nahm er sich zu gleicher Zeit eiiK.Mi ;ira- bischen Diener, um unter dessen Anleitung diesem Maiij^el ah/.u- lielfen, und trotzdem er. schon etwa IM) Jahre zählte, erreichte er

' „SariicenoH, qui huh multitudine C'hrit*tiunoH undiquc rircufiKMnKunt." \'i/u fottt't. cap. I, 3, {Artti SS. toin. cit. p. fjfll.)

li«- i t nitC*' ^II< 4--.'i. K<'ii'li<-r. KttyiiiiiiKlii» Liillii-. J

18 Baymundus Lullus.

dennoch dabei eine solche V^ollkonunenheit, daLi er imstande war, einige seiner Schriften arabisch abzufassen.

Raymunds Pläne sind nun keineswegs originell. Der Missions- eifer, von dem er erfäfet wurde, blühte um diese Zeit besonders in den neugegründeten Orden der Franziskaner und Dominikaner. Der Ordensgeneral der letzteren, Raymund von. Pefiaforte, wulMe auch den aragonischen Hof für den Gedanken der Missionierung zu gewinnen, und eine solche Bewegung konnte unserem Ray- niundus Lullus wohl nicht entgehen, auch wenn ihm das Hofleben keine Zeit ließ, sich mit diesen religiösen Fragen näher zu be- fassen. Aber auch der Gedanke, Studienhäuser zur Erlernung der Sprachen zu gründen, war nicht neu. Gerade im Domini- kanerorden finden wir schon frühzeitig eine dahin zielende Bewe- gung. Schon das spanische Provinzialkapitel, das 1250 zu Toledo abgehalten wurde, bestimmte eine Anzahl von Ordensmitgliedern für das Studium des Arabischen^. Eine gleiche Verordnung er- ließ das Generalkapitel zu Valenciennes im Jahre 1259'-. Mög- licherweise wurde Lulkis zu dem Entschluß, ein Buch gegen die Ungläubigen zu schreiben, gleichfalls durch Beispiele angeregt, die er vor Augen hatte. Thomas von Aquino hatte ja zu dem gleichen Zwecke im Auftrage seines berühmten Ordensgenerals die Summa contra gentües abgefaßt, und wenn die in neuester Zeit aufgestellte Behauptung richtig ist, daß Raymund Martini einen Teil seines Put/io fidel bereits vor der Summa contra (jcntiles ge- schrieben habe '^, so konnte Lullus auch davon Kenntnis haben.

IV. Kapitel.

Die Ars generalis.

Das erste, was Raymund von seinen Plänen in Ausführung brachte, war die Schrift gegen die Ungläubigen, die Ars ijeneraUs.

' Mortier, Hisfolre des »laifres </nu'rnu.r de Vordre des freres Precheurs. t. I (l'aiis 1903), p. 519.

^ Momimenta ordinis frutruni rrnedlcatorum Ilistorird. t. III (Acta Capitiilorum geneialiuni. Vol. i), p. 98 (rec. fr, 13. M. Reichert. Romae 1898).

' Miguel Asin, EJ ((rerrois}no teologt'co de Snnto Tomas de Aquino. Zaragoza 1904.

I. Zur Biographie. 4. Die Ars generalis. 19

Nachdem er neun Jahre lang sich dem Studium der Grammatik und der arabischen Sprache gewidmet, zog er sich auf den Berg Randa in die Einsamkeit zurück. Hier nun, so erzählt die Vita Anonijmi, erleuchtete Gott seinen Geist, „dans eidem formam et modum faciendi librum, de quo supra dicitur, contra errores in- fidehum" ^ Die Frage nach dem Ursprung des Buches scheidet hier völlig aus. Was man auch immer unter forma und modus, die auf übernatürhchen Einflufe zurückgeführt werden, verstehen mag, die Worte der Vita wie zahlreiche diesbezügüche Andeutungen in den Schriften Lulls können nur den dem Mittelalter ganz ge- läufigen Sinn haben, wonach das unmittelbare Ergebnis eigenen Forschens und Nachdenkens einer höheren Ursache zugeschrieben wird. Für uns ist nur die Tatsache von Bedeutung^ daß dieses gegen die Ungläubigen gerichtete Buch kein anderes ist als die viel gerühmte und noch mehr geschmähte Ars generalis. In ihr glaubte Lullus ein Mittel gefunden zu haben, das mit Erfolg zur Verteidigung des Glaubens in Anw^endung gebracht werden könnte. Wie hoffte er nun dieses Ziel zu erreichen? Die Vita coaetanea sagt: „Goepit ordinäre et facere librum illum, vocans ipsum primo Artem maiorem, sed postea Aitem generalem, sub qua arle plures . . . fecit libros, in eisdem multum generalia principia ac magis specifica, secundum capacitatem simph'cium, prout experi- ontia eum docuerat, explicando" '^.

Das Wesen der Ars generulis machen demnach die „prin- cipia" aus, welche derselben zugrunde liegen und in ihr erklärt werden sollen. Ein Teil dieser principia stellt sich nun zunächst dar als eine Reihe abstrakter Begriffe, und diese sind es, von welchen sich Raymund im Kampfe gegen dun Unglauben einen Erfolg verspricht. Si(.' bilden den (Mgentlichen Kern nicht bloti der Ars lullianu, sondern des ganzen lulli sehen Systems.

Daneben niuü aber in Erwägung gezogen werden, zu wessen (iunsten I.ullns .seine Ars ausgesonnen hat. Das gewöhnliehe Volk, das mitten unter den Ungläubigen l<l)l und unter deren bestän- digen Einwnrf(.*n gegen den rhrisilichen (ilaiihcii /n leiden hat, ist CS in erster Liin'e, dem der apologetiscln; /weck der Ais t/c-

' CH|). II, 10. (Arta SS. toin. cit. p. r,f;:{.) ' rap. If. 10, {Arta SS. p. fWi.S.)

Q

20 Raymundus Lullus.

neralls zugute kommen soll. Ihm wollte Raymund damit ein Mittel an die Hand geben, sich dieser Angriffe zu erwehren, aber zugleich sich selbst und den Gegnern Rechenschaft über die Wahr- heit seines Glaubens abzulegen. Sollte dieser Zweck erreicht werden, dann mutete das Volk mit diesen abstrakten Begriffen umgehen lernen; daher ist ein anderer Teil der principia mehr praktisch gehalten, in diesem Teil wird in einer vielleiciit tra- ditionell festgelegten Reihenfolge eine Anzahl von Fragen ange- geben, nach welchen ein Gegenstand untersucht werden kann, es werden die Subjekte näher bezeichnet, auf welche diese Fragen Anwendung finden sollen, es wird eine Anleitung gegeben, wie man dieselben auch auf das moralische Gebiet übertragen könne.

So stellt sich die Ars zunächst dar als eine Art heuristischer Methode, durch welche auch Ungeschulten, die über vorgelegte Zweifel und Einwürfe nicht selbständig zu entscheiden vermocliten, auf schematischem Wege Gedanken aufgedrängt werden muLHen.

Diese beiden Prinzipienreihen, die abstrakten Begriffe sowie die praktische Anleitung, mit denselben umzugehen, sollen endlich noch eine w^eitere Unterstützung finden in der eigenartigen äul.^eren Technik, welche Lullus seiner Ars beigegeben hat. Die Kreise und geradlinigen Figuren, deren er sich bediente, sollen einerseits noch eine weitere Nachhilfe sein, um die konkreten Fragen, die eine Lösung verlangten, zu den abstrakten Begriffen in Beziehung zu bringen, andrerseits aber mag Raymund damit wohl auch die Absicht verbunden haben, den Inhalt jener abstrakten Begriffe in symbolischer Weise zur Anschauung und so dem Verständnis näher zu bringen. Ob diese mechanische Darstellung eine geeig- nete Metliode war, dieses Ziel zu erreichen, mag dahingestellt sein; aber sicher war es ihre Aufgabe nicht, sich ihren wissen- schaftlichen (liehalt sell)st zu konstruieren, die Prinzipien, die zur Verteidigung des Glaubens dienen sollen, selbst zu finden. Dieser Inhalt der Ars generalis steht vielmehr der äuiäeren Form als etwas ganz Selbständiges gegenüber; er mag durch eigenes Nach- denken gefunden oder aus irgend welchen Quellen geschöpft sein, aber jedenfalls ist er von auL^en her in die, vielleicht starre. Form der Ars hineingegossen, oder besser, hineingezwängt. Und die Ars soll keine Maschine sein, welche an Stelle des Denkens das

I. Zur Biographie. 4. Die Ars generalis. 21

Drehen von Kreisen setzt. Wer der Vernunfterkenntnis eine so hohe Stellung einräumt, wie LuUus es getan, der wäre ein psycho- logisches Rätsel, wenn er daneben von einem äußeren Mecha- nismus, von der bloßen Kombination allgemeiner Begriffe, einen erkenntnistheoretischen Fortschritt erhoffen wollte. Vielmehr soll jene Ars das endgültige, fertige Resultat menschlichen Denkens und Forschens denjenigen in einer leicht faßlichen Form bieten, welche selbst nicht imstande sind, sich im einzelnen Fall die Verteidi- gungsgründe für ihren Glauben zurecht zu legen. In dieser Hin- sicht verfolgt also die Ars (jeneralis neben dem apologetischen noch einen populär-didaktischen Zweck. Darum hat Lullus auch stets an seine Ars die verbessernde Hand angelegt, sie nach verschiedenen Gesichtspunkten bearbeitet und den anfangs allzu komplizierten Apparat derselben schon bald vereinfacht ^

Die lullische Methode ist in dieser Beziehung tatsächlich eine Ars^ weil sie eine, wenn auch symbolische, so doch immerhin künstliche Anordnung eines bestimmten wissenschaftlichen Stoffes darstellt; sie ist auch eine Ars generalis, aber nicht deswegen, weil man vermittelst derselben Aufschlul.^ über alle möglichen Fragen und Probleme erhalten kann, sondern weil sie sich stützt auf die principia generaUa.

Wenn Lullus, wie oben angedeutet wurde, sein System nicht auf einmal durch plötzliche P^rleuchtung von oben empfangen hat, wenn dasselbe vielmehr die F'ruclit eigener Arbeit ist, so taucht die Frage auf, wann er denn dasselbe ausgebildet habe. Die Antwort darauf scheint nicht allzu schwierig. Es ist kaum an- zunehmen, daf^ Raymund während seines neunjährigen Aufent- lialtes auf Majorka sich ausschlietMich dem Studium der lateini- sclien und arabischen Sprache liiiigegeben habe -. Vielmehr hatte

' Die Vita conet. bemerkt cap. II, 14 (Acht SS. p. 063), ilul.'i Lullus wjili, reiifl Heines Anfentlialtes in Montpellier die Ars inmifirti rrrihills fortiggt'.'st(!llt. habe, „ponendo in ipso libro, nee non et in omnibus aliis lil)ri.s <|H().s ex tunc. fecit, quattuor tantum figuraB, resecatis seu potius diB.sinuilatis, proph'r fragi- litatem huniani intellectus quam f'uerat expcrtu/) I'ariHÜH, diiodecim figuris ex sexdecim qua« posuerat in Ait(j sua "

•' Iher int noch die Nehenfrage zu erörtern, oli Lullus (iberliaupl Lal«'in veratftnden habe. Der ungenannte V^erfassor der Vurstndicn iihrr ihts I, fluni des Hfl j/m lind UM IjhIIiih** (Honner ^Zrilurhri/f (iir I'liiittsttf/Iiir u. La/h I'hi'oloi/ir" , 1852, Heft ^3) neigt (/, r. p fi'J ti ) dn Auhiclit zu, dali Lullus wrih-r \ui mich

22 Raymundus Lullus.

er hier MuL^e genug, sich in die Scholastik einführen zu lassen und gleicher Zeit in den Ideenkreis arabischer Philosophie und Theologie sich einzuleben und sich so die Waffen für den ge- planten Kampf gegen den Arabismus herzurichten. Im taglichen Umgang bot sich ihm Gelegenheit, die Einwürfe der Ungläubigen gegen das Christentum näher kennen zu lernen, sich in der Zurück- weisung derselben zu schulen und so allmählich ein System christ- licher Religionsphilosophie auszubauen, das den Gegensatz zum Arabismus bilden sollte.

Die Vita coaetanea erwähnt allerdings aufser dem angeführten Sprachenstudium von all dem nichts, sondern geht über den ge- nannten Zeitraum von neun Jahren nach einigen nebensächlichen Bemerkungen stillschweigend hinweg. Es ist nun keineswegs das Bedürfnis, diese verhältnismälMg lange Frist mit einer ent- sprechenden Tätigkeit seitens Lulls auszufüllen, welches jene Ver- mutungen aufgedrängt hat; vielmehr haben andere Gründe dazu geführt.

In der alten Biographie wird nämlich erzählt, dafa bald nach dem einsamen Leben auf dem Berg Handa der König von Ma- jorka ', „audito, quod Raymundus iam fecisset multos libros" '-', Lullus nach Montpellier kommen und dessen Bücher hier durch einen Franziskaner prüfen liet^. Vorzüglich war es der Liber mag- nus contemplaüoniSy der das Lob des Examinators fand. Da nun

nach seiner Bekehrung die Sprache der Gelehrten verstanden hahe. Dabei stützt er sich auf eine Stelle der Vlia, welche sagt, „utpote qui nee etiam de gram- niatica aliquid forte nee niinimum didicisset" (cap. I, 3. Ada SS. p. 661) und faßt hier (jranimatica ausdrücklich in der Bedeutung von „lateinische Sprache". Er übersieht aber, daß weiter unten (cap. I, 7. Acta SS. p, 662) von dem Auf- enthalt Lulls auf Majorka gesagt ist: „et sie in eadeni civitate didicit parteni de gramniatica/ Wenn Lullus auch bisweilen zugesteht, daß er liatein nicht »verstehe, so ist damit ein solcher Grad von Kenntnis des Lateinischen gemeint, der ihm die Übersetzung seiner katalonischen Schriften ermöglicht, hatte; so in der Einleitung zu Eis reut noms (/c Den: „Perque eu, Ramon, supplich al sant Pare Apostolich e als senyors Cardenals qu el fassen pausar en lati, car eu no li sabria pausar, per 90 car ignor grammatica." Vgl. Rosellö, Ohras rimadas de Ramon LnU. Palma 1859, p. 201. Das schließt aber nicht aus, daß er in den Grundbegritfen der lateinischen Sprache unterrichtet war.

' Es ist der Sohn Jakobs 1. von Aragonien, der hier den Titel König von Majorka führt.

'' cap. II, 12. [Acta SS. p. 663.)

I. Zur Biographie. 5. Äußere Tätigkeit. 23

dieses Ereignis spätestens in das Johr 1276 zu verlegen ist, seine «Bekehrung" aber gegen die Mitte der sechziger Jahre stattfand, so bleibt keine genügende Zeit übrig, welche das Entstehen dieser Schriften, namentlich des umfangreichen Liher contemplationis i, erklären würde, wenn man nicht annimmt, dafe Lullus schon vorher an denselben gearbeitet habe. Dazu kommt, daß der Liber contemplationis in Deum nicht etwa, wie der Titel vermuten lassen könnte, eine Sammlung mystisch-asketischer Reflexionen und Er- güsse darstellt, sondern, allerdings in der Form eines Gespräches mit Gott, sich als eine Art Summe des gesamten theologisch- philosophischen Wissens Raymunds präsentiert, worin die An- sichten der philosophi antiqui kritisiert und die Meinungen der arabischen Denker besprochen werden. Besonders ist es das ganze Kapitel 187 „De modo disputandi de fide", welches eine Fülle von Ratschlägen erteilt, die nur aus längerer praktischer Erfahrung hervorgegangen sein können; und wenn Lullus das selbst befolgt hat, was er hier anempfiehlt -, so ist es überaus wahrscheinlich, dalii in dieser Zeit schon manche Schriften kurz skizziert wurden, welche erst später die endgültige Form erhielten.

V. Kapitel. Äußere Tätigkeit Lulls.

Mit der Abfassung der Ars generalis war das Lebenswerk Raymunds noch nicht abgeschlossen, ja auch der eine Zweck, dem sie dienen sollte, noch lange nicht erreicht; es wurde schon oben gesagt, dali die Ars der Verbesserung und des Ausbaues bedurfte, und namentlich wai" es nötig, die Kenntnis derselben in weitere Kreise zu tragen.

Die rastlose F^norgie, welche Lull chaiakterisicrl, Lrieb ihn indes bald auch zur Ausführung seiner weiteren Entschlüsse. Das ZusammentronV'ii mit dem König Jakob von Mallorka in Mont-

' Derselbe umfnfH in der Salzingerschen (Mainzrr) Folio-AuHgabo die beiden Bände IX. und X.

* cap. 1H7, n"3: „(^iiirfjuid in prinripio roncordctur ot ronerdatur ab ani- babuH partibuH, opori(;t Hcribi, uc in fiiic, «juandu vriiiat (-otiriiisio, poHsit ncguri." Ed. Moguiit. t. IX, p. 454

24 Raymundiis Lullus.

pellier bot ihm hiezu die erste Gelegenheit. Er wußte den Fürsten für die Gründung des Klosters Miramar auf Mallorka zu ge- winnen, in welchem beständig dreizehn Pranziskanerbrüder dem Studium der arabischen Sprache obliegen sollten, um nach dessen Vollendung von hier" aus ihre Missionsreisen anzutretend Es scheint, daß die Gründung alsbald bewerkstelligt wurde, denn als Johann XXI. dem Kloster unter dem 17. Oktober 1276'^ die Be- stätigungsurkunde ausstellte, war dasselbe mit der entsprechenden Anzahl von Brüdern bereits besetzt ■'^. Daß Lullus sich selbst län- gere Zeit in der neuen Gründung aufgehalten habe, ist lediglich eine Vermutung, die sich darauf stützt, daß die Vita Anonijmi über die nächsten zehn Jahre keinerlei Angaben macht. Aber immerhin erscheint diese Annahme noch begründeter als der Ver- such verschiedener Biographen, nach welchen Raymund in dieser Zeit fast die ganze damals bekannte Welt durchreist hättet Die Erzählung Blanquenia, deren Einzelheiten diesen Aufstellungen zu- grunde liegen, ist doch zu sehr Roman, als daß die darauf auf- gebauten Konstruktionen für historische Wahrheit gelten könnten. Dagegen entfaltet Lullus vom Jahre 1287 an enie unermüd- liche Tätigkeit, um seine Pläne nach und nach ins Werk zu setzen. Von jetzt ab ist er tatsächlich fast beständig auf der Wande- rung; er reist von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, um überall

' Die Bemerkung der Bonner „Zeitschrift für PJiilos. n. kath. Theologie" (1852, Heft 83, S. 68). daß Kaymund in keinem seiner Werke sich über die Gründung dieses Klosters äußere, ist irrig. In dem Gedicht „Lo dnü de Ramon" heißt es:

Lo Monastir de Miramar Fiu ä frares menors donar, Per Sarrah ins a preycar, (Ro seile), Ohras- rimadas. Palma 1859, p. 365.)

2 XVI. Kai. Novembr., nach Reg. Vat. Joh. XXI. ep. 53 (vgl. Stapper, Fapst Johannes XXI. Münster 1898, Ö. 101). Das liidlariuin I'^raneisettnuin tom. III ad ann. 1276 hat XVI. Kai. Oct.; Wadding, Ammles Min., tom. VI, p. 436 XVI. Kai. Dec.

•' „Per ministrum provincialem huiusmodi fratrum numerus iam est ad hoc per Dei gratiam constitutus et inibi per eosdem laudabiliter studio insisti- tur memorato." {Bull. Fnnic., I. c.)

' So z. B. Pasqual, IV/n/. Lii//. I cap. 14 (p. 128 ft".); Rosellö. Obras rimadas p. 51 ff".; Andre, Le hieiili. I\. Lulle, cap VII. Dagegen erwähnt Perroquet, Apologie de la rie et des o'nrres dn hienh. U. Lulle (Vendosme 1667) von diesen Reisen noch nichts.

I. Zur Biographie. 5. Äußere Tätigkeit. 25

für seine Ideen Propaganda zu machen und seine Ars <jeneraUs weiter zu verbreiten, er sucht auf kirchenpohtische Verhältnisse Einfluls zu gewinnen, um auf diesem Wege zum Ziel zu kommen, und er geht daneben noch selbst in die Missionsgebiete, um der Verkündigung des christlichen Glaubens zu dienen.

Zuerst begibt sich Raymund nach Rom, um bei der päpst- lichen Kurie die Gründung weiterer Studienklöster nach dem in Miramar geschaffenen Vorbilde durchzusetzen. Vielleicht setzte er eine besondere Hoffnung auf den damals regierenden Papst Ho- norius IV., der im Jahre vorher (23. Jan. 1286) schon in einem Briefe an den Kanzler von Paris für die Pflege der orientalischen Sprachen zum Zweck der Missionierung eingetreten war ^ Aber als Raymund nach Rom kam, war Honorius IV. tot (gest. 3. April 1287) '-, und so hatte er wenig Aussicht auf Erfolg. Daher machte er sich auf den Weg nach Paris, wo er frühestens im Dezember 1288 3 eintraf.

In Paris nahm Lullus nicht bloß Veranlassung, den allge- meinen Studienbetrieb an der Universität kennen zu lernen, son- dern vor allem lag ihm die Verbreitung seiner Ars genendls am Herzen. Mit Erlaubnis des Kanzlers Berthold trug er dieselbe öffentlich vor, allerdings wie es scheint, mit wenig Erfolg; denn auf Grund dieser Vorlesungen nahm er in Montpellier, wohin er sich von Paris aus gewandt hatte, die schon oben erwähnte Ver- einfachung' derselben vor. In Montpellier glückte es ihm, ein Empfehlungsschreiben des damaligen F'ranziskanergenerals Ray- m und US Gaufredi zugunsten seiner Ars zu erlangen •. Hatte

' Potthast, /«*/'//. l'<j)it. 22 355; Fruu, Le^i rrgistrea d' Honorius I \' , col. 211. n" 274.

'■' Pasqual iVim/. Lull. t. I p. 165), Rosello (Ohnts riiiidthis, p. 56 f.) und Andr«' (/>/' himh. li. Lii/h', p. 117) iK-lmicii liior oinon Fohler in «ler l'/fa an iin»! lassen f>ullii.s licreits 12><5 nach dem 'l'odo Miutiiia IV. nach Hom kom- men. Auf sein IJetieihen hätte dann llonoiiiis den erwiilint«'n Hrief ausgefertigt und Lull «len.selhen na« h i'aris iiherbracht. Diese Ann;ilimcn Itunilicn alle auf <ler irrigen Voraussetzung, «lafj die Heise nach Paris spätestens 12^7 erfolgt sei.

■' iJenifle hat schon (Chrirfiif. Cnir. I'aiis. II, 1 p. 23 f.) auf (Jrund der von ihm dort Huh n" 550 und 551 mitgeteilten Hriofe Nicolaus' IV. iiii die beiden Kanzler Nie. de NonufK uriii und Herlhojdu.s die irrige Aiisi( jil dir ///.>/. im^rairf (t. 2«, p. 14, A. 1) berichtigt.

* Wadding, Ann. min. t. VI ad aun. 121)0, n" 18. Der Text int abge- druckt in der lionner „ZrifHchriff für l'hiloH. n. kulh. 'J'hrol/' 1852 (lieft 83, S. 107).

26 Kaymundus LuUus.

Liilliis sich um den Orden der rninderon Brüder schon dadurcli verdient gemacht, dala er die Gründung- des Klosters Miramar ver- anlaCUe, so scheint er auch sonst demselben sehr gewogen ge- wesen zu sein; denn in dem erwähnten Schreiben wird er „ami- cus ordinis et devotus ab antiqno in relevandis fratrum nostro- rum inopiis gratiosus et in subsidiis soUicitus et attentus" ge- nannt. Daher werden die Provinziale angewiesen, ihn überall gut aufzunehmen; den Brüdern aber, welche Lust dazu haben, soll Gelegenheit gegeben werden, die von ihm gelehrte Ars, „per quam convincere nititur infideles", zu hören.

Vielleicht im Vertrauen auf eine solche Empfehlung geht Raymund abermals nach Rom, um am päpstlichen Hofe wegen der Errichtung von Studienhäusern vorstellig zu werden. Da er aber wenig Entgegenkommen findet, so begibt er sich nach Genua, um von hier aus selbst eine Missionsreise anzutreten. Im Sep- tember 1292 treffen wir ihn in Tunis, aber bereits im Januar 1293 befindet er sich wieder in Neapel, wo er bis zur Wahl Gölestins V. sich aufhält. Dem neuen Papste überreichte er hier eine Bittschrift, worin er der Kurie die Forderungen unter- breitet, die nach seiner Ansicht zur Missionierung der nicht christ- lichen Welt notwendig erfüllt werden mußten. Hatte er früher den Gedanken, Studienhäuser zu gründen, ganz allgemein zur Er- wägung gestellt, so machte er jetzt praktische Vorschläge zur Subventionierung derselben; dazu regte er noch einen neuen Kreuzzug zur Eroberung der heiligen Stätten an und gab beson- dere Anweisungen über die Art und Weise, wie bei der Missions- tätigkeit am zielbewufHesten vorgegangen werden könne K Ob die Erfolglosigkeit dieses Schrittes in der kurzen Regierungszeit Gölestins ihren Grund hatte oder in der geringen Begeisterung, die man überhaupt am römischen Hofe seinen Bestrebungen ent- gegenbrachte, läl^t sich wohl nicht genau sagen, aber das Letztere ist wahrscheinlicher. Mit dem Fall von Akkon (1291) war die letzte der Errungenschaften, \velche die Kreuzfahrer im hl. Land gemacht hatten, verloren gegangen. Dieses traurige Resultat ver-

' Bie Petition bildet den Schluf3 seiner Dispnffttio (jiiiiKjne howlnum sa- pioutum. Opera, ed. Mogunt. toni. II, Liber de V, Supientibus, p. 50 f. Bei Pasqual ist sie abgedruckt tom. I, p. 207 f.

I. Zur Biographie. 5. Äußere Tätigkeit. 27

mochte zwar nicht, jene Bewegung, welche zwei Jahrhunderte lang das christliche Abendland in gespannter Erregung erhalten hatte, mit einem Schlag zu unterdrücken; aber es scheint doch bei den maßgebenden Kreisen die Erkenntnis gezeitigt zu haben, dal^ neue Opfer ebenso nutzlos gebracht würden wie die bisherigen; an Stelle der Begeisterung trat, wenn auch nur vorübergehend, eine gewisse Resignation \ und so mochten die mit dem neuen Kreuzzugsplan verbundenen früheren Vorschläge in Bausch und Bogen als Phantastereien angesehen und behandelt werden. Daher ist es auch begreiflich, daln eine Petition ähnlichen Inhalts sowie die Widmung der in Rom verfaßten Schrift „De artlcidis fidel sacrosanctae et scdutiferae ler/is Christianae'' an den folgenden Papst Bonifaz VIII. ebenso resultatlos blieben.

Was die kirchlichen Behörden nicht gewähren konnten oder wollten, das hoffte Lullus mit Hilfe anderer Kreise zu erreichen. Vor allem waren es die weltlichen Fürsten und die Universität Paris, die er zur Ausführung seiner Pläne heranzuziehen gedachte. So kehrte er denn Rom den Rücken, um sich nach Paris zu begeben. Freilich fand er hier nicht bloß solche, auf deren Unter- stützung er bauen zu dürfen glaubte, sondern er gewahrte auch, wie sehr der arabische Geist, den er in auswärtigen Missionen zu bekämpfen suchte, daheim die christliche Wissenschaft schon in- fiziert hatte; seine „Deckt ratio per modiun dlalo(/l edlta contra aJl- quoritm phllosophorinn et eorum nequaclum opinlones erroneas" stellt die erste Abrechnung mit den christlichen Averroisten dar. Dagegen suchte er die theologische Fakultät in verschiedenen Schriften für sicli zu gewinnen und auch den König Philipp (Ion Schönen schriftlicli und mündlich seinen Plänen günstig 7.\\ stimmen.

I)i(' Erfolglo-sigkeit seinei- Bcinühungen verleidete ihm auch Paris, und nach einem vorübergehenden Ik'such seiner heimat- lichen Insel unternaliin <r \'M)\ «ine Missionsreise in den Orienl, nach der Insel Cypei n und (i<iii Festland von KleiuMsien.

' Lnllnfl flucht \veni>?HtpnH in kommt Mittnchrift (Jriiiido «Iukü^«''! an/u- führc-n: ,Si Hicitur, <jno<l oinniu iHta fiirit, «juainlo I)«m) placiii«rit, rousidrrato (nämlich der l'upMt und die KHrdina!«*), utruni i)«'us vi-iit litMiii (juarc rri-avit hoininem fic. (l'nHqunl, l'huf l.iill t I j». 'J0>^ Arnn.)

28 Raymundus Lullus.

Aber bereits iin folgenden Jahre kehrt er wieder nach Europa zurück, wo sein Aufenthalt während der nächsten Zeit beständig zwischen Montpellier, Genua und Paris wechselt.

An den neuen Papst Benedikt X[. scheint Lullus sich nicht gew'andt zu haben; dagegen setzte er alles in Bewegung, um Clemens V. seinen Ideen geneigt zu machen. Zuerst sollte, wie es scheint, Jakob II. von Aragonien bei einer Zusammen- kunft mit dem Papste in Montpellier die Vermittlung übernehmen \ Hierauf begab sich Lullus noch an den Hof des Papstes nach Lyon, um in eigener Person seine Sache zu vertreten. Aber dem neuen Papste lagen gleichfalls andere Sorgen zu sehr am Herzen, als dats er auf diese weittragenden Ideen sofort hätte ein- gehen können.

Wie nach dem fruchtlosen Versuch bei Nikolaus IV. und nach seinem Mißerfolg in Paris, ging Lullus auch jetzt wieder, nachdem er bei Clemens V. kein Gehör gefunden hatte, ins Mis- sionsgebiet, diesmal nach Marokko. Auch hier war sein Erfolg gering. Nur auf die Fürsprache eines einheimischen angesehenen Priesters dem Tode entronnen, wurde er in Bugia eingekerkert und schliefelicli des Landes verwiesen. Er fuhr nach Pisa, wo er die letzte Schrift, in welcher die Theorie seiner Ars (joieralis dargelegt wird, die Ars magna generalis et ultima^ zu Ende führte.

' Lullus berichtet darüber fim Schlufs seiner Dispntafio Raijnmndi et JltniKir Srtraccni: „Dictum est de ordinatione per quam mundus potest venire in bonum statum, et de liac materia largius sum locutus in libro de fine quem Dominus Papa habet, quem Dominus Rex Aragoniae misit ad cum, qui in Monte Pessulano obtulit suam personam, suam terram, suam militiam, suum thesauium ad pugnandum contra Saracenos omni tempore quo placeret Domino Papae et Dominis Cardinalibus, et de hoc sum certus, quia ego ibi eram" (ed. Mogunt. t. IV lib. cit. p. 47). Es kann sich hier offenbar nur um die Zusammen- kunft handeln, welche Clemens V. mit Jakob von Aragonien im Oktober 1805 hatte; denn der erwähnte Libfr de fine wurde von Lullus im April 1305 zu Montpellier abgeschlossen; im November ist Raymund bereits in Lyon und kommt vor Mai 1808 nicht mehr nach Montpellier; die Dispiitutio aber, die seinen Bericht enthalt, stammt schon vom April 1308. In der Tat wurde bei dieser Zusammenkunft über diesbezügliche Fragen verhandelt. So groß, wmc man es nach den Worten Raymunds vermuten konnte, war freilich die l n- eigennützigkeit des Königs keineswegs; dessen Eifer scheint mehr auf eigene Vorteile als gegen die Sarazenen gerichtet gewesen zu sein. Vgl. Regestum Clement is V. tom. I (Romae 1885) n" 223, 224 und 225.

I. Zur Biographie. 5. Äußere Tätigkeit. 29

Hier wuLUe er die Bürgerschalt für seine Pläne zu interessieren und sich sowohl in Pisa wie in Genua Eniplehlungsbriefe an den Papst und die Kardinäle zu verschaffen. In letzterer Stadt ver- sprach man ihm zur Ausführung seiner Ideen noch eine ansehn- liche Summe Geldes, wobei es allerdings beim blof.-ien Versprechen geblieben zu sein scheint ^

Trotz der Empfehlungsschreiben hatte ein abermaliger Ver- such in der päpstlichen Residenz zu Avignon ebensowenig einen sichtlichen Erfolg wie die bisherigen Bemühungen. Raymund ver- legte daher jetzt seine Haupttätigkeit nach Paris, um den Ara- bismus an der Stätte, wo er sich am meisten breit machte, am nachdrücklichsten zu bekämpfen. Dazu schlug er zwei Wege ein.

Theoretisch ging er in der Weise vor, dal.s er in zahlreichen Schriften teils direkt die Lehren der Averroisten als unhaltbar nachzuweisen suchte, teils durch positive Darlegung einzelner Pro- bleme christlicher Philosopliie und Theologie denselben entgegen arbeitete. Dazu kam noch seine öffentliche Lehrtätigkeit an der Universität, wobei es ihm diesmal besser als früher gelang, mit den Vorlesungen üher seine Arn das Interesse weiterer Kreise für sich wach zu rufen. Allerdings scheinen auch die Gegner an der Arbeit gewesen zu sein, so daL^ Lullus sich genötigt sah, sich seine Lehre offiziell bestätigen zu lassen.

Aus dieser Zeit werden nämlich drei Aktenstücke erwähnt, welche Lullus für sich erwirkt haben soll. Das eine ist ein Gut- achten der Universität Paris vom 10. Februar 1310'^, worin vierzig niagistri die Orthodoxie der Ars brevls bezeugen; ein anderes vom 2. August LHO''* enthält eine Empfehlung für Lullus von Seiten des Königs Phili])p selbst, während im dritten Schreiben (9. Sept. Dill)* (h'r Kanzler die Rechtgläubigkeit der lullischen Lehre bestätigt. Man hat die Autlicntizilät der Schriftstücke in Zweifel gezogen; aber auf Grund persönlicher Einsicht in ein Pii- vileg Peters IV. von Aragonien, welches die dici Dokumente er-

' Mit U<xlit itringt Fiiiku mit. diiii ilicMinaii^iMi AiifVnlliall in (iriiiiu (ItTi hrief in Ziisamiiicnluui^, <iiMi UiiyrniindH Freiirul, (1(M' (iomiosc Sfiiiiolu, an .Jakob II. rirlitetf. Vgl. donsolbon lu'i Finko, Arfa ArniinnrttHin toiii II ii" ■''».''»O. Ik-rlin und I.eipzij; V.m, p. 878 f.

'' Chart,'/. Inir. J',i,,m. II, 1 n" <\1U (p. 140 11).

" ChnrtHl. II, I n" 6H4 (p. 144). * Chnrtul. II. 1 ii" (IUI (p. 14Mj.

30 Rayniundus Lullus.

wähnt, hat Delisle^ zugegeben, daf.^ dieselben zum mindesten im Jahre 1369, in welchem das genannte Privileg ausgestellt wurde, existierten; er liels aber die Frage offen, ob sie nicht um diese Zeit von den Lullisten gefeilscht worden seien. Darauf zeigte Gaston Paris 2, da(3 dieselben, auch wenn man in ihnen F;il- schungen sieht, nur kurze Zeit nach dem Datum, welches sie tragen, angefertigt sein können und zwar in Paris selbst. De- nifle"^ will die Authentizität zugeben, hat aber das eine Be- denken, daß die Ausstellung dieser Gutachten nicht genügend motiviert erscheint in einer Zeit, in der Lulls Orthodoxie gar nicht angezweifelt wurde. Die Grundlage dieses Bedenkens Denifles scheint jedoch nicht haltbar zu sein. Man erwäge, dafs es sich um eine Zeit handelt, in der alles Neue als verdächtig angesehen wurde. Nun kam Lullus, noch dazu ein Laie, der nicht blot^ die eine oder andere fremdartige Theorie vortrug, sondern der nichts we- niger anstrebte als die Beseitigung der bisherigen Methode, um seine A)-s und mit ihr eine ganz neue und ungewohnte Termino- logie an deren Stelle zu setzen. Dies mui^te gewiß Grund genug erscheinen, um ihn wenigstens mit kritischen Augen zu überwachen. Nimmt man noch hinzu, daß Lullus, wie sich später ergeben wird, den Klerus seiner Zeit keineswegs innner ghmpflich behandelte, so hat es durchaus nichts V^erwunderliches an sich, wenn seine Gegner ihm zusetzten.

Es muß allerdings zugegeben werden: ein direkter Anhalts- punkt dafür, daß Lullus der Gegenstand solcher Angriffe gewesen sei, ergibt sich aus dessen Schriften nicht. Denn wenn unser Philosoph auch in der Regel am Ende seiner Schriften seine Rechtgläubigkeit beteuert und seine Werke der Zensur der Kirche unterwirft, so huldigt er dabei doch zu sehr einer häufigen Ge- pflogenheit seiner Zeit, als daß man daraus irgend welche Fol- gerungen ziehen könnte. Andererseits gibt doch auch die Art und Weise, wie Raymund etwaige Fehler und Verstöße gegen die Orthodoxie zu erklären sucht, zu denken \ Namentlich wäre

' Journal des Sttninfs, 1896, p. 355. - h','n((' Jilyfori(/i(r, tom. 63 (1897), p. 875-377. '-' CharfnI. II, 1, n" 679 Anni. 14 (p. 142); 691 Anni. (p. 149). ^ Als Beispiel diene der Schluß der Schrift „De (ptattnonlecim (irtiridis fi(/i'i'\ ed. Mogunt. toiii. II, p 190: „i'er gratiam et auxilium nostri altissiini,

I. Zur Biographie. 5. Äußere Tätigkeit. 31

es bei der Annahme, dais derselbe ganz unbehelligt geblieben sei, sclnver verständlich, weshalb er hierbei ohne jeden Grund die Mahnung hinzugefügt haben sollte, ihn nicht einfach wegen seiner Ausdrucksweise zu verurteilen und zu schmähen, sondern Zweck und Bedeutung des Ganzen ins Auge zu fassen ^

Oben (S. 29) wurde gesagt, dafs Lullus zunächst theoretisch den Averroismus zu überwinden suchte. Daneben wollte er aber auch praktische Mal.^nahmen in Anwendung gebracht wissen. Hier greift er zum Teil alte Forderungen ohne weiteres wieder auf, teils sind seine Forderungen neu formuliert und ziemlich radikal gehalten. Die Erfahrung mochte ihn jedoch gelehrt haben, sich vom Ansehen der eigenen Person nicht allzuviel zu versprechen, und so war es denn die Autorität Pliilipps des Schonen, auf die er sich stützen wollte. Neben anderen Schriften ist es nament- lich der Liher natalis pueri Jesu, worin er ihm seine Vorschläge unterbreitet.

Zuerst schärft er dem König selbst das Gewissen bezüglich seiner Pflicht als defensor fidei, der die Aufgabe habe, im eigenen Land alles zu verhüten, was dem christlichen Charakter desselben Eintrag tun könnte. Die nächste Aufgabe sei dann die, daf? die Schriften des Averroes, welche so viel Unheil anstifteten und Tag für Tag die Quelle neuer Irrtümer werden, völlig verboten und beseitigt würden. Dagegen sollte in Paris Gelegenheit geschaffen werden, die Sprachen der Missionsländer zu studieren, damit das

gloriosi et omnipotentis Domini Dei explicit iste über articulorum catholicae et (»rthodoxae fi<lei, in quo (ut suhiunximus in prinio prologo) si forte in aliqua part«! vel partibuH huius libri eiiavinuis per iinproprietatein vel insufficientiani vocabulorum seu dictionum, vel per falsani jiut debilem translaiionem senten- tiarum, »ive per aliqua quaecunque illa sint, in quibus non erravimus scienter Med Holum per ignorantiam, .snbicimuH Imniilitcr conectioni .sat roHanctac Koma- nae Kcclesiae.'* *

' So im Schlu&kapitel «eines „('ompnith'Kin artis (/rifioiisfra/irar"; „Hi forte quaedam ad propunitum non bene diximuH eongruc, eo quod nimiu ardua Hit inatcria vel «piod a rcctiloqiiio dtnianiUH, siipplicitci- postiiluiiHis, ({iiatciiUH in partem deteriorem inte-rprotari non liccat, sed attendant diligi'ntn- i|iiid de fine intentü Bignificare volinuis; neminem cnini mortalium arbitranuir in dictis tiuh calumniari non poMBO . . . ündo cunuideramuH, h'\ foinan Iniic tarn glorioHo et Hwbjimi negotio ralnmniatoreH affuciint, «-oh qiiirl«Mn i/^noraMtiac hhho vrlainen reddct excu.HaioM, aut nostri et tranbiatoriu inbuflicientia et improprietate irdi diccndi pariet unde valeant fmordere " (eud. lat. mon. \0b2'ii i. 1 Mi v".)

32 Raymundiis Lullus

Beispiel der (ranzösischen Hauptstadt auch andere Städte zur Nachahmung dieser Einrichtung anrege. Endhch müßte der König beim Papste dahin vorstelhg werden, daß alle f^itler-Orden zu einem einzigen vereinigt würden, um in dieser Geschlosseniieit wirksamer den Kampf gegen die Ungläubigen aufnehmen und sicherer das hl. Land erobern zu können. Zugleich solle der Papst für die Aufbringung der nötigen Mittel Vorsorge treffen ^

x\uch für Lullus selbst bot sich bald Gelegenheit, noch ein- mal der kirchlichen Regierung seine Ideen vorzutragen. Als Clemens V. ein allgemeines Konzil nach Vienne einberufen hatte, begab sich auch Raymund dahin und legte der Kirchen- versammlung seine Schrift „De ente quod simpUciter ed per .s(^ et propfer se existens et agens^ vor, worin er ausführlicher als bisher die nötigen Reformvorschläge auseinandersetzt. Er be- gründet dieselben in der Einleitung mit den Gefahren, w^elche durch die Irrtümer der Juden, Sarazenen und Heiden sovrie vieler Philosophen für den katholischen Glauben erwachsen seien; wolle das Konzil sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben, dann müsse es den Zweck erfüllen, zu dem es einberufen sei, nämlich den Glauben zu schützen und die bestehenden Irrtümer zu be- seitigen -.

Einen eigenen Abschnitt der Schrift machen die zehn ordi- nationes aus, welche nach Raymunds Vorschlag das Konzil er-

' yv/ cri'iHitdi' l\i'))mn(li Oe )ial(ili jxti-nili pucri JJu'sit I/h,r. inipr. Parisiis per Gnidonem Mercatoroni. 1499. cap. 28, f. 06.

- „Multa eiiim iTiali\. principia sunt orta contra sanctani fidtMii oatholicani, quae inipediunt quod ipsa non sit bene cognita neque dilecta, ratione cuius se- quitur niagnuni damnuni et deviatio finis, quare nuindus sit creatus; quae mala principia sunt intidolitates .Tudaeoruni, Saracenoruni, pnganorum et errorum falsorum philosopliorum et etiam cismaticoruni fnisorun) Cliristianorum. Et quia concilium generale est niandatum apud Viennensem ciVitatem per Doniinun) Papam Clenienteni quintum et per reverendos Cardinales, et spero quod ipsum concilium sit factum per deum et ])ropter deuni, ut sancia fides catholica sit exaltata, et errores qui sunt contra ipsam sint dcstructi; aliter concilium esset in derisioncm et extra finem deductum, quod esset valde magnum damniim et adeo ingrat.um, et illi qui hoc facerent poenas infernales expectant, quod absit. ''Verum propter hoc intendimus praesentare istum libruni illis concilium generale facientibus, ut simus excusati in die iudicii per ipsum librum praesentatuni, in quo multa bona sunt ordinanda et facienda." (/)<■ ('utc quod siniplicitcr fut per se et inopter se existens et <i(jeiis. Cod. lat, mon. 10 537, f. 36.)

I. Zur Biographie. 5. Äußere Tätigkeit. 33

lassen sollte; dieselben enthalten neben den bisherigen noch einige neue Forderungen, welche auf die Reform des kirchlichen Lebens Bezug haben; so wünscht er Bestimmungen über die Tracht der Kleriker \ gegen die Wucherer- und über die Missionierung der in christlichen Ländern lebenden Nichtchristen -K

War nun Raymund bisher auf kirchlicher Seite stets zurück- gewiesen worden, so konnte er sich bei seinem diesmaligen Ver- suche eines nicht unbedeutenden, wenn auch nur teilweisen Er- folges erfreuen ^. Er hatte seine alte Forderung nach Sprachen- kollegien abermals erhoben •'•, und das Konzil kam ihm in der

* or(l. V: ^. . . quod differentia existat inter habitum clericalem et sae- culareni, et hoc simpliciter, non mixtini; hoc pro tanto dico quod clericus nullo modo induat paniium ruheum nee viridem, et quod tonsura sit a parte ante et post rotunda, et quod nulhis hiicus portet tonsuram; et . . . quod cappa cleri- corum sit proportionata quoad longitudinem et etiam caputium, ut non sit magna perditio pannorum et vana gloria et in aliquibus hypocrisis." (Cod. Lit. mon. 10537 f. 60 \^)

- ord. VII: „. . . quod Christianus usurarius non potest facere tostamen- tum neque sacramento eins crederetur, et quod (sit) omnino excommunicatus." (Cod. lat. mon. 10587 f. 61 r".)

•' ord. VIII: „Multi Judaei et etiam Saraceni sunt subditi christianis et maxime in Hispania; et ideo bonum, magnum et verum est quod Judaeis prao- dicetur in die Sabbati et Saracenis in die Veneris, quia in illis diebus est festum eorum." (Cod. lat. mon. 10537 f. 61 r".)

* Man darf indes keineswegs Raymund das ganze Verdienst liiefiir zu- schreiben. Wurde schon oben (S. 18) darauf hingewiesen, daß Lulhis die An- regung zu seinen Plänen nicht aus sich aliein geschöpft hat, so ist hier noch besonders zu betonen, daß giMado in der Zeit vor dem Konzil auch noci» von anderer »Seite für liie Verwirklichung der von LuUus vertretenen Ideen gearbeitet wurde. Petrus de Bosco (Pierre Dubois) hatte in seiner zwischen 1805 und 1307 verfaßten Schrift „l^r rt'i'nin'ratiotir tcriuic sitnvttii'" unter anderen die gleichen Forderungen erhoben, die Raynnind zum Teil schon früher gestellt hatte und die er in seinem noch ungedruckt(;n Traktat „De (tnfitisiti(nir hrrat' Hfinrtnc" (1309) wie in seinem „/j'hn- nafa/is /iio-ri Jesu" (1810) ebenfalls schriftlich niederlegte. Vgl. z. H. Ih' nrHptro/ioiic '/'n-rar Smir/ai- (ed. f/ang- loiö, Paris 1891), p. 47 ft'. (Studium der orientalischen Sprachen), |>. 18 1. (Ver- einigung der Ritterorden).

'' ord, 1: „Quod Dominus Papa et Reverendi Domini Cardinales liuiant tria loca: unum Romae, aliurn Parisius ot terfinrii in Tok-ta Civitate, in quibns addisrnnt sapientcs, bene ■'■cicntes philosophiani et theologiam, lin^iias inlidc- lium, et quod .sint d«voti, ut moriantur propter (Jliristum per e,\altati(tneni lidei, et quod vadant praedieare Kvangelia (»er Universum ninndiiMi, ut in Kvangidio praeceptum eat; et in ilÜH locis sint tales homines in pr-rpetuiiin addi.srentoH.

liritr&K'* VII, 1 ■'•. K«-ii'li<-r. Uuyiiiiuiilii- l.iillii^. •)

34 Raymuiulus Liillus.

weitherzigsten Weise entgegen in der Bestimmung, daß am je- weiligen Sitz der römischen Kurie, ferner an den Hochschulen zu Paris, Oxford, Bologna und Salamanca die hebräische, ara- bische und chaldäische Sprache zu dem ausgesprochenen Zweck der leichteren Missionierung der Ungläubigen gelehrt werden sollte ^ Auch die Vereinigung der Ritterorden zu einem einzigen neuen Orden hatte Lullus wieder gefordert und dazu den Eventualantrag gestellt, da(.^ für den Fall der Aufhebung des Templerordens we- nigstens das Vermögen desselben den übrigen Ritterorden zum Kampfe gegen die Sarazenen überwiesen w^erden sollte '-. DaL^ das Konzil sich mit dieser Frage w^enigstens befaßt habe, geht aus dem Schreiben hervor, welches Clemens V. an die Kuratoren und Administratoren von Templergütern richtete •'.

Mit der Reise nach Vienne bricht die Vita coaetanea ab und wir müssen Raymunds weitere Schicksale hauptsächlich an der Hand seiner Schriften verfolgen, in denen er zum größeren Teil Ort und Jahr der Abfassung, bezw. Vollendung angegeben hat.

Vielleicht noch während des Konzils, aber jedenfalls alsbald nach dem Schluß desselben begab er sich nach Montpellier, wo wir ihn im Mai 1312 antreffen. Bereits im Juli desselben Jahres befindet er sich auf Majorka, von wo er zuerst sich nach Messina begibt, um von hier aus seine letzte Missions- reise nach Tunis und der Berberei anzutreten. Er scheint selbst nicht mehr gehofft zu haben, lebend in die Heimat zurück- zukehren; denn noch vor seiner Abreise von Majorka traf er in seinem am 20. April 1318 abgefaßten Testament genaue Be- stimmungen über seine Hinterlassenschaft'. Das Martyrium, nach

quando iinus bene fuiidatus mittctur ad praedicandum, ponatur alius. Tales auteni lioniines convertent totum inundum, et hoc Deo adiiivante." (Cod. lat. nion. 10537 f. 59.) ' Vgl. Clement, lib. V. tit. I, de magistris, c. 1.

•^ Vgl, Finke, Papsttum und Untergang des Tenipleroidens I. S. 358.

' Vgl. llefele, KonzUiengesvli. Bd. 6, S. 469. Das Schreiben selbst siehe bei Raynald, Anna!., ad ann. 1312, n" 6. Ferner vgl. Finke a. a. 0, S. 345 ff.

■* Zum erstenmal wurde Lulls Testament veröffentlicht 1894: Kf test<i- niento de Bamon Lull // 1a escnela Juh'mia en Barcelona; memoria leida en la real acadomia de buenas letras en la sesion ordinaria celebrada el dia 15, de enero de 1894 por 1). Francisco de Bofarull y Sans, Barcelona 1896. Es ist auch abgedruckt im ßoletin de l<( lieal Aeadettii(( de la hixtoria XXX (1897, Madrid), p. 91 93,

]. Zur Biographie. 5. Äußere Tätigkeit. 35

dem er sich so sehr gesehnt, sollte er endlieh finden. Nach der Tradition wurde er von den Ungläubigen gesteinigt, aber von einigen christlichen Kaufleuten noch lebend angetroffen und nach Majorka zurückgebracht. Angesichts seiner heimatlichen Insel soll er am 29. Juni 1315 den Geist aufgegeben haben ^.

' Gaston Paris hat [Revue hisforiqne tom. 63, p. 375 ft'.) auf eine Notiz aufmerksam gemacht, welche im Widerspruch zur Tradition stehen soll. Wie die Hist. litt. (tom. 29, p. 370) anführt, trägt ms. 16432 des British Museum, welrhes die von Lulhis 1313 verfafste „Consolacio cJ' erniita" enthält, am 8chluf3 die Bemerkung: En 1* any de Nostre Senyor MCCCXV fina sos dies Ranion Lull en la ciutat de Mallorques, segons es stat estrohat en un libre molt antic en lo peu del devant dit libre o tractat de Consolacio d' ermita. " Dabei scheint G. Paris anzunehmen, daß Kaymund eines natürlichen Todes gestorben sei. Sollte nicht diese Notiz in der oben angegebenen Tradition verwertet sein im Gegensatz zu einer anderen Überlieferung, wonach Lullus schon in Afrika ge- storben wäre? Bezüglich des Datums von Raymunds Tode kommen neuer- dings einige von Finke veröffentlichte Briefe in Betracht. Am 5. August 1315 schreibt Jakob II. von Aragonien an den Guardian des Franziskanerklosters zu Ilerda, daß Raymnnd ihm kürzlich mitgeteilt habe, „se disputando cum Sarra- cenis Tunicii, ubi presens est, quosdam composuisse libros"' und daß er darum bitte, ihm seinen im Konvent zu Ilerda weilenden ehenuiligen Schüler Simon de Podio Cerritano zu schicken, damit dieser seine Schriften ins Lateinische übertrage. (Finke, Acta Aragon, tom II, p. 900, n"578.) In einem zweiten Brief vom 29. Oktober 1315 stellt der König die gleiche Bitte an den Franziskanerprovinzial von Aragonien. (a. a. 0. p. 901, n^ 579. J Vielleicht ist der in den beiden angegebenen Daten liegende Widerspruch mit dem traditio- nellen Datum des Todestages auf eine Verschiedenheit der Zeitrechnung zurück- zuführen; möglicherweise hatte auch der König noch keine Kenntnis von dem inzwi.sciien erfolgt<'n Tode Raymunds, Immerhin tauclien hier neue Fragen auf, welche den oben (S. 14) goäußortrn Wunsch nach neuem (.JuclIiMiniatcrial noch berechtigter erscheinen lassen.

:r-

IL Abschnitt.

Über die Schriften des Raymundus Lullus.

Wir würden von dem berühmten Katalonler nur ein ein- seitiges Bild gewinnen, wollten- wir nicht auch einen Blick auf seine schriftstellerische Tätigkeit werfen; denn gerade auf dieses Gebiet hat er sich mit einem Eifer verlegt, der seiner übrigen Schaffenskraft sicher nicht nachsteht. Wenn auch die Angabe einiger Schriftsteller, daß er drei- bis viertausend Werke verfaßt habe, ins Reich der Fabel gehört, so geben uns doch die vor- handenen Verzeichnisse seiner Schriften immer nocli einen ge- nügenden Beweis für seine rastlose Tätigkeit.

Die älteste Zusammenstellung der hillischen Werke findet sich im Katalog des Jahres 1311, welcher der Vita coaetanea an- gefügt ist. Während aber dieser auch mit seinem späteren Nach- trag keine vollständige Übersicht bietet es fehlen verschiedene Schriften, die sicher von Lullus herrühren , leiden andere Zu- sammenstellungen an dem entgegengesetzten Fehler, daß in mehr oder weniger unkritischer Weise alles aufgenommen wurde, was man Lullus zuschrieb. Ein bedenkliches Erzeugnis dieser Art ist der Katalog, welcher der Mainzer „Gesamtausgabe^* der Werke Lulls vorangeschickt ist. Die von Nico laus Antonio ^ Custu rer- und den Acta, Sandonim-^ gebrachten Aufzählungen sind aus Wad- ding^ und aus der von Alphons Proaza besorgten Ausgabe von Lulls Ars inventiva reritatis-* herübergenommen. In diesen

' Nie. Antonio, Bibtiotheca Ilisjxni. rcfus;, IT, 84 ff.

- Diserhirioni's liixforirds, p. 598 ff.

■' Jun. tom. V, p. 697 ff

' W ad ding, Scripforcs Ordinis Mhionini.

" impr. Valentiae 1515.

11. Die Schriften Liills. 37

sind die unechten Werke großenteils ausgeschieden, aber immerhin herrscht auch in ihnen noch eine ziemhche Unordnung. Bald sind Schriften wiederholt aufgeführt unter dem gleichen Titel \ bald unter verschiedenen Namen -.

Verwirrung hat ferner der Umstand geschaffen, daß Über- setzungen neben dem katalonischen Original als eigene Schriften gezählt werden -l Dadurch, dal?, manche Titel in den Hand- schriften falsch gelesen wurden, wurde der AVirrwarr noch größer^. Dazu kommt, daß einzelne Abschnitte aus größeren Werken Lulls gesondert abgeschrieben wurden ^, und einzelne Werke Raymunds

* So findet sich in den Katalogen von Wadding, Antonio, Custiirer und den Acta SS. übereinstimmend die Schrift „/V reprobationc crroruni Arer- rois" sowohl unter den lilri philosojihici (als Nr. 85) wie unter den /ihr/' ra- riftntnt f/iaputationuni (als Nr. 245) eingereiht.

- Der in den Katalogen unter Nr. 220 angegebene „Libcr, utrum fidelis posüit soltere et destmcrc omnes obiectiones, qnas infidele.s possnnt faccrc contra aanctam fidem catholicam'^ ist identisch mit Nr. 243 „De quacstioiie quadfan ralde alta et profunda." Ebenso werden mit Unrecht als verschiedene Schriften aufgeführt die „Dispntatio Fetri Clerici et liatimioidi Plian/asfiri" (Nr. 253) und „Phantast icnni" (Nr. 140), ein Fehler, der sich bei W ad ding noch nicht findüt. Den „Tractatn.s de (trticuli^ fdei" (Nr. 242) halte ich für identisch mit der Schrift „De /jrohatione nnltatis Dei, Trinitatis, Incartaitionis^ Creationis et ReHarrectionis" (Nr. 242); beide haben das gleiche Incipit, und die erstere Schrift behandelt der Keihe nacli die unitas Dei, pluralitas in Deo (— Trinitas), incarnatio, creatio und resurrectio (Cod. lat. mon. 10504 f. 1 sqq., und 10587 f. 1 sqq.)

■^ So der yj/jiher <le oratiOnihns et catifenip/ationihns'^ (Nr. 186 katatonisch, Nr. 171 lateinisch). Kbenso Nr. 237, „(Jalti haheat Jionia eredere" , ine. „Cum sint plures Christiani" und Nr. 225, „Liher de iis, (/ntw lionio de I)ea dehet credere" , ine. „Com malo.s (aic!) Christians"; Cod. lat. mon. 10516 f. Hl : „Lihre f/ae den hom crenre de dea" , ine. „Com molts Christians". Der „LIber de inirnhillbus orbis, dietuH Felix" (Nr. 207) ist nur die Übersetzung zu Nr. 200, „Liher dr itiirarnUff e.ae.li i-t ininidi".

' Die vier übcrein.stimmenden Kataloge führen eine Schrift an „l/d>er dietuH opuH bnninti" (n" 172), welche keine ander«' ist als der „IJb^r onitio- num" (n" 16>*'j und dieser wieder i.st identi.sch mit dem „Über de or<ilinnibns" (n" 142). Ahnlich verhält es sich mit der Schrift „l>e a//'(itn sirr de ae.rla nenun**^ worin Lullub über dm von ilitii angenommenen 8echHt<'n Sinn, die SprechfUhiKkeit, handelt; daniu.s wird eine Schrift „De O/fm/it" (Nr. 9H) und eine andere „De xerlo Mensn" den unechten beig(!zählt.

"^ Die von der ///>/. ////. (tom. 29, p. 832) angeführte Schrift „ih ^eplr,n Snrtutnientin Hrcleifiae" igt riin «in liruchntück auH d«'r „hinjaitiilin jidelin et infiileliM."

3 8 Raymundus Lulliis.

von Seiten seiner Freunde oder Schüler eine Überarbeitung er- fuhren ^

Angesichts dieser Verwirrung, die hier noch allenthalben herrscht, kann eine genaue Zahl der hillischen Werke heute über- haupt noch nicht angegeben werden. Immerhin ist es kaum zu hoch gegriffen, wenn man dieselben auf etwa dreihundert schätzt; denn wenn auch bei einer kritischen Untersuchung manche bisher unter selbständigem Titel aufgeführte Schriften verschwinden müssen, so darf andererseits nicht vergessen werden, daP3 verschiedene Werke verloren gingen oder noch nicht ans Tageslicht gezogen sind %

In Anbetracht seiner vielseitigen Tätigkeit und seines un- stäten Lebens ist die erzielte Leistung gewiß staunenswert. Aber schon Tennemann '"^ hat mit Recht darauf hingewiesen, daß unter dieser großen Zahl von Schriften sich eine ganze Reihe von klei- neren Traktaten findet, und daß manche Abhandlungen nur die

^ Die Hist. litt. (tom. 29, p. 107) erwähnt, daß die luliische Schrift „De quinque sajyientihiis" oder ,,Dis2)utafio qninque sapientum" im Cod. lat. 15450 der Bibl. nation. und im Cod. lat. mon. 10564, fasc. IT, den Titel führe: „Vani- hola gentilis iuvans ad disponemhim christicolas." Die in München unter diesem Titel vorhandene Schrift stammt keinesfalls von Lullus, sondern ist eine Über- arbeitung mehrerer lullischer Schriften zum Zweck leichteren Verständnisses. Der genannten Farahola geht eine Einleitung voraus, welche besagt, daß Lullus zwar den Glaubensinhalt der Katholiken, Juden und Sarazenen gut darlegt, „sed valde brcviter, de qualibet secta generaliter". Daher erschien dem Uberarbeitor eine deutlichere Abfassung notwendig, und so nahm er das Material aus lulli- schen Schriften, um es zu ordnen: „ideo illud quod a Ray mundo habere et invenire potui de ista materia, in hoc loco, ut brevius potui, hie elegi, adduxi et in modum qui sequitur ordinavi; de hac materia in libro de gentili, facto a Kaymundo, aliqua assumpsi et de libro quinque hominum sapientum." (Cod. lat. mon. 10564, fasc. II, f. 2 v".) Die.selbe Schrift findet sich unter anderem Titel auch im Cod. lat. mon. 10 595, f. 71, und zwar verrät hier der Titel den Verfasser: „Istud est prooemium magistri Thomae Lemisier canonici Atreba- tensis in medicina magistri (Lulls Freund; vgl. oben S. 11), et hoc super librum gentilis et trium sapientum." Im Cod. lat. mon 10533, f. 80 fehlt der Titel ganz. Die Überschrift ^Farabola gentilia etc." erklärt sich aus der Form, die der Verfasser für seine Überarbeitung gewählt hat: „Sed quia Raymundus quandoque aliquas parabolas facit, ut apte veniat ad intentum, ideo per modum eins fingere intendo huius rei introitum in hunc modum " Dann folgt der Titel. (Cod. lat. mon. 10 564, f 2 v".)

'■' So hat Haureau eine vorher nirgends erwähnte Schrift Raymunds entdeckt: f,ConsoUUio Venetonun et tot ins goitis desolatacJ' Vgl. Haureau Noticcs et extntits, IV, 290—294.

*' Tenncmaiin, Gi'scJi. der riiihs. VI 11. 2, S. 833 f.

JI. Die Schriften Lulls. 39

veränderte Form einer schon früher verfaßten Schrift darstellen. Dazu kommt, dal^ Lullus sich häufig wenig Mühe gibt, Abwechs- lung in seine Schriften zu bringen. Wenn die verschiedensten Fragen nach dem gleichen Schema behandelt werden, wenn, wie z. B. im ,,Liher contradlctionis" in ununterbrochenem Einerlei die nackten Syllogismen sich aneinanderreihen, bis die Zahl hundert voll ist, so ist eine solche äuläere Form gewiß nicht geeignet, die Lektüre angenehm zu machen; aber diese zahllosen Wiederholungen eines und desselben Gedankens lassen es auch begreiflich erschei- nen, daß Lullus wenig Zeit gebraucht haben kann, um eine solche Schrift abzufassen.

Fast mehr noch als über die große Zahl seiner Werke hat man sich über die Vielseitigkeit des Wissens, das er in denselben niedergelegt hat, gewundert. Es ist gewiß anerkennenswert, daß Lullus, der doch den größten Teil seiner Kenntnisse sich als Auto- didakt angeeignet haben muß, sich auf allen Gebieten orientiert hat. Aber diese Vielseitigkeit darf doch nicht in dem Sinn ver- standen werden, als ob unser Schriftsteller Gebiete, die ihm schein- bar fern lagen, wie Jurisprudenz und Medizin, in gleicher Weise habe beherrschen wollen wie andere Wissenszweige. Es wäre un- verständhch, wenn der Mann, i\ev in seiner äußeren Wirksamkeit sein ganzes Leben lang mit der größten Zähigkeit sich an eine einzige Idee anklammerte, auf dem (Jebiete des theoretischen Wis- sens sich nach verschiedenen Richtungen hin zersplittert hätte. Noch viel weniger ist die Auffassung berechtigt, Raymund habe die Absicht oder auch nur die Meinung gehabt, diese Wissen- schaften aus seiner Ars ijeneralis herauskonslruieren zu können. Ihm war es vielmehr darum zu tun, die in seiner Ars zur An- wf.'udung gebrachte Methode in diese Wissenschaften hineinzu- tragen und dort zur Anerkennung zu bringen. Je mein- die Wissenschaden sich teilten und spezialisierten, desto weniger Auf- merksamkeit konnte das allgemeine und abstrakte System linden, welches er für das Allheilmittel gegenüber dem Unglauben ansah; und den L'nglauben zu bekämf)fen, das war nicht bloß s(;ino Lebr*n.saufgabe, .sondern das hielt er für die vordringlichste I 'Dicht der ganzen Christenheit, des l^^pstes, d< r Kinic, der Fürsten und der wissenschaftlichen Well.

40 Raymundus Lulliis.

Sollten die Ungläubigen aber die christliche Religion als die wahre einsehen lernen, dann durften deren Bekenner sich zu den Lehren des Christentums in ihrem praktischen Verhalten nicht in Gegensatz bringen. Unter den oft recht naiv anmutenden Be- weisen dafür, dals che lex CJiridlana gegenüber der lex Saracena oder Judaica die lex melior sei, findet sich auch {\e\\ daß nach der lex melior auch die besseren Menschen leben K Daher be- kämpft er mit allem Nachdruck die Gleichgültigkeit gegen das christliche Sittengesetz, vorzüglich aber eifert er gegen die Mil.^- stände unter jenen, deren Pflicht es gewiesen wäre, die Reinheit und Vollkommenheit dieses Gesetzes in ihrem Leben am deut- lichsten zu dokumentieren, nämlich gegen die Vertreter des Klerus.

Schon in der Bittschrift an Cölestin V. sucht er darauf hin- zuarbeiten, daß die Kleriker sich besser für seine Ideen erwärmen sollen, um sich in der öffenthchen Meinung zu rehabilitieren-. In seinem „Liber de natali puerl Jesu" weist er namentlich auf die Pflicht der Kleriker hin, für die Einheit des Glaubens zu sorgen; aber ihre Habsucht lä(H sie grofäenteils auf jede höhere Pflicht vergessen ^^. Vor allem aber ist die „Disputatio Fetri Clerici et Raymwidi Fhantastici" ^ eine beif^ende Satire auf die kirchlichen Mifsstände jener Zeit. Der Inhalt ist kurz folgender:

Auf dem Wege zum Konzil von Vienne trifft Raymund mit einem Kleriker Petrus zusanmien, dem er auseinandersetzt, was er auf dem Konzil zu erreichen wünsche. Deswegen vom Kleriker verlacht und nicht blol.^ als phantasticus, sondern als phantasticissimus bezeichnet, schlägt Raymund eine Disputation darüber vor, wer von beiden ein Phantast genannt zu werden

' Vgl. Lih. iiiagiiüs contewpJafloiiis, cap. 188 (ed. Mogunt. t. IX, p. 458).

- „Concirats con publica utilitat es poc aniada e con tuit clamcii contra clerigues, per que seria gran escusa als clerigues en tractar les cosos daniiint dites, car bon exempli darien de si niateis e de lurs obres." (Cod. hisp. nion. 60, f. 78 v".) Übersetzung von Salzinger (ed. Mogunt. t. II, De F. Sapicnfibits p 51): „Considerate quod publica utilitas paruni anietur et quod oninos clament contra clericos; quare esset magna excusatio clericis in tractando supradicta, quia darent bonum e.xemplum de se ipsis et de suis operibus."

^ „Videt tarnen (sc. „natus puer dei tilius") aliquos praelatos futuros, qui ipso diniisso videntur aurum coniedere, nee potest (Ms aliquid terrenuni suf- ficero pro se et suo maledicto sanguine." (ed. Paris. 1499, f. 59 r°.)

^ inipr. Parisiis 1499.

II. Die Schriften Lulls. 41

verdiene. Der Kleriker erzählt, wie er, aus ärniMcben Verhält- nissen hervorgegangen und nur auf Almosen angewiesen, seine Studien vollendet habe; dann aber habe er eine fette Pfründe er- halten, Benefizien zusammengehäuft, seine Brüder bereichert, seine Schwestern vornehm verheiratet usw. Nun hofft er noch auf eine hohe Prälatur, um ein angenehmes und gemächliches Leben führen zu können. Raymund dagegen schildert, wie er seine Gattin, seine Kinder und sein Vermögen verlassen habe, um einzig für das erhabene Ziel zu arbeiten, das er sich gesteckt. Fünf Kapitel hindurch wird die Unteredung fortgeführt, indem der Kleriker die Zustände seiner Zeit zu rechtfertigen sucht, während Ra3anund sie scharf kritisiert, um am Sc]ilul3 noch einmal den ganzen Gegen- satz der beiderseitigen Anschauungen in prägnanter Weise her- vorzuheben ^

Es ist völlig belanglos, ob die geschilderte Unterredung wirk- lich stattgefunden hat oder nur fingiert ist. Letzteres hat die grötste Wahrscheinlichkeit für sich. Als kulturgeschichtliches Sitten- gemälde hat die Schrift in jedem Falle ihren Wert. Dals aber Raymund durch eine solche Sprache, die er wohl nicht bloU in seinen Schriften führte, sich in den Reihen jener Kleriker, die von seiner Kritik getroffen wurden, keine Freunde schuf, bedarf wohl keines eigenen Beweises.

Einen weiteren Übelstand, welcher der erfolgreichen Missio- nierung der Ungläubigen hinderlich war, erblickte LuÜus in der religiösen Unwissenheit des christlichen Volkes selbst. Solange die Christen nicht genügend in ihrem Glauben unterrichtet und darum

' ,Ait Clericus: ^RemundL, non est alia eccleyia in mundo ueqiie hone ordinata ad servienduni Deo ut Roniana Eccleaia; et hoc potes videre in occle- siis in quihus clerici ordinate ceiehrant, ordinate cantant, et huinsniodi talia." -- Alt Remiindus: „Knio, ut dicis; attamcn, quid est de ((uilmschini cleiigis qui protinus extra aedein bacrani cum magna pümpa Hunt e(]uitunte8, vi in pinguihus menais com<'dentes, multas otiam et magnas henrfieioruni provi8i<me8 habentes, pauperes autem Christi ad eoruni portas clamant f Videturn«' tilji hie esse ordo ronsentaneus quem hahent clerici in ecciesia celel)raiidi et iioiaH de- cantandi? Adhuc id a te qtiaero, «i bit ordo unum i)orium virum Hciiiitilicnm unam |>arvam hahere praehendam, et ciericum illi prorHUS oppoHitinn muItaH hnhere, magnaB et (ut ipsi aiunt) pingueB?" - Ait (.'lericus: ^Remiirnh'. phan- tasticuH en, qui me talihun quaeHtionil)Us laceHMiH. VA idco d«« cetcro tccum ampiius confcrre nolo." Kt aheunte« (hHCCHMerunt ah invicem, ('loricuH d Rr mundu8." {Ilmnloiilii-nn, impr. I'ari«. 1 lÜU, f. 85 v".)

42 Kaymuiulii.s Lullus.

nicht imstande sind, den Ungläubigen gegenüber mit Gründen für den christlichen (Jlauben einzutreten, wird es auch nicht gehngen, diese dem Christentum zuzuführen ^ Dem sucht er in einer Reihe von didaktischen Schriften zu begegnen. Ein Werk dieser Art ist die „Doctrlna puerilis" , die zunächst für den praktischen Unter- riclit seines Sohnes bestimmt war. Auch die Schrift „De lege meliore'^ (unter anterem Titel „De veritate legis Christianae" , oder „Quae lex Sit melior, maior ac verior^*) hat zum Zweck, den religiösen Unterricht des Volkes zu fördern -.

Auch für die mangelhafte Kenntnis der Glaubenswahrheiten scheint Lullus den Klerus seiner Zeit verantwortlich gemacht zu haben; wenigstens hat sein Büchlein „Clericus" oder „Liber Cleri- corum" den Zweck, den Geistlichen selbst eine Art Katechismus zu sein und auf diese Weise dem Kampf gegen den Unglauben zu dienen ^.

Möglicherweise haben diese populär-didaktischen Bestrebungen Lullus mit veranlaßt zu der eigenartigen Darstellungsweise, die er für viele seiner Schriften gewählt hat. Es ist die Form des Dia- logs, deren er sich liäufig bedient, um die Untersuchung über

^ ^Quoniam infideles literati percipiuiit a fidelibus liteiatis quod sacro sancta fides Catholica non probatur, et quia fideles instiucti iniperfecte in de- monstrationc ab antiquis eis dicunt fidem non posse demonstrari, dubitant con- verti ad fidem Christianam." Epistola Rcujuiundi ad Christianum, (Cod. lat. mon. 10568, VI, f. 23 r".)

Dieser Zweck ist in der Einleitung klar ausgesprochen: „Cum multi Christian! laici sint mercatores et hac occasione vadant ad terras Saracenorum qui saepe cos interrogant de lege Christiana, volentes cum ipsis disputare, quibus Christiani nescinnt respondere, quia de lege huiusmodi sufficientem no- titiam non habent, sed credulitatem, dubitantes in lege Mahometi, ideo facimus hunc librum, ut sciant cognoscere legem nostram meliorem, maiorem ac verio- rem esse quacunque alia, et cum ipso disputare valeant cum Judaeis omnibus- que Christi adversariis." (Cod. lat. mon, 10655, f. 221.)

' „Praesentem librum facimus, ut habeant ignorantes clerici doitrinam, qua possint aliquo modo de peccatis cognoscere. Turpe enim clerico est prin- cipia ad quae ipse finaliter ordiuatur ignoraro, non secus ac militi, si apte arma in hello tractare non novit ant equum insidere. Per talem namque igno- rantiam clericorum deperit devotio, quia devotionis dispositione carent, quae quidem carentia magnam fidei catholicac per illos affert iacturam qui eam te- nentur colere, laudare, multiplicare et per Universum mundum praedicare, errores destruere infidelium et bono catholicos populäres exemplo docere," (impr. Parisiis 1499, f. 67 vM

II. Die Schriften Lulls. 43

irgendeinen Gegenstand durchzuführen. Bald sind es allegorische Personen, welche miteinander ein Problem erörtern, bald unter- hält er sich selbst mit einem Heterodoxen, sei dieser nun ein Grieche, Jude oder Sarazene, in Rede und Gegenrede über die Einwände, welche gegen den katholischen Glauben gemacht wer- den können. In der Regel werden diese Dialoge mit einer alle- gorischen Erzählung eingeleitet, wie denn Lullus überhaupt sich als Meister in der didaktischen Erzählungsform gezeigt hat ^

Für die genannten Bestiebungen war es sicher zweckdien- lich. daL=j Raymund seine Schriften zum grollten Teil in der Vulgärsprache abfat^te (einige Abhandlungen sind ursprünglich arabisch geschrieben). Ob freilich diese Schreibweise mit Absicht gewählt war oder ihren Grund im mangelnden Verständnis der lateinischen Sprache hatte, hängt eben von der Frage ab, ob und inwieweit Lullus des Lateinischen mächtig war'-. Verstand er dasselbe nicht, so ist immerhin der Fall denkbar, daß diese Unkenntnis eine beabsichtigte war. Denn wenn er mit 30 Jahren noch das Studium des Arabischen zu bewältigen vermochte, so konnte ihm, dem Spanier, auch die lateinische Sprache keine besonderen Schwierig- keiten bereiten; wenn er sie trotzdem vernachlässigte, so lag wohl der Grund darin, dat.^ sie ihm für seine Zwecke entbehrlich er- schien. Aber jedenfalls ist es zu weit gegangen, wenn H elf (er ich * sogar das schlechte Latein, in dem sich uns die lullischen Schrif- ten präsentieren, auf die Absicht zurückführt, populär zu schrei- ben. Wenn Lullus in lateinischer Spraciie geschrieben hat, so triftl das sicher nur für den kleineren Teil seiner Werke zu; diese aber hat er in einem Stil abgefatU, so gut oder so schlecht er ihn eben beherrschte; sonst aber sind die stilistischen Mängel auf die Übersetzer zurückzuführen. .

Schon frühzeitig trug nämlich Haymund Sorge dalür, dal."i .seine Schriften ins Lateinische übertragen wurden. Gelegenheit dazu bot ihm wohl drr Aiifonthalt in Klöstern, in denen ihm die

' z. H. in seiner Schrift „/a- tnii<ihilihit.< orhts" ( Ijihrr dr Mtnunlli'H^ \s<»vori K. Ifofniuriii da« 7. liuch („<it'i <■'< *li' /'•< hvstirs") im kataloniHchen Originaltext neb^t ChtTaftziing voröffi«ntli<lit hat (Ahli. ihr hiil. /"/'//. Ah'nl.il. WiHjfentirh. XII. 3, S. 174, München 1871).

' Vgl. oben 8. 21, Anm. 2.

" .\<1. Ilelfferich, /.'. Lu// ii. Uir Aitfiimjc ilir kntnl. Litit'intnr S. 161.

44 Hiiymundus liulliis.

nötigen Kräfte znr Vertilgung gestellt werden konnten. Solche Übertragungen wurden hergestellt in Pisa^ und schon früher auf Majorka-. An letzterem Ort wurde noch in Lulls Testament eine eigene Summe ausgesetzt zum Zweck solcher Übersetzungen -K Diese testamentarische Bestimmung wurde auf Majorka durch den ')H(((jister grannnatkae- des dortigen Kapitels ausgeführte

Wie für die Übersetzung, so hatte Lullus auch für die Ver- breitung seiner Schriften schon zu Lebzeiten Sorge getragen. Ge- legentlich suclite er dies wohl durch private Schenkung zu er- reichen •', namentlich aber dadurch, daih er seine Werke an eigenen

' Die „Disputatio Raymundi Chrisfiani et Hanta/' Saraccni" trägt am Schluß die Bemerkung: ^Anno Domiiii 1808 tinivit Raymundus istum librum secundo in sermone latino Pisis in monasterio sancti Dominici in mense Aprili, quem primo composuerat in lingua Arabien una cum Homerio Saraceno in civi- tate Bugia." (Cod. lat. mon. 10 593, f. 164 v".)

- Vgl. „De ariladis fidel catholicae liber" (Cod. lat. mon. 10504, f. 14 v") : „Translatio huius operis facta est de vulgari in latinum, ut dictum est, in civi- tate Maioricensi anno incarnationis Domini nostri Jesu Christi 1300 mense lulii."

•' Das Testament bestimmt: „. . . de quibus quidem praedictis centum quadraginta libris et duobus solidis et etiam de omnibus aliis denariis quos habebo tempore obitus mei, solutis inde prius legatis praedictis, volo et mando quod fiant inde et scribantur libri in pergameno in romancio et latino ex illia libris quos divina favente gratia noviter compilavi." Vgl. Bolct'm de la Real Acadcmia de hidoria XXX (Madrid 1897), p. 92. Vgl. dazu die Korrekturen von Delisle [Jourxal den Savants, 1896, p. 345—355) und Morel Fatio [Romania XXV, 1896, p. 326-327).

* Zu diesem maghter cframmaticue vgl. die Bestimmung des vierten Lateran- konzils, cap. XI (Mansi, 22, 999) und die von der Ecclesia Barchinonen- sis für Majorka getroffenen Ausfilhrungsbestimmungen (Mansi 23, 189).

' Im Testament ist unter den für die Übersetzung und Vervielfältigung- bestimmten Büchern auch der Traktat „De secretis sanctissimae triHf'tatis et incarn(tti<)uis" genannt. Dieser, in den Handschriften bloß „De frhtifafe" be- titelt, trägt am Schluß die Bemerkung: „Ad honorem et gloriam Domini nostri Jesu Christi finivit Raymundus hunc librum in civitate Maioricarum in mense Septembris anno incarnationis Jesu Christi Millesimo CCCXll. Istum quidem librum transtiilit Raymundus Lul}^ in romancio ab uno eodemque libro quem fecerat in arabico anno quo supra. Verumtamen Guillelmus magister presbyter regens studium grammaticale capituli Maioricarum praesentem librum transtulit de romancio in latinum mense Aprilis in civitate praedicta anno Domini M"CCC®VI" decimo incarnationis Domini nostri Jesu Christi. Deo gratias." (Cod. lat. mon. 10495, f. 195 v".)

" Der Cod. mss. lat. IV, 139 der Bibl. mss. S. Marci Venetiarum enthält außer der Widmung an den Empfänger Petrus Gradonicus noch die Bitte: „Sed supplico quod nobilis vir dominus Petrus Ceno possit habere usum de ipso quandiu sibi placuerit. " Delisle, Cabiiwt <fes MfoiHscr. II, 171, Anm. 4.

II. Die Schriften LuUs. 45

Sammelstellen aufbewahren lieis, eine Maßnahme, die übrigens schon durch das beständige Wanderleben Lulls angezeigt erschien. Der Bericht der Vita Anonymi, wonach Raymund drei solcher Stellen errichtet hatte, nämlich im Kartäuserkloster zu Paris, bei einem vornehmen Bürger von Genua und einem solchen von Majorka, wird sowohl durch das Testament Lulls ^ wie auch durch handschriftliche Notizen bestätigt-.

Mit der Ausbreitung der Schule Lulls wurden auch dessen Schriften in weitere Kreise getragen. Die meisten derselben finden sich heute wohl noch in Spanien. Die in Paris angesammelten Werke sind zum größten Teile in die Bibliotheque nationale über- gegangen, während .jene, welche in Genua vorhanden waren, nach verschiedenen Richtungen zerstreut zu sein scheinen; die Vaticana, die Bibliotheca S. Marci in Venedig, das Kloster St. Isidor in Rom sind im Besitze lullischer Schriften. Eine nicht unbeträcht- liche Anzalil dersell)en ist in der Bibliothek des Stiftes Innichen

' „De quibus qniJeni libris omnibus siipradictis iiiando fieii in porgaincno in latino uniim librum in uno volumine qui iiiittatur per dictos nianumissores meo9 Parisius ad monasterium de Xarcossa (Del isla liest Xartossa). quem libnim ibi dimitto amore Dei. Item mando fieri de omnibus supradictis libris unum aliuni librum in uno volumine in pergameno scriptum in latino quem dimitto et mando mitti apud .lanuam Misser Persival Espinola. " Die übrigen Schriften sollen mit dem Kest seines Meldes an Ordenshäuser verschenkt wer- den, „ita quod ponantur in armario cuiuslibet ecclesiae in qua illos dabunt cum catena. Ita quod quilibet ipsius ecclesiae volens illos legere possit ipsos legere et videre. Itom lego monasterio de Rcgali unum cott're meum cum libris qui ibi sunt, quem habeo in hospitio dicti Petri de Sanctominato" (des Schwieger- sohnes Lulis). Vgl. I!(//i'fin (Ir In licdl A<-(i(Jnni(i t/t' hi liis/orid XXX (Madrid 1897), p. 92 f.

- Ms. lat. 10 111 der Hibl. Nation, (aus der liibl. der Sorbonne stimmend) trägt folgenden Vcrmoik des lübliothekars: ,In isto volumine contincutur isti libri qui hie nominantur" : (folgen die Titel). „Libros prenominatos ponit magister itaymunduH FjuI in custodia domus Sarboni Parisius cathenatos." Daneben steht: „.MultoH alios libroB fr'cit K'aymundus, qui sunt in monasterio Cartusicnsi Pari- öiu«, de quibus quilibet potent babcr«? excmplar, ut puta Ars geneialis, otc;," Ü)eli8le, CnhinH th-n Msx. II, 171; Journnl r/.'.s Snnnits 1896, p. 851 ) Ms. lat. 3348 A i\('V Hibl. nat. (aus d»Mn Kartüuserkloster Vauvcrl) onfiiäit die Notiz: «Hoc est primum voliimrn mcditatiomim magisiri Paymundi, (|uod ipso dedit fratrihuH et domui Valiis viridis prcqx; l'arisiuH, cum duobus aliis HtMjucn- tihus voluminihuH istiuH trartatu», anno gratio MCCXCVIII." (ÜeliMl»', Cnhim-t 'tfM Mhh. II, 252.)

46 Raymundus Tiullus.

in Tirol vorhanden, welche sie durch Legat eines gewissen Nicolaiis Poli, Doctor medicinae, erhielt^.

Eine noch reichere Sammlung, den größten Teil aller von Lullus verfaßten Schriften, besitzt die kgl. Hof- und Staatsbibliothek zu München, meist iti lateinischen Übersetzungen, zum Teil auch in katalonischen Texten. Dieselben entstammen alle der kurpfäl- zischen Bibliothek zu Mannheim, wohin sie auf Betreiben des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz zusammengebracht wurden. Aber die besondere Vorliebe, welche dieser Fürst für unseren Raymundus Lullus hegte, beruhte nicht etwa auf einer Ideengemeinschaft mit dem majorkanischen Philosophen, sie war im Gegenteil Absichten entsprungen, welche diesem ganz ferne gelegen hatten.

In dem oben gemachten Versuch, die Werke Lulls im allge- meinen zu charakterisieren, wurde eine ganze Reihe von Schriften nicht genannt, die unter seinem Namen kursieren. Dieselben sind ziemlich zahlreich '^ und durchweg alchymistischen Inhalts. Man hat schon die verschiedensten Gründe angeführt, welche die Un- echtheit dieser Schriften unwiderleglich dartun, man hat hinge- wiesen auf Aussprüche Lulls, in denen er sich abfällig über das Beginnen der Alchymisten äutäert; man hat bemerkt, dafs viele dieser Schriften nach lullischer Art zwar mit dem Datum ver- sehen, aber ganz kritiklos in die Zeit nach dem Tode Raymunds verlegt wurden ^; man hat auf die Differenzen aufmerksam ge- macht, die sich bezüglich der Regierungszeiten der englischen Könige ergeben, bei denen Raymund in London seine geheimen Künste in Anwendung gebracht haben soll, aber alles vergebens. Lullus muLHe einmal Alchymist sein und bleiben, und diesem Um- stand hat er namentlich in Deutschland zum grollen Teil seine Berühmtheit auch heute noch zu verdanken. Aber vor- züglich um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts scheint man besonders für die alchymistisclien Kenntnisse Raymunds sich

' Derselbe wird ausdrücklich „legator Hibliotliecae" genannt. Vgl. Sh/)- Itlcnientiint <(d tnohumcutn Briricusid ('(/if<i Brixi)t<(i' 17 (>.'>. ViiacutH Kpitapltii^ ('/ Inscrijifionibiis in Eccfcs/is confcrnii/iis et ral/is I'nsfrissyn' Dioi'ce.sia liririemus. Adjectum anno 1775, p. 72.

- Salzinger zählt im tom. I. der edit. Mogunt. deren 77 auf.

■' z. B. in die Jahre 1330, 1338, 1349, 1357.

II. Die Schriften Lulls. 47

interessiert zu haben. Borrichius halte in seiner Abhandlung yjDe ortu et progressu Chemiae dissertatio^' ^ ihm (Heselben mit großem Eifer zu vindizieren gesucht.

Um diese Zeit"- wurde nun Kurfürst Johann Wilhelm von der Pfalz durch den reguherten Ghorherrn Ivo Salzin g er, den er in Düsseldorf kennen lernte, in die alchymistischen Geheimnisse dieser eingeschmuggelten lullischen Kmist eingeweiht. Der Kur- fürst, dem nun daran gelegen war, die sämtlichen Schriften Lulls in seinen Besitz zu bekommen, liel.^ durch seinen Bibliothekar Bucheis Nachforschungen nach solclien anstellen. Im Jahre 1711 reiste dieser nach Italien, wo er in Florenz und Bom nach Manuskripten lullischer Werke fahndete. Auch aus Paris liet^ sich der Kurfürst eine grol3e Anzahl solcher Schriften verschaffen "\

Im Jahre 1713 traf der Bibliothekar schon wieder die Vor- bereitungen zu einer Reise nach Barcelona und den balearischen Inseln, um die dort befindlichen Manuskripte abzuschreiben. Der Kurfürst drängte mit aller Eile auf die Veranstaltung einer Aus- gabe der lullischen Werke hin, um der gebildeten Welt das in denselben niedergelegte Wissen nicht länger vorzuenthalten, und bereits Ende des Jahres 1712 war der Vertrag mit dem Buch- drucker abgeschlossen und mit dem Druck begonnen worden ^.

' Bihliotherri Chcuiicn Curiosa J. Jac. Maugeti. Genevac 1702; aiicli ITafniae 1668.

"■' Die folgenden Notizen stützen sicli liau[>tsäclilicli auf .Seh unk. lii'i- fröf/r zur Mditizor Oesrhichtt', III, S. 409 ff., sowie auf ein von Herrn Anticjuar Lud, Rosenthal mir in freundliclistcr Weise zur Verfügung gestelltes Manuskript, das den Hriefwerhsel zwisrhen den heid(;n Jesuiten Custurer und iSollier unter sich, sowie zwisclien diesen heiden einerseits und dem kurfürst- lichen Hofe zu Düsseldorf andererseits (meist in den Originalbriefen) aus den Jahren 1710 -1713 enthkit.

' Brief Huchels* an Soliier vom 6. Januar 1713: „Serenissimus Klcctor trecentos circiter tractatus LuUianos accepit parisiis ex (iymnasio Sorlionieo ; legati fuerunt eidem hi anno MCCCXXXVI a Thoma Atrehatensi, cui Haymun- du3 Lullus lihrum inscripsit ..."

* Bucheis (6. Januar 1713) an .Sollier; „inito cum Ty|M>grnpli() Mogun- tino quinque ahhinc septimanis contractu, (|ui priora tria Volumina typis cle- gantihHimlH editurum sese est stipiilatus. iam tum Huh praeh) Hudant lihri, qui hactenuü in iam vnrÜH provinciis et tarn rcmotis HihliotheciH hituerunt ititer hlnttnH et tineaM, scdeoim oceupantur in caidandis figuris, et nihil est <|Uod Klector SereniHHimuH ita in votis liaheat quam Lullianwrum lihrorum editionem; hinc varÜH promiHHin iuvit^it m(> i{uat<niiH l'ar(-in<m«'m et inde proticiHcar ad

48 Rayniundus Lullus.

Trotzdem scheint es den beiden Jesuiten Custurer und So liier, welche die Aufnahme der alchymistischeii Schriften zu verhindern suchten, gelungen zu sein, einen Aufschub herbeizu- führen, der freilich nicht lange andauerte. Nach Johann Wil- helms Tode (171()) nahm sich dessen Nachfolger Karl Philipp und Kurfürst Lothar Franz von Mainz der Angelegenheit an und im Jahre 1721 erschien der erste Band der FoHo-Ausgabe. Dieselbe war, wie Schunk mitteilt \ auf mehr als sechzig Bände berechnet, fand jedoch mit dem zehnten Band im Jahre 1742 ihren Abschluß, und auch von diesen zehn Bänden sind der siebente und achte nirgends aufzufinden. Savigny' vermutete zuerst, daß dieselben wohl nie erschienen seien. Einen V^erlust bedeutete es nicht, daL^ die in ihrer ganzen Anlage verfehlte Aus- gabe nicht zu Ende geführt wurde ^, und Helfferich tut den bei- den Jesuiten sehr Unrecht, wenn er ihnen in ihrer Stehungnahme gegen dieselbe unlautere Motive unterschiebt^. Das gesamte bereit- gestellte Material wurde noch 1790, als Schunk seinen Bericht schrieb, im erzbischöflichen Seminar zu Mainz aufbewahrt. Schunks Wunsch, daß dasselbe durch Einverleibung in eine Bibliothek einen besseren Platz finden möchte, ist heute erfüllt.

insulas ßaleares, ibidem desciipturus libios Lullianos qui nobis desunt, iie le- tardetur opus inceptum, et litteratus oibis diutius Beati Martyris vigiliis et labore defraudetur."

A. a. 0. S. 413 Anni.

- Savigny, Gesch. (Jeff rthn. Rechtes, 2. Au3g., V, 615.

^ Eine Inhaltsangabe der erschienenen acht Bände bei Joh. Ed. P^rd- mann, Grundriß der GeschicJife der Philosophie, 4. Aufl., bearbeitet von Benno Erdmann. Berlin 1896. Bd. I, S. 412-414.

•* Helfferich, /.'. Lu// und die Anfihi(/e der l.-at(ii. Litferafur, S. 162 f.

Curriculum vitae.

Am i. Dezember 1874' in dem württembergischen Markt- flecken Erlenbach geboren verlor ich schon frühzeitig meinen teuren V^ater durch den Tod. Trotz mancher Sorgen, die damit ins elter- liche Haus einzogen, ermöglichte es mir der Opfersinn meiner treu- besorgten Mutter, dafe ich einige Jahre hindurch von meinem Fleimatsorte aus täglich die benachbarte Privatlateinschule zu Neckarsulm besuchen konnte. Im Jahre 1888 trat ich an das Gynmasium zu Landshut a. Isar über, wo ich hauptsächlich durch die Unterstützung des dortigen Franziskanerklosters in den Stand gesetzt wurde, meinen Studiengang an der Mittelschule zu voll- enden. Nachdem ich an der genannten Anstalt im Jahre 1894 das Reifezeugnis erlangt hatte, wurde mir vom damaligen Pro- vinzial der bayerischen Franziskanerprovinz und späteren Bischof von Augsburg, P. Petrus floetzJ, die erbetene Aufnahnje in den F'ranziskanerorden gewährt, in welchen ich am 22. September I81)i eintrat. Nach zurückgelegtem Probejahr oblag ich in den beiden Studienklöstern der Ordensprovinz zu Bad-Tölz und München dem Stuflium der Philos(jplii<' und Theologie. Nach Fmpfang dei- Prieslerweihe wurde ich in dci- .Seelsorge verwende!, X'on 189*1 bis 1905 war ich als Präfekt am Franziskanerkonvikt zu llam- berg tälig, und zugleich war niii- die Seelsorge Ini- die doilii^e (iarni.son übertragen. Dem Wunsche meiner Ordensobeiii folgend besüchle ich vom Jahre 1 9(1.") an di(.' Universität Münclieii. nrn mich liier .speziell d<'m Studium ^Ici l'hilnsopliic zu widmen. Iliei hörle ich die Vorlesungen folgmder llerjcn Dn/.enhii:

I. in der philosophischen FakuMäl: Di. (Jrilllei ((Jeschichle der rujueren Philosophie): Dr. Hell (Aiabi.sche (iraimnalik); Dr. v. Hertlinj( ((Jescliichle der Philosophie: .Metaphysik: philosophische Übimgen); Di. läpps (Psychologie: Lo|/ik : psycholoj^isclie Übungen)

Dr. Föhlmann (Geschichte der sozialen Frage in dei- antiken Welt); Dr. Schneider (Psychologie; Logik; (jieschichte der Philosophie); Dr. Simonsfeld (Paläographie; rrkiindenletire; Literatnrkunde und niiltclalterliche Chronologie; historische Übungen);

II. in der theologischen Fakultät; Dr. Schaub (die ethischen Probleme der sozialen Frage; moderne Bestrebungen auf soziaienf Gebiet);

III. in dei" juristischen Fakultät: Dr. Birkrneyer (Rechts- ])hilosophle);

IV. in der staatswissenscliattlichen Fakultät; Dr. Brentano (Wirtschaftsgeschichte; allgemeine Volkswirtschaftslehre; ökono- juische Politik); Dr. v. Mayr (allgemeine und praktische National- ökonomie; Sozialpolitik; Wirtschaitsstatistik); Di'. Wasserrab (So- ziologie und soziale Frage; Grundzüge der Sozialpolitik).

Für die zahlreichen und vielseitigen Anregungen, die mii- während meines Universitätsstndiums zuteil geworden sind, schulde ich allen meineii hochverehrten Lehrern den grötüen Dank, dem ich an dieser Stelle nur schwaclien Ausdruck verleihen kann. Zu- gleich drängt es mich, die Pllicht der Dankbarkeit all denjenigen gegeniiber ötfentlich anzuerkennen, die mir die Studienlaufbahn er- öffnet haben oder im Verlauf derselben woldwollend und fördernd zur Seite gestanden sind.

P. Otto Reicher, O. F. M.

03'

00

J

0 1-1

1

11,^^

-- «m^ ^l^^M»^